Ein versiegeltes Buch: Der Naturbegriff in der Theologie J. G. Hamanns (1730-1788) [Reprint 2011 ed.] 3110144433, 9783110144437, 9783110888270

Veldhuis, Henri, Veldhuis, H.

214 80 19MB

German Pages 470 [468] Year 1994

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Ein versiegeltes Buch: Der Naturbegriff in der Theologie J. G. Hamanns (1730-1788) [Reprint 2011 ed.]
 3110144433, 9783110144437, 9783110888270

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Liste der Abkürzungen und benutzten Zeichen
Einleitung
1 Problemstellung. Natur und Gnade, Sprache und Vernunft
1.1 Natur und Gnade; die Frage der natürlichen Theologie
1.2 Natur und Gnade in theologiegeschichtlicher Perspektive
1.3 Natur als Text; Sprache und Vernunft
1.4 Zusammenfassung
2 Der junge Hamann vor seiner Bekehrung
2.1 Einleitung
2.2 Lutherische Erziehung und Pietismus
2.3 Die Aufklärung
2.4 Humanistische Philologie
2.5 Physikotheologie
2.6 ‘Lateinisches Exercitium’
2.7 Zusammenfassung
3 Krise und Bekehrung. Die Theologie der Londoner Schriften
3.1 Einleitung
3.2 Die Londoner Schriften
3.3 Krise und Bekehrung
3.4 Die Theologie der Londoner Schriften
3.5 Hamanns Typologese in literaturgeschichtlicher Perspektive
3.6 Zusammenfassung; Vergleich mit Jansen Schoonhovens Interpretation der Londoner Schriften
4 Die Wirklichkeit als Bild. Gegen die natürliche Theologie des ‘toten Buchstabens’
4.1 Einleitung
4.2 Hamanns neuer Stil
4.3 Hamanns Hume-Rezeption: sakramentaler Empirismus
4.4 Auf dem Wege zur Sprache
4.5 Hermeneutik der Natur
4.6 Hermeneutik der menschlichen Natur
4.7 Hermeneutik der Geschichte
4.8 Hermeneutik der Schrift
4.9 Hamanns ‘Aesthetica’ der Nachfolge
4.10 Rezeption durch Herder und Goethe
4.11 Zusammenfassung
5 Die Herderschriften über den Ursprung der Sprache
5.1 Einleitung
5.2 Hamann und Herder in der Zeit von 1762–1770
5.3 Die Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaften über die Entstehung der Sprache
5.4 Herders Preisschrift
5.5 Hamanns erste Reaktion in ‘Zwo Recensionen’
5.6 ‘Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung’
5.7 Die ‘Beylage’
5.8 ‘Philologische Einfälle und Zweifel’
5.9 Rezeption der Kritik Hamanns in Herders Spätwerk
5.10 Zusammenfassung
6 Die Wirklichkeit als Bild. Gegen die natürliche Theologie der ‘ewigen Wahrheiten’
6.1 Einleitung
6.2 ‘Hierophantische Briefe’ gegen J.A. Starck
6.3 ‘Konxompax’: Offenbarung als kontingentes Geheimnis
6.4 ‘Golgatha und Scheblimini’: Gegen das Bündnis von Judentum und Aufklärungsphilosophie
6.5 ‘Ein fliegender Brief’: wiederum über die prophetische Tragweite der alttestamentlichen Geschichte
6.6 Zusammenfassung
7 Gegen Kant und Jacobi: ‘Vernunft ist Sprache’
7.1 Hamann und Kant; Einleitung
7.2 ‘Kritik der reinen Vernunft’
7.3 Hamanns Rezension der ‘Kritik der reinen Vernunft’
7.4 ‘Metakritik über den Purismus der Vernunft’
7.5 Hamann und Jacobi
7.6 Zusammenfassung
8 Sexualität und Bild Gottes
8.1 Einleitung: Aufklärung und Befreiung
8.2 ‘Versuch einer Sibylle über die Ehe’
8.3 ‘Schürze von Feigenblättern’ über die ‘pudenda’
8.4 ‘Das stellenlose Blatt’; die Geschlechtlichkeit zwischen Gott und Mensch
8.5 Zusammenfassung
9 Die Natur im Zeichen der Gnade. Die aktuelle Bedeutung der Theologie Hamanns
9.1 Einleitung
9.2 Hamann als ‘katholischer’ Theologe
9.3 Das Motiv der Inkarnation
9.4 Die Natur im Bilde der Gnade
9.5 Sprache und Bedeutung
Epilog: ‘Das letzte Blatt’
Literaturverzeichnis
Personenregister

Citation preview

Henri Veldhuis Ein versiegeltes Buch

W G DE

Theologische Bibliothek Töpelmann Herausgegeben von O. Bayer · W. Härle · H.-P. Müller

Band 65

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1994

Henri Veldhuis

Ein versiegeltes Buch Der Naturbegriff in der Theologie J . G . Hamanns (1730-1788)

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1994

A u s dem Niederländischen übersetzt v o n Renate Drewes-Siebel. Titel der Originalausgabe: Lien verlege Id boek Het natuurbegrip in de theologie van J . G. Hamann (1730— 1788) Erschienen 1 9 9 0 im Verlag Merweboek, Sliedrecht Die Ubersetzung dieses Buches w u r d e durch die finanzielle Unterstützung der Niederländischen Organisation f ü r Wissenschaftliche Forschung ( N W O ) ermöglicht.

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek



CIP-Einheitsaufnahme

Veldhuis, Henri: Ein versiegeltes Buch : der Naturbegriff in der Theologie J. G. Hamanns (1730 — 1788) / Henri Veldhuis. [Aus dem Niederländ. übers, von Renate Drewes-Siebel]. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1994 (Theologische Bibliothek Töpelmann ; Bd. 65) Einheitssacht.: Een verzegeld boek Zugl.: Utrecht, Univ., Diss., 1990 ISBN 3-11-014443-3 NE: GT

ISSN 0934-2575 © Copyright 1994 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

"Spät habe ich dich geliebt, ο Schönheit, so alt und doch immer neu, spät habe ich dich geliebt. Und siehe, du warst in meinem Innern und ich draußen; und draußen suchte ich dich und stürzte mich in meiner Häßlichkeit auf die schönen Gebilde, die du geschaffen. Du warst bei mir, aber ich nicht bei dir. Weit weg von dir zog mich, was doch keinen Bestand hätte, wenn es nicht in dir wäre. Du hast mich laut gerufen und meine Taubheit zerrissen; du hast geblitzt und geleuchtet und meine Blindheit verscheucht. Du hast mir süßen Duft zugeweht; und ich habe ihn eingesogen, und nun seufze ich nach dir. Ich habe dich geschmeckt, und nun hungere und dürste ich nach dir. Du hast mich berührt, und ich bin entbrannt in deinem Frieden." A. Augustinus, Bekenntnisse, Buch Χ, XXVII,38 (Übersetzt von A. Hoffmann).

"Doch vielleicht ist die ganze Historie gleich der Natur ein versiegelt Buch, ein verdecktes Zeugnis, ein Räthsel, das sich nicht auflösen läßt, ohne mit einem andern Kalbe, als unserer Vernunft zu pflügen." J.G. Hamann, Sokratische Denkwürdigkeiten, Ν II 65:9-.

