Festschrift für Ernst Heinitz zum 70. Geburtstag am 1. Januar 1972 [Reprint 2017 ed.] 9783110907629, 9783110035940

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Festschrift für Ernst Heinitz zum 70. Geburtstag am 1. Januar 1972 [Reprint 2017 ed.]
 9783110907629, 9783110035940

Table of contents :
Inhalt
Zum Geleit. Vorwort der Herausgeber
Grußwort des Vorsitzenden des Fachbereichsrats des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin
Grußwort des Kammergerichtspräsidenten
Ernst Heinitz zum 70. Geburtstag
Verzeichnis der Schriften von Ernst Heinitz
Rechtsphilosophie – Allgemeine Rechtslehre
Grenzen der Rationalität in der Rechtswissenschaft
Das Legalitätsprinzip und die Rolle der Rechtsprechung und der Theorien. Zugleich zur Methodik der Strafgesetzgebung
Der objektivierte Wille des Gesetzgebers
Tendenze sostanzialistiche nella più′ recente dottrina e giurisprudenza penale italiana
Geschichte – Rechtssoziologie
Gab es in der Antike den Begriff des Stadtstaates?
Markgraf Otto IV. mit dem Pfeil Herrscher und Künstler
Die sogenannte sexuelle Revolution und das Strafrecht
Über die Gesellschaftsbezogenheit des Eides
Recht und Wirklichkeit der Arbeit in neueren Industriereportagen
Strafrecht – Allgemeine Lehren
Abstrakte und konkrete Gefährdung
Der „umgekehrte Irrtum“ und das „Umkehrprinzip“
Der Irrtum über Rechtfertigungsgründe
Der systematische Standort der „Wahrnehmung berechtigter Interessen“ im Spiegel der Strafrechtsreform
Über den Rücktritt vom unbeendeten Versuch
Bestimmung eines Tatentschlossenen zur Tatänderung
Zur Frage der Ursächlichkeit der Beihilfe für die Haupttat
Ungeklärte materiell-rechtliche Fragen des Contergan-Prozesses
Strafrecht – Besonderer Teil
Zur Reform des Abtreibungsrechts
Geburtshilfe und Menschwerdung in strafrechtlicher Sicht
Medizinischer Fortschritt und juristischer Todesbegriff
Medizinische Probleme bei der Todeszeitfeststellung nach erfolgloser Reanimation
Probleme des erfolgsqualifizierten Delikts bei Menschenraub, Geiselnahme und Luftpiraterie
Die Regelbeispieltechnik der schweren Fälle und §§ 243, 244 n. F. StGB
Fragen zur Rechtsbeugung
Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Richters. Die Vorsatzform bei der Rechtsbeugung
Strafen – Massregeln – Vollzug
Schädliche Neigungen und Schwere der Schuld als Voraussetzungen der Jugendstrafe
Umstrittene Probleme bei der strafgerichtlichen Untersagung der Berufsausübung
Die ethischen Voraussetzungen des Resozialisierungs- und Erziehungsvollzuges
Der Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes und die Vollzugswirklichkeit
Einige wesentliche Elemente für Einrichtung und Betrieb einer sozial-therapeutischen Anstalt
Kriminologie – Forensische Medizin
White Delinquents in the Core City: As Boys and Men
Weibliche Tötungsdelinquenz
Kriminalität in Berlin
Ist das Fernsehen kriminogen?
Internationale Kontrolle des Opiumhandels und gesetzliche Beschränkung des Betäubungsmittelverkehrs in Deutschland
Rauschgift, Strafrecht und Forensische Medizin
Richter und Arzt
Prozessrecht
„Informelles Schuldinterlokut” im Strafprozeß nach geltendem Recht. Zur modernen Gestaltung der Hauptverhandlung
Das Kontumazialverfahren ist abgeschafft
Unterlassungsanspruch, Unterlassungstitel und die Bestrafung nach § 890 ZPO
Kritische Bemerkungen zum Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen
Rechtsvergleichung – Internationales, Ausländisches und Kanonisches Strafrecht
Strafen und Maßregeln des Musterstrafgesetzbuchs für Lateinamerika im Vergleich mit dem deutschen Recht5
Der Ehrenschutz ausländischer Staatsoberhäupter, Diplomaten und Staatssymbole im Licht der Rechtsvergleichung
Rechtsvergleichende Betrachtungen über wechselseitige Wirkungen der rechtskräftigen Straf- und Zivilurteile
Die mitbestrafte Nachtat im Internationalen Strafrecht
Die positiven Wirkungen ausländischer Strafurteile im Inland im Rahmen der Vollstreckung
Alcune considerazioni sul consenso del paziente e lo stato di necessità nel trattamento medico-chirurgico
Il plagio nel sistema italiano di tutela della libertà
Sullo spirito del diritto penale canonico dopo il Concilio «Vaticano II»

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FESTSCHRIFT FÜR ERNST HEINITZ ZUM 70. GEBURTSTAG

FESTSCHRIFT FÜR ERNST HEINITZ ZUM 70. GEBURTSTAG am 1. Januar 1972

Herausgegeben von

Hans Lüttger in Verbindung mit

Hermann Blei und Peter Hanau

w

DE

G_ 1972

Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft, der Deutschen Klassenlotterie Berlin, der Ernst-Reuter-Gesellschaft in Berlin, des Präsidenten der Freien Universität Berlin und ungenannter Spender.

ISBN 3 11 003594 4 © Copyright 1972 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Gösdien'sdie Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer» Karl J . Trüber, Veit 8c Comp., Berlin 30. Alle Reáte» insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Obersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany. Satz und Druck: Saladrudk, Berlin

Inhalt Zum Geleit. Vorwort der Herausgeber

1

Berlin: Grußwort des Vorsitzenden des Fadibereidisrats des Fadhbereidis Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin

3

Berlin: Grußwort des Kammergerichtspräsidenten

5

Baldham: Ernst Heinitz zum 70. Geburtstag

7

GERHARD DILCHER,

G Ü N T E R VON DRENKMANN,

W A L T E R STRAUSS,

Verzeichnis der SCHRIFTEN VON E R N S T H E I N I T Z , zusammengestellt von ERNST-DIETER MÖLLER, Berlin

17

Rechtsphilosophie — Allgemeine Rechtslehre Bonn: Grenzen der Rationalität in der Rechtswissenschaft

31

SHIGEMITSU D A N D O , Tokio: Das Legalitätsprinzip und die Rolle der Rechtsprechung und der Theorien. Zugleich zur Methodik der Strafgesetzgebung

37

G E O R G SCHWALM, Erlangen: Der objektivierte Wille des Gesetzgebers

47

Mailand: Tendenze sostanzialistidie nella più recente dottrina e giurisprudenza penale italiana

65

H A N S WELZEL,

P I E T R O NUVOLONE,

Gesdiidite — Rechtssoziologie Berlin: Gab es in der Antike den Begriff des Stadtstaates?

U L R I C H VON LÜBTOW,

89

Heidelberg: Markgraf Otto IV. mit dem Pfeil — Herrscher und Künstler

111

Kiel: Die sogenannte sexuelle Revolution und das Strafredit

119

Berlin: Uber die Gesellsdiaftsbezogenheit des Eides

139

Köln: Redit und Wirklichkeit der Arbeit in neueren Industriereportagen . . .

159

EBERHARD SCHMIDT,

HELLMUTH MAYER, ERNST E . H I R S C H ,

PETER H A N A U ,

Inhalt

VI

Strafrecht, Allgemeine Lehren Heidelberg: Abstrakte und konkrete Gefährdung

171

K A R L ENGISCH, München: Der „umgekehrte Irrtum" und das „Umkehrprinzip"

185

Bonn: Der Irrtum über Rechtfertigungsgründe

207

Graz: Der systematische Standort der „Wahrnehmung berechtigter Interessen" im Spiegel der Strafrechtsreform

229

CLAUS R O X I N , München: tjber den Rücktritt vom unbeendeten Versuch

251

WALTER STREE, Münster i. W . : Bestimmung eines Tatentschlossenen zur Tatänderung

277

Berlin: Zur Frage der Ursächlichkeit der Beihilfe für die Haupttat

295

Erlangen: Ungeklärte materiell-rechtliche Fragen des Contergan-Prozesses

317

WILHELM GALLAS,

EDUARD DREHER,

H E R M A N N ROEDER,

T H E O VOGLER,

H A N S - J Ü R G E N BRUNS,

Strafrecht, Besonderer Teil ELSE KOFFKA, Berlin: Zur Reform des Abtreibungsrechts

343

Berlin: Geburtshilfe und Menschwerdung in strafrechtlicher Sicht

359

G E R D GEILEN, Bochum: Medizinischer Fortschritt und juristischer Todesbegriff

373

Berlin: Medizinische Probleme bei der Todeszeitfeststellung nach erfolgloser Reanimation

397

München: Probleme des erfolgsqualifizierten Delikts bei Menschenraub, Geiselnahme und Luftpiraterie

403

Berlin: Die Regelbeispieltechnik der schweren Fälle und §§ 243, 244 StGB . .

419

Berlin: Fragen zur Rechtsbeugung

427

Würzburg: Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Richters. Die Vorsatzform bei der Rechtsbeugung

445

H A N S LÜTTGER,

G Ü N T E R A . NEUHAUS,

REINHART MAURACH,

H E R M A N N BLEI,

W E R N E R SARSTEDT, G Ü N T E R SPENDEL,

Inhalt

VII

Strafen — Maßregeln — Vollzug Göttingen: Schädliche Neigungen und Schwere der Schuld als Voraussetzungen der Jugendstrafe

461

Mainz: Umstrittene Probleme bei der strafgerichtlichen Untersagung der Berufsausübung. (Berufsverbot gegenüber Presseangehörigen; Berufsverbot bei Niditabführung von Krankenkassenbeiträgen für Arbeitnehmer; Verhältnis des Berufsverbots zum Approbationsentzug.)

477

K A R L P E T E R S , Tübingen: Die ethischen Voraussetzungen des Resozialisierungs- und Erziehungsvollzugs

501

F R I E D R I C H SCHAFFSTEIN,

DIETRICH LANG-HINRICHSEN,

G Ü N T E R SUTTINGER,

Berlin:

Der Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes und die Vollzugswirklidikeit

517

K. S T Ü R U P , Kopenhagen: Einige wesentliche Elemente für Einrichtung und Betrieb einer sozialtherapeutischen Anstalt

533

GEORG

Kriminologie — Forensische Medizin SHELDON and ELEANOR G L U E C K , Cambridge/Mass.: White Delinquents in the Core City: As Boys and Men

547

Berlin: Weibliche Tötungsdelinquenz

565

Kiel: Kriminalität in Berlin

575

Köln: Ist das Fernsehen kriminogen?

593

Berlin: Internationale Kontrolle des Opiumhandels und gesetzliche Beschränkung des Betäubungsmittelverkehrs in Deutschland

609

O. W. M U E L L E R , New York: Rausdigift, Strafrecht und Forensisdie Medizin

625

ELISABETH N A U ,

JOACHIM H E L L M E R ,

R I C H A R D LANGE,

G E R H A R D ROMMENEY,

GERHARD

D E T L E F CABANIS,

Richter und Arzt

Berlin:

639 Prozeßrecht

Nürnberg: „Informelles Schuldinterlokut" im Strafprozeß nach geltendem Recht. Zur modernen Gestaltung der Hauptverhandlung THEODOR KLEINKNECHT,

651

VIII

Inhalt

Bremen: Das Kontumazialverfahren ist abgeschafft

669

Berlin: Unterlassungsanspruch, Unterlassungstitel und die Bestrafung nach §890 ZPO

683

Tübingen: Kritische Bemerkungen zum Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen

705

H A N N S DÜNNEBIER, ARWED BLOMEYER,

JÜRGEN BAUMANN,

Reditsvergleidiung — Internationales, ausländisches und kanonisches Strafrecht Freiburg i. Br.: Strafen und Maßregeln des Musterstrafgesetzbuchs für Lateinamerika im Vergleich mit dem deutschen Recht

717

Lidingö/Stockholm: Der Ehrenschutz ausländischer Staatsoberhäupter, Diplomaten und Staatssymbole im Licht der Reditsvergleidiung

737

K U D R E T AYITER, Ankara: Rechtsvergleichende Betrachtungen über wechselseitige Wirkungen der rechtskräftigen Straf- und Zivilurteile

751

LUDWIG SCHNORR VON CAROLSFELD, Erlangen: Die mitbestrafte Nachtat im Internationalen Strafrecht

765

Köln: Die positiven Wirkungen ausländischer Strafurteile im Inland im Rahmen der Vollstreckung

777

H A N S - H E I N R I C H JESCHECK,

GERHARD SIMSON,

D I E T R I C H OEHLER,

GIULIANO VASSALLI, R o m :

Alcune considerazioni sul consenso del paziente e lo stato di necessità nel trattamento medico-chirurgico

791

Padua: Il plagio nel sistema italiano di tutela della libertà

811

Padua: Sullo spirito del diritto penale canonico dopo il Concilio «Vaticano II»

837

GIUSEPPE ZUCCALÀ,

GIUSEPPE BETTIOL,

Zum Geleit In diesem Bande vereinigt sich eine stattliche Zahl von Autoren — Juristen, Kriminologen und Medizinern — aus 8 Staaten in Europa und Übersee, um Ernst Heinitz aus Anlaß seines 70. Geburtstags am 1. Januar 1972 zu ehren. Der internationale Charakter dieser Festschrift ist nicht Zufall und die interdisziplinäre Vielfalt der in ihr behandelten Themen ist mehr als ein bunter Strauß von akademischen Gaben: sie spiegeln das völkerverbindende Wirken des Jubilars und die Spannweite seines wissenschaftlichen Engagements getreulich wider. Darüber gibt die von einem Jugendfreund des Jubilars geschriebene Laudatio Auskunft; das Verzeichnis der Schriften von Ernst Heinitz bekräftigt es. Dem akademischen Lehrer und hohen Richter gelten die der Festschrift beigegebenen Grußworte. Mannigfache Schwierigkeiten haben eine Drucklegung der Festschrift vor dem 1. Januar 1972 verhindert. Dem Jubilar sind an seinem 70. Geburtstag das Inhaltsverzeichnis, die Laudatio und die Grußworte überreicht worden. Nunmehr übergeben wir ihm das ganze Werk. Die Mitarbeiter dieser Festschrift bitten Ernst Heinitz, die Beiträge als Zeichen ihrer Verehrung für den Freund und Kollegen und als Zeichen ihres Dankes für sein bewunderungswürdiges Lebenswerk entgegenzunehmen. Autoren und Verlag der Festschrift wünschen Ernst Heinitz von Herzen: ad multos annos! Die Herausgeber haben zu danken: den Kolleginnen und Kollegen für die Worte herzlicher Zustimmung, mit denen sie der Einladung zur Teilnahme an dieser Festschrift gefolgt sind; den Spendern, die durch ihre finanzielle Hilfe die Herausgabe der umfangreichen Festschrift ermöglicht haben; und nicht zuletzt dem Verlag Walter de Gruyter & Co. in Berlin, der vielfältiges Entgegenkommen gezeigt hat. Die Herausgeber

Grußwort Eine Jugend nodi im wilhelminischen Berlin, Studium an der Berliner Fakultät der zwanziger Jahre mit dem Beginn einer wissenschaftlichen Laufbahn — und dann, in der zweiten Lebenshälfte, Rückkehr nach Berlin, Professur und hohes Richteramt, Rektor der Freien Universität in der spannungsreichen und wichtigen Zeit nach dem Mauerbau — das sind nur die hervorstechendsten Daten eines Lebens, dem Erfolg und Anerkennung beschieden war und ist. Wer Ernst Heinitz kennengelernt hat, hat schon bei der ersten Begegnung verstanden, daß diese äußeren Höhepunkte ihren Sinn nur gewinnen in einem Lebensweg, der nicht von gradliniger Aufwärtsentwicklung geprägt ist, in dem Vollenden und Gelingen oft fern gewesen sein müssen. Doch scheint, soweit der sehr viel Jüngere dies ermessen kann, die besondere Uberzeugungskraft, die Ernst Heinitz immer (und gerade auf Jüngere) ausstrahlte und ausstrahlt, ihm aus dieser nidit vom äußeren Schicksal begünstigten Seite seines Lebens zugewachsen, daraus, daß es in diesem Leben mehr zu bewältigen gab als eine akademische Karriere. Da ist der schnelle Entschluß, 1933 aus Deutschland zu weichen, die glanzvolle Promotion in einem anderen Sprach- und Rechtskreis schon 1934, als viele auch unmittelbar Bedrohte hier noch auf einen Kompromiß mit dem Regime hofften. Erstaunlich dann, wie die wissenschaftliche Produktivität nicht durch Existenznot und äußere Bedrohung während der Jahre, die für ein wissenschaftliches Lebenswerk meist die fruchtbarsten sind, gebrochen wird. Vielmehr wird dieses Werk in den italienischen und dann voll in den Berliner Jahren sowohl in der großen Breite der behandelten Probleme wie im Ringen mit Grundsatzfragen fortgeführt und vertieft. Auch hier findet sich wieder die grundlegende Kraft, die im Leben wie im Werk wirksam wird: Die Zukunftsoffenheit und der Lebensmut, der in den dreißiger Jahren die Weiterbeschäftigung mit deutschem Recht leitet, zeigt sich gleichzeitig in der Familiengründung in der Emigration mit der Lebensgefährtin Maria Pia Tommasi. Doch blieb es nicht bei einem Leben im Kreis von anwaltschaftlicher und wissenschaftlicher Tätigkeit und Familie, sondern die Zeit des Krieges und des Zusammenbruchs zog Ernst Heinitz wieder in die Verantwortung für andere, um in oft lebensrettender Weise Bedrohten Hilfe und Fluchtmöglichkeit zu gewähren. Nicht nur langjähriges und ernstes Ringen mit Fragen der Wissenschaft brachte Ernst Heinitz also mit für seine nunmehr zwanzig-

4

Grußwort

jährige Tätigkeit an der Freien Universität Berlin, sondern audi die unmittelbare Erfahrung, daß Wissenschaft dem Menschen dienen muß, und daß dies der jeweils einzelne Mensch ist. So konnte er als Hochschullehrer, als Dekan, als Rektor vielen, vor allem vielen Studenten beistehen und menschliche Probleme menschlich lösen helfen. Aber auch im Kreise der Kollegen verstand er es, durdi ein ruhiges und ausgleichendes Wort manchem Problem die Spitze zu nehmen. Dies alles in möglichster Stille: Er sieht sich selber wohl lieber am Bildrand als in der Bildmitte. Das wissenschaftliche Werk, die erfahrenen Ehrungen und die bekleideten Ämter legen Zeugnis ab eines Lebens für die Wissenschaft und die Universität. Weniger meßbar ist das intensive menschliche Engagement von Ernst Heinitz für das akademische Gemeinwesen. Doch wenn die Universität ein Gemeinwesen, wie es ihr Name besagt, war — und die Freie Universität war es lange in besonderer Weise — so auch dank eines solchen Wirkens im menschlichen Bereich. Und ohne beides, was Ernst Heinitz in so hervorragendem Maß auszeichnet, wissenschaftlicher Ernst und menschliches Verantwortungsgefühl, wird auch in Zukunft Universität nicht sein können. Berlin, den 1. Januar 1972 Gerhard Dilcber Vorsitzender des Fachbereichsrats des Fadibereidis Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin

Grußwort Rechtswissenschaft und Rechtsprechung sind seit langem auf mannigfache Weise miteinander verbunden. Diese Verbundenheit führt allerdings leider nur selten zu persönlicher Zusammenarbeit. Insbesondere gibt es nur ganz wenige Hochschullehrer, die sich Gewinn davon versprechen, an der Rechtsprechung unmittelbar mitzuwirken. Professor Dr. Heinitz war einer von ihnen. Als Heinitz im Jahre 1953 in die Berliner Justiz eintrat, legte er Wert darauf, bei dem Landgericht beschäftigt zu werden. Er wollte als Richter nicht in erster Hinsicht über Rechtsprobleme nachdenken und entscheiden, sondern die Strafjustiz dort erleben, wo sie am farbigsten, aber auch am schwierigsten ist: in der Tatsacheninstanz. So kam es, daß ein ordentlicher Professor des Rechts fast zwei Jahre lang als beisitzender Richter an den Sitzungen einer großen Strafkammer teilgenommen hat. Erst auf Drängen der Justizverwaltung willigte Heinitz in seine Ernennung zum Kammergerichtsrat ein, die am 1. Januar 1955 ausgesprochen wurde. Heinitz war dann mehrere Jahre Mitglied des 1. Strafsenats des Kammergerichts, bis er 1959 zum Senatspräsidenten ernannt und mit dem Vorsitz des neu eingerichteten 4. Strafsenats des Kammergerichts betraut wurde. Die Beförderung zu einem der höchsten Strafrichter des Landes Berlin war mehr als eine ehrende Geste gegenüber einem angesehenen Lehrer des Rechts. Heinitz war zu diesem Zeitpunkt längst kein Gast mehr in der Berliner Justiz, sondern im buchstäblichen Sinne des Wortes einer ihrer Bediensteten. Er empfand seine Riditertätigkeit nidit als interessanten, wenn auch mühevollen Ausflug in die Niederungen angewandter Rechtswissenschaft, sondern als Dienst am Recht und übte sie mit der Erfahrung, die er durch langjährige Tätigkeit als Tat- und Revisionsrichter gewonnen hatte, und mit den überlegenen Rechtskenntnissen eines Hochschullehrers aus. Die Ernennung eines solchen Mannes zum Vorsitzenden eines Strafsenats diente dem Nutzen der Justiz. Heinitz konnte der richterlichen Tätigkeit immer nur einen Teil seiner Zeit und Arbeitskraft widmen. Aber nicht das ist der Grund dafür, daß sein Wirken in der Berliner Justiz nadi außen hin unauffällig blieb. Heinitz wußte, daß richterliche Fallentscheidungen, auch wenn Rechtslehrer an ihnen mitwirken, selten Anlaß zu Auseinandersetzungen mit wissenschaftlichen Lehrmeinungen geben. Für ihn stand das Auffinden der gerechten Entscheidung im Vordergrund. Er vergaß nie, daß Rechtsprechung nicht der Durchsetzung wissenschaftlicher Thesen dienen darf, sondern daß sie um der Menschen willen betrie-

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Grußwort

ben wird, die Gerechtigkeit von ihr erwarten. Daß Rechtsfragen erkannt und erörtert werden, war für ihn selbstverständlich. Aber er hielt nichts davon, eine Strafakte in erster Hinsicht darauf durchzusehen, ob sie interessante Rechtsprobleme enthält. Sein Interesse galt vor allem dem Straftäter und den Umständen, unter denen die Tat begangen worden war. Seine Mitarbeiter wissen zu berichten, daß Heinitz stets bereit war, sich mit ihnen über Rechtsprobleme zu unterhalten, daß aber in den Beratungen, denen er vorsaß, jegliches Theoretisieren verpönt war. Der 4. Strafsenat des Kammergerichts unter Heinitz ist deshalb nie ein Strafsenat eigener Art gewesen. Hier wurde Rechtsprechung ohne Herausstellen der eigenen Wichtigkeit oder Gelehrsamkeit betrieben. Heinitz hat, bis er im Januar 1967 als Richter in den Ruhestand trat, über Jahre hinweg zwischen Theorie und Praxis eine Brücke geschlagen. Was nachwirkt, sind nicht die Entscheidungen, die unter seiner Mitwirkung getroffen wurden, sondern das Gespräch zwischen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung, das er auf eine Weise in Gang gebracht und aufrechterhalten hat, die vorbildlich genannt werden muß. Wissenschaft und Praxis sind ihm zu Dank verpflichtet. Den Dank der Berliner Strafjustiz verbinde ich mit dem Wunsch, daß Heinitz über das 70. Lebensjahr hinaus, das er nun vollendet, noch viele Jahre in voller Rüstigkeit am Rechtsleben Anteil nimmt und sich seines Wirkens in der Rechtsprechung ebenso gern erinnert wie es seine Kollegen aus den Spruchkörpern tun, denen er angehörte. Berlin, den 1. Januar 1972

Günter von Drenkmann Kammergerichtspräsident

ERNST HEINITZ ZUM 70. GEBURTSTAG W A L T E R STRAUSS

Der 70. Geburtstag von Ernst Heinitz am 1. Januar 1972 ist seinen Freunden und Kollegen willkommener Anlaß, ihm ihre Zuneigung und Verehrung durch eine wissenschaftliche Festschrift zu bekunden. Mir — dem Landsmann und Jugendkollegen — ist zuteil, sie durch eine Schilderung seines Lebensweges einzuleiten. Ernst Heinitz — Sohn des Dr. phil. Georg Heinitz, des langjährigen Direktors der Emilie-Rudolf-Mosse-Stiftung für Knaben und Mädchen, und seiner Ehefrau Elisabeth geb. Böhm — ist gebürtiger Berliner, genauer: Brandenburger. Denn sein Geburtsort DeutschWilmersdorf war zwar 1902 schon durch Flächeneinheit mit Berlin verbunden, aber nodi selbständige Gemeinde im Landkreis Teltow und wurde erst 1920 bei Bildung der Groß-Gemeinde Berlin in diese eingegliedert. Heinitz' frühe Jugend gedieh noch unter der Sonne der Friedenszeit vor 1914; die eindrucksvollen Jahre des Heranreifens vollzogen sich im Schatten des Ersten Weltkrieges. Das sehr angesehene BismarckGymnasium in Wilmersdorf, das er von 1911 bis 1919 besuchte und mit 17 Jahren unter Befreiung von der mündlichen Prüfung als Abiturient verließ, gab ihm eine vorzügliche Ausbildung seiner vielseitigen Talente mit auf den Lebensweg. Diese vielfältigen Anlagen und Neigungen ließen ihn nach dem Abitur kurze Zeit zweifeln, welches Studium er einschlagen sollte: Musik, Religionsgeschichte, Mathematik, Rechtswissenschaft oder Medizin. Daß Heinitz gerade zwischen diesen Disziplinen schwankte, war kein Zufall; schon hier offenbarten sich Eigenschaften, die ihn bis heute auszeichnen: die musische Veranlagung, die Aufgeschlossenheit für die Historie, der analytische Verstand und das engagierte Interesse am Mitmenschen. Daß Heinitz sich dann dem Studium der Rechtswissenschaft zuwandte, geht zu einem guten Teil auf den Einfluß des Bruders seines Vaters, des Geheimen Justizrats Dr. Ernst Heinitz, zurück. Dieser — Präsident der Berliner Anwaltskammer und Sekretär des Juristentages — war eine der eindrucksvollsten Persönlichkeiten der damaligen Juristen weit Berlins; auch ihm wurde zu seinem 70. Geburtstag im Jahre 1927 eine Festschrift dargebracht. Seit Herbst 1919 studierte Heinitz an der Juristischen Fakultät der Friedrich-Wilhelm-Universität zu Berlin, die den hohen Rang, den sie seit 1810 innehatte, bis 1933 bewahrte. Hier waren Kipp, Seckel,

Walter Strauß

8

Partsch, Stammler, Triepel, Kahl, Kohlrausdi und Goldsdunidt seine Lehrer — wahrlich eine stolze Reihe bedeutender Gelehrter. Nach der Ersten juristischen Staatsprüfung am 16. Juni 1923 folgte die Referendarausbildung in Berlin. Als wertvollste Stufe dieser Ausbildung hat Heinitz — wie wohl jeder, dem der gleiche Vorzug zuteil wurde — die Anwaltsstation bei von Simson und Ernst Wolff angesehen. Ernst Wolff — nach 1945 Präsident des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone — war ein unvergleichlicher Lehrmeister und ein verehrtes Vorbild 1 . Dort lernten Heinitz und ich uns kennen, verbunden in gemeinsamer Begeisterung für Ernst Wolff. Heinitz blieb nach Abschluß seiner Anwaltsstation noch bis 1926 als Hilfsarbeiter in der Kanzlei von Ernst Wolff. Auch den Repetitor für das Assessorexamen besuchten wir gemeinsam; er verdient ein Wort der dankbaren Erinnerung: Um den Rechtsanwalt Dr. Levinsohn in der Fasanenstraße versammelte sich abends eine Auslese der Berliner Referendare. Levinsohn — ein ungewöhnlich befähigter Pädagoge — erteilte den Reditsunterricht nadi der damals in Deutschland nahezu unbekannten Fallmethode an Hand der Urteile oberster Gerichte; so erzog er seine Schüler dazu, diese Entscheidungen im Wortlaut zu studieren. Hier liegt gewiß eine der Wurzeln dafür, daß Heinitz später als akademischer Lehrer der kritischen Erörterung judizierter Fälle so großes Gewicht beigemessen hat. Am 27. April 1927 bestand Heinitz die Zweite juristische Staatsprüfung mit Prädikat. Inzwischen — am 2. März 1926 — hatte er an der Universität Hamburg den Grad eines Doktors der Rechte mit „sehr gut" erworben. (Die Universität Hamburg — 1919 gegründet — hatte für die Prüfungsnoten die deutsche anstelle der lateinischen Sprache eingeführt.) Seine von dem Strafrechtslehrer Liepmann betreute Dissertation „Das Problem der materiellen Rechtswidrigkeit" wurde in den Strafrechtlichen Abhandlungen veröffentlicht und später in die spanische Sprache übersetzt; sie wird noch heute — nach 45 Jahren — in Lehrbüchern, Kommentaren und Monographien in Deutschland, Spanien und Italien viel zitiert. Heinitz hat das Thema 1961 in seinem Beitrag „Zur Entwicklung der Lehre von der materiellen Rechtswidrigkeit" in der Festschrift für Eberhard Schmidt wieder aufgegriffen. Die vorzügliche Dissertation war sicher auch ein Grund dafür, daß Kohlrausch, dessen Seminar Heinitz seit 1921 angehört hatte, ihn 1927 aufforderte, die wissenschaftliche Laufbahn zu ergreifen. In der 1

Vgl. meine Würdigungen in JZ 1952, S. 700, und 1959, S. 133.

Ernst Heinitz zum 70. Geburtstag

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Folgezeit war Heinitz dann Assistent bei Kohlrausch und bei James Goldschmidt. Diese versammelten damals eine Schar befähigter und begeisterter Assistenten um sich, die später — nach 1945 — das Wiederaufleben der deutschen Strafrechtswissenschaft wesentlich trugen und bestimmten. Außer dem Strafrecht galt die Neigung von Heinitz dem damals jüngsten Zweig der deutschen Rechtswissenschaft, dem Arbeitsredit. Er assistierte in Berlin auch bei Walter Kaskel, einem der Begründer der Wissenschaft vom Arbeitsredit. Das bradite zunächst eine Wende in seinem beruflichen Leben. Das Arbeitsgerichtsgesetz vom 23. Dezember 1926 hatte reidisrechtlich die Errichtung von Arbeitsgerichten angeordnet und geregelt. Zuständig waren — anders als leider heute — die Justizminister im Einvernehmen mit den Behörden der Sozialverwaltung; die Arbeitsgerichte waren mit den ordentlichen Gerichten organisatorisch verbunden. Die preußisdie Justizverwaltung gab sich mit der Besetzung der neuen Geridite besondere Mühe und wählte für die Eingangsstufe die begabtesten der jungen Räte und Assessoren aus. Auf Veranlassung von Kaskel wurde Heinitz, der zunächst bei den Amts- und Landgerichten in Berlin tätig gewesen war, im Jahre 1928 zum Arbeitsgericht Berlin abgeordnet und dort am 1. November 1932 zum hauptamtlichen Vorsitzenden und zum Amtsgerichtsrat ernannt. Seine Tätigkeit am Arbeitsgericht Berlin fiel in eine Zeit schwerer sozialer Spannungen und damit großer äußerer und innerer Belastung für die in der Arbeitsgerichtsbarkeit tätigen Richter. Trotzdem fand Heinitz Zeit und Kraft, intensiv an der wissenschaftlichen Entwicklung des sidi entfaltenden Arbeitsrechts teilzunehmen. Davon zeugen seine zahlreichen Veröffentlichungen aus jener Zeit über Probleme des Arbeitsrechts und des Arbeitsgerichtsverfahrens; darunter ein 1932 erschienener Kommentar zum Arbeitsgeriditsgesetz, den Heinitz — zu 2/s selbst Autor — zusammen mit Depène, dem Präsidenten des Arbeitsgerichts Berlin und vormaligen Präsidenten des Berliner Kaufmanns- und Gewerbegerichts, und mit Rohlfing herausgegeben hat. Diese frühen Arbeiten beeindrucken noch heute durch die souveräne Beherrschung des neuen Rechtsgebiets, seiner Methoden und Probleme. Vor allem aber sind sie geprägt von jener unbedingten wissenschaftlichen Objektivität, welche die Arbeiten von Heinitz stets auszeichnet, in der spannungsreichen Materie des Arbeitsrechts aber besonders deutlich hervortritt. Ihre Grundlage ist die Überzeugung von der rechtlichen, nicht gewaltsamen Regelbarkeit der sozialen Konflikte. Im Jahre 1933 wurde die glückliche und zukunftsreiche Entwicklung von Ernst Heinitz jäh unterbrochen durch die nationalsoziali-

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Walter Strauß

stische Machtergreifung und das Unrecht, das sie bewirkte. Wegen der Abstammung seines Vaters wurde Heinitz auf Grund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 — gewiß trug nie ein Gesetz eine groteskere und wahrheitswidrigere Bezeichnung — zum 1. November 1933 in den Ruhestand versetzt und bis dahin vom Dienst suspendiert. In dieser Lage besaß Heinitz den Mut und die Zuversicht, eine völlige Umstellung seines Lebensweges zu wagen. Schon seit 1928 hatte er Berichte über die Rechtsprechung der deutschen Arbeitsgerichte für das von Salvatore Galgano geleitete Istituto di Studi Legislativi in Rom geschrieben. Jetzt riet ihm Max Rheinstein — damals im Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Berlin, heute in Chikago 2 —, seine wissenschaftliche Arbeit in Italien weiter zu verfolgen, und empfahl ihn an die Universität Florenz. Dort nahm sich seit August 1933 Pierro Calamandrei seiner an. Die Juristische Fakultät in Florenz erließ Heinitz auf Grund seiner durch die bisherigen Veröffentlichungen nachgewiesenen wissenschaftlichen Befähigung drei Studienjahre. So konnte er bereits am 9. November 1934 — mit 110 von 110 Punkten — zum Dottore in Legge promovieren, obwohl er die italienische Sprache im wesentlichen erst in Italien gelernt hatte. Dieser glänzende wissenschaftliche Neubeginn war begleitet von drückenden Sorgen. Die deutsche Devisenbewirtschaftung erlaubte es den Eltern von Heinitz nur, ihn mit minimalen Beträgen — 1934 monatlich 30,— RM! — zu unterstützen. So verdiente er sich seinen Lebensunterhalt zunächst durch Ubersetzungen, Unterrichtsstunden und Schreibmaschinenarbeiten. In dieser Zeit verfaßte Heinitz eine deutsche Grammatik für Italiener, die in 55 000 Exemplaren im Verlag Nerbini erschien. Erst ab 1936 konnte er in einem Anwaltsbüro arbeiten. Zur Kennzeichnung der damaligen Lage der Wissenschaften in Deutschland sei hier eingeflochten, daß auch der Gatte der Schwester von Heinitz, Werner Jaeger — der Nachfolger von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff auf dessen Berliner Lehrstuhl und seinerzeit der bedeutendste deutsche Altertumswissenschaftler —, wegen der Abstammung seiner Frau Deutschland den Rücken kehrte und einem Ruf nach Harvard folgte. Und es soll auch nicht unerwähnt bleiben, daß dessenungeachtet der Verlag Walter de Gruyter den Mut hatte, den 2. Band von Jaegers Hauptwerk „Paideia" noch im Herbst 1944 zu unserer Beglückung zu veröffentlichen. Als Heinitz dank seiner Begabung und seines unermüdlichen Flei* Vgl. meine Laudatio in RabelsZ Bd. 33 (1969), S. 409.

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ßes in Italien Fuß gefaßt hatte, vermählte er sich 1937 in Florenz mit Maria Pia Tommasi; der Ehe wurden zwei Kinder besdiieden. 1938 erwarb Heinitz die italienische Staatsangehörigkeit. Seit 1938 arbeitete er dann als praticante procuratore (vergleichbar etwa unserem Referendar) bei einem Anwalt. In der Folgezeit bestellte Calamandrei ihn zu seinem Assistenten. Nach der deutschen Besetzung von Florenz im September 1943 konnte Heinitz seinen Förderer Calamandrei, als dieser sich vor den Deutschen verbergen mußte, in Vorlesungen und Examina vertreten. Dodi war Heinitz, der für die Widerstandsbewegung arbeitete, zeitweilig selbst gefährdet und mußte sich ab April 1944 wiederholt an verschiedenen Orten verborgen halten. Die Befreiung von Florenz brachte auch für Heinitz den Beginn eines neuen, freien Lebens. Er blieb noch einige Zeit Universitätsassistent, unter anderem bei dem Arbeitsrechtler Mazzoni, und wurde zugleich Lehrbeauftragter für Arbeitsrecht. Im Winter 1944/45 hielt er in englischer Sprache Vorlesungen über Geschichte des Strafrechts und über Kriminologie für die in Florenz stationierten amerikanisdien Soldaten. Nach Kriegsende 1945 konnte er das Esame di procuratore ablegen und sich in die Liste der Florentiner Anwälte eintragen lassen. Einen Einblick in die praktische Verwaltung gewährte ihm von 1946 bis April 1948 die Tätigkeit als Leiter des Wohnungsamtes der Stadt Florenz. Alle persönlichen Sorgen und die Wirren der Zeit vermoditen den wissenschaftlichen Schaffensdrang von "Ernst Heinitz in diesen italienischen Jahren nicht zu lähmen; es ist im Gegenteil eine literarisch besonders fruchtbare Zeit in seinem Leben. 1937 veröffentlichte er sein Buch „Ii limiti oggetivi della cosa giudicata", in dem er zu einem kleineren Teil die Ergebnisse seiner (ungedruckten) Florentiner Dissertation verwerten konnte. Das noch heute in Italien und Brasilien viel zitierte Buch fand in den Studi Sassaresi eine glänzende Besprechung durch Antonio Segni, den späteren Präsidenten der Italienischen Republik. Das Thema seines Buches — Die objektiven Grenzen der Rechtskraft — hat Heinitz später wiederholt — zuletzt 1955 — in Abhandlungen weitergeführt. Daneben publizierte er in jenen Jahren in italienischen Fachzeitschriften eine ganze Reihe von Abhandlungen. Viele von ihnen betrafen die deutsche Rechtsprechung zum Arbeitsrecht; sie bestätigen Heinitz auch in der Emigrationszeit als hervorragenden Kenner der Materie und zeugen — nicht zuletzt in der schweigenden Distanz zu den damaligen politischen Begleitumständen und Einflüssen — von einer bis zur Grenze der Selbstverleugnung gehenden, bewunderungswürdigen Objektivität. Dazu kamen alsbald Beiträge zum italieni-

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sehen Recht, vor allem zum Zivil- und Zivilprozeßrecht, zum Arbeitsund Handelsrecht; sie sind in voller Beherrschung des Rechts des neuen Heimatlandes geschrieben, ohne dodi Ausbildung, Methode und Erfahrung des deutschen Juristen zu verleugnen. Diese Rolle des Mittlers zwischen dem deutschen und dem italienischen Rechtskreis, die Heinitz schon 1928 aufgenommen hatte, hat er weit über seine italienische Zeit hinweg fortgeführt; davon zeugen seine zahlreichen italienischen Schriften bis zum Jahre 1967. Der italienische Lebensabschnitt von Ernst Heinitz umspannte immerhin 15 Jahre. Aus der Not geboren, brachte er trotz aller Fährnisse Blickerweiterung und Bereicherung, vor allem aber tiefverwurzelte menschliche und wissenschaftliche Bezüge. Als jedoch 1947 sein alter Freund Adolf Schönke — damals Ordinarius in Freiburg i. Br. — ihm die Rückkehr nach Deutschland nahelegte, sagte er freudig zu und knüpfte bruchlos an seine deutsche Vergangenheit an. Im Juni 1948 wurde Heinitz als ordentlicher Professor für Strafrecht, Strafprozeßredit, Rechtsphilosophie und Jugenderziehungsrecht an die Universität Erlangen berufen, wo er seine Vorlesungen im Wintersemester 1948/49 aufnahm und später auch das Amt des Dekans bekleidete. Damals erwarb er die deutsdie Staatsangehörigkeit zurück. Seine Tätigkeit in Erlangen dauerte jedoch nur rund drei Jahre; die endgültige Rückkehr in die alte Heimat Berlin lockte. Zum Sommersemester 1952 folgte Heinitz einem Ruf auf einen Lehrstuhl für Strafrecht, Prozeßrecht und — wiederum der alten Neigung folgend — für Arbeitsrecht an der damals nodi jungen und zukunftsvollen Freien Universität Berlin. Damit begann die hohe Zeit des wissenschaftlichen und pädagogischen Wirkens von Ernst Heinitz. Seine Lehrveranstaltungen umfaßten nicht nur den Bereich des Straf rechts und des Strafprozeßr edits und auf Jahre hinaus das in völligem Wandel begriffene Arbeitsrecht. Er widmete sich auch in zunehmendem Maße der Kriminologie und — einer alten Vorliebe folgend — in interdisziplinären Seminaren mit Fachvertretern der Forensischen Psychiatrie den medizinisch-juristischen Grenzgebieten. Diese Schwerpunktbildung war die logische Folge davon, daß für Ernst Heinitz allezeit der Mensch im Mittelpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeiten stand. Fast eine Generation von Berliner Studenten ist durch diese Schule von Ernst Heinitz gegangen. Vielen von ihnen war er — seit 1956 Vertrauensdozent der Studienstiftung des Deutschen Volkes und später auch der Cusanus-Stiftung — zugleich Helfer in beruflichen und privaten Sorgen. Seine engeren Kollegen wissen davon zu berichten, in welchem Ausmaß er Zeit und Arbeitskraft für die persönliche Betreuung von Studenten im Dienst und an Abenden in seinem Heim

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aufgewandt hat. Heinitz hat dies nie als Opfer, sondern als selbstverständliche Pflicht aufgefaßt, von der er kein Aufhebens machte. Zweimal bekleidete er das Amt des Dekans der Juristischen Fakultät der Freien Universität Berlin. 1961/62 war er — unter Wiederwahl — zwei Jahre lang Rektor der Universität, eine auch damals nicht leichte Aufgabe. In die Zeit seines Rektorats fiel der BerlinBesuch des Präsidenten Kennedy, dem Heinitz die Ehrenbürgerurkunde der Freien Universität überreichen konnte. In diesen Berliner Jahren suchte Heinitz unablässig auch den Kontakt mit der Praxis; er fand ihn in vielfältiger Weise: Durch eine Fülle von Vorträgen vor Richtern, Verwaltungsbeamten, Medizinern und anderen Berufsgruppen wirkte er lehrend über den Raum der Universität hinaus. Vor allem aber konnte er jetzt den ihm von Jugend her lieb gewordenen richterlichen Beruf ausüben. Seit 1953 war er an Berliner Gerichten als Strafrichter tätig, zunächst als Landgerichtsrat, dann als Kammergerichtsrat und schließlich von 1959 bis 1967 in der hohen Stellung eines Senatspräsidenten beim Kammergericht. Diese nicht häufige Vereinigung von Wissenschaft und Praxis sicherte Heinitz die lebendige Verbindung mit dem juristischen Alltag, der für ihn nicht aus „Rechtsfällen", sondern aus Menschen und ihren Verstrickungen besteht. Dieser zweite Berliner Lebensabschnitt zeigt Ernst Heinitz — trotz seiner wahrlich vollen Inanspruchnahme durch Dienstpflichten und Ehrenämter — auch als wissenschaftlichen Autor auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Seine Arbeiten galten jetzt der Dogmatik des Strafrechts und dem Strafprozeßrecht, aber auch der Rechtsgeschichte und der Rechtsvergleichung, sowie in steigendem Maße der Kriminologie und der Strafrechtsreform. Fülle und Vielfalt dieser eindringlichen Schriften, die oftmals geradezu monographischen Charakter tragen, nötigen tiefe Bewunderung ab. Hier können Spannweite und Bedeutung dieses literarischen Werkes nur angedeutet werden: Heinitz hat uns Arbeiten zur Rechtsgeschichte geschenkt, welche die Handschrift eines Meisters dieser Disziplin tragen. Zu seinen schönsten Studien gehören der italienische Vortrag über den „Einfluß von Beccaria auf Gesetzgebung und Rechtslehre in Deutschland" (1965) und der große Aufsatz zum Gedächtnis von „Franz von Liszt als Dogmatiker" (1969). In seinen Schriften zu den Allgemeinen Lehren des Strafrechts und zur Strafrechtsreform zeichnet sich in der Fülle der Themen ein Schwerpunkt ab, der Entscheidendes über Standort und Engagement des Autors aussagt. Es sind die in der Zeit von 1951 bis 1968 entstandenen zahlreichen deutschen und italienischen Arbeiten über den Schuldgrundsatz und die Schuldelemente, über die Strafzumessung

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und die Folgen der strafgeriditlidien Verurteilung, über das Sanktionensystem und seine Reform. Unvergessen sollte bleiben, daß Heinitz mit seinem zur Strafrechtsreform erstatteten Gutachten über die „Dreiteilung der Straftaten" (1954) und mit der dort überzeugend verfochtenen Ablehnung der entehrenden und die Resozialisierung behindernden Zuchthausstrafe einer der Wegbereiter für die Einheitsstrafe war, die inzwischen durch das Erste Strafrechtsreformgesetz eingeführt worden ist. Begleitet waren diese Arbeiten von zahlreichen kriminologischen Schriften, in denen es Heinitz vor allem um die Probleme der Jugendkriminalität ging. Nimmt man noch die gedankenreichen Studien über das „Menschenbild im Strafrecht" (1960) und den „Uberzeugungstäter im Strafrecht" (1970) hinzu, so wird vollends deutlich: Ernst Heinitz hat sich auch in seinem literarischen Werk an die Maxime gehalten, daß der Mensch im Mittelpunkt zu stehen habe. Nidit minder eindrucksvoll sind seine Schriften zum Besonderen Teil des Strafrechts. Ihre Thematik ist weitgespannt; sie reicht von den Vermögensdelikten bis zu den ihn stark beschäftigenden medizinisch-juristischen Grenzgebieten, beginnend mit der frühen, aber immer nodi gültigen Studie über Humanexperimente (1951) und vorläufig endend mit der jüngst erschienenen Schrift über die Organtransplantation (1970). Vor allem aber sind hier zwei Anliegen bemerkenswert, die Heinitz mit Nachdruck vertreten hat: In einer sehr lesenswerten italienischen Abhandlung hat er sciion 1956 — also lange Jahre vor dem Alternativ-Entwurf — die Streichung der Strafvorschrift gegen Mord gefordert, dessen Abgrenzung zum Totschlag ihm vor dem Hintergrund so mancher unzulänglicher historischer Vorläufer und ausländischer Lösungsversudie aus kriminologischen Gründen überaus fragwürdig erschien. Und geradezu fasziniert haben ihn die Probleme der Beteiligung und unterlassenen Hilfeleistung beim Selbstmord. Schon 1954 hat er als einer der ersten Autoren — und später nodi öfters (1955, 1961) — aus der Straflosigkeit des Selbstmordes (bzw. seines Versuchs) die gesetzgeberische Grundentsdieidung gefolgert, daß der freie und verantwortliche Wille zur Selbsttötung respektiert werden dürfe; er hat daraus die Konsequenz gezogen, daß diese gesetzliche Grundentsdieidung nicht durch die Konstruktion eines unechten Unterlassungsdelikts oder auf dem Umwege über die Bestrafung wegen unterlassener Hilfeleistung nach § 330 c StGB unterlaufen werden dürfe. In der Rechtslehre ist dies heute eine weit verbreitete Ansicht; die Rechtsprechung ist ihr nicht gefolgt. Ernst Heinitz' Auffassung behält jedoch ihre Bedeutung für die künftige Strafrechtsreform. Aber auch die Spannungen zwischen Verfassungsrecht und Straf-

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recht haben ihn immer wieder beschäftigt. So trug er schon 1953 — bald nach dem Inkrafttreten des Ersten Strafrechtsänderungsgesetzes — warnende Gedanken über „Staatsschutz und Grundrechte" vor. Wiederholt behandelte er kritisch, aber auch mit deutlicher Absage an Überspitzungen, die Grenzen des Strafrechts bei Streiks und Demonstrationen (1956, 1968). Mit der Pressefreiheit und ihrem Verhältnis zum Persönlichkeitsschutz und zum Schutz von Staatsgeheimnissen befaßte er sich in einer Reihe italienischer und deutscher Publikationen (1957, 1963, 1967, 1968). Und seine wohlabgewogene Studie über die Verfassungsmäßigkeit der Strafbestimmung gegen den groben Unfug (1968 in der Festschrift für Ernst E. Hirsch) fand die vielbeachtete Zustimmung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 26,41). Dieselbe wägende Besonnenheit zeichnet auch die strafprozessualen Schriften von Ernst Heinitz aus. So beispielsweise, wenn er zur Kleinen Strafprozeßreform Bedenken anmeldete, die inzwischen weitgehend bestätigt sind (1961); wenn er im Streit um die Grenzen zulässiger eigener Ermittlungstätigkeit des Sachverständigen im Strafprozeß den goldenen Mittelweg zwischen Theorie und Praxis beschritt (1969 in der Festschrift für Karl Engisch); und wenn er in der Reformdiskussion über die Zweiteilung der Hauptverhandlung den überschwänglichen Optimismus mancher Autoren dämpfte (1970 in der Festschrift für Ulrich von Lübtow). Unverkennbar haben hier allenthalben die praktischen Erfahrungen des Richters den wissenschaftlichen Standort des Autors mitbestimmt. Der Reichtum des literarischen Schaffens von Ernst Heinitz ist damit gewiß nicht ausgeschöpft; aber vielleicht ist in diesen Zeilen sichtbar geworden, was sich beim Blick in das Verzeichnis seiner Schriften weiter erschließt: Ernst Heinitz hat in diesen Berliner Jahren die reiche Ernte eines langen Gelehrtenlebens eingebracht. Seit dem 31. März 1970 ist Ernst Heinitz nun emeritiert; doch hat er noch drei Semester lang seinen Lehrstuhl selbst vertreten und liest noch heute ein volles Lehrpensum. Indessen wendet er sich jetzt zunehmend anderen Aufgaben zu: gelegentlichen Strafverteidigungen, bei denen weder Lohn noch immer Erfolg winken, aber sein Mitgefühl für Hilfsbedürftigkeit angesprochen ist; und vor allem der tätigen Mitarbeit bei der Resozialisierung von Straffälligen. Der gestrauchelte Mensch wird immer mehr zum Mittelpunkt seiner Arbeit. So bleibt noch eine Aufzählung von Funktionen und Ehrungen, in denen das Wirken von Ernst Heinitz auch seine äußere Anerkennung gefunden hat: Die engen wissenschaftlichen Verbindungen, die Heinitz jahrzehntelang zu Italien unterhalten hat, fanden ihre Ergänzung in zahl-

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reichen ehrenvollen Einladungen zu Gastvorlesungen an italienischen Universitäten. Seit Jahren ist Heinitz Mitglied des Comitato scientifico der Rivista di lavoro und der Rivista di diritto internazionale e comparato di lavoro. Die Gesellschaft für gerichtliche Medizin in Rom hat ihn zu ihrem Ehrenmitglied ernannt. Der Staatspräsident der Italienischen Republik hat ihm im Jahre 1965 in Anerkennung seiner Verdienste den Rang eines „Grande Ufficiale al merito della Repubblica Italiana" verliehen. Im Jahre 1966 folgte Heinitz Einladungen zu Gastvorlesungen in Taiwan und in Japan, wo er zum Ehrenmitglied der Vereinigung der Japanischen Strafrechtslehrer ernannt wurde. Anläßlich von Gastvorlesungen in Brasilien verlieh ihm 1968 die Universität Säo Paulo den Juristischen Ehrendoktorgrad. Dodi auch in seiner deutsdien Heimat fehlt es nicht an solchen Stationen seines Lebenswegs. Heinitz ist seit 1954 Mitherausgeber der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft; bis 1970 war er Mitherausgeber der im Luditerhand-Verlag erschienenen Schriftenreihe „Strafrecht, Strafverfahren, Kriminologie". Seit geraumen Jahren arbeitet er als Mitglied (seit 1969 noch als ständiger Gast) in der Strafrechtskommission des Deutschen Richterbundes mit. Er ist Vorstandsmitglied der Vereinigung für den Gedankenaustausch zwischen deutsdien und italienischen Juristen und stellvertretender Vorsitzender der deutschen Landesgruppe der Association Internationale de droit pénal. Der Bundespräsident hat Ernst Heinitz zum 70. Geburtstag das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen, das der Senator für Justiz in Berlin ihm am 1. Januar 1972 überreicht hat. Ernst Heinitz blickt auf ein Leben voller Höhen und Tiefen, mit stolzen Erfolgen und harten Sdiicksalsschlägen zurück, ein Leben voller Standfestigkeit und ungebrochenen Mutes, ausgefüllt mit rastloser Arbeit im Dienste des Rechts und des Mitmenschen. So drängt sich die Frage auf, woher er die Kraft zu seinen bewundernswerten Leistungen nahm. Er fand sie in der klassischen Musik, in der er — ungewöhnlich musikalisch und lange Jahre ausübender Cellist — wie nur wenige lebt. Er fand sie in der Kunst, wenn er in seiner außergewöhnlich reichhaltigen Bibliothek über kunstgeschichtlidien Werken die Zeit vergaß. Und er fand sie vor allem in der Familie, die der über alles geliebte Mittelpunkt seines Lebens ist. Möge Ernst Heinitz nodi eine lange Zeit der Gesundheit und Schaffenskraft, aber auch der Muße für die Menschen und die Dinge, die er liebt, beschieden sein. Das wünschen ihm seine Freunde, die ihm diese Festschrift zum 70. Geburtstag darbringen.

Verzeichnis der Schriften von Ernst Heinitz Zusammengestellt von

E R N S T - D I E T E R MÖLLER

1. Selbständige Schriften 1. Das Problem der materiellen Rechtswidrigkeit, Strafrechtliche Abhandlungen Heft 211, Breslau (Schletter'sche Buchhandlung) 1926, 120 S.; spanische Ubersetzung, Cordoba (Imprenda de la universidad) 1947. 2. Das Arbeitsgerichtsgesetz, Kommentar (zusammen mit H . Depène und Th. Rohlfing), 2. Auflage, Berlin und Leipzig (W. de Gruyter & Co) 1932. 3. I limiti oggetivi della cosa giudicata, Padua (Cedam) 1937, 279 S. 4. Imparate il tedesco, metodo pratico grammaticale, Florenz (Nerbini) 1941, 352 S. 5. Esercitazione sui principali atti di un processo civile secondo il nuovo Codice, Florenz (Tipografia Editrice Luigi Niccolai) 1942, 72 S. 6. Controversie del lavoro (zusammen mit A. Aranguren), Florenz (Universitaria Editrice) 1949, 94 S. 7. Staatsschutz und Grundrechte, Frankfurt a. M., Berlin (Metzner) 1953, 29 S. 8. Das Betriebsverfassungsgesetz in der Praxis unter besonderer Berücksichtigung der neuesten Rechtsprechung (Sonderdruck aus „Taschenbuch für den Betriebswirt"), Berlin (Deutscher Betriebswirte-Verlag GmbH) 1956, 26 S. 9. Die Individualisierung der Strafen und Maßnahmen in der Reform des Strafrechts und des Strafprozesses (Heft 4 der Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft Berlin), Berlin (W. de Gruyter & Co.) 1960, 28 S. II. Beiträge zu Festschriften 10. Staatsschutz und Grundrechte, in: Veritas, Justitia, Libertas, Festschrift zur 200-Jahrfeier der Columbia University New York, überreicht von der Freien Universität Berlin und der Deutschen Hochschule für Politik Berlin, Berlin (Columbia-Verlag) 1954, S. 113—127. 11. Gedanken über Täter- und Teilnehmerschuld im deutschen und italienischen Strafrecht, in: Festschrift der Juristischen Fakultät der Freien Universität Berlin zum 41. Deutschen Juristen tag in

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Sdiriften von Ernst Heinitz

Berlin vom 7.—10. September 1955, Berlin (Vahlen) 1955, S. 93—118. Zweifelsfragen des Opportunitätsprinzips, in: Festsdirift für Theodor Rittler, Aalen (Scientia) 1957, S. 327—339. Sciopero e responsabilità conseguenti nel diritto tedesco, in: Scritti giuridici in memoria di Piero Calamandrei, Bd. V, Padua (Cedam) 1958, S. 25—39. Zur Entwicklung der Lehre von der materiellen Rechtswidrigkeit, in: Festschrift für Eberhard Schmidt, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 1961, S. 266—289. Zur neueren Rechtsprechung über den Untreuetatbestand, in: Beiträge zur gesamten Strafrechtswissenschaft, Festschrift für Hellmuth Mayer, Berlin (Duncker & Humblot) 1966, S. 433 bis 443. Willensmängel beim Rechtsmittelverzicht, in: Studi in onore di Antonio Segni, Bd. II, Mailand (A. Giuffrè) 1967, S. 657—680. Zur Verfassungsmäßigkeit der Strafbestimmung gegen den groben Unfug, in: Berliner Festschrift für Ernst E. Hirsch, Berlin (Duncker & Humblot) 1968, S. 47—61. Grenzen der Zulässigkeit eigener Ermittlungstätigkeit des Sachverständigen im Strafprozeß, in: Festschrift für Karl Engisdi, Frankfurt a. M. (Klostermann) 1969, S. 693—707. Zweiteilung der Hauptverhandlung?, in: Sein und Werden im Recht, Festgabe für Ulrich von Lübtow, Berlin (Duncker & Humblot) 1970, S. 835—845. III. Beiträge zu Sammelwerken

20. Geschäftsverteilung und unrichtige Besetzung des Gerichts, in: Die Arbeitsgerichtsbarkeit, Arbeitsrechtliche Seminarvorträge IV, herausgegeben von Walter Kaskel, Berlin (J. Springer) 1929, S. 89—97. 21. Rassegna di giurisprudenza tedesca in tema di diritto del lavoro (anno 1928), in: Annuario di Diritto Comparato e di Studi Legislativi, Rom (Edizione dell'Istituto Italiano di Studi Legislativi), 7. Band (1933), Teil 3, S. 186—223. 22. Rassegna di giurisprudenza tedesca in tema di diritto del lavoro (anno 1929), in: Annuario di Diritto Comparato e di Studi Legislativi, Rom (Edizione dell'Istituto Italiano di Studi Legislativi), 8. Band (1933), Teil 3, S. 504—542. 23. Rassegna di legislazione Cecoslovacchia (Giugno — Dicembre 1935), in: Legislazione Internazionale, Rom (Edizione dell'Istituto Italiano di Studi Legislativi), 4. Band (1936), S. 859—874.

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24. Rassegna di giurisprudenza tedesca in tema di diritto corporativo, sindacale e del lavoro (anni 1932—1936), in: Giurisprudenza Comparata di Diritto Corporativo, Sindacale e del Lavoro, Rom (Edizione dell'Istituto Italiano di Studi Legislativi), 1. Band (1937—1938), S. 1—110. 25. Note ed osservazioni alla giurisprudenza italiana in tema di diritto corporativo, sindacale e del lavoro (anni 1932—1936), in: Giurisprudenza Comparata di Diritto Corporativo, Sindacale e del Lavoro, Rom (Edizione dell'Istituto Italiano di Studi Legislativi), 1. Band (1937—1938), S. 198—323. 26. Note ed osservazioni alla giurisprudenza francese in tema di diritto del lavoro (anno 1935), in: Giurisprudenza Comparata di Diritto Corporativo, Sindacale e del Lavoro, Rom (Edizione dell'Istituto Italiano di Studi Legislativi), 1. Band (1937—1938), S. 325—360. 27. Il regolamento del rapporto di lavoro nel diritto tedesco e nel diritto francese (Note ed osservazioni alla rassegna di giurisprudenza italiana in tema di diritto corporativo, sindacale e del lavoro — anno 1937), in: Giurisprudenza Comparata di Diritto Corporativo, Sindacale e del Lavoro, Rom (Edizione dell'Istituto Italiano di Studi Legislativi), 2. Band (1938—1941), S. 235—243. 28. Rassegna di giurisprudenza tedesca in tema di diritto del lavoro (anno 1937), in: Giurisprudenza Comparata di Diritto Corporativo, Sindacale e del Lavoro, Rom (Edizione dell'Istituto Italiano di Studi Legislativi), 2. Band (1938—1941), S. 1—48. 29. In tema di contratto di tirocinio (Note ed osservazioni alla rassegna di giurisprudenza tedesca in tema di diritto del lavoro — anno 1938), in: Giurisprudenza Comparata di Diritto Corporativo, Sindacale e del Lavoro, Rom (Edizione dell'Istituto Italiano di Studi Legislativi), 2. Band (1938—1941), S. 301— 313. 30. Stichwort „Litispendenza", in: Enciclopedia Giuridica Italiana, Ergänzungsband I, Mailand (Vallardi) 1938, S. 797. 31. Stichwort „Perenzione", in: Enciclopedia Giuridica Italiana, Ergänzungsband I, Mailand (Vallardi) 1938, S. 925—926. 32. Rassegna di giurisprudenza tedesca in tema di diritto del lavoro (anno 1931), in: Annuario di Diritto Comparato e di Studi Legislativi, Rom (Edizione dell'Istituto Italiano di Studi Legislativi), 10. Band (1941), Teil 2, S. 658—697. 33. Rassegna di legislazione tedesca (anno 1939), in: Legislazione Internazionale, Rom (Edizione dell'Istituto Italiano di Studi Legislativi), 8. Band (1941), S. 465—704.

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34. Empfiehlt es sidi, die Strafbarkeit der juristischen Person gesetzlich vorzusehen?, in: Verhandlungen des 40. Deutschen Juristentages Hamburg 1953 (herausgegeben von der Ständigen Deputation des Deutschen Juristentages), Band 1 (Gutachten), Tübingen (J. C. B. Mohr [P. Siebedk]) 1953, S. 67—90. 35. Empfiehlt sich die Dreiteilung der Straftaten audi für ein neues Strafgesetzbuch?, in: Materialien zur Strafrechtsreform, Band 1 (Gutachten der Strafrechtslehrer), Bonn 1954, S. 55—67. 36. Die gesetzlichen, verwaltungsrechtlichen und sozialen Folgen der strafgerichtlichen Verurteilung, in: Deutsche Beiträge zum VII. Internationalen Strafreditskongreß in Athen vom 26. September bis 2. Oktober 1957 (Sonderheft der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft), Berlin (W. de Gruyter & Co.) 1957, S. 151—180. 37. Der Begriff der Vermögensverfügung im deutschen Strafrecht, in: Die Theorie der juristischen Unverfügbarkeit: Kritik und Weiterentwicklung, Padua (Cedam) 1958, S. 177—184. 38. Richter, Staatsanwalt und Rechtsanwalt im geteilten Deutschland (Drei Vorträge, herausgegeben vom Berliner Richterverein e. V.), Berlin 1959, S. 46—68. 39. Im Blickpunkt der Kriminologie, in: Jugend in unserer Zeit (Eine Vortragsfolge der Freien Universität Berlin), München (Juventa) 1961, S. 53—73. 40. Le misure di sicurezza priviste dal progetto del Codice penale tedesco sotto il provilo costituzionalistico, in: Stato di diritto e misure di sicurezza (Convegno di diritto penale — Bressanone 1961), Padua (Cedam) 1962, S. 19—45. 41. Probleme der Rechtsbeugung (Akademische Festrede des Rektors der Freien Universität Berlin, gehalten am 4. 12.1961 im Auditorium Maximum der Freien Universität Berlin), in: Veröffentlichungen der Freien Universität Berlin, Berlin (Colloquium) 1963, S. 5—18; ebenfalls in: ASJ-Mitteilungen, 2. Jg. (1962), H. 1,S. 3—11. 42. Staatsgeheimnis und Pressefreiheit (Vortrag, gehalten am 25. Mai 1963 auf der 3. Bundestagung der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen in Berlin), in der gleichnamigen Schrift, herausgegeben vom Vorstand der SPD, Hof/Saale (Oberfränkische Verlagsanstalt) 1963, S. 7—20. 43. Sanktionen gegen jugendliche Straftäter, in: Forensische Psydiiatrie und Jugendhilfe, Köln (Rheinland Verlag GmbH) 1964, S. 60—66. 44. L'influenza di Beccaria sulla legislazione e la dottrina tedesca, in: Secondo centenario della pubblicazione dell'opera «Dei

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delitti e delle pene» di Cesare Beccaria, Rom (Accademia Nazionale dei Lincei) 1965, S. 49—57. Philosophie und Strafrecht, in: Gedanken zur Strafrechtsreform (Heft 4 der Schriftenreihe der Görres-Gesellschaft), Paderborn (F. Schöningh) 1965, S. 7—22. Rechtsfragen des Sachverständigenbeweises, in: Forensische Psychiatrie und Jugendhilfe II, Köln (Rheinland Verlag GmbH) 1967, S. 45—55. Il processo del lavoro nella legislazione germanica, in: Crisi della giustizia in materia di controversie del lavoro e della previdenza sociale nel quadro della crisi generale della giustizia, Rom (Riforma Giuridica) 1967, S. 203 ff. Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht, in: Pressefreiheit und Persönlichkeitsrecht in Deutschland und Italien, Verhandlungen des 1. Deutsch-Italienischen Juristenkongresses vom 21. bis 23. Oktober 1966 in Rom (Heft 3 der Vereinigung für den Gedankenaustausch zwischen deutschen und italienischen Juristen e. V., Karlsruhe (C. F. Müller) 1968, S. 43—55. Demonstrationsrecht und Straftaten gegen die öffentliche Ordnung (Vortrag, gehalten auf der Informationstagung für Richter und Staatsanwälte am 23. XI. 1968 in Bad Homburg), in: Demonstrationsfreiheit, Strafrecht und Staatsgewalt (herausgegeben vom Deutschen Richterbund Landesverband Hessen), Frankfurt a. M. 1968, S. 17—26. La criminalità giovanile in Europa, in: Prospettive per un diritto penale Europeo, Padua (Cedam) 1968, S. 45—63. Impulse aus der Wissenschaft. Maßnahmen und Strafen im Alternativ-Entwurf, in: Die neue Strafrechtsreform (Sonderdruck aus „Rheinischer Merkur"), Koblenz (Verlag Rheinischer Merkur GmbH) 1969, S. 24—27. Rechtliche Fragen der Organtransplantation (Heft 35 der Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft Berlin), Berlin (W. de Gruyter & Co.) 1970, S. 13—31. IV. Aufsätze

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Zeitschriften

53. Der Strafzweck bei der richterlichen Strafbemessung mit besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwürfe, in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, 22. Band (1928/29), S. 259 bis 288. 54. Rechtskraft und Tatbestandswirkung im Beschlußverfahren, in: Das Arbeitsgericht, Jg. 1931, Sp. 305—309.

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55. Streitfragen aus dem Recht der Provisionsvertreter, in: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht, Jg. 1931, Sp. 455—464. 56. Die Ruhegçhaltsforderung des Arbeitnehmers im Konkurse des Arbeitgebers, in: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht, Jg. 1931, Sp. 677—682. 57. Die Verwirkung im Arbeitsrecht, in: Arbeitsrechtliche Spruchsammlung des Handwerks, Jg. 1932, S. 185 ff. 58. Wirtschaftlicher Druck und Anfechtung wegen Drohung im Arbeitsrecht, in: Juristische Wochenschrift, Jg. 1932, S. 3423 bis 3425. 59. Il dovere del giudice d'appello di conformarsi alla sentenza del Reichsgericht in base al § 565, II, Zivilprozefiórdnung, in: Rivista di Diritto Processuale Civile, Jg. 1936, Teil 1, S. 282—286. 60. Responsabilità contrattuale e responsabilità aquiliana, in: Il Foro Italiano, Jg. 1936, Teil 1, Sp. 1562—1568. 61. Della influenza del giudicato penale sui giudizi civili successivi, in: Rivista Italiana di Diritto Penale, Jg. 1937, S. 457—468. 62. Il momento consumativo nel reato di appropriazione indebita di titoli al portatore, in: Rivista Italiana di Diritto Penale, Jg. 1937, S. 593—596. 63. Ancora in tema di prestito obbligazionario pagabile in diverse valute, in: Il Foro Italiano, Jg. 1938, Teil 1, Sp. 595—599. 64. In tema di competenza per connessione, in: Rivista di Diritto Processuale Civile, Jg. 1941, Teil 2, S. 84—91. 65. Ancora in tema di respohsabilità del legale per errore professionale e per negligenza, in: Rivista di Diritto Processuale Civile, Jg. 1941, Teil 2, S. 156—166. 66. In tema di revocazione di una sentenza di separazione, fondata su sentenza penale poi riformata, in: Rivista di Diritto Processuale Civile, Jg. 1942, Teil 2, S. 64—68. 67. Apparenza del diritto e simulazione di sozietà, in: Rivista di Diritto Commerciale, Jg. 1945, Teil 2, S. 63—69. 68. La vigente legislazione tedesca in materia di lavoro, in: Rivista di Diritto del Lavoro, Jg. 1949, Teil 1, S. 319—333. 69. Strafzumessung und Persönlichkeit, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 63. Band (1951), S. 57—82. 70. James Goldsdimidt zum Gedächtnis, in: Neue Juristische Wochenschrift, Jg. 1950, S. 536. 71. Ärztliche Experimente am lebenden Menschen in: Juristische Rundschau, Jg. 1951, S. 333—334. 72. El impulso que James Goldschmidt dió a la teoría del «elemento normativo de la culpabilidad», in: Revista de Derecho Procesal, Jg. 1951, Band 1, S. 393—403.

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73. Die Grenzen der Beamtennötigung nach § 114 StGB, in: Die Deutsche Zeitung, Jg. 1952, Nr. 12, S. 3—4. 74. Die Grenzen der zulässigen Wahlfeststellung im Strafprozeß, in: Juristenzeitung, Jg. 1952, S. 100—103. 75. La giusta misura della pena, in: JUS — Rivista di Scienze Giuridiche, Jg. 1952, S. 381—395. 76. Der Ausbau des Strafensystems, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 65. Band (1953), S. 26—52. 77. Die Anwendung von Zwangsmitteln gegen Fotografen bei Demonstrationen, in: Der Deutsche Polizeibeamte, Jg. 1953, Heft 3 (März), S. 2—4. 78. Il danno patrimoniale nella truffa, in: Ardii vio Penale, Jg. 1953, Teil 1, S. 357—374. 79. Teilnahme und unterlassene Hilfeleistung beim Selbstmord, in: Juristische Rundschau, Jg. 1954, S. 403—406. 80. La riforma del codice penale tedesco, in: Rivista Italiana di Diritto Penale, Jg. 1954, S. 709—726. 81. Problemi concernenti la cogestione e la codecisione dei prestatori di lavoro nel diritto germanico, in: Rivista di Diritto del Lavoro, Jg. 1954, Teil 1, S. 338—355. 82. Soll das bisherige System der Zweispurigkeit von Strafen und Maßregeln aufgehoben werden und einem System grundsätzlicher Einspurigkeit weichen?, in: Mitteilungsblatt der Vereinigung Berliner Strafverteidiger, Jg. 1955, Heft 8 (Juni), S. 1 bis 10. 83. Die rechtlichen Schwierigkeiten bei der Auslegung des § 330 a StGB, in: Deutsche Zeitschrift für die gesamte gerichtliche Medizin, 44. Band (1955/56), S. 509—519. 84. Considerazioni attuali sui limiti oggetivi del giudicato, in: Giurisprudenza Italiana, Jg. 1955, Teil 1, Sekt. 1, Sp. 755—768. 85. Il processo contro il partito neonazista in Germania, in: Il Ponte, Jg. 1955, S. 1050—1056. 86. Nötigung, Aufruhr und Landfriedensbruch bei Streikausschreitungen, in: Juristische Rundschau, Jg. 1956, S. 3—5. 87. Problemi della parte generale del diritto penale nella più recente giurisprudenza del Bundesgerichtshof, in: Ardii vio Penale, Jg. 1956, Teil 1,S. 3—17. 88. Verhütung der Jugendkriminalität, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissensdiaft, 68. Band (1956), S. 148—163. 89. Streitfragen der Versuchslehre, in: Juristische Rundschau, Jg. 1956, S. 248—252. 90. L'omicidio doloso nel diritto tedesco, in: La Scuola Positiva, Jg. 1956, S. 205—224.

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91. Il tribunale speciale, in: Erasmus, Jg. 1956, Sp. 648—651. 92. I limiti della libertà di stampa, in: Archivio penale, Jg. 1957, S. 3—17. 93. Zum Verhältnis der Wahlfeststellung zum Satz in dubio pro reo, in: Juristische Rundschau, Jg. 1957, S. 126—129. 94. Der Entwurf des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches vom kriminalpolitischen Standpunkt aus, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 70. Band (1958), S. 1—24. 95. Appunti sulla difesa penale del patrimonio, in: Archivio Penale, Jg. 1958, Teil 1, S. 3—16. 96. Der Irrtum des Täters über die Rechtspflicht zum Handeln bei den editen Unterlassungsdelikten, in: Juristische Rundschau, Jg. 1959, S. 285—288. 97. Ii principio del «trattamento eguale» (Gleidibehandlung) nel diritto del lavoro tedesco, in: Rivista Trimestrale di Diritto e Procedura Civile, Jg. 1959, S. 176—189. 98. Das Menschenbild im Strafrecht, in: Franz-Lieber-Hefte, Jg. 1960, H. 4, S. 7—21. 99. Gedanken zur Strafprozeßreform, in: Juristische Rundschau, Jg. 1961, S. 241—245. 100. Svolgimenti sulla dottrina dell'illiceità materiale, in: JUS — Rivista di Scienze Giuridiche, Jg. 1964, S. 9—32. 101. Die Verwertung von Tagebüchern als Beweismittel im Strafprozeß, in: Juristische Rundschau, Jg. 1964, S. 441—445. 102. Das Berliner Modell, in: Colloquium, Jg. 1965, H. 9/10, S. 9 bis 11. 103. I diari come mezzo di prova nel processo penale, in: JUS — Rivista di Science Giurididie, Jg. 1966, S. 73—84. 104. Der Überzeugungstäter im Strafrecht, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 78. Band (1966), S. 615—637. 105. Libertà di stampa e diritto alla personalità, in: JUS — Rivista di Scienze Giuridiche, Jg. 1967, S. 286—299. 106. Franz von Liszt als Dogmatiker, in: Franz von Liszt zum Gedächtnis (Sonderheft der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft zur 50. Wiederkehr des Todestages), Berlin (W. de Gruyter & Co.) 1969, S. 30—52; zugleich: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 81. Band (1969), S. 572—596. 107. Riditer und medizinischer Sachverständiger im neuen Straf recht, in: Münchener Medizinische Wochenschrift, Jg. 1970, S. 736 bis 740.

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V. Anmerkungen zu Entscheidungen 108. Anmerkung zu dem Urteil des BGH vom 27.10. 1953 — 5 StR 723/52, in: Juristisdie Rundschau, Jg. 1954, S. 67. 109. Anmerkung zu dem Urteil des BGH vom 25. 2. 1954 — 1 StR 612/53, in: Juristische Rundschau, Jg. 1954, S. 270. 110. Anmerkung zu dem Urteil des BGH vom 2 . 9 . 1 9 5 4 — 1 StR 325/54, in: Juristisdie Rundschau, Jg. 1955, S. 105—106. 111. Anmerkung zu dem Urteil des BGH vom 7. 5.1957 — 5 StR 127/57, in: Juristische Rundschau, Jg. 1957, S. 347—349. 112. Anmerkung zu dem Beschluß des BGH vom 8. 4. 1957 — GSSt 3/56, in: Juristenzeitung, Jg. 1958, S. 175—176. 113. Anmerkung zu dem Urteil des BGH vom 24. 2. 1959 — 5 StR 618/58, in: Juristische Rundschau, Jg. 1959, S. 386—388. 114. Anmerkung zu dem Urteil des BGH vom 14.10.1959 — 2 StR 249/59, in: Juristische Rundschau, Jg. 1960, S. 226—228. 115. Anmerkung zu dem Urteil des BGH vom 5. 7. 1960 — 5 StR 131/60, in: Juristische Rundschau, Jg. 1961, S. 29—30. 116. Anmerkung zu dem Urteil des BGH vom 9. 3.1962 — 4 StR 527/61, in: Juristische Rundschau, Jg. 1962, S. 386—387. 117. Anmerkung zu dem Beschluß des OLG Hamburg vom 10.7. 1964 — 2 W 186/64, in: Juristische Rundschau, Jg. 1965, S. 265 bis 266. 118. Anmerkung zu dem Urteil des BGH vom 5.1.1968 — 4 StR 432/67, in: Juristische Rundschau, J g . 1968, S. 307. VI. Rezensionen und

Literaturberichte

119. Rezension von: E. Land, System der äußeren Strafbarkeitsbedingungen. Ein Beitrag zur Lehre vom Tatbestand. Strafrechtliche Abhandlungen Heft 229; Breslau (Sdilettersche Buchhandlung) 1927, in: Archiv für Redits- und Wirtschaftsphilosophie, 22. Band (1928/29), S. 327—330. 120. Rezension von: K. Siegert, Die Prozeßhandlung, ihr Widerruf und ihre Nachholung, Berlin (Liebmann) 1929, in: Juristische Wochenschrift, Jg. 1930, S. 122—123. 121. Segen und Verhängnis der Formenstrenge. Besprechung eines Referats, das von Volkmar auf der Landestagung des Arbeitsgerichtsverbandes e. V. am 18. und 19. November 1932 in Berlin gehalten wurde, in: Deutsche Richterzeitung, Jg. 1933, S. 116 bis 117. 122. Rezension von: Francesco Carnelutti, Teoria generale del diritto, 3. Auflage, Rom 1951, in: Universitas, Jg. 1952, S. 1114 bis 1116.

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123. Literaturbericht: Auslands- und Völkerstrafrecht, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 66. Band (1954), S. 252 bis 271. 124. Rezension von: Ludwig von Carolsfeld, Arbeitsrecht, 2. Auflage, Göttingen (Vandenhoeck u. Ruprecht), 1954, in: Rivista di Diritto del Lavoro, Jg. 1955, Teil 1, S. 297—298. 125. Rezension von: Werner Niese, Streik und Strafrecht, Tübingen (J. C. B. Mohr [Paul Siebeck]), 1954, in: Rivista di Diritto del Lavoro, Jg. 1955, Teil 1, S. 298—301. 126. Rezension von: Dreher-Maassen, Strafgesetzbudi mit Erläuterungen und den wichtigsten Nebengesetzen, 3. neubearbeitete und erweiterte Auflage, München und Berlin (C. H . Beck) 1959, in: Juristenzeitung, Jg. 1960, S. 455—456. 127. Rezension von: J . Baumann, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 2. Auflage, Bielefeld (Gieseking) 1961, in: Juristenzeitung, Jg. 1961, S. 614—615. 128. Rezension von: Das italienische Strafgesetzbuch vom 19. Oktober 1930. Ubersetzt und mit einer Einführung, Anmerkungen, einem Sachverzeichnis und einer Vergleidistabelle versehen von Rechtsanwalt R. Riz (Sammlung außerdeutscher Strafgesetzbücher Nr. 90), Berlin (W. de Gruyter & Co.) 1969, in: Juristische Rundschau, Jg. 1970, S. 278. 129. Rezension von: Deutsche Ubersetzung osteuropäischer Strafgesetzbücher (Sammlung außerdeutscher Strafgesetzbücher in deutscher Ubersetzung. Herausgegeben von Hans-Heinrich Jescheck und Gerhard Kielwein, Verlag W. de Gruyter & Co., Berlin), in: Juristische Rundschau, Jg. 1971, S. 85. 130. Literaturbericht: Kriminalpolitik, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 83. Band (1971), S. 729—760. VII. Berichte von Tagungen und Kongressen 131. Landestagung des Arbeitsgerichtsverbandes für Rheinland-Westfalen, in: Das Arbeitsgericht, Jg. 1930, Sp. 81—85. 132. Landestagung des Arbeitsgerichtsverbandes in Hamburg, in: Das Arbeitsgericht, Jg. 1930, Sp. 293—298. 133. Vorträge und Berichte auf der Landestagung des Arbeitsgerichtsverbandes e . V . am 18. und 19. November 1932 in Berlin, in: Das Arbeitsgericht, Jg. 1933, Sp. 1—80. 134. Bericht über den 6. Internationalen Strafrechtskongreß Rom 1953, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 66. Band (1954), S. 22—26.

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Ernst Heinitz ist seit 1954 Mitherausgeber der „Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft" und war Mitherausgeber der im Luchterhand-Verlag erschienenen Reihe „Strafrecht, Strafverfahren, Kriminologie".

Persönliches Juristenzeitung 1972, S. 28 (Richard Lange) Juristische Rundschau 1972, S. 19 (Else Koffka) Neue Juristische Wochenschrift 1972, S. 191—192 (Wilhelm Gallas)

RECHTSPHILOSOPHIE — ALLGEMEINE RECHTSLEHRE

Grenzen der Rationalität in der Rechtswissenschaft H A N S WELZEL

Im zunehmenden Maße beruft sich die gegenwärtige rechtstheoretische Diskussion auf den Gesichtspunkt der „Rationalität". Die Beispiele hierfür sind unübersehbar: ich füge nur wenige Zitate von Theoretikern an, die (vielfach nur beiläufig) einen derartigen Gedanken entwickeln. „Allmählich löst sich das Rechtsdenken von einem ethisch bestimmten Sühne- und Vergeltungsgedanken und wendet sich einer rational begründeten, sozialen Strafrechtspflege zu 1 ." Ähnlich will Stratenwerth die Strafzumessung „annähernd auf die Stufe der Rationalität" erheben2. Die heute wieder betonte Rationalität juristischer Erwägungen erinnert an Gedanken der Frühaufklärung und des späteren Naturrechts; sie läßt aber auch die Grenzen erkennen, die sich schon zu jener Zeit an der Rationalität der damaligen Gedankengänge zeigten. Klassisch hierfür ist die Ableitung, mit der Samuel Pufendorf sein oberstes Naturrechtsprinzip der „Socialitas" aus der „imbecillitas" des Menschen vornahm: Der Mensch für sich allein sei lebensunfähig; wolle er am Leben bleiben und die Güter des Daseins genießen, so müsse er gesellig sein, d. h. er müsse sich mit Seinesgleichen verbinden und sich so gegen sie erhalten, daß sie keinen Anlaß haben, ihn zu verletzen, sondern eher Ursache haben, sein Wohlverhalten zu erhalten und zu fördern 3 . Das Leben wird hier ohne weiteres als Gut vorausgesetzt, und von ihm aus die Gebote der Geselligkeit (socialitas) als Klugheitsregeln gefolgert. Die sozialen Verhaltensregeln, wie überhaupt alle sittlichen Verhaltensregeln des Menschen, werden hier — in der Terminologie 1 Thomas Würtenberger, in: „Rechtsfindung, Beiträge zur juristischen Methodenlehre, Festsdir. für Germann zum 80. Geburtstag, hersgg. v o n N o l l und Stratenwerth, Bern 1969, S. 310. * Günter Stratenwerth, Tatschuld und Strafzumessung in: Recht und Staat, H e f t 406/407, Tübingen 1972, S. 37; vgl. auch S. 4. 3 Samuel Pufendorf, de jure naturae et gentium, 2. Buch, Kap. 3, § 15. Scilicet manifesto adparet, hominem esse animal sui conservandi studiosissimum, per se egenum, sine sui similium auxilio servari ineptum, ad mutua commoda promovenda maxime idoneum, idem tamen saepe malitiosum, petulans et facile irritabile ac ad noxam inferendam promptum ac validum. Ejusmodi animali, ut salvum sit bonisque fruatur, quae in ipsius conditionem heic cadunt, necessarium est, ut sit sociabile, id est, ut conjungi cum sui similibus velit et adversus illos ita se gerat, ut ne isti ansam accipiant eum laedendi, sed potius rationem habeant ejusdem commoda servandi aut promovendi. Vgl. meine Schrift Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs, 1958, S. 44.

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Kants gesprochen: — zu „hypothetischen Imperativen"; sie sind technische Kunstregeln, um das — vorausgesetzte — Ziel der Lebenserhaltung möglichst zweckmäßig, technisch einwandfrei, zu erreichen. Das Normative, die „Soll"-Geltung sittlicher Normen steht unter der Voraussetzung ihrer Lebensdienlichkeit; nur als Klugheitsregeln für den, der sich am Leben erhalten will, gelten sie, nur darum sind sie „gesollt". Den jüngsten Versuch zu einer solchen biologischen Lebensdeutung hat in der Gegenwart Arnold Gehlen unternommen, und zwar in drei wichtigen Werken, nämlich 1. in seinem Buch „Der Mensch", das in 1. Auflage 1940 erschienen war, 2. in seinem Buch „Urmensch und Spätkultur", 1956 und 3. zuletzt in seiner Schrift: „Moral und Hypermoral", 1969. Auch diese Bücher haben erhebliche Einflüsse auf die Rechtstheorie ausgeübt und werden es sicherlich noch in der Zukunft tun. Für die Vergangenheit muß ich mich selbst benennen, da ich in meinem Aufsatz „Persönlichkeit und Schuld", 19414, an die anthropologischen Lehren Gehlens angeknüpft habe, die er in seinem ersten Buch über den Menschen 1940 entwickelt hatte. Von der Unspezialisiertheit des Menschen, seiner „Mängelnatur", wollte Gehlen „die gesamte Handlungs- und Bewußtseinsstruktur des Menschen verstehen"5. Ein physisch so — nämlidi mangelhaft — verfaß tes Wesen sei nur als handelndes Wesen lebensfähig; damit sei das Aufbaugesetz aller menschlichen Vollzüge, von den somatischen bis zu den geistigen, gegeben6. Selbst die obersten Führungssysteme, Religion und Weltanschauung, dienen der vitalen Zweckbestimmung der Lebenserhaltung; sie seien „nur auf diesem Wege biologisch aus den elementaren Lebensgesetzen des Menschen zu begreifen"7. Weltanschauung sei darum „ein biologisch-anthropologisch notwendiges Führungssystem"8, in dem „eine ganze Gemeinschaft sich feststellt und datait am Leben erhält"9. Denn „die Aufgabe des Mensdien besteht in erster Linie darin, überhaupt am Leben zu bleiben"10. „Es scheint in irgendeiner Hinsicht am Leben unendlich viel gelegen zu sein, und auf das Tier sehen heißt zugeben, daß das lebendige Dasein selbst ein Wert ist, vielleicht der Wert 11 ." * Ztsdir. für die gesamte Strafreditswissensdiaft, Bd. 60 (1941) S. 428 ff. « Gehlen, Der Mensdi, 1940, S. 135. • A. a. O. S. 15. 7 A. a. O. S. 175. 8 A. a. O. S. 51. »A.a.O.S.52. » A. a. O. S. 53. 11 A. a. O. S. 55.

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Audi hier können die sozialen Verhaltensregeln nur hypothetische Imperative sein, d. h. Klugheits- und Nützlichkeitsregeln für die zweckmäßigste Weise, die lebensdienlichen „Primärbedürfnisse" des Menschen zu befriedigen. So beklagt Gehlen in seinem späteren Buch über „Urmensch und Spätkultur", daß es in der Geisteswissenschaft „möglich geworden ist, den Gesichtspunkt des Nutzens für die Gesellschaft überhaupt aus den Sollvorstellungen zu streichen"12, wobei er mehrfach an Gedanken Jherings in dessen „Zweck im Recht" anknüpft 13 . Der offensichtliche Eigensinn der Sollgeltung (des edit Normativen) — unabhängig von ihrer Zweckdienlidikeit zur Befriedigung von „Primärbedürfnissen" — wird von Gehlen durch den hegelschen bzw. marxschen Begriff des „Umschlagens von Handlungsverläufen und Gewohnheiten in die Eigengesetzlichkeit" gedeutet, — ein Vorgang, der in der „Emanzipation dieser Handlungsverläufe von ersten Bedürfnissen und in ihrer Selbststeigerung zum Eigenwert" besteht14. Wie bei Marx die Quantität an einem gewissen Punkte in die Qualität „umschlägt", so soll hier die vitale Zweckdienlichkeit von Handlungsverläufen (also Klugheits- oder Nützlichkeitsregeln) in den „Eigenwert des Normativen" (der „Sollgeltung") „umschlagen" oder „sich selbst emporsteigern". Man mag Gehlen weithin den Ausgangspunkt bei der Wesensbestimmung des Menschen im Unterschied zum Tier zugeben. Das Tier lebt geborgen im Schutze der ihm eingeborenen lebensdienlichen Artgesetze; der Mensch ist von solchen angeborenen (lebensdienlichen) Verhaltensregeln weitgehend frei. Er muß durch die eigene, positive Leistung verantwortlichen Handelns diesen Mangel kompensieren. Die (unbewiesene und unbeweisbare) These Gehlens besteht nun darin, daß sich die positive Leistung des Menschen in der Lebenserhaltung erschöpft: „Die Aufgabe des Menschen besteht in erster Linie darin, überhaupt am Leben zu bleiben15." Nun läßt sich weder die eine noch die andere These „beweisen" (wie aus der Naturausstattung des Menschen niemals Sollenssätze bewiesen werden können; das war der Grundfehler des alten Naturrechts). Dennoch ist die These Gehlens höchst unwahrscheinlich: Wenn es primär nur auf die Lebenserhaltung ankäme, wäre das Tier viel vollkommener organisiert. Die Befreiung des Menschen von den wenigen Vitalinstinkten zu der unerschöpflichen Fülle seiner Handlungsmöglichkeiten und ZielsetGehlen, Urmensch und Spätkultur, S. 73. A. a. O. S. 46, 74, 82. " A. a. O. S. 67. " Gehlen, Der Mensdi, S. 53. 11

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zungen hat sein Leben unendlich viel riskanter als das des Tieres gemacht. Bedenkt man dies, so scheint — um Worte Gehlens zu variieren16 — an diesem neuen schöpferischen, über die bloße Lebenserhaltung hinausgehenden Leistungen des Menschen „unendlich viel gelegen zu sein", wenn die Natur mit ihm sogar die viel größere Gefährdung seiner vitalen Existenz in Kauf nimmt! Die Befreiung des Menschen von den angeborenen Verhaltensregeln hat jedoch nicht nur die Handlungsvollzüge, sondern auch die Zielsetzungen variabel gemacht und in seine Verantwortung gestellt. Audi die Lebenserhaltung ist nur ein mögliches Handlungsziel neben anderen. Der Mensdi kann sein Leben für andere Ziele einsetzen. Seine Verantwortung beschränkt sich nicht darauf, die biologisch zweckmäßigste, lebensdienlichste Handlung zu finden, sondern geht audi dahin, zwischen den möglichen Handlungszielen zu entscheiden, d. h. er bedarf nicht nur der Kriterien der Zweckmäßigkeit, technischen Brauchbarkeit, Nützlichkeit seiner Handlung für irgend etwas, dessen Ziel biologisch (z. B. Lebenserhaltung), sondern des Sinnes und des Wertes der Handlungsziele selbst. Dazu kommt, daß „das Leben" ein Abstraktum und (ähnlich wie „das Glück") der gemeinsame Titel verschiedenartigster Inhalte ist. Der Mensch führt keine „biologische Existenz", sondern ein erfülltes Leben. Die bloße biologische Lebendigkeit ist kein ausreichender Inhalt für menschliches Dasein. Es läßt das Leben „leer" und seelenlos erscheinen und führt zum Lebensüberdruß und zur Verzweiflung. Kommt es aber auf die verschiedenartigen Inhalte an, so ist das Leben nicht mehr der alleinige Bezugspunkt unseres Handelns, sondern der untersdiiedlidie Sinn und Wert der Inhalte des Lebens, zwisdien denen der Mensch verantwortlich zu entscheiden hat. Endlich läßt die biologische Anthropologie unklar, an wessen „Leben" so unendlich viel gelegen sein soll: an das des Einzelmenschen — darauf deuten die meisten Formulierungen Gehlens hin — oder die eines Volkes? So verdeutlicht Gehlen seine These, daß es die primäre Aufgabe eines Menschen sei, am Leben zu bleiben, damit, „daß wir z. B. für eine Gemeinschaft, ein Volk, gar keine höhere Aufgabe als die setzen können, sich am Dasein zu erhalten"17. „Für ein Volk ist, wie die Geschichte zeigt, die Existenz durchzuhalten der allererste Sinn des Daseins18." Natürlich müßte der Einzelne wissen, ob sein Leben oder das des Volkes wichtiger ist. Aber dann müßte der Biologismus Kriterien heranziehen, die jenseits des bloßen Lebens " 17 18

A. a. O. S. 55. A. a. O. S. 53. A. a. O. S. 450.

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liegen, wie schon für den Begriff des „Volkes" mehr als biologische Kriterien erforderlich sind. Daraus folgt: Die Handlungsregeln des Menschen ersdiöpfen sich nicht in hypothetischen Imperativen, d. h. in Klugheits-, Zweckmäßigkeits- oder Nützlichkeitsregeln für ein vorausgesetztes biologisch festliegendes Ziel. Die Normen, nach denen sich die vom Banne angeborener Verhaltensregeln befreiten menschlichen Handlungen verantwortlich zu steuern haben, sind darum keine zum Eigenwert „umgeschlagenen" Nützlichkeitsregeln der Lebensdienlichkeit. Vielmehr ist die spezifische Befreiung des menschlichen Handelns von den angeborenen Verhaltensregeln nur verständlich und erträglich, wenn es über das biologische Dasein hinausliegende Lebensziele gibt, in welchen die biologische Lebendigkeit (nur) ein Teilmoment darstellt, d. h. wenn die Verhaltensregeln, nach denen der Mensch sein Handeln zu steuern hat, im echten Sinne aufgegeben sind, als Elemente eines übergreifenden Lebenssinnes unbedingt verpflichtend gelten. Solche Gedanken sollten juristische Überlegungen beachten; sie können die entscheidende Voraussetzung des Rechts, ihre Sollgeltung, durch die Betonung ihrer Rationalität nicht erschleichen, weder auf naturrechtlichem Wege durch Abstellen auf die „Natur" nodi auf dialektischem Wege — sei es den Hegels oder den von Marx — durch Begriffe des „Umschlagens" von Seinsverläufen ins Normative!

Das Legalitätsprinzip und die Rolle der Rechtsprechung und der Theorien Zugleich zur Methodik der Strafgesetzgebung SHIGEMITSU DANDO

Von der Rechtsordnung und ihren Werten, die durch Auslegung und duró den Richter fortzuentwickeln sind, ist auszugehen. Heinitz1

I. Einer der vom formellen Gesichtspunkt aus augenfälligen Unterschiede zwischen dem deutschen und dem japanischen Strafgesetzbuch liegt darin, daß die Fassung des letzteren viel weniger ausführlich ist als diejenige des ersteren. Dasselbe gilt auch für den japanischen Entwurf 1971, trotz der Neuschaffung zahlreicher Vorschriften und der Verfeinerung der schon im geltenden Strafgesetzbuch enthaltenen Bestimmungen. Woher kommt diese Knappheit der Fassung beim japanischen Strafgesetzbudi? In erster Linie kommt in Betracht ein geschichtlichkultureller Aspekt 2 . Es gibt bei uns seit der Rezeption des chinesischen Rechts im 8. Jahrhundert eine gesetzgeberische Uberlieferung, die Vorschriften nach Möglichkeit knapp zu fassen. Auch die japanische Sprache, die mehr emotional als logisch ist, trägt zweifellos dazu bei. Aber dies genügt nicht, alles zu erklären, denn hier handelt es sich um ein modernes Strafgesetzbuch, das vom Grundsatz der Legalität beherrscht ist. Man mag wohl fragen, ob nicht die das japanische Strafgesetzbuch kennzeichnende Fassungsweise die Garantiefunktion des Strafrechts beschädigt. Meine Antwort darauf ist verneinend. Warum? Darin liegt der Kernpunkt des Problems, das hier behandelt werden soll. Um etwaige Mißverständnisse zu vermeiden, möchte ich zuerst etwas Terminologisches erklären. Den Ausdruck „Legalitätsprinzip" gebrauche ich nicht im strafprozessualen Sinne im Gegensatz zum Opportunitätsprinzip, sondern im materiellrechtlichen Sinne: Nulla poena sine lege. E r soll also gleichbedeutend sein mit dem bei französischen bzw. englisch-amerikanischen Rechtswissenschaftlern sogeHeinitz, Der Oberzeugungstäter im Strafrecht, ZStW. Bd. 78, 1966, S. 637. Siehe, Yoshiyuki Nöda, Introduction au droit japonais, 1966, insbesondere S. 17 ff. (Sprachliches), S. 32 ff. (Geschichtliches). 1

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nannten „principe de la légalité" oder „principle of legality". Ich vermeide die Bezeichnung „Gesetzlichkeitsprinzip" schon deshalb, weil das Thema hier gerade darin besteht, ob die Gesetze allein die Forderung dieses Grundsatzes befriedigen können oder ob es auch möglich ist, daß ihr die Gesetze erst mit der Hilfe der Ergänzungsfunktion der Rechtspflege entsprechen.

II. Das Legalitätsprinzip bezweckt vor allen Dingen, die Rechtssicherheit zu wahren und dadurch die Menschenrechte zu garantieren. Darüber besteht kein Zweifel. Aber hier geht es um die Frage, was denn die Rechtssicherheit ist. Es ist nicht meine Absicht, an diesem Ort das Problem der Rechtssicherheit in vollem Umfang zu erörtern. Meiner Meinung nach kann die Rechtssicherheit im zweifachen Sinne verstanden werden. Erstens bedeutet sie die Ständigkeit des Rechts als solchem, die Sicherheit der abstrakten Rechtsordnung. Man könnte sie auch normative Rechtssicherheit nennen. Zweitens kann sie unter einem anderen Aspekt als die rechtliche Sicherheit des Gesellschaftslebens verstanden werden. Diese letztere möchte ich faktische oder soziale Rechtssicherheit nennen. Ein ähnliches Ergebnis könnte man audi auf eine andere Weise erreichen. Entsprechend den Stufen der Konkretisierung des Redits könnte man von der abstrakten Rechtssicherheit im Sinne der Sicherheit der abstrakten Rechtsordnung als solcher und von der konkreten Rechtssicherheit, d. h. der Sicherheit der gerichtlichen Entscheidungen bzw. der Rechtsprechung sprechen. Allerdings kann man die so verstandene konkrete Rechtssicherheit wiederum zweifach gliedern: die Sicherheit der res judicata 8 einerseits und diejenige der Rechtsprechung oder der Präjudizien andererseits. Beide sind, genau genommen, verschiedene Größen. Aber diese Verschiedenheit kann für den Augenblick außer Betracht gelassen werden. In den folgenden Ausführungen soll die konkrete Rechtssicherheit die Sicherheit der Rechtsprechung bedeuten. Die normative Rechtssicherheit hängt eng mit der abstrakten zusammen, wenn sie auch nicht vollkommen mit dieser übereinstimmt. Das gleidie gilt audi für das Verhältnis zwischen der faktischen oder sozialen und der konkreten Rechtssicherheit, da die erstere hauptsächlich, wenn auch nicht ausschließlich, mittels der letzteren gewahrt wird. Demnach kann man sagen, daß die normative bzw. abstrakte 8 Dando, Japanese Criminal Procedure (englische Ubersetzung von B. J. George, Jr.), 1965, S. 408, 480, 486.

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Rechtssicherheit letzten Endes nur durch die faktische bzw. konkrete Rechtssicherheit verwirklicht wird, daß erst dadurch die erstere ihre soziale Grundlage sowie ihren sachlichen Gehalt gewinnen kann. Die Behauptung, daß der Rechtsstaat nicht schon durch die Gesetze, sondern erst durdi die Rechtsprechung Realität wird, hat mehr und mehr Anerkennung gefunden 4 . Das aufklärerische Verbot der Gesetzesauslegung gehört sdion der Vergangenheit an. Jede gesetzliche Vorschrift, wie vollkommen sie auch sein mag, ist auslegungsbedürftig. Um sie in concreto zu verwirklichen, bedarf es immer der Ergänzung durch die Rechtsprechung. So stellt siih hier die Frage, ob es auch im Bereich des Strafrechts ein Richter- oder Fallrecht gibt. Abgesehen vom englisch-amerikanischen Recht, wo das common law herrscht, ist der Quellencharakter der gerichtlichen Entscheidungen oder Präjudizien vor allem im Gebiet des Strafrechts sehr bestritten und vielfach verneint worden, und zwar in Anlehnung an das Legalitätsprinzip. Die heute herrschende Lehre erkennt den Quellencharakter der Gerichtsentscheidungen nur insoweit an, als sie zum Gewohnheitsrecht geworden sind5. Aber das Gewohnheitsrecht und das Richterrecht sind prinzipiell verschieden®. Das erstere gehört dem Volksrecht, das letztere dagegen dem Juristenrecht an. Daß die Gerichtsentscheidungen zum Gewohnheitsrecht werden, ist also zwar möglich, aber in der Tat nicht leicht vorstellbar. Schon füh hat Germann das Präjudiz schlechthin als besondere Rechtsquelle dargestellt 7 , und neuerdings findet diese Auffassung auch im Bereich des Strafrechts zunehmende Zustimmung. So behauptet ζ. B. Stratenwerth, daß die richterliche Tätigkeit eine selbständige Rechtsquelle bildet und daß die ständige Praxis der Gerichte die konkrete Gestalt des geltenden Rechts bestimmt, unabhängig davon, ob sie der allgemeinen Rechtsüberzeugung entspricht8. * So ζ. B. Rudolf Wassermann, Richter, Reform, Gesellschaft, 1970, S. 52. Darunter befindet sich wiederum eine Meinungsverschiedenheit. Nach der überwiegenden Auffassung gilt das Gewohnheitsrecht nicht zum Nachteil des Täters. Jedodi erkennt auch diese Ansicht die Wichtigkeit des Gewohnheitsrechts an, namentlich im allgemeinen (so, Maurad), Deutsches Strafrecht, Allgemeiner Teil, 4. Aufl., 1971, S. 96), aber auch im besonderen Teil (ζ. B. gewohnheitsrechtliche Einengung von Tatbeständen, Schönke-Schröder, StGB, 11. Aufl., 1970, 27 zu § 2 ) . Außerdem gibt es noch eine Ansicht, die die schrankenlose Geltung des Gewohnheitsrechts bejaht (so Bittier, Lehrbuch des Österreichischen Strafrechts, Bd. 1, 2. Aufl., 1954, S. 24). • Ο. A. Germann, Probleme und Methoden der Rechtsfindung, 2. Aufl., 1967, 5. 272. 7 Germann, Rechtfertigung des Rechts, 1919 (zitiert nach Germann, op. cit., S. 269). 8 Stratenwerth, Strafrecht, Allgemeiner Teil I, 1971, S. 41. 1

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Ich möchte hier das Problem des Quellencharakters des sog. Richterrechts nicht näher erörtern. M. E. hängt die Antwort weitgehend davon ab, wie man die Begriffsbestimmung des Redits bzw. der Rechtsquelle vornimmt. Wenn man annimmt, das „Recht" sei, „was in der Wirklichkeit als Recht tatsächlich funktioniert", so gehört zum Recht jede Gerichtsentscheidung. Präjudizien sind also ein wesentlicher Bestandteil der wirklich funktionierenden, dynamischen Rechtsordnung. Man könnte eigentlich nicht von Rechtssicherheit sprechen, ohne diese dynamisch verstandene Rechtsordnung in Betracht zu ziehen. Beling hat einst auf die volitive Logik bei der gesetzgeberischen Tätigkeit hingewiesen9. M. E. ist auch die richterliche Tätigkeit von der volitiven Logik beherrscht. Die Anschauung Montesquieus, der Richter sei nichts anderes als die „bouche qui prononce les paroles de la loi", ist schon seit langem überwunden. Wie Cardozo, einer der Vorläufer des amerikanischen Realismus, gesagt hat, „we may try to see things as objectively as we please. None the less, we can never see them with any eyes except our own" 10 . Arthur Kaufmann hat ferner bemerkt: „Der Erkennende bleibt nicht außerhalb des Erkenntnisprozesses, sondern er nimmt — mit all seinen Vorurteilen, Interessen, Einstellungen — an diesem Prozeß teil 11 ." Daß der „judicial process" nicht-mechanistischer Natur ist, ist jetzt fast allgemein anerkannt 12 . Wenn man beim Straf- oder Zivilprozeß von der volitiven Sach-„gestaltung" 13 sprechen kann, so könnte man auch beim „judicial process" von der volitiven Gestaltung der Präjudizien bzw. des Richterrechts sprechen. Insoweit gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen der gesetzgeberischen und der richterlichen Tätigkeit. Beide Tätigkeiten gestalten, indem sie zusammen wirken, die dynamische Rechtsordnung oder das von Jerome Hall sogenannte „on-going lawas-action" 14 . • Beling, Methodik der Gesetzgebung, insbesondere der Strafgesetzgebung, 1922, S. I f f . 10 Benjamin Nathan Cardozo, The Nature of the Judicial Process, 1921, S. 14. 11 Arthur Kaufmann, Die Gesdiiditlidikeit des Rechts im Lidite der Hermeneutik, in: Reditstheorie, hrsg. von demselben, 1971, S. 102. 11 Arthur von Mehren, The Judicial Process: A Comparative Analysis, The American Journal of Comparative Law, Bd. 5, 1956, S. 197 ff. 15 Sadigestaltung im Sinne Sauers {Sauer, Grundlagen des Prozeßredits, 2. Aufl., 1929, S. 111 ff., 187 ff.). Vgl. audi Dando, Die Strafredits- und Strafprozeßrecjitswissenschaft in Japan, Goltdammer's Archiv für Strafrecht, Jahrg. 1959, S. 365 ff.; Dando, Japanese Criminal Procedure, S. 127 ff., 169 ff. 14 Jerome Hall, Methods of sociological researdi in comparative law, in: Legal Thought in the United States of America Under Contemporary Pressures, hrsg. von J. H. Hazard und W. J. Wagner, 1970, S. 163 ff.

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Aus dem oben Gesagten ergibt sich also, daß das Gesetzesrecht allein nicht imstande ist, die Rechtssicherheit zu wahren, sondern daß die Rechtssicherheit erst durch die ergänzende Funktion der Präjudizien ihre Vollkommenheit erreichen kann. Es ist demnach nicht nur denkbar, sondern auch unter Umständen sogar geboten, bei der Strafgesetzgebung einen ziemlich großen Spielraum für die Rechtsprechung offen zu lassen.

III. Auf der anderen Seite ist hervorzuheben, daß selbst das Gesetzesrecht mit der Forderung der Rechtssicherheit nicht immer vereinbar ist. Zunächst hat man schon vielfach auf die Gefahr für die Rechtssicherheit hingewiesen, die von der Gesetzesinflation und dem Gesetzesperfektionismus unserer Zeit her droht 15 . Auch in Italien ist neuerdings von der „elefantiasi legislativa" die Rede 16 . Anerkannt ist ferner, daß die allzu komplizierte Gesetzesregelung die Rechtssicherheit gefährdet. Man erinnere sich an die Worte Radbruchs: „je mehr Grenzen, um so mehr Grenzfälle, je mehr Grenzfälle, um so mehr Streitfragen, je mehr Streitfragen, um so mehr Rechtsunsicherheit17." Sodann muß man darauf aufmerksam machen, daß sich eine unerträgliche Rechtsunsicherheit vor allem aus der Gesetzesänderung ergibt. Dies zeigt am deutlichsten der berühmte Ausspruch Kirchmanns: „Drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zur Makulatur." Allerdings ist die diesen Worten zugrundeliegende rechtsphilosophische Grundanschauung sehr problematisch. Sicher ist aber, daß ihnen eine sehr zutreffende Einsicht nicht abgesprochen werden kann. Das Recht gestaltet sich mehr oder weniger steif, künstlich und sprungweise bei der Gesetzgebung, glatt, natürlich und stufenweise bei den gerichtlichen Entscheidungen. Wenn eine gesetzliche Vorschrift der richterlichen Bearbeitung wenig Raum läßt, wenn sie also erstarrt und stereotyp ist, so kann sie sich den sozialen Forderungen nicht gut anpassen; sie muß sich gesetzgeberisch erneuern, sobald und sooft sich die gesellschaftliche Situation ändert. Dagegen könnte eine elastische Vorschrift dank der Ergänzungsfunktion der Rechtsprechung viele Schwierigkeiten überleben und eine stärkere Rechtssicherheit ermöglichen. Arth. Kaufmann, op. cit., S. 95. Consiglio superiore della Magistratura, Realtà sociale e amministrazione della giustizia (Relazione annuale sullo stato della giustizia), 1970, S. 37, 219. 17 Radbruch, Die gesetzliche Strafänderung, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Allgemeiner Teil, Bd. 3, 1908, S. 189. 15



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Natürlich kann audi beim Richterrecht eine Praxisänderung plötzlich stattfinden. Für diesen Fall möchte ich hier auf zwei Gegenmaßnahmen hinweisen. Erstens: im Zusammenhang mit dem Problem der ignorantiae juris, das sich eventuell aus einer plötzlichen Praxisänderung ergibt, könnte man eine Vorschrift über Verbotsirrtum bzw. Unrechtsbewußtsein aufstellen. So bestimmt z. B. das Model Penal Code (Proposed Official Draft, 1962) des American Law Institute: "A belief that conduct does not legally constitute an offense is a defense to a prosecution for that offense based upon sudi conduct when — he ( = the actor) acts in reasonable reliance upon an official statement of the law, afterward determined to be invalid or erroneous, contained in — a judicial decision, opinion or judgment —" [Section 2.04 (3)]. Man kann jedodi eine derartige ausdrückliche Vorschrift auch entbehren, da es sich dabei um eine eigentlich theoretisch zu erledigende Frage handelt. Zweitens: wünschenswert ist die Schaffung einer rechtlichen Möglichkeit, um etwaige künftige Praxisänderungen vorauszusehen. Nach dem japanischen Gerichtsverfassungsgesetz (Art. 11), das teilweise nach dem Vorbild des amerikanischen Systems entstand, müssen beim Obersten Gericht außer der Gerichts- oder Mehrheitsmeinung auch die abweichenden und sonstigen Minderheitsmeinungen ausdrücklich im Urteil geäußert werden. Um die konkrete Rechtssicherheit zu wahren, ist die Vereinheitlichung der Rechtsprechung notwendig. In dieser Hinsicht kennt die japanische Strafprozeßordnung 18 unter anderem folgende zwei Systeme19. Zunächst kommt die „außerordentliche Revision" (Art. 454 ff. JapStPO) in Betracht, ein System, das aus dem französischen pourvoi en cassation dans l'intérêt de la loi oder der österreichischen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes stammt. Dann möchte idi die Revisionsgründe erwähnen, die nach dem japanischen Recht nur auf die Verfassungswidrigkeit und die Abweichung von der Rechtsprechung des Obersten Gerichts oder, falls diese fehlt, derjenigen eines Obergerichts als Berufungsgerichts beschränkt sind (Art. 405 JapStPO). Das Oberste Gericht als Revisionsgericht kann zwar die Reditspraxis ändern, aber wenn das nicht geschieht, muß das angefochtene Urteil aufgehoben werden (Art. 410 JapStPO). In dieser Weise haben die Präjudizien des Obersten Gerichts bzw. der Obergerichte eine tatsächliche, wenn auch nicht rechtlich verbindliche Kraft. 18 Siehe, Die japanische Strafprozeßordnung, Übersetzung von H . Nakamura, Sammlung Außerdeutsdier Strafgesetzbücher, N r . 91, 1970. " Dando, Japanese Criminal Procedure, S. 433 ff., 486 ff. Zur Reditsvergleichung, siehe Germann, op. cit., S. 233 ff.

