Festschrift für Ottmar Breidling zum 70. Geburtstag am 15. Februar 2017 9783110451146, 9783110450941

This Festschrift is dedicated to former Higher Regional Court Presiding Judge Ottmar Breidling on his 70th birthday. The

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Festschrift für Ottmar Breidling zum 70. Geburtstag am 15. Februar 2017
 9783110451146, 9783110450941

Table of contents :
Geleitwort der Herausgeber
Inhaltsverzeichnis
Der nur zum Schein gestellte Beweisantrag
Zweifel an der Tatvollendung in Massenverfahren
Selbstladungsrecht – ein stiefmütterliches „Zwangsmittel“ einer aktiven Verteidigung
Nebenklage und Beschuldigtenrechte: quo vadis?
Änderung des Geschäftsverteilungsplans wegen Überlastung?
Prognoseentscheidungen des Präsidiums bei Änderungen der Geschäftsverteilung
Wenn es sich bei der Tat um Mord handelt – zur Anwendung des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG
Scheinurteil oder Nichturteil? Die Beseitigung von auf unrichtiger Tatsachengrundlage ergangenen Entscheidungen
Anforderungen an die Urteilsbegründung bei Annahme des Vorliegens erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit im Zusammenhang mit Persönlichkeitsstörungen
Sinn und Zweck der Revisionsgegenerklärung
Die Verwendung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse für die Verfolgung terroristischer Straftaten
Scheinerinnerung, Suggestion, Lüge oder Trauma? – Hindernisse auf dem Weg der Wahrheitssuche durch den Personalbeweis
Terror
Zwischen Hausrecht und Sitzungsgewalt: Von der Organisation großer Strafprozesse
Das stumpfe Schwert – Ein Beitrag zu Ablehnungsgesuchen in erstinstanzlichen OLG-Verfahren und der Unzulässigkeit der Revisionsrüge
Strafverfahren mit Beschuldigten unter länderunabhängigen UN- und EU-Sanktionen und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes
Ottmar Breidling und das Prozessgebäude des Oberlandesgerichts Düsseldorf – Eine Erfolgsgeschichte
Effektive Verteidigung in Staatsschutzverfahren unter den Bedingungen des RVG
Verwertbarkeit im Ausland gewonnener Beweismittel – Souveränitätsgarantie, Trennungsgebot, Verbot von Folter
Strafprozessuale Verwertung der Erkenntnisse aus einer Wohnraumüberwachung nach dem BKAG (§§ 4a, 20h, 20v BKAG, 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO)
Dschihad und islamistischer Terrorismus in der Interpretation zeitgenössischer türkischer Theologen
Von Al-Qaida zum Islamischen Staat (IS) Sachverständige Anmerkungen zur Geschichte des islamistischen Terrorismus vor dem 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf
Verzeichnis der Publikationen und Vorträge von Ottmar Breidling
Autorenverzeichnis

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Festschrift für Ottmar Breidling zum 70. Geburtstag

Festschrift für

OTTMAR BREIDLING zum 70. Geburtstag am 15. Februar 2017 herausgegeben von

Jan Bockemühl Bernd von Heintschel-Heinegg Ricarda Lang Axel Nagler

De Gruyter

ISBN 978-3-11-045094-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-045114-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-045109-2 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Datenkonvertierung und Satz: Satzstudio Borngräber, Dessau-Roßlau Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort

Geleitwort der Herausgeber Seine Familie stammt aus dem Rheinland und er versteht sich auch als Rheinländer; gleichwohl wurde Ottmar Antonius Breidling am 15. Februar 1947 im entfernten Bremen geboren. Allerdings zog seine Familie schon 1950 nach Neuss. Dort verbrachte er gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern Kindheit und Jugendzeit. Nach dem Abitur wollte er Medizin studieren. Jedoch konnte er an der medizinischen Fakultät der Universität zu Köln keinen Studienplatz ergattern. Deshalb schrieb er sich in der naturwissenschaftlichen Fakultät ein, um auf diese Weise immerhin die medizinischen Erstsemester-Vorlesungen hören und anschließend in die medizinische Fakultät wechseln zu können. Zu Beginn des Sommersemesters 1967 entschied er sich aber dann doch für das Jurastudium mit dem Ziel, Anwalt zu werden. Die Erste Juristische Staatsprüfung legte er im September 1971 in Düsseldorf ab. Im folgenden Jahr befasste er sich im Rahmen eines Graduiertenförderstipendiums an der Universität zu Köln mit dem Thema „Anwendbarkeit der §§ 323 ff. BGB auf das Rückgewährschuldverhältnis nach erklärtem Rücktritt“. Im Januar 1973 trat er seinen Referendardienst im Bezirk des Oberlandesgerichts Düsseldorf an und wurde zunächst dem Amtsgericht Krefeld zugewiesen. Die Zweite Juristische Staatsprüfung legte er 1975 in Düsseldorf ab. Der frisch ernannte Assessor wurde beim Landgericht Düsseldorf einer Baukammer zugeteilt. Nach einem Jahr wechselte er als Beisitzer in die für Betäubungsmittelstrafsachen zuständige 12. Strafkammer und anschließend als Richter an das Amtsgericht nach Neuss. Aber nicht für lange. Im August 1978 erfolgte die Abordnung in das Bonner Justizministerium, wo man ihn zunächst dem Referat für Jugendstrafrecht zuteilte. Im August 1980 ging es für zwei Jahre zurück an das Schwurgericht des Landgerichts Düsseldorf. Für ein Jahr war er dann als stellvertretender Vorsitzender der für Erbsachen zuständigen Zivilkammer zugeteilt. Ende 1983 folgte zum Zweck der Ersatzerprobung eine weitere dreijährige Abordnung an das Bundesjustizministerium. Als Referent arbeitete er zunächst in dem für materielles Strafrecht Besonderer Teil sowie anschließend in einem für das Strafprozessrecht zuständigen Referat. Anfang 1987 kehrte er zurück und nahm seine Tätigkeit als Beisitzer im 3. Straf- und Bußgeldsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf auf. Bereits Ende 1988 warf das sog. große PKK-Verfahren1 mit Eingang 1  Über dieses Verfahren berichtet der damalige Vorsitzende Jörg-Wilfried Belker in: 100 Jahre Oberlandesgericht Düsseldorf, 2006, S. 311–327.

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Geleitwort der Herausgeber

der Anklageschrift seine Schatten voraus, dessen Hauptverhandlung dann vom 24.10.1989 bis 7.3.1994 fast fünf Jahre dauerte. Als Berichterstatter in diesem schwierig zu führenden Verfahren wurde Breidling alles abverlangt. In den Jahren 1994/1995 folgte ein Wechsel in einen Revisions- und Bußgeldsenat an das erst im Jahr 1993 gegründete Oberlandesgericht Brandenburg. Im Dezember 1995 wechselte Breidling in das Justizministerium in Potsdam, wo ihm u.a. die Fachaufsicht über die Staatsanwaltschaft Potsdam übertragen war. Im Oktober 1996 übernahm er in seiner steilen Justizkarriere dann seinen „Traumjob“, den er bis zu seiner Pensionierung am 30.3.2012 behielt: den Vorsitz im für Staatsschutzsachen und Terrorismus zuständigen 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf. Wegen der zahlreichen Prozesse mit hohem Sicherheitsrisiko errichtete das Oberlandesgericht Düsseldorf für 32 Millionen Euro einen hochmodernen Hochsicherheitstrakt im Süden der Stadt in unmittelbarer Nähe zum nordrhein-westfälischen Landeskriminalamt in der Rekordzeit von nur 12 Monaten. Eingeweiht wurde der Justizneubau Mitte Januar 2004, an dessen Konzeption und Entstehen Breidling maßgeblichen Anteil hatte. Kernstück des Gebäudes mit mehr als 3.000 m² Nutzfläche sind zwei schalldichte Sitzungssäle, die u.a. über Simultandolmetscherkabinen und Leinwände für Videoübertragungen verfügen. Der große Sitzungssaal bietet Platz für 15 Angeklagte, 60 Rechtsanwälte und 30 Sicherheitsbeamte. Die Sicherheitsvorkehrungen waren richtungsweisend. In mehr als eineinhalb Jahrzehnten als Vorsitzender des Staatsschutzsenats entwickelte sich Breidling zum erfahrensten Richter in Terrorismusverfahren in Deutschland. Untrennbar ist sein Name mit Verfahren verbunden, die mit den Schlagworten „Kalif von Köln“, „Kofferbomber“ und „Sauerlandgruppe“ sich im Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit festgesetzt haben.2 Es kann nicht überraschen: Kein Staatsschutzsenat in Deutschland hat mehr Verfahren gegen islamistische Terroristen geführt als Düsseldorf. „Die Strafprozessordnung ist nicht verhandelbar“ ist einer der Sätze, den Breidling gerne ins Feld führte. Er verstand es als seinen gesetzlichen Auftrag, der Strafprozessordnung Geltung zu verschaffen. Das bedeutete für den bekennenden Katholiken aber nicht, dass „Nächstenliebe im Sitzungssaal verboten“ war; dass z.B. „seine“ islamistischen Angeklagten die dem Senat für jeden Tag bekannten Gebetszeiten zu einem zum Prozessverlauf passenden Zeitpunkt einhalten konnten, war eine Selbstverständlichkeit. Stets bemühte sich der Senat den/dem Angeklagten eine Brücke zu bauen. Auch praktizierte er gesunden Pragmatismus, der ihm half, eine vertrauensvolle Verhandlungsatmosphäre zu schaffen. Als im Sauerland-Verfahren ein 2   Viele seiner Verfahren dokumentiert Annette Ramelsberger Der deutsche Dschihad, 2008, passim.

Geleitwort der Herausgeber

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Angeklagter erklärte, er erhebe sich nur für Gott, aber nicht im Gerichtssaal, erklärte er: „Dann kommen Sie eben erst rein, wenn wir alle sitzen.“ Nicht nur den akribisch vorbereiteten Verhandlungen drückte Breidling seinen ihm eigenen Stempel auf. Auch seine – nicht unumstrittenen – Vorbemerkungen zu Beginn der Urteilsbegründung nutzte er, um seinen justizpolitischen Anliegen in der Politik Gehör zu verschaffen. So kritisierte er, dass die Wohnraumüberwachung zu kompliziert geregelt sei und es ihr deswegen an „Schlagkraft“ fehle. Wenig Verständnis brachte er auch für die Vorbehalte gegen die Videoüberwachung öffentlicher Plätze auf. Seine „Vorworte“ waren bis vor einiger Zeit noch auf der Homepage des Oberlandesgerichts Düsseldorf eingestellt. Zwischenzeitlich reicht das Archiv auf der Homepage leider nur noch bis in das Jahr 2011 zurück, so dass man deren Inhalt anderswo nachlesen muss.3 Neben seiner Kommentierung im Löwe-Rosenberg meldete sich Breidling auch mit wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Strafprozessrecht zu Wort. So befasste er sich u.a. mit der Vorbereitung der Hauptverhandlung im Terrorismusverfahren4 und der Begründungstiefe bei Aufrechterhaltung eines Haftbefehls während laufender Hauptverhandlung5. Viele Richter und Staatsanwälte kennen Breidling von seinen jahrelangen Fortbildungsveranstaltungen zu strafprozessualen Fragen. Seine regelmäßigen Vortragstätigkeiten setzt er auch nach seiner Pensionierung bundesweit fort. Aber auch bei anderen Einrichtungen ist er ein sehr geschätzter Referent. Sein Leben lang betreibt Breidling mit Begeisterung Sport: Hockey, Tennis und seit einigen Jahren – mit der hierfür typischen Leidenschaft – Golf. Seit vielen Jahren ist der Jubilar glücklich verheiratet und teilt mit seiner Frau das Interesse für Kunst und Konzert. Die Eheleute Breidling haben eine erwachsene Tochter, die sich ebenfalls für das Jurastudium entschieden hat und die Begeisterung des Vaters für das Hockeyspielen teilt. Mit der vorliegenden Festschrift ehren Herausgeber und Autoren Ottmar Breidling als unermüdlichen – von der Materie Staatsschutzprozess durchdrungenen – Streiter für den Rechtsstaat von herausragender Güte. Regensburg, im Februar 2017 Jan Bockemühl, Bernd von Heintschel-Heinegg, Ricarda Lang und Axel Nagler

  So z.B. bei Thielmann HRRS 2001, 189–197.   Breidling DRiZ 2012, 142–145. 5   Breidling Anmerkung zum Beschluss des BGH vom 8.10.2012 – StB 9/12, JR 2013, 419. 3 4

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis Geleitwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Lars Bachler Der nur zum Schein gestellte Beweisantrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Werner Beulke/Gloria Berghäuser Zweifel an der Tatvollendung in Massenverfahren . . . . . . . . . . . . . . 13 Jan Bockemühl Selbstladungsrecht – ein stiefmütterliches „Zwangsmittel“ einer aktiven Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Manfred Dauster Nebenklage und Beschuldigtenrechte: quo vadis? . . . . . . . . . . . . . . 43 Rüdiger Deckers Änderung des Geschäftsverteilungsplans wegen Überlastung? . . . 55 Rainer Drees Prognoseentscheidungen des Präsidiums bei Änderungen der Geschäftsverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Burkhard Feilcke Wenn es sich bei der Tat um Mord handelt – zur Anwendung des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG. . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Ulrich Franke Scheinurteil oder Nichturteil? Die Beseitigung von auf unrichtiger Tatsachengrundlage ergangenen Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . 87 Manfred Götzl Anforderungen an die Urteilsbegründung bei Annahme des Vorliegens erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit im Zusammenhang mit Persönlichkeitsstörungen . . . . . . . . . . . . . . 97 Kirsten Graalmann-Scheerer Sinn und Zweck der Revisionsgegenerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

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Inhaltsverzeichnis

Rainer Griesbaum Die Verwendung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse für die Verfolgung terroristischer Straftaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Bernd v. Heintschel-Heinegg Scheinerinnerung, Suggestion, Lüge oder Trauma? – Hindernisse auf dem Weg der Wahrheitssuche durch den Personalbeweis . . . . . 143 Matthias Jahn/Sibylle Baschung Terror . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Peter Küspert Zwischen Hausrecht und Sitzungsgewalt: Von der Organisation großer Strafprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Ricarda Lang Das stumpfe Schwert – Ein Beitrag zu Ablehnungsgesuchen in erstinstanzlichen OLG-Verfahren und der Unzulässigkeit der Revisionsrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Axel Nagler Strafverfahren mit Beschuldigten unter länderunabhängigen UN- und EU-Sanktionen und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Anne-José Paulsen Ottmar Breidling und das Prozessgebäude des Oberlandesgerichts Düsseldorf – Eine Erfolgsgeschichte . . . . 235 Michael Ried Effektive Verteidigung in Staatsschutzverfahren unter den Bedingungen des RVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Ingo Rottländer Verwertbarkeit im Ausland gewonnener Beweismittel – Souveränitätsgarantie, Trennungsgebot, Verbot von Folter. . . . . . . 263 Jan van Lessen Strafprozessuale Verwertung der Erkenntnisse aus einer Wohnraumüberwachung nach dem BKAG (§§ 4a, 20h, 20v BKAG, 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

Inhaltsverzeichnis

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Rotraud Wielandt Dschihad und islamistischer Terrorismus in der Interpretation zeitgenössischer türkischer Theologen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Guido Steinberg Von Al-Qaida zum Islamischen Staat (IS) Sachverständige Anmerkungen zur Geschichte des islamistischen Terrorismus vor dem 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Verzeichnis der Publikationen und Vorträge von Ottmar Breidling . . 335 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339

Der nur zum Schein gestellte Beweisantrag Lars Bachler I. Einleitung Seit einiger Zeit beschäftigt sich die Rechtsprechung, wenn auch angesichts der in Betracht kommenden Fälle erfreulicherweise eher selten, mit der Frage, wie ein in der Hauptverhandlung gestellter Antrag zu behandeln ist, der für sich betrachtet alle Merkmale eines Beweisantrags enthält, jedoch tatsächlich nicht mit dem Ziel gestellt ist, eine Beweiserhebung mit dem behaupteten Ergebnis auch tatsächlich zu erreichen. Vielmehr sollen Ermittlungsanträge kaschiert, fehlerhafte Ablehnungen provoziert oder – aus welchen Gründen auch immer – „Sand ins Getriebe“ des Strafprozesses gestreut werden. Bevor ich mich möglichen – herkömmlichen oder überholten – dogmatischen Einordnungen zuwende, mögen folgende Beispielsfälle verdeutlichen, was gemeint ist: Es wird der Antrag gestellt, den Zeugen A zum Beweis der Tatsache zu vernehmen, er habe in einem gegen ihn selbst gerichteten Ermittlungsverfahren ein Schreiben an die dort zuständige Staatsanwaltschaft geschickt, in dem er den hiesigen Angeklagten entlaste und sich selbst als Täter benenne. Dieses Schreiben, das im Antrag sodann „wörtlich“ wiedergegeben wird, befinde sich bei den Akten, die über das Verfahren gegen den Zeugen geführt würden. Eine Nachfrage des Gerichts bei der dortigen Staatsanwaltschaft ergibt, dass kein solches Schriftstück in den Akten existiert. Das Gericht vernimmt einen Polizeibeamten über eine im Ermittlungsverfahren durchgeführte Vernehmung eines Zeugen, der sich nunmehr berechtigterweise auf ein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO beruft. Der Beamte verneint dabei die Frage, ob es vor der damaligen Vernehmung eine Vorbesprechung mit dem Zeugen gegeben habe. Nach Entlassung des Vernehmungsbeamten wird der Antrag gestellt, den Protokollführer zum Beweis der Tatsache zu vernehmen, dass in Abwesenheit des Vernehmungsbeamten doch eine Vorbesprechung stattgefunden habe, in der ihm der Zeuge das Gegenteil dessen geschildert habe, was später in der Vernehmungsniederschrift protokolliert worden ist. Ein Zeuge erklärt vor Gericht, er habe den Angeklagten als aggressiven Menschen kennen gelernt, der seine Interessen verschiedentlich mit Gewalt durchgesetzt habe. Sodann wird der Antrag gestellt, die Ehefrau des Zeugen zum Beweis der Tatsache zu vernehmen, dass ihr Ehemann ihr bei bestimmten Gelegenheiten berichtet habe, der Angeklagte sei ein zurückhaltender, friedlicher Mensch, der keiner Fliege etwas zuleide tun könne. Zu sämtlichen Anträgen weigern sich die Antragsteller auf Frage des Gerichts, Angaben zu den Quellen ihres Wissens zu machen.

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Lars Bachler

II.  Behandlung in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Angesichts des Inhalts der aufgestellten Behauptungen – freimütige Selbstbelastung eines Dritten, der mit dem Vorwurf bis dahin nicht konfrontiert war, grob fehlerhafte Vernehmungsprotokolle oder Falschaussagen vor Gericht – und der fehlenden Nähe der Antragsteller zu den Lebensbereichen, in denen sich die behaupteten Sachverhalte hätten abspielen sollen – staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakten anderer Verfahren, polizeiliche Vernehmungen verfahrensfremder Zeugen und familiäre Verhältnisse Dritter – erscheint es naheliegend, dass die Antragsteller tatsächlich keine Kenntnis über die Richtigkeit der dargestellten Sachverhalte haben. Bestandteil eines Beweisantrags ist es zwar nicht, dass der Antragsteller versichert, die unter Beweis gestellten Umstände zu kennen.1 Vielmehr kann er auch solche Tatsachen behaupten, die er nur vermutet oder für möglich hält.2 Auch eine Verpflichtung des Antragstellers, seine Quellen zu benennen, besteht nicht.3 Die oben dargestellten Beispielsfälle mögen sich nun aber gerade nicht dadurch auszeichnen, dass die jeweiligen Antragsteller vermuten, es gebe ein Schreiben, in dem sich ein Dritter selbst der Tat bezichtige, es habe tatsächlich eine Besprechung mit gänzlich anderem Inhalt vor der eigentlichen Vernehmung stattgefunden oder der Zeuge habe seiner Ehefrau etwas vollkommen anderes als dem Gericht erzählt. In diesen Fällen wird vernünftigerweise kein Antragsteller darauf hoffen können, die beantragte Beweiserhebung werde tatsächlich das behauptete Ergebnis erbringen. Von der Regel, dass der Antragsteller eine Tatsache auch dann zum Gegenstand eines Beweisantrags machen kann, wenn er keine sichere Kenntnis von ihr hat, macht die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs – jedenfalls gegenwärtig noch – eine Ausnahme, wenn die unter Beweis gestellte Tatsache „ins Blaue hinein“ behauptet wird. Das soll der Fall sein, wenn aus der Sicht eines verständigen Antragstellers auf der Grundlage der von ihm selbst nicht in Zweifel gezogenen Tatsachen auch bei großzügiger Betrachtung jegliche Anhaltspunkte für die Richtigkeit der Behauptung fehlen.4 In diesen Fällen soll allenfalls ein nach Maßgabe der Aufklärungspflicht zu behandelnder Beweisermittlungsantrag, nicht aber ein Beweisantrag, vorliegen.5 Dagegen reicht es nicht aus, dass die behauptete Tatsache objektiv ungewöhnlich oder unwahrscheinlich erscheint, andere Möglichkeiten des Geschehensablaufs

  Siehe etwa LR-Becker, StPO, 26. Auflage, § 244 Rn 103 m.w.N.   Vgl. nur BGHSt 21, 118, 125. 3   BGH NJW 1983, 126, 127. 4   BGH NStZ 1989, 334; 2003, 497; 2011, 169. 5   BGH NStZ 1992, 397 f.; 2009, 226, 227; StV 2002, 233. 1 2

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näher gelegen hätten6 oder die bisherige Beweisaufnahme keine Anhaltspunkte für ihr Vorliegen ergeben hat.7

III.  Änderung durch die Entscheidung 3 StR 354/07? Zweifel an der bisherigen Rechtsprechung hat der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in seiner Entscheidung vom 19. September 2007 geäußert. Dort lässt der Senat offen, ob ein ansonsten formgültiger Antrag nur deshalb nicht als Beweisantrag zu qualifizieren sei, weil die darin behauptete Tatsache ins Blaue hinein aufgestellt ist.8 Bedenken ergäben sich aus einem Vergleich mit dem Ablehnungsgrund der Prozessverschleppungsabsicht nach § 244 Abs. 3 Satz 2 Var. 6 StPO.9 Denn die Ablehnung nach dieser Vorschrift setze ebenfalls voraus, dass der Antragsteller wisse, dass seine Beweisbehauptung unrichtig sei, gehe aber im Übrigen davon aus, dass ein Beweisantrag vorliege. Somit erscheine es unstimmig, einem Antrag bereits die Qualität eines Beweisantrags abzusprechen, weil für die Richtigkeit der Behauptung des Antragstellers nichts spreche, dem Antragsteller aber auch nicht nachgewiesen werden könne, dass er die Unrichtigkeit kenne. In einer weiteren Entscheidung hat der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs die Problematik erneut angesprochen und wiederum offen gelassen.10 Im Rahmen eines obiter dictum hat der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in einem Beschluss vom 3. November 2010 ebenso offen gelassen, ob an der bisherigen Rechtsprechung hinsichtlich eines „ins Blaue hinein“ gestellten Beweisbegehrens festzuhalten sei.11

IV.  Neuere Entscheidungen nach 3 StR 354/07 Eine eindeutige Festlegung, ob die Kategorie des „ins Blaue hinein“ gestellten Beweisbegehrens (weiterhin) als Beweisantrag zu qualifizieren ist oder nicht, hat die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bislang nicht vorgenommen. Seit den genannten Entscheidungen finden sich hingegen verschiedene Judikate, die mit zum Teil unterschiedlichen dogmatischen

  BGH StV 2008, 287 f.   BGH NJW 1983, 126, 127. 8   StV 2008, 9. 9   Siehe auch LR-Becker, StPO, 26. Auflage, § 244 Rn 112. 10  Beschluss v. 20.07.2010 – 3 StR 218/10 = StraFo 2010, 466 m. Anm. Habetha, StV 2011, 239. 11   1 StR 497/10 = NStZ 2011, 169: Der Senat zieht stattdessen in dem zu entscheidenden Fall die Grundsätze der Konnexität heran, an deren hinreichender Darlegung es fehle. 6 7

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Einordnungen und Begründungen im Ergebnis auch weiterhin einem „aufs Geratewohl“ gestellten Antrag die Qualität eines Beweisantrags absprechen. So hat der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in einem Ende 2014 ergangenen Beschluss das Vorliegen eines Beweisantrags im Fall einer „wider besseres Wissen“ aufgestellten Beweisbehauptung verneint.12 Dabei fällt zunächst die abweichende Formulierung ins Auge: Eine „wider besseres Wissen“ aufgestellte Behauptung ist nicht gleichbedeutend mit einer „ins Blaue hinein“ oder „aufs Geratewohl“ gemachten. Mag bei der zuletzt genannten noch eine gewisse Hoffnung bestehen, die Behauptung könne sich doch als wahr erweisen, ist das bei der erstgenannten ausgeschlossen; der Antragsteller weiß es ja sogar besser. Hiermit scheint eine unterschiedliche Behandlung der Voraussetzungen jedoch nicht verbunden zu sein. Nimmt man nämlich die vom Senat zur Unterstützung seiner Auffassung zitierte Entscheidung des 3. Strafsenats vom 10. April 1992 hinzu, ist dort gerade nicht von bewusst falschen Behauptungen die Rede, sondern allein von „aus der Luft gegriffene[n[, aufs Geratewohl aufgestellte[n] Vermutung[en]“.13 Eine Differenzierung nach dem Kenntnisstand und der inneren Einstellung des Antragenden kann auch weiteren, sich mit der Problematik befassenden Entscheidungen des 2. Strafsenats nicht entnommen werden. Vielmehr hat der Senat, ohne auf die Bedenken des 3. Strafsenats näher einzugehen, wiederholt ausgeführt, dass nur ein Scheinbeweisantrag vorliege, wenn die „Beweisbehauptung ohne jeden tatsächlichen Anhaltspunkt und ohne jede begründete Vermutung aufs Geratewohl ins Blaue hinein aufgestellt wurde“.14 Einen besonderen, von der Frage der Vorstellungen und Kenntnisse des Antragstellers losgelösten Ansatz verfolgt vor allem der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs. Nach seiner Auffassung bedarf ein bei bereits fortgeschrittener Beweisaufnahme gestellter Beweisantrag unter dem Gesichtspunkt „erweiterter Konnexität“ auch der Konkretisierung der Wahrnehmungssituation eines benannten Zeugen, wobei die Ergebnisse der bis dahin hierzu durchgeführten Beweisaufnahme zu berücksichtigen sind.15 Hierdurch wird eine Befassung mit der Kategorie des ins Blaue hinein gestellten Antrags für den Senat in der Regel überflüssig: Wenn der Antragsteller nicht einmal die Tatsachen kennt, die er unter Beweis stellt, kann er in der Regel auch zu den Umständen, unter denen der benannte Zeuge die Wahrnehmung gemacht haben soll, wenig vortragen. Das mag anders sein, wenn der Antragsteller phantasiebegabt ist und seinem Antrag durch Erfüllung der Darlegungserfordernisse zur Konnexität zum Erfolg verhelfen will. Ob der Senat für diesen Fall, in dem der Antragsteller nicht nur die Beweistatsache aufs Gera  Beschluss vom 29. Dezember 2014, 2 StR 211/14 = NStZ 2015, 354.   NStZ 1992, 397, 398. 14   Vgl. NStZ 2008, 474; 2013, 536, 537. 15   BGHSt 52, 284, 287 ff. 12 13

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tewohl behauptet, sondern die Wahrnehmungssituation des Zeugen gleich noch dazu, auf die Kategorie des ins Blaue gestellten Antrags zurückgriffe, ist nicht ersichtlich. Es erscheint aber, da der Senat sich den Bedenken des 3. Strafsenats nicht grundsätzlich angeschlossen hat, zumindest nicht fernliegend. In der angegebenen Entscheidung jedenfalls hat der 5. Strafsenat das vom 3. Strafsenat angesprochene Problem ausdrücklich offengelassen.16 Auch in einem weiteren Beschluss vom 25. April 201217 greift der 5. Strafsenat auf die erweiterte Konnexität zurück und führt aus, ein Antrag, der diesem Kriterium nicht genüge, müsse nicht nach § 244 Abs. 3 StPO behandelt werden. Allerdings kam es hierauf nicht mehr an, da sich der Senat anhand des Verdachts einer bewusst wahrheitswidrigen Behauptung berechtigt sah, diese im Wege des Freibeweises selbst zu überprüfen; dabei stellte sich ihre tatsächliche Unwahrheit heraus.18 An dieser Stelle soll nicht näher auf den etwas anders gelagerten dogmatischen Anknüpfungspunkt der fehlenden erweiterten Konnexität zwischen Beweisbehauptung und Beweismittel eingegangen werden. Auch nach diesem Ansatz, der sich in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bislang allerdings nicht endgültig durchgesetzt zu haben scheint und dessen Konturen wohl auch daher etwas verschwommen sind, ist in den Fällen, in denen die Konnexität sich nicht von selbst versteht oder der Antragsteller hierzu nichts vorträgt, obwohl er es müsste, jedenfalls nicht vom Vorliegen eines formgültigen Beweisantrags auszugehen.19 Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs schließlich greift in einem Beschluss vom 4. Dezember 2012 beide Aspekte auf und führt aus, dass Darlegungen zur Konnexität im Antrag nur erforderlich seien, wenn ein verbindender Zusammenhang zwischen Beweisbehauptung und -mittel aus dem Beweisbegehren nicht ohne weiteres erkennbar sei.20 Sodann prüft er unter Nennung der bereits aufgezeigten Kriterien, ob der gegenständliche Antrag ins Blaue hinein gestellt war.

V.  Wie ist mit einem ins Blaue hinein gestellten Beweisantrag zu verfahren? Das führt zu zwei Fragen: Gibt es die Kategorie des aufs Geratewohl, ins Blaue hinein gestellten Antrags, der nicht als Beweisantrag zu qualifizieren

  A.a.O., S. 286.   5 StR 444/11 = NJW 2012, 2212. 18   Siehe hierzu Basdorf, NStZ 2013, 186. 19   Siehe dazu auch LR-Becker, StPO, 26. Auflage, § 244 Rn 109 ff. 20   NStZ 2013, 476, 477 f. 16 17

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ist, in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs noch? Und, wenn ja, bedarf es dieser Qualifizierung überhaupt? Die erste Frage kann leicht beantwortet werden: Ja, die Kategorie des ins Blaue hinein gestellten Antrags besteht in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs schon deshalb fort, weil eine ausdrückliche Aufgabe dieser Rechtsfigur bislang nicht erfolgt ist. Die vom 3. Strafsenat nun auch bereits vor einiger Zeit angestoßene Diskussion haben die anderen Strafsenate des Bundesgerichtshofs zwar aufgenommen; eine eindeutige Festlegung haben sie jedoch vermieden. Stattdessen wenden die Senate die Grundsätze über den aufs Geratewohl gestellten Antrag entweder ausdrücklich weiter an oder lassen die Frage offen, weil es bereits an dem Erfordernis der hinreichenden Darlegung einer (erweiterten) Konnexität fehle. Ob in der nächsten Zeit mit einer Festlegung in die eine oder andere Richtung zu rechnen ist, erscheint zweifelhaft. Hieran schließt sich die zweite Frage an, ob es tatsächlich der Kategorie des ins Blaue hinein gestellten Antrags, der gerade deswegen nicht als Beweisantrag, sondern allenfalls als Beweisermittlungsantrag zu werten ist, überhaupt bedarf. Den Kritikern der Kategorie des ins Blaue hinein gestellten Antrags ist zuzugeben, dass ein Wertungswiderspruch zu dem gesetzlich (allein) geregelten Ablehnungsgrund der Prozessverschleppungsabsicht durchaus auszumachen ist.21 Sieht man die Stellung eines Antrags ins Blaue hinein als Rechtsmissbrauch an, da er nicht der Erforschung der Wahrheit dient22, stellt sich die Frage, warum das Gesetz ein anderes rechtsmissbräuchliches Verhalten, nämlich die Antragstellung in der Absicht der Prozessverschleppung, dennoch als Beweisantrag qualifiziert und (nur) einen besonderen, an enge Voraussetzungen geknüpften Ablehnungsgrund zur Verfügung stellt.23 Tatsächlich wäre in diesem Fall die weiter reichende Konsequenz – es liegt schon gar kein Beweisantrag vor – an die geringeren tatbestandlichen Voraussetzungen – die Beweisbehauptung ist ins Blaue hinein aufgestellt, weil keine nachvollziehbaren tatsächlichen Anhaltspunkte für sie sprechen – geknüpft. Dass eine solche Lösung dogmatisch angreifbar erscheint, liegt auf der Hand. Hinzu mag ein verschiedentlich angesprochenes praktisches Problem kommen24: Das mit einem abseitigen, gar als „unverschämt“ empfundenen  Allerdings ist auch den – meisten – weiteren Ablehnungsgründen des § 244 StPO die Bekämpfung einer gewissen Dosis zumindest objektiven „Missbrauchs“ nicht fremd: Warum sollte jemand eine Beweiserhebung über Umstände verlangen dürfen, die jeder kennt, über die schon Beweis erhoben worden ist oder die mit dem Ausgang des Verfahrens nichts zu tun haben? 22   Dazu unten zu Fn. 29. 23  LR-Becker, StPO, 26. Auflage, § 244 Rn 112; KK-StPO/Krehl, 7. Auflage, § 244 Rn 73; Güntge in Alsberg, Der Beweisantrag im Strafprozess, 6. Auflage, Rn 1253. 24   Siehe dazu etwa Gollwitzer, StV 1990, 420; LR-Becker, StPO, § 244 Rn 111. 21

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Beweisbegehren konfrontierte Tatgericht mag eher der Versuchung erliegen, dem Ersuchen mit geringerem Begründungsaufwand schon die Qualität eines Beweisantrags abzusprechen, als sich auf das als dünn empfundene Eis der Prozessverschleppungsabsicht zu begeben. Hier mag die Gefahr bestehen, die Prüfung der Voraussetzungen dem gewünschten Ergebnis unterzuordnen, argumentativ nur noch auf den „gesunden Menschenverstand“ abzustellen und die eigene Sicht darüber zu verabsolutieren, was Verfahrensbeteiligte redlicherweise vermuten dürfen und was nicht. Dennoch spricht mehr dafür als dagegen, einem ins Blaue hinein oder aufs Geratewohl gestellten Beweisbegehren die Qualität eines Beweisantrags abzusprechen, der nur unter den Voraussetzungen des § 244 Abs. 3–5 StPO abgelehnt werden kann. Ausgangspunkt ist – in Ermangelung einer ausdrücklichen gesetzlichen Begriffsbestimmung – die in Rechtsprechung und Literatur mit zum Teil unterschiedlichen sprachlichen Nuancierungen gängige und wohl allgemein anerkannte Definition, wonach ein Beweisantrag das ernsthafte Verlangen eines Verfahrensbeteiligten ist, zum Beleg einer den Schuld- oder Strafausspruch betreffenden bestimmten Tatsache ein bestimmtes Beweismittel zu erheben.25 Von Interesse ist hier vor allem der Begriff „ernsthaft“.26 Wann ist ein Beweisbegehren ernsthaft? Dienen etwa nicht ernsthaft gestellte Anträge, um eine gängige Unterscheidung im musikalischen Bereich heranzuziehen, der Unterhaltung? Eine der Wortbedeutungen, die der Duden anbietet, lautet: „aufrichtig, ernst gemeint, tatsächlich“.27 „Aufrichtig“ wiederum erläutert der Duden als „dem innersten Gefühl, der eigenen Überzeugung ohne Verstellung Ausdruck gebend“.28 Ein Antrag hat zwar – anders als ein Antragsteller, um den es hier aber nicht geht – weder Gefühle noch Überzeugungen. Er hat aber eine Funktion, die er erfüllen soll und in der sich sein ganzer Zweck erschöpft: ein Beweisantrag ist der Beitrag eines Verfahrensbeteiligten zur Gestaltung des Strafprozesses im Hinblick auf einen ganz bestimmten Aspekt der Wahrheitsfindung. Es liegt daher nahe, den „Ernst“, mit dem ein Antrag verfolgt wird, auf seine prozessuale Funktion zu beziehen.29 Soll der 25  Vgl. jeweils m.w.N. etwa Dallmeyer in Alsberg, a.a.O., Rn 82; Trück, NStZ 2007, 377; LR-Becker, StPO, 26. Auflage, § 244 Rn 95; Müko-StPO/Trüg/Habetha, § 244 Rn 95; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Auflage, § 244 Rn 18. 26   Die – durchaus häufige – Nichterwähnung dieses Begriffs vornehmlich in gerichtlichen Entscheidungen, etwa in dem gern als grundlegend zitierten Urteil vom 23. Januar 1951 (BGHSt 1, 29), sind sprachlicher oder fallbezogener Natur und offenbaren keine grundsätzliche Verneinung dieses Kriteriums. Die gegenteilige Annahme – auch ein erkennbar nicht ernstgemeintes Beweisbegehren sei ein Beweisantrag – wird, soweit ersichtlich, von keiner Ansicht vertreten. 27   www.duden.de, Stichwort „ernsthaft“. 28   A.a.O., Stichwort „aufrichtig“. 29   So etwa Herdegen, NStZ 2000, 1, 6; Niemöller, StV 1996, 501, 502; KK-StPO/Krehl, 7. Auflage, § 244 Rn 113.

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Antrag diese Funktion erfüllen, ist er „ernst gemeint“. Umgekehrt: Ist das Ziel, das mit dem Antrag verfolgt wird, nicht auf die Wahrheitsfindung durch Beweiserhebung gerichtet, soll der Antrag also diese prozessuale Funktion nicht erfüllen, ist er nicht „aufrichtig“, eben nicht „ernsthaft“ gestellt. Die begrifflichen Bedeutungen schließen es also keineswegs aus, einen ins Blaue hinein oder aufs Geratewohl gestellten Antrag nicht als Beweisantrag zu qualifizieren. Im Gegenteil: Sie legen es eher nahe, einem Antrag, der nicht der Wahrheitsfindung dienen soll, diese Qualität abzusprechen. Wie verhält es sich dann aber mit dem Umstand, dass das Gesetz selbst einen in Verschleppungsabsicht gestellten Antrag, der ebenfalls nicht zur Erforschung der Wahrheit dient, als Beweisantrag behandelt? Die Frage ist, ob § 244 Abs. 3 Satz 2 Var. 6 StPO die Stellung von Anträgen, die nicht der Ermittlung des wahren Sachverhalts dienen sollen, abschließend regeln kann oder soll. Hinzu kommt: Hat ein missbräuchlich gestellter Antrag zur Beweiserhebung nicht immer eine Prozessverschleppung zur Folge, weil der Ablauf des Strafverfahrens sinnwidrig verzögert wird? Als Ausgangspunkt zur Beantwortung der erstgenannten Frage bietet sich ein Blick darauf an, wie die Strafprozessordnung allgemein mit dem Missbrauch prozessualer Rechte umgeht: Ein ausdrückliches allgemeines Missbrauchsverbot enthält das Gesetz nicht.30 Stattdessen finden sich verschiedene einzelne Vorschriften, die den Missbrauch prozessualer Rechte behandeln; die Ablehnung eines Beweisantrags wegen Verschleppungsabsicht ist nur ein – prominentes – Beispiel.31 Andere Normen betreffen etwa die Verwerfung eines Ablehnungsgesuchs als unzulässig (§ 26a Abs. 1 Nr. 3), die Ausschließung des Verteidigers (§ 138a Abs. 1 Nr. 2) oder den Missbrauch des Fragerechts (§ 241 Abs. 1, § 239 Abs. 1). Aus der Regelung einzelner Bereiche, in denen das Gesetz ausdrücklich ein bestimmtes rechtsmissbräuchliches Verhalten sanktioniert, kann jedoch – naheliegend – keineswegs der Schluss gezogen werden, in allen anderen Fällen sei ein Missbrauch prozessualer Rechte hinzunehmen. Vielmehr gilt, wie in jedem gerichtlichen Verfahren, der allgemeine und umfassende Grundsatz, dass prozessuale Rechte nicht zum Erreichen rechtlich missbilligter Ziele verwendet werden dürfen.32 Eine abschließende Regelung bezwecken die Vorschriften über die Rechtsfolgen einzelner Fälle prozesswidrigen Verhaltens also nicht. Das Gesetz unterscheidet zudem selbst zwischen verschiedenen, mit rechtsmissbräuchlichem Verhalten verfolgten Zielrichtungen, wie § 26a Abs. 1 Nr. 3 StPO verdeutlicht33: Ablehnungsanträge sind danach nicht nur unzu  Vgl. nur KK-StPO/Fischer, 7. Auflage, Einl. Rn 78.  Müko-StPO/Trüg/Habetha, § 244 Rn 319 m.w.N. 32   BGHSt 38, 111, 113; 51, 88, 92 f.; Niemöller, StV 1996, 501, 505; KK-StPO/Fischer, Einl., Rn 79. 33  Dazu BeckOK-StPO/Cirener, 24. Edition, § 26a Rn 9 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Auflage, § 26a Rn 5. 30 31

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lässig, wenn sie gestellt werden, um das Verfahren offensichtlich zu verschleppen, sondern auch dann, wenn mit ihnen ausschließlich (sonstige) verfahrensfremde Zwecke verfolgt werden. Dabei ist die prozessuale Situation – zwar nicht im Hinblick auf den Inhalt des Begehrens, wohl aber hinsichtlich der Stellung eines Antrags als Gegenstand und Mittel des Rechtsmissbrauchs – durchaus vergleichbar. Verallgemeinernd können daher Rückschlüsse auch auf andere Formen derselben prozessualen Handlungsweise gezogen werden: Wenn die Strafprozessordnung davon ausgeht, dass die missbräuchliche Stellung eines Antrags nicht nur zur Verschleppung des Verfahrens, sondern darüber hinaus auch aus anderen verfahrensfremden Gründen und mit unterschiedlichen Zielrichtungen erfolgen kann, ist kein Grund ersichtlich, warum dies gerade für einen Antrag zur Beweisaufnahme nicht gelten sollte. Dass es tatsächlich rechtsmissbräuchliche Anträge zur Beweiserhebung gibt, in denen das Hinauszögern des Verfahrensabschlusses nicht im Vordergrund steht, ist zudem unbestritten: Hierzu gehören etwa „Beweisanträge“, durch die andere Verfahrensbeteiligte diffamiert werden sollen, die dazu dienen, politische Programme zu verkünden oder mit denen auf eine „gütliche“ Einigung mit dem Gericht hingearbeitet wird.34 Auch die eingangs erwähnten Beispiele können hierunter gefasst werden, selbst wenn sich ihr Zweck nicht unmittelbar offenbart: Es mag eben manchmal auch reichen, einfach nur etwas „Sand ins Getriebe“ zu streuen. Wird der Strafprozess dadurch verzögert, ist das ein – vielleicht willkommener, vielleicht hingenommener – Nebeneffekt, auf den es nicht in erster Linie ankommt. Daraus leiten sich für § 244 StPO zwei Folgerungen ab: Unter Berücksichtigung des allgemeinen Missbrauchsverbots besagt die Regelung nur einer Erscheinungsform des Missbrauchs in § 244 Abs. 3 Satz 2 Var. 6 StPO nicht, dass dessen andere Erscheinungsformen hinzunehmen sind. Sie besagt darüber hinaus aber ebenso wenig, dass diesen nur mit Hilfe der allein geregelten Verschleppungsabsicht zu begegnen ist. Gegen eine Exklusivität spricht schon der Blick auf § 26a Abs. 1 Nr. 3 StPO, der zeigt, dass das Gesetz selbst nicht davon ausgeht, mit den in Verschleppungsabsicht gestellten Anträgen seien sämtliche Missbrauchsfälle erfasst. Hinzu kommt, dass die Ablehnung eines Beweisantrags wegen Verschleppungsabsicht – jedenfalls in seiner gegenwärtigen Ausprägung durch die Rechtsprechung – auch tatsächlich nicht alle Fälle des Rechtsmissbrauchs erfasst und einer im Sinne des allgemeinen Missbrauchsverbots befriedigenden Lösung zuführen kann. So ist Voraussetzung der Ablehnung, dass das Verfahren durch die beantragte Beweiserhebung wesentlich verzögert wird.35 Diese Eignung muss 34   Siehe etwa die Beispiele bei Niemöller, StV 1996, 501, 504 und Güntge in Alsberg, a.a.O., Rn 1250. 35   BGHSt 21, 118, 121; NStZ 1990, 350, 351 mit Anm. Wendisch; 1992, 551; NJW 2001, 1956, 1957. In der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist dagegen das Krite-

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jedoch nicht jedem rechtsmissbräuchlich angebrachten Begehren anhaften: Die Verunglimpfung eines Verfahrensbeteiligten durch den benannten Zeugen oder „Sachverständigen“ ist an einem der sowieso anberaumten folgenden Hauptverhandlungstage schnell erledigt. Dennoch dürfte im Hinblick auf das allgemeine Verbot rechtsmissbräuchlichen Verhaltens kein Streit darüber bestehen, dass auch solchen Anträgen nicht nachzukommen ist. Es erscheint daher weder geboten noch gar zwingend, Fallgestaltungen, in denen mit einem Antrag andere verfahrensfremde Zwecke verfolgt werden als eine Prozessverschleppung, unter zum Teil erweiternder Auslegung36 unter ebendiesen Begriff zu fassen und dem Ablehnungsgrund eine Art Sperrwirkung für die Behandlung rechtsmissbräuchlich gestellter Anträge zuzubilligen. Stattdessen kann auf die oben dargestellte Definition des Beweisantrags zurückgegriffen werden, nach der nicht ernsthaft gestellte, mithin rechtsmissbräuchliche Anträge nicht als Beweisanträge anzusehen sind. Dass der Gesetzgeber den in Verschleppungsabsicht gestellten rechtsmissbräuchlichen Antrag als Beweisantrag angesehen hat, begründet dann zwar einen nicht zu leugnenden Widerspruch, ist jedoch hinzunehmen. Es darf unterstellt werden, dass die Regelung vorrangig der Bekämpfung rechtsmissbräuchlichen Verhaltens durch Schaffung eines Abwehrinstruments dienen sollte und weniger der Umgrenzung und Definierung von Beweisanträgen.37 Dem kann auch – im Sinne der zweiten der oben gestellten Fragen – nicht entgegengehalten werden, die missbräuchliche Stellung eines Antrags habe stets eine Verzögerung des weiteren Verfahrensablaufs zur Folge und bedeute damit schon ihrer praktischen Natur nach eine Prozessverschleppung. Zwar kostet allein die Stellung, Bearbeitung und Bescheidung eines solchen Antrags Zeit, sodass das Verfahren früher zu Ende gegangen wäre, wenn der Antrag erst gar nicht gestellt worden wäre. Das gilt jedoch für jede Handlung, die nicht innerhalb einer logischen Sekunde abgeschlossen ist; § 26a Abs. 1 Nr. 3 StPO wäre danach überflüssig. Auf eine mit der Stoppuhr gemessene Verfahrensverlängerung kann es also nicht ankommen. Daher ist statt auf die bereits für die (bloße) Stellung des Antrags und seine Bearbeitung erforderliche Zeit auf die mit der Durchführung der begehrten Beweisaufnahme selbst verbun-

rium der Wesentlichkeit der Verfahrensverzögerung zumindest im Sinn einer restriktiveren Auslegung infrage gestellt worden, vgl. BGHSt 51, 333, 342; 52, 355, 360; NStZ 2011, 646. 36   So etwa Meyer-Goßner/Schmitt, 59. Aufl., § 244 Rn 67, der zwischen einer sämtliche Missbrauchsfälle umfassenden Verschleppungsabsicht im weiteren und einer eine Verfahrensverzögerung erstrebenden Verschleppungsabsicht im engeren Sinn unterscheidet. 37   Vgl. zur Entstehungsgeschichte LR-Becker, StPO, 26. Auflage, § 244 Rn 265; Güntge in Alsberg, Der Beweisantrag im Strafprozess, 6. Auflage, Rn 1238, jeweils m.w.N.

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dene Verzögerung abzustellen.38 Diese kann auch bei missbräuchlich gestellten Anträgen, wie ausgeführt, so gering sein, dass sie eine nicht ins Gewicht fallende, nur unwesentliche Verlängerung der Prozessdauer ausmacht.

VI. Fazit Das aufs Geratewohl gestellte Beweisbegehren ist kein Beweisantrag, der nur unter den Voraussetzungen des § 244 Abs. 3–5 StPO abgelehnt werden kann. Das bedeutet allerdings nicht, dass solche Anträge schon dann abgelehnt werden dürfen, wenn sie „nur“ einen ungewöhnlichen oder unwahrscheinlich erscheinenden Geschehensablauf zum Gegenstand haben oder die bisherige Beweisaufnahme keine Anhaltspunkte für dessen Vorliegen ergeben hat.39 Dass es sich bei diesen Begehren nicht um Beweisanträge handelt, verringert die argumentative Auseinandersetzung mit ihnen keineswegs. Erforderlich ist, dass das Gericht nachvollziehbar darlegt, warum es davon ausgeht, der gestellte Antrag sei nicht „ernsthaft“. Insoweit ähnelt die Situation der Ermittlung des subjektiven Tatbestands; eine nicht immer einfache, aber auch keineswegs unlösbare Aufgabe. Hier wie dort ist das Gericht auf Indizien angewiesen, die aus dem Inhalt des Antrags selbst, aber etwa auch aus dem bisherigen Prozessverhalten des Antragstellers gewonnen werden können.40 Es darf, wie Herdegen treffend formuliert hat41, nicht der Verdacht aufkommen, nicht der Antragsteller, sondern das Gericht gehe mit dem Beweisantragsrecht missbräuchlich um. Abschließend: Die eingangs genannten Beispiele, denen tatsächlich gestellte Anträge in erstinstanzlichen Strafverfahren vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf zu Grunde liegen, können, müssen aber nicht missbräuchlich gestellt worden sein. Keiner dieser Anträge ist abgelehnt worden. In ihrer Gesamtschau hat sie der erkennende Senat herangezogen, um einen später gestellten Antrag wegen Prozessverschleppungsabsicht abzulehnen.

38   BGH NJW 1992, 2711, 2712; NStZ 1990, 350; 2011, 646; Güntge in Alsberg, a.a.O., Rn 1246 m.w.N. Siehe auch BGH NStZ 2011, 294, 295: Dort war in zwei Anträgen die Vernehmung von „rund 2.000“ und 5.401 Zeugen verlangt worden; der Bundesgerichtshof wies darauf hin, dass eine Ablehnung allein wegen des Umfangs der begehrten Beweisaufnahme in Betracht komme. 39   Siehe oben Fn. 6 f. 40   Siehe etwa Gollwitzer, StV 1990, 420, 424. 41   NStZ 2000, 1, 7.

Zweifel an der Tatvollendung in Massenverfahren Zweifel an der Tatvollendung in Massenverfahren Für eine Entscheidung in dubio pro reo und gegen eine Beschränkung der Strafverfolgung gemäß § 154a Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO Werner Beulke/Gloria Berghäuser A. Problemaufriss: Prozessökonomischer Umgang mit Massenverfahren In verschiedenen Verfahren war der Bundesgerichtshof (BGH) in jüngerer Zeit mit Revisionen gegen landgerichtliche Urteile befasst, in denen das jeweilige Landgericht über die massenhafte Begehung von Betrugs- oder Computerbetrugsstraftaten entschieden hatte. Dem lagen etwa Sachverhalte zugrunde, in denen die Angeklagten missbräuchlich 18.816 Lastschriftaufträge zur Abbuchung eines sich jeweils auf weniger als 10 € belaufenden Kleinbetrags übermittelt hatten1 oder aber in denen die Angeklagten 136.890 Personen über deren Bindung an einen Gewinnspielvertrag hatten täuschen wollen, damit jene die Rechtsgrundlosigkeit zeitlich nachfolgender (teils wiederholter) Abbuchungen eines Betrags zwischen 55 € und 79,80 € nicht erkennen sollten2. In diesen beiden – vorliegend exemplarisch ausgewählten – Revisionsverfahren blieb die Frage nach der Vollendung der verfahrensgegenständlichen Taten ohne gerichtliche Klärung: Ob infolge der verfahrensgegenständlichen Handlungen überhaupt ein (Gefährdungs-) Schaden eingetreten war, ließ der 1. Strafsenat des BGH im zuerst genannten Verfahren wegen Computerbetrugs offen; ob und in wie vielen Einzelfällen die Angeklagten einen Irrtum ihres jeweiligen Opfers hatten herbeiführen können, hielt der 4. Strafsenat im nachfolgend genannten Verfahren wegen Betrugs für nicht bewiesen. Um eine vollumfängliche Rückverweisung zu einer neuen Verhandlung und Entscheidung durch das Tatgericht zu vermei-

1  BGH, Beschl. v. 22.01.2013 – 1 StR 416/12, BGHSt 58, 119; dazu Heghmanns, ZJS 2013, 423; Krell, NStZ 2014, 686 (686); Schuhr, JR 2013, 579. 2   BGH, Urt. v. 22.05.2014 – 4 StR 430/13, NJW 2014, 2132 (= HRRS 2014, Nr. 666); dazu Krell, NStZ 2014, 686 (686).

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den und diesem den Nachweis der Vollendung zu ersparen (der jedenfalls im zweiten Verfahren eine nicht zu bewältigende Anzahl an Zeugenvernehmungen erfordert hätte), wählte der BGH einen anderen, vergleichsweise innovativen Weg, um das jeweilige Verfahren in der Revisionsinstanz zum Abschluss zu bringen: Mit Zustimmung der Generalbundesanwaltschaft beschränkte er die Strafverfolgung gemäß § 154a Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO. Nur im zuerst genannten Verfahren bildeten den Gegenstand dieser Beschränkung dabei auch ausgewählte tateinheitlich verwirklichte Fälle des Computerbetrugs3; dies war jedoch nicht die Hauptintention des BGH. Da sich das wesentliche Tatunrecht erst aus der Summe der Vielzahl an Einzelschäden ergab, auf die der Tatentschluss der Angeklagten gerichtet gewesen war, nutzte der BGH die Vorschrift des § 154a Abs. 2 StPO darüber hinaus, um die jeweilige Tatvollendung aus der Strafverfolgung herauszunehmen und nur das verbleibende Versuchsstadium der verfahrensgegenständlichen Fälle seiner Entscheidungsfindung zu unterwerfen, mithin um das Verfahren in qualitativer statt quantitativer Hinsicht zu beschränken4. Dergestalt vorgehend konnte der BGH – in prozessökonomischer Manier – selbst den Schuldspruch ändern5 und hatte allein im vorliegend an zweiter Stelle benannten Betrugsverfahren das Urteil samt den zugehörigen Feststellungen insoweit aufzuheben und zurückzuverweisen, als es die Strafaussprüche betraf6. Bekanntlich erlaubt § 154a StPO nicht nur der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren (Abs. 1)7, die Verfolgung innerhalb einer prozessualen Tat auf bestimmte tatsächliche oder rechtliche Aspekte zu beschränken. Auch dem Gericht ist nach Absatz 2 der Vorschrift diese Möglichkeit in jeder Lage des Verfahrens ab Erhebung der öffentlichen Klage belassen, soweit die Staatsanwaltschaft hierzu nur ihre Zustimmung erteilt8. Dem ist nach Absatz 1 Satz 1 unter anderem vorausgesetzt, dass es sich bei dem auszuscheidenden Verfahrensstoff um „einzelne abtrennbare Teile einer Tat“ (Alt. 1) oder um „einzelne von mehreren Gesetzesverletzungen“ handelt, „die durch

3  BGHSt 58, 119 (131 f. m. Rn 51 f.). Anders im Verfahren wegen Betrugs (Fn. 2), welches in quantitativer Hinsicht nicht reduziert wurde; BGH NJW 2014, 2132 (2133) (= HRRS 2014, Nr. 666 [Tenor]). 4   Zur begrifflichen Gegenüberstellung von „quantitativer und qualitativer Verfahrensreduktion“ s. Kuhli, StV 2016, 40 (42); typische Beispiele einer quantitativen Verfahrensreduktion bei Herrmann, ZStW 85 (1973), 255 (271). 5   BGHSt 58, 119 (132); BGH HRRS 2014, Nr. 666, Rn 32. 6   So BGH NJW 2014, 2132 (2133) = HRRS 2014, Nr. 666, Rn 33. 7   Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO59 (2016), § 154a Rn 18. 8   Dies erfasst auch die Rechtsmittelinstanz; dazu Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO59 (2016), § 154a Rn 22.

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dieselbe Tat begangen worden sind“ (Alt. 2). Indem der Gesetzgeber eine solche Beschränkung der Strafverfolgung in der Strafprozessordnung vorgesehen hat, hat er für eine Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens ebenso wie für eine Entlastung der Justiz Sorge getragen9. Bereiten Tatteile aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen erhöhte Beweisschwierigkeiten oder werden sie auch nur sehr spät, insbesondere erst in der Hauptverhandlung, bekannt10, bietet § 154a StPO der Staatsanwaltschaft bzw. dem Gericht die Möglichkeit, den Verfahrensstoff zu reduzieren und auf die wesentlichen Tatvorwürfe zu konzentrieren. Den Staatsanwaltschaften und der Justiz wird so ermöglicht, dass sie ungeachtet der Schwierigkeiten einer Beweiserhebung in einem zeitlich und kostenmäßig vertretbaren Umfang zu einer Abschlussverfügung bzw. einem Urteilsspruch gelangen können11. Zugleich erfährt die grundsätzlich umfassende – aus den §§ 155 Abs. 2, 206, 244 Abs. 2, 264 StPO ableitbare – Kognitionspflicht des Gerichts eine Einschränkung, indem es dem Gericht gestattet wird, von der Aufklärung und Aburteilung minderwichtiger Gesichtspunkte einer prozessualen Tat abzusehen12. Dieser Zweck, den der Gesetzgeber mit einer Beschränkung der Strafverfolgung gemäß § 154a StPO verfolgt, scheint zunächst für eine Anwendung auf Sachverhalte wie die eingangs geschilderten zu streiten, weshalb das Vorgehen des BGH in diesen und vergleichbaren Verfahren auf den ersten Blick auch nachvollziehbar erscheint. Wenn es einer Verurteilung wegen massenhafter Begehung eines Computerbetrugs bzw. Betrugs noch am Nachweis der jeweiligen Vollendung mangelt, dieser Nachweis aber wegen der Vielzahl der verfahrensgegenständlichen Fälle einen unverhältnismäßigen oder gar kaum zu erbringenden Zeit- wie Kostenaufwand erfordern würde – sollte und müsste die Strafprozessordnung dem Gericht in einem solchen Falle nicht die Möglichkeit einräumen, ohne weitere Beweiserhebung wegen der jeweiligen versuchten Tatbegehung zu verurteilen (bzw. dem Revisionsgericht einen Weg zur entsprechenden Schuldspruchänderung ebnen)? Dieser Beitrag, der – so hoffen die Autoren – auf das Interesse des Jubilars stößt, beschäftigt sich also mit der Frage, ob der vom BGH eingeschlagene und in seiner prozessökonomischen Zielsetzung durchaus nachvollziehbare Weg in dogmatischer Hinsicht vertreten werden kann, wenn nicht, ob es womöglich eine dogmatisch sauberere Lösung gibt oder aber die Strafprozessordnung schlicht keine Alternative zur vollständigen und damit äußerst zeit- und kostenintensiven Beweisaufnahme bietet. 9   Beulke, in: Löwe/Rosenberg, StPO/526 (2008), § 154a Rn 1; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO59 (2016), § 154a Rn 1. 10   Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO59 (2016), § 154a Rn 5. 11   Beulke, in: Löwe/Rosenberg, StPO/526 (2008), § 154a Rn 1. 12   Beulke, in: Löwe/Rosenberg, StPO/526 (2008), § 154a Rn 1.

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B.  Anwendung des Zweifelssatzes? Zunächst scheidet es nach bisheriger Anwendung des Zweifelssatzes aus, den Angeklagten in einem solchen Falle in dubio pro reo wegen des versuchten Betrugs bzw. Computerbetrugs schuldig sprechen zu wollen. Der Zweifelssatz ist nämlich nach bis dato (nahezu13) einhelliger Ansicht eine Entscheidungsregel, die eine abgeschlossene Beweiserhebung und ‑würdigung voraussetzt und erst im Anschluss an eine solche zur Anwendung kommt, wenn das Gericht ausweislich der Urteilsgründe keine volle Überzeugung von dem Bestehen der Täterschaft des Angeklagten oder einer unmittelbar entscheidungserheblichen Tatsache gewonnen hat. Für diesen und nur für diesen Fall gibt der Zweifelssatz dem Gericht vor, dass die dem Angeklagten jeweils günstigste Rechtsfolge gewählt werden muss14, was in einem Stufenverhältnis von „Mehr und Weniger“ (wie im Verhältnis von Vollendung und Versuch) zur Verurteilung nach dem leichteren Gesetz führt15. Demgegenüber zeichnen sich die vorliegend diskutierten Verfahren über eine massenhafte Begehung des Computerbetrugs bzw. Betrugs dadurch aus, dass sich das Gericht in eine Beweiserhebung über die Vollendung gar nicht erst begeben will bzw. dass das Revisionsgericht das Tatgericht zur Nachholung entsprechender Feststellungen gar nicht erst anhalten will. Der anderenfalls noch zu leistende Aufwand erscheint dem Gericht im Verhältnis zur zu erwartenden Strafe wenigstens unverhältnismäßig16, wenn er nicht sogar zeitlich wie kostenmäßig kaum oder gar nicht zu leisten wäre, ja, schlimmstenfalls einen „Kollaps“17 des Verfahrens herbeizuführen drohte. Das – verständliche – Begehren des Gerichts, eine Beweiserhebung dieses Ausmaßes zu vermeiden, ist aber nach herkömmlicher Ansicht nicht von der Ratio des Zweifelssatzes erfasst, der dem Gericht die Mühen der Beweiserhebung und ‑würdigung im Gegenteil gerade nicht abnehmen will.

C.  Beschränkung der Strafverfolgung gemäß § 154a StPO? Auf der Suche nach einer alternativen Handlungsoption, die das Gericht in solchen Fällen von der unvertretbar anmutenden Last abschließender Beweis13  Anders Hoyer, der einen Einfluss des In-dubio-Grundsatzes bereits auf der Ebene der Beweiswürdigung fordert; s. Hoyer, in: ZStW 105 (1993), 523 (553). 14   Meyer-Goßner, in: dems./Schmitt, StPO59 (2016), § 261 Rn 26 m. w. N.; für einen Überblick über den diesbezügl. Meinungsstand s. auch Hoyer, in: ZStW 105 (1993), 523 (523 f.). 15   Meyer-Goßner, in: dems./Schmitt, StPO59 (2016), § 261 Rn 36. 16   So BGHSt 58, 119 (132 m. Rz. 51); krit. Heghmanns, ZJS 2013, 423 (423 u. 427); Krell, NStZ 2014, 686 (688 u. 689). 17   Begriff entlehnt bei Trüg, HRRS 2015, 106 (106).

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erhebung entbindet, ist der BGH auf § 154a Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO gestoßen. Die Frage, ob von dieser Vorschrift auch die Beschränkung des Verfahrensstoffes auf das Versuchsstadium der angeklagten Fälle erfasst ist, wirft jedoch beträchtliche Zweifel auf. Dazu ist kritisch zu untersuchen, ob die Voraussetzungen des § 154a StPO überhaupt erfüllt sind. I.  Die Voraussetzung der Abtrennbarkeit Begründet sind derlei Zweifel darin, dass eine Strafverfolgung im vorgenannten Sinne nur dann beschränkt werden kann, wenn der auszuscheidende Verfahrensstoff überhaupt abtrennbar ist. § 154a Abs. 1 S. 1 StPO setzt in seinen beiden Alternativen – nämlich in derjenigen, in welcher „einzelne abtrennbare Teile der Tat“ aus dem Verfahrensstoff ausgeschieden werden, ebenso wie in derjenigen, in welcher der Verfahrensstoff um „einzelne von mehreren Gesetzesverletzungen“ reduziert wird – voraus, dass der ausgeschiedene und der zur Aburteilung verbleibende Verfahrensstoff jeweils für sich genommen noch einer selbstständigen rechtlichen und tatsächlichen Beurteilung zugänglich bleiben. 1.  „Einzelne Teile einer Tat“ i. S. d. § 154a Abs. 1 S. 1 Alt. 1 StPO Abtrennbar sind „einzelne Teile einer Tat“ i. S. d. ersten Alternative des § 154a Abs. 1 S. 1 StPO dann, wenn sie –– in rechtlicher Hinsicht zu einer prozessualen Tat zusammengefasst sind, –– in tatsächlicher Hinsicht in gewissem Umfang abgeschlossen sind und –– aus dem Gesamtgeschehen herausgenommen werden können, ohne dass ihre Abspaltung dessen Würdigung erheblich beeinträchtigen würde18. Dies mag etwa zutreffen auf einzelne zeitliche Abschnitte eines Dauerdelikts, so beispielsweise auf einzelne Monate einer länger andauernden Unterhaltspflichtverletzung gemäß § 170 StGB. Einer gesonderten Beurteilung sind ebenso zugänglich die selbstständigen Teile einer natürlichen Handlungseinheit – so etwa wenn ein Einbrecher betrunken mit dem Pkw zum Tatort fährt. Seine Trunkenheitsfahrt (§ 316 StGB) kann abgespalten und der nachfolgende Wohnungseinbruchsdiebstahl (§ 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB) getrennt betrachtet werden. Abtrennbar im vorgenannten Sinne sind schließlich auch die in Tatmehrheit gemäß § 53 StGB stehenden Bestandteile ein und derselben prozessualen Tat, so etwa wenn der Verursacher eines Unfalls zunächst den Tatbestand der Straßenverkehrsgefährdung gemäß § 315c Abs. 1 StGB

18   Beulke, in: Löwe/Rosenberg, StPO/526 (2008), § 154a Rn 6; Heghmanns, ZJS 2013, 423 (427); Weßlau/Deiters, in: Wolter, SK-StPO/III5 (2016), § 154a Rn 4.

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verwirklicht und sich im Anschluss hieran unerlaubt vom Unfallort entfernt, strafbar gemäß § 142 StGB19. Von keinem abtrennbaren Bestandteil der Tat i. S. d. § 154a Abs. 1 S. 1 Alt. 1 StPO ist hingegen bei einem Tatbestandsmerkmal auszugehen20, das losgelöst von den übrigen Merkmalen nicht mehr als ein „für sich genommen“ strafrechtlich unbedeutsames Moment bildet, während sein Ausscheiden dem verbleibenden Verfahrensstoff einen zu seiner erschöpfenden Aufklärung und rechtlichen Beurteilung notwendigen Bestandteil nimmt. So wäre es beispielsweise völlig sinnlos, aus dem Tatbestand des Diebstahls das Tatbestandsmerkmal der „fremden“ Sache oder auch die Tathandlung der „Wegnahme“ herauszunehmen. Abgetrennt vom übrigen Tatgeschehen bliebe mit der Bejahung einer „fremden“ Sache eine rein beschreibende Feststellung der Eigentumsverhältnisse übrig, ebenso wie die „Wegnahme“ einer (sich von einem Kfz oder Fahrrad unterscheidenden) Sache solange strafrechtlich unerheblich ist, wie sie von keiner Zueignungsabsicht begleitet ist. Dafür mangelte es dem verbleibenden Tatgeschehen nach der Abspaltung eines einzelnen Merkmals an einem für seine Tatbestandsmäßigkeit gemäß § 242 StGB notwendigen Bestandteil21. Dasselbe gilt etwa für die Abspaltung der objektiven Nötigungshandlung aus dem Tatbestand des Raubes gemäß § 249 StGB: Losgelöst vom subjektiven Tatbestand, büßt die Anwendung eines qualifizierten Nötigungsmittels ihre eigentliche strafrechtliche Relevanz ein, während das verbleibende Tatgeschehen allenfalls noch einen Diebstahl gemäß § 242 StGB zu verwirklichen mag, der sich in seinem Unrechtsgehalt vom ursprünglich verfolgten Verbrechenstatbestand des § 249 StGB aber wesentlich unterscheidet22. 2.  „Einzelne von mehreren Gesetzesverletzungen, die durch dieselbe Tat begangen worden sind“, i. S. d. § 154a Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StPO Die Voraussetzung der Abtrennbarkeit setzt sich in § 154a Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StPO fort, wenn das Gesetz dort vorsieht, dass „einzelne von mehreren 19   Beispiele nach Heghmanns, ZJS 2013, 423 (427 f.) m. w. N. Zum Anwendungsbereich der ersten Variante des § 154a Abs. 1 S. 1 StPO s. auch Beulke, in: Löwe/Rosenberg, StPO/526 (2008), § 154a Rn 6; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO59 (2016), § 154a Rn 5. 20   BGH, Beschl. v. 16.07.1980 – 3 StR 232/80, NStZ 1981, 23; Beulke, in: Löwe/Rosenberg, StPO/526 (2008), § 154a Rn 4; Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO59 (2016), § 154a Rn 5. 21  Zum fehlenden Nachweis einer nur versuchten (hier: Diebstahls-) Tat nach Ausscheiden der tatbestandlichen Vollendung gemäß § 154a Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 S. 1 StPO s. sogleich II.2. 22  Zum vorgenannten Beispiel des um eine Nötigungshandlung gekürzten Raubes s. Beulke, in: Löwe/Rosenberg, StPO/526 (2008), § 154a Rn 4.

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Gesetzesverletzungen, die durch dieselbe Tat begangen worden sind“, ausgeschieden werden können, womit regelmäßig mehrere tateinheitlich verwirklichte Tatbestände angesprochen sind23. Man denke nur an einen Betrug, der mittels Gebrauchs einer unechten Urkunde begangen wird, strafbar gemäß §§ 263 Abs. 1, 267 Abs. 1 Var. 3, 52 StGB. Nimmt man die Verwirklichung des Tatbestands der Urkundenfälschung aus der Strafverfolgung heraus, bleibt ein in tatsächlicher Hinsicht abgeschlossenes Geschehen übrig, das in seiner rechtlichen Bedeutung losgelöst von der tateinheitlichen Verbindung mit § 267 StGB als Betrug gewürdigt werden kann. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man mit der zutreffenden Ansicht nicht dazu übergeht, unter Anwendung des § 154a Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StPO Qualifikationstatbestände aus dem Verfahrensstoff ausscheiden zu wollen, indem man beispielsweise einen Bandendiebstahl gemäß § 244 Abs. 1 Nr. 2 StGB auf einen Diebstahl gemäß §§ 242, 243 StGB oder eine veruntreuende Unterschlagung gemäß § 246 Abs. 2 StGB auf eine einfache Unterschlagung gemäß § 246 Abs. 1 StGB reduzierte. Zutreffenderweise entnähme man nämlich mit der Qualifikation tatsächliche Merkmale, die ihre rechtliche Relevanz erst in Verbindung mit dem Grundtatbestand erlangen. Die Qualifikation kann vom zugehörigen Grundtatbestand nicht abgetrennt werden, sondern nimmt diesen im Gegenteil im Wege der Spezialität in sich auf. Ebenso ginge das Tatgeschehen seiner eigentlichen rechtlichen Bedeutung verlustig, wenn nur der Grundtatbestand, nicht aber die zur Strafschärfung führende Qualifikation der Strafverfolgung unterläge. Von einer Abtrennbarkeit im eingangs dargestellten Sinne, die sich dadurch auszeichnet, dass der ausgeschiedene ebenso wie der verbliebene Verfahrenstoff jeweils selbstständig für sich beurteilt werden können, kann mithin nicht die Rede sein, sodass die Abtrennung eines Qualifikationstatbestandes dem Anwendungsbereich des § 154a Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StPO zu entziehen ist. Zur Begründung dieser Ansicht ist auch auf den Wortlaut des § 154a Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 StPO zu verweisen, der von „einzelne[n] von mehreren Gesetzesverletzungen“ spricht. Im Falle der Qualifikation wird nur ein Gesetz verletzt, nämlich dasjenige des Qualifikationstatbestandes, der den Grundtatbestand im Wege der Gesetzeskonkurrenz (Spezialität) verdrängt24. II.  Folge: Keine Abtrennbarkeit der tatbestandlichen Vollendung Ungeachtet der vorgenannten Grundsätze zur von § 154a Abs. 1 S. 1 StPO vorausgesetzten Abtrennbarkeit hat der BGH den Verfahrensstoff in den 23   Beulke, in: Löwe/Rosenberg, StPO/526 (2008), § 154a Rn 7; Heghmanns, ZJS 2013, 423 (428). 24   Beulke, in: Löwe/Rosenberg, StPO/526 (2008), § 154a Rn 7.

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einleitend genannten Revisionsverfahren auf die massenhafte Begehung eines jeweils nur versuchten Betrugs oder Computerbetrugs beschränkt. Weshalb eine solche Herausnahme der Vollendung aus der Strafverfolgung Ablehnung verdient, ist Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen. 1.  Die Vollendung als Tatbestandsmerkmal Eine unmittelbare Anwendung des § 154a Abs. 1 S. 1 StPO in seiner ersten Alternative scheidet bereits deshalb aus, weil – wie dargelegt – ein Ausscheiden einzelner Tatbestandsmerkmale aus dem Verfahrensstoff zu Recht einhellig abgelehnt wird25. Wer die Vollendung von der ihr zugehörigen Tat abtrennt, entnimmt letzterer denknotwendig ein objektives Tatbestandmerkmal. Indem der BGH die Strafverfolgung in den von ihm zu entscheidenden Verfahren auf das Versuchsstadium beschränkte, kürzte er den jeweiligen Fall eines Betrugs oder Computerbetrugs um den Irrtum der Verfügenden oder den Eintritt eines Vermögensschadens. Dabei missachtete er, dass er solche Teile der Tat voneinander trennte, die einer selbstständigen tatsächlichen und rechtlichen Würdigung nicht zugänglich sind26. Denn beide Tatbestandsmerkmale – Irrtum wie Schaden – bildeten nach ihrer Abtrennung ein für sich jeweils bedeutungsloses Moment. So hat der losgelöst vom sonstigen Geschehen zu verzeichnende Irrtum seitens der betroffenen Bankkunden, zur Zahlung verpflichtet gewesen zu sein, keinen in sich erkennbaren strafrechtlich relevanten Aussagewert. Erst in Vereinigung mit dem ursprünglich zur Aburteilung stehenden Verfahrensstoff hätte sich die rechtliche Bedeutung des Irrtums als Bindeglied zwischen Täuschung und Vermögensverfügung im objektiven Tatbestand entfaltet, ebenso wie der verbliebene Verfahrensstoff erst durch den objektiv vorliegenden Irrtum zum tatbestandsmäßigen Geschehensablauf eines vollendeten Betrugs komplettiert worden wäre. 2.  Versuch und Vollendung im Exklusivitätsverhältnis An der Unanwendbarkeit des § 154a Abs. 1 S. 1 StPO ändert sich auch dadurch nichts, dass der zur Aburteilung verbleibende – um die Vollendung kupierte – Verfahrensstoff Gelegenheit zu einer alternativen rechtlichen Würdigung zu bieten scheint. Nimmt man dem Geschehen sein zur Vollendung notwendiges Tatbestandsmerkmal, meint man zunächst noch ein selbstständig bewertbares – im Vokabular des § 154a Abs. 1 S. 1 StPO ein abtrennbares – Geschehen zu erkennen: Denn reduziert um ein mögliches Vollendungsmoment, bleibt wenigstens doch noch der Versuch – das unmittelbare Ansetzen eines zur Tat entschlossenen Täters.

  Siehe oben I.1. m. w. N. in Fn. 20.   So auch Heghmanns, ZJS 2013, 423 (428) zur Abspaltung des Schadens.

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Aber auch diese Vorstellung geht fehl. Zwar kann nicht bezweifelt werden, dass der Versuch ein notwendiges Durchgangsstadium auf dem Weg zur vollendeten Tat bildet, weil jeder Täter, der eine Tat „zu Ende bringt“, sie irgendwann eben auch „begonnen“ und dabei die Grenze zur Strafbarkeit überschritten haben muss. Darauf beschränkt sich das Verhältnis von Vollendung und Versuch aber mitnichten; vielmehr stehen Versuch und Vollendung bei näherer Betrachtung sogar in einem Exklusivitätsverhältnis. Nicht umsonst ist an den Beginn einer jeden Versuchsprüfung die Feststellung der fehlenden Vollendung gestellt27. Nur wenn diese Feststellung getroffen und zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen worden ist, stellen sich überhaupt erst die nachfolgenden Fragen von Tatentschluss und unmittelbarem Ansetzen i. S. d. § 22 StGB, Rechtswidrigkeit und Schuld. Dass Versuch und Vollendung in einem Exklusivitätsverhältnis stehen, tritt weiter darin zu Tage, dass nur der Versuch die Möglichkeit des strafbefreienden Rücktritts gemäß § 24 StGB eröffnet, die Vollendung aber gerade nicht (welche dem Täter allenfalls die spärlich im Strafgesetzbuch vorgesehene Möglichkeit der tätigen Reue belässt). Ebenso verlangt die Strafzumessung bei der Aburteilung eines Versuchs nicht nur die Prüfung einer fakultativen Strafrahmenverschiebung gemäß § 23 Abs. 2 StGB, sondern setzt zwingend auch die Würdigung einer etwaigen Minderung des Unrechtsgehalts durch versuchsspezifische Momente wie zum Beispiel durch die unterschiedliche Nähe der Tatvollendung und den bereits eingetretenen Grad der Rechtsgutsgefährdung voraus. Kann mithin aber nur eine versuchte Tat oder eine vollendete Tat vorliegen, scheidet eine Beschränkung der Strafverfolgung nach beiden Alternativen des § 154a Abs. 1 S. 1 StPO aus. Eine um die Vollendung kupierte Tat bildet gerade keine in sich abgeschlossene tatsächliche Einheit, die losgelöst von der tatbestandlichen Vollendung als Versuch gewürdigt werden könnte. Versuchte und vollendete Tat stehen auch nicht im Verhältnis „von mehreren Gesetzesverletzungen“, wie es § 154a Abs. 1 S. 1 StPO in seiner zweiten Alternative vorsieht, sondern treten einander in einem Exklusivitätsverhältnis gegenüber, in dem nur entweder die eine oder die andere vorliegen kann28. Der vom BGH eingeschlagene Weg, in Massenverfahren wegen Betrugs oder Computerbetrugs die Vollendung gemäß § 154a  Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO aus dem Verfahrensstoff auszuscheiden, suggeriert also nur 27   Darauf – wenn auch im Zusammenhang mit § 154a Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StPO – gleichermaßen hinweisend Heghmanns, ZJS 2013, 423 (428 m. Fn. 43); vgl. auch Kuhli, StV 2016, 40 (43) („Erfolgsdivergenz“). 28   So auch Krell, NStZ 2014, 686 (688). Zur fehlenden Anwendbarkeit des § 154a Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StPO auf Delikte im Exklusivitätsverhältnis s. auch BGH NStZ 1981, 23; vgl. außerdem oben a. E. von I.2. die Diskussion um dessen Anwendung auf Qualifikationstatbestände.

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eine Prozesssituation, in welcher der Tatvorwurf des Versuchs in all seinen Merkmalen nachgewiesen und getrennt vom ausgeschiedenen Verfahrensstoff auf seine rechtliche Bedeutung hin untersucht werden kann. In Wirklichkeit wird der konkrete Tatvorwurf unter Verzicht auf eine Beweisführung über die Vollendung bewusst offen gelassen. Zugespitzt formuliert: Es ergeht hier eine Verurteilung wegen einer versuchten Tat, von der das Gericht gar nicht wissen kann, ob sie so überhaupt begangen wurde, weil es sich in die entsprechende Tataufklärung über die angeblich fehlende Tatvollendung gar nicht begeben hat. § 154a Abs. 1 S. 1 StPO legitimiert in beiden Alternativen das Vorgehen des BGH also nicht.

D.  Beschränkung der Strafverfolgung gemäß § 154a StPO analog? Wenn eine unmittelbare Anwendung des § 154a Abs. 1 S. 1 StPO nach dem bereits gefundenen Ergebnis mithin ausscheidet, Gerichte in Massenverfahren aber gleichwohl mit dem unvertretbaren Aufwand konfrontiert sind, die jeweilige Vollendung nachzuweisen, stellt sich die Frage, ob einem Gericht in dieser Situation wenigstens zugestanden werden darf, seine „Zuflucht“ in einer analogen Anwendung des § 154a Abs. 1 S. 1 StPO zu suchen. Eine solche Analogie setzte – neben einer planwidrigen Regelungslücke29 – eine Vergleichbarkeit (Rechtsähnlichkeit)30 mit solchen Sachverhalten voraus, auf die § 154a StPO unmittelbar angewendet werden kann. Studiert man die einschlägigen Entscheidungen des BGH in den vorliegend diskutierten Revisionsverfahren, mag man versucht sein, die Rechtsähnlichkeit allein wegen der übereinstimmenden gerichtlichen Motivation, eine Erleichterung des Verfahrens herbeizuführen, voreilig zu bejahen. Der BGH benötigte nämlich jeweils nur einen Satz, um seine Anwendung des § 154a Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 Nr. 1 StPO zu begründen, und beschränkte sich in diesem Satz darauf, genau jene Motivation der Verfahrenserleichterung darzulegen. So lesen wir dort: „Schon im Hinblick auf die Vielzahl der Fälle und die Komplexität des Tatgeschehens würde die weitere Aufklärung mit dem Ziel der Feststellung eines vollendeten Delikts einen unverhältnismäßigen Aufwand bedeuten“31.

 Bejahend Krell, NStZ 2014, 686 (688 f.); krit. Kuhli, StV 2016, 40 (43 m. Fn. 46).   Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO59 (2016), Einl. Rn 198. 31   BGH HRRS 2014, Nr. 666, Rz. 31; zust. Krell, NStZ 2014, 686 (688). In diesem Sinne auch BGHSt 58, 119 (132 m. Rz. 51): „Angesichts der in objektiver Hinsicht bedeutenden Vielzahl der ansonsten maßgeblichen bankinternen Vorgänge und der Notwendigkeit, dem Angeklagten die entsprechende subjektive Tatseite nachzuweisen, würde die weitere Aufklärung einen unverhältnismäßigen Aufwand bedeuten“. 29 30

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Jedoch vermag allein die übereinstimmende Motivation des Rechtsanwenders noch nicht die Tür zur Analogie zu öffnen. Was dem BGH den Weg zur Analogie verstellte, worüber er aber stillschweigend hinwegging, war die mangelnde Vergleichbarkeit der einer strafprozessualen Lösung zuzuführenden Fallkonstellationen. Denn § 154a StPO ist für eine Beschränkung der Strafverfolgung konstruiert, innerhalb derer solche Sachverhalte ausgeschieden werden, die einer gesonderten tatsächlichen und rechtlichen Bewertung zugänglich sind, und innerhalb derer solche Sachverhalte als Verfahrensstoff verbleiben, die entsprechend ihrer rechtlichen Würdigung auch nachgewiesen werden können. Entscheidet sich ein Gericht hingegen, den Täter eines Versuchs schuldig zu sprechen, weil es den Beweis über eine Vollendung der Tat nicht ohne unverhältnismäßigen Aufwand führen kann, trifft es einen Urteilsspruch, der seinen ungeklärten Zweifeln anstatt seiner durch die Beweisführung untermauerten Überzeugung von einer nur versuchten (nochmals: im Exklusivitätsverhältnis zu Vollendung stehenden) Tat entspringt. Beriefe sich das Gericht nunmehr – nach dem Vorbild des BGH – auf § 154a StPO, um sein Vorgehen zu rechtfertigten, nutzte es die strafprozessuale Vorschrift nicht, um rechtsähnliche Sachverhalte einer prozessualen Lösung zuzuführen. § 154a StPO diente ihm vielmehr dazu, über seine Unfähigkeit hinwegzutäuschen, den Verfahrensstoff vollständig (d. h. einschließlich der Vollendung) aufzuklären oder wenigstens insoweit zu reduzieren, dass der verbleibende Verfahrensstoff einer vollständigen Aufklärung zugeführt werden kann (was auf den Versuch nicht zutrifft, wenn der Nachweis ausgebliebener Vollendung nicht geführt werden kann). Sinn und Zweck strafprozessualer Vorschriften bestehen aber nicht darin, ein gerichtliches Unvermögen zu kaschieren. Eben hieran muss sich konsequenterweise eine analoge Anwendung des § 154a StPO messen lassen, so diskussionswürdig sie vor dem Bestreben erscheinen mag, Massenverfahren des Betrugs und Computerbetrugs unter Anwendung der geltenden Regeln der Strafprozessordnung in den Griff zu bekommen. Auch der Ausweg einer analogen Anwendung des § 154a Abs. 1 S. 1 StPO ist somit versperrt.

E.  Zeitliche Ausweitung des Zweifelssatzes? Was sich in Verfahren wie den vorliegend besprochenen manifestiert, ist stattdessen – bis zu einer de lege ferenda eintretenden (aber realistischerweise nicht zu erwartenden) Lösung – der Bedarf nach einem erweiterten Anwendungsbereich des Grundsatzes in dubio pro reo32. Erfordert der Nachweis der Vollendung in Massenverfahren einen unverhältnismäßigen Aufwand oder droht das Verfahren ob der Fülle der zu erhebenden Beweise gar zu 32

  Für eine Anwendung des In-dubio-Grundsatzes auch Kuhli, StV 2016, 40 (47 f.).

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kollabieren, muss das Gericht ausnahmsweise auf eine erschöpfende Beweiserhebung und ‑würdigung verzichten und den In-dubio-pro-reo-Grundsatz schon „früher“ zur Anwendung bringen dürfen. Ist dies aber eine dogmatisch sauberere Vorgehensweise? Darf der Zweifelssatz, der – wie oben dargelegt33 – gemäß herkömmlicher Auffassung erst nach abgeschlossener Beweiserhebung und ‑würdigung greift, in Massenverfahren abgewandelt werden? I.  Zweifel im Zeichen der Prozessökonomie Bestrebungen in Richtung einer in zeitlicher Hinsicht erweiterten Anwendung des In-dubio-Grundsatzes hatte bereits das Landgericht Stuttgart unternommen34. Betraut mit der Verhandlung einer Vielzahl tateinheitlich verwirklichter Betrugstaten, bei denen mehr als 53.000 grundlos versendete Rechnungen über einen Betrag von jeweils 47,80 € bis 48 € von den Adressaten bezahlt worden waren, entschied sich das Landgericht nach nahezu fünfmonatiger Verhandlungsdauer, nur fünfzehn der Rechnungsadressaten zu vernehmen. Lediglich in diesen fünfzehn Fällen, in denen dem Gericht aufgrund der Vernehmung das individuelle Vorstellungsbild des jeweiligen Betrugsopfers bekannt war und es das Tatbestandsmerkmal des Irrtums nachvollziehen konnte, nahm das Gericht einen vollendeten Betrug an. Im Übrigen – präzise in 53.479 Betrugsfällen – beschränkte sich das Landgericht darauf, den Täter des Versuchs für schuldig zu sprechen, dies ohne Mitwirkung, d. h. ohne Zustimmung der Staatsanwaltschaft. Das Landgericht Stuttgart war mithin mit einer vergleichbaren Problematik und Motivation konfrontiert wie der BGH in den eingangs geschilderten Revisionsverfahren. Anders als der BGH beschritt das Landgericht aber nicht den Weg einer Beschränkung der Strafverfolgung gemäß § 154a Abs. 2 StPO, um in einem Großteil der Fälle ohne weitere Beweiserhebungen wenigstens wegen Versuchs verurteilen zu können. In seinem Verzicht auf eine Zustimmung der Staatsanwaltschaft manifestierte sich stattdessen eine (nicht ausdrücklich als solche ausgewiesene) Anwendung des In-dubio-Grundsatzes35. Nur so war es ihm möglich, ohne Mitwirkung der Anklagebehörde in einigen wenigen Fällen wegen vollendeter, ganz überwiegend aber wegen versuchter Betrugsbegehung zu verurteilen. Auf eine (erfolglose) Revision des Angeklagten hin kassierte das LG Stuttgart dafür vom BGH mit Beschluss vom 06.02.2013 eine verbale Rüge: Der BGH erkannte im konkreten Fall zwar das Dilemma einer erschöpfenden Beweiserhebung durch das Tatgericht an, beharrte aber   Siehe oben B.  LG Stuttgart, Urt. v. 21.02.2012 – 14 KLs 166 Js 9323/11; dazu BGH, Beschl. v. 06.02.2013 – 1 StR 263/12, NJW 2013, 1545 (1545 f.); Heghmanns, ZJS 2013, 423 (428). 35   Zu diesem Verständnis des Urteils s. auch Heghmanns, ZJS 2013, 423 (428); Trück, ZWH 2013, 404 (405); anders wohl Krehl, NStZ 2015, 101 (101). 33 34

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darauf, dass es einem Gericht aus prozessökonomischen Gründen nicht „ohne Weiteres erlaubt wäre, die Beweiserhebung über den Taterfolg zu unterlassen und lediglich wegen Versuchs zu verurteilen“36. Dem BGH ist insoweit zuzustimmen, als eine vorschnelle Berufung auf den Zweifelssatz nicht dazu missbraucht werden darf, dass sich ein Gericht „ohne Weiteres“ und jenseits jeder Beeinflussungsmöglichkeit seitens der Staatsanwaltschaft seiner Kognitionspflicht entzieht. Anders aber ist die Sachlage in Verhandlungen, in denen das Gericht ein Verfahren großer Dimension abzuurteilen hat. Um überhaupt zu einem zeitlich absehbaren und in seinen Kosten noch vertretbaren Urteil zu gelangen, muss dem Gericht ein Weg offen stehen, den angeklagten Verfahrensstoff zu reduzieren. Anders als der BGH hat das Landgericht Stuttgart den Konflikt zwischen Kognitionspflicht und Prozessökonomie dabei als einen solchen erkannt, der dem Wesen des Zweifelssatzes nahe steht, und hat seine Zweifel über die Vollendung der abzuurteilenden Taten nicht – unter Einbeziehung der Staatsanwaltschaft – durch Anwendung des § 154a Abs. 2 StPO zu vertuschen versucht. Hierin verdient es unsere volle Zustimmung. Da nach vorliegend vertretener Ansicht die Vorschriften der Strafprozessordnung für diesen Fall keine dogmatisch saubere Lösung offerieren und Hilfe durch den Gesetzgeber nicht zu erwarten ist, kann es nur darum gehen, die für die notwendige Stoffreduzierung „ehrlichste“ Begründungsvariante zu wählen. Das ist nach unserem Erachten die in Großverfahren ausnahmsweise zugelassene zeitliche Ausweitung des Zweifelssatzes. So wie das Gericht in dubio pro reo entscheiden muss, wenn es nach abgeschlossener Beweiserhebung und ‑würdigung zu keiner zweifelsfreien Überzeugung gelangt, sollte es gleichermaßen in dubio pro reo entscheiden dürfen, wenn ihm der Weg zu einer solchen erschöpfenden Beweiserhebung und ‑würdigung aus prozessökonomischen Gründen ausnahmsweise versperrt ist. In dogmatischer Hinsicht hat bereits Kuhli darauf hingewiesen, dass die damit befürwortete Einschränkung der in § 244 Abs. 2 StPO normierten Amtsermittlungspflicht auf ein extensives Verständnis des § 244 Abs. 3 S. 2 Var. 5 StPO gestützt werden könnte37. So wie die Amtsermittlungspflicht ihre Grenze demnach in der Unerreichbarkeit eines Zeugen findet, soll ihre Einschränkung auch durch dessen nur „gleichsame“ Unerreichbarkeit begründet werden können, die sich in Massenverfahren daraus ergibt, dass „jeder einzelne Zeuge theoretisch der Letzte in der Vernehmungsreihenfolge sein 36   BGH NJW 2013, 1545 (1546); dazu Heghmanns, ZJS 2013, 423 (428). Erfolglos blieb die Revision des Angeklagten – ungeachtet dieser Rüge – mangels Beschwer durch die Anwendung des Zweifelssatzes; BGH a. a. O., 1545 (1547 m. Rz. 22). 37   Kuhli, StV 2016, 40 (47 f.).

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könnte“38. Nicht die Aussichtslosigkeit der einzelnen Zeugenvernehmung machte so einen bestimmten Zeugen für das Gericht unerreichbar, sondern der unverhältnismäßige Aufwand, den die Gesamtanzahl aller Vernehmungen dem Gericht abverlangte, entzieht die Summe der Beweismittel dessen Bewirkungsmöglichkeiten. Das ist ein überzeugendes Argument, das unser Ergebnis stützt. II.  Vorsicht vor dem Rückgriff auf alternative Arten der „Zeugenbefragung“ Freilich darf die Schwelle für die vorliegend dargelegte erweiterte Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo nicht zu niedrig angesetzt sein. Insbesondere muss die Anwendung des Zweifelssatzes die ultima ratio des Gerichts bilden, das heißt, sie darf nicht durch eine alternative Gestaltung der Beweiserhebung und ‑würdigung vermieden werden können. Nur wenn dies der Fall ist, sollte es dem Gericht angesichts einer unverhältnismäßigen bis praktisch nicht zu bewältigenden Anzahl an Beweiserhebungen erlaubt sein, sich ganz im Wortsinne von „in dubio pro reo“ auf verbleibende Zweifel über eine Tatvollendung zu berufen. Dabei gilt es jedoch besondere Vorsicht zu üben, dass sich das Gericht durch seine Zurückhaltung gegenüber einer In-dubio-Entscheidung nicht zu einer Beweisführung verleiten lässt, welche die Rechte des Angeklagten zu unterlaufen geeignet ist39. Soweit der BGH etwa auf die Möglichkeit hingewiesen hat, den Nachweis über die Vollendung zu erbringen, indem man die Ergebnisse einer bereits im Ermittlungsverfahren durchgeführten, standardisierten schriftlichen Befragung (unter Verwendung eines Fragebogens) in die Hauptverhandlung einführte40, sollte man sich der engen Grenzen dieser alternativen Beweiserhebung bewusst sein. Zwar bietet eine solche Befragung – vorbehaltlich einer Gleichartigkeit der Sachverhalte – prima facie eine nachvollziehbare Option, um der großen Anzahl zu vernehmender Zeugen in Sammelverfahren Herr zu werden41. Damit die Rechte des Angeklagten nicht angetastet werden, müsste das die schriftlichen Erklärungen verwertende Gericht jedoch nicht nur deren verschiedentlich eingeschränkten Beweiswert würdigen, der sich

  Kuhli, StV 2016, 40 (48).   Zum Nachfolgenden vgl. die überzeugenden Ausführungen von Kuhli, StV 2016, 40 (43 ff.). 40   BGH NJW 2013, 1545 (1546). Zur schriftlichen Vernehmung im Ermittlungsverfahren s. außerdem Schünemann, in: Eser et al., FS Meyer-Goßner (2001), 385 (389). 41   Für diese Art der Beweiserhebung etwa Krell, NStZ 2014, 686 (687); krit. Kuhli, StV 2016, 40 (43 f.). 38 39

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aus den allgemeinen Fehlerquellen einer schriftlichen Vernehmung42, insbesondere aber aus der mangelnden Konfrontation des befragten Zeugen mit dem Beschuldigten und seinem Verteidiger ergibt. Weitergehend noch stellt sich die Frage, in wie vielen Fällen die in ihrem Beweiswert bereits eingeschränkte Erklärung überhaupt in die Hauptverhandlung würde eingeführt werden können. Denn insoweit steht die Ersetzung des Zeugenbeweises durch das Surrogat des Urkundenbeweises gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO unter dem Vorbehalt einer Zustimmung des Angeklagten und seines Verteidigers43. Der Angeklagte, dem man unter Rückgriff auf eine standardisierte schriftliche Befragung die Konfrontation mit den Zeugen verwehrte, verfügte mithin (zu Recht!) über eine Art „Vetobefugnis“44 gegen die Verwertung der so erlangten Ergebnisse – und würde mit Blick auf den alternativ nur wegen Versuchs zu erwartenden Schuldspruch von dieser regelmäßig auch Gebrauch machen45. Zurückhaltung ist ferner gegenüber solchen – gleichermaßen vom BGH verlautbarten – Bestrebungen geboten, aus Indizien auf das sich einem unmittelbaren Nachweis entziehende Tatbestandsmerkmal (z. B. den Irrtum des Betrugsopfers) zu schließen. Insoweit hält der BGH eine unmittelbare Beweisführung nicht nur dann für verzichtbar, wenn das Gericht im Urteil ein „sachgedankliches Mitbewusstsein“ der Verfügenden darzulegen vermag, das als Indiz für einen täuschungsbedingten Irrtum wirkt46. Bei einem normativen Vorstellungsbild der Verfügenden stehe es dem Gericht vielmehr frei, nur wenige Zeugen zu vernehmen und vom Ergebnis jener Beweisaufnahme auf den Irrtum auch der anderen (nicht als Zeugen vernommenen) Opfer zu schließen47. Diesen Weg halten wir für sehr bedenklich, denn nur ein kleiner Teil der Opfer würde so im Wege der Vernehmung individualisiert, während ihre größere Anzahl durch Hochrechnung der in den Vernehmungen

42  Dazu Schünemann, in: Eser et al., FS Meyer-Goßner (2001), 385 (389); im Anschluss hieran Kuhli, StV 2016, 40 (44). 43   Näher dazu Kuhli, StV 2016, 40 (44); s. ferner auch Trück, ZWH 2013, 404 (405); Trüg, HRRS 2013, 106 (114). 44   Begriff entlehnt bei Velten, in: Wolter, SK-StPO/V5 (2016), § 251 Rn 15. 45   Vgl. die entsprechende Einschätzung von Kuhli, StV 2016, 40 (44) für das Verhältnis zur (vorliegend abgelehnten) Beschränkung der Strafverfolgung auf das versuchte Delikt gemäß § 154a StPO. 46  So etwa BGH NJW 2014, 2132 (2133); dazu auch BGH, Beschl. v. 04.09.2014 − 1 StR 314/14, NStZ 2015, 98 (100 m. Rz. 19) m. krit. Anm. Krehl, a. a. O., 101 (101); krit. auch Kuhli, StV 2016, 40 (46); Trüg, HRRS 2015, 106 (108 u. 112). 47   Dazu etwa BGH NStZ 2015, 98 (100 m. Rz. 24) m. w. N.; BGH NJW 2014, 2132 (2133); BGH, Urt. v. 27.03.2014 – 3 StR 342/13, NJW 2014, 2054 (2056) m. Anm. Schuhr, ZWH 2014, 347 (348); BGH NJW 2013, 1545 (1546).

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Werner Beulke/Gloria Berghäuser

manifestierten Irrtumsquote abstrakt bestimmt werden würde48. Insoweit tun sich nicht nur grundsätzliche Zweifel an der Berechtigung eines solchen nur mittelbaren Schuldnachweises „kraft statistischer Wahrscheinlichkeit“ auf, sondern dürfte eine geringe – von den Strafverfolgungsorganen für praktikabel erachtete – Anzahl tatsächlich durchgeführter Vernehmungen auch regelmäßig für eine valide Quotenbestimmung nicht ausreichen49. Wenn das Gericht nach Dafürhalten des 1. Senats des BGH sogar noch weitergehend gänzlich auf die Vernehmung von Zeugen verzichten können soll, solange die äußeren Umstände nur den Rückschluss auf den Irrtum mindestens eines Geschädigten zulassen50, verflüchtigen sich die Anforderungen an einen in der Hauptverhandlung zu leistenden Vollendungsnachweis letztlich in den Bereich lediglich symbolischer Beweisführung. Eine solche vollständige Ersetzung des Zeugenbeweises durch den Indizienschluss beraubte nicht nur den Angeklagten und seine Verteidigung jeder Möglichkeit der Nachfrage, sie wäre vor allem unverhältnismäßig (da nicht erforderlich). Prozessökonomische Gründe bilden einen legitimen Zweck, dessen Verfolgung es in Sammelverfahren notwendig machen kann, eine im Einzelfall zu bestimmende Obergrenze an Zeugenvernehmungen nicht zu überschreiten. Sie bieten aber keinen Anlass, das Vernehmungselement gänzlich – und damit fernab prozessökonomischer Notwendigkeiten – aus dem Verfahren zu eliminieren51.

F. Schlussbemerkung Ob der Täter die Tat nun vollendet hat oder nicht, scheint nach den vorliegend diskutierten Entscheidungen des BGH mehr oder weniger unerheblich zu sein, so unerheblich, dass eine nicht geklärte Tatvollendung ohne großes Aufsehen, sozusagen „geräuschlos“, gemäß § 154a Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO aus dem Verfahrensstoff ausgesondert wird und verbleibende Zweifel über die Verwirklichung einer nur versuchten statt vollendeten Tat im strafprozessualen Niemandsland entschwinden. Dies aber wird dem Exklusivitätsverhältnis von versuchter und vollendeter Tat nicht gerecht. Jenes Exklusivitätsverhältnis verlangt dem Rechtsanwender stattdessen grundsätzlich eine erschöpfende Beweiserhebung und ‑würdigung ab,   Dazu BGH NJW 2013, 1545 (1546 m. Rz. 19); Kuhli, StV 2016, 40 (46).   Kuhli, StV 2016, 40 (47); vgl. auch die Kritik von Trüg, HRRS 2015, 106 (115 m. Fn. 83). Beispielhaft das Urteil des 3. Strafsenats vom 27.03.2014, welches die landgerichtliche Schlussfolgerung von nur neun Zeugenvernehmungen auf einen täuschungsbedingten Irrtum von 80% der insg. 660.000 Geschädigten unbeanstandet ließ; BGH NJW 2014, 2054 (2056); krit. Krehl, NStZ 2015, 101 (102). 50   BGH NStZ 2015, 98 (100 m. Rz. 23); krit. Anm. Krehl, ebda., 101 (101 f.); Kudlich, ZWH 2015, 105. 51   So auch Krehl, NStZ 2015, 101 (102); Kudlich, ZWH 2015, 105 (105 f.). 48 49

Zweifel an der Tatvollendung in Massenverfahren

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wobei – insoweit im Einklang mit dem BGH – auch alternative Wege einer (gegebenenfalls mittelbaren) Beweiserhebung und ‑würdigung zu erwägen sind, dies jedoch nur insoweit, als hierdurch die Rechte des Angeklagten nicht unterlaufen werden. Besteht wegen der Masse des zu ermittelnden und zu bewertenden Verfahrensstoffes aber die ernstliche Befürchtung einer unverhältnismäßigen Prozessgestaltung oder gar eines „Verfahrenskollapses“, mag es dem Gericht in Abhängigkeit von den Eigenheiten des konkreten Verfahrens gestattet sein, auf eine Ausschöpfung der ihm zur Verfügung stehenden Beweislage zu verzichten. Bleibt es dem Gericht deshalb versagt, seine Überzeugung von der (fehlenden) Vollendung der Tat zu bilden, verlangt ihm das Exklusivitätsverhältnis von versuchter und vollendeter Tat jedoch folgerichtig auch ab, dass es sich zu seinen – der nicht erschöpfenden Beweiserhebung und ‑würdigung geschuldeten – Zweifeln bekennt und diese unter Anwendung des Grundsatzes in dubio pro reo offen und unverfälscht zum Ausdruck bringt. Gegenüber einer Beschränkung der Strafverfolgung gemäß § 154a Abs. 2 i. V. m. Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO bildet die zeitliche Ausweitung des In-dubio-pro-reoGrundsatzes die vorzugswürdige, weil ehrliche und nicht zuletzt auch – in den Augen der Verfasser – einzig dogmatisch vertretbare Lösung52.

52   Für einen transparenten Umgang der Rechtsordnung mit den Grenzen ihrer eigenen Handlungsfähigkeit vgl. bereits in anderem Zusammenhang die Ausführungen von Berghäuser, Das Ungeborene im Widerspruch, S. 864 ff.

Selbstladungsrecht – ein stiefmütterliches „Zwangsmittel“ Selbstladungsrecht – ein stiefmütterliches „Zwangsmittel“ einer aktiven Verteidigung Jan Bockemühl I.  Persönliche Widmung Mir war es nicht vergönnt, während seiner aktiven Zeit als (Vorsitzender) Richter mit dem verehrten Jubilar, Ottmar Breidling, persönlich zusammenzutreffen! Trotzdem ist er mir in mehrfacher Hinsicht zu seiner Schaffenszeit „begegnet“. Wie das? Seit dem Sommersemester 2000 lehre ich mit meinem Freund und jetzigem Mitherausgeber dieser Festschrift, Bernd von Heintschel-Heinegg, an der Universität Regensburg „Praktische Übungen Strafprozess“ bzw. „Einführung in die Strafverteidigung“. Kam in der gemeinsamen Lehrveranstaltung das Gespräch auf das Thema einer aktiven, gestalterischen Verteidigertätigkeit und zu dem Schlagwort „Lufthohheit“, fiel durch meinen Co-Dozenten immer der Name Ottmar Breidling und ich erfuhr auf diesem Wege auch von dem berüchtigten „Notfallkoffer“1 unseres Jubilars. Ein weiteres Mal begegnete mir der Name Ottmar Breidling in Erzählungen meiner geschätzten Verteidigerkollegin und weiteren Mitherausgeberin, Ricarda Lang. Sie schwärmte immer von ihren verschiedenen Verteidigungen vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf. Auch hier fiel wiederum der Name des Vorsitzenden, von dem sie „prozessual viel gelernt habe“. Im Rahmen der (Mit-)Herausgabe der Festschrift für Bernd von Heintschel-Heinegg2 lernte ich unseren Jubilar erstmals kennen. Zunächst fernmündlich: Ottmar Breidling rief mich in meiner Kanzlei an und wollte (zunächst) seine Mitarbeit an der Festschrift – aufgrund seiner mannigfaltigen Tätigkeiten als Pensionär – absagen. Ich insistierte, erzählte in dem folgenden Gespräch von der gemeinsamen Lehrveranstaltung mit Bernd von Heintschel-Heinegg und am Ende des langen, sehr offenen Gesprächs hatte 1   Dieser „Notfallkoffer“ scheint immer noch eine gewisse Anziehungskraft zu entfalten – vgl. nur zuletzt Pauka/Daners, StraFo 2015, 397, harrt aber leider immer noch einer ausführlichen Auseinandersetzung aus Verteidigersicht! 2   Bockemühl/Gierhake/Müller/Walter [Hrsg.], Festschrift für Bernd v. HeintschelHeinegg, 2015.

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ich – unter Gewährung einer großzügigen Fristverlängerung für die Abgabe des Manuskripts – die Zusage für einen Beitrag! Erst am 26. Juni 2015 war es dann so weit: ich lernte den „Richter Tacheles“,3 den „berüchtigten Terrorismusrichter“,4 welcher „dem einen oder anderen Anwalt im Düsseldorfer Hochsicherheitstrakt eine Lektion im Strafprozessrecht erteilt hat“5 anlässlich der feierlichen Übergabe der „Festschrift für Bernd von Heintschel-Heinegg“ in Regensburg, ausgerechnet in der Stadt, in welcher 1532 mit der Constitution Carolina Criminalis das erste Europäische Straf- und Strafprozessgesetzbuch6 verabschiedet wurde, persönlich kennen. Mein sehr positiver Eindruck – Ottmar Breidling war mein Tischnachbar – verfestigte sich auf dem 40. Strafverteidigertag 2016 in Frankfurt am Main. Wir waren gemeinsam als Referenten in der Arbeitsgemeinschaft 4 zum Thema „Das Weltbild des Strafrichters“ eingeladen. Die Arbeitsgemeinschaft war bestens besucht und es entwickelte sich – nicht zuletzt aufgrund der provokanten Thesen unseres Jubilars – eine erfreulich lebhafte Diskussion auf dem Podium unter intensiver Einbeziehung des gesamten Plenums. Es ist mir eine Ehre dem Jubilar diesen Beitrag widmen zu dürfen. Die Themen, die sich anbieten würden, sind – aufgrund der breiten strafprozessualen Ausrichtung des zu Würdigenden – mannigfach. Die Frage der Selbstladung von Beweispersonen und die damit einhergehenden Fragen haben Ottmar Breidling nach meiner Kenntnis in verschiedenen Staatsschutzverfahren beim OLG Düsseldorf7 befasst.8

II.  Wahrheitsfindung – Beweisantragsrecht Der Strafprozess gilt nach allgemeiner Ansicht der Erforschung der Wahrheit bzw. des wahren Sachverhalts.9 3  So die Deutsche Welle am 13.04.2012: http://www.dw.com/de/richter-tacheles-imruhestand/a–15880742 4  So Die Welt am 13.03.2012: http://www.welt.de/regionales/duesseldorf/article 13919782/Beruechtigter-Terrorismusrichter-setzt-sich-zur-Ruhe.html 5   Die Welt am 13.03.2012: http://www.welt.de/regionales/duesseldorf/article13919782/ Beruechtigter-Terrorismusrichter-setzt-sich-zur-Ruhe.html 6   Vgl. nur Weber in: Strafverteidigervereinigungen et altera [Hrsg.] Strafverteidigung auf neuen Wegen? 2. Dreiländerforum Strafverteidigung Regensburg, Schriftenreihe der Vereinigung Österreichischer StrafverteidigerInnen, Band 20, 2012, 11 ff. 7   Mit dem OLG Düsseldorf verbindet mich ein weiterer Punkt: mein Vater Dr. Justus Bockemühl hat in der Festschrift zum 75-jährigen Bestehen des OLG Düsseldorf in: Wiesen [Hrsg.], 75 Jahre Oberlandesgericht Düsseldorf, 1981, Seite 285 ff., als Vertreter der Notare einen Beitrag veröffentlicht. 8   OLG Düsseldorf III–VI/05. 9   Vgl. nur BVerfGE 57, 250 (275) in ständiger Rechtsprechung.

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Das Prinzip der materiellen Wahrheit ist in der Strafprozessordnung in § 244 Absatz 2 StPO normativ verankert. Die Amtsaufklärungspflicht des § 244 Absatz 2 StPO ist selbst in konsensualen Verfahrensausgestaltungen, bei Verständigungen nach § 257c Absatz 1 Satz 2 StPO, unabdingbar.10 Historisch gesehen war die Einführung eines Beweisrechts in Zeiten des reformierten Strafprozesses ein schwieriges, langumkämpftes Novum.11 Nachdem die Staatsanwaltschaft in der Anklage ihre konkreten Beweisbegehren an das Gericht gemäß § 200 Abs. 1 Satz 2 StPO herangetragen hat, geht spätestens mit Eröffnung des Hauptverfahrens gemäß §§ 203 ff StPO die Amtsaufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO auf das Gericht über. Die Amtsaufklärungsverpflichtung des Gerichtes wird dabei im Wesentlichen von dem durch die Anklagebehörde benannten Beweismittel, die diese aus dem Ermittlungsverfahren geschöpft hat, geprägt. Die darin liegenden Probleme der „Vorbefassung des Gerichtes“ liegen auf der Hand.12 Max Alsberg hat in seiner Monografie zum „Weltbild des Strafrichters“ dieses Dilemma bereits im Jahre 1930 wunderbar formuliert:13 „Man hat den Richter, in dessen Hände man die Unvoreingenommenheit, lediglich aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung zu schöpfende Entscheidung legen wollte, zugleich zu dem machtvollsten Organ der Überführung des Angeklagten gemacht. Und zwar dadurch, dass man ihm die Leitung der Hauptverhandlung übertragen hat. Präpariert durch die Akten, die von der Staatsanwaltschaft geschaffen sind und ihren Firmenstempel tragen, tritt er dem Angeklagten gegenüber, um (…) den Angeklagten einzukreisen.“

Dem „Abarbeiten des Beweisstoffes“ durch das Gericht hat der historische Gesetzgeber das Beweisantragsrecht der Verfahrensbeteiligten an die Seite gestellt.14 Das Beweisantragsrecht der Prozessbeteiligten neben der amtlichen Amtsaufklärungsverpflichtung, wie sie sich auch heute noch in § 244 Absatz 2 StPO wiederfindet, war eine der bahnbrechenden Errungenschaften des reformierten Strafprozesses.

10  Vgl. insofern BVerfG, Urteil vom 19.03.2013 – 2 BvR 2628/10, 2 BvR 2883/10, 2 BvR 2155/11, Rd-Nr. 68; KMR/v. Heintschel-Heinegg, § 257c Rn 22 ff. 11   Vgl. insofern zu der Reform-Idee: Ignor, Geschichte des Strafprozesses in Deutschland, 1532 bis 1846, 2002, Seite 184. 12   Vgl. insofern Bockemühl: Das Weltbild des Strafrichters – Rückblick, status quo und Ausblick, in: Strafverteidigerorganisationen [Hrsg.], Bild und Selbstbild der Strafverteidigung, Tagungsband 40. Strafverteidigertag, 2016, 253 ff. 13   Alsberg, Das Weltbild des Strafrichters, 1930, in: Taschke [Hrsg.], Max Alsberg, 2. Auflage, 2013, 565 [575]. 14   Dieses gilt primär für Beweisanträge der Verteidigung. Bei Beweisanträgen der Staatsanwaltschaft während der Hauptverhandlung gibt der Gesetzgeber in § 246 Abs. 2 StPO der Verteidigung die Möglichkeit eines Aussetzungsantrages an die Hand; hierauf weist zurecht Deckers, Der strafprozessuale Beweisantrag, 1. Auflage 2002, Seite 7, hin.

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Das Beweisantragsrecht ermöglicht es der Verteidigung in Ergänzung der von Amts wegen zu erhebenden Beweise das Beweisergebnis zu Gunsten des Beschuldigten zu ergänzen.15 Das Beweisantragsrecht beginnt also „zugunsten des Beschuldigten“ dort, wo der Amtsaufklärungsgrundsatz des Gerichts gegebenenfalls schon geendet hat. Das Beweisantragsrecht ist von Gesetzes wegen zunächst als das „stärkste Schwert“ der Verteidigung ausgestaltet, da die Verfahrensbeteiligten abweichend vom Amtsaufklärungsgrundsatz des Gerichtes mittels eines Beweisantrages das zur Entscheidung berufene Gericht durch einen Antrag zur entsprechenden Beweiserhebung zwingen können, wenn keiner der Ablehnungsgründe der § 244 Absätze 3 bis 5 StPO vorliegt.16 Beweisanträge gegenüber den staatlichen Strafverfolgungsbehörden verbieten sich allerdings aus Gründen der Beistandsfunktion für den Mandanten in den Fällen, in denen das Ergebnis der begehrten Beweiserhebung dem Verteidiger nicht bekannt ist.17 Demnach hat der Verteidiger, will er unliebsame Überraschungen im Prozess vermeiden, den Sachverhalt (intern) aufzuklären und ist gegebenenfalls gehalten, dieses vor Beweisantragstellung zur Verifizierung oder Falsifizierung durch eigene Erhebungen abzusichern.18 Die grundsätzliche Zulässigkeit solcher eigener Erhebungen des Verteidigers wird nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt.19 Diese Spielart der „aktiven Strafverteidigung“20 fristet allerdings in der täglichen Praxis leider immer noch ein Schattendasein.21

15  FA Strafrecht/Groß-Bölting/Kaps, Handbuch des Fachanwalts Strafrecht, 6. Auflage 2015, 2. Teil, 4. Kapitel, Rn 196. 16   FA Strafrecht/Groß-Bölting/Kaps, Handbuch des Fachanwalts Strafrecht, 6. Auflage 2015, 2. Teil, 4. Kapitel, Rn 196; es lohnt hier auch ein historischer Blick zur Entstehung der Ablehnungsgründe des § 244 Abs. 3–5: Engels, Die Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO, 1979; die Erhebung nicht präsenter Beweismittel stand nämlich zunächst lediglich im tatrichterlichen Ermessen. Es sollte dabei auch ausdrücklich eine Vorwegnahme der Beweiswürdigung erlaubt sein. Erst durch RGSt 1, 189 [190] rückte das Reichsgericht von dieser Auffassung ab und befand eine Beweisantizipation als mit der Verpflichtung des Gerichts zur Erforschung der Wahrheit nicht vereinbar! Es entwickelte in der Folgezeit einen numerus clausus der Ablehnungsgründe, der der Regelung des heutigen § 244 Abs. 3 bis 5 Satz 1 StPO entspricht, vgl. nur SK-StPO-Frister, 5. Aufl., § 244 Rn 2 ff. 17   So schon Bockemühl, Private Ermittlungen, S. 40 ff; FA Strafrecht/Bockemühl, Handbuch des Fachanwalts Strafrecht, 6. Auflage 2015, 2. Teil, 4. Kapitel, Rn 80; Jungfer, StV, 1989, 498; auch der Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer hat in seinen Thesen zur Strafverteidigung, 2. Auflage, 2015, in der Erläuterung 2. zur These 25, Seite 42, die Verpflichtung zur privaten Erhebung aus der Beistandsfunktion hergeleitet. 18   Baumann, Eigene Ermittlungen des Verteidigers, 1999, 61; Bockemühl, JSt 2010, 59; FA Strafrecht/Bockemühl, Handbuch des Fachanwalts Strafrecht, 6. Auflage 2015, 2. Teil, 1. Kapitel, Rn 80; ders. in: Fahl/Müller/Satzger/Swoboda [Hrsg.], Festschrift für Werner Beulke zum 70. Geburtstag, S. 648. 19   Vgl. insofern nur Bockemühl in: Fahl/Müller/Satzger/Swoboda [Hrsg.], Festschrift für Werner Beulke zum 70. Geburtstag, S. 647 f.

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Liegen die Ergebnisse der eigenen Erhebungen des Verteidigers vor und sind diese aus Sicht der Verteidigung geeignet das Beweisergebnis des Prozesses ggfs. zugunsten des Mandanten positiv zu beeinflussen, ist allerdings nur der „halbe Weg“ beschritten. Die Erkenntnisse sind – soll sie das zur Entscheidung berufene Gericht bei seiner Entscheidungsfindung berücksichtigen können – in den Strafprozess einzuführen.2021 Der Verteidiger kann dieses im Wesentlichen mittels Beweisanregungen, Beweisermittlungsanträgen oder förmlichen Beweisanträgen erreichen.22 Beweisanregungen23 und Beweisermittlungsanträge24 sind allerdings nicht geeignet ein „unwilliges Gericht“ zu zwingen der durch die Verteidigung begehrten Beweiserhebung nachzugehen. Zudem müssen weder Beweisanregungen noch Beweisermittlungsanträge durch das Gericht förmlich beschieden werden.25 Will die Verteidigung die von ihr begehrte Beweiserhebung tatsächlich erreichen oder – für den Fall, dass das Gericht dem Beweisantrag nicht nachgeht – zumindest durch die Begründung des ablehnenden Beschlusses erfahren, wieso das Gericht die Beweiserhebung ablehnt, hat sie einen förmlichen Beweisantrag zu stellen!

III.  Selbstladungsrecht als „Zwangsmittel der Verteidigung“ Schon in der RStPO von 1877 war durch den historische Gesetzgeber eine dem heutigen § 220 Absatz 1 StPO entsprechende Vorschrift in die Strafprozessordnung eingeführt worden, wonach insbesondere dem Angeklagten und der Verteidigung ein Recht zur unmittelbaren Ladung von Zeugen und Sachverständigen zusteht. Dieses Recht auf unmittelbare Ladung von Zeugen und Sachverständigen erweitert die Möglichkeiten der Beweiserhebung

20   Ausführlich zur Thematik eigener Erhebungen des Strafverteidigers: FA Strafrecht/ Bockemühl, Handbuch des Fachanwalts Strafrecht, 6. Auflage 2015, 2. Teil, 1. Kapitel, Rn 80 ff.; ders. JSt 2010, 59 ff.; ders. in: Fahl/Müller/Satzger/Swoboda [Hrsg.], Festschrift für Werner Beulke zum 70. Geburtstag, S. 647 ff. 21  Zu den Gründen vgl. Bockemühl in: Fahl/Müller/Satzger/Swoboda [Hrsg.], Festschrift für Werner Beulke zum 70. Geburtstag, S. 648 f. mit weiteren Nachweisen. 22  FA Strafrecht/Groß-Bölting/Kaps, Handbuch des Fachanwalts Strafrecht, 6. Auflage 2015, 2. Teil, 4. Kapitel, Rn 195 ff. 23  FA Strafrecht/Groß-Bölting/Kaps, Handbuch des Fachanwalts Strafrecht, 6. Auflage 2015, 2. Teil, 4. Kapitel, Rn 231. 24  FA Strafrecht/Groß-Bölting/Kaps, Handbuch des Fachanwalts Strafrecht, 6. Auflage 2015, 2. Teil, 4. Kapitel, Rn 228. 25   Lediglich das Gründen der prozessualen Fairness und der Fürsorgepflicht soll sich eine Hinweispflicht des Gerichts ergeben, warum einem Beweisermittlungsantrag nicht stattgegeben wurde, so: FA Strafrecht/Groß-Bölting/Kaps, Handbuch des Fachanwalts Strafrecht, 6. Auflage 2015, 2. Teil, 4. Kapitel, Rn 229 unter Hinweis auf BGHSt 30, 131.

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des Angeklagten und der Verteidigung, da – unter bestimmten Voraussetzungen – das Gericht zur Beweiserhebung verpflichtet ist!26 Ist der Zeuge beziehungsweise der Sachverständige ordnungsgemäß geladen und erschienen, so darf ein auf die Vernehmung des präsenten Zeugen und Sachverständigen gerichteter Beweisantrag nur eingeschränkt – nach den Gründen des § 245 Absatz 2 Satz 2 und 3 StPO – abgelehnt werden. Der Kanon der Ablehnungsgründe des § 244 Absatz 3 bis 5 StPO ist in diesem Fall nicht anwendbar.27 1.  „Geladene“ und „mitgebrachte“ Zeugen und Sachverständige Nur bei Einhaltung des förmlichen Selbstladungsverfahrens nach § 220 i.V.m. § 38 StPO durch die Verteidigung unterfallen erschienene Zeugen und Sachverständigen dem § 245 Absatz 2 StPO. Ein lediglich „anwesender“ Zeuge oder Sachverständiger, sei er auch durch die Verteidigung mitgebracht, ist gerade kein „präsentes Beweismittel“ im Sinne des § 245 StPO.28 a.  Förmliches Selbstladungsverfahren Die Einhaltung der förmlichen Voraussetzungen des Selbstladungsverfahrens durch die Verteidigung ist – unbeschadet der Tatsache, dass es sicherlich auch Situationen gibt, in denen ein Gericht einen (lediglich) mitgebrachten Zeugen ohne Beanstandungen einfach hört – zwingend, da nur so ein Anspruch auf Ausschöpfung des präsenten Beweismittels besteht!29 Will der Verteidiger die Beweisaufnahme durch Zeugen und Sachverständige aktiv mittels Selbstladung mitgestalten, so hat er die Vorkehrungen frühzeitig zu treffen. Die förmliche Ladung i.S.d. §§ 220, 245 StPO eines Zeugen oder Sachverständigen bedarf einer gewissen Vorbereitung und kann nicht spontan in der Hauptverhandlung erfüllt werden.30

 SK-StPO-Deiters, 5. Aufl., § 220 Rn 1.   Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 8. Aufl. 2016, Rn 2039; Pauka/Daners, StraFo 2015, 397 [408]; vgl. ferner zu den Problemen der Tatgerichte im Umgang mit durch die Verteidigung selbstgeladenen Beweispersonen Detter in: Eser/ Goyde/Maatz/Meurer [Hrsg.] Festschrift für Meyer-Goßner, 2001, 431 ff.; ders. in: Eser/ Kullmann/Meyer-Goßner/Odersky/Voss [Hrsg.] Festschrift für Salger, 1995, 231 ff. 28   Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 8. Aufl. 2016, Rn 2045 f.; Pauka/Daners, StraFo 2015, 397 [405]. 29   Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 8. Aufl. 2016, Rn 2045; die Beweisbenutzung ohne Einhaltung der Förmlichkeiten des Selbstladungsverfahrens und ohne Beweisantragstellung ist in jedem Fall zulässig, vgl. nur LR/Becker, 26. Aufl., § 245 Rn 5. 30  Zutreffend Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 8. Aufl. 2016, Rn 2045. 26 27

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(1) Ladungsschreiben Zunächst ist ein Ladungsschreiben an die (ladungsfähige) Anschrift des Zeugen oder Sachverständigen zu richten. In diesem ist die Beweisperson unter Angabe des genauen Ortes und des genauen Zeitpunktes zu laden.31 Die Angabe eines Beweisthemas ist nicht zwingend erforderlich,32 ist aber sicherlich (zumindest) bei der Ladung eines Sachverständigen zu empfehlen. In dem Ladungsschreiben ist der geladenen Person die gesetzliche Entschädigung für dessen Reisekosten und Verdienstausfall anzubieten. Die jeweilige Höhe der anzubietenden Entschädigung richtet sich nach dem JVEG und ist durch die Verteidigung selbst zu errechnen.33 Ist die Ladung der Beweisperson im Inland zu bewirken,34 so muss mit dem Ladungsschreiben über die Folgen des Ausbleibens aufgeklärt werden. Hierfür empfiehlt sich die Übernahme des Gesetzestextes der §§ 51 Abs. 1 bzw. 77 Abs. 1 StPO.35 (2) Gerichtsvollzieher Mit der Ladung hat der Verteidiger gemäß § 38 StPO den Gerichtsvollzieher zu beauftragen.36 Das durch den Verteidiger unterschriebene Ladungsschreiben ist dem Gerichtsvollzieher mit der Bitte um Zustellung zuzuleiten.37 Hinsichtlich der Zuständigkeit der Gerichtsvollzieher ist Folgendes zu beachten: Soll die Ladung durch persönliche Übergabe an den Zeugen oder Sachverständigen bei Gericht erfolgen, so ist der Gerichtsvollzieher zu beauftragen, der für den Bereich desjenigen Amtsgerichts zuständig ist, zu dem das Gericht gehört, vor dem die Beweisaufnahme stattfinden soll.38 Soll die Ladung – eilig – dem Zeugen oder Sachverständigen persönlich an dessen (ladungsfähiger) Anschrift zugestellt werden, so ist der Gerichtsvollzieher zu beauftragen, der für den Bestimmungsort zuständig ist.39 Ist keine Eile gebo31   Vgl. nur Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 8. Aufl. 2016, Rn 2047. 32   RGSt 67, 180 [182]. 33   Vgl. nur Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 8. Aufl. 2016, Rn 2047; die Praxis zeigt, dass die mit der Ladung zu beauftragenden Gerichtsvollzieher (dazu unten), gerne bei der Berechnung behilflich sind! 34   Zu den Besonderheiten bei Ladung von Personen im Ausland vgl. unten IV. 35   Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 8. Aufl. 2016, Rn 2047. 36  Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl. 2016, § 38 Rn 2; KMR/Ziegler, § 38 Rn 2; eine Vermittlung gem. § 161 GVG durch die Geschäftsstelle des Gerichtes soll bei der Selbstladung der Parteien grundsätzlich nicht stattfinden, vgl. nur Kissel/Mayer, GVG, 7. Aufl. 2013, § 161 Rn 2. 37  Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl. 2016, § 38 Rn 2. 38   So auch Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 8. Aufl. 2016, Rn 2047. 39  LR/Graalmann-Scheerer, StPO, 27. Aufl., § 38 Rn 2; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl. 2016, § 38 Rn 3.