Vorwort Die vorliegende Studie wurde im November 1990 als theologische Dissertation an der Reichsuniversität Utrecht verteidigt. Es war für mich eine besondere Ehre, daß hierbei auch Prof. Dr. E. Jansen Schoonhoven zugegen war. 1945 verteidigte er als erster in den Niederlanden eine Dissertation über Hamann, ein wichtiges Werk, in dem die Thematik von Natur und Gnade auch einen zentralen Platz einnimmt. Eine Promotions Studie ist in vieler Hinsicht ein einsames Unternehmen. Deshalb ist es für mich ein Vorrecht, daß ich nach Vollendung dieses Buches einigen wissenschaftlichen Begleitern, die mich durch ihre Anteilnahme und ihr Wissen inspiriert haben und mir geholfen haben, die richtigen Wege einzuschlagen, meinen Dank aussprechen kann. Großen Dank bin ich zunächst meinem Doktorvater, Prof. H.W. de Knijff, schuldig. Seine intensive und freundschaftliche Begleitung hat mich aufs Neue spüren lassen, daß Wissenschaft - und sicherlich die Theologie - nur in einer Atmosphäre der 'amicitia' gedeiht: sie weckt die wissenschaftliche Unbefangenheit und schafft Raum für das suchende und kritische Gespräch, das ausführlich zwischen uns stattgefunden hat. Mein zweiter Begutachter, Dr. A. Vos, wurde mir bereits viele Jahre vor Beginn meiner Promotionsstudie ein wissenschaftlicher Begleiter, dem ich sehr viel zu verdanken habe. Seine eindrucksvolle Dissertation, Kennis en noodzakelijkheid (1981), eröffnete mir eine neue systematische Perspektive für die Theologie und die Theologiegeschichte und gab dadurch meiner Studie einen entscheidenden Impuls. Daß ich auch bei dieser Hamannstudie auf sein inspirierendes Wissen und seine Kreativität zurückgreifen konnte, empfinde ich als ein großes Vorrecht. Zugleich gilt mein besonderer Dank dem dritten offiziellen Begleiter dieser Studie: Prof. Th.H. Zweerman. Bereits vom ersten Jahre meines Theologiestudiums an hat er mich auf meinem Weg begleitet und mit seiner feinfühligen Intuition und Belesenheit die Richtung meiner theologischen Entwicklung mitbestimmt. Er war der erste, dem ich mein Interesse an Hamann bekundete. Ohne seine Ermutigung und seine damaligen und späteren Hinweise wäre diese Studie nicht zustandegekommen. Außerdem habe ich durch ihn zum ersten Mal die Spiritualität und Theologie der augustinisch-franziskanischen Tradition kennengelernt. Dankbar bin ich dafür, daß auf diese Weise bereits früh die Vermutung wachsen konnte, daß die gemeinsame Zukunft der katholischen und evangelischen Theologie weitgehend von

viii

Vorwort

einem erneuten Hören auf die patristische und mittelalterliche Theologie abhängt, eine Vermutung, die durch die Dissertation von Dr. Vos durchaus bestätigt wurde. In den vergangenen zwei Jahren hat Frau Drs. R.G. Drewes-Siebel an der deutschen Übersetzung dieses Buches gearbeitet. Ich bewundere ihre Ausdauer und danke ihr herzlich für die Art und Weise, wie sie mit mir als Verfasser eine gute Zusammenarbeit aufgebaut hat. Mein Dank gilt auch Prof. Dr. O. Bayer, der bereit war, die deutschsprachige Ausgabe dieser Dissertation zu vermitteln. Schließlich danke ich Frau Dr. E. Büchsei herzlich für die letzte Durchsicht der Übersetzung. Culemborg, im Februar 1994

Inhaltsverzeichnis Vorwort

vii

Inhaltsverzeichnis

ix

Liste der Abkürzungen und benutzten Zeichen

xv

Einleitung 1

1

1.3.2 1.4

Problemstellung Natur und Gnade, Sprache und Vernunft Natur und Gnade; die Frage der natürlichen Theologie E. Jansen Schoonhoven Karl Barth Rom und Reformation Natur und Gnade in theologiegeschichtlicher Perspektive Karl Barth und die katholische Theologie Natur und Gnade von der Patristik bis zur Aufklärung Natur als Text; Sprache und Vernunft 'Das Buch der Natur' in theologiegeschichtlicher Perspektive Sprache und Vernunft bei Hamann Zusammenfassung

27 31 31

2 2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.4 2.5 2.5.1 2.5.2

Der junge Hamann vor seiner Bekehrung Einleitung Lutherische Erziehung und Pietismus Die Aufklärung Empfindsamkeit Shaftesbury Hume Der aufgeklärte Kaufmann Humanistische Philologie Physikotheologie Hamanns Kenntnis der Physikotheologie Kurze Charakteristik der Physikotheologie

33 33 33 35 36 40 42 44 46 50 50 52

1.1 1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.2 1.2.1 1.2.2 1.3 1.3.1

7 7 8 10 11 13 13 16 26

χ

Inhaltsverzeichnis

2.6 2.7

'Lateinisches Exercitium' Zusammenfassung

3

Krise und Bekehrung Die Theologie der Londoner Schriften Einleitung Die Londoner Schriften Krise und Bekehrung Die Theologie der Londoner Schriften Gotteslehre Schöpfungslehre Die Sünde und das Böse Christologie, Versöhnung Pneumatologie Offenbarung; Hamanns Hermeneutik Hamanns Typologese in literaturgeschichtlicher Perspektive Zusammenfassung; Vergleich mit Jansen Schoonhovens Interpretation der Londoner Schriften Zusammenfassung Vergleich mit der Interpretation Jansen Schoonhovens

103 103 104

Die Wirklichkeit als Bild Gegen die natürliche Theologie des 'toten Buchstabens' Einleitung Hamanns neuer Stil Sokratisch-prophetisches Selbstbewußtsein Die christologisch-sokratische Methode Centotechnik Kondeszendenz und Verborgenheit in der Bildersprache Auswertung Hamanns Hume-Rezeption: sakramentaler Empirismus Glaube Empfindung Auf dem Wege zur Sprache Die Augustinuszitate bei Chladenius 'Versuch über eine akademische Frage' 'Vermischte Anmerkungen' 'Kreuzzüge des Philologen'

107 107 108 108 110 114 115 116 117 117 119 121 122 124 127 128

3.1 3.2 3.3 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.4.5 3.4.6 3.5 3.6 3.6.1 3.6.2 4

4.1 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.3 4.3.1 4.3.2 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4

56 58

60 60 60 62 65 66 71 81 85 87 88 100

Inhaltsverzeichnis

4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.6 4.6.1 4.6.2 4.6.3 4.7 4.7.1 4.7.2 4.7.3

Hermeneutik der Natur Hamann und Kant über ein Physikbuch für Kinder Die Natur in der 'Aesthetica in nuce' Hamann und Bacon Hermeneutik der menschlichen Natur Der Mensch als Bild Gottes 'Die Magi aus Morgenlande': der Mensch als Gleichnis Das getrübte Bild; die Sünde Hermeneutik der Geschichte Mythologische Umarmung Prophetische Geschichtsdeutung Exkurs: Hamann und das Geschichtsverständnis des 18. Jahrhunderts 4.8 Hermeneutik der Schrift 4.8.1 Typologie 4.8.2 Die unreine Sprache der Schrift; 'Kleeblatt Γ 4.8.3 Michaelis' exegetischer Positivismus; 'Kleeblatt III' 4.9 Hamanns 'Aesthetica' der Nachfolge 4.9.1 Genie und Mimesis 4.9.2 Sinne, Leidenschaften und Sexualität 4.10 Rezeption durch Herder und Goethe 4.10.1 Goethe und die 'Sokratischen Denkwürdigkeiten' 4.10.2 Die 'Dithyrambische Rhapsodie' von J.G. Herder 4.11 Zusammenfassung 5 5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.3 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 5.4.5 5.5