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Jedenfalls ist es eine Forderung der Rechtsgleichheit, daß der Richter auch da, w o Präjudizien nicht formell verbindlich sind, nicht ohne sachlich gerechtfertigte Gründe davon abweicht 20 .

IV. Nicht übersehen werden darf der demokratische Aspekt des Legalitätsprinzips, nämlich die Forderung, daß die Rechtsgestaltung demokratisch realisiert werden soll 2 1 . Anders als die Gesetzgebung ist die Justiz ein Bereich, in dem von einer Rechtsgestaltung durch die Volksvertretung als dem höchsten Volkswillen keine Rede ist. Aber dies schließt nicht notwendig die Anerkennung der ergänzend rechtsgestaltenden Aufgabe der Justiz aus. Wenn also in irgendeinem Rechtssystem die Rechtsprechung nicht unter einer Kontrolle durch das Volk steht, so wäre die Überlassung der ergänzend rechtsgestaltenden Funktion an die Rechtspflege als nichtvereinbar mit dem Legalitätsprinzip anzusehen. Tatsächlich aber gibt es fast in jedem Land mehr oder weniger eine Kontrolle des Volkes über die Tätigkeiten oder über die Organisation der Justiz. Ζ. B. hier in J a p a n gibt es zwar keine Laienbeteiligung in der Strafrechtspflege 2 2 , aber wir haben verschiedene Kontrollmittel seitens des Volkes über den Stand des Richters 28 . Darüber hinaus könnte man auch sagen, schon die Parteienbeteiligung im Strafverfahren bedeute eine Art Volkskontrolle. In diesem Zusammenhang möchte .ich kurz auf das Problem der Rechtsgestaltung in unserer pluralistischen Gesellschaft eingehen. „Wir haben keinen absoluten Maßstab", so hat Arthur Kaufmann geschrieben, „auch die Intersubjektivität ist Subjektivität, wie erweiterte und insofern geläuterte Subjektivität 2 4 ." Mit Recht hat er auch bemerkt, Ziel des Rechts — gerade in einer „pluralistischen" Gesellschaft — sei

!0 Germann, op. cit., S. 248. " Grünwald, Bedeutung und Begründung des Satzes „nulla poena sine lege", ZStW, Bd. 76, 1964, S. 13 ff. 8 2 In der Vorkriegszeit gab es audi in J a p a n ein Schwurgerichtssystem, das jedodi seit 1943 schon lange suspendiert ist (vgl. audi Art. 3 Abs. 3, J a p . Geriditsverfassungsgesetz). " Hier seien folgende zwei erwähnt: (1) die Volksprüfung gegen jeden Riditer des Obersten Gerichts, die alle zehn Jahre stattfindet (Art. 79 Abs. 2, J a p . Verfassung) ; (2) die wegen bestimmter Gründe zulässige Riditeranklage (Art. 64, J a p . Verf.). Im letzten Fall ist der formelle Ankläger ein Sonderausschuß, der aus Mitgliedern der beiden Häuser des Parlaments besteht. Aber jedermann kann dem Aussdiuß den Anstoß zur Anklageerhebung geben (Art. 15, J a p . Richteranklagegesetz). M Arth. Kaufmann, Einleitung, in: Reditstheorie, hrsg. von demselben, S. 3.

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Sicherung der Freiheit 25 . Die Rechtsgestaltung, die durch die Rechtsprechung stattfindet, scheint mir dazu geeignet zu sein, den Forderungen unserer pluralistischen Gesellschaft nachzukommen, da in der Rechtsprechung die Subjektivität immer leichter zum Ausdruck kommen kann. Wie Heinitz gesagt hat, „ist der Richter berufen, nach bestem Wissen und Gewissen auszusprechen, was Recht ist" 26 . Anders als das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (Art. 97), bestimmt die japanische Verfassung (Art. 76 Abs. 3): „Alle Richter üben ihr Amt nach bestem Wissen und Gewissen unabhängig aus, und sind nur an diese Verfassung und die Gesetze gebunden." Meiner Meinung nach ist unter dem „Gewissen" hier „richterliches" Gewissen zu verstehen. Das „richterliche" Gewissen ist nicht ganz identisch mit dem Gewissen, dessen Freiheit als eines der Grundrechte gewährleistet ist. Während das letztere durchaus höchstpersönlich und rein subjektiv und daher auch ein sehr „unjuristisches Ding" 27 ist, ist das richterliche Gewissen dagegen ein juristisch gesolltes Gewissen, das der Richter als ein Rechtsverwirklichungsorgan haben soll. Ihm ist die Spannung zwischen Subjektivität und Objektivität zu eigen: subjektiv in dem Sinne, daß es tief in dem eigentlichen Gewissen wurzeln muß, und objektiv in dem Sinne, daß es sich auf die wesentlich objektiv orientierte Rechtsverwirklidiung richtet. Eine subjektiv-objektive Struktur dieser Art findet sich bei jedem beruflichen Gewissen, so z. B. beim künstlerischen, kaufmännischen, wissenschaftlerischen, ebenso wie beim richterlichen Gewissen. Hier muß man den Blick auf das Problem der Gesetzesauslegung richten. Radbruch, der einerseits meinte, Rechtswissenschaft sei Wissenschaft vom objektiven, nicht vom subjektiven Sinn des Rechts, mußte andererseits anerkennen, daß die juristische Auslegung „ein unlösbares Gemisch . . . objektiver und subjektiver Elemente" ist28. Ziel der juristischen Interpretation ist es zweifellos, nach dem objektiven Sinngehalt einer Rechtsnorm zu suchen. Ihr Prozeß ist trotzdem nicht nur theoretischer, erkennender, reproduktiver, wissenschaftlicher und objektiver, sondern zugleich auch praktischer, schöpferischer, produktiver, überwissenschaftlicher und subjektiver Natur 29 . Bei der Interpretation kann man keineswegs rein objektiv sein, sondern stützt Arth. Kaufmann, Die Geschichtlichkeit des Redits, op. cit., S. 93. Heinitz, Philosophie und Strafrecht, in: Gedanken zur Strafrechtsreform, 1965, S. 21. 17 José Llompart, Die Gesdiiditlichkeit in der Begründung des Redits im Deutschland der Gegenwart, 1968, S. 146. 28 Radbrucb, Rechtsphilosophie, 7. Aufl., hrsg. von E. Wolf, 1970, S. 210 f. 29 Vgl. Radbruch, op. cit., S. 211.

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sich mehr oder weniger auf seinen eigenen weltanschaulichen bzw. ideologischen Standpunkt, gleichgültig ob man sich dessen bewußt ist oder nicht. Es ist leicht verständlich, daß die Spannung zwischen Objektivität und Subjektivität nicht nur der praktischen Gerichtsentscheidung, sondern auch der dogmatischen Gesetzesauslegung immanent ist. Bei der einen handelt es sich um das richterliche, bei der anderen um das wissenschaftlerische Gewissen. Beide sind gleichermaßen Tätigkeiten der selbstbestimmenden, selbständig denkenden Menschen30, Richter oder Rechtsdogmatiker, die das vom Recht Aufgegebene verwirklichen und das, was das Recht sein soll, schaffen sollen. Allerdings wird beim Gesetzgebungsprozeß die Forderung unserer pluralistischen Gesellschaft durch die Mitwirkung der verschiedene ideologische Standpunkte vertretenden politischen Parteien in gewissem Maße befriedigt werden. Aber eine Entschließung wird dabei letzten Endes nach dem Mehrheitsprinzip gefaßt, und zwar entweder dergestalt, daß eine der gegensätzlichen Auffassungen schlechthin angenommen wird, oder daß ein Kompromiß zwischen mehreren geschlossen wird. Die Vielheit der pluralistischen Forderungen kommt also im abschließenden Beschluß nur ungenügend oder gar nicht zum Ausdruck. Im Gegensatz dazu können pluralistische Elemente besser berücksichtigt werden bei der Gerichtsentscheidung, wo einerseits die Behauptungen der Parteien nicht selten irgendeine Forderung der pluralistischen Gesellschaft darstellen und wo andererseits die hinter den Urteilsgründen versteckte, nicht geäußerte und gewöhnlich nicht bewußte Weltanschauung des erkennenden Richters eine große Rolle spielt. Dies gilt in erster Linie bei den Gerichten der unteren Instanzen, die sich unmittelbar mit der Erledigung einzelner Fälle befassen. Aber die zunächst von unteren Gerichten vertretenen Ansichten üben oft einen bedeutsamen Einfluß auf die Rechtsprechung des Obersten Gerichts aus. Aus dem Gesagten wird sich folgern lassen, daß die Anerkennung eines größeren Spielraums für die ergänzend rechtsgestaltende Funktion der Rechtspflege dem demokratischen Postulat des Legalitätsprinzips nicht widerspricht, sondern vielmehr entspricht.

V. Die Gesetzgebung ist mehr oder weniger Widerspiegelung der Rechtstheorien. Es ist darum nicht erstaunlich, daß der allgemeine Teil eines gegenwärtigen Strafgesetzbuches nicht selten den Anschein erweckt, als wäre er eine authentische Ausgabe eines Lehrbuches. Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 1964, S. 186 ff.

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Nicht zu vergessen ist jedoch, daß unter Umständen die freie Entwicklung der Theorien durch die Gesetzgebung gehemmt werden kann. Dies ist vor allem da der Fall, wo der Gesetzgeber eine theoretisch umstrittene Frage dadurch zu lösen versucht, daß er eine der miteinander widerstreitenden Ansichten auswählt und auf diese eine Vorschrift des Gesetzes abstimmt. In gewissen Fällen ist eine derartige gesetzgeberische Lösung nicht nur unvermeidbar, sondern auch sogar geboten. Das ist die Frage der Abwägung zwischen dem praktischen Nutzen einer solchen neuen Vorschrift und den dabei verlierbaren wissenschaftlichen Werten. Z. B. hat der japanische Entwurf 1971 bewußt vermieden, sich für eine Schuld- oder Vorsatztheorie zu entscheiden, so daß dieses Problem offen bleibt und damit auf diese Weise eine weitere wissenschaftliche Entwicklung möglich wird. Besondere Schwierigkeiten bietet das Problem der Gesetzeslücken. D a die Hauptrolle des Legalitätsprinzips darin besteht, den U m f a n g der Strafgewalt streng zu begrenzen, ist es problematisch, diejenigen Lücken gesetzgeberisch zu schließen, die akuteil durch die Rechtsprechung schon ausgefüllt sind. Eine derartige gesetzgeberische Lückenschließung würde vom formellen Gesichtspunkt aus eine Befriedigung des Legalitätsprinzips bedeuten, und zwar in dem Sinne, daß die Bestrafung kraft des Riditerrechts nunmehr durch diejenige kraft des Gesetzesrechts ersetzt wird. In der T a t kann das eine Erweiterung des Umfangs der Strafbarkeit bedeuten, weil die Schwierigkeit der Auslegung, die bisher die Strafbarkeit eingeschränkt hatte, jetzt durch die Gesetzgebung beseitigt worden ist. Die Schließung einer Gesetzeslücke durch die Gesetzgebung rechtfertigt sich nur, wenn hinreichende Gründe dafür vorhanden sind, wie z. B. in dem Fall, wo eine übermäßige Ausdehnung der Strafbarkeit durch die Rechtsprechung zu fürchten ist. Ein lückenloses Strafgesetzbuch ist überhaupt nicht denkbar. Wie Baumann bemerkt hat, ist es „Aufgabe von Wissenschaft und Rechtsprechung, diesen .Flickenteppich' sorgfältig zu pflegen, die Friktionen zu überbrücken, Widersprüche im Wege vernünftiger Gesetzesinterpretation zu beseitigen, Spannungen abzugleichen. Ein so gehüteter und behandelter Teppich ist besser als manches moderne Erzeugnis unseres Gesetzgebers" 3 1 . Letzten Endes ist es Sache der Weisheit des Gesetzgebers, in Einzelfällen die Grenze zu ziehen zwischen der Gesetzgebung auf der einen Seite und der Rechtsprechung bzw. den Theorien auf der anderen Seite, damit der wahre, materielle Sinn des Legalitätsprinzips am besten verwirklicht werden könne. 51 Baumann, Die Reform des Allgemeinen Teils eines Strafgesetzbuches, in: Die deutsche Strafrechtsreform, hrsg. von Leonhard Reinisdi, 1967, S. 58.

Der objektivierte Wille des Gesetzgebers G E O R G SCHWALM

I. Die Entwicklung der Formel in der Rechtsprechung 1. Die vorbezeichnete Formel ist in der veröffentlichten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erstmals im Urteil des 2. Senats v. 21. 5.1952 zu finden1. Sie wurde vom 1. Senat übernommen2. Seitdem haben beide Senate an ihr festgehalten, soweit sie zu einem entsprechenden methodologischen Hinweis Veranlassung sahen3. Wiederholt taucht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch die Redewendung vom objektiven Willen des Gesetzgebers auf 4 . Doch wird hierfür durch Bezugnahme auf Entscheidungen mit der Formel vom objektivierten Willen klargestellt, daß die Redewendung nichts anderes als jene Formel ausdrücken soll5. Diese hat sich in der höchstrichterlichen Rechtsprechung ausgebreitet6 und kann heute wohl als die führende Kennzeichnung für „Auslegungsziel und Auslegungsergebnis", als ein „Ausdruck für die apriorische Notwendigkeit einer systematisch-widerspruchslosen Auslegung der gesamten Rechtsordnung" 7 und damit zugleich auch als Wegweiser für die richtige Methode zur Erreichung dieses Ziels angesehen werden. 2. Über die Geburt der Formel haben auch jetzige freundliche verfassungsrichterliche Bemühungen keine Aufklärung gebracht. Es wird sich heute kaum noch feststellen lassen, wieweit hierbei etwa Hegel, Nicolai Hartmann oder Radbruch Pate gestanden haben. Deshalb bleibt nur der Weg der Entfaltung des Sinnes der Formel auf Grund ihrer näheren Umschreibung in der Rechtsprechung8. 1 BVerfGE 1 , 2 9 9 fí. auf S. 312. * BVerfGE 6, 75 (Hinweis auf 1, 312); 10, 244. » Z . B . der 1. Senat in BVerfGE 18, 45; 29, 368; der 2. Senat in BVerfGE 11, 130 f.; 20, 293; 23, 274; 29, 43. 4 BVerfGE 8, 307; 13, 164; 19, 362; audi 29, 43. 5 BVerfGE 8, 307; 10, 51; 16, 88; 19, 362; 24, 15; 29, 43. • Z . B . BGHSt 17, 23; 20, 107; B G H Z 18, 45; 23, 390; 33, 330; 37, 60; 46, 76; BVerwG 11, 317; 17, 47; B F H 57, 260; 58, 144 f.; 64, 131; 79, 341; 80, 268; 84, 516; 87, 427; BSG 6, 254 f.; 8, 133; 9, 160 f.; 16, 182; 27, 269 f. 7 Radbruch „Rechtsphilosophie", 6. Aufl. besorgt und eingeleitet von Erik Wolf, 1963, S. 211. 8 Selbstverständlich finden sich hierzu sdion bisher Hinweise in der einschlägigen juristischen Literatur, z. B. bei Engisch „Einführung in das juristische Denken", 4. Aufl. 1968, S. 206 Anm. 73 u. dort. Zit.; Enneccerus-Nipperdey „Allgemeiner

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Georg Sdiwalm

a) Anzuknüpfen ist an das erwähnte Urteil des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 21. 5. 1952. Es heißt dort9: „Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sidi aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung. Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift kommt für deren Auslegung nur insofern Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach den angegebenen Grundsätzen ermittelten Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg allein nicht ausgeräumt werden können." Ergänzt werden diese Darlegungen insbesondere durch den Besdiluß desselben Senats vom 17. 5.1960. Dort wird u. a. ausgeführt 10 : „Während die .subjektive' Theorie auf den historischen Willen des .Gesetzgebers' = Gesetzesverfassers, auf dessen Motive in ihrem geschichtlichen Zusammenhang abstellt, ist nach der ,objektiven' Theorie, die in Rechtsprechung und Lehre immer stärkere Anerkennung gefunden hat, Gegenstand der Auslegung das Gesetz selbst, der im Gesetz objektivierte Wille des Gesetzgebers. ,Der Staat spricht nicht in den persönlichen Äußerungen der an der Entstehung des Gesetzes Beteiligten, sondern nur im Gesetz selbst. Der Wille des Gesetzgebers fällt zusammen mit dem Willen des Gesetzes' (Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. 1950, S. 210 f.). Diesem Auslegungsziel dienen die Auslegung aus dem Wortlaut der Norm (grammatische Auslegung), aus ihrem Zusammenhang (systematische Auslegung), aus ihrem Zweck (teleologische Auslegung) und aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte (historische Auslegung). Um den objektiven Willen des Gesetzgebers zu erfassen, sind alle diese Auslegungsmethoden erlaubt. Sie schließen einander nicht aus, sondern ergänzen sich gegenseitig. Das gilt auch für die Heranziehung der Gesetzesmaterialien, soweit sie auf den objektiven Gesetzesinhalt schließen lassen. Freilich sind die .Vorarbeiten eines Gesetzes für dessen Auslegung immer nur mit einer gewissen Zurückhaltung, in der Regel bloß unterstützend, zu verwerten' (RGZ 128, 111). Sie dürfen nicht dazu verleiten, die Vorstellungen der gesetzgebenden Instanzen dem objektiven Gesetzesinhalt gleichzusetzen.. Teil des Bürgerlichen Rechts", 1. Halbband, 15. Aufl. 1959, § 54 II — S. 325 — Fußnote 5; Larenz „Methodenlehre der Rechtswissenschaft", 2. Aufl. 1969, S. 297; ferner Bender JZ 1957 S. 594; Jesch JZ 1963 S. 242; Horst Joachim Müller JZ 1962 S. 471; limmermann NJW 1956 S. 1262. Alle diese Darlegungen geben keinen Oberblick über den heutigen Stand. Vgl. dazu bereits Verfasser JZ 1970 S. 487 ff. » BVerfGE 1, 312. 10 BVerfGE 11, 129 f.

Der objektivierte Wille des Gesetzgebers

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Diese Grundgedanken kehren bei beiden Senaten, wie dargelegt, wieder. Dazu steht nicht im Widerspruch, wenn sonstige methodologische Bemerkungen nicht immer sehr klar gewesen sind und wenn nach Lage des Einzelfalles in der einen oder anderen Entscheidung die eine oder andere Seite der Auslegungsmöglichkeit, z. B. der — angeblich — „klare" Gesetzeswortlaut 11 oder die Entstehungsgeschichte12, in den Vordergrund gerückt worden ist. Das war jeweils in den Umständen des konkreten Falles begründet, ohne daß hierdurch oder durch die Kombination von Auslegungskriterien die prinzipielle methodologische Grundlage in Frage gestellt worden wäre. b) Die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Erfassung des objektivierten Willens des Gesetzgebers ist nach Ansicht und in der Formulierung dieses Gerichts eine „anerkannte Auslegungsmethode" 13 . Als solche hat sie für andere Gerichte keine Bindungswirkung 14 . Um so bemerkenswerter ist die bereits oben erwähnte Übernahme der Formel in der sonstigen höchstrichterlichen Rechtsprechung, zumeist unter Verweisung auf die bundesverfassungsgerichtliche nähere Umschreibung der Formel oder unter Wiederholung dieser Umschreibung. Ebenso wie in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ist auch in der übrigen höchstrichterlichen Rechtsprechung das Bestreben erkennbar, auf der Grundlage der Formel dem Einzelfall durch Hervorhebung der einen oder anderen Auslegungsmöglichkeit gerecht zu werden. So finden wir auch hier ζ. B. Auseinandersetzungen mit dem — angeblich — „klaren" Gesetzeswortlaut und dem „möglichen" Wortsinn 15 sowie mit der Entstehungsgeschichte16. Doch sind auch hier solche Erwägungen auf dem Hintergrund der Auslegung nach dem objektivierten Willen des Gesetzgebers zu sehen, der die ergänzende Heranziehung aller Auslegungskriterien nicht nur nicht ausschließt, sondern im Einzelfall sogar fordern kann 17 . c) Gelegentlich wird der Vorrang des Zweckes des Gesetzes vor den anderen Auslegungskriterien betont 18 . Besonders bedeutsam ist in dieser Hinsicht der Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 15. 3. 1971 ; es heißt dort 19 : 11 Vgl. z. B. BVerfGE 8, 34 u. 220 f.; 9, 117 u. 200; 18, 111; 19, 253; 25, 305. " Zu den Grenzen vgl. ζ. B. BVerfGE 6, 431; 13, 268; 25, 347. 11 BVerfGE 21, 215 mit dem Hinweis auf 11, 130. " Dazu vgl. ζ. Β. Β FH 92,193 f. " Ζ. B. BGHSt 20,107; BGHZ 46, 76. " Ζ. B. BGHZ 23, 390; 33, 330; 36, 377; 37, 60; 46, 80 (mit weiteren Nadiweisen). « So besonders nadidrücklich BSG 27, 269 f. » Ζ. B. BGHZ 2, 184. 19 BVerwG 37, 371 f.

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„Zwar ist auch gegenüber einem sprachlich unzweideutigen Wortlaut eine Auslegung nadi Sinn und Zweck des Gesetzes nicht ausgeschlossen; doch ist bei verfahrensrechtlichen Zuständigkeitsregelungen im Interesse der Reditssicherheit in besonderem Maße Zurückhaltung geboten, wenn von einem sprachlich klaren Gesetzeswortlaut abgegangen werden soll." Hier ist der prinzipielle Vorrang des Zweckes ganz klar zum Ausdruck gebracht. Das ist sehr zu begrüßen und muß im Auge behalten werden, wenn nunmehr die Formel vom objektivierten Willen des Gesetzgebers im einzelnen betrachtet werden soll.

II. Die Bedeutung der Formel im einzelnen 1. Uber den „Willen des Gesetzgebers" gibt es seit dem vorigen Jahrhundert eine Fülle von Erörterungen. Sie haben zur Gegenüberstellung des „subjektiven" (faktischen, empirisch-psychologischen, historischen, statischen) Willens mit dem „objektiven" (normativen, vernünftigen, eigentlichen, wahren, wirklichen, man kann auch sagen: dynamischen) Willen des Gesetzgebers geführt. Für beide Auffassungen ist die Verwendung des Willensbegriffs nur in einem übertragenen Sinne möglich. a) Es handelt sich hier zunächst um einen psychologischen Begriff, der die Fähigkeit des Einzelmenschen zur persönlichen Selbstbestimmung, zur bewußten Überdeterminierung und Steuerung des Kausalgeschehens kennzeichnet. In diesem Sinne gibt es nur einen oder viele Einzelwillen, aber keinen Kollektivwillen. Man strapaziert den Willensbegriff, wenn man die Einzelwillen der Mehrheit in einer Gesellschaft ( = „Mehrheitswillen") als Gesamtwillen ausgibt, wie es beim subjektiven Willen des Gesetzgebers geschieht. Immerhin wird das oft für unbedenklich gehalten 20 . Psychologisch richtiger ist es, den subjektiven Willen des Gesetzgebers als den Inbegriff für die subjektiven Einzelwillen der an der Gesetzgebung beteiligten Personen aufzufassen. Die Einzelwillen werden nidit selten differieren und lassen sich insgesamt praktisch nicht feststellen, sondern nur abschätzen. Hierin liegt der Hauptmangel der sog. „subjektiven" Auslegungstheorie, deren vorrangiger Forschungsgegenstand der historische Wille des Gesetzgebers ist. b) Der objektive Wille des Gesetzgebers ist nach der oben erwähnten Rechtsprechung mit dem „Willen des Gesetzes" identisch und als 10 Z.B. Enneccerus-Nipperdey (oben Anm. 8) §54 III S. 329, wo es heißt: „Gleidvwohl kann man audi jetzt noch von dem Willen des Gesetzgebers reden; denn es liegt im Wesen des Zusammenwirkens einer Gesamtheit, daß der in diesem Zusammenhang zur Herrsdiaft gelangte Willensinhalt als Wille der Gesamtheit aufgefaßt werden muß." Zustimmend Bender (oben Anm. 8) S. 596.

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„der im Gesetz objektivierte Wille" aufzufassen 21 . Die Rechtsprechung hat sich hierzu auf Radbruch bezogen. Dieser spricht an der bezeichneten Stelle 22 symbolisch vom „Willen des Staates", der sidi „nur im Gesetze selbst" äußert, wobei Radbruch das objektive (normative) Element insbesondere mit folgenden Worten zum Ausdruck bringt: „Es ist deshalb möglich, als Wille des Gesetzgebers festzustellen, was im bewußten Willen der Gesetzesverfasser niemals vorhanden war. Der Ausleger kann das Gesetz besser verstehen, als es seine Schöpfer verstanden haben, das Gesetz kann klüger sein als seine Verfasser — es mttß sogar klüger sein als seine Verfasser." Das hat schon Karl Binding ausdrücken wollen, als er einst die These aufstellte 23 : „Das Gesetz denkt und will, was der vernünftig auslegende Volksgeist aus ihm entnimmt." Die Formulierung vom objektiven Willen des Gesetzes oder Gesetzgebers soll ausdrücken, daß es — jedenfalls in der freiheitlichen repräsentativen Demokratie — auf denjenigen Sinn ankommt, den das Gesetz zur Zeit seiner Anwendung (also ex nunc) nach seiner Fassung haben kann und nach den an den — nodi zu betrachtenden — Sinnbestimmungsmitteln f ü r den Wortsinn und den Zwecksinn (unter III) orientierten Vorstellungen des Rechtsanwenders vernünftigerweise haben soll. Danach sind hinsichtlich des Sinnes des Gesetzes und dessen Eignung zur Sinnerfüllung in der Anwendungszeit Bewertungen zulässig und erforderlich. Für die Kennzeichnung soldier Gedankengänge ist die erwähnte Formulierung wenig anschaulich, ja sogar, wie sich unter 2 erweisen wird, mißverständlich. Dieser Mangel haftet auch der Bezeichnung der entsprechenden Methode als sog. „objektive" Auslegungstheorie an, zu der die oben zitierte Rechtsprechung sich ausdrücklich bekannt hat 24 . 2. Die Ersetzung des Wortes „objektiv" durch das Attribut „objektiviert" vor dem „Willen des Gesetzgebers", wie sie vom Bundesverfassungsgericht eingeführt worden ist, deutet bei richtiger Auslegung besser an, was gemeint ist 25 . Die Fassung erinnert an den Spradi-

" Insbes. BVerfGE 1 1 , 1 3 0 f. " Vgl. oben Anm. 7 a. a. O., S. 211. " „Handbuch des Strafredits, erster Band", 1885, S. 456 f. M Z.B. BVerfGE 11, 130. Über die Auffassungen in der heutigen juristischen Literatur vgl. z. B. Ertgiscb, oben Anm. 8, S. 77 bis 105 und dort. Zit.; Latenz oben Anm. 8 a . a . O . S. 31 ff., 296 ff. u. dort. Zit.; Schönke-Schröder „Strafgesetzbuch", 16. Aufl. 1972, zu § 2 RNr. 34 a. 25 Dazu vgl. Verfasser bereits in JZ 1970 S. 487 ff.

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gebrauch von Nicolai Hartmann™. Hiernach bedeutet „Objektivierung" die Manifestation des „lebenden Geistes", seine „Schöpfungen oder Produkte". Der „lebende Geist" ist „realer Geist" und daher, wie alles Lebendige, zeitlich und vergänglich. Aber er objektiviert sich in greifbaren Gebilden eigener Art, die er aus sich „herausgestellt", gleichsam aus der Bewegtheit seines Wandels „entlassen hat". Auf solche Weise übergibt er seine Erzeugnisse der Geschichte. Dieser erzeugende „lebende Geist" ist entweder „personaler (,individueller') Geist", d. h. der schöpferische Einzelgeist, der auch allein Verantwortung und Sdiuld tragen kann, oder überindividueller „objektiver Geist" („Gemeingeist"), verstanden als „wirkliches Geistesleben, das zu seiner Zeit aufkommt, reift und niedergeht"; zu ihm gehört auch das „Rechtsempfinden einer Zeit". Demgegenüber ist der „objektivierte Geist" kein „lebender (.realer') Geist". Vielmehr sind unter jenem die Schöpfungen und Produkte des lebenden Einzel- oder Gemeingeistes zu verstehen, aber nicht im Sinne der realen geformten Materie, sondern des in ihr fixierten geistigen Gehaltes. N u r er „ragt ins Zeitlose hinein und damit ins Ideelle und Obergeschichtliche". Den objektivierten Geist finden wir auch im „gegebenen Gesetz", „im positiven Recht". Allgemein charakterisiert ihn Hartmann wie folgt: „Das Gesetz des objektivierten Geistes ist hiernach dieses: einmal als geschaffenes Produkt herausgeformt, gewinnt er Unabhängigkeit vom schaffenden Geiste. In dieser Unabhängigkeit führt er ein Dasein eigener Art in der Geschichte, hat eine eigene Seinsweise neben dem fortgehenden Leben des objektiven Geistes47." Da nun einmal der Begriff der Objektiviertheit sich in der Rechtsprechung durchgesetzt hat, sollte man ihn auch in der juristischen Methodenlehre übernehmen und demgemäß der Sache nach im Sinne der Rechtsprechung, der Form nach im Anschluß an Nicolai Hartmann 28 unterscheiden: a) Subjektiver Geist = Einzelgeist, verstanden als individueller, realer („lebendiger") Sinngehalt. Er bezeichnet insbesondere die historischen Einzelwillen und Einzelvorstellungen der an der Gesetzgebung beteiligten Personen. Auf ihn allein sollte die subjektive Auslegungstheorie bezogen werden. b) Objektiver Geist = Gemeingeist („Zeitgeist"), verstanden als das überindividuelle, reale („lebendige") Geistesleben einer Zeit. Es umfaßt auch die in der betreffenden Gesellschaft tatsächlich bestehen*· „Das Problem des geistigen Seins", 2. Aufl. 1949; vgl. zum folgenden insbes. die S. 72 f., 197, 406 f. und 409 f. " A. a. O. S. 410. 18 Vorstehend Anm. 26 a. a. O. insbes. S. 197 u. 407 ff.

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den Rechtsüberzeugungen und materiellen sowie ideellen Interessen, insbesondere die für die Gesetze kausalen historischen Interessen als vorrangigen Forsdiungsgegenstand der sog. „genetischen Interessentheorie" 29 . Man sollte diesem objektiven Geist die objektive Auslegungstheorie zuordnen, diese also nicht mehr im bisherigen Sinne auffassen. Mit diesem hätte sie dann nur noch die Überindividualität, aber nicht die Übergeschichtlichkeit gemeinsam. Vielmehr würde dann die so verstandene objektive Auslegungstheorie an die historische Grundlage gebunden bleiben. Das hätte sie mit der subjektiven Auslegungstheorie gemeinsam, von der sie sich andererseits durch ihren für sie vorrangigen Forschungsgegenstand, nämlich die historischen überindividuellen Interessen und rechtlidien Strömungen, unterscheiden würde. Die subjektive und die objektive Theorie würden dann gemeinsam die historischen Auslegungstheorien bilden. c) Objektivierter Geist, verstanden als zwar in einer Materie manifestierter, aber nicht realer ( = nicht „lebendiger"), sondern jeweils erst wieder zu realisierender, sich mit dem Geistesleben mit entwickelnder und in diesem Sinne übergeschichtlicher Sinngehalt (Bedeutungsgehalt). Objektivierung bedeutet die Manifestierung eines Sinngehalts des subjektiven und objektiven („lebendigen") Geistes in einer Materie. Der schöpferische („lebendige") Geist zur Entstehungszeit der Manifestation vergeht, aber die Objektivation überdauert ihn. Ihr Sinngehalt muß immer von neuem durch den jeweiligen subjektiven und objektiven Geist zu einem — wenngleich wieder nur vorübergehenden — „Leben" erweckt werden. Da dieser jeweils neue subjektive und objektive Geist nicht identisch ist mit dem der Entstehungszeit, gehört zum Wesen der jeweiligen Realisierung des Sinngehalts der Objektivation die Möglichkeit eines Sinnwandels gegenüber der Entstehungszeit. Im geschriebenen Gesetz haben wir die Manifestation eines Sinngehalts des subjektiven und objektiven Geistes zur Entstehungszeit ( = des „historischen Willens des Gesetzgebers") vor uns. Im Augenblick ihrer Vollendung ist die Manifestation bereits Historie. Je weiter dieser Zeitpunkt von dem der Anwendung des Gesetzes entfernt ist, um so größer wird die Möglichkeit eines Sinnwandels 30 . Denn das Gesetz beeinflußt das Sozialleben, und dieses wirkt zurüdk auf den Sinn des Gesetzes®1. Schon wegen dieser Wechselwirkung muß für die Realisierung des objektivierten Geistes zur Anwendungszeit der objektive Geist dieser Zeit in Verbindung M Z.B. Hede „Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz", 1914, S. 59; ferner: „Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz", 1932, S. 73. 80 Vgl. Zippelius „Einführung in die juristische Methodenlehre", 1971, S. 28 ff. » Dazu z. B. Klaus Obermayer in NJW 1966 S. 1885 ff. auf S. 1887.

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mit dem subjektiven Geist des gegenwärtigen Gesetzesanwenders maßgebend sein. Das ist ferner auch um deswillen geboten, weil der „historische Wille des Gesetzgebers" vielfach überhaupt nicht oder jedenfalls mit den zumutbaren Mitteln nicht aufklärbar ist oder von vornherein mit Anschauungs- oder Bewertungsfehlern behaftet war oder infolge nachträglicher sozialer oder rechtlicher Entwicklungen korrekturbedürftig geworden ist. Dieser historische Wille kann daher „nicht das letzte Ziel der Auslegung" sein32. Unter welchen Voraussetzungen eine solche neue Sinnbestimmung (Auslegung durch „Einlegung") mit der Anwendung des Gesetzes vereinbar ist, bedarf noch der Erörterung; prinzipiell wird sie von der Rechtsprechung anerkannt 83 . Weil es methodologisch letzten Endes stets auf die Realisierung des objektivierten Geistes zur Anwendungszeit ankommt, ist die hierfür bisher verwendete Bezeichnung „objektive Auslegungstheorie" mißverständlich. Man sollte sie nur im Sinne von oben b gebrauchen und nunmehr der auf den Begriff des objektivierten Geistes hinweisenden Formel vom objektivierten Willen des Gesetzgebers eine neue Bezeichnung für die heute jedenfalls von unserer Rechtsprechung als maßgebend angesehene Auslegungstheorie zuordnen. Es wäre wohl am klarsten, man spräche künftig von „objektivierender Auslegungstheorie". Wer sich hieran sprachlich stößt, könnte etwa die Bezeichnung „dynamische Auslegungstheorie" wählen; sie würde als Gegensatz zu den statischen ( = auf den historischen Willen des Gesetzgebers abstellenden) subjektiven und objektiven Auslegungstheorien (im Sinne oben a und b), die — wie erwähnt — gemeinsam die historischen Auslegungstheorien bilden würden, das entscheidende dynamische Element der Weiterentwicklung des Sinngehalts von der Entstehungs- zur Anwendungszeit und die Maßgeblichkeit der Anwendungszeit andeuten. 3. Die objektivierende Auslegungstheorie im Sinne von 2 c hat als „anerkannte Auslegungsmethode"34 zunächst für die Auslegung, also für die Deutung des für das Reditsleben maßgebenden Sinnes eines Gesetzes, Bedeutung, wobei das Ergebnis der Anwendungsprüfung entweder die Bejahung (teleologische Subsumierung) oder die Verneinung der Anwendbarkeit des Gesetzes auf den Sachverhalt (konkreten Lebenstatbestand) sein kann. Letzterenfalls, und wenn auch kein anderes Gesetz für den Sachverhalt „paßt" (d. h. dessen befriedigende Regelung ermöglicht), stellt sich das Problem der („offenen") « BGHZ 37, 61. M Vgl. z. B.: BVerfGE 2, 401; 7, 351; 8, 220 f.; 9, 200; 25, 347; BGHSt 8, 298; 10, 160; 14, 155; 23, 178 f.; BGHZ 23, 390 ff.; 33, 330 f.; RGZ 167, 22. ** Oben Anm. 13.

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Rechtsfortbildung ( = „externen" Lückenausfüllung) mit Hilfe der Analogie, der teleologischen Reduktion ( = „Restriktion") 35 oder der freien (d. h.: nicht an bestimmte positivrechtliche Regelungen anknüpfenden) Rechtsfindung38. Daß es sich bei der Rechtsfortbildung um eine grundsätzlich notwendige, zulässige und wichtige schöpferische richterliche Aufgabe handelt, ist unstreitig 37 . Es fragt sich, ob die objektivierende Auslegungstheorie auch für die Rechtsfortbildung bedeutsam ist. Das ist zu bejahen 38 . Denn diese Theorie bestimmt die Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung anders als die historischen Auslegungstheorien. Durch die Dynamik werden viele Fälle noch in die Auslegung einbezogen, die nach der statischen Auffassung allenfalls durch Rechtsfortbildung geregelt werden könnten. Das folgt aus den gleichen Sinnbestimmungsmitteln, die nach der objektivierenden Theorie für die Auslegung wie für die Rechtsfortbildung maßgebend sind. Hierauf ist unter III zurückzukommen. 4. Das dynamische Element, das in der Formel vom objektivierten Willen des Gesetzgebers steckt, kann sich im Rechtsstaat allerdings nur in gewissen Grenzen entfalten. Diese ergeben sich aus dem Rechtsstaatsprinzip insofern, als ihm das Streben („Postulat") nicht nur nach materieller Einzelfallgerechtigkeit, sondern auch nach Rechtssicherheit immanent ist39. Aus dem Rechtssicherheitsbedürfnis ist der Verfassungsgrundsatz der richterlichen Gesetzesgebundenheit abgeleitet40. Er gehört zu den Fundamenten des Rechtsstaats und ist das Gegengewicht zur richterlichen Unabhängigkeit, das ein Übergewicht der rechtsprechenden über die gesetzgebende" Gewalt verhindern soll. Das Problem der richterlichen Gesetzesgebundenheit ist die „Gretchenfrage" aller Auslegungstheorien. Es bedarf daher auch für das vorliegende Thema einer Erörterung.

S5

Zu den Begriffen vgl. Larenz oben Anm. 8 S. 369; die Begriffsbildung der Praxis ist hierzu uneinheitlich. Z. B. ist in BAG 13, 14 f. zutreffend von „teleologischer Reduktion" die Rede, während hierfür irreführend in BVerfGE 9, 89 die Bezeidinung „restriktive Interpretation" und in BVerfGE 3, 254 die Umschreibung „einschränkend ausgelegt" gebraucht werden. *· Auch hierzu schwanken die Bezeichnungen. So sprechen in RGSt 68, 259 die Vereinigten Strafsenate von „ergänzender Rechtsfindung", in BGHSt 2, 203 der Große Senat für Strafsachen von „richterlicher Rechtsfindung", in BVerfGE 25, 178 der 1. Senat von „rechtsfindender Lückenfüllung". *7 Vgl. BVerfGE 3, 243; 25, 178; wegen der Kompetenzenverteilung zwischen „einfachen Gerichten" und dem Bundesverfassungsgericht vgl. z . B . BVerfGE 17, 346; 18, 92; 20, 330 f.; 24, 173; 28, 201; 29, 42 f. 58 Z. B. auch BVerfGE 13, 164; 22, 88 f. « BVerfGE 7, 92 u. 196; 25, 290; 30, 24 f. 40 BVerfGE 30, 25.

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III. Objektivierende Auslegungstheorie und richterliche Gesetzesgebundenheit 1. Es fällt auf und hat bis heute zu Unstimmigkeiten geführt, daß in Art. 20 Abs. 3 G G von der Bindung der Rechtsprechung „an Gesetz und Recht" die Rede ist, während in Art. 97 Abs. 1 GG, § 1 G V G und § 25 D R i G der Begriff „Recht" nicht mit erwähnt wird und die Gerichte hiernach „nur dem Gesetz" unterworfen sind. Die Entstehungsgeschichte des Art. 20 GG gibt hierüber keinen Aufschluß 41 . Als sicher dürfte anzusehen sein42, daß es sich bei der Formulierung „Gesetz und Recht" nicht einfach um eine Tautologie handelt 43 , ferner daß die Hinzufügung des Wortes „Recht" nicht einen Hinweis auf das Gewohnheitsrecht bringen soll; vielmehr ist dieses durch den Begriff „Gesetz" sowohl in Art. 20 Abs. 3 als auch in Art. 97 Abs. 1 GG mit erfaßt 4 4 . Die Hinzufügung des Begriffes „Recht" in Art. 20 Abs. 3 wird man aus den Eindrücken zu erklären haben, unter denen die Verfasser des GG standen. Die vergangene Rechtsordnung hatte Regelungen gebracht, die der Gerechtigkeitsidee hohnsprachen und wieder einmal vor Augen führten, daß es Unrecht in Gesetzesform geben kann. Überdies war hierüber im Jahre 1946 der berühmt gewordene Aufsatz „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht" von Radbruch erschienen45, in dem es u. a. heißt: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Redit auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ,unrichtiges Recht' der Gerechtigkeit zu weichen hat."

In diesen Gedankengängen dürfte die Wurzel zu der nach dem 2. Weltkrieg wieder auferstandenen Tendenz zu suchen sein, dem reinen Gesetzespositivismus Schranken zu setzen. Das wollte man offenbar in Art. 20 Abs. 3 durch Hinzufügung des Wortes „Recht" erreichen, um hierdurch die Notwendigkeit der Orientierung jeder Gesetzgebung und Rechtsanwendung an der Gerechtigkeitsidee zu unterVgl. Bonner Kommentar zum Grundgesetz Art. 20 Anm. II 3 e. Vgl. Verfasser in seinem Referat auf dem 45. Deutschen Juristentag 1964 über das Thema „Ist die Staatsanwaltschaft an die ständige oder gefestigte hödistriditerlidie Rechtsprechung gebunden?" (in „Verhandlungen des 45. Juristentages Bd. II Teil D S. 7 ff. auf S. 21). 4 1 So audi Εηφώ a. a. O. oben Anm. 8 S. 172. 4 4 Bonner Kommentar a. a. O. u. zu Art. 97 Anm. II 2 a. 4 5 SJZ 1946 S. 105 ff., abgedruckt in der oben Anm. 7 zitierten Rechtsphilosophie S. 347 ff., insbes. S. 353. 41

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streichen. Die damalige Tendenz hat später ihren Niederschlag in der bekannten Entscheidung des 1. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1 8 . 1 2 . 1 9 5 3 gefunden, wo es unter gleichzeitiger Wiedergabe der vorstehend angeführten Darlegungen Radbruchs heißt 4 8 : „Gerade die Zeit des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland hat gelehrt, daß auch der Gesetzgeber Unrecht setzen kann, daß also, soll die praktische Reditsübung solchen geschichtlich denkbaren Entwicklungen nicht ungewappnet gegenüberstehen, in äußersten Fällen die Möglichkeit gegeben sein muß, den Grundsatz der materialen Gerechtigkeit höher zu werten als den der Rechtssicherheit, wie er in der Geltung des positiven Gesetzes für die Regel der Fälle zum Ausdruck kommt. Auch ein ursprünglicher Verfassungsgeber ist der Gefahr, jene äußersten Grenzen der Gerechtigkeit zu überschreiten, nicht denknotwendig entrückt. Das Bundesverfassungsgericht sieht für die Entscheidung des vorliegenden Falles keinen Anlaß, im einzelnen zu entwickeln, wann solche extremen Fälle gegeben sein können. Ihr Ausnahmecharakter steht außer Zweifel und kommt zum Beispiel in der vorsichtigen Formulierung zum Ausdruck, die Radbruch in seinem Aufsatz ,Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht' (abgedruckt in Radbruchs .Rechtsphilosophie', 4. Aufl. 1950, S. 3 4 7 ff.) wählt."

An dieser Auffassung hat das Bundesverfassungsgericht festgehalten 47 . Die übrige höchstrichterliche Rechtsprechung hat sich, wenn auch teilweise mit überspitzten Formulierungen, angeschlossen48. Deutet man den Art. 20 Abs. 3 im Zusammenhang mit der Rechtsprechung, dann ergibt sich auch die richtige Auslegung: Zwar ist Recht im juristischen Sinn nur das positive Recht (Gesetzes- und Gewohnheitsrecht); das wird auch durch die Voranstellung des „Gesetzes" vor dem „Recht" in Art. 20 Abs. 3 angedeutet. Es gibt also kein Naturrecht im Sinne eines Inbegriffs für überpositive Rechtssätze. Jedoch kommt dem Naturrechtsgedanken in unserer Zeit als Gerechtigkeitsidee eine Korrekturfunktion gegenüber dem positiven Recht zu; denn dieses hat ausnahmsweise dann keine Geltung, wenn es sich in einem unerträglichen Maße in Widerspruch zur Gerechtigkeitsidee setzt 49 . Hierauf hinzuweisen und dadurch beim Gesetzgeber wie bei jedem Rechtsanwender die Rechtsgesinnung zu schärfen, dürfte der Sinn der Hinzufügung des Reditsbegriffs in Art. 20 Abs. 3 sein 50 . Im übrigen "

BVerfGE 3, 232 f. Vgl. ζ. B. die Entscheidung des 2. Senats v. 14.2.1968, BVerfGE 23, 4 8 Z . B . BGHSt 2, 177 und 237; 3, 362 f.; 10, 300 f.; 13, 36; BGHZ 342; 16, 354; 26, 93. 4 9 Im Ergebnis übereinstimmend ζ. B. der Bonner Kommentar a. a. O. wiegend audi Maunz „Deutsches Staatsredit", 18. Aufl. 1971, S. 70. Zur tik vgl. Engisch „Auf der Suche nadi der Gerechtigkeit", 1971, S. 106 ff. 6 0 Vgl. Verfasser oben Anm. 42 a. a. O. 47

106. 9, 44; 10, und überProblema-

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und damit weitaus in der Regel sind die Gerichte an das positive Recht gebunden, und zwar auch dann noch, wenn dieses im Einzelfall zu einem einerseits unangemessenen, andererseits audi bei Beachtung der anerkannten Rechtsanwendungsmethoden nicht korrigierbaren Ergebnis führt. In solchen Fällen läßt die Gesetzesfixierung (der „klar erkennbare", „eindeutige" Wille des Gesetzgebers, wie die Rechtsprechung gelegentlich formuliert 51 ) keinen Spielraum für eine andere Sinnbestimmung. Ohne Spielraum kommen die Sinnbestimmungsmittel weder bei der Auslegung noch bei der Rechtsfortbildung zum Zuge. Entscheidend ist also zunächst die Erfassung dieses Spielraums und sodann dessen Ausfüllung nach der objektivierenden Auslegungstheorie mit Hilfe der Sinnbestimmungsmittel. 2. Ob eine Sinnfixierung gegeben ist, die zum Umkehrschluß zwingt und damit eine neue Sinnbestimmung ausschließt, ist aus der Synthese zwischen Wortsinn und Zwecksinn zu beurteilen. a) Der mögliche Wortsinn bezeichnet den Spielraum, den der Wortlaut nach dem allgemeinen und dem fachlichen Sprachgebrauch läßt. Er umfaßt die Begriffsmehrdeutigkeiten und bedeutet insoweit die Begriffsfreigabe für die Auslegung, mag der historische Gesetzgeber diese Freigabe gewollt haben oder nicht. Allerdings liegt hierin noch keine Sinnfreigabe für das Gesetz, wie sich aus b ergibt. Ebenso wie die „objektive" Auslegungstheorie im bisherigen Sinne muß audi die objektivierende Auslegungstheorie von der Begriffsfreigabe im Spielraum des möglichen Wortsinnes ausgehen. Sie hat dazu letzten Endes auf die alten eindringlichen, wenn audi immer wieder umstrittenen Gedankengänge und Formulierungen zurückzugreifen, die der bisherigen objektiven Auslegungstheorie als Grundlage gedient haben und von denen die beiden bedeutsamsten hier wiederholt werden sollen. Bei Adolf Wach lesen wir 52 : „Aus dem Zwecke der Auslegung folgt, daß sie wie ihren Gegenstand so ihre Grenze findet an dem Gesetz. Was nicht Gesetz geworden, kann nicht als sein Inhalt festgestellt werden. Gesetz kann aber nur geworden sein der mögliche und wirkliche Gedankeninhalt der G e s e t z e s w o r t e . . . Das Gesetz interpretieren heißt nicht einen Willen suchen und aufdecken, welcher die Quelle des Wortes wurde, sondern welcher den Inhalt des Gesetzes bildet."

Die letzte Konsequenz zog Josef Kohler53 : „ . . . dieser Wortlaut und nur er ist von der Macht der Gesetzgebung durchdrungen. Beherbergt nun dieser Wortlaut 4, 5 oder 6 verschiedene 51 s! M

Zu diesen Formulierungen vgl. oben I 2 a u. Anm. 11. „Handbuch des Deutsdien Civilprozeßredits", erster Band, 1885, S. 256. „Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts", erster Band, 1906, S. 125.

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Gedanken, die wahlweise darin gefunden werden können, so ist nicht ein Gedanke, sondern es sind 5 Gedanken wahlweise mit den Worten zum Gesetz erhoben worden. Das soll nun nicht heißen, daß willkürlich von diesen 5 Gedanken einer heraus gewählt werden darf; aber es soll heißen, daß es Aufgabe der juristischen Kunst ist, von diesen 5 Gedanken den richtigen zu wählen, und daß dies Aufgabe der juristischen Kunst ist, nicht Aufgabe der psychologischen (individual-sozialpsydiologischen) Forschung. Daraus ergibt sich: Auslegen beim Gesetze heißt etwas anderes als Auslegen in sonstigen Fällen; Auslegen beim Gesetze heißt nicht nur: hinter dem Ausdruck den Sinn ermitteln, sondern es heißt: von den verschiedenen Bedeutungen, welche sämtlich durch den Ausdruck gedeckt werden, die richtige und maßgebende auswählen . . . "

Nichts anderes ist gemeint, wenn die Rechtsprechung in Fällen, in denen es hierauf ankam, auf den Wortlaut als sprachliche Grenze für den möglichen Wortsinn und damit für die Auslegung hingewiesen hat 54 . b) Der mögliche Zwecksinn kann seine Begrenzung außer durch den Wortlaut des einzelnen Rechtssatzes auch durch den logisch-systematischen Zusammenhang, in dem der Rechtssatz sich befindet, ferner durch die Formulierung anderer Rechtssätze, aus denen sich Rückschlüsse auf jene ergeben, weiterhin auch durch amtliche Uberschriften und Präambeln 55 finden. In dem Umfange, wie der historische Gesetzgeber hierdurch den Zwecksinn eindeutig fixiert hat, ist eine Sinnumdeutung weder durch Auslegung noch durch Rechtsfortbildung möglich. Die richterliche Gesetzesgebundenheit bezieht sich hiernach nicht auf den Wortsinn als solchen, sondern auf den durch diesen oder auf andere Weise im Gesetz fixierten Zwecksinn. So muß man es verstehen, wenn von der Rechtsprechung die Bindung an den „klaren" („eindeutigen") Gesetzeswortlaut betont wird 56 ; gemeint ist nicht der Wortsinn, sondern der Zwecksinn im Umfang seiner gesetzlichen Fixierung. Soweit keine Fixierung, sondern eine Zweckmehrdeutigkeit besteht, gibt der hierdurch begrenzte mögliche Zwecksinn einen Spielraum zur Zweckbestimmung. Er bedeutet insoweit eine Zweckfreigabe, gleichviel ob diese vom historischen Gesetzgeber gewollt war oder nicht. Vielmehr hat der historische Gesetzgeber in diesem Umfang den „objektivierten Willen also gewissermaßen zur Disposition der deutschen Rechtsordnung gestellt"57. Insoweit ist dann auch ein Zweckwandel gegenüber dem historischen, aber nicht eindeutig im Gesetz fixierten Zweckwillen des Gesetzgebers möglich58, und zwar M Z.B. BGHZ 46, 76; BGHSt 3, 303; BFH 91, 514. « Vgl. BVerfGE 29, 367. " Oben Anm. 11. " So die Formulierung in BVerfGE 29, 368. 58 S. oben Anm. 33.

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auch gegen den Wortsinn; nur handelt es sich letzterenfalls nicht mehr um Auslegung, sondern um Rechtsfortbildung59 nach den Grundsätzen der objektivierenden Auslegungstheorie (oben II 3). 3. Möglicher Wortsinn und möglicher Zwecksinn ergeben gemeinsam den möglichen Gesetzessinn®0 mit der Maßgabe des Vorrangs des Zwecksinnes und dadurch mit der Möglichkeit einer Durchbrechung des Wortsinnes auf Grund des Zwecksinnes. Die bisherigen Darlegungen haben zu zeigen versucht, daß die Bindungswirkung des Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG sich auf den möglichen Gesetzessinn bezieht und daß der Richter im Spielraum dieser Möglichkeit den Sinn des Gesetzes bestimmen darf und muß. Mit dem Sinn ist der Bedeutungsgehalt des Gesetzes gemeint. Entscheidend ist der Zwecksinn, also der vom Zweck her bestimmte Bedeutungsgehalt des Gesetzes. Die objektivierende Auslegungstheorie versteht den Zweck dynamisch; Zweck des Gesetzes ist hiernach die Vorstellung des Rechtsanwenders von demjenigen Bedeutungsgehalt, den das Gesetz z. Z. der Rechtsanwendung haben soll und im Spielraum des möglichen Zwecksinnes (d. h.: im Umfang des Fehlens einer gesetzlichen oder gewohnheitsrechtlichen Zweckfixierung) haben kann61. Das Problem steckt insoweit weniger in dem „haben kann" als in dem „haben soll"; denn darüber müssen letzten Endes die Rechtsanwender, insbesondere die Gerichte, entscheiden. Es liegt auf der Hand, daß die Ausfüllung des Spielraums nicht richterlicher Willkür überlassen sein darf. Damit stellt sich die Frage nach den Sinnbestimmungsmitteln, die zwar niemals exakt zu beantworten ist, um die aber immer wieder gerungen werden muß und bei uns seit dem vorigen Jahrhundert auch wirklich gerungen worden ist. In unserer Generation ist hierfür Heinitz ein Beispiel. Sein zuletzt veröffentlichtes Ergebnis über die Maßstäbe für richterliche Wertungen möge mit seinen eigenen Worten wiedergegeben werden62: „ . . . ich habe seinerzeit 8 3 dem ,kulturellen Objektivismus' v o r jeder A r t des Subjektivismus den Vorzug gegeben, später dagegen®4 ausgeführt, der Richter habe selbst zu werten und unter Umständen führend und bahnbrechend dem richtigen Recht und der richtigen ethischen Auffassung zum Siege zu verhelfen. A n dieser Ansicht muß ich festhalten . . . Bei der weltanschaulichen Zerrissenheit unserer Zeit werden sich Wertungen der s * Insoweit ist die Ausdrucksform des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichte des Bundes in der oben Anm. 19 zitierten Entscheidung ungenau. Vgl. BVerwG 37, 256. So Verfasser bereits oben Anm. 42 a. a. O. S. 23. ' 2 „Zur Entwicklung der Lehre von der materiellen Reditswidrigkeit" (in der Festschrift für Eberhard Schmidt, 1961, S. 266 ff. auf S. 284, 285, 288 f.). " „Das Problem der materiellen Reditswidrigkeit" (Heft 211 der „Strafrechtlichen Abhandlungen"), 1926, S. 91 ff. M J R 1954 S. 404. M

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.tonangebenden Schichten' häufig nicht feststellen lassen. Es entspräche aber auch nicht der Würde und dem Ethos des Richters, nicht das Sittengesetz anzuwenden, so wie er es zu erkennen glaubt, sondern dasjenige, was andere dafür halten... Das bedeutet nicht, daß er die ,sehr subtile und schwierige juristische Gedankenarbeit'65 zugunsten bloßen Gefühls unterlassen dürfte. In erster Linie hat er den aus dem Gesetz zu entnehmenden positiven Werten zu folgen68. Wo ihn aber das Gesetz im Stich läßt, wird ihm die individuelle Wertung durch keine Berufung auf irgendein scheinbar Objektives67, auf irgendeine Durchschnitts- oder Mehrheitsmoral erspart." Diesen Äußerungen von Heinitz möchte ich beitreten. Allenfalls kommen gewisse Akzentverschiebungen in Betracht, wie sie auch Heinitz bisher selbst vorgenommen hat. Insofern glaube ich, daß er den Umfang der in „positiven Rechtssätzen höheren Ranges oder im Gesetz niedergelegten Wertungen" etwas unterschätzt. a) Im Sinne unserer Ausführungen handelt es sich hierbei um die objektiven Sinnbestimmungsmittel, wie sie aus dem besonders im Grundgesetz „objektivierten Geist" mit Hilfe des „objektiven Geistes" unserer Zeit zu entnehmen sind. In einer gewaltigen Auslegungsarbeit hat vor allem das Bundesverfassungsgericht den objektivierten Willen des Verfassungsgesetzgebers für unsere Zeit sichtbar gemacht. Vor uns steht ein bestimmtes Menschenbild, von dem das Grundgesetz ausgeht, das Bild des freien, aber nicht isolierten, sondern gemeinschaftsbezogenen Individuums, dem einerseits die Möglichkeit zur Entfaltung und Erhaltung seiner Persönlichkeit als geistig-sittliches Wesen garantiert ist, andererseits diejenigen Schranken auferlegt werden, die zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens allgemein zumutbar sind 68 . Hierzu müssen die Vorschriften des 65 Eb. Schmidt „Gesetz und Richter" (Heft 1 der Schriftenreihe der Juristischen Studiengesellschaft in Karlsruhe), 1926. e * Dortige Anm. 117 von Heinitz mit Hinweis auf seine Ausführungen J R 1954 S. 403. ®7 Dortige Anm. 118 von Heinitz: „In diesem Punkt vermag ich den Ausführungen von Eb. Schmidt, Lehrkommentar, Bd. 1, Nr. 415 und 416, S. 224 f. und ebenso von Badjof, Verfassungswidrige Verfassungsnormen, S. 29, nicht zu folgen. Nur wo aus positiven Rechtssätzen höheren Ranges oder im Gesetz niedergelegten verbindlichen Wertungen der Maßstab entnommen werden kann, ist er ein objektiver. Es bleiben die Fälle, wo dieser Maßstab versagt, und dann sehe idi nicht, wie der Richter anders als nach seinem Gewissen entscheiden sollte. Jenseits des positiven Rechts gibt es eben nicht mehr .generelle Rechtssätze', wie Schmidt selbst (ZStW 49, 378 f.) ausgeführt hat. Vgl. auch Arndt (Reditsdenken in unserer Zeit, Redit und Staat, Nr. 18, S. 10 Anm. 6), der es als einen ,Hochmut in unserer Zeit, an die eigene Glaubwürdigkeit zu glauben', bezeichnet. Zu diesem ,Hochmut' muß ich mich allerdings bekennen." 68 Vgl. insbes. BVerfGE 4, 15 f.; 6, 36; 27, 6 und 283; 30, 20. Näheres im Beitrag des Verfassers in der Festschrift für E. Küdienhoff, 1972, S. 681 ff., insbes. S. 697 ff.

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Georg Schwalm

GG im Zusammenhang gesehen werden; sie stellen eine innere Einheit, ein Iogisch-teleologisches Sinngebilde dar und lassen gewisse verfassungsrechtliche Grundsätze, Grundentscheidungen und Wertmaßstäbe erkennen69. Im GG ist eine bestimmte, keineswegs neutrale Wertordnung aufgestellt70. In dieser ist die Menschenwürde der oberste Wert71. Die Grundrechte sind der „eigentliche Kern der freiheitlich-demokratischen Ordnung des staatlichen Lebens im Grundgesetz"72. Sie dürfen nach Art. 19 Abs. 2 GG in keinem Falle in ihrem Wesensgehalt angetastet werden73. Nimmt man die sonstigen aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Grundsätze hinzu74, ferner auch noch das Prinzip der Beachtung der „Natur der Sache"75, dann ergibt sich hieraus eine Fülle von objektiven Zweckbestimmungsmitteln, die für den Rechtsanwender verbindlich sind. Daneben gibt es auch solche, die für die Gerichte zwar nicht verbindlich, aber von ihnen jedenfalls zu prüfen sind, z. B. die höchstrichterliche Rechtsprechung76 und die erkennbaren Reditsüberzeugungen der Allgemeinheit77. b) Ist hiernach der Bereich sehr eingeengt, in dem der Rechtsanwender für die Auslegungs- oder Rechtsfortbildungstätigkeit vom „objektivierten Geist" und vom gegenwärtigen „objektiven Geist" im Stich gelassen wird, so ist nicht zu übersehen, daß es diesen Bereich gibt und immer geben wird. Insoweit kommt dann unausweichlich das subjektive Sinnbestimmungsmittel der teleologischen „Eigenwertung"78 zum Zuge. Das läuft, wie Heinitz richtig ausgeführt hat, letzten Endes auf die Entscheidung des Riditers „nach seinem Gewissen" hinaus. Nur muß man sich dazu vergegenwärtigen, in welchem Sinn der Gewissensbegriff hier gemeint ist. Nach der Umschreibung durch das Bundesverfassungsgericht ist Gewissen „als ein (wie immer begründbares, jedenfalls aber) real erfaßbares seelisches Phänomen zu verstehen, dessen Forderungen, Mahnungen und Warnungen für den Menschen unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens sind"79. Allerdings ist vom Richter eine Gewissensanspannung zu verlangen, ·· BVerfGE 1, 32; 10, 322; 18, 92; 19, 220. 70 BVerfGE 2, 12; 5, 197ff.; 6, 40 f.; 7, 205; 10, 81; 19, 220; 21, 369; 27, 283; 28, 259; 30, 19. 71 BVerfGE 6, 41; 27, 6. 78 BVerfGE 31, 73 ff. 75 Dazu BVerfGE 30, 24 ff. 74 Vgl. z . B . BVerfGE 30, 24 f. ferner 8, 325; 9, 147; 20, 331; 23, 32; 27, 173, u. 307. 75 Vgl. audi BVerfGE 10, 246; 11, 99. 7 · Dazu Verfasser oben Anm. 42 a. a. O. S. 11 ff. in Vbdg. mit BGHSt 15, 159 f. 77 Z. B. BVerfGE 7, 215; BVerwGE 10, 167 f. 78 Begriff bei Heck z. B. in „Das Problem der Reditsgewinnung", 1932, S. 30. 7» BVerfGE 12, 54.

Der objektivierte Wille des Gesetzgebers

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die mehr als eine bloß gefühlsmäßige sittliche Leistung ist. Vielmehr muß er hierfür auch seine geistigen Kräfte einsetzen und diese im Zweifelsfall durch Literaturverwertung und Einholung von Rat im zumutbaren Umfang vertiefen. Es gelten hier die Grundsätze, die der Bundesgerichtshof in Strafsadien für die Gewissensanspannung zur Vermeidung des Verbotsirrtums entwickelt hat 80 , und zwar in gesteigerter Art und Weise. Gerade diese Verbindung der Gewissensanspannung mit einer von der Art des Berufs als Richter und den Umständen des Einzelfalles abhängigen Orientierungspflicht macht es für die Gesellschaft erträglich, daß dann, wenn die objektiven Sinnbestimmungsmittel versagen, die teleologische Eigenwertung (der subjektive Geist) der Richter von der Gesellschaft hingenommen werden muß. Das gilt audi für die pluralistische Gesellschaft, soweit sie sich noch als solche und nicht als Anarchie versteht.

IV. Die Grundsätze, Grundentscheidungen und Wertmaßstäbe des G G sind die bedeutsamsten Sinnbestimmungsmittel für die Rechtsanwender und im wesentlichen die einzige Klammer, von der unsere Gesellschaft noch zusammengehalten wird. Daß oft auch gegen diese Kernsubstanz des G G offene oder versteckte Angriffe vorgetragen werden, kennzeichnet die politische Instinktlosigkeit oder Perfidie der Angreifer und sollte unsere Wachsamkeit gegenüber den unserer freiheitlichen Demokratie drohenden Gefahren schärfen. Deshalb darf hier mit einem Appell geschlossen werden, und zwar an das Bundesverfassungsgericht: unter allen Umständen an der von ihm herausgearbeiteten Kernsubstanz unseres G G festzuhalten; an den Gesetzgeber: unter keinen Umständen den Bestrebungen, diese Kernsubstanz gesetzgeberisch zu ändern oder auch nur in Frage zu stellen, nachzugeben; an die Verwaltung: sich stets mit den erforderlichen Mitteln für die Verwirklichung und Absicherung der Kernsubstanz in unserem Sozialleben einzusetzen, insbesondere sich hierbei auch vor die Rechtsanwender zu stellen.

80

BGHSt. 2, 201; 4, 5 und 243; 9, 172; 21, 20.

Tendenze sostanzialistiche nella più' recente dottrina e giurisprudenza penale italiana PIETRO NUVOLONE

1. Il momento penale é caratterizzato in Italia dall'affiorare sempre più deciso di istanze sostanzialistiche, che contrappongono la cosiddetta giustizia materiale alla cosiddetta giustizia formale. Ritorna di attualità il tema dei limiti taciti della norma penale, che già fu oggetto di discussioni nell'immediato dopoguerra 1 . Il problema dei «limiti taciti» è strettamente collegato a quello dell'analogia. Infatti il mezzo dell'analogia appare, a una prima ricerca, come il più ovvio per sistemare la dottrina delle scriminanti tacite. La nostra tesi é die essa non é una fonte di diritto, ma un metodo per la ricerca di una norma, e quindi di una fonte, per la regolamentazione del caso concreto. Non può considerarsi frutto di un ragionamento strettamente logico, perché ad essa si può opporre, quanto meno, 1 'argumentum a contrario. Chi opta per l'analogia compie, quindi, una scelta in base a criteri che non si trovano nè espressamente nè tacitamente nella legge: questo, naturalmente, se — come nel nostro caso — la legge non detta norme interpretative sul punto. Vi é, quindi, un doppio riferimento a una fonte extralegislativa nel giudizio di analogia: il primo, di carattere formale, per la posizione stessa della norma che ammette il procedimento analogico; il secondo, di carattere sostanziale, relativo al contenuto della norma, e precisamente al rapporto di similitudine tra il caso regolato espressamente e il caso da decidere. Il criterio per stabilire la similitudine, particolarmente in un giudizio di valore, non può essere, in ultima istanza, che il criterio che il giudice assume come se fosse il legislatore. La dottrina dell'analogia in bonam partem poggia sopra un equivoco: considera, cioè, configurata in base all'analogia una serie di scriminanti, die invece derivano logicamente dalla posizione stessa del precetto penale, entro i confini segnati dai limiti taciti omogenei. Questa impostazione é condivisa dal Dell'Andro2, che ne mette in evidenza la correlazione con il concetto di «norma reale»; e in parte anche dal Boscarelli3. 1

Cfr. sul punto: Nuvolone, I limiti taciti della norma penale, Palermo, 1947. Dell'Andro, Antigiuridicità (voce dell'«Enciclopedia del diritto», vol. II, p. 542 ss.) : in particolare nota (41) a p. 556. 3 Boscarelli, Analogia e interpretazione estensiva nel diritto penale, Palermo, 1955, p. 130 ss. 8

Pietro Nuvolone

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Una parte della dottrina, però, rimane ancorata alla linea tradizionale dell'analogia in boriarti partem4, anche se voci autorevoli si sono levate in senso contrario, basandosi, però, generalmente, sul preteso carattere eccezionale delle esimenti 5 . Il Bettiol, sia pure con parole diverse, e muovendo non da una premessa logica, ma dall'esigenza di non opporsi «all'irrompere di uno spirito «umano» fra le strettoie di un arido formalismo logicizzante» 6 non giunge a conclusioni molto diverse dalle nostre, allorché scrive 7 : «Quando invece una norma penale esimente si presenta come una vera e propria deviazione logica dalle conseguenze giuridiche che dovrebbero altrimenti seguire, perché la norma incriminatrice ha operato nella presenza di tutte le condizioni o circostanze nelle quali é chiamata ad operare, la sua espansione logica deve essere negata. Ci troviamo di fronte ad una norma di diritto eccezionale. Cosi la norma dell'art. 649, la norma sulla sospensione condizionale della pena, ecc. non sono passibili di estensione analogica. Ciò però non toglie che nell'ambito dell'eccezione, dato il carattere relativo dell'eccezionalità, tali norme possano essere suscettibili di una interpretazione analogica. Ciò dovrà essere fatto in ogni caso con grande cautela. Da quanto abbiamo esposto possiamo concludere come il divieto di una interpretazione analogica in materia penale non vada inteso in senso assoluto, quasi che alle norme penali dovesse venir negata la capacità di adattarsi ai multiformi casi della vita. L'ordinamento penale non é una rete inflessibile di norme die fermano il flusso della vita, ma, a parte le norme penali incriminatrici, tutte le altre possiedono pur sempre una dose di , senza della quale una fattiva giurisprudenza non sarebbe possibile. Anche in materia penale nel campo delle esimenti si può e si deve risalire ai principi informatori delle norme singole o dei gruppi di norme.» Per un'assoluta esclusione dell'analogia in bonam partem, il Pannain, che esattamente mette in evidenza die si tratta pur sempre di discriminazione del lecito dall'illecito 8 .

* Cfr. per tutti: Antolisei, Milano, 1969, p. 69 ss.

Manuale di diritto penale, Parte Generale, 6° ed.,

5

Cfr. per es. Petrocelli, La illiceità penale della violenza sportiva, in «Riv. crit. dir. e giur.» 1929, p. 18 ss. • Bettiol, Diritto Penale, 7 ° ed. Padova 1969, p. 122. Che le cosiddette scriminanti extralegislative possano essere compatibili col principio di legalità è sostenuto, nella prospettiva del diritto brasiliano, anche dal Da Costa, Consideraçoes em torno a supralegalidade no Direito Penai, in «Rev. Bras.» 1964, p. 1917. 7 8

Bettiol,

op. cit., pp. 123—124.

R. Pannain, 1962, p. 116.

Manuale di diritto penale, Vol. I, Parte Generale, 3° ed., Torino,

Tendenze sostanzialistiche

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Interessante, la posizione del Caiani9. L'A., dopo aver messo in luce le antinomie che sul piano logico e politico rendono complesso il problema dell'analogia e del suo divieto, e dopo avere condiviso l'opinione del Bobbio secondo la quale la vera ragione del divieto di analogia dipenderebbe «da un errato concetto dell'analogia, considerata come un elemento di arbitrio e di incertezza, cioè sostanzialmente con un'attività creativa», confondendosi «l'uso dell'analogia col suo abuso» finisce con l'ammettere 10 : «D'altra parte non ci si può nascondere, specie alla luce dell'esperienza di quegli ordinamenti die tale divieto hanno ignorato ed ignorano, die vi sono molti motivi per far ritenere die, nonostante tutte le difficoltà e critiche che può suscitare, esso abbia ancora ragione di sussistere, rappresentando comunque un freno contro la tendenza quasi fatale del potere esecutivo ad evadere il principio della certezza, con l'attribuire al giudice, che viene così politicizzato, un'ampia discrezionalità nella configurazione delle figure di incriminazione penale. Questo soprattutto con riferimento a determinati reati di carattere politico-sociale. E non é da nascondersi die tale pericolo é pure implicito, e forse sempre più incalzante, andie in quei regimi di tipo democratico, la cui struttura, per motivi connessi a più ampi fenomeni di indole sociale ed alle loro conseguenze sul piano istituzionale ed alla tecnica parlamentare, si vengono trasformando in strutture di tipo cosiddetto partitocratico.»

L'ammissione è importante, perché essa non può logicamente limitarsi alle norme incriminatrici, ma a tutte le norme die circoscrivono il campo dell'illecito penale. A questo punto l'A. riassume le posizioni della dottrina pro e contro l'analogia in bonam partem, e le attribuisce alla diversa importanza die si dà, di volta in volta, ai principi «politici» del favor libertatis o della certezza del diritto o del principio di legalità. Qui ci sembra die sfugga all'A. die il principio di legalità e di certezza non é solo un principio politico, ma anche un principio logico, perché legato all'essenza stessa della norma penale, intesa come comando e non come garanzia. Il Caiani passa, poi, ad esaminare le teorie critiche e non politiche: e quindi la nostra teoria, contrapponendola a quella — particolarmente illustrata dal Vassalli11 — per cui l'analogia sarebbe applicabile anche alle norme non incriminatrici, sempre die non si tratti di norme in cè e per sè eccezionali; e ritiene di muovere le seguenti obbiezioni. • Caiani, Analogia b) Teoria generale (voce dell'«Enciclopedia del diritto», Vol. II, p. 344 ss.). ,e Caiani, op. e loc. cit., p. 371. " Vassalli, Limiti del divieto di analogia in materia penale, Milano, 1942.

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Pietro Nuvolone

«Rispetto a quest'ultima impostazione del problema — per certi aspetti pregiudiziale — basterà sommariamente osservare quanto segue: 1) non si vede anzitutto la ragione per cui, accanto a una ricognizione di ciò che essa non può volere se non a condizione di negare se stessa, non sia concepibile un procedimento per cosi dire positivo; svolto cioè partendo non più dalla norma penale-base in sè considerata, bensì da quelle norme penali scriminanti espresse la cui esistenza ed il cui significato non possono certo venire misconosciuti nell'ambito dell'attuale ordinamento. Si vuol dire, in altri termini, die l'esistenza di scriminanti inespresse non può essere soltanto conseguenza per così dire automatica del principio di non contraddizione (del principio cioè per cui la norma penale non può volere il contrario di ciò die essa vuole), ma andie il risultato di una diversa ricerca e di una diversa valutazione, la quale, muovendo dalla ratio di una scriminante espressa, ravvisi in essa motivi di opportunità ed equità tali da poter giustificare la loro estensione per analogia andie a casi espressamente non previsti. £ questa ricerca non sembra invero potersi considerare in termini molto diversi da una ricerca di tipo analogico, svolto cioè mediante ricorso, mediato o immediato, a un principio. 2) Anche considerando il momento della ricognizione per così dire logico-negativa dei limiti taciti della norma penale, non sembra invero die anche tale ricerca possa configurarsi in termini molto diversi da quelli di un problema di interpretazione: di interpretazione, se si voglia, sistematica. Affermare infatti die la norma non é solo la norma , ma έ quella . A chi poi ci accusasse di abbandonare in tal modo la ricerca della verità, accettando la rivoluzione storica, subito replicheremmo die quello !0

Cfr. Bettiol, Diritto penale, cit., p. 59 ss. (con ampie citazioni bibliografiche). Gregori, Adeguatezza sociale e teoria del reato, Padova, 1969, p. 167.

Tendenze sostanzialistidie

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indicato non pretende d'essere il metodo più , ma il più a sanare le sofferenze del diritto.» E conclude l'Autore: «Il senso reale della norma, il suo unico significato, é insomma storico. E perciò, nel giudizio dell'interprete, una, e una sola, delle possibilità logiche del tipo. S'impone dunque una indagine aggiuntiva all'interpretazione grammaticale e logica, die integri l'analisi loeica senza : compito del giudice é ricavare dalla lettera della legge quel comportamento di cui la norma é Bild, o raffigurazione. Che tale opera presenti difficoltà, é fuor d'ogni dubbio. Chi di noi non ha talora inseguito faticosamente una , quando la connessione logica fra le parole era già diiara? La proposizione normativa die é simbolica diventa invero «fattuale» (cosale), solo quando viene calata nel quadro storico delineato dai motivi di fondo dell'ordinamento giuridico-sociale. In caso contrario, resta messaggio diiaro, ma privo di risonanza: privo, cioè, di quell'efficacia imperativa die mira ad orientare i comportamenti e ad ottenere l'assenso pratico dei destinatari. E' ora, però, di tirar le fila del discorso. La connessione tra i concetti elementari contenuti nella norma, e il complesso dell'esperienza storica, può venire compresa con l'aiuto dell'intuizione, perchè non suscettibile di sola determinazione logica. La totalità di queste connessioni dell'esperienza è proprio ciò die diversifica la scienza da uno sdiema «logico», ma vuoto. La logica, d'altro canto, ha l'indispensabile funzione di impalcatura per sistemare le intuizioni. E col felice incontro delle due attività intelletuali, i teoremi concettuali delle norme diventano proposizioni . L'essenza della prospettiva teleologica qui accolta, é dunque assai semplice: affermare la necessità di un «analisi pluridimensionale> dell'espressione legislativa. E foggiare, a questo scopo, uno strumento ermeneutico e speculativo die permetta di comprendere i Vgl. audi Salm, a . a . O . , S. 85: „materielle", nicht bloß „logistisdi-mechanistisdie Begründung d e s . . . Umkehrsdilusses". Nachtrag: Es sei mir gestattet, in Ergänzung namentlich zu S. 193 noch hinzuweisen auf die vorübergehend meiner E r innerung entschwundene Münchner Dissertation von Fritz König, Versuch und Wahnverbrechen bei Reditfertigungsgründen, 1962.

Der Irrtum über Rechtfertigungsgründe EDUARD D R E H E R

I. Gewiß, dieses ist ein altes Thema. Schon 1961 schrieb Roxin: „Die Irrtumsprobleme scheinen ausdiskutiert"1 und Arthur Kaufmann stellte auf der Hamburger Strafrechtslehrertagung 1964 in seinem Referat über die Irrtumsregelung des E 1962 resignierend fest: „nirgends ist die Diskussion so festgefahren, sind die Fronten so erstarrt 2 ." Dabei ist auf diese Thematik wie kaum eine andere ein erstaunliches Maß an scharfsinniger, differenzierender Gedankenarbeit gewendet worden. Ein glänzend geschriebener Aufsatz folgte dem anderen, bis die Auseinandersetzung schließlich in den tief eindringenden Monografien von Roxin und Hirsch gipfelte3. „Die wechselseitigen Argumente sind unzählige Male vorgebracht worden, jeder kennt sie, niemand läßt sich durch sie von seiner Meinung abbringen", sagte Arthur Kaufmann in seinem Referat weiter. Wenn ich mich dennoch an das Wagnis mache, die alte Problematik, fixiert auf ihr heikelstes Unterthema, nochmals zu untersuchen, so bewegt mich dabei vor allem zweierlei. Einmal ist in der Zwischenzeit gesetzgeberisch einiges geschehen, was neue Aufschlüsse bringen könnte. Ich denke dabei an die Irrtumsvorschriften in § 113 StGB n. F., aber auch an den kommenden § 35 StGB, der für den entschuldigenden Notstand eine Irrtumsregelung vorsieht, und schließlich an den in Art. 20 Abs. 4 GG neu geschaffenen Rechtfertigungsgrund des politischen Widerstandsrechts, den Welzel sogleich als willkommenes Argument für seine Lehre in Anspruch nahm4. Was mich aber zum zweiten nicht nur bewegt, sondern bedrückt, ist, daß der Gesetzgeber des 2. StRG auf eine Regelung des Irrtums über Rechtfertigungsgründe völlig verzichtet hat, nicht zuletzt unter dem Eindruck des Abstimmungsergebnisses auf jener Hamburger Tagung, das zu gesetzgeberischer Zurückhaltung mahnte. Diese Mahnung hatte allerdings ganz heterogene Gründe. Die in § 20 E 1962 vorgeschlagene Lösung paßte weder den Anhängern der 1

MsdirKrim. 1961,211.

* ZStW 76, 543.

s Roxin: Offene Tatbestände und Rechtspflichtmerkmale, 1959; Hirsch: Die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, 1960; dazu nodi Kunert: Die normativen Merkmale der strafrechtlichen Tatbestände. Idi hoffe auf Verständnis, wenn idi im Rahmen dieses Aufsatzes nur einen Teil der Literatur berücksichtigen kann. 4 Lehrbuch 11. Aufl. (Lb), 89 f.

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Eduard Dreher

strengen Schuldtheorie, noch denen der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, noch den Vertretern der Vorsatztheorie und so vereinigten sich alle, weil keiner seine eigene Lehre auf dem Siegeszuge sah, zu einer Mehrheit, die jedwede gesetzliche Regelung ablehnte. Mit dieser Resignation ist der Rechtsprechung aber nicht geholfen, die ohne eine solche Regelung in kaum lösbare Schwierigkeiten geraten ist und weiter geraten muß und der von einer zerstrittenen Theorie, in der die Fronten erstarrt sind, keine Rettung kommen kann. Ich hoffe daher, mit einem neuen Versuch, die Erstarrung zu durchbrechen und einer gesetzlichen Lösung vorzuarbeiten, doch noch einiges Interesse zu finden, nicht zuletzt bei dem verehrten Jubilar selbst, der ja wie nur wenige Straf rech tslehrer Theorie und Praxis, analytischen Scharfsinn und Verständnis für die Bedürfnisse der Rechtsprechung in so vorbildlicher Weise in sich vereinigt.

II. Ausgangsgrundlage für die Untersuchung soll ein Überblick über die strafrechtlich relevanten oder möglicherweise relevanten Arten des Irrtums sein, denen der Täter einer Straftat unterliegen kann. D a ist einmal der Irrtum über seine reale Handlung, den wirklichen Vorgang selbst mit allen seinen Modalitäten, in die er eingebettet ist, Umstände, die schon in der Vergangenheit liegen können, im Handlungszeitpunkt gegeben sind oder, vor allem als Folge der Handlung selbst, in der Zukunft eintreten können. Dabei kann sich ein Irrtum auch auf den sozialen Sinngehalt der Umstände, auf Bedeutung oder Wirkung einzelner Faktoren oder auf rechtliche Begriffe und Zusammenhänge beziehen. In diesem Bereich kann ein Irrtum über faktische Umstände von dem über normative durchaus geschieden werden. Festgehalten zu werden verdient vor allem, daß das Feld der Vorstellung des Täters und damit auch das seiner möglichen Irrtümer seine Handlung als Ganzes mit allen ihren Modalitäten umfaßt, gleichgültig, wie sie später einmal rechtlich bewertet werden. Einen solchen Irrtum, den man vielleicht nicht ganz unmißverständlich vielfach Sachverhaltsirrtum genannt hat, kann man auch als Irrtum über den Handlungsvorgang bezeichnen. Nun scheidet erst die strafrechtliche Beurteilung aus dem an sich einheitlichen Handlungsvorgang Sektoren von Umständen heraus, die für eben diese spezifische Beurteilungsweise relevant werden, die sich von einer anderen, ζ. B. einer medizinischen, radikal unterscheidet. Sie tut das vor allem unter den drei großen Leitgesichtspunkten von Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit und Schuld. Das heißt, sie prüft, wenn ich zunächst einmal vom dreistufigen Verbrechensaufbau

Irrtum über Rechtfertigungsgründe

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ausgehen darf, an abstrakten Handlungs- oder Sachverhaltsbeschreibungen von dreifacher Art den Handlungs Vorgang und seine einzelnen Umstände. Daß in dieser spezifisch kriterienbezogener Beurteilung zugleich eine Wertung des Vorgangs liegt, braucht hier nicht näher begründet zu werden. Mit der Beschreibung der mit Strafe bedrohten Handlung, wie zunächst der Tatbestand sie liefert, werden nicht nur die Umstände genannt, die eine solche Handlung konstituieren, sondern zugleich in abstracto diejenigen aufgeführt, die von dem erst in diesem Zusammenhang als Begriff auftauchenden Vorsatz umfaßt sein müssen und damit zugleich Gegenstand eines entsprechenden Irrtums werden können (Irrtumstatbestand). Irrtümer sind hier in zwei Richtungen möglich. Der Handelnde kann einmal tatsächlich gegebene Umstände, die der Handlungsbeschreibung entsprechen, nicht erkennen. Dann ist sein Vorsatz ausgeschlossen. Wenn man einen solchen Irrtum als Tatbestandsirrtum zu bezeichnen pflegt, so ist das nicht präzis, denn der Handelnde irrt nicht über Merkmale der abstrakten Handlungsbeschreibung, sondern über Umstände des realen Lebensvorganges, die dieser abstrakten Beschreibung lediglich entsprechen. Umgekehrt kann der Handelnde irrig Umstände annehmen, die, wenn sie gegeben wären, der Tatbestandsbeschreibung entsprächen. Dann ist seine Handlung nach der ganz herrschenden Meinung ein untauglicher Versuch. Die abstrakte Handlungsbeschreibung des Gesetzes, die auch sdieinbar deskriptiven Merkmalen eine normative Färbung gibt, verlangt, wenn festgestellt werden soll, ob eine reale Handlung einem Tatbestand entspricht, die Subsumtion unter dessen Beschreibung. Auch hier sind Irrtümer nach zwei Seiten möglich. Der irrigen Annahme, daß ein realer Umstand der abstrakten Beschreibung nicht entspreche, steht die irrige Annahme des Gegenteils gegenüber. Die Subsumtion ist in erster Linie Aufgabe des Richters, so daß vor allem er das Opfer eines Subsumtionsirrtums werden kann. Freilich können auch andere, namentlich der Handelnde selbst, falsch subsumieren. Dessen fehlerhafte Subsumtion ist aber, gleichgültig in welche Richtung sein Irrtum geht, nach richtiger Ansicht als solche strafrechtlich irrelevant. Sie kann zwar einen Irrtum über das Verbotensein der Handlung insgesamt auslösen, braucht das aber keineswegs und ist strukturell kein solcher Irrtum 5 . Das große Problem ist nur, inwieweit sich die Vorstellung des Handelnden mit der gesetzlichen Begriffsbildung, wenn 5 So kann jemand meinen, eine Fahrkarte sei keine Urkunde, die Fälschung aber trotzdem für verboten halten. Die Behauptung von BGHSt 7, 23 und 9, 347 (wohl auch 13, 138; 15, 340), der Subsumtionsirrtum sei ein Fall des Verbotsirrtums, ist falsch; wie hier Schönke-Schröder, 15. Aufl., 39 zu § 59.

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audi nicht unmittelbar, so doch wenigstens in der bekannten Parallelwertung in der Laiensphäre zu decken hat, um Tatbestandsvorsatz annehmen zu können. Soweit eine solche Dedsung nötig ist — den Abgrenzungsschwierigkeiten kann hier nidit nachgegangen werden —, ist der Irrtum des Handelnden aber ein Irrtum über den Handlungsvorgang und dessen soziale Bedeutung, also Tatbestandsirrtum und kein bloßer Subsumtionsirrtum. Dieser ist als solcher kein Sachverhalts-, sondern ein spezifischer Beurteilungsirrtum®. Aus dem einheitlichen Handlungsvorgang schneidet die strafrechtliche Prüfung weitere Umstände heraus, die der abstrakten Beschreibung eines Rechtfertigungsgrundes entsprechen. Im Gegensatz zum Tatbestand braucht ein Reditfertigungsgrund allerdings nicht im Gesetz beschrieben zu sein, kann vielmehr seine Existenz und Beschreibung dem Gewohnheitsrecht oder Rechtsprechung und Lehre verdanken; er braucht auch keine Handlung zu beschreiben, wie ζ. B. im Falle der mutmaßlichen Einwilligung. Auch hier kann sich ein Irrtum zunächst auf den Lebenssachverhalt beziehen, den der Rechtfertigungsgrund beschreibt. Ob sich diese Beschreibung mit allen ihren Umständen als Erlaubnistatbestand und damit als Gegenstück zum Verbotstatbestand begreifen läßt, ist ein Problem der hier angestellten Untersuchung. Sicher ist jedenfalls, daß der Irrtum über die Voraussetzungen oder, anders gesagt, die Umstände oder den auch normative und rechtliche Merkmale umfassenden Sachverhalt eines Rechtfertigungsgrundes ein Irrtum über den Handlungsvorgang ist wie der Tatbestandsirrtum auch. Hingegen ist ein Beurteilungsirrtum der audi im Bereich der Rechtfertigungsgründe mögliche Irrtum über die Subsumtion der Umstände des Handlungsvorganges unter die Rechtfertigungsbeschreibung. Handlungsvorgangs- und Subsumtionsirrtum sind audi hier zugunsten und zuungunsten des Handelnden möglidi. Der Handelnde kann irrig annehmen, daß ein Rechtfertigungssachverhalt gegeben sei, oder aber verkennen, daß ein solcher Sachverhalt, mindestens der objektiven Sachlage nach, besteht (umgekehrter Irrtum). Diese Irrtümer sind der eigentliche Gegenstand der Untersuchung. Denn für den Subsumtionsirrtum über einen Rechtfertigungsgrund, gleichgültig ob er dahin geht, daß ein Umstand begrifflich unter die Rechtfertigungsbeschreibung falle, oder umgekehrt, kann schon jetzt gesagt werden, daß er, auch wenn er Quelle eines Irrtums über das Verbotensein der gesamten Handlung werden kann, als soldier ebenso irrelevant ist wie der über die Beschreibung des Tatbestandes. • Auf die zahlreichen Abgrenzungskontroversen um den Subsumtionsirrtum kann hier nicht eingegangen werden.

I r r t u m über Rechtfertigungsgründe

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Was für die Irrtümer über einen Rechtfertigungsgrund gilt, gilt entsprechend für den über einen Schuldausschließungsgrund. Auch hier gibt es in beiden Richtungen den Irrtum über den Handlungsvorgang, also die realen Umstände des entschuldigenden Sachverhalts, sowie in beiden Richtungen den irrelevanten Subsumtionsirrtum über die Beschreibung des Schuldausschließungsgrundes7. Als letzte treten zu den drei Handlungsvorgangsirrtümern und den drei Subsumtionsirrtümern in den jeweiligen zwei Richtungen die beiden grundlegenden Bewertungsirrtümer, die sich auf die gesamte Handlung beziehen, nämlich der Irrtum über ihre Rechtswidrigkeit und der Irrtum über die Schuld des Täters, auch sie wieder in beiden Richtungen. Der Irrtum des Handelnden über seine Schuld ist, da die Beurteilung hier allein dem Richter zusteht, strafrechtlich irrelevant, gleichgültig ob er irrig meint, daß ihn kein Schuldvorwurf treffe, oder daß er sich schuldlos für schuldig hält. Den Irrtum oder auch die bloße Unkenntnis des Handelnden, daß das, was er tue, rechtswidrig sei, Verbotsirrtum zu nennen, ist zwar nicht ganz präzis, hat sich aber eingebürgert und soll hier beibehalten werden. Hinsichtlich der Behandlung dieses Irrtums hat sich das 2. StrRG in § 17 des künftigen Strafgesetzbuchs mit der bisherigen Rechtsprechung des BGH gegen die Vorsatztheorie entschieden, so daß diese Theorie, soviel Wahrheit auch in ihrer Grundvorstellung stecken mag, näherer Betrachtung hier nicht mehr unterzogen wird. Was den Verbotsirrtum angeht, so ist von besonderer Bedeutung, daß es für seine Bewertung ganz gleichgültig ist, welcher Quelle er entspringt. Er kann auf einer von vornherein bestehenden Fehleinschätzung der Handlung beruhen, kann aber auch die Folge anderer Irrtümer sein, so eines Subsumtionsirrtums oder des Irrtums über eine objektive Bedingung der Strafbarkeit 8 , ja selbst eines Tatbestandsirrtums 9 . Das heißt, er ist im Grunde

' Umgekehrter Sadiverhaltsirrtum ist hier ζ . B. gegeben, wenn der Täter in einer Notstandssituation, in der er in Lebensgefahr sdiwebt, nur G e f a h r f ü r sein Eigentum annimmt, oder wenn ein Soldat unter den Voraussetzungen des § 5 W S t G den Befehl eines Vorgesetzten zu einer Straftat befolgt, ihn aber f ü r einen bloßen Wunsch hält. Über die Behandlung solcher Irrtümer ist damit freilich nodi nidits gesagt. Dem Problem k a n n hier nicht nachgegangen werden. Der verschiedentlich geäußerten Meinung, es lägen hier überhaupt keine Irrtumsprobleme vor (z. B. Lange, Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafreditskommission, Bd. 2, 38; A r t h u r Kaufmann ZStW 76, 577), k a n n nicht gefolgt werden. D a s bestätigt § 35 Abs. 2 StGB i. d. F. des 2. StrRG. 8 Z. B. in den Fällen des § 186 StGB; vgl. Dreher hier Lackner-Maassen 6. Auf., I I I 3 b zu § 59.

32. Aufl., 2 D zu § 186; wie

' Was an sich audi Anhänger der strengen Sdiuldtheorie einräumen; so 2?. B. Hirsch a. a. O . 232; Maurad} N J W 1962, 720.

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Eduard Dreher

ein Irrtum ganz eigener Art. Dasselbe gilt für den dem Verbotsirrtum entsprechenden umgekehrten Irrtum, nämlich die irrige Annahme eines Handelnden, sein in Wirklichkeit tatbestandsloses Handeln, das er dem Sachverhalt nach voll überblickt, sei rechtswidrig. Hier besteht Einigkeit, daß ein solcher Irrtum dem Handelnden nicht schadet, also irrelevant ist. Was er tut, ist ein bloßes Wahndelikt. Damit ergibt sich folgendes Gesamtbild. Die erste Stufe des Irrtums über den Handlungsvorgang selbst fächert sich durch die drei strafrechtlichen Bezugspunkte von Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld in die drei Formen des Tatbestandsirrtums sowie des Irrtums über Voraussetzungen eines Rechtfertigungs- und Schuldausschließungsgrundes auf. Dazu tritt die zweite Stufe der Subsumtionsirrtümer, die im Gegensatz zum vielfältig gemischten Handlungssachverhaltsirrtum reine Beurteilungs- oder genauer Einordnungsirrtümer sind. Als dritte Stufe schließen der Irrtum über die Rechtswidrigkeit der Handlung und die Schuld des Täters als Irrtümer über die Bewertung der Handlung als Ganzes das System. Sämtliche Irrtümer sind sowohl als positive wie als umgekehrte Irrtümer möglich.

III. Dieser Überblick über die im Strafrecht möglichen Formen des Irrtums mag manchem Leser etwas banal vorgekommen sein. Es wird sich aber sogleich zeigen, wie nötig er war. Der Überblick hat nämlich, um einen von Welzel geprägten Terminus audi in diesem Zusammenhang fruchtbar zu machen, die sachlogischen Strukturen im Bereich des strafrechtlichen Irrtums aufgezeigt. Bereits damit wird aber evident, daß die strenge Schuldtheorie gegen diese sachlogischen Strukturen verstößt und sich schon im systematischen Ansatz als verfehlt erweist, wenn sie die These aufstellt, daß nicht nur die irrige Annahme nicht existierender Rechtfertigungsgründe oder die irrige Erweiterung des Umfanges tatsächlich bestehender ein Verbotsirrtum sei, sondern darüber hinaus audi die irrige Annahme der Voraussetzungen der Rechtfertigung, also des entsprechenden Handlungssachverhalts 10 . Hier wird der Irrtum über einen Lebenssachverhalt kurzerhand mit einem Irrtum über die Bewertung der gesamten Handlung identifiziert. Das ist ein Vergreifen in den Kategorien und führt im Ergebnis zu einer Fiktion, einer Rechtsfigur, vor deren Anwendung im Strafrecht zu warnen gerade Welzel nicht müde geworden ist. Denn derjenige, der irrig die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes annimmt, irrt über das, 10

Welzel Lb 168; Maurad) AT 4. Aufl. 475 f.; Hirsch a. a. O. 331, 347.

Irrtum über Reditfertigungsgründe

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was er tut, der im Verbotsirrtum Befangene irrt darüber, ob er das, was er tut, auch darf. Im ersten Fall geht es um mangelhaftes Erkennen der Lebenssituation, im zweiten um sozialethische Falschbewertung 11 . Daß das zweierlei ist, liegt auf der Hand 12 . Freilich kann ein Verbotsirrtum seine Quelle in dem Handlungssachverhaltsirrtum haben und häufig wird das audi der Fall sein. Das berechtigt aber nicht dazu, die beiden Irrtümer zu identifizieren. Mit demselben Recht könnte man behaupten, der Tatbestandsirrtum sei ein Verbotsirrtum, weil er häufig einen solchen Irrtum sekundär auslöst. In Wirklichkeit ist es so, daß der Irrtum über einen Rechtfertigungssachverhalt keineswegs stets einen Verbotsirrtum nach sich zieht. Dieser kann eine ganz andere Ursache haben. Ist ein Mann, der sich fälschlich erinnert, seine verreiste Frau habe ihn vor der Abfahrt um die Öffnung ihrer Post gebeten, von vornherein der Meinung, daß er als Ehemann das Recht zur Öffnung habe, so ist dieser Irrtum, den Welzel als Verbotsirrtum ansieht 13 , nicht die Folge des Irrtums über die Einwilligung der Frau, sondern hat mit diesem Irrtum nichts zu tun. Das Zusammentreffen beider Irrtümer ist ein Zufall. Vollends klar wird die Unzulässigkeit der Identifikation beider Irrtümer in den Fällen, in denen der Handelnde irrig die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes annimmt, aber dennoch glaubt, rechtswidrig zu handeln. Schon in der Großen Strafrechtskommission habe ich Welzel den Fall vorgehalten, daß jemand, der einen auf frischer Tat ertappten Dieb verfolgt, den Falschen festhält, aber gleichzeitig glaubt, daß nur die Polizei ein Festnahmeredit habe14. Welzel hat darauf an Hand eines parallel liegenden Notwehrfalles repliziert, daß es hier um zwei Irrtümer gehe. Insoweit der Handelnde glaube, kein Notwehrrecht zu haben, sei ein Wahndelikt gegeben. „Dieser Irrtum ist völlig unbeachtlich; zweitens die irrige Annahme der Notwehrvoraussetzungen. Allein dieser Irrtum ist rechtlich erheblich. Er schließt die Schuld aus, wenn er entschuldbar ist15." Das ist eine Lösung des Falles, über die sich gewiß diskutieren läßt. Nur räumt sie den Einwand, daß der Irrtum über die Voraussetzungen der Rechtfertigung kein Verbotsirrtum sei, gerade nicht aus. Denn da der Handelnde der Meinung

11

Lange, Niedersdiriften a. a. O. 38. Welzel (so JZ 1952, 343) will das freilich nidit wahrhaben; gegen ihn schon Lang-Hinrichsen JR 1952, 186; Nowakowski ZStW 65, 393; Arthur Kaufmann JZ 1954, 658. 13 Lb 335. Ob diese Auffassung richtig ist, kann hier dahingestellt bleiben. 14 Niedersdiriften a . a . O . 28; der Einwand war, was mir damals nicht bekannt war, früher sdion erhoben worden, so von Baumgarten, Aufbau der Verbrechenslehre, 1913, 183 ff.; Zimmerl, Zur Lehre vom Tatbestand, 1928, 77 ff. 15 Niederschriften a. a. O. 34. 12

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war, daß er rechtswidrig handle, war sein Irrtum über die Rechtfertigungsvoraussetzungen, den Welzel für allein rechtlich erheblich erklärt, eben kein Verbotsirrtum. Tatsächlich räumt Welzel hier ein, daß ein entschuldbarer Irrtum über Rechtfertigungsvoraussetzungen auch dann entschuldigt, wenn er nicht zu einem Verbotsirrtum führt. Damit ist aber die Grundthese der strengen Schuldtheorie preisgegeben18. Welzeis Schüler Hirsch, der das erkannt hat, versucht denn auch, dem Dilemma auf anderem Wege zu entgehen. Er räumt ein, daß ein Irrtum über Rechtfertigungsvoraussetzungen nicht stets zu einem Verbotsirrtum führt, will den Irrtum aber, selbst wenn er als solcher entschuldbar ist, nur dann als beachtlich ansehen, wenn ein Verbotsirrtum tatsächlich die Folge ist17. Wäre das richtig, so hätte der Irrtum über Rechtfertigungsvoraussetzungen ganz entgegen der Lösung Welzels keine selbständige Bedeutung mehr, sondern würde auf eine bloße Quelle möglichen Verbotsirrtums herabgedrückt; es käme im Grunde nur auf den Verbotsirrtum an. Jedoch kann die von Hirsch vertretene Lösung nicht richtig sein. Denn es ist ganz allgemeine Meinung18, daß derjenige nur ein Wahndelikt begeht, der die objektiv gegebenen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes erkennt und die etwa erforderlichen subjektiven Rechtfertigungselemente aufweist, gleichwohl aber meint, daß er rechtswidrig handle. Diese Meinung teilt auch Hirsch selbst19. Ist sie aber richtig, so kann in dem Falle, in dem der Handelnde die Rechtfertigungsvoraussetzungen unvorwerfbar irrig annimmt und auch subjektiv ζ. B. zu seiner Verteidigung handelt, zur Beachtlichkeit des Irrtums nicht zusätzlich gefordert werden, daß der Handelnde überdies einem Verbotsirrtum unterliegt. Wer entschuldbar irrt, muß so behandelt werden, als ob sein Irrtum Wahrheit wäre. Der Grundfehler der strengen Schuldtheorie, über den weder Welzel noch Hirsch hinwegkommen können, löst Dissonanzen und Verzerrungen aus. Die Lehre geht bekanntlich davon aus, daß der Tatbestand die Rechtswidrigkeit nur indiziere. Sie ist erst dann gegeben, wenn Rechtfertigungsgründe fehlen. Das bedeutet aber, daß objektiv diesen Gründen dasselbe Gewicht zukommt wie dem an sich noch unvollkommenen Tatbestand, wenn es um die Rechtswidrigkeit geht. Von dort her ist es dissonant, wenn dem Handelnden, der über den Lebenssachverhalt irrt, im Falle des Tatbestandes Vorsatzausschluß, im Fall der Rechtfertigungsvoraussetzungen aber nur ein Verbotsw Damit tritt, wie sdion Arthur Kaufmann bemerkt hat (ZStW 76, 567), eine gewisse Dreigliedrigkeit ein. 1 7 A. a. O. 226 ff., 233. 19 Vgl. ζ. B. Wehel, Niederschriften a. a. O. 34; v. Weber JZ 1951, 263. 10 A. a. O. 320.

Irrtum über Rechtfertigungsgründe

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irrtum zugebilligt werden soll20. Daran kann auch das immer wieder vorgetragene Argument der Anhänger der strengen Schuldtheorie nichts ändern, daß anders als beim Tatbestandsirrtum der Handelnde in den Fällen des Irrtums über Rechtfertigungsvoraussetzungen zu besonderer Prüfung aufgerufen sei. Engisch hat gezeigt, daß das Argument letztlich nicht durchschlägt21. Es leuchtet in der Tat nicht ein, warum ein Gerichtsvollzieher, der in eine Wohnung eindringt, zu sorgfältigerer Prüfung der Sachlage aufgerufen sein sollte als ein Kraftfahrer, der mit seinem Auto durdi dichten Verkehr fährt. Aber selbst wenn das Argument richtig wäre, folgt daraus doch nidit, daß die mangelnde Sorgfalt bei Prüfung der Sachlage zur Strafe wegen vorsätzlicher Tat führen müßte. Sorgfaltswidrige Sachlagenprüfung ist geradezu ein Charakteristikum der Fahrlässigkeit. Die Dissonanz steigert sich zur Verzerrung, wenn man die Lösung unter die Lupe nimmt, welche die strenge Schuldtheorie für die Fälle des umgekehrten Irrtums parat hält. Sehr mit Recht hat Roxin darauf hingewiesen, daß diese Theorie in den Fällen, in denen objektiv Rechtfertigungsvoraussetzungen gegeben sind, der Handelnde das aber nicht erkennt, folgerichtig Wahndelikt annehmen müßte 22 . Denn der umgekehrte Verbotsirrtum bedeutet auch nach Welzeis Lehre ein bloßes Wahnverbrechen 23 . Maurach, selbst ein Anhänger der strengen Schuldtheorie, lehnt die von Roxin aufgezeigte Konsequenz theoretisch audi nicht ab 24 . Um so seltsamer wirkt es, daß gerade er dort, wo der Gesetzgeber Regelungen getroffen hat, die der theoretischen Konsequenz der strengen Schuldtheorie entsprechen würden, nämlidi in § 22 Abs. 1 S. 2 WStG, § 109 b Abs. 5 S. 2 und neuerdings § 113 Abs. 3 S. 2 StGB Worte der Kritik gegenüber dem Gesetz von geradezu emotionaler Heftigkeit gefunden hat wie „Husarenritt" 25 , „Gewaltkonstruktion" 2 ® und „unklare, widerspruchsvolle . . . Konzeption" 27 . Tatsächlich lehnt Maurach die theoretische Konsequenz nur wegen ihrer für ihn untragbaren Ergebnisse ab 28 und das tun die übrigen Finalisten auch, wenn sie sich den unerwünschten Konsequenzen mit Hilfe der Lehre von den subjektiven Rechtfertigungselementen entziehen29. Man mag über diese noch immer umstrittene Lehre30 20

Vgl. dazu audi Engisò ZStW 70, 594. " A. a. O. 590 ff. » A. a. O. 158; vgl. schon ν. Weber JZ 1951, 263. ÎS Lb 194; ebenso Maurach NJW 1962, 771. ** A. a. O. » BT 5. Aufl. 616. NJW 1962, 768 Anm. 39. " Nachtrag II 1971, 11. « NJW 1962, 771. 2 » Hindi a. a. O. 251; Welzel Lb 83.

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denken, wie man will. Sicher ist, daß sie für die strenge Schuldtheorie die Spannungen zwischen der Behandlung von Irrtum und umgekehrtem Irrtum unerträglich steigert. Im letzten Fall nämlich wird den subjektiven Elementen ein so hohes Gewicht beigelegt, daß ihr Fehlen trotz der bestehenden objektiven Rechtfertigungslage zur Bestrafung nicht etwa nur wegen Versuchs, sondern wegen vollendeter Tat führt 3 1 . Im anderen Fall aber wird den gegebenen subjektiven Elementen so wenig Gewicht beigelegt, daß der Handelnde, obwohl er sich ζ. B. rechtswidrig angegriffen glaubt und diesem Angriff entgegentreten will, wegen vorsätzlicher Tat unter möglicher Strafmilderung verurteilt werden soll. Der Täter wird also in beiden Fällen, und zwar infolge einer theoretisch unvertretbaren verschiedenen Wertung desselben subjektiven Rechtfertigungselements, so schlecht gestellt wie nur irgend möglich. Das bedeutet im ersten Fall, daß der fehlende Erfolgsunwert, der sich aus dem objektiven Gegebensein der Rechtfertigungslage ergibt, überhaupt nicht zu Buche schlägt. Im zweiten Fall bedeutet es, daß ζ. B. der in Putativnotwehr Handelnde, der mit der Tötung des scheinbaren Angreifers aus der vermeintlichen Situation die Konsequenzen zieht, welche die Rechtsordnung gestatten würde, wäre die Situation wirklich gegeben, im Falle der Vermeidbarkeit seines Irrtums einem Mann gleichgestellt wird, der, ohne irgendwie zu irren, Beihilfe zu einem Tötungsdelikt begeht oder ein solches Verbrechen versucht. Nach dem 2. StrRG würde sidi sogar die groteske Situation ergeben, daß die Strafe des Gehilfen gemildert werden müßte (§ 27 Abs. 2 S. 2), während sie im Falle der Putativnotwehr nur gemildert werden könnte ( § 1 7 S. 2). Ich meine, es springt ins Auge, daß die Gewichte der Gerechtigkeit hier falsch auf die Waagschalen gelegt werden. Die Anhänger der strengen Schuldtheorie und die der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen haben heftig darüber gestritten, welche Lehre die das Gerechtigkeitsgefühl und die Bedürfnisse der Praxis befriedigenderen Ergebnisse für sich aufweisen kann 3 2 . Es fehlt mir der Raum, mich damit im einzelnen auseinanderzusetzen. Meinem Gerechtigkeitsgefühl widerspricht jedoch nicht nur die Lösung der strengen Schuldtheorie in den eben behandelten Fällen, es widerspricht ihm ebenso, wenn ein Soldat, der in vermeidbarem Irrtum den ver-

» Maurad} NJW 1962, 771; Jescheck Lb 221; Waider, Die Bedeutung der Lehre von den subjektiven Reditfertigungselementen für Methodologie und Systematik des Strafredits, 1970. 81 Hirsch a. a. O. 254. 32 Vgl. vor allem Welzel Lb 162; ZStW 76, 619; Hirsch a . a . O . 320 ff.; 332 ff.; Roxin ZStW 76, 593.

Irrtum über Reditfertigungsgründe

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meintlidien Gegner tötet, in Wirklichkeit aber einen Angehörigen der eigenen Truppe, wegen vorsätzlichen Totschlags, im Fall des Werfens von Fliegerbomben sogar wegen Mordes bestraft werden soll 83 . Von Konsequenzen auf der anderen Seite, welche die strenge Schuldtheorie gegenüber der Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen auf ihr Pluskonto buchen kann, wird noch zu sprechen sein. Unabhängig davon muß die strenge Schuldtheorie noch ein gewichtiges Argument gegen sich gelten lassen. Da sie beim Irrtum über Tatbestandsmerkmale Vorsatzausschluß annimmt, im Fall des Irrtums über einen Rechtfertigungssathverhalt aber nur einen Verbotsirrtum konzediert, d. h. also in den beiden Fällen zu praktisch ganz erheblichen Unterschieden führt, macht sie zu ihrer eigenen Voraussetzung, daß die Grenze zwischen Tatbestandsausschluß und Rechtfertigung nicht nur vom Grundsatz her, sondern auch in allen konkreten Einzelfällen de lege lata wie de lege ferenda klar zu ziehen ist. Das ist aber leider nicht der Fall 34 . Es braucht hier nur an die wechselnde Einordnung der Sozialadäquanz durch Welzel selbst erinnert zu werden oder an den Streit um die Einordnung der §§ 86 Abs. 3 und 86 a Abs. 3 StGB. In den letzten beiden Fällen wird ganz deutlich, daß es weitgehend von der Entscheidung des Gesetzgebers und der Fassung des Gesetzes abhängt, ob Tatbestandsausschluß oder Rechtfertigung anzunehmen ist, einer Entscheidung, bei der ganz andere Motive als die Behandlung der Irrtumsfrage maßgebend gewesen sein können. Weitere eindrucksvolle Beispiele hat Roxin gebracht35. Das Fazit von alledem ist: Der strengen Schuldtheorie kann nicht gefolgt werden.

