Festschrift für Karl Peter Mailänder zum 70. Geburtstag am 23. Oktober 2006 9783110924091, 9783899493160

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Festschrift für Karl Peter Mailänder zum 70. Geburtstag am 23. Oktober 2006
 9783110924091, 9783899493160

Table of contents :
Vorwort
I. Bank- und Kapitalmarktrecht
Der Kontonummer-Namensvergleich zu Gunsten des Empfängers der Überweisung – babylonische Zitatenverwirrung oder relevantes Rechtsproblem?
Zeit für einen Abschied von der Genehmigungstheorie bei der Lastschriftzahlung?
Sind die deutschen Bankenstrukturen reformbedürftig?
Kreditscoring und Datenschutz
Überlegungen zu den Zielen und Vorgehensweisen bankwissenschaftlicher Ausbildung an Universitäten
II. Deutsches und Europäisches Wettbewerbsrecht
Zur Gruppenfreistellungsverordnung für den Kfz-Vertrieb – Anmerkungen zu einer Fehlentwicklung des EG-Kartellrechts –
Die ex officio Anwendung drittstaatlicher Eingriffsnormen (insbesondere des Kartellrechts) in internationalen Schiedsverfahren
„Malteser“ – eine Marke und ein Name oder: Malteser Aquavit, aber kein Malteser Bier?
Kartellrecht im Unternehmensverbund
Die notwendige Europäisierung deutschen Richterrechts
Nicht eingetragenes EG-Geschmacksmuster und ergänzender Leistungsschutz
Immaterialgüterschutz in Sekundärmärkten
Die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen im Kartellrecht nach der 7. GWB-Novelle
Die kartellrechtliche Beurteilung von Marktinformationsverfahren nach neuem GWB
Die Liberalisierung der Werbung für anwaltliche Dienstleistungen in Deutschland
Nicht koordinierte Wirkungen und schweizerische Fusionskontrolle
III. Unternehmens- und Wirtschaftsrecht
Luftverkehrsrecht der EG im Wandel: Slothandel ante portas?
Holzmüller-Kompetenzen der Hauptversammlung und Missbrauch der Vertretungsmacht durch die Vorstände einer Aktiengesellschaft
Der Bestätigungsbeschluss nach § 244 AktG – Mittel zur Heilung unrichtig festgestellter Hauptversammlungsbeschlüsse und zur Überwindung der Registersperre bei Anfechtungsklagen?
Erbenhaftung für den Geschiedenenunterhalt nach § 1586 b BGB
Die Beurkundung der Anteilsabtretung beim share deal – ein Fallstrick?
Der Unternehmenswert bei Erb- und Vermögensnachfolge
Hinauskündigungsklauseln
Anspruchsgesellschaft im Wohlfahrtsstaat
Die Anwendung der Business Judgement Rule auf die Feststellung des Unternehmenswerts bei Verschmelzungen
Financial (Re)Structuring: Maßnahmen zur Eigenkapitalstärkung
IV. Rundfunk- und Medienrecht
Die allzu kecke KEK – Anmerkungen zu Vorbehalt und Vorrang des Gesetzes bei Anwendung von § 26 RStV und zur Rolle der Rechtsaufsicht –
Vielfaltssicherung in Gefahr? Die Verhinderung vorherrschender Meinungsmacht und die Springer-Entscheidung der KEK
Gestaltung der deutschen Rundfunkordnung durch die europäische Beihilfenaufsicht?
18 Jahre Eurovisionsverfahren und kein Ende?
Brüsseler Spitzen? Zur „Empfehlung der EU-Kommission zur grenzüberschreitenden Lizenzierung von Online-Musik“
Redefreiheit und Demokratie: das amerikanische Beispiel
Gerichtsfernsehen statt Fernsehgericht – Gerichtssaal öffne dich –
Audiovisuelle Medien – Kultur versus Kommerz?
Das Bild der Juristen in den Opern von Mozart – da Ponte
Rechtsfragen der Verbreitung von Rundfunk in IP-basierten Netzwerken (DSL)
V. Anwaltliches und Akademisches Berufsrecht
Für eine flexibilisierte und dynamisierte Struktur des Akademischen Personals
Wie der angehende Anwalt ausgebildet sein muss
Die Organisation der Rechtsanwaltskammern – sind die gesetzlichen Grundlagen noch zeitgemäß?
Die Rechtsanwaltschaft im Spannungsfeld von Berufsrecht und Wettbewerbsrecht
Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. K. Peter Mailänder
Autorenverzeichnis

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Festschrift für Karl Peter Mailänder zum 70.Geburtstag

Festschrift für

KARL PETER MAILÄNDER zum 70. Geburtstag am 23. Oktober 2006 herausgegeben von

Karlmann Geiss

Klaus-A. Gerstenmaier

Rolf M.Winkler

Peter Mailänder

De Gruyter Recht · Berlin

∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN-13: 978-3-89949-316-0 ISBN-10: 3-89949-316-8 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© Copyright 2006 by De Gruyter Rechtswissenschaften Verlags-GmbH, D - 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Datenkonvertierung/Satz: WERKSATZ Schmidt & Schulz GmbH, Gräfenhainichen Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen

Karl Peter Mailänder zum 23. Oktober 2006 Hans Achtnich Johannes Adolff Peter Adolff Rainer Bechtold Friedrich Bozenhardt Armin Dittmann Dieter Dörr Carl-Eugen Eberle Siegfried H. Elsing Christina Escher-Weingart Adrian Fikentscher Götz Gabriel Karlmann Geiss Tilo Gerlach Klaus-A. Gerstenmaier Ekkehard Hagedorn Reto A. Heizmann Peter Hommelhoff Werner Keßler Hartmut Kilger Hans-Georg Koppensteiner Eberhard Körner

Friedrich Kübler Katja Langenbucher Peter Mailänder Eva-Maria Michel Wernhard Möschel Franz Josef Nick Rudolf Nirk Gerhard Riehle Ursula Rörig Manfred Schiedermair Ulrich Schnelle Walter Sigle Joh. Heinrich von Stein Ernst Steindorff Eberhard Stilz Peter Ströbel Lothar Vollmer Heinz Weil Wolfgang Weitnauer Karola Wille Rolf M. Winkler Roger Zäch

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XI

I. Bank- und Kapitalmarktrecht Christina Escher-Weingart Der Kontonummer-Namensvergleich zu Gunsten des Empfängers der Überweisung – babylonische Zitatenverwirrung oder relevantes Rechtsproblem? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Katja Langenbucher Zeit für einen Abschied von der Genehmigungstheorie bei der Lastschriftzahlung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

Wernhard Möschel Sind die deutschen Bankenstrukturen reformbedürftig? . . . . . .

33

Franz Josef Nick Kreditscoring und Datenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

Joh. Heinrich von Stein Überlegungen zu den Zielen und Vorgehensweisen bankwissenschaftlicher Ausbildung an Universitäten . . . . . . . .

65

II. Deutsches und Europäisches Wettbewerbsrecht Rainer Bechtold Zur Gruppenfreistellungsverordnung für den Kfz-Vertrieb – Anmerkungen zu einer Fehlentwicklung des EG-Kartellrechts – .

71

Siegfried H. Elsing Die ex officio Anwendung drittstaatlicher Eingriffsnormen (insbesondere des Kartellrechts) in internationalen Schiedsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

Werner Keßler „Malteser“ – eine Marke und ein Name oder: Malteser Aquavit, aber kein Malteser Bier? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103

VIII

Inhalt

Hans-Georg Koppensteiner Kartellrecht im Unternehmensverbund . . . . . . . . . . . . . . .

125

Eberhard Körner Die notwendige Europäisierung deutschen Richterrechts . . . . .

151

Rudolf Nirk/Ursula Rörig Nicht eingetragenes EG-Geschmacksmuster und ergänzender Leistungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161

Gerhard Riehle Immaterialgüterschutz in Sekundärmärkten . . . . . . . . . . . . .

175

Ulrich Schnelle Die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen im Kartellrecht nach der 7. GWB-Novelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

195

Lothar Vollmer Die kartellrechtliche Beurteilung von Marktinformationsverfahren nach neuem GWB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215

Rolf M. Winkler Die Liberalisierung der Werbung für anwaltliche Dienstleistungen in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

231

Roger Zäch/Reto A. Heizmann Nicht koordinierte Wirkungen und schweizerische Fusionskontrolle 259

III. Unternehmens- und Wirtschaftsrecht Hans Achtnich Luftverkehrsrecht der EG im Wandel: Slothandel ante portas? . . .

273

Peter Adolff/Johannes Adolff Holzmüller-Kompetenzen der Hauptversammlung und Missbrauch der Vertretungsmacht durch die Vorstände einer Aktiengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

289

Friedrich Bozenhardt Der Bestätigungsbeschluss nach § 244 AktG – Mittel zur Heilung unrichtig festgestellter Hauptversammlungsbeschlüsse und zur Überwindung der Registersperre bei Anfechtungsklagen? . . . . .

301

Inhalt

IX

Götz Gabriel Erbenhaftung für den Geschiedenenunterhalt nach § 1586 b BGB .

315

Klaus-A. Gerstenmaier Die Beurkundung der Anteilsabtretung beim share deal – ein Fallstrick? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

329

Ekkehard Hagedorn Der Unternehmenswert bei Erb- und Vermögensnachfolge . . . .

347

Walter Sigle Hinauskündigungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

365

Ernst Steindorff Anspruchsgesellschaft im Wohlfahrtsstaat . . . . . . . . . . . . . .

381

Eberhard Stilz Die Anwendung der Business Judgement Rule auf die Feststellung des Unternehmenswerts bei Verschmelzungen . . . . . . . . . . .

423

Wolfgang Weitnauer Financial (Re)Structuring: Maßnahmen zur Eigenkapitalstärkung .

441

IV. Rundfunk- und Medienrecht Armin Dittmann Die allzu kecke KEK – Anmerkungen zu Vorbehalt und Vorrang des Gesetzes bei Anwendung von § 26 RStV und zur Rolle der Rechtsaufsicht – . .

467

Dieter Dörr Vielfaltssicherung in Gefahr? Die Verhinderung vorherrschender Meinungsmacht und die Springer-Entscheidung der KEK . . . . .

481

Carl-Eugen Eberle Gestaltung der deutschen Rundfunkordnung durch die europäische Beihilfenaufsicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

497

Adrian Fikentscher 18 Jahre Eurovisionsverfahren und kein Ende? . . . . . . . . . . .

507

Tilo Gerlach Brüsseler Spitzen? Zur „Empfehlung der EU-Kommission zur grenzüberschreitenden Lizenzierung von Online-Musik“ . . . . .

523

X

Inhalt

Friedrich Kübler Redefreiheit und Demokratie: das amerikanische Beispiel. . . . . .

533

Peter Mailänder Gerichtsfernsehen statt Fernsehgericht – Gerichtssaal öffne dich –

547

Eva-Maria Michel Audiovisuelle Medien – Kultur versus Kommerz? . . . . . . . . . .

565

Manfred Schiedermair Das Bild der Juristen in den Opern von Mozart – da Ponte . . . . .

579

Karola Wille Rechtsfragen der Verbreitung von Rundfunk in IP-basierten Netzwerken (DSL) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

589

V. Anwaltliches und Akademisches Berufsrecht Peter Hommelhoff Für eine flexibilisierte und dynamisierte Struktur des Akademischen Personals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

603

Hartmut Kilger Wie der angehende Anwalt ausgebildet sein muss . . . . . . . . . .

609

Peter Ströbel Die Organisation der Rechtsanwaltskammern – sind die gesetzlichen Grundlagen noch zeitgemäß? . . . . . . . . .

619

Heinz Weil Die Rechtsanwaltschaft im Spannungsfeld von Berufsrecht und Wettbewerbsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

631

Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. K. Peter Mailänder . . . . . .

645

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

651

Vorwort Karl Peter Mailänder, der erfolgreiche, hochrenommierte Seniorpartner einer der führenden deutschen Anwaltskanzleien, vollendet am 23. Oktober 2006 sein 70. Lebensjahr. Freunde und Weggefährten, Richter, Hochschullehrer, Anwaltskollegen und Persönlichkeiten der Wirtschaft würdigen den Jubilar aus solchem Anlass mit einer Festschrift, die ihm Dank und Verbundenheit bekunden, Huldigung und Anerkennung erweisen und ganz in Sonderheit eine persönliche Freude bereiten soll. Geboren am 23. Oktober 1937 in Stuttgart, Spross einer alten Stuttgarter Kaufmannsfamilie, legte K. Peter Mailänder 1955 im Nachkriegs-Stuttgart am humanistischen Gymnasium illustre, dem Eberhard-Ludwigs-Gymnasium, sein Abitur ab. Von 1955 bis 1959 studierte er Rechtswissenschaft an den Universitäten München und Tübingen und erzielte 1959 und 1964 in beiden Juristischen Staatsprüfungen Spitzenergebnisse. Vor seiner Referendarzeit widmet K. Peter Mailänder die Jahre 1960/1961 – schon hier dem Zug der Zeit einen Schritt voraus – dem Studium des anglo-amerikanischen Rechts und der Rechtsvergleichung an der New York University. Der Ertrag dessen schlug sich in seiner Graduierung zum Master of Comparative Jurisprudence nieder, mehr noch aber in einer ersten, wegbereitenden und prägenden Hinwendung zum anglo-amerikanischen Rechtskreis. Zurückgekehrt wurde K. Peter Mailänder 1961 wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Wirtschaftsrecht der Universität Tübingen, wo er im Jahr 1963 mit einer Arbeit über „Zuständigkeit und Entscheidungsfreiheit nationaler Gerichte im EWG-Kartellrecht“ bei Ernst Steindorff promovierte. 1964 folgte er seinem Mentor im Wechsel des Lehrstuhls als wissenschaftlicher Assistent an das Institut für Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht der Universität München. Juristisch überaus befähigt und ambitioniert schien ihm der Weg in Rechtswissenschaft und Universitätslaufbahn gewiesen und gleichsam vorgegeben. Freilich, während mancher im Kreis der Altersgleichen in ihm bereits den Jung-Ordinarius sah, setzte er die Gewichte anders und fand für sich seine Berufung in der vita activa des Rechtsanwalts in Stuttgart. Von nun an ist das praktische Recht sein Lebenselixier, die stete Verbindung von Rechtspraxis und Rechtswissenschaft sein persönliches Markenzeichen. Am 1. Juli 1965 wird K. Peter Mailänder in gemeinsamer, neu gegründeter Sozietät mit Dr. Friedrich Haver in Stuttgart als Rechtsanwalt zugelassen, ein Glücksfall für die Kanzlei, wie sich alsbald zeigt. Rechtlich hochkompetent, ausgestattet mit der Wohltat der auch praktischen Intelligenz, getragen von Disziplin und Zielstrebigkeit, Vielseitigkeit und Weitsicht, begnadet im Be-

XII

Vorwort

sonderen mit einer bewundernswerten persönlichen Schaffenskraft widmet er sich hinfort mit aller Energie und Hingabe dem Ausbau der Sozietät, die seinen Namen trägt. Konsequent verfolgt er dabei das Ziel, ihre spezifischen Schwerpunkte, Unternehmens- und Gesellschaftsrecht, Bank- und Kapitalmarktrecht, deutsches und europäisches Kartellrecht, Wettbewerbsrecht sowie späterhin Medien- und Kommunikationsrecht den Veränderungen in Recht und Märkten entsprechend weiterzuentwickeln, mit Gespür für Trends und Kommendes zu aktualisieren sowie im Besonderen die Sozietät zunehmend zu internationalisieren. Den Kundigen überrascht nicht, dass Haver & Mailänder rasch und beständig, aus sich selbst heraus gewachsen ist und heute mit 30 Rechtsanwälten in vier Standorten zur ersten Reihe der deutschen Wirtschaftskanzleien gehört. Erstaunlich und bewundernswert freilich ist die dahinter stehende Lebensleistung des Jubilars, der dieser Erfolg entscheidend zu verdanken ist. K. Peter Mailänder ist ein großer Beweger, der seine Ziele weit steckt und versteht, sie auch zu erreichen und durchzusetzen. Innere Unabhängigkeit, souveränes fachliches Können, Geradlinigkeit, Zuverlässigkeit und Grundsatztreue und absolute Seriosität bestimmen seinen persönlichen Stil als Rechtsanwalt. In seiner ganzen Art aktiv und dynamisch, mit Leib und Seele Anwalt, unermüdlich in den Geschäften und immer in Bewegung, kennt er keinen Stillstand. Vielbeschäftigt und meist unter Volllast bewegt und gestaltet er vieles, ein jedes aber immer ganz. In der ihn kennzeichnenden Verbindung von hoher juristischer Kompetenz und wirtschaftlichem Sachverstand, souverän im Persönlichen, über das Rechtliche hinaus mit der Denkwelt des Wirtschaftens und des Unternehmerischen vertraut, international erfahren und versiert, ist K. Peter Mailänder bald und bis heute ein vielgefragter, hochgeschätzter Berater und Ratgeber in Wirtschaft und Verbänden. Zu seiner Klientel gehörten und gehören ebenso bekannte mittelständische Unternehmen, darunter eine Vielzahl von Familiengesellschaften, wie Großunternehmen der Industrie und manch internationaler Konzern. Seine Begabung, Verbindung zu finden und zu erhalten, Kontakte zu begründen und zu pflegen, ist ihm dabei eine gewiss schätzenswerte Zutat zur Fülle seines Talents. Zahlreiche seiner Mandanten betreut K. Peter Mailänder denn auch seit mehreren Jahrzehnten vorbereitend und mitgestaltend in ihren unternehmerischen Entscheidungen. Wortgewaltig, nicht selten auch ein Meister des ironischen Worts, versteht er in Verhandlung und Diskurs durchsetzungsstark zu argumentieren. Nicht weniger aber ist ihm gegeben, im ruhigen, vertrauensvollen Gespräch zu überzeugen und den Partner mitzunehmen in Ausgleich und Lösung streitiger Interessengegensätze. Zahlreiche Aufsichtsratsmandate und Mitgliedschaften in Beiräten und vergleichbaren Gremien, u. a. etwa der langjährige Vorsitz in den Aufsichtsräten der deutschen Citibank-Gesellschaften, finden mit auch in solcherart Vorzügen des Jubilars Ursprung und Gewinn.

Vorwort

XIII

Reicher Dank gilt vornehmlich auch dem Wirken des Jubilars im internen Miteinander der Sozietät. Mit allseits spürbarer Autorität, geleitet von genauen Vorstellungen und Meinungen ebenso wie von Toleranz und Verständnis, Wohlwollen und Sorge um sein Gegenüber, kundig der Dinge und ruhig im Handeln, war und ist K. Peter Mailänder für die nach ihm in die Sozietät eingetretenen Partner und Mitarbeiter stets und in allem ein Vorbild im echten Wortsinn; kollegiales Vorbild nicht zum geringsten auch in der Gabe, starke, eigenständige Köpfe um sich zu sammeln, an die Kanzlei zu binden und in ihrer Entwicklung mit Klugheit und Weitsicht zu fördern. Über seine Anwaltsgeschäfte hinaus kennzeichnen K. Peter Mailänder ganz im Besonderen seine wissenschaftlichen Neigungen, darin Freund und Diener der Rechtswissenschaft in einem. Eine Vielzahl wissenschaftlicher Abhandlungen, Kommentierungen, Beiträgen, Aufsätzen, Urteilsanmerkungen und Rezensionen, zu Beginn vornehmlich zu kartell- und europarechtlichen oder wettbewerbsrechtlichen, späterhin vor allem zu medienrechtlichen Themen, entstammen seiner Feder. Das Verzeichnis seiner Schriften, beginnend 1964, umfasst so bis heute nicht weniger als 55 Publikationen. Freilich nicht nur durch seine Veröffentlichungen blieb K. Peter Mailänder der Wissenschaft und Lehre verbunden. Seit 1988 nahm er einen Lehrauftrag für Wirtschaftsrecht an der Universität Hohenheim wahr, an der er seit seiner Bestellung zum Honorarprofessor im Jahre 1992, seinen Studenten und sich zur Freude, Wettbewerbsrecht, Wertpapierrecht und Bankrecht liest. Bei aller Belastung in der eigenen Sozietät sah sich K. Peter Mailänder zu allen Zeiten aus innerer Verantwortung vor allem auch den allgemeinen Interessen und Belangen des anwaltlichen Berufsstandes verpflichtet. Seit langen Jahren engagiert er sich in der Rechtsanwaltskammer Stuttgart, seit 1978 als Vorstandsmitglied, von 1986 bis 1998 zugleich als Mitglied des Präsidiums der Kammer. Des Weiteren gehört er für die Bundesrechtsanwaltskammer seit 1991 deren „Europausschuss“ an. Seit 2001 ist er daneben Mitglied des Ausschusses „Internationale Sozietäten“ und seit 2003 des weiteren Mitglied des Ad hoc-Ausschusses „Rechtsanwälte im freien Beruf“. Ein umfangreiches weiteres ehrenamtliches Engagement und eine staunenswerte Präsenz in zahlreichen, nationalen und internationalen Berufsverbänden, Fachvereinigungen und wissenschaftlichen sowie rechtspolitischen Gremien in den Arbeitsfeldern seiner Wahl geben seinem Wirken zusätzlich Resonanz, Einfluss und Wirkung. Seit über drei Jahrzehnten etwa prägt er den baden-württembergischen Bund der Steuerzahler, dem er seit 1975 als Mitglied und seit 1989 als Vorsitzender des Verwaltungsrats und späterhin auch als Mitglied und stellvertretender Vorsitzender des Beirats des Gesamtpräsidiums ein hochgeschätzter und wichtiger Ratgeber ist. Ein vergleichbares Engagement entfaltet der Jubilar im höchsten Gericht des Landes. Im Jahr 2000 zum Mitglied des Staatsgerichtshofs für das Land Baden-Württemberg berufen, besticht er dort als Anwalt in der Richterrobe. Verdienste um

XIV

Vorwort

den Erhalt der Medienvielfalt erwarb sich der Medienexperte K. Peter Mailänder in der wichtigen Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich, der er seit 1997 als Mitglied und von 2002 bis 2004 als Vorsitzender angehört. Anwaltliche Hand an die Gesetzgebung legt der Jubilar des Weiteren als Mitglied des Beraterausschusses für die Novellierungen zum Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen beim Bundesminister für Wirtschaft. Weitgespannt wie seine ehrenamtlichen Aktivitäten sind nicht zuletzt auch seine privaten Hobbys in den seltenen Fällen von Freizeit und Muße. Ihr Bogen reicht vom leidenschaftlichen Fan des runden Leders – und des VfB Stuttgart insbesondere – über die Vorliebe zu Musik und Literatur bis hin zum gewandten Golfer und geachteten Präsidenten des Stuttgarter Golfclubs Solitude. Auch Bergsteigen und Skifahren kann man den Jubilar gelegentlich sehen, wenn ihn ausnahmsweise die Kanzlei einmal loslässt. Mit dieser Festschrift überreichen Herausgeber und Autoren dem Jubilar einen bunten Strauß von Beiträgen, in denen sich das breite Spektrum seiner wissenschaftlichen Interessen und Neigungen andeutet und widerspiegelt. Die Gliederung der Beiträge in fünf Gruppen ist dabei an den Haupttätigkeitsgebieten orientiert, auf denen vornehmlich K. Peter Mailänder rechtswissenschaftlich, rechtspolitisch und rechtpraktisch gearbeitet und der Weiterentwicklung des Rechts Anstoß und Anregung gegeben hat. Unsere Festgabe gilt dem hervorragenden Juristen, dem Wissenschaftlicher, Hochschullehrer und vor allem dem großen Rechtsanwalt, in Sonderheit aber auch dem Menschen K. Peter Mailänder, dem wir Dank für sein Wirken aussprechen, in Wunsch und Hoffnung, dass ihm Gesundheit, Energie und Schaffenskraft noch lange treu bleiben mögen. Karlmann Geiss

I. Bank- und Kapitalmarktrecht

Der Kontonummer-Namensvergleich zu Gunsten des Empfängers der Überweisung – babylonische Zitatenverwirrung oder relevantes Rechtsproblem? Christina Escher-Weingart Inhaltsübersicht I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Kontonummer-Namensvergleich zu Gunsten des Überweisenden . . . . 1. Beleghafte Überweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Beleglose Überweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Kontonummer-Namensvergleich zu Gunsten des Empfängers der Überweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Kontonummer-Namensvergleich im Rahmen des Erfüllungsanspruchs a) Beleghafte Überweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beleglose Überweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Kontonummer-Namensvergleich im Rahmen eines Schadensersatzanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Das Bankrecht in seinen Detailproblemen ist ein Rechtsbereich von hoher praktischer Relevanz aber stiefmütterlicher Behandlung in der Literatur. Diese Lücke ein klein wenig zu füllen, ist daher mein Anliegen aus Anlass des 70. Geburtstages von Prof. Dr. Mailänder, der in diesem Bereich einen seiner vielen Schwerpunkte hat. Prof. Mailänder ist aber nicht nur ein Mann der Tat, sondern auch der Wissenschaft, wie seine lange Lehrtätigkeit in Hohenheim und sein wissenschaftliches Werk belegen. Gerade deshalb ist eine solche Themenstellung zwischen Theorie und Praxis als Beitrag zu der Festschrift zu seinen Ehren besonders gut geeignet. Die Grundfrage des Kontonummer-Namensvergleichs dürfte den meisten hinlänglich bekannt sein. Es geht um die Frage, ob die Empfängerbank einer Überweisung diese einfach auf das in der Überweisung angegebene Konto buchen darf, oder ob zuvor geprüft werden muss, ob das angegebene Konto

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Christina Escher-Weingart

der namentlich in der Überweisung angegebenen Person zugeordnet ist.1 In früheren Zeiten, als Überweisungen noch von Hand bearbeitet wurden, stellte sich diese Frage nicht in dem Maße. Aber im Zuge der fortschreitenden Technisierung werden solche Probleme zunehmend virulent. Denn der numerische Abgleich zwischen zwei angegebenen Nummern stellt für den Computer kein Problem dar und kann vollautomatisch vorgenommen werden. Beim Namensabgleich ist dies hingegen nicht möglich. Dies liegt – natürlich – nicht an einer mangelnden Fähigkeit der Maschinen, Buchstaben abzugleichen, sondern hier „menschelt“ es. Viele Überweisende geben die Empfängerbezeichnung nicht korrekt an.2 Wer macht sich schon die Mühe, „Chantall Müllers Schneiderstudio GmbH & Co KG“ genau so auf den Überweisungsträger zu schreiben oder – um ein Konzernbeispiel zu wählen – zwischen Navigo Schiffsbau GmbH, Navigo Schiffsschrauben AG oder Navigo Holding AG zu unterscheiden. Auf den Überweisungsträgern tauchen dann Bezeichnungen wie schlicht „Navigo“ auf, ob das dann die Holding, die Schiffsbau oder die Schiffsschrauben Gesellschaft ist, lässt sich nur durch eine persönliche Rückfrage oder durch das Vertrauen auf die Kontonummer bestimmen. Gleiches gilt für eine Überweisung an „Müller“. Dies kann die Gesellschaft, aber auch das Privatkonto sein. Bei „Müller“ als Empfängerangabe kommen noch die Probleme eines gängigen Namens hinzu. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es diverse „Müllers“ mit einem Konto bei dieser Bank gibt. Praktisch gibt es daher für die Bank drei prinzipielle Möglichkeiten: erstens sie verzichtet auf den Namen und bucht auf dem angegebenen Konto gut, zweitens sie macht einen Kontonummer-Namensvergleich, bei dem jede Divergenz zwischen korrektem Namen und Angabe auf dem Überweisungsträger zur manuellen Nachbehandlung führt und drittens sie fährt einen Mittelweg: Stimmen Hauptteile der Namensangaben mit dem dem Konto zugeordneten Namen überein, wird ohne Rückfrage auf dieses Konto gebucht. Unnötig zu sagen, dass die Entscheidung zwischen diesen drei Varianten in einem von immensen Massen geprägten Sektor wie dem Bankbereich 3 weitreichende ökonomische Folgen hat. Deutschland ist europaweit das Land mit den geringsten Bankgebühren und einem der best funktionierendsten Systemen. Dies ist nur möglich, weil die technische Entwicklung im Bankenbereich innovativ ist, wie in wenig anderen Wirtschaftsbereichen.4 In Zeiten

1 Dazu: Schmalenbach in Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Hrsg.: Bamberger/Roth, Band 2, 2003, § 676 f Rn. 15. 2 Woldter, WuB ID1.-5.04; vgl. OLG Karlsruhe, OLGReport 2004, 479, 481. 3 Claussen, Bank- und Börsenrecht, 3. Aufl. 2003, § 7 Rn. 9/10 gibt an, dass eine zweistellige Millionenzahl an Transfers täglich abgewickelt wird und dass das Volumen des Überweisungsverkehrs 30 Billionen Euro auf sich vereinigt. 4 Dazu Claussen, Bank- und Börsenrecht, a.a.O. (Fn. 3), § 7 Rn. 9.

Kontonummer-Namensvergleich zu Gunsten des Empfängers

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der Globalisierung und der ständigen Verteuerung der menschlichen Arbeitskraft im Gegensatz zu technisch abwickelbaren Vorgängen ist die unmittelbare Auswirkung des Einsatzes menschlicher Arbeitskraft auf die Preise der Endleistung offensichtlich. Die Gebühren für Überweisungen – seien sie einzeln berechnet oder Teil des Gesamtpakets Girovertag – werden in dem Maße steigen, in dem zusätzliche Arbeitskraft für die einzelnen Vorgänge benötigt wird.

II. Der Kontonummer-Namensvergleich zu Gunsten des Überweisenden Dies vorausgeschickt soll zunächst die Rechtslage beim klassischen Kontonummer-Namensvergleich im Rahmen des Überweisungsvertrages dargestellt werden, die gegenwärtig unstrittig ist. Danach wird das eigentliche Problem beleuchtet, nämlich ob es unabhängig von den Pflichten im Überweisungsvertrag einen eigenen Anspruch des Empfängers der Überweisung auf einen Kontonummer-Namensvergleich gibt. Diese Frage lässt die Rechtsprechung in obiter dicta 5 ausdrücklich offen. Eine vertiefte Behandlung in der Literatur zu diesem Problem fehlt. Es gibt einige klare Äußerungen in die eine oder andere Richtung und einige Verwirrung. Nach neuem Recht ist die Überweisung nunmehr keine Weisung im Rahmen des Giroverhältnisses mehr, sondern ein eigenständiger Vertrag (§ 676a) mit allen sich daraus ergebenden Problemen. Der Überweisende macht also seinem Institut – meist im Rahmen seines Giroverhältnisses – einen Antrag auf Abschluss eines Überweisungsvertrags, indem er die Überweisung seiner Bank zukommen lässt. Die Bank nimmt diesen Antrag dann an. Wie dies geschieht 6, muss im Rahmen dieses Beitrags genauso wenig erörtert werden wie die Frage, wann die Bank ablehnen darf und wann sie nicht zur Ausführung verpflichtet ist, selbst wenn sie den Antrag angenommen hat.7 Welche Angaben der Kunde für ein taugliches Vertragsangebot zu machen hat und welche Voraussetzungen für die Durchführung vorliegen müssen ergibt sich teils aus dem Gesetz, teils aus den AGB der Banken. Erfüllt ist dieser Überweisungsvertrag dann, wenn das Geld auf dem Konto der Bank des Empfängers angekommen ist, nota bene also nicht beim Empfänger selbst 8. 5

Z.B. OLG Karlsruhe, OLGReport 2004, 479, 481. Ausführlich dazu: Schmidt/Engel in Kontoführung & Zahlungsverkehr, 2. Aufl. 2005, S. 383ff.; Langenbucher in Zahlungsverkehr, Hrsg.: Langenbucher/Gößmann/Werner, 2004, § 1 Rn. 9ff.; Hellner/Escher-Weingart, Bankrecht und Bankpraxis, Hrsg. Hellner/ Steuer, Stand 7/03, 6/30 c ff. 7 Ausführlich dazu: Gößmann/Look, WM Sonderbeilage 1/2000, S. 30ff. 8 Dies gilt natürlich nicht bei Haus- und Filialüberweisungen. Dazu: Hellner/EscherWeingart, Bankrecht und Bankpraxis, a.a.O. (Fn. 6), 6/31 c. 6

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Christina Escher-Weingart

1. Beleghafte Überweisungen Gegenwärtig wird bei Überweisungsverträgen in zwei große Gruppen geteilt. Die eine Gruppe sind die beleghaften oder beleggebundenen Überweisungen und die andere die beleglosen.9 Dabei ist entscheidend für die Zuordnung der Antrag zum Abschluss des Überweisungsvertrags, also die Sicht des Überweisenden. Bei den beleghaften Überweisungen gibt der Kunde im Grundsatz noch einen echten Überweisungsträger ab, wie dies aus früherer Zeit bekannt war. Die Bank hat nun zwei Möglichkeiten: Sie bearbeitet diesen Beleg manuell weiter und verschickt ihn in Papierform an die zwischengeschalteten Institute und die Empfängerbank oder sie wandelt diesen Beleg in einen Datensatz um, der dann durch die modernen Kommunikationsmittel transferiert werden kann. Damit wird die Überweisung zwar im Interbankenverkehr beleglos. Dies ändert aber nichts daran, dass es im Rahmen des Überweisungsvertrags eine beleghafte Überweisung bleibt.10 Welcher Weg heute von der Praxis gewählt wird, braucht wohl kaum ausgesprochen zu werden. Würden heutzutage noch die Belege in Papierform transportiert, wären die Zeitvorgaben des § 676a II nicht zu halten. Die Bank wandelt also die beleghaften Überweisungen in beleglose um. Dennoch bleibt die Tatsache, dass der Kunde die Überweisung von Hand ausgefüllt hat. Und hier kommt wieder der menschliche Faktor ins Spiel. Jedem von uns ist bewusst, dass ein Zahlendreher in einer Zahl ohne eigene Aussagekraft schnell passiert ist. Man merkt sich zwar gut, ob die gewünschte Stereoanlage 1.600,– € oder 6.100,– € kostet, weil damit ein Marktwert verbunden ist. Schwieriger wird es schon, wenn die Anlage 1.683,12 € kostet. Hier dürften Zahlendreher in den hinteren drei Stellen wohl oft unentdeckt bleiben. Wie soll es dann aber bei einer 12 stelligen Kontonummer ohne inhaltliche Relevanz sein.11 Wem man hingegen eine bestimmte Summe zuwenden möchte, wird man wissen. Eine Verwechslung (keine Ungenauigkeiten bei der Namensangabe) der ausgeschriebenen Person des Empfängers dürfte höchst selten sein. Daher ist der Rechtsprechung 12 zuzustimmen, wenn sie bei beleggebundenen Überweisungen die Empfängerbezeichnung und nicht

9 BGHZ 108, 386, 388 ff.; Schmalenbach in Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, a.a.O. (Fn. 1), § 676 f. Rn. 15; Schimansky in Bankrechtshandbuch, Hrsg.: Schimansky/ Bunte/Lwoski, 2001, Band I, § 49 Rn. 18 a; Meder in Handbuch zum deutschen und europäischen Bankrecht, Hrsg.: Derleder/Knops/Bamberger, 2004, § 38 Rn. 20. 10 Aus dieser „Zwitterstellung“ entstehen Unklarheiten, weil oft das Verhältnis zwischen den beleglos arbeitenden Banken betrachtet wird und dabei übersehen wird, dass es sich im Verhältnis zum Überweisenden nach wie vor um eine beleghafte Überweisung handelt. 11 So auch Aepfelbach, WuB ID1.-4.99. 12 BGHZ 108, 386, 390 f.; OLG Köln, WM 2001, 2003, 2004; OLG Düsseldorf, WM 2001, 2000, 2001.

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die Kontonummer für die Bestimmung des richtigen Überweisungsempfängers für entscheidend hält 13. Dies ist so, egal wie die Überweisung weiter transferiert wird. Es gibt aber im gesamten Überweisungsweg nur eine Stelle, die die Übereinstimmung von Kontonummer und Empfänger prüfen kann und das ist die Empfängerbank 14. Nur sie weiß, ob er der von ihr vergebenen Kontonummer dieser namentlich genannte Empfänger zuzuordnen ist. Daher obliegt der Kontonummer-Namensvergleich nach dem Abkommen zum Überweisungsverkehr 15 bei beleggebundenen Überweisungen ausschließlich der Empfängerbank. Besonders zu beachten und wichtig für die weiteren Ausführungen ist an dieser Stelle, dass es dabei um die Abwicklung des Überweisungsvertrages geht. Vertragspartner dieses Vertrages sind der Überweisende und die überweisende Bank. Die Empfängerbank ist also nicht Vertragspartner dieses Vertrages (außer bei der Haus- oder Filialüberweisung). Das Verhältnis zu ihr zu regeln, hat der Gesetzgeber bei der Neuschaffung des Überweisungsrechts unterlassen. Es herrscht aber mittlerweile Einigkeit, dass die Empfängerbank in einem einem Zahlungsvertrag ähnlichen Verhältnis zu der vorgehenden Bank in der Kette steht.16 Der Empfänger der Überweisung ist an dem Überweisungsvertrag in keiner Weise beteiligt. Der Überweisungsvertrag ist vor allen Dingen kein Vertrag zu Gunsten Dritter mit eigenen Ansprüchen des Empfängers aus diesem Vertrag.17 Der Empfängerbank obliegt damit der Kontonummer-Namensvergleich ausschließlich im Verhältnis der Verträge in der Überweisungskette, damit im Ergebnis zu Gunsten des Überweisenden. Eine Pflicht gegenüber dem Überweisungsempfänger ergibt sich aus dem Überweisungsvertrag und den entsprechenden Abkommen nicht. Damit steht das folgende Zwischenergebnis fest: Im beleghaften Verfahren ist entscheidend für die Auslegung des Überweisungsvertrages die Namensangabe und nicht die Kontonummer.18 Diese kann ergänzend bei unklaren Namensverhältnissen herangezogen werden. Dies sind die Fälle der unklaren Bezeichnung (nur Navigio ohne Angaben der genauen Konzerngesellschaft), der unvollständigen Namensangaben (nur Müller für „Chantall Müllers Schneiderstudio GmbH & Co KG“) oder der doppelt existierenden Namen 13

Im Ergebnis so auch Schimansky in Bankrechtshandbuch, a.a.O. (Fn. 9), § 49 Rn. 18. OLG Köln, WM 2001, 2003, 2004. 15 Nr. 3 Abs. 2 des Abkommens zum Überweisungsverkehr. 16 Hellner/Escher-Weingart, Bankrecht und Bankpraxis, a.a.O. (Fn. 6), 6/31b. 17 Schimansky in Bankrechtshandbuch, a.a.O. (Fn. 9), § 49 Rn. 40 a; Meder in Handbuch zum deutschen und europäischen Bankrecht, § 38 Rn. 20; Gößmann/Look, WM Sonderbeilage 1/2000, S. 29. 18 BGHZ 108, 386, 391 sowie Zeitschrift für Bank- und Kapitalmarktrecht (BKR) 2003, 215, 217; OLG Düsseldorf, WM 2001, 2000, 2001; Schimansky in Bankrechtshandbuch, a.a.O. (Fn. 9), § 49 Rn. 18; Meder in Handbuch zum deutschen und europäischen Bankrecht, § 38 Rn. 20; Horn in AGB-Gesetz Kommentar von Wolf/Horn/Lindacher, 4. Aufl. 1999, § 23 Rn. 697. 14

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(mehrere Privatkunden mit dem Nachnamen Müller). Die Pflicht zum Kontonummer-Namensvergleich trifft nach dem Abkommen zum Überweisungsverkehr die Empfängerbank, die auch als einzige faktisch in der Lage ist, diesen Abgleich vorzunehmen. Im Rahmen des Überweisungsvertrages bestehen Pflichten der Empfängerbank aber nicht zu Gunsten des Empfängers selbst, da er an dem Überweisungsvertrag in keiner Weise beteiligt ist, sondern ausschließlich zu den Banken in der Überweisungskette und damit letztendlich zu Gunsten des Überweisenden. 2. Beleglose Überweisungen Im beleglosen Überweisungsverfahren ist es demgegenüber so, dass die Daten von der Buchhaltung oder einem Rechenzentrum auf die Bänder eingespielt werden. Tippfehler sind also nicht zu erwarten, auch bei den Kontonummern nicht. Daher ist hier davon auszugehen, dass die angegebene Kontonummer richtig ist. Im beleglosen Verfahren kann daher der Kontonummer-Namensvergleich der Empfängerbank entfallen (ob dies von der Rechtsprechung und der Literatur so gesehen wird dazu sogleich unten). Dies und die mangelnde Notwendigkeit die beleghaften in beleglose Überweisungen umzusetzen ermöglichen entsprechend niedrigere Preise für die Dienstleistung „Überweisung“ 19. Wegen der unterschiedlichen Risiken differenziert die Rechtsprechung bei der Frage, was im Verhältnis zum Überweisenden eine beleghafte und was eine beleglose Überweisung ist, auch richtiger Weise nicht danach, ob jemals ein Stück Papier als Überweisungsträger angefertigt wurde, sondern entsprechend der sich verwirklichenden Risiken. Eingaben unmittelbar am Bankinterminal oder im online-Verfahren sind daher trotz fehlenden papiergebundenen Überweisungsträgers wegen des Risikos der falschen Zahlenangabe beleghafte Überweisungen 20.

III. Der Kontonummer-Namensvergleich zu Gunsten des Empfängers der Überweisung Ist die Rechtslage beim Überweisungsvertrag und damit bezüglich der Rechte des Überweisenden klar – beim beleghaften Überweisungsverfahren gibt es einen Anspruch auf den Kontonummer-Namensvergleich, beim beleglosen nicht 21 – ist sie im Hinblick auf den Empfänger der Überweisung 19

Schimansky in Bankrechtshandbuch, a.a.O. (Fn. 9), § 49 Rn. 19. Schimansky in Bankrechtshandbuch, a.a.O. (Fn. 9), § 49 Rn. 19. 21 BGH, Zeitschrift für Bank- und Kapitalmarktrecht (BKR) 2003, 215, 217; Meder in Handbuch zum deutschen und europäischen Bankrecht, § 38 Rn. 20; unklar aber in diesem 20

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offen. Fest steht, dass der Empfänger keinerlei Ansprüche unmittelbar aus dem Überweisungsvertrag herleiten kann, da er an diesem Vertragsverhältnis nicht beteiligt ist. Für eventuelle Ansprüche des Empfängers bleibt somit als Anknüpfungspunkt lediglich das Verhältnis des Überweisungsempfängers zu seiner Bank. Dabei ist zunächst zu fragen, um welche Art Anspruch es sich überhaupt handeln soll, und hier beginnt bereits der Verwirrung erster Teil. Einige Autoren billigen zwar den Anspruch auf einen KontonummerNamensvergleich des Empfängers, erläutern aber nicht, wo dieser herkommen soll 22. Die möglichen Ansatzpunkte für einen solchen Rechtsanspruch sind aber so verschieden, dass sie einer einheitlichen Antwort nicht zugänglich sind. In Betracht kommt nämlich zum einen ein Erfüllungsanspruch und zum anderen ein Schadensersatzanspruch.23 1. Der Kontonummer-Namensvergleich im Rahmen des Erfüllungsanspruchs Bereits nach altem Recht handelte es sich beim Girovertrag um ein Auftragsverhältnis. Damit bestand nach § 667 BGB ein Anspruch gegen die Bank auf Herausgabe des Erlangten. Ob dieser Anspruch heute noch fortbesteht, ist nach der Kodifizierung der Vertragsverhältnisse unklar.24 Jedenfalls ergibt sich aber ein Anspruch auf Gutschrift der eingehenden Zahlungen nach § 676 f., der mit dem alten Anspruch inhaltsgleich ist. Hat die Empfängerbank also eine Zahlung für den Überweisungsempfänger erlangt, muss sie diese an ihn in Form einer Gutschrift auf seinem Konto herausgeben. Der Überweisungsempfänger hat also einen Erfüllungsanspruch gegen seine Bank aus dem Girovertrag zwischen ihm und seiner Bank auf Gutschrift.25 Dieser Anspruch besteht aber wie bereits gesagt nur, wenn die Zahlung für den Überweisungsempfänger eingegangen ist, der nunmehr den Anspruch

Zusammenhang Schmalenbach in Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, a.a.O. (Fn. 1), § 676f. Rn. 15, der auf den Kontonummer-Namensvergleich ausdrücklich nur im Interbankenverhältnis verzichten will, „anderen Parteien“ gegenüber aber nicht. Der Überweisende ist kein Teil des Interbankenverkehrs, verzichtet aber unzweifelhaft auf den Kontonummer-Namensvergleich zu Gunsten billigerer Überweisungen. Es macht wenig Sinn, ihn zwangsweise wieder in den Schutzbereich einzubeziehen. An Hand der Stellung im Kommentar und der zitierten Fußnoten ist aber davon auszugehen, dass Schmalenbach dies trotz des Wortlautes des Textes auch nicht meint, sondern für ihn hier „andere Parteien“ ausschließlich der Überweisungsempfänger ist. 22 Schmalenbach in Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, a.a.O. (Fn. 1), § 676 f. Rn. 15. 23 So auch Casper in Münchener Kommentar, 4. Aufl. 2005, § 676f. Rn. 14. 24 Dazu: Sprau in Palandt, 65. Aufl. 2006, § 676 f., Rn. 9 und 11; Claussen, Bank- und Börsenrecht, a.a.O. (Fn. 3), § 7 Rn. 19; ausführlich dazu: Gößmann/Look, WM Sonderbeilage 1/2000, S. 18f. 25 Sprau in Palandt, a.a.O. (Fn. 24), § 676 f. Rn. 9 ff.; Schimansky in Bankrechtshandbuch, a.a.O. (Fn. 9), § 49 Rn. 41; Kümpel, Bank- und Kapitalmarktrecht, 3. Aufl. 2004, 4.295/7.

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geltend macht 26. Es ist somit bei eingehenden Überweisungen festzustellen, für welchen Überweisungsempfänger diese Zahlungen eingegangen sind. Passen Kontonummer und Name zusammen, so ist es unproblematisch. Die Überweisung ist für diesen Kontoinhaber eingegangen. Schwieriger wird es bereits, wenn die Kontonummer und der Name in Teilen übereinstimmen, wenn also einer der oben erläuterten Fälle vorliegt (Navigio ohne nähere Bezeichnung der richtigen Konzerngesellschaft, Müller ohne Angabe, ob Firmen- oder Privatkonto, oder mehrfach vorhandene Namen). Der Name alleine ermöglicht in diesen Fällen keine eindeutige Zuordnung mehr. Damit stellt sich bereits hier die Frage, wie die Zuordnung vorzunehmen ist. Noch schwieriger wird es, wenn Kontonummer und Name gänzlich auseinanderfallen; dann ist zu klären, ob der Name oder die Kontonummer maßgeblich ist und wonach sich deren Maßgeblichkeit richtet. Auf den ersten Blick erscheint es, als ob die Antwort auf diese Frage aus dem Verhältnis von Überweisungsempfänger zu Empfängerbank gesucht werden muss, da ja in diesem Verhältnis die Pflicht zur Gutschrift besteht 27. Wenn man dies bejaht, dann kann sich die Folgefrage ergeben, ob der Empfängerbank gegenüber ihrem Girovertragskunden eine eigenständige Pflicht zum Kontonummer-Namensvergleich obliegt, da unter Umständen nur so der „richtige“ Empfänger bestimmt werden kann. Jedoch ist eine solche Betrachtungsweise bereits im Ansatz falsch. Die Zuordnung, für welchen Kunden der Empfängerbank eine Zahlung eingegangen ist, ergibt sich ausschließlich durch das Handeln des Überweisenden. Irrelevant ist also auch, wie die zwischengeschalteten Zahlungsverträge ausgestaltet sind, da diese – egal ob sie selber beleghaft oder beleglos vorgenommen werden – die Vorgaben des Überweisenden im Rahmen der formalen Auftragsstrenge weiterleiten müssen 28. Dies lässt sich klar erkennen, wenn man den Fall simplifiziert. Der Überweisende schuldet eine Sache, die er durch Boten (= Bank des Überweisenden) überbringen lässt. Der Überweisende gibt die Anweisung, diese Sache in einem großen Apartmenthaus an Herrn Müller in Apartment 7 zu übergeben. Der Bote übergibt die Sache an den Pförtner dieses Hauses (= Empfängerbank) unter Weitergabe der Anweisung. Es ist unmittelbar einleuchtend, dass der Pförtner zwar in einer Rechtsbeziehung zu den Eigen26 Im Ergebnis so auch Sprau in Palandt, a.a.O. (Fn. 24), § 676f. Rn. 11, der lediglich fragt, „wem gutzuschreiben ist“ ohne diese Frage dogmatisch zu verorten. 27 So ausdrücklich Schimansky in Bankrechtshandbuch, a.a.O. (Fn. 9), § 49 Rn. 41. 28 Hier liegt oft ein Denkfehler, da zunächst das Verhältnis der beteiligten Banken betrachtet wird, da nur diese in unmittelbarer Vertragsbeziehung stehen. In deren Verhältnis ist die Überweisung zwar beleglos. Das ändert aber nichts daran, dass sie aus Sicht des Überweisenden beleghaft ist. Da die Banken die Überweisung so weitergeben müssen, wie der Überweisende sie erteilt hat, kommt es aber auf das Interbankenverhältnis für die Auslegung der Überweisung nicht an. Zur Pflicht zur Weiterleitung der Weisungen: Hellner/ Escher-Weingart, Bankrecht und Bankpraxis, a.a.O. (Fn. 6), 6/148.

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tümern der Apartments steht, dennoch aber nicht nach seinem Rechtsempfinden die Sache weitergeben darf, sondern der Anweisung gemäß handeln muss. Daran ändert sich auch nichts, wenn der „Überweisende“ seinen Boten anweist, die Sache bei Herrn Müller in Apartment 7 abzugeben, aber wenn Unklarheiten bestehen – weil er sich entweder des Namens oder der Nummer nicht sicher ist – eines dieser beiden Merkmale als alleine entscheidend anzusehen. Wünscht der „Überweisende“ also, dass die Sache in der Nummer 7 abzugeben ist, auch wenn dort kein Herr Müller wohnen sollte, so ist dies von dem Boten, aber auch vom Pförtner zu beherzigen. In dieser simplen Variante ist klar, dass der Pförtner, auch wenn er im Lager des Empfängers steht, von den Angaben des Überweisenden nicht abweichen darf. a) Beleghafte Überweisungen Dies ist im Verhältnis der an der Überweisung beteiligten Personen nicht anders. Der Überweisende regelt im Rahmen des Überweisungsvertrages, an wen die Auszahlung des Geldes zu erfolgen hat. Er legt durch die Wahl der Überweisungsform fest, welche Merkmale als maßgeblich anzusehen sind. Wählt der Überweisende die beleghafte Überweisung, so ist seine ausschlaggebende Weisung, das Geld an den Träger des entsprechenden Namens mit diesem Konto bei der Empfängerbank auszukehren. Seine Erklärung ist dabei nach objektivem Empfängerhorizont so auszulegen 29, dass bei Übereinstimmung eines wesentlichen Namensbestandteils mit der angegebenen Kontonummer zur Identifizierung ausreichend ist. Denn wie oben bereits ausgeführt, werden Überweisungsträger oft nicht mit der vollständigen Empfängerbezeichnung versehen 30. Der Überweisende hat in diesen Fällen kein Interesse daran, die Überweisung zurückzuerhalten.31 Vielmehr dient es einem reibungslosen Ablauf des Massenverkehrs im Überweisungswesen und damit auch den einzelnen Überweisenden, wenn zur Identifizierung die Kontonummer mitherangezogen wird 32. Legt der Überweisende also durch die Wahl des beleghaften Vorgehens fest, dass maßgeblicher Empfänger des Geldes der Namensträger ist, so darf die Empfängerbank auch nur diesem

29 OLG Düsseldorf, WM 2001, 2000, 2001; Sprau in Palandt, a.a.O. (Fn. 24), § 676 f. Rn. 11; Schimansky in Bankrechtshandbuch, a.a.O. (Fn. 9), § 49 Rn. 16. 30 Auch wenn dem Überweisenden nach den AGB der Banken obliegt, die Aufträge klar und eindeutig zu formulieren, Nr. 11; siehe Horn in AGB-Gesetz Kommentar, a.a.O. (Fn. 18), § 23 Rn. 697. 31 Siehe auch OLG Karlsruhe, OLGReport 2004, 479, 481. 32 Im Ergebnis sind sich hier die meisten einig. Die Begründungen differieren aber erheblich. Denn wenn keine Klarheit über die Anspruchsgrundlage besteht, kann auch nicht dogmatisch sauber begründet werden. Daher sind für die Autoren hier oft Billigkeitserwägungen ausschlaggebend. Vgl.: Schmalenbach in Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, a.a.O. (Fn. 1), § 676 f. Rn. 15.

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das Geld übergeben. Nur dies entspricht dem im Überweisungsrecht maßgeblichen Grundsatz der formalen Auftragsstrenge 33. Somit ist die Angabe der Kontonummer unter rein rechtlichen Gesichtpunkten sogar verzichtbar 34 (dass dies völlig unpraktikabel wäre, ist für die rein rechtliche Wertung irrelevant). Faktisch werden die beleghaften Überweisungen wie oben geschildert in beleglose umgewandelt. Diese werden dann zunächst an Hand der Bankleitzahl und in einem späteren Schritt der Kontonummer weitergeleitet (der Einfachheit halber wird hier nicht in Hausüberweisung, Filialüberweisung und Überweisung in ein anderes Gironetz unterschieden, weil die Grundsätze die gleichen bleiben). Erst wenn das Geld bei der Empfängerbank ankommt, kann der Name als entscheidendes Merkmal wieder aufleben. Daher verpflichtet das Abkommen zum Überweisungsverkehr folgerichtig die Empfängerbank, bei beleghaften Überweisungen diesen Namen wieder zum maßgeblichen Kriterium zu machen, indem durch den Kontonummer-Namensvergleich das Geld nur demjenigen übergeben wird, der den in der Überweisung angegebenen Namen trägt 35. Dementsprechend hat die Empfängerbank nur für diesen Namensträger eine eingehende Zahlung zu verzeichnen, nur diesem muss und darf sie folglich nach § 676f. den Betrag gutschreiben 36. Der hier der Empfängerbank zur Pflicht gemachte Kontonummer-Namensvergleich hat also nichts mit dem Verhältnis der Empfängerbank zum Empfänger als ihrem Girokunden zu tun. b) Beleglose Überweisungen Nichts anderes kann aber gelten, wenn der Überweisende sich in seinem eigenen Interesse dafür entscheidet, die Vorteile des beleglosen Zahlungsverkehrs in Anspruch zu nehmen (und nur auf den Überweisenden und den Überweisungsvertrag und nicht etwa auf etwaige Zahlungsverträge kommt es nach dem Prinzip der formalen Auftragsstrenge an 37). Korrelat dieser Vor-

33 Schimansky in Bankrechtshandbuch, a.a.O. (Fn. 9), § 49 Rn. 15; Gößmann/Look, WM Sonderbeilage 1/2000, S. 19 f.; Claussen, Bank- und Börsenrecht, a.a.O. (Fn. 3), § 7 Rn. 18. 34 Gößmann/Look, WM Sonderbeilage 1/2000, S. 32 aus Sicht der Überweisungsrichtlinie; dies natürlich nur, wenn der Empfänger nicht über mehrere Konten bei der gleichen Bank verfügt. Auch Horn in AGB-Gesetz Kommentar, a.a.O. (Fn. 18), § 23 Rn. 697 stellt fest, dass die Kontonummer nicht notwendig für die Ausführung ist. 35 Hellner/Escher-Weingart, Bankrecht und Bankpraxis, a.a.O. (Fn. 6), 6/168. 36 Meder in Handbuch zum deutschen und europäischen Bankrecht, § 38 Rn. 20f.; für den Überweisungsvertrag so auch Claussen, Bank- und Börsenrecht, a.a.O. (Fn. 3), § 7 Rn. 18. 37 Woldter, WuB ID1.-5.04; dies wird übersehen, wenn zunächst der Zahlungsvertrag zwischen der Empfängerbank und der vorherigen Bank in der Kette betrachtet wird, der praktisch immer beleglos ist. Dieser kann für die Auslegung der „Weisung“ des Überweisenden genauso wenig eine Rolle spielen, wie für die Frage ob es aus Sicht des Überweisenden eine beleghafte oder beleglose Überweisung ist.

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teile ist, dass der Überweisende nicht mehr den Namen, sondern die Kontonummer als maßgeblich für die Bestimmung des Empfängers des Geldes akzeptiert 38. Im beleglosen Überweisungsverkehr ist von allen Beteiligten zu beachtender Inhalt der Überweisung somit, das Geld an den Inhaber der angegebenen Kontonummer auszukehren 39. Jede andere Auslegung der Willenserklärung des Überweisenden ist inkonsequent. Es macht wenig Sinn, wenn der Überweisende die Maßgeblichkeit der Kontonummer anerkennt, dennoch aber den Namen des Empfänger als maßgeblich erklären will. Eine solche Willenserklärung wäre in sich perplex und damit nichtig (Motive für die Abgabe einer Willenserklärung wie die Erfüllung der Schuld im Valutaverhältnis – das anerkannter Maßen keine Rolle für das Deckungsverhältnis spielt 40 – sind bei der Auslegung von Willenserklärungen in unserer Rechtsordnung irrelevant 41 wie man an der fehlenden Anfechtungsmöglichkeit für Motivirrtümer erkennen kann). Will der Überweisende den Namen für maßgeblich erklären, ist aber wegen der damit verbundenen Kostenvorteile bereit, die Kontonummer als alleiniges Identifizierungsmerkmal anzuerkennen, so dürfte es wohl unzweifelhaft gegen Treu und Glauben verstoßen, wenn der Überweisende hiernach bei einer Verbuchung auf dem angegebenen Konto Ansprüche geltend macht, weil der benannte Empfänger diesem Konto nicht zugeordnet werden kann. Ebenso in sich widersprüchlich ist es, die Erklärung des Überweisenden so auszulegen, dass zwar auf den Kontonummer-Namensvergleich verzichtet werden darf, das Geld aber trotzdem dem namentlich bezeichneten Empfänger zustehen soll 42. Denn die Verbuchung auf dem Konto des namentlich Bezeichneten zu erreichen ist ja gerade der Sinn des Kontonummer-Namensvergleiches, da immer zunächst nach 38 So auch der BGH in einem neuen Urteil zu den AGB der Banken vom 15.11.2005 XI ZR 265/04. Bis hierhin noch übereinstimmend Schimansky in Bankrechtshandbuch, a.a.O. (Fn. 9), § 49 Rn. 19; dies verkennt Horn in AGB-Gesetz Kommentar, a.a.O. (Fn. 18), § 23 Rn. 699, wenn er von einer ungerechtfertigten Risikoverlagerung auf den Kunden spricht. 39 So auch (noch zum alten Recht) BGHZ 108, 386, 390; OLG Karlsruhe, OLGReport 2004, 479, 480; OLG Hamm, OLGReport 1997, 185; Gößmann/Look, WM Sonderbeilage 1/2000, S. 20. 40 OLG Karlsruhe, OLGReport 2004, 479, 480; Schimansky in Bankrechtshandbuch, a.a.O. (Fn. 9), § 47 Rn. 12. 41 Woldter, WuB ID1.-5.04. 42 So aber Schimansky in Bankrechtshandbuch, a.a.O. (Fn. 9), § 49 Rn. 41, der dabei allerdings auf seine eigene Randnummer 19 verweist, in der er das nur für das beleghafte Verfahren feststellt, für das beleglose aber genau offen lässt; für eine Aufklärungspflicht der Bank auch Casper in Handbuch zum deutschen und europäischen Bankrecht, Hrsg.: Derleder/Knops/Bamberger, 2004, § 3 Rn. 55, obwohl er davon ausgeht, dass der Name im beleglosen Verfahren überhaupt nicht mehr mitübermittelt wird!; ähnlich Casper in Münchener Kommentar, a.a.O (Fn. 23), § 676 f. Rn. 14, der ebenfalls davon ausgeht, dass zwar nach den Abkommen keine Pflicht zur Übermittlung des Empfängernamens besteht, dies daher in der Praxis unterbleibt, aber trotzdem der Berechtigte der namentlich bekannte Empfänger sein soll. Die rechtliche Begründung dafür fehlt.

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Kontonummer gebucht wird und nur dann, wenn der KontonummerNamensvergleich eine erhebliche Differenz zwischen Kontonummer und zugeordnetem Namen zu Tage fördert, eine manuelle Nachbearbeitung nach dem Namen erfolgt 43. Ist somit im beleglosen Verfahren alleine ausschlaggebend die Kontonummer, müssen sich alle Beteiligten, auch die Empfängerbank, daran halten 44. Die Empfängerbank hat somit im beleglosen Überweisungsverkehr das Geld für den Inhaber der angegebenen Kontonummer erlangt. Nur für diesen ist das Geld eingegangen, nur diesem muss und darf es von der Empfängerbank nach § 676 f. gutgeschrieben werden. Dies gilt nach dem Grundsatz der formalen Auftragsstrenge auch, wenn sich bei einem freiwilligen Kontonummer-Namensvergleich Abweichungen ergeben 45. Einen Anspruch auf Erfüllung aus § 676 f. hat somit nur derjenige, für den das Geld eingegangen ist. Wie dieser zu ermitteln ist, bestimmt der Überweisende durch den Inhalt seiner Überweisung. Eigene Rechte des Empfängers außer dem Anspruch auf Gutschrift des (auch wirklich) für ihn eingegangenen Geldes bestehen nicht. Dies ist auch konsequent. Denn richtiger Ansicht nach kann die Erfüllung des Valutaverhältnisses nur eintreten, sobald das Geld auf dem Konto des Empfängers gutgeschrieben worden ist 46. Jede andere Sichtweise würde zu unübersehbaren Schwierigkeiten im Gesamtgefüge des bargeldlosen Zahlungsverkehr führen. Die bereits bestehenden Friktionen ergeben sich durch die Verlagerung des Zeitpunkts der Erfüllung des Überweisungsvertrages auf 43

Hellner/Escher-Weingart, Bankrecht und Bankpraxis, a.a.O. (Fn. 6), 6/168. Auch Schimansky in Bankrechtshandbuch, a.a.O. (Fn. 9), § 49 Rn. 18ff. widerspricht dieser Aussage nicht. Er weist zu Recht darauf hin, dass die überweisende Bank das Risiko nicht zu Lasten des Überweisenden verlagern darf, wenn sie die Überweisungen beleglos weiterbearbeitet (Rn 18 a) und dass im Privatkundengeschäft nicht jeder papierlose Vorgang zugleich beleglos ist (Rn 19). Dies sagt aber alles nichts über die Auslegung des Überweisungsvertrages, wenn der Überweisende zu seinem eigenen Vorteil das beleglose Verfahren unter Verzicht auf den Kontonummer-Namensvergleich wählt. Unklar Kümpel, Bank- und Kapitalmarktrecht, a.a.O. (Fn. 25), 4.288, der zwar auf Schimansky verweist, aber keine eigene Stellung bezieht. 45 A.A. OLG Düsseldorf, ZIP 2003, 1139 (allerdings für eine Auslandsüberweisung nach SWIFT) ohne Begründung, warum die Empfängerbank ein Recht zum Kontonummer-Namensvergleich gegenüber dem Überweisenden haben soll oder warum der Namensträger der gewünschte Empfänger sein soll und das, obwohl in diesem Fall die Kontonummer korrekt, der Name aber falsch war, der Überweisende also eindeutig eine Buchung auf dieses Konto und nicht bei diesem Namensträger wollte; a.A. auch Meder in Handbuch zum deutschen und europäischen Bankrecht, § 38 Rn. 21, aber ohne Begründung wieso dann der Name maßgeblich sein kann. Zu den Problemen, die sich aus der abweichenden Ansicht ergeben sogleich unten. 46 Claussen, Bank- und Börsenrecht, a.a.O. (Fn. 3), § 7 Rn. 20; a.A. Kümpel, Bank- und Kapitalmarktrecht, a.a.O. (Fn. 25), 4.292 ff./4.334 ff.; Gößmann/Look, WM Sonderbeilage 1/2000, S. 20; Langenbucher in Zahlungsverkehr, a.a.O. (Fn. 6), § 1 Rn. 129; zu den Problemen bei einer Verschiebung des Erfüllungszeitpunktes Hellner/Escher-Weingart, Bankrecht und Bankpraxis, a.a.O. (Fn. 6), 6/15. 44

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den Zeitpunkt des Eingangs des Geldes bei der Empfängerbank. Wird nun auch noch die Erfüllung im Valutaverhältnis auf diesen Zeitpunkt verlagert, ist zwar wieder ein Gleichlauf der Erfüllungszeitpunkte gegeben, das ist aber auch schon fast das einzig Positive, was man dazu sagen kann. Dies macht gerade die besprochene Konstellation deutlich. Wählt der Überweisende den beleglosen Zahlungsverkehr, so trägt er im Valutaverhältnis das Risiko einer falschen Kontonummer. Denn die Erfüllung des Valutaverhältnisses ist nicht eingetreten, da das Geld nicht auf dem Konto des Vertragspartners eingegangen ist (wohl aber bei dessen Bank; soll dann gemäß der hier nicht vertretenen anderen Meinung wirklich das Valutaverhältnis erfüllt sein, auch wenn das Geld das Konto des Gläubigers nie erreicht 47?) Die Nichterfüllung im Valutaverhältnis ist ökonomisch richtig, denn der Überweisende hat die Vorteile des beleglosen Zahlungsverkehrs in Anspruch genommen 48. Der Empfänger der Geldleistung ist weiter hinreichend geschützt, denn er behält seinen Anspruch aus dem Valutaverhältnis, wenn die Überweisung auf Grund einer fehlerhaften Kontonummer nicht bei ihm eingeht. Die überweisende Bank hingegen hat mit der Gutschrift bei der Empfängerbank den Überweisungsvertrag erfüllt. Dem Überweisenden stehen damit keine Ansprüche gegen die überweisende Bank zu. Das Risiko der Nichtwiedererlangbarkeit des Überweisungsbetrages wegen der Besonderheiten des Kondiktionenrechts 49 liegen konsequenter Weise bei demjenigen, der den Fehler gemacht hat, nämlich beim Überweisenden. 2. Der Kontonummer-Namensvergleich im Rahmen eines Schadensersatzanspruchs Steht somit fest, dass es keinen Erfüllungsanspruch des Empfängers einer Überweisung gibt, der als eigenständige Pflicht zu Gunsten dieses Empfängers einen Kontonummer-Namensvergleich beinhaltet 50, so ist die zweite Frage, ob es eine zum Schadensersatz führende Nebenpflicht auf einen eigenständigen Kontonummer-Namensvergleich aus dem Girovertrag zwischen Empfänger und Empfängerbank gibt 51. 47 Ohne Stellungnahme zu diesen Problemen Kümpel, Bank- und Kapitalmarktrecht, a.a.O. (Fn. 25), 4.2300ff./4.334 ff.; auf ähnliche Probleme weist hin Blaurock, Das Recht der grenzüberschreitenden Überweisung, 2000, S. 129. 48 OLG Hamm, OLGReport 1997, 185; Meder in Handbuch zum deutschen und europäischen Bankrecht, § 38 Rn. 21; für diese Risikoverteilung spricht sich auch Gößmann/Look, WM Sonderbeilage 1/2000, S. 20 aus, ohne aber zu erläutern wie dies dann bei abweichendem Erfüllungszeitpunkt gehen soll. 49 Ausführlich dazu Kümpel, Bank- und Kapitalmarktrecht, a.a.O. (Fn. 25), 4.340ff.; Schwintowski, Bankrecht, Hrsg.: Schwintowski/Schäfer, 2. Aufl. 2004, § 7 Rn. 164ff. 50 A.A. Sprau in Palandt, a.a.O. (Fn. 24), § 676 f. Rn. 11. 51 Zum Bestehen solcher Nebenpflichten Gößmann/Look, WM Sonderbeilage 1/2000, S. 24.

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Nebenpflichten sind keine eigenständigen Anspruchsgrundlagen, sondern Obhuts- und Sorgfaltspflichten, was sich darin zeigt, dass ihre Einhaltung nicht selbständig eingeklagt werden kann, sondern „nur“ bei Nichteinhaltung zum Schadensersatz führt. Nebenpflichten sind daher meist nicht ausdrücklich vereinbart, sondern ergeben sich qua Auslegung aus dem Vertrag. So ist es auch hier. Im Rahmen des Girovertrages zwischen Empfänger und seiner Bank gibt es keinerlei Abreden über eine Pflicht zum KontonummerNamensvergleich. Auch die Abkommen, Richtlinien und Bedingungen der Banken schweigen zu diesem Punkt. Ein eigenständiges Recht auf einen Kontonummer-Namensvergleich kann sich daher nur aus einer Gesamtwürdigung des Girovertrages ergeben. Es müsste sich also aus dem Girovertrag eine Nebenpflicht zum Kontonummer-Namensvergleich ergeben. Die Nebenpflichten haben sich aus § 242 BGB entwickelt und dienen dazu, eine den Gesamtinteressen der Beteiligten angemessene Abwicklung von Schuldverhältnissen zu erreichen. Geschuldet wird nicht ausschließlich nach dem Wortlaut der Vereinbarung, sondern dem Geist des Schuldverhältnisses nach.52 Die Parteien sind also zu gegenseitiger Rücksicht verpflichtet. Dies könnte zu der Folgerung führen, dass die Empfängerbank aus Rücksicht auf ihren Girovertragspartner einen Kontonummer-Namensvergleich in jedem Fall durchzuführen habe, um sicherzustellen, dass das Geld den richtigen Empfänger erreicht 53. So einleuchtend dies auf den ersten Blick erscheint, so falsch ist es aber. Denn die Postulation einer Nebenpflicht auf einen Kontonummer-Namensvergleich übersieht, dass die Empfängerbank nicht nur ihrem Kunden gegenüber in einem Vertragsverhältnis steht, sondern auch einen Vertrag mit der im Überweisungsweg vorgeschalteten Instanz hat. Dies mag bei einer Filialüberweisung der Überweisende selbst sein, bei einer Überweisung außerhalb des eigenen Netzes die in der Überweisungskette vorangehende Bank. Dieser Vertrag bindet die Empfängerbank hinsichtlich der Möglichkeiten des Umgangs mit dem überwiesenen Betrag. Bei beleghaften Überweisungen stellen sich keine Probleme, da der Kontonummer-Namensvergleich hier bereits im Rahmen des Überweisungsabkommens geschuldet ist. Das Ergebnis dieses Kontonummer-Namensvergleichs kann nicht je nach Gläubiger divergieren. Es ist somit egal, ob der Vergleich als Rechtsanspruch des Überweisenden oder des Empfängers stattfindet. Erklärt der Überweisende im beleglosen Verfahren die Kontonummer alleine für ausschlaggebend, so ist die Empfängerbank ebenfalls daran gebunden und zwar durch den Vertrag mit dem Überweisenden bzw. dem vorange52

Larenz, SchuldR I, § 10 II, Offen lässt die Frage der Nebenpflicht Schimansky in Bankrechtshandbuch, a.a.O. (Fn. 9), § 49 Rn. 41, da er schon einen Anspruch auf Erfüllung bejaht. 53

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henden Institut in der Kette. Prinzipiell kann die Empfängerbank damit das Geld nicht rechtmäßiger Weise zurückschicken, weil bei einem Kontonummer-Namensvergleich ein Fehler aufgefallen ist.54 Verzögerungen, die auf diese Weise entstehen, würden die Empfängerbank unter Umständen sogar einem Schadensersatzanspruch ihres Vertragspartners aussetzen. Denn bei nach numerischen Verfahren arbeitenden Datensystemen ist es z.B. denkbar (auch wenn dieser Fall bisher noch nicht entschieden worden ist), dass die richtige Kundennummer mit dem richtigen Konto gepaart ist, der Name selbst aber einen auffälligen Schreibfehler enthält (Miller statt Müller) oder gar ein völlig falscher Name eingespielt worden ist (nur wer noch nie einen Serienbrief mit einer völlig unsinnigen Namensbezeichnung, aber an die richtige Adresse erhalten hat, kann dieses Problem leugnen). Es ist also keineswegs so, dass ein Kontonummer-Namensvergleich sich immer auch zu Gunsten des Überweisenden auswirken muss55. Zudem werden bei einem obligatorischen Kontonummer-Namensvergleich die Kosten der beleglosen Überweisungen insgesamt steigen. Auch dies ist nicht im Interesse der Überweisenden, die offensichtlich die Kostenersparnis im Verhältnis zu dem Fehlerrisiko bei der Überspielung von Daten ins beleglose Verfahren für relevanter erachten als die Verlustrisiken durch fehlerhafte Angaben. Denn da den Parteien auch das beleghafte Verfahren mit obligatorischen Kontonummer-Namensvergleich offen steht, drücken sie durch die Wahl des beleglosen Verfahrens ihre Risikopräferenzen aus 56. Der Überweisungsempfänger steht demgegenüber nicht schutzlos da, da er wie oben erörtert den Erfüllungsanspruch aus dem Valutaverhältnis behält. Entspricht der KontonummerNamensvergleich somit nicht dem Willen des Überweisenden als „Herrn des Überweisungsverfahrens“ und ist gleichzeitig der Empfänger der Überweisung hinreichend geschützt, so kann auch keine Nebenpflicht im Girovertrag des Empfängers zur Vornahme eines solchen Vergleiches begründet werden. Denn die Nebenpflichten des § 242 BGB sollen eine geordnete, von gegenseitiger Rücksichtnahme geprägte Abwicklung des Vertrages sicherstellen, nicht aber zu einer von diffusen Billigkeitserwägungen getragenen Erweiterung des tatsächlichen Pflichtenkreises führen. Eine Erweiterung des Pflichtenkreises ist in einer von Privatautonomie getragenen Rechtsordnung Sache der Parteien selbst. Ein Schutz des Empfängers durch Zwangseingriffe der Rechtsprechung, der über den Erhalt des Anspruchs im Valutaverhältnis hin-

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A.A. Aepfelbach, WuB ID1.-4.99. So die Konstellation bei einer Auslandsüberweisung nach SWIFT, bei der die Kontonummer richtig, der Name aber falsch war in OLG Düsseldorf, ZIP 2003, 1139ff. 56 BGH vom 15.11.2005 XI ZR 265/04 (noch nicht veröffentlicht); OLG Karlsruhe, OLGReport 2004, 479, 480; Gößmann/Look, WM Sonderbeilage 1/2000, S. 20; daher kann Horn in AGB-Gesetz Kommentar, a.a.O. (Fn. 18), § 23 Rn. 699 nicht zugestimmt werden, wenn er von einer ungerechtfertigten Risikoverlagerung auf den Kunden spricht. 55

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ausgeht, ist nicht nötig (und selbst diejenigen, die von einer Erfüllung des Valutaverhältnisses beim Eingang des Geldes bei der Bank statt auf dem Konto des Empfängers ausgehen, wollen doch wohl nicht ernsthaft behaupten, dass der Empfänger seinen Anspruch aus dem Valutaverhältnis verliert, wenn das Geld im Rahmen eines Kontonummer-Namensvergleich zurückgeschickt wird; sie werden ebenfalls schwer vertreten können, dass das Geld im beleglosen Verfahren abweichend von der maßgeblichen Kontonummer auf einem dem Namen entsprechenden Konto gutgeschrieben werden darf) 57.

IV. Ergebnis Damit ist insgesamt festzuhalten, dass es keinen eigenständigen Anspruch des Überweisungsempfängers aus dem Girovertrag auf einen KontonummerNamensvergleich gibt. Bis auf Schimansky 58, der sich ausdrücklich für einen solchen Anspruch ausspricht, scheinen die zustimmenden Meinungen in der Literatur und Teilen der Rechtsprechung entweder darauf zu beruhen, dass nicht sauber nach Anspruchsgrundlagen differenziert wird 59 oder dass beleghaftes Verfahren, bei dem ein solcher Anspruch (aber des Überweisenden) besteht, und belegloses Verfahren nicht auseinandergehalten werden 60 oder zwischen den verschiedenen Rechtsverhältnissen nicht ausreichend differenziert wird 61. Zum Teil wird auch beim beleglosen Verfahren oder für beide

57 Erstaunlich in diesem Zusammenhang Casper in Münchener Kommentar, a.a.O. (Fn. 23), § 676 f. Rn. 14, der nicht einen Anspruch des Empfängers gegen die Empfängerbank bejaht – da diese ja nicht zum Kontonummer-Namensvergleich verpflichtet ist –, sondern einen Anspruch des Überweisenden gegen die überweisende Bank, da diese den Namen nicht mit übermittelt hat und so den Kontonummer-Namensvergleich verhindert hat, zu dem die Empfängerbank nicht verpflichtet ist. Sollte gewollt sein, dass im Rahmen der Erfüllung ein Anspruch des Empfängers besteht, so ist es dogmatisch nicht glücklich, diesen Anspruch über einen Schadenseratzanspruch des Überweisenden gegen seine Bank quasi „durch die Hintertür“ zu ermöglichen. Was ist, wenn der Überweisende keinen Schadensersatz geltend macht? Entfällt dann auch der Erfüllungsanspruch des Empfängers, weil kein Name mitgeleitet worden ist? 58 Schimansky in Bankrechtshandbuch, a.a.O. (Fn. 9), § 49 Rn. 41. 59 Schmalenbach in Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, a.a.O. (Fn. 1) § 676 f. Rn. 15. 60 So formuliert das OLG Köln, WM 2001, 2003 im Leitsatz: „Im beleglosen Zahlungsverkehr ist die Empfängerbank verpflichtet, die Kontonummer mit dem Namen des Empfängers zu vergleichen.“ Dabei geht es im Urteil um eine beleghaft eingereichte Überweisung, die lediglich beleglos weitergeleitet worden ist. Dementsprechend besteht nach dem Abkommen zum Überweisungsverkehr, Nr. 3 II 2, auch die Pflicht zum KontonummerNamensvergleich, auf den der Leitsatz lediglich verweist. 61 Sprau in Palandt, a.a.O. (Fn. 24), § 676 f. Rn. 11, der eine Pflicht zum KontonummerNamensvergleich damit begründet, dass die Abkommen zum Datenträgeraustausch nur im

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Verfahren als Block ein Anspruch bejaht, dieser dann aber mit einem Zitat zum beleghaften Verfahren begründet 62 oder gar ein Anspruch in beiden Verfahren bejaht und dann ohne Begründung auf einen Autor verwiesen, der den Anspruch selber nur im beleghaften Verfahren zubilligt 63. Diese „babylonische Zitatenverwirrung“ war der Durchdringung des für die Praxis alleine wegen der damit verbundenen Kostenfolgen relevanten Rechtsproblems in der Vergangenheit nicht zuträglich, weshalb eine Klarstellung notwendig war.

Interbankenverhältnis wirken. Damit hat Sprau zwar Recht und dies ist eine richtige Argumentation für das beleghafte Verfahren. Er übersieht aber, dass der Überweisende im beleglosen Verfahren bereits im Rahmen des Überweisungsvertrags auf den KontonummerNamensvergleich verzichtet. 62 Im Endeffekt so auch Schimansky in Bankrechtshandbuch, a.a.O. (Fn. 9), § 49 Rn. 41, der auf seine eigene Rn. 19 verweist. 63 In diese Richtung geht Schwintowski, Bankrecht, a.a.O. (Fn. 49), § 7 Rn. 38, der zunächst sagt, beim beleglosen Verfahren müsse der Name entscheidend sein, denn die Abkommen würden nur im Interbankenverkehr wirken (was in sich zwar richtig ist, aber nichts über die Auslegung der Überweisung sagt) und dann eine Ausnahme mit Verweis auf Gößmann/Look macht, wenn die Datenträger vom Überweisenden verfasst sind, was gerade kennzeichnend für das beleglose Verfahren ist.

Zeit für einen Abschied von der Genehmigungstheorie bei der Lastschriftzahlung? Katja Langenbucher Inhaltsübersicht I.

Der Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Ermächtigungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Genehmigungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Erosion des Erfordernisses der Genehmigung . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Widerspruchsrecht des Insolvenzverwalters beim Einzugsermächtigungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die „Lastschriftreiterei“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Ausweitung konkludenter Genehmigungen durch Schweigen und die Neuregelung in Ziffer 7.3 der AGB Banken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die dogmatische Einordnung der Lastschrift zählt zu den Klassikern des privaten Bankrechts und damit zu einem der Themen, mit denen sich der Jubilar besonders intensiv beschäftigt hat. Ihm die folgende Untersuchung zu widmen ist mir schon deshalb eine große Freude, weil ich K. Peter Mailänder seit meiner Abiturientenzeit als ebenso scharfsinnigen wie präzisen, bisweilen gar spöttischen Kritiker kenne.

I. Der Ausgangspunkt Eine Lastschriftzahlung unterscheidet sich bekanntlich von anderen bargeldlosen Zahlungsformen vor allem dadurch, dass der Zahlungsempfänger den Zahlungsvorgang selbst einleitet. Er wird von seiner Bank, der ersten Inkassostelle, zum Lastschriftverfahren zugelassen. Die erste Inkassostelle reicht die zum Einzug gegebenen Lastschriften weiter zur Bank des Lastschriftschuldners. Den Lastschriftbetrag schreibt sie dem Lastschriftgläubiger unter dem Vorbehalt des Eingangs gut.1 Im Regelfall kann der Lastschriftgläubiger sofort hierüber verfügen.2 Die Besonderheit des Lastschrift1 2

Kuder ZInsO 2004, 1357, 1358. Böhm BKR 2005, 366, 369; Kuder ZInsO 2004, 1357, 1358.

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verfahrens liegt nun darin, dass während einer Zeitspanne von sechs Wochen nach der Buchung die Bank des Lastschriftschuldners, die Zahlstelle, die Lastschrift grundlos an die erste Inkassostelle zurückgeben kann. Diese hat wiederum noch nach Ablauf dieser Frist die Möglichkeit, den Lastschriftbetrag dem Lastschriftgläubiger zurück zu belasten. Dem Lastschriftschuldner ermöglicht das, gegen bereits abgebuchte Lastschriften Widerspruch einzulegen und den Zahlungsvorgang auf diese Weise rückabzuwickeln. Auf welche Weise die Belastung auf dem Konto des Lastschriftschuldners dogmatisch einzuordnen ist, ist Gegenstand eines akademischen Streits, dessen Wurzeln gut 25 Jahre zurückreichen.3 Durch einige kürzlich ergangene Gerichtsurteile hat er unverhofft an Brisanz gewonnen.4 1. Die Ermächtigungstheorie Die Ermächtigungstheorie 5 nimmt ihren Ausgang beim Valutaverhältnis zwischen Lastschriftschuldner und Lastschriftgläubiger. Die dort vereinbarte Lastschriftklausel wird analog § 185 BGB als Ermächtigung eingeordnet. Der Schuldner, der eine Einzugsermächtigung erteilt, gestattet seinem Gläubiger einen Zahlungsvorgang anzustoßen. Handelt es sich um eine Zahlung, die sich innerhalb der Grenzen dieser Ermächtigung bewegt, ist der Lastschriftschuldner gegenüber seiner Bank an den Zahlungsvorgang gebunden. Widerspricht er gleichwohl und kommt die Bank diesem Widerspruch nach, handelt er im Valutaverhältnis vertragswidrig und macht sich schadensersatzpflichtig. Überschreitet der durchgeführte Zahlungsvorgang die Grenzen dieser Ermächtigung, handelt es sich um eine im Verhältnis des Lastschriftschuldners zu seiner Bank wie zum unberechtigt Abbuchenden nicht genehmigte Abbuchung. Der Lastschriftschuldner darf widersprechen und die Bank ist verpflichtet, dem nachzukommen. 2. Die Genehmigungstheorie Die in Rechtsprechung und Literatur bislang ganz herrschende Genehmigungstheorie 6 spricht der im Valutaverhältnis erteilten Einzugsermächtigung eine über die Mitteilung der Kontodaten hinausreichende Bedeutung ab. Die 3 Einerseits Hadding FS Bärmann, 1975, S. 375, 388; ders. WM 1978, 1366, 1368; Schimansky/Bunte/Lwowski (Hrsg.) BankR-Hdb. I, 2001, van Gelder § 58 Rn. 24ff.; andererseits Canaris BankvertragsR, 1988, Rn. 532, 559, 565. 4 BGH NZI 2005, 99; BGH WM 2006, 1001 ff. = demnächst LMK 2006 mit Anm. S. Lorenz; OLG München ZIP 2005, 2102; OLG Saarbrücken BeckRS 2005 Nr. 01479; hierzu Block/Voß BKR 2006, 225 ff. 5 Canaris aaO. Rn. 532, 559, 565; s.a. Bork FS Gerhardt, 2004, S. 69 ff.; Langenbucher Risikozuordnung im bargeldlosen Zahlungsverkehr, 2001, S. 187–196. 6 BGHZ 72, 343; BGH NJW 2000, 2667; kürzlich bestätigt in BGH WM 2006, 1001 ff.;

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Zahlstelle belastet hiernach das Konto des Lastschriftschuldners stets unberechtigt. Gegen diese Abbuchung ist folglich im Grundsatz jederzeit ein Widerspruch des Lastschriftschuldners möglich. Bei seinem Widerspruch ist der Lastschriftschuldner an die zwischen den Banken vereinbarte Sechs-Wochen-Frist, während derer eine Lastschrift an die erste Inkassostelle zurückgegeben werden kann,7 nicht gebunden. Widerspricht der Lastschriftschuldner nach Ablauf dieser Frist, handelt es sich um eine für die Zahlstelle verbindliche Weisung ihres Kunden, die unberechtigt vorgenommene Kontobelastung zu stornieren.8 Zwar ist die erste Inkassostelle der Zahlstelle gegenüber aus dem Lastschriftabkommen nicht mehr zur Rücknahme verpflichtet. Aus dem Giroverhältnis zwischen erster Inkassostelle und Zahlstelle entnimmt man aber Nebenpflichten der Inkassostelle, sich um die Rückleitung der Lastschrift zu bemühen. In der Praxis gelingt das schon deshalb regelmäßig, weil sich die erste Inkassostelle im Verhältnis zum Lastschriftgläubiger eine zeitlich unbefristete Rückbelastungsmöglichkeit ausbedingen lässt.9 Um der Weisung ihres Kunden nachzukommen, muss sich die Zahlstelle deshalb um Rückleitung der Lastschrift bemühen.10 Dieser gedankliche Ansatz führt zunächst einmal zu einer zeitlich unbegrenzten Möglichkeit des Lastschriftschuldners, durchgeführte Zahlungsvorgänge auch grundlos wieder rückabzuwickeln. Nur wenn der Schuldner gegenüber der Zahlstelle die Abbuchung genehmigt hat, soll die Belastung endgültig sein. Dem unbefriedigenden Ergebnis lässt sich nicht dadurch die Schärfe nehmen, dass sich der Lastschriftschuldner im Valutaverhältnis bei einem unberechtigten Widerspruch schadensersatzpflichtig macht.11 Das wird zwar im Regelfall so sein.12 Die zur Rückabwicklung angewiesene Bank kann sich aber gegenüber der Weisung ihres Kunden auf Rechtsmissbrauch im Valutaverhältnis im Regelfall nicht berufen.13 Damit konzentrieren sich die Vertreter dieser Theorie auf die Frage, wann eine Genehmigung des Schuldners gegenüber der Bank vorliegt, die zur Endgültigkeit der Zahlung führt. Das Spektrum vertretener Meinungen ist statt aller: Hadding aaO. S. 375, 388; ders. WM 1978, 1366, 1368; van Gelder aaO. § 58 Rn. 24ff. 7 Lastschriftabkommen Abschnitt III Nr. 2, Stand April 2003. 8 Canaris aaO. Rn. 559 f. 9 Canaris aaO. Rn. 559 f.; Langenbucher/Werner/Gößmann (Hrsg.) Zahlungsverkehr, 2004, Werner § 2 Rn. 138; anders Jungmann NZI 2005, 84, 88. 10 Hierzu Langenbucher aaO. S. 221 f. Das Insolvenzrisiko des Lastschriftgläubigers trägt freilich die Zahlstelle, Böhm BKR 2005, 366, 369. 11 BGHZ 74, 300. 12 BGHZ 101, 153; Fischer FS Gerhardt, 2005, S. 223, 227; Ganter WM 2005, 1557f. (siehe aber dort Fn. 7). 13 BGHZ 74, 309; Fischer aaO. S. 223, 225 f.; für Ausnahmefälle zu Recht anders Canaris aaO. Rn. 562.

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breit,14 die ganz überwiegende Ansicht geht aber von einem jedenfalls zeitlich unbefristeten Widerrufsrecht des Lastschriftschuldners aus.15 Wer sich mit einer unbegrenzten Rückabwicklungsmöglichkeit nicht abfinden will, muss – entgegen allgemeiner zivilrechtlicher Grundsätze – mit konkludenten Genehmigungen und mit Erklärungen durch Schweigen großzügig umgehen.16

II. Die Erosion des Erfordernisses der Genehmigung Diese dogmatische Schwachstelle der herrschenden Meinung, die an vielen Stellen zu fiktiven Erklärungen gezwungen ist, ist in jüngster Zeit aus verschiedenen Richtungen unter Druck geraten: Ein Urteil des BGH zu den Kompetenzen des Insolvenzverwalters eines Lastschriftschuldners wirkt dem Bemühen der herrschenden Meinung um frühe Endgültigkeit der Lastschriftzahlung diametral entgegen.17 Die Beurteilung von Betrügereien durch „Lastschriftreiterei“ (dazu sogleich unter 2.) verlangt dringend nach einer Präzision des Genehmigungstatbestandes.18 Die AGB-Banken versuchen seit dem 1. April 2002 mittels einer „Genehmigungsklausel“ frühe Endgültigkeit der Lastschriftzahlung herbeizuführen und einzelne Obergerichte haben sich unter dem Beifall der Literatur für die noch weitere Ausdehnung konkludenter Genehmigungen ausgesprochen.19 Das gibt Anlass, die dogmatische Fundierung der Genehmigungstheorie ein weiteres Mal zu überdenken.20 1. Das Widerspruchsrecht des Insolvenzverwalters beim Einzugsermächtigungsverfahren Wie ein abschreckendes Lehrstück über die dogmatischen Konsequenzen der Genehmigungstheorie liest sich das Urteil des IX. Senats des BGH vom 4.11.2004.21 Der beklagte Insolvenzverwalter hatte pauschal sämtlichen Last14 Nur 6 Wochen: Wenzel MüKo-BGB 4. Auflage 2003 § 362 Rn. 26; Reimer/Schmidt AcP 166 (1966) 1, 14; Pleyer/Holschbach DB 1972, 761; Unverzüglichkeit des Widerspruchs erforderlich: Denck ZHR 144 (1980) 171, 178; keinerlei Befristung: BGH NJW 2000, 2667. 15 BGH NJW 2000, 2667. 16 Für konkludente Genehmigung nach Schweigen auf Kontoauszug: Hadding aaO. S. 374, 389f. mit Fn. 59; für Abstellen auf zugegangenen Rechnungsabschluss: van Gelder aaO. § 58 Rn. 79–83; Häuser WM 1991, 1; für konkludente Genehmigung bei widerspruchsloser Fortsetzung des Zahlungsverkehrs Krepold BuB Rn. 6/441. 17 BGH NZI 2005, 99; hierzu Jungmann NZI 2005, 84; Meder NJW 2005, 637. 18 BGH NStZ 2005, 634; OLG Düsseldorf NJW-RR 2001, 557; OLG Naumburg WM 2003, 433; Saarl. OLG BeckRS 2005 Nr. 1479; AG Gera NJW-Spezial 2005, 332; hierzu Block/Voß BKR 2006, 225 ff. 19 OLG München ZIP 2005, 2102; zust. Block/Voß BKR 2006, 225, 228; Streißle EWiR 2006, 47f. 20 Vgl. Langenbucher aaO. S. 190 ff. 21 BGH NZI 2005, 99; krit. auch Kuder ZInsO 2004, 1357ff.; Meder JZ 2005, 1089, 1094.

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schriften der Insolvenzschuldnerin widersprochen, ohne Einwendungen aus dem Grundverhältnis zu erheben. Die Bank gab die Lastschriften zurück. Die klagende Lastschriftgläubigerin wird mit ihren Forderungen ausfallen. Der Senat sieht für den Schuldner außerhalb der Insolvenz nur ganz enge „anerkennenswerte“ Gründe für eine Lastschriftrückgabe und setzt sich damit zunächst einmal in Widerspruch zu seinem Bekenntnis zur Genehmigungstheorie. Diese geht ja gerade von einer unberechtigten Abbuchung aus. Wird unberechtigt abgebucht, sind keine anerkennenswerten Gründe für einen Widerspruch erforderlich.22 Darauf kommt es in der Folge nicht an, denn das Gericht möchte jedenfalls den Insolvenzverwalter mit weiter gehenden Befugnissen ausstatten als sie der Insolvenzschuldner hatte.23 Nunmehr konsequent auf der Grundlage der Genehmigungstheorie argumentierend stellt der Senat fest, dass die Erfüllung im Valutaverhältnis die Genehmigung des Zahlungsvorgangs gegenüber der Zahlstelle voraussetzt.24 Widerspricht der Insolvenzverwalter, hat er nicht genehmigt. Schweigt er, gilt dasselbe.25 Der von der herrschenden Meinung konstruierte Anspruch des Lastschriftgläubigers auf Genehmigung des Zahlungsvorgangs durch den Lastschriftschuldner 26 hilft nicht weiter: Er ist schuldrechtlicher Natur. Auf der Basis des § 81 Abs. 1 S. 1 InsO darf der Insolvenzverwalter diesen Anspruch nicht erfüllen.27 Der Lastschriftgläubiger steht somit trotz bereits abgewickelter Lastschriftzahlung wie Gläubiger, deren Forderungen unerfüllt geblieben sind, § 38 InsO. Hierin sieht das Gericht die notwendige Folge der Schwäche der Stellung des Lastschriftgläubigers.28 Auf der gedanklichen Basis der Genehmigungstheorie trifft das zu und zwar für den Lastschriftschuldner innerhalb wie außerhalb der Insolvenz.29 Die Entscheidung hat neben Zustimmung 30 deutliche Kritik auch von Anhängern der Genehmigungstheorie erfahren.31 So will man zwar am 22

Langenbucher aaO. S. 192. BGH NZI 2005, 99, 100. 24 Statt aller van Gelder aaO. § 58 Rn. 175 f. 25 Nr. 7.3 AGB Banken bindet den Insolvenzverwalter nicht: Ringstmeier/Homann NZI 2005, 492, 493; Spliedt ZIP 2005, 1260, 1263. 26 Van Gelder WM 2000, 101, 102; krit. Langenbucher aaO. S. 192; der Kritik zust. Meder NJW 2005, 637, 638. 27 BGH NZI 2005, 99, 100. 28 BGH NZI 2005, 99, 101. 29 Sehr deutlich Fischer aaO. S. 223, 232; abschwächend Hadding WM 2005, 1549, 1553ff. 30 Vor der Entscheidung Fischer aaO. S. 223, 230 ff. Zur Entscheidung: Dahl NZI 2005, 102, 103; Feuerborn ZIP 2005, 604, 605; Fitsch BB 2005, 17; Gundlach/Frenzel EWiR § 60 InsO 1/05. 31 Böhm BKR 2005, 366, 369; Hadding WM 2005, 1549; Jungmann NZI 2005, 84; ders. WuB I D 2.-1.05; ders. EWiR § 60 InsO 5/05; Kuder LMK 2005, 45; Meder NJW 2005, 637. 23

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Erfordernis eines voraussetzungslosen Widerspruchsrechts des Lastschriftschuldners festhalten,32 die hierin liegende „Überspitzung“ der Genehmigungstheorie aber wertend korrigieren.33 Die Argumente hierfür lesen sich wie eine gängige Kritik der Genehmigungstheorie: 34 Der Parteiwille von Lastschriftschuldner und Lastschriftgläubiger werde missachtet, das Ergebnis widerspreche der Interessenlage im Valutaverhältnis und für den Gläubiger hänge die Endgültigkeit des Zahlungsvorgangs letztlich von Zufälligkeiten des Deckungsverhältnisses ab.35 Hinzu kommt, dass auf diese Weise das Insolvenzrisiko des Lastschriftschuldners auf dessen Gläubiger und die erste Inkassostelle verlagert wird.36 In der Tat dokumentiert die Entscheidung des IX. Senats die konstruktiven Schwächen der Genehmigungstheorie besonders deutlich.37 Die Fixierung dieser Theorie auf die im Interbankenverhältnis bestehende Möglichkeit der Lastschriftrückgabe verstellt den Blick auf die Gestaltungsfreiheit der Parteien im Valutaverhältnis. Aus der Rückgabemöglichkeit im Interbankenverhältnis folgt keineswegs zwingend, dass der Lastschriftschuldner erklärt, nur eine vorläufige Zahlung leisten zu wollen, die unter dem zeitlich unbegrenzten Vorbehalt einer gegenüber seiner eigenen Bank zu erklärenden Genehmigung steht. Viel näher liegt die Abrede, mit der Lastschrift erfüllen zu wollen und von einer Widerspruchsmöglichkeit keinen Gebrauch zu machen, solange der Lastschriftgläubiger die erteilte Ermächtigung nicht überschreitet. Dass eine solche Erfüllungszweckabrede überhaupt erforderlich ist, sich die Erfüllung mithin nicht auf einen reinen Realakt beschränkt, lässt sich schwerlich bestreiten.38 Dem ist der Verweis auf die Vorteile des Lastschriftverfahrens, insbesondere die Möglichkeit des Gläubigers entgegengehalten worden, selbst über den Zeitpunkt des Forderungseinzugs bestimmen zu können.39 Ob dieser

32 Die Prämisse Jungmann’s (NZI 2005, 84, 85), nur dieses Widerspruchsrecht legitimiere die Zugriffsmöglichkeit des Lastschriftgläubigers auf das Konto des Schuldners überzeugt freilich nicht: Die Legitimation lässt sich ohne weiteres aus einer Erfüllungszweckabrede der Parteien gewinnen, vgl. Langenbucher aaO. S. 193f. und Jungmann selbst S. 87. 33 Jungmann NZI 2005, 84, 87. 34 Statt aller: Canaris aaO. Rn. 635 ff. 35 Bork ZIP 2004, 2446; Jungmann NZI 2005, 84, 87ff.; Meder NJW 2005, 637ff. 36 Böhm BKR 2005, 366, 370. 37 Canaris aaO. Rn. 661. 38 Vgl. Hadding WM 2005, 1549, 1552 f.; Langenbucher aaO. S. 15 f.; 193 f.; 461 f.; anders aber Ganter WM 2005, 1557, 1560. Dessen Wertung bzgl. eines Vermieters, der statt an zügiger Endgültigkeit der Erfüllung ein Interesse an Zahlungsverzug und hieraus resultierender Kündigungsmöglichkeit habe, trifft bestenfalls für einen Ausnahmefall zu (aaO. S. 1560); zutr. zu diesem Beispiel Bork aaO. S. 69, 76 Fn. 24; ders. ZIP 2004, 2446. 39 Fischer aaO. S. 223, 232.

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Vorteil das zeitlich unbegrenzte Risiko einer Rückabwicklung des durchgeführten Zahlungsvorgangs aufwiegen kann, ist freilich mehr als fraglich.40 Hinzu kommt, dass das Argument nur für bestimmte Zahlungsvorgänge einschlägig ist, wenn nämlich der Geldgläubiger eine Vorleistung erbracht hat und auf eine Überweisung des Schuldners wartet. Wird dagegen Zug um Zug abgewickelt oder ist der Zahlungspflichtige vorleistungspflichtig, entfällt der Vorteil, selbst über den Zahlungszeitpunkt bestimmen zu können. Zum Einsatz kommen in diesen Fällen neben der Überweisung auch Kreditkarten oder elektronische Zahlungsformen.41 Die Kontrastierung der Vorteile der Lastschrift mit den Nachteilen der Überweisung ist schon aus diesem Grund zu eng.42 Das sehen freilich auch die Vertreter der Genehmigungstheorie und behelfen sich mit einem Anspruch des Lastschriftgläubigers gegen den Lastschriftschuldner auf Genehmigung des Zahlungsvorgangs. Diese Konstruktion überzeugt nun nach dem eigenen dogmatischen Ausgangspunkt der Genehmigungstheorie nicht. Dort wird ja behauptet, die Lastschriftzahlung sei ein stets unberechtigter Zugriff auf das Konto des Lastschriftschuldners. Wer einen Genehmigungsanspruch aus dem Valutaverhältnis ableitet, akzeptiert, dass sich aus der Widerspruchsmöglichkeit im Interbankenverhältnis die mangelnde Berechtigung im Valutaverhältnis gerade nicht ableiten lässt. Die Entfernung der Genehmigungstheorie vom Willen der Parteien zeigt sich auch in den konstruktiven Schwierigkeiten, die sich bei der Begründung der erforderlichen Genehmigung ergeben. Der Lastschriftgläubiger wird den Lastschriftschuldner kaum einmal zu einer Genehmigung auffordern.43 Gegen die Annahme einer konkludenten Genehmigung, mit welcher sich die herrschende Meinung häufig behilft, spricht, dass dem Lastschriftschuldner, der von einem abgeschlossenen Zahlungsvorgang ausgeht, regelmäßig ein dahingehendes Erklärungsbewusstsein fehlt.44 2. Die „Lastschriftreiterei“ Zu den Problemen, welche die Genehmigungstheorie im Verhältnis zwischen Lastschriftschuldner und Lastschriftgläubiger aufwirft, treten Unstimmigkeiten in der Beziehung des Lastschriftschuldners zu seiner Bank. Das wird an einigen jüngeren Entscheidungen zur „Lastschriftreiterei“ besonders deutlich.45

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Canaris aaO. Rn. 560. Vgl. Meder JZ 2005, 1089, 1091. S. aber Jungmann NZI 2005, 84, 87. Meder NJW 2005, 637, 638. Einschränkend auch Ganter WM 2005, 1557, 1562. BGH NStZ 2005, 634; OLG Düsseldorf NJW-RR 2001, 557; OLG Naumburg WM

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Als „Lastschriftreiterei“ bezeichnet man ein regelmäßig betrügerisches 46 Verfahren, mit welchem zwei Bankkunden die besondere Ausgestaltung des Lastschriftverfahrens zweckwidrig zur Beschaffung von Liquidität nutzen. Der Lastschriftgläubiger reicht der ersten Inkassostelle eine Lastschrift für das Konto seines Geschäftspartners herein. Die erste Inkassostelle gibt diese Lastschrift zur Bank des Geschäftspartners weiter. Diese erteilt der ersten Inkassostelle eine vorläufige Gutschrift. Von dieser vorläufigen Gutschrift profitiert der Lastschriftgläubiger, da Banken ihren Kunden die Verfügung über eingegangene Lastschriften im Regelfall gestatten. Nach einiger Zeit widerruft der Lastschriftschuldner. Im günstigsten Fall führt das dazu, dass die Lastschrift dem Lastschriftgläubiger zurückbelastet wird. Ihm verbleibt der Liquiditätsvorteil während der Zeitspanne zwischen vorläufiger Gutschrift und Rückabwicklung des Widerrufs. Im ungünstigsten Fall ist der Lastschriftgläubiger zwischenzeitlich insolvent geworden. Die beschriebene betrügerische Nutzung des Lastschriftverfahrens setzt vor allem an zwei Besonderheiten der Lastschriftzahlung an: Zum einen an der vorläufigen Gutschrift durch die erste Inkassostelle, welche dem Lastschriftgläubiger die Liquidität erst gewährt; zum anderen an der Widerspruchsmöglichkeit des Lastschriftschuldners, welche die freie Rückabwicklung des Zahlungsvorgangs erlaubt. Die vorläufige Gutschrift ist ständige Bankpraxis und als solche nicht Gegenstand dieses Beitrags. Die Anerkennung einer zeitlich unbefristeten Widerspruchsmöglichkeit des Lastschriftschuldners belegt, dass damit nicht nur im Valuta-, sondern auch im Deckungsverhältnis interessenwidrige Ergebnisse erzielt werden. Handelt es sich nämlich bei der Abbuchung vom Konto des Lastschriftschuldners um einen unberechtigten Zugriff, muss die Zahlstelle der Weisung ihres Kunden, die Lastschrift zurückzugeben, ohne zeitliche Befristung nachkommen. Der Vorteil unberechtigter Inanspruchnahme von Liquidität verbleibt beim Lastschriftgläubiger. Dessen Insolvenzrisiko trägt die erste Inkassobank. Das Augenmerk der herrschenden Meinung muss sich somit erneut auf die möglichst rasche Herbeiführung einer Genehmigung des unberechtigten Zugriffs richten, soll nicht die Zahlstelle dem Missbrauchsrisiko hilflos ausgesetzt sein. Das führt im Interbankenverhältnis freilich zu mindestens ebenso deutlichen Fiktionen wie im Valutaverhältnis. Wenig plausibel ist bereits der Ausgangspunkt der herrschenden Meinung, nicht der Lastschriftgläubiger, sondern die erste Inkassostelle erkläre die Zahlungsanweisung.47 Sie steht im Regelfall mit dem Lastschriftschuldner in keinerlei rechtsgeschäftlichem Verhältnis. Der Initiator des Zahlungsvorgangs ist der Lastschriftgläubiger, 2003, 433; Saarl. OLG BeckRS 2005 Nr. 1479; AG Gera NJW-Spezial 2005, 332; hierzu Block/Voß BKR 2006, 225 ff. 46 Hierzu BGH NStZ 2005, 634 = NJW 2005, 3008. 47 BGHZ 74, 309, 312; 95, 103, 105 f.; van Gelder aaO. § 57 Rn. 29.

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der vom Lastschriftschuldner dessen Kontodaten erhalten hat. Nur er hat eine offene Forderung gegen den Lastschriftschuldner, welcher er die Zahlung zuordnet. Jede andere Deutung kann kaum plausibel begründen, warum die erste Inkassostelle aus eigener Initiative eine Zahlungsanweisung aussprechen, warum die Zahlstelle dem nachkommen und auf welche Weise die Forderung im Valutaverhältnis bei erfolgreich durchgeführtem Zahlungsvorgang erlöschen sollte, wenn keine Tilgungsbestimmung gesetzt wird. Die dogmatisch unbefriedigende Großzügigkeit bei der Bejahung konkludenter Willenserklärungen setzt sich im Verhältnis des Lastschriftschuldners zu seiner Bank fort. Handelt ein Betrüger, um das Lastschriftverfahren zu seinem Vorteil auszunutzen, will er die Abbuchung gerade nicht genehmigen. Ihm lässt sich eine konkludente Genehmigung deshalb nicht unterstellen.48 Den Widerspruch als zweckwidrig und deshalb missbräuchlich zurückzuweisen gestattet die herrschende Meinung der Zahlstelle nicht. Statt dessen bleibt die erste Inkassostelle unter den engen Voraussetzungen des § 826 BGB darauf verwiesen, den Lastschriftschuldner in Anspruch zu nehmen.49 3. Die Ausweitung konkludenter Genehmigungen durch Schweigen und die Neuregelung in Ziffer 7.3 der AGB Banken Einen letzten Versuch der Reparatur der herrschenden Meinung verdeutlicht eine kürzlich ergangene Entscheidung des OLG München.50 Der Kläger ist Insolvenzverwalter einer im Jahre 2001 in die Insolvenz gefallenen Lastschriftschuldnerin. Im Jahre 2000 hatte diese Lastschriften eines Lieferanten widersprochen, die zwischen 1995 und 1998 abgebucht worden waren. Die beklagte Zahlstelle hatte sich geweigert, dem Widerspruch nachzukommen. Das Gericht gab ihr recht. Zwar bestehe grundsätzlich ein zeitlich unbefristetes Widerrufsrecht der Lastschriftschuldnerin. Diese habe die Abbuchungen aber konkludent genehmigt. Anhaltspunkte hierfür seien die widerspruchslose Fortführung des Zahlungsverkehrs und die Inanspruchnahme von Kreditlinien.51 Das mangelnde Erklärungsbewusstsein, auf welches sich die Lastschriftschuldnerin berufen hat, hält das Gericht für unerheblich. Das verträgt sich nicht ohne weiteres mit dem Standpunkt der Rechtsprechung, wer seine Kontoauszüge oder seinen Rechnungsabschluss nicht hinreichend kontrolliere, verletze zwar möglicherweise eine Sorgfaltspflicht gegenüber seiner Bank, gebe aber keine rechtsgeschäftliche Erklärung ab.52 Warum ein Er48

In diese Richtung aber Block/Voß BKR 2006, 225, 229. BGHZ 74, 300; BGH NJW 1979, 2145. 50 ZIP 2005, 2102. 51 OLG München ZIP 2005, 2102, 2103; zustimmend Block/Voß BKR 2006, 225, 228; Kuder ZInsO 2004, 1357, 1358. 52 BGH NJW 2000, 2667; Spliedt ZIP 2005, 1260, 1262. 49

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klärungsbewusstsein näher liegen soll, wenn der Erklärungsempfänger aus der Inanspruchnahme von Kreditlinien erst erschließt, dass einer Lastschrift offenbar nicht widersprochen wird, bleibt begründungsbedürftig.53 Die praktische Notwendigkeit, den Schwächen der Genehmigungstheorie zu begegnen, hat nicht nur das OLG München gesehen. Die AGB-Banken enthalten seit dem 1. April 2002 in Ziffer 7.3 eine Vorschrift, wonach der Lastschriftschuldner Einwendungen gegen eine Abbuchung innerhalb von sechs Wochen nach Zugang des Rechnungsabschlusses erheben muss.54 Abhängig davon, wann der Rechnungsabschluss gestellt wird, reduziert diese Klausel die Zeit der Unsicherheit für die Zahlstelle auf gut vier Monate. Diese „Genehmigungsklausel“ wird der höchstrichterlichen Kontrolle auf der Grundlage des § 308 Nr. 5 b BGB aller Voraussicht nach standhalten, hat doch der BGH eine entsprechende Klausel für denkbar gehalten.55 Wird der Kunde hinreichend deutlich auf die Folgen eines unterlassenen Widerspruchs hingewiesen, ergeben sich aus diesem Grund in der Tat keine Bedenken. Problematisch ist die Klausel aber auf der Basis der Genehmigungstheorie unter einem anderen Gesichtspunkt. Das zeitlich unbefristete Widerspruchsrecht des Lastschriftschuldners begründet diese Theorie anhand der Pflicht der Zahlstelle, einer Weisung ihres Kunden auf Rücknahme der Lastschrift Folge zu leisten (s.o. I. 2.). Weil die Zahlstelle die Lastschrift im Interbankenverhältnis zeitlich unbefristet zurückgeben kann, ist sie hierzu nach insoweit zutreffender herrschender Meinung auch verpflichtet. Von dieser Pflicht befreit sich die Zahlstelle durch Ziffer 7.3 AGB-Banken. Dass der Kunde nicht nur einen durchgeführten Zahlungsvorgang akzeptiert, sondern auch darauf verzichtet, von einem auf der Basis der herrschenden Meinung gegebenen Weisungsrecht Gebrauch zu machen, geht aus der Klausel nicht hervor. Jedenfalls die Vereinbarkeit mit § 307 Abs. 1 S. 2 BGB ist deshalb fraglich.56 Ob sie § 307 Abs. 1 S. 1 BGB stand hält, wird zu begründen sein. Immerhin weicht die Beschränkung des Widerspruchsrechts für jede eingereichte Lastschrift vom ungeschriebenen Leitbild der Lastschriftzahlung ab und ein dies kompensierender Vorteil für den Lastschriftschuldner ist nicht ersichtlich.57

53 Für eine konkludente Genehmigung aber Böhm BKR 2005, 366, 368 f.; van Gelder FS Kümpel, 2003, S. 131, 139; Spliedt ZIP 2005, 1260, 1262; zu Recht enger LG Hannover WM 2005, 1319, 1320; Fischer aaO. S. 223, 226. 54 Entspricht Ziffer 7.4 AGB-Sparkassen und Ziffer 7.5 AGB Postbank. 55 BGH NJW 2000, 2667, 2668; für zulässig halten die Klausel Böhm BKR 2005, 366, 368; Fischer aaO. S. 223, 226 f.; Ganter WM 2005, 1557, 1563; Kuder ZInsO 2004, 1356, 1357; Werner aaO. § 2 Rn. 131, 140; inzident auch Jungmann NZI 2005, 84, 88; krit. Rattunde/Berner DZWiR 2003, 185, 189; Fehl DZWiR 2004, 257, 258. 56 S. außerdem Langenbucher S. 453 f. 57 Vgl. Canaris aaO. Rn. 565 b.

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III. Ergebnis Die herrschende Genehmigungstheorie zur dogmatischen Einordnung der Lastschrift geht für jeden Zahlungsvorgang von einem unberechtigten Zugriff des Lastschriftgläubigers auf das Konto des Lastschriftschuldners aus. Praktische Konsequenz hiervon ist ein zeitlich unbefristetes Widerspruchsrecht des Lastschriftschuldners gegen Belastungen seines Kontos, solange er die Belastung nicht genehmigt hat. Für den Lastschriftgläubiger führt das zu einer auf Dauer ungesicherten Stellung. In der Insolvenz des Lastschriftschuldners findet er sich in einer Gruppe mit Gläubigern, für deren Forderungen noch überhaupt kein Erfüllungsversuch unternommen wurde. Die Bank des Lastschriftschuldners ist verpflichtet, einer Weisung des Lastschriftschuldners auf Rückabwicklung des bereits durchgeführten Zahlungsvorgangs stets Folge zu leisten. Beide Ergebnisse vermögen nicht zu überzeugen. Die Ermächtigungstheorie vermeidet sie.

Sind die deutschen Bankenstrukturen reformbedürftig? Wernhard Möschel Inhaltsübersicht I. Einleitung . . . . . . . . . . . II. Die Strukturen . . . . . . . . . III. Kein öffentlicher Auftrag mehr IV. Vielfältige Warnzeichen . . . . V. Was müsste geschehen? . . . . VI. Zum Genossenschaftssektor . VII.Was wird geschehen? . . . . .

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Peter Mailänder als Wirtschaftsrechtler von Rang betreut manches Mandat aus der Bankwirtschaft. Dies mag es rechtfertigen, ihm einen Beitrag zu ordnungspolitischen Fragen des deutschen Bankgewerbes zu widmen.

I. Einleitung In ordnungspolitischen Milieus ist der Reformbedarf des deutschen Bankensektors ein altes Thema.1 Für die praktische Politik gilt das nicht. Noch jüngst haben neue Ministerpräsidenten in Nordrhein-Westfalen wie in Baden-Württemberg in ihren Regierungserklärungen ausgesprochen, am „bewährten Dreisäulensystem“ der deutschen Kreditwirtschaft aus öffentlichem Sektor, Genossenschaftsbanken und privaten Kreditbanken sei festzuhalten. Dennoch wächst dem Thema Aktualität zu. Zwei Gründe sind dafür ursächlich: – Aufgrund Brüsseler Entscheidungen gehören Anstaltslast und Gewährträgerhaftung für Sparkassen und Landesbanken seit dem 18. Juli 2005 endgültig der Vergangenheit an.2 Mit dem Wegfall dieser Staatsgarantien ist 1 Vgl. dazu Möschel, Privatisierung der Sparkassen, WM 1993, 93 ff.; Kronberger Kreis, Privatisierung von Landesbanken und Sparkassen, Bad Homburg v.d.H. 2001. 2 Hierzu Möschel, Anstaltslast bei öffentlichrechtlichen Kreditinstituten – Zur Vereinbarung von Brüssel, WM 2001, 1895 ff.; Wehber, Gewährträgerhaftung und Anstaltslast – ein historischer Rückblick, ZKW 2005, 752 ff.

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nicht nur eine wichtige Wettbewerbsverzerrung beseitigt. Dieser Wegfall löst vielmehr einen Impuls zur Neuordnung der deutschen Kreditwirtschaft aus. Das gilt namentlich für die Landesbanken, die sich im Verhältnis zu den Sparkassen neu positionieren müssen. – Die Einsicht nimmt zu, dass das überkommene Dreisäulensystem bei allen Verdiensten in der Vergangenheit kein zukunftsfähiges Modell für die deutsche Kreditwirtschaft sein kann. Insbesondere ist ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit in Frage gestellt. Die öffentlich-rechtliche Dominanz hat die deutschen Marktstrukturen sozusagen an die Wand gefahren. Mit Ausnahme bestenfalls der Deutsche Bank AG ist heute kein privates Kreditinstitut mehr gegen eine feindliche Übernahme aus dem Ausland gefeit. Geboten wäre eine gruppenübergreifende Konsolidierung im Wettbewerb. In dieser Bewertung sind sich Internationaler Währungsfond, Sachverständigenrat, Monopolkommission und Bundesbank einig.3 In Brüssel sieht man im deutschen Dreisäulenmodell ein Hindernis für die weitere Integration der europäischen Finanzmärkte. Dies bedingt eine Überwindung formaler, rechtlicher Strukturen, letztlich einen Rückzug der öffentlichen Hand aus dem deutschen Bankgewerbe. Wer diese Forderung erhebt, leugnet nicht, dass der gegenwärtige Reformbedarf auch durch mancherlei Fehlentwicklung innerhalb des Sektors der privaten Kreditbanken mitausgelöst wurde. Das – fallengelassene – Projekt der Deutsche Bank AG, ihre privaten Kunden in solche der Kategorie 1 und solche der weniger attraktiven Kategorie 2 zu trennen und letztere durch Zuweisung an eine eigens zu gründende Tochtergesellschaft auch noch öffentlich zu stigmatisieren, ist in frischer Erinnerung. In einem ersten, größeren Teil ist die Frage zu erörtern, ob der öffentliche Bankensektor in Deutschland noch eine Daseinsberechtigung hat. Das Ergebnis wird ein Ruf nach Entstaatlichung sein. Der zweite Teil geht auf entsprechende Fragen ein, die sich im Hinblick auf den Genossenschaftssektor formulieren lassen. Ähnlichkeiten in den Sachverhalten sind hier weitgehend nur scheinbare. Auf den Prüfstand gerät allenfalls das auch hier eingehaltene Regionalprinzip.

3 International Monetary Fund, Germany – Staff Report for the 2003 Article IV Consultation, no. 37, Washington 2003; Sachverständigenrat, Jahresgutachten 2004/05, Wiesbaden 2004, S. 272–303; Monopolkommission, IX. Hauptgutachten, Baden-Baden 1992, Tz. 43–53; Bundesbank/Meister, „Weitere Schritte der Öffnung wären wünschenswert“, Börsenzeitung Nr. 135 vom 16.7.2005, S. 5.

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II. Die Strukturen Die Marktstrukturen, welche mit dem Stichwort Dreisäulensystem beschrieben werden, sind völlig erstarrt. Landesbanken, Sparkassen und öffentlich-rechtliche Spezialinstitute decken – gemessen an der Bilanzsumme – etwa die Hälfte des Gesamtmarktes ab.4 Der gewählte Indikator, die Bilanzsumme, nimmt keine Differenzierungen nach einzelnen Märkten auf. Er ist gewiss pauschal, belegt gleichwohl eindrücklich die überragende Bedeutung der öffentlichen Hand in den deutschen Verhältnissen. Ca. 12 % werden vom Genossenschaftssektor abgedeckt. Die privaten Kreditbanken schließlich dümpeln bei einem Marktanteil von 25 %. Innerhalb der ersten beiden Gruppen gilt überdies ein Regionalprinzip, so dass interner Wettbewerb ähnlich wie bei einem Gebietskartell ausgeschlossen bleibt. Öffentlich-rechtliche und genossenschaftliche Institute können zwar private Kreditbanken erwerben. So haben jüngst die LBBW in Stuttgart die Baden-Württembergische Bank AG mit rund 200 Filialen in ganz Baden-Württemberg erworben und die WestLB die Weberbank in Berlin. Umgekehrt geht das nicht. Was Aufkäufe durch Private anbelangt, sind öffentlich-rechtliche Institute und Genossenschaftsbanken extra commercium. Das betrifft rund 70 % des deutschen Bankenmarktes. Das Ende von Anstaltslast und Gewährträgerhaftung für Sparkassen und Landesbanken hat Veränderungsimpulse ausgelöst. So ist es zu ersten Beteiligungen zwischen Landesbanken gekommen (BayernLB und SaarLB, NordLB und Bremer Landesbank, LBBW und Landesbank Rheinland-Pfalz, Fusion der Landesbanken Hamburg und Kiel zur HSH Nordbank). Landesbanken expandieren vertikal in das angestammte Geschäft der mit ihnen kooperierenden Sparkassen, was bei diesen nicht unbedingt Entzücken auslöst. So hat die Helaba mit der (freien) Frankfurter Sparkasse eine der größten Sparkassen Deutschlands erworben. Gleichgelagerte Überlegungen werden in Nordrhein-Westfalen im Hinblick auf die WestLB angestellt. Der Aufbau eines breiten Privatkundengeschäfts über sogenannte Direktbanken wird erwogen (von der WestLB), teilweise bereits praktiziert (von der Landesbank Bayern mit ihrer Tochter DKB/Berlin außerhalb Bayerns und von der Helaba über die Direktbanktochter 1822 der Frankfurter Sparkasse bundesweit). Im vergangenen Jahr erwarb die WestLB die Berliner Weberbank. Die Bankgesellschaft Berlin hatte sich von dieser aufgrund einer Brüsseler Beihilfe-Auflage trennen müssen. Mittlerweile hat die Weberbank in Düsseldorf eine Niederlassung eröffnet. Sie soll das Vermögensbetreuungsgeschäft mit Privatkunden pflegen. Dem steht das dezidierte Bemühen des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes gegenüber, die überkommene Kooperation durch Spezialisierung innerhalb der Gruppe der Sparkassen und Landes4

Siehe hierzu SVR (Fn. 3), S. 274 ff.

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banken nicht nur aufrecht zu erhalten, sondern „immer enger zu gestalten“.5 Der status quo ist Anfang November 2005 in einer „Berliner Erklärung“ erst einmal festgeschrieben worden. Auf der anderen Seite stößt die Beseitigung von Anstaltslast und Gewährträgerhaftung auf inhärente Grenzen. Märkte wie Rating-Agenturen schließen nicht die Augen vor der Tatsache, dass die Inhaber dieser Institute öffentliche Gebietskörperschaften sind, die über Steuerhoheit verfügen und untereinander über einen Finanzausgleich verbunden sind. Insofern lebt die frühere explizite Staatsgarantie als eine implizite fort. Letztere ist nicht ganz so verlässlich wie erstere. Insbesondere gibt es für den Krisenfall keine stabilen Verfahrensmechanismen. Zeitliche Verzögerungen und sonstige Unsicherheiten bleiben möglich. So gewähren die Rating-Agenturen den Landesbanken nicht mehr wie früher bei den garantierten Schuldverschreibungen nahezu durchgängig ein Triple-A. Das Emittenten-Rating bei den jetzt nicht mehr garantierten Schuldverschreibungen schwankt innerhalb der verschiedenen A-Kategorien. Aber es bleibt deutlich oberhalb des sogenannten Finanzstärke- bzw. Individual-Rating der einzelnen Institute, die sich im eher mediokren C- und D-Bereich bewegen.6 Vielfältige faktische Bevorzugungsmechanismen zwischen den Hoheitsträgern/Eigentümern zugunsten der eigenen Institute bestehen ohnehin fort.7 Sie sind praktisch, das heißt wettbewerbsrechtlich oder beihilferechtlich, kaum zu kontrollieren. Die Politik jedenfalls hat den Wegfall von Anstaltslast und Gewährträgerhaftung nicht zum Anlass genommen, über Strukturreformen nachzudenken.8 Die saarländische Landesregierung ließ ihr Vorhaben fallen, in das Sparkassengesetz auch die Option zur Umwandlung von Sparkassen in die Rechtsform der AG aufzunehmen. Die neue schleswig-holsteinische Landesregierung will in Abweichung vom Wahlprogramm der CDU nur noch die Möglichkeit stiller Beteiligungen an Sparkassen prüfen. In Hessen soll eine Novellierung des Sparkassengesetzes es den Sparkassen ermöglichen, Stammkapital zu bilden. Dadurch soll eine Sparkasse für andere Sparkassen oder für die Helaba käuflich werden. Ein Verkauf an private Banken soll dagegen ausgeschlossen bleiben. Auf das bequeme „weiter so“ der neuen Landesregierungen in Düsseldorf und Stuttgart wurde bereits hingewiesen. Schließlich ist noch in frischer Erinnerung, wie die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern den Stadtrat von Stralsund durch eine blitz-

5 Hoppenstedt, Der deutsche Bankenmarkt: Fundamente stärken – Stabilität und Leistungsfähigkeit sicherstellen, ifo Schnelldienst 2005, 14, 16. 6 Vgl. Weber, Reformen dringend geboten, ifo Schnelldienst 2005, 3, 4; SVR (Fn. 3), S. 292ff. 7 Näher Kronberger Kreis (Fn. 1), Tz. 24 ff.; Möschel, Teilprivatisierung der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW), WM 2001, 1009 ff. 8 Vgl. SVR (Fn. 3), S. 294 ff.

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schnelle Novellierung des Landessparkassengesetzes daran hinderte, die Assets der eigenen Sparkasse zu veräußern. Dagegen zeichnet sich in Berlin die Möglichkeit ab, dass zukünftig auch ein privater Investor die dortige Berliner Sparkasse betreiben kann. Doch hängt dies mit dem Desaster der Berliner Bankgesellschaft und einer Auflage der EG-Kommission im Zusammenhang mit der Genehmigung einer Sanierungsbeihilfe zusammen. Dies ist kein freiwilliger, sondern einmal mehr ein aus Brüssel erzwungener Reformschritt. Innerhalb des erforderlichen Bieterverfahrens ist freilich auch der Deutsche Sparkassen- und Giroverband dabei. Er will verhindern, dass die Berliner Sparkasse an Privatinvestoren fällt.

III. Kein öffentlicher Auftrag mehr Der in den allgemeinen Sparkassengesetzen der Länder und in den speziellen Errichtungsgesetzen der Landesbanken niedergelegte öffentliche Auftrag dieser Institute hat sich zur Chimäre verflüchtigt.9 In einer marktwirtschaftlichen Ordnung besteht ein Regel-AusnahmeVerhältnis zwischen privater und staatlicher Wirtschaftstätigkeit. Der Staat ist gefordert, was Geldpolitik und Bankenaufsicht anbelangt, aber nicht als unternehmerisch handelnder Bankier. Die öffentliche Hand, gleichgültig, ob sie als Kommune, Bundesland oder Bund handelt, kann sich nicht auf das Grundrecht der Gewerbefreiheit berufen. Ihre Rolle als Bankier bedarf einer spezifischen Rechtfertigung. Die dafür geltend gemachten Gründe sind in den heutigen Verhältnissen weitgehend obsolet, mindestens unverhältnismäßig. So braucht man zur Förderung des Sparsinns keinen flächendeckenden öffentlich-rechtlichen Bankenapparat. Zuständig dafür sind Familien und Schulen. Entsprechende Bemühungen seitens der Kreditinstitute als Nachfrager nach Sparleistungen werden im Übrigen durch funktionsfähigen Wettbewerb erzwungen. Ebenso wenig braucht man diesen Apparat, um für Gebietskörperschaften Hausbankenfunktionen zu erfüllen. Der geeignete Bankpartner stellt sich im Wettbewerb heraus. Dazu bedarf es keiner Bank in eigener Trägerschaft. Hält man daran fest, dass der Staat für besondere Zwecke eine eigene Bank nötig hat, so ist der ordnungspolitisch saubere Weg die Vorhaltung von Spezialinstituten, die sich von den allgemeinen Märkten für Bankgeschäfte fernhalten. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau ist dafür ein Beispiel, jedenfalls im Grundsatz. In diesem schmalen Bereich („Marktergänzungsfunktion“) sind

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Näher Möschel, WM 1993, 93 ff.; Kronberger Kreis (Fn. 1), Tz. 28 ff.

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nach den Brüsseler Vereinbarungen unverändert staatliche Garantien zulässig.10 Öffentlich-rechtliche Banken sind auch nicht nötig, um eine flächendeckende Versorgung der Bevölkerung mit Bankdienstleistungen sicherzustellen. Gegenwärtig gibt es in Deutschland über 50000 Bankstellen. Dagegen findet man bundesweit nur 26 000 Bäckereien, 21000 Apotheken und 17 500 Tankstellen, ohne dass irgendjemand über Versorgungslücken klagt. Die technische Entwicklung, wie z.B. Geldautomaten, reduziert die Bedeutung der Entfernungskomponente weiter. Die Kreditversorgung des Mittelstandes ist eine Frage der Bereitschaft, sich auf dessen spezifische Bedürfnisse einzulassen, sowie eine Frage der damit verbundenen Risiken und des Preises, sprich der Zinsen. Private Kreditbanken haben hier geringe Marktanteile. Dies spiegelt freilich in erster Linie den Spezialisierungserfolg von Sparkassen und auch von Genossenschaftsbanken in diesem Marktsegment wider. Gerade letztere sind ein Beleg dafür, dass es auf irgendetwas „Öffentlich-Rechtliches“ hier nicht ankommt. Zur Sicherung des Wettbewerbs im Bankenmarkt insgesamt benötigt man nicht den Staat als Unternehmer. Dies ist Aufgabe des in Deutschland hoch entwickelten Wettbewerbsrechts, namentlich des Fusionskontrollrechts. Eine Privatisierung von Sparkassen und Landesbanken würde den Wettbewerb entscheidend intensivieren. Kooperation und Marktaufteilung (Regionalprinzip) innerhalb des Sparkassenverbundes würden ersetzt durch mehr Wettbewerb. Die Zugänge zu den deutschen Märkten für Bankleistungen, die für das Ausland weitgehend nur juristisch offen sind, würden dann auch wirtschaftlich offen. Gegenwärtig sind sie das vielfach nicht, da sich einerseits ein de-novo-Eintritt in aller Regel nicht rechnet und andererseits für Aufkäufe drei Viertel des deutschen Bankenmarktes geschlossen sind. Die Sparkassen-Finanzgruppe stellt – zusammen betrachtet – mit einer Bilanzsumme von 3,3 Billionen Euro die größte Bank der Welt dar.11 Bezogen auf den hier in Erinnerung gerufenen kärglichen Rest dessen, was man „öffentlichen Auftrag“ nennt, ist dies außerhalb jeglicher Proportion.

IV. Vielfältige Warnzeichen Die deutsche Politik scheint nicht in der Lage, auf diese Situation angemessen zu reagieren. Im Kern schließt sie die Augen vor diesen Entwicklun10 Schmitt, Was ist Fördergeschäft, und wo beginnt das Wettbewerbsgeschäft?, ZKW 2005, 738ff.; Bräunig, Ausgliederung von Wettbewerbsgeschäft: Zieht die Verständigung II eine eindeutige Grenzlinie?, ZKW 2005, 740 ff. 11 Hoppenstedt, Was bedeutet die Änderung der Haftungsgrundlagen für die Sparkassen-Finanzgruppe?, ZKW 2005, 708; SVR (Fn. 3), S. 290.

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gen. Sie kommt damit nicht der Verantwortung nach, die ihr obliegt. Vielfältige Warnzeichen lassen sich beobachten. – Das Bankengewerbe hat sich in den letzen 20 Jahren als ein überaus dynamischer Wirtschaftszweig erwiesen. Nahezu keine der zahlreichen Innovationen hat ihren Ursprung in Deutschland. Dieses Land hinkt mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung bestenfalls hinterher. – Die Eigenkapitalrenditen deutscher Kreditinstitute sind im internationalen Vergleich überaus mager. Dagegen wäre nichts einzuwenden, wenn dies das Resultat hier herrschenden intensiven Wettbewerbs wäre. Doch das Gegenteil trifft zu: Es ist dies Folge einer Gesetzgebung, die von Alters her durch Behinderung und nicht durch Entfesselung von Wettbewerb gekennzeichnet ist. – Die Börsenkapitalisierung der wenigen verbliebenen privaten Kreditinstitute ist gering. Die Deutsche Bank AG liegt im europäischen Vergleich auf Platz 13. Wenn private Banken vor feindlichen Übernahmen aus dem Ausland geschützt sind, dann liegt das nur an den desaströsen Ertragsaussichten in diesem Land. Der Aufkauf einer deutschen Bank würde sich nur rentieren, wenn der Investor davon ausgehen könnte, die wettbewerbsfeindlichen Marktstrukturen ließen sich beseitigen. Dazu braucht man die Gesetzgeber in 16 Bundesländern und – am Rande – zusätzlich den Bundesgesetzgeber. Da gibt es leichtere Aufgaben für potentielle Investoren. – Der Anpassungsbedarf im Gewerbe wird weiter zunehmen. Traditionelle Wertschöpfungsketten brechen auf. Funktionen wie Zahlungsverkehr, Wertpapierabwicklung oder Datenverarbeitung werden auf darauf spezialisierte Unternehmen ausgelagert. Gleichzeitig können spezialisierte Dienstleister den traditionellen Kreditbanken Konkurrenz machen. OnlineBanken und Online-Broker sind Beispiele dafür. Die Unternehmensfinanzierung wird stärker in eine kapitalmarktnahe überführt werden. Dies vollzieht sich von beiden Seiten her. Viele mittelständische Unternehmen werden eigenkapitalähnliche Finanzierungen – sogenanntes Mezzanine-Kapital – benötigen. Kreditinstitute werden diese Nachfrage an den Kapitalmarkt vermitteln und – parallel dazu – stärker dazu übergehen, herausgelegte Kredite zu verbriefen und diese dann am Kapitalmarkt zu plazieren („aktivabesicherte Wertpapiere“). Die Alterung der Bevölkerung wird weite Bevölkerungskreise dazu zwingen, verstärkt kapitalgedeckt vorzusorgen. Experten schätzen, dass allein in der Altersvorsorge der Kapitalstock auf 1,2 Billionen Euro verdoppelt werden müsse. Das führt zu einem immensen Anlagebedarf. Schließlich zählen Banken schon heute zu den größten Anwendern moderner Informationstechnologie. Ihre Bedeutung wird weiter zunehmen. Das optimale institutionelle Arrangement für solche Zeiten des Wandels, ja des Umbruchs ist nach aller Erfah-

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rung Wettbewerb, nicht ein Festhalten an überkommenen Strukturen in einer Art Wagenburgmentalität.

V. Was müsste geschehen? Geboten wäre eine Entstaatlichung und eine auf diese Weise ermöglichte gruppenübergreifende Konsolidierung des deutschen Bankensektors im Wettbewerb. Nur dann besteht die Chance, die auch unter dem Aspekt der internationalen Wettbewerbsfähigkeit optimale Marktstruktur zu finden. Zu beginnen wäre mit einer formellen Privatisierung der öffentlichen Institute, das heißt ihre Überführung in private Rechtsformen, zweckmäßigerweise der Aktiengesellschaft. Im Einzelfall, wenn an einen überschaubaren Gesellschafterkreis gedacht wird, käme auch eine GmbH in Betracht. Da diese keinen unmittelbaren Zugang zum Kapitalmarkt hat, dürfte diese Rechtsform nur in Sonderfällen sinnvoll sein. Die Reformverantwortung liegt bei den Landesgesetzgebern. Diese föderale Struktur macht Reformschritte „aus einem Guss“ unwahrscheinlich, bietet dafür aber die Chance, dass ein einzelnes Bundesland nach eigenem Ermessen vorausschreitet. Das Tempo des Geleitzuges wird nicht vom langsamsten Schiff bestimmt. Ein Landesgesetzgeber sollte dabei nicht versuchen, Kommunen zu einer materiellen Privatisierung ihrer Sparkassen (Veräußerung der Anteile an Dritte) zu zwingen. Hier bestehen verfassungsrechtliche Risiken mit Rücksicht auf die Gewährleistung der kommunalen Selbstverwaltung als Institution in Art. 28 Grundgesetz. Die Sparkassengesetze sollten lediglich für Kommunen, die das wünschen, den Weg zu einer materiellen Privatisierung ihrer Sparkasse freimachen. Man kann hier auf fiskalische Anreize zur Veräußerung der Anteile setzen, wie sie im Fall der Sparkasse Stralsund sichtbar wurden, aber auch anderwärts vielfach bestehen. Ein Rechtszwang zu einer formellen Privatisierung ergibt sich auf der Basis einer Rechtsauffassung, wonach eine Beseitigung der Anstaltslast nicht möglich ist, ohne die Rechtsform der Anstalt insgesamt aufzugeben.12 Die Anstaltslast ist aus dieser Sicht Ausprägung eines verwaltungsrechtlichen Strukturprinzips, wonach der Gründer einer Anstalt diese jederzeit mit den für die Erfüllung der Aufgabe notwendigen Mitteln auszustatten habe. Dies ist für Sparkassen und Landesbanken seit dem 18. Juli 2005 nicht mehr gewährleistet. Hier könnte eine juristische Zeitbombe ticken. Der Bundesgesetzgeber ist insoweit gefordert, als § 40 Kreditwesengesetz die Bezeichnung Sparkasse öffentlich-rechtlichen Instituten vorbehält. Diese Vorschrift sollte aufgehoben werden. Unklarheiten im Rechtsverkehr werden

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Kemmler, Keine Anstalt ohne Anstaltslast, DVBl. 2003, 100–107.

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schon durch den Zusatz AG oder GmbH ausgeschlossen. Sie verdeutlichen, dass es sich gegebenenfalls um eine Sparkasse in privatrechtlicher und nicht mehr in öffentlich-rechtlicher Organisationsform handelt.

VI. Zum Genossenschaftssektor Der Genossenschaftssektor hat sich bislang aus der Reformdiskussion weitgehend heraushalten können. Von Verbandsseite wird Zufriedenheit mit dem überkommenen Dreisäulensystem signalisiert.13 Es gibt zwar viele Gemeinsamkeiten zwischen Sparkassensektor einerseits und Genossenschaftssektor andererseits. Doch liegt ordnungspolitisch der entscheidende Unterschied in der privatrechtlichen Verfasstheit der Volksbanken und Raiffeisenbanken. Gemeinsam ist beiden Gruppen die historische Wurzel im 19. Jahrhundert, nämlich eine Antwort auf damaliges Marktversagen zu finden. „Kleine Leute“ galten für Privatbanken als eine „nicht begehrenswerte Klientel“. Das war eine Fehleinschätzung säkularen Ausmaßes, wie wir heute wissen. Während Sparkassen aus einem paternalistischen Gedanken heraus gegründet wurden – von daher die Anbindung an Kommunen –, war es bei den Genossenschaftsbanken die Idee der Selbsthilfe. Gemeinsam ist beiden Gruppen auch die Struktur eines vertikalen Aufbaus, einer Kooperation durch Spezialisierung. Ursprünglich war dieser Aufbau in beiden Bereichen dreistufig. Im Genossenschaftssektor sind dies heute noch 1400 selbständige Volksbanken und Raiffeisenbanken, darüber die Deutsche Zentral-Genossenschaftsbank (DZ Bank AG) in Frankfurt und die sehr viel kleinere Westdeutsche-Genossenschaftszentralbank (WGZ). Im Sparkassensektor entsprechen dem rund 460 Sparkassen und 11 Landesbanken. Die Konsolidierung ist innerhalb des Genossenschaftssektors sehr viel energischer vorangekommen. Seit 1971 ist dort die Zahl der Genossenschaftsbanken um 79 % zurückgeführt worden, innerhalb des Sparkassensektors in diesem Zeitraum um 42 %. Bei den privaten Banken lautet die Vergleichszahl 33 %. Während es 1971 noch 15 genossenschaftliche Zentralbanken gab, sind es heute, wie erwähnt, nur noch zwei. Fusionsgespräche zwischen der verbliebenen DZ Bank und der WGZ-Bank werden seit Januar 2001 geführt, sind bislang aber nicht entscheidend vorangekommen. Angesichts eines erwarteten Synergiepotentials von rund 300 Mio. Euro ist die Vermutung nicht fernliegend, dass allfällige Schwierigkeiten, welche einem Zusammengehen der beiden Institute widerstreiten, mittelfristig überwunden werden.

13 Pleister, „Die Volksbanken wären der natürliche Partner“, FAZ Nr. 6 vom 7. Januar 2006, S. 16.

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Die Landesbanken haben im Vergleich dazu ihre Hausaufgaben noch nicht gemacht. Ihr Geschäftsmodell ist wenig gesichert. Während die beiden genossenschaftlichen Zentralinstitute rund 95 % ihrer Geschäfte mit den eigenen Primärbanken machen, liegt die Quote bei den Landesbanken bei rund 40 %. Deren weitere Expansion nach außen bleibt riskant, ihre vertikale Ausdehnung in die Geschäftsfelder der Sparkassen selbst stößt auf deren Widerstand und müsste den Zusammenhalt des Verbundes gefährden. Die Ursachen für diese wenig geklärte Zwischenlage lassen sich ziemlich eindeutig ausmachen: Der bisherige, von Anstaltslast und Gewährträgerhaftung gekennzeichnete privilegierte Status hat einen Anpassungsdruck vermindert. Hemmend wirkt sich weiter das Interesse von Landesregierungen aus, mit einer eigenen Landesbank über ein mächtiges Gestaltungsinstrument zu verfügen. Das steht zwar nicht den erwähnten Beteiligungen zwischen Landesbanken untereinander entgegen, aber doch entschlossenen Zusammenlegungen. Gemeinsam ist beiden Sektoren schließlich, dass ihre ursprüngliche Gründungsidee in den heutigen Verhältnissen brüchig geworden ist. Vom öffentlichen Auftrag der Sparkassen ist, wie dargestellt, in der Substanz nichts übrig geblieben. Der Förderauftrag der Genossenschaftsbanken relativiert sich, wenn man bedenkt, dass von den rund 30 Millionen Kunden nur etwa 15 Millionen wirkliche Teilhaber der Institute sind. Der ordnungspolitisch entscheidende Unterschied, hier privatrechtliche Eigentumsstruktur, dort Anstalten, die von Hoheitsträgern bestimmt werden, bleibt freilich bestehen. So steht der öffentliche Bankensektor seit langem in der Kritik; er leistet nur einen bemerkenswert hartleibigen Widerstand. Genossenschaften als privatrechtliche Organisationsform des Wirtschaftens stehen dagegen außerhalb einer prinzipiellen Kritik. Im Gegenteil: Auf EU-Ebene ist eine Verordnung über die Europäische Genossenschaft als eine neue supranationale Rechtsform verabschiedet worden, um grenzüberschreitende Tätigkeiten zu erleichtern. Der Bundesgesetzgeber nimmt das zum Anlass, das über 100 Jahre alte Genossenschaftsgesetz in einigen Details fortzuentwickeln. Aus wettbewerblicher Sicht ist festzuhalten: Eine hybride Verbundform, wie sie der genossenschaftliche Bankensektor darstellt, hat sich im Wettbewerb mit Einzelunternehmen einerseits und mit Konzernverbindungen andererseits einem Markttest ausgesetzt und diesen bis heute alles in allem mit Bravour bestanden. Vom Sparkassensektor lässt sich das nicht sagen: Auch er bildet zwar eine ähnliche Verbundform, doch hat er seine Meriten nicht im unverfälschten Wettbewerb errungen, sondern auf der Grundlage von Wettbewerbsverzerrungen. Ein solcher Test hat nur geringen Wert. Wenn es im Genossenschaftssektor etwas zu hinterfragen gibt, dann ist es das in den Satzungen der Institute festgeschriebene Regionalprinzip. Dies wirkt auf der Ebene der Primärbanken wie ein Gebietskartell, wofür es gegenüber kartellrechtlichen Maßstäben keine einleuchtende Rechtfertigung gibt. Anderes kann innerhalb der vertikalen Kooperation, also im Verhältnis

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von genossenschaftlichen Zentralbanken und Primärbanken gelten, da hier jedenfalls einzelne, um ihrer Effizienz willen akzeptierte Kooperationen ohne Abgrenzung der Geschäftskreise nicht operabel sind.

VII. Was wird geschehen? Handlungsbedarf besteht demnach primär im öffentlichen Bankensektor. Man muss damit rechnen, dass mindestens auf absehbare Zeit nichts Durchgreifendes geschehen wird. Dafür gibt es zwei Gründe: – Beim Problemkreis einer Privatisierung von Sparkassen und Landesbanken handelt es sich um eine genuin ordnungspolitische Frage. Solche Fragen haben keinen politischen sex appeal. Die breite Öffentlichkeit interessiert sich mangels unmittelbarer Betroffenheit dafür kaum. Wie die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, ist es überdies sehr schwer, durch Überzeugungsarbeit ein solches Interesse hervorzurufen. – Die zuständigen Landesgesetzgeber scheuen die Auseinandersetzung mit den Kommunen und Landkreisen als den traditionellen Trägern von Sparkassen. Deren Vertreter sitzen zahlreich in den Landesparlamenten selbst und bestimmen deren Politik mit („Bürgermeisterriege“). Wie verbreitet in der Geschichte unseres Landes, könnte der „deutsche Sonderweg“ erst dann aufgegeben werden, wenn es zu spät ist.

Kreditscoring und Datenschutz Franz Josef Nick Inhaltsübersicht I. II. III. IV. V.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was sind Scoringmodelle und wie funktionieren sie? Kreditentscheidungsprozess . . . . . . . . . . . . . Verschiedene Arten von Scoringmodellen . . . . . . (Datenschutz-) Rechtliche Bewertung des Scorings . 1. Bankeigene Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bankfremde Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Die datenschutzrechtliche Behandlung von Scoringmodellen hat in der Vergangenheit in der juristischen Literatur beachtliche Aufmerksamkeit erhalten. Grund ist die verstärkte Anwendung in der täglichen Praxis, denn Scoringmodelle werden in der Versicherungsindustrie, der Telekommunikationswirtschaft, in der Werbebranche und in den letzten Jahren verstärkt in der Kreditwirtschaft genutzt.1 Für den intensiven Einsatz von Scoringmodellen in der Kreditwirtschaft gibt es verschiedene Gründe: So wird durch den Einsatz von Scoringmodellen der Kreditantragsprozess wesentlich gestrafft. Der Kreditkunde kann beim Einsatz von Scoringmodellen schon innerhalb weniger Sekunden und aus Sicht des Kunden unkompliziert erfahren, ob eine positive Kreditentscheidung ergangen ist oder nicht.2 Weiter wird die Kreditentscheidung beim Scoringverfahren objektiviert, d.h., die Kreditentscheidung hängt für den Kunden nicht mehr vom Gutdünken des Bankmitarbeiters ab, sondern wird durch das Scoringverfahren in ähnlichen Situationen einheitlich bearbeitet.

1 Thilo Weichert, „Datenschutzrechtliche Anforderungen an Verbraucher-Kredit-Scoring“, DuD 2005, S. 582 (582). 2 Sven Jansen/Ingo Schäl, „Die Schlüssel zum Erfolg“, die bank 3.2005, S. 34 (34ff.; 36).

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Die Qualität der Kreditentscheidung verbessert sich zudem nachhaltig und zwar sowohl zum Vorteil des Kunden als auch unter Risikoaspekten zum Vorteil für die Bank.3 Der Einsatz von Scoringmodellen führt bei der Bank zu einer Reduzierung von Verlusten aus der Verwirklichung von Kreditrisiken.4 Für den Kunden aber, dessen Antrag auf Grund des Einsatzes von Scoringmodellen abgelehnt wurde, da er später voraussichtlich den Kredit nicht hätte bedienen können, bedeutet der Einsatz des Scoringverfahrens, dass er vor einer drohenden Überschuldung geschützt wurde. Scoringmodelle empfehlen aber auf der anderen Seite auch positive Kreditentscheidungen, die der Kreditsachbearbeiter abgelehnt hätte und ermöglichen so, dem Kundeninteresse besser Rechnung zu tragen. Zusätzlich werden die Banken auf Grund der Baseler Eigenkapitalvereinbarung (Basel II) angehalten sein, ihre Risikosysteme zukünftig zu verbessern. Nach dem Konsultationspapier des Basler Ausschusses für Bankenaufsicht von April 2003 (Basel II) wird von den Banken erwartet, dass sie ab Ende 2006 über Verfahren verfügen, die es ihnen ermöglichen, Ausfallstatistiken im Zeitverlauf zuverlässig zu erheben, zu speichern und zu verwenden.5 Hierdurch wird die Notwendigkeit einer auf die Gruppe bezogenen Auswertung begründet, da die Kreditinstitute zur Eigenkapitalunterlegung die Kreditrisiken zukünftig nicht mehr pauschal, sondern risikoabhängig für jeden einzelnen Kreditnehmer nach seiner individuellen Ausfallwahrscheinlichkeit festlegen können.6 Das Kreditrisiko ist dann nach einem internen RatingAnsatz zu bewerten, für welchen das bereits eingesetzte Scoringverfahren genutzt werden kann.7 All diese für den Einsatz von Scoringmodellen sprechenden Gründe haben in der Kreditwirtschaft zu einem stärkeren Einsatz von Scoringmodellen geführt. Gegen die Verwendung von Scoringmodellen wird hingegen grundsätzlich eingewandt, dass wegen der objektivierten verallgemeinernden Bearbeitung individuelle Fälle nicht mehr ihren einzelfallbezogenen Umständen entsprechend bearbeitet werden 8, der Datenbestand, welcher der Scoreberechnung

3

Jansen/ Schäl, a.a.O., S. 34 (36 f.). Jansen/ Schäl, a.a.O., S. 34 (36 f.). 5 Konsultationspapier des Basler Ausschusses für Bankenaufsicht von April 2003, Abschnitt I, Säule 1, veröffentlicht von der Bank For International Settlement unter www.bis.org/bcbs/bcbscp3.htm. 6 Thomas Mackenthun, „Datenschutzrechtliche Voraussetzungen der Verarbeitung von Kundendaten beim zentralen Rating und Scoring im Bank-Konzern“, WM 2004, S. 1713 (1714). 7 Mackenthun, a.a.O., S. 1713 (1714). 8 Weichert, a.a.O., S. 582 (582). 4

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dient, unrichtig sein kann 9 und die Datenverarbeitung in einer für den Kunden nicht mehr transparenten und nachvollziehbaren Weise erfolgt.10 Die vorliegende Untersuchung soll daher eine datenschutzrechtliche Bewertung des Scorings unter besonderer Berücksichtigung der Praxis in der Kreditwirtschaft vornehmen. Bevor dies erfolgen kann, soll zunächst dargestellt werden, was Scoringmodelle sind und wie sie funktionieren, wie der Kreditentscheidungsprozess aussieht und welche verschiedenen Arten von Scoringmodellen unterschieden werden können.

II. Was sind Scoringmodelle und wie funktionieren sie? Mit Scoringmodellen werden statistisch-mathematische Berechnungen durchgeführt, die auf Grund historischer Werte eine Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung eines Kreditengagements errechnen.11 Die errechnete Wahrscheinlichkeit wird in Form eines Wertes ausgedrückt. Dieser Wert ist der sog. Scorewert, welcher selbst zunächst inhaltsleer ist. Dass dem Scorewert kein eigener bankübergreifender Inhalt zugemessen werden kann, liegt zum einen an einer uneinheitlichen Skalierung durch die die Scorewerte verwendenden Kreditinstitute. So gibt es Unternehmen, die Scoretabellen zwischen 0 und 1000 benutzen.12 Andere benutzen Werte zwischen 0 und 20 oder Buchstabenfolgen des Alphabets. Selbst wenn aber eine einheitliche Skalierung genutzt würde, könnten daraus keine Rückschlüsse über die Gründe einer eventuellen Kreditgenehmigung gezogen werden. Denn einheitliche Scorewerte lassen keine Rückschlüsse auf die der Entscheidung zugrundeliegenden Parameter zu: jede Bank setzt letztendlich andere Risikoparameter. Manche Banken verhalten sich hier risikoaffiner, andere weniger.13 Zum anderen kann auch die Zielsetzung eine völlig unterschiedliche sein: das anwendende Kreditinstitut kann Scoremodelle beispielsweise zur Gewinnoptimierung, zur Optimierung des Inkassos oder aber auch zur Unterstützung der Erfüllung der Basel II Anforderungen nutzen.14 Der reine Scorewert selbst sagt daher nichts über den Kunden.

9 Michael Beckhusen, „Das Scoring-Verfahren der SCHUFA im Wirkungsbereich des Datenschutzrechts“, BKR 2005, S. 335 (339). 10 Weichert, a.a.O., S. 582 (582 f.). 11 Christian Koch, „Scoring-Systeme in der Kreditwirtschaft“, MMR 1998, S. 458 (458); Weichert, a.a.O., S. 582 (582). 12 Ulrich Würmeling, „Scoring von Kreditrisiken“, NJW 2002, S. 3508 (3509). 13 René-Claude Urbatsch, „Die Entwicklung von Credit-Scoring-Systemen“, in „Living by numbers, Leben zwischen Statistik und Wirklichkeit“, herausgegeben von Bettina Sokol, Landesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit NRW, S. 68 (82). 14 Rene-Claude Urbatsch, a.a.O., S. 68 (69).

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Bei Scoringmodellen selbst unterscheidet man zwischen Antragsscores 15, die in der Regel für Neukunden verwendet werden und bei denen die Bank verstärkt auf die Angaben des Kunden vertraut und Verhaltensscores, bei denen bei der Berechnung Informationen aus einem bestehenden Vertragsverhältnis berücksichtigt werden. Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass die verwendeten Scoringmodelle bei jeder Bank voneinander abweichen und es verschiedenste Facetten gibt. Um die praktische Relevanz zu verdeutlichen, wird im folgenden ein Entscheidungsbaum allgemeiner Art für die Bearbeitung eines Kreditantrages dargestellt, wie er aber bei vielen Banken genutzt wird:

III. Kreditentscheidungsprozess Allgemeine Voraussetzungen erfüllt nein Ablehnung wegen Regelverstoß

ja Dokumente liegen vor

Berechnung des Scores, innerhalb des Cut Off nein Ablehnung wegen Risiko

ja Berechnung der Kreditlinie Ist möglicher Kredit > als Außenstand? ja

nein

Zentrale Kreditabteilung

nein Ablehnung

ja Genehmigung

Ablehnung wegen Außenstand

Ist der Kundenwunsch innerhalb der freien Kreditlinie? nein Ablehnung wegen Außenstand

ja Genehmigung

Bei Prüfung dieses Entscheidungsbaumes wird deutlich, dass Scoring nur ein Element des gesamten Kreditentscheidungsprozesses ist. Ein erster Filter findet bei den sogenannten „Allgemeinen Voraussetzungen“ statt. Es handelt sich hierbei um gesetzliche Vorgaben oder bankinterne Kreditanforderungen, bei deren Vorliegen oder Fehlen kein Kredit heraus15 Holger Dittombée, “Credit-Scoring in der Praxis”, in “Living by numbers”, S. 86 (90 f.).

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gelegt wird. Dabei handelt es sich unter anderem um Fälle der Geschäftsunfähigkeit, Minderjährigkeit oder auch negativer SCHUFA-Eintrag. Hinzu kommen Fälle, bei denen Banken grundsätzlich keine Kredite herauslegen wie z.B. bei Arbeitslosigkeit. Diese Fälle werden auch als „Killermerkmale“ bezeichnet und missverständlich als Teil des Scorings diskutiert.16 Bei genauer Betrachtung wird man hier feststellen, dass noch gar keine Scoringbearbeitung vorliegt. Diese Fälle werden vielmehr „vor die Klammer gezogen“ und der Kredit wird abgelehnt, bevor der Score überhaupt ermittelt wird.17 Sie sind daher datenschutzrechtlich schon per se unbeachtlich, da es zu keiner Scoreberechnung kommt. Erst wenn von dem den Kreditantrag bearbeitenden Mitarbeiter festgestellt wurde, dass keine „Killermerkmale“ und die allgemeinen Voraussetzungen für eine Kreditgenehmigung vorliegen, kommt es überhaupt erst zu einer Scoreberechnung. Bei dieser Berechnung wird sodann ein Prognoserisiko errechnet, welches angibt, wie viele Kredite mit dieser Prognose in der Zukunft nicht erfüllt werden.18 Diese Ausfallwahrscheinlichkeit kann in Prozentpunkten oder auch Risikoquotenpunkten ausgedrückt werden. Sodann wird geprüft, ob der Scoringwert ober- oder unterhalb des von der Bank zuvor bestimmten „Cut off“ Wertes liegt. Beim „Cut off“ handelt es sich um einen für die jeweilige Scorekarte (d.h. für das jeweilige Produkt) festgelegten Schwellenwert, bis zu dem die Bank bereit ist, ein Kreditgeschäft zu tätigen.19 Liegt der Scoringwert außerhalb der Toleranz, empfiehlt das System eine Ablehnung. Ansonsten wird im folgenden das Kreditlimit unter besonderer Beachtung sonstiger Merkmale und Angaben des Kunden berechnet und es erfolgt anschließend entweder die systemische Empfehlung, den Kredit abzulehnen oder zu gewähren. Diese systemische Entscheidung wird jedoch grundsätzlich noch von einem Bankmitarbeiter überprüft, wobei die Entscheidung des zuerst prüfenden Mitarbeiters normalerweise noch von einer übergeordneten Stelle gegengeprüft wird. In aller Regel – und insbesondere im Filialbankensystem – besteht zudem die Möglichkeit des Gesprächs des Kunden mit dem Bankmitarbeiter über die Entscheidung für oder gegen den Kredit. In aller Regel steht weiterhin eine zentrale Kreditstelle zur Verfügung, die Kreditempfehlungen nochmals überprüft, sofern dies durch den Kunden gewünscht wird. In der datenschutzrechtlichen Diskussion sind

16 Koch, a.a.O., S. 458 (460); Jan Möller/Björn-Christoph Florax, „Kreditwirtschaftliche Scoring-Verfahren“, MMR 2002, S. 806 (809). 17 Kai Baetge/Ariane Kruse-Irle, die bank 12/2000, S. 872ff. am Beispiel der Lufthansa Air Plus Servicekarten GmbH. 18 Andreas Henking/Ralf Hüls/Stefan Krieger, „Präzision in der Bonitätsbeurteilung“, die bank 12.2005, S. 57 (57). 19 Urbatsch, a.a.O., S. 68 (79).

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diese Umstände bislang nicht ausreichend berücksichtigt worden, da hier vielfach eine automatisierte Entscheidung einfach unterstellt wird, die es de facto im Filialbanksystem nicht gibt.

IV. Verschiedene Arten von Scoringmodellen In der täglichen Praxis der Anwendung von Scoringmodellen kommen entweder bankeigene Scoringmodelle, bankfremde Modelle oder eine Mischung aus beiden Modellen zur Anwendung.20 Bei bankeigenen Modellen hat die Bank das von ihr verwendete System selbst erstellt und verwendet auch nur vorhandenes, eigenes Datenmaterial.21 Bei Errechnung des Scores für einen Kunden kommen daher nur die bei der Bank bereits vorhandenen Daten ihrer Kunden zur Anwendung. Die Bank ist nicht auf die Verwendung extern erhobener Kundendaten angewiesen. Bei bankfremden Modellen wird das mathematisch-statische Modell von einem Dritten erstellt, und bei Berechnung des Scorewertes wird durch das Kreditinstitut auf Daten eines Dritten zurückgegriffen.22 Hier ist insbesondere das Scoringverfahren der SCHUFA zu nennen, das seit 1996 angeboten wird. Letztlich gib es noch Mischformen, bei denen z.B. die Bank sich fremder Rechenmodelle bedient und dabei aber auf eigene Kundendaten zurückgreift.

V. (Datenschutz-) Rechtliche Bewertung des Scorings Im folgenden sollen die verschiedenen Modelle datenschutzrechtlich gewürdigt werden, wobei nur zwischen den bankeigenen und bankfremden Modellen unterschieden wird. 1. Bankeigene Modelle Bei diesen Modellen verwendet die Bank wie oben dargestellt nur ihr eigenes Rechenmodell, die Daten ihrer Kunden und die individuellen Daten des antragsstellenden Kunden. Es kommt zu keiner Datenübertragung von Dritten zur Bank. a) Um überhaupt einen datenschutzrechtlich relevanten Tatbestand zu schaffen, müsste zunächst der Anwendungsbereich des § 4 I BDSG eröffnet sein. Der Anwendungsbereich des § 4 I BDSG wäre dann eröffnet, wenn bei

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Weichert, a.a.O., S. 10 (10). Weichert, a.a.O., S. 10 (10). Weichert, a.a.O., S. 10 (10).

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der Errechnung des Scores personenbezogene Daten erhoben, verarbeitet und genutzt würden. Um überprüfen zu können, ob die Voraussetzungen für den Anwendungsbereich des § 4 I BDSG vorliegen, müssen bei der Errechnung des Scores zwei Schritte unterschieden werden. Im ersten Schritt wird aus den bei der Bank vorhandenen historischen Kundendaten eine anonymisierte Gruppe von Kreditnehmern gebildet. Für diese anonyme Gruppe wird eine Kreditausfallwahrscheinlichkeit berechnet, die in einem zweiten Schritt als Prognose dem Kunden, welcher gerade einen Kredit beantragt, zugeordnet wird. Die im ersten Schritt verwendeten und bei der Bank bereits vorhandenen Kundendaten werden von der Bank für die Berechnung des Scores ausschließlich in anonymisierter Form benutzt, so dass diese Information nicht mehr einer bestimmten Person zugeordnet werden kann (§ 3 VI BDSG). Da insofern jedoch bereits schon kein personenbezogenes Datum im Sinne des § 3 I BDSG gegeben ist 23, ist der Anwendungsbereich des BDSG dadurch nicht eröffnet.24 Sehr umstritten ist der Anwendungsbereich des BDSG allerdings beim zweiten Schritt, bei der Ermittlung des Scorewerts und der Frage, ob es sich bei den Scorewerten um personenbezogene Daten handelt (§§ 4 I, 3 I BDSG). Gegen die Eröffnung des Anwendungsbereiches des BDSG könnte sprechen, dass keine Einzelangaben über persönliche und sachliche Verhältnisse der Person vorliegen. Stimmen in der Literatur bestreiten das Vorliegen eines personenbezogenen Merkmals. Sie machen geltend, ein Scorewert sei keine Einzelangabe über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten Person, sondern es würde lediglich das Verhältnis einer Person, hier des Kreditantragsstellers, zu einer Personengruppe hergestellt. Der Scorewert beschreibe weiter nicht die Wahrscheinlichkeit einer Schlecht- oder Nichterfüllung durch den einzelnen Kreditvertragskunden, sondern lediglich, dass der jeweilige Antragsteller zu einer Gruppe von anonymen Personen gehört, bei der die Wahrscheinlichkeit der negativen Kreditbedienung X % beträgt. Es werde durch den Scorewert nichts über die Bonität des einzelnen Kunden gesagt, sondern eine allgemeine Prognose über die Kreditentwicklung einer anonymen Vergleichsgruppe erstellt.25

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Wuermeling, a.a.O., S. 3508 (3509). Karsten Klein, „Zur datenschutzrechtlichen Relevanz des Scorings von Kreditrisiken“, BKR 2003, S. 488 (489); Wuermeling, a.a.O., S. 3508 (3509). 25 Wulf Kamlah, „Das SCHUFA-Verfahren und seine datenschutzrechtliche Zulässigkeit“, MMR 1999, S. 395 (400); Tanja Wolber, „Datenschutzrechtliche Zulässigkeit automatisierter Kreditentscheidungen“, CR 2003, S. 623 (625); im Ergebnis auch AG Düsseldorf, Urteil vom 13.11.2002, Az.: 232 C 5842/02. 24

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Dieser Einschätzung wird durch andere Auffassungen in der Literatur widersprochen. Hier wird geltend gemacht, dass im Sinne von §§ 4 I, 3 I BDSG relevante personenbezogene Einzelangaben sehr wohl auch dann vorliegen würden, wenn eine Einzelperson als Mitglied einer Gruppe identifiziert wird und die Merkmale der Gruppe auch entsprechend auf die Einzelperson angewendet werden bzw. „durchschlagen“. Es sei unerheblich, ob die Gruppenmitglieder anonym und nur auf Grund statistischer Erkenntnisse gebildet worden seien.26 Fraglich ist jedoch bei der letzteren Auffassung, ob tatsächlich eine Einzelangabe im obigen Sinne vorliegt, wenn von einer anonymisierten Gruppe auf die Kreditausfallwahrscheinlichkeit einer Einzelperson geschlossen wird. Zunächst ist gegen diese Annahme grundsätzlich einzuwenden, dass beim Kreditscoring gerade nicht ausgehend von einer Gruppe auf eine Einzelperson geschlossen wird, also der Vorgang von vielen Personen auf eine Einzelperson heruntergebrochen wird. Vielmehr ist der Prozessablauf genau entgegengesetzt, denn aus den von dem Kunden gemachten Angaben wird erst eine entsprechende Vergleichsgruppe gebildet. Anschließend wird deren Kreditverhalten geprüft und eine entsprechende Kreditausfallwahrscheinlichkeit ermittelt. Folglich wird nicht die Einzelperson einer Gruppe zugeordnet, sondern es wird umgekehrt von der Einzelperson ausgehend eine Gruppe mit identischem bzw. auf den Einzelnen exakt zugeschnittenen Kundenprofil erstellt.27 Auch aus dem Beschluss des BAG vom 26. Juli 1994 28 kann für den vorliegenden Sachverhalt keine andere Schlussfolgerung gezogen werden.29 Im Gegensatz zur Rechtsprechung des BAG werden beim Kreditscoring nicht Daten innerhalb von kleinen, statischen Gruppen mit ca. 10 Personen, die alle namentlich bekannt sind, erhoben, sondern es handelt sich um höchst dynamische Gruppen von tausenden Personen, deren Zusammensetzung sich permanent ändert. Während sich das BAG tatsächlich mit dem Problem beschäftigt, dass eine Person zu einer Gruppe gehört und daraus auf sein Verhalten geschlossen werden kann, geht es bei der Ermittlung eines Kreditscores darum, dass einer Person, deren Angaben bekannt sind, eine bestimmte Gruppe zugeordnet wird. Es werden dabei nicht Informationen über eine einzelne Person aus dem Verhalten der Gruppe ermittelt, sondern es wird lediglich eine Prognose für künftige Ausfallwahrscheinlichkeiten aus Angaben des Antragenden erstellt.

26 Beckhusen, a.a.O., S. 335 (337); Klein, a.a.O., S. 488 (489f.); Peter Gola/Rudolf Schomerus, Kommentar zum Bundesdatenschutzgesetz, 8. Aufl., § 6a Rn. 15/§ 3 Rn. 3. 27 Beckhusen, a.a.O., S. 335 (338). 28 BAG, Beschluss vom 26.07.1994, Az.: 1 ABR 6/94, NZA 1995, S. 185 ff. 29 so aber wohl Gola/ Schomerus, a.a.O., § 3 Rn. 3.

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Aus diesen Gründen ist die Argumentation, es handele sich dann immer um Einzelangaben, wenn die Daten der Gruppe auf die Einzelperson „durchschlagen“, für den Fall des Kreditscoring nicht überzeugend. Aber auch der Gegenmeinung, beim Scoring würden keine Angaben über die Kreditwürdigkeit der einzelnen kreditbeantragenden Person gemacht, sondern die Entscheidung sei nur gruppenbezogen, kann so nicht gefolgt werden. Diese Argumentation scheint im Licht der täglichen Bankpraxis sehr gekünstelt. Bei Banken, die Kreditscoringmodelle verwenden, wird für jeden einen Kredit beantragenden Kunden ein Scorewert errechnet, der regelmäßig in Prozenten die Ausfallwahrscheinlichkeit ausdrückt. Ein Computersystem empfiehlt sodann aufgrund des errechneten Scorewertes die Annahme des Kreditantrages, die Ablehnung oder die Annahme des Antrages zu geänderten Konditionen. In der Praxis wird diese Prognose dem Kunden zugeordnet und Überlegungen, dass dies nur der Scorewert einer Vergleichsgruppe ist, werden praktisch nicht angestellt. Im folgenden soll daher nochmals nahe am Wortlaut des § 3 I BDSG nach einer Lösung gesucht und geklärt werden, ob es sich bei Kreditscorewerten um Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse handelt. Scorewerte müssten zunächst Einzelangaben sein, d.h., der Scorewert müsste eine Information sein, die sich ausschließlich auf eine Einzelperson bezieht. Dies ist, wie zuvor gezeigt, der Fall, da sie die Wahrscheinlichkeit des Kreditausfalls für die jeweils betroffene und bestimmte Person darstellt. Sie stellt eben nicht nur eine Sammelangabe über eine künstliche und anonymisierte Gruppe dar, sondern ist eine Prognose über das zukünftige Zahlungsverhalten einer einzelnen bestimmten Person. 30 Der Scorewert müsste auch etwas über die persönlichen oder sachlichen Verhältnisse der Kredit beantragenden Person aussagen. Dabei muss es sich um Angaben über die Person selbst handeln (z.B. Name, Anschrift) oder es müsste sich um einen tatsächlich auf die Person beziehenden Sachverhalt handeln. Bei Scorewerten handelt es sich zunächst nicht um persönliche Verhältnisse der betroffenen Person, da Scorewerte keine Informationen zur Person wiedergeben. Der Bezug zu den persönlichen Verhältnissen zur Person könnte jedoch über das Argument hergestellt werden, dass es sich bei Scorewerten um Werturteile über eine Person handelt. Zum Teil wird dies pauschal mit dem Argument bejaht, dass Werturteile sehr wohl Angaben über persönliche Verhältnisse darstellen können31, und dies dann erst recht für Prognosen gelten müsse. 32 30 31 32

Gola/Schomerus, a.a.O., § 6 a Rn. 15; Beckhusen, a.a.O., S. 335 (338). Gola/Schomerus, a.a.O., § 3 Rn. 5. Beckhusen, a.a.O., S. 335 (338).

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Ob dieser Umkehrschluss zwingend ist, ist zumindest fraglich. Dabei muss zunächst kritisch festgestellt werden, dass auch nicht jedes Werturteil an sich eine Angabe über persönliche Verhältnisse ist. Vielmehr ist bei der Äußerung von Werturteilen der subjektive Faktor zu beachten, der aber gerade keine sachliche objektive Beschreibung zulässt. Gerade Werturteilen ist letztendlich immanent, dass sie durch bestimmte subjektive Parameter geprägt sind: Ein Werturteil bezieht sich grundsätzlich auf die Situation zum Zeitpunkt der Beurteilung und drückt subjektiviert eine „Jetzt“Einschätzung über eine Person aus. Anders jedoch beim Kreditscoring, das ausschließlich eine Aussage über eine eventuelle zukünftige Entwicklung des Kreditengagements trifft. Das Kreditscoring ist mathematisch-statistisch geprägt und insofern versachlicht. Es drückt eine wissenschaftlich sachlichobjektive Prognose aus. Es besagt jedoch nichts über jetzige Verhältnisse des Kreditnehmers, sondern nur etwas darüber, was in Zukunft eventuell eintreten könnte. Subjektive Einflüsse, wie dies bei einem Werturteil notwendig ist, fließen in den Score nicht ein. Richtig ist auch, dass die Scorewerte letztendlich einen Einfluss darauf haben, ob ein Kreditvertrag abgeschlossen wird oder nicht. Einen Einfluss auf die persönlichen oder gar sachlichen Verhältnisse der beantragenden Person hat dies aber nicht, da der Kreditvertrag, der ein sachliches Verhältnis der Person darstellt, erst später – und nur als Folge des Scorings – abgeschlossen wird. Bei einem anderen Ergebnis würde es sich nur um eine unzulässige ergebnisorientierte Auslegung handeln.33 Bei dieser engen Auslegung am Wortlaut des BDSG, die keine eindeutige Aussage darüber zulässt, ob der Anwendungsbereich des § 3 I BDSG überhaupt eröffnet ist, ist letztlich der gesetzgeberische Wille maßgeblich. Dieser ist mit Einführung von § 6 a BDSG zum Ausdruck gekommen: Grundsätzlich dürfen gemäß § 6 a I BDSG Entscheidungen, die für den Betroffenen eine rechtliche Folge nach sich ziehen oder ihn erheblich beeinträchtigen, nicht ausschließlich auf eine automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten, die der Bewertung einzelner Persönlichkeitsmerkmale dienen, gestützt werden. Gemäß Art. 12 a) 3. Spiegelstrich der EU-Datenschutzrichtlinie müssen die Mitgliedstaaten jeder betroffenen Person das Recht garantieren, vom für die Verarbeitung (der Daten) Verantwortlichen Auskunft über den logischen Aufbau der automatisierten Verarbeitung der sie betreffenden Daten, zumindest im Fall automatisierter Entscheidungen im Sinne von Artikel 15 Absatz 1 der Richtlinie, zu erhalten. Artikel 15 Absatz 1 der Richtlinie stellt seinerseits ausdrücklich klar, dass die Mitgliedstaaten jeder Person das Recht einräumen müssen, keiner für sie rechtliche Folgen nach sich ziehenden und

33

Wuermeling, a.a.O., S. 3508 (3509).

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sich keiner sie erheblich beeinträchtigenden Entscheidung unterwerfen zu müssen, die ausschließlich aufgrund einer automatisierten Verarbeitung von Daten zum Zwecke der Bewertung einzelner Aspekte ihrer Person ergeht, wie beispielsweise ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit, Kreditwürdigkeit, ihrer Zuverlässigkeit oder ihres Verhaltens. Aufgrund der ausdrücklichen Nennung der Kreditwürdigkeit hatte bereits die dem Gesetzeswortlaut zugrundeliegende Richtlinie klargestellt, dass auch automatisierte Kreditentscheidungen in den Anwendungsbereich des BDSG fallen sollten. Die Norm des § 6 a BDSG soll den Betroffenen vor automatisierten Entscheidungen schützen, die ausschließlich aufgrund von Persönlichkeitsprofilen ergehen, ohne dass der Betroffene die Möglichkeit hat, die zugrundeliegenden Angaben und Bewertungsmaßstäbe zu erfahren und gegebenenfalls auf die Entscheidung noch nachträglich Einfluss zu nehmen. Dies umfasst auch ein Verbot von Datenverarbeitungen, die zu automatisierten Einzelentscheidungen führen.34 Wenn nun aber in der Richtlinie und infolge dessen auch in dem BDSG ausdrücklich Kreditentscheidungen mit in den Anwendungsbereich des BDSG aufgenommen werden, hat der Gesetzgeber ausdrücklich mit in seine Erwägungen aufgenommen, dass diese Kreditentscheidungen aufgrund der verbreiteten Praxis des Kreditscorings getroffen werden. Da jedoch § 6a BDSG somit ausdrücklich auch automatisierte Kreditentscheidungen aufgrund Kreditscorings umfasst, muss der Anwendungsbereich des § 3 I BDSG eröffnet sein, da ansonsten die Vorschrift des § 6 a BDSG leer laufen würde. Diese Folge kann jedoch vom Gesetzgeber nicht gewollt sein. Somit ist beim Kreditscoringverfahren der Anwendungsbereich des BDSG gegeben. Insofern muss im weiteren untersucht werden, ob die Verwendung von Kreditscoringmodellen rechtmäßig im Sinne des BDSG ist. b) Die bei der Erstellung des Scores bei der Bank durchgeführte Datenverarbeitung ist zumindest gemäß § 28 I Nr. 2 BDSG zulässig, wie im folgenden gezeigt werden wird. Ob auch die erste Alternative von § 28 I BDSG einschlägig wäre, braucht daher nicht mehr untersucht zu werden, da die Zulässigkeitsmerkmale dieser Norm alternativ zueinander stehen.35 Das Erheben, Speichern, Verändern oder Übermitteln personenbezogener Daten oder ihre Nutzung als Mittel für die Erfüllung eigener Geschäftszwecke ist dann zulässig, soweit es zur Wahrung berechtigter Interessen der verantwortlichen Stelle erforderlich ist und kein Grund zu der Annahme besteht, dass das schutzwürdige Interesse des Betroffenen an dem Ausschluss der Verarbeitung oder Nutzung überwiegt.

34 35

Gola/Schomerus, a.a.O., § 6 a Rn. 1. Streitig, s. Gola/Schomerus, a.a. O., § 28 Rn. 9.

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Das berechtigte Interesse der Bank an der Erhebung der Daten des Kunden ist jedoch ohne Zweifel gegeben, da es ihr durch Anwendung der Scoringmodelle gelingt, den eigenen Arbeitsablauf zu straffen, bessere und objektive Kreditentscheidungen zu treffen und den kreditbegehrenden Kunden einen schnellen Service zu bieten. Um diese Ziele zu erreichen, ist die Einbindung des Scoringverfahrens erforderlich. Schnellere und bessere Entscheidungen sind letztendlich nur beim Scoring möglich. Voraussetzung ist allerdings, dass die Berechnung der Scorewerte auf sachlichen Erwägungen beruhen und nicht gegen das Diskriminierungsverbot verstoßen, so z.B. bei Bewertungen von Geschlecht, Religionszugehörigkeit, sexueller Orientierung, Rasse, politischer Überzeugung. Dies würde bereits gegen die EGAntidiskriminierungsrichtlinien verstoßen. Schutzwürdige Interessen des Kunden, die eine Bearbeitung der Kundendaten zur Erstellung des Scorewerts ausschließen würden, sind nicht ersichtlich. Insbesondere die oben genannten Vorteile für die Bank sind oft auch direkte Vorteile für den Kunden. Der Bankkunde ist nicht mehr der Willkür des Bankmitarbeiters ausgesetzt. Insbesondere aber die Überprüfung auf Seiten der Bank anhand des erstellten Scorewertes hat direkt zur Folge, dass Antragssteller, deren Darlehenswunsch abgelehnt wurde, vor einer Überschuldung geschützt werden. Im Ergebnis geht die Literatur daher heute weitgehend von einer Zulässigkeit bankeigener Scoringmodelle aus.36 c) Aus § 6 a BDSG könnte sich jedoch ein Verbot für die Ermittlung von Scorewerten ergeben, wenn dadurch für den Kunden eine Entscheidung mit rechtlichen Folgen oder erheblichen Beeinträchtigungen getroffen und die Entscheidung ausschließlich auf eine automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten gestützt würde. Diese Voraussetzung des § 6a I BDSG dürfte aber durch die Prozessabläufe in den Banken in aller Regel nicht erfüllt sein. Zunächst beruht die Entscheidung über die Kreditgewährung nicht ausschließlich auf der automatisierten Scorewertberechnung. Wie oben gezeigt, ist die Scorewertberechnung nur ein Teil des Kreditentscheidungsprozesses bei Banken. Grundsätzlich werden allgemeine Merkmale vorab durch den Kreditsachbearbeiter überprüft. Dazu zählen neben Volljährigkeit, eventuell eingeschränkter Geschäftsfähigkeit auch ein negativer SCHUFA-Eintrag. Dazu kommen durch die Bank intern zwingend vorgegebene Kreditvoraussetzungen, die unbedingt einzuhalten sind wie z.B. für Verbraucherdarlehen eine Höchstlaufzeit, ein maximaler Höchstbetrag, Mindestlaufzeiten bevor ein laufender Kredit erhöht wird, oder ein Mindesteinkommen des Kreditantragstellers. All diese Voraussetzungen werden vorab geprüft, und erst wenn 36 Thomas Petri, „Sind Scorewerte rechtswidrig?“, DuD 2003, S. 631 (635); Wolber, a.a.O., S. 623 (623); Kamlah, a.a.O., S. 395 (398 f.); Weichert, a.a.O., S. 582 (583).

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diese Voraussetzungen erfüllt sind, wird es zur Erstellung eines Scores kommen. Die Kreditentscheidung der Bank beruht daher in aller Regel nicht nur auf dem Scoring, sondern zusätzlich auf dem Vorliegen weiterer Voraussetzungen. Es fehlt daher an der Ausschließlichkeit der Kreditentscheidung aus dem Score. Entscheidung i.S. des § 6 a BDSG bedeutet darüber hinaus den gesamten Vorgang des Kreditentscheidungsprozesses und nicht nur den Teilprozess Scoring. Sinn und Zweck des § 6 a BDSG besteht darin, den Kunden vor vollautomatisierten Prozessen zu schützen, deren Mechanismen dem Kunden verborgen bleiben. Zum einen mangelt es bereits an einem vollautomatisierten Prozess. Zum anderen verstehen die Kunden aber z.B. sehr wohl, dass sie bei einer negativen SCHUFA-Auskunft keinen Kredit erhalten werden. Darüber hinaus ist zu beachten, dass die bei den meisten Banken verwendeten Scoremodelle keine Entscheidungs-, sondern Empfehlungsmodelle sind, d.h., sie generieren keine Entscheidung für den Kreditsachbearbeiter, sondern nur eine Empfehlung, den Kreditantrag anzunehmen, abzulehnen oder gegebenenfalls abzuändern. Ausgefeiltere Modelle schreiben sogar die Kreditkompetenz des Sachbearbeiters vor, der den Kredit genehmigen muss, also Kreditlevel A, B oder C. Auch in diesen Fällen liegt keine automatisierte Entscheidung vor, da vielmehr die letzte Entscheidung über den Kreditantrag einer kreditkompetenten Person vorbehalten bleibt.37 Weiter wird mit beachtlichen Argumenten vertreten, dass selbst bei einer reinen Scoringentscheidung die Voraussetzungen des § 6a BDSG nicht vorliegen, da die Entscheidungen über die Kreditgewährung keine rechtlichen Folgen für den Kunden darstellen. Selbst bei Ablehnung des Kreditantrags steht der Kunde so da wie vor der Antragsstellung und Rechte des Kunden werden durch die Entscheidung nicht beschnitten, da es kein Recht auf Abschluss, d.h., einen Kontrahierungszwang, gibt.38 Auch wenn der Anwendungsbereich des § 6 I BDSG eröffnet wäre, wäre eine Ausnahme von § 6 a I BDSG in § 6 a II BDSG normiert. Gemäß § 6 a II Nr. 1 BDSG gilt das Verbot des § 6a I BDSG nicht, wenn dem Antrag des Kunden entsprochen wird. Dies ist der Fall bei einer Kreditgenehmigung. Gem. § 6 a II Nr. 2 BDSG gilt das Verbot des Absatzes I auch dann nicht, wenn die berechtigten Interessen des Kreditkunden durch geeignete Maßnahmen gewahrt werden.

37 Gola/Schomerus, a.a.O., § 6 a Rn. 5; Wolber, a.a.O., S. 623 (626); kritisch Jan Möller/ Björn-Christoph Florax, „Datenschutzrechtliche Unbedenklichkeit des Scoring von Kreditrisiken?“, NJW 2003, S. 2724 (2725). 38 Wolber, a.a.O., S. 623 (626).

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Als Regelbeispiel für solche Maßnahmen wird die den Kunden eingeräumte Möglichkeit zur Geltendmachung ihres Standpunktes genannt, wenn der Kreditwunsch abgelehnt wurde. Die Bank ist dann dazu verpflichtet, ihre Entscheidung nochmals zu prüfen. Genau dieses Regelbeispiel wird zumindest bei Filialbanken vorliegen. Denn selbst in Fällen einer ausschließlich automatisierten Entscheidung hat der Kunde bei Ablehnung immer die Möglichkeit, die Entscheidung der Bank zu hinterfragen und um eine Erklärung zu bitten. Die Bank wird dann ihre Entscheidung überprüfen und gegebenenfalls eine andere Entscheidung treffen. Schwieriger ist dies nur in Fällen des Online-Bankings. Hier ist zunächst zu fragen, ob der Kunde ebenso schutzwürdig ist wie der Filialkunde. Es ist der Kunde, der das anonymisierte und automatisierte und von Bankberatern unabhängige Medium Internet nutzt und nunmehr durch § 6a I BDSG vor den Folgen der Anonymisierung geschützt werden soll. Es ist allerdings festzustellen, dass § 6a I BDSG eine solche Unterscheidung der Kommunikationswege nicht kennt und daher keine Schlüsse auf die Anwendbarkeit der Norm rechtfertigen. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist auch, welche Rechtsqualität eine online abgegebene Kreditzusage hat. Kreditverträge können gem. § 492 I 2 BGB nicht elektronisch abgeschlossen werden. Damit ist die Entscheidung bereits von Gesetzes wegen außerhalb des Mediums Internet zu treffen. Online-Kreditzusagen haben daher regelmäßig den Charakter einer sog. invitatio ad offerendum und sind zudem mit Vorbehalten wie z.B. „Bonität vorausgesetzt“ versehen. Eine Anwendbarkeit des § 6a I BDSG kann daher auch im Online-Banking im Rahmen der gegenwärtigen Praxis nicht festgestellt werden. Sollte man daher entgegen der zuvor gemachten Ausführungen zum Online-Banking die Anwendung des § 6 a I BDSG bejahen, obwohl das Scoring nur Teil des Gesamtkreditprozesses ist, so wird den Online-Bankern nur der Weg bleiben, im Internet deutlich entweder die Ablehnung vorbehaltlich abschließender Prüfung zu erteilen oder eine Telefon-Hotline einzurichten, die es dem Kunden ermöglicht, seinen Standpunkt darzulegen und dort gegebenenfalls eine Erklärung zu erhalten, warum der Kredit in der beantragten Form abgelehnt wurde. 2. Bankfremde Modelle Bei diesen Modellen ist der Verfahrensablauf datenschutzrechtlich in drei Schritte zu unterteilen: – die Übermittlung der Daten von der Bank zum Dritten (1.); – die Errechnung des Scores durch den Dritten (2.) und – die Übermittlung des Scores vom Dritten zurück zur Bank (3.).

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a) Die Übermittlung der Kundendaten durch die Bank an den Dritten zur Erstellung des Scores ist auf jeden Fall gemäß § 28 I Satz 1 Nr. 2 BDSG zulässig. Die Bank handelt hierbei für eigene Zwecke, da sie den Scorewert zur Feststellung der Kreditwürdigkeit des Kunden benötigt. Im übrigen gelten hier die gleichen Erwägungen wie bereits unter Punkt V l. b) dargestellt. b) Der Dritte erhält sodann die Daten des Bankkunden von der Bank und errechnet daraus den Scorewert. Hierbei wird der Dritte aber nicht für eigene Zwecke, sondern vielmehr für fremde Zwecke tätig, nämlich für die Bank und für deren Geschäftsbereich. § 28 I BDSG findet daher auch mit seinen Ausnahmen per se keine Anwendung 39. Die Tätigkeit des Dritten ist daher an der Norm des § 29 I BDSG zu messen, aus welcher sich eine Zulässigkeit ergeben könnte. Auch im Rahmen des § 29 I BDSG und in der Phase der Scoreermittlung sind wieder mehrere Schritte zu unterscheiden, in welchen die Rechtmäßigkeit der Errechnung des Scores durch Dritte überprüft werden muss. So stellt die Ankunft der Daten des Bankkunden bei Dritten zunächst ein „Erheben“ im rechtlichen Sinne dar, denn es werden hier durch den Dritten Daten über den Bankkunden beschafft (vgl. § 3 III BDSG). Dass die Bank in einem vorhergehenden Schritt die Datei aktiv übermittelt und der Dritte die übermittelten Daten nur passiv entgegennimmt, ist bei der Frage, ob ein „Erheben“ im rechtlichen Sinne gegeben ist, nicht relevant.40 Die Zulässigkeit der Erhebung dieser Daten ergibt sich bereits aus der konsequenten Anwendung des § 28 I BDSG auf die Frage der Rechtmäßigkeit der Ermittlung der Daten bei der übermittelnden Bank. Wie bereits festgestellt wurde, ist der Bank, welche die Daten des Kunden originär (rechtmäßig) ermittelt, die Übermittlung gestattet. Die Daten werden durch die Bank gerade zu dem Zweck ermittelt, dass aufgrund dieser Daten ein potentielles Kreditausfallrisiko ermittelt werden kann. Diese Prognose wird nicht nur im Interesse der Bank erstellt, sondern gerade auch im Interesse des Kunden. Dies wurde bereits an anderer Stelle ausführlich dargestellt. Dieser Zweck kann in diesem Fall jedoch nur dadurch erreicht werden, indem die Daten an einen Dritten zum Zwecke der Erhebung, der Auswertung und letztendlich Erstellung einer entsprechenden Prognose übermittelt werden. Ohne diese Übermittlung der Daten ist die Erreichung des von Bank und Kunden angestrebten Zweckes unmöglich. Insofern muss beim Empfänger in der Konsequenz die Erhebung auch rechtlich zulässig sein.41 Darüber hinaus ist zumindest bei der Übermittlung der Daten durch das Kreditinsti-

39 40 41

Gola/Schomerus, a.a.O., § 29 Rn. 1; Kamlah, a.a.O., S. 395 (401f.). Gola/Schomerus, a.a.O., § 3 Rn. 24. Kamlah, a.a.O., S. 395 (399).

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tut an die SCHUFA mit der wohl größten Personendatei in Deutschland das Vorhandensein der sogenannten „SCHUFA-Klausel“ in den Bankverträgen zu beachten, die der SCHUFA hier als Drittem die Erhebung der Daten erlaubt. Nach Übermittlung der Daten wird der Scorewert durch den Dritten errechnet. Hierbei werden auch die über andere Kunden bei dem Dritten vorhandenen Daten genutzt. Gegen die Verwendung dieser bereits beim Dritten vorhandenen Daten sonstiger privater Personen wird zwar vereinzelt geltend gemacht, dass die Verwendung dieser Daten nicht durch ihren ursprünglichen Verwendungszweck gedeckt sei. In aller Regel hätten diese Kunden nur der Speicherung für ein Kreditinformationssystem zugestimmt, nicht aber, dass Scorewerte auch für dritte Unternehmen aufgrund ihrer Daten berechnet werden.42 Dieser Rechtsansicht ist allerdings zu entgegnen, dass die Daten aus der Datei des Dritten völlig anonymisiert verwendet werden und daher die Informationen keiner natürlichen Person zugeordnet werden können. Es ist insofern ein Verwenden von anonymisierten Daten im Sinne des § 3 VI BDSG gegeben. Diese Vorgehensweise ist daher datenschutzrechtlich nicht erheblich.43 Gegen die Rechtmäßigkeit der Erstellung des Scores wird auch eingewandt, dass die Daten des kreditbeantragenden Kunden durch den Dritten mit einem bestimmten Ziel genutzt würden, nämlich der Erstellung eines Scorewertes. Eine solche Nutzung der übermittelten Daten sei aber in keinem Fall durch § 29 I BDSG gedeckt, da durch diese Bestimmung nur ein Erheben, Speichern oder Verändern durch den Dritten ermöglicht werde.44 Ob die Ausschlusswirkung in § 29 I BSDG in dieser Form interpretiert und ausgewertet werden muss, braucht an dieser Stelle jedoch nicht abschließend geklärt zu werden, denn durch das Errechnen des Scorewertes werden die Daten des kreditbeantragenden Kunden zumindest verändert und nicht ausschließlich nur genutzt. Zu den über den Kunden vorhandenen Informationen wird eine weitere hinzugefügt, nämlich der Scorewert. Dadurch werden die gespeicherten personenbezogenen Daten inhaltlich umgestaltet, so dass ein Verändern schon im Sinne der Legaldefinition des § 3 IV Nr. 2 BDSG gegeben ist. Die Veränderung selbst erfolgt dadurch, dass viele Dateien in anonymisierter Form miteinander verknüpft werden und so der Scorewert errechnet wird.45 Dieses Erheben und Verändern und letztendlich Anonymisieren personenbezogener Daten dient dem Zweck der Errechnung des Kreditscores. 42 43 44 45

so Weichert, a.a.O., S. 582 (583). Kamlah, a.a.O., S. 395 (400 f.). Petri, a.a.O., S. 631 (636). Gola/Schomerus, a.a.O., § 29 Rn. 15.

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Zulässig ist dieses Vorgehen wiederum nur dann, wenn kein Grund zur Annahme besteht, dass der betroffene Bankkunde ein schutzwürdiges Interesse am Ausschluss der Erhebung der Daten hat (§ 29 I Satz 1 Nr. 1 BDSG). Auch wenn der Gesetzeswortlaut es nicht ausdrücklich fordert, so hat immer eine Abwägung zwischen dem Interesse des Dritten als verantwortliche Stelle und des betroffenen Bankkunden stattzufinden. Dies ergibt sich aus dem Begriff des „schutzwürdigen Interesses“, das im Verhältnis zum Dritten als die die Daten des Kunden verarbeitende Stelle gesehen werden muss.46 So wird ein berechtigtes Interesse des betroffenen Bankkunden am Ausschluss der dargestellten Aktivitäten mit dem Argument bejaht, dass dem Kreditscoring aufgrund der technischen Verarbeitung Restfehler immanent seien.47 Hiergegen ist jedoch einzuwenden, dass es ohne Zweifel richtig ist, dass es hin und wieder zu Fehlern kommt, da kein technisches System, ebenso wie die menschliche Entscheidung für oder gegen einen Kreditantrag, perfekt ist. Fehlerhafte Scorewerte können durch falsches Datenmaterial, falsche Eingaben usw. verursacht werden. Dieses Interesse des Bankkunden steht allerdings in keinem Widerspruch zu dem Interesse der datenverarbeitenden Stelle. Das Interesse des Datenverarbeiters an einem perfekten System ist genau so groß wie das Interesse des Kunden an einem fehlerfrei arbeitenden System. Deshalb arbeiten Banken und Drittfirmen permanent an der Verbesserung der technischen Systeme. Das entgegenstehende berechtigte Interesse des Kunden ist somit zumindest aus diesem Grund nicht gegeben. Es wird weiter gegen die Rechtmäßigkeit der Errechnung des Scores geltend gemacht, dass gewisse kundenspezifische Merkmale übergewichtet würden, wobei immer wieder das Merkmal „Wohnort“ auftaucht.48 Hierbei sollte jedoch beachtet werden, dass eine Scorekarte aus vielen verschiedenen Merkmalen besteht und in der Regel keines ein Ausschließlichkeitsmerkmal ist. Auch das Merkmal „Wohnort“ wird längst nicht in allen Scorekarten verwendet. Es wird insbesondere keine Scorekarte geben, die einen Kredit nur wegen des Wohnortes ablehnt. Es wird weiter eingewandt, dass der Scorewert wie eine „Blackbox“ wirke, da weder für die Bank, die den Scorewert von dem Dritten erhält, noch für den betroffenen Kunden rational nachvollziehbar sei, wie die Scorewerte errechnet werden.49 Dieses Argument ist nicht haltbar. Jede Bank muss schon aus bankaufsichtsrechtlichen Gründen wissen, wie das für sie durch einen Dritten

46 47 48 49

Gola/Schomerus, a.a.O., § 29 Rn. 9 ff.; Möller/Florax, NJW 2003, S. 2724 (2726). Möller/Florax, NJW 2003, S. 2724 (2726). Möller/Florax, MMR 2002, S. 806 (807). Petri, a.a.O., S. 631 (636).

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erstellte Scoremodell arbeitet. Keine Bank darf für sie selbst relevante Kreditprozesse auslagern. Aber auch für den Kunden handelt es sich bei dem Scorewert keineswegs um eine „Blackbox“. Jede Bank kann ihren Kunden die Verfahrensmechanismen des Scoringprozesses erklären. Dabei wird sie sicherlich nicht mitteilen können und brauchen, welches Merkmal des Kunden wie viele Scorepunkte generiert. Dies würde schließlich bedeuten, dass sie Geschäftsgeheimnisse preisgeben müsste. Jedoch wird sie dem Kunden den Verfahrensablauf des Scoring und der dann folgenden Kreditentscheidung jederzeit erläutern können. Wie bereits oben gezeigt, spricht auch nicht gegen den Prozess des Scorings, dass zum Nachteil des Kunden gegebenenfalls ihn als Person diskriminierende Merkmale verwendet werden. Denn diese dürfen aufgrund der bestehenden Rechtslage grundsätzlich nicht verwendet werden und so in die Beurteilung der Kreditvergabe einfließen. Es darf nicht übersehen werden, dass in der Gesamtabwägung auch die Vorteile für den betroffenen Kreditkunden einfließen, die neben dem Vorteil für ihn, in der Regel auch einen Vorteil für den Datenverarbeiter und die Bank darstellen. Hier ist zunächst die Qualitätsverbesserung bei der Kreditentscheidung zu nennen. Wie bereits oben gezeigt, ist die Zahl der Kreditkunden, die in Zahlungsschwierigkeiten bei der Rückzahlung des Kredites geraten, wesentlich geringer, wenn ein Kreditscoring verwendet wurde. Dies bedeutet aber nicht nur, dass die Ausfälle der Bank geringer sind, sondern auch, dass die Zahl der insolventen betroffenen Kunden geringer ist. Der Kunde wird vor einer Überschuldung geschützt. Kreditscoring bedeutet auch, dass noch Kredite gewährt werden, wo der Kreditsachbearbeiter, auf sich allein gestellt, eine Kreditherauslage abgelehnt hätte. Dies bedeutet für den Kunden, dass seine Kreditwünsche besser erfüllt werden. Die Kreditsachbearbeitung ist objektiver, d.h., kein Kunde ist der Willkür des Bankangestellten ausgesetzt. Die Kreditentscheidung erfolgt darüber hinaus wesentlich rascher. All diese Argumente überwiegen auch zugunsten des Kunden die Sorge, dass der Kunde nicht immer in vollem Umfang die Funktionsweise des Kreditscorings versteht. Wenn an dieser Stelle auf den Ausgangspunkt der Diskussion zurückgeblickt wird, ist festzustellen, dass das Erheben und Verändern der Daten insofern gem. § 29 I BDSG zulässig ist. c) Letztlich ist noch die Rechtmäßigkeit des Übermittelns des Scorewertes vom Dritten zurück zur Bank zu prüfen. Für diese Übermittlung der datenverarbeitenden Stelle an die Bank müssen für eine Zulässigkeit die Voraussetzungen des § 29 II Satz 1 BDSG vorliegen.

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Die Bank selbst hat ein fundamentales Interesse am Erhalt und der Kenntnisnahme der von dem Dritten übermittelten Daten. Der Betroffene selbst hat hingegen kein schutzwürdiges Interesse am Ausschluss der Übermittlung.50 Im Übrigen würde eine Interessenabwägung zwischen den Interessen der die Daten empfangenden Bank und den Interessen des Kunden überwiegend zugunsten der Bank sprechen. Die Argumente für ein Interesse der Bank an der Übermittlung des Scorewertes wurden bereits unter dem vorhergehenden Punkt ausführlich dargelegt.

VI. Ergebnis Datenschutzrechtlich ist das Errechnen von Scorewerten bei den bankeigenen Modellen ohne Zweifel zulässig. Die Anwendbarkeit des § 6a I BDSG ist zwar nicht grundsätzlich auszuschließen, auch wenn vertretbare Argumente hierfür sprechen. Im Ergebnis ist die Norm in der Praxis aber aufgrund der dargelegten Abläufe im Kreditentscheidungsprozess im Regelfall nicht anwendbar, da Scoring immer nur einen Teil einer übergreifenden Kreditentscheidung darstellt. Diese Kreditentscheidung wird von einem und zumeist sogar mehreren Bankmitarbeitern bei Filialbanken getroffen, weshalb der gesetzliche Tatbestand der automatisierten Entscheidung nicht erfüllt ist. Die Zulässigkeit des Scorings ist auch bei bankfremden Modellen grundsätzlich gegeben, wobei hier allerdings die Interessenabwägung besonders sorgfältig zu erfolgen hat.

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im Ergebnis so auch Klein, a.a.O., S. 488 (491); anderer Auffassung Beckhusen, a.a.O., S. 335 (341f.).

Überlegungen zu den Zielen und Vorgehensweisen bankwissenschaftlicher Ausbildung an Universitäten Joh. Heinrich von Stein Inhaltsübersicht Widmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einführung: Zum Weg von Universität und Gesellschaft auf dem Gebiet der Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ausbildungsziel und Vorgehensweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausbildungsziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Möglichkeiten des Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einstellung zur Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vorgehensweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Widmung Peter Mailänder hat die Verbindung zur Universität mit dem Abschluss seines Studiums nicht aufgegeben. Er wurde Assistent bei Prof. Dr. Ernst Steindorff am Institut für Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht der Universität München. Damit stand ihm der Weg in eine wissenschaftliche Karriere offen. Er ist ihn zwar leider nicht gegangen, aber dafür haben Anwaltschaft und Wirtschaftspraxis einen besonders profilierten Juristen bekommen. Seine Neigung zur Universität, zu wissenschaftlichem Arbeiten und zur Lehre blieb. So konnte ihn die Universität Hohenheim im Wettbewerb mit angesehenen Schwesterinstitutionen 1988 zunächst als Lehrbeauftragten für Wettbewerbs- Wertpapier- und Bankrecht und 1993 als Honorarprofessor gewinnen. Seine von profundem Wissen und außergewöhnlicher praktischer Erfahrung getragenen Lehrveranstaltungen wurden ein wichtiger Bestandteil der bankwissenschaftlichen und juristischen Ausbildungsprogramme. Dafür gebührt ihm auch an dieser Stelle Dank. Damit ist auch die Verbindung zu den folgenden Überlegungen hergestellt, die Peter Mailänder in guter Erinnerung an gemeinsame universitäre und praktische Aktivitäten gewidmet sind.

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I. Einführung: Zum Weg von Universität und Gesellschaft auf dem Gebiet der Lehre Während in der frühen Geschichte der Hochschulen die Lehre eine vorrangige Aufgabe war, rückten mit zunehmender Zahl und Bedeutung der Entdeckungen die Forschung und ihre Ergebnisse als Kriterien für Erfolg und Ansehen von Professoren und Hochschule mehr und mehr in den Vordergrund. Wirkung und allgemeine Aufmerksamkeit im öffentlichen und individuellen Leben sind bei Forschungsergebnissen verständlicherweise viel größer als bei entsprechenden Ausbildungserfolgen, obwohl diese für das Leben der Studierenden sowie für die Entwicklung von Staat und Wirtschaft ebenfalls sehr hoch einzuschätzen sind.1 Aber sie sind auch schwerer messbar und darstellbar. Deshalb ist es leicht zu erklären, dass bis heute für die Karriere von Hochschullehrern wissenschaftliche Forschungsergebnisse und ihre Veröffentlichungen das entscheidende Gewicht haben. Trotzdem bleibt schwer verständlich, dass die Vorbereitung auf die wichtige Aufgabe als Lehrende beim Professorennachwuchs so vernachlässigt wird. Das für die Forschung nötige Bewusstsein interessanter und lösungsbedürftiger Probleme ist ohne weiteres bei den Hochschullehrern und ihren Adepten vorhanden, dasjenige für die Fragen der Lehre kaum. Bedenkt man noch, dass ausgeprägte Begabungen zur Lehre bei Wissenschaftlern so häufig nicht sind, wird der Bedarf an Ausbildung für diese andere Aufgabe des Professors klar. Gerade in der universitären Lehre gehören fachliche und humanitäre Bildung zusammen. Dieser Gedanke nimmt nur das traditionelle Verständnis von Universität auf, das Orientierung gibt für die eigenständige Position universitärer Lehre in der dynamischen Veränderung unserer Lebensverhältnisse bei starken und vielfältigen internationalen Einflüssen.

II. Ausbildungsziel und Vorgehensweisen 1. Ausbildungsziel Das eigentliche Feld wirtschaftswissenschaftlicher Fakultäten ist die Ausbildung von Führungspersönlichkeiten. Deshalb darf das Vermitteln detaillierten Fachwissens für begrenzte Ausschnitte etwa der Bankwirtschaft nicht mehr beherrschend sein, so wie es bis heute weithin der Fall ist. Dazu ist allein schon der Umfang des wichtigen Wissens viel zu groß geworden und es veraltet größtenteils schnell. Ziel ist vielmehr das Fördern von Urteils- und 1 Besonders deutlich wird dies bei der Universität Neapel. Friedrich II. von Hohenstaufen gründete sie 1224 als Ausbildungsstätte nicht zuletzt für das Verwaltungspersonal seines süditalienischen Königreichs (Vgl. Stürner, W: Friedrich II. Teil 2, Darmstadt 2000, S. 47ff.).

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Handlungsfähigkeit beruhend auf Sach-, Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenz. Es geht dabei um die Fähigkeit und Bereitschaft problemorientiert, sachgerecht sowie durchdacht in individueller und gesellschaftlicher Verantwortung zu handeln.2 Denn bei Entscheidungen und ihrer Umsetzung muss im Vergleich zur Entstehungszeit der bis heute weithin üblichen Lehrpraxis mehr und gewichtigeren Faktoren Rechnung getragen werden und die Lebensverhältnisse im beruflichen, gesellschaftlichen und persönlichen Feld werden zunehmend komplexer und veränderlicher. Das wird schon seit langem erörtert. Wir wissen auch, was erreicht werden muss und wie das geschehen kann. Trotzdem ändert sich entschieden zu wenig, obwohl wir bei uns und im Ausland sehen, welche Folgen Inkompetenz und mangelnde Urteilsund Handlungsfähigkeit haben. Daraus folgt, dass eine grundlegende Neuorientierung des Studiums notwendig ist. Die bevorstehende Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen wird diese Aufgabe nicht erfüllen. Das verlangt zunächst die Erkenntnis dieser Notwendigkeit und die Akzeptanz des Handlungsbedarfs und seiner Dringlichkeit in der betreffenden Hochschule und bei den betroffenen Personen. Dann die Bereitschaft, sich auf Situation und Bedarf der Studierenden einzustellen sowie persönliche Interessen zurück zu nehmen, Kräfte mit anderen zu bündeln und planmäßig für das Ziel einzusetzen. 2. Möglichkeiten des Handelns Die Ansatzpunkte zur Weiterentwicklung der Lehre sind vielfältig; im Rahmen dieses Beitrags ist allerdings nur Platz für wenige Beispiele. Diese Ansatzpunkte aufzugreifen bedeutet keinen Verlust an Freiheit der Lehre, vielmehr das gebotene Nutzen von Gestaltungsspielräumen unter Beachtung sachgerechter Kriterien. Dazu gehören auch die individuellen Akzente der Hochschullehrer, die nicht nur für das persönliche Wirken sondern auch für das Profil von Lehrstuhl und Fakultät wichtig sind. a) Einstellung zur Lehre Zentrale Bedeutung hat es, die Hochschullehrer sowie die Universitätsund Fakultätsleitungen davon zu überzeugen, dass und warum die Lehre in 2 Vgl. Trautwein, F: Berufliche Handlungskompetenz als Studienziel (Bd. 42 der Studienreihe der Stiftung Kreditwirtschaft hrsgeg. von J. H. v. Stein), Sternenfels 2004 S. 32ff. und die dort angegebene Literatur. Diese Arbeit beruht ebenso wie der vorliegende Beitrag auf Erkenntnissen und Erfahrungen des am Lehrstuhl für Kreditwirtschaft der Universität Hohenheim durchgeführten Projekts „Lehrreform in der BWL der Banken“ (vgl. z.B. Berichte und Informationen der Stiftung Kreditwirtschaft an der Universität Hohenheim (hrsgeg. von J. H. v. Stein Nr. 20/2001 S. 20ff., 21/2002 S. 23ff., 22/2003 S. 25ff.).

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der Tat als primäre Aufgabe vorrangig oder gleichrangig zur Forschung wahrzunehmen ist. Dies wird oft nur verbal nicht aber realiter anerkannt. Es gilt, die Universitätsprofessoren und insbesondere ihren Nachwuchs dafür zu gewinnen, dass qualitätvolle Lehre in ihrem ureigenen Interesse liegt. Das beginnt bereits bei der Vorbereitung auf die Berufungsfähigkeit durch eine fordernde und fördernde Betreuung, zu der viele Betreuer bislang allerdings mangels eigenen Interesses an der Lehre nicht in der Lage sind. Das Interesse wird steigen, wenn bei Berufungen Motivation und Vorstellungen zur Lehre stärker gewichtet werden und dies auch in den Ausschreibungen zum Ausdruck gebracht wird. Wenn schon der Wunsch nach Erhöhung des Frauenanteils an der Professorenschaft in die Ausschreibungen aufgenommen wird, dann gehört der Hinweis auf die Erwartung qualitätvoller Lehre erst recht in eine Ausschreibung. b) Instrumente Sind persönliche Motivation und Unterstützung in der Hochschule gegeben, werden die Universitätslehrer ihre eigenen Wege und Mittel zur Verbesserung der Lehre finden und entwickeln. Die Vorgehensweisen müssen in der Hochschule für die Lehre geltenden Grundsätzen entsprechen und einer Ergebnisüberprüfung unterworfen werden. Die im Grundgesetz geschützte Freiheit der Lehre bleibt gewahrt. Zu den wirksamsten Instrumenten zählen in geeigneter Form eingesetzte Anreize. Dabei ist nicht nur an Geld oder Preise zu denken, wobei ein sachgerechtes und nachvollziehbares Beurteilungsverfahren z.B. bei der Zuweisung von Prämien zugrunde zu liegen hat. In dieses Verfahren sind die Fach-Studentenschaft und die unmittelbar betroffenen Studierenden einzubeziehen. Die Inhalte der Lehre als weiteres Instrument ergeben sich aus dem Ausbildungsziel, die Studierenden auf wissenschaftlicher Grundlage erkenntnisund urteilsfähig zu machen und sie dafür auszubilden, qualifizierte Aufgaben in ihrem Fachgebiet zu erfüllen. Anders als in der Forschung kann für die persönlichen Interessen des Universitätslehrers nur wenig Zeit eingesetzt werden. Allerdings kann Lehre gerade dann besonders fundiert und lebendig sein, wenn sie aus eigener Forschung schöpfen kann. Die stets übergroße Stofffülle bedarf der Anpassung an das nach der Studienordnung Notwendige und das zielerfüllend Mögliche. Als Kriterien für die Auswahl der Lehrinhalte bieten sich die Bedeutung im Fach insgesamt, der Bildungswert und die Notwendigkeit der Einbeziehung in den akademischen Unterricht an, weil andere Lernformen (etwa das Literaturstudium) für bestimmte Gegenstände nicht möglich sind. So beispielsweise für die Hintergründe aktueller Strukturentwicklungen in der Bankwirtschaft, die unter wissenschaftlichen und praxeologischen Aspekten dann am besten vermittelt werden können,

Vorgehensweisen bankwissenschaftlicher Ausbildung an Universitäten

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wenn der Hochschullehrer eigene fundierte Erfahrungen in diesem Wirtschaftszweig hat. c) Vorgehensweisen Auch für die methodische Gestaltung der universitären Lehre stehen viele Mittel und Wege zur Verfügung. Immer noch werden oft nur wenige genutzt, die einfach einzusetzen sind. Außerdem gibt es leider (oder zum Glück?) auch Restriktionen und Wettbewerb um die verfügbare Zeit und die Sachmittel. Grundlage des Methodeneinsatzes ist ein am Besten selber entwickeltes durchdachtes Konzept, das u.a. die Ziele (etwa das Erkennen von Zusammenhängen) und weiteren Rahmendaten (wie z.B. die Zeitvorgabe), fremde und eigene Restriktionen sowie allgemeine Grundsätze (etwa der didaktischen Schulung und Erfolgsprüfung, der Gestaltung der Lernumgebung oder der Ausstattung mit Lehr- und Lerntechnik) konkretisiert. In diesen Zusammenhang gehören auch die Verzahnung der Teilgebiete des Faches und die zielgerechte Abstimmung mit verwandten anderen Fachgebieten (wie etwa der volkswirtschaftlichen Lehre von Geld und Kredit). Auf die allgemein bekannten Instrumente der Lehre braucht nicht näher eingegangen zu werden. Dagegen sind der Einsatz und die Gestaltung von Prüfungen und das komplexe aber viel versprechende Gebiet der Eigenaktivitäten von Studierenden, der Einsatz von Praktikern, die Verteilung von Zeitbudgets und die Veranschaulichung von fachlichen Phänomenen (z.B. durch Exkursionen, bei denen das Fach erlebbar wird), der Einsatz von Lehrpersonen und Lernmitteln zusammen mit den klassischen Instrumenten in einem Konzept sachgerecht zu positionieren. Wachsende Fülle und Vielfalt der Inhalte geben den Vorgehensweisen zunehmende Bedeutung für den Lehrerfolg. Der wirksamste Weg bleibt aber die persönliche Darstellungs- und Überzeugungskraft des Lehrenden.

III. Schlussbemerkungen Die universitäre Ausbildung ist nach wie vor durch ihre Tradition geprägt, nach der im Mittelpunkt die Präsentation von Fachwissen durch den Dozenten steht. Das wird dem starken Wachstum der Phänomene in der Bank- und Finanzwirtschaft, ihrer Entwicklungsdynamik und ihrer Komplexität nicht mehr gerecht. Es geht darum, Verständnis für die Entstehung, Wirksamkeit und Perspektiven von nationalen und internationalen Strukturen (bei den Institutionen und im Wirtschaftszweig) und ihre Position in der Gesamtwirtschaft zu zeigen. Es geht um das Verständnis von Führungsgrundsätzen und -instrumenten, von Märkten, Marktentwicklung und Marketing, Methoden,

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interdisziplinären Zusammenhängen und Kompetenzen. Grundlage bleibt allerdings das für die Ausbildungsziele ausgewählte und notwendige Fachwissen. Dabei geht es v.a. um breites Grundlagenwissen. Spezialkenntnisse, wie sie die Berufsfertigkeit im Einzelnen erfordert, sind nicht zielgerecht. Die stets lern- und erneuerungsbereite Fähigkeit zum Einsatz aufgabengerechter Methoden verlangt den flexiblen Umgang mit den verschiedenartigen, sich ständig wandelnden Erscheinungsformen und Aufgabenfeldern in der Bankwirtschaft. Auf diesem Gebiet beklagen Arbeitgeber, Studierende und auch Professoren erhebliche Defizite bei der Ausbildung. Die Situation bei den Aufgaben und das Umfeld des Handelns gerade in (Bank-) Unternehmungen verlangen die Fähigkeit zu Integration, Kommunikation und gemeinschaftlichem Arbeiten mit anderen Menschen. Eine Qualifikation, die sich bei den gegebenen sozialen Bezügen der Ausbildung gerade an der Universität fördern lässt. Besonders wesentlich aber auch besonders schwer ist die Entwicklung von Selbstkompetenz. Die Studierenden kommen z.B. mit Schwächen in der Lernbereitschaft an die Universität, was angesichts der Notwendigkeit lebenslangen Lernens ihre Zukunftschancen erheblich beeinträchtigt. Ebenso haben empirische Untersuchungen ein hohes Defizit an Urteils- und Kritikfähigkeit und an Bereitschaft zur Eigeninitiative festgestellt.3 Sie sind aber wesentliche Voraussetzungen für den Erfolg in Führungspositionen. Die Notwendigkeit ist offenkundig, solche Eigenschaften und Verhaltensweisen in der akademischen Ausbildung zu fördern, um die Studierenden besser auf die berufliche Realität vorzubereiten. Die integrierte Entwicklung solcher Kompetenzen ist zweifellos eine große Herausforderung an die Universitätslehrer und die Qualität ihrer Lehrveranstaltungen. Bei ihnen hat der Prozess der Anpassung an die heutige Wirklichkeit anzusetzen: Professionalisierung in der Lehre (einschließlich kritischer Reflexion) und Verlagerung ihres einseitigen Schwerpunkts von der Wissensvermittlung auf die Steuerung von Lernprozessen zur Entwicklung von Kompetenzen sind geboten zusammen mit Evaluation und Qualitätsbeurteilung, auch wenn am Ende natürlich v.a. die Studierenden selber für das Ergebnis ihrer Ausbildung verantwortlich sind.

3

Vgl. Trautwein, F.: a.a.O. S. 144f.

II. Deutsches und Europäisches Wettbewerbsrecht

Zur Gruppenfreistellungsverordnung für den Kfz-Vertrieb – Anmerkungen zu einer Fehlentwicklung des EG-Kartellrechts – Rainer Bechtold Inhaltsübersicht I. II. III. IV.

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unklarheiten und Widersprüche der Konzeption des Verordnungsgebers Hält sich die VO 1400/2002 noch im Rahmen ihrer Ermächtigung? . . . Versuch einer Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einführung 1. Die Vereinbarungen über den Vertrieb von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeugersatzteilen und über den Kundendienst für Kraftfahrzeuge sind in der EG von besonderer volkswirtschaftlicher Bedeutung. Sie waren und sind dementsprechend auch immer wieder Gegenstand der Tätigkeit von Mailänder.1 Die Kommission hat sich seit den siebziger Jahren intensiv mit ihrer kartellrechtlichen Behandlung befasst. Sie kam schon sehr früh zur Erkenntnis, dass sie eine Reihe spezifischer Probleme aufwerfen, die es für sie ausschlossen, sie kartellrechtlich völlig parallel zu sonstigen vertikalen Vertriebs- und Kundendienstvereinbarungen zu lösen. Bei Kraftfahrzeugen handelt es sich um die wertvollsten Ge- und Verbrauchsgüter, die von privaten Endkunden gekauft werden. Für ihren Vertrieb und für ihren Kundendienst sind flächendeckende Organisationen erforderlich, für die umfangreiche Anfangs- und Erhaltungsinvestitionen erbracht werden müssen. Daraus ergeben sich in Vertriebs- und Kundendienstsystemen, in die selbstständige Handelspartner und Werkstätten eingeschaltet sind, besondere Abhängigkeiten. Der völligen Vereinheitlichung der Marktverhältnisse innerhalb der Europäischen Gemeinschaft stehen nicht nur die teilweise aus historischen Gründen unterschiedliche Ausbildung der Vertriebs- und Kun1

Vgl. z.B. seine Vertretung von BMW im Verfahren BMW/ALD Auto-Leasing GmbH beim EuGH, Slg. 1995 I-3459, 3460.

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dendienstsysteme entgegen, sondern auch unterschiedliche technische Zulassungsvorschriften und Verbraucherpräferenzen sowie die gerade in diesem Bereich besonders großen Unterschiede in den Mehrwertsteuersätzen und sonstigen, teilweise kraftfahrzeugspezifischen Verbrauchssteuern. 2. Die Kommission hat sich erstmals in ihrer BMW-Entscheidung vom 13.12.1974 mit Besonderheiten des Automobilvertriebs befasst 2. Auf die in der Entscheidung behandelten Vertriebsverträge zwischen BMW und den deutschen Händlern war die VO 67/67 3 schon deswegen nicht anwendbar, weil es sich um Vereinbarungen handelte, an denen nur Unternehmen aus einem Mitgliedstaat beteiligt waren. Die Kommission erkannte an, dass der Automobilhersteller ein besonderes Interesse daran hat, seine Vertriebspartner quantitativ zu selektieren und diese quantitative Selektion durch Weiterverkaufsverbote an nicht autorisierte Wiederverkäufer abzusichern. Die Erkenntnisse dieser Entscheidung und die weitere Praxis der Kommission außerhalb von förmlichen Entscheidungen waren die Grundlage für die erste Gruppenfreistellungsverordnung 123/85 4. Die VO 123/85 regelte zwei verschiedene Formen der Absatzorganisation: selektive Vertriebssysteme und Alleinvertriebsvereinbarungen. Sie ging von der Notwendigkeit der Kombination von Vertrieb und Kundendienst aus. Der typische Freistellungsfall war die Vereinbarung zwischen Kfz-Hersteller und einem in einem bestimmten Gebiet tätigen Händler über den Vertrieb und den Kundendienst von Kraftfahrzeugen. Besondere Bedeutung hatte die Freiheit von Querbezügen und Querlieferungen zwischen zugelassenen Händlern. Die VO 123/85 war auf den 30.6.1995 befristet. Sie wurde mit Wirkung vom 1.7.1995 durch die VO 1475/95 5 ersetzt. Die Prinzipien der VO 123/85 wurden fortgeführt, insbesondere auch im Hinblick auf die Kombination von Vertrieb und Kundendienst. Ziel der Neuregelung war, die Unabhängigkeit der Händler gegenüber den Herstellern zu stärken. Deswegen sah die VO 1475/95 eine Reihe von Bestimmungen vor, die auch außerhalb des eigentlich wettbewerblich Relevanten die Konditionen der Vertriebsverträge festlegte, bis hin zu genauen Vorgaben über die Kündigungsmöglichkeiten. Im Gegensatz zur VO 123/85 begründete sie für den Kraftfahrzeugvertrieb das Alles-oder-NichtsPrinzip; eine einzige zusätzliche Wettbewerbsbeschränkung, die in der VO nicht ausdrücklich erwähnt war, ließ die Freistellung insgesamt entfallen. Die 2 ABl. L 1975, 29/1 m. Anm. v. Knoll, RIW/AWD 1975, 152; vgl. dazu auch Bechtold, RIW 1975, 185. 3 Über die Anwendung von Art. 85 Abs. 3 des Vertrages auf Gruppen von Alleinvertriebsvereinbarungen vom 22.3.1967, ABl. 1967, S. 849. 4 Über die Anwendung von Art. 85 Abs. 3 des Vertrages auf Gruppen von Vertriebsund Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge vom 12.12.1984, ABl. 1985 L 15/16. 5 Über die Anwendung von Art. 85 Abs. 3 des Vertrages auf Gruppen von Vertriebsund Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge vom 28.6.1995, ABl. 1995 L 145/25.

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VO 123/85 und die VO 1475/95 waren – jedenfalls nach Auffassung der Kommission 6 – auf reine Werkstattverträge nicht anwendbar. 3. Die VO 1400/2002 7, die am 1.10.2002 in Kraft trat, hat die kartellrechtlichen Rahmenbedingungen für den Vertrieb und den Kundendienst für Kraftfahrzeuge grundlegend verändert. Sie erfasst nicht nur Vereinbarungen zwischen Kraftfahrzeugherstellern und Kraftfahrzeugimporteuren einerseits und Kraftfahrzeughändlern und Werkstätten andererseits über den Vertrieb neuer Kraftfahrzeuge und Kundendienstleistungen, sondern auch Vereinbarungen zwischen anderen Lieferanten und Händlern über den Vertrieb von Kraftfahrzeugersatzteilen sowie alle Vertikalvereinbarungen über die Erbringung von Wartungs- und Instandsetzungsdienstleistungen für Kraftfahrzeuge.

II. Unklarheiten und Widersprüche der Konzeption des Verordnungsgebers 1. Die VO 1400/2002 ist die im Vergleich zu allen anderen Gruppenfreistellungsverordnungen bei weitem detaillierteste und zugleich diejenige, die die meisten Auslegungsprobleme aufwirft. Sie kann deswegen die Rechtssicherheit nicht geben, die an sich von einer Gruppenfreistellungsverordnung zu erwarten ist. Sie ist viel zu detailliert, viel zu kompliziert und erzeugt dadurch mehr Unsicherheit als Sicherheit. Die neue Verordnung perpetuiert den „Zwangsjackeneffekt“ der alten Gruppenfreistellungsverordnungen 8. Sie führt dazu, dass die Kraftfahrzeugwirtschaft gezwungen ist, ihre Vertriebsund Kundendienstsysteme nach einheitlichen Mustern aufzubauen. Wettbewerbliche Differenziertheit im Vertrieb ist nicht vorgesehen. 2. Die Verordnung zwingt die Kraftfahrzeugwirtschaft, Vertrieb und Kundendienst zu trennen. Ohne dass dem entsprechende empirische Untersuchungen vorausgegangen wären, entwickelt sie das Modell eines Händlers ohne Kundendienst. Das entspricht weder der Realität noch den Erwartungen, genauso wenig wie eine markengebundene Kfz-Werkstatt ohne jede Verbindung zum Vertrieb von Neufahrzeugen. Obwohl die Verordnung für Vertrieb und Kundendienst qualitative und quantitative Vertriebssysteme

6

Vgl. XXVII. Wettbewerbsbericht der Kommission 1997, S. 166. Über die Anwendung von Art. 81 Abs. 3 des Vertrages auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen im Kraftfahrzeugsektor vom 31.7.2002, ABl. 2002 L 203/30. 8 Dazu „Grünbuch der EG-Wettbewerbspolitik gegenüber vertikalen Wettbewerbsbeschränkungen“, KOM (96) 721 endg. vom 22.1.1997; vgl. auch Mitteilung der Kommission in ABlEG vom 26.11.1998 Nr. C 365/3; vgl. auch Bechtold, EWS 2001, 49ff., 50. 7

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sowie ein System des Alleinvertriebs scheinbar gleichberechtigt nebeneinander stellt, oktroyiert sie dem Hersteller bestimmte Systementscheidungen auf. Für den Vertrieb von Kraftfahrzeugen kommt für ihn grundsätzlich aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen nur die quantitative Selektion in Betracht. Für sie sieht Art. 3 Abs. 1, Unterabs. 2 eine Marktanteilsschwelle von 40 % vor, die im Allgemeinen – im Einzelfall kann das durchaus unsicher sein – nicht überschritten wird. Zugleich wird aber das Prinzip der quantitativen Selektion ausgehöhlt. Quantitative Selektion bedeutet, dass der Hersteller festlegen kann, wie viele Händler-Outlets er in seinem Vertrieb haben will. Seit dem 1.10.2005 müssen die quantitativ selektierten Händler im Bereich der Pkw und leichten Nutzfahrzeuge aber frei sein, beliebig viele zusätzliche Outlets – „Verkaufs- oder Auslieferungsstellen“ – zu eröffnen. Der Hersteller kann also gerade nicht mehr die Zahl der Niederlassungen der Händler insgesamt begrenzen; er muss die Freiheit der Händler, ihrerseits überall in der Gemeinschaft Verkaufs- und Auslieferungsstellen zu eröffnen, hinnehmen. Ähnliches gilt für die qualitative Selektion. Der Hersteller darf zwar nach eigenem Ermessen qualitative Standards für seinen Kundendienst festlegen und braucht nur die Werkstätten zuzulassen, die diese Standards erfüllen. Zugleich muss er aber gewährleisten, dass auch alle freien Werkstätten die für den Kundendienst erforderlichen Informationen und Teile erhalten (vgl. Art. 4 Abs. 2 VO 1400/2002). Er muss also einerseits sicherstellen, dass seine Fahrzeuge von allen Werkstätten repariert und gewartet werden können; er kann andererseits aber die Qualität ihrer Tätigkeit nicht überprüfen. 3. Schließlich hat die neue Verordnung das Wesen der Originalersatzteile geändert und sie kommerziell entwertet. In einem komplizierten Definitionskatalog (Art. 1 Abs. 1 lit. s–w) werden zu ihnen ohne weiteres die „Identteile“ gerechnet, die vom Teilehersteller auf der gleichen Produktionsanlage wie die Erstausrüstungsteile hergestellt werden. Darüber hinaus zählen auch die „Parallelteile“ dazu, die auf anderen Produktionsanlagen hergestellt werden, aber dennoch den Spezifizierungen und Produktionsanforderungen des Kfz-Herstellers entsprechen. Allen diesen Teilen werden nunmehr auch „qualitativ gleichwertige Ersatzteile“ gleich gestellt.9 Die Gleichstellung wird durch eine bloße Bescheinigung des Teileherstellers nachgewiesen und ist somit nicht wirklich gewährleistet. 4. Die Verordnung trennt drei Funktionen, nämlich den Fahrzeugvertrieb, das Werkstattgeschäft und den Ersatzteilehandel. Der Fahrzeughändler muss frei sein in der Entscheidung, ob er selbst auch das Werkstattgeschäft

9

Vgl. dazu Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, EG-Kartellrecht, Art. 1 VO 1400/ 2002, Rn. 63ff., 66 ff., 71.

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durchführt (Art. 4 Abs. 1 lit. f); umgekehrt darf die Werkstatt nicht gezwungen werden, im Kraftfahrzeughandel tätig zu werden (Art. 4 Abs. 1 lit. h). Das bedeutet aber nicht, dass zwingend auch getrennte Verträge vergeben werden müssten. Es ist durchaus möglich, beide Funktionen in einem einheitlichen Vertrag zusammenzufassen. Gefordert wird nur, dass innerhalb eines solchen einheitlichen Vertrages der Vertragspartner des Lieferanten frei ist, auf die eine oder andere Funktion zu verzichten und die jeweils andere fortzusetzen, also entweder nur Händler oder nur Werkstatt zu sein. Dem Vertragspartner muss im Rahmen eines einheitlichen Vertrages die Möglichkeit gegeben werden, die Funktionen innerhalb der Kündigungsfristen des Art. 3 Abs. 5 zu trennen. Anderes gilt für die Verbindung von Werkstattgeschäft und Ersatzteilvertrieb. Die Verbindung von Werkstatt- und Ersatzteilvertriebsgeschäft ist zulässig, und zwar auch in der Weise, dass der Hersteller einen Ersatzteilvertrieb nur in Verbindung mit dem Werkstattgeschäft vergibt, also keine eigenen Ersatzteilehändler beliefert. Es gibt keine Vorschrift in der Verordnung, die den Hersteller verpflichten würde, auch gesonderte Ersatzteilvertriebs-Verträge zu vergeben. Die Kommission scheint insoweit anderer Auffassung zu sein. In ihrem Papier „Frequently Asked Questions“ 10 behandelt sie die Frage 11, ob ein Lieferant die Zulassung von Ersatzteilehändlern ablehnen könne, die nicht gleichzeitig Fahrzeuge warten und instand setzen. Sie geht davon aus, dass der Händler seine Ersatzteilehändler auf der Grundlage von rein qualitativen Merkmalen auswählt. In einem qualitativen selektiven Vertriebssystem seien aber nach der Definition in Art. 1 lit. h VO 1400/2002 nur solche Selektionsmerkmale zulässig, die „wegen der Beschaffenheit der Vertragswaren oder -dienstleistungen erforderlich“ seien. Für den Ersatzteilhandel sei es nicht erforderlich, dass der Händler zugleich auch als Werkstatt der betreffenden Marke zugelassen sei. Aus meiner Sicht ist die Fragestellung falsch. Es kommt nicht darauf an, ob die Belieferung als Ersatzteilehändler davon abhängig gemacht werden darf, dass der Händler auch zugleich eine Werkstatt betreibt. Vielmehr kann der Hersteller sich dafür entscheiden, dass er überhaupt keine Ersatzteilehändler beliefert, sondern nur Werkstätten, die die Ersatzteile erhalten, um selbst Reparaturen durchzuführen und ggf. andere freie Werkstätten beliefern, die ihrerseits Teile aber auch nur für die Instandsetzung und Wartung eines Kfz verwenden; Letzteres ergibt sich aus Art. 4 Abs. 1 lit. i VO 1400/2002. 5. Im Bereich der Werkstätten kommt nur das Prinzip der qualitativen Selektion in Betracht, nicht auch das der quantitativen Selektion, wie das im

10 Von Ende 2003, im Internet abrufbar; vgl. Langen/Bunte, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, Band 2 2006, S. 1620 ff. 11 Frage 16.

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Fahrzeugvertrieb der Fall ist. Jedermann geht davon aus, dass die Marktanteilsschwellen von 30 % oder 40 % in Art. 3 Abs. 1 der VO beim Kundendienst und beim Ersatzteilvertrieb überschritten sind. Für den Kundendienst wird so getan, also ob der Kfz-Hersteller auf dem Markt der Instandsetzungs- oder Wartungsdienstleistungen für seine Fahrzeuge stets einen Marktanteil von über 30 % hat, er also eine quantitative Selektion nicht vornehmen, sondern allein qualitativ selektieren darf. Die ganze Konstruktion ist in sich widersprüchlich. Zunächst verkauft normalerweise der Kraftfahrzeughersteller selbst keine Instandsetzungs- oder Wartungsdienstleistungen, sondern organisiert durch Verträge mit Dritten ein entsprechendes Kundendienstnetz. In ihm ist der Hersteller selbst nicht tätig: vielmehr „verkaufen“ die mit ihm vertraglich verbundenen Werkstätten die Instandsetzungs- und Wartungsdienstleistungen. An dieser Stelle werden dem Hersteller also die Wartungs- und Kundendienstleistungen so zugerechnet, als ob sie seine eigenen seien, mit denen er entsprechende Marktanteile hat. Unabhängig davon ist es widersprüchlich, die Werkstatt-Dienstleistungen nach Marken zu differenzieren, wenn die VO zugleich nicht nur dafür sorgt, dass die markengebundenen Werkstätten auch für andere Marken tätig werden dürfen (Art. 5 Abs. 1 lit. b), sondern auch dafür, dass die freien Werkstätten über alle Teile und Informationen verfügen, die zur Instandsetzung und Wartung aller Kraftfahrzeuge möglich sind (Art. 4 Abs. 2 VO 1400/2002). Die Verordnung versucht also selbst einen Markt der markenungebundenen Instandsetzungsund Wartungsdienstleistungen zu begründen, trennt aber bei der Marktanteilsberechnung dennoch nach einzelnen Marken. 6. Selbst wenn man davon ausgeht, dass für das Werkstattgeschäft nur die qualitative Selektion möglich ist, wird auch diese dem Hersteller nicht uneingeschränkt zugebilligt, sondern im Vergleich zu den für andere Branchen geltenden Grundsätze wiederum zu seinem Nachteil modifiziert: Mit dem Begriff des qualitativen selektiven Vertriebssystems knüpft die Verordnung an die langjährige, von der Rechtsprechung bestätigte Verwaltungspraxis der Kommission an. Die Kommission hatte für den Vertrieb hochwertiger technischer Güter wie Fernsehgeräten, Computern oder beratungsintensiven Luxusgütern wie Parfüms den Grundsatz entwickelt, dass die rein qualitative Selektion von Vertriebspartnern und damit verbundene Weitervertriebsverbote nicht gegen das Verbot des Art. 81 Abs. 1 EG verstoßen. Voraussetzung dafür war, dass die Selektion der Vertriebspartner nach qualitativen Kriterien aus der Art des Produkts zu rechtfertigen war, in einheitlich geltenden Kriterien festgelegt und nicht diskriminierend angewendet wurde. Wenn gewährleistet war, dass der Hersteller alle qualitativ geeigneten Vertriebspartner in sein Vertriebssystem aufnahm, er also keine darüber hinausgehende quantitative Selektion betrieb, war es zulässig, die Belieferung von Außenseitern zu untersagen. Die Vertikalverordnung 2790/

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1999 12 hat diese – in der Praxis problematische – Überprüfung der Rechtfertigung der qualitativen Selektion aus der Art des Produkts aufgegeben, behandelt aber – insoweit angesichts der früheren Rechtsprechung zu weitgehend – die mit der qualitativen Selektion einhergehenden Handlungsbeschränkungen durchweg als freistellungsbedürftig. Die VO 1400/2002 hat dennoch für die qualitativen selektiven Vertriebssysteme anders als die Vertikalverordnung 2790/1999 die qualitative Selektion nur zugelassen, wenn sie „wegen der Beschaffenheit der Vertragswaren oder -dienstleistungen erforderlich sind“. Die qualitativen Standards, die für die Auswahl der Werkstätten gewählt werden, müssen hiernach also erforderlich sein. Sie beziehen sich auf die Gebäude und sonstigen Räumlichkeiten, die technischen Einrichtungen, die Qualität des Personals usw. Standards für die Werkstätten sind insoweit erforderlich, als sie einerseits darauf abzielen, dem Kunden ein dem Ruf der Marke entsprechendes Bündel von Empfangs- und Beratungsqualität zu bieten und andererseits die Fähigkeit sicherstellen, die Instandsetzungs- und Wartungsarbeiten durchzuführen. Dabei gibt es einen weiten Ermessensund Gestaltungsspielraum des Herstellers, dessen Ausfüllung sachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss, der aber nicht so weit ausgelegt werden darf, dass jeweils nur eine Lösung anerkannt wird 13. Es muss also zulässig sein, dass ein Hersteller im Hinblick auf die Exklusivität seiner Kraftfahrzeuge besonders hohe Standards formuliert, auch wenn andere Hersteller das nicht für erforderlich halten. Die Kontrolle am Markt findet darüber statt, dass der an hohen Standards interessierte Hersteller diese mit seinen Werkstätten auch tatsächlich praktizieren muss. Wenn er sie nicht durchsetzt, sind die entsprechenden vertraglichen Regelungen nicht zulässig. 7. Im Bereich der Werkstätten mag das alles akzeptabel sein. Probleme gibt es aber im Bereich des Ersatzteilvertriebs. Wenn ein Hersteller daran interessiert wäre, ein besonderes Vertriebssystem für Ersatzteile aufzubauen, ist zweifelhaft, ob insoweit überhaupt Standards als erforderlich anerkannt werden. Die Anforderungen an einen reinen Ersatzteilvertrieb ohne Wartungsgeschäft sind im Hinblick auf die Geschäftsausstattung jedenfalls niedriger als in der Wartung. Hier kommt es stärker darauf an, dass der zugelassene Händler geeignete Erfassungs- und Lagersysteme zur Verfügung hat, um angesichts der Vielzahl der Ersatzteile die Abgabe der jeweils richtigen Teile sicherzustellen. All das impliziert aber nicht, dass der Hersteller überhaupt besondere

12 Über die Anwendung von Art. 81 Abs. 3 des Vertrages auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen vom 22.12.1999, ABl. 1999 L 336/21 13 Vgl. Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, EG-Kartellrecht, 2005, Art. 1 VO 1400/ 2002, Rn. 37.