Die Herderschriften über den Ursprung der Sprache Einleitung Hamann und Herder in der Zeit von 1762-1770 Hamanns Jahre der Leidenschaft und Unruhe Die Entwicklung des jungen Herder Eine erste Auseinandersetzung Die Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaften über die Entstehung der Sprache Herders Preisschrift Die Grundlinie seiner Erörterung Die Art von Herders Beweis Der Einfluß von Leibniz und Bonnet Herders Deismus Exkurs: über Sprache und Vernunft Hamanns erste Reaktion in 'Zwo Recensionen'

xi 132 132 135 138 143 143 145 148 151 151 154 158 162 162 164 168 169 170 174 177 178 179 181 182 182 183 183 184 186 190 192 192 195 196 197 198 199

xii

Inhaltsverzeichnis

5.6 5.6.1 5.6.2 5.6.3 5.6.4 5.7 5.8 5.8.1 5.8.2 5.8.3 5.8.4 5.9 5.9.1 5.9.2 5.9.3 5.10

'Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung' Das Titelblatt 'Communicatio idiomatum' gegenüber 'Analogie der Natur' Die Wirklichkeit als Sprache Mensch oder Tier? Die 'Beylage' 'Philologische Einfalle und Zweifel' Eine kleine Anthropologie Herders platonischer Beweis Herders Rehabilitierung Das Nachspiel Rezeption der Kritik Hamanns in Herders Spätwerk Herders'Älteste Urkunde' Hamanns 'Prolegomena' Und Herder? Zusammenfassung

6

Die Wirklichkeit als Bild Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten' Einleitung 'Hierophantische Briefe' gegen J.A. Starck Entstehungsgeschichte Sieben Briefe gegen den Deismus und das 'Papsttum' 'Konxompax': Offenbarung als kontingentes Geheimnis Entstehungsgeschichte Die Opponenten: Starck, Meiners, Steinbart und Lessing Titelblatt Der Fluch der Kontingenz Selbstvergöttlichung oder Kondeszendenz. Hamanns Supralapsarismus in 'Konxompax' und 'Zweifel und Einfälle über eine vermischte Nachricht' Christus als das wahre Mysterium 'Golgatha und Scheblimini': Gegen das Bündnis von Judentum und Aufklärungsphilosophie Entstehungsgeschichte Beschreibung von Mendelssohns 'Jerusalem' Bund gegenüber Naturrecht; gegen 'Jerusalem' Teil I Das prophetische Wort; gegen 'Jerusalem' Teil Π Eine faire Beurteilung Mendelssohns?

6.1 6.2 6.2.1 6.2.2 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.3.5

6.3.6 6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.4.4 6.4.5

202 202 205 210 213 215 216 217 220 221 222 222 222 226 229 230

231 231 232 232 235 241 241 242 251 253

258 264 265 265 267 276 284 292

6.5 6.5.1 6.5.2 6.5.3 6.6 7 7.1 7.2 7.2.1 7.2.2

Inhaltsverzeichnis

xiii

'Ein fliegender Brief': wiederum über die prophetische Tragweite der alttestamentlichen Geschichte Entstehungsgeschichte und Titel Der Geist der Weissagung Kritik an Lavaters 'Thomasglauben' Zusammenfassung

294 294 296 299 300

7.2.3 7.3 7.3.1 7.3.2 7.3.3 7.3.4 7.4 7.4.1 7.4.2 7.4.3 7.4.4 7.4.5 7.4.6 7.5 7.5.1 7.5.2 7.5.3 7.6

Gegen Kant und Jacobi: 'Vernunft ist Sprache' Hamann und Kant; Einleitung 'Kritik der reinen Vernunft' Das a priori Kriterium Das empirische Kriterium in der Logik, Mathematik und Physik Das empirische Kriterium in der Metaphysik Hamanns Rezension der 'Kritik der reinen Vernunft' Eine erste Charakterisierung Kants Trennung von Verstand und Sinnlichkeit Kant als Mystiker Hume als Zuchtmeister 'Metakritik über den Purismus der Vernunft' Der Einfluß Humes Kants mißlungene Reinigung der Philosophie Sprache als Ursprung der Welt und des Denkens Eine 'Metakritik' aufgrund der Sprache Hume, Hamann und Kant; eine Zusammenfassung Hamann und die moderne Hermeneutik Hamann und Jacobi Der Kontext ihres Briefwechsels Jacobis 'Salto mortale' Hamanns Jacobi-Kritik Zusammenfassung

302 302 303 304 307 315 318 318 321 323 324 325 325 330 331 334 336 337 339 339 341 346 352

8 8.1 8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.3 8.3.1

Sexualität und Bild Gottes Einleitung: Aufklärung und Befreiung 'Versuch einer Sibylle über die Ehe' Entstehungsgeschichte Das 'mystfcrion' der Geschlechtlichkeit Beurteilung 'Schürze von Feigenblättern' über die 'pudenda' Entstehungsgeschichte

354 354 359 359 361 367 369 369

xiv

8.3.2 8.4 8.5 9 9.1 9.2 9.3 9.3.1 9.3.2 9.3.3 9.3.4 9.3.5 9.3.6 9.3.7 9.4 9.4.1 9.4.2 9.4.3 9.4.4 9.4.5 9.4.6 9.5 9.5.1 9.5.2 9.5.3

Inhaltsverzeichnis

Über 'pudenda' und Scham 'Das stellenlose Blatt'; die Geschlechtlichkeit zwischen Gott und Mensch Zusammenfassung Die Natur im Zeichen der Gnade Die aktuelle Bedeutung der Theologie Hamanns Einleitung Hamann als 'katholischer' Theologe Das Motiv der Inkarnation Die supralapsarische Christologie in historischer Perspektive Kein Absehen von der Heilsgeschichte Die Sünde in christologischem Licht Ein 'geschlossenes System'? Personalisierung der Natur; Erhöhung durch Kondeszendenz Die 'communicatio idiomatum' nach trinitarischem Verständnis Hamanns und Barths Supralapsarismus gegenüber dem modernen Naturdenken Die Natur im Bilde der Gnade Die Schöpfung als Bild Schöpfung und Inkarnation Kein sakramentaler Naturalismus Der Mensch als Bild Gottes Die besondere Hermeneutik ist allgemein Hamann und Barth über die 'natürliche Theologie' Sprache und Bedeutung Problemstellung Bedeutung und Zeit; eine kurze Hermeneutik der Wissenschaften

371 376 379

381 381 382 386 386 389 389 392 394 396 398 400 400 402 404 408 410 412 417 417 420

Hamann und sein Kampf gegen die 'ewigen Wahrheiten'

426

Epilog: 'Das letzte Blatt'