IV. Während die strenge Schuldtheorie vergeblich versucht, den Irrtum über Reditfertigungsvoraussetzungen zu einem bloßen Verbotsirrtum umzufunktionieren, bemüht sich umgekehrt die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen, einen echten Tatbestandsirrtum daraus zu machen. Das geschieht durch Reduzieren des dreistufigen Verbrechensaufbaus auf einen nur noch zweistufigen und durch die Konstruktion eines Tatbestandes, der die Rechtswidrigkeit nicht bloß indiziert, sondern durch Einbeziehung des Fehlens von Rechtfertigungsumständen als negativen Merkmalen des Tatbestands geschlos-

Vgl. meine Ausführungen, Niederschriften a. a. O. 29. Ebenso Stratenwerth AT I 516 ff.; 522. » MSchrKrim. 1961, 211; Offene Tatbestände und Rechtspflichtmerkmale, 99, 129. ss

34

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sen konstituiert und Gesamttatbestand 36 oder Unrechtstatbestand 37 genannt wird. Die Einzelheiten sind bekannt. So bestechend manches an dieser Konstruktion erscheinen mag — verschiedenes von dem bisher Gesagten liegt auf ihrer Linie —, so erweist sich doch auch sie bei näherem Zusehen als nicht haltbar. Das hat die in alle Einzelheiten gehende große Auseinandersetzung mit der Lehre gezeigt, die Hirsch durchgeführt hat. Die Gesamtschau und das ganzheitliche Denken, mit dem sich die Lehre gegen das angeblich die Lebenszusammenhänge zerreißende Trennungsdenken im dreistufigen Verbrechensaufbau wendet38, vermengt Kategorien, die im Strafrecht selbständig nebeneinander stehen müssen. Es ist nicht einzusehen, warum man, wenn man schon Gesamtsdiau will, sie nicht gleich über den Unrechtstatbestand hinaus zu einem auch die Schuldvoraussetzungen mit einbeziehenden wirklichen Gesamttatbestand, einen Strafbarkeitstatbestand nämlich, vorantreiben sollte. Denn daß die Tötung eines Menschen durch einen Geisteskranken ihrem sozialen Gehalt nach qualitativ etwas anderes ist als ein Raubmord, läßt sich kaum bezweifeln. Aber es läßt sich auch hier, ebenso wie bei der gerechtfertigten Tat, nicht verstecken, daß ein Mensch getötet wird. Nur mit Staunen kann man einen Satz wie den folgenden lesen: „Der Typ .Tötung eines Menschen' ist tatsächlich ein .juristisches Kunstprodukt' ohne ,Eigen-Sinn', und ein systematischer Mangel kann in seiner Vernachlässigung nicht erblickt werden 39 ." Das klingt so, als ob der in Notwehr Handelnde nicht sähe, daß unter seiner Kugel ein Mensch zusammenbricht, oder der Henker nicht unter seinem Fallbeil den Kopf rollen sähe. Und die Bitternis des Tötens im Kriege braucht nicht erst am Abwurf der Atombombe auf Hiroshima demonstriert zu werden. Der Typ „Tötung eines Menschen" ist wahrlich kein juristisches Kunstprodukt 40 . In Wirklichkeit ist es so, daß der Tatbestand die an sich bei Strafe verbotene Handlung mit ihren Modalitäten beschreibt, während der Reditfertigungsgrund als ein „Gegentatbestand" 41 keine solchen Modalitäten, sondern eine Ausnahmesituation kennzeichnet, welche das Interesse am Schutz des Rechtsgutes entfallen läßt (wirksame Einwilligung des Verfügungsberechtigten) oder durch ein stärkeres Inter»· Lang-Hinri), Bremen (46,2 °/o), Nordrhein-Westfalen (47,5 % ) , Schleswig-Holstein (48,8 % ) , Saarland (48,2 % ) , und Hessen (49,9 °/o). Eine höhere Aufklärungsquote hatten 1 4 Die Summe der in den einzelnen Bezirken registrierten Delikte bleibt bei Betrug und Raub so weit hinter der Gesamtzahl dieser Delikte in Westberlin zurück, daß darauf verzichtet werden mußte, audi bei ihnen die H Z für die einzelnen Bezirke zu errechnen. Bei den Sittlichkeitsdelikten fehlen überhaupt Angaben für die einzelnen Bezirke. 1 5 Angaben der Landeskriminalämter bzw. Innenministerien der Länder.

582

Joachim Hellmer

1968 nur Bayern (64,6 % ) , Baden-Württemberg (55,5 % ) , Rheinland-Pfalz (56,3 °/o) und Hamburg (51,6%). Da Diebstahl das Delikt mit der geringsten Aufklärungsquote ist und wegen seines großen Anteils an der Gesamtkriminalität auch die Gesamtaufklärungsquote wesentlich beeinträchtigt, ist nodi eine Aufteilung der Aufklärungsquote aufschlußreich: Beim Diebstahl hatte West-Berlin 1968 mit 28,5 % die geringste Aufklärungsquote im Verhältnis zu den Stadtstaaten und Ländern der Bundesrepublik, dagegen bei der Gesamtkriminalität ohne Diebstahl mit 82,5 % die günstigste Aufklärungsquote nach Bayern (88,2 % ) . Rechnet man die Zahl der Straftaten auf den Polizeibeamten um, so hatte Berlin mit 12,63 Straftaten pro Polizeibeamten 1968 — trotz seiner hohen Kriminalität, aber infolge seiner relativ noch höheren Polizeidichte — das günstigste Verhältnis im Vergleich zu den Stadtstaaten und Ländern der Bundesrepublik; mit nur 6,47 aufgeklärten Straftaten pro Polizeibeamten allerdings auch das ungünstigste Aufklärungsverhältnis nach dem Saarland (6,24). Aus der Aufklärungsquote folgt die Kriminalitätsbelastungsziffer (KBZ), d. h. die Zahl der ermittelten tatverdächtigen Personen auf 100 000 Einwohner. Die KBZ ist daher nicht nur vom Umfang der Kriminalität, sondern auch von der Höhe der Aufklärungsquote, also der Intensität der Strafverfolgung, abhängig. Darüber hinaus wird sie, was die spezielle KBZ der einzelnen Altersgruppen, sozialen Schichten und Geschlechter angeht — und erst hier wird sie interessant — vom Selektionsprozeß der Strafverfolgung beeinflußt, d. h. die einzelnen Altersgruppen, Schichten und Geschlechter werden möglicherweise unterschiedlich streng verfolgt, sowohl allgemein wie zusätzlich nach Regionen. Bei den folgenden Zahlen müssen wir die dadurch verursachten Unsicherheiten mit berücksichtigen. Was zunächst die Altersgruppen anlangt, so hat West-Berlin im Durchschnitt der Jahre 1964—68 mit einer KBZ von 2928 bei den Erwachsenen die höchste KBZ im Vergleich zu den Stadtstaaten und Flächenländern der Bundesrepublik, bei den Nichterwachsenen mit einer KBZ von 3547 die zweite Stelle nach Hamburg (3553). Die Belastung der Nichterwachsenen steigt in den Städten gegenüber dem Land allgemein stärker an als die Belastung der Erwachsenen, d. h. die Nichterwachsenen erliegen dem kriminogenen Stadtklima leichter als die Erwachsenen. Die Belastung der Nichterwachsenen wird in Berlin vor allem durch die extrem hohe Belastung der Kinder verursacht. Die Kriminalitätsbelastungsziffer der Kinder (umgerechnet nur auf die 6- bis 14jährige Bevölkerung, da die jüngeren Jahrgänge kaum an der Kriminalität beteiligt sind und infolgedessen das Bild verfälschen würden) betrug im Durchschnitt der Jahre 1964—68 in

Kriminalität in Berlin

583

West-Berlin 2006 (gegenüber Hamburg 1604, Bremen 1671, Rheinland-Pfalz 612, Bayern 606 und Baden-Württemberg 569). Wenn man den Bundesdurchschnitt der KBZ der Kinder für die Jahre 1964/68 = 100 setzt, beträgt die entsprechende Zahl für West-Berlin 252,6 (Hamburg 202,0 und Bremen 210,5; Bayern 76,3, Baden-Württemberg 71,7, und Rheinland-Pfalz 77,1). Auch bei der Zunahme der Kinderkriminalität von 1964—1968 steht Berlin am ungünstigsten da (57,5 °/o). Hinsichtlich der Verteilung der Kriminalität auf die Geschlechter weist Berlin einen für Städte sehr günstigen weiblichen Kriminalitätsanteil auf. Die Kriminalitätsbelastungsziffer betrug 1968 in WestBerlin für männliche Personen 6295 und für weibliche 1024 (1 : 0,16; Hamburg 1 : 0,20 und Bremen 1 : 0,22; die meisten westdeutschen Flächenländer zwisdien 1 : 0,14 und 1 : 0,18). Der Anteil der Reisenden (überörtlichen Täter) und der Nichtdeutschen an den ermittelten tatverdächtigen Personen ist in WestBerlin unerheblich. Der Anteil der Reisenden liegt 1969 mit 0,2 °/o weit unter dem Bundesdurchschnitt von 13,4 %>, ebenso der der Nichtdeutschen (Berlin: 3,5 °/o, BRD: 6,6 %). Die nächste Ziffer ist die Verurteiltenziffer (VZ). Für den Umfang der Kriminalität, wie wir bereits festgestellt haben, nicht repräsentativ, gibt sie doch Aufschluß über die Intensität der Strafverfolgung, weil in ihrem Verhältnis zur H Z die Intensität der gesamten Strafverfolgung und in ihrem Verhältnis zur KBZ die der Justizorgane zum Ausdruck kommt. Auch hier schneidet Berlin verhältnismäßig gut ab. An der H Z hat die VZ (umgerechnet — wie die H Z — auf 100 000 Einwohner der gesamten Bevölkerung, nicht — wie sonst üblich — nur der strafmündigen Bevölkerung) im Durchschnitt der Jahre 1964—68 einen Anteil von 13,1 % und liegt damit über Hamburg (9,1 %>), Bremen (12,1 % ) und Schleswig-Holstein (12,4 %). Der Anteil der VZ an der KBZ beträgt im Durchschnitt der gleichen Jahre in West-Berlin 25,3 °/o (in Hamburg nur 24,0 % ) . Das bedeutet, daß nur jeder vierte der ermittelten tatverdächtigen Personen auch verurteilt worden ist; jedodi ist selbst im Bundesdurchschnitt nur jeder dritte ermittelte Tatverdächtige verurteilt worden. Daß in West-Berlin auch bei den einzelnen Delikten strenger verfolgt wird als in Hamburg und Bremen, zeigt Tabelle 3 (S. 584). In West-Berlin ist die Verurteiltenziffer im Verhältnis zur Häufigkeitsziffer bei allen genannten Delikten nicht nur höher als in Hamburg und Bremen, sondern auch in Schleswig-Holstein und ζ. T. sogar in Bayern (was besonders ins Gewicht fällt, weil in Süddeutschland wesentlich strenger verfolgt wird als in Norddeutschland, wie aus dem Verhältnis zwischen Bayern und Schleswig-Holstein hervorgeht).

Joadiim Hellmer

584

Tabelle 3: Das Verhältnis zwischen HZ und VZ bei einzelnen Delikten Diebstahl u. Unterschlag. Raub u. Erpressung Sittlichkeitsdelikte HZ VZ Anteil d. HZ VZ Anteil d. HZ VZ Anteil d. 64/68 67») VZ an d. 64/68 67 VZ an d. 64/68 67 VZ an d. HZ in e/o HZ in °/o HZ in °/o Hamburg Bremen Berlin Bayern SchleswigHolstein

3 925 3 608 3 203 1423

290 370 337 200

7,39 10,25 10,52 14,05

30,7 24,9 14,3 10,4

7,7 10,4 8,1 4,8

25,08 41,77 56,64 46,15

81,8 87.3 62.8 62.4

25,4 26,7 25,0 24,6

2 294

226

9,85

12,1

3,9

32,23

72.9

12,8 17,56

31,05 30,58 39,81 39,42

*) Das Jahr 1967 ist als Vergleichsjahr gewählt worden, weil es dem Durchschnitt der Jahre 1964/68 bei der HZ am ehesten entspricht.

Allerdings werden, wie schon vermutet, die Altersgruppen in den Regionen verschieden streng verfolgt, was Tabelle 4 zeigt. Tabelle 4: Verhältnis zwischen KBZ und VZ (Gesamtkriminalität außer Straßenverkehr) nadi Altergruppen

Bezirk

Jugendliche KBZ VZ 1964—68 1967

Erwachsene Anteil d. KBZ VZ VZand. 1964—68 1967 KBZ in ®/o

Anteil d. VZand. KBZ in °/o

Hamburg Bremen Berlin

5 484 5 172 4 845

11,05 31,34 42,23

29,08 30,29 25,82

606 1 621 2 046

2163 2 413 2 928

629 731 756

Während die KBZ in den aufgeführten Städten nicht wesentlich voneinander abweicht, weder bei den Jugendlichen noch bei den Erwachsenen, und bei den Erwadisenen audi die Unterschiede in der VZ nicht sehr groß sind, weicht die VZ bei den Jugendlichen erheblich voneinander ab: Hamburg hat bei höchster KBZ die geringste VZ, Berlin dagegen bei niedrigster KBZ die höchste VZ. Wenn es sich nicht um einen statistischen Fehler handelt, zeigen diese Zahlen, daß die Jugendlichen in Berlin erheblidi strenger verfolgt werden als in Hamburg und Bremen. Bei den Erwachsenen scheint es eher umgekehrt zu sein.

Kriminalität in Berlin

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III. Deutung der Zahlen 1. Zur Kriminalität Auffällig ist der starke Anstieg der Kriminalität in West-Berlin in den letzten Jahren. Zunächst ist festzustellen, daß Städte immer eine höhere Kriminalität haben als das Land 18 . Dies wird im allgemeinen mit der größeren Reizüberflutung und der geringeren sozialen Kontrolle in der Stadt erklärt. Der entscheidende Punkt liegt aber tiefer. Kriminalität ist ein Identitätsproblem. Bei vollständiger Identität (Robinson) gibt es keine Kriminalität. Kriminalität ist Verletzung des „anderen", durch Nichteinhaltung der Konvention oder des Gesetzes, das es nur bei Vorhandensein mehrerer Menschen gibt, und zwar bei verlorener Identität. Der Landbewohner ist nun mit seiner Umwelt, auch der menschlichen, wesentlich mehr identisch als der Stadtbewohner. Zwar gibt es verschiedene Stufen der Identität, mit Haus und Hof, Tieren, Familienangehörigen, Nachbarn, mit den Vereinsmitgliedern, Dorfbewohnern, Berufskollegen, mit der Gesellschaft, dem Staat. Und sidier nimmt die Identität mit der zunehmenden Abstraktion des „andern" ab, aber mindestens auf den unteren Stufen ist sie beim Landmann besonders groß. Es herrscht hier noch ein Rest des archaischen Zustands der vollständigen Identität. Das .führt dazu, daß jede deliktische Handlung zugleidi eine Verletzung des Vertrauensbandes darstellt; das den Mensdien mit seiner Umwelt, audi dem ihr angehörigen „andern" verbindet. Verletzungshandlungen werden daher nicht nur deshalb nicht begangen, weil sie unter Strafe gestellt sind (was zu der von der Masse der heutigen Täter angestellten Überlegung führt, ob man auch „gekriegt" wird), sondern weil sie einen Vertrauensbruch gegenüber dem anderen und, da man sidi mit ihm in einer Umwelt identisch fühlt, gegenüber sich selber darstellt. w Aschaffenburg, das Verbrechen und seine Bekämpfung, 3. Aufl. 1923, S. 68 fF.; Burchardt, Kriminalität in Stadt und Land, Berlin 1936; Exner, Kriminologie, 3. Aufl. 1949, S. 235; Roesner, MsdirKrim 1938, S. 584; Sauer, Kriminologie, S. 227. Die gegenteilige Auffassung v. Hentigs, Das Verbrechen, Bd. I 1961, S. 276, beruht auf Verurteiltenzahlen, die gerade, was den Unterschied zwischen Stadt und Land angeht, nicht verbindlich sind, weil die Verfolgungsintensität auf dem Lande wesentlich höher ist als in der Stadt. Audi der Umstand, daß Städte im allgemeinen eine höhere Polizeidichte haben als das Land, was zu der Annahme verleiten könnte, die höhere Kriminalität in den Städten sei nur darauf zurückzuführen, daß hier mehr Anzeigemöglidikeiten gegeben sind als auf dem Land, ändert hieran nichts; denn dafür ist wieder die Anzeigebereitschaft der Landbevölkerung größer als die der Stadtbevölkerung.

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Daß Kriminalität ein Identitätsproblem ist, wird audi durch die Kriminalität sog. „kleiner Gemeinschaften" bestätigt, die sehr niedrig ist. Wir können hierfür sogar ein Beispiel aus Berlin anführen: die Exklave Steinstücken bei Zehlendorf kennt mit ihren 180 Einwohnern, die nadi außen hin abgeschlossen sind, sich aber untereinander kennen, keine Kriminalität. Die Haustüren werden — für Berlin ein Unikum — nicht verriegelt, Fahrräder und Autos können unbewacht abgestellt werden, und man kann sich auch nachts gefahrlos auf die Straße begeben. Es ist hier nicht der Platz, die Identitätstheorie näher zu begründen. Aber auch für die Entwicklung der Kriminalität in West-Berlin — und hiervon sind wir ausgegangen — gibt nur sie eine plausible Erklärung: die verhältnismäßig geringe Kriminalität West-Berlins in den Nachkriegs jähren muß mit der besonderen Situation in Berlin, dem Zusammengehörigkeitsgefühl der Berliner — nach 1948 der West-Berliner — im Gefolge der unmittelbaren Auswirkungen des Krieges und der politischen Entwicklung nach 1945, die ganz anders verlief als in Westdeutschland, zusammenhängen, mit dem Selbstverständnis der West-Berliner in dieser Zeit als Angehörige einer Schicksalsgemeinschaft, die zusammenhalten muß, um zu überleben. In der unmittelbaren Nachkriegszeit17 überwogen noch die Notdiebstähle, vor allem die Kohlen- und Lebensmitteldiebstähle. Aber sie richteten sich vor allem gegen Staatseigentum und Eigentum von Personen, die diese Güter in staatlichem Auftrag horteten, um sie zu verteilen (nicht immer auf rechtmäßigem Wege). Die Wohlstandskriminalität, die in Westdeutschland schon in der Mitte der 50er Jahre einsetzte, hatte in Berlin zu dieser Zeit nodi nicht die geringste Chance, einmal weil die Bewohner Berlins damals vom wirtschaftlichen Aufschwung Westdeutschlands noch nicht profitierten, vor allem aber weil das Eingeschlossensein, das sich durch die Blockade in den Jahren 1948/49 noch einmal besonders kraß dokumentierte, die seelischen Kräfte der Einwohner aktivierte und das Bedürfnis, sich zu bewähren, verstärkte. Wir wissen von Untersuchungen, z. B. an Einwanderergruppen, Flüchtlingen und Gastarbeitern, daß das Zusammengehörigkeitsgefühl in einer fremden, womöglich feindlichen Umwelt und das Erfordernis, sich bewähren zu müssen, das Identitätsbewußtsein und den Identifizierungswillen fördern und damit kriminalitätshemmend wirken. Mit dem Zeitpunkt, wo die unmittelbaren politischen Gefahren vorbei sind und der Wohlstand auch in West-Berlin steigt, macht sich sodann nidit bloß eine Zunahme der Kriminalität bemerkbar, sondern " Zur Kriminalität in Berlin 1945—1954: Pingel, MschrKrim 39 (1956), S. 145 ff.

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audi ein „Nachholbedürfnis". Die seelischen Kräfte erlahmen, der Angleichungsprozeß an die Konsumgesellschaft greift in erhöhtem Maß Platz. Das Identitätsbewußtsein läßt nach, und die Notwendigkeit einer Identifizierung mit der Gesellschaft entfällt (ähnlich wie sich auch die Kriminalität der Einwanderer, Flüchtlinge und Gastarbeiter immer mehr der Kriminalität der Wirtsbevölkerung angleicht und in den nächsten Generationen sogar über diese hinauswächst). Daß der Wohlstand kriminogen wirkt — eine Tatsache, die auch der Osten jetzt zur Kenntnis nehmen muß 18 —, ist überhaupt nur durch die Identitätstheorie erklärbar: der Wohlstand schafft eine Situation, in der der Druck von außen nachläßt, das Identitätsbewußtsein schwächer und das Vertrauensband von Mensch zu Mensch lockerer wird. Der einzelne zieht sich in seine „Burg" zurück, er hat nur noch seine eigenen Interessen vor Augen, denen er auch das Wohl des Nächsten und der Gesellschaft zu opfern bereit ist. Die früheren Kriminalitätstheorien, die mehr oder weniger auf dem Boden der Notkriminalität entstanden sind, haben sich als nicht richtig herausgestellt. Der wohlhabende Mensch ist egoistischer als derjenige, der gerade sein Auskommen hat und damit zufrieden ist. Er ist vielleicht nicht so kriminalitätsanfällig wie der notleidende Mensch, der nach fremdem Gut greifen muß, um sidi über Wasser zu halten. Er ist aber kriminalitätsanfälliger als derjenige, der auf Geld und Gut nicht so großen Wert legt. Nun zur Kriminalität in den einzelnen Westberliner Bezirken. Ein direkter Zusammenhang mit der Bevölkerungsdichte ist nicht erkennbar. Zwar ist Kreuzberg der Bezirk mit der höchsten Bevölkerungsdichte, aber Charlottenburg und Tiergarten haben eine wesentlich geringere Bevölkerungsdichte als ζ. B. Schöneberg und Wedding, die beide nur eine mittlere Kriminalitätsbelastung aufweisen. Dieser Umstand bestätigt die Erfahrung, daß die Kriminalität bis zu einer bestimmten Bevölkerungsdichte, die bei etwa 2000 Einwohnern pro qkm liegt, ansteigt, oberhalb dieser Grenze aber nicht mehr von der Wohndichte wesentlich beeinflußt wird 19 . Man muß zwischen „Milieukriminalität" einerseits und „Ausspähkriminalität" andererseits unterscheiden. Nur die Milieukriminalität gibt Auskunft über die Bevölkerungsstruktur und die sozialen Verhältnisse am Tatort. Bei der Ausspähkriminalität dagegen liegt der kriminogene Faktor im „lohnenden Objekt", das Täter auch aus 18 Da audi dort die Wohlstandsdelikte zunehmen bzw. trotz entschiedener Bekämpfung nicht abnehmen, vgl. Harrland, Neue Justiz, 1970, S. 409 (412). 19 Näher dazu mein „Kriminalitätsatlas der BRD", Wiesbaden (BKA) 1972, S. 195.

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anderen Gegenden anzieht. Ein typisches Delikt der (bodenständigen) Milieukriminalität ist die Körperverletzung, der Ausspähkriminalität der Diebstahl, vor allem der schwere Diebstahl. Kreuzberg hat die höchste Körperverletzungskriminalität, gefolgt von Wedding und Schöneberg, während Zehlendorf die geringste Körperverletzungskriminalität hat. Kreuzberg, Wedding und Schöneberg sind zugleich die Bezirke mit der größten, Zehlendorf der Bezirk mit der geringsten Bevölkerungsdichte, was als Indiz für die Sozialstruktur der Bevölkerung eine Rolle spielt. Außerdem wirkt sich die Wohndichte auch auf die seelische Situation aus, da enges Aneinanderwohnen zu größeren Reibereien führt. D a ß Charlottenburg beim Diebstahl führt, vor allem beim schweren Diebstahl, gefolgt von Tiergarten und Zehlendorf, liegt dagegen daran, daß hier die lohnendsten Objekte vorhanden sind. In Zehlendorf wird es sich wahrscheinlich vor allem um Villeneinbrüche handeln, in Charlottenburg und Tiergarten um Geschäftseinbrüche. Zu Charlottenburg gehören beide Seiten des Kurfürstendamms und der größte Teil der Zoogegend, zu Tiergarten der übrige Teil der Zoogegend und der Rest der westlichen City. Nach soziologischen Studien ist die City wegen der in ihr konzentrierten Werte und der mangelnden nächtlichen Überwachung besonders gefährdet. 2. Zur

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D i e Situation in West-Berlin zeigt deutlich, daß der Kriminalitätsumfang nicht von der Polizeidichte abhängt; West-Berlin hat die höchste Polizeidichte und zugleich die höchste Kriminalität im Vergleich zu den Bundesländern (einschließlich Stadtstaaten). Die Polizeidichte hängt umgekehrt vom Kriminalitätsumfang ab, und dieser wird allein durch die vor der Kriminalität liegenden sozialen F a k toren gesteuert. D i e Reihenfolge der Abhängigkeiten lautet also: soziale (kriminogene) Faktoren - > Kriminalität ~> Strafverfolgung. Dagegen ist die Polizeidichte für die Aufklärungsquote (Aq) von Bedeutung. D i e Aq wird durch Wohndichte und hohen Anteil des Diebstahls an der Kriminalität gemindert, da die Aufklärung von Straftaten in Gebieten mit hoher Anonymität, also vor allem Städten, schwieriger ist und Diebstähle eine extrem niedrige Aq haben (vor allem Kraftfahrzeugdiebstähle). Dafür, daß man aber diese negativen Einflüsse durch Erhöhung der Polizeidichte ausgleichen kann, ist West-Berlin ein Beispiel. Wir hatten schon gesehen, daß hier sowohl die Aq wie der Anteil der V Z an der H Z erstaunlich hoch sind. Dies kann nur an der hohen Polizeidichte liegen. Ob darüber hinaus auch eine (gegenüber sonstigen städtischen Verhältnissen) erhöhte Anzeigebereitschaft der Bevölkerung mit im Spiel ist, die die

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Aufklärungs- und Verurteilungspraxis beeinflußt, wie u. a. das süddeutsche Beispiel zeigt, könnte nur eine genaue soziologische Untersuchung des Verhältnisses zwischen Bevölkerung und Polizei erweisen. Interessanterweise hat aber die positive Strafverfolgungsbilanz keinen Einfluß auf den Kriminalitätsumfang; denn die West-Berliner Kriminalität hat nicht nur den höchsten Stand, sondern auch die größte Steigerungsrate. Auf dem Umweg über eine intensive Strafverfolgung kann allenfalls der kleine Kreis der Berufsverbrecher beeindruckt werden, da hier ein erhöhtes Entdeckungsrisiko eine gewisse abschreckende Wirkung ausübt, nicht aber der statistische Umfang der heutigen Massenkriminalität. Das zeigen auch Regionen in der Bundesrepublik, die eine äußerst geringe Polizeidichte und demzufolge eine niedrige Aufklärungsquote haben und in denen die Kriminalität trotzdem geringer ist und langsamer ansteigt als in den kriminalitätsreichen und polizeidichten Regionen20.

IV. Kriminalpolitische Folgerungen Wenn West-Berlin seine Kriminalität vermindern, mindestens den starken Kriminalitätsanstieg abstoppen will, genügt es nicht — das gilt ebenso für die Bundesrepublik —, die Strafverfolgung zu verbessern, sondern es muß nach einem Weg suchen, die Barriere schon vor der Kriminalität zu errichten, d. h. wirksame Vorbeugungsmaßnahmen zu ergreifen. Hierbei kann es sich heute nicht auf die abschreckende Wirkung des Strafrechts verlassen. Wenn diese Wirkung so gering war, daß eine Massenkriminalität entstehen konnte, dann ist auch mit einer Verschärfung der Strafen und der Untersuchungshaft und einer Verstärkung der Polizei allein — diese Maßnahmen werden immer wieder propagiert — nichts mehr auszurichten. Im Gegenteil — die Verschärfung der Repression ohne gleichzeitigen Abbau der kriminogenen Faktoren führt unweigerlich zu einer Erhöhung der sozialen Spannungen. Das heißt natürlich nicht, daß es auf eine konsequente Strafverfolgung nicht ankommt. Sie ist Λ/iígarant der staatlichen Ordnung in jeder Gesellschaft. Aber wie das Absinken der Aq in den letzten Jahren auch in Berlin zeigt21, ist selbst die Strafverfolgung gefährdet, wenn ihr nicht eine gesunde Vorbeugung die Masse der Fälle vom Halse hält; denn jede Strafverfolgung — durch Polizei und Justiz — ist nur auf den einzelnen Fall zugeschnitten. Wenn die Strafverfol10 2 . B. die Reg.Bezirke Montabaur, Aurich, Osnabrück, Stade (nähere Nachweise in meinem „Kriminalitätsatlas", S. 306 ff.). 21 1970 lag sie nur noch bei 42,1 % .

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gung also die Massendelinquenz beeinflussen will, muß sie in die Vorbeugung gehen. Daß das möglich ist, zeigt für die Justiz das östliche Modell einer Einflußnahme des Gerichts auf die Ursachen und Bedingungen der Kriminalität 22 , das audi bei uns überlegt werden sollte, und für die Polizei das „Nürnberger Modell" 23 , nach dem die Polizeipräsenz vor allem an den Kriminalitätsschwerpunkten erhöht wird 2 4 . Zur Erhöhung der Polizeipräsenz an den gefährdeten Orten ist außerdem die Wiedereinführung bzw. wesentliche Vermehrung der Fußstreife bzw. Operation von einem „fliegenden Polizeirevier" aus, auf jeden Fall ein intensiver Straßendienst erforderlich. Die zunehmende Verlagerung der Polizeiarbeit von der Straße an den Schreibtisch ist eine für die Verbrechensbekämpfung äußerst nachteilige Entwicklung, die von der überall um sich greifenden „Stehkragenmentalität" der Beamten weiter gefördert wird. Die Polizei, mindestens die uniformierte, gehört auf die Straße, und wenn sie nicht zu einer bloßen Kriminalitätsregistrierungsstelle degradiert werden soll, muß der zunehmenden Verbürokratisierung dringend Einhalt geboten werden. Aber audi bei den inneren Reformen, die Voraussetzung jeder entscheidenden Verminderung der Kriminalität sind, kann die Polizei mithelfen. Ich habe an anderer Stelle 25 die Einbeziehung des Polizeipostens als integrierenden Bestandteil in die nach kleineren Wohneinheiten aufgeteilte Bevölkerung gefordert („Sheriff-System"). Der Polizeiposten soll in dem örtlichen Bereich, für den er zuständig ist, die ansässige Bevölkerung kennen, mit ihren Problemen vertraut sein und in ständigem Kontakt mit ihr stehen. Das ist auf dem Land und in kleineren Orten eher möglich als in großen Städten. Trotzdem kann auch hier einiges getan werden. Das zeigt das Beispiel Tokios. Die relativ geringe Kriminalität dieser Stadt wird vor allem darauf zurückgeführt, daß jeweils einige Polizisten für einen bestimmten Wohnbezirk zuständig sind und hier nicht nur Kontrollgänge durchführen, sondern audi die Familien besuchen und mit ihnen Probleme 2 2 Vgl. z . B . § 2 5 6 I S t P O D D R : „ D a s Geridit ist verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, daß die Ursachen und Bedingungen von Straftaten . . . beseitigt werden, die Unduldsamkeit der Bürger gegenüber Straftaten verstärkt und neuen Straftaten vorgebeugt wird." 23 Herold, Schlußbericht der 19. Arbeitstagung für Kriminalistik und Kriminologie am Polizeiinstitut Hiltrup, Hiltrup 1968; derselbe, Kriminalistik 1971, S. 126 ff. 2 4 Freilich muß man dazu erst wissen, wo diese liegen. N a d i Auskunft des Polizeipräsidenten in Berlin wird die Tatortstatistik im Zuge der Umstellung der polizeilichen Statistik auf elektronische Datenverarbeitung nunmehr in Angriff genommen. 2 5 Kriminalitätsentwicklung und -abwehr in der Demokratie, Tübingen 1969 (Redit und Staat, H e f t 380), S. 29.

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besprechen, wodurch ein ständiger Kontakt gegeben ist, der die in Großstädten oft völlig undurchsichtigen Verhältnisse etwas transparenter macht. Hier wird mit der Forderung vom „Freund und Helfer", die bei uns nur auf dem Papier steht, Ernst gemacht. Diese Gedanken und Vorschläge dürfen natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, daß die hier berührte Kriminalität nur ein Teil der wirklichen Kriminalität ist und daß von einer wirksamen und gerechten Kriminalitätsbekämpfung erst gesprochen werden kann, wenn auch die bisher weitgehend verborgen gebliebene Wirtschafts- und White-collar-Kriminalität in die kriminalpolitischen Bemühungen einbezogen wird.

Ist das Fernsehen kriminogen? RICHARD LANGE

Aus der Fülle der Probleme, die dieses Thema birgt, können hier nur einige herausgegriffen werden. Angesichts der bedrohlich zunehmenden Kinder- und Jugendkriminalität drängt sich als erste die Frage nach der Einwirkung des Fernsehens auf diese Zuschauergruppen auf. Für die Wirkung auf Kinder sind noch immer die umfangreichen Untersuchungen von Hilde Himmelweit, Oppenheim und Vince besonders aufschlußreich. Diese Forscher haben im Jahre 1958 1854 Kinder im Alter von 10 und 11 und 13 bis 14 Jahren untersucht, davon die eine Hälfte, die Fernsehen im Elternhaus hatte, als Zuschauer, die andere, bei denen kein Fernsehen im Hause war, als Kontrollpersonen. Beide Gruppen wurden so ausgewählt, daß sie nach Geschlecht, Alter und sozialer Herkunft, darüber hinaus soweit möglich sogar der Schulklasse nach, einander vollkommen gleichstanden. Eine ziemlich umfangreiche Minderheit wurde durch die Darstellung von Verbrechen und Gewalttätigkeit im Film offensichtlich verängstigt (V4 der Jungen, 1/3 der Mädchen), wobei die älteren Kinder öfter als die jüngeren verängstigt waren. Ihre größere Reife befähigte sie, sich mit mehr Situationen zu identifizieren, als die jüngeren es taten. Auch über böse Träume als Folge von solchen Filmen klagten die Kinder. Kriminal- und Detektivsendungen beunruhigten am wenigsten, weil die Kinder — amerikanische Kinder — wissen, daß es glücklich ausgeht, ohne daß dem Helden ein Leid zugefügt wird. Auch Wildwestfilme, die sich an diese Spielregeln halten und die Kinder an ihre eigenen Kinderspiele (Cowboys und Indianer, Einbrecher und Polizisten) erinnern, waren wenig beunruhigend. Hierin drückt sich, wie die Forscher betonen, die tief verwurzelte Vorliebe der Kinder für Regeln und für eine klare Unterscheidung von Gut und Böse aus. Sie nahmen intensiv an solchen Sendungen teil, aber ihre Spannung wurde am Ende vollständig befriedigt. Umgekehrt konnten Kinder Sendungen nicht vergessen, die sie zu den Fernsehzeiten für Erwachsene gesehen hatten. Hier liegt für eine realistische Betrachtung ein Hauptproblem des Themas. Denn selbstverständlich ist es bare Illusion zu meinen, daß die Kinder und erst recht, daß die Jugendlichen sich an die Zeiten hielten, die man ihnen zugedacht und vorgeschrieben hat.

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Sehr unterschiedlich sind die Meinungen darüber, ob reale Gewalt die Kinder mehr oder weniger ängstigt als Gewaltanwendung in Sendungen mit frei erfundenem Inhalt. Man neigt zu der Auffassung, daß die Beunruhigung durch ein im Fernsehen gesehenes Ereignis weniger davon abhängt, ob es frei erfunden oder wirklich ist, sondern viel mehr davon, ob sich das Kind mit dem identifizieren kann, was es gesehen hat, oder ob sein Weltbild dadurch verstört wird. Bemerkenswert ist auch die Uneinigkeit der Forscher darüber, ob unmittelbare Auswirkungen wie gestörter Schlaf, Alpträume und dgl. in größerem Umfang als Folgen auftreten. Lang andauernde Traumata sind in der psychiatrischen Literatur belegt, beispielsweise die Entwicklung von Neurosen. Als Massenerscheinung wird man dies wohl nicht anzusehen haben. Wohl aber berichtet eine amerikanische Forscherin (Eve Merriam), daß Kinder sich angstvoll die Bettdecke über ihren Kopf zogen, daß sie zu Bettnässern wurden oder darauf bestanden, daß sie sich zu den Eltern ins Bett legten, um geschützt zu sein vor dem, was sie aus dem Film heraus verfolgte. Die eingangs genannten drei Forscher kommen zu dem Ergebnis, daß ungefähr 1 /s der Kinder gelegentlich Angsterlebnisse aufgrund von Fernsehfilmen hat. Geräuscheffekte scheinen dabei etwa die gleiche Wirkung zu haben wie visuelle Effekte. Was die konkreten Gewaltakte betrifft, so heißt es in dieser Untersuchung, Schießereien seien nicht sehr beunruhigend, Verletzungen durch Messer oder Dolche dagegen weit mehr. Audi andere unerfreuliche Wirkungen als Brutalisierung und Sexualisierung können danach vom Fernsehen ausgehen. Auf weitere Auswirkungen solcher Art ist noch zurückzukommen. Generell sind direkte und indirekte, kurz- und langzeitige Auswirkungen zu unterscheiden. Ursprünglich legte man den Akzent auf direkte Auslösungen von Gewalttaten oder sexuellen Entgleisungen durdi Filme, die das Kind oder der Jugendlidhe vorher gesehen hatte. Solche Fälle sind verbürgt. Der amerikanische Soziologe Klapper berichtet von einem 7jährigen Jungen, der Glassplitter auf den Hammelbraten der Familie streute, um zu erfahren, ob das wirklich so gut funktionieren würde, wie er es zuvor im Fernsehen gesehen hatte, und von ähnlichen Fällen kindlicher Nachahmung von Gewaltszenen. Die Schweizer Forscherin Decurtins hat 30 Fälle zusammengestellt, in denen der Film bzw. das Fernsehen als unmittelbar Verbrechen verursachendes oder Verbrechen auslösendes Element in Frage kommt. Darunter sind Fälle von Mordanschlägen und Raub am zahlreichsten. Bemerkenswert ist, daß von den Filmen, die den Auslöseeffekt hatten, auch künstlerisch ernsthaftere eine Rolle spielten, so Das Phantom

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der Oper, Im Zeichen des Zorro, Die Madonna der sieben Monde. In erster Linie aber wurden die kriminellen Taten durch Wildwest-, Gangster- und Kriminalfilme ausgelöst (Der Panther, Blutige Diamanten u ä.). Indessen schwanken die angegebenen Zahlen über den Prozentsatz, zu dem Kinder und Jugendliche durch Film oder Fernsehen zu Gewalttaten unmittelbar angeregt werden, ganz außerordentlich, nämlich zwischen 0,05 % und 90 %>. Hierbei ist allerdings auch die nationale Verschiedenheit der Untersuchungen und ihrer Ausgangspunkte entscheidend zu berücksichtigen. Eine deutsche Untersuchung (Lavies, Bundeskriminalamt Wiesbaden) kam aufgrund von Anfragen bei Jugendrichtern zu dem geringsten Prozentsatz. Amerikanische Untersuchungen, die ebenfalls an delinquenten Jugendlichen und Kindern vorgenommen wurden, gelangten zu weit höheren Zahlen. Klassische Bedeutung hat bis heute eine Untersuchung von Blumer und Hauser, vorgenommen an mehreren Hundert delinquenten Jungen und Mädchen in Amerika. Diese Autoren kommen nach sorgfältiger Prüfung zu dem Schluß, daß Film und Fernsehen ein wichtiger Faktor für die kriminelle Laufbahn bei ungefähr 10 % der männlichen und 25 °/o der weiblichen straffällig gewordenen Jugendlichen war. Bemerkenswerterweise haben andere Forscher diese Zahlen in dem Sinn interpretiert: daß nur 10 % Filmeinfluß auf die Kriminalität nachweisbar sei, zeige, wie wenig Bedeutung man dem Problem beizumessen habe. Man sieht schon hier, wie entscheidend es auf die jeweilige Einstellung des Forschers ankommt. Die Ernsthaftigkeit eines solchen Prozentsatzes kann bei unvoreingenommener Betrachtung nicht gut bestritten werden. Abgesehen davon gehen einige sehr ernst zu nehmende amerikanische Untersuchungen, insbesondere die von Wertham, noch sehr viel weiter, was den Umfang der unmittelbaren Einwirkung betrifft. Die Beunruhigung erstreckt sich nicht nur auf die mit der Jugendkriminalität unmittelbar befaßten Forscher und Praktiker. Sie hat in Amerika, wie man ohne Ubertreibung sagen kann, seit langem das ganze Land ergriffen. In immer kürzeren Abständen wurden dort Senatskommissionen oder andere Gremien zur Untersuchung der Frage eingesetzt, ob und inwieweit Film und namentlich Fernsehen für die von Jahr zu Jahr erschreckend steigende Kriminalität der Kinder und der Jugendlichen verantwortlich sind. Den Anfang machte zu Beginn der fünfziger Jahre das berühmt gewordene Komitee des Senators Kefauver. Bemerkenswert ist, daß die erwähnte Untersuchung von Blumer und Hauser von zwei anderen Soziologen angegriffen wurde, nämlich von Adler und Moley (ersterer zitiert bei Roucek, Juvenile Delin-

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quency, S. 234, letzterer zitiert bei Neumeyer, Juvenile Delinquency in modern society, S. 220). Aber diese beiden Kritiker haben ihre Stellungnahmen im Auftrag der Filmindustrie bzw. der privaten Fernsehgesellschaften abgegeben. Neumeyer bemerkt dazu trocken, das möge einigen Einfluß auf ihre Haltung ausgeübt haben. In derselben Linie wie die Untersuchung von Blumer und Hauser liegen weitere amerikanische, an Tausenden von Schulkindern vorgenommene Untersuchungen von Peterson, Thurston und Preston, wobei bemerkenswert ist, daß es sich hier überwiegend um Forscherinnen handelt, die zu den Kindern naturgemäß leichteren Zugang hatten. Zu den Hauptergebnissen dieser neueren Untersuchungen zählt eine besonders nahe Beziehung zwischen fernsehbesessenen Kindern und nervösen und emotionalen Störungen. Auf die Frage, was hier Ursache und was Wirkung ist oder ob eine Wechselwirkung anzunehmen ist, wird noch zurückzukommen sein. Ebenso ernst wie die amerikanische nimmt auch die englische Regierung das Problem schädlicher Auswirkungen des Fernsehens. In England wurde im Sommer 1963 durch den Innenminister ein Television Research Committee eingesetzt. Es veröffentlichte erst vor einigen Jahren seine Berichte und Empfehlungen, die auf einer gründlichen Durchforschung des in England dargebotenen Fernsehstoffs beruhen, darunter sein Arbeitspapier N r . 3 unter dem Titel Television and Delinquency. Das Komitee setzt sich auch mit den amerikanischen Erkenntnissen eingehend auseinander. Gemeinsamer Ausgangspunkt ist dabei die Tatsache, daß in Amerika wie in England auch zu den Zeiten, in denen Kinder am meisten zusehen, Gewalt und Aggression mit enormer Häufigkeit gezeigt wurden. Nach der schon erwähnten Untersuchung von Himmelweit, Oppenheim und Vince geschah das in 20 % der englischen Fernsehsendungen in den Kinderstunden. In Amerika haben Programmüberwacher, die die Gewalttaten in Fernsehsendungen zählten, für New York festgestellt, daß im Jahre 1953 in einer einzigen Woche 3350mal Gewalthandlungen gezeigt wurden, daß es 1954 schon doppelt soviel waren (6868 in einer vergleichbaren Testwoche) und daß die Zahl von Jahr zu Jahr rapide gestiegen ist. Parallelen zu dem bedrohlichen Ansteigen der Kinder- und Jugendlichenkriminalität in beiden Ländern liegen so nahe, daß sich auch die nüchternen Regierungskommissionen diesem Vergleich nicht entziehen konnten. Der englische Bericht erwähnt z. B., daß die Gewaltverbrechen in ganz unverhältnismäßiger Weise und in steigendem Tempo im Jahre 1968 auf die Zahl von 18 000 Verurteilten gestiegen seien. Die englische amtliche Untersuchung kommt zu dem Resultat, daß endgültige Erkenntnisse der Art und des Umfanges des schädigenden Einflusses des Fernsehens noch nicht formuliert werden können, ins-

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besondere weil es noch nicht genügend Kontrolluntersuchungen derart gibt, daß man die delinquenten und die nicht delinquenten Jugendlichen, die beide gleichermaßen dem Einfluß des Fernsehens ausgesetzt waren, miteinander verglichen hätte. Weiter legt die englische Untersuchung Wert auf eine Unterscheidung zwischen den bereits sozial anfälligen Jugendlichen und dem Durchschnitt ihrer Altersgenossen. Bei den ersteren mag das Fernsehen sogar in einer verhältnismäßig geringen Zahl von Fällen die einzige Ursache delinquenten Verhaltens gewesen sein. Bei den normal Veranlagten mag es höchstens eine beitragende Rolle von geringerer Bedeutung spielen. Die Untersuchung macht aber auch kein Hehl daraus, daß es rätselhaft bleibt, weshalb nicht alle, die den schädigenden Einflüssen ausgesetzt sind, zu Delinquenten werden. Sie unterstreicht die Notwendigkeit weiterer Forschungen. An dieser Stelle geht der amerikanische Soziologe Klapper einen Schritt weiter in die Tiefe des Problems. Er führt aus: Wir können hoffen, daß diejenigen, für die gewalttätige Stoffe in den Medien nicht unschädlich sind, wohl eine Minderheit der Kinder der Nation darstellen. Aber wir wissen nicht, ob sie in der Minderheit sind, und in jedem Fall ist ihre absolute Zahl wahrscheinlich nicht unbedeutend. Die Gesamtzahl der beeinflußten Kinder kann nicht klein sein, und selbst wenn sie es wäre, kann kein Einfluß, der zur Beibehaltung oder Verstärkung ihrer Schwierigkeiten beiträgt, als sozial unbedeutend abgetan werden. Wenn Darstellungen von Verbrechen und Gewalttätigkeiten auch nur auf 1 °/o der Kinder der Nation eine ungesunde Wirkung haben, wird es sozial wichtig zu untersuchen, ob und wie die Situation gebessert werden kann. Wenn auch die Erforschung der schädlichen Auswirkungen noch große Unsicherheiten und widerspruchsvolle Ergebnisse aufweist, zumindest was die Quantität der Einwirkungen betrifft, so ist doch folgender Trend festzuhalten: in den dreißiger Jahren wurde man zunächst in Amerika, damals noch ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Filmeinwirkungen, auf das Problem aufmerksam und nahm es sehr ernst. Bis in die fünfziger Jahre hinein wurde das nunmehr mit dem Schwerpunkt in die Wirkungen des Fernsehens verlagerte Problem eher etwas bagatellisiert. Insbesondere gab es damals eine Anzahl von Forschern, die meinten, daß die Darstellung von Gewalttätigkeiten sogar eine positive Wirkung haben könne, so etwas wie ein Ventil darstelle, mit dessen Hilfe sich das Kind selbst stellvertretend von aufgestauten Aggressionen befreien könne. Die Katharsisthese von Feshbach (1961) ist hier vor allem zu nennen; an ihr hält er nodi 1969 fest.

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Diese Hypothese ist durch andere, vor allem durch spätere, bis in die Gegenwart reichende Forschungen nicht bestätigt worden, wie vor allem Undeutsch dargetan hat. Eine ganze Reihe von Untersuchungen aus den 60er Jahren, von denen die amerikanische von Berkowitz und die deutsche von Undeutsch hervorzuheben sind, kommen zu dem Ergebnis, daß die Häufung von Gewalttätigkeiten in den Massenmedia, wenngleich sie keine Hauptbedingung für die Entwicklung der Kriminalität darstellt, doch die Wahrscheinlichkeit erhöht, daß jemand aus der Zuschauerschaft sich bei späteren Gelegenheiten aggressiv verhalten wird. Während die genannten englischen und amerikanischen Untersuchungen im wesentlichen mit den Methoden der Experimentalpsychologie arbeiten, versucht man in Kontinentaleuropa neuerdings eine Vertiefung der Erkenntnisse durch anthropologische Betrachtungsweise und durch Tiefenpsychologie zu gewinnen. Die anthropologische Betrachtung betont gegenüber der bloßen Faktorenanalyse das Ganzheitliche, Strukturierte, Gestalthafte des menschlichen Wesens, seine unlösliche Sinn- und Wertgebundenheit. Von hier aus hat man schärfer zu unterscheiden gelernt zwischen den sozial bereits Anbrüchigen und kriminell Anfälligen, für die das Fernsehen unter Umständen eine auslösende Wirkung hat wie der Schneeball, der die Lawine ins Rollen bringt, und subtileren Auswirkungen auf normale Jugendliche, etwa in Gestalt des Eskapismus. Das Fernsehen kann zur Flucht aus der Wirklichkeit verführen durch die Vorstellung, daß man auf einen Schlag — mit einem kriminellen Coup — zum Millionär werden, den Ärger im ungeliebten Beruf von heute auf morgen von sich werfen könne. Die Tiefenpsychologie hat verborgene Wirkungen von Filmen und Fernsehspielen aufgedeckt. So zeigt der Schweizer Psychoanalytiker Bellingroth, daß die kriminelle Gefährdung Jugendlicher weniger durch eine direkte Nachahmung oder einen unmittelbar motivierenden Anstoß, den das im Film angesehene Verbrechen ausübte, verwirklicht wird. Sehr viel schwerwiegender sind die unauffälligen, tieferdringenden Einflüsse des Films. Es ist die eigene verdrängte Asozialität, die der Zuschauer auf den kriminellen Filmhelden projiziert. Durch den kriminellen Filmhelden werden die verdrängten asozialen Triebbedürfnisse des Zuschauers in eine größere Bewußtseins- und Ichnähe gehoben. Der kriminelle Filmheld fördert die Bereitwilligkeit, die eigenen antisozialen Triebbedürfnisse zu akzeptieren und die innere Kontrolle zu lockern. Die Bestrafung oder der Untergang eines solchen Helden am Ende des Films, die oft als Alibi für die Unschädlichkeit dieser Filme an-

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geführt werden, können an dieser Identifizierung nicht mehr viel ändern. Sie sind eher neue Gefährdungsmomente. Der Untergang verleiht dem kriminellen Helden noch den Nimbus des Tragischen, der auf den Fatalismus verwahrloster Jugendlicher eher imponierend als abschreckend wirkt. Hier ist an Filme wie Bonnie und Clyde zu erinnern; sie sollten im Fernsehen trotz ihrer künstlerischen Qualitäten besser nicht erscheinen. Bellingroth betont, daß es für die Frage der Filmwirkung nicht um intellektuelle Einsichten geht und daß das Motto „Verbrechen lohnt sich nicht" keine erzieherische Wirkung ausübt. Nicht im kalkulierenden Verstand, sondern in den Triebschichten muß man ansetzen. Es geht nicht darum, die Unmoral aus den Filmen fernzuhalten und sie keimfrei zu machen. Zur Entlastung des Unbewußten von aufgestauten minderwertigen Triebbedürfnissen sollten diese im Film durchaus verkörpert werden. Dadurch wird für die aufgestaute primitive Energie im Unbewußten ein Ventil zur Entladung eröffnet. Die Abwegigkeit erregt den Zusdiauer. Aber die Figur muß so angelegt sein, daß er sich um keinen Preis mit dem unsympathischen Darsteller identifiziert, sondern daß es vielmehr zu einer Gegenidentifikation kommt unter dem Motto: so bin idi nicht. Die Öffnung eines Ventils für asoziale eigene Seelenkräfte im Zuschauer darf nicht isoliert bleiben. Der Zuschauer darf nicht ungeschützt der erregenden Wirkung des Abwegigen und Bösen im Film ausgesetzt werden. Er braucht einen Anwalt, der für ihn im dramatisdhen Geschehen auf der Leinwand alles das unternimmt, was er gemäß seinen ethisdien Idealen selbst in diesem Fall tun würde. Er muß sich mit diesem identifizieren können unter dem Motto: so bin ich oder so möchte ich sein. Die deutschen Untersuchungen haben nicht den dramatischen Akzent wie die amerikanischen und die englischen, bei denen gravierende Mißstände im Fernsehbetrieb mit Händen greifbar sind. Aber schon wegen ihres unmittelbaren Bezuges auf unsere Verhältnisse sind sie besonders aufschlußreich. Maletzke berichtet über eine Hamburger Studie „Jugend und Fernsehen", in der Hamburger Jugendliche von 15 bis 20 Jahren in den Jahren 1957 bis 1958 untersucht wurden. Gefragt war: Welche Stellung nimmt das Fernsehen im gesamten Freizeitverhalten der Jugendlichen ein? Wie sieht die konkrete Situation beim Fernsehen aus? Weldie Verhaltensweisen sind bei den jugendlichen Zuschauern festzustellen?

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Welche Meinungen und Haltungen lassen sich bei den Jugendlichen gegenüber dem Phänomen Fernsehen nachweisen? Welche Programminteressen, -wünsche und -Vorlieben bestimmen die Auswahl von Sendungen bei den Jugendlichen? Der Hamburger Filmtest, der von Stückrath und Schottmeyer durchgeführt wurde, erfaßte 1260 Kinder und Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren. Hierbei wurden den Versuchspersonen drei Bildvorlagen gezeigt, die im Schattenriß die Situationen „Kinobesuch, Vorführung des Films, Verlassen des Kinos" andeuteten. Zu diesen Bildern hatten die Versuchspersonen je eine Geschichte zu erzählen, diese Geschichten wurden dann interpretiert. Als psychische Gesetzlichkeit ergab sich: je mehr der Mensch in seinen Grundkräften, seiner Lebenslage und auch der momentanen Stimmung mit dem Filmstoff korrespondiert, umso größer ist der Filmeinfluß. Negativ wirkt sich nach diesem Test vor allem Bagatellisierung des Unmoralischen durch den Film aus. Der Film übt tiefgreifende Wirkungen auf die Gesamtperson aus und beeinflußt den Entwicklungsprozeß entscheidend. Er ist zum maßgeblichen Lehrmeister der Jugend geworden und liefert ihr vor allem Aufklärung über die Welt der Erwachsenen. Er ist geeignet, anschauliche Daten zu vermitteln, die dann von der Phantasie zu kriminellen Modellen verarbeitet werden. Obb diese Tatmuster aber wieder in eine ungefährliche Randstellung geraten oder ins organisierende Zentrum rücken, um sich bei passender Gelegenheit in Taten zu verwandeln, hängt von einer Unzahl schwer durchschaubarer persönlicher Komponenten ab. Die tiefenpsychologisch angelegten Versuche im In- und Ausland ergaben vor allem eine Bestätigung des sogenannten Sleeper-Effekts. Neben der unmittelbaren Wirkung sowie der kumulativen Wirkung, die durch die Anhäufung zahlreicher Einzeleindrücke entsteht, bedeutet der Sleeper-Effekt eine verzögerte Wirkung. Zunächst werden gewisse Einstellungen wegen des Zusammenhangs, in dem sie gezeigt werden (z. B. Aggression wird bestraft), abgelehnt. Mit der Zeit wird aber dieser Kontext vergessen, während die emotionale Erregung bewahrt bleibt. Hieraus folgt, daß die Wirkung bei den labileren Jugendlichen am größten ist, nämlich bei solchen, deren moralisches und soziales Wertsystem am wenigsten festgefügt ist, und bei solchen, die am meisten mit der Beherrschung ihrer eigenen Aggressionen zu tun haben. So der £/«esco-Bericht 1963, zitiert bei Keilhacker/Wasem S. 106 ff. Die tiefenpsychologisch fundierten Feststellungen und die Testergebnisse führen weiter in die Tiefe des Menschenbildes. Hier hat die Erforschung der Wirkungen von Film und Fernsehen eine überraschende Tatsache offenbart. Während sonst von der Kriminalsozio-

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logie und -psychologie der Mensch, der sich gegen Gesetze vergangen hat, als der Passive, der bloße Spielball von Mächten geschildert wird, die stärker sind als er selbst, als bloßes Produkt seiner Umwelt, mit dem etwas geschieht, wo er zu handeln glaubt, wird auf diesem Feld energisch die Gegenthese aufgestellt, es komme entscheidend auf den Menschen selbst an, sein Handeln sei nicht einfach kausal bestimmt, sondern der Motivationskomplex hänge entscheidend von seiner Person, ihrer Milieuwahl und Milieuprovokation ab. Damit wird die Autonomie des Menschen für die Betrachtung und Bewertung der auf ihn wirkenden Einflüsse zurückgewonnen. Neben der Anlage und der Umwelt, die selbstverständlich in ihren Einflüssen und Determinierungen nicht geleugnet werden, erscheint plötzlich wieder die Persönlichkeit als ein mitbestimmender, sogar entscheidender Faktor. Das stimmt überein mit den neuesten Trends in der allgemeinen anthropologischen Forschung. Insofern sind die zu diesem Spezialthema angestellten Untersuchungen ein überaus wertvoller Beitrag zu weiterund tief er reichenden Einsichten. Eine realistische Betrachtung muß davon ausgehen, daß die Darstellung der Gewalt und Brutalität, insbesondere der kriminellen, im Fernsehen unausrottbar ist. Der Kriminalfilm ist der Magnet, der die Fernseher anzieht; ernsthaftere Sendungen, die gleichzeitig in anderen Programmen gezeigt werden, verzeichnen eine starke Abwanderung. Der Kriminalfilm wird deswegen auch bewußt als Lokomotive eingesetzt, um ganze Zuschauerschichten zu anderen Sendern mitzuziehen. Die Schwemme mit Krimis wird mit der immer noch zunehmenden Verbreiterung der Fernseherschaft in die Massen der Bevölkerung hinein quantitativ immer mehr gefördert und qualitativ immer mehr versimpelt; kurze Kriminalfilme können sich eine psychische Entwicklung von Charakteren oder sonstige Vertiefung schon zeitlich gar nicht leisten. Außerdem verlangt der Zuschauer, daß etwas geschieht, er will sich entspannen und nicht nachdenken. So hat Infratest festgestellt, daß die anspruchsvolleren Maigretfilme und die Anwaltserie Preston & Preston lange nicht so gut ankamen wie eine PerryMason-Serie. In dieser letzteren wird nämlich erheblich mehr geprügelt, niedergeschlagen und geschossen. Ein weiteres Moment der Trivialisierung hat Infratest ermittelt: die guten Kriminalromane von Agatha Christie und Dorothy Sayers kommen im Fernsehen nicht an, weil sie eine langsame psychologische Entwicklung und eigenes Mitdenken des Fernsehers verlangen. Bezeichnend für die Kapitulation vor den Wünschen der Fernsehermassen ist es, daß in der englischen Fernsehfassung der berühmten „Mausefalle" und anderer ChristieRomane oder Theaterstücke die zarte Miss Marple des Originals sich

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in eine robuste plumpe Waschfrau verwandelt hat, die bei jeder passenden Gelegenheit einen Golfschläger, einen massiven Aschbecher oder eine schwere Vase bereithält, um den bösen Feind totzuschlagen. Im Bereich des Western braucht nur das Stichwort Italowestern genannt zu werden, um ähnliche Tendenzen zu zeigen. Zusammenfassend ist zu sagen: 1. Direkte Auslösungen von Verbrechen, meist Kapitalverbrechen, durch Film und Fernsehen sind in Einzelfällen erwiesen. (Halstudimorde; Schweizer Feststellungen; nach Pressemeldungen vom 8. 7. 1970 hat ein englischer Arbeiter nach dem unmittelbaren Vorbild der James-Bond-Filme die Bremsleitungen eines Wagens in Mordabsicht durchschnitten.) 2. Viel mehr in die Breite und Tiefe gehen die indirekten Auswirkungen. Hier liegen bereits aus den dreißiger Jahren Untersuchungen vor, die bis heute zwar umstritten, aber nicht widerlegt sind und durch neueste Untersuchungen überwiegend bestätigt werden. Danach hat ein zu Buch schlagender Prozentsatz kriminell gewordener Jugendlicher unter dem nachwirkenden Einfluß von Mentalitäten gehandelt, die ihm durdi Film und Fernsehen vermittelt wurden. Bei den Jungen führte das zur Brutalisierung, bei den Mädchen — in sehr viel zahlreicheren Fällen — zur Verwahrlosung. 3.

Dabei hat sich erwiesen, daß die normalen Jugendlichen sehr viel weniger anfällig sind als sozial anbrüchige junge Menschen, bei denen bereits vorhandene Labilitäten oder Anlagemomente aktiviert werden, sei es im Sinne der Stimulierung oder der Abstumpfung und Verrohung. 4.

Als weitere Auswirkung ist mit Sicherheit die Erzeugung von Angstaffekten bei Kindern registriert worden, deren Folgeerscheinungen, vor allem in Gestalt von Labilisierung, ebenfalls sozial bedenklich werden können. 5.

Statistische Feststellungen zeigen in USA und England eine ungeheure Überflutung mit Gewalt durch Film und Fernsehen. Bei uns sind die Zahlen weniger dramatisch, die Steigerungstendenz jedoch ist

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rapide und anscheinend unaufhaltsam. Zahlen sagen nicht alles, sind aber auch nicht bedeutungslos. 6.

Um auf uns zukommende Gefahren aufzufangen, empfiehlt es sich, in der Fernsehdarbietung die durch psychologische und tiefenpsychologische Ursachenforschung ermittelten Auslösungseffekte zu vermeiden. Insbesondere soll zwar durchaus ein Ventil für unterschwellige Triebkräfte geöffnet werden dürfen, aber nur unter Aufzeigung von Gegenkräften und Gegenwerten positiver Art, so daß der Zuschauer sich eindeutig sagt: so bin ich nicht bzw. so bin ich oder so möchte ich sein. 7. Empfehlenswerte Typen soldier Art scheinen insbesondere zu sein: literarische Western (O'Henry, 'Bret Harte), Kriminalkomödien, Übersteigerung der Tricks ins Unwirkliche, Anwaltsserien, bei denen die Spannung vom blutigen Geschehen weg in den Gerichtssaal, in den Kampf um einen Menschen verlegt wird, wie bei der Serie „Gestern gelesen . . . " des Westdeutschen Werbefernsehens. 8.

Nicht zu übersehen ist die Gefahr, daß durch Fernsehsendungen Ansteckungsmomente ζ. B. der Rauschgiftsucht, auch ohne jede dahingehende Tendenz, verbreitet werden. In erster Linie ist hier an Sendungen zu denken, die Neugier erwecken. Verheerend wäre aber auch eine Tendenz, die zeitweise von einflußreichen Presseorganen vertreten wurde, einzelne Rauschgifte, insbesondere Haschisch, zu bagatellisieren und um deren Freigabe zu kämpfen. In den USA fiel das sprunghafte Ansteigen der Rauschgiftdelikte mit der rapiden Zunahme des Fernsehens zeitlich zusammen. Hierbei waren gerade Kurzfilme offenbar infiziert mit Momenten, die die Neugier der Fernsehzuschauer erweckten. Das deutsche Fernsehen hat jedoch in letzter Zeit mehrfach wirkungsvoll warnende und abschreckende Darstellungen gebracht. Die Gefahren, die nach alledem vom Fernsehen ausgehen können, haben Regierung und Opposition zu Entwürfen gesetzlicher Abwehrmaßnahmen veranlaßt. Daß die Ursachenforschung bisher nicht von Widersprüchen frei ist, verurteilt den Gesetzgeber nicht zur Passivität. Diese Forschung wird nie zu einem Ende und zu völliger Gewißheit kommen. Man muß sogar fragen, ob sie das überhaupt behaupten dürfte, ohne ihre wis-

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senschaftliche Redlichkeit in Frage zu stellen. Der Mensch ist nicht bloß ein unbekanntes, er ist letzten Endes ein unerkennbares Wesen. Die Problematik einer gesetzlichen Normierung hat aber einen ganz anderen Aspekt. Die Programmdirektion Deutsches Fernsehen/ARD hat unter dem Titel „Schlagwort: ,Die Gewalt im Fernsehen'" eine Reihe von Stellungnahmen aus den Fernsehredaktionen herausgegeben, die die hier wirkenden Kräfte und Strömungen in wünschenswerter Deutlichkeit sichtbar macht. Da heißt es: „Die Frage nach der Darstellung von Gewalt in Fernsehspielen i s t . . . letztlich eine ideologische. Sie ist eine Frage nach der Interpretation unserer Welt, ihrer Konflikte und deren Ursachen. Danach ist Gewalt nicht gleich G e w a l t . . . " „Die alten Fragen nach revolutionärer und repressiver Gewalt, nach Gewalt und Gegengewalt werden also je von Fall zu Fall neu gestellt und neu beantwortet werden müssen . . . Die organisierte Gewaltanwendung von Pariser Kommunarden 1871, von Berliner Arbeitern am l . M a i 1929, von bundesdeutschen Studenten zu Ostern 1968 wird je in ihren verschiedenen Voraussetzungen gezeigt und überprüft werden müssen." Abschließend heißt es: die Antwort auf die Frage nach der Darstellung von Gewalt in Fernsehspielen hänge zusammen mit der Antwort auf die Fragen, wie unsere Welt aussieht und wie sie aussehen sollte. Der Verfasser des nächsten Beitrages beklagt sich, es sei seit langem opportun, Leute unter Drude zu setzen, die Fernsehprogramme konzipieren, produzieren und verantworten. Der Proporz mache . . . auch die Erpressung möglich. Eine der gängigsten Methoden, Druck auszuüben, bestehe darin, gegenüber Personen und Programmen einen Ideologieverdacht zu schüren. Der offenen Forderung des einen Autors nach Ideologisierung der Gewaltdarstellung folgt damit die entrüstete Zurückweisung eines solchen „Verdachts" durch den nächsten, der dann jedoch seinerseits einen klassischen Fall von Ideologisierung vorführt. Als typisches Beispiel dafür, „wie verherrend die vorgesehene gesetzliche Regelung für den psychischen Haushalt dieser Gesellschaft und wie belastend für ihr moralisches Selbstverständnis" sie sei, führt dieser Autor den Film „Die Messe der erfüllten Wünsche" an, der, wie er meint, nach Inkrafttreten des vorgesehenen § 131 nicht mehr, wie im August 1971 geschehen, gesendet werden könnte. Diesen Film hatte der führende Hamburger Theologe Helmut Thielicke beanstandet: „Die Vergewaltigung gehört durchaus in die Logik dieses Geschehensablaufs. Meine Frage ist nur, warum sie so breit und brutal ausgespielt werden muß. Das Hineinkrallen in die

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nackten Brüste, das irrsinnige, lang andauernde Angstgeschrei des Mädchens, der krachende, immer neue Aufprall ihres Schädels auf dem Boden, die Entfesselung immer neuer sadistischer Anläufe." Der Autor aus der A R D erklärt demgegenüber: „Es gibt Situationen, denen gegenüber Dezenz ein unmoralisches Verhalten bedeutet. Thielicke ist entweder nicht kompetent, oder er räsoniert nur, wenn er behauptet, es ginge um den ,Appell an den latenten Aggressionstrieb des Zuschauers, eine Konzession an inferiorste Instinkte'. Neunzig Minuten lang wird geduldig und ohne Gedankensprung beschrieben, wie ein Mensch aussieht, der sich auf seine Funktionen reduziert, wie die Arbeit aussieht, deretwegen er das tut, wie die Gesellschaft verfaßt ist, die das von ihm verlangt, wie die Perfektion eines zweckentsprechenden Verhaltens in entseelten Attitüden erstarrt und in rituellen Abläufen beherrschbar wird. Paradoxerweise entspringt die Gewalttat, in die er sich rettet, einem humanen Impuls. Wie anders wäre ihm mitzuteilen, daß pervers und abnorm nicht allein die Gewalttaten sind, die viele begehen, sondern vor allem audi die Bedingungen, die sie dahin bringen. Es müßte, genau genommen, die Sache des Theologen Helmut Thielicke sein, die Fassung der Szene zu verteidigen, die er in seiner Glosse verflucht." Die brutale Darstellung von Brutalitäten ist also nicht nur zu tolerieren, sondern als notwendiges Mittel zu fördern, um die gesellschaftlichen Bedingungen grundstürzend zu ändern, die eine solche Vergewaltigung hervorbringen. Kein Raum bleibt für eine abwägende Betrachtung, wie man sie etwa bei Tobias Brocher findet: „Umgekehrt kann eine anklagende Ubertreibung latenter, verdeckter Gewalttendenzen als vorgebliche Realität durch einseitige Darstellung zu Mißverständnissen und Irrtümern verleiten, aus denen dann Gewalt als legalisiertes Mittel für Umsturz oder bewußte Zerstörung der Gesellschaft und ihrer Institutionen abgeleitet wird." Hier zeichnet sich bereits die Richtung ab, in die sidi Prozesse wegen Verstoßes gegen § 131 entwickeln würden. Mit Leichtigkeit würde eine Verteidigung, die sich der hier wiedergegebenen Argumente bedient, den Anklagespieß umdrehen und das heilige Recht der brutalen Darstellung von Brutalität zum Siege führen, wenn sie die pervertierte Gegenwartsgesellschaft entlarvt und damit zum Vehikel ihres Umsturzes wird. Politische Beleidigungsprozesse zeigen Vorbilder genug. Die heranwachsende Richtergeneration, die auch in der Fachpresse, in „kritischen" und „rechtspolitischen" Zeitschriften mehr oder weniger nach der gleichen Richtung indoktriniert wird — audi in einer bisher angesehenen Wochenschrift finden sich bereits solche Töne — wird zunehmend für soldie Argumentation der Verteidigung aufnahmebereit sein und den Staatsanwälten Niederlagen bereiten.

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Trotz aller dieser Bedenken wird man die Einführung einer solchen Bestimmung dennoch befürworten müssen, und zwar wegen ihrer vorbeugenden Kraft, ihres power in being. Die Rundfunkgesetze sind ohne Sanktionsbewehrung, so daß sie gegen die Ausbreitung brutaler und brutalisierender Darstellungen keine zureichende Handhabe bieten. Den verantwortlichen Kräften im Fernsehen muß daher ein griffigeres Instrument in die Hand gegeben werden, um von vornherein, etwa beim Einkauf der Filme, Grenzen ziehen zu können. In diesem vorbeugenden Sinn, auf den jedes moderne Strafrecht hinsteuern muß, auf dem mehr Gewicht liegen muß als auf seiner repressiven Funktion, sind die gesetzgeberischen Unternehmen zu begrüßen. Im Technischen wären sie allerdings sicher noch zu überprüfen. So dürfte insbesondere der Begriff der Gewalttätigkeit im Regierungsentwurf zu weit gehen. Er würde wahrscheinlich besser durch den Begriff der Brutalität, den der CDU-Entwurf verwendet, ersetzt werden. Brutalität bedeutet Roheit, doch schwingt im Fremdwort noch mehr mit. Das Entscheidende ist doch, Verrohung durch das Fernsehen zu verhindern, während die Perhorreszierung aller Gewalttätigkeiten allzu viel von der Realität ausblenden und daher das Fernsehen unglaubwürdig machen würde. Auch und gerade für die hier beabsichtigte Gesetzgebung gilt das Wort, das für Bismarck ein Maßstab der Staatsklugheit war: mal étreint qui trop embrasse.

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Internationale Kontrolle des Opiumhandels und gesetzliche Beschränkung des Betäubungsmittelverkehrs in Deutschland GERHARD ROMMENEY

Der Gebrauch von Drogen, die eine besondere Wirkung auf das Zentralnervensystem und damit auf den geistig-seelischen Zustand des Menschen haben, ist, wie wir annehmen dürfen, so alt wie die Menschheit selber. Diese „psychotropen Substanzen" wurden zu Heilzwecken, zu kultischen Zwecken und als Genußmittel schon in antiken Hochkulturen verwendet und auch von einigen Naturvölkerstämmen in südlichen und südwestlichen Kontinenten gebraucht. Im mittleren und fernen Osten war der getrocknete Saft der Mohnkapsel (Papaver somniferum), das Opium, der bekannteste pflanzliche Inhaltsstoff mit einer euphorisierenden Wirkung 1 . Sie dürfte der Anlaß gewesen sein, daß das Opium in historischer Zeit ein begehrtes Handelsobjekt wurde und von den Anbauländern Ägypten, Arabien und der Türkei auf dem Landwege über Persien nach Indien und China gelangte2. Ein anderes Produkt, das Harz der Hanfpflanze (Cannabis sativa), welches unter dem arabischen Namen Haschisch schon vor zweitausend Jahren in ganz Asien verbreitet war, stammt ursprünglich aus 1 Schramm, Gottfried. Über die Anfänge des Opiumrauchens in China. Pharmaz. Ztg. N r . 7 v. 1 9 . 2 . 1 9 7 0 : „Der Versudi, somatische Erkrankungen oder psychische Vorgänge durch Drogen zu beeinflussen, läßt sich in verschiedenen Kulturkreisen bis in frühe Stufen der Menschheitsgeschichte verfolgen. Der gelegentlich daraus resultierende Effekt einer Gewöhnung (habituation), einer psychischen Abhängigkeit oder physischen Bindung (addiction) wurde wiederholt Gegenstand medizinischer, insbesondere pharmakologisch-toxikologischer Untersuchungen bzw. historischer oder literarischer Betrachtungen" (S. 200/201). Sonnendecker, Glenn. Die Opiumsucht. Pharmaz. Ztg. N r . 26 v. 2 7 . 6 . 1 9 6 3 : „Beschreibungen über Opium, über das Sammeln und Einnehmen finden wir in Werken der klassischen Antike. Der vielleicht am meisten diskutierte Hinweis kommt in Homers Odyssee vor, w o Helena eine starke Droge, die sie aus Ägypten mitgebracht hatte, ihren sorgenvollen Gästen in den Wein gibt. Sie sollte die Madit haben, Sorge und Ärger zu unterdrücken und alles Übel vergessen zu lassen" (S. 836). Schadewaldt, H . Medizinhistorische Betrachtungen zum Rauschgiftproblem. Ärztliche Praxis X X I I I . Jg. N r . 88, S. 3592: „Dieser Vergessenheitstrank ,Nepenthes' könnte audi ein Bilsenkrautprodukt oder gar Haschisch gewesen sein. Sicher ist jedoch, daß in der griechischen Welt die Mohnkapseln als Symbol des Schlaf- und Todesgottes angesehen wurden . . 2 Huber, E. Geschichte von Haschisch und Opium. Dtsch. med. Wschr. 1927, S. 1145—1146: „Wir wissen, d a ß in der Ptolemäerzeit, also in der zweiten H ä l f t e des ersten vorchristlichen Jahrhunderts, das Opium ein reger Exportartikel im ägyptischen H a n d e l gewesen ist und daß in Alexandria viel Mißbrauch mit dieser gefährlichen Droge getrieben wurde."

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Indien und wurde von dort auf dem umgekehrten Wege in den vorderasiatischen und arabischen Raum eingeführt. Wegen seiner Herkunft wird diese Droge bei uns „Indischer Hanf" genannt3. Als sich die Handelsbeziehungen der Länder des nahen und fernen Ostens unter zunehmender Ausnutzung der Seewege audi mit dem Westen stärker entwickelten, wurden Opium und Haschisch in Europa ebenfalls bekannt. Anscheinend verwendete man diese Drogen zunächst nur für medizinische Zwecke. Sonnedecker ist der Ansicht, daß im Mittelalter opiumhaltige Drogen fast Allheilmittel gewesen sind4. Es gibt aber keine Berichte darüber, ob das Phänomen der Abhängigkeit, welches uns heute wegen seiner auffälligen sozialen Auswirkungen beschäftigt, damals schon bekannt gewesen ist. Im gleichen Zusammenhang weist Schadewaldt darauf hin, daß die giftigen Nebenwirkungen dieser Stoffe, insbesondere die Gefährlichkeit hoher Dosen und längeren Gebrauchs, in den zahlreichen Kräuterbüchern, die nach der Erfindung der Buchdruckerkunst im Abendland verbreitet waren, wohl erwähnt werden, daß aber das uns heute interessierende Problem der Drogenabhängigkeit weder in diesen Büchern noch in den Uberlieferungen der Antike und des Mittelalters erörtert wird 5 . Erst aus den Berichten einiger Forschungsreisender der westlichen Welt, die im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert bei den „Türken, Mohren, Persern und anderen Völkern des Morgenlandes" bis hin nach Ostindien das weitverbreitete Essen und Rauchen von Opium kennengelernt hatten, läßt sich entnehmen, daß es mindestens zu jener Zeit bei den orientalischen Völkern die Phänomene der Gewöhnung an das Opium, der Entzugsersdieinungen und der Persönlidikeitsveränderungen gegeben hatte 6 . Die Schilderungen zeugen von guter Beobachtung und sind lebendig geschrieben, wenn auch aus der Distanz des Neulings, der zur eigentlichen Problematik der Drogensucht und deren ' Huber, E. a . a . O . S. 1146: „Unheimliche, geradezu seudienhafte Ausbreitung haben Haschisdi und Opium mit der Ausbreitung des Islam gefunden. Muslimische Gesdiichtssdireiber und historisch denkende Ärzte schreiben diese Rausdigiftepidemie dem Koranverbot des Weines zu, und wohl nicht mit Unredit." * Sonnedecker, Glenn, a . a . O . S. 836: „Drei der in allen Zeiten beliebtesten Medikationen — Mithridatinum, Theriaca, Philonicum — enthielten eine nidit unbeträchtliche Menge Opium." s Schadewaldt, H. a . a . O . S. 3592: „An keiner Stelle jedodi ist in der Keilsdiriftliteratur des Zweistromlandes, in den ägyptischen Papyri oder bei den griechischen Ärzten ein sicherer Hinweis für Auftreten von Suchterscheinungen nadi Opiumgenuß zu finden . . 6 Die bekanntesten Reisebeschreibungen aus dem Zeitalter der Entdeckungen stammen von L. Rauwolff (1535—1596), Prosper Alpino (1553—1617), John H. van Linschoten (Erstveröffentlichung 1596), Garcia da Orta (1501—1568) und E. Kaempfer (1651—1716). Nähere Hinweise bei G. Sonnedecker, a . a . O . S. 835/837, und H. Schadewaldt, a. a. O. S. 3592/3593.

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Krankheitscharakter keinen Zugang hat, sondern die fremdartigen Gewohnheiten als Laster und Übel mit den Folgen moralisdier Versklavung empfindet. Ihnen ist, wie Sonnedecker meint, „der Anflug beiläufiger Neugier gemeinsam, ebenso wie die Haltung unparteiischen Mitleids eher als Billigung. Sie kennen kein Rausdigiftproblem, und Analogien gab es in den Ländern der westlichen Welt nicht" 7 . So blieb es in Europa und in den anglo-amerikanischen Ländern auch im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert, als das Opium und die aus ihm gewonnenen Alkaloide, wie ζ. B. das Morphin, inzwischen sehr geschätzte Medikamente geworden waren. Sie wurden von manchen Ärzten mit einer Begeisterung empfohlen und mit einer Indikationsbreite angewendet, für die wir heute kein Verständnis mehr aufbringen können. Gab es auch kritische Stimmen, die entweder das uns heute geläufige körperliche Entzugssyndrom oder den Verlust der willkürlichen Kontrolle bei bestimmten Charaktertypen beschrieben und sie als schädliche und suchtmachende Wirkungen bezeichneten, so vermissen wir doch in dem Streit der Meinungen die Erkenntnis, daß die unerwünschten Nebenwirkungen der opiathaltigen Arzneien nicht nur ein individuelles Risiko für den Patienten bedeuten, sondern audi zu einem ernsten medizinischen und sozialen Problem der Gesellschaft werden können. Solche Überlegungen tauchten erst allmählich um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts auf, nachdem die Ärzte gelernt hatten, mit einer Injektionsnadel flüssige Medikamente unter die Haut zu spritzen, und die großzügige Verwendung der Morphiumspritze in der Kriegsdiirurgie den Ruf dieser „Barmherzigkeitsspritze" so verbreitete, daß viele Patienten sie forderten oder sich verschafften, auch wenn die Anwendung medizinisch nicht begründet war 8 . Einige medizinische Veröffentlichungen zum Thema des universellen Morphin-Gebrauchs (Fiedler, Laehr, Levinstein)9 lassen erkennen, wie 7

Sonnedecker, G. a. a. O. S. 838. Der französische Chirurg Ch. G. Prawaz (1791—1853) war der Erfinder der mit einer Hohlnadel versehenen Injektionsspritze, und der englische Arzt A. Wood (1871—1884) begann als erster, Arzneimittel unter die Haut zu spritzen. (Brockhaus' Konversations-Lexikon, 14. Aufl. 1908, 9. Bd. S. 605.) Schadewaldt, H. a. a. O. S. 3591, spridit von der „ersten Morphinismuswelle" in Europa und Amerika. Infolge der zügellosen Morphiumanwendung in den verschiedenen Kriegen, KrimKrieg 1853—56, amerikanisdier Bürgerkrieg 1861—65, preußisdi-österreidiisdier sowie deutsch-französischer Krieg 1866 und 1870, nahm die nicht medizinisch indizierte subkutane Morphiumanwendung immer mehr zu, so daß man in Amerika regelrecht von einer „Armee- oder Soldatenkrankheit" sprach. • Fiedler und Hirschfeld. Über den Mißbraudi der Morphiuminjektionen. Kunzes Ztsdir. f. praktMed. Jg. 1874, Nr. 27, 28. Laehr, Über Mißbraudi von Morphium-Injektionen. Allg. Ztsdir. f. Psychiatrie, 28 (1872) 349—352. Levinstein, E. Die Morphiumsudit. Eine Monographie. Berlin 1883, 3. Ausg. Zit. nach Sonnedecker, a. a. O. S. 900. 8

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stark die Autoren von dem neuen Krankheitsbild beeindruckt waren, das sie die Morphiumsucht nannten. Morphinismus und Kokainismus wurden nunmehr in den Lehrbüchern der Psychiatrie als Krankheitsbilder eigener Art beschrieben. Folgt man jedoch den amtlichen Beriditen, so hatte es jedenfalls in Deutschland um die Jahrhundertwende im Zusammenhang mit der medizinischen Anwendung der Opiumtinktur, des Morphins, des Heroins und des Codeins keine öffentlidien Mißstände gegeben. Im Vergleich zu dem alarmierenden Ansteigen der Zahl der Alkoholiker, insbesondere in den sozial unterprivilegierten Bevölkerungsschichten (sog. Elendsalkoholismus), bildeten die Morphiumsüchtigen eine kleine Minderheit. Inzwischen hatten sich in Asien politische Krisenherde gebildet, weil die europäischen Kolonialmächte unter der Führung Englands ihre Handelsforderungen in Indien und China mit Waffengewalt durchsetzten. Das große Chinesische Reich, das schon im Altertum und Mittelalter rege Handelsbeziehungen mit westlichen Völkern, den Parthern, Griechen und Arabern unterhalten hatte, sah sich genötigt, mit dem Beginn des sechzehnten Jahrhunderts seine liberale Haltung gegenüber fremden Händlern und Reisenden aufzugeben. Die Chinesen fühlten sich insbesondere durch das Vorgehen der Portugiesen und Engländer brüskiert 10 . Die Tätigkeiten der europäischen Handelsgesellschaften waren von Anfang an mit dem teils legalen, teils illegalen Opiumhandel verknüpft. So entstand eine Entwicklung, die sich schließlich zu einem weltwirtschaftlichen Problem verdichtete, welches unter dem Namen „Die Opiumfrage" viele Jahrzehnte lang die Weltöffentlichkeit beschäftigte11. Die Auseinandersetzungen Chinas mit den Kolonial10 T'Ang Leang-Li, China in Aufruhr. Leipzig/Wien 1927, S. 76: „ . . . A n den chinesischen Hof waren Nachrichten vorgedrungen über die Eroberung der Molukken und die gewaltsame Besetzung von Teilen Indiens sowie der Malaiischen Halbinsel durch die Portugiesen und über die brutalen Methoden und die Gesetzesverachtung, mit denen diese .Barbaren' Einlaß in China erlangen wollten . . . Dann kamen die Engländer. Im Jahre 1637 segelte Kapitän Weddel mit einem Geschwader von fünf Schiffen nach Kanton, um Handelsprivilegien zu fordern." (S. 77) : „Vor allem muß der Mangel an Achtung vor den chinesischen Gesetzen seitens der Fremden aus dem Westen erwähnt werden. Diese Fremden waren fast durchwegs — es sind nur einige Missionare auszunehmen — von der Gier nach Gewinn erfüllt und betrachteten sidi als über allen, sowohl den chinesischen als audi ihren Gesetzen stehend; Gewalt war die einzige anerkannte Methode für das Vorwärtskommen in diesem ,primitiven Staatswesen'.'" 11 Wissler, Albert. Die Opiumfrage. Schriftenreihe „Probleme der Weltwirtschaft". Jena 1931. Im Vorwort der sehr ausführlichen und gründlichen Studie schreibt der Verf. u. a.: „Seit zwei Jahrhunderten gibt es eine Opiumfrage. Als sidi das kapitalistisch wirtschaftende Europa durch die Ostindischen Kompanien in Süd- und Ostasien kolonialen Raum schafft, entsteht das Problem. Es wird und

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mächten begannen, als im Jahre 1729 der chinesische Kaiser Yungchen zum ersten Male ein Antiopiumedikt erließ, mit welchem der Ankauf von Opium und das Halten von Opiumdivans unter schwere Strafe gestellt wurden. Diese Maßnahme kann als ein Zeichen dafür angesehen werden, daß das chinesische Reich, dessen Eigenproduktion an Opium inzwischen stark angewachsen war, Veranlassung hatte, einer weiteren Überschwemmung des Landes mit Opium durch zusätzliche Einfuhr, an welcher alle damaligen Handelsnationen ihren Anteil hatten, entgegenzutreten. Es war aber politisch nicht stark genug, um dem Druck der fremden Handelsmächte wirksam begegnen zu können 12 . Wissler spricht von „dem unbändigen kommerziellen Expansionsdrang der Westvölker", mit welchem sie die Tore des verschlossenen Warenparadieses China aufsprengten. Als schließlich im Jahre 1839 ein hoher chinesischer Regierungsbeamter die europäischen Kaufleute zwang, den gesamten Opiumvorrat ihrer Faktoreien in Kanton herauszugeben und mehr als zwanzigtausend Kisten Opium vernichtete, begannen die Engländer den ersten Opiumkrieg (1840—42). Sie erreichten damit die Abtretung Hongkongs und die Öffnung von fünf Häfen für den Handel mit dem Westen. Die sdion damals angestrebte Legalisierung des Opiumhandels wurde aber erst nach einem zweiten Opiumkrieg (1856—58) erzwungen 13 . Als im Jahre 1898 nach der Beendigung des spanisch-amerikanischen Krieges die Philippinen an die Vereinigten Staaten abgetreten wurden, rückte Amerika als neue Konkurrenzmacht in den ostasiatischen Handelsraum ein. Dabei wurden die Amerikaner mit den sozialen Mißständen konfrontiert, die der weitverbreitete Opiumgenuß in Indien, China und auf den Philippinen hervorgerufen hatte. Sie waren nicht bereit, sich mit den dortigen Verhältnissen abzufinden bleibt beispielhaft für den Verlauf des Kampfes zwischen den kapitalistischen Gebieten und dem außerkapitalistisdien Raum in Südostasien... Drei große Mächtegruppen stehen sich gegenüber: England und mit ihm das kolonisierende Europa, Amerika und Ostasien; als vierte Gruppe werden die kein politisches Ziel, sondern nur ihre wirtschaftlichen Interessen verfechtenden europäischen Industrieländer in den Kampf hineingezogen." w Wissler, a. a. O. S. 22: „1796 wurde das Edikt von 1729 wiederholt, 1799 ein neues, schärferes Edikt erlassen. Seit etwa 1800 setzte die Gegenaktion der chinesischen Regierung stärker ein. Erlaß folgte auf Erlaß, Verbot auf Verbot, und allein ihre Unzahl spricht schon von ihrer Wirkungslosigkeit." u Bezeichnend für die damalige Situation in China ist ein Aussprudi des Kaisers Tao-kung, der z. Z. des ersten Opiumkrieges residierte, als man ihn drängte, den Opiumhandel zu legalisieren: „Ich kann die Einfuhr dieses Giftes nicht verhindern; gewinnsüchtige und verderbte Menschen wollen aus Profitgier und Sinnlichkeit meine Wünsche durchkreuzen, aber nichts wird midi dazu veranlassen, meine Einkünfte aus dem Laster und Elend meines Volkes zu beziehen." Zit. nach Wissler, a. a. O. S. 31.

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und machten die Opiumfrage zu einem Weltproblem. Sie bildeten im Jahre 1904 das Philippinen-Opium-Komitee und führten im Jahre 1908 die Prohibition in den Philippinen ein. In einem Brief an den damaligen Präsidenten der USA Theodore Roosevelt forderte der Bischof der Philippinen, Charles H. Brent, eine internationale Aktion in der Opiumfrage, weil den Philippinen, China und dem ganzen Osten auf andere Weise nicht zu helfen sei. Die amerikanische Regierung nahm den Vorschlag auf. Es gelang ihr, im Jahre 1909 eine Internationale Kommission nach Schanghai zu berufen14. In der Kommission waren vertreten: die Vereinigten Staaten, China, Deutschland, Frankreich, England, Italien, Japan, die Niederlande, Österreich-Ungarn, Persien, Portugal, Rußland und Siam. Die eigentlichen Verhandlungen wurden zwischen den drei Mächten England, China und den USA geführt. Sie waren schwierig, weil die englischen Delegierten alles daran setzten, eine Diskussion über die koloniale Opiumfrage zu unterbinden, an der wiederum China ein großes Interesse hatte. Man einigte sich aber auf einige Resolutionen, in denen z. B. gefordert wurde, es sollen alle Staaten die Ausfuhr von Opium und Narkotika nach Ländern unterbinden, die die Einfuhr verbieten, es sollen die Produktion und der Handel von Morphin und allen seinen gefährlichen Derivaten überwacht und wissenschaftliche Untersuchungen über Opium, Opiate und Antiopiummittel vorgenommen werden. Die Ergebnisse der Beratungen hatten noch keinen verbindlichen Charakter. Es waren lediglich Empfehlungen an die Regierungen der beteiligten Länder. Ein praktischer Erfolg war vorerst noch nicht zu erwarten. Trotzdem hat die durch die Initiative der Amerikaner geschaffene Möglichkeit, die ganze Welt auf die Opiumfrage aufmerksam zu machen, eine historische Bedeutung erlangt. Es war der erste Versuch, den Handel und die Herstellung von Opium und Opiumalkaloiden durch internationale Abmachungen zu regeln, und somit auch die Geburtsstunde der späteren internationalen Vereinbarungen über eine wirksame Kontrolle des gesamten Verkehrs mit Rausch- und Betäubungsmitteln, die wiederum den Anstoß zu einer deutschen Gesetzgebung gaben. Drei Jahre nach den Kommissionsberatungen in Schanghai fand in Den Haag eine internationale Konferenz statt, die das sog. „Haager Abkommen vom 23.1.1912" erarbeitete. Darin wurden Begriffsbestimmungen für Rohopium, zubereitetes Opium und Opium für 14 Gewehr, Fritz. 50 Jahre internationale Opiumkontrolle und ihre Auswirkung auf die Deutsche Opiumgesetzgebung. Vortragsmanuskript 1959, beim Verf., 1 Berlin 37, Berliner Straße 97 I.

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medizinische Zwecke sowie für Morphin und Kokain gegeben. Sodann sollten sidi die Vertragsstaaten verpflichten, 1. die Produktion, den Handel und die Ausfuhr von Rohopium zu überwachen, bzw. die Ausfuhr nach Ländern mit Importverbot zu verhindern, 2. die Fabrikation und den Handel von zubereitetem Opium nach und nach zu unterdrücken, 3. die Herstellung von fabrizierten Betäubungsmitteln auf den medizinischen Bedarf einzuschränken, Produktion und Handel zu überwachen sowie die Produktion, den Handel, die Ein- und Ausfuhr von einer staatlichen Genehmigung abhängig zu machen. In diesem Abkommen sind bereits die wesentlichen Grundzüge des späteren deutschen Betäubungsmittelgesetzes und der Abgabe- und Verschreibungsverordnung enthalten, nämlich 1. die Überwachung des Betäubungsmittelverkehrs durch eine zentrale Behörde (früher Reichsgesundheitsamt, jetzt Bundesgesundheitsamt) in § 2, 2. die Erlaubnispflicht in § 3, 3. die Beschränkung des Betäubungsmittel Verkehrs auf den medizinischen Bedarf in § 3 Abs. 4 und in den Bestimmungen der Abgabeund Verschreibungsverordnung, in der ausdrücklich festgelegt wird, daß die Arzneien, die ein Betäubungsmittel enthalten, nur dann verschrieben werden dürfen, wenn die Anwendung des betreffenden Betäubungsmittels ärztlich, zahnärztlich oder tierärztlich begründet ist. Die im Jahre 1912 begonnenen Verhandlungen zogen sidi in die Länge, weil sich die zur Teilnahme aufgeforderten Staaten über die Ratifizierung der Konvention nicht einigen konnten. Wieder war England daran interessiert, von der eigentlichen Opiumfrage abzulenken, um nicht in eine Diskussion über die Verhältnisse in Indien und anderen Dominien hineingezogen zu werden. Es versuchte deshalb, die Frage der industriell hergestellten Narkotika zum Hauptproblem zu machen, was wiederum die deutschen Delegierten veranlaßte, zum Schutze der deutschen pharmazeutischen Industrie etwaigen Import- und Exportbeschränkungen zu widersprechen15. Die Konferenz endete, ohne daß sich die Vertreter der zwölf Teilnehmerstaaten über die Möglichkeit der Ratifizierung der Konvention durch 15 Als um die J a h r h u n d e r t w e n d e die sog. O p i u m f r a g e allmählidi in das Bewußtsein der Weltöffentlichkeit gedrungen w a r , hatte sich in Deutschland bereits eine sehr produktive und im Auslandsgeschäft erfolgreiche Alkaloidindustrie entwickelt. Wissler, a . a . O . S. 136, schrieb im J a h r e 1931: „Deutschland ist das Land der ältesten Alkaloidindustrie. Die Großherstellung v o n Morphin erfolgt in deutschen Werken schon seit reichlich h u n d e r t J a h r e n . "

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die Regierungen ihrer Länder einigen konnten. Deshalb wurde für das Jahr 1913 eine zweite Konferenz nach Den Haag einberufen. Die Mehrzahl der inzwischen auf zweiundzwanzig erhöhten Teilnehmerstaaten war zur Ratifizierung bereit, England jedoch nicht. Es hielt die Gefahr der Entstehung neuer Alkaloidindustrien für nicht genügend abgesichert. Diese gegen die Interessen der deutschen Pharmaindustrie gerichtete englische Haltung veranlaßte die damalige deutsche Regierung zu erklären, daß sie die Konvention „zum gegenwärtigen Zeitpunkt" nicht ratifizieren könne. Auch auf einer dritten Konferenz in Den H a a g im Juni 1914 hielt Deutschland „le moment n'est pas encore venu". Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges waren die amtlichen Stellen im Deutschen Reich der Meinung, es bestehe keine Notwendigkeit, den Handel mit Opium, Morphin und Kokain im Interesse der eigenen Volksgesundheit durch besondere gesetzliche Maßnahmen einzuschränken. Man hielt es für ausreichend, diese Drogen und Stoffe in der gleichen Weise zu behandeln wie andere starkwirkende Arzneimittel, die auf Grund der sog. „Kaiserlichen Verordnung von 1901" nur in den Apotheken abgegeben werden durften 16 . Diese Auffassung mußte allerdings in den dann folgenden Kriegsjahren revidiert werden, als in Auswirkung der Kriegsereignisse auch ein zunehmender Mißbrauch mit diesen Stoffen, d. h. ein medizinisch nicht indizierter Eigenverbrauch, beobachtet wurde. Deshalb erließ die damalige Reidisregierung die „Betäubungsmittelverordnung vom 2 2 . 3 . 1 9 1 7 " . Sie bestimmte, daß jeder, der an dem Verkehr mit Betäubungsmitteln teilnimmt, einer Erlaubnis bedarf. Opium und andere Betäubungsmittel durften im Großhandel nur an Apotheken abgegeben werden, außerhalb des Großhandels nur in Apotheken und als Heilmittel. Bald trat ein neuer Gesichtspunkt auf. Das Opium war — und ist in Deutschland und in Mitteleuropa auch heute noch — ein Einfuhrartikel. Die kriegsbedingte Handelsblockade zwang dazu, die vorhandenen Vorräte sparsam zu bewirtschaften. Weitere Verordnungen über den Handel und den Verkehr mit Opium und anderen Betäubungsmitteln, die in den Kriegsjahren 1917 und 1918 erlassen wurden, sollten deshalb dazu dienen, nicht nur den Handel, sondern auch den Verbrauch und die Notwendigkeit des Verbrauchs zu kontrollieren. Zu diesem Zweck wurde das Bezugscheinsystem eingeführt, welches heute noch existiert. " Die „Kaiserliche Verordnung betr. den Verkehr mit Arzneimitteln vom 22.10.1901 (RGBl S. 380)" bestimmte, daß das Feilhalten oder Verkaufen von Kokain und Dicodid sowie deren Salze, von Eukodal, Folia Coca, Herba Cannabis Indicae, Narkophin, Opium und seiner Alkaloide sowie deren Salze, von Pantopon und ähnlichen Zubereitungen den Apotheken vorbehalten ist.

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Nach dem Kriegsende wurde das ehemalige Deutsche Reich durch Artikel 295 des Versailler Vertrages von 1919 verpflichtet, das Haager Abkommen von 1912 als verbindlich anzusehen. Der Reichstag erließ das „Gesetz zur Ausführung des Internationalen Opiumabkommens vom 23.1.1912 vom 30.12. 1920" (RGBl II 1921 S. 2). In diese Zeit fällt auch die Gründung des Völkerbundes. Er übernahm u. a. die internationalen Bestrebungen, den Rausch- und Betäubungsmittelverbrauch einzudämmen. Nach Art. 23 der Völkerbundsatzung hatte er die Abmachungen „betreffend den Handel mit Opium und anderen schädlichen Mitteln" zu überwachen. Die folgenden Jahre zeigten aber, daß die gesetzlichen Maßnahmen der Vertragsmächte des Haager Abkommens nicht ausreichten, die Bestrebungen des Völkerbundes wirksam zu unterstützen. Weitere Vereinbarungen waren erforderlich, auf die man sich schließlich im Jahre 1925 in Genf einigte (sog. 1. und 2. Genfer Abkommen). Während sich das 1. Genfer Abkommen auf das zubereitete Opium bezog und in erster Linie die Gebiete des Fernen Ostens betraf, gewann das 2. Genfer Opiumabkommen eine besondere Bedeutung für die deutsche Gesetzgebung. Es wurde vom Deutschen Reichstag mit dem „Gesetz über das Internationale Opiumabkommen vom 19. 2. 1925 vom 26. 6. 1929 (RGBl II S. 407) ratifiziert. Der Fortschritt, den das zweite Genfer Abkommen brachte, war die Verpflichtung der Vertragsmächte, Betäubungsmittel ausschließlich zu medizinischen und wissenschaftlichen Zwecken zu verwenden. Als internationales Kontrollorgan wurde ein „Ständiger Opiumzentralausschuß" beim Völkerbund geschaffen. Auf der Grundlage des zweiten Genfer Abkommens konnte nun audi der Gedanke eines eigenen und alle bisherigen Verordnungen zusammenfassenden deutschen Gesetzes verwirklicht werden. Mit dem 1. Januar 1930 trat das „Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Opiumgesetz) vom 10.12.1929" (RGBl I S. 215) in Kraft 17 . 17 Anselmino, O. und A. Hamburger, Kommentar zu dem Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Opiumgesetz), 1931, S. 13: „Das Gesetz ist im wesentlichen präventiver Art, d. h. es soll vor allen Dingen Vorbeugungsmaßregeln treffen, damit der Allgemeinheit durch den Verkehr mit den Betäubungsmitteln kein Schaden zugefügt wird. Insoweit handelt es sich um ein Gesetz gesundheitspolizeilicher Art, für das bei der Auslegung von Streitfragen der präventiv polizeiliche Gesichtspunkt stets von größter Bedeutung sein muß. Audi bei den Strafbestimmungen des Gesetzes ist zu berücksichtigen, daß es sich nicht um repressive Maßnahmen handelt, d. h. um Bestimmungen, die in erster Linie eine begangene Tat als Beweis sozial schädlicher Gesinnung des Täters zu sühnen suchen, sondern daß diese vielmehr in erster Linie Vorbeugungsmaßregeln sind, die einen Schaden abwenden sollen und von denen es daher nicht so sehr auf die Gesinnung des Täters ankommt als vielmehr darauf, daß durch sein Verhalten — mag es auf Vorsatz oder auf Fahrlässigkeit beruhen — eine Gefährdung der Allgemeinheit naheliegt."

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Die weitere Entwicklung des unkontrollierten Betäubungsmittelverbrauchs, insbesondere von Morphin und Kokain in den zwanziger Jahren hatte gezeigt, daß es nicht genügte, die Einfuhr und die Herstellung der Betäubungsmittel bis zur Abgabe an den Verbraucher zu überwachen. Vielmehr wurde offenkundig, daß die Form und der Umfang der ärztlichen Versdireibungen den suditmäßigen Verbrauch der Betäubungsmittel förderten. Appelle und behördliche Mahnungen an die Ärzteschaft führten nicht zu dem gewünschten Erfolg. Deshalb wurden in das deutsche Opiumgesetz von 1929 Gedanken hineingebracht, die für die damaligen Verhältnisse völlig neu waren: 1. Den Ärzten, Zahnärzten und Tierärzten wurden Vorschriften über das Versdireiben der Betäubungsmittel gemacht. Endete bisher die Aufsicht über den Verkehr mit Betäubungsmitteln beim Apotheker, so wurde sie nunmehr auf die Ärzteschaft ausgedehnt. 2. Der Kreis der Süchtigen sollte eingeengt und nach Möglichkeit der Anonymität entzogen werden. 3. Die staatliche Aufsichtsbehörde (früher Opiumstelle im Reidisgesundheitsamt, heute Bundesopiumsteile im Bundesgesundheitsamt) erhielt das Redit, Anträge auf Erteilung von Ausfuhrbewilligungen oder von Bezugscheinen abzulehnen. Damit wurde die Verantwortung für die Verwendung der Betäubungsmittelmengen im innerdeutschen Verkehr und in der Ausfuhr, die bisher beim Lieferer oder Erwerber lag, einer zentralen Behörde übertragen, die auch für die Erfüllung der internationalen Abkommen und Verträge sorgen mußte. Das Opiumgesetz von 1929 mußte zwar nodi einmal erheblidi geändert werden, als am 13. 7.1931 in Genf ein weiteres internationales Abkommen zur Beschränkung der Herstellung und zur Regelung der Verteilung von Betäubungsmitteln getroffen wurde 18 . In der Fassung der Änderungsgesetze von 1933 und 193419 ist es dann audi nach dem Jahre 1945 in Kraft geblieben. Es wurde vom Kontrollrat nicht aufgehoben. Das Opiumgesetz wird unter den Nebengesetzen des deutschen Strafgesetzbuchs geführt. Seine Vorschriften werden von dem sonstigen Arzneimittelrecht (z. B. von dem „Gesetz über den Verkehr 18 Gewehr, Fritz, a. a. O. S. 9 : „Sinn und Inhalt dieses Abkommens war, eine Art Wirtschaftsplan über die Gewinnung, Herstellung, Bedarf und Verteilung der Betäubungsmittel, nunmehr audi unter Einschluß von Kodein und Aethylmorphin, für alle beteiligten Staaten aufzustellen und für jedes Land die zu gewinnenden Mengen von Betäubungsmitteln bzw. die notwendigen Einfuhrquoten zu ermitteln. Ein Drogenüberwachungsaussdiuß (Drug Supervisor Body) sollte die Sdiätzungen der einzelnen Teilnehmerstaaten prüfen und einen Status für den Weltbedarf aufstellen." 11 Gesetze zur Änderung des Opiumgesetzes vom 22. 5.1933 (RGBl I S. 287) und vom 9.1.1934 (RGBl I S. 22).

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mit Arzneimitteln [Arzneimittelgesetz] vom 16.5.1961" [BGBl I S. 533]) 20 nicht berührt (lex specialis). Es begann jetzt die Zeit, in weldier sich die Opiumfrage in zunehmendem Maße zum „Betäubungsmittelproblem" wandelte. Nachdem es in den Jahren 1804—1850 gelungen war, zwanzig verschiedene Alkaloide aus dem Opium zu isolieren, darunter als erstes das Morphin, wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einige halbsynthetische Morphinderivate gewonnen, die auch sehr schnell eine weitverbreitete medizinische Verwendung fanden. Man hatte gehofft, durch die chemische Umwandlung der reinen Opiumalkaloide solche Arzneimittel zu finden, die eine stärkere Schmerzstillung ohne die unerwünschten suchtmachenden Nebenwirkungen besitzen würden. Leider erfüllten sich diese Hoffnungen nicht. Auch die halbsynthetischen Derivate, wie ζ. B. das Heroin, Dilaudid und Dicodid offenbarten recht bald einen Euphorisierungseffekt. Trotzdem ging die Forschung in der eingeschlagenen Richtung weiter, bis schließlich in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts mit den ersten Vollsynthesen (Dolantin 1937—1940, Polamidon 1938, Morphinan 1940) ein weites Feld neuer Stoffe erschlossen wurde. Die anfängliche Begeisterung über diese „synthetischen Analgetika", in denen die Hersteller die idealen und suchtfreien Schmerzbetäubungsmittel gefunden zu haben glaubten, machte bald der enttäuschenden Erkenntnis Platz, daß diese wissenschaftlichen Forschungen, die zweifellos eine hohe Anerkennung verdienen, den für die Sozialhygiene wünschenswerten Erfolg, nämlich die Ausschaltung der Suchtgefahren durch die ärztliche Verschreibung starkwirkender Arzneimittel, nicht erbringen konnten. Die klassischen Alkaloidsuchten, Morphinismus und Kokainismus, wandelten sich zu Dolantin-, Polamidon- und Cliradonsuchten, wobei die suchtgefährdeten Patienten in zunehmendem Maße von einem Betäubungsmittel zum anderen überwechselten. Es entstand das Phänomen der „ Polytoxikomanie", welches auch in der Gegenwart bei drogenabhängigen Jugendlichen viel beobachtet wird. Die ständig zunehmende Synthetisierung neuer Stoffe machte aber auch eine laufende Ergänzung der im Opiumgesetz aufgeführten Betäubungsmittel erforderlich. So mußten bis zum Jahre 1971 insgesamt fünf sog. Betäubungsmittel-Gleichstellungsverordnungen erlassen werden 21 . 20 Hinsichtlich der mehrmaligen Änderungen des Gesetzes in den Jahren 1961 bis 1970 wird u. a. verwiesen auf Hügel, H . Pharmazeutische Gesetzeskunde. 17. Aufl. Stuttgart 1970, S. 73. 21 Das Opiumgesetz von 1929 kennt keine beschreibenden Begriffsbestimmungen für Betäubungsmittel, wie sie später im Arzneimittelgesetz von 1961 verwendet wurden. Es werden vielmehr in § 1 (1) diejenigen Stoffe listenmäßig aufgezählt, die

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Im Jahre 1946 hatten sich die Vertragsstaaten des Internationalen Opiumabkommens in Lake Success, New York, darauf geeinigt, die Arbeiten des Ständigen Zentralausschusses und des Uberwachungsaussdiusses fortzusetzen. Sie ermächtigten den Generalsekretär der Vereinten Nationen im Protokoll vom 11.12.1946, die bisher vom Generalsekretär des Völkerbundes wahrgenommenen Pflichten zu übernehmen. In einem zweiten Protokoll vom 19.11.1948 beschlossen die Vertragsstaaten in Paris, die früheren Abkommen zu ergänzen und nunmehr audi die synthetischen Schmerzbetäubungsmittel bzw. Analgetika der internationalen Kontrolle zu unterstellen. Schließlich wurden in einem dritten Protokoll vom 23. 6. 1953 in New York neue Bestimmungen über die Beschränkung des Mohnanbaus, der Erzeugung von Opium, des internationalen Handels mit Opium und seiner Verwendung ausgearbeitet22. Sie sollten dazu verhelfen, das bisher entwickelte System der Betäubungsmittelüberwachung wirksamer zu machen. Am 26. 3.1959 nahm der deutsche Bundestag ein Gesetz an, mit welchem dem Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu diesen Protokollen zugestimmt wurde 23 . Damit übernahm die Bundesrepublik die Verpflichtung, 1. die Verwendung von Opium und den Handel mit Opium ausschließlich auf den medizinischen und wissenschaftlichen Bedarf zu beschränken, 2. im ungesetzlichen Handel beschlagnahmtes Opium zu vernichten, 3. jedes Jahr eine Statistik über die verbrauchte Menge und die Bestände an Opium sowie eine Schätzung der für das folgende Jahr benötigten Mengen an den „Ständigen Zentralaussdiuß bei den Vereinten Nationen" einzusenden. Die strenge Reglementierung des Betäubungsmittelverkehrs zeitigte zunächst gute Erfolge, insbesondere in den europäischen Ländern. Es machte sich aber eine stetige Zunahme des Alkoholkonsums und der Gewöhnung an bestimmte Arzneimittel, wie z. B. Schlaf-, Beruhigungs- und Weck- bzw. Aufputschmittel bemerkbar. Die unerwünschten Nebenwirkungen dieser aus individuellen Bedürfnissen entstandenen Gewohnheiten und Abhängigkeiten hatten nicht nur medizinische Folgen. Vielmehr bestätigte sich erneut die alte Erfahrung, daß ein chemischer Stoff bzw. eine Droge, die unmittelbar auf das Zentralals Betäubungsmittel im Sinne dieses Gesetzes zu betrachten sind. Dabei sieht § 1 (2) vor, daß auch weitere Stoffe, „die nadi wissenschaftlicher Feststellung die gleichen schädigenden Wirkungen wie die im Abs. 1 N r . 1 genannten auszuüben vermögen", diesen durdi eine Verordnung der Reichs-(Bundes-)Regierung gleichgestellt werden können. » BGBl 1959, Teil II, S. 358—387. » BGBl II, 333.

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nervensystem einwirkt, das Verhalten des Menschen in einer sozialnegativen Richtung verändert und zu Verletzungen der geltenden sozialen und rechtlichen Normen führt. Trotzdem hatte die Öffentlichkeit in den westlichen Industrieländern diesen Trend weitgehend toleriert. Die Situation änderte sich, als zu Beginn der sechziger Jahre nun auch die Jugend in einem bisher nicht gekannten Ausmaß ihr Rauschbedürfnis durch Drogenkonsum zu befriedigen suchte. Die Cannabis-Derivate (Haschisch, Marihuana), der halbsynthetische Mutterkornabkömmling Lysergsäurediaethylamid (LSD) und das Meskalin, ein Alkoloid aus den Blütenköpfen einer mexikanischen Kakteenart, wurden als Rauschmittel wiederentdeckt. Die wichtigsten Wirkungen sind: Lösung seelischer Spannungszustände, Vermittlung einer gehobenen Stimmungslage, Entstehung optischer und akustischer Trugwahrnehmungen (Visionen, Illusionen, Halluzinationen), Veränderungen des Raum- und Zeitgefühls 24 . Viele jugendliche Konsumenten („User") meinen, diese „Veränderung" des Bewußtseins als eine „Erweiterung" des Bewußtseins im Sinne eines persönlichkeitsbildenden Prozesses zu erleben. Die alarmierenden Berichte der Suchtstoffkommission der Vereinten Nationen führten im Jahre 1967 dazu, daß die Frage verschärfter Kontrollmaßnahmen auf die Tagesordnung der 20. Generalversammlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gesetzt wurde. Dieses Forum wurde gewählt, um dem Appell an die Regierungen der Mitgliedstaaten und an die breite Öffentlichkeit, das nunmehr weltweite „Drogenproblem" zu erkennen und entsprechende Abwehr- und Vorbeugungsmaßnahmen zu ergreifen, mehr Nachdruck zu verleihen25. Das Phänomen der anscheinend unaufhaltsamen interkontinentalen Verbreitung des Rauschmittelkonsums bei jungen Menschen ist aber nicht nur ein sozialhygienisches und sozialpolitisches Problem. Der große Bedarf an den altbekannten Suchtstoffen und den neuen psychedelischen Drogen führte erwartungsgemäß zu einer Belebung und Ausweitung des internationalen ungesetzlichen Rauschgifthandels. In den europäischen Großstädten bildeten sich Umschlagplätze und Absatzmärkte, wie sie bisher nur in den klassischen Schwerpunktgebie24 Siehe u. a. Leuner, Hanscarl, Über den Rausdimittelmißbrauch Jugendlicher. Der Nervenarzt 42 Jg. (1971), 6. H e f t , S. 281: „Die herkömmlichen Vorstellungen von Sucht und Entziehung können den Dimensionen dieses Massenmißbraudis nicht mehr gerecht werden, denn wir sehen uns wohl zum ersten Male in der Geschichte der abendländischen Zivilisation einer Situation gegenüber, in der in der breiten Bevölkerung toxische Mittel in so großem Ausmaß zu anderen als medizinischen Zwecken gebraucht werden." 25 Ehrhardt, H . E., Rauschgiftsucht, Aktuelle Probleme und Aufgaben. Deutsches Ärzteblatt 67 Jg. (1970), H . 15, S. 1151.