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Ersatzteilverträge vergeben müsste. Wenn er sich entschließt, den Ersatzteilvertrieb voll in das Kundendienstgeschäft zu integrieren und deswegen nur zugelassene Werkstätten mit Ersatzteilen beliefert, ist das zulässig. Ein Unternehmen, das sich auf den Ersatzteilhandel konzentrieren wollte, ohne Händler oder Werkstatt zu sein, könnte nicht begründen, dass der Hersteller direkt oder indirekt entsprechende Verträge vergeben müsste. 8. Nach Art. 4 Abs. 1 lit. k VO 1400/2002 müssen der Händler und die Werkstatt die Möglichkeit haben, Originalersatzteile oder qualitativ gleichwertige Ersatzteile von Dritten zu beziehen. Damit soll den Händlern und zugelassenen Werkstätten die Möglichkeit gegeben werden, anstelle der Originalteile des Herstellers oder jedenfalls neben ihnen auch andere Ersatzteile zu beziehen und zu verwenden, wenn sie qualitativ gleichwertig sind. Diese Bestimmung hat nicht nur die Betätigungsfreiheit der Händler und Werkstätten im Sinn, sondern auch die Absatzmöglichkeiten der freien Ersatzteilehersteller und Großhändler. Insoweit ergänzt diese Regelung die andere in lit. j, die dem Lieferanten die Vereinbarung von Absatzbeschränkungen der mit ihm in Geschäftsbeziehung stehenden Teilelieferanten verbietet. Der Werkstatt darf vorgeschrieben werden, dass sie Originalersatzteile in Vorrat zu halten hat, um sie im Rahmen der Gewährleistung, des unentgeltlichen Kundendienstes oder von Rückrufaktionen einsetzen zu können. Auch wenn hiernach der Werkstatt die Möglichkeit gegeben sein muss, Originalersatzteile und qualitativ gleichwertige Teile bei Dritten zu beziehen, kann ihr verboten werden, qualitativ nicht gleichwertige Ersatzteile zu erwerben und zu verwenden. Dieses Regelungssystem wirft eine Fülle von rechtlichen und praktischen Problemen auf: Die Werkstatt darf verpflichtet werden, auf Rechnung des Herstellers Gewährleistungs- und unentgeltliche Kundendienstarbeiten durchzuführen und an Rückrufaktionen mitzuwirken. Dafür darf ihr die Verwendung von Originalersatzteilen, die sie vom Hersteller bezogen hat, vorgeschrieben werden (Art. 4 Abs. 1 lit. k VO 1400/2002); das ergibt sich schon aus der einfachen Tatsache, dass der Hersteller, wenn er die Arbeiten bezahlt, auch Einfluss auf die verwendeten Teile nehmen und vorschreiben darf, dass „seine“ Teile verwendet werden. Wenn die Werkstatt verpflichtet werden darf, für diese Arbeiten Originalteile zu verwenden, darf sie auch verpflichtet werden, eine entsprechende Lagerhaltung durchzuführen. Den Aufwand dafür muss sie also in jedem Falle erbringen. Häufig sind die Werkstätten gar nicht in der Lage, die Disposition für die Originalersatzteile zu organisieren; also sehen sie sich veranlasst, sich insoweit den Dispositionssystemen der Hersteller anzuschließen. Den Herstellern ist nicht untersagt, die Werkstätten so zu umwerben, dass sie über den Bedarf für Gewährleistungs- und Kulanzarbeiten hinaus von ihm auch

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größere Mengen Originalersatzteile beziehen. Dafür darf der Hersteller dem Händler auch attraktive Konditionen anbieten, die für alternative Lieferanten von Original-Ersatzteilen und gleichwertigen Ersatzteilen wettbewerblich möglicherweise nicht überboten werden können. Auch das ist zulässig. Das einzige, was nicht möglich ist, sind alle Regelungen und Incentives, die darauf hinauslaufen, dass die Werkstatt ihren Bedarf auch ohne rechtliche Verpflichtung vernünftigerweise voll beim Hersteller deckt. Das betrifft alle Formen von Treuerabatten, die darauf abzielen, Kunden über die Gewährung eines finanziellen Vorteils, der über einen günstigen Preis hinausgeht, vom Bezug bei Dritten abzuhalten. Ähnliches gilt bei Ziel- bzw. Jahresumsatzrabatten, die versteckte Treuerabatte darstellen. Schließlich können Sortimentsrabatte missbräuchlich sein, wenn sie ebenso wie die anderen Rabattformen die Werkstatt tatsächlich zum ausschließlichen Bezug beim Hersteller veranlassen, weil der Fremdbezug mit überproportionalen Nachteilen verbunden wäre. Aus meiner Sicht können wir das, was als Rabatte und Incentives unzulässig ist, mit einer Parallele zur Rechtsprechung zu Art. 82 EG erklären 14: Ein marktbeherrschendes Unternehmen darf seine Abnehmer grundsätzlich nicht durch Ausschließlichkeitsverträge an sich binden. Das Verbot solcher Ausschließlichkeitsvereinbarungen gilt für Marktbeherrscher noch über das hinaus, was sich sowieso aus Art. 81 EG ergibt. Die Rechtsprechung hat alle Rabattsysteme ebenso wie ausdrückliche Ausschließlichkeitsbindungen als missbräuchlich angesehen, wenn sie darauf abzielen, dem Abnehmer durch die Gewährung von Vorteilen an sich zu binden, wenn diese Vorteile nicht durch wirtschaftliche Gegenleistungen sachlich gerechtfertigt sind. Deswegen sind z.B. Mengenrabatte grundsätzlich zulässig, nicht aber Rabatte, die eine Sogwirkung entfalten, der sich ein ökonomisch vernünftiger Abnehmer nicht entziehen kann. Bei all dem kommt es nicht darauf an, ob die Werkstatt durch die Nachlasssysteme zufrieden gestellt wird; entscheidend ist vielmehr, ob durch die Rabattsysteme anderen Lieferanten der Zugang zu den Werkstätten des Vertriebssystems tatsächlich versperrt bleibt. 9. Geradezu typisch für die rechtlichen Probleme, die die Verordnung 1400/2002 aufwirft, sind die Probleme, die sich im Ersatzteilvertrieb mit der 30 %-Klausel des Art. 1 Abs. 1 lit. b. verbinden. Nach dieser Bestimmung ist es – bezogen auf den Ersatzteilvertrieb und Werkstätten – kein unzulässiges Wettbewerbsverbot, wenn der Werkstatt vorgeschrieben wird, bis zu 30 % ihres Einkaufsvolumens von Ersatzteilen beim Hersteller zu beziehen. Nach Art. 5 Abs. 1 lit. a. sind Wettbewerbsverbote unzulässig; was sich aber im Rahmen der 30 %-Klausel bewegt, ist kein Wettbewerbsverbot. Daneben 14 Vgl. dazu Bechtold/Bosch/Brinker/Hirsbrunner, EG-Kartellrecht, 2005, Art. 82 EG, Rn. 39ff., 44.

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gibt es aber für Werkstätten die besondere Bestimmung der lit. b. Hiernach sind „alle unmittelbaren oder mittelbaren Verpflichtungen“ unzulässig, „welche die Möglichkeiten von zugelassenen Werkstätten einschränken, Instandsetzungs- und Wartungsdienstleistungen für Fahrzeuge konkurrierender Lieferanten zu erbringen. Im Vertrieb von Fahrzeugen folgt aus der 30 %Klausel, dass ein Händler frei darin sein muss, mindestens drei Händlerverträge mit konkurrierenden Herstellern abzuschließen und dort jeweils sich für 30 % ihres Einkaufsvolumens an diese Hersteller zu binden; dann hat er immer noch Freiheiten im Rahmen der restlichen 10 %. Die Frage ist, ob das auch für Werkstätten gilt, oder ob zugelassene Werkstätten die Möglichkeit haben müssen, mit einer unbegrenzten Vielzahl von Herstellern Werkstattverträge abzuschließen. Wenn dem so wäre, dürfte in den Werkstattverträgen von der 30 %-Klausel kein Gebrauch gemacht werden. Diese Frage ist offen. Die Antwort hängt davon ab, ob der Begriff der Vertragswaren und Vertragsdienstleistungen nach Art. 1 Abs. 1 lit. b im Reparatur- und Ersatzteilgeschäft auf die jeweilige Kraftfahrzeugmarke eingegrenzt ist. Ich interpretiere die Verordnung so, dass dies der Fall ist. Das bedeutet, dass eine Werkstatt mit einer unbegrenzten Anzahl von Lieferanten Werkstatt-Verträge abschließen kann. In jedem dieser Verträge darf sie verpflichtet werden, bis zu 30 % ihres Bedarfs an Ersatzteilen bei dem jeweiligen Hersteller zu beziehen; sie muss frei sein, 70 % der für die jeweilige Marke verwendeten Ersatzteile auch auf anderen Vertriebswegen zu kaufen. Eine andere Frage ist, ob innerhalb der 30 %, die bei dem Lieferanten bezogen werden müssen, insoweit differenziert werden kann, dass bestimmte Teile zu 100 % vom Lieferanten bezogen werden müssen, solange der Ersatzteilebezug insgesamt nicht über 30 % liegt. Ich halte das für zulässig. 10. Den Werkstätten, die zugleich als Teilehändler in den Vertrieb eingesetzt sind, darf grundsätzlich verboten werden, die Ersatzteile an unabhängige Werkstätten zu verkaufen, es sei denn, diese verwenden die Teile für die Instandsetzung und Wartung eines Kraftfahrzeugs (Art. 4 Abs. 1 lit. i VO 1400/2002). Der Hersteller braucht es also nicht hinzunehmen, wenn die Werkstatt, die von ihm mit Ersatzteilen beliefert wird, diese Ersatzteile an andere Händler vertreibt. Der Hersteller kann immerhin bewirken, dass die Teile, die er selbst für die Produktion der Fahrzeuge und den Ersatzteilvertrieb herstellt, nicht über einen freien Handel weiter vertrieben werden, sondern nur insoweit, wie sie dann tatsächlich vom Abnehmer für eine Reparatur eingesetzt werden. Dieser Privilegierung der Eigenfertigungsteile steht auf Grund des Art. 4 Abs. 1 lit. j eine Öffnung der Vertriebsmöglichkeiten für die Teile gegenüber, die der Hersteller für die Serienfertigung von Zulieferern bezieht. Selbstverständlich kann er diese Teile auch über seine eigene Vertriebsorganisation vertreiben. Er darf aber nichts unternehmen, um den Zulieferer daran zu hindern, diese Teile zugleich auch über seine eigene

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Organisation zu vertreiben, und zwar als Originalersatzteile oder als qualitativ gleichwertige Ersatzteile auch an die Vertriebsorganisation des Herstellers und an unabhängige Werkstätten. 11. Der Fahrzeughersteller ist jedenfalls nach Art. 81 EG und der VO 1400/2002 nicht gehalten, freie Ersatzteilhändler zu beliefern 15. Er kann seine Organisation auch daran hindern, die von ihm bezogenen Teile an diese für den Weitervertrieb zu verkaufen. Wenn der Hersteller den freien Ersatzteilhandel insoweit nicht beliefern will, sind die Ersatzteilhändler beschränkt darauf, die Teile zu vertreiben, die sie von Zulieferern und anderen Teileherstellern beziehen können. Originalteile aus der Eigenfertigung des Herstellers können sie nicht erhalten. Der Hersteller kann den zugelassenen Werkstätten, die er mit seinen Originalteilen beliefert, verbieten, diese an Händler weiterzuverkaufen; sie müssen nur berechtigt sein, Werkstätten zu beliefern, wenn diese die Teile für die Instandsetzung und Wartung eines Kraftfahrzeugs verwenden, also nicht nur weiterverkaufen.

III. Hält sich die VO 1400/2002 noch im Rahmen ihrer Ermächtigung? 1. Die VO 1400/2002 ist gestützt auf die VO 19/65 des Rates 16. Die VO 19/65 beruht ihrerseits auf Art. 83 EG (früher Art. 87 EGV). Art. 83 Abs. 1 EG ermächtigt den Rat, die „zweckdienlichen Verordnungen … zur Verwirklichung der in den Artikeln 81 und 82 niedergelegten Grundsätze“ zu erlassen. Diese Vorschriften bezwecken nach Abs. 2 insbesondere u.a. „die Einzelheiten der Anwendung des Art. 81 Abs. 3 festzulegen“. Bezogen auf den Erlass von Gruppenfreistellungsverordnungen bedeutet das, dass diese sich im Rahmen des Art. 81 Abs. 3 EG halten müssen. Sie können und dürfen die in Art. 81 Abs. 3 EG genannten Freistellungsvoraussetzungen im Hinblick auf bestimmte Gruppen von Vereinbarungen definieren und konkretisieren, aber nicht darüber hinausgehen 17. Die in Art. 81 Abs. 3 EG festgelegten Freistellungskriterien stehen nicht zur Disposition des Gemeinschaftsgesetzgebers 18. Die Rats-VO 19/65 hält sich voll im Rahmen dieser 15 Zum Verhältnis von Belieferungsansprüchen und der VO 1400/2002 vgl. Bechtold, NJW 2003, 3729ff. 16 Vom 2.3.1965, ABl. 1965, 533. 17 Schröter in von der Groeben/Schwarze, Kommentar zum EU-Vertrag/EG-Vertrag, 6. Aufl. 2003, Art. 83 Rn. 10; ders. in Schröter/Jakob/Mederer, Kommentar zum Europäischen Wettbewerbsrecht, 1. Aufl. 2003, Art. 83 Rn. 10. 18 Schröter in von der Groeben/Schwarze, Kommentar zum EU-Vertrag/EG-Vertrag, 6. Aufl. 2003, Art. 83 Rn. 12; ders. in Schröter/Jakob/Mederer, Kommentar zum Europäischen Wettbewerbsrecht, 1. Aufl. 2003, Art. 83 Rn. 11.

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Ermächtigung. Sie sieht keine eigenständigen materiellen Voraussetzungen für die Gruppenfreistellung vor, sondern beschreibt in Art. 1 lediglich die Vereinbarungen, für die Gruppenfreistellungsverordnungen erlassen werden können. Wenn hiernach die VO 19/65 keine eigenständigen materiellen Voraussetzungen für Gruppenfreistellungen beschreibt, bedeutet das umso mehr, dass die Gruppenfreistellungen selbst sich im Rahmen des Art. 81 Abs. 3 EG halten müssen. 2. Insoweit sind erhebliche Zweifel angebracht, ob die VO 1400/2002 diese Voraussetzungen erfüllt. Dass soll im Folgenden an der Bestimmung des Art. 3 Abs. 5 VO 1400/2002 exemplifiziert werden. Hiernach gilt die Freistellung von Vertriebs- und Kundendienstverträgen nur unter der Voraussetzung, dass die Vereinbarung bestimmte Mindestlaufzeiten hat. Handelt es sich um einen befristeten Vertrag, muss er eine Laufzeit von mindestens fünf Jahren haben. Handelt es sich um einen unbefristeten Vertrag, muss die Kündigungsfrist mindestens zwei Jahre betragen; diese kann unter bestimmten Voraussetzungen auf ein Jahr verkürzt werden. Diese Kündigungsregelungen wirken auf besonders langfristige Vereinbarungen hin. Es mag sein, dass diese Fristen teilweise den Händler oder die Werkstatt schützen. Sie verstärken aber die Beschränkungen der wettbewerblichen Handlungsfreiheit des Händlers und der Werkstatt sowie des Kfz-Herstellers, wegen derer eine Freistellung erforderlich ist. Dementsprechend haben sie auch negative Auswirkungen auf die Möglichkeit anderer Marktbeteiligter, mit den in ihrer wettbewerblichen Handlungsfreiheit beschränkten Händlern und Werkstätten geschäftliche Verbindungen aufzunehmen oder auszuweiten. 3. Nach Art. 81 Abs. 3 setzt die Freistellung einer Vereinbarung vom Kartellverbot u.a. voraus, dass sich jede einzelne aus dieser Vereinbarung ergebende Wettbewerbsbeschränkung als für die Verwirklichung der im ersten Teil des Art. 81 Abs. 3 EG genannten positiven Ziele bzw. Effizienzgewinne „unerlässlich“ erweist 19. Jede einzelne Beschränkung muss gerechtfertigt werden können als Beitrag zur „Verbesserung der Warenverteilung“ und als „Vorteil für den Verbraucher“, der an dieser Verbesserung angemessen beteiligt werden muss. Eine Wettbewerbsbeschränkung ist nur dann unerlässlich, wenn ohne sie die sich aus der Vereinbarung ergebenden Effizienzgewinne beseitigt oder erheblich geschmälert würden oder die Wahrscheinlichkeit zurückgehen würde, dass sich die aus der Vereinbarung ergebenden Effizienzgewinne realisieren 20. Die Vereinbarung darf also nur so viel an Wettbewerbsbeschränkung enthalten, wie unbedingt erforderlich. Das schließt es 19 So auch Leitlinien der Kommission zur Anwendung von Art. 81 Abs. 3 EG-Vertrag, ABl. 2004 C 101/97, Tz. 73, 78. 20 Leitlinien, a.a.O., Tz. 79.

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aus, die Freistellung einer Wettbewerbsbeschränkung davon abhängig zu machen, dass sie für eine Mindestlaufzeit gilt; dann geht es nicht mehr um den Grundsatz, dass Wettbewerbsbeschränkungen nur in dem unbedingt erforderlichen Ausmaß auferlegt werden müssen, sondern dass sie möglichst lange gelten. Die Freistellungsvoraussetzungen des Art. 81 Abs. 3 EG sind nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes als Ausnahme vom allgemeinen Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen eng auszulegen 21. Damit ist nicht vereinbar, wenn die Freistellung davon abhängig gemacht wird, dass die freigestellte Wettbewerbsbeschränkung für eine möglichst lange Zeit gilt. Das geht über die Funktion einer Gruppenfreistellungsverordnung hinaus. 4. All das gilt umso mehr, als die Kommission mit den Vorgaben zu den Kündigungsfristen keine wettbewerbsbezogenen Zwecke verfolgt. Die Kündigungsregelungen in Art. 3 Abs. 5 sind im 9. Erwägungsgrund zur VO 1400/2002 gerechtfertigt durch das Motiv der „Stärkung der Unabhängigkeit der Händler und Werkstätten von den Lieferanten“. Diese Erwägung hat mit den Kriterien des Art. 81 Abs. 3 EG nichts zu tun. Sie hat keinen Bezug zum Wettbewerb. Der Regelung in Art. 3 Abs. 5 VO 1400/2002 liegt erkennbar das Bestreben zu Grunde, Händler und Werkstätten angesichts ihrer behaupteten Abhängigkeit von ihrem Hersteller- und Importeurs-Vertragspartner zu schützen, und ihnen, wenn der Lieferant kündigt, einen besonderen Schutz teilwerden zu lassen. Das ergibt sich nicht nur aus der ungewöhnlich langen Kündigungsfrist von zwei Jahren, sondern auch aus der Regelung des Art. 3 Abs. 5 lit. b Nr. i, der eine Verkürzung der Frist auf ein Jahr für den Fall vorsieht, dass der Händler oder die Werkstatt „bei Beendigung der Vereinbarung eine angemessene Entschädigung“ erhält. Derartige Überlegungen des Händler- oder sonstigen Sozialschutzes gehören ihrem Wesen nach in den Bereich des nationalen Zivilrechts. Die Entscheidung über ihre angemessene Berücksichtigung obliegt dem nationalen Gesetzgeber. Mit der allein auf Freiheit des Wettbewerbs gerichteten Zielsetzung des Art. 81 EG haben sie nichts zu tun 22. Der besondere Schutz der Händler und Werkstätten rechtfertigt sich auch nicht aus dem Kriterium der „Beteiligung der Verbraucher“. Verbraucher im Sinne des Art. 81 Abs. 3 EG sind nicht die Partner der Kartellvereinbarung, sondern ihre Kunden. Der Endabnehmer von Kraftfahrzeugen hat keinen Vorteil (oder Nachteil) davon, dass der Händler oder die Werkstatt, bei dem er ein Fahrzeug gekauft oder bei dem er das Fahrzeug warten lässt, einen besonderen Kündigungsschutz genießt. 21 Urteile v. 24.10.1995, Slg. 1995 I-3439, 3471, Tz. 28, Bayerische Motoren Werke und Slg. 1995 I-3477, 3520, Tz. 33, Volkswagen und VAG Leasing. 22 Vgl. Gleiss/Hirsch, Kommentar zum EG-Kartellrecht, 4. Aufl. 1993, Bd. I, Rn. 1071; Nolte in Langen/Bunte, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, 10. Aufl. 2006, Bd. II, Art. 81 – Fallgruppen Kfz-Vertriebsvereinbarungen, Rn. 901.

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IV. Versuch einer Bilanz Gruppenfreistellungen haben im System der „Selbstveranlagung“ nach Art. 81 Abs. 3 EG bzw. § 2 Abs. 1 GWB eine besondere Funktion. Sie sollen den Unternehmen für typisierte, besonders häufig vorkommende Fallkonstellationen einen rechtlich sicheren „Hafen“ bieten. Auch außerhalb ihres unmittelbaren Anwendungsbereiches können sie wertvolle Auslegungshilfen für Art. 81 Abs. 3 EG bzw. § 2 Abs. 1 GWB bieten. Beide Funktionen kann eine Gruppenfreistellungsverordnung nicht erfüllen, die teilweise die Verbindungen zu den Kriterien des Art. 81 Abs. 3 EG nicht erkennen lässt und sich im Übrigen in einem kaum überschaubaren Geflecht von Grundsätzen, Ausnahmen und Gegenausnahmen ergeht. Allein die Tatsache, dass es zu jeder Gruppenfreistellungsverordnung und zu allen in ihnen behandelten Problemen zusätzliche Bekanntmachungen und Leitlinien der Kommission gibt, zeigt, dass auf diese Weise Rechtssicherheit nicht erreicht werden kann. Das Ziel, den Zwangsjackeneffekt der früheren Gruppenfreistellungsverordnungen zu beseitigen, ist jedenfalls bei der VO 1400/2002 nicht erreicht worden. Die Skepsis, die in diesen Ausführungen deutlich werden soll, wird nicht dadurch gemindert, dass die VO 1400/2002 nach ihrem Art. 12 Abs. 3 nur noch bis zum 31. Mai 2010 gilt. Sie hat der Kraftfahrzeugwirtschaft so viele Veränderungen ihrer gesamten Vertriebs- und Kundendienstsysteme abverlangt, dass faktisch eine Rückkehr zu dem wettbewerblich erwünschten Zustand größerer Differenziertheit kaum mehr erreichbar ist. Die Verordnung ist also für eine auf Freiheit des Wettbewerbs gerichtete Kartellrechtsordnung nicht akzeptabel.

Die ex officio Anwendung drittstaatlicher Eingriffsnormen (insbesondere des Kartellrechts) in internationalen Schiedsverfahren Siegfried H. Elsing Inhaltsübersicht I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 II. Die Befugnis und Pflicht zur ex officio Anwendung von Normen im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 1. Anwendbares materielles Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 2. Rechtswahl der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 a) Vertragsstatut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 b) Schiedsvertragsstatut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3. Zwingendes Recht außerhalb der Rechtswahl der Parteien . . . . . . . . . . . 91 a) Definition und Quellen des zwingenden Rechts . . . . . . . . . . . . . . . 91 b) Meinungsstand zur ex officio Anwendung drittstaatlicher Eingriffsnormen 91 c) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 III. Die Befugnis und Verpflichtung zur ex officio Anwendung im Bereich Kartellrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 1. Art. 81, 82 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 a) EuGH-Entscheidung Eco Swiss/Benetton . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 b) Meinungsstand in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 c) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2. US-Kartellrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 3. Andere Nationale Kartellgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

I. Einleitung Internationale Schiedsgerichte können sich von Zeit zu Zeit mit dem Umstand konfrontiert sehen, dass die Parteien bestimmte Streitfragen oder die Anwendung bestimmter Rechtsvorschriften durch das Schiedsgericht ausschließen wollen. Dies kann durch die Wahl eines anwendbaren materiellen Rechts geschehen, unter dem sich eine ansonsten in Betracht kommende Streitfrage gar nicht erst stellt, oder aber durch die ausdrücklich an das Schiedsgericht gerichtete Anweisung, die relevante Streitfrage oder gesetzliche Regelung nicht zu berücksichtigen. Wenn die Intention der Parteien für

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das Schiedsgericht erkennbar wird, kann sich die Frage stellen, ob das Schiedsgericht seine Entscheidung auf eine Rechtsvorschrift stützen kann (oder muss), obwohl diese direkt oder indirekt durch die Parteien für nicht anwendbar erklärt wurde. Die soeben beschriebene Konstellation kann sich immer dann ergeben, wenn Normen wirtschafspolitischen Einschlags von Bedeutung sind. Hierzu zählen Vorschriften der Ex- und Importkontrolle, Devisenkontrolle sowie des Preis- und Enteignungsrechts.1 Insbesondere auch im Bereich des Kartellrechts können beide Parteien ein Interesse an der Nichtanwendbarkeit bestimmter Vorschriften haben. Dies gilt umso mehr, als die Sanktionen für den Fall eines Gesetzverstoßes hier besonders drastisch ausfallen können. Vor diesem Hintergrund soll der Frage nachgegangen werden, ob und in welchen Konstellationen Schiedsgerichte ex officio zur Anwendung von Rechtsvorschriften, insbesondere im Kartellrecht, berechtigt bzw. verpflichtet sind.

II. Die Befugnis und Pflicht zur ex officio Anwendung von Normen im Allgemeinen Das Schiedsgericht ist verpflichtet, die Streitigkeit auf der Grundlage des anwendbaren materiellen Rechts zu entscheiden.2 Daraus folgt, dass die Befugnis und Pflicht zur Anwendung von zwingenden Normen ex officio jedenfalls dann in Betracht gezogen werden muss, wenn diese Normen zum anwendbaren materiellen Recht zu zählen sind. 1. Anwendbares materielles Recht Das auf die Streitigkeit anwendbare materielle Recht ergibt sich bei internationalen Verträgen regelmäßig aus einer Rechtswahlvereinbarung der Vertragsparteien. Sollten die Parteien eine solche Rechtswahl nicht getroffen haben, finden sich für administrierte Schiedsverfahren oftmals in der jeweiligen Verfahrensordnung Vorschriften für das Schiedsgericht, wie es das anwendbare materielle Recht zu bestimmen hat.3 In ad hoc Verfahren können 1 Raeschke-Kessler/Berger Recht und Praxis des Schiedsverfahrens, 3. Aufl. 1999, Rn.741. 2 Ruzik Die Anwendung von Europarecht durch Schiedsgerichte, Beiträge zum Transnationalen Recht, H. 17/2003, 6; Schlosser Das Recht der internationalen privaten Schiedsgerichtsbarkeit, 2. Aufl. 1989, Rn. 731; siehe auch Craig/Park/Paulsson International Chamber of Commerce Arbitration, 3. Aufl. 2000, § 17.04, 340/341. 3 Siehe beispielhaft Art. 17 Abs. 1 der Schiedsgerichtsordnung der Internationalen Handelskammer (ICC) oder § 23.2 der Schiedsgerichtsordnung der Deutschen Institution für Schiedsgerichtsbarkeit e.V. (DIS), wonach die Schiedsrichter das Recht anwenden sollen,

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sich entsprechende Regelungen aus dem anwendbaren Schiedsverfahrensrecht ergeben, beispielsweise im deutschem Schiedsverfahrensrecht aus § 1051 Abs. 1 und Abs. 2 ZPO.4 Diese Vorschrift, wonach das Recht des Staates anzuwenden ist, mit dem der Gegenstand des Verfahrens die engsten Verbindungen aufweist, hat das Schiedsgericht als lex loci arbitri heranzuziehen.5 Im vorliegend untersuchten Zusammenhang sind jedoch allein die zwischen den Parteien vereinbarte Rechtswahlklauseln von Bedeutung. 2. Rechtswahl der Parteien Zumindest in den westeuropäischen und nordamerikanischen Rechtsordnungen ist der Grundsatz der Parteiautonomie bei der Wahl des anwendbaren materiellen Rechts allgemein anerkannt.6 Dies gilt auch für Schiedsverträge.7 Diese Feststellung verdient im vorliegenden Zusammenhang Erwähnung, da auch bei der Feststellung der Wirksamkeit der Schiedsvereinbarung zwingende Regelungen einer „dritten“ Rechtsordnung Geltung beanspruchen können. a) Vertragsstatut Die durch die Parteien getroffene Rechtswahl bezieht sich regelmäßig in erster Linie auf den zwischen ihnen geschlossenen Vertrag und nicht (notwendigerweise) auch auf die sich auf diesen Vertrag beziehende (aber rechtlich selbständige) Schiedsvereinbarung (siehe hierzu sogleich unter (b)). Die Rechtswahl ist regelmäßig auf die Geltung der staatlich gesetzten Rechtsordnung eines Landes gerichtet.8 Die Vereinbarung der Geltung anationalen Rechts, wie z.B. Unidroit-Principles of International Commercial Contracts hat lediglich materiellrechtliche Wirkung, d.h. es tritt ergänzend zum anwendbaren Recht hinzu und verdrängt es, soweit dieses nicht zwingende Regeln enthält.9

das sie für angemessen erachten (Art. 17 Abs. 2 ICC-Schiedsgerichtsordnung) bzw. das Recht des Staates, mit dem der Gegenstand des Verfahrens die engsten Verbindungen aufweist (DIS-Schiedsgerichtsordnung). 4 Raeschke-Kessler/Berger a.a.O., Rn. 721; Ruzik a.a.O., 6. 5 Raeschke-Kessler/Berger a.a.O. 6 Craig/Park/Paulsson a.a.O., § 17.01, 319; Lachmann Handbuch für die Schiedsgerichtspraxis, 2. Aufl. 2002, Rn. 939; Lörcher Wie zwingend sind in der internationalen Handelsschiedsgerichtsbarkeit zwingende Normen einer „dritten“ Rechtsordnung?, BB Beilage Nr. 17, BB 1993, 3, 4; Redfern/Hunter Law and Practice of International Commercial Arbitration, 4. Aufl. 2004, Rn. 2–34; Schlosser a.a.O. 7 Lachmann a.a.O., Rn. 195; Lörcher, a.a.O.; Magnus in Staudinger, BGB, EGBGB/ IPR Art. 27–37, 2002, Art 27 EGBGB, Rn. 22. 8 Magnus a.a.O., Rn. 34. 9 Magnus a.a.O., Rn. 48.

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b) Schiedsvertragsstatut Nicht allen Parteien ist bewusst, dass eine in dem zwischen ihnen geschlossenen Vertrag enthaltene Schiedsklausel als ein vom Hauptvertrag unabhängiger (Schieds)-Vertrag zu qualifizieren ist und dass die Rechtswahlklausel sich nicht automatisch auch auf den Schiedsvertrag beziehen muss.10 In Rechtsprechung und Literatur ist es umstritten, woran bei der Bestimmung des Statuts der Schiedsvereinbarung anzuknüpfen ist. Eine Meinung unterstellt den Parteien den Willen, dass sich ihre Rechtswahl für den Hauptvertrag auch auf die Schiedsvereinbarung erstreckt.11 Nach anderer Ansicht soll das Recht des Schiedsortes gelten, was aus dem Rechtsgedanken des Art. V (1) (a) des New Yorker Übereinkommens vom 10. Juni 1958 über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche (UNÜ) folgen soll und auch dem deutschen Schiedsrecht zugrunde liege.12 Vereinzelt wird auch die Auffassung vertreten, dass das Recht des Staates, in dem die Vollstreckung betrieben werden soll, Anknüpfungspunkt für das auf die Schiedsvereinbarung anwendbare Recht sein könne.13 Der Bundesgerichtshof erachtet es als „sachgerecht“, eine Gerichtsstandsvereinbarung nach dem allgemeinen Vertragsrecht derjenigen Rechtsordnung zu beurteilen, nach dem sich auch das zugehörige, den Inhalt des gesamten Vertrages bildende materielle Rechtsverhältnis der Parteien richtet.14 Diese Überlegung könnte man auch auf Schiedsvereinbarungen übertragen. Da sich die Parteien in den meisten Fällen keine Gedanken über das Schiedsvertragsstatut gemacht haben, ist es nicht ohne weiteres einsichtig, dass es ihr Wille war, das Vertragsstatut auch auf den Schiedsvertrag zu erstrecken.15 Nur wenn sich aus dem Verhalten der Parteien vor Vertragsabschluss entsprechende Hinweise ergeben, könnte man zu einer solchen Annahme kommen. In welchem Staat die Vollstreckung des Schiedsspruches betrieben werden soll, steht nicht immer schon im Laufe des Schiedsverfahrens fest, so dass sich dieser Ansatz regelmäßig als unpraktikabel erweisen dürfte. Darüber hinaus würde man nach dieser Ansicht die Auswahl des Schiedsvertragsstatuts in die Hände des Schiedsklägers legen. Dieser könnte durch die einfache Behauptung, dass er beabsichtige, den Schiedsspruch in einem bestimmten Staat zu vollstrecken auch das Recht dieses Staates als Schiedsvertragsstatut bestimmen. 10

Lörcher a.a.O. OLG München, Urt. v. 07.04.1989, RIW 1990, 585; Lörcher, a.a.O. 12 Lachmann a.a.O., Rn. 197; Geimer in Zöller, Zivilprozessordnung, 24. Aufl. 2004, § 1029, Rn. 91. 13 Born International Commercial Arbitration, 43. 14 BGH, Urt. v. 17.05.1972, BGHZ 59, 23, 27. 15 Siehe auch Hascher European Convention on International Commercial Arbitration of 1961, YCA 1992, 735. 11

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Die besseren Argumente dürften daher für die Ansicht sprechen, die an den Ort des Schiedsverfahrens anknüpft, da sie nicht nur in Art. V (1) (a) UNÜ eine Begründung findet, sondern auch praktikabel ist. 3. Zwingendes Recht außerhalb der Rechtswahl der Parteien Haben die Parteien die Geltung einer Rechtsordnung für Vertrag und Schiedsvertrag wirksam vereinbart, stellt sich für das Schiedsgericht die Frage, ob es mit dieser Rechtswahl der Parteien sein Bewenden hat oder ob es zwingendes Recht einer anderen (von den Parteien nicht gewählten) Rechtsordnung, sog. drittstaatliche Eingriffsnormen (auch bezeichnet als „lois de police“, „lois d’application immédiate“, dispositions impératives oder mandatory rules),16 anwenden kann und sogar muss, und ob somit auch diese zum anwendbaren materiellen Recht gehören. a) Definition und Quellen des zwingenden Rechts Zwingendes Recht in dem hier relevanten Sinn sind Bestimmungen, die nach dem Recht eines anderen Staates ohne Rücksicht darauf anzuwenden sind, welchem Recht der Vertrag nach dem Parteiwillen (ansonsten) unterliegt.17 Das möglicherweise zu berücksichtigende zwingende Recht kann unterschiedlichen Quellen entspringen: – – – –

lex fori Rechtsordnung eines anderen Staates transnationale Rechtsordnung (z.B. UN, EU) Rechtsordnung des Staates, in dem der Schiedsspruch voraussichtlich vollstreckt werden soll.18

b) Meinungsstand zur ex officio Anwendung drittstaatlicher Eingriffsnormen Das Meinungsspektrum zu der Frage der Berechtigung und Verpflichtung eines Schiedsgerichts zur ex officio Anwendung drittstaatlicher Eingriffsnormen ist durchaus breit gefächert. Auch wenn dies nicht ausdrücklich gesondert hervorgehoben wird, so scheint jedenfalls im Ausgangspunkt insoweit Einigkeit zu bestehen, dass

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Lörcher a.a.O., 3, 5; Raeschke-Kessler/Berger a.a.O., Rn. 741. Limmer in Reithmann/Martini, Internationales Vertragsrecht, 5. Aufl. 1996, Rn. 387; Lörcher, a.a.O., 3, 5. 18 Blessing Impact of the Extraterritorial Application of Mandatory Rules of Law on International Contracts, 1999, 12. 17

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allein die Qualifikation der Norm eines Drittstaates als zwingend nicht per se zu ihrer Berücksichtigung im Rahmen des anwendbaren Rechts führen kann. Von dort an trennen sich die Argumentationslinien: (1) Eine Ansicht nimmt die Norm des Art. 7 Abs. 1 des Römischen EGÜbereinkommens über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anwendbare Recht als Ausgangspunkt.19 Danach kann bei Anwendung des Rechts eines bestimmten Staates auf Grund des Übereinkommens den zwingenden Bestimmungen des Rechts eines anderen Staates, mit dem der Sachverhalt eine enge Verbindung aufweist, Wirkung verliehen werden, soweit diese Bestimmungen nach dem Recht des letztgenannten Staates ohne Rücksicht darauf anzuwenden sind, welchem Recht der Vertrag unterliegt.20 Bei der Entscheidung, ob diesen zwingenden Bestimmungen Wirkung zu verleihen ist, sind ihre Natur und ihr Gegenstand sowie die Folgen zu berücksichtigen, die sich aus ihrer Anwendung oder ihrer Nichtanwendung ergeben würden.21 Hierfür sei die Richtigkeit und Vernünftigkeit der fraglichen Norm im Hinblick auf internationale Wirtschaftsstandards („shared values“) zu überprüfen, woran die Anwendung der Norm in den meisten Fällen scheitere.22 Wenn die in Betracht kommende Norm zu den zentralen Grundlagen eines geordneten staatlichen und wirtschaftlichen Lebens gehöre und damit die Grundprinzipien des Gemeinschaftslebens berühre, also Teil des internationalen ordre public sei, soll in internationalen Schiedsverfahren eine Verpflichtung des Schiedsgericht zu ihrer Berücksichtigung bestehen.23 Die engeren nationalen ordre public Vorschriften, mit denen die jeweiligen Staaten ihre unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Regelungszwecke verfolgen, sollen jedenfalls dann von dem Schiedsgericht unbeachtet bleiben, wenn die Parteien ihre rechtliche Beziehung „aus guten Gründen“ dem Recht eines Drittstaates unterstellt haben.24 Diese Ansicht geht zurück auf die sog. Lehre von der Sonderanknüpfung, wonach zwingendes ausländisches Recht sowie solches der lex fori unabhängig vom Schuldstatut anwendbar sein soll, sofern die Normen eine genügend enge Beziehung zum Schuldverhältnis haben und aus ihrem Zweck heraus selbst angewandt werden wollen.25 Als einer von mehreren Anknüpfungspunkten für die Beurteilung der Beziehung zum Schuldverhältnis und des

19 Berger in Böckstiegel, Acts of State and Arbitration, 1997, 99, 124; RaeschkeKessler/Berger a.a.O., Rn. 747/748. 20 EG Abl. Nr. L2 66 v. 09.10.1980. 21 EG Abl. Nr. L2 66 v. 09.10.1980. 22 Raeschke-Kessler/Berger a.a.O., Rn. 743. 23 Berger in Böckstiegel, Acts of State and Arbitration, 1997, 99, 124; RaeschkeKessler/Berger a.a.O., Rn. 747/748. 24 Raeschke-Kessler/Berger a.a.O., Rn. 749. 25 Limmer a.a.O., Rn. 458.

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Zwecks wird auch das Element der Wertübereinstimmung benutzt, d.h. die Feststellung, dass der ausländischen Eingriffsnorm eine Wertentscheidung zugrunde liegt, die auch von der lex fori geteilt wird (sog. shared value approach).26 (2) Andere Autoren betonen demgegenüber, dass die Zuständigkeit des Schiedsgerichts auf der zwischen den Parteien geschlossenen Schiedsvereinbarung basiere.27 Dies verleihe dem Grundsatz der Parteiautonomie besonderes Gewicht und sogar Priorität gegenüber staatlichen Regelungszwecken.28 Daher dürfe ein Schiedsgericht nicht auf drittstaatliche Eingriffsnormen zurückgreifen, wenn dies nicht dem Parteiwillen entspreche, ja die Parteien dies ausdrücklich und übereinstimmend nicht wünschten.29 Es müssten schon besondere Umstände vorliegen, wenn von dem in dem Vertrag manifestierten Parteiwillen abgewichen werden soll.30 In diesem Zusammenhang könne auch das Verhalten der Parteien berücksichtigt werden. Habe eine Partei die (Rechts-)Unerfahrenheit der anderen Partei ausgenutzt, könne dies einen rechtfertigenden Grund dafür darstellen, den zwingenden Vorschriften Geltung zu verschaffen.31 c) Stellungnahme (1) Die zuletzt genannte Ansicht, wonach dem Parteiwillen der Vorrang zu geben wäre, ist in der Literatur mit gewichtigen Argumenten kritisiert worden.32 Es wird darauf verwiesen, dass das Schiedsgericht kein „Werkzeug“ der Parteien sei, welchem man Vorgaben machen könne, um ein gewünschtes Ergebnis zu erzielen.33 Natürlich sind Schiedsgerichte den Parteien gegenüber Dienstleister. Sie erbringen ihre Dienste aber in einem definierten rechtlichen Rahmen, auf dessen Ausgestaltung die Parteien zwar einen bestimmten, aber sicher nicht unbegrenzten Einfluss ausüben können. Jede andere Sichtweise würde im Übrigen die Gefahr in sich bergen, dass das Vertrauen in die Schiedsgerichtsbarkeit, welches insbesondere der Gesetzgeber zum Ausdruck bringt, wenn er die objektive Schiedsfähigkeit von Rechtstreitigkeiten weit ausgestaltet, dadurch verloren ginge, dass Parteien

26 Großfeld/Rogers A Shared Values Approach to Jurisdictional Conflicts in International Economic Law, I.C.L.Q. 32 (1983) 931, 943 f.; Limmer a.a.O., Rn. 459. 27 Von Mehren, ICSID Review – Foreign Investment Law Journal 1990, 58; Lörcher a.a.O., 3, 8. 28 Von Mehren a.a.O.; Lörcher a.a.O., 3, 8. 29 Von Mehren a.a.O.; Lörcher a.a.O., 3, 8. 30 Lörcher a.a.O., 3, 6. 31 Lörcher a.a.O., 3, 6. 32 Berger in Böckstiegel, Acts of State and Arbitration, 1997, 99, 124. 33 Blessing Impact of the Extraterritorial Application of Mandatory Rules of Law on International Contracts, 1999, 69.

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die ihnen eingeräumte Möglichkeit zur alleinigen Bestimmung der anwendbaren Normen missbrauchen. Ferner erscheint es schwierig, die (nahezu) absolute Priorität des Parteiwillens mit der internationalen Rechtsprechung in Einklang zu bringen. In der Entscheidung Nordsee hat sich der EuGH z.B. eindeutig dahingehend geäußert, dass der Anwendungsbereich des Art. 81 EUV, welchen der Gerichtshof als zwingende Eingriffsnorm qualifiziert,34 nicht durch Parteivereinbarung ausgeschlossen werden kann.35 Auch der BGH und der United States Supreme Court haben zu erkennen gegeben, dass dem Parteiwillen nicht uneingeschränkt Geltung zukommen kann.36 (2) Es erscheint daher vorzugswürdig, der Meinung zu folgen, die von einer Verpflichtung des Schiedsgerichts zur Anwendung (zumindest) derjenigen drittstaatlichen Eingriffsnormen ex officio ausgeht, die als internationale Wirtschaftsstandards („shared values“) und damit als ordre public international Geltung beanspruchen und eine genügend enge Verbindung mit dem streitgegenständlichen Sachverhalt aufweisen. Auch Eingriffsnormen sind zum anwendbaren materiellen Recht zu zählen. Nur hierdurch wird sicher gestellt, dass die Flexibilität des Schiedsverfahrens und die Parteiautonomie in diesem Bereich nicht zu einer Reduktion der Rolle des Schiedsgerichts als reines Werkzeug der Parteien führen. (3) Darüber hinaus trägt die hier vertretene Auffassung dem Umstand Rechnung, dass den Parteien regelmäßig nicht damit gedient wäre, wenn das Schiedsgericht im Rahmen seiner Entscheidung drittstaatliche Eingriffsnormen völlig außer Acht lassen würde. Eine solche Vorgehensweise würde nämlich die Gefahr einer erfolgreichen Anfechtungsklage (wegen Verstoßes gegen den internationalen ordre public) am Sitz des Schiedsgerichts erhöhen und außerdem die Aussichten auf Anerkennung und Vollstreckung in Drittstaaten einschränken. Zu Recht wird geltend gemacht, dass es die Aufgabe des Schiedsgerichts sei, einen vollstreckbaren Schiedsspruch zu erlassen.37 Wenn diese Pflicht besteht (und in Art. 35 der ICC-Schiedsordnung 38 ist sie z.B. verankert), dann würde dies ebenfalls für eine Bindung des Schiedsgerichts an drittstaatliche Eingriffsnormen (jedenfalls in dem hier befürworteten Umfang) sprechen. 34

Siehe Rs. C-126/97, Eco Swiss/Benetton, Slg. 1999, I-3055, Rn. 36. Rs. 102/81, Nordsee, Slg. 1982, 1095, Rn. 14 f. 36 Siehe U.S. Supreme Court, Mitsubishi Motors Corporation v. Soler Chrysler-Plymouth, 473 U.S. 614 (1985); BGH, Urt. v. 18.01.1990, BGHZ 110, 104, 108. 37 Platte An Arbitrator’s Duty to Render Enforceable Awards, 307.20 J. Int. Arb. 3 (2003). 38 Art. 35 der ICC-Schiedsgerichtsordnung bestimmt: In allen nicht ausdrücklich vorgesehenen Fällen verfahren der Gerichtshof und das Schiedsgericht nach Sinn und Zweck der Schiedsgerichtsordnung. Sie wirken mit allen Mitteln darauf hin, dass die Vollstreckbarkeit des Schiedsspruches gesichert ist.“ 35

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(4) Nur wenn die Parteien die gleiche Nationalität haben und der Vertrag keinen Auslandsbezug aufweist, besteht kein Anhaltspunkt für das Schiedsgericht, auf den ordre public international abzustellen. In dieser Konstellation hat das Schiedsgericht den nationalen ordre public – unabhängig davon, wo das Schiedsgericht seinen Sitz hat – in vollem Umfang anzuwenden.39 (5) Um dem Ausnahmencharakter der Heranziehung drittstaatlicher Eingriffsnormen gerecht zu werden, kann es im Rahmen der Prüfung, ob eine drittstattliche Eingriffsnorm Geltung beansprucht, im Einzelfall angemessen sein, auch nach geringfügigen und schwerwiegenden Verletzungen (sog. softcore bzw. hard-core violations) der einschlägigen Eingriffsnorm zu unterscheiden und die relevante Norm nur im Fall einer schwerwiegenden Verletzung anzuwenden. (6) Es bleibt die Frage zu klären, ob die ex officio Berücksichtigung der Normen des aus drittstaatlichen Eingriffsnormen hergeleiteten ordre public international nicht eine Verletzung des Grundsatzes der Unabhängigkeit und Überparteilichkeit des Schiedsgerichts mit sich bringen kann. Soweit jeglicher Parteivortrag zu dem relevanten rechtlichen Gesichtspunkt fehlt, wird das Schiedsgericht bei entsprechenden Anhaltspunkten seinerseits rechtliche Hinweise im Hinblick auf die mögliche Anwendung drittstaatlicher Eingriffsnormen geben müssen. Dies dürfte schon unter dem Gesichtspunkt der Einräumung rechtlichen Gehörs unumgänglich sein. In den meisten Fällen werden diese rechtlichen Hinweise allerdings vor allem einer der Parteien günstig sein, so dass die andere Partei eine unangemessene Benachteiligung rügen oder gar die Unabhängigkeit und Überparteilichkeit des Schiedsgerichts in Frage stellen könnte. Derartige Verteidigungsmittel können aber keinen Erfolg haben. Letztendlich leistet das Schiedsgericht nur das, wozu es berufen ist: die Entscheidung des Rechtstreits auf der Grundlage des anwendbaren materiellen Rechts. Hierzu gehört es auch, den Parteien rechtliche Hinweise in dem Fall zu geben, dass die Parteien – bewusst oder unbewusst – zu einem oder mehreren rechtlichen Gesichtspunkten nicht vortragen. Es wäre im Gegenteil sogar ein gravierender Verfahrensfehler, wenn das Schiedsgericht, um im Schiedsverfahren den Vorwurf der unangemessenen Bevorteilung einer Partei zu vermeiden, seine Rechtsansicht erst im Schiedsspruch offen legt. Das Recht der Parteien auf rechtliches Gehör wäre hier nicht gewahrt.40 (7) In der praktischen Umsetzung der hier vertretenen Auffassung, kann sich für das Schiedsgericht auch die Frage stellen, ob es an den Tatsachenvortrag der Parteien gebunden ist oder selbständig (tatsächliche) Ermittlungen 39 40

Raeschke-Kessler/Berger a.a.O., Rn. 751. Lachmann a.a.O., Rn. 677.

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im Hinblick auf mögliche Verstöße gegen drittstaatliche Eingriffsnormen anstellen darf oder gar muss. Eilmansberger 41 ist weitestgehend zuzustimmen, dass ein Schiedsgericht grundsätzlich weder ermächtigt noch verpflichtet ist, mögliche Verstöße gegen Normen des ordre public international in tatsächlicher Hinsicht zu ermitteln und festzustellen. Dem ist zuzustimmen, soweit weder ein entsprechender Auftrag der Parteien noch einschlägige Anhaltspunkte innerhalb des Tatsachenvortrages der Parteien gegeben sind, da es nicht von vornherein zu den Aufgaben eines Schiedsgerichts zählt, inquisitorische Untersuchungen anzustellen.42 Wenn jedoch einschlägige Verdachtsmomente vorliegen, sollte ein Schiedsgericht diesen nachgehen und sie aufklären.43

III. Die Befugnis und Verpflichtung zur ex officio Anwendung im Bereich Kartellrecht Das Deutsche und das Europäische Kartellrecht bilden einen besonderen Arbeits- und Interessenschwerpunkt des Jubilars. Auch aus diesem Grunde liegt es nahe, nach den bisherigen allgemeinen Erörterungen zur Anwendung drittstaatlicher Eingriffsnormen in Schiedsverfahren die Anwendung dieser Grundsätze speziell im Bereich des Kartellrechts zu behandeln. Dies gilt umso mehr, als die hier erörterte Thematik in der Praxis wohl am häufigsten im kartellrechtlichen Zusammenhang relevant werden dürfte. An der Schiedsfähigkeit von Streitigkeiten mit kartellrechtlichem Bezug bestehen in den meisten Rechtsordnungen keine Zweifel mehr.44 Folglich stünde die objektive Schiedsfähigkeit der Durchführung eines Schiedsverfahrens und damit der eventuell erforderlichen Berücksichtigung einer drittstaatliche Eingriffsnorm aus dem Bereich des Kartellrechts nicht entgegen. 1. Art. 81, 82 EUV Der Europäische Gerichtshof hat sich im Jahr 1999 in dem Rechtstreit Eco Swiss/Benetton 45 mit der Anwendung der Art. 81, 82 des EU-Vertrages

41 Eilmansberger Die Bedeutung der Art. 81 und 82 EG für Schiedsverfahren, SchiedsVZ 2006, 5, 11. 42 Lachmann a.a.O., Rn. 669. 43 Eilmansberger a.a.O. 44 Radicati di Brozolo Antitrust: A Paradigm of the Relations between Mandatory Rules and Arbitration – A Fresh Look at the „Second Look“, Int. A.L.R. 2004, 23; für das EURecht Eilmansberger a.a.O., 5, 8; Kurkela Competition Laws in International Arbitration: the may, the must, the should and the should not, JFT 6/2003, 609, 610. 45 Rs. C-126/97, Eco Swiss/Benetton, Slg. 1999, I-3055.

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(EUV) durch Schiedsgerichte beschäftigt. An dieser Entscheidung orientiert sich daher auch die einschlägige Literatur. a) EuGH-Entscheidung Eco Swiss/Benetton Der EuGH stellte in der Entscheidung Eco Swiss/Benetton zunächst fest, dass die Art. 81 und 82 EUV grundlegende Bestimmungen darstellen, die für die Erfüllung der Gemeinschaftsaufgaben und das Funktionieren des Binnenmarkts unerlässlich sind.46 Das vorlegende Gericht hatte ausdrücklich die Frage aufgeworfen, ob ein Schiedsgericht zur Anwendung der Art. 81, 82 EUV verpflichtet sei. Der EuGH ließ diese Frage jedoch ausdrücklich unbeantwortet und beschränkte sich auf den Hinweis, dass nationale Gerichte einer Aufhebungsklage wegen eines Verstoßes des Schiedsspruches gegen Art. 81 EUV stattgeben müssten, sofern die Verletzung von zum Schutz der öffentlichen Ordnung bestimmten Rechtsvorschriften im nationalen Verfahrensrecht zur Aufhebung eines Schiedsspruches führt.47 b) Meinungsstand in der Literatur (1) Die Literatur folgert aus Eco Swiss/Benetton zunächst, dass die Bestimmungen der Art. 81 und 82 EUV Bestandteil des internationalen ordre public sind und daher auch dann Geltung beanspruchen, wenn die Parteien die Geltung einer anderen Rechtsordnung vereinbart haben.48 In der Entscheidung Nordsee 49 habe der EuGH bereits festgestellt, dass der Anwendungsbereich des Art. 81 EUV nicht durch Parteivereinbarung beschnitten oder ausgeschlossen werden könne.50 (2) Trotz fehlender ausdrücklicher Feststellung des Gerichts schließt die überwiegende Ansicht der Literatur aus der Entscheidung Eco Swiss/Benetton ferner, dass nach Ansicht des EuGH grundsätzlich eine Verpflichtung des Schiedsgerichts zur amtswegigen Anwendung der Art. 81, 82 EUV besteht. Dies soll selbst dann gelten, wenn sich der Sitz des Schiedsgerichts nicht in einem EU-Mitgliedsstaat befindet oder EU-Recht nicht zur lex causae zu zählen ist.51 Dazu seien die Schiedsgerichte zumindest faktisch gezwungen,

46

Rs. C-126/97, Eco Swiss/Benetton, Slg. 1999, I-3055, Rn. 36. Rs. C-126/97, Eco Swiss/Benetton, Slg. 1999, I-3055, Rn. 41. 48 Eilmansberger a.a.O., 5, 9; Raeschke-Kessler/Berger a.a.O., Rn. 998. 49 Rs. 102/81, Nordsee, Slg 1982, 1095, Rn. 14 f. 50 Eilmansberger a.a.O., 5, 9; Raeschke-Kessler/Berger, a.a.O., Rn. 745. 51 Eilmansberger a.a.O., 5, 9; Sachs, Schiedsgerichtsverfahren über Unternehmenskaufverträge – unter besonderer Berücksichtigung kartellrechtlicher Aspekte, SchiedsVZ 2004, 123, 128; Idot European Competition Law Annual 2001 (2003), 329f.; Kurkela, a.a.O., 609, 612; van Houtte Arbitration and Art. 81 and 82 EC Treaty – A State of Affairs, ASA Bulletin 2005, 431, 438f. 47

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da der EuGH festgestellt habe, dass Art. 81 EUV dem schiedsrechtlichen Begriff der öffentlichen Ordnung zuzurechnen sei und ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung in allen relevanten Rechtsordnungen sowohl Anfechtungsgrund als auch Hindernis für die Vollstreckbarerklärung sei.52 In diesem Zusammenhang wird ebenfalls auf die Pflicht des Schiedsgerichts hingewiesen, einen vollstreckbaren Schiedsspruch zu erlassen.53 (3) Angesichts des zu Recht kritisierten 54 Fehlens einer eindeutigen Feststellung des EuGH bleibt jedoch umstritten, wie restriktiv der Kontrollmaßstab in der Praxis zu handhaben ist. Nach einer Ansicht soll sich die Pflicht zur Anwendung nach der Schwere des Kartellverstoßes richten.55 Bei offensichtlichen „hard-core“-Verstößen oder bei Taten, die von den nationalen Kartellbehörden nur unter hohem Aufwand zu verfolgen sind, sei jedenfalls ein Schweregrad erreicht, der eine Anwendungspflicht begründen würde.56 (4) Dem hält eine weitere Ansicht entgegen, dass aufgrund der Qualifizierung der Art. 81, 82 EUV als zwingende Eingriffsnormen nicht zwischen dem Begriffskern, d.h. besonders gravierenden Verstößen, und einem Begriffshof, d.h. anderen Wettbewerbsbeschränkungen, unterschieden werden könne. Eine Anwendungspflicht bestünde stattdessen nur dann, wenn bei einer Missachtung der Art. 81, 82 EUV der Schiedsspruch selbst gegen diese Vorschriften verstößt, z.B. indem eine gegen Art. 81 EUV verstoßende vertragliche Verpflichtung als gültig festgestellt wird.57 (5) Andere Autoren befürworten generell die Qualifizierung des Kartellrechts – und damit der Art. 81, 82 EUV – als Teil des ordre public international, ohne näher auf die oben angesprochenen Wege zur Beschränkung des Schiedsgerichts bei der Anwendung der entsprechenden Kartellnorm einzugehen.58 (6) Van Houtte sieht demgegenüber auch nach Eco Swiss/Benetton keine Verpflichtung von Schiedsgerichten zur ex officio Anwendung von EU-Kartellrecht.59 Er zieht eine Parallele zu den staatlichen Gerichten in der EU, die nach seiner Auffassung ebenfalls nicht zur Anwendung der EU-Kartellnormen verpflichtet seien, wenn der Vortrag der Parteien keine entsprechenden Hinweise enthalte.60 Er wirft zudem ein praktisches Problem auf, indem 52

Eilmansberger a.a.O., 5, 10. Brozolo a.a.O., 23, 30. 54 Sachs a.a.O. 55 Kurkela, a.a.O. 609, 613. 56 Kurkela, a.a.O., 609, 613. 57 Eilmansberger a.a.O., 5, 11. 58 Blessing EG/U.S. Kartellrecht in internationalen Schiedsverfahren, Swiss Commercial Law Series, Volume 13 (2002), 46; Craig/Park/Paulsson a.a.O., 343. 59 van Houtte a.a.O., 431, 440. 60 van Houtte a.a.O., 431, 440. 53

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er fragt, wie das Schiedsgericht an für die Beurteilung von kartellrechtlichen Sachverhalten erforderlichen Informationen gelangen soll, wenn diese von den Parteien nicht beigebracht werden. Dementsprechend befürwortet van Houtte auch nur eine Berechtigung (nicht dagegen eine Verpflichtung) des Schiedsgerichts zur Anwendung der Art. 81, 82 EUV von Amts wegen.61 c) Stellungnahme (1) Ausgangspunkt ist die zutreffende Einschätzung des EuGH, dass es sich bei den Art. 81 und 82 EUV um zwingende Eingriffsnormen handelt, die dem ordre public international zuzurechnen sind. Diese Normen haben nach ihrem erkennbaren Regelungszweck eine überragende Bedeutung für das gesellschaftliche Zusammenleben. Sie sind grundlegender Bestandteil der Wirtschaftsverfassung, so dass es verfehlt wäre, ihre Anwendbarkeit zur Disposition der Parteien zu stellen. Dementsprechend besteht nach Eco Swiss/Benetton grundsätzlich eine Verpflichtung des Schiedsgerichts zur ex officio Anwendung der Art. 81, 82 EUV und zwar auch dann, wenn das Schiedsgericht seinen Sitz nicht in einem EU-Mitgliedsstaat hat oder EU-Recht Bestandteil der lex causae ist. Dies folgt zwingend aus der Zurechnung der Normen zum ordre public international. (2) Die von van Houtte vorgebrachten Argumente stehen nicht in Widerspruch zu der hier vertretenen Meinung, nach der eine Verpflichtung des Schiedsgerichts zur Anwendung drittstaatlicher Eingriffsnormen dann nicht bestehen soll, wenn der Parteivortrag keine entsprechenden Anhaltspunkte enthält. (3) Auch im Bereich des Kartellrechts kann (ebenso wie bei drittstaatlichen Eingriffsnormen allgemein) die Unterscheidung nach der Schwere des Verstoßes ein angemessenes und praktikables Abgrenzungskriterium darstellen. Denkbar wäre z.B. zwischen sog. per se-Verstößen und weniger gravierenden Verstößen zu unterscheiden.62 (4) Auch im Rahmen der möglichen Anwendung von zwingenden Vorschriften des Kartell- und Wettbewerbsrechts sollte es dem Schiedsgericht untersagt sein, ohne aus dem Parteivortrag folgende Anhaltspunkte selbständig Ermittlungen zu möglichen Verstößen gegen drittstaatliche Eingriffsnormen anzustellen. Schiedsgerichte haben Rechtsprechungsfunktion, die Befugnis zu inquisitorischen Ermittlungen ist ihnen nicht zugewiesen.

61 62

van Houtte a.a.O., 431, 441. Siehe hierzu Kurkela a.a.O., 613.

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(5) Weitere Beschränkungen der Verpflichtung des Schiedsgericht zur amtswegigen Anwendung der Art. 81, 82 EUV erscheinen nicht sachgerecht. In diesem Zusammenhang sollte beachtet werden, dass die EU-Kommission ihre anfängliche Skepsis gegenüber Schiedsverfahren aufgegeben zu haben scheint.63 Dies kommt unter anderem darin zum Ausdruck, dass in zahlreichen Freigabeentscheidungen unter der EG-Fusionskontrollverordnung 64 sog. regulatorische Schiedsverfahren als Mittel der Fusionskontrolle zugelassen und eingesetzt werden.65 Das gewonnene Vertrauen würde aufs Spiel gesetzt werden, wenn man zuließe, dass die den Parteien gewährte Flexibilität zur Ausgestaltung des Verfahrens für eine unangemessene Anwendung oder Umgehung des EU-Kartellrechts genutzt werden kann. Folglich erscheint eine weitere Beschränkung der Schiedsgerichte in der ex officio Anwendung der Art. 81, 82 EUV nicht sachgerecht. 2. US-Kartellrecht In den Vereinigten Staaten von Amerika hat die Entscheidung des U.S. Supreme Court in dem Fall Mitsubishi vs. Soler Motors 66 eine ähnlich wegweisende Bedeutung wie Eco Swiss/Benetton in Europa. Auch hier schließt die Literatur aus dem Wortlaut der Entscheidung, dass die Vorschriften des US-Kartellrechts zum ordre public international zu zählen sind und dass eine Pflicht des Schiedsgerichts zu deren Anwendung – gegebenenfalls auch ex officio – besteht.67 3. Andere Nationale Kartellgesetze Könnte ein anderes nationales Kartellrecht im Einzelfall in Betracht kommen, dürfte jedenfalls dann eine Vermutung der Pflicht zu seiner Anwendung bestehen, wenn die relevante Rechtsvorschrift dem Inhalt und Zweck nach mit Normen des EU- oder US-Kartellrechts, welche bereits dem ordre public international zugerechnet werden, vergleichbar ist.

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Eilmansberger a.a.O., 5, 6. Verordnung (EG) 139/2004 v. 20.01.2004, Abl. L 24 vom 29.01.2004. 65 Siehe hierzu Elsing/Gebhardt Regulatory Arbitrations Supporting Effective Merger Control, IDR 2005, 3 ff. 66 U.S. Supreme Court, Mitsubishi Motors Corporation v. Soler Chrysler-Plymouth, 473 U.S. 614 (1985). 67 Radicati di Brozolo a.a.O., 23; Kurkela a.a.O., 609; Craig/Park/Paulsson a.a.O., § 17.04, 342. 64

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IV. Ergebnis 1. Drittstaatliche Eingriffsnormen, die zum ordre public international gehören, sind Bestandteil des anzuwendenden materiellen Rechts. 2. Da ein Schiedsgericht verpflichtet ist, das anzuwendende materielle Recht seiner Entscheidung zugrunde zu legen, hat es die Verpflichtung drittstaatliche Eingriffsnormen, die dem ordre public international zugeordnet werden, auch ex officio heranzuziehen. 3. Die Verpflichtung des Schiedsgerichts zur amtswegigen Anwendung drittstaatlicher Eingriffsnormen besteht nur dann, wenn sich aus dem Vortrag der Parteien Hinweise und Verdachtsmomente für die Relevanz einer Eingriffsnorm ergeben. 4. Wenn sich aus dem Vortrag der Parteien keine Hinweise und Verdachtsmomente für die Relevanz einer Eingriffsnorm ergeben, ist es dem Schiedsgericht untersagt, selbständig inquisitorische Ermittlungen anzustellen. 5. Die Art. 81, 82 EUV sind ebenso wie die entsprechenden Vorschriften des US-Kartellrechts dem ordre public international zuzurechnen. Diese Normen sind daher bei entsprechenden rechtlichen und tatsächlichen Anhaltspunkten durch das Schiedsgericht – gegebenenfalls auch ex officio – anzuwenden. 6. Bei anderen Kartellrechtsordnungen außerhalb der EU und der USA ist im Einzelfall durch das Schiedsgericht zu entscheiden, ob die in Betracht kommende Norm dem ordre public international zuzurechnen und daher anzuwenden ist.

„Malteser“ – eine Marke und ein Name oder: Malteser Aquavit, aber kein Malteser Bier? Werner Kessler Inhaltsübersicht Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Malteserorden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das „Malteser Bier“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der „Malteser Aquavit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Hamburger Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Die Kritik dieser Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Namensrechte und Bekanntheit des Malteserordens . . . . . . . b) Die so genannte Decker-Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs c) Die Verbietungsrechte aus dem Namen „Malteser“ . . . . . . . . d) Die Rechtsnatur der Verwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Keine echte Koexistenzlage durch Verwirkung . . . . . . . . . . f) Keine Parallele zu den „echten“ Gleichnamigkeitsfällen . . . . . g) Firmenrechte der Malteser Brauerei GmbH . . . . . . . . . . . . VII. Anspruch auf Löschung der Klagezeichen? . . . . . . . . . . . . . . a) Außerkennzeichenrechtliche Löschungsklage . . . . . . . . . . . b) Die Namensaneignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Sittenwidrigkeit der Namensaneignung . . . . . . . . . . . . VIII. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung Zu den zahlreichen Interessengebieten des Jubilars gehört das Wettbewerbsrecht, auch das Markenrecht, dem Jubilar besser noch vertraut unter der Altbezeichnung „Warenzeichenrecht“, gewissermaßen aus der Zeit des „Vor-Merchandising“, als die von Unternehmen hergestellten Erzeugnisse Waren und nicht Produkte hießen und ihre Kennzeichnungen noch den heimeligen Namen „Warenzeichen“ trugen. Mit dem Markengesetz von 1995 hat der nüchterne Oberbegriff des Kennzeichens Einzug gehalten, dem Marken, geschäftliche Bezeichnungen und geografische Herkunftsangaben unterfallen. Marken sind ein wesentliches Element einer hochspezialisierten marktwirtschaftlichen Wettbewerbsordnung und Ausdruck einer Internatio-

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Werner Keßler

nalisierung des Rechts auf globalen Märkten,1 vielfach sind sie zum Synonym für Lifestyle avanciert. Keine Vermarktung von Produkten mehr ohne „Vermarkung“, aber neue Markenbildungen können selbst dann schwierig sein, wenn sie auf alte Namen zurückgehen, die schon bestanden, lange bevor das Gesetz zum Schutze der Warenbezeichnungen von 1894 und ihm nachfolgend das Warenzeichengesetz von 1936 eingeführt wurden.2 So verhält es sich mit der Marke „Malteser Weissbier“, dessen Namen sich ableitet von dem weltbekannten Malteser-Ritterorden und von einem „Malteser Bier“, das Anfang des 19. Jahrhunderts – etwa zur Zeit des Wiener Kongresses (1815) und lange vor Gründung des Deutschen Reiches (1871) – in einem etwas ferneren Herrgottswinkel des bayerischen Königsreichs, nämlich in Amberg/Oberpfalz, gebraut wurde. Am Schicksal dieses Bieres, das zwischen die Mühlsteine der Geschichte und der Gerichte geraten ist, hat der Jubilar gerne Anteil genommen. Ob die Marke „Malteser Weissbier“ diese Prozedur überlebt hat, stand bei der Drucklegung dieser Festschrift noch nicht fest. Den zugrunde liegenden Sachverhalt darf man einzigartig nennen. Das Szenario ist, allein schon seiner historischen Bezüge wegen, einer genaueren Betrachtung allemal wert.

I. Der Malteserorden Der Name „Malteser Bier“ geht zurück auf den Malteserorden, mit vollem Namen: Souveräner Ritter- und Hospitalorden vom Hl. Johannes zu Jerusalem, genannt von Rhodos, genannt von Malta. Der Orden hat eine mehr als 900-jährige Geschichte. Er ist der älteste Ritterorden der Welt und als einziger Orden aus der Zeit der Kreuzzüge erhalten geblieben.3 Dem ritterlichen Kampf für die Sache Christi verpflichtet, wurde der Orden im Jahre 1099 in Jerusalem gegründet, um die große Not der christlichen Pilger und Kreuzfahrer im Heiligen Land zu lindern. Dem nach dem Namen des St.-Johannes-Hospitals in Jerusalem zunächst als Johanniterorden bezeichneten Orden gab Papst Paschalis bereits im Jahre 1113 eine religiöse Regel und Ordensverfassung. Aus der frommen Gemeinschaft zur Pflege von Kranken und Pilgern erwuchs der eigentliche Ritterorden, der sich in ritterlichem Geist und ständischer Exklusivität alsbald auch zur wehrhaften Verteidigung der christlichen Ideale aufgerufen sah.4 Schon aus dieser frühen Zeit stammt das achtspitzige Kreuz der Johanniter, 1

Fezer, Markenrecht, 3. Aufl., 2001, Rn. 3. Vgl. Fezer, a.a.O., (Fn. 1), Einl. Rn. 5. 3 Vgl. Bernd Holtmann, Der Malteser-(Johanniter-)Orden einst und jetzt, in: Der Malteserorden im Bistum Osnabrück, Osnabrück, Verlag Kirchbote 1980, S. 11. 4 Vgl. Bernd Holtmann, a.a.O., (Fn. 3), S. 12. 2

„Malteser“ – eine Marke und ein Name

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das die acht Seeligkeiten darstellt und bis zum heutigen Tage in dem weltbekannten weißen Malteserkreuz auf rotem Grund fortbesteht.5 Die Ritter bezeichneten sich zunächst als Johanniter. Der Name Malteserorden wurde erst im ausgehenden 16. Jahrhundert gebräuchlich, nachdem sich der Orden unter dem Druck der islamischen Übermacht auf die Insel Rhodos und später – im Jahre 1530 und mit Hilfe Kaiser Karls V. – auf die Insel Malta zurückgezogen hatte. Unverändert verschrieb sich der Orden dem Schutz des Abendlandes im Kampf gegen die Türken und der Pflege der Armen und Kranken. Von Napoleon (wegen der Nähe des Ordens zu Rußland und der angeblichen Verletzung der Neutralität Maltas) im Jahre 1789 von Malta vertrieben, fand der Orden schließlich im Jahre 1834 mit päpstlicher Genehmigung seine Heimstadt in Rom, wo Großmeister und Souveräner Rat noch heute im Palazzo Malta residieren.6 Im 19. Jahrhundert entstanden in Europa nationale Gliederungen des Ordens, vornehmlich in Form von so genannten Großprioraten und Assoziationen. In Deutschland bildeten sich zwei Gliederungen des Ordens, die 1859 gegründete Genossenschaft der Rheinisch-Westfälischen Malteser Devotionsritter und der 1866 gegründete Verein Schlesischer Malteserritter, die sich im Jahre 1993 zur Deutschen Assoziation des Souveränen MalteserRitterordens zusammenschlossen.7 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts widmeten sich die Malteser in den Kriegen 8 der Jahre 1864, 1866 und 1870/1871 den karitativen Aufgaben bei der Versorgung Hilfsbedürftiger, Kranker und Verletzter; im Ersten Weltkrieg versorgten sie Verwundete in eigenen Hospitälern, Lazaretten und Sanitätszügen; nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nahmen sie sich der Obdachlosen, der Flüchtlinge und Vertriebenen an.9 Im Jahre 1952 wurde der Malteser Hilfsdienst e.V. gegründet, der mit 35.000 ehrenamtlichen und 3.000 hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern heute zu einer der größten karitativen Organisationen in Deutschland geworden ist.10 Auf der ganzen Welt ist der Malteserorden in christlicher

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Vgl. Bernd Holtmann, a.a.O., (Fn. 3), S. 14. Zu allem vgl. Bernd Holtmann, a.a.O., (Fn. 3), S. 14 f., 15. 7 Vgl. Bernd Holtmann, a.a.O., (Fn. 3), S. 21 f.; Maximilian Freiherr von Twickel, Die nationalen Assoziationen des Malteserordens in Deutschland, in: A. Wienand (Hrsg.), Der Johanniterorden, der Malteserorden, 3. Aufl., 1988, Köln, S. 453f. 8 Deutsch-Dänischer Krieg 1864; Österreich-Preussischer Krieg 1866 und DeutschFranzösischer Krieg 1870/1871. 9 Ernst Staehle, Geschichte der Johanniter und Malteser, Band 4, die Johanniter und Malteser der deutschen und bayerischen Zunge, Band 4, 2002, S. 216ff.; ebenso: Handbuch des Vereins der Schlesischen Malteser Ritter von 1891, von Verein der Schlesischen Malteser-Ritter, Alexander Salscha von Ehrenfeld, Verlag: Verein d. Schles. Malteser-Ritter, 1956, S. 35ff., S. 40ff. 10 Vgl. offizielle Homepage des Malteserordens, www.malteserorden.de. 6

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Tradition, getreu seinem Leitsatz „Tuitio fidei et obsequium pauperum“ seelsorgerisch tätig und mit humanitären Aufgaben befasst. Der römische Orden gilt als Völkerrechtssubjekt, mit dem zahlreiche Staaten dieser Welt diplomatische Beziehungen unterhalten.11 Er genießt weltweite Bekanntheit und hohes Ansehen.

II. Das „Malteser Bier“ In der oberpfälzischen Hauptstadt Amberg bestand im 17. Jahrhundert ein Kollegium der Jesuiten, dem seit 1693 ein Brauhaus angegliedert war. Nach Aufhebung des Jesuitenordens ging diese Brauerei im Jahre 1782 auf die bayerische Provinz des Malteserordens über und wurde fortan als „Malteser Brauerei“ bezeichnet. Unter den Maltesern nahm die Brauerei einen großen Aufschwung.12 Im Jahre 1811 wurde der Malteserorden aufgehoben und die Malteser Brauerei gelangte in den Besitz des bayerischen königlichen Studienseminars Amberg (später Stiftung Studienseminar Amberg, Stiftung des Öffentlichen Rechts), wo die Malteser Brauerei als unselbständiger Geschäftsbetrieb weiter existierte. Von 1821 bis 1990 wurde über einen Zeitraum von mehr als 180 Jahren in der Malteser Brauerei Bier unter der Bezeichnung „Malteser“ hergestellt.13 Quellen belegen, dass die Malteser Brauerei im Jahre 1928 als eine der größten Brauereien der Gegend galt.14 Während des gesamten 19. und 20. Jahrhunderts wurde die Brauerei durchweg unter dem Namen „Malteserbrauerei“ oder „Malteser Brauerei“ geführt.15 Im Jahre 1990 wurde der Betrieb der Malteser Brauerei in die neu gegründete Malteser Brauerei GmbH eingebracht, ihre Anteile wurden an die Bischöfliche Knabenseminarstiftung der Diözese R. übertragen.16 Bis 1994 wurden Malteser Biere noch von der Malteser Brauerei GmbH selbst hergestellt, danach im Auftrage der Malteser Brauerei von der nahe gelegenen Brauerei B., deren Eignerin ebenfalls die Bischöfliche Knabenseminarstiftung ist. Ende 2000 kam es zu einem förmlichen Liquidationsbeschluss der Mal-

11 Vgl. Berthold Waldstein-Wartenberg, Rechtsgeschichte des Malteserordens, Wien 1969, S. 262f., 264. 12 Vgl. zu allem: Georg Bößner, Von der Jesuitenbrauerei zum Staatsbetrieb, in: Die Oberpfalz 2002, S. 45 f. 13 Vgl. Georg Bößner, a.a.O., (Fn. 12), S. 46 f. 14 „Malteser-Brauerei Amberg“, in: Bayerische Ostmark, 1928, Archivakten der Malteser Brauerei in Amberg, Oberpfalz. 15 Vgl. Bößner, a.a.O., (Fn. 12), S. 46 f., 47. Weitere Quellen: Archivakten der Malteser Brauerei in Amberg, Oberpfalz. 16 Quellen: Archivakten der Malteser Brauerei in Amberg, Oberpfalz.

„Malteser“ – eine Marke und ein Name

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teser Brauerei, der jedoch nicht vollzogen wurde.17 Auch die an Ort und Stelle bestehende Malteser Brauerei Gaststätte bestand ununterbrochen als Betriebsteil der Malteser Brauerei GmbH fort.18 Seit dem Jahre 2003 produziert und vertreibt die Brauerei B. für die Malteser Brauerei GmbH in Amberg wieder Malteser Bier. Im Jahre 1996 wurde für die Brauerei B. die Marke „Malteser“ für Biere im Markenregister eingetragen.19 Anno 2003 schloss die bayerische Brauerei B. mit der schwäbischen Brauerei S. einen Lizenzvertrag zur Herstellung von „Malteser Weissbier“ nach der alten Rezeptur der Malteser Brauerei.20 Auch die Malteser Brauerei GmbH gestattete den beklagten Brauereien B. und S. die Benutzung des Namens „Malteser“ aus ihren Kennzeichenrechten, insbesondere ihrem jahrhundertealten Firmenrecht.21 Seit dieser Zeit wird Malteser Weissbier über den oberpfälzischen Raum hinaus in Süddeutschland und weiten Teilen Deutschlands vertrieben. Dies geschieht zugleich mit Billigung des der Diözese R. nahe stehenden Malteserordens. In einem ebenfalls aus dem Jahre 2003 datierenden Vertrag gestattete der Malteserorden den Brauereien B. und S. die Benutzung des Namens „Malteser“ für Weissbiere aus allen ihren Namens- und sonstigen Kennzeichenrechten.22 Das „Malteser Weissbier“ wird seit dieser Zeit von den Brauereien B. und S. auch unter der exklusiven Lizenz des Malteserordens hergestellt und vertrieben.

III. Der „Malteser Aquavit“ Im Jahre 1911 meldete eine dänische Spirituosenherstellerin bei dem Königlichen Patentregister in Kopenhagen eine Bildmarke 23 an, die auf ovalem rotem Grund ein weißes achtspitziges Kreuz zeigt und als „Malteserkors“ (Malteserkreuz) bezeichnet wird. Die Marke schmückt einen „Aquavit“ genannten Kümmelschnaps. Im Jahre 1923 wird für die Firma De Danske Spritfabrikker in der Zeichenrolle des Deutschen Reichspatentamts 17 Quelle: Handelsregisterauszug der Malteser Brauerei GmbH, Liquidationsbeschluss vom 01.12.2000. 18 Die Malteser Brauerei Gaststätte ist verpachtet. Es besteht ein schriftlicher Pachtvertrag. 19 Deutsche Marke Nr. 39611510 „Malteser“ mit Priorität vom 08.09.1996, eingetragen für Biere (Klasse 32). 20 Lizenzvertrag zwischen der Brauerei B. und der Brauerei S. vom 25.03.2002. 21 Zweiter Nachtrag vom 19.09.2003 zum Lizenzvertrag vom 25.03.2002. 22 Vereinbarung zwischen Deutsche Assoziation des Souveränen Malteser-Ritterordens e.V., Berlin, und Malteser Hilfsdienst e.V. einerseits und Brauerei B., Malteser Brauerei GmbH, Amberg, und Brauerei S. andererseits vom 03.06.2003. 23 Marke Nr. 485–1911, eingetragen am 14. Oktober 1911 mit der Beschreibung: „En oval Etikette, hvori ses et Malteserkors paa rød Bund“.

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eine mit der dänischen Bildmarke identische Bildmarke 24 für Spirituosen eingetragen. Der Kümmelschnaps aus dänischer Produktion wird mit dem rotweißen Malteserkreuz-Zeichen als Aquavit auch in Deutschland vertrieben. Knapp 20 Jahre später, im Jahre 1952, wird dieselbe dänische „Spritfabrikker“ Inhaberin der deutschen Wortmarke „Malteser“ 25, wiederum eingetragen für Spirituosen. Spätestens seit dieser Zeit wird der Kümmelschnaps unter dem kombinierten Wort- und Bildzeichen „Malteser Aquavit“ (oder auch: „Malteserkreuz Aquavit“) vermarktet, unter dem markanten Malteser-Symbol hat er heutzutage beachtliche Bekanntheit erlangt.

IV. Der Konflikt Die „Malteser Weissbiere“ der Brauereien B. und S. waren kaum auf den Markt gekommen, da gerieten sie in das Visier der inzwischen einem schwedischen Konzern zugehörigen Aquavit-Herstellerin, die ihre Markenrechte verletzt sah und gegen die Brauereien und deren Malteser-Kennzeichnungen Löschungs- und Unterlassungsklage erhob. In einem Urteil vom 18.11.2004 gab das Landgericht Hamburg 26 der Klage statt und wies die Löschungswiderklage der Brauerei S. zurück. Ist dies das Ende des Malteser Bieres? Dürfen der Malteserorden und die unter seiner Lizenz produzierenden Brauereien kein Bier vertreiben, das den jahrhundertealten Namen des Ordens trägt? Hat der Orden mit seinem eigenen Namen identische Kennzeichenrechte verwirkt? Auf dem Prüfstand stehen marken- und wettbewerbsrechtliche Fragen besonderer Art.

V. Die Hamburger Entscheidung Das Landgericht Hamburg hat markenrechtliche Unterlassungsansprüche der Malteser Aquavit-Herstellerin aus den in den Jahren 1923 und 1952 eingetragenen Marken „Malteserkreuz“ (Bildmarke) und „Malteser“ gemäß §§ 14 Abs. 5 Abs. 2 Nr. 3 MarkenG bejaht und Einwendungen der beklagten Brauerei B. und S. aus den prioritätsälteren Namensrechten des Malteserordens als unbegründet angesehen. Diese Einwendungen seien jedenfalls infolge der jahrzehntelangen Duldung gemäß § 242 BGB verwirkt. 24 Deutsche Marke Nr. 306 212 (Bildmarke) mit Priorität vom 20.06.1923, eingetragen in Klasse 33 (Spirituosen, Spirituosenerzeugnisse). 25 Deutsche Marke Nr. 624 193 (Wortmarke), mit Priorität vom 10.01.1950, eingetragen in Klasse 33 (Spirituosen). 26 LG Hamburg, Urteil vom 18.11.2004, 315 O 292/03.

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Der Umstand, dass das Malteserkreuz möglicherweise, ähnlich dem Roten Kreuz, dem Schutz der Genfer Konvention unterliege und somit der Verwirkungseinwand wegen eines überragenden Allgemeininteresses ausgeschlossen sei, stehe der Verwirkung nicht entgegen, weil es dem Malteserorden als Namensinhaber nicht um die Wahrung des Ansehens des Malteser-Symbols, sondern um die eigene wirtschaftliche Verwertung gehe. Die beklagten Brauereien könnten sich auch auf die Namensrechte des Malteserordens nicht berufen, denn auch der Orden selbst sei aufgrund seiner Namensrechte gegenüber der Klägerin nicht zur Nutzung des Zeichens „Malteser“ zur Kennzeichnung von Bier berechtigt. Zwar verfüge der Malteserorden über ein prioritätsälteres Namensrecht, jedoch sei infolge des jedenfalls aufgrund von Verwirkung nicht mehr durchsetzbaren Unterlassungsanspruchs des Malteserordens gegenüber der Klagemarke eine Koexistenzlage eingetreten, die die Anwendung der zu den „echten“ Gleichnamigkeitsfällen entwickelten Grundsätze rechtfertige. Dies bedeute, dass der Malteserorden bei einer neu erfolgenden kennzeichenmäßigen Verwendung seines Namens die Marken der Klägerin zu beachten habe. Es sei anerkannt, dass das Namensrecht unter Gleichnamigen nicht auch zur Verwendung des Namens als Marke berechtige, ergo finde das Recht des Namensträgers zur markenmäßigen Verwendung seines Namens seine Grenze in bestehenden älteren Markenrechten Dritter, wie sich etwa aus den BGH-Entscheidungen „Fürstenberg“ 27 und „Caren Pfleger“ 28 ergebe. Auch auf das Unternehmenskennzeichen der Malteser Brauerei GmbH, so das Landgericht Hamburg, könnten sich die beklagten Brauereien nicht analog § 986 BGB nach der so genannten Decker-Rechtsprechung 29 berufen, denn auch hier sei die durch die jahrzehntelange Koexistenz der klägerischen Marken und des Unternehmenskennzeichens „Malteser Brauerei GmbH“ geschaffene Situation vergleichbar dem Nebeneinander zweier Gleichnamiger, was zur Folge habe, dass keine von beiden berechtigt sei, durch einen Übergang von der firmenmäßigen zur markenmäßigen Benutzung des fraglichen Zeichens sich weiter als bisher dem anderen anzunähern. Überdies habe durch den Liquidationsbeschluss vom Dezember 2005 eine Benutzungsaufgabe des Unternehmenskennzeichens der Malteser Brauerei GmbH stattgefunden, da aus der Sicht des Verkehrs nicht eine nur vorübergehende Unterbrechung gegeben sei. Schließlich verneint das Landgericht auch den Einwand des Rechtsmissbrauchs aus §§ 3, 4 UWG, 226, 826 BGB. Besondere, zumeist subjektive Umstände, die zum Zeitpunkt des Rechtserwerbs der Klagemarken den 27

BGH GRUR 1991, 475 – Caren Pfleger. BGH GRUR 1986, 402 – Fürstenberg. 29 BGH GRUR 1993, 574 – Decker; vgl. auch BGH GRUR 1985, 567 – Hydair und BGH GRUR 1994, 652 – Virion. 28

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Rechtsmissbrauchsvorwurf begründen könnten, seien nicht ersichtlich, und gegenüber einem etwa auf Namensanmaßung beruhenden Unterlassungsanspruch des Ordens könne sich die Klägerin jedenfalls auf Verwirkung gemäß § 242 BGB berufen. Auch die aus §§ 3, 4 UWG 826, 226, 823 BGB erhobene Löschungsklage der beklagten Brauereien scheitere, da nicht dargetan sei, dass die klagende Aquavit-Herstellerin (oder deren Rechtsvorgängerinnen) ihre Marken rechtsmissbräuchlich oder sittenwidrig erlangt habe.

VI. Die Kritik dieser Entscheidung Die Entscheidung gibt ersichtlich schon deshalb zu Zweifeln Anlass, weil ältere Namens- und Firmenrechte den jüngeren Klagemarken entgegenstehen, die prioritätsälteren Namensrechte des Ordens und der Malteser Brauerei GmbH gleichwohl aber bei ihrer kennzeichenrechtlichen Entfaltung den jüngeren Marken weichen sollen. Dies wird vom Landgericht im Kern mit der Verwirkung und dem ihr zugrunde liegenden Vertrauensschutz begründet. Wird hier aber nicht das Institut der Verwirkung in das Gegenteil verkehrt? Kann der Orden wegen der Vertrauensschutz genießenden jüngeren Aquavit-Marken wirklich gehindert sein, Biere unter seinem historischen Namen zu vertreiben? Verdrängt also nicht der der Klägerin zugebilligte Verwirkungseinwand fälschlicherweise die Vorrangigkeit des älteren Namensrechts des Ordens? Die Betrachtungsebene scheint verschoben. Nicht etwa die beklagten Brauereien machen, auf Ansprüche des Ordens rekurrierend, Unterlassungsansprüche gegen die Klägerin geltend, sondern die Klägerin reklamiert Unterlassung, und die Brauereien befinden sich, gestützt auf ältere Namensrechte des Ordens und der Malteser Brauerei, in einer Verteidigungslage. Diese Verteidigungslage darf – wenn Verwirkungsgesichtspunkte diskutiert werden – nicht vernachlässigt werden. Sie weist in eine andere Richtung. a) Namensrechte und Bekanntheit des Malteserordens Es gibt wenig andere – vielleicht keine – privatrechtlichen Institutionen, deren Namensrechte so alt sind wie die des Malteserordens. Das Landgericht Hamburg selbst hat in einer Entscheidung aus dem Jahre 2002 30 festgestellt, das Wort „Malteser“ sei als Namensbestandteil des Malteser Ritterordens weltbekannt und verkehrsdurchgesetzt.

30 LG Hamburg, Urteil vom 24.07.2002, 315 O 101/02. Es handelte sich um eine namensrechtliche Klage des Deutsche Assoziation des Souveränen Malteser-Ritterordens e.V.

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In einer demoskopischen Umfrage aus dem Jahre 2004 31 haben 85 % der Befragten, die in offener Befragung nach dem Begriff „Malteser“ befragt wurden, den Malteserorden und die mit ihm verbundenen Hilfsorganisationen genannt. Zweifellos hat das weiß-rote Malteser-Ordenskreuz, das weithin als karitatives Symbol bekannt ist, zu dieser hohen Bekanntheit beigetragen. Dank seiner „Malteser“-Krankenhäuser, Altenheime, Hospize, Hilfsdienste und (weltweiten) Katastropheneinsätze ist der Orden im Bewusstsein breitester Bevölkerungskreise verankert. Schwieriger einzuschätzen ist die Bekanntheit des Ordens zu Beginn des 20. Jahrhunderts, etwa anno 1923, als die Bildmarke „Malteserkreuz“ für die dänische Spirituosenherstellerin im Markenregister des Reichspatentamts eingetragen wurde, oder anno 1952, als die Wortmarke „Malteser“ für Spirituosen bei dem Deutschen Patentamt registriert wurde. Meinungsumfragen hierzu sind nicht bekannt, vermutlich auch nicht existent. Rückschlüsse auf die Bekanntheit des Ordens können nur gezogen werden aus der Art und dem Umfang seiner karitativen und humanitären Tätigkeiten in Zeiten, in denen zahlreiche kriegerische Auseinandersetzungen in Europa großes Leid verursachten und es galt, die Verwundeten und die sonst Notleidenden und Hilfsbedürftigen zu versorgen. Das Malteser-Ordenszeichen muss schon damals eine große Ausstrahlung gehabt haben. Darüber hinaus belegen vielfältige Beispiele die Verwurzelung des Ordens im geistigen, geistlichen und staatspolitischen Leben, von denen hier nur einige wenige angedeutet werden können: Das achtspitzige weiße Ordenskreuz auf rotem Grund wurde von führenden politischen Persönlichkeiten und Staatsoberhäuptern als Ehrenzeichen benutzt, so etwa von Bismarck, Kaiser Wilhelm II., Ferdinand I., Zar von Bulgarien und Königin Wilhelmine der Niederlande.32 Dem Orden wurde staatsähnliche Souveränität zugesprochen, der Großmeister des Ordens wurde von Staatsoberhäuptern führender Mächte als ihresgleichen anerkannt.33 Die Anerkennung der Souveränität des Malteserordens durch führende Völkerrechtler und Staatsoberhäupter setzte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Kaiserreich und in der Weimarer Zeit fort.34 Seit langem gilt der Mal31 GfK Marktforschung, Verkehrsbefragung über Assoziationen zum Begriff „Malteser“ und Zusammenhänge zwischen „Malteser Hilfsdienst“ und „Malteser Aquavit“, April 2004, Nr. 654 042. Befragt wurden sowohl allgemeine Verkehrskreise (Gesamtbevölkerung ab 16 Jahren) als auch engere Verkehrskreise (zumindest gelegentliche Käufer oder Verwender von Aquavit oder klaren Schnäpsen). 32 Vgl. Ernst Staehle, (Fn. 9), S. 142; de Pierredon, Histoire Politique, 2. Auflage, Bd. 3, S. 300f. 33 Vgl. Breycha-Vauthier, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, 1955/1956, S. 502. 34 Vgl. Himmels, Der souveräne Malteser-Ritterorden als Völkerrechtssubjekt, in: FS für Walter Remmers, Köln u.a., S. 226 f.; Prantner, Malteserorden und Völkergemeinschaft, 1974, S. 67.

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teserorden als Völkerrechtssubjekt sui generis.35 Namensschutz nach § 12 BGB steht dem Malteserorden mit seinem Sitz in Rom auch ohne Inlandssitz und inländische Geschäftstätigkeit zu, zur Wahrnehmung dieser Rechte in Deutschland ist die Deutsche Assoziation des Malteser-Ritterordens ermächtigt, die im Übrigen über eigene originäre Namensrechte verfügt. § 12 BGB hat durch die Rechtsprechung eine Ausdehnung erfahren, die diese Vorschrift zur sedes materiae des gesamten Bezeichnungsrechts gemacht hat.36 b) Die so genannte Decker-Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Das Recht, die von ihnen vertriebenen Biere als „Malteser Biere“ zu bezeichnen, leiten die beklagten Brauereien aus den älteren Namensrechten des Malteserordens und der historischen Malteser Brauerei GmbH in Amberg ab. Dass in Fällen dieser Art Einwendungen aus älteren Kennzeichenrechten erhoben werden können, ist in der Rechtsprechung anerkannt. Der Bundesgerichtshof hat über solche Konstellationen mehrfach entschieden. In der Hydair-Entscheidung 37 hat der Bundesgerichtshof festgestellt, dass aus einer Firmenbezeichnung rechtswirksam ein warenzeichenmäßiger Gebrauch dieser (Firmen-)Bezeichnung gestattet werden kann. Eine solche Benutzungserlaubnis habe zwar an sich nur die Wirkung, dass der gestattende Firmeninhaber (Zeicheninhaber) zur Duldung der Zeichenbenutzung durch den Erlaubnisnehmer berechtigt sei; darüber hinaus könne sich der Erlaubnisnehmer aber aus dieser Gestattung (in Anwendung des allgemeinen Rechtsgedankens aus § 986 Abs. 1 BGB) gegenüber Dritten auf die dem älteren Zeicheninhaber zustehende Priorität berufen. In der „Decker“-Entscheidung 38, der ebenfalls ein firmenrechtlicher Sachverhalt zugrunde lag, hat der Bundesgerichtshof diese Rechtsprechung fortentwickelt und in der „Virion“-Entscheidung 39 weiter bestätigt. In allen diesen Fällen lässt die Rechtsprechung analog § 986 BGB die Einrede aus einem prioritätsälteren Kennzeichenrecht eines Dritten dann zu, wenn der Beklagte aufgrund schuldrechtlicher, insbesondere vertraglicher Gestattung zur Benutzung des älteren Rechts des Dritten berechtigt ist und das Recht des Dritten gegenüber dem des Klägers durchsetzbar ist, d.h. der Dritte seinerseits von der Klägerin Unterlassung verlangen (oder zumindest Koexistenz bean-

35 Vgl. Hafkemeyer Georg Bernhard, Der Malteser-Ritter-Orden, in: Abhandlungen der Forschungsstelle für Völkerrecht und Ausländisches Öffentliches Recht der Universität Hamburg, Bd. 7, 1956; Waldstein-Wartenberg, a.a.O. (Fn. 11), 1969, S. 262 f. 36 Vgl. Ingerl/Rohnke, Markenrecht, 2. Auflage, 2003, Nach § 15 Rn. 10; Fezer, a.a.O. (Fn. 1), § 15 Rn. 49. 37 BGH GRUR 1985, 567 – Hydair. 38 BGH GRUR 1993, 574 – Decker. 39 BGH GRUR 1994, 652 – Virion.

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spruchen) kann,40 wobei der Bundesgerichtshof hinsichtlich der Durchsetzbarkeit betont, dies gelte „grundsätzlich und vorbehaltlich von Besonderheiten, die sich aus der Verwirkung oder anderen Erwägungen ergeben können“.41 In der Virion-Entscheidung hat der Bundesgerichtshof ferner in Erwägung gezogen, dass sich aus Treu und Glauben ein Recht des klagenden Zeicheninhabers ergeben könnte, ein Auftreten des beklagten Gestattungsempfängers zu dulden.42 c) Die Verbietungsrechte aus dem Namen „Malteser“ Es fragt sich demzufolge, ob sich die beklagten Brauereien im Sinne der Decker-Rechtsprechung auf Verbietungsrechte aus den Namensrechten des Malteserordens berufen können. Die Frage beantwortet sich zunächst aus dem Umfang der Namensrechte. Sie sind verletzt, wenn ein Fall der Namensanmaßung vorliegt. Eine solche ist gegeben, wenn ein anderer unbefugt den gleichen Namen gebraucht und dadurch ein schutzwürdiges Interesse des Namensträgers verletzt.43 Der Namensschutz nach § 12 BGB ist weiter als der Kennzeichenschutz, er geht insoweit über den Kennzeichenschutz hinaus, als die Verletzung eines schutzwürdigen Interesses genügt und die Gefahr einer Unternehmensverwechslung nicht vorausgesetzt wird.44 Freilich ist von einem unbefugten Namensgebrauch nur dann auszugehen, wenn die Namensanmaßung dazu geeignet ist, eine namensmäßige Identitäts- oder Zuordnungsverwirrung hervorzurufen. Ein Schutz gegen den Gebrauch des Namens ist also gegeben, wenn Zuordnungsverwirrung und Interessenverletzung festzustellen sind. Für eine Zuordnungsverwirrung genügt es, wenn im Verkehr auch nur der Eindruck entsteht, der Namensträger habe dem Besitzer ein Recht zur Namensverwendung erteilt 45 oder der Namensträger stehe zu Einrichtungen, Gütern oder Ereignissen in Verbindung, mit denen er nichts zu tun hat.46 Im Verhältnis zwischen dem Malteserorden und den Rechtsvorgängerinnen der Aquavit-Herstellerin ist eine solche Zuordnungsverwirrung schwerlich auszuschließen. Dass zwischen dem Orden und dem Produkt Malteser Aquavit ein Zusammenhang hergestellt wird, ist schon wegen der Bekanntheit des Malteserordens nach der Lebenserfahrung in höchstem Maße wahrscheinlich. Eine Meinungsumfrage, wonach eine beachtliche Anzahl der Befragten den Namen „Malteser“ nicht nur mit dem Orden und seinen Hilfs40 41 42 43 44 45 46

Vgl. Ingerl/Rohnke, a.a.O., (Fn. 36). BGH GRUR 1993, 574, – Decker. BGH GRUR 1994, 652, – Virion. § 12 S. 1, 2. Alt. BGB. Vgl. Fezer, a.a.O., (Fn. 1), § 15 Rn. 14. BGH GRUR 1994, 844–846 – Rotes Kreuz. BGH GRUR 1991, 157, 158 – Johanniter Bier.

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organisationen, sondern auch mit dem Produkt „Malteser Aquavit“ in Verbindung bringen, belegt diese nahe liegende Vermutung.47 Je bekannter ein Name ist, desto eher wird er vom Publikum wahrgenommen und dem originären Namensträger zugeordnet, wenn er auf Gebieten in Erscheinung tritt, auf denen er nicht erwartet wird. Dem entspricht der im Kennzeichenrecht anerkannte Grundsatz, dass bekannte oder berühmte Marken und Namen einen großen Schutzumfang gegen Verwechslung genießen.48 Wenn demzufolge heute eine Zuordnungsverwirrung anzunehmen ist, so kann für die Vergangenheit nichts anderes gelten. Der unbefugte Gebrauch des Namens des Ordens durch die Eintragung der Malteser-Marken für die Aquavit-Herstellerin in den Jahren 1923 und 1952 kann angesichts auch der schon für die damalige Zeit nachweisbaren Bekanntheit des Ordens nur im Sinne einer Verbietungsrechte des Ordens auslösenden Namensverletzung gedeutet werden. Dies gilt umso mehr, als nach der Rechtsprechung bereits eine Beeinträchtigungsgefahr ausreicht.49 Ist danach eine durch den unbefugten Namensgebrauch bedingte Zuordnungsverwirrung festzustellen, so ist auch eine dadurch hervorgerufene Interessenverletzung des Malteserordens virulent. Zu bedenken ist, dass sich die vom Namensschutz erfassten Interessen keineswegs auf geschäftliche Belange beschränken müssen. Der im Rechtsstreit diskutierten Frage, ob im Großpriorat Österreich und in Heitersheim unter Verwendung des Namensbestandteils „Malteser“ hergestellte und vertriebene Weine 50 für den Schutzumfang und Funktionsbereich des Namens des Ordens erheblich sind, kommt deshalb keine entscheidende rechtliche Bedeutung zu. Vielmehr ist der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu entnehmen, dass eine Namensverletzung im Einzelfalle auch bereits dann vorliegen kann, wenn durch die Verwendung einer gleichnamigen Bezeichnung das nur ideelle Interesse eines Vereins tangiert ist. Dies hat der Bundesgerichtshof so in der Weserklause-Entscheidung 51 gesehen, wo es um die Namensinteressen eines Vereins unter dem Namen „Gesellschaft zur Weserklause“ ging, den der Bundesgerichtshof gegen eine Namensanmaßung durch eine als „Weserklause“ firmierende Gaststätte schützte.

47 Bundesweite Demoskopische Umfrage der GfK Marktforschung GmbH, Nürnberg, Empirische Rechtsforschung, vom 29. April 2004. 48 Ingerl/Rohnke, a.a.O., (Fn. 36), § 14, Rn. 767 ff., 770. 49 BGH GRUR 1970, 481 – Weserklause. 50 Das Weingut Julius Zotz in Heitersheim (Breisgau) vertreibt seit 1865 Weine unter der Bezeichnung „Maltesergarten“. Heitersheim, die „Malteserstadt“, war im 15. Jahrhundert Sitz des Großpriorats Deutschland des Malteserordens. Von der zum Großpriorat Österreich gehörenden Kommende Mailberg werden mindestens seit ca. 1900 Weine unter der Bezeichnung „Souveräner Malteser-Ritterorden“ vertrieben und auch in Deutschland verkauft. 51 BGH GRUR 1970, 481 – Weserklause.

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Wenn schon in einem solchen Falle die Verletzung ideeller Interessen ausreichte, dann muss dies erst recht im Falle des Malteserordens gelten, der eine weltweit anerkannte Institution mit hohem Ansehen ist. d) Die Rechtsnatur der Verwirkung Nach dem Vorstehenden können sich die beklagten Brauereien gemäß der Decker-Rechtsprechung auf Verbietungsrechte aus den prioritätsälteren Namensrechten des Malteserordens berufen, sofern nicht, wie vom Landgericht Hamburg angenommen, Verwirkungsgründe einer solchen Einrede entgegenstehen, weil eine den „echten“ Gleichnamigkeitsfällen vergleichbare „Koexistenzlage“ eingetreten sei. Die jahrzehntelang unbeanstandet gebliebene Benutzung der MalteserKlagemarken begründet zugunsten der klagenden Aquavit-Herstellerin einen Besitzstand, der die Klagemarken gegen die prioritätsältere Namensrechte des Malteserordens nach den Regeln der allgemeinen Verwirkung 52 unangreifbar macht (sofern nicht ausnahmsweise von einem rechtsmissbräuchlichen Markenerwerb auszugehen ist). Verwirkung ist eine auf Treu und Glauben und dem damit verbundenen Vertrauensschutz beruhende, rechtshemmende Einwendung.53 Es liegt somit in der Natur des Verwirkungseinwands, dass er dem (prioritätsjüngeren) Verletzer aufgrund seines schutzwürdigen Besitzstands nur Abwehrrechte gegen den Inhaber älterer Kennzeichenrechte verleiht, nicht aber eine konstitutive Wirkung hinsichtlich der Entstehung eines eigenen Kennzeichenrechtes herbeiführt.54 Die Verwirkung gibt dem Verletzer insbesondere kein Ausdehnungsrecht; 55 der Inhaber des jüngeren Rechts, der sich auf Verwirkung beruhen kann, erwirbt seinerseits keine Verbietungsrechte gegenüber dem Inhaber des älteren Kennzeichenrechts.56 Fezer 57 begründet dies anschaulich wie folgt: „Es wurde mehrfach entschieden, dass die Verwirkung des Unterlassungsanspruchs dem Verletzer eines prioritätsälteren Kennzeichenrechts nicht das Recht einräumt, sich durch Eintragung einer Marke noch weitergehende Rechte zu verschaffen, als ihm aufgrund seines örtlich oder sachlich begrenzten Besitzstandes nach Treu und Glauben zustehen … Zur Rechtslage der Verwirkung ist von dem Grundsatz auszugehen, die Verwirkung verwirkt ein Recht, aber die Verwirkung bewirkt kein Recht“. Ähnlich prägnant formu-

52 Verwirkung als Unterfall der unzulässigen Rufausbeutung nach § 242 BGB, vgl. Ingerl/Rohnke, a.a.O. (Fn. 36), § 21 Rn. 22. 53 Vgl. Ingerl/Rohnke, a.a.O., (Fn. 36), § 21 Rn. 22. 54 Vgl. Fezer, a.a.O., (Fn. 1), § 21 Rn. 48. 55 So Fezer, a.a.O., (Fn. 1), § 21 Rn. 48 (unter Hinweis auf BGH GRUR 1981, 67 – MAN G-man). 56 Vgl. Ströbele/Hacker, MarkenG, 7. Auflage, § 21 Rn. 41. 57 Fezer, a.a.O, (Fn. 1), § 21 Rn. 48.

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lieren Ingerl/Rohnke 58: „Die Verwirkung bezieht sich nur auf Ansprüche, nicht auf das ältere Recht selbst … Daraus ergibt sich gleichzeitig auch, dass der Inhaber des älteren Rechts sich auf dessen Fortbestand unabhängig davon berufen kann, ob er die aus dem Recht fließenden Ansprüche noch geltend machen kann“. e) Keine echte Koexistenzlage durch Verwirkung Aus der Rechtsnatur der Verwirkung, die ergo nicht weiterreicht als der tatsächliche schutzwürdige Besitzstand,59 folgt logisch, dass die Annahme einer den „echten“ Gleichnamigkeitsfällen angeblich vergleichbaren Koexistenzlage nicht zutreffend sein kann. Eine echte Koexistenz dergestalt, dass das jüngere und ältere Recht denselben Zeitrang im Sinne von § 6 Abs. 4 einnehmen würden, tritt, wie Ingerl/Rohnke 60 zutreffend ausführen, durch die Verwirkung gerade nicht ein. Denn anderenfalls würden der Klägerin gerade jene Verbietungsrechte gegen die älteren Namensrechte des Malteserordens zuwachsen, die dem auf Vertrauensschutz basierenden Rechtsinstitut der Verwirkung nach seiner Natur nicht innewohnen können. Mit anderen Worten bedeutet dies, dass die prioritätsälteren Namensrechte des Ordens ihre Priorität und ihre funktionelle Wirkung und Tragweite nicht dadurch verlieren, dass die Inhaberin der Malteser Aquavit-Klagemarken ihrerseits durch eine jahrzehntelang unbeanstandet gebliebene Eintragung und Benutzung ihrer Malteser-Kennzeichnungen qua § 242 BGB einen ihr nicht mehr entziehbaren Besitzstand erlangt hat. Es gibt kein Gegenrecht der Klägerin aus dem Besitzstand, das es ihr ermöglichen würde, dem Malteserorden die Nutzung seiner prioritätsälteren Namensrechte zu untersagen, auch wenn diese Nutzung über den traditionellen humanitären und karitativen Funktionsbereich des Ordens hinausgeht und Tätigkeiten erfasst, etwa die Herstellung und den Vertrieb von Bieren, mit denen sich die Ordensbrüder in der Vergangenheit nicht oder nur am Rande befasst haben. Ebenso wie der Orden selbst können sich auch die beklagten Brauereien auf dieses umfassende und in seiner Erweiterung nicht gehinderte Namensrecht des Malteserordens berufen.61 Diese Zusammenhänge hat offenbar auch der Bundesgerichtshof im Auge, wenn er, wie erwähnt, in der Hydair-Entscheidung ausführt, die Durchsetzbarkeit müsse gegeben sein vorbehaltlich von Besonderheiten, die sich etwa aus der Verwirkung ergeben können.62 Dies kann nur so verstanden werden, dass Verwirkungsgesichtspunkte die im Sinne der Decker-Rechtsprechung 58 59 60 61 62

Ingerl/Rohnke, a.a.O., (Fn. 36), § 21 Rn. 18. So Fezer, a.a.O., (Fn. 1), § 21 Rn. 48. Ingerl/Rohnke, a.a.O., (Fn. 36), § 21 Rn. 18. Vgl. Ingerl/Rohnke, a.a.O., (Fn. 36), § 14 Rn. 26. BGH GRUR 1985, 567, 568 – Hydair.

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erforderliche Durchsetzbarkeit der prioritätsälteren Rechte ungeschmälert lassen. Es handelt sich, mit anderen Worten, um eine (unechte) Koexistenz, die das ältere Recht nicht in seinen Entfaltungsmöglichkeiten einschränkt. f) Keine Parallele zu den „echten“ Gleichnamigkeitsfällen Parallelen zu den echten Gleichnamigkeitsfällen, etwa den Entscheidungen „Caren Pfleger“ 63 und „Fürstenberg“,64 auf die sich das Landgericht Hamburg beziehen will, sind aus rechtlichen Erwägungen nicht statthaft. In diesen Fällen ging es – wie dies für Gleichnamigkeitskonstellationen typisch ist – darum, ob die namensmäßige Gleichgewichtslage gegenüber dem älteren Namensinhaber durch die Eintragung prioritätsjüngerer Warenzeichen verändert werden durfte. Dies sind andere, mit dem vorliegenden Sachverhalt nicht vergleichbare Konstellationen. Denn der vorliegende Sachverhalt ist dadurch geprägt, dass der Malteserorden als der prioritätsältere Namensinhaber seine Namensrechte auf die markenmäßige Benutzung für Bier erweitern will, während die prioritätsjüngere Klägerin lediglich auf durch Duldung erworbene, jüngere Namensrechte verweisen kann, die nur Spirituosen, nicht aber Bier betreffen und die nach ihrer Natur, wie gezeigt, nur Besitzstands-, jedoch keine Verbietungsrechte gegenüber dem Malteserorden als dem originären Namensträger entfalten können.65 Auch die Entscheidung „Merck“ 66, aus der sich nach Auffassung des Landgerichts ergibt, dass das Recht des Namensträgers zur markenmäßigen Verwendung seines Namens seine Grenze in bestehenden älteren Rechten Dritter findet, liegt anders. Es ist die umgekehrte Konstellation. Denn die Markenrechte der Aquavit-Herstellerin sind bekanntlich nicht älter, sondern wesentlich jünger als die Rechte des wahren Namensträgers, des Malteserordens. Insgesamt, und anders gewendet, bedeutet dies: Eine mögliche Koexistenzlage, so sich eine solche aufgrund der Verwirkung herausgebildet hat, schützt die Klägerin zwar davor, dass ihr die Weiterverwendung ihrer jüngeren Kennzeichenrechte untersagt werden kann, hindert aber den älteren Namensinhaber, den Malteserorden, nicht an der Entfaltung seiner ureigenen Namensrechte, die eben auch eine über seine traditionellen Tätigkeiten hinausgehende, markenmäßige Namensverwendung einschließt. Die Decker-Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs würde weitgehend leer laufen, wenn bei Verwirkungssachverhalten, wie sie bei Namens- und Markenstreitigkeiten nicht selten sind, der prioritätsjüngere Rechteinhaber über den Bestandsschutz hinaus Verbietungsrechte generieren könnte.

63 64 65 66

BGH GRUR 1991, 475 – Caren Pfleger. BGH GRUR 1986, 402 – Fürstenberg. Vgl. oben unter e). BGH GRUR 1966, 499 – Merck.

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Echte Gleichnamigkeitsfälle sind zudem im Ausgangspunkt entscheidend anders gelagert. Sie betreffen die Fälle wirklicher und originärer – nicht abgeleiteter oder angeeigneter – Gleichnamigkeit, wie etwa bei den Trägern gleicher Familiennamen, und beschreiben Sachverhalte, in denen der jüngere Namensträger an der Benutzung ein schutzwürdiges Interesse hat, redlich handelt und im Namen des Zumutbaren das Geeignete und Erforderliche tut, um Verwechslungen nach Möglichkeit zu begegnen.67 Eine auch nur annähernd vergleichbare Sachlage ist jedoch in casu nicht festzustellen. Denn die Klägerin hat für ihre prioritätsjüngeren Malteser-Marken kein originäres, sondern nur ein aus einem aufgrund langjähriger Duldung entstandenen Besitzstand abgeleitetes schutzwürdiges Interesse. g) Firmenrechte der Malteser Brauerei GmbH Die beklagten Brauereien können sich – bei sorgfältiger und richtiger Würdigung der historischen Gegebenheiten – auch auf das Firmenrecht der in jahrhundertelanger Namenstradition stehenden Malteser Brauerei berufen. In dieser Abhandlung darf unterstellt werden, dass eine ununterbrochene firmenrechtliche Kontinuität des Unternehmenskennzeichens „Malteser“ jedenfalls bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts nachgewiesen werden kann,68 das Firmenrecht also wesentlich älter ist als das Recht an der erst anno 1952 für Spirituosen eingetragenen Wortmarke „Malteser“. Dann fragt es sich, ob sich die beklagten Brauereien aufgrund der Nutzungsgestattung der Malteser Brauerei GmbH gemäß § 986 BGB analog auch auf das Unternehmenskennzeichen der Malteser Brauerei berufen können. Das Landgericht Hamburg hat diese Einwendungsmöglichkeit im Grundsatz bejaht, dann jedoch der Malteser Brauerei, in gleicher Weise wie schon dem Malteserorden, aus Gründen des dem Recht der Gleichnamigen entlehnten Postulats der Koexistenz das Recht abgesprochen, sich durch einen Übergang von der firmenmäßigen zur markenmäßigen Benutzung des Firmennamens weiter als bisher dem Malteser Aquavit-Zeichen der Klägerin anzunähern. Indessen ist – wie oben gezeigt – nach der Dogmatik der Verwirkung ein gegen die Entfaltung eines jahrhundertealten Firmenrechts wirkendes Verbietungsrecht nicht zu begründen. Einwendungen aus dem Firmenrecht der Malter Brauerei bestehen ebenso wie aus dem Namensrecht des Ordens. Das gilt erst recht, wenn man berücksichtigt, dass der Firmenname „Malteser“ jahrhundertelang auch von einer markenmäßigen Benutzung des Namens „Malteser“ zur Kennzeichnung von Bier begleitet war. Die Rationalität einer Entscheidung, die es einer als Malteser Brauerei firmierenden

67

Vgl. Ingerl/Rohnke, a.a.O., (Fn. 36), § 23 Rn. 18 f. Die beklagten Brauereien können sich dazu auf eine Reihe historischer Dokumente, insbesondere auf die Archivakten der Malteser Brauerei in Amberg, stützen. 68

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Brauerei mit einem jahrhundertealten Namensrecht untersagt, den Firmennamen zugleich als Marke zu verwenden, weil ein Dritter inzwischen an prioritätsjüngeren Kennzeichenrechten (für allenfalls ähnliche Produkte) kraft Zeitablaufs einen schutzwürdigen Besitzstand erworben hat, erschließt sich dem kritischen Betrachter nicht. Die Einwendungen, die sich für die beklagten Brauereien nach der Decker-Rechtsprechung eröffnen, müssen also auch in diesem Falle erhalten bleiben. Sind die beklagten Brauereien nun aber deshalb an der Berufung auf das Firmenrecht der Malteser Brauerei GmbH gehindert, weil ein Liquidationsbeschluss gefasst wurde und daraufhin bei der Malteser Brauerei ein etwa zweieinhalbjähriger – aber keineswegs vollständiger – Geschäftsstillstand vorlag? Auch mit solchen Fallgestaltungen hat sich die Rechtsprechung verschiedentlich befasst. Grundsätzlich geht der Unternehmensschutz mit seiner älteren Priorität dann nicht verloren, wenn der Geschäftsbetrieb nur zeitweise still gelegt wird, so dass die Stilllegung nur als eine vorübergehende Unterbrechung erscheint.69 Das Landgericht Hamburg hat gemeint, eine solche relevante Unterbrechung feststellen zu können, doch stehen einer solchen Würdigung die Besonderheiten des Falles entgegen. Sie bestehen insbesondere darin, dass der Liquidationsbeschluss niemals vollzogen, noch vorhandene Produktionsanlagen der Brauerei nicht veräußert wurden und die verpachtete „Malteser Brauerei Gaststätte“ weiter betrieben wurde. Auf den Etiketten der weiterhin „Malteser Bier“ vertreibenden Brauerei B. wurde der Name der Malteser Brauerei GmbH selbst nach dem förmlichen Liquidationsbeschluss noch zwei Jahre lang vermerkt, und „Malteser Biere“ wurden in der Malteser Brauerei Gaststätte so selbstverständlich angeboten und konsumiert, wie dies in der langen Geschichte der Malteser Brauerei immer der Fall war. Für den Verkehr hat sich durch den Liquidationsbeschluss keine Veränderung ergeben, auch im Handelsregister wurde der Name der Brauerei nicht gelöscht. Wer den großen historischen Bogen schlägt, kann in der durch den Liquidationsbeschluss entstandenen Zäsur daher allenfalls eine zeitlich und rechtlich irrelevante Quisquilie sehen.70

VII. Anspruch auf Löschung der Klagezeichen? a) Außerkennzeichenrechtliche Löschungsklage Die beklagte Brauerei S. hat gegen die Klagemarken – die Bildmarke „Malteserkreuz“ und die Wortmarke „Malteser“ – eine auf § 1 UWG (a.F.), §§ 3, 4 UWG, 226, 826 BGB und den Vorwurf der sittenwidrigen Namensaneig69 70

Vgl. BGH GRUR 1961, 420, 422 – Cuypers; GRUR 2002, 967, 969 – Hotel Adlon. Vgl. BGH GRUR 1997, 749, 745 – L’Orange.

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nung gestützte Löschungswiderklage erhoben. Wird der Löschungsklage stattgegeben, dann führt dies zwangsläufig zur Abweisung der Unterlassungsklage. Das Rechtsinstitut der außerkennzeichenrechtlichen Löschungsklage, Folge des Gleichlaufs von Immaterialgüterschutz und Wettbewerbsschutz und dem ergänzenden wettbewerbsrechtlichen Schutz zuzuordnen, bestand schon unter der Geltung des Warenzeichengesetzes 71 und findet unverändert auch neben den Vorschriften des Markengesetzes Anwendung,72 wie der Bundesgerichtshof in der Entscheidung „EQUI 2000“ 73 festgestellt hat. In dem im amtlichen Löschungsverfahren nach § 50 Abs. 1 Nr. 4 MarkenG neu eingerichteten Nichtigkeitsgrund der bösgläubigen Markenanmeldung hat die außerkennzeichenrechtliche Löschungsklage eine Parallelregelung erfahren. Bösgläubigkeit (als mit dem Zivilrecht nicht verwandter eigenständiger Begriff des Kennzeichenrechts) sowie Sittenwidrigkeit und Rechtsmissbräuchlichkeit beschreiben markenrechtlich weitgehend identische Tatbestände.74 Darunter fallen Formen der zielgerichtet wettbewerbswidrigen Annäherung an ein fremdes Kennzeichen zur vermeidbaren Herkunftstäuschung und zur Rufausbeutung ebenso wie die unmittelbare Aneignung eines fremden Kennzeichens oder die Störung eines von dem Vorbenutzer erlangten schutzwürdigen Besitzstands, weiter die Varianten der Behinderung eines Wettbewerbers durch Hinterhalts- und Sperrmarken sowie zu Spekulationszwecken.75 Der Nichtigkeitsgrund der bösgläubigen Anmeldung dient ferner auch der Bekämpfung der Markenpiraterie.76 Drängt sich in casu nicht der Gedanke auf an eine historische „Namenspiraterie“, zu Zeiten, als noch niemand an die Kommerzialisierung von Namensrechten dachte? b) Die Namensaneignung Die Hintergründe der Namenaneignung liegen weitgehend im Dunkeln. Vor allem die Motive und näheren Umstände der Anmeldung des Malteserkreuzes im Jahre 1923 sind nicht mehr feststellbar.77 Das Hamburger Gericht hat die Löschungswiderklage deshalb kurzerhand mit der Begründung abgewiesen, es seien keinerlei Gründe dargelegt, welche die damalige Markenanmeldung als sittenwidrig erscheinen lassen könnten. Ob eine sittenwidrige Namensaneignung vorliegt, kann sich nur aus der Gesamtschau der historischen Umstände ergeben. Danach sind anerken71 72 73 74 75 76 77

Vgl. Baumbach/Hefermehl, Warenzeichengesetz, 12. Auflage, § 11 WZG, Rn. 7ff. Vgl. Ingerl/Rohnke, a.a.O., (Fn. 36), § 55, Rn. 50. BGH GRUR 2000, 1032, 1034 – EQUI 2000. Vgl. Fezer, a.a.O., (Fn. 1), § 50 Rn. 22. Vgl. Fezer, a.a.O., (Fn. 1), § 50 Rn. 24 ff. Vgl. Fezer, a.a.O., (Fn. 1), § 50, Rn. 30; ebenso Helm, GRUR 1996, 593 f., 595, 597. Die Akten des Rechtspatentamtes wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört.

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nungswürdige Gründe und Motive für eine markenrechtliche Inbesitznahme der Malteser-Kennzeichen durch die dänische Spirituosenherstellerin nicht dingfest zu machen. Die Klägerin hat ins Feld geführt, ihre dänische Rechtsvorgängerin hätte sich bei der Kreuzform der Bildmarke und bei der Farbe an der dänischen Nationalflagge, dem Dannebrog 78, orientiert, doch ist ein plausibler Zusammenhang zwischen dem Dannebrog und dem markanten Achtspitzkreuz der Malteser nicht festzustellen. Gleiches gilt für die von der Klägerin behauptete Anlehnung an die Balkenkreuze, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts von dänischen Reedereien auf Flaggen und Schloten der Reedereischiffe angebracht wurden, denn eine Herleitung aus diesen Kennzeichnungen wird, abgesehen von der mangelnden Zeichenähnlichkeit, allein schon durch den Umstand widerlegt, dass die im Jahre 1923 in Deutschland angemeldete Bildmarke in der Nachfolge der als „Malteserkors“ bezeichneten dänischen Marke aus dem Jahre 1911 ausdrücklich als „Malteserkreuz“ verstanden wurde.79 Die Inbesitznahme des rot-weißen Ordenszeichens der Malteser durch De Danske Spritfabrikker ist somit Ausgangspunkt einer wettbewerbsrechtlichen Würdigung vor dem Hintergrund des hohen Ansehens und der Bekanntheit, die der Malteserorden in den Kriegen der Jahre 1864, 1866, 1871 80 und vor allem im Ersten Weltkrieg durch seine humanitären Leistungen erworben hatte. Das Ordenszeichen der Malteser figurierte nun plötzlich, zunächst in Dänemark, dann in Deutschland, als Marke für einen dänischen „Taffel Akvavit“. c) Die Sittenwidrigkeit der Namensaneignung Lässt sich mit dieser Tatbestandsbeschreibung allein die Sittenwidrigkeit der Namensaneignung begründen? Zweifellos lässt sich objektiv eine Rufanlehnung feststellen, aber manifestiert sich darin auch schon die vorsätzliche sittenwidrige Rufausbeutung des bekannten Malteser-Symbols zum Zwecke kommerzieller Nutzung? Wettbewerbsrechtlich betrachtet ist zu fragen, ob es sich um einen der Markenausbeutung vergleichbaren Fall der „Namensausbeutung“ handelt, der dadurch gekennzeichnet ist, dass Wertschätzung, guter Ruf und Bekanntheit eines Namens unlauter, nämlich ohne rechtfertigenden Grund und ausschließlich für eigene kommerzielle Zwecke und Vorteile, verwertet werden.81 Es bedarf in solchen Fällen einer allgemeinen Gesamtbeurteilung dahin, ob nicht aus übergeordneten Gründen der Rechtsordnung das Vor78 Die Entstehung des Dannebrog wird auf das 16. Jahrhundert datiert. Die Flagge zeigt ein bis zu den Rändern durchgezogenes weißes Balkenkreuz auf rotem Grund. Quelle: www.denmark.dk, offizielle Dänemark-Website des Ministeriums des Äußeren. 79 Vgl. oben unter 3. 80 Vgl. oben Fn. 8. 81 Vgl. Fezer, a.a.O., (Fn. 1), § 14 Rn. 425 ff., 428.

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liegen eines Rechtfertigungsgrundes anzunehmen ist.82 In Einzelfällen mag es auch berechtigte individuelle Gründe geben, einen fremden Namen zu führen oder ihn zu seinem Markenzeichen zu machen. Aus dem historischen Rückblick ergibt sich indessen, dass seitens der dänischen Aquavit-Herstellerin ein offenbar bewusster und gezielter Zugriff auf das bekannte Symbol und den Namen der Malteser stattgefunden hat, der durch individuelle oder übergeordnete Gesichtspunkte nicht gerechtfertigt ist. Eine Zustimmung des Ordens oder auch nur Bemühungen um ein Einvernehmen oder gar eine Kooperation mit dem Orden haben nicht stattgefunden,83 und der Orden selbst, der keinerlei kommerzielle Absichten hegte, hat die fremden Markenrechte jahrzehntelang nicht beachtet, möglicherweise lange Zeit nicht einmal wahrgenommen.84 Das Vorgehen der dänischen Aquavit-Herstellerin war erkennbar nicht legitimiert. Der anfängliche Mangel an Legitimation und das fortgesetzt fehlende Bemühen um eine solche Legitimation lassen nun aber lauterkeitsrechtliche Rückschlüsse auf die subjektiven Umstände zu. Der Bundesgerichtshof hat in der Entscheidung „Analgin“ 85 aus dem Fehlen eines „hinreichenden sachlichen Grundes“ auf unlautere Absichten der dortigen Beklagten (nämlich die unredliche Absicht, eine Sperrwirkung gegen die Benutzung des Zeichens durch die dortige Klägerin herbeizuführen) geschlossen. In entsprechender Weise ist die Annahme zulässig, dass für die Entscheidung der dänischen Aquavit-Herstellerin, ihre Erzeugnisse mit dem Malteserkreuz zu schmücken, nur die Absicht Pate gestanden haben kann, sich den guten Ruf dieses bekannten Zeichens zu Eigen zu machen. Der rechtsgrundlosen Aneignung des Malteserkreuzes im Jahre 1923 folgte die ungefragte Aneignung auch des Namens „Malteser“ im Jahre 1952, der wiederum nur ein Eigeninteresse, nicht aber übergeordnete Gründe zur Seite standen. Sie vollzog sich lautlos, weil sich der Orden, offenbar mit der Flüchtlingsnot der Nachkriegsjahre befasst, hiergegen nicht wehrte.86 Ein sittenwidriger Akt legitimiert sich freilich durch seine Prolongation nicht selbst. Im Nachhinein erscheint die Aneignung des Ordensnamens als Wortmarke „Malteser“ sogar noch fragwürdiger. Denn während das Bildzeichen des Jahres 1923 noch Deutungen zuließ, stand nunmehr gänzlich außer Zweifel, dass sich De Danske Spritfabrikker des ureigenen Namens des Ordens als Produktbezeichnung bemächtigte. Kann dieser von

82

Fezer, a.a.O., (Fn. 1), § 14, Rn. 429. Dies im gesamten Rechtsstreit unstreitig geblieben. 84 Eigene „Malteser“-Marken hat der Malteser Hilfsdienst e.V. erstmals in den 1990-er Jahren eingetragen, allerdings im Wesentlichen beschränkt auf Sozial- und Hilfsdienste. 85 BGH GRUR 1998, 412, 414 – Analgin. 86 Es ist bei den Recherchen nicht erkennbar geworden, weshalb der Orden und seine deutschen Gliederungen die Eintragung der Wortmarke „Malteser“ und die Verbreitung des Produkts „Malteser Aquavit“ unbeanstandet hingenommen haben. 83

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der Klägerin nicht widerlegte Tatbestand anders denn als eine sittenwidrige Namensanmaßung angesehen werden?

VIII. Ausblick Die Chancen des Malteserordens und der beklagten Brauereien, das Recht zur markenmäßigen Verwendung des Namens „Malteser“ für Biere gerichtlich bestätigt zu erhalten, stehen gut. Es ist zu hoffen, dass die Existenz des „Malteser Weissbieres“ gesichert ist, wenn diese Festschrift zum 70. Geburtstag von K. Peter Mailänder erscheint.

Kartellrecht im Unternehmensverbund Hans-Georg Koppensteiner Inhaltsübersicht I. Ausgangspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 II. Verbundinterne Wettbewerbsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 III. Verhaltenszurechnung im Unternehmensverbund . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

I. Ausgangspunkte 1. Das deutsche Recht (§§ 15ff AktG) fasst verschiedene Sachverhalte (Mehrheitsbeteiligung, Abhängigkeit, Konzern, wechselseitige Beteiligung) unter dem Begriff „verbundene Unternehmen“ zusammen. Deshalb ist hier vom Unternehmensverbund die Rede. Der Ausdruck ist besser als jener des Konzerns geeignet, das hier interessierende Untersuchungsfeld abzugrenzen. Denn anders als ein vielfacher Sprachgebrauch dies nahe legt, bezieht sich Kartellrecht auch auf andere Verbundtatbestände als den Konzern. Das Verhältnis von Unternehmensverbund und Kartellrecht weist verschiedene Facetten auf. Die Verbundbildung kann konzentrationsrechtlich erheblich sein. Herrschenden Unternehmen werden Marktanteile/Umsätze abhängiger Verbundglieder zugerechnet. Das wirkt sich bei der Feststellung tatbestandsmäßiger Größenkriterien aus, die bei der Ermittlung von Marktmacht (Marktbeherrschung, kartellrechtliche Bagatellklausel), des Anwendungsbereichs von Gruppenfreistellungsverordnungen, aber auch bei der Handhabung von Art. 81 Abs. 3 EGV eine Rolle spielt.1 Einem Verbundglied kann aber auch Verhalten eines anderen zugerechnet werden, was namentlich bei der Festsetzung von Bußgeldern bedeutsam wird. Verbundinterne Wettbewerbsbeschränkungen sind schließlich nach ganz herrschender Auffassung unter bestimmten Voraussetzungen privilegiert zu behandeln. 2. Gesetzliche Konkretisierungen der vorstehend nur ganz grob angesprochenen Tatbestände finden sich zunächst im Konzentrationskontrollrecht. Art. 3 FKVO definiert eine Zusammenschlussvariante dadurch, dass

1

Zu letzterem Menz Wirtschaftliche Einheit und Kartellverbot (2004), 32.

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Unternehmensträger (Personen, die mindestens ein Unternehmen kontrollieren) die Kontrolle über die Gesamtheit oder Teile anderer Unternehmen erwerben. Kontrolle bedeutet, dass der Herrschaftsträger imstande ist einen bestimmenden Einfluss auf die Tätigkeit des kontrollierten Unternehmens auszuüben. Nach deutschem Recht (§ 37 GWB) kommt es ebenfalls auf Kontrollerwerb, darüber hinaus aber auch auf den Erwerb von 50 % bzw. 25 % des Kapitals oder der Stimmrechte an einem anderen Unternehmensträger an. Als weiterer Tatbestand wird schließlich noch der Fall genannt, dass ein (mehrere) Unternehmen einen wettbewerblich erheblichen Einfluss auf ein anderes Unternehmen ausüben können. Zu beachten ist, dass abhängige und herrschende Unternehmen (§ 17 AktG) und Konzernunternehmen (§ 18 AktG) im Rahmen der Zusammenschlusskontrolle als einheitliches Unternehmen anzusehen sind (§ 36 Abs. 2 GWB). Das bedeutet zum Beispiel, dass es für die Erfüllung des 50 % – Beteiligungserfordernisses nicht darauf ankommt, ob die Anteile von einem herrschenden oder abhängigen Unternehmen erworben werden. In Österreich (§ 41 Abs. 1 KartG) gelten ganz ähnliche Regelungen. Tatbestandsmäßig ist jede Verbindung von Unternehmen, die dazu führt, dass ein Unternehmer einen beherrschenden Einfluss auf ein anderes Unternehmen ausüben kann, auch der Erwerb einer Beteiligungsquote von 50 bzw 25 % an einem anderen Unternehmensträger. Ausdrückliche Regelungen existieren ferner bezüglich der Zurechnung von Marktanteilen und Umsätzen. Am einfachsten und gleichzeitig umfassendsten ist insoweit das österreichische Recht. Nach den §§ 2, 2a KartG kommt es auf dieselben Kriterien wie im Rahmen der Zusammenschlusskontrolle an. So sind etwa Marktanteile/Umsätze herrschender und abhängiger Unternehmen zusammenzurechnen. Die FKVO (Art. 5 Abs. 4) kennt eine Regelung, die unter weitgehender Übernahme von Merkmalen der Konzernjahresabschlussrichtlinie auf im Wesentlichen dasselbe hinausläuft. Entsprechendes gilt für verschiedene Gruppenfreistellungsverordnungen. Als pars pro toto sei auf Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 11 Abs. 2 der Vertikal-GVO hingewiesen. Demnach hängt die Freistellung davon ab, dass der Marktanteil des Lieferanten 30 % nicht überschreitet. Ob dies zutrifft, ist auch anhand der Marktanteile verbundener Unternehmen zu entscheiden. Zu solchen verbundenen Unternehmen gehören namentlich solche, die ein an der Vereinbarung beteiligtes Unternehmen (etwas vergröbert) beherrschen oder von ihm abhängen. Die Bagatellbekanntmachung enthält eine übereinstimmende Regel.2 Das GWB enthält, von der schon erwähnten Berücksichtigung des Unternehmensverbunds im Rahmen der Fusionskontrolle abgesehen, keine entsprechenden Vorschriften. 2 Ausführlich zu den Zurechnungstatbeständen des europäischen Kartellrechts Pohlmann Der Unternehmensverbund im Europäischen Kartellrecht (1999), 301ff., Menz (Fn. 1) 98ff.

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Zwei kartellrechtlich relevante Dimensionen des Unternehmensverbunds sind positivrechtlich überhaupt nicht geregelt. Es geht um die Voraussetzungen der Zurechnung von Verhalten einerseits, andererseits darum, von was genau es abhängt, dass verbundinterne Wettbewerbsbeschränkungen kartellrechtsimmun gestellt werden. Auf den ersten Blick könnte man meinen, diese Fragen ließen sich ebenso entscheiden, wie dies für die geregelten Sachverhalte zutrifft. Denn sowohl die konzentrationskontrollrechtliche Relevanz von Konzern- und Abhängigkeitslagen als auch die Berücksichtigung der selben Kriterien bei der Berechnung von Marktanteilen und Umsätzen beruht auf der Vorstellung, Besonderheiten des polykorporativen Unternehmens, einer wirtschaftlichen Einheit könnten ohne Realitätsverlust nicht außer Betracht bleiben. Es liegt relativ nahe, auch verbundinterne Wettbewerbsbeschränkungen und Fragen der Verhaltenszurechnung anhand eben dieser Erwägung zu entscheiden. Nähere Analyse wird indes zeigen, dass die Dinge so einfach nicht liegen. 3. Damit ist der Gegenstand der folgenden Überlegungen im Wesentlichen vorgezeichnet. Es wird um die gesetzlich nicht geregelten Varianten des Verbundkartellrechts, also verbundinterne Wettbewerbsbeschränkungen und um Verhaltenszurechnung im Unternehmensverbund gehen. Beide Fragen sind schon umfangreich untersucht worden.3 Dennoch hat sich bis heute kein Konsens gebildet; wichtige Fragen sind vielmehr nach wie vor umstritten. Außerdem ist eine meines Erachtens zentrale Determinante, nämlich die gesellschaftsrechtlichen Grenzen der Leitungsmacht im Unternehmensverbund bisher nicht oder nicht zureichend gewürdigt worden. Als wir beide jung waren, Mailänder allerdings schon Assistent, ich noch Student, hat er mir einmal einen für das Steindorff-Seminar bestimmten Vortragsentwurf mit der Bemerkung zurückgegeben, da müsse noch viel geschehen. Ich fürchte, ähnliches wird mir auch diesmal nicht erspart bleiben. Aber das ist unvermeidbar, vor allem deshalb, weil mehr als eine Skizze im Rahmen eines Festschriftbeitrags schlicht nicht möglich ist. Vielleicht, so ist hinzuzufügen, lässt sich der Jubilar, des Anlasses und der Jahre wegen, auch einmal in milder Stimmung erwischen.

3 An neueren Monografien – um nur sie zu nennen – s. etwa Menz (Fn. 1), Buntscheck Das „Konzernprivileg“ im Rahmen von Art. 81 Abs. 1 EG-Vertrag (2001), Heitzer Konzerne im Europäischen Wettbewerbsrecht (1997), Potrafke, Kartellrechtswidrigkeit konzerninterner Vereinbarungen und darauf beruhender Verhaltensweisen (1991). Bei Gemeinschaftsunternehmen ergeben sich spezifische Fragen (dazu etwa Buntscheck 71 ff., Thomas ZWeR 2005, 236, 247ff., Pohlmann (Fn. 2) 403 ff.) Sie können hier nicht erörtert werden.

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II. Verbundinterne Wettbewerbsbeschränkungen 1. Der Meinungsstand zu dieser Frage lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die im übrigen uneinheitliche Praxis 4 zum EGV orientiert sich im Großen und Ganzen an der Erwägung, dass Kartellrecht auf ansonsten tatbestandsmäßige Sachverhalte innerhalb einer wirtschaftlichen Einheit aus teleologischen Gründen nicht anzuwenden sei. Die Viho-Entscheidung des EuGH 5 hat die Entwicklung zu einem vorläufigen Abschluss gebracht. Demnach sind von der Mutter auferlegte Exportverbote unter 100 %igen Tochtergesellschaften mit dem Ziel der Aufrechterhaltung von Preisdifferenzen zulässig. Die streitgegenständliche Unternehmensgruppe bilde eine wirtschaftliche Einheit, in deren Rahmen die Tochtergesellschaften ihr Vorgehen auf dem Markt nicht wirklich autonom bestimmen könnten, sondern die Anweisungen der sie kontrollierenden Muttergesellschaft zu befolgen hätten. Die von der Konzernspitze getroffene Entscheidung, nationale Märkte auf verschiedene Tochtergesellschaften zu verteilen, werde durch einseitiges Handeln verwirklicht, dass trotz der nachteiligen Konsequenzen für die Wettbewerbsposition konzernexterner Dritter nicht zur Anwendung von Art. 81 führen könne. Entgegen früherer Stellungnahmen des Gerichts kommt es nach dem Viho-Urteil nicht mehr darauf an, ob die Wettbewerbsbeschränkung der gruppeninternen Aufgabenverteilung dient. Für Deutschland gibt es nur ganz wenige Aussagen der für die Anwendung von Kartellrecht zuständigen Instanzen. Das OLG Stuttgart 6 hat eine Abhängigkeitslage als ausreichend dafür angesehen, eine vertragliche Wettbewerbsbeschränkung als kartellrechtlich irrelevant zu qualifizieren. Nach Auffassung des OLG Frankfurt 7 gilt im Ergebnis dasselbe, wenn die an der streitgegenständlichen Vereinbarung beteiligten Unternehmen als Tochtergesellschaften eines Konzerns mit Weisungsbefugnis keine wirtschaftliche Selbständigkeit hätten. Für Österreich gibt es eine alte Entscheidung, die den Standpunkt bezogen hat, wirtschaftliche Unselbständigkeit schließe die Kartellfähigkeit aus, wenn sie im Verhältnis zu einem anderen Kartellanten gegeben sei.8 Die Diskussion im Schrifttum lässt sich in der hier gebotenen Kürze kaum aussagekräftig zusammenfassen. Einigkeit besteht heute nur darüber, dass das Vorliegen eines Unternehmensverbunds bei der Anwendung von Kartell4 Näher zu ihr etwa Schröter in Schröter/Jakob/Mederer, Kommentar zum europäischen Wettbewerbsrecht (2003) Art. 81 Rn. 123 ff., ausführlich Menz (Fn. 1) 233ff., Buntscheck (Fn. 3) 30 ff., Pohlmann (Fn. 2) 356 ff., kürzer Eilmansberger in Streinz EUV/EGV (2003) Art. 81 Rn. 6 ff. 5 EWS 1996, 43 = Slg. 1996, I-5457. Dazu insbesondere Fleischer AG 1997, 491ff. 6 WuW/E OLG 2353, 2355. 7 WuW/E OLG 3600, 3601. 8 Näher dazu Koppensteiner Österreichisches und Europäisches Wettbewerbsrecht, 3. Auflage (1997) § 7 Rn. 32 f.

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recht irgendwie berücksichtigt werden muss.9 Über das Ausmaß des „Konzernprivilegs“ herrscht aber heftiger Streit. Nach Potrafke 10 ist es sehr eng zu fassen. Die herrschende Auffassung ist erheblich großzügiger.11 Aber auch im Rahmen dieser Auffassung ist viel umstritten, so etwa die Bedeutung der Beteiligungsquote, der Relevanz tatsächlicher Ausübung von Steuerungsmöglichkeiten seitens des übergeordneten Unternehmensträger, namentlich bei Vereinbarungen unter Schwestergesellschaften, schließlich auch die Frage, welchem gesetzlichen Tatbestandsmerkmal die privilegierende Behandlung gruppeninterner Wettbewerbsbeschränkungen zuzuordnen ist.12 Am Rande sei vermerkt, dass die Aufgabe des Erfordernisses konzerninterner Aufgabenverteilung in der Viho-Entscheidung teilweise begrüßt 13, teilweise abgelehnt wird 14. 3. a) Die Entwicklung der eigenen Position beginnt am besten mit der Frage, ob es so etwas wie ein kartellrechtliches Konzernprivileg überhaupt geben kann. Die Frage ist zu bejahen. Das Zustandekommen von Wettbewerb setzt voraus, dass die Beteiligten ein eigenes wirtschaftliches Interesse und darüber hinaus die Fähigkeit haben, dieses Interesse in von ihnen bestimmte Markthandlungen durchzusetzen. Ohne das erste fehlt schon der Antrieb sich überhaupt unternehmerisch zu betätigen. Ohne das zweite entfällt die Möglichkeit, im Wettbewerb eigenständig zu agieren. Insgesamt bedeutet dies, dass Wettbewerb innerhalb eines Unternehmensverbunds bei Vorliegen der vorstehend angedeuteten, aber selbstverständlich noch konkretisierungsbedürftigen Voraussetzungen nicht stattfinden kann.15 Man kann dies auch so formulieren: Eine Vereinbarung/ein Vertrag, auch abgestimmtes Verhalten zielen auf die Durchsetzung gemeinsamer Interessen oder einen Interessenausgleich. Dieses Ziel wird obsolet, wenn es im Verhältnis zu Partnern entweder an einem eigenen Interesse oder an der Möglichkeit mangelt, diesem Interesse Gehör zu verschaffen. 9 Vgl. Menz (Fn. 1) 179 f. Prägnante Zusammenfassung der im Schrifttum vertretenen Kriterien bei Buntscheck (Fn. 3) 27 f., s. ferner Pohlmann (Fn. 2) 399ff., Potrafke (Fn. 3) 94 ff., 103ff. 10 (Fn. 3) 209ff. 11 Repräsentativ Schröter (Fn. 4) Art. 81 Rn. 123 ff., Bunte in Langen/Bunte, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht I, 9.Aufl. (2001) Rn. 254ff. 12 Literaturübersicht zB bei Buntscheck (Fn. 3) 25 ff. 13 Z.B.: Eilmansberger (Fn. 4) Art. 81 Rn. 13, Buntscheck 122f., ausführlich Fleischer (Fn. 5) 494ff. 14 So etwa von Schröter (Fn. 4) Art. 81 Rn. 126 unter Berufung auf das Vertragsziel, die Isolierung nationaler Märkte zu vermeiden. Aber dieses Ziel ist eben nur im Rahmen der Tatbestandsbildung speziellerer Vertragsbestimmungen realisierbar. S. Koppensteiner JWTL 1975, 287, 297 in Auseinandersetzung mit einer Viho widersprechenden Kommissionsentscheidung. 15 Ähnlich wie hier z.B. Mestmäcker/Schweitzer Europäisches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. (2004) 236f.

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Die vorstehenden Überlegungen wären gegenstandslos, wenn schon die Gruppenbildung kartellrechtlich relevant wäre. Denn dann könnte es in der Relation unter verschiedenen Rechtsträgern überhaupt nicht zu der Art wirtschaftlicher Einheit kommen, die als Voraussetzung kartellrechtlicher Immunisierung gruppeninterner Absprachen identifiziert worden ist. Die damit aufgeworfene Frage ist indes zu verneinen. Der Erwerb der Kontrolle über ein anderes Unternehmen unterfällt, wie dargelegt, den Vorschriften über die Konzentrationskontrolle. Die parallele Anwendung der Regeln über Wettbewerbsbeschränkungen unter wirtschaftlich selbständig bleibenden Unternehmen kommt nicht in Betracht.16 Das gilt auch dann, wenn die Möglichkeit eines bestimmenden Einflusses auf die Tätigkeit eines anderen Unternehmens (Kontrolle) tatsächlich genutzt wird, das abhängige Unternehmen also einheitlicher, auch intensiver Leitung unterstellt wird. Das geltende Recht liefert keinen Anhaltspunkt, dass eine solche Vorgangsweise erneuter wettbewerbsrechtlicher Prüfung, sei es aus konzentrations- oder kartellkontrollrechtlicher Sicht, unterworfen werden könnte. b) Bei der Suche nach Leitgedanken für die Lösung der nunmehr anstehenden Abgrenzungsaufgabe bietet sich, wie schon erwähnt, zunächst die Möglichkeit an, schlicht auf normativ feststehende Kriterien wie Kontrolle (Fusionskontrollrecht) oder Abhängigkeit (Zurechnung von Marktanteilen/ Umsätzen) abzustellen. Dabei ist zunächst kaum zweifelhaft, dass die inhaltlichen Anforderungen jener Kriterien vorliegen müssen. Denn anderenfalls fehlt es mit Sicherheit an der Interessen- oder Einflussverschränkung, die vorher als Grundlage privilegierter Behandlung gruppeninterner Wettbewerbsbeschränkungen herausgearbeitet worden ist. Auf der Basis bloß der ausdrücklich geregelten Fälle lässt sich aber nicht klären, ob nicht mehr zu verlangen ist als Kontrolle/Abhängigkeit. Denn es könnte durchaus sein, dass die fusionsrechtliche Erfassung des Kontrollerwerbs als Zusammenschlusstatbestand als „Vorfeldlösung“ in dem Sinne aufzufassen ist, dass Kontrollmöglichkeiten normalerweise auch wahrgenommen werden 17 und dann jene neue unternehmerische Einheit begründen, deren Entstehensprüfung Zweck des Konzentrationskontrollrechts ist.18 Dieselbe Wertung könnte auch den 16 Vgl. nur Koppensteiner (Fn. 8) § 7 Rn. 27 f. Die früher umstrittene Frage, ob für Gemeinschaftsunternehmen eventuell anderes gelte, ist heute obsolet und wäre für das Grundproblem ohnehin nicht aussagekräftig. Ausführliche Analyse der Gesamtproblematik bei Pohlmann (Fn. 2) 216 ff. 17 Eben diese Erwägung liegt der Konzernvermutung in Abhängigkeitsfällen (§ 18 Abs. 1 S. 3 AktG) zugrunde. Vgl. Koppensteiner in KK-AktG, 3. Aufl. (2004) § 18 Rn. 40. Soweit ein Konzentrationstatbestand schon beim Erwerb von 25 % der Anteile anzunehmen ist, lässt sich dies nur aus der Perspektive der hier ins Auge gefassten Vorfeldlösung begreifen. Denn ein Kontrolltatbestand liegt regelmäßig nicht vor. 18 Anders wie hier Thomas (Fn. 3) 246 mit Berufung auf die Materialien, wie hier dagegen Menz (Fn. 1) 190, 209 (im Widerspruch zu 208) m.w.N.

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Bestimmungen über die Zurechnung von Marktanteilen/Umsätzen zugrunde liegen. Sie lässt sich aber nicht ohne weiteres auf das hier interessierende Problem übertragen. Denn es könnte durchaus sein, dass es in seinem Rahmen nicht auf die potentielle, sondern auf die tatsächlich geschaffene wirtschaftliche Einheit ankommt. Ob das eine oder andere zutrifft, lässt sich nicht ohne zusätzliche Kriterien entscheiden.19 Solche zusätzlichen Kriterien lassen sich zunächst aus den unter a) angestellten Überlegungen ableiten. Sie zeigen, dass auf Interessenidentität/ -divergenz einerseits und auf Handlungsfreiheiten andererseits abgestellt werden muss. Beide Gesichtspunkte lassen sich ohne Einbeziehung des Gesellschaftsrechts nicht zureichend würdigen. Gewiss ist richtig, dass die gesellschaftsrechtliche Erlaubtheit der Beeinflussung des abhängigen durch den herrschenden Rechtsträger noch nichts über die kartellrechtliche Zulässigkeit aussagen muss.20 Besonders wahrscheinlich ist diese Möglichkeit, wie aus der fusionskontrollrechtlichen Behandlung der Konzernbildung resultiert, allerdings nicht. Umgekehrt fragt sich, ob es gesellschaftsrechtlich unzulässiges, kartellrechtlich aber erlaubtes Verhalten geben kann. Diese Frage ist zu verneinen. Denn es wäre wertungswidersprüchlich, unrechtmäßiges Verhalten kartellrechtlich zu privilegieren. Gesellschaftsrechtliche Grenzen zulässiger Einflussnahmen drücken eine Entscheidung des Gesetzgebers dahingehend aus, dass das abhängige Unternehmen in dem davon angesprochenen Bereich imstande sein soll, seine eigenen Interessen zu formulieren und zu verwirklichen. Die kartellrechtlich erforderliche Übereinstimmung der relevanten Interessen und der Kompetenz des übergeordneten Rechtsträgers, diese Interessen auch verbundweit durchzusetzen, liegt also nicht vor.21 Eine letzte Prämisse der folgenden Einzeluntersuchungen ist m.E. darin zu sehen, dass Kartellrecht nicht zum Instrument der Konzernpolitik gemacht werden kann. Soweit die Verbundspitze also in der Lage wäre, gruppeninternen Wettbewerb z.B. zwischen Schwestergesellschaften zu verhindern, bleibt Kartellrecht unanwendbar. Es zielt (auch) auf die Durchsetzung öffentlicher Interessen. Sein Eingreifen kann daher nicht zur Disposition Privater stehen.22

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Anders insoweit Pohlmann (Fn. 2) 412 ff. (Gesamtanalogie). Die Regelungsziele beider Normenkomplexe sind evident verschieden (näher etwa Menz [Fn. 1] 46ff., 190 f. m.w.N. Zu dem davon unberührten Postulat der Konzentrationsneutralität des Gesellschaftsrechts s. Koppensteiner ZGR 1973, 1 ff. 21 So schon Koppensteiner (Fn. 14) 295 f., ders. (Fn. 8) § 7 Rn. 33. Ebenso im Ergebnis etwa Menz 177, Köhler NJW 1978, 2473, 2478 ff. 22 Vgl. Koppensteiner (Fn. 8) § 7 Rn. 33, ferner Schroeder WuW 1988, 274, 278 f., ebenso im Ergebnis Buntscheck (Fn. 3) 135 f., Heitzer (Fn. 3) 178, Pohlmann (Fn. 2) 408f., Wils ELR 2000, 99, 107f., Fleischer (Fn. 5) 500 ff. m.w.N. Ich halte die Frage im Gegensatz zu Fleischer nicht für besonders schwierig. 20

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c) Im Verhältnis zwischen einer 100 %igen GmbH-Tochter und ihrer Muttergesellschaft greift Kartellrecht nicht ein. Eine Einpersonengesellschaft ist gegenüber dem Inhaber der Anteile kein eigener Interessenträger, auch kein Rechtssubjekt, das, weil weisungsunterworfen, imstande wäre, Entscheidungen gegen den Willen des einzigen Gesellschafters durchzusetzen.23 Hinzu kommt – ein Gedanke, der schon in einer frühen Kommissionsentscheidung auftaucht 24 –, dass es der Mutter unter den angegebenen Voraussetzungen ohne weiteres möglich wäre, die GmbH in eine Zweigniederlassung mit der Folge umzuwandeln, dass Kartellrecht dann von vornherein keine Rolle mehr spielen könnte. Bei einer AG als Tochter liegen die Dinge etwas komplizierter. Denn der Vorstand der Gesellschaft ist nicht weisungsgebunden. Für das deutsche Recht ist ferner anzumerken, dass die §§ 311ff. AktG auch auf Einpersonengesellschaften anzuwenden sind.25 Das lässt sich wohl nicht anders als Zuordnung eines eigenen Interesses auch an solchen Gesellschaften deuten. Diese Entscheidung stimmt mit den tatsächlichen Gegebenheiten nicht überein. Sie ist rechtstechnische Konsequenz des gesetzgeberischen Willens, Ansprüche wegen Beeinträchtigung des Gesellschaftsvermögens der Gesellschaft, also nicht materiell geschädigten Gläubigern zuzuordnen.26 Aus kartellrechtlicher Sicht ist zunächst festzuhalten, dass der Vorstand nicht daran gehindert ist, Veranlassungen der Mutter zu folgen, sofern damit kein „Nachteil“ (so das deutsche Recht) oder ein Schaden verbunden ist. Im Allgemeinen wird eine konzerninterne Wettbewerbsbeschränkung nicht nachteilig/schadensträchtig sein.27 Ausnahmen sind aber denkbar, etwa dann, wenn einer Tochtergesellschaft ein Wettbewerbsverbot auferlegt wird, einer anderen aber nicht. Nach deutschem Recht dürfte der Vorstand sich darauf einlassen, sofern ein Ausgleich gewährt wird.28 Als Regelbefund lässt sich

23 Vgl. für Deutschland nur BGH ZIP 2000, 493, Koppensteiner in Rowedder/SchmidtLeithoff GmbHG, 4. Aufl. (2002) § 43 Rn. 30, 70, für Österreich Koppensteiner, GmbHG, 2. Aufl. (1999) § 61 Rn. 5, 12, je m.w.N. Dass das Selbstkontrahieren des einzigen Gesellschafters nach der Einpersonengesellschaftsrichtlinie nicht unzulässig ist, sondern bloß dokumentiert zu werden braucht, beruht auf derselben Wertung. Das Gesagte schließt nicht aus, dass Weisungen des einzigen Gesellschafters rechtswidrig, unter Umständen nichtig sein können, wenn sie mit zwingendem Recht kollidieren. Aus diesem Grund wäre es unzulässig, wenn die Mutter- die Tochtergesellschaft anweist, mit konzernexternen Dritten kartellrechtswidrige Verträge abzuschließen. 24 ABL 1969, L 165, 12 – Christiani/Nielsen. 25 Vgl. Koppensteiner (Fn. 17) Anh. § 318 Rn. 81 m.w.N. 26 Gläubiger der Gesellschaft können ihren Anspruch nach § 317 Abs. 4 i.V.m § 309 Abs. 4 AktG geltend machen, aber nur, wenn sie von ihrer Schuldnerin selbst keine Befriedigung erlangen können. Diese Regel ist praktisch bisher irrelevant geblieben. Zu den Gründen Koppensteiner (Fn. 17) § 315 Rn. 7, § 309 Rn. 53. 27 Anders Bunte (Fn. 11) § 1 Rn. 255. 28 Die dabei auftauchenden praktischen Schwierigkeiten sind erheblich, vor allem des-

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demnach festhalten, dass verbundinterne Wettbewerbsbeschränkungen unter Beteiligung einer Einpersonen-AG unbedenklich sein dürften. Auf EG-Ebene ist zu fragen, ob die Reichweite von Kartellrecht überhaupt von der Ausgestaltung der mitgliedstaatlichen Gesellschaftsrechte abhängig sein kann. Nach italienischem Aktienrecht zum Beispiel haftet der Alleingesellschafter für Verbindlichkeiten der AG.29 Damit entfällt der Grund, das herrschende Unternehmen zu verpflichten, die abhängige AG nicht zu schädigen. Art. 81 EGV hätte damit einen unterschiedlichen Anwendungsbereich in Abhängigkeit davon, ob die Wettbewerbsbeschränkung einer deutschen/österreichischen oder einer italienischen AG zu beurteilen ist. In der Praxis der europäischen Instanzen spielt vollständige Innehabung der Aktien eine nicht unerhebliche Rolle.30 Dabei ist aber nirgends geprüft worden, wie weit die gesellschaftsrechtlichen Möglichkeiten des Anteilsinhabers reichen. Das entspricht dem Postulat einheitlicher Anwendung von Gemeinschaftsrecht.31 Dennoch meine ich, dass auf die Einbeziehung einzelstaatlicher Gesellschaftsrechte in die EG-kartellrechtliche Würdigung nicht verzichtet werden darf. Der EGV ermöglicht zwar die Harmonisierung nationaler Gesellschaftsrechte in bestimmten Bereichen (Art. 44 Abs. 2 lit. g), nimmt vorhandene Unterschiede also hin. Wenn also überhaupt anerkannt wird, was meines Erachtens unvermeidbar ist, dass es jenseits des gesellschaftsrechtlich Zulässigen keine Privilegierung geben kann, dann ist dies auch gemeinschaftsrechtlich beachtlich. Das Prinzip einheitlicher Anwendung des Gemeinschaftsrechts steht diesem Ergebnis, recht verstanden, nicht entgegen. Denn die hier vertretene Position beeinträchtigt das Kartellverbot keineswegs. Sie läuft nur darauf hinaus, dass eine Ausnahme an den Rändern unterschiedlich abgegrenzt wird. c) Das Bestehen eines Weisungsrechts substituiert alleinige Anteilsinhaberschaft. Wie dort sind allerdings die Grenzen solcher Weisungsrechte zu beachten. Wo diese Grenzen nicht tangiert werden, impliziert das Weisungsrecht, dass sowohl eigene Interessen als auch die Entscheidungsautonomie der Tochtergesellschaft keine Rolle spielen. Es liegen also die Voraussetzungen vor, von denen die Privilegierung gruppeninterner Wettbewerbsbeschränkungen abhängig zu machen ist. § 308 AktG gibt dem herrschenden Unternehmen ausdrücklich ein Weisungsrecht, wenn ein Be-

halb, weil ein Nachteil meistens nur dann ausgleichsfähig ist, wenn er quantifiziert werden kann. Näher Koppensteiner (Fn. 17) § 311 Rn. 57 ff., 99 ff. 29 Vgl. Koppensteiner (Fn. 17) Vorb. § 291 Rn. 123 m.N. 30 Zur Vorgehensweise der Kommission siehe Menz 316ff. Der Leitentscheidung des EuGH (Viho, oben Fn. 5) lagen 100 %ige Tochtergesellschaften zugrunde (die übrigen von Menz, a.a.O, 313ff. zitierten Entscheidungen beziehen sich auf Zurechnungsfragen und damit auf ein ganz anderes Problem, s. unten III.). 31 Zu ihm etwa Streinz in Streinz (Fn. 4) Art. 10 EGV Rn. 16.

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herrschungsvertrag besteht. Im Ergebnis dasselbe gilt auch für Österreich 32, ebenso für die GmbH 33. Grenzen des Weisungsrechts spielen beim normtypischen Beherrschungsvertrag im hier interessierenden Zusammenhang praktisch keine Rolle.34 Auch hier gilt allerdings, dass die Tochter nicht dazu angewiesen werden kann, einen kartellrechtswidrigen Vertrag mit Dritten zu schließen. Das GmbH-rechtliche Weisungsrecht gilt auch bei Vorhandensein von Minderheitsgesellschaftern. Es darf aber nur über einen Gesellschafterbeschluss ausgeübt werden. Dabei ist allerdings die Pflicht aller Beteiligten, namentlich des Mehrheitsgesellschafters, zu beachten, sich am gemeinsamen Interesse zu orientieren, die Gesellschaft jedenfalls nicht zu schädigen.35 Bei Entscheidungen in Geschäftsführungsangelegenheiten ist diese Pflicht besonders ausgeprägt, wird allerdings durch einen breiten Beurteilungsspielraum ergänzt. In manchen Fällen, insbesondere dann, wenn der Tochter ein Wettbewerbsverbot zugunsten des Merheitsgesellschafters (der Mutter) auferlegt werden soll, ist Ermessensmissbrauch aber zweifelsfrei zu bejahen. Das bedeutet im Normalfall, dass der Beschluss anfechtbar ist. Geht man aber davon aus, was m.E. zutrifft, dass die gesellschaftsrechtliche Unzulässigkeit eines Weisungsbeschlusses auch die Grenzen des kartellrechtlichen Konzernprivilegs absteckt, so wäre sogar Beschlussnichtigkeit anzunehmen. d) Noch nicht als solche erörtert wurde die kartellrechtliche Relevanz von Abhängigkeit im mehrgliedrigen Aktienkonzern. Da die §§ 311ff. AktG insoweit nicht unterscheiden, gilt dasselbe wie für 100 %ige Tochtergesellschaften. Nach weit verbreiteter Auffassung – sie ist bei mehrgliedrigen plausibler als bei Einpersonengesellschaften – setzt die Privilegierung verbundinterner Wettbewerbsbeschränkungen indes voraus, dass von vorhandenen Einflussmöglichkeiten auch tatsächlich Gebrauch gemacht wird.36 Das begründet man damit, Planungs- und Entscheidungszuständigkeiten verblieben den Tochterunternehmen, soweit die Konzernspitze dies zulasse. Insoweit seien die Konzernunternehmen wirtschaftlich selbständig und der daher real existierende Wettbewerb müsse geschützt werden. Im Ergebnis führt diese Auffassung dazu, dass Kartellrecht, wie schon angemerkt, zu einem Instrument der Konzernpolitik wird. Denn ob es eingreift, hängt demnach davon ab, ob sich die Gruppenleitung für zentrale oder dezentrale Führung des Verbunds entscheidet. Das lässt sich mit dem Ziel von Kartellrecht, Wettbewerb 32 Dazu repräsentativ Rüffler Lücken im Umgründungsrecht (2002) 44ff., dagegen, aber nicht überzeugend, Artmann Gesellschaftsrechtliche Fragen der Organschaft (2004) 165ff. 33 S. für Deutschland Koppensteiner (Fn. 23) Anh. nach § 52 Rn. 53, für Österreich Rüffler a.a.O., 46 f. 34 Vgl. Koppensteiner (Fn. 17) § 308 Rn. 30. 35 Für Einzelheiten etwa Koppensteiner (Fn. 23) § 47 Rn. 125ff. 36 S. Menz (Fn. 1) 354 ff. mit umfangreichen w.N.

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aus überindividuellen Gründen gegen Verfälschungen zu schützen, nicht vereinbaren. Auch bei Einbeziehung privater Interessenträger, wie zum Beispiel Kunden oder Lieferanten von Konzernunternehmen ändert sich nichts. Denn diese Personengruppen haben keinen Anspruch darauf, dass die Konzernspitze auf im Übrigen zulässige Einflussnahmen verzichtet und können aus der Abwesenheit solcher Einflussnahmen keine für sie günstigen Rechtsfolgen ableiten. Festzuhalten ist daher, dass einheitliche Leitung oder, mehr noch, die konkrete Steuerung der in Frage stehenden Wettbewerbsbeschränkung „von oben“ nicht erforderlich ist. Jederzeit aufhebbare Entscheidungsautonomie genügt nicht, um einen Rechtsträger als tauglichen Wettbewerber des einflussmächtigen Unternehmens zu etablieren. Entgegen gelegentlich geäußerter Auffassung 37 sind dieselben Maßstäbe auch auf (nicht veranlasste) wettbewerbsbeschränkende Verträge/abgestimmtes Verhalten unter Schwestergesellschaften anzuwenden. Denn ob und Intensität solchen Wettbewerbs hängt ebenfalls von Entscheidungen der Verbundspitze ab. Das aus meiner Sicht zentrale Argument – keine Abhängigkeit der Anwendbarkeit von Kartellrecht von Organisationsentscheidungen Privater – muss also auch hier den Ausschlag geben.38 Zu beachten ist, dass die gesellschaftsrechtlichen Grenzen für wettbewerbsbeschränkendes Tun selbstverständlich auch dann relevant sind, soweit keine Veranlassung des herrschenden Unternehmens vorliegt. Kein Vorstand/Geschäftsführer ist befugt, eine Wettbewerbsbeschränkung zu akzeptieren, die geeignet ist, der eigenen Gesellschaft mehr Nach- als Vorteile einzubringen. Eine einseitige Gebietsbeschränkung zum Beispiel zwischen Verbundgliedern ist kartellrechtlich daher ebenso erheblich wie dies im Veranlassungsfall zutrifft. e) Die Frage, welchem Tatbestandsmerkmal der Kartellverbote (Unternehmen, Wettbewerbsbeschränkung, Vereinbarung/abgestimmtes Verhalten) die vorstehend entwickelten Ergebnisse zuzuordnen sind, dürfte praktisch kaum bedeutsam sein.39 Alle denkbaren und auch vorgeschlagenen Möglichkeiten haben ihre Schwächen. Wer die Gruppe als ein Unternehmen qualifiziert, muss sich entgegenhalten lassen, dass diese Auffassung notwendigerweise zu einem gespaltenen Unternehmensbegriff führt und zwar deshalb, weil Verträge von Konzerngliedern mit Dritten ganz zweifelsfrei tat37 S. etwa Eilmansberger (Fn. 4) Art. 81 EGV Rn. 10, Emmerich in Immenga/Mestmäcker, EG-Wettbewerbsrecht I (1997) Art. 85 Abs. 1 Rn. 51. 38 Wie hier Mestmäcker/Schweitzer (Fn. 15) 237, 238, Pohlmann (Fn. 2) 417, Fleischer (Fn. 5) 499f. 39 Tendenziell anders Eilmannsberger (Fn. 4) Rn. 6 Fn. 25 mit Hinweis darauf, dass Art. 3 VO 1/2003 den Vorrang des Gemeinschaftsrechts ausdrücklich nur für das Tatbestandselement der Wettbewerbsbeschränkung festlegt. Dem dürfte aus teleologischen Gründen aber keine ausschlaggebende Bedeutung zukommen.

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bestandsmäßig sein können.40 Die Annahme, verbundene Unternehmen stünden nicht in einem beschränkbaren Wettbewerbsverhältnis, vernachlässigt, dass Art. 81 EGV, bezogen auf Vertikalbeschränkungen, kein Wettbewerbsverhältnis voraussetzt. Gegen die Annahme, zwischen herrschenden und abhängigen Unternehmen könnten wegen fehlender Autonomie der letzteren keine Vereinbarungen geschlossen werden, es handle sich vielmehr um einseitiges Verhalten, sprechen ihre Konsequenzen. Denn die angegebene Begründung würde Vertragsbeziehungen im Unternehmensverbund, zu Ende gedacht, überhaupt unmöglich machen. Das kann aber nicht richtig sein. Man denke nur an Unternehmensverträge, die in aller Regel im Rahmen einer schon vorhandenen Herrschaftsbeziehung abgeschlossen werden. Auch im Fall der Veräußerung abhängigkeitsbegründenden Anteilsbesitzes an einen Dritten, würde wohl niemand auf den Gedanken kommen, dass Verträge der Tochter mit der bisherigen Mutter wegen fehlender Bindungswirkung nun irrelevant werden. Schließlich führt die hier kritisierte Auffassung, wie schon bemerkt, auch zu einer kartellrechtlich bedenklichen Einordnung von Verträgen zwischen Schwestergesellschaften. Insgesamt ist es wohl am Besten, auf den Versuch zu verzichten, das „Konzernprivileg“ an ein bestimmtes Tatbestandsmerkmal des Kartellverbots anzubinden. Meines Erachtens genügt der Nachweis, dass dieses Verbot auf Vereinbarungen/abgestimmtes Verhalten innerhalb des Verbunds aus teleologischen Gründen nicht anwendbar ist. Anwendungstechnisch kann man dies auf eine Gesamtbetrachtung der in Betracht kommenden Tatbestandsmerkmale stützen. Alternativ könnte trotz des vorher mitgeteilten Gegenarguments an das Merkmal der Wettbewerbsbeschränkung gedacht werden. Die für vertikale Wettbewerbsbeschränkungen zentrale Beeinträchtigung der Handlungsmöglichkeiten Dritter, sei gegenstandslos – so würde das Argument lauten –, weil sie ihrerseits zwei unabhängig voneinander agierende Vertragspartner voraussetzt. Dieses Gesetzesverständnis würde gut zu den unter a) und b) entwickelten Leitgedanken für die Abgrenzung des „Konzernprivilegs“ passen.

III. Verhaltenszurechnung im Unternehmensverbund Die im Folgenden erörterten Zurechnungsfragen stellen sich im Kontext von Unterlassungs-/Abstellungsverfügungen 41 und der Verhängung von Geldbußen 42. Näher geprüft wird nur die Bußgeldproblematik. Doch ist

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Gegen dieses Argument Buntscheck (Fn. 3) 93 f., Menz (Fn. 1) 183 ff. Z.B. nach Art. 7 VO 1/2003. Z.B. nach Art. 23 VO 1/2003.

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anzunehmen, dass die Ergebnisse im Kontext von Unterlassungsverfügungen nicht anders aussehen.43 1. Die Kommission nähert sich der Zurechnungsfrage meistens, allerdings nicht immer, in zwei Schritten.44 Zunächst hält sie es für erforderlich, die relevante wirtschaftliche Einheit zu identifizieren. Dabei kann es sich um die gesamte Unternehmensgruppe oder einen Teil derselben handeln.45 Sodann wird zweitens geprüft, welche der dieser Einheit zugehörenden Rechtspersonen als Adressat einer Bußgeldentscheidung in Betracht kommen. Damit der Wettbewerbsverstoß einer Tochter der Muttergesellschaft zugerechnet werden kann, ist grundsätzlich erforderlich, dass sie an diesem Verstoß beteiligt war, sei es, dass sie ihn selbst initiiert oder zumindest gebilligt hat, etwa dadurch, dass er der allgemeinen Geschäftspolitik der Gruppe entspricht. Allgemein hängt die Zurechnung an die Mutter davon ab, dass sie das Verhalten der Töchter zumindest kontrollieren kann. Zurechnungsgrund kann auch die Delegation von Leitungsmacht an einen untergeordneten Rechtsträger, zum Beispiel an ein Schwesterunternehmen der unmittelbar am Verstoß beteiligten Gesellschaft sein.46 Die Kommission muss die Tatsachen beweisen, auf die sich die Zurechnung stützt. Im Fall von (nahezu) 100 % Anteilseigentum liegt es umgekehrt; das belangte Gruppenglied muss in einem solchen Fall nachweisen, dass die durch Anteilseigentum vermittelte Leitungsmacht nicht ausgeübt wurde.47 Das wird damit begründet, dass Einpersonengesellschaften in der Regel eine Politik verfolgten, die von den Intentionen der Mutter geprägt seien. Bei der Entscheidung darüber, wer unter mehreren in Betracht kommenden Gruppengliedern bußgeldrechtlich verantwortlich gemacht werden soll, steht der Kommission Verfolgungsermessen zu. Wichtig ist, wer die Gesamtverantwortung trägt, aber auch der Tatbeitrag einzelner Gruppenglieder. Daher kann auch gesamtschuldnerische Haftung angeordnet werden.

43 Dafür spricht namentlich (auf der Ebene des EG-Rechts), dass die Art. 7 und 23 VO 1/2003 als Adressaten einer Entscheidung gleichlautend auf „beteiligte Unternehmen“ abstellen. Der „nulla poena sine lege“ – Grundsatz gilt freilich nur für Bußgelder. Aber auch im Verwaltungsrecht wird vorausgesetzt, dass die Norm den Adressaten des Aktes zumindest mitmeint. 44 Ausführlich dazu Menz (Fn. 1) 122 ff. 45 S. z.B. die Kommissionsentscheidung ABl 1994, L 243, 1, 18. 46 Dazu EuGH Slg. 2000, I-9925 – Stora Kopparbergs (Rn. 25 ff.). Zu diesem Urteil Riesenkampff WuW 2001, 357 ff. 47 Vgl. wiederum das Stora-Urteil des EuGH a.a.O. im Anschluss an frühere Entscheidungen.

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Die Rechtsprechung der europäischen Gerichte 48 liegt auf der Linie der Kommission. Das Selbe gilt, soweit ersichtlich, für die Hauptströmung des Schrifttums.49 Für Deutschland und Österreich gibt es kaum signifikante Praxis 50, auch viel weniger an einschlägiger Literatur 51. Eine deutliche Tendenz, die Dinge anders zu sehen als auf EG-Ebene, überhaupt eine eigenständige Argumentation, ist nicht zu erkennen. Das kann auch nicht überraschen. Denn divergierende normative Determinanten für die Behandlung der Zurechnungsfrage dürften nicht existieren. Hervorzuheben ist, dass vielfach angenommen wird, die Kriterien, die die Abgrenzung des „Konzernprivilegs“ bestimmten (oben II.), entschieden auch über die Möglichkeit, Verhalten eines Verbundglieds einem anderen zuzurechnen.52 Darauf wird später zurückzukommen sein. 2. Die mitgeteilten Gründe zum Meinungsstand vermögen nicht in allen Punkten zu befriedigen. a) Zweifelsfrei ist allerdings die prinzipielle Möglichkeit der Zurechnung. Für das EG-Recht folgt dies aus Art. 23 VO 1/2003, für Deutschland aus § 14 OWiG, für Österreich aus § 142 KartG. b) Zu Recht wird allgemein verlangt, dass der Rechtsträger, dem ein Kartellverstoß zugerechnet werden soll, an ihm beteiligt sein muss. Eine Weisung, auch eine andere Form der Veranlassung genügt zweifelsfrei. Auch die Billigung beanstandungswürdigen Verhaltens reicht aus, jedenfalls dann, wenn das kartellrechtswidrige Verhalten des unmittelbar beteiligten Gruppenglieds ansonsten anders ausgefallen wäre. Bloße Kenntnis, die nicht auch als konkludente Zustimmung aufzufassen ist, dürfte kaum ausreichen. Es fehlt in solchen Fällen an dem im Rahmen quasi strafrechtlicher Haftung unverzichtbaren Tatbeitrag.53 Abzulehnen ist die Annahme, die Delegation von Leitungsmacht wirke für sich allein zurechnungsbegründend. Denn darin liegt noch kein Tatbeitrag. Die Gegenthese könnte nicht erklären, warum die Konzernspitze für Verhalten von Tochtergesellschaften, mit dem sie nichts zu tun hat, nicht verantwortlich gemacht werden kann. Die einschlägige Praxis ist insoweit widersprüchlich.

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Zu ihr mit allen Einzelheiten Menz (Fn. 1) 128ff. Zuletzt EuG DB 2005, 2127. Vgl. Schröter (Fn. 4) Art. 81 Rn. 128; Bunte in Bunte (Fn. 11) Art. 81 Rn. 140; Menz (Fn. 1) 104ff., genauer Pohlmann (Fn. 2) 362 f. mit Stellungnahme (363ff.). 50 Vgl. immerhin Menz (Fn. 1) 81 f. 51 S. Menz 54 ff. m.w.N. 52 So Emmerich in Immenga/Mestmäcker (Fn. 37) Art. 85 Abs. 1 Rn. 61; Mestmäcker/ Schweitzer (Fn. 15) 503, Wils (Fn. 22) 114, Menz (Fn. 1) 391f. (zusammenfassend) m.w.N. 53 Betonung dieses Gesichtspunkts bei Buntscheck (Fn. 3) 101. 49

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Fraglich ist, ob ein Kontroll- oder Abhängigkeitssachverhalt vorliegen muss. In der Regel wird dies zutreffen, weil es ansonsten an der Möglichkeit fehlt, andere Gesellschaften zu irgendetwas zu veranlassen. Zwingend ist diese Annahme aber nicht. Man denke nur an den Fall, dass es einem mit zum Beispiel 30 % an einer GmbH beteiligten Unternehmensträger gelingt, andere Gesellschafter davon zu überzeugen, an einem auf eine Wettbewerbsbeschränkung gerichteten Weisungsbeschluss mitzuwirken. Auch in einem solchen Fall wäre zuzurechnen. Vorauszusetzen ist also nur ein Tatbeitrag, nicht dagegen, dass er mit Kontrolle kausal verknüpft ist. Fraglich ist deshalb, welchen Wert die Kategorie der „wirtschaftlichen Einheit“ im hier interessierenden Zusammenhang haben soll und damit auch, ob das vorher erwähnte zweistufige Verfahren geboten ist. Ich meine, dass beide Fragen zu verneinen sind. Ausschlaggebend ist ein Tatbeitrag des übergeordneten Rechtsträgers dergestalt, dass rechtswidriges Verhalten ansonsten unterblieben wäre. Das lässt sich im Rahmen einer Herrschafts-Abhängigkeitsbeziehung gewiss leichter feststellen, ist aber kein Bestandteil des Tatbestandes. Über die von den Europäischen Instanzen für richtig gehaltene Verteilung der Beweislast bei Einpersonengesellschaften kann man streiten.54 Nichts einzuwenden ist zwar gegen die Annahme, dass sich Vorstände/Geschäftsführer einer Gesellschaft ohne Minderheitsgesellschafter im Allgemeinen an der Planung des Anteilsinhabers orientieren werden. Aber das reicht nicht aus, wenn es an der Verlautbarung einer solchen (verbundweiten) Planung oder am Nachweis einer Einflussnahme fehlt, die sich mit kartellrechtswidrigem Verhalten der Tochter in Verbindung bringen ließe. Der Einwand, es könne ja nachgewiesen werden, dass die Tochter unabhängig agiert habe, lässt die besonderen Schwierigkeiten eines Negativbeweises außer Acht. Besondere Beweislastregeln bei 100 %iger Beteiligung lassen sich daher allenfalls dann rechtfertigen, wenn die Anforderungen an den Negativbeweis großzügig gehandhabt werden. c) Insgesamt ergibt sich, dass von einer kartellrechtlichen Einheitsbehandlung der Unternehmensgruppe keine Rede sein kann. Zurechnung setzt wie gesehen voraus, dass dem Adressaten ein Tatbeitrag vorzuwerfen ist, während Abhängigkeit zwar im Regelfall vorliegen wird, aber kein Tatbestandsmerkmal darstellt. Bei der Abgrenzung gruppeninterner, daher privilegierter Wettbewerbsbeschränkungen gilt genau umgekehrtes. Abhängigkeit ist unverzichtbar, einheitliche Leitung oder sonstige Veranlassung dagegen nicht. Auch gesellschaftsrechtliche Einflussgrenzen sind gegensätzlich zu bewerten. An ihnen endet die bevorzugte Behandlung verbundinterner Wettbewerbsbeschränkungen. Für die Beantwortung der Zurechnungsfragen sind sie 54

Kritisch namentlich Riesenkampff (Fn. 46) 358.

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dagegen irrelevant. Denn es leuchtet unmittelbar ein, dass sich der Adressat einer Bußgeldverfügung nicht mit dem Argument wehren kann, sein Tatbeitrag sei gesellschaftsrechtlich unzulässig gewesen. Dagegen wird zwar geltend gemacht, die weitgehende kartellrechtliche Immunität des konzernrechtlichen Innenverhältnisses müsse im Gegenzug dazu führen, dass sich der Verbund auch im Außenverhältnis als Einheit behandeln lassen, also Zurechnung akzeptieren müsse.55 Aber dieses Argument taugt nicht viel. Denn angesichts völlig verschiedener Problemlagen hat es ungefähr dieselbe Überzeugungskraft wie die Behauptung, weil Mailänder mehr von Kartellrecht verstehe, Koppensteiner aber mehr von Gesellschaftsrecht, seien beide gleich gute Juristen.

55

S. Menz (Fn. 1) 391 m.N. gleichsinniger Quellen.

Die notwendige Europäisierung deutschen Richterrechts Eberhard Körner Inhaltsübersicht I. Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Doktrin des „weiterfressenden Schadens“ im deutschen Recht unter EU-Gesichtspunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Grundsätze der Produkthaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Entwicklung der Produzentenhaftung im deutschen Recht . . . . . III. Gewerblicher Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die unmittelbare Leistungsübernahme nach Einführung des Benutzungsgeschmacksmusters nach Art. 1 (2) a GemGeschmVO . . . . . . . . . . . 2. Vermeidbare Herkunftstäuschung und Kennzeichenrecht . . . . . . . . IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . 141 . . . .

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I. Problemstellung Die in der EU angestrebte Angleichung der Lebensverhältnisse erfordert auf den dem Austausch von Waren und Dienstleistungen dienenden Materien des Wirtschaftsrechts wenn nicht eine Rechtsvereinheitlichung, so doch zumindest eine Rechtsangleichung unter den Mitgliedstaaten der EU. Auch unter Berücksichtigung des Subsidiaritätsprinzips hat deshalb die EUGesetzgebung zahlreiche Materien besetzt, deren Rechtsvereinheitlichung oder Rechtsangleichung als vordringlich für die Entwicklung eines gemeinsamen Marktes angesehen wurden. Dies geschah entweder im Verordnungswege, der zur unmittelbaren Geltung einheitlichen Rechts in den Mitgliedstaaten führt, überwiegend jedoch im Wege der Richtlinienkompetenz der EU auf Gebieten, in denen trotz des erstrebenswerten Zieles der Rechtsvereinheitlichung die Durchführung den Gesetzgebungen der Mitgliedstaaten überlassen wurde. Die Gesetzgebungsorgane der Mitgliedstaaten haben dabei bei der Umsetzung der Richtlinien in nationales Recht darauf zu achten, dass die Ziele der Richtlinien beim Erlass der innerstaatlichen Rechtsnormen nicht außer Acht gelassen werden und gegebenenfalls bereits bestehende, mit den Grundsätzen der jeweiligen Richtlinien in Widerspruch stehende einzelstaatliche Rechtsnormen im Sinne der Richtlinien geändert

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oder aufgehoben werden. Die Kontrolle der gemeinschaftskonformen Rechtsumsetzung obliegt dem EuGH, sei es im Wege des von der Kommission einzuleitenden Verletzungsverfahrens gegen einen Mitgliedstaat, sei es im Wege der Richtervorlage aufgrund eines konkreten Rechtsstreits. Während der Kontrollmechanismus über die Mitgliedstaaten bei dem Erlass von Vollzugsgesetzen oder bei der Änderung bereits bestehender einzelstaatlicher Gesetze als eingespielt gelten kann, erhebt sich das noch wenig durchforstete, in der Praxis aber nicht minder wichtige Problem der Rechtsangleichung einer eingefahrenen Rechtsprechung der Mitgliedstaaten an die neueren gesetzlichen EU-Normen und EU-Grundsätze, wobei aufgrund der Weisungsfreiheit der innerstaatlichen Gerichte eine direkte Einflussnahme der EU-Organe auf die innerstaatliche Rechtsprechung nicht möglich ist. Eine Kontrolle durch den EuGH ist deshalb weitgehend eklektisch auf eine Richtervorlage im Einzelfall angewiesen. Es sollte deshalb zu einer vordringlichen Aufgabe der einzelstaatlichen Rechtsprechung werden, ihre Rechtsprechungsgrundsätze anhand neuerer EU-Normen auf ihre EU-Konformität zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern. In den nachfolgenden Ausführungen sollen deshalb drei Beispiele untersucht werden, in denen die deutschen Gerichte nicht aufgrund bestehender Gesetze, sondern durch ständige Rechtsprechung Lösungen entwickelt haben, die in dieser Form nicht mit neuerem, höherrangigem EU-Recht in Einklang stehen und deshalb im Wege der Selbstkontrolle geändert oder eingeschränkt werden müssen.

II. Die Doktrin des „weiterfressenden Schadens“ im deutschen Recht unter EU-Gesichtspunkten 1. Die Grundsätze der Produkthaftung Die Produkthaftung ist grundsätzlich eine Materie des Deliktsrechts. Im Falle des Schadenseintritts durch ein fehlerhaftes Produkt gewähren praktisch alle Industriestaaten einen Schadenersatz auf der Basis des Deliktsrechts. Dieses Problem gewann vor allem Bedeutung aufgrund der immer stärker anwachsenden Massenproduktion, bei der in der Regel keine vertragliche Beziehung zwischen dem Hersteller und dem Endverbraucher besteht. Soweit diese Personen in einer vertraglichen Beziehung stehen, etwa aufgrund eines Kauf- oder Mietvertrages, ist die Frage des Eintritts eines Personenschadens oder eines Schadens an beweglichen oder unbeweglichen Sachen zunächst ein Problem der vertraglichen Gewährleistung 1. Da jedoch 1 Vgl. Münchener Kommentar zum BGB (Wagner), 4. Aufl., vor § 823 Rn. 1; Staudinger (Hager), BGB, 13. Bearb., Vorbem. zu §§ 823 ff. Rn. 38.

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Deliktsansprüche aufgrund eines fehlerhaften Produkts sehr häufig über derartige Gewährleistungsansprüche hinausgehen, kommen beide Anspruchsgrundlagen oft kumulativ zur Anwendung 2. Beispielhaft sei aufgeführt der Fall von fehlerhaften Bremsen in einem Kraftfahrzeug, welche zu einem Unfall mit schwerem Personenschaden für den Fahrer und zu einer erheblichen Beschädigung des Kfz führen: Hier besteht zunächst ein Gewährleistungsanspruch, sodann aber auch ein Produkthaftungsanspruch. Während sich die Gewährleistung auf den Ersatz oder die Reparatur des beschädigten Kfz richtet 3, richtet sich die Produkthaftung vor allem auch auf die Entschädigung des Fahrers für den Personenschaden. Die Problematik entsteht jedoch bei der Konkurrenz beider Haftungsansprüche für Sachschäden, da Art. 9 Abs. 2 b der Richtlinie des Rates 85/374/EWG vom 25.7.1985 über die Angleichung der Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die Haftung für fehlerhafte Produkte 4 („RL 85/374“) die Produkthaftung für Sachschäden einschränkt auf beschädigte Sachen, die außerhalb des fehlerhaften Produktes liegen und die primär für den privaten Gebrauch oder Verbrauch bestimmt sind und vom Geschädigten hauptsächlich für den eigenen privaten Gebrauch oder Verbrauch benutzt werden. Alle beschädigten Sachen, die diese Voraussetzungen nicht erfüllen, sind mithin nach Art. 9 Abs. 2 b der RL 85/374 von Produkthaftungsansprüchen ausgeschlossen. 2. Die Entwicklung der Produzentenhaftung im deutschen Recht a) Hauptsächlich bedingt durch die kurze Verjährungsfrist für Gewährleistungsansprüche von grundsätzlich sechs Monaten nach dem bis 31.12. 2001 geltenden BGB5 entwickelte die deutsche Rechtsprechung 6 eine „Spezialität deutschen Rechts“ in dem Bestreben, in Fällen der Sachbeschädigung durch ein fehlerhaftes Produkt zur deliktischen Verjährungsfrist von drei Jahren zu gelangen selbst in Fällen, die der Sache nach reine Gewähr-

2

Staudinger (Hager), a.a.O., § 823 Rn. B 106; BGH NJW 1978, 2241. Staudinger (Matusche-Beckmann), BGB, Neubearb. 2004, § 439 Rn. 1; Bamberger/ Roth (Faust), BGB, § 439 Rn. 6. 4 ABl. 1985 L 210, 29. 5 Vgl. § 477 BGB a.F. 6 So vor allem BGH NJW 1977, 379 „Schwimmerschalter“; BGH NJW 1978, 2241 „Hinterreifen“; BGH NJW 1983, 810 „Gaszug“. Hierbei kann für die nachfolgenden Erörterungen außer Betracht bleiben, ob für die Deliktshaftung der vom BGH zunächst als maßgeblich angesehene Gesichtspunkt der Schadensverursachung durch ein funktionell begrenztes Einzelteil oder das in späteren Entscheidungen für maßgeblich angesehene Kriterium der fehlenden, allein das Äquivalenzinteresse berührenden Stoffgleichheit von fehlerhafter und beschädigter Sache entscheidend ist; vgl. hierzu Münchener Kommentar (Wagner), a.a.O., § 823 Rn. 122. 3

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leistungsfälle sind, wie etwa der an dem fehlerhaften Produkt selbst entstandene Schaden. Normalerweise besteht ein Produkt aus einer Vielzahl von Bestandteilen, welche oft auf verschiedene Unterlieferanten zurückgehen, wie etwa bei einem Kraftfahrzeug die Bremsen, das Getriebe, die Reifen und die Ventile. Soweit nur eines dieser Teile fehlerhaft ist, etwa das Ventil, und dieser Fehler einen Schaden an den übrigen Bestandteilen oder an dem gesamten Kfz herbeiführt, liegt primär ein Gewährleistungsfall vor. Da jedoch sehr häufig die kurze Verjährungsfrist im Zeitpunkt des Schadenseintritts verstrichen ist, hat die deutsche Rechtsprechung die Doktrin des weiterfressenden Schadens entwickelt, welche besagt, dass im Fall der Fehlerhaftigkeit eines funktionell begrenzten Teiles, welches zu einem Schaden an den anderen Teilen oder an dem Gesamtprodukt führt, der Hersteller dieses funktionell begrenzten Teils gegenüber dem Eigentümer des Gesamtprodukts aus Delikt haftet 7, womit insbesondere die zeitliche Beschränkung der kurzen Verjährungsfrist für die Gewährleistung umgangen wird. Diese Doktrin des weiterfressenden Schadens ist inzwischen in der deutschen Rechtsprechung allgemein anerkannt. Die einzige Einschränkung dieser Produzentenhaftung aufgrund des § 823 Abs. 1 BGB 8 ist das Erfordernis zumindest der Fahrlässigkeit – welches für Gewährleistungsansprüche nicht besteht – wobei jedoch dieses Erfordernis weitgehend zur Bedeutungslosigkeit verdammt ist, nachdem die Rechtsprechung zahlreiche prima facie-Regeln zu Lasten des Herstellers des fehlerhaften Produkts aufstellt 9. Die Doktrin des weiterfressenden Schadens stellt sich als Unikum des deutschen Rechts der Haftung für fehlerhafte Produkte dar und führt zu Widersprüchen mit der RL 85/374 innerhalb der EU. b) Für die Mitgliedstaaten der EU stellt die RL 85/374 Grundsätze über die Produkthaftung auf, welche die Mitgliedstaaten innerhalb von drei Jahren nach Veröffentlichung dieser RL umzusetzen hatten 10. Die wichtigste 7 So vor allem BGH NJW 1977, 379 „Schwimmerschalter“. Auch unter dem Kriterium der fehlenden Stoffgleichheit wird eine über das Äquivalenzinteresse hinausgehende Haftung für das Integrationsinteresse wohl nur dann in Betracht kommen, wenn sich die von Anfang an vorliegende Fehlerhaftigkeit des Produkts auf einen funktionell begrenzten Teil beschränkt. 8 Da das Deliktsrecht kein Erfolgs- sondern Verhaltensunrecht ist, vgl. Münchener Kommentar (Spindler), a.a.O., § 823 Rn. 9, ist auch für die deliktische Haftung des Produzenten eines fehlerhaften Produkts auf dessen rechtswidriges Verhalten abzustellen, so dass für diese deliktische Haftung im Gegensatz zur objektiven Produkthaftung bereits terminologisch besser von Produzentenhaftung gesprochen werden sollte, vgl. zu dieser Terminologie Erman (Schiemann), BGB, 11. Aufl., § 823 Rn. 108. 9 Vgl. etwa BGH VersR 1958, 107 „Betondecken“ und BGH NJW 1969, 269 „Hühnerpest“ für den objektiven Mangel des Produkts; BGH NJW 1992, 560 „Kindertee I“ und BGH NJW 1999, 2815 „Papierreißwolf“ für Instruktionsfehler. 10 Art. 19 (1) RL.

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Bestimmung der RL 85/374 ist die Einführung der verschuldensfreien Gefährdungshaftung des Herstellers für den von einem Fehler seines Produktes herbeigeführten Schaden. Nach Art. 9 der RL 85/374 bedeutet Schaden sowohl Tod als auch Körperschaden, ferner aber auch „Schaden oder Zerstörung einer Sache außer des fehlerhaften Produkts selbst mit einer Untergrenze von EUR 500,–, soweit die Sache (i) nach ihrer Beschaffenheit normalerweise für den privaten Gebrauch oder Verbrauch bestimmt ist und (ii) von dem Geschädigten hauptsächlich für seinen privaten Gebrauch oder Verbrauch benutzt wurde“. Wie alle anderen Mitgliedstaaten der EU setzte die Bundesrepublik Deutschland die Bestimmungen der RL 85/374 in nationales Recht um durch den Erlass des Produkthaftungsgesetzes vom 15.12. 1989 11, wobei sie sich nahezu wörtlich an die Bestimmungen der RL 85/374 hielt, ohne von den sehr geringen Ausnahmen Gebrauch zu machen, welche die RL 85/374 den Mitgliedstaaten für den Erlass von von der RL 85/374 abweichenden nationalen Bestimmungen zubilligte. Dementsprechend sieht auch § 1 (1) Satz 2 des Produkthaftungsgesetzes einen Schadenersatz für die Beschädigung oder Zerstörung einer Sache auch nur dann vor, wenn diese Sache nach ihrer Art für privaten Gebrauch bestimmt ist und dementsprechend verwendet wird und für Schäden an einer anderen Sache als am fehlerhaften Produkt selbst. Mithin ist die oben geschilderte Doktrin des weiterfressenden Schadens nicht auf die Gefährdungshaftung nach dem Produkthaftungsgesetz anwendbar. Jedoch wendet die deutsche Rechtsprechung die Doktrin des weiterfressenden Schadens nach wie vor auf die Produzentenhaftung nach § 823 (1) BGB an, wobei sie sich auf die verkürzte Umsetzung des Art. 13 der RL 85/374 durch § 15 (2) des Produkthaftungsgesetzes verlässt, wonach „eine Haftung aufgrund anderer Vorschriften unberührt bleibt“. Diese Vorschrift wird in der Literatur überwiegend so interpretiert, dass sie auch die Doktrin des weiterfressenden Schadens nach § 823 (1) BGB aufrecht erhält12. Demgegenüber ist jedoch auf den vollständigen Wortlaut des Art. 13 der RL 85/374 für die Aufrechterhaltung anderer Haftungsgrundlagen hinzuweisen, welcher wie folgt lautet: „Die Ansprüche, die ein Geschädigter aufgrund der Vorschriften über die vertragliche und außervertragliche Haftung oder aufgrund einer zum Zeitpunkt der Bekanntgabe dieser Richtlinie bestehenden besonderen Haftungsregelung geltend machen kann, werden durch diese Richtlinie nicht berührt.“

Dieser sehr viel engere Wortlaut des Art. 13 der RL änderte jedoch nichts an der deutschen Praxis betreffend die weitere Geltung der Doktrin des weiterfressenden Schadens über nunmehr zwei Jahrzehnte. 11

BGBl. 1989 I S. 2198. So Münchener Kommentar (Wagner), a.a.O., § 15 ProdHaftG Rn. 2; Erman (Schiemann), a.a.O., § 15 ProdHaftG Rn. 3., a.A. aber zu Recht Tiedtke NJW 1990, 2961 S. 2963. 12

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c) Diese Rechtslage bedarf jedoch einer vollständigen Überprüfung auf der Basis zweier Entscheidungen der 5. Kammer des EuGH vom 25.4.2002, in denen der EuGH feststellte, dass außer den wenigen engen Ausnahmen zugunsten der Mitgliedstaaten für den Erlass abweichender Bestimmungen die Bestimmungen der RL 85/374 auf dem Gebiet der Produkthaftung für jeden Mitgliedstaat zwingend sind, selbst wenn die nationalen Rechte einen weitergehenden Schutz für den Geschädigten als die RL 85/374 vorsehen, da es der primäre Zweck der RL ist, die Rechtssysteme der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Produkthaftung zu harmonisieren, um Wettbewerbsverfälschungen zwischen den Mitgliedstaaten zu verhindern 13. Die erste Entscheidung des EuGH betraf eine Klage der EU-Kommission gegen Frankreich wegen Vertragsverstoßes 14, da der französische Gesetzgeber durch das Gesetz vom 19.5.1998 zwar die Gefährdungshaftung der RL in den Code Civil einführte, dies jedoch mit der Abweichung, dass die Untergrenze von EUR 500,– für Sachbeschädigungen nicht übernommen wurde und dass der Vertreiber eines fehlerhaften Produktes in gleicher Weise haftbar war wie der Hersteller, und dass ferner der Hersteller keine Möglichkeit hatte, sich entgegen der Vorschrift des Art. 7 (e) der RL dahingehend zu exkulpieren, das von ihm hergestellte Produkt entspreche vollständig dem Stand der Technik. Diese drei Abweichungen entsprachen nicht den korrespondierenden Vorschriften der RL, weshalb der EuGH diese Bestimmungen als mit der RL nicht in Einklang stehend ansah trotz der Tatsache, dass sie für den Endverbraucher günstiger waren als die entsprechenden Vorschriften der RL. Die Vorschrift des Art. 13 der RL wurde vom EuGH nicht für anwendbar angesehen, da die genannten Vorschriften des geänderten Code Civil den gleichen Gegenstand betrafen wie die RL, nämlich die Produkthaftung. Außerdem seien sie nach der RL erlassen worden. In Ziff. 22 der genannten Entscheidung vom 25.4.2002 führte der EuGH mit Bezug auf die Interpretation des Art. 13 der RL folgendes aus: „Die Bezugnahme in Art. 13 der RL auf die Ansprüche, die ein Geschädigter aufgrund vertraglicher oder außervertraglicher Haftung geltend machen kann, ist dahin auszulegen, dass die durch die Richtlinie eingeführte Regelung, nach der der Geschädigte gem. Art. 4 der RL Schadenersatz verlangen kann, wenn er den Schaden, den Fehler des Produktes und den ursächlichen Zusammenhang zwischen diesem Fehler und dem Schaden beweist, nicht die Anwendung anderer Regelungen 13 Vgl. den ersten Erwägungsgrund der RL, welcher folgenden Wortlaut hat: „Eine Angleichung der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften über die Haftung des Herstellers für Schäden, die durch die Fehlerhaftigkeit seiner Produkte verursacht worden sind, ist erforderlich, weil deren Unterschiedlichkeit den Wettbewerb verfälschen, den freien Warenverkehr innerhalb des Gemeinsamen Marktes beeinträchtigen und zu einem unterschiedlichen Schutz des Verbrauchers vor Schädigungen seiner Gesundheit und seines Eigentums durch ein fehlerhaftes Produkt führen kann.“ 14 EuGH RIW 2002, 787 „Kommission/Frankreich“.

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der vertraglichen oder außervertraglichen Haftung ausschließt, die wie die Haftung für verdeckte Mängel oder für Verschulden auf anderen Grundlagen beruhen “.

Eine zweite Entscheidung vom 25.4.2002 betraf eine Vorlagefrage des spanischen Gerichts der I. Instanz von Oviedo nach Art. 234 EG 15, bei der es gleichfalls um die Interpretation des Art. 13 der RL ging. Die dortige Klägerin war in einem Krankenhaus aufgrund einer Bluttransfusion mit dem Hepatitis-C-Virus infiziert worden und beanspruchte Schadenersatz aufgrund der Bestimmungen des spanischen Codigo Civil und des spanischen Gesetzes 26/24 vom 24.7.1984. Das beklagte Krankenhaus hielt diese Bestimmungen für nicht mehr anwendbar, da das spätere Gesetz 22/94 vom 6.7. 1994, welches die RL in spanisches Recht umsetzte, keinen so breiten Schutz gewährte wie die Bestimmungen der zitierten älteren spanischen Gesetze. Aufgrund dieses Vorlageersuchens entschied der EuGH, dass die RL sehr wohl auch Bestimmungen älterer nationaler Rechte beschränken könne, soweit diese Gesetze die allgemeinen Regeln der Produkthaftung betreffen, welche Gegenstand der RL ist. Aus diesem Grunde hielt der EuGH die oben genannten älteren Bestimmungen des spanischen Rechts für nicht mehr anwendbar. In Bezug auf die Interpretation des Art. 13 der RL wiederholte der EuGH seine in der erstgenannten Entscheidung niedergelegte Auffassung, dass nur solche anderweitigen Haftungsregelungen aufrecht erhalten bleiben, die auf anderen Grundlagen als die Produkthaftung nach der RL beruhen. Speziell mit Bezug auf anderweitige deliktische Haftungsgrundlagen ist mithin zu prüfen, wann eine solche Haftung auf derselben Grundlage beruht wie die Produkthaftung der RL oder wann eine andere „Grundlage“ anzunehmen ist. d) Die entscheidende Haftungsgrundlage für die Produkthaftung nach der RL und dem Produkthaftungsgesetz ist die Fehlerhaftigkeit des Produkts, die in Art. 6 Abs. 1 der RL und § 3 (1) ProdHG dahingehend definiert ist, dass ein Produkt einen Fehler hat, wenn es nicht die Sicherheit bietet, die unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere seiner Darbietung, des Gebrauchs, mit dem billigerweise gerechnet werden kann, und des Zeitpunkts, in dem es in den Verkehr gebracht wurde, berechtigterweise erwartet werden kann. Dies bedeutet, die Fehlerhaftigkeit liegt im Produkt selbst, gleichgültig wodurch diese Fehlerhaftigkeit herbeigeführt wurde. Es handelt sich mithin um den Fall einer Zustandsstörung. Demgegenüber beruht die Haftung nach der Produzentenhaftung des § 823 (1) BGB auf einer anderen Grundlage, nämlich auf der Grundlage einer Herbeiführung des Fehlers durch eine rechtswidrige Handlung, die ihrerseits

15

EuGH EuZW 2002, 574 „Maria Victoria Gonzalez Sanchez/Medicina Asturiana SA“.

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auch wieder Verschulden voraussetzt. Es handelt sich bei der Produzentenhaftung nach § 823 (1) BGB mithin um eine Handelndenhaftung 16. Für die Schädigung einer Sache (oder Person) einschließlich der fehlerhaften Sache selbst ist die Fehlerhaftigkeit des Produkts lediglich ein Durchgangsstadium, nicht aber der eigentliche Haftungsgrund. Die Fehlerhaftigkeit des Produkts ist mithin Bindeglied zwischen der rechtswidrigen Handlung und dem eingetretenen Schaden; sie stellt sich nicht als Ausgangsursache der Schädigung dar, sondern beruht auf einer die Kausalkette in Lauf setzenden rechtswidrigen Handlung. Dies bedeutet, dass eine Produzentenhaftung nach § 823 (1) BGB nur dann angenommen werden kann, wenn eine rechtswidrige Handlung des Herstellers vorausgegangen ist, die zudem auch noch Verschulden voraussetzt. Die vorausgegangene rechtswidrige Handlung aber muss in mehr bestehen als lediglich im Produktionsprozess selbst. Diese dogmatisch eindeutige Grenzziehung wird in der Praxis nur dadurch verwischt, als die deutsche Rechtsprechung 17 zahlreiche Verursachungs- und Verschuldensvermutungen annimmt und dadurch die Produzentenhaftung nach § 823 (1) BGB sehr stark der Gefährdungshaftung nach dem Produkthaftungsgesetz und der RL annähert. Klare Fälle, in denen die Produzentenhaftung nach § 823 (1) BGB neben der Produkthaftung nach Produkthaftungsgesetz Anwendung findet, sind alle Fälle der vorsätzlichen Herbeiführung einer Fehlerhaftigkeit, mithin die typischen Sabotagefälle, oder der Verstoß gegen den Schutz Dritter bestimmende Handlungsvorschriften im Sinne des § 823 (2) BGB 18, also alle die Fälle, in denen der eingetretene Schaden aufgrund der rechtswidrigen Handlung auch ohne das Dazwischentreten der Fehlerhaftigkeit des Produkts eingetreten oder möglich wäre, wie etwa bei Verkauf eines gefährlichen Medikaments an Kinder. Nur wo eine derartige rechtswidrige (und schuldhafte) Handlung feststellbar ist, kann mithin die Produzentenhaftung nach § 823 (1) BGB angewandt werden, die sowohl vom geschädigten Rechtsgut, als auch vom Haftungsumfang über die Produkthaftung nach der RL und dem Produkthaftungsgesetz hinausgeht. Nur in diesem Sinne kann Art. 13 der RL interpretiert werden. Jede andere Interpretation würde die den nationalen Gesetzgebern gezogenen Grenzen konterkarieren. 16 Vgl. Insbesondere Münchener Kommentar (Wagner), a.a.O., § 823 Rn. 8, der mit Recht darauf hinweist, dass allein der Verletzungserfolg noch nicht die Rechtswidrigkeit indiziert, sondern diese ergibt sich aus dem menschlichen Verhalten. Der Verletzungserfolg ist lediglich der Grund dafür, die Handlung als rechtswidrig zu qualifizieren. 17 Vgl. Fn. 9. 18 Münchener Kommentar (Wagner), a.a.O., § 823 Rn. 340ff.; Bamberger/Roth (Spindler), a.a.O., § 823 Rn. 155 ff. In diesem Sinne neuerdings EuGH, Urt. v. 10.1.2006, EuZW 2006, 181.

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In Anbetracht der deutschen Doktrin des weiterfressenden Schadens unter diesem Aspekt besteht kein Zweifel, dass im Falle einer richterlichen Vorlage der EuGH in dem Sinne entscheiden wird, dass die Doktrin des weiterfressenden Schadens der RL widerspricht, soweit diese Doktrin innerhalb des Umfangs der RL und der Definition des § 3 (1) ProdHG angewandt wird, also auch für den Fall, dass die einzige Schadensursache in der Fehlerhaftigkeit des Produkts selbst gesehen wird ohne eine auslösende rechtswidrige und schuldhafte Handlung. Insoweit verstößt die Doktrin des weiterfressenden Schadens gegen Art. 9 der RL, welche einen Schadenersatz für Beschädigung oder Zerstörung einer Sache nur vorsieht, soweit es sich um eine Sache außerhalb des fehlerhaften Produkts selbst handelt. Mithin dürfte der EuGH die Doktrin des weiterfressenden Schadens in diesem Umfang für nicht anwendbar erklären, obgleich diese Doktrin nicht vom Gesetzgeber eingeführt wurde, wie dies in dem Fall der französischen Gesetzgebung 19 und der spanischen Vorlageentscheidung 20 der Fall war, sondern von der Rechtsprechung entwickelt wurde. Aber auch die Rechtsprechung hat sich an die Vorgaben des europäischen Rechts zu halten und hat notfalls eine Vorlageentscheidung des EuGH einzuholen, wenn eine solche Verletzung europäischen Rechts im Wege von Gerichtsentscheidungen erfolgt. Mithin ist die von der deutschen Rechtsprechung allgemein angewandte Doktrin des weiterfressenden Schadens auch innerhalb des Haftungsgrunds der Fehlerhaftigkeit des Produkts an sich ein klarer Verstoß gegen die Harmonisierungsbestrebung im Produkthaftungsrecht innerhalb der EU. Das gleiche hat übrigens auch zu gelten für die Schädigungen anderer Rechtsgüter, nämlich Leben, Körper und Sachen außerhalb des fehlerhaften Produkts, soweit die in der RL vorgesehenen Haftungsbegrenzungen nicht eingehalten werden oder wie im Falle von Personenschäden ein Schmerzensgeld zugesprochen werden soll.

III. Gewerblicher Rechtsschutz Ein wesentliches Gebiet, auf dem die Europäisierung des Rechts der Mitgliedstaaten der EU ein fortgeschrittenes Stadium erreicht hat, ist das Recht des gewerblichen Rechtsschutzes einschließlich des Rechts des unlauteren Wettbewerbs. Dies ist um deswillen nicht verwunderlich, weil die Ausgestaltung des gewerblichen Rechtsschutzes zum Schutze von Erfindungen, Neuschöpfungen und Vertriebssystemen in besonderer Weise den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten der EU zu beeinträchtigen geeignet ist. Hier erscheint es im Interesse der Erreichung 19 20

Vgl. Fn. 14. Vgl. Fn. 15.

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des Ziels eines gemeinsamen Markts besonders erforderlich, nationale Sondervorschriften oder Rechtsfiguren zu beseitigen oder an das europäische Normsystem anzugleichen, welche keine Entsprechung in den übrigen Mitgliedstaaten der EU haben. In der Folge sei der Einfluss der europäischen Verordnungs- oder Richtliniengesetzgebung auf die nationale Rechtsprechung in Deutschland anhand zweier praktisch besonders wichtiger Rechtsfiguren deutschen Richterrechts erläutert, nämlich einmal anhand der von der deutschen Rechtsprechung unter den Gesichtspunkten des UWG entwickelten unmittelbaren Leistungsübernahme 21 nach Inkrafttreten der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rats vom 12.12.2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster 22 (GemGeschmVO) sowie anhand des von der deutschen Rechtsprechung gleichfalls unter UWG-Gesichtspunkten entwickelten Schutzes gegen Nachahmungen von Produkten, die einen „gewissen Bekanntheitsgrad“ erlangt haben.23 Beide Rechtsfiguren deutschen „richterlichen Gewohnheitsrechts“ sind bei EU-konformer Anwendung der diese Gebiete abdeckenden EU-Normen in dieser Form nicht mehr zu halten. 1. Die unmittelbare Leistungsübernahme nach Einführung des Benutzungsgeschmacksmusters nach Art. 1 (2)a GemGeschmVO a) Bereits unter Geltung des UWG a.F.24 hat die deutsche Rechtsprechung eine Abgrenzung des Rechts des unlauteren Wettbewerbs von dem Recht der gewerblichen Schutzrechte (Patente, Marken, Geschmacksmuster u.a.) in der Weise vorgenommen, dass den gewerblichen Schutzrechten ein absoluter Schutz gegen Verletzungen (wenn auch in den Fällen des Geschmacksmustergesetzes a.F.25 mit Einschränkung des Schutzes gegen Nachahmungen) gewährt wird,26 während ein Schutz nach unlauterem Wettbewerb stets zur Voraussetzung hatte, dass zu der stets erforderlichen Nachahmung zusätzliche sittenwidrige Umstände hinzutreten mussten, um einen Rechtsschutz gegen eine derartige Nachahmung zu begründen.27 Die gewerblichen Schutzrechte wurden mithin als absolute Schutzrechte behandelt, während es sich beim unlauteren Wettbewerb um Handlungsunrecht handelte. 21 Vgl. Hefermehl/Köhler/Bornkamm, Wettbewerbsrecht, 24. Aufl., § 4 Rn. 9.35; BGH GRUR 1969, 186 „Reprint“; BGH GRUR 1999, 923 „Tele-Info-CD“. 22 ABl. L 3 vom 5.1.2002 S. 1. 23 Hefermehl/Köhler/Bornkamm, Fn. 21, § 4 Rn. 9.41; BGH GRUR 2002, 275 „Noppenbahnen“; BGH WRP 2005, 878 „Handtuchklemmen“. 24 Vgl. für das Patent Benkard/Bruchhausen, PatG, 9. Aufl., § 1 Rn. 2. 25 Vgl. § 5 GeschmMG vom 11.1.1876, RGBl. 1876, S. 11. 26 Vgl. Krasser, Patentrecht, 5. Aufl., S. 6. 27 So grundsätzlich auch nach gegenwärtigem Recht Hefermehl/Köhler/Bornkamm, Fn. 21, § 4 Rn. 9.4; BGH GRUR 2004, 941 „Metallbett“.

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Diese rechtssystematisch einleuchtende Abgrenzung aber ließ Felder offen, die durch ein gewerbliches Schutzrecht nicht abgedeckt wurden und auf denen das Bedürfnis nach Gewährung von Rechtsschutz anerkannt wurde. So sah die deutsche Rechtsprechung die Nachahmung eines durch kein gewerbliches Schutzrecht geschützten Produkts als verwerflich an, wenn diese Nachahmung ohne ein Mindestmaß an Eigenschöpfung quasi in 100 %iger Übernahme aller Merkmale des nachgeahmten Produkts erfolgte, insbesondere unter Zuhilfenahme mechanischer Vervielfältigungsgeräte, die dem Nachahmer jegliche Mühen und Kosten für die Einführung und Herstellung des Nachahmungsproduktes ersparten.28 Ein wesentlicher Unterfall in diesem Zusammenhang ist das Einschleichen in eine fremde Serie,29 die dem Nachahmer nicht nur die Kosten der Entwicklung und des Aufbaus einer Produktion, sondern auch die Kosten der Markteinführung ersparte, nachdem das Ursprungsprodukt bereits erfolgreich auf dem Markt war. Ein weiteres Beispiel ist die Modeneuheit,30 in Bezug auf die die Rechtsprechung dem Modeschöpfer den Ertrag aus einer meist nur saisonal absetzbaren Modeschöpfung sichern wollte, unabhängig davon, ob es sich hierbei um eine echte Neuschöpfung handelte oder nicht, wenn nur diese „Modeneuheit“ erfolgreich war. Leitender Gesichtspunkt für diese Rechtsprechung war das Bestreben, dem Schöpfer eines erfolgreichen Produktes die Erträge aus dem Vertrieb dieses Produkts zu sichern, obgleich für den unlauteren Wettbewerb generell das Kriterium der Erträgnissicherung kein Kriterium für die Sittenwidrigkeit einer Nachahmung ist. Mithin führte diese Rechtsprechung quasi zur Einführung weiterer gewerblicher Schutzrechte durch die Hintertür des unlauteren Wettbewerbs, wo die gesetzlich existierenden gewerblichen Schutzrechte versagten. b) Diese Rechtsprechung bedarf nach dem Inkrafttreten des Benutzungsgeschmacksmusters nach der GemGeschmVO einer Korrektur. Die RL 98/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.10.1998 über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen 31 zielt darauf ab, die unterschiedlichen Systeme der Mitgliedstaaten speziell für den Erwerb von Mustern und Modellen zu beseitigen. Basierend auf dieser Richtlinie erging die GemGeschmVO, die ein EU-einheitliches Geschmacksmuster einführte und zwar in zweierlei Hinsicht:

28 Hefermehl/Köhler/Bornkamm, Fn. 21, § 4 Rn. 9.35; Sambuc, Der UWG-Nachahmungsschutz, Rn. 368 ff.; BGH GRUR 1969, 618 „Kunststoffzähne“. 29 Hefermehl/Köhler/Bornkamm, Fn. 21, § 4 Rn. 9.56; BGH GRUR 2005, 349 „Klemmbausteine III“. Neuerdings Heyers GRUR 2006, 23 für Aufgabe des UWG-Verstoßes des Einschiebens in fremde Serien. 30 Hefermehl/Köhler/Bornkamm, Fn. 21, § 4 Rn. 9.76; Sambuc, Fn. 28, Rn. 222ff.; BGH GRUR 1973, 478 „Modeneuheit“. 31 ABl. L 289 vom 28.10.1998 S. 28.

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(1) Gem. Art. 1 (2)b der GemGeschmVO wurde ein Eu-einheitliches „eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster“ geschaffen, welches erlangt wird durch Registrierung beim Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (HABM) mit einer Laufzeit von maximal 25 Jahren. In Übereinstimmung mit der RL 98/71 zeigen sich zwischen dem Geschmacksmuster nach deutschem Geschmacksmustergesetz 32 und dem Registergeschmacksmuster nach Art. 1 (2)b der GemGeschmVO weder in den Voraussetzungen des Geschmacksmusterschutzes, noch in seiner zeitlichen Begrenzung relevante Unterschiede. (2) Die eigentliche Neuschöpfung der GemGeschmVO liegt demgegenüber in der gleichzeitigen Einführung eines Benutzungsgeschmacksmusters nach Art. 1 (2)a GemGeschmVO, welches erworben wird durch bloße Zugänglichmachung des dem Erfordernis der Neuheit und der Eigenart entsprechenden Musters an die Öffentlichkeit, ohne formales Eintragungserfordernis und mit einer Laufzeit von drei Jahren ab Zugänglichmachung an die Öffentlichkeit. Dieses Benutzungsgeschmacksmuster hat im deutschen Geschmacksmusterrecht keine Entsprechung. Gemäß Erwägungsgrund (16) der GemGeschmVO dient die Einführung des Benutzungsgeschmacksmusters dem Bedürfnis bestimmter Wirtschaftszweige, die zahlreiche Geschmacksmuster von Erzeugnissen hervorbringen, die nur eine kurze Lebensdauer auf dem Markt haben und für die ein schneller Schutz ohne Eintragungserfordernisse notwendig ist. Wichtig allerdings ist, dass auch das Benutzungsgeschmacksmuster den materiellen Erfordernissen des Geschmacksmusterrechts nach Art. 4 (1) der GemGeschmVO genügen muss. Ist dies jedoch der Fall, so besteht ab Zugänglichmachung derartiger Modelle EU-weit Geschmacksmusterschutz nach der GemGeschmVO, im Vergleich zum Registergeschmacksmuster nach GemGeschmVO und zum deutschen Geschmacksmustergesetz lediglich mit der Abweichung, dass Schutz nach dem Benutzungsgeschmacksmuster nicht absolut besteht, sondern nur gegen Nachahmungen.33 Hiermit aber ist dem Bedürfnis der genannten Wirtschaftszweige, insbesondere der Modebranche, Rechnung getragen, wonach ohne Formalerfordernisse ein auf drei Jahre begrenzter zeitlicher Schutz gegenüber Nachahmungen besteht. Damit aber hat die EU-Gesetzgebung das Gebiet der Nachahmung von Produkten, die nicht nach anderen gewerblichen Schutzrechten geschützt sind, besetzt, wobei für diesen Schutz jedoch das Erfordernis der Neuheit und der Eigenart gegeben sein muss. Gerade in Bezug auf letztere Einschränkung, nämlich Schutz nur bei Vorliegen von Neuheit und Eigenart, fragt es sich, ob bei Fehlen eines dieser Erfordernisse die deutsche Rechtsprechung über die unmittelbare Leistungs-

32 33

GeschmMG vom 12.3.2004 BGBl. I S. 390. Art. 19 (2) GemGeschmVO.

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übernahme weiterhin Bestand haben kann. Wenngleich auch die deutsche Rechtsprechung zur unmittelbaren Leistungsübernahme eine gewisse wettbewerbliche Eigenart des nachgeahmten Produkts 34 voraussetzt, so sind die Konturen dieser Begrenzung des Nachahmungsschutzes durch das Erfordernis der wettbewerblichen Eigenart wenig ausgeprägt und führten in zahlreichen Fällen, etwa dem Fall der Modeneuheit und des Eindringens in fremde Serien, dazu, einen Nachahmungsschutz unabhängig davon zu gewähren, ob das nachgeahmte Produkt die Neuheit und die nach dem Geschmacksmusterrecht erforderliche Eigenart aufwies. Eine Aufrechterhaltung der alten Rechtsprechung zur unmittelbaren Leistungsübernahme würde im Endeffekt die gewohnheitsrechtliche Schöpfung eines einzelfallbezogenen „gewerblichen Schutzrechts“ aufrecht erhalten, obgleich genau dieses Feld von der EU-Normierung besetzt ist. Die deutsche Rechtsprechung hat sich mit diesem Problem – soweit ersichtlich – noch nicht grundlegend auseinandergesetzt. Ein scheinbares Argument zugunsten der Beibehaltung beider paralleler Rechtsschutzmöglichkeiten liegt in Erwägungsgrund (31) der GemGeschmVO, gemäß welchem die Anwendung von Rechtsvorschriften zum gewerblichen Rechtsschutz oder von anderen einschlägigen Vorschriften der Mitgliedstaaten auf das Gemeinschaftsgeschmacksmuster nicht ausgeschlossen wird, die sich auf den durch Eintragung erlangten Geschmacksmusterschutz oder auf nicht eingetragene Geschmacksmuster, Marken, Patente und Gebrauchsmuster, unlauteren Wettbewerb oder zivilrechtliche Haftung beziehen. Die gemäß diesem Erwägungsgrund aufrecht erhaltene Anwendbarkeit anderer nationaler Vorschriften ist insoweit unproblematisch, als der Schutz nach anderen nationalen Vorschriften seinen Rechtsgrund nicht in der Produktnachahmung findet, sondern auf anderen Gesichtspunkten, wie dies etwa beim Patentschutz aufgrund der erfinderischen Qualität und der technischen Wirkung des nachgeahmten Produkts oder beim Markenschutz aufgrund des Schutzes der Herkunftsvorstellung der Fall ist. Auch was die Anwendung der Vorschriften des unlauteren Wettbewerbs oder einer zivilrechtlichen Haftung anbelangt, so ist die gleichzeitige Anwendung dieser Vorschriften auf das geschmacksmusterrechtlich geschützte Produkt dann gerechtfertigt und unproblematisch, wenn die Sittenwidrigkeit der Nachahmung nicht im Nachahmungstatbestand selbst liegt, sondern auf den im deutschen UWG üblicherweise erforderlichen zusätzlichen sittenwidrigen Umständen,35 etwa wie Geheimnisverrat, Vorlagendiebstahl oder bewusste Herbeiführung einer Herkunftstäuschung. In diesem Fall beruht der Wettbewerbsschutz nicht allein auf der Nachahmung, sondern auf Umständen, 34 Hefermehl/Köhler/Bornkamm, Fn. 21, § 4 Rn. 9.24; Sambuc, Fn. 28, Rn. 123; OLG Köln WRP 1983, 637 „Spülmittelflasche“. 35 Fn. 27.

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die sogar ohne das Vorliegen eines Nachahmungstatbestands zur Sittenwidrigkeit und damit Wettbewerbswidrigkeit der angegriffenen Produktvermarktung führen können. Nachdem jedoch die deutsche Rechtsprechung zur unmittelbaren Leistungsübernahme die Sittenwidrigkeit genau am Nachahmungstatbestand und an einer „gewissen wettbewerblichen Eigenart“ orientiert, greift sie allein auf Kriterien zurück, auf denen der Schutz des Benutzungsgeschmacksmusters nach der GemGeschmVO beruht, mithin auf ein Feld, das von der GemGeschmVO im Interesse der Rechtsvereinheitlichung oder Rechtsangleichung in den Mitgliedstaaten der EU besetzt ist. Ein darüber hinausgehender Schutz mit minderen Anforderungen als dem der Neuheit und der Eigenart oder gar mit Fehlen einer zeitlichen Begrenzung aber würde letztendlich in dem Mitgliedstaat, in dem dieser darüber hinausgehende Schutz aufrecht erhalten wird, wie in Deutschland, dem Ziel der Rechtsvereinheitlichung und Rechtsangleichung entgegenwirken. Das Bestreben nach Rechtsvereinheitlichung und Rechtsangleichung auf dem Gebiet des gewerblichen Rechtsschutzes soll auch auf der Ebene des nationalen Rechts der Mitgliedstaaten zu einem gleichen Rechtsschutz führen. Die in der RL 98/71 und in der GemGeschmVO aufgestellten Erfordernisse des Rechtsschutzes sind nicht als Mindesterfordernisse für die Gewährung gewerblichen Rechtsschutzes in den Mitgliedstaaten anzusehen, sondern als echte Vereinheitlichungserfordernisse, auch was die Begrenzung des so gewährten gewerblichen Rechtsschutzes anbelangt. In Anbetracht dieser Tatsache erscheint die Aufrechterhaltung der Rechtsprechung zur unmittelbaren Leistungsübernahme auch auf dem Gebiete ästhetischer Produkte nicht mehr haltbar, da sich diese über ein sich aus EURecht ergebendes Erfordernis der Schutzrechtsbegrenzung hinwegsetzt, wie sie etwa beim Patentschutz bei Fehlen der Patentierungsvoraussetzungen oder nach Ablauf des Patentschutzes auch in der deutschen Rechtsprechung anerkannt ist. 2. Vermeidbare Herkunftstäuschung und Kennzeichenrecht a) Ein weiteres Feld, in dem die deutsche Rechtsprechung in autonomer Weise die Sittenwidrigkeit einer Nachahmung bestimmt hat, ist die vermeidbare Herkunftstäuschung, die in § 4 Ziff. 9a UWG n.F. einen gesetzlichen Niederschlag gefunden hat. Diese sich aus der RL 97/55/EG vom 6.10.1997 zur Änderung der RL 84/450/EWG des Rates über irreführende und vergleichende Werbung vom 10.9.1984 36 ergebende Regelung gerät bei der weiten Anwendung des Begriffs der vermeidbaren Herkunftstäuschung, den die deutsche Rechtsprechung bereits vor der genannten Richtlinie und der Neu-

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ABl. L 290 vom 23.10.1997 S. 18.

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fassung des UWG angewandt hatte, in Konflikt mit den Rechtsvereinheitlichungsgrundsätzen der EU auf dem Gebiet des Markenrechts gemäß der Ersten RL 89/104/EG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken vom 21.12.1988,37 die einerseits zur Einführung der Gemeinschaftsmarke gemäß der Gemeinschaftsmarkenverordnung vom 20.12.1993,38 sodann aber auch zur völligen Neufassung des deutschen Kennzeichenrechts gemäß dem Markengesetz vom 25.10.1994 39 geführt hat. Wie sich aus der Präambel der Ersten MarkenrechtsRL 89/104/EG ergibt, ist es Ziel dieser Richtlinie, in den Mitgliedstaaten der EU einheitliche Grundsätze für die Erfordernisse des Markenschutzes und insbesondere einheitliche Registrierungsgrundsätze einzuführen. Auch hierbei handelt es sich nicht um die Einführung irgendwelcher Mindestschutzvoraussetzungen, sondern um eine echte Rechtsvereinheitlichung oder Rechtsangleichung. Lediglich soweit die Richtlinie den einzelnen Mitgliedstaaten darüber hinausgehende Möglichkeiten für einen weitergehenden Schutz einräumt, wie im 9. Absatz der Präambel der MarkenrechtsRL, wonach „die Möglichkeit der Mitgliedstaaten unberührt bleibt, bekannten Marken einen weitergehenden Schutz zu gewähren“, können die Mitgliedstaaten über die Erfordernisse und Einschränkungen der Markenrechtsrichtlinie in ihren nationalen Gesetzgebungen hinausgehen, wobei dies im deutschen Recht durch die Einführung der Benutzungsmarke nach § 4 Ziff. 2 MarkenG erfolgt ist. Aber auch insoweit sind die Grundsätze und Einschränkungen der Ersten MarkenrechtsRL zu beachten, wonach dieser Schutz der Benutzungsmarke lediglich bekannten Marken zuteil werden darf, ein Erfordernis, welches in § 4 Ziff. 2 MarkenG in der Form verwirklicht worden ist, dass Markenschutz nur dann durch die Benutzung eines Zeichens im geschäftlichen Verkehr (ohne Registrierung) entsteht, „soweit das Zeichen innerhalb beteiligter Verkehrskreise als Marke Verkehrsgeltung erworben hat.“ Dabei sind die Maßstäbe an Erlangung von Verkehrsgeltung hoch anzusetzen, um den Erfordernissen der „Bekanntheit“ zu genügen.40 Nachdem für die Markenfähigkeit auch von Benutzungsmarken die gleichen Maßstäbe des § 3 MarkenG gelten wie für Registriermarken, hat dies zur Folge, dass selbstverständlich auch alle Begrenzungen der Markenfähigkeit, wie z.B. der Ausschluss technischer Bedingtheit einer Formmarke nach § 3 (2) MarkenG, in gleicher Weise für die Benutzungsmarke gelten.

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ABl. L 40 vom 11.2.1989 S. 1, berichtigt in ABl. L 159 vom 10.6.1989 S. 60. ABl. L 11 vom 14.1.1994 S. 1. 39 BGBl I S. 3082, berichtigt in BGBl I 1995 S. 156. 40 Zwar gelten keine Mindestprozentsätze für die Annahme der Verkehrsgeltung, doch dürfte vor allem bei kennzeichnungsschwachen Marken der Prozentsatz der Bekanntheit in den beteiligten Verkehrskreisen deutlich über 50 % anzusiedeln sein, vgl. Ingerl/Rohnke, MarkenG, 2. Aufl., § 4 Rn. 19ff.; EuGH GRUR 1999, 723 „Chiemsee“. 38

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Eine besondere Bedeutung kommt dieser Begrenzung des Markenschutzes auch für Benutzungsmarken zu für die Fälle, in denen speziell für Produkte ein anderweitiger Sonderrechtsschutz, etwa in Form eines Patentschutzes oder eines Geschmacksmusterschutzes nicht zum Tragen kommt oder abgelaufen ist, jedoch dem jeweiligen Produkt auch nach Ablauf dieses Sonderrechtsschutzes eine gewisse Bekanntheit zugunsten des ursprünglichen Herstellers zukommt. In diesen Fällen greift die deutsche Rechtsprechung vorzugsweise auf §§ 3, 4 Ziff. 9 a UWG n.F. zurück,41 um über das gesetzliche Verbot der Herkunftstäuschung einen weiter geltenden Schutz gegen die Nachahmung auch sondergesetzlich nicht oder nicht mehr geschützter Produkte oder Dienstleistungen zu gewährleisten. Hier nun erhebt sich das Problem, dass über die gesetzliche Begrenzung der gewerblichen Schutzrechte hinaus ein „ewiger“ Rechtsschutz gegen Nachahmungen begründet werden kann, was nicht nur in Widerspruch zur deutsch-rechtlichen Dogmatik des numerus clausus absoluter Schutzrechte steht, sondern auch der Intention des EU-Gesetzgebers zuwiderläuft, jegliche Einschränkung des freien Waren- und Dienstleistungsverkehrs innerhalb der EU durch eine klare für alle Mitgliedstaaten gleiche Festlegung zu begrenzen. Die Anwendung des § 4 Ziff. 9a UWG in Bezug auf Produkte oder Dienstleistungen von einer gewissen Bekanntheit beruht auf der Erwägung, dass die gewerblichen Schutzrechte, soweit es um die Produktschutzrechte, wie Patent, Gebrauchsmuster, Geschmacksmuster und gegebenenfalls Urheberrecht geht, für den von ihnen gewährten Rechtsschutz nicht auf dem Prinzip des Schutzes der Herkunftsvorstellung beruhen und daher Vorschriften, welche speziell auf diesen Gesichtspunkt abstellen, notwendigerweise unberührt lassen. Mag diese Argumentation für die genannten Produktschutzrechte und das Urheberrecht zutreffen, so bleibt hierbei unberücksichtigt, dass speziell das von der RL 89/104/EG 42 initiierte und dementsprechend im deutschen Markengesetz geregelte Markenrecht auf dem Gesichtspunkt der Vermeidung der Herkunftstäuschung beruht, hier aber an bestimmte formale und materielle Voraussetzungen geknüpft ist. Die nicht an formale Voraussetzungen geknüpfte Wettbewerbswidrigkeit nach § 4 Ziff. 9a UWG gerät damit in Widerspruch zur Regelung der gleichfalls nicht an formale Voraussetzungen geknüpften Benutzungsmarke nach § 4 Ziff. 2 MarkenG, welche für die Gewährung von Rechtsschutz gegen eine Herkunftstäuschung an die Verkehrsgeltung der Marke (auch der Formmarke) innerhalb beteiligter Verkehrskreise geknüpft ist.43 Diese durch die Marken41 Hefermehl/Köhler/Bornkamm, Fn. 21, § 4 Rn. 9.6; BGH GRUR 2002, 629 „Blendsegel“; BGH WRP 2005, 878 „Handtuchklemmen“. 42 Fn. 37. 43 Fn. 40.

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rechts-RL geforderte Einschränkung aber würde konterkariert, wenn über diesen eingeschränkten Schutzbereich hinaus jegliche weitergehende Herkunftstäuschung als wettbewerbswidrig verboten werden könnte. Hier ist es Aufgabe der deutschen Rechtsprechung, durch eine EU-konforme Auslegung der Regelung des § 4 Ziff. 9 a UWG diesen Widerspruch aufzulösen. b) Für eine nicht durch die EU-Gesetzgebung erforderte Einschränkung der Anwendung des § 4 Ziff. 9 a UWG könnte zunächst einmal Absatz 6 der Präambel der Markenrechts-RL herangezogen werden, wonach diese Richtlinie nicht ausschließt, dass auf die Marken andere Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten als die des Markenrechts wie die Vorschriften gegen den unlauteren Wettbewerb, über die zivilrechtliche Haftung oder den Verbraucherschutz, Anwendung finden. Diese äußerlich sehr weitgehende Freistellung der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten von der Einhaltung der EUrechtlichen Beschränkung gewerblicher Schutzrechte kehrt wieder in § 2 MarkenG, wonach der Schutz von Marken, geschäftlichen Bezeichnungen und geographischen Herkunftsangaben nach diesem Gesetz die Anwendung anderer Vorschriften zum Schutz dieser Kennzeichen nicht ausschließt. Diese Freistellungsregelungen aber gehen expressis verbis davon aus, dass andere Vorschriften des nationalen Rechts als die des Markenrechts auf den Schutz von Marken Anwendung finden können. Dies aber bedeutet nichts anderes, als dass andere als markenrechtliche Vorschriften eben nur dann zur Anwendung gelangen können, wenn es sich um Marken im Sinne der EU-Normierung und des mit dieser übereinstimmenden Markengesetzes handelt. Mit anderen Worten können andere Vorschriften als die des Markenrechts, insbesondere § 4 Ziff. 9 a UWG nur dann zur Anwendung gelangen, wenn es sich primär um eine Marke im Sinne des Markenrechts handelt, was in Bezug auf die Benutzungsmarke nach § 4 Ziff. 2 MarkenG besagt, dass eine Benutzungsmarke nur dann vorliegt, wenn diese innerhalb beteiligter Verkehrskreise Verkehrsgeltung erlangt hat. Ist dies nicht der Fall (und liegt eine Registriermarke nicht vor), so kann ein wettbewerbsrechtlicher oder zivilrechtlicher Schutz gegen eine Herkunftstäuschung nicht damit begründet werden, dass von formalen oder materiellen Voraussetzungen des Vorliegens einer Marke Abstand genommen wird. Mithin genügt das von der wettbewerbsrechtlichen Rechtsprechung aufgestellte Kriterium der gewissen Bekanntheit, die unterhalb der Schwelle der Verkehrsgeltung liegt,44 nicht, um einem Zeichen (einschließlich einer Formgestaltung) die Eigenschaft einer Marke „einzuhauchen“ und einen Herkunftsschutz analog einem Markenschutz zuzusprechen, selbst wenn dieser Herkunftsschutz zusätzlich an das Erfordernis der Nachahmung geknüpft ist, welches in Bezug auf die Verlet44 Hefermehl/Köhler/Bornkamm, Fn. 21, § 4 Rn. 9.41; BGH GRUR 2002, 275 „Noppenbahnen“.

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zung der Benutzungsmarke nicht zur Anwendung gelangt. Dies gilt um deswillen, weil die Nachahmung als solche aufgrund des Grundsatzes der Nachahmungsfreiheit für sich allein niemals ausreichen kann, um die Wettbewerbswidrigkeit einer Handlungsweise zu begründen.45 Mithin kommt auch bei ausgelaufenem Schutz nach Patent-, Gebrauchsmuster-, Geschmacksmuster- und Urheberrecht ein Schutz gegen eine Herkunftstäuschung nur dann in Betracht, wenn die Erfordernisse des Markenschutzes gegeben sind. Wird somit der Herkunftsschutz für sonderrechtlich nicht oder nicht mehr geschützte Waren und Dienstleistungen auf das Bestehen von Markenschutz reduziert, so würde die Regelung des § 4 Ziff. 9a UWG weitgehend leer laufen oder müsste speziell an den allgemeineren Wortlaut des Art. 3 a (1)d der RL 84/450/EWG 46 angepasst werden. Dies allerdings könnte nur durch den Gesetzgeber erfolgen und nicht durch die Rechtsprechung. Diese hätte nur die Möglichkeit, entweder im Wege der Richtervorlage die erforderliche Eingrenzung des § 4 Ziff. 9 a UWG herbeizuführen, oder im Wege der Selbstkontrolle eine einschränkende EU-konforme Auslegung des § 4 Ziff. 9 a UWG zu treffen, welche sich auf Herkunftstäuschungen im weitesten Sinne des Wortes beschränkt, die nicht auf der Vorstellung einer Produktion oder des Vertriebs durch den Hersteller der Originalware beruht, sondern auf anderen Vorstellungen, wie etwa einer Qualitätsvorstellung.47

IV. Fazit Die angeführten Beispiele mögen verdeutlichen, dass auch die Rechtsprechung mit der wachsenden Integration der EU in zunehmendem Umfang gefordert ist, bei Auslegung auch nationaler Vorschriften zu überprüfen, ob diese mit den Zielen der auf den jeweiligen Rechtsgebieten anwendbaren EUVerordnungen und EU-Richtlinien übereinstimmen und gegebenenfalls in verstärktem Umfange auf die Richtervorlage zurückzugreifen, sofern nicht primär eine EU-konforme Auslegung der nationalen Vorschriften und gegebenenfalls deren Reduktion auf das „EU-verträgliche“ Maß möglich ist. Dabei ist vor allem auf den zuletzt angeführten Gebieten des gewerblichen 45 Hefermehl/Köhler/Bornkamm, Fn. 21, § 4 Rn. 9.4; Fezer, WRP 2001, 988; BGH GRUR 2004, 941 „Metallbett“. 46 Fn. 36. 47 Auf diese Problematik wurde nicht eingegangen in BGH WRP 2006, 75 „Jeans“, wo der BGH unter Berufung auf Art. 96 (1) der GemGeschmVO die Vorschrift des § 4 Ziff. 9 a UWG voll zur Anwendung brachte, wobei für den konkreten Fall nicht zuletzt maßgebend war die Tatsache, dass die Bekanntheit der Jeans bei 46 % und damit in oder am Rande der Verkehrsbekanntheit lag. Unter anderem auf die Qualitätsvorstellung wurde dagegen abgestellt in BGH GRUR 2003, 332, 336 „Abschlussstück“.

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Rechtsschutzes zu beachten, dass die EU-Gesetzgebung – anders als etwa bei Vorschriften des Verbraucherschutzes – nicht auf die Setzung von Mindeststandards für den Rechtsschutz von Inhabern bedacht ist, sondern darauf, dass nicht infolge unterschiedlicher Rechtsschutzvorschriften letztlich eine Marktabschottung erzielt wird. Gerade die angeführten Beispiele des ergänzenden Leistungsschutzes verdeutlichen, dass bei weiterer uneingeschränkter Anwendung dieser Rechtsprechung letztlich auf kaltem Wege ein über das EU-verträgliche Maß hinausgehender nationaler Rechtsschutz etabliert wird, den der EU-Gesetzgeber gerade verhindern will.

Nicht eingetragenes EG-Geschmacksmuster und ergänzender Leistungsschutz Rudolf Nirk / Ursula Rörig Inhaltsübersicht I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Nationales und gemeinschaftsrechtliches Geschmacksmusterrecht . . . . . . 1. Gemeinschaftsgeschmacksmusterrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nationales Geschmacksmusterrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Konkurrenzverhältnis Geschmacksmusterrecht zum unlauteren Wettbewerb 1. Nationales Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anwendungskonkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Besondere Umstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Schutzdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nicht eingetragenes GemeinschaftsgeschmM – ergänzender wettbewerbsrechtlicher Leistungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schutzumfang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konkurrenzverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Schlußfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat in einer neueren Entscheidung 1 die Auffassung vertreten, daß Ansprüche aus ergänzendem wettbewerbsrechtlichen Leistungsschutz wegen vermeidbarer Herkunftstäuschung auch dann bestehen, wenn für das Erzeugnis Schutz für ein nicht eingetragenes GemeinschaftsgeschmM nach Art. 3 II, 11, 15 I, 19 II der VO (EG) Nr. 6/2002 vom 12.12.2001 (GGVO) 2 besteht oder bestanden hat. Ansprüche aus ergänzendem wettbewerbsrechtlichen Leistungsschutz wegen vermeidbarer Herkunftstäuschung nach §§ 3, 4 Nr. 9 lit. a UWG werden also nicht dadurch ausgeschlossen, daß für das Erzeugnis Schutz für ein nicht eingetragenes GemeinschaftsgeschmM nach Art. 3 ff. der GGVO gegeben ist oder war. Das Urteil gibt Veranlassung, sich mit dem Verhältnis des nationalen Wettbewerbsrechts zum gemeinschaftsrechtlichen Geschmacksmusterrecht und insbesondere auch mit der Frage auseinanderzusetzen, ob nach

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BGH, Urteil 15.09.2005, I ZR 151/02, GRUR 2006, 79 = NJW-RR 2006, 45 – Jeans. ABl. EG L 3 vom 05.01.2002 S. 1 ff.

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Ablauf der 3-jährigen Schutzfrist für ein nicht eingetragenes GemeinschaftsgeschmM noch Unterlassungsansprüche auf der Grundlage des ergänzenden wettbewerbsrechtlichen Leistungsschutzes gewährt werden können.