429

Literaturverzeichnis

431

Personenregister

447

Liste der Abkürzungen und Zeichen Abkürzungen: Ν ZH

HH

W

Acta

Acta

Hamann, J.G., Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe von J. Nadler, 6 Bde, Wien 1949-1957. Hamann, J.G., Briefwechsel, Bd. I-III, herausgegeben von W. Ziesemer und A. Henkel, Wiesbaden 1955-1957, Bd. IV-VII, herausgegeben von A. Henkel, Wiesbaden 1959, Frankfurt am Main 1965-1979. Blanke, F., und Gründer, K., (Hrsg.), J.G. Hamanns Hauptschriften erklärt, Bd. 1, Die Hamannforschung, 'Einführung' von F. Blanke, 'Geschichte der Deutungen' von K. Gründer, 'Bibliographie' von L. Schreiner, Gütersloh 1956; Bd. 2, Johann Georg Hamann, Sokratische Denkwürdigkeiten, erklärt von F. Blanke, Gütersloh 1959; Bd. 4, Johann Georg Hamann über den Ursprung der Sprache, Zwo Recensionen nebst einer Beylage betreffend den Ursprung der Sprache, Des Ritters von Rosencreutz letzte Willensmeynung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache, Philologische Einfalle und Zweifel, Au Salomon de Prusse, erklärt von E. Büchsei, Gütersloh 1963; Bd. 5, Johann Georg Hamann, Mysterienschriften, Hierophantische Briefe, Versuch einer Sybille über die Ehe, Konxompax, erklärt von E. Jansen Schoonhoven, Schürze von Feigenblättern, kritisch herausgegeben und erklärt von M. Seils, Gütersloh 1962; Bd. 7, Johann Georg Hamann, Golgatha und Scheblimini, erklärt von L. Schreiner, Gütersloh 1956. Hamann, J.G., Entkleidung und Verklärung, Ein fliegender Brief an Niemand den Kundbaren, in: Wild, R., 'Metacriticus bonae spei' Johann Georg Hamanns 'Fliegender Brief, Einführung, Text und Kommentar, Bern/Frankfurt am Main 1975, (l)-(80) (= 281-368). 1 Gajek, B., (Hrsg.), Johann Georg Hamann, Acta des Internationalen Hamann-Colloquiums in Lüneburg 1976, mit einem Vorwort von A. Henkel, Frankfurt am Main 1979; 2 Gajek, B., (Hrsg.), Acta des zweiten Internationalen HamannColloquiums im Herder-Institut zu Marburg!Lahn 1980, Marburg 1983;

xvi

Acta 3 Acta 4

Acta 5

Liste der Abkürzungen und benutzten Zeichen

Gajek, B., (Hrsg.), Acta des dritten Internationalen Hamann-Colloquiums im Herder-Institut zu Marburg/Lahn 1982, Marburg 1987; Gajek, B., (Hrsg.), Hamann - Kant - Herder, Acta des vierten Internationalen Hamann-Kolloquiums im Herder-Institut zu Marburg/Lahn 1985, Frankfurt am Main/Bern/New York/Paris 1987; Gajek, B., und Meier, Α., (Hrsg.)» Johann Georg Hamann und die Krise der Aufklärung. Acta des fiinften Internationalen HamannKolloquiums in Münster i.W. (1988), Frankfurt am Main/Bern/New York/Paris 1990.

Zeichen: [...]

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Einleitung Johann Georg Hamann (1730-1788) kann man, wie auch zum Beispiel Pascal, Kierkegaard, Rosenzweig und Rosenstock-Huessy, zu den sogenannten 'irregulären* Denkern zählen. Kennzeichnend für sie ist zunächst einmal, daß ihr Werk im Rahmen der gängigen zeitgenössischen Theologie und Philosophie nicht oder nur schwer verständlich ist. Sie entsprechen nicht dem, was in Lehrbüchern und im akademischen Studium als allgemeingültige Theologie gelehrt wird, sondern wehren sich eher dagegen. Selbstverständlich stehen sie unter dem Einfluß der gängigen Terminologie und Systematik, aber dieser Einfluß kommt vor allem in ihrem Kampf dagegen zum Ausdruck. Was 'irreguläre' Denker oft besonders faszinierend macht, ist die enge Verflechtung ihres Lebens und Denkens. Ihre Auflehnung gegen den Zeitgeist, gegen die herrschende Philosophie und Theologie, ist existentiell tief verwurzelt. In ihrem persönlichen Leben kommt zum Ausdruck, daß es in der Theologie und Philosophie um letzte Lebensfragen geht. Denken und Schreiben am Rande der gängigen Wissenschaft geschieht nicht selten von einer gesellschaftlichen Randposition aus. Und dies ist auch bei Hamann der Fall1. 1730 als Sohn eines Bade- und Wundarztes in Königsberg geboren, wuchs er in einer lutherischen und milde pietistischen Familie auf. Nach einer unregelmäßigen Vorbildung folgt eine ebenso ungeregelte Studienzeit. Nach drei Semestern Theologie wird er Jurastudent, aber er beschäftigt sich vor allem mit den verschiedenen Gattungen der Aufklärungsliteratur. Ohne sein Studium abzuschließen, arbeitet er danach einige Jahre als Hauslehrer bei zwei baltischen Familien. Ende 1756 tritt er im Dienste des Handelsunternehmens Berens eine Bildungsreise nach London an. Dort gerät er in eine persönliche Krise, die eine tiefgreifende geistige Umkehr zur Folge hat. Diese Bekehrung wird für sein ganzes weiteres Leben entscheidend. Nach seiner Rückkehr aus London versucht sein Freund Christoph Berens, ihn mithilfe Immanuel Kants zum 'Aufklärungsglauben' zurückzugewinnen, jedoch vergeblich. Durch Zutun Berens' wird die Verlobung Hamanns mit seiner Schwester Catharina Berens

1

Eine kurze, aber ausgezeichnete Einführung in das Leben und Denken Hamanns ist: J0rgensen, S.-A., Johann Georg Hamann, Stuttgart 1976. Die Standardbiographie über Hamann ist: Nadler, J., Johann Georg Hamann 1730-1788, Der Zeuge des Corpus mysticum, Salzburg 1949.