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ten, dem vorderen Orient, den Ländern des Mittelmeerraumes und in den latein- und nordamerikanischen Staaten bestanden hatten. Vom Jahre 1968 ab wurde die nunmehr eingeleitete „Kriminalisierung der Drogenscene" auch in den amtlichen Statistiken registriert. Im Laufe von sieben Jahren (1963—1970) stiegen die beschlagnahmten Mengen Cannabis von 38,0 kg auf 4332,0 kg, Rohopium von 1,04 kg auf 34,77 kg und Rohmorphin von 8 g auf 596 g an. Wurden im Jahre 1963 insgesamt 733 Täter in unmittelbarem Zusammenhang mit Rauschgiftdelikten festgestellt, so waren es im Jahre 1970 insgesamt 16 188 Täter, von denen 58,6% unter 21 Jahre alt waren (1963: 2,6 %)2β. Um dem ständig steigenden Konsum von Drogen und Betäubungsmitteln wirkungsvoller als bisher begegnen zu können, wurden neue gesetzgeberische Initiativen erforderlidi. Die Bundesregierung brachte am 11. 11. 1970 den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Opiumgesetzes (Drucksache VI/1877) in den Deutschen Bundestag ein, der nach der ersten Lesung am 12. 3. 1971 an den federführenden Ausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit, sowie mitberatend an den Rechtsausschuß und den Innenaussdiuß überwiesen wurde. Nach einer Erweiterung des im Regierungsentwurf vorgesehenen verwaltungsrechtlichen Teils und einer Neuordnung des strafrechtlichen Teils beantragte der Ausschuß am 29. 9.1971, den neugefaßten Gesetzentwurf im Bundestag zu beschließen (Drucksache VI/2673) 27 . Mit diesem Änderungsgesetz wurde u. a. auch die alte Kurzbezeichnung „Opiumgesetz" fallengelassen, die nur noch historisch zu verstehen war, und durch die Kurzbezeichnung „Betäubungsmittelgesetz" ersetzt 28 . 26 Holzgreve, W. Drogen und Rausdigifte. Informationsdienst der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren, 47 Hamm/Westf., 24. Jg. Nr. 1/2 v. Oktober 1971. 27 Im schriftlichen Bericht des Ausschüsse» für Jugend, Familie und Gesundheit (Drucksache VI/2673, Allgemeiner Teil, Abs. II) heißt es hinsichtlich der Verwaltungsaufgaben, daß das bisherige Kontrollsystem „den zeitbedingten Erfordernissen entsprechend flexibler" gestaltet wurde. Zum strafrechtlichen Teil: „Der Neuordnung liegt die Vorstellung zugrunde, daß die aktive Täterseite, nämlich die Rauschgifthändler, von der ganzen Schärfe des Gesetzes getroffen werden sollen, während die sogenannten passiven Täter, die gewöhnlich als Opfer der Händler anzusehen sind, in ihrer Handlungsweise milder beurteilt werden müssen." Dementsprechend wurde einerseits die Höchststrafe von bisher drei auf zehn Jahre Freiheitsstrafe heraufgesetzt (§ 11 [4]), andererseits die Bestimmung eingeführt, daß das Gericht von einer Bestrafung absehen kann, „wenn der Täter die Betäubungsmittel lediglich zum Eigenverbrauch in geringen Mengen besitzt oder erwirbt" (§ 11 [5]). 28 Die Neufassung des nunmehr geltenden „Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Betäubungsmittelgesetz)" wurde im BGBl I S. 1 v. 12.1. 72 bekanntgegeben.

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Nodi während der Beratungen in den Ausschüssen meldeten sich kritische Stimmen zur Novellierung. Das ist verständlich. Neben manchen begrüßenswerten Neuerungen, die den inzwischen geschaffenen Tatsachen bzw. der heutigen Drogensituation Rechnung tragen, scheinen auch weiterhin Lücken zu bestehen, die sieht vornehmlich in der Rechtspraxis nachteilig auswirken könnten 29 . Es ist aber vorerst noch verfrüht, gezielte Prognosen in der einen oder anderen Richtung zu stellen. Es wird abgewartet werden müssen, ob es den Strafrichtern und insbesondere den Jugendrichtern gelingen wird, das generalpräventive Ziel zu erreichen, welches dem Gesetzgeber vorschwebte. Allzu viel Optimismus ist freilich nicht am Platze. Die Drogengefährdung der jungen Menschen ist zu einem allgemeinen gesellschaftlichen Problem geworden, zu dessen Lösung in erster Linie gesellschaftliche Initiativen erforderlich sind, die nur in den Grenzbereichen der Problematik durch Verwaltungsmaßnahmen und Strafverfolgung unterstützt werden können.

29 Kreuzer, A. Kriminalpolitisdie und strafjustizielle Fragen zum Drogenwesen. In: Drogen- und Rauschmittelmißbraudi, H e f t 17, Schriftenreihe zum Problem der Suditgefahren. Hoheneck-Verlag Hamm/Westf. 1972, S. 136 ff.

Rauschgift, Strafrecht und Forensische Medizin GERHARD O . W . MUELLER

1. Das Rauschgiftproblem Rauschgift ist heute Amerikas erstes Problem innerhalb seines größten Problemkreises, der sozialen Wohlfahrt und der Kriminalität. Man schätzt, daß die Kosten des Problemkreises „Soziale Wohlfahrt und Verbrechen" in Amerika dreimal so hoch sind wie die Kosten für Raumfahrt und Verteidigung. (Estimated Cost Social Welfare 1970: 160 Billion Dollars, Crime and Delinquency: 51 Billion Dollars, War and Defense: 76,4 Billion Dollars.) Die Zahl der mit Rauschgift zusammenhängenden Verbrechen ist derart gestiegen, daß man zu dem Schluß kommen könnte, das heutige Kriminalitätsproblem Amerikas sei nur dem Rauschgiftunwesen zuzuschreiben. Wodurch ist es dazu gekommen, daß das Rauschgift zum wichtigsten sozialen und Kriminalitätsproblem Amerikas wurde? Da ist erstens die Lücke in der puritanischen Tradition des Landes zu erwähnen; denn es war ja bis 1914 völlig legal, Rauschgift zu vertreiben und einzunehmen. Zweitens hat Amerika heute die Finanzkraft, die Narkotika des Weltmarktes aufzukaufen und zu verbrauchen. Drittens scheint ein sozialer Bedarf dafür vorhanden zu sein. Hier handelt es sich einmal um den unmenschlichen Krieg in Ostasien, der viele — besonders junge — Menschen dazu treibt, im Rauschgift die Flucht aus der Wirklichkeit zu suchen. Zum anderen müssen wir an die große Diskrepanz zwischen den amerikanischen Idealen und der Erfüllbarkeit dieser Ideale denken, die sehr viele Menschen dazu treibt, eine Sofortlösung im Rauschgift zu suchen, wenn die Erreichung ihres sozialen Zieles und des gewünschten Lebensstandards langwierig und hoffnungslos erscheint. In einem Lande der Gegensätze können Rauschgifte eine verlockende Brücke darstellen. Inzwischen ist das amerikanische Rauschgiftproblem zum Weltproblem geworden. Ganz abgesehen von den Herstellungs- und Verteilungsländern, die sich über alle Erdteile ziehen, und von den Problemen, die durch amerikanische Rauschgiftsüchtige und Händler in anderen Ländern entstehen, kommt es allmählich dazu, daß Länder mit ähnlicher Kaufkraft wie Amerika in den Kaufwettbewerb um das Rauschgift eintreten. Sollte Amerika eine Herabsetzung des Heroinverbrauchs gelingen, so wäre zu erwarten, daß kaufkräftige Länder — wie Deutschland, Schweden, die Niederlande und Dänemark —

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Käufer für die Ernte an Heroin und Opium im Wert von rund 40 Millionen Dollar darstellen. Sollte es vollends zur Lösung des Rausdigiftproblems in Amerika kommen, dann wird Europa der Erbe des amerikanischen Problems werden — wenn nicht eine Weltlösung des Problems zu erreichen ist.

2. Die Art der Sucht Die World Health Organization nennt folgende Symptome der Sucht: 1. den Trieb, das Rauschgift zu nehmen und es zu erwerben, ohne Rücksicht auf Konsequenzen; 2. die Tendenz, die Rauschgifteinnahme zu erhöhen; 3. die psychische und generelle physische Abhängigkeit vom Rauschgift sowie 4. die negative Auswirkung auf den Einzelnen und auch auf die Gesellschaft. Von Rauschgiftsucht sprechen wir hier bei der psychologischen und physischen Abhängigkeit von einem Rauschgift, den Opiaten oder deren synthetischen Ersatzstoffen (wie Heroin, Opium, Morphium, Dionin, Dilaudid, Methadon, Dormoran, Phenazocin und Leritin), ausschließlich der Tranquilizer, also der Beruhigungsmittel (wie Barbiturate, Bromide). Zum Zwecke dieser Besprechung sind fernerhin nicht berücksichtigt Marihuana sowie die Stimulantia (wie Kokain und Benzedrin). Die Tranquilizer und Stimulantia stellen natürlich ein eigenes Problem dar, das aber an dieser Stelle nicht behandelt werden kann. Eine statistische Studie aus dem Jahre 1961 ergab, daß von 47 489 Rauschgiftsüchtigen fast alle Opiate und nur 97 Kokain oder Benzedrin nahmen. Heute ist allerdings der Kokainverbrauch gestiegen und der Konsum der psychotropisdien Substanzen ist außerordentlich weit verbreitet.

3. Woher kommen die Rauschgifte? Hier möchten wir unterscheiden zwischen internationalen Produkten, lokalen Produkten und persönlichen Produkten. Unter den „internationalen Produkten" steht das Heroin an erster Stelle; es wird jährlich im Werte von etwa 40 Millionen Dollar (Pierpreis New York oder San Francisco) eingeführt, und zwar hauptsächlich aus asiatischen Ländern. Als „lokale Produkte" haben wir die halluzinogenen Rauschgifte, die Amphetamine, die meist in Pillenform oder flüssig auftreten, wie L S D . Unter den „persönlichen Produkten" steht Marihuana an erster Stelle; es ist so allgemein verfügbar, daß es oft im

Rauschgift, Strafrecht u. Forensische Medizin

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Küdiengärtdien gezogen wird. Das Hauptproblem Amerikas ist das Heroin, das im Augenblick noch fast nur durch Einfuhr erhältlich, aber auch bereits im Labor auf synthetische Weise herstellbar ist.

4. Wie kam es in Amerika zum Rauschgiftproblem? Amerika stand immer der Ausbeutung durch den Menschen offen, wovon natürlich Großindustrie und Landwirtschaft ausgiebig Gebrauch gemacht haben. Bis 1914 war die Rauschgiftverteilung absolut frei. Ähnlich war es mit dem Mädchenhandel. Dann besann man sich aber auf die puritanische Vergangenheit. Die Bundesgesetzgebung versuchte, die Prostitution durch den Mann Act des Jahres 1909 unter Kontrolle zu bringen. Ebenso wurde das Rauschgift durch das Narkotikagesetz vom Jahre 1914 der Kontrolle unterworfen. Man darf sich allerdings über den wahren „Erfolg" dieser Gesetzte nicht wundern: diese beiden Gesetze bilden die Existenzgrundlage für die gesamte organisierte Unterwelt. Ohne illegale Nachfrage hätte es nie eine illegale Verteilungswirtschaft gegeben. Man vermutet, daß zwar nicht die Zahl der Süchtigen in Amerika seit 1914 proportional zur Bevölkerung angestiegen ist, wohl aber das soziale Problem, seitdem es zum Verbot des Rauschgiftes kam. Einige Schätzungen gehen sogar dahin, daß es schon zur Zeit des Ersten Weltkrieges in Amerika etwas über 200 000 Heroin- und Opiumsüchtige gab. Die Geschichte der Unterweltskontrolle ist gleichermaßen die Geschichte des Heroins. Die organisierte Unterwelt Amerikas beschäftigte sidi bis 1914 mit Prostitution. Während des 1. Weltkrieges beschäftigte sie sich hauptsächlich mit Kriegsprodukten. Während der 20er und 30er Jahre, der Jahre des Alkoholverbots, wandte sich die Unterwelt vornehmlich dem Alkoholvertrieb zu. In den 40er und 50er Jahren gelang ihr die Organisierung des Spielwesens. In den 50er, 60er und 70er Jahren stellte sie sich auf Heroin um. Wir fragen uns jetzt mit einem gewissen Grausen, wohin sich die Unterwelt wenden wird, wenn es uns gelingen sollte, das Rauschgift aus ihrem Betätigungsbereich zu ziehen. „What next in America?" Allerdings ist zur Zeit das Heroin immer noch profitabel — wenn nicht in Amerika, dann anderswo. Der Unterweltler Meyer Lansky zog erst im vorigen Jahr nach Israel; und die israelische Polizei befürchtet bereits, daß nun auch die Einfuhr des Rauschgiftes nach Israel beginnen wird. Wenn eine Gebrauchsware nicht legal zu erhalten ist, dann wird sie illegal vertrieben; das haben die Zigarette in Deutschland und der Nagel in den Volksrepubliken bewiesen. Weil Opiumprodukte so sehr teuer wurden, wurde es für die Unterwelt profitabel, Süchtigen einen Grund zum Beginn eines Verbrecherlebens zu geben. Mit jeder Erschwerung des Vertriebes und

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Gerhard O. W. Mueller

Erwerbs von Opium trat eine Verteuerung ein. Mit jeder Verteuerung stieg die Zahl der Einbrüche und Diebstähle in Amerika. Man schätzt in New York die Zahl der Heroinsüchtigen auf mindestens 100 000 und auf maximal etwa 200 000. Wahrscheinlich sind mindestens rund 100 000 Heroinsüchtige auf der Straße und nicht fähig, täglich zwischen 25 und 50 Dollar für den Heroinverbrauch zu zahlen. Diese Zahlen sind allerdings sehr vage und könnten zwischen 50 % und200 % schwanken.

5. Die strafrechtliche Bekämpfung des Rauschgiftproblems a)

Bundesrecht

Das Rauschgiftproblem wird sowohl seitens des Bundes als auch seitens der Staaten strafrechtlich bekämpft. Seit 1914 sind über fünfzig Bundesgesetze zur Rauschgiftbekämpfung erlassen worden; sie zielen teils auf Kontrolle der pharmazeutischen Industrie, teils auf Unterbindung des illegalen Vertriebs ab. 1970 wurde das jetzt gültige Bundesgesetz zur Verhütung des Rauschgiftmißbrauchs und zur Verfolgung von Rauschgiftverbredien erlassen (Comprehensive Drug Abuse Prevention and Control Act of 1970). Mit Verkündung dieses Gesetzes traten alle vorhergehenden Bundesgesetze außer Kraft, darunter das berühmte Harrison Narkotika Gesetz (Sees. 4701—4732, Internal Revenue Code of 1954), das Marihuana Steuergesetz (Sees. 4741—4762, Internal Revenue Code of 1954), das Narkotika Einfuhr- und Ausfuhrgesetz (21 U . S . C . 171, 173, 174, 176—184, 185) und das Narkotika Herstellergesetz von 1960 (21 U. S. C. 501—517). Das Gesetz von 1970 enthält bedeutsame neue Bestimmungen zur Verhütung der Verbreitung des Rauschgiftmißbrauchs und besonders zur Rehabilitation von Süchtigen. Es gibt den Behörden neue Mittel zum pädagogischen und therapeutischen Angriff auf das Problem, verläßt sich daneben aber auch auf ein ausgedehntes System von Strafen und Maßnahmen traditioneller Art. b) Das Strafensystem

des

Bundes

Das Strafensystem des Gesetzes von 1970 beruht auf einer Einteilung der Rauschgifte in fünf Klassen. In Klasse I finden sich 42 Opiate und 22 Opiumderivate (einschließlich Heroin) sowie die Halluzinogene wie LSD, DMT und Marihuana. Klasse II umfaßt Opium, Opiummohn und Opiumstroh, Kokablätter und 21 Opiate. In die Klassen III und IV sind die depressiven Drogen und die Barbiturate aufgenommen; die Klasse V erfaßt solche Drogen, welche geringere Narkotikaingredienzen — gemisdit mit Nichtnarkotika —

Rauschgift, Strafredit u. Forensische Medizin

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enthalten und — in kleinen Mengen eingenommen — therapeutische Anwendung finden können. 1. Illegale Herstellung

und

Verteilung

Die illegale Herstellung und Verteilung von Drogen der Klassen I und II wird mit Zuchthaus bis zu 15 Jahren bestraft, wenn diese Drogen Narkotika sind. Im Falle von Niditnarkotika der Klassen I und II und bei allen Drogen der Klasse III wird die illegale Herstellung und Verteilung mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren bestraft. Nach Bundesrecht sind Narkotika wie folgt definiert: ganz gleich ob direkt oder indirekt als Extrakt von Pflanzen oder Pflanzenderivaten gewonnen, oder ob unabhängig davon durch chemische Synthese hergestellt, oder ob durch eine Kombination von Extrakt oder Synthese gewonnen, und zwar A. Opium, Kokablätter und Opiate; B. Derivate davon C. jegliche Substanz, weldie chemisch mit den Substanzen unter A. und B. identisch ist. Die illegale Herstellung und der Vertrieb von Drogen der Klasse IV (Tranquilizer) werden bei Erstverurteilung mit Zuchthaus bis zu drei Jahren bestraft, während die Höchststrafe für Herstellung und Vertrieb von Drogen der Klasse V ein Jahr Gefängnis beträgt. Im Wiederholungsfalle kann die Strafe verdoppelt werden. Gleichfalls doppelte Strafe kann auferlegt werden beim Verkauf durch einen mindestens Achtzehnjährigen an eine noch nicht einundzwanzigjährige Person. Die strengsten Strafandrohungen sind gegen das organisierte Verbrechen gerichtet. Wer sich an einem fortwährenden Unternehmen aus andauernden Verletzungen des Narkotikagesetzes beteiligt, an welchem mit ihm noch fünf oder mehr Personen beteiligt sind und aus dem er ein bedeutendes Einkommen erzielt, wird mit einer Mindestzuchthausstrafe von zehn Jahren bestraft, bei einer Maximalstrafe von lebenslangem Zuchthaus und $ 100 000,— Geldstrafe, sowie Einziehung des gesamten Gewinns. 2. Illegaler

Besitz

Der illegale Besitz aller vom Gesetz erfaßten Drogen ist eine Ubertretung, sofern dieser Besitz dem persönlichen Gebrauch und nicht dem Vertrieb an andere dient. Bei Erstanklagen kann das Gericht die Hauptverhandlung zur Bewährung (bis zu einem Jahr) aussetzen, so daß bei erfolgreicher Bewährung kein Schuldspruch zu erfolgen braucht.

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3. Einfuhr und Ausfuhr von Drogen, die vom Gesetz erfaßt sind Im dritten Teil des Gesetzes finden sich die Bestimmungen über die Registrierung von Importeuren und Exporteuren der vom Gesetz erfaßten Drogen. Depressive und stimulierende Drogen sind jetzt den gleichen strengen Import- und Exportkontrollen unterworfen wie die Narkotika und Marihuana. Ausfuhrlizenzen für halluzinogene Drogen können nur dann erteilt werden, wenn dem Generalstaatsanwalt bewiesen worden ist, daß das Einfuhrland die Einfuhr geregelt hat, daß der Adressat der Lieferung eine behördliche Lizenz besitzt und daß die Einfuhr legitimen Zwecken dient. Ähnlich wird vor Ausfuhr von Amphetaminen und Barbituraten verlangt, daß dem Generalstaatsanwalt zwecks Ausstellung der Ausfuhrlizenz bewiesen wird, daß die Einfuhr dieser Drogen in das Destinationsland die Gesetze jenes Landes nicht verletzt. c) Das Staatenrecht — New York Die Gesetze der Einzelstaaten zielen darauf ab, gewissermaßen den illegalen Kleinverkehr zu erfassen, womit dem Bund die Strafverfolgung des Großverkehrs überlassen wird. Die Gesetze der Einzelstaaten sind sehr unterschiedlich. Das New Yorker Strafgesetzbuch von 1967 ist eines der modernsten und — da New York etwa fünfzig Prozent des gesamten amerikanischen Rauschgiftproblems hat — vielleicht audi das wichtigste. Die Bestimmungen dieses Gesetzes sind im folgenden schematisch dargestellt:

New York State Possession Offenses (Six Degrees) Degree

Offense

Substantive Elements

Penalty

1st

Possession

Possession of 16 ounces or more of a "'narcotic drug, (as distinguished from other dangerous drugs). •Although marihuana is defined as a narcotic drug, it is not included in this described offense.

Class A Felony. Indeterminate sentence : Maximum, life; minimum, 15—25 years.

2nd

Possession

Possession of 8 ounces or more of a narcotic drug.

Class Β Felony. Indeterminate sentence: Maximum, 25 years; minimum, 8 V» years.

Rauschgift, Strafredit u. Forensisdie Medizin

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New York State Possession Offenses (six Degrees) Degree

Offense

Substantive Elements

Penalty-

3rd

Possession

Unlawfully possessing narcotic drug consisting of 100 or more cigarettes containing marahuana; or one or more ounces of heroin, morphine or cocaine; or one or more ounces of marihuana; or two or more ounces containing raw or prepared opium.

Class C Felony. Indeterminate sentence: Maximum, 15 years; minimum, 5 years.

4th

Possession

Unlawful possession of a narcotic drug with intent to sell the same; or 25 or more marihuana cigarettes, or '/β ounce or more of heroin, cocaine; or 1 j i ounce or more of marihuana.

Class D Felony, Indeterminate sentence: Maximum, 7 years; minimum, fixed by parole board.

5th

Possession

Unlawful possession of a dangerous drug with intent to sell the same.

Class E Felony. Indeterminate sentence : Maximum 4 years minimum, fixed by parole board.

6th

Possession

Unlawful possession of a dangerous drug.

Class A Misdemeanor. Punishable by not more than one year.

New York State Selling Offenses Degree

Offense

Substantive Elements

Penalty

1st

Sale

Selling a narcotic drug consisting of 1 pound or more of heroin, cocaine, morphine or raw or prepared opium.

Class A Felony. Indeterminate sentence: Maximum, life; minimum, 15—25 years.

2nd

Sale

(1) Sellin a narcotic drug to a minor or (2) selling a narcotic drug consisting of 8 ounces or more of heroin, morphine, cocaine, or raw or prepared opium.

Class Β Felony. Indeterminate sentence: Maximum 15—25 years; minimum 8 1 / s .

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Gerhard O. W. Mueller New York State Selling Offenses

Degree

Offense

Substantive Elements

Penalty

3rd

Sale

Sale of any narcotic drug. (This would include Marihuana.)

Class C Felony. Indeterminate sentence: Maximum 15 years; minimum, 5 years.

4th

Sale

Sale of any dangerous drug. (This would include hallucinoges and amphetamines and barbiturates.)

Class D Felony. Indeterminate sentence: Maximum, 7 years; minimum, set by parole board.

d) Abschließend ist zum Versuch einer juristischen Lösung des amerikanisdien Rauschgiftproblems folgendes zu sagen: Bis jetzt haben wir keinen Beweis dafür, daß wir mit Erhöhung der Strafen oder mit schärferer Strafverfolgung näher an eine Lösung dieses enormen sozialen Problems herangekommen wären. Aber auch die gesetzlich geregelten Versuche einer sozialen und therapeutischen Lösung des Problems haben noch keine großen Erfolge gezeitigt. Diesen „zivileren" Methoden muß man allerdings nodi ein paar Jahre des Experimentierens zugestehen. Möglicherweise kann die Umstellung von Heroinsüchtigen auf Methadone — wie das hauptsächlich in New York versucht wird — Erfolge zeitigen, wenn die Umstellung mit Sozialtherapie verbunden ist. Die mehr medizinisch orientierten Heilversuche der Bundesheilanstalten Lexington, Ky., und Fort Worth, Tex., hatten allerdings kaum Erfolge aufzuweisen. Abgesehen von pädagogischer Prophylaxe wird im Augenblick die meiste Hoffnung auf die sozialtherapeutische Methode gesetzt, wie sie von den Organisationen angewandt wird, die sich aus ehemaligen Süchtigen gebildet haben, wie Synanon, Daytop oder Phoenix House. Zum Teil sind diese Organisationen, wie sie zu Hunderten überall im Lande bestehen, rein privat organisiert, teils sind sie verstaatlicht oder werden jedenfalls vom Staat unterstützt.

6. Der Einfluß auf das öffentliche Leben und den Strafprozeß Der Einfluß des Rauschgiftproblems auf das öffentliche Leben ist unglaublich groß. Das Rauschgift bestimmt den „way of life" in vielen Stadtvierteln. Mit den Studenten meiner Seminare habe idi mehrere Nächte in Harlem verbracht, wo wir immer wieder feststellen konnten, daß sich in einer Ghettogemeinsdiaft alles um das

Rauschgift, Strafredit u. Forensische Medizin

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Rauschgift zu drehen scheint. — Wie allgemein bekannt, ist ein statistisch errechenbarer Teil der amerikanischen Armee in Vietnam vom Rauschgift abhängig. Die Korruption nach unten und nach oben, von Polizeibeamten und Richtern, ist hauptsächlich den Heroinverteilern zuzuschreiben. Nun ist allerdings nicht aller Einfluß der Rauschgifte auf das öffentliche Leben nur rein negativ. Wir müssen auch daran denken, daß die neuesten Formen der Kunst, die Musik des Rock and Roll, modernste Malerei und auch die modernste Literatur oft unter dem Einfluß von Rauschgift entstehen. Außerdem hat das Rauschgiftproblem auch erhebliche positive Reaktionen hervorgerufen. Man besinnt sich darauf, daß der andere eben doch ein Bruder ist, dem geholfen werden muß. Sowohl das materielle Strafrecht als auch das Prozeßrecht sind durch den Druck des Rauschgiftes so total umgeformt worden, daß sie mit dem Recht von vor 1950 kaum noch vergleichbar sind. In einigen Städten hat der traditionelle Strafprozeß einen vollkommenen Bankrott erlitten, so z. B. in Manhattan, wo höchstens noch jeder 200ste Verbrechensfall, der von der Polizei aufgeklärt worden ist, zum Hauptverfahren vor den Geschworenen gebracht werden kann. Das hat dann allerdings auch dazu geführt, daß man nach neuen, modernen und effektiveren Lösungen als den traditionellen Lösungen des Strafrechts für dieses enorme Sozialproblem sucht und auch anfängt, sie zu finden.

7. Die süchtigen Bevölkerungsgruppen Bei den Heroinsüchtigen handelt es sich hauptsächlich um Mitglieder der wirtschaftlich unteren Schichten des amerikanischen Volkes. Das Heroinproblem ist insbesondere ein Problem der schwarzen Amerikaner. Weiße Amerikaner trinken ihre Frustrationen noch immer weg. Liegt hierin eine Lektion? Wenn Schwarze ihre Träume und Hoffnungen erst einmal verwirklichen können, dann wird sehr viel weniger Grund zur Selbstflucht durch Sucht vorhanden sein. Es ist aber zugleich ein Problem des städtischen Gettos. So sind zum Beispiel in New Jersey 73 % der Heroinsüchtigen Schwarze, die in den Großstädten wohnen. Im Jahre 1961 lebte von 47 489 gezählten Heroinsüchtigen des Landes die Hälfte in New York, die andere Hälfte in anderen Großstädten wie Chicago, Los Angeles, Detroit, Washington, San Francisco, Newark, Philadelphia, Oakland und San Antonio. 20 °/o der Bevölkerung der Stadt New York, die 15 %> des Stadtgebietes bewohnen, stellen 83 % der Rauschgiftsüchtigen und sind hauptsächlich schwarze Amerikaner. Gottlob hat die schwarze

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Gerhard O. W. Mueller

Bevölkerung Amerikas erkannt, daß es sich hier um ein selbstmörderisches Problem handelt; daher haben sich auch die schwarzen Panther gegen das Drogenunwesen gewandt.

8. Die gerichtsmedizinischen Probleme Wir müssen hier zwischen sicheren und unsicheren Auswirkungen, die gerichtsmedizinisch wesentlich sind, unterscheiden. Meist sind die Wirkungen ungewiß und unsicher. a) Wie unsicher manche Auswirkungen sind, ergibt ein Vergleich der bisherigen Ansichten über Marihuana mit der Studie von Ball, Polansky und Mohr. Nach ihr zeigten sich bei Heranwachsenden beim Marihuanagebrauch seelische Störungen. Bei 38 jungen Menschen im Alter von 13—24 Jahren, die wöchentlich mindestens zweimal Marihuana gebraucht hatten, zeigte sich eine kumulative Wirkung, das heißt: eine Sofortwirkung. Marihuana ist demzufolge kein mildes Rauschgift. In 8 Fällen waren Psychosen festzustellen und in 30 Fällen paranoide Illusionen und sexuelle Ausschweifungen. Unter anderem wurden Selbstmordversuche sowie Desorientierung festgestellt. Bei 13 Mädchen zwischen 13 und 22 Jahren kam es zu erheblichen sexuellen Ausschweifungen, Apathie und Konfusion. Bei Erwachsenen war die Wirkung übrigens nicht so bedeutend. Dies sind neueste Erkenntnisse, die das bisherige Bild umstoßen können, wenn sie durch weitere Studien bestätigt werden sollten. b) Die sicheren Auswirkungen sind viel klarer. In der Stadt New York steht unter den Todesursachen in der Gruppe der 15—24jährigen an erster Stelle der Tod durch Rauschgift, gefolgt von Mord und Totschlag, Unfällen, Neoplasmen und Selbstmord. Für die Zeit vom 1. Januar bis zum 30. April 1970 ergibt die Statistik über die durch Rauschgift verursachten Todesfälle in New York (mit einer Variation von 0—7 täglich) folgendes: 1. Akute Reaktionen — Erwachsene 178, Jugendliche 57, insgesamt 235. 2. Komplikationen (Hepatitis, Tetanus) sind hier eingeschlossen. Unter den indirekt durch Rauschgift verursachten Todesfällen steht mit Rauschgift verbundener Mord an erster Stelle, mit einer Anzahl von 89, gefolgt von Unfällen und Selbstmorden. In der Viermonats-Periode vom 1. Januar bis 30. April 1970 hatten wir also in N e w York 324 Todesfälle, die sämtlich mit Rauschgift in Verbindung standen, also eine tägliche Rate von 2,7 Todesfällen, 0,8 indirekt, 1,9 direkt.

Rauschgift, Strafrecht u. Forensisdie Medizin

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9. Die Auswirkungen des Problems auf das Verbrechen Das Bundeskriminalamt schätzt den Einfuhrwert des Heroins für Amerika auf 40 Millionen Dollar, aber das Ausmaß an sozialen Verlusten, die dem Heroingenuß zuzuschreiben sind, auf 1,5 Milliarden Dollar. Unsere eigenen Schätzungen lassen diese Ziffern als zu niedrig erscheinen. Nach unseren eigenen Forschungen handelt es sich hier um eine grobe Unterschätzung des wahren Ausmaßes. Wenn man von der Minimalzahl von 100 000 Heroinsüchtigen, die sich im Staate New York auf freiem Fuß befinden, ausgeht und die täglichen Durchschnittskosten von etwa $ 50 für Heroinkosten zugrundelegt, wozu etwa das fünffache an Gut gestohlen werden muß, um etwa zu 20 % des wahren Wertes verkauft zu werden, dann hätten wir also einen täglichen Güterverlust von $ 250 X 100 000 X 365 Tagen im Jahr, oder einen Gesamtverlust an Gütern von 9,125 Milliarden Dollar. Hier handelt es sich allerdings um eine sehr grobe Schätzung, denn die Grundzahlen sind umstritten und könnten zwischen 50 % und 200 °/o variieren. Außerdem ist zu bedenken, daß ein großer Teil der Süchtigen sich das suchtbedingte Geld als Mittelsmänner im Handel verdient. Jedenfalls müssen wir damit rechnen, daß New York jährlich durch Einbrüche und Diebstahl eine Summe von 9 Milliarden Dollar verliert. Die theoretischen Erwägungen über den Umlauf dieser 9 Milliarden Dollar führen übrigens zu sehr interessanten Ergebnissen. Nach unseren Berechnungen ist jeder Dollar, der zunächst einmal für Heroin ausgegeben wird, beim vierten Ausgeben in den völlig legalen Handel gedrungen. (Erste Ausgabe s /3 illegal, zweite Ausgabe z/z illegal, dritte Ausgabe V3 illegal, vierte Ausgabe % illegal.) Dies dürfte das enorme Ausmaß des Heroin-Rauschgiftgebrauches in Amerika andeuten und somit die enormen Summen, die der Heroinhandel einbringt — Summen, die aus der organisierten Unterwelt in das normale Wirtschaftsleben eindringen. Was das für die Ethik des Kaufmannsstandes in Amerika zur Folge haben kann, kann zu größten Befürchtungen Anlaß geben.

10. Die Lösung des Problems 1. Wir haben in Amerika versucht, das Rauschgift-Problem durch Erhöhen oder Erniedrigen der Strafandrohungen zu bewältigen. 2. Wir haben versucht, den Strafprozeß aus dem Rauschgiftwesen, jedenfalls teilweise, auszuschalten. 3. Wir haben versucht, das Problem an die Sozialarbeiter zu überweisen.

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4. Wir haben versudit, durch Methadon und andere Drogen Ersatzmittel zu schaffen, die es den Rauschgiftsüchtigen ermöglichen, frei von illegalem Rauschgift zu leben. 5. Wir sprechen davon, den opiumproduzierenden Ländern einen „Soil Bank Plan" anzubieten, durch welchen die Anbauer des Opiums f ü r eine unterbliebene Ernte bezahlt werden. 6. Wir haben Polizeiverstärkungen eingesetzt, wo immer uns das Opiumproblem besonders bedrückt. 7. Wir haben uns auf Interpol und die Vereinten Nationen verlassen. 8. Wir sprechen von der Möglichkeit einer Impfung der Süchtigen. 9. Einige ganz radikale Stimmen sprechen vom Einsatz der amerikanischen Luftwaffe, die durch Abwerfen von Herbiziden den Opiumanbau zerstören könnte. Nichts von alledem hat Erfolg gebracht oder versprochen. Es bleibt und also nur noch übrig, das Urproblem selbst, welches uns das Rauschgift-Problem geschaffen hat, anzugehen durch Verbesserung des wirtschaftlichen und weltanschaulichen Milieus, indem wir es auch den untersten Bevölkerungsschichten in Zukunft möglich machen, vernunftmäßig gesteckte Idealziele unseres Volkes zu erreichen. Wenn es möglich sein wird, das Ideal als real und erreichbar anzusehen, dann wird es nicht mehr nötig sein, eine Flucht aus der Wirklichkeit im Rauschgift zu suchen. Dieses Ziel kann erst nach langer, harter Arbeit erreicht werden. Das heißt aber nicht, daß wir vorerst alle Hoffnung aufgeben müssen. In New York ist es nötig, daß wir uns mit den etwa 100 000 Rauschgiftsüchtigen befassen, um sie selbst vor weiterem Absinken im sozialen Milieu infolge von Zuchthausstrafen zu beschützen und um andererseits aber auch das Volk vor dem enormen Sozialverlust zu schützen, den der Rauschgiftgebrauch mit sich bringt. Unseren eigenen Berechnungen nach dürfte es durchaus möglich sein, zwischen 5 °/o und 20 % der gegenwärtigen Sozialverluste für die Schaffung von Heimen für Rauschgiftsüchtige und deren Familien aufzuwenden. Wir müssen dann damit rechnen, daß etwa 100 000 Menschen — Rauschgiftsüchtige und ihre Familienangehörigen — bis zu etwa 25 Jahren gänzlich auf Kosten des Staates unterhalten werden müssen, evtl. ohne dabei den geringsten Dienst zu leisten. Unseren Berechnungen nach dürfte es möglich sein, für 2 Milliarden Dollar jährlich ein Problem zu lösen, das uns jährlich über 9 Milliarden Dollar kostet, solange es keine Lösung gibt! Eine Nation wie die unsere müßte es sich durchaus leisten können, außer ihren etwa 2 Millionen auf Unterstützung angewiesenen Bürgern noch weitere 100 000 bis 300 000 Personen zu unterhalten. Wir brauchen ja nicht mehr arbeitstätige und

Rauschgift, Strafrecht υ. Forensische Medizin

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gewinnbringende Menschen. Ganz im Gegenteil, unser Nationalprodukt vergrößert sich ständig, während sich die Produzentenzahl dabei verringert. Das landwirtschaftliche Produkt allein wird heute von nur noch 6 % der Bevölkerung eingebracht. Amerika hat ein Weltproblem geschaffen, ohne der Welt dazu auch die Lösung anzubieten. Wir sind im großen und ganzen verantwortlich für das Rauschgiftproblem der Vereinigten Staaten, das sich auf die weitere Welt ausdehnt. Aus diesem Grunde ist es auch unsere Verpflichtung, zur Lösung dieses Problems beizutragen. Ich darf hier vielleicht an das Phylloxera-Problem der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückdenken. Es war nämlich die Reblaus, die — aus Amerika eingeführt — ihre Verwüstungen unter der geschätztesten Ernte Europas, nämlich der Weinernte, anrichtete. Daraufhin importierte man die phylloxerafeste amerikanische Catawbatraube, die dann auf die Weinstöcke Europas aufgepfropft wurde, um sie gegen die Phylloxera zu schützen. So darf ich vielleicht auch die Hoffnung ausdrücken, daß es uns in Amerika gelingen wird, eine Lösung des Rauschgiftproblems zu finden, die dann gleichermaßen in Europa angewendet werden kann — ja hoffentlich sogar eine Lösung, die in Europa zum Tragen gebracht werden kann, ohne daß sich das Problem dort erst zu den in Amerika bekannten katastrophalen Dimensionen ausweitet.

Richter und Arzt D E T L E F CABANIS

Die Beziehungen zwischen Richter und Arzt sind vielfältig. Belastende Berührungspunkte ergeben sich, wenn Mediziner wegen „einschlägiger" Delikte, in Kunstfehlerprozessen, wegen Betäubungsmittelmißbrauchs oder illegaler Abtreibung sich vor einem Richter verantworten müssen. Unser berufsständisches Trauma ist, daß die Hitler-Ära eine „medizinische" Kriminalität produzieren konnte. Selektionen „an der Rampe", Menschenversuche im KZ, Beteiligungen am „Euthanasieprogramm" und Zwangssterilisationen aus politischen Motiven stellen „ärztliche" Verbrechen dar, die in NS-Verfahren immer wieder zur Sprache kommen. Juristen werden selten angeklagt und sind kaum Objekte forensisch-psychiatrischer Begutachtungen. In der subjektiven Kasuistik fallen dementsprechend, neben dem Anteil akademischer Delinquenten: Lehrer, Geistliche und Ärzte, ein Richter und drei Rechtsanwälte nicht ins Gewicht. Um bei den „problematischen" Kontakten zu bleiben: der Jurist als Patient oder als deren Angehöriger überrascht den Kliniker gelegentlich durch seine Distanzierung, in Hinblick auf sonst geäußerte, theoretische und „dienstliche" Auffassungen, wenn es in der eigenen, konkreten Situation um „Medizinisches", ζ. B. um Behandlungsform, Aufnahme- oder Entlassungsnotwendigkeit bzw. um die Grenzen der „Schweigepflicht" geht. Bedrückend ist für den Arzt, eine Richterposition einnehmen zu müssen, wenn ζ. B. bei einer Organtransplantation bestimmt werden muß, welcher von mehreren Operationskandidaten das einzige Spenderorgan erhalten soll. Das gleiche gilt für den Zeitpunkt der Beendigung von Réanimations· oder anderen Therapiemaßnahmen bei prognostisch infausten Fällen, für die „erweiterte" Indikationsstellung bei einem Schwangerschaftsabbruch und auch bei vielen anderen, weniger dramatischen Konstellationen. Niemand wird bestreiten, daß ärztliche Entscheidungen — wie ein Richterspruch — von schicksalhafter Bedeutung sein können. Die Alltagssprache enthält solche Hinweise: Der Arzt wird ζ. B. von seinen Kranken gefragt, welches „Urteil" er nach abgeschlossener Untersuchung „fällt". Viele medizinische Behandlungs-, vor allem Diätvorschriften, zumal wenn sie bestimmte „Verbote" beinhalten, werden als „Strafe" empfunden.

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Detlef Canabis

Umgekehrt treten unverkennbar „therapeutische" Intentionen zutage, wenn in unseren „kriminal-psychologischen und forensisdipsychiatrischen" Lehrveranstaltungen für Juristen, Medizin ex und Psychologen E. Heinitz die Frage nach den Erfolgsaussichten von Behandlungs- und Präventivmaßnahmen diskutiert. Mehr „diagnostisch" ausgerichtet ist der Vorschlag des anderen Strafrechtsordinarius unseres Seminars: H. Blei, der seit Jahren ein Institut für „Forensische Pathologie", welches vor allem Fehlurteile wissenschaftlich fruchtbar machen und insoweit auch präventiv wirken könnte, fordert. Fehlerquellen ließen sich zwar auch dadurch ebensowenig innerhalb der Justiz wie in der Heilkunde durch die seit Jahrhunderten etablierten Prosekturen restlos beseitigen. Zweifellos könnte aber mit Hilfe derartiger Einrichtungen der Reflexionsgrad beider Disziplinen: Recht und Forensische Medizin, gefördert werden. Diese aus dem tradierten sozialen Rollenverhalten von Richter und Strafrechtslehrer herausragenden, „ärztlich" anmutenden Vorstellungen haben uns zu der Überlegung angeregt, ob und ggf. in welchem Umfang inhaltliche Gemeinsamkeiten zwischen den nach Ausbildung und Berufspraxis divergierenden Tätigkeiten von Richter und Arzt bestehen. Ein Rückgriff auf die historische Entwicklung beider Berufe zeigt, daß solche Beziehungen — wie jetzt noch bei „unzivilisierten" Völkern — in frühen Kulturen ganz sicher bestanden haben, zumindest als richterliche, priesterliche und medizinisch-magische Funktionen „monopolistisch" in einer Hand vereinigt waren. Analoges findet sich in frommen Liedern, in welchen Christus — der gesagt haben soll: „Heilet und verkündiget" — als Richter oder Arzt besungen wird. Es hat viel Zeit bedurft, bis die verschiedenen Bereiche voneinander getrennt, nach Uberwindung jahrhundertelanger Symbiosen mit der Theologie — ζ. B. in Gestalt des „Priesterarztes" und kirchlicher Gerichtsbarkeit — sich als weltliches Richter- und Arzttum verselbständigen konnten. Mit fortschreitender Differenzierung und Expandierung rechtswissenschaftlicher und medizinischer Forschungen scheinen sich beide Disziplinen inzwischen weit voneinander entfernt zu haben. Verkürzt ausgedrückt repräsentieren sie eher Konträres: „Strafen" und „Heilen". Dessen ungeachtet sind, wie eingangs erwähnt, u. E. noch immer zahlreiche Berührungspunkte und Gemeinsamkeiten innerhalb beider Berufe vorhanden: In der permanenten Konfrontation mit psychischen Deviationen und juristisch-relevantem Fehlverhalten kommt der forensische

Richter und Arzt

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Psychiater — ebenso wie viele Richter — bald zu der Erkenntnis, daß die Ursachen der zu therapeutischen, sozialen und/oder rechtlichen Konsequenzen führenden extra- und intrapsychisdien Konflikte auch interdisziplinär in den meisten Fällen noch nicht einmal approximativ aufgehellt werden können. Eine befriedigende, allgemein-verbindliche Theorie, welche Ätiologie und Phänomenologie geistig-seelischer und kriminologischer Besonderheiten zureichend erklärt, gibt es nicht. Wir befinden uns noch im Stadium der Materialbeschaffung mit kompilatorischen Ansätzen. Dieser theoretischen Situation entspricht die Praxis. Rechtliche Sanktionen und psychiatrische Behandlungsmaßnahmen sind oft — wenn glücklicherweise auch nicht immer — gleichermaßen ineffektiv. Das ganze Ausmaß der Rat- bzw. Hilflosigkeit von Geridots- und Gesundheitsbehörden ergibt sich zur Evidenz am Beispiel der sowohl den Richter als audi den Arzt tangierenden „aktuell-unbewältigten" Drogenproblematik. Die spezifische, „sozial-moralische" Akzentuierung innerhalb der Tätigkeiten von Richter und Arzt mag zu der gewissen „Ambivalenz" gegenüber diesen Berufen beigetragen haben. Aus normalpsychologisch einfühlbaren Gründen werden Strafurteil und ärztliche Diagnose — vor allem was den psychiatrischen Sektor anbetrifft — häufig als fragwürdig, „falsch" oder „kränkend" empfunden. Gerichtliche Feststellungen können einen Bürger von der Gemeinschaft, durch eine Unterbringungsverfügung, isolieren, mit einer Entmündigung von Rechtsgeschäften ausschließen und durch einen Strafausspruch zum „Verbrecher" stempeln. Vom Nervenarzt heißt es, er habe dem Patienten eine Psychose „angehängt", was heute vielfach belastender, bezüglich negativer Individual- und Sozialfolgen, als eine Bestrafung ist. Verurteilte oder in einer Anstalt behandelte Geisteskranke bzw. -schwache gelten oft für lange Zeit, manchmal für immer, als Deklassierte und „Gezeichnete". Es sind diese „Klienten" von Richter und Arzt, welche in der Regel davon überzeugt sind, „zu Unrecht" oder dodi zumindest „zu lange" in Unfreiheit gelebt zu haben. öffentlichen Angriffen sehen sich nicht nur Richter sondern immer häufiger auch Ärzte ausgesetzt, wobei den letzteren systemkonforme Alibifunktionen, Handlanger- oder Bütteldienste — welche manchem Sachverständigen den Titel „Hilfsstaatsanwalt" eingebracht haben — als auch unkritisch-sentimentale Karitativität gegenüber Kapitalverbrechern, die härteste Strafen „verdient hätten", zum Vorwurf gemacht werden.

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Umgekehrt teilen das bisherige Privileg der Psychiater, nicht nur verbal-aggressiv sondern auch körperlich bedroht und tätlich angegriffen zu werden, in letzter Zeit auch manche Richter, vor allem solche, die politischen Strafprozessen Vorsitzen müssen. In der von Massenmedien geäußerten Kritik gegenüber Richtern und Ärzten wird den Juristen vornehmlich angelastet, als Angehörige der einen Hälfte der Gesellschaft über die andere — die sie nicht verstünden und zu unterdrücken trachten — mit ihrer „Klassenjustiz" zu „herrschen", während den Medizinern — und hier überwiegt eindeutig die Polemik — ein dubiöses „Geschäft mit der Krankheit" vorgeworfen wird. Zur Zeit der Manuskriptabfassung wurden ein Richter und Arzt wegen fahrlässiger Tötung angezeigt. Einem mehrfach vorbestraften Gewalttäter hatte der Richter, nachdem der Sachverständige, der Jurist und Rechtsmediziner ist, angeblich in einem „Telefongutachten" Rezidivgefahr verneint hatte, Haftverschonung gewährt. Wenige Tage später beging der Mann in der Eisenbahn einen Frauenmord. Diese Bluttat zeigt — unabhängig von einer späteren gerichtlichen Würdigung — u. E. paradigmatisch, daß rechtliche und medizinische Fehleinschätzungen, wenn sie zusammentreffen, besonders verhängnisvoll sein können. In Paranthese ist anzumerken, daß bei der Aufdeckung von Fehlurteilen und -diagnosen Rechtsanwälte offenbar — wie einige Wiederaufnahmeverfahren in letzter Zeit beweisen — ein besseres Gespür als Richter haben. Spätestens an dieser Stelle ist festzustellen, daß nicht beabsichtigt ist, durch Aufzählung weiterer Gemeinsamkeiten von „Richter und Arzt", eine in der Realität nicht vorhandene Harmonie zu konstruieren. Nicht nur der journalistischen und übrigen Laienwelt erscheint die ârztliâe Berufsausübung, vor allem auch die Sachverständigentätigkeit, einer Kontrolle dringend bedürftig: Strafjuristen und Hochschullehrer der Jurisprudenz befürchten ζ. B., Ärzte könnten, durch eigenmächtige Zeugenvernehmungen, Aktenkenntnis und Beweiswürdigungen, ihre prospektiven Strategien, Herrn des Verfahrens zu werden, verifizieren. Das markanteste Beispiel in dieser Beziehung stellen die Unterbringungsgesetze des Bundes und der Länder dar. Hier überwiegt die juristische Besorgnis einer ärztlichen Willkürherrsdiaft, viele Formulierungen sind nur aus dem Bemühen, Psychisch-Kranke vor ihren Ärzten zu „schützen", verständlich. Audi das kommt in der Alltagssprache zum Ausdruck. Der Richter, der ζ. B. ankündigt er werde den — anscheinend früher viel zu milde

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bestraften — Angeklagten jetzt erst einmal richtig „verarzten", dürfte wohl kaum eine optimale Behandlung als vielmehr eine strafrechtliche „Roßkur" im Auge haben. Aversionen gegen den anderen Beruf werden wiederum bei Ärzten symptomatisch, wenn Justiz- und Polizeiangehörigen in schroffer Form verwehrt wird, Verletzte oder Kranke zu vernehmen. Solche Reaktionen beruhen — und hier erinnern wir uns an unsere eigene Klinikzeit — nicht immer auf therapeutischen Perspektiven sondern häufig auf inneren Widerständen gegen legislative und exekutive Organe. Unterschwellig mag auf der gleichen Linie die Meinung eines Ärztegremiums, welche unsere Standespresse1 kürzlich veröffentlicht hat, liegen. Es wurde empfohlen, auf gerichtliche Vernehmungen kindlicher Zeugen zu verzichten, da aufgrund „ärztlicher Erfahrung" — hier fehlen, wie fast immer wenn die Empirie bemüht wird, Zahlen — die Schäden bei kindlichen Opfern von Sittlichkeitsstraftaten durch die verschiedenen Frageinstanzen diejenigen des eigentlichen Deliktes nicht nur überträfen, sondern oft sogar die einzigen seien. Wir sind ebenfalls der Auffassung2, daß bei von sexuellen Widerfahrnissen betroffenen Kindern und Jugendlichen, die von subjektiven Empfindungen in weitaus stärkerem Umfang abhängig als Erwachsene sind, so rasch wie möglich versucht werden sollte, mit der geringsten Anzahl der für die Wahrheitsfindung erforderlichen Vernehmungen und Untersuchungen, durch einen speziell geschulten Personenkreis, auszukommen. Vor allem dürften, nach kindgemäßer Belehrung durch den Richter, an die Aussagequalität keine höheren Anforderungen als an diejenigen Erwachsener gestellt werden. Es wäre schon ein Fortschritt, wenn der ärztliche Grundsatz: nihil nocere insoweit respektiert würde. Daß über dieses Prinzip unter Medizinern unterschiedliche Auffassungen bestehen, mag den Nicht-Arzt überraschen. In letzter Zeit hat sich eine Kontroverse an der Frage entzündet, ob ein ärztliches Gutachten generell in Gegenwart des Untersuchten, in einer für medizinische Laien — also auch für ihn selbst — verständlichen Form vorgetragen werden soll oder nicht. Bemerkenswerterweise argumentieren die Vertreter für eine Gutachtenerstattung im Beisein des Angeklagten ebenso wie deren Kontrahenten, welche eine traumatisierende Wirkung durch die detaillierte Darlegung der dem Untersuchten nicht bewußten Persönlichkeitseigenschaften und Neuro1 1

Deutsches Ärzteblatt, Heft Nr. 20 a/1971, S. 1569. Deutsches Ärzteblatt, Heft Nr. 11/1972, S. 629.

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tizismen verhindern wollen, mit dem selben Begriff: mit der „Würde" des Menschen! Wir sind in dieser Beziehung dezidiert der Auffassung, daß dynamische Aspekte sowohl bei einer Gutachtenerstattung wie auch bei der Urteilsverkündung und -begründung im Strafprozeß zu wenig beachtet werden. Welche Einstellung man auch zur Tiefenpsychologie, psychosomatischen und anthropologischen Medizin — es finden sich gerade bei Juristen in dieser Hinsicht sehr konträre Positionen — auch einnehmen mag, kein fachkompetenter Sachkenner wird die Bedeutung des gesprochenen Wortes leugnen. Im Gegensatz zu diesen aktuellen gibt es auch „chronifizierte" Konflikte, ζ. B. den Agnostizismusstreit zwischen Deterministen und Indeterministen und die nicht abreißenden Disputationen zwischen konservativ-konventioneller „Schulpsychiatrie" und untereinander zerspaltenen Psychoanalytikern mit „progressiven" Tendenzen. Abgesehen von Schlagworten wie „Anti-Psychiatrie", hinter denen sich außer einer modischen Attitüde nichts Neues verbirgt, und geistreichen Aperçus — ein namhafter deutscher Psychoanalytiker meinte auf einer Tagung der Deutschen Richterakademie in Berlin, die Sachverständigen würden sich, tiefenpsychologisch interpretierbar, deshalb nicht gegen diese Bezeichnung wehren, weil sie tatsädilich von der Sache nichts verstünden — sind eine Reihe moderner Autoren bestrebt, psychische Gestörtheit und Delinquenz als Abwehrformen gegenüber drohender depressiver und psychotischer Dekompensation oder auch soziologisch zu erklären, ζ. B. mit der Hypothese, ungünstige Sozialisationsbedingungen hätten bei Straffälligen und PsychischKranken eine adäquate Entwicklung von Ich- und Uber-Ich-Strukturen verhindert. Ähnliche Auffassungen wurden nach dem 2. Weltkrieg wiederholt geäußert: Kriminalität = soziales Kranksein bzw. sozial-pathologisches Syndrom. Schon damals wurde die Metamorphose des Rechtstechnikers zum Sozialtherapeuten postuliert. Kritisch wird den in der administrativen Psychiatrie tätigen Ärzten von Psychoanalytikern eine gespenstische Rückständigkeit, autokratisches, dirigistisches Verhalten und „Kastengeist" nachgesagt. Man könne nur mit „Schaudern" an das „Gutachtengeschäft" denken. Dieses Schaudern wird bei einem Vergleich des Stundensatzes eines Psychoanalytikers mit dem eines Gerichtsarztes verständlich. Es sei hier nur auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die ein Gutachter, der einen dringend behandlungsbedürftigen „unterprivilegierten" Strafentlassenen auf die Warteliste eines niedergelassenen Psychotherapeuten bringen will, zu überwinden hat.

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In einer jüngst erschienenen Streitschrift 3 , die von einem Pakt der „repressiven Kriminalpsychiatrie" mit der Justiz spricht, klingen Tendenzen an, die in anderen Publikationen nodi deutlicher hervortreten. Den Ärzten wird etwa der Vorwurf gemacht, sie würden nicht erkennen, daß manche Menschen nicht anders ihren Protest gegen die bestehende Gesellschaftsordnung als in Form von Straftaten bzw. psychotischen Reaktionen zu artikulieren vermögen. Die Psychiatrie decke die wahren Machtverhältnisse nicht auf, diene vielmahr dazu, sie zu kaschieren. Der forensisdie Psychiater würde durch autoritäre Richter zu einem Instrument der Manipulation. Wenn ein Beweis für solche und ähnliche Hypothesen auch heute noch aussteht, es kann nicht bestritten werden, soziodynamische Perspektiven sowohl in der Rechtssprechung als auch in der Forensischen Psychiatrie werden nicht genügend berücksichtigt. Im Gerichtssaal spielt sich manches ab, was dringend reformbedürftig erscheint. Wir meinen z. B. die Einstellung jener Richter, die ihre Vernehmungen in gelangweiltem, „beleidigtem" oder barschem Ton durchführen, jeden pragmatischen Ansatz als Sakrileg zurückweisen und deren unbändiger Juristenstolz nur nodi von ihrer Informationsangst übertroffen wird. Hier ist auch der „Star-Gutachter" anzuführen, der sich auf diagnostische Stereotypien in seinen Gutachten, wie Triebhaftigkeit, Haltschwädie und Gemütsarmut, noch etwas zugute hält und dem an originellen Formulierungen alles, an dem untersuchten Menschen aber gar nichts liegt. Wer die Situation aus eigener Anschauung kennt, wird der Kritik an dieser Art von „Schwarzen" und „Weißen Richtern" eine Berechtigung nicht absprechen können. Nach den Parallelen und Gemeinsamkeiten, Gegensätzen und Unterschieden zwischen Richtern und Medizinern sollen abschließend die beruflich-gleichberechtigten Kontakte, die dann geknüpft werden, wenn der Richter einen Arzt zum Gutachter bestellt, skizziert werden. Um gleich einem MißVerständnis „prophylaktisch" zu begegnen: Der Sachverständige ist u. E. kein „Gehilfe" des Richters, sonst müßte der Richter ein „mehr wissender Meister" sein. Ärztliche Untersuchungsergebnisse sind dem Richter ein wichtiges, wenn auch nicht allein ausschlaggebendes Beweismittel. Der sachverständige Arzt nimmt somit durch informative Vermittlung von Expertenwissen und im Rahmen eines pragmatisch-kooperativen Modells eine Beraterfunktion ein. s

Moser, T. „Vom Elend einer Wissenschaft", edition suhrkamp 419, SuhrkampVerlag, Frankfurt 1971.

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In dieser Eigenschaft kann jeder in Deutschland Approbierte von Straf-, Zivil-, Sozial- und Verwaltungsgerichten beigezogen werden. Die Tätigkeit ist rechtlich festgelegt, das Aufgabengebiet jedoch nicht eindeutig abgegrenzt. Die Konsultation eines Sachverständigen ist indiziert, wenn es sich um die Abklärung der Wirksamkeit geistig-seelischer und/oder körperlicher Befindlichkeit auf das Adaptations- und Reaktionsvermögen, in bezug auf rechtserhebliche Ereignisse oder Situationen handelt. Der forensische Psychiater kann nach deutschem S traf recht zur Beurteilung der Schuldfähigkeit eines Delinquenten und in Hinblick auf Maßnahmen zur Sicherung und Besserung gehört werden (§§ 42 b, 42 c, 42 f, 42 g, 42 1, 42 m, 51 Abs. 1 und 2., 330 a StGB). Jugendpsychiatrische und -psychologische, sozialwissenschaftliche und pädagogische Probleme sind nach den Vorschriften des Jugendgerichtsgesetzes, bezüglich der Verantwortungsreife eines Jugendlichen oder dem Reifegrad eines Heranwachsenden, zu lösen. Seltener muß der Erfolg einer Behandlung in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung oder die Voraussetzung für eine kriminalbiologische Untersuchung beurteilt werden (§§ 3, 7, 73, 105 JGG). Immer größere Bedeutung gewinnen audi die fadipsychologischen und -ärztlichen Überprüfungen von Kindern und Jugendlichen auf ihre Zeugentüchtigkeit und Glaubwürdigkeit, vor allem in Verfahren bei Vergehen und Verbrechen wider die Sittlichkeit. Die Strafprozeßordnung schreibt die Inanspruchnahme eines Psychiaters vor, wenn sich die Frage einer Unterbringung eines Beschuldigten oder Angeklagten bzw. Verurteilten in eine Heil- und Pflege-, Trinkerheil- oder Entziehungsanstalt stellt (§§ 80 a, 81, 81 a, 126 a, 246 a, 429 a, 429 b, 429 c StPO). Aufgrund der Zivilprozeßordnung werden ärztliche Gutachter obligatorisch bei Ehescheidungen wegen Geisteskrankheit und im Entmündigungsverfahren gehört (§§ 223, 654, 655 ZPO). Bereits vor Einleitung eines Entmündigungsverfahrens kann das Gericht die Beibringung eines ärztlichen Befundattestes anordnen, oder, nach dem Vorliegen eines solchen, die Vorbereitung eines Gutachtens durdi eine stationäre Beobachtung in einem „geschlossenen" Psychiatrischen Krankenhaus beschließen (§§ 649, 656 ZPO). Nach dem Bürgerlidoen Gesetzbuch ist ein Arzt mit psychiatrischer Ausbildung im Entmündigungsverfahren wegen Geisteskrankheit, Geistesschwäche oder Trunksucht zum Gutachter zu bestellen (§§ 6, 104,105,114, 1865, 1910, 2229 BGB). Im Rahmen des Ehegesetzes muß ein medizinischer Sachverständiger in den Fällen hinzugezogen werden, bei welchen ein Mangel der Geschäfts- oder Urteilsfähigkeit, der zur Nichtigkeit einer Ehe führen

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kann, vorliegt, oder das auf einer Geistesstörung beruhende Verhalten eines Ehegatten die Voraussetzungen für eine Ehescheidung erfüllt, respektive die Scheidung der Ehe wegen Geisteskrankheit gewährt wird (§§ 18, 32, 44, 45 EheG). In den bei Berentungen oder Schadenersatzansprüdien von Sozialgeridoten angeforderten ärztlichen Gutachten sind nachweisbar Psychoreaktive oder neurologische Abweichungen auf ihren pathogenetischen Stellenwert, bezüglich eines — nach der Theorie der „wesentlichen Bedingung" — geforderten Kausalzusammenhanges, zu analysieren. Von den Aufgaben, die dem medizinischen Sachverständigen von der Verwaltungsgerichtsbarkeit gestellt werden, sei als Beispiel nur die gelegentlich abzugebende Stellungnahme zur Frage der Wiederteilung einer η adi mehreren vorausgegangenen Straßenverkehrsdelikten entzogenen Fahrerlaubnis erwähnt. Außer diesen, seit Jahrzehnten konstanten Berührungspunkten zwischen Psychiatrie und Recht ergeben sich weitere, durch die beiden Strafrechtsreformgesetze (1. StrRG: 25. 6. 69, 2. StrRG: 4. 7. 69). Das Prinzip: „Die Schuld des Täters ist die Grundlage für die Zumessung der Strafe" (§ 46 StGB n. F.) ist gleichgeblieben. Für unser Fach ist von Belang, daß sich die Formulierung der Voraussetzungen für die Beurteilung der „Schuldfähigkeit" geändert hat und zum erstenmal im Erwachsenenstrafrecht „Behandlungsmöglichkeiten* kodifiziert wurden: Nach §§20 und.21 StGB n. F. werden ab 1.10. 1973, außer den im geltenden § 51 Abs. 1 und 2 StGB niedergelegten Gründen für die Annahme einer „aufgehobenen" oder „erheblich verminderten" strafrechtlichen Verantwortlichkeit, ausdrücklich auch „schwere andere seelisdie Abartigkeiten", d. h. neurotische, psychopathische oder triebgestörte Verhaltensweisen, anerkannt. Der medizinische Sachverständige wird vom Gericht in Zukunft nicht mehr ausschließlich als Gutachter, sondern auch als behandelnder Arzt in Anspruch genommen werden. 1. Gemäß § 65, Abs. 1, Satz 3, 1. StRG — mit ausdrücklicher, gesetzlicher Verankerung einer ärztlichen Leitung der Anstalt — kann als Maßregel zur Besserung und Sicherung die Einweisung eines Delinquenten in eine sozialtherapeutische Anstalt vom erkennenden Gericht angeordnet werden. Aufgabe der neuen Institutionen wird es u. a. sein, zunächst durch Reduktion der Gewaltverhältnisse und mehr realisierbare Eigenverantwortlichkeit, für ein „therapeutisches Klima"" zu sorgen, um Vor-

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aussetzungen für Anpasungs-, Identifikations- und damit für Reifungs- und Sozialisationsmöglichkeiten zu schaffen. J e nach Art und Umfang der einer Beeinflussung zugänglichen Störung kommen verschiedene sozio-dynamische, medizinisch-psychologische Behandlungsmethoden — auch in kombinierter Form — in Frage. Hier sind u. a. zu nennen: ärztliche Gesprächstherapie, speziell auf die Triebsphäre aber auch psychopharmakologisch wirkende Medikamente, Behandlung von psychosomatischen Erkrankungen, u. U . auch chirurgische Eingriffe, nicht nur Kastrationen sondern audi kosmetische Operationen, orthopädische Maßnahmen usw. Psychotherapeutische und pädagogische Gesichtspunkte prävalieren innerhalb der individuell-modifizierten Verhaltens- und Gruppentherapie sowie beim „sozialen Training". In bestimmten Fällen wird eine LangzeitEinzelanalyse nicht zu umgehen sein. Außer diesem wissenschaftlich fundierten Vorgehen dürfte eine sinnvolle Beschäftigungsund Arbeitstherapie, sowie eine praktischberufliche Ausbildung — i. S. der Rehabilitation und nicht nur in Form eines Brauchbarmachens für den Produktionsprozeß — für viele Delinquenten Vorbedingung zur Eingliederung in die Gesellschaft sein.

2. D e r Richter kann, gemäß § 5 6 c, Abs. 2, Satz 1 und 2 S t G B n. F., ab 1. April 1970 als Voraussetzung der Strafaussetzung zur Bewährung die Weisung zur Durchführung einer ärztlichen Behandlung erteilen. Die zu erwartenden und ζ. T . in den entsprechenden Modellinstitutionen bereits aufgetretenen Schwierigkeiten dürften nicht nur in unzureichender Erfahrung, sondern auch in der Sache selbst liegen: in den äußeren Bedingungen sowie in den Persönlichkeitsvoraussetzungen von Betreuern und Betreuten. Infolge der sich zum größten Teil in den Randzonen psychischer Gesundheit bewegenden Reagibilität des zu behandelnden Kollektivs, ist in Zukunft mit einer unvergleichlich schwereren, vielleicht aber auch befriedigerenden Arbeit für die mit diesen Aufgaben befaßten Richter und Ärzte zu rechnen. Die gemeinsame Ausbildung von angehenden Juristen und Medizinern — unter Einbeziehung außeruniversitärer Einrichtungen — durch Richter und Ärzte an der Hochschule, scheint uns ein Schritt auf dem Weg zu sein, mit kritischer Zuversicht Bestehendes zu reformieren und Neues mitzugestalten.

PROZESSRECHT

„Informelles Schuldinterlokut" im Strafprozeß nach geltendem Recht Zur modernen Gestaltung der Hauptverhandlung THEODOR KLEINKNECHT

I. Das Reformanliegen des formellen Schuldinterlokuts im Strafprozeß Seit Jahrzehnten wird immer wieder eine Änderung der Strafprozeßordnung gefordert, die Zweiteilung der Hauptverhandlung in eine Phase zur Entscheidung der Schuldfrage und — im Falle des Schuldspruchs — eine weitere Phase zur Festsetzung der Rechtsfolgen1. Diese Forderung ist in jüngster Zeit durdi eine Mehrheitsresolution des X. Kongresses der Association Internationale de Droit Pénal (1969) neu belebt worden 2 . Die beiden Gutachter aus der Bundesrepublik Deutschland, ein Richter3 und ein Rechtsanwalt4, sprachen sich ebenfalls für die Reformforderung aus. Der Kongreßbesdiluß lautete: 1

Für den kontinentalen Strafprozeß zum ersten Mal 1925 auf dem 9. Internationalen Gefängniskongreß in London. Vgl. Herrmann, Die Reform der deutschen Hauptverhandlung nach dem Vorbild des anglo-amerikanischen Strafverfahrens, 1971, S. 103 mit ausführlicher Schilderung der Entwicklung der Reformforderung in der Bundesrepublik Deutschland. Als Befürworter seien namentlich genannt Dünnebier ZStrW 72 (1960), 676; Kleinknecbt, Strafreditspflege und Strafrechtsreform, 1961, S. 173; Grünhut, Festschrift für von Weber, 1963, 362 ff.; Eb. Schmidt D R i Z 1959, 16, 20; MDR 1967, 877 ff., 883, N J W 1969, 1137 ff., 1145 sowie in Lehrkommentar zur StPO und zum GVG, Naditräge und Ergänzungen zu Teil II, Erl. 18 zu § 243 StPO; Dahs in der 23. Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages vom 10.5.1962; ferner in „Aktuelle Rechtsprobleme", Festschrift für Sdiorn, 1966, S. 14 ff., 36, 37 sowie N J W 1970, 1705 und Handbuch des Strafverteidigers, 3. Auflage, 1971, Rdz. 13 e, 346 a, 490, 588, ihm zustimmend Hanack in Buchbesprechung J Z 71, 528; Bruns, Strafzumessungsredit, Allgemeiner Teil, 1967, S. 228; Redten DRiZ 1968, 38, 40; Römer GA 1969, 333; Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil, 1969, S. 511, und J Z 1970, 201, 206; Roxin, in KernRoxin, Strafverfahrensrecht, 9. Auflage, § 4 4 Β ; Peters, Verhandlungen d e s 4 1 . D J T , Bd. I, 2 (1955) S. 51 und Der Strafprozeß in der Fortentwicklung, zugleich Nachtrag zur 2. Aufl. des Lehrbuchs »Strafprozeß", 1970, S . 9 ; Dahs jun. GA 1971, 353 ff. 8 Bericht über die Vorbereitungstagung und -entschließung Vogler ZStrW 81 (1969), 536; Kongreßberidit Kreuth J Z 1970, 300, Blau ZStrW 82 (1970), 571; » Blau ZStrW 81 (1969), 31 ff. 4 Fiscbinger ZStrW 81 (1969), 49 ff. Fischinger ( f ) war Mitglied des Strafrechtsausschusses der Bundesreditsanwaltskammer und hat in seinem Gutachten die in diesem Ausschuß unter Vorsitz von Dahs erarbeiteten Thesen vertreten.

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„Zumindest in Verfahren wegen schwererer Straftaten sollte das Gericht befugt sein, Beweis und Ausführungen zunächst auf die Fragen der Handlung und der Schuld zu beschränken. Das Gericht sollte die Erhebung zur Persönlichkeit des Angeklagten im Hinblick auf die Auswahl der geeigneten Sanktion erst nach der Entscheidung über die Sdiuld durchführen, es sei denn, die Berücksichtigung dieser Beweise im ersten Abschnitt sei zweckmäßig, wie z. B. dann, wenn Geisteskrankheit die Schuldfähigkeit entscheidend berührt."

Etwa um dieselbe Zeit setzte aber ein namhafter Wissenschaftler, der zugleich richterliche Erfahrung besitzt, hinter die Reformforderung trotz der ständig wachsenden Zahl ihrer Befürworter ein Fragezeichen. Es war Heinitz mit seiner Arbeit „Zweiteilung der Hauptverhandlung?" 5 . Er hält die Teilung der Hauptverhandlung in zwei Phasen für „unnatürlich". Dabei kann er sich auf eine Reihe namhafter ausländischer Autoren berufen, wenngleich — nach seinen eigenen eingehenden und wertvollen Zitaten — die Zahl der Befürworter des formellen Schuldinterlokuts auch im Ausland — ebenso wie im Inland — überwiegt. Heinitz schlägt zur Lösung der Problematik eine Regelung vor, wonach das erkennende Gericht dem Rechtsfolgenausspruch „nur den aus rechtsstaatlidien Gründen unerläßlichen Rahmen" zu geben habe, während die Wahl der richtigen Behandlungsart weitestgehend dem „Vollzugsgericht" überlassen werden solle. Ein Gericht soldier Art, das Vollstreckungsgerichte, wird durch das Zweite Gesetz zur Reform des Strafrechts (2. StrRG) vom 4. Juli 1969 mit dessen Inkrafttreten 7 zwar eingeführt, aber eine solche Institution kann das erkennende Gericht wohl nicht von der Pflicht zur Genauigkeit im Rechtsfolgenausspruch befreien 8 , der für die Öffentlichkeit und den Angeklagten — und damit für Generalprävention und Resozialisierung — meist wichtiger als die rechtliche Qualifizierung der Tat im Schuldspruch ist.

II. Gesetzliche Regelung eines Schuldinterlokuts nicht in naher Zukunft Die Vorteile und Nachteile eines formellen Schuldinterlokuts sind bisher noch nicht bis ins Letzte dargestellt und abgewogen. Vor allem aber ist die Frage, wie in einer gesetzlichen Regelung das Institut des 5 In „Sein und Werden im Redit", Festgabe für von Lüttow zum 70. Geburtstag 1970, S. 835 ff.; in demselben Sinn sdion früher in seiner Sdirift „Die Individualisierung der Strafen und Maßnahmen in der Reform des Strafrechts und des Strafprozesses", 1960, hierzu kritisch Herrmann a. a. O., S. 141. • Zu diesem Jescheck und Ladener, Verhandlungen des 43. DJT, Bd. ÏI/E (1960) S. 71, 92, vor allem Peters und Tröndle ZStrW 81 (1969), 63—83, 84—113. 7 Nach Art. 7 des 2. StrRG am 1 . 1 0 . 1 9 7 3 ; der Entwurf eines EGStGB schlägt in Art. 17 III als Zeitpunkt des Inkrafttretens den 1.1.1974. vor.

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Schuldinterlokuts gestaltet werden müßte, trotz der (bisher detailliertesten) konkreten Vorschläge von Dahs9 noch keineswegs als geklärt anzusehen10. Dessen ist sich Dahs auch bewußt. Das zeigt meines Erachtens seine Äußerung 11 , es sei zu bedauern, daß bisher nicht „wenigstens das sogenannte informelle Schuldinterlokut im Sinn von Kleinknecht12 eingeführt worden ist, was mit einem Federstrich des Gesetzgebers möglich gewesen wäre. Dann könnte man jetzt auf Erfahrungen zurückgreifen, die zur Zeit leider fehlen". Da noch so viel Unklarheit darüber besteht, welchen Weg der Gesetzgeber beschreiten soll, ist es verständlich, daß in dem Regierungsentwurf eines Ersten Gesetzes zur Reform des Strafverfahrensrechts eine Regelung für das Schuldinterlokut nicht vorgesehen ist. Eine solche wird jedenfalls noch Jahre auf sich warten lassen.

III. Informelles Schuldinterlokut in geeigneten Fällen schon heute Diese Situation verleiht dem Vorschlag besonderes Gewicht, ein „informelles Schuldinterlokut" schon nach geltendem Recht in geeigneten Fällen zu praktizieren 13 . Dadurch könnten zugleich Erfahrungen für eine künftige Regelung durch den Gesetzgeber gewonnen werden. Schon im Jahre 1955 hat Karl Peters auf dem 41. Deutschen Juristentag in seinem Gutachten „In welcher Weise empfiehlt es sich, die Grenzen des strafrichterlichen Ermessens im künftigen Strafgesetzbuch zu regeln (Ermessensfreiheit oder Gesetzesbindung des Richters 8 So im Ergebnis auch Peters, Der Strafprozeß in der Fortentwicklung, zugleich ein Nachtrag zum Lehrbuch „Strafprozeß", 1970, S. 9. • „Fortschrittliches Strafrecht im rückständigen Strafverfahren, zur Dringlichkeit einer Zweiteilung der Hauptverhandlung durch ein Schuldinterlokut", N J W 1970, 1705 ff. 10 Das beweisen ζ. B. die vielfältigen und weitgehenden Vorschläge von Dahs jun. GA 1971, 353 ff., die ζ. T. auf eine Zerreißung des Strafverfahrens in zwei getrennte Teile hinauslaufen würden. 11 N J W 1970, 1711. 12 Auf diesen Vorschlag (enthalten in einem Referat für den Strafrechtsausschuß der Bundesrechtsanwaltskammer „Gedanken zur Neugestaltung der Hauptverhandlung" 1964) hat auch Fischinger in seinem bereits genannten Gutachten für den X. Internationalen Strafrechtskongreß hingewiesen. Übrigens hat sich Dahs selbst in seinem bereits erwähnten Beitrag zur Festschrift für Schorn zunächst positiv zum informellen Schuldinterlokut de lege ferenda geäußert („der Weg scheint gangbar und beseitigt das Dilemma"). Die Institution des „informellen Schuldinterlokuts" durch den Gesetzgeber befürwortet auch Krauth J Z 1970, 300. 13 Kleinknecbt, Kommentar zur Strafprozeßordnung, 30. Auflage, Anm. 3 C, D zu § 244, Anm. 3 C zu § 258 StPO; zustimmend Krauth JZ 1970, 300, Tröndle MDR 1972, 88, Hanack J Z 1971, 81, 82 (am Ende), wohl auch Schäfer in LöweRosenberg, 22. Auflage, Einleitung, Kap. 11, Β 1, Fn. 77.

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bei Verhängung der Strafe und sonstigen Unrechtsfolgen)?"14 die Auffassung vertreten, daß die Zweiteilung der Hauptverhandlung audi nach der geltenden Strafprozeßordnung realisierbar sei. Ebenso setzt sich Bruns15 ausdrücklich dafür ein, den Gedanken des Schuldinterlokuts „soweit wie möglich schon im geltenden Recht durchzuführen".

IV. Die dem Gedanken der Aufteilung der Hauptverhandlung in zwei Phasen zugrundeliegenden Ziele Um zu erkennen, worauf es bei der Praktizierung des informellen Schuldinterlokuts im Rahmen der geltenden Strafprozeßordnung ankommt, und um beurteilen zu können, ob und wieweit ein informelles Schuldinterlokut de lege lata diese Zwecke ebenfalls erfüllen kann, sollen kurz die wesentlichsten Argumente behandelt werden, die für die Einführung eines förmlichen Schuldinterlokuts geltend gemacht werden. 1. Die stärkere Hinwendung des neuen materiellen vom Tat- zum Täterstraf recht

Strafrechts

Grundlage für die Strafzumessung ist die Schuld des Täters. Zugleich sind aber auch die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind16. Der Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Resozialisierung dienen; in ihm soll der Verurteilte nach dem Regierungsentwurf eines Strafvollzugsgesetzes „fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Behandlungsziel) Diese strafrechtlichen Zwecke und Ziele erfordern nicht nur in der Auswahl und Bemessung der Strafen, sondern auch bei der Bestimmung der übrigen strafrechtlichen Rechtsfolgen eine eingehende Erforschung der Persönlichkeit und der Verhältnisse des Angeklagten sowie der gegenwärtigen und früheren Umwelteinflüsse, soweit sie für die Straftat ursächlich gewesen oder für die Frage der Resozialisierungsfähigkeit von Bedeutung sein können. Auch Heinitz17 teilt die Auffassung, „daß im Strafprozeß heutiger Gestaltung die Persönlich11 „Verhandlungen des 41. Deutschen Juristentages" Band I, 2. Halbband, S. 1—56. 15 Strafzumessungsredit, Allgemeiner Teil, 1967, 3. Hauptteil, 5. Kap. unter I. " § 13 Abs. 1 StGB, gleichlaufend der ihn am 1.10. 1973 (oder 1.1. 1974) ablösende § 46 Abs. 1 StGB i. d. F. des 2. StrRG. 17 In der Festschrift für von Liibtow, S. 844.

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keit des Täters nicht in dem Maß Gegenstand der Untersuchung und Feststellung ist, wie dies nach dem heutigen Stand des Strafrechts mit seiner Betonung täterschaftlicher Elemente und der Notwendigkeit, die Sanktion der Täterpersönlichkeit entsprechend zu gestalten, erforderlich wäre". Da die Erörterung und Beweisaufnahme zur Frage des Ausspruchs über die Strafe und sonstigen Rechtsfolgen in der heutigen Hauptverhandlung mehr Raum, Aufwand und Genauigkeit erfordern, sollten diese Vorgänge schon ihres Sachzusammenhanges wegen, soweit wie möglich, in einem auch äußerlich erkennbar gesonderten Teil zusammengefaßt werden. 2. Vermeidung unnötigen Bloßstellens des in der Hauptverhandlung

Angeklagten

Wenn Umstände, die nur für die Rechtsfolgenentscheidung von Bedeutung sind, schon am Anfang der öffentlichen Hauptverhandlung oder vor der wesentlichen Beweisführung über die Begehung der Straftat untersucht und aufgeklärt werden, kann das zu einer bei rückschauender Betrachtung vermeidbaren Bloßstellung des Angeklagten führen, wenn es gar nicht zu einem Schuldspruch kommt. Daraus ergibt sich, daß für den Reditsfolgenaussprudi relevante Beweistatsachen grundsätzlich erst behandelt werden dürfen, wenn sich der Schuldspruch mindestens als höchstwahrscheinlich abzeichnet. Denn wenn der Angeklagte nicht verurteilt wird, kann das öffentliche Plakatieren von ungünstigen Tatsachen aus seinem Vorleben „entsozialisierend" wirken; es kann nämlich dazu führen, daß er in seinem Lebensbereich an Achtung verliert, vielleicht sogar verachtet oder gar zurückgestoßen wird und dadurch auf die Bahn des Verbrechens gerät. 3. Verminderung des mittelbaren Zwangs zur Selbstbelastung Es kann sein, daß der Angeklagte, der die Straftat bestreitet, mit Freispruch rechnet, aber bei einem Schuldspruch Tatsachen vorbringen oder erfolgversprechende Beweisanträge stellen könnnte, die zu einer günstigeren Rechtsfolgenentscheidung führen würden. Dieses Vorbringen kann aber von einer Art sein, daß er sich mit ihm in der Schuldfrage selbst belasten würde. Wie soll er, solange er auf Freispruch hoffen kann, ζ. B. geltend machen, zur Zeit der Tat seien seine Familienverhältnisse ungemein zerrüttet gewesen und das habe ihn in schlechte Gesellschaft und damit zur Tat gebracht? Anders ist es, wenn ihm in einem Schuldinterlokut mitgeteilt würde, wegen welcher Straftat und nach welchem Strafgesetz er schuldig gesprochen wird. Wenn das geschieht, kann er anschließend alle entlastenden Umstände

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geltend machen, ohne selbst zum Schuldspruch beizutragen. Ein Risiko freilich bleibt dem leugnenden Angeklagten immer: Das Vorbringen in der zweiten Phase der Hauptverhandlung kann zwar nicht mehr ursächlich für das Schuldinterlokut werden, aber es bestätigen. Dieses Geständnis wirkt weiter, solange der Schuldspruch nicht rechtskräftig ist. Aber die Wahl, entweder auch in der zweiten Phase der Hauptverhandlung nichts vorzubringen, was auf ein mittelbares Geständnis hinausläuft, oder alles Entlastende ungeachtet dieser Nebenwirkung geltend zu machen, kann dem Angeklagten nicht erspart werden, solange unsere Rechtsordnung an der Einheitlichkeit der Hauptverhandlung und des Strafurteils festhält. 4. Das Dilemma der

Hilfsplädoyers

Wenn der Staatsanwalt auf Freispruch plädiert, äußert er sich in der Regel nicht hilfsweise für den Fall der Verurteilung zur Rechtsfolgenentscheidung. Nur ausnahmsweise wird er dies doch tun, nämlich dann, wenn er erhebliche Zweifel hat, ob sich das Gericht seiner Beweiswürdigung oder seiner Rechtsauffassung anschließen wird. Dieses Hilfsplädoyer zur Rechtsfolgenentscheidung ist unerfreulich. Viel häufiger und stärker kommt der Verteidiger bei der heutigen Verfahrensart in die mißliche Lage, ein Hilfsplädoyer für den Fall halten zu müssen, daß das Gericht seinem Antrag auf Freispruch nicht folgt. Wenn und soweit diese Gefahr besteht, darf er nicht auf die Karte des Freispruchs allein setzen, muß vielmehr vorsorglich für den Fall der Verurteilung alle entlastenden Umstände zur Rechtsfolgenentscheidung geltend machen. Mit dem hilfsweise gestellten Antrag auf ein mildes Urteil entkräftet er aber — zumindest häufig — im Effekt seinen Hauptantrag, der auf Freispruch abzielt. Diese Wirkung kann namentlich bei den Laienrichtern eintreten. Darüber hinaus kann das Hilfsplädoyer des Verteidigers auch sein Vertrauensverhältnis zum Mandanten stören, wenn dieser sich für unschuldig hält oder seine Aussicht auf Freispurch überschätzt. 5. Vertrauen in die Unvoreingenommenheit

des Gerichts

Die Reformforderung nach einem formellen Schuldinterlokut wird auch damit begründet, die Behandlung von Rechtsfolgentatsachen vor der Existenz des Schuldspruchs gefährde die „Unbefangenheit" des Gerichts für den Schuldspruch. Diese Argumentation ist bedenklich. Denn die Berufsrichter kennen die Tatsachen, um die es sich hier handelt, in der Regel schon aus den Akten und sind vor allem kraft Ausbildung und gewohnter Selbstkontrolle außer Gefahr, sich bei der

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Entscheidung über den Schuldspruch durch Tatsachen beeinflussen zu lassen, die allein für die Rechtsfolgenentscheidung von Bedeutung sind. Jedenfalls solange unsere Strafprozeßordnung dem erkennenden Berufsrichter die Kenntnis des Akteninhalts nicht verwehrt 18 , sondern sie sogar voraussetzt, kann das Befangenheitsargument für ihn nicht anerkannt werden. Es kann allenfalls bei den Schöffen eine Rolle spielen19. Es darf jedoch auch hierbei nicht übersehen werden, daß die Berufsrichter in der gemeinsamen Urteilsberatung dafür sorgen können und müssen, daß bei der Beweiswürdigung keine unzulässigen Erwägungen Einfluß gewinnen. Völlig auszuschließen ist es allerdings nicht, daß die Gefahr eines solchen Einflusses gar nicht erkannt wird. Deshalb hat in diesem engen Bereich audi das Argument von der gefährdeten Unbefangenheit eine gewisse Bedeutung. Wichtiger ist folgender Gesichtspunkt: Die öffentliche Ausbreitung des Lebenslaufes des Angeklagten mit all seinen negativen Komponenten, bevor die Beweisaufnahme gezeigt hat, daß er die ihm vorgeworfene Tat auch wirklich begangen hat, kann den Eindruck erwecken, das Gericht sei von vornherein von der Schuld des Angeklagten überzeugt. Dieser Eindruck kann nicht nur bei dem Angeklagten entstehen, der sich unschuldig fühlt oder aus sonstigen Gründen glaubt, auf einen Freisprudi hoffen zu können, sondern auch bei dem kritischen Teil der Zuhörer, die die Öffentlichkeit repräsentieren. 6. Stärkere Effektivität der Mitwirkung der Verfahrensbeteiligten bei der Gestaltung des Rechtsfolgenausspruchs Wenn Verteidiger und Staatsanwalt am Beginn des zweiten Teils der Hauptverhandlung wissen, von welchem Schuldspruch sie auszugehen haben, können sie leichter, als wenn sie darüber im unklaren sind, überflüssiges Vorbringen vermeiden und sich dafür um so mehr auf vollständige Geltendmachung aller — von dem bestimmten Schuldspruch aus gesehen — relevanten Umstände und Gesichtspunkte konzentrieren. Dadurch entsteht im Vergleich zu der bisher geübten Verfahrensweise eine stärkere Gewähr für die Richtigkeit des Urteils im Rechtsfolgenausspruch.

18 Dies wäre bei der Kompliziertheit des Lebens und der Rechtsordnung in unserer Zeit alles andere als eine Verbesserung. " In der englischen und in der amerikanischen Hauptverhandlung darf der Angeklagte nur unter bestimmten Voraussetzungen nach seinen Vorstrafen gefragt werden, solange die Geschworenen nicht über die Schuldfrage entschieden haben (näher ausgeführt von Herrmann a. a. O. S. 301, 435—437).

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V. Wie können diese Anliegen im Rahmen der geltenden Strafprozeßordnung ohne Schuldinterlokut erfüllt werden? 1. Die Reiben folge der Erörterung Es ist leicht zu erkennen, daß einem erheblichen Teil der Anliegen, die zu der Forderung nach einem formellen Schuldinterlokut geführt haben, durch richtige Reihenfolge bei der Erörterung des Verhandlungsstoffes und der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung Rechnung getragen werden kann. Über diese Reihenfolge sagt die Strafprozeßordnung allerdings wenig aus. § 243 Abs. 2 bis 4 StPO bestimmt, daß der Angeklagte am Anfang der Hauptverhandlung über „seine persönlichen Verhältnisse" und erst nach der Verlesung des Anklagesatzes „zur Sache" vernommen wird. Nach Absatz 4 Satz 3 ist die Feststellung der Vorstrafen des Angeklagten in der Hauptverhandlung nur insoweit zugelassen, als sie „für die Entscheidung von Bedeutung" sind. Satz 4 überträgt es in erster Linie der Disposition des Vorsitzenden, den riditigen Zeitpunkt hierfür zu bestimmen. Weitere Richtlinien für die Reihenfolge der Abhandlung der relevanten Tatsachen bei der Vernehmung des Angeklagten „zur Sadie" und bei der Beweisaufnahme ergeben sich aus der Systematik des Strafrechts. Gerade diese gebietet, die nur für die Entscheidung über die Strafe oder sonstigen Rechtsfolgen der Tat erheblichen Umstände möglichst erst zu behandeln, wenn — zumindest nahezu — feststeht, daß und nach welchem Strafgesetz der Angeklagte schuldig ist. 2. Die Vernehmung des Angeklagten über seine „persönlichen Verhältnisse" Der Begriff „persönliche Verhältnisse" ist für die gegenständliche Beschreibung des der Verlesung des Anklagesatzes vorgelagerten Vernehmungsabschnitts — für sich betrachtet — viel zu umfassend. Was zu ihm gehört, ergibt sidi erst aus der Abgrenzung von den Umständen, die Gegenstand der gesetzlich nach der Verlesung des Anklagesatzes eingeordneten Vernehmung „zur Sache" sind. „Zur Sache" gehört alles, was auf die Entscheidung über den Schuldspruch oder die Anordnung der Rechtsfolgen Einfluß haben kann. Zur Sache gehören also auch die kriminologisch bedeutsamen Fakten aus der Entwicklung und dem Milieu des Angeklagten, die für die Beurteilung der Strafsache Bedeutung haben können. Darüber darf der Angeklagte erst vernommen werden, wenn er vorher darauf hingewiesen worden ist, daß es ihm freistehe, sich zu der Anklage zu äußern oder

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nicht „zur Sache" auszusagen (§ 243 Abs. 4 S. 1 StPO). Diese Belehrung findet erst nach der Verlesung des Anklagesatzes statt. Sie darf auch grundsätzlich nicht vor oder in die Vernehmung über die „persönlichen Verhältnisse" vorgezogen werden, weil ihre Einordnung auf einer zwingenden Vorschrift über den Aufbau der Hauptverhandlung beruht. So ergibt sich aus der Zugehörigkeit eines Umstandes „zur Sache" die wichtigste Abgrenzung dessen, was bei der Vernehmung des Angeklagten über die „persönlichen Verhältnisse" behandelt werden darf. Hierzu gehören zunächst die Personalien, die der Angeklagte grundsätzlich anzugeben verpflichtet ist 20 . Darüber hinaus können bei der Vernehmung über die persönlichen Verhältnisse audi solche Fragen gestellt werden, die der Klärung dienen, ob der Angeklagte verhandlungsfähig ist, oder ob er Eigenheiten besitzt, die bei der Art der Verhandlungsführung berücksichtigt werden müssen oder, falls er ohne Verteidiger ist, die Bestellung eines Verteidigers geboten erscheinen lassen. Es darf hier nur noch nicht zu einer Sachvernehmung kommen 21 . Die Praxis beachtet in zunehmendem Maß diese Grundsätze. Zuweilen ist allerdings auch heute noch die früher fast allgemein übliche Methode anzutreffen: Zunächst wird die Lebensgeschichte des Angeklagten festgestellt, der Verlauf seiner Kindheit, seine schulischen Leistungen oder sein Schulversagen, sein jeweiliges Milieu und sein beruflicher Werdegang. Und das alles, bevor überhaupt der Anklagesatz verlesen und damit den Laienrichtern und der zuhörenden Öffentlichkeit das Thema der Hauptverhandlung bekanntgemacht und der Angeklagte über sein Wahlrecht, sich durch Reden oder Schweigen „zur Sache" zu verteidigen, belehrt wird 22 . 3. Die Vernehmung des Angeklagten „zur Sache" Die Vernehmung des belehrten und aussagebereiten Angeklagten „zur Sache" folgt nicht nur im Ablauf der Hauptverhandlung der Verlesung des zugelassenen Anklagesatzes, sondern knüpft auch thematisch an diesen an: Der Angeklagte wird also zunächst zu diesem vernommen unter Beschränkung auf die Fakten und Umstände, die für die Frage des Schuldspruchs von Bedeutung sind. Die nur für die Rechtsfolgenentscheidung erheblichen Umstände dagegen brauchen mit ihm nur erörtert zu werden, wenn sich — durch die Beweisaufnahme zur Frage des Schuldspruchs — ergibt, daß es nicht zu einem 20

MUller-Sax, Kommentar zur StPO, 6. Auflage, Anm. 3 a zu § 136. Kleinknecht a. a. O., Anm. 5 zu § 243 StPO. 22 Diese Methode ist seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Geriditsverfassungsgesetzes (StPÄG) vom 19. Dezember 1964 (BGBl. I S. 1067) unzulässig geworden. 21

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Freispruch kommt, und erst dann, wenn sich der Schuldspruch deutlich abzeichnet. Eine solche Aufteilung entspridit der Systematik des materiellen Strafrechts und der Prozeßökonomie. Im übrigen kennen wir schon längst eine andere, ebenfalls im Gesetz nicht vorgesehene Aufteilung der Vernehmung des Angeklagten „zur Sache", die allgemein anerkannt ist: In den sog. Punktesachen, d. h. in solchen Strafverfahren, die eine Mehrzahl einzelner Straftaten zum Gegenstand haben, kann die Vernehmung des Angeklagten — und darüber hinaus die Beweisaufnahme — in der Weise aufgeteilt werden, daß der aussagebereite Angeklagte nach der Verlesung des Anklagesatzes zunächst nur zu einer allgemeinen Äußerung veranlaßt, im übrigen aber abschnittsweise jeweils zu einer Tat gehört wird, über die im Anschluß daran die Beweise erhoben werden 23 . Ein solches Verfahren wird, wie der Bundesgerichtshof ausdrücklich hervorgehoben hat, „oft zweckmäßig und im Interesse des Angeklagten sogar geboten sein, sofern es nicht dazu führt, daß der Angeklagte mit dem Vorbringen, das seiner Entlastung für den einzelnen Fall dienen soll, zur Seite gedrängt wird" 24 . Das alles gilt sinngemäß auch für die Aufteilung der Vernehmung des Angeklagten in einen Teil zur Frage eines Schuldspruchs und einen Teil zur Rechtsfolgenentscheidung, zwischen denen die Beweisaufnahme zur Frage des Schuldspruchs liegt. 4. Einführung von „Vorstrafen" in die

Hauptverhandlung

Besondere Bedeutung f ü r das „Gesicht" und zugleich für eine sachgemäße moderne Ausgestaltung der Hauptverhandlung kommt der Frage zu, unter welchen Voraussetzungen, zu welchem Zeitpunkt und durch wen etwaige Vorstrafen des Angeklagten in die Hauptverhandlung einzuführen sind. Der hier verwendete Begriff der „Vorstrafen" umfaßt, wie zunächst bemerkt werden darf, nicht nur die früheren Verurteilungen zu Strafe, sondern auch Verurteilungen mit anderem Inhalt (z. B. die Anordnung einer Maßregel der Sicherung und Besserung) sowie die Entscheidungen, die im Bundeszentralregister und im Erziehungsregister (§§ 3, 56 BZRG 25 ) oder in der Verkehrszentralkartei (§§ 28 bis 30 StVG, § 13 StVZO) eingetragen werden. Die Regelung des § 243 Abs. 4 S. 3 und 4 StPO betrifft nicht nur die Feststellung des Entscheidungssatzes der früheren Verurteilung, sondern auch den ihr 2S

BGHSt 10, 342. BGHSt 19, 93, 96. 25 Gesetz über das Zentralregister und das Erziehungsregister registergesetz — BZRG) v o m 18. März 1971, BGBl. I S. 243. 24

(Bundeszentral-

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zugrundeliegenden Sachverhalt. Denn die Feststellung der früheren Verurteilung ohne Kennzeichnung der ihr zugrundeliegenden Tat ist häufig für den verfolgten Beweiszweck nicht trennbar. Wesentlich ist schon der systematische Einbau der Regelung über die Feststellung von „Vorstrafen" in § 243 Abs. 4 StPO, der sich mit der Vernehmung des Angeklagten „zur Sache" befaßt. Denn damit ist zunächst einmal klargestellt, daß die Erörterung der „Vorstrafen" mit dem Angeklagten nicht in dessen Vernehmung über seine „persönlichen Verhältnisse" ihren Platz hat, sondern frühestens und allerdings auch in der Regel in der Vernehmung „zur Sache". Die Art der Feststellung regelt § 243 Abs. 4 StPO nicht. Der Vorsitzende des Gerichts führt die Vorstrafen in der Regel in der Weise in die Verhandlung ein, daß er die schriftliche Auskunft aus dem Register (§§ 39, 57 BZRG, § 30 StVG) dem Angeklagten vorhält und von ihm als richtig anerkennen läßt2®. Statt dessen kann er den Urkundenbeweis wählen, indem er die Registerauskunft als „Strafliste" nach § 249 S. 2 StPO verliest. Diesen Weg muß er beschreiten, wenn der Angeklagte die ihm vorgehaltenen registrierten früheren Verurteilungen nicht anerkennt. Zwar ist die formelle Beweisaufnahme durch § 244 Abs. 1 StPO erst „nach der Vernehmung des Angeklagten" in den Ablauf der Hauptverhandlung eingeordnet. Die Verlesung der Registerauskunft darf aber, wie § 243 Abs. 4 S. 3 und 4 StPO zeigt, in die Vernehmung des Angeklagten zur Sache einbezogen werden 27 . Wenden wir uns nun kurz dem Inhalt und der Bedeutung der Sätze 3 und 4 des § 243 Abs. 4 StPO zu. a) Die „Vorstrafen" des Angeklagten sollen „nur insoweit festgestellt werden, als sie für die Entscheidung von Bedeutung sind". Diese Regelung ist nicht nur ein Übertrag der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) in die Spezialregelung der Feststellung der Vorstrafen während der Vernehmung des Angeklagten. Sie hat vielmehr vorwiegend eine Beschränkungsfunktion, wie audi ihr Wortlaut zeigt. Der Gesetzgeber wollte mit ihrer Schaffung der damaligen Praxis der fast „automatischen" Feststellung jeglicher „Vorstrafen" entgegenwirken. Eine „Vorstrafe" (in dem oben erläuterten weiten Sinn) soll also nur in die Hauptverhandlung eingeführt werden, wenn und soweit sie entscheidungsrelevant ist. H a t sie nur für die Rechtsfolgenentscheidung Bedeutung, namentlich als Strafzumessungsgesichtspunkt, so genügt in der Regel die Einführung des früheren Entsdieidungssatzes. M

Kleinknecht a. a. O., Anm. 5 zu § 249. Gollwitzer in Löwe-Rosenberg, Kommentar zur StPO und zum GVG, 22. Auflage, Anm. 9 zu § 243 StPO. 17

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Die Frage der Bedeutung einer früheren Verurteilung wird heute jedoch stark durch das neue Bundeszentralregistergesetz beeinflußt. Eine strafrechtliche Verurteilung verliert nämlich ihre Bedeutung für die neue Sache in jeder Beziehung, wenn sie (samt der ihr zugrundeliegenden Tat) „dem Betroffenen im Rechtsverkehr nicht mehr vorgehalten und nicht zu seinem Nachteil verwertet werden darf" (§§ 49 Abs. 1, 50, 60, 61 BZRG). Dieses Verwertungsverbot für getilgte und tilgungsreife Registereintragungen über strafrechtliche Verurteilungen soll der Resozialisierung des Betroffenen dienen. Es schließt audi die Verwertung der Verurteilung als Straferschwerungsgrund aus28. Das Verwertungsverbot bedeutet verfahrensrechtlich zugleich, daß die früheren Verurteilungen und die ihnen zugrundeliegenden Sachverhalte zum Zweck nachteiliger Verwertung sdion gar nicht mehr in das Verfahren eingeführt werden dürfen 29 . Geschieht das versehentlich doch, etwa weil die Tilgungsreife des Registereintrags nicht erkannt worden ist, so bleibt die nachteilige Verwertung dennoch unzulässig. Die Prüfung, ob sich aus der früheren Tat ein dem Angeklagten günstiges Indiz ergibt (z. B. aus der grundlegenden Verschiedenheit der Ausführung der früheren und der neuen Tat), wird durch die Tilgung im Register oder die Tilgungsreife nicht eingeschränkt. Bei der Beurteilung eines etwaigen Indizes darf alles Für und Wider gegeneinander abgewogen werden, aber ein sich dabei ergebendes belastendes Indiz muß auf Grund des einseitigen Verwertungsverbotes unberücksichtigt bleiben. b) Wann die verwertbaren „Vorstrafen" festgestellt werden, bestimmt nach dem Gesetz grundsätzlich der Vorsitzende als Leiter der Verhandlung. Damit sollte sichergestellt werden, daß die „Vorstrafen" nicht vorzeitig in der öffentlichen Hauptverhandlung plakatiert werden, d. h. nicht früher als sich ihre Bedeutung für die Untersuchung und Entscheidung zeigt30. Der Gesetzgeber konnte bei Schaffung dieser Bestimmung und kann wohl auch künftig nicht generell vorschreiben, Vorstrafen dürften stets — wenn überhaupt — erst nach !8

Daß zur Zeit die Fristen für die Tilgung strafgeriditlidier Verurteilungen im Verkehrszentralregister den Fristen des BZRG nodi nicht angeglichen sind, hindert die Entstehung des auf allen Gebieten geltenden Verwertungsverbots nicht. ϊβ Kleinknecht a. a. O., Einleitung 1 J g. 80 Deshalb werden die „Vorstrafen" auch dann nicht in den (zu Beginn der Hauptverhandlung zu verlesenden) Anklagesatz aufgenommen, wenn sie gesetzliche Voraussetzungen für eine bestimmte Strafschärfung oder Maßregel der Sicherung und Besserung sind (Kleinknedit a. a. O., Anm. 2 B, 4 A zu § 200 StPO). Der Staatsanwalt kann die Feststellung der relevanten „Vorstrafen" zu dem Zeitpunkt beim Vorsitzenden anregen, in dem sie nach seiner Auffassung geboten erscheint. Er kann darüber auch eine Entscheidung des Gerichts herbeiführen (§ 238 Abs. 2 StPO; vgl. audi RiStBV 131, abgedruckt bei Kleinknedit a.a. O. Anhang F 1).

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dem Abschluß der Beweisaufnahme zur Schuldfrage in die Hauptverhandlung eingeführt werden. Denn es gibt immer wieder — trotz der Beseitigung der Rückfallsverbrechen — einzelne Fälle, in denen frühere Verurteilungen nicht nur für die Sanktionsauswahl oder -bemessung, sondern auch für die Frage des Schuldspruchs Bedeutung haben und daher bereits bei der Beweiserhebung zu dieser erörtert werden müssen. Eine solche Bedeutung kann einer früheren Verurteilung vor allem dann zukommen, wenn die damalige Tat auf den Vorsatz bei der neuen Tat schließen läßt, oder wenn sich bei Vergleichbarkeit der früheren und der neuen Tat aus der Art, wie die frühere ausgeführt worden ist (modus operandi) ein Indiz für (oder gegen) die Begehung der neuen Tat durdi den Angeklagten ergeben kann 31 . Darüber hinaus gibt es zwischen diesen Taten aber nodi andere kriminologische Zusammenhänge, die bereits bei der Klärung der Frage des Sdiuldspruchs zu erörtern sind. Dodi darf ein solcher Zusammenhang nicht sdion dann angenommen werden, wenn mit der bloßen Tatsadie des Vorbestraftseins bewiesen werden soll, daß dem Angeklagten die neue Tat „zuzutrauen" ist. Es ist zwar denkbar, daß seinem Vorbringen, die Tat passe doch gar nicht zu seiner Persönlichkeit, mit dem Hinweis auf eine frühere zum Vorhalt verwertbare Verurteilung begegnet werden kann, sofern dem Einwand überhaupt eine Bedeutung zukommt. In der früheren Verurteilung allein aber schon ein Indiz für die Begehung der neuen Tat durch den Angeklagten zu sehen, hieße die menschliche Natur verkennen. Denn die Kriminalgeschidite zeigt, daß vielen Menschen zu Unrecht Verbrechen zugetraut und anderen zu Unrecht nicht zugetraut worden sind. Da zwischen der früheren Tat des Angeklagten und der ihm im neuen Verfahren vorgeworfenen selten ein Indizzusammenhang besteht, gilt als Regel, daß die Existenz verwertbarer Vorstrafen oder deren Fehlen als Gesichtspunkte aus dem „Vorleben des Täters" den Umständen der Sanktionszumessung zugeordnet sind 32 . Frühere Verurteilungen sind daher in der Regel erst nach der Beweisaufnahme zum Sdiuldsprudi in die Hauptverhandlung einzuführen. Diese Regel, die Ausnahmen zuläßt, zum Ausdruck zu bringen, war anerkanntermaßen der Zweck des 1964 eingefügten Satzes 4 in § 243 Abs. 4 StPO 33 . M Das sind Fälle, in denen sogar in der englisdien und der amerikanisdien Hauptverhandlung die früheren Verurteilungen vor dem Sdiuldsprudi der Geschworenen erörtert werden dürfen (Heinitz, Festschrift für von Lübtow, S. 843). J2 Vgl. § 13 Abs. 2 StGB in der geltenden Fassung und § 46 Abs. 2 StGB in der Fassung des 2. StrRG. " Vgl. auch die Kommentare zur StPO Eb. Schmidt, Nachträge, Erl. 33, Gollwitzer in Löwe-Rosenberg Anm. 9 d, Sax in Müller-Sax Anm. 4 b, jeweils zu § 243 StPO.

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5. Reihenfolge in der Beweisaufnahme Wie bei der Vernehmung des Angeklagten zur Sadie zunächst nur der Prozeßstoff erörtert wird, der für die Frage des Schuldspruchs relevant ist, so werden auch in der anschließenden Beweisaufnahme zunächst nur diese Umstände behandelt. Der Gegenstand der Vernehmung „zur Sache" und der Gegenstand der ihr folgenden Beweisaufnahme müssen sich — ebenso wie bei dem oben besprochenen Modell der Hauptverhandlung in „Punktesachen" — grundsätzlich decken. Die Vernehmung des Angeklagten zu den nur für die Rechtsfolgenentscheidung bedeutsamen Umständen folgt nach der Klärung der Frage des Schuldspruchs und ist der Beweisaufnahme zur Rechtsfolgenentscheidung vorgelagert. Denn auch für diese Phase müssen sich der Gegenstand der Vernehmung zur Sache und der Gegenstand der Beweisaufnahme möglichst decken. Eine solche Aufteilung ist allerdings in der Praxis nicht immer durchführbar. Denn wenn ein Beweismittel in der ersten Phase verwendet wird, weil es hier Bedeutung hat, kann seine „Aussage" zu einer an sich nachgeordneten Beweisfrage in der Regel nicht ausgeklammert und zunächst zurückgestellt werden, weil damit eine Einheit zerrissen würde. Wir brauchen bloß an den Tatzeugen zu denken, der zur Frage der Täterschaft des Angeklagten gehört wird, aber auch etwas über typische Strafzumessungsumstände weiß, wie sie in § 13 Abs. 2 S t P Ö aufgezählt sind. Bei einer solchen Vorwegnahme eines Teils der Beweisaufnahme, der an sich zu deren zweiter Phase gehört, ist, wie sich von selbst versteht, darauf zu achten, daß sich der Angeklagte dazu genügend äußern kann®4.

VI. Ergänzung des aufgezeigten „modernen" Verhandlungssystems durch ein informelles Schuldinterlokut Wie wir gesehen haben, wird schon durch die richtige Aufteilung des Prozeßstoffes und eine sachgerechte Reihenfolge bei seiner Erörterung ein erheblicher Teil der Anliegen erfüllt, die der Reformforderung nach einem förmlichen Schuldinterlokut zugrundeliegen. Wir können aber darüber hinaus mit unserer Strafprozeßordnung auch noch den übrigen Anliegen weitgehend entsprechen. M Ein Mittel dazu ist der entsprechende Vorhalt bei der Fortsetzung der Vernehmung des Angeklagten vor Eintritt in die zweite Phase der Hauptverhandlung (zur Reditsfolgenfrage). Im übrigen wird die genügende Verteidigungsmöglidikeit gewährleistet durch die §§ 257—258 StPO.

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Wird die Hauptverhandlung nach den aufgezeigten ReihenfolgeRichtlinien durchgeführt, so kommt es — mindestens für die fachkundigen Verfahrensbeteiligten und sonstige Kenner des Strafprozesses — in den meisten Fällen, in denen weder auf Freispruch nodi auf Einstellung des Verfahrens erkannt wird, zu einem informellen Schuldinterlokut durch schlüssige Handlung an der Schwelle vom ersten zum zweiten Teil der Behandlung des Prozeßstoffes. Wenn der Vorsitzende zum zweiten Verhandlungsteil übergeht, ist das ein Zeichen dafür, daß mit einem Schuldspruch zu redinen ist, falls sich nicht nodi unerwartet entgegenstehende Umstände ergeben. Das gilt besonders bei eindeutigem Ergebnis der Beweisaufnahme, in den übrigen Fällen bei Mitwirkung mehrerer Richter zumindest dann, wenn eine Zwischenberatung am Ende der ersten Phase stattgefunden hat. Dabei ist in vielen Fällen, namentlich in solchen, in denen es nur um ein Entweder-Oder geht (z. B. Verurteilung wegen Urkundenfälschung oder Freispruch), dem fachkundigen Beteiligten audi der Inhalt des zu erwartenden Schuldspruchs klar. Dieses nur durch schlüssige Handlung zum Ausdruck kommende Schuldinterlokut ist aber nicht eine stillschweigende gerichtliche Entscheidung im engeren Sinn35. Das Gericht macht in diesem Fall zwar (durch seinen Vorsitzenden) erkennbar, zu welcher Überzeugung es hinsichtlich des Sdiuldspruchs gekommen ist. Aber das soll noch keine endgültige Äußerung mit Bindungswirkung sein, weil die eigentliche Entscheidung in diesem Stadium des Verfahrens noch nicht zu treffen ist. Aus diesem Grunde darf die Äußerung nach dem geltenden Recht auch nicht in eine für eine gerichtliche Entscheidung vorgesehene Form gebracht werden. Das sind keine Widersprüdie. Denn die Zwischenäußerung dient lediglich dazu, der weiteren Hauptverhandlung eine deutlichere Richtung zu geben — mehr Transparenz, wenn man diesen modernen Ausdruck hier gebraudien will. Das informelle Schuldinterlokut durch schlüssige Handlung hat unverkennbar in vielen Fällen etwas Unbefriedigendes an sich. Es fehlt nämlidi die vorherige legitime Einflußnahme der Prozeßbeteiligten auf die Bildung der Uberzeugung des Gerichts, mag diese zunächst auch unter dem Vorbehalt einer Revidierung nach den Plädoyers und den Schlußanträgen der Prozeßbeteiligten stehen. Denn diese sind in einer schlechteren Position, wenn sie am Ende versuchen müssen, eine in einer Zwisdienberatung gewonnene — wenn auch vorläufige — Überzeugung des Gerichts wieder zu verdrängen, als wenn sie vor dieser Zwischenberatung ihren Einfluß geltend machen können. Daher sollte ihnen diese Einflußmöglichkeit — zumindest in schwierigeren " Kleinknecht a. a. O., Einleitung 5 A.