I. Einleitung Das Verhältnis des nicht eingetragenen GemeinschaftsgeschmM zum ergänzenden wettbewerbsrechtlichen Leistungsschutz nach nationalem Recht stellt keinen Sonderfall des Immaterialgüterrechts dar. Es betrifft vor allem das Verhältnis von Gemeinschaftsrecht zum nationalen Recht sowie auch die Konkurrenzproblematik zwischen sondergesetzlichem Immaterialgüterschutz und allgemeinem Wettbewerbsrecht. 1. Das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht wird geprägt durch das Vorrangprinzip 3, d.h. das Gemeinschaftsrecht verdrängt grundsätzlich das nationale Recht. Dies gilt insbesondere für die GGVO, die gem. Art. 249 II EG unmittelbare Geltung hat. Allerdings enthält die Verordnung in Art. 96 eine sogenannte Öffnungsklausel, nach der die Bestimmungen des nationalen Rechts zum unlauteren Wettbewerb unberührt bleiben, also nebeneinander angewendet werden können. Damit regelt Art. 96 zugleich auch das Verhältnis zwischen Sonderrechtsschutz und allgemeinem Wettbewerbsrecht. Es stellt sich allerdings die Frage, wie diese gemeinschaftsrechtliche Regelung zu verstehen ist. Bedeutet sie, daß eine parallele Anwendung unabhängig davon möglich ist, ob ein gemeinschaftsrechtlicher Schutz besteht oder nicht? Kann also ein wettbewerbsrechtlicher Schutz gewährt werden, obwohl die 3-jährige Schutzfrist für das nicht eingetragene GemeinschaftsgeschmM bereits abgelaufen ist? 2. Die Fragestellung betrifft außer dem Konkurrenzverhältnis zwischen Immaterialgüterschutz und allgemeinem Wettbewerbsrecht im Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht überdies das entsprechende Konkurrenzverhältnis im nationalen Bereich. Art. 96 der Verordnung sieht nämlich nur die Möglichkeit einer Anspruchskonkurrenz zwischen einem Gemeinschaftsgeschmacksmuster und dem unlauteren Wettbewerbsrecht vor, setzt diese aber nicht voraus. Im folgenden soll zunächst ein Überblick über die für die vorliegende Fragestellung relevanten Vorschriften des nationalen und gemeinschaftsrechtlichen Geschmacksmusterrechts gegeben werden (II.), um dann auf die Konkurrenzproblematik zwischen Immaterialgüterschutz und Wettbewerbsrecht im nationalen Bereich sowie zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht einzugehen (III.). 3

EuGH, Rs 6/64, Slg. 1964, 1251, 1270 (Costa/ENEL).

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II. Nationales und gemeinschaftsrechtliches Geschmacksmusterrecht Das GeschmMRecht stellt auch nach dem neuen deutschen Geschmacksmustergesetz vom 12.03.2004 – in Kraft getreten am 01.06.2004 – ein eigenständiges Immaterialgüterrecht dar. Sein Schutz basiert auf mehreren Ebenen ähnlich dem Markenschutz. Das GeschmMG hat die EG-Richtlinie 98/71/ EG vom 13.10.1998 umgesetzt. Einen gemeinschaftsweiten Schutz gewährt die GGVO vom 12.12.2001 sowohl für eingetragene wie für nicht eingetragene GemeinschaftsgeschmM.

1. Gemeinschaftsgeschmacksmusterrecht Gemäß Art. 3 GGVO bezeichnet das GemeinschaftsgeschmacksmM die Erscheinungsform eines Erzeugnisses oder eines Teils davon, die sich insbesondere aus den Merkmalen der Linien, Konturen, Farben, der Gestalt, Oberflächenstruktur und/oder der Werkstoffe des Erzeugnisses selbst und/oder seiner Verzierung ergibt (Art. 3 lit a GGVO). Die GGVO unterscheidet zwischen dem eingetragenen und dem nicht eingetragenen GemeinschaftsgeschmM (Art. 1 II a). Das nicht eingetragene GemeinschaftsgeschmM ist ab dem Tag der Veröffentlichung in der Gemeinschaft für 3 Jahre geschützt (Art. 11 I); das eingetragene für 5 Jahre ab dem Tag der Eintragung. Für letzteres ist die Schutzdauer auf insgesamt 25 Jahre verlängerbar (Art. 12). Schutz besteht dann, wenn das Geschmacksmuster neu ist und Eigenart besitzt (Art. 4). Dabei gilt ein Geschmacksmuster als neu, wenn der Öffentlichkeit vor dem Tag des öffentlichen Zugänglichmachens beim nicht eingetragenen bzw. vor dem Tag der Eintragung beim eingetragenen GemeinschaftsgeschmM kein identisches Geschmacksmuster zugänglich gemacht worden ist (Art. 5). Ein GemeinschaftsgeschmM hat zudem Eigenart, wenn sich der Gesamteindruck, den es beim informierten Benutzer hervorruft, von dem Gesamteindruck unterscheidet, den ein anderes Geschmacksmuster bei diesem Benutzer hervorruft (Art. 6 GGVO). Das nicht eingetragene GemeinschaftsgeschmacksmM wurde eingeführt, um kurzlebigen Erzeugnissen einen Schutz ohne Eintragungsformalitäten zu bieten (Erwägungsgrund 16 GGVO). Allerdings besteht auch nur ein geringerer Schutzumfang. Das nicht eingetragene GemeinschaftsgeschmM soll nämlich nur vor Nachahmungen schützen und selbst dieser Schutz versagt, wenn das beanstandete Geschmacksmuster das Ergebnis eines selbständigen Entwurfs eines anderen Entwerfers ist (Art. 19 II). Demgegenüber gewährt das eingetragene GemeinschaftsgeschmM ein Ausschlußrecht (Art. 19 I). Das Gemeinschaftsrecht sieht somit einen differenzierten und abgestuften Schutz für GemeinschaftsgeschmM vor. Angesichts dieser gemeinschaftsrechtlichen

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Bestimmungen in der GGVO hielt man die Einführung entsprechend einzelstaatlicher Rechte für überflüssig.4 2. Nationales Geschmacksmusterrecht Das GeschmMG setzt die Richtlinie 98/71/EG über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen um. Im Gegensatz zur GGVO enthält die Richtlinie nur einen Schutz für eingetragene Geschmacksmuster. Die Definition des Geschmacksmusters (Art. 1 der RL), sowie die Schutzvoraussetzungen (Art. 3 II, Art. 4 und 5) entsprechen denjenigen in der GGVO. Die Richtlinie gewährt für das Geschmacksmuster ebenfalls einen absoluten Schutz (Art. 3 I) und läßt gemäß Art. 16 a.E. die Anwendung des nationalen Rechts über den unlauteren Wettbewerb unberührt. Entsprechend den Vorgaben in der Musterschutz-Richtlinie kennt auch das nationale GeschmacksmMR nur einen Schutz für eingetragene Geschmacksmuster. Definition und Schutzumfang sind im wesentlichen wörtlich aus der Musterschutz-Richtlinie übernommen. Die Schutzdauer wurde auf 25 Jahre festgesetzt, § 27 Abs. II GeschmMG. Allerdings wird er nur aufrechterhalten, wenn alle 5 Jahre eine Aufrechterhaltungsgebühr bezahlt wird, § 28 Abs. I GeschmMG. Gemäß § 38 Abs. I gewährt auch das nationale Recht ein Ausschließlichkeitsrecht. § 50 GeschmMG läßt Ansprüche aus anderen gesetzlichen Vorschriften unberührt. Einen Schutz für nicht eingetragene Muster ist im GeschmMG nicht vorgesehen und dies, obgleich ein entsprechendes Schutzbedürfnis auch im nationalen Recht seit langem bekannt ist.5 Diese Schutzlücke wurde durch die höchstrichterliche Rechtsprechung geschlossen. Der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes gewährt Schutz auf der Grundlage des ergänzenden wettbewerbsrechtlichen Leistungsschutzes, wenn besondere, außerhalb des sondergesetzlichen Tatbestandes liegende Umstände gegeben sind, die die Ausnutzung als Verstoß gegen die guten Sitten eines redlichen Wettbewerbs erscheinen lassen 6. 4 S. Grünbuch (KOM Dok. III/F/5131/91-DE), Ziff. 10.3.3.4. Aus diesem Grund findet sich keine entsprechende Vorschrift in der RL 98/71EG vom 13.10.1998. In Großbritannien besteht dennoch ein Schutz für nicht eingetragene Geschmacksmuster mit einer Schutzdauer von 10–15 Jahren, vgl. hierzu Cornish, GRUR Int. 1998, 368, 370. In Frankreich besteht ebenfalls ein gesonderter Schutz für Modeschöpfungen, Loi du 12. Mars 1952 réaprimant la contrefaçon des créations des industries saisonières de l’habillement et la parure, Journal Officiel 13.3.1952 S. 2931. 5 Hierzu Eichmann, in Eichmann/von Falckenstein, GeschmG, 3. Auf. (2005), Allg. III Rn. 53, 54 m.w.N; Ohly, ZEuP 2004, 296, 304; Bartenbach/Fock, WRP 2002, 1119, 1122; Nirk, GRUR 1993, 247, 248. 6 BGH GRUR 1992, 448, 450 – Pullovermuster; GRUR 1984, 453, 454 liSp. – Hemdblusenkleid; BGHZ 60, 168, 172 = GRUR 1973, 478, 480 – Modeneuheit; Nirk, in Nirk/ Kurtze, GeschmMG, 2. Aufl. (1997) Einl. V Rn. 77 ff.; Rn. 96, 97–99, 104.

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Damit ist die Problematik aufgezeigt: Das Gemeinschaftsrecht gewährt für nicht eingetragene GemeinschaftsgeschmM einen dreijährigen Schutz, während nicht eingetragene Geschmacksmuster nach nationalem Recht nur dann geschützt sind, wenn einschränkend besondere wettbewerbsrechtliche Umstände vorliegen, während erweiternd keine ausdrückliche zeitliche Grenze des Schutzes vorgesehen ist. Die Öffnungsklausel in Art. 96 GGVO scheint darauf hinzuweisen, daß eine parallele Anwendung möglich ist. Allerdings erscheint fraglich, ob Art. 96 nicht nur auf eine zeitlich parallele Anwendung abzielt, sondern darüber hinausgehend einen Schutz nach nationalem Recht gestattet, wenn die Schutzfrist für das nicht eingetragene GemeinschaftsgeschmM bereits abgelaufen ist. Dies hätte nämlich zur Folge, daß der differenzierte und abgestufte Schutz zwischen eingetragenem und nicht eingetragenem Geschmacksmuster aufgehoben würde. Bevor das Konkurrenzverhältnis zwischen der GGVO und dem ergänzenden wettbewerbsrechtlichen Leistungsschutz im einzelnen untersucht wird, ist zunächst zu klären, unter welchen Voraussetzungen im rein nationalen Bereich das Recht des unlauteren Wettbewerbs neben dem Geschmacksmusterrecht Anwendung findet.

III. Konkurrenzverhältnis Geschmacksmusterrecht zum unlauteren Wettbewerb 1. Nationales Recht a) Anwendungskonkurrenz Das Problem der Anwendungskonkurrenz stellt sich nicht nur für das Geschmacksmusterrecht, sondern betrifft alle Immaterialgüterrechte. Gemäß Art. 16 der RL 98/71/EG bzw. § 50 GeschmG, § 97 Abs. III UrhG und § 2 MarkenG findet das Recht des unlauteren Wettbewerbs neben dem Immaterialgüterrecht Anwendung. Dabei gilt jedoch der Grundsatz, daß der Zugriff auf fremde Leistungen außerhalb spezieller gesetzlicher Schutzbereiche im Interesse des freien Wettbewerbs erlaubt sein muß.7 Daraus folgt, daß durch die Anwendung des Wettbewerbsrechts die Wertungen des Immaterialgüterrechts nicht umgangen werden dürfen.8 Nach der Rechtsprechung des I. Zivilsenates können Ansprüche aus ergänzendem wettbewerbsrechtlichem Leistungsschutz neben dem Urheber7 Beater, Unlauterer Wettbewerb (2002) § 22 Rn. 6 m.w.N.; Nirk, in Nirk/Kurtze, GeschmMG 2. Aufl. (1997), Einl. V Rn. 71. 8 BGHZ 60, 128, 129 – Modeneuheit; Beater, Unlauterer Wettbewerb, § 22 Rn. 7; Götte, Die Schutzdauer im wettbewerbsrechtlichen Leistungsschutz (2000) S. 101; Nirk, in Nirk/Kurtze, GeschmMG, Einl. V Rn. 78; zur Begrenzungsfunktion der Immaterialgüterrechte für das Lauterkeitsrecht eingehend Fezer, UWG (2005) Einl. E Rn. 95 ff.

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recht 9, dem Patentrecht 10 und dem Geschmacksmusterrecht 11 geltend gemacht werden, wenn besondere, über die bloße Nachahmung hinausgehende Umstände vorliegen, die die Unlauterkeit der Wettbewerbshandlung begründen. Lediglich für das Markengesetz geht der I. Zivilsenat von einer grundsätzlich abschließenden Regelung aus.12 Ergänzend ist ein wettbewerbsrechtlicher Anspruch nur dann gegeben, wenn das Markengesetz nicht einschlägig ist, etwa weil die Benutzungshandlung kennzeichenrechtlich nicht erfaßt wird.13 Solange ein Sonderrechtsschutz besteht, findet das Recht des unlauteren Wettbewerbs, also entweder – wie beim Markenrecht – keine, oder aber nur ergänzende Anwendung.14 Besteht dagegen kein Sonderrechtsschutz, ist das Wettbewerbsrecht einschlägig.15 b) Besondere Umstände Ansprüche aus ergänzendem wettbewerbsrechtlichen Leistungsschutz werden gewährt, wenn besondere, über die bloße Nachahmung hinausgehende Umstände vorliegen, die die Unlauterkeit der Wettbewerbshandlung begründen.16 Maßgeblich für die Abgrenzung von Immaterialgüterschutz zum unlauteren Wettbewerb sind damit besondere Umstände, die außerhalb des sondergesetzlichen Tatbestandes liegen. Es kann sich dabei um eine vermeidbare Herkunftstäuschung, um die Ausnutzung des Rufs einer fremden Leistung oder um die Behinderung des fremden Leistungserbringers handeln,17 jetzt geregelt in § 4 Nr. 9 UWG. An dem Kriterium der besonderen unlauteren Umstände ist mehrfach Kritik in der Literatur geübt worden. Es handele sich um eine Scheinformel ohne faßbaren Inhalt 18, die unlauteren Umstände müßten in einigen Entscheidungen mit der Lupe gesucht werden 19, die besonderen Umstände spielten keine Rolle, da sich solche Kriterien immer finden ließen 20. Der Kritik ist sicherlich 9

BGH GRUR 1992, 697, 699 – Alf. BGH GRUR 2000, 521, 525 – Modulgerüst; GRUR 1990, 528 – Rollen-Clips. 11 BGH GRUR 2002, 629, 631 – Blendsegel; BGHZ 60, 168, 169 = GRUR 1973, 478 – Modeneuheit. 12 BGH GRUR 2002, 622, 623 – shell.de; GRUR 2000, 608, 610 – ARD 1; GRUR 2000, 70, 73 – Szene; BGHZ 138, 349 – MacDog. 13 BGH GRUR 2000, 608, 610 – ARD 1; a.A. Fezer, Markenrecht, 3. Auf. (2001) § 2 Rn. 2. 14 BGH GRUR 2000, 70 – Szene; GRUR 1999, 923 – Tele-Info CD; BGHZ 139, 138 – Warsteiner II; BGHZ 138, 349 – MacDog. 15 BGH GRUR 2003, 973, 974 – Tupperwareparty. Fezer, a.a.O., Rn. 10 ff. 16 BGH GRUR 2002, 629, 631 – Blendsegel; BGHZ 60, 168, 169 = GRUR 1973, 478 – Modeneuheit. 17 Nirk, in Nirk/Kurtze, Geschmacksmustergesetz, 2. Aufl. (1997), Einl. V Rn. 82. 18 Beater, Unlauterer Wettbewerb, § 22 Rn. 18. 19 Ohly, ZEuP 2004, 296, 304. 20 Köhler, WRP 1999, 1075, 1078 f. 10

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zuzugestehen, daß das Vorliegen von besonderen unlauteren Merkmalen im Einzelfall nicht vorhersehbar ist, weil ihre Feststellung der tatrichterlichen Würdigung unterliegt und sich immer gute Gründe für ihre Bejahung wie ihre Verneinung finden lassen. Trifft es aber zu, daß dann, wenn wettbewerbliche Eigenart und Leistungsübernahme feststehen, der ergänzende wettbewerbsrechtliche Leistungsschutz selten am Fehlen zusätzlicher Unlauterkeitskriterien scheitert,21 so stellen die Unlauterkeitsmerkmale kein geeignetes Abgrenzungskriterium dar. Hieraus folgt jedoch nicht zwingend der Schluß, daß ergänzender wettbewerbsrechtlicher Leistungsschutz neben Ansprüchen aus Immaterialgüterrecht stets zu gewähren ist,22 es kann hieraus vielmehr auch die Annahme folgen, daß eine ergänzende Anwendung des Wettbewerbsrechts dann zu unterbleiben hat, wenn sondergesetzlicher Schutz nicht besteht. Diese These soll in ihrer Absolutheit hier nicht vertreten werden; allerdings ist im folgenden die Eingangsfrage nach ergänzendem Leistungsschutz nach Ablauf einer spezialgesetzlichen Schutzfrist zu untersuchen. c) Schutzdauer Der I. Zivilsenat betont, daß die Vorschriften des Gesetzes über den unlauteren Wettbewerb nicht dazu herangezogen werden dürfen, um einen nicht bestehenden Sonderrechtsschutz zu ersetzen, da sonst die zeitliche Begrenzung des Sonderrechtsschutzes ihren Sinn verlöre.23 Dies habe zur Folge, daß ein ergänzender wettbewerbsrechtlicher Leistungsschutz nicht mehr in Betracht kommt, wenn die aufgrund Sonderrechts gewährten Schutzfristen abgelaufen sind.24 Dem folgt die Rechtsprechung indes nicht, sondern gewährt zeitlich unbeschränkten Schutz, solange die wettbewerbliche Eigenart der Leistung nicht verloren gegangen ist und Unlauterkeitsmerkmale vorliegen.25 Begründet wird dies mit der unterschiedlichen Schutzrichtung der gesetzlichen Regelung und dem Bedürfnis nach einem ergänzenden Schutz. Über unlauteren Wettbewerb werde nämlich nicht das Leistungsergebnis geschützt, sondern nur die Art und Weise der Nachahmung.26 Auch diese Rechtsprechung kann kritisch hinterfragt werden. Für den Fall des Einschleichens in eine fremde Produktserie hat der I. Zivilsenat bislang die Auffassung vertreten, daß ein zeitlich unbegrenzter Leistungsschutz zu 21

So Köhler a.a.O. Hierfür plädiert Köhler a.a.O. 23 BGHZ 60, 168, 169 = GRUR 1973, 478 – Modeneuheit. 24 So Emmerich, Unlauterer Wettbewerb, 6. Auf. (2002), S. 204; a.A. bei Herkunftstäuschung und Rufausbeutung: Götte, a.a.O. (Fn. 8), S. 125, 127. 25 BGH GRUR 1999, 754 – Güllepumpe. 26 BGH GRUR 2003, 356, 357 f. – Präzisionsmeßgeräte; GRUR 2002, 820 – Bremszangen; BGHZ 141, 329, 340 – Tele-Info-CD; BGHZ 138, 143, 150 – Les-Paul-Gitarren. 22

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gewähren sei, obwohl damit eigentlich das Leistungsergebnis geschützt und nicht die Art und Weise des Nachbaus untersagt wird. Erst kürzlich hat der I. Zivilsenates seine diesbezügliche Rechtsprechung geändert, weil sonst der Grundsatz der Nachahmungsfreiheit von Produkten, die keinem sondergesetzlichen Schutz (mehr) unterfallen, niemals berücksichtigt werden könnte.27 Außerdem werde beim Einschieben in eine fremde Produktserie eigentlich die Leistung als solche und nicht wie bei der Herkunftstäuschung und der Rufausbeutung die Art und Weise der Nachahmung geschützt. Die Dauer des wettbewerblichen Leistungsschutzes habe sich an der sondergesetzlichen Schutzdauer zu orientieren.28 Ein weiterer Sonderfall gilt für kurzlebige Modeneuheiten. Bei ihnen reicht für einen wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsanspruch das bloße Nachahmen einer fremden Leistung aus.29 Begründet wird dies damit, daß die Unternehmer aufgrund der besonderen Verhältnisse auf dem Modemarkt auf den wettbewerblichen Schutz angewiesen seien. Die nach dem GeschmacksMG mögliche Anmeldung der Muster zur Eintragung in das Musterregister biete keinen ausreichenden Schutz.30 Die Schutzfrist beschränkt sich bei kurzlebigen Modeneuheiten jedoch auf eine maximal zwei Saisonzeiten. Ein entsprechender Nachahmungsschutz wird nunmehr für 3 Jahre durch die GGVO gewährt, so daß es insoweit eines Rückgriffs auf das Wettbewerbsrecht nicht mehr bedarf 31. Für nicht kurzlebige Modekollektionen und sonstige Geschmacksmuster besteht demgegenüber ein zeitlich unbeschränkter Nachahmungsschutz 32. Wenn auch in der Literatur Kritik an dem zeitlich unbeschränkten Leistungsschutz geübt wird 33, vertritt die Rechtsprechung 34 die Auffassung, daß ein Anspruch solange besteht, als die Leistung wettbewerbliche Eigenart hat und die Unlauterkeitsmomente vorliegen. Auf rein nationaler Ebene ist diese Lösung deshalb hinzunehmen, auch, wenn man eine andere Auffassung ver27

BGHZ 161, 204, 213 – Klemmbausteine III. BGH a.a.O. S. 212, 213 unten. 29 BGH GRUR 1984, 453, 454 – Hemdblusenkleid; BGHZ 60, 168, 170 f. = GRUR 1973, 478– Modeneuheit. 30 BGHZ 60, 168, 170 f. = GRUR 1973, 478 – Modeneuheit. 31 So Rahlf/Gottschalk, Neuland: Das nicht eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster, GRUR Int. 2004, 821, 825 f.; Emmerich, Unlauterer Wettbewerb, S. 201 f.; Köhler in Hefermehl/Köhler/Bornkamm, UWG, 24. Aufl. (2006), § 4 Rn. 9.8. 32 So BGH GRUR 2006, 79, 81= NJW-RR 2006, 45 – Jeans; GRUR 1998, 477, 478 – Trachtenjanker. 33 Köhler, WRP 1999, 1075, 1079; Emmerich, Unlauterer Wettbewerb, 6. Aufl., S. 204; Osterrieth, FS Tilmann (2003), S. 221, 235. 34 BGH GRUR 2006, 79, 81= NJW-RR 2006, 45 – Jeans; GRUR 2005, 349, 352 – Klemmbausteine III; GRUR 2003, 356, 358 – Präzisionsmessgeräte; Nirk, in Nirk/Kurtze, GeschmMG, Einl. V Rn. 104; Nirk, GRUR 1993, 247, 253 für den Zeitraum vor Erlass der RL; Bartenbach/Fock, WRP 1999, 1119, 1123 f. 28

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tritt. Ob aber das Konkurrenzverhältnis unter Berücksichtigung des gemeinschaftsrechtlichen Hintergrundes in Art. 16 der RL 98/71/EG ebenso zu beurteilen ist, ist – soweit ersichtlich – bislang nicht geklärt. Die Frage stellt sich dann, wenn die Schutzfrist für das eingetragene Geschmacksmuster abgelaufen ist. Zwar mag Art. 16 der Richtlinie hinsichtlich der Anwendung des Unlauterkeitsrechts auf das nationale Recht verweisen; damit ist aber noch nicht eindeutig geklärt, wie diese Norm auszulegen ist. Daß es sich hierbei nicht nur um eine theoretische Frage handelt, zeigt sich auch daran, daß der I. Zivilsenat § 2 MarkenG entgegen seinem allgemeinen Wortlaut so auslegt, daß das Markenrecht grundsätzlich eine abschließende Sonderregelung darstellt, die die Anwendung des Wettbewerbsrechts ausschließt 35. Es kann zudem nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß der EuGH Art. 16 der Richtlinie entsprechend der Auffassung des Bundesgerichtshofes auslegt. Mehr Brisanz erhält die Frage wegen des abgestuften Schutzrechts allerdings im Verhältnis zwischen nicht eingetragenem GemeinschaftsgeschmM und Lauterkeitsrecht. 2. Nicht eingetragenes GemeinschaftsgeschmM – ergänzender wettbewerbsrechtlicher Leistungsschutz Bevor auf das Für und Wider einer Anspruchskonkurrenz nach Ablauf der sondergesetzlichen Schutzfrist eingegangen wird, soll zunächst geprüft werden, ob bzw. welche Unterschiede zwischen dem Schutz des nicht eingetragenen GemeinschaftsgeschmM und dem ergänzenden wettbewerbsrechtlichen Leistungsschutz bestehen. a) Schutzumfang Sowohl das nicht eingetragene GemeinschaftsgeschmacksmM, als auch der ergänzende wettbewerbsrechtliche Anspruch bieten keinen absoluten Schutz, sondern nur einen solchen vor Nachahmung. Das nicht eingetragene GemeinschaftsgeschmM ist zudem nicht geschützt, wenn das angefochtene Muster auf einem eigenen Entwurf beruht (Art. 19 II GGVO). Demgegenüber setzt der wettbewerbsrechtliche Anspruch voraus, daß die Nachahmung bewußt erfolgte, der Verletzer also Kenntnis von dem Muster hatte. Ausreichend soll aber auch sein, daß die Verletzung fremder Rechte billigend in Kauf genommen wurde.36 Die Schutzvoraussetzungen ähneln sich. Wer 35 BGH GRUR 2002, 622, 623 – shell.de; GRUR 2000, 608, 610 – ARD 1; GRUR 2000, 70, 73 – Szene; BGHZ 138, 349, 351 – Mac Dog. 36 BGH GRUR 2002, 629, 633 – Blendsegel; BGHZ 117, 115, 118 – Pullovermuster; GRUR 1991, 914, 915 – Kastanienmuster; Nordemann, Wettbewerbs- u. Markenrecht, 10. Aufl. (2004) Rn. 1622; Emmerich, Unlauterer Wettbewerb, S. 188; Nirk, Zur Rechtsfigur des wettbewerbsrechtlichen Leistungsschutzes, GRUR 1993, 247, 250.

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das fremde Muster kennt, legt der Verwendung des eigenen Musters keinen selbständigen Entwurf zugrunde, weil der Begriff des selbständigen Entwurfs die Unkenntnis des fremden Musters impliziert. Das Muster muß wettbewerbsrechtlich über eine Eigenart verfügen, während es nach dem Gemeinschaftsrecht außerdem als Grundvoraussetzung neu sein muß (Art. 5 und 6 GGVO). Wettbewerbsrechtlich setzt die Eigenart voraus, daß das Muster geeignet ist, auf die betriebliche Herkunft oder Besonderheiten der Leistung hinzuweisen.37 Demgegenüber liegt eine Eigenart i.S. von Art. 6 GGVO vor, wenn sich der Gesamteindruck, den das Muster beim informierten Benutzer hervorruft, von dem Gesamteindruck unterscheidet, den ein anderes Geschmacksmuster bei diesem Benutzer hervorruft, das vor dem Anmeldetag offenbart, d.h. der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist. Das Erfordernis eines Herkunftshinweises ist damit nicht verbunden. Eine Vergleichbarkeit der Kriterien besteht damit nur für Modeerzeugnisse, bei denen wettbewerbsrechtlich ebenfalls kein Herkunftshinweis verlangt wird.38 Im Gegensatz zu einem Anspruch aus ergänzendem wettbewerbsrechtlichen Leistungsschutz sind für den Schutz des nicht eingetragenen GemeinschaftsgeschmM keine besonderen unlauteren Merkmale zu prüfen. Die Nachahmung ist als solche verboten, ohne daß die Umstände des Einzelfalls in die Betrachtung mit eingeschlossen würden. Der Anspruch folgt also allein aus der Existenz des Schutzrechts 39. Ein wesentlicher Unterschied besteht hinsichtlich der Schutzdauer. Während das nicht eingetragene GemeinschaftsgeschmM für 3 Jahre geschützt ist (Art. 11 I GGVO), besteht der wettbewerbsrechtliche Anspruch – von den Sonderfällen der kurzlebigen Modeerzeugnisse und des Einschiebens in eine fremde Produktserie abgesehen – solange unbeschränkt, als sich die Gefahr einer Herkunftstäuschung ergeben kann, wenn Nachahmungen vertrieben werden. Als Ergebnis ist festzuhalten, daß die Schutzvoraussetzungen für den ergänzenden wettbewerbsrechtlichen Leistungsschutz theoretisch höher sind als für das nicht eingetragene GemeinschaftsgeschmM. Dies gilt insbesondere für das Erfordernis der besonderen unlauteren Umstände. Diesbezüglich muß allerdings nochmals auf die Kritik hingewiesen werden, daß diese in der Rechtsprechung keine Rolle spielen 40 und daher in aller Regel nur theoretischer Art sind. 37

BGH GRUR 2006, 79, 81 = NJW-RR 2006, 45 – Jeans; GRUR 2002, 629, 631 – Blend-

segel. 38 Nordemann, Wettbewerbs- und Markenrecht, 10. Aufl. (2004), Rn. 1645; a.A. Ohly, ZEuP 2004, 296, 310 (Überschneidung in weitgehendem Maß). 39 Osterrieth, FS Tilmann (2003), S. 221, 225. 40 Beater, Unlauterer Wettbewerb, § 22 Rn. 18; Ohly, ZEuP 2004, 296, 304; Köhler WRP 1999, 1075, 1078 f.

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b) Konkurrenzverhältnis In Bezug auf das Konkurrenzverhältnis wird die Auffassung vertreten, der Schutz des nicht eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters stehe gegenüber demjenigen aus ergänzendem wettbewerbrechtlichen Leistungsschutz in einem Stufenverhältnis. Das nicht eingetragene GemeinschaftsgeschmM stelle nur den Vorbereiter dar und die Basis für einen ergänzenden wettbewerbsrechtlichen Leistungsschutz. Durch diesen zunächst dreijährigen Schutz könne sich der Entwickelnde für sein Produkt die Eigenart erarbeiten, die nachher ein ergänzender wettbewerbsrechtlicher Leistungsschutz erfordert 41. Dieser Auffassung kann in dieser Allgemeinheit nicht zugestimmt werden. Allerdings wird auch für das Verhältnis des nicht eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters zum ergänzenden wettbewerbsrechtlichen Leistungsschutz überwiegend die Auffassung vertreten, daß der wettbewerbsrechtliche Anspruch bei langlebigen Produkten über die Schutzfrist von 3 Jahren hinaus besteht 42. Begründet wird dies – ähnlich wie im nationalen Recht – mit den unterschiedlichen Schutzrichtungen der Ansprüche 43. Allerdings sollen die Unlauterkeitsmerkmale deutlich über eine bloße Nachahmung hinausgehen 44. Dem Einwand, der ergänzende wettbewerbsrechtliche Leistungsschutz sei nicht überflüssig, weil Art. 14 GGVO nur den Entwerfer, nicht aber den Unternehmer schütze 45, kann nicht gefolgt werden. Art. 14 I sieht vor, daß das Recht auf das GemeinschaftsgeschmM dem Entwerfer oder seinem Rechtsnachfolger zusteht. Der Unternehmer, der berechtigt das Muster verwendet, wird als Rechtsnachfolger i.S. von Art. 14 I anzusehen sein. Gegen die Anwendbarkeit des ergänzenden wettbewerbsrechtlichen Leistungsschutzes nach Ablauf der dreijährigen Schutzfrist des nicht eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters spricht vielmehr das in der GGVO vorgesehene differenzierte Schutzsystem. Einen längeren Schutz soll nur einem eingetragenen GemeinschaftsgeschmM zuerkannt werden 46. Für eine Anwendung des ergänzenden wettbewerbsrechtlichen Leistungsschutzes – sofern eine Herkunftstäuschung vorliegt – könnte sprechen, daß die „Richtlinie 2005/29 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen 41

Bartenbach/Fock, WRP 1999, 1119, 1124. BGH GRUR 2006, 79, 80 = NJW-RR 2006, 45 – Jeans; Osterrieth, FS Tilmann, S. 21, 236; Rahlf/Gottschalk, GRUR Int. 2004, 821, 826; Ohly, ZEuP 2004, 296, 311 f.; Kur, GRUR Int. 1998, 353, 359 a.A. Auteri, GRUR Int. 1998, 360, 367. 43 BGH GRUR 2006, 79, 80 = NJW-RR 2006, 45 – Jeans; Bartenbach/Fock, WRP 2002, 1119, 1123. Köhler, in Hefermehl/Köhler/Bornkamm, UWG, 24. Aufl. 2006, § 4 Nr. 9 Rn. 9.4 ff. 44 Ohly, ZEuP 2004, 296, 311 f. 45 Nordemann, Wettbewerbs- und Markenrecht, 10. Aufl., 2004, Rn. 1645. 46 Auteri, GRUR Int. 1998, 360, 367. 42

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Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern“ in Art. 6 I lit b vorsieht, daß eine Irreführung über die geographische oder kommerzielle Herkunft der Ware irreführend und damit untersagt ist. Dies scheint darauf hinzudeuten, daß der Gemeinschaftsgesetzgeber einen zeitlich unbeschränkten Schutz vor Herkunftstäuschung beabsichtigt 47. Andererseits ist zu berücksichtigen, daß der Gefahr vor Herkunftstäuschungen primär durch die Markenrechts-Richtlinie und die GemeinschaftsmarkenVO bereits begegnet wird. Diese Fragen bedürfen jedoch noch einer abschließenden Klärung durch den EuGH.

IV. Schlußfolgerungen 1. Die Diskussion des Konkurrenzverhältnisses von Immaterialgüterrecht und Wettbewerbsrecht erfolgte bislang lediglich aus nationalem Blickwinkel. Die diesbezügliche Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stammt aus der Zeit vor Erlaß der Musterrichtlinie bzw. der GGVO und bezog sich ursprünglich auf das Konkurrenzverhältnis rein nationaler Normen. Mit Erlaß der Richtlinie und der Verordnung handelt es sich jedoch um Geschmacksmusterrecht, dessen Vorschriften nicht mehr im rein nationalen Verständnis ausgelegt werden dürfen. Ab Ende 2007 ist zudem das Recht des unlauteren Wettbewerbsrechts noch stärker gemeinschaftsrechtlich geprägt. Die Beurteilung der Fragen, in welchem Verhältnis die Normen untereinander stehen, obliegt damit dem EuGH (Art. 234 EG). Zwar scheinen Art. 16 der Musterrichtlinie (Art. 96 GGVO) sowie zukünftig Art. 6 I lit b der „Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken“ dafür zu sprechen, daß das Wettbewerbsrecht unabhängig vom Ablauf der Schutzfristen des Musterrechts anzuwenden ist. Allerdings zeigt die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 2 MarkenG, daß – entgegen dem allgemeinen Wortlaut – durchaus auch das Musterrecht als abschließende Regelung angesehen werden kann. Es bleibt abzuwarten, wie der EuGH dies letztendlich entscheiden wird. Dabei ist derzeit aber offen, ob bzw. wann der EuGH hierzu Gelegenheit erhält. Der I. Zivilsenat hat nämlich in einem Beschluß vom 19.01.2006 48 eine Vorlageverpflichtung an den EuGH verneint. Der I. Zivilsenat ist der Auffassung, daß die Abgrenzung von nicht eingetragenem GemeinschaftsgeschmM zum ergänzenden wettbewerbsrechtlichen Leistungsschutz „offensichtlich geklärt“ sei. Dies ergebe sich daraus, daß die GGVO die Bestimmungen der Mitgliedstaaten über den unlauteren Wettbewerb unberührt lasse (Art. 96 I GGVO, vgl. auch 47 Die Richtlinie ist gemäß Art. 19 bis zum 12.06.2007 umzusetzen und ab dem 12.12.2007 anzuwenden. 48 BGH Beschluss 19.01.2006, I ZR 151/02, GRUR 2006, 346 = NJW 2006, 1978 – Jeans II. Hierzu Leible, LMK 2006, 178600 (unter beck-online).

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Erwägungsgrund Nr. 31 der VO). Dieses Nebeneinander von Geschmacksmusterschutz und ergänzendem wettbewerbsrechtlichem Leistungsschutz sei aufgrund der unterschiedlichen Schutzvoraussetzungen und Rechtsfolgen gerechtfertigt. Während der Musterschutz an die Neuheit und Eigenart des Geschmacksmusters anknüpfe (Art. 5, 6 GGVO) und einen zeitlich auf drei Jahre befristeten Schutz begründe (Art. 11 GGVO), setze der ergänzende wettbewerbsrechtliche Leistungsschutz nach §§ 3, 4 Nr. 9 lit. a UWG mit dem Vorliegen einer vermeintlichen Herkunftstäuschung ein Unlauterkeitsmerkmal voraus und führe zu einem zeitlich nicht von vornherein befristeten Anspruch. 2. Die Auffassung des BGH mag im unterschiedlichen Einklang mit gewichtigen Stimmen im Schrifttum stehen. Des ungeachtet bleibt gerade nach deutschem Recht das Verhältnis von „ergänzendem wettbewerbsrechtlichen Leistungsschutz“ und Immaterialgüterrechtsschutz nach wie vor diskussionsbedürftig 49. Denn die Anwendung des Wettbewerbsrechts mit dem Ziel, die zugrunde liegende Leistung unmittelbar zu schützen, ist abzulehnen. Dies gilt vor allem dann, wenn ein gesetzlicher Sonderrechtsschutz zur Verfügung steht und dieser nicht oder – durch Zeitablauf oder Gebührenverfall – nicht mehr benutzt werden kann. Die in § 4 Nr. 9 UWG enthaltene Marktverhaltensregelung begründet kein subjektives Recht und ermöglicht somit keinen absoluten Schutz eines Leistungsergebnisses vor Nachahmung. Dies ist den Sonderschutzrechten vorbehalten 50. Der Grundsatz der Nachahmungsfreiheit außerhalb der gesetzlichen Schutzinstrumente für geistige Leistungen jeder Art muß unantastbar bleiben. Die geistige Leistung selbst als solche zu schützen ist dem Wettbewerbsrecht fremd. Wer – wie vorliegend gegeben – rechtliche Schutzmöglichkeiten nicht in Anspruch nimmt oder verfallen läßt, bedarf per se keines ergänzenden Leistungsschutzes, sondern hat den Grundsatz der Nachahmungsfreiheit hinzunehmen 51. Welchen Einfluß das nicht eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster als neues Schutzrecht auf das System des lmmaterialgüterrechts ausüben wird, bleibt abzuwarten. Daß die Integration dieses neuen gemeinschaftsrechtlichen Schutzrechts in die unterschiedlichen Systeme schwierig sein wird, haben Eckart Gottschalk/Sylvia Gottschalk eindrucksvoll veranschaulicht 52. 49 Schrader, WRP 2005, 562, 563 f.; Jänisch, LMK 8/2005, S. 47, 48 a.E.; Piper in Köhler/Piper, UWG, 3. Aufl. 2002, § 1 a.F., Rn. 591, 592; S. Rahlf/Gottschalk, GRUR Int. 2004, 821/822 oben, 825/826. 50 BGHZ 161, 204, 212/213 = GRUR 2005, 349, 352 – Klemmbausteine III. 51 Hefermehl/Köhler/Bornkamm, Wettbewerbsrecht, 24. Aufl. 2006, § 4 Rn. 9.4; Piper in Köhler/Piper, UWG, a.a.O., § 1 a.F., Rn. 590, 591 f.; Lewalter/Schrader, in Mitt. 2004, 202, 205/206; E. Gottschalk/S. Gottschalk, in GRUR Int. 2006, 461 f. 52 Das nicht eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster: eine Wunderwaffe des Designschutzes? GRUR Int. 2006, 461 ff. m.w.N.; Sylvia Rahlf/Eckart Gottschalk, Neuland, Das eingetragene Gemeinschaftsgeschmacksmuster, GRUR Int. 2004, 821 ff. m.w.N.

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3. Bei der Prüfung der grundsätzlich gegebenen Vorlagepflicht hat der BGH die zu erfüllenden Bedingungen nur verkürzt angesprochen. Ungeprüft bleibt, ob die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts unter Berücksichtigung seiner Eigenheiten, der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung und der Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der Gemeinschaft so beurteilt werden konnte 53. Stefan Leible 54 bezeichnet es als erstaunlich, daß der BGH für seine Auffassung, weshalb eine Vorlage an den EuGH nicht erforderlich war, neben Art. 96 Abs. 1 GGVO und dem Erwägungsgrund 31 der GGVO nur deutschsprachige Literatur heranzieht. Denn wenn man die ,,CILFIT-Doktrin“ und insbesondere deren zweite und dritte Bedingung wirklich ernst nimmt, sollte man zumindest einen kurzen rechtsvergleichenden Blick in die Literatur und womöglich auch Rechtsprechung anderer Mitgliedstaaten erwarten dürfen. Denn nur dann lasse sich – so Leible – in wirklich unangreifbarer Weise behaupten, daß die Gerichte der übrigen Mitgliedsstaaten und der EuGH offenkundig ebenso entscheiden würden. Hierzu braucht zur kritischen Veranschaulichung beispielhaft nur auf das Recht Großbritanniens hingewiesen zu werden 55. Die dort besonders hoch gehaltene Wettbewerbsfreiheit läßt einen zivilrechtlichen Schutz gegen ,,unfaires Wettbewerbsverhalten“ nur in seltenen Ausnahmefällen, z.B. nach den Grundsätzen des „passing off“ zu 56. Das britische Recht kennt bekanntlich keine separate Handlungsmöglichkeit gegen unlauteres Wettbewerbsverhalten und steht der „Überreglementierung“ in den kontinentaleuropäischen Ländern sehr reserviert gegenüber. Der Designschutz als solcher wird entweder durch das nicht eintragungspflichtige „unregistered design right“ 57 mit einem grundsätzlich 10-jährigen Schutz (Sec. 216 I CDPA) oder durch das „Registered Design“ mit einer Höchstdauer von 25 Jahren gewährleistet 58.

53 Ausführlich EuGH 6.10.1982 – RS 283/81 –, NJW 1983, 1257, 1258 reSp. oben Abs. 1 = EuGH 1982, 3415. – Zuletzt EuGH 15.09.2005 – Rs. C-495/03, HFR 2005, 1236 Tz. 33. Siehe auch BGH in BGHZ 164, 241, 248 = NJW 2006, 371, 373 – Mangusta/Commerzbank I. 54 Besprechung der BGH-Entscheidung 19.01.2006 – I ZR 151/02 –, NJW 2006, 1978 f. = GRUR 2006, 346 f. – Jeans II – in LMK 2006, 178 600 (unter beck-online). 55 F. Henning-Bodewig, Bericht, in GRUR Int. 2006, 395, 397 reSp.; Lützenrath, Designschutz im deutschen Binnenmarkt, 1996m 100 ff. und 118 ff. sowie 135, 137 ff.; Morris/Quest, Design: The modern law and practice 1987, 10.3.1 ff.; 10.3.3; Nirk bei Nirk/Kurtze, GeschmMG, Komm. 2. Aufl., 1996, Einf. II 6 B, Rn. 36. 56 Lützenrath, a.a.O., 135 ff.; Morris/Quest, a.a.O., 1987, 10.3.1. ff.; 10.3.3. 57 Sec. 213 (6) Copyright, Designs and Patents Act, 1988. 58 Sec. 8 Registered Designs Act (RDA) 1988.

Immaterialgüterschutz in Sekundärmärkten Gerhard Riehle Inhaltsübersicht I. Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Weitervertrieb schutzrechtsbehafteter Produkte . . . . . . . . III. Dienst- und Sachleistungen für schutzrechtsbehaftete Produkte 1. Markenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Designrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vom Wettbewerbs- zum Immaterialgüterrecht . . . . . . . . IV. Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Fragestellung Das Spannungsverhältnis zwischen Immaterialgüterschutz und Wettbewerbsordnung gehört zu den ältesten, indes in stetem Fluss befindlichen Kernthemen des Wirtschaftsrechts.1 Aktuelle Sonderakzente gehen dabei von dem Bemühen um einen einheitlichen europäischen Binnenmarkt und dem Wandel zu einer Wissens- und Informationsgesellschaft aus. Übergreifend wäre es daher reizvoll zu untersuchen, wie – als Folge ihrer jeweils konkreten Ausgestaltung – die sozio-ökonomische Wirkung von geistigen Eigentumsrechten in Primärmärkten derzeit zu bewerten ist. Ist es zum Beispiel Gemeinwohl-förderlich, immer mehr Sachverhalte unter Exklusivschutz zu stellen 2 oder die Schutzvoraussetzungen – wie im „europäischen“ Marken 3- und Designrecht 4 geschehen – so niedrig wie nie 1 Dazu eingehend: Heinemann Immaterialgüterschutz in der Wettbewerbsordnung [Tübingen 2002]. 2 Siehe z.B. die an Frau Bundesministerin Zypries gerichtete (von ihr letztlich dann verneinte) Frage „Hypertrophie der Schutzrechte?“, GRUR 2004, 977, die Bedenken von Ghidini, „Protektionistische“ Tendenzen im gewerblichen Rechtsschutz, GRUR Int 1997, 773 oder die Diskussion um den Schutz „geschäftlicher Methoden“ (Jänich, Sonderrechtsschutz für geschäftliche Methoden, GRUR 2003, 483). 3 Stichwort: „BABY-DRY“ (EuGH RS C-383/99 P v. 20.9.2001, Procter & Gamble/ HABM, Slg. 2001, 6251); HABM v. 12.12.2005, MarkenR 2006, 135 „babyruf“; Jäcker, „baby Ruf“ der Weckruf für „Baby-dry“, MarkenR 2006, 155. 4 Während die nationalen Rechte den Schutz von Designs an qualitative Kriterien (z.B. überdurchschnittliche Kreativleistung/ästhetischer Überschuss etc.) knüpften, ist es nach

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zuvor anzusetzen und damit wenig werthaltige „Register“-Rechte und eine nachgelagerte, meist den wirtschaftlich Schwächeren treffende Prozessflut in Kauf zu nehmen? 5 All dies mag zurückstehen. Das Ziel des vorliegenden Beitrages ist weitaus bescheidener. Er versucht, skizzenhaft die Frage auszuleuchten, inwieweit bestehende Schutzrechte an Primärprodukten auch in Folge- und Sekundärmärkte hineinwirken, ihre Ausschlusswirkung auch gegen Dritte entfalten, die Vertriebs-, Bearbeitungs- oder Dienstleistungshandlungen für diese Produkte anbieten; beispielsweise: inwieweit das für Kopiergeräte bestehende Recht an der Marke „Toshiba“ auch ein Vorgehen gegen Dritte gestattet, die Nachfüll-Kartuschen „für Toshiba-Kopierer“ auf den Markt bringen möchten.6 Die Frage so zu stellen, obwohl ihr bereits eine Wertung unterlegt werden könnte (was in der Tat vielfach geschieht), folgt aus der traditionellen Systematik gewerblicher Schutzrechte. Deren Schutzgehalt wird grundsätzlich und zunächst ausschließlich danach bemessen und bestimmt, welche Auswirkungen bei der Erstvermarktung des Produkts im primären Absatzmarkt mit einem Schutz verbunden sind. Die Eingrenzung des Schutzumfanges über Verwechslungsgefahr und Warengleichartigkeit im Markenrecht ist ein Beispiel und Entscheidungsgrundlage dafür, ob der Absatz von „Canon“-Kameras durch den parallelen Marktauftritt von „Cannon“-Videofilmen beeinträchtigt wird oder nicht.7 Erst in einem zweiten Schritt schließen sich dieser, auf den Primärmarkt zugeschnittenen horizontalen Betrachtung Überlegungen an, welche Rechtsfolgen für den Weitervertrieb des Produkts und die von dessen Eigentümer benötigten Serviceleistungen gelten sollen. Eine Antwort darauf, wenn überhaupt, ist in der Regel eher knapp und allgemein gehalten, erfolgt aber bislang stets aus dem Verständnis heraus, es gehe dabei um eine nachträgliche Begrenzung des am Primärmarkt entwickelten Schutzgehalts, um eine „Schranke“ der in dieser Weise vorgefundenen und inhaltlich vorbestimmten subjektiven Rechte (limitation of rights). Dass eine solches „Regel-Ausnahme“-Denken die Beurteilung der in Frage stehenden downstream Sachverhalte erheblich und vorgreiflich beeinflusst, liegt auf der Hand; es läuft im Extremfall auf eine Haltung zu, die man neuem „europäischen“ Recht (siehe Art. 5 (1) „Design“ Richtlinie 98/71/EG und Art. 6 (1) „Design“ Verordnung (EG) Nr. 6/2002) für die Schutzerlangung schon ausreichend, dass sich das Design vom bestehenden Formenschatz „unterscheidet“ (siehe dazu näher Kur, Gedanken zur Systemkonformität einer Sonderregelung für must-match-Ersatzteile im künftigen europäischen Geschmacksmusterrecht, GRUR In. 1996, 876, 878; Riehle, Das künftige Musterrecht und die „Ersatzteilfrage“, EWS Beilage 1 zu Heft 7/1996, 7, 8). 5 Siehe dazu die kritischen Bemerkungen von Jäcker, Marke – QUO VADIS?, MarkenR 2003, 417 und von Ströbele, Absolute Eintragungshindernisse im Markenrecht, GRUR 2001, 658; derselbe Schutzvoraussetzungen und Schutzbereich von Marken, NJW Sonderheft 100 Jahre Markenverband [2003], 78, 81. 6 Siehe EuGH RS C-112/99 v. 25.10.2001, Slg. 2001 I-7945. 7 Siehe EuGH RS C-39/97 v. 29.9.1998, Slg. 1998 I-5507.

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als „Wer hat der hat“- oder „Eigentumslogik“ 8-Doktrin bezeichnen kann. Sie besagt im Kern, die Zuweisung eines absoluten Rechts impliziere und gebiete es, dessen am Primärmarkt entwickelten Ausschlusstatbestände buchstabengetreu und ohne weitere Folgenabschätzung auf die downstream Sachverhalte anzuwenden. Da – um im Markenrecht zu bleiben – Drittleistungen im Sekundärbereich ohne einen Hinweis auf die geschützte Marke, d.h. ohne deren „Benutzung“, praktisch nicht möglich sind und die „Benutzung“ einer identischen Marke ein normierter Verletzungstatbestand ist, kann der Markeninhaber nach dieser Doktrin Wettbewerb in Sekundärmärkten weitgehend ausschließen. Glücklicherweise konnte sich die Doktrin in dieser Rigidität nicht durchsetzen. Sie beeinflusst indes bis heute die Diskussion in erheblichem Maße – auch und gerade in Fragen, deren Lösung de lege ferenda auf europäischer Ebene noch anstehen. Es lohnt daher, einen kurzen Blick darauf zu richten, welchen Gang die Rechtsentwicklung genommen hat und welche Tendenzen sich dabei für die Zukunft abzeichnen.

II. Weitervertrieb schutzrechtsbehafteter Produkte Historisch gesehen, ging es zuerst um die Frage, welche Rechtsfolgen sich an den reinen Weitervertrieb des mit einem Schutzrecht behafteten Produkts knüpfen. Die Antwort darauf ist – wie hinlänglich bekannt – die von der Rechtsprechung entwickelte „Erschöpfungslehre“, nach der die Befugnisse des Rechtsinhabers mit dem Inverkehrbringen des Produkts enden. Damit ist grundsätzlich klargestellt, dass jeder Dritte sich in den Vertrieb einschalten kann und dass bestehende Schutzrechte keine Handhabe bieten, exklusive oder selektive Vertriebssysteme zu unterhalten, Märkte abzuschotten und intra-brand Wettbewerb zu unterbinden. Der Erschöpfungsgrundsatz, in Deutschland für die meisten Schutzrechte schon um 1900 etabliert 9, betraf naturgemäß zunächst nur nationale Tatbestände und Märkte. Die wirtschaftlichen Gegebenheiten zwangen indes bald dazu, auch internationale Sachverhalte einzubeziehen – eine Entwicklung, die sich in drei Stufen vollzog. In der ersten Stufe ging es um die Frage, ob auch das Inverkehrbringen im Ausland zur Erschöpfung eines im Inland bestehenden Schutzrechtes führt; praktisch gesprochen: ob Parallelimporte erlaubt sind oder nicht. Für das Markenrecht wurde die Frage unter Beru8 Der Begriff stammt von Dreier, Primär- und Folgemärkte, 70ff. in Schricker/Dreier/ Kur, Geistiges Eigentum im Dienst der Innovation (Baden-Baden 2001). 9 Siehe RGZ 51, 139 (1902) Duotal [Patentrecht]; RGZ 50, 229 (1902) Kölnisch Wasser, RGZ 51, 263 (1902) Mariani [Markenrecht]; RGZ 63, 394 König’s Kursbuch [Urheberrecht]; BGH GRUR 1958, 613 (1958) Tonmöbel [Designrecht].

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fung auf dessen Herkunftsfunktion in Deutschland 10 (und einigen weiteren Ländern) 11 bejaht, für die übrigen Schutzrechte von der herrschenden Meinung verneint.12 In der zweiten Stufe stellte sich die Frage erneut und dahingehend, ob ein Inverkehrbringen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft die Erschöpfung eines in einem Mitgliedstaat bestehenden Schutzrechts bewirkt. Gestützt auf die Art. 28/30 EWGV (ex: Art. 30/36) 13 und das Argument, der „Wesensgehalt“ der betroffenen Schutzrechte werde dadurch nicht beeinträchtigt, entwickelte der EuGH – und zwar einheitlich für alle Schutzrechte – das Prinzip „gemeinschaftsweiter“ Erschöpfung.14 Danach hat das Inverkehrbringen in einem Mitgliedstaat auch Erschöpfungswirkung im Rest-Territorium der EU. Parallelimporte zwischen den Mitgliedstaaten sind damit grundsätzlich erlaubt, Schranken für den freien Warenverkehr im Binnenmarkt insoweit beseitigt.

10 Siehe BGHZ 41, 84 Maja; BGHZ 60, 185 Cinzano. Eingehend dazu: Riehle, Markenrecht und Parallelimport (Stuttgart 1968). 11 Zum Beispiel in Österreich (OGH (verstärkter Senat) GRUR Int 1971, 90 Agfa; Schweiz (Schweizerisches Bundesgericht GRUR Int 1998, 520 Chanel m. Anm. Knaak); Niederlande (Hoge Raad GRUR Int 1957, 259 Grundig); Schweden (OGH GRUR Int 157, 172 Diogenes, OGH GRUR Int 1962, 334 Bazooka). Für weitere Einzelheiten siehe Beier/von Mühlendahl, Der Grundsatz der internationalen Erschöpfung des Markenrechts in den Mitgliedstaaten der EG und ausgewählten Drittstaaten, Mitteilungen der Deutschen Patentanwälte 1980, 101; Riehle a.a.O. (Fn. 101) 250ff. Nach Beier hat die französische Doktrin, die im Sinne des Eigentumslogik-Ansatzes gerne vom „caractère absolu“ der Schutzrechte her argumentiert, die „theorie de l’épuisment“ überwiegend abgelehnt (GRUR 1989, 603, 611 Fn. 53). 12 Siehe dazu die eingehenden Darlegungen von Joos Die Erschöpfungslehre im Urheberrecht (München 1991), S. 123 ff. zum Patent- und Urheberrecht. Einzelne Stimmen in der Literatur (z.B. Koppensteiner) oder in der Judikatur (z.B. Handelsgericht Zürich v. 23.11.1998, GRUR Int 1999, 555 Kodak), die auch für eine universale Erschöpfung im Patentrecht plädierten, vermochten sich nicht durchzusetzen. 13 Und unter Hintanstellung rechtsystematischer Klarheit (siehe dazu: Mailänder Gemeinschaftsrechtliche Erschöpfung und freier Warenverkehr, Festschrift für Gaedertz [1992], S. 369, 381: „irreführende Nomenklatur“). 14 Siehe EuGH RS 15/74 v. 31.10.1974, Centrafarm/Sterling Drug, Slg. 1974, 1147; EuGH RS 187/80 v. 14.7.1981, Merck/Stephar, Slg. 1981, 2063; EuGH RS 19/84 v. 9.7.1985, Pharmon/Höchst, Slg. 1984, 2281 [Patenrecht); EuGH RS 144/81 v. 14.9.1982, Keurkoop/ Nancy Gifts, Slg. 1982, 2853 [Designrecht]; EuGH RS 78/70 v. 8.6.1971, Deutsche Grammophon/Metro, Slg. 1971, 487; EuGH RS 58/80 v. 22.1.1981, Dansk Supermarket/Imerco, Slg. 1981, 181; EuGH RS C-337/95 v. 4.11.1997, Christian Dior/Evora, Slg. 1997 I-6013 [Urheberrecht]; EuGH RS 192/73 v. 3.7.1971, Van Zuylen/Hag (Hag I), Slg. 1974, 731; EuGH RS 119/75 v. 22.6.1976, Terrapin/Terranova, Slg. 1976, 1039; EuGH RS 102/77 v. 23.5.1978, Hoffmann-La Roche/Centrafarm, Slg. 1978, 1139; EuGH RS 1/81 v. 3.12.1981, Pfizer/Eurim-Pharm, Slg. 1981, 2913; EuGH RS C-63/97 v. 23.2.1999, BMW/Deenik, Slg. 1999 I-905 [Markenrecht]. Ausführlich zum Ganzen Sack Die Erschöpfung von gewerblichen Schutzrechten und Urheberrechten nach europäischem Recht, GRUR 1999, 193.

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Die dritte Stufe ist gekennzeichnet durch das Bestreben der EU, Schutzrechte durch Angleichung und/oder Vereinheitlichung zu „europäisieren“. Bis jetzt ist dies für das Marken 15- und Designrecht 16 sowie für verschiedene Sonderbereiche gelungen. In allen diesen Fällen wurde der Erschöpfungsgrundsatz kodifiziert. Versuche, wenigstens im Markenrecht eine „weltweite“ Erschöpfung durchzusetzen, sind wiederholt gescheitert und konnten sich gegen den protektionistischen Ruf nach einem „fortress Europe“ nicht behaupten.17 Insgesamt gesehen gilt deshalb in Europa – wenn auch auf unterschiedlicher Rechtsgrundlage – der Grundsatz, dass gewerbliche Schutzrechte dann, aber auch nur dann erschöpft sind, wenn das bereffende Produkt innerhalb der EU (oder auch EWR) vom Rechtsinhaber oder mit ihm verbundener Unternehmen 18 in den Verkehr gebracht wurde.19 Begleitet wird dieser Grundsatz im Markenrecht von dem nahtlos an die EuGH-Rechtsprechung anknüpfenden, in Art. 7 (2) MarkenRL/§ 24 (2) MarkenG normierten Vorbehalt 20, der Markeninhaber könne dem Weitervertrieb dann widersprechen, wenn „berechtigte Gründe“ vorlägen, „insbesondere wenn der Zustand der Waren nach ihrem Inverkehrbringen verändert oder verschlechtert ist“. Wie dieser Vorbehalt in der Praxis ausgelegt und gehandhabt wird, mögen zwei Beispiele verdeutlichen. 15 Erste Richtlinie 89/104/EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Marken v. 21.12.1988 (Abl. EG L 40/1 v. 11.2.1989); Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates v. 20.12.1993 über die Gemeinschaftsmarke (Abl. EG L 11/1 v. 14.1. 1994). 16 Richtlinie 98/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.10.1998 über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen (Abl. EG L 289/29 v. 28.10.1998); Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates v. 12.12.2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. EG L 3/1 v. 5.1.2002). 17 Versuche, eine universelle Erschöpfungswirkung durch eine entsprechende Auslegung der Art. 7 (1) MarkenRL bzw. Art. 13 (1) MarkenVO nachträglich zu erreichen, sind vom EuGH zurückgewiesen worden (siehe EuGH RS C-355/96 v. 16.7.1998, Silhouette/ Hartlauer, Slg. 1998 I-4799; EuGH RS C-173/98 v. 1.7.1999, Sebago/Dubois, Slg. 1999 I-4103); EuGH RS C-414-416/99 v. 20.11.2001, Davidoff and Levi Strauss/Importers, Slg. 2001 I-8691). Eine vom Europäischen Parlament initiierte erneute Untersuchung dieses Fragenkomplexes brachte keine Änderung (siehe dazu Stothers Political Exhaustion: The European Commission’s Working Paper on Possible Abuses of Trade Mark Rights within the EU in the Context of Community Exhaustion, [2003] E.I.P.R.457). 18 Siehe EuGH RS C-9/93 v. 22.6.1994, IHT Internationale Heiztechnik/Ideal Standard, Slg. 1994 I-2789, Rn. 38 + 34. 19 Der Grundsatz intra-kommunitärer Erschöpfung gilt z.B. für Topographien für Halbleitererzeugnisse, für Sortenschutzrechte, für Computerprogramme, Leistungsschutzrechte, Datenbanken und für Urheberrechte und verwandte Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (siehe im Einzelnen: Gaster Die Erschöpfungsproblematik aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts, GRUR Int 2000, 571, 575 f.). Für das Designrecht ist er in Art. 15 der Design-Richtlinie und in Art. 21 der Design-Verordnung (a.a.O. Fn. 16) festgeschrieben. 20 Siehe dazu die Ausführungen des EuGH in Verbundene RS C-427/93, C-429/93 und C-496/93 v. 11.7.1996, Bristol-Meyers Squibb/Paranova, Slg. 1996 I-3457, Rn. 24–28.

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Erstens: Nicht selten droht der Parallelimport eines Markenprodukts daran zu scheitern, dass die Verkaufsmodalitäten und Käufergewohnheiten im Exportland von denen im Importland verkaufshemmend abweichen. Dies trifft zum Beispiel zu, wenn ein Arzneimittel im Exportland in 100erPackungen, im Importland in 30er-Packungen abgegeben wird 21 oder wenn für den im Exportland als „Ballantine pur“ angebotenen Whisky der Zusatz „pur“ im Importland nicht zulässig ist.22 In diesen Fällen darf der Importeur unter Beachtung bestimmter Kautelen die Produkte „umpacken“, dabei auch die geschützte Marke erneut anbringen und sonstige Maßnahmen ergreifen, wenn dies „erforderlich ist, um die Ware im Einfuhrmitgliedstaat vertreiben zu können“.23 Ein Eingriff in das Produkt selbst ist dabei zum Schutz der Qualitätsfunktion der Marke zu vermeiden, ohne dass allerdings „jedes hypothetische Risiko eines isolierten Fehlers“ 24 ausgeschlossen werden muss. Und bei der Anpreisung importierter Luxusartikel ist zwar zum Schutz der Werbefunktion der Marke darauf zu achten, dass der „Luxus- und Prestigecharakter der betreffenden Waren“ nicht erheblich beeinträchtigt wird; es dürfen jedoch die in der Branche üblichen Werbemethoden auch dann eingesetzt werden, wenn sie denen des Markeninhabers oder seiner autorisierten Wiederverkäufer nicht (voll) entsprechen.25 Zweitens: Ein deutscher freier Händler importierte neben anderen Fabrikaten Mitsubishi-Automobile, die er von einem belgischen Vertragshändler bezog. An der Fassade seines Ausstellungsraumes brachte er in roter Beschriftung unter anderem die Wortmarke „Mitsubishi“ und das MitsubishiLogo der „Drei Diamanten“ (beide für Mitsubishi geschützt) an. Aus seinem gesamten Vorgehen war für den Verkehr erkennbar, dass er nicht in einem Vertragshändler- oder sonstigen Verhältnis zu Mitsubishi stand. Der BGH wies den Anspruch von Mitsubishi, der Händler möge die Benutzung der beiden Marken unterlassen, mit folgender Begründung ab. Es gäbe, nachdem durch das Inverkehrbringen in Belgien die Markenrechte erschöpft seien, keinen „berechtigten Grund“, dem Wiederverkäufer die Benutzung der Marken zu untersagen noch (!) „ihn auf die Wortmarke zu beschränken“. Eine solche Differenzierung würde den Verbraucher allenfalls auf die Unterschiede zwischen einem Vertragshändler und einem ungebundenen Wieder21 Siehe EuGH, Bristol-Meyers Squibb/Paranova, a.a.O. (Fn. 20) und die detaillierte Sachverhaltsschilderung von Generalanwalt Jacobs a.a.O., Rn. 6–36. Generell dazu: Sack Zeichenrechtliche Grenzen des Umpackens fremder Waren, GRUR 1997, 1. 22 Siehe EuGH RS C-349/95 v. 11.11.1997, Loendersloot/Ballantine, Slg. 1997 I-6127. 23 Siehe EuGH, Bristol-Meyers Squibb/Paranova, a.a.O. (Fn. 20) Rn. 56. 24 Siehe EuGH. Bristol-Meyers Squibb/Paranova, a.a.O. (Fn. 20) Rn. 63; EuGH RS C-232/94 v. 11.7.1996, MPA Pharma/Rhône Poulenc Pharma, Slg. 1996 I-3671, Rn. 35. 25 Siehe EuGH RS C-339/95 v. 4.11.1997, Parfums Christian Dior/Evora, Slg. 1997 I-6013, Rn. 43–47.

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verkäufer besonders aufmerksam machen und Letzteren in nicht zu begründender Weise diskriminieren“.26 Beide Beispielgruppen mögen von der Europa-rechtlichen Vorgabe, einen einheitlichen Binnenmarkt zu schaffen, mit beeinflusst sein. Dennoch deutet sich in ihnen eine Tendenz an, wie Immaterialgüterschutz und freier Wettbewerb im Rahmen reiner Vertriebs- und Importaktivitäten miteinander in Einklang zu bringen sind. Dass Ballantine die Anpassung seines Labels an die Rechtsvorschriften des Importlandes dulden musste und Mitsubishi mit seinem Anspruch, der Autohändler möge sich jeglichen Hinweises auf die Marke „Mitsubishi“ enthalten, nicht durchdrang, ist am ehesten nachvollziehbar; eine gegenteilige Entscheidung hätte den vollständigen Ausschluss von Wettbewerb zur Folge gehabt. Die Rechtsprechung lässt indes Umpackmaßnahmen auch zur Überwindung von Käufergewohnheiten, zum Beispiel dann zu, wenn „ein starker Widerstand eines nicht unerheblichen Teils der Verbraucher“ (gegen bloß mit Etiketten überklebte Arzneimittel) zu einem „Hindernis für den effective market access 27“ wird.28 Ein solcher Widerstand hätte gegebenenfalls auch durch eine, allerdings sehr aufwendige Werbekampagne des Parallelimporteurs gebrochen werden können, wie auch der Autohändler durch eine Beschränkung auf die Wortmarke noch nicht aus dem Geschäft gedrängt worden wäre. Daran wird deutlich, welche Akzentverschiebung zu verzeichnen ist. Ob die einen Weitervertrieb begleitenden Marken-„Eingriffe“ erforderlich und damit zulässig sind, hängt nicht mehr nur davon ab, ob sie einen ansonsten unterdrückten Wettbewerb überhaupt erst ermöglichen. Es kommt vielmehr entscheidend auf ihre Eignung an, lebensnahe und praktikable Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass der Dritte zu annähernd gleichen Bedingungen mit dem Markeninhaber (und dessen Vertriebsnetz) konkurrieren kann.29

26 BGH GRUR 2003, 340, 342 = MarkenR 2003, 105, 108 Mitsubishi (Hervorhebungen vom Verfasser); ebenso: BGH GRUR 2003, 878 = MarkenR 2003, 395 Vier Ringe über Audi. In diesem Sinne schon früher: LG Düsseldorf v. 7.12.1999 (AZ 4 0 481/99) DaimlerChrysler/Zacharias, das dem Vorbringen von DaimlerChrysler, man müsse durch ein Benutzungsverbot die eigene Marke „sauber halten“, entgegenhielt, „das läuft darauf hinaus, nicht die mit der Marke verbundene Wertschätzung des Produktes …zu schützen, sondern die Vertriebsstruktur. Das ist nach § 24 MarkenG nicht möglich“. 27 Der deutsche Wortlaut „…ein Hindernis für den tatsächlichen Zugang zum Markt“ (Hervorhebung vom Verfasser) ist eine unpräzise Übersetzung des in der Verfahrenssprache Englisch verfassten Urtextes. Richtig müsste es heißen: „… wirksamer Zugang“. 28 Siehe EuGH RS C-443/99 v. 23.4.2002, Merck, Scharp & Dohme/Paranova, Slg. 2002 I-3703, Rn. 31; EuGH RS C-143/00 v. 23.4.2002, Boehringer Ingelheim/Swingward + Dowelhurst, Slg. 2002 I-3759, Rn. 52; EuGH RS C-433/00 v. 19.9.2002, Aventis/Kohlpharma + MTK Pharma, Slg. 2002 I-7761, Rn. 26. 29 Dieser, schon zuvor sich andeutende (oben Text zu Fn. 24) pragmatische Ansatz spiegelt sich auch in der Feststellung des BGH wider: „Die Schutzschranke des § 23 MarkenG erfordert nicht, dass der Lieferant von Ersatzteilen … Maßnahmen ergreift, die jegliche

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Mit anderen Worten: Das entscheidende Kriterium für die Abwägung zwischen Immaterialgüterschutz und Wettbewerbsordnung in diesem Bereich ist die Bewahrung wirksamen Wettbewerbs.

III. Dienst- und Sachleistungen für schutzrechtsbehaftete Produkte Während die um den Weitervertrieb kreisenden Fragen alle Warenbereiche betreffen, ergibt sich für langfristige und wartungsbedürftige Wirtschaftsgüter eine zusätzliche und besondere Problematik: Dürfen Dritte für ein mit einem Schutzrecht behaftetes Produkt Dienst- und Sachleistungen anbieten oder bleiben diese Sekundärmärkte allein dem Rechtsinhaber vorbehalten? Die Frage, die sich nicht mit der Erschöpfungslehre lösen lässt,30 stellt sich zum Beispiel für Automobile oder Kopiergeräte, die beide Ersatzteile oder Verbrauchsmaterialien und einen ständigen Wartungs- und Reparaturservice benötigen. Dass solche Folgemärkte nicht selten eine erhebliche Größenordnung erreichen und ein großes Verbraucherpotential bedienen,31 unterstreicht die ordnungspolitische Brisanz, die sich mit dieser Fragestellung verbindet. In der Praxis sind Konfliktfälle dieser Art bislang vorwiegend im Markenund Designrecht aufgetreten – bei Schutzrechten also, die bereits „europäisiert“ sind.32 Die folgenden Ausführungen beschränken sich daher im Wesentlichen auf diesen Bereich. 1. Markenrecht Rechtsgrundlage im Markenrecht ist Art. 6 (1) (c) MarkenRL, im traditionellen Verständnis mit der Überschrift „Beschränkung der Wirkung der Marke“ (limitations of the effects of a trade mark) versehen. Danach kann der Markeninhaber einem Dritten nicht verbieten, „die Marke, falls dies notwendig ist, als Hinweis auf die Bestimmung der Marke, insbesondere als Zubehör oder Ersatzteil, oder einer Dienstleistung im geschäftlichen Verkehr zu benut-

denkbare Fehlvorstellung des Verkehrs über die Herkunft der Ware ausschliesst“ (BGH MarkenR 2005, 198, 202 Staubsaugerfiltertüten). 30 Diese nahe liegende Feststellung nochmals klarstellend: EuGH RS C-63/97 v. 23.2. 1999, BMW/Deenik, Slg. 1999 I-905, Rn. 56. 31 Im Automobilsektor erreicht der Markt für reine Ersatzteile (ohne Reifen und Zubehör) in der EU-15 eine Größenordnung von 42–45 Milliarden Euro jährlich (siehe Kommission Extended Impact Assessment, (COM (2004) 582 final) v. 14.9.2004, S. 8); rechnet man die Serviceleistungen hinzu, ergibt sich ein Gesamtwert von ca. 85 Milliarden Euro jährlich. 220 (EU-15) bzw. 250 (EU-25) Millionen Autobesitzer, sprich: Verbraucher, sind darauf angewiesen. 32 Siehe dazu oben Fn. 15 + 16.

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zen, sofern die Benutzung den anständigen Gepflogenheiten in Gewerbe oder Handel entspricht“.33 Der erste wegweisende Entscheid, der dazu erging, ist BMW/Deenik.34 Deenik betrieb eine freie, jedoch auf BMW-Fahrzeuge spezialisierte Reparaturwerkstätte in den Niederlanden. In Werbeanzeigen pries er seine Dienste mit den Slogans „Instandsetzung und Wartung von BMW“, „Fachmann für BMW“ und „spezialisiert auf BMW“ an. Mit der vom Geist der „Eigentumslogik“ getragenen Begründung, Deenik „benutze“ und verletze damit automatisch die in den Benelux-Ländern geschützte Wortmarke „BMW“, begehrte die BMW AG in einem über drei nationale Instanzen geführten Rechtsstreit Unterlassung. Auf Vorlage des Hoge Raad 35 trat der EuGH dem entgegen. Deenik benutze die Marke als einen durch Art. 6 (1) (c) gedeckten „Hinweis auf die Bestimmung einer Dienstleistung“. Dies sei auch erforderlich, weil „nicht zu sehen [ist], wie ein unabhängiger Unternehmer, der tatsächlich auf die Instandsetzung und Wartung von BMW-Fahrzeugen spezialisiert ist, dies seinen Kunden mitteilen soll, ohne die BMW-Marken zu benutzen“.36 Dahinter steht, anders gewendet, der Gedanke, dass ohne Freigabe dieser Art von Markenbenutzung freie Reparateure praktisch vom Markt ausgeschlossen und sämtliche Service- und Reparaturleistungen auf die BMW-Niederlassungen und BMW-Vertragswerkstätten konzentriert würden. Der EuGH stellte damit klar, dass am Primärprodukt (Automobile) bestehende Markenrechte da enden, wo sie realistischerweise zur Monopolisierung von Sekundärmärkten führen würden. In einem obiter dictum klingt zudem die in Mitsubishi bereits erwähnte These an, freien Anbietern möglichst gleiche Wettbewerbsbedingungen zu eröffnen.37 33 Gleichlautend Art. 12 (c) der Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates über die Gemeinschaftsmarke. Art. 6 (1) (c) der MarkenRL ist in § 23 Nr. 3 – mit teils variierender Wortwahl – umgesetzt worden, z.B. wurden die „anständigen Gepflogenheiten“ zu „guten Sitten“. Beides sind unbestimmte Rechtsbegriffe, die durch Bezugnahme auf die Funktion des Markenschutzes konkretisiert werden müssen (siehe Riehle Trade Mark Rights and Remanufacturing in the European Community, IIC Vol. 22 [2003], 47ff.), was – wie die nachstehend aufgeführten Urteile zeigen – in der Praxis auch geschieht. 34 EuGH RS C-63/97 v. 23.2.1999, BMW/Deenik, Slg. 1999 I-905 = JZ 1999, 835 mit ausführlicher Anmerkung und Urteilsanalyse von Kur. 35 Entscheid v. 7.2.1997, NJ 1997/314. 36 EuGH a.a.O., BMW /Deenik, Rn. 59 + 60. Selbstverständlich gilt auch hier – wie immer – der Vorbehalt, dass der Reparateur im Verkehr den Eindruck vermeiden muss, er sei Teil des Vertragswerkstättennetzes oder stehe in sonstiger Geschäftsbeziehung zum Markeninhaber (a.a.O, Rn. 51, 54 und 64). Dies hatte offenbar ein schwedischer Kollege von Deenik nicht hinreichend beachtet (siehe Högsta Domstolen v. 9.7.1998, GRUR Int 1999, 550 VOLVO Service). 37 Der EuGH hat das Argument von BMW, Deenik ziehe daraus einen Vorteil, dass er mit der Marke BMW „seiner Tätigkeit den Anschein hoher Qualität verleihe“ (im Gegensatz z.B. dazu, dass er „Lada“’s repariere), als unerheblich zurückgewiesen (a.a.O. Rn.53 i.V.m. Rn. 63). Man kann dies auch als Versuch verstehen, Deenik weitgehende Chancengleichheit mit den BMW-Vertragswerkstätten zu ermöglichen. Ähnlich der BGH, der

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Obwohl nicht direkt im Markenrecht, sondern im Recht der vergleichenden Werbung 38 angesiedelt, ist Toshiba/Katun 39 in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Die beklagte Katun GmbH vertrieb Ersatz- und Zubehörteile (z.B. Toner) für „Toshiba“ Kopiergeräte. Sie bediente sich dabei einer Referenzliste, in der in 4 Spalten die von Toshiba selbst für das betreffende Teil benutzte („OEM“) Artikelnummer, die Artikelnummer von Katun, die Beschreibung des Teiles und dessen Einsatzbereich („für Toshiba Modell 1510“) parallel aufgeführt wurden.40 Toshiba sah in der direkten Gegenüberstellung der beiden Artikelnummern eine unzulässige vergleichende Werbung.41 Unterstellt wurde in dem Verfahren, dass die OEM Artikelnummern ein auf Toshiba hinweisendes „Unterscheidungszeichen“ sind und damit deren Verwendung durch Katun einer Erwähnung der Marke „Toshiba“ – wie auch in BMW/Deenik geschehen – gleichzustellen ist.42 Von dem Fall abgesehen, dass der Verkehr daraus eine geschäftliche Verbindung zwischen Toshiba und Katun ableiten (und so den Weg für eine Rufausbeutung eröffnen) könnte, hielt der EuGH die Gegenüberstellung der Artikelnummern grundsätzlich für zulässig. Er folgte der etwas restriktiveren Beurteilung des Generalanwalts, der trotz damit verbundener Erschwernisse für Katun’s Vertrieb auch kompliziertere Referenzmethoden für denkbar hielt 43, nicht. Ob der konkurrierende Anbieter ein Unterscheidungszeichen oder eine Marke in zulässiger und lauterer Weise benutze, hänge entscheidungserheblich davon ab, ob „ein Hinweis auf diese Zeichen Voraussetzungen für einen wirksamen Wettbewerb auf dem in Rede stehenden Markt ist“ 44.

einem Anbieter von Alu-Felgen für Porsche gemäß § 23 Nr. 3 MarkenG gestattete, diese an einem Porsche montiert zu zeigen, auch wenn „das Produkt des Beklagten davon profitiert, in dem Prospekt und in der Anzeige als Zubehör eines Sportwagens von hohem Prestigewert abgebildet zu sein“ (BGH GRUR 2005, 163, 165 Aluminiumräder); siehe auch BGH GRUR 2006, 329 Ferrari. 38 Siehe Richtlinie 97/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Oktober 1997 zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG über irreführende Werbung zwecks Einbeziehung der vergleichenden Werbung, Abl. EG Nr. L 290/18 v. 23.19.1997. 39 EuGH RS C-112/99 v. 25.10.2001, Toshiba/Katun, Slg. 2001 I-7945. 40 Siehe die bildliche Darstellung in den Schlussanträgen von Generalanwalt Jacobs a.a.O., Rn. 9. 41 Die Rechtmäßigkeit der Teilebeschreibung selbst und der Benutzung der Modellbezeichnung als Verwendungshinweis war unstreitig (siehe auch Generalanwalt Jacobs, a.a.O., Rn. 102). 42 EuGH a.a.O., Rn. 48–52; Generalanwalt Jacobs a.a.O., Rn. 96: „In diesem Fall entspräche die Angabe der Artikelnummer der Erwähnung der Marke selbst“. 43 Siehe Generalanwalt Jacobs a.a.O., Rn. 95–106 und 117/5; ferner BGH GRUR 1996, 781, 784ff. Verbrauchmaterialien, wo die Zumutbarkeitsschwelle 1996 (!) für den konkurrierenden Anbieter ebenfalls höher angesetzt wurde. 44 EuGH a.a.O., Rn. 54 (Hervorhebung vom Verfasser). Beinahe noch weiter gehend die Aussage in RS C-59/05 v. 23.2.2006, Siemens/VIPA, GRUR 2006, 345, Rn. 26, „es könnten restriktive Folgen für den Wettbewerb auf dem [betroffenen Sekundär-]Markt … nicht aus-

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An dieser Linie hält der EuGH bis in jüngste Zeit fest – interessanterweise in einem Fall (Gillette/LA-Labaratories) 45, in dem der Drittbenutzer der geschützten Marke sowohl im Primär- als auch im Sekundärmarkt als Wettbewerber auftrat. Gillette vertrieb in Finnland unter den dort geschützten Marken „Gillette“ und „Sensor“ Rasierapparate mit auswechselbaren Rasierklingen sowie – für die Nachrüstung – auch Rasierklingen selbst. LA-Laboratories bot ähnlich funktionierende Rasierapparate und Klingen unter der Marke „Parason Flexor“ an; die parallel als Ersatz angebotenen Klingen trugen die Aufschrift „Diese Klinge passt für alle Parason Flexor und alle Gillette Sensor Apparate“. Der EuGH ließ offen, ob die Klingen als Ersatz- oder Zubehörteile anzusehen sind, da Art. 6 MarkenRL auch andere Bestimmungshinweise abdecke. Außerdem bleibe die Norm auch dann anwendbar, wenn der Dritte, der die geschützte Marke („Gillette“) als Bestimmungshinweis (für Rasierklingen) benutze, gleichzeitig Wettbewerber im Primärprodukt (Rasierapparate) sei.46 Es komme – wie in den vorangegangenen Urteilen entwickelt – allein darauf an, ob die Markenbenutzung bei Vermeidung unlauterer Praktiken 47 erforderlich sei, um der „Öffentlichkeit eine verständliche und vollständige Information [über die Bestimmung der vom Dritten vertriebenen Ware] zu liefern, um das System eines unverfälschten Wettbewerbs auf dem Markt für diese Ware zu erhalten“.48 Einen starken Akzent in dem Bestreben, Sekundärmärkte offen zu halten, setzte der Corte di Cassazione in Fiat/ISAM.49 Der freie Teilehersteller ISAM brachte einen Ersatz-Kühlergrill für Fiat Uno auf den Markt, in dem – wie im Originalgrill – die für Fiat als Bildmarke geschützten 5 parallel verlaufenden, quer gestellten Balken als tragendes Konstruktionselement integriert waren. Diese Bauweise war, praktisch gesehen, unumgänglich; ein nicht dem Originalgrill gleichender Ersatzgrill hätte eine die ursprüngliche Erscheinungsform wiederherstellende Reparatur des Fahrzeugs nicht ermöglicht und wäre deshalb vom Verbraucher nicht angenommen worden. Die Klägerin Fiat sah geschlossen werden“, wenn die direkte Gegenüberstellung von Bestellnummern für unzulässig erklärt würde. 45 EuGH RS C-228/03 v. 17.3.2005, Slg. 2005 I-2337 = GRUR 2005, 510 = MarkenR 2005, 179. 46 EuGH a.a.O., Rn. 50–53. 47 Der EuGH hat 4 Beispiele für „unlauteres“ Verhalten genannt: (1) Vorspiegelung des Bestehens einer Geschäftsbeziehung – wie in allen vorangegangen Urteilen; (2) Beeinträchtigung der Unterscheidungskraft und Wertschätzung der Marke; (3) Marke wird herabgesetzt oder schlecht gemacht; (4) Dritter stellt seine Ware als Nachahmung oder Imitation dar (a.a.O., Rn. 43–45, 49). 48 EuGH a.a.O., Rn. 39. 49 Corte di Cassazione No. 144/00 v. 10.1.2000, Il Diritto Industriale n. 4/2000, 327. Bestätigung der Vorinstanz: Corte d’appello di Milano v. 11.10.1996, Il Diritto Industriale n. 8/1997, 658. Der Sachverhalt weist Ähnlichkeit mit den Fällen auf, in denen Markenprodukte von Dritten aufgearbeitet werden (siehe BGH GRUR 1998, 697 VENUS MULTI und eingehend Riehle a.a.O. (Fn. 33)).

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in dem Vorgehen von ISAM eine Markenverletzung. Sie machte geltend, es bestehe ein Rechtsprinzip, das besagt, die Anbringung einer geschützten Marke auf den Produkten eines Dritten sei stets und begriffsnotwendig (necessariamente) „kennzeichnend“ in dem Sinne, dass dieses Produkt vom Verkehr (fälschlicherweise) dem Markeninhaber zugerechnet und somit eine Verletzungskonstitutive Verwechselungsgefahr begründet werde. Der Gerichtshof stellte kategorisch klar, dass das geltende „europäische“ Markenrecht 50 eine solche, vom Geiste der Eigentumslogik geprägte per se Regel nicht kennt.51 Er entschied vielmehr, dass die Integration der Fiat Marke in ISAM’s Ersatz-Kühlergrill nicht nur grundsätzlich möglich, sondern vorliegend als Bestimmungshinweis auch erforderlich sei, „di segnalare il riferimento all’altrui marchio, l’oggettiva destinazione del prodotto proprio, per rendere concretamente possibile la commercializzazione“. Selbstverständlich dürfe trotz dem im Verkehr nicht der Eindruck entstehen, das Ersatzteil stamme vom Markeninhaber (Fiat). Eine, aber keinesfalls die einzige Möglichkeit, dem entgegenzuwirken, sei die, das Marken- oder Firmenzeichen des Teileproduzenten parallel auf dem Ersatzteil anzubringen; es könnten aber – wie im Falle ISAM tatsächlich geschehen 52 – auch andere, zur Aufklärung geeignete Maßnahmen, wie zum Beispiel entsprechende Hinweise in den Verkaufsunterlagen, ausreichend sein. 2. Designrecht Mit Fiat/ISAM ist ein Sachverhalt angesprochen, der seit langem auch im Mittelpunkt designrechtlicher Erörterungen steht. Es handelt sich um die sog. „Ersatzteilfrage“, die nicht sektorspezifisch angelegt ist, jedoch im Schwerpunkt den Automobilbereich betrifft. Es geht im Kern darum, ob ein an Karosserie-integrierten Fahrzeugkomponenten (Stoßfänger, Kotflügel, Motorhauben, Scheinwerfer/Leuchten, Windschutzscheiben) bestehender Designschutz auch auf die entsprechenden Ersatzteile ausgedehnt werden soll oder nicht. Die Besonderheit dieser Komponenten besteht darin, dass sie, wenn als Ersatzteil angeboten, in ihrer äußeren Formgebung (ihrem „Design“) dem zu ersetzenden Originalteil genau entsprechen müssen („must match“). Eine Design-Alternative gibt es hier nicht. Ein Ersatzkotflügel, der dem zu ersetzenden nicht genau gleicht und das beschädigte Fahr50 Die Entscheidung stützt sich ausdrücklich auf Art. 6 MarkenRL und den entsprechenden Art. 1 bis des (neuen) italienischen Markengesetzes. 51 Die entsprechende Passage des Urteils lautet wie folgt: „Ne è viziata, infatti, in partenza la premessa concettuale – di esclusa liceità, per definizione, di qualsiasi uso atipico del marchio – che radicalizza la funzione e portata della tutela del marchio“. 52 Im vorinstanzlichen Urteil wird zwar festgestellt, dass ISAM das eigene Firmenlogo nicht an den Grills angebracht hat; es wird aber darauf abgehoben, dass ISAM in seinen Katalogen und Geschäftsberichten immer klar zum Ausdruck gebracht habe, eine von Fiat unabhängiger Teilehersteller zu sein.

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zeug nach der Reparatur nicht in den ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen vermag, ist schlicht unverkäuflich.53 Die Konsequenzen dessen liegen auf der Hand. Dehnte man den am Karosserie-Styling von Neuwagen – völlig zu Recht – bestehenden Designschutz auch auf die entsprechenden Ersatzteile aus, dann würde jeglicher Wettbewerb in Ersatzteilen unterbunden. Der einzelne Automobilhersteller erhielte die volle Kontrolle über die für „seine“ Fahrzeuge benötigten Ersatzteile; und da die betreffenden Ersatzteile nur marken- und modellspezifisch verwendbar sind (ein Kotflügel oder Scheinwerfer für „Ford“ passt nicht für „VW“), würde der Automobilindustrie insgesamt ein (Sekundär-) Markt exklusiv zugewiesen, der in der EU eine jährliche Größenordnung von 12–13 Milliarden Euro erreicht. Dass eine solche Überdehnung des Designschutzes mit den daraus resultierenden Monopolisierungseffekten dem Sinn und Zweck dieses Rechtsinstituts in jeder Hinsicht zuwiderläuft, ja einen „Missbrauch“ darstellt,54 ist an anderer Stelle eingehend dargelegt und begründet worden; darauf ist zu verweisen.55 Der daraus hervorgegangene Lösungsvorschlag sieht vor, die „must match“ Sachverhalte einer – gesetzlich zu verankernden – „Reparaturklausel“ 56 zu unterstellen. Nach dieser Klausel, die ähnlich strukturiert ist wie Art. 6 MarkenRL, kann ein im Primärbereich an einem komplexen Erzeugnis (Automobil) oder dessen Komponenten bestehendes Designrecht 53 Dies ist als Tatsache inzwischen unbestritten. Siehe z.B. Conde Gallego, GRUR Int 2006, 16, 23; Drexl/Hilty/Kur, GRUR Int 2005, 449, 450; Eichmann, GRUR Int 1997, 595, 602; Guizzardi, GRUR Int 2005, 299, 301; Hughes, 22 International Business Lawyer [1994], 116, 117; Heinemann a.a.O. (Fn. 1), 533; Kur, GRUR Int 1996, 876, 882; Meyer Der designrechtliche Schutz von Ersatzteilen. [2005] 22, 27, 135; Posner, 22 International Business Lawyer [1994], 108, 114; Schovsbo, IIC Vol. 29, No. 5/1998, 510, 514; Scordamaglia, RIPIA 177 [1994], 338, 344; Steindorff Chancengleichheit im europäischen Wettbewerbsrecht und Solidarität, FIW-Schriftenreihe 165 [1995], 23, 31; Corte di Cassazione No. 6644 v. 24.7.1996, Hella/Aric, Riv. Dir. Ind. 1996 (11) 893 = GRUR Int 1997, 650, 651; Schweizerisches Bundesgericht v. 15.10.1990, GRUR Int 1991, 314, 317 „Kotflügel“. 54 So die Wortwahl z.B. von Cohen Jehoram, [1992] 3 E.I.P.R. 75, 76; Govaere The Use and Abuse of Intellectual Property Rights in E.C. Law [London 1996]; Europäische Kommission Vorschlag zur Änderung der Richtlinie 98/71/EG über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen, 14.9.2004, KOM (2004) 582 endgültig, Erwägungsgrund (1): „Ein solcher Schutz käme einem Missbrauch des Geschmacksmustersystems nahe“. 55 Riehle EG-Geschmacksmusterschutz und Kraftfahrzeug-Ersatzteile, GRUR Int 1993, 49; Riehle Das künftige Musterrecht und die „Ersatzteilfrage“, EWS Beilage 1 zu Heft 7/1996; Riehle Kapituliert Europa vor der Ersatzteilfrage. „Free for all“ und das künftige europäische Musterrecht, EWS 1997, 361; Riehle Das europäische Musterrecht und die „Ersatzteilfrage“ – Brüssel locuta causa non finita, EWS 1999, 7. 56 Verfasser hatte den Lösungsvorschlag ursprünglich mit der Metapher „Zwecksicherungslehre“ belegt (GRUR Int 1993, 49, 69). Die Kommission versah den darauf beruhenden, einschlägigen Art. 23 des Verordnungs-Vorschlages (1993) mit der Überschrift: „Verwendung des eingetragenen Gemeinschaftsgeschmacksmusters zu Reparaturzwecken“. Seit dem hat sich die Bezeichnung „Reparaturklausel“ eingebürgert.

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nicht gegen Dritte geltend gemacht werden, die das Design in einem für die Reparatur des komplexen Erzeugnisses benötigten Ersatzteil „benutzen“.57 Für den Kfz-Sektor bedeutet dies: Der Automobilhersteller behält vollen Designschutz für sein Kerngeschäft, den Vertrieb von Neuwagen; er kann gegen Konkurrenten vorgehen, die sein Karosserie- oder Teile-Styling für ihre Modelle „kopieren“.58 Sein Recht endet jedoch da, wo es im Ersatzteilbereich zu einem vollständigen Ausschluss von Wettbewerb führen würde. Diese Lösung wird, nachdem sich schon zuvor Höchstgerichte in Mitgliedstaaten (mit Ausnahme Frankreichs) 59 gegen einen Designschutz für „must match“-Ersatzteile ausgesprochen hatten,60 inzwischen vom überwiegenden Teil der Lehre befürwortet.61 Dennoch ist es in der Europäischen

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Eine präzise, an den „Geänderten Vorschlag 1996“ sich anlehnende Fassung könnte wie folgt lauten: „Die Rechte aus dem Muster können nicht gegen Dritte ausgeübt werden, die das Muster verwenden, wenn (a) das Erzeugnis, in das das Muster aufgenommen oder bei dem es verwendet wird, Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, von dessen Erscheinungsform das geschützte Muster abhängt, und (b) der Zweck dieser Verwendung darin besteht, die Reparatur des komplexen Erzeugnisses so zu ermöglichen, dass seine ursprüngliche Erscheinungsform wiederhergestellt wird“. 58 Es ist allerdings bemerkenswert, dass es in über 100 Jahren keinen einzigen Fall in Europa gab, in dem ein Automobilhersteller einen Konkurrenten wegen „Kopierens“ belangt hätte, obwohl, wie der Designer Ferdinand A. Porsche unverblümt feststellte, „Kopieren tun alle“ (FOCUS 15/1995). Die zahlreichen Rechtsstreigkeiten richteten sich stets und ausschließlich gegen freie Ersatzteilhersteller und ihre Vertriebspartner. 59 Nach französischem Recht besteht an Karosserieteilen sowohl Design- als auch Urheberrechtsschutz (siehe die von Dreier in GRUR Int 1987, 601f. zitierten Urteile und Cour de Cassation v. 7.10.1985, Arregui/Renault, RIPIA 1986, 57), der von der französischen Automobilindustrie auch rigide durchgesetzt wird. Das galt selbst für reine Transitlieferungen, bis der EuGH dem entgegentrat (EuGH RS C-23/99 v. 26.9.2000, Kommission/Frankreich, Slg. 2000 I-7653). 60 Siehe UK: House of Lords v. 27.2.1986, British Leyland v. Armstrong, [1986] F.S.R. 222 = [1986] 1 All E.R. 850 = GRUR Int. 1986, 812 m. Anm. Moser (a.a.O. 779); House of Lords v. 14.12.1994, Regina v. Registered Designs Appeal Tribunal, ex parte Ford Motor Company, [1995] 1 WLR 8 = [1995] RTR 68 = [1995] RPC 167 = GRUR Int 1996, 660; Spanien: Appelationsgericht Bilbao v. 3.12.1996, GRUR Int 1997, 656, dazu auch Otero Lastres, GRUR Int 2000, 408, 419 Fn. 16; Italien: Corte di Cassazione Nr. 6644 v. 24.7.1996, Hella/Aric, Riv. Dir. Ind. 1996, 893 = GRUR Int. 1997, 650; Corte di Cassazione Nr. 60 v. 3.1.2001, Cicra/Fiat, Foro Italiano 2001, 74 = GRUR Int 2002, 942, Kfz-Außenspiegel m. Anm. Fabbio. 61 Siehe z.B. Armitage, Mélange Paul Mathély, [1990] 39; Conde Galledo, GRUR Int 2006, 16, 27; Drexl/Hilty/Kur, GRUR Int 2005, 449 + IIC Vol. 36 [2005], 448; Gerster, Wettbewerbsbeschränkungen auf dem Markt für Kraftfahrzeugersatzteile, [1998] 190, 261; Floridia/Lamandini, GRUR Int 1998, 994; Govaere a.a.O. (Fn. 54); Heinemann a.a.O. (Fn. 1), 530ff., 551 – zustimmend Lehmann, GRUR Int 2003, 578; Horton, [1994] 2 E.I.P.R. 51, 55ff.; Hughes, [1994] 22 International Business Lawyer, No. 3, 116; Kur, GRUR 1996, 876ff.; Lützenrath Designschutz im Europäischen Binnenmarkt, [1996] 200 ff.; Pilla Der Schutz von Ersatzteilen zwischen Geschmacksmuster- und Kartellrecht, [1999] 307ff.; Schovsbo, IIC Vol. 29, No. 5/1998, 510, 526.

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Union 62 bislang nur zum Teil gelungen die Reparaturklausel zu kodifizieren. Eine von Europäischem Parlament und Kommission bereits gebilligte Gemeinschaftseinheitliche Lösung der Ersatzteilfrage ist 1998 am Veto des Ministerrates gescheitert und musste einer als Kompromiss beschlossenen Öffnungsklausel („stand still plus“) 63 weichen. Darauf gestützt haben die Benelux-Staaten, Irland, Italien, Lettland, Spanien, Ungarn und das Vereinigte Königreich eine Reparaturklausel umgesetzt, während die übrigen Mitgliedstaaten ihre zuvor bestehende (teils nicht eindeutig geklärte) 64 Rechtslage beibehielten – Deutschland mit der als Geschäftsgrundlage verstandenen Zusicherung der Automobilhersteller, bis zu einer europäischen Lösung den Wettbewerb im Ersatzteilmarkt durch Geltendmachung von Designrechten nicht zu beeinträchtigen.65 Der Binnenmarkt bleibt daher zersplittert: in etwa 50 % herrscht freier Ersatzteilwettbewerb, in 25 % besteht Designschutz, den Rest markiert die deutsche Grauzone.66 Um diesen in jeder Hinsicht unbefriedigenden Zustand zu beenden, hat die Kommission am 14.9.2004 den Vorschlag (erneut) eingebracht, die Design-Richtlinie 98/

62 Im Gegensatz dazu besteht in den U.S.A. kein Designschutz für Ersatzteile und Versuche der Automobilhersteller, einen solchen einzuführen, sind im Congress gescheitert. Umgekehrt hat Australien 2003 nach einer sorgfältigen Evaluierung (siehe Bureau of Economics The Economics of Intellectual Property Rights for Designs, Occasional Paper 27, May 1995) und in Kenntnis der in Europa geführten Diskussion eine Reparaturklausel eingeführt (Sect 72 Designs Act 2003). 63 Siehe Art. 14 der Design-Richtline 98/71/EG, nach dem Mitgliedstaaten, die schon zuvor keinen Designschutz für Ersatzteile kannten, diesen Rechtszustand beibehalten mussten, während die übrigen die Option hatten, den Schutz abzuschaffen und den Ersatzteilmarkt zu liberalisieren. Die Design Verordnung (EG) Nr. 6/2002 (siehe Fn. 63) enthält dagegen in Art. 110 eine Reparaturklausel. 64 Im Grunde war auch in Deutschland die Frage eines Designschutzes für „must match“ Ersatzteile höchstrichterlich nicht abschließend geklärt. Im einzigen echt einschlägigen Urteil (BGH GRUR 1987, 518 Autokotflügel) verwies der BGH den Fall zur erneuten Prüfung an das OLG Köln, das gegen einen Schutz votiert hatte (GRUR 1985, 438), mit einer Begründung zurück, die schon immer als systemwidrig kritisiert wurde (dazu eingehend Riehle Geschmacksmusterschutz für Kraftfahrzeugteile, Festschrift für Steindorff [1990], 911, 924ff.) und die nach jetzigem Recht ausdrücklich ausgeschlossen ist (siehe Art. 3 (3) (b) Design Richtlinie 98/71/EG). 65 Siehe Deutscher Bundestag, 15. Wahlperiode, Drucksache 15/2191 v. 10.12.2003, 1 und GRUR Int 2004, 78. Formal gesehen, ist diese Zusicherung wertlos, da die gewerbsmäßige Verletzung eines Designrechts (deren Vorliegen unterstellt) ein strafrechtsbewehrtes Offizialdelikt darstellt (§ 51 Geschmacksmusterreformgesetz). Zur Umsetzung der Richtlinie in Deutschland siehe auch Wandtke/Obst Die Reform des deutschen Geschmacksmustergesetzes, GRUR Int 2005, 91. 66 Diese Marktberechnung bezieht sich auf die EU-15, da präzise Marktdaten aus den neuen Mitgliedstaaten noch nicht hinreichend zur Verfügung stehen.

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71/EG durch Einfügen einer Reparaturklausel zu novellieren.67 Die Beratungen darüber sind in Parlament 68 und Ministerrat noch im Gange. Die Automobilhersteller versuchen mit allen, ihnen reichlich zur Verfügung stehenden Mitteln des Lobbyismus, den Kommissionsvorschlag (wiederum) zu Fall zu bringen. Dennoch ist zu hoffen, dass es in dem jetzt zweiten gesetzgeberischen Anlauf gelingen wird, Wettbewerb auch in diesem Sekundärmarkt offen zu halten – wie von der dargestellten Rechtsprechung unzweideutig, und möglicherweise letztlich auch erzwingbar, vorgegeben. 3. Vom Wettbewerbs- zum Immaterialgüterrecht Die Versuche von Anbietern servicebedürftiger Produkte, nachgelagerte Sach- und Dienstleistungen an sich zu binden, sind alt; sie sind auch wirtschaftlich nachvollziehbar als eine Maßnahme, den Wettbewerbsdruck, dem das Primärprodukt in aller Regel ausgesetzt ist, durch Monopolrenten im Sekundärmarkt abzufedern. Was sich jedoch tendenziell deutlich zu ändern scheint, sind die dafür gewählten Mittel. Während in der Vergangenheit vertragliche Vertriebsverbote und Bezugsgebote sowie Lieferverweigerungen im Vordergrund standen, gewinnt in jüngster Zeit der Rückgriff auf geistige Eigentumsrechte immer mehr an Bedeutung. Ursächlich dafür ist sicherlich die mit dem Vormarsch der Elektronik verbundene technische Entwicklung, aber auch die Erwartung, über Schutzrechte eine nicht oder zumindest weniger angreifbare Rechtsposition zu erlangen. Die um 1980 entstandene Idee der europäischen Automobilhersteller, Designschutz für Ersatzteile (!) zu beanspruchen, ist diesem Motiv entsprungen. Die bis dahin gegenüber Zulieferern und Vertragswerkstätten praktizierten Bindungssysteme wurden sowohl in den Mitgliedstaaten als auch in der Europäischen Gemeinschaft auf der Grundlage des Wettbewerbsrechts zunehmend in Frage gestellt. Gipfelnd in der neu gefassten Gruppen-Frei-

67 Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 98/71/EG über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen, 14.9.2004, KOM (2004) 582 endgültig – 2004/0203 (COD). Dem ging, obwohl die „Ersatzteilfrage“ auf europäischer Ebene seit 1991 intensiv untersucht und diskutiert worden war, eine nochmalige und umfassende Evaluierung in Form eines „Extended Impact Assessment“ (COM (2004) 582 – http://www.europa.eu.int/comm/internal_market/en/indprop/ design/index.htm) voraus. 68 Von den mit dem Dossier befassten Ausschüssen hat der Ausschuss für Wirtschaft und Währung (ECON) am 13.7.2005 (PE 357.767v02-00), der Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz (IMCO) am 14.12.2005 (PE 357.701v02-00) für den KommissionsVorschlag einer Reparaturklausel gestimmt, während im (federführenden) Rechtsausschuss (JURI) seit einem öffentlichen Hearing vom 21.4.2005 (http://www.europarl.eu.int/ committees/juri_home_en.htm) die Beratungen stagnieren (Stand: 20.6.2006).

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stellungs-Verordnung Nr. 1400/2002 [GVO] 69 sind sie inzwischen allesamt grundsätzlich unzulässig.70 Damit bliebe als letzte Bastion zur Beherrschung des Ersatzteilmarktes der Designschutz; und da in den Mitgliedstaaten, die ihn noch gewähren, die GVO insoweit leer läuft, gebietet es auch die Einheitlichkeit der europäischen Rechtsordnung, eine Reparaturklausel einzuführen. Wie sehr sich die Akzente in den letzten Jahren verschoben haben, mag ein Beispiel aus den U.S.A. zusätzlich verdeutlichen. In dem 1992 entschiedenen Fall Kodak v. ITS 71 ging es um den Versuch von Kodak, die Ersatzteilversorgung und den Wartungs-/Reparaturservice für „Kodak“ Mikrofilm- und Kopiergeräte auf sich zu konzentrieren. Um Wettbewerb von freien Serviceanbietern zu unterbinden, wurden die zuliefernden Ersatzteilehersteller vertraglich verpflichtet, Ersatzteile ausschließlich an Kodak zu liefern; Kodak Gerätekunden erhielten Ersatzteile nur, wenn sie den firmeneigenen Wartungsdienst von Kodak in Anspruch nahmen oder die Wartung selbst durchführten (unter der Bedingung, die Ersatzteile nicht weiterzuverkaufen). Wie leicht ersichtlich, waren diese monopolisierenden Praktiken Kodak’s allein auf der Grundlage des Antitrust-Rechts zu bewerten und letztlich auch zu missbilligen. 12 Jahre später spielte dagegen in dem von der Zielsetzung her gleich gelagerten Fall Lexmark v. Static Control 72 Antitrust-Recht keine Rolle mehr. Lexmark, ein Hersteller von Tintenstrahl- und Laserdruckern hatte die verkauften Geräte über Software-Programme in der Weise „vercodet“, dass sie nur Lexmark-Tonerkartuschen annahmen und die Kartuschen Dritter abstießen. Static Control entwickelte und vertrieb ein Programm, das diese Vercodung überwand und damit Wettbewerbern ermöglichte, Kartuschen für Lexmark-Drucker auf den Markt zu bringen.73 Lexmark sah darin eine

69 Siehe Verordnung (EG) Nr. 1400/2002 der Kommission v. 31.7.2002 über die Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 des Vertrags auf Gruppen von vertikalen Vereinbarungen und aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen im Kraftfahrzeugsektor, Abl. EG L 203/30 v. 1.8.2002. 70 Dies gilt z.B. für Vertriebsbindungen zulasten zuliefernder Ersatzteilehersteller (Art. 4 (1) (j)), für Vereinbarungen der Markenunterdrückung (Art. 4 (1)), für Bezugsbindungen zulasten der Vertragshändler (Art. 4 (1) (k)) – wie es überhaupt zu den Zielen der GVO gehört, dass „auf den Instandsetzungs- und Wartungsmärkten wirksamer Wettbewerb herrscht und Werkstätten den Endverbrauchern konkurrierende Ersatzteile … anbieten können“ (Erwägungsgrund (23)). 71 Eastman Kodak v. Image Technical Services, 504 U.S. 451 (1992) = GRUR Int 1995, 86 m. Anm. Müller. Auf die in dem Verfahren aufgeworfenen materiellrechtlichen und prozessualen Fragen kann hier nicht eingegangen werden. Siehe dazu eingehend: Markert Marktabgrenzung und Marktverhaltenskontrolle bei Ersatzteilen am Beispiel der Kodak-Entscheidung des Supreme Court der USA von 1992, Festschrift für Hoppmann [Baden-Baden 1994], 299ff. 72 Lexmark International v. Static Control Components, 387 F. 3d 522 (6th Cir. 2004). 73 Der sehr komplexe Sachverhalt wird hier vereinfacht wiedergegeben. Auch kann auf

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Gerhard Riehle

Verletzung des an den eigenen Software-Programmen bestehenden Urheberrechts. Der Court of Appeals folgte dem nicht und entschied, das Vorgehen von Static Control sei zulässig, gegebenenfalls als „fair use exception“ nach amerikanischem Urheberrecht. Tragender Grund dafür war die Erkenntnis, dass andernfalls „manufacturers could potentially create monopolies for replacement parts by using … lock-out codes. Automobile manufacturers, for example, could control the entire market of replacement parts for their vehicles by including lock-out chips“.74 Die Trends der modernen Informationstechnologie und deren Möglichkeiten weitsichtig antizipierend setzt die amerikanische Judikatur 75 mithin ein klares Signal, dass geistige Eigentumsrechte an Primärprodukten nicht zur Beherrschung von Sekundärmärkten legitimieren.

IV. Schlussbetrachtung Damit ist die Antwort auf die eingangs gestellte Frage vorgezeichnet. Die Bewertung von Wettbewerbsverhalten und -bedingungen in Sekundärmärkten verlagert sich vom Wettbewerbsrecht hin zum Immaterialgüterrecht. Dieses muss, obwohl von seiner historischen Anlage her dafür nicht hinreichend vorbereitet, die Herausforderung annehmen und strukturelle Konflikte 76 zwischen Immaterialgüterschutz und Wettbewerbsordnung schutzrechtsintern (auf)lösen. Wie dargestellt, geschieht dies bereits in weiten Bereichen, während die „Eigentumslogik“, die sich der Herausforderung – in aller Regel zugunsten singulärer Interessen – verweigert, an Anziehungskraft verliert. Es gewinnt die Einsicht an Boden, dass ein formaler Rückgriff auf die im Primärbereich gültigen Schutzmodalitäten nicht geeignet ist, den Schutzumfang geistiger Eigentumsrechte auch für den Sekundärbereich sachund funktionsgerecht zu bestimmen. Es geht, genau besehen, nicht (länger) darum, für ein bestehendes Recht „Schranken“ einzuziehen, sondern darum, jedem Schutzrecht einen zweiten, eigenständigen, ausschließlich die Wirkungen im Sekundärmarkt berücksichtigenden Schutzgehalt zuzuweisen.77 die umfassende Analyse, die das Gericht dem amerikanischen Urheberrecht gewidmet hat, nicht eingegangen werden. 74 A.a.O. 552 – Zitat aus der concurring opinion von Judge Merritt. 75 Siehe auch Storage Technology v. Custom Hardware Engineering, 421 F. 3d 1307 (Fed.Cir. 2005) – wettbewerbsfreundliche Auslegung einer Art urheberrechtlichen Reparaturklausel (Art. 117 (c) Copyright Act); Chamberlain Group v. Skylink Technologies, 381 F. 3d 1178 (Fed. Cir. 2004) – restriktive Auslegung des Digital Millenium Copyright Act (DMCA) über die Umgehung der zum Schutze gegen Piraterie ergriffenen technischen Massnahmen. 76 Im Gegensatz zu Einzelfallgestaltungen, die dem Wettbewerbsrecht vorbehalten bleiben mögen. Siehe dazu zutreffend: Drexl/Hilty/Kur a.a.O. (Fn. 53), 453f. 77 Damit erledigte sich auch die Frage, ob Schrankenbestimmung eng auszulegen sind

Immaterialgüterschutz in Sekundärmärkten

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Neben der Gesetzgebung hat vor allem eine rechtsschöpferische Judikatur dafür klare Vorgaben entwickelt. Auf einen Nenner gebracht, besagen sie: Der Schutzgehalt eines geistigen Eigentumsrechts beinhaltet niemals die Möglichkeit, Wettbewerb in Sekundärmärkten völlig auszuschalten; er ergreift auch solche Handlungen Dritter grundsätzlich nicht, die – bei gebotener Rücksichtnahme auf die jeweils geschützten Funktionen des betroffenen Rechts – erforderlich sind, um wirksamen Wettbewerb im Sekundärbereich zu ermöglichen. Ein solcher Ansatz verhindert Systemwidersprüche 78 und nimmt die Erkenntnis an, dass sich die Gewährung geistiger Eigentumsrechte nur bei Einbettung in ein Wettbewerbsumfeld rechtfertigen lässt.79 Die dadurch erreichte Einbindung des Gemeinwohls in die erforderliche Interessenabwägung beruht letztlich auf dem schon 1813 von Thomas Jefferson formulierten Gedanken, dass „the right to invention [is] not given of natural right, but for the benefit of society“ 80. Sich davon auch heute noch – oder wieder? – leiten zu lassen, kann Europa nicht schaden.

(wohl noch immer vorherrschende Meinung) oder nicht (siehe dazu Hilty Vergütungssystem und Schrankenregelungen, GRUR 2005, 819, 823). 78 Es ist eigentlich nicht zu vermitteln, dass Schutzgewährung im Primärbereich (siehe Neuwagen und -teile in BMW/Deenik, Fiat/ISAM und im Designbereich, Kopiergeräte in Toshiba/Katun und Lexmark ) nie zum Ausschluss des dortigen Produktwettbewerbs führt, während diese überschießende Wirkung im Sekundärbereich einträte. 79 Präzise auf den Punkt gebracht von Ullrich: „The optimal operation of intellectual property exclusivities granted depends on the proper function of … markets … Once obtained, the exclusivity must be exercised under the threat of competing exclusivities and, ultimately, under the threat of imitation. It is only then that intellectual property will produce the innovations demanded by the market, and that it will yield market rewards based on exclusive rights, rather than non-market rewards based on monopoly rights“. (Ullrich TRIPS: Adequate protection, inadequate trade, adequate competition policy, Pacific Rim Law & Policy Journal, [1995] Vol. 4, No. 1, 152, 194). 80 Siehe Thomas Jefferson Writings [New York 1984/Literary Classics of the United States] 1286, 1292.

Die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen im Kartellrecht nach der 7. GWB-Novelle Ulrich Schnelle Inhaltsübersicht I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Historische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs in Sachen Courage . . . . . III. Einzelfragen der Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen nach deutschem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schutzbereich-Problematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Feststellung eines Kartellverstoßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Weiterwälzung erhöhter Preise (passing-on) . . . . . . . . . . . . . . . 4. Anspruchsberechtigung mittelbar Betroffener . . . . . . . . . . . . . . 5. Schadensberechnung und Höhe des Schadenersatzes . . . . . . . . . . 6. Verhältnis von behördlicher und privater Durchsetzung . . . . . . . . a) Verjährungsunterbrechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anrechnung von Schadenersatzansprüchen auf Vorteilsabschöpfung c) Attraktivitätsverlust der Leniency-Programme für Kartellmitglieder IV. Verfahrensrechtliche Fragen und anwendbares Recht . . . . . . . . . . . 1. Zuständigkeit der Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Besondere Klageformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Anwendbares Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einführung Das Thema der Geltendmachung von Ansprüchen zur privaten Durchsetzung des Kartellrechts im Gegensatz zur behördlichen Durchsetzung des Kartellrechts etwa durch die Kartellbehörden wie die Kommission der Europäischen Gemeinschaften oder das Bundeskartellamt hat den Jubilar bereits in frühen Jahren seiner Tätigkeit beschäftigt.1 Auf den europäischen Kartelljuristen, für den nach seiner Ausbildung und der heute vorherrschen1

Privatrechtliche Folgen unerlaubter Kartellpraxis, Karlsruhe 1964; Privater Rechtsschutz im Recht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, BB 1965, 161.

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den Praxis die behördliche Durchsetzung des Kartellrechts der Regelfall ist, übt die in den USA bewusst kultivierte Durchsetzung des Kartellrechts auch durch private Kläger, namentlich durch Schadenersatzklagen, eine gewisse Faszination aus. Dieser hat sich auch der Jubilar nicht entziehen können. Er hat sich eigentlich während seiner gesamten Berufstätigkeit sowohl in anwaltlich beratender als auch in wissenschaftlicher Hinsicht, zuletzt als Sachverständiger bei der Beratung der 7. GWB-Novelle, intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt. Für einen Beitrag, der die Fragen des Schadenersatzrechts als Sonderfall der Durchsetzung des Kartellrechts durch Private untersucht, lohnt es immer, einen rechtsvergleichenden Blick auf die Rechtslage in den USA werfen. Betrachtet man das deutsche Recht nach der 7. GWB-Novelle, so sind zunächst die europarechtlichen Grundlagen der in § 33 Abs. 2, 3, 4 und 5 des neuen GWB 2 enthaltenen neuen Regeln auszuleuchten. Weitere relevante Aspekte sind die Frage nach dem Nachweis einer Verletzung der einschlägigen Bestimmungen der Artikel 81, 82 EG, §§ 1, 20 GWB, der Schadensnachweis durch den Kartellabnehmer oder Lieferanten, die Anspruchsberechtigung mittelbar Betroffener (indirect purchasers) sowie die Frage nach der Passing-on-Defense, also dem Einwand, dass dem vorgeblich Geschädigten gar kein Schaden entstanden sei, da er die erhöhten Preise der Kartellanten auf seine Abnehmer weiterwälzen konnte. Ferner geht es auch um das Verhältnis der privaten Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen zur Durchsetzung des Kartellrechts durch Behörden im Wege von Bußgeldern, also um die Frage einer Anrechnung von Bußgeldern auf Schadenersatzbeträge und umgekehrt und natürlich um die Frage nach einer Kompatibilität der Leniency-Programme (auch Kronzeugenregelungen genannt) mit Schadenersatzansprüchen. Schließlich sind Fragen zum rechtlichen Umfeld, die über das eigentliche Kartellrecht hinausgehen, zu stellen, nämlich nach den zivilprozessualen Möglichkeiten zur Durchsetzung, insbesondere ob es Sonderformen von Klagen geben soll, wie Beweisfragen geregelt werden könnten und welches materielle Recht eigentlich auf eine kartellrechtswidrige Handlung anwendbar sein soll.

2 BGBl. 2005 I 1954; Bekanntmachung der Neufassung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen BGBl. 2005 I 2114.

Die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen im Kartellrecht

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II. Historische Entwicklung 1. Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs in Sachen Courage Der Europäische Gerichtshof hat in seinem soweit ersichtlich einzigen Urteil zum Thema Schadenersatz wegen Verstoßes gegen EG-Kartellrecht am 20.09.2001 entschieden: 3 – Art. 81 und 82 EG erzeugen in den Beziehungen zwischen Einzelnen unmittelbare Wirkungen und geben dem Einzelnen Rechte, die die Gerichte der Mitgliedstaaten zu wahren haben. – Die volle Wirksamkeit des Art. 81 EG und insbesondere die praktische Wirksamkeit des im Art. 81 Abs. 1 EG ausgesprochenen Verbots wären beeinträchtigt, wenn nicht Jedermann Ersatz des Schadens verlangen könnte, der ihm durch einen Vertrag, der den Wettbewerb beschränken oder verfälschen kann, oder durch ein entsprechendes Verhalten entstanden ist. – Mangels einer einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Regelung ist es Sache der Mitgliedstaaten, die Verfahrensmodalitäten zu regeln. – Die Mitgliedstaaten haben dabei den Äquivalenzgrundsatz und das Effektivitätsprinzip zu beachten.4 Die Kommission hat dieses Urteil als gesetzgeberischen Auftrag aufgefasst und sich zunächst um die rechtsvergleichende Sichtung der Bedingungen und Voraussetzungen für Schadenersatzklagen in der Europäischen Union bemüht.5 Während das Gemeinschaftsrecht ein effektives System für Schadenersatzklagen wegen Verletzung des Wettbewerbsrechts fordert, kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass dieser Rechtsbereich in den 25 Mitgliedstaaten „völlig unterentwickelt“ ist.6 Bei aller methodologischen Kritik an dieser Studie muss auch das Bundeskartellamt einräumen, dass es in Deutschland bisher im Bereich von Hardcore-Kartellen nur einen Fall gab, in dem Schadenersatzansprüche erfolgreich eingeklagt wurden.7

3

Rs. C-453/99 – Courage Crehan, Slg. 2001, I-6297 = WuW/E EU-R 479. Rn. 29. 5 Study on the conditions of claims for damages in case of infringement of EC competition rules – comparative and economics reports by Ashurst for the European Commission, DG Competition, 31. August 2004, http://europa.eu.int/comm/competition/antitrust/ others/private_enforcement. 6 Siehe „Study on the conditions of claims for damages in case of infringement of EC antitrust rules“; andere Auffassung jedenfalls für Deutschland das Bundeskartellamt in seinem Diskussionspapier, S. 5. 7 LG Dortmund, Urteil vom 01.04.2004, WuW/E DE-R 1352 – Vitaminpreise Dortmund. 4

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Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat auf dieser Grundlage ein Grünbuch mit dem Titel „Schadenersatzklagen wegen Verletzung des EU-Wettbewerbsrechts“ herausgegeben.8 Das Grünbuch stellt klar, welchen Zwecken Schadenersatzklagen dienen. Das Grünbuch beschränkt sich auf den wichtigsten Aspekt bei der privaten Geltendmachung von kartellrechtlichen Verstößen, nämlich Schadenersatzklagen. Schadenersatzklagen dienen dazu, jene, die infolge wettbewerbswidrigen Verhaltens einen Verlust erlitten haben, zu entschädigen, sowie durch Unterbindung wettbewerbswidrigen Verhaltens die Wirksamkeit der Wettbewerbsvorschriften sicherzustellen und dergestalt zur Erhaltung eines wirksamen Wettbewerbs in der Gemeinschaft beizutragen (Abschreckung).9 Der deutsche Gesetzgeber ist seinerseits in der 7. GWB-Novelle tätig geworden und hat § 33 GWB unter Änderung der bisherigen Vorschriften, weitestgehend aber mit neuen Regeln eingeführt. Erklärtes Ziel der Neuregelung, soweit diese den individuellen Rechtsschutz betrifft, ist die Stärkung der kartellrechtlichen Schadenersatz- und Unterlassungsansprüche und die Schaffung eines effektiven zivilrechtlichen Sanktionssystems, von dem eine abschreckende Wirkung ausgehen soll.10 Auch nach der 7. GWB-Novelle, die wesentliche Änderungen, in erster Linie aber nur für die sog. Follow-on-Klagen, also Schadenersatzklagen nach Feststellung von Kartellrechtsverstößen durch die Behörden, geregelt hat,11 besteht aber gleichwohl noch Klärungsbedarf, nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Bestimmungen in § 33 Abs. 2 und 3 GWB selbst. Das Bundeskartellamt hat aus diesem Grund auch ein Diskussionspapier herausgegeben.12

III. Einzelfragen der Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen nach deutschem Recht 1. Schutzbereich-Problematik § 33 Satz 1 GWB a.F. und § 823 Abs. 2 BGB setzten jeweils eine Zuwiderhandlung gegen eine „Bestimmung, die den Schutz eines anderen bezweckt“, voraus. Ein erheblicher Teil der Rechtsprechung sah dieses Erfordernis bei 8

19.12.2005, Komm. (2005/672 endg.). EuGH, 20.09.2001, Rs. C-453/99, Courage/Crehan, Slg. I-6297 = WuW/E EU-R 479, Rn. 26 und 27. 10 Begr. RegE. BT-Drucks. 15/3640 S. 35. 11 Hempel, WuW 2005, 137. 12 Diskussionspapier für die Sitzung des Arbeitskreises Kartellrecht am 26.09.2005, Private Kartellrechtsdurchsetzung – Stand, Probleme, Perspektiven; http://www. Bundeskartellamt.de/wDeutsch/download/pdf/Diskussionsbeitraege; siehe auch Moch, Private Kartellrechtsdurchsetzung – Stand, Probleme, Perspektiven; Tagungsbericht des Bundeskartellamts, WuW 2006, 39. 9

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§ 1 GWB (a.F.) und Art. 81 EG nur hinsichtlich derjenigen Personen als erfüllt an, gegen die sich das wettbewerbsschädigende Verhalten gezielt richtete.13 Die 7. GWB-Novelle sorgt insoweit für eine Klärung, als das Schutzgesetzerfordernis fallen gelassen wurde. Nach der neuen Gesetzesfassung sind nunmehr alle „Betroffenen“ nach § 33 Abs. 1 Satz 1 GWB anspruchsberechtigt. Betroffen sind gemäß der Legaldefinition in § 33 Abs. 1 Satz 3 GWB wiederum all jene Mitbewerber oder sonstigen Marktbeteiligten, die durch den Wettbewerbsverstoß „beeinträchtigt“ sind. Auf die Intension des Schädigers oder eine irgendwie geartete Finalität des schädigenden Verhaltens stellt die neue Gesetzesfassung nicht mehr ab, was geeignet ist, die Effektivität der privaten Rechtsdurchsetzung zu stärken. 2. Feststellung eines Kartellverstoßes Das wesentliche Problem für einen Kläger, der einen Schadenersatzanspruch wegen eines Kartellverstoßes geltend machen möchte, ist zunächst der Nachweis, dass überhaupt ein solcher Kartellrechtsverstoß, insbesondere in Form eines Kartells zum Zwecke der Preisabsprache oder Marktaufteilung, zu seinem Nachteil bestand. Über den Erfolg der Geltendmachung eines Schadenersatzanspruchs entscheiden im Wesentlichen Fragen der Darlegungs- und Beweislast. Ein Blick in die Vereinigten Staaten zeigt, dass dort für die Kläger sehr viel weitergehende Möglichkeiten zur Aufspürung eines Kartells bestehen als im deutschen Recht. Die dem US-Recht eigene pre-trial discovery erleichtert den Nachweis sowohl des Kartellverstoßes als auch des Schadens und des Kausalzusammenhangs. Die Discovery-Regeln erlauben dem Kläger u.a. Einsichtnahme in sämtliche verfahrensrelevanten, nicht privilegierten Urkunden, sowie die eidliche Vernehmung von Zeugen und formelle Parteibefragungen hinsichtlich jeder nicht privilegierten Frage, die für den Anspruch oder die Verteidigung einer Partei relevant ist, einschließlich von Informationen, die vor Gericht nicht verwendet werden dürfen.14 Zudem können Kläger in bestimmten Situationen an die Präklusionswirkung (collateral estoppel) bzw. den Prima-facie-Effekt staatlicher Durchsetzungsmaßnahmen anknüpfen.15 Allerdings wird von europäischer Seite – zu Recht – darauf hingewiesen, dass in dem aus deutscher Sicht als reiner Ausforschungsbeweis zu bewerten13 Zuletzt insbesondere LG Mainz, Urteil vom 15.01.2004, WuW/E DE-R 1349, 1351 – Vitaminpreise Mainz; LG Mannheim, Urteil vom 11.07.2003, GRUR 2004, 182, 183f.; LG Berlin, Urteil vom 23.05.2003, WuW/E DE-R1325; Berrisch/Burianski, WuW 2005, 878, 881 m.w.N. 14 Federal Rules of Civil Procedure 26–27. 15 Section 5 (a) Clayton Act.

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den Pre-trial-Discovery-Verfahren immer auch ein Erpressungspotenzial für die Kläger steckt. Allein um das Pre-trial-Discovery-Verfahren, in dem auch Geschäftsgeheimnisse offenbart werden müssen, zu vermeiden, sehen sich Unternehmen mitunter bereits gezwungen, Vergleiche mit der Klägerseite abzuschließen. Darin liegt eine offensichtliche Missbrauchsgefahr.16 Der deutsche Gesetzgeber, der mit der 7. GWB-Novelle in erster Linie Follow-on-Klagen stärken wollte, hat in § 33 Abs. 4 GWB die Rolle des Klägers verstärkt. § 33 Abs. 4 GWB sieht vor, dass Entscheidungen der Kommission, des Bundeskartellamts, anderer nationaler Kartellbehörden und anderer Gerichte der Mitgliedstaaten, soweit diese als Wettbewerbsbehörde handeln oder soweit diese Entscheidungen erlassen, die infolge der Anfechtung von Entscheidungen von Wettbewerbsbehörden ergangen sind, die Zivilgerichte bei nachfolgenden Schadenersatzklagen binden. Die Bindungswirkung betrifft nach dem Wortlaut allein die Feststellung des Verstoßes (Tatbestandswirkung). Die Bestimmung ist hinsichtlich der Bindungswirkung einer Entscheidung der Kommission überflüssig, da die entsprechende Bindung für deutsche Gerichte bereits durch Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1/2003 17 getroffen wird. Trotz des vermeintlich klaren Wortlauts dieser Bestimmung bestehen auch sonst Zweifel am genauen Anwendungsbereich. Die genannte Tatbestandswirkung bezieht sich nur auf den Tenor der kartellbehördlichen Entscheidung, nicht aber auf die tatsächlichen und rechtlichen Ausführungen der Kartellbehörde.18 Wenn in der Literatur zum Teil angenommen wird, § 33 Abs. 4 GWB entfalte keine Tatbestands-, sondern Feststellungswirkung, sodass das Zivilgericht nicht nur an den reinen Fakt der Existenz einer rechtskräftigen Behördenentscheidung, sondern auch an tatsächliche und rechtliche Feststellungen gebunden sein soll,19 so ist dies nicht zutreffend. Tatsächlich spricht die Regierungsbegründung von „Tatbestandswirkung“. Auf die rechtlichen und tatsächlichen Ausführungen der Behördenentscheidung soll sich die Bindungswirkung gerade nicht erstrecken.20 Nur am Rande sei der Hinweis erlaubt, dass die Monopol-Kommission bei der vorgesehenen weitreichenden Bindungswirkung der deutschen Zivilgerichte an die Entscheidungen aus den internationalen Kartellbehörden der Auffassung ist, dass diese nicht mit der europäischen Menschenrechtskonvention und den verfassungsmäßigen Rechtsschutzgarantien zu vereinbaren ist.21 16

Wils, World Competition 2003, 473, 480. ABl. 2003 Nr. L1/1. 18 Meyer, GRUR 2006, 27, 30 m.w.N. 19 Schütt, WuW 2004, 1124, 1131. 20 Begründung Regierungsentwurf S. 54. 21 Sondergutachten der Monopol-Kommission, das allgemeine Wettbewerbsrecht in der Siebten GWB-Novelle, März 2004 unter http://www.monopolkommission.de/sg_41/ text_s41.pdf; Hempel, WuW 2004, 362, Schütt, WuW 2004, 1124. 17

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Außerhalb der Bindungswirkung von Kommissionsentscheidungen und der Entscheidungen nationaler Wettbewerbsbehörden oder in dieser Funktion agierender Gerichte bietet das deutsche Recht dem Kläger, der auf sich selbst gestützt einen Kartellverstoß geltend machen möchte, der ihn zum Schadenersatz berechtigt, wenig Hilfe. Die Monopol-Kommission hat in dem bereits erwähnten Sondergutachten eine gesetzliche Regelung vorgeschlagen, derzufolge der Kläger seiner Beweislast bereits dann nachgekommen sein soll, wenn er konkrete Anhaltspunkte für ein kartellrechtswidriges Verhalten darlege. Es obliege dann dem Beklagten, über die genauen Hintergründe der betreffenden Geschäftspraxis zu informieren.22 Offen bleibt die dogmatische Verankerung dieses Vorschlags. Zu denken ist an einen Anwendungsfall der Regeln über die sekundäre Beweislast. Danach kommt der Kläger seiner Darlegungs- und Beweislast schon dann nach, wenn er ein Kartell und die für ihn negativen Rechtsfolgen plausibel vorträgt. Das beklagte Kartellmitglied oder die beklagten Kartellmitglieder müssen dann ihrerseits substantiiert vortragen, dass sich das Gericht die Überzeugung verschaffen kann, dass kein Kartellrechtsverstoß gegeben ist.23 Das Bundeskartellamt ist der Auffassung, dass der Vorschlag grundsätzlich zu begrüßen sei, weil er der unstreitig bestehenden Informationsasymmetrie zwischen Kartellmitgliedern und Geschädigten Rechnung trägt. Um jedoch zu vermeiden, dass eine Klageerhebung „ins Blaue hinein“ dazu genutzt werden könnte, um vom Beklagten unternehmensinterne Informationen zu erhalten, wäre es vorzugswürdig, die klarer formulierte AnscheinsbeweisRegelung des § 20 Abs. 5 GWB auf sämtliche Wettbewerbsverstöße auszudehnen.24 3. Weiterwälzung erhöhter Preise (passing-on) Problematisch sind Fälle, in denen die unmittelbare Marktgegenseite, also Abnehmer oder Lieferanten, aufgrund des wettbewerbsschädigenden Verhaltens gezwungen ist, höhere Preise zu entrichten, diese Preiserhöhung aber wiederum ganz oder teilweise an ihre Abnehmer bzw. Lieferanten abgeben kann. Die entsprechende Einwendung des Beklagten wird in Anlehnung an das US-amerikanische Recht auch als Passing-on-Defense bezeichnet. Möglichkeit und Ausmaß des Passing-on hängen dabei von mehreren Faktoren ab, insbesondere von der Nachfrage-Elastizität auf dem nachgelagerten Markt und der Kostenstruktur und der Wettbewerbssituation der auf dem nachgelagerten Markt anbietenden Unternehmen. Der Anteil des überhöhten Preises auf dem vorgelagerten Markt, der auf die Nachfrager auf dem nach22 23 24

Sondergutachten, a.a.O., Tz. 56. Greger in: Zöller, ZPO, 25. Aufl. 2005, Vor § 284 Rn. 34. Diskussionspapier des Bundeskartellamts, S. 27.

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gelagerten Markt abgewälzt werden kann, ist umso höher, je geringer deren Nachfrage-Elastizität ausfällt. Ebenso wird eine Überwälzung überhöhter Preise durch eine flacher verlaufende Grenzkostenfunktion auf dem nachgelagerten Markt erleichtert. Im US-amerikanischen Recht ist die Frage der Passing-on-Problematik untrennbar verbunden mit der Frage, ob auch mittelbar Geschädigte, also nicht die dem Kartell unmittelbar nachgelagerte Stufe von Abnehmern, sondern Abnehmer weiterer Stufen, klagebefugt sind. Das sog. defensive passing-on meint dabei die Berücksichtigungsfähigkeit eines weitergewälzten Schadens, während das offensive passing-on die Frage der Anspruchsberechtigung nachgelagerter Marktstufen betrifft. In seinem Urteil von 1968 hat der US Supreme Court die Passing-on-Defense verworfen.25 Die Begründung war im Wesentlichen, dass die Berücksichtigung einer Passing-on-Defense die Effektivität der privaten Kartellrechtsdurchsetzung nachhaltig verringern könnte, da die Berücksichtigung eines solchen Einwands die Rechtsdurchsetzung in erheblichem Maße verkomplizieren würde. Mit der Frage der offensiven Geltendmachung des Passing-on hat sich der US Supreme Court in der Entscheidung Illinois Brick Co. v. Illinois 26 beschäftigt und dies im Ergebnis ebenfalls abgelehnt. Das Klagerecht sollte auf den direct purchaser beschränkt werden, da dieser der geeignetere Private Attorney General sei. Denn für den indirect purchaser sei der Beweis des Schadens und der Schadenshöhe sehr schwierig und verkompliziere den Prozess. Die Entscheidung war in den USA umstritten.27 In den USA ist in etwa 20 Bundesstaaten durch sog. Illinois Brick Repeal Statutes das Verbot der Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen durch indirect purchasers wieder aufgehoben worden.28 Der deutsche Gesetzgeber hat in § 33 Abs. 2 GWB geregelt: „Wird eine Ware oder Dienstleistung zu einem überteuerten Preis bezogen, so ist der Schaden nicht deshalb ausgeschlossen, weil die Ware oder die Dienstleistung weiterveräußert wurde“. Diese Formulierung stellt nach Auffassung des Bundeskartellamts klar, dass es sich bei der Weiterwälzung erhöhter Preise nicht um eine Frage der Schadensentstehung, also nicht um die Klagebefugnis, handelt. Eine Weiterwälzung kann somit lediglich im Rahmen der Vorteilsausgleichung Berücksichtigung finden – mit der Folge, dass die Beweislast hierfür den Schädiger trifft.29 25

Hanover Shoe, Inc. v. Shoe Machinery Corp., 392 US 481, 88 S.C.t. 2224 (1968). Illinois Brick Co. v. Illinois, 431 US 720, 97 S.C.t. 2061 (1977). 27 Vgl. Landies/Posner, University of Chicago, Law Review 46 (1979), 602, 635; a.A. Schinkel, Tuinstra, Rüggeberg, Illinois Walls. 28 Moch, Private Kartellrechtsdurchsetzung – Stand, Probleme, Perspektiven – Tagungsbericht des Bundeskartellamts – WuW 2006, 39, 43. 29 Diskussionspapier, S. 38; Heinrichs in Palandt, BGB, 65. Aufl., 2006, Vorb. vor § 249 Rn. 123 mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung. 26

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Ein kategorischer Ausschluss der Vorteilsausgleichung wäre indessen nicht sachgerecht. Zwar ist aufgrund der großen Bedeutung der kartellrechtlichen Vorschriften für die Wirtschafts- und Wettbewerbsordnung eine restriktive Handhabung der Vorteilsausgleichung angezeigt, sodass eine solche im Regelfall nicht stattfinden wird. Vor dem Hintergrund der Ausgleichsfunktion des Schadensrechts und der Differenztheorie, also dem Vergleich der Situation des durch das Kartell Geschädigten ohne die Schädigung mit seiner Vermögenssituation infolge der Schädigung, muss jedoch der Beweis des Gegenteils und somit eine Vorteilsausgleichung im Einzelfall möglich bleiben. Die Vorteilsausgleichung müsste dann erfolgen, wenn der Schaden weitergewälzt wurde, hierdurch kein Umsatzrückgang entstanden ist und dies für den Geschädigten weder ein Risiko darstellte, noch mit unzumutbarem Aufwand verbunden war. Zu denken ist hier etwa an Fälle, in denen der Wiederverkaufspreis dergestalt an den Einstandspreis gekoppelt ist, dass er vollständig unter Addition einer im Voraus vereinbarten eigenen Gewinnmarge an die nächste Stufe weitergegeben wird. Vorausgesetzt, dass die Preiserhöhung sich nicht auf die abgesetzten Mengen auswirkt (was nach dem zuvor Gesagten vom Schädiger zu beweisen wäre), trifft den Geschädigten in solch einer Situation weder ein wirtschaftliches Risiko, noch stellt es einen unzumutbaren Aufwand dar, den Vorteil zu erzielen. Eine Entlastung des Schädigers wäre unter diesen Voraussetzungen nicht als unbillig anzusehen. Bereits die Systematik des Schadensrechts fordert die grundsätzliche Möglichkeit der Vorteilsausgleichung. Lehnte man die Vorteilsausgleichung ab, würde dem Schadenersatzanspruch sowohl eine präventive als auch eine strafende Funktion verliehen werden, was beides dem deutschen Schadensrecht fremd ist.30 Die Monopol-Kommission 31 hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Regelung in § 33 Abs. 2 Satz 2 GWB nicht so verstanden werden darf, als dass der Schaden des Händlers oder des weiterverarbeitenden Unternehmens nur in der Überteuerung der tatsächlich bezogenen Mengen bestünde. Bei einem höheren Preis (als dem eigentlich „richtigen“ Preis) fragen die Händler bzw. die weiterverarbeitenden Unternehmen weniger nach. In Anwendung des Differenzprinzips setzt sich der Schaden daher aus zwei Positionen zusammen: er besteht einmal darin, dass sie für die Mengen, die sie beziehen, den Kartellpreis statt des Wettbewerbspreises bezahlen, zum anderen auch darin, dass die Käufer bei dem höheren Preis ihre Nachfrage zurücknehmen und ihnen der Gewinn entgeht, den sie hätten, wenn sie die zum Wettbewerbspreis gewünschten zusätzlichen Einheiten zu diesem Preis erwerben könnten. Daher ist bei der Schadensberechnung auch immer der entgangene 30 BGH, Urteil vom 04.06.1992, NJW 1992, 3096, 3103; Oetker in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 4. Aufl., 2003, § 249 Rn. 9 m.w.N. 31 Sondergutachten, Tz. 37.

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Gewinn infolge der Mengenreduzierung zu berücksichtigen, sodass die Vorteilsausgleichung tatsächlich nur in Ausnahmefällen zu einem völligen Ausschluss des Anspruchs des unmittelbar nachgelagerten Händlers bzw. weiterverarbeitenden Unternehmens führt. 4. Anspruchsberechtigung mittelbar Betroffener Der Ausschluss der Passing-on-Defense in § 33 Abs. 3 Satz 2 GWB hat, offenbar vor dem geschilderten Hintergrund des US-amerikanischen Rechts, einige Autoren zu der Annahme verleitet, dass die Betroffenen der zweiten Stufe, auf die der Schaden abgewälzt wurde, nicht anspruchsberechtigt sein sollen, da andernfalls eine doppelte Inanspruchnahme des Kartellmitglieds drohe.32 Das GWB trifft keine Aussage darüber, ob im Fall von Wettbewerbsverstößen auch Angehörige nachfolgender Marktstufen anspruchsberechtigt sind. Richtig ist, dass faktisch solche mittelbar Geschädigten Schwierigkeiten haben werden, den ihnen entstandenen Schaden nachzuweisen, da sie in jedem Fall auch die Einkaufspreise ihrer Vorlieferanten und ggf. auch der unmittelbaren Abnehmer der Kartellanten in Erfahrung bringen müssten. Es ist jedoch zumindest denkbar, dass auch im Fall von Diskriminierungen oder Preismissbrauch durch marktbeherrschende Unternehmen Angehörige nachfolgender Marktstufen Ansprüche nach § 33 Abs. 1 Satz 1 GWB geltend machen könnten, soweit die unmittelbar betroffene Marktgegenseite überhöhte Preise weitergewälzt hat. Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat sich in einem obiter dictum grundsätzlich gegen Schadenersatzansprüche von Abnehmern weiterer Marktstufen ausgesprochen.33 Aus Sicht des Verfassers ist allerdings europarechtlich die Einbeziehung eines möglichst großen Kreises von zumindest theoretischen Klägern geboten. Das Courage-Urteil erklärt hierzu eindeutig, dass „jedermann“ Anspruch auf Schadenersatz habe.34 Nach den Schlussanträgen von Generalanwalt Mischo in Courage sind die durch Art. 81 EG geschützten Individuen vor allem Dritte, d.h. Verbraucher und Wettbewerber, die durch das Kartell geschädigt wurden.35 Auch Generalanwalt Jacobs betonte in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache „AOK Bundesverband u.a.“, dass jeder, dem durch das Kartell

32 Bechtold, DB 2004, 235, 239; Hempel, WuW 2004, 362, 369; anders das Sondergutachten der Monopol-Kommission, Tz. 71. 33 OLG Düsseldorf, Urteil vom 16.06.1998, WuW/E DE-R 143, 148 – Global One, die Urteilspassage stellt indessen maßgeblich darauf ab, dass mangels eines Wettbewerbsverhältnisses im konkreten Fall keine Ansprüche bestehen. 34 EuGH, Urteil vom 20.09.2001, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I 6297 Rn. 26. 35 GA Mischo, Schlussanträge vom 22.03.2001 in der Rs. C-453/99, Rn. 38 – Courage.

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ein Schaden entstanden sei, nach Gemeinschaftsrecht Schadenersatz verlangen können müsse.36 Gegen die hier vertretene These von der europarechtlichen Notwendigkeit, einem möglichst großen Kreis von Anspruchsberechtigten das Recht zur Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen zu geben, wird eingewandt, dass nach der Formulierung in Courage der Schaden „durch einen Vertrag“ entstanden sein muss.37 Dies gebiete, dass auch nach Gemeinschaftsrecht nur der direkten Marktgegenseite ein Schadenersatzanspruch zustehen könne. Diese Auffassung ist unzutreffend. Das CourageUrteil schreibt auch vor, dass der Rechtsschutz möglichst effektiv sein müsse. Je größer der zumindest potenzielle Kreis der Anspruchsberechtigten, desto effektiver dürfte auch der Rechtsschutz und die Rechtsdurchsetzung sein. Darüber hinaus ist die Neuausrichtung des europäischen Kartellrechts von dem wesentlichen Ziel einer Integration der Märkte zu einem gemeinsamen Markt zum Schutz einer – wie auch immer zu definierenden oder definierten – Consumer Welfare zu beachten.38 Mit diesem Prinzip, wenn man es denn tatsächlich als Grundlage der europäischen Wettbewerbspolitik anerkennen wollte, wäre es unvereinbar, nur der unmittelbaren Marktgegenseite eines Kartells Schadenersatzansprüche zuzuerkennen. Die Frage, wie insbesondere Verbraucher effektiv Schadenersatzansprüche geltend machen können, wird unten bei der Behandlung der prozessualen Möglichkeiten zur Durchsetzung von Ansprüchen behandelt.39 5. Schadensberechnung und Höhe des Schadenersatzes In den USA gewährt die Rechtsprechung große Freiheit bei der Berechnung der Schadenshöhe, wenn der Kläger beweisen kann, dass der Kartellrechtsverstoß einen in den Schutzbereich der Kartellgesetze fallenden Schaden verursacht hat. Ein Beklagter, dessen rechtswidriges Verhalten die Berechnung der genauen Schadenshöhe erschwert, soll sich nicht darauf berufen können, dass das Ausmaß des Schadens nicht mit der sonst üblichen Präzision bestimmt werden kann.40 Der Kläger ist ferner zu Schadenersatz in dreifacher Höhe des wie vor dargestellten Schadens berechtigt.41 Allerdings wird der Schaden erst ab Urteilsspruch verzinst. 36

Diskussionspapier des Bundeskartellamts, S. 8. Moch, Private Kartellrechtsdurchsetzung – Stand, Probleme, Perspektiven – Tagungsbericht des Bundeskartellamts – WuW 2006, 39, 43. 38 Rede der Kommissarin für Wettbewerb Neelie Kroes am 23.09.2005 in New York, http://europa.eu.int/rapid/pressReleaseAction.do?=SPEECH; vor allen Dingen Staff Discussion Paper, http://europa.eu.int/comm/competition/antitrust/others/discpaper2005. 39 Siehe unten II. 2. 40 Eastman Kodak Co. v. Sun Photo Materials Co., 273 U. S. 379, zitiert nach Götz, The Basic Rules of Antitrust Damages, 49 Antitrust LJ (1980) S. 125, 126. 41 Section 4 Clayton Act. 37

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Das GWB enthält zur Frage der Schadensberechnung in § 33 Abs. 3 Satz 3 den Hinweis, dass bei der Entscheidung über den Umfang des Schadens nach § 287 ZPO insbesondere der anteilige Gewinn, den das Unternehmen durch den Verstoß erlangt hat, berücksichtigt werden kann. Indem die Schadensberechnung des Geschädigten an den Gewinn des Beklagten anknüpft, soll dem Kläger die Berechnung seines Schadens erleichtert werden. Streng genommen bewegt sich der Gesetzgeber mit dieser Regelung eher im Bereich der Gewinnabschöpfung (vgl. auch § 34 GWB) als im Bereich der echten Kompensation. Dem Schadenersatzanspruch kommt somit ein Strafcharakter, jedenfalls eine Präventionswirkung zu: Der Kartellant soll den Kartellgewinn nicht behalten dürfen. Nach der Gesetzesbegründung soll sich dieser Gewinn wie folgt errechnen: Umsatzerlös – (Herstellungskosten + Betriebskosten).42 Der Gesetzgeber lässt aber offen, wie der Kläger substantiiert zu den Kosten des oder der Kartellanten vortragen soll. Gerade hier sind Fragen der Beweislastumkehr oder jedenfalls Beweiserleichterung unerlässlich. Wesentlich und für die Effektivität der Rechtsdurchsetzung erheblich ist ferner die Anordnung des Gesetzgebers in § 33 Abs. 3 Satz 4 GWB, dass der beklagte Kartellant eventuelle Schadenersatzansprüche ab Eintritt des Schadens zu verzinsen hat. Geht es um den Nachweis des eigenen Schadens des Klägers, so ist ein Vergleich zwischen dem beobachtbaren, kartellbedingten Marktpreis und dem hypothetischen Wettbewerbspreis ohne Kartell herzustellen. Drei Methoden sind hier vorstellbar und werden auch angewandt: die Vergleichsmarktmethode leitet den hypothetischen Wettbewerbspreis auf einem vergleichbaren Markt her, die Kostenmethode analysiert die tatsächlichen Kosten und schlägt diesen einen als „angemessen“ angesehenen Profit zu, während die Simulationsmethode das hypothetische Ergebnis direkt auf dem betroffenen Markt ermittelt. Der Simulationsansatz hat den Vorzug, die Marktstruktur adäquat abzubilden und zeichnet sich dadurch aus, dass der hypothetische Wettbewerbspreis auf dem tatsächlich betroffenen Markt geschätzt wird. Dieser Vorteil wird jedoch mit einer ökonomisch anspruchsvollen Modellierung und eventuellen Notwendigkeit umfangreicher Datensätze erkauft, die in der Praxis häufig nicht vorliegen werden. Der Vergleichsmarktansatz erfordert weniger Daten zur Marktstruktur, jedoch wird der Wettbewerbspreis nicht auf den betroffenen Markt geschätzt, sondern vielmehr über den Umweg eines Vergleichsmarktes ermittelt. Die an sich praktikabel erscheinende Kostenmethode schließlich blendet das tatsächliche Wettbewerbsgeschehen vollständig aus.43

42 43

BT-Drucks. 15/3640 S. 54. Diskussionspapier des Bundeskartellamts, S. 22.

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Auch die mit der Frage der Höhe des Schadenersatzes befassten deutschen Stellen, wie das Bundeskartellamt und die Monopol-Kommission, sehen in einem Mehrfachschadenersatz, wie z.B. den treble damages in den USA, einen Anreiz für Kläger, Kartellen nachzugehen. Der hohe Schadenersatz hat außerdem eine erhebliche Abschreckungsfunktion. Aus diesem Grund hat sich die Monopol-Kommission für die Einführung eines zweifachen Schadenersatzes auch in das deutsche Recht ausgesprochen.44 Hinsichtlich der Einführung eines mehrfachen Schadenersatzes in das deutsche Recht bestehen allerdings verfassungsrechtliche Bedenken. So hat der Bundesgerichtshof die Vollstreckbarerklärung eines US-amerikanischen Gerichtsurteils abgelehnt, das dem Kläger über materielle und immaterielle Schäden hinaus pauschal punitive damages zugesprochen hatte. Dies sei mit dem deutschen Verständnis vom Bestrafungsmonopol des Staates und entsprechenden Verfahrensgarantien und der im Schadenersatzrecht geltenden Differenzhypothese unvereinbar und verstoße daher gegen den materiellen ordre public der §§ 723 Abs. 2, 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO. Ein Mehrfach-Schadenersatz widerspreche auch dem nationalen Verständnis des Schadensrechts, demzufolge diesem eine Ausgleichsfunktion, aber keine Bestrafungsfunktion zukommt. Das Bundeskartellamt hält demgegenüber und wohl auch zu Recht eine wirkungsvolle Abschreckung durch behördliche Sanktionen zumindest für ausreichend, wenn die Geldbußen – wie in § 81 GWB – verschärft werden.45 6. Verhältnis von behördlicher und privater Durchsetzung Die vom EuGH geforderte Effektivität der Rechtsdurchsetzung gebietet nicht zuletzt auch, dass Friktionen zwischen der behördlichen und der privaten Durchsetzung vermieden werden. Idealerweise sollten die beiden Wege der Durchsetzung komplementär sein. Der Gesetzgeber der 7. GWB-Novelle hat hierzu im Wesentlichen folgende Regelungen getroffen: a) Verjährungsunterbrechung Der Gesetzgeber hat in § 33 Abs. 5 GWB geregelt, dass die Verjährung eines Schadenersatzanspruchs gehemmt wird, wenn die Kartellbehörde wegen eines Verstoßes nach § 33 Abs. 1 GWB oder die Kommission der Europäischen Gemeinschaft oder die Wettbewerbsbehörde eines Mitgliedstaates der Europäischen Gemeinschaft wegen eines Verstoßes gegen Art. 81 und Art. 82 EG ein Verfahren einleitet. Die Bestimmung entspricht in ihren

44 45

481.

Sondergutachten der Monopol-Kommission, Tz. 83. Diskussionspapier des Bundeskartellamts, S. 28; Wils, World Competition 2003, 473,

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Grundzügen Section 5 (j) Clayton Act. Um eine möglichst weitgehende Verjährungshemmung zu erreichen, ist davon auszugehen, dass der Begriff „Verstoß“ weit auszulegen ist.46 b) Anrechnung von Schadenersatzansprüchen auf Vorteilsabschöpfung Der deutsche Gesetzgeber war darum bemüht zu verhindern, dass Kartellanten durch ein möglicherweise paralleles Vorgehen der ermittelnden Behörde und privater Schadenersatzkläger wegen desselben Verstoßes über Gebühr belastet werden. § 34 Abs. 2 GWB sieht für die Vorteilsabschöpfung durch die Kartellbehörde vor, dass diese entfällt, sofern der wirtschaftliche Vorteil durch Schadenersatzleistungen oder durch die Verhängung der Geldbuße oder die Anordnung des Verfalls abgeschöpft ist. Soweit das Unternehmen Leistungen auf Schadenersatz erst nach der Vorteilsabschöpfung erbringt, ist der abgeführte Geldbetrag in Höhe der nachgewiesenen Zahlungen an das Unternehmen, den Kartellanten, zurückzuerstatten. c) Attraktivitätsverlust der Leniency-Programme für Kartellmitglieder Aus Sicht der Kartellbehörden ist zu vermeiden, dass ein potenzieller Kronzeuge, der von einem Leniency-Programm Gebrauch machen möchte, diese Möglichkeit nicht nutzt, weil er die Zahlung erheblicher Schadenersatzbeträge befürchten muss, wenn ihn Private in Anspruch nehmen. In den USA hat diese Überlegung zur Einschränkung der zivilrechtlichen Haftung für kooperationsbereite Kartellanten geführt. Kläger sind nur noch zu einfachem Schadenersatz berechtigt, wenn der Beklagte vom Justizministerium Straffreiheit zugesichert bekommen hat. Das Diskussionspapier des Bundeskartellamts erwägt, in Anlehnung an die US-amerikanische Rechtsentwicklung, die Haftung der Kartellanten bei Teilnahme an Leniency-Programmen auf Ansprüche der eigenen Vertragspartner zu beschränken. Dies würde allerdings einen sehr weitgehenden Eingriff in die Klagebefugnis der indirect purchasers bedeuten. Der Verfasser muss zugeben, dass er den Leniency-Programmen im Kartellbußgeldrecht schon allein, weil ihnen eine gesetzliche Legitimation fehlt, ablehnend gegenübersteht. Eine derart weit reichende Privilegierung von „Kronzeugen“, wie sie das Bundeskartellamt vorsieht, wäre verfassungsrechtlich zumindest bedenklich. Folgen könnte man den Vorschlägen des Bundeskartellamts, dass Unterlagen, die ein Leniency-Antragsteller übermittelt hat, dahingehend privilegiert werden, dass sie von der Kartellbehörde im Rahmen der Akteneinsicht regelmäßig nicht an Dritte herausgegeben werden. Im deutschen Recht könnte dies über eine entsprechende Ermessensausübung in den §§ 406 e, 475 StPO erfolgen. 46

Hempel, WuW 2005, 137, 145.

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IV. Verfahrensrechtliche Fragen und anwendbares Recht Zur Beurteilung der Effektivität der Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen durch Private ist nicht nur auf den eigentlichen Inhalt des Kartellrechts abzustellen, sondern auch auf das Umfeld. Hierbei sind in erster Linie Fragen der Zuständigkeit der Gerichte und der Durchsetzung im Prozess anzusprechen, dann aber auch Fragen des anwendbaren Rechts: welches Kartell- und welches Deliktsrecht als Grundlage des Kartellrechts sind zu beachten? 1. Zuständigkeit der Gerichte Für die Bestimmung der internationalen Entscheidungszuständigkeit bei unerlaubten Handlungen sind im europäischen Rechtsverkehr die Vorschriften der „Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO)“, und dort insbesondere Art. 5 Nr. 3 EuGVVO, maßgebend.47 Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift kann der Geschädigte vor dem Gericht des Ortes klagen, an dem das schädigende Ereignis eingetreten ist. Für unerlaubte Handlungen, zu denen Kartellverstöße nach Übereinstimmung aller wesentlichen Rechtsordnungen gehören, gilt das sog. „Tatort-Prinzip“. Das ist sowohl der Ort der Rechtsgutsverletzung (sog. „Erfolgsort“) als auch der Ort des ursächlichen Geschehens (sog. „Handlungs- oder Begehungsort“).48 Im Ergebnis bietet sich somit für einen klagewilligen Geschädigten eines Kartells eine doch recht breite Palette von Gerichtsständen, jedenfalls soweit ein Kartell grenzüberschreitend tätig war. Hier gibt es durchaus Möglichkeiten zum Forum-Shopping, die auch von deutschen Unternehmen schon genutzt worden sind.49 2. Besondere Klageformen Die Effektivität der Durchsetzung des Kartellrechts durch Private in den USA ist auch dadurch gekennzeichnet, dass class actions möglich sind, also Sammelklagen verschiedener Geschädigter, die im Regelfall von einer Rechtsanwaltskanzlei vertreten werden. Hiermit soll das ordnungspolitische Dilemma bei Kartellen gelöst werden, deren Abnehmer Verbraucher sind: der Einzelne erleidet nur einen relativ geringen Schaden, der Gesamtschaden 47

VO EG Nr. 44/2001, ABl. 2001 Nr. L12/1. EuGH, 30.06.1976, Rs. 21/76, Slg. 1976, 1735, Rn. 15 und 19 – Handelskwekerij GJ BV/Mines de Potasse d’ Alsace S.A. 49 Provimi Ltd. v. Aventis Anamel Nutrition SA and other actions [2003] EWHC 961 (Comm.). 48

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ist wegen der Vielzahl der Geschädigten doch sehr hoch. Der einzelne Geschädigte kann es als sinnlos empfinden, wegen seines geringen Schadenersatzes und wegen eines möglicherweise hohen Prozessrisikos Klage zu erheben. Class actions ermöglichen es einzelnen Klägern, stellvertretend für eine Gruppe Betroffener zu klagen. Class actions amerikanischen Zuschnitts werden in Deutschland eher kritisch gesehen.50 Der deutsche Gesetzgeber hat im Rahmen der Möglichkeiten des deutschen Zivilprozessrechts Verbandsklagen in § 33 Abs. 2 GWB vorgesehen. Der deutsche Gesetzgeber hat sich entgegen dem Regierungsentwurf zur 7. GWB-Novelle aber nicht dazu durchringen können, Verbandsklagen der Verbraucherverbände vorzusehen. Das Bundeskartellamt steht den Verbraucher-Verbandsklagen eher positiv gegenüber, besonders dann, wenn sich die Verbände nicht auf bereits von der Kartellbehörde geahndete Verstöße konzentrieren würden.51 Hinsichtlich des Prozessrisikos eines klagewilligen Kartellgeschädigten kennt das US-amerikanische Recht in Gestalt der contingency fees (Erfolgshonorar) einen sehr wirkungsvollen Anreiz zur Klagerhebung sowohl für den Klagewilligen als auch für die Anwälte (sog. plaintiff bar). Das Erfolgshonorar beträgt oft um die 30 Prozent, im Fall des Unterliegens erhält der Anwalt kein Honorar und der Beklagte, also der Kartellant, kann seine Kosten bei Obsiegen nicht erstattet bekommen. Der deutsche Gesetzgeber hat in § 89 a GWB eine bemerkenswerte Regelung gefunden, die im Ergebnis eine Art „Mini-Erfolgshonorar“ ist.52 Wenn die Belastung mit den Prozesskosten nach dem vollen Streitwert nach wirtschaftlicher Lage des Klägers diesem nicht zuzumuten ist, kann das Gericht den Streitwert herabsetzen. Das Kostenrisiko der klagenden Partei bestimmt sich dann bei Unterliegen nur nach diesem geringeren Streitwert. Wenn allerdings der Kläger obsiegt, kann sein Rechtsanwalt seine Gebühren aus dem im Regelfall höheren für den Beklagten geltenden Streitwert festsetzen lassen. 3. Anwendbares Recht Zur Ermittlung des anwendbaren Rechts ist auf die Vorschriften des Internationalen Privatrechts (IPR) zurückzugreifen, und zwar auf die Vorschriften des am Gerichtsort geltenden IPR. Für Deutschland ist dies Art. 40 EGBGB, der das Recht des Staates für anwendbar erklärt, in dem der Kartellant gehandelt hat (Tatort-Prinzip). Bei Wettbewerbsverstößen ist dies nach der Rechtsprechung der Marktort, wo die wettbewerbsrechtlichen Interessen 50 51 52

Möschel, WuW 2006, 115, spricht von Erpressung. Diskussionspapier des Bundeskartellamts, S. 30, insbesondere Fn. 98. Kahlenberg/Haellmigk, BB 2005, 1509, 1515.

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der Konkurrenten aufeinander treffen und damit Handlungs- und Erfolgsort zusammenfallen.53 Das GWB enthält in § 130 Abs. 2 eine eigene Kollisionsnorm. Danach findet das GWB auf alle Wettbewerbsbeschränkungen Anwendung, die sich im Geltungsbereich des GWB auswirken. Diese Bestimmung führt tendenziell eher zur Anwendung des GWB als das Tatort-Prinzip. Nach wohl überwiegender Auffassung verdrängt § 130 Abs. 2 GWB Art. 40 EGBGB.54 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften bemüht sich seit Längerem um eine Vereinheitlichung zumindest der Regeln des IPR für das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anwendbare Recht. Interessanterweise haben diese Bemühungen der Generaldirektion Binnenmarkt durch die Diskussionen im Kartellrecht über einen möglichst effektiven Rechtsschutz durch Private auch einen Schub bekommen. Es ist die Generaldirektion Wettbewerb, die nunmehr diese Überlegungen vorantreibt. Nach dem Vorschlag für eine Verordnung über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Stichwort: Rom II) 55 ist nach der Grundnorm des Art. 3 des Entwurfs das Recht des Staates anzuwenden, in dem der Schaden eintritt oder einzutreten droht. Wenn die Person, deren Haftung geltend gemacht wird, und der Geschädigte zum Zeitpunkt des Schadenseintritts ihren gewöhnlichen Aufenthalt im selben Staat haben, unterliegt das außervertragliche Schuldverhältnis dem Recht dieses Staates. Diese Bestimmung entspricht im Übrigen Art. 40 Abs. 2 Satz 1 EGBGB. Art. 5 des Entwurfs sieht eine Sonderregel für außervertragliche Schuldverhältnisse, die aus einem unlauteren Wettbewerbsverhalten entstanden sind, vor. Es gilt das Recht des Staates, in dessen Gebiet die Wettbewerbsbeziehungen oder die kollektiven Interessen der Verbraucher unmittelbar und wesentlich beeinträchtigt worden sind oder beeinträchtigt werden könnten. Diese Bestimmung soll auf Verstöße gegen Art. 81, 82 EG oder die entsprechenden nationalen Vorschriften angewandt werden. Da in Europa bisher die dem GWB entsprechenden nationalen Vorschriften nur sehr selten von ausländischen Gerichten angewandt worden sind, stellen sich für die Zukunft hier erhebliche Qualifikationsprobleme. Wenn also z.B. ein ausländisches IPR deutsches Delikts- und damit auch Kartellrecht für anwendbar erklärt, ist die Frage, welche Vorschriften des GWB tatsächlich zur Anwendung kommen. Das GWB enthält eine ganze Reihe von verfahrensorientierten Vorschriften, die von einem ausländischen Gericht nicht ohne Weiteres angewandt werden können bzw. nicht sollen, auch wenn grundsätzlich deutsches Recht gilt. Dies gilt z.B. für § 33 Abs. 4 GWB, der doch sehr auf deutsche Gerichte zugeschnitten ist. Es wäre wahr53 54 55

BGHZ 113, 11, 15. Rehbinder in: Immenga/Mestmäcker, GWB, 3. Aufl., 2001, § 130 Abs. 2 Rn. 7. Komm. (2003) 427 endg.

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scheinlich eine Zumutung für ausländische Gerichte, wenn diese auf Anordnung des deutschen Gesetzgebers Entscheidungen von Kartellbehörden dritter Staaten für ihr Verfahren mit einer auf Schadenersatz gerichteten Klage als bindend ansehen sollten.

V. Fazit und Ausblick Das Thema der Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen durch Private im Kartellrecht ist immer noch oder wieder so aktuell wie zu dem Zeitpunkt, als sich der Jubilar sehr intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt hat. Der Auftrag, den der Europäische Gerichtshof in seinem Courage-Urteil erteilt hat, nämlich die Durchsetzung des Kartellrechts durch Private zu verbessern bzw. diese zu ermöglichen, ist bindend. Bei allen Bemühungen der verschiedenen Institutionen und Mitgliedstaaten ist aber auf einen wesentlichen Aspekt hinzuweisen, der sich dem Courage-Urteil entnehmen lässt: die entsprechenden Maßnahmen zur Verbesserung der Effektivität des Rechtsschutzes sind von den Mitgliedstaaten zu treffen. Dies entspricht auch dem Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 EG. An dieser Vorgabe sollten die Mitgliedstaaten festhalten und sich nicht das Heft von der Kommission aus der Hand nehmen lassen, die hier offenbar eine möglichst weitgehend uniforme Europa-einheitliche Lösung anstrebt. Dies ist nicht unbedingt im Interesse der Mitgliedstaaten. Auch wenn es Diskussionen über ein einheitliches europäisches Zivilgesetzbuch gibt, so sollten die Mitgliedstaaten nicht ihre Kompetenzen für die Ausgestaltung ihres Zivilrechts unter dem Druck der Kommission abgeben. Es gibt sicherlich für den Binnenmarkt und dessen Funktionieren wesentlichere Rechtsgebiete als das Kartellrecht, in denen eine Vereinheitlichung von Rechtsregeln in den Mitgliedstaaten notwendig wäre. Blickt man auf die Bemühungen des deutschen Gesetzgebers, so ist nach Ansicht des Verfassers ein ausreichend effektiver Rechtsschutz durchaus erreicht. Nachholbedarf besteht in erster Linie im Bereich der Beweiserleichterungen für das Vorliegen eines Kartells und auch für die Kausalität der kartellrechtswidrigen Absprachen für den Schaden. Hier ist allerdings in erster Linie die Rechtsprechung gefordert, die nach Art. 10 EG ebenfalls zur Einhaltung der EG-rechtlichen Vorgaben, die der EuGH in seinem CourageUrteil zum Ausdruck gebracht hat, verpflichtet ist. Was die prozessuale Ausgestaltung angeht, so könnten die Möglichkeiten durch die Einführung einer Verbraucherverbandsklage verbessert werden, zu denken wäre aber auch an die Übernahme zumindest der Grundgedanken des Gesetzes zur Einführung von Kapitalanleger-Musterverfahren.56 Dies 56

BGBl. 2005 I 2437.

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würde es klagewilligen Geschädigten, insbesondere bei den Streuschäden, bei denen viele Verbraucher betroffen sind, ermöglichen, die Kräfte auch hinsichtlich des Prozesskostenrisikos zu bündeln und ein Verfahren als Musterverfahren durchzuführen. Diese Entwicklung wäre sicherlich für die Rechtskultur förderlicher als die sich jetzt anbahnende Entwicklung hin zu einer Kommerzialisierung von Schadenersatzansprüchen durch gewerbliche Unternehmen wie etwa die belgische Gesellschaft Cartel Damage Claims (CDC).

Die kartellrechtliche Beurteilung von Marktinformationsverfahren nach neuem GWB Lothar Vollmer Inhaltsübersicht I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die kartellrechtlichen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Entscheidungspraxis zum deutschen Kartellrecht . . . . . . . . . . . 2. Die Entscheidungspraxis zum europäischen Kartellrecht . . . . . . . . . 3. Folgerungen für die Kartellkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der wettbewerbspolitische Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. MIV als Erscheinungsform von Märkten für homogene Massengüter . . 2. MIV als Gegenstand wettbewerbstheoretischer Überlegungen . . . . . . IV. Die kartellrechtliche Beurteilung von MIV . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Spürbarkeit der durch ein MIV bewirkten Wettbewerbsbeschränkungen 2. Zulässigkeit der durch ein MIV bewirkten Wettbewerbsbeschränkungen a) Freistellungsmöglichkeiten für MIV nach altem GWB . . . . . . . . b) Legalisierung von MIV nach neuem GWB . . . . . . . . . . . . . . . V. Ergebnis und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einführung Die kartellrechtliche Beurteilung von Marktinformationsverfahren (MIV) ist seit vielen Jahren Gegenstand einer umfangreichen Entscheidungstätigkeit der deutschen und europäischen Kartellbehörden und Gerichte. Sie wird begleitet von kontrovers geführten wissenschaftlichen Diskussionen. Das hat verschiedene Gründe. Zum einen ist es schwierig, die wettbewerblichen Wirkungen von MIV sachgerecht zu erfassen. Zum anderen gab bzw. gibt es weder im deutschen noch im europäischen Kartellrecht einschlägige Spezialvorschriften mit entsprechenden Zulässigkeitskriterien. Es verwundert deshalb nicht, dass sich die kartellrechtliche Beurteilung von MIV seit dem Inkrafttreten des GWB vor nunmehr fast 50 Jahren zum Teil grundlegend geändert hat und sich möglicherweise auf der Grundlage des neuen, europäisierten GWB im Hinblick auf die danach auslegungsrelevante Entscheidungspraxis der EG-Kommission und des EuGH erneut ändern wird. Eine

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entsprechende Umorientierung könnte vor allem dort notwendig sein, wo MIV zur Erhaltung und Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen errichtet werden und insoweit auch tatsächlich geeignet sind. Solche MIV könnten künftig u.U. selbst dann, wenn dadurch der Wettbewerb zumindest spürbar beeinträchtigt wird und somit ein Verstoß gegen das Kartellverbot des § 1 GWB vorliegt, nach der generalklauselartig gefassten Legalausnahme von § 2 GWB n.F. zulässig sein. Aktuelle Entwicklungen in der Wirtschaftspraxis geben Anlass, vor allem dieser Frage bei der Beurteilung von MIV nach neuem GWB nachzugehen. Zu einer sachgerechten Behandlung der angesprochenen Problematik kommt man allerdings nur dann, wenn neben den kartellrechtlichen Grundlagen auch der wettbewerbspolitische Hintergrund, und, nicht zuletzt, die Erkenntnisse der Wettbewerbstheorie in die Beurteilung mit einbezogen werden. Ein methodisches Vorgehen dieser Art wird an der Universität Hohenheim seit langem in der vom Verfasser mitbegründeten interdisziplinären Forschungsstelle für Wettbewerbspolitik und Wirtschaftsrecht praktiziert, wenn es um wettbewerbliche Fragestellungen geht. Der Jubilar hat die Arbeit dieser Forschungsstelle in vielfältiger Weise unterstützt und gefördert, nicht zuletzt durch seine wertvollen Beiträge bei Seminaren oder Vortragsveranstaltungen. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch seine langjährige Lehrtätigkeit an der Universität Hohenheim, die u.a. Vorlesungen zum Wettbewerbsrecht zum Gegenstand hat. Die vorliegenden Untersuchungen verstehen sich deshalb als Dank an einen geschätzten Kollegen, dem sich der Verfasser persönlich verbunden fühlt.

II. Die kartellrechtlichen Grundlagen Da einschlägige Spezialvorschriften fehlen, bilden seit jeher die allgemeinen Normen der Kartellgesetze die Grundlagen für die Beurteilung von MIV. Die einschlägige Entscheidungspraxis der Kartellbehörden und Gerichte, die sich auf diesen Grundlagen entwickelte, ist hier für die spezifischen Zwecke der Untersuchungen nur grob zu skizzieren. Es geht dabei insbesondere darum aufzuzeigen, dass die europäische Entscheidungspraxis prinzipielle Unterschiede zur deutschen Entscheidungspraxis aufweist 1 und dass dies bei der künftigen Kartellkontrolle von MIV nach neuem GWB zu berücksichtigen ist.

1 Vgl. die instruktiven vergleichenden Nachweise von M. Dreher, Die wettbewerbsrechtliche Zulässigkeit der Information über Marktdaten, FIW-Schriftenreihe, Heft 150 (1992), S. 15ff. (16–26) und K. Stockmann, in: Wiedemann (Hrsg.), Handbuch des Kartellrechts, 1999, § 8, Rn. 237–242.

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1. Die Entscheidungspraxis zum deutschen Kartellrecht a) In Deutschland wurden MIV nach dem Inkrafttreten des GWB zunächst mehr als ein Jahrzehnt lang von den Kartellgerichten trotz aller dagegen von den Kartellbehörden erhobenen Zulässigkeitsbedenken toleriert. Dann vollzogen die Kartellgerichte eine schließlich auch höchstrichterlich durch den Bundesgerichtshof 2 mitgetragene prinzipielle Wende. Die Errichtung von sogenannten „identifizierenden MIV“ galt nunmehr – jedenfalls bei oligopolistischen Märkten mit homogenen Gütern – als ein Verstoß gegen § 1 GWB. Die Rechtsprechung machte sich dabei die Auffassung zu eigen, dass jedenfalls bei solchen produkt- und marktspezifischen Besonderheiten die Ausschaltung des Geheimwettbewerbs zu kartellrechtsrelevanten, d.h. zumindest spürbaren Wettbewerbsbeschränkungen führt. Das zur Verteidigung von MIV vorgebrachte Argument von der fehlenden Bindung der Vertragspartner in Bezug auf ihr Wettbewerbsverhalten wurde zurückgewiesen. Den vorläufigen Endpunkt dieser Entwicklung bildet die noch zum alten GWB ergangene Entscheidung des OLG Düsseldorf 3 zum sächsischen MIV der Transportbetonindustrie. Sie hält an der bisherigen Rechtsprechung fest und akzentuiert sie dahingehend, dass „ein Marktinformationssystem erst dann [unzulässig wird], wenn es seine Teilnehmer in die Lage versetzt, die sichtbar werdenden Marktbewegungen einem einzelnen Marktteilnehmer oder einem einzelnen Geschäftsvorgang zuzuordnen.“ Nicht-identifizierende MIV sind danach grundsätzlich zulässig, sofern an ihnen mindestens fünf gesellschaftsrechtlich unabhängige Unternehmen beteiligt sind und deshalb sowohl eine direkte als auch eine indirekte Identifizierung von bestimmten Geschäftspartnern und/oder Geschäftsinhalten ausgeschlossen erscheint. b) In der Literatur 4 ist die Ansicht vertreten worden, MIV, die zwar eine spürbare Beschränkung des Wettbewerbs bewirken, aber nicht den Leistungswettbewerb beschränken, sondern einem unlauteren und nichtleistungsgerechten Wettbewerb entgegenwirken, müssten kartellrechtlich für zulässig erachtet werden. Sie könnten der zulässige Inhalt von Wettbewerbsregeln nach §§ 24 ff. GWB a.F. sein. Das Bundeskartellamt hat dies ursprünglich ebenfalls für „u.U. möglich“ erachtet,5 später jedoch keine echte Freistellungsmöglichkeit gesehen aber immerhin zu erkennen gegeben, dass MIV mit positiven Wirkungen für den Wettbewerbsprozess und die Marktstruk-

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Beschluss vom 29.01.1975, WuW/E BGH 1337, 1341 f. „Aluminium-Halbzeug“. Beschluss vom 26.07.2002, WuW DE-R 949, „Transportbeton Sachsen“. 4 K. Markert, Legalisierung [von MIV] durch Wettbewerbsregeln?, DB 1964, S. 1500ff. Zustimmend B. Röper, Zur volkswirtschaftlichen Problematik der Marktinformationsverfahren in der Industrie der BRD, in: B. Röper/P. Erlinghagen (Hrsg.), Wettbewerbsbeschränkung durch Marktinformation, FIW-Schriftenreihe, Heft 65 (1974), S. 1ff. (98). 5 Vorwort zum Tätigkeitsbericht 1964, S. 8. 3

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tur nicht verfolgt werden. Es hat dazu u.a. ausgeführt: Hält das Amt ein MIV für unzulässig so „wird es im Einzelfall aufgrund des Opportunitätsprinzips prüfen, ob und inwieweit unter Berücksichtigung marktstruktureller Gesichtspunkte (z.B. der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit kleiner und mittlerer Unternehmen) von einer Untersagung abgesehen werden kann.“ 6 Ob und inwieweit entsprechend verfahren wurde, ist nicht ersichtlich. Und zum neuen GWB wurde bislang nicht geprüft, ob MIV mit positiven Wirkungen für den Wettbewerbsprozess und die Marktstruktur eventuell nach der in Anlehnung an Art. 81 Abs. 3 EGV normierten Legalausnahme des § 2 GWB eventuell doch zulässig sind. 2. Die Entscheidungspraxis zum europäischen Kartellrecht Die europäische Entscheidungspraxis folgt einer ähnlichen Argumentationslinie. Es gibt allerdings im Vergleich zur deutschen Entscheidungspraxis zwei wesentliche Unterschiede. a) Identifizierende MIV werden von der EG-Kommission und vom Europäischen Gerichtshof zwar ebenfalls für prinzipiell unzulässig erachtet. Es fehlt aber, soweit ersichtlich, an Entscheidungen, in denen ebenso eindeutig wie im Beschluss des OLG Düsseldorf 7 ausgeführt wird, dass nur solche MIV unzulässig sind. Es wird vielmehr in den einschlägigen Entscheidungen immer wieder betont, dass aus kartellrechtlicher Sicht eine einheitliche und pauschale Bewertung sämtlicher Erscheinungsformen von MIV nicht möglich ist, sondern eine Beurteilung aufgrund der Umstände des konkreten Einzelfalls erfolgen muss.8 Und eine solche Beurteilung kann, wie noch darzulegen sein wird, ergeben, dass auch nicht-identifizierende MIV gegen das Kartellverbot verstoßen und dass umgekehrt bei einem identifizierenden MIV ein entsprechender Verstoß zu verneinen ist. b) Noch wichtiger ist ein anderer Unterschied. Bei der europäischen Kartellkontrolle wird es seit langem für möglich erachtet, dass MIV, die eine gegen Art. 81 Abs. 1 EGV verstoßende Wettbewerbsbeschränkung bezwecken oder bewirken, nach Art. 81 Abs. 3 EGV gleichwohl zulässig sind.9 Kommission und Gerichtshof sind hier zwar sehr restriktiv verfahren und haben im Einzelfall i.d.R. das Vorliegen der konkreten Freistellungsvoraussetzungen verneint, z.B. bei MIV, die eine verbesserte Produktions- und

6 Bekanntmachung vom 24.01.1977 über die Zulässigkeit von MIV, BAnz. Nr. 22, S. 8 (abgedruckt bei Langen/Bunte, Kartellrecht, 9. Aufl., S. 2779). 7 Vgl. Fn. 3. 8 Vgl. z.B. EuGH Slg. 1998, II 1048 ff. „Gruber u. Weber“. 9 Vgl. die Nachweise bei M. Dreher, a.a.O (Fn. 1), S. 20, 21 u. K. Stockmann, in: Wiedemann (Hrsg.), Handbuch des Kartellrechts, § 8, Rn. 240.

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Absatzplanung ermöglichen 10 oder unlauteren Verhaltensweisen entgegenwirken sollten.11 Das ändert aber nichts daran, dass MIV im Rahmen der europäischen Entscheidungspraxis prinzipiell als freistellungsfähig (heute: legalisiert) angesehen werden und zwar namentlich dann, wenn es sich um MIV mit einem auf kleine und mittlere Unternehmen beschränkten Teilnehmerkreis handelt.12 Die Kommission lässt sich jedenfalls hier von der Überlegung leiten, dass MIV, die zur Erhaltung und Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen beitragen, nach Art. 81 Abs. 3 EGV freigestellt werden können bzw. als legalisiert angesehen werden müssen. 3. Folgerungen für die Kartellkontrolle Aus den genannten Gründen besteht in der Tat Anlass, dass man die kartellrechtliche Zulässigkeit von MIV neu überdenkt. Der Gesetzgeber will, dass die Kartellkontrolle nach dem neuen GWB bei Wettbewerbsbeschränkungen mit reinem Inlandsbezug genauso, d.h. weder strenger noch milder, ausgeübt wird als die Kartellkontrolle nach dem europäischen Kartellrecht.13 Die europäische Entscheidungspraxis zur Zulässigkeit von MIV ist deshalb, soweit sie von der deutschen Entscheidungspraxis abweicht, von vorrangiger auslegungsrelevanter Bedeutung bei der Anwendung der §§ 1ff. GWB n.F. Dabei sind namentlich auch die Leitlinien der EG-Kommission vom Jahre 2001 über die kartellrechtliche Behandlung von horizontalen Kooperationen zu berücksichtigen. Sie fordern ganz allgemein eine stärker an ökonomischen Kriterien orientierte Ausübung der Kartellkontrolle.14 Das macht es mehr denn je notwendig, dass der wettbewerbspolitische Hintergrund von MIV einschließlich der insoweit bestehenden wettbewerbstheoretischen Erkenntnisse in die Untersuchungen einbezogen wird.

III. Der wettbewerbspolitische Hintergrund 1. MIV als Erscheinungsform von Märkten für homogene Massengüter a) MIV gab und gibt es in den unterschiedlichsten Branchen.15 Sie sind jedoch eine typische Erscheinungsform von Märkten für homogene Massengüter, bei denen sich der Wettbewerb im Wesentlichen nur über den Preis 10

Komm. E. v. 08.09.1977, ABl. 1977, L 242/10 „Copelba/VNP“. Komm. E. v. 15.05.1974, ABl. 1974, L 160/1 „IFTRA-Verpackungsglas“. 12 Komm. E. v. 02.12.2986, ABl. 1987, L 3/17 „Fettsäuren“. 13 Vgl. R. Bechtold/M. Buntscheck, Die 7. GWB-Novelle und die Entwicklung des deutschen Kartellrechts 2003–2005, NJW 2005, S. 2966. 14 ABl. EG 2001/C 3, Nr. 7. 15 Vgl. die Nachweise bei B. Röper, a.a.O. (Fn. 4), S. 31 ff. 11

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abspielt.16 Die Beteiligten wollen dabei durch das MIV vor allem den Preiswettbewerb und gegebenenfalls auch das Investitions- und Produktionsverhalten beeinflussen.17 Das ist dort, wo der Preiswettbewerb der wesentliche oder gar der einzige Wettbewerbsparameter ist, aus wettbewerblicher Sicht auf der einen Seite sehr kritisch zu beurteilen. Auf der anderen Seite ist jedoch zu berücksichtigen, dass gerade bei den genannten Märkten der uneingeschränkte Preiswettbewerb sehr leicht in eine ruinöse Konkurrenz umschlagen kann. Ein solcher Umschlag ist namentlich in den sogenannten kapazitätssensiblen Branchen zu beobachten. Die Transportbetonindustrie, deren sächsisches MIV Gegenstand der Entscheidung des OLG Düsseldorf war, ist hierfür ein instruktives Beispiel. b) In der Transportbetonindustrie agieren die Unternehmen in Märkten mit einer aus der Bautätigkeit abgeleiteten Nachfrage, deren Gesamtmenge weitgehend preisunelastisch ist.18 Hinzu kommt, dass die Gesamtnachfrage bei den einzelnen Regionalmärkten, die es hier wegen der großen Transportkostenabhängigkeit gibt, i.d.R. sehr stark und unvorhersehbar schwankt. Dies führt tendenziell dazu, dass Überkapazitäten aufgebaut und in Zeiten einer rückläufigen Nachfrage nur zögerlich abgebaut werden. Als Folge kommt es immer wieder zu Formen einer ruinösen Konkurrenz, bei der Unternehmen, mit oder ohne Verdrängungsabsicht, oftmals nicht nur gelegentlich, sondern über längere Zeit hinweg erheblich unter den Selbstkosten verkaufen. In diesem wettbewerblichen Umfeld können sich vor allem kleine und mittlere Unternehmen nur schwer behaupten. Um solchen Funktionsstörungen und Marktstrukturverschlechterungen entgegenzuwirken, sind in den letzten Jahren für viele Regionalmärkte der Transportbetonindustrie nach dem Muster des sächsischen MIV nicht-identifizierende Informationssystem errichtet worden. Bei einigen von ihnen sorgen scharfe Kontrollen durch den MIV-Treuhänder für die Zuverlässigkeit der gemeldeten Daten. Die Unternehmen der Transportbetonindustrie folgen damit den Vorschlägen derjenigen, die die Errichtung von MIV schon vor Jahrzehnten als eine Selbsthilfemaßnahme der Wirtschaft zur Erhaltung und Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen bei den kapazitätssensiblen Märkten für

16 W. Stöver, Grenzlinien zwischen erlaubter Marktinformation und unzulässiger Wettbewerbsbeschränkung, FIW-Schriftenreihe, Heft 150 (1993), S. 45ff. (47). 17 B. Röper, a.a.O (Fn. 4), S. 43 ff. 18 Herdzina/Müller/Vollmer (Hrsg.), Die deutsche Transportbetonindustrie – eine betriebswirtschaftliche, volkswirtschaftliche und kartellrechtliche Untersuchung, 2003, Schriftenreihe des Bundesverbandes der deutschen Transportbetonindustrie e.V., Autoren: Teil 1, Ch. Müller, Ch. Nahr-Ettl, I. Haus; Teil 2, K. Herdzina, C. Wander; Teil 3, L. Vollmer (Gemeinschaftsgutachten), S. 24 ff., 86 ff. u. 152ff.; Vollmer, Kartelle, Kooperationen und neues GWB, 2005, Schriftenreihe des Bundesverbandes der deutschen Transportindustrie, S. 17ff.

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homogene Massengüter propagiert haben.19 Die Frage bleibt, ob MIV insoweit ein geeignetes und wettbewerbspolitisch erwünschtes Mittel sind. 2. MIV als Gegenstand wettbewerbstheoretischer Überlegungen MIV führen zu einer Erhöhung der Markttransparenz, wenn die rückgemeldeten Daten den teilnehmenden Unternehmen Informationen verschaffen, die sie sonst nicht oder nur mit erheblichen Kosten beschaffen könnten. Eine entsprechende Erhöhung kann unterschiedliche Wirkungen haben. Sie kann den Wettbewerb intensivieren und dazu führen, dass auf vorstoßenden Wettbewerb mit noch intensiverem nachziehenden Wettbewerb reagiert wird. Sie kann aber auch bewirken, dass vorstoßender Wettbewerb im Hinblick auf einen zu erwartenden nachziehenden Wettbewerb erst gar nicht stattfindet. Die Wettbewerbstheorie hat sich mit großem Forschungsaufwand bemüht herauszufinden, unter welchen Voraussetzungen bei MIV eher mit einer Intensivierung oder mit einer Beschränkung des Wettbewerbs zu rechnen ist. Dabei setzte sich immer mehr die Erkenntnis durch, dass sich insoweit nur sehr bedingt allgemeine „Mustervoraussagen“ machen lassen, sondern stets eine einzelfallbezogene Beurteilung notwendig ist, bei der neben der konkreten Ausgestaltung des jeweiligen MIV und der Zahl der teilnehmenden Unternehmen und ihrer nicht eingebundenen Konkurrenten alle sonstigen wettbewerbsbeeinflussenden Faktoren wie z.B. die Beschaffenheit der Produkte oder das Vorliegen einer bestimmten Marktstruktur oder Marktphase von Bedeutung sind.20 Ausgehend davon ergibt sich Folgendes. a) Es ist davon auszugehen, dass aus wettbewerblicher Sicht identifizierende MIV problematischer sind als nicht-identifizierende.21 Identifizierende MIV lassen nicht nur erkennen, dass überhaupt ein vorstoßender Wettbewerb stattgefunden hat, sondern ermöglichen es, den Urheber und die konkret getätigten Geschäftsvorfälle zu erkennen. Der „Störer“ ist hier deshalb der Gefahr von gegen ihn gerichteten unmittelbaren Reaktionen ausgesetzt. Die Konkurrenten können ganz gezielt nur den Kunden des „Preisbrechers“ günstigere Konditionen anbieten und ihn so erheb-

19 So namentlich von A. Sölter, Investitionswettbewerb und Investitionskontrolle, FIWSchriftenreihe, Heft 64 (1973), S. 64 ff. (70 ff.); ders., Überkapazitäten in der Marktwirtschaft, FIW-Schriftenreihe, Heft 91 (1980), S. 163 u. B. Röper, a.a.O. (Fn. 4), S. 96. 20 Vgl. statt aller B. Röper, a.a.O (Fn. 4), S. 11 ff., 31 ff.; G. Aberle, Ökonomische Bewertung von Transparenz oder Geheimhaltung der Marktdaten als Wettbewerbsparameter, FIW-Schriftenreihe, Heft 150 (1992), S. 1 ff. (4–12); Ch. Kirchner, Internetmarktplätze, Markttransparenz und Marktinformationssysteme, WuW 2001, S. 1030–1041, jeweils m.w.N. 21 Vgl. dazu und zum Folgenden insbesondere F. Wagner-von Papp, Wie „identifizierend“ dürfen Marktinformationsverfahren sein?, WuW 2005, S. 732–740, m.w.N.

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lich behindern oder im Extremfall sogar ganz vom Markt verdrängen und/ oder ihn mit sozialen Sanktionen belegen, indem sie ihn ausgrenzen. Solche Reaktionen sind im Vergleich zu allgemeinen Preissenkungen vergleichsweise billig. Deshalb müssen die über ein identifizierendes MIV feststellbaren Störer mit einiger Wahrscheinlichkeit damit rechnen, dass sie tatsächlich erfolgen. Da dies antizipiert wird und von Versuchen abschreckt, durch vorstoßenden Wettbewerb den Umsatz zu erhöhen, erscheint es in der Tat plausibel, wenn angenommen wird, dass identifizierende MIV den Wettbewerb i.d.R. zumindest spürbar, wenn nicht gar erheblich (gemessen an der bisherigen Wettbewerbsintensität), dämpfen. Bei nicht-identifizierende MIV werden lediglich aggregierte Durchschnittsmengen und Durchschnittspreise für ein bestimmtes Gebiet an die einzelnen Teilnehmer rückgemeldet. Die Teilnehmer können hier nur allgemeine Marktbewegungen erkennen und darauf auch nur mit generellen, i.d.R. relativ kostenerheblichen Preissenkungen reagieren. Die Abschreckungswirkungen eines nicht-identifizierenden MIV gegenüber potentiellen Preisbrechern sind deshalb geringer als die eines identifizierenden MIV. Bei typisierender Betrachtung ist deshalb davon auszugehen, dass nicht-identifizierende MIV i.d.R. nicht einmal zu einer spürbaren Beeinträchtigung des Wettbewerbs führen. Eine solche Beeinträchtigung des Wettbewerbs kann jedoch auch hier ausnahmsweise dann eintreten, wenn der Preisbrecher damit rechnen muss, dass sein Preisverhalten zum Preiskampf aller gegen alle führt und ihm dadurch langfristig die kurzfristigen Erfolge eines vorstoßenden Wettbewerbs verloren gehen. Dies ist u.a. dann zu befürchten, wenn das MIV relativ zeitnah aufdeckt, dass ein, wenn auch nicht-identifizierbarer, vorstoßender Wettbewerb stattgefunden hat und die Beteiligten wegen der jeweiligen produkt- und marktspezifischen Besonderheiten ihrer Branche ein erhebliches Interesse daran haben, dass ein solcher Wettbewerb unterbunden wird. b) Starke Abschreckungswirkungen haben die MIV, die in den hier besonders interessierenden kapazitätssensiblen Branchen für homogene Massengüter errichtet werden. Wegen der preisunelastischen Gesamtnachfrage führt vorstoßender Preiswettbewerb mit entsprechenden individuellen Umsatzsteigerungen zwangsläufig zu Umsatzeinbußen anderer Unternehmen. Allein schon aus diesem Grund muss ein Preisbrecher, dessen Verhalten – identifizierend oder nicht – zeitnah durch ein MIV aufgedeckt wird, hier mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit mit Preisreaktionen seiner Konkurrenten rechnen. Noch höher ist die Wahrscheinlichkeit, wenn der vorstoßende Wettbewerb zu einem Zeitpunkt erfolgt, wo die meisten Unternehmen wegen momentan bestehender Überkapazitäten bereits ohne Gewinn nur noch zu den Selbstkosten oder gar darunter verkaufen (können). Denn gerade in einer solchen Situation werden die betroffenen Unternehmen im

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Preiswettbewerb keine Kosten scheuen, um den Störer zu disziplinieren, damit verhindert wird, dass es dauerhaft zu einer ruinösen Konkurrenz zu ihren Lasten kommt. Sie werden hier deshalb, wenn sich über das MIV nur der vorstoßende Wettbewerb, nicht aber der konkrete Störer feststellen lässt, u.U. sogar in einen allgemeinen Preiskrieg eintreten. Unter den genannten Umständen kann daher auch ein nicht-identifizierendes MIV Abschreckungswirkungen haben, die zu einer spürbaren Beschränkung des Wettbewerbs führen. Und ein identifizierendes MIV würde in einer solchen Marktsituation den Wettbewerb wahrscheinlich sogar erheblich beschränken. c) Weitergehende Wettbewerbsbeschränkungen können jedoch nicht einfach unterstellt werden. Es kann jedenfalls nicht ohne weiteres angenommen werden, dass die Vereinbarungen zur Errichtung eines MIV in Wahrheit zugleich eine Abstimmung über ein Preisverhalten auf hohem Niveau enthalten und deshalb praktisch ähnliche wettbewerbsbeschränkende Wirkungen bezwecken oder bewirken wie ein vertraglich abgestütztes Preiskartell.22 MIV sind i.d.R. auch nicht geeignet, in sonstiger Weise dauerhaft stabile Märkte zu schaffen, die durch das Fehlen wesentlichen Wettbewerbs gekennzeichnet sind. Dies ist selbst dann nicht ohne weiteres der Fall, wenn es um kapazitätssensible Branchen mit homogenen Massengütern geht und sich alle oder die meisten der relevanten Marktteilnehmer an dem identifizierenden MIV beteiligen.23 Es kann nämlich vielfältige Umstände geben, die einem wirtschaftsfriedlichen Verhalten entgegenwirken. Ein dauerhaft solidarisches Verhalten kann namentlich dann nicht erwartet werden, wenn zwischen den an einem MIV beteiligten Unternehmen in Bezug auf Größe, Eigentümerstruktur, Marktanteil, Verflechtung mit anderen Unternehmen oder in Bezug auf die Beschaffungs- und Absatzmöglichkeiten erhebliche unternehmensstrukturelle Unterschiede bestehen. Hier muss vielmehr damit gerechnet werden, dass die jeweiligen Anteilseigner und Unternehmensleitungen unterschiedliche marktstrategische Zielsetzungen haben und diese im Laufe der Zeit trotz der Reaktionen, die von den sonstigen Beteiligten des MIV oder anderen Marktteilnehmern zu erwarten sind, auch tatsächlich zu realisieren versuchen. In den kapazitätssensiblen Branchen für homogene Massengüter wirken außerdem die Nachfrageschwankungen keineswegs nur solidarisierend, sondern z.T. sogar sehr stark entsolidarisierend. Sie befördern, in der Praxis beobachtbar,24 selbst bei oligopolistisch geprägten Marktstrukturen Preiskämpfe einzelner Unterneh-

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Ebenso Ch. Kirchner, WuW 2001, S. 1034. Kritisch gegenüber entsprechenden, auf die Oligopoltheorie gestützten Annahmen auch B. Röper, a.a.O (Fn. 4), S. 75 ff. (92). 24 Vgl. „Gemeinschaftsgutachten“, a.a.O (Fn. 18), S. 36 ff. 23

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men um Marktanteile, die angesichts der damit verbundenen Wettbewerbskosten irrational anmuten. Auch eine aktuelle oder potentielle Außenseiterkonkurrenz von nicht in das MIV eingebundenen Unternehmen kann einem dauerhaft wirtschaftsfriedlichen Verhalten der am MIV Beteiligten erheblich entgegenwirken. d) Festzuhalten bleibt: MIV führen i.d.R. nicht zu Märkten, die ohne wesentlichen Wettbewerb sind, sondern beeinträchtigen den Wettbewerb allenfalls spürbar oder erheblich. Bei nicht-identifizierenden MIV kommt es zu solchen Wettbewerbsbeschränkungen ohnehin nur unter besonderen Marktbedingungen, z.B. in den kapazitätssensiblen Branchen für homogene Massengüter. Sie dürften hier im allgemeinen auch nur einer ruinösen Konkurrenz entgegenwirken. Identifizierende MIV führen dagegen i.d.R. zu stärkeren Wettbewerbsbeschränkungen, die selbst bei Märkten mit den genannten produkt- und marktspezifischen Besonderheiten nicht (nur) eine ruinöse Konkurrenz dämpfen, sondern den Leistungswettbewerb einschränken.

IV. Die kartellrechtliche Beurteilung von MIV Der Blick auf den wettbewerbspolitischen Hintergrund zeigt, dass bei der kartellrechtlichen Beurteilung von MIV stärker als bisher zu differenzieren ist. Man muss sich von einem schematischen, rein begriffsjuristischen Denken in den Kategorien „identifizierendes MIV“ oder „nicht-identifizierendes MIV“ lösen und sich unter Mitberücksichtigung von allen sonstigen wettbewerbsbeeinflussenden Faktoren wieder stärker an den gesetzlichen Vorgaben orientieren. Dabei ist, wie auch sonst, auf einer ersten Stufe zu prüfen, ob – intensitätsmäßig gesehen – eine zumindest spürbare Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezweckt oder bewirkt wird und somit ein Verstoß gegen § 1 GWB vorliegt. Falls dies so ist, muss auf der zweiten Stufe geklärt werden, ob das an sich verbotene Verhalten nicht gleichwohl ausnahmsweise nach § 2 GWB zulässig ist, weil es zu einer Erhaltung und Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen führt. 1. Spürbarkeit der durch ein MIV bewirkten Wettbewerbsbeschränkungen Bei der Spürbarkeitsprüfung ist die Unterscheidung von identifizierenden MIV und nicht-identifizierenden MIV durchaus von Bedeutung, weil bei einer typisierenden Betrachtung erstere für den Wettbewerb gefährlicher sind als letztere.25 Dies ermöglicht eine sachgerechte Beweislastverteilung zwi-

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Vgl. oben zu Fn. 21.

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schen den Kartellbehörden (sowie den Unternehmen und Verbänden, die private Ansprüche geltend machen wollen) einerseits und den am MIV beteiligten Unternehmen andererseits. Bei identifizierenden MIV ist grundsätzlich von einer spürbaren Wettbewerbsbeschränkung auszugehen. Deshalb müssen hier die am MIV beteiligten Unternehmen nachweisen, dass ausnahmsweise nicht einmal spürbare Wettbewerbsbeschränkungen bezweckt oder bewirkt werden. Sie können z.B. den Nachweis versuchen, dass das MIV keine wirklich geheimen Daten vermittelt oder nur solche, die unter den gegebenen Marktbedingungen keine relevanten Abschreckungswirkungen haben. Bei nicht-identifizierenden MIV müssen dagegen die Kartellbehörden sowie die betroffenen bzw. klagebefugten Unternehmen oder Verbände beweisen, dass es durch die konkrete Ausgestaltung und Praktizierung des MIV angesichts der produkt- und marktspezifischen Besonderheiten der jeweiligen Branche ausnahmsweise doch zu spürbaren Wettbewerbsbeschränkungen kommt. Da solche MIV oftmals nur einer ruinösen Konkurrenz entgegenwirken, stellt sich jedoch gerade hier die Frage nach der kartellrechtlichen Zulässigkeit. 2. Zulässigkeit der durch ein MIV bewirkten Wettbewerbsbeschränkungen MIV, die zu einer spürbaren Wettbewerbsbeschränkung führen, können in der Tat zulässig sein, wenn sie zu einer Erhaltung und Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen beitragen. Die Ersetzung der Einzelfreistellungstatbestände des alten GWB durch die generalklauselartig gefasste Legalausnahme des neuen GWB hat insoweit eine andere Beurteilungsgrundlage geschaffen. a) Freistellungsmöglichkeiten für MIV nach altem GWB Die Einzelfreistellungstatbestände des alten GWB waren schwerpunktmäßig auf Rationalisierungskartelle zugeschnitten (vgl. §§ 2ff. GWB a.F.). Das wettbewerbspolitische Bedürfnis für eine Zulassung von Wettbewerbsbeschränkungen, die zu einer Erhaltung und Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen führen, war nur in bestimmten Sondervorschriften anerkannt worden. Zu nennen sind der Freistellungstatbestand für Strukturkrisenkartelle (§ 6 GWB a.F.), die Regelungen über Mittelstandseinkaufskartelle und Mittelstandsempfehlungen (§ 4 Abs. 2 GWB a.F. und § 22 Abs. 2 GWB a.F.) sowie die Vorschriften über die Zulässigkeit von verbandsmäßig aufgestellten Wettbewerbsregeln (§§ 24 ff. GWB a.F.). In all diesen Fällen wurden unter bestimmten, gesetzlich näher konkretisierten Voraussetzungen nicht-rationalisierende Absprachen und Abstimmungen, die sich u.U. allein auf Preise, Mengen, Quoten usw. beziehen konnten, zugelassen, um einem übersteigerten, nicht leistungsgerechten Verdrängungswettbewerb entgegenzu-

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wirken.26 Sie sollten u.a. möglich sein, um einen im Wettbewerb notwendigen Strukturwandel, der sich im konkreten Fall zu rasch vollzieht und dadurch einen überstürzten, übermäßigen Konzentrationsprozess begünstigt, zu verlangsamen. Es ging dabei nicht zuletzt um einen wettbewerblichen Mittelstandsschutz mit dem Ziel der Erhaltung wettbewerblicher Marktstrukturen. Für MIV gab es keine gesetzlichen Sonderregelungen. Ihre Zulässigkeit blieb deshalb, wie dargelegt, umstritten. Auch der durch die 6. GWB-Novelle (1998) eingefügte Auffangtatbestand des § 7 GWB a.F. wurde nicht nutzbar gemacht, obwohl der BGH 27 darin eine Grundlage für die Freistellung von Aufholkooperationen sah, die, wie die Aufholfusionen (vgl. § 24 Abs. 1 GWB a.F. = § 36 Abs. 1 GWB n.F.), zu einer Erhaltung und Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen führen. All dies braucht nicht weiter vertieft zu werden, weil heute eine Legalisierung von MIV nach § 2 GWB n.F. in Betracht kommt. b) Legalisierung von MIV nach neuem GWB Nach der in Anlehnung an Art. 81 Abs. 3 EGV generalklauselartig gefassten Legalausnahme von § 2 GWB n.F. können nicht nur solche Wettbewerbsbeschränkungen zulässig sein, die unmittelbar zu einer Verbesserung der Warenerzeugung und -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen. Es können vielmehr auch sonstige Wettbewerbsbeschränkungen legalisiert sein, wenn sie der Erhaltung und Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen dienen und deshalb (nur) mittelbar zu den vorstehend genannten wirtschaftlichen Vorteilen beitragen. Das ergibt sich teils aus dem Gesetz bzw. den Gesetzesmaterialien zum GWB und teils aus der auslegungsrelevanten europäischen Entscheidungspraxis zu Art. 81 Abs. 3 EGV. aa) Im Gesetz selbst sowie in den Gesetzesmaterialien ist ausdrücklich bestimmt, dass sich die Zulässigkeit von Wettbewerbsregeln sowie von Strukturkrisenkartellen, soweit diese gegen § 1 GWB verstoßen, nach § 2 GWB richten soll.28 In beiden Fällen geht es nicht darum, dass (unmittelbar) einzelwirtschaftliche Effizienzvorteile oder überbetriebliche Wohlfahrtseffekte erreicht werden, sondern zunächst in der Tat nur um die Erhaltung und Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen. Das zeigt, über die vom Gesetzgeber konkret angesprochenen speziellen Sachverhalte hinaus, dass die Erhaltung und Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen ein allgemei26 Ausführlich dazu L. Vollmer, in: „Gemeinschaftsgutachten“, a.a.O. (Fn. 17), S. 145ff., 162ff. u. S. 186ff. 27 Beschluss vom 09.07.2002, WuW 2002, S. 973 ff = NJW 2002, S. 3545ff. „Stellenmarkt für Deutschland II“. 28 Vgl. § 26 Abs. 2 GWB n.F. (Wettbewerbsregeln) u. Regierungsbegründung, BTDrucks. 15/3640, S. 27 (Strukturkrisenkartelle).

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ner Legalisierungsgrund i.S.v. § 2 GWB ist. Deshalb wird es z.B. – zu Recht – auch für möglich erachtet, dass Mittelstands(Preis-)Empfehlungen, wenn und soweit sie eine gegen § 1 GWB verstoßende Abstimmung enthalten, nach § 2 GWB legalisiert sind.29 bb) In der für § 2 GWB auslegungsrelevanten europäischen Entscheidungspraxis ist ebenfalls anerkannt, dass die Erhaltung und Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen ein allgemeiner Freistellungs- (bzw. Legalisierungs-)Grund i.S.v. Art. 81 Abs. 3 EGV sein kann. Dies geschah namentlich bei der Beurteilung von Strukturkrisenkartellen.30 Für ein Strukturkrisenkartell der Backsteinindustrie begründete die Kommission 31 die Voraussetzungen von Art. 81 Abs. 3 EGV mit dem Nutzen für die Abnehmer, der darin besteht, dass sich diese langfristig einem gesunden Wirtschaftszweig mit wettbewerblichen Angebotsstrukturen gegenübersehen und kurzfristig weiterhin von der immer noch vorhandenen Konkurrenz unter den Kartellmitgliedern profitieren. Die Kommission stellte in der betreffenden Entscheidung fest, dass nicht nur bei einem konjunkturell bedingten einmaligen Nachfragerückgang (so § 6 GWB a.F.), sondern auch bei strukturell bedingten Überkapazitäten die Freistellung eines Strukturkrisenkartells nach Art. 81 Abs. 3 EGV in Betracht kommt. Im Rahmen der europäischen Kartellkontrolle wird also, jedenfalls soweit es um Strukturkrisenkartelle geht, klar gesehen, dass gerade bei den sogenannten kapazitätssensiblen Märkten für homogene Massengüter bestimmte nicht-rationalisierende Wettbewerbsbeschränkungen, die der Erhaltung und Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen dienen, die Voraussetzungen von Art. 81 Abs. 3 EGV erfüllen können. Für MIV wurde eine Freistellungsmöglichkeit nach Art. 81 Abs. 3 EGV ebenfalls prinzipiell anerkannt, insoweit allerdings, wie ebenfalls bereits dargelegt,32 sehr restriktiv verfahren. Diese Praxis kann jedoch dann nicht die Richtschnur sein, wenn es um Märkte geht, bei denen sich, strukturell bedingt, immer wieder ruinöse Konkurrenz zeigt. Hier müssen nicht nur Strukturkrisenkartelle, sondern auch MIV, die solchen Funktionsstörungen entgegenwirken, sowohl nach Art. 81 Abs. 3 EGV als auch nach § 2 GWB als zulässig angesehen werden, wenn im Einzelfall die konkreten Legalisierungsvoraussetzungen vorliegen. Einer solche Auslegung steht nicht entgegen, dass die Kommission das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EGV für uneingeschränkt anwendbar erklärt hat, wenn das Informationssystem der Bekämpfung von unlauteren Verhal29

R. Bechtold/M. Buntscheck, a.a.O. (Fn. 13), S. 2968. Vgl. die Nachweise bei K. Stockmann, in: Wiedemann (Hrsg.), Handbuch des Kartellrechts, § 8, Rn. 211–218. 31 Komm. E. v. 29.04.1994 – „Stichting-Baksteen“, ABl. 1994, L 131/15. 32 Vgl. oben II, 2. 30

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tensweisen dient.33 Diese Entscheidung hat zumindest für die Auslegung von § 2 GWB keine Relevanz, weil der deutsche Gesetzgeber insoweit mit dem Institut „Wettbewerbsregeln“, das ganz bewusst in Abweichung vom europäischen Kartellrecht im neuen GWB beibehalten wurde,34 andere Akzente gesetzt hat. Deshalb können nicht nur Wettbewerbsregeln, sondern auch andere Wettbewerbsbeschränkungen, die an sich gegen § 1 GWB verstoßen, nach § 2 GWB zulässig sein, wenn sie der Bekämpfung von Verhaltensweisen dienen, die den Grundsätzen eines lauteren und leistungsgerechten Wettbewerbs zuwiderlaufen und die wettbewerblichen Marktstrukturen zu zerstören drohen. Abgesehen davon muss berücksichtigt werden, dass solche Verhaltensweisen i.d.R. Formen einer ruinösen Konkurrenz sind, die nicht nur lauterkeitsrechtlich, sondern auch kartellrechtlich gesehen bedenklich wenn nicht gar unzulässig sein können. Soweit in bestimmten Branchen mit einer derartigen Konkurrenz zu rechnen ist, muss deshalb bei MIV ebenso wie bei der Beurteilung von Wettbewerbsregeln oder Strukturkrisenkartellen ernsthaft geprüft werden, ob die Voraussetzungen für eine Legalisierung nach § 2 GWB vorliegen. cc) Die Beweislast dafür, dass im Einzelfall die positiven und die negativen Legalisierungsvoraussetzungen vorliegen, haben grundsätzlich die am MIV beteiligten Personen. In Bezug auf die positiven Voraussetzungen (das Vorliegen eines auch verbraucherwirksamen Nutzens) ist der Nachweis zu führen, dass das MIV Formen einer ruinösen Konkurrenz entgegenwirkt. Hier kann der Nachweis genügen, dass in der Vergangenheit ohne das MIV wegen der produkt- und marktspezifischen Besonderheiten in Zeiten sinkender Nachfrage oder bei in sonstiger Weise entstandenen Überkapazitäten immer wieder zu beobachten war, dass einzelne Unternehmen nicht nur gelegentlich, sondern über längere Zeit hinweg erheblich unter den Selbstkosten verkauft haben. Solche Verhaltensweisen laufen unabhängig von einer Verdrängungsabsicht oder einem Missbrauch von Marktmacht den Grundsätzen eines lauteren und leistungsgerechten Wettbewerb zuwider und gefährden die Existenz wettbewerblicher Marktstrukturen. Dort, wo dies in der Vergangenheit nachweisbar zu beobachten war, muss auch für die Zukunft mit entsprechenden Funktionsstörungen gerechnet werden. Deshalb kann hier als bewiesen gelten, dass ein MIV wegen seiner Abschreckungswirkungen auf potentielle Preisbrecher den ruinösen Wettbewerb dämpft und zu einer Erhaltung und Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen führt und dass dies auch der Marktgegenseite nützt. Bei der Prüfung der negativen Voraussetzungen geht es um die Frage, ob 33

Vgl. oben zu Fn. 10. Näher dazu M. Karl/D. Reichelt, Die Änderungen des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen durch die 7. GWB-Novelle, DB 2005, S. 1436ff. (1440). 34

Die kartellrechtliche Beurteilung von Marktinformationsverfahren

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durch das MIV nur unerlässliche Wettbewerbsbeschränkungen bezweckt oder bewirkt werden und ein hinreichender Restwettbewerb bestehen bleibt. Hier muss man wieder nach der Art des MIV differenzieren. Bei nicht-identifizierenden MIV, die allenfalls unter besonderen, nicht von den Beteiligten, sondern den Kartellbehörden zu beweisenden Umständen überhaupt zu einer spürbaren oder noch weitergehenden Wettbewerbsbeschränkung führen, dürften diese negativen Voraussetzungen i.d.R. gegeben sein. Bei einem identifizierenden MIV, das den Wettbewerb typischerweise stärker beschränkt, müssten die beteiligten Unternehmen dagegen konkret darlegen, dass wegen der produkt-, markt- und unternehmensspezifischen Besonderheiten ein entsprechendes System zur Ausschaltung ruinöser Konkurrenz geeignet und notwendig ist und gleichwohl der Leistungswettbewerb nicht übermäßig beschränkt wird. Dies kann z.B. dann als bewiesen gelten, wenn das MIV von kleinen und mittleren Unternehmen errichtet wurde, um sich gegen eine ruinöse aktuelle oder potentielle Konkurrenz von Großunternehmen zu wehren, die über besondere Ressourcen verfügen und spezifische marktstrategische Ziele verfolgen.

V. Ergebnis und Ausblick MIV müssen nach neuem GWB viel differenzierter beurteilt werden, als dies nach altem Kartellrecht der Fall war. Die Beurteilung darf sich nicht nur auf die Frage beschränken, ob das jeweilige Informationssystem nach der Art seiner inhaltlichen Ausgestaltung und nach den jeweiligen produkt-, marktund unternehmensspezifischen Gegebenheiten eine spürbare und damit nach § 1 GWB verbotene Wettbewerbsbeschränkung bezweckt oder bewirkt. Es muss vielmehr auch geprüft werden, ob das MIV nach § 2 GWB legalisiert ist. Das kann der Fall sein, wenn die durch das MIV erhöhte Markttransparenz eine sonst zu erwartende ruinöse Preiskonkurrenz dämpft und den Wettbewerb im Übrigen nicht übermäßig beschränkt. In einem solchen Fall liegt eine wettbewerbspolitisch erwünschte Wettbewerbsbeschränkung vor, die eine Erhaltung und Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen bewirkt und deshalb kartellrechtlich zulässig ist. Bei einer entsprechenden Kartellkontrolle von MIV nach § 1 und § 2 GWB spielt die Unterscheidung von identifizierenden und nicht-identifizierenden MIV eine erhebliche Rolle. Sie darf aber nicht zu schematischen Beurteilungen führen, wenn es darum geht, einen Verstoß gegen das Kartellverbot oder eine Legalisierung dieses Verstoßes festzustellen. Notwendig ist vielmehr eine differenzierende Beurteilung, die auch wettbewerbstheoretische Erkenntnisse und wettbewerbspolitische Überlegungen einbezieht und die besonderen Umstände des Einzelfalls berücksichtigt. Über die spezielle kartellrechtliche Problematik von MIV hinaus verdient

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der Aspekt, dass Legalisierungsgrund i.S. von § 2 GWB auch die Erhaltung und Verbesserung der Wettbewerbsbedingungen sein kann, stärkere Beachtung als bisher. Die generalklauselartig gefasste Legalausnahme eröffnet insoweit der Wirtschaft für Abstimmungen, die nicht die Rationalisierung wirtschaftlicher Vorgänge, sondern das Verhalten im Wettbewerb betreffen, größere Freiräume als diejenigen, die nach altem GWB bestanden.

Die Liberalisierung der Werbung für anwaltliche Dienstleistungen in Deutschland Rolf M. Winkler Inhaltsverzeichnis I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Historische Entwicklung des anwaltlichen Werberechts . . . . . . . . . . . . . 1. Schutz der Obrigkeit vor den Advokaten im 17. und 18. Jahrhundert . . . . 2. Werbeverbot zum Schutz der Standeswürde im 19. Jahrhundert . . . . . . . 3. Rechtsprechung der Ehrengerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Rigide Standesrichtlinien von 1929 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Bundesrechtsanwaltsordnung vom 1. August 1959 und die Grundsätze des anwaltlichen Standesrechts vom 21. Juni 1973 . . . . . . . . . . . . 6. Werbung für anwaltliche Dienstleistungen in den U.S.A. . . . . . . . . . . . III. Wende durch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1987 und die Berufsrechtsnovelle von 1994 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 1987 . . . . . . . 2. Weitere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit des damals bestehenden Werbeverbots . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verabschiedung des § 43 b BRAO mit der Berufsrechtsnovelle 1994 . . . . . IV. Die Anwaltswerbung nach neuem beruflichen Werberecht . . . . . . . . . . . 1. Verfassungsrechtliche Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Werbevorschriften des anwaltlichen Berufsrechts im Lichte des Art. 81 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Moderne Formen der anwaltlichen Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ausblick auf die weitere Entwicklung des Rechts der anwaltlichen Werbung .

231 233 233 234 235 236 236 241 242 242 246 248 249 249 252 253 255

I. Einführung Professor K. Peter Mailänder zeichnet es aus, dass er nicht nur auf mehreren Gebieten des Wirtschaftsrechts zu den führenden Juristen in Deutschland zählt, sondern dass er sein hervorragendes Fachwissen bei Ausübung seiner Anwaltstätigkeit stets mit einem vorbildlichen Berufsethos verbunden und vorgelebt hat. Dabei bedeutet für ihn die Bezeichnung „freier Beruf“ nicht Freiheit von, sondern in erster Linie die Freiheit zur Übernahme besonderer Verantwortung sowohl für die ihm und seiner Sozietät anvertrauten Mandanten und Mandate als auch für den eigenen Einsatz für berufsrechtliche Belange im Interesse der Erhaltung der Selbständigkeit des Anwaltberufs.

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Es verstand sich daher für ihn von selbst, dass er schon früh Aufgaben in Berufsvereinigungen und weitere wichtige ehrenamtliche Berufungen angenommen hat. Von 1978 bis 1998 war er Mitglied des Vorstandes der Rechtsanwaltskammer Stuttgart, davon zwölf Jahre als Mitglied des Präsidiums. 1991 wurde er zum Mitglied des Europaausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) berufen, im Jahr 2001 außerdem zum Mitglied des Ausschusses Internationale Sozietäten, in beiden Ausschüssen ist er bis heute aktiv. Seit 1997 ist er Mitglied der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) und war von April 2002 bis September 2004 deren Vorsitzender. Seit dem Jahre 2000 ist er außerdem Mitglied des Staatsgerichshofs für das Land Baden-Württemberg. Dieser umfassende ehrenamtliche Einsatz war auch für die mit ihm in der gemeinsamen Sozietät tätigen Partner stets Ansporn zur Übernahme besonderer berufsbezogener Aufgaben. Der Verfasser dankt ihm die Ermutigung, als anwaltliches Mitglied des Anwaltsgerichtshofs Baden-Württemberg tätig zu sein. In fachlicher Hinsicht hat K. Peter Mailänder sich auf mehreren Gebieten des Wirtschaftsrechts eine hervorragende Reputation erarbeitet, darunter auf den Gebieten des Bank- und Finanzrechts, des Gesellschaftsrechts und des Rechts des Unternehmenskaufs, des Medienrechts, des Rechts der Fusionskontrolle und des Kartellrechts. Das gemeinsame Interesse am deutschen, europäischen und U.S.-amerikanischen Kartellrecht war auch der Ausgangspunkt einer nunmehr seit über dreißig Jahren währenden harmonischen und erfolgreichen beruflichen Partnerschaft. Nachdem sich das anwaltliche Berufsrecht und das Kartellrecht als Rechtsgebiete zunächst unabhängig voneinander entwickelten, war ihr Verhältnis zueinander in den letzten Jahrzehnten – übrigens auch in den U.S.A. – nicht frei von Spannungen. Dabei besteht zwischen beiden Rechtsgebieten kein Über-/Unterordnungsverhältnis, da es sich in beiden Fällen um Rechtsordnungen mit erstrangigen Gemeinwohlzielen handelt, die miteinander in Einklang zu bringen sind. Für eine Anwendung des europäischen Kartellrechts mit Augenmaß auf den in Deutschland historisch gewachsenen freien Anwaltsberuf hat K. Peter Mailänder sich wiederholt in seiner Tätigkeit für die BRAK und als Fachautor eingesetzt. Es bleibt auch im Interesse der Rechtsuchenden zu hoffen, dass es auf europäischer Ebene gelingt, den freien Beruf des Rechtsanwalts mit seiner jetzt bestehenden selbständigen Kammerorganisation und Anwaltsgerichtsbarkeit vor fehlgehenden behördlichen Eingriffen zu bewahren. Selbstverständlich ist dies nicht, sondern wird der Anstrengungen in erster Linie der Anwaltschaft selbst bedürfen, um die Rechtsuchenden fortwährend in der Überzeugung zu bestärken, dass für alle Rechtsfragen jeweils ein Rechtsanwalt der berufene, nämlich qualifizierte, integre und verantwortungsbewusste Berater und Vertreter ist.

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Eine wesentliche Voraussetzung für diese Überzeugung ist eine hinreichende Transparenz der anwaltlichen Allgemein- und Fachzuständigkeit für die Rechtsuchenden. Denn es hat sowohl jeder Rechtsuchende ein legitimes Interesse, für seinen Fall einen entsprechend qualifizierten Rechtsanwalt in Erfahrung zu bringen wie auch jeder Rechtsanwalt daran, seine Qualifikation zur Rechtsberatung und -vertretung allgemein wie auch seine speziellen Fachkenntnisse öffentlich zu machen. Dies kann beispielsweise auf Nachfrage durch die Rechtsanwaltskammern und die Anwaltvereine erfolgen, ebenso aber auch durch die Werbung des einzelnen Rechtsanwalts für sein Leistungsangebot. Das anwaltliche Werberecht hat in den letzten Jahrzehnten einen einschneidenden Wandel erfahren. Bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 1987 1 galt ein striktes Werbeverbot für Rechtsanwälte. Nach dieser Entscheidung stellte sich nicht mehr die Frage, ob, sondern wie Rechtsanwälte werben dürfen. Die Art und Weise der Werbung für anwaltliche Dienstleistungen, ohne mit dem anwaltlichen Berufsrecht oder dem Wettbewerbsrecht in Konflikt zu geraten, soll im Folgenden auf der Grundlage der historischen Entwicklung dargestellt werden.

II. Historische Entwicklung des anwaltlichen Werberechts 1. Schutz der Obrigkeit vor den Advokaten im 17. und 18. Jahrhundert Jahrhundertelang galt ein generelles Werbeverbot für Rechtsanwälte. Die absolutistisch regierten Staaten des 17. und 18. Jahrhunderts hegten großen Argwohn gegen die Angehörigen des Advokatenstandes 2. Sie befürchteten, dass Advokaten durch „das Rühmen der eigenen Tüchtigkeit“ 3 versuchen könnten ihre Klientel zu vermehren, „die Leute aufzuwiegeln“ und die Parteien zum leichtfertigen Führen von Prozessen zu überreden, was angeblich zu einem „drückenden Verschleiß der Justiz“ und zu „unverantwortlicher Vervielfältigung … der Prozesse zum Ruin der Untertanen“ führe, zumal den Advokaten „sehr daran gelegen [wäre], dass die Prozesse vervielfältigt und in die Länge gezogen werden“.4 Das generelle Werbeverbot sollte die Obrigkeit vor unnötigen Prozessen schützen. Die Fuldaische Advocatenordnung von 1775 stellte es daher unter Strafe, „auf dem Lande herumzuziehen, Prozesse zu werben, die Bauern auf-

1

BVerfGE 76, 196, 205. Vgl. der Verfasser, AnwBl. 2004, S. 677. 3 Eylmann, in Henssler/Prütting, BRAO, 2. Aufl. 2004, § 43b Rn. 1. 4 Römermann, in Hartung/Holl, Anwaltliche Berufsordnung, 2. Aufl. 2001, Vor § 6 BerufsO Rn. 9. 2

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zutreiben und bei ihnen zu zechen. Ein jeder Beamter, der in seinem anvertrauten Gebiete einen solchen antrifft, und in dererlei unerlaubtem Beginnen betritt, soll den Advocaten kurzum arretieren …“ 5. Der Preußenkönig Friedrich Wilhelm I., der für sein Mißtrauen gegenüber Anwälten bekannt war, brachte seinen Argwohn gegen die Angehörigen des Advokatenstandes unmissverständlich zum Ausdruck. Im Jahr 1793 schrieb er an Cocceji, den Präsidenten des Berliner Kammergerichts: „Wenn … ein Advocat oder Procurator sich unterstehen wird, … Leute aufzuwiegeln, um bei ihm alte abgedroschene Sachen anzubringen, so wird der König solchen Advocaten oder Procurator ohne Gnade aufhängen und zu mehrerer Abscheu einen Hund neben ihn hängen lassen.“ 6. Das anwaltliche Werbeverbot sollte zu dieser Zeit die Advokaten nicht vor unlauterer Konkurrenz schützen und wurde auch nicht mit der Würde des Anwaltsberufs begründet.7 Es war vielmehr eine Folge des damaligen geringen Ansehen des Berufstandes und seines Abhängigkeitsverhältnisses zur Obrigkeit 8. 2. Werbeverbot zum Schutz der Standeswürde im 19. Jahrhundert a) Erst im 19. Jahrhundert gab es innerhalb der Anwaltschaft Überlegungen, ein anwaltliches Werbeverbot mit dem Schutz der Würde des Standes zu begründen 9. Diese Überlegungen resultierten aus dem steigenden Ansehen und Selbstbewusstsein der Anwaltschaft, die sich anschickte, die freie Advokatur durchzusetzen. Gneist hatte deren Notwendigkeit in seiner gleichnamigen Schrift damit begründet, dass nur ein vom Staat gänzlich unabhängiger Anwalt die Rechtspflege fördern könne 10. Die Unabhängigkeit der Anwaltschaft sollte durch eine eigenständige Organisation (Kammern) 11 und durch eine eigene Ehrengerichtsbarkeit 12 abgesichert werden. b) Mit Verabschiedung der Reichsrechtsanwaltsordnung vom 1. Juli 1878 (RAO) 13 wurde die Abhängigkeit der Anwaltschaft vom Staat und den staatlichen Gerichten beendet. Die RAO enthielt jedoch zur Frage der anwaltlichen Werbung keine Regelung. Der Gesetzgeber hatte lediglich mit der Generalklausel des § 28 RAO folgende Bestimmung vorgesehen: „Der Rechts5 Zitiert von Weissler, Geschichte der Rechtsanwaltschaft, erschienen 1905, S. 190 des Nachdrucks von 1967. 6 Zitiert von Weissler, a.a.O., S. 322. 7 Römermann, in Hartung/Holl, a.a.O., Vor § 6 BerufsO Rn. 9. 8 Vgl. der Verfasser, AnwBl., 2004, S. 677. 9 Römermann, in Hartung/Holl, a.a.O., Vor § 6 BerufsO Rn. 10. 10 Gneist, Freie Advocatur, erschienen 1867, S. 77 ff. des Nachdrucks vom 1911. 11 Römermann, in Hartung/Holl, a.a.O., Vor § 6 BerufsO, Rn. 10. 12 Vgl. der Verfasser, AnwBl. 2004, S. 677. 13 RGBl. 1878 S. 177.

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anwalt ist verpflichtet, seine Berufstätigkeit gewissenhaft auszuüben und durch sein Verhalten in Ausübung des Berufs sowie außerhalb desselben sich der Achtung würdig zu zeigen, die sein Beruf erfordert.“ Es blieb mithin der Ehrengerichtsbarkeit überlassen, durch ihre Rechtsprechung das anwaltliche Werbeverbot zu konkretisieren. 3. Rechtsprechung der Ehrengerichtshöfe Nach der Auffassung der Ehrengerichtshöfe war anwaltliche Werbung mit der Würde des Anwalts unvereinbar 14, so dass ein allgemeines Werbeverbot durchgesetzt wurde. Es galt der Grundsatz, der Rechtsanwalt betreibe kein Geschäft oder Gewerbe und habe sich im Gegensatz zu anderen Ständen und Berufen, die hauptsächlich den Erwerb bezwecken, jeglicher Reklame zu enthalten 15. Görres bemerkte jedoch schon im Jahr 1923, dass hinter der ständigen Betonung der Würde des Standes in Wahrheit Gesichtspunkte des Konkurrentenschutzes standen 16. Die Folge dieses strikten Werbeverbotes war eine relativ hohe Zahl von Verurteilungen. In den ersten zwölf Jahren betraf fast ein Viertel der Entscheidungen Verstöße gegen das Werbeverbot 17. In einem Beschluss vom 05. März 1927 stellte der Ehrengerichtshof fest, der Anwalt dürfe es auch nicht unterlassen, einer für ihn durch Dritte aufgewendeten Werbetätigkeit entgegenzutreten 18. Zwei Jahre später sprach der Ehrengerichtshof aus, der Rechtsanwalt sei verpflichtet, eine Werbetätigkeit Dritter für seine Praxis zu verhindern 19. Einige Rechtsanwälte versuchten daraufhin, die strengen Beschränkungen des anwaltlichen Werbeverbotes zu umgehen. So gründete ein Rechtsanwalt mit seiner Ehefrau eine Treuhandgesellschaft unter der Firma „Treuhand für den Mittelstand GmbH“. Neben den Bezeichnungen „Rechtsanwalt“ und „Hauptmann der Landwehr“ hatte seine Visitenkarte zusätzlich noch den Aufdruck „Diplom-Kaufmann und Rechtsbeistand der Treuhand für den Mittelstand GmbH.“20 Der Ehrengerichtshof gelangte zu der Überzeugung, dass die Gründung der Gesellschaft zielgerichtet zur Werbung für die Kanzlei des Rechtsanwaltes geplant wurde und dass die Verwendung des „anspruchsvollen Titels“ nicht zulässig sei 21. 14 15 16 17 18 19 20 21

EGH 1, 28. EGH 18, S. 89 (24.2.1923). Görres, JW 1923, 667. Eylmann, in Henssler/Prütting, a.a.O., § 43b Rn. 3. EGH 21, 82 (5.III.1927). EGH 23, 35 (9.I.1929). Isele, Bundesrechtsanwaltsordnung, 1976, Anhang zu § 43, Werbung, S. 816. EGH 30, 151 (22.09.1936).

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4. Rigide Standesrichtlinien von 1929 Ab 1927 übernahm der Deutsche Anwaltverein die Aufgabe, das anwaltliche Standesrecht auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung zu kodifizieren. Die ersten standesrechtlichen Richtlinien des DAV von 1929, das sog. Vademecum, spiegelt die ehrengerichtliche Rechtsprechung durch detaillierte Regelungen des anwaltlichen Werbeverbots 22. Diese detaillierte Festlegung von Tatbeständen, die einen für unzulässig erachteten Werbeeffekt haben könnten, setzte sich in den RichtRA vom 11. Mai 1957 fort. Nach § 61 Abs. 1 RichtRA war dem Rechtsanwalt eine Werbung für seine Anwaltspraxis untersagt. Nach § 66 Abs. 1 RichtRA durfte der Rechtsanwalt nicht daran mitwirken, dass sein Name in nichtamtliche Adreßbücher, Geschäftskalender, Zeitschriften oder ähnliche Verzeichnisse aufgenommen wurde, die nur eine beschränkte Anzahl der örtlichen Anwälte aufführten. Auf dieses Verbot hatte er auch seine Kanzleiangestellten hinzuweisen. Entsprechendes galt für Verzeichnisse und Werke, die in vollständigen Listen der Rechtsanwälte einzelne Anschriften im Druck besonders hervorgehoben haben. 5. Die Bundesrechtsanwaltsordnung vom 1. August 1959 und die Grundsätze des anwaltlichen Standesrechts a) Die Bundesrechtsanwaltsordnung vom 1. August 1959 (BRAO) 23 änderte den Kern des strengen Werbeverbots nicht und beschränkte sich ebenso wie § 28 der RAO von 1878 auf eine Generalklausel über die Allgemeine Berufspflicht („Der Rechtsanwalt hat seinen Beruf gewissenhaft auszuüben. Er hat sich innerhalb und außerhalb des Berufes der Achtung und des Vertrauens, welche die Stellung des Rechtsanwalts erfordert, würdig zu erweisen.“). Ergänzende Richtlinien für die Ausübung des Anwaltsberufs wurden am 11. Mai 1957 von der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) verabschiedet, darunter in § 61 Nr. 1 wiederum ein kategorisches allgemeines Werbeverbot („Der Rechtsanwalt darf nicht um Praxis werben“). Die Richtlinien der BRAK hatten keinen Gesetzescharakter, sollten aber als Niederschrift der allgemeinen Auffassung der westdeutschen Rechtsanwaltskammern über Fragen der Ausübung des Anwaltsberufs auch in ehrengerichtlichen Verfahren zur Anwendung und Auslegung der Generalklausel des § 43 BRAO herangezogen werden.24

22 23 24

Eylmann, in Henssler/Prütting, a.a.O., § 43b Rn. 4. BGBl. I S. 565. Bülow, Bundesrechtsanwaltsordnung, 1959, Rn. 2 zu § 43 BRAO.

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Die am 21. Juni 1973 ebenfalls als Richtline von der BRAK festgestellten Grundsätze des anwaltlichen Standesrechts 25 kleideten das anwaltliche Werbeverbot sogar in den Rang einer elementaren Berufspflicht: „§ 2 Werbeverbot (1) Der Rechtsanwalt handelt standeswidrig 26, wenn er um Praxis wirbt. Er darf eine ihm verbotene Werbung auch durch andere nicht dulden. (2) Bei seinem Auftreten vor Gericht und im Umgang mit der Presse, Rundfunk und Fernsehen hat er den Anschein zu vermeiden, er wolle sich oder die von ihm bearbeitete Sache sensationell herausstellen.“

b) In der Kommentierung der BRAO wurde zur Begründung ausgeführt, das anwaltliche Werbeverbot garantiere die Chancengleichheit unter den Rechtsanwälten. So wurde das anwaltliche Werbeverbot von Isele in seinem Kommentar von 1976 27 wie folgt begründet: „A. Der Rechtsanwalt betreibt kein Geschäft oder Gewerbe und hat sich im Gegensatz zu anderen Ständen und Berufen, die hauptsächlich den Erwerb bezwecken, jeglicher Reklame zu enthalten … B. Das Werbeverbot hat aber auch eine Schutzfunktion. Es schafft gleiche Berufsbedingungen für alle Angehörigen des Standes. Es gibt dem neu zugelassenen Rechtsanwalt die gleiche Chance wie dem alteingesessenen. Der erstere verdient sich die Sporen durch seine Leistung, der sog. arrivierte Anwalt kann seinen Ruf nur durch die Beibehaltung seiner seitherigen Leistung erhalten. Nichts ist leichter und verderblicher, als auf den erworbenen guten Ruf zu vertrauen und mit den Leistungen nachzulassen …“

c) Die ehrengerichtliche Rechtsprechung verbot Rundschreiben an solche Personen zu versenden, mit denen der Rechtsanwalt nicht in beruflicher oder in persönlicher Verbindung (d.h. Verwandte, Freunde, nähere Bekannte) steht. Mithin war es einem neu zugelassenen Anwalt, der noch keine Klientel hatte, versagt, seine Zulassung durch Rundschreiben allgemein gegenüber potentiellen Mandanten bekanntzugeben 28, so dass das Werbeverbot dem neu zugelassenen Rechtsanwalt den Berufszugang erschwerte. Auch bei bereits länger zugelassenen Rechtsanwälten führte die strenge ehrengerichtliche Rechtsprechung zum Werbeverbot bei Verlautbarungen über eine Änderung der örtlichen Zulassung oder die Bekanntgabe einer neuen Telefonnummer oder den neuen Anschluss an das Fernschreibnetz zur Feststellung der Standeswidrigkeit, wenn dies gegenüber Personen geschah,

25 Gemäß § 177 Abs. 2 Nr. 2 BRAO (1959) oblag es der Bundesrechtsanwaltskammer, die allgemeine Auffassung über Fragen der Ausübung des Anwaltberufs in Richtlinien festzustellen. 26 Hervorhebung durch den Verfasser. 27 Isele, Bundesrechtsanwaltsordnung, 1976, Anhang zu § 43, Werbung, S. 802. 28 Isele, a.a.O., S. 803.

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für die der Rechtsanwalt bisher noch nicht anwaltlich tätig war, und war Auslöser einer bunten Palette von Umgehungsversuchen, die zum Gegenstand der ehrengerichtlichen Rechtsprechung wurden 29. So verurteile der Bayerische Ehrengerichtshof einen Rechtsanwalt, weil er nach erfolgter Zulassung an 231 Gesellschaften und Unternehmen sowie an etwa 400 Einzelpersonen ein Rundschreiben versandt hatte, in dem er anzeigte, dass er als Rechtsanwalt zugelassen sei und sich außer für die üblichen Tätigkeiten insbesondere für die Bearbeitung von Handels- und Wirtschaftsfragen, von Arbeits- und Sozialproblemen sowie für Verhandlungen mit Behörden aller Zonen empfehle 30. Er wies darauf hin, dass sich eine vorhergehende Terminvereinbarung empfehle, da er in seiner Eigenschaft als Abgeordneter zeitweilig ortsabwesend sei. Im Jahr 1955 entschied der Bayerische Ehrengerichtshof in einem anderen Fall, dass die ohne Zustimmung des Vorstandes der Rechtsanwaltskammer erfolgte Abhaltung von Sprechtagen außerhalb der Kanzlei als des Mittelpunktes rechtsberatender Tätigkeit als Werbung um Praxis standeswidrig sei 31. In den Gründen wird ausgeführt: „… Alsbald nach Beginn seiner Tätigkeit in C. wurde er [Rechtsanwalt A] mit dem Versicherungsagenten D. dadurch bekannt, daß er für den Schwiegersohn des D. in E. einen Prozeß führte. … Förderlich für die Ausdehnung seiner Praxis war einmal die Aufrechterhaltung seiner Beziehungen zu D, der als Versicherungsagent in Stadt und Umgebung von E. vielseitig tätig, ihm stets neue Mandanten zuführen konnte und auch die Zusammenkünfte in E. vermittelte. Ferner kam [Rechtsanwalt] A. zustatten, daß er Mitglied des ADAC und Syndikus der Ortsgruppe E. wurde und allmonatlich im ADAC kurze Vorträge über Verkehrsfragen hielt, wie auch die Tatsache, daß er nach seiner Angabe alle zwei Wochen zur Jagd hinauskam. … Die Zusammenkünfte mit Ratsuchenden fanden teils im Clublokal des ADAC, teils im Cafe F., zum Teil aber auch in der Küche oder dem Wohnzimmer des D statt. Diese Art der Tätigkeit dauerte bis in das Jahr 1953 hinein, also vier bis fünf Jahre … Zweifellos beweisen diese vom Ehrengericht getroffenen Feststellungen eine beachtliche Geschäftsgewandtheit des A. in dem Bestreben nach Ausdehnung seiner Praxis. Diese Art von Werbetätigkeit außerhalb der Kanzlei als des Mittelpunkts beratender anwaltschaftlicher Tätigkeit ist ungewöhnlich und regelwidrig, zumal dies zum Schaden ortsansässiger Kollegen geschehen ist, die wenigstens zeitweise in E. ansässig waren. Das Ehrengericht hat diese Tätigkeit des A. außerhalb seiner Kanzlei als standeswidriges Abhalten von Sprechtagen mit der Strafe der Warnung geahndet. …“

In Telefonbüchern war Fettdruck untersagt, die Aufnahme in andere Verzeichnisse war nur gestattet, wenn alle Rechtsanwälte die Möglichkeit hatten, 29 30 31

Isele, a.a.O., S. 803 ff. Bayer. EGH, Urteil vom 29.09.1949 – EGH 17/49, EGE Band II, S. 45 f. Bayer. EGH, Urteil vom 28.01.1955 – EGH 15/53, EGE Band II, S. 163 f.

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in das Verzeichnis aufgenommen zu werden. Nach § 73 der Grundsätze des anwaltlichen Standesrecht von 1973 durfte der Rechtsanwalt nicht dabei mitwirken, dass sein Name in Adressbücher, Geschäftskalender, Zeitschriften oder ähnliche Verzeichnisse aufgenommen wird, die nur eine beschränkte Anzahl der örtlichen Rechtsanwälte aufführen. Entsprechendes galt für Verzeichnisse und Werke, die in vollständigen Listen die Namen oder Anschriften einzelner Rechtsanwälte im Druck oder in anderer Weise besonders hervorhoben. Geradezu „lehrbuchartig“ standeswidrig verhielt sich ein Rechtsanwalt durch eine Vielzahl unzulässiger Werbemaßnahmen in der Entscheidung in EGE XIV, S. 239 32. Der Ehrengerichtshof führte in den Gründen aus, Rechtsanwalt X habe nahezu alle Möglichkeiten einer unzulässigen Werbung bei der Eröffnung seiner Praxis ausgeschöpft: „Rechtsanwalt X., …, verlegte Anfang 1975 seine Kanzlei nach A. In der Folgezeit war er bestrebt sich dort in der Öffentlichkeit bekanntzumachen. So suchte er vor und nach Eröffnung seiner Kanzlei Gewerbetreibende in A. und Umgebung auf und bezeugte dabei sein Interesse an einer anwaltlichen Tätigkeit für sie. Dem gleichen Zweck galt ein Stehempfang, den Rechtsanwalt X anläßlich der Neueröffnung seiner Kanzlei in A. gab. Seiner Einladung waren Kollegen, Bekannte, Gemeinderäte der Gemeinde und ca. 15–20 Geschäftsleute gefolgt. Im örtlichen Fernsprechbuch für A., Ausgabe 1976/77, veranlaßte Rechtsanwalt X einen Eintrag, der sich gegenüber der überwiegenden Anzahl der sonstigen Eintragungen durch ein größeres Schriftbild und einen Fettdruck abhob. Neben seiner anwaltlichen Tätigkeit betätigt sich Rechtsanwalt X. als Wirtschafts- und Finanzberater. … Rechtsanwalt X. ließ auf dem vom Hauseigentümer an der Hauswand vorgesehenen Platz zwei Schilder anbringen, und zwar ein übliches Kanzleischild und unmittelbar darüber ein Schild mit der Aufschrift „Wirtschafts- und Finanzberatung“. Der Ehrengerichtshof ist der Auffassung, daß Rechtsanwalt X. in allen Fällen durch Verstoß gegen Grundsätze des anwaltlichen Standesrecht seine Anwaltspflichten schuldhaft verletzt hat. … Sowohl die Art als auch die Gesamtschau der einzelnen Vorgänge lassen den Senat zu der Überzeugung gelangen, daß der ohne weiteres erkennbare Werbeeffekt von Rechtsanwalt X. beabsichtigt war und daß er sich dabei bewußt über die ihm obliegenden Standespflichten hinweggesetzt hat. Das wird im Falle des Aufsuchens von Geschäftsleuten unter Anbietung seiner Dienste, des von ihm gegebenen Stehempfangs, …, und der gleichzeitig im Fernsprechbuch durch Größe und Schriftbild besonders herausgestellten Anwaltskanzlei bereits so deutlich, daß die Anbringung der Praxisschilder davon nicht losgelöst beurteilt werden kann. Durch die Mißachtung des Verbotes des Werbens um Praxis hat Rechtsanwalt X. ein Verhalten gezeigt, das dem Ansehen des Anwaltsstandes 33 in hohem Maße

32 33

Bayer. EGH, Urteil vom 31.01.1978 – BayEGH II – 22/77, EGE XIV, 239 ff. Hervorhebung durch den Verfasser.