2

Einleitung

nach kurzer Zeit gelöst, wonach Hamann nach Königsberg zurückkehrt. Dort verliebt er sich leidenschaftlich in Anna Regina Schumacher, das Dienstmädchen seines Vaters. Mit ihr wird er den Rest seines Lebens zusammenwohnen, aber heiraten will er nicht. Sie bekommen vier Kinder. Von 1767 bis 1787 arbeitet Hamann als kleiner Beamter im Dienst des Königsberger Zolls, zunächst 10 Jahre als Übersetzer, und danach noch 10 Jahre als Lagerverwalter. 1787 unternimmt er eine lange Reise nach Westfalen, wo er in den katholischen 'Kreis von Münster" aufgenommen wird. Zwischen Hamann und Amalie Fürstin von Gallitzin, der führenden Persönlichkeit dieses Kreises, entsteht eine enge Freundschaft. Der Kontakt mit ihr war vielleicht der einzige, in dem Hamann sich wesentlich verstanden fühlte. 1788, am Morgen vor seiner Rückreise nach Königsberg, stirbt Hamann. Er wird im Garten der Fürstin begraben. Gesellschaftlich gesehen ist Hamanns Leben nicht so aufsehenerregend: ein sonderbarer Hypochonder, der es nicht weiter brachte als bis zum Studenten, Hauslehrer und kleinen Beamten. Dieser Beamte stand jedoch in (brieflichem) Kontakt mit vielen der führenden Geister seiner Zeit: Kant, Herder, Jacobi, Nicolai, Lavater, u.a. Mit kleinen, sehr kryptischen Schriften mischte der 'Zöllner' aus Königsberg sich in die großen philosophischen und theologischen Debatten seiner Zeit. Er fand kaum Verständnis, und doch wuchs das Bewußtsein, daß aus Königsberg, einer Hafenstadt an der Peripherie Preußens, neben der entschiedenen Stimme des großen Kant auch das leidenschaftliche Stottern Hamanns Gehör verdiente. Goethe sammelte Hamanns Schriften und prophezeite, daß er ein 'Ältervater' der Deutschen werden würde2. Hegel ließ sich herab, eine ausführliche Monographie über Hamanns gesammelte Werke zu schreiben3. Hamanns Schriften fanden auch Beachtung bei einer ganz anderen Gruppe von Menschen, den 'Stillen im Lande'4, einfachen Christen, die zwar wenig von Hamanns komplizierten Gedankengängen verstanden, jedoch spürten, daß hier jemand aus der Tiefe des christlichen Glaubensgeheimnisses sprach. In der Nachfolge dieser gläubigen Hamann-Rezeption erschien

2

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Goethes Werke, Sophienausgabe, Bd. 31, Italienische Reise II, Weimar 1904, 28: Goethe, über Giambattista Vico: "Es ist gar schön, wenn ein Volk solch einen Ältervater besitzt; den Deutschen wird einst Hamann ein ähnlicher Codex werden." Hegel, G.W.F., 'Hamanns Schriften, Herausgegeben von Friedrich Roth, VII Teile, Berlin, bei Reimer 1821-1825' (.Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik, 1828, Nr. 7780, 107-114), in: Hegel, G.W.F., Werke in zwanzig Bänden, Bd. 11, Berliner Schriften 1818-1831, Suhrkamp Werkausgabe, Frankfurt am Main 1976, 275-352. Ausdruck J.W. Goethes in seiner bekannten Charakterisierung Hamanns in: Dichtung und Wahrheit, dritter Theil, zwölftes Buch, Goethes Werke, Sophienausgabe, Bd. 28, Weimar 1890, 106.

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in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts von Seiten verschiedener Theologen, die aus der Erweckungsbewegung hervorgegangen waren, eine ganze Reihe von Werken über Hamann. Sie sahen in ihm den prophetischen Kämpfer, der nach dem Vorbild des von ihm bewunderten Luther gegen den Unglauben und das Heidentum seiner Zeit kämpfte. Die philosophische und literarhistorische Hamann-Interpretation hingegen hielt Hamann - in den Spuren Herders, Goethes und Hegels - für einen Kämpfer gegen den Rationalismus und für den Begründer des Sturm und Drang und der Romantik. Dabei übersah man, daß sein Denken nur auf dem Hintergrund seines christlichen Wirklichkeitsverständnisses richtig verstanden werden kann. Sie sahen in Hamanns Werk vor allem den Gegensatz zwischen Gefühl und Verstand, und erkannten zu wenig, daß Hamanns Kampf gegen den Rationalismus von einem grundlegenderen Gesichtspunkt aus geführt wurde. Es war lange Zeit die Tragik der Hamann-Rezeption, daß keine Synthese zwischen dem gläubig-theologischen Interesse an seinem Werk einerseits und der literarhistorischen und philosophischen Hamann-Interpretation anderseits zustande kam. Die erste Strömung vermochte zu wenig, Hamanns Denken systemtisch für die Theologie und Philosophie fruchtbar zu machen. Die zweite Strömung erkannte zu wenig, daß dies nur möglich ist, wenn Hamanns christlicher Glaube nicht als eine biographische Nebensächlichkeit gesehen wird, sondern als etwas, das für sein ganzes Denken konstitutiv ist5. Zu einer kongenialen philosophischen und theologischen Hamann-Interpretation ist es erst im zweiten Viertel dieses Jahrhunderts gekommen. Wir denken dabei vor allem an die Studien von Metzke6, Blanke7, Schreiner8 und Jansen Schoonhoven9. Sie schufen die Grundlage für eine kongeniale Hamann-Rezeption, die auch ein Beitrag zu aktuellen theologischen und philosophischen Diskussionen sein kann. Diese Studie soll ausdrücklich eine sytematische Untersuchung im Grenzbereich von Dogmatik und Philosophie sein. Vielleicht weckt dies Verwunderung. Hat Hamann nicht selbst gesagt: "System ist schon an sich ein Hinderniß der Wahrheit" (ZH VI 276:15)? Hat er sich nicht sein Leben lang

5 6 7 8 9

Einen ausführlichen Überblick über die Hamann-Rezeption bis ca. 1950 gibt K. Gründer in HH 1, 1-144. Metzke, E., J.G. Hamanns Stellung in der Philosophie des 18. Jahrhunderts, Halle an der Saale 1934, Tübingen 19672. Blanke, F., Hamann-Studien, Zürich 1956. Schreiner, H., Die Menschwerdung Gottes in der Theologie Johann Georg Hamanns (1946'), Tübingen 19502. Jansen Schoonhoven, E., Natuur en genade bij J.G. Hamann, den magus van het Noorden (1730-1788), Nijkerk 1945.

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gegen das rationalistische Systembauen der Aufklärung gewehrt? Gewiß, aber wogegen Hamann sich damit genau richtete, muß in den folgenden Kapiteln noch geklärt werden. Ihn als Theologen und Philosophen ernstzunehmen, bedeutet, von der Erwartung auszugehen, daß Hamanns Werk nicht nur biographisch-historisch, sondern auch inhaltlich einen starken Zusammenhang aufweist, und zwar einen sinnvollen Zusammenhang, der eine Reihe von elementaren hermeneutischen und logischen Kriterien erfüllt. Es kann sein, daß diese Erwartung in geringerem oder stärkerem Maße Lügen gestraft wird. Das ist jedoch kein Grund, diese Erwartung und diese Kriterien aufzugeben. Zu untersuchen, ob es in Hamanns Auffassungen wichtige Inkonsequenzen oder Lücken gibt, und wenn ja, wie dies zustande kommt, ist eine unentbehrliche Voraussetzung für ein selbständiges Ausarbeiten und Weiterdenken des systematischen Ansatzes in den übrigen Teilen seines Werkes. Um es noch etwas zugespitzter zu formulieren: Wir würden es nicht für ein Verdienst halten, auch nicht im Falle irregulärer Denker, wenn ihr Werk voller unlöslicher Paradoxe, unlogischer Gedankengänge, unergründlichen Tiefsinns und dergleichen mehr wäre. Die wirkliche Stärke irregulärer Denker zeigt sich erst richtig, wenn ihre außergewöhnliche Stimme systematisch in ein sachliches Gespräch mit der systematischen Philosophie und Theologie übertragen werden kann. Es ist kein Mangel, wenn auch ihr Denken wichtige hermeneutische und logische Kriterien für Sinn und Konsequenz erfüllt; im Gegenteil. Gerade bei einem faszinierenden, aber schwer verständlichen Denker wie Hamann besteht die Gefahr, in kritikloser Bewunderung oder ärgerlicher Ablehnung steckenzubleiben. In beiden Fällen kommt es nicht zu einer wirklichen Verarbeitung seines Gedankenguts. Dazu kann man nur gelangen, wenn man sich auf verständnisvolle, aber sachliche Analysen der begrifflichen Strukturen seines Werkes einläßt. Sicher dürfen wir im Falle Hamanns dabei nicht zu eilig vorgehen. Die Auslegung seiner Schriften erfordert ungeheuer viel historische, biographische, philologische, stilistische und hermeneutische Vorarbeit, und glücklicherweise können wir dabei auf sehr viel Detailarbeit anderer Hamannforscher zurückgreifen. Das darf uns allerdings nicht von der Grundfrage abhalten: Welches sind die begrifflichen Grundmuster seines Denkens, und welche Bedeutung können sie für die heutige Theologie und Philosophie haben? Diese Hamann-Studie ist eine systematische Studie. Es soll aber trotzdem deutlich werden, daß die beschriebenen begrifflichen Muster auf eine detaillierte Analyse der Schriften Hamanns zurückgehen, die in ihrer Struktur und dem Bezug auf den Leser keineswegs systmatisch, sondern im Gegenteil sehr