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Fällen — schon vor der Zwisdienberatung gegeben werden: Der Vorsitzende sollte nach Abschluß der Beweisaufnahme zur Frage des Schuldspruchs den Beteiligten das Wort nach § 258 StPO erteilen und dann nach Zwischenberatung den zu erwartenden Schuldspruch bekanntgeben. Diese Art des Schuldinterlokuts ist zwar ebenfalls keine gerichtliche Entscheidung im engeren Sinn, weil der Schuldspruch Teil des die Hauptverhandlung abschließenden Urteils ist. Aber es hat gegenüber dem bei richtiger Yerhandlungseinteilung in der Regel automatisch eintretenden informellen Schuldinterlokut durch schlüssige Handlung die Vorteile größerer Fairneß, besserer Prozeßökonomie und erhöhter Gewähr für richtige Entscheidung. Der manchmal erhobene Einwand, ein ausdrückliches informelles Schuldinterlokut könne eine Befangenheit der Richter begründen, ist nicht haltbar 36 . Denn es wird erst kundgetan, nachdem der Teil der Hauptverhandlung, in dem die Frage des Schuldspruchs geklärt wird, abgeschlossen ist und die Beteiligten ihre Einflußnahme zu nehmen Gelegenheit erhalten haben. Zudem dient das Schuldinterlokut in besonderem Maß dem Interesse des Angeklagten und der Gerechtigkeit.

VII. Zusammenfassung In förmlicher Hinsicht läßt sich das vorgeschlagene Verfahren folgendermaßen beschreiben: Unerläßlich ist der Ausschluß aller sachbezogenen Fragen aus der Vernehmung des Angeklagten über seine „persönlichen Verhältnisse" und deren Erörterung bei der Vernehmung des Angeklagten „zur Sache". Von dieser an sollte der gesamte VerhandlungsstofF, soweit praktikabel, aufgeteilt werden in eine Phase zur Frage des Schuldspruchs und eine weitere zur Frage der Rechtsfolgen. Die Vernehmung des Angeklagten „zur Sache" soll sich also zunächst auf die Frage des Schuldspruchs beschränken. Dem soll die Beweisaufnahme hierzu folgen. Wenn diese abgeschlossen ist, empfiehlt es sich in schwierigeren Fällen, in denen der zu erwartende Schuldspruch für die Beteiligten nicht eindeutig voraussehbar ist, diesen das Wort nach § 258 StPO zur Frage des Schuldspruchs zu erteilen. Geschieht dies, so gibt der Vorsitzende nach einer Zwischenberatung des Gerichts, falls nicht alsbald eine abschließende Entscheidung ergeht, formlos in der Hauptverhandlung bekannt, von welchem zu erwartenden Schuldspruch die Prozeßbeteiligten in der zweiten Phase der Hauptverhandlung ausgehen sollten (z. B. von einem Schuldspruch, der dem Anklagesatz entspricht). Sodann wird die Hauptverhandlung mit der Vernehmung des Angeklagten zur Frage »· Kleinknecht a. a. O., Anm. 2 A zu § 24 StPO.

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der Rechtsfolgen fortgesetzt. Ihr folgt die Beweisaufnahme hierzu. Nach ihrem Abschluß erhalten die Beteiligten das Wort zur Frage der Rechtsfolgen nach § 258 StPO. Neue Beweisanträge zur Frage des Schuldspruchs und Einwendungen gegen den Inhalt des informellen Schuldinterlokuts sind auch in der zweiten Phase rechtlich nicht ausgeschlossen, was hingenommen werden muß und kann. Es liegt vor allem bei den Vorsitzenden, denen die Verhandlungsleitung übertragen ist (§ 238 StPO), die aufgezeigten Grundsätze über die Reihenfolge der Stoffbehandlung in der Hauptverhandlung im Rahmen der Praktikabilität anzuwenden und auch das ausdrückliche informelle Schuldinterlokut — zunächst vorsichtig beginnend und nach jeweiliger prozeßtedinischer Absprache mit dem Staatsanwalt und Verteidiger — zu erproben und dann mehr und mehr auszubauen. So hat die Gerichtspraxis die Chance, den nicht ganz unberechtigten Vorwurf, der in der These vom „fortschrittlichen Strafrecht im rückständigen Strafverfahren" zum Ausdruck kommt, aus eigener Initiative zu entkräften 37 .

37 Dazu könnten die Vorsitzenden nodi mit einer Änderung in der Vernehmungsmethode beitragen, die hier nicht behandelt werden kann: Sie sollten die Befragung der Angeklagten und Zeugen dort, wo das harte „Inquirieren" beginnt, dem Staatsanwalt, der die Sache kennt, und dem Verteidiger überlassen, um eigene ergänzende und glättende Fragen danach zu stellen (Kleinknecht a. a. O., Anm. 1 zu § 239 StPO). Das entlastet den Vorsitzenden, gibt ihm mehr Raum zur inneren Verarbeitung der Beweiseindrücke, vermeidet eine mögliche Minderung des Vertrauens zu ihm und die ungute Situation, daß seine eigenen Fragen von anderer Seite beanstandet und über ihre Zulässigkeit durch Gerichtsbeschluß nach § 242 StPO entschieden werden muß.

Das Kontumazialverfahren ist abgeschafft H A N N S DÜNNEBIER

I. Das Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch 1 sieht vor, § 276 Abs. 2 und die §§ 277 und 279 bis 284 StPO aufzuheben, also die Abwesenheitshauptverhandlung, d. h. das eigentliche Abwesenheitsverfahren, abzuschaffen. § 285 Abs. 1 Satz 1 StPO soll lauten: „Gegen einen Abwesenden findet keine Hauptverhandlung statt." Erhalten bleiben das Beweissicherungsverfahren (§285 Abs. 1 Satz 2 bis § 289 StPO) sowie, zu dem Zweck, den Abwesenden zu veranlassen, sich dem Gericht zu stellen, die Vermögensbeschlagnahme (§§ 290 bis 294 StPO) und das sichere Geleit (§ 295 StPO) 2 . Das Abwesenheitsverfahren 3 ist ein kleiner, immer unbedeutender gewordener Teil unseres Strafprozesses; aber auch in ihm spiegelt sich die Ideengeschichte. Deshalb soll der Abschied vom Abwesenheitsverfahren zum Anlaß genommen werden, die Ideen sichtbar zu machen, die seiner verschiedenen Ausgestaltung zugrunde gelegen haben. Der Titel des Beitrags bedarf der Begründung. Die §§276 bis 284 StPÖ regeln ein Erkenntnisverfahren, bei dem in Abwesenheit des Angeklagten entschieden wird. Der Täter wird also wegen seiner Tat bestraft, nicht wegen seines Ungehorsams gegen die gerichtliche Ladung. Auch wird sich zeigen, daß das Abwesenheitsverfahren nicht ganz abgeschafft ist, sondern mit der Vermögensbeschlagnahme zur Gestellung zu einem Teile fortbesteht. Trotzdem ist der Titel aus drei Gründen gewählt: Einmal ist das Abwesenheitsverfahren geschichtlich aus dem Ungehorsamsverfahren hervorgegangen 4 . Dann ist es 1

Art. 19 N r . 70, 71, 72; BTDrucks., VI 3250, S. 42. Das sidiere Geleit wird hier nidit behandelt, weil es, frei von Zwang, ein „vertragsähnlidier Zustand" (LR Dünnebier, Anm. 1 zu § 295) ist, der zur Anwesenheit führt. Daher hat es, wenn es angewendet wird, weder mit Ungehorsam nodi mit Abwesenheit etwas zu tun. Das Beweissidierungsverfahren ist für die Fragen der Untersuchung ohne Interesse. ä Unter Abwesenheitsverfahren wird hier nur das Verfahren gegen den Beschuldigten behandelt, der nicht geladen werden kann, entweder weil sein Aufenthalt unbekannt ist, oder weil er sidi im Auslande aufhält (und freiwillig einer Ladung nicht folgen wird) und seine Gestellung vor das zuständige Gericht nicht ausführbar oder nicht angemessen erscheint („Abwesender*; § 2 7 6 Abs. 1 StPO). Die Verfahren gegen den „Ausgebliebenen", dem eine Ladung noch persönlich zugestellt werden konnte (Compes, S. 10; Rempe, S. 461 ; § 231 Abs. 2, §§ 232, 233 bis 235 StPO), bleiben unerörtert. < Zaáariae, § 133 IV, S. 379. 2

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eine Täuschung anzunehmen, unser Abwesenheitsverfahren sei ein wirkliches Erkenntnisverfahren. Denn die wesentlichste Garantie, daß das Erkenntnis des Gerichts justizförmig erlangt ist, das rechtliche Gehör, fehlt ihm: Der Ungehorsam vor Gericht zu erscheinen, wird geahndet mit der Verkürzung des prozessualen Hauptrechts, das aus dem Prozeßobjekt erst ein Prozeßsubjekt, aus dem Angeklagten einen defendant, gemacht hat. Der Hauptgrund aber ist der dritte: Es soll eine Parallele gezogen werden zu den Vorgängen der Jahre 1874 bis 1876, wo um die Abschaffung des Abwesenheitsverfahrens — und zwar des ganzen, einschließlich der Vermögensbeschlagnahme —, das man damals ehrlich das Kontumazialverfahren nannte, gekämpft wurde. An vielen Stellen der Verhandlungen ist davon die Rede, daß das Kontumazialverfahren auszuschließen, zu beseitigen, abzuschaffen sei; und für einen Augenblick der Rechtsgeschichte galt tatsächlich das Wort: Das Kontumazialverfahren ist abgeschafft.

II. Die Kommission des Reichstags war von Stolz erfüllt, das Abwesenheitsverfahren abgeschafft zu haben. Schon die Regierungsvorlage sah gegen einen Abwesenden keine „Hauptverhandlung und Urteilsfällung" vor (§ 273), wohl aber ein Beweissicherungsverfahren sowie, wenn gegen einen Abwesenden Verdachtsgründe vorlagen, „welche die Erlassung eines Haftbefehls rechtfertigen würden", die Vermögensbeschlagnahme, jedoch nicht in Schöffensachen (§ 279)5. § 273 wurde ohne Debatte angenommen, nachdem ein — ins System nicht passender — Antrag zurückgezogen worden war (949). Die Beweissicherung konnte keinen Anstand bieten. Daher ging es in der Kommission allein um die Vermögensbeschlagnahme. Diese umfaßt das inländische — gegenwärtige und künftige — Vermögen; ihre Bekanntmachung im Reichs- (jetzt Bundes-)anzeiger nimmt dem Angeschuldigten das Recht, über sein Vermögen unter Lebenden zu verfügen (§ 279 Abs. 1, § 281 Abs. 1, jetzt § 290, § 292 Abs. 1 StPO). Gegen dieses Relikt der aquae et ignis interdictio wurden folgende Argumente vorgebracht: Die Vermögensbeschlagnahme sei keine Untersuchungshandlung, sondern komme tatsächlich einer Strafe, der Vermögenseinziehung, gleich. Sie stehen oft in keinem Verhältnis zu 8

Hahn, Materialien zur StPO, S. 2268, 2274, erste Spalte (im weiteren verweisen in Klammern gesetzte Zahlen auf diese Materialien). — Schöffensachen war zur Zeit der Lesung Übertretungen und Vergehen, die mit Gefängnis von höchstens drei Monaten oder Geldstrafe von höchstens 600 Mark, allein oder neben H a f t , oder in Verbindung miteinander oder in Verbindung mit Einziehung bedroht waren (Hahn, Mat. zum GVG, S. 1663, erste Spalte).

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der zu verhängenden Strafe. Audi bei gleicher Strafbarkeit treffe sie den Reichen anders als den Armen (ein Argument, das vorzubringen man sich heute scheuen würde). So singulärer Natur, zugleich aber so tief einschneidend in ihrer Anwendung, könne man sie nicht gutheißen (949, 950). Nachdem nur ein Redner gegen die Streichung gesprochen hatte (950), wurde § 279 gestrichen. Das Kontumazialverfahren war abgeschafft samt dem Gestellungsmittel der Vermögensbeschlagnahme, von der später gesagt wurde, sie führe teilweise die „Strafe des bürgerlichen Todes" wieder ein (1447). Der Liberalismus hatte einen vollen Sieg errungen. Lange konnte er sich dessen nicht erfreuen. Zwar wollten auch in der zweiten Lesung, wo das Abwesenheitsverfahren wieder Eingang in den Entwurf fand, es noch zwei Abgeordnete einschließlich der Vermögensbeschlagnahme abschaffen, zwei wollten es nur sehr eingeschränkt zulassen (1445 bis 1448). Aber die Mehrheit meinte wohl, man sei zu weit gegangen, als man die — in Schöffensachen ohnehin ausgeschlossene — Vermögensbeschlagnahme ganz strich. Damit sei, meinte ein Abgeordneter (1444), jedes Mittel der Verfolgung abgeschnitten und der Staat für machtlos erklärt. An Aushilfsmitteln boten ausländische Regelungen und der gemeine Prozeß eine bunte Vielfalt, ja Willkürlichkeit, „im gemeinen Recht den buntesten Fleck"6. Geht man diese Willkürlichkeit etwas willkürlich an, kann man drei Hauptrichtungen unterscheiden: Der Hauptantrieb, einen Abwesenden zu verurteilen war, daß „das Verbrechen großes Aufsehen erweckt habe oder die gänzliche Straflosigkeit weitere nachteilige Folgen besorgen ließe" 7 . Damit kamen gerade die schwersten Sachen, selbst todeswürdige Verbrechen, zur Aburteilung 8 , weil „mindestens eine ideale Repression erforderlich" erschien und der Richter sidi für verpflichtet hielt, dem Volk „eine Probe zu geben von der Allmacht der hochobrigkeitlichen Justiz" 9 . Der Gedanke kehrt 1935 wieder. Ein eher annehmbares Motiv war, für vollstreckungsfähige Strafen (Geld- und Ehrenstrafen) eine Vollstreckungsunterlage zu schaffen, so daß das Verfahren nur in minderschweren Fällen stattfand, während es in Schwurgerichtssachen ruhte 10 . Ein einziges Gesetz schloß nach dem alten Grundsatz „ne quis absens damnetur" 11 jedes Abwesen• Büchner, S. 54; Compes, S. 7 ff. § 214 Josephina (1788); Forrer, S. 26; Meyer, S. 199. 8 Art. 465 ff. Code d'instruction criminelle (1808); Forrer, S. 29. » Meyer, S. 198; Forrer, S. 11. 10 Frankfurt 1856, Meyer, S. 248; Hamburg 1862, Meyer, S. 251. 11 der freilich durch die Unterscheidung zwischen dem absens und dem contumax niemals volle Geltung hatte; Forrer, S. 17; eingehend Meyer, S. 35 ff. 7

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heitsverfahren aus 12 . Man kann die Vielfalt vermehren, wenn man weiter unterscheidet, ob der Verurteilte das Abwesenheitsurteil — mit ordentlichen oder außerordentlichen Rechtsmitteln — anfediten mußte, um es zu beseitigen, oder ob, wenn er erschien, neu zu verhandeln war, sei es von Amts wegen, sei es auf Antrag 13 , doch hat die — verfassungsrechtlich bedeutsame14 — Frage ihre Bedeutung verloren. Die Kommission entschloß sidi zu einem — angesichts § 279 Abs. 2 der Regierungsvorlage schwer verständlichen und in der Motivierung nicht völlig eindeutig aufzuklärenden — Kompromiß: Sie nahm die Vermögensbeschlagnahme mit dem Regierungsentwurf wieder auf und führte zugleich gegen diesen Entwurf das, freilich sehr beschränkte, Abwesenheitsverfahren ein15. Die Bedeutung des Kompromisses könnte aus § 273 a Abs. 1, § 279 Abs. 2 und aus der Erklärung eines Abgeordneten (1448) erhellen: Der Vermögensbeschlagnahme, die er ebenso wie ein anderer Abgeordneter (1445), den bürgerlichen Tod nannte, die Familienmitglieder und kontrahierende Dritte schädige und eine inhumane Maßregel sei, ziehe er das Kontumazialverfahren vor. § 279 Abs. 2 Schloß die Vermögensbeschlagnahme in Schöffensachen aus16 und § 273 a ließ das Abwesenheitshauptverfahren nur in noch geringeren als Schöffensachen zu. Daraus scheint die Folgerung zulässig: Der dissentierende Teil der Kommission konnte dem Gestellungsmittel der (unbeschränkten) Vermögensbeschlagnahme nicht überzeugend entgegentreten (1444 bis 1449), schloß es aber für Bagatellen aus. Damit folgte er der Forderung (1445), wenn allein Geldstrafe zu erwarten sei, (beschränkte) Vermögensobjekte nur im Werte der höchsten Geldstrafe und der Kosten mit Beschlag zu belegen und zum Zwecke dieser Beschränkung das Abwesenheitsverfahren zuzulassen. Das — nunmehr wieder vorgeschlagene — Abwesenheitsverfahren sollte die Härte der — jetzt wieder eingeräumten — unbeschränkten Vermögensbeschlagnahme mindern 17 . Angesichts des § 279 Abs. 2 der Regierungsvorlage wäre es indessen kaum notwendig gewesen, hinter die Regierungsvorlage zurückzuweichen. Vielleicht wollte man auch etwas Geld in die Kasse bringen. Das legt der Bericht der Kommission (1573) nahe, wo es heißt, das Verfahren entspreche einem praktischen Zweck. 12

Württemberg 1869, Meyer, S. 269; Compes, S. 8; Gertsch, S. 66. Meyer kommt auf diese Weise zu fünf Kategorien (S. 265 ff.). 14 LR Dünnebier, Anm. 5 Abs. 2 zu § 282 c. 15 Kommissionsbericht (1572). " Hahn, S. 2274, erste und dritte Spalte. " Compes, S. 12. ,s

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In dieser Form wurde der Entwurf Gesetz, wobei sich die Paragraphenbezeichnung durch die Sdiwurgeriditsvorschriften verschob18.

III. Die Entwürfe 19 brachten keine neue Gedanken, nur einmal tauchte die — sicher kaum praktische — Sicherheitsleistung auf 20 . Der Entwurf 1939 lehnte sich an das alsbald zu behandelnde 1935er Recht eng an. Die Entstehungsgeschichte nahm im weiteren folgenden Verlauf: Die Reichsabgabenordnung 21 übernahm für das Abwesenheitsverfahren in Steuersachen lediglich die §§ 320 bis 326 (§ 428 Abs. 3, § 438 RAO) — jetzt §§ 279 bis 281, 282 a, b, 283, 284 StPO —, Schloß also jede Beschränkung im Hinblick auf die Strafhöhe (jetzt § 277 Abs. 2 StPO) und den Verteidiger aus (§§ 437, 438). Dabei blieb es auch bei der Neufassung 22 , die indessen auf die neue Paragraphenbezeichnung (§§ 278 bis 284 StPO) Bezug nehmen konnte. Inzwischen war nämlich durch § 43 der EmmingerVO 23 , die in § 25 Abs. 3 die Vermögensbeschlagnahme zur Gestellung auch in Sadien für zulässig erklärte, die zur Zuständigkeit des Amtsrichters oder des Schöffengerichts gehörten, der Reichsminister der Justiz ermächtigt worden, den Text der Strafprozeßordnung neu bekanntzugeben. Das geschah in der Bekanntmachung der Texte des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozeßordnung 24 . Zufolge der Umwandlung des echten Schwurgerichts in Strafkammern, bei denen „die Riditer und die (sechs) Geschworenen . . . über die Schuld- und Straffrage gemeinschaftlich" entscheiden (§12 EmmVO), erhielt die neue Fassung die heute geltende Paragraphenfolge und etwa den Inhalt, den der Abschnitt jetzt hat; nur die Freiheitsstrafe in § 277 Abs. 2 StPO, das staatsanwaltschaftliche Ermessen in § 277 Abs. 3 StPO sowie § 282 StPO (vorläufige Einstellung) und § 282 c StPO (erleichterte Wiederaufnahme) fehlten; zum letzten Punkt wurde, wie schon früher, §235 StPO entsprechend angewendet 25 . Die Zulässigkeit der (unbe19 Hahn, S. 2269, vierte Spalte. " E 1908 (Mat. zur StRRef., 11. Bd.); E 1919 (Mat. zur StRRef., 14. Bd.). " E 1910 (Mat. zur StRRef., 13. Bd. — Bericht der 7. Kommission des Reichstags, 12. LegPer., II Session). 21 vom 13. 12. 1919 (RGBl. 1993). !! vom 22. 5.1931 (RGBl. I 161); § 473. 23 Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4.1.1924 (RGBl. I 15). M vom 22. 3.1924 (RGBl. I 229, 322). 15 Löwe, Anm. 3 zu § 323; Puchelt, Anm. 3 Abs. 1 zu § 324 mit weiteren Nadvw. (h.A.).

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schränkten) Vermögensbeschlagnahme audi in Schöffensadien war konsequent, weil das Schöffengericht die Strafkammerzuständigkeit erhalten hatte (§§ 6, 10 EmmVO); für Amtsrichtersachen war sie eine Abkehr vom bisherigen Recht, aber immerhin noch erklärlich, weil ein Teil der Schöffensachen auf den Amtsrichter übergegangen war ( § 8 EmmVO). Damit fiel §290 Abs. 2 StPO (früher §279 Abs. 2), und es ist erstaunlich, daß, als die Strafkammer wiedererstand 26 , oder bei einer der vielen späteren Gesetzesänderungen niemals erwogen worden ist, die vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geforderte Ausnahme für geringfügigere Sachen wieder einzufügen; sicherlich eine ungewollte Folge unserer Gelegenheitsgesetzgebung. Welche Strafen in Steuersadien in Abwesenheitsverfahren verhängt worden sind, wird sich kaum feststellen lassen, doch wird man im Hinblick auf den — auch im Unterwerfungsverfahren — oft bewiesenen fiskalischen Sinn der Finanz- und Hauptzollämter nicht fehlgehen, wenn man annimmt, daß diese nur an Geldstrafen und an der Einziehung interessiert waren. Auf diese Weise mag der Skandal gemildert worden sein, der darin lag, daß der Staat, wenn er selbst Verletzter war, ohne Schranken ein Verfahren zuließ, daß er — zu Recht — eng einschränkte, wenn diese Rolle ein Bürger spielte. Offenkundig wurde er erst, als das unbeschränkte Abwesenheitsverfahren auf Devisensachen ausgedehnt wurde 27 , wobei — zuständig waren die Sondergerichte (§ 9 Abs. 1) — die Zuchthausstrafe im Vordergrund stand (§ 8). Vielleicht ist es einem der oft berufenen Ministeralreferenten, die im Prinzip nachgaben, aber im Detail „das Schlimmste verhüteten", zu verdanken, daß dabei das Abwesenheitsrecht, wenn auch nur für kurze Zeit, um eine vorbildliche Vorschrift bereichert wurde: Nach § 9 Abs. 3 Satz 3 mußte das Gericht, wenn der Angeklagte ergriffen wurde oder sich stellte, auf seinen Antrag die Erneuerung der Hauptverhandlung mit der Maßgabe beschließen, daß das frühere Urteil hinfällig wurde.

IV. Die gänzliche Abkehr von den ursprünglichen Absichten des Gesetzgebers brachte die Novelle von 193528. Der siebente Abschnitt *· 1. Teil Kap. 1 Art. 1 § 1 der VO des Reichspräsidenten über Maßnahmen auf dem Gebiete der Rechtspflege und Verwaltung vom 14. Juni 1932 (RGBl. I 285). 17 § 9 Abs. 3 des Gesetzes gegen Verrat der Deutschen Volkswirtschaft vom 12.6.1933 (RGBl. I 360). — Auf das besonders rigorose Verfahren des Steuerfluditgesetzes vom 8.12.1931 (RGBl. I 699, 731, §§ 9 bis 11) sei nur hingewiesen. ϊβ Art. 6 des Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 28. 6.1935 (RGBl. I 844).

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wurde in zwei Teile eingeteilt mit den Zwisdieniibersdiriften: „Hauptverhandlung gegen Flüchtige" (§§ 276 bis 282 b StPO) und „Weitere Maßnahmen gegen Flüchtige" (§§ 283 bis 295 StPO), eine sicher lobenswerte, aber dodi untergeordnete systematische Verbesserung. Die Hauptverhandlung war in allen Strafsachen gegen „Flüchtige" zulässig, „wenn das Rechtsempfinden des Volkes die alsbaldige Aburteilung der Tat verlangt" (§ 276 Abs. 1). Was damit bezweckt wurde, hat Compes29 zusammengestellt: Die Straftat wurde als Angriff gegen die Gemeinschaft aulgefaßt; in ihrer Begehung lag eine „Entehrung" des Täters. Demzufolge war das Wesentliche an der der Tat folgenden Strafe nicht die Freiheitsentziehung (eine Unwahrheit, die schon durch die verwaltungsmäßige Unterbringung „Krimineller" in Konzentrationslägern widerlegt wird), sondern die Ehrentziehung, die die — durch die Tat (schon) eingetretene — Entehrung (nur noch) feststellte. Die mangelnde VollstrecKbarkeit, die früher das Abwesenheitsverfahren, wenn auf andere als Geldstrafen erkannt wurde, sinnlos erscheinen ließ, war entfallen, weil „die Vollstreckung an der Ehre" immer möglich war. Das Verfahren wurde „nicht zuletzt im Interesse der Autorität der Rechtspflege" durchgeführt. Mit alledem war man hinter die josephina zurückgeschritten. Auch mit dem Freispruch ging man vorsichtig um: §282 StPO (vorläufige Einstellung, wenn sich weder Schuld noch Nichtschuld feststellen läßt) stammt aus der 1935er Fassung. Diese brachte aber auch einige Verbesserungen: die notwendige Verteidigung wurde begründet (§281; jetzt § 140 Abs. 1 Nr. 7 StPO) und die Wiederaufnahme geregelt (§ 282 b, jetzt — wörtlich unverändert — § 282 c StPO). Die Regelung war zwar besser als die analoge Anwendung des § 235 StPO, aber deutlich schlechter als § 9 Abs. 3 des Gesetzes vom 12. 6.1933. Für Steuersätzen genügten die strengen Vorschriften immer noch nicht: § 473 RAO erhielt eine neue Fassung. Selbst § 276 Abs. 1 cessierte; auf das Rechtsempfinden des Volkes kam es in Steuersachen nicht an. Die öffentliche Bekanntmachung der Ladung konnte entfallen, die Verteidigung war nicht notwendig. Es ist beschämend, daß diese maßlose Fassung bis zum Jahre 1967 galt. Der Länderrat hat von der Abgabenordnunng keine Kenntnis genommen30. Der Wirtschaftsrat hat sie neben anderen Steuergesetzen ohne Änderung für das Vereinigte Wirtschaftsgebiet übernommen, „soweit sie Zölle und 29 ,0

mit vollständiger Literaturangabe, S. 15 ff. Sammlung der Länderratsgesetze S. 139, 493.

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Verbrauchssteuern betreffen" 81 . Durch das Finanzverwaltungsgesetz 32 wurde sie als Bundesgesetz deklariert, hat dann viele Änderungen erfahren, ist von der Rechtsprechung hingenommen 33 und nur vom Oberlandesgericht Bremen verfassungskonform verkürzt worden 34 ; aber erst das Gesetz vom 10. 8. 196735 brachte eine eben erträgliche Fassung.

V. Die Strafprozeßordnung war inzwischen nach dem Kriege durch Verordnungen der Militärregierung von den Auswüchsen des Nationalsozialismusses befreit worden 38 . In der „Allgemeinen Anweisung für Richter Nr. 2" erhielt der Abschnitt etwa die gegenwärtige Fassung. Das Verfahren war auch zulässig, wenn die Tat mit H a f t bedroht war (§ 277 Abs. 2 StPO) 37 ; § 282 StPO (vorläufige Einstellung) war übernommen, auch § 282 c StPO hatte die heutige (unbefriedigende) 38 Fassung. Die Vermögensbeschlagnahme setzte voraus, daß öffentliche Klage erhoben war und Verdachtsgründe vorliegen, „welche die Erlassung eines Haftbefehls rechtfertigen würden". Mit kleinen stilistischen Änderungen wurde der Abschnitt so in das Vereinheitlichungsgesetz39 übernommen, dem Neufassungen der behandelten Gesetze anlagen 40 , die nach Art. 9 VereinhG die künftige alleinige Geltungsgrundlage waren 41 . Dabei wurde die Verteidigung wieder als notwendig begründet (§ 140 Abs. 1 Nr. 7 StPO). Die Abgabenordnung zu ändern, wurde „vergessen" ; nicht einmal die darin angezogenen Paragraphen der Strafprozeßordnung wurden angepaßt. S1 Gesetz über Zölle und Verbrauchssteuern vom 11. März 1949 (GBl. 53); dazu Dünnebier Z f Z 1950, 113. 3 * vom 6.9.1950 (BGBl. 448), § 39. 33 u. a. BGH N J W 1953, 1641; BGHSt. 10, 398. 84 Z f Z 1958, 84. ss Gesetz zur Änderung strafrechtlicher Vorschriften der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze (§ 443 AO). »· LR Schäfer, Einl. Kap. 3, 5. 37 was Niethammer, S. 137 als „einen gesunden Fortschritt" ansah. — Sein Beitrag befaßt sich in erster Linie mit dem Verfahren gegen den „Ausgebliebenen" und ist daher in der Hauptsache für unser Thema nicht ergiebig. ®8 LR Dünnebier, Anm. 3 Abs. 3 vor § 276; Anm. 5 Abs. 2 zu § 282 c. >9 Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts vom 12.9. 1950 (BGBl. 455). 40 Strafprozeßordnung S. 631. 41 Die Strafprozeßordnung ist daher in allen Bestimmungen nachkonstitutionelles Recht (BVerfGE 8, 213 = N J W 1958, 2059; BVerfGE 31, 45 = N J W 1971, 1308).

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Niethammer stellt befriedigt fest, daß die Besatzungsregelung „aus dem neuen Recht das heranzieht, was sich als brauchbar darstellt", und auch die amtliche Begründung verkündete das doppelte Ziel, nationalsozialistisches Gedankengut zu beseitigen und das in die Strafprozeßordnung einzuarbeiten, „was als brauchbares Dauergut angesehen werden kann" 42 . Ganz richtig war diese Einschätzung nicht: Die Zulässigkeit des Verfahrens, wenn H a f t angedroht ist, ist weder systemgerecht, nodi bedenkenfrei 43 , § 282 StPO (Einstellung, wenn die Schuld nicht feststellbar ist), widerspricht Grundsätzen der Strafprozeßordnung 44 und § 282 c StPO dem Verfassungsgebot des rechtlichen Gehörs 45 ; § 290 StPO ist nur dann annehmbar, wenn man die Beschlagnahme für den Fall für unzulässig hält, daß das Abwesenheitsverfahren stattfinden kann 46 . Ist daher die These von der Übernahme des Brauchbaren fragwürdig, so sind gewisse Verbesserungen (§ 140 Abs. 1 Nr. 7 StPO) und technische Klarstellungen in manchen Vorschriften (§ 277 Abs. 4, § 282 a, teilweise § 282 c StPO) gegenüber der 1924er Fassung nicht zu verkennen. — Eine weitere spätere Änderung 47 ist für die grundsätzliche Betrachtung ohne Interesse.

VI. Sucht man nach den in den Reichstagsverhandlungen nicht ganz klar hervorgetretenen Motiven der gesetzlichen Regelung, so findet man sie in der glänzenden Zusammenfassung ZachariaesiS, der sowohl die grundsätzliche Ablehnung, als auch die Ausnahme für Bagatellen begründet. Zum Grundsatz meint er: Halte man konsequent am Grundprinzip des Strafprozesses statt (absolute Verwirklichung des Rechts zur Herstellung materieller Wahrheit; Ausschluß des Verzichts, z. B. auch auf die materielle Verteidigung) 49 , so müsse die Verurteilung des in der Hauptverhandlung nicht gegenwärtigen Angeklagten als durchaus verwerflich betrachtet werden. Die Motive (238) drücken 41

BTDrucks. I 530, Ani. I a, S. 53. LR Dünnebier, Anm. 3 vor § 276 ; Anm. 5 zu § 277. 44 ebendort, Anm. 2 zu § 282. 45 ebendort, Anm. 3 Abs. 3 vor § 276; Anm. 5 Abs. 2 zu § 282 c. 4 · ebendort, Anm. 1 Abs. 2 zu § 285; Anm. 1 Abs. 1 zu § 290. 47 Art. 9 N r . 15 des 1. StRRefG ersetzte in § 277 Abs. 2 StPO das Wort „Haft* durch die Worte „Freiheitsstrafe bis zu sechs Wochen". 48 § 136, S. 392. 4 · §1011, s. 399; vgl. audi Bttchner, S. 53: Durch die Abwesenheit des Beschuldigten entgehe eine wesentliche Bürgschaft eines gerechten Urteils. Noch deutlicher die Verhandlung des 11. Deutschen Juristentags, S. 38: Der Angeklagte müsse die in Frage gestellten unveräußerlichen Güter selbst verteidigen. Kein Angeklagter dürfe ungehört verurteilt werden. 4J

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das Gleiche etwas nüchterner aus: § 273 stehe in engem Zusammenhang mit § 230 Abs. 1 StPO. Dessen Grundsatz, daß gegen einen ausgebliebenen Angeklagten keine Hauptverhandlung stattfinde, folge mit Notwendigkeit aus dem Prinzip des Strafverfahrens. Dieses kennzeichnen die Motive (239) dahin, daß sich die Wahrheit nur nadi Anhörung des Angeklagten selbst ermitteln läßt, und Torrer (S. 63) sagt ganz in unserer Ausdrucksweise, »daß ohne rechtliches Gehör niemand verurteilt und bestraft werden" kann. Dieses Prinzip beanspruche, fahren die Motive fort, Geltung auch dann, wenn sich der Angeklagte der Hauptverhandlung entzogen habe; denn es beruhe auf der Abwesenheit, ihr Grund sei gleichgültig. Freilich hat die Regierung nicht widersprochen (1449), als die Kommission in zweiter Lesung das Abwesenheitsverfahren für Bagatellen beschloß. Diese Ausnahme begründet Zachariae damit, daß in gewissen Sachen, wie Übertragungen, die Art des Delikts und der Strafe die „Adoption des Prinzips des Verzichts (auf persönliche Gegenwart) als unbedenklich erscheinen läßt". Dabei erinnert er an das Mandatsverfahren 50 . Der Vergleich hinkt, denn beim Mandatsverfahren hat es der Angeklagte in der Hand, ins Hauptverfahren überzugehen und sich rechtliches Gehör zu verschaffen. Der Abwesende kann das zwar auch, indem er sich alsbald stellt. Indessen ist diese Möglichkeit theoretisch, und ohne die reale Möglichkeit, vor dem Urteil gehört zu werden, ist die Verurteilung nicht gerechtfertigt, und die Vollstreckung ist bei geringfügigen Geldstrafen weder präventiv noch fiskalisch notwendig — weshalb die Abgabenordnung dem Staat immer den Zugriff auf höhere Geldstrafen offen gehalten hat.

VIL Von dieser Ideengrundlage ist in der Begründung zum Einführungsgesetz nicht die Rede. Die Abschaffung des Abwesenheitsverfahrens wird nur mit dem Satz erläutert, weil die Übertretungen fortgefallen seien, sei auch die — abgesehen von Sonderfällen — nur bei Übertretungen zulässige Hauptverhandlung gegen Abwesende gegenstandslos geworden51. Die Begründung ist unlogisch. Denn wenn die Umwandlungen der Übertretungen in Ordnungswidrigkeiten der (alleinige) Grund wäre, das Abwesenheitshauptverfahren aus der Strafprozeßordnung zu entfernen, hätte man es ins Gesetz über Ordnungswidrigkeiten52 transponieren müssen. Das ist nicht der Fall, und § 146 IV, S. 394. " BTDrucks. VI 3250, S. 290. " vom 24. Mai 1968 (BGBl. I 481).

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für die Abschaffung des Abwesenheitsverfahrens ist ein anderer als der mitgeteilte Grund zu suchen. Er ist schlicht darin zu finden, daß es obsolet geworden ist. Eine Rolle hätte es noch in Verkehrsstrafsachen gegen Ausländer spielen können, doch hat sich die Praxis hier längst mit anderen Mitteln beholfen 53 , und der Gesetzgeber hat mit den §§ 127 a, 132 StPO diesen Weg (Sicherheitsleistung, Strafbefehl) erleichtert. Ist sonst jemand abwesend, führt bei der Mobilität der Vermögen, der Leichtigkeit, die Grenzen zu überschreiten oder unerkannt unter fremden Namen im Inland zu leben, weder eine Vollstreckung noch eine Beschlagnahme nach den §§ 283, 284 StPO' kaum je zum Ziel. Die öffentlichen Kassen verwalten auch viel höhere Beträge als früher. Dabei fallen geringfügige Beträge aus Abwesenheitsurteilen, die selten und zufällig doch einmal eingehen, nicht ins Gewicht; sie lohnen den Aufwand des Verfahrens nicht, weil die Kosten der öffentlichen Bekanntmachungen (§ 280 S t P O ) insgesamt höher sind, als gelegentlich erlangte Einnahmen. Was einmal ein Ideenstreit war, der an die Grundlagen des Strafverfahrens rührte, wird mit falscher Begründung beerdigt: die Sache ist zu unbedeutend geworden, um das Grundrecht auf rechtliches Gehör auch nur noch zu erörtern 54 . Bei diesem Prozeß rascher, nicht im letzten überlegter „Angleichung" in einem Einführungsgesetz nimmt es nicht Wunder, daß die Vermögensbeschlagnahme bestehen geblieben ist 55 ; daß die Begründung keines der gewichtigen Argumente erwägt, die vor hundert Jahren die Gemüter erregt hatten; noch weniger, daß alle Überlegungen fehlen, ob die Entwicklung in diesen hundert Jahren dem Institut nicht seine Grundlagen entzogen hat oder doch mehr verlangt, als die Perpetuierung einer Einrichtung, die übers Mittelalter bis in die Antike zurückgeht. In der T a t : Für die Alltagspraxis ist die Vermögensbeschlagnahme in der jetzigen Form ebenfalls obsolet. Werte sind rasch mobil gemacht, Geld ist ungehindert ins Ausland zu bringen und, selbst bei Banken angelegt, ohne Meldepflichten, nur durch Zufall auszumachen. Wäre die Beschlagnahme gegen die BaaderMeinhoff-Gruppe angewendet worden (und es ist bezeichnend, daß das unterblieben ist), so hätten ihre Mitglieder weder ums Frühstück, noch um Waffenkäufe Sorgen zu haben gebraucht. Nur die finanzielle LR Diinnebier, Anm. 2 und 3 zu § 273. Die Abgabenordnung (§ 443 = § 391 des Entwurfs einer Abgabenordnung, BTDrucks. VI 1982, S. 86) ist — man möchte sagen: selbstverständlich — nodi nicht angepaßt, dodi spielt das keine Rolle. Wenn die Strafprozeßordnung kein Verfahren zur Verfügung stellt, bleibt der Torso der Abgabenordnung ohne Leben. 55 Nadi dem derzeitigen Stand, der aber wohl nidit als endgültig anzusehen ist, fehlt sogar immer nodi die Ausnahmen für mindergewichtige Sachen, die schon der Entwurf von 1874 vorsah. 55 M

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Versorgung der Kinder wäre, wenn man den Vermögensverwalter ermittelt hätte, von diesem auf den amtlich bestellten Pfleger übergegangen; doch ist das gerade ein Punkt, der dem Institut keine Freunde gewinnt: Man darf jemandem sein Geld wegnehmen, um ihn zum Aufgeben zu bringen, aber Erwachsene Kindern gleichzustellen, um sie zu fangen, ist primitiv, inhuman und, was vielleicht am ehesten überzeugt, ineffektiv. In diesem Sinne kann man trotz der Gesetzeslage auch die Vermögensbeschlagnahme zwar nicht als — durch legislatorischen Akt — abgeschafft, aber durdi die Realität als beseitigt ansehen. Es ist zu erwarten, daß die Regierungsvorlage — vielleicht mit kleinen Änderungen — Gesetz werden wird. Wird es für die Zukunft dabei bleiben? Die Abwesenheitshauptverhandlung werden wir, solange der vom Grundgesetz geformte Rechtszustand erhalten bleibt, nicht wieder erleben. Die Vermögensbeschlagnahme dagegen könnte sich, freilich ganz und gar verwandelt, als geeignetes Mittel erweisen, die Wirtschaftskriminalität zu bekämpfen. Von der „Entmündigung" (mit allein verbleibender Testierfähigkeit), auf die § 292 Abs. 1 StPO hinausläuft, müßte ein modernes Recht freilich absehen. Die Beschlagnahme von (auch unbekannten) Vermögenswerten müßte weltweit wirken und nicht nur, wie jetzt (§ 290 StPO), in der Bundesrepublik. Auch müßten das Steuer- und, wo es besteht, das Bankgeheimnis beseitigt werden und Banken Meldepflichten auferlegt werden können. Die Vorstellung, solche Maßnahmen könnten verwirklicht und international vereinbart werden, klingt irreal; aber die Notwendigkeit es zu tun, kann uns von einer überstarken und übernationalen Wirtschaftskriminalität aufgezwungen werden.

Literatur Buchner: Das Strafverfahren gegen Abwesende; Gerichtssaal, 9. Jahrg., 2. Band, 1857; Compes, Entstehung und Entwicklung des geltenden Abwesenheitsverfahrens im Strafprozeß; Diss. Köln 1937; Torrer: Das Verfahren gegen den Abwesenden im Strafprozeß; Diss. Zürich 1907; GertsA: Das Kontumazialverfahren nach der Französischen, Deutschen und Schweizerischen Strafprozeßgebung; Diss. Bern 1917; Hahn: Die gesamten Materialien zur Strafprozeßordnung und dem Einführungsgesetz zu derselben; 1. Abteilung, Berlin 1880; 2. Abteilung, Berlin 1881; Löwe: Die Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich; Berlin 1879; Löwe-Rosenberg: Die Strafprozeßordnung und das Geriditsverfassungsgesetz, 22. Auflage; 1. Band (mit Schäfer, Einleitung), Berlin, New York 1971, 2. Band (mit Dünnebier, Abwesenheitsverfahren), Berlin, New York 1971; Meyer, Hugo: Das Strafverfahren gegen Abwesende; Berlin 1869; Niethammer: Die Hauptverhandlung ohne den Angeklagten; Festschrift für Rosenfeld, 1949, S. 119; Puchelt: Die Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich; Leipzig 1881; Rempe: Verfahren gegen Flüditige und Abwesende; enthalten im Bericht der amtlichen Strafprozeßkommission, Berlin 1938;

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Verhandlungen des 11. Deutschen Juristentags; l.Band, Berlin 1873; Zachariae: Handbuch des deutschen Strafprozesses; l.Band, Göttingen 1861, 2.Band, Göttingen 1868. Meine Kommentierung im Löwe-Rosenberg zum Abwesenheitsverfahren habe idi nur zitiert, um Wiederholungen in Nebenpunkten zu vermeiden. Wo eine Begründung für die Arbeit selbst erforderlich war, ist sie in dieser enthalten. Der nach Abschluß des Manuskripts veröffentlichte Aufsatz von Oppe (ZRP 1972, 57) ist unberücksichtigt geblieben, weil die vorliegende Arbeit und mein Beitrag im LöweRosenberg alles enthalten, was gegen ihn vorzubringen wäre.

Unterlassungsanspruch, Unterlassungstitel und die Bestrafung nach § 890 ZPO* ARWED BLOMEYER

Nach § 890 ist der Schuldner, welcher der Verpflichtung zuwiderhandelt, eine Handlung zu unterlassen, „wegen einer jeden Zuwiderhandlung" vom Prozeßgeridit erster Instanz „zu einer Geldstrafe oder zur Strafe der H a f t zu verurteilen". Seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts stellt die Rechtsprechung in dieser Art der Vollstreckung strafrechtliche Elemente fest und zieht deshalb strafrechtliche Grundsätze heran. Dabei wird nicht übersehen, daß die Bestrafung Vollstreckungszwecken dient, und so kann heute die These vom Doppelcharakter dieser Vollstreckung als herrschend angesehen werden 1 . In neuerer Zeit haben nun Pastor und noch schärfer Böhm als Vertreter einer Beugestrafentheorie grundsätzlichen Widerspruch gegen den Strafcharakter der Unterlassungsvollstreckung erhoben2. Und dieser Widerspruch erscheint nicht unberechtigt. Kennt dodi die Prozeßordnung eine Bestrafung auch zum Zwecke der Vollstreckung von Handlungspflichten, die der Schuldner nur persönlich erfüllen kann; er ist hierzu nach § 888 „durch Geldstrafen oder durch H a f t anzuhalten". Und diese Bestrafungen werden einer ausdrücklichen Bemerkung in den Materialien zur Prozeßordnung 3 folgend ganz allgemein als „bloßer Beugezwang" ohne strafrechtlichen Charakter aufgefaßt 4 . Damit ergibt sich schon eine Verschiedenheit in der Bewertung der vom Gesetz als Vollstreckungsmittel vorgesehenen Geld- oder H a f t strafe, und so ist es erklärlich, wenn die Beugestrafentheorie auf eine einheitliche Auffassung dringt. Der Unterschied zwischen der Theorie vom Doppelcharakter und der Beugestrafentheorie muß aus den praktischen Folgerungen beider Theorien zu ersehen sein. Der Unterschied erweist sich als geringer, als * Dem Herrn Jubilar als Dank für viele aufklärende Gespräche in der Materie dargebracht. 1 Vgl. Schönke-Baur, Zwangsvollstreckungs-, Konkurs- und Vergleidisredit" (1969), § 38 III 4. 1 Wilhelm L. Pastor, Wettbewerblidie Unterlassungsvollstreckung und die Strafe aus § 890 ZPO, Festschrift Verlag Heymann (1965), S. 427 ff.; Die Unterlassungsvollstreckung nach §890 ZPO (1969); W. Böhm, Die Zwangsvollstreckung nadi § 890 ZPO (1971). Im gleichen Sinn jetzt Lindacher, Zur „Natur" der Strafe nach § 890 ZPO, ZZP 85, 239 ff. ' Mot. (Hahn) S. 467: „Die H a f t ist in diesem Fall überhaupt nicht Strafe, sondern direktes Zwangsmittel." 4 Statt aller vgl. Stein-Jonas-Scbônke, II zu § 888, 1 zu § 890.

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es nach dem prinzipiellen Gegensatz scheinen will. Denn einmal wendet die herrschende Lehre die Grundsätze des Kriminalstrafrechts keineswegs pauschal an, sondern stellt darauf ab, ob nicht vollstreckungsrechtliche Vorschriften oder das Gläubigerinteresse entgegenstehen. Und umgekehrt läßt die Beugestrafentheorie jedenfalls in ihrer Ausprägung bei Pastor5 den Rückgriff auf „gewisse Grundsätze des Strafrechts" zu, weil die zivile Beugestrafe „begriffsnotwendig" vieles enthalte, was Inhalt einer jeden Strafe sei. Nur Böhm ist bemüht, jede strafrechtliche Bedeutung aus der Unterlassungsvollstreckung auszumerzen®. Der prinzipielle Meinungsstreit läßt sich nur an Hand einer Fülle von Einzelfragen beurteilen, weldie eine Entscheidung nach strafrechtlichen und vollstreckungsrechtlichen Bewertungsgrundsätzen erfordern. Ich möchte mich hier auf zwei Fragen beschränken7: 1. Ist die Bestrafung einer Zuwiderhandlung zulässig, wenn der Schuldner mit ihr die Erfüllung des Unterlassungsanspruchs vereitelt oder wenn die festgesetzte Zeitdauer der Unterlassungspflicht zwischen Zuwiderhandlung und Bestrafung abläuft? 2. Wie wirkt sich eine Aufhebung des Vollstreckungstitels auf künftige oder vergangene Bestrafungen aus?

A. Fortfall des Unterlassungsanspruchs durch Vereitelung oder Zeitablauf Daß der Gläubiger die Zwangsvollstreckung nicht fortführen darf, sobald sein titulierter Anspruch fortfällt, ergibt sich aus dem Vollstreckungszweck, und deshalb gewährt § 767 dem Schuldner die Vollstreckungsgegenklage, mit der er „Einwendungen gegen den Anspruch" geltend machen und die Unzulässigerklärung der Vollstrekkung erreichen kann. Der Fortfall des Anspruchs kann bei der Handlungs- wie bei der Unterlassungsvollstreckung eintreten; beide Vollstreckungen sind miteinander zu vergleichen. I. Die praktischen Fälle 1. Zunächst der mit der Zuwiderhandlung vom Schuldner herbeigeführte Fortfall des Anspruchs: Der zur Rechenschaft verurteilte 5 Pastor, Unterlassungsvollstreckung S. 25. • Hierauf gehe idi unter A III 1 ein. 7 Andere Fragen bleiben hier unerörtert, z. B. nadi der Bestrafung juristischer Personen, nach der Beweislast, der Strafvollstreckung vor Rechtskraft der Straffestsetzung, des Strafaufschubs, der Begnadigung, der Amnestie, der Vollstreckung von Amts wegen usw. Idi erörtere sie in meiner in Vorbereitung befindlichen „Zwangsvollstreckung".

Die Bestrafung nadi § 890 ZPO

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Schuldner vernichtet vorsätzlich oder fahrlässig alle Unterlagen, die er dazu benötigt. — Der Schuldner veräußert eine bewegliche Sache, deren Veräußerung ihm die einstweilige Verfügung verbietet, an einen gutgläubigen Dritten. In beiden Fällen macht der Schuldner die Erfüllung des Anspruchs, auf Handeln wie auf Unterlassen, endgültig unmöglich. Zuwiderhandlungen dieser Art gegen Unterlassungspflichten heißen einmalige Zuwiderhandlungen. Welche Folgen das Verhalten des Schuldners nun auch haben mag, sicherlich ist der titulierte Anspruch wegen Unmöglichkeit der Leistung dahingefallen. Folglich müßte sich der Schuldner gegen eine weitere Vollstreckung mit der Klage nach § 767 wehren und eine Bestrafung abwenden können. 2. Eine ähnliche Lage ergibt sich, wenn die Unterlassungspflicht8 zeitlich begrenzt ist: Wurde der Schuldner verurteilt, eine Handlung innerhalb einer festgesetzten Frist zu unterlassen, so entfällt die Bestrafung bei einer Zuwiderhandlung nach Zeitablauf; kann aber eine vorher begangene Zuwiderhandlung noch bestraft werden? Die gleiche Frage stellt sich, wenn der Gläubiger selbst nach einer Zuwiderhandlung das Ende des Unterlassungsanspruchs herbeiführt; der gegen Belästigung durch gerichtliches Verbot geschützte Mieter zieht nach weiteren Belästigungen resignierend aus; das Verbot wird „gegenstandslos". Sind die früheren Zuwiderhandlungen auch dann noch zu bestrafen?

II. Unterschiede der Handlungs- und Unterlassungsvollstreckung Alle diese Fälle haben miteinander gemein, daß der titulierte Anspruch jedenfalls zur Zeit der Bestrafung nicht mehr besteht. Bei der Handlungsvollstreckung besteht volle Einigkeit darüber, daß deshalb keine Bestrafung ergehen darf. Der „Beugezwang" setzt ja voraus, daß der Schuldner die Handlung noch vornehmen kann 9 . In der Unterlassungsvollstreckung scheiden sich die Geister: Für die Beugestrafentheorie versteht sich, daß eine Bestrafung der Zuwiderhandlung ebenfalls ausscheidet, weil sie eine Vollstreckungsmaßnahme ist und weil es einfach „nichts mehr zu vollstrecken gibt" 1 0 . 8 Zeitlich begrenzte Handlungspfliditen sind im Amtsgeriditsverfahren in § 510 b geregelt; das Gericht kann zur Vornahme innerhalb bestimmter Frist und, wenn dies nicht fristgemäß vorgenommen wird, zur Zahlung einer Entschädigung verurteilen. Aber dann ist jede Vollstreckung nach § 888 ausgeschlossen, § 888 a. 9 Damit entfällt bereits eine Voraussetzung für die Strafanordnung, RG 8, 336 ( 3 3 7 / 8 ) ; Stein-Jonas-Schönke bei N. 19 zu § 888. Anders Bettermann, DVBl 69, 120/1, wenn die Strafe zuvor angedroht war. 10 Pastor, S. 150 ff.; Die einmalige Zuwiderhandlung, GRUR 68, 343 ff.; Böhm, S. 5 7 ; im gleichen Sinn Hamm, J Z 59, 413. Die Rechtsprechung zieht hierfür audi

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Zum umgekehrten Ergebnis kommt die strafrechtliche Betrachtung der Zuwiderhandlungsstrafe: Sie zieht die Regelung der Bestrafung auf Grund einer auf Zeit erlassenen Strafnorm heran; nach § 2 III StGB ist eine solche Norm auch nach Außerkrafttreten auf die während ihrer Geltung begangenen Straftaten anzuwenden11. Als „Strafgesetz" gilt dabei der Titel zusammen mit der Strafandrohung12 oder doch wohl richtiger § 890 selbst als Blankettgesetz, ausgefüllt durch den Urteilstenor13. Da nun der Unterlassungstitel zur Zeit der Zuwiderhandlung wirksam war, muß die Zuwiderhandlung bestraft werden, auch wenn sie den Unterlassungsanspruch endgültig vereitelte14 oder wenn der Anspruch nachher wegen Zeitablaufs erlosch15. So scheint die praktische Frage der Bestrafung von der theoretischen Auffassung abzuhängen. Aber das ist nicht der Fall. Maßgebend erscheint mir, daß das Gesetz in den §§ 888 und 890 verschiedenartige vollstreckungsrechtliche Regelungen trifft: 1. Nach § 888 ist der Schuldner „zur Vornahme der Handlung durch Geldstrafen oder durch Haft anzuhalten". Macht er sich die Handlung unmöglich, so schließt man eine Bestrafung mit der Begründung aus, § 888 sehe keine Strafen, sondern „bloße Zwangsmittel" vor. Nun stehen Strafe und Zwangsmittel m. E. nicht in einer solchen Alternative (hierüber unten III 2). Aber hierauf kommt es für unsere Frage nicht an. Denn selbst wenn § 888 eine Bestrafung anordnete, stünde diese doch unter einer unabdingbaren Voraussetzung, nämlich der, daß die Handlung dem Schuldner bei Bestrafung noch möglich ist. Die Bestrafung soll ihn ja zum Handeln „anhalten" ! Und darum ist die Bestrafung ausgeschlossen, sobald die Handlung dem Schuldner unmöglich wird, auch dann, wenn er die Unmöglichkeit selbst herbeiführte. 2. Hiervon weicht § 890 für die Unterlassungsvollstreckung bereits im Wortlaut entschieden ab: Der Schuldner ist nicht durch Strafe zur Unterlassung „anzuhalten", sondern „wegen einer jeden Zuwiderhandlung zu einer Geldstrafe oder zur Strafe der H a f t . . . zu verurteilen", § 890 1 1. Und damit er das auch weiß, muß die Strafe zuheran, das Rechtsschutzbedürfnis des Gläubigers an der Bestrafung sei entfallen, Hamm N J W 50, 113; MDR 65, 585; Köln MDR 56, 493; Stuttgart, MDR61, 1021. 11 Frankfurt, N J W 58, 2021; München, N J W 60, 1726; im Ergebnis ebenso

Stein-]onas-Schönke, II 3 zu § 890; Wieczorek, C 1 b 3 zu § 890. 12 RG 77, 217 (223); Bremen JR 65, 24; Stein-Jonas-Scbönke, I bach-Lauterbach, 2 Β zu § 890. " " » 493;

zu § 890;

Baum-

Frankfurt, ZZP 67, 70 (71); NJW 62, 542; Johannes ebd. 595 zu Hamm. Freiburg, N J W 53, 1718; AG Bensberg, J Z 59, 368 mit zust. Anm. von Lühe. München, N J W 60, 1726; Karlsruhe, MDR 54, 746; 57, 428; Köln, MDR 56, Frankfurt, MDR 62, 488.

Die Bestrafung nadi § 890 ZPO

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vor angedroht sein, § 890 II. Der Grund für diese Regelung liegt in der Natur des Unterlassungsanspruchs: Es gibt im strengen Sinn keinen Verzug in der Erfüllung von Unterlassungspflichten. Der Verstoß gegen die Pflicht geschieht allein durch Zuwiderhandlung. Jede Zuwiderhandlung macht aber die Pflichterfüllung unmöglich, die „einmalige" Zuwiderhandlung in toto, die wiederholbare Zuwiderhandlung zu ihrem Teil 16 . Dem muß die Erzwingung von Unterlassungsansprüchen Rechnung tragen. Es wäre mißlich, hier denselben Weg wie in § 888 einzuschlagen. Wie dort die Bestrafung des Nidithandelns ein künftiges Handeln allein erzwingen soll, würde hier die Bestrafung des Zuwiderhandelns den Sdiuldner allein zu künftigem Unterlassen bestimmen. So will es die Beugestrafentheorie. Aber eine solche Vollstreckung versagt ganz offenkundig bei einmaliger Zuwiderhandlung und bei abgelaufener Unterlassungsfrist. Und dieses Versagen wiegt noch schwerer, weil sich der Schuldner darauf einrichten kann, immer bei der einmaligen Zuwiderhandlung, sonst bei Zuwiderhandlungen kurz vor Ablauf der Unterlassungsfrist. Oft genug hat man darauf hingewiesen, daß der Schuldner sogar durch Verschleppung des Straffestsetzungsverfahrens über die Frist hinaus die Bestrafung unmöglich machen könnte 17 . Der Grund liegt, wie schon gesagt, darin, daß das Nichthandeln die Erfüllung der Handlungspflicht in der Regel nur aufschiebt, das Zuwiderhandeln dagegen zwangsläufig die Erfüllung der Unterlassungspflicht ganz oder zu einem Teil vereitelt.. Die Unterlassungsvollstreckung muß deshalb mit anderen Mitteln arbeiten: Der psychisdie Zwang zum Unterlassen in der ganzen Zeit der Unterlassungspflidit wird erst dann effektiv, wenn jede Zuwiderhandlung in dieser Zeit als Vereitelung des Unterlassungsanspruchs bestraft wird, und zwar ganz unabhängig davon, ob sich der Schuldner nodi in Zukunft titelgemäß verhalten kann. Diese kategorische Bestrafung wird dem Schuldner im Urteil oder Androhungsbeschluß angedroht, und damit wird die psychische Zwangslage herbeigeführt: Nun weiß der Schuldner, daß er die Strafe zu erwarten hat, und zwar für jede Zuwiderhandlung in der Zeit seiner Unterlassungspflicht 18 . Um es noch deutlicher zu sagen: Die Bestrafung der Zuwiderhandlungen muß pauschal angeordnet werden; die einzelne Bestrafung ist nicht (allein) ein Zwangsmittel zu künftigem Wohlverhalten, sondern die gesetzlich angeordnete Sanktion des vergangenen MißVerhaltens! Und " Vgl. Planck-Siber, I a 8 vor § 275 BGB; RG 54, 286 (288). Vgl. etwa Frankfurt, NJW 58, 2021; MDR 62, 488; Luke in Anm. zu AG Bensberg, JZ 59, 368. 1 8 S. Lühe a. a. O. und Bettermann, WBl 69,119 ff. 17

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genau das spricht § 890 unmißverständlich aus: Der Schuldner „ist wegen einer jeden Zuwiderhandlung . . . zu einer Geldstrafe oder zur Strafe der H a f t zu verurteilen". Wenn hiergegen eingewendet wird, das 8. Buch der ZPO gebe keinesfalls der effizienteren Maßnahme stets den Vorrang, etwa der Anwendung von Schuldhaft in der Herausgabevollstreckung (§ 883!) oder gar in der Geldvollstreckung (§§ 803 ff.!) 180 , so mag schlicht auf den genannten Gesetzestext verwiesen werden, der diesen Vorrang bestätigt. Auch in der Rechtsprechung wurde verschiedentlich das Effizienzargument aufgenommen, und zwar so, daß die allgemeine Strafandrohung ein vollstreckungsrechtliches Ubergewicht gegenüber der einzelnen Bestrafung erhielt. Den Ausgangspunkt dieser Begründung gibt insoweit eine unverfängliche Entscheidung der Vereinigten Zivilsenate des Reichsgerichts vom Jahre 1898; zu entscheiden war, ob gegen den Strafandrohungsbeschluß des Vollstreckungsgerichts die Beschwerde zulässig sei19. Zur Begründung der Zulässigkeit führt die Entscheidung an, die Vollstreckung könne nur durch „mittelbaren" Zwang geschehen; dieser werde „durch Androhung einer Strafe begonnen und durch die Ausführung der Anordnung fortgesetzt". Wisse der Schuldner nach Erlaß der Strafandrohung, daß ihrer Nichtbeachtung die Strafe folgt, so beginne damit für ihn die Zwangslage. „Das zeigt sich am besten daran, daß wohl in den meisten Fällen schon die Androhung ausreicht, um den Schuldner zum Gehorsam zu zwingen20." Auf diese Entscheidung berief sidi das OLG Frankfurt im Jahre 190821 mit der Folgerung, die Bestrafung sei „nichts weiter, als die unabweisbare logische Folge der andernfalls völlig wertlosen Drohung, ohne den Selbstzweck eigener weiterer Zwangswirkung für die Zukunft"; sie sei nur eine „Ergänzung der Strafdrohung". Damit begründet die Entscheidung die Bestrafung der „einmaligen Zuwiderhandlung". Die Formulierung der Bestrafung als bloßer „reditslogischer Folge" der Androhung findet sich noch in zwei Entscheidungen des Kammergerichts22 und in einer Entscheidung des OLG Köln 23 . Diese Urteile treffen in der Tat den entscheidenden Punkt des Problems. Nur ihre Begründung ist nicht haltbar. Sie kommen zur Bestrafung als „logischer Folge" der Strafandrohung und damit zu einer Bedeutung dieser Drohung, die sie gar nicht hat. Man muß vielmehr 180

" » " " "

Böhm, S. 32/33. RG 42, 419 ff. RG 42, S. 421. Frankfurt, OLG 16, 316 unter Berufung auf Pospatt, J W 00, 892/3. KG JW 28, 271 und J W 28, 2617 zur einmaligen Zuwiderhandlung. Köln, JW 31, 3569 („notwendige Konsequenz").

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umgekehrt formulieren: Das Gesetz selbst ordnet kategorisch die Bestrafung an, und die Strafe wird dann nicht festgesetzt, um der Androhung Gewicht zu verschaffen, sondern schlidit, weil das Gesetz es befahl! Die Androhung bezweckt nur, den Schuldner hiervon in Kenntnis zu setzen, damit er nicht mit der Bestrafung überrasdit wird. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Bestrafung nach § 890 von der Bestrafung nach § 888. Der Unterschied ergibt sich aus dem Gesetz, er entspricht audi dem Zweck der Unterlassungsvollstreckung. Und so führt richtig gesehen die Auslegung des § 890 in unseren Fällen zu demselben Ergebnis wie die Anwendung des § 2 III StGB. 3. Die sdiarfe Trennung der Vollstreckung von Handlungspflichten und Unterlassungspflichten im Gesetz erweist sich freilich, wie vor allem Böhm nachgewiesen hat, nicht überall als sachgerecht: a) Einmal kann eine Unterlassungspflidit, vor allem vor unlauterem Wettbewerb etwa durch irreführende Bezeichnung des Unternehmens, im Einzelfall auch die Beseitigung eines andauernden pflichtwidrigen Zustandes enthalten, wie die Beseitigung des wettbewerbswidrigen Ladenschildes. Dementsprechend hat die Rechtsprechung § 890 auch in solchen Fällen angewendet, die Untätigkeit des Schuldners hier also als Zuwiderhandlung bewertet 24 . Das mag noch als erweiternde Auslegung der Vorschrift angehen. b) Ferner aber hat das Gesetz in § 888 nur die Erzwingung einer einmaligen Handlung geregelt. Zutreffend weist jetzt Böhm25 darauf hin, daß auch fortlaufende Handlungen geschuldet sein können und daß sich § 888 für sie als untauglich erweist: Beim ersten Verstoß gegen die Handlungspflicht ist es für eine Bestrafung zu spät, und wegen der nächsten Handlung kann noch keine Strafe festgesetzt werden, schon weil die Pflicht noch nicht fällig ist. Böhm will deshalb die Dauerhandlungspflichten den Unterlassungspflichten gleichstellen und § 890 entsprechend anwenden 26 . An dieser Stelle (und erst hier) erhebt sich aber die grundsätzliche Frage nach dem Strafcharakter der Maßnahmen nach § 890. Wird er, wie von Böhm, verneint, so ist die analoge Anwendung von § 890 unbedenklich; ist er zu bejahen, so kann nur der Gesetzgeber die Bestrafung bei fortdauernden Handlungspflichten unter Strafe stellen.

" BGH GRUR 58, 30 (31); KGGRUR 56, 97; Koblenz MDR 65, 51; Düsseldorf GRUR 70, 376; Pastor S. 147 f.; Böhm S. 75/6. " Böhm S. 49 ff. M Hier gibt Böhm der Vollstreckungseffizienz dodi einmal Raum.

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III. Strafcharakter der Bestrafungen nach § 888 und § 890 In der Frage, ob die Strafen nach $ 888 und nach § 890 „echte Strafen" sind, stelle ich § 890 voran, weil nur bei ihm über den strafrechtlichen Charakter der Regelung gestritten wird. 1. § 890 sieht „Geldstrafe" und „Strafe der Haft" für Zuwiderhandlungen vor. Das sind Strafen, die auch für kriminelles Unrecht im Strafgesetzbuch angeordnet sind — wobei seit 1970 die Freiheitsstrafe an die Stelle der Haftstrafe getreten ist. Ferner werden solche Strafen als Ordnungsstrafen in einzelnen Gesetzen verwendet. Dagegen kennt das Ordnungswidrigkeitengesetz weder Geld- noch Haftstrafe, sondern nur eine Geldbuße, so daß § 890 hier nicht einzuordnen ist27. a) Den Ausgangspunkt für die Qualifikation des § 890 als Anordnung von Kriminalstrafen bildet eine Entscheidung des Reichsgerichts von 1896 28 ; hier heißt es: „Die Erfüllung der Verpflichtung des Schuldners, eine Handlung zu unterlassen, soll dadurch erzwungen werden, daß durch die Androhung eines Nachteils Zwang auf seinen Willen zu üben unternommen wird. Die Entscheidung, welche ausspricht, daß die angedrohte Maßnahme ins Werk zu setzen ist, erscheint in einem solchen Falle nicht als eine einfache zivilprozessuale Vollstreckungsmaßregel, sondern als die „Verurteilung zu einer wirklichen Strafe als einer Sühne für ein begangenes Unrecht"29. Die Entscheidung zieht — vorsichtig — daraus die Folgerung, auf das Verfahren seien „wenigstens bis zu einem gewissen Grade die Grundsätze des Strafrechts anzuwenden"so; sie hält es „jedenfalls für geboten, die Regel anzuwenden, daß von einer Strafe da nicht die Rede sein kann, wo ein objektiv rechtsverletzender Vorgang niemandem zum subjektiven Verschulden angerechnet werden kann". Damit wird ein strafrechtliches Element des Verfahrens nach § 890 festgestellt, welches seither ständig angeführt und in Gegensatz zum reinen Zwangsverfahren gestellt wird31. Nun ist in neuerer Zeit einmal versucht worden, mit der Gleichstellung der Zuwiderhandlungsstrafe als Sühne für Unrecht und der 1 7 Dabei kann die Frage nadi dem „wesensmäßigen" Unterschied von Ordnungswidrigkeit und Straftat hier dahinstehen, vgl. Maurad}, Deutsches Strafrecht, Allgemeiner Teil 4 (1971), S. 16 ff., aber audi Welzel, J Z 57, 131 f. und bettermann, Strafgewalt und rechtsprechende Gewalt, 2. deutscher Verkehrsgerichtstag 1964; A. Schoreit, GA 1967, 225 ff. ! 8 RG 36, 416 (418). " Von mir gesperrt. s o Von mir gesperrt. " Vgl. BVerfG 20, S. 3 3 2 : „nicht lediglich ein Zwangsmittel, sondern gleichzeitig Sühne für eine begangene Zuwiderhandlung" (unten S. 693).

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Strafe für kriminelles Unrecht Ernst zu machen; Schulz hat behauptet, bei Konkurrenz von richterlichem Unterlassungsgebot und gesetzlicher strafbewehrter Unterlassungsanordnung müsse für die Bestrafungen aus beiderlei Gründen der Grundsatz „ne bis in idem" eingreifen32. Aber diese Auffassung kann heute als überholt gelten. Zwar sieht das Strafgesetzbuch stellenweise auch bei der Verletzung oder Gefährdung privatrechtlicher Ansprüche die Strafsanktion vor, etwa bei Fahrerflucht, § 1421 StGB, oder bei Verletzung der gesetzlichen Unterhaltspflicht, § 170 b StGB83. Im übrigen überschreitet aber ein Verstoß allein gegen privatrechtliche Verpflichtungen noch nicht die Grenze des strafwürdigen Unrechts. Die im Vollstreckungsrecht vorgesehene Geld- oder Haftstrafe dient der Erzwingung jedwedes titulierten Unterlassungsanspruchs ohne Rücksicht auf dessen Inhalt. Damit scheidet die Bewertung als kriminelles Unrecht aus. b) Nach der heute herrschenden Lehre wird die Zuwiderhandlung mit einer Ordnungsstrafe bestraft, und zwar wegen Mtßachtung der staatlichen Autorität. So stellt Maurach die Bestrafung nach § 890 wegen Ungebühr vor Gericht, §§ 170 ff. GVG, und wegen Ausbleibens oder Aussageverweigerung von Zeugen oder Sachverständigen gleich, §§ 380, 390, 409; diese Strafen „nichtkrimineller Art" dienten „in erster Linie der Wahrung der durch Ungehorsam oder Ungebühr verletzten Staatsautorität" 34 . Der Gedanke, daß der Ungehorsam gegen eine gerichtliche Anordnung bestraft wird, ist im englischen Vollstreckungsrecht lebendig: Kommt der Sdiuldner in der Vollstreckung der gerichtlichen Aufforderung zum Handeln oder zum Unterlassen (order of committal) nicht nach, so wird er wegen contempt of Court bestraft 35 . An diesem Beispiel hat MeyerM die Strafe nach § 890 orientiert; ähnlich dem „gesunden anglo-amerikanischen contempt of Court" ahndet sie die Mißachtung der gerichtlichen Autorität 37 . »2 Schulz, N J W 63, 1095; aber dagegen Theuerkauf, ZZP 77, 298 ff. und die allgemeine Meinung. Vgl. BVerfG 21, 391 (401) sowie unten Β pr. ω In beiden Fällen ist der Schutz der Forderungsinhaber bezweckt, vgl. Dreher31 (1970), 1 zu § 142 und 1 zu § 170 b StGB. *4 Maurach, a. a. O., S. 8. Aus dem prozeßreditlidien Schrifttum vgl. Theuerkauf, MDR 63, 552 ff., und ZZP 77, 298 ff.; Schönke-Bauer, Zwangsvollstreckung*-, Konkurs- und Vergleichsredit 8 (1969), § 38 III 4; Bruns, Zwangsvollstredtungsredit (1963), § 41 III. 55 R . C. S. 0.45. Ähnlich die Regelung in der Sdjweiz, Art. 292 StGB. »· Κ. E. Meyer, MDR 56, 577 f. " Meyer kann sich dabei auf die Formulierung in den Materialien zur C P O berufen: »böswilliger Ungehorsam gegen ein Urteil", Mat. (Hahn) 861. Gegen ihn aber Böhm S. 33 ff.

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So plausibel es erscheinen mag, die Mißachtung des Unterlassungsurteils als das Delikt des § 890 anzusehen, Zweifel ergeben sich schon bei der Vollstreckung aus anderen Unterlassungstiteln, wie aus einem Prozeßvergleich oder aus einer notariellen vollstreckbaren Urkunde, § 794 N r . 1 und 5. Denn da spricht das Gericht nur die Strafandrohung aus. Und sollte die Zuwiderhandlung gar eine Mißachtung der staatlichen Strafandrohung sein? Das hieße die Bedeutung der Androhung überschätzen. Ich glaube, daß die Bestrafung nach § 890 einen anderen Zweck hat, und hierin werde ich durch eine Bemerkung des Reichsgerichts vom Jahre 1899 bestärkt 38 . Dort heißt es: „Die Strafe" (nach § 890) „bezweckt nicht die Aufrechterhaltung des von einem Untergebenen dem Oberen geschuldeten Gehorsams, sondern die Förderung des materiellen Rechts." Hiervon sollte man ausgehen. Der Zweck des Verfahrens nach § 890 liegt ausschließlich darin, die Erfüllung der privaten Unterlassungspflicht zu erzwingen. Und deshalb läßt sich diese Strafe, stellt man auf den Zweck ab, nicht in die Kategorie der Ordnungsstrafe einordnen. c) N u n wäre es leicht, mit dieser Begründung den Strafcharakter der Maßnahmen nach § 890 überhaupt zu verneinen und die Geldoder Haftstrafen f ü r „bloße Vollstreckungsmittel" zu erklären, vielleicht als einen „Denkzettel", der den Schuldner zum späteren Wohlverhalten bestimmen soll 39 . Aber damit würde vor allem die H a f t strafe in unhaltbarer Weise verharmlost. Gerade an ihr zeigt sich unübersehbar, daß der Gesetzgeber den Vollstreckungszweck durch Repression eines pflichtwidrigen Verhaltens des Schuldners mit den audi sonst verwendeten Strafen zu erreichen sucht, daß er also zur Anwendung von Strafmaßnahmen greift, um sie als Mittel der Vollstreckung einzusetzen. Damit wird die Strafe nach § 890 zur Zwangsund Strafmaßnahme zugleich; die Bezeichnung als „Beugestrafe" drückt dies angemessen aus 40 . Gegen eine solche Verwendung von Strafen zu Vollstreckungszwecken lassen sich freilich rechtspolitische Bedenken erheben: Ist die Bestrafung als ein Mittel zur Vollstreckung privater Unterlassungspflichten jeden Inhalts überhaupt zu rechtfertigen? Es gibt schon zu denken, daß jedenfalls die Einsperrung des Schuldners zu solchen Zwecken im gesamten romanischen Rechtskreis unbekannt ist. Immer» RG 43, 396 (398/9). * So Böhm S. 51; vgl. audi S. 57: Befreiung des § 890 von dem „nachgerade exotischen Charakter, den er bei strafrechtlicher Betrachtungsweise inmitten der Regeln über die Durchsetzung privatreditlicher Absprüche haben müßte" (!). 40 Der Ausdruck wird in BGH 33, S. 166 verwendet. s

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hin, § 890 bestimmt es so ausdrücklich, und eine Verfassungswidrigkeit der Vorschrift dürfte nicht zu begründen sein. H a t aber die Unterlassungsvollstreckung ein „strafrechtliches Element", so muß wenigstens in der Auslegung des § 890 geprüft werden, wie weit sich dieses Element auf die Vollstreckung auswirkt: Sind besondere Voraussetzungen für die Verhängung der Zuwiderhandlungsstrafe aus dem Grunde erforderlich, daß es sich um eine Strafe handelt? Es versteht sich von selbst, daß eine pauschale Anwendung des Strafgesetzbuchs oder gar der Strafprozeßordnung von vornherein ausscheidet, einfach deshalb, weil es nicht um kriminelles Unrecht geht. Die Frage nach der Geltung strafrechtlicher Grundsätze im einzelnen ist aber deshalb besonders schwierig, weil es keine allgemeine Lehre von solchen Grundsätzen gibt, welche die Ordnungsstrafe oder gar eine „strafrechtsähnliche Ahndung" einbeziehen. Immerhin hat das Kriminalstrafredit gewisse Prinzipien entwickelt, die „Mindestanforderungen" an eine Bestrafung stellen und die über seinen Bereidi hinaus, auch für § 890, gelten sollten 41 . Hierhin gehört der Satz „nulla poena sine culpa". E r wird als Verfassungsgrundsatz aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet 42 und gilt auch für „die strafähnliche Sanktion für sonstiges Unrecht", also auch für Ordnungsstrafen und sogar für die Ahndung von Ordnungswidrigkeiten 43 : „Die strafrechtliche oder strafrechtähnliche Ahndung einer Tat ohne Schuld des Täters ist demnach rechtsstaatwidrig" 44 . In den Kreis dieser Strafen hat das Bundesverfassungsgericht auch die Strafe nach § 890 einbezogen, weil sie „nicht lediglich ein Zwangsmittel, sondern gleichzeitig eine Sühne für eine begangene Zuwiderhandlung ist" 4 5 ; sie setzt deshalb die persönliche Schuld voraus4®. Damit ist eine Auswirkung des strafrechtlichen Elements dieser Vollstreckung zutreffend festgestellt 47 ; allein aus diesem Element folgt das Schulderfordernis. Denn der Vollstreckungszweck würde sicherlich besser erreicht, wenn die Bestrafung ohne persönliches Verschulden, etwa schon bei Verschulden von Gehilfen, zulässig wäre. Die BeTheuerkauf, MDR 63, 553 : „Mindestgarantie". « BVerfG 20, 323 (331). 4 8 BGH 9, 167 (169 f.) zu § 23 des Wirtschaftsstrafgesetzes von 1946; vgl. jetzt §§ 5—7 OWiG. 4 4 BVerfG 20, S. 331. " BVerfG a. a. O. S. 332. 4 6 Die Bestrafung von juristischen Personen oder Personengemeinschaften wegen „Verschuldens" stellt vor ein besonderes Problem, das hier nicht erörtert werden kann. 4 7 Die Begründung im einzelnen hat Kritik gefunden, vgl. Adomeit, NJW 67, 1994 ff.; eingehend neuestens Volk, Der Begriff der Strafe in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, ZStW 83 (1971), 405 ff. (416). 41

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schränkung auf persönliche Schuld beruht mithin nicht auf Vollstreckungsgrundsätzen, sondern auf einem allgemeinen Prinzip strafrechtlidier Natur! 2. In der Vollstreckung von Handlungsansprüchen nach § 888 scheint die Bestrafung dagegen einen grundsätzlich anderen Charakter zu haben. Offenkundig weist die Vollstreckung eine Reihe erheblicher Unterschiede von der Unterlassungsvollstreckung auf: Bestraft wird nicht ein Zuwiderhandeln, sondern gerade das Nichthandeln. Der Tatbestand ist keineswegs bei Festsetzung, sondern erst bei Vollstreckung der Strafe erfüllt, weil der Schuldner die Strafe bis dahin durch Vornahme der Handlung abwenden kann 48 . Zudem muß die Handlung zur Zeit der Strafvollstreckung noch möglich sein49. Endlich wird die Strafe nicht von Amts wegen, sondern auf Betreiben des Gläubigers, bei Haftstrafen unter Einzahlung des Haftkostenvorschusses vollstreckt, §911. So kann es nicht erstaunen, wenn bereits die Motive zur CPO davon ausgingen, es handle sich hier um reinen Vollstreckungszwang und nicht um eine Bestrafung. Im Einklang damit spricht § 888 nicht von der „Strafe der Haft", sondern von einem „Anhalten" des Schuldners zur Handlung durch (Geldstrafe oder) „Haft". Diesen Unterschied hat das prozessuale Schrifttum vor allem in dem Gegensatz von „Zwangshaft" und „Strafhaft" formuliert: Zwangshaft ist die „bloße Freiheitsentziehung zur Erzwingung des vom Gesetz befohlenen Verhaltens"50, etwa zur Erzwingung des Zeugnisses, § 390 II, in Vollstreckung des persönlichen Arrests, §§ 918, 933, oder gegen den Gemeinschuldner, §§ 72, 101, 106 KO, und eben auch in der Vollstreckung von Handlungsansprüchen nach den §§ 888, 889, 901. Im Gegensatz hierzu ist die Strafhaft eine Freiheitsentziehung „für einen begangenen Verstoß gegen die Rechtsordnung", so bei Ausbleiben des Zeugen und bei Zeugnisverweigerung, §§ 380, 390 I, und in der Unterlassungsvollstreckung nach § 890. Hiermit stimmt die strafrechtliche Lehre überein: „Beugemittel" stellen eine „ganz auf die Zukunft gerichtete psychologische Zwangsform" dar 51 ; sie „ahnden nicht den Ungehorsam gegenüber einer bestimmten Anordnung, sondern sollen ausschließlich ein bestimmtes gebotenes Tun erzwingen". Im Gegensatz hierzu wirkt die Strafe. „grundsätzlich und primär zurück auf den irreparablen Rechtsbruch und nur sekundär, ζ. B. im Wege spezialpräventiver Einwirkung auf « RG 24, 378 (380). « S. oben S. 686. 80 Stein-Jonas-Schönke, II vor § 899; Baumbadi-LauterbaA, 51 Νagier in LK 7 , 87; Maurad), Allgemeiner Teil S. 7.

2 vor § 901.

Die Bestrafung ñadí § 890 ZPO

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den Täter, u. U. auch in die Zukunft" 5 2 . So sind Strafen und Beugemaßnahmen „wesensmäßig" verschieden53. Die damit so allgemein anerkannte Verschiedenheit der Strafe der H a f t und der bloßen Zwangshaft läßt sich im Grundsatz gar nicht bezweifeln. Denn es gibt tatsächlich Fälle einer Zwangshaft, die kein rechtlich gebotenes Verhalten des Schuldners erzwingen soll. Beispiele aus dem Prozeßredit sind der persönliche Arrest, §§ 918, 933, und die Haftanordnung gegen den Gemeinschuldner, die „zur Sidierung der Masse erforderlidi erscheint", § 101 II KO. Diese Freiheitsbeschränkungen sollen der Gefahr begegnen, daß der Schuldner durch Vermögensverschiebung die Vollstreckung beeinträchtigt; sie sollen ihn an einem Verhalten dieser Art hindern, nicht zu einem bestimmten geschuldeten Verhalten zwingen. Von einer Strafmaßnahme ist nicht die Rede. Zweifelhaft wird die Unterscheidung der herrschenden Lehre wie des Gesetzes freilich, wenn mit der Strafe ein „vom Gesetz befohlenes Verhalten" erzwungen werden soll, also gerade in der Handlungsvollstreckung nach § 888. Diese ist nur gegenüber dem erforderlidi, der das Gebot nicht erfüllt, dessen Untätigkeit also pflichtwidrig ist. Dann erfüllt die zur Vollstreckung verwendete H a f t aber die Merkmale der Strafhaft, nämlich der Repression wegen eines „begangenen Verstoßes gegen die Rechtsordnung". Der Unterscheidung der herrschenden Lehre liegt offenkundig die Annahme zugrunde, ein strafbarer Verstoß könne nur durch Handlungen begangen werden. Aber das ist nicht zwingend. Besteht das von der Rechtsordnung gebotene Verhalten im Handeln, so wird der Verstoß durch Nichthandeln begangen, und gerade dieses Nichthandeln wird bestraft, um den Schuldner zum späteren Handeln zu bewegen84. Auch die Gegenüberstellung von Beugemaßnahme und Strafe in der strafrechtlichen Lehre trifft m. E. keinen „wesensmäßigen" Unterschied, der eine echte Alternative von Strafe und Zwang begründen könnte. Gewiß spielt die präventive Wirkung der Kriminalstrafe auf den Täter nur eine „sekundäre" Rolle. Das zeigt sich bereits in dem oben S. 685 genannten Unterschied der Vollstreckung von Handlungsund Unterlassungspflichten; die Vollstreckung nach § 890 geht über den Rahmen der Prävention hinaus und muß es auch. Aber daraus kann noch nicht der Umkehrschluß gezogen werden, eine Bestrafung des Nichthandeins nach § 888 — streng im Rahmen der Prävention — a

Maurad} a. a. O. Maurach a. a. O.; ebenso LK 8 A IV 2 a vor § 13 StGB, -wiederum mit Hinweis auf § 888. M Darauf hat R. Schultz in Anm. zu Köln JW 31, 3569 mit Redit hingewiesen. 53

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enthalte kein strafrechtliches Element. Die Bestrafung wegen Nichthandelns steht unter der besonderen Voraussetzung einer Handlungsmöglichkeit; damit beschränkt sich ihr Anwendungsbereich, aber ihr Strafcharakter fällt deshalb noch nicht dahin. Auch die strafrechtlich geforderte Irreparabilität des Rechtsbruchs entfällt nicht; irreparabel wird auch das Nichthandeln, und zwar im Augenblick der Strafvollstreckung, denn zu diesem Zeitpunkt scheitert die gebotene Handlung „endgültig" am bösen Willen des Schuldners. Aus diesen Gründen halte ich die gesetzliche terminologische Unterscheidung von „Haft" und „Strafe der Haft" im Grundsatz nicht für haltbar; auch die „Haft" nach § 888 hat ein „strafrechtliches Element". Nur wirkt sich dieses Element deshalb viel weniger aus, weil es meist von den vollstreckungsrechtlichen Grundsätzen aufgenommen wird* 5 . Allerdings scheint das gerade bei Anwendung des Satzes „nulla poena sine culpa" nicht der Fall zu sein. Die prozessuale5® wie die strafrechtliche Lehre 57 halten hier ein Verschulden des Schuldners nicht für erforderlich. Dieses Ergebnis ist aber völlig unhaltbar, und zwar gerade in vollstreckungsrechtlicher Betrachtung: Ergibt sich bei der Anhörung zur Straffestsetzung oder bei der sofortigen Beschwerde des Schuldners gegen diese, daß er bisher schuldlos etwa zur geschuldeten Rechnungslegung außerstande war und dazu noch eine bestimmte Zeit benötigt, so kann das Gericht die Strafe vernünftigerweise nur für einen späteren Zeitpunkt festsetzen. Und erkrankt der Schuldner hernach so, daß er auch dann noch keine Rechnung legen kann, so darf er keinesfalls deswegen bestraft werden. Gegen die Vollstreckungsmaßnahme des Gerichtsvollziehers (Pfändung oder Festnahme) ist die Erinnerung zulässig; einer Vollstreckungsgegenklage bedarf es nicht.

B. Die Aufhebung des Vollstreckungstitels Nulla poena sine lege. Nach Art. 103 I I G G kann eine Tat „nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde". Dementsprechend muß die Frage nach der „lex" auch da gestellt werden, wo sich das Gesetz einer Bestrafung 8 8 Nicht immer, etwa bei Strafvollstreckung nadi Einlegung der sofortigen Beschwerde gegen den Straffestsetzungsbesdiluß, der m. E. die aufschiebende Wirkung der Besdiwerde entgegenstellt.

" Frankfurt, NJW 53, 1029; Stein-Jonas-Sd)önke bei N. 47 zu § 888; Wieczorek, D IV b zu § 888; C II b zu § 890; Baumbach-Lauterbaà, 2 Β zu § 888; Böhm, S. 77, der den Schuldner auf die Vollstredcungsgegenklage verweist. "

Mauradb a. a. O. S. 7.

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Die Bestrafung nach § 890 Z P O

zu Vollstreckungszwecken bedient. So halte idi eine analoge Anwendung von § 890 in den Fällen der Dauerhandlungspflichten (oben A II 3) für ausgeschlossen. Aber die Problematik reicht noch weiter. Die §§ 888 und 890 allein genügen den Anforderungen, die an das Strafgesetz zu stellen sind, einfach deshalb nicht, weil sie als Blankettgesetze inhaltlich durch den vollstreckbaren Titel „ausgefüllt" werden müssen. Eine solche Ausfüllung wäre eindeutig verfassungswidrig, wenn es um die Bestrafung kriminellen Unrechts ginge. Denn hier würde erst das Gericht im Urteil die entscheidenden Strafvoraussetzungen aufstellen, die dodi gesetzlich bestimmt sein müssen58. Nun reidit der Grundsatz des Art. 103 II GG m. E. noch über das Gebiet des Kriminalstrafredits hinaus und trifft auch auf strafähnliche Sanktionen zu, sicherlich in abgewandelter Form: Als „lex" muß die Blankettnorm zusammen mit dem ausfüllenden Vollstreckungstitel verstanden werden. Sie müssen die feste Grundlage bilden, auf der die einzelne Bestrafung beruht. Damit beginnen aber auch die Schwierigkeiten: Das vorläufig vollstreckbare Urteil mag auf Rechtsmittel, das reditskräftige Urteil im Wiederaufnahmeverfahren aufgehoben werden. Die einstweilige Verfügung kann sich im Hauptprozeß als „von Anfang an ungerechtfertigt" erweisen; die Vollstreckung aus Urkunden nach § 794 Ziff. 5 kann auf Klage nadi § 767 für unzulässig erklärt werden. Und hier liegt die Gefahr einer poena sine lege. Ihr ist entschieden zu begegnen. Im Vordergrund steht die Aufhebung des Titels (I) oder sein Fortfall durch Erledigung der Hauptsache (II); vollstredcungsrechtlidi bietet die einstweilige Verfügung besondere Probleme (III). I. Die Aufhebung des Titels Die Aufhebung des Vollstreckungstitels kann die Handlungs- wie die Unterlassungsvollstreckung in verschiedenen Stadien treffen: 1. Unproblematisch ist die Lage, wenn der Titel vor der Straffestsetzung aufgehoben wird. Diese setzt als Vollstreckungsmaßnahme den Titel voraus und ist deshalb dann nicht mehr zulässig, weder in der Handlungs- noch in der Unterlassungsvollstreckung. Auch eine vor Aufhebung des Titels begangene Zuwiderhandlung gegen die Unterlassungspflidit kann nicht mehr bestraft werden. Die Straffestsetzung ist deswegen mit der sofortigen Beschwerde anfechtbar 59 . 58

So zutreffend R. Lange, Festschrift Karl Engisch (1969), 621 (632 f.).

«· R G 38, 422 (424); 43, 396 (398); Celle, N J W 51, 955; II 3 zu § 890.

Stein-Jonas-Schönke,

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Die Straffestsetzung wird ebenfalls unzulässig, wenn der Titel nodi in der Beschwerdefrist oder während des Beschwerdeverfahrens aufgehoben wird 60 . 2. Die Rechtslage wird dagegen zweifelhaft, wenn der Titel aufgehoben wird, nachdem der Straffestsetzungsbeschluß unanfechtbar wurde. Das gilt zwar nicht für die Handlungsvollstreckung, weil sie nur als Beugezwang aufgefaßt wird. Niemand behauptet, der Schuldner könne sich nicht wegen Aufhebung des Titels gegen die Strafvollstreckung aus dem rechtskräftigen Straffestsetzungsbeschluß wehren. Aber genau das ist die herrschende Lehre in der Unterlassungsvollstreckung: Die Aufhebung des Titels soll den rechtskräftigen Straffestsetzungsbeschluß nicht mehr berühren können 61 ! So kommt man dort 62 zu einer Vollstreckungsmaßnahme ohne Titel, zu einer poena sine lege. Da diese Meinung mit vollstreckungsreditlidien Grundsätzen sicher nicht vereinbar ist63, liegt es nahe, ihren Grund im Strafcharakter der Unterlassungsvollstreckung zu suchen. Die auf Grund von § 890 ergangene rechtskräftige „Verurteilung" zur Strafe läßt sich ja einem rechtskräftigen Strafurteil gleichstellen. Dann muß aber auch berücksichtigt werden, welche Wirkung eine Aufhebung der „lex", also des Strafgesetzes, auf ein rechtskräftiges Strafurteil hat, das auf ihm beruht. Und für diesen — exzeptionellen — Fall findet sidi tatsächlich eine ausdrückliche Regelung. Auch ein Strafgesetz kann einmal aufgehoben werden, nämlich wegen Verfassungswidrigkeit vom Bundesverfassungsgericht. Eine Folge dieser Aufhebung ist in § 79 BVerfGG sachgemäß angeordnet: Die Vollstreckung des rechtskräftigen Strafurteils auf Grund des aufgehobenen Strafgesetzes ist schlechthin ausgeschlossen.

Was für das Strafrecht eine völlig singuläre Erscheinung darstellt, die Aufhebung der lex, tritt in der Unterlassungsvollstreckung häufig genug ein, weil hier zur lex auch der vollstreckbare Titel gehört. Mit seiner Aufhebung entfällt die „gesetzliche" Grundlage für die StrafWieczorek, C I b 2 zu § 890. Anders Frankfurt N J W 58, 2021; München N J W 71, 1756. " Neustadt, M D R 62, 146; Celle, N J W 65, 1868; Stein-Jonas-Sdiönke, III 3 zu § 890; Wieczorek, C I b 2; D II b zu § 890; Baumbadi-Lauterbadi, 4 A zu § 890 und viele. Dagegen aber Bruns, § 41 I I I ; Pastor, S. 310 f. eî Eine Parallele aus dem Verwaltungsredit: Ein strafbewehrter Verwaltungsakt wird nadi der Zuwiderhandlung auf Rechtsmittel aufgehoben. BGH N J W 69, 2023 läßt die Bestrafung bei einem amtlichen Verkehrszeichen als Verwaltungsakt zu, aber dagegen scharfer Widerspruch im Schrifttum, P. Krause, JuS 70, 221 ff.; W.-R. Sd>enke, J R 70, 449 ff. M Pastor, S. 310, betont, die Vollstreckung setze in jedem Stadium des Verfahrens einen Titel voraus.

Die Bestrafung nadi § 890 ZPO

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festsetzung, und hier gewinnt der Satz nulla poena sine lege erheblidie praktische Bedeutung. Der Straffestsetzungsbesdiluß, nach Aufhebung des Titels ohne gesetzliche Grundlage, kann nidit mehr Bestand haben. In diesem Fall wird aber die Regelung des § 79 BVerfGG vorbildlich: Eine Vollstreckung des Beschlusses ist in entsprechender Anwendung der Vorschrift ausgeschlossen. 3. Schließlich ist es möglich, daß der Titel erst nach der Strafvollstreckung aufgehoben wird, etwa auf Rechtsmittel oder gar erst im Wiederaufnahmeverfahren. Dann ist die Geldstrafe beigetrieben, die Haftstrafe verbüßt. Auch hier fehlt eine Regelung in der Prozeßordnung; Schrifttum wie Rechtsprechung geben wenig zur Frage her. Im Vordergrund steht der Anspruch des Schuldners gegen den Staat auf Rückzahlung einer an die Justizkasse geleisteten Geldstrafe nach §§ 888 oder 890; er wurde früher überwiegend abgelehnt, und zwar in der Handlungs- 64 wie Unterlassungsvollstreckung®5, für letztere bereits wegen der Rechtskraft des Straffestsetzungsbeschlusses. Immerhin gab GörresM im Jahre 1906 zu bedenken, die Strafverurteilung ergehe „unter der allen Beteiligten bekannten stillschweigenden Rechtsbedingung, daß die zugrundeliegende zivilrechtliche Urteilsnorm objektiv zu Recht bestehe", und er fügte hinzu: „Sonst spottet der Staat ja seiner selbst und weiß nicht wie." In neuerer Zeit bahnt sich eine andere Beurteilung an. In der Handlungsvollstreckung hat das Oberlandesgeridit Köln den Rückzahlungsanspruch des Schuldners gegen den Staat anerkannt 67 : Das Zwangsgeld sei weder eine Geld- noch eine Ordnungsstrafe, deshalb schieden poenale Erwägungen aus; der Staat sei aber um den Betrag ungerechtfertigt bereichert. Baur*s gibt eine Begründung mit den §§ 776/775 Ziff. 1, wonach Vollstreckungsmaßregeln nach Aufhebung des Titels aufzuheben sind; deshalb sei der Straffestsetzungsbesdiluß aufzuheben und die Rückzahlung anzuordnen, ohne daß ein öffentlichrechtlicher Erstattungsanspruch bestehe. Eine Rückzahlung in der Unterlassungsvollstreckung wird meist mit der bereits oben69 erörterten Begründung abgelehnt, der Schuldner sei zu Recht wegen seines Ungehorsams gegen das richterliche Gebot beM Stein-Jonas-Schönke, II 4 zu § 888; Wieczorek, F U I zu § 8 8 8 ; Bendix, J W 23, 365 N. 1 3 ; Rosenberg, § 1 7 4 I V 1. , s K G J W 22, 1047; Stein-Jonas-Sdiönke, III 3 zu § 890; Wieczorek, CI b 2 und D II b zu § 890. Baumbach-Lauterbadi, 4 A zu § 890.

«· Görres, ZZP 35, 376 N. 118.

Köln, J Z 67, 762 mit zust. Anm. von Baur; Baumbach-Lauterbach, § 888. M Baur a. a. O. «» Oben S. 6 9 1 . 67

3 C zu

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straft worden 70 . Dem stellt Baurlx den aus § 766 entwickelten Grundsatz entgegen, er kommt mit ihm zu einem „zivilrechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch" gegen den Staat. Idi bejahe ebenfalls den RückZahlungsanspruch des Schuldners gegen den Staat für beiderlei Vollstreckungen, aber mit einer anderen Begründung. Um mit der Bestrafung nach § 890 zu beginnen, gerade bei der Annahme des Strafcharakters muß man zum Rückzahlungsanspruch kommen, wenn man den Satz nulla poena sine lege ernst nimmt. Wie bereits unter 2. ausgeführt, ist § 890, ausgefüllt durch das Unterlassungsurteil, als die lex anzusehen, auf. der die Straffestsetzung beruht. Und audi für unseren Fall kann auf die strafrechtliche Regelung eines Fortfalls der lex zurückgegriffen werden: Bei Aufhebung eines Strafgesetzes wegen Verfassungswidrigkeit ist nämlich das Wiederaufnahmeverfahren gegen die Verurteilung auf Grund dieses Gesetzes zugelassen, § 79 BVerfGG. Dem würde in der Unterlassungsvollstreckung eine Aufhebung des rechtskräftigen Straffestsetzungsbeschlusses auf Antrag des Schuldners entsprechen, und dies, gibt auch den entscheidenden Grund dafür ab, daß das Gericht den eigenen rechtskräftigen Beschluß aufhebt. Wird nun ein Strafurteil im Wiederaufnahmeverfahren aufgehoben, so erwirbt der dann Freigesprochene den Anspruch auf Ersatz des Vermögensschadens, der ihm durch die Urteilsvollstreckung erwuchs, SS 1, 2 StrHaftEntschG. Dementsprechend hätte der Schuldner in der Unterlassungsvollstreckung einen RückZahlungsanspruch gegen den Staat. Für die Bestrafung nach § 888 kann nichts anderes gelten: Nahm der Schuldner nach Vollstreckung zweier Geldstrafen die im Urteil angeordnete Handlung vor und wird das Urteil drei Jahre später auf Restitutionsklage aufgehoben, so muß die Aufhebung der zwei Straffestsetzungsbeschlüsse und die Rückzahlung der Beträge verlangt werden können 72 . II. Titelaufhebung ex nunc, Vergleich, Klagerledigung Die bisher erörterten Fälle der Titelaufhebung hatten miteinander gemeinsam, daß der Titel durch die Aufhebung „rückwirkend'' fortfiel. Darum war die Bestrafung von Zuwiderhandlungen nach § 890 70

So schon Oertmann in Anm. zu KG JW 22, 1047; Rosenberg a. a. O. Baur in Anm. zu Köln, JZ 67, 762, unter Ziff. 2. 7t Damit erübrigt sich ein Anspruch des Sdiuldners gegen den Gläubiger, etwa nach den §§ 717 II oder 945, der übrigens überwiegend audi nodi verneint wird, RG SeuffA 75, 178; LG München, NJW 61, 1631; Rosenberg a . a . O . Dann wäre der Schuldner nach der h. L. ganz schutzlos. 71

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auch dann nicht mehr zulässig, wenn diese vor der Aufhebung begangen wurden. 1. Umgekehrt müßten solche Zuwiderhandlungen bestraft werden, wenn der Titel später mit Wirkung ex nunc aufgehoben wird. Denn dann bleibt er bis zur Aufhebung wirksam, und dann wäre möglidierweise der Grundsatz des § 2 III StGB anwendbar 73 . Die Fälle einer solchen Aufhebung sind freilich mit der Laterne zu suchen. Die paradigmatische Aufhebung des Urteils für die Zukunft nach § 323 wegen „veränderter Umstände" scheidet praktisch aus. Bei Arrest und einstweiliger Verfügung sieht das Gesetz eine Aufhebung wegen solcher Umstände in den §§ 927, 936 vor 74 ; diese erfaßt auch die einstweilige Verfügung auf Unterlassen. Wegen der Eigenart der einstweiligen Verfügung als bloßer Sicherungsmaßnahme wird der Fall erst später besprochen (unten III). 2. Der Unterlassungstitel fällt ferner dann weg, wenn die Parteien im Rechtsmittelverfahren einen Vergleich schließen oder die Hauptsache für erledigt erklären. Einige Urteile wollen hier § 2 III StGB anwenden und die Bestrafung zulassen75. Aber durch Vergleich oder Erledigungserklärung fällt der Titel nicht erst ex nunc fort. Durch die Anfechtung geriet er in suspensum, und weder mit dem Vergleich nodi auch mit der Erledigungserklärung ergibt sich, daß der Titel bis dahin endgültig Bestand habe. Die Bestrafung ist deshalb nicht mehr zulässig76. III. Die einstweilige Verfügung auf Unterlassung Die durch einstweilige Verfügung getroffene Anordnung der Unterlassung soll einmal das Ergebnis eines Hauptprozesses um gerade diese Unterlassung sichern; sie ist in den Fällen des gewerblichen, Rechtsschutzes dringend geboten und wird ständig verwendet. Sie kann aber auch andere Prozeßergebnisse sichern, etwa den eingeklagten Übereignungsanspruch dagegen, daß ihn der Schuldner durch anderweite Verfügung über die Sache vereitelt (Verfügungsverbot, § 136 BGB). 7S

So Frankfurt, NJW 58, 2021; Hamburg, MDR 68, 1019 (Syllabus); SchönkeBaur, § 38 III 4 a; Moorbutter, S. 254. 74 Die Aufhebungen nadi § 926 II und § 929 II erfolgen dagegen rückwirkend, Frankfurt, NJW 62, 542. 75 Zum Vergleich: Frankfurt, NJW 58, 2021; zur Erledigung: Frankfurt NJW 62, 542; Hamburg, MDR 63, 205 (Ahndung von Ungehorsam); 68, 1019 (aber nur im Syllabus); Celle NdsRpfl 67, 203; Nürnberg, NJW 67, 205, aber dagegen Göppinger in der Anm. ' · So zutreffend KG GRUR 53, 454; München, NJW 54, 1412; Hamm, JZ 59, 413; Düsseldorf, WRP 69, 163, alle zur Erledigung der Hauptsache; Wteczorek, C I b 2 zu § 890; Baumbaá-Lauterbaá, 3 F zu § 890; Göppinger a. a. O.

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Als bloße Sicherungsmaßnahme ist die einstweilige Verfügung bereits zulässig, wenn der zu sichernde Anspruch glaubhaft gemacht wird, §§ 920 II, 936; sie ist wirksam, audi wenn der Anspruch in Wirklichkeit nicht besteht. Der Vermögensnachteil, welcher dem Schuldner dann durch die Vollstreckung der einstweiligen Verfügung oder durch die Vollstreckungsabwendung erwächst, wird mit einem Schadensersatzanspruch gegen den Gläubiger nach § 945 ausgeglichen. Für die Unterlassungsvollstreckung ergeben sich hieraus besondere Probleme, wenn die Klage wegen des gesicherten Anspruchs im Hauptprozeß abgewiesen wird. Nach Klagabweisung kann der Beklagte die Aufhebung der einstweiligen Verfügung wegen veränderter Umstände verlangen, §§ 927, 936 77 . Legt der Kläger gegen das Urteil Berufung ein, so wird die einstweilige Verfügung kaum aufgehoben werden; das erfordert ihr Sicherungszweck für den Fall, daß die Berufung Erfolgt hat 78 . Solange nun die einstweilige Verfügung wirksam ist, kann jede Unterlassung nadi § 890 bestraft werden. Fraglich ist allein, ob die Bestrafung wegen einer Zuwiderhandlung noch zulässig ist, wenn inzwischen die Klage im Hauptprozeß rechtskräftig abgewiesen wurde. Sicherlich kann der siegreiche Beklagte dann die Aufhebung der einstweiligen Verfügung wegen veränderter Umstände verlangen, aber diese Aufhebung könnte eine Aufhebung ex nunc sein, und damit wäre die Bestrafung einer früheren Zuwiderhandlung nicht abzuwenden. Für die Zulässigkeit der Bestrafung hat sich Baur, der den Fall eingehend behandelt, eingesetzt79: Andernfalls hinge die Strafe nach § 890 „letztlich davon ab, zu wessen Gunsten in der Hauptsache entschieden wird"; eine „Denaturierung der einstweiligen Verfügung" liege auf der Hand. Zweck der einstweiligen Verfügung sei vielmehr, den status quo zu erhalten, „unabhängig davon, wer in der Hauptsache Recht bekommt" 80 . Nun ist schon das Ergebnis erstaunlich. Der Eigentümer einer Sache, zu Unrecht auf Herausgabe verklagt, kann sich des unberechtigten Angriffs erst mit der Berufung erwehren. Auf seine Drohung, die Sache zu verderben, wird ihm dies durch einstweilige Verfügung ver77

Vgl. Blomeyer, Zivilprozeßredit, § 119 II 6 a. Dies, wenngleich die Klagabweisung die Glaubhaftmachung des Anspruchs erschüttern kann, R G JW 96, 33; 10, 153. 78 Baur, Fälle und Lösungen zum Zwangsvollstreckungs-, Konkurs- und Vergleidisredit (1965), S. 38 ff. 80 Baur S. 41. Ebenso Frankfurt N J W 58, 2021, nodi schlimmer München N J W 71, 1756: Bestrafung auch bei Aufhebung der einstweiligen Verfügung vor Rechtskraft der Straffestsetzung! 78

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boten; er verdirbt die Sache, sein Eigentum stellt sich endgültig heraus, so daß er sich selbst geschädigt hat, und obendrein wird er noch dafür bestraft. Das Problem liegt in der Unabhängigkeit der einstweiligen Verfügung vom Bestand des zu sichernden angeblichen und nur glaubhaft zu machenden Anspruchs. Sie soll den status quo erhalten, bis der Kläger eine Verurteilung im Hauptprozeß erlangt hat; zu diesem Zweck ist ihre Vollstreckung sicherlich geboten. Das versteht sich für die Geldvollstreckung auf Grund von Arrest wie einstweiliger Verfügung. Beide Maßnahmen werden nicht ipso iure unwirksam, wenn der gesicherte Anspruch im Hauptprozeß abgewiesen wird; sie werden auf Antrag aufgehoben „wegen veränderter Umstände", die für den Erlaß ja keine Rolle spielten. Und weil die Aufhebung ex nunc geschieht, läßt sich § 717 nicht auf die Sdiäden des Schuldners aus der Vollstreckung anwenden. Das Gesetz hat vielmehr die Schadensersatzpflicht in § 945 besonders bestimmt, wenn sich die ex nunc (oder gar nicht) aufgehobene Verfügung als »von Anfang an ungerechtfertigt erweist", und der wichtigste Beispielsfall hierfür ist eben, daß der zu sichernde Anspruch nicht bestand. So kann man es in der Geldvollstreckung schon hinnehmen, wenn die Aufhebung ex nunc geschieht. § 945 gilt ebenso in der Unterlassungsvollstreckung für alle Schäden des Schuldners, die aus der freiwilligen Unterlassung oder aus der Vollstreckungsabwendung durch Sicherheit entstehen 81 , also dann, wenn die Vollstreckung selbst unterblieb. Anders steht es aber, wenn das Mittel der Bestrafung bei Zuwiderhandlungen angewendet, aus dem Titel also vollstreckt wird; hier sind auch noch strafrechtliche Grundsätze zu beachten. Lex für die Bestrafung ist § 890 mit der einstweiligen Verfügung, und diese unterscheidet sich vom Urteil auf Unterlassung ganz wesentlich darin, daß sie eine summarische Sicherungsmaßnahme darstellt: Die Wahrung des status quo durch einstweilige Verfügung ist niemals Selbstzweck! Gesichert werden soll nur ein bestehender Hauptanspruch. Besteht der Anspruch nicht, so verfehlt die einstweilige Verfügung ihren Zweck, und dann ist sie eben auch „von Anfang an ungerechtfertigt". Eine lex, die sich aber als von Anfang an ungerechtfertigt erweist, reicht zu einer Bestrafung nach ihrer Aufhebung einfach nicht aus. Das versteht sich ohnehin für das angefochtene und aufgehobene Unterlassungsurteil wegen der rückwirkenden Kraft der Aufhebung, für die einstweilige Verfügung muß es um so mehr gelten. Also wird die einstweilige Verfügung, wenn der Grundlegend ausgeführt in BGH 54, 76 (79 ff.) für den seltenen Fall, daß das Gesetz, auf dem der Unterlassungsanspruch beruhte, als verfassungswidrig aufgehoben wurde. 81

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Hauptanspruch endgültig abgewiesen ist, für die Bestrafung in der Unterlassungsvollstreckung mit rückwirkender Kraft aufgehoben. Und damit wird nicht nur eine nachfolgende Bestrafung früherer Zuwiderhandlungen unzulässig. Auch die früher eingezogenen Geldstrafen sind nach dem oben I 3 Ausgeführten zurückzuzahlen. Hier hängt die Bestrafung nach § 890 in der Tat „letztlich davon ab, zu wessen Gunsten in der Hauptsache entschieden wird"; das ergibt sich zwingend aus dem Sicherungszweck und sollte nicht als „Denaturierung" getadelt werden.

Zusammenfassung Bis in die moderne Lehre und Rechtsprechung hat sich eine dem Prozessualisten auffallende Unterscheidung zwischen der Bestrafung in der Handlungsvollstreckung nach § 888 und in der Unterlassungsvollstreckung nach § 890 erhalten: Die Bestrafung nach § 888 wegen Nichthandeins sei ein „bloßes Zwangsmittel", die Bestrafung nach § 890 wegen Zuwiderhandelns enthalte dagegen ein „strafrechtliches Element". Zunächst war gegenüber einer rein prozessualen Beugestrafentheorie der Unterschied zwischen der Bestrafung wegen Nichthandeins und wegen Zuwiderhandelns aufzuklären. Er liegt darin, daß das Nichthandeln nur bestraft wird, so lange das Handeln möglich ist, das Zuwiderhandeln dagegen ohne diese Einschränkung. Sodann war der Strafcharakter beider Bestrafungen zu prüfen; es ergibt sich, daß jede von ihnen ein „strafrechtliches Element" aufweist. In zwei Einzelfragen lassen sich die Auswirkungen des Strafcharakters nachweisen; sie ergeben sich aus den Sätzen „nulla poena sine culpa" und „nulla poena sine lege"; eine Reihe umstrittener vollstreckungsrechtlicher Fragen ist mit ihnen sachgerecht zu beantworten.