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abträglich ist. Trotz aller Schwierigkeiten, mit denen heute ein junger Anwalt bei dem Aufbau einer eigenen Praxis zu kämpfen hat, ist es verwerflich, wenn ein Anwalt sich über Standespflichten unbedenklich hinwegsetzt und wie bei Rechtsanwalt X. nahezu alle Möglichkeiten einer unzulässigen Werbung bei der Eröffnung einer Kanzlei ausschöpft, um gegenüber Kollegen einen Vorteil zu erlangen.“

Die konfligierenden Auffassungen der Anwälte hinsichtlich einer Werbung für ihre Tätigkeit und der Ehrengerichtshöfe an der Wahrung der Würde des Berufstandes kommen in den Ausführungen des EGH in dieser Entscheidung deutlich zum Ausdruck: „Der Senat mußte in letzter Zeit in zunehmenden Maße der Mißachtung standesrechtlicher Pflichten durch Werben um Praxis entgegentreten. Er hat dabei in ständiger Rechtsprechung daran festgehalten, daß das Verbot der Werbung um Praxis nach wie vor zu den wichtigsten und unverzichtbaren 34 Regeln des Standesrechts gehört und daß es auch … dabei verbleiben muß, daß der Rechtsanwalt allein durch seine Leistung werben soll und daß er alles zu unterlassen hat, was geeignet ist, in besonderen Maße auf seine Person oder Kanzlei hinzulenken. Er muß deshalb darauf bedacht sein, selbst den Anschein 35 einer unzulässigen Werbung zu meiden.“

d) Ebenso streng eingeschränkt waren die Bekanntgaben über die Praxis nach § 69 der Grundsätze des anwaltlichen Standesrechts. Die Begründung der Kanzlei und ihre Verlegung, die Zulassung bei einem anderen oder weiteren Gericht, die Übernahme einer Praxis durften zwar in der Zeitung angezeigt werden. Jedoch durfte die Anzeige keine übertriebene und auffällige Form haben und nur ein- bis zweimal in der Fachpresse der Anwaltschaft und in Tageszeitungen des Bezirks erscheinen, bei dessen Gerichten der Rechtsanwalt regelmäßig tätig ist. Die Verwendung von Rundschreiben war für berufsbezogene Mitteilungen nach wie vor sehr eingeschränkt. So ist in einem damaligen Fachkommentar zu lesen: „Es könnte deshalb nicht gebilligt werden, wenn beispielsweise die Bekanntgabe der Aufnahme eines Sozius dazu benutzt würde, die Aufteilung der Rechtsgebiete, die von jedem der Partner bearbeitet werden, herauszustellen oder gar einen „Organisationsplan“ der Kanzlei nach außen bekannt zu geben, was zwangsläufig den Eindruck hervorrufen geeignet wäre, eine optimale Betreuung der Mandanten sei breit gefächert und mit Vorrang vor anderen Berufskollegen sichergestellt“ 36.

34

Hervorhebung durch den Verfasser. Hervorhebung durch den Verfasser. 36 Lingenberg/Hummel, Kommentar zu den Grundsätzen des anwaltlichen Standesrechts, 1981, S. 482/483 (Rn. 3a). 35

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6. Werbung für anwaltliche Dienstleistungen in den U.S.A. In den U.S.A. bestanden für amerikanische Anwälte noch in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts bedeutsame Werbeverbote, die der Verfasser erstmals während eines Studienaufenthalts an der U.C. Berkeley näher untersucht hat 37. Die von der American Bar Association (ABA) aufgestellten Modellregeln des anwaltlichen Standesrechts, der Code of Professional Responsibility (CPR), sahen unter Ziff. 2–102 (A) ein grundsätzliches Verbot der Verwendung telefonischer Branchenverzeichnisse („Yellow Pages“), von rechtlichen Adressbüchern sowie von Anwaltsverzeichnissen zu Werbezwecken vor. Weitergehend als nach deutschen Standesrecht war es jedoch gemäß Ziff. 2–102 (A) Unterabsatz 6 CPR schon damals in den U.S.A. zulässig, in anerkannten Anwaltsverzeichnissen Schwerpunkte der Kanzlei auf bestimmten Rechtsgebieten anzugeben. Ferner durfte der Anwalt darauf hinweisen, welche öffentlichen und privaten Ehrenämter er innehatte, welche Referenzen bestanden und es war amerikanischen Anwälten bereits gestattet, bei regelmäßiger Vertretung die Namen von Mandanten - mit deren Zustimmung – anzugeben38. Im Fall „Goldfarb v. Virginia State Bar at al.“ 39 hat der Supreme Court dann in einer Grundsatzentscheidung am 16. Juni 1975 ausgesprochen, dass die Veröffentlichung von Mindestgebührensätzen durch eine County Bar Association und deren zwangsweise Durchsetzung durch die State Bar gegen § 1 Sherman Act verstößt, jedoch gleichzeitig zu einer differenzierenden und zurückhaltenden Anwendung des Kartellrechts auf die Freien Berufe aufgerufen („The fact that a restraint operates upon a profession as distinguished from a business is, of course, relevant in determining whether that particular restraint violates the Sherman Act. It would be unrealistic to view the practice of professions as interchangeable with other business activities, and automatically to apply to the professions antitrust concepts which originated in other areas. The public service aspect, and other features, of the professions, may require that a particular practice, which could properly be viewed as a violation of the Sherman Act in another context, be treated differently).” 40 Nach einer im Jahre 1977 gefällten Grundsatzentscheidung des Supreme Court wurde die anwaltliche Werbung weitgehend erlaubt, nach einer Entscheidung im Jahre 1988 mit nur noch wenigen Beschränkungen sogar die direkte Mandantenwerbung 41. 37 Vgl. der Verfasser, Zur Anwendung des Kartellrechts auf amerikanische Rechtsanwälte, AnwBl. 1976, S. 314 f. 38 Vgl. der Verfasser, a.a.O. 39 421 U.S. 773. 40 Vgl. der Verfasser, a.a.O.; Amann, Recht auf Werbung auch für Rechtsanwälte, DAJVNewsletter Nr. 4/77, S. 1. 41 Hempfing/Röhm, Werbeverbot für Rechtsanwälte verstößt in den U.S.A. seit dem

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In der Entscheidung „Bates and O’Steen v. State Bar of Arizona“ 42 hat der Supreme Court am 27. Juni 1977 mit 5 : 4 Mehrheit festgestellt, dass es gegen die durch das First Amendment geschützte Meinungsfreiheit verstößt, wenn die Standesregeln einer State Bar Rechtsanwälten jede Art von Werbung verbieten. Zugleich hat der Supreme Court aber auch die Grenzen des Rechts auf Werbung für anwaltliche Dienstleistungen aufgezeigt („… We, of course, do not hold that advertising by attorneys may not be regulated in any way. We mention some of the clearly permissible limitations on advertising not foreclosed by our holding. Advertising that is false, deceptive, or misleading of course is subject to restraint. … Advertising claims, as to the quality of services – a matter we do not address today – are not susceptible to measurement or verification; accordingly, such claims may be so likely to be misleading as to warrant restriction. Similar objections might justify restraints on in-person solicitation. … As with other varieties of speech, it follows as well that there may be reasonable restrictions on the time, place, and manner of advertising. … And the special problems of advertising on the electronic broadcast media will warrant special consideration …“). 1988 hat der Supreme Court in der Entscheidung „Shapero v. Kentucky Bar Association“ 43 klargestellt, dass Anwälten aufgrund des 1. und 14. Amendment vom Staat nicht die direkte Werbung mit wahrheitsgemäßen und nicht irreführenden Briefen an potentielle Mandanten verboten werden dürfe, deren Rechtsprobleme bekannt seien. Diese Werbung sei verfassungsrechtlich durch das Recht auf „commercial speech“ geschützt, das nur aus Gründen eines überwiegenden öffentlichen Interesses eingeschränkt werden kann und nur durch solche Maßnahmen, die zur Durchsetzung dieses öffentlichen Interesses bestimmt und geeignet sind.

III. Wende durch die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und die Berufsrechtsnovelle von 1994 1. Die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 1987 44 a) In Deutschland war es ebenfalls nicht der Gesetzgeber, sondern vielmehr die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die dem strengen Verbot der Werbung für anwaltliche Dienstleistungen ein Ende gesetzt hat. Das Bundesverfassungsgericht sah in dem überkommenen Werbeverbot einen Eingriff in die von Art. 12 Abs. 1 GG geschützte anwaltliche Berufs27. Juni gegen Meinungsäußerungsfreiheit, JZ 1977, S. 710 ff.; Prinz, Anwaltswerbung, 1986, S. 644 ff.; Meyer, AnwBl 1992, 241 (243). 42 97 S. Ct. 2691. 43 108 S. Ct. 1916. 44 BVerfGE 76, 171, 184; 76, 196, 205.

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ausübung. Dieser Eingriff sei durch die Grundsätze des anwaltlichen Standesrechts nicht gerechtfertigt. Hierbei stellte das Bundesverfassungsgericht klar, dass das Grundrecht der Berufsfreiheit in Art. 12 Abs. 1 GG gerade für die Werbung der freien Berufe von maßgeblicher Bedeutung ist 45. Dem Beschluss vom 14. Juli 1987 in der Rechtssache 1 BvR 362/79 lag ein Sachverhalt zu Grunde, in welchem der beschwerdeführende Rechtsanwalt in eigener Sache mit einer Straf- und einer Selbstanzeige an die Presse herangetreten war.46 „Im Herbst 1977 erkundigten sich zwei Kriminalbeamte bei dem beschwerdeführenden Rechtsanwalt nach dem Namen einer Mandantin, die dessen Kanzlei aufgesucht hatte und die nach der Vermutung von Augenzeugen einer Frau ähnlich sah, die im Zusammenhang mit der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer 47 gesucht wurde. Der beschwerdeführende Rechtsanwalt verweigerte die Auskunft auch dann, als ihm die Vorführung beim Generalbundesanwalt angedroht wurde. Nach einer Beratung mit Kollegen teilte er schließlich den Namen der Mandantin mit. Einen Monat später erstattete der beschwerdeführende Rechtsanwalt wegen dieses Vorfalls bei seiner Rechtsanwaltskammer Selbstanzeige und bat um Überprüfung, ob ihm wegen der Preisgabe des Namens der Mandantin der Bruch des Berufsgeheimnisses vorgeworfen werden könne. Außerdem erstattete er gegen den Beamten des Landeskriminalamtes Anzeige wegen Nötigung im Amt. Kopien der Selbstanzeige und der Strafanzeige, die eine genaue Schilderung des Vorfalls enthielten, sandte der Beschwerdeführer kommentarlos an die örtlichen Presseorgane, die regionale Presseagentur sowie an den Süddeutschen Rundfunk. Dies führte zu einer Pressemeldung in der örtlichen Zeitung, zu einem Rundfunk-Interview unter Mitwirkung des Präsidenten der zuständigen Rechtsanwaltskammer nebst einer Gegendarstellung durch den Beschwerdeführer sowie zu einem „Spiegel“Artikel, wobei der Beschwerdeführer mehrfach namentlich genannt wurde; im „Spiegel“ erschien auch ein Foto von ihm vor seinem deutlich sichtbaren Praxisschild. Der Vorstand der Rechtsanwaltskammer sprach dem Beschwerdeführer eine Mißbilligung aus und wies die dagegen eingelegten Einsprüche zurück. Der Vorstand der Rechtsanwaltskammer begründete die Mißbilligung damit, daß dem Beschwerdeführer wegen der Weitergabe seiner Selbstanzeige an Presse und Rundfunk ein Verstoß gegen das Werbeverbot gemäß § 2 Abs. 2 der Grundsätze des anwaltlichen Standesrechts vorzuwerfen sei. Den Antrag des Beschwerdeführers auf ehrengerichtliche Entscheidung hat das Ehrengericht als unbegründet zurückgewiesen.“ 45 BVerfGE 76, 196, 207. Siehe hierzu auch die weiteren Entscheidungen BVerfG NJW 1990, 2122; BVerfG NJW 1995, 3067. 46 BVerfGE 76, 196, 199. 47 K. Peter Mailänder war auch mehrfach als Verfahrensbevollmächtigter vor dem Bundesverfassungsgericht tätig. Der menschlich und rechtlich schwierigste Fall war zweifelsohne die Tätigkeit als ein Rechtsvertreter des entführten Arbeitgeberpräsidenten Schleyer im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland und die Regierungen mehrerer Bundesländer, BVerfGE 46, 160.

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b) In den Gründen führte das Bundesverfassungsgericht aus, die Erteilung einer Rüge durch den Vorstand der Bundesrechtsanwaltskammer greife in die freie Berufsausübung des Beschwerdeführers ein. Für diesen vom Ehrengericht gebilligten Eingriff fehle bereits die gemäß Art 12 Abs. 1 S. 2 GG erforderliche gesetzliche Grundlage. § 2 Abs. 2 der Grundsätze des anwaltlichen Standesrechts bilde keine ausreichende Grundlage für Einschränkungen der anwaltlichen Berufsausübung. Zur Begründung wurde auf den Beschluss zum Sachlichkeitsgebot vom selben Tage verwiesen 48. Die freie Berufsausübung könne gemäß Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG nur durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes geregelt werden. Das verfassungsrechtlich vorgeschriebene Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage beruhe darauf, dass einerseits das Grundrecht der Berufsfreiheit die menschliche Persönlichkeit schütze, dass andererseits die Inanspruchnahme dieser Freiheit mit den Belangen der Allgemeinheit in Einklang gebracht werden müsse und dass die Abwägung, gegenüber welchen Gemeinschaftsinteressen und wie weit das Freiheitsrecht des einzelnen zurücktreten müsse, in den Verantwortungsbereich des Gesetzgebers falle 49. Bloße Standesauffassungen reichten jedenfalls dann nicht aus, um eine Grundrechtsbeschränkung zu legitimieren, wenn der Gesetzgeber bei seiner Normierung der Berufspflichten [in § 43 BRAO] selbst darauf nicht Bezug nehme. Eingriffe in die Berufsfreiheit setzten „Regelungen“ voraus, die durch demokratische Entscheidungen zustande gekommen sind und die auch materiellrechtlich den Anforderungen an Einschränkungen dieses Grundrechts genügen. Das Verfassungsgericht kritisierte in der Parallelentscheidung zum Sachlichkeitsgebot insbesondere, dass die Standesrichtlinien, also die von der Bundesrechtsanwaltskammer festgestellten Grundsätze des anwaltlichen Standesrechts, in der Spruchpraxis der Kammervorstände und in der ehrengerichtlichen Rechtsprechung trotz fehlender Normqualität immer wieder wie Rechtssätze behandelt wurden 50. Ein Teil der Fachliteratur 51 sieht in dieser Kritik keinen Verzicht auf die in der früheren verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung betonte Bedeutung der freien Advokateur für eine rechtsstaatliche Rechtspflege, die es verlangt, „dass dem Bürger schon aus Gründen der Chancen- und Waffengleichheit Rechtskundige zur Verfügung stehen, zu denen er Vertrauen hat und die seine Interessen möglichst frei und unabhängig von staatlicher Einflussnahme wahrnehmen können“.52 Nach einer ande-

48

BVerfGE 76, 171, 184. BVerfGE 76, 196, 205 ff. 50 BVerfGE 76, 171, 187 f. 51 Gaier, Berufsrechtliche Perspektiven der Anwaltstätigkeit unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, BRAK-Mitteilungen I/2006, S. 2 ff. 52 BVerGE 63, 266, 284 – Anwaltszulassung; 110, 226, 252 – Geldwäsche; BVerfG NJW 2005, 1917, 1919. 49

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ren Literaturauffassung hat das Verfassungsgericht mit seinen gegenüber dem Satzungsrecht der Rechtsanwaltskammer ablehnenden Beschlüssen eine Kehrtwendung gegenüber dem tradierten Verständnis des Rechtsanwalts als „freien Beruf“ vollzogen, nachdem in früheren Entscheidungen die anwaltlichen Standesrichtlinien mit dem Argument des Gemeinwohls gerechtfertigt wurden, habe dann aber bereits ab 1987 den freien Beruf des Rechtsanwalts in einen anderen wirtschaftlichen und sozialen Sinnkontext gestellt. Glaubte man früher, dass eine regulierte, vor Kommerzialisierung geschützte Anwaltschaft ihren Auftrag zur Wahrnehmung von Mandanteninteressen gegen staatliche Einflussnahme erfüllen können müsse, so werde jetzt der Gedanke der Marktabschottung eines Teiles der Anwaltschaft zu Lasten der Verbraucher und Konkurrenten betont. Damit habe das Verfassungsgericht den Wandel des Anwaltsberufes vom „Organ der Rechtspflege“ zum Gewinn maximierenden Dienstleister mit voran getrieben.53 c) Da nach diesen Beschlüssen die Grundsätze des anwaltlichen Standesrechts keine taugliche Ermächtigungsgrundlage waren, um Eingriffe in die Berufsausübungsfreiheit zu rechtfertigen, stellte sich die Frage, auf welche Regelungen zurückzugreifen ist, bis der Gesetzgeber eine gesetzliche Regelung trifft. Nach den Entscheidungen des Verfassungsgericht konnte den Standesrichtlinien eine begrenzte rechtserhebliche Funktion nur noch für eine Übergangszeit beigemessen werden 54. Innerhalb dieser Übergangsfrist war es möglich, auf die Standesrichtlinien zurückzugreifen, soweit diese den materiellen Anforderungen an Grundrechtseinschränkungen genügten und soweit dies zur Aufrechterhaltung einer funktionsfähigen Rechtspflege unerläßlich war: „Als weiterhin anwendbares Hilfsmittel zur Konkretisierung der Generalklausel kann auch das in den Richtlinien niedergelegte und aus § 43 BRAO herleitbare Verbot der gezielten Werbung um Praxis und erst recht der irreführenden Werbung angesehen werden, das als Kern des Werbeverbots seit jeher unangefochten zu den Pflichten der freien Berufe gerechnet worden ist … und das in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch für Rechtsanwälte wiederholt als verbindlich vorausgesetzt wurde.“

Mithin war die Zeit des kategorischen Werbeverbotes beendet. Die Ausführungen des Verfassungsgericht boten jedoch einen erheblichen Spielraum für Interpretationen. Zu Auslegungsproblemen führte insbesondere die For-

53 Stürner, JZ 2001, 699, 703; Stürner/Bormann, Der Anwalt – vom freien Beruf zum dienstleistenden Gewerbe? Kritische Gedanken zur Deregulierung des Berufsrechts und zur Aushöhlung der anwaltlichen Unabhängigkeit NJW 2004, 1441, 1483; Wolf, Maltez v. Lewis – ein Lehrstück für den deutschen Anwaltsmarkt, Festschrift für Schlosser, 2005, S. 1121, 1134 ff. = BRAK-Mitteilungen I/2006, 15, 20 f. 54 BVerfGE 76, 171, 189 ff.; 76, 196, 205 ff.

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mulierung des „Verbots der gezielten Werbung um Praxis.“ Der Ehrengerichtshof Baden-Württemberg entschied, bei der gezielten Werbung um Praxis handele es sich um das direkte Herantreten an potentielle Mandanten zum Zwecke der Erlangung von Mandaten 55. Der Bundesgerichtshof hat im Jahr 1991 festgestellt, dass es als eine nach § 1 UWG alter Fassung i.V.m. § 43 BRAO unzulässige reklamehafte Anpreisung anzusehen ist, wenn ein Rechtsanwalt unaufgefordert einem Dritten, mit welchem er in keiner Mandatsbeziehung steht oder gestanden hat, seine anwaltliche Tätigkeit nahzubringen versucht 56. Als eine wettbewerbswidrige Rechtsanwaltswerbung um Praxis sei daher zu beanstanden, wenn Rechtsanwälte Personen, zu denen kein mandantschaftliches Verhältnis bestehe oder bestanden habe, zu einem Essen in ein Hotel einladen und hierbei durch ein berufsbezogenes Referat auf ihre Leistungsfähigkeit hinweisen. Eine einheitliche Definition der gezielten Werbung war der Rechtsprechung jedoch nicht zu entnehmen 57. Dies führte auch in der Literatur zu sehr unterschiedlichen Auffassungen 58. Beispielsweise wurde vertreten, dass als gezielte Werbung um Praxis nur die direkte Mandatswerbung verboten sei, also „eine Werbung, in der direkt zur Erteilung von Mandaten aufgefordert“ werde; ein bloßer Werbeeffekt reiche nicht aus 59. 2. Weitere Entscheidungen des Verfassungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit des damals bestehenden Werbeverbots Das Verfassungsgericht konkretisierte seine Vorgaben in weiteren Entscheidungen selbst. In einem Beschluss vom 17. Februar 1992 hatte es über einen Fall zu entscheiden, bei dem die beschwerdeführende Rechtsanwältin an einem Anwaltssuchservice teilnahm 60: „… Ein Anwaltssuchservice benannte Rechtsuchenden kostenlos auf Anfrage einen Rechtsanwalt, der nach dem Sitz seiner Kanzlei und seinem überwiegenden Tätigkeitsgebiet in Betracht kam. Die Beschwerdeführerin wurde ihren zutreffenden Angaben entsprechend mit dem Tätigkeitsschwerpunkt „Familiensachen“ geführt. Sie entrichtete für die Teilnahme an der Anwaltssuchservice GmbH neben einer einmaligen Aufnahmegebühr von 50 DM einen monatlichen Beitrag von 30 DM. Die Rechtsanwaltskammer erteilte der Beschwerdeführerin wegen der Teilnahme an der Anwaltssuchservice GmbH eine Rüge. Ihr Verhalten sei eine berufswidrige Werbung …“ 55

EGH Baden-Württemberg, NJW 1990, S. 997. BGH AnwBl. 1991, S. 529. 57 Vgl. Freiherr von Falkenhausen, Darf der Rechtsanwalt um Praxis werben?, NJW 1992, S. 25. 58 Vgl. die Nachweise bei Römermann, in Hartung/Holl, a.a.O., Vor § 6 BerufsO Rn. 80. 59 Freiherr von Falkenhausen, a.a.O. 60 BVerfG AnwBl. 1992, S. 182. 56

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Die Verfassungsbeschwerde der Rechtsanwältin war begründet, da die Rüge der Rechtsanwaltskammer die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht nach Art. 12 Abs. 1 GG verletzte: „Aus § 43 BRAO in Verbindung mit dem gesetzlichen Berufsbild des Rechtsanwalts … läßt sich über das bereits über § 3 UWG zu entnehmende Verbot der irreführenden Werbung hinaus das Verbot solcher Werbung herleiten, die nach Form oder Inhalt das gesetzlich normierte Berufsbild des Rechtsanwalts verfälscht. … Der Rechtsanwalt unterscheidet sich als „Organ der Rechtspflege“ dadurch vom Gewerbetreibenden, daß er sich bei seiner Tätigkeit nicht maßgeblich vom Streben nach Gewinn, sondern von der Verwirklichung des Rechts für seine Mandanten leiten läßt. Dieser Unterschied tritt besonders im Bereich der Werbung in Erscheinung. … Danach sind neben dem Verbot der irreführenden Werbung 61 insbesondere aufdringliche Werbemethoden unzulässig62, die Ausdruck eines rein geschäftsmäßigen, ausschließlich am Gewinn orientierten Verhaltens sind. Dazu gehören das unaufgeforderte direkte Herantreten an potentielle Mandanten (gezielte Werbung) und das sensationelle oder reklamehafte Sich-Herausstellen. Nur insoweit findet das Werbeverbot in § 43 BRAO eine gesetzliche Grundlage.“

Das Bundesverfassungsgericht erachtete die Teilnahme am Anwaltssuchservice nicht als ein unaufgefordertes direktes Herantreten an potentielle Mandanten und daher nicht als gezielte Werbung. Es handle sich auch nicht um eine reklamehafte Werbung. Die Anwaltssuchservice-GmbH habe auch nicht die Tätigkeitsbereiche ihrer Teilnehmer reklamehaft im Vergleich zu den nicht teilnehmenden Rechtsanwälten herausgestellt. In einem weiteren Beschluss vom 17. September 1993 bestätigte das Verfassungsgericht seine Konkretisierungen zu dem Begriff der gezielten Werbung 63. In diesem Fall gab der beschwerdeführende Rechtsanwalt im Oktober 1986 in seinen Kanzleiräumen ein Interview, das in einem Magazin veröffentlicht wurde. Der Beschwerdeführer wurde als „Mietrechts-Spezialist“ und „Rechtsanwalt“ vorgestellt. Das Bundesverfassungsgericht führte aus, eine Pflicht des Rechtsanwalts werbende Presseartikel zu kontrollieren und zu unterbinden könnte aus § 43 BRAO allenfalls insoweit abgeleitet werden, als eine Umgehung des berufsrechtlichen Werbeverbots vorliege. Nur soweit gezielte Werbung zu erwarten sei, können geeignete Vorkehrungen aufgrund des anwaltlichen Werbeverbotes verlangt werden. Als entscheidende Begriffe für die Begrenzung der anwaltlichen Werbung entwickelten sich das Verbot der aufdringlichen Werbung und der irreführenden Werbung 64. Zu betonen ist, dass die Entscheidungen des Bundesverfassungsgericht lediglich als Vorgaben für die Übergangszeit bis zur Regelung der anwalt61 62 63 64

Hervorhebung durch den Verfasser. Hervorhebung durch den Verfasser. BVerfG BRAK-Mitt. 1993, 227. Römermann, in Hartung/Holl, a.a.O., Vor § 6 BerufsO Rn. 85.

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lichen Werbung durch den Gesetzgeber dienten. Insoweit war nur die Frage zu beantworten, welche Werbeverbote mit der von Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Berufsfreiheit vereinbar sind. Jedoch wies Feuerich schon im Jahr 1988 darauf hin, dass „mit einer längeren Übergangszeit gerechnet werden muß, da entsprechende gesetzgeberische Maßnahmen in naher Zukunft wohl nicht zu erwarten sind“ 65. Erst 1994 setzte der Gesetzgeber die Vorgaben des Bundesverfassungsgericht durch die Berufsrechtsnovelle in Gesetzesform um. 3. Verabschiedung des § 43b BRAO mit der Berufsrechtsnovelle Das Abwarten des Gesetzgebers lässt sich dadurch erklären, dass sich in der Anwaltschaft eine intensive Diskussion über die Grenzen der anwaltlichen Werbung entwickelte. Der Entwurf der Bundesrechtsanwaltskammer aus dem Jahr 1990 enthielt zur Frage des anwaltlichen Werberechts eine sehr ausführliche Regelung mit dem Ziel, sämtliche Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts umzusetzen 66. § 12 dieses Entwufs sah folgende Bestimmung für die Werbung vor: „§ 12 Allgemeine Grundsätze: (1) Der Rechtsanwalt darf über seine Dienstleistung und seine Person informieren, soweit die Angaben sachlich richtig, objektiv nachprüfbar, unmittelbar berufsbezogen und durch ein Interesse der Rechtsuchenden oder der Öffentlichkeit gerechtfertigt sind. Er darf weder seine Dienstleistungen noch seine Person reklamehaft herausstellen. (2) Gezieltes Werben um Mandate und Mandanten ist berufswidrig. Insbesondere darf der Rechtsanwalt weder seine Dienste unaufgefordert anbieten noch anderen Rechtsanwälten Mandate und Mandanten abwerben. (3) Der Rechtsanwalt darf weder veranlassen noch dulden, daß Dritte für ihn Werbung betreiben, die ihm selbst verboten ist.“

Der im Gesetzgebungsverfahren eingebrachte Entwurf der Bundesregierung 67 für einen neuen § 43b BRAO stimmte mit der später Gesetz gewordenen Fassung nahezu überein. Er enthielt aber noch einen Zusatz über das Verbot der reklamehaften Werbung, der später im Rechtsausschuß als ungenau gestrichen und durch die Formulierung ersetzt wurde, die Information über die berufliche Tätigkeit des Rechtsanwalts müsse „in Form und Inhalt“ sachlich sein 68. In dieser Fassung wurde die Vorschrift über die Anwaltswerbung schließlich Bestandteil des Gesetzes zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und Patentanwälte vom 2. September 199469. Danach ist 65 66 67 68 69

Feuerich, Standesrecht in der Übergangszeit, AnwBl. 1988, S. 502. BRAK-Mitt. 1990, Beiheft 8, S. 6. Gesetzentwurf der BReg., BT-Drucks. 12/4993, S. 5. BT-Drucks. 12/7656 S. 8 und 48. BGBl. I S. 2278.

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dem Rechtsanwalt Werbung „nur erlaubt, soweit sie über die berufliche Tätigkeit in Form und Inhalt sachlich unterrichtet und nicht auf die Erteilung eines Auftrags im Einzelfall gerichtet ist.“ § 59b Abs. 2 Nr. 3 der Berufsrechtsnovelle 1994 gibt der Satzungsversammlung die Kompetenz, die besonderen Berufspflichten im Zusammenhang mit der Werbung durch Satzung näher zu regeln, wovon diese im Rahmen der von ihr auf ihrer 5. Sitzung am 29. November 1996 in Berlin beschlossenen Berufsordnung (BORA) 70 in den §§ 6 bis 10 BORA Gebrauch machte. Das in der Berufsordnung konkretisierte Werberecht hat in der Zwischenzeit bereits mehrere Änderungen erfahren. Aufgrund der durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts herbeigeführten gesetzlichen Neuregelung des anwaltlichen Werberechts lautet die entscheidende Frage nicht mehr, ob, sondern wie für anwaltliche Dienstleistungen geworben werden darf.

IV. Die Anwaltswerbung nach neuem beruflichem Werberecht 1. Verfassungsrechtliche Vorgaben a) Nach der rechtlichen Neuregelung des anwaltlichen Werberechts hat die Rechtsprechung die Grenzen zu nicht erlaubten Werbemethoden weiter konturiert. Das Bundesverfassungsgericht stellte in seinem Beschluss vom 17. April 2000 zur Anwaltswerbung durch „Sponsoring“ insoweit fest 71: „Welche Werbeformen als üblich, angemessen oder als übertrieben bewertet werden, unterliegt zeitbedingten Veränderungen; dem Wandel – auch außerhalb der freien Berufe – ist Rechnung zu tragen, weil sich hierdurch Wahrnehmungsfähigkeit und Wahrnehmungsbereitschaft der Öffentlichkeit ändern. Allein aus dem Umstand, dass eine Berufsgruppe ihre Werbung anders als bisher üblich gestaltet, kann nicht gefolgert werden, dass dies unzulässige Werbung ist.“

Der Entscheidung lag ein Sachverhalt zu Grunde, in dem eine Anwaltssozietät verschiedene kulturelle Veranstaltungen, so ein Konzert der NDR-Big Band mit der Norddeutschen Philharmonie Rostock, den 7. Landespresseball Mecklenburg-Vorpommern und eine Kunstbörse mit anschließender Auktion sponserten. In der Unterzeile von Werbeplakaten, Anzeigen und Einladungen wurde die Anwaltssozietät namentlich als Sponsor der Veranstaltungen aufgeführt. Das OLG Rostock erließ in der Berufungsinstanz eine einstweilige Verfügung, die die Anwaltssozietät zur Unterlassung des Sponsoring verpflichtete. Nach Auffassung des OLG stelle das Auftreten als

70 71

BRAK-Mitt. 1996, 241. BVerfG NJW 2000, S. 3195.

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Sponsor einen Verstoß gegen § 1 UWG i.V.m. § 43b BRAO und § 6 Abs. 1 BORA dar. Denn Anwaltswerbung durch Sponsoring informiere nicht inhaltlich über anwaltliche Tätigkeiten. Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass das OLG bei seiner einstweiligen Verfügung die von Art. 12 Abs.1 GG geschützte Berufsfreiheit in ihrer Bedeutung verkannt habe. Die Annahme, Anwälten sei Sponsoring regelmäßig verboten, beruhe auf einer grundsätzlich unzutreffenden Anschauung von der Bedeutung der Berufsfreiheit. Die Publikationen auf den Werbeplakaten und Einladungen seien in der äußeren Form nicht unsachlich gewesen. Der Informationsgehalt liege gerade in dem Hinweis auf die Existenz der Kanzlei und der Tatsache der finanziellen Unterstützung der kulturellen Ereignisse. Bemerkenswert ist der Hinweis des Verfassungsgerichts, dass § 43b BRAO und § 6 Abs. 1 BORA zu Recht nicht abschließend festlegen, welche Informationen zu Werbezwecken zulässig sind. Maßgeblich für die Beurteilung des Werbeverhaltens sei der Standpunkt der angesprochenen Verkehrskreise, nicht die möglicherweise besonders strenge Auffassung des jeweiligen Berufsstandes. Die Aussage des Verfassungsgericht, dass die Grenzen der anwaltlichen Werbung zeitbedingten Veränderungen und dem Wandel auch außerhalb der freien Berufe unterliege, stellt eine „dynamische Öffnungsklausel“ für das anwaltliche Werberecht dar. Einschränkungen der Werbung bedürfen jeweils formal einer gesetzlichen Grundlage und materiell der Kontrolle durch die übergeordneten Verfassungsgrundsätze, wobei eine Gesamtabwägung zwischen der Berufsausübungsfreiheit des einzelnen Rechtsanwalts und den Gemeinwohlbelangen der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und der Interessen der Rechtsuchenden erforderlich ist. Verfassungsrechtlich zu beanstanden wären daher Einschränkungen unter dem Gesichtspunkt des Konkurrentenschutzes. Werbebeschränkungen haben, wie Eylmann zutreffend ausführt, den Zweck zu verfolgen, die „Funktion des Anwalts im System der Rechtspflege zu sichern.“ 72 Die Schranken des anwaltlichen Werberechts müssen hierfür geeignet sein, dass Vertrauen der Rechtsuchenden in unabhängige, kompetente und nicht ausschließlich am Gewinnstreben orientierte Rechtsanwälte zu stärken. b) Von maßgeblicher Bedeutung für die Beurteilung werbewirksamer Verlautbarungen ist neben Art. 12 Abs. 1 GG auch Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG, das Grundrecht der Meinungsfreiheit. Das Bundesverfassungsgericht prüft Beschränkungen von Werbemaßnahmen dann am Grundrecht der Meinungsfreiheit, wenn die „Ankündigung einen wertenden meinungsbildenden Inhalt hat oder Angaben enthält, die der Meinungsbildung dienen“.73 72 73

Eylmann, in Henssler/Prütting, a.a.O., § 43b Rn. 9. BVerfGE 95, 173 (182).

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Folgerichtig erging die Entscheidung zu den JUVE-Handbuch-Ranglisten zu Art. 5 Abs. 1 GG 74. Nach Auffassung des Verfassungsgerichts enthielten die im JUVE-Handbuch über wirtschaftsrechtlich orientierte Anwaltskanzleien jährlich im redaktionellen Teil für einzelne Rechtsgebiete und Regionen veröffentlichten Ranglisten von Anwaltskanzleien wertende Äußerungen, nicht Tatsachenbehauptungen. Die Besonderheit ist, dass es sich bei den JUVE-Ranglisten nicht um Werbung von Rechtsanwälten handelt. Vielmehr informiert rechtlich ein Dritter, der JUVE-Verlag, durch seine Ranglisten durch wertende Äußerungen über Anwaltskanzleien. Daher war die Entscheidung nicht von dem Grundrecht der Berufsfreiheit i.S.d. Art. 12 Abs. 1 GG und dem anwaltlichen Berufsrecht, sondern von der Meinungsfreiheit i.S.d. Art. 5 Abs. 1 GG und dem Recht gegen den unlauteren Wettbewerb bestimmt. Gegenstand der Verfassungsbeschwerde des Herausgebers des JUVEHandbuches war ein Urteil des OLG München 75, das in der Veröffentlichung der Rangliste von Wirtschaftskanzleien einen Verstoß gegen § 1 UWG sah und deshalb den auf Unterlassung klagenden Rechtsanwälten Recht gab. Das Bundesverfassungsgericht führte aus, das OLG habe bei der Auslegung und Anwendung von § 1 UWG die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf Meinungsfreiheit verkannt. Die Anwaltslisten ließen erkennen, dass die von der JUVE-Redaktion erstellten Ranglisten Werturteile über Leistungen enthielten. Das OLG gehe unzutreffend davon aus, dass es sich bei den Ranglisten um Tatsachenäußerungen handele. Die Einordnung der Äußerungen als Werturteil sei von „weichenstellender Bedeutung“. Bei einer Einordnung als Werturteil lasse sich nach den Erkenntnissen des OLG nicht erkennen, dass die JUVE-Ranglisten ein von § 1 UWG a.F. geschütztes Rechtsgut gefährdeten. Dies setze vielmehr im konkreten Fall Feststellungen zur Gefährdung des Leistungswettbewerbs durch sittenwidriges Verhalten voraus. Eine solche Gefährdung des Leistungswettbewerbes habe das OLG in den Entscheidungsgründen nicht dargelegt. Das Verfassungsgericht hob daher die Entscheidung des OLG München auf und verwies die Sache zurück. Daraufhin hat das OLG zugunsten des Herausgebers des JUVE-Handbuches entschieden, weil eine Gefährdung durch sittenwidriges Verhalten nicht festgestellt werden konnte 76.

74 75 76

BVerfG BRAK-Mitt. 1/2003, S. 19. OLG München NJW 2001, S. 1950 ff. OLG München NJW 2003, S. 1534 ff.

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2. Die Werbevorschriften des anwaltlichen Berufsrechts im Lichte des Art. 81 EGV77 Neben den Auswirkungen des nationalen Verfassungsrecht auf das anwaltliche Werberecht, stellt sich auch die Frage, inwieweit die Werbevorschriften des deutschen anwaltlichen Berufsrechts mit Art 81 EGV vereinbar sind. In der Wouters-Entscheidung vom 19. Februar 2002 hatte der EuGH darüber zu entscheiden, ob das in den Niederlanden bestehende Verbot gemeinsamer Sozietäten von Rechtsanwälten und Wirtschaftsprüfern den Vorgaben des europäischen Wettbewerbsrecht entspricht 78. Dieses Verbot ist 1993 von der niederländischen Rechtsanwaltskammer in Form einer Satzung erlassen worden. Der EuGH sah hierin keinen Verstoß gegen das Kartellverbot des Art. 81 Abs. 1 EGV (damals: Art. 85 Abs. 1 EGV), da die niederländische Rechtsanwaltskammer bei vernünftiger Betrachtung annehmen konnte, dass die nationale Regelung trotz ihrer wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen für die ordnungsgemäße Ausübung des Rechtsanwaltsberufs, wie er in den Niederlanden geregelt ist, erforderlich ist. Die gleiche Frage stellte sich im Arduino-Verfahren für die italienische Rechtsanwalts-Gebührenordnung, die alle zwei Jahre auf Vorschlag der italienischen Rechtsanwaltskammer aufgrund der Genehmigung durch den italienischen Justizminister zustande kommt. Der Gerichtshof verneinte im Arduino-Urteil vom 19. Februar 2002 ebenfalls einen Verstoß gegen Art. 81 EGV. Die italienische Rechtsanwaltskammer CNF habe nicht das Recht zum Erlass einer verbindlichen Gebührenordnung mit Mindest- und Höchstsätzen, sondern erarbeite lediglich einen unverbindlichen Vorschlag, der erst nach Genehmigung des Ministers in Form eines Gesetzes oder einer Verordnung verabschiedet werde.79 Die Auswirkungen dieser beiden Entscheidungen auf das Berufsrecht der Rechtsanwälte in Deutschland stehen in einem lebhaften Diskurs 80, zu dem K. Peter Mailänder sehr differenziert beigetragen hat 81. Er hat dabei auch zu Recht die Frage gestellt, ob unmittelbare oder mittelbare Verbote der Berufs77 Das Europarecht hat in der anwaltlichen Tätigkeit von K. Peter Mailänder von Anbeginn erstrangige Bedeutung. In vielen Fällen vertrat er Mandantenbelange erfolgreich vor dem Europäischen Gerichtshof und bei der Generaldirektion Wettbewerb der Europäischen Kommission. Die Gründung des Büros Brüssel von Haver & Mailänder im Jahre 1987 als eines der ersten deutschen Büros am Ort der Europäischen Kommission ist maßgeblich auch seiner Initiative zu danken. Über seine Tätigkeit als Mitglied des Europa-Ausschusses sowie der Brüsseler Arbeitsgruppe Deregulierung und Wettbewerb der Bundesrechtsanwaltskammer berichtet Heinz Weil in dieser Festschrift in seinem Beitrag: „Die Rechtsanwaltschaft im Spannungsfeld von Berufsrecht und Wettbewerbsrecht“. 78 EuGH, Rs. C-309/99, Slg. 2002, I-1577, 1653 =EuGH NJW 2002, S. 877 ff. 79 EuGH, Rs. C-35/99, Slg. 2002, I-1529, 1561 = EuGH NJW 2002, S. 882 ff. 80 Vgl. z.B. die Nachweise bei Eichele/Happe NJW 2003, S. 1214ff. 81 Mailänder, BRAK-Mitt., 3/2003 S. 114 ff.; ders. Der Syndikus, November/Dezember 2001, S. 15 ff.

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ordnung zum anwaltlichen Werberecht noch den Immanenzkriterien entsprechen 82. Ferner hat er zutreffend in Erinnerung gerufen, dass „anwaltliches Tun von berufsethischen Vorgaben nicht weniger geprägt ist als von unternehmerischen Zielsetzungen“.83 Diese grundlegende Aussage darf auch bei der Bestimmung der rechtlichen Grenzen des anwaltlichen Werbung nicht außer Acht bleiben. 3. Moderne Formen der anwaltlichen Werbung Die anwaltliche Werbung hat in den letzten Jahren erhebliche Veränderungen bei inhaltlicher Gestaltung und äußerer Form erfahren. Dies mag auch das Bundesverfassungsgericht bedacht haben, als es feststellte, dass die Zulässigkeit anwaltlicher Werbung zeitbedingten Veränderungen unterliegt 84. Im ständig zunehmenden Wettbewerb zwischen den Rechtsanwälten besteht die Versuchung zu einer immer weiter reichenden, gegebenenfalls auch aggressiven Werbung auf der Suche nach neuen Werbemethoden, um die Werbemaßnahmen der Konkurrenz zu überbieten. Als besondere Erscheinungsformen sind hier die Werbung mit Umsatzzahlen, des Veranstaltungsmarketings sowie die Presse- und Medieninformationen zu nennen. a) Ein modernes Phänomen der anwaltlichen Werbung ist die Werbung mit Umsatzzahlen. Nach § 6 Abs. 3 Satz 1 i.d.F. vom 29. November 1996 BORA ist die Angabe von Erfolgs- und Umsatzzahlen generell unzulässig. Insoweit geht jedoch die herrschende Rechtsauffassung dahin, dass diese Norm wegen Verstoßes gegen Art. 12 Abs. 1 GG und gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 GG verfassungswidrig ist 85. Im Juni 2004 entschied das OLG Nürnberg 86 einen Fall, in dem ein Rechtsanwalt in einer fünfseitigen Pressemitteilung mit einem erzielten Rekordwachstum warb. Er wies darauf hin, dass sein Umsatz im Jahr 2001 um 37,2 % gestiegen sei. Das Oberlandesgericht Nürnberg führte aus, dass Werben von Rechtsanwälten mit Umsatzzahlen sei weder irreführend im Sinne von § 3 UWG alte Fassung noch sittenwidrig im Sinne von § 1 UWG alte Fassung. § 6 Absatz 3 BORA verstoße gegen die nach Artikel 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit. Einschränkungen der Berufsfreiheit bedürften nicht nur einer formalgesetzlichen Grundlage, die vorliegend in § 59b Absatz 3 82

Mailänder, BRAK-Mitt., 3/2003 S. 114 (S. 118). Mailänder, a.a.O. S. 119. 84 BVerfG NJW 2000, 3195. 85 Kleine-Cosack, a.a.O. Anh. I 1, § 6 BORA Rn. 4; Huff, EWiR, § 6 BORA 1/04, 223 (224); Eylmann in Henssler/Prütting, Rn. 7 zu § 6 BORA; Römermann in Hartung/Holl, Rn. 29 und Rnrn. 136 ff. zu § 6 BORA. 86 NJW 2004, 2167. 83

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BRAO zu sehen sei, sondern auch materiell der Rechtfertigung durch das Gemeinwohlinteresse. Als Gemeinwohlinteresse komme insoweit nur die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und das Vertrauen der Rechtsuchenden in die Rechtsanwaltschaft in Betracht. Das OLG Nürnberg weist darüber hinaus zutreffend darauf hin, dass das Werbeverbot mit Umsatzzahlen gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Artikel 3 GG verstoße. Hierbei ist zu bedenken, dass Rechtsanwälte gemäß § 59c BRAO die Rechtsform einer GmbH sowie nach der jüngeren Rechtsprechung des BGH auch die einer AG wählen dürfen. Solche Rechtsanwalts-Kapitalgesellschaften unterliegen jedoch gemäß § 325 HGB kraft Gesetzes der Publizitätspflicht. Sie müssen den Jahresabschluss und eine Reihe weiterer Unterlagen unter Angabe des Jahresüberschusses und des Jahresfehlbetrages dem Registergericht vorlegen und veröffentlichen. Rechtsanwalts-Kapitalgesellschaften kann daher schon aus diesem Grund ein Werben mit Umsatzzahlen nicht untersagt werden.87 Wenn aber Kapitalgesellschaften eine werbliche Bekanntgabe von Umsatzzahlen erlaubt sei, sei kein sachlicher Grund erkennbar, weswegen es Rechtsanwaltspersonengesellschaften oder Einzelanwälten verboten sein soll, mit Umsatzzahlen zu werben. b) Eine weitere Erscheinungsform der modernen Anwaltswerbung ist das sog. „Veranstaltungsmarketing“ 88. In einer Entscheidung aus dem Jahr 2001 hat der BGH ein solches „Veranstaltungsmarketing“ ausdrücklich zugelassen 89. Dies verdeutlicht, dass das heutige anwaltliche Werberecht genau solche Werbemaßnahmen zulässt, die vor den Entscheidung des Bundesverfassungsgericht im Jahr 1987 von den Ehrengerichten beanstandet wurden. In der Übergangszeit zwischen der verfassungsgerichtlichen Entscheidung und der Kodifizierung des § 43b BRAO hatte der gleiche Senat des BGH die Veranstaltung einer Vernissage noch untersagt, weil eine solche Veranstaltung mit dem damals geltenden § 43 BRAO nicht für vereinbar angesehen wurde.90 c) Vermehrt versuchen Anwälte auch durch Pressemeldungen und Medieninformationen auf sich aufmerksam zu machen. Diese sind heute Bestandteil einer grundsätzlich erlaubten Öffentlichkeitsarbeit von Rechtsanwälten, deren Zulässigkeit im Einzelfall ebenfalls nach § 43b BRAO nach Maßgabe von Art. 12 Abs. 1 GG zu beurteilen ist. Unter dem Begriff der Öffentlichkeitsarbeit wird in der Wirtschaft die „Erzeugung eines planvoll entwickelten Bildes“ des eigenen Unternehmens verstanden 91, um dieses gegenüber Dritten bekannt zu machen. Demgegenüber wird der Begriff der Werbung vom 87 88 89 90 91

Kleine-Cosack, a.a.O.; Römermann, a.a.O. Vgl. Huff, Anwalt – Das Magazin (Beilage zur NJW), 8–9/2001, S. 6ff. BGH NJW 2001, 2087. BGH NJW 1991, 2641. Vorwerk/Somer in: Hartung/Römermann, Marketing und Management, 1999, S. 956.

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BGH enger dahin definiert, dass sie „darauf angelegt ist, andere dafür zu gewinnen, die Leistung desjenigen, für den geworben wird, in Anspruch zu nehmen.“ 92 Wie Huff in seiner Abhandlung zu Rechtsfragen schriftlicher Medieninformationen von Rechtsanwälten anhand eigener praktischer Erfahrungen zutreffend ausführt, ist es für Rechtsanwälte „erforderlich, in den Medien präsent zu sein, um die eigene Kompetenz anzuzeigen und damit auch den Rechtsberatungsumsatz in der Branche zu lassen und nicht z.B. an Banken, Versicherungen und Unternehmensberater abzugeben.“ 93 Auch Rechtsanwälte dürfen demnach von sich aus mit Pressemeldungen und Medieninformationen auf die Medien zugehen und diesen Informationen sowie Fotos von der Kanzlei und den Kanzleimitgliedern anbieten.94 Wesentlich ist dabei, dass der Rechtsanwalt seine Informationen im Sinne der Rechtsprechung zu § 43b BRAO sachlich gestaltet, diese auch wettbewerbsrechtlich zulässig und nicht irreführend formuliert und darauf achtet, dass die Meldung vollständig und zuverlässig ist.95

V. Ausblick auf die weitere Entwicklung des Rechts der anwaltlichen Werbung Als Zwischenbilanz bleibt fest zu halten, dass die Werbung für anwaltliche Dienstleistungen auf der Grundlage der Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 1987 in den beiden letzten Jahrzehnten eine tiefgreifende Neubewertung erfahren hat, „vom Werbeverbot zum Werberecht“ wie ein Fachautor einprägsam formulierte.96 Dabei ergeben sich inhärente Grenzen des anwaltlichen Werberechts aus der beruflichen Stellung des Rechtsanwalts als ein unabhängiges Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO), dessen Tätigkeit kraft Gesetzes kein Gewerbe ist (§ 2 Abs. 2 BRAO). Das Verfassungsgericht hat darauf hingewiesen, dass dieses anwaltliche Berufsbild nicht durch kommerzielle Werbemethoden verfälscht werden soll, wie sie in der gewerblichen Wirtschaft üblich sind.97 Bis zur Verabschiedung des § 43b BRAO als werberechtliche lex specialis durch

92 BGH NJW 1992, 45 (in dieser Entscheidung vom 07.10.1991 hatte der BGH die Selbstbezeichnung eines Rechtsanwalts als „Strafverteidiger“ als berufswidrige Werbung angesehen). Siehe auch BGH NJW 2003, 346 mit weiterenNachweisen. 93 Festschrift für Felix Busse zum 65. Geburtstag, 2005, S. 163 (166). 94 BVerfG NJW 1992, 2341; BVerfG NJW 2000, 1635 m. Anm. Huff, EWiR § 43b BRAO 1/2000. 95 Huff, Festschrift für Felix Busse, S. 163 (166, 168, 171). 96 Kleine-Cosack, NJ 2002, 57. 97 BVerfGE 76, 196, 207, 210.

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die Berufsrechtsnovelle hat das Verfassungsgericht in seinen Beschlüssen vom 14. Juli 1987 im wesentlichen nur Einschränkungen der anwaltlichen Berufsausübungsfreiheit aufgrund vorkonstitutionellen Gewohnheitsrechts und der von ihm nicht beanstandeten Generalklausel des § 43 BRAO und ihrer Auslegung durch die ehrengerichtliche Rechtsprechung für zulässig erachtet.98 Zum Kernbestand anwaltlicher Berufspflichten zählte es das Sachlichkeitsgebot.99 Speziell mit Bezug auf die anwaltliche Werbung hat das Verfassungsgericht für die Übergangszeit bis zum Beschluss der neuen Berufsordnung aus der Generalklausel des § 43 BRAO das Verbot der gezielten Werbung um Praxis sowie das der irreführenden Werbung hergeleitet 100, welches seit jeher unangefochten als Kern des Werbeverbots zu den Pflichten der freien Berufe zählt.101 Es war die Zielsetzung des Gesetzgebers, mit der Berufsrechtsnovelle die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in einer Gesetzesbestimmung über das Werberecht als spezielle Berufsausübungsregelung i.S.d. Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG in die BRAO aufzunehmen. In gewissem Widerspruch hierzu steht jedoch der Wortlaut des § 43b BRAO. Danach ist Werbung dem Rechtsanwalt nur erlaubt, soweit sie sachlich unterrichtet und nicht auf die Erteilung eines Auftrages im Einzelfall gerichtet ist. Bedenklich ist die Verwendung des Adverbs „nur“ in Verbindung mit dem Verb „erlaubt“, da dies den Eindruck eines grundsätzlichen Werbeverbotes und einer Zulässigkeit von anwaltlicher Werbung als bloße Ausnahme vermittelt. Eylmann weist zutreffend darauf hin, dass der Wortlaut dieser Gesetzesbestimmung der berufsrechtlichen Tradition und nicht dem verfassungsrechtlichen Freiheitsgrundsatz folgt.102 Nach den Vorgaben des geltenden Verfassungsrechts und der Bedeutung der in Art. 12 Abs. 1 GG verankerten Berufsausübungsfreiheit sowie nach dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 GG besteht ein grundsätzliches Recht zur anwaltlichen Werbung. Nicht die Gestattung der Anwaltswerbung bedarf der Rechtfertigung, sondern ihre Einschränkungen,103 die ihrerseits wiederum nach geltendem Verfassungsrecht formal eine Gesetzesgrundlage – hierzu zählt auch das Gesetz gegen den unlauteren

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BVerfGE 76, 171, 189. BVerfGE 76, 171, 190. 100 BVerfGE 76, 196, 205. 101 Siehe aus der Rechtsprechung beispielhaft die Entscheidung über die Verwendung eines irreführenden Briefbogens, in dem in der Kopfleiste die Namen der Sozietätsmitglieder zusammen mit den Berufsbezeichnungen „Rechtsanwälte, Steuerberater und Patentanwälte“ herausgestellt wurden, obwohl nur Kooperationsmitglieder über die berufliche Qualifikation als Steuerberater und Patentanwalt verfügten, BGH NJW 2003, 346/347. 102 Eylmann in Henssler/Prütting, Rn. 8 zu § 43 BRAO. 103 BVerfGE 76, 196, 207 ff.; Eylmann in Henssler/Prütting, Rn. 8 ff. zu § 43b BRAO; Kleine-Cosack, Rn. 2 ff. zu § 43b BRAO; Feuerich/Weyland, Bundesrechtsanwaltsordnung, 6. Aufl. 2003, Rn. 2 und 3 zu § 43b BRAO. 99

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Wettbewerb 104 – und materiell die Rechtfertigung durch ein Gemeinwohlinteresse erfordern. Es wäre daher wünschenswert, dass der Wortlaut der spezialgesetzlichen Regelung aufgrund der verfassungsrechtlichen Vorgaben durch Streichung des Adverbs „nur“ bereinigt wird, so dass § 43b BRAO – ähnlich wie § 6 Abs. 1 BORA – den Grundsatz der anwaltlichen Werbefreiheit klar zum Ausdruck bringt: „Werbung ist dem Rechtsanwalt erlaubt, soweit sie über die berufliche Tätigkeit in Form und Inhalt sachlich unterrichtet und nicht auf die Erteilung eines Auftrags im Einzelfall gerichtet ist.“

Im geschärften Bewusstsein des kraft unserer Verfassung bestehenden Rechts auf Anwaltswerbung sowie der aufgrund der beruflichen Stellung und Tätigkeit des Rechtsanwalts unabdingbaren Werbeverbote werden auch die kommenden Rechtsfragen geklärt werden können, die mit einem sich ständig wandelnden und zunehmend durch Technik und Medien 105 sowie durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit bestimmten anwaltlichen Leistungsumfeld in Zusammenhang stehen.

104 UWG i.d.F. der Bekanntmachung vom 03.07.2004, BGBl. I S. 1414. Zum Verhältnis des UWG zu dem in der BORA normierten anwaltlichen Werberecht zutreffend: Feuerich/ Weyland, Rn. 4 zu § 43b BRAO; Kleine-Cosack, Das Werberecht der rechts- und steuerberatenden Berufe, 1999, Rn. 92 ff. 105 Zur Anwaltswerbung im Kino, Rundfunk, Fernsehen: Eylmann im Henssler/Prütting, Rn. 58 zu § 43b; zur Anwaltswerbung im Internet: Römermann in Hartung/Holl, Rn. 206–238 Vor § 6 BORA.

Nicht koordinierte Wirkungen und schweizerische Fusionskontrolle Roger Zäch/Reto A. Heizmann Inhaltsübersicht I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Begriffliches – koordinierte und nicht koordinierte Wirkungen bzw. unilaterale Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Nicht koordinierte Wirkungen in der europäischen Fusionskontrolle . . . . . IV. Schweizerische Fusionskontrollpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gesetzliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bisherige Praxis zur kollektiven Marktbeherrschung . . . . . . . . . . . . . 3. Nicht koordinierte Wirkungen – Gedanken zu einer künftigen Praxis . . . V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. 259 . . . . . . .

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I. Einleitung Im Folgenden wird untersucht, ob die schweizerische Fusionskontrolle Zusammenschlüsse, von denen anzunehmen ist, dass sie in einer oligopolistischen Marktsituation so genannte nicht koordinierte Wirkungen zeitigen würden, erfasst. In der Literatur wird diese Frage kontrovers behandelt.1 Nach Bemerkungen zu Begrifflichem betreffend koordinierter und nicht koordinierter Wirkungen bzw. unilateraler Effekte (II.) und zur fusionskontrollrechtlichen Behandlung nicht koordinierter Wirkungen im europäischen Recht (III.) wird im Abschnitt IV. die schweizerische Fusionskontrollpraxis untersucht. Unter dieser Überschrift werden die gesetzlichen Grundlagen und die bisherige Praxis zur kollektiven Marktbeherrschung sowie Gedanken zu einer künftigen Praxis bezüglich nicht koordinierter Wirkungen dargelegt. Der Beitrag schliesst mit dem Fazit (V.).

1 Ablehnend Ganz, Kollektive Marktbeherrschung, Rn. 31f. und Borer, 204 ff.; bejahend Zäch, Kartellrecht 2005, Rn. 602 ff. und Rn. 796 sowie Heizmann, Rn. 727.

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II. Begriffliches – koordinierte und nicht koordinierte Wirkungen bzw. unilaterale Effekte Die Begriffe der koordinierten und nicht koordinierten Wirkungen resp. der unilateralen Effekte 2 sind ökonomischer Herkunft. Sie beschreiben Wirkungen, die bei horizontalen Zusammenschlüssen auf oligopolistischen Märkten oft zu beobachten sind. Nach der Ökonomie würden nicht koordinierte Wirkungen auf oligopolistischen Märkten direkt durch Unternehmenszusammenschlüsse entstehen. Denn durch solche Zusammenschlüsse entfalle der Wettbewerb zwischen den sich zusammenschliessenden Unternehmen. Dadurch vermindere sich der Wettbewerb, ohne dass eine Koordination (im ökonomischen Sinn) zwischen dem fusionierten und den anderen, auf dem Markt verbleibenden Unternehmen stattfände.3 Auch in einer oligopolistischen Marktsituation wolle jedes Unternehmen seine Gewinne maximieren. Setze ein Unternehmen für seine Produkte höhere Preise fest, könne es weniger Produkte absetzen, setze es tiefere Preise fest, könne es mehr absetzen. Eine einseitige Preiserhöhung sei für ein Unternehmen im Regelfall nur dann rentabel, wenn das durch den höheren Preis erzielte zusätzliche Einkommen den Umsatzverlust übersteige bzw. wenn es keinen Umsatzverlust erleide, weil die anderen Unternehmen den Preis ebenfalls erhöhten. Argumentiert wird, dass die vor dem Zusammenschluss bestehende Möglichkeit, dass Kunden bei einer einseitigen Preiserhöhung zum engen Rivalen – dem Fusionspartner – und zu anderen Konkurrenten abwanderten, nach dem Zusammenschluss teilweise wegfalle. Dies mache eine unilaterale, „nicht koordinierte“ Preiserhöhung für das fusionierte Unternehmen grundsätzlich attraktiver. Zudem hätten auch die übrig gebliebenen Wettbewerber Anreiz, nachzuziehen und die Preise zu erhöhen. Nicht koordinierte Wirkungen hätten wegen gestiegener Preise eine negative Wirkung auf die Konsumentenwohlfahrt. Ob unilaterale Effekte zu erwarten seien und wie stark sie ausfielen, hänge insbesondere vom Marktanteil des Übernahmeziels sowie vom Grad der Substituierbarkeit der Produkte und von den variablen Kosten der sich zusammenschliessenden Unternehmen ab. Allgemein ausgedrückt: Je mehr sich die fusionierenden Unternehmen vor dem Zusammenschluss rivalisieren würden, und je weniger die auf dem Markt verbleibenden Unternehmen in der Lage seien, das fusionierte Unternehmen unter Wettbewerbsdruck zu setzen, desto wahrscheinlicher sei es, dass der geplante Zusammenschluss den Wettbewerb reduzieren werde.4 2 Die Begriffe der „nicht koordinierten Wirkungen“ und der „unilateralen Effekte“ werden synonym verwendet. 3 Vgl. Pflanz, 125; vgl. zum Folgenden Duso, 29 und Hofer/Williams/Wu, 157; vgl. auch Borer, 203; Christiansen, 286; Ganz, Fusionen kollektiv marktbeherrschender Unternehmen, 25ff.; Röller/Strohm, Rn. 30 ff.; Vickers, 99. 4 Vgl. Pflanz, 125.

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Ein Zusammenschluss in einer oligopolistischen Marktsituation kann nach der ökonomischen Theorie zudem die Wahrscheinlichkeit einer Koordination zwischen den im Markt verbleibenden Unternehmen erhöhen, was etwa zu Preiserhöhungen, die sich negativ auf die Konsumentenwohlfahrt auswirkten, führen könne. Wenn ein Unternehmen durch vorstossendes Verhalten – etwa durch Preissenkungen 5 – seine Marktposition nicht verbessern könne, weil die anderen Oligopolunternehmen den Preissenkungen folgen würden und dies dazu führte, dass die Absatzmengen und Marktanteile der Unternehmen in etwa gleich blieben, aber auf einem niedrigeren Preisniveau,6 habe an einem solchen Ergebnis keines der Oligopolunternehmen ein Interesse. Dies führe dazu, dass vorstossendes Verhalten unterbleibe. Zu beachten ist, dass der so verstandene Begriff der Koordination nicht identisch ist mit den drei Mitteln der Koordinierung im Sinne von Art. 81 Abs. 1 EGV bzw. Art. 4 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 5 KG, sondern weiter geht.7 Koordinierung im Sinne der Ökonomie meint auch den Fall der Wechselbezüglichkeit des Verhaltens von Unternehmen auf einem Markt, indem es den Unternehmen ohne Wettbewerbsabrede gelingt, den Wettbewerb untereinander zu beschränken oder gar auszuschalten; erfasst wird also auch der Fall, in dem es ihnen gelingt, ohne Abstimmung im rechtlichen Sinne eine so genannte „Abstimmung über den Markt“ zu erzielen.8 Mit anderen Worten erkennen die Unternehmen, dass die Situation auf dem Markt so ist, dass niemand von den anderen zu Wettbewerb gezwungen wird und daher sehen alle von Wettbewerb ab; sie machen sich keinen Wettbewerb.9

III. Nicht koordinierte Wirkungen in der europäischen Fusionskontrolle Die Verordnung (EG) Nr. 139/2004 10 ersetzte am 1. Mai 2004 die erste EG-Fusionskontrollverordnung aus dem Jahre 1989 (Verordnung [EWG] Nr. 4064/89 11). Wohl auch in Reaktion auf das Urteil des Gerichts erster 5 Wettbewerbsbeschränkende Koordination kann nicht nur den Preis, sondern alle Parameter der Unternehmenspolitik betreffen, vgl. Ganz, Kollektive Marktbeherrschung, Rn. 3, m.N. 6 Vgl. Ganz, Kollektive Marktbeherrschung, Rn. 3. 7 Vgl. für das europäische Recht Zimmer, 253 f.; vgl. auch Zäch, Kartellrecht 2005, Rn. 607. Vgl. zur Unterscheidung einer Abrede (im Sinne von Art. 81 Abs. 1 EGV) von unilateralem Verhalten Wickihalder, 87 ff. 8 Vgl. für das europäische Recht Zimmer, 254; vgl. auch Zäch, Kartellrecht 2005, Rn. 607. 9 Grundsätzlich zum Wettbewerb Zäch, Kartellrecht 2005, Rn. 10ff. 10 Verordnung (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20. Januar 2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen („EG-Fusionskontrollverordnung“), ABl. 2004 L 24/1. 11 Verordnung (EWG) Nr. 4064/89 des Rates vom 21. Dezember 1989 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. 1990 L 257/13; ergänzt durch Verordnung

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Instanz (EuG) in Sachen Airtours vom 6. Juni 2002 12 wurde im Rahmen dieser Revision das einschlägige Eingreifskriterium wie folgt neu formuliert: Zu untersagen sind „Zusammenschlüsse, durch die wirksamer Wettbewerb (…) erheblich behindert würde, insbesondere durch Begründung oder Verstärkung einer beherrschenden Stellung“ (Art. 2 Abs. 3 FKVO Nr. 139/2004).13 Mit dieser Neufassung sollte ermöglicht werden, in Anlehnung an den im angelsächsischen Rechtsraum gebräuchlichen SLC-Test 14 Zusammenschlüsse in oligopolistischen Märkten, mit denen beträchtlicher Wettbewerbsdruck zwischen den fusionierenden Unternehmen beseitigt und dadurch der Wettbewerbsdruck auf die verbleibenden Wettbewerber gemindert wird, unabhängig davon, ob zwischen den verbleibenden Unternehmen eine irgendwie geartete Koordinierung stattfindet, bei entsprechenden Bedenken zu untersagen.15 Das heisst: Die EU-Kommission kann nunmehr Transaktionen, die zu einer Einzelmarktbeherrschung, zu einer kollektiven Marktbeherrschung resp. zu koordinierten Wirkungen oder zu nicht koordinierten Wirkungen führen würden, kontrollieren und gegebenenfalls untersagen. Vor dieser Reform der FKVO befand die EU-Kommission im Entscheid Airtours, dass nicht koordinierte Wirkungen in oligopolistischen Märkten für die Annahme einer kollektiven Marktbeherrschung ausreichen würden, das heisst, dass für das Vorliegen einer kollektiven Marktbeherrschung keine Koordinierung im ökonomischen Sinne, geschweige denn im Sinne von Art. 81 EGV, nötig sei.16 Der Entscheid der EU-Kommission wurde beim EuG angefochten und – vor allem wegen Verfahrensfehlern und unzureichender Sachverhaltsaufklärung – für nichtig erklärt. Zur Frage der nicht koordinierten Wirkungen äusserte sich das EuG nicht; in der Urteilsbegründung nannte es nur die Voraussetzungen für koordinierte Wirkungen.17 So

(EG) Nr. 1310/97 des Rates vom 30. Juni 1997 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 4064/89 des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. 1997 L 180/1. 12 EuG, Rs. T-342/99, Slg. 2002, II-2585, Airtours/Kommission. 13 Nach der englischen Fassung der FKVO Nr. 139/2004 wird die Prüfung nach dem neuen Eingreifskriterium auch SIEC-Test genannt; die englische Fassung lautet: „A concentration which would significantly impede effective competition, in the common market or in a substantial part of it, in particular as a result of the creation or strengthening of a dominant position, shall be declared incompatible with the common market“, Art. 2 Abs. 3 FKVO Nr. 139/2004, engl. Fassung; vgl. Zimmer, 251; vgl. auch Zäch, Kartellrecht 2005, Rn. 230. 14 Vgl. Zimmer, 250, m.N. 15 Vgl. Begründungserwägung 25 FKVO Nr. 139/2004; vgl. Zäch, Grundzüge 2005, Rn. 835; Zäch, Kartellrecht 2005, Rn. 230 und Rn. 609. 16 EU-Kommission, 22. September 1999, Nr. IV/M.1524, Rn. 54f. sowie Rn. 150 – Airtours/First Choice. 17 Ob das EuG generell die Feststellung kollektiver Marktbeherrschung auf den Nachweis der Wahrscheinlichkeit koordinierter Wirkungen beschränkte oder ob es nur die für

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machte es das Entstehen einer kollektiv marktbeherrschenden Stellung von folgenden drei Voraussetzungen abhängig: Erstens müsse jedes Unternehmen das Verhalten der anderen Unternehmen überprüfen können, um festzustellen, ob sie sich an die Vereinbarungen hielten (Transparenz); zweitens müsse irgendeine Form von Abschreckung bestehen, die abweichendes Verhalten verhindere (Sanktionsmechanismus); drittens dürfe die voraussichtliche Reaktion Dritter wie der tatsächlichen und potenziellen Konkurrenten sowie der Verbraucher die erwarteten Ergebnisse des gemeinsamen Vorgehens nicht in Frage stellen (keine Reaktion von Kunden und Wettbewerbern).18 Generell setzte das EuG in diesem Urteil die Anforderungen an den Nachweis einer kollektiven Marktbeherrschung höher 19, was in der Folge wohl auch einem „more economic approach“ Vorschub leistete. Die EU-Kommission wandte die analytischen Kriterien für die Untersuchung eines Zusammenschlusses auf zu erwartende unilaterale Effekte auch in anderen Fällen an.20 Von diesen ist insbesondere das Zusammenschlussvorhaben von Oracle und PeopleSoft 21 zu nennen, das die EU-Kommission am 26. Oktober 2004 freigab. Da dieses Zusammenschlussvorhaben am 14. Oktober 2003 angemeldet wurde, war es noch nach den Vorschriften der FKVO Nr. 4064/89 zu prüfen. Wenngleich die EU-Kommission in ihrem Entscheid die Frage offen liess, ob der Marktbeherrschungstest der FKVO Nr. 4064/89 auch nicht koordinierte Wirkungen erfasst, lässt sich aus der Systematik der Untersuchung – die EU-Kommission gliederte sie in die Untergruppen „Nicht koordinierte Wirkungen“ und „Koordinierte Wirkungen“ 22 – und aus der Tatsache, dass die EU-Kommission prüfte, ob Oracle nach dem Zusammenschluss in der Lage sein würde, gewinnbringend seine Preise zu erhöhen 23, schliessen, dass sie davon ausging, dass der Marktbeherrschungstest einer solchen Auslegung zugänglich ist. Insgesamt lässt sich festhalten, dass nach der Praxis der EU-Kommission mit dem Marktbeherrschungstest der FKVO Nr. 4064/89 auch Unternehmenszusammenschlüsse, von denen nicht koordinierte Wirkungen bzw. uni-

den Nachweis koordinierter Wirkungen notwendigen Bedingungen nannte, ist allerdings umstritten, vgl. Ganz, Kollektive Marktbeherrschung, Rn. 15, m.N. 18 EuG, Rs. T-342/99, Slg. 2002, II-2585, Rn. 62, Airtours/Kommission; vgl. auch EUKommission, 26. Oktober 2004, Nr. COMP/M.3216, Rn. 208 – Oracle/PeopleSoft. 19 EuG, Rs. T-342/99, Slg. 2002, II-2585, Rn. 294, Airtours/Kommission; vgl. auch EuG, Rs. T-5/02, Slg. 2002, II-4381, Rn. 160,Tetra Laval/Kommission; vgl. Dethmers, 639f. 20 Vgl. Baxter/Dethmers, 380 und Fn. 5, m.N. 21 EU-Kommission, 26. Oktober 2004, Nr. COMP/M.3216 – Oracle/PeopleSoft; vgl. dazu Käseberg, 998ff. 22 EU-Kommission, 26. Oktober 2004, Nr. COMP/M.3216, Rn. 187–205 (nicht koordinierte Wirkungen) und Rn. 206–214 (koordinierte Wirkungen) – Oracle/PeopleSoft. 23 EU-Kommission, 26. Oktober 2004, Nr. COMP/M.3216, Rn. 205 – Oracle/PeopleSoft.

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laterale Effekte zu erwarten waren, untersagt werden konnten.24 Das Gericht erster Instanz oder der Gerichtshof befassten sich mit dieser Frage nicht.

IV. Schweizerische Fusionskontrollpraxis 1. Gesetzliche Grundlagen Nach Art. 10 Abs. 2 KG kann die Wettbewerbskommission „den Zusammenschluss untersagen oder ihn mit Bedingungen und Auflagen zulassen, wenn die Prüfung ergibt, dass der Zusammenschluss: a) eine marktbeherrschende Stellung, durch die wirksamer Wettbewerb beseitigt werden kann, begründet oder verstärkt; und b) keine Verbesserung der Wettbewerbsverhältnisse in einem anderen Markt bewirkt, welche die Nachteile der marktbeherrschenden Stellung überwiegt“.

Art. 10 Abs. 4 KG nennt zwei weitere Kriterien, die bei der Beurteilung eines Unternehmenszusammenschlusses zu beachten sind: „Bei der Beurteilung der Auswirkungen eines Zusammenschlusses auf die Wirksamkeit des Wettbewerbs berücksichtigt die Wettbewerbskommission auch die Marktentwicklung sowie die Stellung der Unternehmen im internationalen Wettbewerb“.

Art. 4 Abs. 2 KG definiert den Begriff des marktbeherrschenden Unternehmens wie folgt: „Als marktbeherrschende Unternehmen gelten einzelne oder mehrere Unternehmen, die auf einem Markt als Anbieter oder Nachfrager in der Lage sind, sich von andern Marktteilnehmern (Mitbewerbern, Anbietern oder Nachfragern) in wesentlichem Umfang unabhängig zu verhalten“.

2. Bisherige Praxis zur kollektiven Marktbeherrschung Die Wettbewerbskommission anerkannte im Jahr 1998 ausdrücklich, dass das Konzept der kollektiven Marktbeherrschung im Rahmen des Kartellgesetzes Anwendung fände.25 In der bisherigen fusionskontrollrechtlichen Praxis wurde insbesondere in vier Zusammenschlussvorhaben eine kollektiv marktbeherrschende Stellung näher untersucht 26, in diversen anderen Fällen 24 Dieser Ansicht war auch der damalige Wettbewerbskommissar Mario Monti, vgl. seine Rede vom 7. November 2002, Merger control in the European Union: a radical reform, abrufbar unter (besucht am 12. Februar 2006). 25 RPW 1998/2, 243 Rn. 134, Revisuisse Price Waterhouse/STG-Coopers & Lybrand. 26 RPW 1998/2, 242ff. Rn. 130ff., Revisuisse Price Waterhouse/STG-Coopers & Lybrand, kollektive Marktbeherrschung verneint; RPW 1998/2, 309ff. Rn. 144ff., UBS/SBV, kollek-

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Fragen der kollektiven Marktbeherrschung geprüft 27. Die dabei verwendeten Kriterien sind zusammengefasst in etwa die folgenden: Anzahl der beteiligten Unternehmen, Symmetrien, stabile Marktverhältnisse, Transparenz des Marktes, Sanktionsmechanismen, Stellung der Marktgegenseite, potenzielle Konkurrenz.28 Aus der bisherigen Praxis der Wettbewerbskommission geht zudem hervor, dass sie die Wahrscheinlichkeit kollusiven Verhaltens zwischen den Oligopolisten grundsätzlich voraussetzte.29 Konkret hielt sie etwa fest: „Die Parteien machten auch geltend, dass die oligopolistische bzw. kollektive Marktbeherrschung nur vom Kartellgesetz erfasst werden könne, wenn das Oligopol in einer ausdrücklichen oder stillschweigenden Kollusion, d.h. einer abgestimmten Verhaltensweise, nicht aber in einem wirtschaftlich begründbaren und natürlichen Parallelverhalten, bestehen würde. Die Parteien verkennen, dass in aller Regel auch eine ausdrückliche oder stillschweigende Kollusion wirtschaftlich begründbar ist, denn die beteiligten Unternehmen erhoffen sich von solchem Verhalten Vorteile. Nachzuweisen bleibt alleine, dass die Oligopolisten durch ihr gleichgerichtetes Verhalten bewusst und gewollt dem Wettbewerbsdruck entgehen wollen, bzw. dass die entstehende Marktstruktur solches Verhalten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorhersehen lässt.“ 30 „Sollte der Zusammenschluss eine kollektiv marktbeherrschende Stellung begründen, wäre zu zeigen, dass der Zusammenschluss mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein wettbewerbsbeschränkendes Parallelverhalten (kollusives Verhalten) auslösen wird bzw. dass sich im vorliegenden Fall mit dem Zusammenschluss der Parteien (…) die Anreizstruktur der verbleibenden Big Five resp. Big Three und die Marktstrukturen derart ändern, dass sich ein stabiles Oligopol bilden würde.“ 31

tive Marktbeherrschung offen gelassen; RPW 1998/3, 400 ff. Rn. 37ff., Bell AG/SEG-Poulets AG, kollektive Marktbeherrschung bejaht; RPW 2003/3, 580ff. Rn. 77ff., Coop/Waro, kollektive Marktbeherrschung verneint. Vgl. Heizmann, Rn. 682 Fn. 1741. 27 Vgl. RPW 2000/3, 406 Rn. 48 und 407 Rn. 52 f., Tui/Kuoni, kollektive Marktbeherrschung verneint; RPW 2000/4, 677, TeleDanmark (Sunrise/diAX), kollektive Marktbeherrschung verneint; RPW 2001/3, 559 Rn. 27 und 560 Rn. 34, Amedis AG/F. UhlmannEyraud SA, kollektive Marktbeherrschung verneint; RPW 2001/4, 732f. Rn. 43f., Tamedia/ Belcom, Bedenken bezüglich Vorliegen kollektiver Marktbeherrschung durch Zusagen ausgeräumt; RPW 2001/4, 760 Rn. 34, Swisscom AG und AGI IT Services AG, kollektive Marktbeherrschung verneint; RPW 2002/2, 367 f. Rn. 48–51, Ernst & Young/Arthur Andersen, keine definitive Beurteilung der allfälligen kollektiven Marktbeherrschung; RPW 2002/3, 479–481 Rn. 49–59, Ernst & Young AG/Arthur Andersen AG, kollektive Marktbeherrschung verneint; RPW 2003/2, 352 f., Pfizer Inc./Pharmacia Corp., kollektive Marktbeherrschung verneint; RPW 2003/2, 386 Rn. 39, DSM/Roche Vitamine und Feinchemikalien, kollektive Marktbeherrschung verneint; RPW 2003/3, 558 Rn. 22, Schlachtbetrieb St. Gallen AG, kollektive Marktbeherrschung verneint. Vgl. Heizmann, Rn. 682 Fn. 1742. 28 RPW 2003/3, 580 Rn. 80, Coop/Waro; vgl. RPW 1998/2, 310 Rn. 145, UBS/SBV; RPW 1998/3, 401 Rn. 39, Bell AG/SEG-Poulets AG. 29 Ganz, Kollektive Marktbeherrschung, Rn. 19. 30 RPW 1998/2, 243 Rn. 133, Revisuisse Price Waterhouse/STG-Coopers & Lybrand. 31 RPW 1998/2, 243 f. Rn. 137, Revisuisse Price Waterhouse/STG-Coopers & Lybrand.

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„Kollektive Marktbeherrschung bedingt, dass sich die betreffenden zwei (Duopol) oder mehr Unternehmen (Oligopol) parallel, bzw. de facto kooperativ verhalten. In der ökonomischen Literatur wird in diesem Zusammenhang von Kollusion oder von kollusivem Verhalten gesprochen. Im vorliegenden Verfahren ist vor diesem Hintergrund insbesondere zu prüfen, ob durch den fraglichen Zusammenschluss auf der Seite von Coop ein Potential für kollusives Verhalten im Sinne einer kollektiven Marktbeherrschung zwischen Migros und Coop begründet oder verstärkt werden könnte.“ 32 „Die Analyse des Detailhandelmarktes ist mit der Analyse der kollektiven Marktbeherrschung zu vervollständigen. Dabei gilt es zu eruieren, ob die fraglichen Unternehmen über beträchtliche Marktanteile verfügen und sich in Bezug auf ihr Verhalten absprechen beziehungsweise parallel verhalten.“ 33

Aus der bisherigen Praxis ergibt sich, dass die Wettbewerbskommission Zusammenschlussvorhaben, von denen koordinierte Wirkungen zu erwarten sind, untersuchen und gegebenenfalls untersagen kann; die Frage, ob dies auch für Zusammenschlussvorhaben mit zu erwartenden nicht koordinierten Wirkungen bzw. unilateralen Effekten gilt, dürfte nach den Erwägungen zur vorläufigen Beurteilung des Zusammenschlusses TUI/KUONI zu bejahen sein.34 3. Nicht koordinierte Wirkungen – Gedanken zu einer künftigen Praxis Wie soeben dargelegt, kann das schweizerische Eingreifskriterium der Begründung oder Verstärkung einer marktbeherrschenden Stellung, durch die wirksamer Wettbewerb beseitigt werden kann (Art. 10 Abs. 2 KG), Zusammenschlüsse, von denen nach einem Zusammenschluss koordinierte Wirkungen zu erwarten sind, untersagen.35 Umstritten ist aber in der Lehre, ob dieses Eingreifskriterium auch Zusammenschlüsse, von denen nicht koordinierte Wirkungen zu erwarten sind, erfassen soll; die schweizerische Wettbewerbskommission prüfte ein Zusammenschlussvorhaben schon auf die Möglichkeit der Entstehung unilateraler Effekte.36 Nachfolgend finden sich einige Gedanken für eine mögliche künftige Praxis in der schweizerischen Fusionskontrolle. Zunächst ist festzuhalten, dass koordinierte und nicht koordinierte Wirkungen auf ähnlichen Marktsituationen basieren können, nämlich auf Marktsituationen mit relativ symmetrischen Wettbewerbern und hohen Eintrittsbarrieren, und beide Wirkungen können in solchen Märkten beispielsweise 32

RPW 1998/3, 400 Rn. 38, Bell AG/SEG-Poulets AG. RPW 2003/3, 580 Rn. 77, Coop/Waro. 34 RPW 2000/3, 405 f. Rn. 41–46, TUI/KUONI; vgl. auch RPW 2002/3, 518 Rn. 52, Coop/Epa; ferner RPW 2001/2, 249 Rn. 56, Vertrieb von Werbematerialien. 35 Vorn, IV.2. 36 RPW 2000/3, 405 f. Rn. 41–46, TUI/KUONI. Vgl. aber Ganz, Kollektive Marktbeherrschung, Rn. 31 f. und Borer, 204 ff.; bejahend Zäch, Kartellrecht 2005, Rn. 602 ff. und Rn. 796 sowie Heizmann, Rn. 727. 33

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zu substanziellen Preissteigerungen führen, auch wenn die ökonomischen Mechanismen, die diese herbeiführen, verschieden sind.37 Gemäß den Leitlinien der EU-Kommission zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse sind Kriterien wie hohe Marktanteile der fusionierenden Unternehmen, die Tatsache, dass die fusionierenden Unternehmen nahe Wettbewerber sind, begrenzte Ausweichmöglichkeiten der Kunden, die Unwahrscheinlichkeit einer Erhöhung des Angebots durch die Wettbewerber bei Preiserhöhungen, die Fähigkeit des fusionierten Unternehmens, die Wettbewerber am Wachstum zu hindern sowie die Tatsache, dass durch den Zusammenschluss eine wichtige Wettbewerbskraft beseitigt wird, heranzuziehen.38 Solche Kriterien stellen keine Novität dar und können auch von der Wettbewerbskommission in ihren Untersuchungen berücksichtigt werden.39 Zu beachten ist weiter, dass für Ökonomen der Begriff der Dominanz eigentlich nur ein relativ spezielles Modell beschreibt, nämlich das Modell eines Unternehmens, das eine dem Monopol nahe kommende Marktstellung einnimmt und einer Gruppe sehr kleiner Unternehmen, die als reine Preisnehmer auftreten, gegenübersteht.40 Der (ökonomische) Begriff der Dominanz repräsentiert nicht die Gesamtheit der ökonomischen Marktspiele, die vom Begriff der marktbeherrschenden Stellung im Sinne von Art. 10 Abs. 2 KG erfasst werden.41 Es wäre von daher nicht sachgerecht, die Auslegung des Marktbeherrschungsbegriffs – unter Verweis auf das Konzept der Marktmacht – der Erfassung von Marktsituationen, in denen nach einem Zusammenschluss nicht koordinierte Wirkungen zu erwarten sind, zu verschliessen. Zum Vergleich ging die EU-Kommission schon unter der Geltung der FKVO Nr. 4064/89 davon aus, dass der damalige Begriff der Marktbeherrschung zu erwartende Oligopolkonstellationen mit nicht koordinierten Wirkungen erfassen konnte.42 Diese Auffassung wurde vom EuG nicht explizit abgelehnt.43 Der EuGH äusserte sich zu dieser Thematik zwar nicht, er zeigte 37

Vgl. Röller/Friederiszick, IV.C. Leitlinien der EU-Kommission zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse gemäss der Ratsverordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. 2004 C 31/3, Rn. 27–38. 39 Anhand der Leitlinien der EU-Kommission zur Bewertung horizontaler Zusammenschlüsse bestehen für die Wettbewerbskommission zudem Anhaltspunkte, wie unilaterale Effekte gemessen werden können; vgl. dagegen Borer, 207. 40 Vgl. Röller/Friederiszick, IV.B. 41 So Röller/Friederiszick, IV.B., für das Eingreifskriterium der Marktbeherrschung unter der FKVO Nr. 4064/89. 42 Vgl. insbesondere EU-Kommission, 22. September 1999, Nr. IV/M.1524, Rn. 54 f. und Rn. 150 – Airtours/First Choice sowie EU-Kommission, 26. Oktober 2004, Nr. COMP/M.3216, Rn. 187–205 – Oracle/PeopleSoft; vorn, III. 43 Vgl. EuG, Rs. T-342/99, Slg. 2002, II-2585, Rn. 62, Airtours/Kommission. In diesem Urteil nannte das EuG nur die Voraussetzungen für koordinierte Wirkungen und machte das Entstehen einer kollektiv marktbeherrschenden Stellung von den drei Voraussetzungen 38

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aber in seiner Praxis vor der Neufassung des Eingreifskriteriums Bereitschaft zu einer teleologischen Auslegung des Begriffs der Marktbeherrschung, um ihm nicht seine praktische Wirksamkeit zu nehmen. So vertrat er die Auffassung, dass die FKVO Nr. 4064/89 „auf alle Zusammenschlüsse von gemeinschaftsweiter Bedeutung angewandt werden soll, sofern sich diese wegen ihrer Auswirkungen auf die Wettbewerbsstruktur in der Gemeinschaft als unvereinbar mit dem vom Vertrag geforderten System des unverfälschten Wettbewerbs erweisen könnten“ 44. Damit erwies sich der Marktbeherrschungstest in Bezug auf ein breites Spektrum an Fallkonstellationen, in denen es um Marktmacht ging, als sehr anpassungsfähig.45 Dies muss auch für den Marktbeherrschungstest nach schweizerischem Fusionskontrollrecht gelten. Es blieb für das europäische Recht aber umstritten, ob die gesetzliche Grundlage in der FKVO Nr. 4064/89 ausreichte, um Konzentrationen zu erfassen, im Gefolge derer der wirksame Wettbewerb durch nicht koordinierte Wirkungen bzw. unilaterale Effekte beschränkt wird 46, genauer, im Gefolge derer sich die zwei oder drei Marktakteure nicht mehr gegenseitig zu Wettbewerb zwingen. Denn für das Vorliegen einer kollektiven Marktbeherrschung wurde in der Regel vorausgesetzt, dass eine Koordination zwischen den auf dem Markt verbleibenden Unternehmen zu erwarten war. Auch in der schweizerischen Fusionskontrolle ist nach der bisherigen Praxis für die Annahme einer kollektiven Marktbeherrschung grundsätzlich nachzuweisen, dass kollusives Verhalten wahrscheinlich ist.47 Aufgrund der blossen Tatsache, dass unter den Unternehmen keine irgendwie geartete Koordination stattfindet, aber gleichwohl zu erwarten ist, dass ein Zusammenschluss den Wettbewerb zwischen den verbleibenden Unternehmen vermindert, zu schliessen, dass keine kollektive Marktbeherrschung vorliegt, ist allerdings nicht zwingend. Der Begriff der kollektiven Marktbeherrschung könnte auch einer Auslegung zugänglich sein, die das Erfordernis der Koordination nicht enthält. Jedenfalls nennt der einschlägige Gesetzestext das Erfordernis des „gemeinsamen“ Vorgehens nicht. Art. 4 Abs. 2 KG, der den Begriff der marktbeherrschenden Stellung – mit Vorbehalten 48 – auch für die Zusammenschlusskontrolle beschreibt, lautet: „Als marktbeherrschende Transparenz, Abschreckung und keine Reaktion von Kunden und Wettbewerbern abhängig, vgl. schon vorn, III. 44 EuGH, C-68/94, Slg. 1998, I-1375, Rn. 170, Frankreich u.a./Kommission; vgl. Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, KOM (2002) 711 endgültig, Rn. 54 Fn. 17. 45 Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, KOM (2002) 711 endgültig, Rn. 54. 46 Vgl. nur Baxter/Dethmers, 380. 47 Nachweise vorn, IV.2. 48 Vgl. Borer, 204 f.; Zäch, Kartellrecht 2005, Rn. 779 ff.

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Unternehmen gelten einzelne oder mehrere Unternehmen, die auf einem Markt als Anbieter oder Nachfrager in der Lage sind, sich von andern Marktteilnehmern (Mitbewerbern, Anbietern oder Nachfragern) in wesentlichem Umfang unabhängig zu verhalten“. Hier von Interesse ist der Begriff der mehreren Unternehmen, mit dem das Kartellgesetz „explizit anerkennt, dass eine marktbeherrschende Stellung durch mehrere Unternehmen – als kollektive Marktbeherrschung – begründet werden kann“ 49. In Art. 10 Abs. 2 KG selbst findet sich kein Hinweis auf die kollektive Marktbeherrschung. „Mehrere Unternehmen“ in Art. 4 Abs. 2 KG heisst nun aber nicht, dass kollektiv marktbeherrschende Unternehmen im Innenverhältnis „gemeinsam“ resp. „kollusiv“ 50 vorgehen müssten. Durch eine Auslegung, die das Erfordernis der Koordination nicht enthält, würde der Begriff der kollektiven Marktbeherrschung insofern nicht überstrapaziert.51 In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass im Kartellgesetz von 1962 für das Vorliegen einer Abrede vorausgesetzt war, dass sie gemeinsam getroffen wurde. Dies führte dazu, dass Absprachen im vertikalen Verhältnis vom Kartellgesetz grundsätzlich nicht erfasst wurden.52 Mittlerweile ist aber klar, dass auch Abreden im Vertikalverhältnis unzulässig sein können (vgl. Art. 4 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 5 KG). Es würde einen ähnlichen Fehler wie damals darstellen, in der Fusionskontrolle die kollektive Marktbeherrschung von der Gemeinsamkeit des Vorgehens der künftigen Oligopolisten abhängig zu machen. Denn auch aus einem Zusammenschluss, von dem nicht koordinierte Wirkungen bzw. unilaterale Effekte zu erwarten sind, kann eine Beseitigung des Wettbewerbs resultieren. Wenn sich Unternehmen nicht einmal in irgendwie gearteter Weise koordinieren müssen, um in einer oligopolistischen Marktsituation beispielsweise Preiserhöhungen zu bewirken, muss eine solche Situation a fortiori vom Begriff der kollektiven Marktbeherrschung erfasst werden. Weiter ist darauf hinzuweisen, dass die EU-Kommission – wobei die Beispiele spärlich sind – unter dem SIEC-Test der FKVO Nr. 139/2004 bislang erst dann Wettbewerbsbedenken gegen Zusammenschlussvorhaben, welche nicht zu einer Einzelmarktbeherrschung geführt hätten, hegte, wenn die Anzahl der „key players“ durch den Zusammenschluss von drei auf zwei reduziert worden wäre; 53 ganz generell müssten solche „3-to-2 mergers“ 54 in der Regel auch unter dem Kriterium der marktbeherrschenden Stellung, wie

49 50

RPW 1998/2, 242 Rn. 131, Revisuisse Price Waterhouse/STG-Coopers & Lybrand. So aber die bisherige Praxis der Wettbewerbskommission, vgl. die Nachweise vorn,

IV.2. 51 52 53 54

Vgl. aber Ganz, Kollektive Marktbeherrschung, Rn. 31. Vgl. Zäch, Kartellrecht 2005, Rn. 151, m.H. auf Kummer, 78 ff. Vgl. Baxter/Dethmers, 386, m.N. Baxter/Dethmers, 386.

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es in der schweizerischen Fusionskontrolle zur Anwendung kommt, zu großen Wettbewerbsbedenken und entsprechend zu einer Intervention der Wettbewerbskommission führen. Aufschlussreich und leitend für eine allfällige künftige schweizerische Praxis bezüglich nicht koordinierter Wirkungen könnte folgender Abschnitt der Begründungserwägung 21 des (diesbezüglich nicht Recht gewordenen) Vorschlags zur Änderung der FKVO Nr. 4064/89 sein: „In Anbetracht dessen, wie sich Zusammenschlüsse auf oligopolistische Marktstrukturen auswirken können, ist die Aufrechterhaltung wirksamen Wettbewerbs in solchen Märkten umso mehr geboten. Viele oligopolistische Märkte lassen ein gesundes Maß an Wettbewerb erkennen. Unter bestimmten Umständen kann die Beseitigung des beträchtlichen Wettbewerbsdrucks, den die fusionierenden Unternehmen im Verhältnis zueinander ausgeübt haben, sowie die Reduzierung des Wettbewerbsdrucks auf die verbleibenden Wettbewerber dem Wettbewerb besonders in diesen Märkten abträglich sein, sofern dem nicht andere Wettbewerber, Abnehmer oder Verbraucher entgegenwirken. Der Begriff der beherrschenden Stellung im Sinne dieser Verordnung sollte daher Situationen erfassen, in denen ein oder mehrere Unternehmen nach dem Zusammenschluss infolge der oligopolistischen Struktur des betreffenden Marktes und der daraus resultierenden Interdependenz der in diesem Markt tätigen Unternehmen über die wirtschaftliche Macht verfügen, spürbar und nachhaltig Einfluss auf die Wettbewerbsparameter, insbesondere die Preise, die Art, Quantität und Qualität der Produktion, den Vertrieb oder die Innovation, zu nehmen, auch wenn unter den Mitgliedern des Oligopols keinerlei Koordinierung stattfindet. Bei dieser Beurteilung sollten die besonderen Merkmale des relevanten Marktes wie das Ausmaß der Kapazitätsengpässe, der Grad der Produktdifferenzierung oder die Funktionsweise der Ausschreibungsverfahren berücksichtigt werden. In gleicher Weise sollte den zu erwartenden Reaktionen tatsächlicher und potenzieller Wettbewerber und Abnehmer sowie den durch den Zusammenschluss bewirkten Effizienzvorteilen Rechnung getragen werden.“55

Entsprechend der damals vorgeschlagenen Einfügung eines neuen Art. 2 Abs. 2 – Art. 2 Abs. 2 und Abs. 3 FKVO Nr. 4064/89 wären dabei inhaltlich unverändert zu Art. 2 Abs. 3 und Abs. 4 geworden – könnte Art. 10 Abs. 2 KG wie folgt gelesen werden: Eine beherrschende Stellung eines oder mehrerer Unternehmen wird angenommen, wenn die Unternehmen mit oder ohne Koordinierung ihres Verhaltens über die wirtschaftliche Macht verfügen, spürbar und nachhaltig Einfluss auf die Wettbewerbsparameter, insbesondere auf die Preise, auf die Art, Quantität und Qualität der Produkte, auf den Vertrieb oder die Innovation, zu nehmen oder den Wettbewerb spürbar zu beschränken.56 55 Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, KOM (2002) 711 endgültig, S. 29 Erw. 21. 56 Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, KOM (2002) 711 endgültig, S. 37.

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Schliesslich bleibt der Hinweis, dass es bei einem gewissen Ausmass von zu erwartenden unilateralen Effekten möglich ist, dass das fusionierte Unternehmen als einzelmarktbeherrschend im Sinne von Art. 10 Abs. 2 KG zu beurteilen ist.57 Das heisst, dass unabhängig von der Beantwortung der Frage in einer künftigen Praxis, wie der Begriff der kollektiven Marktbeherrschung auf Zusammenschlüsse, von denen unilaterale Effekte zu erwarten sind, angewendet wird, eine Teilmenge solcher Zusammenschlüsse vom Einzelmarktbeherrschungsbegriff erfasst wird.

V. Fazit Insgesamt ergibt sich, dass für das schweizerische Kartellrecht davon auszugehen ist, dass es Zusammenschlussvorhaben, von denen nicht koordinierte Wirkungen zu erwarten sind, kontrollieren und untersagen kann. Eine Revision der schweizerischen Fusionskontrollregeln ist aufgrund der Offenheit des geltenden Prüfungskriteriums nicht nötig; so untersuchte die Wettbewerbskommission denn auch schon in einer vorläufigen Prüfung ein Zusammenschlussvorhaben auf allfällig entstehende unilaterale Effekte.58 Die Wettbewerbskommission kann alle Unternehmenszusammenschlüsse, die eine marktbeherrschende Stellung, durch die wirksamer Wettbewerb beseitigt werden kann, begründet oder verstärkt, und keine Verbesserung der Wettbewerbsverhältnisse in einem anderen Markt bewirkt, welche die Nachteile der marktbeherrschenden Stellung überwiegt, untersagen (Art. 10 Abs. 2 lit. a und lit. b KG). Wenn zu erwarten ist, dass sich die nach einem Zusammenschluss auf einem Markt auftretenden Unternehmen keinen Wettbewerb machen, muss ein solcher Zusammenschluss untersagt werden können, unabhängig davon, ob sich die Oligopolisten dazu koordinieren müssen oder nicht.59 Dieses Ergebnis entspricht dem Zweck des Kartellgesetzes, nämlich alle volkswirtschaftlich oder sozial schädlichen Auswirkungen von Kartellen und anderen Wettbewerbsbeschränkungen zu verhindern (Art. 1 KG; vgl. Art. 96 Abs. 1 und Art. 94 Abs. 1 BV).

57

So auch Ganz, Kollektive Marktbeherrschung, Rn. 1; vgl. Röller/Strohm, Rn. 7. RPW 2000/3, 405 f. Rn. 41–46, TUI/KUONI; vgl. auch den Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, KOM (2002) 711 endgültig, Rn. 54, wo auf Beiträge verwiesen wird, die davon ausgingen, dass es eher auf die Auslegung der jeweils geltenden Prüfungskriterien ankomme als auf die Umstellung des Prüfungskriteriums. 59 A.M. wohl Borer, 205 ff. 58

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III. Unternehmens- und Wirtschaftsrecht

Luftverkehrsrecht der EG im Wandel: Slothandel ante portas? Hans Achtnich Rechtliche Mangelregulierung in liberalisiertem Umfeld Mit dem dritten Maßnahmenpaket schuf das EG-Recht eine autonome europarechtliche Marktordnung des Luftverkehrs mit nahezu vollständiger Liberalisierung. Dabei wurden auch Marktzugangsbeschränkungen abgebaut. Das vereinheitlichte Luftverkehrsrecht wurde diskriminierungsfrei gestaltet. Die Schaffung eines „freien Marktes ohne quantitative Beschränkungen“ mit mehr Wettbewerb wurde Wirklichkeit.1 Freilich konnte dieser liberalisierte rechtliche Ordnungsrahmen die stetig zunehmenden infrastrukturellen Kapazitätsprobleme der Verteilung und Regulierung der für das Starten und Landen verfügbaren Slots nur begrenzt lösen, aber nicht hinreichend zukunftsorientiert. Das heute geltende Regelwerk der EG ist eine technisch und verfahrensmäßig streng administrative Mangelregulierung. Ihr Allokationsmechanismus verzichtet derzeit auf marktwirtschaftliche Elemente. Er enthält keine – in der EG-Sprache – „monetären Anreize“ für eine bestmöglich effiziente und zukunftsorientierte Nutzung der verfügbaren „Zeitfenster“. Angesichts des rasant gewachsenen und vorhersehbar weiter zunehmenden Luftverkehrs 2 wird das Slotproblem als eine Art „Prüfstein“ des Liberalisierungskonzepts der Luftverkehrspolitik der EU und ihres einheitlichen europäischen Luftraumes bezeichnet, als „Marktzugangsbarriere der Zukunft“ 3. In der Tat: eine effiziente und vor allem auch zukunftsorientierte EGrechtliche Mangelregulierung des Luftverkehrs innerhalb eines sehr weit-

1 Auslöser waren die richtungweisenden EuGH-Urteile „Gemeinsame Verkehrspolitik“ (1985) und „Nouvelles Frontières“ (1986); Schwenk/Giemulla, Hb. Luftverkehrsrecht 3. Aufl. 2005, 103. 2 Ein Beispiel: In Deutschland nahm 2005 gegenüber 2004 die Zahl der Fluggäste um 6,3 % und die Zahl der Flugzeugbewegungen auf den deutschen Flughäfen um 4,1 % zu. Jedenfalls für die nächsten zehn Jahre sagen die Prognosen ein jährliches Wachstum von 4 bis 4,5 % voraus. Zu Prognosen auch: Commission Staff Document (Fn. 5), Nr. 1.1. 3 Kilian, TranspR 2000, 159.

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gehend liberalisierten internationalen Umfeldes ist nicht nur dogmatisch ein schwieriges Unterfangen. Eine solche Regulierung ist auch technisch und verfahrensmäßig eine komplizierte Sache, nur zu bewältigen mit Hilfe eines EDV-Koordinierungssystems. Dies geschieht mit dem SAMS Slot Allocation Monitoring System. Allein in Deutschland werden damit derzeit etwa 2 Mio Slots je Jahr vom deutschen Flughafenkoordinator an Luftfahrtunternehmen nach den zwingenden Vorgaben der SlotVO (EWG) Nr. 95/93 i.d.F. der VO (EG) Nr. 793/2004 4 zugewiesen. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit den derzeitigen energischen und drängenden Bemühungen der EG-Kommission zu der Vorbereitung einer angekündigten weiteren (2.) Novellierung der SlotVO. Das Europäische Parlament und der EG-Rat hatten die 1. Novellierung vom 21.04.2004 ausdrücklich als „ersten Schritt einer umfassenden Überarbeitung“ bezeichnet. Dabei haben Parlament und Rat auch Fragen des Marktzugangs hervorgehoben. Die EG-Kommission erwägt und stellt zur Diskussion, nunmehr marktwirtschaftliche Elemente, bezeichnet als „monetäre Anreize“, in das Slotsystem einzubeziehen, um so eine noch effizientere Nutzung der verfügbaren Slots und deren Zuteilung zu bewirken. Die Kommission präsentierte dazu verschiedene Modelle für eine revidierte, mit monetären Anreizen gestaltete Slotvergabe. Dazu legte die EG-Kommission ein Commission Staff Working Document vor 5. Es beruht weitgehend auf der umfangreichen sog. NERA-Studie vom Januar 2004 der National Economic Research Associates, London 6. Dieses Commission Staff Working Document ist derzeit Gegenstand – teils recht kontroverser – Stellungnahmen der Mitgliedsstaaten und internationaler Interessenverbände 7. Beanstandet wird u.a., dass reservierte und nicht voll genutzte Slots zu spät oder gar nicht zurückgegeben würden. Das derzeitige Regime sei zu unbeweglich. Es enthalte keine Anreize, die eine höhere Nutzungsrate der Slots bewirken könnten. Es fehlten marktwirtschaftlich gestaltete Möglichkeiten, um zwischen Luftfahrtunternehmen nicht ausreichend genutzte Slots „im Austausch für Geld“ übertragen zu können 8. In diesem Zusammenhang stellt die EG-Kommission die sehr 4 SlotVO (EWG) 95/93, ABl. Nr. L 14 vom 22.01.1993, S. 1; ÄndVO (EG) 793/2004, ABl. Nr. L 138 vom 30.04.2004, S. 50. 5 Commission Staff Working Document Commercial Slot allocation mechanisms in the context of a further revision of Council Regulation (EEC) 95/93 on common rules for the allocation of slots at Community airports vom 17.09.2004. 6 “Study to Assesses the Effects of Different Slot Allocation Schemes, Final Report for the European Commission” National Economic Research Associates (NERA) in conjunction with the Faculty of Law at the University of Leiden and Consultair Associates. 7 Dazu z.B.: Geisler/Boewe, ZLW 2005, 532; Paylor, The Slot Game, Air Transport World 2005, 52. 8 So auch Jung in Immenga/Schwintowski/Weitbrecht, Airlines und Flughäfen: Liberalisierung und Privatisierung im Luftverkehr, Internationale Berliner Wirtschaftsgespräche, Bd. 2, S. 54, 55.

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umstrittene Frage des Ob und Wie eines möglichen Slothandels zur Diskussion. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden die geltende Rechtslage 9 mit einigen Anmerkungen gerafft dargestellt: im Blick auf die erkennbaren aktuellen Erwägungen der Kommission, möglicherweise im Anwendungsbereich der SlotVO einen begrenzten Slothandel durch Secondary Trading zu bevorzugen und so eine Tür zum Slothandel etwas zu öffnen.

Die Rechtslage nach der SlotVO(EWG) Nr. 95/93 i.d.F. der VO (EG) Nr. 793/2004 „Gemeinsame Regeln für die Zuweisung von Zeitnischen auf Flughäfen in der Gemeinschaft“ Die Slot-VO 95/93 i.d.F. 793/2004 ist in den Mitgliedsstaaten der EG unmittelbar geltendes Recht. Früheres nationales Recht wurde aufgrund des Anwendungsvorranges angepasst. § 27 a Abs. 1 LuftVG lautet nur noch: „Die Flughafenkoordinierung wird nach Maßgabe des Rechtes der Europäischen Gemeinschaft vorgenommen“. Die sog. Vorrang-Abweichklausel des deutschen Luftverkehrsrechtes blieb als § 27 b LuftVG erhalten. Sie erlaubt es, aus Gründen der öffentlichen Interessen von dem Verfahren der Slotzuweisung abzuweichen. Aufgrund des Anwendungsvorranges der EGSlotVO ist der Anwendungsbereich dieser Ausnahmebestimmung aber beschränkt. Die Befürchtung 10, die deutschen Rechtsbegriffe „öffentliche Interessen“ und „öffentliche Verkehrsinteressen“ der Vorrangklausel könnten zu einem zukünftigen Streitpunkt werden, haben sich bisher als unbegründet erwiesen und keine Komplikationen verursacht. In Deutschland bestimmt der Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen die Koordinierungseckwerte des jeweiligen als vollständig koordiniert erklärten Verkehrsflughafens. Er tut dies im Einvernehmen mit den jeweiligen Ländern und nach Anhörung der Flugsicherung, der Flughafenunternehmen und der Luftfahrtunternehmen, die den jeweiligen Flugplatz regelmäßig benutzen. Der Koordinierungseckwert ist die Zahl der im Voraus planbaren Zeitnischen in einer Zeiteinheit. Dieser Grenzwert ist für die einzelnen koordinierten Flughäfen unterschiedlich, denn er ist abhängig von den jeweiligen Kapazitätskriterien am Boden und in der Luft sowie der Abfolge der jeweils eingesetzten Flugzeuge in einer bestimmten Zeiteinheit 11.

9

Stand 28.02.2006. Giemulla/Schmid, LuftVG Bd. I Anm. 14 zu § 27 b; auch ZLW 1996, 250 zur Koppelung Slotvergabe und Luftfahrzeuggröße (beide noch nicht unter Einbeziehung der SlotVO 793/2004). 11 Art. 6 SlotVO Koordinierungsparameter; Hofmann-Grabherr 2. Aufl., Anm. 15 und Giemulla/Schmid Anm. 12 zu § 27 a LuftVG (alter Fassung). 10

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Als flugplanvermittelte oder koordinierte Verkehrsflughäfen im Sinne der SlotVO hat der Bundesminister für Verkehr, Bau und Wohnungswesen durch die VO vom 06.06.2005 12 festgestellt: Berlin (Flughafensystem SchönefeldTegel-Tempelhof), Bremen, Dresden, Düsseldorf, Erfurt, Frankfurt/Main, Hamburg, Hannover, Köln/Bonn, Leipzig/Halle, München, Münster/Osnabrück, Nürnberg, Saarbrücken, Stuttgart. Für jeden koordinierten Verkehrsflughafen besteht ein gesetzlich vorgeschriebener Koordinierungsausschuss. In ihm wirken die Flugsicherung, die Flughafenunternehmer und die Spitzenverbände des gewerblichen Luftverkehrs und des Geschäftsluftverkehrs mit. In Deutschland wurde als Flughafenkoordinator (früher: Flugplankoordinator) Herr Claus Ulrich durch die VO vom 17.12.1992 beauftragt und bestellt. Er ist der gesetzliche deutsche Flughafenkoordinator des Art. 4 SlotVO. Es ist mehrfach erklärtes Ziel und Kernstück des EG-Slotrechtes, – zu vermeiden, dass es wegen mangelnder Slots zu einer ungleichen Verteilung der Vorteile der Liberalisierung und zu einer Verzerrung des Wettbewerbs kommt, – zu erreichen, dass die bestehenden Slots so gut wie möglich genutzt werden, – dass die Entscheidung über die Koordinierung eines Flughafens von dem jeweiligen Mitgliedsstaat aufgrund objektiver Kriterien getroffen wird, – dass die Verkehrsflusssteuerung durch Zuweisung von Slots nach neutralen, transparenten und nichtdiskriminierenden Regeln erfolgt. Das Slot-Recht der EG beruht insbesondere auf vier tradierten und zentralen Prinzipien: das Großvaterprinzip als wichtigste Prioritätenregel; die use-it-or-lose-it-rule 80 : 20; die Slotpoolverpflichtung 50 : 50; die Regeln zur Zeitnischenmobilität in der Neufassung von 2004.

Das Großvaterprinzip (Grandfathering) Das – seit Jahrzehnten weltweit angewendete – Slot-Großvaterprinzip setzt feste Prioritäten bei der Slotzuteilung. Sie werden als „historische Prioritäten“ bezeichnet. Danach erfolgt die Slotzuteilung an diejenigen Luftfahrtunternehmen, die den Slot bereits in der vorhergehenden Flugplanperiode nutzen konnten. Die SlotVO 793/2004 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 21.04.2004 anerkennt ausdrücklich diese Großvaterrechte als „Slots mit gewachsenen traditionellen Vorrechten“ und „angestammten Rechten“13. Die Diskussionsvorschläge der EG-Kommission zeigen, dass 12 13

VO über die Durchführung der Flughafenkoordinierung (BGBl. I 1579). Erwägungsgrund 9 zur SlotVO 793/2004.

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dieses tragende System der Slot-Perpetuierung weitgehend bewahrt werden soll.

Die Use-it-or-lose-it-rule 80 : 20 Nach der „Use-it-or-lose-it-rule“ müssen Luftfahrtunternehmen mit Grandfather-Priorität nachweisen, dass sie die ihnen zugewiesenen Slots in der Flugplanperiode mindestens zu 80 % genutzt haben. Weisen sie dies nicht nach, so verlieren sie insoweit ihr Anrecht auf eine weitere Abfolge der Slots für die folgende Flugplanpriode. Die Slots werden dann in den Zeitnischenpool eingestellt 14.

Zeitnischenpool Der Flughafenkoordinator hat für jeden Flughafen einen Zeitnischenpool einzurichten. Er umfasst alle nach den Vorgaben der SlotVO in den Pool einzustellenden Slots. 50 % dieser Slots müssen zuerst Neubewerbern zur Verfügung gestellt werden, sofern sich die Anträge der Neubewerber nicht auf weniger als 50 % belaufen. Anträge von Neubewerbern und anderen Luftfahrtunternehmen werden vom Flughafenkoordinator nach Maßgabe der Koordinierungsperioden des jeweiligen Flugplanantrages gleich behandelt. Bewerber mit Neubewerberstatus können aber Vorzug haben.

Zeitnischenmobilität 2004 hat die SlotVO 793/2004 in einem neuen Art. 8a Regelungen zur Zeitnischenmobilität neu geordnet und zusammengefasst. Die bisherigen Möglichkeiten der Übertragung und des Tausches von Slots zwischen Luftfahrtunternehmen wurden neu definiert. Die bis dahin geltende und umstrittene Fassung, dass Slots zwischen Luftfahrtunternehmen „frei ausgetauscht“ werden können 15, gibt es so nicht mehr. Übertragungen sind nach der Maßgabe des Art. 8a Abs. 1 SlotVO nur innerhalb desselben Luftfahrtunternehmens möglich, Tauschvorgänge dagegen „zwischen einzelnen Luftfahrtunternehmen“. Die Übertragungen und Tauschvorgänge sind dem Flughafenkoordinator zu melden. Sie werden erst nach dessen ausdrücklicher Bestätigung wirksam 16. Der Flughafenkoordinator kann die Bestätigung sol14 15 16

Art. 10 Abs. 4 SlotVO 95/93. Art. 8 Abs. 4 SlotVO in der bis 2004 geltenden Fassung. Art. 8a Abs. 2 SlotVO.

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cher Übertragungen und Tauschvorgänge unter bestimmten Voraussetzungen ablehnen.

„Who owns slots“, Wem gehören Zeit und Raum? Bis zum Inkrafttreten der SlotVO 793/2004 war die Frage, wem Slots und die „Slotzeit“ denn wohl gehören, Gegenstand verschiedener – auch juristischer – Analysen und Denkansätze, und dies nicht nur in Deutschland. Um die entstandenen Verwirrungen für den Anwendungsbereich des EG-Rechtes zu klären, haben das Europäische Parlament und der EG-Rat in der SlotVO 793/2004 unzweideutig – und ausdrücklich „zur Klarstellung“ – festgestellt, dass die Zuweisung von Slots als eine Nutzungserlaubnis für das Starten und Landen an einem bestimmten Zeitpunkt zu verstehen ist. Die EG-Kommission bezeichnet diese Klärung als „a new definition of what is a slot“ 17. Nach den vom EuGH entwickelten Auslegungsmaximen der autonomen gemeinschaftsrechtlichen Interpretation und des acte clair ist bei eindeutigem Wortlaut – hier: Nutzungserlaubnis – nicht auf andere Auslegungsprinzipien zurückzugreifen, wenn es um gemeinschaftsrechtliche Wortbedeutungen geht, maßgebend ist dann ein „europäischer Wortsinn“ 18. Entgegenstehende, in der deutschen Rechtsliteratur vor Inkrafttreten der SlotVO 793/2004 vertretene Theorien 19 sind nach heutigem EG-Recht nicht mehr haltbar. Der Luftraum ist eine öffentliche Sache im Gemeingebrauch 20. Seine Benutzung für den Luftverkehr ist frei soweit er nicht nach § 1 Abs. 1 LuftVG beschränkt ist. Die EG-SlotVO und die zur Durchführung erlassenen Rechtsvorschriften sind eine solche gesetzliche Beschränkung: § 1 LuftVG benennt Ratsverordnungen der EU ausdrücklich. Die Zuweisung eines Slots ist danach nichts anderes als die vom Flughafenkoordinator erteilte Erlaubnis, den Luftraum zum Starten und Landen innerhalb einer bestimmten Zeitnische zu nutzen. Es gibt kein Eigentumsrecht an den vom Flughafenkoordinator zugewiesenen Slots 21. Ein Slot ist kein privatrechtlicher Vermögensgegenstand, son17

Staff Document (Fn. 5), Nr. 2.2. Oppermann, Europarecht, 3. Aufl. 2005, S. 208. 19 Z.B. Tschentscher/Koenig, NVwZ 1991, 219: die Zuteilung von Slots sei eine Realkonzession, z.B. mit Taxikonzessionen des deutschen Rechtes vergleichbar; Gäbel TranspR 1990, 407: Slots seien durch Art. 14 GG geschützte subjektive Rechte (ablehnend Kaiser, TranspR 1991, 266). 20 Lübben, Das Recht auf freie Benutzung des Luftraums, S. 66, 94; Hofmann/Grabherr, 2. Aufl., Anm. 18 und Giemulla/Schmid, zu § 1 LuftVG. 21 Giemulla/Schmid Anm. 23 zu § 27 a LuftVG; ZLW 1992, 52, 58. Vgl. auch Wolfrum/ Röben, Die rechtliche Einordnung der Slots im Hinblick auf etwaige Eigentumsverhältnisse unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Gegebenheiten in Deutschland und im EUBinnenmarkt (Gutachten). 18

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dern eine einseitige öffentlich-rechtliche Gewährung zur Benutzung des Luftraums zum Zwecke des Startens und Landens auf dem Flughafen. Die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG schützt nicht die Aufrechterhaltung einer solchen öffentlich-rechtlichen Nutzungserlaubnis, denn die Slotzuweisung verschafft dem Nutzungsberechtigen keine so verfestigte Rechtsposition, dass sie im Hinblick auf ihre rechtliche Ausgestaltung und nach den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Verfassung nicht mehr wegfallen kann. Ein verfassungsrechtlicher Eigentumsschutz bei der einseitigen Gewährung des Staates ist zu versagen, wenn keine den Eigentumsschutz rechtfertigende Leistung des Einzelnen hinzutritt 22. Die Slotzuweisung ist auch kein Bestandteil des Rechtes am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb. Nach der Rechtsprechung des BVerfG und des BGH greift der Eigentumsschutz des Betriebseigentums bereits tatbestandlich nicht, wenn durch hoheitliche Maßnahmen lediglich bloße Verdienstmöglichkeiten, Gewinnaussichten, Zukunftserwartungen, vorgefundene Vorteile, Chancen oder Hoffnungen zerschlagen werden. Hoheitliche Maßnahmen zur Förderung des Gemeingebrauches sind kein Eingriff in vermögenswirksame Rechte, sie sind ohne Anspruch auf finanziellen Ausgleich hinzunehmen. Die Slotregelung der SlotVO entspricht den verfassungsrechtlichen Ansprüchen auch im Lichte des Art. 12 GG. Das BVerwG hatte in einem Grundsatzurteil vom 26.07.1989 23 eine luftverkehrspolitische Gesamtkonzeption über die Frage, wie der „sich anbahnende Verteilungskampf“ zu bewältigen ist, angemahnt: es bedürfe angesichts der hohen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedeutung des Luftverkehrs einer parlamentarischen Leitentscheidung des Gesetzgebers auch darüber, wie die Start- und Landeberechtigungen aufgrund von Koordinationseckwerten angemessen zu verteilen sind. Dem folgte der deutsche Gesetzgeber mit der Koordinierungsregelung durch das 10. ÄndG LuftVG. Nach allem: Es gibt kein Eigentum an Zeit und Raum und es gibt kein Eigentum an Slots.

Ausschluss von Ersatzansprüchen Die SlotVO 793/2004 schließt Ersatzansprüche aus für Begrenzungen, Einschränkungen und Streichungen des Anrechtes auf Großvaterrechte 24. In diesem Zusammenhang wird festgestellt, dass die SlotVO nicht die Befug22 BVerfGE 48, 403, 413; Maunz/Dürig/Herzog, GG Bd. II, Anm. 55 zu Art. 14; v. Mangoldt/Klein/Starck Bd. I, 5. Aufl. 2005, Anm. 358, 359; Leibholz/Rinck/Hesselberger 7. Aufl., Anm. 52 zu Art. 14 GG. 23 BVerwG, NVwZ 1990, 266 = ZLW 1990, 118 Flughafen München. 24 Art. 8b SlotVO.

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nisse berührt, nach einzelstaatlichem Wettbewerbsrecht oder nach Art. 81 oder 82 EGV oder nach der Rats-VO (EWG) Nr. 4064/89 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen die Übertragung von Slots zwischen Luftfahrtunternehmen anzuordnen und deren Zuweisung zu regeln. Derartige Übertragungen können nur ohne finanziellen Ausgleich erfolgen. Die Feststellung, dass die Anwendung der benannten Wettbewerbsregeln unberührt bleibt, erfolgte „um Zweifel auszuschließen“ 25.

Rückgabe von Slots (Slot-Return) Zu dem derzeitigen administrativen Slotsystem der EG wird bemängelt, Slots aufgrund von Großvaterrechten würden nicht oder zu spät zurückgegeben. Dadurch würden sie einer effektiven Nutzung entzogen. Aus deutscher Sicht ist anzumerken, dass in Deutschland die Bußgeldbewehrung für Verstöße gegen die Verpflichtung zur unverzüglichen Slotrückgabe nicht genutzter Slots an den Flughafenkoordinator im Jahre 2005 erweitert wurde 26.

Erlaubte Übertragung und Tausch von Slots Das derzeitige EG-Recht enthält kein ausdrückliches Verbot eines Slothandels. Es enthält keine Regelungen über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit eines Slothandels. In dem Commission Staff Working Document vom 17.12.2004 bekräftigt die EG-Kommission ihren Standpunkt, dass Slothandel nicht erlaubt ist: „Slot trading i.e. exchanges of slots for financial consideration is not permitted under Community law“ 27. Die EG-Kommission vertritt mithin die Ansicht, Art. 8a Abs. 1 SlotVO sei eine abschließende Regelung über die Möglichkeiten der Übertragung und des Tausches von Slots zwischen Luftfahrtunternehmen; andere Möglichkeiten seien daher ausgeschlossen; es gebe nach geltendem Recht nur die Möglichkeiten:

25

Erwägungsgrund 17 zu SlotVO 793/2004. Bußgeldtatbestand: Nach § 58 Abs. 1 Nr. 13 LuftVG, § 3 Abs. 2 Nr. 3 FHKVO sind die Luftfahrzeughalter auf koordinierten Flughäfen verpflichtet, nicht genutzte Slots dem Flughafenkoordinator unverzüglich zurückzugeben. (Neu): „Ein Verstoß gegen diese Verpflichtung liegt auch dann vor, wenn ein vom Flughafenkoordinator auf einer durch das Gemeinschaftsrecht zugelassenen internationalen Flugplankonferenz der Luftfahrtunternehmen zugeteilter Slot, der vom Luftfahrzeughalter nicht mehr benötigt wird, zum jeweils festgesetzten Termin nicht zurückgegeben wird“. 27 Fn. 5, dort Nr. 2.3. 26

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Übertragungen – durch ein Luftfahrtunternehmen von einer Strecke oder Verkehrsart auf eine andere Strecke oder Verkehrsart, die von demselben Luftfahrtunternehmen betrieben wird, – zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften sowie zwischen Tochtergesellschaften und derselben Muttergesellschaft, – durch den Erwerb der Kontrolle des Kapitals eines Luftfahrtunternehmens – bei vollständigen oder teilweisen Übernahmen, wenn die übertragenen Zeitnischen direkt mit dem übernommenen Luftfahrtunternehmen verbunden sind.

Tausch – Slots können getauscht werden, und zwar einzeln zwischen Luftfahrtunternehmen. Allerdings: 2004 war ein Vorschlag der Kommission gescheitert, einen finanziellen Ausgleich bei der Übertragung von Slots zwischen Luftfahrtunternehmen expressis verbis zu untersagen 28. Hintergrund dieser Auseinandersetzungen war auch ein vielzitiertes Urteil des englischen High Court aus dem Jahre 1999 in der Sache Regina vs Airport Co-Ordination Ltd 29. Das Gericht hatte nach der damaligen Fassung „slots may be freely exchanged“ entschieden, bei einem Tausch von nicht vergleichbaren Slots (uneven trading) seien einseitige Geldleistungen nicht untersagt. Das Urteil wurde von der EG-Kommission und überwiegend auch in der Literatur kritisiert, weil es einen „Scheintausch“ und einen „verdeckten Slothandel“ legitimiere. Kilian 30 hat eine eingehende Analyse und Bewertung dieses High CourtUrteiles und dessen Auslegungsmethodik erstellt, auf die hier verwiesen werden darf, ebenso auf die Kommentierung durch Balfour 31.Beide Arbeiten stammen aus der Zeit vor 2004, haben also nur Art. 8 Abs. 4 SlotVO der damaligen Fassung zur Grundlage. Diese Bestimmung („freely exchanged“) wurde inzwischen durch die SlotVO 793/2004 ersetzt. John Balfour, Senior Partner von Beaumont and Son Solicitors London, bemerkte zu dem Urteil, dem ein eher seltener Sachverhalt zugrunde lag (die englische Luftverkehrsgesellschaft AB Airlines hatte zur Vermeidung ihrer Insolvenz Slots an Virgin Atlantic Airlines verkauft): 28

Geisler/Boewe, ZLW 2005, 532, 534; dazu unten Fn. 39. Regina vs Airport Co-Ordination Ltd. vom 25.03.1999 [1999] EulR 745. 30 TranspR 2000, 159 (erweiterte und überarbeitete Fassung: http://www.luftrechtonline.de/literatur/aufsaetze/slots.htm). 31 „Slot Trading in the European Union“, ZLW 2004, 145. 29

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“Earlier this year, the British Press reported that the UK regional airline flyBe had raised almost £ 40m by selling six pairs of slots at London Heathrow Airport – four to Virgin Atlantic for £ 20m and two to Qantas for £ 20m. The amounts of money involved caused some amazement, but the fact that slots had been sold caused little surprise in the UK, where such transactions have happened before. There have in fact been three other significant transactions involving slots at Heathrow in the last six months. However, the practice still appears to be relatively rare, or even nonexistent, in most other EU member states.”

Slothandel ante portas? Die EG-Kommission hat – so scheint es – im Rahmen ihrer derzeitigen eingehenden Recherchen und Überlegungen ihre strikt ablehnende Haltung zur Frage eines Slothandels gelockert, wohl auch geändert. Es ist zu vermuten, dass dies vor allem auf dem – kontrovers diskutierten – Ansatzpunkt beruht, zur Behebung der Knappheit der Resource „Slot“ müssten in den bestehenden Regulierungsmechanismus marktwirtschaftliche monetäre Anreize einbezogen werden. Die EG-Kommission bevorzugt dazu offenbar das Modell eines Secondary Trading.

Secondary Trading Die EG-Kommission definiert das Secondary Trading-Modell so: 32 “Secondary trading implies that air carriers that have been allocated slots, or that are otherwise entitled to use slots e.g. on the basis of grandfather rights can transfer such right to use a slot to another air carrier or air carriers in return for money. This would imply that the rights and obligations associated with the slot will transfer from the seller to the buyer”.

Dabei soll ein möglicher Slotverkauf dem Flughafenkoordinator mitgeteilt werden. Dieser hätte den geplanten Verkauf und den gebotenen Preis zu veröffentlichen. Dem Verkauf würde zugestimmt, sofern kein anderes Luftfahrtunternehmen für den ausgeschriebenen Slot einen höheren Preis zu zahlen bereit wäre. Somit würde letztlich jenes Luftfahrtunternehmen den Slot erwerben, das den höchsten Preis zu zahlen bereit ist 33. 32

Staff Document (Fn. 5), Nr. 4.1.1. Ewers et al. bemerken in ihrer Studie „Möglichkeiten zur besseren Nutzung von Zeitnischen auf Flughäfen in Deutschland und der EU“, Kurzfassung 2001, S. 40 dazu: „Dies hat mit einem echten Slothandel selbstverständlich nur wenig zu tun. Gleichwohl sind im Vergleich zur heutigen, relativ starren Situation alle Ansätze eines Slothandels zu begrüßen, weil sie den Airlines zu mehr Flexibilität verhelfen. Der Slothandel ermöglicht somit das Fine tuning der Slotverteilung, allzu hohe Erwartungen sollte man jedoch nicht an ihn richten“. 33

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Dieses Modell eines Secondary Trading würde – so wird argumentiert – die Luftfahrtunternehmen mit Großvaterrechten stärker als bisher mit den Opportunitätskosten von Slots konfrontieren, also das tradierte Großvaterprinzip jedenfalls flexibler gestalten. Bei diesem von der EG-Kommission zur Diskussion gestellten System müsse auch entschieden werden, ob das Recht zum Slotkauf ausschließlich Luftfahrtunternehmen zustehen solle, denn es sei auch denkbar, anderen Organisationen, z.B. Investmentbanken, das Recht zum Sloterwerb zuzugestehen. Exkurs: Im Bereich des Slothandels ist die Situation in USA nicht mit Europa vergleichbar. In USA wurde 1986 nach vorangegangenen negativen Erfahrungen die sog. die buy-sell-rule eingeführt und der Slothandel bundesgesetzlich gestattet: “Slots may be bought, sold or leased for any consideration and any time period and they may be traded in any combination for slots at the same airport or any other high-density traffic airport” 34. Slothandel gibt es in USA insbesondere auf den Flughäfen New York, Chicago und Washington. Ausgeprägt sind „sublease contracts“, aufgrund derer Slots zwischen Luftfahrtunternehmen durch Leasing übertragen werden. In vielen umfangreichen wirtschaftswissenschaftlichen Gutachten und Stellungnahmen über das Ob und Wie eines Slothandels wurden zahlreiche akademische und praktische Theoriemodelle möglicher Slot-Handelsysteme erarbeitet und präsentiert. Es ist nicht möglich, diese Modelle im Rahmen des vorliegenden Beitrages im einzelnen vorzustellen 35. Dazu bedarf es weiterer wirtschaftswissenschaftlicher Analysen, Bewertungen und Abwägungen im Detail: nicht zuletzt auch im Blick auf die Realisierungsmöglichkeiten und die EG-weite politische Akzeptanz der recht unterschiedlichen Modelle. Der vorliegende Beitrag sieht hiervon ab, denn aktuell ist derzeit nur das von der EG-Kommission angestrebte Modell eines Secondary Trading. Dieses von der EG-Kommission angestrebte Secondary Trading könnte ergänzt werden durch die von der Kommission ebenfalls vorgestellte Rege34 High Density Airport Rule 14 CFR Ch I § 93.221 „Transfer of Slots“; dazu eingehend Starkie, Slot Trading at United States Airports, Putnam, Hayes & Bartlett Ltd; Kilian, TranspR 2000, 159, erweiterte und überarbeitete Fassung (Fn. 30). 35 Nur als Beispiele, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Slothandelsmodelle Primary Trading; Higher Posted-Preise; Slotklassen; zahlreiche Modelle für Auctions of slots; Earmarking; Verlosungen; „Big-Bang“ (Radikalmodell); Mindestnutzungsdauer für Slots, etc. Dazu z.B. Feess, Ökonomische Analyse unterschiedlicher Verfahren der Vergabe von Zeitnischen, 2002; Wolfrum (Fn. 21) mit Ordas-Studie; Starkie, Slot Trading at United States Airports London 1992; Slots and Access to Airport Facilities, The Royal Aeronautical Society, London; Slot Allocation: A Proposal for Europe’s Airports, Civil Aviation Authority London; Auctioning Airport Slots, A Report for HM Treasury and the Department of the Environment, Transport and the Regions, econ London, 2001; Borrmann, Zur Allokation von Start- und Landerechten – Eine Kritik an den Regulierungsvorschlägen der EGKommission, WuW 1991, 678; fast alle Berichte stammen aus der Zeit vor 2004, berücksichtigen also nicht die VO (EG) 793/2004.

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lung einer „Redistribution of x % grandfathered“ 36. Diese Regel gibt den Luftfahrtunternehmen mit Großvaterrechten vor, in einer bestimmten Zeiteinheit x % ihres Slotbestandes in den Zeitnischenpool zurückzugeben. Die x %-Regel verfolgt daher den Zweck, Großvaterrechte unter Beachtung der Planbarkeit und des Vertrauensschutzes schrittweise und zeitgestreckt flexibler als bisher zu gestalten. Verfügt z.B. ein Luftfahrtunternehmen über 50 Slots, so würde es bei einem x-Faktor von 20 je Zeiteinheit 10 Slots in den Slotpool geben müssen.

Gesetzesfolgenabschätzung Dass und wie die EG-Kommission das Slothandels-Modell eines Secondary Trading (mit oder ohne x %-Regel) zur Einführung der monetären Anreize durch einen Slothandel bevorzugt, zeigt auch die von ihr beabsichtigte oder bereits auf den Weg gebrachte Gesetzesfolgenabschätzung. In Arbeitspapieren wird dazu auf das „law of unintended consequences“ verwiesen: However, the Commission recognises that ‘the law of unintended consequences’ is also likely to come into play. The purpose of the current study is to ensure that, as far as possible, the desired consequences of a change in legislation to allow secondary slot trading are analysed carefully in depth; and that the financial benefits generated from the maximum use of airport infrastructure are not offset by unintended consequences that could result in a net deficit for EU aviation and/or the Community as a whole. The study is expected to recommend safeguards to ensure that any foreseen potential disbenefits are minimised.

Dieses vorsichtige Vorgehen der EG-Kommission ist zu begrüßen. Es entspricht den seit 2003 integrierten Standards der EG-Kommission und vieler Mitgliedsstaaten zum Institut der Gesetzesfolgenabschätzung bei Rechtsetzungsvorhaben des EG-Rechtes 37.

Versuch einer Vorausschau 38 1. Die von der EG-Kommission 2006 beabsichtigte oder bereits auf den Weg gebrachte Gesetzesfolgenabschätzung zu dem von der Kommission in Aussicht genommenen begrenzten Slothandel zwischen Luftfahrtunternehmen in Form eines Secondary Trading ist zu begrüßen. Den Ergebnissen die-

36 37 38

Staff Document (Fn. 5), Abschn. 4.2. Dazu Wagner, ZRP 1999, 480; Smeddinck zum Mandelkern-Bericht DVBl. 2003, 643. Nach dem Erkenntnisstand Ende Februar 2006.

Luftverkehrsrecht der EG im Wandel

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ser Studie dürfte erheblich Bedeutung für eine 2. Novellierung der VO 93/95 zukommen, ja entscheidend sein. Dies gilt auch für die erwarteten Empfehlungen für Schutzmechanismen, um unerwünschten Auswirkungen des angestrebten begrenzten Slothandels zu begegnen. 2. Wenn diese Gesetzesfolgenabschätzung bestätigt, dass das von der EGKommission favorisierte Modell eines begrenzten Slothandels in Form eines Secondary Trading monetäre Anreize für eine bestmögliche Slotnutzung bewirken kann und dem keine vorhersehbaren wesentlichen negativen Folgen entgegenstehen, ist die Frage „Slothandel ante portas?“ zu bejahen. 3. Wenn aber die Gesetzesfolgenabschätzung nicht wie in Nr. 2 zu bestätigen vermag, bliebe bis auf weiteres wohl alles beim Alten. Die Einbeziehung von monetären Anreizen durch das von der EG-Kommission bevorzugte Modell eines begrenzten Slothandels zwischen Luftfahrtunternehmen wäre gescheitert. Die Frage „Slothandel ante portas?“ wäre zu verneinen. Aber: wäre das wirklich so? 4. Es könnte doch sein, daß der EuGH, sofern er über die Rechtsfrage der Zulässigkeit eines Slothandels im Anwendungsbereich der SlotVO zu entscheiden hat, nicht die Ansicht der EG-Kommission akzeptiert, Slothandel zwischen einzelnen Luftfahrtunternehmen sei derzeit unerlaubt. Der EuGH könnte feststellen, daß Art. 8 a Abs. 1 SlotVO in der seit 2004 geltenden Fassung allein und nur eine Slotübertragung innerhalb desselben Luftfahrtunternehmens regle, nicht aber eine Slotübertragung zwischen einzelnen Luftfahrtunternehmen wie im Falle des Slottausches; Slothandel zwischen verschiedenen Luftfahrtunternehmen sei daher ungeregelt, für Verkauf, Kauf und Leasing von Slots gebe es im geltenden EG-Recht kein Verbot; es liege insoweit eine bewußte Nichtregelung des Europäischen Gesetzgebers vor. Habe dieser Gesetzgeber für einen bestimmten Sachverhalt eine bestimmte Rechtsfolge – hier: den Kommissionsvorschlag KOM (2001) endg. 335 zu § 8 a der VO 793/2004 –39 abgelehnt, so lasse sich die von der Kommission gewollte Festschreibung eines Slothandelsverbotes nach dem Kommissionsvorschlag 335 endg. nicht jetzt im Nachhinein im Wege einer fortbildenden Rechtsinterpretation erzielen. Der Europäische Gesetzgeber habe zu dieser Frage eines Slothandelsverbotes zwischen einzelnen Luftfahrtunternehmen bewußt geschwiegen, er habe insoweit eine „bewußte Regelungslücke“ getroffen. Nach der Rechtsprechung des EuGH zur systematischen und teleologischen Interpretation sei diese bewußte Nichtregelung nicht als Slot39 Kommissionsvorschlag KOM (2001) 335 endg. vom 22.06.2001 zu § 8a Abs. 2 (Amtsblatt EG vom 25.09.2001 C 270 E/19): „Außer den in Art. 1 Abs. 1 Buchstabe b genannten Luftfahrtunternehmen können Zeitnischen in keiner Weise unter Luftfahrtunternehmen oder solchen und anderen Körperschaften, sei es mit oder ohne finanziellen Ausgleich, übertragen werden“.

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handelsverbot zu erachten. Darauf weise auch das Interpretationshilfsmittel der historischen Auslegung hin, denn die Kommission sei klar und deutlich mit ihrem Vorschlag gescheitert, Slothandel zwischen einzelnen Luftfahrtunternehmen mittels Verkauf, Kauf und Leasing expressis verbis zu verbieten. Es sei nach allem nicht begründet, die Nichtregelung des Europäischen Gesetzgebers – sinnwidrig umdeutend – als Slothandelsverbot zu interpretieren. Es gebe auch im EG-Recht Grenzen der Teleologie, die nicht dazu führen darf, Wortlaut und Systematik von Normen „voluntaristisch umzubiegen oder in ihr Gegenteil zu verkehren“.40 Der EuGH könnte daher feststellen, daß nach dem derzeitigen Recht, wie es seit 2004 gilt, Slothandel zwischen verschiedenen Luftfahrtunternehmen mittels Verkauf, Kauf und Leasing von Slots zulässig ist, weil nicht verboten. 5. Jedenfalls: Das Ob und Wie eines Slothandels durch Verkauf, Kauf, Leasing und Tausch zwischen Luftfahrtunternehmen bleibt weiterhin eine Herausforderung für die EG-Rechtsetzung. Sie muß entscheiden, ob und wie die bisherige Mangelregulierung der Slots durch einen begrenzten Slothandel mit monetären Anreizen, wie dies die Kommission aktuell vorschlägt, effizienter, liberaler und zukunftsorientierter gestaltet werden kann. Die aktuellen Ziele sind vorgegeben: Die Politik der Gemeinschaft zielt darauf ab, den Wettbewerb zu erleichtern und den Marktzugang zu fördern. Dabei soll den Luftfahrtunternehmen erhebliche Unterstützung zuteil werden. Es muß vermieden werden, daß es wegen mangelnder Slots zu einer ungleichen Verteilung der Vorteile der Liberalisierung und zu einer Verzerrung des Wettbewerbs kommt. Die bestehenden Slots sollen so gut wie möglich genutzt werden, um diese Ziele zu erreichen. Dazu gehören auch „monetäre Anreize“ eines begrenzten Slothandels mittels Secondary Trading. 6. John Balfour wagte 2004, als es um die Novellierung des Art. 8 Abs. 4 SlotVO damaliger Fassung ging, die Voraussage, daß bei einem Scheitern der damaligen Slothandelsinitiative der EG-Kommission sich ein „Möglichkeitsfenster“ für die Luftfahrtunternehmen ergebe, Slots zu kaufen und zu verkaufen, „sicher in UK und möglicherweise auch in anderen Mitgliedsstaaten“: an initiative can be expected from the Commission in the near future. Because the proposel is likely to bei quite controversial, it ís unlikely to lead to legislation in the immediate future. Thus, airlines have a further window of opportunity in which to buy and sell slots – certainly in the UK, and possibly in other member states, too. Diese Voraussage könnte sich auch demnächst wieder bewahrheiten: als reale „Slothandelswirklichkeit“. Dann könnte der Europäische Gesetzgeber dieser Slothandelswirklichkeit aber nur noch mit Regulierungsmechanismen zur Verhütung unerwünschter Auswüchse nachhinken. 40

Oppermann, Europarecht, 3. Aufl. 2005 S. 209

Holzmüller-Kompetenzen der Hauptversammlung und Missbrauch der Vertretungsmacht durch die Vorstände einer Aktiengesellschaft Peter Adolff / Johannes Adolff Inhaltsübersicht I. Gesetzliche Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Holzmüller-Kompetenzen im Lichte von Gelatine . . . . . . . . . . . . . . 1. Holzmüller und die Unklarheit über die Implikationen . . . . . . . . . . . 2. Präzisierungen durch Gelatine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Folgeproblematik des Missbrauchs der Vertretungsmacht . . . . . . . . . . . 1. Abstraktheit organschaftlicher Vertretungsmacht als gedanklicher Ausgangspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Missbrauchstatbestand im Bereich der organschaftlichen Vertretungsmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Lösungsvorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Gesetzliche Ausgangslage Die unbefangene Lektüre des Gesetzestextes vermittelt den Eindruck einer Kompetenzabgrenzung zwischen Verwaltung und Hauptversammlung der Aktiengesellschaft, die an Klarheit kaum zu übertreffen ist. Die Beschlussgegenstände, welche in den Zuständigkeitsbereich der Hauptversammlung fallen, sind im Aktiengesetz und im Umwandlungsgesetz enumerativ aufgezählt. § 119 Abs. 1 AktG stellt klar, dass die Hauptversammlung ausschließlich in diesen Fällen entscheidungsbefugt ist. Entscheidungen, die der Hauptversammlung nicht in dieser Weise zugewiesen worden sind, fallen in den Verantwortungsbereich der Verwaltung. Die Hauptversammlung hat keine „Kompetenz-Kompetenz“. Aufsichtsrat und Vorstand leiten ihre Befugnisse nicht von der Hauptversammlung ab. Vielmehr haben sie von Gesetzes wegen ihre eigenen Befugnisse, in welche die Hauptversammlung nicht eingreifen kann. Diese Betonung der Unabhängigkeit der Verwaltung beruht auf einer bewussten Entscheidung des Reformgesetzgebers der Weimarer Republik.1 1

Nachweise bei Adolff, ZHR 169 (2005), 310, 313.

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Bei Entscheidungen im Bereich eigenverantwortlicher Leitungsmacht kann sich der Vorstand gem. § 119 Abs. 2 AktG der Zustimmung der Hauptversammlung versichern. Damit reagiert er aber nicht auf ein Mitwirkungsrecht der Aktionäre, sondern schützt in erster Linie sich selbst: Soweit der Vorstand auf der Grundlage eines rechtmäßigen Hauptversammlungsbeschlusses handelt, ist seine persönliche Haftung gegenüber der Gesellschaft gem. § 93 Abs. 4 AktG eingeschränkt. Diese klare Ordnung im Innenverhältnis setzt sich nach außen fort. Die organschaftliche Vertretungsmacht des Vorstands leitet sich nicht aus einem Mandat der Hauptversammlung ab. Gem. § 82 Abs. 1 AktG ist sie – jedenfalls im Grundsatz – unbeschränkt und unbeschränkbar. Nach § 23 Abs. 5 AktG ist diese Kompetenzordnung in ihrer Gesamtheit zwingend in dem Sinne, dass über sie auch durch Satzungsbestimmungen nicht disponiert werden kann. Zusammengenommen mit der negativen Publizität des Handelsregisters versetzt sie Vertragspartner der Gesellschaft in eine komfortable Lage. Sie können sich darauf verlassen, dass das Wort der in vertretungsberechtigter Zahl auftretenden und im Handelsregister ausgewiesenen Vorstände die Gesellschaft bindet. Darüber hinaus gibt ihnen die klare Kompetenzordnung im Innenverhältnis wenig Anlass, sich über die Frage Gedanken zu machen, ob sich die Vorstände im Rahmen ihrer internen Geschäftsführungsbefugnisse bewegen: Umfang und Grenzen dieser internen Befugnisse sind in aller Regel evident.

II. Holzmüller-Kompetenzen im Lichte von Gelatine 1. Holzmüller und die Unklarheit über die Implikationen Zwischenzeitlich hatte die Kompetenzverteilung zwischen den Organen der Aktiengesellschaft aber an Klarheit eingebüßt. Seit Mitte der 70er Jahre wurde im deutschen Schrifttum bekanntlich die Forderung nach ungeschriebenen Kompetenzen der Hauptversammlung erhoben.2 Sie zielen auf Informations- und Mitwirkungsrechte der Aktionäre bei Entscheidungen der Verwaltung, die im Katalog der gesetzlichen Kompetenzzuweisungen zwar nicht enthalten sind, die Vermögens- und Organisationsstruktur der Gesellschaft aber so stark verändern, dass sie den gesetzlich geregelten Fällen einer Beteiligung der Hauptversammlung gleichgestellt werden sollen. Im Jahre 1982 hat der BGH diese Gedanken in seiner berühmten Holzmüller-Entscheidung 3 aufgegriffen und – für den ihm vorliegenden Fall der Übertragung des wertvollsten Betriebsteils auf eine Tochtergesellschaft – eine 2 3

Grundlegend Knobbe-Keuk, FS Ballerstedt (1975), 239. BGHZ 83, 123.

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Pflicht des Vorstands festgestellt, die Zustimmung der Hauptversammlung herbeizuführen, obwohl es an einer Zuständigkeitszuweisung im Gesetz eindeutig fehlte. In der dogmatischen Begründung dieser ungeschriebenen Hauptversammlungskompetenzen ist der BGH jedoch eigene Wege gegangen. Er leitet diese Pflicht aus der eingangs erwähnten Regelung in § 119 Abs. 2 AktG her, derzufolge der Vorstand eine Geschäftsführungsmaßnahme, die an sich in seinen exklusiven Zuständigkeitsbereich fällt, der Hauptversammlung zur Zustimmung vorlegen kann. Das Gericht nimmt an, dass sich dieses Vorlagerecht aufgrund einer Art Ermessensreduzierung auf Null 4 zu einer Vorlagepflicht verdichtet.5 Dazu soll es dann kommen, wenn die Maßnahme „so tief in die Mitgliedschaftsrechte der Aktionäre und deren im Anteilseigentum verkörpertes Vermögensinteresse eingreift, dass der Vorstand nicht annehmen kann, er dürfe sie ausschließlich in eigener Verantwortung treffen.“ 6 Es dürfte auf der Hand liegen, dass mit dieser Formel die Frage nach der Reichweite der hierdurch begründeten, ungeschriebenen Hautversammlungskompetenzen eher umschrieben als beantwortet ist. Mülbert spricht anschaulich davon, dass durch das Kriterium des „tiefen Eingriffs“ eine „Art richterrechtlicher Generalklausel“ geschaffen worden sei.7 Wie kaum überrascht, haben die Kritik an dieser Begründung und die Versuche zur Präzisierung dieser Generalklausel zu einer breiten wissenschaftlichen Diskussion geführt.8 Bis heute ist nicht abschließend geklärt, welche Art von Geschäftsführungsmaßnahmen unter die „Holzmüller-Doktrin“ fallen und welchen Schwellenwert das Transaktionsvolumen einer Maßnahme erreichen muss, um die ungeschriebene Hauptversammlungszuständigkeit zu begründen. Weitgehende Einigkeit besteht jedoch über einen Kernbestand von Maßnahmen, die von den ungeschriebenen Holzmüller-Kompetenzen der Hauptversammlung erfasst werden. Hierzu zählt jedenfalls der vom BGH entschiedene Fall der Übertragung eines bedeutenden Unternehmensteils bzw. einer bedeutenden Beteiligung auf eine Tochtergesellschaft. Eine solche Maßnahme zeichnet sich dadurch aus, dass eine Unternehmensgruppe geschaffen oder erweitert wird. Dies hat erhebliche Auswirkungen auf das

4

Großkommentar-Mülbert, § 119, Rn. 23. Dieser Begründungsansatz hat in der Folge auch in der Literatur einige Zustimmung gefunden, vgl. Hüffer, Aktiengesetz, § 119, Rn. 18; die überwiegende Literatur lehnt sie jedoch ab und will auf eine Analogie zu den gesetzlichen Kompetenzuweisungen (z.B. § 179a, 293 Abs. 2 AktG) rekurrieren, vgl. etwa Emmerich/Habersack, Aktienkonzernrecht, vor § 311, Rn. 18; Großkommentar-Mülbert, § 119, Rn. 21ff. 6 BGHZ 83, 123, 131. 7 Großkommentar-Mülbert, § 119, Rn. 22 8 Ein Überblick über die inzwischen ausufernde Literatur findet sich etwa bei Henze, FS Ulmer (2003), 211ff.; Hüffer, FS Ulmer (2003), 279 ff.; Kölner Kommentar-Koppensteiner, Vorb. § 291, Rn. 43 ff. 5

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Machtgleichgewicht zwischen der Hauptversammlung und dem Vorstand: Die in Frage stehende Aktiengesellschaft wird zur Muttergesellschaft. Ihre Gesellschafterrechte in den Tochtergesellschaften übt der Vorstand im Rahmen seine eigenverantwortlichen Leitung aus. Auf der Ebene der Tochtergesellschaft haben die Aktionäre der Mutter naturgemäß keine Gesellschafterrechte. Der Vorstand wird dadurch in die Lage versetzt, auf der Ebene der Tochtergesellschaft auch dann selbständig Entscheidungen zu treffen, wenn er bei gleicher Entscheidung auf der Ebene der Muttergesellschaft auf eine Zustimmung der Hauptversammlung angewiesen gewesen wäre. Er kann beispielsweise das Kapital der Tochtergesellschaft erhöhen und so die Beteiligungsstruktur in der Unternehmensgruppe verändern, obwohl eine vergleichbare Kapitalerhöhung auf der Ebene der Muttergesellschaft nur durch Hauptversammlungsbeschluss hätte erreicht werden können. 2. Präzisierungen durch Gelatine Dieser Mediatisierungseffekt fällt naturgemäß nur ins Gewicht, wenn die neue Tochtergesellschaft Trägerin eines bedeutenden Unternehmensteils ist. In der Holzmüllerentscheidung war dies unproblematisch gegeben. Der ausgegliederte Unternehmensbereich stellte dort den wertvollsten Teil des Gesamtunternehmens dar. Angesichts des geringen Umfanges der bei der Mutter verbleibenden Aktivitäten stellte sich sogar die Frage, ob nicht deren gesamtes Vermögen i.S. des heutigen § 179 a AktG übertragen worden war.9 Dies war letztlich zu verneinen; es stand aber außer Zweifel, dass gleichsam das Herzstück des Gesamtunternehmens durch die Verlagerung in eine Tochtergesellschaft dem Zugriff der Aktionäre entzogen worden war. Offen geblieben war aber, inwieweit die Holzmüller-Rechtsprechung auch auf weniger eindeutig gelagerte Fälle Anwendung findet. Hinsichtlich der hierfür maßgeblichen Schwellenwerte haben die beiden Gelatine-Entscheidungen des BGH vom 26. April 2004 10 eine weitgehende Klärung bewirkt. Nach diesen beiden Entscheidungen liegt die „Holzmüller-Schwelle“ sehr hoch, die ungeschriebene Hauptversammlungskompetenz ist eindeutig ein Ausnahmefall. Die neue Formel des Bundesgerichtshofs lautet, dass ein Beschlussgegenstand vor die Hauptversammlung gehört, wenn eine vom Vorstand betriebene Maßnahme „an die Kernkompetenz der Hauptversammlung, über die Verfassung der Aktiengesellschaft zu bestimmen, rührt, weil sie Veränderungen nach sich zieht, die denjenigen zumindest nahe kom9

Vgl. BGHZ 83, 123, 126. AG 2004, 384; ZIP 2004, 1001; ZIP 2004, 993; Der Konzern 2004, 421. Vgl. hierzu Koppensteiner, Der Konzern 2003, 381; Fuhrmann, AG 2004, 339; Götze, NZG 2004, 585; Fleischer, NJW 2004, 2335; Liebscher, ZGR 2005, 1; Habersack, AG 2005, 137; Reichert, AG 2005, 150. 10

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men, welche allein durch eine Satzungsänderung herbeigeführt werden können.“11 Eine gewisse Klärung brachten die Gelatine-Entscheidungen auch hinsichtlich der dogmatischen Grundlagen der Holzmüller-Kompetenz der Hauptversammlung. Der BGH gesteht der Kritik an seiner Herleitung aus § 119 Abs. 2 AktG auf der Tatbestandsseite zu, dass eine Anlehnung an explizit kompetenzbegründenden Normen des AktG „eher geeignet sei, die in Betracht kommenden Fälle einer ungeschriebenen Hauptversammlungskompetenz festzulegen“ und bezeichnet jetzt eine offene Rechtsfortbildung als die dogmatische Grundlage.12 Bezüglich der Rechtsfolgenseite hat der BGH jedoch an seinem bisherigen Ansatz festgehalten und ausdrücklich klargestellt, dass der Bestand der Vertretungsmacht des Vorstandes im Außenverhältnis unabhängig von einer Kompetenzüberschreitung der eigentliche Grund dafür gewesen ist, dass der BGH ursprünglich zu § 119 Abs. 2 AktG als dogmatische Grundlage für seine Holzmüller-Rechtsprechung gegriffen hat. Es werde, so der BGH, von den kritischen Literaturstimmen nicht hinreichend berücksichtigt, dass „der Senat sich vor allem deswegen an § 119 Abs. 2 AktG angelehnt hat, weil er deutlich machen wollte, dass die von ihm angenommene Pflicht allein das Innenverhältnis zur Hauptversammlung betrifft, die uneingeschränkte Außenvertretungsmacht des Vorstandes hiervon aber nicht berührt wird.“ 13

III. Folgeproblematik des Missbrauchs der Vertretungsmacht Daraus ergibt sich eine theoretisch und praktisch wichtige Folgeproblematik. Es stellt sich die Frage nach dem Durchschlagen der Verletzung von Mitwirkungsrechten der Hauptversammlung im Innenverhältnis auf das vom Vorstand getätigte Vertretergeschäft im Außenverhältnis: Dadurch, dass der BGH die klare Zuständigkeitsverteilung zwischen Hauptversammlung und Vorstand aufgeweicht hat, ist auch die Position des Vertragspartners bei einem solchen Vertretergeschäft problematischer geworden. Für ihn bleibt es zwar bei der Abstraktheit der organschaftlichen Vertretungsmacht von den Bindungen des Vorstandes im Innenverhältnis. Denkbar sind aber Fälle, in denen er den Vorwurf befürchten muss, es hätte sich auch ihm geradezu aufgedrängt, dass der Vorstand nach Holzmüller-Grundsätzen gezwungen war, die Hauptversammlung zu konsultieren, bevor er sich auf ein Vertretergeschäft dieser Art einlässt. 11

Leitsatz 1. BGH ZIP 2004, 993, 997. 13 BGH, a.a.O. Ebenso schon BGHZ 83, 127, 133 (Holzmüller): „Die Verletzung dieser (internen) Vorlagepflicht beeinträchtigt jedoch nicht die Wirksamkeit der vom Kläger bekämpften Maßnahme. Denn nach § 82 Abs. 1 Akt ist die Vertretungsmacht des Vorstands nur durch das Gesetz beschränkbar.“ 12

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Wo dieser Vorwurf zutrifft, ist der Bestand des Vertretergeschäfts nach der Lehre vom Missbrauch der Vertretungsmacht in Frage gestellt. Allein aus dem Prinzip der unbeschränkten und unbeschränkbaren Vertretungsmacht kann der Dritte, wenn er seine Unschuld in dieser Weise einmal verloren hat, den Schutz seiner Position wohl nicht mehr ableiten. Vielmehr ist es in einem solchen Fall erforderlich, eine Abwägung zwischen den Interessen des Rechtsverkehrs an Klarheit der Vertretungsverhältnisse und einem effektiven Schutz der Mitwirkungsrechte der Aktionäre vorzunehmen. Im Folgenden soll versucht werden, die Parameter zu bestimmen, welche sich für diese Abwägung aus dem Aktiengesetz ergeben. 1. Abstraktheit organschaftlicher Vertretungsmacht als gedanklicher Ausgangspunkt Zu diesem Zwecke ist zunächst die eingangs getroffene Aussage zu präzisieren, dass sich die Klarheit der internen Kompetenzordnung zwischen den Organen der Aktiengesellschaft im Außenverhältnis fortsetzt: Nach dem in § 82 Abs. 1 AktG verankerten Grundsatz, dass die Vertretungsmacht des Vorstands unbeschränkt und unbeschränkbar ist, schlagen Probleme des Innenverhältnisses auf das Außenverhältnis gerade nicht durch. Der Schutz des Rechtsverkehrs wird, jedenfalls im Ausgangspunkt, über den Schutz der Aktionärsrechte gestellt. Dies entspricht dem das bürgerliche Recht beherrschenden Abstraktionsprinzip im Recht der Stellvertretung, welches dadurch verschärft wird, dass man den Aktionären als den (wirtschaftlichen) Prinzipalen der Vorstände die Möglichkeit nimmt, auf den Umfang der Vertretungsmacht durch Willenserklärung oder Beschluss Einfluss zu begrenzen. Auch im Aktienrecht ist diese streng formalisierte Version des bürgerlichrechtlichen Abstraktionsprinzip allerdings nicht einschränkungslos verwirklicht. So sieht § 179 a AktG vor, dass die Veräußerung des gesamten Gesellschaftsvermögens der Zustimmung der Hauptversammlung bedarf. Bei einem ohne diese Zustimmung vom Vorstand geschlossenen Vertrag über die Veräußerung des gesamten Gesellschaftsvermögens fehlt ihm nach nahezu einhelliger Meinung die Vertretungsmacht. § 179a AktG begründet also nicht nur eine Pflichtbindung des Vorstands im Innenverhältnis, sondern schränkt seine Vertretungsmacht im Außenverhältnis ein. Zu einer Einschränkung der Vertretungsmacht des Vorstands kommt es im Ergebnis auch in denjenigen Fällen, in denen das Gesetz die Wirksamkeit des Geschäfts im Außenverhältnis von der Eintragung eines zustimmenden Hauptversammlungsbeschlusses im Handelsregister abhängig macht. So liegt es etwa beim Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags oder eines Verschmelzungsvertrags. Es gibt also durchaus Strukturmaßnahmen, deren Bedeutung für die Aktionäre aus der Sicht des Gesetzgebers so weit reicht, dass sie ohne die Zustimmung der Aktionäre schlechterdings undurchführbar sein sollen.

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Auch hier bedient sich der Gesetzgeber aber eines abschließenden Katalogs – und der BGH hat in der Gelatine-Entscheidung, wie soeben ausgeführt, deutlich hervorgehoben, dass es beim abschließenden Charakter dieses Katalogs sein Bewenden haben soll. Bei Maßnahmen, die von diesem Katalog nicht erfasst werden, bleibt es bei der Abstraktheit der Vertretungsmacht und die Missachtung von Mitwirkungsrechten der Aktionäre lässt die Vertretungsmacht des Vorstands gem. § 82 Abs. 2 AktG unberührt. Ein solcher Fall ist auch die Über- oder Unterschreitung des Unternehmensgegenstands: 14 Gem. § 23 Abs. 3 Nr. 2 muss die Satzung der Aktiengesellschaft den Unternehmensgegenstand bestimmen. Die Satzung der Holzmüller-AG sah als Unternehmensgegenstand beispielsweise „den Betrieb einer Umschlags- und Lagerungsanlage für Holz und andere Güter sowie die Vermittlung, Durchführung und Finanzierung von Holzgeschäften“

vor. Hätte die Holzmüller-AG eine Reederei erworben, so hätte diese Überschreitung des Unternehmensgegenstands gem. § 179 AktG eine Satzungsänderung durch Hauptversammlungsbeschluss erfordert. Hätte sie den Holzhandel auf Dauer eingestellt und sich ganz auf das Lagergeschäft konzentriert, so wäre wegen dieser Unterschreitung des Unternehmensgegenstands eine Änderung der Satzung notwendig gewesen. Setzt sich der Vorstand über dieses Erfordernis hinweg und erwirbt er, um im Beispiel zu bleiben, ohne Satzungsänderung eine Reederei, so bleibt seine Vertretungsmacht hiervon unberührt. Diese wird vom Unternehmensgegenstand nicht begrenzt. Dies ist, wie die englische ultra-vires Lehre zeigt, keineswegs selbstverständlich, sondern beruht auf einer Wertentscheidung des Gesetzgebers, die den Vorrang der Verkehrsinteressen vor den Interessen der Aktionäre betont.15 2. Der Missbrauchstatbestand im Bereich der organschaftlichen Vertretungsmacht Die Durchbrechung der Abstraktheit der Vertretungsmacht – und damit eine Einschränkung der Reichweite dieser Wertentscheidung – ist allerdings auch im deutschen Recht nicht vollständig ausgeschlossen. Sie wird über die Rechtsfiguren der Kollusion und des Missbrauchs der Vertretungsmacht erreicht. Unproblematisch ist dabei die Fallgruppe der Kollusion: Wirken der Vorstand und der Vertragspartner der Aktiengesellschaft vorsätzlich zum Schaden der Aktionäre zusammen, so ist das Vertretergeschäft gem. § 138 BGB unwirksam. Noch immer unvollständig konturiert sind dagegen Tat14 Hierzu eingehend Tieves, Der Unternehmensgegenstand der Kapitalgesellschaft (1998), 270ff. 15 Hierzu und Vereinbarkeit mit den europarechtlichen Vorgabe, Tieves, a.a.O., 275f.

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bestand und Rechtsfolgen des Missbrauchs der Vertretungsmacht. Eindeutig bestimmbar ist nur der wertungsmäßige Ausgangspunkt für diese Rechtsfigur: Der Schutz des Rechtsverkehrs durch die Abstraktheit der Vertretungsmacht soll demjenigen nicht zugute kommen, der in Ansehung der Verletzung von Bindungen im Innenverhältnis bösgläubig ist. Die Rechtsprechung leitet aus § 242 BGB eine Einrede der unzulässigen Rechtsausübung des grundsätzlich wirksam vertretenen Prinzipals gegen den Vertragspartner ab.16 In der Literatur ist dagegen versucht worden, die Lösung innerhalb des Rechts der Stellvertretung zu finden, indem die Abstraktheit der gesetzlichen Vertretungsmacht jedenfalls dann ihre Grenze im Missbrauch derselben finden soll, wenn dieser Missbrauch für den Vertragspartner evident ist.17 Der Vertreter soll dann von vornherein ohne Vertretungsmacht handeln, die Folgen hieraus ergeben sich aus § 177 Abs. 1 BGB. Es überzeugt allerdings kaum, wenn die Literatur schon die Wirksamkeit des Vertretergeschäfts an die Frage der Bösgläubigkeit des Vertragspartners knüpfen will. Im folgenden wird aus diesem Grunde die Ansicht der Rechtsprechung zugrunde gelegt, nach der das Vertretergeschäft zwar wirksam abgeschlossen wird, ihm aber eine Einrede aus § 242 BGB entgegensteht. Ob diese Einrede erhoben werden kann, ist von bestimmten Voraussetzungen in der Person des Vertreters und in der Person der anderen Vertragspartei abhängig, die es im Folgenden zu erörtern gilt. Für die Person des Vertreters hat vor allem die ältere Rechtsprechung ein subjektives Tatbestandselement gefordert: 18 Es wurde verlangt, dass der Vertreter seine Bindung im Innenverhältnis nicht nur offen verletzt, sondern dies auch erkennt und zumindest billigend in Kauf nimmt. Mit dem Verständnis der Rechtsfigur als einer Einschränkung des über die Abstraktheit der Vertretungsmacht vermittelten Verkehrsschutzes bei Bösgläubigkeit der Vertragsgegenseite verträgt sich dieses Erfordernis nicht: Für die Abwägung der Verkehrsschutzinteressen mit den Integritätsinteressen des Prinzipals kann es keine Rolle spielen, wie der Vertreter den zu beurteilenden Sachverhalt wahrgenommen hat.19

16 BGHZ 50, 114. Technisch präzise heißt dies wohl, dass die Gesellschaft ihrem Vertragspartner die exceptio doli entgegenhalten kann. Der BGH hat für die GmbH einen Fall entschieden, in dem die Missachtung der Kompetenzen der Gesellschafterversammlung durch eine Geschäftsführerin auf deren Vertretungsmacht im Außenverhältnis durchgeschlagen hat (BGH NJW 1984, 161). 17 Flume, Allgemeiner Teil, § 45 II 3. 18 Vgl. die Angaben in BGH NJW 1990, 383. 19 Jedenfalls im hier interessierenden gesellschaftsrechtlichen Kontext dürfte das auch von der Rechtsprechung anerkannt sein, vgl. für den Fall des Missbrauchs der Vertretungsmacht durch GmbH-Geschäftsführer bei Nichtbeteiligung der an sich zu konsultierenden GmbH-Gesellschafterversammlung: BGH NJW 1984, 1461: Vorsatz beim Vertreter entbehrlich.

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Die zweite, schwierigere und wichtigere Frage auf der Tatbestandsseite betrifft die Voraussetzungen in der Person der anderen Vertragspartei. Der Schwellenwert für ihre Bösgläubigkeit bestimmt die Reichweite der Durchbrechung des Abstraktionsprinzips. Würde man einfache Fahrlässigkeit genügen lassen, so wäre dieses Prinzip weitgehend ausgehöhlt. Dies verbietet sich jedenfalls im Bereich der organschaftlichen Vertretungsmacht. Wie bereits ausgeführt, hat hier der Gesetzgeber eine eindeutige Wertentscheidung zugunsten des Verkehrsschutzes getroffen. Sie zielt darauf, dass sich die Geschäftspartner einer solchen Gesellschaft um deren Interna im Grundsatz nicht zu kümmern brauchen. Diese Entscheidung des Gesetzgebers würde ignoriert, wenn sich Ansprüche aus einem Vertretergeschäft bereits mit dem Vorwurf in Frage stellen ließen, die Vertragsgegenseite hätte wissen müssen, dass es zur Verletzung interner Pflichtbindungen gekommen ist. Abzustellen ist daher auf einen an der Wertentscheidung des Gesetzgebers orientierten, objektiven Maßstab, der sich auf die Wahrnehmungen des Geschäfts durch einen typisierten Vertragspartner bezieht. In diesem objektivierten Sinne muss sich dem Vertragspartner die Pflichtverletzung im Innenverhältnis „geradezu aufgedrängt“ haben bzw. sie muss evident gewesen sein. Hieraus folgt insbesondere, dass es nicht ausreicht, wenn die Pflichtverletzung im Innenverhältnis bei einer sorgfältigen Einsichtnahme in das Handelsregister erkennbar gewesen wäre: Das Handelsregister dient – wie die Abstraktheit der Vertretungsmacht – dem Schutz des Rechtsverkehrs, nicht der Einschränkung dieses Schutzes. Für den Fall einer Über- bzw. Unterschreitung des Unternehmensgegenstands ist dieses Ergebnis von besonderer Bedeutung: Der Unternehmensgegenstand ist aus dem Register ersichtlich. In unserem Beispiel hätte der Verkäufer der Reederei durch Registereinsicht unschwer erfahren können, dass es einer Satzungsänderung bedurft hätte. Dennoch kann sich die Aktiengesellschaft nicht auf einen Missbrauch der Vertretungsmacht berufen, wenn er dies unterlässt und den Unternehmenskaufvertrag abschließt, ohne sich um diesen Punkt zu kümmern. Das Register schützt ihn, begründet aber keine für den Missbrauch der Vertretungsmacht relevanten Sorgfaltspflichten.

IV. Lösungsvorschlag Damit ist der Rahmen für die Auseinandersetzung mit der eingangs aufgeworfenen Frage nach dem Durchschlagen einer Missachtung von Holzmüller-Kompetenzen der Hauptversammlung auf das Außenverhältnis abgesteckt. Durch die Missachtung dieser ungeschriebenen Kompetenzen der Hauptversammlung verletzt der Vorstand seine Pflichten im Innenverhältnis. Seine Vertretungsmacht im Außenverhältnis bleibt hiervon aber unberührt. Dieser Fall ist also wie eine Unter- oder Überschreitung des Unternehmensgegenstandes zu behandeln – und nicht wie eine Veräußerung des gesamten

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Gesellschaftsvermögens: Es bleibt, wie der BGH in der Gelatine-Entscheidung ausdrücklich klargestellt hat, bei der Abstraktheit der organschaftlichen Vertretungsmacht. Die richterrechtliche Aufweichung der Kompetenzordnung im Innenverhältnis setzt sich im Außenverhältnis nicht unmittelbar fort. Damit ist aber noch nichts zu der Frage gesagt, ob die Pflichtverletzung im Innenverhältnis nicht mittelbar – nämlich über das Institut des Missbrauchs der Vertretungsmacht – auf das Außenverhältnis mit der Folge durchschlagen kann, dass die Abstraktheit der Vertretungsmacht einem bösgläubigen Vertragspartner der Aktiengesellschaft letztlich nichts nutzt. Der BGH hat es in der Holzmüllerentscheidung ausdrücklich abgelehnt, den Missbrauch der Vertretungsmacht zu prüfen.20 Auch in der GelatineEntscheidung spielt Missbrauch der Vertretungsmacht keine Rolle. Dabei wird nicht deutlich, ob diese Ablehnung ihren Grund in den Besonderheiten der konkreten Fälle hat oder auf alle Fälle der Missachtung einer HolzmüllerKompetenz der Hauptversammlung zu beziehen ist. Richtigerweise muss bei der Beurteilung dieser Frage zwischen Geschäften ohne Kapitalaufbringungsrelevanz und Geschäften mit Kapitalaufbringungsrelevanz differenziert werden. Um ein Geschäft ohne Kapitalaufbringungsrelevanz handelt es sich etwa beim Erwerb einer neuen Tochtergesellschaft: verwendet das Unternehmen einen wesentlichen Teil seines Vermögens auf den Erwerb einer neuen Tochtergesellschaft, so hat auch dies den oben beschriebenen Mediatisierungseffekt. Dennoch ist schon vor der Gelatine-Entscheidung umstritten gewesen, ob es sich bei einem solchen Beteiligungserwerb qualitativ überhaupt um einen „Holzmüller-Fall“ handeln kann. Daran hat sich auch nach der Gelatine-Entscheidung nichts geändert, da der BGH insofern auf eine klarstellende Stellungnahme verzichtet hat.21 Durch die deutliche Anhebung der Holzmüller-Schwellen ist aber immerhin in quantitativer Hinsicht klargestellt, dass nur noch „extrem gelegene Sachverhalte“ 22 erfasst werden dürften, in denen der wesentliche Teil der Aktivitäten der Muttergesellschaft in die neu erworbene Tochter verlegt wird. Wird in einem solchen extrem gelegenen Sachverhalt die Anwendbarkeit der Holzmüller-Grundsätze auf den Beteiligungserwerb bejaht, so ist kein Grund ersichtlich, die Rechtsfigur des Missbrauchs der Vertretungsmacht

20

BGHZ 83, 123, 132. Für eine Anwendung der Holzmüller-Grundsätze auf den Beteiligungserwerb etwa Liebscher, ZGR 2005, 1, 23 f.; Habersack, AG 2005, 137, 144 (beide mit dem Argument, dass es hier ebenso zu einer Mediatisierung kommt, wie bei einer Verlagerung eines Unternehmensbereichs auf eine Tochtergesellschaft); dagegen etwa Götze, NZG 2004, 585, 588; Reichert, AG 2005, 150, 156. 22 Habersack, AG 2005, 137, 144. 21

Holzmüller-Kompetenzen der Hauptversammlung und Missbrauch

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nicht in dem selben Umfange zur Anwendung zu bringen wie in dem Falle der Über- oder Unterschreitung des Unternehmensgegenstandes. Muss es sich dem Veräußerer der Beteiligung geradezu aufdrängen, dass der Vorstand der Erwerberin verpflichtet gewesen wäre, vor Abschluss des Unternehmenskaufvertrages die Zustimmung der Hauptversammlung einzuholen – oder den Vertrag unter der Bedingung einer solchen Zustimmung zu schließen – dann verdient er die Teilhabe an dem durch die Abstraktheit der Vollmacht vermittelten Verkehrsschutz ebensowenig wie bei anderen Pflichtverletzung im Innenverhältnis, die ebenso klar zu Tage getreten wäre. Die Grundsätze über den Missbrauch der Vertretungsmacht finden mit der Folge Anwendung, dass die vertretene Aktiengesellschaft dem Kaufpreisanspruch des Verkäufers die exceptio doli entgegenhalten kann. Würde man hier zwischen dem Fall der Überschreitung des Unternehmensgegenstandes und der Missachtung einer Holzmüller-Kompetenz unterscheiden, so würde die Rechtsposition des Vertragspartners von der Zufälligkeit abhängen, ob die in Frage stehende Transaktion „nur“ den Holzmüller-Tatbestand erfüllt oder zugleich den Unternehmensgegenstand berührt. Bezogen auf den Sachverhalt der Holzmüller-Entscheidung würde die Rechtsfigur des Missbrauchs der Vertretungsmacht beispielsweise zur Anwendung kommen können, wenn die Holzmüller-Aktiengesellschaft eine Reederei gekauft hätte, nicht aber wenn sie ihr existierendes Geschäft verkauft, sich statt dessen eine sehr große Holzhandels-Gesellschaft gekauft und diese dann den eindeutigen Schwerpunkt ihrer Tätigkeit gebildet hätte. Ein genereller Ausschluss der Anwendbarkeit des Missbrauchs der Vertretungsmacht auf den Fall einer internen Pflichtverletzung durch Missachtung der Holzmüller-Kompetenzen der Hautversammlung lässt sich vor diesem Hintergrund kaum rechtfertigen. Diesem Ergebnis lässt sich auch nicht entgegenhalten, hierdurch würde eine unkontrollierbare Aufweichung des Prinzips der Abstraktheit der Vertretungsmacht ermöglicht. Der Schutz des Abstraktionsprinzips lässt sich nicht nur durch eine Ablehnung der Anwendbarkeit der Rechtsfigur insgesamt erreichen, sondern angemessener durch einen zurückhaltenden Umgang mit den Tatbestandsmerkmalen in der Person des Vertragspartners: Es ist zu präzisieren, wann sich ihm die Missachtung der Holzmüller-Kompetenzen durch den ihm gegenüber für die Aktiengesellschaft auftretenden Vorstand förmlich aufdrängen musste. Dabei sind die fortbestehenden Konturenunschärfe der ungeschriebenen Hauptversammlungskompetenzen nach der Rechtsprechung und die Anhebung der Holzmüllerschwellen durch die Gelatine-Entscheidungen in Rechnung zu stellen. Dem Vertragspartner darf nicht das Risiko der ungeklärten Rechtslage aufgebürdet werden. Das muss selbst dann gelten, wenn er sich über die Verhältnisse der in Frage stehenden Aktiengesellschaft genau ins Bild gesetzt hat und deswegen beurteilen kann, welche Bedeutung der neu erworbene Unternehmensteil im Verhältnis zu

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deren bisherigem Geschäft hat. Ist aber für einen bestimmten Typ von Maßnahme offensichtlich, dass der Vorstand im Innenverhältnis der Zustimmung der Hauptversammlung bedurfte und sind in einem solchen Fall die Holzmüller-Schwellen eindeutig überschritten, so lässt sich die Anwendung der Grundsätze vom Missbrauch der Vertretungsmacht nicht von vorne herein ausschließen. Anders ist hingegen bei den Geschäften mit Kapitalaufbringungsrelevanz zu entscheiden. Um eine derartige Transaktion geht es beispielsweise im Ausgangsfall der Holzmüller Entscheidung, also der Gründung einer Tochtergesellschaft in Form einer KG auf Aktien, in welche die Aktiengesellschaft als Gründer einen so großen Unternehmensteil einbringt, dass der Vorstand an sich verpflichtet gewesen wäre, die Zustimmung der Hauptversammlung einzuholen. In diesen Fällen liegt es auf den ersten Blick nahe, davon auszugehen, die Einbringungsverpflichtung litte insoweit an einem Mangel, als immerhin der Tatbestand des Missbrauchs der Vertretungsmacht verwirklicht worden ist. Wollte man aber dem Gründer nach § 242 BGB eine Einrede gegen dieses Geschäft geben, so würde dies nicht nur die Interessen des Vertragspartners des missbräuchlich handelnden Vertreters berühren, sondern, in den Worten des BGH, „auch den allgemeinen Rechtsverkehr und die Öffentlichkeit“ 23. Dass sich ein Missbrauch der Vertretungsmacht dem Vertragspartner aufdrängen musste, legitimiert zwar, dessen Schutz hinten anzustellen, kann aber die zwingenden Kapitalaufbringungs- und -erhaltensgrundsätze nicht aushebeln. Für Geschäfte mit Kapitalaufbringungsrelevanz können deshalb die Grundsätze über den Missbrauch der Vertretungsmacht nicht eingreifen: Das Geschäft ist wirksam, eine Einrede des Missbrauchs der Vertretungsmacht gelangt erst gar nicht zur Entstehung. Das bedeutet, dass der Verstoß gegen die interne Pflichtenbindung auf das Außenverhältnis selbst dann nicht durchschlägt, wenn sich dieser Verstoß dem Vertragspartner hätte aufdrängen müssen. Mit diesem Ergebnis wird der Aktionär des Prinzipals nicht etwa rechtlos gestellt. Soweit nämlich die Kapitalerhaltungsgrundsätze eine Rückabwicklung des Geschäfts zulassen, kann diese durchgeführt werden. Klagt deshalb – wie im Ausgangsfall der Holzmüllerentscheidung – ein Aktionär gegen die Aktiengesellschaft, so ist ein Geschäft mit Kapitalaufbringungsrelevanz zwar einredefrei und wirksam. Die Aktiengesellschaft kann aber verpflichtet sein, das Geschäft unter Beachtung der Kapitalerhaltungsgrundsätze rückabzuwickeln, also beispielsweise eine Herabsetzung des Grundkapitals nach den §§ 222 ff. AktG oder eine Auflösung der Gesellschaft nach § 262 I Nr. 2 AktG herbeizuführen.

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BGHZ 83, 123, 132.

Der Bestätigungsbeschluss nach § 244 AktG – Mittel zur Heilung unrichtig festgestellter Hauptversammlungsbeschlüsse und zur Überwindung der Registersperre bei Anfechtungsklagen? Zugleich Bemerkungen aus Anlass der Webac HoldingEntscheidung des BGH vom 12.12.2005 – II ZR 253/03 Friedrich Bozenhardt Inhaltsübersicht I. II. III. IV.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Webac Holding-Entscheidung vom 12.12.2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . Ratio legis des § 244 AktG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die der Bestätigungswirkung nach § 244 AktG zugänglichen Mängel . . . . 1. Verfahrensfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Inhaltsfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unrichtig festgestellte Beschlüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Bestätigungsbeschlüsse im Freigabeverfahren nach § 246a AktG? . . . . . . 1. Anwendungsbereich für das Freigabeverfahren nach § 246a AktG . . . . . 2. Offensichtliche Unbegründetheit aufgrund eines Bestätigungsbeschlusses? 3. Vorrangiges Vollzugsinteresse nach Fassung eines Bestätigungsbeschlusses? VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Bestätigungsbeschlüsse gemäß § 244 Satz 1 AktG sind ein ebenso probates wie beliebtes Mittel, um Anfechtungsklagen den Boden zu entziehen und klagende Aktionäre ins Leere laufen zu lassen. Wie die rund um den Bestätigungsbeschluss geführte und in jüngster Zeit wieder lebhafter werdende Diskussion 1 zum Bestätigungsbeschluss zeigt, war und ist der Bestätigungs1 Vgl. u.a. Kocher, NZG 2006, 1; Rieckers, BB 2005, 1348; Bokern, AG 2005, 285; Zöllner, AG 2004, 397; Habersack/Schürnbrand, in: Festschrift für Hadding, 2004, S. 391 ff.; Ziemons, BB 2004, 569.

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beschluss indes ein problematisches Rechtsinstitut 2. Wichtige Fragen zu den Voraussetzungen für den mit einem Bestätigungsbeschluss angestrebten Anfechtungsausschluss und zu den Wirkungen eines solchen Beschlusses sind nach wie vor nicht hinreichend geklärt. Dies erscheint umso misslicher, als im Hinblick auf das durch das Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG) vom 22.09.2005 eingeführte Freigabeverfahren nach § 246 a AktG bereits darüber nachgedacht wird, ob der Bestätigungsbeschuss nicht vielleicht auch dafür eingesetzt werden kann, eine durch einen Anfechtungsrechtsstreit drohende Registersperre zu überwinden.3 In seiner Webac Holding-Entscheidung vom 12.12.2005 hatte der BGH Gelegenheit, zur Bestätigungsfähigkeit eines Hauptversammlungsbeschlusses Stellung zu nehmen, der wegen fehlerhafter Feststellung des Abstimmungsergebnisses durch den Versammlungsleiter angefochten wurde.4 Im Mittelpunkt stand damit eine für den Anwendungsbereich des Bestätigungsbeschlusses zentrale Weichenstellung, nämlich die Frage, wann ein durch Bestätigungsbeschluss nach allgemeiner Ansicht heilbarer Verfahrensfehler und wann ein die Bestätigungswirkung nach § 244 AktG ausschließender Inhaltsmangel vorliegt. Die Entscheidung des BGH vom 12.12.2005 gibt Anlass, diese Abgrenzungsfrage im Hinblick auf fehlerhaft festgestellte Beschlüsse nochmals näher zu beleuchten. Im Anschluss hieran soll der Frage nachgegangen werden, ob der Bestätigungsbeschluss auch im Freigabeverfahren nach § 246a AktG Anwendung finden kann.

II. Webac Holding-Entscheidung des BGH vom 12.12.2005 Der BGH hatte über eine Anfechtungsklage gegen einen Bestätigungsbeschluss der Hauptversammlung der beklagten Webac Holding AG vom 17.07.2002 zu entscheiden. In dem Beschluss wurde ein Beschluss der Hauptversammlung vom 18.12.2000 (Ausgangsbeschluss) bestätigt, gegen den seinerseits Anfechtungsklage erhoben worden war. Gegenstand des Ausgangsbeschlusses war ein Antrag von Minderheitsaktionären auf Bestellung eines Sonderprüfers nach § 142 AktG. Der Versammlungsleiter stellte die Ablehnung des Antrags auf Sonderprüfung fest, obwohl hierbei Nein-Stimmen mitgezählt wurden, die einem Stimmverbot nach § 142 Abs. 1 Satz 2 AktG 2

Zöllner, AG 2004, 397. Kocher, NZG 2006, 1, 6; Rieckers, BB 2005, 1348; Ihrig/Erwin, BB 2005, 1973: Kombination von Bestätigungsbeschluss und Freigabeverfahren „zum Vorteil der Gesellschaft“. 4 BGH vom 12.12.2005 – II ZR 253/03, abgedruckt u.a. in AG 2006, 158 = WM 2006, 402 = ZIP 2006, 227. 3

Der Bestätigungsbeschluss nach § 244 AktG

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unterlagen. Nach Fassung des Bestätigungsbeschlusses wurde der Anfechtungsrechtsstreit gegen den Ausgangsbeschluss wegen Vorgreiflichkeit im Sinne von § 148 ZPO ausgesetzt 5. In dem gegen den Bestätigungsbeschluss gerichteten Anfechtungsrechtsstreit hat das Landgericht München I 6 den Bestätigungsbeschluss für nichtig erklärt. Das OLG München 7 hat die Berufung der Beklagten mit der Begründung zurückgewiesen, dass der Bestätigungsbeschluss nicht auf der Grundlage des § 244 Satz 1 AktG gefasst werden könne, weil Ausgangsbeschluss und Bestätigungsbeschluss nicht inhaltlich übereinstimmten. Die Bestätigung setze voraus, dass die Hauptversammlung einen eindeutigen Regelungswillen erklärt habe, an dem es aber fehle, wenn die Willensäußerung der Hauptversammlung gerade streitig sei. Auf die zugelassene Revision hat der BGH die Klage abgewiesen. Der Bestätigungsbeschluss vom 17.07.2002 sei wirksam, weil der inhaltsgleiche Ausgangsbeschluss vom 18.12.2000 nicht an einem die Bestätigungswirkung nach § 244 AktG ausschließenden Inhaltsmangel leide. Die fehlerhafte Feststellung des Abstimmungsergebnisses durch den Versammlungsleiter stelle lediglich einen heilbaren und damit der Bestätigung zugänglichen Verfahrensfehler dar. Die vorinstanzlichen Entscheidungen hätten nicht aufzuzeigen vermocht, auf welche Weise der im Zusammenhang mit der fehlerhaften Feststellung des Abstimmungsergebnisses des Ausgangsbeschlusses unterlaufene Verfahrensfehler in einen Inhaltsfehler „umgeschlagen“ sein sollte. Eine solche „Metamorphose“ lasse sich nach dem geltenden Recht auch nicht überzeugend begründen. Der Entscheidung des BGH vom 12.12.2005 kann nicht zugestimmt werden.8 Der Gesetzeszweck von § 244 Satz 1 AktG und dessen Wortlaut stehen dagegen. Der Ausgangsbeschluss konnte deshalb nicht bestätigt werden. Wie nachfolgend aufgezeigt werden soll, ist es gerade die „Metamorphose“ eines im Kern inhaltlichen Fehlers in einen Verfahrensfehler, die unverständlich bleibt.

III. Zur ratio legis des § 244 AktG Die Bestätigungsregelung in § 244 AktG soll der Rechtssicherheit dienen und zwar sowohl im Interesse der Gesellschaft wie des Rechtsverkehrs. Wenn die Gültigkeit des Hauptversammlungsbeschlusses zweifelhaft ist, soll 5 Zur Aussetzung vgl. OLG Hamburg, ZIP 2003, 2076, s.a. Rieckers, BB 2005, 1348 m.w.N. Kritisch zur Aussetzung Bokern, AG 2005, 285. 6 Entscheidung vom 17.10.2002 – DB 2003, 1268. 7 Entscheidung vom 21.05.2003 – AG 2003, 645. 8 A.A. Bork, BGH EWiR § 244 AktG 1/06, 161.

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es möglich sein, diese Zweifel kurzfristig auszuräumen, statt bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Anfechtungsklage zu warten.9 Dabei geht es jedoch weniger um eine in der Praxis vielfach ohnehin nicht erreichbare Beschleunigung des Verfahrens, sondern darum, die Rechtsbeständigkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen dadurch zu erhöhen, dass die Gesellschaft die Möglichkeit erhält, mangelhafte Beschlüsse durch eine erneute Beschlussfassung zu bestätigen und damit einen Anfechtungsausschluss zu bewirken.10 Dass der mit der Regelung verfolgte Zweck in der Praxis nicht immer erreicht wird, sondern die Regelung des § 244 AktG mitunter auch dazu führt, dass durch einen oder gar mehrere hintereinander geschaltete Bestätigungsbeschlüsse die Gewinnung von Rechtssicherheit für lange Zeit aufgeschoben werden kann, hat der der Sachsenmilch-Entscheidung des BGH vom 15.12.2003 11 zugrunde liegende Sachverhalt deutlich aufgezeigt.12 Legt es die beklagte Gesellschaft darauf an, kann sie dann, wenn der Ausgangsbeschluss an einem Anfechtungsgrund leidet und dieser auch nicht durch einen Bestätigungsbeschluss heilbar ist, die Kassation des rechtswidrigen Ausgangsbeschlusses gleichwohl durch immer wieder neue Bestätigungsbeschlüsse und eine hierauf folgende Kaskade von Anfechtungsverfahren letztlich ad infinitum verhindern.13 Weil das gegen den Ausgangsbeschluss anhängige Anfechtungsverfahren wegen der Vorgreiflichkeit des den Bestätigungsbeschluss betreffenden Anfechtungsverfahrens regelmäßig ausgesetzt wird, muss der Anfechtungskläger im äußersten Fall langwierige Prozessschleifen durchlaufen ohne konkrete Aussicht darauf haben zu können, den anfechtbaren Ausgangsbeschluss in absehbarer Zeit kassiert zu bekommen.

IV. Die der Bestätigungswirkung nach § 244 AktG zugänglichen Mängel Einen legitimen Anwendungsbereich haben Bestätigungsbeschlüsse deshalb nur dort, wo der vom Gesetzgeber angedachte Gesetzeszweck auch tatsächlich erreicht werden kann. Dies ist ausschließlich bei Verfahrensmängeln, nicht aber bei Inhaltsmängeln, der Fall.

9

Begr.RegE bei Kropff, AktG 1965, S. 331. Zöllner, in: Kölner Kommentar zum AktG, § 244 Rn. 2. 11 BGH vom 15.12.2003 – II ZR 194/01 = BGHZ 157, 206 = AG 2004, 204 = BB 2004, 346 = ZIP 2004, 310. 12 Dazu eingehend Zöllner, AG 2004, 397; s.a. Hirte/Groß, BGH EWiR § 244 AktG 1/04; Ziemons, BB 2004, 569; Döser, LMK 2004, 88; Singhof, WuB II A § 244 AktG 1.04. 13 Zöllner, AG 2004, 397, 398; vgl. auch Bokern, AG 2005, 285. 10

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1. Verfahrensmängel Mittels eines Bestätigungsbeschlusses heilbar sind alle Verstöße gegen Gesetz oder Satzung, die das Verfahren bis zum Beschluss, also bei seinem Zustandekommen, betreffen.14 Solche Verfahrensmängel betreffen unter anderem Umstände bei der Vorbereitung des Hauptversammlungsbeschlusses, wie etwa Fehler bei der Einberufung der Hauptversammlung, die Verletzung von Publizitätspflichten bei bestimmten Beschlussangelegenheiten, beispielsweise bei der Zustimmung zu Unternehmensverträgen, Fehler bei Verletzungen des Auskunfts- und Fragerechts der Aktionäre sowie Fehler im Abstimmungsverfahren.15 Solchen formellen Mängeln ist gemein, dass sie ausschließlich das Verfahren selbst betreffen und, obwohl sie dem Beschluss bei isolierter Betrachtung nicht anzusehen sind 16, in den meisten Fällen relativ einfach zu identifizieren sind 17. Die Hauptversammlung könnte den an einem solchen formellen Mangel leidenden Beschluss jederzeit erneut und unter Vermeidung des die Anfechtbarkeit auslösenden Mangels fassen. Will sich die Hauptversammlung dies ersparen und durch die Anfechtung und die Beseitigung des festgestellten Fehlers bedingte Verzögerungen vermeiden, kann sie die Zweifel über die Gültigkeit des Beschlossenen aber auch durch Fassung eines Bestätigungsbeschlusses ausräumen und den seinerzeit gefassten Beschluss als gültige Regelung der betreffenden Gesellschaftsangelegenheit anerkennen.18 Unerlässliche Voraussetzung für diese in der Bestätigung liegende Anerkennung des Beschlusses als für die Gesellschaft gültig und verbindlich ist dabei stets, dass die formellen Mängel, welche den Erstbeschluss anfechtbar gemacht haben, beseitigt und nicht etwa bei der Bestätigung wiederholt werden.19 Ob dies der Fall ist, ist dann, wenn der die Anfechtbarkeit begründende Verfahrensmangel beim Ausgangsbeschluss – etwa im Rahmen eines Anfechtungsverfahrens – erst einmal benannt worden ist, in der Regel leicht festzustellen. 2. Inhaltsmängel Inhaltliche Mängel eines Ausgangsbeschlusses können hingegen nicht durch einen Bestätigungsbeschluss geheilt werden. Inhaltsmängel sind solche, derentwegen die durch den Beschluss getroffene Regelung selbst zu 14 Caemmerer, in: Festschrift Hueck 1959, S. 282; von der Laden, DB 1962, 1297; Kiethe, NZG 1999, 1086, 1087. 15 Zu Fehlern bei der Beschlussfeststellung nachstehend unter 3. 16 von der Laden, DB 1962, 1297. 17 Zu den Schwierigkeiten im Bereich der Informationspflichten Zöllner, in: Festschrift für Beusch, 1993, S. 973, 974. 18 BGH, AG 2004, 204. 19 BGH, AG 2004, 204.

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beanstanden ist 20, dem Ausgangsbeschluss unabhängig von der Art und Weise seines Zustandekommens anhaften 21 und sich deshalb zwangsläufig auf den (bestätigenden) Zweitbeschluss übertragen 22 würden. Weil eine Bestätigung des Ausgangsbeschlusses nur denkbar ist, wenn der Bestätigungsbeschluss mit dem Ausgangsbeschluss inhaltlich übereinstimmt 23, können inhaltliche Fehler durch den Bestätigungsbeschluss nicht ausgeräumt werden. Die Hauptversammlung würde vielmehr einen vom Ausgangsbeschluss abweichenden Willen bilden und damit auch erklären, dass sie ihren ersten Beschluss gerade nicht anerkennt, sondern eine von diesem abweichende Neuregelung will 24. Bei inhaltlichen Mängeln, also bei einem Verstoß gegen konkrete Einzelvorschriften des Gesetzes oder der Satzung oder gegen eine der aktienrechtlichen Generalklauseln, wie etwa das Gleichbehandlungsgebot und die Treupflicht, kommt eine Bestätigung durch Bestätigungsbeschluss mithin grundsätzlich nicht in Betracht.25 Die Gesellschaft kann hier schon kein legitimes Interesse an einer Bestätigung haben.26 3. Unrichtig festgestellte Beschlüsse Nicht eindeutig zuzuordnen sind diejenigen Fehler, die im Zuge der Feststellung des Beschlussergebnisses vorkommen. Das Beschlussergebnis ergibt sich aus der Zählung der bei der Abstimmung abgegebenen gültigen Ja- und Nein-Stimmen.27 Die Feststellung der Zahl dieser Stimmen, d.h. die Auszählung, ist mithin „Hilfsgeschäft“ für die Feststellung des Beschlussergebnisses.28 Kommen schon bei der Auszählung Fehler vor, kann sich dies auf das Ergebnis auswirken, zwingend ist dies aber nicht. Relevant sind selbstverständlich nur die mehrheitsrelevanten, d.h. die sich auf das Ergebnis auswirkenden Fehler. Bei diesen sind folgende zwei Fallgruppen zu unterscheiden:

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Vgl. Hüffer, in Münch. Komm. zum Aktiengesetz, 2. Aufl., § 243 Rn. 25, 41. Vgl. von der Laden, DB 1962, 1297. 22 So auch der BGH in der Webac Holding-Entscheidung vom 12.12.2005, AG 2006, 158; h.L., vgl. u.a. Hüffer, in Münch. Komm. zum Aktiengesetz, § 244 Rn. 5; Kiethe, NZG 1999, 1086, 1088; von der Laden, DB 1962, 1297. 23 Habersack/Schürnbrand, in: Festschrift für Hadding, 2004, S. 391, 394; Kiethe, NZG 1999, 1086, 1088; Tielmann, in: Happ, Aktienrecht, 2. Aufl., 18.03 Rn. 4. 24 Kiethe, NZG 1999, 1086, 1087 m.w.N. 25 A.A. Kocher, NZG 2006, 1, 2, der eine Heilung materieller Fehler durch Bestätigungsbeschluss prinzipiell für möglich, aber „nicht empfehlenswert“ hält. 26 So zu Recht schon von der Laden, DB 1962, 1297. 27 Dazu Zöllner, in: Festschrift für Lutter, 2000, S. 821ff. 28 Zöllner, Kölner Kommentar zum AktG, § 243 Rn. 131. 21

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3.1 Zählfehler Zählfehler können technischer Natur sein, so etwa dann, wenn das Zählgerät die Stimmkarten mit den darauf angegebenen Stimmen falsch einliest oder bei der Auszählung ein rechnerisch falsches Ergebnis ermittelt. Sie können aber auch auf der fehlerhaften persönlichen Wahrnehmung durch den Versammlungsleiter beruhen, wenn die Abstimmung durch Zuruf, Handzeichen oder in ähnlicher Weise erfolgt. Solche Fehler betreffen rein faktische Umstände bei der Ermittlung des Abstimmungsergebnisses und damit das Verfahren beim Zustandekommen des Beschlusses. Sie sind wie reine Verfahrensfehler zu behandeln.29 Anfechtbar sind mit solchen Fehlern behaftete Beschlüsse allerdings nur dann, wenn sich die dabei aufgetretenen Fehler auf das Beschlussergebnis kausal auswirken oder für die Mitgliedschaft des Aktionärs relevant sind.30 Dies ist dann der Fall, wenn der Auszählungsfehler zur Folge hat, dass ein falsches Abstimmungsergebnis festgestellt wird, weil es auf die fehlerhaft übersehenen oder zuviel gezählten Stimmen zahlenmäßig ankommt, diese also mehrheitsrelevant sind. 3.2 Stimmbewertungsfehler a) Eine andere Qualität haben diejenigen Fehler bei der Feststellung des Beschlussergebnisses, die nicht auf technischen Fehlern etc. beruhen, sondern auf einer fehlerhaften rechtlichen Bewertung der abgegebenen Stimmen als gültig oder ungültig. So kann das Beschlussergebnis beispielsweise deshalb fehlerhaft sein, weil bestehende Stimmverbote, etwa nach § 136 AktG, nicht beachtet wurden 31. Denkbar ist weiterhin, dass Stimmen mitgezählt wurden, obwohl die Stimmrechte des betreffenden Aktionärs wegen der Nichterfüllung in § 21 WpHG bestimmter Mitteilungspflichten nach § 28 WpHG ruhten und deshalb nicht hätten mitgezählt werden dürfen 32 oder dass der Versammlungsleiter einen Beschlussantrag zu Unrecht als angenommen oder zu Unrecht als abgelehnt behandelt, weil die Stimme unter Verletzung gegen Treuepflichten abgegeben wurde 33 oder dass der Versammlungsleiter eine vom Abstimmenden vorgelegte Vollmacht zu Unrecht als wirksam angesehen hat 34. 29 Nach Zöllner (in: Festschrift für Lutter, 2000, S. 821, 830) sind solche Fehler bei der Ergebnisfeststellung schon nicht als Beschlussmängel anzusehen, weil die Ergebnisfeststellung auch im Aktienrecht nicht zwingend Teil des Beschlusses ist. 30 Zur Kausalität bzw. „Relevanz“ als Voraussetzung der Anfechtbarkeit vgl. Hüffer, AktG, § 243 Rn. 12ff. m.w.N. 31 BGH NJW 1973, 1039; BGH NJW 1986, 2051; BGHZ 157, 206. 32 OLG Stuttgart AG 2005, 125ff. 33 BGHZ 103, 184 = AG 1988, 135; Schmidt, in: Großkommentar AktG, § 243 Rn. 38. 34 Schmidt, in: Großkommentar AktG, § 243 Rn. 38; OLG Frankfurt, GmbH-Rundschau 1976, 110f.

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Bei all diesen Fehlern handelt es sich nicht um bloße Verfahrensfehler.35 Sie sind vielmehr materielle Fehler, was schon daraus erhellt, dass mit ihnen stets eine rechtliche Überprüfung der Gültigkeit der abgegebenen Stimmen verbunden ist und hier mitunter schwierige materielle Rechtsfragen zu klären sind. Bestehen über die Gültigkeit unter solchen Umständen abgegebener Stimmen Zweifel, können diese auch durch den äußeren Schein einer vermeintlich eindeutigen Feststellung des Abstimmungs- und des Beschlussergebnisses nicht ausgeräumt werden. Sind die Zweifel begründet, sind nicht nur das Abstimmungsergebnis (Zahl der Ja- bzw. Nein-Stimmen), sondern auch das sich hieraus ergebende Beschlussergebnis (Beschlussantrag angenommen oder abgelehnt 36) und damit auch die mit dem Beschluss getroffene Regelung selbst bei solchen Verstößen zu beanstanden. b) Der BGH hat demgegenüber in seiner Webac Holding-Entscheidung die Auffassung vertreten, es sei gleichgültig, ob das fehlerhafte Abstimmungsergebnis durch Zählfehler oder ähnliche Irrtümer oder ob es durch Mitzählung ungültiger – weil unter Verletzung von Stimmverboten abgegebener Stimmen – zustande gekommen ist. In beiden Fällen handele es sich um heilbare, der Bestätigung zugängliche Verfahrensmängel.37 Die Hauptversammlung könne durch die Bestätigung ihren Willen bekunden, den Erstbeschluss trotz der ihm anhaftenden Verfahrensmängel als verbindliche Regelung der Gesellschaftsangelegenheit anzuerkennen. c) Stellte man nur auf die Beschlussfeststellung durch den Versammlungsleiter, d.h. die „Verkündung“ des Beschlussergebnisses in der Hauptversammlung ab, scheint es sich in der Tat in allen Fällen unrichtiger Beschlussfeststellung um heilbare Verfahrensmängel zu handeln. Diese rein auf den förmlichen Verkündungsakt abstellende Betrachtungsweise greift allerdings zu kurz: Beispielhaft 38 sei etwa an den Fall gedacht, dass die Mehrheit des Grundkapitals einer börsennotierten Gesellschaft von mehreren, sich nahe stehenden Großaktionären gehalten wird, die – aus welchen Gründen auch immer – den sich aus bestimmten Zurechnungstatbeständen folgenden Mitteilungspflichten nach §§ 21, 22 WpHG nicht entsprechen. Obwohl die Stimmrechte dieser Großaktionäre nach § 28 WpHG ruhen, stimmen sie bei einer anstehenden Aufsichtsratswahl gleichwohl mit und besetzen den Aufsichtsrat komplett mit eigenen Gefolgsleuten. Wären die (mehrheitsrelevanten) Stim35 Zur zweifelhaften, weil „praktisch nicht durchführbaren“ Differenzierung zwischen formellen und materiellen Mängeln in diesen Fällen schon vor Inkrafttreten des § 244 AktG Hueck, in: Festschrift für Molitor, 1962, S. 401, 419. 36 Kubis, in Münch. Komm. zum AktG, § 130 Rn. 57: „rechtliches Abtimmungsergebnis“. 37 BGH, AG 2006, 158. 38 In Anlehnung an OLG Stuttgart, AG 2005, 125.

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men richtigerweise nicht mitgezählt worden, wäre festgestellt worden, dass die Beschlussanträge der Großaktionäre abgelehnt und tatsächlich andere, den Großaktionären nicht nahe stehende Aufsichtsräte gewählt worden sind. Nachdem gegen die Wahlbeschlüsse Anfechtungsklage erhoben wird, wird auf einer nächsten Hauptversammlung ein die ursprünglichen Wahlbeschlüsse bestätigender Beschluss gefasst. Erneut stimmen die sich abstimmenden Großaktionäre mit ihren vorgeblich bestehenden, tatsächlich aber ruhenden Stimmen mit und es wird (erneut) unrichtig festgestellt, dass dem Bestätigungsbeschluss mit der erforderlichen Mehrheit zugestimmt wurde. Das Beispiel zeigt, welche Auswirkungen derartige fehlerhafte Beschlussfeststellungen haben können. Wird wie im vorgenannten Beispielsfall der gegen den Ausgangsbeschluss anhängige Anfechtungsrechtsstreit ausgesetzt, kann die Wahlperiode des Aufsichtsrats längst abgelaufen sein, bevor überhaupt mit einer rechtskräftigen Entscheidung über den Ausgangsbeschluss bzw. den Bestätigungsbeschluss zu rechnen ist. Die Mitgliedschaft derjenigen Aktionäre, die bei der Abstimmung über die Wahl der Aufsichtsräte – vermeintlich – unterlegen sind, ist nachhaltig tangiert, weil entgegen dem für die Willensbildung in der Gesellschaft maßgeblichen Mehrheitsprinzip ihr tatsächlich die Mehrheit der gültigen Stimmen ausmachender Wille unberücksichtigt blieb. Mit dem Anspruch des Aktionärs auf eine Beschlusstätigkeit in Einklang mit Gesetz und Satzung 39 ist dies nur schwerlich vereinbar. Das Beispiel zeigt ferner, dass schon die Prämisse des BGH in der Webac Holding-Entscheidung, die „Hauptversammlung“ könne schließlich durch die Bestätigung ihren Willen bekunden, den Erstbeschluss trotz der ihm anhaftenden Verfahrensmängel als verbindliche Regelung der Gesellschaftsangelegenheit anzuerkennen, zweifelhaft ist. Frage ist es ja gerade, wer die „Hauptversammlung“ ist bzw. was deren richtig ermittelter Wille ist. Der Wille der Hauptversammlung bleibt bei derartigen Sachverhalten tatsächlich im Unklaren. Die Zweifel am Inhalt so festgestellter Beschlüsse bestehen bis zur rechtskräftigen Entscheidung über Ausgangs- und Bestätigungsbeschluss unverändert fort. Rechtssicherheit durch einen Bestätigungsbeschluss kann hier nicht gewonnen werden. Von einer Bestätigung kann wie dargelegt eben nur dann die Rede sein, wenn die Hauptversammlung schon beim Ausgangsbeschluss einen inhaltlich eindeutigen Regelungswillen erklärt hat und dieser durch einen erneuten Beschluss bestätigt wird.40 „Bestätigt“ werden kann überdies schon vom Wortlaut des § 244 AktG nicht, was mit einem zwar festgestellten, aber eben unrichtigen Inhalt gar nicht beschlossen wurde. Stehen im Zusammenhang mit einer Beschlussfeststellung die Stimmrechte im Streit, geht es also nur vordergründig um die fehlerhafte Feststellung des 39 40

Dazu Noack, Fehlerhafte Beschlüsse in Gesellschaften und Vereinen, 1989, S. 41ff. So zutreffend OLG München, AG 2003, 645.

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Abstimmungs- bzw. Beschlussergebnisses oder um einen bloßen Verfahrensfehler. Tatsächlich geht es um die neben dem Verfahrensfehler stehenden, durch diesen allenfalls verdeckten und mit diesem zwangsläufig verbundenen Inhaltsfehler, die einer Bestätigung grundsätzlich nicht zugänglich sind. Diese dürfen nicht ausgeblendet werden, was aber bei einer Verengung des Blickfeldes auf den rein förmlichen Akt der Beschlussfeststellung der Fall wäre. Daran ändert auch nichts der Umstand, dass die Feststellung des Beschlussergebnisses durch den Versammlungsleiter und deren Aufnahme in die Niederschrift gem. § 130 Absatz 2 AktG den Beschluss auch dann konstituieren soll, wenn die Feststellung inhaltlich unrichtig ist, also dem eigentlichen Abstimmungsergebnis nicht entspricht.41 Ist, wie etwa der Blick in das GmbH-Recht zeigt, schon zweifelhaft, ob die förmliche Feststellung des Beschlussergebnisses wirklich zwingend notwendiger Teil des Beschlusses ist 42, dient die für das Aktienrecht geschaffene (Ausnahme-) Regelung des § 130 Absatz 2 AktG doch allein der rechtssicheren Dokumentation der Willensbildung in der Hauptversammlung 43. Zweck der Beschlussfeststellung und ihrer Protokollierung ist es aber nicht, wegen der Berücksichtigung ungültiger und zugleich mehrheitsrelevanter Stimmen auch inhaltlich fehlerhafte Beschlüsse so zu fixieren, dass sie in der Folge wie reine Verfahrensfehler bestätigt werden könnten. Mit solchen Inhaltsfehlern behaftete Beschlüsse bleiben trotz des damit einhergehenden Verfahrensfehlers tatsächlich unheilbare Beschlüsse, die nicht bestätigungsfähig sind und auch nicht durch den förmlichen Akt der Beschlussfeststellung in reine Verfahrensfehler „umschlagen“ können. Der materielle Mangel eines Ausgangsbeschlusses ist grundsätzlich nicht durch einen Bestätigungsbeschluss behebbar.44 Solange nicht auch der Inhaltsfehler beseitigt ist 45, ist entgegen der vom BGH in seiner Webac Holding-Entscheidung vertretenen Auffassung eine solche „Metamorphose“ nicht zu begründen. Dies erhellt schließlich auch daraus, dass Bestätigungsbeschlüsse wegen ihrer weitreichenden Bestätigungswirkung einer klaren und in den mitgliedschaftlichen Teilhaberechten der Aktionäre liegenden Legitimationsgrund-

41 BGHZ 104, 66, 69; BGHZ 157, 206; Hüffer, in Münch. Komm. zum Aktiengesetz, § 243 Rn. 41 m.w.N. 42 Dazu Zöllner, in Festschrift für Lutter, 2000, S. 821, 826, 830. 43 Kubis, in: Münch. Komm. zum AktG, § 130 Rn. 1; Hüffer, AktG, 6. Aufl., § 130 Rn. 1. 44 A.A. Habersack/Schürnbrand, in: Festschrift für Hadding, 2004, S. 395. Unzutreffend deshalb auch OLG Stuttgart, AG 2005, 125, 130. 45 Dies war nach der Webac Holding Entscheidung des BGH offenbar tatsächlich der Fall: Der Bestätigungsbeschluss wurde nach den Gründen des Urteils unter Vermeidung der Mitwirkung des dem Stimmverbot unterliegenden Vorstandsmitglieds gefasst. Die beiden Vorinstanzen äußern sich dazu nicht.

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lage bedürfen.46 Eine solche liegt nur dann vor, wenn bei der Abstimmung über einen Bestätigungsbeschluss die Mehrheitsverhältnisse in der Hauptversammlung, d.h. die Anzahl der hierbei abgegebenen gültigen Stimmen, tatsächlich keinen Zweifeln ausgesetzt sind und dem zu bestätigenden Ausgangsbeschluss lediglich formelle Verstöße anhaften, die durch einen mit ebenfalls nicht zweifelhafter Hauptversammlungsmehrheit gefassten Bestätigungsbeschluss geheilt bzw. ausgeräumt werden können. Ist aber wie etwa im Falle eines Ruhens mehrheitsrelevanter Stimmrechte die Legitimationsgrundlage für den Bestätigungsbeschluss nicht vorhanden oder zumindest unklar, weil erst unter Umständen schwierige materielle Rechtsfragen zu klären sind 47, kann es keinen Bestätigungsbeschluss geben. Die fehlende Legitimationsgrundlage kann durch den Bestätigungsbeschluss auch nicht begründet werden. Wegen Stimmbewertungsfehlern unrichtig festgestellte Beschlüsse sind mithin einer Bestätigung nach § 244 AktG dann nicht zugänglich, wenn nicht auch der mit dem Verfahrensfehler verbundene materielle Fehler beseitigt ist. Andernfalls ist auch die durch den Beschluss getroffene Regelung selbst zu beanstanden. Der Bestätigungsbeschluss wäre aus demselben Grund wie der Ausgangsbeschluss anfechtbar.

V. Bestätigungsbeschlüsse im Freigabeverfahren nach § 246a AktG? 1. Anwendungsbereich für das Freigabeverfahren nach § 246a AktG In dem durch das Gesetz zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts vom 22.09.2005 (UMAG) nach dem Vorbild des § 319 Abs. 6 AktG und § 16 Abs. 3 UmwG eingeführten allgemeinen Freigabeverfahren nach § 246 a AktG kann das Prozessgericht auf Antrag der Gesellschaft bei Klagen gegen strukturändernde Hauptversammlungsbeschlüsse, namentlich gegen Beschlüsse über eine Maßnahme der Kapitalbeschaffung, der Kapitalherabsetzung oder einen Unternehmensvertrag, durch Beschluss feststellen, dass die Klage einer Eintragung im Handelsregister nicht entgegensteht. Voraussetzung für einen solchen Beschluss ist allerdings, dass die Klage unzulässig oder offensichtlich unbegründet ist oder dass das alsbaldige Wirksamwerden des Hauptversammlungsbeschlusses nach freier Überzeugung des Gerichts unter Berücksichtigung der Schwere der mit der Klage geltend gemachten Rechtsverletzungen zur Abwendung der vom Antragsteller dargelegten wesentlichen Nachteile für die Gesellschaft und ihre Aktionäre vorrangig erscheint. 46

Schmidt, in: Großkommentar AktG, § 244 Rn. 4. In der Entscheidung des OLG Stuttgart vom 10.11.2004 (AG 2005, 125) bspw. die des Vorliegens bestimmter Zurechnungstatbestände nach § 22 WpHG. 47

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Im Hinblick auf die besondere Tragweite strukturändernder Beschlüsse kann die Versuchung für die Gesellschaft, sich in einem laufenden Freigabeverfahren auf einen bereits gefassten, einen erst noch zu fassenden oder auch nur möglichen Bestätigungsbeschluss zu berufen oder diesen vorsorglich schon vor einem noch nicht einmal gestellten Freigabeantrag zu fassen, groß sein. Die damit verknüpften Hoffnungen tragen allerdings nicht. Der Bestätigungsbeschluss ist bei der Beurteilung der Freigabekriterien des § 246a AktG aus den nachfolgenden Gründen vom Prozessgericht nicht zu berücksichtigen und deshalb für die Gesellschaft kein taugliches Mittel, ihrem Freigabeantrag zum Erfolg zu verhelfen. 2. Offensichtliche Unbegründetheit aufgrund eines Bestätigungsbeschlusses? Das Freigabekriterium der offensichtlichen Unbegründetheit wird dann als erfüllt angesehen, wenn sich mit hoher Sicherheit die Unbegründetheit der Anfechtungsklage vorhersagen lässt.48 Der für diese Prognose erforderliche Prüfungsaufwand soll hierbei nicht entscheidend sein. Bestätigt die Hauptversammlung gemäß § 244 AktG einen strukturändernden Hauptversammlungsbeschluss und sei dies auch nur vorsorglich, belegt bereits das Vorliegen des Bestätigungsbeschlusses, dass die Hauptversammlung Zweifel an der Gültigkeit ihres Ausgangsbeschlusses hatte. Der Bestätigungsbeschluss beinhaltet mit anderen Worten das Eingeständnis der Hauptversammlung, dass ihre ursprüngliche Beschlussfassung möglicherweise fehlerhaft war. Das Prozessgericht kann somit jedenfalls dann, wenn ein Bestätigungsbeschluss gefasst wurde, nicht mehr von einer „offensichtlichen“ Unbegründetheit der gegen den Ausgangsbeschluss gerichteten Anfechtungsklage ausgehen. Offensichtlich sind dann vielmehr nur die Zweifel an deren Unbegründetheit. Der Bestätigungsbeschluss verstärkt oder weckt erst diese Zweifel und ist deshalb gerade nicht geeignet, solche Zweifel auszuräumen. Der für die Gesellschaft mithin eher kontraproduktive Bestätigungsbeschluss kann somit auch nicht als Argument in das Freigabeverfahren eingeführt werden, um das Registergericht von der offensichtlichen Unbegründetheit einer gegen den Ausgangsbeschluss gerichteten Anfechtungsklage zu überzeugen.49

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Begr.RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 29. A.A. Kocher, NZG 2006, 1, 6; noch weitergehend Rieckers, BB 2005, 1348, 1351, der einen Bestätigungsbeschluss selbst dann noch – im Rahmen eines zweiten Unbedenklichkeitsverfahrens – berücksichtigen will, wenn das Gericht mangels offensichtlicher Unbegründetheit einen Freigabeantrag bereits abgelehnt hat, so auch Ihrig/Erwin, BB 2005, 1973, 1978. 49

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Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, das Prozessgericht müsse im Freigabeverfahren nicht nur eine summarische und eher oberflächliche Prüfung vornehmen, sondern ungeachtet des dafür erforderlichen Prüfungsaufwands mit hoher Sicherheit die Unbegründetheit der Klage vorhersagen können, was auch stets die Berücksichtigung des Bestätigungsbeschlusses einschließe 50. Gegenstand des Freigabeverfahrens ist schon nach dem Wortlaut des § 246 a AktG ausschließlich der Ausgangsbeschluss. Hafteten diesem tatsächlich Mängel an, mögen diese zwar durch einen nachträglichen (wirksamen) Bestätigungsbeschluss geheilt werden, was aber nichts daran ändert, dass die gegen den Ausgangsbeschluss gerichtete Anfechtungsklage zunächst eben nicht unbegründet war, sondern begründet 51. Wird in Folge eines Bestätigungsbeschlusses der Mangel geheilt, wird der Anfechtungskläger zur Vermeidung der Klagabweisung den Rechtsstreit regelmäßig für erledigt erklären. Derartige prozessuale Folgefragen sind indes nicht Gegenstand des Freigabeverfahrens. Das Prozessgericht kann und darf im Freigabeverfahren deshalb ausschließlich den Ausgangsbeschluss berücksichtigen.52 3. Vorrangiges Vollzugsinteresse nach Fassung eines Bestätigungsbeschlusses? Fehlt es an einer Unzulässigkeit oder offensichtlichen Unbegründetheit der Anfechtungsklage, kommt es für den Erfolg eines Freigabeantrags entscheidend auf eine Interessenabwägung aller durch die Anfechtungsklage tangierten rechtlichen und wirtschaftlichen Interessen an.53 Die Begründetheit der Anfechtungsklage ist bei Anwendung der Interessenabwägungsklausel zugunsten des Anfechtungsklägers stets zu unterstellen.54 Der Bestätigungsbeschluss hat in diesem Zusammenhang von vornherein keinen Platz.55 In die Interessenabwägung sind alle der Gesellschaft im Falle der Nichteintragung drohenden Schäden und Nachteile einzubeziehen und 50

Rieckers, BB 2005, 1348, 1351. Zu diesem Ergebnis führt auch die von Bokern (AG 2005, 285) vertretene These, dass dem Bestätigungsbeschluss Gestaltungswirkung erst mit seiner Bestandskraft zuzubilligen ist und dieser deshalb keinen Einfluss auf das Ausgangsverfahren hat. 52 Erst recht gilt dies dann, wenn ein Bestätigungsbeschluss noch gar nicht gefasst wurde. Die mögliche „Behebbarkeit“ des Mangels kann für die „offensichtliche Unbegründetheit“ keine Rolle spielen. 53 Begr.RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 29. 54 Begr.RegE UMAG, BT-Drucks. 15/5092, S. 29, so wohl auch die h.M. zur Interessenabwägung gemäß §§ 16 Abs. 3 UmwG, 319 Abs. 6 AktG, vgl. etwa OLG München AG 2005, 407, 408; OLG Stuttgart, DB 2003, 33, 35; Bork, in: Lutter, UmwG, 3. Aufl. 2004, § 16 Rn. 20; a.A. (die Erfolgsaussichten der Klage berücksichtigend) u.a. Habersack, in: Emmerich/Habersack, Aktien- und GmbH-KonzernR, 4. Aufl. 2005, § 319 Rn. 36; Noack, ZHR 164 (2000), 274, 283. 55 A.A. Rieckers, BB 2005, 1348, 1351 zur Interessenabwägung gemäß §§ 16 Abs. 3 UmwG, 319 Abs. 6 AktG m.w.N. 51

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gegen die Schwere der vom Kläger behaupteten Rechtsverletzung und die denkbaren Schäden auf seiner Seite abzuwägen. Der Umstand, dass ein Bestätigungsbeschluss gefasst wurde, indiziert keine relevanten Nachteile oder Schäden und kann den Abwägungsprozess deshalb weder in die eine noch in die andere Richtung beeinflussen. Die „Behebbarkeit“ des Mangels, d.h. die Behauptung, dass der Mangel durch einen Bestätigungsbeschluss behoben werden könnte, rechtfertigt nicht die Annahme einer nur geringfügigen Rechtsverletzung.56 Solange der Mangel nicht tatsächlich behoben ist, ist die Schwere des Mangels ohne Rücksicht auf die Behebbarkeit mit den Nachteilen für die Gesellschaft abzuwägen.57 Dass der Bestätigungsbeschluss in diesem Kontext nicht berücksichtigt werden kann, ergibt sich nicht zuletzt auch daraus, dass bei der Abwägung zwischen Aufschubinteresse des Anfechtungsklägers und Vollzugsinteresse der Gesellschaft zugunsten des Anfechtungsklägers stets die Begründetheit der Anfechtungsklage zu unterstellen ist. Der wirksame Bestätigungsbeschluss führt aber nach der ihm nach herrschender Meinung innewohnenden materiell-rechtlichen Heilungswirkung 58 zur Unbegründetheit der Anfechtungsklage, also zum Gegenteil der der Interessenabwägungsklausel zugrunde liegenden Prämisse.

VI. Fazit Der Bestätigungsbeschluss hat sein legitimes Anwendungsfeld nur im Bereich reiner Verfahrensfehler. Stimmbewertungsfehler zählen dazu nicht. Ebenfalls keinen Raum hat der Bestätigungsbeschluss im Freigabeverfahren nach § 246 a AktG.

56 So aber im Freigabeverfahren nach § 16 Abs. 3 UmwG OLG Frankfurt, AG 2006, 249, 257. 57 So auch für § 16 Abs. 3 UmwG Fronhöfer, in: Widmann/Mayer, Umwandlungsrecht, § 16 UmwG Rn. 180; a.A. Lutter/Bork, UmwG, 3. Aufl., § 16 Rn. 22a; Stratz, in: Schmitt/Hörtnagel/Stratz, UmwG, 4. Aufl., § 16 Rn. 69. 58 BGHZ 157, 206, 210; vgl. Hüffer, AktG, 6. Aufl., § 244 Rn. 5; ders. in Münch. Komm., 2. Aufl., § 244 Rn. 3; Schmidt, in: Großkomm. AktG, § 244 Rn. 13; Zöllner, in: Kölner Komm., § 244 Rn. 8; ders. zweifelnd in AG 2004, 397, 398.

Erbenhaftung für den Geschiedenenunterhalt nach § 1586 b BGB Götz Gabriel A. Die Vielseitigkeit des Beruflebens unseres Jubilars ermutigt mich, in dieser wirtschaftsrechtlich orientierten Festschrift auch ein Rechtsgebiet anzusprechen, das nicht zu den Tätigkeitsschwerpunkten gehört, in denen sich Professor Mailänder seinen herausragenden Ruf erworben hat. In der Zeit vor Inkrafttreten des so genannten Vorbefassungsverbots im Sinne des § 3 I Ziff. 7 BeurkG haben zum Service der Kanzlei Haver & Mailänder auch die notariellen Leistungen gehört. Auch diesem Bereich, häufig in der Rolle des Notarvertreters, hat sich Professor Mailänder mit der ihm eigenen Intensität angenommen. Mein Beitrag möge ihn an dort gestellte Anforderungen erinnern.

B. I. Für die familien-/erbrechtlich orientierte Anwalts- bzw. Notartätigkeit ist die Bestimmung des § 1586 b BGB von wenig beachteter, jedoch erheblicher Bedeutung. Sie regelt den Übergang einer nachehelichen Unterhaltspflicht auf die Erben des Unterhaltsverpflichteten. Sie liegt an einer Schnittstelle zwischen Familien- und Erbrecht. In der Systematik des Gesetzes ist sie dem Familienrecht (BGB, 4. Buch, 1. Abschnitt, 7. Titel) zugeordnet. Sie ist jedoch nur unter Beachtung pflichtteilsrechtlicher Bestimmungen, auf die sie verweist, anwendbar. 1. Während der Unterhaltsanspruch des Ehegatten bei bestehender Ehe mit dem Tod des Verpflichteten gem. § 1360 a III i.V.m. § 1615 I BGB erlischt, führt der Tod des Verpflichteten im Rahmen des Geschiedenenunterhalts nicht zu einem Erlöschen des Unterhaltsanspruchs. Vielmehr geht die Unterhaltspflicht mit dem Tod des Verpflichteten auf den Erben als Nachlassverbindlichkeit über. Dabei entfallen die Beschränkungen nach § 1581 BGB zur Leistungsfähigkeit. Die Haftung wird jedoch beschränkt auf den fiktiven

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Pflichtteil, welcher dem Berechtigten zustände, wenn die Ehe nicht geschieden worden wäre. Für die Berechnung dieser Haftungsgrenze bleiben Besonderheiten aufgrund des Güterstands, in dem die geschiedenen Ehegatten gelebt haben, außer Betracht. 2. Der geschiedene Ehegatte ist weder als gesetzlicher Erbe noch als Pflichtteilsberechtigter am Nachlass des früheren Ehegatten beteiligt. Dies gilt nach § 1933 BGB bereits dann, wenn zur Zeit des Todes des Erblassers die Voraussetzungen für die Scheidung der Ehe gegeben waren und der Erblasser die Scheidung beantragt oder ihr zugestimmt hatte. Die in diesen Fällen eintretende Bestimmung des § 1586 b BGB lässt die als Nachwirkung der Ehe geforderte Vorsorge für den sozial Schwächeren, dessen Bedürftigkeit regelmäßig ehebedingt ist, den Tod des Verpflichteten überdauern. Die Vererblichkeit des Unterhaltsanspruchs sollte den Lebensbedarf des geschiedenen Ehegatten über den Tod des Verpflichteten hinaus „in ähnlicher Weise sicher(zu)stellen, wie dies bei Fortbestand der Ehe durch erbrechtliche Ansprüche erreicht worden wäre“ 1. Durch die als notwendig angesehene Beschränkung des Anspruchs sollte der geschiedene Ehegatte „nicht mehr erhalten, als er gehabt hätte, wenn seine Ehe statt durch Scheidung durch den Tod des Verpflichteten aufgelöst worden wäre“. Die Anknüpfung der Haftungsbegrenzung an den Pflichtteil beruhe auf der Erwägung, dass es dem verstorbenen Verpflichteten ohne weiteres möglich gewesen wäre, den berechtigten Ehegatten durch Verfügung von Todes wegen von der Erbfolge auszuschließen, und angenommen werden müsse, dass er von dieser Möglichkeit nach dem Scheitern der Ehe auch Gebrauch gemacht hätte 2.

II. 1. Die Bestimmung des § 1586 b BGB wirft prozessual sowie zu Grund und Höhe verschiedene Probleme auf. a) Ist der Anspruch auf nachehelichen Unterhalt tituliert, so stellt sich prozessual die Frage, ob der Unterhaltstitel gegen den Erben des Pflichtigen umgeschrieben werden kann oder ob Klage gegen den/die Erben erhoben werden muss. Die Frage wird in Literatur und Rechtsprechung streitig behandelt. Eine Klarstellung dürfte jedoch mit der Entscheidung des BGH vom 04.08.2004 3 erfolgt sein. Die Gegner einer Umschreibungsmöglichkeit haben die Auffassung vertreten, der Erbe sei unterhaltsrechtlich nicht Rechtsnachfolger des Unterhaltsschuldners; die Unterhaltsverpflichtung sei 1 2 3

Vgl. BT-Drucks. 7/650, S. 152 sowie BGH NJW 2001, 828 und NJW 2003, 1796. BT-Drucks. a.a.O., S. 153; BGH NJW 2001, 828. BGH NJW 2004, 2896 f.

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grundsätzlich personenbezogen und ende jeweils mit dem Tode des Berechtigten oder des Verpflichteten; der „Übergang“ der Unterhaltspflicht auf den Erben nach § 1586b BGB begründe in dessen Person eine eigenständige, inhaltlich mit derjenigen des Erblassers nicht identische Verpflichtung. Dem hat der BGH 4 entgegengehalten, dass sich die Rechtsnatur der auf den Erben übergegangenen Unterhaltspflicht nicht ändert; andernfalls hätte das Gesetz in § 1586 b I S. 1 BGB nicht von einem „Übergang“ der „Unterhaltspflicht“ sprechen können; allenfalls die Höhe der auf den Erben übergehenden Unterhaltspflicht und der Umfang seiner Haftung für sie würden sich ändern. Darüber hinaus entspricht nach BGH die Möglichkeit der Umschreibung des Titels dem Bestreben des Gesetzgebers, eine dauerhafte Sicherung des unterhaltsberechtigten geschiedenen Ehegatten über den Tod des Unterhaltspflichtigen hinaus zu schaffen, die andernfalls zumindest vorübergehend in Frage gestellt wäre, wenn erst ein neuer Titel erstritten werden müsste; zugleich diene die Umschreibung des Titels dem Gebot der Prozessökonomie. b) In Literatur und Rechtsprechung ist umstritten, welche Unterhaltsansprüche der passiven Vererblichkeit nach § 1586b BGB unterliegen. Werden nur gesetzliche oder auch vertragliche – bei letzteren unselbstständig oder selbstständig begründete – Unterhaltsansprüche erfasst? Das Gesetz spricht nur davon, dass mit dem Tode des Verpflichteten „die Unterhaltspflicht“ auf den Erben als Nachlassverbindlichkeit übergeht. Unter Unterhaltspflicht kann der Wortbedeutung nach sowohl eine gesetzlich begründete als auch eine vertragliche Verpflichtung verstanden werden. Der Übergang der gesetzlichen Unterhaltsverpflichtung unterliegt keinem Zweifel. Zu den so genannten unselbstständigen Unterhaltsvereinbarungen sind sich Literatur und Rechtsprechung ebenfalls einig, dass ein Übergang erfolgt. Zu so genannten selbstständigen Unterhaltsvereinbarungen ist der Übergang strittig, wobei die Abgrenzung zwischen unselbstständiger und selbstständiger Unterhaltsvereinbarung problematisch bleibt. Eine unselbstständige Unterhaltsvereinbarung ist anzunehmen, wenn die Vereinbarung (z.B. Scheidungsfolgenvereinbarung oder Prozessvergleich) nur eine bestehende gesetzliche Unterhaltspflicht ausgestaltet und konkretisiert. Eine selbstständige Unterhaltsvereinbarung ist dagegen nur dann anzunehmen, wenn besondere Anhaltspunkte dafür sprechen 5. Mit zutreffenden Gründen führt Hambitzer 6 aus, dass eine selbstständige Vereinbarung lediglich in den seltenen Fällen in Betracht kommt, in denen trotz Unterhaltsverzichts oder

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NJW 2204, 2896f. BGH NJW 2004, 2896/2897 m.w.N. Hambitzer, FamRZ 2001, 201 ff.

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trotz eines eindeutigen Unterhaltsausschlussgrundes ein Unterhaltsanspruch vertraglich eingeräumt werden soll; wird, wie im Regelfall üblich, Grund, Höhe, Dauer und Art der Unterhaltsleistung ausgestaltet, liege eine unselbstständige Unterhaltsvereinbarung vor, die gem. § 1586b BGB auf den Erben übergehe; die Folge dessen sei, dass der Erbe sich nur auf die fehlende Bedürftigkeit des Unterhaltsberechtigten, die nach dem Tod des Erblassers eingetreten ist, berufen könne. Eine selbstständige Vereinbarung kann auch in einem Rentenversprechen liegen. Das OLG Düsseldorf 7 hat das dort zu prüfende Rentenversprechen als einen dem schuldrechtlichen Versorgungsausgleich ähnlichen Anspruch bezeichnet; für den Versorgungsausgleich sei anerkannt, dass der Anspruch auf eine schuldrechtliche Ausgleichsrente mit dem Tod des Ausgleichsverpflichteten enden, sich also nicht gegen die Erben richten würde 8. Allgemein ist zu sämtlichen Unterhaltsvereinbarungen anzumerken, dass die Vorschrift des § 1586 b BGB dispositiv ist. So können die Vertragspartner z.B. regeln, dass der Unterhaltsanspruch mit dem Tod des Verpflichteten oder zu einem bestimmten Zeitpunkt nach dessen Tod endet. Hieraus, insbesondere auch aus der noch zu erörternden Problematik zu einem vorausgegangenen Pflichtteilsverzicht folgt eine bedeutsame Beratungs- und Belehrungspflicht des Rechtsanwalts bzw. des Notars. c) Nach § 1586 b I S. 3 BGB haftet der Erbe nicht über einen Betrag hinaus, der dem Pflichtteil entspricht, welcher dem Berechtigten zustände, wenn die Ehe nicht geschieden worden wäre. Der Gesetzeswortlaut („Pflichtteil“) wirft die Frage auf, ob bei der Berechnung des fiktiven Pflichtteils im Rahmen des § 1586 b I S. 3 BGB auch ein fiktiver Pflichtteilsergänzungsanspruch zu berücksichtigen ist. Die hierzu in Rechtsprechung und Literatur lange Zeit streitig geführte Diskussion dürfte mit der Entscheidung des BGH vom 29.11.2000 9 ihr Ende gefunden haben. Zum seinerzeitigen Meinungsstand kann auf die Gründe der Entscheidung des BGH verwiesen werden. Obwohl § 1586 b I S. 3 BGB nur den „Pflichtteil“ erwähnt, steht nach BGH der Wortlaut dieser Vorschrift der entsprechenden Anwendung der §§ 2325 ff BGB nicht entgegen. Zwar ist – so der BGH – der Pflichtteilsergänzungsanspruch ein selbstständiger Anspruch, der neben dem Pflichtteilsanspruch und unabhängig von diesem besteht, es handelt sich nicht etwa nur um einen Rechnungsposten eines einheitlichen Anspruchs. Der BGH hebt jedoch darauf ab, dass beide Ansprüche einander weitgehend wesensgleich seien; so rechtfertige es bereits der Umstand, dass beide im 5. Abschnitt des 5. Buches des Bürgerlichen Gesetzbuchs unter der Überschrift „Pflichtteil“ geregelt seien,

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OLG Düsseldorf, FamRZ 2003, 43 ff. OLG Düsseldorf, a.a.O. m.w.N. BGH NJW 2001, 828.

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den Pflichtteilsergänzungsanspruch als einen außerordentlichen Pflichtteilsanspruch zu bezeichnen, denn mit dem Pflichtteilsergänzungsanspruch werde der Pflichtteil als solcher verlangt, wenn auch in anderer Höhe und Ausdehnung; zudem richte sich die Verjährung sowohl des Pflichtteilsanspruchs als auch des Pflichtteilsergänzungsanspruchs nach § 2332 I S. 1 BGB, obwohl der Wortlaut dieser Vorschrift – ebenso wie § 1586b I S. 3 BGB – nur den „Pflichtteil“ erwähnt. Auch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift spricht – wie vom BGH näher ausgeführt wird – für eine entsprechende Anwendung der §§ 2325ff. BGB. Aus dem Gesetzeszweck, durch die Vererblichkeit des Unterhaltsanspruchs den Lebensbedarf des geschiedenen Ehegatten über den Tod des Verpflichteten hinaus in ähnlicher Weise sicherzustellen, wie dies bei Fortbestand der Ehe durch erbrechtliche Ansprüche erreicht worden wäre, folgert der BGH zutreffend die entsprechende Anwendung der §§ 2325ff. BGB. Bei diesem gesetzgeberischen Ziel ist es – so der BGH – „allein folgerichtig, bei der Bemessung der Haftungsgrenze des § 1586 b I S. 3 BGB auch einen dem geschiedenen Ehegatten dann zustehenden Pflichtteilsergänzungsanspruch zu berücksichtigen. Auch dadurch erhält dieser nicht mehr, als er gehabt hätte, wenn seine Ehe statt durch Scheidung durch den Tod des Verpflichteten aufgelöst worden wäre …“. Der BGH stützt seine Argumentation noch mit dem Hinweis, dass diese Lösung „allein interessengerecht“ sei, sie nehme dem Unterhaltspflichtigen den Anreiz, seinen Nachlass durch Schenkungen zu Lebzeiten zu vermindern und so den nach seinem Tode weiter bestehenden, ohnehin beschränkten Unterhaltsanspruch seines geschiedenen Ehegatten zu entwerten; es sei nicht ersichtlich, warum dem Unterhaltspflichtigen eine solche Gestaltung zum Nachteil des Unterhaltsberechtigten ermöglicht werden sollte, zumal § 2332 I BGB Rechtsgeschäfte unter Lebenden, durch die der künftige Pflichtteilsanspruch gemindert werde, in gleicher Weise als beeinträchtigende Verfügungen ansieht wie den letztwillig bestimmten Ausschluss von der Erbfolge. 2. Ein in der Literatur äußert kontrovers diskutiertes, bisher höchstrichterlich noch nicht entschiedenes Problem ergibt sich für die Erbenhaftung nach § 1586 b BGB in den Fällen, in denen der geschiedene Ehegatte bei Eingehung der Ehe oder während der Ehezeit vertraglich auf sein Erbrecht ohne Pflichtteilsvorbehalt (§ 2346 I BGB) oder nur auf sein Pflichtteilsrecht (§ 2346 II BGB) verzichtet hat. a) Überwiegend – und auch als „herrschende Meinung“ bezeichnet – wird die Auffassung vertreten, dass in diesen Fällen der Unterhaltanspruch nicht mehr besteht und deshalb die Erbenhaftung entfällt10. Das tragende Argu10

So insbesondere Dieckmann, NJW 1980, 2777 ff., derselbe FamRZ 1992, 633; derselbe

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ment für diese Auffassung ist, dass der geschiedene Ehegatte nicht besser gestellt werden könne als der noch verheiratete Ehegatte, der auf sein Erbund Pflichtteilsrecht verzichtet hat; die Sonderregelung des § 1586b BGB stelle einen Anspruch für den Verlust erbrechtlicher Ansprüche dar, der durch die Scheidung eintritt; der Unterhaltsanspruch habe Ersatzfunktion für das weggefallene Erbrecht zur Sicherstellung des Ehegatten; ohne Scheidung könne ein Ehegatte in jedem Falle das beanspruchen, was ihm das Gesetz vom Erblasser nicht entziehbar als Mindestteilhabe am Vermögen des Erblassers garantiere, nämlich den Pflichtteil; nach dem Normzweck solle anstelle dieses erbrechtlichen Mindestanspruchs der Unterhaltsanspruch treten und ihn ablösen, sofern nicht eine die Durchsetzung des Anspruchs verkürzende Haftungsbeschränkung greife; bei einem freiwilligen Verzicht auf ein Erbrecht (Pflichtteilsrecht) manifestiere sich darin der Entschluss des Ehegatten, dass er beim Erbfall vom Erben nichts erhalte; der Erbe hafte nicht, weil der „fiktive Pflichtteil“ durch den Verzicht die Nullmarke nicht übersteige. b) Die Gegenmeinung 11 verweist u.a. darauf, dass im Gesetz der Unterhaltsanspruch dem Grunde nach uneingeschränkt statuiert sei, § 1586b I S. 3 BGB verändere den Anspruchscharakter des § 1586b I S. 1 BGB nicht, die Beschränkung auf den Pflichtteil begrenze den gegebenen Anspruch nur der Höhe nach. Des Weiteren wird der Ansicht von Dieckmann entgegengehalten, dass Eheleute, die Erbangelegenheiten schon zu Beginn der Ehe regeln, eine Unterhaltsregelung nicht bedenken und nicht treffen wollen 12 oder bei einer gescheiterten Ehe auch noch den Pflichtteilsanspruch ausschließen, jedoch auch hier keine Unterhaltsregelung treffen möchten; es handle sich bei § 1586b I S. 1 BGB nicht um einen erbrechtlichen, sondern um einen unterhaltsrechtlichen Anspruch; Zweck des § 1586b I S. 1 BGB sei nicht der Erhalt der erbrechtlichen Positionen, sondern die Vorsorge für den sozial Schwächeren, quasi eine Nachwirkung der ehelichen Solidarität 13, Unterhalts- und Erbrecht stünden selbstständig nebeneinander; die Begrenzung des § 1586 b I. S. 3 BGB auf den Pflichtteil diene lediglich der besseren Verständlichkeit; dem Unterhaltsberechtigten müsse klar sein, dass er nicht mehr verlangen könne, als ihm bei Fortsetzung der gestörten Ehe zugestanden hätte; dem Erben solle verdeutlicht werden, dass er nur bis zur Höhe des Pflichtteils hafte 14. FamRZ 1999, 1029; Palandt, Kommentar zum BGB, 65. Aufl., § 1586b, Rn. 8 und § 1933, Rn. 9, Münchner Kommentar zum BGB, 4. Aufl., Rn. 2. 11 Vgl. z.B. Grziwotz, FamRZ 1991, 1258; Reimann, Festschrift Schippel 1996, 300; Pentz, FamRZ 1998, 1344 m.w.N. und FamRZ 1999, 488; H.W. Schmitz, FamRZ 1999, 1569; Büttner/Niepmann, NJW 2000, 2547/2552. 12 So insbesondere Schmitz, FamRZ 1999, 1569. 13 So insbesondere Grziwotz, FamRZ, 1999, 1258f. 14 Vgl. Pentz, FamRZ 1998, 1344 ff; vgl. auch die ursprüngliche Begrenzung des nachehelichen Unterhaltsanspruchs gegen die Erben auf die Hälfte des Einkommens des Erblassers

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c) Für die so genannte „herrschende Meinung“ waren die Ausführungen von Dieckmann 15 grundlegend. Die Kritik an der „herrschenden Meinung“ soll deshalb auch an den Ausführungen von Dieckmann angesetzt werden. Die Inkonsequenz der Ansicht von Dieckmann wird deutlich, wenn man die häufig gegebene Tatsache betrachtet, dass Erb- und Pflichtteilsverzichte in Eheverträgen mit „Gegenleistungen“ wie erbvertraglichen Regelungen, Vermächtnissen u.ä. verbunden sind, der Verzicht also nicht „vorbehaltlos“ ist. Dieckmann selbst hat das Problem bereits in seinem die Diskussion auslösenden Aufsatz 16 erkannt. Er bezeichnet die Fallgestaltung, in der die Eheleute zwar einen Erb- und Pflichtteilsverzicht abgegeben haben, aber einen Erbvertrag ohne Rücktrittsvorbehalt geschlossen haben, als die problematischste, da der Ehegatte sich für den Erbfall gesichert hat. Wörtlich – mit seiner Argumentation – sei dann ein Unterhaltsausschluss „widersinnig“. Dennoch hält Dieckmann an seiner „Einheitslösung“ aus Gründen der Rechtssicherheit und zur Vermeidung von Fallgruppen fest. Dieckmann räumt selbst die Inkonsequenz seiner Argumentation ein, wenn man seine Grundthese, dass der geschiedene Ehegatte nicht besser gestellt werden solle als der, der noch während intakter Ehe auf das Pflichtteil- und Erbteilsrecht verzichtet hat, im Auge behält. Er sucht deshalb auch nach „Krücken“, um seine „Einheitslösung“ zu stützen. Einen Ausweg sieht er im Erbrecht darin, dass die letztwillige Verfügung wirksam bleibe, wenn anzunehmen sei, dass der Erblasser sie für einen solchen Fall getroffen haben würde (§ 2279 I i.V.m. § 2077 III BGB). Dieckmann muss dann aber sofort selbst wieder einschränken, dass dies nicht viel helfe, wenn der Vertragstext einen Rückschluss auf den Willen der Parteien, vor allem auf den Willen des Erblassers, nicht zulasse und auch sonstige Umstände für die Auslegung nicht aufschlussreich seien. Er räumt dann selbst ein, dass es dem Richter nicht leicht werde, sich für die Gültigkeit der Verfügung zu entscheiden, wenn einem überlebenden Ehegatten erbvertragsmäßig mehr zugedacht wurde als der „fiktive Pflichtteil“ i.S. des § 1586b I S. 2 BGB. Dieckmann kommt dann zu einer weiteren Überlegung, die er jedoch als „Hilfsregel“ bezeichnet. Er will von einer „Teilgültigkeit“ bis zur Grenze des fiktiven Pflichtteils im Sinne des § 1586b III S. 1 BGB ausgehen, sofern ein entgegenstehender Vertragswille des Erblassers nicht dargetan ist. Für diesen Fall hätte also der Nachlass die Beweislast. Auch zu diesem Gedanken muss Dieckmann sofort wieder einräumen, dass diese „Hilfsregel“ zwar das Verhältnis von Abs. I zu Abs. III in § 2077 BGB zu verkehren scheine, sie aber zumindest dem mutmaßlichen Willen der Parteien entsprechen dürfte. In Erkenntnis seiner Inkonsequenz zurzeit des Todes aus seinem Vermögen, § 1582 II S. 2 BGB sowie § 78 II S. 2 Ehegesetz 1938, welches eine Billigkeitsbeschränkung vorsah. 15 Dieckmann, NJW 1980, 2777. 16 NJW 1980, 2777ff.