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kompakt und undurchsichtig sind. Zwei Gefahren müssen deshalb vermieden werden: - Hamanns Werk darf nicht wie ein Glückstopf benutzt werden, dem im gewünschten Augenblick Zitate entnommen werden, ohne daß der innere Zusammenhang der ursprünglichen Texte ans Licht kommt und ohne daß die Exegese kontrolliert werden kann. - Aber auch die Detailexegese darf nicht so in den Vordergrund rücken, daß kaum noch eine systematische Beschreibung und Beurteilung zustande kommt. In dieser Studie versuchen wir, einen Mittelweg zu finden. Die Arbeit ist ideengeschichtlich konzipiert: die Einteilung ist in erster Linie thematisch, wobei allerdings in diesem Rahmen genug Spielraum bleibt, um die biographisch-historische Genese von Hamanns Werk darzulegen. Vom systematischen Gesichtspunkt aus werden wir die einzelnen Phasen der Entwicklung seines Denkens verfolgen. Diese Synthese einer systematischen und genetischen Beschreibung ist »möglich, weil Hamanns Denken seit seiner Bekehrung eine große Kontinuität aufweist und sich zugleich in einem starken Bezug auf die geistesgeschichtlichen Ereignisse seiner Zeit immer deutlicher artikuliert. Wir hoffen, auf diese Weise zwei Ziele verwirklichen zu können: 1) einen Beitrag zur fachspezifischen Hamannforschung zu liefern, und 2) das Denken Hamanns für aktuelle theologische und philosophische Diskussionen über Themen wie Natur und Gnade, natürliche Theologie, Offenbarung und Transzendenz fruchtbar zu machen. Um ein gutes Gleichgewicht zwischen Exegese und systematischer Analyse zu wahren, wird ein Großteil der exegetischen Forschungsarbeit in die Fußnoten verlegt, die dadurch oft ziemlich lang werden. Hamann macht es in vielen Fällen seinem Leser so schwer, daß ein langer (Um)Weg der Forschungsarbeit nötig ist, ehe der Text verstanden werden kann. Abgesehen von einigen Ausnahmen ist die Textgrundlage für diese Studie die historisch-kritische Ausgabe von Nadler. Die Mängel dieser Ausgabe sind inzwischen bekannt genug10, vorläufig muß jedoch jeder Hamannforscher noch damit arbeiten. Außerdem hoffen wir, daß eine systematische 10

Vgl. hierzu: Boehlich, W., 'Die historisch-kritische Hamann-Ausgabe', in: Euphorion, 50 (1956), 341-356; Rehm, W„ '"Kreuzzüge des Phüologen"', in: Deutsche Vierteljahrschrift, 31 (1957), 154-161; Manegold, I., Johann Georg Hamanns Schrift "Konxompax", Text, Entstehung und Bedeutung, Heidelberg 1963, 23-58; Wild, R., 'Metacriticus bonae spei', Johann Georg Hamanns 'Fliegender Brief, Einführung, Text und Kommentar, Frankfurt am Main 1975, 235-242; Knoll, R., 'Der handschriftliche Nachlaß Hamanns in der Universitätsbibliothek Münster/Westfalen, Probleme und Forschungsaufgaben, Zu Hamanns "Essais ä la Mosaique"', in: Acta 3, 239-270.

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Studie wie diese gegen mögliche gelegentliche, durch Nadlers Textausgabe verursachte exegetische Fehler einigermaßen gefeit ist. Aus dem Werk und dem Briefwechsel Hamanns wird ohne Verbesserung oder Vereinheitlichung des Textes zitiert, auch wenn es sich unverkennbar um Schreibfehler handelt, wie es regelmäßig vorkommt. Bibelzitate werden aus der Lutheräbersetzung zitiert.

Kapitel 1 Problemstellung Natur und Gnade, Sprache und Vernunft 1.1 Natur und Gnade; die Frage der natürlichen Theologie Eine Untersuchung des Naturbegriffs in der Theologie Hamanns setzt eigentlich eine deutliche Definition voraus. Dies ist allerdings nicht so einfach, weil der Begriff 'Natur' eine sehr weite Bedeutung und eine lange und komplizierte Geschichte hat1. Eine Zuspitzung der Fragestellung soll uns zu einem deutlichen Verständnis der Bedeutungsaspekte führen, die wir in der Folge gelten lassen, ohne allerdings die Bedeutung so abzugrenzen, daß der spezifische Inhalt des Begriffs 'Natur' im Denken Hamanns nicht mehr näher untersucht werden könnte. Eine Möglichkeit zur Bedeutungsabgrenzung des Begriffs 'Natur' liefert das Begriffspaar 'Natur und Kultur'. Natur ist dann die Wirklichkeit, die der Mensch als gegeben vorfindet und auf die er durch allerlei mögliche Tätigkeiten einwirkt. Allerdings steht nicht die Dialektik von Natur und Kultur in dieser Hamannstudie im Mittelpunkt, wenngleich sie eine wichtige Rolle spielt. Wir wollen unser Augenmerk auf die theologisch grundlegendere Beziehung von Natur und Gnade richten. Unter 'Natur' ist dann die ganze geschaffene Wirklichkeit als Adressat der Gnade, einschließlich der Geschichte und Kultur zu verstehen; 'Gnade' ist das Handeln Gottes, insofern es sich auf die Natur bezieht. 'Natur und Gnade' ist ein Begriffspaar, das in der christlichtheologischen Diskussion von Anfang an eine bedeutende Rolle gespielt hat. Immer wieder wurden Fragen nach dem Verhältnis von Gott, Mensch und Welt in die Grundfrage nach dem Verhältnis von Natur und Gnade übertragen. Der Problembereich, auf den wir uns damit einlassen, ist allerdings so umfassend und unübersichtlich, daß wir eine weitere Konkretisierung vornehmen müssen, um mit einer genügend pointierten Fragestellung eine Untersuchung des Naturbegriffs bei Hamann beginnen zu können. Darum 1

Vgl. z.B.: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Herausgegeben von J. Ritter und K. Gründer, Bd. 6, Darmstadt 1984, Sp. 421-478 ('Natur'), 478-482 ('Natur der Sache'), 482-484 ('Natur in Gott'), 484-494 ('Natur, zweite'), 494-504 ('Natura communis'), 504-509 ('Natura naturans/naturata'), 509-517 ('Natura universalis/particularis'); Lovejoy, A.O., Essays in the history of ideas (1948 1 ), Baltimore 1965\ 69-77 (Essay V: 'Nature as aesthetic norm'); Vos, H. de, Beknopte geschiedenis van het be grip natuur, Groningen 1970.