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ten, kann die Zustellung auch durch jeden Gerichtsvollzieher in der Bundesrepublik40 erfolgen, wenn der Gerichtsvollzieher sich zum Zwecke der Zustellung der Post bedient.41 Dem beauftragten Gerichtsvollzieher ist die errechnete, dem Zeugen bzw. Sachverständigen anzubietende Entschädigung entweder bar zu übergeben oder die Hinterlegung des Betrages bei der Gerichtskasse nachzuweisen.42 In jedem Fall empfiehlt sich die Hinterlegung bei der Gerichtskasse. Wurde der Zeuge oder Sachverständige gehört und hat dieser bereits den Entschädigungsbetrag bar erhalten, so besteht nach h. M. eine Entschädigungspflicht der Staatskasse nach § 220 Absatz 3 StPO nicht.43 (3) Ladungsnachweis Die durch den Gerichtsvollzieher erstellte Zustellungsurkunde muss sich der Verteidiger aushändigen lassen.44 Er benötigt diese als Nachweis gegenüber dem Gericht über die förmlich ordnungsgemäße Ladung des Zeugen oder Sachverständigen.45 b.  Rechtzeitige Namhaftmachung der Beweisperson Gemäß § 220 Absatz 2 StPO haben der Angeklagte respektive der Verteidiger die für die Hauptverhandlung selbst geladenen Zeugen und Sachverständigen rechtzeitig namhaft zu machen und deren Wohn- oder Aufenthaltsort mitzuteilen.46 Die Mitteilung ist schon aus dem Grunde angezeigt, damit der Vorsitzende den durch die Verteidigung geladenen Zeugen oder Sachverstän KMR/Ziegler, § 38 Rn 2.  Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl. 2016, § 38 Rn 3; KMR/Ziegler, § 38 Rn 2; Pauka/Daners, StraFo 2015, 397 [406]. 42  Für die Frage, ob ein Zeuge bzw. Sachverständiger ordnungsgemäß förmlich iSd §§ 220, 38 StPO geladen wurde und auf entsprechenden Beweisantrag hin zu hören ist, ist zwar die bar Darbietung bzw. Hinterlegung nicht entscheidend; vgl. nur SK-StPO-Deiters, 5. Aufl., § 220 Rn 19; der Gerichtsvollzieher wird die Ladung auch dann ausführen, wenn der Entschädigungsbetrag weder in bar übergeben noch hinterlegt wurde. Allerdings darf die Ladung dann den Hinweis auf die gesetzlichen Folgen des Ausbleibens nicht enthalten, vgl. § 51 Nr. 3 GVGA, vgl. hierzu KMR/Ziegler, § 38 Rn 3; hat der zu Ladende gegenüber der Verteidigung auf die Entschädigung verzichtet, so ist diese Verzichtserklärung dem Gerichtsvollzieher nachzuweisen; vgl. Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 8. Aufl. 2016, Rn 2048. 43   Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl. 2016, § 220 Rn 12; ebenso Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 8. Aufl. 2016, Rn 2048. 44   Pauka/Daners, StraFo 2015, 397 [406]. 45   Vgl. nur Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 8. Aufl. 2016, Rn 2047; Pauka/Daners, StraFo 2015, 397 [406] . 46   Vgl. KMR/Eschelbach, § 222 Rn 23; unterbleibt die Namhaftmachung ist ein Aussetzungsantrag gem. § 246 Abs. 2 StPO zu vergegenwärtigen; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl. 2016, § 246 Rn 2. 40 41

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digen bei der Terminplanung mit berücksichtigen kann.47 Die Angabe des Beweisthemas verlangt § 222 Absatz 2 StPO hingegen nicht.48 2.  Beweisantrag in der Hauptverhandlung Hat der Verteidiger die Förmlichkeiten des Selbstladungsverfahrens durchlaufen, ist das Gericht nur dann verpflichtet seine Beweisaufnahme auf das „präsente“ Beweismittel zu erstrecken, wenn der Verteidiger in der Hauptverhandlung einen entsprechenden förmlichen und vollständigen Beweisantrag stellt.49 Neben dem Beweisantrag hat der Verteidiger die Einhaltung der Formerfordernisse des Selbstladungsverfahrens nachzuweisen. Es empfiehlt sich die Vorlage der der Beweisperson übersandten Ladung nebst den durch den Gerichtsvollzieher erstellten Zustellungs- bzw. Ladungsnachweisen.50

IV.  Selbstladung ausländischer Zeugen Kontrovers diskutiert wird das Recht auf Selbstladung von Zeugen und Sachverständigen bei Auslandszeugen.51 In einem Verfahren, welches der Jubilar als Vorsitzender des Staatsschutzsenates des Oberlandesgerichts Düsseldorf führte,52 vertrat der Vertreter des Generalbundesanwalts, dass die unmittelbare Ladung eines Auslandszeugen ausgeschlossen (!) sei, da der zu beauftragende Gerichtsvollzieher nicht auf fremdem Hoheitsgebiet tätig werden könne.53   Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 8. Aufl. 2016, Rn 2050.   RGSt 67, 180 [182]; LR/Jäger, 26. Aufl., § 222 Rn 13; a. A. wohl Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO, 59. Aufl. 2016, § 246 Rn 9. 49   Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl. 2016, § 245 Rn 18; Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 8. Aufl. 2016, Rn 2042. 50  Ebenso Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 8. Aufl. 2016, Rn 2047. 51   Von der Frage der Zulässigkeit der Selbstladung einer Beweisperson, deren Ladung im Ausland zu bewirken ist, ist diejenige zu scheiden, welche Folgen eintreten, wenn der Person die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland durch die (Visa-)Behörden nicht gestattet wird. Aus Gründen der Waffengleichheit bzw. der Verfahrensfairness besteht ein Anspruch auf Gestattung der Einreise – zumindest für die Zeit der Vernehmung. Wird die Einreise trotzdem verweigert, so ist die Verteidigung entweder in einem „wesentlichen Punkt“ i.S.v. § 338 Nr. 8 StPO „unzulässig beschränkt“ oder das Verfahren „insgesamt nicht fair“ i.S.v. Art 6 Abs. 1 EMRK. 52   OLG Düsseldorf III – VI/05. 53  Stellungnahme des GBA in der Hauptverhandlung vom 25.07.2007; der GBA rekurriert in seiner Stellungnahme auf die Kommentierung bei Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl. 2007, § 220 Rn 4; insofern unverändert: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl. 2016, § 220 Rn 4. 47 48

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1.  Auslandszustellung bei völkerrechtlicher Vereinbarung Diese Rechtsauffassung greift ersichtlich viel zu kurz. Die von MeyerGoßner angeführte Begründung, die Strafprozessordnung enthielte für die Ladung von Auslandszeugen keine Regelung,54 kann nach Einführung des § 37 Absatz 2 StPO durch das Rechtspflegeentlastungsgesetz vom 11.01.1993 (!) nicht wirklich überzeugen.55 Nach § 37 Absatz 2 StPO i.V.m. § 183 Absatz 1 Nr. 1 ZPO besteht die Möglichkeit einer vereinfachten Zustellung im Ausland durch Einschreiben mit Rückschein, soweit auf Grund völkerrechtlicher Vereinbarungen Schriftstücke unmittelbar durch die Post übersandt werden dürfen.56 Artikel 52 Absatz 1 des SDÜ hat die Möglichkeit der unmittelbaren Übersendung von Urkunden eröffnet. Dies ist mittlerweile für sämtliche EU-Vertragsstaaten und zudem für Island, Norwegen und die Schweiz der Fall.57 Nachdem der Gerichtsvollzieher – wie oben ausgeführt58 – sich zum Zwecke der Zustellung der Post bedienen kann, ist die Zustellung der Ladung eines Auslandszeugen in denjenigen Staaten, die unter Artikel 48 ff. SDÜ fallen, durch Einschreiben Rückschein möglich und zulässig.59 Der Verteidiger hat allerdings darauf zu achten, dass nach Art. 52 Abs. 3 SDÜ das Ladungsschreiben keinerlei Zwangsandrohungen enthalten darf. Aus diesem Grund ist auf den Hinweis auf die Folgen des Ausbleibens zu verzichten.60 Ist die im Ausland zu ladende Beweisperson der deutschen Sprache nicht (ausreichend) mächtig, so ist ggfs. dem Original-Ladungsschreiben noch eine Übersetzung durch einen vereidigten Dolmetscher beizugeben.61 2.  Auslandszustellung in andere Staaten Schwieriger gestaltet sich die Zustellung an Beweispersonen, wenn deren Ladung in Staaten zu bewirken wäre, in denen die Übersendung durch die Post völkerrechtlich nicht zulässig ist. In diesen Fällen sind Postzustellungs-

  So immer noch Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl. 2016, § 220 Rn 4.   So auch ausdrücklich Schlothauer, Vorbereitung der Hauptverhandlung, 2.  Aufl.  1998, Rn 217a. 56  So auch Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl. 2016, § 37 Rn 25; ebenso schon Schlothauer, Vorbereitung der Hauptverhandlung, 2. Aufl. 1998, Rn 217a. 57   Vgl. nur Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl. 2016, Einleitung Rn 216. 58   Vgl. III. 1. A. (2). 59  Ausführlich Schlothauer, Vorbereitung der Hauptverhandlung, 2. Aufl. 1998, Rn 217a. 60  Vgl. Pauka/Daners, StraFo 2015, 397, 402. 61  Ebenso Schlothauer, Vorbereitung der Hauptverhandlung, 2. Aufl. 1998, Rn 217a Fn 6. 54 55

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aufträge an Empfänger in diesen Staaten nach § 183 Absatz 1 Nr. 2 ZPO unzulässig.62 Allerdings macht dieser Umstand die unmittelbare Ladung der Beweisperson damit nicht unmöglich. Handelt es sich bei der in einem solchen Staat zu ladenden Beweisperson um einen deutschen Staatsagehörigen, so kann die Zustellung „vor Ort“ gemäß § 16 KonsG durch die deutsche Auslandsvertretung erfolgen. Der durch den Verteidiger beauftragte Gerichtsvollzieher hat das Ladungsschreiben an den Adressaten „über die deutsche Auslandsvertretung“ per Post zu verschicken. Ist der zu ladende Zeuge oder Sachverständige kein deutscher Staatsbürger, so bleibt zumindest eine praktikable Handhabung: Der durch die Verteidigung zu ladende Zeuge oder Sachverständige wird zunächst „formlos“ gebeten sich im Gericht einzufinden. Durch die Verteidigung wird der für den Gerichtssprengel zuständige Gerichtsvollzieher beauftragt, der Beweisperson das Ladungsschreiben direkt in den Räumlichkeiten des Gerichts zuzustellen.63

V. Fazit Das Recht zur Selbstladung von Beweispersonen ist ein wirksames Mittel einer aktiven Verteidigung. Die durch den Verteidiger einzuhaltenden Formerfordernisse sind – beachtet man die hier dargestellten Handreichungen – überschaubar praktikabel. In Zeiten, in denen Verfahren mit Auslandsbezug fast unumgänglich sind und solange Gerichte die Regelung des § 244 Absatz 5 Satz 2 StPO als „Freifahrtschein“ verstehen, ist das Recht zur Selbstladung von Beweispersonen und das Präsentieren dieser in der Hauptverhandlung ein wirksames Mittel – unbeschadet des § 244 Absatz 5 Satz 2 StPO – das Gericht zur Beweisaufnahme „zu zwingen“.

 Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl. 2016, § 37 Rn 25a.   So auch Pauka/Daners, StraFo 2015, 397, 400; sollte eine entsprechende Handhabung durch den Präsidenten oder den Direktor des Gerichts untersagt werden, so kann sich der Verteidiger mit der Beweisperson auch in den Diensträumen des Gerichtsvollziehers selber einfinden. 62 63

Nebenklage und Beschuldigtenrechte: quo vadis? Manfred Dauster 1. Einleitung Die Nebenklage fand ihren Weg in die Reichs-Strafprozeßordnung von 1877 eher zufällig. Der Reichsgesetzgeber fügte sie1, ohne dass das Beteiligungsinstitut in der Justizkommission vertiefend diskutiert worden war, in das Strafverfahrensrecht ein. Dies ist bemerkenswert schon deswegen, weil nach Jahrhunderten eines Prozesses der „Verstaatlichung“ des Strafens und des zunehmenden Vertrauens in die noch relativ junge, aber strikt an das Legalitätsprinzip gebundene Staatsanwaltschaft einer Privatbeteiligung am Strafverfahren gleichwohl Raum gegeben wurde2. Mit der im 19. Jahrhundert vordringenden Idee, nachhaltige Kriminalpolitik sei vor dem Hintergrund der sozialen und wirtschaftlichen Umwälzungen Staatsaufgabe, ist eine solche verfahrensrechtliche „Mitbestimmung“ durch Private ebenso wenig zu vereinbaren3. Der geschichtlichen Entwicklung von Strafe und Strafverfahrensrecht im Allgemeinen und der Beteiligung Privater hieran muss für unsere Zwecke nicht im Detail nachgegangen werden. Nur so viel sei bemerkt: Nachdem einmal Verfahrensbestandteil geworden, prägte das Institut der Nebenklage deutsche Gerichtssäle nicht wirklich. Erst die zunehmende Bedeutung des Verkehrsstrafrechts infolge der Mobilisierung der Gesellschaft verschaffte der Nebenklage bei den fahrlässigen Delikten von Körperverletzung und Tötung einen beträchtlicheren Anwendungsbereich und zugleich die Aufmerksamkeit der Anwaltschaft. Die Hintergründe lagen hierfür wohl eher darin, dass der Betroffene sich durch die Beteiligung am Strafverfahren eine Erleichterung seiner Beweisführungen im Bereich der zivilrechtlichen Schadensersatzansprüche versprach. In anderen Sachen war der Anschluss eines Nebenklägers in den beruflichen Anfänger-Jahren des Jubilars und auch des Verfassers eher eine Seltenheit, und dieser wurde von

1   Für die geschichtliche Entwicklung Th. Weigend Deliktsopfer und Strafverfahren 1989 S. 131 ff. 2  K. Schroth Die Rechte des Opfers im Strafprozess 2005 Rn 2. 3  Wegen der anders verlaufenden Entwicklung in Frankreich J. Leblois-Happe/ C.-F. Stuckenberg GA 2015, 670 ff.

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den üblichen Verfahrensbeteiligten eher mit Skepsis betrachtet. Denn allein die Anwesenheit eines solchen „Nebenbeteiligten“ barg die vermeintliche Gefahr, dass die Hauptverhandlung nun in anderen als den gewohnten Bahnen ablief. Angemerkt sei in diesem Zusammenhang, dass sich das Risiko allenfalls ausnahmsweise verwirklichte. War der Nebenkläger anwaltlich vertreten, verhielt sich der Nebenklägervertreter in der Hauptverhandlung unaufgeregt, unauffällig und eher passiv; im Schlussvortrag schloss er sich in den meisten Fällen mit knappen Worten der Staatsanwaltschaft an. Der sich selbst vertretende Nebenkläger war mit dem Prozessgeschehen im Saal eines Strafgerichts überfordert und kam so gut wie nicht vor. Die Situation heute ist eine andere: Die Nebenklage ist lebendig und wird von niemandem ernsthaft in Frage gestellt4. Von ihr wird nach wie vor Gebrauch gemacht5. Die Gründe dafür können in einem gesellschaftlichen Wandel gefunden werden. Die in den letzten Jahrzehnten verstärkt stattfindende Sicht „auf das Opfer“ der Straftat sowie auf die Konsequenzen des Verbrechens für den Verletzten ist Thema nicht nur unter Strafrechtlern, sondern in der Gesellschaft6. Dem hat der Gesetzgeber in mehreren, nicht immer systematischen Schritten7 seit dem Opferschutzgesetz vom 18. Dezember 19868 Rechnung getragen. Bei dem von einer Straftat betroffenen Opfer wird nicht mehr – hinter vorgehaltener Hand – die Frage gestellt, ob und wie weit es selbst „Mitverantwortung“ am Geschehenen trägt, sondern es werden ihm verfahrensrechtliche Handreichungen gegeben, das Verfahren zu beeinflussen (insbesondere §§ 397 Abs. 1; 400 Abs. 2; 401 StPO) und sich gegen die Leugnung oder Verharmlosung seiner Verletzungen zur Wehr zu setzen9. Es ist hier nicht zielführend, eher akademisch, danach zu fragen, welcher Rechtsnatur der Nebenkläger ist10. Aus der Sicht des Beschuldigten, der

4  Anders bei der Privatklage nach §§ 374 ff. StPO, die in der Gerichtswirklichkeit nahezu bedeutungslos geworden ist (vgl. etwa Hilger in Löwe-Rosenberg StPO 26. Aufl. Vor § 374 Rn 4; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 58. Aufl. Vor § 374 Rn 1) und vor dem Hintergrund der weiten nach Opportunitätsgesichtspunkten zulässigen Einstellungsmöglichkeiten nach §§ 153 ff. StPO auch zur Entlastung der Staatsanwaltschaft wenig Sinn macht. 5   Vgl. dazu Hilger in Löwe-Rosenberg Vor § 395 Rn 15 mit dem Nachweis einer allerdings zurückgegangen rechtstatsächlichen Bedeutung. 6  J. Herrmann ZIS 2010 236 ff; B. Schünemann Festschrift für R. Hamm zum 65. Geburtstag 2008 687 ff. 7  Zuletzt durch das 3. Opferrechtsreformgesetz vom 21. Dezember 2015 (BGBl. I 2525); vgl. auch Europäischer Rahmenbeschluss vom 15. März 2001 O.J.L 82/2; vgl. auch J. Bunge StV 2009 430 ff. 8   BGBl. I 2496. 9   Meyer-Goßner/Schmitt Vor § 395 Rn 1. 10  Vgl. Pollähne/Rode (Hrsg.) Opfer im Blickpunkt – Angeklagte im Abseits? 2012 S. 21, 40 ff. in Hinsicht auf eine Wesensänderung der Nebenklage nach der Reihe von Opferrechtsreformen. Vgl. auch Th. Weigend Festschrift für Heinz Schöch zum 70. Geburtstag 2010 947 ff.; R. Böttcher Festschrift für Heinz Schöch zum 70. Geburtstag 2010 930 ff.

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nach wie vor im Fokus des Strafverfahrens steht und um dessen Schuld und Strafe es geht, eröffnet sich mit der Anschlusserklärung des Nebenklägers nach § 396 Abs. 1 Satz 1 StPO, die konstitutiv wirkt, wenn die Voraussetzungen der Nebenklage nach § 395 Abs. 1, Abs. 2 StPO vorliegen, eine „zweite Front“ neben der Anklagebehörde. Mit dieser Sichtweise, die ihre Berechtigung unabhängig davon hat, welchen Zwecken die Nebenklage theoretisch dient oder aus welchen Gründen der konkrete Nebenkläger seinen Anschluss an das Strafverfahren erklärt hat, entsteht ein Spannungsverhältnis mit vielerlei Facetten. Einige hiervon sollen näher beleuchtet werden. Sie verdeutlichen, dass der Gesetzgeber, indem er mit der einen Hand dem Opfer gibt, mit der anderen bei dem Beschuldigten ausgleichen muss. Stärkt er verfahrensrechtlich den Beschuldigten, muss er darauf Bedacht nehmen, dem durch die Nebenklage privilegierten Verletzten adäquate Rechte zuwachsen zu lassen.

2.  Ungereimtheiten im Akteneinsichtsrecht von Beschuldigtem und Nebenklageberechtigtem/Nebenkläger § 397 Abs. 1 StPO statuiert über die jedem Verletzten zustehenden Rechte (§ 406d bis 406f StPO) hinaus die Verfahrensrechte des privilegierten Tatopfers in der Hauptverhandlung. Die wenigsten Tatopfer sind in der Lage, von diesen Rechten sachgerechten und ihren Interessen dienlichen Gebrauch zu machen. Auch im Interesse des Beschuldigten an zügiger und sich nicht verzettelnder Verfahrensgestaltung eröffnet § 397a StPO daher die Möglichkeit, dem Nebenkläger einen anwaltlichen Beistand zu bestellen (vgl. § 406h StPO für den Nebenklagebefugten vor Erhebung der öffentlichen Klage und vor Erklärung seines Anschlusses). In den Fällen des § 397a Abs. 1 StPO ist die Bestellung zwingend, in anderen Fällen unter anderem davon abhängig, ob die Voraussetzungen der Prozesskostenhilfe nach zivilprozessualen Grundsätzen vorliegen (§ 397a Abs. 2 StPO). Die Bestellung kann in jeder Lage des Verfahrens und, wie sich aus § 406h Abs. 1 StPO ergibt, schon vor der Anschlusserklärung erfolgen. Da nach § 406i Abs. 1 StPO Verbrechensopfer möglichst frühzeitig unter anderem über die Möglichkeit der Beistandsbestellung zu unterrichten sind (§ 406i Abs. 1 Nr. 2 lit. a StPO) und in der Regel schon bei Anzeigeerstattung durch Aushändigung entsprechender Formblätter unterrichtet werden, kann es geschehen, dass der Nebenkläger anwaltlich betreut ist, bevor überhaupt der Täter namentlich ermittelt ist. Diesen rechtlichen Vorteil hat der Gesetzgeber auf Seiten des Beschuldigten erst mit dem Gesetz zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs vom 26. Juni 201311 ausgeglichen, indem § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO 11

  BGBl. I 1805.

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die notwendige Verteidigung des Beschuldigten auch auf den Fall ausdehnte, dass dem Verletzten nach den §§ 397a und 406h Absatz 3 und 4 ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist. Die gebotene Herstellung von Waffengleichheit zwischen anwaltlich vertretenem Verletzten und Beschuldigten ist jedoch nicht konsequent umgesetzt oder fortgeschrieben worden. Der Beistand des Nebenklägers hat, ohne dass es der Darlegung eines berechtigten Interesses bedürfte (§ 406e Abs. 1 Satz 2 StPO), ein Akteneinsichtsrecht nach § 406e Abs. 1 Satz 1 StPO12. Die Akteneinsicht ist zu versagen, soweit überwiegende Interessen des Beschuldigten oder anderer Personen entgegenstehen (§ 406e Abs. 2 Satz 1 StPO). Im Übrigen kann sie versagt werden, soweit der Untersuchungszweck, auch in einem anderen Strafverfahren, gefährdet erscheint oder wenn sonst eine erhebliche Verfahrensverzögerung zu gewärtigen wäre, es sei denn, dass die Staatsanwaltschaft in den in § 395 genannten Fällen den Abschluss der Ermittlungen in den Akten vermerkt hat (§ 406e Abs. 2 Satz 2 und 3 StPO). Das Akteneinsichts- und Beweismittelbesichtigungsrecht des Verteidigers ergibt sich aus § 147 Abs. 1 StPO. Es ist in Hinsicht auf Niederschriften über die Vernehmung des Beschuldigten und über richterliche Untersuchungshandlungen, bei denen dem Verteidiger die Anwesenheit gestattet worden ist oder hätte gestattet werden müssen, sowie in Hinsicht auf Gutachten von Sachverständigen unbeschränkt (§ 147 Abs. 3 StPO). Im Übrigen kann vor Abschluss der Ermittlungen (§ 169a StPO) das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers unter den in § 147 Abs. 2 StPO genannten Voraussetzungen (ganz oder teilweise) beschränkt werden. Den Fall, dass die Waffengleichheit, die in § 140 Abs. 1 Nr. 9 StPO zu einem weiteren gesetzlichen Fall der Pflichtverteidigung geführt hat, wenn dem Nebenkläger ein Beistand bestellt ist, konsequenterweise auch dazu führen muss, dass der Pflichtverteidiger Akteneinsicht in dem Umfang erhält, in welchem der Nebenklägervertreter sie erhalten hat, bedenkt die Strafprozessordnung nicht. Die Einschränkung der Akteneinsicht des Nebenklagevertreters nach § 406e Abs. 2 Satz 1 StPO durch entgegenstehende schutzwürdige Belange des Beschuldigten erfasst nicht das Problem der zeitlich versetzten Akteneinsicht. Wird der Nebenkläger aber zeitlich vor dem Verteidiger mit umfassender Akteneinsicht „bedient“, diese dann aber dem Verteidiger (ganz oder teilweise) verwehrt, gerät die Waffengleichheit, die der Gesetzgeber in § 140 Abs. 2 Nr. 9 StPO als Regelungshintergrund sah, in einem wesentlichen Punkt in eine Schieflage. Die gesetzliche Schieflage lässt sich mit dem Hinweis auf eine dem Beschuldigten freundliche Auslegung des § 147 Abs. 2 StPO nicht ausräumen. Denn eine solche Sichtweise überlässt die Waffengleichheit zwischen Nebenkläger und Beschuldigtem der Praxis im Einzelfall

 C. Riedel NStZ 2003 393 ff.; OLG Koblenz StV 1988 332 ff. m. Anm. R. Schlothauer.

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und somit dem Zufall. Es ist Tatsache, dass insbesondere Opfer von Sexualstraftaten im Sinne von § 395 Abs. 1 Nr. 1 StPO sich dem Strafverfahren anschließen13 – Straftaten, die häufig genug durch ein Naheverhältnis zwischen Opfer und Täter oder durch Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen geprägt sind. Bei diesen Konstellationen ist die Ungleichheit in der Kenntnis vom Ermittlungsstand fatal und auch dem weiteren Ziel des Strafverfahrens, wenn möglich einen Ausgleich zwischen Opfer und Täter im Sinne des § 46a StGB je früher umso besser herzustellen, abträglich. Denn kein Verteidiger kann einem Beschuldigten zu einem ihm im späteren Strafverfahren günstigen Täter-Opfer-Ausgleich raten, wenn er in der Kenntnis vom Ermittlungsstand im Vergleich zum Opfer ins Hintertreffen gerät.

3.  Unzulänglichkeiten in der Behandlung von sprachunkundigen Beschuldigten und Nebenklageberechtigten/Nebenklägern Der der deutschen Sprache nicht mächtige oder der hör- oder sprachbehinderte Beschuldigte hat nach § 187 Abs. 1 GVG Anspruch darauf, dass das Gericht auf Staatskosten einen Sprachmittler heranzieht, soweit dies zur Ausübung seiner strafprozessualen Rechte erforderlich ist. Die strafgerichtliche Praxis in Umfangs- oder sonst sensiblen Strafverfahren ordnet einem solchen Beschuldigten auf der Grundlage des § 187 Abs. 1 GVG einen sogenannten Vertrauensdolmetscher bei, dem es unter anderem auch obliegt, die zwischen dem Beschuldigten und seinem Verteidiger geführte (gerichtliche wie außergerichtliche) Kommunikation in Wort und Schrift zu übertragen. Einen entsprechenden Anspruch hat nach § 187 Abs. 4 GVG auch der Nebenklageberechtigte. § 187 Abs. 2 GVG nennt bei dem Beschuldigten beispielhaft diejenigen Beweismittel, bei welchen das Gesetz die Vermutung äußert, dass deren wörtliche Übersetzung zur Wahrnehmung der strafprozessualen Rechte des Beschuldigten unerlässlich ist. Dies sind freiheitsentziehende Anordnungen, Anklageschriften, Strafbefehle und nicht rechtskräftige Urteile (§ 187 Abs. 2 Satz 1 GVG). Im Übrigen eröffnet die Vorschrift in den Sätzen 2 und 4 des § 187 Abs. 2 GVG Übersetzungserleichterungen, wenn der Beschuldigte einen Verteidiger hat (§ 187 Abs. 2 Satz 5 GVG). Der hinter § 187 Abs. 2 Sätze 2 und 4 GVG stehende Regelungszweck ist ein erkennbar kostenwirtschaftlicher. Dass wörtliche Übersetzungen auch ein Zeitmoment einschließen, welches sich auf die nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK gebotene Beschleunigung auswirkt, spielt eine untergeordnete Rolle. Die Praxis hat sich bisher eher restriktiv zur Erforderlichkeit wörtlicher Übersetzungen

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  Hilger in Löwe-Rosenberg Vor § 395 Rn 15.

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geäußert.14 Für den sprachunkundigen Nebenkläger erklärt § 397 Abs. 3 StPO § 187 Abs. 2 GVG entsprechend anwendbar. Hinsichtlich des Nebenklageberechtigten fehlt eine solche Verweisung. Die Diskrepanz zwischen § 187 Abs. 4 GVG, der dem Nebenklageberechtigten den Vertrauensdolmetscher nach § 187 Abs. 1 GVG zubilligt, und § 397 Abs. 3 StPO sticht ins Auge, denn nur der Nebenkläger kann sich auch auf die Rechte des § 187 Abs. 2 GVG berufen. Schon eine verantwortungsbewusste Entscheidung, ob ein Verbrechensopfer sich den Strapazen eines Strafverfahrens gegen den mutmaßlichen Täter, die seinem Anschluss als Nebenkläger in aller Regel folgen, antut, ist nicht möglich. Unabhängig davon nützen dem Nebenkläger die in § 187 Abs. 1 GVG zwingend zur Übersetzung vorgeschriebenen Unterlagen weniger als dem Beschuldigten. Insgesamt sind die dem Fiskus geschuldeten Regelungen der Sätze 2 und 4 des § 187 Abs. 2 GVG vor dem Hintergrund der konventionsrechtlichen Verbriefung effektiver Verteidigung/Vertretung nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK fragwürdig. Die Fragwürdigkeit ergibt sich insbesondere aus einer Betrachtungsweise, die bei der Waffengleichheit auch das Strafgericht mit einbezieht. Werden dem Strafgericht Beweismittel in einer ausländischen Sprache vorgelegt, wird sich kein Gericht auf inhaltliche Zusammenfassungen oder auszugsweise Übersetzungen verweisen lassen. Zusammenfassungen haben etwas Willkürliches, selbst wenn sie von dem Vertrauensdolmetscher des Beschuldigten/Nebenklägers, bei dem man grobe Kenntnis vom Schuldvorwurf vermuten kann, stammen. Dies gilt auch für den Aktenauszug. Im Übrigen setzen Zusammenfassungen und Auszüge voraus, dass sie vom Sprachmittler gelesen werden, und zwar vollständig. Ist die Lesearbeit getan, ist es nur noch ein kleiner Schritt, die Übersetzung schriftlich niederzulegen. Wenn das Gericht für sich in Anspruch nimmt, fremdsprachige Beweismittel in die deutsche Sprache übertragen zu bekommen, gilt dies in gleicher Weise auch für den Beschuldigten/Nebenkläger. Die denkbaren Friktionen mit Blickrichtung auf eine durch umfangreiche Übersetzung gehemmte Verfahrensbeschleunigung kann durch ein effektives Verfahrensmanagement der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren, wo fremdsprachige Beweismittel in erster Linie anfallen, aufgefangen werden. Was dann übrig bleibt, ist der weniger überzeugende Gesichtspunkt, die Verfahrenskosten so gering wie möglich zu halten.

14  OLG Hamburg StV 14, 534 f.; OLG Nürnberg NStZ-RR 14, 183; OLG Hamm StV 14 534; OLG Stuttgart StV 14 536.

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4.  Die „Schwemme“ in der Zahl der Vertreter von Nebenklageberechtigten/Nebenklägern § 137 Abs. 1 Satz 2 StPO beschränkt die Zahl der gewählten Verteidiger auf drei. Die Beschränkung der Zahl der Wahlverteidiger, nicht der Pflichtverteidiger15, ist dem Gesichtspunkt einer befürchteten Verfahrensverschleppung durch eine zu große Zahl von Wahlverteidigern geschuldet und im Übrigen verfassungsgemäß16. Das Recht der Nebenklage kennt eine solche Beschränkung dagegen nicht. Nach § 397 Abs. 2 Satz 1 StPO kann sich der Nebenkläger schon vor Erhebung der öffentlichen Klage und ohne Erklärung des Anschlusses (§ 406h Abs. 1 Satz 1 StPO) des Beistands eines Rechtsanwalts bedienen oder sich durch einen solchen vertreten lassen. Dem Wortlaut „des Beistands eines Rechtsanwalts“ kann eine zahlenmäßige Beschränkung nicht entnommen werden. Dies hätte ähnlich § 137 Abs. 1 Satz 2 StPO einer ausdrücklichen Regelung bedurft. Bei den nebenklagefähigen Straftaten insbesondere des § 395 Abs. 1 Nr. 6 StPO, bei deren Beurteilung Spezialisierung nicht schädlich ist und wirtschaftliche Interessen des geschädigten Rechteinhabers handgreiflich sind, ist es also vorstellbar, dass sich gegenüber dem Beschuldigten die „Armada“ der Beistände des möglicherweise wirtschaftlich auch potenteren Verletzten aufbauen. Die Gründe, die für die Beschränkung in der Zahl der Wahlverteidiger streiten, verlangen de lege ferenda Geltung auch beim Nebenkläger/Nebenklageberechtigten. Im Übrigen ergibt sich eine solche Beschränkungspflicht fast zwangsläufig aus dem Gebot der Waffengleichheit. Denn, was der mit Strafe bedrohte Beschuldigte hinzunehmen hat, kann auch seinem Opfer zugemutet werden. Gerade in den in § 120 Abs. 1, Abs. 2 GVG geregelten Fällen sogenannter Staatsschutzverbrechen, die, wie die Tatorte New York, Madrid, London, Brüssel, Ankara oder Istanbul zeigen, durch Terrorakte unzählige Menschen zu Tode bringen oder schwerstverletzen, ist es die schiere Zahl potentieller Nebenkläger, die das Strafverfahren gegen die Täter an seine Grenzen bringt. Das am Oberlandesgericht München anhängige Strafverfahren gegen den sogenannten Nationalsozialistischen Untergrund und seine (überlebenden) Mitglieder17 veranschaulicht mit 96 Nebenklägern und 62 Nebenklagevertretern die Dimensionen, welche aus einer Terrorserie einem Strafverfahren erwachsen können. Verkehrsgeschehen, die wegen menschlichen Versagens in der rechtswidrigen Tötung oder in schweren Verletzungen einer Vielzahl von Menschen enden können (§§ 222; 229 StGB), sind ein anderes Beispiel, bei dem ein Strafprozess mit einer Vielzahl von Nebenklägern und ihren Beiständen (vgl. §§ 395 Abs. 2 Nr. 1; 395 Abs. 3 StPO) an die Grenze des Mach Meyer-Goßner/Schmitt § 137 Rn 5.   BVerfGE 39, 156; Meyer-Goßner/Schmitt § 137 Rn 4. 17   Az.: 6 St 3/12 (10). 15 16

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baren stößt. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York zog der Gesetzgeber mit Gesetz vom 30. August 200218 die Konsequenzen und stellte auch die Mitgliedschaft in terroristischen Organisationen im Ausland in § 129b StGB unter Strafe. Zusammenbrechende Staaten wie Libyen, Syrien und Irak, aber auch Jemen und Somalia bieten den unterschiedlichsten Terrororganisationen wie nicht zuletzt dem sogenannten „Islamischen Staat“ Aktionsgebiete, auf welchen auch deutsche Staatsangehörige sich an den unvorstellbaren Gräueltaten beteiligen19. Weiteres „Sprengpotential“ hinsichtlich des Umfangs der Nebenbeteiligung enthält die Öffnungsklausel nach § 395 Abs. 3 StPO20. Je nach Fallkonstellation kann auch ein Serieneinbrecher im Sinne des § 244 Abs. 1 Nr. 3 StGB oder ein Serienbetrüger unter den Voraussetzungen des § 263 Abs. 3 Nr. 1, Nr. 2 und Nr. 3; Abs. 5 StGB21 mit einer größeren Zahl von Nebenklageberechtigten konfrontiert werden22, wenn auch die Zulassungsvoraussetzungen nach § 395 Abs. 3 StPO dem Nebenklageberechtigten einen erhöhten argumentativen Aufwand, der jedoch in vielen Einzelfällen leistbar ist23, abverlangen. Vor dem Hintergrund, dass ein Strafverfahren wegen der schieren Zahl von Nebenklägern die Gefahr in sich trägt, „aus dem Ruder zu laufen“, finden Überlegungen statt, die verschiedenen Nebenkläger in Interessengruppen einzuteilen und den so gebildeten Gruppen einen Gruppenbeistand beizuordnen. Indessen ist dies leichter gesagt als getan. Mit der Abkoppelung von § 142 StPO (§ 397a Abs. 3 Satz 2 StPO) wäre nur ein erster Schritt24 getan, das Problem jedoch nicht vollständig gelöst. Eine solche „Zwangsvereinigung“ der Verbrechensopfer hat etwas Willkürliches jedenfalls dann, wenn sie mit dem Verlust des Rechtes des Verletzten einhergeht, sich selbst einen Beistand zu wählen. Ein solcher Rechtsverlust wirft in Hinsicht auf das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG Fragen auf, die nur bedingt Antworten erkennen lassen. Bleibt aber das Recht, sich einen Beistand nach § 397 Abs. 2 Satz 1 StPO zu wählen, erhalten, macht die Gruppenbildung wenig Sinn. Am ehesten durchsetzbar erscheint sie in den Fäl  BGBl I 3390.   Vgl. OLG München Urteil vom 15. Juli 2015 (Az.: 7 St 5/14) Schuldspruch wegen aktiver Teilnahme an der Erstürmung des Zentralgefängnisses in Aleppo/Syrien u. a. wegen Beihilfe zum Mord in 400 rechtlich zusammentreffenden Fällen und versuchter Mord in einer unbestimmten Zahl von Fällen. Vgl. auch M. A. Zöller GA 2016 S. 90 ff. 20   BGH Beschluss vom 9. Mai 2012 5 StR 523/11 Rn 4 zit. nach juris. 21   Skeptisch BGH a.a.O. Rn 9. 22   a. A. BGH a.a.O. Rn 5; Barton Anm. In www.strafrecht.jurion.de. 23   BGH a.a.O. Rn 9: wirtschaftliche Interessen genügen nicht. 24   Krauß, Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens, Anlagenband I, 2015, S. 584; Bericht der Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens, 2015, S. 146. 18 19

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len des § 397a Abs. 1 StPO, da hier eine Beiordnung von Gerichts wegen erfolgt. Die in § 397a Abs. 1 StPO angesprochenen Fälle betreffen diejenigen Nebenkläger, die Opfer schwerer Verbrechen geworden sind. Es darf daher hinterfragt werden, ob es ihrer Befindlichkeit gut tut, wenn sie mit anderen Opfern zusammengeschlossen werden und ihnen sodann ein Gruppenbeistand verordnet wird. Hinzu tritt, dass die Motivlagen, sich einem Strafverfahren anzuschließen, bei Opfern von Straftaten unterschiedlich sind25. Dies wird schon daran deutlich, dass sich Opfer derselben Straftat schon in ihrem Anzeigeverhalten unterscheiden. Während das eine Opfer die Straftat anzeigt, verzichtet das andere Opfer darauf. Es sind diese unterschiedlichen Arten der Konfliktbewältigung, die sich auch nach einem Anschluss durch das Strafverfahren ziehen und etwa in den Widerruf der Anschlusserklärung münden können. Die Unterschiede in den Anschlussmotiven werfen dann auch die Frage auf, wie das Gericht sie feststellen soll und welchen bürokratischen Aufwand zur sicheren Feststellung man betreiben möchte26. Bisher hat ein Nebenklageberechtigter seine Entscheidung, sich dem Strafverfahren anzuschließen, nicht zu begründen. Um eine an den Interessen oder Motiven orientierte Gruppenbildung zu ermöglichen, werden sich die Nebenklageberechtigten aber gegenüber dem Gericht erklären müssen, es sei denn, dass die Gruppenbildung nach abstrakten, eher vermuteten Motiven erfolgen soll. Eine solche Entscheidungsfindung wäre aber ein weiterer Akt von Willkür. Sicher ist indessen nur, dass bei der Bewertung genannter Motive und Interessen eine inhaltliche Beurteilung nicht stattfinden darf. Nach dem Gesetz gibt es keine guten oder schlechten Gründe, sich für einen Anschluss an das Strafverfahren zu entscheiden. Der Strafprozessordnung ist jede Anschlusserklärung gleich, wenn sie nur von einem Verletzten nach § 395 Abs. 1, Abs. 2 StPO stammt. Daher darf sich die Gruppenbildung auch nicht daran orientieren, ob ein Nebenkläger verfahrensfremde Ziele verfolgt. Eine Gruppenbildung, die dem Nebenkläger im Übrigen alle de lege lata ihm zustehenden Rechte wahrt, ist daher nur denkbar, wenn mehrere Taten angeklagt sind und sich die Gruppenbildung an diesen Taten orientiert. Die jeweilige Tat hat zur Opferverletzung geführt und ist daher einziges objektives Kriterium, das außer Streit steht. Zwar stellt sich auch hier das Problem von Interessenkollisionen, die im Falle des Beschuldigten nach § 146 StPO zum Verbot der Mehrfachverteidigung geführt hat. Die verfahrensrechtlichen Situationen von Beschuldigtem und Nebenkläger sind jedoch so unterschiedlich, dass bei den Nebenklägern eine ähnliche Regelung nicht angezeigt erscheint. Geriert eine Tat aber eine Vielzahl anschlussberechtigter Opfer, wird man es hinnehmen müssen, dass jedes Opfer prozessual in 25 26

  Bericht a.a.O. S. 146 f.; Krauß a.a.O. S. 585.   Bericht a.a.O. S. 147; Krauß a.a.O. S. 586.

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seiner Stellung für sich steht. Jede andere Sichtweise, auch wenn sie das betroffene Verfahren führbarer macht, würde in unzulässiger inhaltlicher Motivforschung münden, die surreale Ergebnisse erzeugen könnte, etwa zu Fraktionsbildungen der Art der am Schadensersatz orientierten, der mehr an einer persönlichen Genugtuung interessierten und/oder der schweigenden „keiner Ordnung zugänglichen“ Nebenkläger. Es liegt auf der Hand, dass Verbrechensopfer sich dann in Klassen kategorisiert sehen. Mit dieser völlig unbegründeten Sichtweise wird im Ergebnis aber jeder Opferschutzgedanke in Frage gestellt, dessen Verwirklichung aber gerade die Nebenklage auch dienen soll.

5. Zusammenfassung Es bestehen Spannungslagen zwischen den verfahrensrechtlichen Stellungen von Beschuldigtem und Nebenklägern/Nebenklageberechtigten, die sich nur durch gesetzliche Entscheidungen auflösen werden. Am 13. Oktober 2015 hat die vom Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz ins Leben gerufene Expertenkommission zur Reform des Strafprozessrechts ihren (umfangreichen) Abschlussbericht übergeben, der, wenn er umgesetzt werden sollte, zahlreiche Änderungen im Strafverfahrensrecht bringen wird. Hinsichtlich der Nebenklage schlägt der Bericht unter Anerkennung der Schwierigkeiten in der Motivsuche die oben dargestellte Gruppenbündelung vor, die jedoch nur mit den erörterten erheblichen Einschränkungen möglich und zulässig sein wird. Der Bericht bleibt im Übrigen auf halbem Weg stehen, weil die gebührenrechtlichen Konsequenzen nicht bedacht worden sind. Soll ein Beistand eine Nebenklagegruppe betreuen, wird der Kanzleiaufwand mit jedem Gruppenmitglied steigen. Dies müsste nachgeholt und ein möglicher Gruppenbeistand auch gebührenrechtlich attraktiv ausgestaltet werden. Der Abschlussbericht sieht im Strafvollzug Reformbedarf nur in der Zuständigkeitskonzentration bei der sogenannten großen Strafvollstreckungskammer. Die Aufgabenteilung zwischen großer und kleiner Strafvollstreckungskammer (§ 78b GVG) soll entfallen27. Weitergehenden Reformbedarf im Strafvollstreckungsverfahren sieht die Expertenkommission nicht28. Mit der Rechtskraft der Entscheidung verabschiedet sich der Nebenkläger aus dem Verfahren; es bleiben ihm auf seinen Antrag hin nur die Verletztenrechte insbesondere nach § 406d Abs. 2 StPO. Ansonsten spielt der Nebenkläger in dem sich dem Strafverfahren anschließenden Strafvollstreckungsverfahren keine Rolle. Bei ernst gemeintem Opferschutz darf überlegt werden, ob mit dem Abschluss des Strafverfahrens der Nebenkläger nicht am ausgestreck  Abschlussbericht S. 173.   Anders S. C. Walthers GA 2007 615/626 f.; dieselbe JR 2008, 405/409 f.

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ten Arm der ihm nach § 406d Abs. 2 StPO erteilten Auskünfte verhungert29. Denn damit muss sich das Verbrechensopfer begnügen. Ansätze, sich gegen vollstreckungsrechtliche Maßnahmen zu Gunsten des Beschuldigten zu wehren, kennt das Strafverfahrensrecht bislang nicht.

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  Für das französische Recht J. Leblois-Happe/C.-F. Stuckenberg GA 2015 670/675.

Änderung des Geschäftsverteilungsplans wegen Überlastung? – zugleich eine (Teil-)Besprechung von BGH 3 StR 358/15, Beschl. vom 04. Mai 2016 = StV 2016, 626 = StraFo 2016, 387 Rüdiger Deckers Vorbemerkung In seinem schaffensreichen Wirken als Richter war – so scheint es dem Autor – dem Jubilar das Wort „Überlastung“ fremd.

I.  Allgemeines zu Besetzungseinwänden 1. Seit der Einführung der Präklusion des Besetzungseinwandes nach den §§ 222a, 222b, 338 Nr. 1 StPO steht die Verteidigung – regelmäßig – zu Beginn eines Prozesses vor der schwierigen Frage, ob sie – in dem kurzen Zeitfenster zwischen dem Ende der nach § 222a StPO nur auf Antrag zu gewährenden Unterbrechungsfrist bis zur Vernehmung des ersten Angeklagten zur Sache (§ 222 a Abs. 2 StPO) – einen Einwand gegen die Besetzung des Gerichts erheben soll. Dies führt, anders, als wenn die Verteidigung erst im Revisionsbegründungsstadium sich mit dieser Frage auseinandersetzt, weil der Verurteilte sich gegen das tatgerichtliche Urteil wehren möchte, gleich zu Beginn des Strafprozesses zu einer Verfahrensstockung und nicht wenige Adressaten eines solchen Einwandes sehen sich im vorgeplanten Verfahrensablauf gestört. 2.  Dabei wahrt die Verteidigung mit dem Einwand eine Rechtsposition, die ihr vor der Gesetzesreform (Strafverfahrensänderungsgesetz von 1979) – also seit 1877 – stets zugestanden hat. Der Einwand, das Gericht sei falsch besetzt, muss substantiiert begründet werden, nach Prüfung der Fakten sind alle Tatsachen anzuführen, aus denen sich die Fehlerhaftigkeit der Besetzung ergeben soll. Alle Beanstandungen sind gleichzeitig zu erheben. Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn neue Tatsachen, die mit den ursprünglichen Einwänden in keinem inneren Zusammen-

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hang stehen, sich während der Hauptverhandlung ergeben. In diesem Fall hat das Gericht sogar von Amts wegen die Pflicht, die Besetzung zu überprüfen.1 3.  Geht es dabei um die Frage, ob die in der Besetzungsmitteilung genannten Richter im Geschäftsverteilungsplan vorgesehenen sind, hat die Verteidigung den Geschäftsverteilungsplan für das geltende Jahr (§ 21 e Abs. 1 u. 9 GVG) sowie die fortschreibenden Präsidiumsbeschlüsse (§ 21 e Abs. 3 S. 1 GVG) beim Präsidenten anzufordern oder einzusehen.2 Sind andere Berufsrichter mitgeteilt, muss ein – gerechtfertigter – Vertretungsfall3 vorliegen, der nur bei vorübergehender Verhinderung zulässig ist.4 Die Verteidigung hat darüber hinaus den geschäftsinternen Verteilungsplan zu prüfen ( § 21 g GVG-Jährlichkeitsprinzip5), insbesondere, wenn die Kammer überbesetzt ist6, oder nur mit zwei Berufsrichtern verhandeln will (§ 76 Abs. 2 Nr. 4 GVG), was in zahlreichen Fällen zu Beanstandungen durch das Revisionsgericht geführt hat.7 4.  Das Tatgericht entscheidet in der Besetzung der Berufsrichter über den Besetzungseinwand nach eigenem Ermessen durch Beschluss. Lehnt es den Besetzungseinwand ab, so bleibt der Verteidigung die Besetzungsrüge für die Revision nach § 338 Nr. 1 StPO erhalten. 5.  Schon die im Besetzungseinwand angebrachten Tatsachen haben sich am Maßstab des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO zu messen. Dies gilt erst recht für die auf den Besetzungseinwand gestützte Revisionsrüge: In der Revision muss die Verteidigung darlegen, dass sie den Besetzungseinwand rechtzeitig – also innerhalb des obengenannten Zeitfensters – erhoben hat. Der Besetzungseinwand aus der Tatsacheninstanz ist vollständig mitzuteilen, aus ihm müssen sich die Tatsachen ergeben, die die vorschriftswidrige Besetzung begründen. Die Namen der Richter und die Gründe für ihre fehlerhafte Besetzung müssen benannt werden. Ferner müssen die Regelungen im Geschäftsverteilungsplan8 sowie die Präsidiumsbeschlüsse, die zu einer Änderung des Geschäftsverteilungsplans geführt haben9, mitgeteilt werden. 1   BGHSt 34, 326; 35, 28; Löwe-Rosenberg-Jäger § 222b Rn 38; Kempf/Dannenfeldt, Vorbereitung der Hauptverhandlung, in Widmaier/Müller/Schlothauer, (Hrsg.), MAHStrafverteidigung, 2014, S. 258 ff. Rn 72 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, 2016, § 222b, Rn 7. 2   Kempf/Dannenfeldt a.a.O. Rn 69. 3   Vgl. dazu: BGH NStZ 2015, 716 m. Anm. Ventzke; BGH StV 2015, 98 m. Anm. Wollschläger. 4   M-G/S § 21 e GVG Rn 7 u. § 21 f Rn 4 ff. 5   BGH NJW 1999, 796; BVerfGE 97, 1; 95, 322. 6   M-G/S § 21 GVG Rn 4. 7   Vgl. BGH StV 2012, 196, 197; 2005, 204; NStZ 2004, 56; wistra, 2004, 32; Kempf/ Dannenfeldt, a.a.O. Rn 69. 8   BGH 4 StR 146/06. 9   BGH St 40, 218, 240.

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Findet sich der Name eines geladenen Schöffen nicht auf der Schöffenliste und fehlt es an einem sachlichen Vertretungsgrund oder ist die Reihenfolge der Hilfsschöffen („an bereitester Stelle“) nicht eingehalten, kann eine Fehlbesetzung vorliegen.10 6.  Ein besonderes Kapitel stellt in diesem Zusammenhang die Überlastung als Änderungsgrund nach § 21 e Abs. 3 GVG dar. Er kann vorliegen, wenn über einen längeren Zeitraum ein erheblicher Überhang von Eingängen gegenüber Erledigungen zu verzeichnen ist, so dass mit einem Bearbeitungsausgleich innerhalb eines Geschäftsjahres nicht mehr gerechnet werden kann, zugleich muss es sich um einen vorübergehenden Zustand handeln.11 Zwar soll das Beschleunigungsgebot eine nachträgliche Änderung der Geschäftsverteilung sogar gebieten können12, aber das Beschleunigungsgebot einerseits und das Recht auf den gesetzlichen Richter müssen in einen vernünftigen Ausgleich gebracht werden13. Bereits mit Beschluss vom 12.01.201514 hat sich der 3. Strafsenat des BGH gegen die Rechtmäßigkeit solcher Änderungsbeschlüsse des Präsidiums gestellt, mit denen ausschließlich bereits anhängige Verfahren auf eine Hilfsstrafkammer übertragen werden. Vielmehr müsse die Neuregelung eine unbestimmte Vielzahl künftiger Sachen erfassen. Dass die Maßnahme geeignet sei, die Effizienz des Geschäftsablaufs wiederherzustellen oder zu erhalten15, reiche allein nicht aus.

II.  Zum Fall: 1. Dass darüber hinaus die spezielle Zuweisung eines einzigen anhängigen Verfahrens – regelmäßig – nicht als gerechtfertigte Änderung des Geschäftsverteilungsplans angesehen werden kann, hat der 3. Strafsenat nun in seinem Beschluss vom 04. Mai 201616 verdeutlicht. 2. Durch einen Präsidiumsbeschluss des Landgerichts Düsseldorf vom 31.07.13, der sehr kursorisch gehalten war17 und die Einrichtung einer Hilfs-

  Vgl. BGH wistra 2001, 425; 2002, 288; Kempf/Dannenfeldt Rn 70.   BGHSt 53, 268; NStZ 2014, 287 m. Anm. Grube 2014, 123 in StraFo; M-G/S § 21 e GVG Rn 14 u. 16a. 12   BGH NStZ 2015, 568; StV 2015, 747; M-G/S § 21 e GVG Rn 14. 13   BVerfG NJW 2009, 1734; BGH StV 2015, 747; M-G/S a.a.O.; Sowada, Das Recht auf den gesetzlichen Richter, 2002, S. 259. 14   3 StR 490/15. 15   So BGH StV 2015, 747. Vgl. FN 13. 16   3 StR 358/15 = StV 2016, 626 = StraFo 2016, 387. 17   Zu den umfassenden, nachvollziehbaren Informationspflichten: M-G/S § 21 e GVG Rn 16 b. 10 11

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strafkammer bestimmte, war diese für die Zeit des Eingangs von Strafsachen bei der 14. Strafkammer in der Zeit vom 09.07. bis 26.07.13 aufgrund einer Überlastungsanzeige des Vorsitzenden eingerichtet worden. Damit war die Haftsache StA Düsseldorf 50 Js 229/13 der Hilfsstrafkammer 14 a zugewiesen worden. Der Beschleunigungsgrundsatz kann in solchen Fällen die nachträgliche Änderung grundsätzlich sogar gebieten.18 Allerdings haben sich – wie dargelegt – das Beschleunigungsgebot einerseits und das Recht auf den gesetzlichen Richter in einem angemessenen Ausgleich zu bewegen.19

III. 1.  Dass in diesem Kontext die spezielle Zuweisung eines einzigen Verfahrens in aller Regel nicht als Änderungsrechtfertigung gelten kann, hat der 3. Strafsenat des BGH nun im Beschluss vom 04. Mai 2016 – 3 StR 358/15 verdeutlicht. 2.  Durch einen Präsidiumsbeschluss vom 31.07.2013, der den umfassenden und nachvollziehbaren Dokumentationspflichten der Gerichte für die Einrichtung einer Hilfsstrafkammer nicht genügte, war für die Zeit des Eingangs von Strafsachen bei der 14. Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf in der Zeit vom 09.07.–26.07.2013 eine Hilfsstrafkammer eingerichtet worden, nachdem der Vorsitzende der 14. gr. Strafkammer die Überlastung der Strafkammer angezeigt hatte. Damit war die Haftsache – Staatsanwaltschaft Düsseldorf 50 Js 229/13 – der Hilfsstrafkammer zugwiesen worden. Die Verteidigung hatte dies noch vor der Vernehmung des 1. Angeklagten zur Sache gerügt: –– Es fehle an einer generellen Regelung für eine unbestimmte Anzahl künftiger gleichartiger Fälle (BVerfG NJW 2005, 2689). –– Eine beschränkte Zuweisung exklusiv bereits anhängiger Fälle sei nur dann zulässig, wenn allein dadurch dem Beschleunigungsgebot Rechnung getragen werden könne (BVerfG NJW 2009, 1734 ff.). –– Es fehle an einer umfassenden Darlegung und Dokumentation der Gründe im Präsidiumsbeschluss, die eine Umverteilung erforderten und rechtfertigen.

  BGH NStZ 2015, 658; StV 2015, 747.   BVerfG NJW 2009, 1734; BGH StV 2015, 747.

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–– Aus dem Präsidiumsbeschluss sei nicht erkennbar, wie viele Haftsachen aktuell in der 14. gr. Strafkammer anhängig waren. Mitgeteilt wurden: –– Die Präsidiumsbeschlüsse vom 31. Juli 2013 und 02. September 2013 zur Änderung des Geschäftsverteilungsplans. –– Eine Mitteilung darüber an die Verteidigung durch das Präsidium vom 25.10.2013. –– Die Überlastungsanzeige des Vorsitzenden der 14. gr. Strafkammer vom 10.07.2013. 3. Auf den Besetzungseinwand vom 28.10.2013 hat das Präsidium des Landgerichts einen ausführlichen und umfassenden Beschluss vom 31.10.2013 gefasst, auf den sich sodann der ablehnende Beschluss der erkennenden Kammer vom 08.11.2013 gestützt hat. Fehlt es im – ursprünglichen – Beschluss des Präsidiums an einer eigenständigen Begründung, so führt dies ausnahmsweise nicht zu einem Rechtsfehler, wenn sich die Gründe aus anderweitigen Unterlagen ergeben oder die Mängel in einem ergänzenden Beschluss behoben werden.20 Die Verteidigung kann beantragen, ihr diese – neuerliche – Dokumentation bekannt zu machen. Dem ist zu entsprechen.21 Aus dem ergänzenden – äußerst umfassend und nachvollziehbar gefassten – Beschluss hat sich ergeben, dass im Zeitraum vom 09.07. bis 26.07.2013 nur das eine auf die Hilfsstrafkammer übertragene Verfahren anhängig geworden war und eine weitergehende Entlastung der 14. gr. Strafkammer nicht erforderlich war. Dies begegne – so der Kammerbeschluss – keinen verfassungs- oder einfachrechtlichen Bedenken. Eine so weitreichende Umverteilung hätte im Wesentlichen dazu gedient, die Abstraktheit der neuen Geschäftsverteilung zu dokumentieren. Die Gerichte würden zu übermäßigen und teilweise sinnlosen Entlastungsmaßnahmen gezwungen, wenn man in ausnahmslos jedem Fall einer Änderung des Geschäftsverteilungsplans wegen Überlastung auch eine Regelung für künftige Verfahren forderte.22 4.  Nach Abschluss der Hauptverhandlung am 12. Dez. 2014 verurteilte das Landgericht Düsseldorf die Angeklagte zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und vier Monaten wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern in sieben Fällen.

  M-G/S, § 21e, Rn 165.   BGHSt 13, 268; StV 2010, 294 u. 296; Gubitz/Bock, NStZ 2010, 190. 22   LG Düsseldorf, 14a KLs 1/13, Beschluss vom 08.11.2013. 20 21

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IV. 1.  Mit der der Revision erhob die Verteidigung die Besetzungsrüge (§ 338 Nr. 1 lit. b) StPO). Sie sah sich erheblichen Einwänden der Generalstaatsanwaltschaft gem. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO ausgesetzt. Diese bezogen sich nicht auf die in der Tatsacheninstanz geltend gemachten Verfahrenstatsachen, sondern auf die – angebliche – Unvollständigkeit der Revisionsrüge selbst. –– Der ergänzende Präsidiumsbeschluss vom 31.10.2013 sei nicht mitgeteilt. Dies war – ausnahmsweise – entbehrlich, weil dessen wesentlicher Inhalt im Beschluss des Landgerichts Düsseldorf vom 08.11.2013 referiert war. –– Die Rüge habe nicht substantiiert dargelegt, dass der Besetzungseinwand vor der Anhörung des ersten Angeklagten zur Sache erhoben worden war. Es wurde eine – revisionstechnisch irrelevante – Bezugnahme auf das Hauptverhandlungsprotokoll reklamiert. Es kommt – für die Anforderungen nach § 344 Abs. 2 S. 2 StPO – auf die Vollständigkeit des Tatsachenvortrags und nicht auf den Nachweis der Protokolltreue dieses Vortrags an!23 Der Vortrag, die Revidentin habe ihren Besetzungseinwand vor der Vernehmung des 1. Angeklagten geltend gemacht, ist für die Darlegung eines rechtlichen Besetzungseinwands ausreichend.24 –– Die Rüge habe es unterlassen, die vollständige Regelung über die Zuständigkeit der entlasteten Strafkammer im Geschäftsverteilungsplan mitzuteilen, ohne deren Kenntnis die Sachgerechtigkeit des Umfangs der konkreten Entlastungsmaßnahme nicht sicher beurteilt werden könne, sowie die geschäftsplanmäßig geregelte Vertretungsregelung für die entlastete Strafkammer vorzutragen, deren Kenntnis für die Beurteilung sachgerechter Auswahl der zur Entlastung herangezogenen Richter erforderlich sein könne; schließlich fehle für denselben Prüfungskomplex die Mitteilung des sonstigen geschäftsplanmäßigen Einsatzes der zur Entlastung herangezogenen Richter (BGH R StPO § 338 Nr. 1 Geschäftsverteilungsplan 6). Dies war indes – ausnahmsweise – entbehrlich, weil es für die Beurteilung der Rüge auf den Inhalt dieser Unterlagen nicht ankam. 2. Der 3. Strafsenat sprach die Revision im Beschlusswege (§ 349 Abs. 4 StPO) zu: –– Der Präsidiumsbeschluss des Landgerichts unterliege der vollen Überprüfung des Revisionsgerichts auf jede Rechtswidrigkeit (BGH, Beschl. vom 12. Mai 2015 – 3 StR 569/14, NJW 2015, 2597, 2598 f. m.w.N.).

  M-G/S § 344 Rn 21.   § 338 Nr. 1 lit. b); § 222 b Abs. 1 StPO.

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–– Der Präsidiumsbeschluss vom 31. Oktober 2013 biete kein tragfähiges Konzept zur Verteilung der anfallenden Geschäfte in Ansehung der nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG geltenden Maßstäbe. –– Die Übertragung eines einzelnen Verfahrens mit anschließender vorübergehender Entlastung bei neu eingehenden Verfahren, die nur wenige Hauptverhandlungstage in Anspruch genommen hätten, hätte bei Neueingang mittlerer bis umfangreicher Verfahren zu einer „Aneinanderreihung von Einzelzuweisungen“ bereits anhängiger Verfahren führen müssen, was mit den Anforderungen an die Bestimmung des gesetzlichen Richters nicht in Einklang zu bringen sei (BGH 3 StR 569/14; 490/15).

V. Fazit Das Verbot der Entziehung des gesetzlichen Richters nach Artikel 101 Abs. 1 S. 2 GG und § 16 Satz 2 GVG gewährleistet den gesetzlichen Richter als Kernstück des Rechtsstaats. Dieses Verbot soll vor allem der Gefahr vorbeugen, dass die rechtsprechenden Organe durch Manipulation der Besetzung sachfremden Einflüssen ausgesetzt werden. Dieser Grundsatz garantiert dem Rechtssuchenden, vor einem unabhängigen und unparteilichen Richter zu stehen. Der zur Entscheidung berufene Richter muss im Voraus abstraktgenerell bestimmt sein. Artikel 101 Abs. 1 S. 2 GG enthält demnach nicht nur das Verbot, von Regelungen abzuweichen, die der Bestimmung des gesetzlichen Richters dienen. Die Forderung nach dem gesetzlichen Richter setzt vielmehr einen Bestand von Rechtssätzen voraus, die den Richter bezeichnen, der für die Entscheidung zuständig ist. Unter dem „gesetzlichen Richter“ ist also diejenige Gerichtsbesetzung zu verstehen, in der das erkennende Gericht nach der durch ausdrückliche gesetzliche Bestimmungen in Verbindung mit dem Geschäftsverteilungsplan im Voraus generell festgelegten Regelung in der Sache zu verhandeln und zu entscheiden hat. Die einzelne Sache muss auf Grund allgemeiner, vorab festgelegter Merkmale („blindlings“) an den entscheidenden Richter gelangen. Die Geschäftsverteilungs- und Mitwirkungspläne dürfen demnach keinen vermeidbaren Spielraum bei der Heranziehung der einzelnen Richter zur Entscheidung der Sache geben, also nicht unnötig unbestimmt sein. Der Präsidiumsbeschluss muss in einem Fall der Abänderung so detailliert begründet sein, dass eine Prüfung auf jede Rechtswidrigkeit hin möglich ist.25 Im vorliegenden Fall war – wie im Zeitpunkt der Beschlussfassung bereits bekannt war – vor dem auf der Grundlage des § 21 e Abs. 3 GVG erlassenen Beschluss des Präsidiums des Landgerichts Düsseldorf vom 31.07.2013 über die Errichtung der 14a. Großen Hilfsstrafkammer in Verbindung mit dem 25

  BGHSt 53, 268, 273; NStZ 2011, 157f.; StV 2010, 294ff.

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Beschluss vom 02.09.2013 de facto nur ein bereits anhängiges Verfahren (nämlich das gegen die Revidentin) betroffen. In einem solchen Fall sollte nach bisheriger Rechtsprechung eine Änderung des Geschäftsverteilungsplans (nur) dann ausnahmsweise verfassungsrechtlich zulässig sein, wenn nur so dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot insbesondere in Haftsachen angemessen Rechnung getragen werden kann. Allerdings lasse das Beschleunigungsgebot das Recht auf den gesetzlichen Richter nicht vollständig zurücktreten.26 Der Begriff des Beschleunigungsgebots ist in der StPO nicht definiert. Soweit er in Art. 5 Abs. 3 S. 1 2. HS und 6 Abs. 1 S. 1 MRK verankert ist, sind die Angemessenheit, Zügigkeit, Unverzüglichkeit und Stringenz des Verfahrensgangs angesprochen (KK-Fischer, 2013, Einl. Rn 33; Meyer-Goßner/ Schmitt, 2015, Einl. Rn 160). Das Bestreben, die einmal angeordnete Haft aufrechterhalten zu können – sozusagen die Kehrseite des Beschleunigungsgebots – und das Recht auf den gesetzlichen Richter stehen naturgemäß in einer solchen Konstellation in einem intensiven Spannungsverhältnis zueinander. Das Verfahren zeigt, dass die Inhaftnahme und -haltung der Revidentin im Zeitraum der Entscheidung über die Abänderung der Geschäftsverteilung mit einer unzureichenden Begründung „gerettet“ werden sollte. Der Zuschnitt der Änderung des Geschäftsverteilungsplans auf ein Verfahren war nicht tragfähig – die spätere Haftentlassung der Revidentin während der laufenden Hauptverhandlung und die daran anschließende Verfahrenstreue haben gezeigt, dass die „Überlastung“ auch anders hätte vermieden werden können als durch eine Änderung des Geschäftsverteilungsplans durch Präsidiumsbeschluss und des damit verbundenen Entzugs des gesetzlichen Richters. Der Zweck, mit der Änderung des Geschäftsverteilungsplans „die Effizienz des Geschäftsablaufs zu erhalten oder wiederherzustellen“27, muss dort seine Grenze finden, wo die weitere Inhaftierung des Angeklagten (neg. Aspekt des Beschleunigungsgebots) auf Kosten des Rechts auf den gesetzlichen Richter geht und eine über die bereits anhängigen Strafsachen in die – begrenzte – Zukunft reichende allgemeine Regelung nicht möglich oder nicht erforderlich ist. Insbesondere ist es mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter unvereinbar, wenn ein Spruchkörper (Hilfsstrafkammer) faktisch zur Erledigung einer einzigen bereits anhängigen Haftsache eingerichtet wird. Konkret bedeutet dies nämlich für den Betroffenen einen doppelten Rechtsverlust: Freiheit und Recht auf den gesetzlichen Richter werden beschränkt.   BGHSt 53, 268, 271 Rn 9.   BVerfG NJW 2009, 1734.

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Das Beschleunigungsgebot soll – im Grundsatz – zur Verkürzung von Untersuchungshaft beitragen.28 Kann es nicht eingehalten werden – zumal aus organisatorischen Gründen – ist die Remedur nicht durch einen weiteren Rechtsverlust – Recht auf den gesetzlichen Richter – zu bewirken. Danach hätte die Strafkammer, bei der das Verfahren ursprünglich anhängig war, einen anderen Weg der Entlastung und zur Bearbeitung der Sache wählen können und sollen unter dem Gesichtspunkt: in dubio pro libertate!

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  M-G/S Einl. 160 m.w.N.; § 16 GVG.

Prognoseentscheidungen des Präsidiums

Prognoseentscheidungen des Präsidiums bei Änderungen der Geschäftsverteilung Rainer Drees Ottmar Breidling war mehrere Jahre lang Mitglied des Präsidiums des Oberlandesgerichts Düsseldorf. Auch hat er bis zur 26. Auflage die Vorschriften des 2. Titels des Gerichtsverfassungsgesetzes („Allgemeine Vorschriften über das Präsidium und die Geschäftsverteilung“) im Löwe/Rosenberg kommentiert. Ihm wird daher das durch die nachfolgenden Ausführungen beleuchtete Spannungsverhältnis zwischen dem Wunsch nach Flexibilität bei der Entscheidung über den Einsatz des richterlichen Personals und dem Anspruch auf den gesetzlichen Richter bestens vertraut sein. 1. Präsidien der ordentlichen Gerichte sind immer wieder vor die Entscheidung gestellt, wie sie auf (mutmaßliche) Überlastungen eines Spruchkörpers oder eines einzelnen Richters zu reagieren haben. In Strafsachen beginnt der Entscheidungsprozess üblicherweise mit der Vorlage einer sog. – meist schriftlich1 abgefassten – „Überlastungsanzeige“ durch den Kammeroder Senatsvorsitzenden.2 Aber auch dann, wenn der Vorsitzende nicht selbst die Initiative ergreift, sondern sich eine mutmaßliche Überlastung in anderer Weise ergibt3, prüft das Präsidium mögliche Handlungsoptionen. Die Risiken für den Bestand der Urteile, die ein durch Entlastungsmaßnahmen zuständig gewordener Spruchkörper verkündet, hielten sich lange Zeit in Grenzen. Denn der Bundesgerichtshof4 räumte den Präsidien bei der Entscheidung über Entlastungsmaßnahmen ein pflichtgemäß auszuübendes

1  Folgt das Präsidium der Überlastungsanzeige und ist diese hinreichend detailliert begründet, kann in dem Änderungsbeschluss auf sie Bezug genommen werden. Zur Dokumentationspflicht und zu möglichen Konsequenzen aus deren Verletzung vgl. BGH Urteil vom 9. April 2009 – 3 StR 376/08 – NStZ 2009, 651; Beschluss vom 4. August 2009 – 3 StR 174/09 – StV 2010, 294 (295); siehe auch BVerfG NJW 2005, 2689 (2690). 2   „Unterlastungsanzeigen“ – d.h. die förmliche Mitteilung eines Vorsitzenden, der von ihm geleitete Spruchkörper habe nicht genug zu tun – sind selten. 3   Häufig handelt es sich um besorgte Eingaben der Staatsanwaltschaft oder anderer Verfahrensbeteiligter, durch die beklagt wird, dass bei einer Kammer anhängige Verfahren nicht hinreichend gefördert werden, insbesondere wenn die Staatsanwaltschaft glaubt, absehen zu können, dass aufgrund Zeitablaufs mit der Aufhebung eines Haftbefehls zu rechnen ist. 4   Aber auch andere oberste Bundesgerichte (vgl. BFH/NV 1991, 326).

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Ermessen ein5, was dazu führte, dass die revisionsgerichtliche Überprüfung eines die Geschäftsverteilung unterjährig ändernden Präsidiumsbeschlusses lediglich anhand eines Willkürmaßstabs erfolgte. Dies änderte sich durch eine Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Februar 20056. In dieser wurde betont, dass das Bundesverfassungsgericht es hinsichtlich der fachgerichtlichen Anwendung und Auslegung der Zuständigkeitsnormen zwar bei einem groben Prüfungsmaßstab belasse,7 dass dies jedoch nicht für die Prüfung der Zuständigkeitsnorm selbst – also auch aller die Geschäftsverteilung ändernden Entscheidungen des Präsidiums – gelte. Insoweit gehe der Kontrollmaßstab des Bundesverfassungsgerichts über eine „reine Willkürprüfung“ hinaus und erfasse „jede Rechtswidrigkeit“.8 Der Bundesgerichtshof ist dieser Rechtsprechung gefolgt9 und prüft deshalb jeden eine Änderung nach § 21e Abs. 3 GVG herbeiführenden Präsidiumsbeschluss im Rahmen einer zulässig erhobenen Besetzungsrüge (§ 338 Nr. 1 StPO) vollständig auf seine Übereinstimmung mit dem einfachen Recht sowie mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Dies macht die Mitwirkung an die Geschäftsverteilung ändernden Präsidiumsbeschlüssen zu einer gefahrengeneigten Tätigkeit. 2.  Dabei ist bereits die Beantwortung der Frage problematisch, ob eine Überlastung tatsächlich vorliegt. Eine solche soll nach ständiger Rechtsprechung vorliegen, wenn über einen längeren Zeitraum ein erheblicher Überhang der Eingänge über die Erledigungen zu verzeichnen ist, so dass mit einer Bearbeitung der Sachen innerhalb eines angemessenen Zeitraums nicht zu rechnen sei und sich die Überlastung deshalb als so erheblich darstelle, dass der Ausgleich nicht bis zum Ende des Geschäftsjahres zurückgestellt werden könne.10 Lässt sich derlei bei einem amtsrichterlichen Dezernat noch anhand von Pensenschlüsseln11 oder dem schlichten Vergleich mit den Eingangs- und Erledigungszahlen anderer Dezernate beurteilen, wirft die Beantwortung der Frage nach dem Vorliegen einer Überlastung bei den Strafkammern der 5  Urteil vom 30. Juli 1998 – 5 StR 574/97 BGHSt 44, 161 (179); Urteil vom 12. April 1978 – 3 StR 58/78 – BGHSt 27, 397 [398]; Urteil vom 10. September 1968 – 1 StR 235/68 – BGHSt 22, 237 (239). 6   2 BvR 581/03 – NJW 2005, 2689. 7   Eine Verfahrensrüge hat danach nur Erfolg, wenn Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsnorm, „bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind“. 8   Insoweit in ausdrücklicher Abgrenzung zur ständigen Rechtsprechung des BVerwG, vgl. NJW 1991, 1370. 9  BGH Urteil vom 9. April 2009 – 3 StR 376/08 – NStZ 2009, 651; Beschluss vom 4. August 2009 – 3 StR 174/09 – StV 2010, 294 (295); Beschluss vom 12. Mai 2015 – 3 StR 569/14 – NStZ 2016, 124 (125); Beschluss vom 12. Januar 2016 – 3 StR 490/15 – NStZ-RR 2016, 120; Beschluss vom 4. Mai 2016 – 3 StR 358/15 –. 10  BGH Urteil vom 9. April 2009 – 3 StR 376/08 – NStZ 2009, 651; Beschluss vom 10. Juli 2013 – 2 StR 116/13 – NStZ 2014, 226 (227). 11   Vgl. hierzu: OVG Münster Beschluss vom 14. November 2005 – 1 A 494/04 – juris.

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Landgerichte und erst Recht bei den erstinstanzlich tätigen Strafsenaten der Oberlandesgerichte erheblich komplexere Probleme auf. Denn die Spanne des Umfangs und der Komplexität der dort erstinstanzlich zu verhandelnden Verfahren ist immens. Sie reicht von dem geständigen Räuber (eine Tat, ein Zeuge, keine im Raum stehende freiheitsentziehende Maßregel) bis zu Verfahren gegen eine Vielzahl von Angeschuldigten mit einer Vielzahl von Tatvorwürfen, hunderten Zeugen, abertausenden abgehörten Telefonaten und so fort. Ein einziges Verfahren der letztgenannten Art kann eine Strafkammer oder einen Strafsenat über Jahre ausschließlich beschäftigen. Andererseits wäre eine mit hinreichender Rechtskenntnis und Routine ausgestattete Strafkammer – insbesondere bei Anwendung der reduzierten Besetzung nach § 76 Abs. 2 Satz 4 GVG – wohl in der Lage, wöchentlich drei oder gar vier jener besonders „einfachen“ Verfahren abzuschließen. Man sieht somit, dass es maßgeblich von der „Qualität“ der eingehenden Verfahren abhängt, ob eine Strafkammer in einem Geschäftsjahr 50 Verfahren oder nur eines abschließen kann. Diese aus einer Vielzahl von – teilweise erst nach Beginn der Hauptverhandlung zutage tretenden – Einzelgesichtspunkten (Anzahl der Angeschuldigten, Anzahl der Taten, Einlassungsverhalten, Auslandsbezug, Art und Anzahl der Beweismittel, Engagement und Streitlust des staatsanwaltschaftlichen Sitzungsvertreters und des Verteidigers12) rinnende Qualität lässt sich jedoch nicht in der Weise abstrahieren, dass ein Präsidium bei der Jahresgeschäftsverteilung Indikatoren formulieren könnte, anhand derer beispielsweise die Wertigkeit von Verfahren innerhalb eines Turnussystems (Einfachzählung oder Mehrfachzählung) hinreichend bestimmt ermittelt werden könnte. Dies wäre allenfalls denkbar bei objektivierbaren Kriterien wie der Anzahl der Angeschuldigten oder der Taten. Für die bei der Jahresgeschäftsverteilung anzustellende Erledigungsprognose ergibt sich somit das Dilemma, dass die erstinstanzlich vor den Land- und den Oberlandesgerichten verhandelten Verfahren zu heterogen sind, um ohne Inkaufnahme des Brachliegens richterlicher Arbeitskraft eine passgenaue Aufgabenzuteilung vorzunehmen. 3.  Kommt ein Präsidium zu dem Ergebnis, dass ein Fall der Überlastung vorliegt, wird es im Regelfall Maßnahmen zur Abhilfe treffen. Zwar kann sich das Präsidium auch auf den Standpunkt stellen, dass mangels personeller Ressourcen keine Möglichkeit zur Abhilfe besteht. Gerade dann, wenn in bereits anhängigen Verfahren oder solchen, deren Eingang erwartet wird, Untersuchungshaft vollzogen wird, wird sich das Präsidium jedoch gehalten sehen, die von der Überlastung betroffene Kammer zu entlasten, um die Situation zu vermeiden, dass spätestens das Oberlandesgericht im Rah-

12   Zu letzterem BGH Beschluss vom 25. März 2015 – 5 StR 70/15 – NStZ 2015, 568 (Rn 13).

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men der nach § 122 StPO durchzuführenden Haftprüfung den Haftbefehl wegen Verletzung des Beschleunigungsgebots aufhebt.13 Insoweit ist jedoch zu beachten, dass – jedenfalls nach der Rechtsprechung des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs – allein die drohende Überschreitung der in § 121 Abs. 1 StPO genannten Sechs-Monats-Frist die Annahme einer Überlastung und in der Folge die Änderung der Geschäftsverteilung nicht rechtfertigen soll.14 Danach liege es fern, bei der Frage, ob eine unangemessene Bearbeitungszeit einzelner Verfahren im Raum stehe, eine „an starren Fristen vorgegebene Betrachtung (…) zugrunde zu legen“. Zwar sei die Frist des § 121 Abs. 1 StPO Ausdruck des Beschleunigungsgrundsatzes. Dieser sei jedoch nicht geeignet, den Zeitpunkt des (spätesten) Beginns der Hauptverhandlung verbindlich vorzugeben, zumal das Oberlandesgericht die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus anordnen könne.15 Entschließt sich das Präsidium zu einer Entlastungsmaßnahme, hat es mehrere Möglichkeiten: Es kann die betroffene Kammer von weiteren zukünftigen Eingängen freistellen, also ihre Zuständigkeit auf bereits anhängig gewordene Verfahren beschränken. Es kann dies für den Rest des Geschäftsjahres (bis auf Weiteres) oder für einen im Voraus bestimmten abgeschlossenen Zeitraum tun. Das Präsidium kann aber auch die Zuständigkeit der betroffenen Kammer insoweit beschränken, als ihr künftig nur noch eine geringere Anzahl von Verfahren zugewiesen wird.16 Diesen Maßnahmen17 ist gemein, dass sie ausschließlich Auswirkungen auf die Zuständigkeit für noch nicht eingegangene Verfahren haben. Es kann jedoch auch vorkommen, dass die Überlastung einer Kammer durch ein bestimmtes Verfahren eintritt und die Gesamtbelastung der Kammer dazu führt, dass bereits dieses Verfahren oder andere anhängige Verfahren nicht hinreichend zügig bearbeitet werden können. Dann kann das Präsidium, ohne gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG 13   Entlastungsmaßnahmen sind in der Praxis fast ausschließlich durch sog. Haftsachen ausgelöst. Die Nichtbearbeitung von Verfahren, in denen keine Untersuchungshaft vollzogen wird, wird hingenommen, da entweder die notwendigen Richterkräfte fehlen oder eine Umverteilung von Kräften aus den Zivilkammern bei den dortigen Kollegen (nachvollziehbar) auf Widerstand stößt. 14   BGH Beschluss vom 10. Juli 2013 – 2 StR 116/13 – NStZ 2014, 226; siehe auch BGH Beschluss vom 7. Januar 2014 – 5 StR 613/13 – NStZ 2014, 287. 15   Im zugrunde liegenden Fall war nach der Prognose des Präsidiums ohne Entlastung der ursprünglich zuständigen Kammer mit dem Beginn der Hauptverhandlung erst achteinhalb Monate nach Inhaftierung des Angeklagten zu rechnen. 16   Bei einer Zuständigkeitsbestimmung nach Buchstaben geschieht dies durch Übertragung eines Teils der Buchstabenzuständigkeit auf andere Kammern, bei einer Zuständigkeitsbestimmung im sog. Turnussystem geschieht dies durch teilweise Nichtberücksichtigung der überlasteten Kammer im Turnustableau. 17  Als weitere Maßnahme käme die Zuweisung zusätzlicher Richterkräfte in den Spruchkörper in Betracht. Dies schafft bei Überlastung jedoch nur bedingt Abhilfe, da eine personelle Aufstockung, die zwei selbständig agierende Spruchgruppen ermöglicht, verfassungsrechtlich unzulässig wäre, vgl. hierzu BVerfG NJW 2004, 3482.

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zu verstoßen, auch zu Maßnahmen greifen, die die Zuständigkeit für bereits anhängige Verfahren ändern.18 Die Rechtsmäßigkeit jeder unterjährigen Änderung der Geschäftsverteilung steht jedoch unter dem Vorbehalt der Eignung, „die Effizienz des Geschäftsablaufs zu erhalten oder wiederherzustellen“19. Dies folge auch aus § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG, da Maßnahmen zur Änderung der Geschäftsverteilung, die nicht der Erhaltung oder Wiederherstellung der Effizienz eines Spruchkörpers dienen, nicht im Sinne dieser Vorschrift nötig seien.20 Soweit der Bundesgerichtshof in jüngster Zeit Präsidiumsentscheidungen in dieser Hinsicht beanstandete, geschah dies, weil sie nach seiner Ansicht nicht hinreichend in die Zukunft hinein wirkten. Die folgenden drei Fälle, die zwei Urteile des Oberlandesgerichts und ein Urteil des Landgerichts Düsseldorf betrafen, sind dabei besonders zu betrachten: a)  Das Präsidium des Oberlandesgerichts Düsseldorf beschloss auf eine Überlastungsanzeige der Vorsitzenden eines erstinstanzlichen Strafsenats, dass ein dort anhängig gewordenes Verfahren von einem anderen Senat übernommen werde. Der Bundesgerichtshof hat das von diesem Senat verkündete Urteil auf die Besetzungsrüge des Angeklagten (§ 338 Nr. 1 StPO) aufgehoben.21 Er hat offengelassen, ob die Übertragung nur eines konkreten Verfahrens zulässig war, da die Entlastungsmaßnahme jedenfalls nicht geeignet gewesen sei, die Effizienz des Geschäftsablaufs zu erhalten oder wiederherzustellen. Maßgebend war hier, dass die nicht in die Zukunft wirkende Entlastungsmaßnahme am 18. Januar 2013 und damit „nur wenige Wochen nach Inkrafttreten des auf dieses Jahr angelegten Geschäftsverteilungsplanes“ gefasst worden sei, der entlastete Spruchkörper sich zuvor auf unbestimmte Zeit hinaus als überlastet angesehen habe und ein „Gesamtkonzept zum Belastungsausgleich“ fehle. Der letztgenannte Topos ist der Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. März 200922 entnommen, das dort zur Begründung der Nichtannahme einer Verfassungsbeschwerde ausführt, ein solches „Gesamtkonzept“ spreche „bei verständiger Würdigung eindeutig gegen eine Manipulation der Zuständigkeitsverteilung zum Nachteil“ des Angeklagten. b)  Bereits acht Monate später kassierte der Bundesgerichtshof ein weiteres Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf mit nahezu identischer Begründung.23 Das Präsidium übertrug durch Beschluss vom 26. März 2013 das Verfahren von dem bereits durch den Beschluss vom 18. Januar 2013 entlas  BGH Beschluss vom 4. August 2009 – 3 StR 174/09 – StV 2010, 294.  a.a.O. 20   BGH Beschluss vom 12. Januar 2016 – 3 StR 490/15 – NStZ-RR 2016, 120. 21   Beschluss vom 12. Mai 2015 – 3 StR 569/14 – NStZ 2016, 124. 22   – 2 BvR 229/09 – NJW 2009, 1734. 23   Beschluss vom 12. Januar 2016 – 3 StR 490/15 – NStZ-RR 2016, 120. 18 19

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teten Senat wiederum auf einen anderen Senat. Der Bundesgerichtshof beanstandete nunmehr, dass das Präsidium die ursprünglich in die Zuständigkeit eines bestimmten Senats fallenden Verfahren „im Wege der ‚scheibchenweisen‘ Einzelzuweisung im laufenden Geschäftsjahr je nach konkreter, momentaner Belastungssituation einem bestimmten Senat zuweise“. Dies sei kein „rechtlich tragfähiges Konzept“ zur Verteilung der anfallenden Geschäfte. Der Bundesgerichtshof äußert zwar Verständnis für das Motiv des Präsidiums, durch diese Handhabung die erstinstanzlichen Strafverfahren bei den beiden hierfür vorgesehenen Senaten zu belassen, billigt die Vorgehensweise im Ergebnis jedoch nicht, weil sie zur Folge habe, „dass auftretenden Überlastungen während des laufenden Geschäftsjahres auf Dauer mit der Zuweisung konkreter, einzelner bereits anhängiger Verfahren begegnet“ werde. Dies sei nicht geeignet, die Effizienz des Geschäftsablaufs zu erhalten oder wiederherzustellen. c)  Schließlich kam es auf die Besetzungsrüge der Verteidigung zur Aufhebung eines Urteils des Landgerichts Düsseldorf.24 Beanstandet wurde, dass das Präsidium keine weitergehenden Entlastungsmaßnahmen als die Übertragung der Zuständigkeit für lediglich ein (umfangreiches) Verfahren vorgenommen habe, obwohl die von der ursprünglich zuständigen Kammer angezeigte Überlastung bereits in der Mitte des Geschäftsjahres entstanden war. Angesichts der verbleibenden Dauer des Geschäftsjahres sei nicht ersichtlich, weshalb die Maßnahme geeignet sein sollte, der Überlastung „insgesamt wirksam und effektiv entgegenzuwirken“. Das Präsidium des Landgerichts Düsseldorf25 hatte die Problematik gesehen und in der – aus Anlass des Besetzungseinwands (§ 222b StPO) nachgeholten – Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die entlastete Kammer sei in der Lage, nach der Entlastungsmaßnahme „weitere eingehende Verfahren, deren Umfang dem bei einer allgemeinen großen Strafkammer Üblichen entspricht und die im Falle der Zulassung der Anklage nach zwei oder drei Hauptverhandlungstagen abgeschlossen werden können, hinreichend zügig zu bearbeiten“. Angesichts dessen hatte sich das Präsidium dazu entschlossen, es bei der Überleitung bereits anhängiger Verfahren zu belassen. Dies ließ der Bundesgerichtshof nicht gelten. Er nahm das Präsidium beim Wort und führte aus, dass bereits der Eingang einer Haftsache, deren Verhandlung mehr als drei Hauptverhandlungstage in Anspruch nehme, die erneute Gefahr einer Überlastung der gerade erst entlasteten Kammer begründet hätte. Da derartige Verfahren – Hauptverhandlungsdauer von mehr als drei Tagen – bei einer Strafkammer nicht ungewöhnlich seien, müsse mit ihrem Eingang stets gerechnet werden, so dass dann eine weitere Entlas-

  Beschluss vom 4. Mai 2016 – 3 StR 358/15 –.   Der Verf. gehört diesem Präsidium an.

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tungsmaßnahme notwendig geworden wäre. Eine hieraus folgende Aneinanderreihung von Einzelfallzuweisungen sei jedoch mit den Anforderungen an die Bestimmung des gesetzlichen Richters nicht in Einklang zu bringen. 4. Die drei vorgestellten Entscheidungen zeigen, dass die Tendenz von Gerichtspräsidien, sich bei der weiteren Belastungsprognose zurückzuhalten und hinsichtlich der zu treffenden Maßnahmen „auf Sicht zu fahren“, Gefahren mit sich bringt. Grund für die Tendenz sind die Auswirkungen, die jede Entlastungsmaßnahme für die anderen Spruchkörper mit sich bringt: Stellt man eine Kammer bis auf Weiteres von Eingängen frei, müssen diese von anderen Kammern bearbeitet werden. Verfügt ein Oberlandesgericht nur über zwei erstinstanzliche Strafsenate oder ein kleineres Landgericht nur über zwei Strafkammern, bedeutet dies für den nicht entlasteten Spruchkörper eine quantitative Steigerung der Zuständigkeit um 100 %, was bereits die nächste Überlastungssituation heraufbeschwört. Es stößt auch auf erhebliche praktische Schwierigkeiten, zum Zwecke der (langfristigen) Entlastung unterjährig einen weiteren Spruchkörper einzurichten. Insbesondere verfügen kleinere Landgerichte nicht in unbegrenzter Zahl über hinreichend erfahrene Richter, denen ad hoc die Leitung einer Strafkammer übertragen werden könnte. 5. Würde man das Junktim zwischen zulässiger Entlastung und dem Erfordernis der Wiederherstellung der Effizienz des Geschäftsablaufs in Frage stellen wollen, wird man Kritik wahrscheinlich nicht am Bundesgerichtshof üben können. Denn dieser hat lediglich die insoweit sehr eindeutigen Vorgaben der Kammerrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt. Erstmals taucht das Effizienzerfordernis – soweit ersichtlich – in einem stattgebenden Kammerbeschluss vom 16. Februar 2005 auf, ohne dass die Kammer jedoch erkennbar macht, auf welche Senatsrechtsprechung sie sich insoweit stützt.26 In einem weiteren Kammerbeschluss vom 18. März 200927 wird das Effizienzerfordernis wiederholt und auf zwei Senatsentscheidungen aus den Jahren 196428 und 196529 sowie eine Plenarentscheidung aus dem Jahr 199730 hingewiesen. Liest man dort nach, sucht man nach dem Effizienzerfordernis indes vergebens. Soweit der Bundesgerichtshof das Effizienzerfordernis einfachrechtlich aus § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG herleitet, da ineffiziente Änderungen der Geschäfts-

26   – 2 BvR 581/03 – NJW 2005, 2689 (2690); der Bundesgerichtshof (oben Fn. 21) weist hingegen darauf hin, diese Entscheidung stütze sich auf „vorangegangene Senatsentscheidungen“. 27   – 2 BvR 229/09 – NJW 2009, 1734. 28   Beschluss vom 24. März 1964 – 2 BvR 42/63 BVerfGE 17, 294. 29   Beschluss vom 3. Februar 1965 – 2 BvR 166/64 – BVerfGE 18, 344. 30   Beschluss vom 8. April 1997 – 1 PBvU 1/95 – BVerfGE 95, 322.

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verteilung nicht im Sinne dieser Vorschrift nötig seien31, muss es erlaubt sein, jedenfalls Zweifel anzumelden. „Nötig“ sind Maßnahmen, die grundsätzlich geeignet sind, als Reaktion auf die in § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG genannten Sachverhalte Abhilfe zu schaffen. Dass dies dauerhaft oder für einen wie auch immer zu bestimmenden längeren Zeitraum der Fall sein müsse, ist jedenfalls dem Wortlaut des § 21e Abs. 3 Satz 1 GVG nicht zu entnehmen. 6.  Im Ergebnis bleibt festzustellen, dass die neuere Rechtsprechung zum Effizienzerfordernis die Handlungsoptionen der Präsidien gerade kleinerer Gerichte stark einengt. Die angemahnte Freistellung des Spruchkörpers von künftigen Eingängen zieht fast zwangsläufig die Überlastung der verbleibenden Spruchkörper nach sich und führt zu gerichtsverfassungsrechtlichen und organisatorischen Folgeproblemen. Die dogmatische Herleitung des Effizienzerfordernisses bleibt kritikwürdig, seine – als Voraussetzung einer Bindungswirkung nach § 31 BVerfGG zu fordernde32 – Verankerung in der Senatsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erscheint fraglich. Zwar bleibt im Hinblick auf den Sachverhalt, der dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 12. Januar 2016 zugrunde lag (oben 3b „scheibchenweise Entlastungsmaßnahmen“), zu konstatieren, dass es sicherlich Grenzfälle gibt, die auf eine bedenkliche Praxis der Einzelzuweisung hinauslaufen. Als Mitglied des Präsidiums eines Landgerichts würde ich mir jedoch wünschen, dass die revisionsrechtliche Intervention auf derartige Grenzfälle beschränkt bleibt und dass den Präsidien eine breitere Einschätzungsprärogative im Hinblick auf die Wirkung ihrer Entlastungsmaßnahmen eingeräumt wird.

  Beschluss vom 12. Mai 2015 – 3 StR 569/14 – NStZ 2016, 124.   Vgl. BGH Urteil vom 23. Juli 2015 – 3 StR 470/14 – NStZ 2016, 221 (224).

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Wenn es sich bei der Tat um Mord handelt

Wenn es sich bei der Tat um Mord handelt – zur Anwendung des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG Burkhard Feilcke I. Einleitung Ottmar Breidling ist vor allem durch seine langjährige Tätigkeit als Vorsitzender des für Staatsschutzverfahren zuständigen 6. Strafsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf bekannt geworden. Weniger bekannt ist, dass der Jubilar sich zu Beginn seiner mehr als dreieinhalb Jahrzehnte umspannenden Laufbahn im höheren Justizdienst auch intensiv mit dem Jugendstrafrecht befasst hat.1 Eine Vorschrift, die gleichermaßen das Jugendstrafrecht und den vom Jubilar in seiner späteren beruflichen Praxis bearbeiteten Bereich schwerster Straftaten betrifft, ist die im Jahr 2012 in das Jugendgerichtsgesetz eingefügte Regelung des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG.2 Diese Vorschrift kann – das haben gerade auch Ereignisse in der jüngsten Vergangenheit gezeigt3 – nicht nur in Verfahren Bedeutung erlangen, die bei den Landgerichten gegen Heranwachsende geführt werden, sondern unter den in § 120 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2

1   Noch als Richter auf Probe war Ottmar Breidling von August 1978 an für zwei Jahre an das Bundesjustizministerium in Bonn abgeordnet und dort dem Referat für Jugendstrafrecht zugeteilt; im Anschluss hieran wurde er am 1. September 1980 zum Richter am Landgericht ernannt. 2   § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG wurde am 8. September 2012 durch Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Nr. 14 des Gesetzes zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten in das JGG eingefügt, BGBl. I S. 1854, 1857. 3   So geben etwa der im Februar 2016 von einer zur Tatzeit 15-jährigen Schülerin verübte lebensbedrohliche Messerangriff auf einen Beamten der Bundespolizei im Hauptbahnhof Hannover (der Generalbundesanwalt, der von einer islamistisch motivierten Tat ausgeht, hat am 12. August 2016 gegen die Schülerin und einen Heranwachsenden, dem vorgeworfen wird, die geplante Tat nicht angezeigt zu haben, Anklage vor dem Staatsschutzsenat des OLG Celle erhoben) und der im Juli 2016 durch einen (vermutlich) Minderjährigen verübte – nach den Erkenntnissen der Ermittlungsbehörden ebenfalls islamistisch motivierte – Anschlag, bei dem der Täter mit einem Beil und einem Messer in einem Regionalzug bei Würzburg und nach seiner Flucht aus dem Zug fünf Personen zum Teil lebensgefährlich verletzte, Anlass zu der Sorge, dass auch zukünftig ähnlich motivierte Taten von Jugendlichen oder Heranwachsenden verübt werden; siehe auch unten Fn. 32.

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Burkhard Feilcke

und Nr. 3 GVG bezeichneten Voraussetzungen auch in Verfahren vor den Staatsschutzsenaten der Oberlandesgerichte. § 105 JGG regelt, wann auf einen Heranwachsenden Jugendstrafrecht anzuwenden ist. Heranwachsender ist gemäß § 1 Abs. 2 JGG, wer zum Zeitpunkt der Tat 18, aber noch nicht 21 Jahre alt ist. Kommt gemäß § 105 Abs. 1 JGG auf den Heranwachsenden Jugendstrafrecht zur Anwendung,4 bestimmt sich nach § 17 Abs. 2 JGG unter denselben Voraussetzungen wie bei einem Jugendlichen, ob die Verhängung von Jugendstrafe zulässig ist.5 In diesem Fall sind auch für den Heranwachsenden – was für Jugendliche stets gilt – die Strafrahmen des allgemeinen Strafrechts unanwendbar (§ 105 Abs. 1 Satz 1 iVm § 18 Abs. 1 Satz 3 JGG).6 Anstelle der Strafrahmen des allgemeinen Strafrechts gilt für den Heranwachsenden ein eigenständiger Strafrahmen, dessen Mindestmaß – wiederum wie bei einem Jugendlichen – sechs Monate beträgt (§ 105 Abs. 1 Satz 1 iVm § 18 Abs. 1 Satz 1 JGG), dessen Obergrenze jedoch von dem für Jugendliche geltenden Höchstmaß (§ 18 Abs. 1 Satz 1 und 2 JGG) abweicht: Das Höchstmaß der Jugendstrafe für einen Heranwachsenden, auf den Jugendstrafrecht angewandt wird, bestimmt sich nach § 105 Abs. 3 JGG. Gemäß § 105 Abs. 3 Satz 1 JGG beträgt es grundsätzlich zehn Jahre. Nur unter den besonderen Voraussetzungen des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG beläuft es sich auf 15 Jahre. Der Wortlaut dieser Vorschrift, der bereits ihren Ausnahmecharakter verdeutlicht,7 lautet: „Handelt es sich bei der Tat um Mord und reicht das Höchstmaß nach Satz 1 wegen der besonderen Schwere der Schuld nicht aus, so ist das Höchstmaß 15 Jahre.“

Im jugendstrafrechtlichen Schrifttum ist diese Vorschrift auf deutliche Ablehnung gestoßen.8 Die einzelnen Voraussetzungen des § 105 Abs. 3 4  Im langjährigen Mittel wird in knapp zwei Dritteln der Fälle (1990: 63,6%; 2000: 60,3%; 2010: 65,9%; 2012: 66,9%) auf Heranwachsende Jugendstrafrecht angewandt; siehe Diemer/Schatz/Sonnen, JGG, § 105 Rn 1 f. Besonders bemerkenswert sind hierbei regionale Unterschiede sowie der Zusammenhang zwischen der Deliktsschwere und der Anwendungshäufigkeit von Jugendstrafrecht (siehe Brunner/Dölling, JGG, § 105 Rn 2; Diemer/ Schatz/Sonnen, aaO Rn 3, 5). 5   Eisenberg, JGG, § 105 Rn 39. 6   Zur Frage, ob bei der Bemessung der Jugendstrafe dem Strafrahmen des allgemeinen Strafrechts eine Limitierungsfunktion zukommt, siehe etwa Eisenberg, JGG, § 18 Rn 11 und § 105 Rn 41; Schaffstein/Beulke/Swoboda, Jugendstrafrecht, Rn 474. 7   Zum Ausnahmecharakter dieser Vorschrift siehe auch Diemer/Schatz/Sonnen, § 105 Rn 31; irreführend ist allerdings der dortige Hinweis auf einen Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 19. März 2013 – 5 StR 81/13, da diese Entscheidung nicht den behaupteten Inhalt hat. 8   Siehe etwa Eisenberg, JGG, § 105 Rn 39: tendenzielle Anpassung an das Erwachsenenstrafrecht, die systematisch nicht vertretbar sei und allenfalls in krassen Ausnahmefällen und verbunden mit ganz besonders hohen Begründungsanforderungen zur Anwendung kommen dürfe; Mitsch, FS Beulke, S. 1181, 1186: klare Abkehr vom Jugendstrafrecht; auch nach Ostendorf, JGG, § 105 Rn 32a, dürfe von § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG nur äußerst restrik-

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Satz 2 JGG sind allerdings kaum einmal näher untersucht worden. Was etwa die von dieser Vorschrift vorausgesetzte Mordtat angeht, so wird im Schrifttum9 zwar insoweit die Auffassung vertreten, dass hiervon „eindeutig“ nur ein vollendeter Mord, nicht hingegen ein versuchter Mord erfasst sei,10 darüber hinaus findet sich jedoch kaum eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der Mordtat in § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG und dessen Reichweite.11 Vor diesem Hintergrund soll nachfolgend untersucht werden, in welchen Fällen das Vorliegen dieses Merkmals zu bejahen ist.12

II.  Die Mordtat 1.  Vollendeter Mord Gleichsam den „Grundfall“ einer Tat, bei der es sich im Sinne des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG um Mord handelt, stellt die durch einen Heranwachsenden täterschaftlich und durch aktives Tun begangene vorsätzliche (vollendete) Tötung eines Menschen dar, bei der zumindest ein Mordmerkmal des § 211 Abs. 2 StGB erfüllt ist. Dass bei einer solchen Tat des (selbst) „mordenden Heranwachsenden“13 die Vorschrift des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG – vorbehaltlich ihrer weiteren Voraussetzungen – Anwendung findet, steht außer Frage. Denn der Begriff der Mordtat in § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG knüpft an die gesetzliche Umschreibung eines Mordes in § 211 StGB an.14 Weder begrifflich noch nach der Gesetzesbegründung ist etwas dafür ersichtlich, dass mit Einfügung des § 105 Abs. 3 Satz 2 in das Jugendgerichtsgesetz ein vom allgemeinen Strafrecht abweichender eigenständiger jugendstrafrechtlicher Mordbegriff geschaffen werden sollte.

tiv Gebrauch gemacht werden, etwa bei einem Massenmord aus ideologischen Gründen; Swoboda, ZStW 125 (2013), 86, 89 f., rügt die Vorschrift als bloß symbolische Gesetzgebung, für die es nicht einmal einen Anwendungsbereich geben werde, da zwischen 2007 und 2010 von Heranwachsenden nur 44 Morde verübt worden seien; die Vorschrift stelle einen Rückschritt in der Entwicklung des Jugendstrafrechts dar (aaO S. 110). 9   Die Rechtsprechung war, soweit ersichtlich, bislang noch nicht mit einer Auslegung des Begriffs der Mordtat in § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG befasst. 10   Ostendorf, JGG, § 105 Rn 32a; BeckOK JGG/Schlehofer § 105 Rn 23a; siehe unten II 2. 11   Mitsch, GA 2013, 137, befasst sich mit Problemen der Teilnahme und der versuchten Beteiligung am Mord iSv § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG. 12   Zum Begriff der besonderen Schwere der Schuld iSv § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG, der ebenfalls bislang im Schrifttum kaum Beachtung gefunden hat, siehe unten III. 13  Vgl. Swoboda ZStW 125 (2013), 86, 90. 14  Siehe etwa Eisenberg, JGG, § 105 Rn 39; Mitsch, GA 2013, 137; Ostendorf, JGG, § 105 Rn 3: „§ 105 betrifft nur die Straftatfolgen.“

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2.  Versuchter Mord Näherer Untersuchung bedarf die Frage, ob § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG auch den Mordversuch erfasst oder auf die vollendete Mordtat beschränkt ist. Während sich die Rechtsprechung, soweit ersichtlich, mit dieser Frage bislang noch nicht zu befassen hatte, wird im Schrifttum von Ostendorf15 und Schlehofer16 die Ansicht vertreten, dass § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG nur bei einer vollendeten Mordtat anwendbar sei; andere Autoren haben sich zu dieser Fragestellung bislang noch nicht geäußert. Für die Ansicht, dass § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG eine Verurteilung wegen vollendeten Mordes voraussetze, führt Ostendorf zur Begründung an, dass ein Mordversuch nach dem Wortlaut und der Zielsetzung der Bestimmung nicht genüge.17 Schlehofer macht geltend, der Gesetzeswortlaut des § 105 Abs. 3 Satz 2  JGG schließe den Mordversuch „eindeutig“ aus. Sowohl allgemeinsprachlich als auch nach der gesetzlichen Terminologie werde nur die vollendete Mordtat als „Mord“ bezeichnet; Art. 103 Abs. 2 GG verbiete es daher, „Mord“ auch als versuchten Mord zu lesen. Zudem werde auch in der Gesetzesbegründung der versuchte Mord nicht einbezogen.18 a)  Der Begriff „Mordtat“ Soweit zur Begründung der Ansicht, dass § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG auf den Fall eines vollendeten Mordes beschränkt sei, sowohl von Ostendorf als auch von Schlehofer zunächst der Wortlaut dieser Vorschrift angeführt wird, vermag dieses Argument jedenfalls bei näherer Betrachtung nicht zu überzeugen. Denn es entspricht der üblichen gesetzlichen Regelungstechnik, dass die Bezugnahme auf eine bestimmte Strafvorschrift nicht nur deren Grundfall – die vollendete täterschaftlich begangene Tat – umfasst, sondern auch den (strafbaren) Versuch sowie die weiteren Erscheinungsformen der jeweiligen Straftat. Dies zeigt sich beispielsweise im Fall der Zuständigkeitskataloge des Gerichtsverfassungsgesetzes.19 Soweit etwa die hier in Rede stehende Straftat – Mord gemäß § 211 StGB – im Katalog der Schwurgerichtszuständigkeiten gemäß § 74 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 GVG enthalten ist, steht außer Zweifel, dass diese Zuständigkeit sich nicht nur auf vollendete, sondern auch auf versuchte oder verabredete Mordtaten bezieht.

  BeckOK JGG/Schlehofer § 105 Rn 23a.   Ostendorf, JGG, § 105 Rn 32a. 17   Ostendorf, JGG, § 105 Rn 32a. 18   BeckOK JGG/Schlehofer § 105 Rn 23a. 19   Siehe §§ 74 ff. und § 120 GVG. 15

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Gleiches gilt für diejenigen Straftaten, welche gemäß § 120 Abs. 1 GVG allein20 oder gemäß § 120 Abs. 2 GVG bei Vorliegen weiterer Umstände die erstinstanzliche Zuständigkeit der Staatsschutzsenate der Oberlandesgerichte begründen. Auch für diese Straftaten steht außer Frage, dass jeweils sowohl das vollendete als auch das versuchte Delikt erfasst ist. Dementsprechend begründet, soweit es etwa die Strafvorschrift „Mord“ betrifft, unter den in § 120 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Nr. 3 GVG genannten Umständen (namentlich die Bejahung der besonderen Bedeutung des Falls und die Übernahme der Verfolgung durch den Generalbundesanwalt)21 nicht nur ein vollendeter, sondern auch ein versuchter Mord die Zuständigkeit des OLG-Staatsschutzsenats. Dass nach der üblichen Gesetzestechnik die Bezugnahme auf eine Strafvorschrift des Besonderen Teils des StGB nicht nur deren Vollendung, sondern auch den Versuch umfasst, wird aber auch innerhalb des Strafgesetzbuchs deutlich. So nehmen etwa die Vorschriften des Strafanwendungsrechts (§§ 3 bis 7 StGB)22 Bezug auf eine Reihe von Straftaten, die zur Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts führen. Auch hier verwendet das Gesetz in § 5 und § 6 StGB lediglich die amtlichen Bezeichnungen der (vollendeten) Straftaten, gleichwohl steht außer Frage, dass auch schon der (strafbare) Versuch der jeweiligen Straftat zur Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts führt.23 Ein weiteres Beispiel stellen die Regelungen über die Anordnung der Sicherungsverwahrung dar. In § 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB nennt das Gesetz diejenigen Straftaten, die zur Anordnung dieser Maßregel führen können. Zwar werden auch hier versuchte Straftaten nicht ausdrücklich erwähnt, jedoch sind auch sie erfasst, etwa gemäß § 66 Abs. 1 Nr. 1 a StGB eine versuchte Straftat gegen das Leben.24 Als letztes Beispiel mögen die Vorschriften des Strafgesetzbuchs über die Verfolgungsverjährung, namentlich § 78 StGB, dienen. Auch hier steht außer Frage, dass die Verjährungsregelungen nicht allein für die jeweilige vollendete Straftat, sondern auch für deren Versuch gelten.25 Anhand der vorgenannten Beispiele wird deutlich, dass das Gesetz bei einer Bezugnahme auf eine Vorschrift des Besonderen Teils des StGB grund  Sog. „unbedingte Zuständigkeit“; siehe KK-StPO/Hannich, § 120 GVG Rn 3.   Wegen der Einzelheiten siehe KK-StPO/Hannich, § 120 GVG Rn 3. 22   Kritisch zum für diese Vorschriften noch häufig verwendeten Begriff des „internationalen Strafrechts“ etwa MünchKommStGB/Ambos, vor §§ 3–7 Rn 1 f.; Fischer, StGB, vor §§ 3–7 Rn 1. 23   Siehe etwa MünchKommStGB/Ambos, § 5 Rn 6; Schönke/Schröder/Eser, StGB, § 5 Rn 24; Fischer, StGB, § 5 Rn 1a. 24   BGH, Urteil vom 14. Juli 1999 – 3 StR 209/99, NJW 1999, 3723; Fischer, StGB, § 66 Rn 25; LK-StGB Rissing-van Saan/Peglau, § 66 Rn 72; BeckOK StGB/Ziegler, § 66 Rn 6. 25   Siehe etwa BeckOK StGB/Dallmeyer, § 78 Rn 3 (beim Mord) und Rn 5 (allgemein); Fischer, StGB, § 78 Rn 4 (beim Mord) und Rn 5a (allgemein); MünchKommStGB/Mitsch, § 78 Rn 15 (beim Mord) und Rn 21 (allgemein). 20 21

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sätzlich auch den (strafbaren) Versuch der Straftat mitumfasst, ohne dass dies jeweils einer ausdrücklichen Klarstellung bedürfte.26 Dass der Wortlaut der Vorschrift des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG von einer „Mordtat“ spricht, kann nach alledem nicht dahin verstanden werden, dass hiervon ein versuchter Mord nicht erfasst wäre; vielmehr ist unter Zugrundelegung der allgemeinen Vorschriften (§ 2 Abs. 2 JGG) und damit der üblichen gesetzlichen Regelungstechnik auch schon begrifflich von § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG auch der Mordversuch erfasst. b)  Zum Argument Gesetzesbegründung Zur Begründung seiner Ansicht, ein „Mord“ im Sinne des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG setze zwingend eine vollendete Tat voraus, führt Schlehofer neben dem Wortlaut der Vorschrift an, dass in der Gesetzesbegründung der Mordversuch nicht erwähnt worden sei.27 Dieses Argument vermag jedoch ebenfalls nicht zu überzeugen. Denn der Gesetzgeber hat insgesamt davon abgesehen, den Begriff der Mordtat in § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG näher zu spezifizieren. Als Erklärung dafür, dass ihm dies verzichtbar erschien, drängt sich auf, dass er bei Einfügung des § 105 Abs. 3 Satz 2 in das JGG keine eigenständige jugendstrafrechtliche Definition der Mordtat schaffen oder sonst eine Einschränkung gegenüber den unterschiedlichen Erscheinungsformen einer Straftat nach § 211 StGB – insbesondere Versuch und Vollendung – vornehmen wollte, sondern auch in diesem Bereich entsprechend § 2 Abs. 2 JGG das nach allgemeinem Strafrecht geltende Verständnis des Begriffs „Mordtat“ maßgeblich bleiben soll. Doch selbst wenn man – trotz des Verzichts des Gesetzgebers auf eine nähere Spezifizierung des Begriffs „Mordtat“ in § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG – die Gesetzesbegründung bemühen möchte, so spricht auch diese dafür, dass der Gesetzgeber den versuchten Mord einbeziehen wollte. Denn die Gesetzesbegründung verwendet für die Taten, für die § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG gelten soll, den Begriff der „Mordverbrechen“.28 Dieser weite Begriff des „Mordverbrechens“ aber lässt sich schwerlich dahin verstehen, dass hiervon 26   Der üblichen gesetzlichen Regelungstechnik steht nicht entgegen, dass der Gesetzgeber in einzelnen Vorschriften ausdrücklich bestimmt hat, dass auch die Teilnahme, der Versuch und zum Teil auch Vorbereitungshandlungen erfasst sind (siehe §§ 100a Abs. 1 Nr. 1, 100c Abs. 1 Nr. 1 StPO); vielmehr bedarf es dieser zusätzlichen Klarstellung, weil hier Eingriffsbefugnisse normiert sind, die nicht das Vorliegen, sondern lediglich den Verdacht einer Straftat voraussetzen. 27   BeckOK JGG/Schlehofer § 105 Rn 23a. 28   Siehe BT-Drucks. 17/9389, S. 8: „schwere Mordverbrechen“ sowie aaO S. 9 und 20: „schwerste Mordverbrechen“. Ob eine Mordtat im Sinne der Gesetzesbegründung als „schweres“ bzw. als „schwerstes“ Mordverbrechen anzusehen ist, dürfte mit der Bejahung des Merkmals „besondere Schwere der Schuld“ gemäß § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG einhergehen.

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nur das Verbrechen eines vollendeten Mordes – und nicht zugleich auch das Verbrechen eines versuchten Mordes – umfasst sein sollte. Insgesamt lässt sich daher auch mit der Gesetzesbegründung nicht überzeugend argumentieren, dass ein versuchter Mord nicht vom Begriff der „Mordtat“ in § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG erfasst sei. c)  Zum Argument Zielsetzung der Bestimmung Soweit Ostendorf schließlich zur Begründung der Ansicht, ein versuchter Mord sei nicht von § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG erfasst, geltend macht, die Zielsetzung der Vorschrift stehe dem entgegen,29 vermag auch dieses Argument nicht zu überzeugen. Der Zweck der Vorschrift besteht darin, für besonders schwere Mordverbrechen eines Heranwachsenden einen höheren Strafrahmen als den gemäß § 105 Abs. 3 Satz 1 JGG sonst geltenden zur Verfügung zu stellen, um einer besonders schweren Schuld angemessener Rechnung zu tragen.30 Als Beispiel für Taten, für welche diese Ausnahmevorschrift vorgesehen ist, nennt die Gesetzesbegründung „besonders grausame“ Taten.31 Schwere Mordverbrechen können aber nicht nur vollendete Taten sein, sondern auch versuchte. In dem in der Gesetzesbegründung hervorgehobenen Fall einer besonders grausamen Tat etwa macht es keinen Unterschied, ob die Mordtat vollendet wird oder sie entgegen dem Tatentschluss des Täters „bloß“ versucht bleibt. Insbesondere aus der Vorschrift des § 23 Abs. 2 StGB ergibt sich, dass der Versuch einer Straftat keineswegs stets als weniger strafwürdig als die vollendete Straftat anzusehen ist.32 Namentlich bei einer besonderen Gefährlichkeit des Versuchs, einer besonders großen kriminellen Energie oder bei großer Vollendungsnähe erschiene eine zwingende Privilegierung des Versuchs gegenüber der Vollendung auch nicht gerechtfertigt. Weil auch versuchte Mordtaten (besonders) schwere Mordverbrechen sein können, widerspräche es Sinn und Zweck des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG, wenn

  Ostendorf, JGG, § 105 Rn 32a.   BT-Drucks.17/9389, S. 20. 31   BT-Drucks. 17/9389, S. 8. 32   Siehe etwa den Fall des zum Tatzeitpunkt 21-jährigen „Kofferbombers von Köln“, der im Juli 2006 gemeinsam mit einem zur Tatzeit 20-jährigen (wegen dieser Tat im Libanon verurteilten) Mittäter in Köln in zwei Regionalzügen Bomben deponiert hatte, die lediglich aufgrund eines von den Tätern nicht erkannten Konstruktionsmangels nicht zur Explosion kamen. Der 6. Strafsenat des OLG Düsseldorf unter Vorsitz von Ottmar Breidling hat mit Urteil vom 9. Dezember 2008 (Az. III–VI 5/07) den zum Tatzeitpunkt 21-jährigen Täter wegen versuchten Mordes und versuchten Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten hat der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 24. November 2009 – 3 StR 327/09 verworfen. 29 30

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diese Vorschrift im Fall eines versuchten Mordverbrechens von vornherein unanwendbar wäre. d)  Einbeziehung des versuchten Mordes Weder mit dem Wortlaut noch mit der Gesetzesbegründung oder dem Sinn und Zweck der Vorschrift lässt sich überzeugend begründen, dass § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG nur im Fall eines vollendeten Mordes zur Anwendung gelangen kann. Vielmehr bleibt es gemäß § 2 Abs. 2 JGG bei der Geltung der allgemeinen Vorschriften. Dies bedeutet, dass entsprechend der üblichen Gesetzestechnik die Benennung der Straftat des Besonderen Teils des StGB nicht nur die vollendete Straftat, sondern auch deren (strafbaren) Versuch umfasst. Auch ein versuchter Mord gemäß §§ 211, 22, 23 Abs. 1 StGB ist demnach eine Mordtat im Sinne des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG. 3.  Andere Erscheinungsformen der Straftat Mord Wie im vorigen Abschnitt am Beispiel des Versuchs erörtert, bestimmt sich der Begriff der Mordtat in § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG nach den allgemeinen Regeln. Die Geltung der allgemeinen Regeln über die Straftat wirkt sich freilich nicht nur im Hinblick auf die beiden Erscheinungsformen Mordversuch und vollendeter Mord aus. Vielmehr bedeutet sie zugleich, dass auch die weiteren Erscheinungsformen der Straftat Mord erfasst sind und – vorbehaltlich der übrigen Voraussetzungen der Vorschrift – zur Anwendung des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG führen können; sie ist also keineswegs auf die Fälle des „mordenden Heranwachsenden“33 beschränkt. Dies gilt namentlich in den Fällen, in denen die Mordtat nicht durch ein aktives Tun, sondern durch ein garantenpflichtwidriges Unterlassen begangen wird (§§ 211, 13 StGB) oder der Heranwachsende sich an der Mordtat eines anderen beteiligt, indem er eine andere Person zu einem Mord anstiftet (§§ 211, 26 StGB) oder sich als Gehilfe an einer solchen Tat beteiligt (§§ 211, 27 StGB). Auch im Fall dieser weiteren Erscheinungsformen eines Mordes handelt es sich „bei der Tat um Mord“ im Sinne des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG. 4.  Andere Straftaten des StGB mit lebenslanger Freiheitsstrafe Die Vorschrift des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG knüpft – wie dargelegt – ausschließlich an die Vorschrift des § 211 StGB an.34 Sie ist daher bei sämtlichen anderen Straftaten des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs unanwendbar.35  Vgl. Swoboda ZStW 125 (2013), 86, 90.   Siehe oben II 1. 35   BeckOK JGG/Schlehofer § 105 Rn 23a. 33 34

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Dies gilt auch dann, wenn die Straftat im Fall eines Erwachsenen mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu ahnden wäre – etwa bei besonders schweren Fällen eines Totschlags gemäß § 212 Abs. 2 StGB, einer Brandstiftung mit Todesfolge, einer Vergewaltigung mit Todesfolge und anderen erfolgsqualifizierten Straftaten – und die Schuld des Täters als besonders schwer anzusehen wäre.36 Eine Anwendung des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG auf diese Vorschriften ließe sich schon mit dem – eindeutig auf Mordtaten beschränkten – Wortlaut der Vorschrift nicht vereinbaren. Im Schrifttum ist diese Beschränkung des Anwendungsbereichs des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG auf Mordtaten als „eigenartig“ und unverständlich kritisiert worden.37 Dem Gesetzgeber wäre es freilich ohne Weiteres möglich gewesen, § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG allgemein bei Verbrechen für anwendbar zu erklären, die nach allgemeinem Strafrecht mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft werden können. Durch die Beschränkung auf Mordtaten hat er jedoch deutlich zum Ausdruck gebracht, dass auch bei schwersten anderen Verbrechen eines Heranwachsenden, auf den Jugendstrafrecht angewendet wird, weiterhin die Höchstgrenze des § 105 Abs. 3 Satz 1 JGG von zehn Jahren Jugendstrafe gelten soll. 5. Völkermord Schwieriger zu beurteilen ist, ob § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG auch im Fall eines (vollendeten) Völkermordes nach § 6 VStGB – sofern nicht ohnehin zugleich die Voraussetzungen des § 211 StGB gegeben sind – anwendbar ist. Im Gegensatz zu anderen schwersten Straftaten ergibt sich dies im Fall des Völkermordes allein aus dem Wortlaut noch nicht hinreichend deutlich. Vielmehr lässt sich insofern ebenso gut die Ansicht vertreten, dass schon begrifflich ein „Völkermord“ etwas anderes als ein „Mord“ sei, wie auch die gegenteilige Auffassung, dass es sich auch bei einem Völkermord um eine Mordtat handele. Gegen eine Anwendbarkeit des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG im Fall eines Völkermordes nach § 6 VStGB spricht jedoch, dass es sich beim Mord einerseits und dem Völkermord andererseits um eigenständige Straftatbestände 36   Siehe aber Merk, ZRP 2012, 157, die es de lege ferenda für erwägenswert hält, das Höchstmaß der Jugendstrafe etwa für sämtliche Delikte auf 15 Jahre heraufzusetzen, bei denen das allgemeine Strafrecht als Höchststrafe lebenslange Freiheitsstrafe androht; dagegen Pfeiffer, ZRP 2012, 157. 37  Siehe Mitsch, GA 2013, 137, 143: „die eigenartig auf § 211 StGB fixierte und beschränkte Fassung des § 105 III 2 JGG. Für diese Beschränkung des § 105 III 2 JGG auf Mord gibt es keine sachliche Rechtfertigung. (…) Niemals wird sich ein Grund finden, der zwingend eine Exklusivregelung für § 211 StGB trägt und die Aufnahme z.B. des besonders schweren Totschlags (§ 212 II StGB) sowie vieler Tatbestände aus dem Katalog des § 74 II GVG ausschließt.“

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mit unterschiedlichen Voraussetzungen, deren Anwendungsbereich auch nur teilweise übereinstimmt, handelt. Insbesondere umfasst der Straftatbestand des Völkermordes auch Begehungsweisen, deren Unrecht sich von demjenigen eines Mordes nach § 211 StGB erheblich unterscheidet. Unterfiele der Völkermord dem Begriff des Mordes in § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG, so wären hiervon auch die Begehungsweisen eines Völkermordes nach § 6 Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 4 VStGB umfasst, die in objektiver Hinsicht nicht an die Tötung bzw. Ermordung eines Menschen anknüpfen. Die Einbeziehung auch solcher Straftaten in den Anwendungsbereich des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG ließe sich mit Sinn und Zweck dieser Vorschrift, ausschließlich bei schweren „Mordverbrechen“ den für Heranwachsende geltenden Strafrahmen heraufzusetzen,38 nicht ohne Weiteres in Einklang bringen. Weiter spricht gegen eine Einbeziehung des Völkermordes in den Begriff „Mord“ im Sinne des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG in gesetzessystematischer Hinsicht, dass auch andere schwerste Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch nicht zur Anwendung dieser Vorschrift führen können. Dies gilt namentlich für Straftaten nach § 7 und § 8 VStGB, die ebenso wie Straftaten nach § 6 VStGB (Völkermord) grundsätzlich mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu ahnden sind, aber schon begrifflich eindeutig nicht als „Mord“ zu fassen sind. Insofern wäre es kaum begründbar, wenn § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG zwar im Fall der völkerrechtlichen Straftat nach § 6 VStGB, nicht jedoch im Fall der ähnlich schweren völkerrechtlichen Straftaten nach § 7 und § 8 VStGB Anwendung fände. Insgesamt reicht daher selbst ein Völkermord nach § 6 VStGB, an dem der Heranwachsende mitgewirkt hat, für die Anwendbarkeit des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG nicht aus.39 Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Tat zugleich die Voraussetzungen des § 211 StGB erfüllt; dies wird zwar vielfach,40 aber gerade mit Blick auf die Begehungsweisen gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 3 und Nr. 4 VStGB keineswegs stets der Fall sein.