Kritische Bemerkungen zum Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen JÜRGEN BAUMANN

I. Einem Vorkämpfer für den Rechtsstaat, wie dem Jubilar, einen Festschriftbeitrag dedizieren zu wollen, bedeutet gleichzeitig die Übernahme der Verpflichtung, auch heute, in einer Zeit, in der weniger Verdacht und Argwohn gegenüber dem Gesetzgeber bestehen mag, die neuen Gesetze darauf hin zu prüfen, ob sie auch allen rechtsstaatlichen Wünschen Rechnung tragen. Diese ständige Prüfung ist nicht nur eine Aufgabe der Gerichte oder des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 GG, sondern primär eine Aufgabe der Rechtslehre. Sie hat beizeiten zu warnen, wenn der Gesetzgeber einen Weg einzuschlagen droht, der zwar die fiskalischen und allgemeinen staatlichen Interessen wahrt, die Rechte der Bürger jedodi in nichthinnehmbarer Weise verkürzt. Gerade die Rechtslehre hat hier die Funktion eines Seismographen, eine Funktion, die schon um deswillen unentbehrlich ist, weil oft nur dann nach Art. 100 GG vorgelegt wird, wenn schon in der Literatur Ansatzpunkte bestehen, der Argwohn der Gerichte schon geweckt und eine verfassungsgemäße Lösung schon aufgezeigt ist. Die Aufgabe der Literatur besteht aber auch dort, wo in strengem Sinne grundgesetzwidrige Regelungen vom Gesetzgeber nicht getroffen werden, wo aber der Gesetzgeber bei seinen Reformvorhaben trotz guter Absichten auf der politischen und fiskalischen Strecke geblieben ist. Wie oft ist nicht schon der Bundesgesetzgeber mit stolzer Reformflagge und vielen guten Schiffen ausgefahren und wie kläglich waren dann die Kompromisse, die, Wracks nicht unähnlich, in den Hafen eingebracht wurden1. Mitunter wurden derartige Kompromisse 1 Man denke etwa an die beiden Strafrechtsreformgesetze von 1969. An den Kompromiß etwa zur „Verteidigung der Rechtsordnung", dazu Baumann in Strafrechtsreformgesetz, 1970 S. 47 sowie in DRiZ 70, 2 jeweils mit weiteren Nachweisen. Zur Entscheidung des B G H vom 8 . 1 2 . 70 = BGHSt 24, 40 vgl. Eser in Studienkurs I S. 11 ; eine allgemeine Zusammenstellung oberlandesgerichtlicher Entscheidungen bei Blei in J A 70, 397 ff. — Oder man denke an den Kompromiß zwischen C D U und SPD in der Frage der Untergrenze der kurzfristigen Freiheitsstrafe während der Großen Koalition: einerseits 1 Tag — andererseits 6 Monate: macht im Mittel 1 Monat und das wird § 38 des 2. Strafrechtsreformgesetzes!

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audi als besondere politische Weisheit ausgegeben2, wobei dann freilich jeweils der Nachweis, warum gerade dieses Ergebnis so besonders erbaulich sei, schuldig geblieben wurde. Nur allzuoft sind moderne Gesetze zum Flick- und Stückwerk geworden, was nicht verwundert, wenn man die Entstehungsgeschichte betrachtet und sieht, wie viele Referenten, Dezernenten und Abgeordnete jeweils ihr Scherflein beigesteuert haben. Wer in der Strafrechtsreform engagiert tätig gewesen ist, vermag ein Lied davon zu singen. Gerade angesichts dieser Umstände ist es um so notwendiger, daß in der Rechtslehre immer wieder die Grundlinien (die im Gesetz mitunter kaum nodi erkennbar sind) herausgearbeitet und in der weiteren Reformdiskussion verfochten werden. Nur so dürfen wir hoffen, die Rechtsentwicklung vorantreiben zu können, nur so ist möglich, daß trotz aller Verwässerungen der als richtig erkannten Prinzipien im Gange des Gesetzgebungsverfahrens später einmal die Reformforderungen audi wirklich durchgesetzt werden. Die Reditslehre muß hier den längeren Atem haben. Gesetze sind wandelbar und vornehmlich sie werden durdi einen Federstrich des späteren Gesetzgebers zur Makulatur.

II. Das Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen vom 8. 3.71 s sollte die veralteten Gesetze über die Untersuchungshaftentschädigung von 1904 und die Strafhaftentschädigung von 1898 ersetzen und die Rechtsstellung des Bürgers verstärken4. Der Ersatz für erlittene Freiheitsentziehung sollte verbessert5 und dem * So Giide in der 2. Lesung der Strafrechtsreformgesetze in der 230. Sitzung des Deutschen Bundestages vom 7.5.1969 (vgl. Protokoll S. 12 718): „Idi nehme es darum gelassen hin . . . , daß die Alternativ-Professoren unsere Lösung als einen nicht annehmbaren Kompromiß, als eine mit Widersprüchen behaftete Regelung bezeichnen. Ich tröste mich auch da mit einem Redner im Schweizer Nationalrat, der sagt, daß aus der Mischung zwischen Konservatismus, Anpassung an die Rechtswissenschaft und Anpassung an die Praxis eine klare Doktrin schwer zu gewinnen sei. Was im politischen Raum entsteht, meine Damen und Herren, wird kaum einmal lupenrein im Sinne der Wissenschaft sein." * BGBl. I S. 157. Vgl. dazu den Gesetzesentwurf der Bundesregierung mit Begründung BT-Drucksache VI/460 vom 26. 2.1970 und die Stellungnahme des Bundesrats a. a. O.; weiter die Beratungen des Rechtsausschusses des Bundestags VI. WP Protokolle Nr. 19, 21, 22, 24 und 25 und den schriftlichen Bericht BT-Drucksache VI/1512. — Zur Geschichte der Entschädigungsregelungen und reditsvergleidiend vgl. Schätzler in Prot. Nr. 19, 23 ff. 4 Vgl. die Begründung des Entwurfs BT-Drucksache a. a. O. S. 5. 6 Daß die alte „Unschuldsklausel*, wonach Entschädigung nur bei erwiesener Unschuld oder beim Fehlen eines begründeten Verdachts, gewährt wurde, gefallen

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modernen Aufopferungsrecht 6 besser angepaßt werden. Ganz unstreitig opfert der unschuldig Verfolgte seine Freiheit sowohl bei unschuldig erlittener Untersuchungshaft wie bei unschuldig erlittener Strafhaft dem Allgemeininteresse an der Straftatverfolgung auf. Die Eingriffe sind (bei Vorliegen der rechtlichen Voraussetzungen des Haftbefehls oder des Urteils) rechtmäßig 7 — gleichwohl vom Individualinteresse her ausgleichspflichtig. Das ist genau die Situation, die auch bei allen sonstigen Aufopferungslagen gegeben ist: im Interesse der Allgemeinheit müssen Eingriffe in grundgesetzlich garantierte Rechte hingenommen werden 8 . Es hätte nun nahegelegen, im Zuge der Reform dieses Rechtsgebiets gründlich Remedur zu schaffen und alle die fiskalischen Kautelen zu beseitigen, die bisher den Anspruch des Bürgers belasteten, seine Durchsetzung erschwerten und zu allem Uberfluß auch noch der Anspruchsstellung den Beigeschmack des Extraordinären, nur eigentlich bei einer Notlage Vertretbaren auferlegten. Leider hat der Gesetzgeber aber auch diesmal zahlreiche Wünsche9 unerfüllt gelassen. Nur einige wenige Punkte seien im folgenden aufgezeigt: 1. Schon früher hatte man beklagt, daß das Entschädigungsverfahren zu Schwerfällig geregelt sei10. Gleidiwohl ist man bei den drei Verfahrensstufen geblieben: Entscheidung des Strafgerichts, Geltendmachung des Anspruchs bei der Staatsanwaltschaft mit Entscheidung des Justizministers und schließlidi Zivilprozeß vor dem Landgericht11. ist (da unvereinbar mit der Unschuldsvermutung), ist ein ganz wesentlicher Fortschritt des neuen Gesetzes. • Vgl. die zwar kurze, aber vorzügliche Zusammenstellung der Rechtsprechung zum Aufopferungsgedanken von Kröner, Die Eigentumsgarantie in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, 2. Aufl. 1969. 7 Von den Fällen rechtswidriger und schuldhafter Eingriffe kann hier abgesehen werden. Hier besteht in der Regel neben dem Entschädigungsanspruch nadi dem StrEG (vgl. die Begr. des RegE BT-Drucksache S. 6) der Anspruch nach § 839 BGB/ Art. 34 GG; dazu nach Art. 5 V MRK, wenn auch deren Vorschriften verletzt sind. ' Dazu schon § 75 Einleitung des preußischen ALR von 1794: „Dagegen ist der Staat denjenigen, welcher seine besonderen Redite und Vorteile dem Wohle des gemeinen Wesens aufzuopfern genötigt wird, zu entschädigen gehalten." • Vgl. etwa den Katalog bei Peters Strafprozeß 2. Aufl. 1966 S. 368 ff. 10 Vgl. Peters a. a. O. S. 371. 11 Die Begr. des RegE a. a. O. S. 6 enthält hier die lapidare Feststellung: „Die Dreiteilung des Verfahrens behält der Entwurf im wesentlichen bei." Uber die Gründe wird nichts ausgeführt. — Zu den Beratungen des Rechtsaussdiusses vgl. Prot. Nr. 22 S. 36 ff.

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Als ob man möglichst zahlreiche Hürden vor der schlußendlichen Entschädigung hätte aufbauen wollen. Zusätzlich erforderliche Prozeßhandlungen und Fristenbestimmungen sorgen dafür, daß die Hürden u. U. verfehlt werden können. So ist bei der nichtgerichtlichen Einstellung nach § 9 (1) 3 ein Antrag des Beschuldigten erforderlich12. Daß die Entschädigung bei Einstellung im Ermittlungsverfahren aus dem Bereich der bloß verwaltungsrechtlichen Ermessensentscheidung13 herausgenommen wurde, ist gewiß zu begrüßen. Aber man hätte den Weg der Gleichstellung weitergehen und hier auf das besondere Antragserfordernis verzichten sollen. Immerhin ist ja in Rechnung zu stellen, daß in diesen Fällen u. U. noch weniger Anlaß zu der belastenden Zwangsmaßnahme gegeben war als in den Fällen, in denen der Verdacht so gravierend war, daß es wenigstens zur Eröffnung des Hauptverfahrens gekommen ist. Hinzu kommt, daß der Antragsteller nach § 9 (1) 4 eine Einmonatsfrist wahren muß. In der nächsten Verfahrensstufe, bei der Anmeldung des Anspruchs, begegnet dann die alte Sechsmonatsfrist aus dem früheren U-Haftentschädigungsgesetz14. In der dritten Verfahrensstufe (bei Streit über die Entschädigungshöhe) ist dann nochmal die Frist von 3 Monaten für die Klageerhebung zu beachten. Das sind Fristen, die für zivilrechtliche Schadensersatzansprüche jedenfalls nicht bestehen. Gerade wenn es sich nicht um Schadensersatzansprüche handelt, die denen aus unerlaubter Handlung vergleichbar sind, besteht kein durchschlagender Grund, derartig kurze Fristen vorzusehen. Zu denken ist insbesondere daran, daß bei späterem Vermögensverfall des Anspruchsberechtigten ein Interesse daran bestehen kann (und vom Gesetzgeber anzuerkennen ist), früher vernachlässigte Ersatzansprüche15 zu stellen. Wo ist der Rechtsgrund, der gebietet, mit einem unschuldig Verfolgten in dieser Weise umzuspringen? 2. Auch der Umfang der Entschädigung ist zwar besser als bisher, jedoch m. E. keineswegs zufriedenstellend geregelt. "

Auf den ebenso hätte verzichtet werden können wie in § 8.

Entschädigung aus Billigkeitsgründen nadi der A V vom 1 5 . 1 2 . 1 9 5 6 (Bundesanzeiger N r . 247). Dazu Begr. des RegE a. a. O. S. 6, 9. 13

1 4 Immerhin bei der Strafhaft eine Verbesserung gegenüber der Dreimonatsfrist bei der früheren Strafhaftentschädigung. — Außerdem kommt ein Aussdiluß des Anspruchs nunmehr nur nodi bei schuldhafter Versäumung in Betracht, vgl. Begr. zu § 8 RegE a. a. O. S. 9. 1 5 Hier liegt nadi § 10 (1) S. 2 eine schuldhafte Versäumnis der Antragstellung vor, so daß der Anspruch ausgeschlossen wäre.

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Gewiß ist erfreulich, daß die früheren (1933 eingeführten) Hödistbeträge in Wegfall gekommen sind. Aber man muß doch wohl bezweifeln, ob bei Ersatz des immateriellen Schadens der Satz von 10 D M pro Tag Freiheitsentziehung angemessen sein kann. Ist das Rechtsgut des Art. 2 GG so wenig wert? Kann wirklich 1 Jahr Freiheitsentziehung mit 3650 D M wettgemacht werden 16 ? — M. E. hätte gerade hier der Rechtsstaat Generosität zeigen müssen. Das um so mehr, als ab 1974 oder 1976 die Tagessätze der Geldstrafe nach § 40 (2) StGB zwischen 2 und 1000 D M liegen werden (wobei ein Tagessatz einem Tage Freiheitsentziehung entspricht, § 43 StGB in der Fassung des 2. StrRG). Das zumindest hätte der Gesetzgeber des Entschädigungsgesetzes beachten sollen. Zur Untergrenze von D M 50 für den Ersatz des materiellen Schadens 17 gelangt man natürlich leicht, wenn man das schwerfällige und (für den Staat) kostspielige Verfahren in Rechnung stellt. Aber hier wäre es wohl besser, das Verfahren (wenigstens für diese Fälle) zu vereinfachen. Die Lösung, einfach keine Entschädigung zu gewähren, wenn nur 50 D M Schaden nachgewiesen sind, kann nicht als rechtsstaatlich befriedigend bezeichnet werden 18 . Der Staat nimmt sich hier Privilegien heraus, die auf die gesamte Rechtsordnung zu übertragen wohl niemandem einfallen würde. Auch bei sonstigen Aufopferungsansprüchen19 besteht keine derartige Untergrenze. Soll mit dieser Schlechterstellung dessen, der durch ein Strafverfahren Schaden er16 Zur Höhe der Entschädigung enthält die Begr. des RegE nichts außer der Feststellung, zwecks einheitlicher Bemessung sei ein Pauschalsatz vorgesehen (a. a. O. S. 8 zu § 5 RegE). Wenn Schät2ler (BJM) im Rechtsausschuß (Prot. N r . 19 S. 39) ausführt, die Pauschale rechtfertige sich u. a. damit, daß u. U. auch der aufgrund unrichtigen Freispruchs Schuldige sie beanspruchen könne, so widerspricht das m. E. gerade der Unschuldsvermutung, die das Gesetz doch betonen möchte! Auch der hat als unschuldig zu gelten, der zu Unrecht freigesprochen ist. Zur Diskussion im Rechtsausschuß vgl. weiter Dürr a. a. O. S. 38 und die Diskussion in Prot. Nr. 22 S. 29 fF. — Kaum anders als mit fiskalischem Denken läßt sich der Vorschlag des Finanzausschusses des Bundesrats — 5 DM pro Tag (!) — erklären, ebenso Dürr u. Schätzler a. a. O. — Jedenfalls steht m. E. die Rechtsgemeinschaft für Irrtümer der Strafjustiz mit solchen Beträgen wohl kaum „voll ein", wie die Begründung des RegE S. 8 verlangt. 17 Im § 5 RegE war diese Beschränkung nicht vorgesehen. Sie geht auf die Abgeordneten Diebgans u. Kleinen zurück (Prot. N r . 21, S. 24, 30). — Immerhin fiel die Entscheidung im Rechtsausschuß nur ganz knapp zugunsten der „Bagatellklausel" (vgl. Prot. N r . 22, S. 30; 24, 12). 18 Auch die Argumentation, bei solchen Beiträgen werde zuviel Verwaltungsaufwand betrieben, sollte eher auf Fälle bezogen werden, wo Aufwand und Vorteil sich in derselben Hand befinden (bei bestimmten Steuern etwa!). w Etwa wegen erlittener Impfschäden etc.

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litten hat, vielleicht doch die mindere Qualität seines Anspruchs (den man so leicht begrenzen und so leicht beiseite schieben kann) betont werden? Schließlich ist zu bemängeln 20 , daß immaterieller Schaden überhaupt nur bei gerichtlichen Entscheidungen über Freiheitsentziehungen ersetzt wird. Nicht wird also ersetzt etwa der immaterielle Schaden, der durch eine Beschlagnahme, etwa des Führerscheins, entsteht. Audi die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111 a StPO ist nicht voll ersatzpflichtig, weil hier zwar eine gerichtliche Entscheidung, aber keine Freiheitsentziehung vorliegt. Umgekehrt ist die vorläufige Festnahme (etwa vor der Hochzeit) zwar eine Freiheitsentziehung, aber wiederum keine aufgrund gerichtlicher Entscheidung 21 . Überall gibt es kein Schmerzensgeld. Eine erfreuliche Regelung kann man das nicht nennen. 3. Zu bemängeln sind gewiß die Billigkeitsregelungen der § § 3 und 4 22 . Ganz abgesehen von der Rechtsunsicherheit in diesem Bereich wird in § 3 ein Unterschied zwischen der Einstellung nach § 170 und andererseits §5 153 ff. StPO 2 3 betont, der jedenfalls die augenblickliche Praxis keineswegs beherrscht. Mindestens müßte nunmehr gegen die Einstellung nach § 153 (statt nach § 170) ein Beschwerderecht gegeben werden, welches nach h. M. f ü r den Beschuldigten gerade nicht besteht 24 . Andernfalls stünde der Beschuldigte, gegenüber dem nach § 153 oder § 153 b eingestellt wurde, zu schlecht, zumal es ihm in einem späteren Zeitpunkt schwerfallen könnte, nachzuweisen, daß die Voraussetzungen einer Einstellung nach § 170 vorgelegen haben. In § 4 sind alle Fälle des Absehens von Strafe über einen Kamm geschoren. Dabei ist nicht beachtet, daß etwa die Rechtsfolge nach § 16 StGB eigentlich zum Ziele hat, jede Belastung des Täters zu vermeiden. Diese aus dem „Schuldspruch unter Strafverzicht" des AE 25 10 Von der Fassung der Vorschrift einmal ganz abgesehen. Vgl. etwa den überflüssigen Absatz 4. Hier ist vor vielen Jahrzehnten die Dogmatik zur hypothetischen Kausalität entwickelt worden. Einer gesetzlichen Regelung hätte es nicht bedurft. 11 Nadi § 5 des RegE wäre hier zu entschädigen gewesen, weil das einschränkende Merkmal der „gerichtlichen Entscheidung" fehlte. Zur Einfügung vgl. Prot. N r . 24, S. 11 f. » Vgl. Prot. N r . 21, S. 24 ff.; 24, S. 7 f.; 25, 6 ff. 13 Zu den Beratungen des Reditsaussdiusses hinsichtlich §§ 153 ff. vgl. Prot. N r . 21 S. 34 ff. " Vgl. Kleinknecht, StPO 30. Aufl. 1971 § 153 Bern. 4; KMR 6. Aufl. 1966 § 153 Bern. 6. " AE eines StGB, AT 2. Aufl. 1969 § 58; vgl. Begründung des AE S. 115 sowie S. 210.

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entstandene Rechtsfolge war, wie die Protokolle ausweisen2®, nur deshalb vom Sonderausschuß und vom Gesetzgeber als „Absehen von Strafe" bezeichnet worden, weil man die Einführung einer neuen besonderen Reditsfolge sparen wollte. Der Sinn audi des § 16 StGB dürfte jedoch dahin gehen, den durdi die Tat selbst schwer getroffenen Täter von strafrechtlichen Reaktionen freizustellen. Dazu gehört aber m. E. auch, erlittene Verfolgungsmaßnahmen durch Schadensersatz abzugleichen, also ungesdiehen zu machen. Unerfreulich ist auch, daß das Proportionalitätsprinzip nur über eine Billigkeitsentschädigung nach § 4 (1) 2 gewährleistet wird. Überproportionale Verfolgungsmaßnahmen sind alle die, die sich später als solche erweisen! Wenn der Gesichtspunkt nur proportionaler Reaktion allgemein im Strafrecht und Strafprozeßredit Anwendung erheischt27, dann muß dieses Prinzip auch für den Schadensersatz für strafprozessuale Maßnahmen gelten. Zu fordern ist also eine obligatorische volle Entschädigung für den überproportionalen Teil der Verfolgungsmaßnahme 28 . 4.

Gewiß ist in der Frage des Ausschlusses und der Versagung der Entschädigung manche Verbesserung festzustellen 29 . Aber audi hier bleiben leider Wünsdie offen: Am interessantesten ist natürlich die Frage der verschuldeten Mitverursachung, und hier wieder ist am bedeutendsten wohl das Problem der Einlassung des Beschuldigten und dessen Berücksichtigung bei der Frage der Schadensersatzleistung30. Bekanntlich hatten hier § 2 UHaft1 6 Protokoll der 107. Sitzung des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform vom 1 9 . 6 . 6 8 S.2216. Dazu bereits der AE AT 2. Aufl. S. 211; Baumann in DRiZ 70, 2 ff. " Sei es bei Strafen über das Schuldprinzip des § 13, sei es über die Maßregelvorsdirift des § 42 a (2) StGB. Auch in der StPO ist das Proportionalitätsprinzip inzwischen gesetzlich fixiert, vgl. § 112 (1) 2. 1 8 § 2 (1) Nr. 2 des RegE hatte diese volle Entschädigungspflicht auch enthalten. Der Bundesrat hatte sich aber dagegen gewandt, „weil die obligatorische Vollentschädigung in diesen Fällen oftmals zu ungerechtfertigten Ergebnissen führen kann* (a. a. O. S. 11 und dazu die ablehnende Stellungnahme der Bundesregierung a. a. O. S. 14). Der Rechtsausschuß gelangte in seinen Beratungen (Prot. Nr. 21 S. 15 ff., 38) gegen die Meinung des B J M (vgl. Corves u. Schätzler a. a. O. S. 20, 23, 27, 30, 31, 32) zur Billigkeitsentschädigung letztlich aus Erwägungen, die der Unschuldsvermutung zuwiderlaufen. " Audi hier ist allerdings der ursprüngliche RegE etwas verwässert worden: Seine konkrete Formulierung des Ausschlusses in § 4 (2) wurde durch eine allgemeinere (Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit) in § 5 (2) StrEG erweitert, vgl. die Beratungen des Reditsaussdiusses Prot. Nr. 22 S. 7 ff.; 24, 8 ff. s o Vgl. dazu die (leider recht knappe) Diskussion im Rechtsausschuß Prot. Nr. 22, S. 17 ff.

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entschädigungsgesetz und § 1 (4) Strafhaftentschädigungsgesetz manche Zweifelsfragen aufgeworfen, etwa zur Bemessung des Verschuldens nach strafrechtlichen oder zivilrechtlichen Gesichtspunkten etc.81. Das Problem der Einlassung des Beschuldigten ist nunmehr in § 5 (2) und ^ 6 (1) 1 StrEG geregelt32. Danadi ist ausdrücklich festgestellt, daß Niditaussage zur Sache sowie die Nichteinlegung eines Rechtsmittels die Entschädigung nicht ausschließen. Das ist immerhin ein Fortschritt gegenüber der früheren Regelung. Hier waren Entscheidungen ergangen33, die unerträglich waren. Durch das 3. Strafrechtsänderungsgesetz war die unerträgliche Entschädigungsregelung des UHaftentschädigungsgesetzes auch über § 467 StPO in das Kostenrecht übernommen worden84. Über diese Vorschriften wurde der Beschuldigte entgegen § 136 StPO praktisch zur wahrheitsgemäßen Aussage gezwungen, wenn er nicht erhebliche Nachteile kostenmäßiger und entschädigungsrechtlicher Art riskieren wollte. Ist die Rechtslage heute besser geworden? Wegen der gleichlautenden Regelung der Kostenvorschrift des § 467 StPO ist die Kostenlage und die Entschädigungslage nach ξ 6 (1) 1 die, daß (Kostenerstattung und) Entschädigung entfallen können, wenn der Beschuldigte die Strafverfolgungsmaßnahme dadurch veranlaßt hat, daß er sich selbst in wesentlichen Punkten wahrheitswidrig oder in Widerspruch zu seinen späteren Erklärungen belastet oder wesentliche entlastende Umstände verschwiegen hat, obwohl er sich zur Beschuldigung geäußert hat. Zur „wahrheitswidrigen Belastung" ist darauf hinzuweisen, daß eine solche durchaus in einer bestimmten Prozeßsituation taugliches Verteidigungsmittel sein kann, so etwa dann, wenn auf diese Weise ein Alibi gegenüber dem Verdacht einer schwereren Straftat zu geben versucht wird. Entgegnet man darauf, daß es auf die „Tauglichkeit" oder scheinbare Tauglichkeit in der jeweiligen Prozeßsituation nicht ankommen dürfe, so ist das nur möglich, wenn man von einer grundsätzlichen Wahrheitspflicht oder wenigstens Wahrheitslast des Beschuldigten im Strafprozeß ausgeht. Schon hiergegen habe ich Zweifel angemeldet35. Die StPO von 1877 wollte gerade alle Lügenstrafen des S1 Dazu besonders Kleinknecht § 2 UHaftentsdiädigungsgesetz Anm. 1 (frühere Auflage); Fontes in GA 1955, 40. » Vgl. die Begr. zu § 5 RegE ( = §§ 5 und 6 des StrEG) a. a. O. S. 7. " Nachweise bei Baumann, Poena extraordinaria, in GA 1957, 405 ff. M Durch Verweisung in § 467 (2) 2 a. F. auf § 2 UHaftentsdiädigungsgesetz. Jetzt ist die Quasi-Wahrheitspflicht in § 467 (3) 2 Nr. 1 StPO leider immer nodi enthalten (gleichlautend mit § 6). s t In GA 1957, 405 (407).

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gemeinen Rechts beseitigen, und eine Art Lügenstrafe bekommt man auch, wenn man Lügen mit Kosten- und Entschädigungsnachteilen ahndet. Aber mag diese Lösung des Gesetzgebers noch hingenommen werden: nicht erträglich erscheint mir, auch bei wahrheitsgemäßen, aber „widersprüchlichen Belastungen" lediglich eine Kannentschädigung zu normieren 36 . Hier kann ein Verstoß gegen eine angebliche Wahrheitspflicht oder -last nicht behauptet werden. Hier genügt das fahrlässige Verhalten 37 des Beschuldigten, das etwa darin liegen kann, daß der Beschuldigte sich bei einer Vernehmung unklar und mißverständlich ausgedrückt hat. Schon so kann ein Widerspruch zu einer späteren Erklärung zustande kommen, und zwar auch ein „belastender" Widerspruch38. „Augen auf oder Beutel auf" soll wohl auch für das Verhalten im Strafprozeß der tragende Grundsatz sein! Man mag sich damit trösten, daß in § 6 nur eine Kannvorschrift gegeben ist, man mag hoffen, daß die Gerichte schon vernünftig verfahren werden. Aber es ist doch wohl die Aufgabe des Gesetzgebers, solch vernünftiges Verhalten nicht zu erhoffen, sondern vorzuschreiben 39 . Am gravierendsten ist aber sowohl in § 467 StPO wie in § 6 StrEG die Schlechterstellung des Beschuldigten, der „entlastende Umstände verschwiegen hat, obwohl er sich zur Beschuldigung geäußert hat". Der Beschuldigte darf die Einlassung zur Sache nach § 5 verweigern, ohne daß die Entschädigung ausgeschlossen wird. Sagt er aber zur Sache aus, so darf er keinen wesentlichen entlastenden Umstand verschweigen, will er nicht die Schlechterstellung des § 6 riskieren. Er hat also nur die Alternative der Totalaussage oder des völligen Schweigens. Nun ist aber ganz offensichtlich, daß der Beschuldigte in die Situation kommen kann, in der er (von der Beschuldigung) entlastende Umstände etwa deshalb verschweigen will, weil er diese nicht in aller Öffentlichkeit erörtern möchte und daß er glaubt, auch mit seinen sonstigen Einlassungen zum Ziele zu kommen und die Anklage zu Fall zu bringen. Hier steht der Beschuldigte im Ergebnis 36 Der Bundesrat (a. a. O. S. 12) wollte über eine Zumutbarkeitsregelung nicht einmal eine Kannentsdiädigung gewähren. Dagegen die Bundesregierung mit dem richtigen Argument, daß dem Beschuldigten keine Offenbarungspflidit auferlegt werden dürfe (a. a. O. S. 14). 37 Die grobe Fahrlässigkeit würde ja bereits nach § 5 (2) 1 zum Ausschluß der Entschädigung führen. 38 Dieses Problem wird in der Kommentierung von Kleinknecht zu § 6 StrEG leider nicht besonders behandelt. Vielmehr erfolgt hier nur die Verweisung auf die Kommentierung zu § 467 StPO. Dort (und audi in den übrigen Kommentaren) fehlt es aber an der kritischen Stellungnahme zu § 467 (3) StPO. 3 ' Den Ermessensspielraum des Gerichts betont Schätzler Prot. Nr. 22, S. 19.

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schlechter als der Zeuge, der dodi immerhin nach § 55 die Sicherung vor Offenbarung von Ordnungswidrigkeiten hat. Wäre der entlastende Umstand nach § 6 eine Ordnungswidrigkeit, muß der Beschuldigte sich dann auch erklären?

III. Bleibt die Frage, ob wir mit Gesetzen zufrieden sein können, die in dieser Weise mit dem Grundprinzip der Einlassungsfreiheit des Beschuldigten umgehen. Gewiß ist das Bubenstück des früheren Gesetzgebers bei der Fassung des § 136 StPO 40 inzwischen gutgemacht durch eine klare Belehrungspflicht41. Aber wenn es um Geld geht, wenn Kostenerstattung und Entschädigung in Frage stehen, werden mit Vorliebe Lösungen gewählt, die sowohl einer verdeckten Wahrheitspflicht als auch den besonderen fiskalischen Interessen entsprechen. Sollte man nicht davon absehen können? Die Furcht, daß dann viele Bundesbürger durch fahrlässig schlechte Verteidigung im Strafverfahren die Staatskasse unerträglich schröpfen würden, ist doch wohl unbegründet. Selbst wenn es einzelne derartige Fälle geben sollte, stünde es einem Rechtsstaat wohl an, für erlittene Strafverfolgungsmaßnahmen großzügig zu entschädigen42.

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Die bewußte Verdunkelung der Einlassungsfreiheit durdi eine Fassung, die verhindern sollte, daß der Beschuldigte sein Redit erkennt. Als einziger hatte sidi damals der Abgeordnete Herz in der ersten Lesung des § 123 (später 136) gegen diese bewußte Verdunkelung gewandt. Dazu Hahn S. 138 ff., Baumann Narcoanalyse 1950, S. 66 ff. mit weiteren Nachweisen. 41 Gegen nidit unerhebliche Widerstände vor allem seitens der Polizei. Vgl. dazu die Verhandlungen der Arbeitstagung des Bundeskriminalamtes März 1961, in Strafreditspflege, Straf reditsreform 1961 (daselbst Baumann S. 211 ff.). " Mit Unbehagen liest man in der Begründung des RegE S. 10, daß bei Geltung der alten Entschädigungsgesetze die Aufwendungen des Bundes pro anno weniger als D M 3000,— und die der Länder zwisdien D M 1000,— (Sdileswig-Holstein) und DM 26 000,— (Bayern) betrugen. Vgl. weiter Schätzler in Prot. Nr. 19 S. 42. Die für das StrEG veranschlagten 10 Millionen D M nehmen sidi vergleichsweise gewaltig aus, sollten dodi aber leiditen Herzens ausgegeben werden.

RECHTSVERGLEICHUNG — INTERNATIONALES, AUSLÄNDISCHES UND KANONISCHES STRAFRECHT

Strafen und Maßregeln des Musterstrafgesetzbuchs für Lateinamerika im Vergleich mit dem deutschen Recht5' H A N S - H E I N R I C H JESCHECK

Der Allgemeine Teil eines Musterstrafgesetzbuchs für Lateinamerika (Código penal tipo para Latinoamérica) 1 ist auf der VI. Vollversammlung der iberoamerikanischen Redaktionskommission im April 1971 in Säo Paulo (Brasilien) verabschiedet worden. Der Entwurf ist aus der langjährigen Zusammenarbeit von führenden Strafrechtslehrern der meisten süd- und mittelamerikanischen Staaten erwachsen2 und stellt damit eine repräsentative, in Gesetzesform gefaßte Äußerung der Fachwelt eines ganzen Kulturkreises zu den aktuellen Problemen der Strafreditsreform dar. Ebenso wie der Model Penal Code des American Law Institute von 1962 will sich der Código penal tipo jedoch nicht bloß als theoretische Aussage der lateinamerikanischen Strafrechtswissenschaft ^erstanden wissen, seine Verfasser trachten vielmehr danach, den beteiligten Ländern ein in die nationale Gesetzgebung übernehmbares Modell für die Neugestaltung ihres zum Teil weit überalterten und durchweg reformbedürftigen Strafrechts zu liefern. Das lateinamerikanische Musterstrafgesetzbuch ist somit ein Teilstück der großen internationalen Reformströmung auf dem Gebiet der Kriminalpolitik, die seit etwa 15 Jahren mit der tiefen Wandlung der sozialen Verhältnisse und der entsprechenden Änderung des gesellschaftlichen Bewußtseins in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingesetzt hat 3 . Um das Gesamtbild dieser Bewegung in die Erinnerung zu rufen, seien hier nur angeführt in England der First Offenders Act von 1958 und die beiden Criminal Justice Acts von 1961 und 1968, in Frankreich der neue Code de procedure pénale von 1958 mit der Einführung der Bewährungshilfe * Der nadifolgende Beitrag beruht auf einem Seminar über „Das strafrechtliche Rechtsfolgensystem und seine Grundlagen in Lateinamerika", das der Verfasser im Sommersemester 1971 zusammen mit den Professoren Ricardo Levene - Buenos Aires (Argentinien), Antonio Beristain Ipiña - Oviedo (Spanien) und L. KosRabcewicz-Zubkowski - Ottawa (Kanada) an der Universität Freiburg gehalten hat. 1 Proyecto de Código penal tipo para Latinoamérica, Parte General, Revista de derecho penal y criminologia 1971, 295. Abgedruckt audi im portugiesischen Boletim do Ministério da Justiça, 1972, N r . 214, S. 223 ff. 2 Vgl. die Liste der Mitarbeiter in: Criminalia (Órgano de la Academia Mexicana de ciencias penales) 36 (1970) S. 650 f. s Vgl. Jesdeck, Strafrecht im Wandel, Ö J Z 1971, 1 f.

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und das Gesetz von 1970 mit der Ersetzung der „relégation" durch die „tuteile pénale" und dem Ausbau der bedingten Verurteilung4, in Italien das Gesetz über die bedingte Entlassung von 1962, in Belgien die beiden Gesetze von 1964 über die bedingte Verurteilung und die soziale Verteidigung, in Schweden das neue StGB von 1964, in Portugal der Entwurf des StGB, Allgemeiner Teil 1963 von Eduardo Correla, der zu einer nunmehr bevorstehenden Reform des Strafund Maßregelrechts geführt hat40, in den USA die neuen Strafgesetzbücher von Illinois (1961) und New York (1965) und die Entwürfe in verschiedenen anderen Staaten, in Südamerika das neue Strafgesetzbudi Brasiliens von 19694b, das freilich nodi nicht in Kraft getreten ist, und im deutschen Sprachraum die beiden Strafrechtsreformgesetze der Bundesrepublik von 1969, das neue StGB der DDR von 19685, die schweizerische Teilrevision von 1971® und der österreichische Regierungsentwurf für ein neues Strafgesetzbuch von 19717. Alle diese Gesetze und Entwürfe, deren Aufzählung nodi erheblich vermehrt werden könnte, sind nidit unabhängig voneinander entstanden und dürfen deshalb auch nicht isoliert betrachtet werden. Vielmehr hat es infolge der hohen Entwicklung der Strafreditsvergleichung und dank des von den internationalen Fachvereinigungen stark geförderten Austausche von Informationen zahlreiche Querverbindungen gegeben, die uns heute erlauben, die Stufen der Strafrechtsreform in den einzelnen Ländern und Erdteilen aneinander zu messen. Neben dem in Südamerika traditionell lebendigen Einfluß des italienischen Positivismus und der spanischen Strafrechtslehre haben auch der deutsche Entwurf 1962 und wahrsdieinlidi der Alternativ-Entwurf von 1966 auf das Musterstrafgesetzbuch eingewirkt. Ein Vergleich des Sanktionensystems des Código mit dem der Strafrechtsreformgesetze von 1969 als dem Endresultat der beiden deutschen Entwürfe ist deswegen 4 Vgl. dazu Fransès-Magre, Commentaire de la loi du 17 juillet 1970, Revue pénitentiaire et de droit pénal 1971, 323 und 523. 4a Vgl. dazu Almeida Costa, Reforma do direito penal, Boletim do Ministério da Justiça, 1972, N r . 214, S. 5 ff. 4b Decreto-Lei N r . 1004 v. 21.10.1969, in: Leis do Brasil-Coleçâo das Leis de 1969, Bd. VII, S. 583 ff. 5 Vgl. dazu SAroeder, Die Strafgesetzgebung in Deutschland, 1972; ferner Materialien zum Bericht zur Lage der Nation, Bundestagsdrucksache VI/3080 v. β! 2.1972, S. 203 ff.; Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 2. Aufl. 1972 S. 70 ff. • Vgl. dazu Schultz, Schweizer Strafrecht, ZStW 83 (1971) S. 1045 ff. und Germann, Grundzüge der Partialreform des schweizerischen StrGB durch das Gesetz v. 18. März 1971, SdiwZStr 87 (1971) S. 337 ff. 7 Vgl. dazu Pallin, Lage und Zukunftsaussiditen der österreichischen Strafrechtsreform im Vergleich mit dem deutschen Recht, ZStW 84 (1972) S. 198 ff.

Musterstrafgesetzbuch für Lateinamerika

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berechtigt. Die Beschränkung auf das Strafen- und Maßregelsystem erklärt sich daraus, daß an dieser Stelle der auch geistesgeschichtlich bedeutsame Schwerpunkt der modernen Kriminalpolitik liegt, dem Ernst Heinitz immer wieder seine wissenschaftliche Aufmerksamkeit zugewendet hat 8 . Das starke Interesse des Jubilars für Südamerika hat die Juristische Fakultät in Säo Paulo mit dem Ehrendoktor gewürdigt.

I. Die Voraussetzungen der Schaffung des Musterstrafgesetzbuchs für Lateinamerika 1. Die Länder Lateinamerikas gehören nach Geist und System ihres Strafrechts dem kontinental-europäischen Rechtskreis an. Sie bilden zusammen einen durch Geschichte, Sprache, Kultur, Religion und zum Teil auch die sozialen Verhältnisse geprägten besonderen Zweig ihrer Mutterländer, der aus dieser Wurzel immer nodi einen erheblichen Teil seiner Kraft zieht 9 . Von den südamerikanischen Strafgesetzbüchern sind einige stark veraltet, wie das bolivianische von 1834 oder das chilenische von 1874. Aber auch soweit die Grundlagen des Strafrechts im 20. Jahrhundert schon einmal neu gelegt worden sind, was für die meisten Staaten zutrifft 10 , empfindet man angesichts der Bewegung in Europa stark die Reformbedürftigkeit des herkömmlichen Systems, vor allem im Bereich der Strafen und Maßregeln 11 . Wenn auch viele Pläne angesichts der alle Kriminalpolitik überspielenden Macht der sozialen Verhältnisse Traum und Utopie bleiben müssen, so wird doch überall an der Reform des Strafrechts gearbeitet. 8 Vgl. u. a. Heinitz, Strafzumessung und Persönlichkeit, ZStW 63 (1951) S. 57 ff.; Der Ausbau des Strafensystems, ZStW 65 (1953) S. 26 ff.; Empfiehlt sich die Dreiteilung der Straftaten auch für ein neues StGB? Materialien zur Strafreditsreform, Bd. I 1955, S. 55; Die Folgen der strafgeriditlidien Verurteilung, in: Deutsdie Beiträge zum VII. Internationalen Strafreditskongreß in Athen, 1957, S. 149 ff.; Der Entwurf des Allgemeinen Teils des StGB vom kriminalpolitischen Standpunkt aus, ZStW 70 (1958) S. 1 ff.; Die Individualisierung der Strafen und Maßnahmen in der Reform des Strafrechts und des Strafprozesses, 1960; Philosophie und Strafrecht, in: Gedanken zur Strafrechtsreform, 1965, S. 7 ff.; Literaturbericht Kriminalpolitik, ZStW 83 (1970) S. 729 ff. • Eine Ausnahme macht infolge der seit 1900 bestehenden Zugehörigkeit zu den USA Puerto Rico; es orientiert sidi im Straf recht nach nordamerikanisdien Vorbildern; vgl. Jiménez de Asúa, Tratado de derecho penal, Bd. I, 2. Aufl. 1956, S. 1107 ff. 10 Vgl. den Uberblick von Levene, Los actuales códigos penales latinoamericanos, L'indice penale 1971, 441 ff. 11 Vgl. Novoa Monreal, Franz ν. Liszt und der Entwurf eines lateinamerikanischen Strafgesetzbuchs, ZStW 81 (1969) S. 753.

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Dadurch erklärt sich die große Zahl der Entwürfe, die in den letzten Jahren entstanden sind, wie der Código penal tipo Mexicano von 1963, das Anteproyecto de Código penal Venezolano von 1967, das Proyecto de Código penal Portorriqueño von 1969 und das Anteproyecto de Código penal para Ecuador von 1969. Alle diese Vorschläge haben noch nicht zu definitiven gesetzgeberischen Schritten geführt. Die Reformsituation in Südamerika ist vielmehr offen geblieben. Besondere Bedeutung für den Inhalt und die Aussichten eines lateinamerikanischen Musterstrafgesetzbudis hat die Strafrechtsreform in den beiden größten Ländern des Erdteils Argentinien und Brasilien. Das argentinische StGB von 1921 ist zwar verhältnismäßig jung, hat aber trotzdem in den fünf Jahrzehnten seiner Geltung eine ganze Kette von Reformentwürfen nach sich gezogen, die vor allem die tiefgehende Unruhe in der Beurteilung der strafrechtlichen Grundfragen widerspiegeln. Die Entwicklung gelangte zu einem vorläufigen Abschluß mit dem Entwurf von Sebastián Soler von 1960, der nicht mehr einen vollständigen Umsturz des geltenden Strafrechts nach Vorbildern des italienischen Positivismus anstrebte wie die meisten seiner Vorgänger, sondern eher eine behutsame Ergänzung des bestehenden Rechts durch die praktischen Notwendigkeiten moderner Kriminalpolitik herbeiführen wollte, wobei sowohl Einflüsse der Lisztsdien Lehre als auch der französisch-italienischen Defense sociale bemerkbar sind12. Zu einem Abschluß ist die argentinische Strafrechtsreform jedoch trotz aller Anstrengungen nie gelangt. Das brasilianische StGB von 1940 ist sogar noch zwanzig Jahre jünger als das argentinische, geriet aber gleichwohl sofort in das Kreuzfeuer der Kritik. Das sichtbare Ergebnis der Reformbestrebungen war der Entwurf von Nelson Hungría von 1963 13 , der nach mehrfachen Um12 Vgl. zur Entstehungsgeschichte des argentinischen StGB von 1921 und zu den Reformbestrebungen Jiménez de Asúa, Tratado de derecho penal, Bd. I, 2. Aufl. 1956, S. 935 fi.; derselbe, El Código penal argentino, 2. Aufl. 1943; ferner Mattes, Einleitung zur Übersetzung des argentinischen StGB, Sammlung Außerdeutscher Strafgesetzbücher in deutscher Übersetzung, Nr. 71, 1957. Zu den Entwürfen 1951 und 1953 ferner Jiménez de Asúa, Das Strafrecht Iberoamerikas während der letzten 2 Jahre (1951—1952), ZStW 66 (1954) S. 450 ff.; derselbe, Das Strafredit Lateinamerikas 1953, ZStW 68 (1956) S. 295 ff. Zum Entwurf Soler eingehend Mattes, Der argentinische Entwurf zu einem Strafgesetzbuch von 1960, ZStW 75 (1963) S. 311 ff.; weiter Rodríguez Devesa, El Anteproyecto de Código penal argentino de 1960 de Sebastián Soler, Anuario de derecho penal, 1960, S. 364 ff.; Jiménez de Asúa-Laplaza, Comentarios al Proyecto de Código penal argentino, 1962. 1 3 Anteprojeto de Código Penal, Parte Gérai von Nélson Hungría, Revista Brasileira de Criminologia e Direito Penal 1963, 169.

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arbeitungen zu dem Strafgesetzbuch von 1969 geführt hat 14 . Dieses neue StGB ist jedodi bisher nicht in Kraft getreten, offenbar weil man sich über seinen Inhalt, insbesondere über einige für Brasilien neuartige Lösungen, wie die unbestimmte Verurteilung und das Tagesbußensystem bei der Geldstrafe (das freilich schon das brasilianische StGB von 1830 in der Form der „dias-multa" kannte), noch nicht endgültig einig geworden ist. Audi Brasilien ist also für Impulse, die von dem Musterstrafgesetzbuch für Lateinamerika ausgehen könnten, noch weitgehend offen. 2. Trotz der Vielfalt der politischen Landkarte gibt es in Südamerika ein durch Herkunft, geographische Lage, Kultur, Sprache, Tradition und Interessen geprägtes Einheitsbewußtsein15. Man rechnet ernstlich mit der Möglichkeit einer Rechtsvereinheitlichung und hält unter den verschiedenen Gebieten, die dafür in Betracht kommen, besonders das Strafrecht für aussichtsreich und dringlich16. Der Gedanke, auf der bestehenden historischen und politischen Grundlage gemeinsam ein Musterstrafgesetzbudi für Lateinamerika auszuarbeiten, das den einzelnen Ländern bei ihren Reformen als Leitstern oder gar als Modell dienen sollte, ging von dem Instituto de Ciencias Penales de Chile in Santiago aus. Dort legte der Direktor des Instituts, Eduardo Novoa Monreal, der Inspirator, Organisator und Motor der gesamten Entwurfsarbeit, am 8. Oktober 1962 zum ersten Mal die Grundidee dieses Vorhabens dar. Ein knappes Jahr später wurde ein konkreter Arbeitsplan von der Vollversammlung des Instituts gebilligt. Bemerkenswert für die an sich rein strafrechtlich geschulten Teilnehmer ist ferner, daß zur Vorbereitung des Entwurfs noch ein Arbeitspapier über soziale Fragen geschaffen wurde (Documento de Trabajo No. 2 „Las realidades sociales y culturales de hoy en Iberoamérica y su influencia en la nueva legislación penal") 1 7 . Das Dokument stellt eine Art kurzer Bestandsaufnahme der anstehenden Fragen unter den Zwischentiteln „Neue Bedingungen der sozialen Umwelt", „Gegenwärtiger Stand der Wissenschaften vom Menschen" und 14 Código penal, Decreto-Lei No. 1004 v. 21. October 1969, Textausgabe in: Legislaçâo Brasileira, 1970. 1 5 Vgl. den die Entwurfsarbeit einleitenden Brief von Novoa Monreal an die Justizminister Lateinamerikas und die strafrechtliche Fachwelt in: Proyecto de Código penal tipo para Latinoamérica, Criminalia 1965, 205 f. , β Audi Jiménez de Asúa, Dos códigos penales tipo, La Ley 1964, 994 hielt die Strafrechtsvereinheitlichung in Südamerika für möglich und zog ausdrücklich die Parallele zum Model Penal Code des American Law Institute von 1962. Bis jetzt haben Costa Rica und honduras die Absicht geäußert, das Musterstrafgesetzbuch in ihr nationales Recht zu übernehmen. Auch Kolumbien beabsichtigt, den Entwurf in seine Strafrechtsreform einzubeziehen; vgl. Criminalia 1970, 660 f. 17 Abgedruckt in: Criminalia 1965, 217 ff.

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„Neue juristische und kulturelle Werte" dar und zeigt deutlich, daß man sich der sozialen Bedingtheit des gesamten Reformwerks und insbesondere der enormen Schwierigkeit des verschiedenartigen Entwicklungsstandes der beteiligten Länder bewußt gewesen ist, die sowohl ultramoderne Großstädte und hochentwickelte Industriegebiete hervorgebracht haben, als auch äußerste Armut, Unterentwicklung und schärfste soziale Ungerechtigkeit kennen, von den einzigartigen Problemen der noch fast unerforschten Urwaldgebiete Innerbrasiliens ganz zu schweigen. Das Arbeitspapier versucht einmal, in Stichworten einen Überblick über die gewaltigen sozialen Veränderungen dei Gegenwart zu geben und deren Auswirkungen auf die Kriminalität und das Strafrecht anzudeuten. Hingewiesen wird in diesem Zusammenhang auf die rasch fortschreitende Industrialisierung Südamerikas, auf die Bedeutung der Massenmedien für die Veränderung des gesellschaftlichen Bewußtseins, auf die Wirtschaftskriminalität, die scharfen Klassengegensätze, die explosive Bevölkerungsvermehrung, auf Terrorismus und Gewaltanwendung, Alkoholismus und Rauschgiftsucht, endlich auch auf die Bestrebungen, in Südamerika einen einheitlichen Markt ohne Zollschranken zu errichten. Das Arbeitspapier verweist ferner auf neue Erkenntnisse der Biologie, Psychologie, Psychiatrie und Verhaltensforschung, die für die Behandlung Straffälliger und die Verbrechensvorbeugung nutzbar gemacht werden könnten. Endlich gibt das Dokument noch eine Zusammenstellung neu entstandener Rechtsgüter und der danach erforderlichen neuen Strafvorschriften im Besonderen Teil. 3. Die technische Durchführung der Entwurfsarbeit stellt eine bemerkenswerte Leistung der Organisation und Kooperation in einem ganzen Erdteil dar 18 . An der ersten Konferenz in Santiago im November 1963 nahmen 24 führende Strafrechtslehrer aus verschiedenen Ländern Lateinamerikas teil, darunter aus Argentinien Jiménez de Astia und Sebastián Soler, aus Brasilien Heleno Claudio Fragoso und Nelson Hungría, aus Mexico Ricardo Franco Guzman. Es wurde ein Redaktionsausschuß gebildet, der sich aus dem Vollzugssekretariat, mehreren regionalen Arbeitsausschüssen und den regelmäßigen Vollversammlungen zusammensetzt. Novoa Monreal wurde zum Leiter des Vollzugssekretariats bestellt, das Institut für Strafrechtswissenschaften in Santiago de Chile wurde damit zum geistigen und organisatorischen Mittelpunkt der Entwurfsarbeit. Zwölf regionale Arbeitsausschüsse aus Strafrechtslehrern der betreffenden Länder wurden in Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, Ecuador, Columbien, Mexico, 1 8 Vgl. Novoa Monreal, Criminalia 1970, 649 ff.

ZStW 81 (1969) S. 757 f.; ferner die Darstellung in:

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Mittelamerika, Peru und Venezuela errichtet. Durch das Vollzugssekretariat wurden die Materien auf die Arbeitsausschüsse verteilt, deren Sitzungen koordiniert und die Ergebnisse zur Vorbereitung der Vollversammlungen systematisch aufgearbeitet und bekanntgegeben. Folgende Vollsitzungen des Redaktionsausschusses haben bisher stattgefunden: I. Santiago de Chile, November 1963; II. Mexico, Oktober 1965; III. Lima, April 1 9 6 7 ; IV. Caracas, Januar 1 9 6 9 ; V. Bogotá, März 1970; VI. Säo Paulo, April 1971. Auf der letztgenannten Konferenz ist der Text des Allgemeinen Teils des Musterstrafgesetzbuchs verabschiedet worden. 4. Der Einfluß der deutschen Entwürfe auf den Allgemeinen Teil des Código penal tipo ist schwer abzuschätzen, weil die Protokolle der Vollversammlungen, abgesehen von der zweiten vom Oktober 1965 in Mexico 19 , nicht veröffentlicht sind. Immerhin gibt es viele deutliche Parallelen zu dem deutschen E 1962, der zu Beginn der Arbeiten in Lateinamerika bereits vorlag, und auch ein Einfluß des 1966 veröffentlichten Allgemeinen Teils des Alternativ-Entwurfs ist mindestens wahrscheinlich. Zahlreiche führende Gelehrte, die an der Entwurfsarbeit mitgewirkt haben, kennen die deutsche Strafrechtswissenschaft genau und haben sich über die Entwicklung der Reformarbeiten informiert. Das gilt in ganz besonderem Maße für Jiménez de Asúa20, aber auch für Novoa ¿nonreal21, Nelson Hungría, Heleno 1β Código penal tipo para Latinoamérica, Mexico 1967, wo weitaus am meisten auf deutsches Strafrecht, deutsche Entwürfe und deutsche Literaturmeinungen Bezug génommen wird; vgl. z . B . S. 74 f., 83 f., 91 f., 96 ff., 166 ff., 174, 203 ff., 224 ff., 259 f., 280 f., 292 ff., 325 f., 331, 353, 358, 368 f., 375, 405, 428 f., 436 f., 457 f. Wichtig war auch, daß zwei führende moderne deutsche Werke zum Allgemeinen Teil in spanischer Sprache vorliegen, und zwar Maurach, Tratado de derecho penal, Teil I, II, 1962, übersetzt von Juan Córdoba Roda sowie Welzel, Derecho penal, Parte general, 1956, übersetzt von Carlos Fontán Balestra und neuerdings Derecho penal alemán, Parte general, 11° edición, 1970, übersetzt von Juan Bustos Ramírez und Sergio Yáñez Pérez. Das Lehrbuch Franz v. Liszts war in Spanien schon 1914 bis 1917 in 3 Bänden von Saldana und Jiménez de Asúa (Bd. 2 u. 3) übersetzt worden (Neuauflage 1927—29), das Lehrbuch von Edmund Mezger, Bd. I, 1955 von Rodríguez Muñoz, Bd. I I 1957 von demselben mit Anmerkungen von Quintane Ripollés. Außerdem gibt es von dem Verfasser dieses Beitrages einen Beridit über den E 1962 in spanischer Sprache in Anuario de Derecho Penal y Ciencias Penales X V (1962) S. 253, in portugiesischer Sprache in Boletim do Ministério da Justiça 1963 Nr. 131. 20 Jiménez de Asúa hat sich zeit seines Lebens als Schüler Franz von Liszts verstanden, wie er in seinem sehr persönlich gehaltenen Beitrag zum Liszt-Gedächtnisheft selbst betont hat; vgl. „Corsi e ricorsi", ZStW 81 (1969) S. 687. Vgl. auch den großen Nachruf von Mattes, ZStW 84 (1972) S. 196. 2 1 Vgl. Novoa Monreal, ZStW 81 (1969) S. 755 f.: „Wer jedoch die Verbundenheit dieses Entwurfs mit dem Lisztschen Denken leugnen wollte, würde die tieferen Wurzeln der Beweggründe menschlichen Handelns verkennen."

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Claudio Fragoso, Sebastián Soler und Paulo José da Costa und andere Mitarbeiter. Man wird davon ausgehen können, daß die deutsche Reformsituation, die gerade in den Jahren der Ausarbeitung des lateinamerikanischen Musterstrafgesetzbuchs zu modernen Lösungen heranreifte, durch die Beiträge der am deutschen Recht interessierten Kommissionsmitglieder im Bereich der Kriminalpolitik den gleichen Einfluß gehabt hat, wie man ihn den Protokollen der Tagung in Mexico für die überwiegend dogmatischen Themen entnehmen kann 22 .

II. Das System der Strafen und Maßregeln im Entwurf 1. Das Musterstrafgesetzbuch für Lateinamerika baut ebenso wie das geltende deutsche Strafrecht 23 auf dem Schuldprinzip auf, führt es aber nicht in ebenso konsequenter Weise durch. Gegenüber dem früher vorherrschenden Einfluß des italienischen Positivismus, der die Strafe allein auf die Gefährlichkeit des Täters gründen wollte 24 , haben sich in Südamerika nunmehr die viel stärker am Schuldprinzip orientierten Entwürfe Solers für Argentinien (der aber nur zu einer Teilreform geführt hat) 25 und Hungrias für Brasilien nebst dem brasilianischen StGB von 1969 selbst durchgesetzt 26 . Audi Jiménez de Asúa, dessen Einfluß auf die Redaktionskommission bedeutend gewesen ist, hatte zur Zeit der Entwurfsarbeiten seine frühere Vorliebe für das radikale Reformdenken Ferris27 und das utopische „Schutzrecht für Kriminelle" im Stile seines Landsmanns Dorado Montero28 längst hinter sich gelassen, obwohl diese Vorstellung für Jiménez im Sinne eines für eine ferne Zukunft anzustrebenden „ Idealrechts " immer maßgebend geblieben ist. Er vertrat in den Jahren seiner Meisterschaft eine Schuldlehre, die sich eng an die deutsche Strafrechtswissenschaft anschloß 29 , und die wohl auch in seinen kriminalpolitiVgl. oben Fußnote 19. Vgl. Jescheck, Lehrbuch des Strafredits, 2. Aufl. S. 14 ff. 2 4 Vgl. Ferri, Sociologia criminale, Bd. II, 5. Aufl. 1930, S. 257 ff. 2 5 Proyecto de Código Penal. Edición oficial, Buenos Aires 1960, Art. 18. 2 6 Código penal 1969, Legislaçâo Brasileira, 1970, Exposiçâo de Motivos Nr. 1 1 : „O principio ,nullum crimen sine culpa' é una das constantes do projeto e sua significaçâo exegética näo deve ser esquecida." 2 7 Vgl. Jiménez de Asúa, Estudio crítico del Proyecto de Código penal italiano de 1921, 1922; derselbe, El estado peligroso. Nueva fórmula para el tratamiento penal y preventivo, 1922. 2 8 Vgl. Jiménez de Asúa, El nuevo Código penal argentino, 1928; derselbe, Tratado de derecho penal, Bd. II, 3. Aufl. 1964, S. 27, 214 ff. 2> Vgl. Jiménez de Asúa, Tratado de derecho penal, Bd. V, 2. Aufl. 1963, S. 70 ff. Über die Auswirkungen der Schuldlehre von Jiménez auf seine Vorstellungen vom Rechtsfolgensystem vgl. audi Mattes, ZStW 84 (1972) S. 162 f., 169 f., 191 f. 22

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sehen Vorstellungen ihren Niederschlag gefunden haben muß, obwohl man dessen nicht ganz sicher sein kann, da das Rechtsfolgensystem im Rahmen seines gewaltigen Tratado niemals zur Ausarbeitung gelangt ist, ebensowenig wie der geplante Teil über den „Täter", aus dem man Hinweise auf die Endstufe der Entwicklung seiner Gedanken zu den Strafen und Maßregeln hätte entnehmen können 30 . Das Schuldprinzip hat sogleich einen hervorragenden Platz als N r . V I in der Erklärung der Grundprinzipien („Declaración de Principios") erhalten, die zu Beginn der Entwurfsarbeit vom Redaktionsausschuß einstimmig angenommen worden ist: „Es gibt kein Verbrechen ohne Schuld. Die Strafgesetze müssen jede Form objektiver Verantwortlichkeit verbannen" 3 1 . Das Musterstrafgesetzbuch selbst enthält dagegen nur Bestimmungen, aus denen sich das Bekenntnis zum Schuldprinzip mittelbar entnehmen läßt. So gibt es entsprechend dem § 15 des deutschen Allgemeinen Teils 1973 die Vorschrift, daß „niemand für eine gesetzlich festgelegte Tat bestraft werden kann, der sie nicht vorsätzlich begangen hat, abgesehen von den Fällen, in denen Fahrlässigkeit ausdrücklich vom Gesetz mit Strafe bedroht ist" (Art. 24 Abs. 1). Ferner wird ebenso wie in § 56 des deutschen StGB bei den erfolgsqualifizierten Delikten wenigstens Fahrlässigkeit hinsichtlich der Folge verlangt (Art. 24 Abs. 2). Weiter sieht Art. 37 Abs. 1 nach dem Muster der limitierten Akzessiorität im deutschen Recht ( § 5 0 Abs. 1 StGB) vor, daß jeder an einer Straftat Beteiligte nach seiner Schuld bestraft wird. Endlich enthält auch die Strafzumessungsvorschrift des Art. 73 einen Hinweis auf das Schuldprinzip (wenn audi nicht in der ausdrücklichen F o r m des § 13 Abs. 1 Satz 1 des deutschen StGB), da hier unter den vom Richter zu beachtenden Umständen die „Qualität der maßgeblichen Beweggründe" des Täters erscheint (Nr. 4). D a ß dabei an die Schuld als Strafzumessungsgrund gedacht ist, wird deutlich, wenn man diese Bestimmung mit den beiden vorhergehenden vergleicht, in denen offensichtlich auf das E r folgsunrecht (Nr. 2) und auf das Handlungsunrecht ( N r . 3) abgestellt s o Die Schlußbemerkung in Asúas Liszt-Aufsatz, ZStW 81 (1969) S. 699 klingt jedenfalls nach einem indirekt ausgesprochenen Abschied von der Hoffnung auf die Einführung des „Idealrechts" in absehbarer Zeit: „Längst haben wir unsere Illusionen begraben; wir haben unsere Zuflucht zur Dogmatik genommen und unsere ganz fernen und fast aussichtslosen Hoffnungen allein auf eine Kriminologie gerichtet, die in einer uns allerdings jeden Tag weiter entrückt erscheinenden Zukunft vielleicht das Strafrecht ersetzt", zugleich hat Jiménez aber auch die „Gradlinigkeit seines Denkweges" mit Leidenschaft betont (vgl. S. 699 Fußnote 52). " Spanischer Text in Criminalia 1965, S. 225 und in Criminalia 1970, S. 651 f. Wie Satz 2 erkennen läßt, beschränkt sidi die Garantie des Schuldprinzips hier auf den Ausschluß der Erfolgshaftung. Eine Strafzumessung in den Grenzen und nach dem Maße der Schuld wird an dieser Stelle nicht zugesichert.

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wird. Eine Regelung, daß die Strafe das Maß der Schuld nicht überschreiten dürfe (§ 2 Abs. 2 AE), enthält Art. 73 des Musterstrafgesetzbudis allerdings nicht. Eine derartige Einengung der Ermessensfreiheit des Richters hätte den am kriminalpolitischen Zweck orientierten Schöpfern des Entwurfs fern gelegen. Möglicherweise handelt es sich dabei um eine Nachwirkung des Schulenstreits, der in Südamerika lange Zeit mit Leidenschaft ausgetragen worden ist. Aber audi die Gefährlichkeit des Täters („peligrosidad") wird unter den zu berücksichtigenden Strafzumessungsgründen nicht mehr erwähnt. Der Entwurf steht damit in einem auffälligen Gegensatz sowohl zu Art. 42 Nr. 2 des geltenden argentinischen StGB von 1921 als auch zu Art. 73 Abs. 3 des Entwurfs Soler, wo die Strafe immer noch als Zweckstrafe im Hinblick auf die „perversidad" und die „peligrosidad" der Täterpersönlichkeit verstanden wird, eine Zweckstrafe, die zwar an die Schuld des Täters anknüpft, aber in ihrem Maß wesentlidi von seiner Gefährlichkeit bestimmt wird. Schon das brasilianische StGB von 1969 enthält indessen eine solche Vermischung von Schuld- und Gefährlichkeitsgesichtspunkten bei der Strafzumessung nicht mehr. Die maßgebliche Strafzumessungsbestimmung des Art. 52 entspricht ziemlich genau dem, was in § 13 Abs. 2 des deutschen StGB gesagt ist. 2. Das Schuldprinzip führte auch in der abgeschwächten Bedeutung, die ihm das Musterstrafgesetzbuch gibt, mit Notwendigkeit zu einem zweispurigen System. Der Entwurf kennt unter dem Oberbegriff „Sanktionen" sowohl Strafen (Art. 42 ff.) als auch sichernde Maßregeln (Art. 55 ff.). Die Einführung der unbestimmten Verurteilung ist in der Kommission erwogen worden, hat sich aber nicht durchgesetzt 32 . Auch in diesem Punkte unterscheidet sich das Musterstrafgesetzbuch sowohl von dem argentinischen StGB von 1921 (Art. 52) und dem Entwurf Soler (Art. 89 f.), wo die Einschließung von unbestimmter Dauer gegenüber Gewohnheitsverbrechern als ausgesprochene Sicherungsstrafe vorgesehen ist 33 , ebenso auch von dem brasilianischen StGB von 1969, das sich mit der unbestimmten Verurteilung von Gewohnheits- und Neigungstätern (Art. 64) insoweit bewußt vom Tatschuldprinzip gelöst hat 34 , aber möglicherweise gerade deswegen auf Bedenken im eigenen Lande gestoßen ist. Während das Musterstrafgesetzbuch somit durch die Ablehnung der unbestimmten Verurteilung einerseits die Anknüpfung der Strafe an die Schuld unterstreicht, andererseits die Schuldunabhängigkeit der Maßregeln ®! Vgl. den (allerdings redit kurzen) Bericht von Ramos Mejía, La cuarta reunión de la Comisión redactora, Revista de Deredio penal y criminología 1969, 112. » Vgl. dazu Mattes, ZStW 75 (1963) S. 337. 54 Vgl. Exposiçâo de Motivos, Nr. 26.

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hervorhebt, ist jedoch die Trennung der beiden Bereiche längst nicht so deutlich vollzogen wie im deutschen Recht. So kann anstelle der herabgesetzten Strafe für vermindert Zurechnungsfähige ausschließlich eine Heilmaßregel angeordnet werden, wenn die Auferlegung der Strafe die geeignete Behandlung des Täters beeinträchtigen würde; der Richter kann aber audi allein auf eine Strafe oder auch auf Strafe und Heilmaßregel nebeneinander erkennen, wobei er endlich sogar die Reihenfolge der Vollstreckung zu bestimmen hat (Art. 20 Abs. 2). Soweit nur auf die Maßregel erkannt wird, erfüllt diese zugleich die Funktion der Strafe, da der vermindert Zurechnungsfähige nach Auffassung des Entwurfs immerhin eine seiner Schuld angemessene, wenn audi herabgesetzte Strafe verdient, während die Unterbringung des voll Unzurechnungsfähigen nach Art. 19 Abs. 2 reine Sicherungsmaßregel ist. Auch die Rückfallstrafe, die bis zur Hälfte des Strafmaximums verschärft werden kann (Art. 69), ist nicht wie in § 17 des deutschen StGB durch eine Vorwerfbarkeitsklausel an das Schuldprinzip gebunden, sondern schon im ersten Wiederholungsfalle zulässig, wobei nicht mehr verlangt wird, als daß die neue Tat und die Vortat beide entweder vorsätzlich oder fahrlässig begangen sein müssen. Der Strafzuschlag bekommt damit den Charakter einer sehr weitgehenden Sicherungsmaßnahme gegen Rückfällige. Endlich ist auch bei den Gewohnheits- und Berufsverbrechern die Austauschbarkeit von Strafe und Maßregel in einem über das deutsche Recht weit hinausgehenden Umfange möglich. So wird bei dieser Gruppe einerseits sowohl das Minimum als auch das Maximum der Strafdrohung um die Hälfte angehoben; das Gericht kann aber andererseits auch auf die Strafschärfung verzichten und eine zur Normalstraîe hinzutretende Sicherungsmaßregel (Internierung oder Aufsicht) anordnen (Art. 72). Der Strafzuschlag hat hier also offensichtlich die gleiche Funktion wie die Maßregel und umgekehrt. Das Verhältnis von Strafen und Maßregeln wird man danach im ganzen dahin zu verstehen haben, daß die Strafe zwar grundsätzlich der Tatsdiwere und Schuld zu entsprechen hat, daß aber bei Rückfälligen und Gewohnheitsverbrechern die Strafe von der Schuld teilweise gelöst ist und Sicherungsfunktionen mit übernimmt, während bei vermindert Zurechnungsfähigen die Maßregel auch die Strafe in der Funktion des Schuldausgleichs vertreten kann. Die strenge Trennung der beiden Bereiche gilt also nur für Normalfälle, insbesondere für Ersttäter, während der Entwurf der Gefährlichkeit oder Behandlungsbedürftigkeit von vermindert Zurechnungsfähigen, Rückfälligen und Gewohnheitsverbrechern auf pragmatische Weise entweder durch die Strafe oder durch die Maßregel oder durch eine Verbindung beider beizukommen sucht, ohne

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freilich bis zur unbestimmten Verurteilung zu gehen (vgl. audi die Verweisung auf Art. 43 in Art. 59 Abs. 1 S. 2)35. 3. Das Musterstrafgesetzbuch kennt ebenso wie das deutsche Recht nur zwei Hauptstrafen: die Freiheitsstrafe und die Geldstrafe (Art. 42). Die Freiheitsstrafe ist wie im deutschen Redit Einheitsstrafe mit dem ausschließlichen Ziel der Resozialisierung3®. Im Unterschied zum deutschen Recht gibt es jedoch nur eine (was für Lateinamerika nicht neu ist) zeitige Freiheitsstrafe, deren Höchstgrenze 25 Jahre beträgt. In beiden Richtungen unterscheidet sich der Código penal tipo vom Entwurf Soler, der sowohl Zuchthaus- und Gefängnisstrafe als auch lebenslanges Zudithaus (Art. 33, 41) vorsieht, während das neue brasilianische StGB zwar die lebenslange Freiheitsstrafe abgeschafft hat, aber an den beiden Arten der Freiheitsstrafe festhält (Art. 36, 37). In der Funktion vergleichbar dem § 14 des deutschen StGB sieht Art. 80 des Musterstrafgesetzbuchs bei Ersttätern die Ersetzung der kurzfristigen Freiheitsstrafe bis einschließlich sechs Monaten durch Geldstrafe oder Pflichtarbeit für den Staat vor. Die Bestimmung ist auch in Südamerika nicht neu. Sie hat zwar im argentinischen Entwurf 1960 kein Gegenstück37, aber das neue brasilianische StGB kennt in Art. 46 die Ersatzgeldstrafe. Sie kann bei Erstverurteilten an die Stelle einer Gefängnisstrafe bis zu 6 Monaten treten, wenn der Schaden vor dem Urteil wiedergutgemacht ist und die Geldstrafe voraussichtlich dazu ausreichen wird, um dem Verurteilten als Warnung zu dienen. Das Musterstrafgesetzbudi gewährt dem Richter abgesehen davon, daß die Maßnahme auf Ersttäter beschränkt ist, eine viel weitergehende Ermessensfreiheit als § 1438: zu berücksichtigen sind die persönlichen Verhältnisse des Täters, die Beweggründe seines Verhaltens und die Umstände der Tat; außerdem wird generell verlangt, daß die Schadenswiedergutmachung im Rahmen der Möglichkeiten des Verurteilten gesichert ist. Die Strafaussetzung zur Bewährung ist nach dem Musterstrafgesetzbudi bei günstiger Täterprognose ebenso wie im deutschen Redit (§ 23 Abs. 2 StGB) für Freiheitsstrafen bis zu 2 Jahren vorgesehen " Eine freiere Gestaltung der Strafzumessung unter Einbeziehung der Persönlichkeit des Täters hat für das deutsche Recht vor allem Heinitz, ZStW 63 (1951) S. 60 ff. und Individualisierung S. 8 ff. gefordert. Vor der unbestimmten Verurteilung hat auch Heinitz, ZStW 65 (1953) S. 34 gewarnt. 58 Eingetreten ist für die Einheitsstrafe sdion früh Heinitz, Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. I, 1954, S. 55 ff.; ZStW 70 (1958) S. 7. ' 7 Hinzuweisen ist allenfalls auf Art. 45 des Entwurfs Soler, der ebenso wie Art. 10 des geltenden argentinischen StGB vorsieht, daß Gefängnisstrafen bis zu 6 Monaten an ehrbaren Frauen sowie an über 60 Jahre alten oder siechen Personen in Form des Hausarrests vollzogen werden können. M Vgl. dazu Jescheck, Lehrbuch, 2. Aufl. S. 658 ff.

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(Art. 74), jedodi nur unter der einschränkenden Voraussetzung der Ersttäterschaft, wie das audi Art. 26 des geltenden argentinischen StGB nodi bestimmt. In diesem Punkte gehen der Entwurf Soler und das neue brasilianische StGB einen Schritt weiter, der erste, indem er die Strafaussetzung nur bei Vorverurteilungen wegen Vorsatztaten ausschließt und außerdem eine Rückfallverjährung einführt (Art. 49), das zweite, indem der Ausschluß der Strafaussetzung auf Vorverurteilungen beschränkt wird, die einen „schlechten Charakter" des Täters offenbaren. Wie im deutschen Recht ist die Aussetzung von Geldstrafen nicht zulässig (anders noch Art. 26 des argentinischen StGB von 1921)39. Die Strafaussetzung findet unter abschließend geregelten Auflagen statt, zu denen auch die Sdiadenswiedergutmachung und die Bewährungshilfe gehören (Art. 75). Auch die Regelung des Widerrufs ist strenger als nach deutschem Recht, aber ähnlich wie im argentinischen Entwurf von 1960 (Art. 51) und im brasilianischen StGB von 1969 (Art. 73): die Strafaussetzung ist kraft Gesetzes widerrufen, wenn der Proband in der Bewährungszeit eine Vorsatztat begeht (Art. 77 Abs. 1). Der Richter kann widerrufen, wenn der Proband die ihm gemachten Auflagen nicht erfüllt; das Gericht kann in diesem Falle aber auch, wie nach § 25 Abs. 2 des deutschen StGB, die Bewährungszeit bis zur gesetzlichen Grenze von 6 Jahren verlängern. Audi die Regelung der bedingten Entlassung ist strenger als nach § 26 des deutschen StGB, weil sie nur Gefangenen mit langen Freiheitsstrafen zugute kommt; sie stimmt aber mit dem neuen brasilianischen StGB überein (Art. 75). Die Aussetzung des Straf restes ist nur bei Freiheitsstrafen von mehr als 2 Jahren zulässig, wenn der Ersttäter die Hälfte, der Rückfällige zwei Drittel der Strafe verbüßt hat (Art. 82). Der Entwurf Soler gestattete die bedingte Entlassung bei Verbüßung von zwei Dritteln ohne Beschränkung auf Freiheitsstrafen von mindestens 2 Jahren, verlangte aber ebenfalls die Verbüßung von mindestens 1 Jahr. 4. Für die Geldstrafe übernimmt das Musterstrafgesetzbudi in Art. 45 in Übereinstimmung mit dem argentinischen Entwurf von 1960 (Art. 59) und dem brasilianischen StGB von 1969 (Art. 44) und ebenso wie das zukünftige deutsche Recht (§§ 40 ff. Allgemeiner Teil 1973) das skandinavische Tagesbußensystem 40 . Der Entwurf Soler macht dafür Gründe der Gerechtigkeit und der Praktikabilität gel39 Diese Einschränkung beruht sidier auf der Begründung, die Soler bereits dem Art. 46 seines Entwurfs beigegeben hatte, daß nämlich die unterschiedslose Gewährung der Strafaussetzung bei zahlreichen Deliktsarten bereits zu einer für die Generalprävention gefährlichen „anticipada promesa de impunidad" geführt habe. Anders in diesem Punkte aber Heinitz, ZStW 65 (1953) S. 39. 40 Dafür ist schon früh Heinitz, ZStW 65 (1953) S. 40 eingetreten.

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tend. Die Geldstrafe des Código penal tipo bewegt sich anders als die des deutschen Rechts (§ 40 Abs. 1 Allgemeiner Teil 1973) in den Grenzen zwischen 1 Tag und 500 Tagen. Sie ist also einerseits milder, andererseits strenger als im deutschen Redit, das bei der Einzeltat höchstens 360 Tagessätze zuläßt und nur bei der Bildung einer Gesamtstrafe bis zu 720 Tagessätzen geht 41 . Für die Bemessung des Tagessatzes gelten auffallend strenge Grundsätze. Der Betrag soll den Tageseinkünften des Verurteilten entsprechen und in Übereinstimmung mit seiner wirtschaftlichen Lage festgesetzt werden, wobei besonders seine Vermögenswerte, Zinseinkünfte, sonstigen Subsistenzmittel und seine Verpflichtungen zu berücksichtigen sind (Art. 45 Abs. 2). Wenn der Verurteilte ausschließlich von seinem Arbeitseinkommen lebt, darf der Tagessatz einerseits nicht weniger als die Hälfte dieser Einkünfte betragen, andererseits nicht über ihre volle Höhe hinausgehen 42 . Eine feste Obergrenze von 1000 DM, wie sie § 40 Abs. 2 Satz 2 des deutschen Allgemeinen Teils 1973 vorsieht, gibt es im Musterstrafgesetzbuch nicht, so daß die Tagessätze bei entsprechendem Einkommen enorm in die Höhe gehen können und bei leichteren Straftaten im Gesamtbetrag zu übermäßig hohen Geldstrafen führen dürften. Besonders wichtig ist deshalb die Möglichkeit der Gewährung von Stundung und Teilzahlung, die in Art. 46 Abs. 1 im gleichen Maße wie im § 28 des deutschen StGB in Aussicht genommen ist. Auch die wohlbekannte Möglichkeit der Abarbeitung der Geldstrafe wird gewährt (Art. 47) 4 S , wie audi Art. 270 des deutschen Entwurfs eines EGStGB die Ermächtigung an die Landesregierungen enthält, dem Verurteilten die Tilgung einer uneinbringlichen Geldstrafe durch freie Arbeit zu gestatten 44 . Indessen „das entscheidende Problem bei der Geldstrafe ist die Ersatzfreiheitsstrafe" 45 , denn davon hängt es letztlich ab, ob die Zurückdrängung der kurzfristigen Freiheitsstrafe durch die Geldstrafe gelingt. Im Vergleich zu § 29 Abs. 4 des geltenden deutschen StGB (§ 459 f StPO i. d. F. des Art. 19 Nr. 120 des Entwurfs des EGStGB) ist die Regelung des Musterstrafgesetzbuchs bemerkenswert streng und unflexibel. Art. 48 Abs. 1 be41 Das Musterstrafgesetzbudi beschränkt die Hödistgeldstrafe auch im Falle der Bildung einer Gesamtstrafe auf 500 Tagessätze (Art. 67 i. Verb. m. Art. 45 Abs. 4). 42 Der argentinische Entwurf 1960 begrenzt den Tagessatz auf die Hälfte der Tageseinkünfte (Art. 59 Abs. 2), das neue brasilianische StGB sogar auf ein Drittel des Mindestlohns (Art. 44 Abs. 2). 43 Ebenso Art. 61 des Entwurfs Soler und Art. 48 des brasilianischen StGB von 1969. 44 Sehr skeptisch zu den praktischen Möglichkeiten dieser Maßnahme Heinitz, ZStW 65 (1953) S. 40 ff. 45 Heinitz, ZStW 65 (1953) S. 40.

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stimmt lediglieli, daß, wenn der Verurteilte die Geldstrafe nicht bezahlt, eine Freiheitsstrafe im Verhältnis von einem Tag zu einem Tagessatz an ihre Stelle tritt. Audi wenn den Verurteilten kein Verschulden an der Uneinbringlichkeit der Geldstrafe trifft oder die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe für ihn eine unbillige Härte bedeuten würde, gibt es keine Ausnahme. Der Entwurf Soler (Art. 62) ist ebenfalls keinen Sdiritt weitergekommen. Dagegen bleibt das Musterstrafgesetzbuch hinter Art. 50 des neuen brasilianischen StGB zurück, wo vorgesehen ist, daß die Ersatzfreiheitsstrafe nur gegen den zahlungsfähigen Schuldner angeordnet wird, der seinen Verpflichtungen nicht nachkommt. Auch die rechnerische Gleichstellung von einem Tag Freiheitsstrafe mit einem Tagessatz Geldstrafe wird weder in dem Musterstrafgesetzbuch noch in dem argentinischen Entwurf noch im brasilianischen StGB als fragwürdig empfunden. Jedoch trifft selbstverständlich ein Tag vollzogener Freiheitsstrafe den Verurteilten viel härter als ein Tagessatz Geldstrafe, vor allem wenn man sich vor Augen hält, daß die Ersatzfreiheitsstrafe bisher regelmäßig so bemessen wurde, daß ein Tag einen sehr viel höheren Geldbetrag abdeckte, als zukünftig einem Tagessatz entsprechen wird. Deswegen wird § 43 Satz 2 des Allgemeinen Teils 1973, der ebenfalls von der Gleichstellung eines Tages Freiheitsstrafe mit einem Tagessatz ausgeht, vor seinem Inkrafttreten noch geändert werden müssen. 5. Im Vordergrund des Interesses südamerikanischer Gesetzgeber hat seit jeher das Problem der strafrechtlichen Behandlung gefährlicher Täter gestanden. Südamerika war auf diesem Gebiet lange Zeit der genuine Erbe des italienischen Positivismus46. Das Musterstrafgesetzbuch ist jedoch dem von den geistigen Vätern dieser Lehre gewiesenen Weg der unbestimmten Verurteilung47, wie schon gesagt, nicht gefolgt, sondern hat sich prinzipiell dem System der Zweispurigkeit angeschlossen, freilidi nicht in der reinen Form des deutschen Rechts, sondern mit zahlreichen von praktischen Erwägungen diktierten Ubergängen zwischen Strafe und Maßregel, die darauf schließen lassen, daß sich die Schöpfer des Entwurfs eine bemerkenswerte Freiheit von doktrinären Fesseln bewahrt haben (vgl. oben II 2). Unterschieden wird zwischen den Rückfälligen einerseits (Art. 69 ff.) und den Gewohnheits- oder Berufsverbrechern andererseits (Art. 72). 4 8 Vgl. zum italienischen Positivismus das charakteristische Zitat aus dem Bericht über die Einsetzung der italienischen Reformkommission von 1919 bei Ferri, Sociologia criminale Bd. I, 5. Aufl. 1929 S. 77: „Ii grado della offesa che subiscono le leggi della convivenza civile da un fatto delittuoso non si misura dalla imputabilità ma dalla temibilità o pericolosità dell'autore." 4 7 Vgl. Ferri, Sociologia criminale, Bd. II, 5. Aufl. 1930, S. 435 ff.

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Hinzu treten die Unzurechnungsfähigen (Art. 19) und die vermindert Zurechnungsfähigen (Art. 20). Riickfall ist schon die einmalige Wiederholung einer Straftat nach rechtskräftiger Vorverurteilung (Art. 69). Der innere Zusammenhang zwischen den Taten wird allein durch die Bestimmung hergestellt, daß jedes der beiden Delikte entweder eine vorsätzliche oder eine fahrlässige Straftat sein muß (Art. 70 N r . 4). Beim Riickfall erhöht sich nur die Obergrenze des Strafrahmens der betreffenden Deliktsart um die Hälfte, das Strafminimum verändert sich nidit. Der Entwurf Soler ist in diesem Punkte viel differenzierter: beim ersten Rückfall erhöhen sich Strafminimum und Strafmaximum um ein Drittel, vom dritten Rückfall an erhöht sich das Minimum auf das Doppelte, das Maximum um die Hälfte. Im Unterschied zu § 17 des deutschen StGB ist die Rückfallstrafe des Art. 69 des Código penal tipo überwiegend spezialpräventiver Natur. Das Strafmaß innerhalb des nach oben kräftig erweiterten Strafrahmens richtet sich nämlich in erster Linie nadi der Lebensweise des Täters zwischen den Straftaten und nach seiner Persönlichkeit, erst in zweiter Linie nach den allgemeinen Strafzumessungsregeln des Art. 73, die vornehmlich auf Unrecht und Schuld abstellen (Art. 71). Wenn die häufige Wiederholung der Straftaten zeigt, daß der Beschuldigte ein Gewohnheits- oder Berufsverbrecher ist48, so tritt wiederum zunächst die Strafe in ihre Rechte: Unter- und Obergrenze der angedrohten Strafe erhöhen sich nunmehr um die Hälfte (Art. 72 Satz 1). Anstelle der Strafschärfung kann das Gericht aber auch die Internierung oder die Aufsicht anordnen, die dann als Sicherun (^maßregeln zu der Normalstrafe hinzutreten und nach deren Verbüßung vollstreckt werden. Die Internierung wird in landwirtschaftlichen Kolonien, Arbeitshäusern oder Sonderanstalten vollzogen und besteht in Arbeit und Erziehung (Art. 57 Abs. 2 Satz 2). Ihre Höchstdauer ist 15 Jahre. Die Aufsicht („vigilancia") besteht in der Zuweisung eines Aufenthaltsorts, dem Verbot, bestimmte örtlichkeiten zu besuchen, der Verpflichtung, sich bei Aufsiditsorganen zu melden, der Verpflichtung, alkoholische Getränke und Rauschgift zu meiden (Art. 57 Abs. 3). Was man vermißt, ist die Bewährungshilfe. Die Höchstdauer der Aufsicht beträgt 10 Jahre. Während die Internierung in ihrer Funktion der Sicherungsverwahrung des geltenden deutschen Rechts (§ 42 e StGB) vergleichbar ist, erinnert die „vigilancia" an die Füh-

is Merkwürdigerweise enthält Art. 72 keine genauere Kennzeichnung der Voraussetzungen der Strafschärfung, im Unterschied zu dem argentinischen Entwurf 1960 (Art. 89 f.) und dem brasilianischen StGB 1969 (Art. 64).

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rungsaufsicht des zukünftigen Rechts (§§ 68 ff. Allgemeiner Teil 1973), die aber viel stärker ausgebaut ist. Gegenüber Unzurechnungsfähigen ordnet das Gericht eine Heilmaßregel an (Art. 19 Abs. 2), wenn ein Sachverständigengutachten ergibt, daß der Beschuldigte eine Gefahr für sich selbst oder für andere bildet 49 . Die Heilmaßregel kommt nach Art. 20 Abs. 2 auch gegenüber vermindert Zurechnungsfähigen allein oder in Verbindung mit einer Strafe in Betracht. Die Heilmaßregel besteht in therapeutischer Behandlung in Spezialanstalten oder -anstaltsabteilungen (Art. 57 Abs. 2). Sie ist von unbestimmter Dauer und endet erst, wenn der Richter auf Grund eines Sachverständigengutachtens feststellt, daß die Voraussetzungen der Einweisung nicht mehr vorliegen. Man wird sich die Heilmaßregel des Código penal tipo je nach den örtlichen Verhältnissen und den Eigenschaften des Eingewiesenen entweder als Heil- oder Pflegeanstalt oder als sozialtherapeutische Anstalt im Sinne des deutschen Rechts vorzustellen haben. Ob derartige Anstalten freilich vorhanden sein werden, ist eine andere Frage. Bemerkenswert ist endlich, daß der Richter die Maßregeln während ihres Vollzugs gegeneinander austauschen kann, wobei es auf die Persönlichkeit des Verurteilten und die bestmögliche Wirksamkeit der Maßregel ankommt (Art. 61). Eine derartige Austauschbarkeit der freiheitsentziehenden Maßregeln ist in § 67a des Allgemeinen Teils 1973 auch für das deutsche Recht vorgesehen, freilich mit der wichti^ gen Einschränkung des Abs. 2 für die Sicherungsverwahrung.

III. Würdigung Der Allgemeine Teil des Musterstrafgesetzbuchs für Lateinamerika verdient es, als das in Gesetzesform gegossene Wort eines großen Kulturkreises zu den gegenwärtigen Problemen der Strafrechtsreform in Europa Gehör zu finden. Wenn auch die einzelnen Lösungen des Entwurfs nichts eigentlich Neues bringen, so ist doch alles von Bedeutung, was darin zu finden ist, und fast noch mehr das, was nicht darin zu finden ist. Wahrhaft originelle Lösungen gibt es, abgesehen von utopischen oder anarchistischen Entwürfen, an denen freilich kein Mangel ist, in der Kriminalpolitik ohnehin nicht. Nirgends so sehr wie hier gilt der alte Satz, daß alles schon einmal dagewesen ist. Besondere Bedeutung hat das Bekenntnis der Schöpfer des Musterstrafgesetzbuchs zum freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat. Mit seltener Klarheit und Vollständigkeit sind in der „Declaración de " Diese Voraussetzung wird man aus Art. 58 S. 2 herauslesen dürfen, der freilidi nur von der Entlassung spricht.

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Principios" 50 die Grundrechte strafrechtlicher Art ausgesprochen worden, die sich der Redaktionsausschuß für die Entwurfsarbeit zur Richtschnur genommen hat und die auch die Ausarbeitung und Anwendung aller Strafgesetze in Lateinamerika bestimmen sollen. Das Grundrecht „nullum crimen sine lege" (I) steht neben der ausdrücklich aufgenommenen Erklärung, daß auch die Strafdrohung vor Begehung der Tat im Gesetz festgelegt sein muß (II). Es folgt die Bestimmung, daß Strafrechtsquelle nur Rechtsnormen sein können, die den formellen Charakter von Strafgesetzen haben (III). Hieran schließen sich das Bestimmtheitsgebot mit dem Analogieverbot (IV), der Gleichheitssatz (V), das Schuldprinzip (VI) und der Grundsatz der persönlichen strafrechtlichen Verantwortlichkeit mit der strengen Festlegung der Maßregeln auf das Gesetzlichkeitsprinzip. Den Beschluß bilden die strafprozessualen Grundrechte: die Garantie des gesetzlichen Richters und des „fair trial" (VIII), die Zusicherung des „ne bis in idem" ( I X ) und die Anerkennung der Unschuldsvermutung (X). Diese rechtsstaatlichen Grundprinzipien haben sich unter anderem dahin ausgewirkt, daß in dem Musterstrafgesetzbuch keine prädeliktuellen Maßregeln zu finden sind, daß die Anordnung, Modifikation und Beendigung von Maßregeln in die Hand des Richters und nicht der Verwaltung gelegt ist, und daß politische Delikte als rückfallbegründende Taten ausgenommen sind (Art. 70 Nr. 1). Eine Konsequenz des Rechtsstaatsgedankens ist ferner das Scbuldprinzip, dem sich das Musterstrafgesetzbuch in klarer Ablehnung der neuerdings von Seiten der Psychoanalyse und aus anderen Richtungen stark propagierten Auflösung des Kantischen Menschenbildes angeschlossen hat. Ungeachtet der Feststellung, daß der Código penal tipo das Schuldprinzip pragmatischer nimmt als das deutsche Recht, liegt ein äußerst wichtiges politisches Faktum in der Entscheidung, mit der sidi die Strafrechtswissenschaft eines ganzen, in voller sozialer Bewegung befindlichen Kontinents für Schuld und Verantwortung als Grundlagen des Strafrechtssystems und damit auch der Rechtsordnung ausgesprochen hat. Endlich ist als bedeutsames Ergebnis hervorzuheben, daß das Strafen- und Maßregelsystem des Musterstrafgesetzbuchs auf dem Grundgedanken einer liberal verstandenen Humanität beruht. Es gibt keine Todesstrafe, keine lebenslange Freiheitsstrafe, keine Verbannung in abgelegene Gebiete oder andere persönlichkeitszerstörende Straftatfolgen. Auch gegenüber den Verlockungen einer Beteiligung des Kollektivs an den Sanktionen hat sich der lateinamerikanische Musterstrafgesetzentwurf als immun erwiesen. Man findet darin keine Mit50

Vgl. oben Fußnote 31.

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Wirkung von gesellschaftlichen Organen an der Rechtspflege, keine Bürgschaften von Betriebsgruppen, keine erzieherische Einwirkung des Kollektivs auf den Verurteilten, keine Verpflichtung zur Bewährung am Arbeitsplatz, keine Bindung an den Arbeitsplatz, keine Verurteilung zu Arbeitserziehung oder welche Möglichkeiten der Resozialisierung durch Zwangseingliederung des Verurteilten in den Arbeitsprozeß sonst noch denkbar und im Schwange sind. Das Strafrecht, das sich Lateinamerika zu geben anschickt, erweist sich vielmehr als ein Sproß aus der freiheitlichen und persönlichkeitsgebundenen Rechtstradition Europas.

Der Ehrenschutz ausländischer Staatsoberhäupter, Diplomaten und Staatssymbole im Licht der Rechtsvergleichung GERHARD SIMSON

Handelt es sich um ehrverletzende Taten, die ihre Wurzel in politischen Motiven des Täters haben, so kommt für die strafrechtliche Sicht zumeist der ideologischen Grundhaltung des Gesetzgebers eine relevante Rolle zu. Der faschistische, kirchlich orientierte, absolutistische, konstitutionelle, kommunistische oder liberale Staat sieht und wertet diese Taten verschieden. Handelt es sich um eine demokratische Staatsstruktur, so entsteht zugleich das Problem, bis zu welcher Grenze Strafbestimmungen dieser Art überhaupt erstreckt werden dürfen, ohne als wertvoll angesehene und rechtsschutzbedürftige Gesellschaftsinteressen im Bereich des politischen Lebens zu gefährden. Insbesondere kann eine zu weit reichende Pönalisierung politischer Handlungen und Äußerungen die in der Verfassung gewährleistete Meinungs- und Pressefreiheit oder die grundgesetzlich garantierten staatsbürgerlichen Individualrechte auf politische Kritik und Opposition unzulässig hindern. Dieser Aspekt kann den dem liberalen Gesetzgeber zur Verfügung stehenden Spielraum einengen. Andererseits verlangen in jedem Staat völkerrechtliche und außenpolitische Gesichtspunkte, daß unter bestimmten Voraussetzungen gegen die Kränkung fremder Staatsoberhäupter und diplomatischer Vertreter, ausländischer Flaggen und sonstiger Staatssymbole in irgendeiner Weise strafrechtlich eingeschritten werden kann. Rechtsverletzungen dieser Art haben, wie die Geschichte lehrt, nicht nur ernste außenpolitische Konflikte herbeigeführt, sondern wurden auch zu Anlässen oder Vorwänden für Kriege. Ein historisches Beispiel unter vielen ähnlichen ist der Eroberungskrieg Frankreichs gegen Algier (1830), der als Vergeltung für die tätliche Beleidigung eines französischen Diplomaten begründet wurde. Ein anderes Beispiel ist das militärische Eingreifen der Weltmächte im sogenannten Boxeraufstand Chinas (1900), in dem der Pekinger deutsche Botschafter getötet worden war. Die derzeitige — menschlich verabscheuenswerte, völkerrechtlich indiskutable und politisch bedrohliche — Gefährdung der heutigen Diplomaten ist bekannt. Dies hat mit sich gebracht, daß sich in den Strafgesetzbüchern aller Länder Sonderbestimmungen finden, die die fremden Staatsober-

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häupter und akkreditierten Diplomaten in ihrer Eigenschaft als völkerrechtlich privilegierte Personen in umfassenderer Weise oder durch Androhung strengerer Strafen nachdrücklicher schützen sollen als andere Individuen. Daß diese Strafvorschriften in der Regel als selbständige und freistehende Sondertatbestände geformt sind, steht im Zusammenhang mit der ursprünglichen Doktrin vom Völkerrecht. Hugo Grotius ging in seiner Lehre von der universalen und naturrechtlichen Grundlage des Rechts und insbesondere des Völkerrechts aus und forderte, daß für jeden Rechtsstaat und vor allem bei Vergehen, „durch die ein anderer Staat oder besonders dessen Herrscher verletzt" worden ist, der Grundsatz „aut dedere aut punire" gelten müsse1. Jeder Staat soll daher ein derartiges Delikt entweder selbst verfolgen oder den Täter an denjenigen Staat ausliefern, gegen den sich die Straftat gerichtet hat. Seitdem pflegen die Strafgesetzgeber fast aller Länder für Delikte mit völkerrechtlichem Gehalt Sonderstraftatbestände zu schaffen. Daneben gibt es auch Länder, bei denen die Sonderbehandlung derartiger Taten lediglich durch eine Qualifikation der gewöhnlichen Tatbestände mit höheren Strafrahmen geschehen ist; dies gilt vor allem f ü r die nordischen Staaten. Das Ergebnis dieser beiden Methoden ist nicht sehr verschieden. Nicht nur Gewalttätigkeiten und Freiheitsentziehungen, die sich gegen die Oberhäupter und Diplomaten ausländischer Staaten richten, sondern audi Beleidigungen, denen diese Personen ausgesetzt sind, werden unter bestimmten Voraussetzungen gegen das Völkerrecht verstoßen. Nach althergebrachten völkerrechtlichen Prinzipien, die schon seit dem frühen Altertum allgemein als verbindlich anerkannt sind, soll jede dieser Personen — zum mindesten dann, wenn sie sich in offizieller Mission in einem fremden Land befindet — sowohl immun (exterritorial) wie unverletzlich (inviolable) sein; das heißt, sie darf vom Empfangsstaat (negativ) nicht seiner Gerichtsbarkeit unterworfen und muß von ihm darüber hinaus (positiv) vor Kränkungen bewahrt werden 2 . Dies hat naturgemäß die nationalen Gesetze beeinflußt. Eine im Jahre 1958 von den Vereinten Nationen durchgeführte Enquete „Law and Regulations regarding Diplomatie and Consular Privileges and Immunities" ergab, daß sämtliche Mitgliedstaaten juristische Folgerungen aus der privilegierten Rechtsstellung der Diplomaten gezogen haben und daß in der Mehrzahl der einzelnen Länder in diesem Bereich besondere Gesetze oder Verord1 Hugo Grotius, De jure belli ac pacis, Buch II Kap. 21 § 4, deutsdie Übersetzung von Walter Schätzel 1950 S. 368. 2 Vgl. Alfred Verdross, Völkerredit 5. Aufl., herausg. von Stephan Verosta und Karl Zemanek, Wien 1964 S. 330.

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nungen mit oft substantiierten Vorschriften und Strafbestimmungen erlassen sind 3 . Im Völkerrecht geht man davon aus, daß die Vorschriften, die für diplomatische Repräsentanten gelten, analog auf Staatsoberhäupter anzuwenden sind, die sich in einem fremden Land befinden 4 . Allerdings handelt es sich hierbei nur um ungeschriebenes Völkerrecht, während f ü r Diplomaten jetzt das Wiener Ubereinkommen über diplomatische Beziehungen vom 18. April 1961 (BGBl. II 1964, 959) gilt, in dem u. a. auch die Grundsätze über die diplomatischen Vorrechte (Privilegien) und Immunitäten kodifiziert sind. Unter einem Diplomaten sind nach dem Wortlaut dieser internationalen Vereinbarung (Art. 1 e) der Missionschef und die Mitglieder des diplomatischen Personals der Mission zu verstehen. Auf Grund der Wiener Konvention soll die Person des Diplomaten „unverletzlich" sein (Art. 29). Der Empfangsstaat soll ihn nicht nur mit gebührender Achtung behandeln, sondern auch „alle geeigneten Maßnahmen (all appropriate steps) treffen, um jeden Angriff auf seine Person, seine Freiheit oder seine Würde zu verhindern". Die Begriffe Achtung und Würde berühren den Rechtsbezirk der Beleidigung. Auch heißt es in der Konvention (Art. 24), daß der Empfangsstaat der Mission jede Erleichterung zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu gewähren hat. Trotzdem werden von der internationalen Rechtslehre unter den „geeigneten Maßnahmen" des Konventionstextes nicht oder nicht nur strafrechtliche Sonderbestimmungen verstanden 5 . Im Gegenteil vertritt Philippe Cahier in seinem Werk „Le droit diplomatique contemporain" 6 die Auffassung, daß die Konventionsstaaten nicht verpflichtet sind, besondere strafrechtliche Vorschriften zu erlassen, sondern daß dem Art. 29 der Konvention bereits Genüge geschieht, wenn der Täter auf Grund derselben allgemeinen Bestimmungen bestraft werden kann, die auch Privatpersonen schützen. Ebenso heißt es s U N Legislative Series Bd. VII, N e w York 1958. Besondere Strafbestimmungen, die Delikte gegen Diplomaten verhindern sollen, werden in den EnqueteAntworten von Kuba (Art. 162 a), Ecuador (Art. 127), Ägypten (Art. 129), Südkorea (Art. 108), den Niederlanden (Art. 118, 119), den Philippinen (Art. 6 Ges. v. 1946), Polen (Art. 111 StGB von 1932, seit dem StGB von 1969 Art. 283) und USA (18 U. S. Code § 112) genannt. 4 Vgl. Friedrich Berber, Lehrbuch des Völkerrechts Bd. 1 1960 S. 269. 5 Claude-Albert Colliard in Annuaire Français de Droit International 1961 S. 3 ; Erik Suy (in französischer Sprache) in österreichische Zeitschrift für öffentliches Redit 1962/63 Bd. 12 S. 86 und Karl Zemanek in Archiv des Völkerrechts 1961/62 (Bd. 9) S. 398 erwähnen keine Verpflichtung zu einer speziellen Strafgesetzgebung. • Genf-Paris 1962 S. 230 f.

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in der Neuauflage von Hans Kelsens Werk „Principles of International Law" 7 nur, daß den Staat die Pflicht trifft, Beleidigungen durch „special protection" zu verhindern und, wenn dies mißglückt, den Täter streng zu bestrafen. Daß die strenge Bestrafung auf Grund von Sondervorschriften erfolgen muß, wird nicht gesagt. Trotzdem werden diese Straftaten im Recht fast aller Länder nicht als gewöhnliche Delikte und nur selten als Qualifizierung solcher Taten, sondern als besondere Straftatbestände geregelt. Anlaß für diese Methodik dürfte wohl sein, daß die Gesetzgeber Gewicht, Ernst und Sondercharakter derartiger Tatbestände hervorheben wollen, da sie oft nicht nur einen Bruch des Völkerrechts, sondern auch einen Verstoß gegen die außenpolitischen Interessen des eigenen Landes bedeuten. Innerhalb der Strafrechtssystematik werden diese Taten von den Strafgesetzen nur ausnahmsweise als Vergehen gegen das Völkerrecht (Spanien, Kuba) oder als Delikt gegen einen ausländischen Staat (Griechenland, Holland, Türkei) behandelt, sondern gelten im allgemeinen als Vergehen gegen die Sicherheit des Landes oder gegen seine Interessen im Verhältnis zu fremden Mächten. In Dänemark und Norwegen lautet die Kapitelüberschrift „Straftaten gegen die Selbständigkeit und Sicherheit des Staates", in Polen (StGB von 1969) „Straftaten gegen die öffentliche Ordnung". In Brasilien soll das Gesetz vom 13. 3.1967 über die Staatssicherheit (Art. 19, 20) angewandt werden, in Argentinien finden sich die Vorschriften im StGB unter dem Titel „Verbrechen, die den Frieden oder das Ansehen der Nation gefährden" (Art. 221). In Belgien gelten immer nodi die alten Sondergesetze vom 22. 12. 1852 (Art. 1) zur Bekämpfung von Beleidigungen gegenüber ausländischen Regierungschefs und vom 12. 3.1858 (Art. 6) über die Verbrechen und Vergehen, die die internationalen Beziehungen beeinträchtigen. Aufgabe dieser beiden Gesetze ist, die internationalen Beziehungen des im Jahre 1831 selbständig gewordenen Belgien zum Ausland zu schützen8. Soweit sich feststellen ließ, bestehen derzeit in allen sogenannten Kulturstaaten — mit Ausnahme von Ungarn — spezielle und selbständige Strafbestimmungen, die die völkerrechtlich privilegierten Personen schützen sollen9. Diese Sonderbestimmungen zum Schutz ausländischer Staatschefs und akkreditierter Diplomaten befassen sich nicht nur mit Straftaten, die sich gegen Leben, Gesundheit, Freiheit 7

2. Aufl. herausg. von Robert W. Tucker 1967 S. 336. Vgl. Jean Constant, Manuel de Droit Pénal, Lüttidi Bd. II Teil 2 S, 116 f. • Die Ubersetzungen der in den Jahren 1968/69 erlassenen neuen Strafgesetzbücher Bulgariens und Rumäniens liegen derzeit noch nicht im Druck vor. 8

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usw. dieser Personen richten, sondern beziehen sich audi auf den Schutz ihrer Ehre. Eine einzelne Ausnahme bildet Sowjetrußland. Im sowjetrussischen StGB von 1960 findet sich auf diesem Gebiet nur eine einzige (praktisch bedeutungslose) Sondervorschrift (Art. 67), auf Grund deren die Tötung oder Körperverletzung des Repräsentanten einer fremden Macht dann mit dem Tode oder einer Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren (Tötung) bzw. acht Jahren (Körperverletzung) zu bestrafen ist, wenn die Tat geschehen ist, um einen Krieg oder internationalen Konflikt zu provozieren. In allen sonstigen Fällen sind nur die gewöhnlichen russischen Strafbestimmungen anwendbar 10 . Eigentlich wäre hier auch die föderale Strafgesetzgebung der USA zu erwähnen, da in 18 U. S. Code § 112 nur „assaulting" und verwandte Gewaltverbrechen einschließlich von Drohung mit Gewalt, die sich gegen ausländische diplomatische Vertreter richten, genannt werden. Aber es gibt in den Strafgesetzen der amerikanischen Bundesstaaten Sondervorschriften, die auch die Beleidigung dieser Personen unter Strafe stellen, ζ. B. in dem hier besonders bedeutsamen District of Columbia Code (22—1115), also in der Hauptstadt Washington. Erwähnenswert ist ferner, daß sich zwar im jetzigen österreichischen StGB, aber nicht im österreichischen StGB-Entwurf von 1968 eine Strafbestimmung findet. Nach der Begründung der österreichischen Regierungsvorlage (S. 508) soll die jetzige Strafvorschrift (§ 494) gestrichen werden, da die Möglichkeit eines Wahrheitsbeweises zu politisch unerwünschten Komplikationen führen könne. Auf die Gesetzesreform Schwedens von 1970/71 wird weiter unten eingegangen werden. In den sozialistischen Ländern verdient eine bedeutsame Besonderheit Aufmerksamkeit. In den meisten Oststaaten (Sowjetrußland, D D R , Tschechoslowakei usw.) werden von den Strafgesetzbüchern gewisse schwere Delikte gegen einen sozialistischen Staat juristisch den Vergehen gegen das eigene Land gleichgestellt. Der Gesetzgeber präsumiert die Gemeinsamkeit der sozialistischen Interessen. Richtet sich ein Übergriff gegen den Staatschef eines fremden sozialistischen Landes, so sollen die sehr strengen und engmaschigen Vorschriften, die sich auf Vergehen gegen den eigenen Staatspräsidenten beziehen, entsprechende oder analoge Anwendung finden. Dies kann auch für andere Staatsrepräsentanten gelten. So heißt es im StGB der D D R von 1968 (§ 108): „In Verwirklichung der Prinzipien des sozialistischen Internationalismus werden Verbrechen nach §§ 96 bis 107 auch dann bestraft, wenn sie sich gegen Staaten des sozialistischen Welt-

" Kommentar zum RSFSR-StGB, Leningrad 1962 Art. 67 Nr. 2.

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systems, ihre Organe, Organisationen, Repräsentanten oder Bürger richten." Zu den hierunter fallenden Straftatbeständen gehört die Diskriminierung der Repräsentanten der D D R (§ 106 Z. 3), und dieser Strafrechtsschutz gilt gemäß § 108 entsprechend für die Repräsentanten aller sozialistischen Länder. Freilich taucht hier eine Frage auf, die sich nicht juristisch, sondern nur politisch beantworten läßt. Dies ist, ob heute in den genannten Ostländern auch sozialistische Staaten wie China und Albanien jenem vom StGB genannten „sozialistischen Weltsystem" zugerechnet werden, das eine strafrechtliche Einheit bilden soll. Auch Jugoslawien steht gegenwärtig für sich. Politisch gibt es im heutigen Zeitpunkt kein einheitliches „System" dieser Art, sondern mehrere Systeme, die einander oft verunglimpfen 11 . Wie eingangs bereits erwähnt wurde, entstehen bei der Pönalisierung von Handlungen, die sich gegen einen fremden Staat und seine Repräsentanten richten, leicht Interessenkollisionen. Völkerrechtliche Prinzipien, internationale Abkommen und schwerwiegende außenpolitische Interessen fordern, daß ehrverletzende Angriffe bestraft werden, aber in vielen Ländern verlangt das staatsbürgerliche Recht auf freie Meinungsäußerung, daß von der Regierung politische Angriffe, in gewissem Umfang auch scharfe politische Angriffe gegen ausländische Mächte und ihre Wortführer, toleriert werden. Die Grenzen zwischen harten politischen Anfeindungen und Beleidigungen, die die persönliche Ehre einbeziehen, können fließend sein. Zudem ist der Staatschef in manchen Ländern wie z. B. in England und in den nordischen Monarchien nur noch ein Symbol des Staates oder ein sichtbares Wahrzeichen der staatlichen Einheit und Kontinuität, während er in anderen Ländern der höchst umstrittene und vielgehaßte Führer einer bestimmten, mitunter sehr radikalen Richtung ist. Der Fall Adolf Hitler hat in zahlreichen Ländern die Gesetzgebung beeinflußt. Viele Staaten haben daher in unterschiedlicher Weise Reichweite und Anwendungsbezirk der Strafbestimmungen begrenzt. Man kann heute feststellen, daß derartige Beschränkungen materiell-rechtlicher oder prozessualer Art die Regel bilden. Dennoch bestehen hier erhebliche Unterschiede. Von großer praktischer Bedeutung für die Bestrafung von Beleidigungen, die sich gegen den Staatschef eines fremden Landes richten, ist die Frage, ob sich der Beleidigte im Zeitpunkt der Straftat im „Inland", also im Territorialgebiet des fraglichen StGB, aufgehalten haben muß, um privilegiert zu sein. Bei der Beleidigung von Diplo1 1 Der vom Ministerium der Justiz herausgegebene Kommentar „Strafredit der Deutsdien Demokratischen Republik" 1969 Bd. II S. 70 nimmt bei der Behandlung des § 108 zu dieser Frage keine Stellung.

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maten spielt diese Frage naturgemäß in der Praxis eine geringere Rolle, kann aber mitunter audi hier bedeutsam sein. Die Gesetzgebung ist in der Frage des Aufenthaltsortes des ausländischen Staatsoberhaupts bzw. Diplomaten nicht einheitlich. Generell strafbar ist nach dem Gesetzestext ohne Rücksicht auf den Aufenthaltsort des Betroffenen eine Schmähung oder sonstige herabsetzende, kränkende oder beleidigende Handlung (die Ausdrücke der Gesetzestexte variieren) u. a. in Italien (Art. 297), Holland (Art. 117), Österreich (§ 494), Jugoslawien (Art. 176), Großbritannien (Common law), Neuseeland (Art. 120 Crimes Act von 1908), Frankreich (Art. 36 Ges. v. 29. 7.1881 über die Freiheit der Presse in der Fassung vom 30. 10.1935 12 ), Portugal (Art: 160), Dänemark (§ 110 d), Finnland (Kap. 14 § 2), Schweiz (Art. 296), Mexiko (Art. 148) und der Türkei (Art. 164). Allerdings ist nicht unmöglich, daß von der Rechtsprechung des einen oder anderen Landes die fraglichen Vorschriften in dieser Hinsicht restriktiv ausgelegt werden, was z. B. in Argentinien geschehen ist. Dagegen ist der Aufenthalt bzw. offizielle Aufenthalt im bestrafenden „Inland" Voraussetzung für die Anwendung der Sondervorschriften in der Bundesrepublik Deutschland (§ 103), Spanien (Art. 137), Griechenland (Art. 153), Norwegen (§ 96), Südkorea (Art. 107 Abs. 2), Kuba (Art. 162), D D R (§ 221), Argentinien (Art. 221) 13 und Ecuador (Art. 126)14. Eine andere bedeutsame Begrenzung des Strafbarkeitsbereichs kann dadurch geschehen, daß nur öffentlich begangene Handlungen unter Strafe gestellt werden. Ist dies Tatbestandsmerkmal, so kann z. B. jemand, der einen beleidigenden Privatbrief geschrieben hat, nicht nach den Sonderbestimmungen bestraft werden. Derartige Einschränkungen sind nicht selten und finden sich u. a. in der Schweiz, DDR, Frankreich (Art. 36, 37 Pressegesetz), Griechenland, Portugal, Brasilien und Neuseeland. Eine weitere Einengung des strafrechtlichen Bezirks erfolgt, wenn eine Beleidigung nur dann den Sonderstraftatbestand erfüllt, falls sie die friedlichen oder freundschaftlichen Beziehungen zu dem fremden Land gefährdet. Tatsächlich kann ja die außenpolitische Bedeutung einer derartigen Handlung ganz unbeträchtlich sein. Eine Beschränkung dieser Art gilt in der britischen Rechtsprechung zum Common In Frankreich finden sich die Vorschriften über die Beleidigung in der Loi sur la liberté de la presse vom 29. 7. 1881. " Nadi dem Kommentar von Gomez, Leyes penales anotadas, Buenos Aires 1954 Bd. 3 S. 442. 14 United Nations Legislative Series Bd. VII (1959) S. 107.