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versucht Dieckmann schließlich – nur um seine „Einheitslösung“ zu erhalten – noch einen weiteren Ausweg dahin, dass die Parteien im Vertrag klarstellen könnten, was sie alles wollten, wenn sie einen Erbvertrag schließen, der einen Verzicht auf das gesetzliche Erb- oder Pflichtteilsrecht abmildern soll. Eine Unterstützung für diese Auffassung sieht er im Formzwang des Erb- und Pflichtteilsverzichts, also der Belehrung durch den Notar; mit Hilfe des Notars könnten Vorkehrungen für die Zukunft getroffen werden, auch im Hinblick auf eine nacheheliche Versorgung, die Parteien wären damit nicht überfordert. Dass Dieckmann mit dieser Hilfskonstruktion die tatsächlichen Gegebenheiten verkennt, zeigt sich in der Praxis aus vielen einschlägigen Urkunden. Sowohl Erb- und Pflichtteilsverzichtsverträge als auch gerichtlich oder notariell protokollierte Scheidungsfolgenvereinbarungen enthalten regelmäßig keine Belehrung oder Regelung zu § 1586b BGB. Letztlich kann also auch aus den Ausführungen von Dieckmann gefolgert werden, dass er den Fall, in dem ein Erbvertrag die Gegenleistung für den Erb- und Pflichtteilsverzicht ist, anders sieht. Offensichtlich ist dies teilweise das von der sonst Dieckmann folgenden Literatur ähnlich beurteilt worden, indem klarstellende Adverben wie „vorbehaltslos“ 17 oder „nichts“ oder „Null“ 18 herangezogen werden. Es lässt sich auch nicht dahingehend argumentieren, dass – je nach Ausgestaltung – die letztwillig verfügte „Gegenleistung“ keine gesicherte Rechtsposition sei, sondern allenfalls eine „vage Hoffnung“; wer sich bei Abschluss des Erb- oder Pflichtteilsverzichtsvertrags auf eine „vage Hoffnung“ einlasse, ohne eine sichere Versorgung anzustreben, könne sich nicht darauf berufen, dass der Anspruch nach § 1586 b BGB in diesem Falle nicht ausgeschlossen sei.19 Gleichgültig aus welchen Gründen die „Gegenleistung“ nur eine „vage Hoffnung“ wäre (z.B. Bedingungen wie keine Stellung eines begründeten Scheidungsantrags oder kein längeres Getrenntleben als 1 Jahr o.ä.), wäre eine diesbezügliche Argumentation ein Trugschluss. Sie würde zudem den eigenen Ausgangspunkt für die Ausschlusswirkung des Erb- bzw. Pflichtteilsverzichts verlassen. Der Ausgangspunkt der „herrschenden Meinung“ ist, dass der geschiedene Ehegatte nicht besser gestellt werden solle, als ein noch verheirateter Ehegatte, der auf seinen Pflichtteil verzichtet hat. Wäre die unterhaltsberechtigte Ehefrau wegen der noch bestehenden Ehe mit dem Tod des Erblassers „Witwe“ geworden, so wäre gerade nicht der Fall eingetreten, dass sie mit „nichts“ dagestanden hätte und der geschiedene Ehegatte über § 1586 b BGB besser gestellt gewesen wäre. Wäre z.B. im Zeitpunkt des 17

Münchner Kommentar, Maurer, § 1586 b, Rn. 2. Palandt-Brudermüller, § 1586 b, Rn. 8. 19 AG Stuttgart, Urteil vom 27.09.2001, AZ: 21 F 732/01 (nicht rechtskräftig, Rechtsstreit wurde in 2. Instanz durch Vergleich erledigt). 18

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Todes des Erblassers ein begründeter Scheidungsantrag gestellt gewesen oder eine einjährige Trennungszeit gegeben, so wäre das Ehegattenerbrecht nach § 1933 BGB ausgeschlossen. Die diesbezügliche aufschiebende Bedingung hat also nichts mit einer „vagen Hoffnung“, sondern mit der gesetzlichen Regelung des § 1933 BGB zu tun. Dabei macht es keinen Unterschied, ob der Wegfall des Erbrechts oder der Wegfall von Vermächtnissen – statt der Erbenstellung – angesprochen sind. Im Übrigen führt der Wegfall des Ehegattenerbrechts, also der diesbezügliche Eintritt der Bedingung, nach § 1933 S. 3 BGB ausdrücklich zur Unterhaltsberechtigung nach § 1586b BGB. Es kann auch deshalb nicht von einer „vagen Hoffnung“ gesprochen werden, weil beim Abschluss eines Erb- bzw. Pflichtteilsverzichtsvertrags mit einer „Gegenleistung“ der Fortbestand der Ehe im Zeitpunkt des Todes nach dem Grundgedanken des Vertrages der Normalfall gewesen wäre, die erbrechtlichen Regelungen also zum Zuge gekommen wären, und der Umstand, dass im Zeitpunkt des Todes eine der Bedingungen vorgelegen hätte, als absoluter Ausnahmefall zu betrachten gewesen wäre. Derartige Bedingungen für die Gegenleistung decken sich also im Wesentlichen mit der Gesetzeslage des § 1933 BGB und rechtfertigen keinesfalls eine Argumentation dahingehend, dass der unterhaltsberechtigte Ehegatte schon zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses gewusst habe, dass seine erbrechtliche Stellung keineswegs gesichert war und dass er es deshalb selbst in der Hand gehabt hätte, per Abschluss solcher Verträge eine sichere Versorgung außerhalb anzustreben. Allein auf den Willen der Vertragsschließenden im Zeitpunkt der Beurkundung des Erb- bzw. Pflichtteilsvertrages kommt es an. Der diesbezügliche Wille geht von einem Fortbestand der Ehe aus, nicht von einer Ehescheidung mit der Folge des Wegfalls des Ehegattenerbrechts nach § 1933 BGB und der gesetzlichen Folge aus § 1933 S. 3 BGB, dem Eintritt der Unterhaltsverpflichtung der Erben gem. § 1586 b BGB. Aber auch dann, wenn der Erb- bzw. Pflichtteilsverzicht nicht mit einer „Gegenleistung“ verbunden ist, sondern „vorbehaltlos“ erklärt wurde, führt dies nicht zu einem Wegfall des Anspruchs aus § 1586b BGB. Für einen Unterhaltsanspruch als Nachlassverbindlichkeit der Erben setzt das Gesetz keinen Anspruch auf ein Erbe voraus. Es besteht keinerlei Verknüpfung zwischen Unterhalt und Erbe. Ein Unterhaltsanspruch folgt aus den materiellrechtlichen Bestimmungen des Familienrechts oder aus einer Vereinbarung. Der Tod eines Unterhaltsverpflichteten führt nicht zum Wegfall des Unterhaltsanspruchs gegen den Erben. Der Fortbestand folgt nicht nur aus § 1933 S. 3 BGB, sondern beispielsweise auch aus § 1615l III S. 4 BGB sowie § 1615 n BGB. Ein Unterhaltsanspruch setzt nicht einen Anspruch auf Erbe voraus. Die fehlende Verknüpfung zwischen Erb- oder Pflichtteilsrecht und dem Fortbestand der Unterhaltsverpflichtung der Erben gem. § 1586b BGB wird auch aus der schon oben erwähnten Entscheidung des BGH vom 29.11.

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2000 20 deutlich, ohne dass der eventuelle Wegfall des Anspruchs aus § 1586b BGB bei einem Erb- bzw. Pflichtteilsverzicht thematisiert worden wäre. Die Entscheidung des BGH hatte sich ausschließlich mit der Fragestellung zu befassen, ob bei der Berechnung des fiktiven Pflichtteils im Rahmen des § 1586b I S. 3 BGB auch ein fiktiver Pflichtteilsergänzungsanspruch zu berücksichtigen ist. Es war also lediglich die Haftungsgrenze des § 1586 b I S. 3 BGB zu untersuchen, also Pflichtteilsanspruch mit oder ohne Pflichtteilsergänzungsanspruch. Die Fragestellung war völlig unabhängig von einem bei Fortbestand der Ehe real existierenden Pflichtteilsanspruch zu prüfen und zu beantworten. Für den Anspruch aus § 1586b BGB gegen den Nachlass ist mangels einer erbrechtlichen Teilhabe der geschiedenen Ehefrau stets von einem fiktiven Pflichtteilsanspruch auszugehen, der jedoch nur eine Berechnungsgröße für die Ermittlung der Haftungsgrenze ist. Der BGH hat deshalb auch festgestellt: „Entweder ist die Haftungsgrenze erschöpft, dann wird weiterer Unterhalt nicht mehr geschuldet, oder sie ist es nicht, mit der Folge, dass der titulierte Anspruch bis zum Erreichen der Grenze in voller Höhe fortbesteht.“

Mit der Frage eines Pflichtteilsverzichts und diesbezüglicher Einwirkung auf die Haftungsgrenze des § 1586b I S. 3 BGB hat sich der BGH nicht befasst. Dagegen hat er aber ausgeführt: „Denn die Vererblichkeit des Unterhaltsanspruchs sollte den Lebensbedarf des geschiedenen Ehegatten über den Tod des Verpflichteten hinaus in ähnlicher Weise sicherstellen, wie dies bei Fortbestand der Ehe durch erbrechtliche Ansprüche erreicht worden wäre.“

Hierzu wurde auf die BT-Drucks. 7/650 S. 152 verwiesen und angefügt, durch die als notwendig angesehene Beschränkung des Anspruchs – also wiederum nur fiktive Haftungsgrenze – sollte der geschiedene Ehegatte nicht mehr erhalten, als er gehabt hätte, wenn seine Ehe statt durch Scheidung durch den Tod des Verpflichteten aufgelöst worden wäre. Dabei wurde wiederum die Haftungsbegrenzung betont und festgestellt, dass ihre Anknüpfung an den Pflichtteil auf der Erwägung beruhe, dass es dem verstorbenen Verpflichteten ohne weiteres möglich gewesen wäre, den berechtigten Ehegatten durch Verfügung von Todes wegen von der Erbfolge auszuschließen und angenommen werden müsse, dass er von dieser Möglichkeit nach dem Scheitern der Ehe auch Gebrauch gemacht hätte 21. Aus dem Urteil und auch der Absicht des Gesetzgebers folgt in keiner Weise eine Abhängigkeit von einem real existierenden Pflichtteilsanspruch nach einer Scheidung. Die gesamten Ausführungen des BGH können nur

20 21

BGH NJW 2001, 828. BGH NJW 2001, 828; BT-Drucks. a.a.O., S. 153.

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unter dem Gesichtspunkt der Haftungsgrenze bei Berechnung eines fiktiven Pflichtteilsanspruchs einschließlich Pflichtteilsergänzungsanspruchs gesehen werden. Der BGH hat deshalb auch ausgeführt: „Wenn aber der Lebensbedarf des geschiedenen Ehegatten über den Tod des Verpflichteten hinaus in ähnlicher Weise sichergestellt werden soll, wie dies bei Fortbestand der Ehe durch erbrechtliche Ansprüche erreicht worden wäre, dann ist es allein folgerichtig, bei der Bemessung der Haftungsgrenze des § 1586b I S. 3 BGB auch einen dem geschiedenen Ehegatten dann zustehenden Pflichtteilsergänzungsanspruch zu berücksichtigen.“

Welchen Charakter diese erbrechtlichen Ansprüche bei Fortbestand der Ehe gehabt hätten, ist völlig unerheblich. Es musste sich hierbei weder um das gesetzliche Erbrecht noch einen Pflichtteilsanspruch handeln, ebenso sind Vermächtnisansprüche oder sonstige letztwillige Verfügungen erbrechtliche Ansprüche. Es ist deshalb auch abwegig, anzunehmen – wie die so genannte „herrschende Meinung“ meint – der Ehepartner, der auf den Pflichtteil verzichtet, erhalte bei Fortbestand der Ehe im Todesfalle des anderen Ehegatten nichts. Die Vorschrift des § 1586 b I S. 3 BGB hat ihren Sinn ausschließlich in der fiktiven Berechnung der Haftungsgrenze, nicht aber in einem Ausschluss des Unterhaltsanspruchs gegen den Nachlass, wenn eine erbrechtliche Regelung mit einem Erb- bzw. Pflichtteilsverzicht verbunden war. Der Unterhaltsanspruch des geschiedenen Ehegatten wird dem Grunde nach auch dann durch § 1586 b BGB nicht berührt, wenn ein Pflichtteilsverzicht oder eine sonstige einschränkende, die Pflichtteilsgrenze unterschreitende erbrechtliche Regelung für die Witwe bestehen würde. Vielmehr ist gesetzgeberischer Zweck des § 1586 b BGB, den Lebensbedarf des geschiedenen Ehegatten über den Tod des Verpflichteten hinaus sicherzustellen, allerdings versehen mit der Haftungsgrenze des § 1586b I S. 3 BGB. Dabei handelt es sich von vornherein um eine fiktive Haftungsgrenze, die nicht abhängig ist vom Bestehen eines realen Anspruchs, wenn die Ehe nicht geschieden worden wäre. Es kann deshalb auch dahingestellt bleiben, ob – und erst recht in welcher Höhe – die geschiedene Ehefrau bei Fortbestand der Ehe trotz eines vereinbarten Pflichtteilsverzichts einen erbrechtlichen Anspruch gehabt hätte. Dieses Ergebnis wird auch durch die zitierte Bundestagsdrucksache 7/650 22 (1. Eherechtsreformgesetz) gestützt. Der Gesetzgeber hat den in § 70 I EheG enthaltenen Übergang des Unterhaltsanspruchs des schuldlosen Ehegatten in § 1586 b BGB ohne die in § 70 III EheG enthaltene Einschränkung übernehmen wollen. Nach den Materialien zum BGB soll der aus dem Nachlass fließende Unterhalt zumindest wirtschaftlich betrachtet ein Äquivalent für den durch den Tod des Erblassers verlorenen Unterhaltsanspruch darstel22

Vgl. BT-Drucks. 7/650, S. 152 sowie BGH NJW 2001, 828 und NJW 2003, 1796.

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len. Über die Erwägungen der Motive zum BGB wird aber ein weiterer wesentlicher Gedanke eingeführt: die als Nachwirkung der Ehe geforderte Vorsorge für den sozial schwächeren Ehegatten, dessen Bedürftigkeit regelmäßig ehebedingt sei, könne mit dem Tode des Verpflichteten nicht ersatzlos enden; da nach Scheidung ein erbrechtlicher Ausgleich nicht mehr möglich sei, bedürfe es einer unterhaltsrechtlichen Sicherstellung. Zwar leitet auch die „herrschende Meinung“ ihren Standpunkt aus den Materialien zum BGB ab, wonach der geschiedene Ehegatte nicht mehr erhalten solle, „als er gehabt hätte, wenn seine Ehe statt durch Scheidung durch den Tod des Verpflichteten aufgelöst worden wäre“ 23. Die Zweckrichtung dieser Aussage wird jedoch erst durch den folgenden Satz unmissverständlich: „Das ist nicht nur wegen der Interessen des Erben geboten; eine unbeschränkte Durchsetzungsmöglichkeit des Unterhaltsanspruchs des geschiedenen Ehegatten, die den Nachlass im Einzelfall erschöpfen könnte, würde auch gegenüber etwa vorhandenen sonstigen Unterhaltsberechtigten des verstorbenen Verpflichteten, die wegen ihres künftigen Unterhalts auf erbrechtliche Ansprüche verwiesen sind, eine unbillige Härte bedeuten.“

Damit setzt sich der Gesetzgeber im Wesentlichen mit dem Interessenausgleich der Erben, anderer etwaiger Unterhaltsberechtigter und des geschiedenen Ehegatten auseinander. Schließlich gelangt er zu dem Ergebnis 24, dass die vorgeschlagene Lösung (Verweisung auf den Pflichtteil) dem Unterhaltsberechtigten innerhalb des Haftungsrahmens die volle Durchsetzung seines Unterhaltsanspruchs sichert und andererseits zuverlässig eine aus dem Zweck der passiven Vererblichkeit des Unterhaltsanspruchs nicht zu rechtfertigende Vorzugsstellung des geschiedenen Ehegatten zu Lasten des Erben und der Pflichtteilsberechtigten verhindert. § 1586b I S. 3 BGB kann deshalb keinesfalls als Rechtsgrundverweisung, sondern nur als Rechtsfolgenverweisung gewertet werden. Dem Gesetzeszweck, den Lebensbedarf des geschiedenen Ehegatten über den Tod des Verpflichteten hinaus sicherzustellen, allerdings beschränkt auf den fiktiven Pflichtteil einschließlich einem etwaigen Pflichtteilsergänzungsanspruch, muss aber auch dann Rechnung getragen werden, wenn die (später geschiedenen) Ehegatten einen Erb- bzw. Pflichtteilsverzichtsvertrag abgeschlossen haben. Dabei ist es ohne Bedeutung, ob in dem Verzichtsvertrag eine „Gegenleistung“ vereinbart wurde oder nicht. Wenn dieses Ergebnis von den Ehegatten nicht gewollt ist, müssen sie zu dem dispositiven § 1586 b BGB in dem Verzichtsvertrag oder einem Nachtrag eine ausdrückliche anderweitige Regelung treffen. Auch hieraus wird die Bedeutung der notariellen oder anwaltlichen Beratungs- bzw. Belehrungspflicht deutlich. 23 24

BT-Drucks., a.a.O., S. 152. BT-Drucks., a.a.O., S. 153.

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III. Zusammenfassend ist festzustellen: 1. Der Geschiedenenunterhalt überdauert als Nachwirkung der Ehe den Tod des Verpflichteten und führt zu einer Haftung der Erben. 2. Ein bestehender Unterhaltstitel gegen den Erblasser kann auf die Erben des Pflichtigen umgeschrieben werden. 3. Die passive Vererblichkeit nach § 1586 b BGB erfasst sowohl gesetzliche als auch vertraglich begründete Unterhaltsansprüche. 4. Bei der Berechnung des fiktiven Pflichtteils als Haftungsgrenze nach § 1586 b I S. 3 BGB ist auch ein fiktiver Pflichtteilsergänzungsanspruch zu berücksichtigen. 5. Ein von den – später geschiedenen – Eheleuten durch Ehe- und Erbvertrag vereinbarter Verzicht auf das Erbrecht ohne Pflichtteilsvorbehalt (§ 2346 I BGB) oder nur auf das Pflichtteilsrecht (§ 2346 II BGB) führt nicht zu einem Wegfall des Anspruchs auf Geschiedenenunterhalt nach § 1586 b BGB. Dies gilt auch dann, wenn der Verzicht ohne Gegenleistung (z.B. erbvertragliche Regelungen, Vermächtnisse u.ä.) vereinbart wurde.

Die Beurkundung der Anteilsabtretung beim share deal – ein Fallstrick? Klaus-A. Gerstenmaier Inhaltsübersicht I.

Die Beurkundung des Verpflichtungsgeschäfts (§ 15 Abs. 4 Satz 1 GmbHG) 1. Rechtsgrundlagen und Normzweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Umfang der Beurkundung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Folgen fehlender Beurkundung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Heilung der Formnichtigkeit des Verpflichtungsgeschäfts durch Beurkundung der Anteilsabtretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Voraussetzungen der Heilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Umfang der Heilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verhindert die vertragliche Schriftformklausel die Heilung mündlicher Nebenabreden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einfache gewillkürte Schriftformklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Qualifizierte (doppelte) Schriftformklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ergebnis und Empfehlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verträge über den Verkauf von Unternehmen und deren Vollzug sind in der Regel das Ergebnis langwieriger und komplexer Verhandlungen auf verschiedenen Ebenen. Der Jubilar hat zahlreiche solcher Verträge meisterlich entworfen, mit souveränem Elan verhandelt und ihren Vollzug erfolgreich abgewickelt. In die „Beurkundungsfalle“ ist er meines Wissens nie getappt. Dennoch: Es lohnt sich, die Wirkungen der Beurkundung von share deals und insbesondere die Reichweite ihrer Heilungswirkung (§ 15 Abs. 4 Satz 2 GmbHG) näher zu beleuchten. Denn bislang fehlt es an höchstrichterlicher Rechtsprechung oder auch nur an einer eindeutigen Aussage der Literatur zu den Folgen der Beurkundung der Anteilsabtretung auf nicht beurkundete oder gar nur mündlich vereinbarte Teile des Anteilskaufvertrages. Die Praxis aber zeigt, dass gerade in der Schlussphase langwieriger Verhandlungen, ja erst zwischen Signing und Closing, nicht selten Absprachen getroffen werden, deren Beurkundung unterbleibt. Das gilt insbesondere für die bekannten „Paketlösungen“ zu nächtlicher Stunde, mit denen auf höchster Verhandlungsebene – oft im Vier-Augen-Gespräch – letzte Unstimmigkeiten ausgeräumt oder Vollzugshindernisse beseitigt werden.

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I. Die Beurkundung des Verpflichtungsgeschäfts (§ 15 Abs. 4 Satz 1 GmbHG) Die grundsätzliche Pflicht zur notariellen Beurkundung einer Vereinbarung, mit der sich ein Gesellschafter einer GmbH zur Abtretung seiner Geschäftsanteile verpflichtet, steht nicht in Frage; sie ist in § 15 Abs. 4 Satz 1 GmbH geregelt und ist zwingenden Rechts 1. 1. Rechtsgrundlagen und Normzweck Wie die dingliche Übertragung von Geschäftsanteilen einer GmbH (§ 15 Abs. 3 GmbHG) ist auch die Verpflichtung zu solcher Abtretung formbedürftig. Die in § 15 Abs. 4 Satz 1 GmbHG zwingend vorgegebene strenge notarielle Form dient hauptsächlich zweierlei Zwecken: Zum einen soll im Interesse des Anlegerschutzes der Erwerber wie auch schon der Gründer einer GmbH auf Bedeutung und Risiko seiner Beteiligung hingewiesen werden, die, anders als börsengehandelte Papiere, nicht ohne weiteres wieder liquidiert werden kann. Überlegungen, der GmbH durch Börsenfähigkeit den Kapitalmarkt zu eröffnen 2, wurden zwar diskutiert 3, dürften sich aber nach Einführung der „kleinen AG“ 4 erledigt haben. Der Zweck der Beurkundung, den Anleger zu schützen und den leichten und spekulativen Handel mit GmbH-Anteilen auszuschließen 5, bleibt also ungeschmälert bestehen. Zum anderen dient das Erfordernis der Beurkundung Beweiszwecken und der Beweiserleichterung 6, die insbesondere auch im Hinblick auf § 16 GmbHG angesichts der fehlenden Verbriefung der Geschäftsanteile von Bedeutung ist. 2. Umfang der Beurkundung Der pure Zweck der Formbedürftigkeit – Vermeidung leichtfertigen Handels mit GmbH-Geschäftsanteilen und Beweiserleichterung – erlaubt an sich die Beschränkung des Formerfordernisses auf die eigentliche Abtretungsver-

1 Vgl. statt aller Hueck/Fastrich, in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 18. Auflage 2006, § 15, Rn. 30. 2 Vgl. etwa Vollmer/May, Bericht der Arbeitsgruppe „Zweiter Börsenmarkt“, Stuttgart 1989. 3 Vgl. Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 15. Auflage 2000, Einleitung, Rn. 13 m.w.N. 4 Vgl. Gesetz für kleine Aktiengesellschaften und zur Deregulierung des Aktienrechts vom 02.08.1994, BGBl I, 1961. 5 So etwa BGH WM 95, 670, 671; Walz/Fembacher, NZG 2003, 1134, 1139 f. 6 RGZ 164, 170; BGHZ 13, 51 f., 127, 135; NJW 96, 3339.

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pflichtung und auf die wesentlichen Vereinbarungen, aus denen sich diese Verpflichtung ergibt. So vertreten denn auch gewichtige Stimmen in der Literatur 7 und vereinzelt Obergerichte 8 die Ansicht, nicht sämtliche Nebenabreden, sondern lediglich der Kern des Verpflichtungsgeschäftes sei der strengen Form der Beurkundung zu unterwerfen. Mit Recht folgt aber die herrschende Meinung dieser Auffassung nicht. Sie erstreckt die Formpflicht auf den gesamten Vertrag einschließlich aller Nebenabreden, ungeachtet dessen, ob solche Abreden die Übertragung des Geschäftsanteils selbst und andere essentialia negotii betreffen oder etwa lediglich Zahlungsmodalitäten, Bedingungen und deren Aufhebung und jegliche sonstigen Nebenabreden; selbst die spätere Änderung einer Nebenvereinbarung ist formbedürftig 9. Denn anders ist der Normzweck nicht erfüllt: Das Ziel, den Handel mit Geschäftsanteilen wirksam zu erschweren, aber auch unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit den gesamten Umfang der im Zusammenhang mit dem Verpflichtungsgeschäft getroffenen Absprachen niederzulegen, verlangt die umfassende und nicht nur die auszugsweise Beurkundung des Verpflichtungsgeschäftes. Aus dieser Erkenntnis folgt, dass auch an sich nicht formbedürftige Abreden zu beurkunden sind, wenn anzunehmen ist, dass ohne sie die Verpflichtung zur Abtretung des Geschäftsanteils nicht eingegangen worden wäre oder wenn davon auszugehen ist, dass die Nebenabrede nicht ohne die Verpflichtung zur Übertragung des Geschäftsanteils zustande gekommen wäre 10. Entsprechendes gilt für Vertragsänderungen, sofern sie vor der Abtretung erfolgen und soweit sie inhaltliche Bedeutung besitzen; allenfalls klarstellende Formulierungen, die die getroffenen Vereinbarungen an sich nicht ändern, bleiben formfrei wirksam 11. Nach wirksamer Abtretung allerdings sind Änderungen und selbst der Neuabschluss des Verpflichtungsgeschäfts auch formfrei möglich 12. Das folgt, so die herrschende Meinung 13, aus dem Normzweck: Sei die Abtretung einmal erfolgt, dann habe es keinen Sinn mehr, sie zu erschweren. Dabei bleibt allerdings unberücksichtigt der wesentliche Aspekt der beweiserleichternden Dokumentierung des obligatorischen Geschäftes. Das Reichs-

7 Schlüter, FS Bartholomeyczik, 1973, S. 366; Sigle/Maurer, NJW 84, 2657; Heidenhain, NJW 99, 3073; Pohlmann, GmbHR 02, 41, 22 ff. 8 OLG München, NJW 67, 1328. 9 H.M., vgl. BGH NJW 69, 2049; 83, 1843; DStR 00, 1272; Hueck/Fastrich in: Baumbach/Hueck, a.a.O., § 15, Rn. 30; Lutter/Hommelhoff, a.a.O., § 15, Rn. 18; Ebbing, in: Michalski; GmbHG, 1. Auflage 2002, § 15, Rn. 89 m.w.N. 10 Vgl. BGH WM 95, 670, 671; siehe auch schon RGZ 94, 147, 149; Ebbing, in: Michalski, a.a.O., § 15, Rn. 90 m.w.N. 11 Vgl. BGH NJW 89, 291; RGZ DR 40, 1292. 12 Vgl. RGZ 112, 236, 241; Hueck/Fastrich, in: Baumbach/Hueck, a.a.O., Rn. 30. 13 Vgl. Ebbing, in: Michalski, a.a.O., § 15, Rn. 92 m.w.N.

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gericht 14 und ihm folgend die Rechtsprechung 15 rechtfertigt diese teilweise Nichtachtung des Normzweckes mit dem Wortlaut des Gesetzes: § 15 Abs. 4 Satz 1 GmbHG unterwerfe nur die Verpflichtung zur künftigen Abtretung eines Geschäftsanteils der notariellen Form. 3. Folgen fehlender Beurkundung Wird die gesetzlich vorgeschriebene Form nicht eingehalten, so ist grundsätzlich der gesamte Vertrag nichtig (§ 125 S. 1 BGB). Etwa bereits erfolgte Leistungen (mit Ausnahme der Abtretung selbst, s.u.), insbesondere geleistete Zahlungen, können kondiziert werden. Der Einwand unzulässiger Rechtsausübung bei Berufung auf die Formnichtigkeit greift nur in seltenen Fällen und nur dann durch, wenn die Konsequenzen der Berufung auf die Formnichtigkeit schlechthin unerträglich erscheinen 16. Allerdings wird der Mangel der Form des Verpflichtungsgeschäftes durch den wirksamen, formgerechten Vollzug der Abtretung des Geschäftsanteils geheilt (§ 15 Abs. 4 S. 2 GmbHG). Der Umfang dieser Heilung und seine Auswirkungen auf das Verpflichtungsgeschäft werden im Folgenden näher behandelt.

II. Die Heilung der Formnichtigkeit des Verpflichtungsgeschäfts durch Beurkundung der Anteilsabtretung Warnfunktion, Vorsichtsfunktion und die Erschwerung des Handels mit Geschäftsanteilen sind natürlich dann obsolet, wenn die Übertragung der Geschäftsanteile bereits wirksam stattgefunden hat. Mit diesem Argument rechtfertigt die herrschende Lehre 17 den in § 15 Abs. 4 S. 2 GmbHG niedergelegten Heilungseffekt der formwirksamen Abtretung der Geschäftsanteile auf die (zunächst) unwirksame Verpflichtung zu solcher Verfügung. Allerdings: Auch Rechtssicherheit und Beweiserleichterung hinsichtlich des Umfangs verpflichtender Abreden sind, wie oben 18 festgestellt, Begründung für die Formbedürftigkeit des Verpflichtungsgeschäftes. Diesen Aspekten trägt die umfassende Heilungswirkung nicht Rechnung – mit gelegentlich überraschenden und auch nachteiligen Folgen.

14 15 16 17 18

RGZ 88, 61. Vgl. BGHLM § 15 Nr. 5. Vgl. BGH NJW 69, 2050. Vgl. Ebbing, in: Michalski, a.a.O., § 15, Rn. 92. Vgl. Ziffer I, 1.

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1. Voraussetzungen der Heilung Geschriebene Voraussetzung der Heilung ist der Abschluss eines formgültigen und auch ansonsten wirksamen Abtretungsvertrages zwischen den Parteien des (unwirksamen) obligatorischen Grundgeschäftes. Ungeschriebene, aber wesentliche Voraussetzung der Heilungswirkung ist die fortdauernde Willensübereinstimmung der Parteien noch zu dem Zeitpunkt, ab dem sie durch und an das Verfügungsgeschäft gebunden sind 19. Daran fehlt es etwa, wenn eine der Parteien zum Zeitpunkt der Abtretung an den Inhalten der vorangegangenen obligatorischen Übereinkunft nicht mehr festhalten will. Fehlt die Willensübereinstimmung und wird sie auch nicht – was möglich ist 20 – nachträglich unter Bezug auf die vorangegangene Abtretung bewirkt, so ist die Abtretung zwar wirksam, aber sine causa erfolgt und kann kondiziert werden 21. 2. Umfang der Heilung Geheilt wird der gesamte Verpflichtungsvertrag, einschließlich etwaiger Nebenabreden, auch soweit sie so Wesentliches wie den Kaufpreis betreffen: Vereinbaren die Parteien also mündlich einen höheren Preis als den zuvor notariell im Verpflichtungsvertrag niedergelegten, so gilt grundsätzlich (s. aber unten Abschnitt III) die mündliche Vereinbarung 22. Das führt gerade bei behaupteten mündlichen Absprachen über essentialia negotii zu großem Streitpotential und zu erheblicher Rechtsunsicherheit. In einem jüngst unter Mitwirkung des Verfassers entschiedenen Schiedsrechtstreit behauptete der Verkäufer eines Unternehmens, er habe von dem Vorstandsvorsitzenden der Käufergesellschaft in der Nacht vor dem 24. Dezember auf dem Weg zum Closing der Transaktion eine Erhöhung des in notarieller Urkunde zuvor vereinbarten Kaufpreises um eine Million Euro verlangt, was dieser kopfnickend zur Kenntnis genommen und anschließend die Abtretung der Geschäftsanteile vollzogen habe; Zeuge sei sein Prokurist, der ihn auf dem Weg ins Notarbüro begleitet habe. Die Schiedsklage wurde letztlich abgewiesen, allerdings aus Gründen, die mit der vom Schiedsgericht im Grundsatz anerkannten Heilung auch solch beiläufiger Einigungen durch anschließenden Abtretungsvollzug nichts zu tun hatten. Das Beispiel zeigt das hohe Risiko und die drastischen Folgen, die § 15 Abs. 4 S. 2 GmbHG bergen: Jede beiläufige Übereinkunft, jede Anmerkung zum Vertrag, die die Zustimmung der Gegenseite findet (und die im Streitfall

19 20 21 22

Vgl. BGHZ 127, 129, 133 ff. Vgl. RGZ 88, 61, 65; Ebbing, in: Michalski, a.a.O., § 15, Rn. 103. Vgl. Zutt, in: Hachenburg, GmbHG, 8. Auflage 1992, § 15, Rn. 65. So RGZ 168, 292, 296; Zutt, in: Hachenburg, a.a.O., § 15, Rn. 69.

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bewiesen werden kann), kann zur bindenden Ergänzung des zuvor meist über Wochen und Monate ausgehandelten, komplexen, notariell beurkundeten Kaufvertrages über Geschäftsanteile führen. Das Risiko unkontrollierter, im zeitlichen Verlauf dann auch ungewollter, gleichwohl wirksamer Vertragsänderungen wird noch verstärkt durch die allgemein anerkannte formlose Wirksamkeit von Änderungen des Grundgeschäfts, die nach wirksamer Abtretung des Geschäftsanteils getroffen werden, sofern sie sich nur auf diese Abtretung beziehen 23. Diese Wirksamkeit folgt nach Auffassung des Bundesgerichtshofs (a.a.O.) nicht aus der Heilungswirkung des § 15 Abs. 4 S. 2 GmbH, sondern aus dem Zweck der Formvorschrift, welche lediglich den Handel mit GmbH-Anteilen verhindern wolle, auch wenn sie „daneben“ auch noch der Beweiserleichterung dienen möge 24. Ist dieser Hauptzweck – durch Abtretung – erfüllt oder verfehlt oder obsolet, so verliert das Formgebot seine Rechtfertigung. Die schwierige Beweislage, Unklarheiten des Inhalts der obligatorischen Abrede, das Fehlen dokumentierter Absprachen etwa in Fusionskontrollverfahren treten zurück, jedenfalls nach herrschender Meinung. Fügt man sich dem, dann fragt sich, wie die Risiken unbedachter, aber gleichwohl durch Heilung wirksamer Vertragsänderungen einzuschränken sind; lässt sich etwa die Heilung vermeiden?

III. Verhindert die vertragliche Schriftformklausel die Heilung mündlicher Nebenabreden? Selten wird in einem sorgsam ausgehandelten, vielfach umfangreichen und komplexen Anteilskaufvertrag eine Klausel fehlen, die Änderungen oder Ergänzungen des Vertrags der Schriftform unterwirft. Zwei Grundtypen sind gängig: Die „einfache“ Schriftformklausel und die qualifizierte, „doppelte“ Schriftformklausel, die ausdrücklich den Verzicht auf die Schriftform wiederum der vereinbarten Form unterwirft. Offenkundiger Zweck jeder vereinbarten Schriftform ist das Interesse der Parteien, getroffene Absprachen klarzustellen und ihren Beweis zu erleichtern. In der Regel wird jedoch die Vereinbarung der Schriftform in komplexen Verträgen weiter reichen und den ausdrücklichen Willen der Parteien belegen, von der Einhaltung der Form die Wirksamkeit der jeweiligen (vertragsändernden) Absprache abhängig zu machen; dem entspricht auch die Vermutung des § 125 S. 2 BGB, wonach dem rechtsgeschäftlichen Formerfordernis im Zweifel konstitutive Bedeutung zukommt. Mit dieser Qualifikation ist allerdings die Gefahr der Bindungswirkung beiläufig besprochener Nebenabreden nicht beseitigt. Denn die gewillkürte Schriftform kann unter 23 24

Vgl. BGH NJW 59, 1432; Zutt, in: Hachenburg, a.a.O., § 15, Rn. 72. BGH, a.a.O., S. 1434.

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bestimmten Voraussetzungen abbedungen werden. Dabei ist allerdings zu unterscheiden zwischen der Aufhebung der einfachen und der der qualifizierten Schriftformklausel. 1. Einfache gewillkürte Schriftformklausel Den Parteien eines Vertrages steht es frei, unabhängig von gesetzlichen Formgeboten Schriftlichkeit als gewillkürtes Formerfordernis mit konstitutiver Wirkung zu vereinbaren. Gewiss ist auch, dass die Parteien kraft ihrer Vertragsfreiheit die Schriftformklausel wieder aufheben können; darüber ist sich jedermann einig. Weitgehende – wenn auch nicht vollständige – Einigkeit 25 besteht schließlich darüber, dass Nebenabreden auch bei Vereinbarung einer (einfachen) Schriftformklausel formfrei bindend sein können 26. 1.1 Dies gilt zunächst für mündliche Nebenabreden jedenfalls dann, wenn die Parteien übereinstimmend die Maßgeblichkeit des mündlich Vereinbarten gewollt haben, sich also darüber einig waren, dass für ihre vertraglichen Beziehungen neben dem schriftlich niedergelegten Vertragsinhalt auch jene mündliche Abrede gelten solle 27. Grundlage der Geltungswirkung mündlicher Absprachen trotz vereinbarter Schriftform ist die Überlegung, dass die Parteien sich selbst nur so lange an die vereinbarte Form binden (wollen), als dies ihrem gemeinsamen Willen entspricht. Wollen sie hingegen anderes und bringen sie dies zum Ausdruck, dann gilt das Andere, nämlich die durch mündliche Abrede beabsichtigte Beseitigung der Schriftform. Allerdings warnt der Bundesgerichtshof: Angesichts des Zweckes der Formklausel, immer Klarheit über den Vertragsinhalt zu haben, sei bei der Feststellung abweichenden Parteiwillens besondere Zurückhaltung geboten; sonst werde dieser Zweck „völlig ausgehöhlt“ 28. Dem ist nachdrücklich zuzustimmen. Denn es entspricht gewiss nicht dem Zweck einer ausdrücklich schriftlich niedergelegten Formklausel, wenn sie im Zweifel als durch beiläufig mündliche Übereinkunft aufgehoben behandelt würde. So kann es auch nicht überzeugen, wenn der Bundesgerichtshof an anderer Stelle 29 feststellt, die Klausel werde durch gewollte mündliche Absprachen auch dann beseitigt, wenn die Parteien bei solcher Absprache gar nicht an die Formbestimmung gedacht hatten. Zum einen verstößt die „gedankenlose“ Beseitigung der zuvor ausdrücklich gewollten Form just gegen deren Zweck, zukünftige Vertragsänderungen undokumentiert nicht 25 Vgl. insoweit abweichend Einsele, in: Münchener Kommentar, BGB, 4. Auflage 2001, § 125, Rn. 66. 26 Vgl. BGHZ 66, 378, 380. 27 BGHZ 66, 378, 381 m.w.N. 28 BGHZ 66, a.a.O. 29 BGH WM 66, 1335; NJW 65, 293, anders aber wohl BGH NJW-RR 91, 1289.

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gelten zu lassen. Zum anderen aber finden auf die Vertragsänderung in Form der Streichung der Formklausel die Regeln über Rechtsgeschäfte Anwendung, worauf Einsele 30 zu Recht hinweist. Haben die Parteien aber nicht an die Schriftformklausel gedacht, so fehlt es am rechtsgeschäftlichen Willen, diese aufzuheben und damit, da nicht gewollt, an der Aufhebungsvereinbarung 31. Zu weit allerdings geht, wer die formfreie, ausdrücklich gewollte Aufhebbarkeit der Schriftformklausel überhaupt ausschließt 32; denn als actus contrarius zur formfreien Begründung muss auch die formfreie Aufhebung der Klausel im Grundsatz gleichermaßen wirksam sein 33. 1.2 Lässt man – bei übereinstimmendem Wollen – die formfreie Aufhebung der Formklausel zu, so muss das konsequenterweise auch für die stillschweigende, durch konkludentes Verhalten belegte Aufhebung gelten. Typischerweise wird solches konkludente Verhalten vor allem darin zu sehen sein, dass sich die Parteien gemäß der behaupteten mündlichen Abrede verhalten haben 34. Eine Rückforderung des auf die Absprache Geleisteten mangels Rechtsgrundes dürfte also eher die Ausnahme sein. Das aber heißt im Ergebnis: Die einfache Schriftformklausel ist von geringem Wert für die sichere Feststellung des Vertragsinhaltes, kann sie doch jederzeit auch mündlich oder gar konkludent abbedungen werden, wenn die Parteien dies so übereinstimmend wollen. Die formfreie Abrede wird dann zum Vertragsinhalt; ein Verstoß gegen das gewillkürte Schriftformgebot scheidet aus. Damit stellt sich die Frage, ob sich die Heilungswirkung des § 15 Abs. 4 S. 2 GmbHG auf die Nichtbeachtung der gewillkürten Schriftform erstreckt, von vornherein nicht. Denn ein Mangel der gewillkürten Form, der zu heilen wäre, ist nach wirksamer Aufhebung der Formklausel durch mündliche Nebenabrede oder konkludentes Verhalten nicht mehr vorhanden. Die Verfehlung der gesetzlichen Form eines Anteilskaufvertrages (§ 15 Abs. 4 S. 1 GmbHG) wird hingegen wie üblich geheilt, erstreckt sich die Heilungswirkung doch auf Haupt- wie Nebenabreden, seien sie privatschriftlich, mündlich oder konkludent getroffen. Die nach Heilung durch Beurkundung der Abtretung wirksame formfreie Änderung des obligatorischen Vertrags über den Verkauf eines GmbHGeschäftsanteils und damit die Gefahr einer beiläufigen, fast gedankenlosen Abweichung von sorgsam ausgehandelten Vertragsinhalten wird also durch die vorsorgliche Vereinbarung einer einfachen Schriftformklausel nicht unterbunden. 30

In: Münchener Kommentar, BGB, a.a.O., § 125, Rn. 66. Vgl. auch BFH NJW 97, 1327, 1328, der mindestens einen konkludenten Aufhebungswillen fordert; Einsele in: Münchener Kommentar, BGB, a.a.O. 32 so aber Einsele, in: Münchener Kommentar, BGB, a.a.O. 33 Vgl. Heinrichs, in: Palandt, BGB, 65. Auflage 2006, § 125, Rn. 14. 34 Vgl. BGHZ 66, a.a.O. 31

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2. Qualifizierte (doppelte) Schriftformklausel Es ist der hauptsächliche Sinn der so genannten qualifizierten Schriftformklausel, formfreie Änderungen eines Vertragstextes auszuschließen. Das wird deutlich an der von den Parteien formulierten Selbstbindung, die die besondere Bedeutung belegt, welche die Vertragspartner der schriftlichen, beweisfähigen Niederlegung ihrer Absprachen beilegen. Dennoch besteht bis in die jüngsten Äußerungen von Literatur und Rechtsprechung Uneinigkeit darüber, ob nicht auch eine qualifizierte Schriftformklausel auf andere als auf schriftliche Weise aufgehoben werden könne 35. Es streitet der Grundsatz der Vertragsfreiheit gegen die Bestimmung des § 125 S. 2 BGB, die bei zugelassener Nichtachtung der rechtsgeschäftlich bestimmten Form jeglichen Regelungsgehaltes beraubt wäre. 2.1 In der Rechtsprechung und auch in weiten Teilen der Literatur herrscht (noch immer) die Auffassung vor, auch eine qualifizierte Formklausel könne formfrei aufgehoben werden, weil nur dies dem Grundsatz der Vertragsfreiheit Rechnung trage 36. Die Parteien können nach dieser Auffassung nicht für alle Zukunft auf ihre Vertragsfreiheit verzichten; das zuletzt gemeinsam Gewollte habe Vorrang vor dem früher Vereinbarten 37. Eine Ausnahme von dieser Priorität der Vertragsfreiheit macht die Rechtsprechung allerdings für den Rechtsverkehr zwischen Kaufleuten; dort soll die individual-vertraglich vereinbarte qualifizierte Schriftform auch nur schriftlich aufgehoben werden können 38, weil es Kaufleuten gestattet sei, ihre rechtsgeschäftlichen Beziehungen „starr“ an bestimmte Formen zu binden. Gerade im Hinblick auf die Vertragsfreiheit verdiene der „Vorteil, immer Klarheit über den Inhalt von Verträgen zu haben“ und die erkennbare Entscheidung, „Sicherheit in ihren rechtsgeschäftlichen Beziehungen zueinander“ zu gewährleisten, „strikte Beachtung“ 39. Das überzeugt im Grundsatz, nicht aber in der Beschränkung dieser Argumentation auf den kaufmännischen Geschäftsverkehr. Weshalb sollten geschäftserfahrene Parteien wie Kaufleute eher Wert auf die Klarheit von Vertragsinhalten legen und sich deswegen starr an vereinbarte Formen binden wollen, als Privatpersonen, die mit der im privaten Rechtsverkehr nicht ohne weiteres üblichen Vereinbarung einer qualifizierten Schriftformklausel

35 Vgl. nur Heinrichs, in: Palandt, BGB, 65. Auflage 2006, § 125, Rn. 14: formfreie Aufhebung nicht möglich, gegen Heinrichs, in: Palandt, BGB, 63. Auflage 2004, § 125, Rn. 14: formfreie Aufhebung möglich. 36 Vgl. Hertel, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2004, § 125, Rn. 126 m.w.N; BGHZ 66, 378, 380/381; BFHE 165, 256. 37 Vgl. Heinrichs, in: Palandt, 63. Auflage 2004, § 125, Rn. 14 m.w.N. 38 Vgl. BGHZ 66, 378, 382; OLG Frankfurt MDR 97, 1139. 39 BGHZ, a.a.O.

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der exakten Belegbarkeit ihrer Vereinbarungen erkennbar besonderen Wert zugemessen haben? Gerade Parteien, denen der Abschluss (schriftlicher) Verträge nicht alltägliche Praxis ist und die im rechtsgeschäftlichen Verkehr oftmals weniger versiert sind als Kaufleute, müssen sich zu eigenem Schutz auf die bewusst gewollte und mit guten Gründen vereinbarte Selbstbindung verlassen können. So hat denn auch das Bundesarbeitsgericht 40 entschieden, dass die qualifizierte Schriftformklausel in einem Arbeitsvertrag, also im nicht-kaufmännischen Rechtsverkehr, das Entstehen einer betrieblichen Übung verhindere, weil gerade durch Verwendung der doppelten Schriftformklausel deutlich werde, dass die Vertragsparteien besonderen Wert auf die Schriftform legten. Vertragsfreiheit kann in diesem Zusammenhang nach ausdrücklicher Auffassung der Bundesarbeitsgerichte nicht in Anspruch genommen werden, laufe dann doch § 125 S. 2 BGB „ins Leere“ 41. Dem folgt jüngst das Kammergericht in einem inzwischen rechtskräftigen Urteil vom 18.08.2005 42 und postuliert für die qualifizierte Schriftformklausel ohne Differenzierung zwischen kaufmännischem und nicht-kaufmännischem Rechtsverkehr die Prioritätenfolge „Form vor Privatautonomie“. Gerade der Grundsatz der Vertragsfreiheit erlaube es den Parteien, ihre rechtlichen Beziehungen starr bestimmen Formen zu unterwerfen; in solchen Fällen sei die mündlich geschlossene Änderungsabrede gemäß § 125 S. 2 BGB unwirksam 43. Auch Einsele 44 und Heinrichs 45 schließen sich dieser richtigen, vom Bundesgerichtshof bislang aber nicht vertretenen Auffassung an. Reinicke 46 hingegen hält es unter Berufung auf Flume 47 für unmöglich, dass die Parteien ihre Vertragsfreiheit für die Zukunft einschränken; die Vertragsfreiheit enthalte nicht das Recht, auf die Vertragsfreiheit zu verzichten. Darum allerdings geht es nicht. Zu beachten ist § 125 S. 2 BGB, der die bewusste und erst recht die unbewusste Nichtachtung auch der gewillkürten Form mit Nichtigkeit sanktioniert. Das hiergegen von Reinicke unter Berufung auf die Materialien 48 ins Feld geführte Argument, der Gesetzgeber habe in der formlosen Erfüllung eines Vertrages die Aufhebung einer rechtsgeschäftlich bestimmten Form für möglich erachtet, überzeugt nicht. Denn damit ist die Frage, ob eine formlose Abänderung eines gewillkürter Form 40 41 42 43 44 45 46 47 48

BAG NJW 03, 3725. BAG, a.a.O., S. 3727. NZM 05, 908. Zustimmend und mit Hinweisen auf das Recht der AGB Meyer-Harport, NJ 06, 34. In: Münchener Kommentar, BGB, a.a.O., § 125, Rn. 67. In: Palandt, BGB, ab 64. Auflage 2005, a.a.O., anders die Vorauflagen. Betrieb 76, 2289. Allg. Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. II. 2. Auflage, S. 264ff. Mugdan, Materialien, Band I, S. 453.

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unterworfenen Vertrages schuldrechtliche Pflichten begründet, keineswegs im Sinne Reinickes beantwortet. Mag auch in der Erfüllung einer Abrede die Sanktionierung ihrer formlosen Wirksamkeit gesehen werden, so ist damit indes noch nichts über den Rechtszustand vor Erfüllung gesagt. Soll § 125 S. 2 BGB überhaupt einen Sinn- und Regelungsgehalt besitzen und geht man davon aus, dass das Gesetz eine zweckmäßige und vernünftige Regelung treffen will 49, so muss die Anwendung der Norm dazu führen, dass die Nichtachtung einer ausdrücklich von den Parteien gewollten, dem Verbot formloser Aufhebung unterstellten Schriftformklausel zur Nichtigkeit der gleichwohl formlosen Abrede führt. Im Ergebnis und mit zunehmenden, wenn auch derzeit nicht herrschenden Stimmen in Literatur und Rechtsprechung ist daher festzuhalten: Eine qualifizierte Schriftformklausel, sei sie im kaufmännischen oder nichtkaufmännischen Verkehr vereinbart worden, kann nicht durch eine die Schriftform nicht wahrende (mündliche) Vereinbarung oder durch konkludentes Verhalten der Parteien aufgehoben werden. Der Grundsatz der Vertragsfreiheit steht dieser Selbstbindung der Parteien angesichts der Vorschrift des § 125 S. 2 BGB nicht entgegen 50. 2.2 Bleibt die formfreie Aufhebung der qualifizierten Schriftformklausel ausgeschlossen und ist eine solche formlose Abrede schuldrechtlicher Art somit nichtig, dann stellt sich im Zusammenhang mit der Übertragung von GmbH-Geschäftsanteilen die bislang kaum behandelte und von der Rechtsprechung nicht entschiedene Frage, ob die Heilungswirkung gemäß § 15 Abs. 4 S. 2 GmbHG mündliche oder auf konkludentes Verhalten zurückgehende Änderungen des Anteilskaufvertrages auch dann heilt, wenn dieser die in Verträgen solcher Art weithin übliche qualifizierte Schriftformklausel enthält. Hertel 51 ist, soweit ersichtlich, die einzige Stimme in der Literatur, die sich zu dieser Frage ausdrücklich, wenn auch ohne Begründung, äußert und die Heilung rechtsgeschäftlicher Formerfordernisse durch § 15 GmbHG generell ausschließt. Die gegenteilige Auffassung scheint Zutt 52 zu vertreten, wenn er, eher beiläufig, feststellt, es würden auch solche Vertragsbestandteile geheilt, die einer anderen, „minderen“ Form bedürften. Einschlägige Rechtsprechung zur Frage der Erstreckung der Heilungswirkung des § 15 GmbHG auf die Missachtung gewillkürter Formerfordernisse 49

Vgl. RGZ 74, 72. Für AGB gilt jedoch auch hinsichtlich qualifizierter Schriftformklauseln der Vorrang der Individualabrede, vgl. Heinrichs, in: Palandt, BGB, 65. Auflage 2006, § 305b, Rn. 5 m.w.N. 51 In: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2004, Vorbemerkung zu §§ 127a, 128 BeurkG, Rn. 665. 52 In: Hachenburg, GmbHG, 8. Auflage 1992, § 15, Rn. 68. 50

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war nicht zu finden. Lediglich zu den Heilungswirkungen des Vollzugs eines Grundstückskaufes 53 hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass durch solchen Vollzug nicht nur der Verstoß gegen § 311b Abs. 1 S. 1 BGB, sondern auch ein Verstoß gegen andere Formerfordernisse geheilt werde, wenn und soweit deren Schutzzwecke von denen der gesetzlichen Form mit umfasst sind 54. Diese Auffassung hat auch in der Literatur Zustimmung gefunden 55, wobei die Erstreckung der Heilungswirkung auf vertragliche Formerfordernisse allerdings teilweise generell verneint wird 56. Weiteres fand sich nicht. Es lohnt also, dieser Frage insbesondere mit Blick auf den share deal nachzugehen. 2.3 Es leuchtet ein, dass eine Heilung fehlender Form nur dann und nur insoweit erfolgen kann, als der Akt der Heilung dem Zweck der Formvorschrift genügt oder aber die Beachtung der Form obsolet macht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Beurkundungserfordernisse und andere, gesetzliche oder gewillkürte Formvorschriften durchaus unterschiedliche Zwecke verfolgen können. Der Beurkundungszwang nach § 311 b Abs. 1 S. 2 BGB soll die Parteien auf die Bedeutung des Rechtsgeschäfts hinweisen und vor einzelnen übereilten Verpflichtungen schützen (Warnfunktion); er soll zugleich den Beweis der getroffenen Vereinbarung sichern (Beweisfunktion), die Gültigkeit des Rechtsgeschäfts gewährleisten (Gültigkeitsgewähr) und eine sachgerechte Beratung der Parteien sicherstellen (Beratungsfunktion) 57. Zweck der Formvorschrift des § 15 Abs. 4 S. 1 GmbHG ist es hingegen nach ganz überwiegender Meinung, der sich der BGH angeschlossen hat 58, den leichten und spekulativen Handel mit GmbH-Anteilen zu verhindern oder doch zu erschweren 59. Ist der Anteil dinglich übertragen, der zu verhindernde oder zu erschwerende Handel also vollzogen, so ist der Formzweck zwar nicht erreicht, er hat sich aber erledigt 60. Mögen mit dem Formerfordernis nach § 15 Abs. 1 S. 1 GmbHG auch andere Schutzzwecke mit verfolgt werden, wie der Schutz der Beteiligten vor übereilten Entscheidungen 61 und die Klarheit des Rechtsverkehrs 62, so ist 53

§ 311b Abs. 1 S. 2 BGB. BGH NJW 78, 1577 f. 55 Vgl. Wufka, in: Staudinger, BGB, 13. Auflage 1995, § 313, Rn. 280. 56 Kanzleiter, in: Münchener Kommentar, BGB, 2003, § 311 b, Rn. 84; Grüneberg, in: Palandt, BGB, 65. Auflage, § 311 b, Rn. 55; Griwotz, in: Erman, BGB, 11. Auflage, 2004, § 311b, Rn. 79. 57 Vgl. Heinrichs, in: Palandt, BGB, 65. Auflage, § 311b, Rn. 2. 58 Vgl. BGHZ 127, 129, 135 m.w.N. 59 S. oben Abschnitt I, 1. 60 BGH, a.a.O., S. 136. 61 Vgl. Lutter/Bayer, in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Auflage 2004, § 15, Rn. 1 m.w.N. 62 Altmeppen, in: Roth/Altmeppen, GmbHG, 4. Auflage 2002, § 15, Rn. 69. 54

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jedenfalls die Beweis- und Klarstellungsfunktion in Bezug auf den Inhalt der getroffenen Vereinbarungen jedenfalls nicht primärer Zweck des Beurkundungszwangs. Für diesen letzteren Zweck würde das Erfordernis der einfachen Schriftform genügen. Der Zweck der qualifizierten Schriftformklausel insbesondere in komplexen Unternehmenskaufverträgen unterscheidet sich von diesem Zweck der Beurkundung gemäß § 15 Abs. 4 S. 1 GmbHG hingegen im Regelfalle maßgeblich. Über die Beweis- und Klarstellungsfunktion hinaus dient er vor allem auch dazu, Rechts- und Vertragssicherheit in Bezug auf den Inhalt und Umfang der von den Parteien vereinbarten Rechte und Pflichten zu schaffen, um Streitigkeiten hierüber zu vermeiden. Dieser Zweck würde verfehlt, wenn einer Partei der Beweis dafür ermöglicht würde, dass ergänzende mündliche oder konkludente Nebenabreden getroffen wurden. Hinzu kommt, dass die Vertragsparteien eine vollständige Dokumentation ihrer Vereinbarungen häufig auch für Zwecke kartellrechtlicher Genehmigungen, steuerliche Zwecke und zur Vorlage bei ihren Aufsichtsgremien benötigen oder aber jedenfalls wünschen. Die vereinbarte qualifizierte Schriftform will also grundsätzlich ausschließen, dass sich eine Vertragspartei auf angebliche Abreden außerhalb der Vertragsurkunde beruft; anderenfalls wäre der Zweck der gewillkürten Form – Schaffung von Rechts- und Vertragssicherheit im Hinblick auf Inhalt und Umfang der vertraglichen Rechte und Pflichten – verfehlt. So ist denn die Vollständigkeitsgewähr der Urkunde wesentlicher Zweck des gewillkürten Schriftformerfordernisses. Dies gilt gerade auch bei umfänglichen Unternehmenskaufverträgen. Der primäre Zweck der Beurkundungspflicht nach § 15 Abs. 4 S. 1 GmbHG (Erschwerung des spekulativen Handels mit GmbHAnteilen, Nachweis der Gesellschafterstellung) deckt sich also gerade nicht mit dem Zweck einer gewillkürten Schriftformklausel (Vollständigkeitsgewähr) und umfasst diesen auch nicht. Angesichts dieser Zweckdivergenz wird offenbar, dass der Akt der Heilung durch Vollzug der Anteilsabtretung mündliche Nebenabreden und schlüssiges Verhalten bei vereinbarter Schriftform nicht sanktioniert; die Beachtung der vereinbarten qualifizierten Schriftform bleibt vielmehr Wirksamkeitserfordernis für nicht beurkundete Nebenabreden. Denn weder genügt der Akt der Heilung durch beurkundete Abtretung dem Zweck der vereinbarten Schriftform noch macht er die Beachtung dieses Zwecks obsolet.

IV. Ergebnis und Empfehlung Verträge über den Verkauf von Unternehmen in der Form der Übertragung von GmbH-Geschäftsanteilen, share deals, sind häufig das Ergebnis langwieriger und schwieriger Verhandlungen. Sie enthalten zahlreiche, auf

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komplexe Weise verbundene und in sorgfältig austariertem gegenseitigem Zusammenhang stehende Klauseln. Das gilt insbesondere für die Bemessung und Adjustierung des Kaufpreises, für Regeln und Ausnahmen gewährter Garantien und für das Haftungsregime. Der eilige und spekulative Handel mit GmbH-Geschäftsanteilen ist risikoreich und unerwünscht. Der deutsche Gesetzgeber hat deswegen in § 15 GmbHG sowohl für das Verpflichtungsgeschäft wie auch für den Vollzug des Anteilskaufs durch Abtretung notarielle Beurkundung angeordnet. Dieser Formzwang umfasst die Gesamtheit der Vereinbarungen einschließlich aller Nebenabreden, soweit sie sich auf die Anteilsübertragung beziehen. Missachtung der Form führt zur Nichtigkeit der jeweiligen vertraglichen Abrede, also sowohl des obligatorischen Geschäfts wie des dinglichen Vollzugs. Der Berufung auf die Formnichtigkeit kann nur in seltenen Ausnahmefällen der Einwand unzulässiger Rechtsausübung entgegengehalten werden, dann nämlich, wenn die Konsequenzen der Nichtigkeit schlechthin unerträglich erscheinen. Soweit herrscht Einigkeit. Allerdings – und auch das ist offenkundig (§ 15 Abs. 4 S. 2 GmbHG) und unbestritten – wird der Mangel der für das Verpflichtungsgeschäft vorgeschriebenen urkundlichen Form durch den formgerechten, also beurkundeten Vollzug der Anteilsabtretung geheilt. Diese Heilungswirkung ist im Grundsatz umfassend; sie bezieht sich also nicht nur auf die in privatschriftlich niedergelegter Urkunde getroffenen, oft sorgfältig verhandelten und überarbeiteten Absprachen, sondern auch auf jegliche sonstige, auch beiläufige mündliche oder gar durch konkludentes Verhalten zustande gekommene Nebenabreden. Voraussetzung ist lediglich, dass die Parteien bei Abtretungsvollzug noch am Inhalt ihrer Vereinbarungen, einschließlich der „nebenbei“ getroffenen, festhalten. Der umfassende Heilungseffekt birgt erhebliche Risiken. Jede beiläufige Übereinkunft, jede Anmerkung zum Vertrag, die etwa zu später Nacht oder beim Gang zum Closing mit Kopfnicken quittiert wird, wird durch Beurkundung der Abtretung zum wirksamen Vertragsteil. Natürlich muss im Streitfall eine solche beiläufige, möglicherweise fast gedankenlose Übereinkunft bewiesen werden. Die Aussage eines Beobachters aus dem Lager der begünstigten Partei kann hier ausreichen. Der Gegenbeweis dafür, dass die Parteien von einer (vielleicht kaum bewusst gewordenen) Nebenabrede wieder Abstand genommen haben, ist weit schwieriger zu führen. Um derartige Verwerfungen der bedacht ausgehandelten Transaktionsstrukturen eines Unternehmenskaufvertrages zu verhindern, vereinbaren die Parteien in der Regel Schriftform für Vertrag und dessen Änderung. Damit ist die „Heilungsfalle“ aber nur bedingt zu entschärfen. Die einfache Schriftformklausel, also die Abrede, Änderungen und Ergänzungen des Vertrages bedürften der Schriftform, hat keinen Anti-Heilungseffekt. Das gleiche gilt für die oft verwendete „Entire Agreement“-Klausel,

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nach der der schriftliche Vertrag alle getroffenen Vereinbarungen enthalte und darüberhinaus keine, insbesondere keine mündlichen Vereinbarungen zwischen den Parteien wirksam seien. Denn sowohl die eine wie die andere dieser Klauseln kann durch die Parteien unter Inanspruchnahme ihrer Vertragsfreiheit mündlich oder auch stillschweigend durch formlose Zusatzabreden aufgehoben werden. Wollen die Parteien nämlich von dem von ihnen selbst solcherart gesetzten Formzwang und von der zuvor verabredeten Vollständigkeitserklärung bewusst abweichen, so können sie das tun. Voraussetzung ist selbstverständlich, dass dies feststellbar ihrem gemeinsamen Willen entspricht. Die einfache Schriftformklausel bewirkt also allenfalls einen verschärften Prüfungsmaßstab und eine gesteigerte Zurückhaltung bei der Feststellung eines vom Vertragsdokument abweichenden Vereinbarungsinhaltes und des dieser Nebenabrede zugrunde liegenden Parteiwillens. Das Zustandekommen mündlicher oder auch konkludent getroffener Nebenabreden verhindert sie nicht. Ist aber eine solche Nebenabrede von den Parteien gewollt, dann wird sie Teil des Vertragsinhalts; die gewillkürte Form ist, da aufgehoben, nicht verletzt. Die Frage, ob die Heilungswirkung des § 15 Abs. 4 S. 2 GmbHG den Verstoß gegen die gewillkürte einfache Schriftform heilt, stellt sich also gar nicht. Vielmehr wird durch Beurkundung der Abtretung der Geschäftsanteile der Mangel der gesetzlichen Form des (die Nebenabrede umfassenden) obligatorischen Geschäfts geheilt; die mündliche oder konkludent vereinbarte Zusatzabsprache wird ebenso wie der zuvor privatschriftlich niedergelegte oder auch beurkundete Kaufvertrag im Übrigen ex nunc rechtswirksam. Etwas anders gilt bei Vereinbarung einer qualifizierten (doppelten) Schriftformklausel, einer Formabrede also, die nicht nur die Vertragsänderung an sich, sondern auch die Aufhebung des gewillkürten Formzwanges unter Formvorbehalt stellt. Die Einigung der Parteien auf eine solche qualifizierte Klausel belegt, dass die Parteien sich im besonderen Maße und zur Gewährleistung der Klarheit und Sicherheit in ihren rechtlichen Beziehungen der Selbstbindung unterworfen haben. Unter diesen von den Parteien formulierten und verabredeten Umständen verliert der Grundsatz der Vertragsfreiheit seine vorrangige Bedeutung. Denn gerade im Hinblick auf die Vertragsfreiheit ist die bewusst gewollte, strenge Formbindung strikt einzuhalten; dies umso mehr, als eine Vertragsergänzung unter Beachtung der vereinbarten Form in der Regel ohne weiteres möglich bleibt. Vor allem aber ist zu beachten: § 125 S. 2 BGB dekretiert im Zweifel Nichtigkeit als Folge der Missachtung der gewillkürten Form. Soll dieser Bestimmung überhaupt ein Regelungsgehalt zugemessen werden, dann kann die bewusste, erst recht die unbewusste Negierung einer mit besonderem Nachdruck versehenen, deswegen qualifizierten Schriftformklausel nicht zur wirksamen Vertragsergänzung führen. Es gilt hier vielmehr der von den Beteiligten ausdrücklich

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Klaus-A. Gerstenmaier

gewollte Vorrang der Formabrede vor der Privatautonomie, und zwar – anders als vom Bundesgerichtshof vertreten – unabhängig davon, ob es sich um ein Rechtsgeschäft unter Kaufleuten handelt oder nicht. Weshalb sollte sich auch ein geschäftserfahrener, kaufmännisch organisierter Unternehmer wirksamer gegen die Risiken der Übervorteilung durch beiläufige Vertragsänderungen schützen dürfen, als ein regelmäßig weniger versierter privater Teilnehmer am Rechtsverkehr? Bleibt eine mündliche oder sonst formlose Nebenabrede unter dem Regime einer qualifizierten Schriftformklausel somit unwirksam, so muss jedenfalls für share deals entschieden werden, ob die durch Gesetz bewirkte Heilung des Mangels der (notariellen) Form des Anteilskaufvertrages auch die Nichtigkeit beseitigt, die sich gemäß § 125 S. 2 BGB als Folge der Missachtung der gewillkürten qualifizierten Schriftform ergibt. Einschlägige Rechtsprechung zu dieser Frage existiert soweit ersichtlich nicht. Es hat sich gezeigt, dass die durch Gesetz bewirkte Heilung des Mangels der gesetzlichen Form ihre plausible Rechtfertigung in dem Umstand findet, dass nach wirksamem Vollzug der Anteilsabtretung ein Schutz vor spekulativem Handel mit GmbH-Anteilen, der Hauptzweck der für den Kauf angeordneten notariellen Form, nicht mehr nötig und auch nicht mehr möglich ist. Für die freiwillig vereinbarte qualifizierte Schriftform lässt sich solche Zweckerreichung durch Vollzug allerdings nicht feststellen. Denn der Zweck der von den Parteien verhandelten und niedergelegten qualifizierten Schriftform unterscheidet sich notwendigerweise von dem der gesetzlichen Form; sonst wäre die Parteiabrede sinnlos und überflüssig. Beweis- und Klarstellungsfunktion der Schriftform ist gewünscht; vor allem aber dient die Klausel dazu, Rechts- und Vertragssicherheit über Umfang und Inhalt der vereinbarten Rechte und Pflichten zu schaffen und sämtliche Abreden vollständig zu dokumentieren. Insbesondere diese Vollständigkeitsgewähr ist – gerade bei komplexen share deals – wesentlicher Zweck der qualifizierten Schriftform. Es ist offenkundig – und die Klausel ist vernünftigerweise nicht anders zu verstehen – dass die Parteien die Risiken nicht in schriftlicher Urkunde niedergelegter bindender Absprachen vermeiden und sich allein auf dokumentierte Vereinbarungen einlassen wollten. Ist aber dieser Zweck durch den Vollzug der Anteilsabtretung gerade nicht erreicht, so erstreckt sich die Heilungswirkung gemäß § 15 Abs. 4 S. 2 GmbHG auch nicht auf die Missachtung der qualifizierten Schriftform. Mündliche Nebenabreden oder schlüssiges Verhalten in Bezug auf kaufvertragliche Vereinbarungen bleiben gemäß § 125 S. 2 BGB nichtig. Es zeigt sich: Das unerwünschte Inkrafttreten formloser, fast beiläufig oder gar gedankenlos verabredeter Vertragsergänzungen, eine Heilung also quasi gegen den Willen der betroffenen Vertragsparteien und unter Missachtung der verabredeten Vollständigkeitsgewähr der Vertragsurkunde, kann nur durch eine qualifizierte Schriftformklausel unterbunden werden. Sie ist

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gerade bei differenzierten, umfangreichen und sorgfältig verhandelten Verträgen über den Verkauf von GmbH-Geschäftsanteilen dringend anzuraten; nur dann kann die Gefahr vermieden werden, aus mündlichen oder gar durch schlüssiges Verhalten zustande gekommenen, formlosen Nebenabsprachen in Anspruch genommen zu werden. Eine einfache Schriftformklausel hilft gegen die unerwünschte Heilung nicht.

Der Unternehmenswert bei Erb- und Vermögensnachfolge Ekkehard Hagedorn I. Einleitung 1. Gehört ein Unternehmen oder eine Unternehmensbeteiligung zu einem Nachlass, resultieren aus den betroffenen Rechtsbeziehungen in der Praxis regelmäßig erhebliche Interessen- und Zielkonflikte. Auf der Gesellschafterebene geht es um die Frage der Fortsetzung des Gesellschaftsverhältnis mit dem oder den Erben. Regelungsbedarf gibt es darüber hinaus unter den gesetzlichen oder gewillkürten Rechtsnachfolgern des Erblassers insbesondere dann, wenn es nicht zu einer gleichberechtigten Nachfolge kommt. Ferner sind die Interessen der Gesellschaft selbst betroffen, wenn sie mit Abfindungsansprüchen ausgeschiedener Nachfolger konfrontiert wird, und schließlich ist auch der Steuerfiskus als Gläubiger der durch die Erbschaft Begünstigten stets mit von der Partie. Immer dann, wenn sich die Rechte eines Nachlassbeteiligten nicht in der unternehmerischen Beteiligung selbst fortsetzen, wenn es somit um auf Geld gerichtete Ausgleichs-, Abfindungs- oder gesetzliche Ansprüche auf Teilhabe am Nachlass eines Unternehmers geht, stellt sich die Frage des Unternehmenswertes. Vorgenannte Ansprüche sind aber nicht nur beim Erbfall, sondern regelmäßig auch bei vorweggenommener Unternehmensnachfolge zu berücksichtigen. 2. Im Gegensatz zu sonstigem Vermögen ist betriebliches Vermögen dadurch gekennzeichnet, dass es gebunden ist. Die Verfügbarkeit über einen Betrieb und einzelne dem Betrieb zugehörige Wirtschaftsgüter ist beschränkter als bei betrieblich ungebundenem Vermögen. Aus diesem Umstand, der seinen Ausdruck in besonderen Finanzierungsproblemen findet, hat das Bundesverfassungsgericht unter Hinweis auf den Gleichheitssatz des Art. 3 GG eine verminderte Leistungsfähigkeit der Erben abgeleitet. Der Staat habe bei der Erhebung von Steuern die Tatsache zu berücksichtigen, dass Erben einen Betrieb weiterführen, ihn also weder veräußern noch aufgeben, sondern in seiner Sozialgebundenheit aufrechterhalten.1 1

BVerfGE 93, 165, 176.

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Das Problem der beschränkten Verfügbarkeit bei betrieblich gebundenem Vermögen stellt sich aber nicht nur bei der Erbschaftsteuer, sondern im besonderen Maße auch dann, wenn aus betrieblichem Vermögen durch den Erbfall bedingte zivilrechtliche, insbesondere Pflichtteilsansprüche, zu befriedigen sind. Fehlt es nämlich an ausreichendem privaten, betrieblich ungebundenen Vermögen, was insbesondere bei kleinen und mittleren (Familien-)Unternehmen sehr oft der Fall ist, führen aus dem Unternehmen zu befriedigende Erbansprüche zu einer Reduzierung der Eigenkapitalquote, oftmals zu Liquiditätsschwierigkeiten und erfordern im Extremfall die Aufgabe des Unternehmens. Ob die vom Bundesverfassungsgericht anerkannte Grenze der verminderten Leistungsfähigkeit erreicht oder gar überschritten wird, hängt entscheidend davon ab, nach welchem Maßstab sich der Wert des Unternehmens oder der Beteiligung bemisst. Kommen die grundsätzlichen Bewertungsregeln des Zivil- und Gesellschaftsrechts zur Anwendung, ist der Verkehrswert, der „volle Wert“ zu vergüten. Demgegenüber hat der Gesetzgeber im Steuerrecht mit Rücksicht auf die geminderte Leistungsfähigkeit zum Schutz der Unternehmen weit gehende Bewertungsprivilegien geschaffen und dabei, wie es scheint, in verfassungsrechtlicher Hinsicht den Bogen überspannt.2 Folge der Maßnahmen des Gesetzgebers ist auch, dass vererbtes Betriebsvermögen beim Erbschaftsteueraufkommen kaum noch eine Rolle spielt.3 In diesem Beitrag soll die Bedeutung des Unternehmenswertes bei Erbund Vermögensnachfolge beleuchtet werden, und zwar zunächst die gesetzlichen Vorgaben (II), sodann, da es weitgehend um dispositives Recht geht, die rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten und deren Grenzen (III), um schließlich – vor zusammenfassenden Schlussbetrachtungen (V) – einen Blick auf die derzeit auf dem Prüfstand befindlichen steuerrechtlichen Vorschriften über die Bewertung betrieblichen Vermögens zu werfen (IV).

II. Gesetzliche Rahmenbedingungen 1. Erbrechtliche Unternehmensbewertungsanlässe Die Anlässe für Unternehmensbewertungen können sich aus gesetzlichen Vorschriften, aus vertraglichen Vereinbarungen oder aus sonstigen Gründen ergeben. In der erbrechtlichen Praxis gibt es unter anderem die nachstehend 2 Der BFH (BStBl II 2002, 598) hat angesichts der Privilegierung von Betriebs- und Grundvermögen gegenüber sonstigem Vermögen Zweifel an der Vereinbarkeit mit dem Gleichheitsgrundsatz und eine Normenkontrolle gemäß Art. 100 GG beim BVerfG beantragt. 3 Gemäß Erbschaftssteuerstatistik 2002 hatte Betriebsvermögen zuletzt nur noch einen Anteil von 8 % am Wert aller Nachlassgegenstände.

Der Unternehmenswert bei Erb- und Vermögensnachfolge

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angeführten Konstellationen, bei denen sich die Frage nach dem Unternehmenswert stellt. a) Bei Teilungsanordnungen (§ 2048 BGB) können sich Bewertungsprobleme dann ergeben, wenn mehrere Erben zu gleichen Teilen eingesetzt sind und einem von ihnen eine Unternehmensbeteiligung zugewiesen wird, die wertmäßig nicht der Erbquote entspricht und der Mehrwert dem begünstigten Erben nicht als Vorausvermächtnis verbleiben soll. In diesem Falle haben Miterben einen Ausgleichsanspruch, dessen Höhe sich nach dem Unternehmenswert, der mit dem objektiven Verkehrswert 4 anzusetzen ist, richtet. b) Auch dann, wenn ein Vorerbe über einen Unternehmensanteil verfügt oder gegen eine Abfindungszahlung aus einem Unternehmen ausscheidet, stellt sich die Frage des wahren Unternehmenswertes, denn eine solche Verfügung ist dem Nacherben gegenüber dann relativ unwirksam, wenn die Verfügung auch nur teilweise unentgeltlich erfolgt, wenn somit die Gegenleistung nicht den Verkehrswert der Beteiligung erreicht.5 c) In der Praxis mit Abstand die größte Bedeutung unter den erbrechtlich bedingten Anlässen für eine Unternehmensbewertung ergibt sich aus dem Pflichtteilsrecht. Wenn sich der Kreis der vom Erblasser eingesetzten Erben nicht mit dem der Pflichtteilsberechtigten deckt, werden in der Regel Pflichtteilsansprüche dann geltend gemacht, wenn Zuwendungen aus dem Nachlass – etwa durch Vermächtnisse – gänzlich unterbleiben oder aber deren Wert den des Pflichtteils nicht erreichen. Bei der Berechnung des Pflichtteils ist gemäß § 2311 Abs. 1 BGB der Wert des Nachlasses zum Zeitpunkt des Erbfalls zugrundezulegen und wenn ein Unternehmen oder eine Beteiligung an einem solchen zum Nachlass gehört, ist der „wirkliche Wert“ in Ansatz zu bringen.6 Im Zusammenhang mit dem Pflichtteilsrecht hat der Gesetzgeber ausdrücklich vorgegeben, dass der Wert durch Schätzung zu ermitteln ist (§ 2311 Abs. 2 BGB). Lediglich im öffentlichen Interesse am Erhalt leistungsfähiger landwirtschaftlicher Betriebe ist in § 2312 BGB bei Übernahme eines Landgutes eine Sonderregelung getroffen. Im Übrigen hat sich der Richter an den von der Betriebswirtschaftslehre entwickelten Methoden zu orientieren und mit sachverständiger Unterstützung im Einzelfall zu entscheiden, welche im jeweiligen Einzelfall anzuwenden ist.7 Dem Erblasser ist es nicht nur versagt, in Gänze das Pflichtteilsrecht zu entziehen, wie das Bundesverfassungsgericht erst kürzlich bestätigt hat,8 der 4 5 6 7 8

Palandt BGB, 65. Aufl., § 2048, Rn. 9. BGH NJW 1984, 362. Lange in: Münchener Kommentar, 4. Aufl., § 2311, Rn. 25, BGH WM 1986, 234. Haas in: Staudinger (1998), § 2311, Rn. 69 m.w.N. Beschluss des BVerfG vom 19.04.2005, NJW 2005, 1561.

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Gesetzgeber hat ihm in § 2311 Abs. 2 BGB sogar jedweden Einfluss auf die Wertbestimmung entzogen. Es gibt durchaus in der Literatur diskutierte Pflichtteilsvermeidungs- und -reduzierungsstrategien,9 Gesetz und Rechtsprechung schützen jedoch die Interessen des Pflichtteilsberechtigten in hohem Maße. So kann ein Unternehmer Pflichtteilsansprüche nicht etwa dadurch vermeiden oder reduzieren, dass er sein Unternehmen oder Teile desselben zu Lebzeiten unentgeltlich auf einen Nachfolger überträgt. Für solche Schenkungen sieht § 2325 BGB Pflichtteilsergänzungsansprüche vor, bei denen der Wert der Unternehmensbeteiligung in gleicher Weise in Ansatz zu bringen ist wie bei Übertragung von Todes wegen, es sei denn, zur Zeit des Erbfalls seien 10 Jahre seit der Leistung des verschenkten Gegenstandes verstrichen (§ 2325 Abs. 3 BGB). 2. Gesellschaftsrechtliche Bewertungsvorschriften War der Erblasser an einem Unternehmen beteiligt, kommt es bei seinem Tode aufgrund von gesellschaftsvertraglichen Regelungen oder letztwilligen Verfügungen häufig zu einem Ausscheiden aus der Gesellschaft oder es sind nicht alle Erben zur Nachfolge berufen. In diesen Fällen bestehen regelmäßig Abfindungs- oder Ausgleichungsansprüche, deren Höhe sich nach dem Wert des Unternehmens bemisst. Die gesetzliche Regelungen hierzu sind äußerst spärlich. a) Personengesellschaften Während für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts unverändert die Grundregel gilt, dass eine Gesellschaft durch den Tod eines Gesellschafters aufgelöst wird, sofern nicht aus dem Gesellschaftsvertrag sich ein anderes ergibt (§ 727 BGB), ist seit dem am 01.07.1998 in Kraft getretenen Handelsrechtsreformgesetz bei Personenhandelsgesellschaften die Fortführung der Gesellschaft unter Ausscheiden des verstorbenen Gesellschafters die Grundregel (§ 131 Abs. 3 Nr. 1 HGB), die gemäß § 161 Abs. 2 HGB auch für den persönlich haftenden Gesellschafter einer Kommanditgesellschaft gilt. Demgegenüber bestimmt § 177 HGB für den Tod des Kommanditisten, dass die Gesellschaft mangels abweichender vertraglicher Bestimmung mit den Erben fortgesetzt wird. Kommt es mangels abweichender gesellschaftsvertraglicher Regelung zu einem Ausscheiden aus der Gesellschaft, verweist § 105 Abs. 3 HGB auf die

9 Vgl. Winkler ZEV 2005, 89, der insofern u.a. Pflichtteilsverzicht, Ausstattung statt Schenkung, Güterstandsregelungen und ehevertragliche Vereinbarungen sowie gesellschaftsvertragliche Abfindungsklauseln anspricht.

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Bestimmungen für die Gesellschaft bürgerlichen Rechts und damit auch auf § 738 BGB. Nach dieser Regelung hat die Gesellschaft dem Ausscheidenden dasjenige zu zahlen, was er erhalten würde, wenn die Gesellschaft zum Zeitpunkt des Ausscheidens aufgelöst worden wäre. Die Rechtsprechung setzt sich jedoch seit jeher über die von § 738 BGB vorgegebene Fiktion der Gesellschaftsauflösung hinweg und legt nicht etwa den Liquidations-, sondern den Fortführungswert des Unternehmens zugrunde.10 b) Kapitalgesellschaften Im Gegensatz zu Personengesellschaften, bei denen Sonderrechtsnachfolge gilt, fällt ein GmbH-Anteil in den Nachlass (§ 15 Abs. 1 GmbHG) und mehrere Erben werden Inhaber desselben zur gesamten Hand. Die Frage des Unternehmenswertes stellt sich dann, wenn in der Satzung ein Ausscheiden angeordnet wird, etwa der Gestalt, dass der ererbte Geschäftsanteil abzutreten oder dessen Einziehung angeordnet ist. Für die Bemessung eines Abfindungsanspruchs enthält das GmbH-Gesetz keine Regelung. Allgemein anerkannt ist in Rechtsprechung und Schrifttum, dass nach dem Verkehrswert abzufinden ist.11 Ist eine Beteiligung an einer Aktiengesellschaft Gegenstand des Nachlasses, setzen sich die Rechte daran in der Hand des oder der Erben fort. Sind mehrere Erben vorhanden, obliegt ihnen lediglich die Verpflichtung zur Bestellung eines gemeinschaftlichen Vertreters, der die Rechte aus der Aktie ausübt (§ 69 Abs. 1 AktG). Der Verkehrswert einer Aktiengesellschaft wird, soweit existent, vorrangig von dessen Börsenwert bestimmt, ersatzweise ist der Ertragswert zu ermitteln. Bewertungsrechtliche Fragen in Bezug auf Aktiengesellschaften stellen sich in der Praxis überwiegend aus Anlass gesellschaftsrechtlicher Umstrukturierungen.12 3. Bewertungsprobleme in der Praxis Wenn im Bereich der Erb- und Vermögensnachfolge der Wert eines Unternehmens auf der Grundlage gesetzlicher Bestimmungen zu ermitteln ist, gilt einheitlich der Grundsatz, dass der Verkehrswert der Beteiligung zugrunde zu legen ist, der vermeintlich „wahre Wert“. Vermeintlich deshalb, weil sich hinter diesem Begriff eine Fülle von Problemen verbirgt, die für die Praxis

10

Vgl. Großfeld, Unternehmens- und Anteilsbewertung, 4. Aufl., S. 4 f. Vgl. Baumbach/Hueck GmbHG, 17. Aufl., § 34, Rn. 19. 12 Die Rechtsprechung rückt den Börsenkurs immer mehr in den Vordergrund, wohingegen er nach IDW S 1 (Tz 14 f.) nur zur Plausibilitätsbeurteilung herangezogen wird; vgl. auch Großfeld, a.a.O. (Fn 10), S. 180 ff.; Zur Diskussion „Börsenwert und Verkehrswert“ s.a. Stiltz, ZGR 2001, 875. 11

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eine große Herausforderung bedeuten. Angesichts der erheblichen Bewertungsspielräume und keineswegs gefestigter Rechtsprechung bestehen erhebliche Einschätzungsrisiken. Lediglich über den Grundsatz besteht Einigkeit: bei der Anteilsbewertung ist der wirkliche Wert des lebenden Unternehmens als wirtschaftliche Einheit unter Berücksichtigung der stillen Reserven und unter Aktivierung des Firmenwertes zu ermitteln.13 Es hat sich bei den Gerichten die Auffassung durchgesetzt, dass es nicht möglich ist, den exakten oder „wahren“ Unternehmenswert bezogen auf einen bestimmten Stichtag zu ermitteln. Dies deshalb, weil es sich bei allen betriebswirtschaftlichen Ansätzen jeweils um Verfahren handelt, die subjektive Einschätzungen und Prognosen zur Grundlage haben. Der Bundesgerichtshof hat schon 1983 festgestellt, dass „es verbindliche oder auch nur allgemein anerkannt Grundsätze für die Ermittlung des Wertes eines lebenden Unternehmens (und damit auch eines Anteils) nicht gibt“. Die Gerichte haben daher Zuflucht zur Bestimmung des § 287 Abs. 2 ZPO genommen und begnügen sich mit dem Anspruch, eine „angemessene Abfindung oder Ausgleichszahlung“ zu schätzen.14 Größere Unwägbarkeiten als bei der Bewertung von Unternehmen gibt es wohl nur bei in einen Nachlass gefallenen Kunstgegenständen, bei denen die Bewertung sich „nur ganz am Rande nach objektiven Kriterien“ richtet.15 Für die anwaltliche Praxis bedeutet diese Rechtslage zwar eine erhebliche Unsicherheit, gleichzeitig aber auch ein erhebliches Maß an Einflussmöglichkeit, indem dem jeweiligen Spruchkörper die geeigneten Schätzgrundlagen – verbunden mit einer belastbaren Argumentation – zur Verfügung gestellt werden. Im Hinblick auf diese Rechtslage haben betroffene Unternehmen oder natürliche Personen, die einem erbfallbedingten, aus betrieblichem Vermögen zu befriedigen Zahlungsanspruch ausgesetzt sind, nicht nur das Problem zu bewältigen, ungeachtet des Gebundenseins des Vermögens den vollen Wert einer Beteiligung – und zwar in einer Einmalzahlung 16 – aufzubringen, sie sehen sich auch dem Risiko ausgesetzt, die Höhe des Anspruchs angesichts der skizzierten Unwägbarkeiten kaum einschätzen zu können. Aus diesem Grunde sind im Rahmen des rechtlich Möglichen zur Herabsetzung der Risiken rechtgestaltende Regelungen zu treffen, aber auch insofern gibt es Unwägbarkeiten und Grenzen.

13

BGH ZIP 2002, 1144, 1149; Lange, a.a.O. (Fn 6), § 2311, Rn. 25. BGH ZIP 2001, 734, 736; das OLG Stuttgart (DB 2003, 2429) hat in einem aktienrechtlichen Spruchverfahren die richterliche Schätzung gemäß § 287 Abs. 2 ZPO sogar mit der Verkürzung der Verfahrensdauer gerechtfertigt (siehe hierzu auch Stilz, ZGR 2001, 875). 15 OLG Köln NJW 2006, 626. 16 Ausnahmsweise kann der selbst pflichtteilsberechtigte Erbe gemäß § 2331a BGB bei Vorliegen eines Härtefalls Stundung des Pflichtteilsanspruchs verlangen. 14

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III. Gestaltungsmöglichkeiten und deren Grenzen Der Gesetzgeber kennt, wie die obigen Ausführungen gezeigt haben, kein Pardon: Im Zweifelsfalle hat der weichende Erbe oder der Pflichtteilsberechtigte einen sofort fälligen Abfindungsanspruch auf der Grundlage des vollen Wertes des Unternehmens. Die vom Bundesverfassungsgericht zum Steuerrecht getroffene Feststellung, dass bei betrieblichem Vermögen „die finanzielle Leistungsfähigkeit des Erben nicht seinem durch den Erbfall erworbenen Vermögenszuwachs voll entspricht“ 17 – seine verminderte Leistungsfähigkeit – spielt zivilrechtlich keine Rolle. Ob dies ein verfassungsrechtlich angreifbarer Wertungswiderspruch ist, soll hier nur als Frage aufgeworfen werden. Da die Gesetzeslage allgemein als unbefriedigend empfunden wird und wir es mit dispositivem Recht zu tun haben, werden in der Praxis weitgehend abweichende Regelungen getroffen. Möglichkeiten hierzu gibt es zum einen auf der erbrechtlichen und zu anderen auf der gesellschaftsrechtlichen Ebene. In der Praxis gilt es sicherzustellen, beide Ebenen aufeinander abzustimmen. Erbrechtliche Regelungen – sowohl testamentarische als auch erbvertragliche – sind mit vorrangigen gesellschaftsvertraglichen Bestimmungen in Übereinstimmung zu bringen. 1. Erbrechtliche Einflussmöglichkeiten a) Einseitige Regelungen Im seinem Testament kann ein Unternehmer durchaus unter Zugrundelegung bestimmter Werte eine Verteilung seines Vermögens anordnen und auf einer solchen Grundlage bestimmte Ausgleichszahlungen anordnen. Das Pflichtteilsrecht ist und bleibt jedoch die Grenze der Testierfreiheit. Wegen der Bestimmung des § 2311 BGB kann der Erblasser zu Lasten des Pflichtteilsberechtigten beispielsweise nicht verbindlich anordnen, dass der Bemessung seines Anspruchs der Buchwert einer Beteiligung zu Grunde zu legen ist. Wertbestimmungen können allerdings die Bedeutung einer Teilungsanordnung haben, aber nur, soweit der Pflichtteilsanspruch nicht verkürzt wird 18. Es ist stets zu gewärtigen, dass der Pflichtteilsberechtigte Verfügungen zu seinen Gunsten ausschlägt und den Pflichtteil verlangt, und damit z.B. auch etwaige testamentarisch angeordnete Zahlungsmodalitäten gegenstandslos macht.

17 18

BVerfGE 93, 165, 176. Haas, a.a.O. (Fn 7), § 2311, Rn. 56; Palandt, a.a.O. (Fn 4), § 2311, Rn. 9.

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b) Vertragliche Regelungen Einen Erbfall bedingten Widerstreit der Interessen kann ein Unternehmer im Voraus bewältigen, wenn es ihm gelingt, unter Einbeziehung derjenigen, denen anlässlich des Erbfalls Ansprüche zustehen können, verbindliche Absprachen zu treffen. Angesprochen ist damit der in der Praxis bedeutende Bereich der vorweggenommen Unternehmensnachfolge. Der Unternehmenswert spielt in diesem Zusammenhang deshalb eine große Rolle, weil daran Ausgleichs- und Abfindungsansprüche von denjenigen, die nicht zur Unternehmensnachfolge berufen sind, festgemacht werden. Dass durch umfassende Unternehmensnachfolgeregelungen sowohl für den oder die zur Nachfolge Berufenen als auch das Unternehmen, das in der nächsten Generation fortgeführt werden soll, Planungssicherheit geschaffen wird und der Leistungsfähigkeit des Unternehmens in angemessenem Umfange Rechnung getragen werden kann, zählt zu den vorrangigen Zielen der vorweggenommenen Unternehmensnachfolge. Gleichwohl scheitert der Generationswechsel sehr oft an Individualinteressen, insbesondere an divergierenden Vorstellungen über Erbteilungsgerechtigkeit und daran, dass am – oft sehr unterschiedlich eingeschätzten – Wert des Unternehmens festgemachte Ausgleichsansprüche, deren Höhe sich an voraussichtlichen Pflichtteilsansprüchen orientiert, aus dem Unternehmen nicht zu erwirtschaften sind. Dass der Nachfolger nicht nur gebundenes, sondern auch risikobehaftetes Vermögen erhält, wird oft nicht anerkannt und ist eine der Ursachen dafür, dass weniger als ein Drittel von Familienunternehmen in der dritten Generation fortgeführt wurden 19. In Bezug auf das Vermögen eines Unternehmers Nachfolgeregelungen zu treffen , ohne pflichtteilsberechtigte Kinder oder Ehegatten in die vertraglichen Regelungen einzubeziehen, ist selbst dann risikobehaftet, wenn ihnen Zuwendungen in Höhe des voraussichtlichen Pflichtteilswertes gemacht werden. Zum einen setzt dies die zutreffende Einschätzung des Unternehmenswertes voraus und zum anderen kann sich dieser Wert, dessen gerichtliche Bemessung im Streitfalle aus den dargestellten Gründen kaum vorhersehbar ist, bis zum Erbfall, dem maßgeblichen Stichtag (§ 2311 Abs. 1 BGB), noch ändern. Soll daher durch testamentarisch angeordnete oder vorweggenommene Erbfolge ein Unternehmen auf einen Nachfolger übertragen werden und kommt eine ausreichende, den Pflichtteilswert nicht zumindest erreichende Beteiligung aller gesetzlichen Erben an dem Unternehmen nicht in Betracht, kann eine verlässliche, die finanziellen Belange des Unternehmens berücksichtigende Regelung nur dadurch sichergestellt werden, dass im Zusammenhang mit Nachfolgeregelungen – in notarieller Form – Pflichtteilsverzichte erklärt werden. 19

Quelle: Markt und Mittelstand 12/1996.

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2. Gesellschaftsvertragliche Gestaltungsmöglichkeiten a) Der Gesellschaftsvertrag ist das wichtigste Instrument zur Wahrung der Unternehmensinteressen. Nachteilige Einflüsse auf die positive Entwicklung der Gesellschaft lassen sich durch vorausschauende Vertragsgestaltung frühzeitig neutralisieren. Dies gilt auch für die Gesellschafternachfolge, sei es aufgrund von Verfügungen unter Lebenden sei es aus Anlass des Todes eines Gesellschafters. Regelungsinhalte unter Nachfolgegesichtspunkten sind insbesondere Übertragbarkeit und Vererblichkeit von Gesellschaftsanteilen, Auswahl und Überwachung der Geschäftsführung, etwa durch einen Beirat, vor allem aber auch Abfindungsregelungen für weichende Erben, sofern nicht Nachfolgeregelungen Platz greifen. Statistischen Erhebungen zufolge sind in etwa 75 % aller Gesellschaftsverträge Nachfolgeregelungen zu finden. Im Interesse der Kapitalsicherung der Gesellschaft und zur Vermeidung eines für den Gesellschaftszweck nachteiligen Kapitalabflusses sind für den Fall des Ausscheidens von Gesellschaftern gesellschaftsvertragliche Abfindungsregelungen ein probates Mittel. Durch solche Regelungen werden regelmäßig nicht nur nach einer vereinfachten Berechnungsmethode ermittelte Ansprüche der Höhe nach limitiert, sondern oftmals auch Zahlungsmodalitäten festgelegt, die die Liquidität des Unternehmens schonen. b) Im Personengesellschaftsrecht kommen für den Fall des Todes eines Gesellschafters im Wesentlichen drei Gestaltungsformen in Betracht: Fortsetzungs-, Nachfolge- oder Eintrittsklausel.20 aa) Bei Fortsetzungsklauseln wächst die Beteiligung des Erblassers den in der Gesellschaft verbleibenden Mitgesellschaftern an. In den Nachlass fällt lediglich der Abfindungsanspruch gegen die Gesellschaft. Die Diskussion über die Zulässigkeit von Abfindungs- insbesondere Buchwertklauseln 21 wird im Falle des Ausscheidens eines Gesellschafters durch Tod um eine besondere Variante bereichert: die herrschende Meinung hält den völligen Ausschluss einer Abfindung für zulässig 22. Dass mit einer derartigen Klausel die Mitgliedschaft am Nachlass vorbeigeführt wird, stellt letztlich eine – rechtlich zulässige – Art „Russisches Roulette“ dar, da der am längsten Lebende am Schluss alles erhält 23. Die dogmatische Begründung für den Abfidnungsausschluss ist sehr umstritten. Der BGH vertritt in dieser Frage, 20 Westermann, Handbuch der Personengesellschaften, Rn. 1151; Haas, a.a.O. (Fn 4), § 2311, Rn. 95 ff. 21 Piltz BB 1994, 1021 ff.: Volmer, 1938, 2507 ff.; Wangler DB 2001, 1763 ff.; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl., § 50 IV, Reichert, GmbHR 1998, 257 ff. 22 Vgl. BGHZ 22, 186, 194 f.; BGH WM 1971, 1338; Haas, a.a.O. (Fn 4), § 2311, Rn. 98; ausführlich Finger, DB 1974, 27 ff. 23 Vgl. K. Schmidt, a.a.O. (Fn 21), § 45, V.

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die für die Entstehung etwaiger Pflichtteilsergänzungsansprüche Bedeutung haben kann, die Auffassung, dass jedenfalls dann, wenn kein grobes Missverhältnis bezüglich der die einzelnen Gesellschafter treffenden Risiken besteht, keine Schenkung zugunsten der anderen Gesellschafter vorliege, wie die herrschende Literaturmeinung dies sieht, sondern ein unter Lebenden bereits vollzogener entgeltlicher Vertrag.24 bb) Bei Nachfolgeklauseln wird das Thema Unternehmensbewertung unter den gesetzlichen Erben immer dann virulent, wenn der Gesellschaftsvertrag das Einrücken nur eines oder einzelner gesetzlicher Erben vorsieht. Bei einer solchen qualifizierten Nachfolgeklausel stellt sich stets die Frage des Wertunterschiedes zwischen der Erbquote und der übergegangenen Beteiligung. Der qualifizierte Gesellschaftsnachfolger ist gegenüber dem weichenden Miterben zum erbrechtlichen Wertausgleich verpflichtet, es sei denn, dass ihm hinsichtlich des Anteils ein Vorausvermächtnis (§ 2115 BGB) zugedacht ist. Derselbe Effekt wird dadurch erzielt, dass der Erblasser im Testament den Nachfolger von Ausgleichsverpflichtungen befreit. Ein sehr umstrittenes bewertungsrechtliches Problem betrifft den Fall, dass der Nachfolger in der gesellschaftsrechtlichen Beteiligung einerseits Abfindungsbeschränkungen unterworfen und andererseits Pflichtteilsansprüchen ausgesetzt ist. Muss der Nachfolger beispielsweise zur Befriedigung von Pflichtteilsansprüchen die Beteiligung durch Kündigung aufgeben und steht ihm dann aufgrund der gesellschaftsvertraglich Abfindungsklausel nur der Buchwert zu, führt dies zu einem wirtschaftlich untragbaren Ergebnis, wenn er den Pflichtteilsanspruch zum Verkehrswert zu erfüllen hat. Für diese Konstellation wurde bisher keine praktikable Lösung gefunden. Nach der BGH-Rechtsprechung ist zunächst der volle Wert des Gesellschaftsanteils zu ermitteln und anschließend ist die Wahrscheinlichkeit, dass es tatsächlich zu einem Mindererlös aufgrund der Abfindungsklausel kommt, als wertmindernder Faktor zu berücksichtigen. Die Beantwortung dieser heiklen Bewertungsfrage überantwortet der BGH dem erkennenden Gericht 25. cc) Im Gegensatz zur Nachfolgeklausel kommt es bei der Eintrittsklausel nicht zu einem erbrechtlichen Übergang der Gesellschafterrechte, sondern die Gesellschafterstellung wird aufgrund eines Vertrages zugunsten Dritter durch Rechtsgeschäft unter Lebenden begründet. Bewertungsfragen hängen in erheblichem Maße von der Ausgestaltung des Eintrittsrechts, insbesondere davon ab, ob und inwieweit der Eintretende eine Einlage zu erbringen hat und ob und in welcher Höhe mit dem Eintritt in die Gesellschaft ein Abfindungsanspruch verbunden ist. Ein solcher An-

24 25

BGH NJW 1981, 1956. BGHZ 75, 195, Riedel ZErb 2003, 212, 219; Tanck, BB-Spezial 5/2004, 9, 21 f.

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spruch ist pflichtteilsbelastet, wobei die dessen Höhe beschränkenden Abfindungsklauseln ebenso zu berücksichtigen sind wie bei Fortsetzungsklauseln.26 c) Bei Kapitalgesellschaften stellt sich die Situation in Bezug auf Nachfolgeregelungen insofern anders dar, als die Vererblichkeit weder bei der GmbH noch bei AG durch Satzung ausgeschlossen werden kann. In GmbH-Gesellschaftsverträgen finden sich vielfach Regelungen, die die Fortsetzung der Gesellschaft unter den verbleibenden Gesellschaftern durch Einziehungsoder Zwangsabtretungsklauseln sicherstellen und gleichzeitig die Höhe der Abfindung regeln. Die Zulässigkeit eines Abfindungsausschlusses verbunden mit einer Zwangsabtretung oder Einziehung auf den Todesfall erklärt sich daraus, dass eine derartige Vereinbarung im Recht der GmbH als legitime Funktion der Nachfolgeplanung in den Gesellschaftsanteil angesehen wird, die im Recht der Personengesellschaften der einfachen Fortsetzungs- oder Eintrittsklausel zukommt.27 3. Rechtliche Grenzen erbfallbedingter Abfindungsklauseln a) Die Zulässigkeit von Abfindungsklauseln in Gesellschaftsverträgen gehört zu den umstrittensten Bereichen des Gesellschaftsrechts. Zum einen ist unbestritten, dass die Höhe der Abfindung sowie die Modalitäten ihrer Auszahlung abweichend von den gesetzlichen Regelungen zum Nachteil ausscheidender Gesellschafter geregelt werden können. Zum anderen ergeben sich zwingend inhaltliche Schranken für die betragsmäßige Begrenzung und die zeitliche Erstreckung ihrer Auszahlung. Als dogmatische Begründungsansätze für die Unzulässigkeit von abfindungsbeschränkenden Klauseln werden der Maßstab der Sittenwidrigkeit (§ 138 BGB) und der Grundsätze von Treu und Glauben (§ 242 BGB) herangezogen. Ferner wird auf die Verbote der unzulässigen Kündigungserschwerung (§ 723 Abs. 3 BGB) und der Gläubigerbenachteiligung hingewiesen sowie auch der Grundsatz der Gleichbehandlung der Gesellschafter bemüht.28 Es hat sich die dahingehende Rechtsprechung herauskristallisiert, dass Abfindungsklauseln dann unzulässig sind, wenn ein grobes Missverhältnis zwischen dem satzungsgemäßen Abfindungsbetrag und dem tatsächlichen Anteilswert – dem Verkehrswert – vorliegt. Diese Voraussetzung wird dann für gegeben erachtet, wenn die gesetzlich vorgesehene volle Abfindung vollkommen unangemessen verkürzt wird.29 Liegt ein solch grobes Missverhältnis 26

Riedel, a.a.O. (Fn 25), S. 212, 216. Haas, a.a.O. (Fn 4), § 2311, Rn. 109; Baumbach/Hueck, a.a.O. (Fn 11), § 34, Rn. 29. 28 Ulmer in: Münchener Kommentar, 4. Aufl., § 738, Rn. 34; ders. NJW 1979, 81 ff; K. Schmidt, a.a.O. (Fn 21), § 50 IV, m.w.N. 29 BGHZ 116, 359; BGHZ 126, 226, 240 f. 27

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bereits bei Vertragsabschluss vor, ist die entsprechende Klausel gemäß § 138 Abs. 1 BGB nichtig. In diesem Falle ist der ausscheidende Gesellschafter zum vollen Anteilswert (Verkehrswert) abzufinden.30 Entsteht jedoch das Missverhältnis erst durch die wirtschaftliche Entwicklung der Gesellschaft bzw. des Gesellschaftsvermögens, bleibt die ursprünglich gültige Abfindungsklausel weiterhin wirksam, da eine solche Klausel nicht bei wechselhafter Entwicklung des Anteilswertes zu verschiedenen Zeitpunkten wirksam oder unwirksam sein kann.31 In diesem Fall ist gemäß der BGH-Rechtsprechung im Wege ergänzender Vertragsauslegung nach Treu und Glauben unter Abwägung der beiderseitigen Interessen von Gesellschaft und ausscheidendem Gesellschafter ein Anspruch auf Abfindung in angemessener Höhe gegeben. Der Abfindungsbetrag ist im Wege ergänzender Vertragsauslegung zu ermitteln. „Letztlich geht es um eine die beiderseitigen Interessen im Hinblick auf die Änderung der tatsächlichen Verhältnisse berücksichtigende Ermittlung dessen, was die Parteien vereinbart hätten, wenn sie die Entwicklung vorhergesehen hätten; notfalls ist der Vertragsinhalt unter Berücksichtigung dieser Entwicklung zu ergänzen.“ 32 Die Gerichte haben den tatsächlichen Willen der vertragsschließenden Parteien unter Heranziehung des übrigen Vertragsinhalts und der sonstigen im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses gegebenen Umstände zu ermitteln. Bedeutung haben insbesondere die Dauer der Mitgliedschaft des Ausgeschiedenen in der Gesellschaft, sein Anteil am Aufbau und Erfolg des Unternehmens und der Anlass des Ausscheidens. Schließlich bestimmt dann eine Interessenabwägung unter Berücksichtigung von Treu und Glauben die Höhe der Abfindung.33 In einer älteren Entscheidung hat der BGH festgestellt, dass bei einer GmbH die entschädigungslose Einziehung eines Geschäftsanteils deshalb nicht zu beanstanden sei, weil er die Erhaltung der Gesellschaft als Familienunternehmen als einen rechtfertigenden Grund anerkannte.34 Die äußerst schwierige, rechtlich keineswegs eindeutige Bestimmung der Grenze der Zulässigkeit von Abfindungs- insbesondere Buchwertklauseln – spielt, wie oben bereits ausgeführt, beim durch Tod bedingten Ausscheiden aus der Gesellschaft deshalb keine Rolle, weil in diesem Falle nach allgemeiner Ansicht ein sehr viel größerer Gestaltungsspielraum besteht. Sowohl bei Personen- als auch Kapitalgesellschaften hält die Rechtsprechung und das überwiegende Schrifttum eine weitergehende Beschränkung bis hin zum Ausschluss einer Abfindung für zulässig. Begründet wird dies damit, dass es nicht mehr um die Sicherung der freien Entfaltung des Gesellschafters in der 30 31 32 33 34

BGHZ 116, 359, 368. BGHZ 123, 281, 283. BGHZ 123, 281, 284. Vgl. Hülsmann GmbHR 2001, 409 ff.; Ebenrot/Müller BB 1993, 1153. BGH DB 1977, 342 (für die GmbH); BGHZ 22, 187 (zur Personengesellschaft).

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Gesellschaft, sondern um – im weitesten Sinne – erbrechtliche Gestaltungen geht.35 Dabei wird dem Gesellschafter die Freiheit zugestanden, seinen Anteil nicht nur qua letztwilliger Verfügung zu vermachen, sondern ihn auch an seine Mitgesellschafter durch den gesellschaftsvertraglich vereinbarten Ausschluss der Abfindung wertmäßig zu übertragen.36

IV. Erbschaftsteuerliche Unternehmensbewertung 1. In den letzten zehn Jahren ist die erbschaftsteuerliche Bewertung von Unternehmen ein fester Bestandteil der deutschen steuerrechtswissenschaftlichen Diskussion. Die Initialzündung hierfür beruht auf zwei Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts vom 22.05.1995.37 In dem Verfahren, bei dem es um die Beurteilung erbschaftsteuerlicher Fragen ging – in dem anderen Verfahren war die Vermögensteuer auf dem Prüfstand – gelangte das Bundesverfassungsgericht zu der Feststellung, dass in der Bemessung von Kapitalvermögen nach Gegenwartswerten einerseits und der Belastung Einheitswert gebundenen Grundvermögens nach Vergangenheitswerten andererseits ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz zu sehen sei. Die Bestimmungen des § 12 Abs. 1 und 2 ErbStG – und in dem anderen Verfahren § 10 VStG – wurden für verfassungswidrig erklärt. Dem Gesetzgeber wurde bei gleichzeitigem Zugestehen „weitreichender Gestaltungsbefugnisse“ und der ausdrücklichen Gestattung, sich bei seinem gesetzgeberischen Ermessen „auch von finanzpolitischen, volkswirtschaftlichen und sozialpolitischen Erwägungen leiten zu lassen“, aufgetragen, bis zum 31.12.1996 den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen. Mit auf den Weg gegeben wurde der Legislative der Hinweis auf das Erfordernis „betriebsangemessener Belastung“, das namentlich für mittelständische Betriebe gelte. Diese Betriebe seien als Garant von Produktivität und Arbeitsplätzen in besonderer Weise gemeinwohlgebunden und -verpflichtet und unterlägen daher einer gesteigerten rechtlichen Bindung.38 Gemäß diesem verfassungsgerichtlichen Auftrag wurde der Gesetzgeber nicht nur zwecks Beseitigung der verfassungswidrigen Grundstücksbewertungsvorschriften aktiv – Einheitswerte wurden durch Bedarfswerte ersetzt (§§ 138 Abs. 3, 145 ff. BewG) –, sondern in Verfolgung der Hinweise des Bundesverfassungsgerichts zur Besserstellungsbedürftigkeit von Betriebsvermögen wurden im Jahressteuergesetz 1997 zahlreiche Privilegierungen für betriebliches Vermögen geschaffen. Insbesondere wurde die Freibetragsrege35 36 37 38

Götte DStR 1997, 338. Habersack ZIP 1990, 625. BVerfGE 93, 121ff. BVerfGE 93, 121, 175.

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lung erweitert (§ 13a Abs. 1 ErbStG), der 40 %ige Bewertungsabschlag wurde eingeführt (§ 13a Abs. 2 ErbStG) und die Tarifbelastung von natürlichen Personen, die nicht zu den nächsten Angehörigen des Erblassers gehören, wurde durch die Einführung des Entlastungsbetrages reduziert (§ 19 a ErbStG).39 2. Diese durchweg auf der „Steilvorlage“ des Bundesverfassungsgerichts beruhenden gesetzgeberischen Maßnahmen stießen zwar auch auf Zustimmung,40 die Steuerrechtliteratur äußerte jedoch überwiegend Kritik.41 Kritisiert wurde insbesondere die Reichweite der Privilegierungstatbestände – etwa durch die Erstreckung auf gewerblich geprägte Personengesellschaften oder Kapitalgesellschaften. Die Kritiker brandmarkten die gesetzgeberischen Maßnahmen auch als Beispiel für eine weitere Komplizierung des Steuerrechts, das sich durch unpraktikable Vorschriften nicht in verfassungsgemäßer Weise umsetzen ließe. Des Weiteren habe das JStG 1997 nicht zur Verbreiterung der Bemessungsgrundlage geführt, diese sei vielmehr ausgehöhlt worden.42 Die steuerliche Entlastung in Folge der genannten Gesetzesänderungen war erheblich, zumal die eröffneten Gestaltungsspielräume in der Praxis weitlich genutzt wurden, etwa durch Umwandlung von privatem in betriebliches Vermögen. Die begünstigenden Wirkungen der §§ 13a, 19a ErbStG dürften bei größeren Steuerfällen alles in den Schatten stellen, was das deutsche Steuerrecht an Privilegierung kennt.43 Das Ausmaß des Steuervorteils ist vorrangig vom Volumen des begünstigten Vermögens abhängig. Bei geringen Vermögen mit einem (Sach-)Wert von bis zu 1,1 Mio. EURO ist regelmäßig Steuerfreiheit gegeben und selbst bei größeren Vermögen mit (Sach-)Werten von 10 Mio. EURO liegt die Entlastungswirkung bei mehr als 2/3 der reinen Sachwerte.44 Im Zusammenhang mit den Steuerentlastungsregelungen ist auch die Bestimmung des § 28 ErbStG zu sehen. Danach kann bei Erwerb von Betriebsvermögen oder land- und forstwirtschaftlichem Vermögen die Steuerschuld gestundet werden, „soweit dies zur Erhaltung des Betriebes notwendig ist“.45 39 JStG 1997 vom 20.12.1996, BGBl 1996 I, 2049. Dieses Gesetz, das auch die Vermögenssteuer abschaffte, trat rückwirkend zum 01.01.1996 in Kraft. 40 Vgl. Spitzbart. Das Betriebsvermögen im Erbschaftsteuerrecht, S. 23 ff.; bereits mit Empfehlung vom 07.12.1994 hatte die Europäische Kommission die Mitgliedsstaaten zur Entlastung von kleinen und mittleren Unternehmen bezüglich Erbschaft- und Schenkungssteuer aufgefordert (Abl. Nr. L 385 vom 31.12.1994, S. 14 ff.). 41 Vgl. Hübner in: Viskorf/Glier/Hübner/Knobel/Schuck, Erbschaftsteuer- und Schenkungssteuergesetz, Bewertungsgesetz, 2. Aufl., § 13a ErbStG, Rn. 2, m.w.N. 42 Hübner, a.a.O. (Fn 41), Rn. 2. 43 Hübner, a.a.O. (Fn 41), Rn. 3. 44 Meincke DStR 1996, 1305, 1309; Spitzbart, a.a.O. (Fn 40), S. 94. 45 Bei Stundung von Erbschaftsteuer für die Dauer von 10 Jahren (Höchstgrenze) kann der Abzinsungsvorteil für den Erwerber von Betriebsvermögen bis zu 42,5 % betragen (vgl. BFH, BStBl 2002, 598 ff.).

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3. Es wird allgemein damit gerechnet, dass der Gesetzgeber demnächst erneut die Rüge des Bundesverfassungsgerichts, den Gleichheitsgrundsatz des Artikels 3 verletzt zu haben, wird einstecken müssen. Den Stein ins Rollen gebracht hat hierzu der Bundesfinanzhof mit seiner Vorlageentscheidung vom 22.05.2002.46 Die Kritik der Literatur aufgreifend, setzt sich der BFH unter Darlegung der Gesetzgebungshistorie und der das Erbschaftssteuerrecht beherrschenden Bewertungsgrundsätze mit der Frage der Verfassungsgemäßheit aller wesentlichen Privilegierungstatbestände auseinander, um zu folgender zusammenfassender Feststellung zu gelangen: „Insgesamt sind die Begünstigungen für das Betriebsvermögen (…) zu weitgehend, um noch von dem verfassungsrechtlich zulässigen Differenzierungsgrund ,Schutz der Betriebe‘ gedeckt zu sein. Die Regelung trifft zudem nicht ,zielgenau‘ und stellt nicht sicher, dass nur solche Erwerbsvorgänge erfasst werden, bei denen der Begünstigungsgrund vorliegt.“ 47 Der BFH weist darauf hin, dass bereits das die Entlastung insbesondere der mittelständischen Personenunternehmen bezweckende Steuerrechtsänderungsgesetz 1992 mit der Einführung der Bewertung nach Steuerbilanzwerten zu etwa um ein Drittel niedrigeren Wertansätzen des Betriebsvermögens geführt habe. Ab dem 01.01.1993 sei das Betriebsvermögen aufgrund dieser gesetzgeberischen Maßnahme nur noch mit durchschnittlich 45 % der wirklichen Substanzwerte anzusetzen gewesen. Die Begünstigungswirkung der Maßnahmen des JStG 1997 sei von Zufälligkeiten abhängig, weil die Möglichkeit der einzelnen Unternehmen, stille Reserven zu bilden, unterschiedlich sei. Gerade bei ertragsstarken Unternehmen, die von Bilanzwahlrechten Gebrauch machen könnten, sei der steuerliche Unternehmenswert um mehr als 50 % geringer als der nach zivilrechtlichen Unternehmensbewertungsgrundsätzen ermittelte Wert. Als vom Gesetzgeber gewollten Wertungswiderspruch brandmarkt der BFH die gesetzliche Vorgabe, nicht notierte Anteile von Kapitalgesellschaften nach Steuerbilanzwerten zu bewerten. Seine Überzeugung, mehrere Bewertungsvorschriften 48 seien wegen Verstoßes gegen Art. 3 GG verfassungswidrig machte der BFH an den Erwägungen fest, – dass die Übernahme von Steuerbilanzwerten keine geeignete, weil von Zufallsmomenten abhängige, nicht an der Leistungsfähigkeit orientierte und damit eine ungleiche Steuerentlastung bewirke, – dass die Prämisse der generellen Existenzgefährdung mittelständischer Unternehmen durch Erbschaftsteuer nicht zu verifizieren sei und dass 46

BFH BStBl II, 2002, 598 ff. BFH BStBl. II, 2002, 598, 608. 48 Erwähnt werden § 19 Abs. 1 ErbStG, i.d.F. des JStG 1997, i.V.m. § 10 Abs. 1, Sätze 1 und 2 ErbStG, § 12 ErbStG sowie §§ 13a, 19a ErbStG. 47

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Besonderheiten der Struktur des Nachlasses sachwidrig außer Betracht blieben und damit keine „zielgenaue“ Regelungen vorlägen, – dass die Gleichstellung des Erwerbs von Kapitalanteilen einerseits und Betriebsvermögen bzw. Anteilen an Personengesellschaften andererseits nicht zu rechtfertigen sei, da Kapitalanteile der privaten Vermögenssphäre des Erwerbers zuzuordnen seien, – dass gewerblich geprägte Personengesellschaften und vermögensverwaltende Kapitalgesellschaften keine schutzwürdige gewerbliche Tätigkeit ausübten und als Privatvermögen nicht begünstigungswürdig seien und – dass der undifferenzierte, auf den Nennwert bezogene Abzug von Schulden von unterbewertetem Vermögen eine Verrechnung nicht vergleichbarer Werte bedeute. 4. Der Vorlagebeschluss des BFH vom 22.05.2002 hat nicht nur zu einer lebhaften Diskussion im Schrifttum geführt, sondern im Hinblick darauf, dass auch die Politik aus Karlsruhe eine erneute verfassungsrechtliche Rüge erwartet, zu ersten gesetzgeberischen Aktivitäten. Bereits im Mai 2005 legte die Bundesregierung einen „Entwurf eines Gesetzes zur Sicherung der Unternehmensnachfolge“ vor. Darin wird die Nachfolge in Unternehmensvermögen – sei es lebzeitig oder von Todes wegen – im Bereich des Mittelstandes durchgreifend begünstigt. Der Erwerb von produktivem Vermögen soll bis zur Höhe von 100 Mio. EURO in der Weise begünstigt werden, dass Erbschaft- oder Schenkungssteuer auf zehn Jahre zinslos gestundet wird und die Steuerschuld sich für jedes Jahr der Fortführung des Unternehmens um ein Zehntel verringert. Es ist eine rechtsformneutrale Besteuerung angestrebt mit der Maßgabe, dass nur produktives Unternehmensvermögen in seiner Substanz erfasst und besteuert werden soll. Bemessungsgrundlage wäre danach das Eigenkapital eines übergehenden Unternehmens, nicht jedoch das Fremdkapital. Vorgesehen ist auch der Wegfall der „Flucht ins Betriebsvermögen“. Die gegenwärtigen Regelungen der §§ 13a und 19a ErbStG sollen künftig nur für begünstigtes Betriebsvermögen im Werte von mehr als 100 Mio. EURO gelten.49 Im Hinblick auf das Ende der rot-grünen Koalition wurde der Gesetzentwurf zur Sicherung der Unternehmensnachfolge zunächst nicht weiterverfolgt, nach dem Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD vom 11.11.2005 ist jedoch vorgesehen, dieses Gesetzesvorhaben wieder aufzugreifen. Diesem Vorhaben folgend haben die Koalitionsparteien inzwischen vereinbart, die Obergrenze von 100 Mio. EURO fallen zu lassen und eine „atmende Arbeitsplatzklausel“ einzuführen. Danach soll die volle Begünstigung nur für solche Unternehmen gelten, die unter Aufrechterhaltung der Arbeitsplätze fortge49 Daragan ZErb 2005, 202 ff.; Philip/Kempny ZErb 2005, 409 ff.; Schiffers GmbH-Stb 2006, 14.

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führt werden. Anderenfalls soll im Ausmaß des Abbaus anteilig Steuer fällig werden.50 5. Die Diskussion über die Reform des Erbschaft- und Schenkungssteuergesetzes wird vorrangig im Hinblick auf das öffentliche Interesse am Fortbestand von Familienunternehmen diskutiert. Es wird nicht ernsthaft in Frage gestellt, dass mittelständische Unternehmen, die oftmals als Familienunternehmen betrieben werden, herausragende volkswirtschaftliche Bedeutung haben, insbesondere auch im Hinblick auf die Sicherung von Arbeitsplätzen. Es liegt im öffentlichen Interesse, dass mittels erbschaftsteuerlichen Förderung die Fortführung von Familienunternehmen begünstigt wird, um dadurch Arbeitsplätze zu erhalten, die Ertragskraft solcher Unternehmen nicht zu schwächen, Unternehmenskontinuität sicherzustellen und Unternehmenskonzentrationen einzuschränken.51 Angesprochen ist mit diesen Zielen auch die Qualität Deutschlands als Unternehmensstandort.52 In diesem Zusammenhang ist zweifelsohne auch die relativ geringe fiskalische Bedeutung der Erbschaftsteuer in Betracht zu ziehen. Zum Vergleich: In manchen Ländern Europas wird Erbschaftsteuer gar nicht erhoben. Dessen ungeachtet wird gerade an der Erbschaftsteuer die politisch umstrittene Frage der Vermögensumverteilung festgemacht. Deshalb befürchten manche, dass im Hinblick auf leere Staatskassen unter dem Vorwand der „sozialen Gerechtigkeit“ die Reform des Erbschaftsteuerrechts zum Zankapfel innerhalb der großen Koalition werden könnte.53

V. Zusammenfassende Betrachtungen Die Bedeutung des Unternehmenswertes bei Erb- und Vermögensnachfolge wird vorrangig unter dem Aspekt der finanziellen Auszehrung von – insbesondere mittelständischen – Unternehmen diskutiert. Oftmals größere Werte bei geringerer Liquidität lösen im Hinblick auf die notwendige Finanzierung von erbfallbedingten Zahlungen Probleme aus, wobei Pflichtteilslasten und Erbschaft- und Schenkungssteuer als hauptsächliche Faktoren des Kapitalabflusses genannt werden. Angesichts des für alle Gesellschaftsformen geltenden Grundsatzes, dass mangels abweichender Regelungen Unternehmen mit dem „vollen Wert“, 50

FAZ vom 06.06.2006, S. 13 Spitzbart, a.a.O. (Fn 37), S. 174 ff. 52 Die geplante Arbeitsplatzklausel wird aus Kreisen der Wirtschaft bereits als zu bürokratisch und „planwirtschaftlich“ kritisiert, vgl. FAZ v. 06.06.2006, S. 13. 53 Zum Thema „Ausweg aus dem Erbschaftsteuer-Dilemma zwischen Grundgesetz und Standortgunst“ haben zuletzt Scheffler/Wigger in der FAZ vom 29.04.2006 rechtspolitische Positionen abgewogen und einen Reformvorschlag des Inhalts gemacht, dass ein Erbschaftsteuererlass nur für nächsten Angehörigen vorgesehen werden sollte. 51

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dem Verkehrswert, in Ansatz zu bringen sind und die Ermittlung dieses Wertes angesichts erheblicher Bewertungsspielräume und Rechtsunsicherheit zusätzlich zum Zeit- und Kostenaufwand große Risiken mit sich bringt, ist es im Unternehmensbereich geradezu unverantwortlich, keinen rechtsgestaltenden Einfluss auf das dispositive Recht zu nehmen. Dabei ist der von der Rechtsprechung geöffnete Gestaltungsspielraum für den Fall des Ausscheidens eines Gesellschafters wegen Todes deshalb besonders groß, weil sogar der Ausschluss jeglicher Abfindung zulässig ist. Der oftmals heftige Streit um die Zulässigkeit von Abfindungsklauseln lässt sich, sofern die Gesellschafter dies im Interesse der Gesellschaft für geboten halten, umgehen. Bewertungsrisiken und Liquiditätsprobleme lassen sich natürlich auch dadurch bewältigen, dass im Rahmen der vorweggenommenen Unternehmensnachfolge Regelungen getroffen werden, die den Umständen des Einzelfalles, insbesondere auch der Leistungsfähigkeit des Unternehmens Rechnung tragen. Ganz anders stellt sich die steuerliche Situation im Bereich der Erb- und Vermögensnachfolge dar. Dies deshalb, weil der Gesetzgeber zur Bemessung von Erbschaft- und Schenkungsteuer Regelungen geschaffen hat, die durch enorme Privilegierungen und Gestaltungsspielräume gekennzeichnet sind. Das größte Risiko scheint in diesem Sektor der Gesetzgeber selbst zu sein, da er nicht nur äußerst komplexe, in der Praxis teilweise nicht umsetzbare Regelungen geschaffen hat, sondern auch solche, die in hohem Maße gefährdet erscheinen, wegen Verstoßes gegen den Gleichheitsgrundsatz für nichtig erklärt zu werden. Im Hinblick auf die große Zahl von Unternehmen und Unternehmensbeteiligungen, die zur Übertragung an die nächste Generation anstehen, starren die beteiligten Kreise gebannt nach Karlsruhe, wobei es in geeigneten Fällen eigentlich klüger erscheint, noch zu handeln, bevor im Anschluss an die erwartete Entscheidung des höchsten Gerichts in Berlin ein neues Kapitel des Erbschaftsteuerrechts mit restriktiveren Regelungen aufgeschlagen wird.

Hinauskündigungsklauseln Walter Sigle Inhaltsübersicht I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Rechtsprechung vor dem 19. September 2005 . . III. Die Entscheidungen vom 19. September 2005 . . . . . 1. Die Sachverhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entscheidung II ZR 173/04 (Managermodell) . . b) Entscheidung II ZR 342/03 (Mitarbeitermodell) 2. Die Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Überlegungen zu einschlägigen Fallkonstellationen . 1. Bereich der Familiengesellschaften . . . . . . . . . a) Stärkung eines Rechtsnachfolgers . . . . . . . . b) Manager als Gesellschafter auf Zeit . . . . . . . c) Sonderregelungen für geschenkte Beteiligungen d) Regelungen für überlebende Ehegatten . . . . . 2. Unterbeteiligungsverträge . . . . . . . . . . . . . . 3. Verträge mit Kapitalbeteiligungsgesellschaften . . . 4. Private Equity . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Optionsverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einführung Der Bundesgerichtshof hatte sich am 19.09.2005 in zwei viel beachteten Entscheidungen 1 nach längerer Zeit wieder mit der Frage zu befassen, ob und unter welchen Voraussetzungen Gesellschafter einer Personengesellschaft oder einer GmbH aus der Gesellschaft „hinausgekündigt“ werden können. Die Entscheidungen wurden allgemein begrüßt. Sie werden als eine Fortentwicklung der bisherigen Rechtsprechung gepriesen. Doch sind sie dies tatsächlich? Oder läuten sie schon die Korrektur einer Fehlentwicklung ein? Um die Frage beantworten zu können, ist zunächst ein Rückblick auf die Rechtsprechung vor dem 19.09.2005 vonnöten (unten II). An den Rückblick 1

BGH, Urteil vom 19.09.2003 – II ZR 173/04, NJW 2005, 3641 (Managermodell), und BGH, Urteil vom 19.09.2005 – II ZR 342/03, NJW 2005, 3644 (Mitarbeitermodell).

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schließt sich eine kurze Wiedergabe der beiden Entscheidungen an sowie eine kritische Betrachtung (unten III). Danach werden einige Fälle aufgegriffen, für die es auf dem Boden der bisherigen Rechtsprechung höchst zweifelhaft war, ob sie von den Kautelarjuristen sicher und vernünftig entsprechend den Wünschen der Mandanten gelöst werden können, für die sich aber jetzt eine neue Sicht eröffnet hat (unten IV). Am Ende findet sich eine Schlussbetrachtung (unten V).

II. Die Rechtsprechung vor dem 19. September 2005 2 Ausgangspunkt für den Rückblick ist die Entscheidung des BGH vom 16.12.1960.3 Der Kläger hatte in sein Handelsunternehmen als Kommanditisten seine Ehefrau und seine drei Kinder aufgenommen. Der Gesellschaftsvertrag enthielt die Bestimmung: „Die Kommanditisten sind außerdem verpflichtet, dem persönlich haftenden Gesellschafter ihre Kommanditeinlagen auf Verlangen käuflich zu überlassen. Bei Errechnung des Kaufpreises wird die Steuerbilanz zu Grunde gelegt.“

Unter Berufung auf diese Klausel verlangte der Kläger von der beklagten Ehefrau die käufliche Überlassung ihres Gesellschaftsanteils. Die Beklagte weigerte sich. Der BGH untersucht zunächst, ob sich das Klagebegehren nicht aus allgemeinen rechtlichen Gesichtspunkten, unabhängig von der Ehe der Parteien, als unzulässig darstellt. Dieses verneint der BGH. Die Annahme einer unzulässigen Rechtsausübung könne nicht aus den Rechtsgrundsätzen hergeleitet werden, die die höchstrichterliche Rechtsprechung aus der gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht entwickelt hat. Auch „aus allgemeinen rechtlichen Gesichtspunkten, unabhängig vom Gesellschaftsrecht, etwa im Hinblick auf § 138 BGB“ sei die Klausel nicht unzulässig. Noch deutlicher spricht sich der BGH in seiner Entscheidung vom 29.01.1962 4 aus: Die von einem Vater mit seinen Söhnen bei Abschluss eines Gesellschaftsvertrages getroffene Regelung, dass nach seinem Tode die Söhne, die persönlich haftenden Gesellschafter sind, ihre Brüder als Kommanditisten auch ohne Vorliegen eines wichtigen Grundes aus der Gesellschaft ausschließen können, sei als solche nicht sittenwidrig, und zwar auch dann nicht, wenn bei der Ausschließung nur das buchmäßige Guthaben zu zahlen ist. 2 Vgl. Werner Flume „Hinauskündigung“ aus der Personengesellschaft mit Abfindung, DB 1986, 629; Walter Sigle, Das Kreuz der Rechtsuchenden und der Berater mit der Rechtsprechungsänderung – dargestellt am Beispiel des Hinauskündigungsrechts bei Personengesellschaften –, in: Festschrift für Rudolf Nirk, 1992, 971; je mit weiteren Nachweisen. 3 BGHZ 34, 80. 4 BGH WM 1962, 462.

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In der Entscheidung vom 18.03.1968 5 verneint der BGH „unter den Umständen des vorliegenden Falles“ die Sittenwidrigkeit einer Klausel, wonach die persönlich haftenden Gesellschafter gemeinschaftlich das Recht haben sollten, den Austritt eines oder mehrerer bestimmter Kommanditisten und auch aller Kommanditisten zu fordern. Im gleichen Sinne äußert er sich in seinen Entscheidungen vom 23.10.1972 6 und 07.05.1973.7 Der Leitsatz der letztgenannten Entscheidung lautet: „Es ist zulässig, im Gesellschaftsvertrag zu bestimmen, dass ein Kommanditist durch Beschluss der Gesellschaftermehrheit ohne Nachweis eines wichtigen Grundes oder sachlichen aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden kann.“

Zur Begründung wird ausgeführt: „Der Senat hat in seinen bisherigen Entscheidungen die Zulässigkeit des freien Ausschlusses von Kommanditisten allerdings nur für solche Fälle ausgesprochen, in denen zu Lasten der betreffenden Kommanditisten – die ihre Beteiligung im Erbwege oder durch unentgeltliche Zuwendungen erlangt hatten – von vorneherein ein einseitiges Ausschließungsrecht vereinbart war, die ausgeschlossenen Gesellschafter also bereits nach dem Gesellschaftsvertrag nur eine minderberechtigte Stellung inne hatten (…). Dies ist aber nicht als Einschränkung zu verstehen. Vielmehr ist der Gesellschafterausschluss ohne wichtigen Grund auch dann möglich, wenn es sich, wie vorliegend, um grundsätzlich gleichberechtigte Gesellschafter handelt, bei denen im Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch ungewiss ist, wen von ihnen eine spätere Ausschließung trifft.“

Als Überraschung musste danach die Entscheidung vom 20.01.1977 8 aufgenommen werden. Die Leitsätze a) und b) der Entscheidung lauten: „a) Eine gesellschaftsvertragliche Vereinbarung, die der Gesellschafterversammlung das Recht einräumt, Gesellschafter aus der Gesellschaft auszuschließen, berechtigt allenfalls dann zur Ausschließung ohne wichtigen Grund, wenn sich dies unzweideutig aus dem Gesellschaftsvertrag ergibt. b) Die gesellschaftsvertragliche Bestimmung, durch Gesellschafterbeschluss könne ein Gesellschafter ohne Vorliegen eines wichtigen Grundes aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, ist nur dann zulässig, wenn für eine solche Regelung wegen außergewöhnlicher Umstände sachlich gerechtfertigte Gründe bestehen (Ergänzung zum Senatsurteil vom 07.05.1973 – II ZR 140/71 = LM HGB § 161 Nr. 30).“

Der Klammerzusatz im Leitsatz b) kann nur als euphemistisch bezeichnet werden, denn bei der Entscheidung handelt es sich um keine Fortbildung der Rechtsprechung sondern ganz offensichtlich um eine fundamentale Ände5 6 7 8

BGH WM 1968, 352. BGH NJW 1973, 651. BGH NJW 1973, 1606. BGHZ 68, 212.

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rung. Wenn hieran anfangs vielleicht noch Zweifel bestehen konnten, so wurden diese durch spätere Entscheidungen ausgeräumt. So lautet der Leitsatz der Entscheidung vom 13.07.1981 9: „Bei einer Kommanditgesellschaft, die im Wesentlichen dem gesetzlichen Regeltyp entspricht, ist eine gesellschaftsvertragliche Bestimmung, die den persönlich haftenden Gesellschaftern das Recht einräumt, die Mitgesellschafter nach freiem Ermessen aus der Gesellschaft auszuschließen, nichtig, es sei denn, dass eine solche Regelung wegen außergewöhnlicher Umstände sachlich gerechtfertigt ist (Ergänzung von BGHZ 68, 212).“

Zur Begründung beruft sich der BGH nicht auf § 138 BGB – er hatte dies auch in seiner Entscheidung vom 20.01.1977 nicht getan –; vielmehr führt er aus: „Der Gesellschaftsvertrag ist im Unterschied zum reinen Austauschvertrag auf ein gedeihliches Zusammenwirken der Gesellschafter zur Erreichung eines gemeinsamen Zwecks angelegt. Die persönlichen Beziehungen zwischen den Gesellschaftern beruhen im besonderen Maße auf gegenseitigem Vertrauen und begründen eine besondere Treuepflicht. Schon bei Eingehung des Gesellschaftsverhältnisses ist deshalb u.a. zu fordern, dass Vertragsklauseln, die einzelnen Gesellschaftern das Recht zur Ausschließung von Mitgesellschaftern geben, nicht so gestaltet sind, dass sie die nach dem Gesellschaftsvertrag erforderliche Zusammenarbeit der Gesellschafter im Kern treffen, die Erfüllung der dem einzelnen Gesellschafter obliegenden Aufgaben gefährden und die im Rahmen des gemeinsamen Unternehmens gebotene gesellschaftstreue Mitarbeit in Frage stellen. Bei einer Kommanditgesellschaft, die, wie hier, im Wesentlichen dem gesetzlichen Regeltyp entspricht, sind diese Forderungen grundsätzlich dann als verletzt anzusehen, wenn den persönlich haftenden Gesellschaftern das Recht eingeräumt wird, die Mitgesellschafter nach freiem Ermessen – ohne Begründung – , wenn auch unter Einhaltung gewisser Fristen, aus der Gesellschaft auszuschließen.“

Die Unwirksamkeit der Klausel wird also mit allgemeinen gesellschaftsrechtlichen Erwägungen begründet. Der Unterschied zwischen Gesellschaftsvertrag und Austauschvertrag wird zum Kern der Begründung gemacht. Ganz anders dann die Entscheidung vom 25.03.1985.10 Hier begründet der BGH die Nichtigkeit mit einem Verstoß gegen § 138 BGB. In der Entscheidung heißt es: „Die vorliegende Regelung ist jedenfalls deshalb als unzulässig zu erachten, weil sie nicht nur die berufliche Tätigkeit und die Lebensgrundlage des Beklagten – und weiterer persönlich haftender Gesellschafter – zur freien Disposition eines Dritten stellt, sondern auch die Entschließungs- und Entscheidungsfreiheit der betroffenen Gesellschafter erheblich beeinträchtigt. Sie werden dadurch in eine persönliche und wirtschaftliche Abhängigkeit gebracht, die nicht mehr erträglich und hinnehmbar 9 10

BGHZ 81, 263. NJW 1985, 2421 = JZ 1985, 1105 mit Anmerkung Werner Flume.

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ist. Die vom Beklagten beanstandete Regelung geht damit über den Rahmen des rechtlich und sittlich Erlaubten (§ 138 BGB) hinaus und kann somit nicht wirksam sein.“

Diese Begründung bietet jetzt auch die Basis, Konstruktionen, die das angestrebte Ziel auf anderem als dem gesellschaftsrechtlichen Wege zu erreichen versuchen (schuldrechtliche Vereinbarungen außerhalb des gesellschaftsrechtlichen Verhältnisses, Austauschverträge, Vermächtnisregelungen usw.), als nichtig zu qualifizieren. Noch deutlicher als in der Entscheidung vom 25.03.1985 formuliert der BGH am 19.09.1988: 11 „Nach der neueren – gefestigten – Rechtsprechung des erkennenden Senats geht eine gesellschaftsvertragliche Regelung, durch die der Gesellschaftermehrheit, einer bestimmten Gesellschaftergruppe oder einem einzelnen Gesellschafter das Recht eingeräumt wird, einen Mitgesellschafter ohne Vorliegen eines sachlichen Grundes aus der Personengesellschaft auszuschließen, grundsätzlich über den Rahmen des rechtlich und sittlich Erlaubten (§ 138 Abs. 1 BGB) hinaus. Ausschlaggebend ist hierfür, dass nach einer derartigen Vereinbarung die das gemeinsame Unternehmen mit tragenden Gesellschafter aus sachfremden – eventuell nur emotional bedingten – Gründen ausgeschlossen werden können, und damit einer Willkürherrschaft in der Gesellschaft insgesamt Vorschub geleistet werden kann (…). Da das Kündigungsrecht die nach dem Gesellschaftsvertrag erforderliche Zusammenarbeit im Kern trifft, können aber nur außergewöhnliche Umstände eine andere Beurteilung der Sittenwidrigkeit rechtfertigen (…)“.

Die „neuere – gefestigte – Rechtsprechung“ wird in der Folgezeit von den Gerichten nicht in Frage gestellt. Vielmehr rückt die Problematik in den Vordergrund, wann so „außergewöhnliche Umstände“ vorliegen, dass eine Klausel, die das Hinauskündigen nach freiem Ermessen gestattet, „sachlich gerechtfertigt“ ist. In den Entscheidungen vom 19.09.2005 finden sich die Fälle aufgelistet, in denen der BGH bis dahin das Vorliegen „außergewöhnlicher Umstände“ bejaht hatte: – Der ausschließungsberechtigte Gesellschafter hat mit Rücksicht auf die enge persönliche Beziehung zu seiner Mitgesellschafterin die volle Finanzierung der Gesellschaft übernommen und der Partnerin eine Mehrheitsbeteiligung und die Geschäftsführung eingeräumt; 12 – eine Praxisgemeinschaft von Ärzten nimmt einen neuen Gesellschafter auf und behält sich dabei eine zeitlich begrenzte Prüfungsmöglichkeit vor; 13

11 12 13

BGHZ 105, 213 = BGH EWiR 1989, 377 mit Anmerkung Klaus Müller. BGHZ 112, 103. BGH NJW 2004, 2013.

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– die Gesellschaftsbeteiligung ist ein Annex zu einem Kooperationsvertrag der Gesellschafter, um sicher zu stellen, dass der Gesellschaft nur die Partner des Kooperationsvertrags angehören; 14 – der Geschäftsanteil an einer Gesellschaft, bei der alle Gesellschafter mitarbeiten, soll eingezogen werden können, wenn der betroffene Gesellschafter nicht mehr in der Gesellschaft tätig ist.15

III. Die Entscheidungen vom 19. September 2005 1. Die Sachverhalte a) Entscheidung II ZR 173/04 (Managermodell) Der Entscheidung liegt folgender Sachverhalt zu Grunde: Eine Supermarktkette pflegte ihre „Vor-Ort-Geschäftsführer“ jeweils mit bis zu 10 % an der Tochter-GmbH zu beteiligen, die sie zu leiten hatten. Die Geschäftsführer hatten für den Erwerb ihres Anteils in der Regel nur den Nominalwert zu zahlen. Sie wurden am Gewinn, nicht aber am Verlust der GmbH beteiligt. Die Gesellschafterstellung sollte enden, wenn ein Geschäftsführer abberufen oder sein Geschäftsführeranstellungsvertrag beendet wird. Als Kaufpreis für den Rückkauf war ein Betrag zu zahlen, der sich nach dem Einheitswert des Betriebsvermögens und einem dreijährigen Durchschnittsertrag richtete, jedoch das Zehnfache des Nominalwerts nicht übersteigen durfte. b) Entscheidung II ZR 342/03 (Mitarbeitermodell) In dieser Entscheidung hatte sich der BGH mit der Rechtsstellung einer GmbH-Gesellschafterin zu befassen, die Geschäftsanteile als Mitarbeiterin eben dieser GmbH erworben hatte. Mehrheitsgesellschafter der GmbH war ein Unternehmensgründer, der sich entschlossen hatte, Mitarbeiter am Unternehmen zu beteiligen. Einen der Geschäftsanteile übertrug er der Beklagten gegen Zahlung des Nominalbetrags. Zwei weitere Geschäftsanteile erhielt sie später unentgeltlich. Die Mitarbeiterin erklärte jeweils ihre Bereitschaft, die Anteile im Falle ihres Ausscheidens aus den Diensten der GmbH zurück zu übertragen. Im Zusammenhang mit den ersten beiden Erwerben unterbreitete sie entsprechende Rückabtretungsangebote. Als Gegenleistung sollte sie dasjenige erhalten, was sie für die Anteile gezahlt hatte. Die Mitarbeiterin beendete das Arbeitsverhältnis aus gesundheitlichen Gründen. Daraufhin erklärte der Unternehmensgründer die Annahme der Rückab14 15

BGH NZG 2005, 479. BGH WM 1983, 956.

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tretungsangebote. Zugleich forderte er die Rückübertragung des Geschäftsanteils, hinsichtlich dessen ein Rückabtretungsangebot nicht vorlag. 2. Die Entscheidungen In beiden Entscheidungen geht der BGH – wortgleich – von seiner „mittlerweile ständigen Rechtsprechung“ aus, Regelungen, die einem Gesellschafter, einer Gruppe von Gesellschaftern oder der Gesellschaftermehrheit das Recht einräumen, einen Mitgesellschafter ohne sachlichen Grund aus der Gesellschaft auszuschließen („Hinauskündigungsklauseln“), seien „grundsätzlich wegen Verstoßes gegen die guten Sitten nach § 138 Abs. 1 BGB nichtig“. Das Gleiche gelte für eine neben dem Gesellschaftsvertrag getroffene schuldrechtliche Vereinbarung, die zum selben Ergebnis führen solle. Die freie Ausschließungsmöglichkeit könne vom betroffenen Gesellschafter als Disziplinierungsmaßnahme empfunden werden, sozusagen als Damoklesschwert.16 Dieser Grundsatz gelte – so heißt es in beiden Entscheidung weiter – aber nicht ausnahmslos. Eine an keine Voraussetzungen geknüpfte Hinauskündigungsklausel oder eine vergleichbare schuldrechtliche Regelung sei wirksam, wenn sie „wegen besonderer Umstände sachlich gerechtfertigt“ ist. Diese Ausnahme vom Regelfall sieht der BGH bei den Sachverhalten beider Entscheidungen als gegeben an. In beiden Fällen sei der tragende Gedanke des Hinauskündigungsverbots, den Gesellschafter bei der Wahrnehmung seiner Mitgliedschaftsrechte nicht unter unangemessenen Druck zu setzen, nicht berührt. Im Managermodell-Fall habe der Geschäftsführer praktisch keine Möglichkeiten gehabt, in der Gesellschafterversammlung seine Vorstellungen gegen den Willen der Beklagten durchzusetzen. Alle gesetzlichen und satzungsmäßigen Mehrheiten hätten bei der Beklagten gelegen. Das finanzielle Risiko des Geschäftsführers sei gering gewesen und er habe für den Erwerb des Geschäftsanteils nicht mehr als den Nennwert zahlen müssen. Im Mitarbeitermodell-Fall gelte dies alles erst recht. Denn hier liege schon insofern keine freie Hinauskündigungsmöglichkeit vor, als der Mehrheitsgesellschafter die Gesellschafterstellung der Mitarbeiter-Gesellschafter nicht ohne sachlichen Grund habe beenden können. Der Verlust der Gesellschafterstellung sei vielmehr an eine objektive Voraussetzung gebunden gewesen, nämlich an den Verlust des Arbeitsplatzes.

16 Das Bild vom Damoklesschwert hat in diesem Zusammenhang als erster wohl Wolfgang Schilling, in: ZGR 1979, 419, 426 benützt. Seitdem erscheint es immer wieder in Aufsätzen und Entscheidungen.

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3. Die Kritik Das Schrifttum hat beide Entscheidungen im Ergebnis positiv aufgenommen.17 Doch vermehrt wird die Dogmatik des BGH kritisiert. Es wird in Zweifel gezogen, ob das vom BGH statuierte Regel-/Ausnahmeverhältnis eine wirklich tragfähige Grundlage für künftige Entscheidungen bilden kann.18 Nach der „mittlerweile ständigen Rechtsprechung“ des BGH sollen Hinauskündigungsklauseln sittenwidrig sein. Eine Ausnahme soll nach den Entscheidungen vom 19.09.2005 nur gelten, wenn die Klausel „wegen besonderer Umstände sachlich gerechtfertigt“ ist. Dabei fällt auf, dass der BGH in früheren Entscheidungen nicht „besondere Umstände“ sondern „außergewöhnliche“ gefordert hat.19 Bedeutet dies, dass der BGH seine Anforderungen an die Ausnahme von der Regel – stillschweigend und ohne Begründung – herabstufen wollte? Wie dem auch sei, eine Hinauskündigungsklausel soll in jedem Falle nur Bestand haben, wenn Umstände vorliegen, die nach der früheren „– gefestigten –“ Rechtsprechung „außergewöhnliche“ oder nach der jüngsten „besondere“ sind, und wenn die Klausel dieser Umstände wegen sachlich gerechtfertigt ist. Dass die Klauseln, die der BGH in seinen Entscheidungen vom 19.09.2005 zu beurteilen hatte, sachlich gerechtfertigt sind, kann man schwerlich bezweifeln. Aber sind sie dies auch wegen „außergewöhnlicher“ oder „besonderer“ Umstände? Doch eigentlich kaum! Managementmodelle ähnlich den vom BGH beurteilten werden vielfach praktiziert. Sie finden sich in Bereichen des Vertriebs und bei Tochtergesellschaften von Banken ebenso wie bei Auslandstöchtern. Die Manager sollen Anreize erhalten, die über Tantiemeregelungen hinausgehen. Sie sollen sich als Gesellschafter-Geschäftsführer bezeichnen dürfen, doch ihre Beteiligung am Ende ihrer aktiven Tätigkeit wieder abgeben müssen, weil andernfalls für entsprechende Regelungen mit den Nachfolgern kein Raum wäre. Nicht anders liegen die

17 Lars Böttcher, Managementbeteiligungen im Spiegel der aktuellen BGH-Rechtsprechung, NZG 2005, 992; Benedikt Hohaus/Christoph Weber, Aktuelle Rechtsprechung zum Gesellschafterausschluss und die Bedeutung für Managementbeteiligungen, NZG 2005, 961; Tobias Schneider/Heiko Wiechers, Zur Zulässigkeit von Vereinbarungen über Rückübertragungen gesellschaftsrechtlicher Beteiligungen von Managern und Mitarbeitern, DB 2005, 2450; Olaf Sosnitza, Manager- und Mitarbeitermodelle im Recht der GmbH – Aktuelle Rechtsprechung im Zusammenhang mit Hinauskündigungsklauseln, DStR 2006, 99; vgl. auch: Wulf Goette, Anmerkung zum Urteil des BGH vom 14.03.2005 – II ZR 153/03, DStR 2005, 800; Rüdiger Werner, Anmerkung zum Urteil des BGH vom 14.03.2005 – II ZR 153/03, GmbHR 2005, 623. 18 Lars Böttcher, a.a.O.; Olaf Sosnitza, a.a.O; vgl. auch Walter Sigle, Zur Beteiligung familienfremder Manager an Familien-Personengesellschaften in: Festschrift für Johannes Semler, 1992, 767. 19 BGHZ 105, 213.

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Dinge bei den Mitarbeitermodellen. Solche Modelle liegen geradezu im Trend und werden sozial begrüßt. Die Mitarbeiter werden nicht nur am Ertrag ihres Unternehmens beteiligt, sondern auch am Unternehmen selbst. Auch wenn sie nur in geringem Umfange mitsprechen dürften und die Beteiligungen später wieder abgegeben müssen – beim Ausscheiden vielleicht, oder beim Tode oder beim Tode des überlebenden Ehegatten, oder aber schon früher, wenn der Hauptbeteiligte seine Beteiligung veräußern möchte –, sehen sie in der Beteiligung ein Entgegenkommen und einen Vorteil. Das Unternehmen, in dem sie tätig sind, wird zu „ihrem“ Unternehmen. Mitarbeiter, die sich später gegen eine klauselgerechte Hinauskündigung zur Wehr setzen, werden von ihren Arbeitskollegen scheel angesehen und des Treubruchs bezichtigt. Erscheinen Klauseln im Einzelfall sachlich gerechtfertigt, kann es dann noch darauf ankommen, ob dem wegen „außergewöhnlicher“ oder „besonderer“ Umstände so ist? Es liegt nahe, die Frage zu verneinen, zumal es an einschlägigen Kriterien für die Abgrenzung fehlt. Es spricht in der Tat sehr viel dafür, Sachverhalte wie in den beiden Entscheidungsfällen weder als „außergewöhnliche“ noch als „besondere“ zu qualifizieren. Will man es dennoch tun, muss man sich fragen, was das Gewöhnliche oder das Normale ist. Die Rechtsformen der Personengesellschaften und der GmbH bieten die Grundlage für einen breiten Fächer menschlicher Betätigungen. Eine Norm ist dabei nicht vorgegeben. Angesichts dessen sollte der BGH seine Dogmatik nochmals überdenken. Die Sachverhalte, die es hier zu beurteilen gilt, sind vielgestaltig. Sie lassen eine Gruppierung in „gewöhnliche“ und „außergewöhnliche“, in „normale“ und „besondere“ nicht zu. Der BGH sollte deshalb davon abrücken, Hinauskündigungsklauseln dem Grundsatz nach als sittenwidrig und nichtig zu qualifizieren – genauso wie er sich einst von der Auffassung gelöst hat, solche Klauseln seien dem Grundsatz nach deshalb als nichtig anzusehen, weil sie mit den Grundprinzipien des Gesellschaftsrechts nicht im Einklangstehen.20 Sicherlich können Hinauskündigungsklauseln – wie andere Vertragsklauseln auch – im Einzelfall sittenwidrig und damit nichtig sein. Auch ist es möglich, dass auf Grund rechtwirksamer Hinauskündigungsklauseln rechtsmissbräuchlich gehandelt wird mit der Folge, dass der Kündigung die Wirksamkeit zu versagen ist. Aber ob dem im einen oder anderen Fall so ist, sollte jeweils besonders festgestellt werden. Die Prüfung ist also nicht darauf zu richten, ob eine Klausel im Einzelfall wirksam oder eine Kündigung ausnahmsweise nicht rechtsmissbräuchlich ist, sondern darauf, ob eine Klausel ausnahmsweise sittenwidrig oder eine Kündigung ausnahmsweise rechts-

20

BGHZ 81, 263.

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missbräuchlich ist. Hinauskündigungsklauseln, hinter denen kein sachliches Anliegen steht, werden ohnehin nur selten vereinbart. Dass ein sachliches Anliegen sittenwidrig ist, ist gleichfalls die Ausnahme.

IV. Überlegungen zu einschlägigen Fallkonstellationen Die beiden Entscheidungen vom 19.09.2005 markieren einen Wendepunkt in der Beurteilung von Hinauskündigungsklauseln. Wohin der Umdenkungsprozess letztlich führen wird, ist offen. Das Ziel sollte aber jedenfalls nicht zu sehr an den Fällen aufgerichtet werden, die mehr oder weniger zufällig an den BGH gelangen. Deshalb werden im Folgenden einige Fallkonstellationen angesprochen, die den Praktiker immer wieder beschäftigen, bei denen er sich indessen schwer tut, den Ratsuchenden eine sichere Antwort zu geben. 1. Bereich der Familiengesellschaften Besonders häufig stellt sich bei Familiengesellschaften die Frage, was gestalterisch möglich ist und was nicht. Einige Beispiele mögen dies verdeutlichen. a) Stärkung eines Rechtsnachfolgers Manch ein Unternehmensgründer hält es für wichtig, dass derjenige seiner Rechtsnachfolger, der in die Führung des Unternehmens einrückt, die Möglichkeit erhält, die Beteiligungen der anderen Rechtsnachfolger nach und nach zu einem bestimmten Preis auszukaufen. Ist dies ein legitimes Anliegen? Lässt es sich verwirklichen? Das Erbrecht bietet eine Vielzahl an Gestaltungsmöglichkeiten, die dem Unternehmensgründer zum Ziel verhelfen können. Zu denken ist vor allem an Vermächtnisse und bedingte Nachvermächtnisse. Einem bedingten Nachvermächtnis des Inhalts, dass der Nachvermächtnisnehmer unter bestimmten Voraussetzungen einen dem Vermächtnisnehmer hinterlassenen Gesellschaftsanteil ganz oder zum Teil, unentgeltlich oder gegen Zahlung eines Entgelts, übernehmen kann, wird man schwerlich die Wirksamkeit versagen können. Eine solche Regelung ist nicht sittenwidrig und widerspricht auch nicht den Grundprinzipien des Gesellschaftsrechts. Gesellschaftsrecht schlägt nicht in dem Sinne das Erbrecht, dass der Nachvermächtnisnehmer leer ausgehen muss. Wenn das aber so ist, müssen dann nicht auch entsprechende gesellschaftsrechtliche Regelungen Bestand haben? Ist eine Klausel sittenwidrig, die einem Gesellschafter das Recht einräumt, den Anteil eines anderen zu über-

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nehmen, wenn gewisse Voraussetzungen eingetreten sind, wenn etwa der Anspruchsberechtigte Geschäftsführer geworden oder der Verpflichtete es nicht schafft, die Qualifikation für die Bestellung zum Geschäftsführer zu erlangen? Kann die Sittenwidrigkeit darin begründet sein, dass die Klausel keinen oder einen zu langen Zeitraum nennt, innerhalb dessen der Anspruch auszuüben ist? Ist es möglich, einem geschäftsführenden Gesellschafter das Recht einzuräumen, die Gesellschaftsanteile seiner Mitgesellschafter während eines längeren Zeitraums – den der geschäftsführende Gesellschafter vielleicht braucht, um das nötige Geld anzusparen – in Etappen zu übernehmen, vielleicht mit der Maßgabe, dass der Verpflichtete bei einem Teilabruf die Übernahme des ganzen Anteils verlangen kann? Wird eine Klausel dann fragwürdig, wenn es dem berechtigten Gesellschafter überlassen bleibt, die Beteiligten auch wahlweise von diesem oder jenem Mitgesellschafter zu fordern? Erbrechtlich wären entsprechende Gestaltungen wohl möglich. b) Manager als Gesellschafter auf Zeit 21 Familiengesellschafter streben in der Regel an, dass ihre Unternehmen auch von Familiengesellschaftern geführt werden. Das lässt sich nicht immer erreichen, sei es weil keine geeigneten Familiengesellschafter vorhanden sind, sei es dass die an sich geeigneten die Führung nicht übernehmen wollen. Dann muss das Unternehmen durch fremde Manager geführt werden. Gute Manager sind aber, namentlich bei kleineren Gesellschaften, oft nur zu bekommen, wenn sie auch am Unternehmen beteiligt werden. Zumeist geschieht dies auf Zeit. Nach der Managermodell-Entscheidung dürfte an der Wirksamkeit einer entsprechenden Regelung jedenfalls dann kein Zweifel bestehen, wenn vereinbart ist, dass die Beteiligung beim Ausscheiden des Managers aus dem Dienst zurück zu übertragen ist oder zurückgefordert werden kann. Problematisch könnte indessen eine Regelung sein, die die Geltendmachung des Rückübertragungsanspruchs unbefristet oder bis zum Tode des Managers oder bis zum Todes seines überlebenden Ehegatten in das freie Belieben der Familiengesellschaft stellt. Aber würde mit einer solchen Regelung wirklich die Grenze zur Sittenwidrigkeit überschritten? Ein Geschäftsführer könnte dem drohenden Damoklesschwert ja ohne Weiteres dadurch entgehen, dass er selbst kündigt. Und hat das Damoklesschwert hier wirklich die Bedeutung, die ihm so häufig zugesprochen wird? Im ManagermodellFall rechtfertigt der BGH die Hinauskündigungsklausel u.a. mit folgenden Sätzen:

21

Walter Sigle, Zur Beteiligung familienfremder Manager an Familien-Personengesellschaften, a.a.O.

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„Demgegenüber sind die Möglichkeiten des Geschäftsführers, in der Gesellschafterversammlung seine Vorstellung gegen den Willen des Beklagten durchzusetzen, praktisch ausgeschlossen. Alle gesetzlichen und satzungsmäßigen Mehrheiten hat die Beklagte. Dafür ist das finanzielle Risiko des Geschäftsführers gering.“

Hier klingt erstmals der Gedanke an, dass Beteiligungen ohne nennenswerten gesellschaftsrechtlichen Einfluss im Zusammenhang mit einer Hinauskündigungsklausel anders zu sehen sind als stärkere Beteiligungen. Eine Parallele zum Squeeze-out bei Aktiengesellschaften wird sichtbar (§§ 327a ff. AktG). c) Sonderregelungen für geschenkte Beteiligungen In Schenkungsverträgen kann der freie Widerruf einer Schenkung vereinbart werden. Nach wohl herrschender Meinung ist dies auch bei der Schenkung von Gesellschaftsanteilen möglich.22 Möglich ist es sicher auch, den Widerruf einem Dritten vorzubehalten. Muss es dann nicht auch möglich sein, in einem Gesellschaftsvertrag vorzusehen, dass der mit einem Gesellschaftsanteil Beschenkte aus der Gesellschaft hinausgekündigt werden kann, wenn der Schenker auf einer solchen Bestimmung besteht? Dies zu verneinen wäre ein Wertungswiderspruch. Er wäre nur dadurch aufzulösen, dass man bei der Schenkung von Gesellschaftsanteilen den Widerruf der Schenkung nur in beschränktem Maße zulässt. d) Regelungen für überlebende Ehegatten Manche Gesellschaftsverträge von Familiengesellschaften lassen es nicht zu, dass der Ehegatte eines verstorbenen Gesellschafters die Rechtsnachfolge in den Gesellschaftsanteil antritt. Andere Verträge gestatten die Rechtsnachfolge, wenn die Mehrheit oder eine Minderheit dem zustimmt. Wieder andere ermöglichen die Rechtsnachfolge unter dem Vorbehalt, dass die Gesellschafterstellung des überlebenden Ehegatten mit dessen Tode oder – zuvor – dann enden soll, wenn die Mehrheit der Gesellschafter oder eine Minderheit dieses beschließt. All das ist nichts Außergewöhnliches, nichts Besonderes. Doch fragt es sich, ob die Fälle unter der früheren oder der jetzigen Rechtsprechung des BGH gleich zu behandeln sind. Am problematischsten ist der Fall, dass die Gesellschafter das Ausscheiden des nachfolgeberechtigten Ehegatten zu dessen Lebzeiten nach Gutdünken sollen beschließen dürfen. Spielt hier die Höhe der Beteiligung eine Rolle wie im Managermodell? Wohl nein. Ist es

22

Walter Weidenkaff in: Palandt, 65. Auflage, § 530 Rn. 4; Karsten Schmidt, Die Schenkung von Personengesellschaftsanteilen durch Einbuchung, BB 1990, 1995.

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von Belang, ob der überlebende Ehegatte das Gesellschaftsverhältnis kündigen und so dem Damoklesschwert entgehen kann? Es spricht mehr dafür, alle diese Regelungen als wirksam anzuerkennen als die eine oder andere mit dem Verdikt der Sittenwidrigkeit zu behaften. Einem Missbrauch im Einzelfall kann mit der Missbrauchsrechtsprechung begegnet werden. 2. Unterbeteiligungsverträge Durch Unterbeteiligungsverträge werden – in der Regel zweiseitige – Innengesellschaften begründet. Kündigt der Hauptgesellschafter, bedeutet dies im Regelfall, dass die Unterbeteiligung endet und der Unterbeteiligte abzufinden ist. Die Kündigung wirkt wie eine Hinauskündigung. Ist eine Klausel, die dem Hauptbeteiligten die Kündigung gestattet, im Regelfall als sittenwidrig anzusehen? Ich möchte das verneinen. 3. Verträge mit Kapitalbeteiligungsgesellschaften Mittelständische Unternehmen tun sich oft schwer, die für eine Expansion benötigten Kredite zu bekommen. Für solche Fälle bieten Kapitalbeteiligungsgesellschaften ihre Beteiligung am Unternehmen an. Die Beteiligungsverträge enthalten häufig die Bestimmung, dass die Altgesellschafter – wann immer sie wollen – die Kapitalbeteiligungsgesellschaft hinauskündigen können, während die Kapitalbeteiligungsgesellschaft in der Kündigungsmöglichkeit eher eingeschränkt wird. Haben solche Hinauskündigungsklauseln Bestand? Die Fälle sind weder außergewöhnliche noch besondere. Aber dem Venture-Capital-Modell wäre weitgehend die Grundlage entzogen, wenn man solche Klauseln als sittenwidrig qualifizieren würde. 4. Private Equity Schneider/Wiechers 23 und Sosnitza 24 haben sich mit der Frage beschäftigt, ob die Entscheidung zum Managermodell auch auf die Beteiligung von Managern im Rahmen von Private Equity-Transaktionen anzuwenden ist. Bei solchen Transaktionen erwirbt ein Finanzinvestor ein Unternehmen in der Absicht, dessen Wert durch Umstrukturierung zu steigern und es dann mit Gewinn zu veräußern. Bei der Umstrukturierung ist der Investor auf ein starkes Management angewiesen. Es kann dies das bisherige oder ein neues sein. Um Manager stärker zu interessieren und sie bis zur Weiterveräußerung

23 24

A.a.O. A.a.O.

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auch zu binden, wird ihnen eine Beteiligung eingeräumt, die jedoch auf Verlangen auf den Investor zu übertragen oder zusammen mit der Beteiligung des Investors zu veräußern ist. Ganz vergleichbar sind die Fälle nicht. Denn bei dem Managermodell, über das der BGH zu entscheiden hatte, sollte die Übertragung der Beteiligung unmittelbar im Zusammenhang mit dem Ausscheiden des Managers erfolgen, was hier nicht unbedingt der Fall ist. Dennoch wird der BGH solche Klauseln wohl auch dann passieren lassen, wenn er im Grundsatz an seiner jetzigen Rechtsprechung festhält. Wenn ein Manager vor die Wahl gestellt würde, die Beteiligung mit der zur Diskussion gestellten Hinauskündigungsklausel zu übernehmen oder sich mit einer Zusage zu begnügen, wonach die Tantieme so berechnet wird, als wäre er beteiligt, würde er mit Sicherheit das Erstere vorziehen, weil für ihn der Status als Gesellschafter-Geschäftsführer einen eigenständigen Wert hat. Ihm den Status mit dem Argument zu verwehren, er sei mit einer sittenwidrigen Hinauskündigungsklausel verbunden, kann unsere Rechtsordnung schwerlich fordern. 5. Optionsverträge Es ist zweifelsfrei möglich, dass ein Gesellschafter einem Dritten die Option einräumt, seinen Gesellschaftsanteil innerhalb eines bestimmten Zeitraums, der auch sehr lang sein kann, zu festgelegten Bedingungen zu erwerben. Ist die rechtliche Situation eine andere, wenn die Option auf gesellschaftsrechtlicher Grundlage einem Mitgesellschafter zugesprochen wird? Im wirtschaftlichen Ergebnis ist eine solche Option nichts anderes als das Recht, einen Mitgesellschafter aus der Gesellschaft hinauszukündigen und dessen Anteil zu übernehmen. Es fällt schwer, die Option zu Gunsten eines Außenstehenden rechtlich anders zu bewerten als die Option zu Gunsten eines Mitgesellschafters. Andererseits kann das „Sich-nicht-Fügen“ nur dann zur Ausübung der Option reizen, wenn der Optionsberechtigte ein Mitgesellschafter ist. Bei Aktiengesellschaften sind Optionen gang und gäbe. Ist die Interessenslage bei einer Personengesellschaft oder einer GmbH eine soviel andere, dass man die Keule der Sittenwidrigkeit schwingen muss?

V. Fazit 1. Der BGH hat im Laufe der letzten Jahrzehnte in der Beurteilung von Hinauskündigungsklauseln sehr geschwankt. In seinem Urteil vom 16.12. 1960 25 ging er von der generellen Wirksamkeit aus. Eine erste Wende kam 25

BGHZ 34, 80.

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mit den Entscheidungen vom 20.01.1977 26 und 17.07.1981.27 Hinauskündigungsklauseln sollten danach im Regelfall gegen Grundprinzipien des Gesellschaftsrechts verstoßen. Die zweite Wende brachte die Entscheidung vom 25.03.1985. Jetzt war es nicht mehr ein Verstoß gegen gesellschaftsrechtliche Grundprinzipien, der der Wirksamkeit entgegenstehen sollte, sondern ein Verstoß gegen die guten Sitten (§ 138 BGB). 2. Mit den Entscheidungen vom 19.09.2005 (Managermodell und Mitarbeitermodell) hält der BGH zwar im Grundsatz an der in der Entscheidung vom 25.03.1985 entwickelten Auffassung fest, verfährt aber im Übrigen beim Anerkennen von Ausnahmen großzügiger als bisher. 3. Es läge im Interesse der Ratsuchenden, wenn der BGH seine Rechtsprechung nochmals überdenken würde. Künftig sollte der Fokus darauf gerichtet werden, ob eine Klausel ausnahmsweise sittenwidrig ist, und nicht darauf, ob sie ausnahmsweise nicht sittenwidrig ist. Ein Regulativ ist, dass die Missbrauchsrechtsprechung hilft, wenn von einer wirksamen Klausel missbräuchlich Gebrauch gemacht wird. 4. Die Sachverhalte, die es im Zusammenhang mit Hinauskündigungsklauseln zu beurteilen gilt, sind vielgestaltig. Sie lassen eine Gruppierung in „gewöhnliche“ und „außergewöhnliche“, in „normale“ und „besondere“ kaum zu. Eben solche Unterscheidungen sind aber bis zur Stunde das entscheidende Prüfkriterium, an dem der BGH die Hinauskündigungsklauseln misst.

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BGHZ 68, 212. BHGZ 81, 263.

Anspruchsgesellschaft im Wohlfahrtsstaat Ernst Steindorff Ich liege und schlafe ganz mit Frieden; denn allein du, Herr, hilfst mir, dass ich sicher wohne. 4. Psalm, Vers 9 Nie wird ohne die Götter das Glück, wird das Unglück erfahren, Nie auch wandelt gleiches Haus Im steten Glanz des Glücks, Immer neues Geschick jagt das alte Geschick, Stürzt den Hohen zu Boden, macht den Bettler zum Reichen. Verhängnis meiden Ist keinem gesetzt, auch der Weise Wendets nicht ab; Eifer, der es bekämpft, Verschwendet die Zeit. Euripides Lass nur in allen Dingen den Herrn der Menschen walten; Weis von dir alle Gedanken, die dich in Sorgen halten! frag nicht bei jedem Geschehn, wie es also geschah: denn alle Dinge sind doch nach Geschick und Verhängnis da. …… alles lässt sich abwehren, nur nicht das Schicksal …… Ein Mensch greift niemals in den Lauf des Schicksals ein. Aus den Erzählungen aus tausend und ein Nächten Fest steht, dass das Schicksal über alles herrscht. Es hebt die Dinge samt und sonders ans Licht oder stößt sie ins Dunkel, nach eigenem Gutdünken mehr als nach deren wahrem Wert. …… Glück und Unglück sind … zwei souveräne Mächte. Es ist Unvernunft zu meinen, die menschliche Vernunft sei in der Lage, die Rolle des Schicksals zu übernehmen; … Montaigne Es sind gewisse Dinge, die sich das Schicksal hartnäckig vornimmt. Vergebens, dass Vernunft und Tugend, Pflicht und alles Heilige sich ihm in den Weg stellen: es soll etwas geschehen, was ihm recht ist, was uns nicht recht scheint; und so greift es zuletzt durch, wir mögen uns gebärden, wie wir wollen. Goethe

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Ernst Steindorff

Anspruchsgesellschaft ist ein pejorativer Ausdruck für die Gesellschaft, deren Mitglieder vom Wohlfahrtsstaat fordern, dass er ihnen Wohlbefinden sichert, dass er Härte aus dem Leben verbannt und widriges Schicksal abwehrt. Erfüllt werden die Forderungen zu Lasten der Mitbürger, die Steuern und sonstige Abgaben entrichten, und zu Lasten anderer Staatsaufgaben. Politik in Deutschland und Europa hat den Sozialstaat zum Wohlfahrtsstaat aufgestockt. Für viele Deutsche ist der Staat nur noch Wohlfahrtsstaat. Der amerikanische Präsident John F. Kennedy hat umgekehrt in seiner Inaugurationsrede die Bürger (und Unternehmen) ermahnt: „Fragt nicht, was der Staat für euch tut, sondern fragt, was ihr für den Staat tun könnt!“ Das Leben und Wirtschaften in einer globalen Welt, deren künftiger Zustand und künftige Probleme immer weniger – schon gar nicht unter Nutzung von Erfahrung – vorausgesagt werden können, zwingen dazu, auch den bisherigen Wohlfahrtsstaat in Frage zu stellen. Nicolas Baverez hat darauf in seiner scharfen Kritik an Frankreichs Immobilismus zuletzt hingewiesen. Neigt sich die wohlfahrtsstaatliche Epoche etwa – von den meisten unbemerkt –, ihrem Ende zu? Werden Politiker künftig von neuen Wohltaten absehen und primär darüber befinden müssen, welche kostenträchtigen Polítiken sie begraben sollen? Martin Wolf hat die Frage am 1. März 2006 aufgeworfen. Juergen Donges hat ein Ende des Sozialstaats in der FAZ vom 2. 8. 2005 konstatiert und begrüßt. Meinhard Miegel, dem ich für einen Kommentar zu meinem Entwurf danke, hat von einer Epochenwende geschrieben (2005). Drei Fragen hierzu seien nur erwähnt. Zuerst: Steht unserer Wirtschaft ein Ringen um Überleben bevor, dem die Unternehmen und die gesamte Politik ihre Sorge vor allem anderen widmen müssen? Müssen soziale Ziele und dringende Aufgaben der Sozialpolitik deshalb der Sorge um unsere Wirtschaftskraft nachgeordnet werden? Ich verweise u.a. auf das sogleich heranzuziehende Sapir-Dokument, auf den immer schneller eilenden technologischen Fortschritt, auf unser demographisches Problem und das Gesundheitssystem. Ich erwähne die niedrigen Arbeitskosten osteuropäischer Länder, den Aufstieg von China und Indien. Wenn deutsche Politiker davor nicht die Augen verschließen würden, dürften sie nicht harte Maßnahmen weitblickender Unternehmen kritisieren. Hans-Werner Sinn hat dies alles und weiteres angeführt und angesichts politischer Missachtung solcher Entwicklung ein Erkenntnisproblem diagnostiziert. Wähler und ihre Verbände machen es der Politik schwer, weil auch sie die Lage nicht sehen wollen oder nicht verstehen können. Eine Partei bestärkt sie darin mit dem Vorhaben, Wahlkämpfe künftig emotional zu führen, den Wählern also den Ernst der tatsächlichen Lage vorzuenthalten. Wer sich der Erkenntnis und dem daraus resultierenden Bekenntnis zum Vorrang radikaler Wirtschaftspolitik versagt, dem stellt sich die zweite Frage: Wie soll eine anspruchsvolle, d.h. den Ansprüchen genügende Wohlfahrtspolitik möglich sein, wenn nicht dauerhaft wirtschaftliche Höchstleistung sie

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ermöglicht? Muss unsere Sorge nicht auch deshalb primär dieser Höchstleistung gelten und Sozial-, besser: Wohlfahrtspolitiker ins zweite Glied verweisen? Muss, mit anderen Worten, Politik dem Schaffen von Wohlstand – auch unter Hinnahme von materieller Ungleichheit – nicht deutlich stärkere Aufmerksamkeit widmen als seiner – wie immer gerechten – Verteilung? Und drittens: Wird nicht die Fortführung und -entwicklung unseres Wohlfahrtsstaats schließlich ein so kompliziertes Geflecht von Abgaben, Leistungen und Regelungen erfordern, dass dieses nicht mehr beherrschbar, dass seine Folgen und Nebenfolgen nicht mehr kalkulierbar und seine Ziele nicht mehr realisierbar sind? Udo Di Fabio 1 sieht das so, und Jürgen Papier, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hat auf ein Spezialproblem, nämlich die verfassungsrechtliche Absicherung der Rentenansprüche hingewiesen. Wird eine unseren Wohlfahrtsstaat betonierende Verfassung nicht spätestens unsere Kinder unter sich begraben, so wie einst Pompeji vom Vesuv verschüttet wurde? Man kann nur fragen, ob das diejenigen zu verantworten haben, die Rentenzusagen geben, oder diejenigen, die das Verfassungsrecht immer weiter ausdehnen. Darauf ist zurückzukommen. Ich stelle hier eine vierte Frage: Verdienen der Wohlfahrtsstaat und die an ihn gerichteten Ansprüche überhaupt den hohen Rang, den ihnen nicht nur die Anspruchsteller, sondern auch die deren Partei ergreifende Politik zuerkennen? Hierzu erörtere ich die ihm zugrunde liegenden Werte, obwohl deren Relevanz für die postmoderne Gesellschaft vielfach geleugnet wird.2 Ich weiß, dass in Deutschland vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Politik, Recht und Wissenschaft um Sozial- und Wohlfahrtsstaat mit großem Ernst gerungen wurde. Hierzu stelle ich in Frage, ob und wie der Wohlfahrtsstaat Geboten der Gerechtigkeit und Solidarität gehorcht, ob er sich mit der Würde der Menschen, mit Freiheit auf sittlichem Grunde verträgt, ob er Schicksal (auch Vorsehung, Fügung) leugnet. Je mehr der Sozialund der Wohlfahrtsstaat uns allen zur Selbstverständlichkeit geworden ist, desto dringlicher sollte es sein, ihn auf die Probe zu stellen. Udo Di Fabio hat in seinem gerade zitierten Buch hierzu aufgerüttelt. Auf vieles kann ich nicht eingehen, etwa auf Erkenntnisse politischer Wissenschaft, auf Rechtsfragen des Sozialstaats 3, auf die Einordnung des 1 Udo Di Fabio Die Kultur der Freiheit, 2005, S. 51 f. Es ist bemerkenswert, dass dieses Buch in einer großen englischen Zeitung als Ausgangspunkt für Neubegründung eines deutschen konservativen Gesellschaftsbilds ausführlich gewürdigt wurde. Ergänzend Francis Fukuyama, America at the crossroads, 2006 S. 18 ff., 49 zu neokonservativen Zweifeln an sozialer Machbarkeit. 2 Damit gehe ich über „Reaktionen“ hinaus, wie sie Albert O. Hirschmann erörtert hat: 200 Years of Reactionary Rhetoric, in Paul Barker (Hrsg.) Living as Equals, 1996 S. 59, 62 ff. – Zur modernen Unvorhersehbarkeit und Globalität schon Paul Valéry Regards sur le monde actuel, 1945. 3 Dazu beispielhaft Hans F. Zacher Das soziale Staatsziel, in Isensee/Kirchhof (Hrsg.)

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Sozial- und des Wohlfahrtsstaats in oder sein Verhältnis zu unterschiedlichen Wirtschafts- und Sozialsystemen, wie sie beispielsweise Josef Drexl, Stefan Collignon und zu allerletzt André Sapir vorgestellt haben, letzterer mit Blick auf vier unterschiedliche Sozialmodelle in Europa 4. Zu ökonomischen Problemen verweise ich vor allem auf Hans-Werner Sinn 5. Ich stütze mich auf Wertungen unterschiedlichster Provenienz und Zeit und auf eigene Erfahrung, um das Staatsziel Wohlfahrt in Frage zu stellen. Politik und das Blutbad zweier Weltkriege haben auch Werte aus der Zeit vor der Industrialisierung, vor und nach Karl Marx und vor der Globalisierung nicht ihres Gewichts beraubt. In Sachen der Lebensweisheit sieht der italienische Philosoph Franco Volpi mit Recht die Philosophen der Gegenwart und der Vergangenheit als Gesprächspartner. Dem Theologen Adolf von Harnack verdanken wir den Satz, dass das Alte in der Wissenschaft (sogar) gewichtiger sei als das Neue.6 Die im Folgenden mit ihren Wertungen herangezogenen Autoren hatten unterschiedliche gesellschaftliche, ökonomische und politische Erfahrungen, befanden sich, auch zeitlich, in unterschiedlicher „Seinslage“ (Luhmann). Sie könnten, wo sie übereinstimmen, gerade deshalb lehren, dass es postmoderne Alternativen zur heute fragwürdig gewordenen wohlfahrtsstaatlichen Moderne gibt. Nicht alles, was diese Moderne ersonnen und bewerkstelligt hat, muss das Optimale sein. Ich will die einzelnen Menschen und ihre Autonomie, letztere samt ihrer siamesischen Zwillingsschwester Selbstverantwortung, in den Mittelpunkt rücken, wie dies spätestens seit Montaigne schrittweise gefordert worden ist, wie das unabhängig von den rein ökonomischen Ordnungs- und Politikmodellen mehr denn je nötig ist.7 Margarita Mathiopoulos spricht zwar mit Blick auf die im SozialHandbuch des Staatsrechts, 3. Aufl.; zuletzt Rupert Scholz Zum Verfassungsprinzip des „sozialen Bundesstaats“, in Festschrift Reinhard Mußgnug, 2005, S. 19ff. Beachtlich unter vielen Eberhard Schwark Wirtschaftsordnung und Sozialstaatsprinzip, Humboldt Universität, 1996. 4 Drexl Die wirtschaftliche Selbstbestimmung der Verbraucher, 1999, S. 92ff.; Collignon Vive la République Européenne, 2004. S. 39 ff.; André Sapir, Globalisation and the Reform of European Social models, Background document for the ECOFIN informal meeting 9 sept. 2005, www.bruegel.com. 5 Ist Deutschland noch zu retten? 2. Aufl. 2005. – Vieles Weitere, was zum Wohlfahrtsstaat gehört, muss hier unerwähnt bleiben. 6 Ein König fragte einst einen seiner Gelehrten: „Was gibt es Neues in Ihrer Wissenschaft?“ und erhielt darauf die Gegenfrage: „Kennen Majestät schon das Alte?“ Die Antwort war nicht höflich, aber richtig; denn von dem Alten ist in der Wissenschaft immer mehr zu erzählen, als von dem Neuen. – Auf die Frage nach internationalen Kulturunterschieden wird hier und im folgenden nicht eingegangen; dazu Patrick Chabal/Jean-Pascal Daloz Culture Troubles 2006, u.a. S. 64 ff. 7 Nietzsches Aussage hierzu wird später hervorgehoben. Im Übrigen kann hier auf die Auseinandersetzungen um Autonomie mit Verantwortung nicht eingegangen werden. Ein oberflächlicher Überblick über die Entwicklung zuletzt bei Jeremy Rifkin The European dream, 2004, Kap. 5. Kritik an der Selbstverantwortung beispielhaft bei dem Nobel-Preis-

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staat geborgene Sozialgemeinschaft von einer geschlossenen Gesellschaft.8 Aber damit provoziert sie die Forderung nach Unabhängigkeit der Einzelnen, und zwar nach einer Selbständigkeit, die auch eine Kehrseite einschließt: Jeder muss die Konsequenzen seines Tuns und Unterlassens selbst tragen und sich das Ausweichen auf Ansprüche gegen den Staat versagen. Auch die von vielen unterdrückte Erinnerung an die „Volksgemeinschaft“ des Dritten Reichs macht diese Forderung dringlich. Der folgende Text ist mein Streitbeitrag, ein Beitrag allerdings, der wie jedes Plädoyer um Zustimmung wirbt. 1. Schutz der Schwachen im Sozialstaat und Fülle des Wohlfahrtsstaats a) Sozialstaat Ich versuche eine eigene, enge Definition des Sozialstaats: Er ist der Staat, dessen Verfassung und Recht Ansprüche auf Staatshilfe begründen, wo Menschen zu schwach sind, um selbständig ihre Grundversorgung, ihr tägliches Brot zu sichern und damit Not von sich abzuwenden. a) Selbsthilfe und Staatshilfe Den Schwachen, und nur ihnen, steht primär Hilfe des Sozialstaats zur Selbsthilfe zu, also Hilfe zur Entwicklung eigener Kraft. Selbsthilfe schließt das Zusammenwirken mit anderen ein; dazu braucht man nicht auf Subsidiarität zu verweisen. Zum Grunde hat John Updike treffend geschrieben: „The weak must be protected somewhat from the strong, but not so satisfactorily that no incentive remains to become strong“ 9. Beispielhaft der Vorrang von „workfare“ vor „welfare“ oder die rechtlichen Normen, die Verbrauchern Information sichern um ihnen dadurch selbständige Urteilsbildung zu ermöglichen. Eine der wichtigsten Hilfen dieser Art ist das Verfügbarmachen eines Ausbildungssystems 10, das den Grundstein für Autonomie und Selbstverantwortung der später Erwachsenen legt.11 Alle Maßnahmen, die zur Träger Amartya Sen Social Commitment and Democracy: The Demands of Equity and Financial Conservatism, in Paul Barker (Fn. 2); er schreibt S. 17: „The twentieth century has seen a deep undermining of the idea that individuals alone are responsible for their own predicament.“ Weiter z.B. der Hinweis auf das 19. Jahrhundert bei Gottfried Benn Zur Problematik des Dichterischen, 1930; auch seine Rede vom sozialen Ich. – Auf die weiteren Inhalte und Bindungen der Freiheit kann hier nicht eingegangen werden. 8 Margarita Mathiopoulos Die geschlossene Gesellschaft und ihre Freunde, 1997. 9 In Bech at Bay, 1998. – Bei Franz Kafka heißt es in seinem Roman Amerika, auf Mitleid dürfe man hier nicht rechnen. 10 Lebenslanges Lernen sollte gefördert werden, soweit es der Selbsthilfe, auch dem Wirken im demokratischen Gemeinwesen nutzt. 11 Schon früh hat man in diesem Sinne entschieden. So bestimmt z.B. die NassauKatzenelnbogsche Gerichts- und Landordnung des Jahres 1711 nur für diejenigen, „die ihr Brod zu verdienen geschickt seien …, dass die Unterthanen vom Müßiggang zur Arbeit

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Selbsthilfe ertüchtigen, sind mit Vorrang vor anderen zu finanzieren. Auch staatliche Arbeitsvermittlung ist hier zu nennen, obwohl sie die Eigenanstrengung von Arbeitsuchenden schwächen könnte, deren wagemutigste im Ausland einen Arbeitsplatz finden. b) Das Notwendige – Not abwendende Wo trotz der Hilfe zur Selbsthilfe die Kraft zur Selbstvorsorge versagt, muss der Sozialstaat – wie ich ihn hier begreife – Not von Schwachen abwenden, also in diesem Sinne zum Lebens“notwendigen“ verhelfen. Ich stütze mich auf eine Formulierung von Immanuel Kant. Er hat die individuelle Pflicht der Wohltätigkeit für jedermann dahin bestimmt, dass „sie fordere, anderen Menschen in Nöten zu ihrer Glückseligkeit, ohne dafür etwas zu hoffen, nach seinem Vermögen beförderlich zu sein“. Das Lebensnotwendige, das ist die Armut abwehrende, Existenz ermöglichende sog. Grundversorgung, die auch in einer Denkschrift der Evangelischen Kirche gefordert wird, wenngleich diese an die Sozialpolitik größere Anforderungen stellt.12 Arthur Schopenhauer warnt vor der Gefahr einer Gewöhnung an Wohlstand und damit vor weiter gehenden Hilfen: Die Gewöhnung bewirkt, dass wir das Notwendige immer weiter fassen. Der Franzose Nicolas Baverez hat untechnisch von dem Staat als Rückversicherer gesprochen, der tätig wird, wo der Markt Menschen den Schutz gegen Risiken versagt. Ich weiß, dass Nietzsche geschrieben hat, solche Hilfe sei zu verwerfen, die Schwachen seien sich selbst zu überlassen. c) Echte Schwäche Schwäche, welcher der Sozialstaat abhilft, muss echt sein. Jean-Jacques Rousseau hat „die natürlichen Schwachheiten, die Kindheit, das Alter und die Kranckheiten“ angesprochen.13 Die gerade zitierte Denkschrift der evangelischen Kirche aus dem Jahr 1976 ist auf solche Schwäche eingegangen. Wir müssen weiter ausgreifen. Schwäche kann (nahezu) absolut sein, weil im Individuum angelegt. Beispiele sind Alter und Krankheit, vielfach auch Herkunft aus anderen Staaten. Zugewanderte leben vielfach in besonderen Nöten. Aber auch relative Schwäche nötigt zur Fremdhilfe. Sie liegt vor, wo äußere Umstände, insbesondere Katastrophen, die Kraft einzelner zur Selbsthilfe übersteigen, wo die Gesellschaft Menschen keine Chance gewährt. angewiesen und sonderlich die Kinder in der Jugend vom Hausiren, Heischen und Betteln abgehalten und gleichfalls ihr Brod zu verdienen angehalten werden“ sollen. 12 Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland für soziale Ordnung Sozialethische Überlegungen zur Frage des Leistungsprinzips und der Wettbewerbsgesellschaft, Eine Denkschrift, Abschn. I.7.3. 13 Abhandlung von dem Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (Übersetzung Moses Mendelssohn), neu herausgegeben von Ursula Goldenbaum, 2000.

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Vor allem wächst Schwäche in einer global arbeitsteiligen Welt. Darauf ist zurückzukommen. Schwäche kann schließlich gegenständlich beschränkt sein, so bei Arbeitnehmern wegen ihrer rechtlichen Abhängigkeit während des Bestands eines Arbeitsverhältnisses. Corinne Maier spricht in ihrem „essai-pamphlet“ sogar heute noch von „esclavage“ der Angestellten.14 Begreift man Schwäche so weit, so sind dem Sozialstaat große Aufgaben gestellt. Zur Schwäche aber auch drei kritische Bemerkungen 15: Erstens: Wenn einem Menschen Hilfe versagt wird, weil er über Vermögen, etwa ein Sparguthaben oder eine Lebensversicherung verfügt und insoweit nicht schwach und bedürftig ist, dann wird damit im Grunde Selbstvorsorge bestraft. Das ist, obwohl durch Hartz IV bestätigt, nur akzeptabel, wenn die Versagung auch bei denjenigen erfolgt, die in der Lage gewesen wären, ebenso vorzusorgen, die dies aber unterlassen haben. Hans-Werner Sinn schließt sich deshalb denjenigen an, die die Riester-Rente obligatorisch machen wollen.16 Hier liegt ein kaum lösbares Problem aller an Bedürftigkeit anknüpfenden Hilfen. Die zweite Bemerkung zu einer bedrohlichen Entwicklung: Die Zahl der Menschen, die zu schwach zur Selbsthilfe sind, steigt besorgniserregend: Wir leben in einem Geflecht arbeitsteiliger Beziehungen, in dem kaum mehr jemand rundum für sich zu sorgen vermag. Es bleiben immer weniger Arbeitsplätze für Menschen, die Arbeit suchen und denen die Kraft zur Auswanderung fehlt. Selbst Henry Kissinger hat von der „größtmöglichen Reduzierung des Faktors Arbeit in den meisten Produktionsprozessen“ gesprochen. Einsichtige wissen, dass die meisten Arbeiten von immer weniger Menschen bewältigt werden können. Sie wissen, dass die Konkurrenz auf dem Weltmarkt unerbittlich ist. Auch wenn dies nur die Geburtswehen einer Gesellschaft sein sollten, die sich im Existenzkampf gegen eine ganze Welt wandeln muss, so machen sie doch viele Menschen hilflos und damit schwach. Drittens und vor allem hat wohl die Ausweitung staatlicher Leistungen und nicht zuletzt der sozialen Sicherungssysteme Menschen abhängig und damit schwach, zur Selbsthilfe, etwa zum Schritt in die Selbständigkeit

14 Bonjour paresse, 2004, S. 110. – Die beispielsweise von Hans-Werner Sinn (Fn. 5) geäußerte Forderung nach Lockerung des Kündigungsschutzes mag ökonomisch und insoweit „technisch“ begründet sein, missachtet aber zwei Dinge: erstens die rechtspolitische Wertung, zweitens den tatsächlichen Mangel an Mobilität bei Arbeitnehmern. – Sehr pointiert Jürgen Habermas: „seine (Marx) Arbeitswerttheorie zerstörte den Schein der Freiheit, mit dem das Rechtsinstitut des freien Arbeitsvertrages das dem Lohnarbeitsverhältnis zugrunde liegende Verhältnis sozialer Gewalt unkenntlich gemacht hatte“, in Aus Technik und Wissenschaft als Ideologie, 1. Aufl. 1968. Thomas Carlyle, zitiert nach Zeev Sternhell Les anti-Lumières, 2006, S. 363: A man willing to work, and unable to find work, is perhaps the saddest sight that Fortune’s inequality exhibit under the sun. 15 Auf die Diskussion der Armutsfragen muss ich hier verzichten. 16 (Fn. 5) S. 413.

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unfähig oder gar unwillig gemacht. Schon Harold J. Laski hat zu Alexis de Tocqueville auf die Gefahr solcher Schwächung durch zu viel Staat aufmerksam gemacht. Sie mag das aus Menschen verdrängt haben, was Max Weber den Geist des Kapitalismus genannt hat, nämlich kurz gesagt das protestantischer Ethik entsprungene rationale und asketische Bemühen um Erwerb, wie es nach 1945 in Deutschland dominiert hat.17 Darauf ist zurückzukommen. Die Deutschen waren im Jahr 2004 angeblich das mit seiner Lage unzufriedendste Volk.18 Dies zeigt an, dass sie, vermutlich dank staatlicher Versorgung, teilweise die Bereitschaft zur und das Vertrauen auf Selbsthilfe eingebüßt haben. Drei Aussagen zeigen, dass wir mit einem alten Problem zu tun haben. Als erstes hat Jacob Burckhardt schon über Rom zur Zeit Constantins des Großen geschrieben: ein Volk, „welches von Spenden lebte und nichts als einen unaufhörlichen, stets gesteigerten Genuss kannte und verlangte, mit einer bedeutenden Zahl eheloser Menschen“ 19, Damit ist Rom selbst schwach geworden und hat zugunsten Konstantinopels abgedankt. (Man lese dazu auch die praefatio des Titus Livius zu seiner römischen Geschichte, und man plage sich mit der Frage, ob bei uns vergleichbarer Sittenverfall zu registrieren ist.) Meinhard Miegel spricht für die Gegenwart pessimistisch vom deutschen Hedonismus. Und dazu schon viel früher eine Aussage Immanuel Kants im ersten Abschnitt des Streits der Fakultäten, nämlich dass dies die Lage Deutschlands schon zu seiner Zeit war: Das Volk habe die Neigung zu genießen und Abneigung sich darum zu bearbeiten; es hänge natürlicherweise dem am nächsten an, „wobei es am wenigsten nötig hat, sich selbst zu bemühen und sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen“. Damit kennzeichnet auch er Schwäche durch Ge- und gar Verwöhnung. In solcher Lage muss Hilfe zur Selbsthilfe in Umerziehung bestehen, d.h. in einer Entziehungskur, die von Gewöhnung an wohlfahrtsstaatliche Leistung befreit, soweit diese das sozialstaatlich Notwendige übersteigt. d) Vertrauen und Sozialversicherung Analog zur Schwäche sind Fälle besonderen Vertrauens in den Fortbestand sozialer Leistungen zu bewerten. In erster Linie ist hier an die Zweige der Sozialversicherung zu denken. Eine Kürzung ihrer Leistungen ist problematisch, wenn man arbeitsrechtliche Maßstäbe analog heranzieht. Arbeitsrecht bestimmt, dass schon der Widerruf sogenannter freiwilliger Leistungen 17 Max Weber Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, zuerst 1904/05, neu herausgegeben mit den Ergänzungen von 1920 von Klaus Lichtblan und Johannes Weiß, 3. Aufl. 2000, besonders S. 26 f. und 32f., hier mit Bezugnahme auf die Interessen des einzelnen Ich. Ganz im Gegensatz zu dem Wort eines mir entfallenen Schriftstellers: „Wer lange leben will, ist gut beraten, wenig zu taugen“. 18 Zur deutschen Befindlichkeit, siehe Margarita Mathiopoulos (Fn. 8) S. 14 ff., 126, 431. 19 Jacob Burckhardt Die Zeit Constantins des Großen, Neue Auflage 1955, S. 335.

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der Arbeitgeber nur unter strengen Voraussetzungen zulässig ist. Das sind Leistungen, die den Lebensstandard verbessern, ohne dass die Arbeitnehmer beitragen. Sozialversicherung ist dagegen eine Einrichtung, die Arbeitnehmer auch in Pflicht nimmt, die ihnen Beitragsleistung aufzwingt. Hier trägt der Staat Verantwortung für die Stabilität von Ansprüchen, insbesondere für Stabilität des Verhältnisses von Beitrag und Leistung. Die Rechtsprechung, die dem Rentenanspruch Eigentumsschutz gewährt, trägt dem Rechnung, auch wenn sie manchen Staat bald zahlungsunfähig macht. Für das Verfassungsrecht sei auf den Beitrag von Peter Badura zur Festschrift Reinhard Mußgnug (2005) verwiesen. b) Der Wohlfahrtsstaat ist Gegenstand unserer kritischen Überlegungen. Dazu eine Vorbemerkung Im Folgenden soll der Begriff des Wohlfahrtsstaats vom Sozialstaat deutlich unterschieden werden. Während der Sozialstaat – nach unserer Auffassung – für die das Lebensnotwendige garantierende Grundversorgung der Schwachen einsteht, zeichnet sich der Wohlfahrtsstaat durch Leistungen aus, die diese Grundversorgung überschreiten.20 Er verwirft wachsende Unterschiede zwischen Reich und Arm und tendiert zum Lieferanten einer immer mehr umfassenden Daseinsfürsorge, letztlich zum allgemeinen Wohlstandsstaat. Johann Schloemann hat einmal sarkastisch vom Gewerkschafts- und Sozialstaat für die Mittelschicht geschrieben. Ein Franzose hat ihn schon 1848, weit vorausschauend beschrieben: „une fiction à travers laquelle tout le monde s’efforce de vivre au dépens de tout le monde“. Zwei wenig beachtete Beispiele zeigen, wie weit das reicht: Sogar Trachtenvereine mit durchaus zahlungsfähigen Mitgliedern werden kräftig unterstützt. Immer mehr Eltern beanspruchen vom Staat, dass seine Lehrer ihnen die Erziehung ihrer Kinder abnehmen, die sie selbst zu leisten zu bequem sind. a) Gleichheit und Willkür im Wohlstand Max Weber hat das patriarchalische Preußen des bevormundenden Allgemeinen Landrechts als Wohlfahrtsstaat bezeichnet. Arnold Bergsträßer hat den Ursprung des französischen Wohlfahrtsstaats unter Hinweis auf Gleichheit erläutert. Der moderne Wohlfahrtsstaat zielt auf die „Great Society“, auf Angleichung der Bürger im Wohlstand, wie dies schon im 19. Jahrhundert J. Ofner verlangt hat: Er führt „from social security to social equality“, auf 20 Margarita Mathiopoulos (Fn. 8) hat bereits den Wohlfahrtsstaat als eine Steigerung des Sozialstaats begriffen. Dazu knapp auch Rupert Scholz Deutschland in guter Verfassung, 2004, S. 69f., 79f.,196ff.; vor allem Kurt Biedenkopf Die Ausbeutung der Enkel, 2006, S. 26 und, im Anschluss an Zacher S. 113 ff. Auf Biedenkopf kann im übrigen hier nicht mehr gründlich eingegangen werden.

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„die gerechte, auf Gleichheit aller fußende Verteilung von Vorteilen und Lasten in ihrer Gesamtheit“ 21. Er zielt auf die „égalité“ neben der „liberté“, und zwar die faktische Gleichheit der Lebenshaltung („Gleichheit im Ergebnis“ in den Worten Udo Di Fabios). Der britische Ökonom Richard Layard begründet das mit der Aussage, dass Glückseligkeit der einzelnen nicht so sehr von der Größe ihres Vermögens abhänge als vielmehr vom Vergleich mit anderen. Bundeskanzler Schröder hat deshalb in seiner Ansprache zur Auflösung des Bundestags und zur Neuwahl vom 21. Juli 2005 das politische Ziel gesetzt, dass jedermann am Wohlstand solle teilhaben können. Dieses Gleichheitsdenken steht ganz im Gegenteil zu dem, was Alexis de Tocqueville als „égalité des conditions“ beschrieben, was er in seinem Kapitel IX zum Einfluss der Demokratie auf die intellektuelle Entwicklung der USA ausgeführt und was Immanuel Kant einmal geschrieben hat (so z.B. in: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis II): „Diese durchgängige Gleichheit der Menschen in einem Staat, …, besteht aber ganz wohl mit der größten Ungleichheit, der Menge und den Graden ihres Besitztums, es sei an körperlicher oder Geistesüberlegenheit über andere, oder an Glücksgütern außer an ihnen und an Rechten überhaupt …“. b) Hilfe statt Selbsthilfe Der heutige Wohlfahrtsstaat entbindet auch von einer Selbstvorsorge, die Menschen leisten könnten, die Unternehmen leisten sollten.22 Denken wir an den Schadensausgleich für Flutgeschädigte, die sich auch gegen Elementarschäden hätten versichern können. Oder man brauchte z.B. nur Arbeit anzunehmen, wo ein Arbeitsplatz zumutbar ist. Mit der Zumutbarkeit wurde Selbsthilfe eingeschränkt, wurde ein Schritt zum Wohlfahrtsstaat hin getan. Die wachsende Zahl öffentlicher Einrichtungen, die jedermann kostenlos oder billig nutzen kann, hat das fortgeführt. Die neue deutsche Regelung zu Hartz IV nimmt zwar einiges zurück.23 Aber Art. II-94 des europäischen Verfassungsvertrags begründet den viel weiter reichenden Anspruch auf hoheitliche Hilfe zu menschenwürdigem Dasein für alle, ohne primär auf Selbsthilfe zu verweisen, und er öffnet mit seinem vieldeutigen Begriff die

21 Eine knappe und klare Übersicht über seine Entwicklung insbesondere bei E. Pankoke im Abschnitt Sozialpolitik des Historischen Wörterbuchs der Philosophie (Bd. 9, 1995): J. Ofner Studien sozialer Jurisprudenz 1894 S. 76. Polemisch kritisch zu ganz Europa zuletzt das Buch eines Historikers von der Universität von Missouri: John Gillingham European Integration 1950–2003; dazu allerdings Kritik des Verfassers in Der Staat 43 (2004) 328ff. 22 Wir sehen davon ab, dass dies, wie z.B. bei der sozialen Krankenversicherung, zum Teil geschieht, um sie als Beitragszahler zu gewinnen. 23 Die Abgrenzung zum Sozialstaat ist oft schwierig. Darauf kann hier nicht eingegangen werden. Zum Gefühl der Unzumutbarkeit Kurt Biedenkopf (Fn. 20) S. 167.

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Tür zu einem umfassenden europäischen Wohlfahrts- und Wohlstandsstaat mit der ihm eigenen Anspruchsgesellschaft. Von der Weltbühne wird berichtet, dass Ende 2005 die Bevölkerung Irans auf Wohlstand drängt und damit Politik herausfordert. Wir haben also mit einer weltweiten Erscheinung zu tun. c) Die Entwicklung zum Anspruch auf Sicherheit In Deutschland hat sich der Wohlfahrtsstaat wohl am stärksten seit der Regierung Brandt entfaltet. Helmut Kohl hat, wie seine Kritik an Blüm und Geissler verschleiert, sich mit Wohlfahrt den Rücken für andere Aufgaben freigehalten. Manfred G. Schmidt verdanken wir eine wichtige Untersuchung zu den 80er Jahren, der Rothenfelser Denkschrift von 1955 das wohl früheste und überzeugendste Gegenmodell. Auf der europäischen Ebene wird der Wohlfahrtsstaat schon heute verbindlich ausgewiesen: Art. 2 EGVertrag verspricht – über das schon Gesagte hinaus – ein Schlaraffenland für jedermann. Er zählt beispielhaft auf, was Europa verheißt: 24 u.a. schlicht die Hebung der Lebenshaltung und -qualität, also auch des Wohlstands, und zwar durch Politik. Er zielt damit im Grunde auf das Behagen 25 der kleinen Menschen, das Nietzsche verachtet.26 Nach Jürgen Grunwald sollten es auf europäischer Ebene dagegen die Grundfreiheiten sein, die Menschen zu eigener wohlfahrtsfördernder Aktivität und Bewegung instand setzen.27 Es gibt kein schöneres Liebeslied für diese Freiheiten als einen – ihnen lang vorausgegangenen – Vers von Heinrich Heine: „Die Jungfer Europa ist verlobt/Mit dem schönen Geniusse/Der Freiheit, die liegen einander im Arm,/Sie schwelgen im ersten Kusse“. Der Kommissionspräsident Barroso scheint das ebenso zu sehen, während der französische Staatspräsident Chirac – kaum fassbar – den Liberalismus dem Kommunismus gleich verteufelt und damit die Freiheit der Revolution verspielt, nicht viel anders als dies in Deutschland nach 1933 geschah. Die eine normative Klärung verheißenden europäischen sozialen Grundrechte 28, jetzt in Art. I-9 und Teil II, besonders Titel IV und VII des neuen Verfassungsvertrags, belegen überdies, dass Menschen vom Objekt 24 „Aufgabe der Gemeinschaft ist es, … ein hohes Beschäftigungsniveau und ein hohes Maß an sozialem Schutz, … die Hebung der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedern zu fördern.“ 25 Aufgegriffen von Gottfried Benn in Das moderne Ich, 1920. 26 In Zarathustra 3. Teil, Auf dem Ölberge. 27 Der Mensch im Gemeinschaftsrecht, in dem vom Forschungsinstitut für Europarecht der Universität Graz herausgegebenen Band Europa der Bürger, 1994, S. 15–80, besonders 19ff. 28 Zur Entwicklung Verfasser Quo vadis Europa? Freiheiten, Regulierung und soziale Grundrechte nach den erweiterten Zielen der EG-Verfassung, in FIW-Schriftenreihe Heft 148 (1992), 11–86. Zum Ursprung der auf menschliches Glück zielenden Politik siehe Zeev Sternhell (Fn. 14), S. 58.

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politischer Fürsorge zum Subjekt wachsender Rechte geworden sind. Henri de Montherlant hat letzteres – in seinem La guerre civile – vorausgesagt: „Le peuple ne veut pas qu’on lui donne. Il veut prendre.“ Lothar Gall hat darauf in anderem Zusammenhang hingewiesen. Dazu nur wenige, fast beliebige Hinweise: Die Einmündung des Sozialstaats in den heutigen Wohlfahrtsstaat hat beachtliche Vorläufer. Jacob Burckhardt hat bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts – über das schon Zitierte hinaus – zum römischen Reich im 3. und 4. Jahrhundert n. Chr. ausgesagt: „Die Regierung lässt sich mehr und mehr auf Maßregeln der allgemeinen Humanität ein und erkennt die Pflicht einer durchgehenden Sorge für die Untertanen an …“ Das sei – so schließt seine Kritik an – vielleicht ein Symptom der Alterung.29 Der französische Historiker Bernard Cottret gesellt in seinem Buch zur amerikanischen Verfassung 30 den Anspruch auf Sicherheit schon frühen Menschenrechtskatalogen zu. Montesquieu sieht Sicherheit gar als Kern politischer Freiheit. Sicherheit wird – trotz Gewerbefreiheit – für die Wahrung unterschiedlicher Interessen begehrt. Bereits zur Zeit der französischen Revolution wurde hierzu geschrieben, eine Verfassung sei nicht gut, wenn sie die „Sicherung der menschlichen Existenz nicht als ihr oberstes Ziel setze“ 31. Jüngst hat Wolfgang Schön von der Sicherung des Gemeinwesens durch den Staat gesprochen und auf die moderne wirtschaftswissenschaftliche Institutionenlehre verwiesen, wonach staatliche Gesetzgebung dem größten Glück der größten Zahl zu dienen habe.32 Das ist jetzt 33 ein Zeichen nicht der Alterung, sondern ein Beleg für angebliche Reife einer Kultur. Während die Zunftverfassung den gewerbetreibenden Bürgern „gesicherte Nahrung“ verhieß 34, wurde Sicherheit im Laufe der Zeit für die Allgemeinheit und einen immer größeren Bereich begehrt: Neben alten Werten wie Freiheit, Würde der Person, Unverletzbarkeit der Wohnung usw. grassiert heute ein Recht auf Sicherheit nicht nur gegen Krieg, Kriminalität, Terror, sondern vor allem im Bereich von Arbeit, 29

(Fn. 109) Bd. 1, S. 200 f.; B. schreibt „Symton“. La Révolution américaine – la quête du bonheur, 2003. Jeremy Rifkin (Fn. 7), S. 90, 92 hebt – darüber hinaus – hervor, dass Europäer und Amerikaner unterschiedliche Anliegen gesichert haben wollen. 31 Lambert Précis des vues générales en faveur de ceux qui n’ont rien …, Paris, 1789, S. 2. Sicherheit wird allerdings später in der französischen Erklärung der Rechte und Pflichten des Menschen und des Bürgers auf Rechtssicherheit reduziert. In der Verfassung vom 5. Fructidor des Jahres III (22. August 1795) heißt es in Art. 4, Rechtssicherheit resultiere aus dem Zusammenwirken aller Rechte zum Schutze von jedermann. 32 Steuergesetzgebung zwischen Markt und Grundgesetz, in Die Erneuerung des Verfassungsstaats, 2003, S. 143, 144 und 154. Dazu als Quelle unten Bentham. Auf Sicherheit zielt nach Pankoke (Fn. 21) die Sozialpolitik ab. 33 Ganz im Gegensatz zu Immanuel Kant Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis II. 34 Dazu Lothar Gall passim. 30

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Gesundheit, Alterssicherung (da wird schon von Sicherheit gesprochen) und -freizeit, Produkten, insgesamt Lebenshaltung, einschließlich Rettung von allen Übeln auch im Urlaub. Der Staat soll diese Sicherheit schaffen, und zwar nicht nur dadurch, dass er die bisher Schwachen zur Selbsthilfe instand setzt. Die Gedanken Wilhelm von Humboldts zu den Grenzen der Wirksamkeit des Staats scheinen in Europa ebensowenig Früchte getragen zu haben wie Kants Sorge um die Freiheit. Art. 5 Abs. 1 der (europäischen) Konvention zum Schutze der Menschenrechte spricht jeder Person das Recht auf Freiheit und Sicherheit zu, definiert aber nur, was das Freiheitsrecht umfasst, und überlässt es darum Richtern, Sicherheit für die Gewähr unzähliger Güter auszudehnen. Die Weltgesundheitsorganisation hat einmal als Ziel der Gesundheitspolitik definiert den „Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheiten und Gebrechen“. Auch dieser Zustand muss gesichert werden. Die wohl nicht in Kraft tretende europäische Verfassung will den dieser Aufgabe verpflichteten Wohlfahrtsstaat zum europäischen Himmel erheben.35 Jeremy Rifkin schreibt von den USA dagegen, dass das Privateigentum Selbstvorsorge ermöglichen soll: „personal security that comes from being propertied, the belief that our possessions will make us free“. Damit wird das Postulat der Freiheit auf der Grundlage von Eigentum eingeführt. Europa erstrebe dagegen Freiheit nicht in Autonomie, sondern in Geborgenheit, also in staatlich garantierter Sicherheit. Rifkin fährt fort: „We (Amerikaner) pride ourselves on not being beholden to others and on being willing to take considerable personal risks to get what we want in the world“. Die Europäische Kommission habe festgestellt, „while two out of three Americans say they would start a business even if there was a risk that it may fail, nearly one in two Europeans say they would not take that risk“ 36. Und bei Alexis de Tocqueville heißt es früh, dass der Amerikaner „apprend dès sa naissance qu’il faut s’appuyer sur soi-même …; il ne jette sur l’autorité sociale qu’un regard défiant …“ Und weiter: „Aux Etats-Unis, dès qu’un citoyen a quelques lumières et quelques ressources, il cherche à s’enrichir dans le commerce et l’industrie, ou bien il achête un champs couverts de forêts et se fait pionnier. Tout ce qu’il demande de l’Etat, c’est de ne point venir le troubler dans ses labeurs et d’en assurer les fruits.“ Zu Deutschland hat Margarita Mathiopoulos zusammengefasst 37 und dazu – dankenswert – auf die Nachwirkung der „Volksgemeinschaft“ des Nationalsozialismus und auf die DDR hingewie35

Dass kritische Überlegungen zu deren sozialen Grundrechten wegen der Auswahl der Konventsmitglieder gar nicht erst zu Wort gekommen sind, verhindert eine ausgewogene europäische Neuordnung. 36 (Fn. 7) S. 13, 119. Wenn Rifkin das Wort „embeddened“ für geborgen braucht, dann legt dies die Vorstellung nahe, dass Geborgenheit wie im Bett erstrebt werde. Zur mangelnden Risikobereitschaft in Deutschland auch Margarita Mathiopoulos (Fn. 8) S. 77. 37 (Fn. 8) besonders S. 138 ff., 226 ff.

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sen. Ist aber – so müssen wir zunächst fragen – das Verlangen und Versprechen von verbreiteter Sicherheit in der heutigen Welt noch erfüllbar? Genazino warnt, dass „wir auf Leute hereinfallen, die uns ein Leben ohne Leid vorgaukeln 38. c) Gleichheit und Gerechtigkeit als Grundlagen des Wohlfahrtsstaats? Ein solcher Wohlfahrtsstaat könnte seine Grundlage in Geboten sozialer Gerechtigkeit, einschließlich Gleichheit, und Solidarität suchen. Jedenfalls soweit er sie dort findet und auch wenn er Rückwirkungen auf die Volkswirtschaft hat, muss man Max Weber’s Feststellung folgen, dass die Ökonomie durch Kultur determiniert wird. a) Zunächst ein weiterer, speziell ökonomischer Blick auf Gleichheit. Wer ökonomisch prüft, muss wohl einräumen, dass die Aussichten wirtschaftlichen Wachstums und damit die Möglichkeiten für Wohlfahrt mit der Ungleichheit von Einkommen und Vermögen wachsen. Walter Russel Mead hat, wie später auszuführen, für die USA darauf besonders hingewiesen. Aus dem von Rubin ins Leben gerufenen Hamilton Project scheint Gegenteiliges zu kommen. Aber wer Menschen Freiheit verspricht, muss akzeptieren, dass sie daraus Unterschiedliches machen, auch angemessen unterschiedliche Einkünfte. Vielleicht ist die Sorge um gleichwertige Lebensverhältnisse, ist das Verlangen nach Gleichheit in Deutschland mitursächlich für seine wirtschaftliche Stagnation. Würden sportliche Höchstleistungen heutzutage zu erwarten sein, wenn Sieger und Verlierer gleiche Vergütung erhielten? Ähnliches gilt für Kultur: Lesley Chamberlain hat zuletzt, wie schon Friedrich Schiller, die kulturschädigende Auswirkung faktischer Gleichheit hervorgehoben. Gleichheit ist deshalb keine Basis des Wohlfahrtsstaats. Sie lähmt ein erfolgreiches Wirtschaften. Alexis de Tocqueville berichtet, dass die Amerikaner schon zu seiner Zeit die „Theorie der permanenten Vermögensgleichheit“ verachtet haben. Charles Barrès befand, dass Menschen nur im Grab tatsächlich gleich sind. b) Und vorläufige Thesen zur Gerechtigkeit: Der Ökonom und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz leitet Forderungen nach Wohlfahrt aus dem Gesellschaftsvertrag ab, bleibt aber hinter Wohlstandszielen zurück: „This contract requires the provision of basic social and economic protections (und damit Sicherheit), including reasonable opportunities for employment“ 39. Nur

38 Wilhelm Genazino Ein Regenschirm für diesen Tag, 8. Aufl., 2005, S. 104. Er hatte wohl nicht den Kampf gegen Terror im Sinn. 39 Globalization and its discontents, 2002, S. 209. Jacob Burckhardt sieht dies in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Inhalt der Demokratie: In Weltgeschichtliche Betrachtungen, Gesamtausgabe 1956, S. 145.

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Grundversorgung und Hilfe zur Selbsthilfe (Arbeitsplatz) wird damit verlangt, nicht Wohlstand. Jeremy Bentham hat – mit der von Schön aufgegriffenen Formel – durch Hinweis auf die Mehrheit einen bestimmten Maßstab für die Glückseligkeit und damit gerechte Austeilung von Wohlfahrt vorgegeben: „It is the greatest happiness of the greatest number that is the measure of right and wrong.“ Damit wird demokratische Bestimmung über die von Staats wegen zu realisierende Gerechtigkeit ermöglicht. Dem entgegen lehrte aber schon Immanuel Kant, dass jeder materielle Maßstab sozialer Gerechtigkeit mit Freiheit unvereinbar wäre: 40 „Die Freiheit als Mensch, deren Prinzip für die Konstitution eines gemeinen Wesens ich in der Formel ausdrücke: Niemand kann mich zwingen, auf eine Art, (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein Jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt. … Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d.i. eine väterliche Regierung …, wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaft nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des Staatsoberhaupts, und, dass dieser es auch wolle, bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten: ist der größte Despotismus …“ Freiheit schließt jede, also auch mehrheitliche Bestimmung einer staatlich zu gewährleistenden Wohlfahrt aus. Auch Politiker haben sich beteiligt, als es um das Gedenken an Kants 200. Todestag ging. Aber ich habe von keinem erfahren, ob er diese Aussage Kants beherzigen will. Unabhängig von Freiheit begnügt sich bereits Michel de Montaigne mit der negativen Aussage, dass „wir besitzen kein klares, greifbares Bild von wahrem Recht und echter Gerechtigkeit.“ Daran hat sich trotz aller Rechtsund Sozialphilosophen, trotz aller Bemühungen um Erkenntnis nichts hier Relevantes geändert, und es überrascht daher, dass ein so gewichtiger Ökonom wie der oben 41 zitierte Hans-Werner Sinn Ergebnisse eines freien Arbeitsmarkts um der Gerechtigkeit willen durch den Sozialstaat korrigieren lassen will. Die ewige Fruchtlosigkeit des Ringens um gerechte Preise müsste zum Schluss führen, dass auch gerechte Löhne und Einkommen und ebenso soziale Leistungen nicht definierbar sind. Entscheidend warnt Friedrich Nietzsche vor denen, die Glück unter Berufung auf Gerechtigkeit einfordern: „Misstrauet allen denen, die viel von ihrer Gerechtigkeit reden!“ Die Warnung ist angesichts der Vielen begründet, die sich nie gründlich mit den schwierigen Problemen der Gerechtigkeit auseinandergesetzt haben; 42 Die 40

(Fn. 33). Siehe auch weiter unten. (Fn. 5) S. 150. 42 Zu Nietzsches eigenem Misstrauen Max Horkheimer Ideologie und Wertgebung, in Karl Gustav Specht (Hrsg.) Festgabe für Leopold von Wiese, 1951. 41

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kürzlich in England geführte Debatte um Aristoteles bestätigt das. Karl Engisch hat wohl mit Recht darauf hingewiesen, dass wir zur Gerechtigkeit auf viele andere Werte zurückgreifen müssen; aber wer unterzieht sich dem schon? Wer die viel versprechenden Zielbestimmungen in Art. 2 EG-Vertrag, in Art. 2 erster Teilstrich EU-Vertrag sowie in Art. I-3 Abs. 3 des neuen Vertrags über eine europäische Verfassung vergleicht, deren letzterer sogar soziale Gerechtigkeit einschließt, kann an den Unterschieden dieser Normen ablesen, wie sehr selbst solche Zielbestimmungen durch wohlmeinende Willkür geprägt sind und damit Gerechtigkeit fast als Beliebiges ausweisen. Und dies, obwohl Honoré de Balzac in seinem Père Goriot von sozialer Ungerechtigkeit schon vor 170 Jahren als etwas Bekanntem sprach! 43 Fragen wir konkret: Muss der Staat tätig werden, um soziale Gerechtigkeit zu stiften? Bund oder Länder? Muss er dem Unbemittelten zu einem Fernsehapparat verhelfen? Kann man die Armutsgrenze anders als willkürlich ziehen? Ist es sozial ungerecht, wenn Betteln auf der Straße verboten wird? Wer kann schon sagen, was Gerechtigkeit, besonders die sogenannte soziale Gerechtigkeit im einzelnen verlangt? Der Laie sei darauf verwiesen, dass zu den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts vielfach abweichende Meinungen der in der Minderheit gebliebenen Richter publiziert werden. Die Forderung nach Gerechtigkeit und besonders sozialer Gerechtigkeit in der Politik gleicht deshalb der Drohung mit einer Schreckschusspistole. Friedrich Nietzsche misstraut auch einer stabilen Werteordnung, also zeitlosen Werten: Er belässt im Zarathustra jedem das Recht sich nehmen zu neuen Werten.44 Hans Barth deutet an, dass er unter Umständen selbst an die Stelle der alten eine neue Gerechtigkeit setze. Auch wenn heute spanisch sprechende Einwanderer südliche Teile der USA katholisch prägen, so ist doch ein nicht unerheblicher Anteil katholischer Einwanderer dort zum Protestantismus konvertiert. Dies dürfte wesentlich damit zusammenhängen, dass solche Einwanderer sich einer für sie neuen Werteskala unterwerfen, eine andere hinter sich lassen wollen. Damit wird auch eine naturrechtlich dauerhaft fixierte soziale Gerechtigkeit fragwürdig, obwohl sie im europäischen Verfassungsvertrag in Art. I-3 eine Auferstehung erfahren hat. Wer sich der Leerformel „soziale Gerechtigkeit“ bedient, hat allerdings einen Vorteil: Er erspart sich das Nachdenken und kann seine Kritiker mit dem infamen Vorwurf eines Mangels an politischer Korrektheit mundtot machen.

43 Wie fragwürdig Gerechtigkeitsurteile im konkreten Sozialfall sind, wird u.a. bei der von Leo Strauss in seiner Kritik an Max Weber behandelten Frage sichtbar, wo wir die Grenze zum Unrecht, zum Unwert überschreiten. Siehe auch die in MicroMega vom 29. April 2005 sowie auszugsweise in Le Monde vom 2. Mai 2005 publizierte Debatte aus dem Jahr 2000 zwischen dem damaligen Kardinal Ratzinger und Paolo Flores d’Arcais. 44 Dazu auch Max Horkheimer (Fn. 42), S. 220.

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c) Schon nach dem Wenigen hier Gesagten sind viele Aussagen zur Gerechtigkeit fragwürdig. Ein Schriftsteller hat dies, vermutlich durch das besondere Schicksal seiner Heimat bestimmt, ein Beispiel gegeben: Sándor Márai hat ein ehemaliges, aus ärmsten Verhältnissen stammendes Dienstmädchen über die Zeit nach der Einnahme Budapests durch die sowjetischen Truppen sagen lassen: „Damals … als die Kommunisten kamen und es Experten gab, die nicht einfach stahlen, sondern, wie sie sagten, die soziale Gerechtigkeit wiederherstellten, da fühlten wir uns, die Herrschaft und wir anderen, einander nahe wie noch nie. Weißt Du was soziale Gerechtigkeit ist? Das Volk wusste es nicht. Das glotzte nur erstaunt, als die Fortschrittlichen die neuen Gesetze brachten und erklärten, dass das, was dir gehört, nicht wirklich dir gehört, weil alles dem Staat gehört. Das verstanden wir nicht. Vielleicht verachtete das Volk nicht einmal die räuberischen Russen so sehr wie die emsigen Gerechtigkeitswiederhersteller, die da ein altes Gemälde, dort eine Spitzensammlung oder die Goldzähne eines unbekannten Großvaters retteten. Man konnte nur staunen und angewidert ausspucken“.45 Gilt das nicht auch in anderen Fällen? d) Und ergänzend nochmals Immanuel Kant, diesmal zur Tugendlehre. Er hat sich, wenn auch nicht nach einem Gerechtigkeitsmaßstab, mit der Sorge für Glückseligkeit anderer auseinandersetzt. Diese Sorge könne nicht Inhalt einer Tugendpflicht sein, weil man nach den Maßstäben des kategorischen Imperativs andere dann auch zur Sorge für sich selbst verpflichtet ansehen müsse, was aber (ethisch) nicht möglich sei. Jedenfalls Ethik schließt also nach seiner Auffassung gegenseitige Sorge für Glückseligkeit anderer im Wohlfahrtsstaat sogar aus. Muss dann nicht auch Gerechtigkeit versagen? 46 d) Solidarität und die aus ihr resultierende Kohäsion werden vielfach als Basis des Wohlfahrtsstaats beschworen. Wir unterscheiden sie von Gerechtigkeit, wie Arthur Schopenhauer Gerechtigkeit von Menschenliebe und Mitleid geschieden hat.47 Die Verfassung des Grund-

45 In: Wandlungen einer Ehe, 9. Aufl. 2003, S. 384; siehe auch S. 397. Zur Solidarität sei in ähnlichem Sinn Amartya Sen wie Fn. 7 hervorgehoben. Norman Davies, Europe – A History, 1997, S. 605, weist auf eine Konsequenz hin: „In the popular mind … economics … has moved into the void left by the decline of religion and the moral consensus“. 46 Schließlich hierzu der heutige Papst, noch als Josef Kardinal Ratzinger: Sein Misstrauen gegenüber der Leistungsfähigkeit von – auch katholischem – Kirchenrecht müsste doch auch Gerechtigkeit treffen. Und sein Rückzug auf die Menschenrechte als letzte Abwehrstellung lässt angesichts heutiger Auseinandersetzungen um das Recht auf Leben kaum hoffen, dass wir bei der Gerechtigkeit Rückhalt finden. 47 Solidarität ist nicht zu verwechseln mit dem, was Jacob Burckhardt zur Abdikation des Individuums bei Plato gesagt hat: im ersten Band seiner griechischen Kulturgeschichte, zur Politeia.

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gesetzes stellt den freien Menschen an den Anfang. Da kann Solidarität von Rechts wegen nur die ungezwungene Bereitschaft autonomer Menschen sein, die Interessen anderer zu wahren.48 Sie hindert den Individualismus, zum Egoismus zu werden. Sie mag in der katholischen Soziallehre aus der Natur zwischenmenschlicher Beziehungen abgeleitet sein, ist vielleicht – ungeachtet Nietzsches Mitleidskritik, – in christlicher Kompassion – Liebe Deinen Nächsten! – begründet oder im Sinne von Schopenhauers „Über das Mitleid“ einem menschlichen Trieb hörig und Inhalt eines ethischen Gebots. Udo Di Fabio hat das – entgegen Sennett – zuletzt energisch wiederholt. Charles Baudelaire bekennt sich in seiner Kritik der mitleidsschwangeren Misérables zum unsterblichen Gesetz der Brüderlichkeit (fraternité), aber nicht zum Gesetz des Staates. Das alles mag hier auf sich beruhen. Uns interessiert die Differenzierung von Collignon, einem modernen politischen Autor: er will die Solidarität von der „fraternité“, also der Brüderlichkeit unterscheiden: „Alors que la fraternité implique la soumission à l’ordre collectif, la solidarité exprime la compassion individuelle, qui résulte de la compréhension personnelle que l’autre est égal à moi-même face à la souffrance. Le libéralisme progressiste implique donc la solidarité entre individus libres et égaux, mais pas la soumission de l’individu au collectif.“ 49 Er verwirft also die Unterwerfung der Solidarität unter Normen des Kollektivs, des Staats, um sie freien Menschen zuzuschreiben. Erstaunlich ist vielleicht, dass er dies sozialdemokratisch nennt. Francis Fukuyama hat darüber hinaus gezeigt, dass selbst diese freiwillige, also echte Solidarität einer Begrenzung bedarf, wenn Innovation nicht ersticken soll.50 Wir kennen das aus dem Kartellrecht. Gewiss ist eines: Gesetzliche Verpflichtung und politische Beschwörung jedenfalls töten Solidarität, lassen ihre Quelle im Menschen versiegen. Nur im Raume der Freiheit kann sie sich entfalten. Das hat sie mit den Geboten der Bergpredigt gemeinsam. Arthur Schopenhauer, unterwegs zu Liebe und Mitleid, verlangt, dem ewig freien Willen kein Soll noch Gesetz vorzuhalten. Der Solidaritätszuschlag ist eine Zwangsabgabe, die ihren Namen zu Unrecht trägt. Solida48 Dominique Bourel Moses Mendelssohn, 2004, S. 325, zitiert Mendelssohn (in französischer Sprache): „Il n’est pas à conseiller que l’Etat prenne en charge tous les devoirs regardant l’amour de l’homme jusque dans l’entretien des pauvres et les transforme en des institutions publiques. L’homme éprouve sa valeur lorsqu’il exerce sa générosité, lorsqu’il comprend clairement combien il peut alléger l’indigence de son semblable par son don, lorsqu’il donne parce qu’il veut. Donne-t-il parce qu’il doit, il ne sent que ses chaînes.“ 49 (Fn. 4) S. 43. Dazu auch seine Ausführungen zu den Bürgern der künftigen EU, ebendort S. 132ff. Dem entspricht es, wenn Graf von Krockow Hitler und seine Deutschen, 3. Aufl. 2001, S. 173 die Volksgemeinschaft des Dritten Reichs möglicherweise in der Nähe der Brüderlichkeit sieht. Diese Volksgemeinschaft liefert gewiss keine Empfehlung für Solidarität. Zur dagegen gerichteten Gegenaufklärung am Beispiel Edmund Burkes siehe Zeev Sternhell (Fn. 14), S. 248. 50 Es heißt in Our posthuman future, 2002, S. 98: „Societies that face no competition or aggression stagnate and fail to innovate; individuals who are too trusting and cooperative make themselves vulnerable to others who are more bloody-minded.“

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rität in Verfassungen (auch Europas) ist eine auf mangelnder Kenntnis beruhende Leerformel. Für Politik ist Solidarität, ähnlich wie soziale Gerechtigkeit, kaum mehr als ein Schlagwort, unter Umständen ein Ausdruck von Ideologie, vielleicht wahlwirksam. Jeder, der Adornos Kritik an Solidarität erwogen hat, muss vor dem Missbrauch des Begriffs warnen. Adorno befürchtet sogar Abschaffung der Monade, d.h. hier der Individualität, durch Solidarität.51 Der Staat sollte sich deshalb nicht auf Solidarität berufen. Wenn damit auch Solidarität den Wohlfahrtsstaat schwerlich legitimieren kann, so ist doch ein Blick auf Kohäsion nötig: Manche, auch Kardinal Lehmann, haben die Sorge, dass namentlich wachsende Wohlstandsunterschiede die Kohäsion eines Volkes gefährden. In der Beijing Review vom 31. März 2005 hat sich Lii Haibo für China ähnlich geäußert. Die Denkschrift der Evangelischen Kirche befürchtet das Entstehen einer Kluft, und die von Gerhard Matzig herausgegebene Feuilleton-Serie beschwört sogar das Ende einer Konsens-Gesellschaft.52 Wo auf der einen Seite der Kluft eine missachtete Minderheit steht, spricht man von Ausgrenzung, „exclusion“, um im Gegensatz hierzu „inclusion“ zu fordern. Auch an zugewanderte Ausländer, Auslandsdeutsche und deren Nachkommen ist hier zu denken. Der Staat wäre danach prima facie zur Sorge für eine Kohäsion stiftende allgemeine Wohlfahrt aufgerufen. Das erst würde den Staat nach James Joyce zum Vaterland machen. Solche These lässt indessen Entscheidendes außer Betracht: So müsste zu Wohlfahrt und Wohlstand ermittelt werden, ob Solidarität und eine durch sie bewirkte Kohäsion und „inclusion“ mehr Kinder allgemeiner Not als Früchte eines sich angleichenden Wohlstands sind, ob nicht Wohlstand an sich, sondern nur Gleichheit Kohäsion schafft. Raymond Aaron hat einmal zynisch von dem Optimisten geschrieben, der auf die Brüderlichkeit infolge des Überflusses hofft. Schon Sallust (S. Sallustius Crispus) hat in Rom allgemeinen Wohlstand sogar als gesellschaftszerstörend diagnostiziert (in seiner De Catilinae coniuratione). Bei Honoré de Balzac heißt es, das Elend schaffe vielleicht die mächtigste Bindung (La misère est peut-être le plus puissant de tous les liens). Alexis de Tocqueville betont, dass Not Gleichheit begründet. Dazu ein Wort von Botho Strauß: „jeder dem nächsten verwachsen unter dem Druck einer unbekannten Not“. Die durch Kriegsbeginn begründete Not hat – wie schon Titus Livius berichtet hat – in der frühen römischen Republik Spaltungen in Parteien überwunden.53 Wichtiger scheint 51 Theodor W. Adorno Minima Moralia 1951 Nr. 31 (Katze aus dem Sack) und 88 (Dummer August). Zur Individualität bei Adorno seine Negative Dialektik, 1966, S. 269ff. 52 Zur Kirche siehe Fn. 12, Abschn. I.7.3. Gerhard Matzig (Hrsg.) Der grosse Graben – Das Ende der Konsens-Gesellschaft, 2005. 53 Siehe dazu auch Heinrich Mann Zur Zeit von Winston Churchilll, in Gesammelte Werke in Einzelbänden, 2004, S. 108. – Anders für das jüdisch-arabische Verhältnis zur Zeit am Ende des britischen Mandats allerdings Amos Oz Eine Geschichte von Liebe und Finsternis, deutsche Ausgabe, 2003, S. 499.

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mir zu sein, was zuletzt, obwohl oberflächlich und die hier gestellte Frage übersehend, die von Gerhard Matzig herausgegebene Serie belegt, nämlich dass es nicht nur Wohlfahrt, sondern eine Vielzahl von Kriterien gibt, nach denen sich Menschen und deren Lagen unterscheiden. Man kann Christ oder Mohammedaner, in beiden Lagern reich oder arm, alt oder jung, Mann oder Frau, verheiratet oder ledig, Ossi oder Wessi, stark oder schwach, begabt oder einfältig sein. Die Vielzahl der Kombinationen, in der solche Kriterien bei den Menschen zusammentreffen und von diesen bewertet werden, ist es, die Kohäsion ebenso wie Gegnerschaft, nicht zuletzt Exklusion bewirkt, ohne dass die Kausalität klar zu definieren wäre. Diese Vielzahl hat niemand erfasst. Insgesamt ist deshalb wohl fraglich, wodurch Kohäsion bewirkt oder gestört wird. Treffend hat Botho Strauß geschrieben, wir seien „von … Forschungsdrang erfüllt, nämlich zu erfahren, nicht was die Welt, wohl aber, was die Deutschen einmal im Innersten zusammenhielt“. Bei der bisherigen Unwissenheit liefert Kohäsion nur Scheinargumente. e) Missbrauch Niemand sollte vernachlässigen, dass wohlfahrtsstaatliche Politik mit dem Ziel der Kohäsion schon immer ein Mittel war, mit dem die Bevölkerung ruhig gestellt werden sollte, in Deutschlands Drittem Reich ebenso wie in der DDR. Wenige Angaben genügen: Es war nach meiner Erinnerung Adolf Hitler, der versprochen hat, er werde die Menschen von der Last der Eigenverantwortung befreien, der Verantwortung der NS Volkswohlfahrt zuschanzte, der mit Kraft durch Freude selbständiges Denken einschläferte. Hitler hat, was ihm nicht wenige heute nachmachen, den Liberalismus verteufelt. Volksund Betriebsgemeinschaft standen dagegen für Solidarität und Kohäsion. Die Freiheit und der Rechtsstaat des Grundgesetzes ebenso wie der Erhard’sche Wirtschaftsliberalismus waren und sind auch das Gegenmodell zu dem in Schrecken endenden NS-Wohlfahrtsstaat. f) Die Grundlagen des Wohlfahrtsstaats lassen sich also in Frage stellen. Ich frage darüber hinaus nach Gegengründen.