III.  Einschränkende Wirkung des Merkmals der besonderen Schwere der Schuld Die umfassende Geltung des Begriffs der Mordtat in § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG sowohl für einen vollendeten täterschaftlich begangenen Mord als auch für die weiteren Erscheinungsformen der Straftat Mord darf allerdings nicht   Siehe BT-Drs. 17/9389, S. 8 f., 20.  Ebenso Mitsch, GA 2013, 137, 143 (Fn. 30). 40  Vgl. Mitsch ebd., der zu Recht darauf hinweist, dass in nahezu jedem Fall der mit einer vollendeten vorsätzlichen Tötung verbundenen Variante des Völkermordes nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 VStGB zugleich die Voraussetzungen eines Mordes aus niedrigen Beweggründen gemäß § 211 StGB erfüllt sein dürften. 38 39

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dahin missverstanden werden, dass in diesen Fällen stets der erweiterte Strafrahmen des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG auch tatsächlich anzuwenden wäre. Vielmehr setzt diese Vorschrift weiter voraus, dass die Schuld des Heranwachsenden besonders schwer wiegt und dass deswegen der gemäß § 105 Abs. 3 Satz 1 JGG sonst geltende Strafrahmen von zehn Jahren Jugendstrafe nicht ausreicht. 1.  Kriterien für die Beurteilung der besonderen Schwere der Schuld Die Frage, nach welchen Kriterien die besondere Schwere der Schuld in § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG zu beurteilen ist, hat im Schrifttum bislang41 kaum Beachtung gefunden,42 was nach Mitsch auf eine generelle Ablehnung dieser Vorschrift durch die Strafrechtswissenschaft zurückzuführen sein dürfte.43 Der Bundesgerichtshof hatte sich allerdings unlängst mit dem Merkmal der besonderen Schwere der Schuld in § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG zu befassen. Mit Urteil vom 22. Juni 2016 hat er entschieden, dass auf dieses Merkmal die von der Rechtsprechung zur besonderen Schwere der Schuld gemäß § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB entwickelten Maßstäbe Anwendung finden.44 Zur Begründung hat der Bundesgerichtshof auf den insoweit identischen Wortlaut des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG einerseits und des § 57a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB andererseits sowie auf den sich aus der Begründung des Gesetzentwurfs ersichtlichen Willen des Gesetzgebers verwiesen. Der Bundesgerichtshof geht davon aus, dass der Gesetzgeber im – sehr eng begrenzten – Anwendungsbereich des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG dem Gebot gerechten Schuldausgleichs gegenüber dem Erziehungsgedanken des Jugendstrafrechts den Vorrang eingeräumt hat.45 2.  Einschränkende Wirkung Schon beim „Grundfall“ eines durch den Heranwachsenden täterschaftlich und durch aktives Tun begangenen vollendeten Mordes schränkt die erforderliche besondere Schwere der Schuld die Anwendung des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG erheblich ein. So muss nicht nur bei dem Heranwachsenden eine besondere Schwere der Schuld gegeben sein, sondern überdies ist erfor  Stand: August 2016.  Eine Ausnahme gilt für BeckOK JGG/Schlehofer, § 105 Rn 23 l ff. (insbesondere Rn 23n.1). 43  Siehe Mitsch, FS-Beulke, 1181, 1193, zum Merkmal der besonderen Schwere der Schuld in § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG: „Der Gesetzgeber hat dafür keinerlei Orientierung gegeben. Von der Wissenschaft ist überhaupt nichts zu erwarten, da es nach ihr den § 105 III 2 JGG gar nicht geben dürfte.“ 44   BGH, Urteil vom 22. Juni 2016 – 5 StR 524/15. 45   BGH ebd. 41 42

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derlich, dass sich ihretwegen der ansonsten geltende Strafrahmen von zehn Jahren als nicht mehr ausreichend erweist. Der erweiterte Strafrahmen soll nach dem Willen des Gesetzgebers eben nur in Ausnahmefällen, in denen die Schwere der Schuld des Heranwachsenden gegenüber der ohnehin mit jedem Mord einhergehenden Schuld nochmals deutlich schwerer wiegt, zur Anwendung kommen.46 Die Annahme einer besonderen Schwere der Schuld gemäß § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG bedarf daher schon im Grundfall eines durch den Heranwachsenden täterschaftlich und durch aktives Tun begangenen vollendeten Mordes stets einer sehr sorgfältigen Prüfung und Begründung. Dies gilt bei den weiteren Erscheinungsformen der Straftat Mord in nicht geringerem Maße. Vielmehr kommt sowohl bei einem „bloß“ versuchten Mord als auch bei den weiteren Erscheinungsformen einer Mordtat der Prüfung einer möglichen besonderen Schwere der Schuld des Heranwachsenden im Sinne des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG besonderes Gewicht zu. Auch wenn gemäß § 18 Abs. 1 Satz 3 JGG bei der Bemessung der Jugendstrafe die Strafrahmen des allgemeinen Strafrechts nicht gelten, sind bei der Abwägung, ob eine besondere Schwere der Schuld des Heranwachsenden vorliegt, die gesetzlichen Wertungen des allgemeinen Strafrechts zu beachten. Dies gilt namentlich für diejenigen gesetzlichen Wertungen, die in fakultativen oder zwingenden vertypten Milderungsgründen zum Ausdruck kommen. Deren Berücksichtigung bei der Abwägung, ob die Schuld besonders schwer wiegt, bedarf es schon deshalb, um insofern eine etwaige Schlechterstellung des Heranwachsenden im Vergleich zu einem Erwachsenen zu vermeiden.47 So ist auch im Rahmen des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG bei einem Mordversuch die fakultative Strafmilderung nach § 23 Abs. 2 StGB zu beachten. Entsprechendes gilt gemäß § 13 Abs. 2 StGB, wenn die Mordtat nicht durch ein aktives Tun, sondern durch ein garantenpflichtwidriges Unterlassen des Heranwachsenden begangen wird. Beteiligt sich der Heranwachsende als Gehilfe an der Mordtat eines anderen, ist die gesetzliche Wertung, die in der (nach allgemeinem Strafrecht) zwingenden Strafmilderung gemäß § 27 Abs. 2 Satz 2 StGB zum Ausdruck kommt, mit besonderem Gewicht in die Abwägung einzustellen, ob die Schuld des Heranwachsenden im Sinne des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG besonders schwer wiegt. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass auch bei Anwendung von Erwachsenenstrafrecht das Höchstmaß der Strafe wegen Beihilfe zum Mord gemäß §§ 211 Abs. 1, 27 Abs. 2 Satz 2, 49 Abs. 1 Nr. 1, 38 Abs. 2 StGB 15 Jahre beträgt.

  Siehe BT-Drucks. 17/9389, S. 20.  Vgl. Eisenberg, JGG, § 18 Rn 3 f. mwN.

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IV. Zusammenfassung § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG enthält keinen eigenständigen jugendstrafrechtlichen Begriff des Mordes. Vielmehr entspricht der Mordbegriff dieser Vorschrift demjenigen des allgemeinen Strafrechts (§ 211 StGB). § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG kann nicht nur bei einem „mordenden Heranwachsenden“ zur Anwendung kommen, sondern auch bei einem Mordversuch und bei den weiteren Erscheinungsformen der Straftat Mord, namentlich bei einem Mord durch garantenpflichtwidriges Unterlassen und bei einer Teilnahme des Heranwachsenden an der Mordtat eines anderen; auch in diesen Fällen handelt es sich gemäß § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG „bei der Tat um Mord“. Die ausschließliche Anknüpfung an den Straftatbestand des Mordes gemäß § 211 StGB hat zur Folge, dass § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG weder bei anderen Vorschriften des Besonderen Teils des StGB – auch wenn diese wie § 212 Abs. 2 StGB oder § 251 StGB fakultativ eine lebenslange Freiheitsstrafe vorsehen – noch bei Strafvorschriften des Nebenstrafrechts anwendbar ist, selbst wenn dort wie im Fall bestimmter Begehungsweisen von Straftaten nach §§ 6 bis 8 VStGB zwingend eine lebenslange Freiheitsstrafe vorgesehen ist. Insbesondere reicht auch eine Strafbarkeit eines Heranwachsenden wegen Völkermordes gemäß § 6 VStGB für sich gesehen nicht für die Anwendbarkeit des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG aus; diese Vorschrift ist erst dann anwendbar, wenn die Tat zugleich die Voraussetzungen des § 211 StGB erfüllt. Bei einem versuchten Mord und bei den weiteren Erscheinungsformen einer Mordtat ist zwar der Anwendungsbereich des § 105 Abs. 3 Satz 2 JGG eröffnet. Ob diese Vorschrift tatsächlich anzuwenden ist und eine Jugendstrafe über zehn bis einschließlich 15 Jahre zu verhängen ist, hängt jedoch – ebenso wie bei einem durch den Heranwachsenden täterschaftlich begangenen vollendeten Mord – davon ab, ob die Schuld des Heranwachsenden besonders schwer wiegt. Im Rahmen der Prüfung der besonderen Schwere der Schuld des Heranwachsenden ist den für die jeweilige Erscheinungsform der Straftat geltenden Wertungen des allgemeinen Strafrechts – obligatorische Strafmilderungen wie diejenige nach § 27 Abs. 2 Satz 2 StGB sowie fakultative Strafmilderungen etwa gemäß § 13 Abs. 2 StGB und § 23 Abs. 2 StGB – besonderes Gewicht beizumessen.

Scheinurteil oder Nichturteil? Die Beseitigung von auf unrichtiger Tatsachengrundlage ergangenen Entscheidungen Ulrich Franke I. Einleitung Neben den Rechtsmitteln des Dritten Buches der StPO1 kennt das Strafverfahrensrecht zahlreiche weitere Anfechtungsmittel gegen polizeiliche, staatsanwaltschaftliche und gerichtliche Maßnahmen und Entscheidungen.2 Dazu zählen neben den „klassischen“ Rechtsbehelfen wie etwa dem Einspruch gegen Strafbefehle (§ 410 StPO) sowie dem Antrag auf Entscheidung des Berufungs- bzw. des Revisionsgerichts3 auch die sog. außerordentlichen Rechtsbehelfe, die sich gegen rechtskräftige Urteile oder sonstige bestandskräftige Entscheidungen richten.4 Dabei haben die letztgenannten Rechtsbehelfe im Spannungsfeld zwischen dem Gebot der Rechtssicherheit einerseits und den Anforderungen der Einzelfallgerechtigkeit andererseits vor allem Bedeutung in den Fällen evidenter Verstöße gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Aber auch jenseits dieser Fallgestaltungen kommt es im Geschäftsablauf der Gerichte immer wieder zu Verstößen gegen Formvorschriften oder Entscheidungen auf unzutreffender Tatsachengrundlage. Dabei ist nicht selten über die Frage zu entscheiden, ob ein derartiger Fehler bzw. Verstoß gleichwohl eine wirksame Entscheidung entstehen lässt, zu deren Unwirksamkeit oder Aufhebbarkeit führt oder mit Blick auf die Frage der Wirksamkeit unbeachtlich ist. Die fachgerichtliche Rechtsprechung zu den unterschiedlichen Möglichkeiten der Selbstkorrektur, die für den Bereich der Gehörsverstöße im eigentlichen Sinne schon im Jahr 2003 zu der verfassungsgerichtlichen Rüge geführt hat, sie sei mit dem Gebot der Rechtsmittelklarheit nicht vereinbar5, bietet auch bei der Behebung anderweitiger Fehler ein uneinheitliches, teilweise verwirrendes Bild. 1  Einfache, sofortige u. weitere Beschwerde (§§ 304 ff. StPO), Berufung (§§ 312 ff. StPO), Revision (§§ 333 ff. StPO). 2   Überblick bei LR-StPO/Jesse, 26. Aufl., vor § 296 Rn 2. 3   §§ 319 Abs. 2, 346 Abs. 2 StPO. 4   Jesse (FN 2). 5   Plenarbeschluss des BVerfG v. 30.4.2003 – 1 PBvU 1/02, BVerfGE 107, 395, Tz. 70.

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Ein Fall, den vor einiger Zeit den 4. Strafsenat des BGH beschäftigt hat, bietet Anlass, einige dieser „verfahrenen“ Verfahrenslagen näher zu beleuchten und – auf der Suche nach einem „roten Faden“ – die zu ihnen ergangene Rechtsprechung darzustellen. Die Behandlung bloßer offensichtlicher Schreib- und Rechenversehen bleibt dabei unberücksichtigt.

II.  Entscheidung des Revisionsgerichts über einen Urteilsentwurf des Tatrichters Das Landgericht hatte den Angeklagten wegen verschiedener Verstöße gegen das BtMG zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt und Verfall von Wertersatz angeordnet. Das Urteil war in Anwesenheit des Angeklagten und aller weiteren Verfahrensbeteiligten formell ordnungsgemäß gemäß § 268 Abs. 2 StPO verkündet worden. Nach Urteilsverkündung gelangte die auf der Grundlage der Beratung verfasste, fünfzehn Seiten umfassende und zur Zustellung an die Verfahrensbeteiligten bestimmte Urteilsurkunde, versehen mit den Unterschriften aller berufsrichterlicher Mitglieder der Strafkammer, innerhalb der Urteilsabsetzungsfrist zur Geschäftsstelle. Aus nicht mehr aufzuklärenden Gründen verblieb daneben aber auch ein lediglich neun Seiten umfassender, aus sich heraus verständlicher, jedoch handschriftlich nicht unterschriebener Urteilsentwurf im Protokoll- und Urteilsband der Sachakten. Dem Verteidiger wurde entgegen der Zustellungsverfügung des Vorsitzenden dieser Entwurf zugestellt, der als Ausfertigung gekennzeichnet war und die maschinenschriftlichen Unterschriften der Berufsrichter trug. Nach Eingang der Revisionsbegründung, mit der der Verteidiger sachlich-rechtliche Fehler des ihm zugestellten „Urteils“ beanstandete, gelangte – unter ebenfalls nicht mehr zu klärenden Umständen – nur die erwähnte neunseitige Fassung als „beglaubigte Ablichtung“, zu den Handakten des Generalbundesanwalts sowie in das für den Bundesgerichtshof bestimmte Senatsheft. Auf dieser Grundlage wurde das „Urteil“ auf Antrag des Generalbundesanwalts gemäß § 349 Abs. 4 StPO aufgehoben und zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückverwiesen.6 Erst nach Rücklauf der Akten ergab eine Überprüfung beim Landgericht, dass in dem von den Gerichten in dem betreffenden Bundesland verwendeten Textverarbeitungssystem nur der Entwurf, nicht aber die unterschriebene Endfassung des Urteils abgespeichert war, weshalb versehentlich nicht das Originalurteil zur Zustellung gelangte und zur Grundlage der Revisionsakten wurde. Über den zuständigen Generalstaatsanwalt des Landes, der um deklaratorische Aufhebung des ursprünglichen Aufhebungsbeschluss ersuchte, leitete der Generalbundesanwalt dem Senat die Sache mit der Anregung zu im Beschlusswege festzustellen, dass   BGH, Beschluss v. 24.3.2015 – 4 StR 24/15.

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es bei dem ursprünglichen Beschluss sein Bewenden habe. Zur Begründung verwies er darauf, dass der Aufhebungsbeschluss zwar auf einer unrichtigen Tatsachengrundlage ergangen sei, deswegen aber nicht schon als unwirksam oder nichtig angesehen werden müsse. Vielmehr sei er – eigentlich – aufzuheben. Dafür fehle es indes an einer rechtlichen Grundlage, da die §§ 33a und 356a StPO auf entsprechende Anträge der Staatsanwaltschaft nicht anwendbar seien. Ein Wiederaufnahmegrund sei ebenso wenig erkennbar wie ein übergesetzlicher Aufhebungsgrund wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit bzw. Willkür.

III.  „Scheinurteil“ des Tatrichters und Urteilsentwurf im Revisionsverfahren Der dargestellte Verfahrensablauf wirft zwei rechtlich unabhängig voneinander zu beurteilende Fragen auf: Hat der Verfahrensablauf beim Tatgericht zu einem wirksamen Urteil oder zu einem „Scheinurteil“ geführt und welchen Einfluss hat die Tatsache, dass das Revisionsgericht über einen bloßen Entwurf entschieden hat, auf den Bestand seiner eigenen, aufhebenden Entscheidung? 1.  „Scheinurteil“ des Tatrichters? a)  Das „Scheinurteil“ im Zivilprozess Vor allem die zivilgerichtliche Rechtsprechung und das zivilprozessuale Schrifttum haben sich mit dem sog. Scheinurteil und dessen rechtlichen Wirkungen beschäftigt.7 Ungeachtet begrifflich voneinander abweichender Kategorien wird darunter – von den Extremfällen sog. Nichturteile abgesehen8 – eine zivilgerichtliche Entscheidung verstanden, die nicht oder unter Verstoß gegen wesentliche Formvorschriften erlassen wurde oder lediglich einen Entwurf darstellt, der von der verkündeten Entscheidung abweicht.9 Eine Fallgestaltung, die der im Ausgangsverfahren des 4. Strafsenats zu entscheidenden am nächsten kommt, lag einer Entscheidung des I. Zivilsenats des BGH aus

  Nachweise bei MünchKomZPO/Rimmelspacher, 4. Aufl., § 511 Rn 12 ff.  BGH, Beschluss v. 4.4.2013 – IX ZB 3/13; dazu zusfsd. Zöller/Vollkommer, ZPO, 31. Aufl., Vorbem. §§ 300–305a, Rn 13 f. 9   BGH, Urteil v. 12.10.1953 – III ZR 379/52, BGHZ 10, 346 (keine ordnungsgemäße Bekanntgabe des Verkündungstermins); insoweit einschränkend sodann BGH, Beschluss v. 14.6.1954 – GSZ 3/54, BGHZ 14, 39; BGH, Beschluss vom 16.10.1984 – VI ZB 25/83, VersR 1984, 1192 (nicht verkündetes Urteil); ebenso BGH, Beschluss vom 3.11.1994 – LwZB 5/94, NJW 1995, 404; BGH, Urteil vom 4.2.1999 – IX ZR 7/98, NJW 1999, 1192 (inhaltliche Abweichung zwischen verkündetem und zugestelltem Urteil). 7 8

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dem Jahr 2006 zu Grunde.10 Das in dem nach § 310 Abs. 1 ZPO anberaumten Verkündungstermin verkündete Urteil des Berufungsgerichts umfasste ausweislich des Inhalts der Gerichtsakte fünfzehn Seiten. In der Gerichtsakte war indes im Anschluss an das Protokoll eine nur vierzehn Seiten umfassende Ausfertigung nachgeheftet, die anstelle des eine Seite umfangreicheren Urteils versehentlich den Parteien zugestellt worden war. Aus einem auf dem vierzehn Seiten umfassenden Entwurf befindlichen handschriftlichen Vermerk ergab sich jedoch, dass die andere Fassung verkündet worden war und auch zugestellt werden sollte. Der BGH behandelte die zugestellte Fassung als bloßen Entwurf, dem trotz Zustellung an die Parteien keinerlei Rechtswirkungen zuzumessen sei. Wäre ein solcher Entwurf unerkannt Gegenstand der Prüfung im Rechtsmittelverfahren geworden, hätte dies gemäß § 562 ZPO zur Aufhebung und Zurückverweisung etwa wegen Lückenhaftigkeit oder Unklarheit des festgestellten Tatbestandes führen können.11 Um ein Scheinurteil im eigentlichen Sinne hätte es sich nur so lange gehandelt, wie die Parteien die unrichtige Fassung noch in den Händen hielten und nicht auf Aufforderung des Gerichts an dieses zurückgegeben hätten. Obwohl ein solches Urteil unbeachtlich ist, das Gericht nicht bindet, die Instanz nicht beendet und weder der formellen noch der materiellen Rechtskraft fähig ist12, besteht nämlich dann die Gefahr der Beeinträchtigung der Interessen einer Partei fort. Die zivilprozessuale Rechtsprechung legt ihr Augenmerk in solchen Fällen also im Wesentlichen auf die Wahrung der Interessen der Parteien. Während ein solchermaßen entstandenes „Scheinurteil“ oder ein Urteilsentwurf etwa auch die Rechtsmittelfrist des § 516 ZPO nicht in Lauf zu setzen vermag, kann deshalb auch Berufung eingelegt werden, um den Rechtsschein des Urteils durch eine klarstellende Entscheidung des Rechtsmittelgerichts ohne Bindung an die weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen zu beseitigen.13 b)  Das „Scheinurteil“ im Strafprozess Während § 310 Abs. 2 ZPO anordnet, dass das schriftliche Urteil des Zivilrichters bei der Verkündung in vollständiger Form abgefasst sein muss, wenn – was der Regelfall ist – das Urteil nicht in dem Termin verkündet wird, in dem die mündliche Verhandlung geschlossen wird, wird das Strafurteil gemäß § 268 Abs. 2 StPO durch Verlesung der Urteilsformel und Eröffnung der Urteilsgründe verkündet, und zwar in Form der Verlesung oder 10   BGH, Urteil v. 26.10.2006 – I ZR 20/04, BGHZ 169, 281 m. Anm. Ramming TranspR 2007, 58. 11  Musielak/Voit-Ball, ZPO, 12. Aufl., § 559 Rn 18. 12  Zöller/Vollkommer, ZPO, 31. Aufl., Vorbem. §§ 300–305a, Rn 14 m.w.N. 13   So ausdrücklich BGH, Beschluss v. 3.11.1994 – LwZB 5/94, NJW 1995, 404; ebenso BGH, Urteil v. 17.4.1996 – VIII ZR 108/95, NJW 1996, 1969.

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der Mitteilung ihres wesentlichen Inhalts. Zur Verkündung als bloßem Verlautbarungsakt treten die Herstellung der schriftlichen Urteilsgründe innerhalb der Urteilsabsetzungsfrist und die Zustellung der Urteilsurkunde an die Verfahrensbeteiligten hinzu. Soweit aus der veröffentlichten Rechtsprechung ersichtlich, spielt das Problem des sog. Scheinurteils im Strafprozess praktisch keine Rolle. 2.  Revisionsgerichtliche Entscheidung über einen Entwurf a)  Wirksamkeit der Urteilszustellung? Da der BGH über das Rechtsmittel des Angeklagten – in Unkenntnis der Mängel der zugestellten Urteilsurkunde – entschieden hatte, kam es auf die Frage, ob deren Zustellung durch das Landgericht wirksam war und die Revisionsbegründungsfrist in Lauf setzen konnte, nicht mehr an. Die Antwort darauf ist vor dem Hintergrund der zu vergleichbaren Fallgestaltungen ergangenen Rechtsprechung auch nicht ganz leicht zu geben: Danach berühren Mängel der Urteilsurkunde die Wirksamkeit der Zustellung nur dann, wenn aufgrund wesentlicher Fehler nicht hinreichend sicher erkennbar ist, welchen Inhalt die Urschrift im Vergleich dazu hat.14 Der zugestellte Entwurf war in vorliegenden Fall wegen unzureichender Beweiswürdigung zwar offensichtlich rechtsfehlerhaft im Sinne des § 349 Abs. 4 StPO. Dass sich dieser Mangel schon bei flüchtiger Lektüre des Schriftstücks durch einen unbefangenen Leser erschlossen hätte, wird man indes kaum sagen können. Andererseits wäre bei einem Vergleich der beiden Texte schon wegen des deutlich voneinander abweichenden Umfangs das Defizit des zugestellten Entwurfs aufgefallen. b)  Aufhebbarkeit der Entscheidung des Revisionsgerichts? Letztlich kann die Frage der Wirksamkeit der Zustellung der landgerichtlichen Entscheidung aber dahinstehen, da durch den ursprünglichen Aufhebungsbeschluss im Revisionsverfahren vom 24. März 2015 das Verfahren in ein neues prozessuales Stadium eingetreten und – wenn auch nur vorläufig – mit einer Entscheidung beendet wurde, die der formellen Rechtskraft fähig ist. Danach musste der BGH im Ausgangsfall die Frage nach dem Bestand seines Aufhebungs- und Zurückverweisungsbeschlusses beantworten. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs können Entscheidungen des Revisionsgerichts grundsätzlich weder aufgehoben noch abgeändert werden. Das gilt nicht nur für nach § 349 Abs. 2 StPO ergangene Beschlüsse über die Verwerfung der Revision, durch die das Verfahren wie durch ein Verwerfungsurteil nach § 349 Abs. 5 StPO nicht nur formell, sondern auch 14

  BGH, Beschluss vom 5.2.1981 – 4 StR 13/81 – StV 1981, 170.

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materiell rechtskräftig abgeschlossen wird.15 Auch ein allein nach § 349 Abs. 4 StPO gefasster Beschluss, mit dem die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen wird und der deshalb lediglich formelle Rechtskraft erlangt, ist regelmäßig nicht mehr abänderbar und kann nicht aufgehoben werden.16 Das Bedürfnis der Rechtspflege und der Allgemeinheit nach Rechtssicherheit verbietet es auch im Revisionsverfahren regelmäßig, einen Eingriff in die Rechtskraft einer gerichtlichen Sachentscheidung zuzulassen17, es sei denn, die Voraussetzungen des § 356a StPO wären erfüllt, die Entscheidung des Revisionsgerichts also unter Verletzung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör zustande gekommen. Mit der Einfügung dieser Bestimmung durch das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Anhörungsrügengesetz vom 9. Dezember 200418 hat die Anhörungsrüge als außerordentlicher Rechtsbehelf Eingang in die StPO gefunden, die jedenfalls für das Revisionsverfahren eine abschließende Regelung darstellt.19 Darüber hinaus verbietet sich ein Eingriff in die Rechtskraft einer gerichtlichen Sachentscheidung. Soweit in der Rechtsprechung des BGH ein über die Fälle des § 356a StPO hinaus gehender Eingriff in die Rechtskraft revisionsgerichtlicher Entscheidungen erwogen wurde, etwa in Fällen der Verletzung anderer grundlegender Verfahrensrechte, etwa des Willkürverbots, sind diese Entscheidungen vereinzelt geblieben.20 c)  Der Ausgangsfall im Kontext der Rechtsprechung Da der Fall einer zulässigen Anhörungsrüge nach § 356a StPO nicht vorlag, wäre zu erwarten gewesen, dass der BGH mit Blick auf das Gewicht

15   St. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 17. Januar 1962 – 4 StR 392/61, BGHSt 17, 94, 95, und vom 24. März 2011 – 4 StR 637/10, StraFo 2011, 218; vgl. auch Beschluss vom 4. April 2006 – 5 StR 514/04, wistra 2006, 271 für Entscheidungen nach § 349 Abs. 2 i.V.m. Abs. 4 StPO; BayObLG, Beschluss v. 6.5.1970 – 5 Ws (B) 21/70, BayObLGSt 1970, 115, 116; vgl. auch KK-StPO/Gericke, 7. Aufl., § 349 Rn 34. 16  BGH, Beschluss vom 22. Oktober 1991 – 5 StR 449/91; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl., § 349 Rn 34; LR-StPO/Franke, 26. Aufl., § 349 Rn 41; wohl einschränkend SSW-StPO/Widmaier/Momsen, 2. Aufl., § 349 Rn 40. 17   BGH, Beschluss vom 17. Januar 1962 – 4 StR 392/61, BGHSt 17, 94, 95 m. Anm. Schaper NJW 1962, 1357. 18   BGBl I 3220. 19  KK-StPO/Gericke, 7. Aufl., § 356a Rn 2. 20  Vgl. dazu die – jeweils nicht tragenden – Ausführungen in BGH, Beschluss vom 4.4.2006 – 5 StR 514/04, wistra 2006, 271, sowie Beschluss v. 7.2.2006 – 5 StR 481/05; dagegen jüngst BGH, Urteil v. 14.4.2016 – IX ZR 197/15, MDR 2016, 787, Tz. 21 ff.; zur Anwendbarkeit von § 33a StPO durch den BGH außerhalb eines Revisionsverfahrens BGH, Beschluss v. 5.8.2015 – 2 ARs 18/15; zur Änderung eines Verwerfungsbeschlusses nach § 349 Abs. 1 StPO bei unrichtiger Tatsachengrundlage KG, Beschluss v. 26.6.1992 – 5 Ws 175/92, JR 1992, 523; Thür. OLG, Beschluss v. 10.1.1996 – 1 Ss 59/95, NStZ-RR 1997, 10, 11; LR-StPO/Franke, 26. Aufl., § 349 Rn 28 m.w.N.

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der formellen Rechtskraft seines Beschlusses nach § 349 Abs. 4 StPO der Anregung des Generalbundesanwalts gefolgt wäre und – deklaratorisch – ausgesprochen hätte, dass es bei seinem ursprünglichen Beschluss verbleibe. Tatsächlich hat er jedoch gegenteilig entschieden.21 Auch für seine Auffassung konnte sich der Senat auf entsprechende Entscheidungen aus der Vergangenheit berufen. Denn seit jeher hat der BGH das Bedürfnis nach einer Korrektur einer einmal getroffenen, formell bzw. materiell rechtskräftigen Entscheidung in Fällen anerkannt, in denen lediglich infolge von Unregelmäßigkeiten, wegen eines Versehens oder wegen der Gegebenheiten des gerichtlichen Geschäftsganges eine revisionsgerichtliche Entscheidung aufgrund unzutreffender tatsächlicher Grundlage getroffen wurde und sich dies erst nachträglich herausstellte. Dies ist etwa regelmäßig dann der Fall, wenn die Revision zu einem Zeitpunkt als offensichtlich verworfen wurde, zu dem der Revisionsführer sein Rechtsmittel bereits wirksam zurückgenommen hatte. Dabei ist es unerheblich, ob die Rücknahmeerklärung dem Revisionsgericht allein wegen des zeitlichen Ablaufs und der Postlaufzeiten nicht bekannt war oder ob dies auf andere Gründe zurückzuführen ist, etwa auf ein Versehen bei der Zusammenstellung der für das Revisionsgericht bestimmten Akten.22 So gilt diese Rechtsprechung auch für den Fall der Entscheidung des Revisionsgerichts über das Rechtsmittel des Angeklagten in Unkenntnis der Tatsache, dass dieser bereits verstorben ist.23 Ähnlich hat der BGH in einem Fall entschieden, in dem infolge eines offensichtlichen Versehens entgegen § 349 Abs. 4 StPO einer Nebenklägerrevision zu Ungunsten des Angeklagten durch Beschluss stattgegeben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen wurde.24 Auch im Fall des täuschenden Verhaltens des Angeklagten hat sich der zuständige Revisionssenat zu diesem Vorgehen als berechtigt angesehen. Dieser hatte während des Revisionsverfahrens zunächst die Vorlage einer Sterbeurkunde veranlasst und so die Einstellung des Verfahrens gemäß § 206a Abs. 1 StPO erreicht. Vom zuständigen Senat angestellte Ermittlungen ergaben jedoch nachträglich, dass diese Sterbeurkunde mithilfe einer gefälschten Todesbescheinigung erlangt worden war und dass der Angeklagte tatsächlich nicht verstorben, sondern flüchtig war. Der BGH hob seinen Einstellungsbeschluss auf und setzte das Revi-

  BGH, Beschluss v. 10.9.2015 – 4 StR 24/15, NJW 2016, 1750.   St. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss v. 10.9.1991 – 2 StR 326/91, NStZ bei Kusch 1992, 225; Beschluss v. 28.1.1997 – 1 StR 456/96, NStZ bei Kusch 1998, 27; Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO, 59. Aufl., § 349 Rn 24. 23   BGH, Beschluss v. 27.10.2015 – 1 StR 162/15, StraFo 2016, 25; ebenso schon OLG Schleswig, Beschluss v. 23.1.1978 – 1 Ss 534/77, NJW 1978, 1016. 24   BGH, Beschluss v. 30.3.1994 – 3 StR 628/93. 21 22

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sionsverfahren fort.25 Zwar sei auch der Einstellungsbeschluss wegen eines Verfahrenshindernisses der formellen und materiellen Rechtskraft fähig Eine Durchbrechung dieser Rechtskraft sei indes in Anwendung des Rechtsgedankens des § 362 Nr. 1 und 2 StPO gerechtfertigt, wonach eine Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten in Fällen zulässig ist, in denen die vorangehende, formell rechtskräftige Entscheidung auf der Grundlage von Beweisergebnissen zustande gekommen ist, deren auf Täuschung beruhende Unrichtigkeit zu Gunsten des Angeklagten sich nachträglich erweist. Damit unterscheide sich die in § 362 StPO geregelte Durchbrechung der Rechtskraft grundlegend von Fällen, in denen eine möglicherweise unzutreffende Entscheidung auf einem Rechtsirrtum beruht.26 Einen anderen dogmatischen Ansatz wählte das OLG Hamm in einer Entscheidung, in der es irrtümlich die Revision gegen ein erstinstanzliches Urteil eines Landgerichts unter Gewährung von Wiedereinsetzung gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet verworfen hatte.27 Der Revisionssenat hatte angenommen, über ein Berufungsurteil zu entscheiden. Seinen Verwerfungsbeschluss nahm das OLG mit der Begründung zurück, es sei nach zwingenden gesetzlichen Vorschriften mit dem Rechtsmittel des Angeklagten gar nicht befasst gewesen, die Sache sei beim Oberlandesgericht niemals anhängig geworden. Der Senat habe nicht aus Rechtsirrtum falsch entschieden, sondern die tatsächliche prozessuale Lage verkannt. Damit handele es sich bei seiner Entscheidung über die Revision des Angeklagten um eine Prozesshandlung ohne jede prozessuale Wirkung. Der Beschluss sei aufhebbar und dadurch zurückzunehmen, dass seine prozessuale Unbeachtlichkeit festgestellt werde. Dabei handele es sich nicht um die konstitutive Zurücknahme eines an sich beachtlichen Beschlusses zur Beseitigung prozessualen Unrechts.28 Die Zurücknahme des eigenen Beschlusses erstreckte das OLG in diesem Fall auch auf die Gewährung der Wiedereinsetzung in die Versäumung der Revisionsbegründungsfrist. d)  Entscheidung des Revisionsgerichts Nach dem oben näher dargestellten Befund mag die Entscheidung im Ausgangsfall nicht mehr überraschen. Der Senat sah hier das Vorliegen der Vor-

25   BGH, Beschluss v. 21.12.2007 – 2 StR 485/06, BGHSt 52, 119; vgl. dazu KK-StPO/ Schneider, 7. Aufl., § 206a Rn 15; ausf. LR-StPO/Stuckenberg, 26. Aufl., § 206a Rn 110 ff. 26   BGH a.a.O.; anders OLG Köln, Beschluss v. 4.7.1980 – 3 Ss 691/79, NJW 1981, 2208 in einem Fall, in dem ein Berufungsverfahren wegen Fehlens des Eröffnungsbeschlusses eingestellt worden war und dieser Beschluss nachträglich in den Handakten der Staatsanwaltschaft wieder aufgefunden wurde. 27   OLG Hamm, Beschluss v. 11.12.1970 – 4 Ss 926/70, NJW 1971, 1623, 1624. 28   Zu solchen Fallgestaltungen aus der älteren Rspr. vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss v. 7.8.1979 – 5 Ws 64 u. 6/79, NJW 1980, 335; OLG Düsseldorf, Beschluss v. 25.1.1982 – 2 Ws 48/82, NStZ 1982, 395.

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aussetzungen einer weiteren Variante einer Entscheidung auf irrtümlich falscher Tatsachengrundlage, nicht auf der Grundlage eines Rechtsirrtums oder einer Verkennung der prozessualen Lage.29 Rechtssicherheit und Rechtsklarheit gebieten es in einem solchen Fall, den Widerspruch zwischen der Entscheidung einerseits und der abweichenden Tatsachengrundlage andererseits zu beseitigen. Gegenüber diesem Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Rechtsklarheit wirkte der mit einer solchen Verfahrensweise verbundene Eingriff in die Rechtskraft aus Sicht des BGH weniger schwer. Dem Verfahren war danach durch Aufhebung des Verwerfungsbeschlusses und Zustellung der richtigen Urteilsurkunde durch das Landgericht Fortgang zu geben. Wie der Generalbundesanwalt in seiner Zuleitungsschrift zutreffend ausgeführt hatte, konnte der prozessuale Zugriff auf den eigenen Aufhebungsbeschluss indes nicht auf der Grundlage einer Verletzung der Gewährleistung rechtlichen Gehörs erfolgen. Abgesehen davon, dass eine solche im zu entscheidenden Fall nicht festzustellen war, hatte der einzig Rügeberechtigte, nämlich der Angeklagte, verständlicherweise keinerlei Interesse an einer Änderung der – wenn auch möglicherweise nur vorläufig – zu seinen Gunsten eingetretenen Änderung der Rechts- und Verfahrenslage. Da im Revisionsverfahren auch die Anwendbarkeit von § 33a StPO ausgeschlossen ist, war dem BGH der Weg der Entscheidung von Amts wegen insoweit ebenfalls verschlossen. Wegen der formellen Rechtskraft des Verwerfungsbeschlusses hat die angeordnete Aufhebung aber auch nicht nur deklaratorische Bedeutung.30

IV. Fazit Wie der dargestellte Ausgangsfall zeigt, können die Gegebenheiten des gerichtlichen Geschäftsganges, aber auch Unregelmäßigkeiten oder Versehen, nicht zuletzt durch die zunehmende Digitalisierung gerichtlicher Arbeitsabläufe, zu unerwarteten rechtlichen Problemen führen, die mit dem vorhandenen prozessualen und materiell-rechtlichen Instrumentarium im Einzelfall nur mit einiger Mühe zu bewältigen sind. Die eingangs dieses Beitrags ausgerufene Suche nach dem roten Faden wird man angesichts der Vielgestaltigkeit der vorkommenden Fälle recht schnell wieder aufgeben. Im „Zwischenreich“ des gerichtlichen Dienstbetriebs, dessen reibungsloses Funktionieren Richter und Staatsanwalt nur allzu oft als selbstverständlich voraussetzen, weil sie darauf dringend angewiesen sind, ereignen sich im Drang der Geschäfte mitunter – aber glücklicherweise nur selten – ungewöhnliche Dinge. Ist eine strafgerichtliche Entscheidung auf einer unzutreffenden tatsächlichen Grundlage ergangen und ergibt sich daraus die Notwendigkeit von 29 30

  BGH, Beschluss v. 10.9.2015 – 4 StR 24/15, NJW 2016, 1750.   Ebenso BGH, Beschluss v. 21.12.2007 – 2 StR 485/06, BGHSt 52, 119, Tz. 6 f.

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deren Korrektur, ist zunächst regelmäßig die Frage nach dem prozessualen Wege entscheidend. Geht die Entscheidung mit einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör einher, erlauben regelmäßig die außerordentlichen Rechtsbehelfe der §§ 33a, 356a StPO die Einleitung einer Selbstkorrektur. Wegen des Spezialitätsverhältnisses von § 356a StPO zu § 33a StPO im Revisionsverfahren und des Ausschlusses der Gegenvorstellung sind insbesondere diejenigen Fälle problematisch, in denen es – wie im vorliegenden Fall – an einer Antragsbefugnis im Sinne des § 356a StPO fehlt oder in denen eine Verletzung rechtlichen Gehörs auch nicht ansatzweise erkennbar ist. An dieser Stelle beginnen die Unwägbarkeiten des einzelnen Falles. Geht die fehlerhafte Tatsachengrundlage auf die Täuschung des Beschuldigten beziehungsweise Angeklagten zurück, wird man eine Durchbrechung der Rechtskraft durch die entsprechende Heranziehung der Wiederaufnahmevorschriften rechtfertigen können. Wie der kurze Überblick über die Rechtsprechung zeigt, bleibt es in der überwiegenden Zahl der anderen Falle bei einer ergebnisorientierten Abwägung zwischen dem Gewicht des Eingriffs in die Rechtskraft einerseits und der Bedeutung der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit andererseits.

Anforderungen an die Urteilsbegründung bei Annahme des Vorliegens erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit im Zusammenhang mit Persönlichkeitsstörungen Manfred Götzl I.  Aufgabenbereiche des Richters und des Sachverständigen bei der Feststellung der erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit Die Entscheidung des Richters, ob die Fähigkeit des Angeklagten, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe bei der Tatbegehung erheblich vermindert im Sinne des § 21 StGB ist, ist eine Rechtsfrage. Diese hat der Richter nach sachverständiger Beratung in eigener Verantwortung zu entscheiden. Dabei geht er in mehreren Schritten vor1: –– Er hat zunächst festzustellen, dass bei dem Angeklagten eine psychische Störung vorliegt, die unter eines der vier psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB (krankhafte seelische Störung, tiefgreifende Bewusstseinsstörung, Schwachsinn, schwere andere seelische Abartigkeit) zu subsumieren ist. –– Als nächstes sind der Ausprägungsgrad der Störung und der Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Angeklagten zu prüfen. Dabei ist die Beeinträchtigung der psychischen Funktionsfähigkeit durch die psychopathologischen Verhaltensmuster zu untersuchen. –– Schließlich ist festzustellen, ob und auf welche Weise, sowie in welchem Umfang, sich die Störung bei der Tatbegehung auf das Tatverhalten des Angeklagten ausgewirkt hat. Bei der Beantwortung der Frage der Erheblichkeit im Sinne des § 21 StGB handelt es sich um eine normativ geprägte Beurteilung. Der Richter trifft eine juristisch normative Aussage über das Ausmaß der Beeinträchtigung des Angeklagten, wobei zum Vergleich die Anforderungen herangezogen werden, die die Rechtsordnung an jedermann stellt.

  Vgl. BGHSt 49, 45, 51 f.; BGH NStZ 2013, 53, 54.

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Sowohl bei der Bejahung eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB und bei der Annahme verminderter Schuldfähigkeit wie auch bei der normativ geprägten Beurteilung der Erheblichkeit der Verminderung von Einsichtsoder Steuerungsfähigkeit handelt es sich um Rechtsfragen. Das Urteil über die Einsichts- und/oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten ist somit ausschließlich Sache des Richters. Er wird jedoch im Hinblick auf die medizinisch-psychiatrischen Anknüpfungstatsachen, im Hinblick auf die Diagnose einer psychischen Störung und die Festlegung ihres Schweregrades sowie der inneren Beziehung der Störung zur Tat auf sachverständige Hilfe angewiesen sein, sofern er nicht ausnahmsweise über eigene Sachkunde verfügt. Der Sachverständige trifft im Unterschied zum Richter keine juristisch normative Aussage sondern eine empirisch vergleichende über das Ausmaß der Beeinträchtigung des Tatverdächtigen etwa im Vergleich zum Durchschnittsmenschen oder anderen Straftätern2. Er stellt im Rahmen seiner Gutachtenserstattung unter Zugrundelegung des von ihm verwendeten Diagnosesystems (in der Regel ICD-10 oder DSM-V) die Diagnose. –– Kommt er dabei zu der Feststellung, dass das (Störungs-)Bild die Merkmale einer Störung (ein Muster, mehrere Muster, eine Mischform) der Klassifikationen in ICD-10 oder DSM-V erfüllt, stellt er die Funktionsbeeinträchtigungen dar, die im Allgemeinen durch die diagnostizierte Störung bedingt werden. –– Sodann überprüft er, ob und in welchem Ausmaß diese Funktionsbeeinträchtigungen beim Angeklagten bei Begehung der Tat vorlagen. –– Zudem ordnet er die psychiatrische Diagnose den gesetzlichen Eingangsmerkmalen zu. –– Er stellt den Schweregrad der Störung dar und bewertet ihn. –– Er nimmt aus sachverständiger Sicht zu den tatrelevanten Funktionsbeeinträchtigungen unter Differenzierung zwischen Einsichts- und Steuerungsfähigkeit Stellung3. Zum Ausmaß der psychischen Störung und deren Auswirkung auf die Tat gelangt der Sachverständige auf Grund einer Gesamtbetrachtung der Persönlichkeit des Angeklagten, des Ausprägungsgrades der Störung und deren Auswirkung auf seine soziale Anpassungsfähigkeit. Zur Beurteilung der Rechtsfragen überprüft der Richter die vom Sachverständigen gestellte Diagnose, den Schweregrad der Störung und die innere

  BGH NStZ 2013, 53/54.  Vgl. Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten, NStZ 2005, S. 57 ff. 2 3

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Beziehung der Störung zur Tat. Diese Prüfung nimmt er auf der Grundlage des Beweisergebnisses der Hauptverhandlung vor.

II.  Darlegungen im Urteil im Zusammenhang mit dem Vorliegen erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit bei Persönlichkeitsstörungen Im Falle einer Verurteilung müssen die Urteilsgründe gemäß § 267 StPO u.a. die erwiesenen Tatsachen und den Ausspruch über die besonderen Umstände des § 267 Absatz 2 StPO enthalten. –– Zu ersteren gehören, neben der Sachverhaltsschilderung, die persönlichen Verhältnisse des Angeklagten, soweit ihre Kenntnis zur Beurteilung der Schuld- und Straffrage erforderlich ist. –– Die Urteilsgründe haben auch die Beweisgründe und die Beweiswürdigung wieder zu geben. Die Beweisgründe müssen dabei in sich logisch geschlossen, klar und frei von Lücken sein. Sie müssen sich mit allen naheliegenden Tatsachen und Umständen auseinandersetzen, die Schlüsse zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten zulassen.4 –– Zu den besonderen Umständen im Sinne des § 267 Abs. 2 StPO, der nach seinem Zweck die Urteilsbegründung erleichtern will, gehören der Ausschluss und die erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit gemäß §§ 20, 21 StGB. Entgegen dem Wortlaut, der aus verfahrensrechtlicher Sicht für die Frage der Erörterungspflicht auf die Behauptung dieser Umstände abstellt, besteht sachlich-rechtlich die Notwendigkeit näherer Erörterungen stets, wenn tatsächliche Umstände ersichtlich sind, die die Möglichkeit des Ausschlusses oder der erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit nahe legen. Ist ein Sachverständigengutachten eingeholt worden, fordert die höchstrichterliche Rechtsprechung5, neben den erforderlichen tatsächlichen Feststellungen eine eigene Stellungnahme des Gerichts zu der Frage der Schuldfähigkeit, um zu zeigen, dass es nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung die Frage mit Hilfe des Sachverständigen selbst entschieden hat.6 Soweit sich das Gericht dem Gutachter anschließt, muss es die Anknüpfungstatsachen als wesentliche tatsächliche Grundlage des Gutachtens, die vom Sachverständigen daraus gezogenen Schlussfolgerungen (Befundtatsachen) und die das Gutachten tragenden fachlichen Begründungen mitteilen,

  Vgl. BGHSt 25, 285.   BGHSt 8, 118; BGHSt 12, 311, 314. 6   Vgl. LR-StPO/Stuckenberg, 26. Aufl. § 267 Rn 66. 4 5

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soweit sie zum Verständnis des Gutachtens und seiner gedanklichen Schlüssigkeit nötig sind.7 Bei der Beurteilung von Persönlichkeitsstörungen, bei denen bei entsprechendem Schweregrad die Zuordnung zum 4. Eingangsmerkmal des § 20 StGB – der schweren anderen seelischen Abartigkeit – vorzunehmen ist, ist zu berücksichtigen, dass eine relevante Beeinträchtigung der Einsichtsfähigkeit allein durch die Symptome einer Persönlichkeitsstörung in der Regel nicht in Betracht kommt. Zudem kommt für den Bereich der schweren anderen seelischen Abartigkeit in der Regel allenfalls eine erhebliche Verminderung und keine Aufhebung der Steuerungsfähigkeit in Betracht.8 Auch im Hinblick auf Persönlichkeitsstörungen gilt, dass der Tatrichter die Rechtsfrage entscheidet, ob die Steuerungsfähigkeit rechtlich erheblich eingeschränkt ist. Zur Beurteilung dieser Rechtsfrage überprüft er die vom Sachverständigen gestellte Diagnose, den Schweregrad der Störung und deren innere Beziehung zur Tat. Im Rahmen der Diagnose einer Persönlichkeitsstörung ist eine Abgrenzung zu den Persönlichkeitsakzentuierungen vorzunehmen, deren Abweichungen geringer ausgeprägt sind, die unter Umständen nur in einer Unausgewogenheit der Eigenschaften bestehen und den Grad einer Störung nicht erreichen. Bei ihnen stellt sich die Frage einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit nicht. a.  Diagnose und Darstellung des Vorliegens einer Persönlichkeitsstörung Eine Persönlichkeitsstörung liegt vor, wenn folgende allgemein definierte Kriterien erfüllt sind9: 1. Deutliche Unausgeglichenheit in den Einstellungen und im Verhalten in mehreren Funktionsbereichen wie Affektivität, Antrieb, Impulskontrolle, Wahrnehmen und Denken sowie in den Beziehungen zu anderen. 2. Das auffällige Verhaltensmuster ist andauernd und gleichförmig und nicht auf Episoden psychischer Krankheiten begrenzt. 3. Das auffällige Verhaltensmuster ist tiefgreifend und in vielen persönlichen und sozialen Situationen eindeutig unpassend. 4. Die Störungen beginnen immer in der Kindheit oder Jugend und manifestieren sich auf Dauer im Erwachsenenalter. 7  LR-StPO/Stuckenberg, 26. Aufl. § 267 Rn 66; BGH, Beschluss vom 28. Januar 2016 – 3 StR 521/15; BGH, Beschluss vom 11. Februar 2016 – 2 StR 512/15; BGH, Beschluss vom 19. November 2014 – 4 StR 497/14; BGH, Beschluss vom 2. Oktober 2007 – 3 StR 412/07, NStZ-RR 2008, 39. 8  Vgl. Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß a.a.O. S. 61. 9   Vgl. Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD-10, F 60.

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5. Die Störung führt zu deutlichem subjektiven Leiden, manchmal jedoch erst im späteren Verlauf. 6. Die Störung ist meistens, aber nicht stets, mit deutlichen Einschränkungen der beruflichen und sozialen Leistungsfähigkeit verbunden. Neben der Beachtung der allgemeinen Merkmale von Persönlichkeitsstörungen ist zudem die Diagnose zu spezifizieren im Hinblick auf die diagnostischen Kriterien der einzelnen Persönlichkeitsstörungen. Zum Wesen der Persönlichkeitsstörungen gehört eine zeitliche Konstanz des Symptombildes mit einem überdauernden Muster von Auffälligkeiten in den Bereichen Affektivität, Kognition und zwischenmenschliche Beziehungen.10 Auswirkungen von Persönlichkeitsstörungen und ihre Verhaltensmuster zeigen sich nicht nur bei der Ausführung einer Straftat sondern in den verschiedensten Lebensbereichen. Um diese Konstanz prüfen zu können, bedarf es der Feststellung der individuellen Interaktionsstile, der Reaktionsweisen unter konflikthaften Belastungen und der Veränderungen infolge von Reifungs- und Alterungsschritten sowie von Behandlungsmaßnahmen.11 Bedeutsam ist die Abgrenzung der psychopathologischen Merkmale einer Persönlichkeitsstörung von wiederkehrenden sozial abweichenden Verhaltensweisen. Für das Gericht bedeutet dies, dass die einzelnen sozialen und biographischen Merkmale unter Berücksichtigung der zeitlichen Konstanz der psychopathologischen Auffälligkeiten im Rahmen der Beweisaufnahme zu erheben sind. Soweit sie für die Darlegung der Diagnose und der Subsumption unter ein Eingangsmerkmal wesentlich sind, sind sie in den Urteilsgründen festzustellen. Es bietet sich an – soweit nicht im Urteil bei der Beweiswürdigung im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Gutachten die wesentlichen tatsächlichen Grundlagen und die Befundtatsachen angegeben werden – entsprechende Feststellungen bereits bei den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten (und ergänzend im Rahmen der Sachverhaltsschilderung) zu treffen. Ziel ist es, ausgehend vom Vorleben, der Entwicklung und dem Verhalten des Angeklagten, sowie seiner Persönlichkeit zur Tat überzuleiten und eine klare, bestimmte und geschlossene Darstellung der Feststellungen – beschränkt auf das Wesentliche – zu erreichen.

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 Vgl. Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß a.a.O. S. 60.  Vgl. Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß a.a.O. S. 60.

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b.  Zuordnung einer Persönlichkeitsstörung zum Eingangsmerkmal der schweren anderen seelischen Abartigkeit Bei der Beurteilung des Schweregrades einer diagnostizierten Persönlichkeitsstörung kann von einer schweren anderen seelischen Abartigkeit nur gesprochen werden, wenn die psychosozialen Leistungseinbußen, die von der Störung hervorgerufen werden, vergleichbar sind mit den Defiziten, die als Folge forensisch relevanter krankhafter seelischer Verfassungen auftreten.12 Für die Einstufung einer Persönlichkeitsstörung als schwere andere seelische Abartigkeit können erhebliche Auffälligkeiten der affektiven Ansprechbarkeit bzw. der Affektregulation, eine Einengung der Lebensführung bzw. Stereotypisierung des Verhaltens und eine durchgängige oder wiederholte Beeinträchtigung der Beziehungsgestaltung und psychosozialen Leistungsfähigkeit durch affektive Auffälligkeiten, Verhaltensprobleme sowie unflexible, unangepasste Denkstile, eine durchgehende Störung des Selbstwertgefühls und eine deutliche Schwäche von Abwehr- und Realitätsprüfungsmechanismen sprechen.13 Gegen eine entsprechende Einstufung können Auffälligkeiten der affektiven Ansprechbarkeit und das Vorliegen einer Selbstwertproblematik sprechen, ohne dass es zu einer schwerwiegenden bzw. durchgängigen Beeinträchtigung der Beziehungsgestaltung und der psychosozialen Leistungsfähigkeit kommt. Weiter können gegen die Einstufung als schwere andere seelische Abartigkeit weitgehend erhaltene Verhaltensspielräume, eine intakte Realitätskontrolle, reife Abwehrmechanismen sowie eine altersentsprechende biographische Entwicklung sprechen.14 Hinsichtlich der Anforderungen an die Feststellungen zu den oben angesprochenen Auffälligkeiten, zum Verhalten, zu der biographischen Entwicklung und zu den sonstigen genannten Umständen, die der Richter im Urteil zum Schweregrad der Persönlichkeitsstörung trifft, gilt das oben in Ziffer II. a. Ausgeführte. c.  Darstellung des Zusammenhangs zwischen Persönlichkeitsstörung und Tat Kommt der Tatrichter dazu, bei der angenommenen Persönlichkeitsstörung den Schweregrad einer schweren anderen seelischen Abartigkeit zu bejahen, schließt sich im Urteil die Erörterung der erheblichen Beeinträch-

 Vgl. Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß a.a.O. S. 60.  Vgl. Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß a.a.O. S. 60. 14  Vgl. Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß a.a.O. S. 60. 12 13

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tigung der Steuerungsfähigkeit an. Diese Diskussion ist eng mit der Analyse der Tatsituation verbunden. Es muss geprüft werden, ob ein Zusammenhang zwischen der Tat und der Persönlichkeitsstörung besteht, der Ausdruck der oben bei der Erörterung des Schweregrades angeführten Besonderheiten einer schweren anderen seelischen Abartigkeit ist (Symptomcharakter der Tat). Die Tatumstände sind zur Beurteilung der Steuerungsfähigkeit detailliert zu analysieren. Es sind beispielsweise das Verhalten vor, während und nach der Tat, die maßgeblichen Handlungsmotive sowie die Täter-Opfer-Beziehung zu würdigen. Im Hinblick darauf bedarf es entsprechender Feststellungen, die sinnvollerweise im Rahmen der Sachverhaltsdarstellung zur Tat und zu deren Vorgeschichte getroffen werden. Für eine forensisch relevante Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit sprechen dabei ein enger Zusammenhang zwischen den Persönlichkeitsproblemen und der Tat, ein abrupter, impulshafter Ablauf und eine konflikthafte Zuspitzung sowie eine emotionale Labilisierung des Angeklagten vor der Tat. Hinzu treten bedeutsame konstellative Faktoren wie Drogen- oder Alkoholintoxikation. Gegen eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit bei Persönlichkeitsstörungen sprechen ein planmäßiges Vorgehen des Angeklagten bei der Tat, Tatvorbereitungen, ein lang hingezogenes Tatgeschehen sowie die Fähigkeit des Angeklagten, bei der Durchführung zu warten. Ein komplexer Handlungsablauf in Etappen, sowie Vorsorge gegen Entdeckung sind weitere Umstände, die gegen eine erhebliche Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit sprechen.15 Es empfiehlt sich, aus Gründen der Übersichtlichkeit und einer geschlossenen Darstellung, zu diesen genannten Umständen bereits im Sachverhalt des Urteils sorgfältig bei der Schilderung des Tatgeschehens, der Vorgeschichte und des Nachtatverhaltens Feststellungen zu treffen. Sodann können diese Umstände im Rahmen der Darstellung des Sachverständigengutachtens bei der Beweiswürdigung und bei der eigenen richterlichen Entscheidung zur erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit gewürdigt werden. Auch kann zunächst unabhängig von der Darstellung der sachverständigen Ausführungen im Rahmen der Beweiswürdigung dargelegt werden, aufgrund welcher Beweismittel das Gericht zu dem geschilderten Sachverhalt gekommen ist. Damit sich in den Urteilsgründen die Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen und zum Sachverhalt, die anschließende Beweiswürdigung

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 Vgl. Boetticher/Nedopil/Bosinski/Saß a.a.O. S. 61.

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sowie die Darlegungen zum Sachverständigengutachten folgerichtig ohne überflüssige Ausführungen aus sich heraus klar verständlich darstellen lassen, ist es unter Umständen erforderlich, bei der Gutachtenserstattung in der Hauptverhandlung mit dem Sachverständigen Sachverhaltsvarianten im Hinblick auf das gefundene Beweisergebnis zu diskutieren. Auch sind mögliche Lücken im Gutachten sowie sachverständige Äußerungen, die nicht ohne weiteres nachvollziehbar sind, bei der Gutachtenserstattung durch das Gericht zu hinterfragen und zu klären. Nur so liegt ein stimmiges, in seinen Feststellungen und Beurteilungen ohne weiteres nachvollziehbares Sachverständigengutachten vor, das sich klar und folgerichtig in die Urteilsgründe einfügt. Folgt das Gericht dem Sachverständigen uneingeschränkt, werden dann nach der Darstellung des Gutachtens im Zusammenhang mit den getroffenen Feststellungen häufig knappe Ausführungen genügen, aus denen folgt, dass sich das Gericht erkennbar bei seiner entsprechenden Entscheidung der Aufgabe bewusst war, das alleinige abschließende normative Urteil über die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit zu treffen.16 Auf unnötige Wiederholungen kann dann verzichtet werden. Den Anforderungen an die Darlegung zur Feststellung erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit im Urteil ist gleichwohl Genüge getan.

  BGH NStZ 2013, 53 ff., 55.

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Sinn und Zweck der Revisionsgegenerklärung Kirsten Graalmann-Scheerer I. Einleitung In der strafverfahrensrechtlichen Praxis wird immer wieder, vor allem von der Staatsanwaltschaft, aber auch von den Gerichten und der Verteidigung sowie Nebenklagevertretern die Revisionsgegenerklärung (§ 347 StPO) nicht nur als lästige, sondern in rechtlicher Hinsicht auch als überflüssige, das Revisionsverfahren verzögernde Schreibübung bewertet. Diese Einschätzung, die lange Zeit sogar in führenden Kommentaren zur Strafprozessordnung1 vertreten wurde, verkennt die Funktion der Revisionsgegenerklärung sowie den Umfang der Prüfungskompetenz des Gegners des Beschwerdeführers im Revisionsverfahren. Ebenso wenig verfängt die vor allem in der staatsanwaltschaftlichen Praxis bisweilen vertretene Auffassung, die Revisionsgegenerklärung solle angesichts immer knapper werdender Personalressourcen in den Staatsanwaltschaften abgeschafft werden. Unzureichende Personalressourcen rechtfertigen grundsätzlich nicht eine Abschaffung rechtlicher Instrumente, die dem Grundrechtsschutz, hier der Sicherstellung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, dienen. Vielmehr hat der jeweilige Haushaltsgesetzgeber die erforderlichen Haushaltsmittel für eine ausreichende personelle Ausstattung der Justiz im Rahmen des Justizgewährungsanspruchs zur Verfügung zu stellen. Die Vorschrift über die Revisionsgegenerklärung ist seit Inkrafttreten der Reichsstrafprozessordnung vom 1.2.18772 am 1.10.1879 bis zur Bekanntmachung der Texte des GVG und der StPO aufgrund der Verordnung über die Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4.1.19243 am 22.3.19244 in § 387 RStPO und seitdem bis heute bis auf die Einfügung einer gesetzlichen Überschrift für § 347 StPO (Zustellung, Gegenerklärung, Vorlage der Akten an das Revisionsgericht) durch Art. 1 Nr. 13 des Gesetzes zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungsverhandlung und

1  LR/Meyer in der 22. und 23. Auflage sowie Hanack unter Bezugnahme auf Meyer in der 24. und 25. Auflage, jeweils § 347 StPO Rn 6. 2   RGBl. I S. 253, 322. 3   RGBl. I S. 15. 4   RGBl. I S. 322.

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über die Anerkennung von Abwesenheitsurteilen in der Rechtshilfe vom 17.7.20155 über 90 Jahre unverändert geblieben. Dies gibt Anlass, sich aufgrund der veränderten Rahmenbedingungen im Strafverfahren mit den Voraussetzungen, inhaltlichen Anforderungen sowie dem Aufbau einer Revisionsgegenerklärung zu beschäftigen und der Frage einer Reformbedürftigkeit der bestehenden gesetzlichen Regelung nachzugehen.

II. Voraussetzungen 1.  Frist- und formgerechte Einlegung (§ 341 StPO) und Begründung (§§ 337, 344, 345 StPO) der Revision Die Einreichung einer Revisionsgegenerklärung setzt nach § 347 Abs. 1 Satz 1 StPO eine frist- und formgerechte Einlegung (§ 341 StPO) und Begründung (§§ 337, 344, 345 StPO) der Revision des Revisionsführers voraus. Ob diese Voraussetzungen vorliegen, hat der Vorsitzende des Tatgerichts zu prüfen. 2.  Zustellung der Revisionsbegründung an den Gegner des Beschwerdeführers Nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist obliegt es dem Vorsitzenden des Tatgerichts, bei frist- und formgerecht eingelegter und begründeter Revision die Zustellung der Begründungsschrift an den Gegner des Beschwerdeführers anzuordnen (§ 36 Abs. 1 Satz 1 StPO analog). § 36 Abs. 1 StPO ist insoweit nur analog anwendbar, da es sich bei der Zustellung der Revisionsbegründungsschrift an den Gegner des Beschwerdeführers (§ 347 Abs. 1 2. Hs. StPO) nicht um die Zustellung einer gerichtlichen Entscheidung6 handelt. Bei einer Revision des Angeklagten (§ 296 Abs. 1 StPO), des gesetzlichen Vertreters (§§ 296, 298 StPO) sowie des Erziehungsberechtigten (§§ 67 Abs. 3, 5 JGG i.V.m. §§ 296, 298 StPO), des Einziehungsbeteiligten (§ 433 Abs. 1 i.V.m. § 296 Abs. 1 StPO, § 440 Abs. 3 i.V.m. § 296 Abs. 1 StPO) sind Zustellungsempfänger die Staatsanwaltschaft, der Nebenkläger und Privatkläger; bei einer Revision der Staatsanwaltschaft (§ 296 StPO) und des Nebenklägers (§ 401 StPO) ist dem Angeklagten die Revisionsbegründungsschrift der Staatsanwaltschaft bzw. des Nebenklägers zuzustellen. Keine praktische Bedeutung hat die Revision des Privatklägers (§ 390 Abs. 1 Satz 1

  BGBl. I S. 1332, 1333, 1343 Anlage I.   Zum Begriff der Entscheidung vgl. LR/Graalmann-Scheerer27 § 33 StPO Rn 4 ff.

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StPO), dessen Revisionsbegründungsschrift dem Angeklagten zuzustellen wäre. In der revisionsrechtlichen Praxis wird eine Revision ganz überwiegend vom Angeklagten bzw. dessen Verteidiger eingelegt, so dass Zustellungsempfänger der Revisionsbegründungsschrift die Staatsanwaltschaft und Nebenkläger oder – praktisch aber nicht relevant – der Privatkläger als Gegner des Revisionsführers sind. Ist die Revision verspätet eingelegt oder sind die Revisionsanträge nicht rechtzeitig oder nicht entsprechend den Formerfordernissen nach § 345 Abs. 2 StPO angebracht worden, so verwirft das Tatgericht die Revision durch Beschluss als unzulässig (§ 346 Abs. 1 StPO). 3.  Form der Revisionsgegenerklärung Die Revisionsgegenerklärung ist formgebunden. Nach § 347 Abs. 1 Satz 2 StPO ist sie schriftlich7 einzureichen. Adressat ist das Tatgericht, dessen Urteil angefochten ist, auch wenn die Gegenerklärung in erster Linie für das Revisionsgericht sowie die Staatsanwaltschaft beim Revisionsgericht bedeutsam ist. Es genügt die einfache Schriftform. Daher kann ein Angeklagter bei einer Revision der Staatsanwaltschaft und/oder des Nebenklägers die Gegenerklärung selbst fertigen, und zwar auch in Fällen der notwendigen Verteidigung. Ratsam ist dies indessen nicht, denn die Fertigung einer ihren Zweck erfüllenden Gegenerklärung setzt fundierte Kenntnisse im Revisions- und Strafverfahrensrecht voraus und stellt selbst für langjährige und erfahrene Staatsanwälte und Strafverteidiger eine fachliche Herausforderung dar, der sie in der Praxis oftmals nicht hinreichend gewachsen sind. Umso weniger wird ein in der Regel auf diesen Rechtsgebieten unerfahrener Angeklagter oder Nebenkläger in der Lage sein, eine substantiierte Gegenerklärung zu fertigen. Daher kann einem Angeklagten nur davon abgeraten werden, eine Gegenerklärung zu Protokoll der Geschäftsstelle (§ 347 Abs. 1 Satz 3 StPO), also zu Protokoll des Rechtspflegers (§ 24 Abs. 1 Nr. 1b RpflG) abzugeben, denn von dem aufnehmenden Beamten kann er keine ausreichende fachliche Hilfe erwarten. In der Praxis kommt eine Gegenerklärung zu Protokoll der Geschäftsstelle eher selten vor und der aufnehmende Rechtspfleger verfügt regelmäßig nicht über die für diese Tätigkeit erforderlichen Fachkenntnisse, kennt den Akteninhalt nicht und hat die Akten auch nicht vorliegen. Da die Abgabe der Revisionsgegenerklärung zum Aufgabenbereich des für den Tatsachenrechtszug bestellten Verteidigers gehört,8 sollte ein Angeklagter sie stets durch seinen Verteidiger abgeben lassen. In der revisionsrechtlichen Praxis geben Verteidiger jedoch nur selten bei Revisionen der Staatsanwalt-

  Vgl. LR/Graalmann-Scheerer27 Vor § 42, 13 ff.   BayObLG NJW 1952, 716; LR/Franke26 § 347 StPO Rn 5.

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schaft und/oder des Nebenklägers eine Revisionsgegenerklärung für ihren Mandanten ab und wenn dies ausnahmsweise einmal doch geschieht, erweist sich der Vortrag in der Gegenerklärung oftmals als unsubstantiiert und zeigt nur, dass die Funktion der Revisionsgegenerklärung verkannt wurde. Wenn auch Verfahrensrügen in der Entscheidungspraxis des BGH nur selten Erfolg beschieden ist und die Staatsanwaltschaft aufgrund ihrer Wächterrolle im Strafverfahren9 und mit Blick auf § 339 StPO ohnehin in ihrem Rügeverhalten sehr viel stärkeren Restriktionen unterliegt als etwa der Angeklagte, verschenkt die Verteidigung bei einer Revision der Staatsanwaltschaft schlicht Boden, sofern sie sich nicht – was in der Praxis aber die Regel ist – in einer Gegenerklärung dazu verhält, ob und inwieweit das Rügevorbringen der Staatsanwaltschaft bei erhobener Verfahrensrüge den Erfordernissen von § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügt. Die revisionsrechtlichen Kenntnisse von Staatsanwälten sind nämlich – von Ausnahmen abgesehen – grundsätzlich nicht besser als die von Verteidigern. Die Nichtabgabe einer Gegenerklärung durch den Verteidiger kann daher im Einzelfall einen Verteidigungsmangel darstellen, der unter Umständen sogar haftungsrechtlich bedeutsam werden kann.10 4.  Frist für die Abgabe der Revisionsgegenerklärung Nach § 347 Abs. 1 Satz 2 StPO steht dem Gegner des Beschwerdeführers frei, binnen einer Woche nach Zustellung der Revisionsbegründungsschrift eine schriftliche Gegenerklärung abzugeben. Die Wochenfrist stellt lediglich eine Ordnungsvorschrift, nicht jedoch eine Ausschlussfrist dar.11 Daher kann eine Gegenerklärung auch noch nach Ablauf der Wochenfrist – letztlich bis zum Erlass der Entscheidung des Revisionsgerichts zeitlich unbegrenzt – abgegeben werden. In der Praxis findet die Wochenfrist kaum noch Beachtung. Der heutige Strafprozess ist nämlich aufgrund der Komplexität der zu verhandelnden Lebenssachverhalte und der verfahrensrechtlichen Regelungen und der hierzu entwickelten Rechtsgrundsätze sowie einer immer komplexer werdenden obergerichtlichen Rechtsprechung mit dem Strafverfahren im Zeitpunkt des Inkrafttretens von § 387 RStPO als der Vorgängervorschrift von § 347 StPO nicht annähernd vergleichbar. Die Wochenfrist des § 347 Abs. 1 Satz 2 StPO entspricht mithin nicht mehr den aktuellen strafprozessualen Erfordernissen. Dann aber stellt sich die Frage nach einem Reformbedarf und wie eine Neuregelung aussehen könnte. Der Einwand, einer Neuregelung bedürfe es   BVerfGE 133, 168 Rn 59, 80, 93.   Zur zivilrechtlichen Haftung des Strafverteidigers vgl. Krause NStZ 2000, 225 ff. 11  Meyer-Goßner/Schmitt59 § 347 StPO Rn 2; KK/Gericke7 § 347 StPO Rn 8; LR/ Franke26 § 347 StPO Rn 3. 9

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nicht, weil es sich bei der derzeitigen Regelung nicht um eine Ausschlussfrist, sondern lediglich um eine Ordnungsvorschrift handele, verfängt nicht, denn eine Ordnungsvorschrift, die von der Praxis ohnehin ganz überwiegend nicht eingehalten wird, erfüllt ihren Normzweck nicht. Eine ersatzlose Streichung der Worte „binnen einer Woche“ in § 347 Abs. 1 Satz 2 StPO könnte dem das gesamte Strafverfahren beherrschenden Beschleunigungsgebot zuwiderlaufen. Das gesamte Strafverfahren wird von diesem Gebot beherrscht. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK gewährt jeder Person unter anderem einen Anspruch auf Verhandlung über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage innerhalb angemessener Frist. Das Gebot, die angemessene Verfahrensdauer nicht zu überschreiten, umfasst das innerstaatliche Strafverfahren vom Beginn der behördlichen Ermittlungen über die gerichtlichen Verfahren in allen Instanzen bis zum rechtskräftigen Abschluss.12 Bei der Beurteilung, welche Verfahrensdauer noch als angemessen im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK angesehen werden kann, kommt es stets auf die Beurteilung der konkreten Umstände des Einzelfalls an.13 Ein Verfahren dauert dann unangemessen lange, wenn es die angeklagte Person länger als nach der Sachlage zur Vertretung ihrer Interessen erforderlich belastet. Entscheidend kommt es dabei stets auf die Verfahrensdauer an, die auf einer dem Staat und seinen Organen i.S.v. Art. 1 EMRK zuzurechnenden Verzögerung beruht.14 Es muss mithin die Verfahrensdauer, die für eine sachgerechte Erledigung des jeweiligen Strafverfahrens bei einer ordnungsgemäßen Sachbearbeitung im normalen Geschäftsbetrieb erforderlich ist, überschritten sein. Eine erhebliche Verzögerung bei der Fertigung der Revisionsgegenerklärung und Vorlage an das Revisionsgericht kann im Einzelfall eine Verletzung des Beschleunigungsgebots darstellen und bei einer schwerwiegenden Verletzung sogar zu einer Einstellung des Strafverfahrens wegen eines Verfahrenshindernisses führen.15 Der Gegner des Revisionsführers hat daher die Gegenerklärung unverzüglich nach Zustellung der Revisionsbegründungsschrift abzugeben. Welche Frist mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK im Einzelfall noch als angemessen angesehen werden kann, richtet sich vornehmlich nach Art und Umfang sowie der Komplexität des Revisionsvorbringens in der Revisionsbegründungsschrift und der Anzahl der Revisionsführer. Angesichts der Bedeutung einer sorgfältig angefertigten Gegenerklärung für das Revisionsverfahren sollte sich der Gegner des Beschwerdeführers zwar ausreichend Zeit dafür nehmen dürfen. Eine Frist zur Abgabe einer Gegenerklärung wie die Wochenfrist in § 347 Abs. 1 Satz 2 StPO, die in der Praxis auf LR/Esser26 Art. 6 EMRK Rn 310.  EGMR (GK) Frydlender/F, 27.6.2000, ECHR 2000-VII; Adam/D, 4.12.2008; BVerfGE 55, 349, 369; BVerfG NJW-RR 2010, 207. 14   Metzger/D, 31.5.2001, StV 2001, 489 mit Anm. I. Roxin. 15   BGHSt 35, 137, 139 ff.; BGH NStZ 1995, 335; KK/Gericke7 § 347 StPO Rn 14. 12 13

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grund veränderter Verhältnisse im Strafverfahren weitgehend ohnehin keine Beachtung mehr findet, ist nicht hilfreich. Vielmehr erscheint eine gesetzliche Regelung anstrebenswert, die dem jeweiligen Gegner des Beschwerdeführers einerseits ausreichenden zeitlichen Spielraum für die Fertigung der Gegenerklärung gibt, andererseits aber auch dem Beschleunigungsgrundsatz hinreichend Rechnung trägt. Wird jedoch eine Gegenerklärung aufgrund angespannter Personalsituation in der Justiz nicht zeitgerecht gefertigt und werden aufgrund dessen die Akten dem Revisionsgericht erheblich verzögert gemäß § 347 Abs. 2 StPO vorgelegt, so hat der Staat dies – ggf. mit weitreichenden Folgen bis hin zur Einstellung des Verfahrens wegen eines Verfahrenshindernisses – zu vertreten, denn ihm obliegt es, die Strafjustiz so zu organisieren und auszustatten, dass sie den Anforderungen der Konvention genügen kann.16 Die bisherige Ordnungsvorschrift mit der Wochenfrist legt die Verantwortung für die Beurteilung, welche Frist noch als angemessen i.S.v. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK anzusehen ist, zurzeit faktisch in die Hände der Staatsanwaltschaft, denn sie ist nach § 347 Abs. 2 StPO verpflichtet, nach Eingang der Gegenerklärung oder nach Ablauf der Wochenfrist die Akten an das Revisionsgericht zu senden. Da aber in der Mehrzahl der Fälle, nämlich bei Revision des Angeklagten, die Staatsanwaltschaft als Gegnerin des Beschwerdeführers zur Fertigung der Gegenerklärung berufen ist, kommt ihr aufgrund ihrer Wächterfunktion eine tragende Rolle bei der Beachtung des Beschleunigungsgebots zu. Bislang ist der BGH mit einer verzögerten Vorlage der Akten infolge überlanger Bearbeitungszeit für die Gegenerklärung durch die Staatsanwaltschaft – von Extremfällen abgesehen17 – relativ großzügig umgegangen18 und hat damit durchaus anerkannt, dass eine substantiierte Gegenerklärung nicht innerhalb der Wochenfrist abgegeben werden kann. Wenn aber die Wochenfrist in der Praxis überwiegend nicht beachtet wird, so sollte sie durch einen unbestimmten Rechtsbegriff ersetzt werden, der sowohl den praktischen Erfordernissen als auch dem Beschleunigungsgebot gerecht wird. Da in der strafverfahrensrechtlichen Praxis die Fertigung einer Revisionsgegenerklärung nicht gerade zu den Tätigkeiten zählt, die sich eines besonderen Interesses erfreuen, eine sorgfältig abgegebene Gegenerklärung aber eine große Bedeutung für das weitere Revisionsverfahren hat, sollte der Gegner des Revisionsführers sie unverzüglich abgeben müssen. Der unbestimmte Rechtsbegriff „unverzüglich“ ist der Strafprozessordnung nicht fremd (vgl. § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, § 98b Abs. 3, § 100 Abs. 5   EGMR StV 2009, 561 mit Anm. Krehl.   BGHSt 35, 137, 139 ff. 18   BGH Beschluss vom 26.6.2002 – 5 StR 53/02 – Staatsanwaltschaft benötigte 14 Monate für die Gegenerklärung; Beschluss vom 12.6.1997 – 5 StR 216/97 – keine Verfahrensverzögerung bei einer Bearbeitungszeit von sechs Monaten. 16 17

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Satz 1, § 100b Abs. 4 Satz 1, § 101 Abs. 8 Satz 1, § 111e Abs. 3, § 111i Abs. 4 Satz 1, § 114a Satz 2, § 114b Abs. 1 Satz 1, § 118 Abs. 5, § 121 Abs. 3 Satz 3, § 126 Abs. 2 Satz 4, § 163d Abs. 2 Satz 2, § 168a Abs. 2 Satz 2 StPO). Die obergerichtliche Rechtsprechung legt bei der Auslegung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs einen strengen Maßstab an.19 „Unverzüglich“ bedeutet, dass die Handlung (hier: die Revisionsgegenerklärung) ohne unnötige, nicht durch die Sachlage begründete Verzögerungen vorgenommen werden muss.20 Dem Gegner des Revisionsführers muss dabei eine gewisse Zeit zum Überlegen und zur Abfassung der Gegenerklärung eingeräumt werden, denn nur eine sorgfältig angefertigte Gegenerklärung erfüllt auch ihren Zweck. Das Unverzüglichkeitsgebot sichert zum einen das Beschleunigungsgebot und eröffnet zum anderen aber auch hinreichend zeitlichen Spielraum insbesondere in Umfangverfahren mit mehreren Revisionsführern und einer Vielzahl von Verfahrensrügen. Eine Streichung der Wochenfrist in § 347 Abs. 1 Satz 2 StPO unter gleichzeitiger Einführung eines Unverzüglichkeitsgebots würde eine für die Praxis ausreichend flexible Regelung darstellen.

III.  Inhaltliche Anforderungen an die Revisionsgegenerklärung Die Strafprozessordnung enthält keine Regelungen zu den inhaltlichen Anforderungen an eine Revisionsgegenerklärung. In der Praxis bestehen keine einheitlichen Regelungen zu Aufbau und Inhalt. Lediglich Nr. 162 Abs. 2 RiStBV enthält einige wenige Arbeitshinweise, die aber angesichts der Komplexität von Rügevorbringen nicht wirklich weiterhelfen. Letztlich ergeben sich die inhaltlichen Anforderungen aus der Funktion der Revisionsgegenerklärung. 1. Funktion Die Funktion der Gegenerklärung ist komplex. a)  Sicherung des rechtlichen Gehörs Die Möglichkeit, zu der Revisionsbegründung des Revisionsführers Stellung zu nehmen, sichert das rechtliche Gehör als Prozessgrundrecht21 für den Gegner des Revisionsführers22 und dient in erster Linie der Feststellung der tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen. Für die Staatsanwaltschaft ergibt

  BGH NStZ 2008, 578.   BGHSt 45, 315. 21   BVerfGE 55, 1, 6; 70, 180, 188. 22   Maunz/Dürig/Schmidt/Aßmann Kommentar zum Grundgesetz, Art. 103 GG Rn 36. 19 20

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sich das Anhörungsrecht jedoch nicht aus Art. 103 Abs. 1 GG,23 sondern aus der einfach gesetzlichen Regelung des § 347 Abs. 1 Satz 2 StPO. Den Verfahrensbeteiligten ist grundsätzlich zu jeder dem Gericht unterbreiteten Äußerung der Gegenseite Gelegenheit zur Äußerung zu geben.24 Dieser Grundsatz gilt im Strafverfahren auch in Revisionssachen. Die Gewährung rechtlichen Gehörs erstreckt sich dabei auf alle von den Verfahrensbeteiligten vorgebrachten Verfahrenstatsachen. Eine Gegenerklärung zu in der Revisionsbegründungschrift vertretenen Rechtsauffassungen abzugeben, ist zwar nicht verboten, sollte aber auf besonders gelagerte Einzelfälle beschränkt bleiben.25 b)  Beweissammlung für das Revisionsgericht Nach Nr. 162 Abs. 2 Satz 1 RiStBV ist die Staatsanwaltschaft innerdienstlich verpflichtet, eine Gegenerklärung abzugeben, wenn das Urteil wegen eines Verfahrensmangels angefochten wird und anzunehmen ist, dass dadurch die Prüfung der Revisionsbeschwerden erleichtert wird (§ 352 Abs. 1 StPO) und zeitraubende Rückfragen und Erörterungen vermieden werden. Die Bedeutung der Gegenerklärung als Beweissammlung für das Revisionsgericht wird häufig in der Praxis verkannt und führt nicht selten nach nur oberflächlicher Prüfung des Revisionsvorbringens zu Ausführungen in der Gegenerklärung, dass entweder „die Verfahrenstatsachen zutreffend und vollständig mitgeteilt“ worden seien oder von einer Gegenerklärung abgesehen werde, weil dadurch die Prüfung der Revisionsbeschwerden nicht erleichtert werden würde, wobei übersehen wird, dass alleine die Feststellung, es werde keine Gegenerklärung abgegeben, bereits die Gegenerklärung ist. Bei allem Verständnis für die bei allen Verfahrensbeteiligten vorhandene Arbeitsbelastung können derartige Gegenerklärungen weitreichende negative Folgen für das weitere Verfahren haben. Die Gegenerklärung als Beweissammlung für die Staatsanwaltschaft bei dem Revisionsgericht und das Revisionsgericht dient dazu, diesen diejenigen Verfahrenstatsachen (nicht: Bewertung der Verfahrensrügen) zu den einzelnen Verfahrensrügen mitzuteilen, die der Revisionsführer nicht, unvollständig oder falsch vorgetragen hat. Der die Gegenerklärung fertigende Gegner des Revisionsführers muss sich daher unter Heranziehung des gesamten Revisionsvortrags fragen, ob der Revisionsführer alle für die jeweilige erhobene Verfahrensrüge erforderlichen Verfahrenstatsachen zutreffend und vollständig mitgeteilt hat und ob das Revisionsgericht allein aufgrund des Inhalts der Revisionsbegründungsschrift über die Revision entscheiden könnte, wobei  Ebenda.   St. Rechtspr. des BVerfG, vgl. u.a. BVerfGE 64, 135, 144. 25   Vgl. zu der Thematik Schulte, Die Gewährung rechtlichen Gehörs in der Praxis des Revisionsverfahrens in Strafsachen, Festschrift für Kurt Rebmann (1989) S. 465 ff., 472 ff. 23 24

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das Revisionsgericht nur bei zugleich erhobener Sachrüge auch noch die Urteilsgründe heranziehen darf. Der Gegner des Revisionsführers muss sich daher zunächst darüber im Klaren werden, welche konkreten Verfahrenstatsachen vom Revisionsführer mitgeteilt werden müssen, sodann prüfen, ob und welche dieser wie (zutreffend und vollständig?) mitgeteilt hat und schließlich die fehlenden, unzutreffend vorgetragenen sowie die nachteiligen, der Rüge den Boden entziehenden Tatsachen26 seinerseits in die Gegenerklärung aufnehmen. c)  Reduzierung der Erfolgsaussichten unwahrer und/oder unvollständiger Verfahrensrügen Da in der Praxis die zulässig erhobene Verfahrensrüge, die die den Mangel enthaltenden Tatsachen entsprechend den gesetzlichen Erfordernissen (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) mitteilt, eher selten ist, kommt einer sorgfältig angefertigten Revisionsgegenerklärung große Bedeutung zu. Sie kann nämlich dazu beitragen, einer auf den ersten Blick zulässig erhobenen und begründeten Verfahrensrüge den Boden zu entziehen. Trägt der Revisionsführer die den Mangel enthaltenden Tatsachen (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) nur scheinbar schlüssig, aber tatsächlich unvollständig und/oder gar – gleichgültig, ob absichtlich oder fahrlässig – unwahr vor und tritt der Gegner des Revisionsführers diesem Tatsachenvortrag in einer Gegenerklärung nicht entgegen, so besteht in aller Regel weder für die Staatsanwaltschaft bei dem Revisionsgericht noch für das Revisionsgericht Anlass, an dem Revisionsvortrag zu zweifeln.27 Dies kann dann dazu führen, dass eine Verfahrensrüge durchgreift, die bei vollständigem und wahrheitsgemäßem Vortrag nicht begründet gewesen wäre, so aber zur Aufhebung des Urteils (§ 353 StPO) sowie zur Zurückverweisung (§ 354 Abs. 2 StPO) zur erneuten Verhandlung und Entscheidung führen kann. Eine mit Mängeln behaftete Revisionsgegenerklärung kann mithin schlimmstenfalls zu einer erhebliche Ressourcen bindenden neuen Hauptverhandlung mit erneutem Rechtsmittelverfahren und damit zu einer ganz erheblichen Verzögerung des Verfahrensabschlusses beitragen. Dabei wirkt sich ein langer Zeitabstand zwischen Tat und Verurteilung in aller Regel ebenso strafmildernd aus wie eine lange Verfahrensdauer.28 Die durch eine erneute Beweisaufnahme anfallenden Verfahrenskosten für Zeugen, Sachverständige und unter Umständen mehrere notwendige Verteidiger sowie Nebenklägervertreter führen zu einer an sich unnötigen Belastung des Justizhaushalts, denn in aller Regel können diese Kosten von Verurteilten nicht erfolgreich beigetrieben werden. Der möglichen Tragweite einer unter 26   Vgl. KK/Gericke7 § 344 StPO Rn 38 ff.; BVerfG NJW 2005, 1999, 2001; BGH NStZ 2000, 49 f. NStZ-RR 2007, 53 f. 27   BGH NStZ 2000, 437; 2002, 275, 276; BGH 22.8.2006 – 1 StR 293/06. 28   Fischer63 § 46 StGB Rn 61 m.w.N.

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dem Druck des Arbeitsalltags nicht sorgfältig angefertigten Revisionsgegenerklärung sind sich viele Staatsanwälte nicht bewusst. Verteidiger stehen insoweit den Staatsanwälten nichts nach. Zwar ist die Staatsanwaltschaft bei der Durchführung einer Revision von Gesetzes wegen (§ 339 StPO) und innerdienstlich (Nrn. 147 und 148 RiStBV) beschränkt. Dementsprechend selten rügt die Staatsanwaltschaft die Verletzung formellen Rechts, zumal da sie aufgrund ihrer Wächterrolle im Strafverfahren durch ihr Prozessverhalten in allen Verfahrensstadien dafür Sorge zu tragen hat, dass Verfahrensfehler möglichst nicht geschehen und sofern dies doch passiert sein sollte, grundsätzlich, soweit noch möglich, auf eine Heilung hinzuwirken hat. Erhebt die Staatsanwaltschaft jedoch ausnahmsweise einmal eine Verfahrensrüge, so unterliegt sie ebenfalls den gesetzlichen Begründungserfordernissen aus § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, die ihr genauso viele Probleme bereiten wie Verteidigern. Gegenerklärungen von Verteidigern auf die mit einer Verfahrensrüge begründete Revision der Staatsanwaltschaft kommen in der Praxis kaum vor und erschöpfen sich mehr in Konglomeratausführungen als in der Mitteilung von fehlenden Verfahrenstatsachen.29 Bei der Fortbildung von Staatsanwälten und Verteidigern bleibt insoweit noch Einiges zu tun. 2.  Abgabe einer Revisionsgegenerklärung a)  Pflicht für die Staatsanwaltschaft bei Erhebung von Verfahrensrügen Die Staatsanwaltschaft ist als Gegnerin des Revisionsführers bei einer Revision des Angeklagten nach geltendem Recht von Gesetzes wegen nicht verpflichtet, eine Gegenerklärung abzugeben. § 347 StPO enthält keine entsprechende gesetzlich verpflichtende Regelung. Innerdienstlich ist die Staatsanwaltschaft jedoch nach Nr. 162 Abs. 2 Satz 1 RiStBV gehalten, eine Gegenerklärung fristgemäß abzugeben, wenn anzunehmen ist, –– dass dadurch die Prüfung der Revisionsbeschwerden erleichtert wird und –– zeitraubende Rückfragen und Erörterungen vermieden werden. Die von dem Bundesjustizminister eingesetzte Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens hat in ihrem im Oktober 2015 vorgelegten Bericht empfohlen, die in Nr. 162 Abs. 2 Satz 1 RiStBV enthaltene Pflicht der Staatsanwaltschaft, unter bestimmten Voraussetzungen eine Gegenerklärung abzugeben, gesetzlich zu regeln und diese Empfehlung in erster Linie damit begründet, dass durch eine nicht abgegebene Gegenerklärung der Staatsanwaltschaft „sowohl bei der Staatsanwaltschaft 29   Mavany Verteidigung gegen staatsanwaltschaftliche Verfahrensrügen – ein Plädoyer für den Einwand der Unzulässigkeit, StraFo 2014, 494 ff.

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bei dem Revisionsgericht als auch bei dem Revisionsgericht ein erheblicher Arbeitsaufwand entstehen“30 kann. Ein Referentenentwurf des BMJV eines Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens (Stand: 27.05.2016) hat diese Empfehlung der Expertenkommission aufgegriffen und sieht in Art. 1 Nr. 23 lit. a eine Ergänzung des § 347 Abs. 1 StPO mittels Einfügung eines Satzes nach Satz 2 vor, wonach die Staatsanwaltschaft eine Gegenerklärung in der Frist des § 347 Abs. 1 Satz 2 StPO abgibt, wenn anzunehmen ist, dass dadurch die Prüfung der Revisionsbeschwerde erleichtert wird. Diese beabsichtigte gesetzliche Regelung ist grundsätzlich zu begrüßen, allerdings sollte anstelle der schon jetzt geltenden Wochenfrist als Ordnungsvorschrift aus den schon dargelegten Gründen ein Unverzüglichkeitsgebot erwogen werden. b)  Ermessen der Staatsanwaltschaft bei Sachrüge (Nr. 162 Abs. 1 RiStBV) Sofern der Angeklagte seine Revision nur mit der Sachrüge begründet, steht es nach Nr. 162 Abs. 1 RiStBV im Ermessen der Staatsanwaltschaft, ob sie eine Gegenerklärung abgeben will. Enthält die Sachrüge tatsächlich eine Verfahrensrüge, so hat die Staatsanwaltschaft eine Gegenerklärung nach Nr. 162 Abs. 2 RiStBV abzugeben. Gerade im Revisionsrecht eher unerfahrene Revisionsführer vermögen nicht immer hinreichend genau in ihrem Revisionsvortrag zwischen Verfahrens- und Sachrüge zu unterscheiden. Dies hat bisweilen zur Folge, dass eine erhobene Verfahrensrüge tatsächlich einen sachlich-rechtlichen Angriff und eine Sachrüge die Rüge eines Verfahrensmangels beinhalten kann. Für im Revisionsrecht wenig erfahrene Staatsanwälte bedeutet insbesondere ein konfuser Revisionsvortrag des Verteidigers eine echte Herausforderung, bei deren Bewältigung sie sich nicht scheuen sollten, den Rat von erfahrenen Kolleginnen und Kollegen der Staatsanwaltschaft oder Generalstaatsanwaltschaft einzuholen. Soweit Nr. 162 Abs. 1 RiStBV bei einer vom Nebenkläger als Revisionsführer erhobenen Sachrüge die Abgabe einer Gegenerklärung in das Ermessen der Staatsanwaltschaft stellt, übersieht diese innerdienstliche Regelung, dass § 347 Abs. 1 StPO in diesen Fällen schon deshalb nicht greift, weil die Staatsanwaltschaft bei einer Revision des Nebenklägers nicht Gegner des Beschwerdeführers ist.31 Bei einer alleinigen Revision des Nebenklägers ist die Staatsanwaltschaft daher weder von Gesetzes wegen noch innerdienstlich zur Abgabe einer Gegenerklärung berufen.

30   Bericht der Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens S. 159. 31  LR/Franke26 § 347 StPO Rn 1; Meyer-Goßner/Schmitt59 § 347 StPO Rn 1.

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c) Verteidigung Bei einer Revision der Staatsanwaltschaft ist dem Angeklagten als dem Gegner der Beschwerdeführerin deren Revisionsbegründungsschrift nach § 347 Abs. 1 Satz 1 StPO zuzustellen. Dem Angeklagten bzw. dessen Verteidiger steht es dann nach § 347 Abs. 1 Satz 2 StPO frei, innerhalb der Wochenfrist eine schriftliche Gegenerklärung abzugeben. Wenn auch die Staatsanwaltschaft sowohl von Gesetzes wegen (§ 339 StPO) als auch innerdienstlich hinsichtlich der Einlegung eines Rechtsmittels wesentlich größeren Beschränkungen unterliegt als der Angeklagte und daher Revisionen der Staatsanwaltschaft in der Praxis eher selten vorkommen, können durchaus einmal wesentliche Belange der Allgemeinheit oder der am Verfahren beteiligten Personen es gebieten (Nr. 147 Abs. 1 Satz 1 RiStBV), Revision einzulegen, wenn diese aussichtsreich ist. Erhebt die Staatsanwaltschaft in einem solchen Fall eine Verfahrensrüge, was sie aufgrund ihrer Wächterrolle nur dann tun darf, wenn nicht die Beschränkungen nach § 339 StPO eingreifen und die Voraussetzungen von Nr. 147 RiStBV vorliegen, muss sie die den Mangel enthaltenden Tatsachen (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) vortragen. Hinsichtlich der Begründungserfordernisse für Verfahrensrügen gilt nämlich für die Staatsanwaltschaft nichts Anderes als für den Angeklagten und seinen Verteidiger. Da die Fertigung einer Revisionsbegründung und die Erhebung von Verfahrensrügen nicht den staatsanwaltschaftlichen Arbeitsalltag prägen und entsprechend spezialisierte und im Revisionsrecht durch Erprobungen in Staatsanwaltschaften beim Revisionsgericht qualifizierte Staatsanwälte eher eine Ausnahme darstellen, tun sich Staatsanwälte bei der Erhebung von Verfahrensrügen oftmals genauso schwer wie Verteidiger. Die Revisionsgerichte haben insoweit jedoch nur selten Gelegenheit, in ihrer Revisionsentscheidung die Unzulässigkeit einer staatsanwaltschaftlichen Verfahrensrüge zu beanstanden. Ganz überwiegend greift nämlich, sofern die Revision der Staatsanwaltschaft nicht aus anderen Gründen aussichtsreich ist, die Filterfunktion der Generalstaatsanwaltschaft (Nr. 168 RiStBV) ein und der Generalstaatsanwalt bzw. die Generalstaatsanwältin ordnet die Rücknahme des Rechtsmittels an oder nimmt es selbst zurück. Bevor jedoch die Akten der Generalstaatsanwaltschaft zur Prüfung der Formalien und ob die Revision der Staatsanwaltschaft überhaupt durchgeführt werden soll, vorgelegt werden (Nr. 163 RiStBV), kann der Angeklagte bzw. dessen Verteidiger eine Gegenerklärung abgeben. Lediglich im Revisionsrecht spezialisierte und qualifizierte Verteidiger geben in der Praxis eine Gegenerklärung ab, die ihre Funktion auch erfüllt. Überwiegend erschöpfen sich abgegebene Gegenerklärungen von Verteidigern in Konglomeratausführungen, die die Funktion verkennen und unter revisionsrechtlichen Gesichtspunkten für das Revisionsgericht ohne Erkenntniswert sind und nur die Akten und Senatshefte fül-

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len. Die Verteidigung vergibt hier Chancen, einem unvollständigen Revisionsvorbringen der Staatsanwaltschaft wirksam entgegenzutreten. 3.  Aufbau der Revisionsgegenerklärung Die Strafprozessordnung und die Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren enthalten keine Aufbauregeln für die Revisionsgegenerklärung. Ein Regelungsbedürfnis besteht insoweit auch nicht. Vielmehr ist es Aufgabe von Fortbildungsveranstaltungen, die Grundregeln zu vermitteln. a)  Auslegung des gesamten Revisionsvorbringens Der Gegner des Revisionsführers muss zunächst die Revisionsbegründung, die als Willenserklärung im Strafverfahren auslegungsfähig ist,32 auslegen. Dabei hat er den Revisionsvortrag in seiner Gesamtheit zu betrachten und darf nicht am Wortlaut der Ausführungen in der Revisionsbegründungsschrift haften. Vielmehr muss er die einzelnen Verfahrensrügen ihrem Sinn nach erkunden. Dabei ist die Begründungsschrift so auszulegen, dass der mit der Revision angestrebte Erfolg auch möglichst erreicht wird.33 Ein Irrtum in der Bezeichnung von Rügen als Sach- oder Verfahrensrüge ist unschädlich.34 Die wirkliche rechtliche Einordnung des Revisionsangriffs, wie sie dem Sinn und Zweck des Revisionsvorbringens zu entnehmen ist, ist entscheidend. Es ist nicht erforderlich, die verletzte Norm überhaupt zu bezeichnen; eine unzutreffende Bezeichnung ist grundsätzlich unbeachtlich.35 b)  Abgrenzung zwischen Sach- und Verfahrensrüge Der Gegner des Beschwerdeführers muss zunächst aus dem gesamten Revisionsvorbringen die erhobenen Verfahrensrügen ermitteln. Dabei muss er bedenken, dass einerseits nicht alles, was als Verfahrensrüge bezeichnet wird, auch eine solche darstellt und auch ein mit „Sachrüge“ bezeichneter Revisionsvortrag durchaus eine Verfahrensrüge enthalten kann und dann zu ermitteln ist, ob hinsichtlich der einzelnen Verfahrensrügen alle den Mangel enthaltenden Tatsachen in der Begründungsschrift in ihrer Gesamtheit auch mitgeteilt worden sind.

  BGHSt 25, 275; 67, 198.   BGH NJW 1956, 757. 34   BGHSt 19, 275; BGH NJW 2007, 92, 96. 35   Vgl. aber BGH NStZ 1998, 636; 1999, 94. 32 33

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c)  Prüfung des Revisionsvortrags auf Vollständigkeit und Richtigkeit der einzelnen Verfahrenstatsachen Hat der Gegner des Beschwerdeführers die erhobenen Verfahrensrügen aus dem Revisionsvortrag herausgearbeitet, so ordnet er die erhobenen Rügen nach sachlichen Gesichtspunkten. Verfahrensrügen, mit denen ein absoluter Revisionsgrund geltend gemacht wird, sollten vor solchen, mit denen ein relativer Revisionsgrund beanstandet wird, nacheinander darauf untersucht werden, ob der Revisionsvortrag in der Begründungsschrift zutreffend und vollständig ist. Konglomeratausführungen in einer Gegenerklärung haben stets zu unterbleiben, denn sie tragen regelmäßig nicht dazu bei, der Staatsanwaltschaft beim Revisionsgericht und dem Revisionsgericht die Prüfung des Rügevorbringens zu erleichtern. Es gilt der Grundsatz der Übersichtlichkeit. Nur bei mehreren Angeklagten als Revisionsführer mit vollständig identischer Revisionsbegründung darf ausnahmsweise zur Vermeidung überflüssiger Schreibübungen eine einheitliche Gegenerklärung gefertigt werden. Bei mehreren Angeklagten mit unterschiedlichen Revisionsbegründungen ist die Gegenerklärung nach Angeklagten (Haupttäter vor Gehilfen) und dann für jeden Angeklagten je nach seinem Revisionsvorbringen nach absoluten und relativen Revisionsgründen zu ordnen.

IV. Reformbedarf? Die Fertigung einer Revisionsgegenerklärung sollte – wie es der Referentenentwurf des BMJV eines Gesetzes zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens (Stand 27.05.2016) vorsieht – verpflichtend für die Staatsanwaltschaft bei einer erhobenen Verfahrensrüge gesetzlich verankert werden. Der in der vorgesehenen Ergänzung in § 347 Abs. 1 StPO-E weiteren, an Nr. 162 Abs. 2 Satz 1 RiStBV orientierten Voraussetzung, dass anzunehmen sein muss, dass dadurch die Prüfung der Revisionsbeschwerde erleichtert wird, bedarf es jedoch nicht. Als Gegenerklärung reicht es dann aus, lediglich mitzuteilen, dass alle Verfahrenstatsachen zutreffend und vollständig in der Revisionsbegründungsschrift vorgetragen worden sind. Die in dem Entwurf vorgesehene Regelung begründet in der Praxis eher die Gefahr, dass unter der Arbeitsbelastung im staatsanwaltschaftlichen Berufsalltag die Staatsanwaltschaft geneigt sein könnte, der gesetzlichen Pflicht zur Abgabe einer substantiierten Gegenerklärung auszuweichen und zu verneinen, dass dadurch die Prüfung der Revisionsbeschwerde erleichtert wird und so letztlich eine gesetzliche Pflicht zu unterlaufen. Innerdienstliche Maßnahmen wie etwa eine Weisung des Generalstaatsanwalts bzw. der Generalstaatsanwältin (§ 147 Nr. 3 GVG) im Rahmen der nach Nr. 168 RiStBV vorzunehmenden Prüfung, eine Gegenerklärung abzugeben, würden zwar

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zur Beachtung der Förmlichkeiten im Revisionsverfahren, aber auch zugleich zu einer Verfahrensverzögerung führen. Es empfiehlt sich daher, eine gesetzliche Pflicht für die Staatsanwaltschaft als Gegnerin des Beschwerdeführers zur Abgabe einer Gegenerklärung alleine an eine erhobene Verfahrensrüge zu knüpfen. Die bisherige Wochenfrist in § 347 Abs. 1 Satz 2 StPO als Ordnungsvorschrift sollte abgeschafft und durch ein Unverzüglichkeitsgebot ersetzt werden.

V. Ausblick Nach über 90 Jahren ist es aufgrund veränderter Verhältnisse in der strafverfahrensrechtlichen Wirklichkeit angezeigt, § 347 StPO auf den Prüfstand zu stellen. Wenn die Revisionsgegenerklärung ihren Zweck zur Sicherung des rechtlichen Gehörs im Revisionsverfahren, als Beweissammlung für das Revisionsgericht und zur Reduzierung der Erfolgsaussichten unwahrer und/oder unvollständiger Verfahrensrügen erfüllen soll, so ist es aber ferner unumgänglich, sowohl für Staatsanwälte als auch für Verteidiger in sehr viel stärkerem Maße einschlägige Fortbildungsveranstaltungen als bislang anzubieten. Wer mit den Grundzügen des Revisionsrechts nicht vertraut ist, wird nicht in der Lage sein, eine ihren Zweck erfüllende Gegenerklärung abzugeben. Um dies künftig sicherzustellen, bleibt in den Staatsanwaltschaften, aber auch im Rahmen der Fachanwaltsausbildung und der Fortbildung für Strafverteidiger noch Einiges zu tun.

Die Verwendung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse für die Verfolgung terroristischer Straftaten Rainer Griesbaum Der geerehrte Jubilar Ottmar Breidling, dem dieser Beitrag gewidmet ist, war als Vorsitzender des 6. Strafsenats des OLG Düsseldorf dafür bekannt, dass er seinen Urteilsbegründungen Vorworte mit rechtspolitischen Aspekten voranstellte, die dank seiner richterlichen Autorität großes Gewicht hatten und die auch in der Medienöffentlichkeit stets ein breites Echo gefunden haben. So hob er mehrfach hervor, dass Verfassungsschutz und Bundesnachrichtendienst – als Teil des ganzheitlichen Bekämpfungsansatzes – unverzichtbar bei der Aufdeckung islamistischer jihadistischer Strukturen seien. Zum Abschluss seines Vorworts zur mündlichen Urteilsbegründung gegen drei Mitglieder und einen Unterstützer der deutschen Al Tawhid-Zelle am 26. Oktober 2005 wies er auf folgendes hin: „Dass es nicht zu einem oder mehreren Anschlägen der hiesigen Al Tawhid-Zelle gekommen ist, ist der nicht hoch genug einzuschätzenden Wachsamkeit des Bundesnachrichtendienstes und des Verfassungsschutzes einerseits wie auch der Bundesanwaltschaft und dem Bundeskriminalamt andererseits zu verdanken. Sämtliche Behörden haben genau zum richtigen Zeitpunkt das Richtige getan, nämlich Unterrichtung der Strafverfolgungsbehörden durch den Verfassungsschutz nach einem Hinweis durch den Bundesnachrichtendienst bei Feststellung des sogenannten Märtyrer-Telefonats vom 18. Oktober 2001, Einleitung des Ermittlungsverfahrens durch den Generalbundesanwalt mit anschließend engmaschiger Überwachung der Verdächtigen durch das Bundeskriminalamt.“ Mit diesen wenigen Sätzen hat Ottmar Breidling die Idealform der Zusammenarbeit zwischen Nachrichtendiensten und Strafverfolgungsbehörden bei der Bekämpfung des Terrorismus auf den Punkt gebracht.

I.  Risiko Terrorismus Ist die Sicherheitslage in Deutschland angesichts der Bedrohungen durch den islamistischen Terrorismus stabil? Sicherheit in Zeiten des Terrorismus ist keine Selbstverständlichkeit, sondern das Ergebnis einer Sicherheitspo-

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litik, die zügig und besonnen auf die besonderen Strukturen und Herausforderungen des internationalen Terrorismus reagiert und Vertrauen bei den Bürgern schafft. Das Bundesverfassungsge­richt (im folgenden: BVerfG) hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass der Staat die verfassungsrechtliche Aufgabe hat, der Bevölkerung Sicherheit vor Gefahren für Leib, Leben und Freiheit zu gewährleisten und terroristischen Bestrebungen mit den erforderlichen rechts­staatlichen Mitteln wirksam entgegenzutreten1. Staatsschutz in diesem Sinne ist eine Gesamtaufgabe von Legislative, Exekutive und Judikative. Vorrangiges Ziel bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus ist die Verhinderung von Anschlägen. Zuständig für die Strafverfolgung zur Terrorismusabwehr ist originär der Generalbundesanwalt (im folgenden: GBA), der auf die enge Zusammenarbeit mit den Landesstaatsanwaltschaften ebenso wie auf den Informationsaustausch mit den Nachrichtendiensten angewiesen ist. Warum konnten in Deutschland bislang mehrere islamistisch motivierte Anschlagsplanungen rechtzeitig aufgedeckt werden2? – weil die Gefahrenabwehr- und die Strafverfolgungsbehörden äußerst aufmerksam waren – und weil sie als Lehre aus dem 11. September 2001 eine verbesserte Zusammenarbeit aufgebaut haben. Zwei Beispiele aus der Amtszeit des Jubilars und ein Fall aus der jüngeren Vergangenheit sollen das verdeutlichen. Die Deutsche Al Tawhid-Zelle3: Drei Angehörige einer deutschen Zelle der sunnitischen-palästinensischen Al Tawhid-Bewegung hatten im Auftrag des Anführers Al Zarqawi Anschläge auf das jüdische Gemeindezentrum in der Berliner Fasanenstraße sowie ein Billardlokal und eine Diskothek in Düsseldorf geplant und vorbereitet. Ein weiter Angeklagter hatte das Vorhaben der Zelle unterstützt, indem er sich um die Beschaffung von Waffen bemühte. Das Ermittlungsverfahren war am 19. Oktober 2001 eingeleitet worden, nachdem dienstlich bekannt geworden war4, dass sich eine Person, die den Namen „Abu Ali“ führt, als Märtyrer für den „Jihad“ opfern will. Dieser „Abu Ali“ stehe mit weiteren Islamisten in engem Kontakt und sei mutmaßlich in die logistische und finanzielle Unterstützung von Gesinnungsgenossen in Afghanistan eingebunden. Al Zarqawi habe diese Bereitschaft abgelehnt und die Al Tawhid-Zelle habe mit der Planung und Vorbereitung von Anschlägen auf jüdische oder israelische Einrichtungen in Düsseldorf und Berlin begonnen. Nach Verdichtung der Erkenntnislage erfolgten im Zeit  BVerfGE 49, 24, 56 f.; 115, 320, 346; 120, 274.   Griesbaum/Wallenta, NStZ 2013, 369, 378. 3  Presseerklärungen des GBA vom 16.05.2003 – 18/2003 und 11.09.2003 – 29/2003; faz.net vom 26.10.2005. 4  Informationsübermittlung nach § 7 G 10, die Erkenntnisse aus einer strategischen Fernmeldeüberwachung über die Gefahr der Begehung internationaler terroristischer Anschläge mit unmittelbarem Bezug zur Bundesrepublik Deutschland zum Inhalt hatte. 1 2

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raum von Herbst 2001 bis Frühjahr 2002 umfangreiche verdeckte Ermittlungsmaßnahmen. Ein Behördengutachten des Bundesnachrichtendienstes (im folgenden: BND) hat im weiteren Verlaufs des Verfahrens Erkenntnisse zur Person von Al Zarqawi sowohl in seiner Eigenschaft als operativer Führer der Al Tawhid-Gruppierung wie auch als Anführer eines Flügels von Al Qaida vermittelt. Am 23. April 2002 erfolgten bundesweite Durchsuchungsmaßnahmen und Festnahmen, da die Gruppe kurz davor stand, Pistolen und Handgranaten geliefert zu bekommen. Ein Mitglied der Gruppe hatte sich bereits im Anschluss an seine vorläufige Festnahme entschlossen, „reinen Tisch“ zu machen. Am 26. November 2003 wurde der „Kronzeuge“ vom Oberlandesgericht (im folgenden: OLG) Düsseldorf zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Der Vorsitzende des Senats Ottmar Breidling nutzte die Urteilsbegründung, um den Gesetzgeber zur Wiedereinführung der Ende 1999 ausgelaufenen Kronzeugenregelung aufzufordern. „Eine Kronzeugenregelung ist zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus absolut unverzichtbar.“ Aussteigern müsse im Gegenzug zu einem umfassenden Geständnis eine deutliche Strafvergünstigung angeboten werden können. Der Wegfall der Regelung erschwere die Aufklärung und Verhinderung terroristischer Straftaten. „Es ist zu kurz gegriffen, bei den Mitgliedern terroristischer Organisationen ausnahmslos von unbeugsamen Überzeugungstätern auszugehen.“ Im Oktober 2005 wurden drei Angehörige der Zelle als Mitglieder einer terroristischen Vereinigung zu Freiheitsstrafen von acht, siebeneinhalb und sechs Jahren, der vierte Angeklagte wurde als Unterstützer zu fünf Jahren Haft verurteilt. Übrigens: Später wurde Al Zarqawi Führer von Al Qaida im Irak. Aus dieser Terrorgruppe entstand die Terrororganisation „Islamischer Staat“. Die „Sauerlandgruppe“5: Vier junge Männer hatten nach einer Ausbildung bei der Terrorgruppe „Islamische Jihad Union“ im Grenzgebiet von Afghanistan und Pakistan verabredet, in Deutschland Sprengstoffanschläge auf amerikanische Einrichtungen zu begehen. Als Anschlagsziele zogen sie Örtlichkeiten wie Gaststätten, Pubs, Diskotheken und Flughäfen in Betracht. Als Tatorte erwogen sie unter anderem Frankfurt/Main, Ramstein, Dortmund, Düsseldorf, Köln, Stuttgart oder München. Mit den Anschlägen wollten sie im Herbst 2007 die Entscheidung des Bundestages über die Verlängerung des Bundeswehrmandats für Afghanistan beeinflussen. Das Ermittlungsverfahren des GBA entstand aus einem internationalen nachrichtendienstlichen Gefährdungssachverhalt. Seit November 2006 gab es Erkenntnisse, wonach die „Islamische Jihad Union“ Verbindungen zu zwei

5   Pressemitteilung des GBA vom 05.09.2008 – 19/2008; Spiegel Online vom 04.03.2010, http://m.spiegel.de/politik/deutschland a-681633.html.

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Personen in Deutschland unterhalte, die nur unter Decknamen bekannt und im Sommer 2006 in Pakistan militärisch ausgebildet worden seien. Der GBA nahm an dem Informationsaustausch teil und leitete auf Grundlage verdichteter Erkenntnisse in- und ausländischer Nachrichtendienste im April 2007 ein Ermittlungsverfahren wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung ein. Vor dem OLG Düsseldorf endete am 4. März 2010 der Prozess gegen die vier Angeklagten mit langjährigen Freiheitsstrafen. Die „Düsseldorfer Zelle“ 6: Am 13. November 2014 hat das OLG Düsseldorf drei Angeklagte wegen der Mitgliedschaft in der ausländischen terroristischen Vereinigung „Al Qaida“ zu Freiheitsstrafen von neun Jahren, sieben Jahren und fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt, einen weiteren Angeklagten wegen Unterstützung der „Al Qaida“ und Betruges zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten. Wesentlich beigetragen haben zu diesem Erfolg nachrichtendienstliche Erkenntnisse und Beweismittel, die im Unterschlupf von Usama Bin Laden sichergestellt worden sind. Der Hauptangeklagte, der aus Marokko stammt, hielt sich Anfang 2010 in einem Ausbildungslager der „Al-Qaida“ im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet auf. Dort lernte er, Sprengstoffe und Zündvorrichtungen herzustellen. Mit dem Auftrag der Al Qaida-Führung, in Deutschland Terroranschläge zu verüben, kehrte er 2010 nach Düsseldorf zurück, wo er die weiteren Angeklagten zur Umsetzung der Anschlagspläne rekrutierte. Er informierte sich in der Folgezeit umfassend über die Konstruktion von Sprengsätzen und begann mit der Herstellung von Strengstoffen. Die anderen Mitglieder übernahmen logistische Aufgaben für die Gruppe. Nach dem Versuch, aus Grillanzündern die Chemikalie Hexamin für Sprengstoff zu gewinnen, wurden die drei Mitglieder im April 2011 in Düsseldorf festgenommen, um einen bevorstehenden Anschlag zu verhindern.

II.  Gewährleistung von Sicherheit durch Strafverfolgung Das BVerfG hat in seiner Entscheidung zum Antiterrordateigesetz7 das große Gewicht einer effektiven Bekämpfung des Terrorismus für die demokratische und freiheitliche Ordnung hervorgehoben. Straftaten mit dem Gepräge des Terrorismus, nämlich schwerwiegende Straftaten, die auf die Einschüchterung der Bevölkerung oder gegen die Grundstrukturen eines Staates oder einer internationalen Organisation gerichtet sind, zielen auf eine Destabilisierung des Gemeinwesens und umfassen hierbei in rücksichtsloser

  Spiegel Online vom 13.11.2014, http://m.spiegel.de/politik/deutschland/a-1002243.html.   NJW 2013, 1499, 1506 Rn 133.

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Instrumentalisierung anderer Menschen Angriffe auf Leib und Leben beliebiger Dritter. Die Verhinderung und Verfolgung von terroristischen Straftaten, die international organisiert und zur Verbreitung von Angst und Schrecken verübt werden, stellt die zuständigen staatlichen Behörden vor besondere Herausforderungen. Da solche Straftaten besonders schwer zu erfassen sind und die Zielpersonen sich oft in hohem Maße konspirativ verhalten, hängt der Erfolg einer wirksamen Aufgabenwahrnehmung der Sicherheitsbehörden hier in besonderer Weise davon ab, dass wichtige Informationen, die bei einer Behörde anfallen, auch für andere Behörden erschlossen werden und durch das Zusammenführen und Abgleichen der verschiedenen Daten aus diffusen Einzelerkenntnissen aussagekräftige Informationen und Lagebilder werden. Die Verfassung gebietet, solche Angriffe nicht als Krieg oder als Ausnahmezustand aufzufassen, die von der Beachtung rechtsstaatlicher Anforderungen dispensieren, sondern sie als Straftaten mit den Mitteln des Rechtsstaats zu bekämpfen. Dem entspricht umgekehrt, dass der Terrorismusbekämpfung im rechtsstaatlichen Rahmen der Verhältnismäßigkeitsabwägung ein erhebliches Gewicht beizumessen ist. In der Tat: Wesentliche Ziele des Strafverfahrens sind die Wiederherstellung des Rechtsfriedens und die Gewährung von Rechtssicherheit. Für das Staatsschutzstrafrecht bedeutet das konkret: Gewährleistung von Sicherheit – vor allem durch die Verhinderung von Terroranschlägen8. Nur das Strafverfahren ge­währleistet einen Aus­gleich zwischen justizförmiger Aufklärung, fairem Verfahren und Ver­teidigungsrechten. Das Strafrecht stellt aufgrund seiner spezifischen Rechtsfolgen einen unverzichtbaren Bestandteil eines staatlichen Gesamtkonzepts zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus dar9. Landesstaatsanwaltschaften und der GBA sind mit einer Vielzahl von Ermittlungs- und Strafverfahren befasst, welche die Beteiligung deutscher Staatsangehöriger an den bewaffneten Auseinandersetzungen in Syrien zum Gegenstand haben. Einen großen Anteil nehmen Verfahren gegen Personen ein, bei denen der Verdacht besteht, dass sie nach Syrien ausreisen wollen oder bereits ausgereist sind, um sich dort im Umgang mit Schusswaffen, Sprengstoffen sowie Sprengstoffvorrichtungen mit dem Ziel ausbilden zu lassen, auf der Seite terroristischer Gruppen zu kämpfen. Rückkehrer aus solchen terroristischen Ausbildungslagern und Kampfgebieten stellen ein erhebliches Gefahrenpotential für die innere und äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland dar. Die Erfahrungen der Landesstaatsanwaltschaften und des GBA belegen, dass für gewaltbereite Jihadisten in den meisten Fällen die Ausreise aus Deutschland eine wesentliche Voraussetzung für die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat und für die anschließende   Griesbaum/Wallenta NStZ 2013, 369, 373.   Zöller, Terrorismusstrafrecht, 2009, S. 289.

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Teilnahme an Kampfhandlungen ist. Die Ausreise stellt den ersten Schritt auf dem Weg zu einer terroristischen Karriere dar. Die jungen Menschen kommen häufig aus radikal-islamistischen Kreisen, erliegen der Jihad-Propaganda im Internet und lassen zuweilen in den sozialen Netzwerken ihre Ausreisepläne erkennen. Aber die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) propagiert neben groß angelegten Operationen auch den „individuellen Jihad“. An die Stelle von Reisen in Ausbildungslager tritt als „virtueller Jihad“ die Ausbildung via Internet. In Propaganda-Offensiven wird den jungen Menschen vermittelt, dass der bewaffnete Kampf gegen „Ungläubige“ gerechtfertigt und die Teilnahme am gewaltsamen Jihad die Pflicht eines jeden Muslims sei. Aus der Sicht der Terrorgruppen hat der Einsatz von Einzeltätern den Vorteil, dass Anschläge gegen „weiche Ziele“ geplant werden können, ohne dass Behörden davon Kenntnis erlangen. Der Hieb- und Stichwaffenangriff auf Fahrgäste einer Regionalbahn bei Würzburg am 18. Juli 2016 und der Sprengstoffanschlag anlässlich des Musikfestivals „Ansbach Open 2016“ am Abend des 24. Juli 2016 könnten in diese Richtung deuten10. Ist der Terror nach Deutschland gekommen11?

III.  Die Verwendung nachrichtendienstlicher Erkenntnisse für die Strafverfolgung zur Terrorismusabwehr Eine effektive Bekämpfung des Terrorismus mit den Mitteln des Strafrechts erfordert eine enge informationelle Kooperation von Nachrichtendiensten und Strafverfolgungsbehörden. Für die Verdachtsbeurteilung im Sinne eines strafrechtlichen Anfangsverdachts ist der GBA häufig auf verdeckt gewonnene Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden angewiesen12. Dieser Informationsaustausch wirft die Frage nach der Reichweite des informationellen Trennungsprinzips13 auf. Soweit Daten zwischen den Nachrichtendiensten und Staatsanwaltschaften für ein operatives Tätigwerden ausgetauscht werden, handelt es sich nämlich um einen besonders schweren Eingriff. Dieser ist nur ausnahmsweise zulässig und muss durch hinreichend konkrete und qualifizierte Eingriffs- und Übermittlungsschwellen auf der Grundlage normenklarer gesetzlicher Regelungen gesichert sein.