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Kapitel 1 Problemstellung. Natur und Gnade, Sprache und Vernunft

soll in diesem Paragraphen das Thema 'Natur und Gnade bei Hamann' auf dem dreifachen Hintergrund der Dissertation von E. Jansen Schoonhoven, der Theologie Karl Barths und des Konflikts zwischen Rom und Reformation erörtert werden.

1.1.1 E. Jansen Schoonhoven 1945 erschien die niederländische Dissertation Natuur en genade bij J.G. Hamann von E. Jansen Schoonhoven. Es handelt sich um eine grundlegende und immer noch lesenswerte Studie, die nach ihrer Veröffentlichung vielerseits bewundert wurde, weil sie gründliche Textanalyse und systematisches Durchdenken miteinander verbindet. Obwohl Jansen Schoonhoven nicht ausdrücklich darauf hinweist, ist deutlich, daß sein Ansatz stark von der dialektischen Theologie Karl Barths beeinflußt ist. Im Mittelpunkt seiner Studie steht das Problem der natürlichen Gotteserkenntnis. Er kommt zu der Schlußfolgerung, daß Hamann in seinem Kampf gegen die Aufklärung jede Form der natürlichen Religion radikal ablehnt. Nur die besondere Offenbarung in Jesus Christus führe zur wahren Gotteserkenntnis und verleihe Natur und Geschichte einen Offenbarungsgehalt. Dabei sei auffällig, daß Hamann eine scharfe Antithese zwischen Natur und Gnade sehe2, aber zugleich von der Gnade her überraschend positiv und bejahend über Natur, Kultur, Leiblichkeit und allerlei andere Aspekte der Wirklichkeit und ihrer Geschichte sprechen könne3. Jansen Schoonhoven stellt Hamann in seinem Kampf gegen die natürliche Religion als einen Karl Barth des 18. Jahrhunderts dar, im Vergleich zu Barth steht Hamann allerdings der natürlichen Wirklichkeit und unserer Erfahrung viel aufgeschlossener gegenüber. Nun drängt sich die Frage auf: Warum erscheint eine neue Studie über Hamanns Naturbegriff? Als Nebengrund ließe sich anführen, daß sich die Hamannexegese in den vergangenen Jahrzehnten viel weiter entwickelt hat. Jansen Schoonhovens Buch war bereits erschienen, als die Hamannforschung durch die Fertigstellung der historisch-kritischen Ausgabe von Hamanns Schriften und seines Briefwechsels einen wichtigen Impuls erhielt. Es gibt jetzt also eine breitere und zuverlässigere Grundlage für eine erneute Untersuchung der Themen, die Jansen Schoonhoven angeschnitten hat.

2 3

Vgl. Natuur en genade, 156. Vgl. Natuur en genade, 205 ff.

1.1 Natur und Gnade; die Frage der natürlichen Theologie

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Der wichtigste Grund ist jedoch Zweifel an Jansen Schoonhovens Interpretation. Es ist nämlich die Frage, ob Hamann in seiner Kritik an der natürlichen Religion tatsächlich als ein Barthianer 'avant la lettre' aufgefaßt werden kann. Einige Hamannkenner haben zum Schema Natur-Gnade, von dem Jansen Schoonhoven ausgegangen war, schon früh Vorbehalte geäußert4. Hauptproblem ist, daß er nicht gut darlegen kann, wie bei Hamann die scharfe Antithese zwischen Natur und Gnade mit einer großen Aufgeschlossenheit für die natürliche Wirklichkeit aus der Sicht der Gnade zu vereinbaren ist. Dahinter verbirgt sich die Frage, welchen ontologischen Status die natürliche Wirklichkeit eigentlich genau hat. Es steht hier nicht zur Diskussion, daß Natur und Geschichte erst im Lichte der Gnade richtig verstanden werden können, sondern es geht um die Frage: wie wird die Natur ontologisch entdeckt? Nicht nur als gefallene Natur, sondern auch als Schöpfung. Welche positive ontologische Qualifikation ergibt sich damit für die Natur, auch in ihrem gefallenen und noch nicht durch die Gnade wiederhergestellten Zustand? Diese Fragen bleiben in Jansen Schoonhovens Ausführungen unbeantwortet. Daß hier Probleme liegen, zeigt sich, wenn die Thematik des Bildes Gottes und des anthropologischen Anknüpfungspunktes zur Sprache kommt5. Wie wir noch sehen, muß Jansen Schoonhovens These stark angezweifelt werden, daß in der Sicht Hamanns das Bild Gottes im Menschen durch den Sündenfall ganz verloren gegangen sei und es deshalb überhaupt keinen Anknüpfungspunkt für die besondere Offenbarung gebe. Das Grundproblem seiner Auslegung läßt sich gut anhand der Thesen verdeutlichen, mit denen das zentrale Kapitel seiner Studie schließt6. Dieses Kapitel, das insgesamt einer sorgfältigen Exegese von Konxompax gewidmet ist, bildet den wichtigsten Pfeiler seiner Studie. Die erste seiner zusammenfassenden Thesen von Hamanns Ausführungen in Konxompax lautet: "Natürliche Religion ist der Versuch des Menschen, von sich aus zu Gott zu gelangen." These 3 fügt hinzu:"Sie [die natürliche Religion] ist im Wesen des Menschen und seinem Verhältnis zu Gott begründet, aber vermittelt keine wirkliche Gotteserkenntnis." These 6 nuanciert dies dann mit der Behauptung, daß die natürliche Religion "mit dem Wesen des Menschen (in seinem gefallenen Zustand)" zusammenhänge. Der Zusatz in Klammern trifft genau das Kernproblem. Liegt denn der Ursprung der natürlichen Religion ausschließlich in der Sünde? Aufgrund der Definition

4 s 6

Vgl. Seils, M., Theologische Aspekte zur gegenwärtigen Hamann-Deutung, Berlin 1957, 104-105; Gründer, K„ 'Geschichte der Deutungen', HH 1. 136-137. Vgl. Natuur en genade, 244-245, 271; in diesen Stellen hören wir deutlich im Hintergrund die Diskussion zwischen Barth und Brunner über diese Frage. Natuur en genade, 200-202.

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Kapitel 1 Problemstellung. Natur und Gnade, Sprache und Vernunft

in der 1. These muß die Frage bejaht werden. In These 5 wird das auch ausdrücklich gesagt: "Natürliche Religion ist also eine Folge der Sünde". Dann allerdings kann die natürliche Religion nicht im Wesen des Menschen begründet sein, wie These 3 besagt, denn die Sünde ist keine essentielle, sondern eine akzidentielle Eigenschaft des Menschen7. Oder gibt es nach Hamanns Verständnis nicht auch eine natürliche und legitime Sehnsucht nach Gott, die im Wesen des Menschen als Bild Gottes, als Geschöpf begründet liegt, dessen Natur auf Gott hin angelegt ist? These 4 spricht über 'die im Menschen vom Schöpfer angelegte Ewigkeitssehnsucht', die der Mensch selbst zu befriedigen versucht. Diese autonome Erfüllung ist Sünde, nicht aber die 'in ihm angelegte Ewigkeitssehnsucht' selbst. Welche Folgen dies für eine positive theologische Qualifizierung der menschlichen Natur hat, bleibt in Jansen Schoonhovens Studie undeutlich.