3. Eigenes Erleben Hierzu beginne ich mit eigenem Erleben, obwohl ich in Kauf nehmen muss, dass solcher Beginn unzeitgemäß ist. a) Die Nachkriegszeit 1946 bin ich aus Kriegsgefangenschaft nach Deutschland zurückgekehrt. Wenige Tage später fing ich mit Forstarbeit an. Nicht kürzere, sondern län-

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gere Arbeitszeit war gefragt.54 Von Unzumutbarkeit einer Arbeit wussten wir nichts. Als ich mit 26 Jahren das Studium aufnehmen konnte, gab es weder Bafög, noch nötigste Bücher oder Arbeitsplätze. „Hilf’ dir selbst, so hilft dir Gott“, das war unsere Parole, mit der wir Vergangenheit des Dritten Reichs abschütteln wollten und das Individuum und seinen Behauptungswillen in das Zentrum rückten, ohne dass wir dazu neo- oder ordoliberaler Lehren 55 bedurft hätten. Die unter Ludwig Erhard einsetzende Liberalisierung hat aber ermutigt und unseren Handlungs- und Leistungsspielraum erweitert.56 Wir haben – in den Worten Udo Di Fabios – den Erfolg als das Ergebnis eigener Leistung begriffen. Das sogenannte deutsche Wirtschaftswunder nach Ende des zweiten Weltkriegs hatte seine Ursache in dem allseitigen Leistungswillen der Bevölkerung. Die erwähnte Denkschrift der Evangelischen Kirche aus dem Jahr 1976 hat in diesem Sinne das Leistungsprinzip gedeutet.57 Freiheit suchende Einwanderer in die USA dürften ebenso gedacht und die Wertvorstellungen in großen Teilen Nordamerikas geprägt haben.58 Nach solcher Erfahrung sind meinen Altersgenossen und mir Selbsthilfe sowie Selbstverantwortung selbstverständlich, und ich schätze sie als zur Würde des Menschen gehörig. Paul Valéry hat 1932 nicht nur den Stolz auf solche Leistung, sondern die mit ihr gewonnenen Selbstsicherheit, das Selbstvertrauen hervorgehoben: „Travail est toute dépense d’actes qui tend à rendre les choses, les êtres, les circonstances profitables ou délectables à l’homme; et l’homme lui-même, plus sûr et plus fier de soi.“ Der mit dieser Abhandlung gewürdigte Jubilar könnte damit gemeint sein. Vielleicht entspricht dies einer Aussage Immanuel Kants, nämlich dass die Natur dem Menschen nicht Wohlleben spenden wolle, „sondern dass er sich so weit hervorarbeite, um sich, durch sein Verhalten, des Lebens und des Wohlbefindens

54 Zu Frankreich ähnlich Nicolas Baverez La France qui tombe, 2005, S. 110. Dazu die Schilderung der Familie Färber am Anfang von Martin Walsers Ehen in Philippsburg, 1975: „Ich kenne im übrigen manche, denen es gut getan hätte, wenn sie ähnlich hätten anfangen müssen.“ 55 Am Rande sei vermerkt, dass der pejorative Beigeschmack, mit dem viele den Begriff des Neoliberalismus aufladen, nichts anderes als ein semantischer Trick ist, mit dem sie Autonomie und Selbstverantwortung diskreditieren wollen, ohne dies offen einzugestehen. 56 Die unter Ludwig Erhard einsetzende Liberalisierung hat den Handlungs- und Leistungsspielraum für uns alle erweitert. Es sei angemerkt, dass der damalige irakische Ministerpräsident, Hamadi, am 13.9.1991 erklärt hat, der Wiederaufbau sei möglich, wenn alle Aspekte des Lebens liberalisiert würden. Er wurde deshalb entlassen. Der Erfolg ist bekannt. Hierzu Filip Hiro Neighbors, not friends – Iraq and Iran after the Gulf Wars, 2001, S. 50. 57 So die Denkschrift (Fn. 12), Abschn. I.3 Nr. 34. 58 Als Beleg hierfür eignen sich die Biographie Benjamin Franklins und die Einleitung Harold J. Laskis zu Alexis de Tocquevilles La démocratie en Amérique. Bernard Cottret (Fn. 30), S. 327, beschreibt den Unterschied zu Europa wie folgt: „Ce n’est du reste pas le partage qui permet la réussite sociale, selon les Américains, mais l’expansion.“

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würdig zu machen“.59 Ich stelle dem einen, allerdings nicht wertenden, Satz von Karl Marx zur Seite, nämlich „ein Wesen gilt sich erst als selbständiges, sobald es auf eigenen Füßen steht, und es steht erst auf eigenen Füßen, sobald es sein Dasein sich selbst verdankt“. Im 90. Psalm heißt es hierzu, dass das Leben, „wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen“. Adornos Kritik am Erwerb von Reichtum aus eigener Kraft 60 verfehlt solche Leistung. Die Verachtung des im Dritten Reich ermordeten Erich Mühsam für den „Bürgerglauben“, dass jeder die Nöte des Lebens selbst überwinden müsse, ist damit ebenso wenig vereinbar wie seine Aussage, dass Erfolgsanbetung Spießertum sei.61 Die Tatsache, dass Menschen sich geschämt haben, fürsorgende Leistungen des Staats anzunehmen, widerlegt Adorno und Mühsam. Ein Leben auf Kosten anderer, auch der Allgemeinheit, erschien solchen Menschen als mit ihrer Menschenwürde unvereinbar – in Übereinstimmung mit dem 2. Brief an die Thessaloniker, 3,10–13, ebenso wie mit Honoré de Balzac (in Le Curé de Tours): La morale et l’économie politique repoussent également l’individu qui consomme sans produire … Anderes berichtet Alexis de Tocqueville lediglich von der Mentalität in den Sklaven haltenden amerikanischen Südstaaten. Heute frage ich mich, ob die Entwicklung hin zur Anspruchsgesellschaft die Menschen gegen Härte zu empfindlich, ob sie sie weich macht, ob sie sie gar entmutigt.62 François Grosrichard hat in Le Monde die Entmutigung her59 Zum dritten Satz seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Ein frühes Beispiel aus der Literatur ist Honoré Balzacs Le Colonel Chabert, 1832. Lothar Gall Bürgertum in Deutschland, 1989, S. 21, 76, sieht in der Leistung und ihrem Erfolg die Wurzel des Bürgertums. 60 (Fn. 51); Denkschrift (Fn. 12). Abschn. I.8.5. Das erinnert an die Verachtung für arbeitende Bürger (Banausen), ja selbst bildende Künstler, z.B. in der griechischen Antike, ermöglicht durch Sklavenarbeit. Neben Kants Begründung dürfte für die Würde persönlicher Leistung sprechen, dass sie vor allem im 19. Jahrhundert Gleichstellung der Leistenden mit bisher Privilegierten (z.B. Adel) bewirkt hat. Der Arbeiter- und Bauernstaat (DDR) beruhte auf anderer Ideologie. Nicht erst heute genießen allerdings nicht alle Arbeiten gleiche Achtung, was sich auch in ihrer Entlohnung ausdrückt. – Siehe aber auch eine Bemerkung zu Frankreich bei Corinne Maier (Fn. 14) S. 80. 61 Erich Mühsam Tagebücher 1910–1924 (18.1.1912 und 3.8.1921). – Immerhin ähnlich die griechische Klassik, die Handarbeit verachtete und der wir den Begriff des Banausen für Arbeitende verdanken. Anders die Denkschrift (Fn. 12), Abschn. I.2.3: „Befriedigung am persönlichen Leistungserleben“. Bei Honoré de Balzac heißt es (in Le Curé de Tours): La morale et l’économie politique repoussent l’individu qui consomme sans produire … Zum Verhältnis von Katholiken, Juden und Puritanern zum Wirtschaften zusammenfassende Bemerkung bei Max Weber Wirtschaft und Gesellschaft, 4. Aufl. 1956, S. 370. 62 Heinrich Heine hat schon vermerkt, die Menschen seien weich geworden. Vor ihm Friedrich Schiller in der Einleitung seiner Geschichte des Abfalls der Niederlande: „Im weichlichen Schoß der Verfeinerung haben wir die Kräfte erschlaffen lassen, die jene Zeitalter übten und notwendig machten.“ Bei Nietzsche (Jenseits von Gut und Böse Nr. 293) heißt es: „Es gibt heute fast überall in Europa eine krankhafte Empfindlichkeit und Reizbarkeit für Schmerz, insgleichen eine widrige Unenthaltsamkeit in der Klage, eine Verzärt-

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vorgehoben, welche die Agrarsubventionen bei den Bauern auslösen. Heinrich Mann hat die Deutschen – schon früh – allgemein als wehleidig gesehen.63 Bereits Ernst von Lasaulx hat sich zum Versagen eines schwach gewordenen Volks geäußert: „Jedes große Volk, wenn es in seiner Gesamtheit nicht mehr eine gewisse Masse unverbrauchter Naturkräfte in sich trägt, aus denen es sich erfrischen und verjüngen kann, ist seinem Untergang nahe, so dass es dann nicht anders regeneriert werden kann als durch eine barbarische Überflutung.“ 64 Die USA befolgen das aus eigener Kraft: Sie ziehen Intelligenz aus aller Welt an. Hitler hat sie ihnen geschenkt. David Brooks hat über die Folgen geschrieben: „The core fact is that the European model is foundering under the fact that billions of people are willing to work harder than the Europeans are.“ b) Allgemeiner Wohlstand als Anspruchsgrundlage Als ich in Italien einen schweren Autounfall hatte, hat der italienische Versicherer meinen Schaden zwar schnell reguliert, aber keinen Ersatz für Nutzungsentgang während der Reparaturzeit meines Wagens gewährt: Einen so großzügigen Ersatz könne man sich mit höheren Versicherungsprämien wohl lichung, welche sich mit Religion und philosophischem Krimskrams zu etwas Höherem aufputzen möchte – es gibt einen förmlichen Kultus des Leidens. Und weiter (Vorrede zur Genealogie der Moral): – ich bin ein Gegner der schändlichen modernen Gefühlsverweichlichung“. In der Genealogie der Moral spricht er von „Zärtlingen“. Rousseau sieht das schon in der Frühzeit. Aber das war nicht immer so. Der englische Historiker Norman Davies hat zur Frühzeit geschrieben (in Europe, 1997, S. 50): „From the psychological point of view, the Peninsula (= Europa) presented early man with a stimulating blend of opportunity and challenge. Life was hard but rewarding. … There were plenty of natural hazards to be overcome – ocean gales, winter snows, summer droughts, and disease; yet the prospects for health and survival were good.“ Und vor allem heißt es bei Immanuel Kant (Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?): „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen …, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; … Es ist so bequem, unmündig zu sein.“ Dazu besonders eindrucksvoll Hilke Lorenz Kriegskinder, 2. Aufl., 2003. 63 Auch die Französin Corinne Maier, Ökonomin und Psychiater, Angestellte bei EdF, hat sich drastisch dazu geäußert: (Fn. 14, S. 75): „De nos jours, il est impensable d’élever un enfant sans: un psychologue pour l’aider à régler son oedipe, un orthophoniste pour lui apprendre à lire, un appui scolaire pour qu’il puisse assimiler les débilités qu’on lui déverse sur la tête à l’école. On vit dans le monde du soutient généralisé; c’est à se demander comment, sans aide extérieure, sans psy et sans professions paramédicales aux prestations remboursées par la Sécurité sociale, l’humanité a pu inventer l’imprimerie et construire des cathédrales …“ Ich selbst frage mich, warum heute bei jedem größeren Unglück in Deutschland die Menschen psychologisch betreut werden müssen, während sie die weit größeren Schrecken im zweiten Weltkrieg, nicht zuletzt in den Bombennächten zu Hause, ohne solche Hilfe überstehen mussten und konnten. 64 Ernst von Lasaulx Neuer Versuch einer alten, auf die Wahrheit der Tatsachen gegründeten Philosophie der Geschichte, 1856, Neuauflage 1952, S. 154ff.

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in Deutschland leisten 65, nicht aber in dem ärmeren Italien. Niemand hat bisher geprüft, ob hinter der nicht immer überzeugenden Dogmatik deutscher Schadenersatz- und Sozialansprüche gar keine überzeugenden Gerechtigkeitsgebote stehen; vielleicht ist unausgesprochen das Vertrauen in gesamtwirtschaftlichen und individuellen Reichtum anspruchserzeugend wirksam. Ähnliches mag für die von Kohl/Genscher praktizierte Scheckbuchdiplomatie gelten, die Älteren noch erinnerlich ist. Aber haben wir unser Leistungsvermögen nicht überschätzt und uns gar gezwungen, es ständig zu überschätzen? Schätzen wir nicht auch die Anspruchsteller im Wohlfahrtsstaat falsch ein, die keineswegs bereit sind mit Volksvermögen sparsam umzugehen, sondern nach Gewöhnung an und Verwöhnung durch den Wohlfahrtsstaat dessen vermuteten Reichtum begierig in Anspruch nehmen? Das führt zu kritischen Fragen an den Wohlfahrtsstaat. 4. Faktische Grenzen des Wohlfahrtsstaats Die eingangs zitierten Verse des Euripides, auch die dort wiedergegebenen Zeilen aus den Wahlverwandtschaften 66 stellen menschliches Leistungsvermögen in Frage. Martin Luther hat dasselbe ausgedrückt mit den Worten „Mit unsrer Macht ist nichts getan, …“ Das sind nicht nur Trostgründe, die Anlass geben, uns mit Zuständen abzufinden, statt ihre Änderung in Angriff zu nehmen.67 Vielmehr werden wir ermahnt, Erwartungen an menschliche Kraft und damit auch Machbarkeit zu dämpfen. Darauf wird zum Schicksal zuückzukommen sein. Die eigenwillig kritische Amity Shlaes hat das auf den Staat bezogen und ihre Analyse der amerikanischen Medicare-Gesetzgebung mit folgenden Worten geschlossen: „The truth is that no one can afford a Great Society, not Lyndon Johnson, not Germany, and not George W. Bush:“ 68 Die Wahrheit sei, dass sich niemand eine große Gesellschaft, also einen Wohlfahrtsstaat leisten könne. Pankoke hebt die Abhängigkeit des Wohlfahrtsstaats von einer Wirtschaftsordnung hervor, deren Entwicklung er selbst nicht zu steuern vermöge. Er erzeuge mehr Ansprüche als er befriedigen könne.69 Friedrich Naumann, der große evangelische Sozialpolitiker, hatte gehofft, dass eine von einem starken Staat geschützte Wirtschaft die Entwicklung von Sozialpolitik ermögliche. Hat er sich da nicht zu viel versprochen? Max Weber wusste, dass nur eine leistungsfähige Volkswirtschaft 65 In Bauten wie dem neuen Terminal 2 des Flughafens in München kommt die Überzeugung zum Ausdruck. 66 Dazu James Joyce im 9. Kapitel seines Ulysses (Gabler edition): „One always feels that Goethe’s judgments are so true.“ 67 Siehe auch Ernst Topitsch Begriff und Funktion der Ideologie, in derselbe, Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft, 3. Aufl. 1971, S. 15, 20. 68 Financial Times 1.12.2003. 69 (Fn. 21).

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Wohlfahrt erwarten lässt. Margarita Mathiopoulos hat wohl zutreffend den deutschen Wohlfahrtsstaat als Schönwettermodell qualifiziert. Gilt vielleicht, was der zur politischen Rechten zählende Walter Russell Mead geschrieben hat, nämlich, dass nur der Abbau des Sozialstaats die Kräfte freisetzt, die unter Verzicht auf Gleichheit vermehrten Wohlstand schaffen? 70 Der im November 2004 publizierte sog. Wim Kok-Bericht der EG hat hierzu schon in seiner Einleitung hervorgehoben, dass die bisher verfehlten Lissabon-Ziele nur durch umfassende Reformen zu erreichen seien. Das Sapir-Dokument drängt dazu vor allem auf Reformen der Sozialsysteme, die wieder Flexibilität herstellen und hierzu die zur Erstarrung führende Sicherheit überwinden.71 Es fordert Reformen allerdings, von denen man bezweifeln mag, ob sie durchsetzbar, ja ob sie von den europäischen Regierungen wirklich gewollt sind. Wer statt dessen auf die wohlfahrtsstaatliche Omnipotenz von Politik vertraut, begeht den Irrtum seines Lebens. Der Staat, der immer mehr Aufgaben bei sich anhäuft, ist dadurch schwächer geworden. Die seit hundert Jahren wachsenden Staatsausgaben können nach Studien von Tanzi und Schuknecht, Ökonomen des Internationalen Währungsfonds bzw. der Europäischen Zentralbank, ihre wirtschaftlichen und sozialen Ziele deshalb immer weniger erreichen, zumal Omnipotenz auch an Politikversagen scheitert 72. „Reconnaître qu’on ne peut satisfaire toutes les demandes est plutôt la marque des systèmes enracinés et forts.“ 73 5. Objektive Kontrapunkte a) Relativ: Die Einbahnstraße Das erste Bedenken gegen die wohlfahrtsstaatliche Sicherheitsgarantie akzeptiert die Forderung nach Sicherheit. Aber es nimmt eine Wertung auf, welche das zivilrechtliche Paradigma der Gemeinschaft kennzeichnet, nämlich das Versicherungswesen. Die freiwillig Versicherten müssen vom Riskieren erhöhter Gefahren absehen oder solche Gefahren wenigstens an70 Walter Russel Mead (Fn. 39), S. 192 ff. Ausführlich kritisch besprochen durch Anatol Lieven, in Financial Times, 19./20.2.2005. 71 Die Lissabon-Strategie für Wachstum und Beschäftigung, Bericht der Hochrangigen Sachverständigengruppe unter Vorsitz von Wim Kok, www.europa.eu.int. Das Dokument in Fn. 2. Es gibt leider Auffassungen, wonach bisherige Rechtsetzung der EG Belastungen erzeugt, die das Wirtschaftswachstum in Europa um sogar mehrere Prozentpunkte senkt. Die Barroso-Kommission will dem durch Deregulierung abhelfen. Hierzu Verfasser ZHR 164 (2000), 223, S. 266ff. 72 Vito Tanzi/Ludger Schuknecht Public spending in the 20th century . A global perspective, 2000. 73 Nicolas Sarkozy La république, les religions, l’espérance, 2004, S. 23, hat geschrieben: „Reconnaître qu’on ne peut satisfaire toutes les demandes est plutôt la marque des systèmes enracinés et forts“.

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zeigen, damit evtl. ihre Prämie angehoben werden kann. Auf diese Weise sollen übermäßige Ansprüche, die aus den Prämien aller befriedigt werden müssen, vermieden werden. Wer dies zum Maßstab nimmt, kann kein Verständnis für den sozialversicherten Skifahrer haben, der auf einer gewagten Hochgebirgsroute verunglückt und prozessiert, falls der Versicherungsträger nicht auch den Rettungshubschrauber bezahlen will. Wenn schon Versichertengemeinschaft, dann muss jeder Anspruchsteller mindestens gehalten sein, seine Risiken und damit Ansprüche klein zu halten und gegen gewollte größere Risiken jenseits der Gemeinschaft vorzusorgen. Zum Kleinhalten gehören die Bereitschaft zu auch unbequemer Arbeit, der Verzicht auf das Rauchen, die normale und selbstverantwortliche Gesundheitsvorsorge, die eigene Risikoversicherung der Sahara-Reisenden, aber auch – soweit Versicherungsschutz möglich – derjenigen, die mit Elementarschäden zu rechnen haben.74 Mit dem Anwachsen der Ansprüche auf Autonomie muss die Bereitschaft einhergehen, die besonderen Risiken autonomen Handelns selbst zu tragen, selbst zu verantworten. Weitergehend stellt sich für den Bürger die Frage, ob er staatliche Leistungen in Anspruch nehmen darf, wenn er selbst Leistungen an die Allgemeinheit verweigert. Das gilt auch für diejenigen, die vom Staat zwar keine Sozialleistungen im engeren Sinne, aber immerhin gute Straßen, Schulen, kulturelle Einrichtungen usw. begehren, aber zugleich größte Anstrengungen unternehmen, um ihrer Steuerlast zu entgehen. Grundsätzlich gilt: Wenn schon staatliche Vorsorge, dann keine Einbahnstraße nur der Ansprüche, sondern auch der Gegenverkehr der Pflichten und der im Versicherungswesen sogenannten Obliegenheiten und Risikobeschränkungen, die jeden zwingen, das ihm Zumutbare zu tun, um sich selbst gegen Gefahren und Nachteile zu schützen.75 Dazu gehört auch die Bereitschaft zu eigener Anstrengung und zu Leistung an den Staat – im Sinne von Kennedy.76 74 Es gibt schwierige Grenzfälle. Herausragendes Beispiel ist die immer häufigere Ehetrennung, die einen Partner mit Kindern und einem zu schmalen Einkommen zurücklässt. Muss etwa auch da der Staat helfend einspringen, um die private Entscheidung zu ermöglichen? 75 Zu § 616 BGB gibt es reichhaltiges Material. 76 Alexis de Toqueville hat in De la Démocratie en Amérique in der Leistung an den Staat auch ein Eigeninteresse am Werk gesehen: „L’homme du peuple, aux Etats-Unis, a compris l’influence qu’exerce la prospérité générale sur son bonheur, idée si simple et cependant si peu connu du peuple. De plus, il s’est accoutumé à regarder cette prospérité comme son ouvrage. Il voit donc dans la fortune publique la sienne propre, et il travaille au bien de l’Etat, non seulement par devoir ou par orgueil, mais j’oserais presque dire par cupidité.“ Bei uns wäre dagegen wohl das Misstrauen gegenüber dem Staat bestimmend. – § 12 des Gesetzes über die eingetragene Lebenspartnerschaft von 2001 begründet für Fälle des Getrenntlebens, soweit ich sehe zum ersten Mal, ausdrücklich eine Erwerbs-Obliegenheit im Zivilrecht, allerdings auch wieder durch eine Generalklausel eingeschränkt.

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b) Absolut: Der Umfang des Wohlfahrtsstaats Aber man muss weiter gehen und eine Überdehnung der Ansprüche in Frage stellen. a) Die Verhältnismäßigkeit Diese Frage gewinnt Gewicht, wenn wir bedenken, dass Staat und Gesellschaft nicht nur sozial- staatliche Aufgaben zu bewältigen haben. Wohlfahrt darf die verfügbaren Mittel deshalb nicht unverhältnismäßig für sich beanspruchen. In der Dürer-Ausstellung der Albertina in Wien war auch der Triumphwagen, der Holzschnitt des Albrecht Dürer 77, zu sehen mit den zahllosen Werten und Gütern, die den Wagen mit Maximilian I. bevölkern, darunter klein unsere Sicherheit, die securitas. Sie müssen sich alle zurücknehmen, um zusammen Platz zu haben. Das Bild sollte Augen öffnen: Ich denke, dass sich ebenso ein wohlmeinender, Sicherheit der Wohlfahrt versprechender Staat zurücknehmen muss, wenn dies nötig ist, um Raum für andere Staatsaufgaben zu lassen. Ich denke namentlich an die Sicherung der europäischen wirtschaftlichen Existenz in der globalen Welt. Die von André Sapir einander gegenübergestellten Wohlfahrts-Modelle lehren auch unter diesem Gesichtspunkt, dass sich die Staaten mindestens auf einen Teil von Wohlfahrtsaufgaben beschränken müssen.78 Schließlich erheischt – jenseits von Grundgesetz und Stabilitätspakt – die nicht stimmberechtigte und deshalb auch von deutscher Haushaltspolitik vernachlässigte Kinder- und Enkelgeneration Berücksichtigung entgegen heutiger Staatsverschuldung. Anstrengungen hierzu werden auch auf Kosten des Wohlfahrtsstaats gehen müssen. Nur die leider zu zahlreichen Mittelmäßigen können sich dem verschließen. b) Drei Grenzen des Steuer- und Abgabenstaats Ich will nicht gegen hohe Steuern für soziale Zwecke polemisieren, denn immerhin hat das sogenannte deutsche Wirtschaftswunder nach dem zweiten Weltkrieg in einem System hoher Steuern (bei höheren Einkommen, Vermögen usw.) seinen Anfang genommen.79 Aber drei Grenzen für Abgaben- und

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Securitas, Triumphwagen, 1518–1522. Sapir (Fn. 4). Dazu auch Amartya Sen, (Fn. 7), besonders S. 20. Jacob Burckhardt hat in seiner griechischen Kulturgeschichte (Fn. 47) über das Theorikon berichtet, eine staatliche Leistung, die Bürgern die Teilnahme an Festlichkeiten ermöglichte. Später seien Kriege aus Geldmangel verloren gegangen, weil dieses Heiligtum unangetastet bleiben musste. Eindrucksvoll hierzu Frank Sieren, Der China Code, 2005. 79 Im Ergebnis ähnlich Ronald Dworkin Do Liberty and Equality conflict? in Barker (Fn. 2), S. 39, 56. – Die Verfassungsjudikatur (zuletzt Bundesverfassungsgericht vom 16.3. 2006) bleibt hier außer Betracht. 78

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Steuerbelastung seien erwähnt. Erstens werden die Einnahmen, deren nicht zuletzt ein Wohlfahrtsstaat bedarf, im wesentlichen von Bürgern und Unternehmen durch Leistungen erwirtschaftet, an welche Besteuerung anknüpfen kann. Eine Besteuerung, die den Leistungswillen schmälert, schadet deshalb dem Sozial- und Wohlfahrtsstaat. Zweitens sind wirtschaftliche Leistungen heute mehr denn je von Kapitalinvestitionen abhängig. Diese Investitionen erfolgen – unmittelbar oder mittelbar – aus privaten Einkünften und Vermögen. Wer solche mit Abgaben belastet und gar zur Auswanderung veranlasst, schwächt die Investitionskraft der Volkswirtschaft.80 Man sollte sich an Abraham Lincolns Satz erinnern: „Ihr werdet die Schwachen nicht stärken, indem ihr die Starken schwächt“. Nicht Verteilung von Einkünften und Vermögen darf deshalb Politikziel sein, sondern die Schaffung vermehrten Wohlstands. Drittens wird investitionsfähiges Privatvermögen zu schonen sein, wenn der Staat sich eigener Aufgaben durch Privatisierung entledigen will, etwa bei Kliniken oder Straßenbau und -unterhalt. c) Willkürliche Zuteilung von Ansprüchen Vor allem muss gegen die Willkür des Wohlfahrtsstaats aufbegehrt werden. a) Zwei Beispiele der Willkür Zum Verhältnis konkurrierender Ansprüche zueinander beginne ich – in Fortführung von Anliegen des amerikanischen Nobelpreisträgers Stigler – mit zwei aktuellen Beispielen: Denken wir zunächst an die lange umstrittene Eigenheimzulage. Franklin Roosevelt hatte ähnliches während der Great Depression in den USA vorgeschlagen. Man konnte selbstverständlich Gründe für eine solche Zulage nennen, obwohl sie Natur zerstören half und Mobilität bremste, deren selbstverantwortliche Menschen bedürfen. Warum aber, so frage ich mich heute, sollte bei uns eigentlich ein zur Miete wohnender Bürger zusehen müssen, dass Häuslebauer Anspruch darauf haben, aus seinen und anderer Bürger Steuerbeiträgen diese Zulage zu erhalten? Wäre es nicht gerechter gewesen, einem anderen einen Steuernachlass zu gewähren, damit er eine neue Waschmaschine oder seinen Kindern einen Computer kaufen kann? 81 Trachtenvereine (als Wahrer von Brauchtum) bekommen wohl immer noch Geld der Steuerzahler, das Schulen und Hochschulen fehlt: Luxus des Wohlfahrtsstaats hier erzeugt Mangel dort. Ist es nicht schlicht diskriminierend, wenn der Wunsch nur des einen Unterstützung findet, während andere zu kurz kommen und dafür vermehrt Steuern zahlen müssen? Nicht viel besser ist es, wenn bei einer Naturkatastrophe denjenigen staatliche Hilfe gewährt wird, die Versicherungskosten gespart haben, 80 81

Dazu schon Max Weber (Fn. 61), S. 210. Weitere Beispiele bei Joseph Stiglitz The roaring ninetees, 2003, S. 18, 108.

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während die privat Versicherten vom Staat nichts erhalten. Ich bezweifle allgemein, dass Anspruchsgerechtigkeit realisierbar ist; ich befürchte, dass vielmehr Anspruchswillkür droht. b) Beharren auf Besitzständen Zu häufig wird überdies zu Gunsten alter sogenannter Besitzstände gefördert, unter Verweigerung von Zukunft. Schiller hat Wallenstein in den Mund gelegt: 82 „Nicht, was lebendig kraftvoll sich verkündigt, Ist das gefährlich Furchtbare. Das ganz Gemeine ist’s, das ewig Gestrige, was immer war und immer wiederkehrt und morgen gilt, weil’s heute hat gegolten!“ Er warnt vor dem Gestrigen, dem Gewohnten. Das gilt auch für alle tradierten, heute oft willkürlichen Ansprüche, an die wir uns gewöhnt haben. Für Juristen hat das niemand besser als Rudolf von Ihering zum Ausdruck gebracht.83 Zuletzt ist Susan Sontag in der Paulskirche der Spannung zwischen Alt und Neu nachgegangen, um den Differenzen zwischen Amerika und Europa auf die Spur zu kommen. g) Interessengruppen und Allgemeinheit Nicht minder willkürlich handelt Politik, wenn sie Gruppeninteressen fördert. Sie hat statt dessen dem Allgemeininteresse zu dienen. Vladimir Spiola, der für Sozialfragen zuständige EG-Kommissar, hat zu Recht geschrieben, dass „we need to move from job protection to employment protection“, also vom Schutz der Besitzenden zur Wohlfahrt der Allgemeinheit. Politik versagt sich leider immer wieder dieser Einsicht und dem, was Edmund Burke hierzu schon am 3. November 1774 gesagt hat. d) Menschliche Würde und Freiheit Mit der Frage nach menschlicher Würde und Freiheit wende ich mich meinen wichtigsten Bedenken gegen den Wohlfahrtsstaat zu.84 Die breite verfassungsrechtliche Diskussion hierzu kann ich nicht aufgreifen. Der Schutz menschlicher Würde garantiert einen Grundbestand innerer Menschlichkeit, so der Papst, noch als Kardinal Ratzinger,85 und damit das, was den Menschen erhaben macht. Max Weber hat – so denke ich – dieses essentiale am eindrucksvollsten präzisiert, indem er den Menschen von andern Wesen unterscheidet: „Die Würde des Menschen, seine Erhabenheit über alles lediglich Natürliche oder über alle Tiere besteht darin, dass er sich seine letzten Werte selbst setzt, dass er diese Werte zu seinen ständigen Zwecken macht 82

Wallensteins Tod, 1, Aufzug, 4. Auftritt. Der Kampf um’s Recht, 15. Aufl. 1903, S. 8 f. 84 Das was Max Weber (Fn. 17), S. 131, als protestantische Ethik entfaltet hat, also die „rationale Arbeit als das von Gott Verlangte“, bleibt hier außer Betracht. 85 Dazu auch Text nach Fn. 58. 83

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und dass er auf vernünftige oder rationale Weise die Mittel zu diesen Zwecken wählt. Die Würde des Menschen besteht in seiner Autonomie, d.h. in der freien Wahl seiner eigenen Werte oder Ideale oder in seinem Gehorsam gegenüber dem Gebot: „Werde der du bist.“ Das Bundesverfassungsgericht hat dem entsprochen und schon am 17. August 1956 den Menschen als eine mit der Fähigkeit zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung begabte Persönlichkeit bezeichnet. Wer diesen Aussagen den Kern dessen entnimmt, was wir die Würde des Menschen nennen, muss folgern: a) Jeder ist der Architekt seines Lebens: Freiheit statt faktischer Gleichheit Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung entspricht dem. Sie verheißt nicht Glück, sondern spricht vom Recht der Menschen zum Streben nach Glück. In ihrer Einleitung heißt es „that all men are created equal, that they are endowed by their creator with certain unalienable rights, that among them are life, liberty, and the pursuit of happiness.“ Das daraus folgende Recht des Bürgers zur Verfolgung in Freiheit, was er autonom für sein Glück hält, entspricht dem, was Kant zur Freiheit gefordert,86 was Grunwald den Grundfreiheiten der EG entnommen hat. Es entspricht auch Adorno, nach dem die Fähigkeit zum Glück der Freiheit angehört, sich also nicht fremder Fürsorge, schon gar nicht hoheitlicher Bevormundung verdankt. Auch wenn die in der Unabhängigkeitserklärung vorausgesetzte (protestantische) Arbeitsethik heute teilweise durch anderes abgelöst sein mag – ernüchternd in den USA z.B. nach verbreiteter Ansicht statt Arbeit das Vertrauen auf Glück 87 –, so unterscheidet sich Amerika jedenfalls merklich von Europa, das verordnet was Glück ist 88 und das damit faktisch gleich macht. Wiederholen wir: Die Unabhängigkeitserklärung setzt hierzu auf Freiheit, macht diese der menschlichen Würde dienstbar. Bevormundende Fürsorge durch den Wohlfahrtsstaat ist dem zuwider.89 Zuletzt hat Kurt Biedenkopf die Bevormundung der Menschen durch den Wohlfahrtsstaat gegeißelt. Die amerikanische Auffassung erinnert an Rousseau, der „die Neigung zum 86 In Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis II. Es heißt dort, über das oben Zitierte hinaus: „Der Satz: salus publica suprema civitatis lex est, bleibt in seinem unverminderten Wert und Ansehen; aber das öffentliche Heil, welches zuerst in Betrachtung zu ziehen steht, ist gerade diejenige gesetzliche Verfassung, die Jedem seine Freiheit durch Gesetze sichert; wobei es ihm unbenommen bleibt, seine Glückseligkeit auf jedem Wege, welcher ihm der beste dünkt, zu suchen, …“ 87 Rifkin (Fn. 7), S. 26 ff. 88 Den Unterschieden amerikanischer und europäischer Auffassung ist zuletzt Jeremy Rifkin nachgegangen (Fn. 7). Dazu kann hier nicht Stellung genommen werden. 89 Bergsträsser hat auch die Gleichheit der französischen Bürger zur Zeit der Revolution auf Freiheit reduziert: „In seiner Betonung der individuellen Freiheitsrechte bekundet er (der Bürger) unduldsam einen egalitären Willen, indem er die atomistische Gesellschaft aus gleichermaßen freien Einzelnen gebildet denkt.“

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Wohlseyn die einzige Triebfeder aller menschlichen Handlungen“ nennt 90 und damit dieses Streben – statt eines Versorgtwerdens – schutzwürdig macht. Nikolaus Piper hat einmal an Karl Barth erinnert, der vom Menschen sagte, er sei der souveräne Architekt seiner selbst. Hierzu galt in Deutschland auch der – heute allzu sehr verdrängte – Spruch, dass „jeder ist seines Glückes Schmied“. Diese Devise verheißt Freiheit, schließt aber ein, dass es Gewinner und Verlierer gibt, dass Menschen auf Gleichheit ihres Erfolgs verzichten müssen: „Everybody gets their own ration of luck, they say.“ 91 Das hat schon Euripides gesehen. Die faktisch gleich machende Wohlfahrtsverheißung eines Staats setzt sich darüber und über das auf Ulpian zurückgehende, hier als Zuteilungsprinzip verstandene „suum cuique tribuere“ hinweg, ebenso wie über die puritanisch-christliche Auffassung von Askese und Beruf 92. Sie missachtet, dass Menschen ungleich sind,93 und hierbei auch das, was Czeslaw Milosz (im Abschnitt Beta in Verführtes Denken) grauenvoll über Konzentrationslager geschrieben hat, in denen eben Schlaue, Tüchtige, Gesunde eine größere Überlebensaussicht gehabt hätten. Gewiss hat schon Alexis de Tocqueville darauf hingewiesen, dass Gleichheit den Menschen wichtiger sei als Freiheit. Aber erstens hat er als Beispiel nur die Ablehnung jeder Aristokratie, also die Ablehnung von Vorrechten, nicht aber Gleichheit im übrigen, also auch im Wohlstand erwähnt. Zweitens und vor allem würde die von Staats wegen vermittelte Gleichheit nicht nur der Rechte, sondern auch des Wohlstands nur diejenigen befriedigen können, die auf die Würde selbstverantwortlicher Menschen keinen Wert legen und die nicht wissen, was schon Jean Jacques Rousseau geschrieben hat, nämlich dass Ungleichheit Folge kultureller Entwicklung ist, also zur Kultur gehört. Die Wohlfahrtspolitiker und Kritiker des amerikanischen und britischen Modells sollten sich fragen, warum viele Deutsche jährlich über den Kanal nach England auswandern und sich in dessen liberalem und deshalb auch bürokratiearmem System wohl fühlen. Die Unternehmenden fliehen den sie umsorgenden und dazu bevormundenden Wohlfahrtsstaat. Friedrich Schiller sprach in seiner Jenaer Antrittsvorlesung von der Gleichheit, die der Mensch durch seinen Eintritt in die Gesellschaft verlor, aber durch weise Gesetze wiedergewonnen habe. Nur Gleichheit vor dem Gesetz hat er gewonnen. Nietzsche hat nicht einmal diese Gleichheit vor dem Gesetz 90

Rousseau (Fn. 13). James Joyce Ulysses (Fn. 66), episode 16, Eumaeus. Dazu auch Anatol Lieven America – right or wrong, 2004, S. 104. 92 Immanuel Kant hat das suum cuique als Schutz bestehenden Besitzes und damit restriktiv interpretiert; Metaphysik der Sitten, Rechtslehre. Hier geht es um das, was der einzelne verdient. – Zur puritanisch-christlichen Auffassung Max Weber (Fn. 17), passim, zusammenfassend S. 152 f. 93 Erneut hervorgehoben von Francis Fukuyama (Fn. 50), S. 149. 91

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gebilligt, sondern vom Unrecht gesagt, es liege niemals in ungleichen Rechten, sondern im Anspruch auf gleiche Rechte. b) Sicherheit, Risiko Kurt Flasch schildert die Schiller’sche Deutung der Vertreibung aus dem Paradies: Hier beginne die menschliche Freiheit, aber Adam habe einen gefährlichen Weg beschritten,94 das heißt einen risikoreichen Weg. Der hoch geachtete Schweizer Rechtslehrer Hans Merz hat in seiner Rektoratsrede deshalb mit gutem Grund betont, dass Freiheit nicht ohne Risiko zu haben sei. Er wird den Schiller-Vers gekannt haben: „Und setzt ihr nicht das Leben ein, / Nie wird euch das Leben gewonnen sein.“ Shakespeare geht weiter: In Macbeth sagt Hekate zu den Hexen: „Denn, wie ihr wisst, war Sicherheit des Menschen Erbfeind jederzeit.“ Damit hat er Sicherheit völlig verworfen, nicht Freiheit und Sicherheit gepaart. Stefan Zweig schildert das goldene Zeitalter der Sicherheit (für die Oberschichten) als die Welt von gestern. Adorno leugnet – wie schon Euripides – schlicht die Sicherheit: „Die Wahrheit wird sichtbar, dass es mit der Sicherheit nichts Rechtes ist.95 Und nach Schopenhauer werden die Lebenden durch das Streben nach Daseyn beschäftigt und in Bewegung gehalten. „Mit dem Daseyn aber, wenn es ihnen gesichert ist, wissen sie nichts anzufangen: …“ Schon deshalb kann der Wunsch nach solcher Sicherheit keine Einschränkung der Freiheit legitimieren. Das mit Freiheit verknüpfte Risiko gehört zum Menschen. Ob Sicherheit durch staatliche Wohlfahrt im Zeichen der Globalisierung geschaffen werden kann, ist überdies unsicher.96 Die EU bemüht sich trotzdem wohlfahrtsstaatlich darum, die Freiheiten des Markts durch Stiftung von Sicherheit verträglich zu machen.97 Das führt zu einer ersten Frage. Erstreben wir Heutigen die Sicherheit wirklich? Während Rechtsordnung und Politik immer mehr Sicherheit versprechen, während die meisten Deutschen den Arbeitsplatz bei einem Arbeitgeber dem Wagnis selbständiger Tätigkeit nach wie vor vorziehen, geben immer mehr Menschen viel Geld aus, um sich Risiken zu verschaffen, an der Börse, beim Bergsteigen, Skifahren, in der Wüste.98 An leichtsinnige Pkw-Fahrer und den privaten Verzicht auf Versicherungsschutz braucht man kaum zu erinnern. In den USA

94 Kurt Flasch Eva und Adam – Wandlungen eines Mythos, 2004, S. 87. Zur deutschen Wirtschaftsgeschichte siehe Lothar Gall (Fn. 59) S. 88 f., 105. 95 Wie zuvor, Nr. 102. 96 Hierzu etwa V. Navarro/J. Schmitt/J. Astudillo Is globalisation undermining the welfare state?, Cambridge J. of Economics 28 (2004), 133ff. 97 Hierzu Verfasser Markt und hoheitliche Verantwortung in der EG, ZHR 164 (2000), 223ff. Zum frühen deutschen System A. J. Nicholls Freedom with responsibility; the social market economy in Germany, 1918–1963, 1994. 98 Dazu der Verfasser in Rechtshistorisches Journal 19, 2000, 664ff.

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stellt man die Frage, ob Frauen selbst entscheiden dürfen, ob sie das Risiko von Silicon-Implantaten eingehen wollen.99 Isaac B. Singer hat einmal geschrieben, dass die Menschen ständig Abenteuer, Abwechslung, Risiken, Gefahren und Risiken brauchen.100 Die Angst vor Langeweile sei größer als die Angst vor dem Tod. Ich erinnere einen Besuch in Philippi. Dort betraten wir die Ruine, in der angeblich Paulus gefangen saß, nachdem er auf seiner ersten Europareise (aus der Gegend des alten Troia) nach Mazedonien gekommen war. Hat er sich etwa durch Sorge um seine Sicherheit abhalten lassen? Schiller hat jede Sicherheit geopfert, als er sich dem Herzog Karl Eugen durch Flucht aus Württemberg entzog, um frei zu sein. Dafür hat er Großes geschaffen. Um der Ehre willen haben sich noch vor 100 Jahren Männer zum Duell bereit gefunden, und selbst ein so sensibler Schriftsteller wie Lermontow hat dabei – im Alter von 28 Jahren – sein Leben geopfert. Sicherheit ist also nicht jedermanns Sache. Sind die Ansprüche der Menschen auf Sicherheit ihrer Wohlfahrt nicht auch deshalb fragwürdig? Ich denke, dass Margarita Mathiopoulos mit Recht Risikobereitschaft angemahnt hat. An solcher Risikobereitschaft fehlt es leider vielfach auch in der Politik. c) Selbstverantwortung Wenn wir deshalb der Freiheit trotz der damit verknüpften Risiken das Wort reden, so stellt sich zur Ergänzung die zweite Frage: Was bliebe denn Anspruchstellern an Freiheit, wenn eine Solidargemeinschaft ihnen alle Sorge um Sicherheit abnimmt, wenn Beamte irgendwelcher sozialen Ämter à la Kafka ihnen alle Wege weisen, wenn Staat und viele besser wissende Verbände ihnen immer häufiger vorschreiben, wessen sie für ihre Zufriedenheit bedürfen? Sie können vielleicht gerade noch entscheiden, ob sie den Urlaub an der Ostsee, in Mallorca oder Menorca verbringen oder ob sie ihre Freundin, ihren Freund wechseln wollen, ohne Obligo selbstverständlich. Die wesentlichen Sorgen und Aufgaben wären ihnen aus der Hand genommen. Hindernisse sind ihnen aus dem Weg geräumt. Sie können sich nicht mehr bewähren, werden unbeweglich, unflexibel. Das ist gewiss bequem, ebenso wie es bequem ist, Befehle auszuführen, wenn dadurch Eigenverantwortung entfällt oder eingeschränkt wird. Immanuel Kant war hierzu besonders kritisch. Er hat Faulheit und Feigheit als die Ursachen bezeichnet, warum Menschen gern unmündig bleiben. Unmündigkeit sei so bequem.101 Im Übrigen habe ich ihn oben zitiert.102 Kant verwirft den väterlichen Staat um der 99

Amity Shlaes in Financial Times (englische Ausgabe), 20. Oktober 2003, S. 13. In Verloren in Amerika (deutsche Übersetzung), 7. Aufl, 1998, S. 148. Neuerdings zu Gesundheit, Sicherheit und Risiko Olivier Razac La grande santé, 2006. 101 In: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? David Brooks hat über die Folgen geschrieben: „The core fact is that the European model is foundering under the fact that billions of people are willing to work harder than the Europeans are.“ 102 Siehe Fn. 59. 100

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menschlichen Freiheit willen.103 Charles Dickens hat die staatliche Fürsorge – in Oliver Twist – mit Blick auf die „fortschrittlichen“ Arbeitshäuser aus dem gleichen Grund verneint. Karl Jaspers hat zur Daseinsordnung und damit auch der Sozialordnung geschrieben: In ihr werden die Veranstaltungen getroffen, um „vergessen zu machen und zu beruhigen … Eine restlose Daseinsordnung würde den Menschen als Existenz vernichtet haben, ohne ihn als vitales Dasein jemals beruhigen zu können“.104 Die Würde des Menschen verlangt, über Max Weber hinaus, dass er für das Lebensnotwendige, also seine Grundversorgung nicht auf Betteln und den guten Willen von Wohltätern verwiesen wird. Hier ist der Sozialstaat in der Pflicht. Die Würde des Menschen verlangt aber auch, dass der Staat seine Freiheit und Selbstverantwortung respektiert, ihm nicht mögliche Selbsthilfe erspart und ihn nicht über das Lebensnotwendige hinaus mit Wohlstand versorgt.105 Nietzsche hat den wohl entscheidenden Gesichtspunkt geliefert. Er hat die Frage gestellt, was Freiheit ist: „Dass man den Willen zur Selbstverantwortlichkeit hat.“ 106 Nietzsche bezeichnet diese Verantwortlichkeit zu Recht sogar als menschliches Privileg und spricht in diesem Zusammenhang vom souveränen Individuum. Diese Souveränität entspricht der Kant’schen Definition der Aufklärung als des Ausgangs des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Der oben zitierte Marx’sche Satz sagt dasselbe. Das deutsche Grundgesetz rückt die Würde des Menschen und seine Freiheit an erste Stelle unserer Werte, vor die Gleichheit.107 Es gebietet dem Staat – so verstehe ich es –, die Menschen jedenfalls für ihre Wohlfahrt auf ihre Selbstverantwortung und Selbstvorsorge zu verweisen. Von hier aus ergibt sich zugleich die Notwendigkeit der Marktwirtschaft. Man muss dazu nur John Gray lesen: „We should see the ethical standing of the market in its respect for human agency and its contribution to human autonomy.“ 108 d) Gemeinwohl Dass die Selbstvorsorge des einzelnen Menschen auch der Gesamtheit zugute kommt, hat nicht nur Adam Smith, sondern etwa gleichzeitig Immanuel Kant gesagt: „Wenn man den Bürger hindert, seine Wohlfahrt auf alle ihm selbst beliebige Art, die nur mit der Freiheit Anderer zusammen bestehen kann, zu suchen, so hemmt man die Lebhaftigkeit des durchgängigen

103

Fn. 33. Karl Jaspers Die geistige Situation der Zeit, 8. Abdruck der im Sommer 1932 bearbeiteten 5. Auflage, 1979, S. 57. Den Hinweis hierauf verdanke ich Gerhard Riehle. 105 Man sollte auch an Tschechows „Das Haus mit dem Giebelzimmer“ denken. 106 In Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemäßen. 107 Das hat vor allem der Verfassungsrichter Udo Di Fabio mehrfach gezeigt. 108 Beyond the new Right, 1993, S. 15 f. 104

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Betriebes, und hiemit wiederum die Kräfte des Ganzen.“ 109 John Stuart Mill hat dieselbe Erkenntnis formuliert, nämlich dass die individuelle Selbstvorsorge, dass das individuelle Streben nach Wohlstand (Glückseligkeit) der Allgemeinheit zugute kommen. Mill beklagt aber zugleich, dass dies überwiegend verkannt werde. Es heißt bei ihm zur Freiheit: „Wo nicht der eigene Charakter des Menschen, sondern die Überlieferungen und Gewohnheiten anderer Leute die Richtschnur des Handelns abgeben, da fehlt einer der wesentlichen Bestandteile des menschlichen Glücks und geradezu der Hauptbestandteil des persönlichen und sozialen Fortschritts. Bei der Durchführung dieses Grundsatzes liegt die größte Schwierigkeit nicht in der Abwägung der Mittel zum anerkannten Ziel, sondern in der Gleichgültigkeit des Publikums gegen das Ziel selber. Wenn die Überzeugung allgemein wäre, dass die freie Entfaltung der Individualität einer der wesentlichen Bestandteile der Wohlfahrt ist, und dass sie nicht nur all dem, was man mit den Worten Zivilisation, Unterricht, Erziehung, Kultur bezeichnet, gleichberechtigt zur Seite steht, sondern ein notwendiges Element und eine Bedingung dieser Güter ist, so wäre die Unterschätzung der Freiheit nicht zu befürchten, … Das Übel aber ist, dass persönliche Selbstentwicklung und Ursprünglichkeit von der gewöhnlichen Denkweise kaum als etwas von innerem Wert oder als um seiner selbst Schätzenswertes betrachtet wird.“ Darauf werden wir sogleich zurückkommen. e) Schicksal Schicksal hat in der neueren Philosophie keinen Platz mehr. Dennoch hierzu ein Letztes: Der demokratische Staat sollte Not abwenden, aber nicht jedes Schicksal der Menschen beherrschen wollen; er sollte nicht selbst in die Rolle des Schicksals schlüpfen. Er kann es nicht. Titus Livius hat vom Schicksal geschrieben, nach dessen Gesetz sich die unabänderbare Folge menschlicher Dinge ergibt, und von Servius hat er gesagt, dass er durch menschliche Überlegung die Unabänderlichkeit des Schicksals nicht beseitigen könne. Gleiche Stimmen habe ich eingangs zitiert. Christen vertrauen auf Gott.110 Zum Schicksal, von wem immer zugeteilt oder verhängt, ob von oben oder unten, ob verschuldet oder Fatum,111 wage ich eine Aussage: Nietzsche ist wohl nicht in die Irre gegangen, als er den „amor fati“ lehrte, als er schrieb, „du sollst dein Schicksal lieben“. Und er hat sogar das vom Schicksal verfügte Leiden gepriesen: Die Zucht des Leidens, des großen Leidens – „wisst ihr 109

Zum achten Satz der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Ab-

sicht. 110 Ich wage nicht, hier auf das Verhältnis von Staat und Schicksal zu Religion einzugehen. 111 Dazu vor allem das beachtliche Werk von Michael Theunissen Schicksal in Antike und Moderne, 2004.

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nicht, dass nur diese Zucht alle Erhöhungen des Menschen bisher geschaffen hat?“ 112 Charles Baudelaire dankt in seinen Fleurs du Mal für das Leiden: „Soyez béni, mon Dieu, qui donnez la souffrance/Comme un divin remède à nos impuretés …“ Ich bezweifle, dass Nietzsche und Baudelaire dies nach dem 20. Jahrhundert wiederholen würden. Aber die Schrecken jenes Jahrhunderts haben doch bestätigt, dass es Schicksal gibt, das sich gegen jeden Widerstand durchsetzt, Glück und Unglück wie Zwillinge austeilt, und dass wir dies so wie Euripides akzeptieren müssen. Immanuel Kant sagt, am Schluss seiner Metaphysik der Sitten, dass nach Auffassung der alten Philosophen das fatum über Jupiter stehe. Haben Tsunami, Hurrikan und Erdbeben das nicht erwiesen? Goethe hat sich zur Macht des Schicksals entgegen Vernunft und Tugend, Pflicht und allem Heiligen bekannt. Max Weber hat Schickung in die Lebenslage, also Bekenntnis zum Schicksal bei Luther gesehen.113 Die Art der „geschickten“ 114 Berufsarbeit sei unerheblich angesichts der relativ kurzen Dauer menschlichen Lebens auf Erden. Es ist kein Zufall, dass die Fischer und ihre Frauen auf der Kurischen Nehrung 115 ihr Schicksal einfach hinnehmen, nicht aber die politisch organisierte Gesellschaft. Muss diese aber nicht, wenn schon der Sozialstaat dem Schwachen zum Lebensnotwendigen beisteht, dessen Schicksal im Übrigen seinen Lauf nehmen? Soll sie zu einer Wohlfahrtsarmee werden? Oder sollte sie besser auf das verweisen, was Vergil in seiner Aeneis einmal gesagt hat: Schicksal bewältigt man dadurch, dass man es erträgt. Die Grundfrage, welchen Respekt wir – und der Staat – dem Schicksal schulden, kann hier nicht beantwortet werden, muss aber denen gestellt werden, die sich wohlfahrtsstaatlicher Politik verschreiben. Ich denke, dass wer Freiheit und Autonomie bejaht, mit deren siamesischen Zwillingsschwester der Selbstverantwortung auch das unbeherrschbare Schicksal akzeptieren muss. Wer dies tut, muss das als Zuteilungsprinzip verstandene „suum cuique“ 116 als gerechten Maßstab anerkennen und die Forderung des „jedem das gleiche“, wie sie einem Wohlfahrtsstaat immanent ist, verwerfen.

112 In: Jenseits von Gut und Böse – Unsere Tugenden. Vladimir Nabokov fragt in Pnin ohne die Folgenbetrachtung Nietzsches: „Ist das Leid … nicht das einzige auf Erden, was die Menschen wirklich besitzen?“ Und Sándor Márai ergänzt in Die Glut, 8. Aufl. 2003, S. 145f., zum Schicksal: „Wenn sich das Schicksal unmittelbar an uns wendet, uns gleichsam beim Namen ruft, schimmert am Grund der Beklemmung und der Angst immer auch eine Art von Anziehung, denn man will nicht nur leben, koste es, was es wolle, nein, man will sein Schicksal kennen und ganz auf sich nehmen, um jeden Preis, auch um den Preis der Gefahr und des Sterbens.“ Aischylos im Agamemnon: Zeus, der … dem Satz „Durch Leid lernen“ vollste Geltung leiht. 113 (Fn. 17) S. 47. 114 Theunissen (Fn. 111), S. 52, zu Heidegger. 115 In Eduard Graf Keyserlings Wellen. 116 Dazu oben.

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6. Zweierlei Ethik und dritter Weg Selbstverständlich lässt sich ein mehr oder weniger intensiver Wohlfahrtsstaat einfach wollen, lässt sich politisch um das streiten und ringen, was das Gemeinwesen an Wohlfahrt leisten soll, was Anspruchsteller vom Staat begehren dürfen.117 Das politische Wollen konkurrierender Parteien kann Interessenwahrnehmung sein, auch wenn sich diese auf Gerechtigkeit oder Solidarität stützen (Interest, not principle, in den Worten von Christopher Caldwell 118). Max Weber ordnet dies den politischen Parteien zu.119 Die Gewöhnung an den Wohlfahrtsstaat mag die Frage nach seiner Legitimität gar nicht erst aufkommen lassen. Es könnte aber sein, dass es einen legitimen Grund gibt. Er könnte darin liegen, dass die Moderne, namentlich die heutige Arbeitswelt jeden Einzelnen überfordert, wenn er sich selbst helfen soll, mag dies die Folge von Modernisierung, Globalisierung oder was immer sein. Vielleicht müssen viele Bürger im Verhältnis zu den Wirtschaftsmächten als schwach im oben erörterten Sinne qualifiziert werden oder jedenfalls dort wo Leistungen und Einrichtungen nur „mit vereinten Kräften“ möglich sind. Neben außerstaatlicher Solidarität ist Vereinigungs- und speziell Koalitionsfreiheit das Instrument der Autonomie, um genau solcher Schwäche abzuhelfen. Aber es fragt sich, ob Koalitionen noch stark genug sind, um dem zu genügen und ob deshalb der Staat, ob beim „Abfedern“ der Globalisierung die Europäische Union in die Bresche springen und Wohlfahrt sichern müssen. Ich selbst bezweifle das. Das Beispiel derjenigen, die Arbeitsplätze in anderen Staaten suchen und finden, und das Beispiel anderer Länder, etwa jenseits unserer Ostgrenze, um nur diese zu nennen, lehren, dass die Kraft zur Selbsthilfe nicht generell fehlt, dass vielleicht viele nur einfach an Selbsthilfe nicht mehr gewöhnt sind. Ich lasse das offen. Jenseits dieser Tatfrage bleibt ein Wertungsproblem. Bereits Jacob Burckhardt hat, im zweiten Band seiner griechischen Kulturgeschichte akzeptiert, Menschen könnten subjektiv unterschiedliche Werte gelten lassen. Carmen Kaminsky ist dem jüngst für die Politikberatung nachgegangen.120 Schon Burckhardt hat deshalb die Möglichkeit unterschiedlicher Ethik angedeutet: „Es gibt eben bei entwickelten Völkern zweierlei Ethik: die wirkliche, welche die bessern tatsächlichen Züge des Volkslebens enthält, und die der Postulate, meist von den Philosophen vertretene.“121 Max Weber 117 Dazu Max Weber (Fn. 17), S. 153. An die oben zitierte Äußerung von Montherlant sei erinnert. 118 Financial Times 10.09.2005. 119 (Fn. 60), S. 167. 120 Moral für die Politik, 2005. Zu Kulturunterschieden siehe Patrick Chabel/JeanPascal Daloz (Fn. 6). 121 Hier kann nicht eingegangen werden auf die Abgrenzung zu Traditionen, namentlich hohen und niedrigen Traditionen, wie sie im Zusammenhang mit Religion unterschieden

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gesteht, wie oben ausgeführt, jedem Menschen zu, dass er seine Werte selbst bestimme. Udo Di Fabio spricht deshalb vom Entschluss für eine kulturelle Antwort, auch wenn die Antwortenden ihre Antwort als universal gültig ansehen. Die Volksethik wird in Frankreich und in den USA (vielleicht auch bei uns) verstanden als kennzeichnend für das „pays réel“: „the true, authentic, immemorial nation against the pays légal of the administrative and cultural elites“, u.U. für die aufklärungsfeindliche Welt Johann Gottlieb Herders.122 Es ist jedenfalls kein Relativismus, wenn die Tatsache divergierender Ethik oder Praxis respektiert wird. So hat z.B. Nicolai Hartmann für Ethik die Möglichkeit der Divergenz betont. Hans Kelsen hat dies als demokratierelevant bezeichnet und deshalb Toleranz gefordert. Harold E. Laski (Fn. 58) hat der demokratischen Mehrheit den Vorzug vor jeder Moral eingeräumt. Der Wohlfahrtsstaat könnte sich im demokratischen Staat qua Volksethik zu legitimieren versuchen. Gewiss bleibt an einer Volksethik und Praxis vieles problematisch. Ein Jurist weiß, dass nicht einfach Gewohnheit und Sitte, sondern nur die zugrunde liegende opinio necessitatis bzw. die gute Sitte Maßstäbe zu liefern vermögen, dass wir also eines Werturteils bedürfen. Burckhardt hat deshalb nur auf die besseren Züge des Volkslebens verwiesen. Zur Tradition habe ich

werden, auch nicht zu „gelebter“ Religion oder Überzeugung. Zu letzterer sei an die Definition von Gewohnheitsrecht erinnert, derzufolge zur Gewohnheit die opinio necessitatis hinzukommen muss, damit Verbindlichkeit eintritt. Volksethik setzt demnach nicht nur den tatsächlichen Brauch voraus, sondern erfordert die Überzeugung, dass er ethischer Norm entspricht. Siehe zu religösen Bräuchen Winnifred Fallers Sullivan The impossibility of religious freedom, 2005, S, 73 ff. und 140 f. Sullivan spricht (S. 75) im Anschluss an einen Anthropologen von „elite and popular culture“. – Friedrich Schiller hat in seinen Briefen über Don Karlos geschrieben, „dass sich der Mensch weit sicherer den Eingebungern seines Herzens oder dem schon gegenwärtigen und individuellen Gefühle von Recht und Unrecht vertraut als der gefährlichen Leitung universeller Vernunftideen, die er sich künstlich geschaffen hat.“ Beispielhaft weiter Czeslaw Milosz Verführtes Denken, 17. bis 20. Tausend, 1959, S. 84f. Die doppelten Standards bei Derrida mögen daran erinnern. – Vor allem sei an Eduard Spranger erinnert, dem zufolge es zu allen Zeiten inhaltlich verschiedene Moralen gegeben hat, die miteinander ringen, in: Wesen und Wert politischer Ideologien, Vierteljahresschrift für Zeitgeschichte 2 (1954), 118 ff. Sprangers anschließende Beispiele passen allerdings nicht zu seiner Aussage. – Ernst Topitsch Begriff und Funktion der Ideologie, in Hans-Joachim Lieber (Hrsg.) Ideologie – Wissenschaft – Gesellschaft, 1976, S. 201, 216, hat geschrieben: „Doch soll die Philosophie auch den Handelnden entlasten, indem sie ihm dadurch Verhaltenssicherheit verleiht, dass sie bestimmte Wertungen, Normen oder soziale Ordnungen als „absolut“ richtige, wahre oder gerechte erweist. Zu diesem Zweck hat sie sich häufig auf eine im Wesen der Welt oder der Menschennatur vorgegebene Wertordnung berufen und damit auch meist Glauben gefunden, obwohl im Laufe der Geschichte höchst verschiedene, ja einander schroff widersprechende moralisch-politische Ansichten auf diese Weise legitimiert worden sind.“ 122 Anatol Lieven (Fn. 91), S. 38. Er spricht im übrigen S. 97 und 102 vom „Folk law“, das im Gegensatz zum staatlichen Recht und zur Rechtsprechung des Supreme Court steht. Damit wird zweierlei konkurrierendes Recht angesprochen.

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überdies oben auf Schiller hingewiesen.123 Problematisch machen die Volksethik auch Heinrich Mann mit seiner Kritik am „pays réel“ 124 und dessen Nachbarschaft zum Volkstümlichen und zur „gewöhnlichen Denkweise“, von der Mill gesprochen hat. Obendrein gerät eine sogenannte Volksethik allzu leicht in die Nähe des „gesunden Volksempfindens“ unseligen Angedenkens, vielleicht gar zu dem, was Botho Strauß einmal verächtlich das „herunterdemokratisierte formlose Gesellschaftsbewusstsein“ genannt hat.125 Trotz solcher Zweifel könnte es mindestens die in Deutschland seit Bismarck entwickelte Sozialkultur sein, die für sich den Rang einer Volksethik beansprucht und über den Sozialstaat hinaus den Wohlfahrtsstaat fordert. Bergsträsser hat mit Blick auf die politischen Ideen des 18. Jahrhunderts in Frankreich den Gleichheitsgedanken hervorgehoben: „Die Bestimmung des Staates, die gleiche Wohlfahrt aller herbeizuführen, ist das Gemeinsame aller dieser Pläne für eine endgültige Organisation des gesellschaftlichen Glücks, deren leidenschaftlicher Geist später im Comité du Salut Public die Herrschaft ausübt.“ 126 Das könnte für diejenigen, die die Grenzen des Gleichheitssatzes verfehlen, Ausdruck einer guten Volksethik sein, im Gegensatz zu der klugen Analyse amerikanischer Gesellschaft durch Mead, die für die USA eine verstärkte Hinwendung zum Individualismus und zur Selbsthilfe diagnostiziert. Hier könnte der Wohlfahrtsstaat Legitimation zu schöpfen versuchen. Der schon zitierte Jeremy Rifkin versucht es mit einem dritten Weg.127 Er bezeichnet den europäischen Wohlfahrtsstaat als Teil eines Kompromisses, bei dem er Sozial- und Wohlfahrtsstaat nicht unterscheidet: „The idea of a welfare state … was a grand compromise, a way to appease the rising bourgeois class and the remaining aristocracy on the one hand, and Europe’s working class and poor on the other hand. The idea of a private property

123 Text über Fn. 82. Nicht steht dem die Aussage Immanuel Kants in der Vorrede zur Metaphysik der Sitten entgegen, dass es nur eine Tugend geben könne. Diese Aussage mag in der Theorie zutreffen, taugt aber nicht für die Praxis. K. selbst schreibt, dass Philosophen der Reihe nach unterschiedliche Feststellungen zur Tugend treffen können. Gewiss ist nicht einfach die jüngste allein richtig. Solange Philosophen unterschiedlich urteilen, lässt sich auch nicht objektiv sagen, welches das Urteil das allein richtige ist. Für die Praxis muss deshalb das Nebeneinander verschiedener Auffassungen hingenommen werden, und das gilt auch für die Ethik. 124 Heinrich Mann (Fn. 53), S. 33. 125 Gerhard Weiser hat einmal davon gesprochen, dass (nur) der Zeitgeist immer mehr dazu neige, aus dem Gefühl heraus Grundwerturteile als objektiv gültig anzusehen. Dies gelte vor allem für die allgemeinen Gebote der Menschlichkeit:Kölner Zeitschrift für Soziologie 6 (1953/54), 16ff. 126 Gründlich zu den Fragen der angesehene französische Historiker Albert Soboul in Jacques Droz (Hrsg.) Histoire générale du socialisme, Bd. 1, 1972, S. 117ff. 127 Mead (Fn. 39), S. 96 ff.; Rifkin (Fn. 7), besonders S. 149. Siehe dazu auch Lothar Gall (Fn. 59), S. 255ff.

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regime would be upheld in return for a promise that some of the excesses of unbridled market capitalism would be redistributed, in the form of government social benefits.“ Das ist allerdings nur eine Beschreibung, kein Werturteil. Man sollte jedenfalls besser nicht von Kompromiss, sondern von einem dritten Weg sprechen.128 Ich will meine Bedenken zu dem allen hier nicht wiederholen, sondern, wie Juristen oft tun, hilfsweise eine Forderung vortragen. Denjenigen, die sich einer Volks-Ethik beugen, sich an den Brauch des deutschen Wohlfahrtsstaats klammern oder den dritten Weg suchen, sei zunächst gesagt, dass es uns nicht um den vom Grundgesetz gebotenen Sozialstaat geht, sondern nur um den auf Gleichheit im Wohlstand zielenden Wohlfahrtsstaat. Wenn sie diesen Staat erstreben, so müssen sie sich mindestens drei Einwänden stellen: Erstens gibt es keinen omnipotenten Staat; man kann also keinen beliebigen Wohlfahrtsstaat realisieren; man muss froh sein, wenn man den die Grundversorgung sichernden Sozialstaat finanzieren kann. Rifkins „Traum“ könnte Traum bleiben, und die ihm dienende Politik, auch die der Europäischen Union, könnte Träume wegen ihrer Fülle letztlich mehr ersticken als realisieren.129 Jedenfalls muss eine auf Wohlstand zielende Politik jeweils mit dem Erwirtschaften der für ihre Zwecke nötigen Mittel beginnen. Wer Wohlfahrt staatlich gewährt, muss garantieren, dass sie dauerhaft geleistet werden kann; er muss sich hierzu den Anforderungen des globalen Markts im 21. Jahrhundert stellen, denen widerstehen zu wollen Unheil bedeutet.130 Zweitens zwingt die politische Entscheidung für einen, vor allem einen großzügig Wohlfahrt verheißenden Staat zugleich zur Absage an andere Staatsaufgaben und vor allem an die hier aufgezeigten Werte: die Würde freier und selbstverantwortlicher Menschen 131 mitsamt dem Respekt vor ihrem Schicksal. Eine solche Absage ist eine Entscheidung von Brisanz. Sie lässt sich nicht durch Ab- oder Mitstimmen bewältigen. Wer staatlich gewährte Wohlfahrt verlangt oder beschließt, muss sich höchstpersönlich mit den schwierigen Wertungsfragen auseinandersetzen und bewusst machen, welche Werte er zugleich verwirft. John Stuart Mill, wenn er heute lebte, würde vielleicht anfügen, dass die nun einmal mittelmäßigen Politiker das kaum leisten. Man kann nur hoffen, dass er damit irren würde. Drittens sei daran erinnert, dass ein sich nicht mit dem Sozialstaat begnügendes, sondern darüber hinaus den Wohlfahrts128 Für EWG und EU siehe hierzu Verfasser Europäische Alternativen und dritter Weg, Der Staat 43 (2004), 328. 129 Deshalb die Forderung des Verfassers in der in Fn. 98 zitierten Abhandlung. 130 Zum Gegenteil in der deutschen Wirklichkeit etwa Hans-Werner Sinn (Fn. 5), S. 210, 248ff., letzteres zu den Fehlern der Wiedervereinigung. Ähnlich knapp aber drastisch zu Frankreich Nicolas Baverez (Fn. 54). 131 Man sollte zur Würde nicht die auf die Natur des Menschen abstellenden, Naturrecht erstrebenden Ausführungen von Francis Fukuyama außer Acht lassen (Fn. 50), S. 148 ff., auch wenn sie die Würde des Menschen nicht erschöpfen.

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staat begehrendes Volk Gefahr läuft, die natürlichen Kräfte einzubüßen, deren es zum Fortleben bedarf. In einer Demokratie trägt Politik die Verantwortung dafür, dass auch jedem Bürger diese drei Einwendungen verständlich gemacht werden, und zwar nicht nur in demokratieunwürdigen Talkshows. 7. Veränderte Umstände a) Gute und schlechte Zeiten wechseln ab, von der Hochkonjunktur bis zur Rezession. Das war schon immer so, und auch das ist Schicksal. Können der Sozialstaat, der Wohlfahrtsstaat und ihre Leistungen von Rezession und Armut, auch des Staats selbst, verschont bleiben? Der angesehene belgische Ökonom Paul de Grauwe 132 hat geschrieben, dass die Staaten ihren Bürgern gerade in schlechten Zeiten verpflichtet seien. Solche Pflichten sind aber nur einlösbar, wenn der Staat in guten Zeiten Rücklagen bildet, wie es Joseph in Ägypten getan hat, und wenn sein Sozialsystem nicht – wie Margarita Mathiopoulos dies genannt hat – ein Schönwettermodell ist.133 An diese Vorsorgemaßnahmen, wie sie im ersten Buch Mose und von Thomas Mann beschrieben sind, erinnern sich offenbar nicht einmal sogenannte christliche Politiker. In Deutschland hätte die Vorsorge spätestens mit der Wiedervereinigung und der Einführung des EURO beginnen müssen, u.a. durch kurzfristige Rückführung staatlicher Neuverschuldung deutlich unter die drei Prozent, bis zu denen sie in schlechter Lage dann hätte erhöht werden dürfen. Staatsverschuldung darf nicht mehr Mittel der Wirtschaftspolitik sein. Weder die Regierung Kohl, noch die Regierung Schröder haben diese Vorsorgepflicht erfüllt. Die Erhöhung der Abgaben- und Steuerlast zur Finanzierung des Wohlfahrtsstaats ist gerade in schlechten Zeiten höchst schwierig. Müssen Anspruchsteller, wo Rücklagen fehlen, in schlechten Zeiten deshalb Kürzungen hinnehmen? Stiglitz hat die Frage am Ende seines oben zitierten Buchs gestreift. Meines Erachtens kann die Antwort nur ein „ja“ sein. Die Anspruchsteller stehen nicht allein. Auch andere büßen in schlechten Zeiten ein.

132 Financial Times 27.11.2003. Der Autor argumentiert gegen die Begrenzungen des Stabilitätspakts. 133 1. Mose 41. Der sog. Schäffer-Turm ist wohl nicht aus solchem Grund errichtet worden. Immerhin hat sich Julius Schäffer ebenso wie Ludwig Erhard den wohlfahrtsstaatlichen Anfängen vehement entgegengestellt, ohne Erfolg. Mathiopoulos (Fn. 8), S. 200ff., 227.

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b) Wandel des Umfelds Nicht anders ist die Lage, wenn sich das Umfeld des Wirtschaftens, ja das Wirtschaften selbst verändern. Demographischer und Klimawandel, neue Wettbewerber in der Welt und Umweltgefahren sind Beispiele. Auch das ist Schicksal. Nicht immer lässt sich dem auf Wegen der Politik ausweichen. 8. Wohlstandsstaat Hans F. Zacher sieht den Sozialstaat des Grundgesetzes auch als Wohlstandsstaat. Er will Schwankungen des verteilbaren Volks-Wohlstands abhelfen, wenn das schöne Wetter, von dem – wie oben erwähnt – Margarita Mathiopoulos gesprochen hat, einmal in Regen oder Dürre übergeht. Hierzu trifft er für Sozialpolitik eine Unterscheidung: Bei geringerem allgemeinem Wohlstand ziele Sozialpolitik auf das Existenzminimum, vor allem auf die Beseitigung von Not, d.h. für das Notwendige. Das ist der Sozialstaat in unserem Sinne. Bei steigendem Wohlstand verlagere Sozialpolitik sich auf die Vermittlung von Wohlstandsteilhabe. Damit führt Zacher, wie meistens anderen voraus, eine Auseinandersetzung an, die erst noch zu führen wäre. Aber so glücklich Zacher damit zwischen dem vermittelt, was ich Sozialstaat einerseits und Wohlfahrtsstaat andererseits nenne, so habe ich doch eine Befürchtung: Wenn die Wohlstandsteilhabe in Zeiten verbreiteten Wohlstands nicht nur durch macrosoziale Wirtschaftspolitik, sondern durch Leistungen an Bürger bewirkt wird, insbesondere wenn Bürger sich an höhere staatliche Leistungen gewöhnt haben, dann wird deren Fortführung durch den Sozialstaat als notwendig empfunden. Das Notwendige weitet sich aus. Das ist oben zu Schopenhauer schon gesagt worden. 9. Mut Am Eingang dieses Textes habe ich John F. Kennedys Aussage zitiert. Ich schließe mit einer Aussage über ihn, deren ich mich oft erinnert habe. Kennedy habe – so lautete sie – Menschen Mut gemacht, Selbstvertrauen zu geben versucht. Von Ludwig Erhard sagte man, er betreibe Seelenmassage. Das ist es, was Politiker leisten müssen, wenn sie Selbsthilfe und Selbstverantwortung herausfordern und Energien mobilisieren wollen. Sie brauchen allerdings selbst Mut. Nicolas Baverez hat Napoléon zitiert: „Un prince qui a peur est renversable à tout moment.“

Die Anwendung der Business Judgement Rule auf die Feststellung des Unternehmenswerts bei Verschmelzungen Eberhard Stilz I. 1. Beeindruckend weit gespannt sind die Interessen und Tätigkeitsschwerpunkte des Jubilars. Das Wirtschaftsrecht im weiteren Sinne zählt zu seiner Stammmaterie. Nicht nur als richterliches Mitglied eines Verfassungsgerichts, des Staatsgerichtshofs für das Land Baden-Württemberg, beschäftigen ihn aber immer wieder auch verfassungsrechtliche Fragen. Eine verfassungsrechtliche Wertung liegt auch der primär wirtschaftsrechtlichen Problematik zugrunde, mit der sich dieser Beitrag befasst. Im Wirtschaftsrecht, besonders im Gesellschaftsrecht, ist in vielen Zusammenhängen nach dem Wert von Unternehmen zu suchen. Das Eigentum an einem Unternehmen, auch das Anteilseigentum, wie es in einer Aktie verkörpert wird, genießt den Schutz von Art. 14 Abs. 1 GG.1 Der Gesetzgeber kann Inhalt und Schranken dieses Eigentums zwar näher bestimmen und das Interesse des einzelnen Aktionärs am unveränderten Fortbestand seines Anteilseigentums hinter die ebenfalls grundrechtlich geschützte (Art. 2 Abs. 1 GG) unternehmerische Konzerngestaltungsfreiheit zurücktreten lassen; er muss dann aber Vorsorge dafür treffen, dass der betroffene Aktionär eine volle Entschädigung für das erhält, was er verliert.2 2. So einleuchtend und simpel diese Feststellung erscheinen mag, ist es doch kaum übertrieben zu behaupten, dass die Frage nach dem, was die volle Entschädigung für eine Unternehmensbeteiligung bedeutet, ganze Bibliotheken füllt. Die Unternehmensbewertung ist als Buch mit sieben Siegeln bezeichnet, ja, mit dem Faustschen Hexeneinmaleins verglichen worden; 3

1 BVerfGE 14, 263, 276 f. (Feldmühle); im Einzelnen Schmidt-Aßmann, FS Badura, 2004, 1009ff. 2 BVerfG a.a.O. (Fn. 1) und E 100, 289 ff. (DAT/Altana). 3 Martens, FS Röhricht, 2005, 987 ff.; Reuter, DB 2001, 2483: „mephistophelische Aufgabe“.

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Großfeld 4 sieht (zu Recht) Veranlassung, seinem neueren Beitrag zur Unternehmensbewertung das Zitat von § 184 GVG voran zu stellen. Mehrere Handbücher und Monographien, umfangreiche Kommentierungen und zahllose Aufsätze behandeln das Problem im Zusammenhang oder in einzelnen Aspekten. Die Gerichtspraxis bleibt naturgemäß nicht verschont. Nicht nur, aber besonders in Spruchverfahren macht den Gerichten die Frage nach dem Wert eines Unternehmens zu schaffen; die auch nach Inkrafttreten des Spruchverfahrensgesetzes noch unvertretbar lange Dauer der einschlägigen gerichtlichen Verfahren hat hier ihren maßgeblichen Grund. In diesem Beitrag soll untersucht werden, ob sich die Frage nach dem Unternehmenswert bei allen Umwandlungstatbeständen in gleicher Weise stellt und wie insbesondere die Angemessenheit der Wertrelation bei Verschmelzungen zu prüfen ist.

II. 1. Seit der Feldmühle – Entscheidung des BVerfG 5 ist die Diskussion um die volle Entschädigung geprägt durch die Minderheitenproblematik. Die Mehrheit der Aktionäre trifft eine Strukturentscheidung, die das Anteilseigentum der Minderheit (mit) betrifft, und bietet den in der Minderheit befindlichen Mitaktionären dafür Ausgleichsmaßnahmen an. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der mit der Schaffung der §§ 327 a–f AktG am 1.1.2002 in Kraft getretenen Regelungen über den Ausschluss von Minderheiten in Aktiengesellschaften (sog. Squeeze out). Wie zuvor nur im Fall der übertragenden Auflösung nach § 179 a AktG verliert der Minderheitsaktionär dabei sein Eigentum ohne die Möglichkeit, anstelle einer Abfindung eine andere Beteiligung zu erhalten. Der Beschluss über den Ausschluss ist eine Mehrheitsentscheidung und entspricht dem Interesse der Mehrheit. Auch die Höhe der angebotenen Abfindung wird von der Mehrheit bestimmt. Anders auch als im Fall der übertragenden Auflösung kann der Aktionär den Beschluss über die Ausschließung wegen einer zu geringen Abfindung nicht anfechten, sondern lediglich im Spruchverfahren auf eine höhere Abfindung dringen. Die Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmungen haben der BGH 6 und schon zuvor zahlreiche Oberlandesgerichte 7 bestätigt. Eine grundsätzlich andere Interessensituation besteht im Falle einer Verschmelzung selbständiger Partner. Unabhängig davon, ob der Weg einer Ver4 5 6 7

Großfeld/Stöver/Tennes, BB 2005, 2 ff. A.a.O. (Fn. 1). NZG 2006, 117. OLG Stuttgart, ZIP 2006, 27, 30 m.w.N.

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schmelzung durch Aufnahme oder durch Neugründung gewählt wird, geht es nicht um den Verlust von Anteilseigentum, sondern um Anteilstausch. Die Aktionäre einer der beteiligten Gesellschaften mögen unter sich uneins sein in der Frage nach dem Ob der Verschmelzung. Wenn es um den Gegenwert für ihre Anteile, um das richtige Umtauschverhältnis, geht, besteht der Interessengegensatz aber zwischen den beteiligten Gesellschaften und grundsätzlich nicht unter den Anteilseignern einer Gesellschaft.8 Während beim Squeeze Out eine höhere Abfindung für die Minderheit zu Lasten der Mehrheit ginge, profitieren bei der Verschmelzung die Anteilseigner einer Seite gleichmäßig von einem höheren Gegenwert für die Anteile an ihrer Gesellschaft und dieser höhere Gegenwert ist von der Gesamtheit der Anteilseigner der anderen Gesellschaft zu tragen. Die Anteilseigner der übertragenden Gesellschaft, Klein- wie Großaktionäre, sitzen also „im selben Boot“.9 Auch aus grundrechtlicher Sicht ist die Ausgangslage damit unterschiedlich. Während beim Ausschluss der Minderheit deren Eigentumsrechte mit der unternehmerischen Freiheit konkurrieren, stehen sich bei der Verschmelzung die durch Art. 14 Abs. 1 GG gleichermaßen geschützten Grundrechtspositionen der Anteilseigner beider Verschmelzungspartner gegenüber.10 Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit einer konzernfreien Verschmelzung zwar noch nicht befasst,11 bestätigt aber in der Moto Meter-Entscheidung 12 die Maßgeblichkeit der Interessenlage; das Grundrecht aus Art 14 Abs. 1 GG erfordere die volle Entschädigung für Minderheitsaktionäre, die gegen ihren Willen aus der Gesellschaft gedrängt werden; dagegen werfe die Veräußerung des Gesellschaftsvermögens an unbeteiligte Dritte kein verfassungsrechtliches Problem auf, weil auch der Großaktionär einen möglichst hohen Preis erzielen wolle; diese Interessenhomogenität bewirke den Schutz der Minderheitsaktionäre. 2. Die unterschiedliche Interessenlage kommt in den gesetzlichen Regelungen über die gerichtliche Kontrolle der Bewertungsfrage nicht zum Aus-

8 BayObLG ZIP 2003, 253, 256; Decher, FS Wiedemann 2002, 789, 799 ff.; Mayer in Widmann/Mayer, UmwG, § 5 Rn. 100; Lutter/Drygala in Lutter, UmwG, § 5 Rn. 24; Hüffer/Schmidt-Aßmann/Weber, Anteilseigentum, Unternehmenswert und Börsenkurs, München 2005, 108ff. (auch für die Konzernverschmelzung). 9 Bungert/Eckert, BB 2000, 1845, 1846; Hüttemann, ZGR 2001, 454, 465; Pachos, ZIP 2003, 1017, 1023. 10 BayObLG ZIP 2003, 253, 256; Riegger, DB 1999, 1889, 12890; Wilm, NZG 2000, 234, 235; Piltz, ZGR 2001, 185, 205: Jede Verschiebung der Relation „enteignet“ die Aktionäre einer der beiden Seiten; Pachos, a.a.O. Fn. 9, 1020; dies gilt im Ergebnis ebenso für die Verschmelzung durch Neugründung wie durch Aufnahme, wie Martens, AG 2000, 301ff., überzeugend dargelegt hat. 11 Der Beschluss vom 27.3.2003, AG 2003, 624 ff., betrifft die Anwendung von § 352 c AktG 1965 auf eine Verschmelzung im Konzern. 12 Vom 23.8.2000, ZIP 2000, 1670 ff. = NJW 2001, 279 ff.

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druck. Ist im Falle des Beherrschungs- oder Gewinnabführungsvertrags, der Eingliederung oder des Squeeze Out der vom Hauptaktionär festgelegte Ausgleich oder die Abfindung nicht angemessen, so hat das Gericht im Spruchverfahren die angemessenen Beträge zu bestimmen, §§ 304, 305, 320b, 327 f AktG. Entsprechendes gilt für die Zuzahlung oder Barabfindung in allen Umwandlungsfällen nach dem Umwandlungsgesetz; auch bei Verschmelzung unabhängiger, konzernfreier Partner hat das Gericht im Spruchverfahren die angemessene Zuzahlung oder Barabfindung zu bestimmen, wenn ein Anteilseigner die Verbesserung des Umtauschverhältnisses oder der Abfindung beantragt, §§ 15, 34, 36 UmwG. Das war nicht immer so. Das AktG 1965 hatte in den §§ 339–358 die Regelungen des AktG 1937 weitgehend unverändert übernommen. Diese hatten sich am Regelfall der Verschmelzung unabhängiger Unternehmen orientiert. Die Vertragsgerechtigkeit als Folge einer autonomen Entscheidung sollte nach damaligem Verständnis die unterschiedlichen Vorstellungen der Beteiligten zum Ausgleich bringen; als weiteres Regulativ diente die Notwendigkeit der Zustimmung der Hauptversammlung mit qualifizierter Mehrheit (§ 340 Abs. 2 AktG 1965) und die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit der Verwaltungsmitglieder (§ 349 AktG 1965).13 Schon früh ist aber gesehen worden, dass jedenfalls bei der Konzernverschmelzung ein weitergehender Schutz der außenstehenden Aktionäre erforderlich ist.14 Diese Überlegungen fanden ihren leider undifferenzierten Ausdruck in dem durch das Verschmelzungsrichtlinie-Gesetz 15 in das AktG eingefügten § 352c; seither haben die Aktionäre der übertragenden Gesellschaft grundsätzlich die Möglichkeit, die Angemessenheit des Umtauschverhältnisses im Spruchverfahren überprüfen zu lassen. Der Gesetzgeber lehnte sich damit an die Regelung für Unternehmensverträge an, ohne die unterschiedliche Ausgangslage zu beachten. Die heute geltende Reglung brachte das Umwandlungsgesetz 1994. § 14 Abs. 2 UmwG schließt es aus, die Anfechtungsklage gegen den Verschmelzungsbeschluss eines übertragenden Rechtsträgers auf ein unangemessenes Umtauschverhältnis zu stützen, gleichzeitig gibt § 15 UmwG aber jedem Anteilsinhaber des übertragenden Rechtsträgers die Möglichkeit, die Verbesserung des Umtauschverhältnisses im Spruchverfahren durchzusetzen. Zwischen der Verschmelzung konzernverbundener und unabhängiger Gesellschaften wird dabei weiterhin nicht unterschieden.

13 Zum Ganzen Günther, AG 1968, 98 ff.; Immenga, BB 1970, 629 ff.; Wiedemann, ZGR 1978, 477, 489 ff.; Hügel, Verschmelzung und Einbringung, Wien/Köln, 1993, 163ff. 14 Vgl. z.B. Immenga, a.a.O. (Fn. 13), 635. 15 Vom 25.10.1982 (BGBl. I S. 1425).

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III. 1. Die geltende gesetzliche Regelung für die Verbesserung des Umtauschverhältnisses kann nicht befriedigen. a) Die Kritik knüpft zu Recht daran an, dass hier grundsätzlich Unterschiedliches gleich behandelt wird.16 Das Gesetz sieht in allen Abfindungsund Ausgleichsfällen die nach dem Prinzip des Minderheitenschutzes konstruierte Lösung der Bewertungsüberprüfung im Spruchverfahren vor, obgleich es nicht in allen Fällen um den bewertungsrechtlichen Minderheitenschutz geht. Wie dargestellt (oben II.1.), besteht in der Bewertungsfrage bei der konzernfreien Verschmelzung unter den Anteilsinhabern beider Partner grundsätzlich kein Interessengegensatz; sie sind jeweils an einer optimalen Bewertung des Unternehmens, an dem sie beteiligt sind, interessiert. Damit darf nicht verwechselt werden, dass streitig sein kann und regelmäßig sein wird, welche Bewertung als optimal anzusehen ist. Dies kann nicht nur auf divergierenden subjektiven Wertauffassungen, sondern auch auf unterschiedlichen Informationslagen beruhen. Solche Unterschiede sind aber bei einer Vielzahl von Beteiligten stets unvermeidbar; bei grundsätzlich gleichlaufenden Interessen bieten sie keinen Grund, vom Prinzip der Mehrheitsentscheidung abzuweichen, zumal das Gesetz die Bestätigung des von der Verwaltung ausgehandelten Vertrags durch eine qualifizierte Mehrheit (§ 65 Abs. 1 Satz 1 UmwG) vorschreibt. Mehrheitsentscheidungen stellen grundsätzlich keinen Eingriff in das verfassungsrechtlich geschützte Eigentumsrecht dar.17 b) Dazu kommt ein methodisches Bedenken, wenn, wie üblich, auch die Bewertung selbst in allen Umwandlungsfällen nach gleichen Maßstäben und Verfahren erfolgt. Die Suche nach dem Verkehrswert im Rahmen einer Unternehmensbewertung bemüht sich im Regelfall darum, mangels eines realen rechtsgeschäftlichen Austauschvorgangs einen solchen zu simulieren; sie sucht nach dem Grenzpreis, der, gäbe es ein freies Verhandlungsergebnis, voraussichtlich bezahlt würde. Dabei beschränkt sie sich, weil es um eine vereinfachte modellhafte Betrachtung geht, weitgehende auf finanzielle Parameter.18 Bei einem „merger among equals“ liegt aber mit dem Verschmelzungsvertrag ein umfassendes, frei ausgehandeltes Rechtsgeschäft vor, das die beteiligten Unternehmen in eine Wertrelation stellt; der Markt hat den ge16 Eingehende Kritik bei Hügel, a.a.O. (Fn. 13), m.w.N.; unterschieden wird aber im Rechtsschutz zwischen dem Neugründungsmodell und dem Aufnahmemodell der Verschmelzung; dagegen zu Recht Martens, Fn. 10. 17 Wilsing/Kruse, DStR 2001, 991, 995. 18 Welf Müller, FS Bezzenberger, 2000, 705 ff., 713 ff.; Drukarczyk, AG 1973, 357 ff.; Großfeld, Unternehmens- und Anteilsbewertung im Gesellschaftsrecht, 4. Auflage 2002, 16.

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suchten Wert bereits gefunden. Es stellt die Aufgabe der Unternehmensbewertung auf den Kopf, wenn dieses reale Ergebnis durch eine Ex-postBetrachtung ersetzt wird, die auf modellhaften Annahmen beruht und nur eine Teilmenge der entscheidenden Parameter berücksichtigt. c) Von Anfang an war es auch ein Stein des Anstoßes, dass bei der Verschmelzung durch Aufnahme die Anteilsinhaber der übertragenden und der übernehmenden Gesellschaft ungleich behandelt werden.19 Den Aktionären der übertragenden Gesellschaft steht für die Rüge der fehlenden Angemessenheit des Umtauschverhältnisses das Spruchverfahren zur Verfügung, während die Aktionäre der aufnehmenden Gesellschaft auf die Anfechtung des Zustimmungsbeschlusses verwiesen sind. Damit gehen nicht nur erhebliche Kostenunterschiede einher. Es fehlt im Spruchverfahren auch die unmittelbare Anschauung der Interessenlage der „anderen Seite“. Dass – selbstverständlich – die aufnehmende Gesellschaft beteiligt ist, gleicht diesen Mangel nicht in vollem Umfang aus, sondern bestärkt den Eindruck, es gehe um die von Abfindungsfällen her bekannte Minderheitenproblematik. Jedenfalls kann dies dazu beitragen, dass nicht anschaulich wird, dass der einen Seite nichts gegeben werden kann, was der anderen Seite nicht genommen wird.20 2. Aus den Gesetzesmaterialien ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber diese Ungereimtheiten bedacht hat. Dies spricht für das Bedürfnis nach einer gründlichen Überarbeitung der einschlägigen Bestimmungen. Dagegen besteht für den Rechtsanwender, auch für das Gericht im Spruchverfahren, nach geltender Rechtslage keine Möglichkeit, etwa im Wege der teleologischen Reduktion in den genannten Verschmelzungsfällen von einer Überprüfung des Umtauschverhältnisses abzusehen. Dies fordern auch die dazu in der Literatur erwogenen Vorschläge nicht. Gude 21 kommt in seiner sehr gründlichen Untersuchung zwar zu dem Schluss, ein Bedürfnis für einen gerichtlichen Schutz der Vermögensinteressen der in der Bewertungsfrage dissentierenden Minderheit bestehe bei der konzernfreien Verschmelzung an sich nicht.22 Die gesetzlichen Vorschriften könnten aber nicht außer Kraft gesetzt, sondern müssten so interpretiert werden, dass sich die Gerichte auf eine Evidenzkontrolle des privatautonom vereinbarten Ergebnisses beschränken.23 Dies schließt inhaltlich an die grundlegende Arbeit von Hügel 24 an, der die gesetzgeberische Gleichbe-

19

Vgl. nur Kirchner/Sailer, NZG 2002, 305 ff.; Gehling in Semler/Stengel, UmwG, § 15

Rn. 8 20 21 22 23 24

S. Hüffer/Schmidt-Aßmann/Weber, a.a.O. (Fn. 8), 111. Strukturänderungen und Unternehmensbewertung zum Börsenkurs, 2004, Köln. A.a.O. (Fn. 21), 35 ff., 345 ff. A.a.O. (Fn. 21), insbesondere 351 f. und 431 Nr. 19. A.a.O. (Fn. 13).

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handlung für einen eklatanten Fehlgriff hält, den handelnden Vorständen einen Verhandlungs- und Bewertungsspielraum zuerkennt und das Gericht auf eine Plausibilitätskontrolle beschränkt sieht.25 Martens 26 hält die Konzeption richterlicher Bewertungskontrolle insgesamt für deplatziert; bei der Verschmelzung unabhängiger Gesellschaften bestehe eine weit reichende Vermutung für die Richtigkeit der vereinbarten Verschmelzungswertrelation. Er zielt auf eine Reform des Bewertungsmaßstabs und hält das Vertragsmodell für eine geeignete Bewertungsmethode.27 Bereits nach Piltz 28 haben die Verhandlungsergebnisse die Vermutung der Angemessenheit für sich; bei der Überprüfung komme es nicht auf Rechengenauigkeit, sondern auf Plausibilität an. Auch Decher sieht in der hier behandelten Konstellation kein Bedürfnis für einen Minderheitenschutz und hält eine Plausibilitätsprüfung der Frage, ob die Vorstände im Rahmen einer pflichtgemäßen Ermessensausübung ein angemessenes Umtauschverhältnis vereinbart haben, für ausreichend.29 Zahlreiche weitere Autoren stellen klar, dass es nicht um punktgenaue Ergebnisse gehen könne, der Begriff der Angemessenheit großzügig zu handhaben sei und die Gerichte eine Bandbreite vertretbarer Werte anerkennen sollten.30 So kommt auch in vielen Gerichtsentscheidungen zum Ausdruck, dass alle Wertermittlungsmethoden nur zu Näherungs- oder Schätzwerten führen.31 Dabei handelt es sich aber um Erkenntnisse zur Unternehmensbewertung allgemein und nicht um Erwägungen zu der besonderen Situation bei Verschmelzungen.

IV. Ist demnach eine Differenzierung in der Rechtsanwendung zwischen den vom Gesetz gleich behandelten Verschmelzungsfällen zulässig? Kann ein anderer Bewertungsmaßstab wenigstens für die hier behandelten Fälle dazu beitragen, die vielfach beklagte lange Verfahrensdauer im Spruchverfahren zu verringern? 25

A.a.O. (Fn. 13), insbesondere 157 ff. FS Röhricht, 2005, 987 ff. 27 A.a.O. (Fn. 26), insbesondere 1002 ff. 28 ZGR 2001, 185ff., 205 ff. 29 FS Wiedemann, 2002, 789 ff., insbesondere 798 f., 804 ff. 30 Vgl. z.B. Busse von Colbe, FS Lutter, 2000, 1053, 1055ff.; Wilm, NZG 2000, 234ff.; Vetter, EWiR, 2000, 595 f.; Bungert/Eckert, BB 2000, 1845. 31 Nachweise bei Stilz, ZGR 2001, 875, 883 ff., sowie aus neuerer Zeit LG Mannheim, DB 2002, 889; LG Frankfurt AG 2002, 357 f.; OLG Stuttgart AG 2004, 43; BayObLG AG 2006, 41; andererseits BayObLG DB 2001, 1928; OLG Düsseldorf, DB 2001, 190. 26

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1. a) Die erste Frage lässt sich kaum aufgrund einer Auslegung des Begriffs der Angemessenheit bejahen.32 Dass das Gesetz kein „richtiges“, sondern ein angemessenes Umtauschverhältnis verlangt, ermöglicht es, das vertragliche Ergebnis unangetastet zu lassen, wenn die Nachprüfung keine wesentlichen Abweichungen ergibt. Insoweit ist es richtig, von einer Bandbreite vertretbarer Werte zu sprechen, die trotz rechnerischer Abweichungen noch die Angemessenheit der vertraglichen Lösung bestätigen. Dies gilt grundsätzlich für alle Unternehmensbewertungen, die richtigerweise stets zu Wertspannen und nicht zu festen Größen führen.33 Die Bandbreite vertretbarer Werte wird aber nicht dadurch größer, dass der zu überprüfende Wert im Verhandlungsweg gefunden wurde. Eher ließe sich sagen, dass der zu überprüfende Wert dadurch eine größere Richtigkeitsgewähr für sich hat und nach anderen Methoden gefundene, abweichende Werte kritisch zu sehen sind. Die Erkenntnis, dass es um Wertspannen oder Bandbreiten geht, macht die Arbeit der Gutachter und Gerichte im Übrigen nicht einfacher. Die Prüfung, ob ein angenommener Unternehmenswert sich in einer bestimmten Bandbreite bewegt, setzt als Referenzpunkt einen exakten, nach einer bestimmten Methode berechneten oder geschätzten Wert voraus. Erst wenn ein solcher Wert gefunden ist, kann beurteilt werden, ob sich der zu überprüfende Wert in einer zu definierenden Bandbreite um diesen Wert bewegt. b) Deshalb führt auch der Ruf nach einem anderen, großzügigeren Bewertungsmaßstab nicht weiter. Großzügigkeit wäre ohnedies als Kategorie für eine gerichtliche Überprüfung fehl am Platz. Großzügigkeit mag die Wertung der Angemessenheit betreffen, also eine weite Bandbreite nahe legen; sie kann sich aber nicht auf die Erkenntnis des richtigen Referenzwerts beziehen. c) Wer das Verhandlungsmodell als eigenständige Bewertungsmethode sieht, hat diese Probleme nicht. Dann bedarf es weder einer besonderen Großzügigkeit, noch einer großen Bandbreite vertretbarer Werte, sondern die in einer dem Modell entsprechenden Verhandlung gefundene Wertrelation ist zugleich richtig und angemessene. Es ist aber nicht zu verkennen, dass dies auf einen Zirkelschluss hinauslaufen kann. Das Gericht würde dabei im Grunde zu akzeptieren haben, was es überprüfen soll. Damit wäre man, so scheint es, contra legem wieder nahe bei der als unzulässig erkannten Abschaffung des Spruchverfahrens für konzernfreie, verhandlungsgetragene Verschmelzungen.

32 So aber z.B. Gude, a.a.O. (Fn. 21), 351 f.; zur Angemessenheit als ausfüllungsbedürftiger, unbestimmter Rechtsbegriff Großfeld, a.a.O. (Fn. 18), 17 f. 33 Vgl. die Nachweise bei Fn. 30 und 31.

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d) Können sich die Gerichte auf die ihnen vielfach nahe gelegte Plausibilitätskontrolle der Verhandlungsergebnisse zurückziehen? Mit dem Wort Plausibilität wird eine Näherungskontrolle angedeutet. Plausibel ist, was annehmbar, einleuchtend, überzeugend ist.34 „Das Wort wird benutzt, um eine Aussage über die richtige Größenordnung von gemessenen oder berechneten Werten zu machen. Dazu schätzt man einen Wert grob ab und überprüft, ob der gemessene Wert mit dem Schätzwert übereinstimmt.“ 35 Bei näherer Betrachtung bringt die Diskussion um die Plausibilitätskontrolle also wenig Neues. Soweit es darum geht, statt eines exakten Werts eine Größenordnung ausreichen zu lassen, ist dies nichts anderes als die gebräuchliche Rede von der Bandbreite vertretbarer Werte. Erst recht ist die Kontrolle anhand einer Schätzung nicht nur altbekannt, sondern dem Richter in § 287 Abs. 2 ZPO ausdrücklich an die Hand gegeben. e) Was änderte sich im Spruchverfahren, wenn man von der Vermutung der Richtigkeit der Verhandlungsergebnisse ausgehen könnte? Eine solche Vermutung führt zur Umkehr der Feststellungslast. Am Beweiserhebungsprogramm des Gerichts ändert sich dadurch nichts. Der Aufwand würde nicht geringer, weil in jedem Fall den relevanten Einwendungen der Antragsteller gegen die Angemessenheit des Umtauschverhältnisses nachzugehen ist. Auch mit nennenswerten Auswirkungen auf das Verfahrensergebnis ist nicht zu rechnen. Denn Spruchverfahren sind nicht von Tatfragen geprägt, sondern von betriebswirtschaftlichen Analysen. Bewertung ist weithin Rechts- und nicht Tatsachenfrage.36 Kann sich das Gericht nicht davon überzeugen, dass eine zugunsten der Antragsteller höhere Wertrelation angemessen ist, ist der Antrag ohnehin abzuweisen. 2. Diese Einwendungen gegen die bisher vorgeschlagenen Lösungswege können aber nicht dazu führen, de lege lata keine Konsequenz aus den Besonderheiten der Sach- und Interessenlage konzernfreier Verschmelzungen zu ziehen. Neben den referierten Gesichtspunkten spricht nämlich noch eine weitere Überlegung dafür, dass die unterschiedslose Gleichbehandlung mit Fällen eines Mehrheits-/Minderheitskonflikts nicht richtig sein kann: 37 a) Es ist wirklichkeitsfremd anzunehmen, die Verwaltungen von fusionsbereiten Unternehmen und die ihnen mit qualifizierter Mehrheit folgenden Anteilseigner orientierten sich bei ihrer Entscheidung für eine Verschmelzung und für eine Verschmelzungswertrelation ausschließlich an den Gesichtspunkten, die in betriebswirtschaftlichen Wertgutachten (und ihnen fol34 Damit unterscheidet sich die Wortbedeutung nur graduell von der alternativ empfohlenen Evidenzkontrolle. 35 Definition nach www.enciclopedia.com. 36 BGHZ 147, 108, 114 ff. (DAT/Altana). 37 Vgl. schon oben III.3.

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gend bislang in den gerichtlichen Spruchverfahren) zum Ausdruck kommen.38 Evident ist, dass die Verhandlungspartner reale Börsenkurse nicht unberücksichtigt lassen können, weil sie sonst keine Aussicht auf Zustimmung in den Hauptversammlungen haben.39 Die Verwaltungen würden aber ihre Aufgabe verfehlen, wenn sie schlicht wechselseitig Wertgutachten in Auftrag geben und danach oder nach bestimmten Börsendaten die Wertrelation festsetzen würden. Das Ergebnis wäre nicht das Ergebnis von Verhandlungen und unternehmerischen Entscheidungen, sondern von – nur scheinbar genauen – Berechnungen Externer. Eine Verhandlung, die den Namen verdient, hätte nicht stattgefunden. Zudem würden nicht rechnerisch erfassbare, den Unternehmensleitungen aber wesentliche Umstände ausgeblendet. Gefordert sind von den Verhandlungspartnern neben Verhandlungskunst vor allem unternehmerische Entscheidungen in zahlreichen Detailfragen, aber auch der von einer Gesamtwertung getragene Wille zu einer Einigung, also regelmäßig zu einem Kompromiss. Im Detail wie in der Gesamtwertung dürfen dabei Planungen, Chancen und Risiken auch anders gewertet werden als in einem betriebswirtschaftlichen Gutachten. Die Geschäftsführer dürfen vielmehr, wie dies nun § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG („Business Judgement Rule“) belegt, abweichende unternehmerische Entscheidungen treffen, wenn sie vernünftigerweise annehmen können, damit auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Sie können sich unter diesen Bedingungen also für einen Verschmelzungsvertrag auch dann entscheiden, wenn die dort vorgesehene Verschmelzungswertrelation nicht mit der Relation der Ertragswerte oder der Börsenkurse übereinstimmt. Bei jeder Abweichung werden sie aber auch bedenken, dass es ihnen gelingen muss, den Aktionären in der Hauptversammlung zu vermitteln, dass das Vertragswerk und insbesondere die dort vorgesehene Verschmelzungswertrelation auch den wirtschaftlichen Interessen der Anteilsinhaber dient.40 Wenn dies richtig ist, kann es aber nicht angehen, die nach zulässigem unternehmerischen (Ver-)Handeln gefundene Wertrelation später im Spruchverfahren zu verschieben – auf Betreiben eines kleinen Teils der Anteilsinhaber des übertragenden Unternehmens, unter Ausschluss der betroffenen Anteilsinhaber der übernehmenden Gesellschaft und lediglich orientiert an einer Teilmenge der Umstände, die zu dem konkreten Vertragsschluss geführt haben. Dies wäre ein Eingriff in die Vertragsfreiheit, eine richterliche Vertragskorrektur zum Nachteil der Anteilsinhaber der anderen Seite, ohne dass diese sich wehren könnten oder überhaupt nur gefragt würden.

38

Vgl. vor allem die überzeugende Darstellung bei Piltz, a.a.O. (Fn. 10), 205f. Zur Berücksichtigung des Börsenwerts im Spruchverfahren noch unten 3b). 40 Zum Ganzen ähnlich schon Mertens, AG 1990, 20, 25f.; vgl. auch die Nachweise bei Fn. 13. 39

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b) Die dargestellte Realitätsferne führt darüber hinaus auch zu einer Unwahrhaftigkeit im Verfahren. Das antragsgegnerische Unternehmen sieht sich so nämlich gezwungen, die Verschmelzungswertrelation als allein aus dem Ertrags- oder Börsenwert rechnerisch genau abzuleitendes Verhältnis darzustellen, obwohl die Geschäftsführer wissen, dass man bei den Verhandlungen Unterschiede wohl gesehen, vielleicht auch berechnet hat – Unterschiede, die man aber in Übereinstimmung mit der großen Mehrzahl der Anteilseigner im Hinblick auf andere Umstände oder auf weitere unternehmerische Überlegungen (beispielsweise zu sonst drohenden Übernahmeszenarien) zum Wohle des Unternehmens als nicht durchschlagend gesehen hat. Solche überraschend rechengenauen Wertübereinstimmungen sind in Verschmelzungsverfahren immer wieder zu bestaunen. Man stelle sich vor, dass zwei verschmelzungswillige, im Ausgangspunkt nach Produktpalette und wirtschaftlichen Kennzahlen durchaus unterschiedlich aufgestellte Konzerne bei verschiedenen Wirtschaftsprüfern Wertgutachten in Auftrag geben, die dann nach eingehenden Prüfungen, Prognosen und Berechnungen (wozu nicht zuletzt die Addition unterschiedlichster Teilwerte gehört) zu dem Ergebnis kommen, beide Konzerne seien jeweils genau 56.051.681 T€ wert. Solche ganz unwahrscheinlichen Ergebnisse werden den Aktionären und später den Gerichten im Ernst als fachwissenschaftlich fundierte Erkenntnis vorgelegt. Dies geschieht, weil sich die Unternehmensführungen nicht trauen und nach dem bisherigen Stand der Dogmatik des einschlägigen Bewertungsrechts auch nicht trauen können, die umfassenden, wahren Gründe und Entwicklungen darzulegen, die sie zu der Entscheidung veranlasst haben, eine Wertrelation von 1 : 1 als angemessen und eine Verschmelzung auf dieser Grundlage als unternehmerisch richtig anzusehen.

3. Kann aus alledem der Schluss gezogen werden, dass Verschmelzungsverträge im Spruchverfahren dann nicht zu korrigieren sind, wenn der Vorstand des übertragenden Unternehmens beim Vertragsschluss die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsführers hat walten lassen und ihm keine Pflichtverletzung im Sinne von § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG vorzuwerfen ist? Unmittelbar anzuwenden ist die Bestimmung nicht, weil sie lediglich die Haftung des Vorstands betrifft, während es im Spruchverfahren um einen anderen Anspruch und einen anderen Anspruchsgegner geht. Indessen hat das UMAG, das die genannte Bestimmung in das AktG eingefügt hat, damit nur eine zuvor bereits weithin anerkannte Rechtsentwicklung zur beschränkten Überprüfbarkeit von unternehmerischen Ermessensentscheidungen der Geschäftsleitung 41 lediglich teilweise festgeschrieben. Auch bei den 41 BGHZ 135, 244 (ARAG); Hopt in GroßkommAktG, § 93 Rn. 81; Paefgen, Unternehmerische Entscheidungen und Rechtsbindung der Organe in der AG, 2002, 134ff.; Wirth, RWS-Forum 25 (2003), 261, 266 ff. ; vgl. auch OLG Stuttgart NZG 2000, 159 ff.; NZG 2000, 490ff.; OLGR Stuttgart 2002, 337 ff.

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einem Verschmelzungsvertrag zugrunde liegenden Entscheidungen geht es um die unternehmerische Beurteilung von Risiken und Chancen, von Wahrscheinlichkeiten und Potentialen, die einer richterlichen Ex-post-Kontrolle nur schwer zugänglich sind. Bei einer substantiellen richterlichen Überprüfung bleibt es dann gleichwohl, wenn der Bezugspunkt der Beurteilungsspielraums der Geschäftsleitungen richtig gesetzt wird. Die oben (III.2.) wiedergegebenen Auffassungen scheinen sich vor allem auf das Ergebnis des Verschmelzungsvertrags, genauer, auf die dort angegebene Wertrelation zu beziehen. Damit ist für die richterliche Überprüfung der Verschmelzungswertrelation aber wenig anzufangen, weil sich die Fragen bei den einzelnen Umständen und Annahmen stellen, aus denen die Wertrelation abgeleitet wird. Für die einzelnen Problemfelder können nicht durchgängig dieselben Prüfungsmaßstäbe gelten. Dies soll anhand einiger typischer Probleme der Unternehmensbewertung in Spruchverfahren verdeutlicht werden: a) Tatsachengrundlage Den Wertfeststellungen liegen eine Vielzahl tatsächlicher Angaben zugrunde. Dazu gehören etwa Angaben zu Umsätzen und Jahresergebnissen, sowie zu Zins- und Börsenentwicklungen. Selbstverständlich müssen solche Angaben zutreffen. Ein „Spielraum“ kann insoweit nicht eröffnet und die Überprüfung nicht auf eine Plausibilitätskontrolle beschränkt sein. Die Frage der Tatsachengrundlage von Spruchverfahren ist dennoch alles andere als banal. Bewertungsbezogene Gerichtsverfahren können sich vielmehr leicht in der Komplexität ihrer Tatsachengrundlage verfangen. Denn auch den meisten Prognosen und Planungsannahmen liegen wiederum tatsächliche Verhältnisse des Unternehmens, der Sparte oder der Volkswirtschaft zugrunde, die hinterfragt werden können. Sie ergeben sich aus Verschmelzungsberichten allenfalls in aggregierter oder pauschaler Form, und sie können dort auch nicht in jedem Detail für Außenstehende nachvollziehbar erläutert und mit sämtlichen zugrunde liegenden tatsächlichen Umständen belegt werden. Werden beispielsweise zur Herleitung der Prognose über die Beitragsentwicklung bei einem Versicherungsunternehmen Zahlenreihen aus dem betroffenen Unternehmen angeführt, könnte darüber hinaus gefordert werden, dies anhand entsprechender Zahlen aus der Versicherungsbranche allgemein oder weiterer einschlägiger volkswirtschaftlicher Daten zu verproben und auch diese Daten vorzulegen. Ebenso könnte verlangt werden, solche Daten nicht nur zusammengefasst für das gesamte Versicherungsunternehmen, sondern aufgeteilt nach den einzelnen Versicherungssparten vorzulegen, weil etwa die Kfz-Versicherung mit Entwicklungen auf dem Kfz-Markt zu tun hat, die Verhältnisse bei der Hausratsversicherung davon aber völlig unabhängig sind. Es lässt sich leicht vorstellen, dass es dann aber auch mit einer Untersuchung der einzelnen Sparten noch nicht sein Bewenden haben

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müsste, sondern etwa versucht werden könnte, nach dem speziellen Portefeuille oder regionalen Einzugsbereich der jeweiligen Unternehmens zu differenzieren. Die Komplexität der Tatsachengrundlage der Prognose für auch nur einen Teilaspekt eines Unternehmens (und Spruchverfahren betreffen regelmäßig Konzerne mit zahlreichen Teilkonzernen, Tochterunternehmen und Beteiligungen) kann auf solchen Wegen erheblich gesteigert werden.

Das Gericht muss aber im Rahmen des verfahrensrechtlich Zulässigen die Komplexität gerade der Spruchverfahren reduzieren, will es nicht überlange Verfahrensdauern hinnehmen.42 Diesem auch aus rechtsstaatlichen Gründen wichtigen Gebot kann am ehesten entsprochen werden, wenn sich das Gericht stets bewusst macht, dass es um die näherungsweise Ermittlung von Schätzwerten geht,43 und deshalb früh strukturiert, welcher Informationen in welchem Detaillierungsgrad es für eine Schätzung des Unternehmenswerts bedarf. Soweit diese Informationen nicht vorliegen, ist grundsätzlich die Antragsgegnerin zur Vorlage aufzufordern und nicht ein Gutachter mit der Erhebung zu beauftragen. Das Gericht muss zwar grundsätzlich die Anknüpfungstatsachen der Gutachten kennen. Spruchverfahren würde man aber vollends zum Erliegen bringen, wollte man daraus ableiten, dass das Gericht stets bis zum Detaillierungsgrad der Arbeitspapiere der Gutachter gehen und auch diese in den Streit der Beteiligten stellen müsste. b) Methodenwahl Unternehmensbewertung zum Zweck der Bestimmung einer angemessenen Entschädigung ist eine Rechtsfrage,44 zu deren Lösung regelmäßig aber wirtschaftswissenschaftliche Methoden herangezogen werden müssen.45 Eine bestimmte betriebswirtschaftliche Methode der Unternehmensbewertung ist dabei rechtlich nicht vorgegeben.46 Wenn ein Unternehmensführer feststellt, dass in der Fachwelt der Betriebs- oder Finanzwirtschaftslehre Streit herrscht über Methodenfragen, so kann seine Entscheidung nicht daran gemessen werden, ob er der „richtigen“ Lehre gefolgt ist. Er wird vielmehr lediglich darzulegen haben, dass er über die wesentlichen Wege zur Ableitung informiert war und sich für die Anwendung einer für den Bewertungszweck vertretbaren Lehre entschieden hat. Auch die Gerichte haben sodann lediglich dies zu überprüfen und nicht etwa danach zu entscheiden, welcher Lehre sie selbst oder der von ihnen ggf. beauftragte Gutachter zuneigen.

42

BayObLG NZG 2006, 156, 157. BayObLG a.a.O. (Fn. 42); OLG Stuttgart ZIP 2004, 712, 714; Stilz, ZGR 2001, 875, 883ff. 44 Vgl. z.B. OLG Celle NZG 1998, 987, 988. 45 Großfeld, a.a.O. (Fn. 18), 15 ff. 46 BVerfG a.a.O. (Fn. 1), 307. 43

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Ob dies in Abfindungsfällen, denen ein Interessenkonflikt zugrunde liegt, anders gesehen werden müsste, mag im Zusammenhang dieser Untersuchung dahin stehen; in jenen Fällen könnte es angezeigt sein, die Wahl einer fairen, die außenstehenden Aktionäre nicht grundsätzlich benachteiligenden Methode zu fordern. In jedem Fall aber kann es nicht darauf ankommen, ob die zugrunde gelegte Auffassung bei der unternehmerischen Entscheidung oder zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung die „herrschende“ betriebswirtschaftliche Methode war bzw. ist oder ob sie gar der allgemeinen Berufsauffassung der Wirtschaftsprüfer entspricht.47 Der Unternehmensführer muss vielmehr die Zweckmäßigkeit und Vertretbarkeit der gewählten Methode geprüft haben und das Gericht muss davon überzeugt sein, dass die Methode, die es seiner Überprüfung zugrunde legt, eine geeignete Schätzgrundlage bildet. Methoden, die in der Betriebswirtschaftslehre verbreitet sind und dem vom Institut der Wirtschaftsprüfer herausgegebenen Standard zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S1) zugrunde liegen, wird das Gericht kaum je als unvertretbar verwerfen können. c) Unternehmensplanung 48 Hier liegt eine wesentliche Weichstelle jeder Ertragswert- oder Einnahmeüberschussrechnung, soweit sich diese nicht ausschließlich mit Vergangenheitswerten begnügt. Es dürfte kein Spruchverfahren geben, in dem die Planung des Unternehmens, das den Antragstellern zu hoch bewertet erscheint, nicht als zu optimistisch angegriffen wird. Das verwundert dann nicht, wenn den Planungen etwa eine Turn-around-Annahme zugrunde liegt. Zudem scheint es manchmal schwer zu fallen, die spätere tatsächliche Entwicklung bei der Beurteilung der Planung auszublenden.49 Auch hier hilft der Hinweis auf eine Plausibilitätskontrolle 50 wenig (vgl. oben IV.1.). Der Gedanke der Business Judgement Rule bietet dagegen ein geeignetes Prüfungsmuster. Wenn die Geschäftsleitung bei ihrer Aufgabe der Unternehmensplanung auf der Grundlage angemessener Information handelte und vernünftigerweise annehmen konnte, die Planung sei realistisch und diene dem Wohle der Gesellschaft, wird diese Planung weder vom Gutachter noch vom Gericht „korrigiert“ werden dürfen. Bei Verschmelzungen dürfte nicht unbeachtet bleiben, inwieweit die Planungen beider Unternehmen methodisch und in der Planungsphilosophie zueinander passen. Darauf wird aber in einer echten Verhandlungssituation

47

So aber wohl BayObLG a.a.O. (Fn. 42). Aus den Daten der Unternehmensplanung werden die künftigen Erträge abgeleitet, vgl. Ziff. 5.1 IDW S 1); für ihre tatsächliche Grundlage gilt das oben unter a) Ausgeführte. 49 Zum Stichtag z.B. BGH AG 1998, 286, 287; BayObLG a.a.O. (Fn. 42). 50 Gude, a.a.O. (Fn. 21), 212 ff. m.w.N. 48

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bereits jeweils die Geschäftsleitung oder die Aktionärsmehrheit der Gegenseite achten und ggf. auf einen Ausgleich drängen. d) Kalkulationszinssatz Vehemente Angriffe von Aktionärsvertretern richten sich derzeit regelmäßig gegen die jeweiligen Annahmen zum Kalkulationszinssatz.51 In der Tat können bereits relativ geringe Änderungen des Zinsfusses erhebliche Auswirkungen auf das Ergebnis haben. Ein niedriger Kapitalisierungszinssatz führt zu einer geringeren Abzinsung der Zukunftserträge und damit zu einem hohen Unternehmenswert. Bei Verschmelzungen ist dieser Gesichtspunkt aber von geringerer Bedeutung, weil sich Veränderungen jedenfalls des Basiszinssatzes auf beiden Seiten auswirken und damit die Relation nicht verschieben. 52 Über alle Einzelfaktoren, die letztlich zu dem angenommenen Kalkulationszinssatz führen, lässt sich aber in der Tat trefflich streiten. Der Streit kann konkrete Einzelannahmen betreffen, etwa, welcher Risikozuschlag für das konkrete Unternehmen gerechtfertigt ist. Es kann aber ebenso um methodische betriebswirtschaftliche Fragen gehen, etwa, wie der Basiszinssatz, also der auf Dauer zu erzielende quasi-risikolose, laufzeitäquivalente Zinssatz,53 zu ermitteln ist.54 Im letztgenannten Fall kann nichts anderes gelten als bei der Wahl der grundsätzlichen Bewertungsmethode (oben b)). Der Risikoeinschätzung und der Ermittlung des Betafaktors liegen unternehmerische Annahmen zugrunde, für die den Geschäftsleitungen ein Beurteilungsspielraum zuzuerkennen ist.55 Gerade bei der Suche nach dem Basiszinssatz zeigt sich, wie sehr alle Beteiligten bis hin zum Gericht auf Prognosen angewiesen sind, die sich im Nachhinein als falsch erweisen können. Üblicherweise werden Zinsentwicklungen in der Vergangenheit, langlaufende öffentliche Anleihen oder die zeitliche Struktur der Zinssätze („Zinsstrukturkurve“) 56 herangezogen. Zudem bieten etwa der Bundesverband öffentlicher Banken Deutschlands (VÖB) und wissenschaftliche Institute Zinsprognosen an. Das Gericht braucht jedenfalls in Verschmelzungsfällen nicht zu entscheiden, welches dieser Prognosemodelle die sicherste Vorhersage erlaubt. Es kann lediglich prüfen, ob der gewählte Ansatz vertretbar war. 51 Siehe nur Wenger, AG S/2005, 9 und FS Drukarczyk, 2003, 475ff.; andererseits Ballwieser, FS Drukarczyk, 2003, 20 ff. 52 Wenger, FS Drukarczyk, 2003, 475, 489. 53 Großfeld, a.a.O. (Fn. 18), 117 ff.; OLG Stuttgart NZG 2000, 747. 54 Vgl. die Nachweise bei Fn. 53 sowie Ballwieser, Unternehmensbewertung, 2004, 82ff.; Maul, FS Drukarczyk, 2003, 255, 277; Gebhardt/Daske, WPg 2005, 649ff. 55 Vgl. BayObLG a.a.O. (Fn. 42). 56 Vgl. Knoll/Deininger, ZBB 2004, 371.

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4. Die Folge einer derartigen Berücksichtigung der Business Judgement Rule wäre eine Wende der einschlägigen Spruchverfahren. a) Die Beteiligten hätten schon im Verschmelzungsbericht in erster Linie ihre unternehmerische Entscheidung darzulegen und zu begründen und diese ggf. im Spruchverfahren zu verteidigen. Dazu würde es selbstverständlich auch gehören, dass die jeweiligen Berechnungen über den Ertragswert sowie Betrachtungen und Berechnungen zur Entwicklung des Börsenkurses, aber auch alle anderen unternehmerischen Gesichtspunkte dargelegt werden, die die Verwaltungen zu der konkreten Verschmelzungsentscheidung bewogen haben. Dies wird nur überzeugender, wenn bei den zahllosen Variablen, die in die Ertragswertberechnung einfließen, die tatsächliche Bandbreite prognostisch angenommener Werte offen gelegt wird und nicht jeweils feste Zahlen behauptet werden. b) Der Streit, ob der Börsenkurs und ggf. welcher Kurs maßgeblich ist, erübrigt sich damit im Grunde. Die Börsenkapitalisierung ist zu berücksichtigen, soweit die Vorstände sie nach ihrer unternehmerischen Entscheidung berücksichtigt haben und dies nach dem Maßstab des § 93 Abs. 1 AktG so durften. Danach ist keine schematische Ableitung aus dem Börsenkurs geboten, wohl aber dessen Berücksichtigung als Informationsgrundlage. Völlig übergangen werden kann der Kurswert in aller Regel ohnedies nicht, weil sonst in der Hauptversammlung die erforderliche qualifizierte Mehrheit nicht erreicht werden kann.57 Berücksichtigung und nicht mehr hat das BVerfG 58 gefordert. Berücksichtigung heißt aber nicht, vorzugeben, nach welchen Stichtagen oder Zeiträumen und mit welcher Gewichtung der Kurs schematisch berechnet zu Grunde zu legen ist, und in welchem Verhältnis ein so gewonnener Wert zu anderen Bewertungen steht. Denn jede derartige Vorgabe würde sich von den realen Gegebenheiten der Verhandlungen entfernen und zu Scheinberechnungen führen. c) Dadurch wird das Spruchverfahren nicht komplizierter, im Gegenteil. Die Verwaltungen müssen ihre unternehmerische Entscheidung nachvollziehbar darlegen können. Dabei kommen ihnen die Beurteilungsspielräume zugute, die dem informierten und ohne Sonderinteresse handelnden Geschäftsführer eingeräumt sind. Soweit seine Wertungen offen und nachvollziehbar dargelegt sind, sind sie jedenfalls in Verschmelzungsfällen nicht justiziabel,59 also vom Gericht nicht zu überprüfen.

57 58 59

Piltz, a.a.O. (Fn. 10), 205; zum Ganzen auch oben IV. 2. DAT/Altana, Fn. 1. Begründung des Regierungsentwurfs zum UMAG, BT-Drs. 15/5092, S. 11.

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Bereits dies entlastet vielfach von Gutachterstreit über die Richtigkeit von Prognosen. Wichtig bleibt darüber hinaus die oben dargelegte Freiheit bei der wirtschaftswissenschaftlichen Methodenwahl. Der Richter darf sich danach nicht in die Rolle des Schiedsrichters im wirtschaftswissenschaftlichen Methodenstreit drängen lassen. Mindestens ebenso wichtig bleibt es, das richtige Maß beim Umgang mit den tatsächlichen Grundlagen der Bewertung zu finden und sich nicht im Detail der Prognosegrundlagen zu verlieren.

Financial (Re)structuring: Maßnahmen zur Eigenkapitalstärkung Wolfgang Weitnauer Inhaltsübersicht I.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bedeutung der Eigenkapitalquote für die Bonität . . . . . . . . . 2. Bedeutung der Eigenkapitalstärkung für die Krisenvermeidung . 3. Verzahnung mit operativem Strategiekonzept . . . . . . . . . . . II. Zuführung von Eigenkapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bedeutung des Eigenkapitals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Pflicht zur angemessenen Kapitalausstattung? . . . . . . . . . c) Fehlender steuerlicher Anreiz zur Bildung von Eigenkapital . 2. Kapitalerhöhung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Beteiligungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nachschuss- oder Zustimmungspflicht? . . . . . . . . . . . . . c) Kombination mit Kapitalherabsetzung . . . . . . . . . . . . . d) Vorausleistungen bei dringendem Sanierungserfordernis . . . . III. Mezzaninekapital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausgestaltungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nachrang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nachrang und Eigenkapitalcharakter . . . . . . . . . . . . . . b) Rangrücktritt zur Vermeidung einer Überschuldung . . . . . . 3. Gewinnabhängige Vergütung und Anwendung der Regeln des Unternehmensvertrags (§§ 291 ff. AktG) . . . . . . . . . . . . a) Stille Beteiligung an einer AG . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sonstige mezzanine Finanzierungsinstrumente . . . . . . . . . aa) Nachrangdarlehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Genussrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Stille Beteiligung an GmbH . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Eigenkapitalersatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Financial Restructuring . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wandelung Mezzanine- in Eigenkapital . . . . . . . . . . . . . . . a) Rechtliches Instrumentarium für ein Wandelungsrecht . . . . b) Durchführung der Kapitalerhöhung . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eigenkapital statt Verbindlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Beteiligung von wesentlichen Geschäftspartnern (Stakeholder) b) Ablösung von Verbindlichkeiten gegen Eigenkapital . . . . . . 3. Ausgliederungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Die „Kreditklemme“ bei der Mittelstandsfinanzierung und die Abkehr vom Hausbankenprinzip im Gefolge von Basel II sind nun schon seit geraumer Zeit in der Diskussion. Dennoch sind diese Fragen weiter aktuell und werden es auch noch auf absehbare Zeit bleiben, weshalb es sich lohnt, ihnen nochmals nachzugehen. Die Wahl eines Themas mit Mittelstandsbezug für diese Festschrift liegt aber auch nicht nur deshalb nahe, weil der Mittelstand nun einmal im Schwäbischen besonders fest verankert ist, sondern soll vor allem die Verdienste des Jubilars würdigen, der sich maßgeblich (neben den Bereichen des Medien- und Wettbewerbsrechts) der Mittelstandsberatung verschrieben hat. Worum geht es? 1. Bedeutung der Eigenkapitalquote für die Bonität Letztlich führt die Diskussion über die Mittelstandsfinanzierung stets zur Problematik der Eigenkapitalkrise, die die gesamte Unternehmensfinanzierung infiziert. Ausgehend von den durch Basel II gestiegenen Anforderungen an die Eigenkapitalausstattung und das Risikomanagement der Banken ist nun an die Stelle einer pauschalierten Eigenkapitalunterlegung von Krediten mit vorgegebenen Risikogewichtungssätzen für bestimmte Kreditforderungsarten eine gezielte Bonitätsprüfung der einzelnen Kredite durch Ratingverfahren getreten. Die den Banken gestellten Eigenmittelerfordernisse (Höhe der Eigenkapitalunterlegung von Krediten auf Bankenseite) stehen somit in einem direkten Verhältnis zum Kreditrisiko, das nicht mehr maßgeblich am Sicherheitenbestand des Kreditnehmers, sondern an seinem Rating und damit seiner Bonität gemessen wird.1 Hierfür ist aber wiederum die Eigenkapitalquote, also das Verhältnis von Eigenkapital zu Bilanzsumme, neben weiteren Finanzdaten (wie Umsatzrentabilität, Liquidität etc.) und „weichen“ Faktoren (wie Regelung der Unternehmensnachfolge oder Transparenz 2) der wesentliche Bonitätsindikator. Ziel der Finanzierung muss daher für Banken wie für Unternehmen die Optimierung der Eigenkapitalstruktur sein. Dies kann geschehen durch eine Entlastung der Aktivseite der Bilanz oder durch eine Verstärkung des Eigenkapitals auf der Passivseite. So ersparen sich die Banken das Erfordernis der Eigenkapitalunterlegung von Krediten, wenn sie diese gebündelt in rechtlich

1 Das „Gewohnheitsrecht“ auf einen zinsgünstigen Hausbankenkredit ist entfallen; Stadler, Die neue Unternehmensfinanzierung, 2004, S. 14. Stattdessen kommt es zu einer Konditionenspreizung. 2 Transparenz hier verstanden als funktionierendes Berichtswesen (Daten zu Auftragsbestand und zu nach Segmenten geordneten Umsätzen, Monats- und Quartalsberichte), Liquiditäts- und Risikomanagement sowie Vorhandensein eines ausgereiften Businessplans.

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verselbständigte Einheiten, sogenannte Zweckgesellschaften (special purpose vehicle), auslagern, die sich dann selbst wieder durch Ausgabe von eigens gerateten Wertpapieren (asset backed securities) auf den Kapitalmärkten refinanzieren.3 Die eigenkapitalschonende Entlastung der Aktivseite bei Unternehmen erfolgt üblicherweise im Anlagevermögen durch Leasing statt Kauf betriebsnotwendiger Sachanlagen sowie Sale und Lease Back nicht betriebsnotwendigen Vermögens, im Umlaufvermögen durch die Reduzierung von Lagerbeständen (Logisitik), konsequentes Forderungs- und Inkassomanagement oder Factoring bzw. ABS-Verbriefung von Forderungen 4. Durch alle diese Maßnahmen wird der Fremdkapitalbedarf des Unternehmens und damit seine Abhängigkeit von Banken gemindert. Die Stärkung des Eigenkapitals kann – abgesehen vom Heben stiller Reserven durch Verkauf von Vermögenswerten oder die Erhöhung von Gewinnrücklagen durch Kosteneinschnitte – in der Außenfinanzierung durch eine Kapitalerhöhung, also die Aufnahme neuer Gesellschafter, eigenkapitalähnliche mezzanine Finanzierungsinstrumente oder die Umwandlung von Fremd- in Eigenkapital erfolgen. Dies ist Thema der weiteren Ausführungen. 2. Bedeutung der Eigenkapitalstärkung für die Krisenvermeidung Letztlich geht es bei allen diesen Maßnahmen um die Herstellung des finanziellen und bilanziellen Gleichgewichts des Unternehmens durch Einhaltung der vertikalen (Kapitalstruktur) und horizontalen Finanzierungsregeln (Kapitalbindung).5 Mit diesen Regeln bezweckt ist der Schutz des Unternehmens vor der „Krise“, also einer Situation, in der das Unternehmen nicht mehr zu üblichen Konditionen kreditwürdig ist, und letztlich der Schutz vor der Insolvenz wegen Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit. So ist für die Finanzierungsentscheidung und das Ausfallrisiko von Fremdkapitalgebern das vertikale Verhältnis von Eigenkapital zu Fremdkapital (Verschuldungsgrad) bzw. Bilanzsumme (Eigenkapitalquote) entscheidend, da dies den Grad der Deckung ihrer Ansprüche zum Ausdruck bringt. „Horizontal“ geht es primär um den Liquiditätsschutz, indem nach der „Goldenen Finanzierungsregel“ die Mittelbindung auf der Aktivseite möglichst der Mittelherkunft auf der Passivseite entsprechen soll, d.h. dass langfristig gebundenes Vermögen (Anlagevermögen) auch langfristig, also mög3 Die gemeinsame Gründung einer solchen Zweckgesellschaft war auch Kern der Ende August 2003 bekannt gegebenen „True Sale Initiative“ der KfW und der deutschen Großbanken gewesen, aus der die von 13 nationalen und internationalen Banken gebildete Plattform „True Sale International“ für Kreditverbriefungen in Deutschland hervorgegangen ist. 4 Beim Factoring übernimmt der Factor das Inkasso/Debitorenmanagement, bei der ABS-Lösung verbleibt es beim Unternehmen (stille statt offene Zession). 5 hierzu im Einzelnen Perridon/Steiner, Finanzwirtschaft der Unternehmung, 13. Aufl., S. 560ff.

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lichst durch Eigenkapital, finanziert sein soll. Die Kontrolle der Einhaltung der Finanzierungsregeln und der genannten Finanzkennzahlen liegt nicht nur im Interesse des Kapitalgebers, sondern auch im wohlverstandenen Interesse des Unternehmens. Die Einhaltung bestimmter Finanzkennzahlen wird daher auch durch Regelungen im Finanzierungsvertrag (financial covenants) vorgegeben und sanktioniert, sei es durch ein fristloses Kündigungsrecht im Fall einer erheblichen Auswirkung auf die Vermögenslage des Kreditnehmers oder eine Erhöhung der Zinslast für den Zeitraum der Verfehlung der Finanzkennzahl.6 Um dies unter Kontrolle zu behalten, ist die oben schon als Rating-Element angesprochene Transparenz, also ein funktionierendes Berichtswesen von entscheidender Bedeutung, dies wiederum sowohl für das Unternehmen als Eigenschutz und Teil einer weit verstandenen Corporate Governance 7 als auch für den Kapitalgeber als den durch die financial covenants geschützten Vertragsteil. Richtigerweise sollten sich daher auch beide Seiten nicht konträr gegenüberstehen, sondern als Partner verstehen. Beide, Unternehmen wie Kapitalgeber, müssen die Krise früh erkennen, um rechtzeitig gegensteuern zu können. Auf die sich hierfür bietenden Abwehrmöglichkeiten des Financial Restructuring wird im Folgenden näher eingegangen. 3. Verzahnung mit operativem Strategiekonzept Dabei sei aber schon hier betont, dass Maßnahmen des Financial Restructuring in der Praxis meist nur im Verbund mit operativen Maßnahmen, wie etwa Kosteneinsparungen, die meist im Personalbereich einsetzen, wirken. Für bestandserhaltene Sanierungsmaßnahmen ist in der Krise überdies ein Sanierungsplan aufzustellen, dies nicht nur aus rechtlichen Erfordernissen,8 sondern vor allem auch deshalb, weil jede weitere Finanzierungsmaßnahme ein schlüssiges und überzeugendes Strategiekonzept voraussetzt, das das Wachstumspotential des Unternehmens und damit die Tragfähigkeit einer

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Weitnauer, ZIP 2005, 1443. Weitnauer, Festschrift Hay, 2005, S. 469. 8 So hat unlängst der BGH (Urteil vom 21.11.2005) ZIP 2006, 279ff. entschieden, dass das Sanierungsprivileg des § 32 a Abs. 3 S. 3 GmbHG über den subjektiven Sanierungswillen hinaus nur dann in Anspruch genommen werden kann, wenn nach einem dokumentierten Sanierungskonzept und pflichtgemäßer Einschätzung eines objektiven Dritten die Gesellschaft im Augenblick des Anteilserwerbs objektiv sanierungsfähig war und die in Angriff genommenen Sanierungsmaßnahmen auch objektiv geeignet waren. Auch der Schutz von Kreditgebern vor einer Haftung wegen Insolvenzverschleppung (§ 826 BGB) erfordert, dass aufgrund nachhaltiger Prüfung keine ernsthaften Zweifel am Gelingen des Sanierungsversuchs bestehen; Palandt/Sprau, 65. Aufl., § 826 BGB Rn. 44. Und auch für das steuerliche Sanierungsprivileg des § 8 Abs. 4 Satz 3 KStG empfiehlt sich die Erstellung eines Sanierungsplans. 7

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weiteren Finanzierungsbelastung des Unternehmens aufzeigt. Letztlich ist dies (neben der Qualität des Managements) das Hauptkriterium für die Finanzierungs- und in gleicher Weise Investitionsentscheidung eines jeden Kapitalgebers. Jeder Kapitalgeber wird sich fragen, ob er mit Hilfe eines werthaltigen und am Markt durchsetzbaren Geschäftsmodells einen Unternehmenswert aufbauen kann, der die Restrukturierung rechtfertigt, welche Personen er zu diesem Zweck zu beteiligen hat und wie sich ein Restrukturierungserfolg auch langfristig sichern lässt 9. Von dieser Planung hängt auch die Gestaltung der Finanzierungsstruktur ab. Bei hoher Stabilität des Unternehmens ist eine kreditähnlich gestaltete Beteiligung möglich, bei hoher Ertragskraft eine entsprechend auf laufende Erträge konzentrierte Beteiligung und bei einem hohen Wertzuwachspotential eine Exit-orientierte Beteiligung sinnvoll.

II. Zuführung von Eigenkapital 1. Allgemeines a) Bedeutung des Eigenkapitals Eigenkapital ist die Haftungsmasse des Unternehmens, die dem Verlustrisiko ausgesetzt ist, und setzt sich neben den Einlagen auf Stamm- oder Grundkapital aus Kapitalrücklagen, Gewinnvortrag und stillen Reserven zusammen. Zwar ist es – aus Sicht der Gesellschafter – steuerlich die teuerste Form der Finanzierung, da es anders als Zinsaufwand für Fremdkapital den steuerlichen Gewinn nicht mindert (§ 275 Abs. 2 Nr. 13, Abs. 3 Nr. 12 HGB) und es überdies bei der GmbH im Rahmen des Stammkapitals (§ 30 GmbHG) und bei der AG insgesamt (§ 57 AktG) gebunden ist. Doch ist das Eigenkapital das Fundament für die gesamte Finanzierungsstruktur des Unternehmens. Ohne Eigenkapital sind alle sonstigen, hierauf aufbauenden Finanzierungsinstrumente im Bereich Mezzanine oder Fremdkapital nicht zu erlangen. Beginnt es zu kriseln, so haben GmbH-Geschäftsführer nach § 49 Abs. 3 GmbHG und der AG-Vorstand nach § 92 Abs. 1 AktG bei Verlust der Hälfte des Stamm- bzw. Grundkapitals unverzüglich eine Gesellschafter- bzw. Hauptversammlung einzuberufen, um den Gesellschaftern die Beschlussfassung über entsprechende Abhilfemaßnahmen, wie insbesondere eine Kapitalerhöhung, zu ermöglichen. Auch schon vor dem Entstehen einer Unterbilanz diesen Ausmaßes kann bei einer dramatischen Entwicklung, insbesondere erheblichen Verlusten, eine Einberufungspflicht der Geschäfts-

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Bspw. auch durch die Einbindung von Stakeholdern oder Kunden; hierzu noch unten IV. 2 a.

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leitung im Rahmen des Ermessenstatbestands der §§ 49 Abs. 2 GmbHG, 121 Abs. 1 AktG bestehen. Um rechtzeitig Fehlentwicklungen vorzubeugen, sollte die Geschäftsleitung von der Möglichkeit, Gesellschafter über alternative Konzepte oder die grundsätzliche Weichenstellung zwischen Sanierungs- oder Reorganisationsmaßnahmen entscheiden zu lassen, im Zweifel stets Gebrauch machen. Denn wirksames Gegensteuern verlangt das frühe und rechtzeitige Erkennen des Problems. b) Pflicht zur angemessenen Kapitalausstattung? Die Eigenkapitalausstattung sollte dem wirtschaftlichen Risiko des Unternehmens adäquat sein. Eine rechtliche Verpflichtung der Gesellschafter zur Ausstattung mit Eigenkapital oberhalb des gesetzlich vorgeschriebenen Mindestnennbetrags von Stamm- bzw. Grundkapital (§§ 5 Abs. 1 GmbHG, 7 AktG) besteht jedoch nicht. Im Fall einer Unterkapitalisierung, wenn also die Gesellschaft von den Gesellschaftern mit derart unzureichenden Mitteln ausgestattet wird, dass sie jederzeit und beim kleinsten wirtschaftlichen Stoß insolvent werden kann, kann es aber zu einer persönlichen Durchgriffshaftung der Gesellschafter gegenüber den Gesellschaftsgläubigern kommen.10 Denn in einem solchen Fall der Unterkapitalisierung würde das Privileg der auf das Gesellschaftsvermögen begrenzten Haftung der Gesellschafter (§ 13 Abs. 2 GmbHG) rechtsmissbräuchlich eingesetzt. Genügen daher die Gesellschafter nicht dem Gebot, die Höhe des Eigenkapitals zumindest in äußersten Grenzen dem wirtschaftlichen Risiko der Gesellschaft entsprechend zu bemessen – und dies sowohl bei Gründung als auch im Lauf des späteren Wirtschaftens der Gesellschaft –, so müssen sie zumindest mit dem Risiko ihrer persönlichen Haftung leben. Dieses Risiko der persönlichen Durchgriffshaftung trifft aber wohlgemerkt nur Extremfälle, ändert aber nichts daran, dass ein Unternehmen ohne adäquate Eigenkapitalausstattung von in der Regel mindestens 30 % 11 schwerlich die für das Unternehmenswachstum erforderliche Finanzierung finden wird. c) Fehlender steuerlicher Anreiz zur Bildung von Eigenkapital Dass bislang bei deutschen Unternehmen die Eigenkapitalquote statistisch deutlich unter dieser Mindestgröße liegt, hat maßgeblich steuerliche Gründe. Sie bestehen zum einen darin, dass es im Hinblick auf die einheitliche Besteuerung von Gewinnen mit 25 %, § 23 Abs. 1 KStG, keinen steuerlichen Anreiz für eine Gewinnthesaurierung gibt. Zum anderen folgt dies bei mittelständischen Unternehmen daraus, dass meist nur eine Handelsbilanz 10

Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 16. Aufl. § 13 Rn. 7 ff. Wellensiek in K. Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, 2. Aufl., Rn. 196. 11

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aufgestellt wird, die bereits die steuerlichen Vorschriften berücksichtigt (Einheitsbilanz) 12, was dazu führt, dass sich die Unternehmen im Zweifel selbst arm rechnen und stille Reserven nicht aufdecken. Auch die, gerade bei Mittelständlern verbreitete, Betriebsaufspaltung in Besitz- und Betriebsgesellschaft führt dazu, dass wesentliches Betriebsvermögen keinen Niederschlag in der Bilanz der operativen Betriebsgesellschaft findet. Einen steuerlichen Anreiz für eine Eigenkapitalbeteiligung gibt es in Deutschland nicht. Einen anderen, fortschrittlichen Weg ist demgegenüber Großbritannien mit dem Modell des Venture Capital Trust (VCT) gegangen, mit dem schon in 1995 steuerliche Anreize für Privatinvestments in kleine und mittlere Unternehmen geschaffen wurden. VCTs sind an der London Stock Exchange gelistete Beteiligungsgesellschaften, die mindestens 70 % ihres Fondsvermögens in nicht börsennotierte Gesellschaften, im übrigen auch in kleinere am Alternative Investment Market (AIM) gelistete Unternehmen investieren. Hierbei sind bestimmte Grenzen für die Höhe des Einzelinvestments vorgegeben. Anleger eines VCT erhalten auf ihre Einkommensteuerschuld einen Abzug in Höhe von 40 % (ab 06.04.2006 20 %) des Zeichnungsbetrags für VCTAnteile und sind von jedweden Einkommen- und Kapitalertragsteuern auf Dividenden und Veräußerungsgewinne befreit. Damit haben sich VCTs als einer der Erfolgsfaktoren für den Private Equity-Markt in Großbritannien entwickelt.13 An solchen steuerlichen Investmentanreizen fehlt es in Deutschland. Hier führen allenfalls Veräußerungsverluste bei wesentlichen Beteiligungen von mehr als 1 % im Rahmen des § 17 Abs. 2 Satz 4 EStG zu einer Steuerminderung im Rahmen des Halbeinkünfteverfahrens. Dies, also die unter eng begrenzten Voraussetzungen mögliche steuerliche Berücksichtigung eines Verlusts, kann aber schwerlich als Investmentanreiz verstanden werden. Hilfreich wäre daher sicher, sich das VCT-Modell auch in Deutschland zum Vorbild für steuerliche Beteiligungsanreize zu nehmen. 2. Kapitalerhöhung Bestes Mittel für eine Eigenkapitalstärkung ist (natürlich) die Zufuhr von frischem Eigenkapital durch eine Bar- oder Sachkapitalerhöhung, §§ 55 GmbHG, 182 ff. AktG. Um dem Vorstand gerade auch in Krisenzeiten die Möglichkeit zur schnellen und flexiblen Kapitalaufnahme zu geben, ohne zuvor die Zustimmung der Aktionäre zu einer Kapitalerhöhung einholen zu müssen, sieht das Aktienrecht die Möglichkeit der Bildung eines genehmigten Kapitals bis zur Höhe der Hälfte des im Zeitpunkt der Ermächtigung

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Baumbach/Hopt/Merkt, 32. Aufl., § 242 HGB Rn. 6. Bis Februar 2003 (BVCA Survey) waren allein £ 1,5 Mrd. in über 70 VCTs investiert.

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vorhandenen Grundkapitals vor, §§ 202 ff. AktG. Eine solche „Vorratsermächtigung“ der Geschäftsführung zur Ausgabe von Anteilen fehlt hingegen bei der GmbH. a) Beteiligungsvertrag Erfolgt die Kapitalerhöhung durch Neugesellschafter, werden die Altgesellschafter zwangsläufig verwässert. Gerade im Mittelstand, bei dem nach wie vor die „Herr im Haus“-Mentalität vorherrscht, gilt es daher vor der Aufnahme neuer Gesellschafter, insbesondere auch von Finanzinvestoren, subjektiv geprägte Abwehrreaktionen zu überwinden. Neue Investoren werden sich in Zusammenhang mit einer Beteiligung in der Regel Sonderrechte ausbedingen, sei es in der Satzung oder schuldrechtlich – außerhalb der Satzung – in einem Beteiligungsvertrag und/oder einer Aktionärsvereinbarung. Neben Garantien der Altgesellschafter im Beteiligungsvertrag sowie Exitklauseln (Mitveräußerungsregeln) und Mitwirkungsrechten (Entsenderecht, Zustimmungsrecht für bestimmte Beschlüsse) geht es hier vor allem um Liquidationspräferenzen.14 Sie sehen vor, dass die Neuinvestoren ihr Investment vorrangig aus einem Anteilsveräußerungs- oder Liquidationserlös, möglicherweise mit einem bestimmten Multiplikator verzinst, zurückerhalten. Diese Rechte können in der Satzung verankert werden und binden dann ohne weiteres auch die Gesellschaft und künftige Gesellschafter. Sie müssen dort aber nicht geregelt sein. Es ist auch die schuldrechtliche Regelung solcher Sonderrechte im Kreis der beitretenden und der Altgesellschafter, ggf. auch unter Beitritt der Gesellschaft zulässig, soweit nicht gegen zwingendes Gesetzesrecht verstoßen wird.15 Die selbständige Regelung außerhalb der Satzung hat den Vorteil, dass die Form der Satzung und die Publizität des Handelsregisters nicht zu beachten sind; eine Änderung ist aber nur mit Zustimmung aller Vertragsparteien zulässig. Da der Grundsatz der Satzungsstrenge gem. § 23 Abs. 5 AktG nur für das Verhältnis von Satzung zu Aktiengesetz gilt, kann in einer Aktionärsvereinbarung selbst dann von aktienrechtlichen Regeln abgewichen werden, wenn dies nicht ausdrücklich zugelassen ist. Unzulässig sind nur Nebenabreden über solche Gegenstände, die notwendiger Satzungsinhalt, § 23 Abs. 2 bis 4 AktG, sind.16 Sonderrechte begründen nicht zwangsläufig eine eigene Gattung von Vorzugsaktien, § 23 Abs. 3 Nr. 4 AktG, und sind daher nicht notwendiger Satzungsinhalt. Anderes anzunehmen 17, wäre ein Zirkelschluss: Denn um eine eigene Aktien14

Weitnauer, NZG 2001, 1065, 1070 ff. Winkler, Rechtsfragen der Venture Capital-Finanzierung, S. 82ff.; Baumbach/Hueck/ Fastrich, 18. Aufl. , § 3 GmbHG Rn. 56 ff. 16 Hüffer, 6. Aufl., § 23 AktG Rn. 45 ff.; Baumbach/Hueck/Fastrich, a.a.O. 17 So aber Hoffmann/Hölzle, FB 2003, 113, 117 ff., die eine Liquidationspräferenz deshalb zum notwendigen Satzungsinhalt rechnen, weil hiermit vom Verteilungsmaßstab des 15

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gattung im Sinne von § 23 Abs. 3 Nr. 4 AktG würde es sich nur dann handeln, wenn die Aktie selbst mit bestimmten Sonderrechten verbunden wäre, § 11 AktG. Die Sonderrechte der Gesellschaftervereinbarung werden aber hierdurch begründet und eben nicht statutarisch. Sie gehen daher auch nicht einfach mit der Übertragung der Aktien über, sondern es bedarf des Beitritts zu der Gesellschaftervereinbarung. Da es sich bei diesen Gesellschaftervereinbarungen zwar um schuldrechtliche Nebenabreden, aber dennoch um solche auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts handelt, und zwar ähnlich wie Stimmbindungs- oder Poolvereinbarungen um Innengesellschaften bürgerlichen Rechts 18, gelten die Regeln der Inhaltskontrolle von AGB nach § 310 Abs. 4 BGB hier nicht.19 Denn um eine der AGB-Kontrolle unterfallende Austauschbeziehung 20 handelt es sich bei der Gesellschaftervereinbarung sicher nicht. b) Nachschuss- oder Zustimmungspflicht? Eine „Nachschusspflicht“ der Gesellschafter besteht entsprechend dem Grundgedanken des § 707 BGB nicht, sofern sie nicht im Gesellschaftsvertrag vorgesehen ist (so auch § 53 Abs. 3 GmbHG). Der Beschluss über die Erhöhung von Beiträgen oder Einlagen bedarf daher (mangels Satzungsregelung) der Zustimmung aller Mitgesellschafter, gerade auch wegen der Rückwirkung eines solchen Beschlusses auf die Beteiligungsverhältnisse.21 Allenfalls aus der Treuepflicht des Gesellschafters könnte sich eine Pflicht zur Zustimmung zu einer von den übrigen Gesellschaftern angebotenen Beitragserhöhung ergeben, wenn die Gesellschaft dringend auf weiteres Kapital angewiesen ist, die Mitgesellschafter aber nicht bereit oder in der Lage sind, an der im Gesellschaftsinteresse gebotenen Kapitalerhöhung teilzunehmen.22 Für die Personengesellschaft hat der BGH 23 dies bejaht, wenn Beiträge nachgefordert werden, um den sachlich und wirtschaftlich von vornherein, bspw. in einem Finanzierungsplan, begrenzten Gesellschaftszweck zu erreichen. Diese Grundsätze einer Treuepflicht hat der BGH auch auf die personalistisch ausgestaltete GmbH angewandt.24 Dabei handelt es sich aber um Ausnahmefälle. § 271 Abs. 2 AktG abgewichen werde, dies dann aber zu einer eigenen Aktiengattung führe, die zwingend in der Satzung anzugeben sei. 18 Hüffer, a.a.O., § 23 AktG Rn. 46 m.w.N. 19 Weitnauer, ZIP 2005, 1443 ff.; a.A. Winkler, a.a.O., S. 91ff.; Baumbach/Hueck/ Fastrich, a.a.O., § 3 Rn. 56. 20 So für die Abgrenzung zwischen stiller Gesellschaft und partiarischem Darlehen BGHZ 127, 176, 182ff. = NJW 1995, 192, 193. 21 MüKo/Ulmer, 4. Aufl., § 707 BGB Rn. 6, 8. 22 Baumbach/Hopt, 32. Aufl., § 109 HGB Rn. 12. 23 BGH WM 1961, 32, 34. 24 BGHZ 98, 276, 279 ff. zur Pflicht zur Zustimmung zu einer durch die GmbH-Novelle

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Die Sanierung eines Krisenunternehmens ist aber auch durch Zuzahlungen der Gesellschafter in die Kapitalrücklage (§ 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB) möglich, die nicht zu einer förmlichen Kapitalerhöhung führen. In diesem Fall mag bei entsprechend dringendem Liquiditätsbedarf des Unternehmens eine Zustimmungspflicht der Mitgesellschafter zu einem Beschluss zu bejahen sein, der die Anteile derjenigen Gesellschafter, die sich zur Leistung von Zuzahlungen verpflichten, mit bestimmten Vorzügen, etwa einem Liquidationsvorrang, ausstattet („who pays, plays“). Auch hierfür bedarf es aber wiederum, sofern nicht bereits eine Grundlage in der Satzung geschaffen ist, eines satzungsändernden Beschlusses 25 oder einer Nebenabrede zwischen allen Gesellschaftern 26. In der Praxis ist der schnellere und unkompliziertere Weg daher die Gewährung eines Gesellschafterdarlehens, auch wenn diese nicht zu einer Eigenkapitalstärkung führt.27 c) Kombination mit Kapitalherabsetzung Bei einer Sanierung notleidend gewordener Unternehmen wird vor einer Kapitalerhöhung, durch die Neugesellschafter zugelassen werden, in der Regel eine Kapitalherabsetzung beschlossen, durch die zunächst eine vorhandene Unterbilanz beseitigt wird und die bestehenden Anteile in ihren Nennbeträgen – so der Regelfall – entsprechend herabgesetzt werden.28 Dabei kann, soweit es um den Ausgleich von Wertminderungen oder die Deckung sonstiger Verluste geht, das vereinfachte Verfahren der Kapitalherabsetzung nach §§ 58 a ff. GmbHG, §§ 229 ff. AktG genutzt werden, das zu einer sofortigen Eintragbarkeit der Kapitalherabsetzung ohne Beachtung des ansonsten geltenden Sperrjahres führt. d) Vorausleistungen bei dringendem Sanierungserfordernis Ob im Fall einer Krise der Gesellschaft, also bei drohender Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung, eine schnelle „Kapitalspritze“ in Anrechnung auf eine erst später beschlossene Kapitalerhöhung geleistet werden kann und die erst anschließend begründete Einlageschuld zu erfüllen vermag, ist umstritten. Es besteht hierfür zumindest ein praktisches Bedürfnis, wie auch der BGH erkannt, bislang aber ausdrücklich offen gelassen hat 29. Dass 1980 notwendig gewordenen Kapitalerhöhung und Satzungsänderung; vgl. auch Baumbach/Hueck/Fastrich, a.a.O., § 13 GmbHG Rn. 35. 25 Scholz/Priester, 9. Aufl., § 58 GmbHG Rn. 89. 26 oben bei Fn. 15. 27 Zum Rangrücktritt zur Vermeidung einer Überschuldung und der Rückzahlungssperre wegen Eigenkapitalersatz noch im Folgenden. 28 Baumbach/Hueck/Zöllner, a.a.O., § 58 Rn. 6 ff., 7. 29 BGHZ 145, 150, 154; dies bejahend OLG München NZG 1999, 84; Baumbach/ Hueck/Zöllner, a.a.O., § 56 a GmbHG Rn. 9 ff. m.w.N.

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er die dringende Sanierung als Ausnahmefall zum Grundsatz, dass die Einlageleistung der Gesellschaft zum Zeitpunkt der Beschlussfassung noch unverbraucht zur Verfügung stehen muss (§§ 56 a, 7 Abs. 2 Satz 1, 8 Abs. 2 Satz 1 GmbHG), ausdrücklich anspricht und hierfür auch schon bestimmte Voraussetzungen definiert hat, spricht dafür, dass er dies dann so auch zulassen würde, käme es hierauf an. Voraussetzung 30 ist danach jedenfalls, dass die Zahlung schriftlich als Vorleistung auf die Einlageschuld zweckbestimmt wird, ein enger zeitlicher Zusammenhang zum Kapitalerhöhungsbeschluss gegeben ist und die Vorleistung im Kapitalerhöhungsbeschluss mit der Versicherung der Anmelder offengelegt wird.

III. Mezzaninekapital Zwischen Eigenkapital und Fremdkapital rangieren die frei ausgestaltbaren mezzaninen Finanzierungsinstrumente. Typische mezzanine Finanzierungsinstrumente (oder noch neudeutscher auch: Private Debt 31) sind Nachrangdarlehen, Wandel- oder Optionsanleihen, Genussrechte und stille Gesellschaften.32 Sie sind nachrangig gegenüber sonstigen Gläubigern (junior debt; subordinated debt), jedoch vorrangig gegenüber haftendem Eigenkapital. Die Nachrangigkeit wird in der Regel hergestellt durch vertragliche Nachrangabreden mit dem Unternehmen oder zwischen den einzelnen Kapitalgebern (Intercreditor Agreement).33 Da die Aufnahme mezzaniner Finanzierungsmittel nicht zu einer anteilsmäßigen Verwässerung der Altgesellschafter führt, sind sie ein gutes Mittel, um die Kapitalstruktur bei Wahrung der unternehmerischen Unabhängigkeit 34 zu verbessern oder trotz einer Eigenkapitalbeteiligung bestehen bleibende Finanzierungslücken zu schließen 35. 30

BGHZ 118, 83, 86 ff. sowie BGH ZIP 1995, 28 und ZIP 1996, 1466. Achleitner/v. Einem/v. Schröder, Private Debt-alternative Finanzierung für den Mittelstand, 2004. „Private Debt“ kennzeichnet begrifflich vor allem (ähnlich dem Begriff „Private Equity“), dass die ausgegebenen Finanzierungstitel privat platziert werden, also nicht an einem organisierten Kapitalmarkt handelbar sind. Wegen der fehlenden entsprechenden Begrifflichkeit in Deutschland geht es im Ergebnis um Mezzanine-Kapital; Achleitner/ v. Einem/v. Schröder, a.a.O., S. 45 ff., S. 48. 32 Hierzu im Einzelnen Häger/Elkemann-Reusch, Mezzanine Finanzierungsinstrumente 2004, deren Ansichten aber nicht immer zu folgen ist; hierzu sogleich. 33 Daneben kommt auch eine strukturelle Nachrangigkeit in Betracht, wenn die Finanzierung – wie typisch bei Buy Out-Konstellationen – über eine Holdinggesellschaft gewährt wird und dadurch ein unmittelbarer Zugriff auf die Vermögensrechte der Zielgesellschaft ausgeschlossen wird; Schrell/Kirchner, BKR 2004, 212 ff. 34 Zu diesem psychologischen Hemmnis bei der Eigenkapitalzufuhr oben II 2a. 35 Den Bedarf an Mezzanine-Kapital zur Eigenkapitalstärkung suchen daher auch immer mehr Fonds zu decken, bspw. das von der Bayern LB aufgelegt STEM-Genussrechts31

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1. Ausgestaltungsmöglichkeiten Der Inhalt von Mezzaninekapital und folglich auch die bilanzielle Einstufung als Eigen- oder Fremdkapital sind frei gestaltbar. Im Grundsatz gilt, dass eine gewinnabhängige Vergütung und die Beteiligung am Verlust und an einem Liquidationserlös für eine Einstufung als Eigenkapital sprechen, eine gewinnunabhängige Verzinsung und eine vertragliche Rückzahlbarkeit (wie beim Nachrangdarlehen oder der typisch stillen Gesellschaft) für den Fremdkapitalcharakter. Generelle Charakteristika sind 36, außer der eingangs schon angesprochenen Nachrangigkeit, dass – die Laufzeit länger als beim Fremdkapital ist (in der Regel sechs bis zehn Jahre), folglich dem Unternehmen größere Planungssicherheit geboten wird; – eine Rückführung erst am Laufzeitende erfolgt, das Unternehmen folglich nicht mit Tilgungsleistungen belastet ist, was zu einer Steigerung des operativen Cash Flow führt; – Sicherheiten nicht erforderlich sind; – als Ausgleich hierfür aber die laufende Verzinsung wegen des höheren Risikos höher als beim Fremdkapital ausfällt (in der Regel 8 bis 15 %), wobei dies aber – bei Ausgestaltung der Mezzanine-Mittel als Fremdkapital – steuerlichen Betriebsaufwand darstellt 37; – und ferner weitergehende Kontroll-, Informations- und Zustimmungsrechte ausbedungen werden. Typisch ist überdies eine laufzeitbezogene Vergütung am Beteiligungsende, nämlich entweder in Form eines Non-Equity-Kicker, also einer einmaligen, von der Unternehmensentwicklung unabhängigen Sonderverzinsung bezogen auf die Nominaleinlage, einem virtuellen Equity-Kicker, bei dem die Sondervergütung („als ob“-Beteiligung) auf die Entwicklung des Unternehmenswerts bezogen ist, und schließlich in Form eines echten Equity-Kicker, einem bedingten Bezugsrecht auf Anteile.38 Denkbar ist auch die Kombination einer Sonderverzinsung (Non-Equity Kicker) mit einem Bezugsrecht.

programm (Standardisiertes Eigenkapitalähnliches Mittelstandskapital) für Unternehmen mit Umsatz über 30 Mio. € oder der von der HypoVereinsbank aufgelegte PREPS (Preferred Pooled Shares), mit dem Genussrechte mittelständischer Unternehmen in einer über ein SPV ausgegebenen Anleihe zusammengefasst werden. 36 Dörscher/Hinz, FB 2003, 606 ff., Schrell/Kirchner, BKR 2003, 13ff. 37 Diese laufende Verzinsung kann auch cash flow – abhängig ausgestaltet werden („pay as you can“). 38 Golland/Gelhaar/Grossmann/Eickhoff-Kley/Jänisch, BB-Special 4/2005, S. 1, 3ff.

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2. Nachrang a) Nachrang und Eigenkapitalcharakter Die Nachrangigkeit mezzaniner Finanzierungsmittel gegenüber Fremdkapital ist, für sich allein genommen, noch nicht ausreichend für eine handelsbilanzielle Behandlung als Eigenkapital. Vielmehr ist die Nachrangigkeit dem mezzaninen Kapital generell wesenseigen. Während Nachrangdarlehen ebenso wie Wandel- und Optionsanleihen bilanziell in Höhe des Rückzahlungsbetrags 39 stets als Fremdkapital zu behandeln sind, handelt es sich bei Genussrechten und (atypisch) stillen Beteiligungen steuerlich dann um Eigenkapital, wenn eine Beteiligung am Gewinn und am Liquidationserlös vereinbart wurde.40 Wird auf die Teilhabe am Liquidationserlös verzichtet, kann, trotz steuerlicher Behandlung als Fremdkapital, handelsbilanziell ein Ausweis im Eigenkapital erreicht werden, wenn alle weiteren oben erwähnten Voraussetzungen (Nachrang, Gewinnbeteiligung, volle Verlustteilnahme und längerfristige Überlassung) 41 erfüllt sind.42 b) Rangrücktritt zur Vermeidung einer Überschuldung Der einfache Nachrang von mezzaninem Kapital mit Fremdkapitalcharakter gestattet es daher auch noch nicht, von einer Passivierung solcher Mittel im Überschuldungsstatus abzusehen. Der BGH 43 hat – bezogen auf das eigenkapitalersetzende Gesellschafterdarlehen – eine Ausnahme von der Passivierungspflicht nur dann bejaht, wenn der Gesellschafter nicht nur erklärt hat, er wolle mit seinen Forderungen erst nach der Befriedigung sämtlicher Gesellschaftsgläubiger berücksichtigt werden, sondern ferner erklärt hat, bis zur Abwendung der Krise nicht vor, sondern nur zugleich mit den Einlagerückgewähransprüchen seiner Mitgesellschafter berücksichtigt, also so behandelt werden zu wollen, als handele es sich bei seiner Gesellschafterleistung um statutarisches Kapital. Der bloße Nachrang, auch soweit er nicht nur zugunsten bestimmter Senior-Darlehensgeber, sondern aller Gläubiger erklärt wird („tiefer Rangrücktritt“) genügt daher zur Beseitigung der Überschuldung nicht.44 Gerade weil Gesellschafterdarlehen, auch wenn sie eigenkapitalersetzend sind, Verbindlichkeiten der Gesellschaft, wenn auch nach-

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Der für die Ausgabe des Bezugsrechts oder der Option erzielte Betrag (Prämie) ist bilanziell in die Kapitalrücklage einzustellen. 40 Hofert/Arends, ZIP 2005, 1297, 1301, 1304. 41 Stellungnahme Hauptfachausschuss des Instituts der Wirtschaftsprüfer IdW 1/1994; v. Einem/Schmid/Pütz, BB-Special 5/2005, S. 9, 11 ff. 42 Hofert/Arends, a.a.O., S. 1301. 43 Urteil 08.01.2001, NZG 2001, 361, 363 mit Anmerkung Habersack/Mayer = DB 2001, 373ff. 44 A.A. (ohne Rücksicht auf dieses Urteil) Häger/Elkemann-Reusch, a.a.O., Rn. 458.

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rangig nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO, bleiben, verlangt der BGH durch den weitergehenden „qualifizierten“ Rangrücktritt die Gleichstellung von funktionalem mit statutarischem Eigenkapital.45 Die Annahme, die BGHEntscheidung habe keine Auswirkung auf das Innenverhältnis der Gesellschafter 46, verbietet sich angesichts der eindeutigen Urteilsgründe. Der Gesellschafter kommt daher nach Abgabe einer Rangrücktrittserklärung auch mit seinen sonstigen, hierdurch erfassten Forderungen nur im Rahmen der Vermögensverteilung bei Insolvenz oder Liquidation zum Zuge (§ 199 S. 2 InsO, 72 Satz 1 GmbHG, 271 AktG). Die Gleichstellung dieser Forderungen mit statutarischem Kapital führt dazu, dass sich dann auch die auf das Anteilsverhältnis abstellende, gesetzliche Verteilungsquote verschiebt, da zur Berechnung dieser Quote nicht mehr nur auf die geleistete Einlage, sondern auch auf die im Rang zurückgetretenen Gesellschafterforderungen abzustellen ist. Soweit eine Liquidationspräferenz zugunsten bestimmter Gesellschafter vereinbart ist, wird man den qualifizierten Rangrücktritt allerdings so zu verstehen haben, dass die im Rang zurückgetretene Forderung auf der Ebene der durch die Liquidationspräferenz bevorrechtigten Forderungen bedient wird, da hierdurch der vom BGH verlangten Gleichbehandlung mit statutarischem Kapital genüge getan ist und ein weiterer Nachrang nicht gefordert ist. Für einen, eine Passivierungspflicht entbehrlich machenden Rangrücktritt von Gläubigern, die nicht Gesellschafter sind und daher mit ihren Forderungen noch nicht einmal dem Nachrang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO unterliegen, kann nichts anderes gelten.47 Sie werden sich aber, da sie keine Finanzierungsverantwortung als Gesellschafter tragen, schwerlich auf einen derart weitgehenden Rangrücktritt einlassen. Zumindest wäre er auf die Dauer der Überschuldung zeitlich zu begrenzen oder auch – aus Gleichbehandlungsgründen – dergestalt zu bedingen, dass auch alle anderen Kapitalgeber entsprechende qualifizierte Rangrücktrittserklärungen abgeben 48.

45 Damit geht der BGH über die frühere Auffassung hinaus, dass in der Insolvenz ein Rücktritt auf den Rang eigenkapitalersetzender Darlehen und außerhalb der Insolvenz eine Einschränkung der Befriedigung aus künftigen Jahresüberschüssen, Liquidationsüberschuss oder aus sonstigem die Schulden übersteigenden Vermögen genüge; Habersack/ Mayer, NZG 2001, 365. 46 Henle/Bruckner, ZIP 2003, 1738 ff. 47 Altmeppen, ZIP 2001, 241; a.A. Habersack/Mayer, NZG 2001, 365, 36. 48 Für die Zeit außerhalb einer Überschuldung kann es selbstverständlich bei einer einfachen Nachrangvereinbarung im Sinne der Fn. 45 belassen bleiben.

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3. Gewinnabhängige Vergütung und Anwendung der Regeln des Unternehmensvertrags (§§ 291 ff. AktG) Soweit mezzanine Finanzierungsinstrumente eine gewinnabhängige Vergütung vorsehen, stellt sich die Frage, ob es sich um einen Teilgewinnabführungsvertrag im Sinne von § 292 Abs. 1 Nr. 2 AktG handelt, der der Zustimmung der Hauptversammlung mit 3/4 Mehrheit und der Eintragung im Handelsregister (§§ 293, 294 AktG) bedarf und auch den weiteren Beschränkungen der §§ 293 ff. AktG unterliegt, wie etwa der Aufhebbarkeit nur zum Ende des Geschäftsjahres (§ 296 AktG) oder der Beschränkung der Gewinnabführung auf den Höchstbetrag des § 301 AktG (Jahresüberschuss vermindert um den Verlustvortrag aus dem Vorjahr und die gesetzliche Rücklage). a) Stille Beteiligung an einer AG Nach ganz herrschender Meinung fällt die (auch typisch) stille Beteiligung an der AG unter § 292 Abs. 1 Nr. 2 AktG 49. Insoweit war, gestützt auf entsprechende Literaturauffassungen 50, die Ansicht vertreten worden, § 301 AktG schließe die Zahlung einer Festvergütung für mezzanine Finanzierungsinstrumente aus, wenn die AG keinen Gewinn erwirtschaftet. Diese Auffassung hätte dazu geführt, dass junge Technologieunternehmen in der Rechtsform der AG, die der öffentlichen Finanzierung bedürfen und in der start-up-Phase regelmäßig nur Verluste erwirtschaften, zur Zahlung der in stillen Beteiligungsverträgen standardmäßig vorgesehenen Festvergütung nicht verpflichtet wären. Das LG Bonn 51 hat jedoch unlängst rechtskräftig entschieden, dass § 301 AktG die Begründung von ergebniswirksamen Aufwandpositionen nicht ausschließt, sondern nur das Gewinnverwendungsrecht der Aktionäre schützt. b) Sonstige mezzanine Finanzierungsinstrumente Nicht zur Anwendung gelangen die Regeln der §§ 291ff. AktG zum Unternehmensvertrag auf alle anderen Formen mezzaniner Finanzierungsinstrumente. aa) Nachrangdarlehen Insbesondere fällt ein Nachrangdarlehen, selbst wenn es partiarischer Natur ist, hierunter nicht.52 Denn das Nachrangdarlehen ist ein schuldrecht49

BGH NJW 2003, 3412; BGH ZIP 2005, 254, 255 f.; Hüffer, a.a.O. § 292 AktG Rn. 15. Häger/Elkemann-Reusch, a.a.O., Rn. 251 ff., 488; Blaurock, Stille Gesellschaft, 6. Aufl., 7.30. 51 Urteil vom 10.01.06, BKR 2006, 177, 179 [Weitnauer]. 52 Anderer Ansicht Häger/Elkemann-Reusch, a.a.O. Rn. 487. 50

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licher Austauschvertrag, während die Vertragspartner einer stillen Gesellschaft einen gemeinsamen Zweck verfolgen. Selbst wenn daher die Rechtsstellung des partiarischen Darlehensgebers durch weitergehende Covenants (Zustimmungs- und Informationspflichten) der Stellung eines stillen Gesellschafters angenähert wäre, würde sich hieran nichts ändern, denn diese Covenants dienen üblicherweise nur der Risikoabsicherung und ändern nichts an der schuldrechtlichen Struktur des Nachrangdarlehens.53 Zumindest wären aber partiarische Nachrangdarlehen als Verträge des laufenden Geschäftsverkehrs gemäß § 292 Abs. 2 AktG aus dem Anwendungsbereich der Regeln über den Unternehmensvertrag ausgenommen.54 Das Gegenargument, stille Gesellschaften würden nicht als dem laufenden Geschäftsverkehr zugehörig qualifiziert und Nachrangdarlehen seien der stillen Gesellschaft weitgehend angenähert 55, verkennt, dass Darlehen und Gesellschaftsvertrag strukturell unterschiedlich bleiben. Daher hat zurecht auch das BayObLG 56 ein Nachrangdarlehen mit einer GmbH unabhängig von der Höhe der Gewinnbeteiligung und des Umfangs der Mitwirkungsrechte nicht für eintragungspflichtig gehalten, weil es sich hierbei um einen Austauschvertrag handele, der die Zuständigkeitskompetenz der Gesellschafter, anders als bei einem Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag, nicht direkt beeinträchtige. Nur soweit mit Anleihen Umtausch- oder Bezugsrechte verbunden werden (Wandelschuldverschreibungen 57), bedarf dies nach § 221 Abs. 1 AktG eines Beschlusses der Hauptversammlung mit 3/4 Mehrheit. bb) Genussrechte Dies ist auch der Grund dafür, weshalb nach Auffassung des BGH und der ganz herrschenden Meinung Genussrechte als bloß schuldrechtlich wirkendes Dauerschuldverhältnis – wiederum anders als die stille Gesellschaft, die ein gesellschaftsrechtlich geprägtes Mitgliedschaftsrecht begründet – nicht unter § 292 Abs. 1 Nr. 2 AktG fallen 58, sondern ausschließlich der vor53 BGHZ 127, 176, 182 ff. = NJW 1995, 192, 193. Daher findet auch die Bereichsausnahme des Gesellschaftsrechts in § 310 Abs. 4 BGB nur auf die stille Gesellschaft, nicht aber auf das partiarische Darlehen Anwendung; oben bei Fn. 20. Anleihebedingungen unterliegen nach BGH BKR 2005, 323 ff. wegen des Sicherheitsbedürfnisses des Kapitalmarkts und des Interesses an der Verkehrsfähigkeit der Papiere (einheitlicher standardisierter Inhalt) nicht der Einbeziehungskontrolle des § 305 Abs. 2 BGB. 54 So auch Emmerich in Emmerich/Habersack, a.a.O., § 292 Rn. 35; a.A. Häger/Elkemann-Reusch, a.a.O. Rn. 487. 55 Häger/Elkemann-Reusch, a.a.O., Rn. 487. 56 GmbHR 2003, 534. 57 Zu unterscheiden sind dabei Wandelanleihe i.e.S. (Umtauschrecht) und Optionsanleihe (Bezugsrecht); Hüffer, a.a.O., § 192 Rn. 9. Hierzu unten IV. 1 a. 58 BGHZ 156, 38, 42 ff. = NJW 2003, 3412/13; a.A. Emmerich in Emmerich/Habersack, 4. Aufl. § 292 Rn. 31 a.

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rangigen Regelung des § 221 Abs. 3 AktG unterstehen. Die Ausgabe von Genussrechten bedarf nach § 221 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 Satz 2 AktG eines Beschlusses der Hauptversammlung mit mindestens 3/4-Mehrheit, wobei die Ermächtigung des Vorstands zur Ausgabe von Genussrechten nach dem entsprechend anwendbaren Abs. 2 nur für die Dauer von fünf Jahren gilt. Über Genussrechte ausgestellte Genussscheine sind Wertpapiere. Ihre Übertragbarkeit sollte daher in gleicher Weise beschränkt werden wie Gesellschaftsanteile. Anders als für stille Beteiligungen (die Anwendung des § 186 AktG ist für Unternehmensverträge in § 293 AktG nicht vorgesehen) besteht für Genussrechte ein Bezugsrecht der Aktionäre nach § 221 Abs. 4 AktG. Sofern Genussrechte nur an Neuinvestoren ausgegeben werden, bedarf der Ausschluss des Bezugsrechts eines Hauptversammlungsbeschlusses mit wiederum 3/4-Mehrheit, § 186 Abs. 3 AktG, und überdies einer sachlichen Rechtfertigung bei möglichen Eingriffen in Aktionärsrechte (Ausstattung des Genussrechts mit einer Gewinn-/Liquidationserlösbeteiligung, Aktienoption).59 Entsprechendes hat für die GmbH zu gelten, soweit Genussrechte eine Beteiligung am Gewinn und Liquidationserlös vermitteln, also nicht nur – fremdkapitalartig – eine bestimmte Mindestverzinsung vorsehen.60 cc) Stille Beteiligung an GmbH Ebenso wird man richtigerweise eine stille Beteiligung mit einer GmbH nicht einer entsprechenden Anwendung der §§ 291ff. AktG zu unterwerfen haben. Diese Regeln dienen bei der AG zum einen dem Schutz vor dem Eingriff in die Leitungsmacht des Vorstands, § 76 AktG, durch Beherrschungsverträge, zum anderen dem Schutz vor Eingriffen in das Gewinnverwendungsrecht der Hauptversammlung durch Gewinnabführungsverträge. Der BGH 61 hat zwar auf den Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags bei einer GmbH wegen der Schwere des hiermit verbundenen Eingriffs in die Organisationsstruktur der Gesellschaft die Formvorschriften der Satzungsänderung, §§ 53, 54 GmbH, entsprechend für anwendbar erklärt. Der stille Gesellschaftsvertrag mit einer GmbH bedeutet aber – anders als bei der AG – keinen vergleichbaren Eingriff in die Entscheidungszuständigkeit der GmbH-Gesellschafter, weil sie ohnehin jederzeit bestimmte Geschäftsführungsmaßnahmen ihren Weisungen unterwerfen können, § 37 GmbHG, und auch, anders als Aktionäre, die insoweit auf die Hauptversammlung verwiesen sind, § 131 AktG, ein jederzeitiges Informa-

59 60 61

BGHZ 120, 141, 146 ff. Baumbach/Hueck/Fastrich, a.a.O., § 29 GmbHG Rn. 88c. BGHZ 105, 324 = NJW 1989, 295 = GmbHR 1989, 25 „Supermarkt“.

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tions- und Auskunftsrecht haben (§ 51 a GmbHG) 62. Die Vereinbarung über die Abführung eines Teilgewinns im Rahmen des laufenden Geschäftsverkehrs oder auch die Vereinbarung von Tantiemen mit Organmitgliedern oder Arbeitnehmern der Gesellschaft gelten nach der Ausnahmeregelung des § 292 Abs. 2 AktG nicht als Teilgewinnabführungsvertrag im Sinne von § 292 Abs. 1 Nr. 2 AktG.63 Daher bedarf die Gewinnbeteiligung eines Dritten bei der GmbH auch nur dann als Abweichung vom Gewinnverwendungsrecht der Gesellschafter nach § 29 Abs. 1 GmbHG einer satzungsmäßigen Grundlage, wenn diese Gewinnbeteiligung außerhalb laufender Rechtsbeziehungen eingeräumt wird.64 Zumindest die typisch stille Beteiligung, die bilanziellen Fremdkapitalcharakter behält, ist ein heutzutage übliches Finanzierungsmittel, das, wie aufgezeigt, den Aufbau einer gesunden Kapitalstruktur des Unternehmens oft erst erlaubt. 4. Eigenkapitalersatz Gesellschaftsrechtlich werden mezzanine oder Fremdkapitalbeiträge eines geschäftsführenden oder mit mehr als 10 % beteiligten GmbH-Gesellschafters bzw. eines mit mehr als 25 % beteiligten Aktionärs wie Eigenkapital behandelt, wenn sich die Gesellschaft in der Krise befindet, also nicht kreditwürdig ist und ihr daher ordentliche Kaufleute stattdessen Eigenkapital zugeführt hätten. Folge der Umqualifizierung in Eigenkapitalersatz ist, dass ein Rückgewähr- oder Verzinsungsanspruch in der Insolvenz nicht besteht und auch ein Recht auf Verwertung der hierfür bestellten Sicherheiten ausgeschlossen ist, §§ 32 a, b GmbHG. Außerhalb der Insolvenz besteht eine entsprechende Zahlungs- bzw. Verwertungssperre aufgrund der sog. Rechtsprechungsregeln aus Gründen des Kapitalerhaltungsschutzes, soweit durch die Zahlung in das Stammkapital (bei der AG zuzüglich der gesetzlichen Rücklage gem. §§ 150, 300 AktG) eingegriffen würde.65 Daher gilt in diesen Fällen über den Nachrang hinaus eine generelle Zahlungssperre. Diese Regeln gelten auch für von Gesellschaftern gewährte stille Beteiligungen oder Genussrechtskapital.66 Ausgenommen sind Alt- und Neukredite, wenn der Dar-

62 Darüber hinaus besteht eine Vorlagepflicht der GmbH-Geschäftsführer bei außergewöhnlichen Maßnahmen, Baumbach/Hueck/Zöllner, a.a.O. § 46 GmbHG Rn. 90 sowie Baumbach/Hueck/Zöllner/Noack, a.a.O., § 37 GmbHG Rn. 8ff. 63 Hoffmann, FB 2005, 375 ff. will daher sogar die AG & Still mit „üblichen Konditionen“ vom Anwendungsbereich der §§ 291 ff. AktG ausnehmen, dies allerdings vor allem, um die Anwendbarkeit des § 301 AktG auf Festvergütungen auszuschließen. Diese Regelung findet hierauf aber, vgl. oben Fn. 51, ohnehin keine Anwendung. 64 Baumbach/Hueck/Fastrich, a.a.O., § 29 Rn. 79ff., 85. 65 BGHZ 76, 326 = NJW 1980, 524; BGHZ 90, 370 = NJW 1984, 1891; Hommelhoff in v. Gerkan/Hommelhoff, Handbuch des Kapitalersatzrechts, 2.Aufl. 2002, Rn. 1.7ff. 66 Scholz/K. Schmidt, GmbHG, 9 Aufl., §§ 32 a, b Rn. 119.

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lehensgeber die Beteiligung „zum Zweck der Überwindung der Krise“ erwirbt (Sanierungsprivileg des § 32a Abs. 3 Satz 3 GmbHG).67 Für die Gesellschafterstellung, die zu einer Umqualifizierung in Eigenkapitalersatz führen kann, genügt es zwar, wenn die Finanzierung von einem Nichtgesellschafter im Hinblick auf seine künftige Gesellschafterstellung ausgereicht wird.68 Es führt aber zu weit, wollte man allein schon wegen der Vereinbarung eines Equity-Kicker und damit der fernen Möglichkeit einer Wandelung in Eigenkapital eine solche Umqualifizierung zulassen.69 Selbst wenn das Wandelungsrecht bestimmender Faktor für die Finanzierungsentscheidung gewesen sein sollte, träfe solche Optionsberechtigten anders als Gesellschafter keine Finanzierungsverantwortung.70 Ebensowenig macht die Vereinbarung vertraglicher Zustimmungs- und Mitwirkungsrechte in „financial covenants“, die der Risikoabsicherung mezzaniner Kapitalgeber dienen, diese zu gesellschaftergleichen Beteiligten, die deshalb der Eigenkapitalersatzsperre unterliegen könnten.71 In Fällen rein mezzaniner Finanzierung, also ohne gleichzeitige Gesellschafterstellung, würde es ohnehin an dem weiter erforderlichen Element einer vermögensrechtlichen Beteiligung fehlen.72 Je höher das Risiko, desto mehr Kontrolle und Einflussnahme muss gestattet sein.73 Soweit standardmäßig verwendete mezzanine Finanzierungsverträge nicht der Bereichsausnahme des § 310 Abs. 4 BGB unterstehen (wie Nachrangdarlehen 74), stellt sich aber die Frage der Wirksamkeit solcher Klauseln, die die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit des Beteiligungsnehmers unangemessen einschränken (§ 307 Abs. 2 Nr. 2 BGB), weil sie über das angemessene Maß einer Kontrolle und Einflussnahme hinausgehen.75 Kritisch sind insoweit vor allem solche Klauseln, die Mitwirkungsrechte an Geschäftsführungsmaßnahmen über Strukturveränderungen hinaus oder gar Weisungsrechte einräumen, ferner solche Klauseln,

67 Hierzu BGH ZIP 2006, 279 ff. oben Fn. 8; speziell zum Eigenkapitalersatzrecht und der Anwendbarkeit des Sanierungsprivilegs bei VC-Finanzierungen/Hoffmann FB 2002, 259, 262ff., 267, der aber – konträr zum BGH a.a.O. – auf objektive Kriterien für den Sanierungszweck nur als „Hilfsmaßstab für die Beurteilung eines mangelnden Sanierungswillens“ zurückgreifen will. 68 Scholz/K. Schmidt, a.a.O., § 32 a, b Rn. 33 f.; BGHZ 81, 317 = NJW 1982, 383; OLG Hamm, DB 1986, 2320. 69 So aber Häger/Elkemann-Reusch, a.a.O., Rn. 473; v. Einem in Achleitner/v. Einem/ v. Schröder, Private Debt, 2004, S. 177. 70 Darauf, ob über den equity kicker nur ein nach § 32 a Abs. 3 S. 1 GmbHG privilegierter „Zwergenanteil“ erworben werden kann, kommt es daher nicht an; so aber v. Einem/ Schmid/Pütz, BB-Special 5/2005, S. 9, 14. 71 Weitnauer, BKR 2005, 43, 47; a.A. Häger/Elkemann-Reusch, a.a.O., Rn. 477ff. 72 Weitnauer, BKR 2005, 43, 46. 73 Weitnauer, Festschrift Hay, 2005, S. 464, 475. 74 Oben bei Fn. 20. 75 Hierzu im einzelnen Weitnauer, ZIP 2005, 1443, 1446 f.

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die die Verbandsautonomie der Gesellschafter beschränken. Ob eine unwirksame Regelung einen gesellschaftergleichen Status vermitteln kann, mag fraglich sein. Denn in diesem Fall würde es an der Rechtsgrundlage für weitergehende gesellschaftergleiche Mitbestimmungsrechte fehlen.76 Doch wird man genügen lassen müssen, dass der Kapitalgeber ein solches Einflussrecht überhaupt verabredet hat und es dann auch entsprechend ausübt, auch wenn die rein faktische Druckposition, die jeder Kapitalgeber einnimmt, als solches sicherlich noch nicht für einen gesellschaftergleichen Einfluss auf die Geschäftsführung genügt.

IV. Financial Restructuring 1. Wandelung Mezzanine- in Eigenkapital a) Rechtliches Instrumentarium für ein Wandelungsrecht Wie oben bereits angemerkt, sehen mezzanine Finanzierungsinstrumente oft als „Renditetreiber“ eine Wandelungsoption für das mezzanine Kapital in Gesellschaftsanteile (Equity) zum Ende der Beteiligungszeit vor, dies kombiniert mit einem Sonderkündigungsrecht in Fällen eines IPO oder eines trade sale der Gesellschafter. Voraussetzung für die Realisierung der Renditeerwartung ist eine entsprechende Wertsteigerung des Unternehmens, weshalb solche Equity Kicker vor allem bei einem erheblichen Wertsteigerungspotential des Unternehmens eingesetzt werden. Dieser Equity Kicker entspricht dem Umtauschrecht bei einer Wandelschuldverschreibung (convertible bond). Durch die Wandelung verbleibt das gesamte Finanzierungskapital im Unternehmen, allerdings mit der Folge einer Verwässerung der bestehenden Beteiligungsverhältnisse. Hiervon zu unterscheiden ist das Bezugsrecht einer Optionsanleihe (warrant), das zusätzlich zu dem unberührt bleibenden Anspruch auf Rückzahlung das üblicherweise durch einen Optionsschein verbriefte Recht auf den Erwerb von Anteilen zu einem im Voraus festgelegten Preis verschafft. Ein solches Wandelungsrecht kann unschwer bei der AG für Schuldverschreibungen durch die Ausgabe bedingten Kapitals gemäß § 192 Abs. 2 Nr. 1 AktG geschaffen werden. Der Ausgabebetrag (Nennwert und Aufgeld) kann im Beschluss über die bedingte Kapitalerhöhung entweder bereits auf Basis der aktuellen Unternehmensbewertung fest bestimmt werden oder es wird die Berechnungsgrundlage, bspw. Unternehmensbewertung oder Börsenkurs bei Ausübung des Bezugsrechts, festgelegt, § 193 Abs. 2 Nr. 3 AktG. 76 Nach BGHZ 119, 191, 196 ist erforderlich, dass der Kapitalgeber „wie ein Gesellschafter die Geschicke der Gesellschaft mitzubestimmen berechtigt ist“, weil er sich solche zusätzlichen Befugnisse hat einräumen lassen.

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Entsprechend ist bei einem Umtauschrecht das Wandelungsverhältnis festzulegen. Das Wandelungsrecht kann auch durch genehmigtes Kapital, §§ 202ff. AktG, unterlegt werden. Dies gibt jeweils die Möglichkeit zum Erwerb von Aktien, sei es durch Abgabe einer Bezugserklärung nach § 198 AktG, die auch die Wirkung einer Zeichnungserklärung hat, § 198 Abs. 2 AktG, oder den Abschluss eines Zeichnungsvertrags, § 203 AktG, ohne dass es jeweils nochmals der Befassung der Aktionäre mit einer Kapitalerhöhung bedarf. Zwar spricht § 192 Abs. 2 Nr. 1 AktG ausdrücklich nur von Wandelschuldverschreibungen, doch gilt diese Möglichkeit der Schaffung bedingten Kapitals nach herrschender Meinung auch für die in § 221 AktG gleichgestellten Genussrechte.77 Für eine bedingte Kapitalerhöhung nicht zugelassen ist aber die stille Gesellschaft. Daher kommt für die Ausübung des Equity Kicker bei der AG & Still die einfache Möglichkeit einer einseitigen Bezugserklärung nicht in Betracht. Generell gilt dies für mit einer GmbH vereinbarte Equity Kicker, da die GmbH ein bedingtes Kapital nicht kennt. In allen diesen Fällen kann daher ein solches Optionsrecht entweder nur aus dem Altbestand von Geschäftsanteilen durch die Verpflichtung der Gesellschafter zur Übertragung von Teilen ihrer Geschäftsanteile/Aktien oder aus neu im Wege einer Kapitalerhöhung zu schaffenden Anteilen bedient werden. Im letzteren Fall handelt es sich um eine Stimmrechtsvereinbarung, in der sich die Gesellschafter zur Schaffung eines formelmäßig (Umtauschverhältnis) bestimmten Anteils durch Kapitalerhöhung und zur Zulassung des Optionsberechtigten, der auch ein Dritter sein kann, verpflichten.78 Allerdings hat der BGH 79 entschieden, dass aus dem bei einer Kapitalerhöhung zwischen Übernehmer und Gesellschaft geschlossenen Übernahmevertrag kein Erfüllungsanspruch des Übernehmers auf Verschaffung der Mitgliedschaft entstehe, weil der Erwerb der Mitgliedschaft und der Übernahmevertrag unter dem Vorbehalt des Wirksamwerdens der Kapitalerhöhung durch Eintragung im Handelsregister stünden. Bis zur Eintragung stehe es daher den Gesellschaftern frei, den Kapitalerhöhungsbeschluss auch wieder aufzuheben. In gleicher Weise besagt § 187 Abs. 2 AktG, dass Zusicherungen von Bezugsrechten vor dem Beschluss über die Kapitalerhöhung der Gesellschaft gegenüber unwirksam sind. An der Wirksamkeit der Zusicherung seitens der Gesellschafter im Rahmen einer Stimmrechtsvereinbarung ändert dies freilich nichts. Daher würden sich im Fall einer solchen Stimmbindungsvereinbarung die zur Kapital77

Hüffer, a.a.O., § 192 AktG Rn. 9. Die Verpflichtung zur Übertragung eines Geschäftsanteils bedarf zwar nach § 15 Abs. 3, 4 GmbHG der notariellen Beurkundung, hingegen nicht die Verpflichtung zur Kapitalerhöhung; a.A. Lutter/Hommelhoff, a.a.O., § 53 GmbHG Rn. 34 sowie § 55 GmbHG Rn. 9; wie hier Scholz/Priester, a.a.O., § 55 GmbHG Rn. 113 sowie OLG Köln, GmbHR 2003, 416. 79 BGHZ 140, 258 = ZIP 1999, 310 = GmbHR 1999, 287. 78

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erhöhung und zur Zulassung des Optionsberechtigten verpflichteten Gesellschafter durch ein abredewidriges Verhalten persönlich schadensersatzpflichtig machen. Da die schuldrechtliche Stimmbindungsvereinbarung aber nur „inter partes“ wirkt, müssen Neugesellschafter mit eingebunden werden. Dies kann entweder durch eine vertragliche Verpflichtung der Gesellschafter geschehen, neue Gesellschafter nur zuzulassen, wenn diese sich in gleicher Weise verpflichten, oder (sicherer) durch Aufnahme einer Verpflichtung der Gesellschafter zur Zulassung der Optionsberechtigten in die Satzung. b) Durchführung der Kapitalerhöhung Im Fall einer Kapitalerhöhung zur Ausgabe von Anteilen an den Equity Kicker-Berechtigten muss entweder, wenn dessen Forderung im Wege einer Sacheinlage eingebracht werden soll, der Werthaltigkeitsnachweis für diese Forderung erbracht werden, §§ 56, 19 Abs. 5 GmbHG, § 183 AktG oder aber es muss der Wandelungsberechtigte zumindest den Barbetrag der nominalen Kapitalerhöhung leisten und zur Begleichung eines höheren Ausgabepreises seine Darlehensrückforderung zusätzlich in die Kapitalrücklage einbringen (§ 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB 80). In der Ausgestaltung eines höheren Ausgabebetrags als Agio im Sinne des § 272 Abs. 2 Nr. 1 HGB (das Agio unterfällt bei der AG dem Volleinzahlungsgebot des § 36a Abs. 1 AktG) oder auch als sonstige Zuzahlung im Sinne des § 272 Abs. 2 Nr. 4 HGB sind die Gesellschafter frei.81 Es liegt insbesondere keine Umgehung der §§ 188 Abs. 2, 36a Abs. 1 AktG vor, weil diese Regelungen nicht dem Gläubigerschutz dienen, da aus dem Handelsregister nur das Grundkapital und nicht die Höhe eines Agios ersichtlich ist.82 Um den schuldrechtlichen Charakter einer Zuzahlung zu verdeutlichen, sollte aber in einem Beteiligungsvertrag klargestellt werden, dass die Verpflichtung nur gegenüber den Gesellschaftern, nicht aber der Gesellschaft übernommen wird. 2. Eigenkapital statt Verbindlichkeiten a) Beteiligung von wesentlichen Geschäftspartnern (Stakeholder) Um wichtige Geschäftspartner, vor allem bei Entwicklungsvorhaben, die größeres Ertragspotential versprechen, oder auch Leasinggeber (Venture Leasing) einzubinden, können ebenfalls Wandelungs- oder Optionsrechte vereinbart werden. Gestaltungsspielraum besteht insoweit für die Gesell80 Dies führt aufgrund Konfusion von Gläubiger- und Schuldnerstellung letztlich zum Erlöschen der Forderung. 81 BayObLG 2002, 510; Schorling/Vogel, AG 2003, 86 ff; Hüffer, a.a.O., § 36a AktG Rn. 2a; Weitnauer, NZG 2001, 1065, 1067 f. 82 Weitnauer, a.a.O., ebenso Hüffer, a.a.O., § 54 AktG Rn. 8.

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schaft aber nur, soweit Forderungen oder Leistungen dieser Geschäftspartner nicht im Wege einer Sacheinlage eingebracht werden. Zwar sind Forderungen gegen die Gesellschaft, bspw. Vergütungsansprüche aus einem Kooperationsoder Dienstvertrag, grds. sacheinlagefähig, nicht aber ist einlagefähig nach § 27 Abs. 2, 2. HS. AktG, der entsprechend für die GmbH gilt, die Verpflichtung zu Dienstleistungen.83 Auch muss eine bedingte Kapitalerhöhung, bei der der Ausgabebetrag durch eine Sacheinlage erbracht werden soll, die gleichen Wertprüfungserfordernisse einhalten, die bei einer ordentlichen Kapitalerhöhung gelten, und muss überdies schon der Beschluss über die bedingte Kapitalerhöhung Gegenstand der Sacheinlage, Einlageschuldner und Nennbetrag festlegen, § 194 AktG. Als Sacheinlage gilt jedoch nicht die Hingabe von Schuldverschreibungen im Umtausch gegen Bezugsaktien, § 194 Abs. 1 Satz 2 AktG. Auf Genussrechte mit Umtauschrecht (equity kicker) ist § 194 Abs. 1 S. 2 AktG aber nur anwendbar, wenn die Genussscheine keine Verlustbeteiligung vorsehen, da andernfalls Bestand und Höhe des Rückzahlungsanspruchs gefährdet ist.84 Eine Erfolgsbeteiligung von Vertragspartnern kommt daher unproblematisch bei der AG nur über die Ausgabe von Wandelschuldverschreibungen in Betracht. Größere Flexibilität bietet die stille Beteiligung, da hier ohne weitere Werthaltigkeitsprüfung jeder mit einem Geldbetrag schätzbare Vorteil als Einlage behandelt werden kann 85, wie etwa eine Forderung 86 oder Know-how, aber auch Dienste, § 706 Abs. 3 BGB (Innengesellschaft). Dadurch kann ein Stundungseffekt und letztlich eine Liquiditätsschonung erreicht werden, da die Einlage erst bei Beendigung der stillen Gesellschaft fällig wird; bis dahin kann sie über eine Gewinnbeteiligung honoriert werden und der Geschäftspartner zusätzlich über einen Equity Kicker an der Wertsteigerung beteiligt werden. Da dies aber nur über eine entsprechende Stimmbindungsvereinbarung mit den Gesellschaftern möglich ist, sind die Gesellschafter in diesem Fall in den Entscheidungsprozess über die Ausgestaltung der stillen Beteiligung unabhängig davon mit eingebunden, ob man für den Abschluss der stillen Beteiligung bei der GmbH einen Gesellschafterbeschluss entsprechend den Formalien der §§ 291ff. AktG verlangt oder dies ablehnt 87. Wollte man die stille Beteiligung gar als Sacheinlage behandeln, käme es spätestens bei der dann gebotenen ordentlichen Kapitalerhöhung zu der Werthaltigkeitsprüfung.

83 84 85 86 87

Baumbach/Hueck/Fastrich, a.a.O., § 5 Rn. 24, 28; Hüffer, a.a.O., § 27 Rn. 24ff. Hüffer, a.a.O., § 194 AktG Rn. 4. Baumbach/Hopt, a.a.O., § 230 HGB Rn. 20. BGHZ 7, 177. Zu diesem Meinungsstreit oben III. 3 b, cc.

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Wolfgang Weitnauer

b) Ablösung von Verbindlichkeiten gegen Eigenkapital Statt des Verzichts auf Forderungen durch Fremdkapitalgeber, der zu einem unliebsamen steuerbaren Sanierungsgewinn bei der Gesellschaft führen kann, § 3 Nr. 66 EStG, ist auch der Abkauf von Kreditverbindlichkeiten des Unternehmens gegen (auch symbolisches) Entgelt und die spätere Einbringung dieser Forderungen, sei es gegen Ausgabe von Genussrechtskapital oder im Wege eines Debt/Equity Swaps, denkbar. Hierdurch wird eine Überschuldung wie beim Forderungsverzicht beseitigt und eine Eigenkapitalbeteiligung erreicht. Denkbar ist bei dieser Variante auch eine Einbindung des Managements und damit eine Anreizschaffung, die durch Genussoptionsrechte optimiert werden kann (Investment in Genussrechte mit ergebnisabhängiger Verzinsung und zusätzlich auf den Erwerb von Aktien gerichtete Genussoptionsrechte). 3. Ausgliederungsmodell Selbst geschaffene, also nicht entgeltlich erworbene immaterielle Vermögenswerte und die hierfür getätigten Aufwendungen sind nicht aktivierungsfähig, § 248 Abs. 2 HGB. Um einen entsprechenden bilanziellen Ausweis als Eigenkapital zu ermöglichen, ist – ähnlich dem Sale und Lease Back bei Anlagevermögen 88 – der Verkauf und die Übertragung solcher immaterieller Vermögensrechte auf eine eigenständige Schutzrechtsverwertungsgesellschaft, meist in Form einer steuerlich transparenten GmbH & Co. KG, in Erwägung zu ziehen, die dann ihrerseits (mezzanine) finanziert wird. Ergänzend können aber auch durch einen im Vorfeld definierbaren Rückerwerb oder ein Nutzungsrecht (Lizenz) dem Unternehmen selbst neue Aktivierungsmöglichkeiten erschlossen werden. Auch die Ausgliederung eines kostenintensiven Projekts auf eine eigenständige Projektgesellschaft kann sich empfehlen, um Chancen und Risiken einer Finanzierung zu isolieren.

V. Schluss Die Bedeutung einer Eigenkapitalstärkung von Unternehmen für eine gesunde und krisenfeste Finanzierung ist erkannt, die Wege dorthin sind allerdings gesellschaftsrechtlich steinig und steuerlich ohne Reiz. Schnellen Sanierungshilfen von Gesellschaftern stehen in Deutschland die Schreckgespenster des Eigenkapitalersatzes und der verdeckten Sacheinlage bzw. die Prüfformalien bei einer Sacheinlage im Wege. Ebenso kompliziert ist die Wandelung von Mezzanine-Kapital in Eigenkapital über einen „Equity 88

Oben I. 1.

Maßnahmen zur Eigenkapitalstärkung

465

Kicker“ und die Einbindung von Dienstleistern, da Dienste nicht einlagefähig sind (allenfalls eine stille Beteiligung oder bei der AG die Ausgabe von Wandelschuldverschreibungen eignen sich hierfür). Überdies stellt sich für mezzanine Finanzierungsformen, die – wie üblich – auch eine gewinnabhängige Vergütung vorsehen, die Frage nach der Anwendbarkeit der formalen und weiter einschränkenden Regeln des Unternehmensvertrags (§§ 291ff. AktG). Zwar können, wie dargelegt, viele dieser Steine aus dem Weg geräumt werden, doch bleibt das gesellschaftsrechtlich Korsett für die Finanzierung von Kapitalgesellschaften ohne Zweifel kompliziert und beengend, was sicher seit der „Centros“-Entscheidung des EuGH 89 ein entscheidender Grund für die wachsende Beliebtheit der englischen Limited auch in Deutschland ist.90 Doch sollte man nicht verkennen, dass die Unversehrtheit des GmbH-Stammkapitals und die noch weitergehende Bindung des Gesellschaftsvermögens bei der AG als „Nucleus“ des Eigenkapitals einen ganz entscheidenden Zweck haben, nämlich den des Gläubigerschutzes. Die Gesellschafter stehen in der Finanzierungsverantwortung, die durch das beschriebene Regelwerk nur reflektiert wird. Und wer sein Augenmerk auf eine Stärkung des Eigenkapitals der Gesellschaft richtet, hat ohnehin wenig zu befürchten.

89

EuGH v. 09.03.1999 ZIP 1999, 438 ff. Hierzu zuletzt mit „20 Vorschlägen“ für eine GmbH-Reform Triebel/Otte, ZIP 2006, 311ff. 90

IV. Rundfunk- und Medienrecht

Die allzu kecke KEK? – Anmerkungen zu Vorbehalt und Vorrang des Gesetzes bei Anwendung von § 26 RStV und zur Rolle der Rechtsaufsicht – Armin Dittmann * I. Zu den wichtigen ehrenamtlichen Funktionen, die der Jubilar in reichem Maße außerhalb seiner eigentlichen anwaltlichen Tätigkeit ausübt, gehört auch die Mitgliedschaft in der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK), davon als deren Vorsitzender in den Jahren 2002 bis 2004. Die Kommission konstituierte sich auf der Grundlage der Bestimmungen des 3. Rundfunkänderungsstaatsvertrages 1 am 15. Mai 1997 und nimmt seither die Aufgabe wahr, die Einhaltung der Bestimmungen des Rundfunkstaatsvertrages zur Sicherung der Meinungsvielfalt im Fernsehen zu überprüfen und die entsprechenden Entscheidungen zu treffen.2 Insbesondere bei Zulassungsverfahren zur Programmveranstaltung und bei Veränderungen der Beteiligungsverhältnisse an Fernsehveranstaltern beurteilt die KEK, ob ein Unternehmen durch die Veranstaltung ihm dann zurechenbarer Programme vorherrschende Meinungsmacht erlangte. Als staatsfernes, standortunabhängiges Organ ist die KEK für die grundsätzlich abschließende Beurteilung von Fragestellungen der Sicherung von Meinungsvielfalt im Zusammenhang mit der bundesweiten Veranstaltung von Fernsehprogrammen zuständig.3 Sie wird dabei als weisungsunabhängiges Organ derjenigen Landesmedienanstalt tätig, bei welcher ein Lizenzantrag eingegangen oder bei der der von der geplanten Beteiligungsveränderung betroffene Veranstalter

* Verf. ist seinem Wissenschaftlichen Mitarbeiter, Herrn Assessor Tobias Scheel, für wertvolle Mitarbeit an diesem Beitrag zu Dank verpflichtet. 1 Dritter Rundfunkänderungsstaatsvertrag vom 26.08./11.09.1996 (z.B. bad.-württ. GBl. 1996, S. 754). 2 Siehe im Einzelnen §§ 25 ff. RStV und zu den Aufgaben und Befugnissen der KEK zusammenfassend Hahn/Vesting/Schuler-Harms, Beck’scher Kommentar zum Rundfunkrecht, 2003, Erl. zu § 35. 3 So § 36 Abs. 1 S. 1 RStV.

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lizensiert ist.4 Ihre Beschlüsse sind gegenüber den anderen Organen der zuständigen Landesmedienanstalt bindend und deren Entscheidungen zugrunde zu legen.5 Diese herausgehobene Stellung der KEK wird lediglich dadurch relativiert, dass nach Maßgabe von § 37 Abs. 2 RStV auf Antrag der zuständigen Landesmedienanstalt die Konferenz der Direktoren der Landesmedienanstalten (KDLM) binnen drei Monaten mit einer Mehrheit von drei Vierteln ihrer gesetzlichen Mitglieder einen abweichenden Beschluss fassen kann, der dann an die Stelle des KEK-Beschlusses tritt. Dennoch: Mit dem „Recht des ersten Zugriffs“ bei Fragen der Sicherung der Meinungsvielfalt nimmt die KEK eine Schlüsselstellung im Rahmen der verfassungsrechtlich gebotenen Rundfunkordnung ein. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG ist die Sicherung von Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt – und damit spiegelbildlich die Verhinderung vorherrschender Meinungsmacht – schlechthin konstituierend für die demokratische Willensbildung und Grundlage einer freiheitlichen Staatsordnung.6 Dementsprechend ist der (Landes-) Gesetzgeber verpflichtet, eine positive Rundfunkordnung zu schaffen, welche sicherstellt, dass die Vielfalt der bestehenden Meinungen im Rundfunk in möglichster Breite und Vollständigkeit Ausdruck findet 7 und das Entstehen vorherrschender Meinungsmacht verhindert wird 8, einschließlich der Unterbindung multimedialer Meinungsmacht, die sich aus medialen Verflechtungen von Rundfunk und Presse ergeben kann.9 Neben zahlreichen anderen Vorkehrungen zur Vielfaltsicherung 10 ist der Gesetzgeber diesem Auftrag im Hinblick auf die Verbreitung bundesweiter Fernsehprogramme vor allem durch die konzentrationsrechtlichen Regelungen der §§ 25 ff. RStV und seit 1997 institutionell durch Schaffung der KEK nachgekommen.11

4

Siehe § 35 Abs. 2 S. 2 u. Abs. 6 RStV. So § 37 Abs. 1 S. 5, 6 RStV. 6 So bereits BVerfGE 12, S. 205 (259 ff.) und vor allem BVerfGE 73, S. 118 (160); 83, S. 238 (315ff.). 7 Siehe BVerfGE 57, S. 295 (320); 74, S. 297 (324); 83, S. 238 (296); 90, S. 60 (88). 8 So insbes. BVerfGE 73, S. 118 (160). 9 Siehe BVerfGE 73, S. 118 (175 f.); 95, S. 163 (172f.). 10 Zusammenfassender Überblick zu den Vielfaltsicherungen im privaten Rundfunk etwa bei H. Gersdorf, Grundzüge des Rundfunkrechts, 2003, S. 179ff.; A. Hesse, Rundfunkrecht, 3. Aufl. 2003, S. 243 ff. 11 Zur vorgängigen Diskussion um Formen einer institutionellen Sicherung der Meinungsvielfalt siehe etwa zusammenfassend Die Landesmedienanstalten (Hrsg.), Die Sicherung der Meinungsvielfalt, DLM-Band 4, 1995 sowie, auch zur Rechtslage in anderen europäischen Staaten, P. Mailänder, Konzentrationskontrolle zur Sicherung von Meinungsvielfalt im privaten Rundfunk, 2000. Zur Entwicklung der konzentrationsrechtlichen Instrumente seit Schaffung der KEK siehe etwa den Überblick bei B. Kibele, Deutschland, in: B. Holznagel, Meinungsvielfalt im kommerziellen Fernsehen, 2001, S. 19ff. 5

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Die seither von der KEK geleistete Arbeit 12 fand bisher im Wesentlichen keine nachhaltige Resonanz in der breiten Öffentlichkeit, sondern führte gelegentlich allenfalls zu Meinungsverschiedenheiten mit den von Entscheidungen betroffenen Landesmedienanstalten, wie zum Beispiel im Verfahren betreffend die Zulassung des bundesweit verbreiteten digitalen Spartenfernsehprogramms „Discovery Channel“ der Discovery Channel Betriebs GmbH im Jahre 1998. Dieses Verfahren wurde zum bisher einzigen Fall einer Anrufung der KDLM durch eine Landesmedienanstalt nach Maßgabe des § 37 Abs. 2 RStV, ohne dass es jedoch zu einer abschließenden Entscheidung in der Sache kam.13 Dieser Zustand eines weithin auf Insider der Medienszene beschränkten Interesses an Funktion und Arbeit der KEK hat sich mit deren Entscheidung vom 10. Januar 2006 über die medienkonzentrationsrechtliche Zulässigkeit von Beteiligungsveränderungen bei Tochtergesellschaften der Pro Sieben Sat. 1 Media AG zugunsten der Axel Springer AG deutlich verändert. Mit der Feststellung, dass der Vollzug dieser geplanten Beteiligungsveränderungen vorherrschende Meinungsmacht i.S. des Rundfunkstaatsvertrages begründen würde und daher nach den Vorschriften über die Sicherung der Meinungsvielfalt nicht als unbedenklich bestätigt werden könne 14, hat die KEK vielfältige Reaktionen bis weit in den politischen Bereich hinein hervorgerufen 15. Neben grundsätzlichen Überlegungen de lege ferenda zur Sinnhaftigkeit der derzeit institutionell doppelgleisigen Konzentrationskontrolle des Medienbereichs durch das Bundeskartellamt einerseits nach Maßgabe des GWB und durch die KEK andererseits nach Maßgabe der medienspezifischen konzentrationsrechtlichen Bestimmungen des Rundfunkstaatsvertrages 16, hat der Beschluss der KEK – nach dem „Discovery Channel“-Verfahren – unter anderem erneut die Frage nach der „richtigen“ Anwendung der insoweit maßgeblichen Vorschrift des § 26 RStV aktualisiert, des Näheren die Frage danach, ob mit § 26 Abs. 1 RStV ein eigenständiger

12 Zur Arbeit der KEK allgemein siehe deren Jahresberichte, zuletzt den 8. Jahresbericht für den Zeitraum vom 01.07.2004 bis zum 30.06.2005, sowie speziell zur Entwicklung der Konzentration und über Maßnahmen zur Sicherung der Meinungsvielfalt im privaten Rundfunk die Berichte nach § 26 Abs. 6 RStV, zuletzt vom Dezember 2003. 13 Siehe dazu den Beschluss der KDLM vom 07.11.1998, ZUM 1998, S. 1054ff. und zu der damaligen Meinungsverschiedenheit zwischen KEK und KDLM zur korrekten Anwendung von § 26 RStV insbesondere das obiter dictum S. 1056ff. 14 So der Tenor des Beschlusses vom 10.01.2006 (Az.: KEK 293 – 1 bis 5), ausgefertigt am 18.01.2006. 15 Zusammenstellung von Äußerungen aus der Politik etwa in Werben und Verkaufen vom 02.03.2006, S. 52 („Alles auf den Prüfstand“). 16 Siehe dazu etwa Die Landesmedienanstalten (Hrsg.), Konzentrationskontrolle im Rundfunk und wettbewerbliche Fusionskontrolle, 2001.

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Kontroll- und Eingriffstatbestand neben den Vermutungstatbeständen des § 26 Abs. 2 RStV gegeben ist.17 Die KEK hat diese Frage eindeutig im Sinne der Eigenständigkeit von § 26 Abs. 1 RStV entschieden, ihre Entscheidung vom 10. Januar 2006 darauf gestützt 18 und damit die am Verfahren beteiligten Landesmedienanstalten in Bayern (BLM) und Rheinland-Pfalz (LMK) veranlasst, ihre gegenteilige Rechtsauffassung durch Anrufung der KDLM geltend zu machen mit dem Ziel, den Beschluss der KEK im Verfahren nach § 37 Abs. 2 RStV aufzuheben und damit den Weg für den Vollzug der geplanten Beteiligungsveränderungen insoweit medienrechtlich frei zu machen.19 Durch den kurz darauf erfolgten Verzicht der Axel Springer AG auf den Beteiligungserwerb an Tochtergesellschaften der Pro Sieben Sat.1 Media AG 20 kam es allerdings nicht mehr zu einer Entscheidung der KDLM, da es insoweit in einem streng verfahrensrechtlichen Sinne an einem Bescheidungsinteresse der beiden Landesmedienanstalten fehlte.21 Die allenthalben beklagte Unsicherheit im Umgang mit den konzentrationsrechtlichen Bestimmungen des Rundfunkstaatsvertrages bleibt mithin vorerst bestehen und belastet bedauerlicherweise auch weiterhin die unternehmerische Planungssicherheit beim Ausbau medienwirtschaftlicher Engagements wie auch die Verlässlichkeit von Auskünften der Landesmedienanstalten ihren Klienten gegenüber. Vor dem Hintergrund dieser aktuellen Ausgangslage möge es der Jubilar dem Verfasser als Mitglied im Vorstand der baden-württembergischen Landesanstalt für Kommunikation (LFK) – und damit eines nach § 37 Abs. 1 S. 4 u. 5 RStV an Entscheidungen der KEK gebundenen Organs – nachsehen, wenn nachfolgend der Versuch unternommen wird, einigen mit der Anwendbarkeit von § 26 RStV verbundenen Fragen in kritischer Auseinandersetzung mit dem Beschluss der KEK nachzugehen. Dabei soll sich der Klärungsversuch vor allem der Frage zuwenden, ob und inwieweit sich die 17 Zu dieser Kontroverse ausführlich und mit zahlr. Nachw. etwa Hahn/Vesting/Trute, Beck’scher Kommentar zum Rundfunkrecht, 2003, § 26, Rn. 35ff. 18 Beschluss vom 10.01.2006, S. 74 ff. 19 Beschluss des Medienrates der BLM vom 26.01.2006 und Beschluss des Hauptausschusses der LMK vom 26.01.2006. 20 Siehe etwa FAZ vom 02.02.2006, S. 1. 21 Das „Feststellungsinteresse“ von BLM und LMK an einer die Rechtslage zumindest auf exekutiver Ebene klärenden Entscheidung der KDLM ist medienpolitisch verständlich, findet aber auch bei großzügigsten Analogiebemühungen zum Grundgedanken der verwaltungsprozessualen Fortsetzungsfeststellungsklage (§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO) und zur Entscheidungsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts trotz Rücknahme einer Verfassungsbeschwerde (BVerfGE 98, S. 218–242 f. –) keine hinreichende Rechtsgrundlage im RStV. Denkbar wäre allerdings, dass die KDLM das Verfahren einstellt und – wie bereits im Beschluss vom 07.11.1998 im Verfahren „Dicovery Channel“ – ihre Auffassung zur konkreten Anwendung von § 26 RStV in einem obiter dictum darlegt.

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medienkonzentrationsrechtliche Kontrolle der KEK neben § 26 Abs. 2 RStV auch auf § 26 Abs. 1 RStV stützen kann. Die gleichermaßen interessante und für den Beschluss der KEK vom 10. Januar 2006 ebenfalls entscheidungserhebliche Frage der Berechnung einer crossmedialen Meinungsmacht i.S.v. § 26 Abs. 2 S. 2 RStV 22 bleibt demgegenüber ebenso außen vor wie eine rechtliche Auseinandersetzung mit den von der KEK im Laufe des Verfahrens zur Vermeidung der Entstehung vorherrschender Meinungsmacht erwogenen Möglichkeiten vielfaltsichernder Maßnahmen durch die binnenplurale Ausgestaltung eines großen Senders im Pro Sieben Sat. 1 Verbund.23

II. Ausgangspunkt und „Schlüsselnorm“ für die medienkonzentrationsrechtliche Kontrolle von Zusammenschlüssen und Beteiligungsveränderungen im Medienbereich ist § 26 Abs. 1 RStV, der einerseits die grundrechtlich gesicherte unternehmerische Freiheit zur Expansion auch im Medienbereich betont, diese jedoch – ganz im Sinne des funktionellen Verständnisses der Meinungsfreiheit im demokratischen Staat – unter den Vorbehalt der Verhinderung vorherrschender Meinungsmacht stellt. Gemäß § 26 Abs. 1 RStV darf ein Unternehmen selbst oder durch ihm zurechenbare Unternehmen bundesweit im Fernsehen eine unbegrenzte Anzahl von Programmen veranstalten, es sei denn, es erlangt dadurch vorherrschende Meinungsmacht nach Maßgabe der nachfolgenden Bestimmungen. Die KEK erblickt in dieser Formulierung des § 26 Abs. 1 RStV den maßgeblichen Eingriffstatbestand zur Sicherung der Meinungsvielfalt im Fernsehen, während § 26 Abs. 2 RStV mit seinen quantifizierten Aussagen zum Vorliegen vorherrschender Meinungsmacht nach Maßgabe des sog. Zuschaueranteilsmodells lediglich Vermutungsregelungen enthalte. In Konsequenz dieser Sichtweise des Verhältnisses von § 26 Abs. 1 RStV zu § 26 Abs. 2 RStV sieht sich die KEK auch dann zu einer medienrechtlichen Konzentrationskontrolle befugt, wenn – wie im Fall Springer/Pro Sieben Sat. 1 – zwar die in § 26 Abs. 2 RStV festgelegten Schwellenwerte nach Maßgabe des 22 Die KEK kam insoweit zu dem Ergebnis, dass die Axel Springer AG nach der Übernahme der Pro Sieben Sat. 1 Gruppe mit einem Zuschaueranteil von lediglich ca. 22 % aufgrund ihrer vielfältigen weiteren Aktivitäten im Medienbereich insgesamt über eine Meinungsmacht verfügen würde, die derjenigen eines Unternehmens gleichzusetzen sei, dem Fernsehprogramme mit einem Zuschaueranteil von über 42 % zuzurechnen sind, s. Beschluss vom 10.01.2006, S. 106. Äußerst kritisch dazu R. Bornemann, Wie die KEK gefühlte Meinungsmacht in eine Eingriffskompetenz umrechnet, MMR 2006, S. 275 ff. 23 Kritisch dazu F. J. Säcker, Zur Ablehnung des Zusammenschlussvorhabens Axel Springer AG/Pro Sieben Sat. 1 Media AG durch KEK und Bundeskartellamt, K & R 2006, S. 49ff. Siehe auch K.-E. Hain, Springer, Pro Sieben Sat. 1 und die KEK – eine Nachlese, K & R 2006, S. 150 ff.

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Zuschaueranteilsmodells nicht erreicht werden, aber aus anderen Gründen vorherrschende Meinungsmacht entstehe. Die KEK begründet ihren „qualitativen Ansatz“ 24 im Verständnis des § 26 RStV damit, dass § 26 Abs. 1 RStV mit dem Kriterium der vorherrschenden Meinungsmacht einen unbestimmten Rechtsbegriff enthalte, dessen Anwendung durch die Vermutungsregelungen in § 26 Abs. 2 RStV lediglich erleichtert, nicht aber ersetzt werde.25 Dies entspreche gängiger Gesetzespraxis, da auch die Marktbeherrschungsvermutungen des § 19 Abs. 3 GWB, die Vorbild für § 26 Abs. 2 RStV gewesen seien, als materielle Beweislastregeln fungierten.26 Insoweit sei ferner die amtliche Begründung zu § 26 RStV maßgeblich 27, die gerade den Vermutungscharakter von § 26 Abs. 2 RStV betone.28 Insbesondere aber erfordere die im Hinblick auf Art. 5 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gebotene Gewährleistung freier Meinungsbildung eine effektive Konzentrationskontrolle im Fernsehen. Da die Faktoren für das Entstehen vorherrschender Meinungsmacht vielfältig seien, könne die KEK nicht auf eine Überprüfung allein nach Maßgabe des Zuschaueranteilsmodells beschränkt sein.29 Diese Argumente zugunsten einer über die Voraussetzungen des § 26 Abs. 2 RStV hinausgehenden Eingriffsbefugnis der KEK sind einerseits von dem grundsätzlich legitimen Gedanken einer verfassungsrechtlich geforderten effektiven Konzentrationskontrolle getragen, geraten andererseits jedoch in Konflikt mit den rechtsstaatlichen Grundsätzen von Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes. § 26 Abs. 1 RStV spricht von einer vorherrschenden Meinungsmacht „nach Maßgabe der nachfolgenden Bestimmungen“. Dadurch bringt die Norm semantisch zum Ausdruck, dass die Feststellung vorherrschender Meinungsmacht unter Anwendung der sich anschließenden Regelungen, also insbesondere des § 26 Abs. 2 RStV, zu erfolgen hat. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass bereits § 26 Abs. 1 RStV aufgrund seiner Formulierung („es sei denn“) eine Beweislast- bzw. Vermutungsregelung enthält. Es ist demnach unwahrscheinlich, dass § 26 Abs. 2 RStV ausschließlich (weitere) Vermutungsregelungen enthalten soll, die zudem im Gegensatz zur Vermutungs-

24 Hartstein/Dörr/Ring/Kreile/Stettner, Kommentar zum Rundfunkstaatsvertrag (Losebl., Stand Juli 2005), § 26, Rn. 8. 25 KEK, Beschluss vom 10.01.2006, S. 74 ff.; ebenso Hahn/Vesting/Trute, Beck’scher Kommentar zum Rundfunkrecht, 2003, § 26, Rn. 37. 26 KEK, Beschluss vom 10.01.2006, S. 77. 27 Abgedruckt bei Hartstein/Dörr/Ring/Kreile/Stettner, Kommentar zum Rundfunkstaatsvertrag (Losebl., Stand Juli 2005), § 26. 28 Hahn/Vesting/Trute, Beck’scher Kommentar zum Rundfunkrecht, 2003, § 26, Rn. 38. 29 KEK, Beschluss vom 10.01.2006, S. 78 ff; ebenso Hahn/Vesting/Trute, Beck’scher Kommentar zum Rundfunkrecht, 2003, § 26, Rn. 38; M. Renck-Laufke, Probleme der Konzentrationskontrolle im privaten Fernsehen, ZUM 2000, S. 105 (108).

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regelung des § 26 Abs. 1 RStV stünden. Ferner verweisen die Sanktionsnormen des § 26 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 und Nr. 2 RStV ausdrücklich auf „die Grenze nach Absatz 2 Satz 1“ bzw. die „vorherrschende Meinungsmacht nach Absatz 2 Satz 2“ 30; auch dies ein deutlich objektivierter Hinweis darauf, dass der Gesetzgeber vorherrschende Meinungsmacht nach Maßgabe von § 26 Abs. 2 RStV bestimmen wollte. Der Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) gebietet es daher, die Feststellung vorherrschender Meinungsmacht an die Regelungen des § 26 Abs. 2 RStV und damit in erster Linie an das Zuschaueranteilsmodell zu koppeln („quantitativer Ansatz“) 31. Die Vorzugswürdigkeit eines quantitativen Ansatzes wird untermauert durch eine historische Normauslegung. So wurde gemäß § 26 Abs. 2 S. 2 a.F. vorherrschende Meinungsmacht auch bei einer geringfügigen Unterschreitung des Zuschaueranteils von 30 % vermutet, sofern das Unternehmen auf einem medienrelevanten verwandten Markt eine marktbeherrschende Stellung hat oder eine Gesamtbeurteilung seiner Aktivitäten im Fernsehen und auf medienrelevanten verwandten Märkten ergibt, dass der dadurch erzielte Meinungseinfluss dem eines Unternehmens mit einem Zuschaueranteil von 30 % entspricht. Ausgehend von diesem Gesetzeswortlaut wurden in den Ländern gesetzgeberische Möglichkeiten diskutiert, eine vom Zuschaueranteil stärker abstrahierende Gesamtbeurteilung durchführen zu können. Da aber eine Streichung der Passage „nach Maßgabe der nachfolgenden Bestimmungen“ in § 26 Abs. 1 RStV zu großer Rechtsunsicherheit geführt hätte, wurde mit der 25 %-Schwelle in § 26 Abs. 2 S. 2 RStV bewusst eine feste Mindestgrenze für ein Eingreifen der KEK normiert.32 Die Unzulässigkeit eines Rückgriffs auf § 26 Abs. 1 RStV als Generalklausel ergibt sich dann daraus, dass die erwogene Streichung der dortigen Passage „nach Maßgabe der nachfolgenden Bestimmungen“ gerade nicht erfolgte, der Gesetzgeber also bewusst an ihr festhalten wollte. Des Weiteren sprechen systematische Erwägungen gegen die Einordnung von § 26 Abs. 1 RStV als eigenständigen Eingriffstatbestand. Soweit die KEK auf eine Parallele zu § 19 Abs. 3 GWB rekurriert, ist dem entgegen zu halten, dass § 19 GWB – anders als § 26 RStV – weder in Abs. 1 noch in Abs. 2 eine Einschränkung der Rechtsanwendung „nach Maßgabe der nachfolgenden Bestimmungen“ enthält. Folglich gebietet eine systematische Auslegung des § 26 RStV keine Analogie, sondern eher einen Umkehrschluss zum Kartellgesetz. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass in der Konsequenz der hier vertretenen Rechtsauffassung der ausdrücklich angeordnete 30

Hervorhebung durch den Verf. Vgl. bereits das obiter dictum der KDLM in ihrem Beschluss vom 07.11.1998 im Verfahren „Discovery Channel“, ZUM 1998, S. 1054 (1056 f.). 32 Vgl. Hartstein/Dörr/Ring/Kreile/Stettner, Kommentar zum Rundfunkstaatsvertrag (Losebl., Stand Juli 2005), Teil B 1, Rn. 225. 31

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Vermutungscharakter von 26 Abs. 2 RStV verloren ginge. Denn die in § 26 Abs. 2 RStV gewählte Formulierung zeigt, dass dem betroffenen Unternehmen trotz des Erreichens der maßgeblichen Schwellenwerte die Möglichkeit des Gegenbeweises für das Vorliegen vorherrschender Meinungsmacht offen steht.33 § 26 Abs. 2 RStV bringt demnach den Charakter der Schwellenwerte als widerlegbare Vermutungen für eine vorherrschende Meinungsmacht zum Ausdruck. Insbesondere auch eine teleologische Auslegung führt zu dem Ergebnis, dass sich die Eingriffsbefugnisse der KEK (ausschließlich) an den Vorgaben des § 26 Abs. 2 RStV zu orientieren haben. Der KEK ist zwar zunächst in ihrem Ansatz zu folgen, dass verfassungsrechtliche Gründe eine effektive Konzentrationskontrolle im Fernsehen erfordern. Es ist indes nicht dargelegt, dass eine solche unter Beachtung der in § 26 Abs. 2 RStV normierten Schwellenwerte ausgeschlossen ist. Im Gegenteil: Gerade bei der von der KEK geltend gemachten teleologisch-verfassungsrechtlichen Interpretation ist in Rechnung zu stellen, dass ein Bedenklichkeitsbeschluss der KEK wegen der mit ihm verbundenen Folgewirkungen der Unzulässigkeit des Vorhabens oder der Auferlegung vielfaltsichernder Maßnahmen i.S.v. § 30 RStV erhebliche Grundrechtsrelevanz für das betroffene Unternehmen aufweist. Zum einen können sich auch die privaten Rundfunkveranstalter auf die Berufsund Gewerbefreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG berufen.34 Zum anderen enthält Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG nicht nur eine funktionale Garantie 35, sondern zugunsten des Grundrechtsträgers auch ein Grundrecht im status negativus.36 Wenn damit aber zwei in Idealkonkurrenz 37 zueinander stehende grundrechtliche Verbürgungen kumulieren, spricht vieles für eine Verstärkung der grundrechtlichen Abwehrfunktion.38 Vor diesem Hintergrund ist der (Landes-)Gesetzgeber nach Maßgabe der vom Bundesverfassungsgericht vor allem für Grundrechtseingriffe entwickelten Wesentlichkeitstheorie 39 33

Hahn/Vesting/Trute, Beck’scher Kommentar zum Rundfunkrecht, 2003, § 26, Rn. 42. P. Charissé, Die Rundfunkveranstaltungsfreiheit und das Zulassungsregime der Rundfunk- und Mediengesetze, 1999, S. 135 ff. m.w.N. Siehe auch BVerfGE 97, S. 228ff. (253 ff.). 35 Hierzu bereits oben I. 36 C. Degenhart, Bonner Kommentar zum Grundgesetz (Losebl., Stand Dez. 2005), Art. 5 Abs. 1 und 2, Rn. 623. Eine zunehmende Tendenz der Rechtsprechung sowohl des Bundesverfassungsgerichts als auch der Landesverfassungsgerichte, den subjektiv-rechtlichen Gehalt der Rundfunkfreiheit verstärkt zu betonen, erkennt M. Müller, Die Rundfunkfreiheit emanzipiert sich – Zu den aktuellen Entscheidungen der Verfassungsgerichte, MMR 12/2005, S. VIf. 37 Maunz/Dürig/Herzog, Kommentar zum Grundgesetz (Losebl., Stand Aug. 2005), Art. 5 Abs. I, II, Rn. 142. 38 So Bleckmann/Wiethoff, Zur Grundrechtskonkurrenz, DÖV 1991, S. 722 (729f.). 39 Zusammenfassend dazu etwa F. Ossenbühl, Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: HStR, Band III, 2. Aufl. 1996, § 62, Rn. 41 ff. 34

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verpflichtet, bei der Ausgestaltung der positiven Rundfunkordnung die grundrechtsrelevanten Fragen der Konzentrationskontrolle im Fernsehen selbst zu regeln. Gesetzesvorbehalt und Wesentlichkeitstheorie verbieten es deshalb den Ländern, die Konkretisierung der Eingriffsmaßstäbe bei der Konzentrationskontrolle auf die Exekutive zu verlagern.40 Da aber die unbestimmten Rechtsbegriffe des § 26 Abs. 1 RStV dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot nicht gerecht werden, ist es allein die Verweisung auf die „nachfolgenden Bestimmungen“, die zu der rechtsstaatlich gebotenen Konkretisierung der Eingriffsnorm führt. Denn die Regelung des § 26 Abs. 2 RStV enthält insbesondere mit ihren festen Schwellenwerten dasjenige Maß an rechtlicher Bestimmtheit, das die grundrechtsrelevante Eingriffsnorm des § 26 RStV zwingend erfordert. Dies räumt letztlich sogar die KEK ein, wenn sie den Schwellenwerten des § 26 Abs. 2 RStV eine „Leitbildfunktion“ 41 bei der Anwendung von § 26 Abs. 1 RStV beimisst.

III. Vor dem Hintergrund der rechtsstaatlichen Anforderungen, die der Vorbehalt und der Vorrang des Gesetzes an die Ausgestaltung und die Anwendung grundrechtsrelevanter Eingriffsnormen stellt, war der Beschluss der KEK in Sachen Springer/Pro Sieben Sat. 1 mithin rechtswidrig und damit eigentlich prädestiniert, in dem dafür vorgesehenen verwaltungsinternen Verfahren nach § 37 Abs. 2 RStV korrigiert zu werden bzw. andernfalls im Rahmen einer verwaltungsprozessualen Auseinandersetzung mit der außenwirksamen Entscheidung der zuständigen Landesmedienanstalt gerichtlich überprüft zu werden. Zu beiden Verfahren ist es bekanntlich nicht gekommen, da die Springer AG – zumindest auch unter dem Eindruck der KEK-Entscheidung – ihr Zusammenschlussvorhaben vorzeitig aufgegeben hat, wohl nicht zuletzt auch im Hinblick auf die nur schwer kalkulierbare Dauer und Unsicherheit einer gerichtlichen Auseinandersetzung.42 Bei diesem sehr raschen Verzicht auf eine unmittelbare oder mittelbare Korrektur der KEK-Entscheidung ist – soweit ersichtlich – interessanterweise nicht erwogen worden, dass es neben dem Verfahren nach § 37 Abs. 2 RStV und gegebenenfalls einer nachfolgenden verwaltungsgerichtlichen Klage auch noch einen dritten Weg der Abhilfe gegeben hätte, auf dem die Rechtsauffassung der KEK mit den Mitteln der verwaltungsinternen Rechtsaufsicht hätte korrigiert werden können. 40 41 42

Beschluss des Medienrates der BLM vom 26.01.2006, S. 8f. KEK, Beschluss vom 10.01.2006, S. 83. Siehe oben Fn. 20, 21.

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Ausgangspunkt für derartige Überlegungen ist das spezifische Beziehungsgeflecht zwischen der KEK, den zuständigen Landesmedienanstalten und der KDLM sowie die Erkenntnis, dass die im Ausgangsverfahren letztlich zu Eingriffsmaßnahmen berufenen Landesmedienanstalten – hier BLM und LMK – ihrerseits der Rechtsaufsicht nach Maßgabe des jeweiligen Landesrechts unterliegen (Art. 19 Abs. 1 BayMedG, § 50 Rh.-Pf.MedG). Angesichts dieser Konstellation kann die Situation eintreten, dass die zuständigen Landesmedienanstalten sich zufolge der Bindungswirkung des KEK-Beschlusses (§ 37 Abs. 1 RStV) bzw. eines erfolglos gebliebenen Abhilfeverfahrens nach § 37 Abs. 2 RStV verpflichtet sehen, ihrer Entscheidung einen als rechtswidrig erachteten KEK-Beschluss zugrunde zu legen. Sollte sich das für die außenwirksame Entscheidung zuständige Organ der Landesmedienanstalt nicht dazu verstehen, entgegen § 37 Abs. 1 RStV der KEK die Gefolgschaft zu verweigern und mithin „sehenden Auges“ eine auf rechtswidriger Grundlage beruhende Entscheidung treffen, wäre die zuständige Rechtsaufsichtsbehörde gefordert. Diese darf bei der Aufsicht über eine Landesmedienanstalt zwar keine Zweckmäßigkeits- oder standortpolitischen Erwägungen anstellen, sondern ist auf eine Rechtskontrolle beschränkt.43 Bei der dargestellten Problematik der „richtigen“ Anwendung von § 26 RStV geht es jedoch um reine Rechtsfragen, deren Behandlung grundsätzlich in vollem Umfang der Rechtsaufsicht durch die zuständige Rechtsaufsichtsbehörde zugänglich ist. Tatbestandliche Voraussetzung jeder Aufsichtsmaßnahme ist ein Rechtsverstoß der Landesmedienanstalt. Auf den ersten Blick ist ein solcher nicht gegeben, wenn und weil sich die Landesmedienanstalt an den gemäß § 37 Abs. 1 RStV verbindlichen Beschluss der KEK (und ggf. auch KDLM) hält. Eine solche Sichtweise greift indes zu kurz. Denn der für das Einschreiten der Rechtsaufsicht maßgebliche Rechtsverstoß beschränkt sich nicht auf die Verletzung der Vorschriften des Rundfunkstaatsvertrages. Vielmehr kann er sich auch aus der Verletzung höherrangigen Rechts ergeben, vorliegend aus einer Verletzung von Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes als Ausprägungen des grundgesetzlichen Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG). Wie gezeigt verstößt die KEK gegen diese verfassungsrechtlichen Prinzipien, wenn sie einen Bedenklichkeitsbeschluss auf die Regelung des § 26 Abs. 1 RStV als eigenständige Ermächtigungsnorm stützt. Hielten sich die zuständigen Landesmedienanstalten an einen solchen Beschluss der KEK und legten sie ihn ihrer außenwirksamen Entscheidung zugrunde, so handelten sie demnach nicht nur rechts-, sondern sogar verfassungswidrig. Einen derartigen Rechtsverstoß darf die zuständige Rechtsaufsichtsbehörde nicht zulassen. 43

Birkert/Reiter/Scherer, Landesmediengesetz Baden-Württemberg, 2. Aufl. 2001, § 48, Rn. 1 im Hinblick auf die Rechtsaufsicht über die LFK.

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Zur Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung eines in jeder Hinsicht rechtskonformen Handelns der Landesmedienanstalt steht den Rechtsaufsichtsbehörden ein nach Landesrecht jeweils unterschiedlich konkretisiertes Instrumentarium zur Verfügung.44 Die für den Fall Springer/Pro Sieben Sat. 1 (u.a.) maßgebliche bayerische Rechtslage ist insoweit besonders weitgehend und strikt. Nach Art. 19 Abs. 2 S. 1 BayMedG fordert das Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst als zuständige Rechtsaufsichtsbehörde die BLM zunächst auf, die Rechtsverletzung zu beseitigen. Kommt die BLM dieser Anweisung nicht innerhalb der gesetzten Frist nach, kann das Staatsministerium die Anordnung an Stelle der BLM selbst durchführen oder durch einen anderen durchführen lassen (Art. 19 Abs. 2 S. 2 BayMedG). Dabei kann offen bleiben, ob das Staatsministerium auch bereits direkt gegenüber der KEK Rechtsaufsichtsmaßnahmen treffen könnte.45 Denn tauglicher Adressat einer solchen Anordnung ist jedenfalls die BLM. Die Rechtsaufsichtsbehörde ist zwar im Hinblick auf die verfassungsrechtlich gebotene Staatsferne des Rundfunks 46 und die daraus resultierende Unabhängigkeit der Landesmedienanstalten zu einer gewissen Zurückhaltung verpflichtet.47 Eine Anordnung des Staatsministeriums gegenüber der BLM, sich über eine Entscheidung der KEK (und ggf. auch der KDLM) hinwegzusetzen, die sich rechtsfehlerhaft allein auf § 26 Abs. 1 RStV als Eingriffsnorm stützt, dürfte jedoch in der Regel auch unter Berücksichtigung spezifisch rundfunkrechtlicher Besonderheiten nicht unzulässig sein, da die Aufsichtsmaßnahme der Wahrung von Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes und damit der Durchsetzung fundamentaler rechtsstaatlicher Prinzipien dient. Damit hätte der Weg über die Rechtsaufsicht für die Axel Springer AG möglicherweise die adäquate Alternative zum vermutlich langwierigen gerichtlichen Rechtsschutz dargestellt, das geplante Zusammenschlussvorhaben mit Pro Sieben Sat. 1 doch noch auf Grundlage exekutiver Entscheidungen der zuständigen Landesmedienanstalten oder ihrer jeweiligen Rechtsaufsichtsbehörden realisieren zu können. Das Unternehmen hätte 44 Während z.B. § 50 rh.-pf. LMedG die Instrumente der Rechtsaufsicht nicht konkret benennt, verweist § 48 bad.-württ. LMedG auf die entsprechende Anwendung der Vorschriften über die Kommunalaufsicht. 45 Dafür spricht, dass ein Beschluss der KEK für die jeweilige Landesmedienanstalt verbindlich ist, dagegen, dass die KEK nur ein Organ der jeweils zuständigen Landesmedienanstalt ist (§ 35 Abs. 2 RStV). 46 Dazu grundlegend BVerfGE 12, S. 205 (262); 83, S. 238 (296); 90, S. 60 (88) und zu Einzelfragen T. Scheel, Zur Staatsfreiheit des Rundfunks – Grundlagen und Grenzen eines Strukturprinzips am Beispiel der Aufsichtsgremienbesetzung öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten, in: Sander/Scheel/Scorl, Aktuelle Rechtsfragen im Spannungsfeld von Staat, Wirtschaft und Europa, Beiträge zum 60. Geburtstag von Armin Dittmann, 2005, S. 29ff. 47 Birkert/Reiter/Scherer, Landesmediengesetz Baden-Württemberg, 2. Aufl. 2001, § 48, Rn. 1 im Hinblick auf die Rechtsaufsicht des baden-württembergischen Staatsministeriums über die LFK.

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zwar wie bei jeder Rechtsaufsicht keinen Anspruch auf Einschreiten der Rechtsaufsichtsbehörde gehabt. Im Hinblick auf die Bindung auch der Rechtsaufsichtsbehörde an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) und die vorliegend betroffenen rechtsstaatlichen Prinzipien hätte aber vieles für ein Tätigwerden von Amts wegen gesprochen. Zumindest in künftigen Fällen sollte die Funktion der Rechtsaufsicht in vergleichbaren Fallkonstellationen stärker zum Tragen kommen, zur Wahrung der Rechtmäßigkeit exekutiven Handelns, daneben aber auch im Interesse einer schnelleren Aufhellung medienrechtlicher Grauzonen, die sich aus unternehmerischer Sicht als Planungsrisiko darstellen können. Die mit der Entscheidung der KEK vom 10. Januar 2006 insoweit eröffnete Chance einer Klärung der mit § 26 RStV verbundenen Streitfragen wurde u.a. auch durch die auffällige Zurückhaltung der Rechtsaufsichtsbehörden leider vergeben.