  Presseerklärungen des GBA vom 20.07.2016 – 39/2016 und 25.07.2016 – 40/2016.  http://mobil.n-tv.de/politik/Wie-der-Terror-nach-Deutschland-kam-article18275096. html. 12   Griesbaum/Wallenta NStZ 2013, 374. 13   BVerfG NJW 2013, 1499, 1505. 10 11

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1.  Aufgaben und Möglichkeiten der Nachrichtendienste – Grundsätze der Übermittlung Dem vorfeldbezogenen Aufgabenspektrum entsprechend haben die Nachrichtendienste weitreichende Befugnisse zur Datensammlung, die weder hinsichtlich der konkreten Tätigkeitsfelder spezifisch ausdefiniert noch hinsichtlich der jeweils einzusetzenden Mittel detailscharf ausgestaltet sind14: Einsatz von Vertrauensleuten und Gewährspersonen, Observationen, Bildund Tonaufzeichnungen, Tarnpapiere und Tarnkennzeichen, optische und akustische Wohnraumüberwachung, Überwachung der Telekommunikation nach §§ 1, 3 G 10; der BND darf nach § 5 G 10 zur Informationsgewinnung in bestimmten Fällen mit dem Instrument der strategischen Überwachung internationale Telekommunikationsbeziehungen nach bestimmten Suchbegriffen durchfiltern. Diese Befugnisse spiegeln die Weite der Aufgaben der Nachrichtendienste wider und zeichnen sich durch relativ geringe Eingriffsschwellen aus. So genügt es nach § 9 Abs. 1 BVerfSchG für den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel gemäß § 8 Abs. 2 BVerfSchG, wenn Tatsachen die Annahme bestimmter Erfolgserwartungen rechtfertigen. Ziel ist nicht die operative Gefahrenabwehr. Die Verfassungsschutzbehörden haben vielmehr den Auftrag, Informationen über extremistische und sicherheitsgefährdende Bestrebungen zu sammeln und auszuwerten. Von dem Aufgaben- und Befugnisprofil der Nachrichtendienste unterscheidet sich das der Strafverfolgungsbehörden grundlegend. Ihre Aufgabe der Verfolgung von Straftaten ist geprägt von einer operativen Verantwortung und insbesondere der Befugnis, gegenüber Einzelnen Maßnahmen erforderlichenfalls auch mit Zwang durchzusetzen. Entsprechend setzen grundsätzlich auch diese auf den Umgang mit Daten bezogenen Befugnisse – bei vielfältigen Abstufungen im Einzelnen – einen Tatverdacht voraus. Danach hat die Zusammenführung von Daten der Nachrichtendienste und der Strafverfolgungsbehörden erhöhtes Gewicht und unterliegt grundsätzlich verfassungsrechtlich engen Grenzen15. Wenn der Gesetzgeber eine Zweckänderung von Daten erlaubt, hat er sicherzustellen, dass dem Eingriffsgewicht der Datenerhebung auch hinsichtlich der neuen Nutzung Rechnung getragen wird16. Die Ermächtigung zu einer Nutzung von Daten zu neuen Zwecken begründet einen neuen Eingriff in das Grundrecht, in das durch die Datenerhebung eingegriffen wurde. Zweckänderungen sind folglich jeweils an den Grundrechten zu messen, die für die Datenerhebung maßgeblich waren. Das gilt für jede Art der Verwendung von Daten zu einem anderen Zweck als dem Erhebungszweck, unabhängig davon, ob es sich um die Verwendung

  BVerfG NJW 2013, 1499 Rn 117 f.   BVerfG NJW 2013, 1499 Rn 115, 120. 16   BVerfG NJW 2016, 1781 Rn 284, 285. 14 15

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als Beweismittel oder als Ermittlungsansatz handelt. Informationen, die durch besonders eingriffsintensive Maßnahmen erlangt wurden, können auch nur zu besonders gewichtigen Zwecken benutzt werden. Für Daten aus eingriffsintensiven Überwachungs- und Ermittlungsmaßnahmen kommt es danach darauf an, ob die entsprechenden Daten nach verfassungsrechtlichen Maßstäben neu auch für den geänderten Zweck mit vergleichbar schwerwiegenden Mitteln erhoben werden dürften (Kriterium der hypothetischen Datenneuerhebung)17. Voraussetzung für eine Zweckänderung ist danach aber jedenfalls, dass die neue Nutzung der Daten der Aufklärung von Straftaten eines solchen Gewichts dient, die verfassungsrechtlich ihre Neuerhebung mit vergleichbar schwerwiegenden Mitteln rechtfertigen könnten. 2.  Rechtsgrundlagen für die Übermittlung von Erkenntnissen der Nachrichtendienste an die Staatsanwaltschaft – § 20 BVerfSchG Gemessen an diesen verfassungsrechtlichen Grundlagen muss der Austausch von Daten zwischen den Nachrichtendiensten und Strafverfolgungsbehörden für ein mögliches operatives Tätigwerden durch hinreichend konkrete und qualifizierte Eingriffsschwellen auf der Grundlage normenklarer gesetzlicher Regelungen gesichert sein; auch die Eingriffsschwellen für die Erlangung der Daten dürfen hierbei nicht unterlaufen werden. § 20 Abs. 1 BVerfSchG regelt bei Staatsschutzstraftaten die Pflicht des Verfassungsschutzes – und kraft Verweisung in § 9 Abs. 3 und § 3 BNDG auch für den BND– zur Weitergabe der „ihm bekanntgewordenen Informationen einschließlich personenbezogener Daten“ an die Staatsanwaltschaft und, vorbehaltlich der staatsanwaltschaftlichen Sachleitungsbefugnis, an die Polizeien. Als Schwelle für die Datenübermittlung genügen „tatsächliche Anhaltspunkte“18, dass Erkenntnisse für die Verfolgung von bestimmten Staatsschutzdelikten (§§ 74a und 120 GVG, insbesondere also §§ 89a, 129a, 129b StGB), erforderlich sind. § 20 BVerfSchG ist damit eine hinreichend konkrete, qualifizierte und normenklare Übermittlungsvorschrift. Die Übermittlungsschwelle zeigt die Parallele zu § 152 Abs. 2 StPO – „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte“ – auf und bildet damit die tragfähige rechtliche Brücke für die Übermittlung der Daten zu Strafverfolgungszwecken, wie die nachfolgende Gegenüberstellung von nachrichtendienstlichen Mitteln und strafprozessualen Maßnahmen zeigt. Die in § 20 BVerfSchG genannten „bekanntgewordenen Informationen einschließlich personenbezogener Daten“ sind vor allem Informationen, die das Bundesamt für Verfassungsschutz (im folgenden; BfV) gemäß § 9 Abs. 1 BVerfSchG mit den Mitteln   BVerfG NJW 2016, 1781 Rn 287–289, 291.   Sachumstände, die entsprechende Schlüsse rechtfertigen können; nicht bloße Vermutungen. 17 18

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gemäß § 8 Abs. 2 BVerfSchG erhebt. Diese Befugnis besteht, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass auf diese Weise Erkenntnisse über Bestrebungen oder Tätigkeiten nach § 3 Abs. 1 BVerfSchG19 gewonnen werden können. Im Wesentlichen handelt es sich um folgende nachrichtendienstliche Mittel: Einsatz von Vertrauensleuten gemäß § 9b zur Aufklärung von Bestrebungen unter den Voraussetzungen des § 9 Abs. 1, also „wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen“: Die Übermittlung darf erfolgen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Übermittlung zur Verhinderung oder Verfolgung von Staatsschutzdelikten (§§ 74a und 120 GVG) erforderlich ist. Der Einsatz nach § 161 Abs. 1 StPO setzt voraus, dass zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine schwerwiegende Straftat vorliegen. Einsatz von verdeckten Mitarbeitern gemäß § 9a zur Aufklärung von Bestrebungen unter den Voraussetzungen des § 9 Abs. 1, also „wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen“: Die Übermittlung darf erfolgen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Übermittlung zur Verhinderung oder Verfolgung von Staatsschutzdelikten (§§ 74a und 120 GVG) erforderlich ist. Der Einsatz nach § 110a StPO setzt voraus, dass zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine Straftat von erheblicher Bedeutung auf dem Gebiet des Staatsschutzes (§§ 74a, 120 GVG) vorliegen. Längerfristige Observation gemäß § 8 Abs. 2 zur Aufklärung von Bestrebungen nach § 9 Abs. 1, also „wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen“: Die Übermittlung darf erfolgen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Übermittlung zur Verhinderung oder Verfolgung von Staatsschutzdelikten (§§ 74a und 120 GVG) erforderlich ist. Der Einsatz nach § 163f StPO setzt voraus, dass zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine Straftat von erheblicher Bedeutung vorliegen. Bild- und Tonaufzeichnungen gemäß § 8 Abs. 2 zur Aufklärung von Bestrebungen nach § 9 Abs. 1, also „wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen“: Die Übermittlung darf erfolgen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Übermittlung zur Verhinderung oder Verfolgung von Staatsschutzdelikten (§§ 74a und 120 GVG) erforderlich ist. Der Einsatz nach §§ 100f (Akustische Überwachung außerhalb von Wohnraum) und § 100i StPO (Weitere Maßnahmen außerhalb von Wohnraum) setzt jeweils voraus, dass bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen; dieser muss sich bei § 100f StPO auf eine in § 100a Abs. 2 StPO bezeichnete, auch im Einzelfall schwerwiegende Straftat beziehen, bei § 100i StPO auf eine Straftat von 19   Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziele haben.

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auch im Einzelfall erheblicher Bedeutung, insbesondere eine in § 100a Abs. 2 StPO bezeichnete Straftat. Der Vergleich zeigt, dass die jeweilige zweckändernde Umwidmung der personenbezogenen Daten im Einklang mit der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung steht. Die Übermittlung zur Verfolgung von Staatsschutzdelikten (§§ 74a und 120 GVG) dient einem herausragenden öffentlichen Interesse und dem Schutz gewichtiger Rechtsgüter. Die Übermittlungsschwelle des § 20 Abs. 1 BVerfSchG orientiert sich an strafprozessualen Verdachtsgraden mit hinreichender Tatsachenbasis und lässt damit konkrete Ermittlungsansätze zur Aufdeckung der fraglichen Straftaten erkennen. Die Anforderungen an die Anordnungsvoraussetzungen der genannten Mittel und Maßnahmen sind weitgehend – unter Berücksichtigung der jeweils spezifischen Aufgaben – identisch, so dass auch die Eingriffsschwellen für die Erlangung der Daten durch die Übermittlung nicht unterlaufen werden. Einen Sonderfall der zweckändernden Umwidmung von Daten stellen die Informationen dar, die durch den verdeckten Einsatz technischer Mittel gemäß § 9 Abs. 2 BVerfSchG erhoben worden sind: Das Abhören und Aufzeichnen des in einer Wohnung nicht öffentlich gesprochenen Wortes sowie das Anfertigen von Bildaufnahmen und Bildaufzeichnungen, wenn es zur Abwehr einer gegenwärtigen gemeinen Gefahr oder einer gegenwärtigen Lebensgefahr für einzelne Personen unerlässlich ist und geeignete polizeiliche Hilfe für das bedrohte Rechtsgut nicht rechtzeitig erlangt werden kann (akustische und optische Wohnraumüberwachung): Akustische Wohnraumüberwachung gemäß § 9 Abs. 2 Satz 1: Die Übermittlung darf erfolgen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Übermittlung zur Verhinderung oder Verfolgung von Staatsschutzdelikten (§§ 74a und 120 GVG) erforderlich ist. Die Maßnahme nach § 100c StPO setzt nach dem Kriterium der hypothetischen Datenneuerhebung gemäß § 100c StPO voraus, dass bestimmte Tatsachen den Verdacht einer Straftat begründen: 89a, 89c Absatz 1 bis 4, Bildung krimineller Vereinigungen nach § 129 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 4 Halbsatz 2 und Bildung terroristischer Vereinigungen nach § 129a Abs. 1, 2, 4, 5 Satz 1 Alternative 1, jeweils auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1 StGB, und die Tat auch im Einzelfall besonders schwer wiegt. Insoweit ist eine verfassungskonforme Auslegung der zweckändernden Übermittlungsbefugnis des § 20 BVerfSchG ist erforderlich: Nur solche Daten dürfen übermittelt werden, die konkrete Ermittlungsansätze zur Aufdeckung der fraglichen Straftaten erkennen lassen20. Optische Wohnraumüberwachung gemäß § 9 Abs. 2 Satz 2: Die zweckändernde Übermittlungsbefugnis des § 20 BVerfSchG genügt nicht den   BVerfG NJW 2016, 1781, 1804 Rn 315.

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verfassungsrechtlichen Vorgaben: Art. 13 Abs. 3 GG erlaubt für die Strafverfolgung nur den Einsatz der akustischen Wohnraumüberwachung. Dies darf durch eine Übermittlung von Daten aus einer präventiv angeordneten optischen Wohnraumüberwachung nicht unterlaufen werden. Das gilt nicht nur für die Verwendung zu Beweiszwecken sondern auch für die Verwendung als Ermittlungsansatz21. 3.  Übermittlungen nach dem G 10 Gesetz Sonderregelungen der Übermittlung enthält für das BfV und den BND das Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Artikel 10-Gesetz – G 10). § 4 Abs. 4 G 10 bestimmt, dass Daten aus der Überwachung und Aufzeichnung der Telekommunikation gemäß § 1 G 10 zur Verfolgung von Straftaten nur übermittelt werden dürfen, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass jemand eine in Nummer 1 bezeichnete Straftat (nämlich: §§ 89a, 89b, 89c Absatz 1 bis 4 oder § 129a, auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1 StGB) begeht oder begangen hat. Insoweit entspricht die Übermittlungsschwelle der Eingriffsschwelle des § 100a StPO, so dass auch nach dem Kriterium der hypothetischen Datenneuerhebung eine Übermittlung zur Verfolgung von Staatsschutzdelikten zulässig ist. Die verdachtslose Fernmeldeüberwachung, die der BND vornehmen darf, betrifft Telekommunikationen, „die von oder nach Deutschland geführt werden“22 und ist nur zur strategischen Kontrolle zulässig. Ihr Charakteristikum besteht darin, dass sie nicht auf Maßnahmen gegenüber bestimmten Personen abzielt, sondern internationale Gefahrenlagen betrifft, über die die Bundesregierung unterrichtet werden soll. Nur dieser begrenzte Verwendungszweck rechtfertigt die Breite und die Tiefe der Grundrechtseingriffe. Grundrechtsgebotene Beschränkungen des Einsatzes bestimmter Erhebungsmethoden dürfen nicht dadurch umgangen werden, dass Daten, die mit einer solchen Methode rechtmäßiger Weise zu bestimmten Verwendungszwecken erhoben worden sind, in gleicher Weise auch für Zwecke zugänglich gemacht werden, die einen derartigen Methodeneinsatz nicht rechtfertigen würden. Art. 10 GG schließt aber nicht jegliche Übermittlung an Behörden aus, denen eine verdachtslose Fernmeldeüberwachung nicht zusteht oder nicht zugestanden werden dürfte23. § 7 Abs. 4 regelt unter Berücksichtigung der Vorgaben des BVerfG24 die Übermittlung der aus der strategischen Überwachung gewonnenen personenbezogenen Daten zum Zwecke der Verhin  BVerfG NJW 2016, 1781, 1804 Rn 316.   BT-Drs. 14/5655, S. 18. 23   BVerfGE 100, 313 Rn 261 f. 24   BVerfGE 100, 313 ff. 21 22

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derung oder Verfolgung von Straftaten. Zur Verfolgung von Straftaten dürfen die Daten gemäß § 7 Abs. 4 Satz 2 G 10 generell nur übermittelt werden, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht auf Begehung einer der in Satz 1 genannten Straftaten (darunter: §§ 89a, 89b, 89c Abs. 1 bis 4 oder § 129a, auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1 StGB) begründen. Entsprechend den Vorgaben des BVerfG wird damit die hohe Übermittlungsschwelle des § 100a StPO übernommen25. 4. Auslandserkenntnisse Die Bundesrepublik Deutschland ist nach dem Grundgesetz (Präambel, Art. 1 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2, Art. 16 Abs. 2, Art. 23 bis Art. 26 und Art. 59 Abs. 2 GG) programmatisch auf internationale Zusammenarbeit ausgerichtet. Hierzu gehört ein Umgang mit anderen Staaten auch dann, wenn deren Rechtsordnungen und -anschauungen nicht vollständig mit den deutschen innerstaatlichen Auffassungen übereinstimmen26. Vor allem die Globalisierung von Extremismus und Terrorismus erfordert die Kooperation der deutschen Nachrichtendienste mit ausländischen Partnerdiensten27. Die Anschläge im November 2015 in Paris und im März 2016 in Brüssel, aber auch die Erkenntnisse aus den Strafverfahren gegen die „Sauerlandgruppe“ und die „Düsseldorfer Zelle“ haben deutlich gemacht, welche Gefahren von international agierenden jihadistischen Netzwerkstrukturen ausgehen. Operationsgebiete und Reisebewegungen sind grenzüberschreitend. Nationale Grenzen verlieren als Trennlinien und Sicherheitsschranken an Bedeutung. Der Informationsaustausch mit ausländischen Nachrichtendiensten ist daher eine wesentliche Voraussetzung für die wirksame Bekämpfung des internationalen Terrorismus und fester Bestandteil des gesetzlichen Aufklärungsauftrags deutscher Nachrichtendienste. Die internationale Zusammenarbeit hat aber zur „Geschäftsgrundlage“, dass insbesondere über die Art und Weise, Intensität und Methodik als auch über die Inhalte nichts an die Öffentlichkeit, zum Beispiel im Rahmen eines Gerichtsverfahrens, dringen darf28. Arbeitsweisen sollen geheim bleiben, Informationsquellen geschützt werden. Ausländische Nachrichtendienste erheben Daten nach den eigenen Gesetzen und in der Regel ohne ein deutsches Amtshilfeersuchen, geschweige denn Rechtshilfeersuchen. Erkenntnisse, die für deutsche Sicherheitsbelange Bedeutung haben können, werden an deutsche Nachrichtendienste übermittelt, ohne dass auf das Ob und Wie der Datenerhebung Einfluss genommen werden   BVerfG BVerfGE 100, 313 Rn 277.   BVerfG NJW 2016, 1781, 1805 Rn 325. 27   Rehbein, Die Verwertbarkeit von nachrichtendienstlichen Erkenntnissen aus dem Inund Ausland im deutschen Strafprozess, 2011, 80. 28   Rehbein aaO, 83. 25 26

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kann29. Wesentliche Grundlage für die nachrichtendienstlichen Datenübermittlungen mit dem Ausland ist § 19 Abs. 3 BVerfSchG. Danach darf das BfV personenbezogene Daten an ausländische öffentliche Stellen sowie an über- und zwischenstaatliche Stellen übermitteln, wenn die Übermittlung zur Erfüllung seiner Aufgaben oder zur Wahrung erheblicher Sicherheitsinteressen des Empfängers erforderlich ist. Die Übermittlung unterbleibt, wenn auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland oder überwiegende schutzwürdige Interessen des Betroffenen entgegenstehen. Das gilt gemäß Verweisung in § 9 Abs. 2 BNDG auch für den BND, der nach § 1 Abs. 2 BNDG die Aufgabe hat, im Ausland Erkenntnisse zu sammeln, die „von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschlands sind“. Die Erkenntnisse der Behörde sollen der Bundesregierung helfen, Entscheidungen in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Militär, aber auch Wissenschaft und Technik zu treffen. Der BND unterstützt aber auch Strafverfolgungsbehörden bei der Abwehr von terroristischen und anderen Gefahren. Allerdings steht der Datenaustausch mit dem Ausland nach den Vorgaben des BVerfG unter rechtsstaatlichen Vorbehalten. Die Grundsätze, die das BVerfG für die Übermittlung personenbezogener Daten ins Ausland aufgestellt hat30, gelten gleichermaßen für die Verwendung von ausländischen Daten, die im Wege der Gegenseitigkeit deutschen Behörden zur Verfügung gestellt werden. Die deutsche Staatsgewalt bleibt in beiden Fällen an die Grundrechte gebunden (Art. 1 Abs. 3 GG); die ausländische Staatsgewalt ist nur ihren eigenen rechtlichen Bindungen verpflichtet. Das Grundgesetz anerkennt die Eigenständigkeit und Verschiedenartigkeit der Rechtsordnungen und respektiert sie grundsätzlich auch im Rahmen des Austauschs von Daten. Allerdings darf der Grundrechtsschutz durch eine Entgegennahme und Verwertung von durch ausländische Behörden menschenrechtswidrig erlangten Daten nicht ausgehöhlt werden. Als Konsequenz aus der aktuellen rechtspolitischen Debatte über die Befügnisse des BND im Ausland31 sollen mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung des BND32 zum einen klarstellende gesetzliche Regelungen für die Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung vom Inland aus geschaffen werden. Zum anderen werden die Kooperationen des BND mit ausländischen öffentlichen Stellen sowie die gemeinsame Datenhaltung des BND mit ausländischen öffentlichen Stellen spezialgesetzlich geregelt. So setzt § 13 E für die Kooperation im Rahmen der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung eine Absprache voraus, dass die im Rahmen der   Rehbein aaO, 349.   BVerfG NJW 2016, 1781, 1806 ff. Rn 326 ff. 31  Vgl. Huber, NJW 2013, 2572. 32   BT-Drs. 18/9041. 29 30

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Kooperation erhobenen Daten nur zu dem Zweck verwendet werden dürfen, zu dem sie erhoben wurden, und die Verwendung mit grundlegenden rechtsstaatlichen Prinzipien vereinbar sein muss33. Für die Errichtung gemeinsamer Dateien mit ausländischen Stellen regelt § 26 Abs. 2 E die grundlegenden Voraussetzungen. Die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien in den teilnehmenden Staaten erfordert keinen der deutschen Rechtsordnung gleichartigen Schutz. Sichergestellt sein muss jedoch, dass der Datenumgang durch die Partnerdienste nicht elementare Anforderungen des menschenrechtlichen Schutzes und an die Rechtsstaatlichkeit unterläuft34. Informationen aus der strategischen Aufklärung der Ausland-Ausland Telekommunikation dürfen nach dem Entwurf gemäß § 24 (früher: § 9 BNDG) auf der Grundlage des § 20 BVerfSchG zur Verfolgung von Staatsschutzdelikten übermittelt werden. Allerdings entspricht die in § 20 BVerfSchG geregelte (niedrige) Übermittlungsschwelle nicht den verfassungsrechtlichen Maßstäben35 für die vergleichbare strategische Fernmeldeaufklärung nach § 5 G10. Das bedeutet, dass für die Übermittlung von Informationen aus der strategischen Aufklärung der Ausland-Ausland Telekommunikation in verfassungskonformer Auslegung auch die höhere Schwelle des § 7 Abs. 4 G10 gelten muss. Für die Verwendung von Erkenntnissen ausländischer Nachrichtendienste in deutschen Strafverfahren ist daher von folgenden Grundsätzen auszugehen: Die Beachtung des ausländischen Verfahrensrechts ist für sich allein noch keine hinreichende Bedingung für die Verwertbarkeit eines erhobenen Be­weises. Die Verwertbarkeit richtet sich vielmehr nach der für das erken­ nende Gericht geltenden Verfahrensordnung36. Ein Beweis wird aber nicht dadurch automatisch unverwertbar, weil im Ausland eine deutsche Norm nicht beachtet wurde, auch wenn deren Missachtung in einem innerstaatli­ chen Strafverfahren zur Unverwertbarkeit der Aussage führen würde37. Dies wäre zu schematisch und würde den Besonderheiten der jeweiligen Verfahrenskonstellation sowie des ausländischen Prozessrechts nicht hin­reichend Rechnung tragen. Zwingend auszuschließen ist jedenfalls die Verwendung von Daten, wenn zu befürchten ist, dass Staaten elementare rechtsstaatliche Grundsätze verletzt haben38. Zu Recht stellt deshalb die Rechtsprechung in derartigen Fällen auf eine Einzelbetrachtung ab. Grenze der Verwertbarkeit aus­ländischer Beweiserhebungen sind deshalb in derartigen Konstellatio­nen nicht einzelne nationale Verwertungsverbote; vielmehr ist zu prüfen, ob die Beweiserhebung mit grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderun­gen zu ver  BT-Drs. 18/9041, S. 13, 14.   BT-Drs. 18/9041, S. 58. 35   BVerfG NJW 2000, 55, 58; Huber NJW 2013, 2572, 2575. 36   BGH NStZ 1992, 394; Böse ZStW 114 (2002), 151; Wohlers NStZ 1995, 46. 37   BGHSt 38, 263. 38   BVerfG NJW 2016, 1781, 1806 Rn 327. 33 34

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einbaren ist, sie also dem deutschen ordre public nicht wider­spricht39. Maßgeblich für diese Beurteilung ist eine Gesamtabwägung im Ein­zelfall unter „Berücksichtigung der Wertungen, die für das geltende Recht maßgeblich sind“40, also einer Abwägung der im Rechtsstaatsprinzip angelegten gegenläufigen Gebote und Ziele. Verletzt die im Ausland vorgenommene Beweiserhebung die dort gelten­ den Verfahrensvorschriften, so kommt es für das inländische Verfahren allein darauf an, ob der Verstoß auch nach deutschem Recht zu einem Verwertungsverbot führen würde. Die Missachtung ausländischer Vor­schriften steht der Verwertbarkeit im Regelfall nicht entgegen, wenn diese höhere Anforderungen stellen als das deutsche Recht41, denn die Verwert­barkeit richtet sich nach der für das erkennende Gericht geltenden Verfah­rensordnung. Die Frage, ob ein Verstoß gegen eine ausländische Datenerhebungsregelung ein Verwertungsverbot zur Folge hat, ist durch Abwägung zu ermitteln42. Wird aber gegen eine dem deutschen Recht entsprechende ausländi­sche Vorschrift verstoßen, so folgt daraus regelmäßig dann ein Beweis­verwertungsverbot, wenn der Verstoß gegen die entsprechende deutsche Vorschrift dieselbe Folge hätte43. Bei eklatanten Verstößen wie der Anwen­dung von Folter folgt ein Verbot unmittelbarer Verwertung zu Lasten eines Beschuldigten im Strafverfahren ohnehin bereits aus Art. 15 VN-Anti-Fol­ter-Übereinkommen, der innerstaatlich unmittelbar geltendes Recht ist44. Au­ßerdem kommt in diesen Fällen eine analoge Anwendung von § 136a StPO in Betracht45. Aber auch bei weniger gravierenden Verstößen wird von einer Unverwertbarkeit auszugehen sein, denn es bedeutet vom Schutz­zweck der Norm keinen Unterschied, ob von deutschen Ermittlungsbehör­den in einer zur Unverwertbarkeit führenden Weise gegen ein deutsches Beweiserhebungsverbot verstoßen oder ob ein solcher Verstoß von aus­ländischen Behörden gegen eine der deutschen Vorschrift entsprechenden ausländischen Norm begangen wurde.

IV.  Verwendungsregelungen gemäß StPO Vorschriften für die zweckändernde Verwendung von Daten im Strafverfahren sind § 161 Abs. 1 und 2 StPO.

39   BGHSt 38, 263; BGH NStZ 1982, 153, 154; 1983, 181; NJW 1994, 2364; OLG Düsseldorf StV 1992, 558, 559. 40   BGHSt 38, 263, 265 f. 41   BGH NStZ 1985, 376. 42   Rehbein aaO, 80. 43   Schuster, Verwertbarkeit im Ausland gewonnener Beweise im Strafprozess, 2006, 282. 44   OLG Hamburg NJW 2005, 2326, 2327 f. 45   OLG Hamburg aaO, 2329.

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1.  Generalklausel des § 161 Abs. 1 StPO Das Legalitätsprinzip verpflichtet die Staatsanwaltschaft schon dann zur Vorklärung von Sachverhalten, wenn tatsächliche Anhaltspunkte für strafbares Verhalten vorliegen, mögen diese auch noch nicht „zureichend“ im Sinne des gesetzlichen Anfangsverdachtes gemäß § 152 Abs. 2 StPO sein. Nur so kann das Entscheidungsmonopol der Staatsanwaltschaft über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gewahrt und die zentrale Stellung des GBA bei der Verfolgung von Staatsschutzdelikten sichergestellt werden46. Der GBA benötigt daher auch von den Nachrichtendiensten die notwendigen Informationen für die Beurteilung des Anfangsverdachts. Die entsprechende Auskunfts- und Datenübermittlungspflicht regelt § 161 Abs. 1 StPO47. Die Bewertung tatsächlicher Anhaltspunkte setzt eine frühzeitige Abstimmung im Sinne eines vorbereitenden Informationsaustausches (BVerfG48: „Informationsanbahnung“) zwischen den Nachrichtendiensten und dem GBA voraus. Die Übermittlung von Informationen hängt nicht davon ab, ob beim GBA bereits ein Ermittlungsverfahren anhängig ist. Der Begriff „zur Verfolgung von Staatsschutzdelikten“ umfasst das gesamte Verfahren von der Prüfung des Anfangsverdachts bis zum Abschluss eines eventuellen gerichtlichen Verfahrens, wie schon der Begriff „tatsächliche Anhaltspunkte“ in § 20 Abs. 1 BVerfSchG als Vorstufe der „zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte“ im Sinne des strafprozessualen Anfangsverdacht zum Ausdruck bringt. 2.  Verwendungsregel des § 161 Abs. 2 StPO § 161 Abs. 2 StPO bildet die Rechtsgrundlage für eine zweckändernde Nutzung solcher Daten, die durch besonders eingriffsintensive Maßnahmen erlangt wurden und daher auch nur entsprechend eingeschränkt verwendet werden dürfen49: Ist eine Maßnahme nach der StPO nur bei Verdacht bestimmter Straftaten zulässig, so dürfen die auf Grund einer entsprechenden Maßnahme nach anderen Gesetzen erlangten personenbezogenen Daten ohne Einwilligung der von der Maßnahme betroffenen Personen zu Beweiszwecken im Strafverfahren nur zur Aufklärung solcher Straftaten verwendet werden, zu deren Aufklärung eine solche Maßnahme nach der StPO hätte angeordnet werden dürfen. Eine „entsprechende Maßnahme“ liegt auch dann vor, wenn die Maßnahmen sich zwar in dem Methodeneinsatz unterscheiden (zum Beispiel: verdachtslose strategische Fernmeldeüberwachung nach § 5 G 10 im Vergleich zu Maßnahmen nach § 100a StPO), die den Verwendungs  Griesbaum/Wallenta NStZ 2013, 369, 374.   BVerfG NJW 2016, 1781, 1805 Rn 315. 48   BVerfG NJW 2013, 1499, 1504 Rn 124. 49   Singelnstein NStZ 2012, 593, 604. 46 47

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zweck ändernde Übermittlungsvorschrift (§ 7 Abs. 4 Satz 2 G 10) die Übermittlungsschwelle aber so anhebt, dass die strafprozessualen Anordnungsvoraussetzungen gewahrt bleiben. Aus § 161 Abs. 2 Satz 1 StPO folgt als Erst-recht-Schluss ein Beweisverwendungsverbot für solche Daten, die aufgrund von Maßnahmen nach anderen Gesetzen erlangt worden sind, die keine Entsprechung in der StPO haben. Die Voraussetzungen für die zweckändernde Verwendung sind nach der Rechtsprechung des BGH folgende: Zunächst muss das zur Datenerhebung ermächtigende Gesetz die Umwidmung für Zwecke der Strafverfolgung gestatten („Verwendungsbefugnis“)50. Sodann muss die Verwendung nach der StPO zulässig sein51. Insoweit enthält § 161 StPO in Abs. 1 eine allgemeine Verwendungsregel und in Abs. 2 und 3 spezifische Verwendungsregelungen. Bei den „nach anderen Gesetzen erlangten personenbezogenen Daten“ ist zwischen der Verwendung zu Beweiszwecken (Abs. 2) iS einer (datenschutzrechtlich beeinflussten) Verwendungserlaubnis und der Verwertung zu Beweiszwecken in der abschließenden gerichtlichen Entscheidung zu unterscheiden52. Solche Daten bedürfen nach der Übertragung in das Ermittlungsverfahren nach Abs. 2 Satz 1 einer rechtlichen Kontrolle. Aus der besonderen Verwendungsregelung des § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO, die Abs. 2 Satz 1 vorgeht, folgt nämlich der allgemeine Gedanke, dass jede zweckumwidmende Verwendung der Daten nur zulässig ist, wenn die Daten auch im Ausgangsverfahren verwertet werden dürfen. Verwertbar sind daher grundsätzlich nur rechtmäßig erlangte Erkenntnisse, da Verwendungsregelungen grundsätzlich die ursprünglich rechtmäßige Erhebung der Daten voraussetzen. Daraus kann jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass rechtswidrig erhobene Daten unter keinen Umständen für Zwecke des Strafverfahrens zur Verfügung stehen sollten. Denn es entspricht der üblichen Regelungstechnik der Strafprozessordnung, dass der Gesetzgeber zwar die Voraussetzungen normiert, unter denen zur strafprozessualen Beweisgewinnung durch Ermittlungsmaßnahmen rechtmäßig in (Grund-)Rechte der jeweils Betroffenen eingegriffen werden darf, jedoch – abgesehen von wenigen Ausnahmen (etwa § 136 a Abs. 3 Satz 2 StPO) – keine Bestimmungen dazu trifft, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen rechtswidrig erlangte Beweisergebnisse im weiteren Verfahren verwertet werden dürfen. Es ist kein Anhaltspunkt dafür vorhanden, dass der Gesetzgeber bei Einführung der Regelungen zur Verwendung von Daten, die in anderen Verfahren und eventuell auch unter Geltung anderer Rechtsgrundlagen für die Informationsbeschaffung gewonnen worden sind, von diesem Konzept abweichen

  BGHSt 54, 69, 82 Rn 35.   BGHSt 54, 81 Rn 30, 101 Rn 86. 52   BGHSt 58, 32, 48 Rn 45; Löffelmann JR 2010, 455. 50 51

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wollte53. Vielmehr ist die zu den Verwertungsverboten entwickelte Dogmatik, dass Erhebungsfehler nicht automatisch ein Verwertungsverbot zur Folge haben, auf Verwendungsregelungen zu übertragen. Eine rechtswidrige Erhebung „nach anderen Gestzen“ hat daher nicht zwingend die Unverwertbarkeit der Daten in einem Strafverfahren zur Folge, in das sie mittels einer Verwendungsregelung eingeführt werden. Das heißt, dass eine einzelfallbezogene Abwägung zwischen dem Gewicht der Verletzung der Erhebungsnorm und dem Strafverfolgungsinteresse vorzunehmen ist54. Diese Auffassung wird bestätigt durch die spezielle Regelung in § 161 Abs. 3 StPO, der die Verwendung personenbezogener Daten aus polizeirechtlicher Eigensicherung in einer Wohnung zu Beweiszwecken ausdrücklich von der Rechtmäßigkeit der polizeilichen Maßnahme abhängig macht. Auch von Verfassungs wegen folgt aus der Rechtswidrigkeit einer Datenerhebung nicht zwangsläufig das Verbot einer zweckändernden Verwendung. Das BVerfG hat die Abwägungslösung des BGH und die von ihm herangezogenen Kriterien gebilligt55. Soweit die Verwendung der Daten im Strafverfahren nicht zu Beweiszwecken sondern als Ermittlungs- und Spurenansatz oder zur Ermittlung des Aufenthaltsortes des Beschuldigten erfolgen soll, greifen die Beschränkungen des § 161 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht56. Solche Ermittlungsansätze dürfen etwa zur Begründung eines Anfangsverdachts oder zum Erlass eines Durchsuchungsbeschlusses sowohl im Verfahren gegen den Beschuldigten als auch in Verfahren gegen Dritte unbeschränkt, also nicht nur zur Verfolgung bestimmter Straftaten verwendet werden. Auch bei dieser Art der Verwendung wird zwar grundsätzlich die ursprünglich rechtmäßige Erhebung der Daten voraussetzen. Eine rechtswidrige Erhebung hat aber auch hier nicht zwingend zur Folge, dass die Daten in einem Strafverfahren nicht als Ermittlungs- und Spureneinsatz verwendet werden dürfen. Vielmehr ist abzuwägen, ob die Rechtswidrigkeit der Datenerhebung auch die zweckändernde Verwendung und damit hier die Verwertung im Strafverfahren verbietet57. Eine Nutzung der Erkenntnisse aus Online-Durchsuchungen und optischen Wohnraumüberwachungen als bloßer Spuren- oder Ermittlungsansatz kommt allerdings nicht in Betracht, da diese eingriffsintensiven Maßnahmen für die Strafverfolgung nicht erlaubt sind58.

  BGHSt 54, 69, 88 Rn 50.   BGHSt 54, 69, 87, Rn 47 ff.; Löffelmann JR 2010, 455. 55   BVerfG NJW 2012, 907. 56   BVerfG NJW 2016, 1781, 1804 Rn 315. 57   BGHSt 54, 69, 88, Rn 51; BVerfG NJW 2009, 3225. 58   BVerfG NJW 2016, 1781, 1801 Rn 285, 1805 Rn 317. 53 54

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V.  Die Verwendung ausländischer Beweismittel In deutschen Strafverfahren werden nicht selten rechtsstaatliche Bedenken gegen die Verwendung ausländischer Beweismittel erhoben. Ein aktuelles Beispiel ist das Strafverfahren gegen die Mitglieder der „Düsseldorfer Zelle“: Der BfV-Präsident soll vor einiger Zeit dem Innenausschuss des Bundestages berichtet haben, dass der Hinweis auf die „Düsseldorfer Zelle“ von der National Security Agency (NSA) gekommen und dem Ausspähungsprogramm Prism zu verdanken sei59. Das wirft die Frage auf, ob dieser (mögliche) Hintergrund rechtlichen Einfluss auf das Verfahren hat. Prism ist ein System, mit dessen Hilfe die NSA die Onlinekommunikation von Menschen aus aller Welt überwachen kann, wenn diese über bestimmte Dienstleister abgewickelt wird. Ein unabhängiges Gremium, das vom US-Kongress eingesetzt worden ist, kommt zu dem Ergebnis, dass die Internetüberwachung der NSA vom US-Gesetz gedeckt sei. Informationen ausländischer Nachrichtendienste werden gemäß § 9 Abs. 3 BNDG nach Maßgabe des § 20 BVerfSchG oder nach speziellen Vorschriften des G 10 an den GBA zur Verfolgung bestimmter Staatsschutzdelikte weitergegeben. Die Verwendung und Weitergabe dieser Informationen durch das BfV oder den BND stellen einen Eingriff dar, der an Art 10 GG zu messen ist60. Eine allgemeine Kontrolle der Kommunikationsströme ist dem BND nur nach § 5 Abs. 1 G10 erlaubt und die Weitergabe an die zuständigen Behörden ist nur unter den Voraussetzungen des § 7 Abs. 4 Satz 2 G10 zur Verfolgung von Straftaten möglich, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass jemand eine in Satz 1 bezeichnete Straftat (§§ 89a, 89b, 89c Absatz 1 bis 4 oder § 129a, auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1) begeht oder begangen hat. Nach § 161 Abs. 2 StPO ist dann zu prüfen ob eine Verwertung der Prism-Informationen für die Strafverfolgung zulässig ist61. Die erforderliche Abwägung zwischen dem Gewicht der Verletzung der Erhebungsnorm und dem Strafverfolgungsinteresse ergibt folgendes: Die von der NSA durch Prism originär, nicht durch ein deutsches Ersuchen erhobenen Daten der Onlinekommunikation unterliegen aus völkerrechtlichen Gründen nicht einer umfassenden Rechtmäßigkeitsprüfung. Auch wenn die Beurteilung der Verwertbarkeit eines im Ausland erhobenen Beweises sich nach der inländischen Rechtsordnung bestimmt, würde eine mit der Rechtswidrigkeit der ausländischen Beweiserhebung begründete Unverwertbarkeit des erhobenen Beweises unter den hier vorliegenden tatsächlichen Gegebenheiten mit einem Eingriff in die Souveränität

59   Vgl. Spiegel Online vom 13.11.2014, http://m.spiegel.de/politik/deutschland/a-1002243. html. 60   Ewer/Thienel, NJW 2014, 30, 32. 61   Vgl. oben IV.2.

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des ausländischen Staates einhergehen62. Allerdings kann sich die Unverwertbarkeit im Ausland erhobener Beweise ergeben, wenn die Beweiserhebung unter Verletzung völkerrechtlich verbindlicher und dem Individualrechtsgüterschutz dienender Garantien, wie etwa Art. 3 MRK, oder unter Verstoß gegen die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze im Sinne des ordre public (vgl. § 73 IRG) erfolgt ist63. Solche schwerwiegenden Rechtsverstöße nach US-amerikanischem Recht sind nicht ersichtlich, auch wenn die Datenerhebungen rechtlichen Bedenken ausgesetzt sein mögen64. Die USA argumentieren, dass die Eingriffe durch das Ausspähungsprogramm Prism weder willkürlich noch rechtswidrig sind, sondern ihrem nationalen Recht entsprechen. Auch im Falle der Rechtswidrigkeit der Beweiserhebung ergäbe die Abwägung, dass die Erkenntnisse als Beweismittel verwertbar, auf jeden Fall aber als Ermittlungsansatz zu verwenden wären. Im Falle der „Düsseldorfer Zelle“ spielte der – mögliche – Hinweis aus dem Ausspähungsprogramm Prism allenfalls als Ermittlungsansatz in einem frühen Verfahrensstadium, also als Anlass zu weiteren Ermittlungen zur Gewinnung neuer Beweismittel eine Rolle. Zum Beispiel hätte er als Ermittlungsansatz zur Begründung des Anfangsverdachts gegen den Anführer der „Düsseldorfer Zelle“ herangezogen werden dürfen. Von besonderem Beweiswert für die Anklage war später allerdings ein Brief, den US-Spezialkräfte nach der Tötung Osama Bin Ladens am 2. Mai 2011 in dessen Unterschlupf im pakistanischen Abbottabad auf einem USB-Stick gefunden hatten. Darin berichtete der Al Qaida-Außenminister Scheich Younis al-Mauretani dem Al Qaida-Führer von einem Mann aus Marokko, der ihm Treue geschworen habe und Anschläge in Deutschland ausführen wolle. Zugleich benannte Mauretani das Geburtsdatum dieses Mannes, das mit dem des Anführers der „Düsseldorfer Zelle“ übereinstimmte65. Der Brief wurde auf ein Rechtshilfeersuchen des GBA von der US-Justiz zur Verfügung gestellt66. Das OLG Düsseldorf durfte dieses Beweismittel im Strafverfahren verwerten, wie die folgenden Überlegungen zeigen: Von wesentlicher rechtlicher Bedeutung ist der Umstand, dass die um Rechtshilfe ersuchten USA den USB-Stick bereits vor dem Rechtshilfeersuchen originär im Unterschlupf von Osama Bin Laden in Pakistan sichergestellt hatten. Insoweit gilt – wie oben ausgeführt – ein eingeschränkter Prüfungsmaßstab für deutsche Gerichte67. Unverwertbarkeit läge nur vor, wenn die Beweiserhebung   BGHSt 58, 32, 42 Rn 33, 34.   BGHSt 58, 32, 44 Rn 38. 64  Vgl. Ewer/Thienel, NJW 2014, 30, 35. 65   Vgl. Spiegel Online vom 13.11.2014, http://m.spiegel.de/politik/deutschland/a-1002243. html. 66   Vgl. SZ.online vom 13.03.2013, http://www.sueddeutsche.de/politik/al-qaida-prozessin-duesseldorf-fbi-agent-belastet-terrorverdaechtigen-1.1629644. 67   BGHSt 58, 32, 42 Rn 33, 34 62 63

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unter Verletzung völkerrechtlich verbindlicher und dem Individualrechtsgüterschutz dienender Garantien (Art. 25 GG) oder unter Verstoß gegen die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze im Sinne des ordre public erfolgt wären. Es kommt deshalb auf die Umstände an, unter denen die Sicherstellung der Beweismittel erfolgte, nämlich auf dem Territorium von Pakistan und nach der Tötung von Osama bin Laden. Zum einen: Ein möglicher Verstoß gegen die Souveränität Pakistans, wenn die Aktion ohne Wissen Pakistans erfolgt wäre, betrifft die Angeklagten nicht, sie könnten daraus keine Rechte ableiten. Im Übrigen fiele bei einer Abwägung zwischen dem Gewicht des in Rede stehenden Verfahrensverstoßes und der Schwere des Tatvorwurfes ein möglicher Verfahrensverstoß nicht ins Gewicht. Zum anderen: Eine Verletzung des Anspruchs der Angeklagten auf ein faires Verfahren – Beschaffung des Beweismittels durch Tötung eines Menschen – liegt nicht vor. Es liegen keine Anhaltspunkte vor („reales Risiko“), dass die US-Einsatzkräfte Osama bin Laden getötet haben, um in den Besitz der Beweismittel zu gelangen. Die USA bestehen darauf, dass eine Festnahme angestrebt worden sei, der sich Osama bin Laden und dessen Begleiter gewaltsam widersetzt hätten. Dessen ungeachtet ist die Auffassung vertretbar, dass auch die gezielte Tötung zulässig gewesen wäre. Der Einsatz erfolgte im Zusammenhang mit einem nicht-internationalen bewaffneten Konflikt. Ein solcher kann auch von nicht-staatlichen Gruppen ausgehen, die terroristische Anschläge begehen, sofern die Auseinandersetzung eine gewisse Intensität und Dauer aufweist und die Konfliktparteien einen bestimmten Organisationsgrad besitzen68. Der Einsatz diente der gezielten Bekämpfung des Anführers der terroristischen Vereinigung Al Qaida und die Militäroperation stand in Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt, so dass er völkerrechtlich zulässig und damit gerechtfertigt war. Der Bundesgerichtshof hat mit Beschlüssen vom 3. Mai und 9. August 2016 die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des OLG Düsseldorf vom 13. November 2014 als unbegründet verworfen, da die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigungen keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO). Zu den Rügen, das OLG hätte den Inhalt der vom US-Militär am 2. Mai 2011 beim Einsatz gegen Osama bin Laden in Abbottabad/Pakistan sichergestellten Urkunden nicht verwerten dürfen, bemerkte der Senat ergänzend: Es kann offen bleiben, ob die Rügen zulässig erhoben sind und ob die Sicherstellung der Urkunden, wie die Beschwerdeführer meinen, gegen geltendes Völkerrecht verstieß. Aus den in den Antragsschriften des GBA ausführlich dargelegten Gründen hätte eine etwaige Völkerrechtswidrigkeit jedenfalls kein Verwertungsverbot in dem gegen die Angeklagten gerichteten Strafverfahren zur Folge69. 68 69

  GBA NJW 2013, 644.   BeckRS 2016, 11647; 16027.

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VI. Schlussbemerkung Angesichts dieser engen Vernetzung und Verflechtung von Informationswegen und Informationsinhalten kooperieren in Deutschland Polizei, Nachrichtendienste und GBA sehr eng im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum in Berlin70. Erkenntnisse über mögliche islamistische Anschlagsplanungen im In- oder Ausland werden tatsächlich und rechtlich – auch in ihrer Bedeutung für die Strafverfolgung – gemeinsam vom GBA, den Nachrichtendiensten und der Polizei bewertet. Es findet eine frühzeitige Abstimmung im Sinne eines vorbereitenden Informationsaustausches zwischen den Nachrichtendiensten und dem GBA statt. Dabei liegt ein ganz besonderer Schwerpunkt im gemeinsamen Erarbeiten von Lösungen für tatsächliche und rechtliche Probleme, die sich insbesondere im Zusammenhang mit der Verwendung von Informationen der Nachrichtendienste für die Einleitung von Ermittlungsverfahren und für die Verwertung solcher Erkenntnisse als Beweismittel in Hauptverhandlungen stellen. Das BVerfG hat die besondere Bedeutung einer solchen „Informationsanbahnung“ für die Verfolgung von international organisierten terroristischen Straftaten hervorgehoben. Die operative Nutzung erfolgt dann auf der Grundlage der jeweiligen Übermittlungsvorschriften71.

  Lutz Diwell in FS für Kai Nehm, 2006, 101 ff.   BVerfG NJW 2013, 1499, 1504 Rn 124.

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Scheinerinnerung, Suggestion, Lüge oder Trauma? Hindernisse auf dem Weg der Wahrheitssuche durch den Personalbeweis Bernd v. Heintschel-Heinegg 1.  Der Befund Die Erforschung der Wahrheit ist das zentrale Anliegen des Strafprozesses als Verwirklichung von Gerechtigkeit und Rechtsfrieden.1 Die gerichtliche Wahrheitssuche im Strafprozess wird geformt durch die allein zulässigen Beweismittel sowie durch Beweisverbote. Die forensische Wahrheit kann daher stets nur zu einer beschränkten Wahrheit führen, die aber gleichwohl dem gesellschaftlich akzeptierten Begriff der Wahrheit möglichst nahe kommen soll: wahr ist, was der Wirklichkeit entspricht. Der Personalbeweis durch Zeugen wie durch geständige Angeklagte bzw. Mitangeklagte2 führte in den vergangenen Jahren zu zahlreichen Fehlurteilen. Zeugen vor Gericht, zur Wahrheit ermahnt und besten Willens, bekundeten trotzdem etwas Falsches. Nicht unbedingt, weil sie gelogen haben, sondern weil sie sich irrten oder weil sie Scheinerinnerungen erlagen. Frauen behaupten, Opfer einer Vergewaltigung geworden zu sein – und manche glauben   Z.B. BVerfGE 57, 250, 275; 63, 45, 61; BVerfG StV 2007, 393, 396; BGHSt 32, 115, 124.   Im sich auf die Schuld- und Rechtsfolgenfrage beziehenden sog. Strengbeweisverfahren (zu unterscheiden vom sog. Freibeweisverfahren, das vor allem für die Klärung prozessualer Fragen gilt und keine Bindung an die gesetzlichen Beweismittel kennt) werden einerseits der Zeugenbeweis, §§ 48 ff StPO, und der Sachverständigenbeweis, §§ 72 ff StPO, als persönliche Beweismittel sowie andererseits der Augenscheinsbeweis, § 86 StPO, und der Urkundenbeweis, §§ 246 ff StPO, als sachliche Beweismittel zusammengefasst. Weitere Beweismittel sieht die StPO für das Strengbeweisverfahren nicht vor. Die Vernehmung des Angeklagten bzw. des Mitangeklagten zählt die StPO nicht zur Beweisaufnahme. Dies folgt unmissverständlich aus § 244 Abs. 1 StPO: „Nach der Vernehmung Angeklagten folgt die Beweisaufnahme.“ Auch wenn die Einlassung des Angeklagten bzw. des Mitangeklagten (vgl. § 243 Abs. 5 S. 2 StPO) kein Beweismittel im engeren Sinn darstellen, kommt der Einlassung des Angeklagten zur Sache, zumal einem Geständnis, eine nicht unwesentliche Bedeutung für die Beweisaufnahme zu und kann ihr darum materiell gerechnet werden. Da die Einlassung des Angeklagten bzw. Mitangeklagten im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung Berücksichtigung findet, liegt ein Beweismittel im weiteren Sinn vor; Beulke Strafprozessrecht, 13. Aufl., 2016, Rn 179. Dieses weitere „persönliche“ Beweismittel wird nach der hier gewählten Diktion dem Begriff des Personalbeweises zugeordnet. 1 2

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sogar fest daran –, ohne einen solchen Übergriff tatsächlich erlebt zu haben. Es gibt Menschen, die Kapitalverbrechen gestehen, obwohl sie diese nicht begangen haben, wie im Fall des toten Bauern Rudi Rupp.3 Spektakuläre Prozesse der Vergangenheit belegen drastisch, was passiert, wenn Menschen falschen Bezichtigungen zum Opfer fallen. Die meisten sind ruiniert fürs Leben, selbst wenn die Justiz ihnen am Ende eines langen Leidenswegs die Unschuld attestiert. In Münster und Mainz (aber auch im Fall Pascal4), war es vor allem die Ignoranz gegenüber der internationalen Forschung zur suggestiven Beeinflussung von Kindern, die zu massiven Problemen im Rahmen der Beweiswürdigung führte. Längst vorhandene Erkenntnisse der Suggestionsforschung wurden nicht zur Kenntnis genommen, bagatellisiert oder als auf diese Fälle nicht anwendbar hinweg diskutiert: –– Der Montessori-Prozess vor dem Landgericht Münster mit 120 Prozesstagen dauerte von November 1992 bis Mai 1995, um dann die Unschuld des angeklagten Erziehers festzustellen, der in 26 Monaten Untersuchungshaft Schaden fürs Leben genommen hatte. Zu Beginn des MontessoriProzesses war die Problematik der Suggestion nicht erkannt worden. Zwei Gutachterinnen, die vor Anklageerhebung von der Staatsanwaltschaft beauftragt worden waren, hatten ihre Prüfung ausschließlich auf die Fragestellung abgestellt „Lüge über sexuellen Missbrauch durch die Kinder“. Erst durch die Gutachten der forensischen Psychologen Max Steller aus Berlin (zusammen mit seiner Kollegin Renate Volbert) und Peter Fiedler aus Heidelberg, erkannte das Gericht, dass nicht Lüge, sondern Suggestion das Problem des Prozesses war. –– Die Wormser Prozesse, die man üblicherweise mit Worms I und Worms II bezeichnet (genau betrachtet waren es drei Verfahren), die sich zeitlich mit dem Münsteraner Montessori-Prozess überschnitten und von November 1994 bis Juni 1997 mit 25 Angeklagten aus einer Großfamilie dauerten, fanden an 131 bzw. 83 Verhandlungstage vor dem Landgericht Mainz statt. Die Wormser Prozesse sind als die größten Missbrauchsprozesse in die deutsche Rechtsgeschichte eingegangen. Alle Kinder waren Opfer von suggestiver Aufklärungsarbeit geworden. Der Vorsitzende entschuldigte sich mit bewegenden Worten bei den unschuldigen Angeklagten über die größte Justizkatastrophe der Nachkriegszeit. Und es kam noch schlimmer: Jahre später stellte sich heraus, dass der Betreiber eines Kinderheims sich

3   Näher dazu Rick StraFo 2012, 400; Darnstädt Der Richter sein Opfer. Wenn die Justiz sich irrt, 2013, S. 94 ff; Nestler ZIS 2014, 594 sowie SPIEGEL-TV http://www.youtube. com/watch?v=MFTV-7TBefs. 4   Gisela Friedrichsen, Im Zweifel gegen die Angeklagten. Der Fall Pascal – Geschichte eines Skandals, 2008, mit dem sehr lesenswerten Nachwort des Psychologen Günter Köhnken zu den Lehren aus dem Saarbrücker Prozess.

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an den Kindern vergriffen hatte, nachdem sie den Eltern weggenommen worden waren. Die Freisprüche in allen drei Wormser Prozessen vor dem Landgericht Mainz bezeichnete im Jahr 2002 ein führender Strafrechtsexperte als den Ground Zero der Strafjustiz – die Strafjustiz sah aus wie das Gelände des zerstörten World Trade Center.5 Diese Verfahren waren für die Strafjustiz aufgrund der zunächst fehlerhaften Glaubhaftigkeitsgutachten eine Katastrophe.6 Es verwundert daher nicht, dass der Bundesgerichtshof, genauer gesagt insbesondere der 1. Strafsenat unter dem damaligen Vorsitzenden Dr. Gerhard Schäfer, sich alsbald mit den Methoden der Glaubhaftigkeitsbegutachtung und mit denen der Aufdeckungsarbeit beschäftigte. Mit Urteil vom 30.7.19997 erkannte der Senat der aussagepsychologischen Methodik Beweiswert zu und erteilte den damals weit verbreiteten zum Teil absurden Vorgehensweisen der Aufdeckungsarbeit eine klare Absage. Deutungen von Zeichnungen, von Puppenspiel8 oder sonstigen Verhaltensweisen sollten in 5   Zitiert nach Max Steller, Nichts als die Wahrheit? Warum jeder unschuldig verurteilt werden kann, 2015, S. 152, der leider für den „führenden Strafrechtsexperten“ keine Fundstelle nennt. 6  Weitere Beispielsfälle: Der zu Unrecht als Vergewaltiger bezichtigte Lehrer Horst Arnold, der fünf Jahre lang unschuldig im Gefängnis saß, überlebte den Freispruch als gebrochener Mann nicht einmal ein Jahr; https://de.wikipedia.org/wiki/Justizirrtum_um_ Horst_Arnold (zuletzt aufgerufen am 30.8.2016). – Zu den juristischen Büchern des Jahres, die die NJW einmal im Jahr vorstellt, wurde vor Jahren bezeichnender Weise ausgewählt Sabine Rückert Unrecht im Namen des Volkes. Ein Justizirrtum und seine Folgen, 2007, das die Geschichte einer jungen Frau erzählt, die Vater und Onkel beschuldigt hatte, sie vergewaltigt zu haben. Beide verbüßten nach ihrer Verurteilung mehrjährige Freiheitsstrafen – zu Unrecht, wie sich später herausstellte. 7  BGHSt 45, 164 (1 StR 618/98) = BGH NStZ 2000, 100. – Bereits BGHSt 44, 153 (1 StR 94/98) = NJW 1998, 3788 und BGHSt 44, 256 (1 StR 450/98) = NJW 1999, 802 hatten bei Aussage gegen Aussage-Konstellationen in Mißbrauchsfällen den Zeugenbeweis durch die Tatrichter rationalisiert und revisionsrechtlich die notwendigen Prüfungsmaßstäbe vorgegeben. – Nach dem Grundsatzurteil gilt die Verpflichtung, sich bei einer aussagepsychologischen Begutachtung an dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand zu orientieren, nicht nur für das Prinzip der Hypothesenprüfung, sondern auch für die Wahl der eingesetzten methodischen Mittel. Dies betrifft das Heranziehen von Realkennzeichen im Rahmen einer Inhaltsanalyse, wie z.B. logische Konsistenz, Detailreichtum, raum-zeitliche Verknüpfungen, Schilderung psychologischer Vorgänge sowie die Konstanzprüfung bei mehreren Aussagen. Diese Kennzeichen dürfen nicht schematisch angewandt werden. Ein zwingender Schluss von einem einzigen Merkmal auf die Glaubhaftigkeit aller Angaben eine Person ist nicht zulässig. Unzulässig ist es nach dem Urteil auch, aus dem Vorliegen einer bestimmten Anzahl von Merkmalen im Sinne eines Schwellenwerts auf die Qualität einer Aussage zu schließen. 8   Vor Jahren wurden anatomische Puppen (= mit meist langen Zungen, überdeutlichen Geschlechtsteilen und Körperöffnungen, in die der Penis der männlichen Puppe hineinpasst) vor allem in den USA als psychodiagnostische Hilfsmittel eingesetzt. Untersuchungen haben jedoch belegt, dass sowohl missbrauchte als auch nicht missbrauchte Kinder ein

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forensisch-psychologischen Glaubhaftigkeitsbegutachtungen nicht mehr vorkommen.9 Die Prüfung der Glaubhaftigkeit von Aussagen muss mit wissenschaftlich fundierten Methoden, nach dem Stand der aussagepsychologischen Forschung aufgrund einer hypothesengeleiteten, kriterienorientierten Analyse erfolgen, deren wesentliche Schritte in den Urteilsgründen in nachprüfbarer Weise darzustellen ist.10

2.  Grundlagen der Aussagepsychologie Die Wahrheit herauszufinden ist die ureigene Aufgabe der Justiz und zumal der Richter, die über den angeklagten Vorwurf zu urteilen haben. Die Wahrheit aber zumal von der Scheinerinnerung und der Suggestion, von der Lüge oder sogar einem Trauma zu unterscheiden, dafür bedarf es Kenntnisse der Aussagepsychologie oder wegen der Schwierigkeiten sogar eines Sachverständigen. Die Aussagepsychologie hat seit langem wissenschaftlich begründete Methoden entwickelt, mit denen tatsächliche Opfer geschützt werden können, gleichzeitig aber auch helfen können, falsche Opferbehauptungen zu erkennen. In der Juristenausbildung kommt die Aussagepsychologie leider nicht vor, obwohl es nach dem Jurastudium und der Referendarzeit heißt: Die Beurteilung des Wahrheitsgehalts von Aussagen ist die ureigene Aufgabe des Richters. Es wird schlicht erwartet, dass sich Staatsanwälte und Richter damit beschäftigen. Nur: die oder der eine tut es und die oder der andere eben nicht. Ohne Grundlagenwissen über die Aussagepsychologie können aber die rechtlichen Möglichkeiten nicht sinnvoll eingesetzt werden. Handwerksmeister wird man nach einer Lehre mit einschlägigen theoretischen und praktischen Komponenten. Richter wird man durch Ernennung. Das beinhaltet sexualisiertes Spielverhalten mit den Puppen zeigen. Prof. Undeutsch hat schon sehr früh darauf hingewiesen, dass es sich bei Puppen mit so auffälligen Genitalien um „materialisierte Suggestivfragen“ handelt. Wird ein Kind aufgefordert, auszuprobieren, was man mit dem Puppen alles machen kann, erklärt sich das Lego-Prinzip wie auch Stellungen der Puppen zueinander von selbst. 9   Gerade diese zweifelhaften Untersuchungsmethoden erfreuten und erfreuen sich leider hin und wieder immer noch einer gewissen Beliebtheit deshalb, weil sich auch der Laie ohne weiteres eine Vorstellung über die Produkte machen kann, die aus den Spielen mit anatomischen Puppen oder Zeichentests hervorgehen. 10   Die in BGHSt 45, 164 abstrakt beschriebene Methode muss – zumal bei Besonderheiten in der Beweissituation – nicht schematisch eingehalten werden. Bei der Überprüfung der auf Realkennzeichen und einen Erlebnishintergrund untersuchten Aussage an Hand von Alternativhypothesen müssen nicht alle denkbaren, sondern nur die im konkreten Fall nach dem Stand der Ermittlungen realistischen Erklärungsmöglichkeiten berücksichtigt werden; BGH Beschluss vom 9.8.2005 Az. 3 StR 464/04 (= BGH NStZ-RR 2006, 139; dort aber nicht abgedruckt); vgl. auch BGHSt 45, 164, 168; BGH NStZ 2001, 45, 46.

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die Gefahr, dass Richter ein Leben lang die Glaubwürdigkeit von Beschuldigten/Angeklagten und Zeugen aufgrund laienhafter Konzepte urteilen – und gar nicht oder erst durch Justizkatastrophen lernen, dass es nicht um die Glaubwürdigkeit von Personen geht, sondern um die Glaubhaftigkeit von Aussagen,11 für deren Beurteilung die Aussagepsychologie wissenschaftlich bewährte Methoden entwickelt hat.12 Schon in der zitierten Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 1999 heißt es: „Gegenstand einer aussagepsychologischen Begutachtung ist – wie sich bereits aus dem Begriff ergibt – nicht die Frage nach einer allgemeinen Glaubwürdigkeit des Untersuchten im Sinne einer dauerhaften personalen Eigenschaft. Es geht vielmehr um die Beurteilung, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, d.h. einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen.“13 Nicht stets bedarf es der Hinzuziehung von Sachverständigen. Aber stets sollte Offenheit für außerjuristisches Wissen bestehen. a) Scheinerinnerung Es geht nicht nur darum, wie sich wahre und erlogene Aussagen unterscheiden, sondern es ist auch nicht alles war, woran man sich erinnert. Die fehlerlose Erinnerung ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme.14 Im Prozess der Selbstrechtfertigung verzerrt, beschönigt und unterdrückt unsere Erinnerung Negatives und dies nicht im Sinn einer Lüge oder Ausflucht.15 Wenn bei einem Menschen fiktive Vorstellungen entstehen und diese dann als Erinnerungen erlebt werden, sprechen Aussagepsychologen von Scheinerinnerungen oder Pseudoerinnerungen. Scheinerinnerungen sind nicht harmlos, sie können genauso verheerende Wirkungen haben wie Lügen. Nun wird gelegentlich behauptet, niemand könne scheinerinnern, vergewaltigt worden zu sein. Das ist leider eine falsche Annahme. Es gibt sogar   Zu den Begriffen Fischer Festschrift für Widmaier, 2008, 191, 192 ff.  Grundlegend Volbert/Steller Glaubhaftigkeit in: Bliesener/Lösel/Köhnken Lehrbuch Rechtspsychologie, 2014, S. 391–407; Volbert/Dahle Forensisch-psychologische Diagnostik im Strafverfahren, 2010, passim. 13   BGHSt 45, 164, 167. 14   Dazu schon Stern ZStW 22, 315, der sich dafür einsetzte, dass die Strafgerichte bei der Beurteilung von Zeugenaussagen, vor allem bei Aussagen von Kindern und Jugendlichen, sich vom psychologischen Sachverständigen beraten lassen sollen, um die Möglichkeit von Aussageirrtümer aufzuzeigen. Zu einem Fortschritt in der Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen kam es in den 1950er-Jahren durch die Arbeiten von Friedrich Arntzen, der in Bochum das erste Institut für Gerichtspsychologie in Deutschland gründete, und Udo Undeutsch, der an der Universität zu Köln lehrte. 15   Instruktiv hierzu schon in der Einführung die Sozialpsychologen Carol Tavris/Elliot Aronson Ich habe recht, auch wenn ich mich irre. Warum wir fragwürdige Überzeugungen, schlechte Entscheidungen und verletzendes Handeln rechtfertigen, 2010; aktuell Julia Shaw Das trügerische Gedächtnis. Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht; 2016. 11 12

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eine Zunahme bei Scheinerinnerungen über Sexualdelikte durch die in den letzten Jahren gehäuft auftretenden Berichte über sexuellen Missbrauch. Man schätzt, dass 30 % aller Vergewaltigungsanzeigen unbegründet sind. Gerade in Sexualstrafverfahren liegt die Quote von Falschaussagen relativ hoch und wird in den Statistiken meist nicht zutreffend wiedergegeben.16 Scheinerinnerungen sind näher beim Irrtum angesiedelt als bei der Lüge. Eine Aussage, die auf einer Scheinerinnerung beruht, ist nicht mehr durch ihre Qualität von einer wahren Aussage zu unterscheiden. Der Schlüssel zum Erkennen von Scheinerinnerungen liegt in der Analyse ihrer Entstehungsgeschichte. Eine Scheinerinnerung entsteht besonders dann, wenn der unsicheren Seite Angebote gemacht werden, die Mängel zu beseitigen, in dem die vermeintlichen Erinnerungslücken geschlossen werden. Aufdeckungsarbeit ist nicht nur wegen der Gefahr möglicher Fremdsuggestion zumal bei Kindern problematisch (zumindest aber nur mit äußerster Vorsicht zu leisten), sondern führt häufig zur Entstehung von Scheinerinnerungen. Sie kann bei nicht missbrauchten Kindern zur Entstehung von Scheinerinnerungen führen und bei missbrauchten Kindern, die bisher über den Missbrauch geschwiegen haben, mindert wenn nicht sogar zerstört die Aufdeckungsarbeit dem Beweiswert der Realkennzeichenanalyse als dem maßgeblichen Instrument zur Beurteilung der Qualität einer Aussage.17 Als Realkennzeichen werden die Kriterien bezeichnet, die eine Unterscheidung zwischen Aussagen, die tatsächlich Erlebtes wiedergeben, und irrtümlichen oder gar vorsätzlich falschen Aussagen ermöglichen. Bei den Realkennzeichen ist nach Steller/Köhnken18 zu unterscheiden zwischen –– allgemeinen und speziellen Merkmalen, –– inhaltlichen Besonderheiten, –– motivationsbezogenen Kennzeichen und –– deliktsspezifischen Merkmalen. Im Einzelnen: Die allgemeinen Merkmale beziehen sich auf die Aussage insgesamt, deren logische Konsistenz, den quantitativen Detailreichtum und die Frage, ob eine strukturierte oder eine unstrukturierte Darstellung erfolgte. – Die speziellen Merkmale beziehen sich auf die Konkretheit der Aussage. Dabei geht es um die Frage: Konnte sich der Zeuge die Aussage ausdenken? Weiterhin: Wie steht es mit raum-zeitlichen Verknüpfungen, Interaktionsschilderungen,   Deckers in: Festschrift für Eisenberg, 2009, S. 573, 578.  Näher Jansen Zeuge und Aussagepsychologie, 2. Aufl., 2012, Rn 297, 402, 678 ff. 18   Steller/Köhnken in Raskin Psychological methods in criminal investigation and evidence, 1989, S. 217. 16 17

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Wiedergabe von Gesprächen und Schilderungen von Komplikationen im Handlungsablauf? Bei den inhaltlichen Besonderheiten geht es um die Anschaulichkeit der Aussage und dabei wiederum um die Frage, konnte der Zeuge sich die Aussage ausdenken? Weiterhin wird untersucht, ob psychische Vorgänge, ob ausgefallene oder nebensächliche Einzelheiten, ob indirekte oder unverstandene Handlungsabläufe geschildert werden. Bei den motivationsbezogenen Merkmalen geht es um die Frage: Wie wahrscheinlich ist es, dass ein falschaussagender Zeuge motivationsbezogene Inhalte in seine Aussage aufnehmen würde? Verbessert er spontan seine eigene Aussage? Gesteht er Erinnerungslücken ein? Erhebt er Einwände gegen die Richtigkeit der eigenen Aussage? Inwieweit belastet er den Beschuldigten und inwieweit entlastet er ihn? Bei den deliktsspezifischen Merkmalen werden die Aussageelemente erfasst, die in typischer Weise mit dem behaupteten Delikt in Verbindung stehen. Zur Beurteilung deliktstypischer Aussageinhalte ist empirisch-kriminologisches Wissen nötig. b) Suggestion Der geistig Behinderte Ulvi K. sollte 2001 das neunjährige Mädchen Peggy Knobloch (der Fall Peggy)19 ermordet haben. Das Urteil: lebenslange Haft und Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt. 2014 wurde er freigesprochen und zwischenzeitlich aus dem Maßregelvollzug entlassen. Der Justizfehler: der Angeklagte hatte in Abwesenheit seines Verteidigers offenbar aufgrund suggestiver Fragen der Ermittler ein Geständnis für den Mord abgelegt, das das Gericht – wie im Fall Rudi Rupp – für glaubhaft hielt. Für kleine Kinder gehört es zu ihren Alltagserfahrungen, dass ihnen Erwachsene über Erlebnisse berichten, an die sie selbst keine Erinnerung haben. Für sie ist es nicht ungewöhnlich, dass der befragende Erwachsene besser als das Kind weiß, was passiert ist. Suggestion besteht nicht nur im Vorgeben von Sachverhalten, sondern vor allem in der Anregung der Fantasie der suggestiv Befragten. Vermeintlich wohlwollende Suggestivfragen, zumal wenn sie auf ein Geständnis zielen, sind für den Befragten besonders gefährlich. Das Verheerende ist: suggerierte Falschaussagen können eine hohe inhaltliche Qualität aufweisen. Zwischen erlebnisbasierten und suggerierten Aussagen sind keine inhaltlichen Qualitätsunterschiede festzustellen. Eine Unterscheidung zwischen Aussagen, die auf tatsächlichen Erlebnissen basieren, und solchen, die suggeriert sind, ist allein mit der Realkennzeichenanalyse nicht möglich, weil die suggerierte Aussage nicht bewusst unwahr ist. Denn 19

 Näher Ina Jung/Christoph Lemmer Der Fall Peggy, 2013, passim.

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die Bedingungen für Qualitätsmängel, die bei Lügen bestehen, sind bei suggerierten Falschaussagen nicht gegeben. Es muss nichts aktiv erfunden werden, der falsche Vorstellungsinhalt ist im Laufe der Zeit entstanden. Im Wesentlichen geht es aussagepsychologisch neben der Motivationsanalyse und der Genese der Aussage um die Abklärung von zwei Gegenannahmen zur Erlebnisannahme: 1. Bei der zu prüfenden Aussage handelt es sich um eine absichtliche Falschdarstellung (Lügenhypothese). 2. Bei der zu prüfenden Aussage handelt es sich um eine subjektiv für wahr gehaltene, auf einer Scheinerinnerung basierende Darstellung, deren Inhalt aber tatsächlich keine Entsprechung in einer vorausgegangenen Realität hat (Suggestionshypothese). Die Strafverfolgungsbehörden sollten sehr hellhörig sein, wann immer der Verdacht einer Suggestion im Raum steht! Denn Suggestion führt oft zu Unwahrheit und in der Folge zu Unrecht. c) Lüge Steht eine Lüge im Raum, wäre es für die Justiz ideal, wenn ein Lügendetektor20 die Frage zuverlässig klären könnte. Der Einsatz eines Lügendetektors verstößt zwar nicht gegen Verfassungsgrundsätze oder als verbotene Vernehmungsmethode gegen § 136a StPO, aber selbst wenn der Beschuldigte mit einem Lügendetektortest einverstanden sein sollte, ist dieser kein zulässiges – weil völlig ungeeignetes – Beweismittel im Sinne des § 244 III 2 Var. 4 StPO.21 Aus gutem Grund: Ein Lügendetektor ist ein Polygraf, also ein Mehrkanalaufschreibegerät. Mehr steckt nicht dahinter. Der Lügendetektor macht die Lüge nicht sichtbar, sondern allein eine körperliche Reaktion. Zweifellos kann Lügen Stressreaktionen hervorrufen. Aber auch die Konfrontation mit einer Falschbeschuldigung bedeutet Stress. Körperliche Reaktionen wie Schwitzen, Zittern, Erröten, Erblassen, Stottern usw. sind eben keine Anzeichen für eine Lüge, sondern allenfalls für Stress.22 Wenn also die technische Entlarvung von Lügen nicht funktioniert, dann stellt sich natürlich die Frage, wie man herausfinden kann, wer die Wahrheit sagt. Denn der Lügner verrät sich; jedenfalls meistens und verwickelt sich in Widersprüche.

  Überblick bei Schoreit StV 2004, 284.   BGHSt 44, 308, 323 ff; BGH NStZ 2011, 474, 475. 22   Diese Einschätzung wird jedenfalls innerhalb der deutsche Rechtspsychologie überwiegend treten; z.B. Egg Die unheimlichen Richter. Wie oder die Strafjustiz beeinflussen, 2015, S. 98 ff; Steller Nichts als die Wahrheit? Warum jeder unschuldig verurteilt werden kann, 2015, S. 98 ff. 20 21

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Leider lassen sich immer noch Staatsanwälte und Richter, und sogar Gutachter bei der Wahrheitssuche dazu verleiten, personale Eigenschaften, also den vermeintlichen Charakter einer Person, zu bewerten. Dabei können Vorund Fehlurteile vorkommen – und manche Verdächtige haben aufgrund ihrer Lebensumstände schlechte Karten. Es geht bei der Wahrheitsfindung aber nicht um Täter- oder Zeugenpsychologie, sondern um Aussagepsychologie. Lüge definiert sich durch zwei Eigenschaften: –– Sie wird bewusst vorgetragen und –– soll eine Absicht erfüllen, ist also zweckgerichtet. Der grundlegende Unterschied zwischen einer wahren und einer gelogenen Darstellung besteht zunächst darin, dass der Ehrliche seinen Bericht aus dem Gedächtnis rekonstruiert, während der Lügner seine Geschichte konstruieren muss. Ein lügender Zeuge muss ein erhebliches Ausmaß seiner kognitiven Energie darauf verwenden, – seine falsche Aussage plausibel darzulegen, – sich die erfundenen Informationen zu merken, diese gegebenenfalls spontan zu ergänzen, – aber keine Informationen zu produzieren, die den Zuhörer skeptisch werden lassen könnten. Wenn man eine Lüge nicht von vorn bis hinten erzählen kann, sondern unterbrochen wird und dann irgendwo weitererzählen soll, dann wird es für den Lügner schwierig. Die spontane und strukturierte und nicht chronologische Darstellung ist auch deswegen ein Realkennzeichen, weil kein Lügner, der einen anderen von der Wahrheit seiner Lüge überzeugen will, so chaotisch zählen würde. Er glaubt ja, er müsse klar und strukturiert sprechen, um den Eindruck zu erwecken, er sage die Wahrheit. Wer die Wahrheit sagt, erlaubt es sich dagegen, hin und wieder zu zweifeln. Das kommt dem Lügner nicht in den Sinn; denn er trachtet danach, dass ihm geglaubt wird. Erfolgreiches Lügen bedarf einer erhöhten geistigen Leistung. Für ihn ist es sehr schwer, seine eigenen Gedanken und Gefühle bei dem Geschehnis zu schildern, das er verfälscht oder komplett erfunden hat. Manchmal entlarvt sich eine Lüge nicht durch zu geringe Qualität, sondern durch einen anderen Konstruktionsfehler: der Lügner sagt zu viel. Geschwätzigkeit kann – wie erfahrene Praktiker immer wieder erleben – dem Lügner gefährlich werden: Si tacuisses! Im Grunde genommen verrät eine Person durch das, was sie erzählt, ob sie die Wahrheit spricht. Wer dem anderen intensiv zuhört und sich merkt, was er gesagt hat, kann nach Beschäftigung mit der Inhaltsanalyse häufig herausfinden, ob die Wahrheit gesagt oder gelogen wurde. So gesehen ist die Aussageanalyse im Grunde einfach: Wenn ich wissen will, ob jemand die

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Wahrheit sagt oder lügt, muss ich ihn möglichst lange reden lassen, gut zuhören und aufmerksam betrachten und vergleichen, was er am Anfang gesagt hat und was er später sagt. Für kleine Kinder gilt, dass sie gar nicht im Stande sind, eine Aussage absichtlich zu verfälschen. Es fehlt ihnen schlichtweg die Fähigkeit zur Lüge. Lügen über sexuellen Missbrauch im Vorschulalter sind daher unwahrscheinlich; denn zu den Fähigkeiten des Erstellens und des Vortäuschens müssen ja auch noch Kenntnisse über Sexualität und soziale Abläufe hinzukommen. Die relevanten inhaltlichen Kriterien sind –– inhaltliche Konsistenz (über Inhaltsanalyse), –– Realität, –– Konstanz, – Übereinstimmungen – – Ergänzungen – – Auslassungen – – Widersprüche. – Große Bedeutung haben –– die Entstehungsgeschichte der Aussage, –– die Motivanalyse, –– die Untersuchung der Kompetenz des Zeugen sowie –– die Erforschung möglicher Fehlerquellen. Erforderlich sind –– Qualitäts-Kompetenz-Vergleich (Aussageperson), –– Analyse der Vorgeschichte der Aussage (Aussagequalität). Zumal bei einem Kind muss geprüft werden, ob es vor seiner Aussage von Erwachsenen beeinflusst wurde. Nur wenn die inhaltliche Qualität einer Aussage auch bei Berücksichtigung der Vorgeschichte über der Erfindungskompetenz der Aussageperson liegt, kann sie als glaubhaft angesehen werden. –– Bei wiederholter Aussage die Prüfung, ob die Aussagen übereinstimmen oder Widersprüche aufweisen, dann Vergleich (Aussagegeschichte). d) Trauma Als Trauma wird das Erleben eines Ereignisses mit Todesgefahr oder das Miterleben solcher Ereignisse bei anderen definiert. Traumatisierte Menschen wissen in der Regel, wodurch sie traumatisiert wurden. Bei geeigneter Gesprächssituation können sie in der Regel darüber auch sprechen. Posttraumatische Belastungsstörungen diagnostizieren Therapeuten nicht selten aber nur anhand des ihnen von dem Zeugen berichteten Erlebnisses mit dem Beschuldigten. Allein aufgrund von Symptomen darf aber nicht auf ein dahinter ursächlich stehendes Trauma geschlossen werden, sondern das trau-

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matische Erlebnis als solches gilt es festzustellen. Deshalb ist die Diagnose „posttraumatische Belastungsstörung“ grundsätzlich sehr kritisch zu betrachten, wenn sie nicht unabhängig von der Aussage getroffen werden kann.23

3.  Wissenschaftliche Anforderungen an Glaubhaftigkeitsgutachten Das Gutachten über die Glaubhaftigkeit einer Aussage bezieht sich immer auf die Geschichte, die die Aussageperson erzählt. Hält der Sachverständige „die Geschichte“ für glaubhaft, dann urteilt der Sachverständige nicht über die Wahrheit, sondern bestätigt lediglich, dass es so gewesen sein könnte. Es geht nur um den Erlebnisbezug einer Aussage und nicht um ihren faktischen Wahrheitsgehalt. Dieser Erlebnisbezug, den der Psychologe festzustellen versucht, ist mit der Glaubhaftigkeit nicht gleichzusetzen, sondern gibt allenfalls einen Hinweis auf diese. Der Richter bekommt also nicht die Wahrheit eines Faktums geliefert, sondern ein Indiz. Die Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage hat allein der Richter zu würdigen und die sachverständige Aussageanalyse fließt in Form eines Gutachtens in diese Würdigung ein. Grundlage jedes Gutachtens ist die hypothetische Annahme, die Aussage sei unglaubhaft. Erst wenn diese sog. Null-Hypothese24 mit dem Ermittlungsergebnis und damit letztlich mit dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht mehr vereinbar ist, gelangt man zur Glaubhaftigkeit der Aussage. Zur Prüfung der Null-Hypothese hat der Sachverständige weitere relevante Hypothesen, etwa jene der Fremdsuggestion, zu bilden. Diese sind vom Tatrichter auf ihre Vollständigkeit hin zu überprüfen.25 Dieses Denkprinzip, einen Sachverhalt zunächst zu verneinen, bis man ihn belegen kann, reduziert die Quote fehlerhafter Gutachten. Die Falsifikationsstrategie bedeutet keine übergroße Skepsis gegenüber Zeugenaussagen, auch kein generelles Misstrauen gegenüber den Aussagen von mutmaßlichen Opfern. Gutachten, die das Falsifikationsprinzip beachten, sind im Interesse von tatsächlichen Opfern und versetzen zugleich das Gericht in die Lage, falsche Aussa23   Dass selbst der BGH vor einem Zirkelschluss nicht gefeit ist, belegt der Beschluss vom 11.2.2004 – 2 StR 378/03 (= BeckRS 2004, 03390), wonach das Trauma nach Ansicht des Senats deshalb stattgefunden hat, weil die Zeugin traumatisiert sei. 24   Beispiel: Wenn untersucht werden soll, ob Rauchen Krebs verursacht, dann ist von dem Grundgedanken auszugehen, dass Rauchen und Erkranken an Krebs zwei völlig voneinander unabhängige Phänomene sind (das ist die Nullhypothese), bis durch wissenschaftliche Befunde belegt werden kann, dass es einen engen Zusammenhang zwischen Rauchen und Krebserkrankungen gibt. – Eng verbunden mit dem Gedanken der Null-Hypothese ist es, dass wir bei der Feststellung eines Sachverhalts in der Regel zwei Arten von Fehlern machen können: Wir können eine Straftat fälschlich übersehen oder wir können eine Straftat fälschlich annehmen, obwohl sie nicht stattgefunden hat. Beide Fehler sollten nicht passieren. 25   Kritisch zu dieser Interpretation der Nullhypothese Fischer (Fn. 11) S. 212 f.

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gen von nur vermeintlichen Opfern zu erkennen. Damit verwirklichen sich Unschuldsvermutung und Beweislast als Grundgedanken des Strafprozesses. Ist ein Sachverständiger zunächst von der Glaubhaftigkeit der Aussage ausgegangen und reagiert er auf Gegenargumente, die sich auf Ergebnisse der Beweisaufnahme stützen, mit dem Einwand, aus diesem Beweisergebnis sei nicht zwingend auf eine Lüge zu schließen, dann stellt dieser Einwand die Null-Hypothese auf den Kopf, weil der Gutachter dann offensichtlich fehlerhaft von dem Grundsatz ausgeht „Im Zweifel für die Glaubhaftigkeit.“ Leidet das aussagepsychologische Gutachten in der theoretischen Grundlegung oder der Durchführung der psychologischen Untersuchung an Mängeln, entspricht ein Gerichtsbeschluss, mit dem ein Beweisantrag, ein weiteres psychologisches Sachverständigengutachten einzuholen, abgelehnt wurde, nur dann den gesetzlichen Anforderungen, wenn der Gerichtsbeschluss auf Mängel des Erstgutachtens ebenso differenziert eingeht und sich mit den Sachargumenten auseinandersetzt wie im Beweisantrag formuliert. Ein Gutachten, das zweifelhaft erscheint, sollte einem weiteren Sachverständigen zur Qualitätskontrolle vorgelegt werden. Ergibt diese Mängel des Erstgutachtens, so kann das Gericht über einen Beweisantrag in die Pflicht genommen werden, sich mit diesen Mängeln konkret und detailliert auseinanderzusetzen.

4. Strafprozessuales Früher reichte es, wenn das Tatgericht aufgrund des persönlichen Eindrucks vom Auftreten des Zeugen letztverantwortlich über dessen Glaubhaftigkeit entschied. Die ist heutzutage nicht mehr so, klingt aber doch in der Praxis immer wieder mal an, so wenn das Landgericht die Glaubhaftigkeit mit folgenden Worten begründete: „Die Zeugin vermochte während ihrer ganzen Vernehmung vor der Kammer kam aufzublicken, hat geweint und fühlte sich in ihrer Rolle sichtlich unwohl. Einige Details gab sie erst auf mehrfache Nachfragen preis.“26 Der persönliche Eindruck entstand hier aus dem Aussageverhalten der Zeugin und bildete die völlig unzureichende Grundlage für die Schlussfolgerung des Tatrichters, die Aussage der Zeugin sei glaubhaft.27

  BGH Beschluss vom 27.4.2010 – 5 StR 127/10.   Soweit gegenüber einer weitgehenden Kontrolle der tatrichterlichen Beweisführung durch das Revisionsgericht Skepsis besteht, sei der Hinweis erlaubt, dass das Revisionsgericht die Einhaltung des Rechts zu wahren und zu prüfen hat, ob der zutreffende Beurteilungsmaßstab eingehalten worden ist: Das ist die fehlerfreie Überwindung der sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden und zusätzlich in Art. 6 II EMRK und Art. 14 II IPBPR niedergelegten Unschuldsvermutung. 26 27

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a)  Einholen eines aussagepsychologischen Gutachtens Die Beurteilung des Beweiswerts der Aussage eines erwachsenen Zeugen und sowie des gesamten Beweisergebnisses ist ureigenste richterliche Aufgabe, ohne dass nichtrichterliche Experten in diesen Bereich der richterlicher Rechtsfindung miteinbezogen werden.28 Dies gilt in der Regel auch für die Bewertung der Aussagen eines kindlichen oder jugendlichen Zeugen.29 Die Jugendrichter und die Richter einer Jugendschutzkammer verfügen ebenfalls grundsätzlich über die notwendige Sachkunde für die Bewertung solcher Aussagen.30 Es gibt keine qualitative Differenzierung zwischen richterlicher und gutachterlicher Sachkunde. Richter wie Sachverständiger wenden bei der Glaubhaftigkeitsbeurteilung in der Sache dieselbe Sachkunde an; die Beurteilung ist nicht qualitativ, sondern nur quantitativ unterschiedlich, weil der Sachverständige über mehr (von derselben) Sachkunde verfügt.31 Das ändert aber nichts daran: die Beurteilung von Zeugenaussagen ist der problematischste Bereich richterlicher Rechtsfindung. Ein psychologischer (oder auch ein psychiatrischer) Sachverständigen ist hinzuziehen, wenn der Sachverhalt solche Besonderheiten aufweist, dass Zweifel aufkommen können, ob die Sachkunde des Gerichts zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit unter den gegebenen besonderen Umständen ausreicht.32 Allein die Konstellation Aussage-gegen-Aussage begründet für sich genommen noch keine solche Besonderheit; ebenso wenig bestimmte Deliktsarten, wenngleich die Tatgerichte Glaubhaftigkeitsgutachten überwiegend bei Sexualdelikten einholen. Welche besonderen Umstände es notwendig machen, dass sich der Tatrichter bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen sachverständiger Hilfe bedient, entzieht sich – weil stets einzelbezogen zu entscheiden – weitgehend generalisierender Festlegung. Allgemein lässt sich sagen, die Begutachtung erwachsener Zeugen wird die Ausnahme sein. Allerdings muss sich der Tatrichter sachverständiger Hilfe bedienen und darf sich nicht auf seine möglicherweise nicht ausreichende eigene Sachkunde verlassen, 28   So schon BGHSt 8, 130, 131. Einen der seltenen Einblicke in die richterliche Praxis gibt das Interview mit dem Strafrichter Hans E. Lorenz in: Darnstädt Der Richter und sein Opfer. Wenn die Justiz sich irrt, 2013, S. 117 ff. 29   BGH StV 2002, 637. 30   BGH NStZ-RR 2006, 241. 31   Fischer (Fn. 11) S. 207. 32   Gibt eine Staatsanwaltschaft oder ein Gericht ein Glaubhaftigkeitsgutachten für eine belastende Aussage in Auftrag, kann dies nicht bedeuten, dass der Sachverständige nur nach Bestätigungen für die Anschuldigungen suchen soll. Im Gegenteil: der Auftrag beinhaltet die Überprüfung der Beschuldigung, also muss der Gutachter annehmen, dass die Beschuldigung falsch ist (Null-Hypothese – es ist nichts passiert), bis er Gründe dafür findet, sie für richtig zu halten.

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wenn Umstände vorliegen, aufgrund derer die Feststellung und Beurteilung der nach dem Stand der Aussagepsychologie in der Regel anzuwendenden Glaubhaftigkeitskriterien zweifelhaft ist,33 wie z.B.: –– wenn der Zeuge unter einer Depression leidet und neurotische Angst hat,34 –– wenn sich der Zeuge erst aufgrund einer Hypnose erinnert,35 –– bei psychischen Erkrankungen, –– bei zum Zeitpunkt der Anzeigeerstattung bestehendem Vertrauensverhältnis des Zeugen zu dem von ihm Beschuldigten.36 Bei Kindern und Jugendlichen ist ein Glaubhaftigkeitsgutachten geboten vor allem –– bei unterdurchschnittlicher Intelligenz37 sowie –– bei Hinweisen auf suggestive Befragungen z.B. durch Familienangehörige.38 Auch der Angeklagte wie der Mitangeklagte kann einem Glaubwürdigkeitsgutachten unterzogen werden, jedenfalls dann, wenn er umfassende Angaben macht und keine strafverfahrensrechtlichen Hinderungsgründe entgegenstehen.39 Die Beweiswürdigung der Glaubhaftigkeit eines Geständnisses des Mitangeklagten bei schweigendem oder bestreitendem Angeklagten im Rahmen einer verfahrensbezogen in Absprache steht im besonderem Spannungsverhältnis zwischen Wahrheitsfindung und Verteidigungsinteresse des nicht geständigen Angeklagten. Der BGH betont, dass in einem solchen Fall die Glaubhaftigkeit des Geständnisses in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise gewürdigt werden muss, wozu insbesondere auch das Zustandekommen und der Inhalt der Absprache gehört.40 b)  Auswahl des Sachverständigen Nach folgenden Grundsätzen ist zu entscheiden, ob mit der Beurteilung der Glaubhaftigkeit ein Psychologe oder ein Psychiater beauftragt wird: – Der besonderen medizinischen Sachkunde eines Psychiaters bedarf es, wenn die Zeugentüchtigkeit dadurch in Frage gestellt ist, dass der Zeuge an einer geistigen Erkrankung leidet oder sonst Hinweise darauf vorliegen,

 Näher Fischer (Fn. 11) S. 207 f; allgemein zu den rechtlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen aussagepsychologischer Begutachtung Hilgert NJW 2016, 985. 34   BGH NStZ-RR 1997, 106. 35   BGH NStZ 1999, 48. 36   BGH StV 1994, 173. 37   BGH NStZ-RR 1997, 171. 38   BGH NStZ 2001, 105; vgl. aber auch BGH NStZ-RR 2005, 146. 39   BGH NStZ 2005, 394. 40   BGH NStZ 2003, 383 mit. Anm. Kargl/Rüdiger NStZ 2003, 672. 33

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dass die Zeugentüchtigkeit durch aktuelle psychopathologische Ursachen beeinträchtigt sein kann.41 –– Ein Aussagepsychologe ist hinzuziehen bei der Beurteilung des Zustandekommens der Aussage, also zur Beurteilung normalpsychologischer Varianten der Aussagekompetenz.42 –– Ist der Zeuge/Angeklagte in therapeutischer Behandlung genügt die Stellungnahme des behandelnden Psychiaters oder Psychologen nicht. Im Rahmen ihrer Therapie des Patienten steht nicht die Frage des Wahrheitsgehalts der Äußerungen ihres Patienten im Vordergrund, sondern die jeweilige Behandlung. Überdies steht einem als sachverständigen Zeugen vernommenen, früher behandelnden Therapeuten regelmäßig nicht diejenige umfassende Erkenntnisgrundlage zur Verfügung wie sie einem das Gericht beratenden Sachverständigen zugänglich ist, wie gerade die Strafakte und auch die Teilnahme an der Hauptverhandlung. c)  Darstellung des Gutachtens durch den Sachverständigen Ebenso wie die Auswahl der Methode obliegt auch die Wahl der Darstellungsart grundsätzlich dem Sachverständigen. Gleichwohl muss der Sachverständige bei der Abfassung seines Gutachtens für die erforderliche Nachvollziehbarkeit und Transparenz sorgen, damit die Verfahrensbeteiligten, aber auch andere Sachverständige, das Gutachten überprüfen können.43 d)  Glaubhaftigkeitsbewertung belastender Zeugenaussagen insbesondere bei Aussage-gegen-Aussage Der Angeklagte darf von Rechts wegen nicht dazu angehalten werden, sich einzulassen, nur um hierdurch den Vorteil einer umfassenden Würdigung der ihn belastenden Zeugenaussage zu erlangen, das ansonsten nur als einziges Beweismittel zur Beurteilung steht. Wegen der reduzierten Verteidigungsmöglichkeiten darf bei der Beweiswürdigung in Konstellationen, in denen „Aussage gegen Aussage“ steht, und das Gericht entscheiden muss, welcher der widerstreitenden Angaben das Gericht folgt, das Gericht den Bekundungen auch einer Auskunftsperson folgen, die quasi eine Parteirolle einnimmt.44 Stehen die Bekundungen eines – insbesondere einzigen – Zeugen und des Angeklagten unvereinbar gegenüber, darf das Gericht den Bekun  BGH NJW 2002, 1813.   BGH NJW 2002, 1813. 43   Angesichts der Beliebigkeit der Gutachtenabfassung hat BGHSt 45, 164 detaillierte Anforderungen an die Darstellung festgeschrieben. Insbesondere ist ein Wortprotokoll erforderlich, soweit dies für den Gutachtensauftrag von Bedeutung ist. 44  Vgl. auch Wille Aussage gegen Aussage in sexuellen Missbrauchsverfahren, 2012, S. 48 ff sowie ferner Sancietti Festschrift für Frisch, 2013, 1233, 1234 41 42

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dungen dieses Zeugen nicht deshalb, weil er Anzeigeerstatter und Geschädigter ist, ein schon im Ansatz ausschlaggebend höheres Gewicht beimessen als den Angaben des Angeklagten. Vielmehr ist in einer Gesamtwürdigung zu entscheiden, ob einer solchen Zeugenaussage gefolgt werden kann.45 Beruht die Überzeugung des Gerichts von der Täterschaft des Angeklagten allein auf der Aussage der einzigen Belastungszeugin, ohne dass weitere belastende Indizien vorliegen, stellt der BGH an die Überzeugungsbildung des Tatrichters strenge Anforderungen. Der Tatrichter muss sich bewusst sein, dass die Aussage dieser Zeugin einer besonders gründlichen Glaubhaftigkeitsprüfung zu unterziehen ist, zumal der Angeklagte in solchen Fällen wenig Verteidigungsmöglichkeiten durch eigene Äußerungen zur Sachlage besitzt. Eine lückenlose Gesamtwürdigung ist dann von besonderer Bedeutung.46 Die Urteilsgründe müssen in solchen Fällen erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, die seine Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat.47 Erforderlich ist danach ausnahmsweise eine umfassende Darstellung und Erörterung der relevanten Angaben sowie des Aussageverhaltens im Urteil.48 Sind aufgrund konkreter Gegenindizien die Angaben des Zeugen anzuzweifeln, muss der Tatrichter regelmäßig außerhalb der Zeugenaussage liegende Zusatzindizien anführen, die es ihm ermöglichen, der Zeugenaussage im Übrigen dennoch zu glauben.49 Erforderlich sind – wie schon dargestellt – eine – sorgfältige Aussageinhaltsanalyse, – eine genaue Prüfung der Entstehungsgeschichte der Aussage,50 – eine Bewertung der Aussagemotive sowie von Konstanz in verschiedenen Äußerungen, insbesondere hinsichtlich komplexer Sachverhaltsdarstellungen, sowie – die Prüfung von Detailliertheit sowie Plausibilität. Das Urteil muss alle Umstände, welche die Entscheidung zu beeinflussen geeignet sind, im Einzelnen darlegen. Das erfordert eine genauere Darlegung des Aussageinhalts als in anderen Fällen, damit das Revisionsgericht die daran anknüpfenden Überlegungen nachvollziehen kann. Insbesondere bei detailarmen Aussagen ist zu beachten, dass das Beurteilungskriterium der Aussagekonstanz erheblich an Wert verliert.   BGH NStZ 2004, 635, 636.   BGH NJW 2003, 2250. 47   BGH NJW 2003, 2250; NStZ-RR 2013, 19, 20. 48   BGH NStZ-RR 2015, 22, 23. 49   BGHSt 44, 153, 159. 50   Gerade bei der Bewertung kindlicher Zeugen in Missbrauchsfällen kommt der Entstehungsgeschichte der belastenden Aussage besondere Bedeutung zu; BGH NStZ-RR 2016, 87. 45 46

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Der Schuldbeweis ist nur geführt, wenn die belastende Zeugenaussage auch nach den Kriterien einer wissenschaftlichen Aussageanalyse als erlebnisfundiert anzusehen ist und hinsichtlich Konstanz, Plausibilität und Detailliertheit ein Mehr an Glaubhaftigkeit für sich in Anspruch nehmen kann als das Bestreiten des Angeklagten. In Fällen vager Tatkonkretisierung hat das Gericht in Rechnung zu stellen, dass dem Angeklagten ein substantiiertes Bestreiten schwer fällt. Um dem Revisionsgericht die Nachprüfung zu ermöglichen, ob ein Fall der unwahren oder doch bedenklichen Aussage vorliegt, muss auch im Fall der Teileinstellung nach § 154 II StPO deren Grund mitgeteilt werden.51 Gesteigerte Anforderungen stellt der BGH52 an die Sachdarstellung und Erörterung der Beweislage in den Fällen, in denen der einzige Belastungszeuge in der Hauptverhandlung – seine Vorwürfe ganz oder teilweise nicht mehr aufrechterhält, – zunächst geschilderte weitere Taten nicht mehr behauptet werden oder – sich sogar die Unwahrheit eines Aussageteils herausstellt. In solchen Fällen muss der Tatrichter sich mit dem jeweiligen Stand auseinandersetzen und darlegen, dass und aus welchen Grund keine falschen Angaben vorgelegen haben. Zudem sind ebenfalls die entscheidenden Teile der Aussagen des Zeugen in den Urteilsgründen wiederzugeben.53 Soweit die frühere Rechtsprechung in Fällen der Selbstverletzung eher eine Bestätigung der Missbrauchsberichte des Zeugen sah,54 hält der BGH hieran nicht mehr fest.55 Im Übrigen erwies sich die frühere Rechtsprechung schon deshalb als zweifelhaft, weil Selbstverletzungen typische Symptome einer Borderline-Störung sein können, welche häufig zu Falschaussagen führen. Hier bedarf es einer besonders sorgfältigen Prüfung, die regelmäßig eine sachverständige Begutachtung verlangt.56 Die „Tatferne“ eines Verletzungsakts führt nicht dazu, dass dieser unerheblich sei. Der Verletzungsakt kann Symptom einer Borderline-Störung sein, die ihrerseits der Grund für eine Falschbelastung sein mag, so dass ein Tatbezug im Ganzen fehlen könnte, weil es die angebliche Tat in Wahrheit überhaupt nicht gab. Eine abschließend effektive Kontrolle, ob alle Vorgaben von den Tatgerichten tatsächlich erfüllt wurden, fehlt den Revisionsgerichten infolge der   BGHSt 44, 153, 154; BGH NStZ 2008, 581, 582.   BGH NStZ-RR 2008, 254, 255. – Dass in solchen Fällen überhaupt noch eine Verurteilung von Rechts wegen gestattet wird, erscheint bedenklich! 53   BGHSt 256, 257; BGH NStZ-RR 2016, 87. 54   BGH Urteil vom 15.6.2005 – 1 StR 499/04. 55   BGH Urteil vom 25.1.2011 – 5 StR 418/10, BeckRS 2011, 04353 Rn 23. 56   Rautenstrauch Selbstpräsentationsstrategien in Falschaussagen von Frauen mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen, 2006, unveröffentlichte Diplomarbeit Berlin Charité. 51 52

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bislang abgelehnten revisionsrichterlichen Rekonstruktion der (nicht aufgezeichneten) Hauptverhandlung. Das Revisionsverfahren in seiner derzeitigen Ausgestaltung kontrolliert nicht, dass tatsächlich alle wesentlichen Umstände erörtert wurden und keine „Sachverhaltsverfälschung“ aufgrund kognitiver Dissonanz stattfand. Sollten die Staatsanwälte und Gerichte künftighin noch mehr Glaubwürdigkeitsgutachten in Auftrag geben, so sehe ich dennoch nicht die Gefahr massenhafter Verlagerung substantieller Verantwortung vom Richter auf dem Sachverständigen, wie Fischer bemängelt.57 Was seine weitere Sorge betrifft, der Tatrichter könne einem Glaubhaftigkeitsgutachten folgen, dass er nicht verstanden hat,58 kommt es hoffentlich in einem solchen Fall zu solchen Darstellungsmängeln im Urteil, die wiederum dem Revisionsgericht ein sachlichrechtlich begründetes Eingreifen ermöglichen. e)  Glaubhaftigkeit als Indiz Die Würdigung einer Zeugenaussage mit den Methoden der Aussagepsychologie erbringt hinsichtlich des bekundeten Geschehens keine exakt bestimmte Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Zeugenaussage. Bei Glaubhaftigkeitsgutachten handelt es sich – mit den Worten des BVerfG59 – um aus aussagepsychologischen Untersuchungen gewonnene Erfahrungsregeln, die dann als Beweisbewertungsmethoden unterhalb der Erfahrungssätze auf Erfahrungen beruhende Einsichten darstellen, die dem Richter hinsichtlich des realen Geschehens nicht mehr aber auch nicht weniger als Wahrscheinlichkeitsbewertungen ermöglichen. Es ist nicht Aufgabe des Sachverständigen, wie der BGH herausstellt, „darüber zu befinden, ob die zu begutachtende Aussage wahr ist oder nicht; dies ist dem Tatrichter vorbehalten. Der Sachverständige soll vielmehr dem Gericht die Sachkunde vermitteln, mit deren Hilfe es die Tatsachen feststellen kann, die für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit wesentlich sind.“60 Die zuerkannte Glaubhaftigkeit einer Aussage ist keine Haupttatsache, sondern ein Indiz. Zutreffend formuliert Fischer: „Glaubhaftigkeit einer Aussage ist nicht das Ergebnis einer umfassenden Beweiswürdigung, also kein Begriff für das Erwiesensein eines behaupteten realen Sachverhalts, sondern ein Indiz, das vom Richter mit oder ohne Zuziehung eines Sachverständigen

  Fischer (Fn. 11) S. 214.   Fischer (Fn. 11) S. 214. 59   NJW 2003, 2444, 2445. 60   BGH NStZ-RR 2004, 87, 88. 57 58

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festzustellen und als eines unter vielen Beweisanzeichen in die Beweiswürdigung einzustellen ist.“61 Eine psychologische Glaubwürdigkeitsbegutachtung vermag also die Beweiswürdigung durch den Tatrichter nicht zu ersetzen. Widersprüche oder Unklarheiten des Beweisergebnisses können nicht mit kursorischen Hinweisen auf vom Sachverständigen bekundete allgemeine psychologische Grundkenntnisse bei Seite geschoben werden. f)  Traumatisierung und Aussagequalität Die Beurteilung der Beweiswürdigung, die sich mit der Bewertung möglicher Auswirkungen von Traumatisierung auf Inhalt und Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage befasst, ist noch nicht gefestigt. Zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit der belastenden Aussagen der Nebenklägerin hatte das Landgericht ausgeführt, die Kammer verkenne nicht, dass in den verschiedenen Aussagen – bei zweimaligen Vernehmungen durch die Polizei, bei der Exploration durch eine Psychologin und in der Hauptverhandlung – „Abweichungen vorhanden sind, welche die zeitliche Einordnung, die Reihenfolge und auch die Anzahl der Taten sowie einzelne Details der Tatumstände betreffen.“ Die „Erinnerungslücken“ beruhen jedoch nach Ansicht des LG auf der Verdrängung traumatischer Erlebnisse. Der BGH62 stellt klar, dass diese Beweiswürdigung, soweit sie die Glaubhaftigkeit der den Angeklagten belastenden Aussagen der Nebenklägerin betrifft, rechtlicher Nachprüfung nicht stand hält. Die Abweichungen in den Aussagen der Nebenklägerin beträfen nicht nur Details der Tatumstände, sondern das Kerngeschehen. Ihre Kennzeichnung als „Erinnerungslücken“ sei nicht zutreffend; denn die Nebenklägerin habe jeweils durchaus detaillierte Aussagen gemacht, die zahlreiche individualisierende Einzelheiten enthielten. Es handle sich daher im Wesentlichen nicht um lückenhafte, sondern um einander widersprechende Schilderungen. In einem späteren Fall moniert der BGH63, dass das Landgericht es unterlassen habe, „den von dem sachverständigen Zeugen erst in der Hauptver  Fischer (Fn. 11) S. 221.   BGH NStZ-RR 2003, 16. 63   BGH Urteil vom 25.1.2011 – 5 StR 418/10, BeckRS 2011, 04353 Rn 23. Und weiter gibt der BGH mit auf den Weg (in Rn 24): „Das Unterlassen solcher Prüfung lässt insbesondere auch besorgen, dass die von der Sachverständigen und dem sachverständigen Zeugen gestellte, vom Landgericht übernommene – und von diesem ersichtlich auch als die Glaubhaftigkeit der qualitätsgeminderten Aussage der Nebenklägerin steigernder Umstand herangezogene – Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung auf einem Wertungsfehler beruhen kann. Auf geltend gemachte grundsätzliche Bedenken hinsichtlich einer zirkulären Argumentationsweise bei einer mit dieser Diagnose maßgeblich begründeten Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage kommt es bei dieser Sachlage nicht einmal an. Sie wäre indes für das weitere Verfahren zu bedenken.“ 61 62

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handlung bekundeten Umstand der Selbstverletzungen der Klägerin auf einen möglichen Zusammenhang mit einer etwaigen psychischen Störung hin zu untersuchen. … Zwar gibt es weder den Erfahrungssatz, dass selbstverletzendes Verhalten typische Folge eines erlittenen Missbrauchs ist (vgl. Schwenn StV 2010, 705, 710), noch denjenigen, dass es sich dabei regelmäßig um den Ausdruck einer krankhaften seelischen Störung handelt. Auch dieser Aspekt wäre indes in den Blick zu nehmen gewesen, da Anlass für die Klärung eines möglichen Zusammenhangs zwischen Selbstverletzung und Persönlichkeitsstörung hätte bestehen können.“ Die Neigung mancher Tatgerichte, auch Aussagen von die den Zeugen betreuenden Psychologen und Psychiatern als Belege für posttraumatische Belastungsstörungen zu akzeptieren und dann quasi naheliegend sowie zeitund kostensparend Aussagemängel als durch die Störung bewiesen anzusehen und diese der Straftat zuzurechnen,64 wird den BGH sicher noch beschäftigen. g)  Aussagetüchtigkeit und Borderline-Störung Für die Praxis bedeutsam ist die revisionsgerichtliche Bewertung von tatrichterlichen Glaubhaftigkeitsprüfungen zumal in Vergewaltigungsfällen, in denen die Aussagetüchtigkeit der einzigen Belastungszeugin bei zeitnahen, den Verdacht einer Borderline-Störung begründenden Selbstverletzungen oder einer sonst im Raum stehenden Störung dieser Art ohne oder mit nur unzureichendem Sachverständigenbeweis angenommen wurde. Sind nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme deutliche Anhaltspunkte für tatzeitnahe Selbstverletzungen oder Suizidalität der Nebenklägerin vorhanden, die auf eine Persönlichkeitsstörung hindeuten, erfordert die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung und deren Auswirkungen auf die Aussagetüchtigkeit spezifisches Fachwissen, das nicht Allgemeingut von Richtern ist.65 Die eigene Sachkunde des Tatgerichts bedarf daher einer näheren Darlegung.66 Erfordert die Beurteilung der Aussage eines psychisch auffälligen Zeugen spezielle Sachkunde, darf ein auf die Hinzuziehung eines psychiatrischen oder psychologischen Sachverständigen gerichtete Beweisantrag nur dann zurückgewiesen werden, wenn das Gericht über diese Sachkunde verfügt und diese entweder in einem Beweisbeschluss oder aber im Urteil näher darlegt.67

  Schwenn StV 2012, 255 f.   Schilderung eines Wiederaufnahmefalls bei Schwenn StV 2010, 705, 710. 66   BGH NStZ 2010, 100. 67   BGH NStZ 2010, 100. 64 65

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h)  Nebenkläger als Zeuge Gemäß § 406e StPO kann für den Verletzten ein Rechtsanwalt Akteneinsicht nehmen. Dieses Recht steht nach §§ 397, 385 III StPO auch dem Nebenkläger zu, der zugleich Zeuge im Verfahren sein kann. Der Nebenkläger kann sich also als Zeuge auf seine Vernehmung in der Hauptverhandlung anhand des Akteninhalts vorbereiten und sich mit seinem Rechtsanwalt beraten. Eine solche Vorbereitung kann im Einzelfall die Qualität der Aussage schwächen, sogar unverwertbar machen. Mögliche Übereinstimmungen in den Angaben können auf das Aktenstudium zurückzuführen sein. Es kann unklar bleiben, ob das, was der Nebenkläger nach dem Aktenstudium berichtet, tatsächlich seiner Erinnerung oder einer zwischenzeitlichen Auffrischung seines Gedächtnisses entspricht. Dieselben Bedenken bestehen, wenn der Nebenkläger das aussagepsychologische Gutachten einschließlich des Wortprotokolls kennt. Neben der Aussageanalyse ist im Rahmen der Fehlerquellenanalyse auf das jeweilige Motiv des Nebenklägers zur Anzeigeerstattung abzustellen. Hierbei kommen persönliche Motive wie Rache oder Eifersucht, aber auch wirtschaftliche Interessen in Betracht. Die Möglichkeit als vermeintliches Opfer einer Straftat finanziell entschädigt zu werden, kann ein Motiv sein, Angaben zu machen. i)  Neuere Fälle übergangener Falschbelastungsmotive Drängt sich nach den Feststellungen ein Falschbelastungsmotiv auf, ist dies in die Erörterung der Glaubhaftigkeit der Aussage miteinzubeziehen:68 –– Wahrheitswidrige Mehrbelastung hinsichtlich dreier Vergewaltigungen durch den Ehemann, für die es keine weiteren Beweismittel gab, wegen der Gefahr einer interessengeleiteten Aussage, um Beleidigungen und Bedrohungen anlässlich der Ausübung des Umgangsrechts mit dem gemeinsamen zweijährigen Kind nach der Trennung und der letzten Tat zu unterbinden.69 –– Rache gespeist aus tiefer Enttäuschung über das als erniedrigend empfundene frühere Leben mit dem Angeklagten und unterlassener Bewertung einer Äußerung, den Angeklagten fertig zu machen.70 –– Rache der vom Angeklagten verlassenen Ehefrau bei unterlassener Würdigung der Zeugenaussage von dessen Freundin, die Ehefrau hätte bekundet, sie mache den Angeklagten fertig und sei eine aggressive Psychopathin.71   BGH Beschluss vom 14.3.2012 – 5 StR 28/12, BeckRS 2012, 08268.   BGH Beschluss vom 14.3.2012 – 5 StR 28/12, BeckRS 2012, 08268. 70   BGH Urteil vom 24.1.2012 – 5 StR 433/11, BeckRS 2012, 04456. 71   BGH Beschluss vom 9.2.2012 – 2 StR 316/11, BeckRS 2012, 06789. 68 69

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–– Schutzbedürfnis des neuen Freunds vor körperlichen Angriffen durch den ehemaligen Freund.72

5.  Zum Schluss: Zwei Forderungen 1.  So viele Befragungen von Opfer-Zeugen wie nötig! Eine einzige videokonservierte Vernehmung ohne Wiederholung der Befragung nach einer gewissen Zeit ist nicht ausreichend für eine Glaubhaftigkeitsbeurteilung durch den Sachverständigen. Das Lügen wird dadurch vereinfacht, weil Widersprüche bei wiederholten Aussagen nicht mehr auftreten können. Lügen sind aber häufig der wesentliche Hinweis auf eine falsche Aussage. Suggestive Prozesse bleiben weitgehend im Verborgenen; denn sie zeigen sich im Verlauf von Aussagen durch Erweiterungen und andere Veränderungen. Die Prüfung der Konstanz bzw. der Veränderung einer Aussage im Verlauf der Zeit ist für die Glaubhaftigkeitsbeurteilung von herausragender Bedeutung. Daher kann es kein sinnvolles Ziel sein, Opfer-Zeugen nur einmal zu vernehmen und alle Entscheidungen auf der Grundlage dieser einmaligen Vernehmung zu treffen. Natürlich gibt es auch unnötige Mehrfachvernehmungen. 2.  Authentische Protokollierung von Aussagen, wenn schon keine Videovernehmung! Zu fordern ist die regelmäßige audiovisuelle Aufzeichnung von Beschuldigten- und Zeugenvernehmungen bei schwereren Tatvorwürfen oder bei einer schwierigen Sach- oder Rechtslage.73 Außerdem soll eine fakultative   BGH Beschluss vom 14.3.2012 – 5 StR 63/12, BeckRS 2012, 08374.  Zu den vom 39. Strafverteidigertag 2015 geforderten Dokumentationspflichten Schriftenreihe der Strafverteidigervereinigungen Bd. 39, 2016, S. 376 sowie die Beiträge zur Dokumentationspflicht in der Hauptverhandlung von Wilhelm S. 165 ff und zur Dokumentationspflicht im Ermittlungsverfahren Altenhain S. 181ff. Auch der 13.10.2015 übergebene Abschlussbericht der Expertenkommission zum Strafprozessrecht fordert eine fakultative audiovisuelle Dokumentation einzelner Vernehmungen vor dem Amtsgericht sowie eine obligatorische audiovisuelle Dokumentation der gesamten erstinstanzlichen Hauptverhandlungen vor dem LG und OLG unter der Bedingung, dass damit keine Erweiterung der Revisionsmöglichkeiten verbunden ist. Auch soll das Vorführen einer audiovisuell aufgezeichneten richterlichen Zeugenvernehmung bei einer erstmaligen Ausübung eines Zeugnisverweigerungsrechts in der Hauptverhandlung sowie einer richterlichen Beschuldigtenvernehmung zum Zweck der Beweisaufnahme über ein Geständnis ermöglicht werden; abrufbar ist der Bericht unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Artikel/ DE/2015/10132015_Abschlussbericht_Reform_Strafprozessrecht.ht ml (zuletzt aufgerufen am 3.9.2016). 72 73

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audiovisuelle Dokumentation einzelner Vernehmungen vor dem Amtsgericht sowie eine obligatorische audiovisuelle Dokumentation der gesamten erstinstanzlichen Hauptverhandlung vor dem Landgericht und Oberlandesgericht unter der Bedingung eingeführt werden, dass damit keine Erweiterung der Revisionsmöglichkeiten verbunden ist (Stichwort: Wegfall des sog. Rekonstruktionsverbots). Wenn immerhin die RiStBV Beachtung finden würde, wäre schon viel erreicht: –– Nr. 5 b S. 1 RiStBV: Bei der vorläufigen Aufzeichnung vom Protokollen (§ 168a Abs. 2 StPO) soll vom Einsatz technischer Hilfsmittel (insbesondere von Tonaufnahmegeräten) möglichst weitgehend Gebrauch gemacht werden. –– Nr. 19 Abs. 2 RiStBV: Bei Zeugen unter 18 Jahren soll zur Vermeidung wiederholter Vernehmungen von der Möglichkeit der Aufzeichnung auf Bild-Ton-Träger Gebrauch gemacht werden. …Mit Blick auf eine spätere Verwendung der Aufzeichnung als Beweismittel in der Hauptverhandlung (§ 255a StPO) empfiehlt sich eine richterliche Vernehmung (§ 168c, 168e StPO). …

Terror Ein Interview mit Fußnoten* Matthias Jahn/Sibylle Baschung I. Präliminarien Das Interview ist für eine wissenschaftliche Publikation im deutschsprachigen Raum ein nicht alltägliches Format1, noch dazu angereichert um einen Fußnotenapparat. Es erscheint uns jedoch besonders geeignet, um den Jubilar zu ehren. Er ist ein Jurist ungewöhnlichen Zuschnitts. 1. Äußerer Anlass des hier wiedergegebenen Gesprächs waren Fragen der Zweitautorin, die sich im Laufe der Arbeit an der Frankfurter2 Welturaufführung des Theaterstücks „Terror“ von Ferdinand von Schirach am 3.10.2015 gestellt hatten. Der Erstautor hatte in dem halben Jahr vor der Premiere die außerordentliche Freude und Ehre, das Ensemble unter der Regie von Oliver Reese bei der Inszenierung strafjuristisch beraten zu dürfen. Deshalb stand er auch hier Rede und Antwort. Der Plot des Stückes dürfte mittlerweile bekannt sein, nachdem es in den Spielzeiten 2015/16 und 16/17 auf dem Spielplan von 51 deutschsprachigen Bühnen stand und steht; die Dreharbeiten zur gleichnamigen ARD-Verfilmung sind im Zeitpunkt des Manuskriptabschlusses bereits beendet3. Von Schirach, im früheren Hauptberuf Strafverteidiger, lässt eine Verhandlung *   Der Erstabdruck erfolgte im Programmheft zur Doppelinszenierung von „Der Zerbrochene Krug“ und „Terror“ am Schauspiel Frankfurt in der Spielzeit 2015/16. Das um einen wissenschaftlichen Apparat ergänzte Manuskript wurde am 31.7.2016 abgeschlossen. 1   Freilich gibt es auch hier Ausnahmen; siehe etwa die von Rudolf Gerhardt betreute Reihe „Rechtspolitik im Gespräch“, zuletzt Jahn/Gerhardt, ZRP 2016, 155. In der jüngeren Entwicklung wird in wissenschaftlichen Zeitschriften selbst E-Mail-Kommunikation publiziert, etwa von Fabricius/Singelnstein, KritV 2011, 299 (304 ff.). 2   Das Stück (von Schirach, Terror: Ein Theaterstück und eine Rede, 2015) erlebte am gleichen Abend am Deutschen Theater in Berlin Premiere. 3   Alle Angaben auf der vom Bühnenverlag Gustav Kiepenheuer eingerichteten Webpage http://terror.theater/ und bei www.schirach.de. Ausländische Premieren haben stattgefunden oder sind geplant u.a. in Tel Aviv, Dänemark, Ungarn und Venezuela.

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vor dem Schwurgericht stattfinden. Unter Mordanklage steht Lars Koch, Pilot eines Kampfjets der Bundeswehr. Eigenmächtig und in voller Kenntnis von BVerfGE 115, 1184 hat er entschieden, ein von Terroristen gekapertes Passagierflugzeug abzuschießen, das Kurs auf die Fußballarena in München genommen hatte. Dort findet an diesem Abend vor 70.000 Zuschauern das ausverkaufte Länderspiel Deutschland gegen England statt. Staatsanwaltschaft und Verteidigung bringen verschiedene Argumentationsstrategien in Anschlag – am Ende sind die Zuschauer als Schöffen aufgefordert, ein Urteil zu sprechen. 2. Ob Ottmar Breidling das Stück gesehen hat, wissen wir nicht. Beschäftigt man sich aber mit der strafjustiziellen Aufarbeitung von Terrorismus in Deutschland in der post-RAF-Ära, ist seine Handschrift nicht zu übersehen. Insbesondere die notorischen Vorworte zu Urteilen in diversen Staatsschutzverfahren haben bei vielen Beobachtern bleibenden Eindruck hinterlassen5. Dabei ging es stets auch um die grundsätzlichen Fragen der Erforderlichkeit hochinvasiver strafprozessualer und ordnungsrechtlicher Mittel zu Zwecken der Terrorabwehr. So war ein intensiver, wenn auch stets nur mittelbarer dienstlicher Kontakt des Erstverfassers und des Jubilars durch ein Urteil des Düsseldorfer OLG-Senats unter Vorsitz Breidlings aus dem Jahr 1999 veranlasst6. Auch das von Ferdinand von Schirach verfasste Theaterstück 4   Urt. des Ersten Senats v. 15.2.2006, 1 BvR 357/05, Leitsatz 3: „Die Ermächtigung der Streitkräfte, gemäß § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes durch unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ein Luftfahrzeug abzuschießen, das gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, ist mit dem Recht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar, soweit davon tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betroffen werden“. 5   Vgl. nur Thielmann, Die im Urteil integrierte Presseerklärung. Zu Form und Inhalt der sog. Vorworte des Staatsschutzsenates des OLG Düsseldorf in Islamistenverfahren, StV 2009, 607. 6  VI 1/97 = StV 1998, 170 m. Anm. Gusy, StV 1998, 526 und zust. Anm. Theisen, JR 1999, 255; aus Sicht eines Verfahrensbeteiligten dazu auch Comes, StV 1998, 569. Als von der Staatsanwaltschaft Frankfurt abgeordneter wissenschaftlicher Mitarbeiter des damaligen Vizepräsidenten Winfried Hassemer hatte der Erstverfasser dieses Festschriftenbeitrags das schließlich in BVerfGE 112, 304 abgedruckte Urteil des Zweiten Senats v. 12.4.2005 vorzubereiten. Der Beschwerdeführer U. hatte als Mitglied der sogenannten Antiimperialistischen Zelle (AIZ) in Fortführung der von der RAF zu dieser Zeit bereits aufgegebenen Strategie des bewaffneten Kampfs vier Sprengstoffanschläge verübt. Wegen dieser Taten hatte ihn das OLG Düsseldorf unter anderem wegen gemeinschaftlichen Mordversuchs in vier Fällen, jeweils in Tateinheit mit vorsätzlichem Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 13 Jahren verurteilt. Seine Verfassungsbeschwerde warf die Frage auf, ob § 100c Abs. 1 Nr. 1 lit. b StPO a.F. (heute: § 100h Abs. 1 Nr. 2 StPO) mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Sie richtete sich gegen die Verwendung des Global Positioning System (GPS) neben anderen, zeitgleich durchgeführten Observationsmaßnahmen

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befasst sich mit dem schmalen Grat zwischen der Einhaltung rechtsstaatlicher Grundregeln und dem Selbsterhaltungstrieb staatlicher Ordnung.

II.  „Terror“: Fragen, Antworten, Fußnoten Baschung: Ferdinand von Schirach spielt in seinem Stück die Unzulässigkeit des Luftsicherheitsgesetzes durch, das im Januar 2005 erlassen wurde. Dieses Gesetz hat den Zweck, die Sicherheit im deutschen Luftraum zu gewährleisten und Terroranschläge, wie denjenigen am 11.9.2001 in den USA, zu verhindern. In Deutschland wurde die Verabschiedung dieses Gesetzes vorangetrieben durch den Vorfall in Frankfurt im Januar 2003, als ein Motorsegler die Hochhäuser am Willy-Brandt-Platz7 umkreiste und der Pilot damit drohte, das Flugzeug in eines der Gebäude stürzen zu lassen. Das Gesetz erlaubte als äußerste Maßnahme den Abschuss eines Flugzeuges, wenn „nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, und sie [die Maßnahme] das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist“ (§ 14 LuftSiG). Man nahm damit in Kauf, dass unbeteiligte Menschen – Passagiere, Bordpersonal  – getötet werden, um das Leben der Menschen am Anschlagsziel zu retten. Im Februar 2006 erklärte das Bundesverfassungsgericht den zitierten § 14 LuftSiG für verfassungswidrig und damit für nichtig8. Eine gesetzlich derart erlaubte Abschussermächtigung verstoße gegen die Garantie der uneingeschränkten Menschenwürde, die im ersten Artikel der Verfassung festgehalten ist, und gegen das allgemeine Grundrecht auf Leben. Damit scheint doch alles eindeutig geklärt, oder nicht? Ist die Frage des Stückes – durfte Lars Koch Leben gegen Leben abwägen, oder ist er wegen 164-fachen Mordes zu verurteilen – also ein alter Hut oder immer noch relevant? Jahn: Geklärt sind die Dinge allenfalls auf einer juristischen Argumentationsebene, und das auch nur im Windschatten der Autorität des Bundesverfassungsgerichts. Im wissenschaftlichen Untergrund – den gibt es! – ist die Kritik am Gericht nie verstummt9. Man hat Karlsruhe in konservativen Krei-

sowie gegen die Verwertung der aus dieser Observation gewonnenen Erkenntnisse. Nicht nur wurde die Verfassungsmäßigkeit der Ermächtigungsgrundlage bejaht. Der Zweite Senat hielt auch ausdrücklich fest, dass Auslegung und Anwendung der Vorschrift im – 531 Seiten starken – Urteil des OLG Düsseldorf auch unter Aspekten der Verhältnismäßigkeit nicht zu beanstanden waren (BVerfGE 112, 304, [321]). 7   Das Schauspiel Frankfurt trägt die Postadresse Neue Mainzer Straße 17 (die Hauptstraße des Bankenviertels). Es liegt aber tatsächlich am Willy-Brandt-Platz. Jener hieß zwischen 1902 und 1992 Theaterplatz. 8   O. Fn. 4. 9   Aus jüngster Zeit zusf. Frenz, DÖV 2015, 305 (306).

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sen der deutschen Staatsrechtslehre „rechtsautistische Problementsorgung“10 vorgeworfen, indem das Gericht so tue, als seien die Gefahrenlagen mit dem Abschussverbot ein für allemal erledigt11. Und die Position eines früheren Bundesverteidigungsministers, er fühle sich durch das geschriebene Recht nicht gebunden und würde unter Berufung auf einen übergesetzlichen Notstand dennoch einen Abschussbefehl erteilen12, wird der Sache nach auch in der Rechtswissenschaft nach wie vor vertreten, wenngleich mit dogmatisch ausziselierteren Argumenten13. Sie bauen darauf auf, dass das Bundesverfassungsgericht zu den Fragen strafrechtlicher Verantwortlichkeit beredt geschwiegen hat – das greift ja auch Ferdinand von Schirach auf. Und in der Tat kann man vertretbarerweise sagen, das Gericht habe im Jahr 2006 nur das Luftsicherheitsgesetz ausdrücklich für verfassungswidrig erklärt, nicht aber entschieden, „wie ein gleichwohl vorgenommener Abschuss und eine auf ihn bezogene Anordnung strafrechtlich zu beurteilen wären“ – das steht ja in der Tat wörtlich in der Entscheidung14. Übersehen wird dabei allerdings, dass die verfassungsrechtliche und die strafrechtliche Bewertung bei der klaren Ansage des Verfassungsgerichts in puncto Absolutheit der Menschenwürdegarantie nicht auseinanderfallen dürfen – aber das ist, zugegeben, schon wieder Interpretationssache15. Jenseits dieser Scharmützel im juristischen Klein-Klein sind die durch das Stück aufgeworfenen fundamentalen Fragen ohnehin von fortdauernder gesellschaftlicher Relevanz. Wie sich der Staat gegenüber seinen Bürgern in Ausnahmesituationen verhalten soll, ist ja nicht nur eine Frage des Rechts. Denken Sie, gerade hier in Frankfurt, an die jahrelange schmerzhafte Kontroverse um den „Fall Daschner“ – da waren nicht nur die Leserbriefseiten voll mit zustimmenden Stellungnahmen zur Folterandrohung gegenüber dem Entführer des kleinen Jakob von Metzler oder jedenfalls dem Hinweis, das Handeln der Polizeispitze sei „menschlich verständlich“16. Und wer würde 10   Begriff von Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaats, 2. Aufl. 2008, S. 124 in Fn. 140. Siehe dazu T. Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 479 ff. 11   Eingehend dazu Hillgruber, JZ 2007, 209 (211, 214 ff.). 12  S. dazu – jeweils mit Nachweisen – Frankenberg, Staatstechnik: Perspektiven auf Rechtsstaat und Ausnahmezustand, 2010, S. 132; Burkhard Hirsch, RuP 2007, 153 (157 f.); W. R Schenke, FG Burkhard Hirsch, 2006, S. 75 (84) und Ladiges/Glawe, DÖV 2011, 621. 13   Einerseits wird in mannigfachen Schattierungen über eine angebliche Aufopferungspflicht der Insassen argumentiert, andererseits mit einem exzeptionellen Ausschluss der Strafbarkeit des Piloten auf Rechtsfolgenebene. Die Lösungen auf der Rechtsfolgenseite differenzieren je nach der exakten Verortung des Strafausschlusses und seiner dogmatischen Begründung weiter. Zusf. zum Ganzen Roxin, ZIS 2011, 552 (553 ff.); SSW-StGB/Rosenau, 4. Aufl. 2016, Vor § 32 Rn 67; NK-StGB/Paeffgen, 4. Aufl. 2013, Vor § 32 Rn 155 ff. und LK-StGB/Rönnau/Hohn, 12. Aufl. 2006, Vor § 32 Rn 252 ff. 14  BVerfGE 115, 118 (157). Zur vielstimmigen Kritik Rogall, NStZ 2008, 1 (5) und Isensee, AöR 131 (2006), 173 (191 f.). 15  Vgl. Roxin, ZIS 2011, 552 (562). 16   Siehe dazu Düx, ZRP 2003, 180, mit Replik von F.-C. Schroeder, aaO.