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law; danach ist Voraussetzung der Bestrafung, daß die Äußerungen geeignet sind, Feindseligkeiten oder Krieg hervorzurufen 15 . Ein verwandtes Tatbestandsmerkmal findet sich in der DDR (§ 221), wo von einer Herabwürdigung gesprochen wird, die geeignet ist, die friedliche Zusammenarbeit zwischen den Völkern und das Ansehen der D D R zu schädigen. Ähnliches galt früher audi in Schweden (Kap. 8 § 4 StGB im Wortlaut von 1940). In gewissem Umfang kann auch die Rechtsprechung anderer Länder zu Begrenzungen führen. Geschieht dies nicht, so wird de jure präsumiert, daß jede Handlung dieser Art nicht nur eine Person, sondern ein fremdes Land kränkt und deshalb als qualifiziert anzusehen ist. In Finnland (Kap. 14 § 2) wird von einem „befreundeten Staat" gesprochen. In der Bundesrepublik (§ 104 a) gilt die Sonderbestimmung nur für Staaten, mit denen diplomatische Verbindungen unterhalten werden. Mitunter soll nach dem Gesetzeswortlaut eine Beleidigung nur dann unter die Sondervorschriften fallen, wenn sie unmittelbar auf die Amtsstellung oder Amtstätigkeit des Beleidigten zielt. Diese Begrenzung findet sich in der Gesetzgebung weniger häufig für das Staatsoberhaupt als für Diplomaten. Beispiele sind Belgien (Art. 6 Ges. von 1858), Holland (Art. 116), Türkei (Art. 166) und Ägypten (Art. 192). In der Schweiz (Art. 296) muß „der fremde Staat in der Person eines Oberhaupts . . . oder in der Person eines seiner diplomatischen Vertreter" beleidigt sein. Es wird daher als möglich angesehen, zwisdien den Eigenschaften einer Person als Staatsoberhaupt bzw. Staatsvertreter und denen als Repräsentant einer bestimmten Partei oder bestimmten Anschauung zu scheiden. Von erheblicher politischer Bedeutung ist, daß in manchen Staaten die Genehmigung der Regierung zur Erhebung der Anklage eingeholt werden muß; die fraglichen Bestimmungen finden sich mitunter im StGB und mitunter in der StPO. Ein Beispiel ist die BRD (§ 104 a StGB), die Ermächtigung der Bundesregierung kann zurückgenommen werden. Andere Beispiele sind Dänemark (§ 110 f), Norwegen (§ 102) und Finnland (Kap. 14 § 5). In Jugoslawien (Art. 177) ist der oberste Ankläger für die Genehmigung zuständig, ebenso war es in Rumänien nach dem StGB von 1948 (Art. 223). In der Schweiz (Art. 302) darf nur der Bundesrat die Strafverfolgung anordnen, Voraussetzung ist ein Ersuchen des fremden Staates. Ein derartiges Verlangen der ausländischen Regierung ist audi in der Bundesrepublik (§ 104 a) notwendig, Entsprechendes gilt für die Türkei (Art. 164) und Griedien15 Vgl. Jescheck-Mattes, Die strafrechtlichen Staatsschutzbestimmungen des Auslandes 2. Aufl. 1968 S. 420 und Russell on Crime, London Bd. I 11. Aufl. 1959 S. 1806.

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land (Art. 154). Mitunter heißt es, daß das Delikt nicht gegen den Willen des beleidigten Staates verfolgt werden soll (Südkorea). Die Verbürgtheit der Gegenseitigkeit ist nicht nur in der BRD Voraussetzung, sondern dies gilt auch für Italien (Art. 300), Spanien (Art. 137) und die Türkei (Art. 167). Ob unter Gegenseitigkeit das Vorhandensein einer Sonderbestimmung bzw. einer Qualifikation zu verstehen ist oder ob es genügt, daß eine gewöhnliche Beleidigungsvorschrift vorhanden ist, kann eine Auslegungsfrage sein. Im griechischen StGB (Art. 153) heißt es, daß bei einem ausländischen Staatsoberhaupt, das sich auf einem offiziellen Besuch in Griechenland aufhält, die Gegenseitigkeit nicht Strafvoraussetzung ist. Zwischen der Beschimpfung in Wort und Druckschrift wird im allgemeinen kein tatbestandlicher Unterschied von praktischer Bedeutung gemacht1®. Dagegen bestehen in einzelnen Ländern hier Differenzierungen der Strafdrohungen (Holland Art. 119, Belgien Art. 1 Ges. von 1852). In allen Ländern, die diese Handlungen bestrafen, kann für sie eine Freiheitsstrafe verhängt werden. In Neuseeland ist die einzige Strafe Gefängnis von einem Jahr. Die alternative Möglichkeit, zu einer Freiheits- oder einer Geldstrafe zu verurteilen, findet sich in Holland (höchstens 600 Gulden), in Frankreich (300 bis 300 000 Franken) sowie in der Schweiz und der DDR. In den sonstigen Ländern kann immer eine Freiheitsstrafe oder sowohl eine Freiheits- wie eine Geldstrafe verhängt werden. Mindestdauer der Freiheitsstrafe sind drei Monate in Jugoslawien, Frankreich und Brasilien, sedis Monate in Argentinien und ein Jahr in Italien. Höchststrafe ist Gefängnis von sechs Monaten in Portugal, von einem Jahr in Frankreich, Brasilien und Jugoslawien, von zwei Jahren in der DDR und in Mexiko, von drei Jahren in der Bundesrepublik, in Argentinien und Italien sowie von vier Jahren in den Niederlanden. Im griechischen StGB wird bestimmt, daß der Wahrheitsbeweis stets ausgeschlossen ist, doch verjährt die Straftat dort nach sechs Monaten. Die Strafbestimmungen über die Beschimpfung ausländischer Flaggen und sonstiger Staatssymbole sind in vielen Strafgesetzbüchern mit denen über die Kränkung fremder Staatsrepräsentanten verbunden oder stehen in engem Zusammenhang mit diesen. Auch derartige Taten verstoßen oft gegen das Völkerrecht. Es entsprach seit langem völkerrechtlichem Gewohnheitsrecht, daß eine diplomatische Mission und ihr Chef unbehindert berechtigt sind, die Flagge und das Hoheitszeichen ihres Landes an den Räumlichkeiten der Mission einschließlich der Dienstwohnung (Residenz) des Missionschefs und an den Beför16

Vgl. Art. 26 des französischen Pressegesetzes.

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derungsmitteln der diplomatischen Vertretung zu führen. Gleiches galt für Konsulate und Konsuln. Alle Mitgliederstaaten der Vereinten Nationen erkennen diesen völkerrechtlichen Brauch rechtlich an 17 . Jetzt ist er audi in der oben bereits genannten Wiener Konvention über diplomatische Beziehungen vom 18.4.1961 (Art. 20) sowie in der Wiener Konvention über konsularische Beziehungen vom 24. 4. 1963 (Art. 29) kodifiziert, die beide automatisch oder durch Transformierung in den Signaturstaaten gelten18. Hierdurch handelt es sich heute um ein subjektives Recht, das völkerrechtlich und durch nationales Recht bindend geworden ist. Dagegen läßt sich kaum sagen, daß eine völkerrechtlich gewährleistete Befugnis besteht, eine ausländische Fahne außerhalb der Missions· und Konsulatslokale zu hissen oder zu entfalten. Eine international allgemein anerkannte Ausnahme dürfte nur für Schiffe in ausländischen Häfen und Seezonen gelten. So haben z. B. die Niederlande nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, aber noch vor der deutschen Okkupation des Landes durch eine Verordnung vom 19. 9. 1939 (Art. 1) generell das Zeigen ausländischer Fahnen verboten und hiervon nur diplomatische Missionen, Konsulate und Schiffe ausgenommen. Trotzdem kann es mißlich sein, hier feste Grenzlinien zwischen Völkerrecht und internationalem Brauch ziehen zu wollen. In der ganzen Welt herrscht z. B. die Gewohnheit, die ausländische Nationalflagge zu hissen, wenn ein fremdes Staatsoberhaupt in offizieller Mission eintrifft. Es gibt auch manche sonstige, allgemein übliche Anlässe hierfür, wie z. B. Ausstellungen, Messen, Ministerbesuche usw. Bekanntlich haben sogenannte Flaggenintermezzos nicht selten ernste internationale Konflikte herbeigeführt, ein Beispiel ist der sog. Faschoda-Zwisdienfall des Jahres 1898 zwischen Frankreich und England. In vielen anderen Fällen war die Regierung eines Staates genötigt, dem gekränkten Lande offiziell Bedauern und Entschuldigung auszusprechen, um einen gefährlichen außenpolitischen Konflikt zu vermeiden. Andererseits ist bekanntlich in der politischen Agitation und insbesondere bei politischen Demonstrationen und Kundgebungen die symbolisch kränkende Behandlung der Staatssymbole eines fremden Staates, also der Fahne, des Wappenschildes oder der Embleme eine häufig gewordene Ausdrucksform, um Protest und Antipathie gegen die Politik der ausländischen Regierung zu deutlich sichtbarer Kenntnis zu bringen19. In unserer Zeit der Massenkundgebungen hat sich dies in hohem Grade gesteigert. Man mag dies be17

U N Legislative Series VII New York 1959. Ges. der Bundesrepublik vom 6. 8. 1964 (BGBl. II S. 957) und vom 26. 8.1969 (BGBl. II S. 1585). 19 Vgl. Alvar Nelson, Rätt odi ära (Recht und Ehre), Uppsala 1950 S. 312. 18

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dauern, aber niemand kann eine derartige Entwicklung als verbreiteten Brauch oder Mißbrauch ignorieren. Die Demonstranten halten sich vielfach für hierzu berechtigt. Audi hier kann somit leicht eine faktische Interessenkollision zwischen Pönalisierung und staatsbürgerlicher Demonstrations- und Meinungsfreiheit erwachsen. Dies dürfte dazu beigetragen haben, daß heute in einer beträchtlichen Anzahl von Ländern der Strafrechtsschutz ausländischer Flaggen und sonstiger Staatssymbole gering ist. Im übrigen zeichnen sich die Normen durch ihre Mannigfaltigkeit aus. Gemeinsam ist ihnen nur, daß die Sanktionen fast immer weniger streng sind als im Fall der Beschimpfung der eigenen nationalen Hoheitszeichen. In der Regel werden sowohl Geld- wie Freiheitsstrafen angedroht. Ist in einer Reihe von Ländern der Strafrechtsschutz eng begrenzt, so werden doch häufig andere Bestimmungen wie die übér Ärgernis erregendes Verhalten in der Öffentlichkeit, groben Unfug oder etwaige Sachbeschädigung herangezogen werden können. Das holländische StGB enthält überhaupt nur für die Schweizer Fahne eine Schutzbestimmung, und diese beruht lediglich auf der Genfer Rote-Kreuz-Konvention für die Verwundeten von 1949 (Art. 53, 54), auf Grund deren der Schweizer Fahne eine besonders geschützte Sonderstellung einzuräumen ist20. In Sowjetrußland (Art. 101) und der Tschechoslowakei (§ 104) bezieht sich der Strafschutz nur auf die Embleme der sozialistischen Länder. In Portugal fehlt gegenwärtig jede Strafvorschrift, doch findet sich eine solche im portugiesischen Entwurf Correio von 1966 (Art. 412, 413). Ähnlich ist es in Österreich, das geltende StGB kennt keine derartige Bestimmung, während sie der Entwurf von 1968 (§§ 338, 339) vorgesehen hat. Im Code Pénal Frankreichs (Art. 25 7)21 und Belgiens (Art. 526) 22 ist auch der strafrechtliche Schutz der nationalen Flaggen schwach, eng begrenzt und überdies durch analoge Anwendung anderer Bestimmungen seitens der Judikatur kompliziert; die gleichen Vorschriften finden auf ausländische Fahnen, soweit sie auf öffentlichen Bauwerken gehißt sind, Anwendung. In Spanien (Art. 125) besteht nur eine Strafbestimmung, die sich auf Bundesgenossen während eines Krieges gegen einen gemeinsamen Feind bezieht. In Brasilien (Art. 18 des Ges. über die Staatssicherheit vom 13. 3. 1967), Mexiko (Art. 148) und in der Türkei (Art. 165) ist Tatbestandsmerkmal, daß sich der Angriff gegen eine „freundschaft20

Audi in Deutschland ist am 27. 3 . 1 9 3 5 ein nodi geltendes besonderes Gesetz zugunsten der Schweizer Fahne ergangen. 81 Vgl. im einzelnen Rousselet-Patin, Droit Pénal Spécial, Paris 7. Aufl. 1959 S. 724. " Vgl. Jean Constant, Manuel de Droit Pénal, Lüttidi Bd. II Teil 2 S. 510.

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lidi gesinnte Macht" richtet. In der Schweiz (Art. 298) sind nur tätliche Angriffe gegen Fahnen und Wappen unter Strafe gestellt, die von einer anerkannten Vertretung des ausländischen Staates öffentlich angebracht sind. In Italien (Art. 299) genügt es, daß Fahne oder Hoheitszeichen im Einklang mit dem italienischen Recht gezeigt wird. In Polen (Art. 284 StGB von 1969) wird von Staatssymbolen gesprochen, die von der Vertretung des ausländischen Staates oder auf Anordnung eines polnischen Staatsorgans öffentlich ausgestellt worden sind. In der BRD (§ 104) wird „eine auf Grund von Rechtsvorschriften oder nach anerkanntem Brauch öffentlich gezeigte Flagge eines ausländischen Staates oder das von einer anerkannten Vertretung dieses Staates öffentlich angebrachte Hoheitszeichen" gesdiiitzt. In der deutschen Rechtslehre rechnet man hierzu auch Flaggen, die bei einem legalen Zusammentreffen in Deutschland lebender Ausländer oder aus Anlaß eines ausländischen nationalen Festtags gezeigt werden 23 . Werden von den einzelnen Gesetzen das Ersuchen der ausländischen Regierung, die Verbürgung der Gegenseitigkeit oder die Genehmigung der eigenen Regierung vorausgesetzt, so pflegen hier die Vorschriften mit denen, die für die Beleidigung ausländischer Staatsoberhäupter und Diplomaten gelten, übereinzustimmen. In Großbritannien gilt die Beschimpfung eines ausländischen Staatssymbols als „Sedition" (Aufruhr i. e. S.) und kann nach dem Common law bestraft werden, wenn „seditious intention" zu bejahen ist. Geschriebenes Recht existiert nicht, wenn man vom Criminal Libel Act von 1819 absieht, in dem „seditious libel" behandelt wird. Zum Schluß noch ein Wort über die weitgehende schwedische Reform von 1970/1971. Ähnlich wie in den anderen nordischen Staaten war im schwedischen Kriminalgesetzbuch (Brottsbalk) von 1962 (in Kraft seit 1.1.1965) der Weg gewählt worden, Ubergriffe gegen fremde Staatsoberhäupter und Diplomaten nicht als Sondertatbestände, sondern als Qualifikationen der gewöhnlichen Straftaten gegen Leib und Leben, gegen Freiheit und persönlichen Frieden und gegen die Ehre anzusehen; es galten lediglich erhöhte Strafrahmen (Kap. 19 §11). Die Beschimpfung fremder Flaggen und Hoheitszeichen wurde in Schweden erst während des Zweiten Weltkriegs im Jahre 1940 unter Strafe gestellt, was durch die damals heikle politische Situation bedingt war. Angesichts von Hitlers pathologischer Natur konnte die Schmähung der Hakenkreuzfahne auf schwedischem Boden für das Land unabsehbare politische Folgen mit sich bringen. Durch die im Jahre 1965 erfolgte Umfassung der Druckfreiheitsverordnung, eines der vier Grundgesetze Schwedens, deren StrafIS

Vgl. Dreher, Strafgesetzbuch-Kommentar 33. Aufl. 1972 S. 524.

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Bestimmungen bei Pressedelikten anstelle des KrimGes. anzuwenden sind, war die in einer Druckschrift erfolgende Beleidigung eines ausländischen Staatschefs und Diplomaten als qualifiziertes Sonderdelikt beseitigt worden. Im Jahre 1971 ist diese Qualifikation auch im Kriminalgesetzbuch fortgefallen, d. h. audi andere als die durch eine Druckschrift erfolgende Beleidigungen sind kriminalrechtlich nicht mehr qualifiziert, sondern können nur noch als gewöhnliche Beleidigungen bestraft werden. Bei der Würdigung dieser zweifellos bemerkenswerten Reformen ist jedoch zweierlei zu berücksichtigen. Einmal fallen viele Handlungen, die in anderen Ländern als tätliche Beleidigungen angesehen werden, in Schweden als „Belästigungen" unter einen Sondertatbestand (Kap. 4 § 7), der „ofredande", d. h. Störung des persönlichen Friedens heißt 24 . Derartige Taten sind, wenn sie sich gegen in Schweden befindliche ausländische Staatsoberhäupter und Diplomaten richten, qualifiziert geblieben. Ferner gilt auch bei verbalen Beleidigungen, die sich gegen in Schweden befindliche Staatsoberhäupter richten, das Offizialprinzip, Anklage ist somit von Amts wegen zu erheben (Kap. 5 § 5). Voraussetzung für sie ist allerdings die Genehmigung des Königs, der diese Befugnis an den Reichsankläger als den obersten Anklagebeamten Schwedens delegiert hat. Die Beschimpfung ausländischer Staatssymbole (Kap. 19 § 10) ist als Sonderdelikt ersatzlos gestrichen worden. Das bedeutet aber keine generelle Straflosigkeit. In Schweden ist jedes Ärgernis erregende Benehmen, das öffentlich geschieht, strafbar (Kap. 16 § 16). Diese Bestimmung wird bei derartigen Taten häufig anwendbar sein. Zum Verständnis der schwedischen Reform ist schließlidi zu erwähnen, daß mit der Beschimpfung fremder Staatssymbole auch die Beschimpfung der schwedischen Flagge und der schwedischen Hoheitszeichen als Straftatbestand fortgefallen ist. Diese Bestimmung (Kap. 16 § 7) war in Schweden überhaupt erst im Jahre 1948 geschaffen worden. Sie erschien dem heutigen Gesetzgeber angesichts der Strafbarkeit der Erregung öffentlichen Ärgernisses entbehrlich, auch erstrebte man eine parallele straf redi tliche Regelung für die ausländischen und heimischen Staatssymbole.

24

Vgl. hierzu eingehend Simson-Geerds, Straftaten gegen die Person und Sittlichkeitsdelikte in reditsvergleidiender Sidit, 1969 S. 282 ff.

Rechtsvergleichende Betrachtungen über wechselseitige Wirkungen der rechtskräftigen Straf- und Zivilurteile KUDRET AYITER

I. Die wechselseitigen Wirkungen der rechtskräftigen Straf- und Zivilurteile erstrecken sidi auf ein sehr breites Gebiet, aus dem hier nur einige rechtsvergleichende Aspekte behandelt werden können. Die gegenseitigen Wirkungen der Straf- und Zivilurteile haben schon immer wichtige Auslegungsprobleme mit sich gebracht1. Auf der einen Seite werden für ein und denselben Fall, wie bei den unerlaubten Handlungen, strafrechtliche Klagen erhoben und privatrechtliche Ansprüche geltend gemacht; auf der anderen Seite hängen öfters strafrechtliche Klagen und privatrechtliche Ansprüche voneinander ab, wie in den Fällen des Ehebruchs oder der Feststellung des Alters einer Person usw. Die grundverschiedene Würdigung des Beweismaterials durch Straf- und Zivilgerichte wirft verschiedene Probleme auf, wobei auch die unterschiedliche öffentlich-rechtliche und privatrechtliche Einstellung gegenüber der Tat von großer Bedeutung ist. Die Probleme auf diesem Gebiet können in folgender Weise gegliedert werden: A. Die Wirkung der rechtskräftigen Zivilurteile, die vor der strafbaren unerlaubten Handlung erlassen sind, auf den Strafprozeß. B. Die Wirkung der rechtskräftigen Zivilurteile, die nach der strafbaren unerlaubten Handlung erlassen sind, auf den Strafprozeß. C. Die Wirkung der rechtskräftigen Strafurteile auf noch anhängige privatrechtliche Klagen. D. Die Probleme, die bei der Durchführung einer strafrechtlichen Klage entstehen und deren Lösung von einem rechtskräftigen Zivilurteil abhängt, öfters werden diese Fälle an das Zivilgericht verwiesen. Dabei sei noch darauf hingewiesen, daß bei all diesen Fragen der Unterschied zwischen konstitutiven und deklarativen Urteilen eine besondere Bedeutung hat. 1 Für das türkisdie Redit siehe besonders Tandogan, Haluk: Türk Mesuliyet Hukuku, § 2 2 , S. 347 f., Ankara 1961; für das deutsche Recht Kern, E.: Die Aussetzung des Strafverfahrens zur Klärung präjudizieller Fragen nach § 262 Abs. 2 StPO, Reichsgerichts-Festschrift Bd. V, 1929, S. 131—158. Siehe auch RGSt 14, 373; 32, 330; 34, 279; 59, 13.

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In dieser kurzen rechtsvergleichenden Betrachtung sollen einige Probleme dieses Fragenkreises im türkischen Recht und den Quellen seiner Rezeption einerseits sowie im deutschen Recht anderseits behandelt werden. Ein bedeutsamer Unterschied zwisdien dem türkischen und dem deutschen Recht besteht darin, daß in den türkischen privatrechtlichen Gesetzen klare Vorschriften für diese Fragen bestehen, während das deutsche Recht seine einschlägigen Grundsätze nicht im selben Maße aus seinen Gesetzen gewinnen kann. Dies soll weiter unten behandelt werden.

II. Die Türkei schaffte nach 1923 das islamische Recht ab und rezipierte europäisches Redit. Das türkische Strafgesetzbuch wurde im Jahre 1926 dem italienischen Codice Penale aus dem Jahre 1889 und die türkische Strafprozeßordnung der deutschen Strafprozeßordnung vom 1. Februar 1877 nachgebildet. Im Grunde genommen sind es Ubersetzungen und obgleich diese Gesetze später Abänderungen erfuhren, blieben sie den Quellen — dem europäischen Recht — treu. So auch das türkische Privatrecht. Die Türkei rezipierte im Jahre 1926 das schweizerische Zivilgesetzbuch und das Obligationenrecht. Bei dieser Rezeption wurde das schweizerische Recht wörtlich übernommen, wobei nur die Artikel des kantonalen Rechtes ausgelassen wurden. Dies ist der einzige Grund dafür, daß die Artikel der beiden Gesetze eine verschiedene Nummerierung tragen (was beim Obligationenrecht bis Artikel 60 nicht der Fall ist). Das schweizerische Obligationenrecht behandelt in Artikel 53 das Verhältnis des zivilgerichtlichen Urteils zum Strafrecht: „Bei der Beurteilung der Schuld oder Niditsdiuld, Urteilsfähigkeit oder Urteilsunfähigkeit ist der Richter an die Bestimmungen über die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit oder an eine Freisprechung durch das Strafgericht nicht gebunden. Ebenso ist das strafgerichtlidie Erkenntnis mit Bezug auf die Beurteilung der Schuld und die Bestimmung des Schadens für den Zivilrichter nicht verbindlich."

Dieser Artikel entspricht dem Artikel 53 des türk.OR. Der türkische Text ist eine wörtliche Ubersetzung des schweizerischen Textes ohne jegliche Abweichung. Die einzige Abweichung liegt in der Uberschrift des Artikels; dort heißt es im schweizerischen Recht „Verhältnis zum Strafrecht", während der türkische Text wohl klarer und richtiger von „Verhältnis zwischen dem Strafrecht und dem Zivilrecht" spricht. Ohne Zweifel hängen die beiden richterlichen Sprüche des Strafrechts und des Zivilrechts hinsichtlich der Beurteilung der unerlaubten

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Handlung eng zusammen. Die unerlaubte Handlung ist in sehr vielen Fällen gleichzeitig eine strafbare Handlung. Da aber die Zwecke der beiden Klagen weit auseinanderliegen, müßte die Entscheidung des Strafgerichtes bzw. des Zivilgerichtes den anderen Richter nicht beeinflussen2. Wie schon in Artikel 53 zum Ausdruck gebracht ist, sind die Begriffe der Schuld oder Nichtschuld des Strafrechtes mit den Grundsätzen der Haftung bei unerlaubter Handlung nicht identisch. Die strafrechtliche Beurteilung von Schuld oder Nichtschuld hängt mit einem öffentlichen Interesse zusammen und nur dadurch ist der Grundsatz der Strafbarkeit gegeben. Die Haftung für eine unerlaubte Handlung im zivilrechtlichen Sinne beruht hingegen auf Privatinteressen. Auch hinsichtlich der Urteilsfähigkeit oder Urteilsunfähigkeit unterscheidet Artikel 53 klar zwischen Strafrecht und Zivilrecht. Auch hier sind die Maßstäbe verschieden. Wie aus Artikel 54 ersichtlich ist, kann der Richter auch urteilsunfähige Personen zum teilweisen oder vollständigen Ersatz des Schadens verurteilen. Der Maßstab im Zivilrecht ist infolgedessen „die Billigkeit". Dies ist ein Maßstab, der im Strafrecht nicht zur Anwendung kommen kann. Der zivilrechtliche Grundsatz der Urteilsunfähigkeit (Schw.ZGB Art. 13; Tiirk.ZGB Art. 10) lautet: „Urteilsfähig ist jeder, dem nicht wegen Kindesalters oder infolge von Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Trunkenheit oder ähnlichen Zuständen die Fähigkeit mangelt, vernunftmäßig zu handeln."

Das Strafrecht hat dagegen (türk. Strafgesetzbuch Art. 53) eine festbegrenzte Altersstufe, die auf 11 Jahre angesetzt ist, unter der eine Bestrafung nicht in Frage kommen kann. Aus den erwähnten Gründen kann ein Strafurteil den Zivilrichter hinsichtlich der zivilrechtlichen Haftung nicht binden3. Der Zivilrichter wird selbst feststellen müssen, ob derjenige, der einem anderen widerrechtlich einen Schaden zufügt, zum Ersatz verpflichtet ist. In Ansehung der Absicht oder der Fahrlässigkeit wird er dieselbe Tat, die der Strafrichter schon behandelt hat, von neuem untersuchen (Art. 41 des Schw.OR — Türk.OfR). Bei dieser Feststellung gehen die beiden Richter auch in ihren Maßstäben völlig auseinander4. Das Strafrecht setzt grundsätzlich Vorsatz voraus; das Zivilrecht operiert dagegen auf einer erheblich weiteren Basis, indem es außer dem Vor* Gürsoy, Kemal Tahir: Borçlar Hukuku, Haksiz Füller, Ankara 1972, § 2 3 Haksiz Filierden dogan talepler, III 1), behandelt den neuesten Stand der Fragen im türkisdien Recht. 3 Tandogan, a. a. O., S. 349 ff. 4 Einige Entscheidungen des türk. Kassationshofs: 4. H. D. 24.4.1950, 1792/ 2445; Tic. D. 2 . 8 . 1 9 5 4 , 5932/5704; 4. H. D. 12.1.1957, 4882/18; 4 . H . D . 2 7 . 2 . 1967, 775/1713.

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satz (im sdiweizer. OR „Absicht") die grobe und leichte Fahrlässigkeit in Betracht zieht. Aus diesem Grund ist das strafrechtliche Erkenntnis hinsichtlich der Schuld für den Zivilrichter unerheblich und die Bestimmung des Schadens für den Zivilrichter nicht verbindlich. Was hier (Art. 53) unter dem Begriff der „Bestimmung des Schadens" gemeint ist, ist nicht sehr klar. Der Schaden kann in gewissen Fällen das Strafrecht insoweit beeinflussen, als einige Handlungen je nach der Höhe des Schadens bestraft werden. Ob der Strafrichter die Höhe des Schadens nach den Grundsätzen des Strafrechts festlegen kann, ist hier eine offene Frage, die wir weiter unten behandeln werden. Auch die Beurteilung des Beweismaterials ist bei den beiden Gerichten verschieden. Der Strafrichter hat bei der Beurteilung des Beweismaterials eine ziemlich weite Beurteilungsmöglichkeit, indem er die Beweise nach seinem Ermessen und juristischem Empfinden bewertet. Der Zivilrichter hat dagegen nicht im selben Maße eine freie Hand. Nur hinsichtlich „der nicht ziffernmäßig nachweisbaren Schäden ist nach Ermessen des Richters . . . abzuschätzen" (Art. 42 des sdiw. und türk. OR), d. h. daß beim ziffernmäßig nachgewiesenen Schaden der Richter keine Schätzungsmöglichkeit mehr hat und an diese Ziffern gebunden ist.

III.

Diese Grundsätze haben aber einige Ausnahmen, die ihrerseits dort entstanden sind, wo es an jener Grundverschiedenheit der beiden Ansprüche und Klagen fehlt. Der Unterschied hinsichtlich Schuld oder Nichtschuld, Urteilsfähigkeit, Größe der Schuld und Bestimmung des Schadens fällt weg, wenn sowohl nach dem Strafrecht als auch dem Zivilrecht die Beurteilung auf derselben Basis erfolgt 5 . 1. Obgleich Artikel 53 zum Ausdrude bringt, daß der Zivilrichter an den Freispruch durch das Strafgericht nicht gebunden ist, muß hier unterschieden werden, aus welchen Gründen das Strafgericht den Freispruch ausgesprochen hat. In den Fällen, in denen durch das Strafurteil festgestellt wird, daß die betreffende Person die in Frage kommende Handlung gar nicht ausgeführt hat und der Freispruch auf dieser Erkenntnis beruht, kann das Zivilgericht dieselbe Person nicht zum Schadenersatz verurteilen®, indem es das Gegenteil annimmt, d. h. dieselbe Person als Verursacher beurteilt. Wenn dies im Zivilprozeß festgestellt s Tandogan, a. a. O., S. 353. • Beachtenswert deutsches StGB $ 190 Satz 2: Strafurteil als Wahrheitsbeweis („Der Beweis der 'Wahrheit ist dagegen ausgeschlossen, wenn der Beleidigte wegen dieser Handlung vor der Behauptung oder Verbreitung rechtskräftig freigesprochen worden ist"), was meines Erachtens für die Ansprüche auf Schadensersatz von Bedeutung ist.

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wird, so müßte der Strafprozeß wieder aufgenommen werden 7 . Der Freisprach des Strafrichters, der auf dem Grundsatz des fehlenden Kausalzusammenhangs zwischen dem Taterfolg und der Tathandlung beruht, bindet auch den Zivilrichter. 2. In den Fällen, in denen das Strafgericht den Kausalzusammenhang zwischen der Tathandlung und dem Taterfolg feststellt und im Urteil klar zum Ausdruck bringt, daß die Tat von der betreffenden Person begangen ist, kann der Zivilrichter das Problem des Zusammenhangs 8 zwischen der Tat und der Person nidit von neuem untersuchen und zu einem entgegengesetzten Resultat kommen 9 . Er ist an das Urteil des Strafrichters gebunden und muß die Person als Verursacher des Schadens behandeln. Nebenbei sei bemerkt, daß hier die zivilrechtliche Haftung des Geschäftsherrn nicht als eine Ausnahme anzusehen ist, da diese Haftung ohnehin mit einer strafrechtlichen Haftung nichts zu tun hat. Auch in den Fällen, in denen der Gesdiäftsherr strafrechtlich verantwortlich ist, hat dies mit der zivilrechtlichen Beurteilung dieser Haftung nichts zu tun. 3. Artikel 41 des schweizerischen und türkischen O R hat als Basis die Rechtswidrigkeit. In den Fällen, in denen die Rechtswidrigkeit in einer Zuwiderhandlung gegen eine strafrechtliche Vorschrift zum Ausdruck kommt, ist die strafgerichtliche Entscheidung auch für den Zivilrichter verbindlich. Der Zivilrichter kann die Beurteilung des Strafrichters nicht in Zweifel ziehen. Wenn ζ. B. der Strafrichter die Tat als Diebstahl beurteilt hat, kann der Zivilrichter den Schadensersatz nicht mit der Begründung ablehnen, daß kein Diebstahl vorliege. Das Vorhandensein einer Straftat muß von beiden Seiten nach denselben Maßstäben beurteilt werden 10 . 4. Auch hinsichtlich der Feststellung eines materiellen Tatbestandes kann der Zivilrichter sich nicht in Gegensatz zum Strafurteil 7 Aus der türkischen Rechtssprechung Yargitay 4. H . D. 4.3.1958, 8287/1131 und 3. H . D. 16.10.1951, 13 628/10 377. 8 Olgaç, Senai: Kazai ve ilmi içtihatlarla Türk Borçlar Kanunu, Istanbul 1959, No. 851; und 4. H . D. 23. 3.1957, 7866/1596. • Für den Wahrheitsbeweis bei der Beleidigung: deutsches StGB, § 190, Satz 1: „Ist die behauptete oder verbreitete Tatsache eine strafbare Handlung, so ist der Beweis der Wahrheit als erbracht anzusehen, wenn der Beleidigte wegen dieser Handlung rechtskräftig verurteilt worden ist." 10 Tartdogan, a . a . O . , S. 351. Für das schweizerische Recht siehe: Oser-Schönenberger: Kommentar zum schweizerischen ZGB, Band V, Obligationen-Recht, 1. Halbband 1929, Art. 53, Rdnr. 9; von Tuhr-Siegwart: Allgemeiner Teil des schweizerischen Obligationen-Rechts, 2. Aufl. 1942, § 48 Abschnitt II, S. 373. Auch BGE 55 II 31.

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stellen. Strafgerichtlich festgestellte materielle Tatsachen (ζ. B. wo eine bestimmte Sadie sich befindet usw.) können vom Zivilgericht nicht erneut geprüft werden. Die Feststellung des Strafgerichts bedeutet für den Zivilrichter auch hier ein bindendes rechtskräftiges Urteil 11 .

IV. Ein besonderer Fall, den wir noch behandeln müssen, ist das Urteil des Strafgerichts, das zugleich den Schadensersatz regelt. Bekanntlich kann der Geschädigte sich am Strafprozeß beteiligen und seine Ansprüche auf Schadensersatz im selben Prozeß geltend machen. Im türkischen Recht ist dies besonders weit verbreitet, da diese Form der Geltendmachung des Schadensersatzes erheblich weniger Kosten verursacht als ein zivilrechtlidier Schadensersatzprozeß. Die gerichtlichen Gebühren, die im Schadensersatzprozeß nach der Höhe der beantragten Summe prozentmäßig ausgerechnet werden, werden im Strafverfahren nicht erhoben. Ein anderer Artikel des schweizerischen und türkischen O R zwingt die Gläubiger, den Schadensersatzanspruch vor dem Strafgericht geltend zu machen. Artikel 60 des Schweiz, und türk. OR lautet: „Der Anspruch auf Schadensersatz oder Genugtuung verjährt in einem Jahr von dem Tage hinweg, wo der Geschädigte Kenntnis vom Schaden und von der Person des Ersatzpflichtigen erlangt h a t . . . "

Um bei den öfters lange andauernden Strafverfahren sein eigenes Recht nicht verjähren zu lassen, klagt der Gläubiger den Schadensersatz im Strafprozeß ein. Die Strafverfahren dauern in der Türkei öfters sehr lange und es wäre für den Geschädigten unmöglich, den Absdiluß des Verfahrens abzuwarten, da dann nämlich sein Anspruch verjährt sein kann. Allerdings bringt Absatz 2 des oben erwähnten Artikels 60 zum Ausdruck, daß in den Fällen, in denen die Klage aus einer strafbaren Handlung hergeleitet wird, für die das Strafrecht eine längere Verjährung vorschreibt, die längere Verjährungsfrist auch für den Zivilanspruch gilt. Ich darf dafür das Beispiel geben: Bei einem Diebstahl, für den nach dem türkischen Strafgesetzbuch prinzipiell eine 5jährige Verjährungsfrist (ausgenommen schwere Fälle, bei denen die Verjährungsfrist entsprechend länger ist) gilt, verjährt audi der zivilrechtlidie Anspruch erst nach 5 Jahren. Der Gläubiger wird aber in keinem Falle auf Grund dieser Vorschrift auf 11 Tepeci, Kâmil. Notlu ve Izahli Borçlar Kanunu. 3 ncü Basi Ankara 1959, S. 184 v. d. In der türkisdien Rechtssprechung HGK 16. 6.1954 Esas 96/Karar 405; und 3. H. D. 10. 10.1961 K. 5491.

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die Beendigung des Strafverfahrens warten, da es audi sehr gut möglich sein kann, daß der Angeklagte am Ende des Strafprozesses freigesprochen wird. Nehmen wir an, der Strafprozeß hat mehr als ein Jahr gedauert und der Angeklagte wird am Ende des Prozesses freigesprochen. Dann bedeutet dies, daß eine strafrechtliche Verjährungsfrist überhaupt nicht mehr in Frage kommt, da die Tat als nicht strafbar angesehen worden ist. In diesem Falle kann der Geschädigte seinen Anspruch beim Zivilgericht nicht mehr durchsetzen, da inzwischen die Verjährung nach dem OR eingetreten ist. Die Unsicherheit, ob der Angeklagte im Strafprozeß verurteilt oder freigesprochen wird, und die damit zusammenhängende Ungewißheit, ob überhaupt eine strafrechtliche längere Verjährungsfrist in Frage kommen kann, gibt also Anlaß, den Schadensersatzanspruch schon während des Strafprozesses beim selben Gericht geltend zu machen. In den Fällen, in denen der Strafrichter den Schadensersatzanspruch mit einem Urteil zum Abschluß bringt, ist selbstverständlich der Zivilrichter an dieses Urteil gebunden, soweit der Anspruch des Geschädigten vom Strafgericht voll berücksichtigt ist12. Nur dann, wenn die Klagebehauptungen des Geschädigten vom Strafgericht nicht voll akzeptiert werden, kann der Geschädigte den Restanspruch nochmals beim Zivilgericht zum Gegenstand einer Klage machen. Diese Klage kann aber nur erhoben werden, wenn die Behauptungen des Geschädigten vom Strafgericht unbegründeterweise nicht berücksichtigt worden sind. Eine begründete Ablehnung des Anspruchs gibt dem Geschädigten also nicht die Möglichkeit, denselben Antrag nochmals beim Zivilgericht zu stellen13. In der türkischen Praxis ist es sehr oft der Fall, daß der Strafrichter nach Abschluß des Strafprozesses die Schadensersatzansprüche an ein Zivilgericht weiterleitet. In allen Fällen, in denen der Schadensersatzanspruch eine Verlängerung des Strafprozesses mit sich bringt, verweist der Richter den Geschädigten an ein Zivilgericht. Dann ist das Zivilgericht an die Entscheidung des Strafrichters insoweit gebunden, als es nicht verlangen kann, daß das Strafgericht die zivilrechtliche Schadensersatzklage auf jeden Fall weiterführen und zum Abschluß bringen müsse. In Fällen, in denen sich ein später erweiterter Schaden herausstellt, kann der Geschädigte auch nach einem Schadensersatzurteil eines Strafgerichts den zusätzlichen Schaden bei einem Zivilgericht geltend " Olgaç, Senai: a. a. O., No. 874; und die dort angeführte Entscheidung 4. H . D. 21. 5.1956 Ε. 2123/K. 2613. >» Für das türkische Recht: Gürsoy, Kemal Tahir, a . a . O . , § 2 3 I I I 2 Kuralin istisnalari; für das schweizer. Recht siehe von Tuhr-Siegwart, a . a . O . , §48, Abschnitt II, S. 373, Annt. 23 und Oser-Schönenberger, a. a. O., Art. 53, Rdnr. 18.

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machen. Es besteht keine Verpflichtung, den zusätzlichen Prozeß beim Gericht der ersten Straf- und Schadensersatzklage durchzuführen. Sowohl die schweizerische Praxis als audi die Praxis in der Türkei haben zu dieser Frage eine sehr weitgehende Rechtsprechung, wobei die Entscheidungen des türkischen Kassationsgerichtshofs und des schweizerischen Bundesgerichtshofs in vielen Einzelheiten die gesetzlichen Bestimmungen ergänzen: Die strafrechtliche Verurteilung sei keine Grundlage für den Antrag auf Genugtuung wegen eines immateriellen Schadens. Mit anderen Worten: eine strafrechtliche Verurteilung kann nicht die einzige Stütze eines Genugtuungsanspruches sein. Der Zivilrichter hat das Recht, zu prüfen, ob eine Genugtuung in Frage kommt oder nicht. Artikel 47 des schweizerischen und türkischen O R gibt bei Tötung oder Körperverletzung dem Richter das Recht, die Genugtuung unter Würdigung der besonderen Umstände zuzusprechen. Das vorhandene strafgerichtliche Urteil ist daher kein sicherer Anhaltspunkt für das Bestehen eines Genugtuungsanspruchs.

V. Es ist sehr interessant festzustellen, daß die Wirkung der Strafurteile auf Zivilprozesse in der Literatur der Türkei anders als in der Rechtsprechung beurteilt wird. Dabei soll in folgendem auch das deutsche Recht berücksichtigt werden, wo sich Anknüpfungspunkte ergeben werden. Allgemein wird angenommen, daß ein Strafurteil den Zivilrichter in seiner Entscheidung bindet 14 . Da der Strafrichter in viel weiterem Sinne den Fall behandelt und das Beweismaterial würdigt, hat er auch weitgehende Möglichkeiten, die Interessen sowohl der Prozeßbeteiligten als auch der Öffentlichkeit zu berücksichtigen15. In der türkischen Rechtslehre ist daher von jeher als allgemeiner Grundsatz angenommen worden, daß das Strafurteil prinzipiell den Zivilrichter bindet 16 . In den Fällen, in denen das Zivilurteil dem Strafurteil nicht entspricht, würde die Öffentlichkeit in gewisser Hinsicht unsicher werden. Wenn ζ. B. ein strafgerichtlich Verurteilter in einem darauffolgenden zivilrechtlichen Schadensersatzprozeß als nicht verantwortlich angesehen wird und infolgedessen nicht haftbar ist, so würden diese beiden Urteile in ihrer grundsätzlichen Abweichung voneinander 14

Belgesay, Mustafa Rejit: Usulü Muhakemeyi Hukukiye 1922, S. 417 v. d.; Malkoç, Süreyya: Kaziyei Muhkemenin Ceza ve Hukuk sahasindaki tesiri, Hukuk Dergisi, 1944, Cilt I, Sayi 7, S. 14—21; audi Malkoç, Süreyya: Ankara Baro Dergisi, 1944 N o . 7. 11 Für die erste Beurteilung nach der Rezeption des schweizerischen Rechts siehe Yusuf Ziya: Usulü Muhakemati Cezaiye 1927, S. 111 und 112. le Belgesay, Mustafa Rejit, a. a. O., S. 418 v. d.

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das Rechtsempfinden der Öffentlichkeit stark beeinträchtigen. Auf der anderen Seite kann ein strafgerichtlicher Freispruch den Zivilrichter nicht binden, da der Strafrichter bei der strafrechtlichen Verantwortung ganz andere Maßstäbe anzuwenden hat. Der strafrechtlich nicht Verantwortliche kann zivilrechtlich haften. Das Einführungsgesetz zur deutschen Z P O hat in § 14 klar zum Ausdruck gebracht, daß das strafgerichtliche Urteil für den Zivilrichter keine bindende Kraft hat. Hierin liegt eine sehr wichtige Abweichung des deutschen Rechts vom schweizerischen Recht, das in Artikel 53 des Obligationenrechts dem strafgerichtlichen Urteil nur im Falle des Freispruchs die bindende Kraft für den Zivilriditer abspricht 17 . Die deutsche Praxis geht hier von einer grundsätzlich verschiedenen Denkweise aus. Es wird angenommen, daß eine bindende Kraft des Strafurteils den Zivilriditer in seiner Entscheidungsfreiheit stark beeinträchtigen könne. Der Zivilrichter hat natürlich die Möglichkeit, das Strafurteil als Beweismaterial voll zu würdigen 18 . In dieser Hinsicht besteht auch kein Unterschied zwischen einem vorherigen strafgerichtlichen und zivilgerichtlichen Urteil 19 . Das Gericht ist nur an seine eigenen Entschließungen gebunden 20 . Der Zivilriditer kann nach § 149 der deutschen ZPO, wenn sich im Laufe des Rechtsstreites der Verdacht einer strafbaren Handlung ergibt, deren Ermittlung auf die Entscheidung von Einfluß sein kann, durch die Aussetzung der Verhandlung bis zur Erledigung des Strafverfahrens das zivilgerichtliche Verfahren aussetzen. Interessant ist dabei, daß der Zivilriditer dazu nicht verpflichtet ist, sondern es nur tun „kann" 21 . Voraussetzung des § 149 ist, daß im Prozeß der Verdacht einer Straftat aufgetaucht ist22. Hinsichtlich dieses Verdachts ist der Zivilriditer in der Beurteilung der Sachlage völlig frei 23 ; er ist nicht an bestimmte Behauptungen oder Anträge gebunden. Wichtig ist dabei nur, daß die Ermittlung der Straftat möglicherweise die Entscheidung des Zivilgerichts beeinflussen kann. Es ist dabei nicht von Bedeutung, ob das Strafverfahren anhängig ist. In den Fällen, in denen das strafgerichtliche Verfahren 17

Für die schweizerische Literatur siehe Oíer-Sc&ó'neniírger, a. a. O., Art. 53, Rdnr. 14; von Tuhr-Siegwart, a . a . O . , §48, Abschnitt II, Anm.23; ferner audi Bundesgerichts-Entscheidung 55 II 31, die in dieser Frage für das schweizerische Recht richtungweisend ist. 18 Stein-Jonas-Pohle, Komm, zur ZPO, 19. Aufl. 1964, § 149, Anm. I 3. " Stein-Jonas-Pohle, a. a. O., § 286 ZPO, Anm. III 5. 10 Stein, Grundriß des Zivilprozeßrechts, 3. Aufl. 1929, §96, Abschnitt IV, S. 275. » Kern, a. a. O., S. 148—149. 22 Baumbach-Lauterbach: Zivilprozeßordnung, 30. Aufl. 1970, § 149, Anm. 2 a. " Hellwig: System des Zivilprozesses, l . T e i l 1912, §190, Abschnitt III. — Siehe auch RGZ 15, 427.

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abgeschlossen ist und ein rechtskräftiges Urteil oder ein Beschluß über die Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens vorliegt, kann das Zivilgericht die Verhandlung nicht mehr aussetzen 24 . Trotz der Vorschrift des § 149 ZPO ist der Zivilrichter nicht an die erwähnte Entscheidung des Strafgerichts gebunden (EG Z P O § 14). Natürlich gibt es Fälle, bei denen der Zivilprozeß auf einem strafprozessualen Vorgang beruht. Als Beispiel sei aus dem türkischen Recht (Türk. Verfassung Art. 30) erwähnt ein Zivilprozeß auf Schadensersatz, dem eine rechtswidrige Verhaftung des Klägers zugrunde liegt. Der Zivilrichter muß hier das Strafverfahren in jeder Hinsicht berücksichtigen und kann den Tatbestand der unrechtmäßigen Verhaftung nicht von neuem würdigen. Wird der Beschuldigte freigesprochen und ein Schadensersatzprozeß gegen denjenigen, der wissentlich eine falsche Anzeige erstattet hat, anhängig, so ist der Zivilrichter an den strafgerichtlichen Freispruch als Grundlage des Schadensersatzanspruchs gebunden.

VI. Fälle, in denen das Urteil des Zivilgerichts während der strafrechtlichen Verfolgung abgewartet werden muß. Dieser Fall wird in Artikel· 255 der türkischen StPO geregelt. Artikel 255 ist teilweise dem § 262 der deutschen StPO nachgebildet worden. Die ersten beiden Absätze sind nahezu identisch: „ ( I ) H ä n g t die Strafbarkeit einer H a n d l u n g von eines bürgerlichen Rechtsverhältnisses ab, so entscheidet auch über dieses nach den für das Verfahren und den sachen geltenden Vorschriften. (II) D a s Gericht ist jedoch befugt, die Untersuchung einen der Beteiligten zur Erhebung der Zivilklage eine men oder das Urteil des Zivilgerichts abzuwarten."

der Beurteilung das Strafgericht Beweis in Strafauszusetzen und Frist zu bestim-

Im türkischen Text folgt dann noch ein dritter Absatz, der sich mit der Feststellung des Alters des Angeschuldigten und des Geschädigten befaßt. In dieser Vorschrift wird die Zuständigkeit des Strafgerichts für die Feststellung des Alters jener Personen begründet. Dieser Absatz erhielt dann im Jahre 1936 durch das Gesetz 3006 nodi einen Zusatz, der besagt, daß die Entscheidung des Strafrichters über das tatsächliche Alter der genannten Personen nur zusammen mit dem wegen der strafbaren Handlung ergehenden Urteil angefochten werden kann. Dieser Zusatz rückt die Befugnis des Strafrichters zur Altersfeststellung in ein ganz besonderes Licht; denn die gerichtliche Entscheidung des Strafrichters verliert dadurch in gewisser Hinsicht 14

Baumbach-Lauterbad},

a. a. O., § 149, Anm. 2 b; ferner EGZPO, § 14.

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ihre Selbständigkeit und wird zum Bestandteil des strafrechtlichen Urteilsverfahrens. Dabei haben Entscheidungen über die Feststellung des Alters nach türkischem Recht an sich nicht nur im Strafrecht sondern auch im Zivilrecht ihre Folgen. Wenn derselbe Fall nicht vom Strafriditer sondern von einem Zivilrichter zu entscheiden wäre, so könnte dieses Urteil selbständig angefochten werden. ö f t e r s müssen in Strafsachen zunächst zivilrechtliche Probleme gelöst werden. Im Falle eines Diebstahls ist öfters die Frage des Eigentums problematisch. Da niemand seine eigene Sache „stehlen" kann, muß die Einlassung des Beschuldigten, daß die gestohlene Sache ihm selbst gehöre, als zivilrechtliches Problem entschieden werden 25 . Nach Artikel 255 der türkisdien StPO (§ 262 der deutschen StPO) kann das Strafgericht diese Frage selbst entscheiden. Wenn es aber die Entscheidung dem Zivilgericht überläßt, so wird der Strafrichter an das Urteil des Zivilgerichts gebunden sein. Diese sogenannte Vorfragenkompetenz bildet eine Ausnahme von dem strafverfahrensrechtlichen Grundsatz, daß der Strafrichter nicht an das Vorbringen der Parteien gebunden ist. In den Fällen, in denen der Strafrichter die Beurteilung des präjudiziellen Zivilrechtsverhältnisses nicht nach Absatz 2 dieser Vorschrift einem Zivilgericht überlassen hat, sondern dieses Zivilurteil unabhängig vom Strafverfahren ergangen ist, ist der Strafrichter an das Urteil des Zivilrichters nicht gebunden. Gemäß § 261 StPO ist der Strafriditer bei seinen Entscheidungen frei. Anders liegt die Sache, wenn er das präjudizielle Verhältnis nadi § 262 StPO selbst zum Zivilgericht verwiesen hat 28 . In diesem Fall hat er nidit mehr die Entscheidungsfreiheit, und muß sidi an das rechtsgestaltende Urteil des Zivilgerichts halten. Bei Nichteinhaltung der Frist, die der Strafriditer den Prozeßbeteiligten gesetzt hat, muß er die Entscheidung in der zivilrechtlichen Frage selbst fällen. Das Zivilurteil bindet den Strafrichter nur, wenn es rechtsgestaltend wirkt. Auch die Verneinung des Anspruchs durch das Zivilgericht hat dieselben Folgen27. Nadi deutschem Recht binden die Feststellungsurteile, die auf eine Statusklage hin ergehen, den Strafrichter nicht28. Hier liegt ein Unterschied zwischen dem türkischen und dem deutschen Recht, da nach türkischem Recht die Feststellung des Alters der Beteiligten im Strafprozeß vom Strafrichter selbst entschieden wird. Inwieweit die zivilreditlichen Urteile, die während des Strafverfahrens ergehen, den Strafriditer binden, ist eine sehr strittige Frage. 15 Über Vorfragenkompetenz siehe Kleinknecht, Kommentar zur StPO, 30. Aufl. 1971, zu § 262, S. 655. 2 · Siehe RGSt 18, 123 und BGHSt 5, 106 ff., besonders S. 109—110. " Bruns, Festsdirift für Lent, 1956, S. 150. " Kleinknecht, a. a. O., $ 262 StPO, Anm. 3.

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Einerseits wird die Meinung vertreten, daß der Strafrichter allgemein an die zivilgerichtlichen Urteile gebunden sei29; anderseits gibt es auch die Gegenmeinung, die von der Offizialmaxime des Strafrichters ausgeht und ihn nicht durch eine Entscheidung des Zivilrichters binden will, die nach dem Grundsatz der Verhandlungsmaxime ergeht, also vom Vorbringen des Beweismaterials durch die Parteien abhängig ist30. Der Strafrichter könnte anderes Beweismaterial, das die Parteien nicht vorgebracht haben, berücksichtigen und dadurch zu einem anderen Resultat kommen. Das zivilrechtliche Verfahren hat den Grundsatz der gesetzlich beschränkten Beweismöglichkeiten, was beim Strafverfahren nicht der Fall ist. Nach Artikel 295 der türkischen Z P O besitzen gerichtliche Urteile, notarielle Urkunden und alle von offiziellen Stellen ausgestellte oder beglaubigte Dokumente bis zum Beweis, daß sie nicht der Wahrheit entsprechen, absolute Beweiskraft. In der türkischen Praxis wird dieser Grundsatz nur auf dem Gebiet des Zivilrechts angewandt. Artikel 295 ist auf dem Gebiet des Strafrechts nicht anwendbar. Artikel 254 der türkisdien StPO gibt dem Richter die Möglichkeit, über alle diese Urteile und Urkunden nach dem vorgebrachten Beweismaterial sowie nach eigenem Ermessen und nach seiner Überzeugung zu urteilen. • Die Frage, inwieweit der Strafriditer befugt ist, ein Zivilurteil zur Grundlage seines Strafurteils zu machen, muß besonders behandelt werden. Bei rechtsgestaltenden Urteilen des Zivilrichters hat er keine Alternative, er muß sie seinem Strafurteil zugrunde legen. Bei den anderen Urteilen hat der Strafrichter die Möglichkeit, die Beurteilungsweise des Zivilrichters nochmals zu überprüfen. Nur dann, wenn er persönlich von der Richtigkeit der Würdigung des Beweismaterials überzeugt ist, wird er das zivilrechtliche Urteil zur Grundlage des Strafurteils machen31. In diesem Punkt muß ein Unterschied zwischen Tatsachen und rechtlichen Ergebnissen gemacht werden 32 . Der Strafrichter muß die Zeugen und die Sachverständigen, die er selbst vernehmen kann, nochmals vor Gericht laden und vernehmen. Die rechtlichen Ergebnisse des zivilgerichtlichen Urteils kann er aber, ohne ein neues Verfahren durzuführen, seinem Urteil zugrundelegen. Die Ansicht Belings, daß dies nur geschehen könne, wenn die Prozeßbeteiligten nicht eine neue Beweisaufnahme in dieser Frage beantragen, ist abzulehnen. Der Strafrichter, für dessen Verfahren die Offizial«· Binding, Strafprozeßrechtliche Abhandlungen, 1915, Bd. II, S. 357. Wurzer, GS, Bd. 89, S. 111 ff.; Stein-Jonas-Pohle, a.a.O., §14 EGZPO, Anm. II, 1. " Kern, a. a. O., S. 153; Beling, Strafprozeßrecht, 1928, S. 285 ff. » Kern, a. a. O., S. 153; siehe audi RGSt 60, 297. 50

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maxime gilt, ist nicht an die Anträge der Prozeßbeteiligten gebunden 33 . Artikel 255 der tiirk. StPÖ ist auch bei verwaltungsgerichtlidien Vorfragen anzuwenden (als Beispiel seien Staatsangehörigkeitsfragen erwähnt 34 ). Auch im deutschen Recht wird § 262 StPO entsprechend angewandt 35 . In Artikel 445 der türkischen Z P O sind verschiedene Fälle aufgezählt, bei denen der Zivilrichter an die Entscheidung des Strafgerichts gebunden ist. Es sind die Fälle der Wiederaufnahme des Verfahrens, bei denen strafgerichtliche Urteile den Wiederaufnahmegrund bilden: a) wenn durch ein Strafurteil festgestellt wird, daß eine Urkunde, die dem Zivilgericht als Entscheidungsgrundlage diente, gefälscht war; b) wenn ein Urteil, das dem Zivilgericht als Grundlage der Entscheidung diente, später aufgehoben wird; c) wenn ein Zeuge später wegen Falschaussage verurteilt wird; d) wenn ein Sachverständiger wegen wissentlicher Falschaussage verurteilt wird. In all diesen Fällen ist der Zivilrichter bei der neuen zivilrechtlichen Klage an das strafgerichtliche Urteil gebunden. Die türkische ZPO gibt zwar dem Zivilrichter audi die Möglichkeit, die Frage, ob eine Urkunde gefälscht ist, selbst zu beurteilen und den Fall nicht unbedingt dem Strafrichter zuzuleiten (türkische ZPO, Artikel 314 und 315). Artikel 314 ist aber nicht bindend und der Zivilrichter hat die Befugnis, den Fall an den Strafrichter zu überweisen, was in der Praxis fast durchweg üblich ist. Ein anderer Fall, in dem im schweizerischen und türkischen Recht der Zivilrichter an das Urteil des Strafrichters gebunden ist, ist die Enterbung, wenn der Erbe gegenüber dem Erblasser oder dessen « Kern, a. a. O., S. 154. M Siehe audi Türkisches Staatsangehörigkeitsgesetz vom 11.2.1964, Artikel 41, wo präjudizielle Fragen der Staatsangehörigkeit behandelt sind. Siehe auch Ayiter, Kudret: Türkisches Staatsangehörigkeitsrecht, Frankfurt 1970, wo audi der Text des Gesetzes abgedruckt ist. — RGSt 48, 391; Löwe-Rosenberg, Kommentar, 22. Aufl. 1971, § 262 StPO, Anm. 1 b. ss Kleinknedit, a. a. O., § 262 StPO, Anm. 5. — Für die sehr interessante Frage der Bindung des Strafrichters an Entscheidungen der Finanzbehörden siehe BGHSt 14, 11 ff.: „Gebunden war die Strafkammer allerdings gegenüber dem Angeklagten an die Entscheidung des Bundesfinanzhofes, in d e r . . . eine Verkürzung des Anspruchs bestätigt worden ist. Jedoch bestand keine Bindung (der Strafkammer) hinsichtlich der Höhe dieser Verkürzung, und zwar auch dann nidit, wenn sie in der rechtskräftigen Entscheidung der Finanzbehörde . . . genau festgestellt ist."

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nahen Verwandten eine schwere Straftat verübt hat (türk. ZGB,) Art. 457). Die Enterbung kann in diesem Falle nur erfolgen, wenn ein entsprechendes Strafurteil ergangen ist. Auch im Scheidungsprozeß wegen Ehebruchs hat das Strafurteil bindende Kraft und der Zivilriditer kann hier nicht das strafgerichtliche Urteil hinsichtlidi des Tatbestandes nochmals prüfen. Dies sind die wichtigsten Fälle des schweizerischen und türkischen Privatrechts, in denen das Strafurteil den Zivilrichter bindet.

Die mitbestrafte Nachtat im Internationalen Strafrecht* LUDWIG SCHNORR VON CAROLSFELD

A.

Das Wesen der Gesetzeskonkurrenz besteht ja darin, daß der Tatbestand einer strafbaren Handlung den einer anderen mitumfaßt, so daß letztere nicht strafbar ist, obgleich sie es isoliert betrachtet doch wäre. Im Grunde genommen ist die sogenannte mitbestrafte Nachtat 1 in ihrem Wesen nichts anderes, nur daß sich aus dem Wortlaut der anzuwendenden, das Vorausgehende betreffenden Norm direkt ein soldies Ergebnis nicht ziehen läßt. Der Beweis und die Folgerungen hieraus bedürfen noch einiger Voruntersuchungen. B.

Betraditen wir das Verhältnis der vollendeten zur versuchten Tat, so läßt sich zweierlei feststellen: Einmal ist häufig nicht bloß letztere strafbar, sondern audi der Versuch, sofern er nicht zur vollendeten Tat gediehen ist, und — was hier im Prinzip nicht interessiert — dem § 43 Genüge getan ist. Es durchläuft (von § 46 a sei abgesehen) — und das ist wichtig festzustellen, obgleich es sich eigentlich von selbst versteht — die Vollendung den Versuchsbereidi und trotzdem ist für diesen keine strafrechtliche Relevanz (von Sonderfällen abgesehen) gegeben2. Im Grunde genommen liegen hier also trotz aller Unter* AT = Allgemeiner Teil; BT = Besonderer Teil; Fl = Schnorr von Carolsfeld, Straftaten in Flugzeugen, zugleich ein Beitrag zum deutschen internationalen Strafrecht, Erlangen 1965; G R = Grützner, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen; §§ ohne Gesetzesangabe sind solche des StGB. 1 Vgl. dazu Baumann, Strafredit AT, 5. Aufl., Bielefeld 1968, S. 643 f. — Dieser Begriff ist riditig gewählt (a. A. Leipz. Korn. [Jagusch bzw. Mösl] 8. bzw. 9. Aufl., Vorbem. 5 vor § 73). — Wegen der nachher zu erwähnenden Besonderheiten des Eingriffs in ein fremdes Rechtsgut durch eine nicht zu protegierende Persönlichkeit handelt es sich nidit etwa um einen persönlichen Strafausschließungsgrund (so Maurach, Deutsches Strafrecht AT, 4. Aufl., Karlsruhe 1971, S. 775). Infrage stehen vielmehr Verhaltensmöglichkeiten, die eine H a u p t t a t lebensmäßig erst zur Wirkung bringen; s. die Übersicht bei Geerds, Zur Lehre von der Konkurrenz im Strafredit, Hamburg 1961, S. 203 ff. mit Lit. * Vgl. hierzu audi Maurach, AT, S. 772; Jescheefe, Lehrbuch des Strafredits, AT, Berlin 1969, S. 492. Das gleiche gilt f ü r ausgesprochene Durdilaufsdelikte, wie etwa eine Körperverletzung bei der Tötung.

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schiede im einzelnen die Verhältnisse nidit anders als in dem oben erwähnten Verhältnis der Gesetzeskonkurrenz3. 1.

1. Daraus ergibt sich für das Internationale Strafrecht4 eine wichtige Fragestellung, falls im Inland eine Tat nicht zur Vollendung gekommen ist5, ihr „Ende" aber sich im Ausland abgespielt hat; z. B. sei in der BRD eine Kellermauer durchbrochen worden, um zu dem Gut zu gelangen, welches im Ausland weggenommen werden soll; in dem dort gelegenen Keller vollzog sich dann die Aneigung. Es erscheint dem natürlichen Empfinden der Betrachtung der (lebensmäßig ausgedrückt) „Diebstahlsvorgänge" allein zu entsprechen, die Ereignisse als Ganzes anzusehen und die Vorkommnisse beiderseits der Grenze zusammengenommen als schweren Diebstahl zu charakterisieren (unterstellt auf beiden Seiten der Grenze wären die strafbaren gesetzlichen Tatbestände inhaltlich gleich oder nahezu gleich)®. Umgekehrt bedeutet dies, daß nicht hier lediglich wegen Versuches eines schweren Diebstahls, dort wegen einfachen Diebstahls bestraft werden kann 7 . Es leitet dieser Fall über zu dem am Eingang der Ausführungen vorgetragenen Gedanken der Gesetzeskonkurrenz. Denn betrachtet man einmal die Vorgänge allein vom Standpunkt des innerdeutschen s Vgl. R. Honig, Straflose Vor- und Nachtat, Leipzig 1927, S. V, 80. Es handelt sich nicht um delieta sui generis, sondern um Erscheinungsformen der H a u p t t a t ; s. Rittler, Lehrbuch des österr. Strafredits Bd. 1, 2. Aufl., Wien 1954, S. 301; v. Beling, Lehre vom Verbrechen, Tübingen 1908, S. 472, 528. 4 Die folgenden Ausführungen können sich notwendigerweise nicht auf Täter beziehen, für welche das Weltrechtsprinzip gemäß § 4 III gilt; denn hier wird der gesamte Lebensvorgang ja im wesentlichen so aufgefaßt, als ob er sidi im Inland abgespielt hätte, gleichgültig ob er sich ganz im Ausland ereignet hat oder teilweise dort, teilweise im Inland. — Handelt es sich um Fälle des § 4 II (z. B. Niditauslieferung eines deutschen Staatsangehörigen), so gilt das gleiche. Was eine Tat betrifft, die im Ausland begangen ist, aber nach inländischem Strafrecht als Nachtat straflos bliebe, so ist diese, obgleich im Ausland begangen, als Nachtat zu betrachten, wenn gem. § 3 II für den „Stamm" der Tat das inländische Recht trotz ausländischen Begehungsortes anzuwenden ist. (Beispiel: Der ausländische Täter begeht die „Haupttat" in einem keiner Staatsgewalt unterworfenen Raum, die „Nachtat" in der BRD.) 5 Oder hier nur ein Durchgangsdelikt vorliegt. • Zu dem gleichen Ergebnis gelangt man dann, wenn man die Bestimmung, daß das Erfolgsland auch das Handlungsland sei, dahin umkehrt, daß das, was zum Erfolg führt, auch diesem zuzurechnen sei, also z. B. das Einbrechen dem Wegnehmen. 7 Der umgekehrte Fall, daß die Wegnahme in der BRD erfolgte, der Durchbruch aber im Ausland, ist für die BRD wegen der Regelung des § 3 III (Erfolgsort = Handlungsort) ohne Bedeutung. Für das Ausland, in welchem die Mauer durdibrodien wurde, liegt der Fall gleich dem im Text oben behandelten.

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Rechtes, so liegt ja an sich auch eine Sachbeschädigung der Wand vor 8, 9 . Diese hat nur in Deutschland stattgefunden 10 . Würde man, wie es soeben geschehen ist, die Vorgänge beiderseits der Landesgrenze als schweren Diebstahl 11 charakterisieren, so wäre hier Gesetzeskonkurrenz mit jener gegeben. Ebenso würde eine Bestrafung aus dem Gesichtspunkt des Versuches eines schweren Diebstahls dann auf der Seite, auf welcher der Mauerdurchbruch erfolgt ist, entfallen 12 . Würde aber etwa eine Beraubung nur im Ausland erfolgt sein, hätten sich aber die Täter durch einen in der BRD gelegenen Keller eingeschlichen (§ 250 I Nr. 4) (vgl. den Sachverhalt BGHSt Bd. 20, S. 235 ff.), so wäre im Inland kein Tatbestandsstück des eigentlichen Raubes gegeben, unter der Voraussetzung, daß man den Hausfriedensbruch als gem. dem Sachverhalt konkret nicht vorliegend unterstellt. Trotzdem müßte wegen des Zusammenhangs schwerer Raub als hier (und dort) gegeben angenommen werden. Die gleiche Lage wäre gegeben, wenn ein Dieb eine im Inland vorliegende gemeine Gefahr (§ 243 N r . 6) ausnützen würde, d. h. irgendein Moment, welches für das Rechtsgut, dessen Schutz eine Strafnorm dient, an sich ohne Bedeutung ist, das aber für die Beurteilung der Verwerflichkeit der Tat, besonders unter dem Gesichtspunkt der Hemmung des Täterwillens, als wichtig erachtet werden muß 13 . Man kann daher sagen, daß dann, wenn im Inland eine Tat begangen oder versucht ist, die rein ursächlich betrachtet allerdings mit im Ausland vorgekommenem Tun oder Unterlassen zusammenhängt, bei deren inländischer Verwirklichung aber kein Schutz inländischen Rechtsgutes von Bedeutung ist, das inländische Ereignis nur für sich strafrechtlich betrachtet werden müsse, nicht als Teil des durch die ausländischen Vorgänge charakterisierten Geschehens; das gilt besonders für reine Strafschärfungsgründe 14 , die sich lediglich im Inland 8 Sofern man (zu Unrecht, weil der Behälter audi dem Täter gehören kann) der h. L. (vgl. Schröder, StGB, 15. Aufl., München 1970, § 243 Anm. 50; dazu richtig iMaurach, Deutsches Strafrecht, BT, 9. Aufl., Karlsruhe 1969, S. 223) folgend Gesetzeskonkurrenz zwischen Sachbeschädigung und § 243 N r . 2 annimmt. • Von der Frage, ob versuchter oder vollendeter schwerer Diebstahl daneben gegeben wäre, sei zunächst abgesehen. 10 Der Hausfriedensbruch dagegen ist bei dieser Betrachtung im Zusammenhang begangen und kann daher hier außer Betradit gelassen werden. 11 Oder als versuchten schweren Diebstahl, z. B. die Diebe werden bei der Wegnahme gestört und fliehen ins Ausland oder in einen dritten Staat. 12 Das gleiche gilt audi, wenn man im Inland nur versuditen Diebstahl als gegeben annimmt. ls Für das Ausland kommen bei der strafzumessenden Beurteilung der Tat audi solche Momente in Betradit. 14 Z. B. bei nur verbotenem Waffenbesitz; s. §§ 244 N r . 1; 250 N r . 1.

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abspielen. Ist aber der inländische Vorgang lebensmäßig als Teil des ausländischen Vorganges aufzufassen, so ist die Gesamtbetrachtung erforderlich. Dabei ist es gleichgültig, ob die eigentliche Tat vollendet oder nur versucht ist. Es ist also die gleiche, etwas verschwommene Betrachtungsweise anzuwenden, welche bei der Abgrenzung einer Vorbereitungshandlung und eines Versuches vorgenommen werden muß, so daß der eingangs erwähnte inländische Mauerdurchbruch bei versuchter oder vollendeter Wegnahme im Ausland auch als verwirklichter Teil eines vollendeten oder versuchten schweren Diebstahls aufzufassen ist15. Würde also der inländische Vorgang für sich betrachtet nur eine Vorbereitungshandlung sein, so wäre er selbständig und allein im Inland strafbar, würde er dagegen für sich betrachtet schon als Tatteil der ausländischen Tat anzusehen sein, also in das Versuchsstadium (bei voller Inlandstat) gehören, so wären die Vorgänge insgesamt einheitlich nach inländischem Recht zu betrachten, mögen sie im einzelnen hier oder im Ausland vorgekommen sein. Liegt aber das strafschärfende Moment im Ausland, die eigentliche Tat im Inland, so kommt der ausländische „Teil" audi für die inländische strafrechtliche Würdigung in Betracht, weil meist erst jenes strafschärfende Moment den Unrechtsgehalt der Tat ersichtlich macht. Beispiel: die Beschädigung von Wasserbauten, die nur eine Gefahr für das Ausland bedeuten (§ 321)16. (Obwohl das vor allem geschützte Rechtsgut dasjenige ist, was der Gefahr ausgesetzt ist, bedeutet doch die Einsicht von der Gefährdung ein für die Willensbildung bedeutsames Moment, welches bei der Ausführung der Tat hinsichtlich der Überwindung von Hemmungen wichtig ist17 und daher bei der Beurteilung entscheidend wirkt 18 .) 15 Die Änderung des Verhältnisses von § 243 zu § 242 durdi die Novelle von 1969 hat an dieser Betrachtungsweise nichts geändert, weil in den aufgezählten Fällen der Gründe des § 243 II ein schwerer Diebstahl angenommen werden muß (vgl. Schröder, a. a. O., § 243 Anm. 2), von dem allerdings mildernde Ausnahmen durch die Wendung „in der Regel" (vgl. § 228) zulässig sind. Solche verhindern aber nicht den „schweren Diebstahl", ebensowenig wie die „mildernden Umstände" das eigentliche Delikt (a. A. Mauraò, BT, l . N a d i t r a g , S. 18). (Anders das schweizerische Recht zum Verhältnis Art. 137 I zu II; vgl. BG E Bd. 72 IV, 1946, S. 114; s. allerdings Schwander, Das Schweizerische Strafgesetzbuch, 2. Aufl., Zürich 1964, S. 162 f.) 14 Auch § § 3 1 1 , 322, 2. Fallgruppe (Brunnenvergiftung). " Vgl. Schröder, a. a. O. § 321 Anm. 9. 18 Steht eine rein inländische Tat in Realkonkurrenz mit einer Tat, von der auch tatbestandsmäßige Teile im Ausland verwirklicht sind, so besteht kein anderes Problem als das soeben geschilderte, besonders dann, wenn es sich bei dem im Ausland verwirklichten Tatbestand um ein Dauerdelikt handelt (Beispiel § 235 mit § 169). — Die Betrachtungsweise ist die gleiche, wenn Vorbereitungshandlungen in Frage stehen, weiche ausnahmsweise mit Strafe bedroht sind. (Im Inland nicht für

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2. Der soeben herausgearbeitete Grundsatz muß auch dann gelten, wenn es sidi um ein mehraktiges Delikt 1 9 handelt. Wird durch die Strafbarkeit des Inlandsaktes kein hiesiges Rechtsgut geschützt 20 , so entfällt die Strafbarkeit hier, falls die anderen Tatbestandsakte sich im Ausland zugetragen haben. Das gleiche gilt, wenn im Inland nur eine Bedingung der Strafbarkeit verwirklicht ist, welche selbst kein Schutzobjekt bedeutet. 3. Wie steht es bei Dauerdelikten, die im Ausland begonnen sind, im Inland aber fortgeführt wurden? Hier ist u. E . der Grundsatz zu beachten, daß eine vollendete Tat danach meist in ein Unterlassungsdelikt „umschlägt", mag dieses dann gleich dem ausländischen zu charakterisieren sein oder anders; ζ. B. die Freiheitsberaubung (§ 2 3 9 einerseits, wegen Aufgabe der Absicht, Lösegeld zu erlangen, im Inland nicht mehr erpresserischer Kindesraub [ähnlich § 239 a η. F . ] , sondern § 239 andererseits). Das gleiche gilt audi bei anderen strafbaren Handlungen, welche zunächst durch Tun begangen sind, ζ. B. bei Diebstahl. Man muß nämlich davon ausgehen, daß nach getaner Tat für den Täter die Pflicht erwächst, die Tat soweit, als dies überhaupt möglich ist 21 wieder gut zu madien. Ist lebensmäßig der Zustrafbar erklärte Vorbereitungshandlungen interessieren nicht.) Sind diese im Inland für strafbar erklärt (audi nur als Versuch; doch braucht in diesem Zusammenhang hierauf nicht eingegangen zu werden; vgl. dazu etwa Jeschedt, a . a . O . , S. 347; sofern für die Vorbereitungshandlung das Weltrechtsprinzip gilt [§ 4 I I I Nr. 3 a mit § 3 1 6 c ] , ist kein Problem gegeben, da dann ja stets die gewöhnlichen Erwägungen über das Verhältnis von Vorbereitungshandlungen zur eigentlichen Handlung gelten) und wird die Haupttat im Ausland begangen oder auch nur versucht, so kommt es darauf an, ob audi bei vollendeter Tat im Inland (u. E. genügt der Versuch; a. Α. M attract), AT, S. 772) nach inländischem Recht die Vorbereitungstat strafbar bleibt oder mit der nachfolgenden Haupttat verschmilzt, falls diese getätigt wird. In ersterem Fall bleibt es bei der inländischen Strafbarkeit der unter Strafe gestellten Vorbereitungshandlungen allein. (Beispiel [früher] § 296 mit § 2 9 2 ; Maurach, AT, S. 491); in letzterem dagegen ist die Vorbereitungshandlung als Teil der Gesamttat anzusehen, von der im Inland nur ein Stück verwirklicht ist (Beispiel [früher] § 245 a zu § 243; Jescheck, a. a. O., S. 182; s. aber Maurad}, BT, S. 233). (Im umgekehrten Fall [Haupttat im Inland, Vorbereitungstat im Ausland] interessiert letztere nur, wenn man sie nach inländischem Recht mit der Haupttat verschmilzt und dann lediglich für das Strafmaß.) Keinesfalls zieht stets die ausländische, wenn sie im Inland geschehen wäre, strafbare Vorbereitung das Gesamtgeschehen ins Inland (vgl. zu all diesen Fragen auch Fl Anm. 53). — Die „Teile" einer Fortsetzungstat (auch Sammelstraftat) können nicht im Verhältnis von Vorund Nachtat stehen. S. dazu Fl Anm. 57. U. U. § 177, 2. Alternative; s. auch Fl, S. 40; Jesdjede, a. a. O., S. 125, 180. 2 1 Bei vollendetem Mord ζ. B. besteht eine solche Möglichkeit nicht, wohl aber, wie nachher eingehender darzulegen ist, bei Diebstahl (Rückgabe) oder bei Körperverletzung (Hilfeleistung). 19

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sammenhang zwischen Auslands- und Inlandstat gegeben, so ist alles als eine Einheit zu behandeln, wie bei innerstaatlichem Fortsetzungszusammenhang. Dann muß fingiert werden, das innerstaatliche Delikt sei bereits während der Auslandszeit begonnen, mag dieses auch jetzt durch Unterlassen geschehen. Beispiel: Jemand wird im Ausland in den Kofferraum eines Kraftfahrzeuges eingesperrt und auch im Inland nicht freigegeben. Hier ist eine Inlandstat gegeben, bei der dann die ausländischen „Teile" mit bei der Strafzumessung zu berücksichtigen sind. War dagegen, wie etwa bei einem Diebstahl im Ausland, die Tat dort bereits beendet, so besteht u. E. eine Pflicht zur Rückgabe des gestohlen ins Inland gebrachten Gutes 21 "; denn der Behaltungswille mit Unreditsbewußtsein besteht hier fort, mag er sich auch nicht neu nach außen besonders kundtun. Deshalb kann hier regelmäßig eine neue strafbare Handlung (war doch die vorangehende bereits beendet) als gegeben angenommen werden, nicht Fortsetzungszusammenhang, da ja die Inlandstat nicht die Fortsetzung einer bereits vollendeten oder beendeten Tat sein kann 22 . Es wäre daher im Inland die Strafbarkeit als Unterschlagung noch zusätzlich gegeben, falls nicht durch einen Vertrag mit dem in Betracht kommenden Auslandsstaat die Rechtskraft eines über den Diebstahl ausgesprochenen Urteils auch hier im Inland anzuerkennen ist. Das gleiche gilt — um ein weiteres Beispiel zu bringen — etwa beim Behalten einer durch Betrug erhaltenen Sache23.

II. 1. In diesen Zusammenhang gehören auch die Taten, welche im allgemeinen als mitbestrafte Nachtaten bezeichnet zu werden pflegen, wird doch ihre an sich gegebene Strafbarkeit als durch die Bestrafung der zeitlich vorangegangenen Tat mitbestraft angesehen. Wenn allerdings die ins Inland hereinragenden Vorgänge hier als zum ganzen Lebensvorgang gehörige Teile bestraft werden können (z. B. hier tritt der Erfolg 24 des ausländischen Tuns oder Unterlassens ein), so entfällt ohne weiteres die Strafbarkeit dessen, was als Nachtat angesehen werden könnte, weil der Gesamtvorgang als inländische Tat auf-

2 1 ° Rückgabe (also keine Nachtat durch Unterlassen mehr!) vermindert die Strafhöhe. 2 2 Wie das (umgekehrt) bei der Freiheitsberaubung der Fall ist, welche ja nodi nidit beendet ist. 2 8 Weiterer Fall etwa § 170 a (Umschlagen in den Tatbestand des § 170 b). 2 4 Vgl. hierzu audi Fl, S. 42 ff.

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gefaßt werden muß 25 . Sofern aber die Strafbarkeit des ausländischen Tuns oder Unterlassens ein inländisches Rechtsgut an sich mitschützt, d. h. wenn die gleiche oder nachfolgende Verletzung unter rein inländischen Gesichtspunkten (diese dort fiktiv angewandt) rechtlich nicht beachtlich wäre, obwohl nach jener Rechtsordnung die Tat beendet ist, so ist der inländische Vorgang allein unter inländischen Gesichtspunkten zu betrachten, obwohl im Ausland, wie gesagt, eine andere Tat bereits strafbar begangen ist. Dieser Fall liegt nur dann vor, wenn das gleiche Rechtsgut in Frage steht, aber eben die Beendigung seiner Verletzung bereits sich im Ausland zunädist zugetragen hat. Bei neuerlicher Verletzung ohne Fortsetzungszusammenhang, die im Inland stattgefunden hat und die, bei Anwendung des Auslandsrechtes, straflose Nachtat wäre, ist also im Inland doch Strafbarkeit gegeben, wenn die Art und Weise der Verletzung eine andere als im Ausland ist 26 . Das gilt aber dann eben nicht, wenn der inländische Vorgang nur die Fortsetzung einer im Ausland nicht abgeschlossenen Handlung ist 27 . Dabei ist folgendes zu beachten: Wenn im Ausland ein Tätigkeitsdelikt begangen ist (ζ. B. Betrug) und dieses nunmehr in der Form von Unterlassen im Inland fortdauert, ohne daß diese Fortsetzung eine besondere Bestrafung im Ausland ermöglichte, so wird in diesem Zustand eine Überschreitung der Grenze des Tätigkeitsdeliktes anzunehmen sein, so daß das Unterlassen nicht im Fortsetzungszusammenhang mit dem ausländischen Geschehen steht, weil dort (vielleicht abgesehen vom Verjährungsbeginn) die hiesige Unter25 Man beachte den Untersdiied zwischen der Fortsetzung einer Auslandstat durch Unterlassen im Inland, bei der es sich um den Schutz des gleichen Rechtsgutes vor gleichartigen Beeinträchtigungen handelt und den im Text gemeinten Fällen, bei denen zusätzlich Gefährdungen derselben Riditung (nicht allerdings andere) eintreten. Eine Fortsetzung der Handlung liegt auch dann nicht vor, wenn zwar das gleiche Rechtsgut wie bei der ausländischen Tat geschützt wird, aber unter einem anderen Betrachtungswinkel, ζ. B. wegen Wegnahme als Diebstahl dort, hier dagegen wegen Behaltens als Unterschlagung. Es muß eben bedacht werden, daß jederzeit (vgl. das Zivilrecht) der Dieb, weldier das Diebesgut behält, gegen die Ordnung des Staates verstößt, da ihm ja noch nach wie vor die weggenommene Sache nicht gehört. Deshalb ist (vgl. Schröder, a. a. O. Anm. 84 vor § 73) der Betrug gegen den Bestohlenen, welcher das Behalten des angeeigneten Gutes sichern soll, kein selbständiges, durch die Bestrafung des Diebstahls nicht „gedecktes" Tun, dagegen der gegen einen Dritten (RMG 22, 253; Schweiz. BG E Bd. 72, S. 11). Es entscheiden Güter, nicht Unrechts werte; a. A. Nowakowski, Das österreichisdie Strafrecht, Graz 1955, S. 124. 26 Besonders, wie gesagt, nur eine Verstärkung des Entzuges oder eine Gefährdung des Rechtsgutes. Hierbei ist genau zu beachten, welches Rechtsgut in Frage steht, z. B. Besitz einerseits, Eigentum andererseits; s. Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl., Berlin 1969, S. 351. 27 Denn bei dieser wird das ausländische Tun oder Unterlassen als Einheit mit dem inländisdien betrachtet; vgl. Fl S. 40.

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lassung bei der Bestrafung keine Rolle spielt (höchstens bei der Strafhöhe)28. Werden jedoch vom gleichen Täter hinsichtlich derselben Sache doch verschiedene Rechtsgüter verletzt, so sind die Handlungen als völlig selbständige Vorgänge zu betrachten, nicht als doch zu bestrafende mitbestrafte Nachtat; das wäre z.B. der Fall bei einem Diebstahl einer Urkunde im Ausland, deren Vernichtung im Inland vorgenommen wird29 oder bei einem Diebstahl im Ausland, wenn die gestohlene Sache betrügerisch, d. h. unter Schädigung eines Dritten, im Inland veräußert wird (anders wenn der Betrug lediglich der Festigung des Besitzes am gestohlenen Gut dienen soll und diese Tat wird im Inland bezüglich eines im Ausland gestohlenen Gegenstandes verübt; hier liegt im Inland zu bestrafende Nachtat vor). Für das Vorliegen einer solchen im Inland zu bestrafenden Nachtat ist es gleichgültig (nicht aber, wenn sidi das gleiche Geschehen in einem anderen Land abspielt), ob das betroffene Rechtsgut dem Verletzten rechtlich verstärkt entzogen wird30, z. B. durdi Vernichtung31 oder Veränderung, etwa der Farbe des Kraftwagens. Es handelt sich 28 Vgl. H . J. Bruns, Strafzumessungsrecht, AT, Köln 1967, S . 4 1 0 f . ; Welzel, a. a. O., S. 235; RGSt 62, 61. 29 Vgl. Maurach, AT, S. 776; bei ersterem handelt es sich um die Herrschaft über die Sache, bei letzterem um die Klarheit der Rechtslage (a. A. Schmidhäuser, Strafrecht, AT, N r . 18/39; RG Goltd. Ardi. Bd. 50, 121), vorausgesetzt, daß nicht von vornherein bei der Wegnahme der Vernichtungswille bestand. Dann würde es sich im Inland wegen des inländischen Erfolges nur um eine Urkundenverniditung, im Ausland allerdings um einen Diebstahl (mehraktiges Delikt) handeln. Faßt man die Alternativen des § 267 mit Recht als zwei strafbare Handlungen auf (a. A. z. B. Schröder, a. a. O. § 267 Anm. 79), so ist die Verwirklichung der zweiten nach der ersten eine strafbare Nachtat (schon aus historischen Gründen; s. Lange, StGB, § 267 Anm. VI). Weiterer Fall: Der Verkauf der gestohlenen Sache durch den Dieb an einen Dritten verletzt (§ 935 BGB !) ein neues Rechtsgut, nämlich dessen Vermögen (s. Jescheck, a . a . O . S. 492; Welzel, a . a . O . S. 235; ferner RGSt 54, 80; 55, 103; österr. O G H E Bd. X X X I I I Nr. 24: Kraftfahrzeugdiebstahl und Verfälschung des Zulassungsscheins; s. auch Bd. X X X V I I I Nr. 37 [Gewalthandlungen des fliehenden Räubers gegenüber Dritten]; vgl. Bd. X X I V Nr. 60; Bd. X X V I Nr. 46); bedenklich aber RGSt 8, 371 (Anstiftung zum Diebstahl und Hehlerei an der gleichen Sache schlössen sich [im Gegensatz zu Diebstahl und Hehlerei] ; ähnlich O H G Bd. 2, S. 59 [Beihilfe; nicht Täterschaft]) nicht aus; vgl. RGSt 73, 322. Bedenklich (umgekehrt) RGSt 9, 240; richtig RGSt 35, 64; 59, 175. Bedenklich: RGSt 64, 284. — Wenn ein Erfolg, der dort gleichzeitig lediglich Strafschärfungsgrund, nicht tatbestandsmäßiger Erfolg ist, nur im Inland eingetreten ist, so ist hier nur dieser strafbar (z. B. § 178 und § 56; RGSt 20, 270). Das gleiche gilt von der Verwirklichung der Absidit, die keinen tatbestandsmäßigen Erfolg verlangt (im anderen Land dann zu bestrafende Nachtat) (wie es bei § 225 der Fall ist). Beispiel: § 248 c; u. U. § 265. Uber Österreich s. im übrigen Rittler, a. a. O. Bd. 1, S. 344 f. *> A. A. Baumann, a. a. O., S. 648. J1 Vgl. RGSt 76, 131 (132); audi z.B. durch Verzehren entwendeter Lebensmittel.

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eben um eine materiellrechtliche Erscheinung, welche der prozessualen Regel „ne bis in idem" gleichkommt32, wobei die Gleichheit zwar im Rechtsgut und seinen inneren tatsächlichen Möglichkeiten liegt, nicht aber in der Willensrichtung, die ja bei der Wegnahme durchaus eine andere ist als bei der Zerstörung. Der zeitlich spätere Angriff auf das gleiche Rechtsgut weicht lediglich tatbestandsmäßig von dem früheren ab 33 . Dabei ist die Person des Rechtsinhabers ohne Bedeutung, so daß die Veräußerung durch den Bestohlenen nach dem Diebstahl sich nicht etwa dahin auswirkt, daß nunmehr die Vernichtung des gestohlenen Gegenstandes die Qualität als Nachtat verlöre 34 ; denn veräußert wurde ja von vornherein eine abhandengekommene Sache, so daß kein anderes Rechtsgut betroffen wurde. Es handelt sich sonach bei den Nachtaten um Vorgänge, die in einer Ursachenreihe nach einer mit Strafe bedrohten Tat stehen, aber nicht durch deren tatbestandsmäßige Erfolge, auch nicht deren kupierte Erfolge, betroffen werden (sonst § 3 III!), sondern vom Unrechtsgehalt der vorangegangenen tatbestandsmäßigen Handlung oder Unterlassung (vorbehaltlich einer Einflußnahme auf die Strafhöhe) mitumfaßt werden und durch die Verurteilung u. U. konsumiert sind. Für die internationalrechtliche Betrachtung ist es ohne Bedeutung, daß bei Angriff auf das gleiche Rechtsgut durdi denselben Täter die Vorgänge unter mehrere gesetzliche Tatbestände subsumierbar sind, so daß derjenige Sachverhalt, der geringere Widerstandsüberwindung beim Täter erfordert, von dem anderen Tatbestand bei der Verurteilung mitumfaßt wird, ζ. B. Diebstahl und Unterschlagung im gleichen Staat 35 . Dagegen liegt ein neuer Schaden eben bei der erwähnten inländischen Verstärkung des Entzuges des bereits im Ausland angegriffenen Rechtsgutes vor, so daß nun im Inland strafbare Nachtat anzunehmen ist, auch wenn „die Grenzen dessen überschritten würden, was dem rechtmäßigen 31 Α. A. z. B. Maurad), AT, S. 775. Es liegt also (richtig Mauradi, AT, S. 778) Tatmehrheit vor. Daher kann die „Naditat" im Inland audi bestraft werden, wenn die Haupttat wegen des Satzes „ne bis in idem" (gesetzt es sei dieser audi auf ausländische Urteile anwendbar; s. dagegen Fl S. 8) nicht mehr im Inland bestraft werden könnte. 55 Vgl. Stratenwerth, Strafredit, AT, Köln 1971, Nr. 1270. Der Verkauf der Sadie seitens des Diebes an einen Hehler verschärft nur die Verlustlage des Eigentums. Daher gehört u. E. dieser Fall auch hierher; a. A. Stratenwerth, a. a. O., Nr. 1271. S. audi RG Goltd. Ardi. Bd. 50, S. 121. Über Untreue und Unterschlagung: BGHSt 8, 260. M Anders dagegen RGSt 51, 183: das Verheimlichen durch den Hehler, der die Sache gekauft hat (s. Honig, a. a. O. S. 82). Vgl. RGSt 60, 373. A. A. für das innerstaatliche Redit z.B. Jescheck, a . a . O . S. 492 f.; Blei-Mezger, Strafredit, AT, 13. Aufl., München 1968, S. 318. " S. Geerds, a. a. O., S. 206.

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Eigentümer kraft seines Herrschaftsrechts über die Sadie erlaubt sein würde"36787. Das Gesagte folgt aus der auf der Staatssouveränität beruhenden Selbständigkeit des Strafrechtes jedes Staates. Daher spielt der Strafrahmen der Vortat, der innerstaatlich in solchen Fällen nicht überschritten werden darf38, keine Rolle; die „Nachtat" einer ausländischen „Vortat" im Inland ist aus sich heraus zu beurteilen, unbeschadet der später zu erörternden Rechtskraftwirkung39. Es muß noch einmal betont werden, daß bei diesen Erwägungen es genau darauf ankommt, um welches Rechtsgut es sich handelt. Da sonach eine Tat, die im Inland mitbestrafte Nachtat wäre, im internationalen Recht selbständig ist, so spielt hier die Streitfrage40 keine Rolle, ob sie trotz Verjährung der „Haupttat" (oder deren Straflosigkeit als Naditat z. B. wegen fehlender Deliktsfähigkeit) bestraft werden kann. 2. Von Bedeutung ist das soeben Erörterte auch für die Frage, ob eine ausländische Verurteilung die gleiche Tat betraf41. Der § 60 III S. 1 bestimmt: „Ist der Verurteilte wegen derselben Tat im Ausland bestraft worden, so wird auf die neue Strafe die ausländische angeredinet, soweit sie vollstreckt ist." Erfolgt also eine Verurteilung wegen M Vgl. Geerds, a . a . O . , S. 206; RGSt 60, 361; auch 49, 16; 73, 61. Geerds (S. 207) meint unter Verweisung auf RGSt 68, 229, es sei keine Gleichheit der Rechtsgüter im technischen Sinn erforderlich, es müsse sich nur die Schutzsphäre der Gesetze — der Unrechtsgehalt — sachlich decken. Wäre das richtig, so würde dadurch der Unsicherheit Tür und Tor geöffnet und es würde das notwendig starre System des Strafrechts aufgeweicht. Auf die Änderung des Vorsatzinhalts kommt es eben nidit an (vgl. Honig, a. a. O. S. 87 zu R G Rspr. 10, 488), weil der spätere Vorsatz nur einer Verwirklichung des letzten Endes „breiteren* Inhalts der vorsätzlichen Erlangung der Eigentümerstellung diente. Bedenklich RGSt 43, 60; 49, 405. ST Weiteres Beispiel: Vernichtung der durch Betrug erlangten Sache; vgl. BleiMezger, a. a. O. S. 318. Die Wegnahme der gestohlenen Sache beim Hehler durch den Dieb ist aber u. E. ein neuer Diebstahl, da der Gegenstand ja auch beim Hehler ein fremder war; s. BGHSt 3, S. 191 if. (193). se Vgl. Schmidbauer, a. a. O. Nr. 18/40. 58 Die Tatsache, daß sie bei der Bestrafung der innerstaatlichen Vortat im Urteil keine Erwähnung zu finden hat (doch ist dies wegen der Rechtskraftwirkung, soweit überhaupt möglich, zweckmäßig), gilt selbstverständlich nicht bei ausländischer Vortat. Allerdings wird hier häufig zweckmäßig von den §§ 153, 153 a StPO Gebrauch gemacht werden. Zu § 153 b StPO siehe sogleich im Text. 40 Vgl. Welzel, a. a. O. S. 235. Die „Nachtat" ist daher als an sich strafbare Handlung ohne weiteres geeignet, Vortat etwa einer Hehlerei zu sein; s. Welzel, a. a. O. S. 396. 44 S. auch Schnorr von Carolsfeld, Festschrift für Maurach, Karlsruhe 1972, S. 617 Anm. 9.

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einer Tat, die dann eine durch die ausländische Verurteilung mitbestrafte Nachtat wäre, wenn die deutschen Gedanken über die mitbestrafte Nachtat auf alle Vorgänge anzuwenden wären, so muß der § 60 I I I S. 1 auch in diesen Fällen angewandt werden, d. h. mit dem Gedanken einer erweiterten Identität der Tat gearbeitet werden 42 '' 43 ' 44 . 3. D a im internationalen Recht das im nationalen Recht als mitbestraft geltende Tun oder Unterlassen eine selbständige strafbare Handlung darstellt, so kommt die im innerstaatlichen Redit zu bejahende Frage nach der Erhöhung der Strafe wegen der Nachtat 45 nicht in Betracht.

III. Zum Schluß sei noch in Anlehnung an oben Gesagtes bemerkt, daß dann, wenn in einem reinen inländischen Falle eine Vortat bei nachfolgender Haupttat nicht in Betracht kommt, im internationalen Recht zu unterscheiden ist, wie sich beide Taten zueinander verhalten: Ist die Vortat lediglich als Verwirklichung eines Teiles der Haupttat aufzufassen, wie dies bei Aufforderungsdelikten der Fall ist, so ist nach den Grundsätzen des § 3 I I I auch das Hauptdelikt (und damit die „Vortat") nach inländischem Recht strafbar (Beispiel: § 49 a bei Vollendung oder Versuch des Verbrechens). Ist aber die „Vortat" nur das geringere Übel gegenüber einer späteren Haupttat, so ist die „Vortat" im Inland allein strafbar (z. B. 4 e die Zerstörung einer Sache um eine Brandstiftung zu ermöglichen oder der Sachverhalt von B G H S t Bd. 21 S. 377 ff.). 42 Das gilt erst redit im Rahmen solcher Rechtsordnungen, welche die ausländische Verurteilung für die Anwendung des Satzes „ne bis in idem" gelten lassen, was vor allem dann der Fall ist, wenn vertraglich die Zuständigkeit des anderen Staates anerkannt ist (vgl. umgekehrt § 4 III Nr. 10). 45 Besonders weitgehend Äthiopien StGB, Art. 12 II, 20 II (aber Art. 161) (Gr IV A3). S. ferner Brasilien StGB Art. 8 § 1 (Gr IV Β 7); Haiti StPO Art. 7 (Gr IV H l ) ; Thailand StGB § 10 (Gr IV Τ 2). Vgl. im übrigen auth Costa Rica StGB Art. 7 (Gr IV C 5); Tunesien StPO Art. 305 f. (Gr IV Τ 7); ähnlich Kamerun AuslieferungsGes. Art. 4 (Gr IV Κ 2), audi Paraguay StGB Art. 10 II (Gr IV Ρ 4). 44 Wegen der allgemeinen jetzigen Fassung von ξ 153 b I Nr. 3 StPO kommen solche Fragen für das Problem des Verfolgungszwanges nidit mehr in Betradit; s. etwas anders die Rechtslage in Sdiweden gemäß dortigem StGB Kap. 2 § 6 (Gr IV) : S. 6. Vgl. auch Bertel, Die Identität der Tat, Wien 1920. 45 Vgl. hierzu H. J. Bruns, a. a. O., S. 414 mit Lit. 4Í Geerds, a. a. O., S. 214. S. allerdings das oben über das Einschleidien im Verhältnis zum schweren Raub. Weitere Fälle (vom innerdeutschen Standpunkt aus allerdings bedenklich): RGSt 40, 10; 57, 199; vgl. Honig, a. a. O. S. 92.

Die positiven Wirkungen ausländischer Strafurteile im Inland im Rahmen der Vollstreckung DIETRICH OEHLER

1. Die Anerkennung ausländischer Strafentscheidungen in der Vergangenheit Die Frage nach der Anerkennung ausländischer Strafurteile trat in einer Zeit, in der die Völker im nationalstaatlichen Denken verhaftet waren, kaum auf. Die Übernahme von Strafurteilen eines anderen Staates hätte zu dem tief verwurzelten Souveränitätsdenken in Widerspruch gestanden. N u r einige Ausnahmen sind zu nennen. Aus dem 19. Jahrhundert ist die Rheinschiffahrtsakte vom 17.10.1868 erwähnenswert, die nodi heute gilt. In dieser verpflichten sich die Rheinuferstaaten Belgien, Deutschland, Frankreich, die Niederlande und die Schweiz auf der Grundlage der Gegenseitigkeit, Urteile der Rheinufergerichte auch dann zu vollstrecken, wenn das Gericht außerhalb des Staates liegt, in dem das Urteil erlassen wurde. Jedoch bezieht sich die Vollstreckung ausländischer Urteile nur auf verhängte Geldstrafen. Art. 30 des Schweizerischen Auslieferungsgesetzes vom 2 2 . 1 . 1 8 9 2 sieht vor, daß der Bundesrat im Einverständnis aller Beteiligten gestatten kann, daß eine im Ausland verhängte Gefängnisstrafe in einer inländischen Verhaftungsanstalt vollzogen wird. Erst in den letzten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts gewann die Problematik der Anerkennung ausländischer Strafurteile allgemein an Aktualität. Dies lag vor allem an der Erkenntnis, daß mit Hilfe der zwischenstaatlichen Auslieferungsvereinbarungen und der bestehenden nationalen strafrechtlichen Vorschriften eine wirksame Kriminalitätsbekämpfung auf internationaler Ebene nicht immer möglich war, und daß die Beibehaltung des Zustandes weder den jeweils berührten staatlichen Interessen noch dem Interesse des Straffälligen gerecht werde. So kann davon ausgegangen werden, daß es für den im Ausland verurteilten Delinquenten grundsätzlich besser sein dürfte — und auch dem Gedanken der Resozialisierung näher kommt —, wenn er die im Ausland ausgesprochene Strafe in seinem Heimatland verbüßen kann, weil er mit den Lebensverhältnissen vertraut ist und der Strafvollzug ohne Verständigungsschwierigkeiten durchgeführt wird. Dieses Ziel erreicht man aber nur, wenn ein ausländisches Urteil auch im Inland vollstreckbar ist. Auch aus Gerechtigkeitserwägungen

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empfiehlt sich eine gewisse Anerkennung von ausländischen Urteilen, da die Erfahrung lehrt, daß in der Regel ein Richter von einer bedingten Strafaussetzung einer Freiheitsstrafe u. ä. absehen wird, wenn er nicht die Gewähr hat, daß der Delinquent außerhalb des eigenen Staatsgebietes überwacht wird und die Möglichkeit des Widerrufs der Strafaussetzung mit Wirkung im Ausland besteht 1 . Eine weitere Gegenwartsnähe der Frage der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Strafentscheidungen trat durch die verschiedenen Zusammenschlüsse europäischer Staaten ein. Die Frage der Wirkungen ausländischer Strafurteile ist seit der Tagung des Institut de Droit International in Bath 1950 Gegenstand vieler Untersuchungen internationaler Konferenzen 2 und einiger Ubereinkommen geworden, bei denen eine grundsätzliche Klärung dieses Problemkreises erstrebt wurde. An internationalen Vereinbarungen sind das sog. Nordische Vollstrekkungsgesetz ursprünglich von 1963 zu erwähnen, eine Parallelgesetzgebung in den fünf nordischen Staaten, die Konvention zwischen Belgien, Luxemburg und den Niederlanden über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Zölle und Verbrauchssteuern von 1952, das Europäische Übereinkommen über die Bestrafung von Verkehrsdelikten von 1964, das Europäische Übereinkommen über die Überwachung von bedingt Verurteilten oder Entlassenen von 1964 und das Europäische Ubereinkommen über die Internationale Gültigkeit von Strafurteilen vom 28. 5.1970 s . Die Europäischen Übereinkommen sind noch nicht in Kraft getreten.

2. 2.1. Die Wirkungen ausländischer

Strafurteile

Die Wirkungen, die ein ausländisches Straferkenntnis hervorrufen kann, können entweder als negativ oder als positiv bezeichnet werden. Während die negative Wirkung die Frage betrifft, ob die inländischen Verfolgungsbehörden durch ein ausländisches Urteil in derselben Sache gehindert werden, eine Verfolgung im Inland einzuleiten, berührt die positive Wirkung die Frage, welche Vollstreckungsmaßnah1 Grützner, Die zwischenstaatliche Anerkennung europäischer Strafurteile, N J W 69, 347. 1 Z.B. IX. Int. Strafr. Kongr. 1964, ZStW 77, S. 685 ff.; Hans Schultz in seinem Generalbericht f. d. VII. Congrès de l'Academie de droit comp, in Uppsala, Revue de Science Crim. et de Droit Comparé, 1967, p. 330. ' Dazu Council of Europe, Aspects of the International Validity of Criminal Judgments, 1968, und Explanatory Report on the European Convention on the International Validity of Criminal Judgments 1970.

Positive Wirkungen ausländischer Strafurteile im Inland

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men die inländischen Gerichte und Behörden aus einem ausländischen Straferkenntnis ergreifen können oder müssen und welche weiteren Folgen, z. B. für die Begründung der Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung, sich an ein ausländisches Urteil im Inland knüpfen 2.2. Die positiven Wirkungen ausländischer S tra fur teile Es ist sicher, daß durch ein ausländisches Urteil positive Wirkungen in einem anderen Staat allgemein nicht erzeugt werden. Nur in wenigen staatlichen Gesetzen finden sich Vorschriften, die aus einem ausländischen Urteil positive Wirkungen ableiten. Die überall erkennbare Zurückhaltung bei der Formulierung von Vorschriften, in denen der einzelne Staat positive Wirkungen ausländischer Strafurteile anerkennt, beruht einmal auf der Komplexität der zu lösenden Fragen und — im Vergleich zu den negativen Wirkungen — darauf, daß bei der Zuerkennung positiver Wirkungen ausländischer Strafurteile inländische Behörden auf Grund ausländischer Rechtsakte tätig werden müssen. Bei der Anerkennung negativer Wirkungen handelt es sich im Grunde nur um ein Untätigbleiben der inländischen Verfolgungsbehörden4. Dieses läßt sich aus verhältnismäßig wenig Voraussetzungen unter Umständen folgern, während die Einbeziehung eines ausländischen Urteils in das positive Handeln eines inländischen Gerichts oder einer inländischen Behörde von vielerlei Umständen abhängig ist. In diesem Beitrag wird im Rahmen der positiven Wirkungen ausländischer Strafurteile nur die Frage der Vollstreckbarkeit in den Grundzügen behandelt, vor "allem, welche Regelungen gegenwärtig bestehen und welche Probleme dabei zur Verwirklichung einer gerechten internationalen Strafrechtspflege gelöst werden müssen. 3. Die Vollstreckung ausländischer Straf urteile 3.1. Nationale und internationale Regelungen Bis vor wenigen Jahren galt für die Strafgesetzbücher aller Staaten fast ausnahmslos der Grundsatz, daß ausländische Strafentscheidungen im Inland nicht vollstreckt werden konnten®. Hindernisse für die Vollstreckung dieser Rechtsfolgen wurden nicht nur in einer gewissen Souveränitätsbeschränkung, sondern vor allem in der Schwierigkeit der praktischen Durchführung gesehen. 4 Dazu Mayer, Rapport allemand, in Revue Internationale de Droit Pénal, 1963, p. 44. 5 Ausnahme bildete z. B. Art. 3, letzter Absatz, und Art. 5, letzter Absatz Schweiz. StGB.

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Der Gedanke der Souveränitätsbeschränkung durch die Vollstrekkung eines ausländischen Urteils tritt neuerdings zurück, weil man allmählich zu der Einsicht gekommen ist, daß der das ausländische Urteil vollstreckende Staat zwar die Vollziehung fremder Hoheitsakte übernimmt, der aburteilende Staat aber umgekehrt seinen Hohoeitsbereich gegenüber anderen Staaten ausdehnt, wenn die Entscheidungen seiner Strafgerichte in anderen Staaten vollstreckt werden. Die Versuche, international verbindliche Voraussetzungen für die Vollstreckung eines ausländischen Urteils im Inland zu finden, führten auch erst jüngst zum Ziel. Wenn auch vereinzelte, vom Inhalt her begrenzte, mehrseitige Vollstreckungsvereinbarungen schon bestanden, so ist eine umfassende Behandlung der Vollstreckung ausländischer Urteile erstmals im o. a. sog. Nordischen Vollstreckungsgesetz formuliert worden. Das Europäische Übereinkommen über die Bestrafung der Verkehrsdelikte, dasjenige über die Überwachung der bedingt Verurteilten usw. und das Europäische Übereinkommen über die Internationale Geltung von Strafurteilen stellen auch für diese Frage einen vorläufigen Abschluß der Entwicklung dar.

3.2. Allgemeine Voraussetzungen für die Übernahme der Vollstreckung ausländischer Strafurteile Wird auf Grund einer internationalen Vereinbarung die Vollstreckung ausländischer Strafurteile erreicht, so müssen gewisse allgemeine Vorbedingungen und Verfahrensgarantien gewährleistet sein. Eine Vorbedingung für die Übernahme der Vollstreckung muß ein Ersuchen des urteilenden Staates an einen anderen Staat sein. Als ersuchter Staat wird grundsätzlich der Heimatstaat oder der Wohnortstaat in Frage kommen — das Europäische Abkommen über die Bestrafung von Verkehrsdelikten nimmt nur den Wohnortstaat in Anspruch (Art. 1) — , wobei der ersuchende Staat aus tatsächlichen Gründen nicht in der Lage sein darf, die Vollstreckung optimal vorzunehmen. Die Vollstreckung in dem ersuchten Staat muß sich auch zu Gunsten der Einwirkung auf den Verurteilten auswirken. Zu diesen Voraussetzungen muß jedenfalls ein Abkommen nähere Bestimmungen treffen (vgl. Art. 5 Europäisches Übereinkommen über die Internationale Gültigkeit von Strafurteilen). Als wohl wesentlichste Voraussetzung für die Übernahme der Vollstreckung ausländischer Strafurteile ist anzusehen, daß in dem die Vollstreckungsübernahme erklärenden und in dem die Strafentscheidung aussprechenden Staat ähnliche politische, kulturelle, soziale und rechtliche Strukturen bestehen, d. h. daß diese Staaten einen Gleichstand in der kulturellen Entwicklung erreicht haben müssen, damit

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die Auffassung vom Sinn der Vollziehung des Urteilsspruchs sowohl in dem ersuchenden wie auch in dem ersuchten Staat weitgehend identisch ist. Dadurch treten dann geringere Schwierigkeiten für den Verurteilten und den vollstreckenden Staat in der praktischen Durchführung der Vollstreckung des ausländischen Strafurteils auf. Eine positive Wirkung eines ausländischen Urteils bezüglich der Vollstreckung setzt ferner voraus, daß die in der ausländischen Strafentscheidung abgeurteilte Tat auch in dem zur Vollstreckung ersuchten Staat strafbar ist® (z. B. Art. 4 Europäisches Ubereinkommen über die Internationale Gültigkeit von Strafurteilen). Dieser Staat hat an der Vollstreckungsübernahme ein Interesse nur dann, wenn die abgeurteilte Tat zugleich von ihm aufgestellte Straftatbestände erfüllt. Er will in diesem Fall mit der Vollstreckung des ausländischen Urteils auch indirekt seine rechtliche und soziale Ordnung mit den Mitteln des Strafrechts schützen7. Würde man die beiderseitige Strafbarkeit nicht als allgemeines Erfordernis aufstellen, so entstünden in vielen Staaten darüber hinaus verfassungsrechtliche Probleme, da möglicherweise in einem Staat Taten bestraft würden, deren Strafbarkeit gesetzlich nicht bestimmt ist. Die Übernahme der Vollstreckung eines ausländischen Urteils darf weiterhin keine Verletzung grundlegender Reditssätze des übernehmenden Staates zur Folge haben. Die zu vollstreckende ausländische Strafentscheidung darf keine wesentlichen reditsstaatlichen Grundsätze verletzt haben oder im Widerspruch zu einem verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrecht stehen. Zu der Vollstreckung einer ausländischen Strafentscheidung' kann es daher nur kommen, wenn das Verfahren, auf dem das ausländische Urteil beruht, den Prinzipien eines rechtsstaatlichen Strafprozesses entspricht, wie sie ihren Niederschlag in den Formulierungen vieler nationaler Verfassungen oder in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gefunden haben. Solche fundamentalen Prinzipien sind vor allem, daß dem Verurteilten ausreichende Verteidigungsmöglidikeiten zur Verfügung standen, rechtliches Gehör gewährt, ein Geständnis nicht erpreßt und die Schuld nachgewiesen wurde. Erst wenn diese Bedingungen durdi gegenseitige Erklärungen unter mehreren Staaten sichergestellt sind, ist die Vollstreckung ausländischer Urteile möglich, wobei der formale Ablauf der Vollstreckungs' Vgl. Entschließung des I X . Int. Strafrechtskongresses in Den Haag, Thema IV, II, 1 b. 7 Jescheck, Die internationale Rechtshilfe in Strafsachen in Europa, ZStW 66 (1954), S. 518 ff., 531.