Vielfaltssicherung in Gefahr? Die Verhinderung vorherrschender Meinungsmacht und die Springer-Entscheidung der KEK Dieter Dörr Inhaltsübersicht I. II. III. IV.

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtsgrundlagen und Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die verfassungsrechtlichen Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Sicherung der Meinungsvielfalt nach dem Rundfunkstaatsvertrag . 1. Das Zuschaueranteilsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Vermutungsregelungen des § 26 Abs. 2 RStV . . . . . . . . . . . 3. Das Verbot vorherrschender Meinungsmacht nach § 26 Abs. 1 RStV 4. Die Gewichtungsfaktoren bei medienrelevanten verwandten Märkten 5. Die Anwendung der Grundsätze bei der Springer-Entscheidung . . . V. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung Wie kaum ein Anderer setzt sich K. Peter Mailänder für die Sicherung der Meinungsvielfalt im privaten Fernsehen ein. Dabei kommt ihm besonders zugute, dass er nicht nur die Vorschriften des Medienrechts bestens kennt, sondern auch mit dem Kartellrecht hervorragend vertraut ist. Gerade zwischen dem Kartellrecht und den Bestimmungen zur Sicherung der Meinungsvielfalt im Rundfunkstaatsvertrag bestehen vielfältige Beziehungen und Zusammenhänge. Die Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK), der die Sicherung der Meinungsvielfalt im privaten Fernsehen anvertraut ist, profitiert seit ihrer Entstehung von den reichhaltigen Erfahrungen Mailänders und ist auf sie mehr denn je angewiesen. Angesichts der neuesten Entwicklungen müssen sich nämlich all diejenigen Sorgen machen, denen die Sicherung der Meinungsvielfalt am Herzen liegt. Im Anschluss an die Entscheidung der KEK vom 10. Januar 2006 1, mit der diese

1

Vgl. Beschluss der KEK vom 10.1.2006, AZ 293-1 bis -5, abrufbar unter www.kekonline.de/kek/verfahren/kek293prosieben-sat1.pdf.

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die Übernahme der ProSiebenSat.1 Media AG durch die Axel Springer AG ablehnte, werden von verschiedener Seite Forderungen zur Umgestaltung der Konzentrationskontrolle erhoben, die neben abgewogenen Überlegungen 2 auch Vorschläge 3 enthalten, die darauf hinauslaufen, die unabhängige Sicherung der Meinungsvielfalt im privaten Fernsehen durch die KEK weitgehend abzuschaffen bzw. dieses Gut anderen Interessen, insbesondere Standortinteressen, zu opfern. Es ist wegen der wirtschaftlichen Bedeutung des Falles nicht überraschend, wenn auch im Hinblick auf an sich selbstverständlich zu beachtende Verfahrensgrundsätze bedauerlich, dass sich die KEK schon während des Verfahrens immer wieder mehr oder minder deutlich formulierten „Ratschlägen“ des Präsidenten einer Landesmedienanstalt ausgesetzt sah, der bereits am Tag der Antragstellung wusste und öffentlich verkündete 4, dass dieses Vorhaben medienrechtlich unbedenklich sei. Verfahrensrechtlich mehr als problematisch wird der Vorgang, wenn Direktoren und Präsidenten von Landesmedienanstalten, die in dieser Eigenschaft auch Mitglieder der Konferenz der Direktoren der Landesmedienanstalten (KDLM) sind, eine Entscheidung der KEK öffentlich bewerten, bevor sie ihnen überhaupt zugegangen ist, also bevor sie die umfangreiche Begründung kennen können.5 Noch größere Bedenken, ob die Vielfaltssicherung bei der KDLM in guten Händen ist, müssen einem kommen, wenn man sich vor Augen führt, dass ein Teil dieser Direktoren bereits vor Kenntnis der Entscheidungsgründe und vor Anrufung der KDLM öffentlich, der Vorsitzende sogar im Rahmen einer Presseerklärung 6, kundtun, dass – falls die KDLM angerufen werde – die Entscheidung der KEK keinen Bestand haben werde. Daraus wird nämlich deutlich, dass einigen Mitgliedern der KDLM unklar ist, welche Funktion diesem Organ bei der Sicherung der Meinungsvielfalt zukommt. Ebenso wie die KEK hat die KDLM am Maßstab des § 26 RStV zu prüfen, ob durch einen geplanten Zusammenschluss vorherrschende Meinungsmacht entsteht. Es handelt sich dabei um eine Aufgabe, die am Maßstab des Rechts zu lösen ist. Die KDLM ist ein Organ für rechtliche Entscheidungen. Daher sind ihre

2 Vgl. etwa Ministerpräsident Beck Interview des Tages, Digitalmagazin. info vom 17. Februar 2006, S.1 f. 3 Vgl. etwa Doetz Das kann nur besser werden, epd medien 14/2006, S. 3ff. (4) vom 22.2.2006; siehe auch Pressemitteilung der ALM 01/2006 vom 4.1.2006, abrufbar unter www.alm.de/index.php?id=34&backPid=67&tt_news=326&cHash=1e924672f6. 4 Vgl. Pressemitteilung der BLM vom 5.8.2005, abrufbar unter www.blm.de/inter/de/ pub/aktuelles/pressemitteilungen/pressemitteilungen.cfm?fuseaction_pre=detail&prid=90 5&. 5 Vgl. dazu epd medien 4/2006, S. 9 vom 18.1.2006 und epd medien 6/2006, S. 9 vom 25.1.2006. 6 Vgl. Pressemitteilung 02/2006 der ALM vom 13.1.2006, abrufbar unter www.alm.de/ index.php?id=34&backPid=67&tt_news=329&cHash=69d2179bfb.

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Mitglieder unabhängig und müssen unvoreingenommen und unparteiisch unter Würdigung der Entscheidung der KEK darüber befinden, ob vorherrschende Meinungsmacht gegeben ist. Die Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit ihrer Mitglieder ist keine quantité negligeable, sondern rechtlich vorgegeben. Dies ergibt sich nicht nur daraus, dass selbstverständlich für dieses Verwaltungsverfahren wie für jedes andere die Befangenheitsregeln der §§ 20, 21 VwVfG bzw. die entsprechenden Vorschriften der Landesverwaltungsverfahrensgesetze gelten. Vielmehr folgt dies auch aus den Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens, zu dem das Erfordernis fairer Verfahrensführung 7 im Verwaltungsverfahren gehört. Ein besonders krasser Fall mangelnder Unparteilichkeit ist die Vorfestlegung in der Sache, insbesondere wenn sie vor Kenntnis der Entscheidungsgründe des Organs erfolgt, dessen Entscheidung man zu überprüfen hat. Sie hat daher zwingend die Befangenheit zur Folge, führt also dazu, dass der betreffende Direktor oder Präsident an den Beratungen und der Entscheidung in dieser Sache nicht mitwirken darf. Das mangelnde Verständnis dafür macht deutlich, dass einige Direktoren und Präsidenten die KDLM nicht als Organ, das eine rechtliche Entscheidung nach dem Maßstab des RStV und des dahinter stehenden Verfassungsrechts zu treffen hat, verstehen, sondern als politische Einrichtung begreifen, die bei ihrer Entscheidung außerhalb des einschlägigen Rechts liegende Überlegungen, wie Standortinteressen und Staatszugehörigkeit des Unternehmens, berücksichtigen darf. Deshalb, aber auch nur deshalb, ist es angezeigt, über maßvolle Änderungen der Vorschriften zur Sicherung der Meinungsvielfalt nachzudenken. Ansonsten sind die Bestimmungen der §§ 26 ff. RStV viel besser, als es von interessierter Seite glauben gemacht wird. Gerade die Entscheidung in Sachen Springer zeigt, dass sich das Modell der Vielfaltsicherung durch eine unparteiische und unabhängige Expertenkommission bewährt hat. Dies werden die nachfolgenden Ausführungen belegen.

II. Rechtsgrundlagen und Abgrenzungen Der Rundfunkstaatsvertrag enthält in den §§ 25ff. RStV besondere Vorschriften, die auf der Grundlage verfassungsgerichtlicher Vorgaben die Meinungsvielfalt im bundesweiten privaten Fernsehen gewährleisten sollen. Vor dem Hintergrund dieses spezifischen Medienkonzentrationsrechts ist zunächst von Interesse, wie sich die Bestimmungen des Rundfunkstaatsvertrages zu den Vorschriften des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen verhalten. Das GWB zielt im Unterschied zum Medienrecht auf die Beschränkung wirtschaftlicher Macht ab, um auf diese Weise wirtschaftlichen Wettbewerb als Steuerungsinstrument auch im Interesse der Verbraucher zu 7

Vgl. dazu Dörr Faires Verfahren, Kehl am Rhein 1984, S. 169ff.

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erhalten. Dabei ist durchaus einzuräumen, dass die Erhaltung wirtschaftlicher Vielfalt dazu beitragen kann, auch die Meinungsvielfalt zu fördern. Das Kartellrecht kann also das Rundfunkrecht tendenziell entlasten. Diesen Umstand machen sich manche Landesmediengesetze zu Nutze, indem sie vor Lizenzerteilung die Vorlage einer kartellrechtlichen Unbedenklichkeitsbescheinigung verlangen.8 Dadurch wird auch deutlich, dass das Rundfunkrecht und das nationale Kartellrecht, obwohl sie sich partiell ergänzen, nebeneinander zur Anwendung kommen. Dies liegt daran, dass die Länder zur Regelung des Rundfunks und damit auch zur Sicherung der Meinungsvielfalt die Gesetzgebungszuständigkeit besitzen, wohingegen der Bund aufgerufen ist, die wirtschaftliche Macht durch das von ihm zu schaffende Kartellrecht zu begrenzen. Schließlich macht das geltende nationale Kartellrecht auch der Sache nach die rundfunkrechtlichen Regelungen zur Sicherung der Meinungsvielfalt nicht überflüssig oder entbehrlich. Schon vom Anwendungsbereich her gesehen erfasst das geltende Kartellrecht die Problematik nur unvollkommen. Der Fusionskontrolle nach §§ 35 f. GWB unterliegt nur der Zusammenschluss zu Rundfunkunternehmen, nicht aber der weit häufigere Fall der Gründung von Rundfunkunternehmen durch Einzelunternehmen, die bereits in anderen Bereichen eine marktbeherrschende Stellung innehaben. Auch der Fall des inneren Wachstums fällt nicht in den Anwendungsbereich des Kartellrechts, wird aber, wenn er zu vorherrschender Meinungsmacht führt, von § 26 RStV erfasst. Schließlich ist, wenn durch das Kartellrecht wirtschaftliche Macht im Bereich der privaten Rundfunkunternehmen beschränkt wird, noch keineswegs die von der Verfassung geforderte Meinungsvielfalt gewährleistet. Die Beschränkung wirtschaftlicher Macht ist vielmehr eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung, um die von der Verfassung geforderte Meinungsvielfalt im Bereich des privaten Rundfunks zu sichern. Daneben ist auch das Gemeinschaftsrecht von erheblicher Bedeutung. Der Schwerpunkt des europäischen Wettbewerbsrechts und der Entscheidungspraxis der Kommission liegt bei der Fusionskontrolle. Hier bleibt es auch nach der neuen Regelung bei dem alternativen Nebeneinander von Fusionskontrollverordnung und nationaler Fusionskontrolle. Für Unternehmenszusammenschlüsse begründet die Fusionskontrollverordnung (FKVO) 9

8 Vgl. etwa § 25 Abs. 4 LMedG Baden-Württemberg; § 17 Abs. 7 HPRG; § 8 Abs. 3 SPRG; § 6 Abs. 7 PRG Sachsen-Anhalt; § 17 Abs. 4 PRG. 9 Verordnung (EWG) Nr. 4064/89 des Rates vom 21.12.1989 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. EG Nr. L 395 vom 30.12.1989, S. 1, berichtigt in ABl. EG Nr. L 257 vom 21.9.1990, S. 13, heute gültig mit Änderung durch die Verordnung (EG) Nr. 1310/97 des Rates vom 30.6.1997, ABl. EG Nr. L 180 vom 30.7.1997, S. 1.

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gem. Art. 1 Abs. 2 und 3 eine Kontrollbefugnis der Kommission, wenn der geplante Zusammenschluss gemeinschaftsweite Bedeutung hat. Im Übrigen bleiben die nationalen Wettbewerbsbehörden zuständig. Nicht erfasst werden von der Fusionskontrolle allerdings Fälle von internem Unternehmenswachstum (z.B. durch Gründung von Tochterunternehmen oder dem Erwerb einer Rundfunklizenz) 10. Auch eine mögliche publizistische Beeinflussung von Rundfunkveranstaltern bleibt bei der Prüfung der Fusionskontrolle unberücksichtigt, denn der Kontrollbegriff des Art. 3 FKVO umfasst, entsprechend der wettbewerbsrechtlichen Ausrichtung, nur gesellschaftsund wirtschaftsrechtliche Beherrschungsmöglichkeiten. Die Kompetenz der Gemeinschaft, einen nach ökonomischen Kriterien zu bewertenden Wirtschaftswettbewerb zu errichten und dessen Funktionieren sicherzustellen, ist daher nicht gleichzusetzen mit der Kompetenz zur Sicherung der Medienvielfalt und des Meinungspluralismus. Daher erkennt Art. 21 Abs. 3 FKVO ausdrücklich an, dass die Mitgliedstaaten Maßnahmen zum Schutz der Medienvielfalt treffen dürfen.11. Diese können also, wie durch §§ 25 ff. RStV geschehen, zusätzliche Anforderungen an Rundfunkunternehmen zur Sicherung der Meinungsvielfalt verankern und nach Gemeinschaftsrecht unbedenkliche Zusammenschlüsse untersagen, die diesen zusätzlichen Anforderungen nicht entsprechen.

III. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben Mit den Bestimmungen zur Sicherung der Meinungsvielfalt im privaten Rundfunk, wie sie nunmehr in §§ 25ff. RStV verankert sind, versucht der Gesetzgeber dem vom Bundesverfassungsgericht betonten Auftrag, der Entstehung vorherrschender Meinungsmacht entgegenzuwirken,12 Rechnung zu tragen. Gerade die Rundfunkfreiheit ist wie kaum ein anderes Grundrecht durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geprägt. Das Bundesverfassungsgericht hat als authentischer Interpret des Grundgesetzes aus der knappen Bestimmung des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG differenzierte und weitgehende Anforderungen an die Rundfunkordnung in der Bundesrepublik Deutschland entwickelt. 10 Vgl. zu dieser Problematik Tschon Cross Ownership und publizistische Gewaltenteilung, Berlin 2002, S. 249 ff., S. 291 ff. 11 Dies entspricht den in Deutschland von den §§ 25 bis 34 RStV vorgesehenen Möglichkeiten des Medienkonzentrationsrechts, die sich aus den verfassungsrechtlichen Vielfaltsanforderungen herleiten. Vgl. BVerfGE 57, 295, 320 und 323; 73, 118, 159; 83, 238, 296 ff., vgl. dazu eingehend Kübler Die verfassungsrechtliche Verbürgung der Vielfalt in der Bundesrepublik Deutschland in: Kohl (Hrsg.) Vielfalt im Rundfunk, Konstanz 1997, S. 21ff. 12 Vgl. BVerfGE 73, 118, 172 und 175.

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Auf der Grundlage einer von ihm als dienende Freiheit verstandenen Rundfunkfreiheit betont das Bundesverfassungsgericht, dass gesetzliche Regelungen notwendig sind, die sicherstellen, dass die Vielfalt der bestehenden Meinungen im Rundfunk in größtmöglicher Breite und Vollständigkeit bzw. unverkürzt zum Ausdruck gelangen 13. Dabei ist zunächst auf das Gesamtangebot der elektronischen Medien abzustellen, also das Angebot des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in die Ermittlung des Vielfaltbefundes einzubeziehen. Aber auch die privaten Programme unterliegen für sich allein einem entsprechenden Gebot in freilich abgesenkter Weise: Sie haben lediglich einem „Grundstandard gleichgewichtiger Vielfalt“ 14 zu genügen. Bei der Aufgabe, die Meinungsvielfalt in dieser Weise zu sichern, handelt es sich zunächst um eine Angelegenheit der Länder. Die Landesgesetzgeber haben demnach dafür Sorge zu tragen, dass das Gesamtangebot der inländischen Programme die Vielfalt der bestehenden Meinungen in größtmöglicher Breite und Vollständigkeit bzw. unverkürzt zum Ausdruck bringen und dass der Rundfunk nicht einer oder einzelnen gesellschaftlichen Gruppen ausgeliefert wird. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht auch klargestellt, dass die Erfordernisse der Meinungsvielfalt und der Ausgewogenheit zu unterscheiden sind. Das Gesamtangebot muss sowohl ausgewogen als auch vielfältig sein. Das ist deshalb von Bedeutung, weil ein Gesamtangebot sehr wohl ausgewogen, aber nicht vielfältig sein kann, genauso wie ein Gesamtangebot vielfältig, aber nicht ausgewogen zu sein braucht. Zudem hat das Bundesverfassungsgericht unmissverständlich darauf hingewiesen, dass ein ausgewogenes und vielfältiges Angebot der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten allein nicht genügt, um eventuelle Defizite im privaten Bereich auszugleichen. Deshalb ist nach dieser Rechtsprechung 15 die Vielfalt der Anbieter und damit der Meinungen von Verfassungs wegen auch im Bereich der privaten Veranstalter durch den Rundfunkgesetzgeber zu sichern. Dabei handelt es sich nicht um eine bloße Zuständigkeit der Länder, sondern um eine Pflichtaufgabe von hoher Bedeutung, da Fehlentwicklungen in diesem Bereich besonders schwer rückgängig gemacht werden können.16 Die Länder haben in ihren Landesmediengesetzen auf unterschiedliche Weise den Versuch unternommen, diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben gerecht zu werden. Tendenziell gelten wegen des Problems der Doppelmonopole von Rundfunk und örtlicher Presse im regionalen und lokalen Bereich besonders strenge organisatorische Anforderungen zur Vielfaltsiche-

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Vgl. BVerfGE 57, 295, 320 und 323. BVerfGE 73, 118, 159; 83, 238, 297. 15 BVerfGE 83, 238, 296 f.; 57, 295, 324. 16 So eindringlich BVerfGE 57, 295, 323; 73, 118, 160; vgl. zum Ganzen auch Dörr Das für die Medienkonzentration maßgebliche Verfahrensrecht, in: Die Landesmedienanstalten (Hrsg.) Die Sicherung der Meinungsvielfalt, Berlin 1995, S. 331, S. 337ff. 14

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rung, um den dort sehr stark ausgeprägten Tendenzen zur Monopolisierung entgegenzuwirken, von denen aber einzelne Länder, etwa Hamburg, neuerdings abweichen. Dagegen legt der RStV für bundesweit verbreitete Fernsehprogramme einheitliche Anforderungen fest. Diese Regelungen sind praktisch von hoher Bedeutung, da das bundesweite Fernsehen wirtschaftlich und im Hinblick auf die öffentliche Meinungsbildung eine herausragende Rolle einnimmt.

IV. Die Sicherung der Meinungsvielfalt nach dem Rundfunkstaatsvertrag 1. Das Zuschaueranteilsmodell Bereits mit dem Dritten Rundfunkänderungsstaatsvertrag haben die Länder für den Bereich des bundesweiten Fernsehens das Zuschaueranteilsmodell eingeführt, nachdem man zunächst die Anzahl an Beteiligungen zu begrenzen versuchte, was teilweise als unbefriedigend empfunden wurde. Die Einzelheiten des Zuschaueranteilsmodells sind in den Vorschriften über die Sicherung der Meinungsvielfalt (§§ 25–34 RStV) geregelt. Das Kernstück bildet § 26 RStV in der Fassung des Achten Rundfunkänderungsstaatsvertrages, in dem auch die unterschiedlichen Vermutungstatbestände verankert sind. Allerdings wird vereinzelt bestritten, dass es sich bei den Tatbeständen des § 26 Abs. 2 RStV überhaupt um Vermutungsregelungen handelt. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Das Modell geht davon aus, dass in Deutschland durch die öffentlich-rechtlichen und privaten bundesweiten Programme grundsätzlich eine Außenpluralität gewährleistet ist. Dabei dokumentiert § 26 Abs. 1 RStV den Wechsel im Vielfaltsicherungsmodell. Während der alte RStV 1991 die Programmzahl beschränkte, stellt die geltende Bestimmung auf den Zuschaueranteil ab. Mit der Vorschrift wird klargestellt, dass ein Unternehmer im bundesweiten Fernsehen selbst oder durch ihm zuzurechnende Unternehmen eine unbegrenzte Anzahl von Programmen veranstalten darf, es sei denn, er erlangt eine vorherrschende Meinungsmacht. Welche Unternehmen jeweils zuzurechnen sind, richtet sich nach der komplizierten Vorschrift des § 28 RStV. Eine Zurechnung erfolgt danach prinzipiell dann, wenn die Beteiligung 25 vom Hundert erreicht oder übersteigt. 2. Die Vermutungsregelungen des § 26 Abs. 2 RStV Die Vorschrift des § 26 Abs. 1 RStV verweist mit den Worten „nach Maßgabe“ für die „vorherrschende Meinungsmacht“ auf § 26 Abs. 2 RStV. Allerdings gibt § 26 Abs. 2 RStV als Maß lediglich drei Vermutungsregelungen

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vor. Die erste Vermutung knüpft an einen Zuschaueranteil von 30 vom Hundert an. Die zweite und die dritte Vermutung setzen einen Zuschaueranteil von 25 vom Hundert und weitere Faktoren voraus. Bei dem tatsächlichen Zuschaueranteil der zweiten Vermutungsregel kann der Veranstalter durch Regionalfenster einen Abzug von zwei Prozentpunkten und durch gleichzeitige Aufnahme von Sendezeit für Dritte einen weiteren Abzug von drei Prozentpunkten erreichen. Die erste Alternative ist eindeutig formuliert. Danach wird vorherrschende Meinungsmacht „vermutet“, wenn die einem Unternehmen zurechenbaren Programme im Durchschnitt eines Jahres einen Zuschaueranteil von 30 vom Hundert erreichen. Bonusregelungen, die zu Abzügen vom tatsächlichen Zuschaueranteil führen, bestehen bei dieser Vermutungsregel nicht. Die Bestimmung des § 27 RStV enthält Regelungen zur Ermittlung der Zuschaueranteile. Sie sind unter Einbeziehung aller deutschsprachigen Programme des öffentlich-rechtlichen und des bundesweit empfangbaren privaten Rundfunks zu erheben. Dabei sind alle Zuschauer ab Vollendung des dritten Lebensjahres nach allgemein repräsentativen Erhebungen zu berücksichtigen. Da eine Beauftragung eines Unternehmens bisher nicht erfolgt ist, zieht die KEK auf Grundlage der Übergangsbestimmung des § 34 RStV die Daten der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) an, die im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung (AGF) erhoben werden.17 Bei der Bewertung der 30 Prozent-Grenze ist vor allem zu berücksichtigen, dass bei der Bezugsgröße der Zuschaueranteil der öffentlich-rechtlichen Veranstalter mitgerechnet wird. Insgesamt beläuft sich der Zuschaueranteil der öffentlich-rechtlichen Programme auf deutlich über 40 Prozent und nähert sich der Marke von 45 Prozent, derjenige der privaten Programme auf unter 60 Prozent in Richtung 55 Prozent. Die 30 Prozent-Grenze bedeutet deshalb im Ergebnis, dass der private nationale Fernsehmarkt zwischen zwei großen Anbietern bzw. Anbietergruppen aufgeteilt wird und dass eine Anbietergruppe über 50 Prozent des auf die privaten Fernsehangebote entfallenden Zuschaueranteils im Jahresdurchschnitt erreichen darf, ohne dass diese Vermutung eingreift. Seit dem Inkrafttreten des Sechsten Rundfunkänderungsstaatsvertrages ermöglicht es § 26 Abs. 2 Satz 2 RStV auch, dass schon beim Erreichen eines Zuschaueranteils von 25 Prozent eine vorherrschende Meinungsmacht vermutet werden kann, sofern das Unternehmen auf einem medienrelevanten verwandten Markt eine marktbeherrschende Stellung hat oder eine Gesamtbeurteilung seiner Aktivitäten im Fernsehen und auf medienrelevanten verwandten Märkten den Schluss zulassen, dass der dadurch erzielte Meinungs-

17 Vgl. dazu im Einzelnen KEK Sicherung der Meinungsvielfalt in Zeiten des Umbruchs, Berlin 2004, S. 379 ff.

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einfluss dem eines Unternehmens mit einem Zuschaueranteil von 30 Prozent im Fernsehen entspricht. Dass es sich auch bei diesen Tatbeständen um Vermutungsregelungen handelt, macht die Formulierung „Gleiches gilt …“ deutlich, die sich auf „vermutet“ in § 26 Abs. 2 Satz 1 RStV bezieht. Die 25 Prozent-Grenze ersetzt das bis zum Inkrafttreten des Sechsten Rundfunkänderungsstaatsvertrages in der Bestimmung enthaltene Tatbestandsmerkmal der „geringfügigen Unterschreitung“ der 30 Prozent-Grenze, dessen Auslegung überaus umstritten war.18 3. Das Verbot vorherrschender Meinungsmacht nach § 26 Abs. 1 RStV Die Tatsache, dass der Gesetzgeber die drei Alternativen des § 26 Abs. 2 RStV als Vermutungstatbestände ausgestaltet hat, ist von entscheidender Bedeutung für die Frage, ob außerhalb der Vermutungstatbestände allein nach § 26 Abs. 1 RStV vorherrschende Meinungsmacht auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung bejaht werden kann. Auch im Verwaltungsrecht ist davon auszugehen, dass Vermutungsregelungen von dem materiell-rechtlichen Tatbestand zu unterscheiden sind, dessen Nachweis sie erleichtern sollen. Davon zu trennen ist die zweite Frage, welche Bedeutung Vermutungen in einem Verwaltungsverfahren zukommt, für das die Untersuchungsmaxime gilt. Sie wirken sich dort nur auf die materielle Beweislast, aber nicht auf die Beweisführungslast aus. Allerdings hatte die Konferenz der Direktoren der Landesmedienanstalten (KDLM) in einem „rechtsförmigen Beschluss“ vom 7.11.1998 19 dezidiert die Auffassung vertreten, vorherrschende Meinungsmacht dürfe nur aus den Zuschaueranteilen des § 26 Abs. 2 RStV abgeleitet werden; andere Umstände seien nicht zu berücksichtigen. Damit verneinte sie letztlich, dass es sich bei § 26 Abs. 2 RStV um Vermutungsregelungen handelt. Dagegen hat die Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) in ihren Entscheidungen einen qualitativen Ansatz gewählt, wonach der Eingriffstatbestand des § 26 Abs. 1 RStV unabhängig davon verwirklicht sein kann, ob zugleich ein Vermutungstatbestand nach § 26 Abs. 2 RStV gegeben ist.20 18 Vgl. dazu Martinek Die Zurechnung von Zuschaueranteilen nach §§ 25ff. RStV 1996, EMR-Schriftenreihe, Bd. 19, München 1998; Neft Meinungsdominanz im Fernsehen. Aufgreifkriterien des neuen § 26 Abs. 2 RStV, ZUM 1998, S. 458 ff; Kreile/Stumpf Das neue Medienkartellrecht, die Sicherung der Meinungsvielfalt im novellierten Rundfunkstaatsvertrag, MMR 1998, S. 192 ff., S. 193; Bork Geringfügige Unterschreitung des Zuschaueranteils, – Betrachtungen zu § 26 Abs. 2 Satz 3 RStV, K & R 1998, S. 183ff., S. 186; zur Sichtweise der KEK: Beschluss in Sachen ProSieben vom 25.1.2000, Az: KEK 063, III 3.2.1; Beschluss in Sachen Sat 1 vom 16.5.2000, Az: KEK 046, III 3.2.1; KEK Fortschreitende Medienkonzentration im Zeichen der Konvergenz, Berlin 2000, S. 57f. 19 ZUM 1998, 1054. 20 Vgl. KEK 026 – Premiere, ZUM – RD 1999, 251, 258; KEK 007/029 – Pro 7, ZUM – RD 1999, 241, 248; KEK 040 – ZUM – RD 2000, 41, 50; KEK Fortschreitende Medienkon-

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Auch im Schrifttum wird teilweise 21, vor allem neuerdings im Zusammenhang mit dem Springer-Verfahren 22, angenommen, dass § 26 Abs. 2 RStV eine abschließende materiell-rechtliche Regelung enthalte. Jedenfalls gilt dies nach dieser Auffassung, wenn es sich um die Feststellung vorherrschender Meinungsmacht zu Lasten des betroffenen Unternehmens handelt. Zugunsten der Unternehmen soll die Regelung dann aber widerlegbar sein. Unwillkürlich fällt einem der Spruch ein: You can’t have the cake and eat it. Will man die Vorteile einer Vermutungsregelung für sich in Anspruch nehmen, muss man auch ihre Nachteile in Kauf nehmen. Wohl um diesen logischen Widerspruch zu vermeiden, wird teilweise behauptet.23, dass nur die 25 Prozent-Grenze keine Vermutungsregelung, sondern eine Art Aufgreifkriterium ist. Im Ergebnis belegen insbesondere der Wortlaut der Vorschrift, aber auch die anderen Auslegungsgrundsätze, dass es sich bei den Tatbeständen des § 26 Abs. 2 RStV eindeutig um Vermutungsregelungen handelt. Dies hat die KEK in ihrer Entscheidung vom 10. Januar 2006 24 nochmals eingehend dargelegt. Die Annahme, vorherrschende Meinungsmacht lasse sich nur begründen, wenn die Voraussetzungen des § 26 Abs. 2 RStV vorliegen, widerspricht der Ausgestaltung des Absatzes 2 als Vermutungsregelung.25 Zudem ist sie auch mit dem vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Gebot, vorherrschende Meinungsmacht vorbeugend zu verhindern, nicht vereinbar, zumal sich aus dieser Rechtsprechung ein Stück weit ableiten lässt, wie „vorherrschende Meinungsmacht“ zu verstehen ist.26 Demnach bleibt festzuhalten, dass „vorherrschende Meinungsmacht“ auch außerhalb der Vermutungsregelungen bejaht werden kann, die Vorschrift des § 26 Abs. 1 RStV also einen eigenständigen Tatbestand darstellt.27 zentration im Zeichen der Konvergenz, 2000, S. 54 ff; eingehend zu der Bedeutung der Vermutungsregelung Prütting Die Vermutung vorherrschender Meinungsmacht, in: Stern/ Prütting (Hrsg.) Marktmacht und Konzentrationskontrolle auf dem Fernsehmarkt, München 2000, S. 115 ff., S. 121 ff. 21 Vgl. etwa Clausen-Muradian Konzentrationstendenzen und Wettbewerb im Bereich des privaten kommerziellen Rundfunks und die Rechtsprobleme staatlicher Rechtsaufsicht, 1998, S. 164; Hepach Der Kompetenzrahmen der KEK nach dem Sechsten Rundfunkstaatsvertrag, ZUM 2003, S. 112, 115 f. Müller Konzentrationskontrolle zur Sicherung der Informationsfreiheit, München 2004, S. 226 ff., insbesondere S. 239ff. 22 Vgl. Peifer Vielfaltsicherung im bundesweiten Fernsehen, München 2005, S. 43 ff., insbesondere S. 78; Engel Zuschaueranteile in der publizistischen Konzentrationskontrolle, ZUM 2005, S. 776 ff. 23 Sowohl Engel Zuschaueranteile in der publizistischen Konzentrationskontrolle, ZUM 2005, S. 776, 782. 24 Vgl. dazu www.kek-online.de/kek/verfahren/kek293prosieben-sat1.pdf, S. 70ff. 25 So zu Recht Prütting a.a.O., S. 125 f. 26 Vgl. dazu eingehend Hain Vorherrschende Meinungsmacht i.S.d. § 26 Abs. 1, 2 RStV, MMR 2000, S. 537, S. 539 ff.; siehe auch Kübler Medienkonzentrationskontrolle im Streit, Media Perspektiven 1999, S. 379, S. 381 ff. 27 So auch Groh Die Bonusregelungen des § 26 Abs. 2 S. 3 des Rundfunkstaatsvertrages,

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Es ist allerdings schwer, den materiellen Begriff der „vorherrschenden Meinungsmacht“ zu konkretisieren. Er bildet einen Sonderfall und verlangt, dass ein in hohem Maße ungleichgewichtiger Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung durch die massenmediale Vermittlung von Tatsachen und Meinungen gegeben ist. Die Bejahung vorherrschender Meinungsmacht setzt aber nicht die Dominanz eines Unternehmens voraus. Für die Beurteilung sind nicht nur die Vermutungsregelungen des § 26 Abs. 2 RStV, sondern alle insoweit aussagekräftigen Faktoren – wie etwa Cross-Ownership-Phänomene – einzubeziehen. Trotz allem bleibt der in Rede stehende Rechtsbegriff in hohem Maße unbestimmt. Dies bedeutet allerdings keineswegs, dass der Begriff nicht operationabel ist. Vielmehr tragen die Vermutungsregeln des § 26 Abs. 2 RStV entscheidend zur Konkretisierung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs bei. Deren Bedeutung erschöpft sich gerade nicht darin, materielle Beweislastregeln zu normieren. Vielmehr lassen sich ihnen, wie die KEK dargelegt hat 28, auch gesetzgeberische Leitbilder entnehmen, wie der Begriff der vorherrschenden Meinungsmacht zu konkretisieren ist 29. Demnach kommt der Vorschrift des § 26 Abs. 2 RStV eine Leitbildfunktion bei der Anwendung von § 26 Abs. 1 RStV zu. Ihr ist zunächst zu entnehmen, dass der Zuschaueranteil im bundesweiten Fernsehen das zentrale Kriterium dafür bildet, ob vorherrschende Meinungsmacht gegeben ist. Entscheidend ist dabei allein, welcher Anteil an der Gesamtnutzung des Fernsehens auf die einem Unternehmen bzw. einer Unternehmensgruppe insgesamt zurechenbaren Programme entfällt. Dabei begründet ein Zuschaueranteil ab 30 Prozent die Vermutung vorherrschender Meinungsmacht. Der Gesetzgeber geht also davon aus, dass bei einem solchen Zuschaueranteil regelmäßig vorherrschende Meinungsmacht gegeben ist, auch wenn diese Annahme widerleglich ist. Frankfurt a.M. 2005, S. 186 ff., insbesondere S. 198 f.; Hain Vorherrschende Meinungsmacht i.S.d. § 26 Abs. 1, 2 RStV, MMR 2000, S. 537 ff.; Hartstein/Ring/Kreile/Dörr/Stettner, Rundfunkstaatsvertrag, Bd. II, Loseblatt, 28. Erg. Lief., München 2006, B 5, § 26 Rn. 8; Janik Kapitulation vor der eingetretenen Medienkonzentration, AfP 2002, S. 104ff., S. 111; Kübler Konzentrationskontrolle im Streit, Media Perspektiven 1999, S. 379ff., S. 382; Lange Die Übernahme von ProSiebenSat.1 durch den Axel-Springer-Konzern, Media Perspektiven 2005, S. 546ff., S. 554 f.; P. O. Mailänder Konzentrationskontrolle zur Sicherung von Meinungsvielfalt im privaten Rundfunk, Baden-Baden 2000, S. 296; Renck-Laufke Probleme der Konzentrationskontrolle im privaten Fernsehen, ZUM 2000, S. 105ff., S. 108; Prütting Die Vermutung vorherrschender Meinungsmacht, in: Stern/Prütting (Hrsg.) Marktmacht und Konzentrationskontrolle auf dem Fernsehmarkt, München 2000, S. 115ff., S. 121ff.; Stock in: Stock/Röper/Holznagel Medienmarkt und Meinungsmacht, Berlin Heidelberg 1997, S. 29; differenzierend Holznagel/Krone, Wie frei ist die KEK? Ein Beitrag zur Auslegung des § 26 Abs. 2 Satz 2 RStV, MMR 2005, S. 666ff., S. 673. 28 Vgl. www.kek-online.de/kek/verfahren/kek293prosieben-sat1.pdf, S. 78f. 29 Ähnlich Holznagel/Krone Wie frei ist die KEK? Ein Beitrag zur Auslegung des § 26 Abs. 2 Satz 2 RStV, MMR 2005, S. 666 ff., S. 673.

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Allerdings stellt der Gesamtzuschaueranteil nach § 26 Abs. 2 RStV nicht den einzigen Indikator für vorherrschende Meinungsmacht dar. Die zweite und dritte Vermutungsregel geben zu erkennen, dass zur Sicherung der Meinungsvielfalt im Fernsehen auch Einflüsse auf die Meinungsbildung durch andere Medien zu berücksichtigen sind. Insbesondere dem dritten Vermutungstatbestand ist die gesetzgeberische Leitentscheidung zu entnehmen, dass vorherrschende Meinungsmacht durch die Kumulation von Einflüssen im bundesweiten Fernsehen und in verwandten medienrelevanten Märkten entstehen kann. Maßstab ist dabei, dass der insgesamt erzielte Meinungseinfluss dem eines Unternehmens mit einem Zuschaueranteil von 30 von Hundert oder mehr entsprechen muss. Mit diesem gesetzgeberischen Leitbild wird der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Rechnung getragen, nach der sich vorherrschende Meinungsmacht gerade auch „aus einer Kombination der Einflüsse in Rundfunk und Presse“ ergeben kann 30. Mit dem Anknüpfen an einen Zuschaueranteil von 25 von Hundert bringt diese Vermutungsregel zugleich das Leitbild zum Ausdruck, dass anderweitige Meinungspotenziale erst bei einer durch hohe Zuschaueranteile ausgewiesenen starken Stellung im bundesweiten Fernsehen berücksichtigt werden dürfen. Je weiter ein Unternehmen mit seinen ihm zurechenbaren Programmen von der 25 Prozent-Grenze entfernt ist, umso gewichtiger müssen deshalb die sonstigen Meinungseinflüsse auf medienrelevanten verwandten Märkten sein, um sie berücksichtigen zu können. Zudem muss auch auf dem verwandten medienrelevanten Markt ein signifikantes Meinungspotenzial vorliegen, das durch eine entsprechend starke Stellung des Unternehmens in diesem Bereich zum Ausdruck kommt. 4. Die Gewichtungsfaktoren bei medienrelevanten verwandten Märkten Ob ein Meinungseinfluss vorliegt, der einem Unternehmen mit 30 Prozent Zuschaueranteil oder mehr entspricht, hängt entscheidend davon ab, wie die jeweiligen Stellungen auf medienrelevanten verwandten Märkten zu bewerten und zu gewichten sind. Dafür ist bedeutsam, welchen Grad von „Verwandtschaft“ der „medienrelevante Markt“ mit dem bundesweiten Fernsehen aufweist. Auch hier gibt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 31 wertvolle Hinweise, die insoweit auf die Merkmale der Suggestivkraft, Breitenwirkung und Aktualität abstellt. Dabei kann Suggestivkraft eines Mediums als Ergebnis der Kombination von Kommunikationsformen, also Text, Bild und Ton verstanden werden. Mit Ausnahme des Internets wird bei allen anderen Medien ein engeres Spektrum an Kommuni-

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BVerfGE 73, 118, 175, 176. BVerfGE 90, 60, 87.

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kationsformen eingesetzt. Von einer geringeren Suggestivkraft im Vergleich zum Fernsehen ist somit auszugehen. Das Merkmal der Breitenwirkung stellt auf die Reichweite eines Mediums in der Gesamtbevölkerung ab. Dabei ist aber auch die zeitliche und räumliche Disponibilität eines Mediums zu berücksichtigen, also die Frage, ob ein Medienprodukt (TV-Sendung, Zeitungsartikel etc.) unabhängig von Zeit und räumlicher (technischer) Umgebung genutzt werden kann. Mit der Aktualität wird üblicherweise die Tagesaktualität angesprochen. Schließlich lässt der Gesetzgeber mit dem Zuschaueranteilsmodell für das bundesweite Fernsehen auch erkennen, wie die medienrelevanten verwandten Märkte sachlich und räumlich zu bilden sind. Er knüpft an das gesamte bundesweite Fernsehen an und unterteilt dieses nicht in bestimmte Teilsegmente, etwa nach Programmgattungen, Vertriebswegen oder Finanzierungsformen. Dies legt es nahe, bei den medienrelevanten verwandten Märkten in gleicher Weise zu verfahren, also zum Beispiel – losgelöst vom kartellrechtlichen Bedarfsmarktkonzept – einen einheitlichen Tageszeitungs- oder Zeitschriftenmarkt zugrunde zu legen. Zudem muss der Meinungseinfluss nach einem Maßstab bewertet werden, der dem Zuschaueranteilsmodell, angepasst an die Besonderheiten des jeweiligen Mediums, möglichst entspricht. Schließlich sind, entsprechend den Vorgaben des Rundfunkstaatsvertrages, auch vielfaltsverstärkende Aspekte in die Gesamtbetrachtung einzubeziehen. Dazu zählen, wie die Bonusregelung des § 26 Abs. 2 Satz 3 RStV zeigt, Regional- und Drittfensterprogramme. Diesen erkennt der Rundfunkstaatsvertrag eine hohe Bedeutung zu. 5. Die Anwendung der Grundsätze bei der Springer-Entscheidung Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die KEK in ihrer Entscheidung vom 10. Januar 2006 zu dem Ergebnis gekommen, dass durch die geplante Übernahme der ProSiebenSat.1 Media AG durch die Axel Springer AG auch vorherrschende Meinungsmacht im Sinne des § 26 Abs. 1 RStV entstehen würde, obwohl im Hinblick auf den Zuschaueranteil von 22,06 Prozent die Vermutungsregelungen des § 26 Abs. 2 RStV nicht eingriffen. Dazu hat sie die Stellung der Axel Springer AG auf den unterschiedlichen medienrelevanten verwandten Märkten, insbesondere im Bereich der Tageszeitungen, eingehend ermittelt und anschließend nach Maßgabe der aufgezeigten Kriterien bewertet und gewichtet. Dabei mag man über die Gewichtungen der verschiedenen medienrelevanten verwandten Märkte im Vergleich zum Fernsehen trefflich streiten können 32. Unstreitig ist allerdings der Tatbestand, der 32 Vgl. etwa die allerdings sehr polemische Kritik bei Säcker. Zur Ablehnung des Zusammenschlussvorhabens Axel Springer AG/ProSiebenSat. 1 Media AG durch KEK und Bundeskartellamt, K & R 2006, S. 49 ff., S. 53 f.

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die starke Stellung der Axel Springer AG im Bereich der Tageszeitungen und der Programmzeitschriften eindrucksvoll belegt. Was die Gewichtungen betrifft, sei folgender Hinweis erlaubt. Gerade weil diese nicht ohne Bewertungen möglich sind, hat man eine unabhängige Sachverständigenkommission mit der Sicherung der Meinungsvielfalt betraut, der bei diesen Fragen ein Beurteilungsspielraum zukommt. Die KEK hat auch keineswegs einfache Additionen vorgenommen oder mathematische Formeln verwendet. Sie hat vielmehr Antwort auf die Frage gegeben, wie der Einfluss der Axel Springer AG etwa im Bereich der Presse im Vergleich zu den Einflüssen zu gewichten ist, über die ein Unternehmen mit einem bestimmten Zuschaueranteil im Fernsehen verfügt. Dabei ist sie bezogen auf die Tageszeitungen zu dem Ergebnis gekommen, dass die Meinungsmacht, über die die Axel Springer AG dort verfügt, derjenigen Meinungsmacht entspricht, die ein Unternehmen mit einem Zuschaueranteil von ca. 17 Prozent im bundesweiten Fernsehen besitzt. Dass eine vergleichende Bewertung vorgenommen werden muss, ist durch das Leitbild des § 26 Abs. 2 Satz 2, 2. Alternative RStV vorgegeben. Die dafür maßgeblichen Kriterien, die der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entstammen, hat die KEK offen gelegt. Erst recht hat die KEK in ihrer Entscheidung kein Modell eines binnenpluralen privaten Rundfunks entwickelt, wie ihr nunmehr von Kritikern 33 vorgehalten wird. Dies belegt bereits die Lektüre der Entscheidungsgründe. Dort wird unmissverständlich dargelegt, dass die Gefahr vorherrschender Meinungsmacht in erster Linie dadurch hätte vermieden werden können, dass die Axel Springer AG auf den Erwerb eines der beiden großen Sender verzichtet. Diese Lösung wurde vom Verlag selber gegenüber der KEK kategorisch abgelehnt. Aus diesem Grunde wurde von der KEK die theoretisch mögliche Lösung angesprochen, ein zuschaueranteilsstarkes Programm so weit zu neutralisieren, dass es bei der Meinungsmacht der Axel Springer AG nicht mehr zugerechnet werden kann, zumal die Axel Springer AG den Eindruck erweckte, sie könne sich einen solchen Weg vorstellen. Dies setzt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 34 voraus, dass dieses Programm binnenplural ausgestaltet wird. Nicht nur in den Entscheidungsgründen betont die KEK, dass es nicht ihre Sache ist, darüber zu entscheiden, ob eine solche Lösung unternehmerisch sinnvoll ist. Vielmehr hatte sie schon in den Anhörungen 35 darauf hingewiesen, dass sie sich ein solches Modell unter den Gesetzen des Marktes nur schwer vorstellen könne. Daraus wird deutlich, dass die KEK mitnichten eine binnenplurale Ausgestaltung eines privaten Fernsehprogramms im konkreten Fall als erwünschten Kompromiss 33

Säcker a.a.O. S. 49 ff.; ähnlich Doetz a.a.O. S. 4. BVerfGE 57, 298 ff.; 73, 118, 171. 35 Vgl. dazu auch Pressemitteilung 18/2005 der KEK vom 13.12.2005, abrufbar unter www.kek-online.de/cgi-bin/resi/i-presse/345.html. 34

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vorschlug. Erst recht schwebt es ihr nicht vor, das gesamte private Fernsehen binnenplural auszugestalten.36

V. Ausblick Die Regelungen im Rundfunkstaatsvertrag zur Sicherung der Meinungsvielfalt sind viel besser als ihr Ruf.37 Der Gesetzgeber war klug genug, den Tatbestand der „vorherrschenden Meinungsmacht“ nur durch Vermutungsregeln zu umschreiben. Das ist besser als der Versuch, eine Detailregelung zu treffen. Denn eins ist sicher: Die Wirklichkeit ist weitaus komplexer, als sich das ein Gesetzgeber vorher überhaupt vorstellen kann. Das Leben bringt unendlich viele neue Sachverhalte mit sich, die niemals vorab im Detail geregelt werden können. Auf solche neuen Herausforderungen kann man wesentlich besser mit einem Tatbestand reagieren, der unbestimmte und daher auslegungsbedürftige Begriffe enthält, solange diese ausreichend konkretisierbar sind. Dies ist bei dem Begriff „vorherrschende Meinungsmacht“ der Fall. Mit § 26 Abs. 2 RStV haben die Länder der unabhängigen und unparteilichen Sachverständigenkommission KEK, der die Auslegung des § 26 Abs. 1 RStV anvertraut ist, ein Leitbild an die Hand gegeben, was unter vorherrschender Meinungsmacht zu verstehen ist. Der dafür vorgegebene Maßstab ist im europäischen Vergleich nicht etwa streng, sondern großzügig. Dies ist im Hinblick auf die starke Stellung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland auch durchaus vertretbar. Das Modell, die Meinungsvielfalt im privaten Fernsehen durch ein in jeder Hinsicht unabhängiges und weisungsfreies Expertengremium zu sichern, hat sich also, wie auch und gerade der Fall Springer belegt, grundsätzlich bewährt. Zudem ist durch die Tätigkeit der KEK im Bereich des bundesweiten Fernsehens eine auch in Europa wohl einmalige Transparenz geschaffen worden, die Entscheidungen werden zügig getroffen und sind umfassend begründet. An der Trennung zwischen Kartell- und Medienrecht ist unbedingt festzuhalten. Das kartell- und das medienrechtliche Verfahren verfolgen unterschiedliche Ziele. Man würde das Kartellrecht überfrachten, wenn es für die Sicherung der Meinungsvielfalt sorgen sollte. Zudem fehlt dem Bund dafür die Zuständigkeit. Schließlich erkennt auch das Europarecht ausdrücklich an, dass die Mitgliedstaaten berechtigt sind, den Medienpluralismus außerhalb des Kartellrechts zu schützen. Die Sicherung der Meinungsvielfalt ist eine

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Dies unterstellt ihr aber Säcker a.a.O. S. 49 ff. Vgl. zur Diskussion um die Reformbedürftigkeit des Rundfunkstaatsvertrages auch epd medien 10/2006, S. 10 vom 22.2.2006. 37

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Grundvoraussetzung für die Informationsfreiheit und damit für die Demokratie. Ohne freie Meinungsbildung mit vielfältiger Information ist ein demokratisches Gemeinwesen nicht denkbar. Dies bedeutet nicht, dass die Verfahren vollständig getrennt ablaufen sollen. Vielmehr ist eine gegenseitige Abstimmung und Information erforderlich. Dafür sind die gesetzlichen Voraussetzungen durch die Bestimmungen der § 39a RStV und § 50c Abs. 2 GWB geschaffen worden, die sich in der Praxis bereits bewährt haben. Allerdings ist es durchaus möglich und begrüßenswert, die Vorschriften zur Sicherung der Meinungsvielfalt im Detail zu verbessern. So wird die Idee, die Meinungsvielfalt standortunabhängig und vorbeugend zu sichern, im Rundfunkstaatsvertrag nicht durchgängig umgesetzt und nur unzureichend verfahrensrechtlich abgesichert. Dies führt zu der Gefahr, dass sich die Verfahren bei der KEK verzögern. Auch kann es zu Reibungsverlusten im Verhältnis zu einzelnen Landesmedienanstalten kommen. Schließlich erweist es sich manchmal für die KEK als schwierig, im Konfliktfall die Verfahrensbeteiligten anzuhalten, ihren Mitwirkungspflichten nachzukommen. Diese Defizite lassen sich durchaus abstellen. So kann man die Weisungsunabhängigkeit der KEK durch eigenständige, das heißt nicht nur mittelbar über die jeweils zuständige Landesmedienanstalt geltend zu machende Auskunfts- und Ermittlungsbefugnisse absichern. Zudem sollten die Länder auf die verwaltungsinterne „Revisionsinstanz“ KDLM verzichten. Damit wird sichergestellt, dass die standortunabhängige KEK abschließend und verbindlich für die jeweilige Landesmedienanstalt über Fragestellungen der Meinungsvielfalt entscheidet. Selbstverständlich unterliegen die nachfolgenden Entscheidungen, die die Landesmedienanstalten auf dieser Grundlage gegenüber den Antragstellern treffen, der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle. Gerade im Fall Springer hat sich gezeigt, dass der KDLM nicht hinreichend klar ist, welche Rolle ihr bei der Sicherung der Meinungsvielfalt zugewiesen ist. Sie ist – anders als der Bundeswirtschaftsminister bei der Ausnahmebewilligung im Kartellverfahren nach dem GWB – eben kein politisches Entscheidungsgremium, sondern hat – genau wie die KEK – nach dem Maßstab des § 26 RStV zu entscheiden. Es macht keinen wirklichen Sinn, neben der KEK ein weiteres Expertengremium mit der Prüfung des § 26 RStV zu betrauen. Dies gilt insbesondere dann, wenn dieses Gremium wegen seiner Zusammensetzung eher Standortinteressen und sonstigen Einflüssen ausgesetzt ist als die KEK.

Gestaltung der deutschen Rundfunkordnung durch die europäische Beihilfenaufsicht? Carl-Eugen Eberle

Die Grundstrukturen des deutschen Rundfunkrechts werden bislang maßgeblich vom deutschen Verfassungsrecht geprägt. Besonderer Einfluss geht dabei vom Grundrecht der Rundfunkfreiheit in seiner Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht aus.1 Neben der Sicherung der Staatsferne des Rundfunks steht dabei die dienende Funktion des Rundfunks im Vordergrund, vor allem sein Beitrag für die öffentliche und individuelle Meinungsbildung und damit zugleich für den demokratischen Prozess.2 Damit verbunden ist die Sicherung der inhaltlichen Meinungsvielfalt im Programm und die Verhinderung vorherrschender Meinungsmacht über dieses Medium durch Einzelne oder Gruppen.3 Die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks vorrangig über Gebühren soll dabei sowohl dem Erfordernis der Staatsferne wie auch der von externen ökonomischen Einflüssen frei zu haltenden Programmgestaltung dienen.4 Die Ausgestaltung der Rundfunkordnung ist dem Gesetzgeber in den Ländern aufgegeben. Sie folgt bis heute dem Modell einer dualen Ordnung des Rundfunks, in der Programme sowohl in öffentlich-rechtlicher Verantwortung durch ARD und ZDF wie auch durch private Veranstalter verbreitet werden. Bestimmte Grundstandards wie Schutz der Menschenwürde und Jugendschutz, Trennung von Werbung und Programm, Gegendarstellungsrecht u.a. gelten für beide Säulen des dualen Systems. Weitergehende Pflichtenbindungen sind aber unterschiedlich verteilt. Danach obliegt es den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, nach Maßgabe ihres Funktionsauftrags die oben genannten, gerne unter dem Typusbegriff „Grundversorgung“ zusammengefassten Medienleistungen für die Gesellschaft zu erbringen.5 Für die privaten Rundfunkveranstalter stehen dagegen Regelungen zur Für wertvolle Anregungen und Hinweise danke ich meinem Mitarbeiter Gregor Wichert. 1 Vgl. Hesse Rundfunkrecht, 3. Aufl. München 2003, 59ff.; Gersdorf Grundzüge des Rundfunkrechts, München 2003, 21 ff. 2 BVerfGE 57, 295, 319 f. 3 BVerfGE 12, 205, 262. 4 BVerfGE 90, 60, 90. 5 BVerfGE 73, 118, 157; 74, 297, 326.

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Vielfaltsicherung im Vordergrund, inhaltliche Programmvorgaben haben zwischenzeitlich stark an Bedeutung verloren. Man kann diese „Arbeitsteilung“ in der dualen Rundfunkordnung auch plastisch auf einen einfachen Nenner bringen: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk bekommt Geld, um Programm zu machen, der private Rundfunk macht Programm, um Geld zu verdienen. Diese klar gefügte Ordnung ist insofern infrage gestellt, als neben den Vorgaben aus dem deutschen Verfassungsrecht auch solche aus dem Europarecht Beachtung erheischen. Von besonderer Bedeutung sind dabei von der Generaldirektion Wettbewerb formulierte Anforderungen aus dem europäischen Wettbewerbsrecht, namentlich dem Beihilferecht. Ob und in welcher Weise beihilferechtliche Anforderungen eine Umgestaltung der Rundfunkordnung erfordern, ist dabei eine ebenso weitreichende wie umstrittene Frage. Im nachfolgenden Beitrag soll dieser Frage nachgegangen werden. 1. Das Amsterdamer Protokoll über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Europa als Antwort auf beihilferechtliche Angriffe gegen den Rundfunk Jahrzehnte hat es gedauert, bis der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland in den Fokus des europäischen Wettbewerbsrechts oder, um es genauer zu sagen: der Generaldirektion Wettbewerb der Europäischen Kommission geriet. Deshalb tat man sich von Seiten des Rundfunks auch zunächst schwer, Verständnis für die beihilferechtlichen Attacken der privaten Konkurrenz gegen die deutsche Rundfunkfinanzierung zu entwickeln. In mehreren Beschwerden reklamierten der VPRT bzw. einzelne kommerzielle Fernsehveranstalter die Anwendung beihilferechtlicher Vorschriften auf ARD und ZDF.6 Der Vorwurf ging dahin, der öffentlich-rechtliche Rundfunk erhalte mehr Finanzmittel als nötig, finanziere in wettbewerbsverzerrender Weise kommerzielle Aktivitäten aus Gebühren, betreibe Internet- und mobile Dienste und bewege sich so außerhalb seiner angestammten Aufgabenfelder und behindere auch dort den Wettbewerb. Ziel dieser Beschwerden ist es offensichtlich, Aufgaben und Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks einzuschränken, ihn als Wettbewerber auf einem – wie auch immer zu bestimmenden – Rundfunkmarkt zu schwächen und so die Wettbewerbsposition der kommerziellen Rundfunkveranstalter zu stärken. Andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union wie insbesondere Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Großbritannien, Dänemark und Holland 6 Vgl. das Auskunftsersuchen der Generaldirektion Wettbewerb der Europäischen Kommission vom 3.3.2005, abgedruckt in Funkkorrespondenz 10/2005, 9ff. sowie die Antwort der Bundesregierung hierauf vom 6.5.2005, abgedruckt in Funkkorrespondenz 33/ 2005, 3ff.

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sahen sich plötzlich ebenfalls mit beihilferechtlichen Beschwerden gegen die Finanzierung ihrer jeweiligen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten konfrontiert. Nicht von ungefähr haben sich die Mitgliedstaaten als Herren der europäischen Verträge angesichts dieser Entwicklung auf das Amsterdamer Protokoll über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Europa verständigt.7 Dieses Protokoll, das Bestandteil des EG-Vertrages wurde, hatte durchaus zum Ziel, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk vor beihilferechtlichen Angriffen zu schützen, die seine Funktion gefährden könnten. Das Amsterdamer Protokoll sollte den Anstalten also eine Art „safe harbour“ verschaffen. Das Protokoll anerkennt ausdrücklich den Beitrag des öffentlichen Rundfunks zur demokratischen Willensbildung, zur gesellschaftlichen Integration, zur Kultur und zum Pluralismus in den Mitgliedstaaten. Diese für die Gesellschaften unverzichtbaren Leistungen rechtfertigen es, die Finanzierung der Rundfunkanstalten grundsätzlich von den Regelungen des Vertrages, also insbesondere von den beihilferechtlichen Regelungen, unberührt zu lassen, wie es im Protokoll heißt. Dies gilt unter zwei Voraussetzungen: (1) Die Finanzierung muss dem Auftrag dienen, wie er von den Mitgliedstaaten den Anstalten übertragen, festgelegt und ausgestaltet wird. An dieser Stelle neigt die Generaldirektion Wettbewerb dazu, gewissermaßen als Superrevisionsinstanz den Mitgliedstaaten Vorgaben zu machen, wie präzise sie den Funktionsauftrag der Anstalten zu definieren haben. So zweifelt sie z.B. an, ob der Online-Auftrag von ARD und ZDF mit der staatsvertraglichen Präzisierung, dass die Angebote nur „programmbegleitend und mit programmbezogenem Inhalt“ veranstaltet werden dürfen, ausreichend konkret festgelegt ist.8 Zugleich hat sie ihre Vorstellungen davon, was als „manifest error“ jedenfalls nicht zum öffentlichen Auftrag gehören kann. Insoweit werden z.B. Angebote zum Empfang auf mobilen Endgeräten infrage gestellt.9 Schließlich wird bezweifelt, ob der Erwerb exklusiver Sportrechte zum Funktionsauftrag gehört.10 An dieser Stelle muss sich die Generaldirektion Wettbewerb fragen lassen, ob sie mit solchen Vorstellungen und Vorgaben nicht den durch das Protokoll vorgegebenen Rahmen überschreitet, den sie bei ihren Prüfungen einzuhalten hat. Im Überschneidungsbereich der Kompetenzen von Union und Mitgliedstaat – und um einen solchen handelt es sich hier – gilt das Gebot der kompetenzrechtlichen Rücksichtnahme. Mit gutem Grund respektiert das 7 Zum Amsterdamer Protokoll vgl. Stulz-Herrnstadt Nationale Rundfunkfinanzierung und europäische Beihilfenaufsicht im Lichte des Amsterdamer Rundfunkprotokolls, Berlin 2004. 8 Vgl. Auskunftsersuchen (Fn. 6) Rn. 182 ff. 9 Vgl. Auskunftsersuchen (Fn. 6) Rn. 192 f. 10 Vgl. Auskunftsersuchen (Fn. 6) Rn. 196, 231 ff.

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Protokoll die historisch gewachsenen, häufig verfassungsrechtlich geprägten und demokratisch legitimierten Strukturen der Medienordnung in den Mitgliedstaaten. Ohne Not sollten sich die Kommissionsbeamten nicht darüber hinwegsetzen und ihre Vorstellungen von Aufgaben und Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks an deren Stelle setzen. Dies gilt um so mehr, als der Funktionsauftrag von ARD und ZDF Gegenstand ausführlicher öffentlicher Diskussion ist, der im parlamentarischen Rechtssetzungsverfahren seinen Abschluss findet. Auf diese Weise ist der staatsvertraglich fixierte Programmauftrag der Anstalten, speziell zu den Internet-Aktivitäten etwa, Ausdruck einer demokratischen Willensbildung. Der Erwerb von Exklusivrechten im Sport ist durchaus marktüblich und wird vom Bemühen um ein attraktives, konkurrenzfähiges Programm getragen.11 Ein solches ist nötig, damit das Programm insgesamt seinem Meinungsbildungs- und Integrationsauftrag gerecht werden kann, der auf eine möglichst breite Zuschauerschaft angelegt ist. Speziell das Bundesverfassungsgericht erwartet aus diesen letztlich im Verfassungsrecht gründenden Überlegungen, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk ein wettbewerbsfähiges Programm anbietet.12 An dieser Stelle hat tatsächlich ein Kommissionsbeamter im Rahmen einer Diskussionsveranstaltung spontan eingewandt: „Was das Bundesverfassungsgericht sagt, interessiert uns nicht“. Kann es aber wirklich Sache eines Teams von Case-Handlern sein, sich ohne weiteres über eine tief im Verfassungsdenken eines Mitgliedstaates wurzelnde Rechtstradition schlicht hinwegzusetzen und eine eigene, marktideologisch geprägte Auffassung vom Programmauftrag als Maßstab heranzuziehen? Dies ist um so unverständlicher, als die Generaldirektion Wettbewerb in ihrer Beihilfemitteilung einer weiten Auftragsdefinition für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk das Wort redet, die selbstverständlich auch Internet-Angebote mit einschließen kann.13 Kommissarin Reding hat noch am 19.4.2005 betont, dass Bestand und Weiterentwicklung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks von Brüssel nicht angetastet werden sollen.14 Vor allem aber muss an dieser Stelle daran erinnert werden, dass den europäischen Instanzen im EG-Vertrag aufgegeben ist, die nationale Identität der Mitgliedstaaten zu achten.15 Dies schließt die Respektierung der Verfas11 Zur Sportrechteproblematik vgl. Wiedemann Sportrechte im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, Funkkorrespondenz 50/2005, 3 ff. 12 BVerfGE 90, 60, 92. 13 Vgl. Mitteilung der Kommission über die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk (Rundfunkmitteilung), ABl. C 320/5 v. 15.11.2001, Rn. 33 f. 14 Vgl. Vortragsmanuskript „Der öffentlich-rechtliche Rundfunk in einer konvergierenden Medienwelt“ (Speech/05/242). 15 Art. 6 Abs. 3 EU-Vertrag.

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sungsordnungen der Mitgliedstaaten mit ein. Die Kommission ist gut beraten, diese Grenzen ihrer Kompetenzen einzuhalten, will sie nicht die Akzeptanz ihrer Entscheidungen gefährden. (2) Als zweite Voraussetzung darf die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks die Handels- und Wettbewerbsbedingungen in der Gemeinschaft nicht in einem Ausmaß beeinträchtigen, das dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft, wobei allerdings den Erfordernissen der Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Auftrags Rechnung zu tragen ist. Nur dann also, wenn Wettbewerbsbeeinträchtigungen großen Ausmaßes zu verzeichnen sind, lässt das Beihilferegime die Rundfunkfinanzierung nicht unberührt. Hier macht es sich die Praxis der Beihilfenaufsicht grundsätzlich zu leicht. Regelmäßig wird lediglich mit der Vermutung gearbeitet, die Rundfunkfinanzierung führe zu Wettbewerbsverzerrungen.16 Weder werden die Märkte klar beschrieben noch werden Art und Ausmaß einer Wettbewerbsverzerrung in der vom Amsterdamer Protokoll geforderten Intensität belegt. Die Beweislast hierfür liegt aber bei der Generaldirektion Wettbewerb. So werden die Beschwerden bearbeitet, ohne dass dieses wichtige Aufgreifkriterium für die Beihilfenkontrolle nachgewiesen wird. Diese Beispiele zeigen, dass die Generaldirektion Wettbewerb die rundfunkspezifischen Beschwerdefälle so bearbeitet, als ob das Amsterdamer Protokoll überhaupt nicht existiere. Die Entlastung, die sich dessen Verfasser für den sensiblen Bereich der Beihilfenkontrolle im Rundfunk versprochen hatten, ist deshalb nicht eingetreten. Und so bleibt der Verdacht unwiderlegt, dass die GD Wettbewerb sich schlicht zum Erfüllungsgehilfen der kommerziellen Beschwerdeführer macht. Sie wollen über die Brüsseler Beihilfeadministration rundfunkpolitische Entscheidungen herbeiführen, die ihnen der demokratisch legitimierte nationale Gesetzgeber versagt. 2. Der Streit um den Beihilfecharakter der deutschen Rundfunkgebühren Aber nicht nur über Auslegung und Reichweite des Amsterdamer Protokolls gibt es Differenzen, auch der Beihilfebegriff ist im Streit. Darüber, ob es sich bei der deutschen Rundfunkgebühr überhaupt um eine Beihilfe handelt, gibt es einen Dissens zwischen der Generaldirektion Wettbewerb einerseits und der deutschen Seite, d.h. Bund, Ländern und Rundfunkanstalten, die hier geschlossen auftreten, andererseits.17 Die deutsche Seite ist der Ansicht, dass es sich bei den Rundfunkgebühren schon gar nicht um staatliche Mittel

16 Vgl. Auskunftsersuchen (Fn. 6), Rn. 144 ff.; kritisch hierzu Antwort der Bundesregierung (Fn. 6), Rn. 306. 17 Vgl. Auskunftsersuchen (Fn. 6), Rn. 113 ff.; Antwort der Bundesregierung (Fn. 6), Rn. 271ff.

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handelt. Nach der Rechtsprechung des EuGH 18 sind das nur solche, die unmittelbar oder mittelbar aus staatlichen Haushalten stammen. Das trifft auf die deutschen Rundfunkgebühren nicht zu, die nicht aus der Staatskasse fließen, sondern beim Rundfunkteilnehmer unmittelbar erhobenen werden. Wenn die Generaldirektion Wettbewerb dagegen auf die gesetzliche Regelung und staatliche Vollstreckung bei der Eintreibung der Gebühren abstellt und sie deshalb zu staatlichen Mitteln deklariert 19, dann muss sie sich vorhalten lassen, dass staatlich verantwortete Mittel eben noch keine staatlichen Mittel sind.20 Umstritten ist sodann, ob die Rundfunkgebühr eine Begünstigung darstellt, wie das die GD Wettbewerb annimmt. Nach der Rechtsprechung des EuGH 21 ist das nicht der Fall, wenn die Gebühr lediglich den Aufwand abdeckt, der mit der Erfüllung des öffentlichen Auftrags verbunden ist. Auch hier ist sich die deutsche Seite wiederum einig, dass das Verfahren zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Anstalten, wie es von der unabhängigen Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs anhand objektiver und transparent nachvollziehbarer Kriterien durchgeführt wird, jegliche Überkompensation und damit eine Begünstigung ausschließt.22 3. Selbstverpflichtungen der Rundfunkanstalten als Ausweg aus dem Dilemma Angesichts solcher rechtsdogmatisch begründeter Divergenzen von erheblichem Gewicht scheint eine gerichtliche Auseinandersetzung unausweichlich. Diese will man jedoch – bislang jedenfalls – vermeiden und sucht nach Auswegen. So hat die deutsche Seite, wiederum einvernehmlich, zweckdienliche Maßnahmen vorgeschlagen, mit denen zentralen, von der Generaldirektion Wettbewerb verfolgten Zielen entsprochen werden kann.23 Sie lässt sich nämlich auf eine Sichtweise ein, die einem Grundgedanken der europäischen Wettbewerbsordnung Rechnung trägt, wonach zwischen der Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Auftrags einerseits und kommerzieller Aktivitäten andererseits streng zu trennen und eine Querfinanzierung solcher Aktivitäten aus Gebührenmitteln zu vermeiden ist. Für diese Sichtweise wurde in Deutschland bislang keine Notwendigkeit gesehen, da die Finanzierung der Anstalten dort strikt bedarfsbezogen

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EuGH, Rs. C-379/98, PreussenElektra, Urt. v. 13.3.2001, Rn. 58 m.w.N. Vgl. Auskunftsersuchen (Fn. 6), Rn. 115. 20 Vgl. Antwort der Bundesregierung (Fn. 6), Rn. 279ff. 21 EuGH, Rs. C-53/00, Ferring/ACOSS, Urt. v. 22.11.2001, Rn. 26ff.; EuGH, Rs. C-280/00, Altmark, Urt. v. 24. Juli 2003, insb. Rn. 83ff. 22 Vgl. Antwort der Bundesregierung (Fn. 6), Rn. 284ff. 23 Vgl. Antwort der Bundesregierung (Fn. 6), Rn. 7–41. 19

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erfolgt und Einkünfte aus kommerzieller Tätigkeit in die Bedarfsberechnung immer einbezogen wurden. Wenn sich ARD und ZDF und mit ihnen Bund und Länder ungeachtet dessen auf die den Gesichtspunkten der Transparenz und Trennung verpflichteten Zielsetzungen der Union eingelassen haben, dann halten sie sich damit an das oben beschriebene Gebot der kompetenzrechtlichen Rücksichtnahme. Danach lassen sich diese Zielsetzungen verwirklichen, ohne dass dem Hindernisse aus deutschem Recht oder sonstige schwerwiegende Interessen entgegenstehen, so dass ein schonender Ausgleich der Interessen in diesem Punkt die Umsetzung des Transparenz- und Trennungsgebots nahe legt. Dies soll in der Form von Selbstverpflichtungen der Anstalten nach Maßgabe einer staatsvertraglichen Rahmensetzung erfolgen, also entsprechend dem Modell der Koregulierung („regulierte Selbstregulierung“), das von der Kommission für den Bereich der Medienregulierung besonders favorisiert wird. Die Arbeiten hieran sind bereits weit fortgeschritten. Was sind die Gegenstände einer solchen Selbstverpflichtung? Zunächst werden die kommerziellen Aktivitäten definiert. Da die Transparenzrichtlinie nur zwischen Aktivitäten innerhalb und außerhalb des Aufgabenkreises einer Anstalt unterscheidet, muss der Begriff der kommerziellen Aktivitäten, den die Generaldirektion Wettbewerb gerne verwendet, anhand konkreter Betätigungsfelder eingegrenzt werden. Für kommerzielle Aktivitäten und generell für Beteiligungsunternehmen der Anstalten werden sodann Regeln eingeführt, die marktkonformes Verhalten auf diesem Sektor gewährleisten und eine Quersubventionierung durch Gebühren ausschließen. Eine gesonderte Rechnungslegung für die kommerziellen Bereiche soll nachvollziehbar machen, dass keine Gebührengelder unerlaubt in diese Geschäfte fließen und dort zu einer Wettbewerbsverzerrung führen können. Schließlich werden Aufsicht- und Kontrollverfahren installiert, die eine strikte Befolgung dieser Regeln in der Praxis gewährleisten sollten. Die deutsche Seite hält dies für einen Schritt in die richtige Richtung und geht davon aus, dass dieser Vorschlag von der Generaldirektion Wettbewerb entsprechend gewürdigt wird. Sie geht allerdings auch davon aus, dass auf der Grundlage der von ihr insgesamt vorgeschlagenen zweckdienlichen Maßnahmen die Beschwerdeverfahren einvernehmlich beendet werden. Mit diesem Vorbehalt sind sie auch unterbreitet worden. Die Reaktion der Generaldirektion Wettbewerb auf diese Vorschläge steht noch aus. 4. Methodische Neuausrichtung: Der „ökonomische Ansatz“ Die Überlegungen zum Stand und einigen Problemfeldern der laufenden beihilferechtlichen Beschwerdeverfahren werfen die weitergehende Frage auf, ob Wortlaut und Sinn des Amsterdamer Protokolls zum öffentlichrechtlichen Rundfunk in Europa im Sinne eines „ökonomischen Ansatzes“

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(„more economic approach“) nicht eine grundsätzlich andere Behandlung der Beschwerden gebieten.24 Denn die Rundfunkgebühr führt im Ergebnis nicht zu einer Marktverzerrung, sondern ermöglicht das Angebot von Leistungen, die über Marktmechanismen nicht erbracht werden. Auch die Kommission scheint sich dessen bewusst zu sein. In der Rundfunkmitteilung heißt es, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk trotz seiner wirtschaftlichen Bedeutung nicht mit öffentlichen Anbietern anderer Wirtschaftsbereiche vergleichbar ist.25 Deshalb ist auch der sogenannte Zuschauermarkt, auf dem die Einschaltquoten der Programme und ihr „Marktanteil“ gemessen werden, kein wettbewerbsrechtlich relevanter Markt. Worin besteht nun dieser Unterschied und welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen? Die dem EG-Vertrag und dem Beihilfeverbot zugrundeliegende ökonomische Modellvorstellung ist für die Wettbewerbsmärkte im Bereich der privaten Güter entwickelt worden. Für diesen Bereich ist anerkannt, dass der Markt als Institution in idealer Weise über die Steuerungsfunktion des Preises Angebot und Nachfrage zueinander optimiert. Diese Steuerungsfunktion durch den Preis gibt es beim Free TV nicht. Denn die Zuschauer zahlen nicht für das Gut Rundfunk. Deshalb ist auch der sogenannte Zuschauermarkt, auf dem die Einschaltquoten („Marktanteile“) der Programme gemessen werden, kein wettbewerbsrechtlich relevanter Markt.26 Zwar lässt sich auch für das Free TV ein Markt diagnostizieren, er besteht allerdings nur im Verhältnis zwischen den Fernsehsendern und den Werbekunden. Nur in diesem Verhältnis funktioniert die Optimierungsfunktion des Marktes. Dort sorgt der Markt dafür, dass der werbetreibenden Wirtschaft möglichst große und kaufkräftige Publika zu möglichst effizienten Bedingungen zur Verfügung gestellt werden. Im Verhältnis zum Zuschauer handelt es sich bei dem Angebot, das vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk auftragsgemäß erwartet wird, um ein öffentliches Gut, das vom Markt allein nicht erbracht wird. Anders als früher erhebt der private Rundfunk heute keinen Anspruch mehr, zur Grundversorgung beizutragen, vielmehr ist die Orientierung der privaten Programme ausschließlich an ökonomischen Zielen augenscheinlich. Diese Ziele sind aber im Free TV, wie gezeigt, nicht identisch mit den Zuschauerbedürfnissen, sondern mit denen der Werbekunden. Belegt wird dies etwa am Beispiel der 24 Zu diesem Ansatz vgl. Hildebrand Der „more economic approach in der Wettbewerbspolitik“, WuW 2005, 513 ff.; Schmidtchen Der „more economic approach“ in der Wettbewerbspolitik, WuW 2006, 6 ff. 25 Vgl. Rundfunkmitteilung (Fn. 12) Rn. 6. 26 BKartA B6 – 103/05 v. 19.1.2006 , Axel Springer/Pro Sieben Sat1 Media; EU-Kommission v. 20.9.1995 ABl. 1996 Nr. L 134, 32, 37 ff., RTL/Veronica/Endemol; Frey Die europäische Fusionskontrolle und die Medienvielfalt, ZUM 1998, 985; a.A. Trafkowski, Medienkartellrecht, München 2002, 33 ff.

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älteren Zuschauer – immerhin 40 % sind über 50-Jährige –, deren Sehwünsche von der kommerziellen Programmplanung schlicht ausgeblendet werden. Werden also die vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk erbrachten Leistungen gegenüber den Zuschauern als öffentliche Güter gewissermaßen außerhalb der Marktgesetzlichkeiten und nach Maßgabe des ihm übertragenen Funktionsauftrags erbracht, so ist das die eine Besonderheit des Rundfunks. Die andere besteht darin, dass die herkömmlichen Marktgesetzlichkeiten beim frei empfangbaren Fernsehen versagen. Dieses liegt zum einen daran, dass sich die Dienstleistung Fernsehen durch den Konsum nicht verbraucht und ohne Einbuße von beliebig vielen Zuschauern genutzt werden kann. Zum anderen werden Konzentrationstendenzen und die Herausbildung von Monopolen durch die hohen Fixkosten in der Produktion und die geringen Grenzkosten in der Distribution begünstigt. Außerdem bestehen aus den gleichen Gründen außerordentlich hohe Marktzutrittsbarrieren.27 Kann man angesichts dieser Besonderheiten bei der Beihilfenaufsicht im Rundfunkbereich wirklich von der ökonomischen Modellvorstellung ausgehen, dass es für Rundfunkdienstleistungen einen funktionierenden Markt gibt, der durch die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks verzerrt wird? Die Antwort ist ein klares Nein. Ungeachtet dessen führt das nicht dazu, dass die Generaldirektion Wettbewerb beihilferechtliche Vorschriften mit Rücksicht auf die fragwürdigen Anwendungsvoraussetzungen vorsichtig und schonend auslegt, sondern sie vielmehr die Anforderungen sogar noch verschärft. Einige Beispiele: Statt einer Definition des Auftrags des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, wie er nach der Rechtsprechung des EuGH erforderlich ist, wird eine „präzise Auftragsdefinition“ verlangt.28 Statt einer ausdrücklichen Beauftragung, wie sie für andere Wirtschaftsbereiche nötig ist, muss der öffentlich-rechtliche Rundfunk eine Beauftragung „im Wege einer förmlichen Rechtshandlung“ und eine Erfüllungskontrolle nachweisen.29 Während nach der Rechtsprechung des EuGH die Ausgleichszahlung bloß verhältnismäßig sein muss, wird für die Rundfunkfinanzierung eine Beschränkung auf „Nettokosten des öffentlich-rechtlichen Auftrags“ gefordert.30 Während nach der Beihilfenmitteilung eine Überprüfung des Auftrags nur auf „manifest errors“, also offensichtliche Fehler, erfolgt, findet bei ARD und ZDF eine detaillierte Prüfung einzelner Angebote statt. So werden u.a. die Berichterstattung über Sportereignisse, insbesondere der

27 Zu den Defiziten der marktlichen Erbringung von Rundfunkdienstleistungen vgl. Schulz/Held/Kops Perspektiven der Gewährleistung freier öffentlicher Kommunikation, ZUM 2001, 621, 629ff. 28 Vgl. Auskunftsersuchen (Fn. 6) Rn. 177. 29 Vgl. Auskunftsersuchen (Fn. 6) Rn. 197 ff. 30 Vgl. Auskunftsersuchen (Fn. 6) Rn. 207.

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Erwerb exklusiver Senderechte 31 oder die Frage problematisiert, ob in einem öffentlich-rechtlichen Online-Angebot auch spielerische Elemente enthalten sein dürfen 32. Wie verträgt sich dieses „Anziehen der Zügel“ bei der Beihilfenkontrolle im Rundfunkbereich mit der Tatsache, dass eine Wettbewerbsverzerrung gar nicht wirklich nachgewiesen wurde und auf den Märkten, auf denen sie von der Generaldirektion Wettbewerb wohl vermutet wird, mangels einer typischen Marktsituation gar nicht vorliegen kann? Hier sind weitere Überlegungen notwendig, wie künftig den Vorgaben des Amsterdamer Protokolls, das ja zu einer Entlastung des sensiblen Rundfunkbereichs, zu einem Schutzraum gewissermaßen vor Brüsseler Eingriffen dienen soll, besser nachgekommen werden kann. Der Vorschlag sollte dahin gehen, den „ökonomischen Ansatz“ auch tatsächlich anzuwenden und die ökonomischen Besonderheiten des öffentlichen Gutes, das der öffentlich-rechtliche Rundfunk bereitstellt, im Rahmen des Aufgreiftatbestands bei der Beihilfekontrolle zu würdigen, wie es das Amsterdamer Protokoll ja auch nahe legt. Ist also der Funktionsauftrag der Anstalten bestimmt, ist eine bedarfsgerechte Finanzierung unter Ausschluss jeder Überkompensation methodisch gesichert und ist eine Quersubventionierung kommerzieller Aktivitäten ausgeschlossen, dann sollten diese Eckpunkte den „safe harbour“ markieren, in dem der öffentlich-rechtliche Rundfunk vor beihilferechtlichen Stürmen sicher ankern kann.

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Vgl. Auskunftsersuchen (Fn. 6) Rn. 232 ff. Vgl. Auskunftsersuchen (Fn. 6) Rn. 189.

18 Jahre Eurovisionsverfahren und kein Ende? 1 Adrian Fikentscher Inhaltsübersicht I. Bisheriger Verfahrensverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Stellt der gemeinsame Einkauf von Sportübertragungsrechten durch die EBU eine Wettbewerbsbeschränkung dar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Erfüllt der exklusive Erwerb von Sportrechten den Tatbestand der Wettbewerbsbeschränkung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Stellen die Sportübertragungsrechte an den Olympischen Sommer- oder Winterspielen einen eigenen Markt dar? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ist der gemeinsame Einkauf der EBU wettbewerbsfördernd und zum Vorteil des Konsumenten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . 508 . . 509 . . 511 . . 513 . . 518 . . 520

Den Fall Eurovision dürfte jeder Kartellrechtler kennen als den, soweit bekannt, bislang einzigen Fall, in dem eine Entscheidung der Kommission zweimal vom Gericht erster Instanz aufgehoben wurde. Bei der näheren Betrachtung der Verfahrensgeschichte fällt aus heutiger Sicht auf, dass wesentliche für die wettbewerbsrechtliche Bewertung maßgebliche Gesichtspunkte im bisherigen Verfahrensverlauf nicht näher analysiert wurden, weder in den Entscheidungen der Kommission noch in denen der europäischen Gerichte, deren Berücksichtigung zu einem baldigen Ende des Verfahrens führen könnten. Der nachfolgende Beitrag wirft daher einen kurzen Blick zurück auf den bisherigen Verfahrensverlauf, um anschließend anhand von vier zentralen Gesichtspunkten der Frage nachzugehen, inwieweit die Weiterführung des Verfahrens noch gerechtfertigt ist. 1 Vorliegender Beitrag beruht auf einem Referat, das der Verfasser auf dem Sportrechtssymposium „Übertragungsrechte für Sportereignisse im europäischen Wettbewerbsrecht“ des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Privatrecht am 20.5.2005 in Hamburg gehalten hat und dessen mündliche Fassung in der ZEuP 2/2006 erschienen ist. Zum gleichen Thema siehe die Beiträge von Holger Ensslin, Thomas Graf und Andreas Heinemann im gleichen Band; ferner Adrian Fikentscher, Joint purchasing of Sports Rights – A Legal Viewpoint, in Claude Jeanrenaud/Stefan Kesenne; The Economics of Sports and the Media, London, im Erscheinen für 2006, sowie Verena Wiedemann, Sportrechte im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, Funkkorrespondenz 50/05, 3, 16f.

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I. Bisheriger Verfahrensverlauf Anlässlich von Beschwerden privater Rundfunkveranstalter bei der Kommission eröffnete diese im Jahre 1988 ein Verfahren gegen die Einkaufsgemeinschaft Eurovision der Europäischen Rundfunkunion (EBU),2 das mit einer Freistellungsentscheidung der Kommission vom 11. Juni 1993 endete.3 Die Kommission stellte für die Freistellung maßgeblich darauf ab, dass die Einkaufsgemeinschaft Eurovision der Erfüllung des gesetzlichen Programmauftrages der öffentlich-rechtlichen Mitglieder der EBU diene. Das Gericht erster Instanz (EuG) hob mit Urteil vom 11. Juli 1996 die Entscheidung der Kommission auf mit der Begründung, dass von der Kommission nicht hinreichend geprüft worden sei, inwieweit die Auftragserfüllung eine Einkaufsgemeinschaft erfordere.4 Mit ihrer Entscheidung vom 10. Mai 2000 5 erteilte die Kommission eine zweite Freistellung zugunsten der Einkaufsgemeinschaft, dieses Mal auf der Grundlage von Sublizenzverpflichtungen, die die EBU zugunsten von Nichtmitgliedern eingegangen war. In seiner zweiten Entscheidung zur Eurovision hob das EuG am 8. Oktober 2002 6 die Entscheidung der Kommission wiederum auf und stellte fest, dass die Sublizenzbestimmungen nicht weitgehend genug seien, da sie den Mitgliedern der EBU die Möglichkeit einräumten, ungenutzte Rechte bei der Fußball-WM nicht sublizensieren zu müssen. Wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs, da das EuG seine Entscheidung auf Gesichtspunkte gestützt hatte, die im Verfahren zuvor nicht näher erörtert worden waren, legte die EBU Beschwerde beim EuGH ein, die durch Beschluss vom 27. September 2004 zurückgewiesen wurde.7 Damit lag das Verfahren wieder in den Händen der Kommission. Dort geht es, wie seit Beginn des Verfahrens, um die Frage, inwieweit die EBU mit ihrer Einkaufsgemeinschaft unter Art. 81 Abs. 1 EG fällt, und, soweit Art. 81 Abs. 1 EG verletzt ist, eine Rechtfertigung nach Art. 81 Abs. 3 EG möglich ist. Dabei spielen insbesondere die folgenden vier Gesichtspunkte, teils in horizontaler, teils in vertikaler Hinsicht eine wesentliche Rolle.

2 Näheres zur EBU ist unter www.ebu.ch sowie unter www.eurovision.net im Internet abrufbar. 3 Entscheidung der Kommission vom 11.06.1993, Eurovision I, ABl. 1993 L 179/23. 4 EuG 11.07.1996, verbundene Rechtssachen (verb. Rs.) T-528/93, T-542/93, T-543/93 and T-546/93, (Métropole u.a./Kommission), abrufbar unter abrufbar unter http://curia.eu. int/index.htm. 5 Entscheidung der Kommission vom 10. Mai 2000 Eurovision II, ABl. 2000 L 151/18, abrufbar unter http://europa.eu.int/eur-lex/pri/en/oj/dat/2000/l_151/l_15120000624en 00180041.pdf. 6 EuG 8. Oktober 2002, verb. Rs. T-185/00, T-216/00, T-299/00, T-300/00 (Métropole u.a./Kommission), Slg. 2002, 3805, abrufbar unter http://curia.eu.int/index.htm. 7 EuGH, 27.04.2004, C-470/02 (UER/Commission), ABl. 2004 C 314/2.

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II. Stellt der gemeinsame Einkauf von Sportübertragungsrechten durch die EBU eine Wettbewerbsbeschränkung dar? Die Antwort lautet: Beim gemeinsamen Einkauf von Sportübertragungsrechten an Sportgroßereignissen, wie z.B. der Olympischen Spiele, durch die Europäische Rundfunkunion (EBU) liegt schon deshalb keine Verletzung von Artikel 81 Abs. 1 EG vor, weil hier keine Vereinbarung zwischen Wettbewerbern vorliegt, sondern zwischen Unternehmen, die auf verschiedenen geographischen Märkten operieren. Soweit ausnahmsweise mit ARD und ZDF zwei Mitglieder beteiligt sind, stellt sich die Frage, ob diese im Hinblick auf die zwischen ihnen bestehende Koordinierungspflicht sowie auf die Art und Weise ihrer Finanzierung noch als zwei selbständige Unternehmen betrachtet werden müssen, ferner inwieweit durch die Kooperation der Markt beeinträchtigt wird, weil die Finanzkraft ja nicht gebündelt wird. Dies erklärt sich aus Folgendem. Um den gemeinsamen Einkauf durch die EBU kartellrechtlich zu bewerten, bedarf es einer sorgfältigen Analyse dessen, was die EBU ist und was sie tut. Die EBU ist ein Verein nach Schweizerischem Recht und eine ihrer Aufgaben ist es, für ihre Mitglieder nationale Ausstrahlungsrechte an Sportveranstaltungen, die europaweit angeboten werden, zu erwerben. Sie tut dies seit der Zeit, seit der exklusive Sportrechte für Fernsehübertragungen gehandelt werden, d.h. seit Mitte der fünfziger Jahre. Die Mitglieder nehmen freiwillig am gemeinsamen Einkauf teil. Sie entscheiden in jedem Einzelfall selbst, ob sie individuell um Rechte bieten möchten, wenn dies vom Rechteinhaber gestattet wird, oder ob sie die Rechte gemeinsam über die EBU erwerben wollen. In über 95 Prozent der geltenden Verträge stammen die beteiligten Mitglieder aus verschiedenen Ländern, so z.B. auch bei den Olympischen Verträgen. Sie sind allein am Erwerb von Rechten in ihrem Sendegebiet interessiert. Mit anderen Worten: Die am gemeinsamen Einkauf teilnehmenden Mitglieder sind grundsätzlich keine Konkurrenten, sondern sie operieren auf verschiedenen geographischen Märkten. In Frankreich erwerben die Mitglieder France Télévisions und TF1 keine Rechte gemeinsam über die EBU, ebensowenig wie in England die BBC und ITV. Von diesem Grundsatz gibt es eine Ausnahme. Für Deutschland partizipieren beide Mitglieder im gemeinsamen Sportrechteerwerb, nicht nur bei den Olympischen Spielen, sondern auch bei vielen anderen Sportereignissen. Jedoch ist in Deutschland die Situation speziell im Vergleich zu allen anderen Rundfunksystemen in Europa. Erstens verfügen beide Sender ARD und ZDF über nur jeweils ein nationales Vollprogramm. Damit unterscheiden sie sich von allen anderen öffentlich-rechtlichen Sendern in Europa, die zur Erfüllung ihres Programmauftrages auf jeweils mindestens zwei Vollprogramme zurückgreifen können. Zweitens wurde im Jahre 1963 mit der Gründung des ZDF die Obliegenheit eingeführt, nach der Veränderungen des Pro-

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grammschemas im ZDF-Fernsehprogramm mit der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland (ARD) abzustimmen sind.8 Dies ist insbesondere bei mehrteiligen und -tägigen Sportereignissen geboten, wie sie gerade über die EBU erworben werden. Diese Ereignisse nehmen von Natur aus viel Sendezeit in Anspruch. Der Abstimmungsobliegenheit ist damit eine Koordinierung des Sportrechteeinkaufs immanent. Schließlich ist die Situation in Deutschland auch deshalb eine besondere, weil die Mitglieder ihre Finanzierung aus einer gemeinsamen Quelle erhalten, aus der Rundfunkgebühr. Bei der Bedarfsanmeldung der Programmrechtekosten im Rahmen des Festsetzungsverfahrens der Rundfunkgebühren 9 wird der Umstand, dass beide Anstalten bspw. die Olympischen Spiele gemeinsam einkaufen wollen, bereits berücksichtigt. Das bedeutet, der gemeinsame Einkauf erhöht nicht die Finanzkraft des gemeinsamen Angebots. Wo liegt also die wettbewerbsbeschränkende Wirkung des gemeinsamen Einkaufs? Würde man den (neuen) § 1 GWB auf den gemeinsamen Einkauf der EBU in Europa anwenden, wäre die Rechtslage eindeutig: § 1 GWB verlangt das Vorliegen von Vereinbarungen zwischen (aktuellen oder potentiellen) Konkurrenten. Ein aktuelles oder potentielles Wettbewerbsverhältnis ist anzunehmen, wenn die Unternehmen auf einem sachlich, räumlich und zeitlich gemeinsamen Markt aktuell oder potentiell als Anbieter oder Nachfrager tätig sind. Bei auf verschiedenen geographischen Märkten tätigen Sendern wäre § 1 GWB nicht erfüllt. Auch wenn bei Artikel 81 EG das Merkmal „Wettbewerbsverhältnis“ im Tatbestand fehlt, so geht auch das EG-Kartellrecht von der Differenzierung zwischen horizontalen und vertikalen Wettbewerbsabreden aus, die, anders als beim GWB, im gleichen Tatbestand, nämlich in Artikel 81 EG, geregelt werden. Bei den horizontalen Abreden, um die es bei einer Einkaufsgemeinschaft geht, hält auch das EG-Recht allein Abreden zwischen Wettbewerbern relevant. Dies ergibt sich sowohl aus der Entscheidungspraxis der Kommission und der europäischen Gerichte als auch aus den Leitlinien der Kommission zu horizontalen Vereinbarungen.10 Hinsichtlich der deutschen EBU-Mitglieder ARD und ZDF ist zu berücksichtigen, dass diese zwar auf einem gemeinsamen geographischen Markt tätig sind, jedoch, ex lege, nicht als Konkurrenten, sondern mit der Möglichkeit der Kooperation zur Erfüllung der gesetzlichen Koordinierungsoblie8 § 2 Abs. 2 ZDF-Staatsvertrag; eine entsprechende reziproke Vorschrift findet sich in § 3 ARD-Staatsvertrag. 9 Eine nähere Beschreibung des Verfahrens zur Ermittlung des Finanzbedarfs (sog. KEF-Verfahren) findet sich bei Koenig/Haratsch, Die Rundfunkgebühren auf dem Prüfstand des Altmark Trans-Urteils des Europäischen Gerichtshofs, ZUM 2003, S. 804–812. 10 Siehe bspw. Rn. 9 der Leitlinien der Kommission zur Anwendbarkeit von Artikel 81 EG-Vertrag auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit, ABl. 2001 C 3/2.

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genheit. Dass diese Obliegenheit im Rahmen des Artikels 81 EG zu beachten ist, ergibt sich aus dem sog. Amsterdamer Protokoll 11 für den öffentlichrechtlichen Rundfunk. Danach berühren die Bestimmungen des EG-Vertrages nicht die Befugnis der Mitgliedsstaaten zur Organisation des öffentlichrechtlichen Rundfunks, solange die Handels- und Wettbewerbsbedingungen in der Gemeinschaft nicht in einem Ausmaß beeinträchtigt werden, das dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft, wobei den Erfordernissen der Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Auftrags Rechnung zu tragen ist. Sofern also der gemeinsame Einkauf dazu dient, dem Umstand Rechnung zutragen, dass ARD und ZDF nur über jeweils ein Vollprogramm verfügen und sie einer Obliegenheit zur Programmabstimmung unterliegen, so steht die Regelung in unmittelbaren Zusammenhang mit der Erfüllung des Programmauftrages, so dass für Artikel 81 Abs. 1 EG insoweit kein Raum ist. Hinzukommt, dass die die Kooperation, mangels Erhöhung der Finanzkraft von ARD und ZDF keinerlei Auswirkung auf den Wettbewerb hat.

III. Erfüllt der exklusive Erwerb von Sportrechten den Tatbestand der Wettbewerbsbeschränkung? Die Antwort lautet: Öffentlich-rechtliche Fernsehsender müssen exklusive Fernsehrechte erwerben können. Eine kartellrechtliche Beschränkung dieser Befugnis wäre weder mit dem Inhalt und dem spezifischen Gegenstand des Übertragungsrechts noch mit dem Rundfunkauftrag der Rundfunkanstalten vereinbar. Sie stünde auch im Widerspruch mit der Entscheidungspraxis der Kommission. Dies lässt sich wie folgt begründen: Exklusivität eines Senderechts beschreibt im Sport, wie aber auch beim Film, den Zustand, dass nur derjenige, der vom Rechteinhaber die Erlaubnis erhält, über die Veranstaltung im Fernsehen berichten zu dürfen, alle anderen von der Übertragung dieser Veranstaltung auszuschließen berechtigt ist. Für diese Alleinbefugnis kommt es zwangläufig nicht darauf an, ob ein anderer terrestrisch, via Kabel oder ADSL, via UMTS oder DVB-H, analog oder digital übertragen möchte.12 Ebenso wenig spielt es eine Rolle, ob die Veranstaltung verschlüsselt oder unverschlüsselt bzw. gegen Bezahlung (Pay-TV) oder ohne Bezahlung (FreeTV) übertragen wird. Exklusiv heißt ausschließlich. Sobald der Inhaber eines Exklusivrechtes dieses mit einem anderen teilt, besteht keine Exklusivität mehr. 11 Protokoll 32 zum Amsterdamer Vertrag vom 2.10.1997. Siehe hierzu näher Michael Stulz-Herrnstadt, Nationale Rundfunkfinanzierung und europäische Beihilfenaufsicht im Lichte des Amsterdamer Rundfunkprotokolls, Berlin 2004, S. 266ff. 12 Zur Frage der Exklusivität von Sportübertragungsrechten bei neuen Medien siehe Adrian Fikentscher, UFITA 2005, S. 635, 639 ff.

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Dies lässt sich rechtssystematisch sowohl ausgehend vom sog. Sportübertragungsrecht her begründen als auch auf der Grundlage des Immaterialgüterrechts, das an dem produzierten Bild besteht und das ebenfalls in den meisten Fällen, z.B. bei den Olympischen Spielen, Gegenstand der Lizenzvereinbarung zwischen Sportverband und Sendeunternehmen ist. Es bedarf daher an dieser Stelle keiner weiteren Ausführungen zu der insbesondere nach deutschem Recht umstrittenen Rechtsnatur der Sportübertragungsrechte.13 Die Exklusivität als Teil der Natur des Sportübertragungsrechts und als zentrales wirtschaftliches Grundmerkmal des Marktes für Sportübertragungsrechte wurde sowohl vom EuG in seiner (zweiten) Entscheidung zur Freistellung des Eurovisionssystems als auch von der Kommission mehrfach anerkannt. Im Urteil vom 08.10.2002 führt das EuG unter Bezugnahme auf die Feststellungen der Kommission aus: „Die Fernsehrechte lägen gewöhnlich bei dem Veranstalter des Sportereignisses, der den Zugang zu den Austragungsstätten kontrollieren könne. Um die Fernsehübertragung des Ereignisses zu kontrollieren und die Exklusivität zu gewährleisten, lasse der Veranstalter nur einen Fernsehsender oder eine begrenzte Zahl von Fernsehanstalten zu, die das Fernsehsignal produzieren. Aufgrund ihres Vertrags mit dem Sportveranstalter dürfen sie ihr Signal keinem Dritten zur Verfügung stellen, der nicht die entsprechenden Fernsehrechte erworben habe.“ 14 Die Kommission hat die Exklusivität auch im Verhältnis zwischen FreeTV und Pay-TV anerkannt. In allen Entscheidungen zur Zentralvermarktung haben die Rechteinhaber die Möglichkeit, Pakete anzubieten mit Rechten für Pay-TV oder Free-TV Nutzung, in einer Weise, welche die jeweils andere Nutzung ausschließt.15 Im Zusammenschlussverfahren Newscorp/Telepiù wurde der Monopolplattform Sky Italia im Bereich der Satellitenverbreitung Exklusivität gegenüber dem frei empfangbaren Fernsehen zugestanden.16 13 Siehe hierzu statt aller Dieter Dörr/K. Peter Mailänder, Freiheit und Schranken der Hörfunkberichterstattung über den Spitzensport, Baden-Baden 2003, S. 132ff; Hermann Waldhauser, Fernsehrechte des Sportveranstalters, Berlin 1999, S. 67 ff.; René Lochmann, Die Einräumung von Fernsehübertragungsrechten an Sportveranstaltungen, Tübingen 2005, S. 115 ff. 14 EuG 8. Oktober 2002, verb. Rs. T-185/00, T-216/00, T-299/00, T-300/00 (Métropole u.a./Kommission), Slg. 2002, 3805, Rn. 61, abrufbar unter abrufbar unter http://curia.eu.int/ index.htm. 15 Siehe die Entscheidung der Kommission vom 23. Juli 2004 zu UEFA Champions League, ABl. 2003 L 291/25, abrufbar unter http://europa.eu.int/eur-lex/pri/de/oj/dat/2003/ l_291/l_29120031108de00250055.pdf; Entscheidungsvorschlag vom 30. April 2004 zu FA Premier League ist abrufbar unter http://europa.eu.int/eur-lex/pri/de/oj/dat/2004/c_115/ c_11520040430de00030006.pdf; Entscheidung der Kommission vom 19. Januar 2005 zu DFB Bundesliga, abrufbar unter http://europa.eu.int/comm/competition/antitrust/cases/ decisions/37214/en.pdf. 16 Entscheidung der Kommission vom 2. April 2003 Newscorp/Telepiù, ABl. 2004 L

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Schließlich bietet sich zu diesem Punkt ein Hinweis zum nationalen Recht in Deutschland an: Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zur Rundfunkfinanzierung Folgendes erklärt: „Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat im dualen System dafür zu sorgen, dass ein dem klassischen Rundfunkauftrag entsprechendes Programm für die gesamte Bevölkerung angeboten wird, das im Wettbewerb mit den privaten Veranstaltern standhalten kann.“ 17 Ohne die Möglichkeit eines exklusiven Rechteerwerbs ist dies nicht möglich, weil die Unterscheidbarkeit der Programme sonst aufgehoben wäre und die Attraktivität des Programms verloren ginge.

IV. Stellen die Sportübertragungsrechte an den Olympischen Sommer- oder Winterspielen einen eigenen Markt dar? 18 Die Antwort heißt: Die Olympischen Spiele stellen keinen eigenen Markt dar. Eine solche Marktdefinition wurde bislang weder von der Kommission, noch von den Europäischen Gerichten oder von nationalen Gerichten festgestellt. Die hypothetische Annahme eines eigenen Marktes in der Kommissionsentscheidung in der zweiten Eurovisionsentscheidung vom 10. Mai 2000 bezieht sich auf eine Studie, welche die Frage der Substituierbarkeit der Olympischen Spiele nicht einmal zum Gegenstand hatte. Wendet man die von der Kommission in seinen Entscheidungen zum nationalen und europäischen Fußball entwickelten Kriterien an, so ist auch auf dieser Grundlage die Annahme eines eigenen abgrenzbaren Marktes nicht vertretbar. Für die Frage der Marktdefinition ist zu differenzieren zwischen dem vorgelagerten Markt des Einkaufs und den nachgelagerten Märkten der Ausstrahlung von Fernsehprogrammen sowie der Fernsehwerbung. Eine Marktdefinition für Olympische Sommerspiele oder Olympische Winterspiele gibt es bislang nicht. Weder die europäischen 19 noch nationale 20 Gerichte noch die Kommission haben in ihrer bisherigen Spruchpraxis die Olympischen Spiele als einen separaten Markt definiert. Dies gilt sowohl für den vorgelagerten Einkaufsmarkt als auch für die nachgelagerten Märkte. 110/73, abrufbar unter http://europa.eu.int/comm/competition/mergers/cases/decisions/ m2876_en.pdf. 17 BVerfGE 90, 60, 92. 18 Aus Sicht der Kommission dreht sich der Eurovisionsfall insbesondere um die Sportübertragungsrechte an den Olympischen Spielen. Daher beschränkt sich die Diskussion der Marktdefinition auf dieses Sportereignis. 19 Siehe auch die Studie „Market definitions in the media sector“, Chapter 1 EC, S. 44f., abrufbar unter http://europa.eu.int/comm/competition/publications/studies/media/ chapter_1_ec.pdf; ferner Carmen Palzer, ZUM 2002, 279 ff. 20 Siehe beispielsweise das Urteil des Tribunal de Commerce de Paris vom 22. Februar 2002 im Verfahren M6 contre TF1/France 2 et 3/GRF (RG-97 110944), das eine Eingrenzung des Marktes auf Olympische Spiele ausdrücklich ablehnt.

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Zum vorgelagerten Einkaufsmarkt heisst es in der Entscheidung des EuG vom 8. Oktober 2002: „Somit ergibt sich aus der angefochtenen Entscheidung, dass die Kommission, auch wenn sie eine genaue Definition des relevanten Produktmarktes nicht für erforderlich gehalten hat, bei der Prüfung, ob das Eurovisionssystem den Voraussetzungen einer Freistellung nach Artikel 81 Absatz 3 EG genügt, von einem Markt ausgegangen ist, der allein durch bestimmte sportliche Großereignisse wie den Olympischen Spielen gebildet wird.“ 21 In der der Gerichtsentscheidung zugrunde liegenden Entscheidung der Kommission vom 10. Mai 2000 wird ausgeführt: „Eine genaue Abgrenzung der relevanten Produktmärkte ist jedoch in diesem Fall nicht erforderlich. In Anbetracht der gegenwärtigen Marktstruktur und wegen der Regelung zur Weitervergabe von Eurovisionsrechten an Nichtmitglieder der EBU werfen diese Vereinbarungen selbst dann keine Wettbewerbsbedenken auf, wenn die Märkte für die Fernsehrechte an einzelnen Sportveranstaltungen wie den Olympischen Sommerspielen zugrunde gelegt werden.“ 22 Eine Definition der Olympischen Spiele als eigener Markt liegt damit nicht vor. Dem folgt auch die neuere Spruchpraxis der Kommission. In ihrer Entscheidung vom 2. April 2003 Newscorp/Telepiù zur Übernahme des Pay-TV Kanals Telepiù durch die Konkurrenzplattform Stream von Newscorp hatte die Kommission herausgestellt: “The Commission has not taken a position on whether the market for the acquisition of exclusive rights to sports other than the two football markets mentioned in recitals 64 and 65 can be segmented into different markets”.23 Danach gelten allein “broadcast rights for football events played every year where national teams participate (the national league, primarily first division and cups, the UEFA Champions League and the UEFA Cup)” als sog. „stand-alone driver content for pay-TV operators“.24 Die Olympischen Spiele werden in dieser Entscheidung als Teil des „markets for other sport events“ behandelt.25 Man kann aus der Entscheidung Newscorp/Telepiù somit eher das Gegenteil ableiten, nämlich, dass im Bezug auf Pay-TV zumindest in Italien die Olympischen Spiele nicht als eigener Markt gel-

21 EuG 8. Oktober 2002, verb. Rs. T-185/00, T-216/00, T-299/00, T-300/00 (Métropole u.a./Kommission), Slg. 2002, 3805, Rn. 57, abrufbar unter abrufbar unter http://curia.eu.int/ index.htm. 22 Entscheidung der Kommission vom 10. Mai 2000 Eurovision II, ABl. 2000 L 151/18, abrufbar unter http://europa.eu.int/eur-lex/pri/en/oj/dat/2000/l_151/l_15120000624en 00180041.pdf, Punkt 4.1. 23 Entscheidung der Kommission vom 2. April 2003 Newscorp/Telepiù, ABl. 2004 L 110/73, abrufbar unter http://europa.eu.int/comm/competition/mergers/cases/decisions/ m2876_en.pdf, Rn. 69. 24 Ebda., Rn. 66. 25 Ebda., Rn. 71 und 72.

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ten können. Für das frei empfangbare Fernsehen wird keinerlei Aussage getroffen. Wie kam die Kommission zu der hypothetischen Überlegung, dass es sich bei einem Ereignis, das 17 Tage dauert und alle vier Jahre stattfindet, um einen eigenständigen Markt handeln könnte? In der Freistellungsentscheidung von 1993 zur Eurovision verzichtete die Kommission auf eine ausdrückliche Marktdefinition. Stattdessen heißt es: „Auf dem Markt für Sportprogramme und für die entsprechenden Fernsehrechte sind die vorerwähnten Einschränkungen ungeachtet der Tatsache, dass das EurovisionsSystem in der Praxis nur die Übertragung internationaler Veranstaltungen und im Regelfall nicht die Übertragung nationaler Veranstaltungen betrifft, erheblich. Obgleich internationale Sportveranstaltungen nur einen relativ kleinen Teil aller Sport-Fernsehsendungen ausmachen, ziehen einige, so die Olympischen Spiele oder die Fußball-Welt- und -Europameisterschaften, ein so breites Publikum an und sind von so großer wirtschaftlicher Bedeutung, dass ihre Auswirkung auf den Markt sehr viel größer ist als in ihrem prozentualen Anteil zum Ausdruck kommt.“ 26 Die Kommission verzichtete allerdings darauf, näher darzulegen, warum die Olympischen Spiele ökonomisch von herausragender Bedeutung für das Fernsehen sein sollten. Sie unternahm bspw. keine Analyse der mit der Ausstrahlung der Olympischen Spiele verbundenen Werbeeinnahmen. Für ihre Entscheidung im Jahre 2000 berief sich die Kommission darauf, dass Daten über das Zuschauerverhalten bei großen Sportereignissen tatsächlich aufwiesen, dass „zumindest bei den zur Analyse herangezogenen Veranstaltungen das Sehverhalten nicht durch (nahezu) gleichzeitig gesendete andere große Sportereignisse beeinflusst zu werden“ schiene.27 Für diese These berief sich die Kommission auf eine Studie 28, nach der die Nachfrageelastizität für Finalspiele in Wimbledon im Verhältnis zur Fußball-WM sehr gering und wahrscheinlich gar gegen null tendierte. Fußballzuschauer scheinen, so die Studie, auch dann kein Wimbledon-Finale am Bildschirm mitzuverfolgen, wenn kein WM-Spiel ausgestrahlt wird. Die gleiche Feststellung wurde für die Übertragungen des Senders BSkyB von der englischen Fußballliga im Verhältnis zu den sonstigen 30/40 meistgesehenen Sportprogrammen des frei empfangbaren Fernsehens im Vereinigten Königreich getroffen. Ein Aussage zu den Olympischen Spielen enthielt die Studie somit gerade

26 Entscheidung der Kommission vom 11.06.1993, Eurovision I, ABl. 1993 L 179/23, Rn. 57. 27 Entscheidung der Kommission vom 10. Mai 2000 Eurovision II, ABl. 2000 L 151/18, abrufbar unter http://europa.eu.int/eur-lex/pri/en/oj/dat/2000/l_151/l_15120000624en 00180041.pdf, Rn. 42 sowie Fn. 11. 28 Die Studie ist abrufbar unter http://www.market-analysis.co.uk/dgivreportfinal.doc.

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nicht.29 Im Gegenteil, wenn man unterstellt, dass die Olympischen Spiele zu den 30–40 meistgesehenen Sportprogrammen in England gehörten, so lässt sich aus der Studie allenfalls abgeleitet werden, dass die Fußballspiele der ersten englischen Liga (heute Premier League) aus der Sicht des Zuschauers durch Olympische Spiele nicht substituierbar sind. Es stellt sich bereits die Frage, ob die Schlussfolgerung von Fußball und Wimbledon auf die Olympischen Spiele zulässig ist. Kann zudem eine Studie, die für England durchgeführt wurde, verallgemeinert werden für alle europäischen Länder. Schon der logische Ansatz ist fraglich. Mit der gleichen Logik könnte man behaupten, dass für einen Roger Moore Fan ein James BondFilm, besetzt mit Roger Moore, nicht austauschbar sei durch einen mit Sean Connery besetzten James Bond-Film. Und doch spricht die Kommission bei der Marktabgrenzung im Bereich Kino- und Fernsehfilme allein von einem Markt für Premium- oder Hollywood Filme, nicht aber von einem Markt für James Bond-Filme. Der Hintergrund hierfür ist, dass die Kommission hier nicht auf den einzelnen Konsumenten abstellt, sondern die Marktabgrenzung daran bemisst, welche Filme welche wirtschaftliche Bedeutung für den Käufer haben.30 Eine weitere Frage ist daher, ob es für die Marktdefinition bei Sportübertragungsrechten tatsächlich auf die Konsumentensicht ankommt. Auf dem vorgelagerten Markt für den Einkauf von Programmen hat die Kommission wiederholt festgestellt, dass es auf der Nachfrageseite auf die Ansicht des Rundfunkveranstalters abzustellen ist.31 Wie aber kalkuliert ein Rundfunkveranstalter? Er berücksichtigt, dass Wettbewerb ein zeitbezogener Prozess ist. Er stellt fest, dass der Wettbewerb über Programmdifferenzierung funktioniert. Seine Programmpolitik muss es daher sein, über einen wirtschaftlich nachhaltigen Zeitraum einen attraktiven Programmmix zu erstellen. Folglich ist seine vorherrschende Frage nicht, wie hoch die Reichweite bei einem bestimmten, einzelnen Programm ist, sondern, wie er regelmäßig hohe Einschaltquoten, insbesondere bei der für Werbekunden attraktiven Zielgruppen erreicht. Die Kommission hat, auf der Grundlage dieser Erwägungen, festgestellt, dass im Bereich des Sports für Rundfunkveranstalter am attrak-

29 Die Olympischen Spiele wurden in der Studie nur bei der Frage der Preisentwicklung dargestellt. Das Kapitel „Empirical Evidence of Substitutability“ beschränkt sich ausdrücklich nur auf „Premier League football matches on BSkyB, Wimbledon Tennis Finals and British Grand Prix“ in England, siehe S.53 der Studie. 30 Siehe bspw. die Entscheidung der Kommission vom 30.3.2005 Sony/MGM, Rn. 15, die auf „business standards“ abstellt. Die Entscheidung ist abrufbar unter http:// europa.eu.int/comm/competition/mergers/cases/decisions/m3595_20050330_20310_en.pdf. 31 Market Definition in the Media Sector, – Comparative Legal Analysis, Report by Bird & Bird for the European Commission, DG Competition, December 2002, Rn. 233, abrufbar nur im Internet unter http://europa.eu.int/comm/competition/publications/studies/ legal_analysis.pdf.

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tivsten ein „Premium-Sportprogramm“ ist, das sich regelmäßig über einen Zeitraum von 10–12 Monaten erstreckt. Sie kam zum Ergebnis, dass zu diesem Markt regelmäßig stattfindender Spitzenfußball gehört, nämlich Fußball der nationalen Ligen, die UEFA-Champions League, Cup-Spiele und sowie UEFA-Cup-Spiele. Helmut Thoma, früherer RTL-Geschäftsführer hätte sich bestätigt gefühlt: für ihn war der main driver im Sport in Deutschland immer schon Fußball, Fußball, Fußball, dann Tennis und die Formel 1.32 Die Kommission hat in neueren Entscheidungen zum Sport für die Marktabgrenzung im Sport einen dreistufigen Test entwickelt, bei dem sie prüft, ob ein Sportereignis (1) ein herausragendes Zuschauerinteresse hat, (2) „Branding“ Qualität besitzt und (3) eine spezifische, besonders kaufkräftige Zielgruppe erreicht.33 An diesem Ansatz ist positiv hervorzuheben, dass er eher in der Lage ist, den wirtschaftlichen Wert eines Sportprogramms zu erfassen als das bloße Abstellen auf Zuschauerpräferenzen im Zusammenhang mit nicht gleichzeitig stattfindenden Sportübertragungen. Die Olympischen Spiele sind das gesellschaftlich wohl wichtigste Sportereignis der Welt. Sie sind der Höhepunkt für alle Sportler in fast allen Sportarten. Die Verbindung der Spiele mit der olympischen Idee machen das Ereignis auch für Bevölkerungsgruppen attraktiv, die nicht zu den Sportfans gehören. Diese gesamtgesellschaftliche Funktion der Olympischen Spiele erklärt ihren programmlichen Wert für die öffentlich-rechtlichen Anstalten. Was aber bedeuten die Spiele aus der wirtschaftlichen Perspektive der Fernsehveranstalter? Misst man die wirtschaftliche Perspektive an der Zuschauerreichweite, so ist, abgesehen von der Eröffnungsfeier, der Schlussfeier und einzelnen Finalereignissen in bestimmten Sportarten das Ergebnis von nur durchschnittlichem Wert. Denn es stehen wenige Stunden mit den Höhepunkten der Spiele einer weit überwiegenden Mehrzahl an Stunden mit Ereignissen gegenüber, die tagsüber außerhalb der prime-time ausgestrahlt werden und nur durchschnittliche Reichweiten erzielen. Die Olympischen Spiele in Athen im Jahre 2004 erreichten in Deutschland zuletzt im Durchschnitt knapp über 4.5 Millionen Zuschauer, das sind 2–3 Millionen weniger als eine Folge des Fernsehkrimis „Tatort“ durchschnittlich erzielt. Selbst die Tatort-Wiederholungen erzielen eine höhere durchschnittliche Reichweite. Im Vergleich zur durchschnittlichen Reichweite der „Wetten, dass“-Unterhaltungsshow des ZDF sind es mehr als 5 Millionen im Durchschnitt weniger. In anderen Ländern Europas lag die Reichweite der Olympischen Spiele in Athen gar unter dem Durchschnitt der vorhergehenden Sommerspiele. Wendet man den dreistufigen Test der Kommission auf die Olympischen Sommer- oder Winterspiele an, so hieße dies: Für die Reichweite fehlt es an 32

Die Zeit, 1998, W. 41. Dieser Ansatz wurde erstmals entwickelt in der Entscheidung vom 19. April 2001 UEFA Broadcasting Rules, ABl. 2001 L 171/12, Rn. 24 bis 41, abrufbar unter http://europa. eu.int/eur-lex/pri/de/oj/dat/2001/l_171/l_17120010626de00120028.pdf. 33

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der Höhe, für das Branding fehlt die Regelmäßigkeit und hinsichtlich der Zielgruppe die besondere Attraktivität des Programms für zahlungskräftige männlichen Zuschauer zwischen 19 und 49 Jahren.34 Upstream, d.h. auf dem Einkaufsmarkt, gibt es daher erhebliche Schwierigkeiten mit der engen Marktdefinition.35 Für die nachgelagerten Märkte gilt dies ebenso, erst recht im Lichte der Spruchpraxis der Kommission. Im Eurovisionsfall 36 und bei den Entscheidungen zum Fußball wurde der nachgelagerte Markt ausdrücklich offen gelassen.37 Würde man den dreistufigen Test auf dem nachgelagerten Markt anwenden, so käme man auch hier zum gleichen Ergebnis. Olympische Spiele begründen keinen separaten Markt. Der EuG hat wohlweislich in seiner zweiten Entscheidung zu Eurovision zur Marktdefinition auf dem nachgelagerten Ausstrahlungsmarkt nicht näher Stellung genommen. Eine letzte Anmerkung zu diesem Punkt: zu beachten ist, dass eine enge Marktabgrenzung für alle Erwerber der Olympischen Spiele die gleichen Folgen hätte, nämlich die Forderung der Kommission (und möglicherweise von Konkurrenten) nach unbundling der Rechte bereits als Folge der vertikalen Exklusivitätsbeziehung, d.h. unabhängig davon, ob die Rechte im Wege einer horizontalen Vereinbarung über einen gemeinsamen Einkaufs erworben wurden.

V. Ist der gemeinsame Einkauf der EBU wettbewerbsfördernd und zum Vorteil des Konsumenten? Die Antwort: Die wettbewerbsfördernde Wirkung von Einkaufsvereinbarungen ist grundsätzlich anerkannt, solange es keine Teilnahmeverpflichtung gibt und die dank der Einkaufsgemeinschaft erzielten Vorteile an den Konsumenten weitergegeben werden.38 34

Siehe hierzu näher Adrian Fikentscher, (siehe oben Fn. 1). Bei der Marktabgrenzung durch Andreas Heinemann, (siehe oben Fn. 1, S. 349), fällt auf, dass er sein Ergebnis einer engen Marktabgrenzung nicht abschließend zu begründen in der Lage ist, er vielmehr darauf hinweist, dass die von ihm vorgenommene Marktabgrenzung unter dem ausdrücklichen Vorbehalt einer ökonometrischen Überprüfung steht. 36 Entscheidung der Kommission vom 10. Mai 2000 Eurovision II, ABl. 2000 L 151/18, abrufbar unter http://europa.eu.int/eur-lex/pri/en/oj/dat/2000/l_151/l_15120000624en 00180041.pdf,, a.a.O., Rn. 48 und 49. 37 Siehe statt aller die Entscheidung vom 19. April 2001 UEFA Broadcasting Rules, ABl. 2001 L 171/12, Rn. 23, abrufbar unter http://europa.eu.int/eur-lex/pri/de/oj/dat/2001/ l_171/l_17120010626de00120028.pdf. 38 Siehe hierzu die Leitlinien der Kommission zur Anwendbarkeit von Artikel 81 EGVertrag auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit, ABl. 2001 C 3/2, Rn. 115ff.; siehe ferner Adrian Fikentscher (siehe oben Fn. 1) mit weiteren Nachweisen zur Rechtsprechung. 35

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Dabei ist Folgendes zu berücksichtigen. Es gibt eine Vielzahl von Gründen, aus denen sich die Mitglieder aus den verschiedenen europäischen Ländern für einen gemeinsamen Sportrechteerwerb zusammenschließen. Während es in der Vergangenheit darum ging, eine counterveiling power gegenüber den Verbänden zu bilden und ferner, im Interesse auch der Sportverbände, die Verhandlungskosten so niedrig wie möglich zu halten, hat sich mit der Begründung des dualen Systems von öffentlich-rechtlichem und privaten Rundfunk, das sich in ganz Europa durchgesetzt hat, der Zweck des gemeinsamen Einkaufs verschoben. Weitere Gründe sind hinzugekommen. Hauptaufgabe des gemeinsamen Einkaufs heute ist es zu gewährleisten, dass die Mitglieder der EBU nach wie vor Zugang zu wichtigen internationalen Sportereignissen haben in Zeiten des Wettbewerbs mit den privaten Fernsehsendern, dem Bezahlfernsehen und den Sportrechteagenturen. Viele Mitglieder der EBU, insbesondere in den kleineren europäischen Ländern, sind anerkannt unterfinanziert, und nicht in der Lage, um Sportrechte mit den privaten Veranstaltern zu konkurrieren.39 Aber auch die größeren Mitglieder können vom Verbund profitieren, wenn sie mit Kampfpreisen konkurrieren müssen, die die private Konkurrenz und insbesondere das Bezahlfernsehen anzubieten bereit ist. Denn der Verbund steht insbesondere für Verlässlichkeit in der Vergangenheit, finanzielle Solidität, vollständige technische Versorgung aller Fernsehhaushalte (EBU Mitglieder erreichen mindestens 98 % der Fernsehhaushalte in jedem Land), niedrige Verhandlungskosten und Professionalität bei der Signalherstellung. Ferner ist den Verbänden bewusst, dass es den öffentlich-rechtlichen Anstalten um die Darstellung des Sports geht und nicht um Profitmaximierung (der EBU oder ihrer Mitglieder), die den Wert den Sports beeinträchtigen könnte. Ein weiterer wichtiger Grund für eine Einkaufsgemeinschaft ist die Vermeidung von erheblichen Zusatzkosten, die dann entstehen, wenn die Rechte über eine Sportrechteagentur vergeben werden. Die typische Gewinnspanne einer Sportrechteagentur liegt typischerweise bei 10–20 % des Rechtepreises. Das Beispiel der Fußball-WM 2002 und 2006, in denen die Rechte von der vertikal integrierten Agentur Kirchsport erworben wurden, macht jedoch deutlich, dass die Gewinnspanne auch bei über 50 % liegen kann.40 Diese Zusatzkosten für die Sender sind ein wesentlicher Grund dafür, warum kommerzielle Sender typischerweise vertikal integrierte Sportrechteagenturen besitzen, nämlich Kirch früher mit Kirchsport und ISPR, RTL mit UFA und heute Sportfive und Premiere heute mit Primus. Und diese konkurrieren, wie 39 Siehe Entscheidung der Kommission vom 15. Oktober 2003 Finanzierungsmaßnahmen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Portugal, ABl. 2005 L 142/1, Rn. 198 und 201. 40 Quelle: Association of television and radio sales houses (EGTA), News, December 2002/January 2003.

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die EBU, mit diversen weiteren Agenturen, wie TEAM, TWI, Infront, IMG, um nur die wichtigsten zu nennen. Zu beachten ist ferner, dass die großen Sportveranstaltungen typischerweise europaweit verkauft werden, weil sich der veranstaltende Sportverband seinerseits die erheblichen Transaktionskosten ersparen will (große Sportverträge benötigen in der Regel mindestens 3 bis 4 Wochen zur vollständigen Aushandlung eines Ergebnisses, bei über 50 Ländern kann man sich vorstellen, wie hoch allein die Anwalts- und Zeitkosten sein würden). Das heißt, auch wenn in neueren Vergabeverfahren der Sportverbände Angebote beschränkt auf einzelne nationale Territorien abgegeben werden können, so wird der Verband die erheblichen Zusatzkosten berücksichtigen müssen, die hinzu kämen, falls er den nationalen Weg wählen sollte. Diese Zusatzkosten dürften ein wesentlicher Grund sein, warum bspw. im Falle der UEFA 2008 die Rechte wiederum europaweit vergeben wurden, nämlich an die Agentur Sportfive.41 Der Einkaufsverbund bedeutet daher für den Konsumenten, dass er Zugang erhält zu den Übertragungen der Olympischen Spiele und zwar live den ganzen Tag über zu allen interessanten Teilen der Spiele und Sportarten. Der Zuschauer erhält, aufgrund der Exklusivität, eine qualitativ hochwertige Produktion, unter Einschluss der modernsten Technologien. Und er muss dabei nicht die Gewinnmarge einer Agentur mitfinanzieren.

VI. Zusammenfassung Für die Beurteilung des gemeinsamen Einkaufs von Sportrechten bedarf es einer Analyse insbesondere der folgenden Punkte: – Liegt ein kartellrechtlich erhebliches Verhalten vor, wenn der Zusammenschluss sich auf Fernsehveranstalter beschränkt, die auf unterschiedlichen geographischen Märkten tätig sind? – Handelt es sich um eine Wettbewerbsbeschränkung, wenn durch den gemeinsamen Erwerb sich die Finanzkraft von ARD und ZDF in keiner Weise erhöht, da der Umstand des gemeinsamen Einkaufs bereits bei der Gebührenbemessung ex ante berücksichtigt wird? – Kann Artikel 81 EG überhaupt Anwendung finden, wenn der Gesetzgeber innerhalb der vom Amsterdamer Protokoll geschützten Kompetenz in einer Weise organisiert, dass er öffentlich-rechtlich Fernsehveranstaltern eine Programmkoordinierungspflicht aufgibt, zu deren Erfüllung der gemeinsame Einkauf erfolgt?

41

Siehe Presseerklärung der UEFA vom 2. Februar 2005.

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– Welche Begründung gibt es, die Exklusivität von Sportübertragungsrechten im Verhältnis von Free-TV zu Pay-TV anders als zu behandeln als im umgekehrten Verhältnis Pay-TV zu Free-TV? – Wie kann es sich, in Deutschland und in ganz Europa, bei den Übertragungsrechten an den Olympischen Sommerspielen oder Winterspielen um einen separaten Markt handeln, wenn sich das Ereignis auf einen Zeitraum von 17 Tagen beschränkt, der sich alle vier Jahre wiederholt? – Was wären die Folgen für das duale Rundfunksystem in den einzelnen europäischen Ländern, für den Sport und für den einzelnen Fernsehzuschauer, würde es keinen gemeinsamen Einkauf der EBU mehr geben? Diese Fragen sind weder von der Kommission noch von den europäischen Gerichten in den bisherigen Entscheidungen näher beleuchtet worden. Ein bloßer Verweis auf die bisherigen Entscheidungen, so wie es bspw. bei der Frage der Marktabgrenzung von den Beschwerdeführern vorgenommen wird,42 ersetzt keine fehlende Begründung. Die oben genannten Gesichtspunkte machen deutlich, dass die derzeit bei der Kommission anhängigen Verfahren zeitnah eingestellt werden könnten.

42

Siehe auch den Beitrag von Holger Ensslin (siehe oben Fn. 1), S. 380 ff.

Brüsseler Spitzen? Zur „Empfehlung der EU-Kommission zur grenzüberschreitenden Lizenzierung von Online-Musik“ Tilo Gerlach

Zweifellos ist das Zusammenwachsen Europas ein Gewinn auch für die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten. Dass dieses aber nicht immer reibungslos abläuft, weiß auch der Jubilar dieser Festschrift nur zu gut. Hat er doch u.a. die GVL, die deutsche Verwertungsgesellschaft für die Rechte der ausübenden Künstler und Tonträgerhersteller bereits im Verfahren vor der EU-Kommission vertreten 1, als sie sich – gestützt auf den ausdrücklichen Wortlaut des damaligen § 6 Urheberrechtswahrnehmungsgesetz – darauf beschränkt hatte, deutsche Künstler zu vertreten und andere EU-Bürger an die jeweiligen Schwestergesellschaften im Ausland zu verweisen, mit denen sie durch Gegenseitigkeitsverträge verbunden war. Wir mussten damals schmerzhaft erfahren, dass deutsche Gesetze nicht immer auch EU-Rechts konform formuliert waren – mittlerweile wurde der Wortlaut den EU-Vorgaben angepasst. Professor Mailänder gelang es jedoch zumindest, den EuGH lediglich zu einem Feststellungsurteil über einen objektiven Verstoß der GVL gegen Gemeinschaftsrecht ohne Schuldvorwurf und entsprechende finanzielle Sanktionen zu bewegen, hatte doch die GVL im Vertrauen auf die Richtigkeit der deutschen Vorschrift gehandelt. Die GVL hat Professor Mailänder somit viel zu verdanken. Ihm sei daher folgender Festschriftbeitrag gewidmet. Im Bereich des Urheber- und Leistungsschutzrechts hat die EU die rechtlichen Rahmenbedingungen in der Vergangenheit im Wege von EU-Richtlinien geregelt. Der ersten Richtlinie 91/250/EWG über den Rechtsschutz von Computerprogrammen 2 folgte die Richtlinie 92/100/EWG zum Vermiet- und Verleihrecht 3, an die sich die Richtlinien 93/83/EWG zum Satellitenrundfunk und zur Kabelweitersendung 4 und 93/98/EWG zur Schutz-

1 2 3 4

„GVL-Entscheidung“, Abl. EG 1981, L 370, 49. Abl. EG 1991, L 122, 42–46. Abl. EG 1992, L 346, 61–66. Abl. EG 1993, L 248, 15–21.

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dauer 5 anschlossen. Der Richtlinie 96/9/EG über Datenbanken 6 folgte dann die Richtlinie 2001/29/EG zum Urheberrecht in der Informationsgesellschaft 7, die in Umsetzung der WIPO-Verträge WCT und WPPT die u.a. interaktive Nutzungen im Internet regelte, und kurze Zeit später die Richtlinie 2001/84/EG zum Folgerecht bei der Weiterveräußerung von originalen Kunstwerken 8. Sämtliche diese Richtlinien zeichnen sich dadurch aus, dass sie nach intensiven Diskussionen unter Einbindung des Europäischen Parlaments bzw. direkt durch dieses entstanden sind. Seit Sommer 2005 zeichnet sich jedoch eine völlig neue Herangehensweise ab. Die Kommission und hier insbesondere die für das Urheberrecht zuständige Abteilung der Generaldirektion Binnenmarkt ist vielmehr dazu übergegangen, mit heißer Nadel Empfehlungen zu verabschieden, die zwar weniger verbindlich sind als Richtlinien, aber ohne jegliche Mitwirkung des Europäischen Parlamentes zustande kommen. Grundlage hierfür ist Art. 211 EGV, der als Voraussetzung für die Abgabe einer Empfehlung vorsieht, dass dies der Vertrag ausdrücklich vorsieht oder die Kommission sie für notwendig erachtet. Man sollte meinen, dass das Verwaltungshandeln ohnehin davon geprägt ist, notwendige Dinge zu regeln, doch hinderte dies die Väter des EGV nicht, diese Selbsteinschätzung als gleichrangige Ermächtigungsgrundlage neben den Gesetzesvorbehalt zu stellen. Dieser Mechanismus wird von der Kommission angesichts der uneingeschränkten Möglichkeiten neuerdings intensiv genutzt. Beispielhaft ist die Empfehlung der Europäischen Kommission vom 18. Oktober 2005 zur grenzüberschreitenden Online-Lizenzierung 9. Diese sieht neben Regelungen über den Rechteerwerb von Online-Rechten im Bereich der Musik auch Standards für die Tätigkeit von Verwertungsgesellschaften im Verhältnis zu ihren Wahrnehmungsberechtigten vor. Angekündigt war eine Harmonisierung der rechtlichen Rahmenbedingungen für die Tätigkeit von Verwertungsgesellschaften bereits im Arbeitsprogramm der Kommission von 1996 10. Einer Anhörung zum Thema im November 2000 folgte eine Mitteilung der Kommission vom 16.04.2004 11. Auch das Europäische Parlament hatte sich dieses Themas im sog. „EchererReport“ vom 11.12.2003 12 angenommen. Aufgegriffen wurde dieses Thema von der Kommission dann wieder mitten in der Sommerpause 2005 mit der Vorlage einer – leider nicht in Deutsch verfügbaren – Studie über eine Initiative der Gemeinschaft über die grenzüberschreitende kollektive Wahrneh5 6 7 8 9 10 11 12

Abl. EG 1993, L 290, 9–13. Abl. EG 1996, L 077, 20–28. Abl. EG 2001, L 167, 10–19. Abl. EG 2001, L 272, 32–36. Abl. EG 2005, L 276, 54. Dok. Kom (96), 568. KOM (2004) 261 endg. A 5-0478/2003.

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mung von Urheberrechten vom 7. Juli 2005 13, zu der die beteiligten Kreise innerhalb von 3 Wochen Stellung nehmen durften 14 – ein Unterfangen, das durch die jeweiligen Europäischen Dachorganisationen, die sich mit ihren Mitgliedern abstimmen mussten, kaum zu schaffen war. Begründet wurde die unzumutbar kurze Stellungnahmemöglichkeit damit, dass eine Anhörung ja bereits nach der Mitteilung der Kommission vom 16.04.2004 stattgefunden habe. Dass sich diese allerdings überhaupt nicht mit dem Thema der europaweiten Lizenzierung von Online-Rechten beschäftigt hatte, sondern mit dem Verhältnis zwischen Rechteinhabern und Verwertungsgesellschaften, blieb unerwähnt. Diese Studie stellte – bezogen auf Online-Musikdienste – das Prinzip territorial tätiger Verwertungsgesellschaften, die ihre Schwestergesellschaften durch Gegenseitigkeitsverträge mandatieren, das Repertoire im jeweiligen Ausland zu vertreten, grundsätzlich in Frage. Das Prinzip, dass nationale Verwertungsgesellschaften jeweils nur ihre territorialen Rechte einräumen, wurde als Hindernis für die Entwicklung europaweiter Musikdienste im Online-Bereich angesehen 15. Die effizienteste Lösung wurde darin gesehen, dass ein Rechteinhaber eine von ihm gewählte Verwertungsgesellschaft mit der gesamten Rechtewahrnehmung in der EU betraut und die Verwertungsgesellschaften in Wettbewerb um die Rechteinhaber treten, deren Rechte sie dann ausschließlich oder durch die kleineren Schwestergesellschaften als bloße lokale Agenten lizenzieren.16 Die einzelnen Verwertungsgesellschaften könnten versuchen, ein bestimmtes Genre zu vertreten und sich insoweit zu profilieren.17 Die bisherigen Gegenseitigkeitsverträge, durch die jede verbundene Gesellschaft für ihr Territorium quasi das Weltrepertoire vertritt, sollten abgeschafft werden 18. Die Studie führte zu einem Protest der Nutzer, die zutreffend erkannten, dass das neue Modell, bei dem jede Verwertungsgesellschaft nur noch ein bestimmtes Repertoire ausschließlich vertritt, keinen Rechteerwerb aus einer Hand mehr ermöglicht (sog. One-Stop-Shop) 19. Aber auch die Verwertungsgesellschaften kritisierten das Modell, da es keine Lösung dafür bot, das für die kulturelle Identität wichtige nationale Repertoire weiterhin wirtschaftlich sinnvoll zusammen mit wirtschaftlich erfolgreichem zu lizenzieren. Lediglich die anglo-amerikanischen

13 http://europa.eu.int/comm/internal_market/copyright/docs/management/studycollectivemgmt_en.pdf. 14 Die Stellungnahmen sind abrufbar unter http://forum.europa.eu.int/Public/irc/ markt/markt_consultations/library? l=/copyright_neighbouring/cross-border_management&vm=detailed&sb=Title. 15 Dort (Fn. 14) S. 10. 16 Dort (Fn. 14) S. 54 f. 17 Dort (Fn. 14) S. 36. 18 Dort (Fn. 14) S. 56. 19 Abrufbar unter: http://forum.europa.eu.int/Public/irc/markt/markt_consultations/ library?l=/copyright_neighbouring/cross-border_management&vm=detailed&sb=Title.

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Verleger sprachen sich uneingeschränkt zustimmend aus, würden sie durch ein solches Modell doch ihre Marktposition weiter ausbauen können angesichts der Bedeutung ihres Repertoires in Europa. Forderungen der Studie, auch Verlegern als Inhaber abgetretener Rechte dieselben Rechte zu gewähren wie den originären Urhebern und die Stimmrechte innerhalb der Verwertungsgesellschaften entsprechend dem wirtschaftlichen Wert der eingebrachten Rechte auszugestalten 20, fanden bei den Vertretern des angloamerikanischen Copyright-Systems Zustimmung, während sie bei kontinentaleuropäischen Vertretern des droit d’auteur-Systems blankes Entsetzen hervorriefen. Das Ergebnis war die Empfehlung der Kommission, die neben dem vorgeschlagenen Modell der europaweiten ausschließlichen Rechtewahrnehmung durch eine Verwertungsgesellschaft beschränkt auf das direkt vertretene Repertoire auch die Kooperation territorial tätiger Verwertungsgesellschaften durch herkömmliche Gegenseitigkeitsverträge vorsieht 21. Darüber hinaus werden Pflichten der Verwertungsgesellschaften gegenüber den Rechteinhabern statuiert, die allerdings im Umfang weitestgehend denen des in Deutschland geltenden Urheberrechtswahrnehmungsgesetzes entsprechen. Außerdem werden die Mitgliedstaaten eingeladen, Streitbeilegungsmechanismen zu übermitteln 22. Jährlich sollen Mitgliedstaaten und Verwertungsgesellschaften der Kommission über die Umsetzung der Empfehlung berichten, damit diese etwaigen weiteren Handlungsbedarf evaluieren kann 23. Begleitet wird die Empfehlung von einem „Impact Assessment“, das nähere Erläuterungen enthält, allerdings auch nur auf Englisch verfügbar ist.24 Die Empfehlung gibt Anlass zu einer persönlichen Bewertung: Unabhängig von der Frage, welches Modell für die Lizenzierung grenzüberschreitender Nutzungen durch Verwertungsgesellschaften effektiver ist, krankt die Empfehlung an gravierenden sachlichen Fehlern, die unweigerlich Auswirkungen auf die Empfehlungen selbst haben. Der Zeitdruck, unter den sich die Kommission gesetzt hat, wird daran deutlich, dass der Empfehlung irrtümlich an verschiedensten Stellen ein falsches Datum verpasst worden war, das dann geändert werden musste 25. Zutreffend ist, dass die Urheberrechte an den Kompositionen bei OnlineMusikangeboten über die jeweiligen Verwertungsgesellschaften wahrgenommen werden. Musikdienste können also das Recht der Zugänglichmachung für digitale Abrufdienste über die Urhebergesellschaften erwerben. Wollen

20 21 22 23 24 25

Dort (Fn. 14) S. 54. Abl. EG 2005, L 276, 54, Nr. 3. Abl. EG 2005, L 276, 54, Nr. 15. Abl. EG 2005, L 276, 54, Nr. 16. C (2005) 3764 final. Abl. EG 2005, L 284/10.

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sie jedoch auch die Leistungsschutzrechte der ausübenden Künstler und Tonträgerhersteller an konkreten Aufnahmen erwerben, um diese zum Abruf anzubieten, geht die Anlage zur Empfehlung (Impact assessment) 26 unzutreffend davon aus, dass diese Rechte ebenfalls von Verwertungsgesellschaften wahrgenommen werden 27. Versuche der Betroffenen gegenüber der Kommission diesen Irrtum, der schon in der Studie zu finden war, klarzustellen, waren nicht von Erfolg gekrönt. Tatsächlich werden jedoch sämtliche Leistungsschutzrechte für interaktive Nutzungen, seien es Download- oder bloße flüchtige Streaming-Angebote, ausschließlich über die jeweiligen Tonträgerhersteller individuell lizenziert. Die Veränderung der Rahmenbedingungen für die kollektive Rechtewahrnehmung durch Verwertungsgesellschaften kann also für die ausdrücklich einbezogenen Leistungsschutzrechte gar nicht zu einer Verbesserung der Online-Lizenzierung für interaktive Nutzungen führen. Bei den Leistungsschutzrechten beschränkt sich die kollektive Rechtewahrnehmung auf nicht-interaktive Nutzungen wie Simulcasting (zeitgleiche Übertragung einer herkömmlichen Rundfunksendung im Internet) und Webcasting (originäre Internet-Sendung). Für diese wirtschaftlich bisher relativ unbedeutenden Bereiche existieren bereits Gegenseitigkeitsverträge zwischen den Verwertungsgesellschaften der Tonträgerhersteller, die die europaweite Lizenzierung zulassen. Etabliert wurden diese allerdings in Abstimmung mit der EU-Kommission (Generaldirektion Wettbewerb) auf Basis weiterentwickelter herkömmlicher Gegenseitigkeitsverträge zwischen Verwertungsgesellschaften.28 Diese neuen Gegenseitigkeitsverträge für Web- und Simulcasting basieren auf dem urheberrechtlichen Grundsatz, dass die relevanten Nutzungsvorgänge in dem Land stattfinden, aus dem der jeweilige Zugang erfolgt.29 Zur Vermeidung einer Flucht der Anbieter in Urheberrechtsoasen mit einem geringen Schutzniveau oder Billigtarifen gelten für die einzelnen Nutzungen die Tarife des Empfangslandes entsprechend den Grundsätzen der Bogsch-Theorie.30 Ein Webcaster, der sein Angebot zum europaweiten Zugang anbietet, kann nach dem herkömmlichen Modell der Gegenseitigkeitsverträge zwischen Verwertungsgesellschaften die Nutzungsrechte nur für das Territorium der jeweiligen Verwertungsgesellschaft erwerben. Hier liegt nun der neue Ansatz der Abkommen, die den Vertragspartnern auch die Zugriffsrechte für das eigene Territorium einräumen. Ein Webcaster, der eine internationale Lizenz erwerben will, kann basierend auf dem Webcasting-Gegenseitigkeitsvertrag von der Ver-

26

Siehe Fn. 23. C (2005) 3764 final, S. 8. 28 Entsch. der Kommission v. 8.10.2002, COMP/C2/38.014 – IFPI Simulcasting. 29 Näher dazu Gerlach, ZUM 1999, 278, 280. 30 Benannt nach dem ehem. Generaldirektor der WIPO, näher Schricker/Katzenberger, Vor §§ 120ff. Rn. 141. 27

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wertungsgesellschaft also nicht nur die Rechte für das eigene Territorium erwerben, sondern auch für die der Schwestergesellschaften. Damit wird die Möglichkeit eröffnet, dass ein Anbieter mit einem Webcastingvertrag genau die grenzüberschreitenden Nutzungsrechte erwerben kann, die die Kommission durch die neue Empfehlung ermöglichen möchte. Außerdem ist vorgesehen, dass jeder europäische Nutzer von jeder europäischen Verwertungsgesellschaft unabhängig von seinem Sitzland die Lizenz erwerben kann. Als Wettbewerbselement dienen die Verwaltungskosten für die Erteilung der multiterritorialen Lizenz, die von Verwertungsgesellschaft zu Verwertungsgesellschaft differieren können, während die Tarife als solche sich ja nach dem jeweiligen Abruf richten, also in der Summe jeweils identisch sind. Dieses Modell ist bisher in seiner Funktionsfähigkeit noch nicht abschließend evaluiert worden. Unsere Erfahrungen zeigen jedoch, dass es funktioniert, auch wenn die meisten Anbieter vom Erwerb multiterritorialer Lizenzen absehen, da sich ihr Angebot – wie beim Rundfunk – gezielt an einzelne Länder richtet. Anders als das zusammen mit der Generaldirektion Wettbewerb entwickelte IFPI-Simulcast-Abkommen sieht das neue Modell der Generaldirektion Binnenmarkt vor, dass sich die Multiterritorialität der Lizenz aus der Tatsache ergibt, dass eine Verwertungsgesellschaft ausschließlich die Rechte bestimmter Rechteinhaber wahrnimmt und zwar europa- oder weltweit. Dadurch verspricht sich die Kommission zum einen die Möglichkeit der Nutzer, ohne die Notwendigkeit von Gegenseitigkeitsverträgen zwischen Verwertungsgesellschaften multiterritoriale Lizenzen aus einer Hand zu erwerben. Zum anderen soll ein wirklicher Wettbewerb zwischen Verwertungsgesellschaften dadurch entstehen, dass diese versuchen, wirtschaftlich interessante Rechteinhaber an sich zu binden. Die Konsequenz dieses Modells ist, dass ausländische Schwestergesellschaften diese Rechte überhaupt nicht mehr anbieten können. Ihnen soll die Möglichkeit eröffnet werden, sich entweder mit einem Nischenrepertoire zu profilieren oder für die durchsetzungsstarke Schwester Agenturdienste zu übernehmen. Der Wettbewerb soll bemerkenswerterweise nicht dazu dienen, die Rechte zu verbilligen, vielmehr erwartet sich die Kommission eine Verteuerung der Rechte an wirtschaftlich interessantem Repertoire.31 Ursprünglich sah die Studie vor, dass dieses neue Modell ausschließliche Anwendung finden soll, die bisher übliche territoriale Aufteilung der Rechte also komplett abgeschafft wird. Auf die Proteste insbesondere der kleineren Verwertungsgesellschaften, die befürchten, das nationale Repertoire nicht mehr wirtschaftlich vertreten zu können, stellt die Empfehlung nun beide Varianten nebeneinander. Ist dadurch etwas gewonnen? Wann immer sich ein Rechteinhaber dazu entschei-

31

Impact Assesment, S. 19.

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den wird, seine Rechte nach dem neuen Modell multiterritorial ausschließlich durch eine Verwertungsgesellschaft vertreten zu lassen, werden die Gegenseitigkeitsverträge bisherigen Typus um dessen Rechte ausgehöhlt.32 Keine Verwertungsgesellschaft ist also wie bisher in der Lage, zumindest für ihr Territorium das Weltrepertoire anzubieten. Je mehr Rechteinhaber sich für die neue Variante entscheiden, desto rudimentärer werden die von den Schwestergesellschaften anzubietenden Rechte. Der große Vorteil der kollektiven Rechtewahrnehmung für den Nutzer, die Rechte am Weltrepertoire aus einer Hand erwerben zu können, entfällt. Insofern bleibt unverständlich, weshalb der zuständige Kommissar der Generaldirektion Binnenmarkt in dem neuen Modell die Schaffung eines europaweiten Rechteclearings sehen kann.33 Nur falls nach einer Jahrzehnte dauernden Konsolidierungsphase nur noch eine Verwertungsgesellschaft übrig bliebe, gäbe es wieder einen Onestop-shop. Die Konsequenzen für die bisherige Rechtewahrnehmung im Falle der Durchsetzung des neuen Modells liegen auf der Hand: Zu Recht warnte die Kommission selbst in der Studie – wie schon das Europäische Parlament im sog. Echerer-Bericht 34 – vor der Gefahr der vertikalen Integration von Medienkonglomeraten 35. Dieser Aspekt findet im „impact assessment“ überraschenderweise keine Berücksichtigung mehr. Er ist jedoch ausgesprochen besorgniserregend: Sollten im Falle des Wettbewerbs zwischen Verwertungsgesellschaften um die jeweiligen Rechteinhaber die bisherigen Strukturen entfallen, stehen die vertikal konzentrierten Konglomerate mit ihren vorwiegend angloamerikanisch geprägten markstarken Rechten vor der Frage, ob sie diese nicht ohnehin direkt verwerten wollen. Das würde nahe liegen, da nach dem Zusammenbruch der bisherigen Gegenseitigkeitsverträge die orientierungslosen Nutzer am ehesten Kontakt direkt mit den Verlagen aufnehmen werden, um zu erfahren, wo die jeweiligen Rechte nun zu erwerben sind 36. Für die Kommission scheint dies ein erwünschtes Ergebnis zu sein, hält sie doch das neue System gerade deshalb für vorzugswürdig, weil die „must-carry“-Inhalte für grenzüberschreitende Online-Musikdienste ohnehin bei wenigen konzentriert sein.37 Die Folge ist, dass sich die nationalen Verwertungsgesellschaften mit erheblichem Aufwand um die Vermarktung des unabhängigen nationalen Repertoires kümmern müssen, das nicht 32 Unverständlich ist daher die Annahme im Impact Assessment, S. 29, attraktive Repertoires würden parallel in beiden Strukturen angeboten werden. 33 So McCreevy auf der UK Presidency Conference on Copyright and the Creative Economy, Speech/05/588; http://europa.eu.int/rapid/pressReleasesAction.do?reference= SPEECH/05/588&format=HTML&aged=0&language=EN&guiLanguage=en. 34 A 5-0478/2003, Nr. 42, S. 15 f. 35 C (2005) 3764 final, S. 41–43. 36 Die Sorge teilt die deutsche Bundesregierung in ihrer Stellungnahme, Abruf siehe Fn. 14. 37 C (2005) 3764 final, S. 23 f.

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zu den „must-carry“-Inhalten gehört. Dieses wirtschaftlich weniger interessante Repertoire müsste zu annährend den bisherigen Kosten lizenziert werden. Es würde sich verteuern und im Markt unattraktiv werden. Im Ergebnis bleibt unklar, ob es überhaupt noch angeboten wird. Die Erwartung der Kommission, die entsprechenden Rechteinhaber blieben aus Loyalität bei ihrer vertrauten nationalen Verwertungsgesellschaft 38, verkennt, dass der Abzug des wirtschaftlich attraktiven Repertoires diesen Verwertungsgesellschaften ihre wirtschaftliche Grundlage entzieht. Zutreffend hat das Europäische Parlament festgestellt: „In der Regel sind sowohl der einzelne Urheber sowie ausübende Künstler und andere Rechteinhaber dem wirtschaftlich potenterem Nutzer gegenüber in einer schwächeren Position und daher auf den kollektiven Schutz von Verwertungsgesellschaften (VGs) angewiesen.“ 39 Dieser Schutz ist nicht mehr zu leisten, wenn nur das wirtschaftlich weniger attraktive Repertoire gebündelt wird. Angesichts des Wettbewerbs zwischen den Verwertungsgesellschaften dürfte auch für den bisherigen Wahrnehmungszwang nach § 6 UrhWG kein Raum mehr sein. Es käme zu einer kulturellen Verarmung in Europa, vor der das europäische Parlament zu Recht gewarnt hat 40. Unklar bleibt auch, wie die Verwertungsgesellschaften den Wettbewerb um die Rechteinhaber überhaupt mit gleichen Waffen führen können, fehlt es doch bisher an einer europäischen Harmonisierung der Rahmenbedingungen. In der Mitteilung der Kommission über die Wahrnehmung von Urheberrechten und verwandten Schutzrechten im Binnenmarkt 41 kündigte die EU-Kommission ein umfassendes Regelungsinstrument zur Tätigkeit der Verwertungsgesellschaften im Binnenmarkt an. Zu regelnde Fragen wären Tarifsetzung, Streitschlichtungsmechanismen, Aufsicht und Mitwirkungsrechte der Berechtigten. Nur zu letzterem enthält die Empfehlung Vorgaben. Gänzlich unberücksichtigt bleibt die vom Europäischen Parlament betonte staatsentlastende Funktion der Verwertungsgesellschaften durch ihre sozialen und kulturellen Förderungen 42. Diese Aufgaben sind in einigen Mitgliedsstaaten gesetzlich vorgegeben, stehen also gar nicht zur Disposition der Verwertungsgesellschaften. So ist beispielsweise die Verwendung von 25–50 % der Erlöse aus der privaten Vervielfältigung in Frankreich und Österreich gesetzlich vorgeschrieben. Erbringt eine Verwertungsgesellschaft entsprechende Leistungen, reduziert dies zwangsläufig die Verteilungssumme. Sie könnte also auch bei geringen Verwaltungskosten nicht so attrak-

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C (2005) 3764 final, S. 24. A 5-0478/2003, S. 15. 40 A 5-0478/2003, Nr. 23, 27; ebenso die deutsche Bundesregierung in ihrer Stellungnahme, Abruf siehe Fn. 14. 41 Markt 170/2003. 42 A 5-0478/2003, Nr. 28. 39

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tive Bedingungen anbieten wie andere Schwestergesellschaften. Es fehlt bisher an dem „level playing field“ für den von der Kommission gewünschten Wettbewerb. Sollte sich das neue Modell durchsetzen, bleibt auch völlig offen, welche der bestehenden nationalen Aufsichtsbehörden für welche Tätigkeiten zuständig sind. Sind es die am Ort des Sitzes – die zum Teil nicht existieren – oder muss sich eine Verwertungsgesellschaft bei jeder Rechtevergabe für Nutzungen in anderen Mitgliedsstaaten den dortigen Aufsichtsbehörden und nationalen Regeln unterstellen? All dieses bleibt in der Empfehlung unerwähnt. Nach alledem stellt sich die Frage, ob es ein Zufall ist, dass die Kommission ausgerechnet das Instrument der Empfehlung gewählt hat, um ohne jegliche Mitwirkung des Europäischen Parlamentes den geschilderten Paradigmenwechsel einzuleiten. Erkennbar wird jedenfalls, dass eine politische Grundsatzdiskussion über den Schutzzweck der kollektiven Rechtewahrnehmung – den Schutz des Schwächeren durch gemeinsamen Verbund aller zur Bewahrung der kulturellen Vielfalt – und die staatsentlastende Funktion der Verwertungsgesellschaften vermieden wurde. Es bleibt zu erwarten, dass sich diese Diskussion nach Evaluation der Empfehlung bei der Diskussion über eine Richtlinie massiv einstellt. Zu befürchten steht allerdings, dass dann die bisherigen Strukturen schon so weit durchlöchert sind, dass die tragfähige Basis für die kollektive Rechtewahrnehmung entfällt.

Redefreiheit und Demokratie: das amerikanische Beispiel* Friedrich Kübler I. Die Redefreiheit – genauer: die Freiheit, sich eine eigene Meinung zu bilden, sie zu äußern und als geschriebenes oder gedrucktes Wort zu verbreiten – ist eine Errungenschaft der Aufklärung. Sie erscheint als Postulat in den Schriften von John Milton 1 und Immanuel Kant 2 und findet in den Verfassungstexten des ausgehenden 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts ihren rechtlichen Niederschlag. In der Rechtspraxis führt sie freilich lange Zeit ein Schattendasein. Sie erscheint weder in den Schriftsätzen und Plädoyers der Anwälte, noch in den Entscheidungen der Gerichte; d.h. sie hat keinerlei Einfluss auf die Auslegung und Anwendung des Common Law in den USA oder des kodifizierten Straf- und Zivilrechts des europäischen Kontinents. Das ändert sich erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts. In einer Bewegung, die von den USA ausgeht, wird das Regelwerk, das die Redefreiheit begrenzt und damit die Kommunikationsströme kanalisiert, einer grundlegenden und zuweilen als revolutionär empfundenen Revision unterworfen; besonders aufschlussreich ist das Beispiel des Ehrenschutz- oder Beleidigungsrechts, auf das zurückzukommen ist. Dieser Vorgang ist nicht nur für die Jurisprudenz relevant und aufschlussreich; in ihm spiegeln sich grundlegende Änderungen der Verfassung moderner Gemeinwesen. Denn der Wandel wird nicht durch die Gesetzgebung, sondern durch Gerichte bewirkt, denen die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit und damit die Befugnis zugewachsen war, die einfachen Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Der amerikanische Supreme Court hat sich diese Kompetenz schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu-

* Überarbeiteter und ergänzter Text eines Vortrags im Rahmen der Ringvorlesung „Zu Geschichte und Kultur Nordamerikas“, die die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main im WS 2005/2006 veranstaltet hat. 1 Areopagitica (1644). 2 Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? in: I. Kant, Was ist Aufklärung? Aufsätze zur Geschichte der Philosophie (4. Aufl. 1994), S. 55 ff.

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gesprochen 3; deshalb ist es besonders auffällig, dass sie für die Redefreiheit so lange Zeit ohne Bedeutung blieb. Das heißt: dieses Grundrecht ist im 20. Jahrhundert plötzlich völlig anders als in der Zeit vorher – und das heißt auch: anders als von den Urhebern der Verfassung – verstanden worden; wir sehen uns mit einem grundlegenden Wandel des Sinnes und der Bedeutung der Verfassung konfrontiert, der nicht auf ihrer Änderung im dafür vorgesehenen Verfahren, sondern allein auf ihrer Neuinterpretation durch das höchste amerikanische Gericht, den Supreme Court, beruht. Dieser Vorgang ist rechtlich und politisch brisant. Er rührt nicht nur an das Prinzip der Gewaltenteilung, sondern auch an die Fundamente der demokratischen Ordnung, die die Entscheidung, was Gesetz und Verfassung sein soll, den unmittelbar gewählten Repräsentanten des Volkes zuweist. Aus diesen Vorgaben wird die Forderung abgeleitet, dass sich die Verfassungsgerichtsbarkeit strikt an den Text der Verfassung und an die durch ihn fixierten Absichten ihrer Urheber, der Verfassungsväter, zu halten habe. Das ist in den USA ein hochaktuelles Thema. Der konservative Flügel der republikanischen Partei verlangt von Präsident Bush, nur noch „originalists“ zu Bundesrichtern zu berufen; das sind Juristen, die sich dem „original intent“, dem ursprünglichen Sinn der Verfassung verpflichtet fühlen und sich deshalb weigern, ihr eine mit den Verhältnissen gewandelte Bedeutung beizumessen. Die Umdeutung der Redefreiheit verdient aber auch aus inhaltlichen Gründen Beachtung. Sei darf nicht isoliert betrachtet werden; in ihr spiegeln sich breitere und tiefere Veränderungen im Gefüge der Verfassungsordnung, die wiederum auf die Frage der Legitimation der judiziellen Umdeutung zurückwirken: jedes Gericht steht vor der Aufgabe, das anzuwendende Regelgefüge soweit wie möglich als eine in sich konsistente, d.h. widerspruchsfreie, Ordnung zu begreifen. Schließlich ist die amerikanische Geschichte, über die ich berichten will, auch für die deutsche Entwicklung aufschlussreich. Das Bundesverfassungsgericht hat die Neubestimmung des Ranges der Äußerungsfreiheit im Gefüge der Rechts- und Verfassungsordnung in ganz ähnlicher Weise vollzogen; und es hat sich dabei – in der grundlegenden Lüth-Entscheidung 4 – ganz ausdrücklich auf die amerikanische Parallele berufen. Die Rechtsprechung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes hat sich etwas später angeschlossen 5; es geht um einen Wandel, der den besonders hochentwickelten und ausdifferenzierten Rechtsordnungen weithin gemeinsam ist.

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Marbury v. Madison, 5 U.S. 137 (1803). BVerfGE 7, 198, 208, nimmt Bezug auf den amerikanischen Richter Cardozo. Zwei der damaligen Verfassungsrichter, Gerhard Leibholz und Hans Rupp, waren ausgewiesene Kenner des amerikanischen Rechts. 5 So vor allem die Entscheidungen in den Fällen Lingens (EuGHMR H.R. Serie A Nr. 103) und Oberschlick (NJW 1993, 132). 4

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II. Der Text der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika regelt die Organisation des neugegründeten Bundes; die Grundrechte sind in Zusatzartikeln gewährleistet, die als Amendments bezeichnet werden. Das „First Amendment“ bestimmt u.a.: „Congress shall make no law … abridging the freedom of speech, or of the press …“;

d.h.: der Bundesgesetzgebung ist es verwehrt, Regeln zu erlassen, die die Rede- oder Pressefreiheit beschränken. Das ist lange Zeit als eine auf generelle Verbindlichkeit angelegte Übernahme des aufklärerischen Postulats der Gedanken-, Meinungs- und Äußerungsfreiheit verstanden worden, als die Verbürgung eines dem staatlichen Zugriff entzogenen Marktplatzes der Meinungen oder Ideen, der die Erkenntnis fördert und der Wahrheit zum Sieg verhilft 6. Neuere historische Untersuchungen haben dies als eine Fiktion entlarvt 7. Das First Amendment war eine bundesstaatliche Kompetenzregel, die dem Kongress, und damit der Bundesgesetzgebung, die Zuständigkeit zur Festlegung des Äußerungsrechts schlechthin entzog; es war dies eine Materie, die ausschließlich dem Recht der Einzelstaaten vorbehalten bleiben sollte. In diesen Staaten, in Pennsylvania und Massachusetts, in Maryland und Virginia, galt die Tradition des Common Law weiter. Sie ist von dem englischen Juristen Blackstone im 18. Jahrhundert auf die Formel gebracht worden, dass blasphemische, unmoralische, verräterische, spalterische, herabsetzende und skandalierende Äußerungen von der Rede- und Pressefreiheit nicht geschützt werden 8. Das entspricht den Strukturen und Bedürfnissen der vorliberalen, d.h. einer feudalständischen Gesellschaft, deren Ordnung als von Gott gesetzt und deshalb rechtlich vorgegeben gilt: wer dem Herrscher oder anderen Standespersonen die Befähigung zur Wahrnehmung ihrer ererbten Ämter und Pfründen abspricht, greift nicht nur die Person, sondern mit ihr die gottgewollte Ordnung an; das Delikt des „seditious libel“ in England entspricht dem der „laesio maiestatis“ auf dem europäischen Konti6 So vor allem die dissenting opinion des Richters Holmes in Abrams v. United States, 240 U.S. 616, 624ff. (1919); wichtigster akademischer Vertreter dieser lange Zeit herrschenden Ansicht war Zechariah Chafee, Jr., Free Speech in the United States (1. Aufl. 1920, 2. Aufl. 1942); vgl. auch seinen Aufsatz Free Speech in Wartime, 32 Harv. L. Rev. 932 (1919). 7 Dazu und zum Folgenden vor allem Leonard W. Levy, Legacy of Suppression: Freedom of Speech and the Press in Early American History (1960); ders., Freedom of the Press from Zenger to Jefferson (1966); David M. Rabban, Free Spech in Its Forgotten Years (1997), insbes. S. 2ff.; David Yassky, Eras of the First Amendment, 91 Columbia L. Rev. 1699, 1703ff. (1991); David A Strauss, Freedom of Speech and the Common Law Constitution; in: Lee Bollinger/Geoffrey Stone (eds.), Eternally Vigilant. Free Speech in the Modern Era (2002), S. 32ff. 8 Commentaries on the Laws of England Bd. 4 (1765–69) S. 151f.

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nent 9. Kennzeichnend ist, dass „truth“, d.h. die Wahrheit der Behauptung weder entschuldigt noch rechtfertigt; ganz im Gegenteil: die auf zutreffenden Beobachtungen gestützte Kritik der Obrigkeit gilt als besonders gefährlich und muss deshalb mit derselben Strenge verfolgt werden wie die wahrheitswidrige Diffamierung und Verleumdung. Diese Regeln passten nicht nur für die vorrevolutionären Kolonien, sondern auch für die Staatswesen, die sich vom englischen Mutterland losgesagt hatten: sie waren und blieben feudalständisch geprägt; dafür ist nur an die Verbreitung der Sklaverei zu erinnern. Deshalb galt die Blackstone’sche Formel weiter: sie ermächtigte die Staaten, Gesetze zu erlassen, die von der jeweiligen Mehrheit als gefährlich erachtete Meinungsäußerungen mit Strafe belegten: Kritik an der Obrigkeit, Leugnung der christlichen Glaubenswahrheiten und die Verbreitung als obszön empfundener Schriften konnten weiterhin verfolgt werden. Eine besondere Rolle spielte die abolitionistische Literatur, die sich gegen die Sklaverei richtete 10. Die Südstaaten erließen Verbotsgesetze, die drakonische Strafen androhten. Sie verlangten zudem von der Bundesregierung Vorkehrungen dagegen, dass die Bundespost abolitionistische Schriften beförderte. Das war bemerkenswert, weil es mit dem vorherrschenden Verständnis des First Amendment nicht vereinbar war. Der Bund hatte 1797 und 1798 zwei Gesetze, die Alien and Sedition Acts, erlassen, die die Herabsetzung der Bundesregierung mit Haft- und Geldstrafen sanktionierten. Es kam zu einer Reihe von Anklagen und Verurteilungen, die vom Supreme Court nicht beanstandet wurden 11. Der Widerstand kam von den Staaten: Kentucky und Virginia verabschiedeten Resolutionen, die den Übergriff des Bundes in ihre Kompetenz rügten; sie hatten zur Folge, dass die Bundesgesetze nicht erneuert wurden, während einschlägige Regelungen der Staaten fortbestanden. Eine Generation später forderten dieselben Staaten vom Bund ein Gesetz, das die Verbreitung ihnen unerwünschter Schriften unterbinden sollte. Dazu ist es freilich nicht gekommen; der einschlägige Entwurf scheiterte im Senat.

III. Diese Episode bezeichnet den wachsenden Konflikt zwischen den Nordund den Südstaaten, der zum Bürgerkrieg führte. An seinem Ende steht eine wichtige Verfassungsänderung: Drei neue Zusatzartikel – das 13., das 14. und 9 Zur Entwicklung im Vereinigten Königreich vgl. Frederick Siebert, Freedom of the Press in England 1476–1776 (1952). 10 Dazu eingehend Yassky S. 1713 ff. 11 Dazu James M. Smith, Freedom’s Fetters: The Alien and Sedition Laws and American Civil Liberties (1956) S. 185 ff.

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das 15. Amendment – erstrecken die Geltung der in den vorgehenden Amendments gewährleisteten Bürgerrechte auf die Staaten; von nun an ist ihre Gesetzgebung an die in der Bundesverfassung festgelegten Maßstäbe gebunden; und sie unterliegt der verfassungsgerichtlichen Kontrolle durch die Gerichtsbarkeit des Bundes, insbesondere den Supreme Court. Das hatte wichtige Folgen: Der Supreme Court kontrollierte nunmehr die Gesetze der Einzelstaaten auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten des Privateigentums und der Vertragsfreiheit. Am berühmtesten (oder berüchtigsten) wurde der 1905 entschiedene Fall Lochner v. New York 12: ein Gesetz, das die Arbeitszeit für Bäcker auf 10 Stunden am Tag und 60 Stunden in der Woche begrenzte, wurde als verfassungswidriger Eingriff in die Rechte der Arbeitgeber gebrandmarkt und für unwirksam erklärt. Für die Redefreiheit blieben die neuen Amendments freilich zunächst ohne Bedeutung. Zwar hatten viele der Staaten ihre meinungsregelnden Gesetze schrittweise liberalisiert. Die Rechtsprechung weigerte sich aber, die verbleibenden Restbestände der feudalständischen Tradition am First Amendment zu messen. Besonders aufschlussreich ist der Fall Patterson v. Colorado 13 aus dem Jahr 1907: der Supreme Court ließ es zu, wahrheitsgemäße Kritik an der Obrigkeit weiterhin als defamation, d.h. als Beleidigung, zu bestrafen. Diese Epoche wird als die der „vergessenen Jahre“ der Redefreiheit bezeichnet 14; das First Amendment war und blieb für die Rechtspraxis ohne Bedeutung. Änderungen bahnten sich außerhalb der Rechtsordnung und ihrer Durchsetzung an. 1859 forderte John Stuart Mill die Beseitigung jeder staatlichen Kontrolle von Meinungsäußerungen 15. Wenige Jahre später wurde die Free Speech League gegründet, die sich diesem Programm verschrieb 16. Dann entstanden die Gewerkschaften und die mit ihnen sympathisierenden Parteien, die sich für ihre Kundgebungen auf das First Amendment beriefen 17. Ihre Repräsentanten opponierten gegen den Eintritt der USA in den ersten Weltkrieg, riefen zur Wehrdienstverweigerung und zur Sabotage der Rüstungsproduktion auf und wurden wegen Verstoßes gegen den 1917 erlassenen Espionnage Act zu – teilweise langjährigen – Haftstrafen verurteilt. Ihre Berufung auf das First Amendment blieb vor dem Supreme Court ohne Erfolg. Es wurde zwar zugegeben, dass die Redefreiheit beschränkt wird, wenn der Staat die Verteilung von Flugblättern pazifistischen Inhalts mit Gefängnis

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198 U.S. 45 (1905). 205 U.S. 454 (1907) 14 David M. Rabban, Free Speech in Its Forgotten Years (1997); zur Entwicklung der Rechtsprechung vgl. insbes. S. 129 ff. 15 John Stuart Mill, On Liberty (1859); Neuauflage 2003, insbes. S. 86ff. 16 Einzelheiten bei Rabban S. 44 ff. 17 Rabban S. 77ff. 13

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ahndet. Aber diese Reaktion ist legitim: während des Krieges bewirkt der Aufruf zur Wehrdienstverweigerung eine akute Gefährdung – the „clear and present danger“ -, die der Espionnage Act verhindern sollte 18. Diese Rechtsprechung setzte sich in der Nachkriegszeit fort. Nunmehr zeigte sich, dass die Bestrafung extremistischer politischer Äußerungen auch noch durch andere Umstände als Krieg legitimiert werden konnte: kommunistische Propaganda, die zum gewaltsamen Umsturz aufrief, erfüllte ebenfalls den Tatbestand der „clear and present danger“ 19. In dieser Phase war es der Gesetzund Verordnungsgebung gestattet, Meinungsäußerungen zu verbieten, wenn sie ein auch nur vage umschriebenes Schutzgut, etwa die Sicherung der öffentlichen Ordnung, gefährdeten. Der spätere Wandel deutete sich in den berühmten Sondervoten der Richter Oliver Wendell Holmes und Louis Brandeis an. Holmes war vor seiner Berufung an den Supreme Court ein prominenter Anwalt mit ausgeprägten rechtswissenschaftlichen Neigungen gewesen 20; Brandeis war der erste Supreme Court-Richter jüdischer Herkunft. Im Fall Abrams v. United States 21 wurden die Angeklagten bestraft, weil sie sich gegen die amerikanische Intervention zur Bekämpfung der Sowjetrevolution gewandt und zur Bestreikung von Munitionsfabriken aufgerufen hatten. Dagegen schrieb Holmes eine abweichende Meinung, der sich Brandeis anschloss. Er betonte, dass Wahrheit und Gemeinwohl nicht durch Redeverbote, sondern durch den freien Austausch auf dem Marktplatz der Meinungen und Ideen gefördert würden: „the best test of truth is the power of the thought to get itself accepted in the competition of the market … That at any rate is the theory of our Constitution“. Acht Jahre später, in einem Sondervotum zu Whitney v. California, beschwor Brandeis die Vorstellungen und Absichten der Verfassungsgeber; sie glaubten „… that freedom to think as you will and speak as you think are means indispensable to the discovery and spread of political truth …; that public discussion is a political duty; and that this should be a principle of the American government“ 22. Diese neue Auslegung des First Amendment war – wie dargelegt – ein Konstrukt, das mit der wirklichen Entstehungsgeschichte wenig oder nichts zu tun hatte. Aber sie erwies sich als ungemein erfolgreich. Holmes und Brandeis blieben nicht lange die „lonely dissenters“; in den 30er Jahren wandelten sich die Mehrheitsverhältnisse und damit auch – Schritt für Schritt – 18 Schenck v. United States, 249 U.S. 47, 51 (1919); ebenso Debs v. United States, 249 U.S. 211 (1919); Abrams v. United States, 250 U.S. 616 (1919). Zu diesen Fällen eingehend Geoffrey F. Stone, Perilous Times. Free Speech in War Time (2004) S. 135ff. 19 Gitlow v. New York, 268 U.S. 652 (1925); Whitney v. California, 274 U.S. 357 (1927). 20 Sein Buch „The Common Law“ (1881) ist ein Klassiker. Zu Holmes s. Stone (Fn. 18) S. 199ff. 21 250 U.S. 616, 624 ff. (1919). 22 224 U.S. 357, 372 ff. (1927).

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die Judikatur des Supreme Court. In Stromberg v. California 23 wurde entschieden, dass das Entfalten einer roten Flagge als Demonstration anarchistischer Überzeugungen nicht mehr verboten und bestraft werden darf. In Near v. Minnesota 24 wurde jede Form der Vorzensur („prior restraint“) von Zeitungen für unzulässig erklärt. Vorschriften zum Schutz der öffentlichen Ordnung und des öffentlichen Friedens mussten von nun an restriktiv angewandt werden: Demonstrationen und an die Allgemeinheit gerichtete Appelle durften nur noch dann verboten werden, wenn sie zur direkten Gewaltanwendung aufrufen 25. Und die kritische Auseinandersetzung mit Richtern und ihren Urteilen konnte nicht mehr als „contempt of court“ bestraft werden 26. Diese Entwicklung kulminierte 1964, als der Supreme Court New York Times v. Sullivan 27, den wohl berühmtesten und wichtigsten First Amendment-Fall, zu entscheiden hatte. In der New York Times war ein ganzseitiges Inserat veröffentlicht worden, das die Unterdrückung der Bürgerrechtsbewegung durch die Behörden der Südstaaten kritisierte. Es enthielt einige belanglose Ungenauigkeiten: so war Martin Luther King nicht, wie angegeben, sieben, sondern nur sechs mal verhaftet worden. Deshalb klagte einer der drei Polizeichefs von Montgomery/Alabama, der in der Annonce nicht namentlich erwähnt worden war, wegen Beleidigung (defamation) gegen die New York Times. Das lokale Geschworenengericht sprach ihm einen Strafschadensersatz von $ 500.000 zu; dieses Verdikt wurde vom obersten Gericht des Staates, dem Alabama Supreme Court, bestätigt. Eine Vollstreckung dieses Urteils, das darauf abzielte, die Presse in den Nordstaaten von der Unterstützung der Bürgerrechtsbewegung im Süden abzuschrecken, hätte die New York Times mit der Insolvenz bedroht. Dazu kam es nicht, denn der Supreme Court der Vereinigten Staaten hob die Vorentscheidungen auf und wies die Klage ab. Das war eine Sensation, weil die Entscheidungen der Untergerichte formal korrekt waren: sie folgten der in Alabama gültigen Version des auf der englischen Tradition beruhenden Beleidigungsrechts. Der Supreme Court entschied einstimmig, dass dieses law of defamation mit dem Grundrecht der Redefreiheit nicht länger vereinbar sei. Die Begründung des Richters Brennan beruft sich auf das Sondervotum von Brandeis in Whitney v. California 28 und entnimmt ihm den Grundsatz „that debate on public

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283 U.S. 359 (1931). 283 U.S. 697 (1931). 25 Cantwell v. Connecticut, 310 U.S. 296 (1940); Chaplinsky v. New Hampshire, 315 U.S. 568 (1942). 26 Bridges v. California, 314 U.S. 252 (1941); Pennekamp v. Florida, 328 U.S. 331 (1946); Craig v. Harney 331 U.S. 367 (1947). 27 376 U.S. 254 (1964). Zu diesem Fall eingehend Nolte, Beleidigungsschutz in der freiheitlichen Demokratie (1992), S. 107 ff. 28 Vgl. oben zu Fn. 21. 24

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issues should be uninhibited, robust, and wide-open“ 29, dass dies auch für die übermäßig scharfe und herabsetzende Kritik an der Regierung und ihren Vertretern, den „public officials“ gilt, und dass das überlieferte Beleidigungsrecht insoweit von dem Grundrecht der Meinungsfreiheit verdrängt und außer Geltung gesetzt wird. Von nun an gilt kraft Verfassungsrecht der Grundsatz, dass ein „public official“ wie Sullivan nur noch dann Schadensersatz verlangen kann, wenn er nachweist, dass die ihn betreffende Behauptung unzutreffend ist und sie mit „actual malice“, d.h. in Kenntnis ihrer Unwahrheit, oder mit „reckless disregard of whether it was false or not“ 30, d.h. mit bedingtem Vorsatz, aufgestellt worden ist. Wenig später wurde klargestellt, dass dieser Grundsatz auch für andere „public figures“, das sind Personen der Zeitgeschichte wie Wirtschafts- und Verbandsbosse, Zelibritäten des Medien- und Schaugeschäftes oder die Stars der Sportszene, zu gelten hat 31.

IV. Damit hatte sich ein grundlegender Wandel des Verständnisses und der Auslegung des First Amendment endgültig vollzogen: aus einer bundesstaatlichen Kompetenzregel, die der Zentralregierung die Einmischung in die politischen Angelegenheiten der Einzelstaaten verwehren sollte, war eine Norm geworden, die es der Gesetzgebung in Bund und Einzelstaaten weitgehend verwehrt, die öffentliche Kommunikation im Interesse der jeweiligen Mehrheit so zu regulieren, dass die wirtschaftlichen und die Machtinteressen dieser Majorität möglichst unangetastet bleiben. Was hat diese Umdeutung, die Aufwertung des First Amendment zu einer zentralen Verfassungsbestimmung, zum „most celebrated text in all of American Law“ 32 bewirkt? Der historische Rückblick legt es nahe, von einer Entwicklung zu sprechen, die sich in zwei großen Schüben vollzogen hat. Der erste wird durch den Bürgerkrieg ausgelöst. Die Niederlage der Südstaaten wird durch die Verabschiedung der 13., 14. und 15. Zusatzartikel der Bundesverfassung besiegelt. Sie ordnen an, dass die verfassungsmäßig gewährleisteten Bürgerrechte von nun an nicht nur gegenüber den Instanzen des Bundes, dem Federal Government, gelten, sondern zugleich die Ausübung hoheitlicher Autorität in den Einzelstaaten binden. Das war sehr viel

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376 U.S. 254, 367. 376 U.S. 354, 370. 31 Curtis Publishing Co. v. Butts und Associated Press v. Walker, 388 U.S. 130 (1967); zur Behandlung von „private plaintiffs“ s. Gertz v. Robert Welch, Inc., 418 U.S. 323 (1974). 32 David A. Strauss, Freedom of Speech and the Common-Law Constitution in: Lee Bollinger/Geoffrey Stone (Fn. 7.), S. 32, 33. 30

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mehr als eine rechtstechnische Änderung. Die Erstreckung des Anwendungsbereiches der civil rights auf die States erweiterte die Macht der federal courts, der Gerichtsbarkeit des Bundes, und schränkte die Autonomie der Teilstaaten zunehmend ein. In der konkreten historischen Situation zielte sie auf die endgültige Abschaffung der Sklaverei im Süden: allen auf dem Gebiet der Vereinigten Staaten geborenen Personen war nunmehr der Status einer mit den Attributen der Rechtsfähigkeit und der Bürgerschaft ausgestatteten Personalität eingeräumt, der ihre Behandlung als eine besitzbare Sache nicht länger erlaubte. Das war zunächst wenig mehr als eine formale Rechtsposition, die die Unterdrückung durch andere Mechanismen für ein weiteres Jahrhundert nicht verhinderte. Es war das rechtliche Regime einer liberalen Bürgergesellschaft, die sich im Norden durchgesetzt hatte und nunmehr die sehr viel zäheren feudalständischen Strukturen des Südens delegitimieren sollte und dieses Ziel schließlich auch erreicht hat. Der zweite Schub wird durch die Industrialisierung ausgelöst. Sie bewirkt die sozialpolitische Auffächerung der Gesellschaft: in den großen Städten wie New York und Chicago bilden sich Gewerkschaften und sozialistische Parteiorganisationen, die den liberalen Grundkonsens der etablierten Gesellschaft in Frage stellen, durch Streiks und Demonstrationen für ihre Auffassungen werben und sich auf das Grundrecht der Redefreiheit berufen, wenn sie wegen Störung des öffentlichen Friedens verfolgt werden 33. Zur gleichen Zeit entstehen Organisationen wie die „Free Speech League“, die für ein verändertes Verständnis der Äußerungsfreiheit werben: sie soll zum Recht der Minderheit werden, die dominierenden Mehrheitsanschauungen ungehindert angreifen und bekämpfen zu können. Diese Strömung wird vom verfassungsrechtlichen Schrifttum aufgegriffen 34, und dieses inspiriert wiederum die erwähnten Sondervoten der Richter Holmes und Brandeis 35. Damit waren freilich die übrigen Richter des Supreme Court nicht überzeugt; erst in den 30er Jahren wurde die von Holmes und Brandeis propagierte Auslegung zur Mehrheitsmeinung des Gerichts. Diese Wendung wird mit guten Gründen als eine Reaktion auf den New Deal, d.h. die Wirtschaftsund Sozialgesetzgebung betrachtet, die sich mit dem Namen und Wirken des Präsidenten Franklin D. Roosevelt verknüpft. Vor der Weltwirtschaftskrise galten Privateigentum und Vertragsfreiheit in der Überlieferung des britischen Common Law als die unverrückbaren Fundamente der amerikanischen Wirtschaftsverfassung; dafür sei nur an den erwähnten Fall Lochner 36 erinnert, in dem der Supreme Court eine aus heutiger Perspektive ungemein zurückhaltende Arbeitszeitregelung des Staates New York für verfassungs33 34 35 36

Dazu detailliert Rabban (Fn. 14) S. 77 ff. Vorreiter war Zechariah Chafee, vgl. oben Fn. 6. Vgl. Fn. 21 und 22. Vgl. Fn. 12.

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widrig erklärt hatte. Mit Franklin Roosevelt begann eine Ära intensiver wirtschafts- und sozialpolitischer Regulierung; nunmehr schuf sich der Bund sein eigenes Kapitalmarkt- und kollektives Arbeitsrecht. Das stieß zunächst auf den Widerstand des Supreme Court, der eine Reihe der Reformgesetze als verfassungswidrig verwarf. Erst nach einem erbitterten Konflikt mit dem Präsidenten änderte das Gericht seine einschlägige Rechtsprechung; und die neue Mehrheit akzeptierte nicht nur die staatlichen Lenkungsmaßnahmen, sondern zugleich das erweiterte Verständnis der Redefreiheit 37. Das ist durchaus folgerichtig. Denn der New Deal bedeutet, dass die Organisation der Wirtschaftsabläufe und die Verteilung ihres Ertrages nicht mehr dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen bleiben, sondern von nun an durch Gesetze gesteuert werden, die die jeweilige Mehrheit zu verabschieden vermag. Damit wächst dem demokratischen Prozess der politischen Willensbildung und Entscheidung eine neue Dimension der Relevanz zu: in den Wahlen und Abstimmungen wird nicht mehr allein über die Berufung der Repräsentanten des Volkes, sondern über konkrete und weitreichende Programme einer gestaltenden und verteilenden Wirtschafts- und Sozialpolitik entschieden. Damit erfährt auch der öffentliche Diskurs über diese Maßnahmen einen gewichtigen Zuwachs seiner Bedeutung: Er bildet das Vorfeld, in dem um die Mehrheiten gekämpft wird, die im Parlament über die Gesetze bestimmen. Nunmehr dominieren weniger die Ideen als die Interessen; und die Legitimation des Systems hängt zunehmend davon ab, dass sich die konfligierenden Bedürfnisse frei organisieren und in der Auseinandersetzung mit anderen ebenso frei artikulieren können 38.

V. Es sind mithin die in die Tiefe greifenden Veränderungen des realen Verfassungsgefüges – von dem feudalständischen Regime der Revolutionszeit über die liberale Bürgergesellschaft des 19. zum pluralistischen Lenkungsund Verteilungsstaat des 20. Jahrhunderts –, die den Grundrechten der Kommunikationsfreiheit Schritt für Schritt wachsende Bedeutung und weiter ausgreifende Wirkungen einräumen. Dieser Vorgang wird reflektiert in dem Wechsel der Theorien, mit denen die Geltung der Redefreiheit begründet wird 39.

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Dazu eingehend Yassky (Fn. 7) S. 1729 ff. Zu den deutschen Parallelen vgl. etwa Kübler, Wirtschaftsordnung und Meinungsfreiheit (1966) m.w.N. 39 Dazu und zum Folgenden Robert Post, Reconciling Theory and Doctrine in First Amendment Juris prudence, in Bollinger/Stone (Fn. 7) S. 153ff. 38

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Am Anfang steht die individuelle Redefreiheit als ein Glied in der Kette der Menschen- und Bürgerrechte, die den Einzelnen aus der unbegrenzten Einbindung in die Sozialsysteme des vorliberalen ancient régime herauslösen und ihm einen eigenständigen Raum autonomer Entscheidung verbürgen; in dieser Phase ist die Meinungsfreiheit mit der Glaubensfreiheit, d.h. der Freiheit der Wahl des religiösen Bekenntnisses, eng verbunden. Diese Rechte sind gegen den Staat gerichtet; sie sichern einen abgegrenzten Bereich autonomer Entscheidung und Bestimmung der je eigenen Angelegenheiten. Mit dieser allein subjektivrechtlichen Rechtfertigung konkurriert schon frühzeitig ein funktionsorientiertes Konzept 40. Eigentlicher Grund der Gewährung der Redefreiheit ist der „Marktplatz der Meinungen“, der die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Ansichten zusammenführt und miteinander konfrontiert und in diesem Prozess „truth“, die Wahrheit, herausfiltert. Auf diese Theorie beruft sich Holmes in seinem Sondervotum in Abrams: „… the best test of truth is the power of the thought to get itself accepted in the competition of the market“ 41. Dieses Konzept ist dem idealistischen Optimismus verpflichtet, dass die Beseitigung obrigkeitsstaatlicher Restriktionen ausreichen wird, einen sich selber steuernden Prozess der Selbstaufklärung des Gemeinwesens in Gang zu setzen und zu halten, an dessen Ende eindeutige Einsichten und Erkenntnisse, eben die Wahrheit, stehen 42. Und es beruht auf einem Bild, das in unterschiedlicher Weise verstanden werden kann: der „Marktplatz der Ideen“ oszilliert zwischen der Agora als einer Stätte des Austauschs von Ideen und dem eines Bazars, auf dem die verdinglichten Produkte der Medienwirtschaft zum Kauf angeboten werden 43. In beiden Varianten entspricht das Konstrukt des Marktes der Ideen dem Selbstverständnis einer homogenen bürgerlichen Bildungs- und Besitzgesellschaft, für die der freie Tausch der Meinungen und der Güter den Erfolg des Individuums und den Fortschrift der Gesellschaft garantiert. Wenige Jahre später, in dem erwähnten Sondervotum des Richters Brandeis, hat sich der Akzent erneut verändert. Jetzt wird betont, „that public discussion is a political duty; and that this should be a fundamental principle of the American government“ 44. In diesen Formeln spiegelt sich ein neues Paradigma, das von der akademischen Literatur mit dem Prinzip des „self-govern40 Zu seiner Genese und Entwicklung Dicke, „The Marketplace of Ideas“ und der menschenrechtliche Gehalt der Meinungsfreiheit, in Schwartländer/Willoweit (Hrsg.), Meinungsfreiheit – Grundgedanken und Geschichte in Europa und USA (1986) S. 65ff. 41 Vgl. oben Fn. 21. 42 Zur Kritik dieser Vorstellung s. Edwin Baker, Scope of the First Amendment Freedom of Speech, 25 UCLA L. Rev. (1978), 654 ff.; Stanley Ingber, The Marketplace of Ideas: a Legitimazing Myth, 1984 Duke L. J. 1 ff. 43 Dazu näher Cole, Agon et Agora: Creative Misreadings in the First Amendment Tradition, 95 Yale L.J. 857, 876 ff. (1986). 44 Vgl. oben Fn. 22.

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ment“, der Regierung des Volkes durch das Volk, identifiziert wird 45. Diese Theorie wird von der Praxis der Parteiendemokratie des 20. Jahrhunderts inspiriert. Ihre tragenden Institutionen haben sich gewandelt: das Parlament ist nicht mehr das Forum liberaler Honoratioren, die sich im Diskurs auf das Gemeinwohl einigen, sondern die Einrichtung, in der die zwischen den Vertretern der rivalisierenden Interessen ausgehandelten Kompromissen durch Mehrheitsbeschluss besiegelt, d.h. in Gesetze gegossen werden. Damit wandelt sich die Instanz der politischen Öffentlichkeit: sie ist nicht länger der Marktplatz der Ideen, sondern ein fortwährender Prozess, in dem um die Organisation und Durchsetzung von wirtschaftlichen Interessen und kulturellen Desideraten gerungen wird. Die „public figures“ oder Personen der Zeitgeschichte repräsentieren nunmehr die sehr unterschiedlichen Anschauungen und Wünsche ihrer Gruppierungen oder Wähler; sie verkörpern die rivalisierenden Programme, die auch in ihrer Personifizierung Gegenstand legitimer Kritik werden; das erklärt, warum der traditionelle Beleidigungsoder Ehrenschutz dieses Personenkreises zunehmend hinter der Redefreiheit zurückstehen muss 46. Zudem verbinden sich in dem Konzept der „self-governance“ die subjektivrechtlichen und die funktionalen Elemente der früheren Theorien. Demokratie ist die Staatsform, die individuelle Selbstbestimmung auch durch Teilnahme an einem politischen Prozess ermöglicht, der durch das komplexe Verfahren öffentlicher Willens- und Entscheidungsbildung Legitimation herstellt: die verabschiedeten Gesetze sind gültig, weil sie zum Abschluss eines transparenten Verfahrens die Zustimmung der Mehrheit gefunden haben.

VI. Lassen Sie mich zum Abschluss einige der Einsichten zusammenfassen, die die historische Analyse zu vermitteln vermag: 1. Die amerikanische Geschichte zeigt exemplarisch, dass der Umfang und das Gewicht der Äußerungsfreiheiten nicht als vorgegeben betrachtet werden können. Auch wenn man die individuelle Redefreiheit als unveräußerliches Menschenrecht im Naturrecht verankert sieht, hängt ihre rechtliche Bedeutung von den Randbedingungen der jeweiligen Gesellschafts- und Verfassungsordnung ab. Sie ist beschränkt in den Zirkeln und Salons der aufgeklärten Oberschicht einer weiterhin ihrer feudalständischen Tradition ver-

45 So vor allem Alexander Meiklejohn, Free Speech and Its Relation to Self-Government (1948). 46 Dazu näher Kübler, Ehrenschutz, Selbstbestimmung und Demokratie, NJW 1999, 1281ff.

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hafteten Gesellschaft. Sie erweitert ihren Wirkbereich im Gefüge einer bürgerlich-liberalen Rechtsordnung, die sich vom offenen Markt der Meinungen Einsicht in vorgegebene Wahrheiten verspricht. Und sie wird in der pluralistischen Demokratie, die zumindest die Randbedingungen der Wirtschaft und der Verteilung der Entscheidung durch die jeweilige Mehrheit unterwirft, zum dominierenden Verfassungsprinzip, das die Traditionsbestände meinungsbeschränkender Regelungen, wie etwa das Beleidigungsrecht, zunehmend zur Seite drängt. Das lässt sich als Folge faktischen Verfassungswandels verstehen; es ist aber zugleich ein Indikator für diese Veränderung. 2. Diese Entfaltung der Redefreiheit ist generell das Werk der Verfassungsgerichtsbarkeit (wie sie auch immer organisiert sein möge). In ihren Judikaten vollzieht sich der Bedeutungswandel des First Amendment ebenso wie der des Art. 5 GG oder des Art. 10 EMRK. An der grundsätzlichen Legitimität dieses Vorgangs ist heute nicht mehr zu zweifeln. Er ist nicht auf eine Rechtsordnung beschränkt, sondern tendiert zur Universalität. Die maßgeblichen Fälle werden einstimmig oder mit großer Mehrheit entschieden; mit den sich anschließenden Urteilen bilden sie eine Kette von Präzedenzentscheidungen, deren Substanz zu objektiven Verfassungsgrundsätzen erstarkt. Und last not least: im modernen demokratischen Gemeinwesen wird durch Mehrheit entschieden; und die Mehrheiten formieren sich im Prozess der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung. Damit hängt die Glaubwürdigkeit und Akzeptanz des Systems von seiner Offenheit für abweichende Vorstellungen und Überzeugungen ab: Ihnen muss die Chance gewahrt werden, durch erfolgreiches Werben für ihre Ansichten zur Mehrheit zu werden. Damit wird die Verfassungsgerichtsbarkeit zum unverzichtbaren Schiedsrichter des politischen Prozesses: sie hat die Mehrheit daran zu hindern, Gesetze zu erlassen, die es der Minderheit verbieten, ihre der Mehrheit missfallenden Ansichten zu verbreiten. 3. Damit illustriert die Geschichte der Redefreiheit ein Weiteres: dass es legitime Formen des Verfassungswandels durch richterliche Auslegung und Anwendung gibt. Gewiss gilt in der Regel, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit an den Text der Verfassung in dem ihr von ihren Vätern beigemessenen Sinn gebunden ist. Aber dieser Grundsatz kann nicht ausnahms- und bedingungslos gelten. Mit den Formen und Verfahren des politischen Zusammenlebens verändert sich der Sinn verfassungsrechtlicher Regeln; und es zählt zu den wichtigsten und schwierigsten Aufgaben der Verfassungsrechtsprechung, diesen Wandel korrekt zu erfassen und ihm verbindlichen Ausdruck zu geben. Eine Doktrin, die die Richter ohne Einschränkung auf die ursprüngliche Bedeutung des Textes festlegen möchte, missachtet die historische Erfahrung und droht, das Gemeinwesen auf längere Sicht in eine Verfassungskrise zu stürzen.

Gerichtsfernsehen statt Fernsehgericht – Gerichtssaal öffne dich – Peter Mailänder

Inhaltsübersicht 1. Entstehungsgeschichte und Schutzbereich des § 169 S. 2 GVG . . . . . . 2. Analyse der aktuellen Rechtslage zur Gerichts- und Medienöffentlichkeit 3. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 21.01.2001 . . . . . . . . 3.1. Gerichtsverhandlung ist keine allgemein zugängliche Quelle . . . . . 3.2. Verfassungsgerichtliche Aspekte für eine Beschränkung der Medienöffentlichkeit im Gerichtssaal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Weitere Argumente, die gegen eine Medienöffentlichkeit sprechen . 3.4. Das Minderheitsvotum und Argumente, die für eine (großzügigere) Medienöffentlichkeit sprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Stellungnahme zu den widerstreitenden Rechtsgütern . . . . . . . . . . . 5. Der Gesetzgeber ist gefordert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Flexible Regelung für die Zulassung von Fernsehaufnahmen . . . . . 5.2. Stufenregelung nach Art und Inhalt der Gerichtsverhandlung . . . . 5.3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wer an einer Festschrift mitwirkt, möchte dem zu Ehrenden – nennen wir ihn künftig: Jubilar – vor allem mit seinem Beitrag eine Freude machen. Das in Deutschland geltende Medienkonzentrationsrecht steht unter der gewichtigen Ausstrahlung des Jubilars. Als Sohn und anwaltlicher Partner kann und will ich eine thematische Abfärbung nicht leugnen. Darum hätte es eigentlich nahe gelegen – und die Freude wäre mir wohl sicher gewesen –, dem eigenen wissenschaftlichen Streben nachzugeben und hitzig diskutierte Überlegungen zur sog. „Zuschauermarktabgrenzung“ beizutragen. Die Sicherung von Meinungsvielfalt ist aber nicht nur ein medienkonzentrationsrechtliches Anliegen, sondern im Ausgangspunkt und Ergebnis ein inhaltliches Verfassungsgebot. Meinungsvielfalt lässt sich schließlich und überhaupt nur sichern, wenn der Zugang zur inhaltlichen Quelle geöffnet ist. Mit dem Losungswort „Sesam öffne dich“ gelang es Ali Baba, einen Titelhelden aus Tausendundeiner Nacht, das Felsentor zur Schatzkammer zu öffnen. Mit welchen „Losungsworten“ (oder rechtlichen Argumenten) sich der Gerichtssaal – vielleicht auch nur ein Stück weit – für die Medienöffentlichkeit öffnen lässt und ein bisher noch verschlossener Informationsschatz geborgen werden kann, will dieser Beitrag – hoffentlich ebenfalls zur Lesefreude des Jubilars – beleuchten.

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Die nachmittägliche Fernseh-„Berichterstattung“ aus deutschen Gerichtssälen ist schauerlich und schon deshalb unter Informationsgesichtspunkten zu überprüfen. Was hilft es dem Zuschauer, bei der öffentlich-rechtlichen ARD „in der ersten Reihe zu sitzen“? Der Privatsender Pro7/Sat1 macht es sich auf den ersten Blick einfach, denn er „loves to entertain you“. Was will und verdient der Zuschauer? Will er authentisch (in der ersten Reihe sitzend) über reale Gerichtsgeschehnisse informiert oder mit (fiktiven) Gerichtsschnappschüssen unterhalten werden? Der ARD-Slogan formuliert den Grundversorgungs-, Informations- sowie Funktionsauftrag im Rundfunk für die öffentliche Meinungsbildung. Die sog. „Erste Zuschauerreihe“ soll meinungsvielfältig informiert werden. Neben Politik, Wissenswertem, Sport und Unterhaltung zählt auch die Berichterstattung über aktuelle Gerichtsentscheidungen zu den zentralen Inhalten des Informationsauftrags. Grundsatzurteile aus Karlsruhe, Strafprozesse sowie Urteile anderer Gerichtszweige von öffentlichem Interesse bedingen größtmögliche Aufmerksamkeit in einer demokratischen Gemeinde. Mitten im aktuellen Informationszeitalter, in dem die Bedeutung der elektronischen Medien täglich zunimmt, kann es deshalb und eigentlich gar keine Frage sein, dass dem Fernsehzuschauer der Blick in den Gerichtssaal gewährt werden sollte. „Ein Court-TV, (live) aus dem Gerichtssaal: Das will ich sehen“ fordern daher die Befürworter einer gerichtlichen Medienöffentlichkeit 1. So einfach geht es aber nicht. Nach dem Willen des deutschen Gesetzgebers gilt das Gegenteil: es sind (Live-)Übertragungen für die Dauer einer Gerichtsverhandlung gem. § 169 S. 2 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) verboten: „Ton-, Fernseh- und Rundfunkaufnahmen sowie Ton- und Filmaufnahmen zum Zwecke der öffentlichen Vorführung oder Veröffentlichung ihres Inhalts sind unzulässig“

Womöglich hat gerade der Umstand, dass „attraktive, informative und interessante“ Live-Berichterstattungen aus der Gerichtsverhandlung unzulässig sind, dazu geführt, dass das Interesse des nachmittäglichen Fernsehpublikums an Gerichtsprozessen durch fiktive Gerichtsserien 2 (sog. „Gerichtssoaps“) gestillt werden muss. Ein Alternativprogramm mit bemerkenswertem Erfolg. Die Gerichtsserien erfreuen sich großer Beliebtheit. Sie haben freilich weniger den Anspruch, den Zuschauer zu informieren, als diesen zu unterhalten. Damit hätte der Sender Pro7/Sat1 mit dem Slogan „We love to entertain you“ den Programmanspruch auf den Punkt gebracht. Bloß der Meinungsvielfalt und dem Informationsauftrag ist damit nicht gedient. Über aktuelle und authentische Gerichtsthemen vermag sich der interessierte Zuschauer auf diesem Weg keine Informationen zu verschaffen. 1

Allen voran Zuck, NJW 2001, 1623; ders. NJW 1995, 2082. Z.B. die täglichen Sendungen mit „Richter Alexander Hold“ oder „Richterin Barbara Salesch“ sowie „Das Familiengericht“, „Das Strafgericht“ oder „Das Jugendgericht“. 2

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Wie mag der Jubilar darüber denken, der sich doch erst zuletzt im urheberrechtlichen Kontext für eine (möglichst) freie (Live)Hörfunkberichterstattung über den Spitzensport 3 ausgesprochen hat. Bei der (Rundfunk) Übertragung eines Fußballspiels sind allerdings primär wirtschaftliche, nicht aber rechtsstaatliche Interessen – wie bei einer Live-Berichterstattung aus dem Gerichtssaal – berührt. Bei der Gerichtsberichterstattung können herausragende Rechtsgüter der Verfahrensbeteiligten und der staatlichen Ordnung tangiert werden. Im langjährigen Ehrenamt für die KEK galt der stete Einsatz des Jubilars der Sicherung von Meinungsvielfalt. Weil Meinungsvielfalt bekanntlich nur entstehen kann, wenn die Informationsquellen für eine aufgeklärte Meinungsbildung hinreichend geöffnet sind, streitet die erste Vermutung für eine Medienöffnung der Gerichtssäle. Dieser Beitrag soll einige Überlegungen zur Überprüfung der ersten Vermutung, insbesondere zur Gewichtung der betroffenen Rechtsgüter liefern und Auskunft geben, ob der Gerichtssaal für die Medienöffentlichkeit nach Abwägung der widerstreitenden Interessen ganz, nur einen Spalt oder gar nicht geöffnet werden soll.

1. Entstehungsgeschichte und Schutzbereich des § 169 S. 2 GVG Der Gesetzgeber war besorgt, dass eine Fernsehöffentlichkeit die Wahrheitsfindung und den Persönlichkeitsschutz im Strafverfahren gefährden würde. Er hat deshalb im Jahr 1964 durch das StPÄG 4 ein striktes Übertragungsverbot aus Gerichtsverhandlungen eingeführt. Das Übertragungsverbot war zwar in der Begründung der Reform ausschließlich auf das Strafverfahren ausgerichtet, es blieb aber nicht darauf beschränkt, sondern wurde als allgemeiner Grundsatz im Gerichtsverfassungsgesetz verankert 5. Trotz seines strikten Wortlauts ist das Übertragungsverbot bei näherer Betrachtung und in der gerichtlichen Praxis keineswegs so strikt, wie man dies bei erster Lektüre zunächst annehmen mag. Zum einen gelten für einzelne Verfahrensabschnitte und zum anderen für bestimmte Gerichtsverfahren durchaus unterschiedlich strenge Regelungen. 1.1. Das strikte Übertragungsverbot aus § 169 S. 2 GVG gilt nur für den Verfahrensabschnitt „Verhandlung“. Die Verhandlung beginnt mit dem Auf3 Mailänder/Mailänder in Dörr/Mailänder (Hrsg.), Freiheit und Schranken der Hörfunkberichterstattung über den Spitzensport, 2003. 4 Vgl. BT-Drs. IV/178, S. 45 f.; zur Entstehungsgeschichte des § 169, S. 2 GVG: Schwarz, AfP 1995, S. 353 ff., Lorz, Gerichtsberichterstattung und Informationsanspruch (1996), S. 59, 64 f.; nach Zuck, DRiZ 1997, S. 23, 29, ist die Einführung von § 169, S. 2 GVG das Resultat der Vorkommnisse im Gerichtsverfahren gegen den damaligen EWG-Präsidenten Prof. Hallstein, als das Gericht die Übertragung der Urteilsverkündung zugelassen hatte. 5 Vgl. Knothe/Wanckel, ZRP 1996, S. 106, 108; Münchener Kommentar (Band 3), ZPO, (1992), § 169 GVG Rz. 44.

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ruf der Sache und endet mit der Verkündung des Urteils 6. Während der Sitzung, aber vor Beginn und nach Schluss der „Verhandlung“, sowie in den Verhandlungspausen findet § 169 Satz 2 GVG keine Anwendung. In diesen Sitzungsabschnitten kann der jeweils Vorsitzende Richter im Rahmen seiner sitzungspolizeilichen Befugnisse nach § 176 GVG Fernsehaufnahmen zulassen. Möglicherweise muss er dies nach sachgerechter Abwägung der schutzwürdigen Interessen sogar tun 7. Mit der Rechtmäßigkeit eines auf § 176 GVG gestützten sitzungspolizeilichen Übertragungsverbots von Fernsehaufnahmen befasste sich das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1994. Dabei ging es um die Frage, ob Fernsehaufnahmen (außerhalb der eigentlichen Verhandlungsabschnitte) aus dem Strafverfahren gegen Erich Honecker zulässig sein sollen. Der Vorsitzende Richter der Berliner Strafkammer hatte solche mit sitzungspolizeilicher Argumentation abgelehnt. Hiergegen wehrte sich der private Nachrichtensender n-tv, rief das Bundesverfassungsgericht an und hatte Erfolg. Im sog. Honecker-Beschluss 8 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass das konkrete Übertragungsverbot außerhalb der eigentlichen Verhandlung in den Schutzbereich der Rundfunkfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG) eingreift 9. Als allgemeines Gesetz im Sinne Art. 5 Abs. 2 GG könne § 176 GVG 10 der Rundfunkfreiheit aber verhältnismäßige Schranken setzen 11. Dies sei im Wege der Abwägung zu ermitteln. Wegen der besonderen politischen und historischen Brisanz und weil die mit einer Übertragung verbliebenen Gefahren für die äußere Ordnung des Strafverfahrens und für das Persönlichkeitsrecht von Beteiligten und Dritten nicht Gegenteiliges verlangten, hob das Bundesverfassungsgericht das Übertragungsverbot auf. Im Zuge des weiteren Strafverfahrens musste Erich Honecker daher als absolute Person der Zeitgeschichte seine Abbildung im Fernsehen (außerhalb der Verhandlung, § 176 GVG) dul6 Dies folgt systematisch aus § 169 S. 1 GVG und ist unbestritten, vgl. nur BVerfG, NJW 95, S. 184, 185; Wolf, ZRP 1994, 191 m.z.N.; Eberle, NJW 1994, S. 1638; Gerhardt, ZRP 1993, S. 377, 382. 7 Vgl. Gounalakis, FS Kübler (1997), S. 173, 176; Zuck, DRiZ 1997, S. 23, 29; BVerfG NJW 1995, 185. 8 BVerfG NJW 1992, S. 3288 (einstw. Anordnung) und NJW 1995, S. 184 (Hauptverfahren) mit Anm. von Scholz, NStZ 1995, S. 40 f.; Stürner, JZ 1995, S. 297; Schwarz, AfP 1994, S. 353 ff.; Dörr, JuS 1995, S. 544; Huff, NJW 1996, S. 571 f. 9 Vgl. BVerfG, NJW 1995, 185; a.A. Dahs, NJW 1961, 1756 (Nachweis bei Schwarz, a.a.O., S. 355), nach dessen Auffassung dient die Fernsehberichterstattung aus dem Gerichtssaal nicht der wahrheitsgemäßen Information der Öffentlichkeit und sei deshalb nicht durch Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG geschützt. 10 Vgl. BVerfG NJW 1995, 184, 185; ergänzend Scholz, NStZ 1995, S. 42. 11 Vgl. BVerfG NJW 1995, 184, 186. Das Grundgesetz verlangt, dass grundrechtsbeschränkende Gesetze wiederum im Lichte des eingeschränkten Gesetzes ausgelegt und angewandt werden, damit der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts auch auf der Rechtsanwendungsebene Rechnung getragen wird, st. Rspr. seit BVerfGE 7, 198, 208 f. – Lüth.

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den 12. Seither haben sich die Vorzeichen in der Praxis verschoben, grundsätzlich sind Fernsehaufnahmen außerhalb der eigentlichen Verhandlung zu dulden, es sei denn, zum Schutz des Persönlichkeitsrechts der Beteiligten sind Abwehrmaßnahmen nach § 176 GVG geboten.13 1.2. Für die Gerichtsberichterstattung aus dem Bundesverfassungsgericht gelten seit Anfang der 90er Jahre Sonderregelungen. Für das bundesverfassungsgerichtliche Verfahren ist nur die entsprechende Anwendung der Vorschriften des GVG vorgeschrieben. Sozusagen an § 169 S. 2 GVG vorbei hat das Bundesverfassungsgericht sukzessive die Live-Übertragung zu Beginn der Verhandlung, dann die Verlesung des Urteilstenors und schließlich eine zeitversetzte Übertragung der Urteilsgründe gestattet 14. Selbst mit dieser (Teil)Öffnung wollte sich der Fernsehsender „n-tv“ aber noch nicht zufrieden geben. Als vielerorts über das im US-Fernsehen als Medienspektakel inszenierte Strafverfahren gegen den US-Football-Star O. J. Simpson 15 diskutiert wurde, missachtete „n-tv“ bewusst und gewollt die verfassungsgerichtlichen TV-Bestimmungen und übertrug nicht erst zeitversetzt, sondern heimlich „live“ die Verlesung der Urteilsgründe zu den sog. „AWACS-Einsätzen der NATO“ 16. Die damit ausgelöste Debatte über „Pro“ und „Contra“ einer Gerichtsberichterstattung beendete der Gesetzgeber im Jahr 1998 mit einer Neuregelung der verfassungsgerichtlichen TV-Bestimmungen in § 17a BVerfGG. Danach sind Fernseh- und Rundfunkaufnahmen über die „öffentlichen Verkündung von Entscheidungen (also die Übertragung von Tenor und Gründen)“ aus dem Bundesverfassungsgericht grundsätzlich zu-

12 Vgl. BVerfG NJW 1995, S. 186; diese Argumentation führt das Bundesverfassungsgericht fort im Leeson-Beschluss vom 19.7.1995, ZUM 1996, S. 233, dazu Zuck, DRiZ 1997, S. 23, 30 sowie im Schmider-Verfahren, vgl. dazu Ernst, NJW 2001, 1624 ff. 13 BVerfG NJW 2000, 2890; Ernst NJW 2001, 1624; Thomas/Putzo, ZPO, 26. Aufl. 2004, GVG, § 169, 2. 14 Diese faktische Öffnung des § 169 S. 2 GVG für das verfassungsgerichtliche Verfahren wurde im juristischen Schrifttum vielerorts als rechtswidrig kritisiert: so z.B. Wolf, NJW 1994, S. 681, 683; krit. auch Stürner, JZ 1995, S. 297, 298; befürwortend hingegen ZDF-Chefjustitiar Eberle, NJW 1994, S. 1637, 1638; Gerhardt, ZRP 1993, S. 379 resümiert – freilich nicht ohne Ironie –, dass sonach erlaubt sei„… die Prozessbeteiligten zu filmen und dann mit der Kamera einen scheuen Blick auf die Richter zu werfen – alles freilich, bevor die Verhandlung beginnt …“. Die damals einschlägigen „einstweiligen Rahmenbedingungen für Pressevertreter sowie Rundfunk- und Fernsehanstalten“ des 2. Senats sind abgedruckt bei Wolf, NJW 1994, S. 681, 682; die im November 1993 erlassenen „Vorläufigen Rahmenbedingungen des Ersten Senats für Vertreter der Presse sowie der öffentlichen und privaten Hörfunk- und Fernsehanstalten“ sind abgedr. in BR-Drucks. 165/97, S. 10. 15 Die Übertragung der Simpson-Urteilsverkündung im Herbst 1995 sicherte dem Sender CNN die höchste Einschaltquote des Jahres 1995; vgl. Nestler, JA 1995, S. 156 ff., ergänzend Wyss, EuGRZ 1996, S. 1, 2. 16 Entsch. vom 8. April 1994, BVerfGE 90, 286 = NJW 1994, S. 2207.

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lässig 17. Es können zwar weiterhin Maßnahmen zum Schutz des Persönlichkeitsrechts von Verfahrensbeteiligten getroffen werden 18, das generelle Verbot des § 169, S. 2 GVG ist für verfassungsgerichtliche Verfahren aber jedenfalls vom Tisch. 1.3. Auch in anderen Sondergesetzen heißt es, dass nur eine „entsprechende“ Anwendung des GVG, mithin des Verbotes in § 169 S. 2 GVG, vorgeschrieben ist (so etwa in § 73 GWB, § 52 ArbGG, § 61 SGG und § 55 VwGO). Hieraus wird vielerorts – insbesondere für die häufig wichtigen Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts, die regelmäßig keinen personenspezifischen Schutz bedingen – eine großzügige Erstreckung des Rechtsgedankens von § 17a BVerfGG auf solche andere Gerichtsbarkeiten gefolgert 19. In der Praxis haben sich die diesbezüglichen Befürworter (noch) nicht durchsetzen können.

2. Analyse der aktuellen Rechtslage zur Gerichtsund Medienöffentlichkeit Für die Verfahren der ordentlichen Gerichtsbarkeit gilt die in § 169 S. 2 GVG verankerte strikte Regelung, dass Ton- und Filmaufnahmen während der Verhandlung verboten sind. Hierdurch wird der in § 169 S. 1 GVG angeordnete Grundsatz der Öffentlichkeit als Prinzip demokratischer Rechtspflege präzisiert. Öffentlich bedeutet im Kontext der Gerichtsbarkeit, dass beliebige Zuhörer, wenn auch nur in begrenzter Zahl, die Möglichkeit haben, sich ohne besondere Schwierigkeit Kenntnis von Ort und Zeit der Verhandlung zu verschaffen, und dass der Zutritt, im Rahmen der tatsächlichen Ge-

17 Die aktuelle Fassung des § 17a BVerfGG lautet wie folgt: „(1) Abweichend von § 169 Satz 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes sind Ton- und FernsehRundfunkaufnahmen sowie Ton- und Filmaufnahmen zum Zwecke der öffentlichen Vorführung oder der Veröffentlichung ihres Inhalts zulässig 1. der mündlichen Verhandlung, bis das Gericht die Anwesenheit der Beteiligten festgestellt hat, 2. der öffentlichen Verkündung von Entscheidungen. (2) Zur Wahrung schutzwürdiger Interessen der Beteiligten oder Dritter sowie eines ordnungsgemäßen Ablaufs des Verfahrens kann das Bundesverfassungsgericht die Aufnahmen nach Absatz 1 oder deren Übertragung ganz oder teilweise ausschließlich oder von der Einhaltung von Auflagen abhängig machen. 18 Hierzu heißt es in der amtlichen Begründung: Die Novelle stelle „durch ausdrückliche gesetzliche Regelung die bisher umstrittene Frage der Zulässigkeit von Rundfunk-, Fernsehund Filmaufnahmen in der mündlichen Verhandlung und bei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts klar. Dabei handele es sich um eine den Besonderheiten des bundesverfassungsgerichtlichen Verfahrens Rechnung tragende Ausnahmevorschrift, die die im Übrigen uneingeschränkt fortgeltende Bestimmung des § 169 Satz 2 GVG unberührt“ lasse. 19 Vgl. dazu Gundisch/Dany, NJW 1999, S. 256, 257; Huff, NJW 1996, S. 571, 573; Wolf, JR 1997, S. 441, 448; Hofmann, ZRP 1996, 399, 403 spricht von einer Präjudiz für andere Gerichtszweige; zurückhaltender Zuck, DRiZ 1997, S. 23, 29.

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gebenheiten, eröffnet ist 20. Die in § 169 S. 1 GVG angeordnete Öffentlichkeit der Verhandlung definiert folglich eine reine Saal-Öffentlichkeit, namentlich eine unmittelbare Öffentlichkeit durch anwesende Zuhörer; sie begründet – dies ist unstreitig – keine mittelbare Medienöffentlichkeit. Der Versuchung, die Öffentlichkeit auf medialem Wege auch an der eigentlichen Verhandlung (und nicht nur davor, danach und in Verhandlungspausen) teilhaben zu lassen, steht somit § 169 S. 2 GVG entgegen. Damit lässt sich die für diesen Beitrag eigentlich spannende Frage auf den Punkt bringen: Ist § 169 S. 2 GVG im Medienzeitalter noch zeit- bzw. verfassungsgemäß?

3. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 21.01.2001 Mit der Frage der Verfassungsmäßigkeit eines auf § 169 S. 2 GVG gestützten Übertragungsverbots (aus der Verhandlung) befasste sich das Bundesverfassungsgericht anlässlich der vom Privatsender n-tv verlangten Bildberichterstattung aus dem Strafprozess gegen Egon Krenz und andere Mitglieder des ehemaligen DDR-Politbüros (sog. „Krenz-Verfahren“). Das Landgericht Berlin hatte Fernsehaufnahmen aus der Verhandlung verboten. Das wollte sich der Sender nicht gefallen lassen. Er erhob Verfassungsbeschwerde gegen die auf § 169 S. 2 GVG gestützte Verbotsverfügung und reklamierte, dass die Verbotsverfügung (mithin § 169 S. 2 GVG) die Rundfunkfreiheit des Senders aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG verletze. Bei relativen oder absoluten Personen der Zeitgeschichte verdränge das Interesse der Öffentlichkeit die restriktiven Übertragungsbedenken. Ebenso wie schon der Antrag auf einstweilige Anordnung 21 blieb auch die Verfassungsbeschwerde im Ergebnis erfolglos. Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass der auf § 169 Abs. 2 GVG gestützte Ausschluss von Ton- und Bildaufnahmen verfassungsgemäß ist und gesetzlich alles beim alten bleiben darf. Bevor der Frage nachgegangen wird, ob damit das Thema „Fernsehaufnahmen aus der Gerichtsverhandlung“ endgültig „ad acta“ – sprichwörtlich: Karlsruhe locuta, causa finita – gelegt ist, sollen die wesentlichen Aspekte des Urteils vom 21.01.2001 knapp zusammengefasst werden: 22 3.1. Gerichtsverhandlung ist keine allgemein zugängliche Quelle Die Entscheidung beginnt gleich mit einem Paukenschlag. Zum Umfang der in § 169 S. 1 GVG geschützten Öffentlichkeit, stellt der Senat grundsätzlich zum Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG klar, dass nur der Zugang zu 20

Vgl. Baumbach/Lauterbach, u.a., ZPO, 64. Aufl. 2006, GVG § 169 Rz. 1. BVerfG NJW 1996, S. 581. 22 Vgl. zur Urteilsanalyse statt vieler: Kirchberg, BRAK 2002, S. 251 ff.; Mohr, Fernsehberichterstattung an der Hauptverhandlung (2004); Krausnick, ZUM 2001, S. 230 ff.; Bamberger, ZUM 2001, S. 373 ff.; Dieckmann, NJW 2001, 2451 f.; Huff, NJW 2001, 1622 f.; Zuck, NJW 2001, 1623 f. 21

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allgemein zugänglichen Informationsquellen geschützt sei. Die Rundfunkfreiheit gewährleiste per se keinen Anspruch auf Zugang zu Gerichtsverhandlungen. Der jeweils Berechtigte (hier die Justiz) dürfe selbst darüber bestimmen, ob, in welchem Umfang und unter welchen Bedingungen eine Information oder ein Ereignis allgemein zugänglich gemacht werden solle. Es bleibe dem Staat vorbehalten, die Art der Zugänglichkeit von staatlichen Vorgängen und damit zugleich das Ausmaß der Öffnung dieser Informationsquelle festzulegen. Erst hieran orientierte sich der Umfang des Schutzbereiches der Informationsfreiheit. Erst dann, wenn eine Informationsquelle allgemein zugänglich sei und auch dann nur in dem vom Berechtigten gewählten Umfang, falle der Zugang des Rundfunkveranstalters zu solchen Informationen überhaupt in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Mit anderen Worten: Ausgewählten Medien (z.B. der Presse) kann der Zugang zu einem Ereignis (z.B. einer Gerichtsverhandlung) gestattet werden, während gleichzeitig anderen Medien (z.B. dem Rundfunk) der Zugang verboten wird, ohne dass hierdurch in Grundrechte eingegriffen wird. Für eine nur eingeschränkte Öffnung einer Informationsquelle (z.B. nur für bestimmte Verfahrensabschnitte) gilt, dass die Verfassungsmäßigkeit der einschränkenden Norm einzig davon abhängt, ob eine solche Beschränkung vom Recht gedeckt ist, über den Zugang zu bestimmen. Der Gesetzgeber wollte die öffentliche Zugänglichkeit von Gerichtsverhandlungen solchermaßen regeln, dass der allgemeine Zugang nur für diejenigen eröffnet ist, die der Gerichtsverhandlung in dem dafür vorgesehenen Raum folgen wollen. Dies hat das BVerfG nicht beanstandet. Hier hätte der Senat – eigentlich konsequenterweise – jede weitere Prüfung abbrechen und die Verfassungsbeschwerde mit der Begründung zurückweisen können, dass die Gerichtsverhandlung aufgrund der Entscheidung des Gesetzgebers in § 169 S. 2 GVG keine (für Medien) allgemein zugängliche Quelle ist und deshalb der grundrechtliche Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG gar nicht berührt ist. 3.2. Verfassungsgerichtliche Aspekte für eine Beschränkung der Medienöffentlichkeit im Gerichtssaal Der Senat wollte aber die in ihn gesetzte Erwartung, ein Grundsatzurteil zur Medienöffentlichkeit zu sprechen, nicht enttäuschen und setzte sich auch inhaltlich mit der Bedeutung eines Gerichtsfernsehens und der verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeit der Regelung in § 169 S. 2 GVG auseinander 23. Der Normzweck des § 169 S. 2 GVG sei im Kontext von § 169 S. 1GVG 23 Diese – von individuellen Rechtspositionen losgelöste Überprüfung – hat bei einigen Urteilskommentatoren dogmatisches Kopfschütteln ausgelöst, so z.B. bei Gersdorf, AfP 2001, 29; Hain DÖV 2001, 589, 591 f.; Krausnick, ZUM 2001, 230 f.; Stürner, JZ 2001, 699, 701.

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im Rechtsstaats- sowie Demokratieprinzip verankert. Grundsätzlich garantiere die Gerichtsöffentlichkeit (§ 169 S. 1 GVG), dass die im Verfahren Beteiligten vor einer der öffentlichen Kontrolle entzogenen Geheimjustiz geschützt würden. Die Bevölkerung habe ein Anrecht darauf, von den Geschehnissen einer Gerichtsverhandlung Kenntnis zu nehmen sowie die durch die Gerichte handelnde Staatsgewalt durch Anwesenheit zu kontrollieren. Ausgehend von der griffigen Formulierung, „Prozesse finden in der, aber nicht für die Öffentlichkeit statt“ stützt die Mehrheit des Senats seine Haltung zur Konformität des § 169 S. 2 GVG, dass die „Saalöffentlichkeit auch im heutigen Medienzeitalter die richtige und ausreichende Form der Öffentlichkeit sei“, im Wesentlichen auf – die Persönlichkeitsrechte der am Verfahren Beteiligten – den rechtstaatlichen Grundsatz für ein faires Verfahren – die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege, insbesondere im Dienst einer ungestörten Wahrheits- und Rechtsfindung. Da sich Angeklagte und Zeugen häufig in einer emotional angespannten Situation befänden und Informationen im Zuge der Befragung nur unter Androhung staatlichen Zwangs erlangt werden könnten, würden Ton- und Fernsehaufnahmen den damit verbundenen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte verstärken. Viele Menschen würden ihr Verhalten in Anwesenheit von Kameras und Tonbändern ändern, insbesondere sei der Ausgang im Strafprozess für Angeklagte oder Zeugen gefährdet, wenn diese sich infolge der Medienaufnahmen scheuen, intime, peinliche oder unehrenhafte Umstände vorzutragen, die zur Wahrheitsfindung wichtig sind. Die mediale Verbreitung könne – ganz unabhängig vom Ausgang des Verfahrens – erhebliche Folgen bewirken. Unter Hinweis auf die Lebach-Entscheidung (BVerfGE 35, 202) verweist das Gericht auf eine Prangerwirkung oder die erlangte Bekanntheit, die sich negativ auf eine spätere Resozialisierung auswirken könnten. Die technische oder sonstige Bearbeitung, ein telegener Schnitt, Nahaufnahmen, überhaupt die Kameraführung könnten zudem den Gehalt einer Aussage manipulieren 24. Auch ist das Gericht besorgt, dass der wirtschaftliche Wettbewerbsdruck und das publizistische Bemühen um die immer schwerer zu gewinnende Aufmerksamkeit der Zuschauer wirklichkeitsverzerrende Darstellungsweisen provozieren könnten, etwa zu der Bevorzugung des Sensationellen, da die Normalität meist keinen attraktiven Berichtsanlass liefert. Mit den gängigen Medienpraktiken seien daher Risiken 24 Zu weitgehend sind aber die in diesem Kontext geäußerten Bedenken von Dahs, NJW 1961, S. 1755, 1756, der offensichtlich das Selbstverständnis der Medien unterschätzt, wenn er formuliert: „Das Fernsehen im Gerichtssaal dient aber nicht der Wahrheit sondern verfälscht sie durch den entstellenden Zuschnitt der Aufnahmen auf publikumswirksamen Sensationsstoff, wobei die scheinbare Unbestechlichkeit des technischen Geräts ausgenützt wird.“

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der Selektivität bis hin zur Verfälschung verbunden. Auch sei zu berücksichtigen, dass der äußere Verfahrensablauf durch die Anwesenheit und die Tätigkeiten von Kamerateams beeinflusst werden könnte. Vermeintliche Störungen des äußeren Verfahrensablaufs könnten zwar durch organisatorische Maßnahmen in Grenzen gehalten, nicht aber vollständig ausgeschlossen werden. Immerhin räumt der Senat ein, dass für einzelne Verfahrensarten oder -abschnitte unterschiedlich starke Schutzinteressen bestünden – namentlich sei das Risiko, dass das Verfahren beeinflusst werde, in bestimmten Verfahrensabschnitten (Urteilsverkündung) geringer als in anderen (Zeugenvernehmung) und Gefährdungen des Persönlichkeitsrechts seien in einem Strafverfahren anders als in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren. Da aber selbst bei Einwilligung der Beteiligten nicht ausgeschlossen werden könne, dass die Medien in den sie besonders interessierenden Verfahren öffentlichen Druck auf das Gericht ausüben würden, sei der Gesetzgeber berechtigt, die Gerichte im Interesse einer möglichst ungestörten Wahrheitsund Rechtsfindung von solchen zusätzlichen Belastungen durch ein ausnahmsloses Verbot freistellen. Insbesondere sei der Gesetzgeber nicht verpflichtet, die bestehende Sonderregelung für das Bundesverfassungsgericht auf andere Gerichtsbarkeiten zu übertragen. 3.3. Weitere Argumente, die gegen eine Medienöffentlichkeit sprechen Die Argumente, die ergänzend von den Gegnern einer Medienöffnung eingewandt werden 25, sind im Wesentlichen heute noch dieselben, mit denen der Gesetzgeber das Übertragungsverbot im Jahr 1964 begründete. Schon damals war er nicht verfassungsrechtlich verpflichtet, wohl aber berechtigt, die Öffentlichkeit auf die so genannte Saalöffentlichkeit zu begrenzen. Das Demokratieprinzip gebiete keine andere als die Saalöffentlichkeit, schließlich sei einzelnen Medien der Zugang zum Gerichtssaal eröffnet. Außerdem ist es auch Rundfunkjournalisten unbenommen, an Gerichtsverhandlungen teilzunehmen und über sie zu berichten. Zwar können ihm Ton- und Bildaufnahmen nur vor Beginn und nach Ende der Verhandlung sowie in den Sitzungspausen erlaubt werden, immerhin kann aber auf diesem Weg eine Berichterstattung in elektronischen Medien stattfinden. Außerdem genügen in aller Regel Kurzberichte, die über den Ausgang eines Prozesses bzw. über dessen wesentliche Ergebnisse informieren. Mit einer zeitversetzten und/oder selektiven Berichterstattung ist dem Fernsehen zwar die Möglichkeit genommen, dem Zuschauer den Eindruck der Authentizität und des Miterlebens zu vermitteln, durch Schnitt- und Bildtechnik sowie Begleitkommentare ist eine 25 Vgl. Wolf, ZRP 1994, 187 ff.; ders., NJW 1994, 681 ff.; ders. JR 1997, S. 441 ff.; in diesem Sinne zuletzt auch Mohr, Fernsehberichterstattung aus der Hauptverhandlung (2004) m.z.N.

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wirklichkeitsgetreue Abbildung von Gerichtsverhandlungen aber ohnehin nicht garantiert. Ferner wird auf die Gefahr hingewiesen, dass die Rundfunkmedien Druck auf das Gericht und die Beteiligten ausüben könnten, weil die Prozessbilder Beweismaterial liefern. Mithin sei das verfahrensrechtliche Problem ungelöst, dass Zeugen entgegen § 243 Abs. 2 StPO per Fernseher bei der Vernehmung des Angeklagten anwesend sein bzw. spätere Zeugen selbst hören könnten, was frühere Zeugen ausgesagt haben. Schließlich wird gegen eine Medienöffnung eingewandt, dass Übertragungen aus dem Gerichtssaal einen audio-visuellen Verbrechensunterricht liefern oder dass aufgrund der Stärken und Schwächen einzelner Richter das öffentliche Vertrauen in die Souveränität und die Autorität des Gerichtswesens Schaden nehmen könnten.

3.4. Das Minderheitsvotum und Argumente, die für eine (großzügigere) Medienöffentlichkeit sprechen Die Diskussion über die Fernsehöffentlichkeit in Gerichtsverhandlungen ist trotz der Grundsatzentscheidung vom 21.01.2001 keineswegs beendet. Dies hat mehrere Gründe. An erster Stelle steht natürlich die stetig Neu- und Fortentwicklungen in der Informations- und insbesondere Mediengesellschaft. Die Medienlandschaft befindet sich im Wandel und weckt fortwährend Bedürfnisse nach authentischer Information. Weiterhin lässt sich nicht leugnen, dass die Erfahrungen mit der Medienöffentlichkeit in anderen Ländern keineswegs negativ sind. Nicht nur in den USA, sondern etwa auch in Frankreich, Norwegen, Belgien, Spanien, Israel und Australien wird die Übertragung aus Gerichtsverfahren zugelassen, ohne dass dies dort als Beeinträchtigung der Funktionalität des Verfahrens oder schutzbedürftiger Persönlichkeitsinteressen empfunden wird. Schließlich trägt die Uneinigkeit innerhalb des Bundesverfassungsgerichts sein Übriges zum Fortgang der Diskussion bei. Der in die Minderheit geratene Berichterstatter des KrenzVerfahrens, Prof. Dr. Hoffmann Riem, hat sich zusammen mit zwei Senatskollegen, Richter Kühling und Richterin Hohmann-Dennhardt, in einem Minderheitsvotum gegen die gesetzliche Striktheit des Übertragungsverbotes ausgesprochen. Die sog. „Dissenter“ tragen die Entscheidung der Mehrheit im Wesentlichen insoweit mit, dass die Rundfunkfreiheit keinen Anspruch auf Fernsehberichterstattung aus dem Gerichtssaal begründe. Sie sind aber der Auffassung, dass sich angesichts der Entwicklungen sowohl des Rechtsschutzsystems als auch der Medienlandschaft das ausnahmslose Verbot von § 169 S. 2 GVG nicht länger rechtfertigen lasse. Während in früheren Zeiten die Saalöffentlichkeit mit der Medienöffentlichkeit als Presseöffentlichkeit gleichgesetzt wurde, verkenne die gegenwärtige Regelung den Bedeutungswandel der Medien. In der gegenwärtigen Informationsgesellschaft hätten

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zum Teil andere Medien die Rolle der Zeitungen und Zeitschriften übernommen. Soweit die audiovisuellen Medien nur unter Ausschluss der für sie typischen Ton- und Bewegtbildaufnahmen berichten dürften, bestehe die Medienöffentlichkeit nur noch begrenzt. Ein derartiger Eingriff des Staates in die Freiheit der Medien, über die Art und Weise ihrer Darstellung selbst zu entscheiden, sei rechtfertigungsbedürftig. An diesem Punkt setzt die entscheidende Kritik der Dissenter an. Sie werfen der Senatsmehrheit vor, dass eine hinreichende Begründung fehle, warum die einer unbegrenzten Medienöffentlichkeit entgegenstehenden Belange in allen Verfahrensarten und -abschnitten überwiegen sollen. Die drastischen Veränderungen in der Medienrealität und die im Ausland mit Gerichtsfernsehen gesammelten Erfahrungen müssten den Gesetzgeber veranlassen, das ausnahmslose Verbot zu überdenken. Auf die Gegenwart komme es an. Soweit sich in der Gegenwart die Verhältnisse ändern, sei der Gesetzgeber zumindest zur Prüfung verpflichtet, ob Bedarf zur Novellierung älterer Normen besteht; hier sei der Gesetzgeber – so wörtlich – „nicht nur befugt, sondern kraft objektiven Verfassungsrechts sogar verpflichtet, eine über die Saalöffentlichkeit hinausgehende Medienöffentlichkeit zu ermöglichen, soweit dem keine gegenläufigen Belange entgegenstehen“. Mit dem Recht des Gesetzgebers zu Typisierung und Pauschalierung lasse sich die Verfassungsmäßigkeit des § 169 S. 2 GVG nicht begründen. Eine auf den Gerichtszweig bezogene Überprüfung sei sachgerecht, wobei die mit der Neuregelung des § 17a BVerfGG gewonnenen Erfahrungen fruchtbar gemacht werden könnten.

4. Stellungnahme zu den widerstreitenden Rechtsgütern Für und gegen die Öffnung des Gerichtsaals streiten jeweils gute Argumente. Streng genommen kann man die Gefahren und Vorteile mit jeweils zwei Schlagworten zusammenfassen: Für die Medienöffentlichkeit streiten Informationsbedürfnis und Transparenz. Für die Beibehaltung des „status quo“, namentlich des ausnahmslosen Übertragungsverbots aus der Verhandlung, sprechen Persönlichkeitsschutz der Beteiligten und rechtsstaatliche Grundsätze (Fair-Trial, Wahrheitsgewinnung). Ausschlaggebend für die eine oder andere Grundhaltung ist sicherlich, welches Grundverständnis man der richterlichen Entscheidungsfindung zugrunde legt: Konzipiert man die richterliche Entscheidungsfindung als intuitiven, subjektiven Akt der Erkenntnis des richtigen Rechts und der im Gesetz zu findenden einzig richtigen Lösung eines juristischen Konflikts, dann ist eine kontrollierende und kritisierende Medienöffentlichkeit – wie jeder Einfluss von ‚außen‘ – illegitimer Druck. Wird hingegen die gerichtliche Entscheidungsfindung begriffen als ein Prozess der Informationssammlung und -verarbeitung, der (auch) politischen, ökonomischen, persönlichkeitsbedingten Einflüssen unterliegt und nicht

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allein Angelegenheit des Gerichts ist, dann ist eine (medien)öffentliche Kontrolle erforderlich.26 Hier setzt der Wandel zur Informationsgesellschaft an. Dieser wirkt sich auf Entscheidungsfindungen aus, an der die Öffentlichkeit teilhaben muss. Eine Informationsgesellschaft definiert sich nicht als eine eigenverantwortliche Gesamtheit von Informationsrezeptoren, sondern steht selbst unter der Voraussetzung einer hinlänglichen Informationsversorgung durch die Medien. Nicht nur in Deutschland steht dabei die Informationsvermittlung über die (elektronischen) Medien im Zentrum. Insbesondere das Fernsehen kann ein – auch vom Bundesverfassungsgericht anerkanntes 27 – Interesse der Öffentlichkeit an einer möglichst authentischen Berichterstattung am besten befriedigen. Das wiederholt hiergegen vorgetragene, aber dadurch nicht überzeugendere Argument, der Fernsehzuschauer habe außerhalb des Strafverfahrens überhaupt kein Interesse an Gerichtsverfahren, wird der Medienwirklichkeit – gleichsam als Spiegelbild des heutigen Informationsbedürfnisses – nicht gerecht. Zum einen ist diese Beurteilung aufgrund der Programmfreiheit allein Sache des Rundfunks, nicht des Staates, auch nicht des Bundesverfassungsgerichts, und zum anderen belegt das Interesse an Übertragungen aus dem Bundesverfassungsgericht das Gegenteil. Die Medienlandschaft selbst hat sich in letzter Zeit verstärkt um die Vermittlung von Rechtsinformationen im Allgemeinen und von Gerichtsverfahren (außerhalb der sensationsträchtigen Prozesse) bemüht. Nach der Korrektur des Verbraucherbildes im Wettbewerbsverfahren hin zum mündigen Verbraucher, sollte auch für die Fernsehwelt ein optimistisches Zuschauerbild angestrengt, mithin ein Interesse (jedenfalls auch zu versorgender Minderheiten) für aufklärend informative Gerichtsgeschehnisse angenommen werden. Die Veränderung der Kommunikationsgewohnheiten hat zwangläufig auch die Wichtigkeit der medienvermittelten Wahrnehmung für die Beobachtung und Kontrolle von Gerichtsverhandlungen gestärkt. Aus Beobachtersicht spricht ganz grundsätzlich für eine Öffnung 28, dass eine Verhandlung, die zu Zeiten, als Saalöffentlichkeit und Zeitungsöffentlichkeit nahezu identisch war, auch medienöffentlich sein durfte, im jetzigen Medienzeitalter weiterhin medienöffentlich sein sollte. Unter Informationsaspekten spricht außerdem 26 So ähnlich schon Scherer, Justiz und Massenmedien, ZaörV 1979, S. 38, 78; vgl. hierzu auch Wyss, Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren und Fernsehberichterstattung, in EuGRZ 1996, S. 1, 2. 27 Vgl. BVerfG, NJW 2001, 1633, 1667. 28 In diesem Sinne etwa Gerhardt, ZRP 1993, 377 ff.; Zuck, NJW 1995, 2082; Eberle, NJW 1994, 1637 ff.; ders. ZDF Jahrbuch 1992 (1993), S. 158 ff.; zurückhaltender Stürner, JZ 1995, 297; in der Entscheidung Chandler vs. Florida, 449 U.S. 569 (Nachweis bei Wyss, EuGRZ 1996, S. 1, 2) hat der US-Supreme Court mit großer Sorgfalt die Vor- und Nachteile der Fernsehgerichtsberichterstattung gegeneinander abgewogen und im Grundsatz die Zulässigkeit von Fernsehaufnahmen statuiert.

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für eine Öffnung, dass ein Gerichtsfernsehen zur Aufklärung und Transparenz gesellschaftlicher Prozesse beiträgt. Für viele Bürger spielen sich zahlreiche Geschehnisse ohnehin nur im Fernsehen ab. Die medial vermittelte Gerichtsöffentlichkeit per Bildschirm könnte die Realität weiter vervollständigen 29. Die Öffentlichkeit kann so eine bessere Vorstellung von Rechtsfindung und Rechtsprechung in ihren eigenen Gerichten gewinnen. Dies steigert sowohl das Rechtsbewusstsein als auch die Rechtsakzeptanz 30, denn je transparenter und verständlicher justitielles Handeln ist, desto höher ist die Akzeptanzquote. Ferner wird die Kontrollfunktion durch die Öffentlichkeit gestärkt. Der stark limitierten Saalöffentlichkeit kommt lange nicht mehr die gleiche Bedeutung für die Sicherung der Funktionsfähigkeit der Rechtsordnung zu wie früher. Heute haben andere Medien die Funktion der Zeitungsberichterstattung (über Gerichtsgeschehnisse) teilweise übernommen. Das Thema „öffentliche Kontrolle der Rechtsprechung“ hat dabei mehrere Facetten. Die vielen für die richterliche Unabhängigkeit und Wahrheitsfindung vermuteten Gefahren 31 sind empirisch gar nicht belegt 32. Auch kann man sich fragen, warum der Justiz die Möglichkeit der „Außendarstellung“ dort genommen wird, wo sie doch generell eine Interessenabwägung mit schutzwürdigen Belangen zulässt? Die erhöhte Transparenz gerichtlicher Entscheidungsfindungsprozesse mündet in einem erhöhten Begründungsdruck für gerichtliche Entscheidungen. Womöglich würde sich gefilmte Verfahrensbeteiligte sogar standesbewusster verhalten und sich (noch) besser auf die Prozesswahrnehmung vorbereiten33. Dessen, dass sie den Verlockungen der menschlichen Eitelkeit zu widerstehen haben, sollten sie sich auch ohne Gerichtsberichterstattung durch Fernsehen stets bewusst bleiben 34. Das Zwischenergebnis lautet zunächst zwiespältig: Am Bisherigen („Kamera läuft nur außerhalb der Verhandlung“) ist nicht alles schlecht und an der Alternative („Kamera läuft ununterbrochen“) ist auch nicht alles gut, aber eben auch nicht alles schlecht. Die Tendenz für eine Öffnung ist im vorstehenden Abschnitt deutlich geworden: Natürlich dürfen die Persönlich29

Vgl. zu diesem Gedanken vgl. Zuck, DRiZ 1997, S. 23, 31. Vgl. Eberle, ZDF Jahrbuch 1992 (1993), S. 158; nach einer INFAS-Untersuchung empfinden 2/3 der Befragten den Gang zum Gericht genauso unangenehm wie den Gang zum Zahnarzt; Nachweis bei Gounalakis, a.a.O, S. 194. 31 So z.B. Enders, NJW 1996, S. 2712, 2714; Huff, NJW 1996, S. 571; Hamm NJW 1995, S. 760 f. 32 Ganz generell ist die Intensität der von Massenmedien ausgehenden Wirkungen noch in vielerlei Hinsicht unklar, vgl. dazu die Nachweise bei Gounalakis, a.a.O., S. 198, dort Fn. 137 und bei Wyss, EuGRZ 1996, S. 1, 12, dort Fn. 122. 33 In einer in den USA durchgeführten Studie wurde Folgendes festgestellt: „There is now an acceptance that the result has been to make the judiciary better behaved, the advocates better prepared and the public better informed“ (Nachweis bei Gounalakis, a.a.O., S. 192). 34 So auch zutreffend Wyss, EuGRZ 1996, S. 1, 16. 30

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keitsrechte der Verfahrensbeteiligten und die Sicherheit der Rechtspflege nicht im Belieben einer uneingeschränkten Medienöffentlichkeit stehen, aber die in einer aufgeklärten Gesellschaft auf Medienfreiheit gestützte rechtsstaatliche Demokratie verlangt zumindest eine zeitgemäße Überprüfung und Anpassung des strikten Übertragungsverbots in § 169 S. 2 GVG, um durch eine Neuregelung eine ausgewogene Balance zwischen den beschriebenen Risiken und Vorteilen der Gerichtsberichterstattung im Fernsehen zu ermöglichen.