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nicht vielleicht klammheimlich darauf hoffen, dass bei der Entführung seines Kindes ein Polizeivizepräsident die rote Linie erneut überschreiten würde, um das Leben eines unschuldigen Kindes zu retten – natürlich am Ende deswegen angemessen bestraft17. Diese emotionale Seite des Notstandes ist ein schmutziger blinder Fleck im demokratischen Rechtsstaat – und auf ihn wirft „Terror“ ein Schlaglicht. Meinen Sie mit dem „schmutzigen, blinden Fleck“ in unserem Rechtsstaat eine unentschiedene und deswegen vielleicht bigott zu nennende Haltung der Verfassungshüter in Bezug auf unsere moralischen Standards? Also die Tatsache, dass wir moralisch hochstehende Gebote, Regeln aufstellen – „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – und gleichzeitig nicht eindeutig klären, wie die Gerichte einen Regelverstoß sanktionieren sollen? Nein. Aus meiner Sicht durfte das Gericht zu der Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eines Bundeswehrangehörigen schon deshalb nichts sagen, weil das nicht Streitgegenstand in Karlsruhe war. Die Verfassungsbeschwerde richtete sich gegen die generelle Ermächtigung der Streitkräfte durch das Luftsicherheitsgesetz, Luftfahrzeuge, die als Tatwaffe gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden sollen, durch unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt abzuschießen18. Es ging also nicht um ein konkretes Fehlverhalten eines Soldaten – hier setzt das Stück gerade deshalb an, weil erst der Einzelfall die Situation der tragischen Wahl des Individuums, das Konzept des kleineren Bösen, zu einem dramatischen Gegenstand reifen lässt. Der schmutzige blinde Fleck ist vielmehr die etwas bigotte Haltung von Juristen, die durch das Recht transportierten moralischen Standards gerade deshalb emphatisch hochhalten zu können, weil man insgeheim darauf hofft, dass es einen Lars Koch geben wird, der seine Freiheit aufopfert19. Hat sich der deutsche Rechtsstaat mit dem ersten Verfassungsartikel angreifbar gemacht? In Bezug auf die Wahrung der Menschenwürde sind alle Menschen, Freund wie Feind, gleich zu behandeln. Kindesentführer dürfen nicht gefoltert werden, um eine überlebenswichtige Information zu erhalten, und Unschuldige, die von Terroristen als Waffe missbraucht werden, dürfen 17   Nach Auffassung des LG Frankfurt, NJW 2005, 692 (696) m. Anm. Kudlich, JuS 2005, 376 soll dies im Einzelfall auch die nur vorbehaltene Verurteilung zu einer Geldstrafe nach § 59 StGB einschließen können. Zum Problemkomplex „gute Folter – schlechte Folter“ Roxin, FS Nehm, 2006, S. 205 (207 ff.) und Jahn, KritV 2004, 24. 18   BVerfGE 115, 118 (119). 19   Gramm, DVBl. 2006, 655 bezeichnet dies anschaulich (jedenfalls für Filmliebhaber) als „Dirty Harry-Theorie“. Nicht zu Unrecht kritisch auf diesen Widerspruch hinweisend Isensee, Tabu im freiheitlichen Rechtsstaat, 2003, S. 61; Hillgruber, VVDStRL 67 (2007), 7 (38); Depenheuer, in: G. F. Schuppert u.a. (Hrsg.), Der Rechtsstaat unter Bewährungsdruck, 2010, 9 f. und ders. (Fn. 10), S. 28.

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nicht geopfert werden, um andere zu retten. Was haben wir solcherlei Angriffen und Verbrechen entgegenzusetzen? Ja, der Rechtsstaat hat sich angreifbar gemacht – und das ist auch gut so. Das kann man auf die Spitze treiben. Nach der Logik des Grundgesetzes wird durch die Einhaltung der Grundrechte des Einzelnen und seiner Kompetenzgrenzen der Fortbestand des Verfassungsstaates durch ihn selbst in Frage gestellt und die Zerstörung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung in Kauf genommen obwohl noch wirkungsvolle Notbehelfe der Gefahrenabwehr bereitstünden20 – zum Beispiel der im Stück vorgenommene Flugzeugabschuss. Geschäftsgrundlage unserer Demokratie ist es also, dass selbst in solchen existenziellen Ausnahmesituationen das Recht nicht der Macht des physisch Möglichen weichen darf. Unsere Rechtsordnung hat sich damit, um die Dinge beim Namen zu nennen, für den Fall des Eintritts solcher „tragic choice“-Situationen für ihre Selbstaufgabe entschieden21. Welchen Sinn macht eine solche Entscheidung zur staatlichen Selbstaufgabe? Letztlich liegt gerade darin die politische Überlegenheit der Demokratie gegenüber dem totalitären System, dessen Präferenz die rücksichtslose Selbsterhaltung um jeden Preis ist22. Wenn der Bürger weiß, dass der Diktator in höchster Not die Geltung der Rechtsordnung aussetzen kann und wird, warum sollte sich das Gemeinwesen dann überhaupt mit diesen unangenehmen Fragen in der Normallage im politischen Diskurs auseinandersetzen und zu schmerzhaften Kompromissen durchringen? Das ist für mich die Lehre aus der intensiven Diskussion um die Einführung einer Notstandsverfassung in der Bundesrepublik der 1960er Jahre. Die Menschen sind wegen der Lösung dieser Fragen massenhaft – und zu Recht – auf die Straße gegangen. In Weimar war das nicht notwendig, weil wegen des allgegenwärtigen Notverordnungsrechts des Reichspräsidenten die Dinge in der Schwebe blei Vgl. Roxin, JöR n.F. 59 (2011), 1 (18); Streng, FS Stöckel, 2010, S. 135 (154).   Jahn, in: Bidmon/Emmert (Hrsg.), Töten. Ein Diskurs, 2012, S. 190 (200); ders., Das Strafrechts des Staatsnotstands, 2004, S. 201 ff.; Möstl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts VIII, 3. Aufl. 2010, § 179 Rn 9; Gusy, GA 2008, 746 f. A.A. H.-J. Hirsch, FS Küper, 2007, S. 149 (170); Isensee, AöR 131 (2006), 173 (192) sowie in Rezensionen des Staatnotstandes des Erstverfassers von Pawlik, FAZ Nr. 233 v. 6.10.2004, L 35 und eindringlich Jakobs, ZStW 117 (2005), 418 (425): „Ein Vorgehen mit nicht perfektrechtsstaatlichen Mitteln zerstört den perfekten Rechtsstaat, aber nicht minder nimmt ihm ein nicht nur beiläufiger Verzicht auf jedes Vorgehen gegen schweres Unrecht etwas von seiner Wirklichkeit und beläßt schlimmstenfalls nichts als den abstrakten Begriff. Perfektion des Rechtsstaats ist eines, seine Wirklichkeit ein anderes. Soll die Wirklichkeit nicht leiden, muss sich das Maß der Perfektion des Rechtsstaats nach der jeweiligen Lage richten; ruhige Zeiten lassen mehr Kautelen zu als Zeiten der Not“. 22   S. Augsberg, in: F. Arndt u.a. (Hrsg.), Freiheit – Sicherheit – Öffentlichkeit, 2009, S. 17 (26 f.); Jahn, Staatsnotstand (Fn. 21), S. 204. 20 21

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ben konnten. Dieser Rest von Diktatur im demokratischen Umfeld, den Carl Schmitt so gepriesen hat23, war Teil des Verhängnisses24. Der demokratisch verfasste Rechtsstaat darf es durch politische Risikovorsorge auch für den Ausnahmezustand und existenzielle Notlagen wie den Abschuss eines gekaperten Flugzeugs erst gar nicht so weit kommen lassen. Lars Koch kann sich in der im Stück geschilderten Situation aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts nur falsch verhalten – entweder er verstößt gegen die Verfassung, indem er die 164 Passagiere tötet, oder es sterben 70.000 Menschen im Stadion. „Falsch“ im strafrechtlichen Sinne verhält er sich allenfalls25, wenn er auf den Knopf drückt – er hat gegenüber den 70.000 Stadionbesuchern keine Garantenpflicht und macht sich auch nicht wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar, wenn er das gerade nicht tut26. „Falsch“ verhält er sich gegenüber den Stadionbesuchern aber in einem moralphilosophischen Sinne, wenn er etwas nicht tut, was in seiner Macht stünde. Ist das ein spezifisch deutsches Problem? Wie sieht die Rechtslage in anderen Ländern aus? 1987 hat die israelische Regierung eine Kommission unter Vorsitz des früheren Präsidenten des dortigen obersten Gerichts eingesetzt. Diese sollte Vorschläge zur künftigen Regelung des Verhaltens der Angehörigen des israelischen Inlandsgeheimdienstes bei der Aufklärung und Verfolgung terroristischer Aktivitäten erarbeiten. Dazu gehörte auch die Vernehmung Beschuldigter militanter palästinensischer Organisationen, die vor Attentaten auf die Zivilbevölkerung nicht zurückschrecken. Die Kommission hielt den Einsatz von, wie man sich ausdrückte, moderatem physischen Zwang in solchen Vernehmungen für vertretbar, wenn dadurch eine konkrete und erhebliche Gefahr für die Bevölkerung Israels abgewendet werden könne. Das gelte insbesondere für Vernehmungen in sogenannten „ticking time bomb“-Situationen, wenn also einer unübersehbaren Vielzahl von Unschuldigen die Vernichtung durch eine Höllenmaschine droht, die nur der Beschuldigte zu beherrschen vermag. Zu dem Einsatz physischen Zwangs gehöre, so die Kommission27, beispielsweise, dass man einem Verdächtigen ins Gesicht   C. Schmitt, Die Diktatur, Neudr. 7. Aufl. 2006, S. 136; ders., Der Hüter der Verfassung, Neudr. 4. Aufl. 1996, S. 159. 24  Vgl. Jahn, Staatsnotstand (Fn. 21), S. 94 ff. 25   Zu der Frage eines etwaigen Schuldausschlusses über die (analoge) Anwendung von § 35 StGB oder einen übergesetzlichen entschuldigenden Notstand Prittwitz, FS Herzberg, 2008, S. 515 (516 ff.); Stübinger, ZStW 123 (2011), 403 (407 ff.) und Jahn, Staatsnotstand (Fn. 21), S. 453 ff. 26  Vgl. Ladiges, ZIS 2008, 129 (133). 27   Landau Commission, Israel Law Review 23 (1989), 146 (172). 23

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schlagen oder ihm drohen dürfe. Ein Jahrzehnt später wurde diese Regelung dann von dem Israeli Supreme Court, dem Pendant des Bundesverfassungsgerichts, überprüft. Die israelische Regierung hatte sich darauf berufen, die Ermittler des Inlandsgeheimdienstes seien berechtigt gewesen, als ultima ratio moderaten physischen Zwang anzuwenden, um eine erhebliche Einbuße an überragend wichtigen Rechtsgütern zu verhindern. Diesem Argument schloss sich das Gericht jedoch gerade nicht an28. Unter ausdrücklichem Hinweis auf die Rechtsprechung der europäischen Menschenrechtsgerichte29 wurde vielmehr der Schutz der Menschenwürde bei Vernehmungen betont. Das alles läuft also absolut parallel zum Verständnis in der hiesigen Menschenrechtsentwicklung30 – und das ungeachtet der unstreitig großen alltäglichen Gefahrenlagen in Israel. Mit unserem Verfassungsverständnis stehen wir also keinesfalls allein. Gibt es Rechtsstaaten mit einem anderen Verfassungsverständnis, die solche „tragic choice“-Situationen, wie im Stück geschildert, gar nicht erst entstehen lassen? Es gibt andere moralphilosophische Strömungen, die weniger skrupulöses Handeln begünstigen. Der in der US-amerikanischen Diskussion prominente Utilitarismus begreift bürgerliche Rechte nicht als absolute, der Person notwendig kraft ihres Daseins zukommende Positionen31. Um über ihre Reichweite im Einzelfall entscheiden zu können, müssten bei der Berufung auf ein subjektives Recht stets die Folgen seiner Ausübung vor dem Hintergrund seiner Gemeinschaftsbezogenheit berechnet werden – und berechnen ist hier wörtlich gemeint. Ethisch sei eine Handlung deshalb nur noch dann, wenn sie entweder den größtmöglichen Nutzen verspreche oder den größtmöglichen Schaden verhindere. Ausdrücklich wird daher für den Fall des Terroristen, dessen Folterung die Atomexplosion verhindern könnte, die Bedeutung des Kriteriums der Zahl der Betroffenen herausgestellt32. Positionen wie der absolute Schutz der Menschenwürde sind in diesem Umfeld nicht mehr zu verteidigen. Die Folgen kann man in Guantanamo33 oder Abu-Ghraib34 besichtigen. 28  The Supreme Court of Israel – sitting as the High Court of Justice –, Urt. v. 14.11.1996 – Hamdan (HCJ 804/96) und The Supreme Court of Israel – sitting as the High Court of Justice –, Urt. v. 6.9.1999 – GSS (H.C. 5100/94 u.a.). Zusf. Ambos, JICJ 6 (2008), 261 (270 ff.). 29   EGMR, Urt. v. 18.12.1999 – Ireland ./. United Kingdom (5310/71) = EGMR-E 1, 232. 30  Vgl. Jahn, Staatsnotstand (Fn. 21), S. 535 ff. 31  Siehe Trapp, „Nicht-klassischer“ Utilitarismus, 1988, S. 14. 32   Trapp, Utilitarismus (Fn. 31), S. 565 ff. Zu den Konsequenzen ders., Folter oder selbstverschuldete Rettungsbefragung, 2006, 69 ff. 33   Ambos, Case W. Res. J. Int’L L. 42 (2009), 405 (406 f.); R. Arnold, ZaöRV 566 (2006), 297 (309 ff.). Zu den Folgen entfesselter Staatlichkeit U.S. Supreme Court v. 12.6.2008, 553 U.S. 723 – Boumediene ./. Bush, besprochen bei Book/Geneuss, ZIS 2008, 325.

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Das Stück spielt vor einem mit Schöffen besetzten Gericht. Wie funktioniert das in der Wirklichkeit? Welche Prozesse werden von Schöffen, also Laienrichtern, beurteilt? Worin liegen dabei allfällige Gefahren? 34 Das Stück spielt vor dem Schwurgericht – das ist, als Begriff, ein historisches Relikt aus der Anfangszeit der Strafprozessordnung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als tatsächlich noch zwölf Geschworene wie im amerikanischen Kriminalfilm über Tötungsdelikte befanden. Heute entscheidet ein Schwurgericht in Deutschland in der Besetzung mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen. Das Schöffenamt kann dabei im Prinzip jeden treffen und hat, ebenfalls historisch gesehen, den Sinn, Geheimjustiz zu verhindern und den Prozess der Rechtsfindung zu demokratisieren35. In vielen Verfahren, denken Sie an komplizierte Wirtschaftsstrafprozesse, deren Inhalte auch die Berufsrichter kaum noch zu durchdringen vermögen, gerät dieser Gedanke aber mittlerweile vermehrt in die Kritik36. Das Schwurgericht ist davon nicht so betroffen, auch wenn seine Gefahren in der Tat augenfällig sind. Erfahrene Strafverteidiger wissen um die Macht der Schöffinnen und Schöffen, die gleiches Stimmrecht wie die Berufsrichter haben. Gelingt es, diese auf die Seite des Angeklagten zu ziehen, kann damit die Grundlage für eine kritische Masse gelegt sein, die letztlich zum Freispruch führt. Das ist in einzelnen Mordprozessen auch schon gelungen, so – nach allem, was man trotz des richterlichen Beratungsgeheimnisses weiß – im zweiten Durchgang des Strafverfahrens gegen Monika Böttcher, geborene Weimar, in Gießen wegen des Vorwurfs der Tötung ihrer beiden Kinder37. Im dritten Durchgang in Frankfurt ist die dann später doch wegen Mordes verurteilt worden38. Zu Beginn der Verhandlung bittet der Vorsitzende die Richter, alles zu vergessen, was sie bisher über den Fall wissen. Wie gehen Juristen damit um, dass man immer mit einer bestimmten Vorprägung in den Gerichtssaal kommt? Angefangen von den individuellen und gesellschaftlichen Prägungen bis hin zu der Beeinflussung durch die Massenmedien – es gibt so viele Faktoren, die maßgeblich unser Erkenntnis- und Urteilsvermögen bestimmen. Wie kann man sich davon frei machen?

34  Siehe H. E. Müller, FS Eisenberg, 2009, S. 83 (101 ff.). Der Jubiliar war mit den Konsequenzen konkret befasst, vgl. OLG Düsseldorf, Vorwort zum Urt. v. 4.3.2010 – III-6 StS 11/08 u.a., S. 5. 35  LR-StPO/Kühne, 27. Aufl. 2016, Einl. J Rn 27 ff.; BeckOK-StPO/Eschelbach, 24. Ed. 1.2.2016, § 29 GVG Rn 6. 36   Duttge, JR 2006, 358; Schünemann, StV 2000, 157 (163 f.). 37   LG Gießen, Urt. v. 24.04.1997 – 105 Js 8247/86, mit nachfolgender Aufhebung durch BGH, NStZ-RR 1999, 301. 38  LG Frankfurt, Urt. v. 22.12.1999 – 105 Js 8247/86 Ks. Zum Ganzen Friedrichsen/ Mauz, Er oder sie? Der Strafprozeß Böttcher/Weimar, 2001.

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Juristen reden vom Vorverständnis, das sie an den Fall herantragen. Es wäre in der Tat naiv, das abstellen zu wollen, denn das richterliche Vorverständnis ist die Summe geronnener Erfahrungen, die man seit seiner Kindheit ein Leben lang gemacht oder eben nicht gemacht hat. Also ist der sinnvolle Umgang damit, sich dieses Vorverständnis selbst möglichst ungeschminkt vor Augen zu führen und es damit im Prozess der Rechtsfindung als einen Faktor unter vielen einigermaßen rational zu behandeln. Zum Schweigen bringen können sie es nicht. Mehr will die Strafprozessordnung nicht garantieren39, sonst würde sie an ihrem eigenen Anspruch scheitern. Ferdinand von Schirach weitet in seiner Versuchsanordnung die Anzahl der Schöffen aus. Allein in unserem Theater fällen pro Abend, wenn es gut läuft, 551 Zuschauer ihr Urteil. Diskutiert wurde auf der Bühne, die Argumente liegen alle auf dem Tisch, die Zuschauer stimmen ab. Das kann im besten Fall eine nicht wirklich repräsentative, aber dennoch eine gewisse Stimmungslage in der Bevölkerung spiegeln. Was halten Sie von direkter Demokratie, wenn es um Fragen der Verfassung geht? Eine schwierige Frage, weil wir alle wissen, was bei Meinungsumfragen herauskommt, wenn es um die Wiedereinführung der Todesstrafe geht40, besonders in Zeiten terroristischer Bedrohung oder nach einem Aufsehen erregenden Sexualmord an einem Kind. Ich halte es einstweilen auch hier mit dem Grundgesetz, das bei direktdemokratischen Elementen bekanntlich sehr zurückhaltend ist. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ steht ganz vorne in Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG – und das gilt auch für Begehrlichkeiten zeitweise kochender Volksseelen. Ganz bewusst heißt es gleich im Anschluss, in dem weniger bekannten Art. 1 Abs. 2 GG, dass sich „das deutsche Volk“ zu den unverletzlichen Menschenrechten bekennt. Das ist Gesetz gewordene historische Erfahrung.

39   BVerfGE 30, 149 (153); Ignor, ZIS 2012, 228 (231 ff.); Jahn, FS Fezer, 2009, S. 413 (418 ff.); LR-StPO/Siolek, 26. Aufl. 2006, § 24 Rn 40. 40  Vgl. Jahn, Staatsnotstand (Fn. 21), S. 539 f. mit Fn. 109 unter Hinweis auf Dreher, ZStW 70 (1958), 543 (548): Zustimmungsrate von 70 %.

Zwischen Hausrecht und Sitzungsgewalt

Zwischen Hausrecht und Sitzungsgewalt: Von der Organisation großer Strafprozesse Peter Küspert I. Zu den Aufgaben eines Gerichtspräsidenten1, der kraft Amtes auch an der Spitze der Gerichts- und Justizverwaltung innerhalb seines Gerichtsbezirkes steht, gehören alle Aufgaben, die bei der Bereitstellung der persönlichen und sachlichen Mittel für die Tätigkeit der Gerichte in Rechtsprechung und Justizverwaltung zu erfüllen sind2; dazu zählen neben den klassischen Arbeitsfeldern wie Personal-, Haushalts-und Bauangelegenheiten auch die innerdienstliche Organisation mit dem Ziel eines möglichst reibungslosen und störungsfreien Ablaufs des gesamten Dienstbetriebs sowie die Presseund Öffentlichkeitsarbeit3. Gerade die beiden zuletzt genannten Aufgabenfelder liegen an der Schnittstelle zu den von Richtern und Rechtspflegern originär ausgeübten Angelegenheiten der Rechtspflege. Dies zeigt sich nirgends so deutlich wie beim Prozessmanagement großer Strafverfahren, bei denen zur Gewährleistung der äußeren Bedingungen für die Hauptverhandlung, zur Wahrung der Interessen der Verfahrensbeteiligten sowie zur Sicherung des sonstigen Dienstbetriebes der Justiz ein abgestimmtes Zusammenwirken zwischen dem zuständigen Spruchkörper und der Gerichtsverwaltung notwendig ist. Dies gilt vor allem – aber nicht nur – in Staatsschutzprozessen. Auch in solchen Verfahren ist es Aufgabe des Strafprozesses, den Strafanspruch des Staates um des Schutzes der Rechtsgüter Einzelner und der Allgemeinheit willen in einem justizförmigen Verfahren durchzusetzen und dem mit Strafe Bedrohten eine wirksame Sicherung seiner Grundrechte zu gewährleisten4. Wer wie Ottmar Breidling einen bedeutenden Teil seines Berufslebens mit der Führung von Staatsschutzverfahren verbracht hat, 1   Eine geschlechterspezifische Differenzierung wurde aus Gründen der leichteren Lesbarkeit nicht durchgängig vorgenommen; entsprechende Begriffe gelten stets für beide Geschlechter. 2   Wittreck, Die Verwaltung der Dritten Gewalt, Mohr Siebeck 2006, S. 16 f. 3  Für wertvolle Anregungen zur praktischen Gestaltung der Pressearbeit in großen Strafprozessen danke ich der Leiterin der Justizpressestelle des Oberlandesgerichts München Frau Richterin am Oberlandesgericht Andrea Titz. 4   BVerfGE 133, 168, 199.

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weiß um die besondere Bedeutung, die ein solches vorbereitendes Prozessmanagement für die Erfüllung dieser Aufgabe hat, neben den im Zentrum der Hauptverhandlung stehenden tatsächlichen und rechtlichen Fragen um Schuld oder Unschuld.

II. Einige Aspekte dieses Zusammenwirkens sollen im Folgenden erörtert werden. Den Auftakt bildet eine kurze Darstellung der prägenden Besonderheiten großer Strafverfahren, womit zugleich der Anwendungsbereich für den Einsatz eines spezifischen Prozessmanagements näher umrissen wird (1). Es folgen Überlegungen zu Notwendigkeit und Implementierung einer systematischen Planung im Vorfeld, einschließlich der zu beteiligenden Akteure und der dafür erforderlichen Strukturen (2). Als zentrale Handlungsfelder eines vorbereitenden Prozessmanagements werden sodann die ordnungssichernden Anordnungen des Vorsitzenden des zuständigen Spruchkörpers sowie des Hausrechtsinhabers (3) und abschließend die Maßnahmen der Pressearbeit im Vorfeld des Prozesses und während der Hauptverhandlung (4) behandelt. 1.  Große Strafprozesse als Arbeitsfeld für professionelles Prozessmanagement In Deutschland sind im Jahr 2014 in erster Instanz vor den Landgerichten 9.132 Verfahren mit Hauptverhandlung erledigt worden5. Forensische Praktiker wissen, dass ein Strafprozess stets Potential für Entwicklungen bietet, die sich auf den materiellen Verhandlungsstoff ebenso wie auf das äußere Prozessgeschehen auswirken können und die auch bei sorgfältiger Vorbereitung nicht vorhersehbar sind. Dennoch gibt es nur eine überschaubare Zahl von Verfahren, die schon im Vorfeld einer besonderen Form der Planung und des organisatorischen Zusammenwirkens des Vorsitzenden des zuständigen Spruchkörpers und der Gerichtsverwaltung bedürfen. Dabei liegt eine Korrelation zur Zahl der Hauptverhandlungstage6 nahe, die jedoch im Hinblick auf den Ermittlungsgrundsatz (§ 244 Abs. 2 StPO) und das Mündlichkeitsprinzip (§ 261 StPO) vor der Hauptverhandlung nur beschränkt prognosti-

5   Fachserie 10 Reihe 2.3 – 2014 des Statistischen Bundesamts, Tabellenteil Abschnitt 4, online abrufbar unter https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Rechtspflege/GerichtePersonal/Strafgerichte2100230147004.pdf?__blob=publicationFile. 6   Mehr als 51 Hauptverhandlungstage kamen bundesweit bei lediglich 24 erstinstanzlichen Verfahren vor dem Landgericht vor, vgl. Fachserie 10 Reihe 2.3 – 2014 des Statistischen Bundesamts (oben Fn. 5), aaO.

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zierbar ist und daher naturgemäß nur in einer ex-post-Perspektive statistisch erfasst wird. Für die Notwendigkeit eines übergreifenden Prozessmanagements muss daher auf andere Indikatoren abgestellt werden. Als solche kommen neben der normativ bestimmten Bedeutung der Sache weitere Kriterien wie eine sehr große Zahl von Verfahrensbeteiligten, ein besonders hohes Zuschauerund Medieninteresse oder gesteigerte Anforderungen an die Sicherheit in Betracht; liegen mehrere dieser Indikatoren gleichzeitig vor, drängt sich der Bedarf für ein abgestimmtes Handeln der Kompetenzträger aus erkennendem Spruchkörper und Gerichtsverwaltung geradezu auf. a)  Bedeutung der Sache Anders als bei den landgerichtlichen Verfahren besteht bei den Verfahren mit erstinstanzlicher Zuständigkeit der Oberlandesgerichte von vornherein die Vermutung einer besonders bedeutsamen Angelegenheit7, da entweder originäre Staatsschutzdelikte oder sonstige schwere Straftaten in Form staatsgefährdender Handlungen von erheblichem Gewicht und einer spezifischen Angriffsrichtung angeklagt werden8. Allerdings konnte bei den insgesamt 14 im Jahr 2014 vor den Oberlandesgerichten mit Hauptverhandlungen erledigten Staatsschutzverfahren mehr als die Hälfte in weniger als zehn Hauptverhandlungstagen abgeschlossen werden9, so dass ein Prozessmanagement im hier beschriebenen Sinne auch bei Staatsschutzverfahren nicht zwingend in jedem Fall geboten ist. b)  Zahl der Beteiligten Praktisch immer ist ein vorbereitendes und übergreifendes Management dagegen in Verfahren mit einer sehr hohen Zahl von Verfahrensbeteiligten erforderlich. Solche Fälle hat es zu allen Zeiten gegeben. Im sogenannten Polenprozess standen im August 1847 insgesamt 254 polnische Widerstandskämpfer vor dem Berliner Kammergericht, die nach der Planung eines Aufstands in den preußisch besetzten Gebieten gegen die Fremdherrschaft wegen Hochverrats angeklagt waren; der Mammutprozess, für den einer der vorhandenen Gerichtssäle bei weitem nicht ausreichend war, fand schließlich in der Kirche des neu errichteten Strafgefängnisses in Moabit statt10. Solche Großprozesse mit einer knapp dreistelligen Zahl von Angeklagten finden   Vgl. § 120 Abs. 1 und 2 GVG.   Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung/Hannich, 7. Aufl. 2013 (im Folgenden: KK-StPO/Bearbeiter) Rn 2 ff. zu § 120 GVG. 9   Fachserie 10 Reihe 2.3 – 2014 des Statistischen Bundesamts (oben Fn. 5), Tabellenteil Abschnitt 7. 10   Nöhre, Wieviel Öffentlichkeit verträgt der Strafprozess? in: Festschrift für Eberhard Stilz, 2014, S. 455, 456 f. 7

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auch heute noch gelegentlich statt, aus Platzgründen in der Regel ebenfalls nicht in originären Sitzungssälen der Justiz, sondern in großen Veranstaltungsräumen wie Messehallen11. Entscheidend ist jedoch nicht allein die Zahl der Angeklagten, sondern die Zahl der Verfahrensbeteiligten insgesamt. Beim sogenannten NSU-Prozess vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts München werden die fünf Angeklagten von zeitweise 18 Verteidigerinnen und Verteidigern vertreten. Mehr als 70 Angehörige der Opfer haben sich der Anklage der Bundesanwaltschaft angeschlossen; sie werden von fast ebenso vielen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten vertreten. Hinzu kommen die Richter des Senats nebst Ergänzungsrichtern, die Vertreter der Bundesanwaltschaft, ständig anwesende Sachverständige, die Protokollführer und Justizwachtmeister sowie die zeitweise an der Hauptverhandlung teilnehmenden Sachverständigen und Zeugen12. Damit sind ständig weit über 100 Personen mit unterschiedlichen prozessualen Aufgaben und Funktionen in dem den Verfahrensbeteiligten zugewiesenen Bereich des Sitzungssaales zu platzieren; allein die dafür notwendige Auswahl, Gestaltung und Ausstattung des Sitzungssaales bedingte ein enges Zusammenwirken zwischen dem zuständigen Senat und der Verwaltung des Oberlandesgerichts. c)  Öffentlichkeits- und Medieninteresse Das Interesse der Öffentlichkeit an großen Kriminalfällen ist so etwas wie eine anthropologische Konstante. Mit Einführung der Öffentlichkeit der mündlichen Verhandlung13 waren auch die spektakulären Strafprozesse von Anfang an von großem Zuschauerandrang begleitet, so dass häufig die Plätze in den Sälen nicht ausreichten und Eintrittskarten ausgegeben sowie weitere Maßnahmen zur Wahrung der Ordnung getroffen werden mussten14. 11   Vgl. den Bericht der Tageszeitung Die Presse vom 6.10.2014 über einen Großprozess gegen 98 Angeklagte wegen Bestechung bei der Ausstellung von Gewerbeberechtigungen, online abrufbar unter http://diepresse.com/home/panorama/oesterreich/3881070/Graz_ Grossprozess-mit-98-Angeklagten-. 12   Zur Sitzordnung im NSU-Prozess zum Stand 18.09.2013 vgl. die graphische Darstellung unter http://www.br.de/nachrichten/nsu-prozess/ig-nsu-prozess-sitzverteilung-104.html. 13   Vgl. zur historischen Entwicklung Löwe-Rosenberg/Wickern, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 26. Aufl. 2010 (im Folgenden: LR/Bearbeiter) vor § 169 GVG Rn 2. 14   Vgl. Bericht im „Bayreuther Tagblatt“ vom 6.10.1903 über einen Prozess wegen Kindsmissbrauch (zitiert nach Paulus, Der oberfränkische Schwurgerichtshof, Bayreuth 2004, S. 253): „Schon in den frühen Morgenstunden strömt ein ungemein zahlreiches Publikum in den großen Zuhörerraum des Schwurgerichts … neben dem Angeklagten sitzt zu seinem Schutz ständig ein Gendarm … die Wut des Publikums gegen den Angeklagten ist so furchtbar, dass des Abends nach beendeter Sitzung stets eine tausendköpfige Menschenmenge vor dem Gerichtsgebäude steht, um die Abführung des Angeklagten beobachten zu können. Das Publikum ergeht sich dabei in argen Verwünschungen gegen den Kinderschänder … um

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Auch wenn manche Fälle immer noch zahlreiche Zuschauer anziehen, ist Öffentlichkeit heute in erster Linie Medienöffentlichkeit. Als Folge des Aufbaus einer privaten Hörfunk- und Fernsehlandschaft, durch das spätere Hinzutreten des Internet sowie aufgrund der Digitalisierung hat sich das Programmangebot exponentiell vermehrt15. Der damit ebenfalls stark gewachsene Wettbewerbsdruck und der Kampf um Marktanteile führen naturgemäß auch zu einer verstärkten Anwesenheit der Medienvertreter in der Hauptverhandlung. Dass exzeptionelle Prozesse wie das NSU-Strafverfahren weltweites Medieninteresse bei Print-, Tele- und Onlinemedienunternehmen sowie von freien Journalisten auslösen, liegt auf der Hand16. Aber auch andere große Strafprozesse der jüngeren Vergangenheit17 haben unter starker medialer Beobachtung stattgefunden. Dabei lässt sich das Maß des Interesses regelmäßig bereits an der Rasanz des Eingangs der Akkreditierungsgesuche ablesen18. Ausschreitungen zu vermeiden, wartete man gestern mit der Abführung des Angeklagten bis gegen 11 Uhr abends … ; vgl. auch zum Auftakt des Münchner Schwurgerichtsprozesses am 14. Juli 1873 gegen die Betrügerin Adele Spitzeder, der seinerzeit ebenfalls enormes Aufsehen erregt hatte (zitiert nach Hitzig/Häring, Der Neue Pitaval, 2. Aufl. Leipzig 1883, S. 397: „Nicht nur im Schwurgerichtssaale selbst, in welchen der Eintritt nur gegen besondere Eintrittskarten gestattet war, sondern auch in den Gängen des Gerichtsgebäudes drängte sich Kopf an Kopf, denn jedermann wollte die merkwürdige Abenteurerin sehen, welche mit so unerhörter Kühnheit operirt und für Baiern nahezu eine Landescalamität heraufbeschworen hatte.“ 15  Vgl. Gutachten der Großen Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes, „Ist das 1964 geschaffene Verbot von Bild- und Tonübertragungen aus Gerichtsverhandlungen noch zeitgemäß?“, Waren an der Müritz 2013, S. 26 ff., online abrufbar unter http://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/StudienUntersuchungenFachbuecher/ Gutachten_StrafrechtskommissionRichterbund_%C2%A7169.pdf?__blob=publication File&v=3. 16   Am (wiederholten) Akkreditierungsverfahren hatten sich 927 Medien und Medienvertreter beteiligt, von denen 324 am Losverfahren beteiligt wurden, weil sich für zahlreiche Medien jeweils mehrere Personen akkreditiert hatten, jedes Medium jedoch nur mit einem Los am Losverfahren teilnehmen konnte. Nachdem die Lose der Bewerber drei vorab bestimmten Mediengruppen und zehn Untergruppen zugeteilt worden waren, wurden die 50 verfügbaren festen Plätze an in- und ausländische Nachrichtenagenturen (5 Plätze), an fremdsprachige Medien und deutschsprachige Medien mit Sitz im Ausland (10 Plätze) sowie an auf Deutsch publizierende Medien mit Sitz im Inland (35 Plätze) vergeben; vgl. dazu Pressemitteilung des Oberlandesgerichts München vom 29. April 2013, online aufrufbar unter https:// www.justiz.bayern.de/imperia/md/content/stmj_internet/gerichte/oberlandesgerichte/ muenchen/pm_vom_29_04_2013_in_dem_strafverfahren_gegen_beate_z__u__a___nsu_.pdf. 17   Genannt seien lediglich beispielhaft im internationalen Bereich die Verfahren Lockerbie (Niederlande 2000), Dutroux (Belgien 2004), Breivik (Norwegen 2012), vgl. Gutachten Deutscher Richterbund (oben Fn. 15), S. 34 f., im nationalen Bereich können die Verfahren Lebach (Saarbrücken 1970), Kachelmann (Mannheim 2010) oder Hoeneß (München 2014) ebenfalls beispielhaft aufgeführt werden. 18   Im sog. Hoeneß-Verfahren, in dem die Sitzplatzvergabe an Medienvertreter nach der Reihenfolge des Eingangs der Gesuche erfolgte, waren nach Beginn der Akkreditierungsfrist um 12.00 Uhr bereits nach 27 Sekunden alle 40 verfügbaren Medienplätze vergeben.

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d) Sicherheit Schließlich sind es vor allem auch Gesichtspunkte der Sicherheit, die über den engeren Bereich der Sitzungsgewalt des Vorsitzenden hinaus ein prozessvorbereitendes Management erfordern können. Dies gilt sowohl in Fällen, in denen der Angeklagte – etwa durch Angehörige von Opfern der angeklagten Tat – bedroht sein könnte, als auch für Bedrohungen, die gegen die Durchführung des Prozesses als solchen19 oder auch gegen Zeugen oder staatliche Repräsentanten als Verfahrensbeteiligte gewendet sind20. Da die einzelnen Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit unterschiedliche Kompetenzträger betreffen können und Auswirkungen der Maßnahmen häufig über das konkrete Verfahren hinaus reichen, liegt eine übergreifende Koordinierung der konkreten Prozessvorbereitung nahe. 2.  Struktur und Verlauf eines vorbereitenden und begleitenden Prozessmanagements Gemeinsames Kennzeichen der für ein solches Verfahrensmanagement in Betracht kommenden Verfahren ist die Notwendigkeit, eine Vielzahl von Maßnahmen verschiedener Kompetenzträger unter relativ hohem Zeitdruck zu planen, aufeinander abzustimmen und umzusetzen; hinzu kommt der Bedarf für regelmäßige Anpassungen der getroffenen Maßnahmen an veränderte Rahmenbedingungen. Dies wird regelmäßig die personellen Kapazitäten des zuständigen Spruchkörpers auch dann übersteigen, wenn – wie üblich – die anfallenden Aufgaben auf sämtliche seiner Mitglieder verteilt werden, da schon die Beanspruchung durch Aktenstudium, die Befassung mit Rechtsfragen und die Vorbereitung unmittelbar sitzungsleitender Verfügungen groß ist. Gleichwohl muss selbstverständlich gewährleistet bleiben, dass der oder die Vorsitzende des zuständigen Spruchkörpers in allen Fragen des originären Zuständigkeitsbereichs die Letztentscheidung trifft und in allen übrigen die Durchführung des Verfahrens berührenden Fragen stets gehört wird. Als Organisationstypus für die übergreifende Koordination bietet sich in solchen Fällen die Form des Projektes an. Eine solche Organisation bietet den Vorteil von kurzen Entscheidungs- und Berichtswegen außerhalb der

19  Dies betrifft insbesondere die wegen terroristischer Gewalttaten geführten Staatsschutzverfahren, die regelmäßig besondere Sicherheitsanforderungen stellen und für die daher zunehmend eigene, von der Strafjustiz im Übrigen getrennte Gebäude errichtet werden, etwa in München auf dem Gelände der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim. 20  Ein Beispiel für Bedrohungen von Zeugen, Staatsanwälten und Richtern in einem Strafverfahren gegen Mitglieder eines Familienclans ist Gegenstand einer Reportage des Norddeutschen Rundfunks, vgl. http://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Kriminalitaet-Schwerer-Kampf-gegen-Familienclans,familienclans101.html.

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bestehenden hierarchischen Strukturen sowie die Konzentration von Zuständigkeiten über mehrere unterschiedliche Institutionen oder Organisationseinheiten hinweg21. Innerhalb der Projektstruktur bedarf es einer verantwortlichen Leitung, der die Projektsteuerung obliegt und die innerhalb der Gerichtsverwaltung möglichst weitgehend entscheidungsbefugt sein sollte; der Leiter oder die Leiterin des Projektes ist auch die Verbindungsperson zum Spruchkörper, um die richterliche Letztentscheidung oder die sonst notwendige Beteiligung sicherzustellen. Primäre Aufgabe der Projektsteuerung ist es, im Benehmen mit weiteren Wissensträgern (zuständiger Spruchkörper, Gerichtsverwaltung, Pressestelle, Polizei, Justizvollzug in Haftfällen) zunächst die Grundlagen der weiteren Maßnahmenplanung zu ermitteln. Dazu gehören –– die Bewertung der Sicherheitslage und der sich daraus ergebenden personellen, technischen und organisatorischen Anforderungen22; –– die Bewertung des mutmaßlichen Zuschauer- und Medieninteresses im Benehmen mit der Pressestelle und daraus folgende Regelungen23; –– die Auswahl des Sitzungssaales unter den Aspekten der Sicherheit, des öffentlichen Interesses und der Beherrschbarkeit der Hauptverhandlung24; –– die Feststellung des Bedarfs für Umbau- und Ertüchtigungsmaßnahmen im Sitzungssaal oder anderen Räumen25; 21   Vgl. allgemein zum Projektmanagement Bokranz/Kasten, Organisationsmanagement in Dienstleistung und Verwaltung, 4. Aufl. 2003, S. 401 ff. 22  ZB Absicherung des Gebäudes? Verstärkung oder besondere Gestaltung der Eingangskontrollen? Besonderer Sicherheitsbereich um den Sitzungssaal? Umfang der Wachtmeister- und Polizeipräsenz im Gebäude und im Sitzungssaal? Notwendigkeit und Gestaltung einer besonderen Sicherungsverfügung? Bedarf für besondere Verfügungen des Hausrechtsinhabers, etwa Beschränkung des öffentlichen Zugangs zu bestimmten Gebäudeteilen? Vgl. dazu auch unten Ziff. 3. 23  Bedarf und Gestaltung eines Akkreditierungsverfahrens? Platzreservierungen für Medienvertreter? Berücksichtigung ausländischer Journalisten? Gestattung von Film- und Fotoaufnahmen außerhalb von Sitzungssaal und Sicherheitsbereich? Vgl. dazu auch unten Ziff. 4. 24  Der Grundsatz der Öffentlichkeit nach § 169 GVG besagt nicht, dass jedermann unter allen Umständen und zu jeder Zeit Zutritt zu der Verhandlung haben müsste. Zutritt muss vielmehr nur nach Maßgabe der räumlichen Möglichkeiten und örtlichen Verhältnisse gewährt werden. Im Übrigen sind die tatsächlichen Möglichkeiten für ein Ausweichen in – entsprechend dimensionierte – öffentliche Säle beschränkt: Sie stehen entweder nicht für die benötigten langen Zeiträume zur Verfügung oder weisen die benötigte Infrastruktur nicht auf (Schutz vor Angriffen von außen; Haftzellen mit gesicherten Zugängen, Aufenthaltsräume für Beteiligte und Einsatzkräfte, ausreichende Flächen zur Personenkontrolle, etc.). 25   ZB zusätzliche technische Ausstattung bei der Eingangskontrolle; Bedarf an besonderer Technik im Saal (Dokumentenkamera? zusätzliche Sprechstellen für Verfahrensbeteiligte? Audioanlage für Simultanübersetzungen?); Zusätzlicher Raumbedarf für Ergänzungsrichter, Nebenkläger und -vertreter? Einrichtung eines gesonderten Presseraumes? Raum für Aktenaufbewahrung?

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–– die Feststellung der Notwendigkeit weiterer personeller, organisatorischer und logistischer Maßnahmen zur Bewältigung des Verfahrens26. Nach Festlegung und Abstimmung der noch zu treffenden Maßnahmen sind die jeweils für die Umsetzung Verantwortlichen zu bestimmen, Meilensteine festzulegen und ein effizientes Berichtswesen (telefonisch oder im Rahmen von jour fixes) aufzubauen, das der Projektleitung die weitere Koordinierung und Schwerpunktsetzung ermöglicht. Zur Verschlankung der Projektstruktur und zur Zeitersparnis kann auf eine klassische Projektdokumentation verzichtet werden; denkbar ist stattdessen, die Bezeichnung der Aufgaben und der dafür Verantwortlichen, den Zielzeitpunkt, den Stand der Umsetzung sowie erforderliche Materialien in digital geführte Listen und Aufstellungen einzupflegen. Einen Teilausschnitt für die Ausstattungs- und Raumplanung in einem großen Staatsschutzprozess bietet beispielhaft das folgende Übersichtsschema:

26  ZB Vorhalt ausreichender personeller Kapazitäten für die Abrechnung der Vergütungsanträge der (Pflicht-)Verteidiger, Nebenklägervertreter und Sachverständigen; Betreuung von Nebenklägern und Zeugen durch speziell ausgebildete Mitarbeiter, ggf. Einrichtung gesonderter Zugänge; Schaffung von Anfahrtszonen, Interviewzonen, Aufstellbereiche für Übertragungsfahrzeuge der Presse, überdachte Wartebereiche für Zuschauer; Einrichtung von Halteverboten und Absperrungen; Versorgung von Verfahrensbeteiligten und Besuchern mit Speisen und Getränken.

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Eingangsbereiche

Vorplatzgestaltung

Infothek

Hauptpforte

Zeltdach

Eingang Nebenkläger Tiefgarage

Umbau und Ausstattung

Sitzungssaal

Verteidigerraum GBA-Raum Raum für Senat Raum für Nebenkläger und -vertreter

Betreuungsräume

Raum für Ombudsfrau und Psychologen VIP-Raum

Gebäude Leitung:

Presse- und Medienraum

Sonstige Räume

Aufenthaltsraum Polizei Funktionsräume

Aufenthaltsraum Wachtmeister Kopierraum Aktenraum Video Leitung:

Lautsprecher- und Mikrofonanlage Leitung: Technik

Personen-/Taschenscanner Leitung: Metalldetektorrahmen Leitung: Gepäckdurchleuchtung Leitung:

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3.  Sicherungsverfügung und Hausrecht als korrespondierende Maßnahmen Als Rechtsgrundlagen für ordnende und regelnde Maßnahmen, die im Zusammenhang mit großen Strafprozessen erforderlich sind, stehen zum einen die Sitzungspolizeigewalt des Vorsitzenden (§ 176 GVG, vgl. dazu sogleich unter a)) sowie das gewohnheitsrechtlich anerkannte Hausrecht des Gerichtvorstands (unten b)) zur Verfügung; auch wenn sich der Anwendungsbereich beider Kompetenznormen zueinander relativ präzise abgrenzen lässt, ist eine enge Kommunikation und Kooperation der verschiedenen Kompetenzträger unabweisbar (unten c)). a) Sitzungspolizeigewalt Die Sitzungspolizei27 im Sinne des § 176 GVG ist Rechtsgrundlage für alle Maßnahmen, mit denen die äußere Ordnung in der Sitzung, mithin ihr störungsfreier und gesetzmäßiger Ablauf sichergestellt werden kann28. Sie ist von der verfassungsrechtlich geschützten Unabhängigkeit des zuständigen Richters umfasst29. Aufgabe sitzungspolizeilicher Maßnahmen ist der Schutz einer geordneten Rechtspflege und des Prozesses der ungehinderten Rechtsund Wahrheitsfindung, aber auch die Wahrung der Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten und betroffener Dritter30. Davon nach der Zweckbestimmung klar zu trennen ist die Befugnis des Vorsitzenden zur Verhandlungsleitung nach § 238 StPO, die den inhaltlichen Ablauf des einzelnen Verfahrens, also etwa die Abfolge der Beweiserhebungen oder die ordnungsgemäße Ausübung des Fragerechts durch Verfahrensbeteiligte betrifft31. Die von der Sitzungspolizei umfassten Maßnahmen sind weder auf die Verhandlung als solche noch auf den Sitzungssaal einschließlich des Beratungszimmers beschränkt. Räumlich erstreckt sie sich vielmehr auch auf die Zugänge zum Sitzungssaal und die unmittelbar angrenzenden Räume, von denen Störungen der Sitzung ausgehen können32. Dazu gehören auch die vor dem Saal liegenden Flure, Korridore und Wartezonen; entscheidend ist, dass die Funktion der jeweiligen Zone so eng mit dem Geschehen im Sitzungssaal

27   Zur Unschärfe des Begriffs vgl. LR/Wickern, § 176 GVG Rn 1; Milger, Sitzungsgewalt und Ordnungsmittel in der strafrechtlichen Hauptverhandlung, NStZ 2006, 121. 28  Die Vorschrift ist Generalklausel für Ordnungsmaßnahmen, während die § 177 ff. GVG Teilaspekte wie Ungehorsamsfolgen, deren Vollstreckung sowie modifizierte Zuständigkeiten regeln; vgl. dazu auch Kees, Sicherheit in der Justiz: Der normative Rahmen und die Aufgaben des Gesetzgebers, NJW 2013, 1929, 1930, 1932. 29   BGH NJW 1972, 1144,1145; Kees, aaO, 1930. 30  KK-StPO/Diemer, § 176 GVG Rn 1 m.w.N.; LR/Wickern, aaO., Rn 1. 31  LR/Wickern § 176 GVG Rn 2; Jahn, Sitzungspolizei contra „Konfliktverteidigung“? – Zur Anwendbarkeit der §§ 176 ff. GVG auf den Strafverteidiger, NStZ 1998, 389, 392. 32   BVerfG NJW 1996, 310; KK-StPO/Diemer, § 176 GVG Rn 2.

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verbunden ist, dass auch die Ordnung in diesem Bereich zweckmäßigerweise vom Vorsitzenden aufrechtzuerhalten ist33. In zeitlicher Hinsicht beginnt die Sitzungspolizeigewalt bereits im Vorfeld der Sitzung selbst, also mit dem Eintreffen der ersten Verfahrensbeteiligten und dem Öffnen des Sitzungssaales; sie umfasst auch sämtliche Sitzungspausen und endet erst, wenn das Gericht den Saal nach der Verhandlung verlassen hat34. Die einfachrechtliche Auslegung, wonach der Begriff der „Sitzung“ weiter ist als der Begriff der „Verhandlung“ begegnet auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken35. Vom zeitlichen Wirkungsbereich der auf § 176 GVG gestützten Anordnungen des Vorsitzenden zu trennen ist die Frage, zu welchem Zeitpunkt der Vorsitzende entsprechende Maßnahmen zweckmäßigerweise trifft. Dies ist im Falle allgemein gefasster und nicht-reaktiv erlassener Anordnungen bereits weit im Vorfeld einer Hauptverhandlung möglich und zur frühzeitigen Information der Verfahrensbeteiligten und wegen der organisatorisch-technischen Maßnahmen zur Umsetzung auch anzuraten. Solche Anordnungen werden gemeinhin in Form sogenannter Sicherungsverfügungen getroffen, die eine Art Grundordnung für den Verfahrensablauf bilden und im Vorfeld komplexer Großverfahren zur reibungslosen Durchführung geradezu unverzichtbar sind. Regelungsgegenstand der auf § 176 GVG gestützten Verfügungen sind zum einen Foto- und Filmaufnahmen sowie sonstige auf Presseorgane bezogene Anordnungen innerhalb des Geltungsbereichs der Sitzungspolizeigewalt (vgl. dazu unten Ziff. 4). Zum anderen enthält die Sicherungsverfügung neben Hinweisen zu den voraussichtlichen Sitzungstagen und dem Ort der Hauptverhandlung die zur Gestaltung und Sicherung des äußeren Ablaufs des Verfahrens notwendigen Maßnahmen. Dazu können beispielsweise Regelungen zur Errichtung von Absperrgittern und Sichtblenden sowie zur Art und Intensität einer unmittelbaren Saalzugangskontrolle, zur Ablichtung von Ausweispapieren von Zuhörern, zum grundsätzlichen Verbot des Mitführens von Waffen und anderen potentiell störungsgeeigneten Gegenständen, zum Verbot des Mitführens von Laptops und Mobiltelefonen sowie zur beschränkten Verwendung in Ausnahmefällen36, zur Amtshilfe durch Polizeibeamte und zum Verfahren bei Streit um die Auslegung der Sicherungsverfügung gehören. Werden Sicherungsverfügungen den Vertretern von Staatsanwaltschaft (Generalbundesanwaltschaft), Verteidigung und Nebenklage frühzeitig vor Beginn der Hauptverhandlung zur etwaigen Stellungnahme zugeleitet, kann auf Anregungen für Korrekturen und Ergänzungen noch rechtzeitig vor dem ersten Wirksamwerden der Verfügung reagiert und  LR/Wickern, § 176 GVG Rn 7.   BVerfG NJW 1996, 310; LR/Wickern, § 176 GVG Rn 8; KK-StPO/Diemer, § 176 GVG Rn 2. 35   BVerfG NJW 1996, 310. 36   vgl. dazu unten Ziff. 4 c) bb). 33 34

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auf diese Weise Konfliktpotential aus der Hauptverhandlung selbst ferngehalten werden. b) Hausrecht Das gewohnheitsrechtlich anerkannte37 Hausrecht gestattet zum Zweck der Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Dienstbetriebs verhältnismäßige Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung in Gerichtsgebäuden, insbesondere auch Eingriffe in die Rechte der von Ordnungsmaßnahmen betroffenen Personen38. Soweit es um Gerichtsgebäude geht, steht das Hausrecht in der Regel dem Gerichtspräsidenten als Leiter der staatlichen Institution zu; es erstreckt sich auf den gesamten Gebäudekomplex sowie auf das Gebäudeumfeld, soweit es berechtigt von der Justiz genutzt wird. Wird ein Gebäude von mehreren Gerichten genutzt (zB im Falle eines Strafjustizzentrums), so umfasst das Hausrecht regelmäßig die dem eigenen Gericht überlassenen Räume sowie die Gemeinschafts- und Verkehrsflächen. Dies kann bei Großverfahren mit besonderer Öffentlichkeitswirkung, bei denen unter Umständen Maßnahmen über den eigenen Zuständigkeitsbereich hinaus zu treffen sind, zu verzögernden Abstimmungsprozessen führen. In solchen Fällen empfiehlt sich eine Regelung, die (ggf. nach schriftlicher Anzeige gegenüber den weiteren Gerichtsleitern) das alleinige Hausrecht für alle in Bezug auf das Großverfahren zu treffenden Maßnahmen dem Präsidenten des für das Verfahren zuständigen Gerichts überträgt. In sachlicher Hinsicht umfasst das Hausrecht alle zur Sicherung und Ordnung sowie zur Wahrung oder Wiederherstellung des Hausfriedens notwendigen Maßnahmen; in Betracht kommen insbesondere die Regelung über die Zulässigkeit von Ton-, Bild und Filmaufnahmen im Gerichtsgebäude, die Organisation von Eingangs- und Hauskontrollen sowie von Streifengängen, die Schließung von Eingängen und Einfahrten, die Aufstellung von Einsatzund Alarmplänen, die Erteilung von Platz- und Hausverweisen, die Anordnung unmittelbaren Zwangs gegenüber Störern, die Stellung von Strafanträgen, Weisungen an die mit der Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung betrauten Mitarbeiter oder die Anforderung von Polizeikräften. Die Ausübung des Hausrechts steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichtspräsidenten. Es gelten dieselben Maßstäbe wie bei Anordnungen durch den Vorsitzenden im Rahmen der Sitzungspolizei; insbesondere ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass die Aufrechterhaltung der

37  BVerwG NJW 2011, 2530 f.; BVerfG NJW 2012, 1863, 1864; Dickert/Hagspiel, Der Rechtsrahmen für Zugangskontrollen in Gerichtsgebäuden, BayVBl 2013, 102, 103; ablehnend Kruis, Rechtspolitische Erwägungen zur Sicherheit in Gerichtsgebäuden, BayVBl 2013, 97, 99 f. 38   BVerwG, aaO, 2531; aA Kruis, aaO, 99 f.

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Ordnung im gerichtlichen Verfahren auch den störungsfreien äußeren Ablauf der Sitzung und die ungehinderte Entscheidungsfindung umfasst39. c)  Abgrenzung der Zuständigkeiten Vordergründig ist die Abgrenzung zwischen sitzungspolizeilicher Kompetenz des Vorsitzenden und dem Hausrecht des Gerichtspräsidenten ein leicht zu lösendes Problem. Nach ganz herrschender Auffassung tritt das Hausrecht im Bereich der Sitzungspolizeigewalt zurück, solange das Gericht tagt, und soweit die Sitzungsgewalt des Vorsitzenden reicht40; eine andere Lösung ist schon im Hinblick auf die Gewährleistung der richterlichen Unabhängigkeit des Vorsitzenden, zu dessen richterlichen Aufgaben auch die Sitzungspolizei gehört, nicht denkbar. Die Beschränkung des Hausrechts durch die Sitzungsgewalt kann dabei auch mittelbar wirken: So darf der Gerichtspräsident als Inhaber des Hausrechts einem Zuhörer nicht den Zutritt zum Sitzungssaal verwehren, solange diesem Zutritt nicht zugleich sitzungspolizeiliche Anordnungen entgegenstehen41. In der gerichtlichen Praxis enthalten Hausrechtsverfügungen der Gerichtsverwaltung jeweils die Klausel, wonach die Ordnungsgewalt des Vorsitzenden nach § 176 GVG unberührt bleibt; umgekehrt wird in Sicherungsverfügungen des Vorsitzenden häufig der Geltungsbereich der Sitzungspolizeigewalt des Vorsitzenden in räumlicher und zeitlicher Hinsicht – deklaratorisch – umrissen und im Übrigen auf den Hausrechtsinhaber verwiesen. Die beschriebene kompetenzrechtliche Lage bedeutet andererseits auch, dass Hausrechtsmaßnahmen außerhalb des Anwendungsbereichs der Sitzungspolizeigewalt auch dann wirksam angeordnet werden können, wenn sie vom Vorsitzenden für unnötig gehalten werden. In diesen Fällen wird die sitzungspolizeiliche Anordnung des Vorsitzenden durch die Hausrechtsverfügung nicht konterkariert; vielmehr stehen beide Anordnungen in ihrem jeweiligen Wirkungsbereich nebeneinander. So ist beispielsweise vorstellbar, dass für bestimmte Personen als Verfahrensbeteiligte der Hausrechtsinhaber zu ihrem Schutz oder zur Abwehr von ihnen ausgehender Gefahren für den Weg ab dem Betreten des Gerichtsgebäudes bis zum Sitzungssaal eine Begleitung durch Justizwachtmeister anordnet, während der Vorsitzende aufgrund anderer von ihm getroffener Maßnahmen eine solche unmittelbare Bewachung im Sitzungssaal nicht mehr für erforderlich hält. Auch die durch die Gerichtsverwaltung angeordnete generelle Zugangskontrolle am Gebäudeeingang kann mit Kontrollvorstellungen des Vorsitzenden selbst dann nicht in Konflikt geraten, wenn dieser Maßnahmen geringerer Intensität für aus  BVerfG NJW 2012, 1863, 1864 mwN.   BGH NJW 1972, 1144; LR/Wickern, § 176 GVG Rn 3; KK-StPO/Diemer, § 176 GVG Rn 5. 41   BGH NJW 1982, 947. 39 40

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reichend hält. Denn die sitzungspolizeiliche Kompetenz des Vorsitzenden umfasst den allgemeinen Zutritt zum Gebäude gerade nicht42. Auch wenn sonach Konfliktfälle mit Blick auf die jeweilige Anordnungskompetenz prinzipiell lösbar erscheinen, empfiehlt sich schon zur Vermeidung von Wertungswidersprüchen in Bezug auf die jeweils getroffenen Maßnahmen sowie zur Vermeidung praktischer Schwierigkeiten im Vorfeld anstehender Großprozesse eine enge und vertrauensvolle Abstimmung zwischen Vorsitzendem und Gerichtsverwaltung. Dies gilt vor allem für die Fassung der Sicherungsverfügung des Vorsitzenden, aber auch für die Ausgestaltung einzelfallbezogener Hausrechtsverfügungen. Insbesondere in kleineren Justizgebäuden mit nur einem Sitzungssaal oder zwei Sitzungssälen43 ist in geeigneten Einzelfällen auch denkbar, dass die Ausübung des Hausrechts ebenfalls auf den Gerichtsvorsitzenden übertragen wird, mit der Folge, dass dann sämtliche Sicherungs- und Ordnungsmaßnahmen aus einer Hand getroffen werden. Für die Vollstreckung und den Vollzug der getroffenen Ordnungsmaßnahmen müssen sowohl der Vorsitzende44 als auch der Gerichtspräsident als Hausrechtsinhaber jedenfalls dann auf gesetzliche Durchsetzungsnormen45 zurückgreifen, wenn es um freiheitsbeschränkende Eingriffe geht. 4.  Pressearbeit: Besondere Anforderungen in Großverfahren Die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit in den Gerichten einschließlich der Erteilung von Auskünften an die Presse und der sonstigen Unterstützung der Arbeit der Medienvertreter ist Aufgabe der Gerichtsverwaltung46. Zugleich unterliegen jedoch die im einzelnen Verfahren zu treffenden Grundregelungen mit Bezug auf Medienarbeit der Entscheidungsgewalt des Vorsitzenden; dazu gehören unter anderem Entscheidungen über den Zugang zum Verfahren, über die Platzverteilung bei knappen Ressourcen oder Festlegungen zu Bild- und Tonaufnahmen innerhalb der Hauptverhandlung (§ 176 GVG). Diese Gemengelage gebietet zwingend ein eng abgestimmtes Zusammenwirken von Justizpressestelle und Vorsitzendem, häufig in der Form von 42   Dies verkennt mE die Darstellung im Gutachten des DRB (oben Fn. 15), S. 72 f., soweit dort Konfliktfälle zwischen Hausrecht und Sitzungsgewalt konstruiert werden. 43   Beispielsweise in speziell errichteten Gebäuden, in denen ausschließlich sogenannte Hochsicherheitssitzungssäle untergebracht sind wie zB in Düsseldorf oder München. 44  Die § 177 ff. GVG regeln nur Teilaspekte der Vollstreckung sitzungspolizeilicher Maßnahmen, vgl. oben Fn. 28. 45   In Betracht kommen etwa die Verwaltungsvollstreckungsgesetze des Bundes und der Länder oder die speziellen Gesetze über sicherheits- und ordnungsrechtliche Befugnisse der Justizbediensteten, vgl. zum ganzen Kees (oben Fn. 28). 46   Vgl. zB Nrn. 2.1, 3.1 der Richtlinien für die Zusammenarbeit der bayerischen Justiz mit der Presse, Bekanntmachung des Bayerischen Staatsministeriums der Justiz vom 26. Mai 2014, JMBl 2014, S. 67; vgl. auch Wittreck, aaO (oben Fn. 2), S. 166.

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medienspezifischer Beratung des Vorsitzenden durch die Pressestelle oder von Vollzugs- und Unterstützungsleistungen bei der Umsetzung von medienrelevanten Anordnungen des Vorsitzenden. Damit die Pressestelle diese Aufgaben möglichst effektiv wahrnehmen kann, hat sich in der Praxis bewährt, die Pressesprecher möglichst frühzeitig in die Prozessvorbereitung einzubinden. a)  Reservierung von Medienplätzen, Akkreditierung und Platzvergabe Die Teilnahme von Medienvertretern an Gerichtsverhandlungen fällt in den Schutzbereich der durch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG verbürgten Pressefreiheit47. Die mit der Wahrnehmung ihrer Aufgabe verbundene Multiplikatorenfunktion der Medien lässt es zulässig erscheinen, einen Teil der Zuschauerplätze im Sitzungssaal für Medienvertreter zu reservieren48; dabei muss ein angemessener Teil der insgesamt verfügbaren Plätze dem allgemeinen Publikum vorbehalten bleiben49. Die Entscheidung über die Zahl der Medienplätze obliegt dem Vorsitzenden. Für große und von erheblichem Publikums- und Medieninteresse begleitete Strafprozesse wird in aller Regel ein Akkreditierungsverfahren für Medienvertreter notwendig sein. Dies gilt schon im Hinblick auf den Umstand, dass nur auf diesem Wege ein qualitativer und quantitativer Überblick über das tatsächliche Medieninteresse und die Zusammensetzung der Medienöffentlichkeit geschaffen werden kann, der wiederum Anlass für weitere Maßnahmen geben kann. Die Art und Weise der Durchführung des Akkreditierungsverfahrens ist zudem – wie alle die Arbeitsbedingungen der Medienvertreter betreffenden Umstände – für die Außendarstellung des jeweiligen Gerichts von einer nicht zu unterschätzenden Bedeutung50. Von der Vornahme einer Akkreditierung getrennt zu beantworten ist die Frage nach der Erforderlichkeit eines spezifischen Platzvergabeverfahrens. Grundsätzlich können zwar die – für die Medienvertreter reservierten – verfügbaren Plätze auch in der Reihenfolge des Eintreffens der akkreditierten Journalisten vor dem Sitzungssaal vergeben werden. Ein solches Verfahren scheidet allerdings aus, wenn zu befürchten ist, dass aufgrund der örtlichen Verhältnisse oder wegen des im konkreten Verfahren übergroßen Medieninteresses die bezeichnete Einlassregel nicht mehr handhabbar sein wird; auch kann die erwartete Beteiligung zahlreicher ausländischer Medienvertreter, denen im Hinblick auf ein besonderes Interesse am konkreten Verfahren   BVerfGE 50, 234, 240.   Altenhain, Öffentlichkeit im Strafverfahren – Transparenz und Schutz der Verfahrensbeteiligten. Verhandlungen des 71. Deutschen Juristentages, Band I (Gutachten) Teil C, München 2016, C 63 mwN. 49   BVerfG NJW-RR 2008, 1069, 1071; BGH NJW 2006, 1220, 1221. 50   Vgl. Gutachten Deutscher Richterbund (oben Fn. 15), S. 174. 47 48

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sichere Plätze im Sitzungssaal verschafft werden sollen, zu einem anderen Verfahren der Platzvergabe zwingen. Das in solchen Fällen gewählte Verfahren der Platzvergabe muss verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen, insbesondere das aus dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG abgeleitete subjektive Recht der Medien auf Gleichbehandlung im publizistischen Wettbewerb51, also auf gleichberechtigte Teilhabe an den Berichterstattungsmöglichkeiten über gerichtliche Verfahren, beachten. Dabei ist die Bildung von Kontingenten für bestimmte Mediengruppen52 grundsätzlich verfassungskonform, wenn sie auf sachlichen Erwägungen beruht53; in bestimmten Fällen kann sogar ein zwingender Sachgrund für eine solche Differenzierung sprechen54. Bei der eigentlichen Platzverteilung ist sowohl die Anwendung des Losverfahrens55 als auch eine bereits mit der Akkreditierung verknüpfte Platzvergabe in Form des Prioritätsprinzips denkbar, bei der der Eingang der Akkreditierung zugleich über die Vergabe reservierter Plätze für die Vertreter der jeweiligen Mediengruppen entscheidet. Beides ist verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich56. Allerdings muss die Ausgestaltung des Prioritätsprinzips die Chancengleichheit realitätsnah gewährleisten57. Dazu gehört insbesondere zweierlei: Zum einen muss – gerade im Hinblick auf die Beteiligung ausländischer und mit dem System der Akkreditierung in Deutschland eventuell weniger vertrauter Medien die beabsichtigte Anwendung des Prioritätsprinzips bei der Akkreditierung und der Beginn des Akkreditierungsverfahrens rechtzeitig und auch für Unerfahrene eindeutig angekündigt werden; da die Ankündigung regelmäßig in der Sicherungsverfügung erfolgt, sollten zwischen ihrer Herausgabe und dem Beginn der Akkreditierungsfrist idealerweise mehrere Tage liegen. Zum anderen setzt eine (mit der Akkreditierung verknüpfte) Platzvergabe nach dem Prioritätsprinzip die notwendigen technischen Mittel bei der Justizpressestelle voraus, um mit entsprechender Servertechnologie Hunderte nahezu zeitgleich eingehender E-Mails zeitlich exakt erfassen und auswerten zu können58.

  BVerfGE 80, 124, 133 f.; BVerfG NJW-RR 2008, 1069, 1071.   Vgl. etwa die Regelung mit der Bildung von fünf Mediengruppen im Hoeneß-Verfahren, abgedruckt in: Gutachten DRB (oben Fn. 15), S. 177. 53   BVerfG NJW 2003, 500, 501. 54   BVerfG NJW 2013, 1293, 1295 zum NSU-Verfahren („Herkunft der Opfer“); ausführlich zu den zulässigen Kriterien ferner Altenhain (oben Fn. 48), C 66–C 68. 55   Die Erfahrung zeigt allerdings, dass von den Medienvertretern die von ihnen nicht beeinflussbare Auslosung als unbefriedigend oder sogar willkürlich wahrgenommen wird. 56   BVerfG NJW 2013, 1293, 1294 f., BVerfG NJW 2003, 500; Altenhain, aaO, C 65 f. 57   BVerfG NJW 2013, 1293, 1294. 58   Vgl. die geschilderten Erfahrungen im Hoeneß-Verfahren (oben Fn. 18). 51 52

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Die Entscheidungen zum Umfang der Reservierung von Medienplätzen, zur Ausgestaltung der Akkreditierung und der Bildung von Mediengruppen sowie zum Verfahren der Platzvergabe trifft jeweils der Vorsitzende. Zugleich wird die Notwendigkeit zur engen Kooperation mit der Gerichtsverwaltung – in Form der Justizpressestelle – auf kaum einem anderen Handlungsfeld so ausgeprägt sein. So wird sich der Vorsitzende bereits im Vorfeld seiner Überlegungen zur Sicherungsverfügung zweckmäßigerweise durch die Justizpressestelle beraten lassen, die das mutmaßliche Medieninteresse und die Zusammensetzung der im konkreten Fall tätigen Medienszene auch aufgrund ihrer Kontakte mit Medienvertretern regelmäßig besser einschätzen kann. Nach Abfassung der Sicherungsverfügung übernimmt die Justizpressestelle deren Verteilung über die vorhandenen Presseverteiler und den Internetauftritt des Gerichts. Dabei werden sich häufig gesonderte Hinweise auf presserelevante Regelungen, vor allem auf die Akkreditierungsfrist und die mit der Akkreditierung verbundenen technischen Fragen empfehlen. Auch muss wegen der zahlreichen Nachfragen zu Einzelheiten des Akkreditierungsverfahrens die ständige Erreichbarkeit der Pressestelle – unter Umständen auch in Form eines Bereitschaftsdienstes am Wochenende und nach Dienstschluss – gewährleistet werden. Die Durchführung des Akkreditierungsverfahrens samt Platzvergabe wird in aller Regel durch den Vorsitzenden der Justizpressestelle des Gerichts zur Ausführung übertragen. Dazu gehört neben der Auswertung der Gesuche auf Akkreditierung und der Vorbereitung der Entscheidung des Vorsitzenden über die Zulassung oder Nichtzulassung59, die Durchführung des Losverfahrens oder die Klärung der Reihenfolge des Eingangs der Gesuche, die Verständigung der Bewerber sowie die Herstellung und Verteilung der Akkreditierungsausweise und der Platzkarten. Dem Vorsitzenden muss zwar die Letztentscheidung über die grundsätzliche Zulassung und die Platzvergabe in strittigen Fällen vorbehalten bleiben. Gleichzeitig ist es aber Aufgabe der Pressestelle, dem Vorsitzenden in diesem Bereich nicht nur sämtliche technisch-organisatorischen Aufgaben abzunehmen, sondern auch soweit möglich an seiner Stelle nach außen aufzutreten und so etwaige mediale Kritik an den Modalitäten des Akkreditierungs- und Platzvergabeverfahrens abzufangen. b)  Regelung von Bild- und Tonaufnahmen im Gerichtsgebäude außerhalb und innerhalb des Bereichs der Sitzungspolizeigewalt aa)  Die regelmäßig dem Gerichtspräsidenten als Hausrechtsinhaber zustehende Entscheidungsgewalt über den Zugang zum Gerichtsgebäude umfasst 59   Zur Einordnung als Medienvertreter vgl. BVerfGE 95, 28, 34 f., Jarass/Pieroth, GG, 11. Auflage 2001, Art. 5 Rn 36; Altenhain (oben Fn. 48), C 63–C 65.

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auch die Kompetenz für die Regelung über die Zulässigkeit von Ton-, Filmund Bildaufnahmen im Gerichtsgebäude60. Art und Umfang der Ausübung des Hausrechts stehen zwar im (pflichtgemäßen) Ermessen des Hausrechtsinhabers61, müssen aber selbstverständlich dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Allgemeinen und spezifischen grundrechtlichen Anforderungen im Besonderen genügen62. Ausgangspunkte der grundrechtlichen Betrachtung sind dabei jeweils der mit entsprechenden Anordnungen des Hausrechtsinhabers verbundene Eingriff in das Grundrecht der Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG) auf der einen sowie die Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten (Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG) samt ihrer einfachrechtlichen Ausprägung durch die §§ 22, 23 Kunsturhebergesetz (KUG) auf der anderen Seite. Nach der Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts sind wesentliche abwägungsrelevante Umstände auf Seiten der Presse- und Rundfunkfreiheit die Schwere der zur Verhandlung stehenden Straftat ebenso wie die öffentliche Aufmerksamkeit für das Strafverfahren, die umso beachtlicher ist, je mehr sich die Straftat oder ihre Folgen, etwa aufgrund der Begehung oder der Art des Angriffsobjekts, von der gewöhnlichen Kriminalität abheben oder es sich gar um Ereignisse mit zeitgeschichtlicher Bedeutung handelt63. Auf Seiten der Persönlichkeitsrechte des Angeklagten – der sich kraft hoheitlicher Anordnung der Öffentlichkeit stellen muss – fällt abwägungsrelevant ins Gewicht, dass insbesondere die Bildberichterstattung gerade im Falle eines Freispruchs zu schwerwiegenden Nachteilen führt64. In Bezug auf weitere Verfahrensbeteiligte sind eine mögliche Gefährdung des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie Auswirkungen auf die Wahrheitsermittlung und die unbeeinflusste Entscheidungsfindung in die Abwägung einzubeziehen65. Personen, die lediglich als Zuschauer in Gerichtsverhandlungen anwesend sind, dürfen regelmäßig nicht ohne Einwilligung gefilmt oder fotografiert werden66. bb)  Die Sitzungspolizeigewalt des Vorsitzenden ist in der Hauptverhandlung auf die Durchsetzung des gesetzlichen Verbots von Ton-, Film- und Fernsehaufnahmen beschränkt (§ 169 Satz 2 GVG); die Zulassung von Aus60   BVerfG NJW-RR 2007, 1053, 1054; vgl. auch Nr. 129 Abs. 4 der bundeseinheitlich geltenden Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV). 61   BVerfG NJW 2012, 1863, 1864. 62   BVerfG NJW 2012, 2178; BVerwG NJW 2011, 2530, 2531. 63   BVerfG NJW 2008, 977, 979; BVerfG NJW 2012, 2178, 2179. 64   BVerfG NJW 2009, 350, 352; im Falle eines Geständnisses des Angeklagten verliert dieser Aspekt sein Gewicht, vgl. BVerfG NJW 2012, 2178, 2179. 65   BVerfG NJW 1996, 310. 66   Die Wertung aus § 22 KUG ist verfassungsgemäß, vgl. BVerfGE 35, 202, 224, und dürfte in aller Regel auch bei der Abwägung gegenüber der Pressefreiheit in Gerichtsverfahren den Ausschlag geben.

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nahmen ist weder dem Gericht noch dem Vorsitzenden gestattet, auch nicht für Teile der Verhandlung wie die Urteilsverkündung67. Die Verbotsnorm ist verfassungsgemäß68. Der Ausgang der anhaltenden rechtspolitischen Diskussion über eine auch nur moderate Lockerung des Verbots erscheint offen69. Über das von § 169 Satz 2 GVG nicht erfasste Verbot fotografischer Aufnahmen entscheidet der Vorsitzende im Rahmen seiner Sitzungspolizeigewalt, zumeist im Rahmen der vorbereitenden Sicherheitsverfügung; materieller Entscheidungsmaßstab wird in der Regel der Schutz der Persönlichkeitsrechte sein. Außerhalb der Hauptverhandlung kann der Vorsitzende mit sitzungspolizeilichen Anordnungen zur Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung darüber entscheiden, ob und in welchem Umfang Foto-, Film- und Fernsehaufnahmen zugelassen werden. Die zu berücksichtigenden Grundrechtspositionen sowie die abwägungsrelevanten Faktoren entsprechen denjenigen, die der Gerichtspräsident als Hausrechtsinhaber im Rahmen seiner Entscheidungszuständigkeit zu beachten hat (vgl. dazu oben aa)). Im Rahmen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist besonders zu beachten, dass ein vollständiges Verbot von Aufnahmen nicht in Frage kommt, wenn dem Schutz kollidierender Belange bereits durch beschränkende Anordnungen Rechnung getragen werden kann70. Dazu zählen beispielsweise räumlich und zeitlich beschränkte Gestattungen für Ton-, Bild- und Filmaufnahmen oder die Vorgabe von Pool-Lösungen für Aufnahmen im Sitzungssaal, mit denen Beeinträchtigungen des äußeren Ablaufs des Sitzungsbetriebes vermieden werden können71. cc) Ungeachtet der Zuständigkeit für die zu treffenden Anordnungen kommt der Justizpressestelle in mehrfacher Hinsicht zentrale Bedeutung bei der Umsetzung der bezeichneten Maßnahmen zur ordnenden Gestaltung der Medienarbeit zu. Dies gilt bereits für die Unterstützung des Hausrechtsinhabers oder des Vorsitzenden bei der Frage, welche Personen im konkreten Fall dem Schutzbereich der Presse- und Rundfunkfreiheit unterfallen und ggf. einen daraus abgeleiteten besonderen Status in Anspruch nehmen können72.   Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl. 2015, § 169 GVG Rn 8.   BVerfGE 103, 44, 62 f. 69  Vgl. etwa den Referentenentwurf des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz eines Gesetzes zur Erweiterung der Medienöffentlichkeit in Gerichtsverfahren und zur Verbesserung der Kommunikationshilfen für Sprach- und Hörbehinderte (EMöGG), online abrufbar auf der Homepage des BMJV; ausführlich zur Diskussion: Altenhain (oben Fn. 48), C 87 ff. 70   BVerfG NJW 2008, 977, 980. 71  BVerfG NJW 2012, 2178, 2179; Zu einem Beispiel für beschränkende Regelungen s. Gutachten DRB (oben Fn. 15), S. 88, 177 f. 72   Vgl. oben Fn. 59: Für die Grundrechtsträgerschaft kommt es weder auf das formelle Kriterium des Besitzes eines Presseausweises noch auf eine hauptberufliche Pressetätigkeit 67 68

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Die bei der Justizpressestelle vorhandene besondere Kenntnis der Medienszene kann auch bei der Beratung des Vorsitzenden im Hinblick auf räumliche und zeitliche Beschränkungen von Ton-, Film- und Fernsehaufnahmen sowie für die Entscheidung, ob und ggf. welche Poolbildung aus mehreren Aufnahmeteams zugelassen werden soll, genutzt werden. Auch sonst können die Justizsprecher durch geeignete Betreuungs- und Unterstützungsmaßnahmen die Medienarbeit nachhaltig erleichtern. So kommt in Betracht, bereits vor Sitzungsbeginn eine Saalbesichtigung mit den Journalisten zu organisieren und ihnen dabei auch die Produktion von Bildmaterial in Form von Film- und Fernsehaufnahmen des leeren Saales zu ermöglichen. Einen wesentlichen Beitrag zur Versachlichung der Berichterstattung können Justizpressesprecher dadurch leisten, dass sie die für die Medien wichtigen Originaltöne im Rahmen von angekündigten (Sammel-) Interviews liefern. Dies gilt sowohl für die mediale Vorberichterstattung als auch für die Zeit der Hauptverhandlung selbst, dort vor allem im Zusammenhang mit wichtigen Verfahrensabschnitten (Verlesung der Anklage, Einlassung des Angeklagten, Vernehmung wichtiger Zeugen oder Sachverständiger). Angebote dieser Art haben für die Journalisten den Vorteil der Planbarkeit, ohne Gerangel um die beste Kameraperspektive. Für die Justiz liegt der Gewinn in geordneten Abläufen und der Vermeidung von Wiederholungen, wie sie bei Einzelinterviews unvermeidbar sind. Bei Umfangsverfahren mit vielen Verhandlungstagen und ausgedehnter Beweisaufnahme erleichtert es die journalistische Arbeit, wenn jeweils am Ende der Vorwoche „Programminformationen“ über die in der kommenden Woche anstehenden Verhandlungstage hinausgegeben werden73. Auch sollten wichtige Verfahrensschritte, für die besonderes journalistisches Interesse zu erwarten ist, mit Pressemitteilungen begleitet werden; dies gilt natürlich insbesondere für die Urteilsverkündung. c)  Gestaltung der Arbeitsbedingungen für Medienvertreter während des laufenden Verfahrens aa) Nicht in der Hand des Pressesprechers liegt die Entscheidung, ob und ggf. in welcher Form den anwesenden Medienvertretern innerhalb des Gerichtsgebäudes ein Medienarbeitsraum zur Verfügung gestellt werden kann, in den sie sich zurückziehen können, um bereits während des Verhandlungstages außerhalb der Hauptverhandlung Beiträge zu verfassen. Auch kann dieser Raum, der idealerweise mit einer ausreichenden Anzahl an an, BVerfGE 95, 28, 34 f.; ausführlich Altenhain (oben Fn.48), C 63–C 65; möglich ist aber, in einem Genehmigungsverfahren zu prüfen, ob der Grundrechtsschutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG für die jeweilige Person einschlägig ist. 73   ZB mit anonymisierten Zeugennamen, aber unter kurzer Beschreibung des Beweisthemas.

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Arbeitsplätzen, Steckdosen und W-LAN ausgestattet sein sollte, für Interviews des Justizpressesprechers oder für Pressekonferenzen in besonders medienwirksamen Verfahren genutzt werden. Die dauerhafte Einrichtung eines derartigen Arbeitsraumes ist daher – entsprechende räumliche Möglichkeiten vor Ort vorausgesetzt – auch im wohlverstandenen eigenen Interesse des Gerichts ratsam. bb)  Bei der Vorbereitung des Verfahrens wird der Vorsitzende regelmäßig im Rahmen der Sicherheitsverfügung eine Entscheidung darüber treffen müssen, ob es Medienvertretern gestattet ist, Laptops, Tablets und Mobiltelefone in den Sitzungssaal mitzunehmen und dort im Offline-Modus zu betreiben. Dies dürfte außer in Verfahren mit besonderer Geheimhaltungspflicht angesichts der heutigen Arbeitsweise der meisten Journalisten anzuraten sein, um ihnen die von ihnen erwartete unmittelbare Berichterstattung zu ermöglichen. Da diese „Offline-Anordnung“ gerade bei zahlreichen anwesenden Pressevertretern nicht lückenlos kontrolliert werden kann, im Lichte der Vorgaben des § 169 Satz 2 GVG jedoch eingehalten werden muss, sollte der Vorsitzende während der laufenden Hauptverhandlung jedenfalls gelegentliche Stichproben anordnen. Für Entspannung bei knappen Platzkontingenten sorgt darüber hinaus regelmäßig die Anordnung des Vorsitzenden, dass auch (nichtakkreditierte) Journalisten ohne festen Sitzplatz berechtigt sind, ihre vorgenannten Arbeitsmittel im Sitzungssaal offline zu betreiben, sofern sie bei der Eingangskontrolle einen gültigen Presseausweis vorlegen und als Zuhörer im Saal Platz finden. Unabhängig davon, ob der Justizpressesprecher originär als Organ der Justizverwaltung agiert oder im Auftrag des Vorsitzenden dessen sitzungspolizeiliche Anordnungen umsetzt oder ihn dabei unterstützt: Ein ständiger enger Kontakt zwischen dem Vorsitzenden oder anderen Mitgliedern des Spruchkörpers und dem Pressesprecher ist für gute und reibungslose Medienarbeit unverzichtbar. Gerade weil der Pressesprecher bei langdauernden Verfahren nicht ständig im Sitzungssaal sein kann, muss er zur Erfüllung seiner Aufgabe über Änderungen des geplanten Ablaufs unterrichtet werden. Das Gericht muss sich seinerseits darüber im Klaren sein, dass ihm eine effiziente und qualitativ hochwertige Pressearbeit die zentrale Aufgabe der möglichst ungestörten Erkenntnisbildung über die Schuld des Angeklagten wesentlich erleichtert.

III. Große Strafprozesse mit besonderen Anforderungen werden auch in Zukunft die forensische Praxis beschäftigen; aller Erfahrung nach wird die

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Art und Weise, wie die Strafjustiz mit diesen Herausforderungen umgeht, ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit auch künftig stärker prägen als die Bewältigung des Alltagsgeschäfts. Schon im Hinblick darauf liegt nahe, die Phänomenologie gerade von Großverfahren darauf zu untersuchen, welche Maßnahmen de lege ferenda geeignet sein könnten, die Handhabbarkeit großer Strafverfahren zu verbessern, ohne die Ziele des Strafprozesses zu gefährden74. Unabhängig davon wird auch in Zukunft notwendige Grundbedingung für die Gewährleistung einer möglichst störungsfreien und unbelasteten Verfahrensführung die gründliche Vorbereitung des Verfahrens sowie ein enges und effizientes Zusammenwirken aller für die Einzelmaßnahmen Verantwortlichen sein. Wie in anderen Verfahrensbereichen spielt dabei auch die Weitergabe und Verwertung einschlägigen Erfahrungswissens eine bedeutende Rolle. Es ist der Praxis zu wünschen, dass sie auch in Zukunft auf den immensen rechtspraktischen Erfahrungsschatz des Jubilars zurückgreifen kann.

74   Vgl. dazu etwa den Bericht der vom Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz eingesetzten Expertenkommission zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des allgemeinen Strafverfahrens und des jugendgerichtlichen Verfahrens (online abrufbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF/Abschlussbericht_Reform_ StPO_Kommission.pdf?__blob=publicationFile&v=2) sowie – mit teils kritischer Wertung der Kommissionsvorschläge – die Ergebnisse des bundesweiten Strafkammertages vom 16. Februar 2016, Kurzdarstellung bei Rebehn/Kaufmann, DRiZ 2016, 88 ff.

Das stumpfe Schwert Ein Beitrag zu Ablehnungsgesuchen in erstinstanzlichen OLG-Verfahren und der Unzulässigkeit der Revisionsrüge Ricarda Lang I. Vorbemerkung Dem verehrten Jubilar begegnete die Verfasserin erstmalig als Verteidigerin in dem sogenannten „ersten Al-Qaida Prozess“ vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf.1 Am 9. Mai 2006, dem ersten Hauptverhandlungstag, kam es vor Beginn der Hauptverhandlung zu einer kurzen Begegnung zwischen dem Jubilar und der Verfasserin, bei der er Folgendes äußerte: „Ich wurde bis dato sieben Mal vom Bundesverfassungsgericht bestätigt, davon haben Sie zwei Entscheidungen erstritten, bitte weiter so.“ Zu diesem Zeitpunkt war die Verfasserin noch eine relativ junge, idealistische Verteidigerin, der es nicht gelang, über die Bemerkung zu schmunzeln, sondern – ihre Wut nicht verbergend – „abwarten“ entgegnete. Der verehrte Jubilar sparte auch in der Hauptverhandlung nicht mit launigen Bemerkungen, durch welche er die Verteidiger immer wieder in die Schranken wies. Als es die Verfasserin, zu Beginn des oben genannten Verfahrens, wagte, den Jubilar zu unterbrechen, entgegnete dieser: „Wir sind hier nicht beim Amtsgericht, habe ich Ihnen das Wort erteilt?“ Sämtliche Erfahrungen der Verfasserin mit dem Jubilar aufzuzeigen, würde ein Buch füllen und den Rahmen des Beitrages sprengen. Festzuhalten bleibt jedoch, dass der Jubilar die Verfasserin ein Leben lang begleiten wird, da durch den Jubilar die Begeisterung für die Strafprozessordnung und die unzähligen Möglichkeiten, die diese der Verteidigung bietet, geweckt wurde. Sie kommt aus der Breidlingschule! Als der Jubilar in dem oben erwähnten Verfahren Anlass zur Stellung eines Ablehnungsgesuchs gab, war nicht der erfahrenere Mitverteidiger, sondern

1   OLG Düsseldorf, III–VI 10/05, Urteil vom 5. Dezember 2007, teilweise aufgehoben – abgeändert in BGH 3 StR 552/08 – NJW 2009, 3448, – der Vollständigkeit halber wird mitgeteilt, dass das Urteil in Gänze aufgehoben wurde vgl. BVerfG 2 BvR 2500/09 = NJW 2012, 907. Der Jubilar antwortete später der Verfasserin: „Das BVerfG hat den BGH aufgehoben, meine Entscheidung bestätigt.“

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dessen Bürokollege, ein ebenso junger Verteidiger wie die Verfasserin, anwesend. Es wurde nach der Unterbrechung der Hauptverhandlung im Anwaltszimmer zunächst eine gefühlte Stunde diskutiert, ob das Ablehnungsgesuch handschriftlich oder am PC verfasst werden sollte. Der Jubilar klopfte nach ca. 3 Stunden an die Tür des Anwaltszimmers und fragte die Verfasserin, ob sie Hilfe benötige. Zudem machte er die Verfasserin darauf aufmerksam, dass Ablehnungsgesuche in erstinstanzlichen Verfahren beim Oberlandesgericht nicht revisibel seien. Diese apodiktische Aussage des Jubilars stimmt zwar mit der Rechtsprechung des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs überein, die Richtigkeit dieser Rechtsprechung unterliegt jedoch erheblichen Zweifeln. Dazu nun im Folgenden:

II. Rechtsprechung 1.  Entscheidung des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 5. Januar 1977 Der 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs entschied mit Beschluss vom 5. Januar 1977, dass eine Revision gegen ein erstinstanzliches Urteil eines Oberlandesgerichts grundsätzlich nicht darauf gestützt werden könne, das Gericht habe ein Ablehnungsgesuch gegen einen erkennenden Richter zu Unrecht verworfen.2 Nach Meinung des Bundesgerichtshofs soll bereits die Rüge unzulässig sein. Seine Entscheidung begründete der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs unter anderem wie folgt:3 „Nach ständiger Rechtsprechung des BGH sind oberlandesgerichtliche Beschlüsse nur in den engen, vom Gesetz bestimmten Grenzen beschwerdefähig. Eine Anfechtungsmöglichkeit in entsprechender Anwendung der in § 304 Abs. 4 StPO oder in anderen Vorschriften enthaltenen Ausnahmeregelungen ist nach Sinn und Zweck des Gesetzes allenfalls im engsten Rahmen gegeben. Das entspricht dem Rang, der der Entscheidung eines OLG zukommt, und folgt gleichzeitig aus dem sachgerechten Bestreben des Gesetzgebers, den BGH nicht mit Fragen zu belasten, deren abschließende Beurteilung angesichts ihrer Bedeutung für das Verfahren dem ranghohen Gericht überlassen werden kann.“

Weiter führte der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs unter Verweisung auf § 28 Abs. 2 S. 2 StPO aus, dass die Entscheidung über die Ablehnung eines erkennenden Richters im Revisionsverfahren zwar anfechtbar sei, es aber an einer gesetzlichen Bestimmung fehle, die das Revisionsgericht in jedem Falle zur Entscheidung über eine solche Rüge berufen würde. Der Vorschrift des   BGHSt 27, 96 = NJW 1977, 1829.  A.a.O.

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§ 338 Nr. 3 StPO sei dies nicht zu entnehmen, da es sich um die Frage der Zulässigkeit der Rüge handele.4 Die Anfechtung eines Ablehnungsbeschlusses sei generell nur mit der sofortigen Beschwerde möglich (vgl. § 28 Abs. 2 S. 1 StPO). Daher bleibe das Rechtsmittel seiner Natur nach weiterhin eine Beschwerde, auch wenn es sich gegen die Entscheidung eines erkennenden Richters in Form der revisionsrechtlichen Verfahrensrüge wende. Die Entscheidung des Revisionsgerichts folge nicht den Regeln des Revisionsverfahrens, sie richte sich nach den Regeln für die Beschwerde.5 Daher sei die Frage der Zulässigkeit der Anfechtung der Entscheidung bei Ablehnungsgesuchen in den Fällen des § 28 Abs. 2 S. 2 StPO nicht anders zu beantworten als in den Fällen des § 28 Abs. 2 S. 1 StPO; in beiden Fällen sei die Voraussetzung die Zulässigkeit der sofortigen Beschwerde. Da nach § 304 Abs. 4 S. 2 StPO gegen Entscheidungen der Oberlandesgerichte im ersten Rechtszug keine sofortige Beschwerde gegen verworfene Ablehnungsgesuche normiert sei, also diese ausgeschlossen ist, sei auch die Verfahrensrüge unzulässig. Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs erkannte in seiner Entscheidung, dass es sich dabei um eine nicht unerhebliche Einschränkung der „Beschwerdemöglichkeiten“ in Revisionsverfahren handelt. Er vertrat aber die Auffassung, dass der Gesetzgeber diese Einschränkung durch die Übertragung der erstinstanzlichen Zuständigkeit in Staatsschutzstrafsachen auf Oberlandesgerichte in Kauf genommen habe, da deren Entscheidungen ein besonderer Rang zuerkannt werde. Im Übrigen sei eine solche Einschränkung auch vertretbar, da aus Sicht des Angeklagten in vergleichbaren Fällen, wie bei der Selbstablehnung eines Richters, ebenso eine Nachprüfung im Revisionsverfahren grundsätzlich ausgeschlossen sei.6 Abschließend stellte der 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs fest, dass er, trotz der für unzulässig erachteten Verfahrensrüge, diese sachlich geprüft habe und danach die Rüge, die sich gegen die Entscheidung eines Ablehnungsgesuchs gerichtete habe, auch unbegründet sei.7  A.a.O.  A.a.O. 6  A.a.O. 7   A.a.O.; zu der Praxis des BGH, bei unzulässigen Rügen sich auch zur Begründetheit zu äußern, wird auf den Beitrag von Garcia, blog.delegibus.com, Beitrag vom 14.12.2015 hingewiesen, der u.a. ausführt: „Der BGH gibt an, trotz Unzulässigkeit der Revision die übliche revisionsrechtliche Überprüfung durchgeführt und dabei keinen Rechtsfehler entdeckt zu haben. Dieses ‚Selbst wenn der Rechtsbehelf zulässig wäre, wäre er jedenfalls unbegründet‘ ist keine Besonderheit des Falles Mollath, sondern wird von den Gerichten oft praktiziert. Was man von solchen obiter dicta hält, ist Geschmacksfrage. Ich finde sie ganz sympathisch: Der strenge Torwächter vor dem Gesetz hält die Regeln ein, nach denen der Rechtssuchende nicht einzulassen ist, er zeigt aber seine weiche Seite, indem er den Petenten ausnahmsweise durch das Gitter schauen lässt, um ihn beruhigen, dass auf der 4 5

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2.  Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Juni 1977 Gegen die oben genannte Entscheidung des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs wurde Verfassungsbeschwerde eingelegt. Der Beschwerdeführer rügte ohne Erfolg u.a. eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, des Rechtsstaatsprinzips in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG sowie des Gebots der Systemgerechtigkeit.8 Das Bundesverfassungsgericht führte aus, dass es dahinstehen könne, ob der Wortlaut des § 28 Abs. 2 StPO bereits zu der Auslegung zwinge, dass das Gesetz auch in diesem Falle das Rechtsmittel als Beschwerde behandelt wissen wolle, da die Deutung des einfachen Rechts des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs ersichtlich frei von Willkür sei, auch unter anderen Gesichtspunkten keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegne und sie daher das Bundesverfassungsgericht binde.9 Anschließend übernahm das Bundesverfassungsgericht die Argumentation des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs und führte aus, die Zulässigkeit des Rechtsmittels unterliege den Voraussetzungen des § 304 StPO, wenn dieses im Falle des § 28 Abs. 2 S. 2 StPO den Charakter einer Beschwerde behalte. Die Regelung sei auch mit dem Grundgesetz vereinbar, da weder Art. 19 Abs. 4 GG noch das allgemeine Rechtsstaatsprinzip einen Instanzenzug gewährleiste. Auch läge kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz vor, da sich die vom Beschwerdeführer angegriffene Regelung nahtlos in das strafprozessuale Gefüge der Bestimmungen über die Anfechtbarkeit obergerichtlicher Entscheidungen und über Richterablehnungen befindender Gerichtsentscheide einfüge.10 Es gelte im deutschen Strafprozess seit langem der Grundsatz, dass Beschlüsse und Verfügungen der Oberlandesgerichte nicht mit der Beschwerde anfechtbar seien; diese Regelung trage dem Rang der Oberlandesgerichte und ihren Entscheidungen Rechnung und entlaste zugleich den Bundesgerichtshof.11

anderen Seite für ihn ohnehin nichts zu erwarten war. Zum Glück für die Richter stellt sich bei solchen hypothetischen Prüfungen fast immer heraus, dass das Rechtsmittel auch unbegründet ist. Würde die Prüfung ergeben, dass es begründet, aber leider unzulässig ist, wäre man in der Bredouille und würde sich ärgern, überhaupt die Prüfung durchgeführt zu haben. Denn ein bisschen leid muss es dann einem ja um den Rechtsmittelführer tun und es ist das Mindeste, ihm dieses Ergebnis zu verheimlichen.“ 8   BVerfG, Beschluss vom 21.06.1977, 2 BvR 308/77, NJW 1977, 1815. 9  A.a.O. 10  A.a.O. 11  A.a.O.

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3.  Entscheidung des 3. Strafsenats des Bundesgerichthofs vom 16. Januar 2007 Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs führte in seiner Entscheidung vom 16. Januar 2007 aus, dass er an seiner Rechtsprechung, Beschluss vom 5. Januar 1977, festhalte.12 Eine weitergehende Begründung ist der Entscheidung nicht zu entnehmen. Der Bundesgerichtshof merkte allerdings an, dass sich der überwiegende Teil des Schrifttums der Ansicht des Bundesgerichtshofs angeschlossen habe.13 Dem Recht eines Angeklagten auf ein unparteiisches Gericht sei durch seine Möglichkeit, erkennende Richter nach Maßgabe der §§ 24 ff. StPO abzulehnen und hierüber gemäß § 27 Abs. 1 StPO die Entscheidung des Gerichts ohne Mitwirkung des abgelehnten Richters herbeiführen zu können, ausreichend Rechnung getragen. Der Gewährung eines Rechtsmittelzuges bedürfe es nicht; auch Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK gebiete keine Änderung der bestehenden Rechtsauffassung. Abschließend erläuterte der 3. Strafsenat des Bundesgerichthofs, dass in der Entscheidung des Senats vom 5. Januar 1977 ausdrücklich offen gelassen wurde, ob eine Rüge auch dann unstatthaft ist, wenn das Ablehnungsgesuch aus willkürlichen Erwägungen zurückgewiesen worden sei. Ein solcher Fall läge nicht vor, die Zurückweisung der Gesuche sei nicht willkürlich, sondern sachgerecht.14

III. Streitstand Der Bundesgerichtshof ist seit der Entscheidung vom 5. Januar 197715 nicht mehr von seiner Rechtsprechung abgewichen.16 Mit Hilfe des § 304 Abs. 4 S. 2 StPO wird eine Revisionsbeschränkung konstruiert, die die Struktur der Rechtsmittel des Strafprozesses verkennt. Im Ergebnis bedeutet die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass bei Revisionen gegen erstinstanzliche Urteile der Oberlandesgerichte Rügen

12   BGH 16.01.2007, 3 StR 251/06, NStZ 2007, 417; Anmerkung: Der Jubilar war Vorsitzender des Senats, der die angegriffene Sache entschieden hatte. 13   Folgende Fundstellen, die die Auffassung bestätigen sollen, werden seitens des BGH zitiert: „Rudolphi in SK-StPO § 28 Rn 2; Pfeiffer in KK 5. Aufl. § 28 Rn 8; Siolek in Löwe/ Rosenberg, StPO 26. Aufl. § 28 Rn 28; Meyer-Goßner, StPO 49. Aufl. § 28 Rn 8.“ 14  A.a.O. 15   Vgl. Fn. 2. 16   Eine Auseinandersetzung mit der Entscheidung des BVerfG, vgl. Fn. 9, wird in dem Beitrag nicht erfolgen, da die Auffassung das Rechtsmittel als Beschwerde zu behandeln, wie vom BGH behauptet, ohne eigene Überprüfung übernommen wurde.

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wegen fehlerhafter Ablehnung von Befangenheitsgesuchen unzulässig sind.17 Faktisch handelt es sich um die Abschaffung der Rüge nach § 338 Nr. 3 StPO. Soweit sich der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in seiner Entscheidung vom 16. Januar 200718 auf das Schrifttum bezog, welches sich seiner Auffassung überwiegend angeschlossen habe,19 verkennt der Senat, dass in sämtlich benannten Fundstellen keine Auseinandersetzung mit seiner Rechtsprechung erfolgt, sondern diese lediglich unkritisch wiedergegeben wird. So führt mittlerweile Schmitt im Wesentlichen unverändert zu Meyer-Goßner aus, dass bei Ausschluss der sofortigen Beschwerde nach § 304 Abs. 4 S. 2 StPO, auch eine Anfechtung zusammen mit dem Urteil ausgeschlossen sei und verweist zur Begründung auf die Entscheidung des 3. Strafsenats des BGH vom 16. Januar 2007.20 Meyer-Goßner verwies auf die Entscheidung des 3. Strafsenats vom 5. Januar 1977. Auch in der Kommentierung zu § 338 StPO findet sich in Meyer-Goßner/Schmitt lediglich die Wiedergabe der Entscheidung des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs aus dem Jahr 197721 sowie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem selben Jahr.22, 23 Selbiges gilt für Siolek in Löwe-Rosenberg24 und Pfeiffer im Karlsruher Kommentar.25 Das Rekurrieren des 3. Strafsenats des BGH in seiner Entscheidung vom 16. Januar 2007 auf das Schrifttum ist untauglich, da es sich allein auf die eigene Auffassung bezieht und das Ergebnis nicht weiter begründet wird. Insoweit ist zu hoffen, dass sich bei kommenden Entscheidungen des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs u.a. mit Frisch im Systematischen Kommentar,26 Franke in Löwe-Rosenberg27 und der Habilitation von Wei-

17   Hierbei wird nicht verkannt, dass der BGH bei offenkundig willkürlichen Entscheidungen, die Rüge dann als zulässig behandeln will. 18  A.a.O. 19   Vgl. Fn. 12. 20  Meyer-Goßner/Schmitt, 59. Auflage, § 28 Rn 8. 21   Vgl. Fn. 2. 22   Vgl. Fn. 8. 23  Meyer-Goßner/Schmitt, 59. Auflage, § 338 Rn 25, 26. 24   Siolek in Löwe-Rosenberg, 26. Auflage, § 28 Rn 27, 28; a.A. Franke in Löwe-Rosenberg 26. Auflage, § 336 Rn 16, die bei Siolek unerwähnt bleibt. 25  Mittlerweile Scheuten übernommen von Pfeiffer in Karlsruher Kommentar, 7. Auflage, § 28 Rn 8. 26   Frisch in SK-StPO, 4. Auflage, Band VII, § 336 u.a. Rn 21. Soweit der 3. Strafsenat des BGH auch die Kommentierung im SK-StPO zitiert um seine Rechtsauffassung zu stützen, wird darauf hingewiesen, dass unter Deiters, Fortführung von Rudolphi, 4. Auflage, Band 1, § 28 Rn 2, auf die bereits benannten Entscheidungen verwiesen wird ohne Hinweis auf Frisch (Autor im selbigen Kommentar), vgl. auch Fn. 24. 27   Vgl. Fn. 23.

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demann „Die Stellung der Beschwerde im funktionalen Zusammenhang der Rechtsmittel des Strafprozesses“28 auseinander gesetzt wird. 1.  Die Rüge der Mitwirkung eines abgelehnten Richters (§ 338 Nr. 3 StPO) Nach § 338 Nr. 3 StPO kann mit der Revision gerügt werden, dass bei dem angefochtenen Urteil ein Richter mitgewirkt hat, der wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt wurde, wobei das Ablehnungsgesuch verworfen wurde. Gemäß § 28 Abs. 1 StPO sind Beschlüsse, die ein Ablehnungsgesuch für begründet erklärt haben, nicht anfechtbar;29 weder mit der Revision noch mit der sofortigen Beschwerde.30 Voraussetzung für die Zulässigkeit der Revisionsrüge ist daher, dass ein Ablehnungsgesuch als unzulässig oder unbegründet zurückgewiesen wurde.31 Nunmehr unterscheidet § 28 Abs. 2 StPO die zulässigen Rechtsmittel gegen abgelehnte Befangenheitsgesuche zwischen einem Richter (§ 28 Abs. 2 S. 1 StPO) und einem erkennenden Richter (§ 28 Abs. 2 S. 2 StPO). Diese Unterscheidung ist offenkundig dem Gesetzeswortlaut zu entnehmen und bedarf daher keiner weiteren Auslegung. Richtet sich das Ablehnungsgesuch nicht gegen einen erkennenden Richter, so ist gegen die Verwerfung ausschließlich die sofortige Beschwerde nach § 304 StPO als einziges Rechtsmittel zulässig. § 304 Abs. 4 S. 2 StPO schränkt die Möglichkeiten der sofortigen Beschwerde gegen Entscheidungen von Oberlandesgerichten in erstinstanzlicher Zuständigkeit ein. Richtet sich das Ablehnungsgesuch gegen einen erkennenden Richter,32 d.h. gegen einen Richter, der nach der Eröffnung des Hauptverfahrens tätig wird, so kann die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs nur zusammen mit dem Urteil angefochten werden. Dem Gesetzeswortlaut des § 28 Abs. 2 S. 2 StPO ist gerade nicht zu entnehmen, dass Rechtsmittel gegen einen erkennenden Richter in gleicher Weise wie nach § 28 Abs. 2 S. 1 StPO als Beschwerde zu behandeln sind und daher die Grundsätze des Beschwerdeverfahrens Maßstab für die Revisionsrüge sein sollen. Nur bis zum Zeitpunkt der Zulassung der Anklage zur 28   Weidemann, Die Stellung der Beschwerde im funktionalen Zusammenhang der Rechtsmittel des Strafprozesses, 1998 (sic!); Dank gebührt Kollegen Andreas Lickleder, München, der die Verfasserin auf die Habilitation hingewiesen und diese zur Verfügung gestellt hat. 29   Bockemühl in KMR, 60. EL, § 28 Rn 1, m.w.N. 30   Wie das mit dem Wortlaut des § 338 Nr. 3 StPO in Einklang zu bringen ist, soll hier nicht vertieft werden. 31   Hamm, Die Revision in Strafsachen, 7. Auflage, Teil 6 Rn 375. 32   Erkennender Richter sind alle Richter, die zur Mitwirkung an der Hauptverhandlung berufen sind, vgl. u.a. BayObLGSt 24, 108, 109.

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Hauptverhandlung differenziert das Gesetz durch die Regelung in § 28 StPO einerseits und § 304 Abs. 4 S. 2 StPO andererseits zwischen Land- und Oberlandesgericht.33 Nach heutigem Verständnis ist es nicht erforderlich, der Revision einen Beschwerdecharakter zuzusprechen, um dem Revisionsgericht die Möglichkeit zu eröffnen, das zur Begründung des Ablehnungsgesuchs Vorgelegte zu überprüfen, insoweit geschieht die Überprüfung im Freibeweis.34 Der Gesetzgeber hat bewusst zwischen Richter und erkennendem Richter differenziert und als Folge unterschiedliche Rechtsmittelwege normiert. Die Bedeutung des § 28 Abs. 2 StPO liegt nicht darin, dass die Bestimmung der Anfechtung der Entscheidung über die Richterablehnung mit besonderen Möglichkeiten ausstattet, derer die Revision andernfalls entbehrte, sondern darin, dass eine Entscheidung, die nicht durch das erkennende Gericht erlassen wurde, zum Grund der Revisionsrüge gemacht wird.35 Entscheidet ein erkennender Richter, ergibt sich aus § 305 StPO, wie auch aus § 28 Abs. 2 S. 2 StPO, dass eine Anfechtung der Entscheidung nur zusammen mit dem Urteil erfolgen darf (also mit der Revisionsrüge). Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs verkennt, indem er ausschließlich auf § 304 Abs. 4 S. 2 StPO Bezug nimmt, dass die Norm bei Vorliegen des § 305 StPO nicht anwendbar ist. § 304 Abs. 4 S. 2 StPO schließt die Beschwerde nur in solchen Fällen aus, da sie überhaupt zulässig ist, daran fehlt es bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 305 StPO. Aus revisionsrechtlicher Sicht ist der Grundsatz entscheidend, dass der Prüfung durch das Revisionsgericht auch die dem Urteil vorausgehenden Entscheidungen des erkennenden Gerichts unterliegen. Mit der Einführung des § 336 S. 2 StPO36 wollte der Gesetzgeber gewisse verfahrensfundierende Entscheidungen, die als solche unanfechtbar sein sollen, auch von der revisionsgerichtlichen Überprüfung ausnehmen.37 Als unanfechtbare Entscheidungen kommen danach vor allem Beschlüsse, die einem Ablehnungsgesuch oder einer Selbstablehnung stattgeben (§ 28 Abs. 1 StPO), Beschlüsse über die Gewährung der Wiedereinsetzung, Eröffnungsbeschlüsse etc. in Betracht.38 Zweifelhaft ist die Regelung in Bezug auf die Unanfechtbarkeit von Beschlüssen, die nicht nach dem Gegenstand des Streitthemas, sondern dem Rang der entscheidenden Instanz Rechnung tragen sol-

  Schmidt-Leichner, NJW 1977, S. 1804 ff.   Weidemann, Die Stellung der Beschwerde im funktionalen Zusammenhang der Rechtsmittel des Strafprozesses, S. 77. 35  A.a.O. 36   StVÄG 1979, Entwurf in BT-DrS 8/976, S. 58; die Vorschrift wurde also erst nach den Urteilen des BGH, vgl. Fn. 2, und BverfG, vgl. Fn. 8, eingeführt. 37   Frisch in SK-StPO, 4. Auflage, Band VII, § 336 Rn 18. 38   A.a.O., Rn 21. 33 34

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len, vgl. § 304 Abs. 4 StPO.39 Dies widerspricht dem Gedanken des § 336 S. 2 StPO, dessen Hintergrund nicht der Rang des entscheidenden Gerichtes ist, sondern dass Inhalte der Revision aus Sacherwägungen zur Verfahrensstruktur entzogen werden sollen:40 Im Kontext eines Rechtsmittels, das, wie die Revision gegen erstinstanzliche Entscheidungen der Oberlandesgerichte trotz des Ranges der entscheidenden Instanz der Überprüfung unterwirft, erscheint es wenig überzeugend, den Ausschluss der Prüfung auf Unanfechtbarkeitsnormen zu gründen:41 Mit Einführung der erstinstanzlichen Zuständigkeit der Oberlandesgerichte in Staatsschutzverfahren entsprach es dem Willen des Gesetzgebers, einen zweistufigen Instanzenzug zu gewährleisten.42 Es entspricht nicht dem Sinn des StaatsschStrafG, durch die Einführung eines zweistufigen Instanzenzuges in Staatsschutzstrafsachen43 eine Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung mit der Revision zu erreichen, wenn dabei so starke und systemwidrige Einschränkungen der Revision möglich sind.44 Im Ergebnis kann nicht die Unzulässigkeit eines Rechtsmittels, namentlich der Beschwerde, dazu führen, dass auch ein anderes an sich gegebenes Rechtsmittel, die Revision, unzulässig ist.45 2.  Der unbefangene Richter im Hinblick auf die Rechtsprechung des EGMR Die Entscheidungen des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 5. Januar 1977 und 16. Januar 2007 weisen der Mitwirkung eines befangenen Richters an der Hauptverhandlung und Urteilsfindung nachrangige Bedeutung zu, indem sie die Zulässigkeit der Verfahrensrüge ablehnen, außer bei Willkür. Die Unvoreingenommenheit bzw. Unparteilichkeit des Richters ist eine wesentliche Grundlage eines fairen Verfahrens (Art 6 EMRK). Weshalb nun ausgerechnet die Befangenheit eines Richters, die ein fundamentales Interesse des Angeklagten berührt, das auch durch Art. 6 EMRK in besonderer Weise geschützt wird, „nachrangig“ sein soll, ist nicht ohne weiteres ersichtlich. Der EGMR hat u.a. in der Entscheidung Hauschildt vs. Dänemark46 erneut hervorgehoben, dass die Befangenheit eines Richters  A.a.O.  A.a.O. 41  A.a.O. 42   Schmidt-Leichner, NJW 1977, S. 1804 ff. 43   Zöller, Terrorismusstrafrecht, 287 ff, u.a. ausführlich zur Frage eines „Sonderstrafrechts für Terroristen“. 44   Franke in Löwe-Rosenberg, 26. Auflage, § 336 Rn 16. 45   Weidemann, Die Stellung der Beschwerde im funktionalen Zusammenhang der Rechtsmittel des Strafprozesses, S. 72. 46   Hauschildt vs. Dänemark, Urt. v. 24.05.1989 – 10486/83 = EGMR-E 4, 295. 39 40

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einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 3 EMRK darstellen kann, da elementare Interessen des Angeklagten berührt sind. Es müssen hinreichende verfahrensrechtliche Absicherungen zur Verfügung stehen, wie die Möglichkeit, einen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit ablehnen zu können.47 Dem kann nicht entgegengehalten werden, dass die Möglichkeit bei erstinstanzlichen Verfahren vor dem Oberlandesgericht gegeben ist, da der EGMR davon ausgeht, dass in der Rechtsmittelinstanz die Sach- und Rechtslage unter Beachtung der Garantien des Art. 6 EMRK erneut geprüft werden wird.48 Der Angeklagte hat Anspruch auf eine konventionsgemäße Verhandlung in erster Instanz, dies gilt insbesondere für die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eines Gerichts. Liegen insoweit Verstöße gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens vor, geht der EGMR davon aus, dass diese in der folgenden Instanz geheilt werden.49 Unbeschadet dessen, dass die Vertragsstaaten die Ausgestaltung des Rechtsmittelverfahrens entsprechend ihrem jeweiligen Verfahrenssystems eigenständig regeln können, konturieren EGMR und HRC den Gestaltungsspielraum bei der Einrichtung eines Rechtsmittelverfahrens insoweit, als dass jede Beschränkung ein legitimes Ziel verfolgen muss und den Kernbereich des Rechts nicht antasten darf.50 Der Anspruch des Angeklagten auf einen unbefangenen Richter ist einer der wesentlichen Garantien eines fairen Verfahrens. Legt man diese Maßstäbe zugrunde, ist der BGH verpflichtet zu prüfen, ob die Ablehnung des Ablehnungsgesuchs begründet war. Daraus folgt, dass nach Art. 6 EMRK die Verfahrensrüge der Befangenheit nicht als unzulässig behandelt werden kann.

IV. Schlussbemerkung Richtigerweise stellt Weidemann fest, dass die Rechtsprechung des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs logisch nicht haltbar sei51, sie ist systemwidrig. Das Konstrukt der „Revisionsbeschwerde“52 ist der StPO wesensfremd. Durch die fehlerhafte Annahme des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs, dass es sich bei § 28 Abs. 2 S. 2 StPO um einen Fall der Beschwerde handele, erfolgt eine weitere Revisionsbeschränkung.   Esser in Löwe-Rosenberg, 26. Auflage, EMRK Art. 6 Rn 157.  A.a.O.. 49   A.a.O., Rn 166. 50   A.a.O., Rn 993. 51   Weidemann, Die Stellung der Beschwerde im funktionalen Zusammenhang der Rechtsmittel des Strafprozesses, S. 76. 52   Weidemann, Die Stellung der Beschwerde im funktionalen Zusammenhang der Rechtsmittel des Strafprozesses, S. 73 unter Verweis auf Bohnert. 47 48

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Die Verfasserin ist der Auffassung, dass die Rechtsprechung allein dazu dient, den Bundesgerichtshof und letztlich auch die Oberlandesgerichte zu entlasten und die Angeklagten nebst Verteidiger zu disziplinieren. Die häufig über lange Zeiträume aktiv geführten Umfangsverfahren führen bei gegebenem Anlass zu einer Vielzahl von Ablehnungsgesuchen. Sind diese keiner Überprüfung durch das Revisionsgericht unterworfen, ist das Ablehnungsrecht ein zahnloser Tiger. Es liegt die Vermutung nahe, dass somit seitens der Justiz gehofft wird, die Angeklagten werden in der Instanz das Stellen von Ablehnungsgesuchen unterlassen. Ohne Kontrollinstanz, die der Bundesgerichtshof ursprünglich gewährleisten sollte, laufen Ablehnungsgesuche ins Leere. Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist umso unverständlicher, nachdem diesem bekannt ist, dass die Instanzgerichte unabhängig von deren Rang selbst bei offenkundiger Begründetheit den Ablehnungsgesuchen nicht stattgeben.53 Es bleibt zu hoffen, dass der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs seine Rechtsprechung überdenkt und diese nicht erst nach zukünftig erfolgter Entscheidung des EGMR anpasst.54

53   BGH 3 StR 482/15 – Beschluss vom 12. Januar 2016; vgl. insoweit auch Bockemühl: Das Weltbild des Strafrichters-Rückblick, status quo und Ausblick, in Strafverteidigerorganisationen (Hrsg), Bild und Selbstbild der Strafverteidigung, Tagungsband 40. Strafverteidigertag, 2016. 54  Die Verfasserin denkt dabei an eine Bemerkung des Jubilars nach Stellung eines Antrages: „Das ist doch ein alter Zopf, hat der BGH in Band schieß mich Tod längst entschieden“; er ließ es sich auch nicht nehmen als „Lehrstunde für die Verteidiger“ die Entscheidung des BGH über den Visualizer darzustellen; ein Verteidiger denkt: Und, wen interessiert das, Rechtsprechung ist wandelbar, wenn der BGH und das BVerfG nicht hilft, dann der EGMR.

Strafverfahren mit Beschuldigten

Strafverfahren mit Beschuldigten unter länderunabhängigen UN- und EU-Sanktionen und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes Axel Nagler 1. Einleitung Es gibt kaum ein Strafverfahren, das in die erstinstanzliche Zuständigkeit der Oberlandesgerichte fällt, in dem nicht auf die eine oder andere Weise länderunabhängige Sanktionen der Vereinten Nationen, die in unserem Rechtsraum in Sanktionen der EU umgesetzt werden, oder originäre Sanktionen der EU eine Rolle spielen, sei es, dass die Beschuldigten bereits im Stadium der Einleitung des Ermittlungsverfahrens gelistet sind oder im Laufe des Verfahrens auf eine Sanktionsliste gesetzt werden, sei es, dass sie Organisationen anzugehören oder solche zu unterstützen beschuldigt werden, die gelistet sind oder werden. Ottmar Breidling war mit dieser Problematik mehrfach konfrontiert und hat an mindestens einem Vorlagebeschluss an den EuGH maßgeblich mitgewirkt, der zu einer Grundsatzentscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union führte1. Hierauf wird noch zurückzukommen sein. Sowohl das Verfahrensrecht als auch das materielle Strafrecht werden durch die Sanktionspraxis der Vereinten Nationen und der Europäischen Union, die dazu erlassenen Rechtsvorschriften und die dazu ergangene Rechtsprechung der Gerichte der EU (die Sanktionsvorschriften der UN unterliegen keiner Jurisdiktion) maßgeblich beeinflusst. Es lohnt sich also ein Blick auf die Systematik, die praktischen Auswirkungen und die rechtlichen Implikationen, die zu solchen Sanktionsbeschlüssen führen, mit ihnen einhergehen und aus ihnen folgen. Hierzu den Versuch eines Überblicks zu geben will der vorliegende Beitrag unternehmen.

1  OLG Düsseldorf, Vorlagebeschluss nach Art. 267 AEUV v. 21.12.2009 – III-6 StS 10/09 – ; EuGH, Urt. v. 29.06.2010 – C 550/09.