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übernähme zunächst noch zurückgestellt bleibt und weiter unten zu behandeln sein wird. 3.3. Die Vollstreckung

ausländischer

Abwesenheitsurteile

In engem Zusammenhang mit der Frage der Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze im ausländischen Strafverfahren steht die Vollstreckung ausländischer Urteile, die in Abwesenheit des Verurteilten gefaßt worden sind. Allgemein ist darauf hinzuweisen, daß ein in Abwesenheit des Angeklagten gefundener Urteilsspruch aus vielen Gesichtspunkten häufig auf nicht so umfassend erkannten Tatsachen beruht wie das Urteil, das nach persönlicher Anhörung im und nach Teilnahme des Angeklagten am Verfahren gefällt wird. Der Richter ist in einem Verfahren in Abwesenheit des Angeklagten allein auf die Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden angewiesen, er kann sich kein persönliches Bild von dem Angeklagten machen und wird demgemäß nicht ein auf die Person des Angeklagten zugeschnittenes, sondern ein allein von der Art und Schwere des vorgeworfenen Delikts abhängiges Urteil fällen 8 . In Anbetracht dieser Unzulänglichkeiten, die bei der Tatsachenfeststellung und bei der Strafzumessung zu Fehlern führen können, ist bei der Übernahme der Vollstreckung ausländischer Abwesenheitsurteile besondere Vorsicht geboten. Hier erscheint es wichtig, die Anerkennung des Urteils von speziellen Voraussetzungen abhängig zu machen. Das angloamerikanische Recht kennt grundsätzlich keine Urteile gegen Abwesende, während den kontinentalen Rechten diese Einrichtung nicht unbekannt ist. Allerdings ist das Verfahren oft, wie z. B. nach deutschem Recht, nur bei leichteren Deliktsfolgen möglich. Die Vollstreckung ausländischer Abwesenheitsurteile sollte erst vorgenommen werden, wenn dem Verurteilten die Möglichkeit der Verteidigung gegenüber dem Urteil gegeben worden ist. Hierfür muß ihm eine angemessene Frist zur Verfügung stehen, in der er zu dem gegen ihn erhobenen Vorwurf Stellung nehmen kann. Ob diese Voraussetzung entfallen soll, wenn dem Angeklagten während des ausländischen Gerichtsverfahrens bereits Gelegenheit zu seiner Entlastung gegeben wurde, er diese Möglichkeit aber schuldhaft hat verstreichen lassen, ist fraglich. Eine Meinung tritt dafür ein, daß in diesem Falle das ausländische Urteil, das in Abwesenheit des Angeklagten ausgesprochen wurde, die gleiche Wirkung wie das in Anwesenheit des Angeklagten gefundene haben sollte. Diese Meinung wäre jedoch 8 Vgl. Art. 21 fi. Europ. Ubereinkommen über die Intern. Gültigkeit von Strafurteilen; Hulsman in Council of Europe, Aspects, a. a. Ο., p. 29.

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höchstens dann tragbar, wenn die Vollstreckung ausländischer Abwesenheitsurteile nur für Straftaten minderer Bedeutung — wie es der I X . Internationale Strafrechtskongreß in Den Haag vorgeschlagen hatte 9 — in Frage käme. Das Europäische Ubereinkommen über die Internationale Gültigkeit von ausländischen Strafurteilen knüpft richtigerweise Rechtsfolgen nur an die Tatsache als solche, daß der Verurteilte gehört oder nicht gehört worden ist (Art. 21 ff.). Ist er nicht gehört worden, so kann er nach Art. 24 des Europäischen Ubereinkommens sich mit seinen Einwendungen entweder an das Gericht wenden, welches im Ausland das Urteil gefällt hat oder an das Gericht seines Aufenthalts- oder Heimatstaates, in dem das ausländische Urteil vollstreckt werden soll. Gelangt das inländisdie Geridit — im Falle seiner Anrufung — zu der Uberzeugung, daß das Vorbringen des im Ausland Verurteilten eine Bestrafung, wenn er im Inland gehandelt hätte, nicht rechtfertigt, so sollte damit die Möglichkeit der Vollstreckungsübernahme scheitern, denn dann läge keine strafbare Handlung mehr vor. Um den Angeklagten durch die Anrufung des inländischen Gerichts aber nicht zu benachteiligen, muß der Entscheidung dieses Gerichts die gleiche Geltung beigemessen werden, als wenn sich der Angeklagte mit einer entlastenden Darstellung an das ausländische Geridit gewendet hätte. Deshalb muß durch die Entscheidung des zur Vollstreckung ersuchten Staates audi der ersuchende Staat nunmehr an der Strafvollstreckung gehindert werden. , Wird dagegen das Vorbringen des Angeklagten verworfen, so sollte das ausländische Abwesenheisturteil wieder wie ein Urteil behandelt werden, das in Gegenwart des Angeklagten zustande kam. Für diese drei letzten Punkte entspricht die Regelung in dem genannten Europäischen Übereinkommen etwa der hier vertretenen Ansicht. Eines aber ist festzustellen. Kein Staat darf zur Übernahme der Vollstreckung eines ausländischen Urteils gegen einen Abwesenden verpflichtet werden, wenn es den Rahmen der Rechtsfolgen überschreitet, der im ersuchten Staat für Urteile gegen Abwesende generell gesetzt ist. Anderenfalls müßte der ersuchte Staat eine nach innerem Redit gesetzlich verbotene Handlung begehen. Das Europäische Ubereinkommen sdiließt sich allerdings dieser Meinung nicht an, kommt ihr aber insoweit entgegen, als die Vertragsstaaten nach Anhang I Budist. d einen Vorbehalt erklären können, Abwesenheitsurteile überhaupt nicht vollstrecken zu wollen. Das Europäische Abkommen über die Bestrafung von Verkehrsdelikten läßt sowieso Abwesenheits* Entschließung zu Thema I V unter II, 1 a.

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urteile f ü r die Vollstreckung im fremden Staat nicht zwingend sein (Art. 1 III). 3.4. Das Verfahren zur Übernahme der Vollstreckung Soll der zur Vollstreckung ersuchte Staat die im ausländischen Strafurteil angeordneten Strafen und Maßnahmen vollstrecken, so muß dieser das ausländische Urteil seinem Strafverfolgungssystem einordnen. Wegen der Verschiedenartigkeit der möglichen Urteilsaussprüche und besonders wegen der Übernahme fremdstaatlicher Hoheitsakte im Falle eines Vollstreckungsersuchens bestanden und bestehen zahlreiche Schwierigkeiten hinsichtlich des Verfahrens der Vollstreckung ausländischer Urteile. Die Anerkennung eines ausländischen Urteils zum Zwecke der Vollstreckungsübernahme im nationalen Bereich wird am sichersten im Wege eines Exequaturverfahrens erreicht. Ein solches Verfahren sieht auch das Europäische Übereinkommen über die Internationale Gültigkeit von Strafurteilen in den Art. 37 ff. und das Europäische Abkommen über die Bestrafung von Verkehrsdelikten in Art. 8 ff. vor und hat sich in der Praxis bereits seit mehreren Jahren im sog. Nordischen Vollstreckungsgesetz bewährt. In diesem Verfahren wird das ausländische Urteil auf seine Vollstreckbarkeit überprüft und bejahendenfalls für vollstreckbar erklärt. Über den Umfang der Überprüfung des ausländischen Urteils gehen die Meinungen auseinander. Die Varianten reichen von dem Genügenlassen der bloßen Entscheidung, daß das ausländische Urteil vollstreckt werden kann — ohne daß dessen Einzelheiten überprüft werden —, bis zu der Forderung der Uberprüfung des Urteils in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht. Da das den Inhalt eines Vollstreckungsersuchens bildende Strafurteil ein ausländisches ist und auch durch das Exequaturverfahren grundsätzlich nicht zu einem nationalen Urteil des ersuchten Staates transformiert wird 10 , muß der ersuchte Richter an die tatsächlichen Feststellungen des ersuchenden Richters, die dieser in seinem Kompetenzbereich getroffen und die er dem Urteil erkennbar zu Grunde gelegt hat, gebunden sein, so daß eine vollständige Überprüfung des ausländischen Urteils ausscheidet. Das Exequaturverfahren bildet seinem Sinn entsprechend für den ersuchten Staat einen Filter, in dem festgestellt wird, ob das auslän10 Außer dem ausländischen Abwesenheitsurteil in gewissem Rahmen nach Art. 26 Ziff. 3 Europ. Übereinkommen über die Internationale Gültigkeit von Strafurteilen, das insoweit durch ein nationales Urteil ersetzt wird.

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dische Urteil mit den Rechtsprinzipien des ersuditen Staates übereinstimmt. Nur wenn das zutrifft, ist der ersuchte Staat mit der Übernahme der Urteilsvollstreckung einverstanden und transformiert die Rechtsfolgen in das eigene Recht. Das Exequaturverfahren wird sich zunächst darauf erstrecken, wie das Urteil zustandegekommen ist. Es geht dabei um die Nachprüfung der Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze beim Ablauf des Strafverfahrens. Dazu muß aber auch eine gewisse Nachprüfung des Inhalts des Urteils stattfinden, die sich sowohl auf die Tatsadienfeststellung wie auch auf die rechtliche Würdigung erstrecken kann. Hier sind zunächst die Fälle zu nennen, in denen Gegenstand des ausländischen Urteils nicht gemeine Delikte sind, wobei insbesondere an politische, rein militärische und fiskalische Straftaten zu denken ist, deren Vollstreckung grundsätzlich nur der Befriedigung der Interessen des ersuchenden Staates dient 11 . Der ersuchte Staat wird diesen Urteilen deshalb mit Zurückhaltung entgegentreten und sie einer umfangreichen Uberprüfung daraufhin unterziehen, ob er sie wegen ihres besonderen Inhalts vollstrecken soll, wenn er nicht von vornherein im allgemeinen deren Vollstreckung ablehnt 12 . Abgesehen von den eben erwähnten besonderen Delikten kommen aber eine weitgehende Uberprüfung des ausländischen Urteils und möglicherweise ergänzende Tatsachenermittlungen und rechtliche Würdigungen für die Frage in Betracht, ob die Tat, wenn sie vom inländischen Strafrecht erfaßt werden würde, auch nach diesem strafbar wäre, z. B. Art. 40 Abs. 1 (b) des Europäischen Ubereinkommens über die Internationale Gültigkeit von Strafurteilen. Der entsprechende Tatbestand des inländischen Strafrechts kann andere Merkmale haben, es können sich aus dem Vollstreckungsersuchen Anhaltspunkte ergeben, die auf das Vorliegen von Rechtfertigungs-, Entsdiuldigungs- und sonstigen Strafaussdilußgründen hindeuten, die vom Rechtssystem des ersuchten Staates anerkannt, aber in dem ausländischen Urteil entweder infolge Irrtums des erkennenden Gerichts oder der anderen Struktur des Rechts unberücksichtigt geblieben sind. Liegt z. B. nach dem Sachverhalt des ausländischen Urteils die Überlegung nahe, daß die verurteilte Person die Tötung in Notwehr begangen 11 Das Europäische Übereinkommen über die Internationale Gültigkeit von Strafurteilen räumt einigen Sonderdelikten eine besondere Rolle ein, Art. 6 (b), (c) und Appendix I Buchst, (a). Davon abgesehen, kann das Interesse mehrerer Staaten, die durch politische, militärische und wirtschaftliche Bündnisse verbunden sind, berührt sein. 12 Das Europ. Übereinkommen über die Internationale Gültigkeit von Strafurteilen sieht in gewissem Rahmen beide Möglidikeiten vor, Appendix I, Buchst, (a), Art. 6 (c).

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hat, so sdieidet nach deutschem S trafredit (§ 53 StGB) eine Bestrafung wegen Tötung aus. Wird die Bundesrepublik Deutschland von einem ausländischen Staat um die Vollstreckung eines entsprechenden Strafurteils ersucht und ist der Umstand der Notwehr in dem ausländischen Urteil für den Schuldspruch nicht berücksichtigt — in vielen Staaten geht das Notwehrrecht nicht so weit wie im deutschen Recht —, so hat der deutsche Richter in eigener Zuständigkeit nachzuforschen, ob die tatsächlichen Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes der Notwehr erfüllt sind oder nidit. Er hat im Anschluß an diese Ermittlungen deren Ergebnis für das ausländische Urteil zu verwerten, indem er den ausländischen Schuldspruch anerkennt oder für sein Recht verneint. Aus den gezogenen Folgerungen ergibt sich weiterhin die Entscheidung, ob das ausländische Urteil im ersuchten Staat zu vollstrecken ist oder nicht, da bei einer Bejahung des Rechtfertigungsgrundes wiederum die beiderseitige Strafbarkeit der abgeurteilten Tat entfällt. Sind dagegen alle im nationalen Rechtsbereich geltenden Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe usw. in dem ausländischen Urteil beachtet, so ist die nochmalige Nachforschung dem Richter des ersuchten Staates zu verwehren. Das Exequaturverfahren beschränkt sich dann auf die Nachprüfung der Berücksichtigung rechtsstaatlicher Grundsätze im ausländischen Verfahren und auf die Feststellung sonstiger in dem jeweiligen Vertrage bestimmten Voraussetzungen oder des Nichtvorhandenseins von Hindernissen — abgesehen von den Entscheidungen, die der Richter zu treffen hat, damit die Vollstreckung des ausländischen Urteils im ersuchten Staat durchgeführt werden kann.

4. Die Umwandlung der im ausländischen Urteil festgesetzten Rechtsfolgen 4.1. Allgemeines Die in dem ausländischen Urteil ausgesprochene Rechtsfolge kann sehr unterschiedlichen Charakter haben. Gegenstand dieser kann ein Vermögenswert sein — z. B. bei der Geldstrafe, der Einziehung — oder die Rechtsfolge kann in Freiheitsentzug bestehen. Außerdem werden nicht selten Nebenstrafen, Nebenfolgen oder gewisse Maßnahmen der Sicherung und Besserung, die nicht in Freiheitsentzug bestehen, angeordnet. So gibt es z. B. Verlust der Amtsfähigkeit, Berufsverbot, aber auch Fahrverbot. Es sollte bei der Übernahme der Vollstreckung eines ausländischen Urteils die Transformation möglichst vieler der im ausländischen Urteil angeordneten Rechtsfolgen in das nationale Strafensystem erfolgen. Wegen der umfangreichen Fra-

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gen ist eine Lösung der Strafumwandlung bei der Vollstreckungsübernahme nicht einfach. Die Umwandlung der im ausländischen Urteil festgesetzten Rechtsfolgen hat von dem Grundsatz auszugehen, daß dem Bestraften keine Nachteile entstehen und die vom ersuchten Staat gebildete Rechtsfolge nicht schwerer sein dürfe als die des ausländischen Urteils. Sie soll sogar die Aussicht auf die Erreichung des Strafzweckes für den Verurteilten verbessern (vgl. Art. 5 Buchst, b Europäisches Ubereinkommen über die Internationale Gültigkeit von Straf urteilen). 4.2. Die Umwandlung einer Geldstrafe und Einziehung Bei der Umwandlung einer Geldstrafe entstehen keine besonderen Schwierigkeiten. Sie wird vorgenommen, indem die Strafe unter Berücksichtigung des zum Zeitpunkts der Vollstreckungsübernahme geltenden Wechselkurses in der Währung neu festgesetzt wird, die in dem ersuchten Staat gilt. Liegt die Geldstrafe des ausländischen Urteils außerhalb des Rahmens, der für dieselbe Tat in dem ersuchten Staat besteht, so sollte der Richter des ersuchten Staates an das Höchstmaß der Geldstrafe seines nationalen Strafgesetzes gebunden sein. Es darf nicht lediglich in seinem Ermessen liegen, ob er an dem ausländischen Strafmaß festhält oder eine Strafe bildet, die er aus dem Strafgesetz seines Staates entwickelt. Ein anderes Verfahren würde zu einer beträchtlichen Rechtsunsicherheit führen. Das Europäische Übereinkommen über die Internationale Gültigkeit von Strafurteilen bindet den Richter an die Höchstgrenze der eigenen Geldstrafdrohung (Art. 45 I), überläßt es ihm aber, die Geldstrafe bis zur ausgesprochenen Höhe zu übernehmen, wenn das eigene Recht keine Geldstrafe, sondern eine schwerere Strafe für diesen Fall vorsieht (vgl. Art. 45 II). Die Einziehung ist von dem Richter nur zu übernehmen, wenn das inländische Recht sie für den speziellen Fall zuläßt (vgl. Art. 46 Europäisches Ubereinkommen über die Internationale Gültigkeit von Strafurteilen). 4.3. Die Umwandlung einer Freiheitsstrafe Nicht so einfach gestaltet sich die Umwandlung einer die Freiheit entziehenden Rechtsfolge. Die nationalen Strafgesetze, in deren Geltungsbereich ein ausländisches Urteil vollstreckt werden soll, kennen häufig mehrere Arten von die Freiheit entziehenden Rechtsfolgen, deren Benennung und graduelle Abstufung — z. B. in der Schwere des Strafvollzuges — unter den Staaten nicht einheitlich gehandhabt wird. Ist in einem ausländischen Urteil die Freiheitsentziehung als H a f t oder Verwahrung bezeichnet, so kann dieser Ausdruck in dem ersuch-

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ten Staat eine ganz andere Bedeutung haben, als ihm in dem ersuchenden Staat beigemessen wird. Würde man nunmehr die im ausländischen Urteil festgesetzte Strafe lediglich auf Grund der Bezeichnung transformieren, so bestünde die Gefahr, daß die Straffestsetzung des ersuchten Staates in keiner Weise der Beurteilung von Tat und Täter gerecht würde. Es darf aber auch nicht die im fremden Urteil ausgesprochene freiheitsentziehende Rechtsfolge in eine deren Art entsprechende Rechtsfolge des eigenen Rechtes und in der im fremden Urteil bestimmten Dauer einfach umgewandelt werden. Das würde zum Teil dem Sanktionsbedürfnis aber auch dem Rechtssystem in dem eigenen Staat nicht gerecht werden. Deshalb muß der Richter des ersuchten Staates die freiheitsentziehende Rechtsfolge entsprechend dem für das Delikt nach eigenem Recht geltenden Strafrahmen neu festsetzen, wobei er aber die Rechtsfolge nach Art oder Dauer gegenüber dem fremden Urteil verändern — also auch Gefängnis in Geldstrafe —, aber nicht schärfen darf (z. B. so Art. 44 I, II Europäisches Ubereinkommen über die internationale Gültigkeit von Strafurteilen) 13 . Damit werden die berechtigten Interessen des Verurteilten in jedem Fall gewahrt, wenn es auch für den Richter oft schwer sein wird, alle für die Zumessung der Strafe wichtigen Faktoren, z. B. § 13 II StGB, infolge der Bindung an die festgestellten Tatsachen richtig zu beurteilen. Ob es sich bei den freiheitsentziehenden Rechtsfolgen um echte Strafe oder Maßregeln der Sicherung und Besserung handelt, ist — auch nach dem Europäischen Übereinkommen über die Internationale Gültigkeit von Strafurteilen — gleichgültig. 4.4. Die Umwandlung von Rechtsfolgen, die einen sonstigen Verlust oder eine sonstige Einschränkung eines Rechts oder der Rechtsstellung des Verurteilten herbeiführen Da im Bereich der genannten Rechtsfolgen — das Europäische Ubereinkommen über die Internationale Gültigkeit von Strafurteilen nennt sie disqualifications, Art. 1 (c), 49 ff. — große Verschiedenheiten zwischen den einzelnen nationalen Gesetzen bestehen, sind die Schwierigkeiten bei der Umwandlung von in einem ausländischen Urteil angeordneten Rechtsfolgen dieser Art sehr groß. Kennt das Gesetz des ersuchten Staates beispielsweise nicht die Aberkennung der ls Vgl. auch Art. 44 IV dieses Übereinkommens und Art. 10 Europ. Übereinkommen über die Bestrafung von Straßenverkehrsdelikten, Art. 19 Europ. Übereinkommen über die Überwachung bedingt Verurteilter usw. und audi dessen Art. 23.

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bürgerlichen Ehrenrechte, so dürfte der ersuchte Richter nicht gezwungen werden, eine solche aus dem fremden Urteil zu übernehmen. Berücksichtigt er diese Rechtsfolgen des ausländischen Urteils überhaupt nicht, so könnte dadurch aber die Wirkung des ausländischen Urteils verfälscht werden, so daß die gesamte Vollstreckung dieses Urteils bedeutungslos werden könnte. Eines der wesentlichen Ziele der Vollstreckung des Urteils ist die Resozialisierung des Täters. Diese läßt sich nur erreichen, wenn die angeordneten Maßnahmen geeignet sind, straffällige Personen wieder in die Gesellschaft zurückzuführen. Auf dieses Ziel muß auch die Übernahme dieser genannten Rechtsfolgen in erster Linie abgestimmt sein. Deshalb geht das Europäische Ubereinkommen über die Internationale Gültigkeit von Strafurteilen davon aus, daß, wenn im Falle einer Vollstreckungsübernahme in dem ersuchten Staat die gesetzliche Möglichkeit fehlt, eine derartige Rechtsfolge auszusprechen, die das ausländische Urteil enthält, der ersuchte Richter allein seinem nationalen Recht zu folgen hat. Im übrigen hat er nach seinem strafrichterlichen Ermessen im Hinblick auf das Ziel der Vollstreckung derartige im fremden Urteil ausgesprochenen Rechtsfolgen zu übernehmen, sie in der Dauer nicht zu verlängern und sonst bezüglich der Dauer sein eigenes Redit zu beachten. Enthalten die Reditsfolgen eine Einschränkung oder einen Verlust von Rechten, so kann der ersuchte Richter auch nur einen Teil der Rechte in die Einschränkung oder den Verlust einbeziehen (Art. 49, 50 Europäisches Ubereinkommen usw.). Der ersuchte Richter setzt in dem angegebenen Rahmen sein Ermessen an die Stelle der Entscheidung des ausländischen Gerichts, damit überhaupt die Vollstreckung des ausländischen Urteils hinsichtlich der genannten Rechtsfolge in dem ersuchten Staat ermöglicht wird. Die Vollstreckung ausländischer Urteile enthält auf dem Gebiet der Anerkennung positiver Wirkungen nodi eine Anzahl weiter zu klärender Fragen. Es können aber wegen der Beschränkung des Beitrages nicht alle Fragen hier angeschnitten werden: So bildet die internationale Überwachung bedingt verurteilter oder bedingt entlassener Personen einen besonderen Bereich. Nicht alle Probleme werden sich in Kürze endgültig lösen und regeln lassen, aber jeder Fortschritt auf diesem Gebiet wird zugleich einen positiven Beitrag leisten, um international zu einer intensiveren Verbrechensbekämpfung und zu einer gerechteren Täterbewertung zu gelangen.

Alcune considerazioni sul consenso del paziente e lo stato di necessità nel trattamento medico-chirurgico GIULIANO VASSALLI

1. Le considerazioni die seguono sono occasionate dall'esame di un importante caso giudiziario italiano, conclusosi con due sentenze di contenuto diametralmente opposto, pronunciate rispettivamente dal Tribunale e dalla Corte d'Appello di Firenze negli anni 1968 e 1970. Il caso stesso non è mai pervenuto all'esame della Corte di Cassazione perchè, intervenuta amnistia per i reati ipotizzati a carico del medico, contro la sentenza di amnistia non fu proposto ricorso. Comunque, alcune delle proposizioni contenute nelle due sentenze dei giudici di merito esigono egualmente attenzione e suscitano interesse negli studiosi. Come si vedrà, il caso, dal punto di vista giuridico, è reso complicato dall'esistenza, nel codice penale italiano, di una speciale disposizione, che contempla il delitto (doloso) di «procurata impotenza alla procreazione» 1 : frutto manifesto della «politica demografica» perseguita dal legislatore del 1930 anche con il codice penale. Ma i problemi dal caso stesso sollevati si prestano ad essere nondimeno isolati da questo particolare aspetto e ad essere considerati sotto il profilo, comune a tutte le legislazioni, delle lesioni colpose («gravissime», per il codice italiano, art. 583 cpv. n. 3; «gravi» per il codice penale tedesco, § 224), consistenti nella perdita della capacità di procreare, quando questa avvenga a seguito di intervento medicochirurgico, dettato da una veduta ispirata al bene futuro della paziente. Si tratta, come ognuno ha già inteso, della sterilizzazione tubarica operata dal medico chirurgo in occasione di parto cesareo, senza espresso previo consenso della partoriente, e tuttavia ispirata ad una ragionevole convinzione della necessità. della sterilizzazione medesima per evitare in caso di successiva gravidanza la rottura dell'utero e la morte della donna. 1

Codice penale italiano, art. 552 : «Procurata impotenza alla procreazione. — Chiunque compie, su persona dell'uno o dell'altro sesso, col consenso di questa, atti diretti a renderla impotente alla procreazione è punito con la reclusione da sei mesi a due anni e con la multa da lire quarantamila a duecentomila.»— «Alla stessa pena soggiace dii ha consentito al compimento di tali atti sulla propria persona.»

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Nell'esposizione del caso ridurremo i dati di fatto all'essenziale. Non indugeremo nè sull'asserito carattere ricattatorio della denuncia della donna contro il medico, nè sull'altissima qualificazione professionale di quest'ultimo, nè sulle circostanze dalle quali era facile evincere die, se interpellata prima dell'operazione, la donna avrebbe espressamente acconsentito alla sterilizzazione tubarica. Tanto meno ci preoccuperemo di conoscere se fossero veritiere le dichiarazioni di quei numerosi testimoni die avrebbero udito la donna, al risveglio dalla operazione e dal parto felicemente portato a termine, rallegrarsi dell'avvenuta sterilizzazione, per la quale presentò poi denuncia a ben nove mesi dal fatto. Esamineremo quei soli dati che permettono di considerare gli aspetti essenziali del problema giuridico, imperniato, ancora una volta, sul tema del consenso presunto e su quello dello stato di necessità, e, a monte di questi stessi temi, per la particolarità della «lesione» di cui si tratta, su quello del reato impossibile. La donna aveva avuto già due figli, ambo le volte con parto cesareo. Il sanitario, ritenendo che questa precedente pluricesarizzazione non costituisse di per sè stessa una controindicazione assoluta al parto per via vaginale, tentò per varie ore un parto naturale pilotato; ma avendo constatato un progressivo e pericoloso aumento del tono dell'utero, si era poi deciso ad abbandonare la via vaginale per quella addominale e ad eseguire il taglio cesareo. Nel corso dell'operazione, oltre al groviglio di aderenze dovute ai precedenti interventi, aveva rivelato un iniziale smagliamento delle cicatrici uterine, smagliamento che per una delle cicatrici interessava i due terzi della parete. Perciò, in considerazione delle condizioni addominali ed uterine della donna e per evitare una rottura dell'utero in una eventuale gravidanza successiva (la donna non aveva die venticinque anni), aveva deciso la sterilizzazione eseguendola mediante la recisione delle tube; e non mediante l'asportazione dell'utero, per lasciare integra la funzionalità mestruale della donna. Quest'ultima, a nove mesi dal fatto, denunciò il medico per il delitto di lesioni personali volontarie gravissime, punibile con la pena della reclusione da sei a dodici anni 2 . Il Pubblico Ministero, seguito dal Giudice Istruttore con la sentenza di rinvio a giudizio, procedette invece per due diversi delitti (dei quali ritenne possibile il concorso formale): quello, appunto, di «procurata impotenza alla procreazione» (art. 552 c. p.) e quello di lesioni personali colpose gravissime (art. 590 c. p.). Il primo reato, per il quale il codice italiano, come si è 1 L'art. 583 cpv. n. 3 codice penale prevede tra le lesioni gravissime «la perdita dell'uso di un organo o della capacità di procreare».

Trattamento medico-diirurgico

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visto, esige ad un tempo il dolo e il consenso della persona resa impotente, fu ravvisato nell'aver compiuto la sterilizazione presumendo l'esistenza del consenso della donna: al consenso reale fu così parificato il consenso presunto, assumendosi tra l'altro die solo attraverso questa parificazione si poteva evitare la contestazione del più grave delitto di lesioni personali volontarie. Nel secondo reato, contestato con espresso riferimento all'art. 50 del codice penale (che prevede come causa di giustificazione il consenso dell'avente diritto) e all'art. 59 ultima parte (che prevede la colpa impropria nella forma dell'erronea supposizione colposa di una causa di giustificazione), la colpa del sanitario fu vista esclusivamente come colpa impropria e fu fatta consistere nell'avere egli erroneamente presunto un consenso inesistente e nell'aver commesso questo errore per negligenza, consistente «nel fatto di non avere interpellato la parte lesa, pur sussistendo le condizioni oggettive e soggettive che facevano prospettare come probabile l'intervento diretto alla sterilizzazione». Prescindiamo qui dall'occuparci degli aspetti secondari di questa, più che scolastica, artificiosa costruzione giudiziaria, sia perchè l'esame di essa ci distoglierebbe da quello che è l'oggetto di queste note, sia perchè essa riposa su una singolarità del diritto italiano, prossima probabilmente a scomparire. Ed infatti, come si è accennato, tanto la pretesa di parificare il consenso presunto a quello effettivo, agli effetti dell'art. 552 codice penale, quanto la stranezza di un concorso formale tra delitto doloso e delitto colposo in relazione ad un identico oggetto sono anche il frutto della coesistenza nel sistema italiano di ben tre ipotési delittuose idonee a colpire, sia pure con diversa gravità, la procurata impotenza a procreare. Richiamiamo invece quegli ulteriori dati di fatto che maggiormente possono illuminarci su problemi giuridici di fondo e di comune interesse per tutti i penalisti. 3. I periti, nominati durante l'istruttoria e sentiti poi anche nel dibattimento di primo grado, ad analoghi quesiti die erano stati loro rivolti avevano così risposto: a) la sterilizzazione, praticata dopo il parto cesareo, non era necessaria per salvare la donna o il bambino da un pericolo attuale di un danno grave alla persona, pericolo die in quel momento non esisteva; b) esisteva invece pericolo di danno grave, rappresentato dalla rottura dell'utero, in rapporto ad una successiva gravidanza; c) era da ritenersi «quasi impossibile» (in dibattimento i periti specificheranno: «impossibile») che la donna potesse portare in futuro

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a termine una nuova gravidanza dando alla luce un bambino vivo e vitale, in quanto quasi certamente (in dibattimento si dirà: «certamente») in corso di gravidanza si sarebbe avuta la rottura d'utero con pericolo di morte per la madre e morte sicura per il feto, o quanto meno la minaccia di rottura d'utero, die avrebbe imposto l'aborto terapeutico; d) la necessità di praticare la sterilizzazione si era rivelata solo nel corso dell'intervento operatorio per taglio cesareo, ma, essendo rivolta a stornare un pericolo futuro, non in forma cosi urgente ed impellente da non potersi attendere di interpellare la paziente. Come si vede, i primi due quesiti ed il quarto portavano sulla qualificazione della necessità medica o terapeutica, individuata in una necessità per il futuro e, ovviamente, non in una necessità attuale nel senso rigoroso dello «stato di necessità» tipico, espressamente preveduto come generale causa di esclusione della responsabilità penale dall'art. 54 del codice; e nel quarto quesito si investiva anche il problema del dovere del medico di informare il paziente e dei presupposti di tale dovere. Il secondo quesito aveva invece una sua assoluta autonomia, investendo il tema del reato impossibile. Era chiaro infatti che se alla donna, in assenza di sterilizzazione, sarebbe stata preclusa comunque in futuro la possibilità di procreare (o per sicura morte del feto tra le anse intestinali per la rottura dell'utero o per la necessità di un aborto terapeutico) non sarebbe stato realizzato, con l'intervento sterilizzatore, nè il delitto di procurata impotenza alla procreazione (art. 552 codice penale) nè quello di lesioni personali gravissime, non importa se volontarie (art. 583) o colpose (art. 590). Questa fu infatti la tesi seguita in linea principale dal Tribunale di Firenze, in pieno accoglimento della principale tesi difensiva svolta dai difensori dell'imputato. Con la sua sentenza esso dichiarò in via principale la insussistenza di entrambi i delitti contestati all'imputato in forza dell'art. 49 del codice penale (Reato impossibile), che esclude la punibilità del fatto «quando per la inidoneità dell'azione o per l'inesistenza dell'oggetto di essa, è impossibile l'evento dannoso o pericoloso». Nel giungere a questa conclusione il Tribunale considerò sia le testimonianze dei medici, che avevano preso parte ai precedenti interventi, circa le condizioni die l'utero della partoriente già aveva rivelato prima dell'intervento in questione, sia le testimonianze dei medici che avevano seguito con l'imputato prima il tentativo di parto pilotato e poi il parto cesareo a cui si accompagnò la sterilizzazione tubarica, sia il responso (corredato da esame isterografico compiuto in sede di perizia) dei periti, i quali — come si è detto — avevano finito con l'esprimere un giudizio di certezza circa l'impossibilità della

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donna di condurre a termine una nuova gravidanza perchè essa sarebbe andata incontro o ad aborto nei primi mesi o a rottura d'utero nei mesi più avanzati, con morte certa del feto. E sulla base di questi dati affermò che «la capacità di procreare è sicuramente da dirsi inesistente quando, per una anomalia che si frapponga in qualunque momento del processo generativo, la donna risulti incapace di dare alla luce un bambino vivo e vitale: e cosi sarà esclusa non solo quando tale anomalia incida nella fase iniziale del processo generativo, in modo da impedire addirittura il concepimento (assenza di ovaie, tube impervie, etc.), ma anche quando incida in un momento successivo, cosi da impedire l'annidamento dell'uovo fecondato nella mucosa uterina, o da determinarne il distacco in corso di gravidanza, o infine da cagionare la morte del feto». Questa conclusione venne poi contrastata dalla sentenza di riforma pronunciata dalla Corte d'Appello fiorentina che giudicò affrettato il responso dei periti, preferendo tener conto sia della giovane età della donna, sia del numero non rilevante dei tagli cesarei dalla stessa subiti, sia di dati statistici relativi ai pericoli di rottura d'utero in donne pluricesarizzate, sia infine della possibilità di cure profilattiche dirette ad impedire questo evento, e perfino della possibilità di intervenire, in caso di rottura d'utero, per via addominale per estrarre un feto vivo e vitale. Insomma, secondo la Corte, la donna, al momento in cui le fu praticata la sterilizzazione, «non era incapace di procreare, ma aveva tale capacità potenziale, anche se esposta al pericolo di una rottura d'utero, implicante grave pericolo per il feto e per la gestante»; e poidiè per la figura del reato impossibile occorre una assoluta impossibilità di produzione dell'evento, la mancata certezza circa una incapacità assoluta della donna impediva di escludere la punibilità del medico sotto questo assorbente profilo. 4. Come si vede, la possibilità o meno di far ricorso alla figura del reato impossibile (che avrebbe escluso in ordine alla procurata impotenza alla procreazione, la configurabilità di qualsivoglia reato) riposa su elementi di fatto. Andie se con essa si investe uno degli aspetti della diffusa pratica medico-chirurgica della sterilizzazione tubarica 3 , è certo die solo caso per caso si potrebbe giudicare una 9 La letteratura medica sulla sterilizzazione, in particolare quella ostetricoginecologica sulla sterilizzazione tubarica, è immensa. Nella causa in questione fu molto usato il materiale di un Congresso svoltosi a Foggia nel 1963 e riportato in Minerva ginecologica, voi. 16 (1964).

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donna impotente a procreare in relazione alle condizioni die l'utero di essa presenta al momento dell'ultima operazione. Aggiungeremo soltanto die, anche escludendo la certezza circa la oggettiva impossibilità della donna di giungere ad una nuova procreazione, si sarebbe dovuto pur sempre valutare il caso sotto il profilo del dolo. Se il medico di tale incapacità era convinto, non poteva essere condannato per un delitto doloso, sia pure nella meno grave ipotesi di cui all'art. 552. Chi è convinto di non realizzare l'evento naturalistico previsto dalla legge come costitutivo del reato non versa in dolo; e se tale sua convinzione nasce da errore colposo, egli versa soltanto in colpa, e può esser punito soltanto se il fatto da lui realizzato è previsto dalla legge come delitto colposo4. Nel caso di specie vi sarebbe stata nel sanitario, in particolare, non già la intenzione di procurare l'impotenza della donna alla procreazione, ma la diversa intenzione di rendere impossibile ad essa un concepimento, e cioè la intenzione di un evento diverso da quello costitutivo del reato. Ma nè il Tribunale nè la Corte d'Appello si sono occupati di questo problema: il primo perdiè ha ritenuto in linea oggettiva il reato impossibile, la seconda perdiè impegnatasi nell'esame di altri problemi di fatto e di diritto ha trascurato di esaminare questo punto della causa. 5. Il problema giuridico che si presta a considerazioni di carattere generale è invece un altro: quello del dovere o almeno del diritto di intervento del sanitario in relazione al pericolo che in caso di futura gravidanza correrà la donna. Qui il tema del trattamento medicochirurgico e dei suoi limiti di fronte alla legge penale può veramente esser visto allo stato puro: non si tratta più — come quando si esamina il problema del reato impossibile — di un eventuale nascituro, nè si tratta di interessi estranei alla salute del paziente anche se a questa connessi, ma si tratta unicamente dell'atteggiamento del sanitario rispetto alla salute del paziente. * Se si fosse pervenuti a questo risultato, l'imputazione nel caso in esame sarebbe stata di una duplice colpa impropria: quella contestata, dell'errore colpevole sull'esistenza di un consenso presunto (art. 59 ult. cpv.) e quella di un errore colposo sul fatto costituente reato (art. 47 cod. penale). 5 Per completezza di riferimenti, dato quanto accennato più sopra, diremo die la Corte fiorentina, pure accogliendo andie su questo aspetto della causa l'appello del Procuratore della Repubblica, ebbe invece a respingere l'appello del Procuratore generale, con il quale si pretendeva la condanna dell'imputato per il delitto di lesioni volontarie (!) gravissime e ritenne il delitto di lesioni colpose gravissime non già concorrente, ma assorbito in quello di procurata impotenza alla procreazione, applicando poi a quest'ultimo la sopravvenuta amnistia.

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Anche a questo problema le due citate sentenze del Tribunale e della Corte d'Appello di Firenze hanno dedicato, nel caso in questione, grande attenzione: la prima per giungere per entrambi i reati ad una ulteriore assoluzione del sanitario, che fu ritenuto avere agito, in ogni caso, nell'ambito della causa di giustificazione rappresentata dalla esplicazione dell'attività medico-chirurgica; la seconda per giungere anche su questo punto a conclusioni opposte, respingendo ogni possibilità di ammettere una giustificazione del fatto al di fuori del consenso effettivo del paziente o dello stato di necessità in senso stretto 5 . Tuttavia l'una e l'altra (come già avevano fatto con ancora maggior vigore il Pubblico Ministero e il Giudice istruttore nel corso dell'istruttoria) partono dalla premessa che il medico agi unicamente «per il bene e nell'interesse della donna», per preservarla da gravissimi rischi

futuri.

Ritenne il Tribunale (ed in questa decisa presa di posizione è contenuto l'alto pregio della sua sentenza) che il trattamento medicochirurgico sia da considerarsi in sé stesso come una scriminante del fatto; che tale causa di giustificazione non riposi affatto sul consenso del paziente; che pertanto anche il ricorso alla teoria del consenso presunto è un inutile artificio; che alla volontà del paziente, anche in relazione all'art. 32 della Costituzione italiana (ripetutamente invocato dall'accusa nel caso in questione6), debba riconoscersi rilievo in quanto essa sia rivolta a vietare l'intervento ed espressamente manifestata; e che a fondamento positivo della liceità del trattamento medico-chirurgico non possa neppure farsi ricorso allo stato di necessità (art. 54 cod. penale) perchè altrimenti resterebbe fuori della giustificazione tutta la medicina preventiva, almeno nei casi in cui essa non sia imposta da una espressa previsione legislativa. Meno decisa appare invece la sentenza del Tribunale nell'escludere che fondamento della liceità del trattamento medico-diirurgico sia lo adempimento del dovere nascente dalle norme giuridiche che regolano la professione sanitaria 7 . Comunque essa afferma die «il trattamento medico-chirurgico, indipendentemente dal ricorrere o meno di una scriminante positivamente prevista, si configura penalmente lecito siccome motivato da esigenze terapeutiche e rivolto a perseguire il bene del paziente». * Costituzione, art. 32, comma secondo: «Nessuno può essere obbligato a un determinato trattamento sanitario se non per disposizione di legge. La legge non può in nessun caso violare i limiti imposti dal rispetto della persona umana». 7 Forse andie perchè non sempre si tratta di un vero e proprio dovere. Tuttavia è da tener presente die l'articolo 51 del codice penale italiano prevede come criminante, allo stesso titolo, «l'esercizio di un diritto a l'adempimento di un dovere nascente da una norma giuridica».

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Certo — conclude la sentenza — «il rispetto assoluto dovuto alla personalità umana e il disposto dell'articolo 32 della Costituzione 8 impongono di salvaguardare finché è possibile la libertà di scelta della persona interessata. Quando però tale facoltà di scelta non possa di fatto essere esercitata e d'altra parte esista una situazione di indifferibile urgenza costituita dalla irripetibilità dell'occasione (taglio cesareo in atto, con conseguenti favorevolissime condizioni di osservazione ed intervento, senza aggravi di pericolo, di sofferenze fisiche e morali, nonché di spese) spetta al chirurgo, in adempimento del suo dovere di perseguire il fine della maggior tutela dell'integrità fisica della paziente, decidere in luogo della paziente stessa, che non 10 può fare par le condizioni in cui si trova. Procrastinare l'intervento al fine di poterla interpellare è evidente che equivarrebbe di fatto ad una scelta della non sterilizzazione: che la decisione sia presa esplicitamente in questo senso è possibile e lecito; ma è altrettanto lecito die il chirurgo, in relazione alla gravità delle condizioni uterine, decida invece di sterilizzare». La Corte d'Appello ha integralmente rovesciato la posizione del Tribunale anche su questi aspetti dell'interessante caso. Anzitutto, attraverso una minuziosa analisi del fatto, ha stabilito che il sanitario era convinto addirittura che la paziente avesse previamente manifestato il proprio consenso alla sterilizzazione tubarica, se questa si fosse rivelata necessaria, in corso di operazione, per prevenire suoi gravi pericoli futuri; ed ha riconosciuto in questa erronea convinzione sul consenso dato dalla donna, da un lato la colpa di non aver chiesto 11 preventivo consenso effettivo e diretto della paziente e, dall'altro, la erronea supposizione di un elemento costitutivo di un delitto doloso speciale meno grave di quello di lesioni personali gravissime (il delitto appunto di «procurata impotenza alla procreazione»). Questo tipo di errore, i cui effetti non sono specificamente regolati dalla legge, per i principii generali in materia di dolo ed anche per il principio del «favor rei» non può che portare all'applicazione del delitto doloso meno grave, anche se il sostituire un consenso presunto ad un consenso effettivo può sembrare contrario al principio di tipicità. Escludeva invece la sentenza ogni possibilità di concorso formale del delitto di cui all'art. 552 codice penale con il delitto di lesioni colpose, sia per considerazioni attinenti allo speciale tipo di colpa della quale trattasi, sia in omaggio al principio di specialità. Venendo infine al tema della liceità dell'intervento, la Corte, respingendo anche su questo punto le tesi della difesa del medico, ha anzitutto affermato il principio per cui per tutte le cause di esclusione del reato, a cominciare da 8

Vedine il testo nelle precedente usta G.

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quelle die prevedono cause di giustificazione, varrebbe il divieto di analogia, ne più nè meno come per le norme incriminatrici. Comunque — ha aggiunto — «il trattamento medico-diirurgico non richiede di essere rapportato entro lo schema delle cosiddette cause di giustificazione non codificate. Esso riceve infatti ogni più ampia tutela, nei limiti in cui tende alla sua alta finalità di perseguire il bene fisico della persona e di salvaguardarne la salute, entro gli schemi fissati dalle cause di giustificazione (o meglio di esclusione dell'antigiuridicità) espressamente previste dal c o d i c e . . . Non tutti i trattamenti medico-chirurgici trovano la esclusione di antigiuridicità nella medesima esimente, ma bensì taluni la ricevono in una ed altri la ricevono in altra discriminante, così avendosi, in una valutazione globale, il risultato die tutta l'attività medico-chirurgica, nei limiti in cui non si ponga in contrasto con specifici divieti legislativi e realmente persegua la sua finalità per il benessere del paziente, risulta penalmente lecita». Avventurandosi poi nella distinzione degli interventi chirurgici in «urgenti» (quali quelli che non possono essere prorogati senza un certo e gravissimo pericolo), «necessari» (quali quelli procrastinabili entro un ragionevole limite di tempo, ma la cui omissione comporta un risultato sicuramente letale o il permanere di uno stato di malattia o di invalidità: es. intervento per un neocorpo estraneo ritenuto in vescica, per un neoplasma maligno, per una grossa cisti ovarica), «di elezione» (quelli, non necessari nè urgenti, ma destinati a modificare migliorativamente le condizioni del paziente, soprattutto nei riguardi delle sue capacità funzionali e lavorative), «preventivi» e «di compiacenza», la Corte di Appello aggiunge che l'intervento diretto alla sterilizzazione non può essere ritenuto nè urgente nè necessario nè di elezione. In particolare esso non può essere ritenuto «necessario» perchè, essendo il pericolo per la vita della donna connesso soltanto ad una futura gravidanza, tra l'intervento e il pericolo si frappone «un terzo elemento, il rapporto sessuale, esclusivamente dipendente dalla volontà del soggetto, idonea ad eliminare ogni risdiio, sia con la risoluzione volitiva di astenersi da congiunzioni carnali, sia con la adozione delle necessarie, idonee e facili precauzioni per non rimanere incinta pur avendo rapporti sessuali», oppure anche ad affrontare coscientemente l'esposizione al rischio della vita, «nel nobile intento e nella speranza di poter dare alla luce egualmente un proprio figlio». In questa parte la sentenza, intrisa anche di riferimenti al diritto individuale di scegliere il proprio destino e alla morale cattolica, ritorna sulle indicazioni statistiche in materia di pluricesarizzazione, sul progresso continuo della scienza e sulla constatata possibilità di salvezza tanto della madre die del feto anche in caso di rottura di utero. In conclusione, secondo la Corte di Firenze,

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la sola opportunità di sottrarre il paziente a rischi futuri, e neanche la ritenuta necessità di sottrarvelo, può assurgere a causa di discriminazione dell'operato del medico, nè sotto il profilo dello stato di necessità nè sotto quello di altre cause di giustificazione codificate, quali l'esercizio di un diritto o l'adempimento di un dovere. Tanto meno può poi valere come scriminante il consenso presunto, sia perchè lo stesso consenso effettivo nella materia della sterilizzazione non vale ad escludere la punibilità per espressa disposizione di legge (art. 552), sia perchè in ogni caso la sterilizzazione determina una diminuzione permanente della integrità fisica ed urta anche sotto altri rispetti contro l'art. 5 del codice civile9. 6. Come in altre situazioni non espressamente regolate, le considerazioni a cui il caso esaminato muove sono de iure condendo e de iure condito. Dal primo punto di vista a noi sembra confermato che l'attuale mancanza di ogni direttiva normativa generale nel campo del trattamento sanitario dia luogo ad inconvenienti e ad incertezze così gravi da rendere imprescindibile, un giorno o l'altro, un intervento legislativo. Non a caso la materia del trattamento medico-chirurgico è tradizionalmente annoverata tra le scriminanti non codificate, esprimendosi con questo l'aspirazione ad una regola positiva, della quale tuttavia non si rinviene traccia scritta nella legislazione penale. E non a caso gli autori dei progetti di codici penali nell'ultimo dopoguerra in Germania federale hanno visto l'esigenza di una regolamentazione testuale di carattere generale della quale sono espressione degnissima anche se a mio avviso non del tutto sufficiente, i paragrafi 161 e 162 dell'E 1960 e dell'E 1962. I codici penali, quali che siano le difficoltà di una regolamentazione generale, difficilmente possono continuare a lasciare senza disciplina una materia tra le più vive, le più costanti, le più complesse anche per i conflitti che implicano, che la pratica giudiziaria conosca. Nessuna delle norme generali che vengono di volta in volta invocate (art. 50 sul consenso dell'avente diritto, art. 51 sull'esercizio del diritto o l'adempimento del dovere, art. 54 sullo stato * L'art. 5 del codice civile italiano del 1942 vieta «gli atti di disposizione del proprio corpo» quando cagionino «una diminuzione permanente dell'integrità fisica o siano altrimenti contrari alla legge, all'ordine pubblico o al buon costume». Generalmente questa disposizione viene invocata andie dai penalisti nella interpretazione dell'art. 50 c. p. (consenso dell'avente diritto), con la conseguenza di restringere notevolmente il campo degli interventi medico-diirurgici leciti in forza del solo consenso del paziente. Alcune voci si sono tuttavia levate per sostenere die il valore della norma è limitato al campo dei negozi giuridici.

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di necessità) sono state create con lo sguardo rivolto al trattamento sanitario. Sembra die la legislazione generale e speciale ami, in questo campo, interessarsi soltanto di temi di facile risoluzione o di temi marginali e speciali. Tra i primi annoveriamo la legislazione sulle vaccinazioni obbligatorie, tra i secondi le vecchie norme sulla denuncia degli aborti, sulle prestazioni di sangue a scopo di trasfusione terapeutica, sul divieto della sterilizzazione consensuale e le nuove norme in materia di trapianti di organi. Davvero troppo poco, rispetto al bisogno di tutela della umana salute e dell'umana libertà, ma soprattutto di fronte ai conflitti nei quali ogni medico può ogni giorno trovarsi! Il giudice penale italiano appare estremamente restio a staccarsi dal diritto scritto, quanto meno in quelle materie che non implichino un impegno strettamente politico o quando non si tratti di appellarsi ad una «interpretazione evolutiva», die in definitiva riesce a resistere solo quando si lega ad un principio costituzionale. Le profonde elaborazioni dottrinali, anche quelle che sono più consolidate nella consapevolezza degli studiosi, trovano rarissimo e comunque sporadico o casuale accoglimento nelle sentenze. Non parliamo neppure della teoria dell'adeguatezza sociale10, della quale nella nostra giurisprudenza è dato trovare poco più di qualche eco inconsapevole. Del resto, nella materia del trattamento medico-chirurgico, tale teoria nelle stesse rivendicazioni della dottrina, non sembra spingersi al di là della affermazione secondo cui non possono qualificarsi come lesioni personali quei dolori, quelle ferite, quelle amputazioni e quello stesso rischio della vita che il medico deve necessariamente produrre nell'ambito di una attività posta al servizio del rispetto di quello stesso bene dell'integrità fisica e della buona salute del soggetto, così come non potrebbe qualificarsi omicidio la morte prodottasi nel corso di una siffatta attività 11 . Tutt'al più ci si spinge a ricollegare ai concetti dell'adeguatezza sociale la limitazione della colpa professionale del sanitario a quei casi di più grave mancanza di cognizioni essen10

Su di essa vedi da ultimi in Italia, pur con differenti impostazioni e conclusioni, le due monografie fondamentali del Fiore (L'azione socialmente adeguata nel diritto penale, Napoli, 1966) e del Gregori (Adeguatezza sociale e teoria del reato, Padova, 1969). 11 Cfr. p. es. Bettiol, Diritto penale, VII ed. Padova, 1969, p. 283; Fiore, op. cit., p. 126. Nella dottrina italiana precedente e, forse, tuttora prevalente, la risoluzione del problema veniva data piuttosto nel senso di escludere l'elemento oggettivo del reato nei casi di esito fausto e l'elemento soggettivo tanto in quelli di esito fausto quanto in quelli di esito infausto (cfr. soprattutto Grispigni, La liceità giuridicopenale del trattamento medico-chirurgico, in Riv. di dir. e proc. pen., 1914, I, p. 449 ss.; Antolisei, Manuale di diritto penale, VI * ed., Milano, 1969, p. 242;

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ziali o di difetto della necessaria abilità o del mancato rispetto di regole tipiche della lex artis, in cui la giurisprudenza ravvisa appunto sussistente tale tipo di colpa 12 . Ma anche nel campo dell'esclusione della antigiuridicità, in quel campo cioè nel quale maggiormente la dottrina ha insistito per trovare una risoluzione ai casi più difficili e controversi, propri del trattamento medico-chirurgico, la giurisprudenza italiana è restia ad evadere dalle norme espresse. Il caso più sopra riferito è un esempio della sorte die tocca per lo più in Italia a sentenze in cui (come in quella del Tribunale di Firenze) coraggiosamente si prende atto del movimento dottrinale, e si cerca di tradurre in decisioni concrete principii assai diffusi, come quello che vede nel rispetto del trattamento medico-chirurgico una autonoma causa di giustificazione «non codificata». Bisogna tuttavia riconoscere che in questa materia l'atteggiamento della giurisprudenza non si spiega soltanto con codesta abituale ritrosia ad evadere dal diritto scritto. Entrano nel gioco almeno altri due elementi. Il primo è rappresentato dal diffuso timore che, troppo concedendo alla scienza, e a quella medica in particolare, grandi rischi potrebbero correre certe libertà dell'uomo e certi fondamentali diritti della personalità. Il secondo, se non ci inganniamo, è rappresentato dallo stadio di elaborazione assai poco avanzato a cui la dottrina penalistica è pervenuta a proposito delle cause di giustificazione non codificate. In genere gli autori die affermano questa possibilità vanno poco al di là di enunciazioni generiche. Uno dei maggiori e più conosciuti assertori del principio, l'Antolisei, si limita a dire che «il fondamento della liceità deve ravvisarsi nel fatto die l'attività medico-chirurgica corrisponde ad un alto interesse sociale: la cura degli infermi, interesse che lo Stato riconosce, autorizzando, disciplinando e favorendo l'attività medesima»13; ma non indica alcun criterio orientativo o limitativo della liceità, salvo quello della imprudenza o negligenza del sanitario. Crespi, La responsabilità penale nel trattamento medico-chirurgico con esito infausto, Palermo, 1955, p. 5; e molti altri). Tuttavia andie in questa posizione di pensiero, die esclude il ricorrere dell'estremo della conformità al tipo legale, è implicita una adesione ai criteri propri della teoria dell'adeguatezza sociale. Anzi, ad un tipo speciale di adeguatezza sociale si ispira in definitiva tutta la costruzione del rapporto medico-paziente come una obbligazione più di mezzi die di «risultato» comunque più di una buona e razionale cura die necessariamente di guarigione (su di essa cfr. in particolare Crespi, op. cit., p. 11 ss.). 12 Fiore, op. cit., p. 173. 13 Antolisei, op. cit., loc. cit.

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D'altra parte un gran numero di reputati penalisti nega la stessa possibilità di ammettere cause di giustificazione non codificate 14 e ricorre, per legittimare il trattamento medico-diirurgico, alle cause codificate dello adempimento del dovere 15 , dello stato di necessità e soprattutto del consenso del paziente 16 , anche se tende ad estendere quest'ultimo al consenso presunto17 o ad una specie di negotiorum gestio16, allargando così in modo significativo l'ambito della scriminante specifica 19 . Ma con questo non si fa die aumentare l'incertezza 14

Così ad es. G. Battaglini, Diritto penale, Padova, 3* ed., 1949, p. 308; Ranieri, Manuale di dir. penale, 4~ ed., Padova, 1968, p. 181; Pannain, Manuale di diritto penale, 3 " ed., Torino, 1962, vol. I, p. 713 ss. (tuttavia in quest'ultima edizione con qualche apertura verso un ampliamento dello stato di necessità). Una posizione a sè stante occupa nella dottrina italiana il Nuvolone (I limiti taciti della norma penale, Palermo, 1947, p. 36, 110 ss., 119 ss. e passim), secondo cui la analogia come tale non viene in considerazione per le scriminanti, ma tuttavia esistono scriminanti tacite in forza di vari limiti della norma incriminatrice. 15 Nuvolone, op. cit., p. 126 ss.: limitatamente, peraltro, ai soggetti abilitati alla professione medica. Negli altri casi, anche per il Nuvolone, operano ora il consenso dell'avente diritto ed ora lo stato di necessità. Cfr. anche Fresali, Sistema penale italiano, Torino, 1958, II, p. 277 ss. 16 La dottrina prevalente, a cui in definitiva si uniforma la ricordata sentenza della Corte d'Appello di Firenze, è appunto per una combinazione della scriminante del consenso con quella dello stato di necessità (a parte i casi di esclusione della stessa fattispecie legale e quelli del trattamento medico obbligatorio per legge): nel senso che criterio primario è il consenso e, ove si agisca al di fuori di questo, il trattamento può essere giustificato solo in forza del vero e proprio stato di necessità. Cosi, ad es., De Cupis, I diritti della personalità, Milano, 1959, p. 109 s.; Saltelli, Disponibilità del diritto e consenso dell'avente diritto, Torino, 1934, p. 130; Maggiore, Prinzipi di diritto penale, Bologna, 5° ed., 1951, vol. I, t. I, p. 334; Ranieri, op. cit., loc. cit., p. 180 e 158; Bettiol, op. cit., p. 322; Cattaneo. Il consenso del paziente al trattamento medico-diirurgico, in Riv. trim, dir. e proc. civ., 1957, p. 949 ss.; Lignota, I limiti giuridico-penali dell'attività medico-diirurgica, in Giust. pen., Suppl. 1960 (Studi in memoria di E. Battaglini), p. 87 ss.; Guzzon, Consenso e stato di necessità nell'atto medico, in Riv. pen., 1967, p. 671 ss.; Semini, In tema di consenso al trattamento medico-diirurgico, in Zacdiia, 1971, p. 205; etc. In tal senso si esprime generalmente la giurisprudenza, andie in materia civile. 17 Cfr. in particolare Grispigni, La responsabilità penale per il trattamento medico-diirurgico «arbitrario», in Se. positiva, 1914, p. 696; G. Battaglini, op. cit., 312; Bettiol, op. cit., p. 322 e 323. 18 Crespi, op. cit., p. 52. Sulla distinzione cfr. anche Grispigni, Il consenso dell'offeso, Roma, 1924, p. 131 e Cattaneo, op. cit., loc. cit., p. 967; Jescbeck, Lehrbudi des Strafrechts, Berlin, 1969, p. 254. E' noto die l'idea dell'agire nell'interesse del paziente come causa di giustificazione risale alla dottrina tedesca e particolarmente al Frank (sul tema andie v. Hippel, Deutsdies Strafrecht, II, Berlin, 1930, p. 249 ss.). 19 Di estensione o allargamento della scriminante del consenso, in un significato assai vicino a quello dell'applicazione analogica della relativa causa di giustificazione, parla ad es. il Bettiol, op. cit., p. 323.

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della giurisprudenza e soprattutto non si arriva a trovare un criterio generale valido ad orientare nella valutazione penalistica di quella infinita serie di situazioni die il trattamento medico-chirurgico di volta in volta presenta. Ecco perchè pensiamo che i tempi siano oramai maturi non solo per una definizione legislativa del trattamento sanitario, ma anche per una disciplina specifica che, pur ispirata al rispetto di altre esigenze dell'ordinamento e ben coordinata con le restanti disposizioni della parte generale e della parte speciale, contenga norme che tengano conto delle esigenze proprie di attività dirette a ricercare la guarigione del paziente e la sua salute futura e che pongano il sanitario in buona fede al riparo da persecuzioni arbitrarie. 7. Ma intanto, de iure condito? Ebbene, noi pensiamo die un diritto scritto così manifestamente insufficiente, lacunoso, occasionale, per non dire inesistente, in una materia di così grande rilevanza umana e sociale non rispecchi la reale volontà dell'ordinamento. Pensiamo che, come nel campo dell'attività sportiva e forse in altri campi, esistano nel sistema vigente principii positivi, aventi valore normativo, ricavabili per analogia dal sistema delle cause di giustificazione20, in. forza dei quali il trattamento medico-chirurgico si impone di per sè stesso, quando sia condotto in vista delle supreme esigenze della salute del paziente e secondo la lex artis, come una fonte di discriminazione del fatto. A questa conclusione ci conduce anche la palese insufficienza dei criteri desunti dalle cause di giustificazione specificamente invocate tutte le volte in cui si tratti di risolvere i gravi conflitti dinanzi ai quali si trovano, prima, la coscienza e l'iniziativa del sanitario e, poi, chi è chiamato a giudicare. Basti qualche accenno sui tre punti cruciali del consenso del paziente, dell'attualità del pericolo e dell'inevitabilità del danno. 20

Questa idea noi già professammo trent'anni addietro in un modesto lavoro (Limiti del divieto d'analogia nel diritto penale, Milano, 1942, p. 116 ss.)> di certo superato dai molti ed autorevoli scritti che negli anni successivi la dottrina penalistica italiana ha dedicato a questi temi: e ad essa ci manteniamo fedeli. Ora, se dovessimo indicare, al di là del generale criterio dell'antigiuridicità materiale e della conformità del fatto agli scopi riconosciuti e perseguiti dal diritto, la causa di giustificazione die più specificamente va estesa per analogia al trattamento medico-chirurgico, saremmo propensi ad individuarla in più d'una tra le cause codificate: nell'adempimento del dovere, una volta che l'impegno di curare sia stato assunto, nel consenso dell'avente diritto (attraverso il pure insoddisfacente canale del consenso presunto) e nello stato di necessità, soprattutto attraverso l'allargamento del pericolo al pericolo potenziale.

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Il criterio del consenso offre, come è noto, una quantità di difetti. Tutti gli studiosi, o quasi, partono dal considerare il consenso del paziente come necessario (almeno in quei trattamenti die non sono dettati dalla legge o dallo stato di necessità), ma subito aggiungono che esso «non è sufficiente» 21 . Quando poi si tratta di scendere ai singoli requisiti del consenso valido (capacità di consentire, manifestazione di volontà e disponibilità del bene) le cose subito si complicano. Quanto infatti alla capacità di consentire, si tende a negare la rappresentanza, per il carattere personale del consenso22; e il riferimento ai congiunti del paziente, sia quando si tratti di un minore o di un incapace, sia quando si tratti dello adulto non in grado di manifestare con piena libertà e consapevolezza la propria volontà, sfumano in criteri di deontologia e di opportunità, assai più che offrire binari certi di contenuto normativo: oppure, quando si vuole stare nei binari del diritto costituito, si deve riconoscere che unico criterio ammissibile è quello della vera e propria rappresentanza legale e che al di fuori di questa o del consenso personale del paziente non vi è altro criterio giuridicamente valido che non sia lo stato di necessità23. Lo stesso consenso presunto, che pur rappresenta la più potente espressione dell'aspirazione ad evadere dal diritto scritto, è spesso contestato nel suo fondamento 24 , quando non è frainteso 25 . Giustamente si esclude il valore della successiva ratifica 26 ; e si rileva die l'errore sul consenso effettivo (valido a discriminare secondo lo art. 59 ult. capov. c. p.) è cosa ben diversa dal consenso presunto 27 . Per giunta, secondo una autorevole teoria, la prova di avere agito in base a valida presunzione dovrebbe esser data dal medico 28 . 11

Cattaneo, op. cit., loc. cit., p. 949; e molti altri. " Ranieri, op. cit., p. 155. tJ Cfr. ancora Cattaneo, op. cit., loc. cit., p. 957 ss. 14 Cfr. p. es. Crespi, op. cit., p. 58; Ranieri, op. cit., p. 155; Cattaneo, op. cit., loc. cit., p. 967. Aspre, ma non infondate parole contro la teoria del consenso presunto possono leggersi in Bockelmann, Strafredit des Arztes, Stuttgart, 1968, p. 65. Cfr. tuttavia Jeschede, op. cit., p. 253 ss. 15 Nel caso die abbiamo sopra esaminato, la sentenza di rinvio a giudizio del Giudice istruttore, nel contestare la validità del ridiiamo al consenso presunto, considerava prova decisiva il fatto die la denunciante, dopo il fatto, avesse dichiarato die, se fosse stata interpellata, non avrebbe acconsentito al legamento delle tube. Quale contraddizione! Se si pretende la ratifica dell'interessato, tanto vale ridiiedere solo il consenso effettivo: il valore del consenso presunto è tutto nella fondata opinione dell'agente! " Ranieri, op. cit., p. 156. 17 Ranieri, op. cit., p. 156. 18 Grispigni, Il consenso dell'offeso, cit., p. 128.

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Analoghe difficoltà sorgono a proposito della manifestazione di volontà del paziente. Giustamente, soprattutto negli ultimi tempi, si è molto insistito, anche in Italia, sul dovere del medico di informare il paziente 29 ; ma le possibilità di valutazione del paziente, e per le sue scarse cognizioni e per il suo stato emotivo, restano necessariamente limitatissime. Come si può pretendere, salvo in alcuni casilimite, di rimettere la discriminazione dell'intervento sanitario all'indagine sul contenuto di codesta manifestazione di volontà, quand'anche questa vi sia stata? E ancora, come si può pretendere die il chirurgo, una volta scoperta nel corso dell'atto operatorio una determinata situazione e constatata di conseguenza l'esigenza di un ulteriore intervento non previsto nel momento in cui conferì con il paziente, rinunci a compiere questo intervento, spesso nelle condizioni ad esso più favorevoli, chiuda la breccia operatoria e comunichi con il paziente prima di riaprirla? Eppure a questo dovrebbe portare il più delle volte il rispetto della volontà del paziente, salvi i casi di quelle «operazioni supplementari» che possono ritenersi consentite nell'ambito di una autorizzazione estremamente generica80. Dove infine il criterio del consenso dimostra la sua insufficienza è nel campo della disponibilità del bene, o, come in Italia si preferisce dire, della disponibilità del diritto. Qui viene anzitutto incontro all'interprete la difficoltà rappresentata dall'art. 5 del codice civile, già più sopra ricordato. La maggiorparte degli scrittori e la giurisprudenza ritengono che questa disposizione si applichi andie al campo penale e rappresenti dunque un limite alla validità del consenso dato all'offesa della propria integrità fisica. Ora, come rileva uno degli n Crespi, op. cit., p. 45 ss.; Cattaneo, op. cit., loc. cit., p. 959 ss.; Lega, Il dovere del medico di informare il paziente, Roma, 1961; ID, Diritto e deontologia medica, Roma, 1968, p. 256 ss., 263 ss.; etc. 50 Cfr. sul punto Cattaneo, op. cit., loc. cit., p. 968 ss., il quale sostiene die si debba richiudere e consultare il paziente, salvo il solito limite dello stato di necessiti. Tuttavia ammette, anche se in modo dubitativo, un certo spazio al consenso presunto, limitatamente a quelle operazioni a scopo diagnostico, die abbiano il fine di compiere gli atti die si rivelino necessari a seguito dell'accertamento. Tornano qui ella mente la decisione del Reichsgeridit (RGSt., 25, 375), die il 2 maggio 1929 mandò assolto il medico, die aveva rimosso tumore ed aderenza non previsti sebbene non dessero luogo sul momento ad alcun pericolo grave ed imminente per la vita della paziente; nondiè la sentenza della Corte d'Appello di Parigi del 28 luglio 1923 (in Dalloz pér., 1924, 2, p. 116), relativa all'asportazione di una cisti ovarica, die privava la paziente della possibilità della maternità: sentenze entrambe ricordate dal Crespi, op. cit., p. 53 e 56—57. Sul punto cfr. andie Introna, La responsabilità professionale nell'esercizio delle arti sanitarie, Padova, 1955, p. 31.

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studiosi più attenti della materia, le operazioni chirurgiche capaci di produrre una diminuzione permanente dell'integrità fisica sono «tutt'altro che infrequenti». In questi casi — egli aggiunge — ad escludere l'illiceità dell'intervento varrà soltanto lo stato di necessità, che funziona, ovviamente, in modo del tutto indipendente dal consenso del paziente 31 . E allora quale fondamento di liceità rappresenta, nel complesso del sistema, un consenso che vale a coprire solo una minima parte dei casi controversi che si aprono all'indagine penale? Nè, come s'è già detto, la scriminante dello stato di necessità, affermatasi per tutt'altre situazioni ed esigenze, anche se espressamente estesa (come nell'art. 54 del codice penale italiano) al cosiddetto soccorso di necessità, indistintamente concernente qualsiasi terza persona, può bastare a fondare una razionale discriminazione del trattamento medico-chirurgico. Questa insufficienza si manifesta in particolare sotto tre profili, attinenti ai requisiti del pericolo e del danno. La legge richiede die il pericolo, al quale legittimamente si reagisce, sia attuale. Ora, gran parte del trattamento medico-chirurgico è rivolta alla prevenzione di pericoli futuri: il più delle volte non meno concreti, non meno sicuri e non meno gravi di quelli attuali, ma futuri. Deve in questo caso il medico rinunciare ad una delle principali sue funzioni: forse a quella più producente e più esaltante? o limitarsi ad esercitarla nell'ambito rigoroso ed invalicabile di quel consenso, die non può quasi mai esser chiaro, libero e maturo e che comunque non copre validamente gli atti che comportano, sia pure per garantire la salute futura del paziente, una diminuzione permanente della sua integrità fisica? L'appellarsi allo stato di necessità tipico, quale è descritto nella norma espressa del codice, per giustificare il trattamento medicochirurgico, a noi sembra la negazione del trattamento stesso. Non arriviamo a dire die è la sola idea di utilità quella che dovrebbe ispirare il giuridico riconoscimento di tale trattamento anche ai fini penali, e non quella della necessità, che riguarderebbe così solo casi estremi; ma certo non può bastare la necessità di cui all'art. 54 del codice penale. La necessità medica è una cosa diversa. Essa guarda " De Cupis, Gli atti di disposizione del corpo, in Riv. bimestr. di diritto sanitario, 1962, p. 681. Nello stesso senso si esprime la maggiorparte dei penalisti: cfr. p. es. Ranieri, op. cit., p. 158. Nè il problema è esclusivo della dottrina e giurisprudenza italiane. Dove non esiste una norma come quella dell'art. 5 c. c. (p. es. in Francia, dove si cerca di orientarsi sulla disponibilità del bene dell'integrità fisica in relazione alla gravità della lesione) si incontrano non minori difficoltà: cfr. da ultimo Fahmy Abdott, Le consentement de la victime, Paris, 1971, p. 401 ss.

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alla salute del paziente e non solo alla sua vita od incolumità; e comunque alla vita e all'incolumità del paziente essa offre la propria tutela anche per il futuro. Nè riusciamo a vedere, nel campo del trattamento medico-diirurgico, la ragione della limitazione della forza discriminante della necessità ai casi nei quali il pericolo non sia stato dallo stesso agente volontariamente causato. La giurisprudenza italiana, come del resto autorevoli settori della dottrina, tende ad estendere questa ipotesi (anche se, a mio avviso, infondatamente) anche ai casi in cui il pericolo sia stato causato per sola colpa 32 . Ora, come si può ammettere che un medico non sia abilitato a riparare il proprio errore, senza dover penalmente rispondere non solo del primo intervento ma anche del secondo? La verità è che lo stato di necessità tipico è discriminante prevista, nella massima parte delle leggi, con grande rigore, quasi come poco convinta elargizione di salvezza a fatti che altrimenti sarebbero sicuramente delittuosi. Il riconoscimento della necessità medica, invece, non può che obbedire a una ispirazione molto diversa. Altrettanto deve dirsi infine per il requisito della inevitabilità del danno. Se questo requisito fosse interpretato in modo rigoroso, gran parte dell'attività medica potrebbe rendersi, se non inutile, problematica. Possono sempre esistere ipotesi, per quanto estremamente improbabili, in cui il danno temuto potrebbe non verificarsi. In questa situazione il medico dovrebbe astenersi dall'intervenire? Ma il suo intervento non è richiesto per permettere di affrontare le evenienze normali della vita? non è richiesto per eliminare i danni probabili, o anche sommamente probabili? Il caso che abbiamo più sopra esaminato, nonostante la presenza in esso di un elemento estraneo come lo specifico divieto legale della sterilizzazione anche se consensuale, è esemplare in questo senso. Si sarebbe preteso die il medico credesse alla futura astinenza sessuale della donna, venticinquenne, avvenente e assai libera; o si sarebbe dovuta avere, per operare, la certezza matematica della rottura d'utero e della morte in caso di gravidanza futura. Non sembra possibile pretendere che il diritto regoli l'attività sanitaria con criteri di questo genere. Come è stato egregiamente scritto, sia pure con riferimento al consenso presunto, è il medico che ad un certo punto deve potere 82 Su questa problematica cfr. C. F. Grosso, Difesa legittima e stato di necessità, Milano, 1964, p. 80 ss. M Eb. Schmidt, Der Arzt im Strafredit, in Ponsold, Lehrbuch der gerichtlichen Medizin, Stuttgart, 1957, p. 34—35.

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assumere su di sè la responsabilità del trattamento. L'interesse del paziente deve essere valutato in modo realistico, come interesse alla effettiva conservazione della vita e della salute, e il trattamento è retto, nel diritto, dal criterio della «necessità medica» 33 . Sotto questo aspetto l'attività medico-chirurgica, esercitata secondo le regole dell'arte, rifulge come interesse sociale degno di per sè di tutela e di difesa e va considerata come una autentica causa di esclusione del reato, operante nell'ordinamento positivo anche se non ancora codificata.

Zusammenfassung Es handelt sich um den Fall eines Chirurgen, der anläßlich eines dritten Kaiserschnittes an einer jungen Frau die Tubensterilisation durchführte, zwar ohne ausdrückliche Einwilligung der Patientin, aber in der gutgläubigen Überzeugung von der unbedingten Notwendigkeit der Sterilisierung, um im Falle einer erneuten Schwangerschaft den Durchbruch der Gebärmutter und somit den Tod der Frau selbst zu vermeiden. Der Arzt wurde angeklagt, sei es wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung, bestehend in der verursachten Zeugungsunfähigkeit, sei es wegen des besonderen vorsätzlichen Vergehens der „verursachten Zeugungsunfähigkeit" nach Artikel 552 des ital. Strafgesetzbuches. (Diese letzte Anklage beruhte auf einer Gleichsetzung der mutmaßlichen Einwilligung der Patientin mit der tatsächlichen Einwilligung, wie sie vom Gesetz gefordert wird.) Die erste Instanz (Tribunale von Florenz) sprach ihn von beiden Anklagen frei mit dem Hinweis, daß „es dem Chirurgen in Erfüllung seiner Pflicht der bestmöglichen Fürsorge für das physische Wohl der Patientin zustehe, anstelle der Patientin selbst zu entscheiden, sofern letztere dazu nicht in der Verfassung sei". Das Berufungsgericht (Corte d'Appello von Florenz) hingegen hat jedwede Anwendbarkeit des ärztlichen Eingriffes als Unrechtsausschließungsgrund außer den Fällen der ausdrücklichen Einwilligung des Patienten oder des Notstandes im engen Sinne geleugnet. Der Verfasser befaßt sich eingehend mit diesem Fall und betont — unter Anlehnung an das Urteil der ersten Instanz — die Eigenständigkeit des Maßstabes der „ärztlichen Notwendigkeit im Interesse des Patienten" gegenüber denjenigen der ausdrücklichen Einwilligung und des Notstandes im engen Sinne. Letztere nämlich reichen nicht aus, den ärztlichen Eingriff in all jenen zahlreichen Fällen rechtzufertigen, in denen derselbe mit der Rechtsordnung durchaus im Einklang stünde. Gleichzeitig betont er die analoge Anwendbarkeit

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der Rechtfertigungsgründe und fügt ausdrücklich hinzu, daß für die Rechtsmäßigkeit des ärztlichen Eingriffes allein die Gefahr eines schweren Schadens für die Person des Patienten genüge, unter der Bedingung, daß derselbe feststehe oder als sicher angenommen werden könne.

Il plagio nel sistema italiano di tutela della libertà GIUSEPPE ZUCCALÀ

Sommario: 1. Premessa. — 2. Il potere e la soggezione come elementi del plagio: caratteri generali. — 3. Il contenuto del potere e della soggezione nella interpretazione della dottrina e della giurisprudenza. — 4. Gli elementi oggettivi del plagio come delitto a contenuto psicologico suggestivo. — 5. La personalità individuale come oggetto di tutela. — 6. Ulteriori precisazioni sulla fattispecie del plagio: a) il plagio nei normali rapporti di convivenza; b) il plagio e il principio di legalità; c) il plagio e la libertà di manifestazione del pensiero; d) il plagio e la struttura finalistica della fattispecie. 1.

Il codice italiano vigente prevede, tra i delitti contro la libertà individuale, intesa nella particolare configurazione della personalità individuale, il delitto di plagio (art. 603) : si tratta del c. d. plagio civile, personale1, con cui la norma incrimina il fatto di chiunque sottopone una persona al proprio potere in modo da ridurla in totale stato di soggezione. Tale autonoma incriminazione è nuova 2 : il codice Zanardelli prevedeva in un'unica disposizione (il fatto del) la riduzione in schiavitù o in altra condizione analoga (art. 145). Per ovviare alle incertezze interpretative, die si venivano.a determinare, il codice Rocco ha previsto due distinte, parallele figure criminose, per garantire il divieto (almeno nell'intento dei compilatori del codice 3 ) di ogni condotta umana lesiva — in quanto causa di una soggezione inerente allo status libertatis, come stato di diritto o come stato di fatto — della personalità individuale. 1 Su questa accezione, die qui serve a delimitare, in senso generico, l'ambito della figura criminosa in esame nei confronti del plagio letterario, Carrara, Programma del corso di diritto crminale, p. s., II, Lucca, 1882, 607; Santoro, Manuale di diritto penale, V, Torino 1968, 280. 2 Per limpidi accenni storici sul complesso argomento, Carrara, op. cit., 602 ss. Cfr., anche, da ultimo, Benassi, Alcune note in tema di plagio, in L'Indice penale, 1970, 91 ss. Per una sintesi, andie di diritto comparato, Rosenfeld, Verbrechen und Vergehen wider die persönlidie Freiheit, in VDB, Bd. V, Berlin, 1905, 385 ss.; Kielwein, Die Straftaten gegen die persönliche Freiheit oder Sicherheit, in Materialien zur Strafreditsreform, Bd. 2, II, B. T., Bonn 1955, 312 s. Con riferimento al vigente sistema penale tedesco, die include nel delitto di plagio (parag. 234 StGB) anche la riduzione in schiavitù, Schönke-Schröder, Strafgesetzbudi, Kommentar, München, 1970, 1174 ss.; Jagusch, Strafgesetzbudi (Leipziger Kommentar), Bd. II, 1958, 277. s Relazione ministeriale sul progetto del Codice penale, II, 410 ss.

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Dall'entrata in vigore del codice, la norma incriminatrice del plagio è rimasta praticamente senza applicazione4 e solo in occasione di recenti avvenimenti giudiziari di tale delitto, nella sua più ampia problematica è diventato oggetto di approfondito ed impegnato esame: e mentre la giurisprudenza ha riconosciuto la legittimità ed opportunità della incriminazione5, parte della dottrina non ha esitato a contestare ogni fondamento ed ogni pratica applicabilità della norma incriminatrice®. Prescindendo per il momento da codesto contrasto, il problema, che per noi si pone, è di stabilire come il delitto di plagio debba essere inteso nei suoi elementi obiettivi di struttura, indicati dall'art. 603 del codice penale italiano. Avremo anche modo, cosi, di valutare adeguatamente se sussistono tuttora ragioni di politica criminale che suggeriscono di assumere il plagio stesso tra le autonome figure tipiche di reato lesive della personalità individuale. 2.

Gli elementi oggettivi che integrano, per espressa indicazione normativa, la fattispecie del plagio sono il potere, al quale viene sottoposta una persona determinata, e lo stato di soggezione, in cui viene ridotta la persona medesima: vale a dire, l'esercizio del potere da parte di un soggetto agente e la conseguente soggezione di una persona al potere del primo. La correlazione tra questi due termini non può dar luogo a dubbi e corrisponde anzi allo schema di una nota situazione soggettiva. Nel delitto in esame, il potere e la soggezione integrano la fattispecie oggettiva, rispettivamente, come condotta e 4 Analoga è stata la situazione in Germania: e non solo, s'intende, con riferimento al delitto di riduzione in schiavitù, ma anche in relazione al delitto di plagio (Menschenraub) in senso stretto. Se, da un lato, però, il delitto di plagio non trovava più concreta realizzazione nelle forme tradizionali, altre modalità criminose, aggressive della personalità individuale (e come tali riconducibili andie esse, fondamentalmente, nello schema tipico del plagio), divenivano via via tragicamente attuali, in seno all'ordinamento giuridico tedesco, sotto la spinta di esperienze dovute alla seconda guerra mondiale e alla politica di taluni Stati: si pensi alla deportazione in massa di lavoratori coatti e al rapimento di una persona, per motivi politici, da parte di suoi avversari, oltre i confini del suo Paese. Su questi argomenti, Maurach, Deutsches Strafrecht, Β. T., Karlsruhe, 1969, p. 125; Kielwein, op. loc. cit. s Per la giurisprudenza ν. infra nota 19. * Mercadante, Inespropriabilità della persona (in margine alla sentenza sul caso Braibanti), in Riv. int. fil. dir., 1969, 149 s.; Ramat, Contro il «plagio», in II Ponte, agosto 1968. Tale orientamento ha trovato la sua espressione culminante nella formulazione di due proposte di abrogazione dell'art. 603 — la proposta di legge presentata alla Camera dei Deputati il 17 luglio 1968 e il disegno di legge presentato al Senato della Repubblica il 29 luglio 1968 — motivate dal rilievo che la norma trarrebbe origine da un equivoco, che la vizierebbe nella sua essenza.

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come evento del delitto di plagio e stanno tra loro, s'intende, in un rapporto di causalità 7 . Per fissare esattamente il contenuto di questi due requisiti del plagio è metodologicamente opportuno esaminarli, in via preliminare, nelle loro più generali accezioni, valide nell'ambito del nostro ordinamento. Il potere giuridico certamente consiste in una forza che assicura a chi ne è titolare una prevalenza concreta di fronte ad un altro soggetto determinato; la teoria generale del diritto ne ha adeguatamente elaborato il concetto, che sta appunto a significare la posizione di preminenza di un soggetto verso un altro soggetto, consolidatasi in una situazione giuridica soggettiva 8 . Ma andie quando il potere trovi il suo fondamento in un rapporto di fatto, cioè si configuri come mera possibilità materiale, senza die risulti legittimato da una norma giuridica®, esso esprime sempre la possibilità di un soggetto di imporsi ad un altro soggette, perchè quello è in condizione di agire da una posizione di forza, ossia con un ascendente che gli consente di prevalere effettivamente su quest'ultimo. Si pensi alla situazione di chi eserciti una sua autorità, direzione o vigilanza rispetto alle persone ad esso soggette (art. 112, n. 3 c. p., qualora, s'intende, questa posizione di preminenza del soggetto tragga il suo fondamento da un rapporto di fatto), come pure alla situazione di chi si avvalga della incapacità o della deficienza psichica di altra persona (art. 86, 1 1 1 c. p . ) 1 0 .

Correlativa al potere esercitato dall'agente è la soggezione di un altro soggetto determinato: nel caso del potere inteso come situazione 7 Da ciò risulta già evidente die, a differenza di altri casi, in cui il potere e la soggezione integrano un rapporto lecito, limitandosi la norma a vietarne l'abuso, nei confronti del plagio il mero instaurarsi di un tale rapporto integra un fatto punibile (sull'argomento, Nuvolone, Considerazioni sul delitto di plagio, in SchwzStr., 1969, 338 ss.). Circa il rapporto di causalità, in generale, Antolisei, Manuale di diritto penale, p. g., Milano, 1969, 178 ss.; Bettiol, Diritto penale, Padova, 1969, 234. 8 Sul tema, per tutti, Messina, Diritti potestativi, in Scritti giuridici, V, Milano, 1948, 46 ss., e passim; Pugliatti, Esecuzione forzata e diritto sostanziale, Milano, 1935, 71 e passim.; Levi, Teoria generale del diritto, Padova, 1967, 310 ss. Andie con riferimento al diritto penale il potere mantiene siffatta accezione ed in questo senso viene utilizzato per la configurazione di fatti criminosi che ne implicano la nozione: per una puntualizzazione del concetto e per una disamina delle sue varie applicazioni, ci permettiamo di rinviare al nostro studio Zuccaia L'infedeltà nel diritto penale, Padova, 1960. * Per la esclusione di questa possibilità di fatto dall'ambito del potere in senso stretto, Pugliatti, Considerazioni sul potere di disposizione, ora in Diritto civile, Saggi, Milano, 1951, 42 e passim. 10 Su questo argomento, in generale, Nuvolone, Considerazioni, cit. 342; Jagusd), op. cit., 276. Per talune precisazioni, Manzini, Trattato di diritto penale, II, Torino, 1961, 555 ss.

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giuridica, essa è il vincolo in cui è posto l'avversario del titolare del potere stesso, è la soggezione della volontà della persona di fronte alla quale il potere spetta, in modo che questa non possa volere che l'evento non si produca; in ordine al potere fondato su un rapporto di fatto, essa presenta, nella sostanza, analogo contenuto, nel senso che il soggetto passivo è vincolato dall'azione del soggetto dominante: trattandosi di un rapporto caratterizzato dall'ascendente che il soggetto-incube esercita sul soggetto-succube, l'azione stessa opera su quest'ultimo come coazione psicologica, per cui egli non può sottrarsi agli effetti, che dall'azione promanano, e si trova a doverli subire. Sulla base di queste considerazioni, per il principio della unità dell'ordinamento, non vi è motivo di dubitare che pure il potere, di cui al delitto di plagio, stia coerentemente ad indicare la forza di un soggetto, quindi l'agire di esso da una posizione di prevalenza, di preminenza nei confronti di un altro soggetto. Tale posizione configura un potere di fatto, una materiale possibilità che mette un soggetto in grado di influire su un altro e di imporsi. La soggezione in cui viene ridotto il soggetto passivo è, correlativamente, soggezione di fatto: subendo l'ascendente che il plagiante esercita su di lui, il plagiato, che conserva inalterato lo status libertatis come stato di diritto, viene a trovarsi in uno stato di soggezione della volontà, nel senso di una coazione psicologica, per cui è vincolato a subire le conseguenze che promanano dall'esercizio del potere 11 . 3. Resta ora da stabilire quale contenuto debba avere il potere (e correlativamente la soggezione) perchè l'esercizio di esso nei confronti di una persona determinata, riducendo la persona medesima in un totale stato di soggezione, costituisca offesa alla personalità individuale, nella forma del delitto di plagio. L'argomento è controverso. Nella dottrina meno recente, muovendo dal presupposto del parallelismo del plagio con la riduzione in schiavitù, si è inteso il potere di cui al plagio stesso — anche se poi, in maniera non costantemente univoca, si prescinde dalla limitazione della libertà corporale e si guarda unicamente all'annientamento della personalità 12 — come un 11 Su questi concetti, validi anche in situazioni diverse da quelle del plagio, in generale e per tutti, Manzini, Trattato, II, loc. cit. Sul concetto tecnico della soggezione come soggezione della volontà, Messina, op. cit., 22, 45. 12 Sull'argomento, Tursi, Principi costituzionali e reato di plagio, in Ardi. Pen., 1969, II, 350; Flick, La tutela della personalità nel delitto di plagio, Milano, 1971, 6 ss.

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atto di padronanza, di dominio del soggetto-incube sulla vittima, attinente alla sfera dell'attività corporale, fisica di essa; correlativamente, la soggezione è stata ravvisata nella riduzione della vittima allo stato di una res, a seguito della costituzione di vincoli fisici e quindi della eliminazione di fatto delle sue libertà 13 . Qualche Autore, più specificamente, ha, invece, identificato tale soggezione tipica nella reificazione della vittima stessa per poterla tenere al proprio o all'altrui servizio e, quindi, per poterla sfruttare economicamente14. Chiaro emerge da queste affermazioni il contenuto materiale die si vuole assegnare al plagio. Poiché la fattispecie risulta caratterizzata — anche per il suo parallelismo con il delitto di riduzione in schiavitù — da una imposizione di lavoro o di un servizio, o comunque da una costrizione ad obbedire al comando imposto con l'esercizio del potere, al di fuori di un fine economico, è evidente che il soggetto influisce sulla libertà di manifestazione della volontà della vittima e non su quella di formazione della volontà stessa15, die resta, quindi, estranea alla configurazione dell'illecito in questione: si può agire, infatti, con intimo dissenso, senza interiore adesione al comportamento, die pur si è costretti a realizzare. A conferma dell'assunto, si osservi che la dottrina considera il plagio in posizione alternativa al sequestro di persona (art. 605 c. p.), nel senso che non esita a ravvisare il sequestro stesso — un fatto, quindi, lesivo della libertà personale — nel caso in cui non vi sia la indicata imposizione di lavoro o di servizio16. Tale opinione è stata oggetto di critica, die noi riteniamo fondata: a parte l'ovvio rilievo che arbitrario sembra ogni riferimento all'attività di servizio della vittima, e quindi ogni suo sfruttamento economico, dato che l'art. 603 esaurisce la previsione normativa del plagio nella correlazione tra la sottoposizione di una persona al proprio potere e la riduzione di essa in totale stato di soggezione, senza che al 13 In tal senso, Nuvolone, Plagio, in L'Indice penale, 1968, 81. Per una accezione attenuata di tale eliminazione, Manzini, Trattato di diritto penale, V i l i , Torino, 1964, 652; Flick, op. loc. cit. 14 Manzini, Trattato, V i l i , cit., 650, 652; Grieco, Riduzione in schiavitù, plagio e sequestro di persona, in Giust. pen. 1950, II, 213. Per ulteriori precisazioni su tale orientamento della dottrina, Nuvolone, Plagio, cit., 79; Tursi, op. cit., 349 s.; Flick, op. loc. cit. 15 Su questi due aspetti della libertà, con riferimento alla tutela penale, Binding, Lehrbudi des gemeinen deutsdien Strafredits, B. T., I. Band, Leipzig, 1902, 80 ss.; Maurach, op. cit., 1060; Vassalli, Il diritto alla libertà morale, in Studi giuridici in memoria di F. Vassalli, Torino, 1960, 1659 e pass.; cfr. anche in generale, Baudin, Corso di psicologia, Firenze, 1948, 599. Circa il problema della sdiiavitù, nella teoria del soggetto di una tutela giuridica, Falzea, Capacità (Teoria generale), in Enc. del dir., VI, Milano 1960, 20. le Su questi concetti, die vanno direttamente riferiti, s'intende, al sistema del codice penale italiano, Manzini, Trattato, V i l i , cit., 652.

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momento economico la norma, nè per il suo contesto, nè per la posizione sistematica, dedichi comunque un accenno17, a parte questo, l'opinione in esame, intesa nella sua più generica accezione, contrasta anche con lo scopo che caratterizza la norma di cui all'art. 600 del codice penale. Tale disposizione, incriminando, accanto alla schiavitù, la condizione analoga alla schiavitù, già include in questa previsione normativa la schiavitù materiale, di fatto 18 : non si vede quindi come quest'ultima possa avere ancora rilievo e significato pure in ordine ad una norma diversa, incriminatrice del delitto di plagio. E', infine decisivo rilevare die, se la soggezione si intendesse in senso materiale, essa riguarderebbe solo la manifestazione della volontà della vittima, senza incidenca alcuna sulla formazione della volontà stessa: ora, ciò basterebbe per escludere la possibilità di configurare una soggezione totale, secondo il dichiarato intento della norma. La più recente dottrina concepisce diversamente il delitto di plagio e, aderendo alla tesi della giurisprudenza, ravvisa in esso una figura criminosa a contenuto psicologico. Si sostiene infatti die il delitto consiste nell'instaurazione di un rapporto psichico di assoluta soggezione del soggetto passivo al soggetto attivo, in modo che il primo venga sottoposto al potere del secondo, con completa o quasi integrale soggezione della libertà nel proprio determinismo; la vittima non patisce più una soggezione limitata alla estrinsecazione della sua volontà, bensì una soggezione in senso psicologico, in quanto viene anche privata della facoltà di formare liberamente il suo volere: la sua volontà viene annientata nel suo integrale contenuto 19 . 17 In tal senso, anche per una esclusione del dolo specifico, già assunto in dottrina (Grieco, Riduzione in schiavitù, cit., 214) come elemento tipico del plagio, Tursi, op. cit., 350; Dessl, Appunti in materia di plagio, in Arch. pen. 1961, II, 355; Flick, op. cit., 8 s. 18 Non può dubitarsi die nelle condizioni analoghe alla schiavitù (art. 600) debbano ricomprendersi, accanto alle condizioni di diritto, andie quelle di fatto. La norma in esame non contiene infatti alcuna esplicita limitazione in materia, mentre la formula richiamata consente la più ampia interpretazione: sul punto, Antolisei, Manuale di diritto penale, p. s., I, Milano, 1966, 133; Nuvolone, Plagio, cit., 80. Per un testo legislativo che disciplini unitariamente i vari rapporti di servitù, siano essi di diritto o di fatto, art. 1 Convenzione di Ginevra del 7 novembre 1956, ratificata con 1. 20 dicembre 1957, n. 1304. 18 Per la giurisprudenza, Cass. Pen., Sez. III, 3 novembre 1949, in Giust. pen., 1950, II, 210; Corte di Assise di Roma, 18 ottobre 1956, in Foro it., II, 1957, 139; Corte di Assise di Appello di Cagliari, 5 marzo 1960, in Ardi, pen., II, 1961, 348; Cass., Sez. I, 26 maggio 1961, in Temi napoletani, 1962, 23 s.; Cass., Sez. I, 30 settembre 1971, in Dialéctica, I, 1972, 29 ss. Per la dottrina, Nuvolone, Considerazioni, cit., 344 ss.; Acerra, Il delitto di plagio, in Foro penale, 1950, 337. Il Pecorella (Il processo Braibanti e la morale a Palazzo di Giustizia, in Temi, 1968, 590 s.) afferma, invece, die la fattispecie del plagio, come è configurata nell'attuale codice,

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Per comprendere adeguatamente questa concezione del plagio come delitto a contenuto psicologico, bisogna richiamarsi al fenomeno suggestivo: infatti, per la descrizione dell'art. 603, la suggestione sembra assurgere a dato essenziale del fatto criminoso20. L'instaurarsi di un tale rapporto psicologico di soggezione di un soggetto ad un altro implica il compimento di attività die si svolgono ad un livello inconscio, implica cioè l'instaurarsi di un meccanismo che condiziona attività psichiche e di comportamento indipendentemente dal controllo volitivo, chiaramente consapevole, del soggetto 21 . L'attività umana, che nella sua forma superiore è attività riflessa e controllata, si presenta in questo caso in una forma inferiore, per cui il soggetto riceve le sollecitazioni senza scelta e senza reazione. Quando si instaura un rapporto di supremazia psicologica 22 , il soggetammette entrambe le soluzioni e il delitto sussiste solo die si verifichi la riduzione in totale stato di soggezione, sia die ciò dipenda dalla privazione della libertà fisica, sia die dipenda dalla privazione della libertà morale o intellettuale di autodeterminarsi. L'assunto non sembra aderente al nostro sistema penale. A parte il fatto die una tale affermazione non tiene adeguatamente conto dei rapporti tra l'art. 600 e l'art. 603 c. p., per cui prospetta senza fondata ragione il pericolo die la riduzione di fatto in sdiiavitù possa rimanere impunita, έ da rilevare die la privazione della libertà fisica e quella della libertà morale di autodeterminarsi, essendo «aree applicative della norma» diverse tra di loro per ampiezza, non possono essere egualmente ed alternativamente tipiche per il configurarsi del delitto di plagio; la diversità non può non aver rilievo quanto meno in ordine al risultato tipico conseguente alla privazione, die deve consistere appunto nel totale stato di soggezione. 20 In questo senso, Benassi, op. cit., 98 ss.; Dessi, op. cit., 354, sia pure con qualche attenuazione. 21 Su questo tema, in ordine ai singoli concetti psicologici qui ed in seguito richiamati, v. per tutti, Bini e Bazzi, Psicologia medica, Milano 1954, 308 ss., 28 ss.; Baudin, op. cit., 587 s., 593 ss. 22 Quanto alla suggestione prevista come causa di un comportamento della vittima, art. 62 e art. 613 c. p.; sull'argomento, Manzini, Trattato, II, cit., e V i l i , cit., 791. Per un rigoroso esame dell'aspetto psicologico del fenomeno suggestivo, con riferimento agli elementi die favoriscono la presa suggestiva e, quindi, alla speciale influenza psichica che su una personalità esercitano altre persone, Kretsàmer, Manuale teorico-pratico di psicologia medica, Firenze, 1952, 131, ss.; Jaspers, Psicopatologia generale, Roma, 1964, 406 ss., 439; Ferrio, Trattato di psichiatria clinica e forense, I, Torino, 1970, 139 ss. Sulla importanza dei fattori affettivi nel fenomeno della suggestione, Reda e Castellani, Suggestionabilità ed isterismo, in Psichiatria generale e dell'età evolutiva, 1964, 124 ss., 131; Bleuler, Lehrbuch der Psychiatrie, Berlin, 1966, 76 s. Circa il successo della suggestione fondato sulla coincidenza del compito suggestivo con i più potenti interessi subcoscienti del soggetto, Ferrio, op. loc. cit., anche per talune indicazioni bibliografiche. Per una ulteriore precisazione sul punto, De Vincentiis e temerari, Contributo medico-legale all'interpretazione della norma giuridica a contenuto psicologico, in Giustizia penale, 1966, I, col. 361. Per una chiarificatrice indagine del fenomeno, nell'atmosfera filosofica e

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to-incube esercita il suo potere trasmettendo al soggetto-succube una particolare nozione della realtà, un determinato «sapere» di essa, ed imponendogli altresì l'attualizzazione di attività psichiche e di comportamento da lui plasmate (eterosuggestione). La vittima, trovandosi in stato di soggezione, è psichicamente vincolata ad accettare e a «vivere» come tale la nozione indotta; è questa la fase del consenso: poiché vi si crede, si accetta senza controllo cosciente l'idea che è stata comunicata, si consente ad essa di abbandonarsi al libero evolversi del suo automatismo, cioè di impossessarsi immediatamente della coscienza, senza essere contraddetta da altre idee. Sotto questa spinta, poi, la vittima passa immediatamente, e quasi costantemente, all'attualizzazione degli effetti, cioè delle attività psichiche e di comportamento plasmate, appunto, dall'agente suggestivo23. Nel quadro di questa fenomenologia, la vittima soggiogata non può che agire nella inerzia della sua volontà, intesa quest'ultima come stato psichico del soggetto: considerata sotto il profilo della (incapacità di volere della vittima, la volontà non è essenzialmente in grado di assolvere alla funzione di non volere («nolontè»), inibendo l'automatismo psichico dei motivi, nè di assolvere alla sua ancora più tipica funzione, in cui si realizza la prerogativa della libertà, di attuare una scelta come atto positivo e diretto di autodeterminazione. La volontà del suggestionato viene così sottratta ai suoi veri compiti: l'Io non è capace di togliere alle idee la loro prerogativa di decisione automatica per sostituirvi il suo privilegio di autodecisione24. 4. Noi aderiamo fondamentalmente alla tesi che concepisce il plagio come figura criminosa a contenuto psicologico: una volta dimostrato che la soggezione di cui all'art. 603 non può intendersi in senso materiale, essa deve intendersi in senso psicologico, come coazione alla facoltà di una persona di formare e di realizzare liberamente il suo volere. Ne deriva che il processo suggestivo fa spicco nella dinamica del delitto, assumendo il ruolo essenziale di mezzo criminoso tipico del plagio: solo utilizzando il suo potere suggestivo, il soggetto agente può cagionare quella totale soggezione della vittima — relativa anche alla sfera più intima della libertà di una persona, quella sfera in cui il culturale dell'empirismo logico, Oppenheim, Dimensioni della libertà, Milano, 1964, 30 ss., 47 ss., allorché esamina la «libertà sociale» con riferimento al controllo, all'influenza e al potere sulla «mente» e sulla «azione» altrui. 23 V. ancora Bini e Bazzi, op. cit. e passim; Baudin, op. loc. cit. e passim. 24 Su questa fenomenologia, nelle sue diverse manifestazioni, Baudin, op. cit., 599 ss. e 606. Per una distinzione in materia, con riferimento al sistema penale, infra nota 30.

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soggetto sceglie e decide — richiesta dalla norma 25 . E' agevole dedurre, altresì, che la suggestione deve intendersi in senso stretto, come potere idoneo a produrre l'eliminazione totale della facoltà di una persona di formare e di manifestare liberamente la sua volontà: essa non deve lasciare margine alcuno a questa facoltà e non deve quindi esaurirsi nei limiti di una mera influenza psichica, che non si differenzi nettamente dalla disinibizione psichica e dalla persuasione razionale 26 . Il potere suggestivo si configura, così, nel suo esercizio, come condotta violenta. La violenza (impropria) può dunque dirsi la condotta tipica ai sensi dell'art. 603, quella violenza cioè contrassegnata da mezzi che agiscono non sul fisico, ma direttamente sulla psiche del paziente 27 : si tratta di attività di trasmissione, di induzione ad un 25

Noi riteniamo di dover escludere die una condotta diversa dalla suggestione (in veglia, ipnotica o riferita ad uno stato di narcosi) possa ritenersi tipica in ordine all'art. 603 : ogni altro comportamento, non potendo influire sulla capacità di autodeterminarsi, non consentirebbe di realizzare — a differenza della condotta suggestiva — quella soggezione totale della vittima voluta dalla norma. Il Benassi (op. cit., 98) afferma die pure la violenza e la minaccia sono condotta tipica del delitto di plagio, nel limite in cui possano eccezionalmente involgere effetti non dissimili da quelli della suggestione; egli ridiiama espressamente il terrorismo psicologico da cui derivi uno stato di totale soggezione di natura sostanzialmente psidiica. A parte la difficoltà di ammettere die pure la mera violenza, die non operi già come minaccia, possa automaticamente realizzare un vero e proprio terrorismo psicologico, a noi sembra die la minaccia possa cagionare una totale soggezione di natura psidiica solo quando il soggetto agente abbia acquistato tale forza rispetto ad un altro soggetto da poter disporre andie della capacità di critica, die autodeterminazione proprie di quest'ultimo. Ora ciò avviene quando il soggetto-incube ha acquistato un potere suggestivo sul succube: per cui agire in forza di tale potere — sia pure, come nel terrorismo psicologico, per stimoli di significato affettivo, di colorito spiacevole (Bini e Bazzi, op. cit., 312) — è già suggestione, non più minaccia. 26 Sulla possibilità di graduare l'intensità della dipendenza psidiica di un soggetto da un altro e sulla individuazione dei limiti entro i quali la suggestione assurge a condotta violenta, Knodel, Der Begriff der Gewalt im Strafredit, München u. Berlin, 1962, 137 s.; Gozzano, Studio sul caso Braibanti, in Sotto il nome di plagio, Milano, 1969, 114, 120, ss., andie per ulteriori precisazioni. 27 Sul tema, in generale, Antolisei, Manuale, p. s., cit., 113 ss.; Pedrazzi, Inganno ed errore nei delitti contro il patrimonio, in Studi Urbinati, 1955—1956, 49 s.; Knodel, op. cit., 136 ss. Per una qualificazione normativa della suggestione, riferita all'art. 613, come violenza fisica diretta, Vassalli, Il diritto, cit., 1685: ν. però p. 1687. Cfr. anche Pisapia, Violenza, minaccia e inganno nel diritto penale, Napoli, 1940, 131: v. però p. 208. Il Pecoraro Albani (Il concetto di violenza nel diritto penale, Milano, 1962, 45 s.) nega die la violenza possa identificarsi con la creazione dello stato di incapacità come tale, indipendentemente dalla estrinsecazione di un'energia dell'agente rivolta ad imporlo, sopraffacendo fisicamente la contraria volontà della vittima. A parte tutti gli altri rilievi dell'A., die non ci sembrano sostenibili di fronte alla espressa, univoca volontà della norma (art. 613 e 628, 2 cpv., n. 2 c.p.) di ricon-

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altro soggetto di una particolare nozione della realtà, quindi di una attività attraverso la quale, per talento e per funzioni, una persona ha la facoltà di insinuare nell'animo della vittima una rappresentazione con efficacia motivante, cioè di utilizzare a suo piacimento tutto l'automatismo psichico di colui die si abbandona alla sua direzione28. La soggezione psichica, come conseguenza (dell'esercizio) del potere suggestivo, sta da canto suo ad indicare lo stato di soggiogamento, di dipendenza psicologica del plagiato verso il reo: in preda ad un sentimento di certezza abnorme, e quindi ad un automatismo psichico, la vittima si trova vincolata a credere senza critica ai suggerimenti, ai comandi impartiti dal plagiante e, conseguentemente, ad attualizzarli senza deliberazione, senza volontà libera29. Si tratta ora di accertare se questa soggezione^ derivante dall'esercizio del potere plagiante, implichi — in quanto credulità suggestiva, in quanto accettazione, senza controllo cosciente, di una nozione della realtà, trasmessa al soggetto dall'agente suggestivo — uno stato di incapacità di intendere e di volere della vittima stessa, nel senso tecnico di non imputabilità, con cui strutturalmente si identifidii30. durre nello schema della violenza (per cui potrebbe dirsi inspiegabile, sul piano di una rigorosa interpretazione, persino la stessa qualifica di impropria die la dottrina vuole attribuire a tale forma di violenza) ogni mezzo, diverso dalla minaccia, die produca l'annullamento o la limitazione della capacità di autodeterminazione, a parte tutto questo, non sembra fondato neppure il sostanziale rilievo prospettato, e cioè die un soggetto non imputabile non potrebbe apparire oggetto idoneo all'attacco, mentre non può sfuggire die andie un non imputabile possa essere narcotizzato, ipnotizzato, ecc. (ivi, 45 s.). Se abbiamo esattamente compreso il significato dell'assunto dell'A., riteniamo di poter replicare die tale argomento non prova nulla, dato die, trattandosi già di soggetto non imputabile, l'attività del reo non potrebbe più cagionarne l'incapacità: l'attività di ipnosi, di narcosi non potrebbe configurare un illecito violento perchè per la violenza — già sussistendo l'incapacità — non vi sarebbe più posto. Diversamente da quanto opina il Pecoraro-Albani, non sembra dunque sostenibile die la violenza non si identifichi (anche) con la creazione di uno stato di incapacità come tale. î8 Baudin, op. cit., 593. 2 * Su questi concetti ed in particolare sul sentimento di certezza, die poggia su fattori affettivi, Bini e Bazzi, op. cit., 312, 179 s. Per la distinzione tra persuasione e suggestione, intendendo la prima influenza psichica come rivolta ai meccanismi razionali, intellettivi, e quindi compatibile con la esistenza di una volontà autonoma, e la seconda come rivolta ai meccanismi irrazionali, istintivo-emotivi, Nuvolone, Considerazioni, cit., 348; per la dottrina psichiatrica, Gozzano, Compendio di psichiatria clinica e criminológica, Torino, 1971, 72. Cfr. anche, Oppenheim, op. cit., 34 e passim, allorché distingue tra «persuasione» e «controllo». 30 A conferma della fondatezza della impostazione, in questi termini, del problema, si consideri die l'art. 613 c. p. esattamente ricollega alla suggestione l'incapacità di intendere e di volere della vittima. Considerando i principi e le distinzioni sui quali, fondatamente, si articola il nostro sistema penale, è dunque

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Autorevole dottrina, muovendo dalla premessa die, per il legislatore italiano, l'incapacità di intendere e di volere, salvi i casi di immaturità (minore età), consiste essenzialmente in una infermità psichica, ammette die una infermità psichica totale o parziale, che faciliti la presa di possesso della sua personalità, possa esservi nel soggetto-succube (c. d. servente): tale infermità, tuttavia, non si identifica con lo stato di soggezione, ma può essere unicamente il presupposto e lo strumento non necessario, anche se frequente, della soggezione stessa. Su questa base essa conclude che, in ordine al delitto di plagio, non si possa parlare, se non in qualche caso, di incapacità di intendere e di volere in senso tecnico di non imputabilità (e per fatti di induzione psichica e non di infermità), ma di capacità di intendere e di volere nella prospettiva del soggetto dominante 31 . Con riferimento, anzitutto, alla infermità psichica del soggettosuccube, ci sembra di dovere precisare die tale infermità — esattamente qualificata come presupposto eventuale, non necessario del plagio 32 — non possa mai assumersi come infermità totale 33 : in caso di totale infermità, a parte la difficoltà di attuarsi dello stesso meccanismo suggestivo, sarebbe impossibile la configurazione di una offesa alla personalità individuale, dal momento che la persona versa già in stato di totale incapacità di intendere e di volere (art. 49 c· P·)34· ingiustificato ritenere die la suggestione sia un trattamento die sopprime la coscienza e la volontà (sul punto, in ordine all'art. 728 c. p., Manzini, Trattato di diritto penale, X o , Torino, 1964, 1019); si tratta dell'uso improprio di un termine, nella confusione di due concetti, di cui è traccia anche in dottrina (per talune essenziali precisazioni in proposito, da ultimo, Crespi, Imputabilità, in Enc. del. dir. X I , Milano, 1970, 764, ss.). Poiché il suggestionato riserva all'idea accettata tutto il suo automatismo psidiico, e quindi agisce nel quadro di un processo psichico, sia pure abnorme, è da ritenere (considerando andie la ratio dell'art. 62 c. p.) che egli ponga in essere un comportamento cosciente e volontario, anche se sulla base di un'unica idea, di un'unica rappresentazione decisiva, quella appunto suggerita dal soggetto plagiante: sul punto, cfr. bandín, op. cit., 603 s.; Ferrio, Trattato, I, cit., 138. A proposito dell'impulso volontario determinato da un unico motivo, Delitala, Il «fatto» nella teoria generale del reato, Padova, 1930, 145; Pannain, Manuale di diritto penale, p. g., I, Torino, 1967, 295 ss., 781 s.; Ranieri, Manuale di diritto penale, p. g., Padova 1968, 237 s.; Bettiol, Diritto penale, cit., 216 ss., 381; Pedrazzi, Inganno ed errore, cit., 49, 51, con riferilento specifico alla suggestione, ma in modo generico e non univoco. C f r . anche Oppenheim, op. cit., 23 ss. " Nuvolone, Considerazioni, cit. 346, ss. e passim. " Nuvolone, op. cit., 347. Sul rapporto tra suggestione e infermità mentale, Manzini, Trattato, II., cit., 15; cfr. anche Reda e Castellani, op. cit., 120. M Contra, Nuvolone, op. cit., 347. A conferma di quanto affermiamo, per l'aspetto psicologico e psichiatrico del fenomeno, Bini e Bazzi, op. cit., 312, 315; Gozzano, Compendio, cit., 75. M Per un chiarimento sul punto, infra, p. 827 ss.

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Resta ora da accertare se la soggezione del soggetto-succube — in quanto esposizione di questo alla influenza psichica del soggetto dominante ed in quanto riduzione, quindi, del soggetto medesimo in stato di automatismo psichico — implichi uno stato di incapacità di intendere e di volere, con cui si identifichi e, altresì, se tale incapacità possa assumersi nel senso tecnico di non imputabilità. Contrariamente a quanto si sostiene in dottrina85, noi riteniamo