5. Der Gesetzgeber ist gefordert 5.1. Flexible Regelung für die Zulassung von Fernsehaufnahmen Der Gesetzgeber soll eine Regelung formulieren, die weniger auf die Typisierung und Pauschalierung abzielt, sondern sich für das Verhandlungsstadium an § 176 GVG orientiert und dem befassten Gericht auch für die Verhandlungsphase eine konkrete Abwägung der betroffenen Rechtsgüter ermöglicht. Warum sollte der Gesetzgeber es dem Gericht nicht zutrauen, unter Ausübung eines justitiablen Ermessensspielraums sachgerecht über die Zulassung der Medienöffentlichkeit zu befinden? Jedenfalls käme es auf einen Versuch an. Alternativ könnte eine unabhängige Kommission eingerichtet werden, die jeweils kurzfristig über eine angemessene Zulassung der Medienöffentlichkeit entscheidet. Eigene Belange der Richter sind durch Fernsehkameras nur eingeschränkt betroffen. Die Richter sind als Organe der Rechtspflege der Öffentlichkeit Rechenschaft schuldig. Da sie „im Namen des Volkes“ Recht sprechen, haben sie es zu dulden, von den Medien – auch kritisch – bei ihrer Arbeit beobachtet zu werden. Natürlich dürfen und müssen bei der Abwägung räumliche Beschränkungen sowie sonstige personenspezifische Belange Berücksichtigung finden. Soweit es sich bei den Verfahrensbeteiligten nicht um besondere, namentlich prominente, Personen handelt, gelten die Selbstbestimmungsrechte am eigenen Bild nach dem KunstUrhG (hierzu insbesondere §§ 22–24) als Beschränkungen für die Bildberichterstattung. Einschränkend – ausgehend vom status quo – könnte übergangsweise eine zeitlich auf zwei oder drei Jahre befristete Regelung erprobt werden. Hiernach würde es dem mit der Sache befassten Gericht in Erprobungsschritten anheimgestellt, eine Live- oder kurzfristig zeitversetzte Übertragung von der Verhandlung (oder Teilen hieraus) zu erlauben 35. Während dieser Erprobungsphase könnte die Medienwirkung auf das gerichtliche Verfahren untersucht werden und nach Auswertung der Ergebnisse könnte eine endgültige Regelung konzipiert werden. 35 Für eine Änderung in diesem Sinne hat sich schon die Mehrheit des 58. Deutschen Juristentages ausgesprochen, vgl. Verhandlungen des 58. Dt. Juristentages, Bd. II, S. K 220, Beschlüsse 12a, b und c.

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5.2. Stufenregelung nach Art und Inhalt der Gerichtsverhandlung Will der Gesetzgeber keine solchermaßen flexible Regelung, so wäre alternativ eine Regelung zu erwägen, die im Zuge einer zweistufigen Prüfung die Zulässigkeit von Fernsehaufnahmen aus der Gerichtsverhandlung festlegt. Dabei wäre zu kategorisieren zwischen besonders wichtigen, historischen Prozessen einerseits und sonstigen Prozessen von öffentlichem Interesse andererseits, die ggfs. nur mit Einwilligung der Verfahrensbeteiligten übertragen werden dürfen. – Historische Prozesse: Die Nürnberger-Prozesse, in Israel der Eichmann- und Demanjuk-Prozess und in Frankreich der Barbie-Prozess sind nur beispielhafte Belege für die historische Bedeutung von Fernsehbildern aus Gerichtsverhandlungen. Erinnert sei auch an die Filme des Volksgerichtshofs, die – als untrügliches Zeugnis der Zeitgeschichte – eindrucksvoller als jeder schriftliche Bericht die Unmenschlichkeit von Nazi-Richter Freissler dokumentieren und einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung gerichtlicher Entgleisungen im Dritten Reich lieferten. Selbst wenn die Verfahrensbeteiligten Einwände gegen eine Live- bzw. kurzfristig zeitversetzte Übertragung erheben, sollte das erkennende Gericht oder eine unabhängige noch zu bestimmende Kommission nach Abwägung aller relevanten Einzelfallumstände entscheiden dürfen, dass Aufnahmen zulässig sind, gegebenenfalls mit der Maßgabe, wann, wem und wie viel Aufnahmen gezeigt werden dürfen.36 Natürlich ist auch bei „historischen Prozessen“ das „Recht auf Vergessen“ der Verfahrensbeteiligten mit dem Interesse der Öffentlichkeit bzw. der Geschichtsforschung abzuwägen. Hierzu heißt es in der vorstehend schon einmal zitierten Lebach-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 37, dass die Berichterstattung über einen längere Zeit zurückliegenden Prozess(-Beteiligten) unzulässig ist, um die Wiedereingliederung des Täters (sog. Resozialisierungsinteresse) nicht zu gefährden. Allerdings betraf die damalige Entscheidung keinen historisch bedeutsamen Prozess. In der Lebach Entscheidung heißt es: „Ob und inwieweit hier Ausnahmen denkbar sind, etwa bei einem überragend historischen Interesse [...] bedarf hier keiner Prüfung, weil die Voraussetzungen hier fehlen.“ 38 36 Hier sollte und kann der Gesetzgeber durchaus dem jeweiligen Gericht vertrauen, zutreffend zwischen Yellow-Press-Interessen und historischer Bedeutung unterscheiden zu können; beispielhaft würde hiernach selbstverständlich die Übertragung des Scheidungsprozesses Becker./.Becker verboten, denn dem vor einem US-District-Gericht geführten Ehescheidungsprozess, in dem Boris Becker bleich und stotternd als Quasi Angeklagter geradezu vorgeführt wurde, fehlt jeder historische Bezug (a.A. Zuck, NJW 2001, 1623, 1624). 37 BVerfGE 35, 202 ff. (Lebach). 38 BVerfGE 35, 202, 237 f. (Lebach).

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Bei historischen Prozessen gibt es und soll es auch gerade für die „zeitgeschichtlichen Verfahrensbeteiligten“ kein Recht auf Vergessen geben. Grundsätzlich haben Personen, die ein öffentliches Amt bekleiden oder sich aus anderen Gründen in das helle Licht der Öffentlichkeit begeben haben, eine Relativierung ihrer persönlichkeitsrechtlichen Abwehransprüche eher hinzunehmen als sonstige Privatpersonen 39. Für historisch bedeutsame Fälle ist daher eine Regelung vorzusehen, die generell ein überwiegendes Informationsbedürfnis unterstellt und in angemessener Zeit und in angemessenem Umfang die Sendung umfänglicher Gerichtsaufnahmen gestattet. – Sonstige Prozesse von öffentlichem Interesse: Soweit in sonstigen Prozessen (z.B. vielen verwaltungsgerichtlichen Verfahren) Persönlichkeitsrechte von Verfahrensbeteiligten nicht unmittelbar betroffen sein können, sollten – unter der Voraussetzung, dass es die räumlichen Verhältnisse erlauben – Fernsehübertragungen grundsätzlich (entsprechend § 17a BVerfGG) zugelassen werden. In sonstigen Verfahren von öffentlichem Interesse sollte eine Übertragung – nach pflichtgemäßer Ermessensausübung des befassten Gerichts – zugelassen werden können, wenn die Verfahrensbeteiligten keine Einwände erheben. Über die Einwilligung ist die Gefahr von Persönlichkeitsverletzungen gebannt. Allerdings wäre im Einzelfall konkret festzulegen, wessen Einwilligung einzuholen wäre. So kann insbesondere ein Zeuge oder ein Gutachter in einem Prozess Hauptakteur und in einem anderen Prozess unbedeutsam sein. Auch können im Einzelfall berechtigte Gründe vorliegen, warum eine ohne eigenes Dazutun in einen Prozess involvierte Person nicht der Fernsehöffentlichkeit preisgegeben werden soll. Hierauf muss Rücksicht genommen werden. Die Persönlichkeitsrechte der sonstigen „mitgefilmten“ Randpersonen (Protokollführer, Dolmetscher, Prozessbeobachter, etc.), auf die sich der Blick der Öffentlichkeit ohne direkte Aufmerksamkeit richtet, sind – von Ausnahmen abgesehen – regelmäßig dem Informationsinteresse unterzuordnen. Die Befürchtungen, dass sich die Fernsehöffentlichkeit für die Verhandlung als nachteilig beeinflussend erweist, sind – wie vorsehend ausgeführt – bisher nicht belegt und daher einstweilen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit (Ausnahmen vorbehalten) unterzuordnen.

39 Hierzu anschaulich Wyss, EuGRZ 1996, S. 1, 16; es war in diesem Kontext befremdlich, dass sich der sonst stets medienversierte Altkanzler Schröder besondern an der öffentlich – auch vor dem Hamburger Landgericht – ausgetragenen Debatte über seine gefärbten Haare störte und auf seine Privatsphäre pochte, natürlich fehlte diesem Verfahren jeder historische Bezug.

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5.3. Fazit Um unsere Informations- und Kommunikationsgesellschaft, durch Archivierung auch nachfolgende Generationen, über Prozesse von öffentlichem Interesse hinreichend zu informieren und der Bevölkerung die Rechtsfindung und Rechtsprechung näher zu bringen, sollte der Gesetzgeber auch nach der Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts im KrenzVerfahren für einen Paradigmenwechsel aufgeschlossen bleiben. Die aktuelle Rechtslage (§ 169 S. 2 GVG), mit dem kategorischen Ausschluss der (elektronischen) Medienöffentlichkeit aus der Verhandlung, muss den Realitäten des Informationszeitalters angepasst werden. Mutige bzw. flexible Konzepte (s.o. Ziff. 5.1.) oder differenzierende Konzepte (s.o. Ziff. 5.2) sind gefragt, die auf die unterschiedlichen Prozessarten und Verfahrensstadien abgestimmt sind 40. Die Praktikabilität eines solchen legislativen Vorgehens und wie ein verfassungsgemäßer Ausgleich der kollidierenden Interessen erzielt werden kann, beweist schon jetzt die Sonderregelung des § 17a BVerfGG für die Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Nicht nur dem Verfassungsgericht, sondern auch anderen Gerichtszweigen sollte eine hinreichende Abwägungskompetenz zugetraut werden, über die Zulassung der Medienöffentlichkeit eine interessengerecht abgewogene Entscheidung zu treffen. Die Rechtmäßigkeit dieses Abwägungsprozesses verlangt das gleiche Vertrauen, das Gerichtsentscheidungen in einem demokratischen Rechtsstaat genießen und verdienen. Die Erwartung rechtmäßiger Abwägungsentscheidungen wird das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtspflege stärken. Vor allem birgt der verantwortungsvolle Umgang mit elektronischen Medien im Kontext der Gerichtsberichterstattung die Chance, dass fernsehende Bürger nicht auf leider nur unterhaltsame Gerichtsserien beschränkt bleiben müssen. Damit wäre – und so schließt sich der Kreis – jedenfalls der Sicherung von Meinungsvielfalt gedient.

40 So ähnlich auch der Vorschlag von Bamberger, ZUM 2001, 373, 378; für eine Öffnung auch Zuck, NJW 2001, 1623; Dieckmann, NJW 2001, 2451.

Audiovisuelle Medien – Kultur versus Kommerz? Eva-Maria Michel Inhaltsübersicht I. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Verortung des Rundfunks in der deutschen Rechtsordnung III. Der gemeinschaftsrechtliche Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . 1. Dienstleistungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die kulturelle Bestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Beihilferecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kartellrecht und Marktbeherrschung . . . . . . . . . . . . . IV. Kommerzialisierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks? . . V. Internationale Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einführung Vor fast genau einem Jahr, am 20. Oktober 2005, hat die Generalversammlung der UNESCO in Paris mit überwältigender Mehrheit eine Internationale Konvention zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen 1 angenommen. Dieser Beschluss war von bahnbrechender Bedeutung – war es doch das erste Mal, dass sich die Völkergemeinschaft auf ein solches umfassendes und rechtsverbindliches Kulturabkommen verständigt hat. Die Konvention erwähnt ausdrücklich den Medienpluralismus 2 und nennt als eine der legitimen innerstaatlichen Maßnahmen im Bereich kultureller Politiken speziell auch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.3 Mit diesen Inbezugnahmen werden expressis verbis der Zusammenhang zwischen den vor allem audiovisuellen Medien und der kulturellen Vielfalt und die Bedeutung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks als Garant für die Sicherung dieses universellen Wertes gewürdigt.

1 Zum Text sowie zur Entstehungsgeschichte s. unter http://www.unesco.org. Die Konvention tritt drei Monate nach dem Zeitpunkt in Kraft, zu dem mindestens 30 Vertragsstaaten den Text ratifiziert haben. 2 Konvention, a.a.O., Erwägungsgrund 12, Art. 6 Abs. 2 lit. (h). 3 Konvention, a.a.O., Art. 6 Abs. 2 lit. (h).

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Die Anerkennung der kulturellen Bedeutung audiovisueller Medien führt allerdings keineswegs dazu, dass diese nunmehr dem internationalen Handelsregime entzogen wären. Vielmehr bildet die Konvention, die sich in keinem Über- oder Unterordnungsverhältnis zu insbesondere den WTOAbkommen sieht, sondern in einem Verhältnis gegenseitiger Ergänzung und Unterstützung 4, lediglich ein Gegengewicht zu der bislang vorherrschenden rein wirtschaftlichen Betrachtung. Die Frage, ob audiovisuelle Medien primär ein kulturelles Phänomen oder aber ein kommerzielles Produkt sind, scheint danach nicht mit einem „entweder oder“, sondern mit einem „sowohl als auch“ beantwortet zu sein. Noch immer aber ringen die USA, Japan und einige andere Staaten 5 im Rahmen der sog. Doha-Entwicklungsrunde in Genf darum, Liberalisierungen im audiovisuellen Bereich im Rahmen des Allgemeinen Abkommens über den Handel mit Dienstleistungen (GATS) zu erreichen und noch immer versuchen die Europäische Gemeinschaft und eine Vielzahl anderer Mitglieder der Welthandelsorganisation (WTO), dieses zu verhindern.6 Das Ringen um die Natur des Rundfunks als Kultur- oder Wirtschaftsgut ist indes praktisch so alt wie der Rundfunk selbst: Bereits in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts war eine Reihe von Staaten bestrebt, ihre audiovisuelle Industrie vor ausländischen Produktionen zu schützen. Man errichtete hohe Einfuhrzölle, führte Quoten ein und ließ nur einen beschränkten Teil des Marktes von ausländischen Unternehmen bedienen. Das Vorläufermodell des heutigen dem Warenverkehr geltenden GATT, die Havanna-Charta for an International Trade Organisation, verpflichtete deren Mitglieder Diskriminierungen gegenüber Waren anderer Länder zu beseitigen, erlaubte ihnen jedoch, einen bestimmten Marktanteil der Ausstrahlung heimisch produzierter Filme vorzubehalten. Bis heute enthält das GATT in seinem Art. IV Sonderbestimmungen für Kinofilme. Demgegenüber hatten die USA stets gefordert, den audiovisuellen Sektor, der gleich nach der Luftfahrt dem Land die höchsten Exporterlöse beschert, wie alle anderen Sektoren zu behandeln. Diese Sichtweise steht diametral jener der Europäer entgegen. Rundfunk als Wirtschaftsgut jenseits des Atlantiks, Rundfunk als Kulturgut par excellence diesseits des Atlantiks, – diese Differenzen führten Anfang der 90er Jahre fast zum Scheitern der sog. UruguayRunde, bei der erstmals ein Abkommen für den Handel von Dienstleistungen verhandelt wurde. Bis heute hat sich an diesem Wertungsgraben nichts grundlegend geändert. 4

Konvention, a.a.O., Art. 20 f. S. hierzu beispielsweise die gemeinsame Erklärung von Hong Kong, VR China, Japan, Mexiko, dem Sonderzollgebiet von Taiwan, Penghu , Kinmen und Matsu sowie der USA zu den Verhandlungen betreffend des audio-visuellen Sektors, WTO, TEN/S/W49 vom 30. Juni 2005. 6 Einzelheiten s. unter 5. 5

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II. Die Verortung des Rundfunks in der deutschen Rechtsordnung In Deutschland ist der Rundfunk bekanntlich in Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG verankert. Dort heißt es kurz und knapp, dass die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk gewährleistet wird. Ein Blick auf die Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten vermag einen ersten Aufschluss zu geben: Gemäß Art. 74 Abs. 1 Ziff. 11 GG ist das „Recht der Wirtschaft“ Sache des Bundes, der Rundfunk wie auch die Kultur im übrigen unterfallen demgegenüber dem Bereich der Länderkompetenzen (Art. 70 i.V.m. Art. 71ff. GG). Eine weitere Annäherung ermöglicht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes. Dieses hat in einer Reihe von wegweisenden Urteilen die Rundfunkordnung konkretisiert und ausgestaltet. Demzufolge ist die Rundfunkfreiheit in erster Linie Programmfreiheit 7, Rundfunk ist Sache der Allgemeinheit 8, der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist Medium und Faktor der öffentlichen Meinungs- und der politischen Willensbildung 9. Daneben, so das Bundesverfassungsgericht, kommt ihm auch eine kulturelle Verantwortung zu und es betont, dass dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk essentielle Aufgaben für die demokratische Ordnung ebenso wie für das kulturelle Leben in Deutschland obliegen.10 Die Sendetätigkeit ist keine gewerbliche Tätigkeit, die Anstalten sind konkursunfähig und unterliegen hinsichtlich ihrer Auftragserfüllung nicht der Umsatzsteuer.11 Die grundrechtliche Gewährleistung erlaubt nicht, den Rundfunk insgesamt dem freien Spiel der Marktkräfte zu überlassen.12 Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten können sich ihrerseits zwar auch an privaten Unternehmen beteiligen, können im Rahmen der sog. Randnutzung ihre Ressourcen verwerten; die wirtschaftliche Betätigung darf jedoch keine Lösung von der öffentlich-rechtlichen Zweckbindung bewirken. Sie ist durch den Rundfunkauftrag bedingt und begrenzt.13 Setzt man diese judikativen Mosaiksteine zusammen, so ergibt sich, zumindest für das deutsche Verfassungsverständnis von Rundfunk, bereits ein Bild, das durchaus eine erste Antwort zulässt: Rundfunk wird danach primär als ein öffentliches Gut bzw. eine dem öffentlichen Anliegen dienende Aufgabe erachtet. Für die Rundfunkanstalten lässt sich das, was vom Bundesverfassungsgericht begrifflich als Grundversorgung mit klassischem Rundfunk benannt 7

Urteil vom 13. Januar 1982, BVerfGE 59, 231 (258). Urteil vom 27. Juli 1971, BVerfGE 31, 414 ff. 9 Urteil vom 22. Januar 1991, BVerfGE 12, 205 (260), ständige Rechtsprechung. 10 Urteil vom 4. November 1986, BVerfGE 73, 118 (158). 11 Urteil vom 27. Juli 1971, BVerfGE 31, 414 ff.; Beschluss vom 5. Oktober 1993, BVerfGE 89, 144ff. 12 Urteil vom 16. Juni 1981, BVerfGE 57, 295 (322 f.). 13 Urteil vom 5. Februar 1991, BVerfGE 83, 238 (305 ff.). 8

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worden ist,14 auch als „kulturelle Grundversorgung“ oder „kulturelle Daseinsvorsorge“, wie es der Deutsche Kulturrat bezeichnet,15 fassen. Im Grunde geht es danach um die Gewährleistung wesentlicher Bereiche im weitesten Sinne der Kultur. Begreift man die Rundfunkversorgung der Bevölkerung – wie das Bundesverfassungsgericht zumindest auch – als kulturellen Auftrag, wird zugleich der gesellschaftspolitische Bezug sichtbar: Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik und nimmt nicht den Staat, sondern Gesellschaft und Individuum zum Ausgangspunkt. Grundfragen des menschlichen Zusammenlebens, der Gesellschaft, der Demokratie, der Ethik, Informationen und Kommunikation in den Medien sind Kulturgüter. Güter die mit dem menschlichen Zusammenleben zu tun haben, sind Werte – und jedenfalls insoweit keine Waren, die allein den Gesetzen des Marktes unterworfen werden dürfen – sollen sie nicht ihre Funktion für eine öffentliche Gesellschaft einbüßen. Auch die Vielfalt der Kulturen kann – das folgt schon aus den Regeln der notwendig auf Massenattraktivität abzielenden Geschäftslogik – nicht, jedenfalls nicht hinreichend, durch den Markt gewährleistet werden.

III. Der gemeinschaftsrechtliche Ansatz Nun ist Deutschland jedoch keine Insel, sondern befindet sich mitten in Europa, wo es nicht nur Bundesländer und Karlsruhe, sondern auch Brüssel und Luxemburg gibt. 1. Dienstleistungsfreiheit Seit jeher kennt der EG-Vertrag als eine der Grundfreiheiten der Gemeinschaft die Dienstleistungsfreiheit. Art. 50 EGV definiert Dienstleistungen als solche Leistungen, die „in der Regel gegen Entgelt erbracht werden“. Und seit jeher erachtet der EuGH den Rundfunk, auch den öffentlich-rechtlichen, als eine solche Dienstleistung.16 Damit wird eine gegenüber der skizzierten deutschen Sichtweise zunächst grundlegend andere Perspektive eingenommen: Dienstleistungen sind, vom Ansatz her, wirtschaftliche Betätigungen und wesentlicher Bestandteil des Binnenmarktes. Ist der Rundfunk, mit der europäischen Brille gesehen, also doch ein Wirtschaftsgut? Diese Frage mit „Ja“ zu beantworten, drängt sich auf den ersten Blick auf. Die Sache ist auf den zweiten Blick – wie so oft – differenzierter. 14

Urteil vom 4. November 1986, BVerfGE 73, 118ff. Deutscher Kulturrat „Kultur als Daseinsvorsorge!“, http://www.kulturrat.de/druckansicht.php?detail=217. 16 Ständige Rechtsprechung seit EuGH (Sacchi), Slg. 1974, 409. 15

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So wenig der EuGH jemals Zweifel daran gelassen hat, dass der Rundfunk der Dienstleistungsfreiheit unterfällt, so sehr hat er in seinen bisherigen Urteilen ein „Ja, aber …“ vorgegeben: Obgleich es, anders als beispielsweise bei der Warenverkehrsfreiheit, bei der Dienstleistungsfreiheit an einer ausdrücklichen allgemeinen Beschränkungsmöglichkeit fehlt, besagt die ständige Rechtsprechung, dass auch die Dienstleistungsfreiheit unter engen Voraussetzungen durch innerstaatliche Regelungen beschränkt werden kann. Aufgrund des sog. immanenten Vorbehalts sind danach solche Beschränkungen des Gemeinschaftsrechts hinzunehmen, die ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel verfolgen und (i.w.S.) verhältnismäßig sind.17 Als „zwingende Gründe des Allgemeininteresses“ hat der EuGH immer wieder rundfunkspezifische Regelungen anerkannt, namentlich die Aufrechterhaltung eines pluralistischen und nicht kommerziellen Rundfunkwesens als Teil einer Kultur(!)politik, die die Meinungsfreiheit der verschiedenen gesellschaftlichen, kulturellen, religiösen und geistigen Strömungen im audiovisuellen Bereich in einem Mitgliedstaat schützen soll,18 – oder z.B. Werbebeschränkungen, um im Rahmen der Kulturpolitik eine bestimmte Programmqualität zu erhalten.19 Hierin – Freiheit des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs ja, aber Rechtfertigung innerstaatlicher rundfunkspezifischer Regelungen – kommt bereits ein Spannungsverhältnis zum Ausdruck, das sich auch durch das sonstige Gemeinschafsrecht zieht. Ebenfalls im Regelungsrahmen der Dienstleistungsfreiheit wurde 1989 die Fernsehrichtlinie erlassen, die 1997 überarbeitet wurde 20 und gegenwärtig erneut zur Revision ansteht. Sie verfolgt, entsprechend ihrer Ermächtigungsgrundlage, ausdrücklich das Ziel, die Dienstleistungsfreiheit im Bereich grenzüberschreitender Fernsehsendungen zu verwirklichen. Dennoch verstand sich die Fernsehrichtlinie keineswegs nur als ein – sektorspezifisches – Binnenmarktinstrument. Sie verfolgt zwar das Anliegen, die europäische audiovisuelle Branche insgesamt zu stärken – ist damit also ein industriepolitisches Instrument – aber zugleich auch das Anliegen, zur kulturellen Vielfalt in Europa beizutragen – ist damit also auch Teil der Kulturpolitik der Gemeinschaft. In den Vorschriften, die vom Grundsatz der Sendefreiheit 17 Vgl. beispielsweise Urteil vom 26. Februar 1991 (Kommission ./. Französische Republik) Slg. I – 1991, 659 (687). 18 Urteil vom 3. Februar 1993 (Veronika ./. Commissariat voor de Media), Slg. I-1993, 487 (518 m.w.N.). 19 Urteil vom 25. Juli 1991 (Stichting ./. Commissariat voor de Media), Slg. I-1991, 4007 (4044). 20 Richtlinie 97/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Juni 1997 zur Änderung der Richtlinie 89/552/EWG des Rates zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, RL 97/36/EG, ABl. EG L 202/60 vom 30. Juli 1997.

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über nationale Schutzlistenregelungen, Quotenvorgaben für europäische Produktionen, Werberegelungen bis hin zu Vorschriften zum Jugendschutz, zum Schutz der Menschenwürde und zum Recht auf Gegendarstellung reichen, zeigt sich erneut eine Betrachtung, die den Rundfunk, hier bislang beschränkt auf das klassische Fernsehen, sowohl als Wirtschaftsgut als auch als Kulturgut bewertet. Am 13. Dezember 2005 hat die Kommission ihren Vorschlag zur erneuten Änderung der Fernsehrichtlinie vorgelegt.21 Der Anwendungsbereich der Regelung soll danach auf so genannte nicht-lineare Dienste, also vor allem auf Abrufangebote, erstreckt werden. An der Anerkennung der Doppelnatur, dann nicht nur traditioneller Fernsehsendungen, sondern auch neuer audiovisueller Mediendienste, wird sich danach nichts ändern. Gegenwärtig ist der Richtlinienentwurf Gegenstand der Beratungen des Europäischen Parlamentes und des Rates. Dabei geht es vor allem um die Erweiterung des Anwendungsbereiches sowie um den Umgang mit Product Placement, das nach Vorstellung der Kommission unter bestimmten Voraussetzungen zukünftig zulässig sein soll. Mit Blick auf die Ausgangsfrage bemerkenswert ist auch die Diskussion um den von der Kommission im Januar 2004 vorgelegten Entwurf einer Richtlinie „Dienstleistungen im Binnenmarkt“. Dieses Regelungsvorhaben hatte, wie kaum eines zuvor, die Wellen höher schlagen lassen. Die Auseinandersetzungen waren oft verkürzt worden auf Befürchtungen einerseits um die Wettbewerbsfähigkeit insgesamt der Gemeinschaft und, andererseits, eines nicht hinnehmbaren Sozialdumpings. Aber nicht nur Liberalisierungsbefürworter und Arbeitnehmervertreter hatten sich hier unversöhnt gegenübergestanden, vielmehr machten eine Vielzahl von Dienstleistungssektoren Front gegen den Richtlinienvorschlag, darunter auch der audiovisuelle Sektor. Dessen Bedenken zielten insbesondere darauf ab, dass ein Rechtsrahmen, der bewusst ausschließlich horizontal und rein ökonomisch ausgerichtet ist, medienspezifischen Besonderheiten nicht Rechnung trägt. Für die Verwirklichung des Binnenmarkts im audiovisuellen Bereich gibt es mit der Fernsehrichtlinie zudem längst ein geeignetes sektorspezifisches Instrumentarium, das auf neue audiovisuelle Mediendienste ausgeweitet werden soll. Im übrigen ist Rundfunk jedoch Sache der nationalen Rechtsordnungen, die durch allein dem Binnenmarkt verpflichtete Vorschriften nicht unterlaufen werden dürfen. Demgegenüber war es ursprünglich das ausdrückliche Anliegen der Kommission, auch rundfunkrelevante Regelungen mittels der Dienstleistungsrichtlinie zu erfassen. So sollte diese beispielsweise für die innerstaatlichen Regelungen zur Kabelbelegung – sog. must carry-Vorschriften – und für die Zuweisung von analogen Hörfunkfrequenzen gelten. Diese Rege-

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KOM (2005) 646 endgültig, 2005/0260 (COD).

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lungsbereiche sind jedoch keineswegs bloße technische Bestimmungen. Vielmehr sind gerade diese Regelungen Instrumente der Sicherung des Meinungspluralismus in den jeweiligen Mitgliedstaaten. Das Europäische Parlament forderte daher eine Anwendungsausnahme für den audiovisuellen Sektor. Rundfunk – Kultur oder Wirtschaftsgut? In welche Richtung das Pendel hier ausschlägt, ist noch nicht endgültig entschieden. Es zeichnet sich jedoch ab, dass auch die Mehrheit der Ratsmitglieder das Argument, den audiovisuellen Sektor aufgrund seiner Besonderheiten außen vor zu lassen, mitträgt. 2. Die kulturelle Bestimmung Auch der EG-Vertrag erkennt die Besonderheit des audiovisuellen Sektors an. So ist zunächst Artikel 151 EG-Vertrag zu nennen, der einzige Artikel im Titel VII – „Kultur“. Diese Vorschrift macht – in Verbindung mit dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 EG-Vertrag) – deutlich, dass der Gemeinschaft im Bereich der Kultur lediglich eine Förderkompetenz zukommt. Nicht überraschend ist daher, dass sich das Brüsseler Engagement insoweit vor allem in finanziellen Programmen zugunsten einzelner audiovisueller Projekte niederschlägt. Darüber hinaus, so heißt es ausdrücklich in Art. 151 Abs. 4 EG-Vertrag, hat die Gemeinschaft jedoch bei „ihrer Tätigkeit aufgrund anderer Bestimmungen dieses Vertrages den kulturellen Aspekten Rechnung“ zu tragen. Dass danach Rundfunk Sache der Mitgliedstaaten ist, bestätigt schließlich auch das Protokoll über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in den Mitgliedstaaten, das im Zuge von Amsterdam 1997 Eingang in das Vertragswerk gefunden hat und welchem nach Art. 311 EG-Vertrag die Qualität eines integrativen Bestandteiles des Vertrages zukommt. Die Präambel betont, „dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk in den Mitgliedstaaten unmittelbar mit den demokratischen, sozialen und kulturellen [Herv. d. Verf.] Bedürfnissen jeder Gesellschaft sowie mit dem Erfordernis verknüpft ist, den Pluralismus in den Medien zu wahren“. Rundfunk also doch primär ein kulturelles Phänomen? Mitnichten. Zunächst heißt es in dem Text zwar weiter, dass die Bestimmungen nicht die Befugnis der Mitgliedstaaten berühren, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu finanzieren, sofern die Finanzierung dem Auftrag dient, – so wie ihn die Mitgliedstaaten den Anstalten übertragen, festgelegt und ausgestaltet haben. Als weitere Voraussetzung wird dann jedoch aufgestellt, dass dadurch auch die Handels- und Wettbewerbsbedingungen in der Gemeinschaft nicht in einem Ausmaß beeinträchtigt werden dürfen, das dem gemeinsamen Interesse zuwider läuft. Doch eine halbe Kehrtwende – der deutsche Verfassungsrechtler würde hier wohl von einer „SchrankenSchranke“ sprechen – erfolgt auf dem Fuße, – bei der Beurteilung ist nämlich wiederum den „Erfordernissen der Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Auf-

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trags Rechnung zu tragen.“ Deutlicher könnte also das europäische „sowohl als auch“ nicht sein. 3. Das Beihilferecht Der Wortlaut des Amsterdamer Protokolls orientiert sich an der wettbewerbsrechtlichen Vorschrift des Art. 86 Abs. 2 EG-Vertrages, der die so genannten Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, in deutscher Diktion also die Leistungen der Daseinsvorsorge, zum Gegenstand hat. In dieser Vorschrift, die von Anfang an Bestandteil des seinerzeit EWGVertrages war, ist bereits ein gewisser Wertungswiderspruch angelegt, mithin akzeptiert. Die Gemeinschaft erkennt danach an, dass es Dienstleistungen gibt, die im öffentlichen Interesse erfüllt werden und die unter solchen Bedingungen erbracht werden oder erbracht werden müssen, die zwangsläufig zu einer gewissen Wettbewerbsverzerrung führen oder führen können. Diese Regelung spielte lange Zeit, wie im übrigen überhaupt das Beihilferecht, eine sowohl allgemein als auch mit Blick auf den Rundfunk eher untergeordnete Rolle. In den letzten fünfzehn Jahren hat sich dies jedoch grundlegend geändert. Nicht nur Werften, Automobilhersteller und private Banken, sondern auch die kommerziellen Rundfunkunternehmen haben für sich die Möglichkeit entdeckt, mittels des jeweils gegen den Mitgliedstaat gerichteten Vorwurfs das Vorliegen einer gem. Art. 87 Abs. 1 EG-Vertrag grundsätzlich unzulässigen Beihilfe geltend zu machen. Zahlreiche öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten, von Portugal, Spanien, Italien, Griechenland über Frankreich, Großbritannien, Niederlande, Dänemark bis hin eben zu Deutschland, sahen und zum Teil sehen sich noch immer entsprechenden Beschwerden ausgesetzt. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk tritt eben nicht nur in publizistischen Wettbewerb mit anderen Medien, sondern tritt am Markt auf, ist Nachfrager nach Übertragungsrechten an Sportereignissen, vergibt Produktionsaufträge, verkauft Werbezeiten. Die i.w.S. öffentliche Finanzierung wird insoweit als Wettbewerbsverzerrung gesehen. In der juristischen Auseinandersetzung geht es vor allem um die Frage, ob überhaupt der Beihilfetatbestand erfüllt ist oder nicht. Angesichts dessen, dass die einzelnen Finanzierungssysteme der Rundfunkanstalten in den Mitgliedstaaten zum Teil signifikant voneinander abweichen, lässt sich die Frage nicht einheitlich beantworten. Beim deutschen Modell der Gebührenfinanzierung lässt sich jedoch bereits mit guten Gründen die staatliche Herkunft der Mittel hinterfragen. Einschlägige Rechtsprechung hierzu aus Luxemburg gibt es noch nicht. Der EuGH hat jedoch klargestellt, dass es für die notwendige staatliche Zurechnung der Mittel nicht ausreicht, dass diese – etwa per Gesetz – zwar staatlich veranlasst sind, aber aus privaten Kassen stammen 22 22

Urteil vom 13. März 2001 (PreussenElektra), Rs. C-379/98 (Randnummer 58, 61).

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und dass ferner diese Mittel dem Staat zugerechnet werden können müssen.23 Hieran fehlt es im vorliegenden Fall, da die Gebühren, wenn auch aufgrund staatsvertraglicher Vorgaben, von den Rundfunkteilnehmern entrichtet werden und der Staat oder seine Einrichtungen zu keinem Zeitpunkt hierauf Zugriff haben, über diese verfügen oder diese kontrollieren können. Der Tatbestand scheitert jedoch auch an der fehlenden Begünstigung, entsprechend der Vorgaben des EuGH.24 Abgesehen davon, dass die Rundfunkanstalten mit einem staatsvertraglich klar definierten Auftrag betraut sind, sorgt der Mechanismus zur Ermittlung und Feststellung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten durch eine unabhängige Kommission (KEF) dafür, dass auch die Parameter, anhand derer der Ausgleich berechnet wird, zuvor objektiv und transparent feststehen und dass, soweit dieses Kriterium überhaupt auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk übertragen werden kann, die Kosten einem entsprechenden benchmark standhalten.25 Ungeachtet der juristischen Auseinandersetzung und den Unterschieden in den einzelnen nationalen Systemen geht es letztlich auch und gerade bei den Beihilfeverfahren um ein Verständnis des Rundfunks als eine Dienstleistung, die eben nicht mit jeder anderen wirtschaftlichen Dienstleistung – ja, nicht einmal mit jeder anderen Leistung der Daseinsvorsorge – gleichzusetzen ist oder aber ein Verständnis, das Rundfunkanbieter lediglich als market player versteht, die nichts anderes als ein Bestandteil unserer Wirtschaftsund Wettbewerbsordnung sind, nicht anders als Finanzdienstleister, Fremdenführer oder Frisöre. Hier schließt sich der Kreis zu der Diskussion um den Entwurf der Dienstleistungsrichtlinie. 23 Zu den einzelnen Kriterien siehe Urteil vom 16. Mai 2002 (Stardust), Rs. C-482/99; Urteil vom 15. Juli 2005 (Pearle), Rs. C-345/02 (Randnummer 35 m.w.N.). 24 S. insbesondere Urteil vom 24. Juli 2003 (Altmark), Rs. C-280/00 (Randnummer 85ff. m.w.N.). 25 Die EG-Kommission verneint in ihrer Entscheidungspraxis jedenfalls dieses sog. vierte Altmark-Kriterium und gelangt somit stets zur Bejahung des Beihilfetatbestandes im Falle der Finanzierung öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten (s. zunächst Entscheidung vom 24. Februar 1999 (Phoenix/Kinderkanal), ABl. C 238 vom 21. August 1999, S. 3; Entscheidung vom 29. September 1999 (News 24), ABl. 2000 C 78 vom 18. März 2000; sowie in Folge Altmark: Entscheidung vom 1. Oktober 2003 (BBC Digital Curriculum), ABl. C 271 vom 12. November 2003; Entscheidung vom 10. Dezember 2003 (France 2, France 3), ABl. L 361/21 vom 8. Dezember 2004). Demgegenüber ist fraglich, ob dieses im Zusammenhang mit dem öffentlichen Personennahverkehr entwickelte Kriterium überhaupt auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk übertragen werden kann. So hat der EuGH selbst, in einem Urteil vom 3. Juli 2003 (Chronopost (verb. Rs. C-83/01 P, C-93/01 P und C-94-01 P), den rein wirtschaftlichen Ansatz der angefochtenen erstinstanzlichen Entscheidung kritisiert und betont, dass der sog. private Investortest auf solche Unternehmen der Daseinsvorsorge nicht anwendbar ist, bei denen es an einer Möglichkeit fehlt, deren Situation mit Unternehmen einer privaten Gruppe zu vergleichen, die nicht in einem entsprechend „geschützten“ Bereich tätig sind. Die Ermittlung müsse daher anhand verfügbarer und nachprüfbarer anderer Faktoren erfolgen (EuGH, a.a.O., Randnummer 33, 36, 38).

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4. Kartellrecht und Marktbeherrschung Der Spagat muss auch in anderen Bereichen des Wettbewerbsrechts gelingen. Seit nunmehr eineinhalb Jahrzehnten beschäftigen sich Kommission, Europäische Gerichte,26 Wettbewerber sowie die European Broadcasting Union (EBU), der Dachverband europäischer Rundfunkanstalten, um ein EBU-internes System des Einkaufs und der Sublizenzierung von Sportrechten, welches den Vorgaben des Kartellverbotes (Art. 81 EG) standhalten können muss. Bei der Konstruktion der EBU geht es maßgeblich darum, mit Hilfe des Systems eines gemeinsamen Rechteerwerbs und Rechteaustauschs – Eurovision – auch den Mitgliedern kleinerer Länder zu ermöglichen, den jeweiligen Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zu den betreffenden Sportereignissen zu ermöglichen. Für die Kommission aber ist die EBU ein Einkaufskartell, das allein aufgrund umfangreicher Sublizenzierungsverpflichtungen als marktkonform erachtet werden kann.27 Rundfunk ein Wirtschaftsgut. – Auch der Rückblick auf das Zusammenschlussvorhaben Springer/Pro7 Sat1 bestätigt dies. Das Bundeskartellamt hatte diese – in der Art bislang in der Bundesrepublik einmalige – Medienfusion allein unter wettbewerbsrechtlichen – und damit wirtschaftlichen – Kriterien zu beurteilen. Die juristische Schwierigkeit bestand hier insbesondere darin, die cross-medialen Auswirkungen, für die das GWB keine gesonderten Tatbestände enthält, entsprechend zu würdigen. Bei dem Fusionsvorhaben stand jedoch keineswegs „nur“ eine enorme wirtschaftliche Vermachtung in Rede. Medien, selbst die kommerziellsten, sind eben nicht allein ein Wirtschaftsgut, sondern von unmittelbarer gesellschaftlicher Relevanz. Daher sind neben den Vorschriften des GWB bekanntlich die rundfunkstaatsvertraglichen Regelungen gem. §§ 25 RfStV zu beachten. Der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) oblag die Aufgabe, auf der Grundlage von Vorschriften, die dem Duopool seinerzeit von Kirch und Bertelsmann schon nicht zu nahe rücken sollten, und die in vielerlei Hinsicht als defizitär bezeichnet werden müssen, zu entscheiden, ob hier vorherrschende Meinungsmacht entsteht. Insoweit aller26 Urteil vom 11. Juli 1996, Rs. T-528/93 (EuZW/996/660); verb. Rs. T-185/00, T-216/00, T-299-300/00 (M6 ./. Kommission); verb. Rs. T-528/93, T-542/93, T-543/93, T-46/93 (M6 u.a. ./. Kommission), Slg. 1996 II-649. 27 Demgegenüber hatten sich die Kartellbehörden für das Geschäftsmodell, das Premiere bei der Rechtevergabe an der Fußballbundesliga 2006–2009 durchzusetzen versuchten, wesentlich weniger interessiert gezeigt. Premiere hatte versucht, die sog. free-tv-Rechte aufzukaufen und den Markt hier künstlich abzuschotten, um damit das eigene pay-tvAngebot attraktiver zu machen. Premiere hatte sein mehr als 300,– Mio. € pro Saison betragendes Gebot mit der „Auflage“ verbunden, die ARD-Sportschau mit der Zusammenfassung der Samstagsspiele aus der Vorabendzeit zu verbannen. Bekanntlich hat hier die Rechtinhaberin, DFL, letztlich im Rahmen eines Vergabeverfahrens entschieden, den Zuschlag der Live-Rechte an ein Konsortium von Kabelbetreibern zu erteilen.

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dings nicht ganz anders als die Kollegen des Bundeskartellamts, sahen sich die Experten der KEK mit dem Problem konfrontiert, den intermediären Auswirkungen dieser Hochzeit zwischen Print und Rundfunk zu begegnen. Im Ergebnis hatten bekanntlich sowohl die KEK als auch das Bundeskartellamt das Fusionsvorhaben nicht als unbedenklich erachtet bzw. untersagt.28

IV. Kommerzialisierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks? Aber auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist nicht vor kommerziellen Verirrungen gefeit. Im Sommer 2005 hatten die Vorfälle um Schleichwerbung die ARD geradezu in ihren Grundfesten – Glaubwürdigkeit und Programmautonomie – erschüttert. Hierbei ging es um Werbung, die sich keineswegs ohne jegliches Zutun in das Programm eingeschlichen hat, sondern, wie es der anglo-amerikanische Begriff Product Placement treffender zum Ausdruck bringt, bewusst, wenn auch ohne Wissen der Verantwortlichen in den Anstalten, in das Programm platziert wurde. Die Gefahr einer Selbstkommerzialisierung ist mithin keineswegs geringer einzuschätzen als die Ökonomisierung, die dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk zuweilen von außen versucht wird aufzuzwingen. Die ARD hat schnell und effektiv reagiert. Neben personellen Konsequenzen wurde vor allem eine Reihe von Überprüfungs- und Schutzmaßnahmen ergriffen, um zukünftig solche Formen der Waren- und Themenplatzierung möglichst zu unterbinden. Umso bedenklicher ist es, dass die Produktplatzierung nunmehr, wenn auch in bestimmten Grenzen, in der neuen Richtlinie für audiovisuelle Mediendienste 29 zugelassen werden soll. Danach soll in bestimmten Sendeformaten, vor allem in fiktionalen Sendungen, aber auch in so sensiblen Sendungen wie Ratgeber- und Servicesendungen, Produktplatzierung gegen Entgelt möglich sein, solange nur zu Beginn der Sendung in geeigneter Weise darauf hingewiesen wird. Abgesehen von Unstimmigkeiten im Detail begegnet dieser Vorschlag sehr grundsätzlichen Bedenken. Weder ist durch den Hinweis zu Beginn der Sendung eine Irreführung des Zuschauers wirksam ausgeschlossen noch garantiert die vorgesehene Regelung in ausreichendem Maße die Unabhängigkeit des Rundfunks. Vielmehr steht zu befürchten, dass kommerzielle Interessen damit auf legaler Basis unmittelbaren Einfluss auf die Programmgestaltung erhalten. Letztlich steht damit aber nicht weniger als die Glaubwürdigkeit des Rundfunks und dessen künftige Bedeutung für unser demokratisches Gemeinwesen auf dem Spiel. 28 KEK 293-1 bis -5, Beschluss vom 10. Januar 2006, s. www.kek-online.de/KEK/ Verfahren/KEK293prosieben-sat.1.pdf sowie Bundeskartellamt, 6. Beschlussabteilung, B 6-92202-Fa-103/05, Beschluss vom 19. Januar 2006. 29 Art. 3h des Richtlinienvorschlags zur Überbearbeitung der Fernsehrichtlinie (s. Fn. 21).

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V. Internationale Ebene Mit einem kurzen Blick über den eigenen, den nationalen und europäischen Tellerrand hinaus soll der Bogen zu den einführenden Bemerkungen geschlossen werden: Im Rahmen des Welthandels gelten die audiovisuellen Dienstleistungen, vom Ansatz her, als einer der unzähligen Dienstleistungssektoren, die dem GATS unterfallen. Da bekanntlich die große Mehrheit der WTO-Mitglieder die audiovisuellen Medien nun aber doch nicht als eine Dienstleistung wie jede andere erachten, haben weder die Gemeinschaft noch die meisten anderen Staaten in diesem Bereich bislang Liberalisierungszugeständnisse gemacht. Konkret bedeutet dies, dass sich die meisten Länder Ausnahmen vom Grundsatz der Meistbegünstigung (Art. II GATS) ausbedungen haben und keine spezifischen Verpflichtungen hinsichtlich der Grundsätze des Marktzugangs und der Inländerbehandlung (Art. XVI, Art. XVII GATS) eingegangen sind.30 Insoweit spricht man von einer de facto-Ausnahme oder einem carve-out zu Gunsten des audiovisuellen Sektors. Die USA, wie auch Japan und einige andere Mitglieder, wie eingangs bereits erwähnt, betrachten die audiovisuellen Medien jedoch primär als Wirtschaftsgut und drängen auf Liberalisierungen. Noch ist die Gemeinschaft, die bei den Verhandlungen durch die Kommission vertreten wird, standhaft und beteuert ihre Entschlossenheit, den Status Quo zu verteidigen. Selbst innerhalb der Mitgliedstaaten wird jedoch zuweilen bereits der Ruf laut, zumindest Teilbereiche, etwa Online vertriebene Musik, zu öffnen. Von einer Marktabschottung kann indes schon heute keine Rede sein. Um sich hiervon zu überzeugen, bedarf es nur eines Blick in die deutsche Kinolandschaft, die beherrscht wird von Produktionen aus Hollywood, und eines Hineinhörens in die täglichen Charts, die ebenfalls von US-amerikanischen Titeln dominiert werden. Ist einmal die Liberalisierung in Gang gesetzt, der Damm gleichsam gebrochen, so wird es auf internationaler Ebene zunehmend schwerer fallen, das europäische audiovisuelle Modell noch zu verteidigen. Die andere große Gefahr besteht in der Natur der Verhandlungen. Es gilt das Prinzip des Gesamtpaketes: „Nothing is agreed before everything is agreed“. So könnten die Europäer, um ihre Agrarwirtschaft, an der der Erfolg

30 Meistbegünstigung bedeutet, dass ein Staat die günstigsten Bedingungen, die er einem Staat gewährt, auch allen anderen Staaten zu teil werden lassen muss, Marktzugang bedeutet vor allem die Abwesenheit von Marktzugangsbeschränkungen durch Quoten, Kontingentierungen oder anderen vor allem quantitativen Beschränkungen, Inländerbehandlung bedeutet, dass ausländische Dienstleister und Dienstleistungen nicht schlechter behandelt werden dürfen als die heimischen.

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der gesamten Handelsrunde hängt, vor einer weiteren Liberalisierung zu wahren, in letzter Minute also doch bereit sein, den audiovisuellen Sektor gleichsam als „Bauernopfer“ zugunsten einer erfolgreichen Beendigung der Verhandlungsrunde hinzugeben. Sollte es tatsächlich dazu kommen, so könnte die einleitend erwähnte UNESCO Konvention an Bedeutung gewinnen oder, anders ausgedrückt, in einem Konfliktfall erstmals ihre etwaige Bedeutung überhaupt unter Beweis stellen. Dieses Abkommen gilt allein für (i.w.S.) kulturelle Güter und Dienstleistungen und soll deren Besonderheiten Rechnung tragen. Es soll die internationale Kooperation und den Austausch kultureller „Produkte“ zwischen den Mitgliedern fördern. Zum anderen erkennt das Abkommen die jeweils nationalen kultur- und medienpolitischen Maßnahmen eines Mitglieds als legitim an (hierzu vor allem Art. 6 der Konvention). Anderweitige internationale Verpflichtungen sind zu respektieren, wobei die Unterzeichnerstaaten sich zugleich verpflichten, die Ziele des Abkommens bei der Anwendung und Auslegung dieser sonstigen internationalen Verpflichtungen sowie auch bei diesbezüglichen zukünftigen Verhandlungen zu berücksichtigen (Art. 20 der Konvention). Letzteres ist eine Premiere im internationalen Recht: Das Verhältnis der Konvention gegenüber anderen internationalen Abkommen – damit sind insbesondere GATT und GATS gemeint – ist danach durch ein dynamisches Gleichgewicht geprägt. Zum einen werden die Regeln des Völkerrechtes (pacta sunt servanda) bekräftigt, zum anderen wird die Konvention innerhalb der Normenhierarchie auf gleiche Stufe mit anderen Verträgen gestellt. Das Novum im internationalen Recht ist, dass die – nach langem Ringen gefundene – Kompromissformel auf gegenseitige Unterstützung, Ergänzung und Gleichrangigkeit, nicht aber auf Unterordnung, Normenhierarchie und Konflikt abstellt. Nicht wirklich überraschend ist, dass sich allein die US-amerikanischen Partner und Israel vehement gegen die Konvention gestellt hatten: Bei der Konvention gehe es letztlich nicht um die Förderung des freien Flusses von Ideen, sondern um Handelsfragen. Der Text überschreite daher das Mandat der UNESCO. Recht und Verpflichtungen aus „anderen internationalen Abkommen“ könnten verletzt werden und die Erwartung, die Verhandlungsrunde zur Liberalisierung des Welthandels erfolgreich zu beenden, werde gefährdet …

VI. Ausblick Audiovisuelle Medien, Kultur versus Kommerz? André Malraux hatte dazu bereits 1939 treffend festgestellt: „Wenn die Kultur Kunst ist, ist sie gleichermaßen auch eine Industrie“. Zu der exeption

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culturelle, also der vielzitierten kulturellen Ausnahme, hieß es in Anlehnung an Malraux später, diese postuliere danach, dass, wenn die Kultur eine Industrie sei, sie gleichwohl Kunst bleibe.31

31 S. hierzu Tinel Abode, „Qu’est-ce que l’exception culturelle?“ Revue du Marché commun et de l’Union européenne, 2000, S. 78, Fn. 1.

Das Bild der Juristen in den Opern von Mozart – da Ponte Manfred Schiedermair

1. In den letzten 400 Jahren sollen etwa 60.000 Opern geschrieben worden sein. Bei weitem nicht alle haben Premieren erlebt 1. Auf den heutigen Spielplänen haben sich etwa 300 behauptet, also 1/2 Prozent. Zwar soll es die ersten Opern schon in Italien zu Zeiten der Medici (Ende des 16. Jahrhunderts) gegeben haben, doch ihre Blüte erlebte die Oper erst seit dem 18. Jahrhundert. Trotz Monteverdi und Gluck gelten die Opern Mozarts noch immer als Höhepunkte dieses Kunstzweiges. Unter Musikern wird seine Oper Don Giovanni häufig als „Oper der Opern“ bezeichnet. In den Partituren sind die Juristen vor allem als Notare, zuweilen auch als Richter, vertreten. Sie haben immer relativ unbedeutende Rollen 2 und werden meist karikierend dargestellt 3. Sie stolpern stotternd über die Bühne, ihr Verhalten ist meist kriecherisch und ihre Argumente zwar logisch, aber spitzfindig und weltfremd. Rechtsanwälte finden wir in Opern sehr selten 4. Professionelle Theater gibt es in Europa erst etwa seit Mitte des 16. Jahrhunderts. In Italien war es die Zeit der Commedia dell’ Arte, in der die ersten professionellen Theatergruppen gegründet wurden 5. In dieser Zeit wurde zwischen ihren Figuren und denen der in der höfischen Mode populären Gruppe der Dilettanti, die die klassische römische Komödie von Plautus und Terenz wieder beleben wollten, unterschieden. Als Commedia dell’ Arte werden nicht nur Lustspiele, sondern insgesamt professionelle Theaterauf1 Vgl. hierzu Frischknecht, Zeitschrift für das Notariat in Baden-Württemberg (BWNoTZ) 1997, S. 49ff. 2 Eine Ausnahme ist die Figur des Rienzi bei Wagner, der aber eher zufällig gerade diesen Beruf ausübt, und als Held und Freiheitskämpfer auftritt. 3 Vgl. im einzelnen A. J. Burgess The Notary in Opera, Jardine Press 1995, S. 17ff. 4 Im „Intermezzo“ von R. Strauß etwa gibt es neben dem Notar, der aber anwaltliche Tätigkeit ausübt, auch einen Oberjustizrat, der vor allem beim Skatspiel geschildert wird. In „Der junge Lord“ von H. W. Henze hat die Rolle eines Oberjustizrates immerhin einige Bedeutung. In der Commedia del Arte spielt der Jurist, der „Dottore“, immer eine ziemlich klägliche Rolle. 5 Simhandl, Theatergeschichte in einem Band, Henschel-Verlag Berlin, 1996, 2. Aufl., S. 69ff.

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führungen in dieser Zeit bezeichnet. Sie war das Theater der kleinen Leute, aufmüpfig gegen die herrschende Aristokratie, und hatte einen festen Grundbestand von Figuren. Vorführungen gab es zunächst vor allem im venezianischen Karneval, später auch in Florenz 6. Eine der Grundtypen war der „Dottore“, manchmal ein Arzt, meist ein Jurist. Er hatte immer ein ähnliches Kostüm, eine Halbmaske vor den Augen und rosige Backen vom reichlichen Alkoholgenuss, während die „positiven Figuren“ ohne Masken auftraten. Der „Dottore“ hat „alles studiert und nichts begriffen“ 7. Der „Dottore“ stammt aus der Universitätsstadt Bologna, er hält lange, mit lateinischen Zitaten gewürzte, Vorträge, die zwar den Gesetzen der Logik entsprechen, aber keinerlei Sinn ergeben. Der Grund mag darin liegen, dass für die gesellschaftskritische Commedia dell’ Arte die Juristen als Verteidiger aristokratischer Herrschaftsansprüche galten, die kriecherisch die Interessen der Obrigkeit durchsetzten und deren Rechtsansprüche, so abwegig sie auch sein mochten, scheinbar rational und logisch begründeten. Die Entwicklung im elisabethanischen Theater Englands war anders. Im „Kaufmann von Venedig“ etwa tritt Porzia als Rechtsgelehrter verkleidet auf, und zwar in der Rolle eines klugen jungen Juristen aus Padua, einer anderen berühmten Universitätsstadt. Obwohl sie insgesamt betrügerisch handelt, ist ihr dies gerade dadurch möglich, dass die Figur, als die sie sich ausgibt, eine durchaus unanfechtbare Autorität genießt. Beaumarchais als vorrevolutionärer französischer Autor und da Ponte als Italiener fühlten sich dem sozialkritischen Theater der Commedia dell’ Arte natürlich mehr als dem vergleichsweise staatstreuen elisabethanischen Theater verpflichtet. Gleiches gilt für Mozart. Im Frühjahr 1783 hat er zum Fasching mit Freunden eine Komödie im Stil der Commedia dell’ Arte improvisiert aufgeführt, in der er selbst den Harlequin und seine Schwägerin die Columbine gespielt haben. Die Pantomime mit Musik stammte von ihm.8 Die Noten wurden offenbar nicht aufgeschrieben. Sie sind deshalb unbekannt. Da Ponte insbesondere hatte mit den Juristen sowohl in Venedig als auch später in Wien sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Er musste Venedig zweimal verlassen, weil ihm Gerichtsverfahren wegen Gottlosigkeit (er habe Freitags Fleisch gegessen und die Sonntagsmesse nicht regelmäßig besucht) drohten. Von der drohenden Verurteilung erfuhr er durch ein Mitglied des Gerichts, mit dem er persönlich befreundet war 9. Seine Position als Professor hatte er wegen aufrührerischer Äußerungen aufgrund einer Entscheidung des 6

Simhandl, a.a.O., S.72. Simhandl, a.a.O., S. 72. 8 Brief Mozarts vom 12.08.1783 an seinen Vater Leopold Mozart. 9 Lorenzo da Ponte, Geschichte meines Lebens, Memoiren eines Venezianers, Tübingen, Rainer-Wunderlich-Verlag, 1960, S. 72. 7

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Polizeigerichts, vor dem er nicht gehört worden war, bereits verloren 10. Auch aus Wien musste er später (1792), bei Hof in Ungnade gefallen, vor seinen Gläubigern und ihren Juristen fliehen. 2. a) Wenn wir uns mit der Rolle der Juristen in „Figaros Hochzeit“ und „Cosi fan tutte“ befassen, heißt dies, dass wir uns den Texten zuwenden, die da Ponte geschrieben hatte. Da Ponte hatte noch ein weiteres Libretto für Mozart geschrieben, nämlich die Oper „Don Giovanni“, in der aber kein Jurist vorkommt. Die Anregung, eine Komödie von Beaumarchais, „Ein toller Tag“, als Opernlibretto zu bearbeiten, hatte er allerdings von Mozart erhalten 11. Beaumarchais’ Komödie hatte starke gesellschaftskritische Elemente. Er gilt – wie gesagt – als „vorrevolutionärer“ Autor. Auf den Text hat Mozart allenfalls aus künstlerischen Gründen Einfluss genommen. Die geplante Aufführung des „Figaro“ in Wien war für da Ponte und Mozart durchaus mit einigem Risiko verbunden. Die Aufführung der dem Libretto zugrunde liegenden Komödie durch eine deutsche Theatergruppe, die ausgerechnet unter der Leitung des späteren Librettisten der „Zauberflöte“ Schikaneder stand, war durch die kaiserliche Zensur bereits verboten worden. Dies kann kaum verwundern. Die Premiere des „Figaro“ fand 1786 statt, der Sturm auf die Bastille, der Stichtag für den Beginn der französischen Revolution, lag im Jahre 1798, also 12 Jahre später. In Wien war man sich der beginnenden Unruhen in Frankreich aber durchaus bewusst und fürchtete selbst gesellschaftliche Auseinandersetzungen. Da Ponte hoffte dennoch, den Kaiser mit der fertigen Oper davon überzeugen zu können, dass diese „anständig“ sei und keine aufrührerischen Elemente enthalte. Dies gelang auch. Mozart wurde – so da Ponte 12 – zum Kaiser bestellt, um ihm aus der Partitur vorzuspielen. Kaiser Joseph II. soll sehr angetan gewesen sein. Die Arbeiten am Figaro – also Text und Musik – wurden laut da Ponte innerhalb von 6 Wochen durchgeführt und abgeschlossen 13. Die Premiere fand am 1. Mai 1786 statt. Noch im April hatte der Vater Mozarts, Leopold Mozart, an seine Tochter Nannerl geschrieben, dass er wegen der Wiener Intrigen die Premiere gefährdet sehe. Dennoch wurde der Figaro ein Erfolg. Anscheinend war der Kaiser von dieser Oper besonders angetan. Auch der in Wien hoch angesehene Dichter Casti und Mozarts Konkurrent Salieri 14 konnten an dem Gesamterfolg nichts ändern. 10

Da Ponte, a.a.O. S. 64. Diese Information stammt von da Ponte selbst. a.a.O. S. 112. 12 Da Ponte, a.a.O. S. 113. 13 Da Ponte, a.a.O. S. 112. 14 Da Ponte hatte auch Libretti für Salieri geschrieben. Das erste kurz nach seiner Ankunft in Wien. Der Erfolg war allerdings mäßig (da Ponte, a.a.O., S. 105). 11

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b) Die Premiere von „Cosi fan tutte“ fand am 26.01.1790 im Burgtheater in Wien statt. Im Gegensatz zu „Figaros Hochzeit“, einer Oper, die Kaiser Joseph II. sehr schätzte, war ihr kein großer Erfolg beschert. Es fanden in Wien insgesamt zehn Aufführungen statt, fünf zu Lebzeiten Josephs II. und fünf weitere während der Regentschaft Leopolds II., die nur von 1790 bis 1792 dauerte. Die Einwände gegen die Oper waren vor allem moralischer Natur. Es gab zwar das Gerücht, dass Kaiser Joseph II. selbst auf den Inhalt der Oper eingewirkt habe, die auf einer angeblich wahren, in Wien kolportierten Begebenheit beruhe, doch hielten die meisten Kritiker und Kollegen die Oper für zynisch und moralisch anfechtbar. Beethoven schrieb in einem Brief: „Opern wie Don Juan (Don Giovanni) und Cosi fan tutte könnte ich nicht komponieren … Ich hätte solche Stoffe nicht wählen können: Sie sind mir zu leichtfertig.“ Richard Wagner seinerseits war der Auffassung, dass für Mozart nichts charakteristischer sei, als „die unbesorgte Wahllosigkeit“ – gemeint waren seine Libretti – mit der er gearbeitet habe. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war die moralische Entrüstung über die Oper weit verbreitet. Dazu mag vielleicht auch der Ruf da Pontes als Zyniker und Lebemann beigetragen haben, der – wie gesagt – Wien 1792 fluchtartig hatte verlassen müssen. „Cosi fan tutte“ war die letzte italienische Oper, in der Mozart und da Ponte zusammen arbeiteten. Sie stand am Ende des musikalischen Barocks. Nietzsche schrieb hierzu: „Die ‚gute alte‘ Zeit ist dahin, in Mozart hat sie sich ausgesungen.15 „Cosi fan tutte“ war also die letzte typische Barockoper und die vorletzte Oper in italienischer Sprache, die Mozart komponiert hat. Die italienische Oper „Titus“ mit einem Libretto von Metastasio wird im allgemeinen schon mehr der Zeit des Empire zugeordnet. Das Werk war eine Auftragsarbeit und von Mozart selbst nicht sehr geschätzt. Im „Figaro“ und in „Cosi fan tutte“ schufen Mozart und da Ponte Opern, die in Text und Musik individuelle Charaktere und diffizile menschliche Gefühle nachgestalteten 16. In der Geschichte der Oper leitete dies eine ganz neue Entwicklung ein 17. Mit der Zauberflöte (1791) gelang Mozart dann die Erfüllung eines schon frühen Wunsches, eine deutsche Nationaloper zu komponieren. Anfang des 19. Jahrhunderts waren Publikum und Kritik moralisch viel rigider als im 18. Jahrhundert, in vielen Bereichen eine Zeit des Aufbruchs und Umbruchs, die in der französischen Revolution ihren Höhepunkt fand. Mit dem Jahre 1815, dem Wiener Kongress unter Führung des österreichischen Politikers Graf Metternich, begann gerade in Österreich eine Rück15 Nietzsche, „Jenseits von Gut und Böse“ Aphorismus 245. Friedrich Nietzsche, Werke in 3 Bänden, Carl Hanser Verlag München 1996, Bd. 2, S. 711. 16 L. Schiedermair, Die deutsche Oper, Quelle u. Meyer Leipzig 1930, S. 154. 17 L. Schiedermair, a.a.O. S. 177.

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wendung zur Monarchie und der christlichen Moral, was im Bereich der Kunst zu einer moralistischen Zensur führte. Eine Oper wie „Cosi fan tutte“, die vom Geiste der Vernunft und einem resignierten Verhältnis zur Liebe, deren Vergänglichkeit und Brüchigkeit dargestellt wird, getragen ist, hat man mit Misstrauen angesehen. Erst etwa seit dem 20. Jahrhundert gilt gerade „Cosi fan tutte“ als vielschichtiges Werk, das einen Einblick in menschliche Gefühle, Leidenschaften und Schwächen gibt. Obwohl die Oper die Vergänglichkeit der menschlichen Liebe zum Gegenstand hat, sind die musikalischen Liebeszenen von Mozart in wunderbarer Leichtigkeit und Innigkeit komponiert. Während dies in der Zeit der Entstehung der Oper und auch noch im 19. Jahrhundert als widersinnig oder gar zynisch erschien, sehen wir heute gerade darin, dass die Liebe als wirklich und gleichzeitig als ganz unstabil und brüchig dargestellt wird, keinen Widerspruch mehr, sondern ein Sinnbild der menschlichen Natur. Eines der schönsten Liebesgedichte der Gegenwart „Die Liebenden“ von Bertolt Brecht endet mit den Zeilen: „Ihr fragt, wie lange sind Sie schon beisammen? Seit kurzem. – Und wann werden Sie sich trennen? – Bald. So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.“ 18

Tatsächlich ist das Libretto von „Cosi fan tutte“ für unser heutiges Verständnis keineswegs zynisch. Es ist vom Verstehen der menschlichen Natur und einem melancholischen Realismus geprägt. 3. a) In „Figaros Hochzeit“ erleben wir den Auftritt eines Juristen in der 6. Szene des 3. Aktes. Der Gang der Handlung stellt sich in dieser Szene kurz zusammengefasst wie folgt dar: Graf Almaviva möchte die Hochzeit Susannens mit Figaro jedenfalls solange verhindern, bis er Susanne verführt hat. Auf sein ihm von Beaumarchais unterstelltes Recht des „jus primae noctis“ 19 hatte er bereits – die Zeiten hatten sich geändert – öffentlich verzichtet. Die Bediensteten Marcellina und Basilio hatten dem Grafen eine Schuldurkunde vorgelegt, in der Figaro sich verpflichtet hatte, einen ihm von Marcellina in früherer Zeit gewährten Kredit zurückzuzahlen oder aber sie zu heiraten. Figaro und Susanne konnten diese Summe offenkundig nicht aufbringen. Der Graf veranstaltete daraufhin eine Art Gerichtsverfahren, zu dem er den Richter Curzio bestellte, um den rechtlich nicht in Frage gestellten Anspruch Marcellinas auf Eheschließung mit Figaro durchzusetzen. Die grundsätzliche

18 Bertolt Brecht, „Die Liebenden“, Gedichte über die Liebe, Suhrkamp-Verlag 1984, S. 141. 19 Es ist sehr fraglich, ob das jus primae noctis jemals wirklich existiert hat. Beaumarchais unterstellt es jedenfalls unter gesellschaftskritischen, vorrevolutionären Gesichtspunkten. In der Zeit der Niederschrift des „Ein toller Tag“, gab es dieses angebliche Recht mit Sicherheit nicht mehr (vgl. hierzu etwa Alain Boureau, Das Recht der ersten Nacht, Artemis Verlag Düsseldorf 1996.

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Zulässigkeit einer solchen Vereinbarung stand dabei bei keiner der Parteien zur Debatte. Das Vorhaben des Grafen scheiterte allerdings, weil sich herausstellte, dass Marcellina, die Klägerin, Figaros Mutter war. Der zugezogene Richter Curzio ist eine typische Commedia dell’ ArteFigur. Er verhält sich kriecherisch, devot, stottert und ist erkennbar bestechlich. Ihm wird zunächst eröffnet, dass es bei der vorliegenden Klage um einen Kredit mit Eheversprechen gehe. Er erklärt stotternd: CURZIO Ich ver-stehe sehr wohl. Sie wi-will ihr Geld wiederhaben. MARCELLINA Nein, mein Herr! ich will, dass er mich heirate. CURZIO Nun gut! Ich verstehe vollkommen; wi-will er Sie aber heiraten? MARCELLINA Nein, mein Herr, darin besteht ja eben meine Klage. CURZIO Glaubt Sie, dass ich Sie nicht ver-verstehe, die Klage? MARCELLINA Nein, mein Herr! zu Bartolo Da kommen wir schön an. zu Curzio Sie sind also Richter in der Sache? CURZIO Wozu hätte ich denn sonst mein Amt gekauft? MARCELLINA Es ist gar nicht gut, dass dergleichen käuflich ist! CURZIO Freilich. Man täte besser, es umsonst zu geben! Gegen wen führt Sie denn Klage? MARCELLINA Gegen den Bösewicht Figaro da. FIGARO für sich Da ist ja die ganze saubere Rotte beisammen! laut Ich störe Sie doch nicht? Mein Herr Richter, der Herr Graf wird gleich hier sein.

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CURZIO Ich habe den Menschen irgendwo gesehen. FIGARO In Sevilla bei Ihrer Frau Gemahlin, zu Ihren Diensten. CURZIO Ist es schon lange? FIGARO Etwas weniger als ein Jahr vor der Geburt Ihres jüngsten Sohnes. CURZIO Das ist ein recht hübsches Kind, des kann ich mich rühmen. FIGARO Es freut mich, wenn es Ihnen gefällt. CURZIO Ja, es ist das hübscheste von allen. Wie ich höre, so machst du hier artige Streiche? FIGARO Nichts als Kleinigkeiten! CURZIO Ein Eheversprechen eine Kleinigkeit? Er wird bald sehen, ob das eine Kleinigkeit ist. – Ah! Der Herr Graf! GRAF zu Curzio Nun, Herr Richter, zur Sache. Haben Sie alles erwogen? Wollen Sie jetzt das Urteil sprechen? CURZIO Ja, da-das Urteil will ich kurz sprechen: – Fi-Figaro muss bezahlen oder heiraten. Offenbar hatte Figaro früher einmal mit der Ehefrau des Curzio ein Kind gezeugt, was aber offenbar niemanden störte. b) In den meisten Inszenierungen wird diese Szene stark verkürzt. Der Richter Curzio tritt kurz auf und ist bereit, ein Urteil zu Lasten Figaros zu verkünden, ohne sich mit dem Gegenstand des Prozesses weiter zu befassen. Es schließt sich danach die Szene zwischen der Klägerin Marcellina und Figaro an, in der sich ergibt, dass diese Figaros Mutter ist. Die Szene endet dann mit einem zauberhaften Sextett. Die Äußerungen Curzios über sein Richteramt werden in den meisten Inszenierungen gestrichen, was sich auch daraus rechtfertigt, dass sein Auftritt

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Manfred Schiedermair

musikalisch ganz belanglos ist. Dies ist kein Zufall. Der stotternde korrupte Richter wird von Mozart auch musikalisch äußerst stiefmütterlich behandelt. Es wäre auch seltsam, wenn eine so unglückliche Figur mit einer schönen Arie glänzen sollte. Unterstellt wird im Libretto jedenfalls die Käuflichkeit und die völlige Verfügbarkeit des Richters für die Wünsche seines Auftraggebers, des wohlhabenden Aristokraten. Wenn es eine solche Möglichkeit im Wien des 18. Jahrhunderts gar nicht gegeben hätte, wäre die Käuflichkeit des Richteramtes wohl kaum so kommentarlos unterstellt worden. Marcellina sagt zwar, dass ein solches nicht käuflich sein sollte und Curzio pflichtet ihr darin sogar bei, aber nur, weil er für ein nicht sonderlich bedeutendes Amt aus eigener Tasche offenbar viel zahlen musste. Nicht zuletzt derartige Szenen hatten die Zensur denn auch dazu veranlaßt, die Aufführung des Theaterstücks von Beaumarchais zu verbieten. Die Oper kam nur zur Aufführung, weil Kaiser Joseph II. sie ausdrücklich genehmigte. Das lag einmal daran, dass er zu da Ponte, der zu dieser Zeit den Titel eines Hoftheaterdichters führen durfte, und zu Mozart, dessen Musik er schätzte, gute Beziehungen unterhielt. Das folgt schon daraus, dass er da Ponte und Mozart in dieser Angelegenheit persönlich empfing. Joseph II. konnte gesellschaftskritischen Äußerungen dieser Art aber auch deshalb zustimmen, weil er selbst der Aufklärung verpflichtet war, und streng und integer regierte. Er war ein entschiedener Gegner der Korruption mit an sich vergleichsweise liberalen Ansichten, die er aber höchst bürokratisch und autoritär zu verwirklichen versuchte. In der Figur des Curzio wird im Übrigen nicht nur die Käuflichkeit der Juristen bzw. des Richteramts demonstriert, sondern ebenso die Verklemmtheit des Richters (Curzio stottert) und seine Weltfremdheit. Die Tatsache, dass Curzios „schönstes Kind“ offenbar von Figaro gezeugt wurde, ist ihm nicht aufgefallen, was auch auf seine verkümmerte Intelligenz hindeutet. Der Beginn der Szene zeigt, dass er den Gegenstand der Klage gar nicht begriffen hat. Dies scheint ihm aber auch ziemlich gleichgültig zu sein, weil er ohnehin so entscheiden wird, wie der Graf es ihm aufgetragen hat. Kurzum: Der Richter ist in „Figaros Hochzeit“ ein verklemmter, charakterloser Trottel. 4. a) In „Cosi fan tutte“ tritt ein Notar auf 20. In der Szene seines Auftritts geht es kurz um folgendes: Die beiden Offiziere Guglielmo und Ferrrando wollen die Treue ihrer Verlobten prüfen und verkleiden sich als Türken. Jeder versucht in dieser Verkleidung, die Verlobte des Anderen zu verführen. Dies gelingt. Es wird am Ende ein Notar bestellt, der die Eheschließung der beiden Damen mit den Türken beurkunden soll. Das Hausmädchen Despina ist

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2. Akt, 17. Szene.

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der verkleidete Notar. Vor endgültiger Unterzeichnung wird die Maskerade aufgedeckt und die jeweiligen Verlobten versöhnen sich. b) Despina muss, um echt zu wirken, wie ein Notar auftreten, so dass ihr Auftritt auch die Vorstellung der Beteiligten von Art und Funktion eines Notars widerspiegelt. Auch Despina ist als Notar eine typische Commedia dell’ Arte-Figur. Im Text des Librettos findet sich für ihren Auftritt die Regieanweisung: „näselnd“. Musikalisch ist ihr Auftritt gänzlich belanglos und monoton in „a“ komponiert. In ihrer normalen Rolle als Dienstmagd singt sie dagegen eine sehr schöne Arie 21. In den traditionellen Inszenierungen tritt Despina als Notar auch in einem typischen Kostüm der Commedia dell’ Arte auf. Ihr lächerlicher Auftritt soll ihre Rolle als Jurist gerade überzeugend machen. In der Opera buffa und in den Komödien des 18. Jahrhunderts treten die nicht karikierten Figuren gewöhnlich in der Kleidung ihrer Zeit auf. In „Cosi fan tutte“ und „Figaros Hochzeit“ waren die Juristen dagegen verkleidet, und zwar in einer für den normalen Bürger albernen Art. In „Cosi fan tutte“ ist die Szene mit der als Notar verkleideten Despina der dramatische Höhepunkt der Oper. Die lächerliche Figur des Notars erscheint in einer Szene, die scheinbar komisch ist, in Wahrheit aber den traurigen Beweis der Unvollkommenheit menschlicher Liebe darstellen soll. Die Zeitgenossen empfanden gerade diese Szene daher auch als besonders anstößig, machte sie doch die Eheschließung zu einer Farce. 5. Wir sehen also, dass „wir Juristen“ bei Mozart und da Ponte eine ziemlich trostlose Reputation haben. Beide hatten aber nicht das Vergnügen, einen Juristen wie unseren Jubilar kennenzulernen. Möge er darum mit Stolz und Vergnügen die beiden Opern, von denen hier die Rede war, genießen.

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2. Akt, 1. Szene.

Rechtsfragen der Verbreitung von Rundfunk in IP-basierten Netzwerken (DSL) Karola Wille Inhaltsübersicht I. II. III. IV. V.

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . DSL-Netze in technischer Hinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Anwendbarkeit des § 52 RStV auf DSL-Netze . . . . . . . . . . Zugangsregelungen gemäß § 53 RStV . . . . . . . . . . . . . . . . . . Urheberrechtliche Fragen der Weiterverbreitung von Rundfunk über DSL-Netze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einführung Neben die klassischen Verbreitungswege für Rundfunk (Kabel, Satellit, Terrestrik) tritt durch technische Weiterentwicklungen jetzt ein weiterer Übertragungsweg – die digitale, IP-basierte Verbreitung über das Telefonfestnetz (DSL) 1. DSL bietet den Nutzern vielfältige Möglichkeiten. Es können klassische Programme aber auch Video on demand oder andere interaktive Dienste empfangen werden.2 Über dieses Verbreitungsmedium sollen künftig sowohl Telekommunikationsdienste als auch Rundfunkangebote übertragen werden. Eine Punkt-zu-Punkt-Netzwerkverbindung und ein permanent vorhandener Rückkanal ermöglichen neue Dienste. Im Jahre 2006 starten die ersten Testprojekte von Programmveranstaltern mit DSL-Providern zur Übertragung von Rundfunkinhalten.3 Experten prognostizieren ein schnelles Wachstum dieses Verbreitungsmediums. In zahlreichen europäischen Ländern hat sich Fernsehen über Telefonleitungen als weiterer Übertragungsweg für Rundfunk bereits durchgesetzt.4 In Deutsch1

DSL ist die Abkürzung für Digital Subscriber Line. TV Zukunft, Deutsche TV-Plattform 1/06, S. 2. 3 Zu Beginn des Jahres 2006 haben sowohl die großen kommerziellen Sendergruppen als auch die öffentlich-rechtlichen Veranstalter ARD und ZDF erste Verträge über eine testweise Weiterverbreitung ihrer Programme in DSL-Netze geschlossen. 4 Vgl. Digitalisierung – Veränderung und Prognosen aus Sicht des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, Goldhammer Goldmedia GmbH, Mediaconsulting und Research, S. 30. 2

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land wird prognostiziert, dass im Jahre 2010 etwa 1,3 Mio. Nutzer über DSL Fernsehen empfangen. Dabei sind die DSL-Netze bereits heute schon vielerorts IP-tauglich und die Entwicklung verläuft schneller als noch in 2004 erwartet.5 Diese Entwicklungen werfen verschiedene rundfunkrechtliche, telekommunikationsrechtliche und urheberrechtliche Fragestellungen auf, die im Folgenden einer näheren Betrachtung unterzogen werden sollen.

II. DSL-Netze in technischer Hinsicht In den letzten Jahren haben Fortschritte in der Technik den Breitbandinternetzugang über DSL per Telefonfestnetzleitung erschlossen. So ermöglicht die ADSL-Technik die Übertragung von digitalen Fernsehsignalen zusätzlich zum Breitbandinternetzugang über vorhandene Telefonleitungen in die Haushalte. Die kodierten Programmsignale werden mit dem Paket orientierten Internetprotokoll (IP) vom Netzbetreiber weiterverbreitet und über so genannte Multicast-Adressen einem Teilnehmerkreis zugänglich gemacht. Damit der Teilnehmer Zugang zu den Programmsignalen erhalten kann, meldet er sich beim DSL-Provider an und bekommt nach Freischaltung der IP-Datenpakete per ADSL diese in seinen Haushalt übertragen. Die für den Fernsehempfang notwendige IP-Settop-Box, die mit dem Fernsehgerät verbunden wird, ermöglicht den Empfang über Fernseher. Grundsätzlich kann aufgrund der Verwendung des Internetprotokolls das IP-Fernsehsignal auch mit einem PC oder Laptop empfangen werden. Aufgrund der technischen Entwicklungsstufe können derzeit nur etwa ein bis zwei digitale Fernsehprogramme in guter Bildqualität gleichzeitig an einen DSL-Haushalt übertragen werden. Die unabhängige Auswahl von Programmen auf mehreren Fernsehgeräten parallel bleibt im Gegensatz zu dem DVB-Übertragungssystem kurz- bis mittelfristig problematisch. Im Übrigen setzt die DSL-Weiterverbreitung einen jederzeit verfügbaren Rückkanal voraus, über den das TV-Programm vom Nutzer abgerufen wird. Dies impliziert eine Authentifizierungsmöglichkeit des Nutzers für den DSLProvider, da Authentifizierungen auf der Basis des Internetprotokolls erfolgen können. Für die rechtliche Einordnung der Verbreitung von Rundfunkinhalten mittels IP über DSL-Netze ist auch von Relevanz, dass IP-TV über kontrollierte Netzwerke verteilt wird. Die Rundfunkinhalte verbleiben in dem vom DSL-Provider kontrollierten Netzwerk.

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A.a.O. S. 24.

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Einen weiteren Unterschied zur PC-TV (Fernsehen über PC) stellt der schnelle Kanalwechsel und die daraus sich ergebende Möglichkeit einer sofortigen Verfügbarkeit der Inhalteangebote dar. PC-TV ermöglicht hingegen erst nach längerer Zwischenspeicherzeit eine entsprechende Verfügbarkeit.6 Dadurch beschleunigt IP-TV über DSL auch die Akzeptanz von IPNetzen für TV-Anwendungen und die Einführung sowie Entwicklung neuer TV-Netz- und Serviceplattformen.7

III. Die Anwendbarkeit des § 52 RStV auf DSL-Netze Auf Grund der technischen Eigenschaften sind DSL-Netze geeignet, Rundfunk zu übertragen und die Rundfunksignale zeitgleich, vollständig und unverändert weiter zu verbreiten.8 Insofern kann davon ausgegangen werden, dass die Übertragung über DSL-Netze eine Weiterverbreitung darstellt. Daraus ergibt sich die Frage, ob und inwieweit die Bestimmungen über die Weiterverbreitung in § 52 RStV Anwendung finden können. Die rundfunkstaatsvertraglichen Weiterverbreitungsregelungen knüpfen an das Verständnis der Weiterverbreitung von Rundfunkprogrammen als rundfunkrechtlich relevanter Vorgang an.9 Da das Normziel der Rundfunkfreiheit, die Sicherstellung einer freien individuellen und öffentlichen Meinungsbildung, nicht nur durch die Veranstaltung, sondern auch durch eine Weiterverbreitung von Inhalten verfehlt werden kann, ist der Gesetzgeber jedenfalls für die Weiterverbreitung von Rundfunkprogrammen in Kabelnetzen verpflichtet, ein Mindestmaß an inhaltlicher Ausgewogenheit zu gewährleisten und zu sachgemäßer, umfassender und wahrheitsgemäßer Information zu verpflichten.10 Wie der Gesetzgeber diese verfassungsrechtliche Vorgabe umsetzt, kann er im Rahmen seines Gestaltungsspielraumes entscheiden. Für die Verbreitung in Kabelanlagen hat der Gesetzgeber unterschiedliche Modelle entwickelt.11 Die Weiterverbreitung in digitalisierten Kabelanlagen

6 R. Schäfer, IP-TV: „Ein neues Verbreitungsmedium“, Deutsche TV-Plattform, Symposium 2006, Berlin, Page No. 8. 7 A.a.O. 8 Beispielsweise sehen die technischen Anforderungen von ARD und ZDF an die Übertragung ihrer Angebote in DSL-Netzen vor, dass die Angebote zeitgleich, inhaltlich unverändert und vollständig zu übertragen sind. 9 Vgl. Beschluss der Ministerpräsidenten vom 04.02.1983 zur Weiterverbreitung von Hörfunk- und Fernsehprogrammen in Kabelanlagen, abgedruckt bei: Ring, Wolf-Dieter Medienrecht, (Rundfunk, Neue Medien, Presse, Technische Grundlagen, Internationales Recht), Heidelberg/ München 1999. 10 Vgl. BVerfGE 57, 295 (321); 87, 181 (198). 11 Wille, Karola/Schulz, Wolfgang/Fach-Petersen, Cornelia in Beckscher Kommentar

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wurde bundesweit einheitlich in § 52 Abs. 2–4 RStV geregelt.12 Voraussetzung für die Anwendung dieser Bestimmungen ist, dass sich der Betreiber einer Kabelanlage für die Weiterverbreitung von Rundfunkprogrammen oder vergleichbarer Telemedien entscheidet. Ausgeschlossen ist somit eine Geltung der digitalen Weiterverbreitungsregularien, wenn die Übertragung gänzlich anderer Dienste durch den Netzbetreiber vorgesehen ist.13 Grundsätzlich ist es das Ziel der Regelung in § 52 RStV zu verhindern, dass für die Meinungsbildung relevante Angebote durch den Provider keine Berücksichtigung finden und so Gefährdungen für die Meinungsvielfalt entstehen. Dabei kommt es entscheidend sowohl auf die technische Belegung als auch auf das Angebot des Netzbetreibers an. Allerdings muss das Angebot zumindest auch die Verbreitung von Rundfunk oder vergleichbaren Telemedien beinhalten. In diesen Fällen wird grundsätzlich von einer Verbreitung im Sinne des § 52 RStV ausgegangen. Für die Anwendbarkeit des § 52 RStV kommt es des Weiteren darauf an, dass es sich um „den Betrieb einer Kabelanlage“ handelt. Der Gesetzgeber knüpft mit dem Betreiberbegriff an die telekommunikationsrechtliche Terminologie. Eine Betreibereigenschaft setzt grundsätzlich eine Funktionsherrschaft voraus. Diese ist nur dann gegeben, wenn der Betreiber die Möglichkeit hat, in eigener Verantwortung darüber zu entscheiden, ob der Übertragungsweg in Betrieb geht, bleibt oder außer Betrieb gesetzt wird.14 Der Begriff der Kabelanlage ist hingegen auslegungsbedürftig. Der Gesetzgeber hat offensichtlich auf breitbandige Verteilnetze als Hauptanwendungsfall dieser Norm abgestellt. Somit stellt sich die Frage, ob auch andere leitergebundene Netze, die für die Übertragung von Rundfunk oder vergleichbarer Telemedien geeignet sind, unabhängig von der physikalischen Beschaffenheit des Netzes, der verwendeten Übertragungstechnik oder der Übertragungsprotokolle einbezogen werden können. Vor dem Hintergrund der technischen Weiterentwicklungen ist eine restriktive Auslegung des Begriffs der Kabelanlage nicht sachgemäß. Vielmehr dürfte es entscheidend auf Sinn und Zweck der Vorschrift sowie auf den Begriff des Verbreitens ankommen, um die Anwendbarkeit der Norm zu bestimmen.15

zum Rundfunkrecht von Hahn, Werner und Vesting, Thomas München 2003, Rundfunkstaatsvertrag, Rn. 52 f. 12 Beckscher Kommentar zum Rundfunkrecht von Hahn, Werner und Vesting, Thomas München 2003, Rundfunkstaatsvertrag, Rn. 62 f. 13 A.a.O. 14 Schütz, Raimund in Beckscher TKG-Kommentar, Telekommunikationsgesetz von Wolfgang Büchner, Jörg Ehmer, Martin Geppert Beck-Verlag, 2. Auflage, Juni 2006, § 3 Rn. 4. 15 Schulz in Beckscher Kommentar zum Rundfunkrecht von Hahn, Werner und Vesting, Thomas Rundfunkstaatsvertrag, § 52 Rn. 63.

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Wenngleich die IP basierte Weiterverbreitung von Rundfunkprogrammen und vergleichbarer Telemedien über DSL-Netze dem Wortlaut nach nicht in den Anwendungsbereich von § 52 Abs. 2–5 RStV fällt, sprechen sowohl Sinn und Zweck der Vorschrift als auch der Charakter der Weiterverbreitung von Rundfunkinhalten über solche Netze für deren Einbeziehung in den Normenbereich. Obwohl DSL-Netze ein erhebliches Kapazitätsspektrum aufweisen und perspektivisch kein Kapazitätsmangel vorhanden sein wird, besteht gleichwohl das Risiko, dass die für die Meinungsvielfalt relevanten Programme und Dienste in diesen Netzen keine Verbreitung finden. Um diesen Gefährdungen für das Normziel des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG vorzubeugen, sind die Must-Carry-Bestimmungen des § 52 RStV auch auf DSL-Netze anzuwenden. Für die Einbeziehung solcher Netze in den Anwendungsbereich des § 52 RStV spricht auch, dass das derzeit geltende Medienrecht keine hinreichenden Vorkehrungen gegen eine Doppelrolle von Telekommunikationsunternehmen als Übertragungswegeanbieter und als Anbieter von Rundfunkinhalten getroffen hat. So hat beispielsweise die Deutsche Telekom im Jahre 2006 exklusive Rechte zur Verbreitung von Bundesligaspielen über IP-basierte Netze erstmalig erworben. Die Deutsche Telekom/T-Com verfügt allerdings mit rund 38 Mio. Telefonanschlüssen über den größten Anteil am deutschen Festnetz. Bereits im Jahre 2005 waren 6 Mio. DSL-Anschlüsse geschaltet, für 2010 wird ein Volumen von ca. 17 Mio. prognostiziert. Die Deutsche Telekom verfügt zudem zu 90 % der Haushalte über Kundenbeziehungen mit eingeführten Abrechnungsmechanismen.16 Durch den Erwerb exklusiver Rechte besteht die Möglichkeit, sich zu einem mächtigen Medien- und Telekommunikationsunternehmen mit erheblichem Gefährdungspotenzial auch für das Normziel der Rundfunkfreiheit zu entwickeln. Die bisherigen medienrechtlichen Regularien bauen allerdings auf einer Trennung von Netz und Inhalten auf. Eine den Gefährdungspotentialen entsprechende notwendige Verbindung zwischen Medienrecht und Telekommunikationsrecht fehlt bislang. Gerade vor diesem Hintergrund gebietet Sinn und Zweck der Vorschrift die Einbindung von DSL-Netzen in den Anwendungsbereich von § 52 RStV. Gegen die Anwendung der Bestimmung des § 52 RStV auf DSL-Netze könnte allerdings Art. 31 der Universaldienstrichtlinie 17 sprechen. Danach können Mitgliedstaaten zur Übertragung von Hörfunk und Fernsehen den Betreibern von für die Verbreitung von Hörfunk- und Rundfunkdiensten genutzten elektronischen Kommunikationsnetzen bestimmte Übertragungs16 Vgl. H. Hege IP-TV – Medienrechtliche Rahmenbedingungen, Deutsche TV-Plattform, Symposium 2006, Berlin, Page No. 9. 17 Art. 31 Universaldienstrichtlinie, Richtlinie 2002/22/EG, ABIEG 2002 Nr. L 108, S. 51.

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pflichten auferlegen, wenn eine erhebliche Zahl von Endnutzern diese Netze als Hauptmittel zum Empfang von Hörfunk- und Fernsehsendungen nutzen. Für Testprojekte im Zusammenhang mit der Entwicklung von DSL-Netzen für Rundfunkangebote wäre bei europarechtskonformer Auslegung § 52 RStV nicht anwendbar, solange nicht signifikante Teile der Nutzer diesen Weg nutzen. Wenn und solange DSL-Netze nicht als Hauptmittel zum Fernsehempfang von den Nutzern in Anspruch genommen werden, wären hiernach die Must-Carry-Regelungen des RStV nicht anzuwenden. Allerdings erscheint grundsätzlich klärungsbedürftig, ob nicht bei verfassungskonformer Auslegung auch bei der Nutzung dieser neuen Technologie lediglich durch einen kleinen Teil der Bevölkerung diese Bestimmungen greifen müssen, da ansonsten keine verfassungskonforme Vielfaltsvorsorge erfolgt. Das Normziel von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG gilt grundsätzlich für alle Verbreitungswege. Eine Unterscheidung zwischen Unternehmen, die elektronische Kommunikationsnetze betreiben, die als Hauptmittel zum Empfang von Fernsehen genutzt werden können, und Unternehmen, die elektronische Kommunikationsnetze betreiben, die nicht als Hauptmittel zum Empfang von Fernsehen genutzt werden, dürfte verfassungsrechtlich nicht haltbar sein. So ist bereits fraglich, wie die Nutzung eines Netzes als „Hauptmittel“ zum Fernsehen festgestellt werden kann. Dies dürfte angesichts einer zunehmenden Ausdifferenzierung der Verbreitungswegemöglichkeiten kaum möglich sein. Dementsprechend hat der Gesetzgeber z.B. in § 52a RStV geregelt, dass die öffentlich-rechtlichen Rundfunkveranstalter ihrer Verpflichtung zur Versorgung der Bevölkerung mit Rundfunk durch Nutzung aller Übertragungswege nachkommen können.18 Zur Sicherstellung der Erfüllung dieses technischen Grundversorgungsauftrages sind mithin durch die Anbieter von elektronischen Kommunikationsnetzen auch die für die Erfüllung des Funktionsauftrages erforderlichen Kapazitäten zur Verfügung zu stellen, um das Normziel von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG nicht zu verfehlen. Gerade im Rundfunkbereich sind eingetretene Fehlentwicklungen nur schwer reversibel.19 Vor diesem Hintergrund dürfte aus verfassungsrechtlichen Gründen eine Anwendung der Must-Carry-Bestimmung des § 52 RStV auch auf DSL-Netze geboten sein.

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Vgl. § 52 a II S. 1 RStV. BVerfG: Kurzberichterstattungsurteil: BVerfG, 1 BvF 1/91 vom 11.11.1997; BVerfG NJW 1998, 1627. 19

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IV. Zugangsregelungen gemäß § 53 RStV Neben den Regelungen hinsichtlich des Zugangs zu Übertragungskapazitäten stellt sich auch die Frage nach der Anwendbarkeit der Zugangsbestimmungen gemäß § 53 RStV auf DSL-Netze. Gem. § 53 Abs. 1 Satz 1 RStV müssen Anbieter von Telekommunikationsdienstleistungen, die Rundfunk oder vergleichbare Telemedien verbreiten, gewährleisten, dass die eingesetzte Technik ein vielfältiges Angebot ermöglicht.20 Gemäß § 3 Ziff. 10 des Telekommunikationsgesetzes ist „geschäftsmäßiges Erbringen von Telekommunikationsdiensten“ das nachhaltige Angebot von Telekommunikation einschließlich des Angebots von Übertragungswegen für Dritte mit oder ohne Gewinnerzielungsabsicht.21 Das Betreiben von Übertragungswegen, die von Dritten genutzt werden, stellt somit eine Kommunikationsdienstleistung für die Öffentlichkeit dar. Auch § 53 RStV beinhaltet das Ziel, die Meinungsvielfalt vor unmittelbarer oder mittelbarer Diskriminierung zu sichern. Dabei sollen alle Unternehmen dieser Kontrolle unterliegen, die Rundfunk oder vergleichbare Telemedien über ein eigenes Netz oder über angemietete Kapazitäten an den Kunden weitergeben oder von einem Infrastrukturunternehmen zur Vermarktung einsetzen. Dementsprechend fallen auch DSL-Provider, sofern sie solche Telekommunikationsdienstleistungen anbieten, unter die Bestimmungen des § 53 RStV. Dementsprechend dürfen DSL-Provider als Anbieter von Telekommunikationsdienstleistungen weder mittelbar noch unmittelbar durch die Verwendung von Zugangsberechtigungssystemen (CA), durch Schnittstellen für Anwendungsprogramme (API) oder Systeme, die die Auswahl von Fernsehprogrammen steuern und als übergeordnete Benutzerfläche für alle über das System angebotenen Dienste verwendet werden (Basisnavigator) bzw. durch Ausgestaltung von Entgelten Anbieter von Rundfunk oder Telemedien nicht unbillig behindern oder gegenüber gleichartigen Anbietern ohne sachlich gerechtfertigten Grund unterschiedlich behandeln. Sachliche Ungleichbehandlungen müssen angesichts des Normziels der Sicherung der Meinungsvielfalt gerechtfertigt sein. Da die Sicherung von Zugangsfreiheit eine Maßnahme darstellt, die die Rundfunkfreiheit im Rahmen von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG ausgestaltet, sind mithin sämtliche Anbieter von Telekommunikationsdienstleistungen, die Rundfunk oder vergleichbare Telemedien verbreiten, in den Anwendungsbereich einzubeziehen. Auch für den Verbreitungsweg DSL mittels IPTV sind ökonomisch und technisch begründete Machtstellungen denkbar, die 20

§ 53 I S. 1 RStV. Lünenburger, Simone in Scheurle, Klaus-Dieter/Mayer, Thomas Telekommunikationsgesetz, München 2002, § 3, Rn. 9. 21

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kommunikative Chancengerechtigkeit beeinflussen. Vor diesem Hintergrund sind auch die von DSL-Providern angebotenen Dienstleistungen angesichts ihrer Relevanz für die Meinungsvielfalt in § 53 einzubeziehen. 22 Grundsätzlich sehen die Regelungen in § 53 Abs. 1 Satz 2 vor, dass das Diskriminierungsgebot immer dann gilt, sofern über das Zugangsberechtigungssystem Rundfunk oder vergleichbare Telemedien zugänglich gemacht werden können. Hinsichtlich Schnittstellen für Anwendungsprogramme sieht der Gesetzgeber im 8. Rundfunkänderungsstaatsvertrag nicht mehr vor, dass eine europäische Standardisierung zwingend gegeben sein muss. In diesem Zusammenhang sind allerdings die Regelungen in §§ 48, 49 TKG in Betracht zu ziehen. § 48 TKG regelt die Interoperabilität von Fernsehgeräten und bestimmt, dass zum Verkauf, zur Miete oder anderweitig angebotene digitale Fernsehempfangsgeräte – soweit sie ein API enthalten – die Mindestanforderungen an eine solche API-Schnittstelle erfüllen müssen, die von einer anerkannten europäischen Normenorganisation angenommen wurde oder einer gemeinsamen, branchenweiten, offenen Schnittstellenspezifikation entsprechen und Dritten unabhängig vom Übertragungsverfahren die Herstellung und den Betrieb eigener Anwendungen erlauben.23 Da insofern Offenheit und Informationszugang hinsichtlich technischer Vorgaben bereits über §§ 48, 49 TKG gesichert werden, sieht § 53 RStV allein verhaltensbezogene Diskriminierungen bzw. Behinderungen im Hinblick auf einzelne Rundfunkveranstalter vor. Elektronische Programmführer in Gestalt von Basisnavigatoren spielen eine wesentliche Rolle im Hinblick auf die Gewährleistung kommunikativer Chancengleichheit. Grundsätzlich trifft die Verpflichtung alle, die einen Einfluss auf die zugangschancengerechte Gestaltung des Navigators haben. Sofern ein DSL-Provider entweder selbst einen Navigator anbietet bzw. Boxen vermarktet, die einen solchen Navigator enthalten, greifen die Regelungen des § 53.24 Diskriminierungspotentiale können ebenfalls die Ausgestaltung von Entgelten durch DSL-Provider enthalten. Sofern auch telekommunikationsrechtliche Entgeltregulierungsbestimmungen greifen, kann es zu einer Mehrfachüberprüfung kommen, wobei verschiedene Maßstäbe hierfür Anwendung finden.25 Gemäß § 53 Abs. 2 RStV muss die Verwendung eines Zugangsberechtigungssystems oder eines Basisnavigators, das Eigentum an Schnittstellen für 22 Vgl. Gersdorf, Hubertus „Chancengleicher Zugang zum digitalen Fernsehen“, Berlin 1998, DLM-Band 10, S. 73. 23 Zerres, Achim in Scheurle, Klaus-Dieter/Mayer, Thomas Telekommunikationsgesetz, München 2002, § 48, Rn. 4. 24 Vgl. Schulz § 53 RStV: „Auf jeden Fall werde ich, oder wenigstens will ich, wenn nicht, dann doch, allerdings müsste ich und kann nicht“: Regulierung der Zugangsdienste digitalen Fernsehens im 4. RÄStV, K und R 2000, 9, 13. 25 Vgl. §§ 30 ff. Telekommunikationsgesetz.

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Anwendungsprogramme aber auch die Bündelung und Vermarktung von Programmen durch einen DSL-Provider der jeweils zuständigen Landesmedienanstalt unverzüglich angezeigt werden. Die Landesmedienanstalt kann nach Anzeige des Anbieters, auf Hinweis der Bundesnetzagentur oder nach Beschwerde von Rundfunkveranstaltern, Anbietern von Telemedien oder von Nutzern tätig werden. Grundsätzlich entscheidet die Landesmedienanstalt im Benehmen mit der Bundesnetzagentur, ob ein Verstoß gegen die Bestimmungen des § 53 RStV vorliegt. Die Landesmedienanstalten haben gemäß § 53 Abs. 6 RStV am 13.12.2005 die Satzung über die Zugangsfreiheit zu digitalen Diensten verabschiedet, die allerdings noch nicht in Kraft getreten ist. Diese regelt Einzelheiten zur inhaltlichen und verfahrensmäßigen Konkretisierung der gesetzlichen Vorschriften für Zugangsdienste sowie der Ausgestaltung von Entgelten für diese Dienste und die Verbreitung von Rundfunk und vergleichbaren Telemedien über digitale Übertragungswege.26 Insofern finden diese satzungsrechtlichen Bestimmungen ebenfalls Anwendung auf Anbieter von Telekommunikationsdienstleistungen i.S.v. § 53 RStV und somit auch auf DSL-Provider, sofern sie ein solcher Anbieter i.S. dieser Norm sind. Dabei ist die Landesmedienanstalt des Landes für Maßnahmen nach § 53 RStV zuständig, in dem die Zulassung des Rundfunkveranstalters erteilt wurde oder der Anbieter oder Verwender von Diensten seinen Sitz hat. Wenn DSL-Provider beabsichtigen, Programme zu bündeln und sie als Pakete anzubieten, sind sie, wie bereits dargestellt, grundsätzlich zur Anzeige verpflichtet. Allerdings sieht der Rundfunkstaatsvertrag selbst keine materiellen Vorgaben für die Programmbündelung vor. Hingegen enthält § 14 des neu gefassten Satzungsentwurfs eine Regelung zur Bündelung und Vermarktung. So kann die zuständige Landesmedienanstalt prüfen, ob der Betreiber der Kabelanlage verpflichtet werden kann, konkurrierende Programmplattformen über sein Kabelnetz zu verbreiten. Diese Bestimmung dürfte grundsätzlich auch auf DSL-Netze anwendbar sein. Allerdings stellt sich die Frage, ob diese Satzungsbestimmung noch in Übereinstimmung mit § 53 Abs. 6 RStV steht. Auch die Bestimmung in § 14 Abs. 2, wonach die Verbreitung eigener Programmangebote über andere technische Plattformen nicht behindert werden darf, ist fraglich. Grundsätzlich enthält § 14 des Satzungsentwurfs wesentliche Sachverhalte, die einer gesetzgeberischen Klärung bedurft hätten.

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Satzung über die Zugangsfreiheit zu digitalen Diensten vom 13.12.2005.

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V. Urheberrechtliche Fragen der Weiterverbreitung von Rundfunk über DSL-Netze Gemäß § 20 Abs. 1 Satz 1 UrhG ist die Kabelweitersendung eine Weitersendung eines gesendeten Werkes im Rahmen eines zeitgleich, unverändert und vollständig weiter übertragenen Programms durch Kabelsysteme oder Mikrowellensysteme. Sendeunternehmen und solche Kabelunternehmen sind gem. § 87 Abs. 5 UrhG gegenseitig verpflichtet, einen Vertrag über die Kabelweitersendung zu angemessenen Bedingungen abzuschließen, sofern nicht ein die Ablehnung des Vertragsabschlusses sachlich rechtfertigender Grund besteht.27 Klärungsbedürftig ist die Frage, ob auch für die Weiterverbreitung von Programmen über DSL-Netze mittels IPTV diese Regularien Anwendung finden. Betrachtet man die technischen Abläufe, so werfen z.B. die individuelle Zulieferung der Programme an den Endkunden oder eine mögliche technisch bedingte Zeitverzögerung die Frage auf, ob die DSL-Weiterverbreitung als Weitersendung im Sinne des § 20 UrhG einordbar ist. Im Folgenden sollen die Voraussetzungen im Einzelnen geprüft werden. Betrachtet man die Voraussetzungen für eine Kabelweitersendung i.S.v. § 20 Abs. 1 Satz 1 UrhG, so muss es sich zunächst um ein gesendetes Werk handeln. Dabei muss der Kabelweitersendung eine Erstsendung des Werkes vorausgehen, wobei jede Art der Rundfunkübertragung ausreichend ist (Terrestrik oder Satellit oder Kabel). Ein gesendetes Werk liegt unabhängig davon vor, ob die Signale analog oder digital ausgestrahlt werden bzw. eine Verschlüsselung erfolgt. Keine Sendung würde allerdings vorliegen, wenn der Zeitpunkt durch den Nutzer selbst bestimmbar ist. Dies beträfe z.B. Abrufdienste. Unverändert findet eine Weiterübertragung dann statt, wenn keinerlei Änderungen am Fernsehprogramm selbst vorgenommen werden. Es dürfen keine inhaltlichen Einflussnahmen auf das Programm erfolgen. Eine vollständige Weiterübertragung erfordert, dass keine verkürzte Ausstrahlung durch den Provider erfolgt. Es dürfen keine inhaltlichen Aussagen verändert werden. Eine zeitgleiche Weiterübertragung liegt auch vor, wenn durch die Übertragungstechnik bedingt eine minimale Verzögerung der Programmsignalweiterleitung stattfinden würde. Allerdings ist eine zeitversetzte Ausstrahlung keine Kabelweitersendung mehr. Fraglich sind hinsichtlich der zeitgleichen Weiterleitung so genannte TimeShift-Funktionalitäten. So ermöglichen beispielsweise DSL-Provider in einem so genannten Videoarchiv für den Einzelabruf zur zeitunabhängigen

27 Dreier, Thomas in Kommentar zum UrhG, 2. Auflage (Thomas Dreier und Gernot Schulze), München 2006, § 87 Rn. 26.

Rechtsfragen der Verbreitung von Rundfunk in IP-basierten Netzwerken (DSL) 599

Nutzung Sendungen bereit zu halten sowie eine PVR-Funktion hinzuzufügen, wodurch die Kunden die Aufzeichnung von Sendungen bereits im Vorfeld zu so genannten Time-Shifting-Zwecken veranlassen. Der zuerst genannte Dienst ist ein so genannter On demand-Dienst, der dem Recht der öffentlichen Zugänglichmachung gem. § 19 a UrhG unterliegt.28 Gemäß § 19 a UrhG beinhaltet das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung das Recht, das Werk drahtgebunden oder drahtlos der Öffentlichkeit in einer Weise zugänglich zu machen, das es Mitgliedern der Öffentlichkeit von Orten und zu Zeiten ihrer Wahl zugänglich ist. Hingegen dürfte für das Vorliegen einer Kabelweitersendung und damit einer zeitgleichen Weiterübertragung eine Time-Shift-Funktionalität zulässig sein. Ein weiteres Merkmal der Kabelweitersendung bildet ein so genanntes weiterübertragenes Programm, d.h. die Weitersendung muss ein gestaltetes Programm zum Gegenstand haben. Dementsprechend sind nur Inhalteangebote betroffen, die eine publizistische Relevanz und damit eine Eignung zur Meinungsbildung enthalten. Gem. § 20 Abs. 1 Satz 1 UrhG muss des Weiteren ein Kabelsystem oder ein Mikrowellensystem vorliegen. Es ist davon auszugehen, dass mittels DSL-Technologie ausgebaute Telefonnetze diesem Begriff unterfallen, sofern sie zur Übertragung von Fernsehsignalen technisch geeignet sind. Im Ergebnis der Bewertung handelt es sich somit bei der Verbreitung von Rundfunkprogrammen über DSL-Netze auch um eine Kabelweitersendung im Sinne des § 20 Abs. 1 Satz 1 UrhG. Daraus ergibt sich ein Anspruch des Urhebers auf angemessene Vergütung gegen den DSL-Provider für die Verbreitung von solchen Inhalteangeboten in DSL-Netzen gem. § 20b Abs. 2 UrhG. Mittlerweile gehen auch Verwertungsgesellschaften sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene von einer Vergütungspflichtigkeit aus.29 Auch in den Ländern, in denen die Kabelweitersenderechte kollektivvertraglich gestaltet sind, wie Österreich und Schweiz, ist man der Auffassung, dass die IP-basierte Streamingtechnologie entsprechend der Kabelweitersendung juristisch zu bewerten ist.

28 Dreyer, Gunda in Dreyer, Gunda/Kotthoff, Jost/Meckel, Astrid in Heidelberger Kommentar zum Urheberrecht, Heidelberg 2004, § 19 a, Rn. 14. 29 So konnten ARD und ZDF in den Niederlanden mit zwei DSL-Anbietern bereits solche Weiterverbreitungsverträge abschließen.

V. Anwaltliches und Akademisches Berufsrecht

Für eine flexibilisierte und dynamisierte Struktur des Akademischen Personals Peter Hommelhoff I. Die Hochschulen in Deutschland und unter ihnen insbesondere die Universitäten stehen seit geraumer Zeit schon vor neuen Herausforderungen von großem Gewicht. Ins allgemeine Bewusstsein auch einer breiteren Öffentlichkeit dringen dabei vor allem der Wettbewerb, dem die Hochschulen ausgesetzt sind und dem sie sich stellen wollen, und die immer schärfer zu Tage tretende Finanzknappheit, die zu immer neuen Anläufen zwingt, um die zur Verfügung stehenden Ressourcen noch besser zu nutzen. Diese beiden Momente prägen die Hochschullandschaft dieser Jahre und sind zudem aufs engste miteinander verknüpft: Die schärfsten Wettbewerber der deutschen Universitäten im europäischen Ausland und in Übersee sind um ein Vielfaches besser finanziert. Über eine deutlich stärkere Finanzkraft verfügen aber auch die inländischen Wettbewerber der Universitäten, die außeruniversitären Forschungseinrichtungen der Helmholtz-Gemeinschaft, der MaxPlanck-Gesellschaft und die Fraunhofer-Institute. Um mit diesen Wettbewerbern mithalten zu können, müssen die Hochschulen und Universitäten sich mit allem Nachdruck darum bemühen, ihre Ressourcen im Einsatz immer weiter zu optimieren. Denn mit einem nennenswerten Zuwachs an Finanzmitteln ist auf absehbare Zeit nicht zu rechnen. Im Gegenteil lässt die kontinuierliche Verstärkung der Bundesmittel in den außeruniversitären Einrichtungen, die die Länder in unterschiedlichem Ausmaß kofinanzieren müssen, befürchten, dass die Kofinanzierung der Länder zu Lasten ihrer Hochschulen und Universitäten geht – und dies, obwohl die Aufgaben der Hochschulen in den letzten Jahren vor allem in der Lehre kontinuierlich zugenommen haben und noch weiter zunehmen werden. Erinnert sei nur an die kostenträchtigen Auswahl- und Eignungsfeststellungsverfahren zu Beginn des Studiums, an die teure Akkreditierung von Studiengängen und an die in jeder Hinsicht überaus aufwändigen Maßnahmen der Qualitätskontrolle einschließlich der Evaluationen. Hinzukommen demnächst die zusätzlichen Anstrengungen, die den Universitäten und anderen Hochschulen abgefordert werden, um den demographisch vorgegebenen und politisch überdies gewollten Aufwuchs an Studierenden ab 2011/2012 zu bewältigen.

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Es ist hier nicht der Ort, nach der politischen Vernunft der Länder zu fragen, die dem Bund dogmatischer Trennschärfe wegen verwehren wollen, ihnen Finanzmittel für die Hochschullehre zur Verfügung zu stellen. Denn wie dem auch immer sei – als erstes sind die Hochschulen selber aufgerufen, ihren Mitteleinsatz nach Kräften zu optimieren. Denn nur wenn die Universitäten und anderen Hochschulen der Politik und der allgemeinen Öffentlichkeit die Gewissheit verschafft haben, alle Anstrengungen zu unternehmen, um aus den zur Verfügung gestellten Mitteln das Optimum herauszuholen, erst dann besteht die Chance, zusätzliche Mittel für die gesteigerten Aufgaben zu erhalten. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die Hochschulen mit ihrem Mehrbedarf allein gelassen und damit auf den Pfad zur Massenhochschule zurückgestoßen werden, den sie unter den Stichworten Wettbewerb, Profilbildung und Exzellenz vor einiger Zeit gerade unter Mühen verlassen haben.

II. Die Aufforderung an die Hochschulen, den Einsatz ihrer Ressourcen zu optimieren, darf nun freilich nicht zu dem Fehlschluss verleiten, die Hochschulen seien bislang mit ihren Mitteln nicht pfleglich umgegangen, hätten sie vergeudet und verschwendet. Davon kann keine Rede sein; die Hochschulen zählen beileibe nicht zu den beliebten „Dauerkunden“ der Rechnungshöfe des Bundes und der Länder. Dennoch hat ihre Prüfungstätigkeit hilfreich ein besonderes Problem der Hochschulen beim Einsatz ihrer Ressourcen zutage gefördert: die normative Verkrustung ihrer Personalstrukturen. 1. So hat der Landesrechnungshof Baden-Württemberg bei einer Querschnittsprüfung der neuphilologischen Fakultäten des Landes festgestellt, dass der Akademische Mittelbau seinen Lehrverpflichtungen nur zu unter 60 bis 80 Prozent nachkommt. Der nahe liegende Verdacht, das Lehrpersonal handele nachlässig und pflichtvergessen, konnte in konstruktiven Gesprächen mit Angehörigen des Rechnungshofes ausgeräumt und das Augenmerk auf die wahre Quelle der Probleme gelenkt werden: die unzureichende Erfassung der vielfältigen und wechselnden Aufgaben des Akademischen Mittelbaus und die Volatilität des Lehrbetriebs im Rhythmus von Vorlesungszeit und vorlesungsfreier Zeit. Allein ausgerichtet auf die zu lesenden Semesterwochenstunden bleiben viele Aufgaben von der Vorbereitung der Lehrveranstaltungen und die mit ihnen verbundenen Prüfungen ebenso ausgespart wie die Beratung der Studierenden und die Beteiligung an Auswahl- und Eignungsfeststellungsverfahren. Hinzu kommt eine nicht nachvollziehbare Begrenzung des Lehreinsatzes verkoppelt mit dem Status eines Mittelbauangehörigen: Akademische Räte dürfen nur 9 Semesterwochenstunden in

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Baden-Württemberg lesen und damit genau so viel oder genau so wenig wie die Professoren; ihnen obliegt allerdings noch die Pflicht zu selbstständiger Forschung. 2. Auf diese Weise auf das Problem normativer Eingrenzungen im Einsatz des akademischen Lehrpersonals aufmerksam gemacht, stellte sich die Aufgabe, vergleichbare Beschränkungen für die Professoren und ihren Einsatz zu analysieren. Auch bei ihnen wurden Suboptimalitäten erkennbar; ihre Aufgaben sind quotal fixiert: 45 % Lehre, 45 % Forschung und 10 % Selbstverwaltung. Auch hier finden die angewachsenen Aufgaben sowohl in der Lehre, als auch in der Selbstverwaltung keinen Niederschlag. Dass es insoweit noch zu keinen breitflächigen Störungen gekommen ist, lässt sich im wesentlichen auf zwei Gründe zurückführen: zum einen arbeiten Professoren typischerweise weit mehr als die vorgegebenen 40, 41 oder 42 Stunden, so dass das Aufgabenmehr unbemerkt durch Mehrarbeit erledigt wird. Und zum zweiten und vor allem wird das Aufgabenmehr in Lehre und Selbstverwaltung zulasten der Forschung abgearbeitet. Das können sich Universitäten und andere Hochschulen, deren Gesamtleistung vor allem nach der Forschung und ihren Ergebnissen bemessen wird, im Wettbewerb mit anderen Forschungseinrichtungen im In- und Ausland nicht länger leisten. Das Drittmittelaufkommen einer Universität wird schon heute als Vergleichsmaßstab herangezogen; der Druck, die Drittmittel zu steigern, lässt viele Professoren stöhnen. Die fixe Quotelung der Professorenaufgaben führt zu mannigfachen Unzuträglichkeiten und nimmt den Hochschulen und Universitäten viel an Gestaltungskraft. So muss jeder Zuwachs an professoraler Lehrkapazität mit einem Aufwuchs an Forschungskapazität erkauft werden; das ist wegen der Folgeinvestitionen in Forschungsmittel wie Geräte und Bücher häufig nicht finanzierbar. Aber auch umgekehrt haben die Universitäten keine Chance, gezielt bestimmte Forschungsfelder auszubauen und voranzubringen, ohne gleichzeitig die Lehrkapazitäten entsprechend auszubauen. Das beeinträchtigt manche Hochschule auf dem Wege der Profilierung. Ein weiteres kommt hinzu: Im weltweiten Wettbewerb um die besten Köpfe müssen vornehmlich die Universitäten in Deutschland in der Lage sein, den besten Forschern dieselben persönlichen Bedingungen zu bieten wie die konkurrierenden Einrichtungen. Und das bedeutet: man muss solchen Forschern erlauben können, sich (wenn schon nicht lebenslang, so doch für längere Zeit) ganz auf ihre Forschungen zu konzentrieren, ohne durch andere Aufgaben in Lehre, Prüfung und Selbstverwaltung abgelenkt zu werden.

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III. Somit hindern die normativen Vorgaben zur akademischen Personalstruktur nach Grundkonzept und Ausgestaltung im einzelnen die Hochschulen und insbesondere die Universitäten ein weites Stück daran, die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen optimal zu nutzen. Deshalb sollten alle Gesetzgeber und die Ministerialverwaltungen auf Vorgaben zur akademischen Personalstruktur verzichten und den Hochschulen auch in soweit Freiraum zur eigenverantwortlichen Ausgestaltung gewähren. Die Länder sollten sich gegenüber ihren Hochschulen darauf beschränken, in einzelnen Zielvereinbarungen eine Hochschul-individuelle Gesamtkapazität zu fixieren und für sie zudem bestimmte Ergebnisse in der Lehre. Konsequent wäre es dann Aufgabe der einzelnen Universität und sonstigen Hochschule, ihr Lehrpersonal so zu strukturieren und zuzuschneiden, dass es insgesamt in der Lage ist, die für die Hochschule vereinbarten Ziele zu erreichen. 1. In Ausübung autonomer Personalplanung wären die Universitäten sodann in der Lage, sowohl Forschungsprofessuren mit stark reduziertem Lehrdeputat als auch Lehrprofessuren mit reduzierten Forschungsaufgaben auszuformen. Allerdings darf auf keine der Aufgaben vollständig und auf Dauer verzichtet werden. Denn die Einheit von Forschung und Lehre auch in der Person des einzelnen Professors und nicht nur in der Forschungseinheit Institut, Zentrum oder Fakultät ist für die deutsche Universität unverzichtbar, hat schon vor langer Zeit ihre Exzellenz begründet und muss ihr nun wieder helfen, zu den Spitzeninstitutionen in der Welt aufzuschließen. Deshalb ist bei einer Forschungsprofessur ein Lehranteil (einschließlich Auswahl, Beratung und Prüfung) von 10 bis 20 Prozent gerechnet auf die ordentliche Jahrsarbeitszeit ebenso dringend geboten wie bei einer Lehrprofessur ein entsprechender Forschungsanteil von 20 bis 25 Prozent. Auf diese Weise wird zugleich der Gefahr entgegengewirkt, dass der „Lehrprofessor“ zu einem „Professor 2. Klasse“ herabsinkt. Denn trotz aller Bemühungen, das Standing der Lehre zu heben, wird dies dem der Forschung so lange stets nachstehen, wie sich Universitäten und Hochschulen nicht zu wesentlichen Teilen aus Studiengebühren finanzieren. Erst wenn auch aus ihnen Beiträge fließen, um exzellente Forschung mitzufinanzieren, wird sich das Ansehen der Lehre auf das der Forschung erheben. Dafür genügt die Erkenntnis alleine nicht aus, dass nur exzellente Lehre jenen wissenschaftlichen Nachwuchs hervorbringt, aus dem glänzende Forscher erwachsen. 2. Für den Akademischen Mittelbau werden die Hochschulen und Universitäten auf die Jahresarbeitszeit in Stunden abstellen müssen. Auf diesem Wege lässt sich die ganze Breite ihres Aufgabenspektrums von den vielfältigen Aufgaben in der Lehre, über die Gerätebetreuung und Aufgabenerledigung in der Selbstverwaltung bis hin zur Unterstützung in der Forschung des

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Lehrstuhls oder Instituts und zur eigenen Forschung angemessen erfassen. Zugleich lassen sich die Volatilität des Semesterbetriebs und die zeitliche Konzentration bestimmter Aufgaben auffangen. Der Multifunktionalität und Flexibilität wissenschaftlichen Arbeitens kann auf diese Weise auch für die Angehörigen des Akademischen Mittelbaus Rechnung getragen werden. Da es so ganz auf die individuelle Ausgestaltung des Dienstverhältnisses zwischen Mittelbauangehörigem und Hochschule ankommt, steht einer gewissen, aber nicht einschränkenden Typisierung nichts entgegen: Lehrdozent, Forschungsassistent, Administrator etc. – Zu alledem muss das Gespräch mit den Verantwortungsträgern in Ministerien und Politik unverzüglich aufgenommen werden.

Wie der angehende Anwalt ausgebildet sein muss Hartmut Kilger Inhaltsübersicht I. II. III. IV.

Schon wieder ein Aufsatz zum Ausbildungsthema? . . Hatten wir nicht schon Reformen? . . . . . . . . . . . . Wie sollte ein Anwalt ausgebildet sein? . . . . . . . . . Konsequenz: Anwaltsausbildung . . . . . . . . . . . . .

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I. Schon wieder ein Aufsatz zum Ausbildungsthema? Wozu, wird sich der Leser fragen, soll man einen Artikel über Juristenausbildung lesen? Hatten wir nicht gerade eine Reform? Und trifft nicht zu, was oft zitiert wird: es ist alles gesagt, nur noch nicht von Jedem. Sollte man nicht zu Dingen, zu denen alles gesagt ist, besser schweigen? Ich jedenfalls kann nicht schweigen. Deswegen muss ich in diesem Beitrag auch persönlich werden. Ich nutze den Festschriftbeitrag, um die Argumente meiner eigenen eindeutigen Position erneut darzulegen. Denn es ist zwar alles gesagt, aber nichts getan. Der Leser kann anhand der nachfolgenden Aussagen seine eigene Position verorten. Er mag danach selbst entscheiden, ob er weiter lesen will. Die ehernen Tafeln

Die unangenehmen Wahrheiten

• Du sollst nicht am Einheitsjuristen rütteln. Er gewährleistet die gleiche Augenhöhe zwischen allen Juristen

• Den Einheitsjuristen gibt es nicht mehr. Kein höherer Richter sieht sich auf gleicher Augenhöhe mit dem kleinen Advokaten an der Straßenecke gegenüber • In der EU kann man beobachten, wie die Juristen anderer Ländern, vor allem aus Großbritannien, den Deutschen den Rang ablaufen • Juristen als Elite des Staates sind eine nostalgische Reminiszenz. Sie bilden sie nicht einmal mehr in der Wirtschaft • Die Befähigung zum Richteramt nützt nur dem, der Richter werden kann. Über 97 % aller Juristen ist dieser Weg verschlossen

• Die deutschen Juristen werden im Ausland bewundert

• Du sollst nicht die Elite des Staates in Zweifel ziehen, die die Juristen noch immer darstellen • Jeder Jurist zeichnet sich durch die Befähigung zum Richteramt aus.

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• Der vom Staat bezahlte Referendarsdienst stellt sicher, dass der mit der Befähigung zum Richteramt ausgestattete Einheitsjurist die Elite des Staates bilden kann • Die Breite der juristischen Ausbildung sichert den Zugang zu profilierten und leitenden Stellungen in einer Vielzahl von Branchen • Die deutschen Fakultäten sichern einen hohen wissenschaftlichen Standard der Juristen

• Es sollte anerkannt werden, dass jeder Referendar heute beim Anwalt 12 Monate Anwalt lernen kann.

• Der Bologna-Prozess betrifft die Juristen nicht. Das hat sogar der Koalitionsvertrag der Großen Koalition 2005 betont. • Wir hatten – in Gestalt der „anwaltsorientierten Juristenausbildung“ – gerade eine Reform. Deren Auswirkungen sollte man erst abwarten. • „Was soll die Diskussion? Wer vorankommen will, beißt sich durch ! Aus mir ist schließlich auch etwas geworden“.

• Der bezahlte Referendarsdienst ist eine staatliche Subvention, die zu massiven Fehlsteuerungen im Markt des Zugangs zur Juristenschaft geführt hat • in einer Vielzahl von Branchen wird eine bloß juristische Ausbildung nicht mehr als ausreichend, oft sogar als hinderlich angesehen • Viele Studenten erwerben ihr Examenswissen nicht mehr in den Fakultäten, sondern beim Repetitor. Die Examina sichern wissenschaftlichen Standard nicht. • Jeder Referendar könnte tatsächlich 12 Monate Anwalt lernen. Aber dies nützte ihm fürs Examen nichts. Deswegen nutzt die große Mehrheit die Anwaltsstation höchst unanwaltlich als Examens-Pauk-Station. • Die Karawane des Bologna-Prozesses zieht auch ohne die deutschen Juristen weiter. Den Bachelor of Laws gibt es heute schon. • Eine „anwaltsorientierte Juristenausbildung“ lenkt von der wirklichen Anwaltsausbildung ab. Wer weiter wartet, verhindert sie. • Wer so argumentiert, vergeht sich an der jungen Generation. Er projiziert unzulässig die märchenhaften Verhältnisse seiner Studentenzeit in die heute äußerst schwierige Situation.

Wer die Aussagen auf der linken Seite für richtig hält, braucht nicht weiter zu lesen. Er befindet sich in guter Gesellschaft: ein großer Teil er etablierten Juristenschaft denkt ebenso. Die Aussagen auf der rechten Seite markieren meine Meinung: die Tafeln sind ehern, aber inhaltsleer. Ihre Grundgedanken gehören der Historie an. Im Raum der Gegenwart stoßen sich die Sachen hart: 1. Es ist unstrittig, dass es hervorragende junge Juristen gibt. Sie gehören tatsächlich zu einer Elite. Für sie müsste nichts geändert werden; sie beißen sich immer durch. Aber es ebenso unstrittig, dass es viele schlecht ausgebildete Juristen gibt. Das dokumentiert das System selbst dadurch, dass es zwei Dritteln aller Abgänger nur „ausreichend“ als Examensnote bescheinigt. Unstrittig ist vor allem aber, dass nicht sichergestellt werden kann, dass, wer Anwalt werden muss, auch Anwalt gelernt hat.

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2. Erst recht sind die Zahlen unstrittig. Jedes Jahr bestehen rund 10.000 Volljuristen das Zweite Staatsexamen. In die Justiz gelangen weniger als 4 % hiervon, in manchem Ländern sogar inzwischen 0 %. In die Verwaltung schaffen es (die Zahlen sind unsicher) höchstens 10 % und in die Wirtschaft (diese Zahlen sind noch unsicherer) 15 %. Die restlichen mehr als 75 % (vorsichtig gerechnet) können nur Anwalt werden. Hierzu gehören – ausnahmslos – alle diejenigen, die der Besorgnis nach Ziffer 1 ausgesetzt sind. Was die Kombination von 1. und 2. auf Dauer für eine Sprengwirkung hat, ist offenkundig. Die unangenehmen Wahrheiten sind deswegen das Thema der Anwälte; Reform der Juristenausbildung ist Anwaltsthema. Gäbe es Anwälte nicht, könnte die Diskussion beendet werden. Ohne Anwälte allerdings wäre kein Rechtsstaat. Dieser ist auf eine Reform der Juristenausbildung dringend angewiesen. Und wenn nicht bald etwas geschieht, wird es gefährlich.

II. Hatten wir nicht schon Reformen? Dass die Erfindung des aus zwei Stufen bestehenden Ausbildungssystems über zwei Staatsexamina, einen staatlichen Referendarsdienst und die Krönung durch die Befähigung zum Richteramt im 18. und 19. Jahrhundert, maßgeblich geprägt durch Preußen, ein enormer Erfolg gewesen ist, braucht nicht betont zu werden. Dass über seine Reformbedürftigkeit seit über 100 Jahren ohne nennenswertes Ergebnis diskutiert wird, ist ebenso klar. Dass das Erfolgsmodell einen schrecklichen Einbruch im Dritten Reich und eine blamable Darstellung zu dessen Bewältigung in der Nachkriegszeit gegeben hat, ist ebenso wahr. Natürlich waren es die 68er, die nicht zuletzt deswegen an den ehernen Tafeln schon einmal gerüttelt haben. Sie hatten nach den Loccumer Beschlüssen die einstufige Juristenausbildung durchgesetzt – das einzige wirkliche Experiment in der über zweihundertjährigen Geschichte des vorhandenen Ausbildungssystems. Als es um die Bewertung des Experiments ging, standen sich die Fronten schon einmal diametral gegenüber – obwohl über den Erfolg der einstufigen Juristenausbildung heute kaum noch gestritten werden kann: kennen wir doch höchst fähige Juristen, die sie durchlaufen haben. Aber die Bewahrer haben das Experiment in der Mitte der achtziger Jahre eingestampft – es blieb eine Episode. Man kehrte zu den Tafeln zurück. Das änderte sich auch nicht durch den weithin hallenden Aufruf von Großfeld über „das Elend des Jurastudiums“ im Jahre 1985. Denn es dauerte nicht lange: die Wiedervereinigung verlangte danach, vielen neuen Juristen das bisherige Erfolgsmodell zu vermitteln. Allerdings wurden in den Neunzigern die Verhältnisse beängstigend, so dass schließlich sogar die Runde der Justizminister in einem „Kamingespräch“ beschloss, eine grundlegende

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Systemreform anzugehen. Immerhin hat der damalige Justizminister Behrens auf dem Juristentag in Bremen 1999 die Einführung einer Spartenausbildung – also die Abschaffung des Einheitsjuristen – propagiert. Allerdings vergeblich: quasi über Nacht änderte sich die Zusammensetzung der Justizministerkonferenz – und man beschloss, nur noch „systemimmanent“ zu reformieren. Das führte zu der heute geltenden „anwaltsorientierten Juristenausbildung“. Sie ist schon von der Anlage her eine Farce: die „anwaltsorientierte Juristenausbildung“ führt nämlich zur „Befähigung zum Richteramt“, welche nur einer verschwindenden Minderheit den Zugang zum Richteramt eröffnet. Ich nenne dies eine groteske „Ausbildungspirouette“. Seit 1987 habe ich in dem damals noch gemeinsamen Ausbildungsausschuss von BRAK und DAV gearbeitet. Er hat 1991 ein grundlegendes Reformmodell (erste und zweite Stufe) vorgelegt: es wurde durch die Wiedervereinigung zur Makulatur. Die gemeinsamen Arbeiten in den neunziger Jahren sind umfangreich und grundlegend gewesen. Die Anwaltschaft wäre auf einen Systemwechsel vorbereitet gewesen. Nachdem absehbar war, dass ein solcher nicht kommen würde, habe ich mit meinen Mitstreitern im Deutschen Anwaltverein die DAV-Ausbildung auf den Weg gebracht: sie bietet an, was im vorhandenen System an Anwaltsausbildung systemimmanent möglich ist. Ihre Existenz und das Aufkommen des Bachelor-Themas haben die Diskussion am Leben erhalten, obwohl mit dem „Reform-Gesetz“ von 2001 allgemeine Meinung war, es sei jetzt genug reformiert. Im November 2005 hat die Justizministerkonferenz beschlossen, die Möglichkeiten einer „Spartenausbildung“ durch eine interministerielle Arbeitsgruppe untersuchen zu lassen. Es besteht also erneut die Chance einer Bewegung. Deswegen wäre Schweigen falsch: die wirkliche, seit über 20 Jahren fällige Reform steht noch aus.

III. Wie sollte ein Anwalt ausgebildet sein? Wer über das gestellte Thema nachdenkt, muss die Frage beantworten: wie sollte ein Anwalt ausgebildet sein? Denn erst dann, wenn darüber Einigkeit besteht, kann beurteilt werden, ob das jetzige oder ein anderes Ausbildungssystem das Notwendige leistet. Wie ein Anwalt ausgebildet sein sollte, lässt sich detailliert darstellen: a) Am Anfang sollte eine Grundausbildung stehen – gemeinsam mit allen Juristen. Sie hat zwei Hauptteile: die Grundlagenfächer einerseits und die Kernfächer in paradigmatischer Auswahl andererseits. Dazu gehören weiter eine moderate Vermittlung von Schlüsselqualifikationen und Sprachkenntnissen. Eine solche Ausbildung sollte in erster Linie wissenschaftliche Ausbildung sein. Das bedeutete einerseits die verpflichtende Teilnahme an der Vermitt-

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lung der Grundlagenfächer: Rechtsphilosophie, Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie und Methodenlehre – auch wenigstens beispielhaft Römisches Recht. Deswegen hielte ich die Rückkehr zum obligatorischen wenigstens kleinen Latinum für notwendig. Die Wissenschaftlichkeit wird aber auch andererseits in Vorlesungen und Übungen zu den Kernfächern vermittelt. Der Anwalt ist kein Rechtsanwendungsingenieur. Professionelle Rechtsanwendung bedeutet mehr denn je den Einsatz der ganzen Persönlichkeit: Wertungen, Auslegungen, Beurteilungsspielräume sind an der Tagesordnung. Die Betonung der notwendigen wissenschaftlichen Grundlegung steht deswegen obenan. Allerdings steht Wissenschaft nicht im luftleeren Raum. Deswegen ist die Konfrontation nicht nur mit der Sache, sondern auch mit der eigenen Person notwendig. Philosophie leistet sie ohnehin. Aber auch die Beschäftigung mit den Techniken der „Schlüsselqualifikationen“ und der fremden Sprachen gehören dazu. Eine solche erste Stufe sollte – wie die Erfahrung gezeigt hat – vier Jahre in Anspruch nehmen. Am Ende sollte ein Staatsexamen stehen – wobei eine Mischung mit einem Universitätsexamen nicht schaden muss. Anmerkung: Es ist erkennbar, dass dieses Konzept zu weiten Teilen den heutigen Zustand der Juristenausbildung an den Universitäten abbildet. Das gilt vor allem in der Form, die sie durch die letzte Reform erhalten hat. Die Einrichtung der Schwerpunktfächer kann – wenn sie sinnvoll eingesetzt werden – förderlich sein. Diese Ausbildung kann auch durchaus „anwaltsorientiert“ heißen: soll sie doch zwar nicht zum Anwalt ausbilden, so soll sie doch dem Studenten die Orientierung ermöglichen, welchen Weg er nach der ersten Stufe einschlagen will: er soll am Ende „über den Anwalt orientiert“ sein. Allerdings wären am vorhandenen Konzept einige massive Einschnitte nötig. Dem Verschwinden der Wissenschaftlichkeit aus der Juristenausbildung muss Einhalt geboten werden. Es ist schlechthin unerträglich, wenn Juristen ins erste Examen gehen, die nichts von den Grundlagenfächern gelernt, keine Vorlesungen gehört und sich ihr Examenswissen beim Repetitor angepaukt haben. Auch wäre eine Zwischenprüfung notwendig, die ihren Namen verdient.

Das heißt im Ergebnis: was zur Ausbildung eines Anwalts gehört, ist in der Universität nach wie vor angelegt. b) Danach sollte eine Vertiefungsausbildung folgen, die auf den Beruf vorbereitet, in unserem Fall also auf den Anwaltsberuf. Sie würde erfordern: 1. Eine praktische Anwaltsausbildung. Sie kann nur beim Anwalt – und nirgends anderswo – stattfinden. Praxis heißt: wirkliche Praxis, also Arbeit beim Anwalt die ganze Woche. Nur das wirkliche Eintauchen in den Beruf gewährleistet den wirklichen Lerneffekt. Diese Ausbildung darf nicht durch ablenkende Arbeitsgemeinschaften und ähnliche Nebentätigkeiten durchsetzt werden – sie muss auch am Stück geleistet werden können. Das schließt nicht aus – dass wegen des Spezialistentums – der Wechsel von einem Anwalt

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zum anderen in dieser Zeit möglich sein sollte. Dennoch sollte der Blick für die Tätigkeit des Generalisten in dieser Zeit nicht verloren gehen. Anmerkung: es ist klar, dass eine solche Ausbildung nicht innerhalb der Regie der Justiz erfolgen kann. Sie muss von der Anwaltschaft selbst geleistet werden. Der schlagendste Beleg hierfür ist, dass die Anwaltschaft diese Art der Ausbildung schon immer angeboten hat: die jungen Kolleginnen und Kollegen in den Kanzleien sind als Assessoren ihre Nutznießer gewesen. Die Anwaltschaft hat auf diese Weise ihren Nachwuchs schon immer selbst ausgebildet – und das hat auch ihren Erfolg ausgemacht. Nur – leider – hat dieses Erfolgsmodell aus zwei Gründen keine Zukunft: • Der weitaus größte Teil der jungen Anwältinnen und Anwälte findet keine Stelle mehr. Er muss selbst beginnen und hat keine Chance, vom ältern Kollegen zu lernen, was vorher nicht gelernt worden ist. Das heißt: die Anwaltschaft muss an anderer Stelle die Chance wahrnehmen, ihren Nachwuchs auszubilden. • Wenn erst Assessoren damit beginnen müssen, Anwalt wirklich zu lernen, dann ist dies – unter dem Blickwinkel der europäischen Konkurrenz – viel zu spät. Die Berufsfertigkeit muss früher liegen. Das heißt: die Phase wirklichen praktischen Lernens muss aus den beruflichen Anfangsjahren heraus in die Ausbildungszeit vorverlegt werden.

Diese praktische Anwaltsausbildung muss 12 Monate dauern. Lange Untersuchungen haben gezeigt, dass diese Mindestzeit nicht unterschritten werden darf. Einen Einblick, auch über die Laufzeit der Mandate, hat nur, wer wenigstens ein Jahr die Praxis an der Pike kennen gelernt hat. Wie eine solche Praxisphase gestaltet werden kann, hat der DAV durch sein Ausbildungshandbuch für die DAV-Ausbildung aufgezeigt. Die Vorarbeit hierfür ist geleistet. 2. Darüber hinaus benötigt der Anwalt auch eine theoretische Anwaltsausbildung. Denn es ist klar, dass im Studium nicht das spezielle theoretische Rüstzeug vermittelt werden konnte, welches ein Anwalt braucht: Berufsund Haftungsrecht, Vergütung und Betriebswirtschaft, Versicherung und Marketing. Die notwendige Fülle an Kenntnissen auf diesem Sektor ist so umfangreich geworden, dass eine Unterrichtszeit von 3 Monaten nicht unterschritten werden kann. Hierbei ist durchaus an konsequenten „verschulten“ Unterricht mit vollem Wochendeputat gedacht. Die notwendigen Curricula hierzu sind ausgearbeitet und liegen vor: auch hier ist die Vorarbeit geleistet. Es ist klar, dass Kontrollen notwendig sind, um sicherzustellen, dass das vermittelte Wissen auch angekommen ist. Anmerkung: in der gegenwärtigen „anwaltsorientierten“ Juristenausbildung wird dieser Stoff in einem von den Kammern organisierten Kursus von 3 Wochen vermittelt. Ich habe in Baden-Württemberg an dessen Konzipierung auf Landesebene mitgewirkt: ein solcher Kurs ist sinnvoll, wenn es darum geht, alle Juristen in der Ausbildung einmal damit zu konfrontieren, was einen Anwalt in seinem Berufsleben betreffen kann. Deswegen sind solche Kurse sinnvoll – nur nicht für die, die

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Anwälte werden wollen. Für sie müssen für denselben Stoff wenigstens drei Monate zur Verfügung stehen. Die gegenwärtigen Kurse sollten deswegen für andere juristische Ausbildungen weitergeführt werden, wenn es zu einer Sparten- und damit z.B. auch zu einer speziellen Richterausbildung kommen sollte.

3. Weiter benötigt der angehende Anwalt auch den Blick in die anderen Berufe. Es wäre ein Irrtum zu glauben, eine Anwaltsausbildung würde auf den Blick in das richterliche Beratungszimmer verzichten. Er ist dringend notwendig – ebenso wie der, den der angehende Richter während seiner Ausbildung auf die Anwaltspraxis werfen muss. Aber für den Blick in die anderen Bereiche der Rechtspflege reichen 6 Monate völlig aus – dazu sind nicht 15 Monate wie bisher erforderlich. 4. Schließlich wäre für jeden Anwalt ein Auslandsaufenthalt von wenigstens drei Monaten sehr wünschenswert. Ich weiß um die damit verbundenen Schwierigkeiten. Aber die Sicht darauf, wie andere Rechtsordnungen dasselbe Problem auf möglicherweise völlig andere Weise zu lösen in der Lage sind, ist heilsam: sowohl in der Schulung des Blicks auf die Relativität des einheimischen Rechts wie auch auf dessen Wert – ein in Zeiten der globalen Rivalitäten der Rechtskreise nicht zu vernachlässigender Umstand. Mindestens der Anspruch auf die Notwendigkeit auf einen Auslandsaufenthalt sollte in einem Konzept einer Anwaltsausbildung aufrechterhalten werden – die Realität wird ihre eigenen Opfer in dieser Hinsicht fordern. 5. Am Ende sollte eine Prüfung stehen. Sie sollte von der Anwaltschaft organisiert sein. Allerdings muss dem Umstand Rechnung getragen werden, dass der Anwaltsberuf kein föderaler, sondern ein bundeseinheitlicher Beruf ist. Auch sprechen eine Reihe von Gründen dagegen, die Prüfung dem Berufsstand allein zu übertragen. Alle diese Gründe könnten für ein Staatsexamen sprechen. Wie Staatsexamina unter federführende Beteiligung des Berufs selbst organisiert und durchgeführt werden, führt der Berufsstand der Steuerberater vor. Hier braucht nichts Neues erfunden werden. c) Bei einer Grundausbildung (Studium) von vier Jahren und einer Vertiefungsausbildung (Anwaltsreferendar) von zwei Jahren ergibt sich somit eine Gesamtdauer von 6 Jahren. Damit wäre eine wesentliche Verkürzung erreicht. Zwar kommen in den heutigen Zeiten des Freischusses zwar auch so kurze Gesamtzeiten vor. Aber heute ist der Assessor nicht fertig zum Anwalt ausgebildet: er benötigt noch zwei Jahre, um in einer Kanzlei zu lernen. Die hier beschriebene Vorstellung wird aber gewährleisten, dass der zweitexaminierte Absolvent den Beruf wirklich gelernt hat, und damit auch, was für viele alternativlos ist, selbständig in den Anwaltsberuf gehen kann. Voraussetzung ist allerdings, dass zwischen erster und zweiter Stufe keine wesentlichen Wartezeiten entstehen und dass die Examenszeiten nicht ungehörig viel Leerlauf verursachen. In beiden Bereichen bestehen heute z.T.

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skandalöse Zustände. Dass es immer noch hingenommen wird, dass Referendare bis zu einem Jahr auf den Beginn des Referendarsdienstes warten müssen, ist unbegreiflich. Fest steht: die Organisationskraft der Anwaltschaft wird – wenn sie in der zweiten Stufe die Regie führt – bessere Ergebnisse zeitigen. d) Die Frage, was ein Anwalt gelernt haben sollte, darf schließlich nicht vergessen, was geschehen soll, wenn der Anwalt später einen anderen Beruf, z.B. den des Richters, ergreifen wollte. Die Antwort kann nur lauten: natürlich muss dies möglich sein. Diese „Durchlässigkeit“ ist ein ganz wesentliches Element einer künftigen Berufsausbildung – in den erwähnten Modellen ist sie längst ausgearbeitet. Es ist nicht so, dass eine Spartenausbildung den eingeschlagenen Berufsweg zementiert. Das Gegenteil ist der Fall. Denn was bietet die Wirklichkeit heute? Es gibt zwar Justizverwaltungen, die den Richternachwuchs bevorzugt aus den Reihen der Anwaltschaft rekrutiert. Aber dieses Modell betrifft nur einen verschwindend kleinen Personenkreis; gibt es doch, wie aufgezeigt, nur noch ganz wenige Richterstellen. Aber hat man je gehört, dass Richter später Anwälte werden – oder dass ein nennenswerter Wechsel mit der höheren Beamtenschaft stattfindet? Kommt es aber zu konkurrierenden Examina (Anwalts-, Richter-, Beamtenexamen) mit späterer Durchlässigkeit, kann der entstehende Wettbewerb die angestrebte Wechslerfreude befördern.

IV. Konsequenz: Anwaltsausbildung Die Darstellung zeigt: das gegenwärtige System, auch das einer „anwaltsorientierten Juristenausbildung“ kann nicht vermitteln, was ein Anwalt gelernt haben muss. Es muss also ein Systemwechsel stattfinden. Er kann nur zu einer Anwaltsausbildung führen. 1. Zwar bietet die erste Stufe (Studium an der Universität) Chancen, vor allem in der durch die Reform restrukturierten Form. Allerdings sollten die Anstrengungen nicht in erster Linie in deren „Anwaltsorientierung“ liegen. Vielmehr wäre nötig, zu erreichen, dass der Anspruch der Wissenschaftlichkeit wieder jede Studentin und jeden Studenten erreicht. Weiter sollte auf eine wirkliche Zwischenprüfung gedrungen werden, damit ungeeignete Kandidaten am Beginn des Ausbildungsweges (und nicht, wenn es zu spät ist, an dessen Ende) gezwungen wären, sich über andere Berufswege Gedanken zu machen. 2. Aber die zweite Stufe kann nicht entfernt leisten, was erforderlich wäre: 12 Monate echte Praxis beim Anwalt und 3 Monate Theorieunterricht. Hier ist ein ganz neues System erforderlich. Es kann nur in einer Anwaltsausbil-

Wie der angehende Anwalt ausgebildet sein muss

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dung liegen. Um sich vor dieser Konsequenz zu drücken, gibt es viele Abhilfevorschläge, die die bestehenden Probleme auf andere Weise lösen wollen. a) Von der einen Seite wird eine Reduzierung der Zahl der Studierenden ins Gespräch gebracht – dann wäre in der zweiten Stufe für eine wirkliche Ausbildung Luft. Das ist jedoch ganz vergeblich. Es nützt nichts, Abiturienten mit einer Warnung vor dem Anwaltsberuf anzusprechen – man erreicht dadurch eher das Gegenteil. Die Faszination des Erfolgs guter Anwälte wird bei der jungen Generation immer wirksam bleiben. Ebenso sinnlos ist es, auf einen numerus clausus zu hoffen. Die kürzliche Heraufsetzung des CNWWerts hat letztlich gar nichts bewirkt. Ohnehin sind Studiensperren problematisch, wie das Fach Medizin gezeigt hat. Manche schließlich wiegeln mit der Behauptung ab, die Studentenzahlen würden von allein zurückgehen. Vergebliches Hoffen – die Zahlen werden eher zunehmen. Die Forderung wenigstens nach einer effizienten Zwischenprüfung könnte hier eine Milderung zu erreichen – Erfahrung mit der ihrer Einführung und Abschaffung in der Vergangenheit stimmen allerdings skeptisch. Zum einen kosten sie Geld, zum anderen ist die Zahl der Studenten Finanzierungsgrundlage der Universitäten. b) Die Vorstellung, man brauche nur den gegenwärtigen Referendarsdienst entsprechend anzupassen, ist ganz unrealistisch. Solange die „Befähigung zum Richteramt“ das Ziel ist, wird die Justiz die Zügel nicht aus der Hand geben. Das liegt in der Natur der Sache – es ergibt sich auch aus den Erfahrungen, die mit dem gegenwärtigen Drei-Wochen-Kurs gemacht wurden: die Rechtsanwaltskammern dürfen ihn zwar komplett bezahlen. Ihr Mitspracherecht bei der Organisation ist eher dürftig. 12 Monate echte Praxis beim Anwalt und 3 Monate Theorieunterricht durch Anwälte kann nur die Anwaltschaft in eigener Regie durchführen, wenn sie erfolgreich sein sollen. c) Von einer letzten Seite wird eine Radikalkur am Ende der Ausbildung vorgeschlagen: die Forderung nach der Wiedereinführung des Anwaltsassessoriats feiert immer wieder fröhliche Urständ. Dieser Vorschlag ist gänzlich indiskutabel. Er ist erstens verfassungsrechtlich ausgekocht und zweitens mit Blick auf Europa nicht vertretbar: eine Verlängerung der Ausbildungszeit bis zum fertigen Anwalt kommt keinesfalls in Betracht. d) Nein – es kann nur eine Lösung geben: der Referendarsdienst selbst muss abgeschafft werden. Denn es gibt ein weiteres wichtiges Argument: der Anwalt muss lernen, selbständig zu werden. Das ist wichtigster Teil seiner Ausbildung. Anwalt ist Freier Beruf - und angesichts der heutige Zwänge für einen Großteil von Anfang an. Es gehört zu den Mysterien unserer Zeit, dass immer noch der Anspruch aufrechterhalten wird, Freier Beruf könne in einem Dienstverhältnis beim Staat gelernt werden! Dort kommt das Gehalt jeden Monat von allein – gleich was man geleistet hat: Gift für einen Frei-

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Hartmut Kilger

berufler! Selbständig werden heißt auch: entscheiden lernen. Der automatische Übergang vom Studium in einen bereit gestellten Referendarsplatz vertagt Entscheidungen auf einen Lebensabschnitt, in dem andere schon lange Berufserfahrungen hinter sich haben – auch andere Akademiker. Deswegen ist klar: die durch die Gießkanne an alle gezahlten Referendarsgehälter sind staatliche Subvention, die zu massiven Fehlsteuerungen im Markt führen. Diese Subvention muss gestrichen werden. e) Das bedeutet allerdings auch: niemand hat mehr Anspruch auf einen Referendarsplatz. Wer Anwalt werden will, muss sich vielmehr einen solchen suchen. Die Behauptung, die Anwaltschaft würde solche nicht anbieten können, ist abwegig. Bereits in der DAV-Ausbildung hat sich eine hohe Bereitschaft in der Kollegenschaft gezeigt. Vor allem wird verkannt, dass die Anwaltschaft ja auch bisher den Nachwuchs – nur eben nicht zu Tausenden jährlich – ausgebildet hat. Schließlich ist der Anwaltsreferendar nicht mehr – wie der Rechtsreferendar bisher – das fünfte Rad am Wagen. Er ist vielmehr voll einsatzfähig in der Kanzlei – eben von Montag bis Freitag. Das sichert auch den Lebensunterhalt des Anwaltsreferendars. Er bekommt bei seinem Ausbildungsanwalt ein Gehalt. Die immer wieder gehörte Behauptung, die Abschaffung des Referendarsdienstes sei aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht möglich, jeder müsse auf Staatskosten als Referendar weiterkommen, ist falsch. Das vorgeschlagene Modell wird bei den Steuerberatern ohne Probleme seit langem praktiziert, ohne dass jemand auf die Idee gekommen wäre, das sei verfassungswidrig. f) Dass die Stationen bei anderen Stellen der Rechtspflege einen gesonderten Abrechnungsmodus erfordern ist klar. Das wird von der Anwaltschaft zu organisieren sein – wie auch umgekehrt der Besuch von Richterreferendaren in Anwaltskanzleien. Ein Hindernis ist diese Thematik nicht. Anwaltsausbildung heißt also: verbessertes vierjähriges Studium nach obigen Vorschlägen mit einem Abschluss, der den künftigen echten Einheitsjuristen darstellt. Anschließend Entscheidung, dass der Berufsweg z.B. des Anwalts eingeschlagen werden soll. Suche nach einem Ausbildungsplatz bei einem Anwalt, der seinen Anwaltsreferendar bezahlt. 12 Monate echte Praxis, 3 Monate theoretische Anwaltsgrundlagen, 6 Monate andere Stationen und wenn irgend möglich 3 Monate Ausland. Bundeseinheitlicher Abschluss mit späterer Durchlässigkeit in andere juristische Berufe. Diese Lösung wird kommen. Die Frage ist nur, wie lange es noch dauern wird. Es sollte schnell gehen. Denn es muss gesichert werden, dass jeder, der Anwalt wird, auch Anwalt gelernt hat. Das wird das überkommene System nie sicherstellen können. Deswegen müssen wir immer wieder von einer Reform der Juristenausbildung reden.

Die Organisation der Rechtsanwaltskammern – sind die gesetzlichen Grundlagen noch zeitgemäß? Peter Ströbel Inhaltsübersicht I. II. III. IV.

Einführung . . . . . . . . . . . . . . Änderungen im letzten Jahrzehnt . Vorstand der Rechtsanwaltskammer Geschäftsführung . . . . . . . . . .

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I. Einführung In diesem kurzen Beitrag soll untersucht werden, ob die Einrichtung der Rechtsanwaltskammer mit ihren Funktionsträgern und Gremien in der BRAO noch so geregelt ist, wie es dem tatsächlichen Bild entspricht, insbesondere im Hinblick auf den ungeheuren Zuwachs von Mitgliedern. In 10 Jahren hat sich die Zahl in ungefähr verdoppelt und lag Ende des Jahres 2005 bei ca. 138.000.1 Bei einer solchen Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse muss man die Frage stellen, ob die bestehenden Strukturen noch demokratisch legitimiert sind. Es geht auch um die weitere Frage, ob die von den Organen ausgeführten Aufgaben noch den gesetzlichen Grundlagen entsprechen.

II. Änderungen im letzten Jahrzehnt 1. Die Rechtsanwaltskammer ist eine Körperschaft öffentlichen Rechts, der der Gesetzgeber hoheitliche Aufgaben übertragen hat, damit ein Selbstverwaltungsorgan aller Angehörigen des Berufsstands diese Aufgaben ausführen kann. Gesetzliche Grundlage ist die BRAO vom 01. August 1959.2 Die BRAO hat in den Jahren 1964 bis 1994 zahlreiche einzelne Änderungen erfahren, ist aber im wesentlichen in den Strukturen unverändert geblieben. 1 2

Presseveröffentlichung der BRAK vom 20.02.2006 in der FAZ. BGBl. I, S. 565.

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Dazu gehörte als eine zentrale Aufgabe der Hauptversammlung der Bundesrechtsanwaltskammer, gemäß § 177 BRAO a.F. Standesrichtlinien zu schaffen, die das Berufsrecht der Rechtsanwälte im Einzelnen regeln. 2. Das Bundesverfassungsgericht hat am 14.07.1987 in zwei richtungweisenden Beschlüssen entschieden, dass die Standesrichtlinien gemäß § 177 BRAO a.F. künftig weder als normative Regelung der anwaltlichen Berufspflichten, noch als rechtserhebliches Hilfsmittel zur Konkretisierung der Generalklausel des § 43 BRAO in Betracht kommen.3 Die durch den Grundsatz der freien Advokatur gekennzeichnete anwaltliche Berufsausübung unterliege unter der Herrschaft des Grundgesetzes der freien und unreglementierten Selbstbestimmung des Einzelnen. Dies hatte zur Folge, dass die Standesrichtlinien nur noch vorübergehend und in eingeschränkter Form zur Aufrechterhaltung der Rechtspflege angewendet werden konnten. Der Gesetzgeber war aufgefordert, eine neue Rechtsgrundlage für die Festlegung der Berufspflichten von Rechtsanwälten zu schaffen. Bevor dies geschehen ist, gab der Gesetzgeber den Rechtsanwälten Gelegenheit, ganz ausführlich und über mehrere Jahre hinweg zu diskutieren, wie das Berufsbild des Rechtsanwalts als Organ der Rechtspflege im freiheitlichen Rechtsstaat Ende des 20. Jahrhunderts aussieht und wie die dazu notwendigen Regeln lauten sollen. Da die Anwaltschaft innerhalb der Gesellschaft multikulturell ist und die Berufsausübung in den verschiedensten Formen von der traditionellen Einzelkanzlei bis zur großen Wirtschaftskanzlei höchst unterschiedlich geworden ist, war die Auseinandersetzung über die einzelnen Bestimmungen der künftigen BRAO außerordentlich kontrovers. Insbesondere haben Repräsentanten der Bundesrechtsanwaltskammer und Repräsentanten des Deutschen Anwaltsvereins lange gebraucht, um sich auf gemeinsame Grundsätze zu einigen. Nachdem dieses Ziel erreicht war, hat der Gesetzgeber die BRAO im Gesetz zur Neuordnung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und der Patentanwälte vom 02.09.1994 erlassen.4 3. Der wichtigste Teil der Neufassung betrifft die Einrichtung der Satzungsversammlung gemäß § 191 a BRAO. Die Satzungsversammlung hat die Aufgabe, als Satzung eine Berufsordnung für die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs unter Berücksichtigung der beruflichen Pflichten nach Maßgabe der BRAO zu erlassen. Die Mitglieder der Satzungsversammlung bestehen aus den Präsidenten der Kammern ohne Stimmrecht und den von allen Kammermitgliedern gewählten Vertretern mit Stimmrecht. Der Gesetzgeber wollte die Satzungsversammlung so strukturieren, dass sie durch Zahl und Zusammensetzung

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NJW 1988, 191 und 194. BGBl. Teil I, S. 2278.

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ihrer Mitglieder der schwierigen Aufgabe gewachsen ist, die Berufsordnung aufzustellen und ständig fortzuentwickeln. Die Anwaltschaft ist längst kein homogener Berufsstand mehr. Unterschiedliche Spezialisierungen, unterschiedliche Praxisgrößen und unterschiedliche Interessen der Rechtsanwälte sollen sich in der Satzungsversammlung widerspiegeln. Das ist nur gewährleistet, wenn die verschiedenen Gruppen der Rechtsanwälte in der Satzungsversammlung repräsentativ vertreten sind und zudem die Zahl der Mitglieder in der Satzungsversammlung der Mitgliederstärke der einzelnen Rechtsanwaltskammern entspricht. Deshalb soll für je angefangene 1000 Kammermitglieder ein Mitglied in die Satzungsversammlung gewählt werden. Damit wird zugleich dem demokratischen Erfordernis genügt, dass die Anzahl der Stimmen im Satzungsgremium mit der Mitgliederzahl der Rechtsanwaltskammer korrespondieren muss.5 Zur Erhöhung der Akzeptanz der Satzungsversammlung erfolgt die Wahl ihrer Mitglieder nach den Grundsätzen der Persönlichkeitswahl und durch Briefwahl.6 Weitere Vorgaben für die Durchführung der Wahl zur Satzungsversammlung fehlen in der BRAO. Dies bedeutet, dass jede einzelne Kammer aufgerufen war, sich selbst eine Satzung zur Wahl zu geben. Dies ist auch in allen 28 Kammern, wenn auch mit unterschiedlichem Inhalt, geschehen. 4. Aufgrund der vorgenannten Gesetzesänderung wurden in den einzelnen Kammern Vertreter gewählt. Die 1. Satzungsversammlung hat sich am 07.09.1995 konstituiert und im Anschluss daran nach mehreren Sitzungen eine neue Berufsordnung für Rechtsanwälte (BORA) vom 29.11.1996 verkündet.7 Zwischenzeitlich sind nach Zeitablauf weitere Satzungsversammlungen gewählt worden, die die BORA fortentwickelt haben.8 Dass dies richtig war, kann am Beispiel der Vorschriften über die Werbung deutlich gemacht werden. Die BRAO enthält nur einen allgemeinen Grundsatz in § 43b BRAO. Die BORA hat die beruflichen Pflichten zur Werbung in den §§ 6 bis 10 festgelegt. Diese werden fast ständig geändert. Dies wird an dieser Stelle nur aufgezeigt, weil daraus ersichtlich wird, dass die Einrichtung einer Art Urwahl zur Konstitution einer Vertreterversammlung die einzig richtige demokratische Legitimation hat, um ein so wichtiges Regelwerk für die Berufsangehörigen zu schaffen. 5. Es ist auffallend und eigentlich unverständlich, dass im Rahmen dieser entscheidenden Veränderung zwar ein neues Beschlussorgan der Bundesrechtsanwaltskammer geschaffen wurde. Mit der Ansiedlung des neuen Or5 6 7 8

Henssler/Prütting – Kommentar BRAO, 2. Aufl. 2004, Anm. 2 zu § 191b. Bundestagsdrucksache 12/7656, S. 51. BRAK-Mitteilungen 1996, 241. BRAK-Mitteilungen 2002, 122, 219.

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gans bei der Bundesrechtsanwaltskammer wird aber auf bewährte Strukturen zurückgegriffen.9 Dies hat die Folge, dass nach herrschender Meinung die Bundesrechtsanwaltskammer aktiv legitimiert ist im Falle eines Rechtsmittels gegen einen Aufhebungsbescheid des Bundesjustizministeriums.10 Die Entscheidung des Gesetzgebers, sich der Strukturen der Bundesrechtsanwaltskammer zu bedienen, hat wohl dazu geführt, dass auch die Strukturen und Organe der regionalen Rechtsanwaltskammern unangetastet blieben. Dies kann daran liegen, dass die Bundesrechtsanwaltskammer nichts anderes ist als der Zusammenschluss der regionalen Rechtsanwaltskammern (§ 175 Abs. 1 BRAO). Die Bundesrechtsanwaltskammer ist die Dachorganisation der 28 Rechtsanwaltskammern. Mitglieder sind also nicht die einzelnen Rechtsanwälte, sondern die Personalkörperschaften der regionalen Kammern. Die Eigenverantwortlichkeit dieser einzelnen Kammern muss gewahrt bleiben.11 So hat sich zwar die von den Kammern anzuwendende Berufsordnung geändert, es verblieb aber bei den herkömmlichen Strukturen und Organen. Es wäre m.E. naheliegend gewesen, im Zusammenhang mit den vorstehend dargestellten Veränderungen auch über neue Strukturen und Organe bei den einzelnen Regionalkammern nachzudenken und entsprechende Änderungen vorzunehmen. Dass dies nicht geschehen ist, muss bedauert werden. Es gibt schon jetzt ganz erhebliche Lücken im Gesetz. Darüber hinaus stellen sich grundsätzliche rechtsstaatliche Fragen, deren Prüfung den Bestimmungen des Grundgesetzes und auch europarechtlichen Bestimmungen auf die Dauer nicht standhalten werden. Im Einzelnen werden in der Folge solche Fragen aufgeworfen.

III. Vorstand der Rechtsanwaltskammer 1. Der Vorstand repräsentiert die Rechtsanwaltskammer. Er muss in dieser Stellung durch die Gesamtheit der Kammermitglieder legitimiert werden. Dies ergibt sich aus der amtlichen Begründung zu § 64 BRAO. Die Mitglieder des Vorstands können nach der derzeitigen Rechtslage nur von der Versammlung der Kammer gewählt werden (§ 88 Abs. 2 bis 5 BRAO). Das Wahlverfahren regelt die Geschäftsordnung der Kammer, wobei die Kammern in der Ausgestaltung ihrer Geschäftsordnung relativ frei sind. Sie haben im Rahmen der ihnen zugebilligten Verbandsautonomie eine angemessene und mit den Grundsätzen der Demokratie vereinbare Regelung zu treffen. 9

Bundestagsdrucksache 12/4993. Kommentar Feuerich/Weyland zur BRAO, 6. Aufl. 2003, Anm. 3 zu § 191 e a.M.: Henssler/Prütting, Anm. 16 zu § 191 e. 11 Tettinger, zum Tätigkeitsfeld der BRAK-Schriftenreihe der BRAK, Band 7. 10

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Der Gesetzgeber darf bei seiner Abwägung zu dem Ergebnis gelangen, dass das berechtigte Interesse eines Berufsstands, in der Organisation seiner eigenen Berufsvertretung möglichst frei von gesetzlichen Vorschriften und Bindung zu sein, schwerer wiegt, als die Gefahr einer unzulässigen Wahlbeeinflussung bei offener oder globaler Abstimmung. Zu einem solchen Ergebnis der Abwägung durfte der Gesetzgeber insbesondere für die Wahlen zum Vorstand der Anwaltskammer gelangen. Dabei fällt ins Gewicht, dass Wahlleiter, Wähler und zu wählende sämtliche Rechtsanwälte und damit nach ihrer Lebensstellung unabhängige Organe der Rechtspflege sind (§ 1 BRAO). Von ihnen kann erwartet werden, dass sie eine unzulässige Wahlbeeinflussung weder versuchen, noch ihr unterliegen.12 Innerhalb des der Anwaltskammer zur freier Regelung eingeräumten Bereiches ist diese befugt, in ihrer Geschäftsordnung auch mehrere, von einander abweichende Modalitäten für die Vorstandswahl zur Verfügung zu stellen.13 Unzulässig ist allerdings eine Geschäftsordnung, die vorsieht, dass in anderer Form als durch Anwesenheit in einer Kammerversammlung, ein Vorstand gewählt wird. Dies würde gegen die zwingende Bestimmung von § 64 Abs. 1 verstoßen. 2. Die tatsächlichen Verhältnisse sind aber zwischenzeitlich in allen Kammern so, dass die Anwesenheit der Mitglieder in den Versammlungen nur noch einen ganz geringen Organisationsgrad hat. Nach der Erfahrung der letzten 10 Jahre sind kaum mehr als 5 % der in der Kammer registrierten Mitglieder im Falle von Wahlen bei den Versammlungen anwesend. Häufig liegt der Prozentsatz eher bei 1 %. Der vom Gesetzgeber im Jahre 1959 ins Gesetz aufgenommene Gedanke, dass eine Kammer nach den Grundsätzen der unmittelbaren Demokratie strukturiert werden könne, lässt sich bei den Zahlen im Jahre 2006 nicht mehr vertreten. Es muss dabei bleiben, dass die Mitglieder an der Willensbildung in der Kammer teilnehmen. Die Versammlung ist dann, wenn daran nur ein so geringer Prozentsatz von Mitgliedern teilnimmt, nicht mehr als Organ der Willensbildung anzusehen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass § 61 BRAO vorsieht, im Bezirk eines Oberlandesgerichts eine weitere Rechtsanwaltskammer zu errichten, wenn in dem Bezirk mehr als 500 Rechtsanwälte oder Rechtsanwaltsgesellschaften zugelassen sind. Hieraus ist zu erkennen, dass der Gesetzgeber im Jahre 1959 davon ausging, die Zahl von 500 Mitgliedern stelle eine Art Obergrenze dar, bei der eine Kammerversammlung noch als Organ der Willensbildung angesehen werden kann. Obwohl § 61 geltendes Recht ist, hat keine Landesjustizverwaltung in Deutschland seit 1959 davon Gebrauch gemacht, in Folge der wachsenden Zahl von Mitgliedern in den 12 13

BGH, BRAK-Mitteilungen 2001, 40. BGHZ 52, 297.

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einzelnen Kammern neue Kammern einzurichten. Wenn nunmehr festzustellen ist, dass die Rechtsanwaltskammer München etwa 16.000 Mitglieder hat, so hat sich das Bild für die Willensbildung in einer Versammlung, an der 200 oder 300 Mitglieder teilnehmen, vollkommen verändert. Es ist kaum vertretbar, dass 200 erschienenen Mitgliedern einer Versammlung die Willensbildung für 16.000 Mitglieder obliegt. 3. Auch wenn das Grundgesetz ein ausdrückliches Demokratisierungsgebot für Selbstverwaltungskörperschaften, und zwar insbesondere für berufsständische Kammern, nicht enthält, so folgt die Notwendigkeit einer demokratischen Binnenverfassung, welche auch das Bundesverfassungsgericht bejaht, letztlich aus dem Demokratieprinzip sowie einer Analogie zu Art. 28 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 3 GG.14 Entscheidungskompetenz und Entscheidungsstruktur bzw. Entscheidungsverfahren haben jeweils den Maßstäben der grundrechtlichen demokratischen Legitimation Rechnung zu tragen. Die kammerinterne Struktur und damit auch das Wahlverfahren, müssen dem Gebot einer Proportionalität von Delegationsumfang und demokratischer Organisationsstruktur genügen. Besonders für die Wahl eines Repräsentativorgans müssen die grundlegenden demokratischen Anforderungen an das Wahlverfahren gewahrt sein.15 Das Demokratiegebot macht vor der funktionalen Selbstverwaltung nicht Halt, sondern wirkt auch in deren Bereich hinein. Voraussetzung für die demokratische Legitimation durch die Wahl seitens der Mitglieder ist, dass die legitimationsvermittelnde Wahl des Hauptorgans durch die Mitglieder tatsächlich stattfindet und ihrerseits demokratischen Mindestanforderungen genügt.16 Isele hat in seinem Kommentar zur BRAO erklärt, dass die Vorschrift über die Wahl des Vorstands zu den zentralen Bestimmungen der Bundesrechtsanwaltsordnung gehört.17 Es erscheint deshalb notwendig, dass der Gesetzgeber die Bestimmungen zur Wahl in den Vorstand der Kammer dahingehend ändert, dass eine Urwahl in Form einer Briefwahl vorgesehen wird, wie dies für die Satzungsversammlung in § 191 b BRAO bereits geregelt ist. Hartung meint, dass dies längst überfällig ist. Es sei weniger ein Desinteresse, dass die Kammermitglieder von einer Teilnahme an den Kammerversammlungen und damit von der Wahl der Vorstandsmitglieder abhält. Viel-

14 Kommentar Kleine-Cosack zur BRAO, 4. Aufl. 2003, Anm. 2 zu § 64. BVerfG 33, 125 und 76, 171. 15 Tettinger, Funktionale Selbstverwaltung und Demokratieprinzip, Verlag Peter Lang, Frankfurt/M. 2001. 16 VGH Baden-Württemberg, Vorlagebeschluss vom 02.02.1997. 17 Isele, Kommentar zur BRAO 1976, Anm. V. A zu § 64.

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mehr würden viele Rechtsanwälte, die ihre Anwesenheit an den sonstigen, meist routinemäßig abzuhandelnden Tagesordnungspunkten für überflüssig halten, es angesichts ihrer eigenen beruflichen Belastung nicht einsehen, allein wegen einer Vorstandswahl an den Ort der Kammerversammlung reisen zu müssen, zumal die Entfernung zwischen dem Sitz der eigenen Kanzlei und dem Ort der Kammerversammlung oft recht groß ist.18 Der amtierende Präsident der großen Rechtsanwaltskammer Frankfurt hat am 01.10.2004 anlässlich der 125 Jahr-Feier dieser Kammer diese Auffassung ebenfalls vertreten.19 Die Rechtsanwaltskammern seien noch wie vor 125 Jahren nach klassischen Vorstellungen der Basisdemokratie strukturiert. Deshalb halte er es für an der Zeit, dass der Gesetzgeber es ermöglicht, mehr Demokratie zu wagen. Die Repräsentanten der Kammer sollten wie bei der Wahl zur Satzungsversammlung gewählt werden. Dabei könne auch problemlos sichergestellt werden, dass Allgemeinanwälte und kleine Sozietäten sich dort ebenso repräsentiert finden wie große Sozietäten oder gar rechtsberatende Kapitalgesellschaften. Dies würde die Vorstände innerlich stärken. Schließlich wird auch von Feuerich die Meinung vertreten, dass eine Briefwahl grundsätzlich im Interesse einer stärkeren Beteiligung der Kammermitglieder an den Wahlen wünschenswert wäre.20 Soweit ersichtlich, finden sich in der Literatur und der Rechtsprechung im letzten Jahrzehnt nirgends Hinweise dafür, dass die gegenwärtige Rechtslage zur Wahl in den Vorstand einer Rechtsanwaltskammer zwingend erhalten bleiben müsse. Es kann deshalb zusammengefasst festgestellt werden, dass die geltenden Bestimmungen zur Wahl in den Vorstand der Rechtsanwaltskammer an einem Mangel demokratischer Legitimation leiden, der dringend einer gesetzgeberischen Abhilfe bedarf. 4. Ergänzend muss noch darauf hingewiesen werden, dass auch europarechtliche Überlegungen zu diesem Ergebnis führen. Darauf hat der Vorsitzende des Europaausschusses bei der Bundesrechtsanwaltskammer, Rechtsanwalt JR Heinz Weil bei einer Festveranstaltung der Rechtsanwaltskammer Sachsen in Dresden am 23.11.2005 deutlich aufmerksam gemacht. Das System der Kammern als Selbstverwaltungskörperschaften mit eigener Regelungsbefugnis steht auch bei der Kommission in Brüssel unter strenger und kritischer Beobachtung. Die Kommission wird versuchen, Ansätze dafür zu finden, dass die Kammern als autonome Selbstverwaltungskörperschaften nicht aufrecht erhalten bleiben können. Dazu kommt der Clementi-Bericht in England zu Hilfe, der dazu geführt hat, dass die Befugnisse der Selbstver-

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Henssler/Prütting – Kommentar BRAO, Anm. 2 zu § 64. BRAK-Mitteilungen 6/2004, S. 244. Kommentar Feuerich/Weyland zur BRAO, Anm. 1 zu § 64.

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waltungskörperschaft ganz erheblich eingeschränkt werden. Wenn die Kommission einen Mangel an der Legitimation der Repräsentanten der Kammer feststellen kann, wird sie eine Chance sehen, das Kammersystem in der bisherigen Form in Frage zu stellen. Auch aus diesem Grund wird es dringend erforderlich sein, im Vorgriff auf europäische Interventionen die Wahlen zum Vorstand einer Kammer demokratisch zu legitimieren. 5. Die Änderungen der BRAO für die Wahl in den Vorstand würden die §§ 64 und 88 betreffen. Die Regelung könnte identisch sein wie die Wahl zur Satzungsversammlung nach § 191 b BRAO. Ergänzend müsste aber auch geregelt sein, dass das rollierende Verfahren gemäß § 68 Abs. 2 künftig entfällt. Dies würde bedeuten, dass Wahlen zum Vorstand nicht mehr 2-jährig, sondern 4-jährig für alle Vorstandsmitglieder stattfinden. Der Grund für diesen Vorschlag liegt nicht darin, dass das rollierende Verfahren gegen demokratische Grundprinzipien verstößt. Es ist einzuräumen, dass dieses Verfahren den Vorteil hat, in der Vorstandsarbeit eine gewisse Kontinuität herzustellen. Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte in den Kammervorständen zeigt aber deutlich, dass die Fluktuation bei Neuwahlen nicht sehr groß ist. Somit spielt der Gedanke einer mangelnden Kontinuität keine entscheidende Rolle. Dagegen ist der Aufwand an Arbeit und an Kosten für eine Kammer im Falle einer Briefwahl von allen Mitgliedern sehr hoch. Dieser Aufwand sollte deshalb nur alle vier Jahre anfallen. Aus dem gleichen Grunde sollte § 69 Abs. 3 geändert werden, wonach eine Nachwahl stattzufinden hat, wenn ein Mitglied des Vorstands vorzeitig ausscheidet. Auch diese Nachwahl würde im Falle einer Urwahl große Kosten verursachen. Es können keine Bedenken dagegen bestehen, dass ebenso wie bei der Satzungsversammlung der Kandidat, der zunächst nicht gewählt wurde, aber von den nicht gewählten Kandidaten die meisten Stimmen hat, nachrückt.

IV. Geschäftsführung 1. Zu den Mängeln der Organisationsstrukturen, wie sie in der BRAO geregelt sind, gehört auch die Tatsache, dass die Tätigkeit der Geschäftsführer nicht gesetzlich geregelt ist. Alle 27 Regionalkammern haben zwischenzeitlich einen oder mehrere Geschäftsführer, je nach Größe der Kammer. Die Geschäftsführer oder Geschäftsführerinnen sind in der Regel auch zugelassene Rechtsanwälte. Sofern mehrere Geschäftsführer in einer Kammer angestellt sind, gibt es auch die Differenzierung zwischen Hauptgeschäftsführer, Geschäftsführer und stellvertretendem Geschäftsführer. Geschäftsgrundlage für die Beschäftigung von Geschäftsführern sind die Geschäftsordnungen der einzelnen Kammern.

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Soweit der Gesetzgeber keine abschließenden Vorgaben für die Organe einer juristischen Person und ihre Struktur gemacht hat, können die betreffenden Organisationen aufgrund der ihnen zustehenden Organisationsgewalt die erforderlichen Regelungen durch interne Organisationsakte treffen, soweit es um die Bildung von Organteilen geht.21 Organe sind durch ein institutionelles und ein funktionales Merkmal gekennzeichnet.22 In institutioneller Hinsicht ist das Organ dem Verwaltungsträger eingegliedert, besitzt aber eine gewisse organisatorische Selbständigkeit, vor allem in Beziehung zu anderen Organen. In funktionaler Hinsicht hat das Organ bestimmte Zuständigkeiten, die allerdings keine Eigenzuständigkeiten, sondern Fremdzuständigkeiten sind. Das Organ hat die Zuständigkeiten seines Verwaltungsträgers wahrzunehmen.23 Organ im juristischen Sinne ist ein durch organisierende Rechtssätze gebildetes, selbständiges institutionelles Subjekt von transitorischen Zuständigkeiten zur funktionsteiligen Wahrnehmung von Aufgaben einer rechtsfähigen Organisation.24 Es ist daher zu fragen, ob der Geschäftsführer Aufgaben der Kammer in der Form wahrnimmt, dass die Kammer als Verwaltungsträger durch den Geschäftsführer handelt, sei es im Innen- oder Außenbereich. 2. In der BRAO fehlt es für die Regionalkammern an den gesetzlichen Grundlagen dafür, dass ein Geschäftsführer als Organ nach innen oder außen die Kammer vertreten kann. Es hat sich in der Praxis im Zuge wachsender Mitgliederzahlen und der Zunahme der Verwaltungsaufgaben aber die Notwendigkeit ergeben, die ehrenamtlich tätigen Präsidiumsmitglieder und die Mitglieder des Vorstands insbesondere von der reinen Büroleitung und dem Vollzug und der Erledigung von Aufgaben, die nicht Beschlussaufgaben sind und die nicht Kraft Gesetzes einem Organ oder Funktionsträger allein vorbehalten sind, zu entlasten.25 Diese Geschäftsführer unterstehen der Aufsicht des Präsidenten, der auch die Aufgaben des Geschäftsführers bestimmt. Dies entspricht der Regelung in der Satzung der Bundesrechtsanwaltskammer, Abschnitt IV, Abs. 5. In dieser Bestimmung ist geregelt, dass die Hauptversammlung der Bundesrechtsanwaltskammer besoldete Geschäftsführer bestellen kann. Diese Geschäftsführer sind aber nicht Organ der Bundesrechtsanwaltskammer im Sinne der vorstehenden Definition.

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Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht, Band 2, 4. Aufl. 1976, § 78. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2002, § 21 Rn. 22. Wolff/Bachof, § 74, Fn. 7. Wolff/Bachof, a.a.O. Feuerich/Weyland, Anm. 9 zu § 80 BRAO.

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3. Es ist nicht zu verkennen, dass sich die Zahl der Mitglieder in den Regionalkammern seit der letzten Fassung der BRAO von 1994 in ungefähr verdoppelt hat. Es ist noch viel weniger zu verkennen, dass den Kammern laufend zusätzliche hoheitliche Aufgaben übertragen werden, wie z.B. die Zulassung und künftig auch in allen Bundesländern die Vereidigung von neuen Mitgliedern sowie den Widerruf von Zulassungen. Die Landesjustizverwaltungen entlasten sich laufend von Aufgaben, die ihnen nach der Intension des Gesetzes zugeordnet sind, um im Staatshaushalt Geld zu sparen. Dies stärkt nicht nur die autonome Selbstverwaltung der Kammern, sondern belastet sie auch in großem Umfang finanziell und personell. Es ist naheliegend, dass dieses Maß von personeller Belastung durch ehrenamtliche Vorstandsmitglieder nicht mehr bewältigt werden kann. Die von den Kammern angestellten Geschäftsführer erledigen somit einen großen Teil der Verwaltungsaufgaben. Es ist selbstverständlich, dass sie dadurch beruflich sehr viel intensiver mit den Belangen der Anwaltschaft befasst sind als die ehrenamtlichen Vorstandsmitglieder. In berufspolitischen und berufsrechtlichen Fragen sind die Geschäftsführer nach einer Reihe von Dienstjahren so versiert, dass sie gegenüber den ehrenamtlichen Vorstandsmitgliedern die weit größere Erfahrung haben. Dies gilt auch für die Entwicklung der Rechtsprechung in berufsrechtlichen Fragen bei den Anwaltsgerichten, dem Anwaltsgerichtshof und dem Anwaltssenat des Bundesgerichtshofs. 4. Es ist deshalb zu prüfen, ob es sinnvoll ist, den Geschäftsführern der Regionalkammern durch Änderung der BRAO eine eigenen Organstellung zu geben. Für den Innenbereich ist dies in der Zukunft notwendig. Dies gilt nicht nur für die Leitung der Geschäftsstelle, die bei den größeren Kammern zahlreiche hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat. Dies gilt auch für die Mitgliederverwaltung, die mehr und mehr elektronisch gestützt ist. Dies gilt schließlich auch für alle vorbereitenden Maßnahmen von Verwaltungsakten, die sich aus der Übertragung von hoheitlichen Aufgaben ergeben. Die Geschäftsführer sollten vom Präsidium bestellt und vom Präsidenten angestellt werden. Der Präsident sollte in allen Angelegenheiten Weisungsrecht haben. Notwendigerweise müsste dann die Funktion der Geschäftsführer einer Regionalkammer im Gesetz möglichst genau bezeichnet und gegenüber den Funktionen des Vorstands, des Präsidiums und des Präsidenten abgegrenzt werden. Dies gilt ebenso für die Vertretungsbefugnis. 5. Ein entscheidender Gesichtspunkt in der Diskussion um die Frage, ob Geschäftsführer Organe einer Rechtsanwaltskammer werden sollen, wird deren möglicher Einfluss auf die Institution und die Berufspolitik im Allgemeinen sein. Es darf nicht übersehen werden, dass ein hauptamtlicher Geschäftsführer über alle Vorgänge innerhalb der Kammer und innerhalb des

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ganzen Berufsstands besser informiert ist als ein ehrenamtliches Vorstandsmitglied. Dies liegt ausschließlich daran, dass der Geschäftsführer vollzeitig tätig ist und seinen Sitz dort hat, wo die Informationen zu allererst eintreffen und sich auch bündeln. Dazu kommt die Tatsache, dass bei mehrjähriger oder langjähriger Tätigkeit sich ein hohes Maß an Überblick und Erfahrung ansammelt. Schließlich darf auch nicht übersehen werden, dass eine Person, die innerhalb einer Institution eine Organstellung hat, auch mit einem ganz bestimmten Maß von Macht ausgestattet ist. Letztendlich kommt es deshalb darauf an, welcher Persönlichkeit ein Amt als Geschäftsführer anvertraut wird. Da eine gesetzliche Regelung zur Einführung eines Organs völlig abstrakt ist, verbleiben aus den genannten Gründen Risiken für die Funktionsfähigkeit des Selbstverwaltungsorgans. Auf jeden Fall muss sichergestellt sein, dass alle wesentlichen verbandspolitischen Entscheidungen ausschließlich vom Vorstand getroffen werden müssen, dass das Präsidium und der Präsident die Kammer nach außen ausschließlich repräsentieren und dass die Weisungsbefugnis des Präsidenten uneingeschränkt ist. Darüber hinaus sollte gesetzlich geregelt werden, dass der Geschäftsführer einer Kammer ebenso wie der Geschäftsführer einer GmbH jederzeit abberufen werden kann, ohne dass ihm ein Kündigungsschutz zur Seite steht. Eine Kammer hat berufspolitische Aufgaben, die einem Tendenzbetrieb ähneln. Wenn ein Geschäftsführer mit den verbands- und berufspolitischen Vorstellungen des Vorstands nicht übereinstimmt oder gegen diese handelt, muss die Möglichkeit bestehen, ihn ohne rechtliche Schwierigkeiten von der Aufgabe des Geschäftsführers zu entbinden. Unter diesen Voraussetzungen ist es vertretbar, einen Geschäftsführer Kraft Gesetzes auch zum Organ der Kammer zu machen. Wenn ein Präsident die Kammer nach außen ausschließlich vertritt und sein Weisungsrecht ausübt, kann ein problematischer Einfluss vermieden werden. Es ist aber einzuräumen, dass dies für die vergleichbare Situation des Hauptgeschäftsführers der Bundesrechtsanwaltskammer durchaus unterschiedlich beurteilt wird. Feuerich ist der Meinung, dass der Fall eines problematischen Einflusses nie eintreten kann.26 Hartung dagegen meint, dass der Einfluss eines Hauptgeschäftsführers nicht zu unterschätzen sei, weil er seine Tätigkeit nicht ehrenamtlich, sondern hauptberuflich ausübt und sein Kenntnisstand oft besser ist als der des Kammerpräsidenten.27 Kleine-Cosack meint, dass angesichts der nur ehrenamtlichen Tätigkeit der Präsidiumsmitglieder der Hauptgeschäftsführer einen meist verkannten und nicht selten problematischen Einfluss auf die Tätigkeit der Bundesrechtsanwaltskammer ausübt.28 26 27 28

Feuerich/Weyland, Anm. 9 zu § 186 BRAO. Henssler/Prütting, Anm. 3 zu § 185. Kleine-Cosack, Anm. 2 zu § 185.

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Wenn, wie hier vorgeschlagen, eine Änderung der BRAO dahingehend in Betracht kommt, dass der Geschäftsführer Organ der Kammer wird, sind diese Bedenken zu berücksichtigen. Wie immer, muss bei einer politischen Willensbildung zur Änderung der BRAO sorgfältig abgewogen werden, ob die Vorzüge oder die Nachteile einer solchen Regelung überwiegen.

Die Rechtsanwaltschaft im Spannungsfeld von Berufsrecht und Wettbewerbsrecht Heinz Weil

Der Bundesrechtsanwaltskammer ist es zu verdanken, dass sich Peter Mailänders Weg und mein Weg kreuzten. Dies geschah im Rahmen ihres EuropaAusschusses und liegt jetzt viele Jahre zurück. Seitdem haben wir beide unzählige Male unsere Gedanken zur Anwaltschaft in Europa und ganz allgemein zur europäischen Integration ausgetauscht. Spielte das europäische Wettbewerbsrecht bei den Ausschussberatungen zunächst nur insofern eine Rolle, als Stellungnahmen zu Vorhaben vorzubereiten waren, die die Anwaltschaft lediglich indirekt betrafen, so erhielt es in den letzten Jahren für uns Rechtsanwälte eine immer hautnahere Bedeutung, da seine Anwendbarkeit auf unseren Beruf in den Fokus der europäischen Wettbewerbshüter und deshalb des Europa-Ausschusses rückte. Diese Entwicklung veranlasste die Bundesrechtsanwaltskammer, zur besonderen Befassung mit der neuen Lage eine Task Force einzurichten, in der ich mich zusätzlich zum Europa-Ausschuss mit Peter Mailänder wiederfand. Aus der Task Force ist inzwischen die Arbeitsgruppe Deregulierung und Wettbewerb geworden. In beiden Gremien traf es sich hervorragend, dass Peter Mailänder die Fachkenntnisse des herausragenden Wettbewerbsrechtlers mit langjähriger Erfahrung als Ehrenamtsträger der Rechtsanwaltschaft und Kenner der internationalen Anwaltsszene verband. Wir beide lagen meistens auf der gleichen Wellenlänge. Dass daraus zunehmende Sympathie erwuchs, ist nicht verwunderlich. Es ist deshalb eine besondere Ehre und ein Vergnügen für mich, Peter Mailänder auf diesem Wege für die vielen anregenden Stunden gemeinsamen Gedankenaustauschs zu danken und für die Zukunft alles Gute zu wünschen. Bevor ich zum Thema komme, darf ich ein Wort zur Form dieses Beitrags vorausschicken: Vielleicht ist es meine Praxis als französischer Advokat, die im Laufe der Jahre dazu geführt hat, das Plädoyer und die Rede dem wissenschaftlichen Beitrag vorzuziehen. Den Leser darf ich deshalb bitten, diesen Text in erster Linie als das Plädoyer für einen modus vivendi zwischen dem Rechtsanwalt als Organ der Rechtspflege und als Unternehmer zu lesen und es dem plädierenden Anwalt nachzusehen, dass er seinen Text nur mit wenig Fußnoten versehen hat.

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Historischer Rückblick Die Rechtsanwaltschaft ist heute gefordert, sich Fragen zu stellen, die ihr traditionelles Selbstverständnis betreffen. Zahlreiche dieser Infragestellungen kommen von Wettbewerbsrechtlern und Ökonomen. Tradition ist mit Sicherheit keine ausreichende Antwort auf solche Fragen, aber Geschichtslosigkeit ist ebenso gefährlich. Ein Rückblick auf das Entstehen einer freien Advokatur in Deutschland und ein kurzer Blick über die deutschen Grenzen hinaus sind deshalb unerlässlich.

Der Beitrag der Rechtsanwaltschaft zur Entstehung des Rechtsstaats Deutschland Am 21. Mai 1878 verabschiedete der deutsche Reichstag als Teil der Reichsjustizgesetze ein Reichsrechtsanwaltsordnung genanntes Gesetz. Neben die Gewährung richterlicher Unabhängigkeit durch ein anderes der Reichsjustizgesetze, das Gerichtsverfassungsgesetz, stellte der Gesetzgeber gleichwertig die Wahrung anwaltlicher Unabhängigkeit. Die erste Regel dieser neuen Grundordnung der Rechtsanwaltschaft erkennt dem Rechtsanwalt die Qualität eines unabhängigen Organs der Rechtspflege zu. Der Zugang zum Beruf erfordert eine dem Richter gleiche Ausbildung. Der unabhängige Rechtsanwalt wird damit zu einer der tragenden Säulen des in der Entstehung befindlichen demokratischen Rechtsstaats. In dieser neuen staatlichen Ordnung ist der Rechtsanwalt kein staatliches Organ, wie es z.B. vorher in Preußen die anwaltliche Funktionen wahrnehmenden beamteten Justizkommissare waren. Seine Unabhängigkeit vom Staat wird insbesondere dadurch verwirklicht, dass eine selbstverfasste Rechtsanwaltschaft errichtet wird, die durch von den Berufsangehörigen gewählte Organe in der Gestalt von Rechtsanwaltskammern als Körperschaften öffentlichen Rechts im Rahmen des Gesetzes ihre Angelegenheiten frei von staatlicher Einmischung selbst regelt und die Berufsangehörigen überwacht. Das Ende der siebziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts ist in Deutschland zugleich Abschluss und Beginn historischer Prozesse. Der Freiheit der Advokatur, die das Gesetz nunmehr gewährleistete, waren jahrzehntelange Kämpfe vorangegangen. Sie war mit der Verfassung einer absolutistischen Monarchie nicht vereinbar. 1843 nahm sich der Württembergische Anwaltverein den Mut, durch auf dem gesamten Reichsgebiet veröffentlichte Zeitungsaufrufe die Kollegen aus ganz Deutschland aufzufordern, 1844 nach Mainz zu einem ersten Allgemeinen Deutschen Anwaltstag zusammenzukommen, um der Forderung nach Freiheit der Advokatur Nachdruck zu verleihen. Den preussischen Justizkommissaren verbot der Dienstherr die Teil-

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nahme und die Bemühungen scheiterten. Im folgenden Jahr gelang es dann, einen ersten Anwaltstag in Hamburg durchzuführen, verbunden mit einem ersten Anlauf zur Gründung eines deutschen Anwaltvereins. Drei Jahre danach fanden Rechtsanwälte eine politische Bühne, um ihren rechtsstaatlichen Forderungen Nachdruck zu verschaffen. Von den 585 Mitgliedern der Frankfurter Paulskirchenversammlung waren 106 Advokaten. Zwei weitere Jahrzehnte waren erforderlich, bis es gelang, 1871 den deutschen Anwaltverein endgültig zu gründen. Zu seinen Hauptforderungen gehörte die Selbstverfassung der Anwaltschaft in unabhängigen Kammern, die schließlich 1878 Wirklichkeit wurde. Das Kaiserreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts hatte mit der Verabschiedung der Reichsjustizgesetze einen entscheidenden Schritt getan, um zum Rechtsstaat zu werden. Es handelte sich dabei aber nur um den Beginn einer evolutiven Phase, denn die Monarchie wurde nicht mit einem Schlag zur rechtsstaatlichen Ordnung. Insofern ist das Ende der achtziger Jahre zugleich Abschluss und Anfang einer Epoche. Insbesondere in den Köpfen der Menschen brauchte es Zeit, die Regeln eines demokratischen Rechtsstaats zu verinnerlichen. Dies ist sicher mit ein Grund, weshalb sich fünf Jahrzehnte später in Deutschland ein Unrechtsregime etablieren konnte, das die Regeln und Institutionen des Rechtsstaats ebenso wie die Grund- und Menschenrechte verachtete. Es überrascht nicht, dass das Unrechtsregime des Nationalsozialismus die wenige Jahrzehnte zuvor von der Anwaltschaft mit Mühe erkämpfte Selbstverfassung und Unabhängigkeit wieder abschaffte. Die unabhängigen regionalen Rechtsanwaltskammern wurden liquidiert, die Reichsrechtsanwaltskammer gleichgeschaltet und die Rassengesetze auf die Anwaltschaft angewendet. Der Unrechtsstaat bereitete der Unabhängigkeit der Richter ebenso wie der der Rechtsanwälte ein Ende. Nach dem Zusammenbruch, mit dem die Diktatur endete, entstand im Westen Deutschlands zeitgleich mit dem Heranwachsen einer neuen rechtsstaatlichen Ordnung wiederum eine freie Advokatur. Sie knüpfte wie die Gerichtsbarkeit an die Zeit vor der Diktatur an und übernahm die damaligen Gesetze inhaltsgleich. Nach den regionalen Rechtsanwaltskammern entstand 1959 als deren Zusammenschluss die Bundesrechtsanwaltskammer. Im anderen Teil Deutschlands, in dem sich ein neues Unrechtsregime ausbreitete, gab es wiederum keine freie, vom Staat unabhängige Anwaltschaft. Erst nach dem Übergang zu einer demokratischen und freiheitlichen Grundordnung wurde auch im Osten Deutschlands die Rechtsanwaltschaft zu einem unabhängigen, selbstverfassten Berufsstand. Wie ein Jahrhundert zuvor war auch die Vertiefung der rechtsstaatlichen Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland evolutiv. Einer der Hauptakteure war und ist das durch die Überwachung der verfassungsmäßigen Ordnung bei ihrer Gestaltung mitwirkende Verfassungsgericht. So hat die Rechtsprechung des BVerfG während der letzten zwei Jahrzehnte einer

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Anwaltschaft, der es zunächst mehrheitlich an Selbstkritik mangelte, gezeigt, dass es die an demokratische Legitimation und an Einschränkungen der Freiheitsrechte des Individuums zu stellenden Anforderungen erforderlich machen, berufsrechtliche Regeln immer wieder auf ihre Richtigkeit und Notwendigkeit zu überprüfen. So wurde das alte Standesrecht gekappt und der autonomen Normsetzung der Anwaltschaft durch die Schaffung eines Anwaltsparlaments eine demokratische Grundlage gegeben. Der Rückblick auf inzwischen mehr als ein Jahrhundert zeigt, wie stark die Entwicklung der deutschen Rechtsanwaltschaft mit der Herausbildung eines deutschen Rechtsstaats verzahnt ist. Daneben hat die deutsche Anwaltschaft während der gleichen Zeit, vor allem aber während der letzten Jahrzehnte wie die Anwaltschaften anderer westlicher Industriestaaten erhebliche Veränderungen soziologischer und ökonomischer Art durchlaufen. Anwaltsschwemme, Anwaltsfirmen, Globalisierung sind Stichworte dieser Entwicklung. Sie spielen heute in der Diskussion und selbstverständlich auch bei dieser Abhandlung eine erhebliche Rolle. Sie dürfen aber nicht zu einer einseitigen Betrachtung führen. Auch heute noch ist jede einzelne Rechtsanwältin und jeder einzelne Rechtsanwalt, ist insbesondere aber die Anwaltschaft in ihrer Gesamtheit eine Säule des Rechtsstaats. Der Rechtsstaat ist heute in Deutschland gut verankert, aber der Weg dorthin war schwer und auf eine sehr lange Tradition können wir nicht zurückblicken. Nur dann und dort, wo der Rechtsstaat bestand, gab es eine freie und selbstverfasste Advokatur. Dieser Zusammenhang darf nicht übersehen werden. Ein kurzer Blick über die Grenzen Als das Tribunal der französischen Revolution unter dem Druck der aufgeputschten Massen der Kaiserin Marie Antoinette den Prozess machte, fand sich ein Advokat, der unter diesen sicher lebensbedrohenden Umständen den Mut und das Rückgrat zu ihrer Verteidigung hatte. Sein Plädoyer gilt noch heute den französischen Anwälten als Beispiel, auch wenn er seine Klientin nicht vor dem Schafott retten konnte. Außerdem spielten wie in der Paulskirchenversammlung Rechtsanwälte in den Parlamenten der dritten und vierten französischen Republik eine wesentliche und vielleicht noch dauerhaftere Rolle bei der Gesetzgebung. „L’Ordre est le maître du tableau“ (über die Zulassung entscheidet allein die Kammer) wurde noch vor kurzem von französischen Bâtonniers als Quintessenz der Unabhängigkeit vom Staat angesehen, bis die Einsicht reifte, dass auch dieses Prinzip rechtsstaatliche Grenzen haben muss. Trotzdem ist strikte Unabhängigkeit vom Staat ein Grundprinzip der französischen Anwaltschaft. Gerade in einem Land mit einem starken und einflussreichen Zentralstaat zeigt sich, wie wichtig eine starke und unabhängige Anwaltschaft zur Verteidigung von Bürgern und Unternehmen gegen diesen Staat ist.

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Anlässlich einer Rede vor dem Plenum des Rates der Anwaltschaften Europas (CCBE) im November 2005 sagte der Präsident der American Bar Association, er sehe seine Hauptaufgabe nicht in der Vertretung wirtschaftlicher Interessen der amerikanischen Anwaltschaft, sondern in der Verteidigung der rechtsstaatlichen Ordnung in den Vereinigten Staaten von Amerika. Es sagte dies auch und gerade im Hinblick auf Guantanamo, wo insbesondere der ständige Druck der amerikanischen Anwaltschaft wenigstens zu einem Minimum an rechtsstaatlichem Verfahren geführt hat. Wie wäre der Zustand dort ohne diese ständigen Proteste einer starken Anwaltsorganisation? Auch in einem Land mit einer anerkannten rechtsstaatlichen Ordnung bedarf es der ständigen Wachsamkeit einer starken Anwaltschaft. Im März 2006 fand im Europäischen Parlament eine Aussprache zum Thema „Rechtsberufe und allgemeines Interesse am Funktionieren von Rechtssystemen“ statt 1, die mit einer mit überwältigender Mehrheit angenommenen Resolution endete, in der die Rolle der Anwaltschaft als Garant des Rechtsstaats hervorgehoben wird. Der deutsche Abgeordnete Lehne führte als Berichterstatter des Rechtsausschusses aus: „Ich will hier ganz deutlich machen, dass es auch aus unserer Sicht natürlich völlig klar ist, dass alte Zöpfe abgeschnitten gehören. Wir leben nicht mehr im Mittelalter und mit dem Zunftwesen ist es vorbei. Nichtsdestotrotz müssen die Besonderheiten, die die freien Berufe – insbesondere die Rechtsberufe, um die es dem Rechtsausschuss geht – ausmachen, natürlich in einem besonderen Masse beachtet werden. Sie sind Bestandteil des Justizsystems und sie müssen funktionieren. Wenn dies nicht funktioniert … ist auch ein wesentlicher Bestandteil der Demokratie, nämlich der Rechtsstaat, in Frage gestellt.“ Im gleichen Sinne äußert sich dann ein spanischer Abgeordneter. Die englische Abgeordnete Wallis sagte schließlich: „The profession needs to be independent, but its protectionism should only serve the public interest. … I have always thought that the fee scales in Germany at the lower end work well to ensure that claimants with low value problems can pursue justice.“ Schließlich darf bei diesem Blick über die Grenzen nicht unerwähnt bleiben, welchen ständigen und mutigen Grabenkrieg Rechtsanwälte in Entwicklungsländern unter Gefahr für ihre eigene Existenz gegen eine übermächtige und oft korrupte Bürokratie führen, in denen sie in der Regel die einzige Hoffnung für die Bürger sind, zu ihrem Recht zu kommen.

1

Plenardebatte vom 15.03.2006, TOP 15.

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Die zunehmende Bedeutung der Unternehmerfunktion des Rechtsanwalts Rechtsanwälte leben wie andere Dienstleistungserbringer vom Gewinn ihrer Tätigkeit. Sie sind Unternehmer und Marktteilnehmer. Viele tragen nie die Robe und gehen nicht zu Gericht. Bei einem Teil der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte ist die Besonderheit ihrer Tätigkeit gegenüber anderen Dienstleistungserbringern kaum sichtbar. Es ist der Anwaltschaft erst langsam bewusst geworden, dass sich daraus rechtliche Konsequenzen ergeben, obwohl eine aufmerksamere Beobachtung gerade der Entwicklung innerhalb des sich vertiefenden Gemeinsamen Marktes hellhörig machen musste. Der Einfluss der europäischen Entwicklung Die erste Weichenstellung erfolgte bereits in den frühen siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als sich die Frage zu stellen begann, ob Rechtsanwälte die Freizügigkeiten des Gemeinschaftsrechts (Dienstleistungsfreiheit, Niederlassungsfreiheit) beanspruchen können. Es wurde damals ernsthaft und entschieden die Auffassung vertreten, als Organe der Justiz seien Anwälte der Ausübung staatlicher Gewalt so nahe, dass auf sie die Freizügigkeitsrechte nicht anwendbar seien. Der EuGH entschied jedoch 2, selbst wenn sie in gewissem Umfang staatliche Aufgaben wahrnähmen, seien Rechtsanwälte überwiegend Erbringer wirtschaftlicher Leistungen und kämen als solche in den Genuss der europäischen Freizügigkeitsregeln. Damit war in einem entscheidenden Punkt die Richtung vorgegeben und die später folgende Rechtsprechung zur grundsätzlichen Anwendbarkeit des Wettbewerbsrechts auf anwaltliche Tätigkeit ist nur die logische Folge dieser ersten Weichenstellung. Nicht ohne jahrzehntelange Mühen aber schließlich mit Erfolg kam es mit Unterstützung des Berufsstands zu einer ausgesprochen liberalen Regelung der grenzüberschreitenden Tätigkeit in Europa, die praktisch die Anerkennung der einmal erworbenen Anwaltsqualifikation in der gesamten europäischen Union bedeutet, ohne das Berufsrecht über Bord zu werfen. Die Öffnung der Grenzen führte zu zunehmendem Einfluss von Ländern mit liberaler Tradition, wie Großbritannien, die Niederlande und die USA auf die Entwicklung in Deutschland und anderen mehr konservativen Ländern. Anwaltliche Leistung wurde stärker zu einem Import- und Exportgut, der Einfluss des angelsächsischen Rechts in weiten Bereichen unternehmerischer Vertragsgestaltung verstärkte sich, der Schutzzaun des Rechtsberatungsgesetzes begann zu wanken bis er völlig fiel, Auslandsausbildung und -erfahrung wurde für bestimmte Tätigkeitsbereiche zu einem Muss. Schließ2

Rs. 2/74 Slg. 1974, S. 631 (Reyners) und Rs. 33/74 Slg. 1976, S. 299 (van Binsbergen).

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lich fassten angelsächsische Anwaltsfirmen in Deutschland fest Fuß. Erleichtert wurde die Entwicklung durch die parallel dazu verlaufende Durchforstung des deutschen Berufsrechts durch das BVerfG, insbesondere die Zulässigkeit überörtlicher Sozietäten. Das Pendel schlägt um Über Jahrzehnte gab es zwar in der Anwaltschaft ausgewiesene Kenner des Wettbewerbsrechts, aber weder diese noch die Spitzen der Anwaltsorganisationen erwägten ernsthaft, dass das anwaltliche Berufsrecht, insbesondere die autonom vom Berufsstand gesetzten Normen, Kartellabsprachen sein können. Vor allem drei Ereignisse auf europäischer Ebene haben dazu geführt, sich mit dieser Problematik immer intensiver zu befassen. Der „Big Bang“ aus der Sicht der deutschen Anwaltschaft ist unzweifelhaft die Rede, die der damalige, für Wettbewerbsfragen zuständige EG-Kommissar Monti im März 2003 auf der von der Bundesrechtsanwaltskammer veranstalteten europäischen Konferenz hielt 3. Seine Rede stand unter dem Motto „Wettbewerb in den freien Berufen: Neues Licht und neue Herausforderungen“. Der Kommissar unterschied die alten von den jungen freien Berufen. Die alten Berufe, zu denen er die Rechtsanwälte zählte, seien reglementiert, was auf mittelalterliches Zunftdenken zurückzuführen sei. Junge Berufe, wie EDV-Berater, seien unreglementiert und es sei nicht einzusehen, weshalb die klassischen Berufe nicht ohne die tradierten Regeln auskommen können. Ebenso stellte er fest, dass in einigen nordischen Mitgliedsstaaten die rechtsberatende und -vertretende Tätigkeit mit einer weitgehenden Öffnung des Marktes für anwaltliche und nichtanwaltliche Anbieter auskomme und nicht einsichtig sei, weshalb dies nicht in allen Mitgliedsstaaten zu verwirklichen sei. Kommissar Monti stellte klar in Aussicht, dass die Kommission den Worten Taten folgen lassen würde. Den Ball aus Brüssel griff nur wenige Monate später die englische Regierung mit dem Auftrag an Sir David Clementi auf, die Berufsregeln der englischen Rechtsberufe einer gründlichen Überprüfung mit dem Ziel stärkeren Wettbewerbs und effektiverer Kontrolle zu unterziehen. Bezeichnenderweise wurde damit eine Persönlichkeit beauftragt, die nicht Jurist ist und zuvor höchste Funktionen im Banken- und Versicherungsbereich ausgeübt hat. Clementis Vorschläge haben inzwischen zu einem geradezu revolutionären Gesetzesvorhaben geführt.4 Die Entwicklung ging an Deutschland nicht vorbei. Die auf der Grundlage des GWB bestellte unabhängige Monopolkommission nahm sich des Themas

3

Sagawe ZRP 2002 S. 281, 282; Zit. aus FAZ v. 12.09.2000. The Future of Legal services: Putting Consumers First, Secretary of State for Constitutional Affairs and Lord Chancellor, Okt. 2005. 4

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an und führte 2004 eine Anhörung durch, bei der die Fragestellung in die gleiche Richtung wie die Überlegungen Montis und Clementis gingen. Die Empfehlungen sollen in das Hauptgutachten 2006 der Monopolkommission Eingang finden. Die Entwicklung stieß in Teilen der Anwaltschaft durchaus auf Zustimmung. Stimmen innerhalb der Anwaltschaft, insbesondere in England, aber auch in Deutschland, zeigen Sympathie für die Überlegungen der Wettbewerbshüter und lassen die Bereitschaft erkennen, sich ausschließlich dem allgemeinen Wettbewerbsrecht zu unterstellen.

Bewertung Allgemeine Wertung Es ist ökonomisch richtig und unbestreitbar, dass der selbständig tätige Rechtsanwalt Unternehmer im Sinne des Wettbewerbsrechts ist. Gewinnerzielung ist ein Ziel seiner Tätigkeit und er trägt zur volkswirtschaftlichen Wertschöpfung bei. Da der einzelne selbständig tätige Berufsangehörige Unternehmer ist, kann auch nicht ernsthaft bestritten werden, dass Zusammenschlüsse dieser Unternehmer Unternehmensvereinigungen sind. Dies gilt sowohl für den freiwilligen Zusammenschluss in Form von Vereinen als auch für den auf Pflichtmitgliedschaft beruhenden Zusammenschluss in Form von Kammern, unabhängig davon, ob diese Zusammenschlüsse eine öffentlichrechtliche oder eine privatrechtliche Grundlage haben. Der selbständig tätige Rechtsanwalt ist aber nicht ein Unternehmer wie ein Kaufmann oder Industrieller. Er ist ein Unternehmer besonderer Art, weil er in der Gesellschaft eine besondere Funktion wahrnimmt, die auf dem Bedarf an Rechtsstaatlichkeit unserer als demokratische Rechtsordnung organisierten Gemeinschaft begründet ist. Deshalb hat das demokratische Gesetz dem Unternehmer „Rechtsanwalt“ eine besondere Rolle zugeordnet. Diese spezifische Rolle in der Gesellschaft erfordert es, dass der Unternehmer „Rechtsanwalt“ Regeln beachtet, deren Einhaltung von Kaufleuten oder Industriellen nicht verlangt werden kann. Es handelt sich dabei um die Regeln zum Schutz der Kernwerte (im heute üblichen Sprachgebrauch core values). Allen voran steht das vom Rechtsanwalt zu beachtende, im Wirtschaftsleben ansonsten unübliche Prinzip, die Rolle des Kunden nicht darin zu sehen, „Gewinnmaximierung“ zu verwirklichen, also die Pflicht, in der Prioritätenliste das Eigeninteresse hinter dem Interesse des Mandanten einzuordnen. Ein Kfz.-Händler verstößt gegen keine Regel, wenn er seinem Kunden ein Fahrzeug mit Ausstattungsmerkmalen empfiehlt, die dieser nicht benötigt, dem Händler aber einen höheren Gewinn ermöglichen. Der Rechtsanwalt darf auch einem „one shot“ Mandaten nicht zu einem an sich zulässigen und für den Rechtsanwalt ertragssteigernden Rechtsmittel raten, wenn es im

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objektiven Interesse des Mandanten liegt, das Rechtsmittel nicht einzulegen. Ebenso darf der Rechtsanwalt nicht im Rahmen eines Firmenkaufs für den Anwalt etragssteigernde aber für den von ihm vertretenen Käufer unnötige due diligence Maßnahmen vornehmen. Zu den core values gehören ebenso die strenge Pflicht zur Wahrung der Unabhängigkeit und der Verschwiegenheit sowie das Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen. Unbestreitbar nimmt der Rechtsanwalt je nach Tätigkeit mehr oder weniger intensiv an der Rechtsstaatsfunktion der Anwaltschaft teil. Es wäre jedoch falsch davon auszugehen, dass Beratungstätigkeit im Gegensatz zu gerichtlicher Tätigkeit oder Tätigkeit für ein Unternehmen im Gegensatz zu Tätigkeit für eine Privatperson per se nicht an der Wahrnehmung der spezifischen Funktion der Anwaltschaft im Rechtsstaat teilhat. Beratung durch Rechtsanwälte über die rechtlich zulässige Lösung trägt ebenso wie die Prozessvertretung eines Unternehmens zur Wahrung der rechtlichen Ordnung bei. Die anwaltliche Tätigkeit hat wegen ihrer Bedeutung für die Gesellschaft viele Gemeinsamkeiten mit ärztlicher Tätigkeit, während sie von anderer freiberuflicher Tätigkeit (Unternehmensberater, EDV-Berater, usw.) so weit entfernt ist wie von kaufmännischer oder industrieller Tätigkeit. Der eine Schönheitsoperation ausführende Arzt ist sicher weiter von der Kernaufgabe des Mediziners für die Gesellschaft entfernt als der Notarzt, ebenso wie der bei einer Steueroptimierung beratende Anwalt von der Kernaufgabe weiter entfernt ist als der Strafverteidiger, aber beide nehmen teil an der Funktion Gesundheitswahrung bzw. Rechtswahrung und beide unterliegen deshalb besonderen Berufspflichten. Der EuGH hat dies genau so gesehen. In seinem grundlegenden Urteil in der Rechtssache Wouters 5 hat der Gerichtshof zu Recht festgestellt, dass Rechtsanwälte Unternehmer und deshalb Rechtsanwaltskammern Unternehmensvereinigungen sind. Er hat sie aber als Unternehmer bzw. Unternehmensvereinigung besonderer Art behandelt. Der Gerichtshof kommt zum Ergebnis, dass die besondere Rolle im Rechtsstaat es rechtfertigt, im Fall von Rechtsanwälten und Rechtsanwaltskammern das allgemeine Wettbewerbsrecht einzuschränken. Die Einschränkung muss allerdings erforderlich und verhältnismäßig sein. Interessant ist, dass dieses Urteil zur Frage der gemeinsamen Berufsausübung von Rechtsanwälten und Wirtschaftsprüfern ergangen ist und eine große internationale Beratungsgesellschaft betrifft, also einen Tätigkeitsbereich berührt, der von der Verteidigung des kleinen Mannes entfernt ist. Der EuGH hat daraus beachtenswerterweise keine Konsequenzen gezogen hat. Der Gerichtshof räumt den Mitgliedsstaaten außerdem bei der Gestaltung der Organisation der Anwaltschaft zur Wahrung der core values einen gewissen Ermessensspielraum ein.

5

Rs. C-309/99 Slg. 2002, S. I-1577.

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Die Lage in Deutschland Über Jahrzehnte war die deutsche Anwaltschaft und waren viele ihrer Vertreter von einer konservativen Grundhaltung geprägt, die durchaus korporatistische Züge trug. In den meisten kontinentaleuropäischen Staaten galt nichts anderes. Dies hat sich als Folge eines zunächst mehr erlittenen als gewollten Lernprozesses rasch verändert und inzwischen dem klaren Bemühen Platz gemacht, übernommene Regeln auf den Prüfstand des Allgemeininteresses und des Verhältnismässigkeitsgrundsatzes zu stellen, sofern sie nicht bereits vom EuGH oder vom BVerfG dieser Überprüfung unterzogen wurden. Beispielhaft sei auf die Aufhebung aller mit den anwaltlichen Grundpflichten unvereinbaren Werbeverbote und auf die rasante Erweiterung der Fachanwaltschaften verwiesen. Nicht zu verkennen ist die Problematik, die sich für die Kammern aus der mit unverminderter Geschwindigkeit steigenden Anwaltszahl ergibt. Die Berufsaufsicht durch die Anwaltschaft setzt nicht nur guten Willen sondern auch Effektivität voraus. Es ist fraglich, ob die bestehende Organisation angesichts der ständig steigenden Zahlen dazu in der Lage ist. Ferner müssen die Rechtsanwaltskammern heute wesentlich mehr als früher nachweisen, dass Aufsicht über Berufsangehörige durch Berufsangehörige eine Methode ist, die den Anforderungen des Allgemeininteresses entspricht. Weitestgehende Transparenz ist dabei unerlässlich. Im Ausland ist eine zunehmende Tendenz zur Laienbeteiligung festzustellen. Es lohnt sich, darüber de lege ferenda nachzudenken und de lege lata alles zu tun, was im Rahmen des Gesetzes möglich ist, um das Publikum zu informieren. In den Augen des Publikums bedeutet wirksame Berufsaufsicht auch das Einschreiten gegen offensichtliche Qualitätsmängel anwaltlicher Arbeit. Das Gesetz gibt den Kammern dabei wenig Möglichkeiten, aber soweit diese bestehen, sollten sie genutzt und Beschwerdeführer unterrichtet werden. Im Raum stehende Vorhaben Pläne der EU-Kommission Die Monti-Initiative wird von Mario Montis Nachfolgerin Neelie Kroes fortgeführt. Mit dem Blick auf Deutschland richtet die Kommission ihr Augenmerk auf das tarifierte Vergütungssystem. Ein Tarif, zudem noch verbindlicher Natur und in bestimmten Fällen mit Mindestpreisen versehen, widerspricht den Grundregeln liberaler Ökonomie, wonach freie Preisbildung zur Preissenkung führt und dadurch zwingend dem Verbraucher nutzt. Nun ist der deutsche Tarif sicher keine Kartellabsprache, da es sich um ein staatliches Gesetz handelt, aber trotzdem ist er der Kommission ein Dorn im Auge. Er könnte allerdings nur über ein Vertragsverletzungsverfahren zu Fall gebracht werden, wenn ständige Kritik nicht zu freiwilliger Abhilfe des Mitgliedsstaats führt.

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Der Kommission sind hier leider Scheuklappen nicht abzusprechen, die auf einer einseitigen Sichtweise beruhen, welche nicht anerkennt, dass jede Regel, auch im Bereich der Ökonomie, eine Ausnahme haben kann und die ferner nicht berücksichtigen will, dass auch der Vergütungsmodus des Anwalts, wie seine Tätigkeit selbst, durch die besondere Rolle im Rechtsstaat geprägt wird. Mit der Ablösung der BRAGO durch das RVG wurde der Anwendungsbereich des tarifierten Systems bereits vom deutschen Gesetzgeber auf den Kernbereich anwaltlicher Tätigkeit beschränkt. Es ist ferner nicht bewiesen, dass der Ersatz der tarifierten Vergütung durch freie Honorarvereinbarung die Kosten des Verbrauchers senken würde. Vor allem lässt die Kommission völlig außer Acht, dass der Ersatz des Tarifs durch freie Honorarvereinbarung im gerichtlichen Bereich das deutsche sehr effiziente System der Rechtsschutzgewährung (Kostenerstattung durch die unterlegene Partei, Rechtsschutzversicherung mit freier Anwaltswahl, Prozesskostenhilfe, unkomplizierte Vergütungsfestsetzung durch das Gericht) aus den Angeln heben würde und damit wesentliche Allgmeininteressen unmittelbar berührt würden. Pläne in England Es würde den Umfang dieses Beitrags sprengen, zu allen Aspekten des von der britischen Regierung im Anschluss an die Empfehlungen von Clementi als erste Stufe des Gesetzgebungsverfahrens vorgelegten Weißbuchs Stellung zu nehmen. Zwei Vorhaben sind aus deutscher Sicht von besonderer Bedeutung.6 Bisher sind die beiden englischen anwaltlichen Berufe (solicitor, barrister) im wesentlichen wie in Deutschland als selbstverfasste Berufe mit autonomer Normsetzungsbefugnis im Rahmen gesetzlicher Vorgaben organisiert. Dies soll radikal geändert werden, einer Tendenz folgend, die im Anschluss an aufsehenerregende Finanzskandale für den Abschlussprüferberuf bereits in vielen Staaten, auch in Deutschland, umgesetzt wurde. Die Oberaufsicht soll bei einer von der Regierung bestellten mehrheitlich mit Nicht-Berufsangehörigen besetzten Aufsichtsstelle (Legal Lervices Board) liegen. Die bisher ungefähr mit den deutschen Kammern vergleichbaren Institutionen (Law Society und Council of the Bar) sollen zu ausführenden Organen der Aufsichtsstelle (Front Line Regulators) degradiert werden, die diesen eine Zulassung erteilt, welche sie wieder entziehen kann. Hierin liegt ein aus rechtsstaatlicher Sicht gefährlicher Verzicht auf ein wesentliches Element der Unabhängigkeit der Anwaltschaft vom Staat. Zwar hat Großbritannien das Glück, auf eine längere rechtsstaatliche Tradition als Deutschland zurückblicken zu können, aber auch wenn man dies berücksichtigt, bleibt eine solche Entwicklung in 6

S. oben Fn. 4.

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einem großen Mitgliedsstaat der Europäischen Union beunruhigend. Für Deutschland ergibt sich aus diesem Plan konkret die Problematik der Auswirkung auf die großen deutschen Sozietäten, die Niederlassungen von Gesellschaften englischen Rechts sind und als solche bisher ungeachtet der deutschen Berufsaufsicht auch von der Law Society of England and Wales beaufsichtigt werden. Sollte das Gesetzesvorhaben umgesetzt werden, würde die Berufsaufsicht über die in Deutschland ausgeübte Tätigkeit besonders bedenklich, da sie dann durch eine nicht wie die deutschen Rechtsanwaltskammern vom Staat unabhängige Organisation vorgenommen würde. Außerdem ist beabsichtigt, Berufsfremden, insbesondere Banken und Versicherungen, die Beteiligung am Kapital von Anwaltsfirmen unbegrenzt zu erlauben. Es ist sogar vorgesehen, den Zugang zur Börse zu öffnen. Die Geschäftsführung soll in diesem Fall zwischen Anteilseignern und Berufsangehörigen aufgeteilt werden, wobei Fragen der unmittelbaren Berufsausübung dem Anwalts-Geschäftsführer vorbehalten sein sollen. Die Gestaltung verletzt eindeutig das deutsche Berufsrecht und würde dazu führen, dass deutsche Rechtsanwälte ebenso wie in Deutschland niedergelassene englische solicitor oder barrister einer solchen Sozietät nicht angehören dürfen. Pläne in Deutschland Das geplante Rechtsdienstleistungsgesetz (RDG-E) ist in einigen Punkten bedenklich. Aus ähnlichen Gründen wie bezüglich der aus England drohenden Gefahr des Einkaufens von Banken und Versicherungen bei Anwaltsfirmen ist abzulehnen, dass die Finanzinstitutionen sich des Rechtsanwalts als Subunternehmer bedienen können, wie es im RDG-E vorgesehen ist. Ein solcher verdeckten Rechtsrat erteilender Anwalt ist kein unabhängiger Rechtsanwalt mehr. Bedenken bestehen darüber hinaus bezüglich der Wahrung der anwaltlichen Verschwiegenheit bei der geplanten Öffnung der Sozietätsfähigkeit auf Berufe, die einem entsprechenden Verschwiegenheitsgebot nicht unterliegen.

Zusammenfassende Schlussbetrachtung Berufsrecht und Organisationsformen, die der Verwirklichung des Leitbildes „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus“ dienen oder auch nur den Anschein erwecken, dazu bestimmt zu sein, sind heute noch viel mehr als früher nicht nur moralisch untragbar, sondern auch rechtlich unzulässig. Der selbständige Rechtsanwalt ist Unternehmer und als solcher grundsätzlich dem Wettbewerbsrecht unterworfen. Er ist aber ein Unternehmer besonderer Art, da er Teil der Rechtsanwaltschaft ist, die eine tragende Säule der demokratischen rechtsstaatlichen Ordnung darstellt. Die deutsche Geschichte

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zeigt eine besonders enge Verknüpfung zwischen dem Bestehen einer rechtsstaatlichen Ordnung und der Existenz einer freien selbstverfassten Anwaltschaft. Die Rechtsstaatsfunktion gibt dem Unternehmer „Rechtsanwalt“ keine Privilegien im Vergleich zu Unternehmern aus Industrie, Handel oder anderen Dienstleistungsbereichen, sie legt ihm vielmehr im Allgemeininteresse Pflichten auf. Die Beachtung dieser Pflichten rechtfertigt Einschränkungen des allgemeinen Wettbewerbsrechts, sofern sie zur Wahrnehmung der Funktion als Organ der Rechtspflege erforderlich und angemessen sind. Das deutsche anwaltliche Berufsrecht hat sich im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte dieser Entwicklung bereits weitgehend angepasst, aber eine ständige Selbstprüfung ist erforderlich. Wo zwischen den Regeln des freien Wettbewerbs und den sich aus der anwaltlichen Funktion ergebenden Einschränkungen genau die Grenze zu ziehen ist, wird immer Gegenstand von Diskussionen sein. Wichtig ist aber, dass die Ökonomen bereit sind, die spezifische Rolle der Anwaltschaft im Rechtsstaat anzuerkennen und dass die Anwälte bereit sind, die grundsätzliche Geltung der Regeln des freien Wettbewerbs zu akzeptieren. Beide dürfen bei ihren Überlegungen die Erfahrungen der deutschen Geschichte nicht vergessen.

Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. K. Peter Mailänder Monographien „Privatrechtliche Folgen unerlaubter Kartellpraxis“, Karlsruhe (Verlag Versicherungswirtschaft e.V.) 1964. „Zuständigkeit und Entscheidungsfreiheit nationaler Gerichte im EWGKartellrecht“, Baden-Baden (Nomos-Verlagsgesellschaft) 1965. „Export Trade under the Impact of the Antitrust Laws in Germany and the USA“, New University, 1962. „Zur Frage der Verfassungswidrigkeit der Kirchengewerbesteuer“ (zusammen mit Dr. Friedrich Haver), Stuttgart (Schriften des Bundes der Steuerzahler Baden-Württemberg e.V.) Juli 1967. „Lizenzvergabe durch Deutsche Unternehmen in das Ausland“ (zusammen mit Dr. Friedrich Haver), Heidelberg (Verlagsgesellschaft Recht und Wirtschaft mbH) 1967. „Commercial Agency and Distribution Agreements and Related Problems of Licensing in Germany“, in Sammlung der Universität Leuwen, 1970. „Zur Rechtsgültigkeit der Artikel 2 und 3 des Bewertungsänderungsgesetzes vom 13.08. 1965 und der hierauf beruhenden Hauptfeststellung der Einheitswerte des Grundbesitzes zum 01. 01.1964“ (zusammen mit Dr. Friedrich Haver und Dr. Werner Hansis), Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler, Januar 1970. „Aktuelle Fragen des Kartellrechts im Verfahren vor den Kartellbehörden und Kartellgerichten“, RWS-Skript Nr. 87. „Rechtsgeschäfte des Alltags“, Sonderdruck „Bürgerrechte vor Ort“ (Bund der Steuerzahler) 1990. „Freiheit und Schranken der Hörfunkberichterstattung über den Spitzensport“ (zusammen mit Dr. Dieter Dörr), Nomos Verlagsgesellschaft, Beiträge zum Rundfunkrecht, 2003.

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Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. K. Peter Mailänder

Kommentierungen The Law of the European Economic Community, a Commentary on the EEC Treaty, New York 1976, von Smit und Herzog (Hrsg.) Beitrag: Dumping. Müller-Hennenberg/Schwartz, Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen und Europäisches Kartellrecht, Beiträge; 3. Auflage 3. Lieferung 1972, 11. Lieferung 1978, Europäisches Kartellrecht.

Beiträge zu Festschriften „Aufgabenteilung zwischen den Wettbewerbsbehörden in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“, in Festschrift für Ernst Steindorff zum 70. Geburtstag, Berlin u. a. (de Gruyter), 1990, 1021. Gemeinschaftsrechtliche Erschöpfungslehre und freier Warenverkehr“ in Festschrift für Alfred-Carl Gaedertz zum 70. Geburtstag, München (C. H. Beck), 1992, 369. „Behinderung und Diskriminierung von Rechts wegen?“, in Festschrift für Otfried Lieberknecht zum 70. Geburtstag, München (C. H. Beck) 1997. „Schranken für Vertragsdiktat zu Lasten der Träger wesentlicher Einrichtungen“ in „Wettbewerbspolitik im Spannungsfeld nationaler und internationaler Kartellrechtsordnungen“; Festschrift für Ingo Schmidt zum 65. Geburtstag, Baden-Baden (Nomos), 1997, 271. „Die Selbstkontrolle und ihr Schutzwirkungen im Bankgeschäft“ in „Banken in globalen und regionalen Umbruchsituationen“; Festschrift für Johann Heinrich von Stein zum 60. Geburtstag, Stuttgart (Poeschel), 1997. „Sport als Wirtschaftsgut – Grenzen seiner Vermarktung im Fernsehen“ in Festschrift für Karlmann Geiß zum 65. Geburtstag, Köln u. a. (Heymanns), 2000, 605.

Aufsätze „Die Einflechtung du Pont – General Motors“, AWD 8/61, 193. „Kollektivvertrag und Preisbindung“, Betriebsberater Heft 33/63, 1357. „Die Lieferung falscher Mengen im Handelsrecht“, ZHR 1962, Band 126, 89. „Rückwirkende Freistellungen durch Gruppenausnahmen im EWG-Kartellrecht“, AWD 65, 161.

Verzeichnis der Schriften von Prof. Dr. K. Peter Mailänder

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„Privater Rechtsschutz im Recht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“, BB 1965, 1312. „Die Befugnis der Marktbeteiligten zur Rechtsbeschwerde im Kartellverfahren“, WuW 1965, 657. „Die Gruppenweise Freistellung von Alleinvertriebsvereinbarungen durch die VO 67/67/EWG der Kommission“, Forkel Blattei EWG V 1/67. Bericht über die „Tagung für Rechtsvergleichung“ in Berlin 1967, NJW 8/68, 342. „Le Règlement d’Exemption de Catégories d’Accords d’Exclusivité“, Cahiers de droit européen 1968, 38. „Mergers and Acquisitions in the Common Market“, International Law and Politics 1 (1968), 19. „Restructive Patterns by Multiple Agreements – The Brasserie de Haecht Case“, Common Market Law Review 1966, 5. „L’exemption par categories des ententes économiques dans le CEE“, Cahiers de droit européen 1966, 5. „Die kartellrechtliche Beurteilung von Lizenzverträgen nach EG-Kartellrecht und US-Antitrustrecht“, GRUR Int. – Sonderdruck 1979, Heft 8/9. „Kreditangebot ohne Preisangabe?“ – Zum Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 24. 01.1980 (WM 1980, 344), WM 1980, 456. „Vereinbarungen zur Know-how-Überlassung im Wettbewerbsrecht der EWG“, GRUR Int. – Sonderdruck 1987, Heft 8/9, 523. „Sport als Wirtschaftsgut“, Drucklegung des Referats, gehalten in der Akademie des Württembergischen Sports, Württembergischer Fußballverband e.V. (Hrsg.), Schriftenreihe Nr. 40 „Sport, Kommerz und Wettbewerb“, Oktober 1997. „Rechtsgeschäfte des Alltags“, in Bund der Steuerzahler Baden-Württemberg e.V. (Hrsg.), Schriftenreihe „Bürgerrechte vor Ort“, 1990. „Das Recht der Anwaltschaft im Spannungsfeld des Gemeinschaftsrechts“, Der Syndikus, Heft November/Dezember 2001, 15. „Fernsehen mit verschlüsselten Grenzen – Kartellrechtliche Fragen der Verschlüsselung“, ZUM, 2002, 706. „Die Auswirkungen der EuGH-Urteile auf das nationale Berufsrecht in Deutschland“, BRAK-Mitteilungen, Heft 3/2003, 114.

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Urteilsanmerkungen Note on Decision of September 3, 1963 by Finanzgericht Bremen, „Tariff reprisals against USA“, Common Market Law Review 1965/66, 94. Note on Decision of March, 17, 1964 by Finanzgericht Düsseldorf, „Mineral oil reimported“, Common Market Low Review 1965/66, 97. „Alleinvertriebsverträge und EWG-Kartellrecht“, Besprechung der Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften in den Rechtssachen 32/65; 56/65; 56 und 58/64; BB 66, 834. Annotations on decisions of Court of Justice of the European Communities, Cases 52 and 55/56; 57 & 65 of June 16, 1966, Common Market Law Review 1966 & 67, 330. „Gekoppelter Kartenkauf“, Anmerkung zum Urteil des BGH vom 26.05. 1987, GRUR 1987, 928.

Rezensionen Werner Dürkes, „Wertsicherungsklauseln“, 5. Aufl., Heidelberg 1961, ZHR 126 (19), 77. W. Chr. Schlieder, „EWG-Kartellrecht“, Heidelberg 1962, ZHR 126, 180. Eugen Dietrich Graue, „Die mangelfreie Lieferung beim Kauf beweglicher Sachen“, Heidelberg 1964, Referendarblatt 4/1965, 17. Juristen-Jahrbuch, herausgegeben von Gerhard Erdsiek, Köln-Marienburg (Dr. Otto Schmidt KG), 3. Bd. 1962/63, ZHR 128 (19), 144. R. Graupner, „The Rules of Competition in the European Economic Community“, The Hague 1965, ZHR 129 (19), 83. Garcin-Hepp-Möhring-Serick, „Handels- und Wirtschaftsrecht der Länder des Gemeinsamen Marktes“ EWG, herausgegeben von Philipp Möhring und Rolf Serick unter Mitwirkung von Rudolf Nirk, Bd. 1: Das Recht der Handelsgesellschaften, Frankfurt am Main, Berlin 1963, ZHR 129 (19), 89. Eckard Rehbinder, „Exterritoriale Wirkungen des Deutschen Kartellrechts“, Baden-Baden 1965, JZ 1966, 287. „Kartelle und Monopole im modernen Recht“, Beiträge erstattet für die Internationale Kartellrechts-Konferenz in Frankfurt am Main, Juni 1990, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht, 30 (1966), 152.

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Gerhard Rauschenbach, „Wirtschaftsrecht mit Kartellrecht“, Düsseldorf 1965, ZHR 131 (19), 282. Eckart Koch, „Schadensersatz bei unerlaubten wettbewerbsbeschränkenden Handlungen nach deutschem und europäischem Recht“, Bad Homburg v. d.H./Berlin/Zürich 1968, BB 68, 1435. René Joliet, „The Rule of Reason in Antitrust Law“, Cahiers de droit euroéen 1968, I. Deringer-Klaue-Markert-Nass-Ulmer, Fragen des europäischen Kartellrechts; Stiftung Europa-Kolleg Hamburg, Fundament-Verlag Dr. Sasse & Co., EuR 1971, 282.

Autorenverzeichnis Hans Achtnich, Dr., Rechtsanwalt in Stuttgart Johannes Adolff, Dr., Rechtsanwalt in Frankfurt Peter Adolff, Dr., München Rainer Bechtold, Dr., Rechtsanwalt in Stuttgart, Honorarprofessor an der Universität Würzburg Friedrich Bozenhardt, Dr., Rechtsanwalt in Stuttgart Armin Dittmann, Dr., Universitätsprofessor an der Universität Hohenheim, Mitglied des Vorstands der Landesanstalt für Kommunikation (LFK) Dieter Dörr, Dr., Universitätsprofessor an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Direktor des Mainzer Medieninstituts, Vorsitzender der Kommission zur Ermittlung der Konzentration im Medienbereich (KEK) Carl-Eugen Eberle, Prof. Dr., Justitiar des Zweiten Deutschen Fernsehens, Mainz Siegfried H. Elsing, Dr., LL.M. (Yale), Attorney at Law (New York), Rechtsanwalt in Düsseldorf Christina Escher-Weingart, Dr., Universitätsprofessorin an der Universität Hohenheim Adrian Fikentscher, Dr., Senior legal advisor bei der European Broadcasting Union (EBU), Genf Götz Gabriel, Dr., Rechtsanwalt in Stuttgart Tilo Gerlach, Dr., Rechtsanwalt in Berlin, Geschäftsführer der Gesellschaft zur Verwertung von Leistungsschutzrechten mbH (GVL), Berlin Klaus-A. Gerstenmaier, Dr., Rechtsanwalt in Stuttgart Ekkehard Hagedorn, Dr., Rechtsanwalt in Stuttgart Reto A. Heizmann, Dr. iur., wissenschaftlicher Assistent am Institut für Privat-, Wirtschafts- und Europarecht an der Universität Zürich Peter Hommelhoff, Dr. Dr. h.c., Universitätsprofessor an der Universität Heidelberg, Rektor der Universität Heidelberg Werner Keßler, Dr., Rechtsanwalt in Stuttgart Hartmut Kilger, Rechtsanwalt in Tübingen, Präsident des deutschen Anwaltsvereins (DAV) Hans-Georg Koppensteiner, Dr., LL.M. (University of California, Berkeley), em. Univ.-Prof., Wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Eberhard Körner, Dr., M.C.J. (New York University), Rechtsanwalt in Stuttgart

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Autorenverzeichnis

Friedrich Kübler, Dr., M.A. (hon.), em. Universitätsprofessor an der Johann Goethe-Universität Frankfurt am Main; Professor of Law, University of Pennsylvania in Philadelphia, Rechtsanwalt (of counsel) in Frankfurt am Main Katja Langenbucher, Dr., Universitätsprofessorin an der Philipps-Universität Marburg, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels-, Gesellschaftsund Bankrecht Peter Mailänder, Dr., M.C.J. (New York University), Attorney at Law (New York), Rechtsanwalt in Stuttgart Hans-Joachim Mestmäcker, Dr. Dr. mult. h.c., em. Universitätsprofessor an der Universität Hamburg Eva-Maria Michel, Justitiarin Westdeutscher Rundfunk Köln Wernhard Möschel, Dr., Universitätsprofessor an der Universität Tübingen; Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, Europarecht und Rechtsvergleichung Franz Josef Nick, Mitglied des Vorstands der Citibank Privatkunden AG & Co. KGaA Rudolf Nirk, Dr. iur., Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof, Karlsruhe, Honorarprofessor an der Universität Heidelberg Gerhard Riehle, Dr. iur., LL.M., Unternehmensberater in Stuttgart Ursula Rörig, Dr. iur., LL.M. (Eur), Rechtsanwältin, Karlsruhe Manfred Schiedermair, Dr., Rechtsanwalt, Frankfurt am Main, Honorarprofessor an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig Ulrich Schnelle, Dr., LL.M. (University of Illinois), Rechtsanwalt in Stuttgart Walter Sigle, Prof. Dr., Rechtsanwalt, Notar a.D., Stuttgart Joh. Heinrich von Stein, Dr., em. Universitätsprofessor der Universität Hohenheim Ernst Steindorff, Dr., em. Universitätsprofessor der Universität München Eberhard Stilz, Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart, Präsident des Staatsgerichtshofs für das Land Baden-Württemberg Peter Ströbel, Rechtsanwalt in Stuttgart, Präsident der Rechtsanwaltskammer Stuttgart a.D. Lothar Vollmer, Dr., Universitätsprofessor an der Universität Hohenheim Heinz Weil, Rechtsanwalt und Advocat, Ehem. Präsident des Rates der Anwaltschaften der Europäischen Union (CCBE), Vorsitzender des Europa-Ausschusses und der Arbeitsgruppe Deregulierung und Wettbewerb der Bundesrechtsanwaltskammer Wolfgang Weitnauer, Dr., M.C.L. (University of Illinois), Rechtsanwalt in München Karola Wille, Dr., Juristische Direktorin des Mitteldeutschen Rundfunks, Leipzig, Honorarprofessorin an der Universität Leipzig

Autorenverzeichnis

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Rolf M. Winkler, Dr., LL.M. (University of California, Berkeley), Rechtsanwalt in Stuttgart, Präsident des Anwaltsgerichtshofs Baden-Württemberg Roger Zäch, Dr., Universitätsprofessor für Privat-, Wirtschafts- und Europarecht an der Universität Zürich, Direktor am Europa Institut an der Universität Zürich, Vizepräsident der Schweizerischen Wettbewerbskommission