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2.  Das Sanktionsregime Die Europäische Union hat auf der Grundlage von Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, zu deren Umsetzung sie als Mitglied der UNO gem. Art. 48 Abs. 2 der Charta der Vereinten Nationen verpflichtet ist, Maßnahmen erlassen, die der Bekämpfung des Terrorismus dienen. Auf dem Gebiet der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik handelt die EU gem. Art. 25 (früher2 Art. 12) des Vertrages über die Europäische Union (EUV) u.a. durch Beschlüsse zur Festlegung gemeinsamer Standpunkte. Diese werden vom Europäischen Rat nach Art. 26 Abs. 1 (früher Art. 13) EUV im Sinne von Zielen und allgemeinen Leitlinien, vom Rat in Form von Standpunkten zu bestimmten Themen gefasst und sind nach Art. 31 (früher Art. 23) EUV keine Gesetzgebungsakte. Auf der Grundlage dieser gemeinsamen Standpunkte (GASP) werden Sekundärrechtsakte nach Art. 288 (früher 249) des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) in Form von Verordnungen und Beschlüssen erlassen. Die Verordnungen gelten in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union unmittelbar und sind, ohne dass nationale Umsetzungsmaßnahmen erforderlich wären, von allen zu beachten, unabhängig davon, ob sich die in den Namenslisten aufgeführten Personen, Organisationen, Vereinigungen oder Unternehmen in der EU oder in einem sonstigen Land befinden. Beschlüsse sind zwar verbindlich, wenn sie sich an bestimmte Adressaten richten, aber nur für diese3. Diese Vorschriften können im hier interessierenden Zusammenhang in drei Bereiche untergliedert werden: –– Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen, die mit Osama bin Laden, dem Al-Qaida-Netzwerk oder den Taliban in Verbindung stehen. Rechtsgrundlage hierfür ist die Verordnung (EG) Nr. 881/2002 vom 27. Mai 20024 mit zahlreichen Änderungen. Zuletzt wurde ISIL (Da’esh) aufgenommen, und der Titel der VO lautet jetzt: Verordnung (EG) Nr. 881/2002 des Rates vom 27. Mai 2002 über die Anwendung bestimmter spezifischer restriktiver Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen, die mit den ISIL (Da’esh) und Al-Qaida-Organisationen in Verbindung stehen5.

  vor Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am 01.12.2009.   Art. 288 Abs. 4 (früher 249) AEUV; bis 2009 wurden Änderungen der Liste zu VO (EG) 2580/2001 durch Beschlüsse des Rates herbeigeführt. 4   ABl. EG Nr. L 139 S. 9. 5   VO (EU) 2016/363 des Rates vom 14.03.2016, ABl. EU L Nr. 68, S. 1 zur Änderung der VO (EG) Nr. 881/2002. 2 3

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–– Maßnahmen gegen sonstige terrorverdächtige Personen und Organisationen durch die Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 vom 27. Dezember 20016 mit zahlreichen Änderungen. –– Restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Gruppen, Unternehmen und Organisationen angesichts der Lage in Afghanistan mit Hilfe der Verordnung (EU) des Rates Nr. 753/2011 vom 1. August 20117. 2.1 Grundlage der EG-Verordnung gegen Osama bin Laden, Al-Qaida und die Taliban ist die Resolution 1390 (2002) des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom 10. Januar 2002, die die Anordnung bestimmter Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus vorsieht und sich gegen Personen, Organisationen und Vereinigungen richtet, die in der Namensliste des Sanktionsausschusses der Vereinten Nationen enthalten sind. Sie wird vom Sanktionsausschuss fortlaufend aktualisiert und kann im Internet eingesehen werden8. Zur Umsetzung dieser Resolution hat die europäische Union, gestützt auf den Gemeinsamen Standpunkt 2002/402/GASP zu den restriktiven Maßnahmen gegen Osama bin Laden, Mitglieder der Organisation Al-Qaida und die Taliban sowie andere Einzelpersonen, Gruppen, Unternehmen und Organisationen, die mit ihnen in Verbindung stehen9, die VO (EG) Nr. 881/200210 erlassen, mit welcher Embargomaßnahmen gegen Personen und Organisationen beschlossen wurden, die mit Osama bin Laden, dem Al-Qaida-Netzwerk und den Taliban in Verbindung stehen. Mit dieser Verordnung werden Gelder und wirtschaftliche Ressourcen der in ihrem Anhang I genannten Personen, Organisationen, Vereinigungen und Unternehmen eingefroren, es wird untersagt, den Gelisteten Gelder und wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen und sich wissentlich und beabsichtigt an der Umgehung dieser Beschränkungen zu beteiligen. Ausnahmen von diesen Verboten bedürfen der Genehmigung durch die zuständige Behörde11, die erteilt werden kann, wenn die Gelder oder wirtschaftlichen Ressourcen für bestimmte, in Art. 2 a der VO (EG) Nr. 881/2002   ABl. EG L Nr. 344 S. 70.   ABl. EU L Nr. 199 S. 1. 8  https://www.un.org/sc/suborg/sites/www.un.org.sc.suborg/files/consolidated.pdf 9; die Liste im aktuellen Status kann abgerufen werden unter https://www.un.org/sc/suborg/ en/sanctions/un-sc-consolidated-list – der Stand beim Abfassen dieses Manuskripts umfasste 149 Seiten, die Anzahl der Personen und Organisationen ist nicht durchnummeriert. 9   ABl. EG Nr. 139, S. 4. 10   ABl. EG Nr. 139, S. 9. 11   In Deutschland ist im Hinblick auf Waren und Dienstleistungen das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle, für Zahlungsmittel jeglicher Art die Bundesbank zuständig. 6 7

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in der Fassung der ÄnderungsVO vom 27.03.200312 im einzelnen aufgeführte Zwecke erforderlich sind. Ohne eine solche Genehmigung dürfen Gelder und wirtschaftliche Ressourcen der betroffenen Person auch dann nicht zur Verfügung gestellt werden, wenn die Voraussetzungen einer Ausnahme erfüllt sind. Die Genehmigung kann erteilt werden, wenn die Vermögenswerte –– für bestimmte Grundausgaben notwendig sind, beispielsweise Ausgaben für die Bezahlung von Nahrungsmitteln, Mieten, Medikamenten o.Ä.; danach muss selbst die Auszahlung von Sozialleistungen vorab genehmigt werden; –– der Begleichung oder Rückerstattung angemessener Honorare im Zusammenhang mit rechtlicher Beratung dienen oder –– ausschließlich der Deckung der Verwaltungskosten dienen, die durch das Einfrieren der Vermögenswerte entstanden sind. Ein Waffenembargo ist in dieser Form nicht normiert. Allerdings gilt nach § 74 Abs. 2 Nr. 3 AWV ein Ausfuhr- Durchfuhr-, Verkaufs- und Beförderungsverbot an die in Anhang I der VO (EG) Nr. 881/2001 aufgeführten Personen für Waffen, welches gem. §§ 80 Nr. 2 AWV, 17 AWG strafbewehrt ist. Die Verordnung ist häufig geändert worden und wird laufend hinsichtlich der Personen, Organisationen und Vereinigungen im Anhang I an Veränderungen der Liste des Sanktionsausschusses der Vereinten Nationen angepasst. Eine sogenannte konsolidierte Fassung auf fast aktuellem Stand kann im Internet abgerufen werden13. 2.2 Auf der Basis der Resolution 1373 (2001) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen hat der Rat der Europäische Gemeinschaft am 27.12.2001 den gemeinsamen Standpunkt 2001/931 GASP14 gefasst. Auf dessen Grundlage wiederum hat er mit der Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 vom 27. Dezember 200115 Embargomaßnahmen gegen Personen und Organisationen getroffen, die terroristische Handlungen begehen, zu begehen versuchen, an diesen beteiligt sind, diese fördern oder erleichtern und nicht mit Osama bin Laden, dem Al-Qaida Netzwerk oder den Taliban in Verbindung stehen. Auch nach   VO (EG) Nr. 561/2003 vom 27. März 2003, ABl. (EG) L Nr. 82, S. 1.   http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:02002R088120160426&rid=1 Fassung vom 24.07.2016; diese konsolidierten Fassungen sind lediglich eine (wertvolle) Orientierungshilfe, aber nichtamtliche Dokumente; einen guten Überblick über die oft verwirrend erscheinende Vielfalt von diversen Embargoverordnungen und ihren Änderungen gibt das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle unter www.ausfuhrkontrolle.info/ausfuhrkontrolle/de/embargos/index.html. 14   ABl. EG L Nr. 344 S. 93. 15   ABl. EG L Nr. 344 S. 70. 12

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dieser Verordnung sind Gelder, andere finanzielle Vermögenswerte und wirtschaftliche Ressourcen der gelisteten Personen, Organisationen, Vereinigungen und Unternehmen eingefroren. Den Gelisteten dürfen keine Gelder, sonstige finanzielle Vermögenswerte, wirtschaftliche Ressourcen oder Finanzdienstleistungen bereitgestellt werden. Jede wissentliche und beabsichtigte Beteiligung an der Umgehung dieser Maßnahmen ist verboten. Auch hier können Ausnahmegenehmigungen erteilt werden für Gelder zur Deckung von Grundbedürfnissen, zur Begleichung von Steuern, Pflichtversicherungsprämien oder Gebühren für öffentliche Versorgungsleistungen wie Gas, Wasser, Strom, Telefon und Zahlung von Kontoführungsgebühren. Interessanterweise führt die einschlägige Vorschrift des Art. 5 Abs. 2 der VO (EG) Nr. 2580/2001 Honorare für rechtliche Vertretung nicht ausdrücklich auf; aus allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen dürfte auch im Geltungsbereich dieser Verordnung hierzu eine Ausnahmegenehmigung zu erteilen sein. Ein praktischer Fall dazu ist bisher nicht bekannt geworden. Auch hier dürfen Gelder, wirtschaftliche Ressourcen oder Finanzdienstleistungen den Gelisteten ohne Genehmigung auch dann nicht zur Verfügung gestellt werden, wenn die Voraussetzungen einer Ausnahme vorliegen. Auch gegen diese Personen gilt ein Waffenembargo aus § 74 Abs. 2 Nr. 1 AWV in Verbindung mit Art. 2 Abs. 3 der VO (EG) 2580/2001 im Sinne eines Verkaufs- Ausfuhr-, Durchfuhr- und Beförderungsverbots an gelistete Personen, Organisationen, Gruppen oder Einrichtungen, welches nach §§ 80 Nr. 1 AWV, 17 AWG strafbewehrt ist. Im Unterschied zu den Namenslisten der Verordnung gegen Osama bin Laden, das Al-Qaida-Netzwerk oder die Taliban wird die Namensliste der Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 bei jeder Änderung durch Beschluss vollständig neu veröffentlicht, so dass hier nur die jeweils aktuelle Fassung der ändernden Verordnung herangezogen werden muss16. 2.3 Auf der Grundlage der Resolution 1988 (2011) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zur Lage in Afghanistan fasste der europäische Rat am 01.08.2011 den Beschluss Nr. 2011/486/GASP17, der in Bezug auf die Individuen, Gruppen, Unternehmen und Einrichtungen Finanzsanktionen, Reisebeschränkungen und ein Waffenembargo verhängte, die vom Sanktionsausschuss der Vereinten Nationen auf die Liste nach den Resolutionen 1267 (1990), 1333 (2000) oder 1988 (2011) gesetzt worden sind. Auf dieser Grundlage wiederum erließ der Rat am gleichen Tage die Verordnung (EU) 16   Konsolidierter Text (nichtamtlich, s. Fn 13) mit Stand zum 24.07.2016 unter http:// eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32001R2580&rid=1. 17   ABl. L Nr. 199, S. 57.

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Nr. 753/2011 des Rates18 über restriktive Maßnahmen gegen bestimmte Personen, Gruppen, Unternehmen und Einrichtungen angesichts der Lage in Afghanistan. Gegen die von der UN gelisteten Personen wurde ein Waffenembargo verhängt (Art. 2 der Verordnung); in Art. 3 werden sämtliche Gelder und finanziellen Ressourcen der Gelisteten eingefroren (Abs. 1), es wird ein Verbot verhängt, diesen Personen Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen (Abs. 2) und ein Umgehungsverbot verhängt (Abs. 3). Der Anhang I enthält wieder die Namensliste, die in den Änderungsverordnungen jeweils nur um neu hinzu gekommene Personen oder Vereinigungen ergänzt oder um gestrichene vermindert wird. Auch gegen diese Personen gilt ein Waffenembargo aus § 74 Abs. 2 Nr. 2 AWV, welcher allerdings nur den GASP in Bezug nimmt und nicht die Verordnung, so dass nach §§ 80 Nr. 1 AWVO, 17 AWG strafbar nicht Personen sind, die nur gegen die Verordnung verstoßen. 2.4 Eine weitere Namensliste enthält der Anhang des gemeinsamen Standpunkts 2001/931/GASP, der durch gemeinsame Standpunkte des Rates der Europäischen Union regelmäßig aktualisiert wird19. Dort sind zusätzlich zu Personen, Gruppierungen und Organisationen aufgeführt, für die nach Art. 3 des Gemeinsamen Standpunktes Finanzsanktionen im oben beschriebenen Sinne gelten, solche Personen und Organisationen aufgeführt, die mit einem Stern *) gekennzeichnet sind. Für diese gelten die dargestellten Verbote und Beschränkungen nicht. Insoweit besteht gem. Art. 4 des Gemeinsamen Standpunktes lediglich die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zu einer möglichst weitgehenden Amtshilfe von Justiz und Polizei zum Zwecke der Identifizierung und Ergreifung dieser Personen.

3.  Strafvorschriften 3.1 Allgemeines Die maßgeblichen Strafvorschriften zur Sanktionierung von Verstößen gegen die Embargobestimmungen finden sich im Außenwirtschaftsgesetz und in der Außenwirtschaftsverordnung. Das Außenwirtschaftsrecht ist geprägt davon, dass verschiedenste nationale und europäische Normen, die ihrerseits zum Teil wiederum Bezug nehmen auf völkerrechtliche Verträge, Rüstungskontrollregime, Resolutionen der Vereinten Nationen und Ähnli  ABl. L Nr. 199, S. 1.  Zuletzt Beschluss (GASP) 2016/1136 vom 12.07.2016 (ABl. EU L Nr. 188, S. 21), dessen Anhang allerdings kein * mehr enthält. 18 19

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ches, ineinandergreifen. Dieser Beitrag befasst sich nur mit länderunabhängigen, also personen- und organisationsbezogenen Embargo- und Sanktionsmaßnahmen; gleichwohl ist die Struktur der übrigen Regelungsbereiche vergleichbar. Die gesteigerte Europäisierung des Außenwirtschaftsrechts, der gemeinsame Binnenmarkt und die Zuweisung weiterer Kompetenzen an die EU im Anschluss an den Vertrag von Lissabon haben erheblichen Einfluss auch auf das Strafrecht. Embargos der Vereinten Nationen mit dem Ziel, gegen bestimmte Personen, Personengruppen, politische Gruppierungen oder von diesen kontrollierte Regionen wirtschaftlichen Druck auszuüben, welche in der Regel durch eine Resolution des Weltsicherheitsrates beschlossen werden, binden zwar alle Mitgliedstaaten. Eine unmittelbare Geltung der Embargobestimmungen für Private besteht jedoch grundsätzlich nicht20. Sie müssen erst in nationales Recht umgesetzt werden21. Sofern also Embargos nicht ohnehin als ein EU-Rechtsakt von der Europäischen Union autonom erlassen werden, bedarf es zur Umsetzung eines Embargos, das in einer Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen enthalten ist, deren Umsetzung in einer weiteren EU-Embargoverordnung. Reine Waffenembargos, die früher auf nationaler Ebene häufig rein administrativ umgesetzt wurden, finden sich heute in der Außenwirtschaftsverordnung in der Form von Verbotsnormen in Kapitel acht der AWV, da Waffenembargos im Rahmen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU aufgrund der Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten nicht durch EU-Verordnung, sondern durch die Mitgliedstaaten umgesetzt werden müssen. Von den Regelungen eines Embargos kann, auch bei Totalembargos im Bereich der Beschränkungen des Kapital- und Zahlungsverkehrs, nicht auf vergleichbare Regelungen in einem anderen Embargo geschlossen werden; diese Regeln weichen oft erheblich voneinander ab. Auch insoweit ist es unerlässlich, die Regeln des jeweiligen Embargos genau zu Rate zu ziehen. Das gilt auch bei den Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung. Bei den Strafnormen des AWG handelt es sich um mehrfach gestufte Blankettgesetze22, bei denen die nach Art. 103 Abs. 2 GG geforderte Bestimmtheit im Sinne einer Erkennbarkeit des Verbots sehr fraglich ist. Zwar hat

  MüKo-Wagner, Bd. Nebenstrafrecht II, 2. Aufl., Rn 21 vor §§ 17, 18 AWG; Morweiser, AWR-Kommentar Online, Bundesanzeiger Verlag, Stand Juli 2014, § 17 AWG Rn 14. 21   Frowein in: Simma, Charta der Vereinten Nationen, Kommentar, Art. 41, Rn 14. 22   Vgl. MüKo-Wagner, vor §§ 17,18 AWG Rn 29; aA Morweiser, aaO, Stand März 2015, Rn 14 vor §§ 17, 18 AWG, der von nur einstufigen Blankettnormen ausgeht, dabei allerdings übersieht, dass jedenfalls § 18 Abs. 1 AWG auf einen unmittelbar geltenden Rechtsakt der EU Bezug nimmt, der wiederum der Durchführung einer vom Rat der Europäischen Union im Bereich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beschlossenen wirtschaftlichen Sanktionsmaßnahme dient (sog. GASP-Vorbehalt), was er in Rn 15 zu § 18 auch sieht. 20

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im Bereich des Außenwirtschaftsgesetzes das Bundesverfassungsgericht darin so lange kein Problem gesehen, wie diejenigen, die mit dem in Bezug genommenen Rechtsgebiet vertraut sind, in der Lage sind, sich über die blankettausfüllenden Vorschriften zu informieren23. Allerdings richten sich die länderunabhängigen Embargovorschriften nicht mehr hauptsächlich an im Außenwirtschaftsverkehr mit sensiblen Gütern vertraute Adressaten, sondern auch oder gar in erster Linie an mit dem Außenwirtschaftsverkehr selten oder nie befasste Vereinigungen, Gruppen, Unternehmen oder gar Privatpersonen, bei denen diese Kenntnis nicht vorausgesetzt werden kann24. Insbesondere bei den in hier in Rede stehenden Sanktionsverordnungen, die im Lauf der Zeit außerordentlich zahlreiche Änderungen erfahren haben, bestehen daher durchgreifende Zweifel an der Bestimmtheit der Sanktionsnormen im Sinne von Art. 103 Abs. 2 GG, und zwar in besonderem Maße, wenn es sich um „dynamische“ Verweisungen handelt, bei denen der Gesetzgeber auf den europäischen Rechtsakt in der jeweils gültigen Fassung verweist. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem solchen Fall das Bestimmtheitsgebot bei mit der Materie vertrauten Beteiligten als nicht verletzt angesehen25. Insbesondere angesichts der Tatsache, dass der Gesetzgeber seit 2013 die Strafbewehrung von wesentlichen Vorschriften der EU-Embargoverordnungen nicht mehr wie noch in § 34 Abs. 4 Nr. 2 oder 3 aF an deren Bekanntmachung im Bundesanzeiger geknüpft hat, sondern nach § 18 Abs. 1 AWG stattdessen auf die Veröffentlichung der Embargoverordnung im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften oder der Europäischen Union verweist, bestehen erhebliche Zweifel, ob das Bundesverfassungsgericht dies im Falle einer fachunkundigen Privatpersonen noch genauso sähe. Bei den Strafvorschriften des AWG in Verbindung mit den blankettausfüllenden Embargo-Regelungen handelte es sich um Zeitgesetze im Sinne von § 2 Abs. 4 S. 1 StGB 26, so dass die Aufhebung des Embargos keinen Einfluss auf die Strafbarkeit während seiner Geltung begangener Handlungen hat. Für Handlungen, welche vor Inkrafttreten des AWG neuer Fassung begangen wurden, aber nachträglich zu beurteilen sind, haben die Staatsanwaltschaft und das Gericht gemäß § 2 Abs. 3 StGB das zum Zeitpunkt der Beendigung der Tat mildere Gesetz anzuwenden. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist als das mildeste Gesetz dasjenige anzusehen, das bei einem Gesamtvergleich des konkreten Einzelfalles die dem Täter günstig23   Zur Problematik der Bestimmtheit von Blankettnormen z.B. BVerfG v. 25.07.1962 – 2 BvL 355 u. 174/62; BVerfGE 14, 245 (252); BVerfGE 75, 329 (342 f.); 78, 374 (382 f.), s. auch BGH, B. v. 19.12.1990 – 3 StR 90/90=BGHSt 37, 266 (272), Rn 38–41. 24  Vgl. dazu, allerdings ohne Konsequenz aus dieser Auffassung MüKo-Wagner aaO Rn 29 vor §§ 17, 18 AWG. 25   BVerfG, B. v. 29.04.2010, 2 BvR 871/04, NVwZ-RR 2010, 585. 26   Vgl. BGHSt 40, 381 ff; BGH, B. v. 14.07.1998 – 1 StR 110/98, wistra 1998, 306; MüKoWagner aaO Rn 80 vor §§ 17, 18 AWG; Morweiser aaO vor §§ 17, 18 AWDG Rn 14, 164.

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ste Beurteilung zulässt27. Er hat dabei bereits ausgesprochen, dass § 18 Abs. 7 AWG nF gegenüber § 34 Abs. 6 AWG aF das mildere Gesetz ist, weil erstere Vorschrift bei gleicher Strafobergrenze eine Mindeststrafe von (nur) einem Jahr Freiheitsstrafe vorsieht28. Da § 34 Abs. 4 Nrn. 2 und 3 AWG für die Strafbarkeit an die Veröffentlichung im Bundesanzeiger anknüpften, waren Handlungen, die zwischen der Veröffentlichung einer Embargovorschrift im Amtsblatt der europäischen Gemeinschaft oder Union und der Veröffentlichung im Bundesanzeiger begangen wurden, straflos. Dies galt auch für die zahlreichen folgenden Änderungsverordnungen, weil der Gemeinschaftsgesetzgeber bei Erlass einer Änderungsverordnung in der Regel die vorher geltende Fassung aufhob. Damit entfiel die das Blankett ausfüllende Verbotsnorm, und die neue Norm konnte die Strafbarkeit erst begründen, nachdem sie im Bundesanzeiger veröffentlicht worden war.29 Diese aus der „lex-mitior-Regelung“ des § 2 Abs. 3 StGB folgende Konsequenz gilt für bis zum 31.8.2013 begangene Handlungen auch unter Geltung der Neufassung des AWG. Auch im Übrigen wird für vor dem 01.09.2013 begangene Handlungen im Einzelfall zu prüfen sein, ob die alten Vorschriften das mildere Gesetz darstellen, wegen § 78 Abs. III Nr. 2 StGB bis zu 20 Jahre lang. Mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am 1.12.2009 hat die EU die Europäische Gemeinschaft ersetzt und Rechtspersönlichkeit erhalten30. Erst mit Wirkung zum 12.11.2010 hat der Gesetzgeber im Bereich des Außenwirtschaftsrechts die §§ 33 Abs. 4 und 34 Abs. 4 Nr. 2 und 3 a.F. dahingehend geändert, dass die darin genannten Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft um die Worte „oder der Europäischen Union“ ergänzt wurden. Unmittelbar wirkende Rechtsakte der EG konnten unproblematisch so lange weiter vom Strafgesetz in Bezug genommen werden, als sie unverändert weiter galten. Mit jeder Änderung nach dem 1.12.2009 wurden sie allerdings zu Rechtsakten der EU, auf die die Strafvorschriften bis zum 12.11.2010 gerade nicht verwiesen haben, so dass mit Rücksicht auf Art. 103 Abs. 2 GG eine Strafbarkeit wegen Verstößen hiergegen in der Karenzzeit nicht in Betracht kommt.31 Die vielfältigen Verweisungen des Außenwirtschaftsstrafrechts auf Rechtsakte der EG bzw. der EU ziehen eine Pflicht zur Auslegung dieser Vorschriften nach sich, die mit dem Gemeinschaftsrecht konform ist und mit der dar27   St. Rspr: vgl. zuletzt BGH, B. v. 07.03.2012 – 1 StR 662/11, NStZ 2012, 510, 511; B. v. 15.10.2013 – StB 16/13. 28   BGH, B. v. 15.10.2013 – StB 16/13. 29   Harms/Heine, FS f. Amelung, S. 397 mwN; KG, Eröffnungsbeschl. v. 04.07.2014 – (1) 152 OJs 2/11 (1/14) (unveröff.). 30  Vgl. Fischer, EUV/AEUV (Textausgabe), Luchterhand 2010, Einführung. 31  Zutr. Cornelius in Graf/Jäger/Wittig, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2011, vor §§ 33–36, Rn 69f.; aA Müko-Wagner aaO Rn 31 vor §§ 17, 18 AWG.

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über hinaus unter Berücksichtigung des gesamten Gemeinschaftsrechts und der verschiedenen Sprachfassungen dem effet utile, der bestmöglichen Förderung der Gemeinschaftsziele, so weit wie möglich Rechnung getragen wird32. Da zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts allein der Europäische Gerichtshof zuständig ist, ist im Zweifel ein Vorabentscheidungsverfahren nach § 267 AEUV durchzuführen. 3.2  §§ 17, 18 AWG Die bis zur Neuregelung des Gesetzes33 einzige Strafnorm war die ziemlich unübersichtliche Vorschrift des § 34 AWG. In der nun geltenden Neufassung wurden die Straf- und Bußgeldvorschriften grundlegend neu geordnet. Die §§ 17 und 18 sanktionieren Verstöße gegen dort ausdrücklich genannte Verbote und Genehmigungserfordernisse. Fahrlässige Verstöße gegen das Außenwirtschaftsrecht sind grundsätzlich nur noch als Ordnungswidrigkeiten nach § 19 bußgeldbewehrt; nur der leichtfertige Verstoß gegen ein Waffenembargo ist gemäß § 17 Abs. 5 mit Strafe bedroht. § 17 AWG sanktioniert Verstöße gegen ein Waffenembargo und ist ein Verbrechenstatbestand, wohingegen die Taten nach § 18 in den Grundtatbeständen als Vergehen ausgestaltet sind. § 18 AWG erfasst alle Verstöße gegen europäisches oder nationales Außenwirtschaftsrecht, die nicht bereits von § 17 erfasst werden.34 Es handelt sich um einen mehrstufigen Blanketttatbestand35. Nach Abs. 1 dieser Vorschrift wird ein Verstoß gegen unmittelbar geltende Rechtsakte der europäischen Gemeinschaften oder der Europäischen Union unter Strafe gestellt, die der Durchsetzung einer vom Rat der europäischen Union im Bereich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beschlossenen wirtschaftlichen Sanktionsmaßnahme (Embargo) dienen. Nach diesem sog. GASP-Vorbehalt liegt eine wirksame Strafbewehrung nur vor, wenn der Rechtsakt der EU zur Durchführung eines GASP-Beschlusses dient und sich innerhalb des von diesem Beschluss gezogenen Rahmens hält36.

32  Vgl. Morweiser, § 18 AWG Rn 16, im Übrigen ständige Rechtsprechung des EuGH, vgl. zuletzt EuGH, Urt. V. 21.10.2015 – C-215/15, Gogova; Schlußanträge des Generalanwalts v. 30.06.2016 – C-51/15 Remondis. 33   durch das am 01.09.2013 in Kraft getretene Gesetz zur Modernisierung des Außenwirtschaftsrechts vom 06.06.2013, BGBl. I S. 1482. 34  Vgl. Kollmann, AW-Prax 2013, 267 (279). 35   S.o. Fn. 22. 36   Vgl. MüKo-Wagner § 18 AWG Rn 11; Morweiser aaO Rn 15 zu § 18 AWG; im Einzelnen Bieneck NStZ 2006, 608 ff, 612,613; zum früher diskutierten „Resolutionsvorbehalt“ vgl. BGH, B. v. 21.04.1995 – 1 StR 700/94, BGHSt 41, 127; das festzustellen, dürfte im Rahmen der EU nicht in die Kompetenz des Strafrichters fallen, sondern vom EuGH zu entscheiden sein (Vorlageverfahren).

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Abs. 2 dient der Strafbewehrung von vorsätzlichen Verstößen gegen nationale Genehmigungserfordernisse. Die Absätze 3 und 4 stellen Verstöße gegen die Ein-und Ausfuhrverbote der EU-Kimberley-Verordnung und gegen die EU-Anti-Folter-Verordnung im Zusammenhang mit der Ein- oder Ausfuhr von dort gelisteten Gütern unter Strafe, Abs. 5 solche gegen die EU-DualUse-Verordnung. Abs. 6 regelt die Versuchsstrafbarkeit. Abs. 7 enthält Qualifikationstatbestände mit einer Strafdrohung von mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe, unter anderem für Personen, die in den Fällen des Abs. 1 für den Geheimdienst einer fremden Macht (Nr. 1) oder die gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande handeln (Nr. 2). Nach Abs. 8 gilt eine Mindeststrafe von zwei Jahren für Verstöße gegen die Abs. 1–4 oder 5 für Mitglieder einer Bande, die gewerbsmäßig handeln. Nach Abs. 10 gilt die Strafnorm unabhängig vom Recht des Tatorts auch für Auslandstaten Deutscher. Abs. 11 enthält eine Konzession an die möglichen Schwierigkeiten, die mit der Kenntniserlangung von Veröffentlichungen der Rechtsakte der Europäischen Union in deren Amtsblatt verbunden sind: wer keine Kenntnis von einem Verbot oder einem Genehmigungserfordernis hat, das in einem Rechtsakt normiert ist, ist straflos, wenn er bis zum Ablauf des zweiten Werktages handelt, der auf dessen Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union folgt. Zu den Einzelheiten der gesetzlichen Tatbestände muss an dieser Stelle auf die einschlägige Kommentierung verwiesen werden.37

4.  Praktische Auswirkungen Zu den praktischen Auswirkungen derartiger Embargovorschriften und der einschlägigen Strafnormen gibt es keine dem Autor bekannten Untersuchungen, sondern nur den Erfahrungshorizont aus eigenen Mandaten und denen befreundeter Kolleginnen und Kollegen. Für den von Embargomaßnahmen zur Terrorismusbekämpfung Betroffenen führen die Sanktion danach zu einschneidenden Konsequenzen. Handelt es sich um eine Organisation, einen Verein, ein Unternehmen oder eine sonstige Vereinigung, bedeuten das Einfrieren ihrer Vermögenswerte und das Verbot, ihnen Gelder und sonstige wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen, per se das Ende. Kein Verein, kein Unternehmen, keine Organisation oder sonstige Vereinigung kann ihre Tätigkeit ohne wirtschaftliche Ressourcen, mit denen

37   Z.B. MüKo-Wagner, Bd. Nebenstrafrecht II, 2. Aufl. 2015, 4. Kap. II. Außenwirtschaftsgesetz; Erbs-Kohlhaas-Diemer, Kap. 217, 217a (Stand 01.07.2011 zu § 34 AWG aF); Morweiser in: AWR-Kommentar Online, Bundesanzeiger-Verlag, §§ 17 und 18 AWG, https://www.bundesanzeiger-verlag.de/aw-portal/aussenwirtschaft/produkte/awr-kommentar/online-anwendung.html, Stand Juli 2014 (§§ 17 u. 18), März 2015 (Vorbemerkungen zu §§ 17, 18).

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beispielsweise die Miete für Räumlichkeiten, die Anschaffung von Betriebsmitteln oder auch nur Schreibpapier oder die Bezahlung von Dienstleistungen, die zur Aufrechterhaltung des Betriebes erforderlich sind, existieren. Nach der Legaldefinition beispielsweise von Art. 1 Ziff. 1 der Verordnung (EG) Nr. 881/2002 des Rates vom 27. Mai 2002 sind „Gelder“ „finanzielle Vermögenswerte oder wirtschaftliche Vorteile jeder Art einschließlich von – aber nicht beschränkt auf – Bargeld, Schecks, Geldforderungen, Wechsel, Geldanweisungen oder andere Zahlungsmittel, Guthaben bei Finanzinstituten oder anderen Einrichtungen, Schulden und Schuldverschreibungen, öffentlich und privat gehandelte Wertpapiere und Schuldtitel einschließlich Aktien und Anteilen, Wertpapierzertifikate, Publikationen, Schuldscheine, Optionsscheine, Pfandbriefe, Derivate; Zinserträge, Dividenden oder andere Einkünfte oder Wertzuwächse aus Vermögenswerten; Kredite, Rechte auf Verrechnung, Wirtschaften, Vertragserfüllungsgarantien oder andere finanzielle Zusagen; Akkreditive, Konnossemente, Sicherungsübereignungen, Dokumente zur Verbriefung von Anteilen an Fondsvermögen oder anderen Finanzressourcen und jedes andere Finanzierungsinstrument für Ausfuhren“.

Nach Ziffer 2 dieser Vorschrift sind „wirtschaftliche Ressourcen“ „Vermögenswerte jeder Art, unabhängig davon, ob sie materiell oder immateriell, beweglich oder unbeweglich sind, die keine Gelder sind, aber für den Erwerb von Geldern, Waren oder Dienstleistungen verwendet werden können;“.

Ähnlich oder gleich lautende Definitionen finden sich in den übrigen hier behandelten Embargoverordnungen. Entgegen der Auffassung von Wagner38 handelt es sich hierbei um persönliche Totalembargos, weil damit erreicht werden soll, dass die gelisteten Personen oder Personenvereinigungen keinerlei Waren, Dienste oder Gelder für ihre Zwecke erlangen können39. Nach der Praxis der Deutschen Bundesbank – Servicezentrum Finanzsanktionen – sind nicht genehmigungsbedürftig lediglich Alltagsgeschäfte zur Deckung des unmittelbaren Lebensbedarfs. Schon die Bewilligung und Auszahlung von Sozialleistungen – Grundsicherung, Arbeitslosengeld II, erst recht Arbeitslosengeld I – bedürfen der Genehmigung durch die Deutsche Bundesbank, welche nur erteilt wird für Auszahlungen, deren Höhe den Regelbedarf eines Hilfebedürftigen nicht überschreiten. Die Auszahlung von Arbeitslohn, falls jemand unter diesen Umständen überhaupt eine Beschäftigung findet, ist ebenfalls genehmigungsbedürftig und der Höhe nach auf die Regelsätze der Sozialhilfe begrenzt. Bei Personen, die auf der Sanktionsliste der UN stehen, wird vor der Genehmigung die Zustimmung des Sanktionsausschusses der VN eingeholt. Das Oberlandesgericht Düsseldorf hatte in mehreren Fällen Zweifel, ob es einem mittellosen Angeklagten eine Fahrkarte für die Anreise zu Terminen zur Verfügung stellen dürfe und hat daher jeweils den Verteidiger gebeten, diese Auslagen zu übernehmen und sich –   MüKo-Wagner aaO § 18 Rn 24.   So auch Weith/Wagner/Ehrlich, Grundzüge der Exportkontrolle, S. 95, Rn 53; Morweiser aaO § 18 Rn 31. 38 39

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nach Genehmigung durch die Deutsche Bundesbank – von der Gerichtskasse erstatten zu lassen. So gerechtfertigt diese Einschnürung der wirtschaftlichen Verhältnisse erscheinen mag, so einschneidend sind die Konsequenzen für den Betroffenen für die möglicherweise lange Zeit, in der die Embargoverordnungen gelten und er auf einer dieser Listen steht. Es ist daher wenig verwunderlich, dass nicht nur aus strafrechtlichen Gründen die Frage nach Rechtsmitteln aufgeworfen wird.

5. Rechtsmittel 5.1  Gegen Maßnahmen des Sanktionsausschusses der Vereinten Nationen, durch die eine Person in dessen konsolidierte Sanktionsliste aufgenommen wird, gibt es keine Jurisdiktion40 und keinen effektiven Rechtsschutz. Nach Art. 24 Abs. 1 der Charta der Vereinten Nationen trägt der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit. Er handelt hierbei gemäß Art. 24 Abs. 2 der Charta im Einklang mit den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen. Nach Art. 25, 39, 41 und 42 sowie 48 fasst der Sicherheitsrat nach der Feststellung, dass der Frieden und/oder die internationale Sicherheit bedroht, gebrochen oder beeinträchtigt sind, Beschlüsse zur Wahrung oder Wiederherstellung des Friedens und der Sicherheit. Um seinen Beschlüssen Wirksamkeit zu verleihen, kann er die Mitglieder der Vereinten Nationen auffordern, diese Maßnahmen durchzuführen. Nach Art. 48 Abs. 2 der Charta der Vereinten Nationen werden die Beschlüsse des Sicherheitsrats zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit von den Mitgliedern der Vereinten Nationen unmittelbar durchgeführt. Seit Ende der Neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts hat der Sicherheitsrat eine Reihe von Resolutionen verabschiedet, die auf Kapitel VII der Charta der Vereinten Nationen gestützt sind und der Bekämpfung des Terrorismus und der von ihm ausgehenden Bedrohung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit gelten. Diese richteten sich ursprünglich allein gegen die Taliban in Afghanistan und wurden später auf Osama bin Laden, Al Qaida und Personen, die mit ihnen in Verbindung stehen, sowie weitere Personen ausgeweitet. Sie sehen unter anderem vor, dass Vermögenswerte der Organisationen, Einrichtungen und Personen eingefroren werden, die der vom Sicherheitsrat gemäß seiner Resolution 1267 (1999) vom 15. Oktober 1999 eingesetzte Ausschuss, der Sanktionsausschuss, in seine konsolidierte Liste aufgenommen hat.

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  Morweiser aaO § 17 Rn 18; Frowein aaO Artikel 41 Rn 14.

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Erst mit der Resolution 1730 (2006) wurde beim Sicherheitsrat eine „Koordinierungsstelle“ geschaffen, die Anträge von Organisationen, Einrichtungen oder Personen, deren Namen in die Liste aufgenommen worden waren, auf Streichung von der Liste bearbeiten sollte. Diese wurde im März 2007 eingerichtet. Nach Ziff. 5 der Resolution 1735 (2006) des Sicherheitsrats vom 22. Dezember 2006 müssen die Staaten, wenn sie beim Sanktionsausschuss die Aufnahme des Namens einer Organisation, Einrichtung oder Person in seine konsolidierte Liste beantragen, eine Darstellung des Falles mit möglichst vielen Einzelheiten über die Grundlagen für die Aufnahme in die Liste vorlegen, darunter spezifische Informationen zur Stützung der Feststellungen, dass die Person oder Einrichtung den genannten Kriterien entspricht, und Angaben über die Art der Informationen und Nachweise oder Dokumente machen, die beigebracht werden können. Sie sollen bei der Vorlage Ihres Antrages auch angeben, welche Teile der Falldarstellung für die Zwecke der Benachrichtigung der zu listenden Personen oder Einrichtungen veröffentlicht werden können und welche Teile interessierten Staaten auf Antrag bekannt gegeben werden können (Ziff. 6 der Resolution). Zur Frage der Veröffentlichung der Falldarstellung enthält Ziff. 12 der Resolution 1822 (2008) des Sicherheitsrats vom 30. Juni 2008 weitergehende Regeln. Ziff. 13 dieser Resolution sieht vor, dass der Sanktionsausschuss nach der Aufnahme eines Namens in die konsolidierte Liste auf seiner Website eine „Zusammenfassung der Gründe für die Aufnahme des jeweiligen Eintrags“ veröffentlicht. Durch die Resolution 1904 (2009) des Sicherheitsrates vom 17. September 2009 wurde ein „Büro der Ombudsperson“ geschaffen, die dem Sanktionsausschuss bei der Prüfung dieser Anträge zur Seite stehen soll. Nach Ziff. 20 der Resolution muss diese Person sich durch hohes sittliches Ansehen, Unparteilichkeit und Integrität auszeichnen und über hohe Qualifikationen und Erfahrung auf einschlägigen Gebieten, wie dem Recht, den Menschenrechten, der Terrorismusbekämpfung und der Sanktionen verfügen. Nach Anlage II dieser Resolution sammelt die Ombudsperson zunächst Informationen bei den betreffenden Staaten und führt gegebenenfalls ein Gespräch mit der Organisation, Einrichtung oder Person, die die Streichung ihres Namens aus der Liste beantragt hat. Danach muss die Ombudsperson einen „umfassenden Bericht“ erstellen und dem Sanktionsausschuss übermitteln, der den Streichungsantrag unter Mitwirkung der Ombudsperson prüft und nach Abschluss dieser Prüfung entscheidet, ob er ihm stattgibt. Dieses Verfahren auf Streichung von der Liste – und auch die Überprüfung von Amts wegen – bietet, abgesehen davon, dass es kein formelles Rechtsmittel darstellt, nicht die Gewähr eines effektiven gerichtlichen Rechtsschut-

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zes41. Das Wesen effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes besteht nämlich gerade darin, dass es der betroffenen Person ermöglicht wird, gerichtlich feststellen zu lassen, dass die angefochtene Handlung nichtig ist und aus der Rechtsordnung entfernt und so behandelt wird, als ob sie niemals bestanden hätte, dass die Aufnahme ihres Namens in die fragliche Liste oder dessen Verbleib auf dieser Liste mit einem Rechtsverstoß behaftet ist, dessen Anerkennung geeignet ist, sie zu rehabilitieren oder für sie eine Form der Wiedergutmachung des erlittenen immateriellen Schadens darzustellen42. Gleichwohl ist es nicht aussichtslos, die Streichung einer Person, Einrichtung oder Organisation von der konsolidierten Liste des Sanktionsausschusses der Vereinten Nationen zu erreichen, wenn mit dem dort eingereichten Antrag dargelegt werden kann, dass die Gefahr, die mit der Listung bekämpft werden sollte, in der Person des Betroffenen nicht oder nicht mehr besteht. Es dürfte allerdings nicht leicht sein, den Sanktionsausschuss davon zu überzeugen, dass er sich bei der Aufnahme in die Liste geirrt hat. In einem solchen Fall werden eher effektive Rechtsmittel wie nachfolgend geschildert am Platze sein. Viel eher ist es aber möglich – und dem Autor auch schon einmal gelungen – die Streichung eine Person von der Liste des Sanktionsauschusses zu erreichen, wenn eine gewisse Zeit vergangen und an der Entwicklung der Persönlichkeit des Betroffenen ablesbar ist, dass er sich tatsächlich gewandelt hat. 5.2  Klage beim Europäischen Gericht und Vorabentscheidungsverfahren Gegen die Umsetzungsmaßnahmen der Europäischen Union in der Form der Aufnahme von Personen, Einrichtungen oder Organisationen auf die Listen zu den einschlägigen Verordnungen und Beschlüssen der Europäischen Union und deren autonome Entscheidungen dazu gibt es Rechtsmittel, die sich bereits oft als wirkungsvoll erwiesen haben: nach Art. 263 Abs. 4 AEUV kann jede natürliche oder juristische Person gegen die an sie gerichteten oder sie unmittelbar und individuell betreffenden Handlungen sowie gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, vor dem Gerichtshof der Europäischen Union Klage erheben mit dem Ziel, deren Nichtigkeit feststellen zu lassen. Die Klagen sind binnen zwei Monaten von der Bekanntgabe der betreffenden Handlung, ihrer Mitteilung an den Kläger oder in 41   Vgl. EGMR, Urt. v. 12.09.2012, Nada vs. CH, case nr. 10593/08, NJOZ 2013, 1183; so auch EuGH, Urt. v. 03.09.2008 – C-402/05 und C-415/05 P (Kadi u. El Barakaat Foundation/Rat und Kommission), – nachfolgend Urteil Kadi I – Rn 321, 322; EuG, Urt. v. 30.09.2010, T-85/09 (Kadi), – nachfolgend Urteil Kadi 2 –, Rn 127–129. 42   Vgl. EuGH, Urt. v. 28.05.2013 – C-239/12 P – Abdulrahim/Rat, Rn 71–76; EuGH, Urt. v. 18.07.2013 – C-584/10. C-593-10 u. C-595/10 (Kadi) – nachfolgend Urteil Kadi II –, Rn 134.

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Ermangelung dessen von dem Zeitpunkt an zu erheben, zu dem der Kläger von dieser Handlung Kenntnis erlangt hat (Art. 263 Abs. 6 AEUV). Ungeachtet des Ablaufs dieser Frist kann jede Partei in einem Rechtsstreit, bei dem die Rechtmäßigkeit eines von einem Organ, einer Einrichtung oder einer sonstigen Stelle der Union erlassenen Rechtsakts mit allgemeiner Geltung angefochten wird, vor dem Gerichtshof der Europäischen Union die Unanwendbarkeit dieses Rechtsakts aus den in Art. 263 Abs. 2 genannten Gründen geltend machen (Art. 277 AEUV). Zwar ist der Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 275 Absatz 1 AEUV nicht zuständig für die Bestimmungen hinsichtlich der gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und für die auf der Grundlage dieser Bestimmungen erlassenen Rechtsakte; dies gilt nach Art. 275 Absatz 2 AEUV aber nicht für die unter den Voraussetzungen des Art. 263 Abs. 4 AEUV erhobenen Klagen im Zusammenhang mit der Überwachung der Rechtmäßigkeit von Beschlüssen über restriktive Maßnahmen gegenüber natürlichen oder juristischen Personen, die der Rat auf der Grundlage von Titel V Kapitel 2 des Vertrages über die Europäische Union erlassen hat. Um solche Maßnahmen handelt es sich aber bei den Sanktionslisten. Nach Art. 267 Abs. 1 b) AEUV entscheidet der Gerichtshof der Europäischen Union im Wege der Vorabentscheidung über die Gültigkeit und Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union, wenn eine derartige Frage einem Gericht eines Mitgliedstaats gestellt wird und dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält und daher die Sache dem Gerichtshof der Europäischen Union vorlegt. Wenn eine solche Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt wird, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht zur Anrufung des europäischen Gerichtshofes verpflichtet. Dieser entscheidet innerhalb kürzester Zeit, wenn eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren gestellt wird, das eine inhaftierte Person betrifft. 5.3  Die Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH Zunächst hielt das Europäische Gericht die Aufnahme bestimmter Personen, die zuvor von der UN gelistet worden waren, in die Sanktionslisten der Europäischen Union für nicht justiziabel. Die Klage eines Betroffenen, dessen Name zunächst in zwei Vorläuferverordnungen und sodann in die Liste in Anhang I der Verordnung (EG) Nr. 881/2002 aufgenommen worden war, wies das Gericht mit Urteil vom 21. September 200543 ab mit der Begründung, dass die Verordnung (EG) Nr. 881/2002 nicht Gegenstand einer   Kadi/Rat und Kommission, T-315/01, Slg. 2005, 11-3694.

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gerichtlichen Kontrolle ihrer materiellen Rechtmäßigkeit sein könne, weil sie der Umsetzung einer Resolution des Sicherheitsrats diene, die insoweit keinen Ermessensspielraum lasse. Es sah sich weder für befugt an, mittelbar zu prüfen, ob die Resolutionen des Sicherheitsrats mit den durch die Rechtsordnung der Union geschützten Grundrechten vereinbar sei, noch zu überprüfen, ob die Tatsachen und Beweise, die der Sicherheitsrat zur Begründung der getroffenen Maßnahme herangezogen habe, etwa fehlerhaft gewürdigt worden oder ob diese Maßnahmen zweckmäßig und verhältnismäßig seien. Die Versagung des gerichtlichen Rechtsschutzes verstoße für sich genommen nicht gegen das jus cogens. In den Jahren 2006 und 2008 erging eine Reihe von Entscheidungen, in denen das Europäische Gericht auch autonome Listungsentscheidungen der EG wegen Verstoßes gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör, das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz und fehlender oder mangelhafter Begründung für nichtig erklärte, soweit sie die jeweils klagende Partei betrafen44. Das gegen das Urteil vom 21.09.2005 eingelegte Rechtsmittel hatte Erfolg: mit Urteil vom 3. September 200845 hob der europäische Gerichtshof das Urteil auf und erklärte die Verordnung (EG) Nr. 881/2002 für nichtig, soweit sie den Kläger betraf. Die Verpflichtungen aus einer internationalen Übereinkunft dürften nicht die Verfassungsgrundsätze des EG-Vertrages beeinträchtigen, insbesondere nicht den Grundsatz, dass alle Handlungen der Union die Grundrechte achten müssen. Die Grundsätze, die für die durch die Vereinten Nationen entstandene Völkerrechtsordnung gelten, bedeuteten nicht, dass ein Unionsrechtsakt wie die VO Nr. 881/2002 nicht justiziabel sei. Derartiges finde im EG-Vertrag keine Stütze. Vielmehr müssen danach die Unionsgerichte eine grundsätzlich umfassende Kontrolle der Rechtmäßigkeit sämtlicher Handlungen der Union im Hinblick auf die Grundrechte gewährleisten, und zwar auch dann, wenn solche Handlungen der Umsetzung von Resolutionen des Sicherheitsrats dienen sollen. Die Effektivität der gerichtlichen Kontrolle setze zunächst voraus, dass die zuständige Unionsbehörde der betroffenen Person die Begründung der fraglichen Entscheidung über die Aufnahme in die Liste mitteilt und ihr Gelegenheit einräumt, hierzu gehört zu werden. Da dem Kläger weder die ihm zur Last gelegten Umstände, mit denen die gegen ihn verhängten Restriktionen begründet wurden, mitgeteilt noch das Recht gewährt worden war, innerhalb einer angemessenen Frist nach Anordnung der betreffenden Maßnahme Auskunft über diese Umstände zu erhalten, 44  Urt. v. 12.12.2006, T-28/02, Organisation des Mojahedines du Peuple d’Iran, Slg. 2006 II-4665; Urt. v. 11.07.2007, T-327/03. Stichting Al-Aqsa/Rat, Slg. 2007 II-79; Urt. v. 11.07.2007, T-47/03, Sison/Rat, Slg. 2007 II-73; Urt. v. 03.04.2007, T-229/02, PKK/Rat, Slg 2008 II-45; Urt. v. 04.04.2008, T 253/04, Kongra-Gel/Rat, Slg 2008 II-6. 45  Kadi und Al-Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, C-402/05 P und C-415/05-P, Slg 2008, I-6351 – Urteil Kadi I –.

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konnte der Betroffene seinen Standpunkt hierzu nicht sachdienlich vortragen, sodass seine Verteidigungsrechte und der Anspruch auf eine effektive gerichtliche Kontrolle verletzt worden waren. Dieser Verstoß war auch vor dem Unionsrichter nicht geheilt worden, da der Rat hierzu nichts vorgetragen hatte. Die Wirkungen der für nichtig erklärten Verordnung wurden für einen Zeitraum von höchstens drei Monaten aufrechterhalten, um dem Rat Gelegenheit zu geben, die festgestellten Verstöße gegen das Recht auf effektive Verteidigung und ebensolche gerichtliche Kontrolle und das Grundrecht auf Achtung des Eigentums zu heilen. Diese Rechtsprechung, nach der die verfassungsrechtliche Garantie der Rechtsunion es gebiete, dass alle Handlungen der Union, und zwar auch diejenigen, durch die ein Völkerrechtsakt umgesetzt wird, einer gerichtlichen Kontrolle ihrer Rechtmäßigkeit am Maßstab der durch die Union gewährleisteten Grundrechte unterliegen, hat der EuGH bis in die jüngste Zeit aufrechterhalten und fortentwickelt46. Das Unionsgericht hat bei der Prüfung der Sanktionsmaßnahmen gem. Art. 275 Abs. 2 AEUV danach eine grundsätzlich umfassende Kontrolle der Rechtmäßigkeit der streitigen Rechtsakte der Union zu gewährleisten, welche durch die von der Union garantierten Grundrechte gefordert sind.47 Im Hinblick darauf, dass die vom Sanktionsausschuss der Vereinten Nationen geschaffenen Überprüfungsverfahren offenkundig nicht die Garantien eines wirksamen Rechtsschutzes bieten, hat der Unionsrichter seine Kontrolle der Maßnahmen der Union zum Einfrieren von Geldern auch indirekt auf die materiellen Feststellungen des Sanktionsausschusses selbst und die ihnen zugrunde liegenden Gesichtspunkte zu erstrecken.48 Hierbei prüft der Unionsrichter zunächst, ob das Recht des Betroffenen auf Achtung seiner Verteidigungsrechte aus Art. 41 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Union gewahrt worden ist; dieses Recht umfasst den Anspruch auf Akteneinsicht unter Beachtung der berechtigten Interessen an Vertraulichkeit49. Das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz aus Art. 47 der Charta der Grundrechte der Union erfordert, dass der Betroffene genaue Kenntnis von den Gründen erlangen kann, auf denen die ihm gegenüber ergangene Entscheidung beruht. Diese können entweder in der Entscheidung selbst enthalten sein oder müssen ihm auf seinen Antrag hin mitgeteilt werden, damit der Betroffene seine Rechte unter bestmöglichen Bedingungen wahren und in Kenntnis aller Umstände entscheiden kann, ob es angebracht ist, das 46   Urt. v. 3.12.2009, Hassan u. Ayadi/Rat u. Kommission, C-399/06 P und C 403/06 P, Slg. 2009, I-11393, Rn 69–75; Urt. v. 16.11.2011, Bank Melli Iran/Rat, C-548/09 P, Rn 105; Urteil Kadi II, Rn 66, 67. 47  EuG, Urteil Kadi 2, Rn 126; Urteil Kadi II, Rn 97. 48  EuG, Urteil Kadi 2, Rn 127–129; EuGH, Urteil Kadi II, Rn 133, 134. 49  EuGH, Urt. v. 21.11.2011, Frankreich/People’s Mojahedin Organisation of Iran, C-27/09, Rn 66; EuGH, Urteil Kadi II, Rn 99.

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Gericht anzurufen und damit dieses umfassend in die Lage versetzt wird, die Rechtmäßigkeit der fraglichen Entscheidung zu überprüfen.50 Allerdings lässt Art. 52 Abs. 1 der Grundrechtecharta der Union Einschränkungen der Grundrechte zu, sofern diese den Wesensgehalt des fraglichen Grundrechts achten sowie unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erforderlich sind und tatsächlich den von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen entsprechen51. Ob unter Berücksichtigung dieses Aspekts eine Verletzung der Verteidigungsrechte des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz vorliegt, ist anhand der besonderen Umstände jedes Einzelfalls zu prüfen.52 Soweit der Betroffene und der Unionsrichter keinen Zugang zu den belastenden Informationen und Beweisen hatte, hat der Richter gegebenenfalls von der darlegungs- und beweispflichtigen zuständigen Unionsbehörde vertrauliche oder auch nicht vertrauliche Informationen oder Beweise anzufordern, die für seine Prüfung relevant sind. Es ist nicht Sache der betroffenen Person, den negativen Nachweis zu erbringen, dass die gegen ihn vorgebrachten Gründe nicht stichhaltig sind. Dabei muss die Behörde dem Richter nicht sämtliche Informationen und Beweise vorlegen; diese müssen aber die Gründe stützen, die gegen betroffene Person vorliegen. Kann die Unionsbehörde der Forderung des Richters nicht nachkommen, und zwar auch dann, wenn beispielsweise der Sanktionsausschuss der Vereinten Nationen der Unionsbehörde diese Informationen nicht übermittelt53, muss dieser sich allein auf die übermittelten Angaben stützen, auf die Stellungnahme des Klägers und die von ihm gegebenenfalls vorgelegten Entlastungsbeweise sowie auf die Antwort der Unionsbehörde. Wenn sich die Stichhaltigkeit eines Grundes anhand dieser Angaben nicht feststellen lässt, schließt der Unionsrichter ihn als Grundlage der fraglichen Entscheidung über die Aufnahme in die Liste oder die Belassung auf ihr aus54. Wird von der Behörde geltend gemacht, dass zwingende Erwägungen der Sicherheit oder der Gestaltung der internationalen Beziehungen der Union oder ihrer Mitglieder der Bekanntgabe bestimmter Informationen oder Beweise an den Kläger entgegenstehen, muss der Richter, dem die Geheimhaltungsbedürftigkeit oder Vertraulichkeit dieser Informationen oder Beweise nicht entgegengehalten werden kann, die legitimen Sicherheitsinteressen hinsichtlich Art und Quelle der Informationen einerseits und die Wahrung der Verfahrensrechte des Betroffenen wie seinen Anspruch auf 50   EuGH, Urt. v. 04.06.2013, ZZ, C-300/11, Rn 53 mwN aus der Rechtsprechung; Urteil Kadi II Fn 100. 51   Urt. ZZ, s. Fn 50, Rn 51. 52   EuGH, Urt. v. 25.10.2011, Solvay/Kommission, C-110/10 P, Rn 63; Urteil Kadi II Rn 102 mwN. 53   Urteil Kadi II, Rn 137. 54   Urteil Kadi II, Rn 123.

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rechtliches Gehör und den Grundsatz des kontradiktatorischen Verfahrens andererseits zum Ausgleich bringen. Dabei muss er insbesondere die Stichhaltigkeit der Gründe prüfen, die die Behörde angeführt hat, um eine Mitteilung abzulehnen55. Kommt der Unionsrichter zu der Auffassung, dass die Gründe einer zumindest teilweisen Mitteilung der betreffenden Informationen und Beweise nicht entgegenstehen, gibt er der Behörde die Möglichkeit, insoweit nachzubessern. Lehnt die Behörde die Mitteilung von Informationen oder Beweisen ganz oder teilweise ab, beurteilt der Unionsrichter die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Rechtsakts allein anhand der mitgeteilten Umstände56. Gelangt er zu der Auffassung, dass die Geheimhaltung gerechtfertigt ist, muss er zwischen den die Geheimhaltung begründenden Interessen und den Erfordernissen effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes, insbesondere der Einhaltung des Grundsatzes des kontradiktatorischen Verfahrens, einen angemessenen Ausgleich herstellen und insbesondere beurteilen, inwieweit die Tatsache, dass der Betroffene wegen der Unkenntnis bestimmter Informationen oder Beweise zu diesen nicht Stellung nehmen kann, die Beweiskraft der vertraulichen Beweise beeinflusst.57 Weiter prüft der Unionsrichter, ob der Rechtsakt den Begründungserfordernissen des § 296 AEUV genügt. In diesem Zusammenhang hat das Europäische Gericht am 16.10.201458 die Durchführungsverordnungen (EU) des Rates vom 31.01.2011 bis 22.07.2014 für nichtig erklärt, soweit sie die LTTE59 betrafen. Das Gericht hat bemängelt, dass die Begründungen für die Listung nicht nur aus allgemeinen und stereotypen Formulierungen bestehen dürfe, die die rechtlichen Voraussetzungen der VO Nr. 2580/2001 und des Gemeinsamen Standpunktes 2001/931 nur zitiere, sondern auch die besonderen und konkreten Gründe aufzuführen habe, aus denen der Rat annimmt, dass der Betroffene auf die Liste zu setzen ist60. Darüberhinaus sei die Begründung der beanstandeten Listungsbeschlüsse, gemessen an Art. 1 Abs. 4 des GASP 2001/931 fehlerhaft, da diese Vorschrift voraussetzt, dass die Listung aufgrund genauer Informationen bzw. der einschlägigen Akten erfolgt, aus denen sich ergibt, dass eine zuständige nationale Behörde, gestützt auf ernsthafte und schlüssige Beweise oder Indizien gegenüber der betroffenen Person, Vereinigung oder Körperschaft einen Beschluss gefasst hat, bei dem es sich um die Aufnahme von Ermittlungen oder um Strafverfolgung wegen terroristischer Handlungen oder

55  EuGH, Urt. ZZ, Rn 54, 57, 59, 61/62; Urteil Kadi I Rn 342, 344; Urteil Kadi II, Rn 125, 126. 56   EuGH, Urt. ZZ, Rn 63; Urt. Kadi II, Rn 127. 57   EuGH, Urt. ZZ, Rn 67; Urt, Kadi II, Rn 129. 58   EuG, Urt. v. 16.10.2014 – T-208/11 und T-508/11 –, LTTE/Rat. 59   Liberation Tigers of Tamil Eelam. 60   EuG, Urt. v. 16.10.2014, (o. Fn. 58), Rn 161, 162.

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um eine Verurteilung wegen einer solchen handelt61. Die Union sei auf eine hinreichend gesicherte tatsächliche Grundlage durch einen von einer zuständigen Behörde gefassten Beschluss angewiesen, da sie über keine Mittel verfüge, um selbst Nachforschungen im Hinblick auf die Verwicklung einer Person in terroristische Handlungen durchzuführen62. Da die Begründungen für die Listung eine Reihe von Handlungen aufführten, die der LTTE als terroristische zur Last gelegt wurden, die behördlichen Entscheidungen, auf die der Listungsbeschluss gestützt wurde, aber sämtlich zeitlich vor den inkriminierten Handlungen lagen, die somit nicht Gegenstand der Prüfung der behördlichen Ermittlungen und Akten gewesen sein konnten, und der Rat für die inkriminierten Handlungen keine schlüssigen und ernsthaften Beweise, sondern nur Presseberichte und das Internet angeführt hatte, wurde die Begründung des Rates als nicht im Einklang mit den Anforderungen des GASP 2001/931 verworfen63. Der Rat habe sich im vorliegenden Fall nicht auf Tatsachen gestützt, die zuallererst von nationalen Behörden erhoben und beurteilt wurden, sondern habe stattdessen seine eigene Zurechnung von Fakten anhand von Presse und dem Internet vorgenommen. Damit habe er selbst die Aufgabe der „zuständigen Behörde“ im Sinne von Art. 1 Abs. 4 des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 ausgeübt, wofür er nach dieser Vorschrift aber nicht zuständig sei und wofür ihm ohnehin die Mittel fehlten64. Darüberhinaus hat des Gericht beanstandet, dass der Rat eine Entscheidung indischer Behörden zugrunde gelegt hatte, ohne, wie bei einem Drittstaat erforderlich, sorgfältig zu prüfen, ob in diesem Staat die Verteidigungsrechte und das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz in gleichem Masse wie in der Union gewährleistet sind. Das sei im vorliegenden Fall besonders erforderlich gewesen, weil der indische Prevention of Terrorism Act, der für die Entscheidung der indischen Behörde einschlägig gewesen sei, in den Begründungen nicht erwähnt worden war; dies sei aber deshalb notwendig gewesen, weil dieses Gesetz im Jahre 2004 – zeitlich nach der in der Begründung angeführten Entscheidung der indischen Behörden – aufgehoben worden ist, weil es unter diesem Gesetz zu willkürlichen Inhaftierungen, Folterungen, dem Verschwinden von Menschen und außergerichtlichen Hinrichtungen gekommen sei; diese Probleme seien auch unter den nach der Aufhebung vorgenommenen Gesetzesänderungen nicht behoben worden. Der Unionsrichter hat danach auch die vom Rat angeführten behördlichen Entscheidungen, auf die er seinen Listungsbeschluss stützt, auf Zuverlässigkeit, Validität und rechtsstaatliches Zustandekommen nach den Maßstäben   EuG; Urt. v. 16.10.2014, (o. Fn. 58), Rn 164.   EuG; Urt. v. 16.10.2014, (o. Fn. 58), Rn 165; EuGH, Urt. v. 15.11.2012, C-539/10 P und C-550/10 P – Al-Aqsa –, Slg EU:C:2012:711, Rn 68, 69. 63   EuG, Urt. v. 16.10.2014 (o. Fn 58), Rn 225. 64   EuG, Urt. v. 16.10.2014 (o. Fn 58), Rn 98. 61 62

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der Union zu prüfen und diese ggf. zu verwerfen; da er dieser Prüfungspflicht nicht nachgekommen war, schieden die indischen Behörden als „zuständige Behörden“ aus65. Sodann richtet der Unionsrichter seine Prüfung darauf, ob die zur Stützung der fraglichen restriktiven Maßnahmen herangezogenen Tatsachen und Umstände durch das betreffende Unionsorgan richtig beurteilt worden sind, ob die Angaben und Beweise, auf die sich diese Beurteilung stützt, sachlich richtig und zuverlässig sowie kohärent und beweiskräftig sind, ohne dass ihm selbst die Geheimhaltungsbedürftigkeit oder die Vertraulichkeit dieser Beweise und Angaben entgegengehalten werden kann66. Hierbei gehen sowohl das Gericht erster Instanz als auch der EuGH sehr genau vor und prüfen jedes einzelne Argument und jeden vorgebrachten Beweis der Unionsbehörde unter Berücksichtigung der Stellungnahme des Betroffenen präzise auf Stichhaltigkeit und Kohärenz in einer Detailliertheit, die nationale Gerichte gelegentlich – leider – nicht an den Tag legen67. Es kann daher nur empfohlen werden, dass von Sanktionsmaßnahmen der Union Betroffene eine Klage vor dem europäischen Gericht oder mindestens einen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens und Vorlage beim EuGH zur Vorabentscheidung der insoweit natürlich genau zu bezeichnenden Mängel ernsthaft in Betracht ziehen. Letzteres setzt allerdings voraus, dass der Betroffene nicht berechtigt war, gemäß Art. 263 AEUV unmittelbar gegen die fraglichen Bestimmungen zu klagen, wobei die Klage ohne jeden Zweifel hätte zulässig sein müssen68. Diese Voraussetzung dürfte bei Gruppierungen und Vereinigungen, bei denen der Angeklagte keine Vertretungsbefugnis für die Organisation hat und der – im Gegensatz zu der Organisation – von der Listung nicht „unmittelbar und individuell betroffen“ im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV ist und der daher kein Klagerecht gegen die Listung der Organisation vor den Unionsgerichten hat, regelmäßig vorliegen69. Dem EuG und dem EuGH kommt, was Rechtsakte der EG und der EU angeht, die alleinige Verwerfungskompetenz zu. Für das Strafverfahren bedeutet die rechtskräftige Entscheidung dieser Gerichte, mit der die Aufnahme einer Person, Vereinigung, Körperschaft oder Gruppe auf die Sanktions  EuG, Urt. v. 16.10.2014, (o. Fn. 58), Rn 146–150.   Vgl. EuGH, Urteil Kadi I Rn 326, 327, 336, 342, 344; EuG, Urteil Kadi 2 Rn 132–144, 151; EuG, Urt. v. 12.12.2006 – T-228/02 (Organisation des Mojahedines du peuple d’Iran/ Rat), Rn 152, 154. 67   Vgl. beispielhaft die Fn. 141, 151–162 des Urteils Kadi II. 68   So das auf das Vorabentscheidungsersuchen des 6. Strafsenats des OLG Düsseldorf ergangene Urteil des EuGH, v. 29.06.2010 – C 550/09, Rn 46, 52; Urt. v. 09.09.1994 – Textilwerke Deggendorf – C 188/92, Slg. 1994 I-833, Rn 23; Urt. v. 02.07.2009 – Bavaria u. Bavaria Italia – C 343/07 – Rn 40. 69   EuGH, Urteil v. 29.06.2010, C-550/09, Rn 48–52. 65 66

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liste als nichtig verworfen wird, dass diese Regelung nicht zur Grundlage einer strafrechtlichen Verurteilung wegen eines vermeintlichen Verstoßes gegen die jeweilige Embargoverordnung gemacht werden kann70. Das gilt selbstverständlich für alle in der Vergangenheit liegenden Listungsbeschlüsse, denn diese werden vorbehaltlos für nichtig erklärt, unabhängig von der Frage, ob das Gericht bei der jeweils aktuellen Fassung dem europäischen Gesetzgeber eine Übergangsfrist einräumt. Das gilt auch dann, wenn der Unionsgesetzgeber in Anerkennung der Rechtsprechung die Mängel durch neue Beschlüsse rückwirkend heilen wollte, da sonst gegen das Rückwirkungsverbot verstoßen würde71.

6.  Nachspann und Ausblick Das Urteil des Europäischen Gerichts vom 16.10.2014 ist zur Zeit der Abfassung dieses Manuskripts nicht rechtskräftig. Wann über das Rechtsmittel entschieden wird, ist derzeit unklar. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes bestehen allerdings gute Aussichten, dass es rechtskräftig wird. Im Hinblick auf dieses Urteil haben verschiedene Gerichte dem EuGH die Frage nach der Wirksamkeit anderer Listungsbeschlüsse gegen die LTTE aus der Zeit von 2007–2009 vorgelegt, die mit gleicher Begründung erlassen worden waren. Über diese Vorabentscheidungsersuchen wird der EuGH, wie er bereits beschlossen hat, nach seinem Hauptsacheverfahren72 entscheiden. Das wird dem vom Jubilar mit entwickelten „Düsseldorfer Modell“73 für derartige Fälle voraussichtlich den Boden entziehen. Wir arbeiten an seiner   EuGH, Urteil v. 29.06.2010, C-550/09, Rn 62.   EuGH aaO (Fn. 69), Rn 59; Urt. v. 13.11.1990, Fedesa u.a., C-331/88, Slg. 1990, I-4023, Rn 44; Urt. v. 03.05.2005, Berlusconi u.a., C-387/02 et.al., Slg. 2005, I-3565, Rn 74–78. 72   C-599/14 P; s. Schlussanträge der Generalanwältin v. 27.09.2016. 73  entwickelt im Verfahren gegen „Führungskader“ der LTTE in Deutschland, III-6 StS 4/10 – III-6 StS 1/11 OLG Düsseldorf; dort stellte sich heraus, dass die Frage, ob die Angeklagten tatsächlich Mitglieder einer ausländischen terroristischen Vereinigung waren, angesichts der jahrelangen gewaltsamen Diskriminierung der Tamilen in Sri Lanka, der Persönlichkeit der Angeklagten und des brutalen Vorgehens der Regierungskräfte im Bürgerkrieg bis 2009 schwer zu entscheiden war, und angesichts der Straflosigkeit dieser Regierungskräfte, die sich zahlloser schwerster Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen schuldig gemacht zu haben im Rufe standen, das Odium von schwer erträglicher Ungerechtigkeit in sich trug. Auch der Eindruck der Persönlichkeit der Angeklagten und deren Auftreten hat sicher dazu beigetragen; ein Richter in Großbritannien hat dem dortigen Landesverantwortlichen bei der Urteilsverkündung wegen der Sanktionsverstöße wörtlich gesagt: „Sir, I know you are an honorable man. Sorry, but I have to sentence You.“ So wurde das Modell entwickelt, nach dem die Strafverfolgung auf die Verstöße nach dem AWG beschränkt wurde; ausgeschieden wurden gem. § 154a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StPO die Vorwürfe aus §§ 129a, b StGB; die Bundesanwaltschaft hat das mitgetragen, andere 70 71

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mit rechtsstaatlichem Impetus und einem guten Gefühl für die Besonderheiten dieser und ähnlicher Beschuldigter entwickelten Lösung mit anderen Mitteln weiter, so z.B. mit der schon vom BGH in seiner zunächst viel geschmähten „PKK-Entscheidung“74 ins Blickfeld gerückten Regelung etwa des § 153 c Abs. 1 Nr. 3 StPO, die der Gesetzgeber bei Einführung des § 129 b StGB aus gutem Grund ins Gesetz eingefügt hat, die seither aber ein Schattendasein führte. Damit wäre – wenn auch auf anderem Wege – dem Anliegen des Jubilars – und natürlich der Beschuldigten – Genüge getan. Die Praxis ist gefordert, dies mit dem Ottmar Breidling eigenen Augenmaß umzusetzen.

Gerichte, so das Kammergericht zunächst, sind dem gefolgt; es sind zahlreiche Verfahren gegen „Spendengeldsammler“ im Bundesgebiet noch anhängig, bei denen ebenfalls eine solche Beschränkung bereits von der Bundesanwaltschaft, spätestens aber auf deren Empfehlung von den Generalstaatsanwaltschaften vorgenommen worden sind. In zwei dieser Verfahren sind Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH anhängig (C-458/15 und C-2/16). 74   Urt. v. 28.10.2010 – 3 StR 179/10, BGHSt 56, 28 ff, Rn 44 = StV 2012, 342.

Ottmar Breidling und das Prozessgebäude des Oberlandesgerichts Düsseldorf Eine Erfolgsgeschichte Anne-José Paulsen 1 Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht a. D. Ottmar Breidling ist gewiss ein außergewöhnlicher Mann. Es verwundert daher nicht, dass sein Name untrennbar mit einem außergewöhnlichen Gerichtsgebäude verbunden ist – dem Prozessgebäude des Oberlandesgerichts Düsseldorf.

1. Prolog Die Geschichte des Prozessgebäudes beginnt mit den furchtbaren Ereignissen vom 11. September 2001, bei denen fast 3000 Menschen ihr Leben gelassen haben. Mehr als 3200 Kinder verloren an diesem Tag ihre Eltern, über 6000 Menschen wurden verletzt. Einen im Hinblick auf die Art der Durchführung und die Zahl der Opfer vergleichbaren Terroranschlag hatte es bis dahin nicht gegeben. Die weltpolitischen Auswirkungen von „NineEleven“ sind allgemein bekannt und nicht Gegenstand dieses Beitrags. Die dramatischen Geschehnisse hatten jedoch auch Auswirkungen auf die Justiz in Deutschland, insbesondere auf das Oberlandesgericht Düsseldorf und das dortige berufliche Wirken von Ottmar Breidling. Davon soll hier die Rede sein.

2.  Eine neue Herausforderung Ottmar Breidling war mehr als 36 Jahre lang Richter. Er wurde am 5. Dezember 1975 zum Richter auf Probe ernannt und erhielt am 27. März 1979 eine Planstelle bei dem Amtsgericht Neuss. Anschließend wechselte er an das Landgericht Düsseldorf. Von 1978 bis 1980 und 1983 bis 1986 war er im Bundesministerium der Justiz in den Referaten Jugendschutz 1   Die Autorin dankt Herrn Präsidenten des Landgerichts Ulf-Thomas Bender für die wertvolle Unterstützung bei der Vorbereitung dieses Beitrags.

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und Strafgesetzbuch/Strafverfahrensrecht tätig. Nach seiner Ernennung zum Richter am Oberlandesgericht Düsseldorf am 23. März 1987 war er im 3. und 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf tätig. In den Jahren 1994–1996 leistete er Aufbauhilfe in der Justiz des Landes Brandenburg. Seit dem 7. November 1996 bis zu seiner Versetzung in den Ruhestand am 30. März 2012 war er „der“ Vorsitzende des für Staatsschutzsachen zuständigen 6. Strafsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf. In Fachkreisen und auch darüber hinaus wurde dieser Senat über lange Jahre hinweg deshalb nur als der „Breidling-Senat“ bezeichnet. Herr Breidling war aufgrund seiner vielfältigen beruflichen Erfahrungen auf dem Gebiet des Strafrechts außergewöhnlich gut mit den Mitarbeitern der Bundesanwaltschaft vernetzt. So erhielt er auch bereits im April 2002 Kenntnis von Ermittlungen des Generalbundesanwalts im Zusammenhang mit den Anschlägen vom 11. September 2001 gegen mehrere Beschuldigte der Gruppe Al-Tawhid, einem Ableger von Al-Kaida in Deutschland. Dies teilte er der Verwaltung des Oberlandesgerichts Düsseldorf umgehend mit. Danach war Ende 2002 oder Anfang 2003 zunächst mit einer Anklage gegen einen Angeklagten (den sog. „Kronzeugen“) und anschließend mit einer weiteren Anklage gegen bis zu fünf Angeklagte zu rechnen. Mit der Hauptverhandlung in dem zuletzt genannten Verfahren müsse im Fall der Eröffnung des Hauptverfahrens etwa im Spätherbst 2003 begonnen werden, um die zwingenden Fristen für die Dauer der Untersuchungshaft gemäß §§ 120, 121 StPO einzuhalten. Es sei mit einer mehrjährigen Prozessdauer zu rechnen. In beiden Fällen sei die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts Düsseldorf begründet. Ferner sei mit weiteren Ermittlungskomplexen zu rechnen, die vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf zur Anklage kommen würden.2 Damit stand die Justizverwaltung plötzlich vor der Frage, in welchen Räumlichkeiten derartig brisante Verfahren mit extrem hohen Sicherheitsanforderungen durchgeführt werden sollten. Eine überzeugende Antwort auf diese Frage schien angesichts des sehr kurzen zur Verfügung stehenden Zeitraums kaum möglich zu sein. Das früher für Staatsschutzverfahren genutzte Lippe-Haus an der Tannenstraße in Düsseldorf-Derendorf stand faktisch nicht mehr zur Verfügung. Eine noch im April 2002 von Mitarbeitern der Verwaltung des Oberlandesgerichts Düsseldorf gemeinsam mit Herrn Breidling durchgeführte Besichtigung und Bestandsaufnahme des Lippe-Hauses förderte Erschreckendes zu Tage: Die dortige bauliche Situation genügte in keiner Weise mehr modernen Anforderungen an ein Prozessgebäude für hochsicherheitsrelevante Verfah-

2   Ulf-Thomas Bender/Johannes Keders: Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg – Die Gebäude des Oberlandesgerichts Düsseldorf –, in: 100 Jahre Oberlandesgericht Düsseldorf. Festschrift, herausgegeben von Anne-José Paulsen, Düsseldorf/Berlin 2006, S. 92.

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ren. Die Sicherheit der Prozessbeteiligten, der Zuschauer, der Medien und vor allem auch der benachbarten Anwohner konnte aufgrund der gravierenden Mängel des inmitten eines Wohngebietes gelegenen Gebäudes nicht mehr gewährleistet werden. Ferner wurden Bedenken geäußert, ob das LippeHaus mit seinem fensterlosen, eine bedrückende Atmosphäre vermittelnden Sitzungssaal noch den rechtsstaatlichen Anforderungen genügte, die gleichermaßen an alle Strafverfahren – auch an solche gegen mutmaßliche Terroristen – zu stellen sind.3 Es ist in diesem Zusammenhang insbesondere Herrn Breidling zu verdanken, dass die Mängel des Lippe-Hauses so deutlich und überzeugend benannt wurden. Er war damals nicht nur einer der erfahrensten Richter, wenn es um Prozesse gegen mutmaßliche Terroristen und politische Extremisten in Deutschland ging. Er war auch wie nur wenige andere in der Lage, seine Sicht der Dinge derart überzeugend darzulegen, dass seine Gesprächspartner rasch dazu neigten, sich seiner Einschätzung anzuschließen. So war es letztlich auch bei der entscheidenden Frage, ob das Lippe-Haus als Prozessgebäude des Oberlandesgerichts Düsseldorf überhaupt noch eine Zukunft haben könne. Ein erwogener kurzfristiger Umbau des Gebäudes an der Tannenstraße einschließlich einer Grundsanierung hätte dessen Mängel nur teilweise beseitigen können und trotz des Einsatzes erheblicher finanzieller Mittel nicht zu einer befriedigenden Gesamtlösung geführt. Zudem war das Problem der das Gebäude umgebenden Wohnbebauung und damit des Standortes so nicht zu lösen. Seit dem Umbau der ehemaligen Polizeisporthalle von November 1975 bis April 1976 zu einem Prozessgebäude, hatten Justiz und Polizei das Gebäude gemeinsam genutzt. Die Polizei verfügte stets über erhebliche Einsatzkräfte unmittelbar vor Ort und sorgte mit hohem Personaleinsatz für die Sicherheit des Gebäudes, der darin stattfindenden Verfahren und der daran beteiligten Personen. Diese örtliche Sicherheitspartnerschaft stand Anfang 2002 vor der Auflösung, da die Polizei im Begriff war, ihren Standort an der Tannenstraße aufzugeben, und das gesamte Gelände einer neuen städtebaulichen Nutzung mit dem Arbeitstitel „Wohnen und Arbeiten in Derendorf“ zugeführt werden sollte. Ein Hochsicherheitstrakt ohne die Nähe zur Polizei, dafür aber noch enger umgeben von Wohngebäuden und Büroräumen, konnte letztlich keine überzeugende Lösung sein.4

  Ulf-Thomas Bender/Johannes Keders, a.a.O.   Ulf-Thomas Bender/Johannes Keders, a.a.O.

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3.  Die Entscheidung für einen Neubau Im Mai 2002 trafen sich die verantwortlichen Vertreter des Justizministeriums, der Zentrale des Bau- und Liegenschaftsbetriebs Nordrhein-Westfalen und des Oberlandesgerichts Düsseldorf im alten Prozessgebäude an der Tannenstraße, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Die Beteiligten vereinbarten, sich gemeinsam für die kurzfristige Errichtung eines neuen Prozessgebäudes einzusetzen und die damit verbundenen Herausforderungen arbeitsteilig anzugehen. Der verantwortliche Geschäftsführer des Bau- und Liegenschaftsbetriebs sicherte zu, der Justiz ein geeignetes Grundstück für den Neubau eines Prozessgebäudes zur Verfügung zu stellen. Der für Finanzen und Liegenschaften zuständige Abteilungsleiter im Justizministerium Nordrhein-Westfalen übernahm es, sich um die Finanzierung des Neubaus zu kümmern. Das Baudezernat des Oberlandesgerichts Düsseldorf, damals geleitet von Ulf-Thomas Bender, sagte zu, kurzfristig die Anforderungen der Justiz an ein neues Prozessgebäude zu definieren. Vor allem in diesem Zusammenhang sollte Ottmar Breidling eine entscheidende Rolle spielen. Ein geeigneter Standort für den Neubau war rasch gefunden. Der Bauund Liegenschaftsbetrieb Nordrhein-Westfalen verfügte über ein im Landeseigentum stehendes unbebautes Grundstück am Kapellweg in DüsseldorfHamm, das sich für den Neubau eines Prozessgebäudes als gut geeignet erwies. Das Grundstück liegt unmittelbar neben dem Landeskriminalamt (LKA). Daneben liegen die Gebäude weiterer Landesbehörden. Die weiteren angrenzenden Flächen werden landwirtschaftlich genutzt. Trotz dieser Randlage ist das Gebäude nur etwa 5 km vom Hauptgebäude des Oberlandesgerichts Düsseldorf entfernt und kann von mehreren Seiten angefahren werden. Die Finanzierung des Bauvorhabens erwies sich angesichts des erheblichen finanzwirtschaftlichen Volumens anfangs als schwierig. Das soll hier jedoch nicht vertieft werden. Im Ergebnis nahm das Justiz- und das Finanzministerium das Vorhaben in die Ergänzungsvorlage zum Haushalt 2003 auf, die am 8. Oktober 2002 im Kabinett beraten wurde. Am 12. Dezember 2002 stimmte der Verwaltungsrat des Bau- und Liegenschaftsbetriebs dem Neubau des Prozessgebäudes zu. Nach Abschluss der parlamentarischen Beratung verabschiedete der Landtag am 19. Dezember 2002 den Landeshaushalt 2003 einschließlich der Ergänzungsvorlage. Damit war die Finanzierung des Projekts gesichert. 5

  Ulf-Thomas Bender/Johannes Keders, a.a.O.

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4.  Die Planungsphase Schließlich mussten die komplexen Anforderungen an das neue Prozessgebäude detailliert und vollständig definiert und in eine Genehmigungs- und Ausführungsplanung umgesetzt werden. Diese Aufgabe fiel den Mitarbeitern des für Finanzen und Liegenschaften zuständigen Dezernats 3 des Oberlandesgerichts Düsseldorf zu und erwies sich als besonders anspruchsvoll. Zwar verfügten die Beteiligten über einige Erfahrungen im Bau von Gerichtsgebäuden. Hier ging es aber nicht um ein normales Gerichtsgebäude, sondern um einen modernen Hochsicherheitstrakt, wie er derart in Deutschland noch nicht geplant und gebaut worden war. Bei der Erledigung dieser Aufgabe waren die umfangreichen Erfahrungen von Ottmar Breidling bei der Durchführung von sicherheitsgefährdeten Staatsschutzverfahren besonders hilfreich. Herr Breidling verfügte nicht nur über solche Erfahrungen, sondern war auch wie kaum ein zweiter in der Lage, diese zu artikulieren und in konkrete Anforderungen an das Gebäude umzusetzen. Dabei argumentierte er im Interesse eines wehrhaften Rechtsstaates und einer starken Strafjustiz alles andere als kleinmütig und verzichtete auf jede falsche Bescheidenheit. Dem Projekt hat das insgesamt sehr gut getan. So bestand Herr Breidling angesichts seiner langjährigen Erfahrungen mit langen Verhandlungstagen im fensterlosen Saal des Lippe-Hauses von Anfang an darauf, dass die beiden geplanten Verhandlungssäle nicht nur über eine künstliche Beleuchtung, sondern auch über Tageslicht verfügen. Er legte in diesem Zusammenhang überzeugend dar, dass sich fehlendes Tageslicht nicht nur auf die Gesundheit und die Stimmungslage aller Prozessbeteiligten sehr negativ auswirke, sondern auch vor dem Hintergrund gestiegener rechtsstaatlicher Anforderungen an die Führung von Strafprozessen verfahrens- bzw. verfassungsrechtlich bedenklich sei. Auf der anderen Seite ließen die extrem hohen Sicherheitsanforderungen an das Gebäude den Einbau normaler Fenster nicht zu. Letztlich wurde durch den Einbau von hoch beschussfesten Lichtbändern im oberen Bereich der Sitzungssäle eine menschenwürdige Verhandlungsatmosphäre geschaffen, ohne bei der Frage der Sicherheit zweifelhafte Kompromisse einzugehen. Eine Besonderheit des Prozessgebäudes ist die komplexe Saaltechnik. Das gesamte Gebäude verfügt über keine zu öffnenden Fenster. Es wird daher durch eine technische Anlage, die sich im Keller des Gebäudes befindet, je nach Bedarf belüftet, geheizt oder gekühlt. Üblicherweise obliegt die elektrische Steuerung einer derartigen Lüftung- und Klimatechnik ausschließlich einem darin eingewiesenen Hausmeister. Nicht so im Prozessgebäude. Herr Breidling bestand darauf, von seinem zentralen Platz als Vorsitzender im Sitzungssaal aus ebenfalls in der Lage zu sein, die gesamte Lüftungs- und Klimatechnik während der laufenden Verhandlung steuern zu können. Er wollte eben auch in dieser Hinsicht autark sein. Und das galt auch für alle anderen

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technischen Einrichtungen im Saal, also für die elektrisch ausfahrbaren Beamer und Leinwände, den elektrisch zu betätigenden Blendschutz der Lichtbänder, das elektrische Licht und ganz besonders für die Mikrofonanlage. Letztere wurde so konstruiert, dass der Vorsitzende in der Lage ist, Mikrofone einzelner Prozessbeteiligter jederzeit an- und wieder abzuschalten, wenn er ihnen zum Beispiel in der Hauptverhandlung das Wort erteilt oder entzieht. Um während der Planungsphase genaue Informationen zur Mikrofonanlage zu erhalten , erklärte sich Herr Breidling spontan dazu bereit, mit Mitarbeitern des Oberlandesgerichts nach Nürnberg zu reisen, wo eine entsprechende Anlage zu Testzwecken zur Verfügung stand. Letztlich wurde die gesamte Steuerungstechnik in der Weise redundant ausgestaltet, dass zum einen ein Wachtmeister und zum anderen der Vorsitzende jeweils an ihrem Platz ein damals hochmodernes Steuerungspaneel vorfinden, mit dem alle relevanten Funktionen im Saal gesteuert werden können. Diese Technik hat sich in vielen Verfahren bewährt. Eine weitere Besonderheit sind die im Bereich der Toiletten fest eingebauten Fußwaschbecken. Herr Breidling wies frühzeitig darauf hin, dass es zum Beispiel in dem von ihm im Jahr 2000 geleiteten Prozess gegen den islamistischen Fundamentalisten Metin Kaplan, den selbsternannten „Kalif von Köln“, der am 15.11.2000 wegen öffentlichen Aufrufs zu einer Straftat zu vier Jahren Haft verurteilt wurde, regelmäßig zu Problemen mit den fundamental islamistischen Anhängern des Verurteilten gekommen sei. Diese nahmen als Zuhörer am Prozess teil und begaben sich in den Verhandlungspausen regelmäßig in die Waschräume des alten Prozessgebäudes, um sich dort vor dem Beten die Füße zu waschen. Zu diesem Zweck wurden immer wieder die Toiletten mit Klopapierrollen verstopft und geflutet, was naturgemäß zu erheblichen Folgeproblemen, insbesondere aber auch zu Beeinträchtigungen des Prozessablaufs führte. Herr Breidling, dem in erster Linie an einem reibungslosen Prozessablauf gelegen war, schlug daher den Einbau von fest installierten, vandalismussicheren Fußwaschbecken vor, um das Problem der verstopften Toiletten nachhaltig zu lösen. Dieser Vorschlag wurde umgesetzt und hat später einige Kritik erfahren. Letztere erwies sich jedoch im Nachhinein als unberechtigt, weil das geschilderte Problem damit tatsächlich gelöst werden konnte. Bei den Planungen legte Herr Breidling von Anfang an besonders großen Wert darauf, den Vertretern der Medien großzügige und funktionelle, modern ausgestattete Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen. Die Verfahren vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts stoßen angesichts ihrer überregionalen Bedeutung vielfach auf ein breites öffentliches Interesse. Daher sind insbesondere beim Prozessauftakt und am Ende eines Prozesses regelmäßig eine Vielzahl von Medienvertretern aus dem Inland und nicht selten auch aus dem Ausland zugegen. Der Einfluss der Arbeitsmöglichkeiten für die Mitarbeiter der Medien auf die Qualität der Berichterstattung sollte

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nicht unterschätzt werden. Diesen Anforderungen wurde im Prozessgebäude bereits in der Planungsphase durch entsprechend ausgestattete Arbeitsplätze Rechnung getragen. Herr Breidling wies auch frühzeitig auf die Notwendigkeit hin, gefährliche ebenso wie gefährdete Angeklagte und gefährdete Zeugen (insbesondere sog. „Kronzeugen“) auf verschiedenen Wegen rasch und sicher in das Prozessgebäude bringen zu können. Zu diesen Wegen gehört auch der Luftweg. Das Prozessgebäude wurde daher eigens mit einem Hubschrauberlandeplatz ausgestattet. Letzterer musste durch die Bezirksregierung Düsseldorf in einem umfangreichen und komplexen Verwaltungsverfahren eigens als Flugplatz genehmigt werden. So wurde es möglich, Personen auch durch den Einsatz von Hubschraubern zügig in das Gebäude und wieder zurück zu bringen, ohne sich einem erhöhten Anschlagsrisiko auf dem Fahrweg aussetzen zu müssen oder gezwungen zu sein, auf die jeweilige, nicht selten schwierige Verkehrssituation in Düsseldorf und Umgebung Rücksicht nehmen zu müssen. So konnte das Sicherheitsniveau insgesamt noch einmal beträchtlich erhöht werden. Besonderes Augenmerk legte Herr Breidling von Anfang an darauf, dass das Gebäude mit modernster Informationstechnik ausgestattet wird. Das war zum damaligen Zeitpunkt noch keine Selbstverständlichkeit, zumal die Justiz sich in den Jahren 2002/2003 bezüglich der Ausstattung mit moderner Informationstechnik immer noch in einer Umbruchphase befand. Zwar war die Ausstattung mit entsprechender Hardware größtenteils abgeschlossen. Das galt indessen nicht für die vielfältigen Softwarelösungen, die erst nach und nach fertiggestellt wurden und ihren Weg in die praktische Anwendung finden konnten. Bei der Ausstattung des Gebäudes widmete Herr Breidling seine Aufmerksamkeit keineswegs nur den Arbeitsmöglichkeiten für den Senat und seine richterlichen Mitglieder. Er hatte jederzeit auch die Räumlichkeiten für die nichtrichterlichen Bediensteten des Oberlandesgerichts einschließlich der justizeigenen Sicherheitskräfte, die Mitarbeiter der Bundesanwaltschaft, die Einsatzkräfte der Polizei, die Dolmetscher, Zeugen, Nebenkläger und Verteidiger sowie die sichere, aber sachgerechte Unterbringung der Angeklagten im Blick. Dabei legte er großen Wert darauf, dass zum Beispiel für Zeugen einerseits und Vertreter der Angeklagten sowie Nebenkläger und deren Vertreter und Zuhörer andererseits jeweils getrennte, begegnungsfreie Räumlichkeiten geschaffen wurden, um etwa eine Beeinflussung von Zeugen im Gebäude gar nicht erst zu ermöglichen. So konnten überzeugende bauliche Lösungen geschaffen werden, die die Gewähr eines rechtsstaatlichen und zugleich sicheren Verfahrens erhöhen und den erforderlichen Personaleinsatz in diesem Bereich letztlich deutlich verringern. Dank der vielfältigen Erfahrungen von Herrn Breidling und des überobligatorischen Einsatzes aller mit dem Vorhaben befasster Personen konnte

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die Planungsphase trotz einer Vielzahl komplexer Fragen und Probleme im Spätherbst 2002 weitgehend abgeschlossen werden. Trotz des vergleichsweise kurzen Zeitrahmens erwiesen sich die Planungen ganz überwiegend als belastbar und tragfähig bei der Errichtung und Ausstattung des Gebäudes. Das ist nicht selbstverständlich und bedarf daher hier der besonderen Erwähnung.

5.  Die Bauphase Die Errichtung des Prozessgebäudes begann am 17. Januar 2003 mit dem offiziellen Spatenstich. Am 13. Juni 2003 wurde das Richtfest gefeiert. Die Übergabe des vollständig fertig gestellten und eingerichteten Gebäudes an die Justiz erfolgte bereits am 19. Dezember 2003. Die außergewöhnlich kurze Bauzeit von nur elf Monaten ist zum einen auf den durch die angekündigten Strafverfahren entstandenen extrem hohen Zeitdruck und zum anderen auf die durchdachte Planung des Vorhabens zurückzuführen. Mit entscheidend war aber letztlich die bedingungslose Bereitschaft aller Beteiligten, während der Bauphase rasch und unkonventionell fundierte Entscheidungen zu treffen. Und ein ganz wesentlich am Bau Beteiligter war Ottmar Breidling. Er verfügte damals selbstverständlich schon über ein ansonsten noch nicht so weit verbreitetes Mobiltelefon und war daher problemlos stets und überall erreichbar. Das galt auch während seines Urlaubs. Herr Breidling, der leidenschaftlich gerne Golf spielt, hielt sich während seines Golf-Urlaubs auf wechselnden Golfplätzen und in unterschiedlichen Hotels auf. Es war gleichwohl kein Problem, ihn kurz über das Mobiltelefon anzurufen und ihm mittels des hoteleigenen Faxgerätes Unterlagen zur kritischen Begutachtung zuzusenden. Spätestens am Folgetag sandte Herr Breidling die erbetene Stellungnahme per Fax an die Mitarbeiter der Justizverwaltung zurück und das Vorhaben konnte seinen Fortgang nehmen. Das alles geschah mit einer solchen Selbstverständlichkeit, wie man sie von einem Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht nicht immer erwarten kann. Am 14. Januar 2004 fand die offizielle Einweihung des Prozessgebäudes im Rahmen eines Festaktes statt, an dem auch der damalige NRW-Justizminister Wolfgang Gerhards und der damalige Generalbundesanwalt Kay Nehm teilnahmen. Damit war das Bauprojekt abgeschlossen. Nun konnte der von allen Beteiligten einschließlich Herrn Breidling mit Spannung erwartet Praxistest des Gebäudes beginnen.

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6.  Das Prozessgebäude in der Praxis Bereits am 10. Februar 2004 begann im Prozessgebäude unter dem Vorsitz von Ottmar Breidling die Hauptverhandlung gegen vier mutmaßliche Mitglieder einer terroristischen Vereinigung. Zahlreiche weitere Prozesse sollten folgen. Erinnert sei an dieser Stelle nur an das Verfahren gegen den „Kofferbomber von Köln“, an den Düsseldorfer Al-Qaida-Prozess, an die Verhandlung gegen die Sauerland-Gruppe und zuletzt an das Verfahren gegen vier Mitglieder der tamilischen Terrororganisation „Liberation Tigers of Tamil Eelam“, das letzte große Verfahren unter dem Vorsitz von Herrn Breidling. Das Prozessgebäude hat sich in der Praxis außerordentlich gut bewährt. Der sehr hohe Sicherheitsstandard, die großzügige technische Ausstattung und die durchdachte Struktur des Gebäudes haben ganz wesentlich mit dazu beigetragen, dass es bis heute zu keinen größeren Zwischenfällen im Zusammenhang mit der Durchführung gefährdeter Strafverfahren im Prozessgebäude gekommen ist. Trotz der ausgeprägten Sicherheitsarchitektur genügt das Gebäude in jeder Hinsicht hohen rechtsstaatlichen Standards. Auch hier wird in vielen Punkten die Handschrift von Herrn Breidling deutlich, der auf die Einhaltung solcher Standards immer besonderen Wert gelegt hat. Neben dem 6. Strafsenat unter dem Vorsitz von Herrn Breidling haben inzwischen auch andere Strafsenate des Oberlandesgerichts sowie anfangs vereinzelt Strafkammern der Landgerichte des Oberlandesgerichtsbezirks Düsseldorf das Prozessgebäude intensiv genutzt. Angesichts der dramatischen Zunahme terroristischer Straftaten innerhalb der letzten 15, insbesondere aber der letzten zwei Jahre im Zusammenhang mit dem IS-Terrorismus, ist das Prozessgebäude aufgrund der Inanspruchnahme durch die erstinstanzlichen Staatsschutzsenate mehr als ausgelastet. Im Jahr 2015 musste ein weiterer, dritter Staatsschutzsenat bei dem Oberlandesgericht Düsseldorf eingerichtet werden, um die hohe Zahl an Staatsschutzverfahren bewältigen zu können. Das zeigt einmal mehr, wie wichtig und nötig die seinerzeit von Herrn Breidling mit initiierte Errichtung des Prozessgebäudes war.

7. Epilog Herr Breidling hat das Prozessgebäude am Kapellweg sowohl in der Entscheidungs-, Planungs- und Bauphase als auch im praktischen Prozessbetrieb stark geprägt. Ob es ohne seine engagierte Mitwirkung überhaupt errichtet worden wäre, wissen wir nicht. Jedenfalls wäre es gewiss nicht so ausgezeichnet gelungen. Herr Breidling hat damit neben seiner herausragenden richterlichen Tätigkeit als Vorsitzender des 6. Strafsenats einen weiteren besonderen Beitrag für die Strafrechtspflege im Allgemeinen und das Oberlandesgericht Düsseldorf im Besonderen geleistet. Es verwundert daher nicht weiter, dass

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das Prozessgebäude von Insidern bis heute einfach als „Breidling-Bau“ bezeichnet wird. In dieser Bezeichnung liegt eine Anerkennung und Wertschätzung, wie sie Richtern gemeinhin nur sehr selten zu Teil wird. Herr Breidling hat sie sich redlich verdient.

Effektive Verteidigung in Staatsschutzverfahren unter den Bedingungen des RVG Michael Ried 1.  Was bedeutet Verteidigung? Nach Art. 6 Abs. 3 lit. c) EMRK hat jede Person als Beschuldigter in einem Strafverfahren das Recht „sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist.“ Verteidigung in diesem Sinne richtig verstanden kann sich in einem Rechtsstaat nicht darin erschöpfen, dass sie als Institution garantiert wird. Vielmehr hat Verteidigung gerade unter der Geltung der EMRK einen materiellen Charakter. Über den Zwangsverteidiger1 ist bereits viel geschrieben worden, leider zu Recht. Der von dem Gericht bestellte Verteidiger wird sich in einer Vielzahl von Fällen darin gefallen – aber auch erschöpfen – einen Beschuldigten bei einem Geständnis zu begleiten. Vor wenigen Wochen habe ich noch mit einem Kollegen über die von ihm favorisierte Verteidigungsstrategie in einem Jugendstrafverfahren gesprochen. Der Kollege „verteidigte“ einen Mitbeschuldigten. Seine Antwort war gewesen, dass er den Mandanten noch nicht gesprochen und die Akte noch nicht gelesen habe, er allerdings bereits jetzt schon sagen könne, dass ein Geständnis immer eine gute Verteidigung ist. Das Gespräch war an dieser Stelle – höflich zwar, aber bestimmt – beendet. Derselbe Kollege hat nach eigenem Bekunden in dem vergangenen Jahr durch das ihn beiordnende Amtsgericht insgesamt über 50 Pflichtverteidigungen erhalten. Im Lichte und unter der Geltung des Art. 6 EMRK kann dies nicht die von dem europäischen Gesetzgeber gewünschte Verteidigung darstellen. Eine derart verstandene Verteidigung widerspricht nicht nur der EMRK, sie ist auch nicht mit der Rechtsprechung des BVerfG, der StPO, den berufsrechtlichen Verpflichtungen des Rechtsanwalts und dem Mandatsverhältnis vereinbar.

  Vgl. zur Kritik Lang, freispruch Nr. 6, Februar 2015, 16.

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Die Vorgaben der EMRK. Bereits in seiner Entscheidung vom 24.11.1993 hat der EGMR ausgeführt, dass die Bestellung eines Verteidigers allein nicht genügt um ein faires Verfahren zu garantieren.2 Der Verteidiger muss darüber hinaus die Rechte des Angeklagten im Verfahren tatsächlich effektiv wahrnehmen.3 Die StPO und Rechtsprechung des BGH übernimmt diese Vorstellungen von Verteidigung. Der Verteidiger, gleichgültig ob der Beschuldigte diesen gewählt hat oder ob er vom Gericht bestellt worden ist, hat einen gesetzlichen Auftrag zu erfüllen, der nicht nur im Interesse des Beschuldigten, sondern auch in dem eines am Rechtsstaatsgedanken ausgerichteten Strafverfahrens liegt.4 Er hat – so der BGH – auch die Pflicht, dafür Sorge zu tragen, dass „das Verfahren sachdienlich und in prozessual geordneten Bahnen durchgeführt wird“.5 Unabhängig davon ob man dem Verteidiger einen solchen gesetzlichen Auftrag übertragen möchte oder ob man ihn ausschließlich als Vertreter der Interessen des Mandanten sieht, herrscht Einigkeit dahingehend, dass Verteidigerverhalten seine Grenzen an dem materiellen Recht des StGB findet. Geraten Verteidiger in den Zwiespalt zwischen der Wahrnehmung von Beschuldigtenrechten und einer vom Gericht gewünschten und vorgestellten Durchführung des Strafverfahrens in „prozessual geordneten Bahnen“ hat sich der Verteidiger bereits seinem Auftrag gegenüber dem Beschuldigten für die Wahrnehmung dessen Rechte zu entscheiden. Die Wahrnehmung prozessualer Rechte des Beschuldigten ist unabdingbare Voraussetzung für Verteidigung schlechthin. Dies kann sodann zu einer Kollision mit dem Anspruch des Staates auf Durchführung eines Verfahrens in prozessual geordneter Bahn führen. Ein Beispiel soll dies exemplifizieren: Der Strafsenat oder die Strafkammer kündigt im Laufe einer Hauptverhandlung an, dass das Verfahren bis zu einem bestimmten Zeitpunkt wegen des zwingenden Ausscheidens eines Senats- bzw. Kammermitglieds beendet sein müsse. Ist es nun Aufgabe des Verteidigers an einem prozessual geordneten rechtzeitigen Verfahrensende mitzuwirken oder muss er versuchen auch unter Inkaufnahme des „Platzens“ des Verfahrens die Hauptverhandlung in die Länge zu ziehen? Sofern man die Stellung des Verteidigers und sein berufsrechtliches Selbstverständnis ernst nimmt kann die Antwort nur lauten, dass der Verteidiger verpflichtet ist eine Verurteilung seines Mandanten zu verhindern. Die Grenze wird sicherlich – aber auch erst – überschritten sein, wenn der Verteidiger   EGMR 24.11.1993 – 13972/88 Rn 38 – Imbrioscia.   EGMR 13.05.1980 – 6694/74 Rn 33 ff. – Artico. 4   BGHSt 29, 99, 106. 5   BGHSt 38, 111, 115. 2 3

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eine reine Prozessobstruktion betreibt. Besteht jedoch die „nur entfernte Möglichkeit“, dass sich bspw. durch die Stellung eines – sicherlich verfahrensverzögernden – Beweisantrages „eine Änderung der bisher begründeten Vorstellung von dem zu beurteilenden Sachverhalt6 ergibt, ist der Verteidiger gehalten auch unter Inkaufnahme eines „Platzens“ des Verfahrens Beweisanträge zu stellen. Auch wenn diese Rechtsprechung mittlerweile als zu weitreichend angesehen wird und eine Beweiserhebung nur noch dann verlangt wird, sofern „bei verständiger Würdigung der Sachlage“7 eine Änderung der bisherigen Beweislage zu erwarten ist, muss der Verteidiger alles prozessual Zulässige tun um den Interessen des Mandanten zu genügen. Jedenfalls im Rahmen einer Abwägung zwischen der Wahrnehmung der Interessen des Mandanten und einer prozessordnungsgemäßen Durchführung des Verfahrens hat sich der Verteidiger, daran sollten keine Zweifel bestehen, für die Interessen des Mandanten zu entscheiden. Die berufsrechtlichen Vorgaben der BRAO und der Europäischen Union an den Strafverteidiger verpflichten den Verteidiger ebenso weitreichend: So führt § 43 der BRAO als allgemeine Berufspflicht des Rechtsanwalts aus: „Der Rechtsanwalt hat seinen Beruf gewissenhaft auszuüben. Er hat sich innerhalb und außerhalb des Berufes der Achtung und des Vertrauens, welche die Stellung des Rechtsanwalts erfordert, würdig zu erweisen.“

Die Berufsregeln der Rechtsanwälte der Europäischen Union enthalten Vorschriften über die Grundpflichten und verdeutlichen hierbei die Stellung des Verteidigers für ein rechtsstaatliches Justizsystem: „1.1. Der Rechtsanwalt in der Gesellschaft In einer auf die Achtung des Rechtes gegründeten Gesellschaft hat der Rechtsanwalt eine besonders wichtige Funktion. Seine Aufgabe beschränkt sich nicht auf die gewissenhafte Ausführung eines Auftrages im Rahmen des Gesetzes. Der Rechtsanwalt hat dafür Sorge zu tragen, dass sowohl der Rechtsstaat als auch die Interessen des Rechtsuchenden, dessen Rechte und Freiheiten er vertritt, gewahrt werden. Der Rechtsanwalt ist verpflichtet, nicht nur für die Sache seines Mandanten einzutreten, sondern auch der Berater seines Mandanten zu sein. Die Achtung der mit dem Rechtsanwaltsberuf verbundenen Funktion ist eine unabdingbare Voraussetzung für einen Rechtsstaat und eine demokratische Gesellschaft. 2.7. Interesse der Mandanten Vorbehaltlich der strikten Einhaltung der gesetzlichen und berufsrechtlichen Vorschriften ist der Rechtsanwalt verpflichtet, seinen Mandanten immer in solcher Weise zu vertreten und/oder zu verteidigen, dass das Mandanteninteresse dem Interesse des Rechtsanwaltes oder der Kollegen vorgeht.

  So BGHSt 23, 176, 188; 30, 131, 143.   BGH NStZ-RR 96, 299; NStZ 98, 50.

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4.3. Achtung des Gerichtes Im Rahmen der dem Richteramt gebührenden Achtung und Höflichkeit hat der Rechtsanwalt die Interessen seines Mandanten gewissenhaft und furchtlos, ungeachtet eigener Interessen und/oder ihm oder anderen Personen entstehenden Folgen zu vertreten.“

Besonders herausgestellt wird zum einen die Bedeutung des Verteidigers für die grundsätzliche Funktionsfähigkeit eines Rechtsstaats aber auch die Notwendigkeit und die Bereitschaft des Verteidigers eigene Interessen denjenigen des Mandanten unterzuordnen. Auch das bürgerlich-rechtliche Vertragsverhältnis zwischen Verteidiger und Mandant legt dem Verteidiger weitreichende Pflichten bei der Bearbeitung des Mandats auf. Die Frage der Rechtsnatur des Vertrages zwischen Anwalt und Mandant wird heute für den Regelfall dahingehend beantwortet, dass es sich um eine entgeltliche Geschäftsbesorgung handele, in der Regel auf der Grundlage eines freien Dienstvertrages, § 675 BGB i.V.m. § 611 BGB. Als allgemeine Hauptpflicht des Anwalts wird es als seine Aufgabe angesehen, die Interessen des Mandanten in jeder Richtung umfassend wahrzunehmen. Um diese optimale Interessenverfolgung sicherstellen zu können, muss der Rechtsanwalt im ersten Schritt den rechtlich zu prüfenden und zu bewertenden Sachverhalt umfassend in tatsächlicher Hinsicht erschöpfend erforschen und den Mandanten entsprechend befragen. Sodann hat er eine Rechtsprüfung unter Berücksichtigung der herrschenden Rechtsprechung, sofern es eine solche gibt, sowie unter Einbeziehung der Kommentarliteratur vorzunehmen. Wenn es sich um ein Rechtsgebiet handelt, bei dem (noch) keine herrschende Rechtsprechung ersichtlich ist – so aktuell zu § 10 VStGB und dem derzeit anhängigen Verfahr vor dem OLG Stuttgart Az.: 5-3 StE 5/16 – soll er verpflichtet sein, sich darüber hinaus in die sachgebietsbezogenen Hand- und Lehrbuch- und entsprechende weitergehende Literatur zu vertiefen. Er hat zeitnah alle Entscheidungen zu kennen, die in den allgemeinen juristischen Fachzeitschriften, z.B. der NJW, veröffentlicht werden. Der Anwalt hat den Mandanten umfassend und erschöpfend unter Berücksichtigung seiner Interessen zu beraten und zu belehren. Die Rechtsprechung verlangt ferner immer wieder Beachtung des Grundsatzes, dass der Rechtsanwalt den sichersten Weg zu gehen habe.8 So verstanden wird der Mandant als auch eine funktionierende Strafrechtspflege von dem Verteidiger verlangen, dass dieser bereit ist den Kampf um das Recht mit unbedingten Einsatz im Interesse des Mandanten zu führen. Ein solcher verlangt zunächst die selbstverständliche Bereitschaft des Verteidigers die Ermittlungsakten vollständig zu lesen, eine vollumfassende 8  RA Rolf E. Köllner, Haftung des Strafverteidigers; Anmerkungen zur Entscheidung des OLG Nürnberg v. 29.06.1995 – 8U 4041/93 – http://www.strafverteidiger.de/prod04. htm.

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Besprechung der Akten und der sich ergebenden Verteidigungsoptionen mit dem (häufig in Haft befindlichen) Mandanten, die Wahrung und Wahrnehmung jedweder sich bietenden prozessualen Möglichkeiten der Verteidigung in der Hauptverhandlung, Kreativität, Recherchearbeit sowie das permanente Studium höchstrichterlicher Entscheidungen. Das dem Verteidiger angelegte normative Korsett ist somit wesentlicher Bestandteil der Gewährleistung effektiver und verantwortungsbewusster Verteidigung.

2.  Staatlicher Beitrag zur Gewährleistung einer effektiven Verteidigung Die dargestellten Anforderungen an die Erfüllung der Pflichten des Verteidigers wirft einerseits die Frage auf ob und ggf. wie der Staat bzw. das Gericht auf eine mangelhafte und objektiv unsachgemäße Verteidigungsführung (oder gar fehlende Verteidigung) zu reagieren hat und andererseits wie der durch das Gericht beigeordneten Verteidiger zu vergüten ist um Verteidigung überhaupt effektiv führen zu können. 2.1.  Nichtbeiordnung bzw. Ausschluss ungeeigneter Verteidiger. Eine allgemeine Fürsorgepflicht des Gerichts gegenüber dem Angeklagten wird man nicht abstreiten können. Hieraus ist sodann abzuleiten, dass das Gericht bei einem Ausfall der Verteidigung zu reagieren hat. Dies ergibt sich schon aus der einfachgesetzlichen Regelung des § 140 StPO wonach bei Vorliegen der dort enumerativ aufgeführten Tatbestände dem Beschuldigten ein Verteidiger – und genau genommen sollte es heißen, ein effektiver Verteidiger – beizuordnen ist. Die Vorschrift des § 140 StPO ist somit eine klare Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes.9 Sofern das Gesetz eine Beiordnung eines Verteidigers in einem Strafverfahren zwingend als notwendig erachtet wird im Gegenzug hierzu der Staat durch das Gericht auch einzugreifen haben, sofern Verteidigung ausfällt oder die Arbeit eines Rechtsanwalts den Anforderungen an eine effektive Verteidigung nicht genügt. Der Bestellung zum Verteidiger darf kein wichtiger Grund entgegenstehen §  142 Abs. 1 Satz 2 StPO.10 Als solcher ist auch das Fehlen der für die Verteidigung erforderlichen Spezialkenntnis angenommen worden.11

  BVerfGE 46, 202, 210; BVerfGE 63, 380, 390.   EGMR EuGRZ 92, 542. 11   Schleswig StV 87, 478, 479; Meyer-Goßner, NJW 87, 1162. 9

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Auch soll die dem Gericht bekannte Unfähigkeit des Rechtsanwalts, einen Angeklagten sachgerecht zu verteidigen, dessen Bestellung entgegenstehen. Ebengleiches muss daher konsequenterweise für den Widerruf einer Bestellung gelten. Der Widerruf aus wichtigem Grund ist zwar nicht ausdrücklich vorgesehen, nach ganz h.M. – über die Tatbestände des § 138a StPO hinaus zulässig, wenn Umstände vorliegen, die den Zweck der Pflichtverteidigerbestellung, nämlich dem Beschuldigten einen erfahrenen und geeigneten Verteidiger zu sichern oder einen ordnungsgemäßen Verfahrensablauf zu garantieren, ernsthaft gefährden.12 Von Ausnahmefällen abgesehen, werden Verteidigerversäumnisse nach hM dem Beschuldigten zugerechnet.13 Der Beschuldigte ist jedoch weder in der Lage noch in der Pflicht, seinen Anwalt zu überwachen.14 Bei zunehmender Adversarisierung des (Straf-) Verfahrens und fortwährender Schaffung von Mitwirkungspflichten resultiert hieraus ein erhebliches Schutzbedürfnis gegenüber dem eigenen Verteidiger, doch ist strittig, ob der Staat intervenieren muss, um effektives Verteidigerverhalten zu sichern.15 Grundsätzlich folgt aus dem Recht auf wirksame Verteidigung keine Schutzpflicht des Staates zur Verhinderung oder Beseitigung von Fehlern des Verteidigers16, dies soll, so der EGMR für Wahl – als auch Pflichtverteidiger gelten.17 So vertrat der EGMR in der Cuscani Entscheidung die überzeugende Meinung, dass die staatlichen Organe nicht für jede unsachgemäße Verteidigungshandlung mitverantwortlich gemacht werden können. Darüber hinaus vertrage sich die notwendige staatliche Überwachung und Intervention nicht mit der Unabhängigkeit der Anwaltschaft. Gleichwohl vertreten Schädler/Jakobs die Auffassung, dass die Strafverfolgungsbehörden eine Überwachungspflicht insoweit treffe um die grundsätzliche Wirksamkeit der Verteidigung zu gewährleisten.18 Es ist schon bemerkenswert als auch zugleich bedauerlich, dass die Prinzipien der Unabhängigkeit der Anwaltschaft einerseits und das Recht des Beschuldigten auf effektive Verteidigung andererseits miteinander wettstreiten müssen. Leider handelt es sich hierbei um Feststellungen die jeder, um eine effektive Verteidigung bemühte Strafverteidiger in der forensischen Praxis macht.   BVerfGE 39, 238, 244.   Mosbacher JR 2007, 387 (388). 14   Ashworth, S. 77, 272 (275, 290f.). 15   Gaede, FG Fezer, 21 (47ff.); Meyer-Goßner/Schmitt StPO § 338 Rn 41; Wohlers in SK Vor § 137 Rn 81ff. 16   Grabenwarter in Ehlers § 6 Rn 111. 17   EGMR 19.12.1989 – 9783/82 Rn 65 – Kamasinski; EGMR 1.3.2006 (GK) – 56581/00 Rn 95 – Sejdovic; EGMR 27.4.2006 – 30961/03 Rn 49 – Sannino; EGMR 24.9.2002 – 32771/96 Rn 39 – Cuscani. 18   Schädler/Jakobs in KK Art. 6 Rn 62. 12 13

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Im Rahmen einer ermessensfehlerfreien Abwägung ist einem nicht effektiv verteidigten Beschuldigten mindestens ein weiterer Verteidiger einschließlich der Gewährung ausreichender Einarbeitungszeit beizuordnen. Dem ist sich rechtssystematisch anzuschließen. Die verbürgten Grundrechte des GG als auch die in der EMRK erfassten und garantierten Menschenrechte und Grundfreiheiten sind ihrer Systematik nach klassische Abwehrrechte des Bürgers gegenüber dem Staat und verpflichten diesen, Institutionen und Mechanismen bereitzuhalten um Verletzungen der verbürgten Rechte zu verhindern und ggf. abzustellen. Schon hieraus ergibt sich die Verpflichtung des Staates auf Intervention gegenüber Verteidigern die eine effektive Verteidigung im Sinne des Art. 6 EMRK nicht gewährleisten können oder wollen. Mit einer Entpflichtung des Verteidigers greift das Gericht intensiv in das Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Verteidiger ein und beschädigt – jedenfalls objektiv – das Recht auf freie Verteidigerwahl. Ein solcher Eingriff kann daher nur äußerst restriktiv zulässig und nur auf Ausnahmefälle begrenzt sein, in denen prima facies erkennbar ist, dass durch die konkrete Verteidigung das geschützte und zu garantierende Recht auf effektive Verteidigung andernfalls, d.h. ohne die Entpflichtung des mangelhaft arbeitenden Verteidigers, beschädigt würde. 4 Beispielfälle aus der forensischen Praxis sollen das Problem unzureichender bzw. fehlender Verteidigung verdeutlichen. 1. Fall:  Das OLG Koblenz hatte im Jahr 2009 – 2 StE 3/09-8 – über eine Anklage zu verhandeln in der es um die Unterstützung bzw. Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung ging. Der Hauptangeklagte sollte sich zeitweise in einem Ausbildungslager von Al Kaida in Afghanistan aufgehalten und im Übrigen Geld und militärisch verwendbare Ausrüstungsgegenstände (Ferngläser etc.) über ein weiteres Al Kaida Mitglied nach Afghanistan vermittelt haben. Der gerichtlichen Übung im Staatschutzverfahren entsprechend ordnete das OLG Koblenz jedem der beiden Angeklagten einen weiteren Verteidiger als Pflichtverteidiger nach § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO bei. Dieser wurde von dem Angeklagten gewünscht, so dass das Gericht hieran zunächst gebunden war. In der Hauptverhandlung stellte sich heraus, dass die Verteidigerin gerade erst 28 Jahre alt und der Angeklagte dieses Staatschutzverfahren einer ihrer ersten Mandanten war. Gegen Ende der Beweisaufnahme hat sich der Mandant entschlossen eine teilweise Einlassung abzugeben. Bei dieser Gelegenheit gestand er die Teilnahme an einem bewaffneten Angriff auf das afghanische Militär bei dem auch Soldaten getötet worden sein sollen. Dieser Sachverhalt war nicht Gegenstand der Anklage. Die Bundesanwaltschaft und das Gericht konnten nicht anders als nunmehr auch in Richtung eines Tötungsdelikts zu

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ermitteln. Das Geständnis wurde im weiteren Gang der Hauptverhandlung durch den Angeklagten widerrufen. Unabhängig davon, ob das zunächst abgegebene Geständnis mit oder ohne anwaltliche Vorberatung erfolgt ist, zeigt diese Situation deutlich dass ein Berufsanfänger mit der Verteidigung in einem Staatsschutzverfahren überfordert ist. 2. Fall:  Das OLG Stuttgart – 5-3 StE 6/10 – hatte in einem Staatschutzverfahren gegen 2 Angeklagte verhandelt. Die Verfahrensdauer war in der ersten Instanz mit über 4 Jahren und über 320 Hauptverhandlungstagen weit überdurchschnittlich. Nach ca. 250 Hauptverhandlungstagen ist einer der beiden Verteidiger erkrankt und konnte daher das Verfahren nicht fortführen, so dass das Gericht in laufender Hauptverhandlung einen neuen Verteidiger bestellen musste. Der Angeklagte wurde durch das Gericht nach einem Verteidiger seiner Wahl befragt woraufhin er 2 Verteidiger benannte. Diese wurden von dem Gericht angeschrieben und angefragt, ob sie denn bereit wären die Verteidigung fortzuführen bei gleichzeitiger Abgabe einer Erklärung, dass sie keinen Aussetzungsantrag stellen werden. Die Verteidiger führten hierauf gegenüber dem Gericht aus: „Sehr geehrter Herr Vorsitzender am OLG ......, zu Ihrem Schreiben vom 25. Juli 2014 teile ich Folgendes mit: Ich bin bereit die Verteidigung als weiterer gewählter Pflichtverteidiger von ..... zu übernehmen und sichere auch zu, am 15.08.2014 und ab 15.09.2014 jeweils montags und mittwochs an der Hauptverhandlung teilzunehmen. Um entscheiden zu können, ob eine Einarbeitung innerhalb eines Zeitraumes von einem Monat möglich ist, bitte ich um Mitteilung des Aktenumfanges, den Umfang der Anlagen zum Sitzungsprotokoll, Anzahl der bereits stattgefundenen Sitzungstage nebst erfolgten Beweisprogramm und dessen Inhalt. Zu Ihrer Anfrage betreffend des Hauptverhandlungstermins am 15. August 2014, bitte ich um Mitteilung des geplanten Beweisprogramms und um weitergehende Aufklärung, in welchem Zusammenhang das geplante Beweisprogramm zu sehen ist. Das Vertrauensverhältnis zu Herrn ............ begründet sich aus dem Umstand, dass ich den Titel Fachanwalt für Strafrecht führe und in den vergangenen Jahren bereits mehrfach in erstinstanzlichen Strafverfahren vor verschiedenen Oberlandesgerichten verteidigt habe. Weiter beantrage ich sogleich auch die Ausstellung und Erteilung einer Einzelsprecherlaubnis. Mit freundlichen Grüßen ..................... Rechtsanwalt Fachanwalt für Strafrecht“

Das OLG Stuttgart hat die im Vertrauen des Angeklagten stehenden Verteidiger nicht beigeordnet, da diese gegenüber dem Gericht nicht auf die Stellung eines Aussetzungsantrages verzichtet haben. Beigeordnet wurde vielmehr ein von dem Angeklagten nicht genannter Rechtsanwalt der auf einen Antrag auf Aussetzung zur Einarbeitung in die Ermittlungsakten und den

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an bisher 250 Hauptverhandlungstagen entstandenen Prozessstoff verzichtet hat. Es ist objektiv unmöglich und bedarf daher keinen weiteren Ausführungen, dass eine Einarbeitung in Verfahrensakten mit einem Umfang von 199 Stehordnern während laufender Hauptverhandlung nicht zu bewerkstelligen ist mit der Konsequenz, dass die Beiordnung des Rechtsanwalts unter Beachtung der Geltung des Prinzips wirksamer und effektiver Verteidigung nicht hätte erfolgen dürfen. Der Fall zeigt, dass für den Senat das einzige Kriterium der Beiordnung der Umstand auf den Verzicht der Stellung eines Aussetzungsantrages gewesen ist. Der beigeordnete Verteidiger hat daher ohne Notwendigkeit auf ein prozessuales Recht des Angeklagten verzichtet und hierdurch bekundet, dass er nicht bereit ist in dem Maß zu verteidigen wie das nach dem oben Ausgeführten und insbesondere der EMRK verlangt wird. Die Antwort mag sich ein jeder selbst geben. Unter diesen Parametern ist eine von der Europäischen Berufsordnung für Rechtsanwälte vorausgesetzte und eine durch das Verhalten des Verteidigers zu sichernde „faire Verfahrensführung“ (Ziffer 4.2. der Europäischen Berufsordnung) nicht zu erreichen. Auch muss sich der beigeordnete Rechtsanwalt fragen lassen, ob er entgegen Ziffer 4.3. der Europäischen Berufsordnung „die Interessen seines Mandanten gewissenhaft und furchtlos, ungeachtet eigener Interessen“ vertreten hat. Weswegen es in dem Interesse des Angeklagten gelegen hat auf einen Aussetzungsantrag zu verzichten ist nicht erkennbar. 3. Fall:  Ein weiterer Beispielsfall außerhalb eines Staatsschutzverfahrens bildet die Wirklichkeit der Berufsauffassung mancher Kollegen exemplarisch ab. Vor einem Amtsgericht in Baden-Württemberg waren zwei Personen beschuldigt mehrere Beleidigungs- und Körperverletzungshandlungen begangen zu haben. Bei einer der angeklagten Verletzungshandlungen sollen sie gemeinschaftlich agiert haben, wobei der Angeklagte B einen gefährlichen Gegenstand zur Tatausführung verwendet haben soll. Der Angeklagte A soll Faustschläge geführt haben. Die Akte bestand aus 479 Blatt. Dem Verteidiger des Beschuldigten B wurde, da sich dessen Mandant in Untersuchungshaft befand, frühzeitig Akteneinsicht gewährt. In der Hauptverhandlung war der Verteidiger mit genau jenem Aktenstand anwesend. Der Angeklagte B gab ein pauschales Geständnis im Sinne der Anklage ab. Der Geschädigte konnte sich bei seiner Vernehmung als Zeuge weder an den Angriff durch eine zweite Person noch an die Verwendung eines gefährlichen Gegenstands als Tatwerkzeug erinnern. Der als Zeuge bekundende Polizeibeamte, der den Geschädigten 1 Stunde nach der Tat vernommen

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hatte, gab an, dass der Geschädigte bei seiner polizeilichen Vernehmung ebenfalls nichts von einem zweiten Angreifer sprach und sich auch nicht an die Verwendung eines gefährlichen Gegenstand erinnert habe. Der Geschädigte war bei der polizeilichen Vernehmung, die gegen 2 Uhr stattfand, so der Polizeibeamte auf Frage des Mitverteidigers, orientiert und nicht merklich unter dem Einfluss von Alkohol gestanden, so dass eine gute Erinnerung vorhanden war. Unschwer anzunehmen, dass ohne das Geständnis eine Verurteilung des Angeklagten A nur nach § 223 StGB, nicht aber nach § 224 StGB erfolgt und der Angeklagte B freigesprochen worden wäre. Eine Verteidigung die nach Aktenlage weder die Chancen des Falls erkennt noch zur Vorbereitung der Hauptverhandlung vollständige Akteneinsicht hatte und dennoch dem Mandanten ein pauschales Geständnis anrät, begeht nicht nur einen Fehler sondern verteidigt erst gar nicht und war im bedauerlichsten Fall von Anbeginn an gar nicht bereit die Arbeit aufzunehmen. Diese drei Beispielsfälle, die noch problemlos fortzuführen wären, verdeutlichen was in Abhebung zu effektiver Verteidigung im Gerichtssaal viel zu häufig festzustellen ist. In diesen Fällen ist im Rahmen der prozessualen Fürsorgepflicht der Verteidiger zu entpflichten, da er weder dem Mandatsauftrag, noch seinen berufsrechtlichen Verpflichtungen und schon gar nicht den Anforderungen des Art. 6 EMRK an eine effektive Verteidigung genügt. Es sind allerdings nicht nur unfähige oder nicht verteidigungsbereite Kollegen Ursache für eine fehlende Verteidigung des Mandanten, sondern auch durch das Gericht zu vertretende Umstände, die die Arbeit des Verteidigers erschweren oder eine effektive Verteidigung verunmöglichen. Dies belegt schon der oben zitierte Fall des OLG Stuttgart, Az.: 5-3 StE 6/10 – und wird auch durch nachfolgenden Sachverhalt verdeutlicht: 4. Fall:  In einem Staatschutzverfahren hat der Strafsenat während laufender Hauptverhandlung eine über 400.000 Seiten starke Verfahrensakte eines Landgerichts beigezogen in die sich die Verteidigung einzuarbeiten hatte um den Anforderungen an ihre Berufspflichten etc. zu genügen Die Verteidigung stellte hierauf hin den nachfolgend wiedergegebenen Antrag auf Aussetzung des Verfahrens: „In dem Strafverfahren ..... u.a. Hier: ....................... wird beantragt 1.  das Verfahren für die Dauer von mindestens 6 Monaten zur Einarbeitung in die durch den Senat beigezogenen Verfahrensakten des Landgerichts K... –Az..............– (Staatsanwaltschaft K... –...................–) auszusetzen, § 265 Abs. 4 StPO i.V.m. § 228 Abs. 1 StPO. 2.  dass die Vorsitzende, respektive der Senat, gegenüber dem 3. Strafsenat (Kostensenat) zu dem Az. III-3 AR 128/16 eine Stellungnahme des Inhalts abgibt, dass ein faires

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Verfahren und eine wirksame Verteidigung in hiesigem Verfahren nur möglich ist, sofern den Unterzeichnern gemäß § 51 Abs. 1 S. 5 RVG ein Vorschuss auf die Pauschgebühr betreffend die bereits erfolgte umfangreiche Einarbeitung in die Verfahrensakten und die Telekommunikationsüberwachungsdateien des hiesigen Verfahrens sowie betreffend die nunmehr anfallende weitere Einarbeitung in die beigezogenen umfangreichen Verfahrensakten des Landgerichts K... –......................– bewilligt wird und ein Zuwarten auf den Zeitpunkt der Rechtskraft des Verfahrens insoweit unzumutbar ist. Gründe: I. Die Vorsitzende hat nach Senatsberatung am (Datum) die Beiziehung der Akten des bei dem Landgericht K... anhängigen Verfahrens gegen A..... u.a. –................– angeordnet. Der Verteidigung wurden die beigezogenen Akten auf einer DVD in der Hauptverhandlung am (Datum) und auf einer weiteren DVD am (Datum) (RA B.........) bzw. am (Datum) (RA R......) in elektronischer Form übergeben. Aus diesen beiden DVDs, auf denen sich die gesamten Verfahrensakten des Landgerichts K...... – ...........– befinden, ergeben sich 469 PDF-Dateien mit insgesamt 414360 Seiten. Die Verteidigung benötigt für eine den berufsrechtlichen Anforderungen (BORA) genügende Einarbeitung mindestens 6 Monate. Unter Annahme einer auch gerichtsbekannten Lesegeschwindigkeit ist für das Lesen einer Akte grundsätzlich eine Dauer von gut 8 Stunden pro 500 Aktenseiten zu veranschlagen. Zur Verdeutlichung und insofern auch Glaubhaftmachung (im untechnischen Sinne) verweise ich auf den Beschluß des KG Berlin vom 10.10.2012 – (1) 2 StE 11/11 – 4 (4/11) –. Hiernach hat der 1. Strafsenat des KG festgestellt: „Veranschlagt man für das Vorlesen in der Hauptverhandlung zügige 1 ½ Minuten pro Seite, die die Verteidigung für unmöglich hält, so ergeben sich schon knapp 104 Stunden reine Lesezeit, .... (bei 4156 Blatt).“ Ausgehend hiervon wäre bei eigenem Lesen mindestens eine Zeit von 1 Minute pro Seite zu veranschlagen. Doch selbst wenn man davon ausginge, dass jeder der beiden Unterzeichner – was deutlich zu niedrig angesetzt sein dürfte – im Schnitt auch nur 5 Sekunden pro Seite aufwendete und die Hälfte seiner wöchentlichen Arbeitszeit – nämlich 25 Stunden – alleine für das Studium dieser Beiakten verwendete, würde das Durcharbeiten der beigezogenen Akten – gerechnet ab dem ................... – mindestens 23 Wochen (oder 575,5 Stunden) dauern. Dies ist parallel zur laufenden Hauptverhandlung, in deren Rahmen bis Ende November ....... im Schnitt noch 1,36 Fortsetzungstermine pro Woche stattfinden, neben der Bewältigung eines normalen Kanzleibetriebs nicht möglich und zudem mit einem fairen Verfahren nicht vereinbar, da die Hauptverhandlung möglicherweise beendet wäre, bevor Herr ............. und seine Verteidigung die beigezogenen Akten vollumfänglich zur Kenntnis genommen hätten. Daher ist die Aussetzung der Hauptverhandlung obligatorisch und der Antrag zu Ziff. 1 auch mit „mindestens 6 Monaten“ formuliert. Durch die Beiziehung hat der Senat verdeutlicht, dass auch er die Akten für notwendig i.S.v. § 244 II StPO erachtet. Eine Veränderung der Sachlage i.S.v. § 265 Abs. 4 StPO liegt nach der Rechtsprechung auch in einer Veränderung der Verfahrenslage. Hier ist durch die Beiziehung der Verfahrensakten des Landgerichts K.... am (Datum) und am (Datum) ein gravierende Änderung der Verfahrenslage eingetreten, da die Akten mit rund 400000 Seiten einen exorbitanten Umfang aufweisen und deswegen ohne Aussetzung der Hauptverhandlung eine genügende Vorbereitung der Verteidigung unmöglich ist. Nach Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK ist jeder angeklagten Person ausreichend Gelegenheit und Zeit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung einzuräumen.

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Jeder Beschuldigte hat darüber hinaus das Recht auf ein faires Strafverfahren, zu dem auch die Gewährleistung einer wirksamen Verteidigung gehört, vgl. Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK; Art. 20 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG (BGH, Urteil vom 24.02.2016 – 2 StR 319/15). Da die Akten des Landgerichts K.... während laufender Hauptverhandlung beigezogen worden sind, kann eine Vorbereitung der Verteidigung i.S.d. Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK und eine wirksame Verteidigung i.S.d. Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK nur erfolgen, indem die Hauptverhandlung antragsgemäß ausgesetzt wird. Dem steht insbesondere nicht das besondere Beschleunigungsgebot in Haftsachen entgegen, da Herr .......... sich nicht in Haft befindet. Sollte dem Antrag nicht stattgegeben werden, stellte dies zugleich eine Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts von Herrn .......... auf Gewährung rechtlichen Gehörs dar, Art. 103 Abs. 1 GG. Alles andere würde zugleich eine unzulässige Behinderung der Verteidigung bedeuten. II. Da die Unterzeichner auch während der ausgesetzten Hauptverhandlung innerhalb der nächsten mindestens 6 Monate mit der Hälfte ihrer wöchentlichen Arbeitszeit – nämlich mit 25 Stunden, d.h. 3 Arbeitstage pro Woche – mit dem Einlesen in die beigezogenen Akten des Landgerichts K..... beschäftigt sind, ist ein faires Verfahren und eine wirksame Verteidigung nur gegeben, wenn den Unterzeichnern gemäß § 51 Abs. 1 S. 5 RVG auch ein Vorschuss auf die Pauschgebühr betreffend die bereits erfolgte umfangreiche Einarbeitung in die Verfahrensakten und die Telekommunikationsüberwachungsdateien des hiesigen Verfahrens sowie betreffend die nunmehr anfallende weitere Einarbeitung in die beigezogenen umfangreichen Verfahrensakten des Landgerichts K..... bewilligt wird. Der ... Strafsenat (Kostensenat) hat allerdings mit Beschluss vom (Datum) – Az. ......... – schon die Anträge der Unterzeichner vom (Datum) auf Bewilligung eines Vorschusses auf die Pauschgebühr anstelle des gesetzlichen Gebührentatbestandes VV Nr. 4100 RVG für die bereits erbrachte umfangreiche Einarbeitung in die bereits seit Hebst ......... vorliegenden Verfahrensakten und die Telekommunikationsüberwachungsdateien des hiesigen Verfahrens abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, ein Zuwarten auf die mit Sicherheit zu erwartende Pauschgebühr sei bis zur Rechtskraft des Verfahrens nicht unzumutbar. Diese Entscheidung verkennt das Grundrecht der Unterzeichner auf freie Ausübung ihres Berufs aus Art. 12 GG. Dies umso mehr, als nunmehr von den Unterzeichnern ein Einarbeiten in die beigezogenen Akten des Landgerichts K....... erwartet wird, mit dem die Unterzeichner – wie dargelegt – in den nächsten mindestens 6 Monaten mit durchschnittlich 3 Arbeitstagen gebunden sein werden. Ohne die Bewilligung eines Vorschusses auf die Pauschgebühr ist vor diesem Hintergrund ein faires Verfahren und eine wirksame Verteidigung nach der EMRK nicht gegeben, weshalb die Unterzeichner bis zum Ende dieser Woche eine Gegenvorstellung mit dem Antrag, den Beschluss vom (Datum) aufzuheben an den .... Strafsenat zu dem Az. – .............. – richten werden, in dessen Rahmen – wie unter Ziff. 2 beantragt – die Vorsitzende, respektive der Senat, gegenüber dem 3. Strafsenat eine Stellungnahme des Inhalts abgeben möge, dass ein faires Verfahren und eine wirksame Verteidigung in hiesigem Verfahren nur möglich ist, sofern den Unterzeichnern gemäß § 51 Abs. 1 S. 5 RVG ein Vorschuss auf die Pauschgebühr betreffend die bereits erfolgte umfangreiche Einarbeitung in die Verfahrensakten und die Telekommunikationsüberwachungsdateien des hiesigen Verfahrens sowie betreffend die nunmehr anfallende weitere Einarbeitung in die beigezogenen umfangreichen Verfahrensakten des Landgerichts K..... – Az. ............. – bewilligt wird und ein Zuwarten auf den Zeitpunkt der Rechtskraft des Verfahrens insoweit unzumutbar ist.

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Ebenfalls bis zum Ende der Woche werden die Unterzeichner über den hiesigen Senat gegenüber dem ..... Strafsenat beantragen, einen Vorschuss auf die Pauschgebühr betreffend die nunmehr anstehende Einarbeitung in die Beiakten des Landgerichts K... zu bewilligen. B........ Rechtsanwalt

R........ Rechtsanwalt

Der mit der Sache befasste Senat hat den Antrag auf Aussetzung zurückgewiesen. 2.2.  Gewährung einer angemessenen Vergütung. Nimmt man die Anforderungen an eine effektive Verteidigungsarbeit ernst so kommt man nicht umhin im Gegenzug zur Verpflichtung zur effektiven Verteidigung andererseits auch eine staatliche Verpflichtung anzunehmen, durch eine angemessene Vergütung des Verteidigers eine effektive Verteidigung zu gewährleisten. Hierzu soll zunächst der Umfang eines solchen Verfahrens und der anfallende notwendige Arbeitsaufwand dargestellt werden. Um den Aufwand der Verteidigung in einem Staatsschutzverfahren darzustellen ist zunächst auf einige Eckdaten solcher Verfahren hinzuweisen. Schwierigkeiten und Umfang solcher Verfahren: Der Verfasser hat in den letzten 10 Jahren in mehreren und deutlich unterschiedlichen Staatsschutzverfahren verteidigt, so dass hieraus ein repräsentatives Mittel abzuleiten ist. –– OLG Düsseldorf, auf welches noch zurückzukommen ist, mit einem Aktenumfang von ca. 50.000 Blatt, – III–VI 10/05 – –– OLG Koblenz – 2 StE 3/09-8 – ca. 20.000 Blatt –– KG Berlin – (1) 2 StE 11/11-4 (4/11) – ca. 40.000 Blatt –– OLG Stuttgart – 6-2 StE 1/14 – ca. 55.000 Blatt –– OLG Stuttgart – 6-2 StE 4/14 – ca. 7.000 Blatt –– OLG Koblenz – 1 StE 2/15 – ca. 20.000 Blatt und über 140.000 Telekommunikationsaufzeichnungen –– OLG Düsseldorf – III-7 StS 2/15 – ca. 500.000 Blatt Nimmt man damit für ein durchschnittliches Staatsschutzverfahren das Mittel des Aktenumfangs der o.g. Verfahren, beträgt dieser sicherlich 40.000 Seiten Akten. Allein mit der Erfassung des Inhalts der Ermittlungsakten ist unter Zugrundelegung der Lesegeschwindigkeit des kammergerichtlichen Beschlusses der Verteidiger somit über einen Zeitraum von 3 bis 4 Monaten mit dem vollständigen Teil seiner Arbeitskraft (bei 5 Tagen mit 8 Stunden) während des Vorverfahrens gebunden.

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Die Tätigkeit des Verteidigers in der Hauptverhandlung ist nicht minder zeitintensiv. Die durchschnittliche Verfahrensdauer und die Anzahl der Hauptverhandlungstage in den oben dargestellten Verfahren betrug im Mittel 59 Tage. Im Einzelnen: – OLG Düsseldorf 2006/2007, 133 Hauptverhandlungstage, Dauer der Hauptverhandlung 1 Jahr und 7 Monate und somit 7 Hauptverhandlungstage/Monat. – OLG Koblenz 2009/2010, 62 Hauptverhandlungstage, Dauer der Hauptverhandlung 12 Monate und somit 5,2 Hauptverhandlungstage/Monat – KG Berlin, 2011/2012, 70 Hauptverhandlungstage, Dauer der Hauptverhandlung 12 Monate und somit 5,8 Hauptverhandlungstage/Monat – OLG Stuttgart 2014/2015,58 Hauptverhandlungstage, Dauer der Hauptverhandlung 10 Monate und somit 5,8 Hauptverhandlungstage Tage/Monat – OLG Stuttgart 2014/2015, 23 Hauptverhandlungstage, Dauer der Hauptverhandlung 5 Monate und somit 4,6 Hauptverhandlungstage Tage/Monat – OLG Koblenz 2015, 11 Hauptverhandlungstage, Dauer der Hauptverhandlung 3 Monate und somit 3,6 Hauptverhandlungstage/Monat Hinzu kommen Zeiten der Vor- und Nachbereitung eines Hauptverhandlungstages. Es ist sicherlich nicht zu hoch gegriffen, wenn pro Hauptverhandlungstag ein weiterer Tag hierfür angesetzt wird. Dies bedeutet, dass in einem Staatsschutzverfahren oder in einem umfangreichen und langen Verfahren vor der Wirtschaftskammer oder dem Schwurgericht der Verteidiger während dieses Verfahrens die Hälfte seiner Arbeitszeit hierauf zu verwenden hat. Die gesetzliche Vergütung des (Pflicht-)Verteidigers nach dem RVG: In einem durchschnittlichen Staatschutzverfahren wird die Zeit des § 121 StPO von regelmäßig 6 Monaten voll ausgenutzt, wenn nicht sogar deutlich überschritten. Der Verteidiger erhält für seine Tätigkeit bis zum Abschluss des Vorverfahrens (Grund- und Verfahrensgebühr) – nur abhängig davon ob sich der Mandant in Untersuchungshaft befindet oder nicht- einen Betrag zwischen 292 € und 353 €. Dies ist nicht weiter zu kommentieren. Nicht besser sieht die Vergütung des nach § 140 StPO bestellten Verteidigers für die Tätigkeiten in der Hauptverhandlung aus. Nach den Erfahrungswerten des Autors (siehe oben) beträgt die Dauer der Hauptverhandlung mit 50 bis 60 Hauptverhandlungstagen 7 Monate. Hierfür erhält der Verteidiger eine gesetzliche Vergütung von ca. 28.000 €. Auch die gesetzliche Vergütung im Revisionsverfahren ist nicht ansatzweise dem Aufwand und der Schwierigkeit der Tätigkeit des Verteidigers entsprechend.

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Unabhängig von der Dauer der Hauptverhandlung und den in der Instanz gestellten Anträgen, erhält der Verteidiger für die Anfertigung einer Revisionsschrift eine gesetzliche Vergütung (vorausgesetzt der Mandant befindet sich in Untersuchungshaft) von 603 €. Dieser Vergütung kann in einem Staatsschutzverfahren die Anfertigung einer mehrere hundert Seiten starken und 4 Wochen andauernden Abfassung der Revisionsbegründung gegenüberstehen. In den o.g. Verfahren wurde der Verteidigung stets eine Pauschvergütung gewährt. Die Strafsenate haben damit anerkannt, dass es sich bei einem Staatschutzverfahren regelmäßig um ein besonders umfangreiches und besonders schwieriges Strafverfahren handelt. Leider sind die Pauschvergütungsentscheidungen immer zurückhaltender ausgefallen. Wenn man bedenkt, dass in den 1970er Jahren den Verteidigern in den RAF-Prozessen eine Pauschvergütung von ca. 1.000 DM pro Hauptverhandlungstag bezahlt wurde ist im Vergleich hierzu die heute gezahlte Vergütung inflationsbereinigt sogar geringer. Zwischenzeitlich haben mehrere OLGe Pauschvergütungsentscheidungen getroffen und hierbei den Verteidigern für die Teilnahme an der Hauptverhandlung keine über die gesetzlichen Gebühren hinausgehende Vergütung mehr zugesprochen, andere neuere Entscheidungen haben eine geringfügige Erhöhung von ca. 30% zuerkannt. Hier ist insbesondere auf folgende Entscheidungen zu rekurrieren: –– OLG Koblenz: – 2 OLG 1 OJs 2/14 – vom 16.10.2015 –– OLG Düsseldorf: – 2 StE 1/12-7 – vom 04.11.2014 –– OLG Stuttgart: – 6-2 StE 2/12 – vom 23.06.2015 Die festzustellende Tendenz der Strafsenate Pauschvergütungen auf ein Minimum zu kürzen oder überhaupt nicht mehr zu gewähren, widerspricht der Rechtslage und der Praxis aller Strafsenate in den letzten Jahrzehnten. Einzig und allein der BGH hat in seinem Beschluss vom 21.07.2016 – 4 StR 72/15 – das Doppelte der Wahlverteidigerhöchstgebühr für die Teilnahme des Verteidigers in der Revisionshauptverhandlung als angemessen anerkannt und hierdurch grundsätzlich gezeigt, dass eine solche Vergütungshöhe möglich aber auch erforderlich ist. Das BVerfG hat in ständiger Rechtsprechung die sogenannte „Sonderopfertheorie“ kreiert. Hiernach soll dem Pflichtverteidiger für seine Tätigkeit keine Vergütung sondern lediglich eine Aufwandsentschädigung zustehen. Diese Konstruktion verdeutlicht die Auffassung von Verteidigung und deren Rolle für eine aufgeklärte und rechtsstaatlich verfasste Gesellschaft. Darüber hinaus ist sie auch nicht mit Art. 3 GG vereinbar. Einzig und allein dem Strafverteidiger wird im Falle seiner Beiordnung zugemutet für seinen Beitrag zur Aufrechterhaltung einer funktionierenden Strafjustiz ein Opfer zu bringen. Keinem anderen Berufsstand wird (regelmäßig) eine solche Bürde auferlegt.

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Nach der Gesetzesnovellierung zur Pflichtverteidigung im Jahre 2010, wonach jedenfalls jedem Beschuldigten der sich gleich aus welchen Gründen in Haft befindet, ein Verteidiger beizuordnen ist, d.h. dieser einen Rechtsanspruch auf einen Pflichtverteidiger hat, ist das Institut der Pflichtverteidigung jedenfalls in den bedeutenden und schwierigen Strafverfahren die Regel geworden. Gerade in Haftsachen wird jedoch der Mandant besonderen Wert auf eine qualifizierte Verteidigung legen, die den Anforderungen des Art. 6 EMRK genügt. Und eben in diesen, sowohl für den Mandanten bedeutenden aber auch für die Strafjustiz und damit die Gesellschaft schwierigen Fällen, in welchen immer wieder grundlegende rechtsstaatliche Problemgestaltungen mit den zu klärenden Fragen auftreten, soll nach der Rechtsprechung des BVerfG eine deutlich reduzierte Vergütung des Verteidigers als Ausgleich für dessen Arbeit genügen. Die Diskrepanz zwischen Vergütung der Verteidiger einerseits und dessen Bedeutung und Beitrag für das Funktionieren des Rechtsstaats andererseits ergibt sich auch bei einem Vergleich der Vergütungsleistungen für beigeordnete Verteidiger und den für Hilfspersonen eines Strafverfahrens geleisteten Aufwendungen. Dies soll zunächst an einem Beispielsfall gegenübergestellt werden. In einem Staatsschutzverfahren vor dem OLG Stuttgart (Az.: 6-2 StE 1/14) waren für die Dauer der (gesamten) Hauptverhandlung Dolmetscher und Übersetzer (für die türkische Sprache) bestellt worden. Wie regelmäßig in Staatschutzverfahren kamen mehrere Verteidiger aus anderen Bundesländern und hatten teilweise An- und Abreisezeiten zu dem Gericht nach Stuttgart von 4 bis 5 Stunden. Einer der vom Gericht bestellten Dolmetscher musste aus NRW anreisen was ebenfalls eine An- und Abreisezeit von jeweils ca. 4 Stunden erforderte. Für die Teilnahme an der Hauptverhandlung erhält der Verteidiger je nach Dauer einen gesetzlichen Betrag von € 424 oder € 517 (im Fall der Vollstreckung von U-haft) VV Nr. 4120, 4141 RVG. Sofern die Hauptverhandlung zwischen 5 und 8 Stunden andauert erhält er einen Längenzuschlag von € 212 und für den Fall der Dauer über 8 Stunden einen solchen von € 424. Diese Zuschläge stellen jedoch eher die Ausnahme als die Regel dar. Der Dolmetscher wird nach dem § 9 JVEG entschädigt. Hiernach erhält er für die Teilnahme an der Hauptverhandlung einen Betrag von € 75/Stunde und für An- und Abreisezeiten € 70/Stunde. Der Dolmetscher hat somit im Beispielsfall für die Teilnahme an einem Hauptverhandlungstag (bei einer angenommenen durchschnittlichen Verhandlungsdauer von 5 Stunden) einen Betrag von € 375 + € 560 (8 Stunden Fahrzeiten* € 70) = € 935 aus der Staatskasse erhalten. Der Verteidiger bei demselben Zeitaufwand € 424 bzw. € 517. Diese Diskrepanz wird auch durch einen Blick in den Haushaltsplan des Landes Baden-Württemberg verdeutlicht.

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Im Jahr 2015 hat das Land Baden-Württemberg für sämtliche Strafverfahren in denen Pflichtverteidiger bestellt waren Zahlungen in Höhe von 30 Mio. € aufzuwenden gehabt. Im selben Zeitraum wurden Aufwendungen für Dolmetscher von € 7 Mio. geleistet. Die Zahlen sind insofern nicht direkt miteinander vergleichbar, da nur in einem Bruchteil aller Verfahren während der gesamten Dauer der Hauptverhandlung ein Dolmetscher erforderlich ist. Häufig wird ein Dolmetscher nur während der Aussage eines oder weniger Zeugen benötigt; in zahlreichen Verfahren ist er überhaupt nicht erforderlich. Die Aufwendungen für Sachverständige (außer Dolmetscher und Sprachmittler) betragen mit 90 Mio. € über das dreifache der für Pflichtverteidiger bezahlten Vergütung.19 Tatsächlich reduziert sich der staatliche Aufwand für Pflichtverteidigergebühren noch um den Betrag, den der Staat von verurteilten Beschuldigten infolge deren Verpflichtung zur Kostentragung nach § 467 StPO regressiert, so dass der tatsächliche Aufwand messbar unter den im Haushaltsplan aufgeführten 30. Mio. € liegt. Zwei Forderungen an den Gesetzgeber sind zur Wiederherstellung und Aufrechterhaltung effektiver Verteidigung im Sinne des Art. 6 EMRK zu stellen: 1. Verteidiger sind angemessen zu vergüten. Hierzu sind die gesetzlichen Gebühren des RVG deutlich anzuheben. Das BVerfG muss seine Rechtsprechung und hierbei insbesondere die Argumentation und Begründung eines „Sonderopfers“, die im Übrigen keinen Anhaltspunkt im Gesetz findet ersatzlos aufgeben. 2. Als Pflichtverteidiger sind nur Strafverteidiger, die einen ausreichenden Nachweis an Fortbildung erbringen beizuordnen. Schlussendlich ist noch festzuhalten, dass in den genannten Staatschutzverfahren die Verteidigung die zuerkannte Pauschvergütung teilweise erst Jahre nach dem rechtkräftigen Abschluss des Verfahrens erhalten hat. Dieser Zustand ist unzumutbar. Einzig und allein der Jubiliar hat in dem Verfahren vor dem OLG Düsseldorf – III–VI 10/05 – die Arbeit der Verteidigung auch in gebührenrechtlicher Hinsicht gewürdigt und bereits vor Beginn der Hauptverhandlung beschlossen, dass der Verteidigung während des Laufes des Verfahrens nicht nur die gesetzlichen Gebühren sondern auch und vor allem ein der Höhe nach festgelegter Vorschuss auf die zu erwartende Pauschvergütung bezahlt wird. Eine solche Verlässlichkeit und Anerkennung würde man sich heute nur wünschen können.

19  Seite 51 des Haushaltsplans Baden-Württemberg 2015/2016 veröffentlicht unter: http://www.statistik-bw.de/shp/2015-16/.

Verwertbarkeit im Ausland gewonnener Beweismittel Verwertbarkeit im Ausland gewonnener Beweismittel – Souveränitätsgarantie, Trennungsgebot, Verbot von Folter Ingo Rottländer A. Einleitung Der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf hatte sich in dem Strafverfahren gegen die sogenannte Düsseldorfer Zelle1 mit einer Vielzahl von Anträgen und Verwertungswidersprüchen der Verteidigung im Zusammenhang mit dem Einsatz amerikanischer Streitkräfte in Abbottabad/ Pakistan zu befassen, bei dem Usama Bin Laden getötet und Beweismittel gesichert wurden. Bekannt geworden ist diese Operation unter den Namen „Neptune’s Spear“ und „Geronimo“. In der Sache warf der Generalbundesanwalt den vier Angeklagten der „Düsseldorfer Zelle“ vor, als Mitglieder der Terrororganisation Al Qaida beabsichtigt zu haben, in Deutschland öffentlichkeitswirksame Sprengstoffanschläge zu verüben.

B.  Beweismittelgewinnung – Bezug zu einem der Angeklagten Eine militärische Kampfeinheit der Vereinigten Staaten von Amerika (USA) flog am 2. Mai 2011 nach Abbottabad/Pakistan, wo Usama Bin Laden in einem Anwesen vermutet wurde. Es ist nicht eindeutig zu beantworten, ob dieser Einsatz mit den pakistanischen Behörden abgestimmt war. Nach einigen Pressemitteilungen soll das pakistanische Außenministerium kritisiert haben, die USA hätten Pakistan erst nach dem Einsatz davon in Kenntnis gesetzt. Demgegenüber habe einem britischen Zeitungsbericht zufolge bereits im Jahr 2001 ein Geheimabkommen zwischen dem damaligen pakistanischen Präsidenten Musharraf und den USA einseitige Aktionen gegen Bin Laden in Pakistan gestattet. Amerikanische Einsatzkräfte stürmten das Anwesen in Abbottabad und töteten Bin Laden sowie weitere Personen. Ob die Militäreinheit bereits mit

  III-6 StS 1/12.

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dem Befehl in den Einsatz ging, Bin Laden in jedem Fall zu töten, oder er erschossen wurde, da die Einsatzkräfte ihn wegen eigener Lebensgefahr nicht festnehmen konnten, ist ebenfalls nicht sicher zu sagen. Im Zuge dieser Aktion sicherten die Einsatzkräfte routinemäßig viele elektronische Speichermedien, die sie noch in derselben Nacht zu einer Militärbasis in Bagram/Afghanistan verbrachten. Dort wurden sie unter Aufsicht eines Beamten des Federal Bureau of Investigation (FBI) forensisch gespiegelt und ihre Inhalte sogleich elektronisch an die Central Intelligence Agency (CIA) in den USA übermittelt, um sie der CIA und weiteren dortigen Behörden schnellstmöglich zur Auswertung im Rahmen der Terrorismusbekämpfung zur Verfügung zu stellen. Die Speichermedien selbst transportierte man noch in der gleichen Nacht auf dem Luftweg in die USA, wo sie asserviert wurden. Einige der auf diesen Medien vorhandenen Daten sind in der Folge unter dem Titel „Letters from Abbottabad: Bin Ladin Sidelined?“ („Briefe aus Abbottabad: Bin Laden ins Abseits gestellt?“) veröffentlicht worden und heute über die Homepage der West Point Akademie2 abrufbar. Eine Woche nach dem Einsatz in Abbottabad machte ein CIA-Mitarbeiter den Verbindungsbeamten des FBI in Deutschland auf einen Brief des ranghohen Al Qaida-Anführers Younis Al-Mauritani an Usama Bin Laden aus März 2010 aufmerksam, der sich auf einem der gesicherten Speichermedien befand. Neben einer umfangreichen Darlegung der „Strategiepläne“ Mauritanis enthält der Brief Personaldaten und Sachverhaltsschilderungen, die Bezüge zu einem vier Tage vor der Operation festgenommenen Angeklagten in dem Verfahren gegen die „Düsseldorfer Zelle“ aufwiesen. Der FBIVerbindungsbeamte leitete diesen Brief im Juni 2011 an das Bundeskriminalamt (BKA) weiter. Auf ein an die USA gerichtetes Rechtshilfeersuchen des Generalbundesanwalts aus Oktober 2011 ging der Brief im Jahr 2012 gerichtsverwertbar dort ein. Der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf hat das übersetzte Dokument in der Hauptverhandlung urkundlich verwertet. Dagegen hat sich die Verteidigung mit der bereits erwähnten Vielzahl von Anträgen und Verwertungswidersprüchen gewandt. Neben der Frage nach seiner Echtheit und inhaltlichen Aussage war insbesondere die Frage der Verwertbarkeit des Briefs als Beweismittel zu beantworten. Der Bundesgerichtshof hat in seiner späteren Beschlussverwerfung (§ 349 Abs. 2 StPO) ein Verwertungsverbot verneint und dazu ausgeführt, eine etwaige Völkerrechtswidrigkeit hätte jedenfalls kein Verwertungsverbot in dem gegen die Angeklagten gerichteten Strafverfahren zur Folge.3

 https://www.ctc.usma.edu/posts/letters-from-abbottabad-bin-ladin-sidelined.   Vgl. BGH 3 StR 466/15.

2 3

Verwertbarkeit im Ausland gewonnener Beweismittel

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C.  Einwendungen der Verteidigung Die Einwendungen der Verteidigung gegen die urkundliche Verwertung des Briefs hatten zusammengefasst die folgenden Inhalte. I.  Verletzung von Souveränitätsrechten der Islamischen Republik Pakistan Es wurde geltend gemacht, deutsche Strafverfolgungsbehörden hätten Souveränitätsrechte Pakistans verletzt, indem sie bereits mit dem Wunsch an amerikanische Behörden herangetreten sein könnten, durch einen Einsatz in Pakistan gezielt Beweismittel zu beschaffen. Darüber hinaus hätten die USA ihrerseits die völkerrechtlich verbindlich garantierte Souveränität und territoriale Integrität Pakistans verletzt, da der Einsatz nicht mit der pakistanischen Regierung abgestimmt gewesen sei. II.  Verstoß gegen das Trennungsgebot Deutsche Strafverfolgungsbehörden hätten durch die Entgegennahme von Informationen des FBI – das in den USA auch nachrichtendienstliche Aufgaben wahrnimmt – gegen das Trennungsgebot verstoßen bzw. den Trennungsgrundsatz gezielt umgangen. Ferner hätten die amerikanischen Einsatzkräfte bei der Beschaffung der Beweismittel in Pakistan oder einem damit einhergehenden Informationsaustausch zwischen amerikanischen Nachrichtendiensten und dem FBI in seiner Funktion als Polizeibehörde gegen ein dem deutschen Recht entsprechendes Trennungsgebot verstoßen und dadurch den ordre public verletzt. III.  Gezielte extralegale Tötung Bin Ladens Der Anspruch der Angeklagten auf ein faires Verfahren – Artikel 6 EMRK – sei verletzt worden, da ohne eine Tötung Bin Ladens eine Beweismittelsicherung in dessen Räumen nicht stattgefunden hätte. Die USA hätten sich für eine Bodenoperation entschieden, um Beweise sichern zu können, statt Bin Laden durch einen ebenso möglichen Luftangriff zu töten.

D. Prüfungsmaßstab I. Grundsatz Ein allgemein geltender Grundsatz, demzufolge jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein strafprozessuales Verwertungsverbot nach sich zieht, ist dem deutschen Strafverfahrensrecht fremd. Die Frage ist viel-

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mehr jeweils nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere der Art des Verbots und dem Gewicht des Verstoßes unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu beantworten.4 Auch wenn die StPO nicht auf Wahrheitserforschung „um jeden Preis“ gerichtet ist, schränkt die Annahme eines Verwertungsverbots eines der wesentlichen Prinzipien des Strafverfahrensrechts ein, nämlich den Grundsatz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind. Das Rechtsstaatsprinzip gestattet und verlangt die Berücksichtigung der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, ohne die der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden kann. Der Rechtsstaat kann sich nur verwirklichen, wenn ausreichende Vorkehrungen dafür getroffen sind, dass Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden. Daran gemessen bedeutet ein Beweisverwertungsverbot eine Ausnahme, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist.5 Danach ist ein Beweisverwertungsverbot von Verfassungs wegen bei schwerwiegenden, bewussten oder willkürlichen Verfahrensverstößen, bei denen die grundrechtlichen Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen worden sind, anzunehmen. II.  Beweismittelgewinnung im Ausland Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat – wenn auch konkret nur für den Fall einer Rechtshilfeleistung durch einen Mitgliedstaat der Europäischen Union – entschieden, dass bei der Beurteilung der Beweisverwertung im Inland nur in eingeschränktem Umfang geprüft werden dürfe, ob die Beweise nach dem innerstaatlichen Recht des ersuchten Mitgliedstaates rechtmäßig gewonnen wurden. Dies gelte jedenfalls dann, wenn die dortige Beweiserhebung nicht auf einem inländischen Rechtshilfeersuchen beruhe, sondern die entsprechenden Informationen im Rahmen eines dort bereits betriebenen Strafverfahrens erlangt wurden. Die Unverwertbarkeit im Ausland erhobener Beweise könne sich in einem solchen Fall nur ergeben, wenn die Beweise unter Verletzung völkerrechtlich verbindlicher und dem Individualrechtsgüterschutz dienender Garantien oder unter Verstoß gegen die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze im Sinne des ordre public gewonnen wurden.6

  Vgl. BVerfG 2 BvR 2101/09 (sog. Steuer-CD Entscheidung, Nichtannahmebeschluss).   Vgl. BVerfG 2 BvR 2101/09. 6   Vgl. BGHSt 58, 32 ff. 4 5

Verwertbarkeit im Ausland gewonnener Beweismittel

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Nach der Rechtsprechung des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs sind als allgemeine Regeln des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG u.a. das Prinzip der territorialen Souveränität und das völkerrechtliche Interventionsverbot zu qualifizieren. Aus diesen ergibt sich, dass es jedem Staat grundsätzlich untersagt ist, sich in Angelegenheiten einzumischen, die der inneren Jurisdiktion eines anderen Staates unterliegen.7 So ist ein völkerrechtlich begründetes Beweisverwertungsverbot in einem Fall bejaht worden, in dem deutsche Strafverfolgungsbehörden in das Souveränitätsrecht eines Staates eingegriffen hatten, der über die fraglichen Beweismittel verfügte.8 Außerhalb eines förmlichen Rechtshilfeersuchens waren der deutschen Polizei zu Informationszwecken niederländische Vernehmungsprotokolle überlassen worden, die nach Ausbleiben der betreffenden Zeugen in dem landgerichtlichen Verfahren durch Verlesung in der Hauptverhandlung als Beweismittel verwertet wurden, obschon die Niederlande der Verwertung widersprochen und eine förmliche Rechtshilfe berechtigterweise verweigert hatten. Die Benutzung dieser Protokolle als unmittelbare Beweismittel entgegen dem ausdrücklich erklärten Willen des ersuchten Staates machte die völkerrechtliche Verletzung des vertraglich zwischen den Niederlanden und Deutschland geltenden Europäischen Rechtshilfeübereinkommens aus.

E.  Verwertbarkeit des Briefs als Beweismittel I.  Keine Souveränitätsverletzung Es ist keine Rechtsverletzung deutscher Strafverfolgungsbehörden im Zusammenhang mit der Beschaffung des Briefs als Beweismittel zu erkennen, die ein Verwertungsverbot hätte begründen können. 1.  Da die USA einem ordnungsgemäßen Rechtshilfeersuchen des Generalbundesanwalts bereitwillig entsprochen haben, ist deren Souveränitätsrecht nicht verletzt worden. 2.  Darüber hinaus ist nicht feststellbar, dass deutsche Behörden Souveränitätsrechte Pakistans verletzt hätten. Deutsche Behörden waren weder an der Beschaffung des Briefs anlässlich des amerikanischen Militäreinsatzes in Pakistan beteiligt noch hatten sie die dortige Gewinnung von Beweismitteln im Vorfeld dieses Einsatzes veranlasst. Bei der Sicherung der Datenträger im Haus Bin Ladens handelte es sich nicht um eine Rechtshilfeleistung nach Artikel 11 des Rechtshilfevertrags zwischen Deutschland und den USA. Die Beweismittel wurden allein im

  Vgl. BGHSt 53, 238 ff.   Vgl. BGHSt 34, 334 ff.

7 8

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Rahmen einer von US-Kräften im Auftrag ihrer Regierung ausgeführten militärischen Operation gewonnen. 3.  Schließlich hätte auch eine – unterstellte – Verletzung der völkerrechtlich garantierten Souveränität und territorialen Integrität Pakistans durch die USA die Annahme eines Beweisverwertungsverbots nicht gerechtfertigt. Wie bereits (s.o. D. I., II.) dargetan ist im Falle eines Verstoßes gegen Beweiserhebungsvorschriften nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere der Art des Verbots und dem Gewicht des Verstoßes, unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu entscheiden, ob ein Verwertungsverbot anzunehmen ist. Dabei sind hier folgende Umstände von Belang. Eine Souveränitätsverletzung Pakistans durch die USA berührte nicht die rechtlich geschützte Sphäre der Angeklagten, denn sie sind keine pakistanischen Staatsangehörigen und stünden damit einer völkerrechtswidrigen Souveränitätsverletzung fern. Insoweit ist anerkannt, dass sich ein Einzelner, der von einer völkerrechtswidrigen Maßnahme als Reflex betroffen ist, in einem gegen ihn gerichteten Strafverfahren wegen einer im Inland begangenen Straftat grundsätzlich nicht auf eine Völkerrechtswidrigkeit berufen kann.9 Dies insbesondere dann, wenn ihm die völkerrechtliche Verpflichtung keine Rechte als Individuum gewährt. Der amerikanische Einsatz in Pakistan diente nicht der Beschaffung von Beweismitteln gegen die Angeklagten. Bei dem dort gesicherten Datenträger mit dem Brief Al-Mauritanis, der an einer Textstelle Bezüge zu einem der vier Angeklagten aufweist, handelte es sich vielmehr um einen Zufallsfund. Die von einer Souveränitätsverletzung betroffene Islamische Republik Pakistan hat kein Interesse an der Herausgabe der gesicherten Datenträger durch die USA gezeigt. Nicht deutsche Strafverfolgungsbehörden hätten die Souveränität Pakistans verletzt, sondern die USA als Drittstaat, ohne dass Deutschland dies initiiert oder begleitet hätte. Schließlich spricht die Schwere des Tatvorwurfs – Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung und die Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat – gegen die Annahme eines Beweisverwertungsverbots. II.  Kein Verstoß gegen das Trennungsgebot Nach dem Trennungsgebot dürfen Nachrichtendienste und Polizeibehörden grundsätzlich keine Daten austauschen.10 Darüber hinaus besagt es, dass Nachrichtendienste keine polizeilichen Zwangsbefugnisse besitzen dürfen,

  Vgl. BGH 3 StB 8/90.   Vgl. BVerfG NJW 2013, 1499 ff.

9 10

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also keine Vernehmungen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen durchführen oder anderen Zwang ausüben dürfen.11 Nachrichtendienste dürfen mithin nicht zur gezielten Erlangung von Zufallsfunden für nicht-nachrichtendienstliche – also polizeiliche oder strafverfolgungsrechtliche – Zwecke eingesetzt werden. 1. Es ist keine Verletzung des Trennungsgebots durch deutsche Strafverfolgungsbehörden zu erkennen, die Informationen entgegengenommen haben, die das FBI als Mitglied des Verbunds amerikanischer Nachrichtendienste übermittelt hat. Nach deutschem Recht ist trotz des Trennungsprinzips ein Datenaustausch zwischen Polizeibehörden und Nachrichtendiensten ausnahmsweise zulässig, wenn er einem herausragenden öffentlichen Interesse dient. Dazu gehört insbesondere die effektive Terrorismusbekämpfung.12 Gemäß § 20 Abs. 1 BVerfSchG ist das Bundesamt für Verfassungsschutz befugt, den Staatsanwaltschaften Informationen einschließlich personenbezogener Daten zu übermitteln, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass diese Übermittlung zur Verhinderung oder Verfolgung von Staatsschutzdelikten erforderlich ist. Für den Bundesnachrichtendienst und den Militärischen Abschirmdienst gilt die Vorschrift entsprechend.13 Aus § 161 Abs. 2 StPO folgt die Befugnis der Strafverfolgungsbehörden, derart erlangte Erkenntnisse in einem Strafverfahren zu Beweiszwecken zu verwerten, wenn die dort genannten Voraussetzungen erfüllt sind (Gedanke des hypothetischen Ersatzeingriffs). Es stellt sich hier zunächst die Frage, ob lediglich die in § 161 Abs. 2 StPO genannte Katalogtat zu prüfen ist oder auch alle anderen Anordnungsvoraussetzungen einer entsprechenden Maßnahme nach der StPO. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat dies in der oben bereits erwähnten Entscheidung14 offen gelassen, da dort auch die weiteren Voraussetzungen erfüllt waren. Geht man davon aus, es sei nicht nur das Vorliegen einer Katalogtat zu prüfen, sondern auch die anderen Anordnungsvoraussetzungen einer entsprechenden Maßnahme nach der StPO, schließt sich die Frage an, welche Norm der StPO einen Einsatz wie den der USA in Pakistan – Sicherung von Beweismitteln anlässlich der Durchsuchung eines Hauses in einem anderen Staat – vorsehen könnte. Wie bereits oben (D. I.) dargetan setzt die Weiterverwendung der Daten im Strafverfahren nur grundsätzlich voraus, dass sie im Ausgangsverfahren rechtmäßig erhoben wurden. Im Falle rechtswidriger Datenerhebung ist

  Vgl. BVerfG NJW 2011, 2417 ff.   Vgl. BVerfG NJW 2013, 1499 ff. 13   § 9 BND-Gesetz, § 11 MAD-Gesetz. 14   Vgl. BGHSt 58, 32 ff. 11 12

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hierüber anhand der von der Rechtsprechung für sogenannte relative Verwertungsverbote vertretenen Abwägungslehre zu entscheiden.15 Unterstellt man also erneut, die Durchsuchung – §§ 94 ff. und 102 ff. StPO als entsprechende strafprozessuale Maßnahmen – des Hauses Bin Ladens und die dortige Sicherung der Datenträger sei wegen einer Verletzung des Souveränitätsrechts Pakistans rechtswidrig gewesen, führt die dann vorzunehmende Abwägung – wie bereits oben (E. I.) dargestellt – nicht zu einer ausnahmsweisen Unverwertbarkeit des Briefs als Beweismittel gemäß § 161 Abs. 2 StPO. Ist der Datenaustausch zwischen Nachrichtendiensten und Strafverfolgungsbehörden in Deutschland im Falle von Staatsschutzdelikten nach § 20 BVerfSchG zulässig, verstößt auch die Entgegennahme von Informationen des FBI – als Teil des amerikanischen Nachrichtendienstverbunds – durch den Generalbundesanwalt zum Zwecke der Terrorismusbekämpfung nicht gegen das Trennungsgebot. 2.  Ebenfalls zu verneinen ist die Verletzung eines dem deutschen Recht entsprechenden Trennungsgebots durch amerikanische Behörden, deren Nachrichtendienst (CIA) dem FBI als Polizei- bzw. Strafverfolgungsbehörde Informationen übermittelt hat. Die Frage, ob das Trennungsgebot im Rahmen des eingeschränkten Prüfungsmaßstabs (s.o. D. II.) als ein in Deutschland nach Art. 25 GG verbindlicher völkerrechtlicher Mindeststandard oder als unabdingbarer Grundsatz der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung (ordre public)16 anzusehen ist, soll mangels Verletzung dieses Gebots an dieser Stelle offen bleiben. Es ist nichts dafür ersichtlich, amerikanische Nachrichtendienste seien bei der Operation in Pakistan gezielt eingesetzt worden, um Beweismittel für polizeiliche Zwecke oder zur Strafverfolgung, also für nicht-nachrichtendienstliche Zwecke, zu erlangen. Die anschließende Übermittlung der Inhalte der gesicherten Speichermedien an die CIA diente dazu, sie dieser und anderen Behörden zur Auswertung im Rahmen der Terrorismusbekämpfung zur Verfügung zu stellen. Da nach deutschem Recht eine Datenübermittlung zwischen Nachrichtendiensten und Polizeibehörden ausnahmsweise dann zulässig ist, wenn sie einem herausragenden öffentlichen Interesse, hier der effektiven Terrorismusbekämpfung, dient, verstößt auch der Informationsaustausch zwischen amerikanischen Nachrichtendiensten und dem FBI in seiner Funktion als Bundespolizeibehörde nicht gegen das Trennungsgebot.

  Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt § 161 Rn 18c.   Vgl. BVerfGK 13, 128 ff.

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III.  Gezielte extralegale Tötung Bin Ladens Es folgt schließlich kein Verwertungsverbot aus einer Verletzung des Anspruchs der Angeklagten auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK. 1.  Wie bereits oben (D. II.) dargestellt kann sich die Unverwertbarkeit im Ausland erhobener Beweise nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nur ergeben, wenn diese Beweise unter Verletzung völkerrechtlich verbindlicher und dem Individualrechtsgüterschutz dienender Garantien oder unter Verstoß gegen die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze im Sinne des ordre public gewonnen wurden. Das in Art. 3 EMRK statuierte Folterverbot ist eine solche völkerrechtlich verbindliche und individualrechtsgüterschützende Garantie.17 2.  Der Anspruch eines Angeklagten auf ein faires Verfahren ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verletzt, wenn in einem strafgerichtlichen Verfahren Beweise verwertet werden, die durch Folter erlangt sind.18 Die Beweislast hängt im Falle der Behauptung, eine Aussage sei unter Folter oder Anwendung unmenschlicher oder entwürdigender Methoden zustande gekommen, davon ab, ob die Vernehmung aus einem Staat mit grundsätzlich funktionierender Strafrechtspflege und rechtsstaatlich agierenden Strafverfolgungsbehörden stammt oder aus einem Staat, dessen Rechtssystem keine Gewähr dafür bietet, dass Foltervorwürfe effektiv verfolgt werden. Im ersten Fall ist es Sache des Beschuldigten, konkrete Umstände zu benennen, die zu der Überzeugung führen, die Aussage sei dennoch unter Folter zustande gekommen. Im zweiten Fall genügt es dagegen, wenn der Beschuldigte ein „tatsächliches Risiko“ dafür darlegt, dass die fragliche Aussage mit solchen Methoden erlangt sein könnte. Verwertbar ist eine Aussage unter diesen Bedingungen nur dann, wenn das Gericht die Überzeugung erlangt, die Angaben seien im konkreten Fall frei von Folter zustande gekommen; verbleibende Zweifel führen zur Unverwertbarkeit.19 3. Nach Art. 1 der UN-Antifolterkonvention bezeichnet der Ausdruck Folter jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, u.a., um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, oder um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen. Danach kommt ein Verwertungsverbot grundsätzlich auch in Betracht, wenn ein Mensch getötet wird, um ein Beweismittel gewinnen zu können. Voraussetzung dafür ist aber, dass gezielt zum Zwecke der Erlangung des

  Vgl. BGHSt 58, 32 ff.   Vgl. EGMR, El Haski v. Belgien, Urteil vom 25.9.2012 – 649/08. 19  Vgl. Heine NStZ 2013, 680 ff. 17 18

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Beweisstücks – nicht nur bei Gelegenheit, gleichsam „anlässlich“ – getötet wurde. Es muss also die gleiche Mittel-Zweck-Relation wie im Falle der Folter vorliegen. 4.  An dieser Mittel-Zweck-Relation hat es im Falle der Tötung Bin Ladens gefehlt, unabhängig davon, ob er von vornherein im Rahmen des Einsatzes getötet werden sollte oder die beteiligten Einsatzkräfte ihn wegen der Gefahr für ihr eigenes Leben nicht festnehmen konnten. Es bestanden keine Anhaltspunkte – kein „tatsächliches Risiko“ – dafür, die US-Kräfte hätten Bin Laden getötet, um die dortigen Datenträger sichern zu können. Derartige Anhaltspunkte ergaben sich insbesondere nicht aus der Behauptung der Verteidigung, die USA hätten sich für eine Bodenoperation und gegen einen Luftangriff entschieden, da man Beweise habe sichern wollen, und ohne eine Tötung Bin Ladens als letztem Gewahrsamsinhaber hätte eine Beschlagnahme in dessen Räumlichkeiten nicht stattgefunden. Die aufgefundenen Beweismittel wären auch dann gesichert worden, wenn man Bin Laden nicht angetroffen hätte, ihm die Flucht gelungen wäre oder er sich widerstandslos hätte festnehmen lassen. Selbst wenn die Überlegung, Beweismittel sichern zu können, bei der Entscheidung der USA für einen Bodeneinsatz eine Rolle gespielt haben sollte, liegt die Annahme fern, die Einsatzkräfte hätten Bin Laden oder andere anwesende Personen getötet, um deren Widerstand gegen die beabsichtigte Beweismittelsicherung zu überwinden. Da es an einer der Foltersituation vergleichbaren Mittel-Zweck-Relation fehlte, konnte der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf die Frage der Beweislast offen lassen. Es bedurfte keiner Aufklärung mehr, ob Umstände wie die Unterhaltung des Gefangenenlagers Guantanamo, die Anwendung von Waterboarding als „Verhörmethode“ und die Umsetzung von Überwachungsprogrammen wie Prism Zweifel daran begründen, die USA seien als Staat mit grundsätzlich funktionierender Strafrechtspflege und rechtsstaatlich agierenden Strafverfolgungsbehörden im Sinne des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu qualifizieren.

Strafprozessuale Verwertung einer BKAGWRÜ Strafprozessuale Verwertung der Erkenntnisse aus einer Wohnraumüberwachung nach dem BKAG (§§ 4a, 20h, 20v BKAG, 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO) Jan van Lessen I. Einleitung Der 6. Strafsenat des OLG Düsseldorf hat sich in zwei umfangreichen Verfahren mit der Verwertung von Aufzeichnungen aus präventiv-polizeilichen Wohnraumüberwachungen (WRÜ) befasst. Der erste Fall, das sog. KhalilVerfahren1, hat über die Revision der Angeklagten zu der vielbeachteten Entscheidung des 3. Strafsenats im 54. Band der amtlichen Sammlung geführt, in der sich der BGH erstmals mit der Auslegung der Verwendungsregel des § 100d Abs. 5 Nr. 32 befasst hat3. Im zweiten Verfahren gegen die Al QaidaMitglieder der sog. Düsseldorfer Zelle4 hat das Bundeskriminalamt (BKA) in einem Gefahrenabwehrverfahren nach dem BKAG zum ersten Mal sein neues Instrumentarium aus der BKAG-Novelle vom 25.12.20085 auf breiter Front eingesetzt, unter anderem in Gestalt einer umfangreichen akustischen WRÜ. Dieses Verfahren hat den Staatsschutzsenat bei der Entscheidung über die Verwertung der WRÜ insofern vor neue Fragen gestellt, als sich der Verdacht einer Beteiligung an der Al Qaida gegen zwei der vier Angeklagten maßgeblich erst aus der WRÜ des BKA ergab (Fehlen einer davon unabhängigen Verdachtslage im Sinne des § 100c Abs. 1 Nr. 1) und gegen die beiden anderen Angeklagten aufgrund zahlreicher weiterer Überwachungsmaßnahmen und der Auswertung sichergestellter Datenträger neben der WRÜ eine Vielzahl anderer Beweismittel zur Verfügung stand (Frage der Unverwertbarkeit der WRÜ unter dem Gesichtspunkt deren Subsidiarität gemäß § 100c Abs. 1 Nr. 4). Die Antwort auf diese Fragen hängt von der Auslegung der sog. Zweckbindungsklausel in § 100d Abs. 5 Nr. 3 Var. 1 ab, die im Zentrum dieses Beitrags steht.   Urt. v. 05.12.2007 (III–VI 10/5, 2 StE 6/05-8 GBA Karlsruhe).   Vorschriften ohne Nennung des Gesetzes sind solche der StPO. 3   BGHSt 54, 69 ff. 4   Urt. v. 13.11.2014 (III-6 StS 1/12, 3 StE 4/12-1 GBA Karlsruhe). 5   BGBl. I S. 3083. 1 2

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II.  Überblick über die gesetzliche Regelung Mit der BKAG-Novelle vom 25.12.2008 hat das BKA die Aufgabe der Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus erhalten. Hierzu ist es in §§ 20a ff. BKAG mit umfangreichen Eingriffsbefugnissen ausgestattet worden6. Dazu gehört gemäß § 20h BKAG die Befugnis der WRÜ zur Abwehr dringender Gefahren für den Bestand oder die Sicherheit des Staates, Leib, Leben oder Freiheit von Personen oder Sachen von bedeutendem Wert, deren Erhaltung im öffentlichen Interesse geboten ist. Die Vorschrift enthält ähnlich wie § 100c Abs. 4 und 5 eine Regelung zum Schutz des Kernbereichs der persönlichen Lebensgestaltung bei der Anordnung und Durchführung der WRÜ sowie einen Richtervorbehalt für die Anordnung dieser Maßnahme7. Die Übermittlung der erhobenen Daten zur Strafverfolgung setzt nach § 20v Abs. 5 Nr. 3 BKAG voraus, dass die Daten für Zwecke der Strafverfolgung erforderlich und ein hierauf gerichtetes Auskunftsersuchen nach der StPO zulässig ist. Mit dieser Regelung wollte der Gesetzgeber erreichen, dass die Verwendungs­regel des § 100d Abs. 5 Nr. 3 schon im Übermittlungsverfahren beachtet wird8. Darüber hinaus regelt § 20v Abs. 5 Nr. 3 Satz 3 BKAG aus Gründen der Verhältnismäßigkeit eine an die Strafandrohung anknüpfende Einschränkung der Übermittlungsbefugnis. Danach dürfen personenbezogene Daten aus besonders eingriffsintensiven Maßnahmen wie der WRÜ nur zur Verfolgung von Straftaten übermittelt werden, die im Höchst­maß mit mindestens fünf Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind. Diese Schwelle hat das BVerfG in seiner Entscheidung vom 20.04.2016 allerdings als unzureichend eingestuft, weil sie Delikte einschließe, die nur zur mittleren Kriminalität zu rechnen seien9. Für die WRÜ lässt sich dieses Problem indes vermeiden, indem man dem Willen des Gesetzgebers folgend bereits im Übermittlungsverfahren die Beschränkung auf Katalogtaten des § 100c Abs. 2 durch § 100d Abs. 5 Nr. 3 beachtet, für die das Gesetz durchweg höhere Strafen androht. Während die letztgenannte Voraussetzung keine besonderen Schwierigkeiten bereitet, wirft die sowohl vom BKA als übermittelnde Behörde als auch von dem an der Verwendung der WRÜ interessierten Strafgericht zu beach6   BGBl. I S. 3083., vgl. dazu BT-Drs. 16/10121 (Gesetzentwurf der Bundesregierung); Roggan, NJW 2009, 257; Baum, Schantz, ZRP 2008, 137. 7  Zur teilweisen Verfassungswidrigkeit und einschränkenden Auslegung des § 20h BKAG sowie des im Folgenden angesprochenen § 20v Abs. 5 BKAG vgl. BVerfG, Urt. v. 20.04.2016 – 1 BvR 966/09 u.a., NJW 2016, 1781 ff., Rn 178–205 und Rn 304–322. 8   BT-Drs. 16/10121, S. 36 f. Das hat das BVerfG in seiner Entscheidung vom 20.04.2016 verkannt und ist deshalb irrig von einer unzulässigen Erweiterung der Übermittlungsbefugnis durch § 20v Abs. 5 Nr. 3 BKAG gegenüber § 100d Abs. 5 Nr. 3 ausgegangen, vgl. NJW 2016, 1781 ff., Rn 316. 9   NJW 2016, 1781 ff., Rn 316.

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tende Verwendungsregel des § 100d Abs. 5 Nr. 3 Var. 1 einige weitere Fragen auf, denen im Folgenden nachgegangen wird.

III.  Voraussetzungen der Verwendungsregel des § 100d Abs. 5 Nr. 3 Var. 1 1.  „verwertbare personenbezogene Daten“ In § 100d Abs. 5 Nr. 3 ist der früher genutzte Begriff „personenbezogene Informationen“ mit der Wendung „personenbezogene Daten“ an die Terminologie des § 3 Abs. 1 BDSG angepasst. Danach handelt es sich um Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren Person, also praktisch alles, was aus einer WRÜ für ein Strafverfahren von Interesse ist. Die weitere Voraussetzung, wonach nur „verwertbare“ Daten verwendet werden dürfen, bezieht sich jedenfalls auf die Verwertungsverbote des § 100c Abs. 5 und 6. Das hat der BGH in der Khalil-Entscheidung in Auseinandersetzung mit der von Wolter vertretenen Gegenmeinung, es komme auf die Verwertbarkeit im polizeirechtlichen Ausgangsverfahren an, zu Recht klargestellt10. Dieses Verständnis trägt auch dem Anliegen Rechnung, der Gefahr einer Umgehung der Verwertungsbedingungen der StPO zu begegnen. Die praktische Bedeutung dieser Verwendungsvoraussetzung liegt weniger im Verbot der Verwertung von Erkenntnissen aus Äußerungen, die dem Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzurechnen sind (§ 100c Abs. 5 S. 3). Aufzeichnungen solcher Äußerungen sind nach § 20h Abs. 5 S. 7 BKAG bereits im Zuge der Erhebung und Auswertung durch das BKA zu löschen, so dass ein vom BKA übermittelter Datenbestand derartige Aufzeichnungen nicht (mehr) enthalten sollte. Praktisch bedeutsamer sind die Verwertungsverbote aus § 100c Abs. 6, weil das Verbot des Abhörens in den Fällen des § 53 und die Einschränkungen der Verwertbarkeit in den Fällen der §§ 52, 53a keine inhaltsgleiche Entsprechung im BKAG finden. Nach § 20u Abs. 1 BKAG sind Datenerhebungen nur bei den in § 53 Abs. 1 Nrn. 1, 2 und 4 genannten Personengruppen (Geistliche, Verteidiger und Parlamentsabgeordnete) generell verboten, während für die übrigen nach § 53 Zeugnisverweigerungsberechtigten (z.B. Rechtsanwälte, Ärzte, Therapeuten und Journalisten) gemäß § 20u Abs. 2 BKAG nur eine „verschärfte” Verhältnismäßigkeitsprüfung gilt11. Bei der   BGH, Urt. v. 14.09.2009 – 3 StR 552/08, BGHSt 54, 69 ff., Rn 31/32.   Die Abstufung zwischen einem absoluten/abwägungsfesten Schutz für die genannten drei Personengruppen und einem relativen/abwägungsoffenen Schutz für andere Zeugnisverweigerungsberechtigte beruht auf dem Kernbereichsschutzkonzept des BVerfG. Danach haben Kontakte mit den in § 53 Abs. Nrn. 1, 2 und 4 StPO genannten Personen regelmäßig 10 11

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Verwendung im Strafprozess sollte man daher ein Augenmerk darauf richten, ob die vom BKA übermittelten Daten Aufzeichnungen enthalten, die zwar zur Gefahrenabwehr genutzt werden durften, nach § 100c Abs. 6 aber zur Strafverfolgung unverwertbar sind. 2.  „durch eine entsprechende polizeiliche Maßnahme erlangt“ § 100d Abs. 5 Nr. 3 setzt weiter voraus, dass die Daten „durch eine entsprechende polizeiliche Maßnahme erlangt“ wurden. Damit wollte der Gesetzgeber ein Umgehungsverbot in dem Sinne aufstellen, dass nicht Daten, die ihrer Art nach für den Zweck der Strafverfolgung nicht hätten erhoben werden dürfen, auf dem Umweg der Erhebung in präventiven Verfahren in das Strafverfahren eingeschleust werden12. Ausgeschlossen ist damit insbesondere die Verwendung der Bilddateien aus einer nach § 20h Abs. 1 Nr. 2 BKAG neben der akustischen Überwachung auch optischen WRÜ. Hat das BKA in dem Gefahrenabwehrverfahren das wirksamere Mittel der auch optischen Überwachung13 eingesetzt, fragt sich, ob das Strafgericht wenigstens die Tonaufzeichnung verwenden darf. Dies wird in der Literatur teilweise mit der Begründung abgelehnt, die Maßnahme lasse sich nicht unter § 100d Abs. 5 Nr. 3 subsumieren, weil „mehr überwacht worden ist als nur das gesprochene Wort“14. Wäre es dem BKA in dem Gefahrenabwehrvorgang gegen die „Düsseldorfer Zelle“ der Al Qaida gelungen, die vom AG Wiesbaden angeordnete optisch-akustische WRÜ umzusetzen15, hätte diese Auffassung (umfassende Unverwert­bar­­keit der präventiven WRÜ) dazu geführt, dass wenigstens zwei der vier Angeklagten nicht wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an der Al Qaida bzw. deren Unterstützung hätten verurteilt werden können, weil ihre Strafbarkeit nur mit der WRÜ zu beweisen war. unmittelbaren Bezug zur Menschenwürde, woraus sich ein absoluter Achtungsanspruch ergebe. Für andere Zeugnisverweigerungsberechtigte hat das BVerfG diese Regelvermutung verneint (BVerfGE 109, 279 (322f.) = NJW 2004, 999). 12   Vgl. BT-Drs. 13/8651, S. 15 zu § 100f Abs. 2 i.d.F. des OrgKVerbG. 13   Damit lässt sich bspw. der wortlose Zusammenbau eines Sprengsatzes in der Wohnung dokumentieren. Die Bildaufzeichnung in der Wohnung erleichtert darüber hinaus die Zuordnung einzelner Redebeiträge, die bei einer lediglich akustischen WRÜ mitunter große Schwierigkeiten bereitet, wenn sich mehrere Personen an einem Gespräch beteiligen, die anhand der Stimmen schwer zu unterscheiden sind, oder das Gespräch durch lauten Radio- oder Fernsehton überlagert wird. Der weitere Vorteil einer Identifizierung der Personen in der überwachten Wohnung lässt sich bei einer akustischen WRÜ weitgehen durch eine Videoüberwachung außerhalb der Wohnung gem. § 20g Abs. 2 Nr. 2 BKAG kompensieren, die gem. § 100h Abs. 1 Nr. 1 auch zum strafprozessualen Instrumentarium gehört. 14  KK-Bruns, 7. Aufl., § 100d Rn 19; SK-Wolter, 8. Aufl., § 100d Rn 66. 15   In der als Treffpunkt der Al Qaida-Zelle genutzten kleinen Zweiraumwohnung ließ sich nur ein Mikrofon unauffällig platzieren, so dass es nach zwei erfolglosen Versuchen der Einbringung einer Kamera letztlich durchgehend bei einer lediglich akustischen WRÜ verblieb.

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Eine derart restriktive Auslegung des § 100d Abs. 5 Nr. 3 ist aber nicht geboten: Der Wortlaut der Vorschrift lässt es ohne weiteres zu, bei einer akustischen und optischen WRÜ durch das BKA die akustische Überwachung als eine der Überwachung nach § 100c „entsprechende Maßnahme“ zu bezeichnen. Die Gesetzesmaterialien und der Sinn und Zweck der Entsprechungsklausel geben keine weitere Restriktion vor, weil dem daraus abzuleitenden Anliegen des Gesetzgebers, die fehlende Befugnis zur optischen Überwachung nicht durch eine Einführung von Bildaufzeichnungen aus polizeilichen Maßnahmen zu unterlaufen, vollauf dadurch genügt wird, dass für das Strafverfahren nur die Tonaufzeichnung übermittelt und in die Hauptverhandlung eingeführt wird. 3.  „nur zur Aufklärung einer Straftat, aufgrund derer die Maßnahme nach § 100c angeordnet werden könnte“ Die Verwendung der präventivpolizeilichen WRÜ im Strafverfahren setzt gemäß § 100d Abs. 5 Nr. 3 Var. 1 schließlich voraus, dass sie zur Aufklärung einer Straftat genutzt wird, „aufgrund derer die Maßnahme nach § 100c angeordnet werden könnte“. Klar ist, dass diese Vorschrift die Verwendung auf Strafverfahren begrenzt, die eine Aufklärung von im Einzelfall besonders schwer wiegenden Straftaten aus dem Katalog des § 100c Abs. 2 oder des strafbaren Versuchs solcher Taten zum Gegenstand haben, weil eine strafprozessuale WRÜ nach § 100c Abs. 1 Nr. 1 und 2, Abs. 2 nur für solche Taten angeordnet werden könnte. Fraglich ist, ob § 100d Abs. 5 Nr. 3 Var. 1 über diese tatbezogenen Anordnungs­voraussetzungen hinaus die Verwendung der präventiven WRÜ auch unter den Vorbehalt stellt, dass die situativen Anordnungsvoraussetzungen des § 100c vorliegen16, im Einzelnen: –– der qualifizierte Verdacht unabhängig von der WRÜ (§ 100c Abs. 1 Nr. 1), –– die Erwartbarkeit von Äußerungen des Beschuldigten mit Relevanz für die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsortes eines Mitbe­schuldigten (§ 100c Abs. 1 Nr. 3) und –– die Aussichtslosigkeit oder unverhältnismäßige Erschwernis der Erforschung des Sachverhalts oder des Aufenthaltsortes eines Mitbeschuldigten auf andere Weise (§ 100c Abs. 1 Nr. 4, sog. Subsidiaritätsklausel). Diskutiert wird diese Frage unter dem Topos „hypothetischer Ersatzeingriff“, der als Begriff ohne gesetzliche Autorität allerdings nur ein diffuses Stichwort liefert.

16   Die Frage stellt sich nicht nur für § 100d Abs. 5 Nr. 3 Var. 1, sondern auch für § 100d Abs. 5 Nr. 1 Var. 1 und die allgemeinen Vorschriften § 161 Abs. 2 S. 1 und § 477 Abs. 2 S. 2.

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a.  Das Meinungsspektrum in der Kommentarliteratur Am einen Ende des Meinungsspektrums, etwa bei Wolter im Systematischen Kommentar, findet sich die auf den ersten Blick strenge Lesart: „Die Regelung verwirklicht mit dem Passus „nur zur Aufklärung einer Straftat, auf Grund derer die Maßnahme nach § 100c angeordnet werden könnte“, die [...] Kautelen des hypothetischen Ersatzeingriffs. Danach muss es sich nicht nur um die Katalogtaten nach § 100c Abs. 2, sondern auch um ihre besondere Schwere im Einzelfall (§ 100c Abs. 1 Nr. 2) handeln. Auch müssen der qualifizierte Anfangsverdacht gegeben („bestimmte Tatsachen“ nach § 100c Abs. 1 Nr. 1) sowie die Subsidiaritätsklausel nach § 100c Abs. 1 Nr. 4 gewahrt sein.“17

Hierbei fällt ins Auge, dass Wolter die Anordnungsvoraussetzung aus § 100c Abs. 1 Nr. 3 ausspart. Er scheint sie nicht zu den „Kautelen des hypothetischen Ersatzeingriffs“ zu zählen, liefert hierfür allerdings keine Erklärung. Unklar ist ferner, ob die Verwendung der WRÜ wie im Falle ihrer Anordnung voraussetzen soll, dass sich der qualifizierte Anfangsverdacht bereits aus anderen Beweismitteln ergibt (§ 100c Abs. 1 Nr. 1). Damit wäre die Verwertung von Zufallserkenntnissen aus der WRÜ ausgeschlossen, wenn erst und allein die WRÜ den qualifizierten Anfangsverdacht begründet. Dies scheint Wolter in Übereinstimmung mit dem Ziel des Gesetzgebers, auch die Verwertung von Zufallsfunden zu ermöglichen, nicht zu wollen. Deshalb lässt er für die Verwendung ausreichen, dass sich der qualifizierte Anfangsverdacht erst aus der WRÜ ergibt18. Abstriche macht er auch bei der Anwendung der Subsidiaritätsklausel des § 100c Abs. 1 Nr. 4. Sie gelte nur „eingeschränkt deshalb, weil die belastende Information hier bereits sicher feststeht“19. Das Beispiel dieser Kommentierung zeigt, dass sich die „Lehre vom hypothetischen Ersatzeingriff“ einer klaren Position entzieht. Soweit sie als Voraussetzung des hypothetischen Ersatzeingriffs plakativ eine „umfassende Prüfung der Voraussetzungen der jeweiligen Erhebungsbefugnis“20 postuliert, machen ihre Verfechter damit bei der Rechtsanwendung im Einzelfall nicht Ernst21. Das andere Ende des Meinungsspektrums wird beispielsweise von Hauck in der von Löwe/Rosenberg begründeten Kommentierung repräsentiert:

17  SK-Wolter, 8. Aufl., § 100d Rn 67; ähnlich KK-Bruns, 7. Aufl., § 100d Rn 15, der ebenfalls einen qualifizierten Verdacht im Sinne des § 100c Abs. 1 Nr. 1 und die Beachtung der Subsidiaritätsklausel des § 100c Abs. 1 Nr. 4 fordert. 18   Vgl. SK-Wolter, 8. Aufl., § 100d Rn 40; ebenso Singelnstein, ZStW 120, 854, 882. 19  SK-Wolter, 8. Aufl., § 100d Rn 40. 20  So etwa Singelnstein, ZStW 120, 854, 881 f., der sich mit der hinzugefügten Einschränkung „jedenfalls, soweit diese grundrechtsbezogene Beschränkungen darstellen“ ein undurchsichtiges Feld von Ausnahmen eröffnet. 21   Eingehend zur Kritik dieser „Lehre“: Bertram, Die Verwendung präventiv-polizeilicher Erkenntnisse im Strafverfahren, S. 282 ff.

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„Nr. 3 setzt zumindest nicht ausdrücklich voraus, dass auch die Voraussetzungen eines großen Lauschangriffs nach §§ 100c Abs. 1, 100d im Sinne eines hypothetischen Ersatzeingriffs vorliegen müssen. Enthält das Polizeirecht des Landes eine funktional entsprechende Maßnahme mit zum Teil anderen Eingriffsvoraussetzungen, so müssen nur diese Voraussetzun­gen des Polizeirechts des Landes eingehalten werden, nicht notwendigerweise auch diejenigen, die nach §§ 100c Abs. 1, 100d für eine entsprechende Maßnahme im Strafverfahren zu beachten gewesen wären.“22

Allerdings möchte Hauck die Verwendung der polizeilichen WRÜ unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit dahin einschränken, dass die Information aus der WRÜ den konkretisierten Verdacht einer Katalogtat begründet und ohne sie die Erforschung des Sachverhaltes wenigstens unverhältnismäßig erschwert wäre23. So unversöhnlich sich die Meinungen zu der Frage gegenüberstehen, ob sich die Zweckbindungsklausel des § 100d Abs. 5 Nr. 3 auf die situativen Anordnungsvoraussetzungen des § 100c erstreckt, so sehr nähern sie sich bei der Rechtsanwendung dahin an, dass die Anordnungsvoraussetzungen bei der Prüfung der Verwendbarkeit jedenfalls nicht wörtlich zu übertragen sind, aber eine notfalls aus der WRÜ selbst begründete konkretisierte Verdachtslage zu fordern und in eigeschränkter Weise auch die Subsidiarität der WRÜ zu beachten ist. b.  Ansätze in der Rechtsprechung des BGH aa. Urteil vom 14.09.2009 – 3 StR 552/08, BGHSt 54, 69 ff. Der BGH hat sich mit § 100d Abs. 5 Nr. 3 bislang nur in der Khalil-Entscheidung befasst24. Hier hat der 3. Strafsenat einzelne Anordnungsvoraussetzungen geprüft, namentlich das Verdachtserfordernis aus § 100c Abs. 1 Nr. 1, die besondere Schwere der Tat (§ 100c Abs. 1 Nr. 2) und den Beweisnotstand im Sinne des § 100c Abs. 1 Nr. 4. Zum Verdachtserfordernis stellte sich in dem Fall das Problem, dass im Zeitpunkt der Anordnung und Durchführung der präventiv-polizeilichen WRÜ noch kein qualifizierter Anfangsverdacht einer Katalogtat im Sinne des § 100c Abs. 1 Nr. 1 bestand. Dieses Problem meinte der Senat dadurch lösen zu können, dass er die Prüfung der Anordnungsvoraussetzungen auf den Zeitpunkt der Verwendung der Daten in dem Strafverfahren bezog: „Dabei kommt es nicht darauf an, ob ein Verdacht, dass entsprechende Taten begangen worden sind, bereits im Zeitpunkt der Anordnung bzw. Durchführung der polizeirechtlichen Maßnahme bestanden hatte, denn es handelt sich bei § 100d Abs. 5 Nr. 3 StPO um eine Verwendungsregelung für Erkenntnisse, die zur Gefahrenabwehr, nicht dagegen zur  LR/Hauck, 26. Aufl., § 100d Rn 59.  LR/Hauck, 26. Aufl., § 100d Rn 61 im Anschluss an Bludovsky, Rechtliche Probleme bei der Beweiserhebung und Beweisverwertung im Zusammenhang mit dem Lauschangriff nach § 100c Abs. 1 Nr. 3 StPO, S. 351. 24   Urt. v. 14.09.2009 – 3 StR 552/08, BGHSt 54, 69 ff., Rn 25–29. 22 23

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Strafverfolgung erhoben worden waren. Daher ist allein maßgeblich, ob die Daten nunmehr im Strafverfahren zur Klärung des Verdachts einer Katalogtat nach § 100c Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StPO verwendet werden sollen.“25

An dieser Argumentation ist richtig, dass die Voraussetzungen der Verwendung der WRÜ im Zeitpunkt der Nutzung der Daten im Strafverfahren erfüllt sein müssen, weil die Verwendungsregel den selbständigen Grundrechtseingriff reglementiert, der in der erneuten Nutzung der zur Gefahrenabwehr erhobenen Daten zum Zwecke der Strafverfolgung in dem Strafverfahren liegt26. Davon zu trennen ist allerdings die Frage, ob § 100d Abs. 5 Nr. 3 Var. 1 mit der Wendung „Straftat, auf Grund derer die Maßnahme nach § 100c angeordnet werden könnte“ die aufzuklärende Straftat lediglich ihrer Art nach als eine solche im Sinne des § 100c charakterisiert, oder weitergehend auch die situativen Anordnungsvoraussetzungen des § 100c zu Verwendungsbedingungen erhebt. Letzterenfalls wäre entgegen der Ansicht des 3. Strafsenats nicht allein maßgeblich, ob die Daten nunmehr im Strafverfahren zur Klärung des Verdachts einer Katalogtat verwendet werden sollen, denn die Anordnung einer WRÜ setzt nach § 100c Abs. 1 Nr. 1 auch voraus, dass bereits unabhängig von der WRÜ bestimmte Tatsachen den Verdacht einer Katalogtat begründen. Würde man diese Anordnungsvoraussetzung wortgetreu zu einer Verwendungsbedingung erheben, dürfte die WRÜ für das Strafverfahren nur verwendet werden, wenn der Angeklagte bereits ohne dieses Beweismittel aufgrund bestimmter Tatsachen einer Katalogtat verdächtig ist. Diesem Auslegungsproblem ist der 3. Strafsenat nicht nachgegangen, obwohl die strenge Lesart von der Entscheidung abweichend zu einer Unverwertbarkeit der WRÜ geführt hätte, weil sich der Tatverdacht gegen die Angeklagten erst aus den WRÜ-Protokollen begründen ließ27. Das Urteil des 3. Strafsenats spiegelt die bereits aufgezeigte Widersprüchlichkeit der Lehre vom hypothetischen Ersatzeingriff28: Einerseits prüft der Senat darin situative Anordnungsvoraussetzungen der strafprozessualen WRÜ, ohne die Erforderlichkeit dieser Prüfung zu hinterfragen. Andererseits verkürzt er die Prüfung im Falle des § 100c Abs. 1 Nr. 1, indem er nicht mehr fordert, als dass es um die „Klärung des Verdachts einer Katalogtat nach § 100c Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StPO“ geht. Diese Voraussetzung ergibt sich aber bereits aus § 100d Abs. 5 Nr. 3 und deckt sich nicht mit der Anordnungsvoraussetzung des § 100c Abs. 1 Nr. 1.   Urt. v. 14.09.2009 – 3 StR 552/08, BGHSt 54, 69 ff., Rn 25.   Vgl. hierzu BVerfGE 100, 313, 391. 27   Hierauf deutet Rn 29 der Entscheidung: „Zum Zeitpunkt der Verwertung […] stellten die Wohnraumüberwachungsprotokolle […] die zentralen Beweismittel dar, ohne die ein Tatnachweis nicht möglich gewesen wäre.“ 28   Der 3. Strafsenat bezieht sich unter Rn 25 seiner Entscheidung ausdrücklich auf den „Gedanken des hypothetischen Ersatzeingriffs“ und die Kommentierung von Wolter in SKStPO, 8. Aufl., Rn 33. 25 26

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bb.  Beschluss vom 21.11.2012 – 1 StR 310/12, BGHSt 58, 32 ff. In einer jüngeren Entscheidung hat der 1. Strafsenat für die Verwertung der Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) aus einem anderen Strafverfahren die Frage aufgeworfen, „ob es der in § 477 Abs. 2 Satz 2 StPO enthaltene Grundgedanke des (rechtmäßigen) hypothetischen Ersatzeingriffs gebietet, die sonstigen, über das Vorliegen einer Katalogtat hinausgehenden Anordnungsvoraussetzungen der einschlägigen Ermittlungsmaßnahme hypothetisch für das anhängige Verfahren und bezogen auf den Erkenntnisstand bei Verwendung bzw. Verwertung der bereits vorhandenen personenbezogenen Daten zu prüfen.“29 Diese Entscheidung führt insofern weiter, als sie das Auslegungsproblem, das sich in gleicher Weise für § 100d Abs. 5 Nr. 1 und 3 sowie für § 161 Abs. 2 S. 1 stellt, zutreffend benennt. Allerdings hat der 1. Strafsenat die Auslegungsfrage nicht geklärt, weil sie in dem Fall nicht entscheidungserheblich war. c.  Methodische Auslegung des § 100d Abs. 5 Nr. 3 Var. 1 Geht man der Auslegungsfrage methodisch nach, zeigt sich, dass eine Einbeziehung der situativen Anordnungsvoraussetzungen allenfalls in eingeschränkter Weise geboten ist. aa. Wortlaut Der Wortlaut des § 100d Abs. 5 Nr. 3 Var. 1 lässt beide Lesarten der Zweckbindungsklausel zu, weil man die Wendung „Straftat, auf Grund derer die Maßnahme nach § 100c angeordnet werden könnte“ sowohl als abstrakte Umschreibung der Katalogtaten in § 100c Abs. 2 einschließlich des Erfordernisses der besonderen Schwere im Einzelfall aus § 100c Abs. 1 Nr. 2 auffassen kann wie auch als Verweis auf sämtliche Voraussetzungen des § 100c. Der Wortlaut gibt die Einbeziehung der situ­a­tiven Anordnungsvoraussetzungen damit weder vor noch schließt er sie aus. bb.  Motive des Gesetzgebers Den Gesetzesmaterialien lässt sich entnehmen, dass der Gesetzgeber die Anordnungsvoraussetzungen nur insoweit einbeziehen wollte, als ihm dies vom BVerfG vorgegeben war. (1.)  § 100b Abs. 5 i.d.F. des OrgGK vom 15.07.1992 Die Einführung von Verwendungsregeln für Erkenntnisse aus heimlichen Überwachungsmaßnahmen geht auf das Gesetz zur Bekämpfung des illega29

  BGH, Beschl. v. 21.11.2012, BGHSt 58, 32 ff., Rn 46.

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len Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität (OrgKG) aus dem Jahre 1992 zurück; darin § 100b Abs. 530: „Die durch die Maßnahmen erlangten personenbezogenen Informationen dürfen in anderen Strafverfahren zu Beweiszwecken nur verwendet werden, soweit sich bei Gelegenheit der Auswertung Erkenntnisse ergeben, die zur Aufklärung einer der in § 100a bezeichneten Straftaten benötigt werden.“

Dem Gesetzgeber ging es seinerzeit darum, eine Entscheidung des BVerfG und mehrere Entscheidungen des BGH zur Verwertbarkeit von Erkenntnissen aus Telefonüberwachungen nach § 100a umzusetzen31. Diese Entscheidungen enthielten Vorgaben für die Verwertbarkeit der Erkenntnisse aus TKÜ-Maßnahmen zum Nachweis anderer Katalogtaten, Nichtkatalogtaten im Zusammenhang mit Katalogtaten und als Zufallserkenntnis in Strafverfahren gegen Dritte. Der Topos des „hypothetischen Ersatzeingriffs“ fand sich in diesen Entscheidungen noch nicht. Dementsprechend wollte der Gesetzgeber die Verwendung der verfahrensfremden TKÜ auf die Verfolgung von Katalogtaten beschränken, aber keine weitergehende Einschränkung in dem Sinne einführen, dass im Verwendungszeitpunkt auch die Anordnungsvoraussetzungen entsprechender Maßnahmen nach der StPO vorliegen mussten. (2.)  § 100f Abs. 2 i.d.F. des OrgVerbG vom 04.05.1998 1998 hat der Gesetzgeber mit der Einführung der strafprozessualen WRÜ durch das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität (OrgVerbG) die wechselseitige Verwendung von Informationen aus repressiver und präventiver WRÜ in § 100f Abs. 2 geregelt: „Sind personenbezogene Informationen durch eine polizeirechtliche Maßnahme erlangt worden, die der Maßnahme nach § 100c Abs. 1 Nr. 3 entspricht, dürfen sie zu Beweiszwecken nur verwendet werden, soweit sich bei Gelegenheit der Auswertung Erkenntnisse ergeben, die zur Aufklärung einer in § 100c Abs. 1 Nr. 3 bezeichneten Straftat benötigt werden.“

Die sprachlich an den damaligen § 100b Abs. 5 angelehnte Vorschrift erweckt ihrem Wortlaut nach nicht den Eindruck, dass die Verwendung der verfahrensfremden WRÜ über die Aufklärung einer Katalogtat hinaus vom Vorliegen der Anordnungsvoraussetzungen abhängen sollte. Allerdings findet sich in der Begründung zu dem Gesetzentwurf die Erläuterung, die Regelung beruhe auf dem „Gedanken des hypothetischen Ersatzeingriffs“, wonach eine Verwendung nur zulässig sei, wenn die WRÜ auch in dem Strafverfah-

30  Vgl. BT-Drs. 12/989, S. 38 (Gesetzentwurf des Bundesrats zum OrgKG) und den Überblick bei Hilger, NStZ 1992, 457. 31   Im Einzelnen: BVerfG NStZ 1988, 32; BGHSt 26, 298; 27, 355; 28, 122; 29, 23; 30, 317; 32, 10.

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ren hätte angeordnet werden können32. Dieser nicht näher erläuterte Passus führte angesichts des fehlenden Anklangs im Wortlaut aber nicht zu dem Verständnis, die Vorschrift beschränke die Verwendung einer polizeirechtlichen WRÜ auf Fälle, in denen im Verwendungszeitpunkt auch sämtliche Anordnungsvoraussetzungen einer strafprozessualen WRÜ vorliegen. Verfechter dieses Ansatzes kritisierten vielmehr, der Gesetzgeber habe mit der Beschränkung der Verwendung auf Katalogtaten nur Teilaspekte des hypothetischen Ersatzeingriffs umgesetzt33. (3.)  Gesetzgebungsverfahren StVÄG 1999 Auch im weiteren Verlauf der Gesetzgebung hat der Topos des „hypothetischen Ersatzeingriffs“ keine Konturen gewonnen. In dem Gesetzgebungsverfahren zum Strafverfahrensänderungsgesetz 1999 wurde bei der Fassung des § 161 Abs. 2 sogar bewusst von seiner Berücksichtigung abgesehen. In der Unterrichtung durch den Bundesrat wurde dies unter anderem damit begründet, diese Einschränkung widerspreche der Rechtsprechung des BGH zur Verwendung von Präventivdaten und erschwere die Verwendung polizeirechtlich rechtmäßig erhobener Daten in einer Weise, die der Öffentlichkeit nicht vermittelbar sei. Die im Gesetzentwurf aufgegriffene Figur des hypothetischen Ersatzeingriffs sei „dogmatisch weder ausgereift noch abschließend geklärt“34. (4.)  BVerfG, Urt. v. 03.03.2004 – 1 BvR 2378/98, BVerfGE 109, 279 Die weitere Entwicklung der Gesetzgebung wurde durch das Urteil des BVerfG vom 03.03.2004 geprägt. Darin hat das BVerfG zwar nicht die Verwendungsregel für eine polizeirechtliche WRÜ in § 100f Abs. 2 a.F. geprüft, aber die inhaltsgleiche Regelung der Verwendung einer strafprozessualen WRÜ in einem anderen Strafverfahren nach dem damaligen § 100d Abs. 5 S. 2: „Personenbezogene Informationen, die durch eine Maßnahme nach § 100c Abs. 1 Nr. 3 erlangt worden sind, dürfen in anderen Strafverfahren zu Beweiszwecken nur verwendet werden, soweit sich bei Gelegenheit der Auswertung Erkenntnisse ergeben, die zur Aufklärung einer in § 100c Abs. 1 Nr. 3 bezeichneten Straftat benötigt werden.“

Das BVerfG hat die Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift – abgesehen vom Fehlen einer Kennzeichnungspflicht – bestätigt, dabei allerdings eine Lesart zu Grunde gelegt, die den Gedanken des hypothetischen Ersatzeingriffs aufgreift. In diese Richtung heißt es: „Die für die Erhebung der Infor-

32   BT-Drs. 13/8651, S. 15; vgl. dazu Bludovsky, Rechtliche Probleme bei der Beweiserhebung und Beweisverwertung im Zusammenhang mit dem Lauschangriff nach § 100c Abs. 1 Nr. 3 StPO, S. 349–352. 33  Vgl. Schnarr, StraFo 1998, 217, 218. 34   BT-Drs. 14/2886, S. 3 zu § 161 Abs. 2 i.d.F. des StVÄG 1999.

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mationen bestehenden strengen Voraussetzungen sind in gleicher Weise bei der Verwendung in anderen Verfahren zu beachten.“35 Allerdings hat das BVerfG diese Forderung nur auf die tatbezogenen Anordnungsvoraussetzungen des § 100c Abs. 1 Nr. 2 und § 100c Abs. 2 (Katalogtat und deren besondere Schwere im Einzelfall)36 bezogen. Seine weiteren Ausführungen in dem Urteil zeigen, dass es eine Beachtung der situativen Anordnungsvoraussetzungen nur in eingeschränkter Weise verlangt. Denn während § 100c Abs. 1 Nr. 3 i.d.F. des OrgVerbG die Anordnung der strafprozessualen WRÜ nur erlaubte, wenn bereits bestimmte Tatsachen den Verdacht der Katalogtat begründeten, hat das BVerfG dies für eine spätere Verwendung in einem anderen Strafverfahren nicht gefordert, sondern hierfür ausreichen lassen, dass sich erst aus der WRÜ der Grad an Tatverdacht ergibt, der ansonsten für deren Anordnung zu verlangen ist37. Damit hat es die situative Anordnungsvoraussetzung des heutigen § 100c Abs. 1 Nr. 1 für die Verwendung der WRÜ praktisch suspendiert und damit die Verwendung von Zufallsfunden aus der WRÜ zugelassen. Auch die Anordnungsvoraussetzung der wenigstens unverhältnismäßigen Erschwernis einer Aufklärung auf andere Weise (§ 100c Abs. 1 Nr. 3 a.F., jetzt § 100c Abs. 1 Nr. 4) hat das BVerfG nicht uneingeschränkt übertragen. Für die anderweitige Verwendung soll lediglich eine „entsprechende“ Beachtung der Subsidiaritätsklausel in abgeschwächter Form gelten: „Hierbei stellt die Verhältnismäßigkeit an die Erschwernis [...] geringere Anforderungen, weil die belastende Information als sicher feststeht, die Unsicherheit der Prognose damit entfällt und eine alternative Beweiserhebung ebenfalls in die Grundrechte des Betroffenen eingreifen würde.“38

(5.)  § 100d Abs. 6 Nr. 3 i.d.F. des Wohn­raumÜbG vom 24.06.2005 Mit dem Gesetz zur Umsetzung des Urteils des BVerfG vom 03.03.2004 (Wohnraum­ÜbG) hat die aktuelle Fassung der Verwendungsregel in § 100d Abs. 6 Nr. 3 Eingang in die StPO gefunden. Sie ist später ohne inhaltliche Änderung nur noch um einen Absatz aufgerückt. Mit dem Gesetz wollte der Gesetzgeber die oben geschilderten Vorgaben des BVerfG umsetzen. Die Materialien führen nicht weiter als das Urteil, weil die Gesetzesbegründung lediglich den Umsetzungswillen zum Ausdruck bringt und im Übrigen auf die entsprechende Stelle des Urteils verweist: „Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings deutlich gemacht, dass allein das Vorliegen einer Katalogstraftat nicht hinreicht, um die Weiterverwendung der gewonnenen Erkenntnisse zu rechtfertigen. Vielmehr müssen die gewonnenen Erkenntnisse eine kon  Urt. v. 03.03.2004 – 1 BvR 2378/98, BVerfGE 109, 279 ff., Rn 339.   Zum Zeitpunkt der Entscheidung noch in § 100c Abs. 1 Nr. 3 geregelt. 37   Urt. v. 03.03.2004 – 1 BvR 2378/98, BVerfGE 109, 279 ff., Rn 340. 38   Urt. v. 03.03.2004 – 1 BvR 2378/98, BVerfGE 109, 279 ff., Rn 340. 35 36

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kretisierte Verdachtslage begründen und die Subsidiaritätsklausel des § 100c Abs. 1 Nr. 3 StPO entsprechend beachtet werden (vgl. BVerfG, a. a. O., Absatz Nr. 340). Dem wird durch die Formulierung, dass die Maßnahme zur Aufklärung der anderweitigen Straftat angeordnet werden könnte, Rechnung getragen.“39

Für die Auslegung ergibt sich daraus, dass der Gesetzgeber nicht etwa eine normative Wertentscheidung im Sinne der Lehre vom hypothetischen Ersatzeingriff getroffen hat, sondern über das Erfordernis einer Katalogtat hinaus lediglich den Vorgaben des BVerfG zur Verdachtslage und modifizierten Subsidiarität nachkommen wollte. Anders als noch in der Begründung zum OrgVerbG vom 04.05.199840 hat der Gesetzgeber den „Gedanken des hypothetischen Ersatzeingriffs“ hier nicht aufgegriffen. (6.)  § 161 Abs. 2, § 477 Abs. 2 i.d.F des TKÜNRegG vom 21.12.2007 Bei der Einführung der weiteren Zweckbindungsklauseln in § 161 Abs. 2 und § 477 Abs. 2 durch das Gesetzes zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG (TKÜNRegG) hat der Gesetzgeber den Gedanken des hypothetischen Ersatzeingriffs zwar wieder aufgegriffen. So heißt es in der Begründung, „gedanklicher Anknüpfungspunkt“ der Vorschriften sei „die Idee des so genannten hypothetischen Ersatzeingriffs“. Die weitere Begründung zeigt aber, dass damit nach der Vorstellung des Gesetzgebers nicht notwendig eine Entsprechung hinsichtlich sämtlicher Anordnungsvoraussetzungen gemeint ist. So heißt es, § 161 Abs. 2 generalisiere diesen Gedanken, um dem datenschutzrechtlichen Zweckbindungsgrundsatz und der gesetzgeberischen Wertung Rechnung zu tragen, bestimmte Ermittlungshandlungen vom Verdacht bestimmter Straftaten abhängig zu machen. Diese Wertung müsse auch bei der Verwendung von Daten aus Maßnahmen nach anderen Gesetzen (etwa den Polizeigesetzen) gelten, um einer Umgehung der engen strafprozessualen Anordnungsvoraussetzungen vorzubeugen41. Für die Auslegung des § 100d Abs. 5 Nr. 3 Var. 1 bleibt festzuhalten, dass der Gesetzgeber den Gedanken des hypothetischen Ersatzeingriffs zwar verschiedentlich aufgegriffen, damit aber nicht die Vorstellung einer uneingeschränkten Übertragung der strafprozessualen Anordnungsvoraussetzungen auf die Verwendung einer polizeirechtlichen WRÜ verbunden hat.

  BT-Drs. 15/4533, S. 18.   Vgl. oben III.3.c.bb. (2.). 41   BT-Drs. 16/5846, S. 64 und 66. 39 40

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cc.  Systematische Gesichtspunkte (1.)  Die zweite Variante des § 100d Abs. 5 Nr. 3 In systematischer Hinsicht fällt auf, dass in der Diskussion um die Auslegung der ersten Variante des § 100d Abs. 5 Nr. 3 die zweite Variante dieser Vorschrift keine Rolle spielt. Nach ihr darf die polizeirechtliche WRÜ in einem Strafverfahren auch „zur Ermittlung des Aufenthalts der einer solchen Straftat beschuldigten Person verwendet werden“. Mit der Wendung „einer solchen Straftat“ knüpft diese Variante sprachlich an die „Straftat, auf Grund derer die Maßnahme nach § 100c angeordnet werden könnte“ im Sinne der ersten Variante an. Dieser Zusammenhang spricht dafür, die Anforderungen an die „Straftat“ als gemeinsame Voraussetzung beider Varianten so auszulegen, dass der Begriff für beide Varianten der Vorschrift passt. So gesehen macht es keinen Sinn, die Verwendung der polizeirechtlichen WRÜ vom Vorliegen der Anordnungsvoraussetzungen des § 100c Abs. 1 abhängig zu machen. Denn das legitime Interesse an der Verwendung der polizeirechtlichen WRÜ zur Ermittlung des Aufenthalts des einer Katalogtat Beschuldigten hängt nicht davon ab, ob eigene Äußerungen des Beschuldigten aufgezeichnet wurden (§ 100c Abs. 1 Nr. 3) oder die Erforschung des Sachverhaltes oder die Ermittlung des Aufenthaltes eines Mitbeschuldigten auf andere Weise unverhältnismäßig erschwert oder aussichtslos wäre (§ 100c Abs. 1 Nr. 3). Diese Anordnungsvoraussetzungen beschreiben keine Bedingungen, die dem Verwendungseingriff nach § 100d Abs. 5 Nr. 3 Var. 2 sinnvolle oder auch nur nachvollziehbare Grenzen setzen. Demgegenüber erhält die Zweckbindungsklausel einen für beide Varianten passenden Inhalt, wenn man sie nur auf die tatbezogenen Anordnungsvoraussetzungen bezieht. Dann wird sowohl die Aufklärung wie auch die Suche des Verdächtigen mittels der verfahrensfremden WRÜ auf Fälle beschränkt, die eine im Einzelfall besonders schwer wiegende Katalogtat zum Gegenstand haben. (2.)  Die Aufklärungspflicht aus § 244 Abs. 2 Gegen die Erstreckung der Verwendungsvoraussetzungen auf die situativen Anordnungsvoraussetzungen des § 100c spricht auch die Wechselwirkung der Verwendungsregel mit der Aufklärungspflicht aus § 244 Abs. 2. Dabei drängt die Aufklärungspflicht als beherrschende Maxime des Strafverfahrens dazu, die Verwendungsregel nicht enger auszulegen als nötig. Darüber hinaus wäre die Abhängigkeit der Verwendung der polizeirechtlichen WRÜ im Strafprozess von einer wenigstens unverhältnismäßigen Erschwernis der Sach­ver­haltsaufklärung auf andere Weise (§ 100c Abs. 1 Nr. 4) ein Fremdkörper im Recht der Beweiserhebung, der eine zügige Durchführung der Beweisaufnahme empfindlich beeinträchtigen und erhebliche praktische Probleme bei der Beweiserhebung mit sich bringen könnte.

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Ist die polizeirechtliche WRÜ beispielsweise das sachnächste Beweismittel, weil sie Gespräche der Angeklagten über eine Anschlagsplanung dokumentiert, passt es nicht zur Verpflichtung des Gerichts zu bestmöglicher Aufklärung, die Vernehmung von Zeugen und indiziellen Urkunden in der Hoffnung vorzuziehen, den Sachverhalt auch auf diese Weise aufklären zu können, zumal man den Zeugen nicht einmal Vorhalte aus der WRÜ machen dürfte, weil auch dies eine Verwendung der personenbezogenen Daten wäre. (3.)  Die Voraussetzungen der Verwendung einer strafprozessualen WRÜ Bedenken gegen die Erstreckung der Verwendungsregel des § 100d Abs. 5 Nr. 3 Var. 1 auf die situativen Anordnungsvoraussetzungen des § 100c Abs. 1 ergeben sich auch aus dem Vergleich mit den Voraussetzungen der Verwendung einer im selben Verfahren angeordneten strafprozessualen WRÜ. Auch bei dieser lässt sich zwischen dem Grundrechtseingriff der Erhebung (heimliches Eindringen in die Wohnung und Aufzeichnen des gesprochenen Wortes) und dem Grundrechtseingriff der Verwendung (späteres Abspielen in der öffentlichen Hauptverhandlung) unterscheiden. Hier fordert soweit ersichtlich aber niemand, dass auch im Zeitpunkt der Verwendung der WRÜ noch sämtliche Anordnungsvoraussetzungen fortbestehen. Ist also die unverhältnismäßige Erschwernis anderweitiger Sachverhaltsaufklärung (§ 100c Abs. 1 Nr. 4) bei einer strafprozessualen WRÜ aus demselben Verfahren nur eine Anordnungsvoraussetzung, aber keine Verwendungsvoraussetzung, so ist nicht einzusehen, warum sie im Falle einer polizeirechtlichen WRÜ zur Verwendungs­voraussetzung erhoben werden sollte. Gegebenenfalls würde die Verwendung der polizeirechtlichen WRÜ nicht an die Bedingungen der Verwendung einer strafprozessualen WRÜ angeglichen, sondern schärferen Anforderungen unterworfen. Dies ist mit der Forderung nach einer wie auch immer gearteten „hypothetischen Entsprechung“ nicht zu rechtfertigen. (4.)  Schutzwirkungen der Art. 13 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG Soweit die Forderung nach einer Erstreckung des § 100d Abs. 5 Nr. 3 auf die Anordnungsvoraussetzungen des § 100c Abs. 1 erhoben wird, wird sie meist auf die Schutzwirkung der Grundrechte gestützt, insbesondere den Schutz der räumlichen Privatsphäre des Wohnungsinhabers (Art. 13 Abs. 1 GG) und das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) überwachter Personen, die sich nicht auf Art. 13 Abs. 1 GG berufen können42. 42   Zur Möglichkeit der Betroffenheit weiterer Grundrechte, insbesondere Art. 4 Abs. 1 und 2 sowie Art. 6 Abs. 1 und 2 GG vgl. BVerfG, Urt. v. 03.03.2004 – 1 BvR 2378/98, BVerfGE 109, 279 ff., Rn 158, 163.

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Die Über­­zeugungskraft dieser Argumentation hängt maßgeblich davon ab, ob sich Erhebungs- und Verwendungseingriff derart gleichen, dass die Verhältnismäßigkeit des letzteren nur unter denselben Voraussetzungen angenommen werden kann, die auch den Erhebungseingriff rechtfertigen. Dies ist aber – auch nach der Rspr. des BVerfG – nicht der Fall. So hat das BVerfG in seiner Entscheidung vom 03.03.2004 die lediglich eingeschränkte Beachtlichkeit der Subsidiaritätsklausel (§ 100c Abs. 1 Nr. 4) für die anderweitige Verwendung der Daten auf den Unterschied gestützt, dass „die belastende Information als sicher feststeht, die Unsicherheit der Prognose damit entfällt und eine alternative Beweiserhebung ebenfalls in die Grundrechte des Betroffenen eingreifen würde.“43 Diese Begründung deutet an, dass der Schutz der betroffenen Grundrechte in der Verwendungssituation nicht dieselben Einschränkungen erfordert wie in der Erhebungssituation, weil sich die Grundrechtseingriffe nicht in jeder Hinsicht gleichen. Danach liegt der Grund für die weitgehende Befreiung der Verwendung einer verfahrensfremden WRÜ von den Anordnungsvoraussetzungen des § 100c Abs. 1 Nr. 1 und 3 durch das BVerfG darin, dass die Abwägung zwischen Grundrechtsschutz und Strafverfolgungsinteresse auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit des jeweiligen Eingriffs situationsbedingt unterschiedlich ausfällt. Würde man die Anordnung einer WRÜ ohne konkretisierten Verdacht schon zum Zwecke der Suche nach Zufallserkenntnissen für eine Katalogtat erlauben, wäre einer uferlosen Überwachung Tür und Tor geöffnet, obwohl das Strafverfolgungsinteresse schon wegen der Unwahrscheinlichkeit, auf diese Weise tatsächlich Katalogtaten aufzudecken, kaum ins Feld geführt werden könnte. Deshalb ist es zum Schutz der Grundrechte geboten, die Anordnung und Durchführung der WRÜ unter den Vorbehalt zu stellen, dass bereits ein konkretisierter Verdacht gegen den Betroffenen besteht. Ganz anders stellt sich die Situation dar, wenn sich im Zuge einer unter den engen Voraussetzungen des § 100c oder des § 20h BKAG rechtmäßig durchgeführten WRÜ herausgestellt, dass eine Person an der Katalogtat beteiligt ist, gegen die sich die Überwachungsmaßnahme nicht richtete. Die Verwendung dieses Zufallsfundes führt zu keiner Erweiterung der Überwachungsmöglichkeiten, ist aber im Interesse einer Verfolgung der Katalogtat dringend geboten. Daher wäre es unsinnig, die Verwendung der WRÜ gegen den Dritten davon abhängig zu machen, dass gegen ihn bereits unabhängig von der WRÜ ein auf bestimmten Tatsachen gründender Verdacht besteht. Die Funktion dieser auf die Anordnungssituation zugeschnittenen Voraussetzung, einer uferlosen Überwachung ohne konkrete Erfolgsaussicht entgegenzuwirken, kann sie in der Verwendungssituation nicht mehr erfüllen.

  BVerfG, Urt. v. 03.03.2004 – 1 BvR 2378/98, BVerfGE 109, 279 ff., Rn 340.

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Strafprozessuale Verwertung einer BKAG-WRÜ

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Entsprechendes gilt für die Subsidiaritätsklausel. Sie trägt in der Anordnungssituation dem Umstand Rechnung, dass dem empfindlichen Grundrechtseingriff nicht mehr als die Erwartung der Gewinnung sachverhaltsrelevanter Informationen gegenübersteht. In dieser Situation macht es Sinn, den Grundrechtsträger dadurch zu schonen, dass zunächst weniger eingriffsintensive Ermittlungen geführt werden, soweit sie mit verhältnismäßigem Aufwand ebenfalls eine Aufklärung versprechen. Ist die präventive WRÜ durchgeführt und dabei eine den Beschuldigten im Hinblick auf eine Katalogtat belastende Information gesichert, entfällt die Prognoseunsicherheit und das damit verbundene Risiko, unbescholtene Bürger mit tiefgreifenden Eingriffen zu überziehen. Die Verwendung der Information (vorläufig) zu verbieten und den Betroffenen stattdessen zunächst anderen mit prognostischer Unsicherheit belasteten Ermittlungseingriffen auszusetzen, würde den Grundrechtschutz nicht erweitern, sondern schmälern. Festzuhalten ist daher, dass die situativen Anordnungsvoraussetzungen Bedingungen formulieren, unter denen der Erhebungseingriff typischer Weise verhältnismäßig ist, während sie für die Verhältnismäßigkeit des Verwendungseingriffs wenig aussagekräftig sind. Kritik verdient die Entscheidung des BVerfG vom 03.03.2004 insofern, als sie die Rechtsanwendung durch die Annahme einer eingeschränkten Beachtlichkeit der Anordnungsvoraussetzungen aus § 100c Abs. 1 Nr. 1 und 4 bei der Verwendung einer verfahrensfremden WRÜ im Strafprozess mit Unsicherheiten belastet, obwohl zu bezweifeln ist, dass diesen Voraussetzungen nach der Lesart des BVerfG tatsächlich eine Auslesekraft zukommt. Dies ergibt sich für die Voraussetzung einer durch Tatsachen konkretisierten Verdachtslage (§ 100c Abs. 1 Nr. 1) aus der Überlegung, dass damit nur ein qualifizierter Anfangsverdacht gefordert wird, während bereits die Anklage nach § 170 Abs. 1 und die Eröffnung des Hauptverfahrens nach § 203 mit dem Erfordernis des hinreichenden Tatverdachts engere Voraussetzungen anordnen. Für die nach dem Urteil des BVerfG nur eingeschränkt geltende Subsidiarität der Verwendung einer verfahrensfremden WRÜ im Sinne des § 100c Abs. 1 Nr. 4 ist fraglich, ob damit unter der Geltung des Beschleunigungsgrundsatzes und der Aufklärungsmaxime mehr gefordert ist, als die bereits aus § 244 Abs. 2 abzuleitende Beschränkung der Beweisaufnahme auf die für die Sachaufklärung erforderlichen Beweismittel44.

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  Vgl. LK/Becker, 26. Aufl., § 244 Rn 43.

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IV. Zusammenfassung Die Verwendung einer polizeirechtlichen WRÜ im Strafprozess setzt nach § 100d Abs. 5 Nr. 3 Var. 1 voraus, das eine Katalogtat im Sinne des § 100c Abs. 2 aufzuklären ist, die auch im Einzelfall schwer wiegt (§ 100c Abs. 1 Nr. 2). Von den weiteren Anordnungsvoraussetzungen des § 100c Abs. 1 ist mit Rücksicht auf die Rechtsprechung des BVerfG die Nr. 1 in modifizierter Weise dahin zu beachten, dass sich aus sonstigen Beweismitteln oder auch aus der WRÜ selbst ein qualifizierter Anfangsverdacht ergeben muss, sowie die Nr. 4 in eingeschränkter Weise dahin, dass eine Aufklärung des Sachverhaltes ohne die WRÜ erheblich erschwert wäre.

Dschihad und islamistischer Terrorismus

Dschihad und islamistischer Terrorismus in der Interpretation zeitgenössischer türkischer Theologen Rotraud Wielandt 1. Einführung Unter den Staaten der islamischen Welt verfügt die Türkei über die methodisch am weitesten entwickelte und inhaltlich innovativste islamische Hochschultheologie.1 Türkische Theologen stellen an sich selbst und ihre Fachgenossen in der Regel den Anspruch, auf der Höhe einer auch über die eigene Disziplin hinaus diskursfähigen modernen wissenschaftlichen Rationalität zu sein. Viele von ihnen haben vertiefende Studien an Universitäten des europäischen oder auch des nordamerikanischen Auslands betrieben, einige werten aktuelle Forschungsliteratur in englischer, französischer oder deutscher Sprache regulär mit aus. Wichtige neue geistes- und sozialwissenschaftliche Theoriebildungen, die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Diskussion gestellt wurden und internationale Beachtung fanden, sind von türkischen Theologen produktiv rezipiert worden. Daher ist es kein Zufall, dass gerade in der Türkei beispielsweise Neuansätze im Bereich der Koranexegese entstanden sind, die auf der Basis zukunftsweisender, von philosophischer Hermeneutik und Kommunikationswissenschaft angeregter Denkmodelle eine historisch kontextualisierende Interpretation bestimmter heute als problematisch empfundener koranischer Aussagen und damit auch die Negierung von deren bleibender Verbindlichkeit ermöglichen. So bietet die Hochschultheologie der Türkei im Vergleich zu derjenigen anderer islamischer Länder insgesamt ein moderneres Bild. Im folgenden soll untersucht werden, welche Verständnisse und Beurteilungen des im Koran gebotenen kriegerischen Dschihad und des islamistischen Terrorismus, dessen Akteure sich bei ihrem Tun ja durchweg auf die koranischen Aufforderungen zum Dschihad berufen, seit der Zeit um 1990 auf dem Boden der akademischen Theologie der Türkei formuliert worden sind. Das ist aus mehreren Gründen von Interesse: Zum einen 1   Zum historischen Hintergrund dieser Besonderheit siehe Körner 2005, S. 56–57 und Wielandt 2016, S. 711–712 mit weiterer Literatur.

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kann angesichts des vergleichsweise hohen wissenschaftlichen Niveaus der akademischen Theologie in der Türkei gerade der Umgang von deren Vertretern mit den Themen „Dschihad“ und „extrem‑islamistischer Terrorismus“ einen Anhaltspunkt dafür liefern, welcher Beitrag zur Reduktion der Anziehungskraft dschihadistischer Organisationen und der von diesen propagierten Ideen und Aktionsmuster heute von etablierten Berufstheologen islamischer Länder günstigenfalls zu erwarten ist. Zum anderen haben sich die Gewalttaten islamistisch motivierter Terroristen seit den frühen 1990er Jahren quantitativ, in ihrer geographischen Reichweite und in der Brutalität ihrer Methoden zu vorher nicht gekannten Dimensionen gesteigert. Es gab in diesem Zeitraum also für muslimische Theologen reichlich aktuelle Anlässe, sich über das im Koran und in der islamischen Rechtstradition verankerte Konzept des bewaffneten Dschihad und über die Art, wie islamistische Terroristen es benutzen, Gedanken zu machen. Die Theologen, die hier mit Publikationen und gelegentlich auch Interviewäußerungen zu Wort kommen sollen, sind größtenteils Professoren und promovierte Dozenten theologischer Fakultäten, gelegentlich auch andere promovierte Mitarbeiter von solchen. In einem kleinen, aber für die öffentliche Meinungsbildung besonders relevanten Teil der Fälle handelt es sich um Personen, die aus entsprechenden universitären Positionen heraus in die staatliche Religionsbehörde, das Präsidium für Religiöse Angelegenheiten in Ankara – auf türkisch kurz „Diyanet“ genannt –, oder den diplomatischen Dienst übergewechselt sind. Alle diese Hochschullehrer und Staatsbeamten haben ein grundständiges Studium der islamischen Theologie absolviert. Das gilt auch für je zwei in die Untersuchung einbezogene Professoren für Religionsgeschichte2 und für Religionssoziologie3, die an theologischen Fakultäten lehren.4 Mit ausgewertet wurden Artikel zum Stichwort „Dschihad“, die sich in mehreren vom Diyanet herausgegebenen, gedruckt oder online erschienenen theologischen Fachlexika finden,5 ebenso einschlägige amtliche Verlautbarungen dieser Behörde, vor allem das umfangreiche Gutachten zum „Islamischen Staat“, das sie im August 2015 veröffentlicht hat.6   Şinasi Gündüz und Kadir Albayrak.   Hüsnü Ezber Bodur und Mehmet Ali Kirman. 4   Zwei dem Titel nach auf den ersten Blick einschlägige Schriften von S¸ adi Eren, jetzt Professor an der Universität Iğdır, waren mir nicht zugänglich: „Allah Yolunda Cihad“ (Istanbul 2000, 2. Aufl. 2007) und „Soru ve Cevaplarla Cihad ve Terör“ (Istanbul 2004). Beide sind derzeit vergriffen und weder über Bibliotheken noch als E-Books erhältlich. Allerdings gehören sie nach Angaben auf älteren Internetseiten offenbar auch nicht zur hier untersuchten theologischen Literatur mit wissenschaftlichem Anspruch, sondern sind Erzeugnisse für das breite Publikum. 5   Özel 1993, Topalog˘lu 1993 und der erste der beiden im Literaturverzeichnis unter „Diyanet İşleri Başkanlığı“ angeführten Titel. 6   Im Literaturverzeichnis der zweite unter „Diyanet İşleri Başkanlığı“ angeführte Titel. 2 3

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2.  Verständnis und Bewertung des im Koran und nach der islamischen Rechtstradition gebotenen Dschihad 2.1.  Von begrenzter Rechtfertigung des Dschihad zum Bemühen um grundsätzliche Klarstellung des Verhältnisses von Islam und Gewalt Die große Mehrzahl der neueren Bücher und Artikel türkischer Theologen, die das Thema „Dschihad“ behandeln, ist nach dem 11. September 2001 veröffentlicht worden. Seit den Anschlägen dieses Tages ist jedoch nicht nur ein erheblicher Zuwachs an solchen Publikationen zu verzeichnen, sondern auch eine spürbare Veränderung der Ziele, die die Verfasser mit ihren Arbeiten zu diesem Thema verfolgen, und nicht selten zugleich eine polemische Verschärfung ihrer Sprache. Die Art der eingetretenen Veränderung wird deutlich, wenn man sich zunächst die Erläuterungen anschaut, die einige prominente türkische Theologieprofessoren bereits vor dieser Zäsur zum richtigen Verständnis des Dschihad gegeben haben. Einer von ihnen, Bekir Topaloğlu (1936–2016), der an der Marmara Üniversitesi in Istanbul Systematische Theologie lehrte, hat sich dazu 1993 in einem mehrseitigen Anhang mit dem Titel „Dschihad heutzutage“ geäußert, der dem aus anderer Feder stammenden Artikel „Dschihad“7 in einer von der staatlich-türkischen Religionsstiftung herausgegebenen Islam-Enzyklopädie beigegeben ist. Darin schärft er seinen Glaubensgenossen ein, sie müssten, um „dem Wort Gottes die Oberhand verschaffen“8 zu können, unbedingt auch heute noch fest daran glauben, dass allein der Islam die ganze Menschheit aus der Finsternis herausführen und glücklich machen könne. Entgegen der Meinung mancher Interpreten gelte die Warnung des Koran vor mächtigen Feinden des Islam, die alles täten, um dessen Verbreitung und Weiterwirken zunichte zu machen, auch noch für die Gegenwart. Daher sei der Dschihad nach wie vor geboten; nur müsse dieser mit den heute angemessenen Methoden geführt werden. Topaloğlu erklärt, heutzutage komme dem Dschihad auf den Gebieten der Ökonomie und der Bildung im Vergleich zu demjenigen mit der Waffe erhöhte Bedeutung zu. Die Gläubigen seien in erster Linie zu dem Bemühen verpflichtet, ihr Land wirtschaftlich so stark wie möglich zu machen und es in Wissenschaft und Erziehungswesen optimal voranzubringen, so dass es dann nötigenfalls auch den militärischen Kampf mit den Feinden des Islam siegreich bestehen könne. Die meisten kriegerischen Angriffe auf islamische Länder in Geschichte und Gegenwart hätten sich ja nicht einfach gegen deren Bewohner, sondern gegen die von diesen repräsentierte Religion gerichtet. Darum sei es religiöse Pflicht

  Özel 1993.   So lautet die traditionelle islamische Kurzformel für das Ziel des Dschihad.

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der Muslime, solche Angriffe durch bewaffneten Dschihad zurückzuschlagen.9 Die Zielrichtung dieser Ausführungen Topaloğlus ist offenkundig die, die eigenen Glaubensgenossen davon zu überzeugen, dass Dschihad, den er als reinen Verteidigungskrieg gegen Angriffe auf Muslime und letztlich deren Religion darstellt, keineswegs obsolet ist und dass sie sich auf diesen Ernstfall so gut und so zeitgemäß wie möglich vorbereiten müssen. Er identifiziert in der Welt von heute jedoch keine konkreten Islamfeinde und bleibt im Ton vergleichsweise ruhig und sachlich. Ähnlich steht es bei Yaşar Nuri Öztürk (1951–2016), dem meistgelesenen türkischen Theologen der jüngeren Vergangenheit,10 der mit einer der religiösen Breitenbildung gewidmeten Serie auch zu einem beliebten Fernsehstar wurde. Seine Darlegungen zum Thema „Dschihad“, die in mehreren zwischen 1989 und den späten 1990er Jahren erschienenen Handbüchern zu Fragen des islamischen Glaubens und der islamischen Ethik enthalten sind, richten sich wie diejenigen Topaloğlus an Mitmuslime, die der Autor über die nach wie vor bestehende Pflicht zum bewaffneten Dschihad aufklären will. Genau wie Topaloğlu spricht Öztürk aber nur generisch von Feinden, gegen die unter Umständen Dschihad geführt werden muss, ohne sie näher zu identifizieren; auch er tut dies in unaufgeregt belehrender Diktion. Im wesentlichen dieselbe Herangehensweise zeigen die Passagen zum Dschihad in einem um 1997 gedruckten Kommentarwerk11 von Süleyman Ateş (geb. 1933), dem derzeit renommiertesten Koranexegeten seines Landes.12 In den nach dem 11. September 2001 erschienenen Veröffentlichungen geht es dagegen durchweg nicht mehr darum, muslimischen Zeitgenossen, die an der auch heute noch gegebenen Legitimität und Notwendigkeit des bewaffneten Dschihad zweifeln, zu erklären, dass und warum dieser immer noch rechtens und geboten ist. Die weitaus meisten dieser Publikationen verfolgen aber auch nicht, wie man angesichts der Zeitumstände vielleicht erwarten könnte, die Absicht einer kritischen Auseinandersetzung mit der Art und Weise, wie islamistische Terroristen die Aussagen von Koran, Hadith und älterer islamischer Rechtstradition über den Dschihad für ihre Zwecke instrumentalisieren. Vielmehr sind sie in der erklärten Absicht verfasst worden, das nach dem Urteil der Autoren seit den Ereignissen des 11. September zu vorher ungekannter Virulenz gelangte Missverständnis oder gar islamfeindliche Vorurteil des „Westens“13 zu widerlegen, der Islam fördere mit seiner Idee des Dschihad die Gewaltbereitschaft mehr als andere Religionen   Topalog˘ lu 1993, S. 532–533.   Zu ihm Eith 2013. 11   Im Literaturverzeichnis Ates¸ ca. 1997. 12   Zu ihm Takim 2007. 13   Von den Autoren selbst meist pauschal so benutzter Begriff. 9

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und hier vor allem das Christentum.14 Diese Zielsetzung bringt häufig auch eine erhebliche Emotionalität des Argumentationsduktus mit sich. 2.2.  Der Islam als friedliche Religion Fast alle Theologen sind sich in dem Bestreben einig, den Islam als friedliche Religion zu erweisen. Das versuchen sie auf verschiedenen Wegen. So taucht bei einigen von ihnen die beliebte, aber schlicht falsche Behauptung auf, das Wort „Islam“ bedeute „Friede“.15 Andere Autoren weisen auf die, wie sie beklagen, im Westen meist ignorierte Bedeutungsbreite des Begriffes Dschihad hin; sie legen großen Wert auf die Feststellung, dass dieser Begriff schon im Koran und in Hadithtexten nicht nur den Krieg um des Glaubens willen, sondern – mit anderer inhaltlicher Füllung seines ursprünglichen etymologischen Sinnes „Bemühung“ – auch andere Arten von religiös verdienstvollen Anstrengungen bezeichne, etwa den Kampf gegen die niedrigen Regungen der eigenen Seele, der in einem Muhammad zugeschriebenen Ausspruch sogar zum „größeren Dschihad“ erklärt worden ist.16 Das ist durchaus korrekt. Dennoch ist mit Dschihad im Koran meist der Krieg um des Glaubens willen gemeint, und diesen assoziieren Muslime bis heute weltweit fast immer erst einmal mit diesem Begriff, wo er ohne nähere Spezifikation fällt. Die Argumentationsmuster, mit denen Theologen detailliert nachzuweisen versuchen, dass die „westliche“ Vorstellung, der Islam sei wegen der koranischen Aufforderungen zum kriegerischen Dschihad eine Religion mit besonderer Neigung zur Gewaltanwendung, auf einem Missverständnis oder Vorurteil beruhe,17 lassen sich in vier Haupttypen zusammenfassen: 2.2.1.  Der Dschihad als ausschließlich defensiver Krieg Etliche Theologen heben hervor, der Dschihad sei im Islam seit jeher nur zum Zweck der Abwehr gegnerischer Angriffe erlaubt gewesen; mithin sei er ein Selbstverteidigungskrieg,18 wie ihn auch das moderne internationale Recht gestattet. Dieselbe Darstellung findet man heutzutage quer durch die islamische Welt bei vielen Autoren. Ein solches Dschihadverständnis wurde 14   Siehe z. B. Bodur 2005, S. 69–72; Çelik 2007, S. 31–33; Köse 2007, S. 39–40; Kubat 2007, S. 176; Yılmaz 2012, S. 165–167, 171; Orhan 2014, S. 89–90. 15  Siehe z. B. Gündüz 2005, S. 11; Kubat 2007, S. 176; Özdemir, Metin 2015, S. 80 (vgl. auch ebd. S. 73–74). So auch Erul 2014, Zeile 1 des amtlichen Vorworts des Diyanet. 16   Siehe z. B. Diyanet, Lexikon religiöser Begriffe , s. v. „Cihad“; Köse 2007, S. 40–42; Kubat 2007, S. 182–183. 17   Verschiedene Autoren, z. B. Bodur 2005, S. 82–83 und Orhan 2014, S. 90, vermerken allerdings, dass diese Vorstellung durch Terrorakte von Muslimen stark gefördert wurde. 18  Z. B. Diyanet, Lexikon religiöser Begriffe, s. v. „Cihad“; Güneş, Abdülbaki 2005, S. 19; Kubat 2007, S. 185 und 189.

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freilich in der älteren islamischen Tradition kaum je vertreten. Es hat erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Bedeutung erlangt, und zwar zuerst in Indien.19 Seither hat es sich in der islamischen Apologetik weithin eingebürgert. Nun gilt ja das Vorbild des Propheten traditionsgemäß als die denkbar beste Richtschnur muslimischen Glaubens und Handelns, und Muhammad hat Dschihad geführt. Die kriegerischen Auseinandersetzungen, die seine Anhänger nach der Hidschra unter seiner Ägide von Medina aus vornehmlich mit den seinerzeit noch nicht bekehrten Bewohnern seiner Heimatstadt Mekka ausfochten, kommen sowohl in Koran und Hadith als auch in den ältesten biographischen und historiographischen Zeugnissen der islamischen Tradition zur Sprache. Und gleich der erste dieser Waffengänge, nämlich der, der den Muslimen im Jahr 624 den Sieg in der Schlacht von Badr einbrachte, wirft in Bezug auf den rein defensiven Charakter des Dschihad Fragen auf: Er begann mit einem Überfall der Muslime auf eine mit Reichtümern beladene mekkanische Karawane, die außerhalb des Gebiets von Medina auf dem Rückweg von einer Handelsreise nach Syrien war. War dies nun ein Akt der Verteidigung? Auch einige türkische Theologen sehen hier Erklärungsbedarf: Sie legen eigens dar, warum die von Muhammad befehligten Muslime in diesem Fall zu den Waffen greifen mussten. So begründet z. B. einer von ihnen den Überfall damit, dass die Mekkaner Pläne dafür geschmiedet hätten, den Propheten und dessen Anhänger mit Waffengewalt aus Medina zu vertreiben, und dass die überfallene Karawane nur nach Syrien geschickt worden sei, um die nötigen Finanzmittel für diesen Angriff beizubringen.20 Ein anderer lässt seine Leser sogar wissen, die Mekkaner hätten die von der Karawane transportierten Schätze zu dem Zweck zusammengetragen, „die Gläubigen vollständig zu vernichten“.21 Beide brauchen die Konstruktion, nach der es sich bei den Reichtümern der Karawane um die Kriegskasse der Mekkaner für die Durchführung eines dicht bevorstehenden Angriffs auf das bereits muslimische Medina gehandelt haben soll, um den Überfall als einen vorweggenommenen Verteidigungsdschihad zu rechtfertigen. Den vielzitierten „Schwertvers“ (Sure 9, 5) aus der Spätzeit von Muhammads Verkündigung („Und wenn nun die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Heiden, wo immer ihr sie findet …“) sucht Mehmet Kubat, Professor an der Universität Malatya, durch die Deutung zu entschärfen, er beziehe sich nur auf einen bereits bestehenden Kriegszustand mit einer „aggressiven Gesellschaft“; mit ihm seien lediglich diejenigen, die seinerzeit 19   Zum historischen Hintergrund z. B. Peters 1979, S. 49–53; Bonner 2006, S. 159–161; Ourghi 2010, S. 22–23. 20   Kubat 2007, S. 188–189. 21   Ates¸ 1997, Bd. 3, S. 483.

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vertragsbrüchig geworden seien und mit den Feinden der Muslime gemeinsame Sache gemacht hätten, zur Tötung freigegeben worden.22 Doch wie steht es mit der gegen Ende von Muhammads medinensischem Wirken verkündeten koranischen Aufforderung, die Angehörigen der älteren „Schriftreligionen“, also Juden und Christen, so lange mit Waffengewalt zu bekämpfen, bis sie kleinlaut Tribut entrichten (Sure 9, Vers 29)? Ist das ein Aufruf zu rein defensivem Dschihad? Hasan Elik, Professor für Koranexegese an der Marmara-Universität Istanbul, räumt das Problem aus, indem er – entgegen der gesamten islamischen Rechtstradition, die mit diesem Vers die gottgewollte „Schutzherrschaft“ (d-imma) der Muslime über die Anhänger der älteren „Schriftreligionen“ begründete – die Auffassung vertritt, dieser Vers beziehe sich gar nicht auf Juden und Christen insgesamt, sondern nur auf die vertragsbrüchigen unter ihnen, die zuvor friedlich mit den Muslimen zusammengelebt hätten; der Vers habe nur diese spezielle Gruppe „zum Gehorsam zurückbringen“ sollen.23 İlhami Güler, Professor für Systematische Theologie an der Universität Ankara, erklärt es für irrelevant, ob der hier ausgerufene Krieg gegen Juden und Christen defensiv oder aggressiv war; das sei schließlich nur eine Frage der Strategie und Taktik. Gleichwohl möchte auch er den Eindruck vermeiden, mit dieser Koranstelle könne ein Angriffskrieg gegen alle Juden und Christen proklamiert worden sein: Er spricht von einem „Milieu des permanenten Kriegszustands“24, das die Juden und die Christen der arabischen Halbinsel damals um das muslimische Medina herum geschaffen hätten, eine Situation, auf die die Muslime natürlich hätten reagieren müssen; damit stellt er die Juden und Christen als diejenigen dar, von denen die Gewalt ausging.25 Mit der Betonung des ausschließlich defensiven Charakters des Dschihad geht bei den türkischen Theologen – genau wie bei muslimischen Apologeten anderer Nationalität – meist keine Definition des Verteidigungsfalles einher, die diesen auf das Vorliegen eines bewaffneten Angriffs einer äußeren Macht auf ein muslimisch regiertes Land beschränken würde.26 Vielmehr   Kubat 2007, 185.   Elik 2006, S. 128; ebenso Diyanet 2015, S. 24 (deutsche Übers. S. 30–31). 24   Güler benutzt im türkischen Originaltext für Hervorhebungen Anführungszeichen. Ich gebe diese durch Kursivsetzung der hervorgehobenen Wörter wieder. 25   Güler 2002, S. 45. Auch Öztürk ist bemüht, die vom Propheten geführten Kriege einschließlich derer gegen Juden und Christen so weit wie möglich als defensiv darzustellen (Öztürk 1989/2000, S. 255), obwohl er wie Güler kein rein defensives Dschihadverständnis vertritt (dazu mehr unten). 26  Anders ist das bei dem Istanbuler Philosophieprofessor Caner Taslaman, der sich, ohne Theologie studiert zu haben, gleichzeitig als Theologe versteht und sich insbesondere mit der problematischen Rolle des Dschihadbegriffs in der politischen Rhetorik auseinandergesetzt hat. Nach seiner Auffassung erlaubt der Koran Krieg nur aus gerechtem Grund, und der einzige gerechte Grund ist der, angegriffen worden zu sein (Taslaman 2007, S. 13; vgl. auch S. 9). 22 23

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reklamieren sie die Legitimität dieses angeblich reinen Verteidigungskrieges fast durchweg auch für Situationen, in denen nichtmuslimische Gegner sich aus muslimischer Perspektive lediglich eines Verhaltens schuldig machen, das dem wünschenswerten Vorankommen der islamischen Sache im Wege steht und damit im weitesten Sinne anti‑islamisch ist. Damit umfassen ihre Vorstellungen vom Verteidigungsdschihad auch verschiedene Formen dessen, was man nach heutigem internationalem Recht als Angriffskrieg einstufen würde.27 Dieses Verschwimmen der Grenze zwischen Defensivität und Aggressivität lässt sich z. B. bei Abdulbaki Güneş von der Universität Van beobachten: Obwohl er den reinen Verteidigungscharakter des Dschihad betont hat, darf letzterer nach seiner Auskunft auch zu Zwecken wie denen geführt werden, Druck von den Gläubigen zu nehmen, der vom nichtmuslimischen Umfeld ausgeht, eventuellen künftigen Einschränkungen ihrer Glaubensfreiheit einen Riegel vorzuschieben und eine „freie Gesellschaft“ zu schaffen, in der es keine Ungerechtigkeit mehr gibt. Dabei schwebt ihm nach Ausweis des Kontextes nur die Freiheit der Muslime und derer, die zum Islam konvertieren wollen, vor, desgleichen eine Gerechtigkeit nach islamischen Maßstäben; Freiheit und Gerechtigkeitsverständnis Andersgläubiger oder Andersdenkender interessieren ihn nicht.28 Ähnlich dehnt auch Süleyman Ateş den Begriff des Defensiven aus: Obwohl, wie er betont, für den Dschihad der Grundsatz gilt „Gegen die, die nicht angreifen, darf kein Krieg geführt werden.“, befindet er: „Situationen wie die, dass jemand darauf hinarbeitet, die Muslime von ihrer Religion abzubringen oder sie zu belästigen, oder dass jemand die freie Verkündigung des Islam behindert, begründen die Notwendigkeit der Kriegführung …, damit Druck von den Gewissen genommen und die Religion Gottes zur Herrschaft gebracht wird.“29 2.2.2.  Der Dschihad als gerechter Krieg Andere Theologen machen die Friedlichkeit des Islam nicht an einem behaupteten grundsätzlichen Verbot von Angriffskriegen fest, sondern verbinden mit ihr in erster Linie die Vorstellung eines gerechten Friedens unter islamischen Auspizien, der aus ihrer Sicht notfalls durch einen gerechten Krieg, den Dschihad, hergestellt werden muss.

  Zu dieser Problematik siehe auch Mayer 1991, S. 202–205.   Günes¸ , Abdulbaki 2005, S. 19. 29   Ates¸ ca. 1997, Bd. 2, S. 502. 27 28

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2.2.2.1.  Das islamische ius ad bellum als Beweis für die Gerechtigkeit des Dschihad Auf der Basis der Idee des gerechten Krieges listen verschiedene Theologen eine ganze Reihe von nach ihrer Überzeugung gerechten Kriegsgründen oder ‑zwecken auf, von denen die Notwendigkeit der Selbstverteidigung gegen feindliche Angriffe nur einer ist. An gerechten Kriegsgründen, die über diese hinausgehen, werden zunächst einmal verschiedene Arten von Verstößen nichtislamischer Staaten gegen Rechte oder Interessen des islamisch regierten Staats, aber auch von Übergriffen auf dessen Repräsentanten genannt: Bruch von Verträgen, vor allem Friedensverträgen, Tötung von Botschaftern, Zusammenarbeit mit feindseligen Mächten und Gewalttaten oder Einsatz von Folter gegen Muslime im nichtislamischen Ausland, zumal wenn letztere um Hilfe rufen.30 Außerdem erwähnen die Autoren als legitimen Dschihadgrund immer wieder den gottgegebenen Auftrag der Muslime, Unrechtszuständen auf der Welt entgegenzutreten und an ihrer Stelle eine gerechte Friedensordnung zu etablieren.31 So betont z. B. Öztürk, Muslime hätten nach Koran und Hadith jenseits reiner Verteidigungskriege die Pflicht, gegen Grausamkeit und Unterdrückung einzuschreiten32 und der Ungerechtigkeit und dem Bösen Widerstand entgegenzusetzen, nötigenfalls mit Waffengewalt. In der islamischen Ethik gelte das Prinzip, dass man geschehendem Unrecht nicht tatenlos zuschauen dürfe, sondern den Übeltätern Einhalt gebieten und sie bestrafen müsse.33 Verschiedentlich wird der Auftrag der Muslime, die Zustände im Rest der Welt mit militärischen Mitteln zu verbessern, aber auch noch weiter gefasst. So darf und muss z. B. nach Kubat Dschihad auch zu den Zwecken geführt werden, aus Zwietracht (fitne) resultierende Unruhen und ganz allgemein Böses (kötülük) zu unterbinden und dafür zu sorgen, dass das Gute als herrschender Wert anerkannt wird.34 Dass diese und ähnliche Auflistungen mit so allgemeinen ethischen Kategorien wie „Gerechtigkeit“, „das Gute“, „Böses“ oder „Übeltaten“ operieren, erleichtert naturgemäß die Rechtfertigung auch von aggressivem Dschihad gegenüber muslimischen Lesern: Wer wird z. B. nicht unterschreiben wollen, dass es geboten ist, für Gerechtigkeit zu sorgen, dem Guten Anerkennung zu verschaffen, Böses zu verhindern oder Übeltaten abzustellen? Doch sollte nicht übersehen werden, dass die Autoren mit der Verwendung so allgemei  So z. B. Köse 2007, S. 61–65.   Im Hintergrund steht dabei die bekannte koranische Maxime des Gebietens des Rechten und des Verbietens des Verwerflichen, deren Befolgung nach Sure 2, Vers 110 ein herausragendes Kennzeichen der islamischen Glaubensgemeinschaft ist. 32   Öztürk 1989/2000, S. 255. 33   Ebd. 241–242. 34   Kubat 2007, S. 190. 30 31

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ner Begriffe stets den Anspruch der Muslime verbinden, deren Inhalt allein nach Maßgabe ihrer eigenen Religion zu bestimmen. Es geht hier also nicht etwa um humanitäre Interventionen im Sinne der UN-Charta, für deren Durchführung ja ein Mandat des Weltsicherheitsrats und damit ein Konsens von Vertretern unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen nötig ist. Dass die Theologen bei der Füllung dieser Begriffe ganz selbstverständlich die islamische Perspektive als ausschlaggebend voraussetzen, wird besonders deutlich, wo es um spezifisch religiöse Problemlagen geht, deretwegen aus ihrer Sicht der Dschihad legitim und geboten ist: Wenn Şinasi Gündüz etwa zu den gerechten Dschihadgründen auch den Schutz der „bevorzugten religiösen Option“ des Menschen zählt,35 dann ist mit letzterer, wie der Kontext zeigt, nur der Islam gemeint. Und wenn Öztürk physische Gewaltanwendung auch gegen „chronische Leugner“ (inkarcılar) (sc. Gottes) für erlaubt und geboten erklärt, wenngleich nur als letzte Eskalationsstufe des Dschihad nach drei milderen Formen der Auseinandersetzung,36 dann bringt er damit die spezifisch islamische Anschauung zum Tragen, dass zwar abweichende „Schriftreligionen“ geduldet werden können, aber Atheismus keinesfalls. Auf die am weitesten reichende Rechtfertigung des vermeintlich gerechten Krieges im Namen des Islam trifft man bei İIhami Güler. Von ihm gibt es seit den späten 1990er Jahren zu Fragen, die keinen Bezug zu aktuellen Konfliktfeldern internationaler Politik haben, etliche qualitativ hochstehende und vergleichsweise progressive Publikationen. In einem Artikel, den er kurz nach den Ereignissen des 11. September veröffentlicht hat,37 entwickelt er jedoch Vorstellungen, die dem sonst bei ihm erkennbaren Bemühen, differenzierte Theologie im Horizont spezifisch moderner Intellektualität zu betreiben, Hohn sprechen. Um klarzustellen, dass der Islam keineswegs dazu tendiere, der Anwendung von mehr Gewalt als nötig Vorschub zu leisten, hebt Güler zunächst hervor, der Koran habe sogar in der medinensischen Zeit des Propheten, in der die Muslime nach seiner Schilderung von kriegslüsternen Heiden, Juden und Christen geradezu umlagert waren, keine anderen legitimen Kriegsgründe zugelassen als „Feindschaft gegen den Monotheismus und die Gerechtigkeit“.38 Die Frage, warum, wie er postuliert, unter den damaligen Bedingungen Dschihad gegen Nichtmuslime geführt werden musste, beantwortet er wie folgt: „Die fundamentale Mission des hochverehrten (sc. Propheten) Muhammad und der Muslime bestand darin, die ihnen geschenkte absolute Wahrheit nicht nur zu leben, son  Gündüz 2005, S. 21.   Öztürk 1991/2001a, S. 74. 37   Güler 2002. Eine deutsche Übersetzung dieses Artikels und ein kritischer Kommentar zu ihm erscheinen demnächst in einem von Felix Körner herausgegebenen Sammelband zum politischen Denken türkischer Theologen. 38   Güler 2002, S. 46. 35 36

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dern sie auch – selbst wenn das den Polytheisten nicht angenehm war – zu verkündigen, ihr die Oberhand über alle Religionen zu verschaffen … . Kurzum, die Muslime durften bei der Verbreitung ihrer Religion nicht behindert werden; wer wollte, musste in der Lage sein, dieser Religion in Freiheit beizutreten. Und das war nur dadurch zu ermöglichen, dass die Muslime die politische Herrschaft erlangten und dass die politische, organisatorische, militärische und ideologische Macht der Anhänger der älteren Schriftreligionen wie auch der Polytheisten auf der arabischen Halbinsel vernichtet wurde.“39

Nach seiner Überzeugung ist es aber auch noch heutzutage die „universelle Mission“ der Muslime, in Fortsetzung dieser Sendung des Propheten und der ersten Muslime der kollektiven Pflicht zur Führung des Dschihad nachzukommen.40 Deshalb können, so meint er, moderne Muslime den im Koran gebotenen Dschihad nicht so ablehnen und kritisieren, wie die Philosophen des Zeitalters der Aufklärung dies mit den Gewalttaten der Kirche im Mittelalter getan haben.41 Wie soll man dann aber heute mit dem koranischen Konzept des Dschihad genau umgehen? Nachdem Güler die Lösungsvorschläge von zwei anderen zeitgenössischen theologischen Denkern42 referiert hat, äußert er seine eigene Vorstellung: Zwar können, so räumt er ein, die Anhänger der Offenbarungsreligionen aufgrund ihrer beschränkten Erkenntnismöglichkeiten Gewalt im Namen Gottes oder der Religion „falsch anwenden“. Dagegen gibt es keine Garantie. „Doch kann der Mensch mit seinem ethischen Empfinden, seinem Bildungsgrad wie auch der Kritikfähigkeit und Wachheit seines Bewusstseins in richtiger Art und Weise zu Gewalt (Krieg)43 auf dem Wege Gottes schreiten.“44

Güler plädiert also im Prinzip wie der Ägypter Sayyid Quṭb (1906–1966), einer der großen ideologischen Vordenker des gewaltbereiten Islamismus, für den kriegerischen Dschihad mit dem Ziel der Unterwerfung der ganzen Welt unter islamische Herrschaft45 – nur dass dieser Dschihad mit ethisch möglichst hochstehenden Methoden geführt werden soll, die heutigen gebildeten Menschen entsprechen. Seine Überzeugung, dass dieser Dschihad im Dienste der „absoluten Wahrheit“ des Islam zu führen ist, damit eventuelle Konversionsinteressenten in bisher nicht muslimisch regierten Ländern in voller Freiheit zur islamischen Religion übertreten können, beweist, dass er das Menschenrecht auf Religionsfreiheit noch nicht verinnerlicht hat: Dieses schützt bekanntlich nicht die Wahrheit, wer immer auch glauben mag, sie zu

  Ebd. S. 46.   Güler 2002, S. 48. 41   Güler 2002, S. 50. 42   Dem aus Algerien stammenden Mohamed Arkoun (1928–2010), der an der Sorbonne gelehrt hat, und dem ägyptischen Philosophen Ḥasan Ḥanafī (geb. 1935). 43   Das in Klammern gesetzte Wort „Krieg“ steht im Original. 44   Güler 2002, S. 55. 45   Qutb 1964, S. 62–74 und 85–91. ˙ 39 40

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besitzen, sondern das intentional der Wahrheit verpflichtete Gewissen aller Menschen unabhängig von deren Religionszugehörigkeit oder Weltanschauung. 2.2.2.2.  Die überlegene Humanität des islamischen ius in bello und der d-imma Gewichtige Argumente dafür, dass der Dschihad ein gerechter und damit letztlich friedensfördernder Krieg ist, sind für etliche von Theologen auch noch die humanitären Schutzbestimmungen des klassischen islamischen Dschihadrechts und die Tatsache, dass dieses Recht keine Zwangsbekehrung von Juden und Christen vorsah, sondern stattdessen die „Schutzherrschaft“ (d- imma) der Muslime über diese Anhänger älterer monotheistischer Religionen, unter der sie gegen Zahlung einer Kopfsteuer ihren bisherigen Glauben weiterpraktizieren durften. Tatsächlich enthält das klassische islamische Dschihadrecht Regeln für die Kriegführung, die unter mittelalterlichen Bedingungen eine bedeutende humanitäre Errungenschaft darstellten, so z. B. die, dass auf gegnerischer Seite nur waffentragende Kombattanten getötet werden dürfen, niemals Zivilisten und ausdrücklich keine christlichen Priester und Ordensleute, dass selbst die Bekämpfung und Tötung von Kombattanten, die einer der älteren „Schriftreligionen“ angehören, einzustellen ist, sobald diese die Waffen niederlegen, dass es verboten ist, auf gegnerischem Territorium Fruchtbäume oder andere Teile der natürlichen Lebensbasis der Landesbewohner zu vernichten, usw. Von diesen Regeln führen die Theologen vor allem diejenigen, die die Schonung menschlichen Lebens gewährleisten sollen, häufig als Beweis dafür an, dass der Islam das Gegenteil einer die Gewaltbereitschaft fördernden Religion ist. Verschiedene Autoren nennen auch das d- imma-Statut, das für mittelalterliche Verhältnisse tatsächlich ein in anderen Religionen noch unbekanntes Maß an religiöser Toleranz garantierte, als Beleg dafür, dass der Islam eine Religion des Friedens ist. Ihrer Darstellung nach sicherte dieses Statut den Angehörigen der älteren Religionen dauerhaft ein friedliches und glückliches Leben unter dem Schutz der gerechten islamischen Staats- und Gesellschaftsordnung. Ein geradezu hymnischer Lobpreis auf den Dschihad als gerechten und friedensfördernden Krieg, aber auch auf die d- imma als Modell friedlichen und glücklichen Zusammenlebens unterschiedlicher Völker und Religionen schlägt einem aus dem Artikel entgegen, den Mehmet Paçacı zu einem 2014 vom Diyanet herausgegebenen Sammelband zum Thema „Islam und Gewalt“ beigesteuert hat. Paçacı war bis 2008 Professor für Koranexegese an der Theologischen Fakultät der Universität Ankara und hat in dieser Eigenschaft vielbeachtete, wissenschaftlich seriöse Pionierarbeiten zur Grundle-

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gung einer neuen exegetischen Hermeneutik publiziert. Allerdings nahm er dann das Amt des Kulturattachés an der türkischen Botschaft in Washington an und ist nach einer Zwischenstation im Diyanet, wo er die Abteilung für Auslandsbeziehungen leitete, gegenwärtig türkischer Botschafter beim Vatikan. Im Einleitungsteil des Artikels unternimmt Paçacı einen Vergleich zwischen den Feldzügen von Juden und vor allem Christen und denjenigen von Muslimen im Verlauf der Geschichte. Darin werden die Christen von Anfang bis Ende als von niedrigsten Beweggründen angetrieben, hemmungslos gewalttätig, brutal und unmenschlich beschrieben, während die Muslime als Kriegsherren herauskommen, die ausnahmslos aus edlen Motiven zu den Waffen griffen und mit Angehörigen feindlicher Armeen wie auch mit der nichtmuslimischen Bevölkerung eroberter Territorien schier unfasslich weitherzig, schonend und menschenfreundlich umgingen. Als Antwort auf die Frage, wie das haushoch überlegene Ethos der Muslime zu erklären sei, erörtert Paçacı dann als deren Vorbild die – nach seiner Darstellung nur durch feindliche Angriffe bedingten – Kriegszüge des Propheten und die koranischen Anweisungen zu deren Durchführung. Zusammenfassend stellt er fest, Muhammad und die Muslime der ersten Generation hätten „bezüglich des gerechten und ethisch hochstehenden Krieges die Erziehung der göttlichen Offenbarung durchlaufen“, und erklärt, die Muslime seien den durch diese vermittelten Prinzipien immer treu geblieben46 – gerade so, als hätte es bei ihnen – anders als bei den Christen, die seiner Darstellung nach, seit sie in den Besitz politischer Macht gekommen waren, ständig gegen die Lehre Jesu verstießen – niemals einen Unterschied zwischen Norm und Praxis gegeben. Paçacı hebt insbesondere die angeblich frappierend niedrigen Opferzahlen, die die islamische Eroberung riesiger Gebiete auf gegnerischer Seite verursachte, als leuchtenden Beweis für die jeder unnötigen Gewaltanwendung abholde islamische Humanität hervor. Er erklärt dem staunenden Leser, bei der ersten großen islamischen Expansionswelle nach dem Tode des Propheten, während deren die Muslime „binnen zehn Jahren ein Territorium so groß wie Europa erobert“ hätten, habe es nur 150 gefallene gegnerische Soldaten gegeben. Damit beruft er sich auf ein Buch des aus Pakistan stammenden Gelehrten Muhammad Hamidullah, den er allerdings falsch zitiert: Hamidullah nennt eine etwas höhere Zahl;47 vor allem aber bezieht sich seine Berechnung48 in Wirklichkeit gar nicht auf die großen frühislamischen Eroberungsfeldzüge, sondern auf die wesentlich kleineren Kriege, in die die Muslime unter Führung des Propheten auf der arabischen Halbinsel verwickelt waren,   Paçacı 2014, S. 172.   Im Obertext „weniger als 250“, in Fußnote genauer 216. Vgl. Hamidullah 1952/1983, S. 2–3. 48   Siehe die Fußnote in Hamidullah 1952/1983, S. 3. 46 47

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und Hamidullah selbst kennzeichnet sie als unvollständig, weil die einzige von ihm benutzte Quelle für einen Teil dieser Kriege gar keine Gefallenenzahlen enthält.49 Paçacı verherrlicht das Leben der unter die d-imma gezwungenen christlichen Völker während der osmanischen Herrschaft über den Balkan völlig unkritisch. Die benachteiligte Rechtsstellung dieser „Schutzbefohlenen“ und ihrer Religionsgemeinschaften übergeht er genauso mit Stillschweigen wie die Frage, warum und wie es überhaupt zur osmanischen Herrschaft über den ganzen Balkan kam – vielleicht durch lauter unvergleichlich humane Verteidigungskriege? Er begnügt sich damit, das vermeintlich uneingeschränkte Wohlergehen der dortigen Christen unter muslimischem Regiment mit den für Andersgläubige sehr üblen Folgen der christlichen Reconquista Spaniens zu kontrastieren, die er auf die „invasionistische Kultur des Westens“ zurückführt.50 Die tatsächlich schlimme Intoleranz der christlichen Rückeroberer Spaniens beweist freilich noch nicht, dass das d- imma‑Statut für die Christen auf dem osmanisch beherrschten Balkan eine Art Paradies war, wie Paçacı glauben machen möchte. Er jedoch beklagt mit unüberhörbarer Nostalgie, dass es die nach seiner Darstellung auch für die unterworfenen Nichtmuslime unübertrefflich gerechten Verhältnisse im harmonischen Vielvölkerstaat der Osmanen nun nicht mehr gibt, weil die aus dem modernen Europa eingeschleppte „nationalistische Hysterie“ die Oberhand über Verstand und Herz der Balkanvölker gewonnen und diese zum Ausbruch aus dem Osmanischen Reich verführt habe.51 Es gibt zu denken, dass Paçacı, jetzt ein Diplomat seines Landes, offensichtlich weder den Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker (Kap. 1, Art. 1, Abs. 2 der UN-Charta) noch das Menschenrecht auf Religionsfreiheit im modernen Sinne anerkennt und dass er dies in einer amtlichen türkischen Publikation unbeanstandet zum Ausdruck bringen konnte. 2.2.3.  Das geringe Gewaltpotential des Islam im interreligiösen Vergleich Verschiedene Theologen suchen die Vorstellung, die islamische Religion begünstige mehr als andere kriegerische oder terroristische Gewalt, dadurch zu widerlegen, dass sie den Islam zu seinen Gunsten mit Judentum und Christentum vergleichen. Dabei werden häufig nicht religiöse Normen mit religiösen Normen und historische Praxis mit historischer Praxis verglichen, sondern die nach Darstellung der Autoren eminent friedensfördernden und humanen Vorschriften von Koran und klassischem Dschihadrecht mit kriegerischen und anderen Gewalttaten vor allem der Christenheit im Verlauf der   Paçacı 2014, S. 172.   Paçacı 2014, S. 171. 51   Paçacı 2014, S. 142. 49 50

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Geschichte.52 Die Autoren akzentuieren in diesem Zusammenhang besonders die Aggressivität und Grausamkeit der Kreuzzüge und die gewaltsame Durchsetzung der Kolonialherrschaft europäischer Mächte über weite Teile der islamischen Welt. Sachlicher gehen in ihren Vergleichen die beiden an theologischen Fakultäten lehrenden Religionsgeschichtler Gündüz und Albayrak vor.53 Gündüz zeigt sich zwar davon überzeugt, dass der Islam von seinen normativen Vorgaben her grundsätzlich eine friedliche Religion ist, die Kriegführung nur ausnahmsweise zur Abwehr von Angriffen auf geheiligte Werte und zur Unterbindung von Übeltaten gestattet.54 Er räumt aber im Gegensatz zu Paçacı ein, dass es auch in der Geschichte des Islam schon früh einen Widerspruch zwischen Normen und Praxis gegeben habe, zum Beispiel in Gestalt von aus seiner Sicht koranwidrigen Eroberungskriegen, in denen Expansionsgelüste und Beutegier am Werk waren. Allerdings, so meint er, hätten sich die Muslime im Verlauf der Geschichte trotz solcher Fehlentwicklungen aufs ganze gesehen immer noch friedlicher verhalten als die Christenheit; deshalb sei es unfair ist, dem Islam eine besondere Gewaltneigung nachzusagen.55 Nach Albayraks Urteil enthalten die heiligen Schriften aller drei großen Offenbarungsreligionen, auch das Neue Testament, sowohl Aufforderungen zu friedfertigem Verhalten als auch solche zur Gewaltanwendung. Er vertritt die These, angesichts des Dilemmas, vor das sich die Interpreten durch diesen Befund gestellt sahen, sei es in der Geschichte immer darauf angekommen, was die Menschen aus den heiligen Schriften gemacht hätten; letztlich entscheide nicht der Text, sondern der ihn deutende Mensch über Gewaltbereitschaft oder deren Gegenteil.56 Allerdings attestiert auch er dem Christentum eine besonders abstoßende Gewaltgeschichte.57 Fasst man nur die Verkündigung der Stiftergestalten beider Religionen ins Auge, wie sie in den heiligen Schriften von Christentum und Islam greifbar ist, dann kann man schwerlich den Standpunkt vertreten, diejenige Muhammads sei friedlicher gewesen als die Jesu: Von Jesus sind keine Aufrufe zum Krieg und zum Töten überliefert, wie es sie im Koran gibt, dafür aber das Gebot der Feindesliebe und des Verzichts auf Gegengewalt. Etliche

52   Siehe z. B. Kubat 179–181; Güler 2002, 39–42. Derselben Intention scheinen die im Symposiumsbericht von Battal 2015 auf S. 172–174 zusammengefassten beiden Beiträge zu Gewalt im Judentum und im Christentum entsprungen zu sein. 53  Gleichwohl nehmen auch bei ihnen die Gewalttaten der Christenheit im Zeitalter der Kreuzzüge und in dem des europäischen Kolonialismus breiten Raum ein; siehe z. B. Albayrak 2010, Kap. 4, Abschnitte E und F; Albayrak 2014, S. 56–59; Gündüz 2005, Kap. 2 und 3; 54   Gündüz 2005, S. 21–23. 55   Ebd. S. 23–25. 56   Albayrak 2014, S. 74. 57   Albayrak 2010, Kap. 4, Abschnitte E und F.

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Theologen suchen dieses Problem nur mit Argumenten zu entschärfen, die in der islamischen Apologetik Standard sind; sie brauchen hier nicht erörtert zu werden. Aufschlussreich sind jedoch die Darlegungen von Öztürk, Güler und Albayrak zu diesem Punkt: Sie verteidigen die im Koran enthaltenen Aufrufe zur Gewalt mit dem Argument, diese entsprächen dem Prinzip, dass ungerechter Gewalt mit Gewalt begegnet werden müsse. Dieses Prinzip entspringe der richtigen Einschätzung der menschlichen Natur und diene daher letztlich auch dem Frieden besser als der radikale Pazifismus Jesu. Öztürk erklärt dazu, das Ideal sei zwar stets die Liebe. Der Koran sei aber so realistisch, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Übervorteilung und ungerechte Behandlung anderer unter Menschen immer wieder vorkommen. Deshalb gebiete er aktives, bei Bedarf auch kriegerisches Einschreiten gegen Übeltäter.58 Güler argumentiert ebenfalls anthropologisch, indem er ausführt, der Islam sei eben eine „natürliche Religion“,59 die die Aggressivität des Menschen ernst nehme, und dieser müsse nun einmal etwas entgegengesetzt werden. Darüber hinaus spekuliert Güler, dass Jesus, wäre er nicht so früh gestorben, möglicherweise auch noch seinen Pazifismus aufgegeben und stattdessen „die Goldene Regel“, die der Wiedervergeltung, befolgt und „sämtlichen Erfordernissen seiner Funktion entsprechend der Entwicklung seiner Religionsgemeinschaft Genüge getan“, das heißt für Güler unter anderem: nötigenfalls Krieg geführt hätte.60 Auch Albayrak rechtfertigt die Tatsache, dass der Islam als Reaktion auf Angriffe Kriegführung vorsieht, mit „der Goldenen Regel in den Religionen“, die (sc. entgegen der Weisung Jesu in Mt 5, 39) besage, dass man eine Ohrfeige unbedingt mit einer Ohrfeige erwidern müsse.61 Hier ist beiden Theologen allerdings eine kleine Verwechslung unterlaufen: Die vielzitierte Goldene Regel lautet nicht „Wie du mir, so ich dir.“, sondern „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.“

58   Ebd. S. 241–243, Zitat S. 243 nach der deutschen Übersetzung, mit leichter Verbesserung von deren stilistischer Qualität. 59  Die Vorstellung vom Islam als natürlicher Religion ist schon in Koran (Sure 30, Vers 30) und Hadith enthalten und bis heute muslimisches Gemeingut. Sie besagt, dass jeder Mensch bei seiner Geburt von Natur aus Muslim ist, wengleich ihm danach häufig andere Religionszugehörigkeiten anerzogen werden. Güler verschiebt diese Vorstellung ein wenig, indem er „natürlich“ als „der menschlichen Natur gemäß“ versteht. 60   Güler 2002, S. 40. 61   Albayrak 2010, Kap. 5, Abschnitt D, 1. Absatz; in seinem (nicht mit Nummer versehenen) Schlusskapitel mit dem Titel „Çözüm Önerileri“ erinnert sich Albayrak allerdings an die richtige Fassung der Goldenen Regel.

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3.  Stellungnahmen zum islamistischen Terrorismus 3.1.  Erklärungs- und Bewertungsmuster Wer glaubhaft machen möchte, dass der Islam entgegen der Vorstellung vieler Nichtmuslime eine friedliche Religion ist, muss der Leserschaft überzeugend erklären können, woher es dann kommt, dass die in den letzten 25 Jahren weltweit immer zahlreicher gewordenen terroristischen Anschläge größtenteils unter Berufung auf den Islam begangen worden sind. Welche Erklärungen haben die Theologen dafür? Mehmet Ali Kirman von der Çukurova-Universität Adana lässt es mit der bei muslimischen Apologeten beliebten Auskunft bewenden, Terrorismus habe mit dem Islam überhaupt nichts zu tun.62 Sein Kollege Fatih Orhan betont das zwar auch, aber hält doch fest, dass der Missbrauch des Begriffs des Dschihad durch muslimische Terroristen mit schuld daran sei, dass der Islam heutzutage von Nichtmuslimen mit Terrorismus assoziiert werde.63 Mehrere andere Theologen weisen zwar den Verdacht zurück, Terrorismus sei etwas spezifisch Islamisches, sehen aber gleichwohl die Notwendigkeit, zu erklären, warum in der jüngsten Vergangenheit ausgerechnet Muslime einen überproportional hohen Anteil an der Zahl derer stellten, die Terroranschläge verübten. Dafür sehen sie außerreligiöse Gründe, und zwar vor allem in politischen, wirtschaftlichen und sozialen Missständen, unter deren Druck sich die Attentäter, wie sie annehmen, radikalisiert haben. Wenn letztere ihre Terrorakte mit islamischen Konzepten wie etwa dem des Dschihad rechtfertigen, dann benutzen sie diese, so ihre These, lediglich als Ausdrucksmittel des politischen Protestes gegen solche Missstände,64 ohne wirklich durch den Islam als Religion motiviert zu sein. Einige Theologen führen diese Missstände nicht nur auf externe Faktoren zurück, sondern auch auf interne, von den Muslimen selbst zu verantwortende wie z. B. Entwicklungsdefizite, Regierungsversagen oder Korruption.65 Die meisten sehen jedoch deren wichtigste oder sogar alleinige Ursache in den sozialen Verwerfungen, Armutsproblemen und Unrechtszuständen, die die ausbeuterische Kolonialpolitik westlicher Staaten in weiten Teilen der islamischen Welt hinterlassen hat. Vor allem das bis heute ungelöste Palästinaproblem und die verheerenden Folgen der amerikanischen Invasion im Irak 2003 werden als Katastrophen genannt, in denen sich die von westlicher Aggressivität verursachten Leiden der Bewohner islamischer Länder

  Kirman 2004, S. 321.   Orhan 2007, S. 90. 64   Siehe z. B. Bodur 2005, S. 68; Kubat 2007, S. 200. 65  So Aktan 2011, S. 27–28. 62 63

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bis heute fortsetzen.66 Angesichts alles dessen urteilt Kubat: „… wenn die in diesem geographischen Rahmen lebenden Menschen keine Muslime wären, dann würden unter denselben Bedingungen dieselben Reaktionen entstehen, und es würde sich Terrorismus oder Gewalt manifestieren.“67 Mehrere Autoren vertreten pointiert die These, islamistischer Terrorismus sei nichts anderes als Gegengewalt, mit der ein Teil der Muslime auf die Gewalt reagiert, die die islamische Welt zuvor von Seiten westlicher Staaten erlitten hat; und Gewalt, so erklären sie, erzeuge nun einmal Gegengewalt.68 Albayrak, einer von denen, die auf diese vermeintliche Gesetzmäßigkeit verweisen, folgert aus ihr im Umkehrschluss, wenn heutzutage auf der ganzen Welt der Terrorismus herrsche, dann könne das logischerweise nur davon herrühren, dass es eine Macht gebe, die heute über die ganze Welt herrsche. Diese Macht sei evidenterweise nicht der Islam, sondern der Westen oder Amerika. Also müsse man nach dem Problem des islamistischen Terrorismus nicht die Muslime fragen, sondern diejenigen, die jetzt mit dem Finger auf den Islam zeigen.69 Die Theologen, die islamistischen Terrorismus in solcher Weise als reine Gegengewalt interpretieren, billigen wohlbemerkt nicht die Kampfesmethoden der Terroristen. Dennoch wohnt diesem Deutungsmuster ein Moment der Rechtfertigung des Terrorismus inne, denn es läuft auf die Diagnose hinaus, dass der Westen mit seinen an Muslimen verübten Gewalttaten selbst daran schuld ist, dass es jetzt so viele islamistische Attentate gibt. Dem Erklärungsschema „Der Westen ist an allem schuld.“ hat Mehmet Görmez, der derzeitige Präsident für Religiöse Angelegenheiten, noch einmal eine aparte Wendung gegeben, und zwar mittels der Theorie, der Terrorismus des sogenannten „Islamischen Staats“ sei aus dem Nihilismus des Westens entsprungen, dem man das Gewand der islamischen Religion umgehängt habe; 70 wer das getan haben und wie dieser Nihilismus zu der von ihm gleichfalls angeprangerten literalistischen Koran- und Hadith-Auslegung des „Islamischen Staats“ passen soll, ließ er im Dunkeln. Ein Teil der Theologen kommt allerdings zu dem Urteil, der islamistische Terrorismus habe doch zumindest partiell auch Wurzeln im Islam, wenngleich nur in dem Sinne, dass er die Verirrung einer kleinen Minderheit von Muslimen darstellt, die die Dschihadvorschriften des Koran und des klassischen islamischen Rechts insgesamt falsch interpretieren und sich in etlichen Punkten sogar verbrecherisch über sie hinwegsetzen. So wird in dem hier ausgewerteten Quellenkontingent mehrfach die Einschätzung geäußert, im 66   Z. B. Kubat 2007, S. 200; Diyanet 2015, S. 18–19 (deutsche Übersetung S. 14–15); vgl. auch Bulut 2009, S. 52. 67   Kubat 2007, S. 200. Fast wörtlich ebenso Aktan 2011, S. 27. 68   Kubat 2007, S. 200; Güler 2002, S. 55–56; Albayrak 2010, Kap. 5, Abschnitt F. 69   Albayrak 2010, Kap. 5, Abschnitt F. 70   Görmez 2015, S. 4.

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gewaltbereiten islamistischen Extremismus sei das intolerante und exklusivistische Islamverständnis der schon im Jahr 657 vom islamischen Mainstream abgespaltenen kleinen Sondergruppe der Kharidschiten wieder aufgelebt,71 oder aber der verderbliche Hang der längst ausgestorbenen Rechtsschule der Zahiriten72 zu einer buchstäblichen Anwendung der Vorschriften der normativen Textquellen ohne Rücksicht auf die Zeitumstände, der ja heutzutage auch die Salafisten73 kennzeichne. Hüsnü Ezber Bodur von der Theologischen Fakultät der Universität Kahramanmaraş ordnet das Phänomen religionsgeschichtlich korrekt ein, indem er darauf aufmerksam macht, dass die Wurzeln des heutigen salafistischen Dschihadismus vor allem im Wahhabitentum, der staatstragenden Ideologie Saudi-Arabiens, liegen.74 An etlichen Stellen,75 so auch in dem Gutachten des Diyanet zum „Islamischen Staat“,76 wird gegen islamistische Terroristen der Hauptvorwurf der Missachtung der Prinzipien des klassischen islamischen Dschihadrechts erhoben – allerdings ohne jede Distanzierung von dessen Bestimmungen zu legitimen Dschihadgründen und ‑zielen und ohne Infragestellung der fortdauernden Gültigkeit des im Koran enthaltenen Dschihadgebots als solchen. Damit bleiben auch fast alle türkischen Theologen einschließlich der Verfasser des Diyanet‑Gutachtens mit ihrer Verurteilung von Gewalt im Namen der Religion am selben Punkt stehen wie der bekannte Offene Brief der 126 Gelehrten77 vom September 2014 an Abu Bakr al‑Baghdadi, das Oberhaupt des „Islamischen Staates“. Zweifellos wäre schon einmal viel gewonnen, wenn alle derzeit gewaltbereiten Islamisten zur Einhaltung der Normen des klassischen Dschihadrechts zurückkehren würden, denn diese schließen terroristisches Vorgehen aus.78 Das Problem liegt jedoch nicht nur in der Missachtung dieser Normen,79 sondern im grundsätzlichen Festhalten an der   Kubat 2007, S. 199; Diyanet 2015, S. 8, 10, 22 (deutsche Übers. S.  12, 14, 29).   Kubat 2007, S. 199; Diyanet 2015, S. 17 (deutsche Übers. S. 22–23); Görmez 2015 (Interview). 73   Diyanet 2015, S. 17 (deutsche Übers. S. 22). 74   Bodur 2003 passim; Bodur 2005, S. 84–85. 75   Siehe z. B. Özel 2007; Ergün 2011a, S. 92‑96; Özdemir, Ahmet 2014, S. 79–82; Orhan 2014, S. 105–108. 76   Diyanet 2015, S. 21–24. 77   Im Literaturverzeichnis unter „Risāla“. 78   Nicht nur mit ihren humanitären Schutzvorschriften für die Kriegführung, sondern auch insofern, als nach klassischem Recht Dschihad nur vom legitimen Staatsoberhaupt beschlossen und durchgeführt werden kann, nicht von nichtstaatlichen Akteuren. (Der „Kalif“ des „Islamischen Staats“ ist aus der Sicht aller Muslime außer seinen Anhängern illegitim.) Außerdem wären Terrorakte gegen andersdenkende Muslime nach klassischem Recht unmöglich, weil dieses Dschihad nur gegen Nichtmuslime gestattet. 79   Das sieht wenigstens ein Stück weit auch der Istanbuler Philosophieprofessor Caner Taslaman: In einer Kritik des Diyanet-Gutachtens merkt er an, es reiche nicht, Terroristen zur Rückkehr zu den Normen der klassischen islamischen Rechtsquellen aufzurufen, weil auch letztere zum Teil schon Aussagen enthielten, die zur Rechtfertigung von aus heutiger 71 72

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Idee der bleibenden Verbindlichkeit der koranischen Dschihadvorschriften auch noch unter heutigen Bedingungen. Solange muslimische Theologen von dieser Idee nicht auf breiter Front abgerückt sind und ihre Glaubensgenossen entsprechend instruiert haben, werden diejenigen, die Gewalt üben wollen, das koranische Dschihadkonzept mit einer zweckdienlichen Interpretation der heiligen Texte und der aktuellen Lage weiterhin relativ leicht für sich instrumentalisieren können. Der einzige unter den hier herangezogenen Autoren, der das klar gesehen und die Konsequenz daraus gezogen hat, ist Bodur, ein überzeugter Kemalist. Unter Berufung auf eine Äußerung Atatürks, der vor der Instrumentalisierung der islamischen Religion für politische Zwecke warnte, da diese in der islamischen Geschichte schon seit der Schlacht von Ṣiffīn80 (657) sowohl der Religion als auch der Gesellschaft immer wieder Schaden zugefügt habe,81 plädiert er entschieden dafür, den Dschihad unter heutigen Bedingungen nur noch im Sinne des Kampfes der Gläubigen um die Veredelung der eigenen Seele zu verstehen82 und die Idee des kriegerischen Dschihad, den islamistische Extremisten fortgesetzt zur Rechtfertigung von Terrorakten benutzen, ad acta zu legen83. Das bereitet ihm keine Schwierigkeiten, weil er sich zu einer Koranexegese im Sinne der Hermeneutik des ägyptischen Gelehrten Naṣr Ḥāmid Abū Zayd (1943–2010) bekennt,84 die es ermöglicht, koranische Aussagen, die nicht mehr zum soziokulturellen Horizont heutiger Interpreten passen, als historisch kontextgebunden und darum jetzt nicht mehr verbindlich einzuordnen. 3.2.  Therapie- und Präventionsvorschläge Diejenigen Theologen, die politische, wirtschaftliche und soziale Probleme und Unrechtszustände als wesentlichen Grund für den islamistischen Terrorismus betrachten, sehen folgerichtig in deren Behebung einen entscheidenden Ansatzpunkt dafür, terroristische Tendenzen einzudämmen. Einige der Autoren äußern auch noch weitere Vorschläge dazu, was getan werden sollte, um Muslime, die mit Terrororganisationen wie dem „Islamischen Staat“ symSicht inakzeptablen bewaffneten Angriffen dienen können (https://www.facebook.com/ canertaslaman/posts/10153526593247071). Allerdings tut er nicht den Schritt, sämtliche Dschihadvorschriften des klassischen Rechts oder gar des Koran für heute nicht mehr gültig und anwendbar zu erklären. 80   In dieser Schlacht zwischen Anhängern des vierten Kalifen ʿAlī und denjenigen seines Rivalen Muʿāwiya hatten sich die letzteren, als sie zu unterliegen drohten, Koranexemplare auf die Lanzenspitzen gesteckt und damit ein Schiedsgericht anhand des Korantexts verlangt; dieses ging dann zugunsten Muʿāwiyas aus. 81   Bodur 2005, S. 85–86. 82   Ebd. S. 86–87. 83   Ebd. S. 82–83. 84   Ebd. S. 75.

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pathisieren und sich solchen vielleicht anschließen oder anderweitig terroristisch tätig werden könnten, möglichst zu deradikalisieren und der Radikalisierung junger Leute, die für die Propaganda des „Islamischen Staats“ und anderer terroristischer Gruppen empfänglich sein könnten, vorbeugend entgegenzuwirken. Die am häufigsten genannte Gegenmaßnahme ist eine gute, durch qualifiziertes Lehrpersonal vermittelte religiöse Bildung, die das nach Koran und klassischem islamischem Recht „richtige“ Dschihadverständnis vermittelt und damit terroristische Fehlinterpretationen und Missbräuche verhindern hilft.85 Die Verfasser des Diyanet-Gutachtens zum „Islamischen Staat“, die ebenfalls diesen Ansatz empfehlen, bringen im Zusammenhang damit gleich noch etwas Eigenwerbung an, indem sie erklären, die zu den Auslandsorganisationen des Diyanet – d. h. z. B. in Deutschland der DİTİB – gehörenden Moscheegemeinden seien dank guter religiöser Versorgung aus der Heimat weniger radikalisierungsgefährdet als andere. Außerdem nutzen sie die Gelegenheit zu einem Seitenhieb gegen einen modernisierten „europäischen Islam“, auf dessen Herausbildung manche hoffen: Ein solcher stehe, so behaupten sie, mangels Traditionsbindung in erhöhter Gefahr, sich durch den „Islamischen Staat“ verführen zu lassen (!).86 Weiter wird u. a. vorgeschlagen, diejenigen Moscheen, die keinen vom Diyanet gestellten Imam haben, strikt zu überwachen, damit Anhänger von Terrororganisationen dort keine Imame einschleusen können.87 Bodur möchte seine eigenen Fachgenossen verstärkt in die Verantwortung nehmen: Er verlangt, es müsse klar gesagt werden, dass Terroristen, da sie unverzeihliche Verbrechen an der Menschheit begehen, auf ewig in die Hölle kommen und dass jegliche Sympathiekundgebungen von Religionsgelehrten für sie als Mittäterschaft zu werten sind.88 Im übrigen erblickt er – im Einklang mit seiner eben dargestellten Diagnose des Kernproblems – das entscheidende Heil‑ und Vorbeugungsmittel gegen extrem‑islamistische Gewaltbereitschaft in der Erziehung zu einem konsequent laizistischen Staatsverständnis.89

  So z. B. Kubat 2007, S. 201–202; Bulut 2009, S. 53; Görmez 2015, S. 6.   Diyanet 2015, S. 16 (deutsche Übers. S. 21). 87   Bulut 2009, S. 53. 88   Bodur 2005, S. 87. 89   Ebd. S. 88. – In Albayrak 2010 gibt es zwar ein ganzes Schlusskapitel mit dem Titel „Lösungsvorschläge (Çözüm Önerileri)“. Letztere beziehen sich jedoch nicht speziell auf den islamistischen Terrorismus, sondern auf die Frage, wie man generell Gewalt von und zwischen Juden, Christen und Muslimen reduzieren könnte. 85 86

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4. Fazit Die Gesamtbilanz des hier gebotenen Überblicks über die Aussagen von Vertretern der vergleichsweise modernen zeitgenössischen türkischen Hochschultheologie zu Dschihad und islamistischem Terrorismus fällt ernüchternd aus: Die meisten von ihnen missbilligen zwar die Vorgehensweisen der Terroristen, insoweit diese gegen das klassische islamische Dschihadrecht verstoßen, halten aber weiterhin an der Legitimität des bewaffneten Dschihad fest, wie er auf der Grundlage von Koran und Hadith in der Rechtstradition des Islam verstanden worden ist. Zwei als besonders progressiv bekannt gewordene Theologen, Güler und Paçacı, negieren die Religionsfreiheit im modernen menschenrechtlichen Sinn: Güler rechtfertigt den bewaffneten Angriffsdschihad als bis heute legitimes Mittel ungehinderter weltweiter Bekanntmachung der „absoluten Wahrheit“ des Islam; Paçacı glorifiziert die, wie er glaubt, durchweg nach den Maßgaben Gottes geführten großen islamischen Eroberungskriege vergangener Zeiten und die Schutzherrschaft der Muslime über Juden und Christen. Der vermeintlich rein defensive Dschihadbegriff eines Teils der Theologen zeigt bei näherer Betrachtung aggressive Momente. Kataloge gerechter Gründe für Angriffsdschihad, die andere Theologen aufzählen, überschneiden sich zu einem erheblichen Teil mit denen, die auch islamistische Terroristen zur Rechtfertigung ihres Tuns verwenden: Auch diese beanspruchen für sich, pflichtgemäß gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen, nur „dem Wort Gottes die Oberhand verschaffen“ zu wollen, usw. Damit wird in der türkischen Hochschultheologie immer noch weit überwiegend ein Konzept des Dschihad vertreten, das nicht geeignet ist, terroristischer Instrumentalisierung den Boden zu entziehen. Außerdem bestätigt die Frontstellung einer großen Zahl von Theologen gegen „den Westen“, den sie pauschal als islamfeindlich kennzeichnen, die Begründungsmuster islamistischer Terroristen für Gewalttaten gegen Nichtmuslime eher, als sie zu entkräften. Angesichts alles dessen ist ungeachtet des vergleichsweise modernen Eindrucks, den die türkische Hochschultheologie insgesamt macht, von der großen Mehrzahl ihrer gegenwärtigen Vertreter, aber auch von Imamen, die bei diesen studiert haben, wohl kaum ein hinreichend wirksamer Beitrag zur Radikalisierungsprävention zu erwarten. Man kommt der terroristischen Instrumentalisierbarkeit des Konzepts des Dschihad nur bei, wenn man wie Bodur der Idee der Kriegführung im Namen Gottes eine klare Absage erteilt. Ein türkischer Journalist hat seit dem Jahr 2000 in zahlreichen Zeitungskommentaren mit dankenswerter Klarheit gegen die Verbrechen islamistischer Terroristen Stellung bezogen. Als er eine Sammlung dieser Artikel nochmals in einem Buch veröffentlichte, gab er diesem den Titel: „So geht Dschihad nicht!“90 Aber geht Dschihad überhaupt,   Albayrak, Hakan: Böyle Cihad Olmaz!, Ankara 2013.

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wenn man darunter Krieg im Auftrag und im Sinne der islamischen Religion versteht? Man würde sich wünschen, dass eine wachsende Zahl von türkischen Theologen diese Frage stellt und zu dem Schluss kommt, sie unter heutigen Bedingungen mit Nein beantworten zu müssen.

Literaturverzeichnis91 Aktan, Hamza (2011): Kur’ân ve Sünnet Işığında Terör ve İntihar Eylemleri, in: Ergün, Çapan (Hrsg): İslâm’a Göre Terör ve İntihar Saldırıları, İstanbul 2011, S. 27–41 Albayrak, Kadir (2010): Semavi Dinlerde Barış ve Şiddet İkilemi, Ankara92 Albayrak, Kadir (2014): Diğer Semavi Dinlerde Şiddet, in: Erul, Bünyamin (Hrsg.): Şiddet Karşısında İslam, Ankara, S. 29–74 Ates¸, Süleyman o. J. (ca. 1997): Kur’ân Ansiklopedisi, Istanbul, daraus die Abschnitte „Allah Yolunda Kıtâl (Savaş)“ in Bd. 2, S. 500–543 und Bd. 3, S. 5–28; und „Bedir Savaşı“ in Bd. 3, S. 476–485 Battal, Emine (2015): Uluslarası Din ve Şiddet Sempozyumu İzlenimleri, in: Recep Tayyip Erdoğan Üniversitesi (Rize) İlahiyat Fakültesi Dergisi Bd. 8, S. 163–192 Bodur, H. (=Hüsnü) Ezber (2005): Dini Motifli Terör Fenomeni ve İslam’ın Siyasal İstismarı, in: Kahramanmaraş Sütçü Üniversitesi İlahiyat Fakültesi Dergisi Bd. 5, S. 65–88 Bodur, H. Ezber (2003): Vahhabi Hareketi ve Küresel Terör, in: Kahramanmaraş Sütçü Üniversitesi İlahiyat Fakültesi Dergisi Bd. 2, S. 7–20 Bonner, Michael (2006): Jihad in Islamic History: Doctrines and Practice, Princeton Bulut, Halil I˙brahim (2009): Dini Şiddetin Fikri Arka Planı Olarak Haricilik ve Günümüze Yansımaları, in: Usûl – İslam Araştırmaları Bd. 9, S. 41–54 Cânan, I˙brahim (2011): Sulh ve Müsâmaha Dini Olarak İslâm, in: Ergün, Çapan (Hrsg.): İslâm’a Göre Terör ve İntihar Saldırıları, İstanbul 2011, S. 14–26 Çelik, Ahmet (2007): Kur’ân ve Sünnette Ortayol, Aşırılık Kavramları ve Müslümanların Bugünkü Durumları, in: Atatürk Üniversitesi (Erzurum) İlâhiyat Fakültesi Dergisi Nr. 28, S. 31–51 (Artikel ungeachtet des türkischen Titels in arabischer Sprache verfasst, mit türkischem Abstract) Diyanet İşleri Başkanlığı (staatlich-türkisches Präsidium für religiöse Angelegenheiten): Artikel „Cihâd“ in dessen online-Lexikon religiöser Begriffe, http://www.diyanet.gov. tr/dinikavramlar/dinikavramlar-C Diyanet İşleri Başkanlığı / Din İşleri Yüksek Kurulu (2015): Daişin Temel Felsefesi ve Dini Referanslar Raporu, Ankara, online zugänglich unter zahlreichen verschiedenen Adressen, z. B. mit Datum vom 16.08.201593 unter http://media.dunyabulteni.net/file/2015/

91   Letzter Zugriff auf alle in Fußnoten und Literaturverzeichnis angegebenen Internetseiten am 29.08.2016. 92   Dieses Buch ist im Buchhandel vergriffen und war mir auch nicht über Bibliotheken, sondern nur als E-Book ohne Originalpaginierung zugänglich. Daher gebe ich daraus Belegstellen hilfsweise nur mit Kapiteln und Abschnitten an. 93  Das fertige Gutachten wurde Prof. Dr. Mehmet Görmez, dem Präsidenten für Religiöse Angelegenheiten, von der dem Diyanet unterstellten Hohen Kommission für Religiöse Angelegenheiten (Din İşleri Yüksek Kurulu), der Professoren und Doktoren der Theologie angehören, Anfang August 2015 übergeben (http://m.on5yirmi5.com/ diyanetten-kapsamli-daes-raporu–180593.html vom 08.08.2015).

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diyanet.pdf; in deutscher Übersetzung auf der Homepage der DİTİB-Zentrale Köln unter http://www.ditib.de/media/Image/duyuru/Bericht_Daisch.pdf 94 Eith, Kathrin (2013): Koranexegese bei Yaşar Nuri Öztürk. Ein traditionskritischer Entwurf des Islams in der Türkei, Würzburg Elik, Hasan (2006): al-Qitāl fī “sabīl Allah” wa-tadāʿiyātuhū ka‑šiʿār islāmī, in: Marmara Üniversitesi İlâhiyat Fakültesi Dergisi Bd. 31 Nr. 2, S. 119–132 Ergün, Çapan (2011a): İntihar Saldırıları ve İslam, in: Ergün, Çapan (Hrsg.): İslâm’a Göre Terör ve İntihar Saldırıları, İstanbul 2011, S. 89–102 Ergün, Çapan (Hrsg.) (2011b): İslâm’a Göre Terör ve İntihar Saldırıları, İstanbul Erul, Bünyamin (Hrsg.) (2014): Şiddet Karşısında İslam, Ankara Görmez, Mehmet (2015): Text des Interviews am 01.08.2015 im Fernsehkanal Habertürk TV, veröffentlicht unter dem Titel „Diyanet İşleri Başkanı Görmez Habertürk’te gündemi değerlendirdi“ hier: http://www.diyanet.gov.tr/tr/icerik/diyanet-isleri-baskanigormez-haberturk%E2%80%99te-gundemi-degerlendirdi%E2%80%A6/27062 Güler, I˙lhami (2002): Kur’an’da Cihad’ın Teoloji-Politiği, in: Politik Teoloji Yazıları, Ankara, S. 39–56, ursprünglich in: İslâmiyât Bd. 5 (2002), S. 75–90 Gündüz, S¸inasi (2005): Küresel Sorunlar ve Din, Ankara Günes¸, Abdulbaki (2005): Kur’ân Işığında Şiddet Sorununa Bir Bakış, in: Dinbilimleri Akademik Araştırma Dergisi Bd. 5 Nr. 3, S. 7–28 Günes¸, Ahmet (2011): Islâm Hukuku’nda Savaş Ahkâmına Dair Bazı Mülâhazalar, in: Ergün, Çapan (Hrsg.): İslâm’a Göre Terör ve İntihar Saldırıları, İstanbul 2011, S. 103–112 Hamidullah, Muhammad (1953/1983): The Battlefields of the Prophet Muhammad: a Contribution to Muslim Military History, 1. Aufl. Woking 1953, hier benutzt in der rev. 3. Aufl. 1983, 4. Nachdruck New Delhi 1992 Kirman, Mehmet Ali (2004): Küresel Bir Sorun Olarak Din ve Şiddet, in: Dinî Araştırmalar Bd. 7 Nr. 20, S. 315–332 Körner, Felix (2005): Revisionist Koran Hermeneutics in Contemporary Turkish University Theology: Rethinking Islam, Würzburg Köse, Saffet (2007): Cihad Şiddete Referans Olabilir mi?, in: İslam Hukuku Araştırmaları Dergisi Nr. 9, S. 37–70 Kubat, Mehmet (2007): İslâm’ın Barışçıl Niteliği ve Batı’nın Onu Şiddet ve Terörle Özdeşleştirme Algısı Üzerine, in: Akademik Araştırmalar Dergisi Bd. 9 Nr. 34, S. 176– 213 Mayer, Ann Elizabeth (1991): War and Peace in the Islamic Tradition and International Law, in: Kelsay, John und Johnson, James Turner (Hrsg.): Just War and Jihad: Historical and Theoretical Perspectives on War and Peace in Western and Islamic Traditions, New York u. a., S. 194–226 Özdemir, Ahmet (2014): Günümüzde İslâm Dünyasındaki Şiddet ve Saldırıların Meşruiyet Sorunu, in: The Journal of Academic Social Science Studies (Elazığ) Nr. 27, S. 77–89 Özdemir, Metin (2015): Islam’ın Barış Dini Olmasının Kur’anî Temelleri, in: International Journal of Science, Culture and Sport (Ankara), Sondernr. 4, S. 72–80 Özel, Ahmet (1993): Artikel „Cihad“, in: Türkiye Diyanet Vakfı İslam Ansiklopedisi Bd. 7, Istanbul, S. 527–531 Özel, Ahmet (2007): İslam ve Terör, Fıkhi bir Yaklaşım, Istanbul 2007 Öztürk, Yas¸ar Nuri (1989/2000): 400 Soruda İslam, 1. Aufl. Istanbul 1989, 14. rev. Aufl.; hier benutzt in der deutschen Übers. von Nevfel Cumart (nach der 13. Aufl. 2000 mit

 Dort mit dem DİTİB-Logo auf der ersten Seite, der Vorbemerkung „Dieser Bericht wurde zur Information seitens des Hohen Religiösen Rates (Din İşleri Yüksek Kurulu) mit Begutachtung durch unsere zentrale Organisation, das Präsidium, verfasst.“ und einem Vorwort des DİTİB-Vorsitzenden Prof. Dr. Nevzat Yaşar Aşıkoğlu. 94

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einigen vom Autor im Vorgriff auf die 14. türk. Aufl. Istanbul 2001 gelieferten Überarbeitungen) u. d. T. „400 Fragen zum Islam, 400 Antworten. Ein Handbuch“, Düsseldorf 2000 Öztürk, Yas¸ar Nuri (1991/2001a): Kur’an’ın Temel Kavramları, 1. Aufl. Istanbul 1992, später Bd. 9 seiner Sämtlichen Werke (Bütün Eserleri), hier benutzt in der 25. Aufl. Istanbul 2001 Öztürk, Yas¸ ar Nuri (1992/2001b): Kur’andaki İslam, 1. Aufl. Istanbul 1992, später Bd. 12 seiner Sämtlichen Werke (Bütün Eserleri), hier benutzt in der 39. Aufl. Istanbul 2001 Öztürk, Yas¸ ar Nuri (1997/1999): Kur’an’ın Temel Buyrukları. Emirler ve Yasaklar, 1. Aufl. Istanbul 1997, hier benutzt in der 13. Aufl. Istanbul 1999 Orhan, Fatih (2014): Cihad Kavramı Üzerinden İslâm’a Sürülmek İstenen Leke: Terör, in: Çukurova Üniversitesi İlahiyat Fakültesi Dergisi 14 Nr. 2, S. 89–113 Paçacı, Mehmet (2014): Kuran’da Şiddete Karşı ‘Haklı Savaş’, in: Erul, Bünyamin (Hrsg.): Şiddet Karşısında İslam, Ankara 2014, S. 135–172 Peters, Rudolph (1979): Islam and Colonialism: The Doctrine of Jihad in Modern History, den Haag, Paris und New York Qutb, Sayyid (1964): Maʿālim fī ṭ‑ṭarīq, Kairo, hier zitiert nach der 17. legalen Auflage 1413 ˙ H. = 1993 d. Risāla maftūḥa ilā d‑duktūr Ibrāhīm ʿAwwād al‑Bakrī wa-ilā ǧamīʿ al-muqātilīn wa‑l‑muntamīn ilā mā yusammā d-dawlata l‑islāmiyya, Offener Brief von 126 islamischen Gelehrten als Erstunterzeichnern, Kairo 19.09. 2014, arabisches Original unter http://www.lettertobaghdadi.com/14/arabic-v14.pdf; deutsche Übersetzung unter http://madrasah.de/leseecke/islam-allgemein/offener-brief-al-baghdadi-und-isis Takim, Abdullah (2007): Koranexegese im 20. Jahrhundert: Islamische Tradition und neue Ansätze in Süleyman Ateşʼs „Zeitgenössischem Korankommentar“, Istanbul Taslaman, Caner (2007): The Rhetoric of “Terror’’ and the Rhetoric of “Jihad”: a Philosophical and Theological Evaluation, erstmals in: Annals of Japan Association for Middle East Studies Nr. 22-2 (Februar 2007), S. 77–101, danach unter http://www.canertaslaman.com/2011/11/the-rhetoric-of-%E2%80%9Cterror%E2%80%99%E2%80%99and-the-rhetoric-of-%E2%80%9Cjihad%E2%80%9D-a-philosophical-and-theological-evaluation/ (hier zitiert); türkische Eigenübers. des Autors publiziert als Kap. 1 des von diesem herausgegebenen Sammelbands „‘Terör’ün ve ‘Cihad’ın Retoriği“, 1. Aufl. Istanbul 2007, davon ungelenke deutsche Übers. unter http://www.canertaslaman. com/2011/11/die-rhetorik-von-terror-cihad/-Eine-Philosophische-und-TheologischeBewertung.pdf Topalog˘lu, Bekir (1993): Günümüzde Cihad, in: Türkiye Diyanet Vakfı İslam Ansiklopedisi Bd. 7, Istanbul, S. 531–534 Wielandt, Rotraud (2016): Main Trends of Islamic Theological Thought from the Late Nineteenth Century to Present Times, in: Schmidtke, Sabine (Hrsg.): The Oxford Handbook of Islamic Theology, Oxford, S. 707–764 Yılmaz, Hüseyin (2012): İslâm Korkusunun/İslâmofobinin Oluşmasında ‘Cihad’ Algısının Rolü, in: Cumhuriyet Üniversitesi (Sivas) İlahiyat Fakültesi Dergisi Bd. 16 Nr. 1, S. 165–187

Von Al-Qaida zum Islamischen Staat (IS) Sachverständige Anmerkungen zur Geschichte des islamistischen Terrorismus vor dem 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf Guido Steinberg Am Oberlandesgericht Düsseldorf fanden in den letzten eineinhalb Jahrzehnten einige der Aufsehen erregendsten Prozesse gegen Islamisten und islamistische Terroristen in Deutschland statt. So zahlreich und wichtig waren sie, dass man an ihnen die Geschichte islamistischer Militanz hierzulande exemplarisch nachvollziehen kann, und in den frühen Fällen sind die Verfahren untrennbar mit dem Namen des Vorsitzenden des 6. Strafsenates, Ottmar Breidling, verbunden. Als mich die Anfrage erreichte, einen Beitrag zu dieser Festschrift zu schreiben, war meine erste Idee, die Entwicklung des deutschen Dschihadismus am Beispiel der Düsseldorfer Prozesse nachzuzeichnen. Nun hatte ich aber die beiden wichtigsten Fälle, den der Sauerland-Gruppe und der Düsseldorfer Zelle ohnehin schon 2013 in einem Buch abgehandelt, so dass dies nicht originell genug war, und ich nach einer neuen Idee suchte. Da war es naheliegend, über meine Tätigkeit als Sachverständiger zu berichten, die ich 2006 begonnen hatte. Alles nahm seinen Anfang im August 2002, als der neue Paragraph 129b ins Strafgesetzbuch aufgenommen wurde, der die Mitgliedschaft und Unterstützung ausländischer terroristischer Vereinigungen unter Strafe stellte. Die deutschen Oberlandesgerichte stellte er vor das Problem, dass sie plötzlich Informationen über meist im Geheimen operierende Organisationen beschaffen mussten, die sehr fremde Sprachen wie Arabisch, Usbekisch oder Paschtu sprachen, ihren Sitz noch dazu in weit entfernten Ländern wie Pakistan, Somalia oder im Irak hatten und teils in weit von ihren Hauptquartieren entfernten Orten Anschläge verübten. Die deutschen Sicherheitsbehörden standen zwar bereit, die notwendigen Informationen zu liefern und Fachleute zu den Verhandlungen zu schicken, doch zog die Justiz es bald vor, die Informationen von Diensten und Polizei mit den Erkenntnissen eines unabhängigen Wissenschaftlers abzugleichen.

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Da fast alle wirklichen Terrorismus-Fachleute in Deutschland für die Sicherheitsbehörden arbeiten, scheint es nicht ganz einfach gewesen zu sein, einen solchen zu finden. Ich selbst hatte von Anfang 2002 bis Ende 2005 als Terrorismusreferent im Bundeskanzleramt gearbeitet und war dann an die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) gewechselt, die zwar von der Regierung bezahlt wird, aber nicht nur sie, sondern vor allem die Parteien des Bundestags in außen- und sicherheitspolitischen Fragen berät. Im Frühjahr 2006 erhielt ich die erste Anfrage, ob ich denn bereit und in der Lage sei, ein Gutachten zur terroristischen Organisation al-Qaida zu verfassen und dies vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf mündlich zu erläutern. Vorsitzender Richter in diesem ersten Verfahren war Ottmar Breidling. Von da an fungierte ich in fast allen großen Verfahren vor deutschen Oberlandesgerichten als Sachverständiger und schrieb Gutachten nicht nur zur al-Qaida, sondern auch zu Organisationen wie den irakischen Ansar al-Islam/Ansar as-Sunna, der usbekischen Islamischen Dschihad Union (IJU) und der Islamischen Bewegung Usbekistans (IBU), den Deutschen Taliban Mujahidin und schließlich auch zu mehreren Gruppierungen, die in Syrien gegen das Assad-Regime kämpften, darunter natürlich der Islamische Staat (IS). Ende 2016 war ich bereits in fast 50 Verfahren in Deutschland aufgetreten und hatte auch die ersten Aufträge aus Österreich, der Schweiz und den USA, doch begonnen hatte alles in Düsseldorf bei Ottmar Breidling, wo ich für mich absolutes Neuland betrat. In den ersten Prozessen in Düsseldorf lernte ich viel von dem, was ich in den nächsten Jahren immer wieder brauchte und eine Festschrift für Ottmar Breidling scheint mir deshalb der geeignete Ort, einen ersten Erfahrungsbericht zu liefern. Der wird sich um die Geschichte von al-Qaida & Co. vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf drehen, die viele der Entwicklungen widerspiegelt, die der islamistische Terrorismus seit 2001 insgesamt und auch in Deutschland nahm. Immer wieder eingeflochten werden aber meine Erfahrungen als Sachverständiger, die ein sehr viel weniger wichtiger Teil der Ereignisse sind, aber auch noch nirgendwo erzählt wurden. Im ersten Teil wird es um das Verfahren gegen Ibrahim Mohamed Khalil und die Brüder Yasser und Ismail Abou Shaweesh im Jahr 2006 gehen. Dies war mein erstes Verfahren überhaupt, und betraf mit Khalil eine Person, die das Potenzial zu einem wichtigen al-Qaida-Anführer in Europa hatte. Im zweiten Teil geht es um die sogenannte „Sauerland-Gruppe“, die im September 2007 verhaftet worden war, weil sie Sprengstoffanschläge unter anderem auf die US-Basis Ramstein in Rheinland-Pfalz plante. Der Prozess ist der bis heute Aufsehen erregendste Terrorismusprozess seit den Tagen der Roten Armee Fraktion (RAF) geblieben. Es folgt Teil drei mit dem Verfahren gegen die sogenannte Düsseldorfer Zelle, das schon nicht mehr von Ottmar Breidling, sondern seiner Nachfolgerin Barbara Havliza geleitet wurde. Die Zelle hatte im Auftrag von al-Qaida Anschläge in Deutschland geplant und schien mir weitaus entschlossener und gefährlicher als alle ihre Vorgänger zu sein.

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Mit ihr endete aber zumindest vorläufig die Geschichte der großen al-QaidaProzesse in Deutschland, denn die Terrororganisation geriet in den folgenden Jahren unter Druck einer konkurrierenden Gruppierung, des IS, der ihr so viele potenzielle Rekruten abspenstig machte, dass ihr dauerhafter Fortbestand unsicher war.

1.  Versicherungsbetrüger für al-Qaida und irakische al-Qaida Der erste Fall war der des Syrers Ibrahim Mohamed Khalil (alias Abu alFaraj) und der beiden in Libyen geborenen Palästinenser Yasser und Ismail Abou Shaweesh. Khalil war der Kopf der Gruppe und war eng in die alQaida eingebunden. Er hatte zumindest zwei Mal vor dem 11. September 2001 für einige Wochen oder Monate bei al-Qaida in Afghanistan trainiert und war kurz nach Beginn der amerikanischen Luftangriffe am 11. Oktober 2001 erneut an den Hindukusch gereist. Dort soll er an der Schlacht von Shah-i Kot teilgenommen haben, einem Rückzugsgefecht der Dschihadisten Anfang 2002, die unter dem US-amerikanischen Namen „Operation Anaconda“ berühmt wurde. Khalil prahlte gegenüber seinen Kollegen damit, dass er dort auch mit Said Bahaji gemeinsam gekämpft habe, einem Mitglied der „Hamburger Zelle“ um Mohammed Atta, der kurz vor dem 11. September 2001 nach Pakistan floh und bis heute einer der meistgesuchten deutschen Terroristen ist. Ebenso traf Khalil bei al-Qaida auf den Jemeniten Ramzi Binalshibh, einen noch wichtigeren Gefährten von Mohammed Atta, der sich ebenfalls nach Pakistan abgesetzt hatte, dort aber im September 2002 verhaftet und den US-Behörden übergeben worden war. Im Gegensatz zu vielen seiner Kampfgefährten konnte Khalil nach Pakistan und von dort nach Deutschland fliehen, wo er im Juli 2002 unentdeckt ankam. Während er bis 2001 in München gewohnt hatte, zog er nun nach Mainz. In den nächsten Jahren scheint er keinen direkten Kontakt zu seiner Organisation gehabt zu haben, doch rekrutierte er Gleichgesinnte und suchte beständig nach Wegen, um al-Qaida finanziell zu unterstützen und sich ihr erneut anzuschließen. In einem ersten Schritt wollte er Geld für al-Qaida beschaffen und zu diesem Zweck gewann er die Brüder Abou Shaweesh. Die beiden waren 1996 und 1997 eingereist, um in Deutschland Medizin (Yasser) und Zahnmedizin (Ismail) zu studieren. Yasser Abou Shaweesh hatte ebenfalls langjährige Kontakte in die dschihadistische Szene in Hamburg und Frankfurt, doch hatte er sich nie in einem der Kampfgebiete in Süd- und Zentralasien oder im Nahen Osten aufgehalten. Er ließ sich aber von Khalil für einen Versicherungsbetrug gewinnen, der ihnen mehrere Millionen Euro einbringen sollte und von dem – entsprechend einer Bestimmung des klassischen islamischen Kriegsrechts für die Beute im Kampf gegen die „Ungläubigen“ – ein Fünftel an al-Qaida gehen sollte.

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Zu diesem Zweck sollte Yasser Abou Shaweesh zunächst möglichst viele Risiko-Lebensversicherungen abschließen. Anschließend würde er nach Ägypten reisen, das Heimatland seiner Mutter, von wo aus er und sein Bruder nach Deutschland gekommen waren, und dort seinen eigenen Tod bei einem Verkehrsunfall vortäuschen. Einen mithilfe korrupter Beamter erstellten Unfallbericht und eine Sterbeurkunde wollte er anschließend an seinen Bruder Ismail schicken, der in den Policen als Begünstigter genannt wurde. Zwischen August 2004 und Januar 2005 stellte Yasser Abou Shaweesh insgesamt 28 Anträge auf den Abschluss von Lebensversicherungen, die im Todesfall Zahlungen von mehr als 4.300.000 Euro erbracht hätten. Khalil hatte Geld beschafft, mit dem seit Sommer 2004 die ersten Beiträge gezahlt worden waren. Zum Zeitpunkt der Inhaftierung der beiden am 23. Januar 2005 lagen bereits neun fertige Policen vor, die im Todesfall Zahlungen von mehr als 1.200.000 Euro erbracht hätten. Abou Shaweeshs Reise war ursprünglich für den Dezember 2004 geplant, doch auf Ende Januar 2005 verschoben worden. Als sie kurz bevorzustehen schien, griff die Polizei zu. Das Eingreifen der Sicherheitsbehörden wurde notwendig, weil der Plan Khalils nicht mit dem Betrug endete. Der Syrer wollte nach seiner Rückkehr aus Afghanistan und Pakistan wieder möglichst schnell zurück zu seinen Kampfgefährten, scheint aber aufgrund der für al-Qaida schwierigen Lage und dem Fahndungsdruck in Pakistan zunächst keine Möglichkeit gefunden zu haben, sich ihr wiederum anzuschließen. Doch bildete sich genau während des Tatzeitraums mit der im Oktober 2004 gegründeten „al-Qaida in Mesopotamien“ eine Zweigstelle der Organisation im Irak, der sich auch einige Dutzend Europäer anschlossen. Die Zelle um Khalil verfolgte die Ereignisse im Zweistromland mit großem Interesse und begeisterte sich für den bewaffneten Kampf im Irak. Khalil hatte Kontakte zu Dschihadisten in Frankreich und den Benelux-Staaten und auch zu Anhängern der irakischkurdischen Ansar al-Islam in Deutschland und konnte nun erneut seine Ausreise in den Dschihad planen, die vermutlich für die Zeit nach Eingang der ersten Zahlungen aus den Lebensversicherungsverträgen geplant war. Auch Yasser Abou Shaweesh hatte davon gesprochen, sich den Aufständischen im Irak anzuschließen, und wollten die Behörden dies vermeiden, mussten sie bereits seine Ausreise nach Ägypten verhindern.1 Der Prozess selbst war weniger Aufsehen erregend als viele andere in Düsseldorf in den ersten Jahren nach dem 11. September. Hier ging es nicht um die ersten Anschlagsplanungen in Deutschland wie im Fall der Tauhid-Zelle von 2004 und auch nicht um den gescheiterten Anschlag der Kofferbomber 2006 oder den Fall der Sauerland-Gruppe 2007. Vielmehr handelte es sich um eine kleine Gruppe von Dschihadisten, die sich zurzeit ihrer Verhaf1   Oberlandesgericht Düsseldorf, 6. Strafsenat: Urteil vom 5. Dezember 2007, 2 StE 6/0 5–8.

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tung vor allem um die Beschaffung von Geld kümmerten, so dass bei vielen Beobachtern der versuchte Versicherungsbetrug und weniger der terroristische Hintergrund im Gedächtnis blieb. Dies war insofern irreführend, als der Fall Khalil auf wichtige Entwicklungen in der dschihadistischen Szene in Deutschland hinwies. Dies betraf zunächst seine Person, denn Khalil war einer von insgesamt nur wenigen in Deutschland lebenden Dschihadisten, die sich schon vor dem 11. September 2001 auf den Weg zu al-Qaida machten. Die meisten anderen bildeten die sogenannte Hamburger Zelle und waren 2004 tot, in Haft oder auf der Flucht. Ein Mann mit seinem Profil hätte es schaffen können, in den nächsten Jahren zu einem prominenten Statthalter der Organisation in Deutschland zu werden. Zwei weitere Entwicklungen spielten auch im Düsseldorfer Prozess eine wichtige Rolle. Da war zum einen die Schwäche von al-Qaida und die Dezentralisierung ihrer Struktur, mit der die Organisation den Verlust ihrer sicheren Basis und ihres Hauptquartiers in Afghanistan auszugleichen suchte. Diese Entwicklung wurde begleitet vom Aufstieg von al-Qaida-Regionalorganisationen oder „Zweigstellen“, die sich zwar al-Qaida nannten, deren Grad der Anbindung an die Organisation jedoch variierte. Diese Fragen waren natürlich Gegenstand meiner Arbeit im Verfahren. In dem schriftlichen Gutachten vom 30. Juli 2006 stellte ich fest, dass es al-Qaida nach 2001 „nicht gelang, den Wegfall der quasi-staatlichen Unterstützung durch die Taliban zu kompensieren“ und „die al-Qaida-Führung in der Folgezeit schrittweise die Fähigkeit verlor, die Aktivitäten derjenigen Terroristen, die bis 2001 in ihren Lagern ausgebildet worden waren, effektiv zu kontrollieren.“ Darauf zählte ich eine ganze Reihe von Anschlägen auf, die 2002 und 2003 von al-Qaida organisiert worden waren, darunter den auf eine Synagoge auf der tunesischen Insel Djerba am 11. April 2002 und zwei Attentate auf den pakistanischen Präsidenten Musharraf am 14. und am 25. Dezember 2003. Dann aber kam die entscheidende Passage: „Vielmehr waren die Anschläge auf Musharraf die letzten, die gemeinhin der al-Qaida in ihrer alten Organisationsform zugeschrieben werden. Obwohl es Belege für weitere Anschlagsplanungen in der westlichen Welt gab, gelang es al-Qaida nicht, diese in die Tat umzusetzen. Vielmehr änderte sich die Organisationsform islamistischer terroristischer Netzwerke: die Führungsspitze der al-Qaida wurde immer mehr zu einer ideologischen Leitstelle, die nicht mehr planend und organisierend eingriff, sondern Strategien, Zielvorgaben und allgemeine ideologische Gedanken über arabische Satellitenfernsehsender (bevorzugt al-Jazeera aus Katar) und das Internet verbreitete.“2

Zwar fungierte die al-Qaida-Führung seit 2001 tatsächlich immer mehr als die hier dargestellte ideologische Leitstelle, doch blieb auch die Organisation intakt. Dass auch Bin Laden Kontakt zu Gefolgsleuten weltweit hielt,

2   Guido Steinberg: Gutachten zur näheren Bewertung und Einordnung der Gruppierung al-Qaida, Berlin, 30. Juli 2006, S. 6–7.

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zeigte sich erst einige Jahre später, nachdem der al-Qaida-Führer in seinem Versteck im pakistanischen Abbottabad getötet und anschließend Teile seiner Korrespondenz veröffentlicht wurden. Dass seine Organisation auch nach 2003 noch handlungsfähig war, zeigte sie mit den Bombenanschlägen auf drei U-Bahnzüge und einen Omnibus in London am 7. Juli 2005. Auch hier wurde der genaue Ablauf der Planung durch al-Qaida in Pakistan erst einige Jahre später deutlich, als interne Papiere der Organisation auftauchten, in denen die Vorbereitungen im Detail geschildert wurden. Doch schon als ich das Gutachten im Sommer 2006 ablieferte, gab es erste deutliche Hinweise, dass die Terrororganisation hinter den Attentaten stand – wie beispielsweise ein Märtyrervideo des Anführers der Londoner Zelle, das von der al-QaidaMedienstelle as-Sahab veröffentlicht wurde. Das kam auch im Verfahren zur Sprache, aber der Tenor meines Gutachtens war – wie oben zu sehen – viel zu vorsichtig formuliert. Dem entsprechend ging Khalils Verteidigung jeden neueren Anschlag der al-Qaida mit mir durch und suchte Zweifel zu säen, dass es wirklich die Organisation war, die hinter der Gewalttat stand. Damit beeindruckten die Verteidiger (und ich) offenkundig auch die Richterschar, denn das Urteil vom 5. Dezember 2007 ging von eher lockeren Strukturen aus. Der Aufstieg der al-Qaida-Regionalorganisationen oder „Zweigstellen“ spielte insofern eine Rolle, als Khalil plante, das Geld an die damals gerade gegründete al-Qaida im Irak zu schicken und sich gemeinsam mit Yasser Abou Shaweesh dieser Organisation anzuschließen. Mich hatte es überrascht, dass sich der Jordanier Abu Musab az-Zarqawi im Oktober 2004 der al-Qaida angeschlossen hatte, da schon länger bekannt war, dass er auf Distanz zu Bin Laden setzte. Dem entsprechend argumentierte ich, dass es sich bei der irakischen al-Qaida eher um eine unabhängige Organisation als um eine al-Qaida-„Filiale“ handelte: „Besonders schwierig ist eine Bewertung des Verhältnisses zwischen al-Qaida und alQaida im Irak. Formal hat sich Zarqawi mit seinem Gefolgschaftseid vom Oktober 2004 der al-Qaida angeschlossen. Faktisch dürfte es sich dabei jedoch nicht um eine Unterordnung handeln. Bin Laden und Zawahiri sind aus ihren Verstecken in Pakistan kaum in der Lage, die Aktivitäten Zarqawis zu kontrollieren. Gleichzeitig kann al-Qaida glaubhaft machen, dass sie weiterhin aktiv ist, solange eine Organisation gleichen Namens im Irak operiert. Für Zarqawi bietet der Anschluss an die Organisation die Möglichkeit, Zugriff auf die Rekrutierungs- und Finanzierungsnetzwerke der al-Qaida in der Golfregion zu gewinnen. Insofern war sein Anschluss an al-Qaida für beide Seiten profitabel, auch wenn Zarqawis Organisation faktisch eigenverantwortlich handelt.“3

Dies war absolut richtig, wie sich in den kommenden Jahren zeigte, als die al-Qaida-Führung immer wieder versuchte, Einfluss auf Zarqawi zu nehmen, dessen brutale Gewalttaten und fürchterlichen Hinrichtungsvideos den Ruf der Organisation insgesamt schädigten. Doch der Jordanier lenkte nicht ein,   Ebd., S. 19.

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und auch nach seinem Tod änderte die irakische al-Qaida ihren Kurs nicht. Der Konflikt mündete schließlich in den offenen Bruch zwischen dem BinLaden-Nachfolger Aiman az-Zawahiri und der irakischen Gruppe im Jahr 2013/14, als diese sich anschickte, unter dem Namen Islamischer Staat im Irak und Syrien (ISIS) und später nur noch Islamischer Staat (IS) ihre „Mutterorganisation“ als Speerspitze des Dschihadismus abzulösen. Zurzeit des Düsseldorfer Prozesses lagen diese Ereignisse zwar noch in weiter Ferne, doch streng genommen war Khalil ein Mitglied der al-QaidaZentrale, der nun plante, sich der (von der Zentrale weitgehend unabhängigen) Zweigstelle im Irak anzuschließen und sie vorab mit Geld zu unterstützen. Dieser Gedanke des Gutachtens setzte sich jedoch nicht durch und al-Qaida wurde im Urteil als eine Organisation beschrieben, die sich eben dezentralisiert habe. Erst in den folgenden Jahren wurde die irakische alQaida auch von der deutschen Justiz immer häufiger als eine eigenständige Gruppierung behandelt, so dass ich im Jahr 2011 zum ersten Mal ein Gutachten zu „al-Qaida in Mesopotamien“ vorlegte, das die Grundlage für spätere Texte über ISIS und IS wurde.4 Obwohl dieses Problem in der Folge keine Rolle mehr spielte, waren die Verteidiger in der Revision teilweise erfolgreich. Dies betraf vor allem die Verurteilung von Yasser Abou Shaweesh als Mitglied der al-Qaida, obwohl er nie nach Afghanistan oder Pakistan gereist war und auch nichts von einem Gefolgschaftseid bekannt war. Dass er später nur wegen Unterstützung verurteilt wurde, entsprach auch meiner Definition von Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Die Tatsache, dass das Urteil in Teilen revidiert werden musste, wurde von vielen Medien und wohl auch von Kollegen Ottmar Breidlings als Niederlage gewertet, doch im Ergebnis änderte sich nicht viel. Khalil wurde zu sechs statt sieben Jahren, Yasser Abou Shaweesh zu vier Jahren und neun Monaten statt sechs Jahren und Ismail Abou Shaweesh zu zwei Jahren und neun Monaten statt drei Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt.5

2.  Die Sauerland-Gruppe und die IJU Der Prozess im Fall Khalil fand zu einer Zeit statt, als die ersten in Deutschland geborenen Dschihadisten nach Pakistan zogen, um sich al-Qaida und verbündeten Organisationen anzuschließen. Doch ihre Zahl war noch sehr niedrig, so dass auch die Frequenz der Terrorismusverfahren vor deutschen Gerichten gering war. Deshalb dauerte es bis zum Jahr 2009, bis ich wieder 4   Guido Steinberg: Gutachten zur al-Qaida in Mesopotamien (al-Qaida im Irak) als terroristischer Organisation (2001–2010), New York, 25. April 2011. 5   Oberlandesgericht Düsseldorf, 5. Strafsenat: Urteil gegen Ibrahim Mohamed Khalil, Yasser Abou Shaweesh und Ismail Abou Shaweesh, 14. Dezember 2012.

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einen Gutachterauftrag aus Düsseldorf erhielt. Diesmal war der Anlass sehr viel prominenter, denn die sogenannte Sauerland-Gruppe stand vor Gericht und das Verfahren erregte in ganz Deutschland und darüber hinaus großes Aufsehen. Die Gruppe wurde nach dem Ort Oberschledorn im Sauerland benannt, in der drei ihrer vier Mitglieder Anfang September 2007 verhaftet worden waren, nachdem sie begonnen hatten, den Sprengstoff für Autobombenanschläge zu präparieren. Geplant war wahrscheinlich, die Sprengladungen im Einfahrtsbereich der amerikanischen Luftwaffenbasis Ramstein in Rheinland-Pfalz, aber auch in der Nähe von Einrichtungen außerhalb, die von amerikanischen Militärangehörigen frequentiert wurden, detonieren zu lassen. Die Mitglieder der kleinen Gruppe, Fritz Gelowicz, Adem Yilmaz, Daniel Schneider und Atilla Selek, hatten sich in sogenannten Islamseminaren salafistischer Prediger und auf einer Pilgerfahrt nach Mekka kennengelernt und 2005 beschlossen, sich den Rebellen in Tschetschenien anzuschließen. Gelowicz und Selek gehörten zu den regelmäßigen Besuchern des salafistischen „Multikulturhauses“ in Neu-Ulm, wo eine regelrechte TschetschenienBegeisterung herrschte, die auch Yilmaz, der aus Langen bei Frankfurt kam, erfasst hatte. Als die Freiwilligen jedoch feststellten, dass es aufgrund ihrer fehlenden militärischen Ausbildung nicht möglich war, in den Nordkaukasus zu gelangen, versuchten sie, über die syrische Hauptstadt Damaskus in den Irak zu reisen. Doch auch dort scheiterten sie, trafen aber auf aserbaidschanische Dschihadisten, die ihnen nahelegten, zunächst eine militärische Ausbildung bei einer dschihadistischen Gruppe im pakistanischen Waziristan zu absolvieren. Ohne genau zu wissen, wo diese Region lag und was dort vor sich ging, stimmten die jungen Deutschen zu und flogen im Frühsommer 2006 von Istanbul nach Mashhad im nordöstlichen Iran, von dort mit dem Bus in die iranische Grenzstadt Zahedan, von wo sie illegal nach Pakistan einreisten, wo es mit dem Bus über Quetta und Bannu in den Ort Mir Ali im Stammesgebiet Nord-Waziristan ging. Die Dschihad-Freiwilligen befanden sich nun im Hauptquartier der Islamischen Dschihad Union (IJU), einer kleinen usbekischen Gruppierung, die sich Anfang 2002 von der größeren Islamischen Bewegung Usbekistans (IBU) abgespalten und nach Nord-Waziristan zurückgezogen hatte. Dort genoss sie den Schutz des Haqqani-Netzwerks, einer eng mit den afghanischen Taliban verbundenen Gruppierung, die in Nord-Waziristan ihr Hauptquartier hat und – wie die IJU – eng mit al-Qaida zusammenarbeitet. Die IJU unterschied von ihrer weitaus größeren Mutterorganisation dadurch, dass sie eine eher internationalistische Strategie verfolgte, während die IBU vor allem auf Usbekistan und die anderen zentralasiatischen Staaten abzielte. Da passte es gut in die Pläne des IJU-Anführers Najmiddin Jalolov (1972–2009), dass sich deutsche Dschihadisten seiner immer noch stark zentralasiatisch geprägten Organisation anschlossen.

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Es zeigte sich jedoch schnell, dass Gelowicz und seine Freunde nicht auf die harten Lebensbedingungen in den Paschtunenbergen vorbereitet waren. Schon kurz nach ihrer Ankunft litten die Rekruten an Erbrechen, Durchfall und hohem Fieber und blieben bis zum Ende ihres Aufenthalts gesundheitlich angeschlagen. Unter diesen Bedingungen wurde die militärische Ausbildung in den Bergen für die vier zu einer harten Prüfung, und nur Schneider scheint den Strapazen halbwegs gewachsen gewesen zu sein, vermutlich weil er einige Monate bei der Bundeswehr ausgebildet worden war. Wohl auch aufgrund ihrer Probleme entschied sich die IJU-Führung, die jungen Männer mit dem Auftrag nach Deutschland zurück zu schicken, dort einen Anschlag zu verüben. Als sie die Deutschen mit diesem Ansinnen konfrontierte, stimmten diese zu. Jalolov und seine rechte Hand Suhail Buranov (1983–2009) gaben ihnen auf, in erster Linie nach amerikanischen Zielen zu suchen und möglichst viele US-Soldaten zu töten. Zumindest eines der amerikanischen Ziele sollte politische Bedeutung haben; über Ramstein wurde schon in Waziristan gesprochen. Außerdem schlugen die IJU-Führer vor, die usbekische Botschaft oder eine andere staatliche Einrichtung Usbekistans in Deutschland anzugreifen. Innerhalb dieser Vorgaben blieb der Gruppe jedoch ein weiter Spielraum. Zwischen September 2006 und Februar 2007 kamen die Verschwörer zurück nach Deutschland und begannen mit den Vorbereitungen für die Anschläge. Was sie nicht wissen konnten war, dass die amerikanische National Security Agency (NSA) im Oktober 2006 den Bundesnachrichtendienst (BND) über einen verdächtigen E-Mail-Verkehr zwischen Pakistan und Deutschland informierte, der die deutschen Behörden auf die Spur der „Sauerländer“ brachte. In den folgenden Monaten überwachten sie die Gruppe auf Schritt und Tritt und schlugen erst zu, als diese sich daran machten, den Sprengstoff herzustellen. Der Prozess vor dem 6. Strafsenat, der im April 2009 begann, wurde zum wichtigsten Terrorismusverfahren seit den Tagen der RAF und fand großes Medieninteresse. Es ging immerhin um den größten Anschlag, der je in und für die Bundesrepublik geplant worden war und um eine Tätergruppe, die nicht aus vor wenigen Jahren eingereisten Arabern, sondern aus deutschen Konvertiten und in Deutschland geborenen Türken bestand. Schon zu Beginn gab es Probleme mit den Angeklagten, denn Adem Yilmaz mimte den Rebellen, behinderte das Verfahren und widersetzte sich den Anweisungen des Vorsitzenden, beispielsweise indem er sich weigerte, seine Mütze abzunehmen. Ursache scheint ein Konflikt über die Führungsrolle in der Sauerlandzelle gewesen zu sein. Während des Aufenthalts in Pakistan hatte die IJU-Führung Fritz Gelowicz zum „Emir“ der deutschen Zelle bestimmt. Yilmaz blieb von da an nur die Nebenrolle als Hardliner und militanter Lautsprecher der Gruppe, versuchte aber mit Beginn des Verfahrens, durch sein rebellisches Verhalten Gelowicz die Führungsposition zu entreißen.

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Doch dauerte es nur wenige Wochen, bis Yilmaz seinen Widerstand aufgab, nachdem Ottmar Breidling sich mit konsequenten Sanktionen und klaren Ansagen Respekt verschafft hatte. Der Vorsitzende zeigte jetzt eine unaufgeregte, aber doch starke Autorität, der sich Yilmaz schon nach wenigen Wochen beugte, so dass ein Beobachter witzelte, „der Yilmaz hat jetzt einen neuen Emir“. Breidling hatte außerdem schon früh im Prozess erklärt, dass eine Strafmilderung für die Angeklagten nur möglich sei, wenn sie umfassend aussagten. Yilmaz soll seiner Familie daraufhin im Gefängnis gesagt haben, dass der Vorsitzende den Prozess im Griff habe und akribisch vorbereitet sei, so dass er mit einem harten Urteil rechne.6 Diese Erwartung führte schnell zu einem Umdenken und als Yilmaz sich entschied auszusagen, taten seine drei Freunde es ihm gleich und kündigten im Juli umfassende Geständnisse an. Ihre Aussagen lieferten tiefe Einblicke in die bis dahin kaum bekannte Organisation IJU, ihre Führung und ihr Verhältnis zur IBU, die bis heute für das Verständnis der usbekischen Dschihadisten in Pakistan zentral geblieben sind. Unklar blieb lediglich, wer für die Rekrutierung der Sauerländer in Deutschland zuständig gewesen war. Denn so ausführlich die vier sich zur Situation im weit entfernten Waziristan äußerten, so schweigsam waren sie zur Rolle von Gleichgesinnten in Deutschland. Die Geschichte von der völlig planlosen Ausreise von 2005 mag zwar ungefähr dem tatsächlichen Ablauf entsprochen haben, doch lag der Verdacht nahe, dass die Dschihadistenszene in und um das Multikulturhaus – in der Personen wie der spätere „Bildungsminister“ des Islamischen Staates Reda Seyam präsent waren – eine Rolle gespielt haben könnte. Dazu sagten die Angeklagten jedoch nichts und das Gericht akzeptierte das. Die hohe Aufmerksamkeit für Fall und Prozess rief auch zahlreiche Kritiker auf den Plan, die bestritten, dass es die IJU überhaupt gebe und/oder behaupteten, sie sei eine Schöpfung des usbekischen Geheimdienstes und mitnichten eine terroristische Organisation. Den Anfang machte das ARD„Politikmagazin“ Monitor, das den ehemaligen britischen Botschafter in Taschkent, Craig Murray, interviewte. Der behauptete, dass Anschläge in Taschkent und Buchara 2004, zu denen sich die IJU bekannt hatte, von der usbekischen Regierung und ihren Geheimdiensten inszeniert worden seien, um ihre repressive Politik gegenüber der usbekischen Opposition insgesamt zu rechtfertigen und Unterstützung für die „Terrorismusbekämpfung“ von den USA und anderen westlichen Staaten zu erhalten. In einer späteren Sendung präsentierte Monitor einen angeblichen ehemaligen Geheimdienstoffizier, der angab, die IJU sei von seinem Arbeitgeber aufgebaut worden. Die durch diese Beiträge angestoßene Debatte sorgte dafür, dass mein Gutachten zur IJU in den Brennpunkt des Interesses rückte, denn wenn es diese terroristische Organisation gar nicht gab, konnte man den Sauerländern auch   Frank Jansen: Richter Zweifellos, in: Der Tagesspiegel (Berlin) vom 5. März 2010.

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nicht die Mitgliedschaft in ihr vorwerfen. Ich kannte die Gruppierung aber aus der Zeit, als ich im Bundeskanzleramt gearbeitet hatte und war mir meiner Sache sehr sicher. Für ein erstes Gutachten vom März 2008 hatte ich alle verfügbaren Informationen zusammengetragen, die zwar ein ausreichendes Bild ergaben, aber eben doch etwas dünn waren.7 Mein Glück war, dass die Gruppierung selbst seit 2007 begonnen hatte, vor allem in türkischer Sprache Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, so dass immer mehr über die IJU bekannt wurde. Eine richtig runde Sache wurde allerdings erst die zweite Version des Textes, die ich im September 2009 im Verfahren vorlegte.8 Zu diesem Zeitpunkt hatte die IJU bereits sehr viel mehr Videos vom Training, von Anschlägen und auch Interviews mit Anführern und Kämpfern produziert. Hinzu kamen die Aussagen der vier Sauerländer, die alle wesentlichen Informationen bestätigten und gleich auch noch angaben, dass der IJU-Chef Jalolov für die IBU an Anschlägen in Taschkent im Februar 1999 teilgenommen hatte – auch dies Attentate, die von einigen Usbekistan-Beobachtern dem usbekischen Geheimdienst zugeschrieben worden waren. Nie zuvor habe ich in einer einzigen Hauptverhandlung so viel gelernt wie in dieser. Der Sauerland-Prozess endete damit, dass Fritz Gelowicz und Daniel Schneider (der sich auch noch des versuchten Mordes an einem Polizeibeamten schuldig gemacht hatte) zu zwölf Jahren, Adem Yilmaz zu elf, und Selek zu fünf Jahren verurteilt wurden. Sie hatten im Laufe des Jahres 2007 aber nicht nur den potenziell schwersten Anschlag der deutschen Geschichte geplant, sondern auch Freunde und Bekannte für den bewaffneten Kampf der IJU und verbündeter Gruppierungen rekrutiert und nach Pakistan geschickt. So begann eine Ausreisewelle, die erst 2010 wieder abebbte, als al-Qaida ausländische Rekruten immer schneller in ihre Herkunftsländer zurückschickte, damit sie nicht infolge amerikanischer Drohnenangriffe getötet wurden.

3.  Die Düsseldorfer Zelle und al-Qaida Die vielleicht wichtigste Folge dieser Strategieänderung von al-Qaida war die Rückkehr mehrerer aus Deutschland gekommener Dschihadisten, die den Auftrag bekamen, neue Strukturen aufzubauen und Anschläge in Deutschland zu verüben. Die gefährlichste Kleingruppe war die „Düsseldorfer Zelle“ unter Führung des Marokkaners Abdeladim el-Kebir (geboren 1981), die gerade begonnen hatte, Chemikalien für den Bau von Bomben zu beschaffen, die sie an einem belebten öffentlichen Ort in Düsseldorf oder Umgebung zünden wollte, als ihre Mitglieder im April 2011 verhaftet wur  Guido Steinberg: Gutachten zur „Islamischen Jihad Union“, Berlin, 17. März 2008.   Guido Steinberg: Gutachten zur „Islamischen Jihad Union“, Berlin, 22. September 2009. 7 8

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den. Der Prozess gegen die vier Verschwörer – neben Kebir waren dies der Deutschmarokkaner Jamil Seddiki, der Deutschiraner Amid Chaabi und der Deutschtürke Halil Şimşek – begann im Juli 2012 vor dem 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf, diesmal aber unter dem Vorsitz von Barbara Havliza. Die Rückkehr Kebirs und die Anschlagsplanungen waren eine direkte Folge der Strategieänderung von al-Qaida. Die Organisation hatte einsehen müssen, dass ihr seit den Attentaten von London 2005 keine größeren Anschläge in der westlichen Welt mehr gelungen waren und beschloss daher, in Europa neue Strukturen aufzubauen, die kleinere Anschläge verüben würden. Neue Rekruten sollten möglichst bald nach Europa zurückgeschickt werden und entsprechend ihren Möglichkeiten Anschläge ausführen, um zu demonstrieren, dass al-Qaida nach wie vor in der Lage sei, ihre Feinde im Westen zu bekämpfen. Die ersten Informationen über die neue Vorgehensweise lieferten zwei Pakistan-Rückkehrer, der Deutschafghane Ahmad Wali Sidiqi und der Deutschsyrer Rami Makanesi, schon 2010, doch wurde das Ausmaß des „Europlots“, wie diese Planungen von Journalisten genannt wurden, erst mit weiteren Verhaftungen 2011 deutlich. Neben der Düsseldorfer Zelle waren dies besonders der afghanischstämmige Österreicher Maqsood Lodin und der Berliner Yusuf Ocak, die von al-Qaida nach Deutschland und Österreich geschickt wurden, um dort eine Zelle aufzubauen und Anschläge zu verüben. Sie wurden im Mai 2011 verhaftet, als sie versuchten, mit gleichgesinnten Freunden in Berlin und Wien Kontakt aufzunehmen. Lodin trug bei seiner Verhaftung in Berlin einen USB-Stick bei sich, auf dem sich unter anderem ein al-Qaida-Strategiepapier befand, das die neue Vorgehensweise der Organisation beschrieb. 9 Kebir studierte an der Universität Bochum Maschinenbau, hatte sich aber Anfang 2010 bei al-Qaida aufgehalten und dort mehrere Monate trainiert. Er scheint auf seine Vorgesetzten Eindruck gemacht zu haben, denn er stand in Kontakt mit dem Chefplaner für Auslandsoperationen, Yunus al-Muritani, und auch mit dessen Vorgesetztem, dem Libyer Atiyatallah Abu Abdarrahman, der von Sommer 2010 bis zu seinem Tod im August 2011 al-QaidaChef in Nord-Waziristan war. Anschließend kehrte Kebir nach Deutschland zurück und gewann die drei Mitstreiter für die Planung der Anschläge. Wie schon im Fall der Sauerland-Gruppe kam der entscheidende Hinweis auf die Zelle von amerikanischen Behörden, die eine Internetkommunikation zwischen Kebir und Atiyatallah abgefangen hatten. Daraufhin überwachten deutsche Behörden die Dschihadisten, bis sie feststellten, dass diese Anschläge auf ein Touristenrestaurant im marokkanischen Marrakesch am 28. April 2011, bei denen sechzehn Menschen getötet wurden, bejubelten. 9  Das Strategiepapier trug den Titel „future work“ (Zukünftige Arbeit). Der BKABeamte, der vor Gericht zu diesen Texten aussagte, nannte die Dokumente „eine Sensation“.

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Die Polizei befürchtete, das Attentat könnte die Verschwörer ermutigen und verhaftete drei von ihnen – Şimşek kam erst im Dezember dazu, nachdem er die Planungen über Monate fortgesetzt hatte. Der Prozess war einer der spannendsten Islamistenprozesse, der je in Düsseldorf stattfand. Dies lag vor allem an einem Brief von Yunus al-Muritani an Usama bin Laden, der im Mai 2011 bei der Kommandoaktion in Abbottabad bei dem al-Qaida-Chef gefunden worden war, und den die US-Regierung dem Gericht zur Verfügung stellte. Der Brief war Teil eines umfassenderen Gedankenaustausches zwischen Muritani und Bin Laden und vermittelte einen tiefen Einblick in al-Qaidas strategische Planung. Muritani plädierte darin für Anschläge in Europa und Amerika und wünschte, dass die Düsseldorfer Zelle so bald wie möglich in Aktion trete. Neue Gruppen in aller Welt, so forderte er, sollten sich auf die Gründung von Zellen und die Ausbildung von Mitgliedern für Terroranschläge zu Wasser und in der Luft konzentrieren. Schwerpunkt waren Energieinfrastruktureinrichtungen wie Gaspipelines auf dem Festland und unterseeische Anlagen sowie Flüssiggastanker aus Katar und dem Iran. Aber auch Tunnels, Dämme, Brücken und Energieanlagen jeglicher Art zählten für ihn zu den potenziellen Angriffszielen. Außerdem erwog er die Ermordung von Politikern, Wirtschaftsführern und Intellektuellen – was wohl auf das hindeutet, was der Europlot-Drahtzieher im Sinn hatte, als er Akteure nach Europa zurückschickte.10 Der Brief war im Prozess so kontrovers, weil Muritani Kebir erwähnte, ohne seinen Namen zu nennen: „Zu den wunderbaren Gaben, die uns Allah in diesen Tagen beschert hat, … dass wir unmittelbar nach dem Eintreffen Ihres Briefes einen intelligenten und sehr vernünftigen marokkanischen Bruder getroffen haben, der in Europa wohnt und im Fach Elektrotechnik studiert, in dem er sich im letzten Universitätsjahr befindet. … Geboren ist er am 15.06.1981 und er hat Brüder, denen er vollständig vertraut. Sie sind alle Mudschahidin und sehnen sich nach dem Dschihad. Einer von ihnen beherrscht die moderne Fälschungsmethode von Reisepässen und Visa. Der oben erwähnte marokkanische Bruder hat die Möglichkeit zurückzukehren, also beschlossen wir ihn zu schicken und gaben ihm entsprechende Anweisungen, nachdem wir ihn entsprechend unterwiesen und auch die verschiedenen Phasen für seine Tätigkeit organisiert hatten. Zwischen uns und ihm besteht eine verschlüsselte und, so Gott will, sichere Verbindung. Er leistete uns gegenüber den Treueeid.“11

Die Verteidigung Kebirs bezweifelte die Authentizität des Briefes und beantragte, Vertreter der CIA vorzuladen, die über die Tötung Bin Ladens in Abbottabad und die dort gefundenen Dokumente aussagen sollten. Die US-Regierung reagierte tatsächlich auf das folgende Rechtshilfeersuchen des Oberlandesgerichts und entsandte FBI-Beamte, die an der Sicherstellung des 10   Yunus al-Muritani an Zamaraʾi [bin Laden], 28. März 2010, unveröffentlichtes Dokument. 11  Ebd.

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Briefes beteiligt waren. Unter ihnen befand sich derjenige Polizist, der die Navy Seals nach ihrer Rückkehr aus Abbottabad auf dem Flugplatz von Jalalabad empfing, die gefundenen elektronischen Daten noch dort sicherte und die Originaldatenträger, Videos und sonstigen Materialien persönlich in die USA brachte. Aus den Aussagen der Beamten ging hervor, dass der Brief tatsächlich aus dem Fundus des al-Qaida-Chefs stammte und eine Fälschung bis zu seiner Übersendung nach Düsseldorf gar nicht möglich gewesen war. Was dann noch fehlte, war eine inhaltliche Bewertung des Briefes, und die war Sache des BKA und des islamwissenschaftlichen Sachverständigen. Wäre nur dieser eine Brief aus dem Archiv Usama Bin Ladens bekannt gewesen, hätte mir seine Untersuchung womöglich erhebliche Schwierigkeiten bereitet. Doch handelte es sich um ein wichtiges Teilstück einer kleinen Sammlung inhaltlich zusammengehöriger Dokumente, die 2011/12 aufgefunden oder veröffentlicht wurden und einen ungewöhnlich tiefen Einblick in die Debatten der al-Qaida-Führung über die Situation der Organisation und ihre künftigen Strategien gaben. Bei diesen Texten handelte es sich erstens um fünf Papiere, die bei der Verhaftung von Maqsood Lodin im Mai 2011 in Berlin aufgefunden wurden und zweitens um damals bereits veröffentlichte Briefe, die im Versteck Bin Ladens in Abbottabad beschlagnahmt und im Mai 2012 vom Combating Terrorism Center der US-Militärakademie West Point veröffentlicht wurden.12 Ein Abgleich mit all diesen Dokumenten zeigte deutlich, dass der Brief Muritanis Teil eines weit umfangreicheren Meinungsaustauschs zwischen dem Operationschef und dem al-QaidaFührer gewesen und zweifellos authentisch und darüber hinaus auch noch besonders aussagekräftig war. Ganz nebenbei zeigten die Dokumente auch, dass Bin Laden ganz anders als von vielen Beobachtern vermutet sehr wohl enge Kontakte zu seinen wichtigsten Gefolgsleuten unterhielt und auch versuchte, Einfluss auf die operative Planung zu gewinnen – was im KhalilProzess wenige Jahre vorher noch unbekannt war und bei der Bewertung der al-Qaida in dieser Phase der Schwäche so große Probleme verursacht hatte. Auch der Einwand, dass es doch höchst ungewöhnlich und ein Hinweis auf eine Fälschung sei, dass in einem Brief konkrete Informationen zu einem Rekruten wie sein Geburtsdatum (hier der 15. Juni 1981) genannt werden, war nicht stichhaltig. al-Qaida hat immer in geradezu bürokratischer Weise versucht, möglichst genaue Angaben zu ihren Rekruten zu erhalten und diese zu archivieren. Usama Bin Laden soll schon Mitte der 1980er Jahre in Peschawar begonnen haben, Namen und Adressen von arabischen Kämpfern zu registrieren.13 In einem Brief der Abbottabad-Papiere forderte Bin 12  Combating Terrorism Center at West Point: Letters from Abbottabad. Bin Ladin sidelined? 3 May 2012 (http://www.ctc.usma.edu/posts/letters-from-abbottabad-bin-ladinsidelined). 13   Lawrence Wright: The Looming Tower, New York: Alfred A. Knopf 2006, S. 104.

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Laden von Atiyatallah Angaben wie beispielsweise das Geburtsdatum von Muritani, den er nicht persönlich kannte, weil der Mauretanier erst spät zur al-Qaida-Zentrale gestoßen war.14 Besonders deutlich wurde die geradezu bürokratische Neigung zum Datensammeln aber bei der irakischen al-Qaida. Im Oktober 2007 fanden amerikanische Truppen in Sindschar im Nordwesten des Irak eine Datenbank der Organisation. Dort hatte sie die Daten von fast 700 ausländischen Kämpfern gespeichert, die zwischen August 2006 und August 2007 über die Sindschar-Route in den Irak eingereist waren und sich al-Qaida angeschlossen hatten. Die kurzen, tabellarischen Lebensläufe enthielten alle die Geburtsdaten nach dem gregorianischen Kalender. Dass Muritani in seinem Brief an Bin Laden das Geburtsdatum, nicht aber den Namen Kebirs genannt hatte, dürfte ein Kompromiss zwischen Erwägungen der operativen Sicherheit und dem Informationsbedürfnis Bin Ladens gewesen sein. Dass Kebir aber in einem Briefwechsel zwischen zwei der damals weltweit meistgesuchten Terroristen genannt wurde, sprach darüber hinaus für seine Bedeutung innerhalb der al-Qaida und ihrer neuen Strategie.15 Das Gericht folgte in seinem Urteil meiner Interpretation (und auch der des Bundeskriminalamtes), so dass die Mitgliedschaft Kebirs bei al-Qaida nachgewiesen war. Der Marokkaner wurde zu neun Jahren, seine Komplizen zu sieben, fünf Jahren und sechs Monaten und vier Jahren und sechs Monaten verurteilt.

4.  Das Ende der al-Qaida-Ära Das Verfahren gegen die Düsseldorfer Zelle war das vorerst letzte große Verfahren gegen Mitglieder der al-Qaida in Deutschland und damit das vorläufige Ende einer Ära für das Oberlandesgericht Düsseldorf. Die drei hier geschilderten Verfahren spiegelten die Geschichte der Organisation und ihr Verhältnis zu Deutschland nach 2001 wider. Im Verfahren gegen Khalil waren die Angeklagten noch arabische Studenten, die ebenso wie die Mitglieder der Hamburger Zelle in den 1990er Jahren nach Deutschland eingereist waren und sich anschließend entschlossen, für al-Qaida aktiv zu werden. Es spiegelte den schlechten Zustand der Organisation wider, dass sie keinen Kontakt zur Zentrale nach Afghanistan und Pakistan gehabt zu haben scheinen. Die Schwäche von al-Qaida zeigte sich ironischerweise auch in meinem Gut-

14   Letter [from Bin Laden] to Shaikh Mahmud, Abbottabad, n.d. (Brief 19), S. 33 der arabischen Fassung. 15   Guido Steinberg: Gutachten zu den „Lodin-Papieren“ von 2009 und dem Brief Yunis al-Muritanis an „Zamara‘i“ vom 28. März 2010 (Anlage 1 zum al-Qaida-Gutachten vom 10. August 2013), Berlin, 10. August 2012.

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achten und später im Urteil, denn es war in vielen Fällen schwer festzustellen, ob sie überhaupt noch hinter wichtigen Anschlägen in dieser Phase stand. Mit der Sauerland-Gruppe traten dann die ersten Deutschen und Türken auf den Plan und sorgten dafür, dass der Dschihadismus immer mehr zu einem einheimischen Problem wurde. Doch war es bezeichnend, dass Gelowicz und seine Freunde sich nicht al-Qaida direkt, sondern der mit ihr verbündeten IJU anschlossen. Noch hatte die stark von Golfarabern und Ägyptern geprägte Terrororganisation Probleme, nichtarabische Rekruten in ihre Strukturen zu integrieren. Dies gelang erst einige Jahre später, doch da wurde der Druck des amerikanischen Drohnenkrieges in Pakistan so groß, dass al-Qaida versuchte, die Front des terroristischen Kampfes nach Europa und Afrika zu verschieben. Es folgte eine regelrechte Rückkehrwelle, die sich vor allem, aber nicht nur in Deutschland bemerkbar machte, weil so viele Rekruten aus Deutschland zwischen 2007 und 2010 in die pakistanischen Stammesgebiete gereist waren. Doch als die zurückkehrenden Dschihadisten alle verhaftet wurden, endete auch diese Phase. al-Qaida war zwar immer noch präsent, aber zum zweiten Mal stark geschwächt. Ab 2011 schlug die Stunde der al-Qaida-Regionalorganisationen, die schon in den Jahren zuvor teils Aufsehen erregende Anschläge verübt hatten. Sie sorgten dafür, dass al-Qaida trotz ihrer Probleme in Pakistan und Afghanistan weiterhin eine Bedrohung blieb. Die jemenitische „al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel“ galt der US-Regierung seit Ende 2009 als die gefährlichste Zweigstelle, weil sie mehrfach (allerdings erfolglos) versuchte, Anschläge in den USA zu verüben. In Syrien entstand mit der Nusra-Front (Jabhat an-Nusra li-Ahl asch-Scham oder Hilfsfront für die Menschen Syriens) 2012 und 2013 ein sehr starker al-Qaida-Verbündeter, der die Führung der Organisation sogar dazu bewog, wichtiges Personal aus Pakistan und Afghanistan nach Syrien zu schicken, um von dort aus Anschläge in Europa zu planen. Mit den Erfolgen der Taliban in den folgenden Jahren gelang es aber auch der al-Qaida-Zentrale wieder zu erstarken. Die spektakulärsten Erfolge jedoch feierte die irakische al-Qaida, die sich schon 2006 in Islamischer Staat im Irak (ISI) umbenannt hatte und 2013 als Islamischer Staat im Irak und Syrien (ISIS) und 2014 als Islamischer Staat (IS) weite Gebiete im Irak und Syrien einnahm. Jetzt zeigte sich in aller Deutlichkeit, dass die irakische Gruppierung al-Qaida nicht als Mutterorganisation, sondern als Konkurrenten sah, so dass sie in Syrien begann, sie offen zu bekämpfen. Besonders wichtig war aber, dass der IS der al-Qaida und ihren Regionalorganisationen fast alle Rekruten abspenstig machte. Kaum ein ausländischer Kämpfer ging ab 2014 noch zur Nusra-Front; fast alle zogen den IS der al-Qaida und ihren Verbündeten vor. Erste Hinweise auf die enorme Mobilisierungskraft der irakischen alQaida fanden sich schon in den älteren Düsseldorfer Fällen. So wollten Khalil und Abou Shaweesh schon 2004/05 in den Irak ziehen, um sich dort der

Von Al-Qaida zum Islamischen Staat (IS)

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gerade gegründeten irakischen al-Qaida anzuschließen. Auch die Sauerländer hatten den Irak als Reiseziel auserkoren, als sie feststellten, dass es ihnen nicht möglich sein würde, am Kampf gegen die Russen in Tschetschenien teilzunehmen. Nur im Verfahren gegen die Düsseldorfer Zelle spielte der Irak keine Rolle, weil der ISI 2010 in einer Schwächephase steckte, die er erst ab 2012 schrittweise überwinden konnte. Ab der zweiten Jahreshälfte 2012 reisten die ersten deutschen Dschihadisten nach Syrien und schlossen sich dort ab 2013 immer häufiger dem IS an. Dies führte dazu, dass die meisten Terrorismusverfahren in Düsseldorf ab 2014 nicht mehr al-Qaida und mit ihr verbündete Gruppierungen betrafen, sondern den IS. Zu Prozessen wie dem gegen den Dinslakener IS-Gestapomann Nils Donath aus dem Jahr 2015/16 gibt es auch einiges zu sagen und zu schreiben, aber dies wird Thema eines anderen Festschriftbeitrags sein – inschallah.

Verzeichnis der Publikationen und Vorträge von Ottmar Breidling I.  Strafrechtliche Aufsätze, Anmerkungen, Buchbesprechungen 1. OLG Düsseldorf JR 1987, 258 – 260: Zur gerichtlichen Aufklärungspflicht, wenn der Sachverständige in seinem mündlich erstatteten Gutachten wesentlich von dem Inhalt seines vorbereitenden schriftlichen Gutachtens abweicht. 2. Löwe-Rosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 25. Auflage, – – JR 1998, 85 – 86, Besprechung der 1. bis 3. Lfg. – – JR 2000, 40 – 43, Besprechung der 4. bis 7. Lfg. – – JR 2001, 304 – 308, Besprechung der 8. bis 14. Lfg. – – JR 2005, 83 – 84, Besprechung der 15. bis 20. Lfg. 3. Stellungnahme zu dem Beitrag von Rechtsanwalt Prof. Gatzweiler: „Feindbild Strafverteidiger – Wer sucht den Konflikt in der Hauptverhandlung?“, StraFo  2010, 398 – 400 4. „Vorbereitung der Hauptverhandlung in Terroristenprozessen“, DRiZ 2012, 142 – 145 5. BGH JR 2013, 419 – 426: Zur Begründungstiefe von Haftfortdauerentscheidungen bei laufender Hauptverhandlung 6. „Der sog. 5-vor-9-(Ablehnungs-) Antrag“, in: Bockemühl/Gierhake/ Müller/Walter (Hrsg.): Festschrift für Bernd von Heintschel-Heinegg zum 70. Geburtstag, 2015, Seiten 79 – 86 7. „Das Weltbild des Strafrichters – Ist die Unabhängigkeit der Richter unabdingbar?“ in: Strafverteidigerorganisationen [Hrsg.], Bild und Selbstbild der Strafverteidigung, Tagungsband 40. Strafverteidigertag, 2016, 293 ff.

II. Kommentierungen Löwe-Rosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 25. Aufl. 2002, Kommentierung der §§ 21a – 21i GVG 26. Aufl. 2010, Kommentierung der §§ 21a – 21j GVG

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III. Vorträge 1. „Terrorismusbekämpfung im Lichte des 11. September 2001 – (u.a.) Ein Plädoyer für die Wiedereinführung einer Kronzeugenregelung“ Vortrag am 26.02.2002, Düsseldorf, Presseveranstaltung der GStA Düsseldorf 2. „Terrorismusbekämpfung in Deutschland“ Vortrag am 22. November 2007, Düsseldorf, Industrie-Club Düsseldorf e.V. 3. „Erfahrungen der Justiz im Umgang mit Terrorismusverfahren“ Vortrag am 28. November 2008, Düsseldorf, LACDJ NRW 4. „Konfliktverteidigung – ein nicht neues Phänomen des Strafprozesses“ Vortrag am 18. November 2010, Dortmund, Dortmunder Juristengesellschaft e.V. 5. „Konfliktverteidigung – ein nicht neues Phänomen des Strafprozesses“ Vortrag am 16. Februar 2011, Bad Münstereifel, Fachhochschule für Rechtspflege NRW, Amtsanwalts-Symposium 6. „Islamistischer Terrorismus – Herausforderung oder Überforderung der Justiz?“ Vortrag am mit Diskussionsrunde 23. Mai 2011, Düsseldorf, Forum Recht & Wirtschaft 7. „EG Zeit – die Sauerland-Terroristen“ Vortrag am 6. Dezember 2011, Wiesbaden, BKA Herbsttagung „60 Jahre BKA: Im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit“ 8. „Strafprozessuale Sonderprobleme und ihre Behandlung vor Gericht“ Vortrag am 25. Januar 2012, Düsseldorf, Vortragsreihe „Düsseldorfer Richtergespräch im Oberlandesgericht“ 9. „Terrorismusbekämpfung – quo vadis? Herausforderungen an die Sicherheitsbehörden aus Sicht der Judikative“ Vortrag am 18. April 2012, Berlin, Führungskräftekolleg Polizei & Verfassungsschutz 10. „Terrorismusbekämpfung vor Gericht“ Vortrag am 17. Januar 2012, Düsseldorf, Vortragsreihe „Uni Talk“ des Düsseldorfer Instituts für Außenund Sicherheitspolitik e.V. (DIAS) an der Heinrich-Heine-Universität 11. „Terrorismusbekämpfung vor Gericht“ Vortrag am 25. Oktober 2012, Hamburg, Bucerius Law School 12. „Der Umgang mit Medien bei umfangreichen und ‚presseträchtigen‘ Strafverfahren“ Vortrag am 15. Februar 2013, Recklinghausen, 8. Pressesprechertagung des Oberlandesgerichts (Hamm) und der Generalstaatsanwaltschaft – JAK NRW 13. „Abriss über Staatsschutzverfahren mit ihren prozessualen Besonderheiten“ Vortrag am 27. März 2013, Wiesbaden, Fachhochschule des Bundes 14. „Gericht und Verteidigung – Konflikte in der Hauptverhandlung“ Statement 16. April 2013, Köln, Universität Köln – Diskussionsveranstaltung 15. „Zur Entscheidung des BVerfG vom 19. März 2013, 2 BvR 2628/10, und ihren Auswirkungen auf Absprachen im Strafprozess“ Vortrag am

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21. September 2013, Recklinghausen, Veranstaltung der JAK NRW „Strafrecht – quo vadis, Hauptverhandlung? – Workshop“ 16. „Nachrichtendienste – brauchen wir sie? – Zu Geschichte, Struktur, Aufgaben und Arbeitsweise der Dienste“ Vortrag am 19. November 2013, Düsseldorf, Rechts- und Staatswissenschaftliche Vereinigung e.V. und Industrie-Club Düsseldorf e.V. 17. „Der Richter als Manager – Schwierigkeiten im Umgang mit großen Strafverfahren“ Vortrag am 3. April 2014, Weimar, 21. Richter und Staatsanwaltstag 18. „Das Weltbild des Strafrichters – Ist die Unabhängigkeit der Richter unabdingbar?“ Vortrag am 5. März 2016, Frankfurt/Main, 40. Strafverteidigertag 19. „Abriss über Staatsschutzverfahren mit ihren prozessualen Besonderheiten“ Vortrag am 4. August 2016, Brühl, Hochschule des Bundes

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IV.   Fortbildungstagungen für Richter und Staatsanwälte 1.  Bewältigung von Strafverfahren mit Konfliktverteidigung 1.1. OLG Bamberg 2014 1.2. GenStA Braunschweig 2009 1.3. GenStA Bremen 2005 1.4. Hanseatisches OLG Bremen 2008, 2009 1.5. GenStA Celle 2006 1.6. OLG u. GenStA Celle 2008 1.7. OLG Dresden 2008, 2010, 2011, 2012, 2013 1.8. LG Duisburg 2005 1.9. LG Düsseldorf 2003 1.10. OLG Düsseldorf 2012 1.11. TJM Erfurt 2007, 2012 1.12. Justizbehörde Hamburg 2006, 2007, 2009, 2011 1.13. LG Halle (JM Sachsen-Anhalt) 2015 1.14. LG Heidelberg 2012 1.15. AG Heilbronn 2015 1.16. LG Hildesheim (OLG Celle) 2015 1.17. OLG Köln 2006, 2011 1.18. LG Lüneburg 2014 1.19. LG Magdeburg (JM Sachsen-Anhalt) 2011 1.20. MJV Mainz 2015 1.21. OLG München 2015, 2016 1.22. JAK NRW Recklinghausen 2006–2013 1.23. OLG Nürnberg 2014 1.24. OLG Oldenburg 2002, 2004, 2005, 2006, 2008, 2014, 2015, 2016 1.25. OLG Rostock 2014 1.26. LG Saarbrücken 2008, 2011 1.27. LG Saarbrücken (JM Saarland) 2014 1.28. OLG Schleswig 2008, 2013 1.29. AG Stuttgart 2015 1.30. LG Stuttgart 2012 1.31. LG Stuttgart (JUM BWL) 2012, 2013 2.  Management von Umfangsverfahren 2.1.  OLG München 2016 2.2.  JAK NRW Recklinghausen 2007, 2009, 2010, 2012, 2013 2.3.  LG Stuttgart (JUM BWL) 2016 2.4.  DRA Trier 2000 2.5.  DRA Wustrau 2002, 2004, 2006, 2011

Autorenverzeichnis Lars Bachler, Richter am Oberlandesgericht Düsseldorf, Düsseldorf Sibylle Baschung, Chefdramaturgin des Schauspiels Frankfurt und Lehrbeauftragte an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, Frankfurt Gloria Berghäuser, Dr. jur., Akademische Rätin a. Z. am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschafts- und Medizinstrafrecht (Prof. Dr. Christian Jäger) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Erlangen Werner Beulke, Dr. jur., Professor em. an der Universität Passau (Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie), Rechtsanwalt, Passau Jan Bockemühl, Dr. jur., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht, Honorarprofessor an der Universität Regensburg, Regensburg Manfred Dauster, Dr. jur., Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht München, Vorsitzender der Bayerischen Landesberufsgerichte für die Heilberufe, die Architekten und für die Ingenieure Kammer-Bau; Richter des Staatsgerichts Bosnien und Herzegowina a. D., München Rüdiger Deckers, Dr. hc. jur., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht, Düsseldorf Rainer Drees, Vorsitzender Richter am Landgericht Düsseldorf, Düsseldorf Burkhard Feilcke, Dr. jur., Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe Ulrich Franke, Dr. jur., Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe Manfred Götzl, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht München, München Kirsten Graalmann-Scheerer, Dr. jur., Generalstaatsanwältin, Honorarprofessorin an der Hochschule für öffentliche Verwaltung Bremen, Bremen Rainer Griesbaum, Stellv. Generalbundesanwalt a. D., Karlsruhe Bernd v. Heintschel-Heinegg, Dr. jur., Rechtsanwalt, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht München a. D., Vorsitzender Richter am Bayerischen Obersten Landesgericht a. D., Honorarprofessor an der Universität Regensburg, Straubing Matthias Jahn, Dr. jur., o. Professor an der Goethe-Universität Frankfurt (Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Rechtstheorie) und Leiter der Forschungsstelle für Recht und Praxis der Strafverteidigung (RuPS); im zweiten Hauptamt Richter im 1. Strafsenat des Oberlandesgericht Frankfurt, Frankfurt a. M. Peter Küspert, Präsident des Oberlandesgerichts München und des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, München Ricarda Lang, Rechtsanwältin, Fachanwältin für Strafrecht, München Axel Nagler, Rechtsanwalt und Notar, Essen Anne-José Paulsen, Präsidentin des Oberlandesgerichts Düsseldorf, Düsseldorf Michael Ried, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht, Waldbronn Ingo Rottländer, Richter am Oberlandesgericht Düsseldorf, Düsseldorf Guido Steinberg, Dr. phil., Islamwissenschaftler und Terrorismusexperte, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin Jan van Lessen, Richter am Oberlandesgericht Düsseldorf, Düsseldorf Rotraud Wielandt, Dr. phil. Dr. theol. h.c., Professorin i. R. für Islamwissenschaft und Arabistik an der Universität Bamberg, Lehrbeauftragte an der Hochschule für Philosophie in München und Beraterin der Päpstlichen Kommission für die religiösen Beziehungen zu den Muslimen, Bamberg