1.1.2 Karl Barth Diese Randbemerkungen zur Interpretation Jansen Schoonhovens sind Grund genug, um sich von neuem an eine Untersuchung des Naturbegriffs bei Hamann zu wagen, zumal es um Fragen geht, die immer noch im Mittelpunkt gegenwärtiger theologischer Diskussion stehen, insbesondere wenn es um das theologische Erbe Karl Barths geht. Dadurch daß die Studie Jansen Schoonhovens auf die Fragen der dialektischen Theologie in ihrer damaligen Form einging, bekam sie eine wichtige aktuelle Bedeutung. Dieselben Fragen werden immer noch gestellt und haben im Laufe der Jahre einen nahezu aporetischen Charakter bekommen. In seinem Kampf gegen die natürliche Theologie wandte sich Karl Barth vor allem gegen einzelne Entwürfe im 18. und 19. Jahrhundert, in denen Gott zu einem Korrelat des menschlichen Bewußtseins oder Gefühls reduziert wurde. Die Theologie richtete sich nach den Fragen der Philosophie und drohte eine Art Anthropologie zu werden. Barth fing sein theologisches Projekt mit einer radikalen Umkehrung und theozentrischen Ausrichtung der Theologie an: nicht Gott ist Korrelat des menschlichen Bewußtseins, sondern der Mensch ist Korrelat der Erwählung und Offenbarung Gottes. In seinem späteren Werk versucht Barth, unter strenger Einhaltung seines theozentrischen Ausgangspunktes zu einer größeren Offenheit gegenüber der natürlichen Wirklichkeit der Kultur, Wissenschaft, Geschichte und Erfahrung, usw.

7

Die Eigenschaft Ρ ist für den Träger α essentiell, wenn α nicht ohne Ρ bestehen kann. Wenn Ρ eine Eigenschaft von α ist und α ohne Ρ bestehen kann, ist Ρ für α akzidentell.

1.1 Natur und Gnade; die Frage der natürlichen Theologie

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zu gelangen. Dennoch fragen viele sich, ob das Barth wirklich gelungen ist. Auch Theologen, die den barthianischen Ansatz der besonderen Offenbarung in Christus befürworten, setzen sich mit der Frage auseinander, ob die einzelnen Bereiche und Aspekte der natürlichen Wirklichkeit genügend in ihrer Eigenheit berücksichtigt werden. So stellt sich zum Beispiel die Frage, ob wichtige Erkentnisse, die die Pastoraltheologie inzwischen gewonnen hat und die auch von Theologen barthianischer Herkunft übernommen werden, in die theologische Anthropologie Karl Barths integriert werden können. Entscheidend ist bei diesen und ähnlichen Problemen der dialektischen Theologie die gleiche Frage, die wir bereits zu Jansen Schoonhovens Hamann-Interpretation stellten: Was ist der ontologische Status der (gefallenen) Schöpfung, wenn wir vom noetischen Vorrang der besonderen Offenbarung ausgehen? Aufgrund dieser Frage und des damit zusammenhängenden Problembereichs, die zum theologischen Erbe Karl Barths gehören, lohnt es sich ganz besonders, Hamanns Standpunkt in dieser Sache näher zu untersuchen, umso mehr, wenn es stimmt, daß in seiner Theologie eine scharfe Kritik an der natürlichen Theologie mit einer großen Aufgeschlossenheit für die natürliche Wirklichkeit und die menschliche Erfahrung dieser Wirklichkeit Hand in Hand geht.

1.1.3 Rom und Reformation Obwohl man das Werk Karl Barths zunächst auf dem Hintergrund der modernen Theologie und Philosophie seit Descartes, gipfelnd in der Aufklärung und dem Idealismus, verstehen muß, hielt Barth selbst die von ihm abgelehnte natürliche Theologie für eine Versuchung, der die Kirche bereits in ihrer frühesten Geschichte erlegen war. Schon von Anfang an habe die christliche Kirche ihre Theologie zum Teil auf außerchristliches religiöses und philosophisches Gedankengut gegründet. Diese Entwicklung habe sich durchgesetzt, bis die natürliche Theologie in der mittelalterlichen Scholastik alles umfassend geworden sei. Die Reformation sei eine Reaktion darauf gewesen, darin allerdings nicht weit genug gegangen. Trotz ihrer Konzentration auf die besondere Gnade in Christus habe sie die Tür der allgemeinen Offenbarung noch einen Spalt offen gelassen. So seien schon bald wieder allerlei Formen der natürlichen Theologie eingedrungen, denen in der protestantischen Scholastik reichlich Raum gewährt geworden sei. Trotz dieser Zugeständnisse habe die natürliche Theologie immer mehr Rechte gefordert, bis sie in der Aufklärung Anspruch auf die theologische Alleinherrschaft erhoben habe.

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Kapitel 1 Problemstellung. Natur und Gnade, Sprache und Vernunft

Barth hielt seine Theologie für eine Radikalisierung des reformatorischen Ansatzes: das 'sola gratia' sollte nun endlich für alle Bereiche der christlichen Dogmatik Richtschnur werden. Dies bedeutete unter anderem, daß mit den Lehrsätzen der natürlichen Offenbarung und der doppelten Prädestination abgerechnet wurde. Genau auf dieselbe Weise sehen Jansen Schoonhoven und viele andere mit ihm Hamann auf dem Hintergrund des Konfliktes zwischen Rom und der Reformation. Sie bezeichnen ihn als den vielleicht einzigen kongenialen Lutherkenner seiner Zeit, der auf authentisch reformatorische Art den Kampf gegen die natürliche Theologie der Aufklärung aufgenommen hat®, so wie Luther und Calvin sich gegen die natürliche Theologie der römisch-katholischen Kirche gewandt hatten. Dabei gehen sie von der traditionellen, auch von Barth vertretenen Meinung aus, daß der theologische Konflikt zwischen Rom und der Reformation aus den folgenden beiden gegensätzlichen Auffassungen über das Verhältnis von Natur und Gnade bestehe: nach Ansicht der katholischen Theologie habe der Mensch durch den Sündenfall zwar seine übernatürlichen Gaben verloren, seine natürlichen Fähigkeiten, wie den freien Willen und die Vernunft, habe die Sünde jedoch nicht beeinträchtigt. Die Protestanten sind der Auffassung, die Sünde habe die ganze menschliche Natur beeinträchtigt, und es sei keine natürliche Grundlage übriggeblieben, die als Anknüpfungspunkt für die besondere Offenbarung dienen könne. Die Verdorbenheit durch die Sünde reiche so weit, daß die menschliche Natur keinesfalls eine Grundlage allgemeiner Gotteserkenntnis und natürlicher Theologie sein könne, auf der das Werk der Gnade errichtet werden könne. Es sei zunächst dahingestellt, ob diese Auffassung über den entscheidenden Unterschied zwischen katholischer und reformatorischer Theologie theologiegeschichtlich richtig ist. Deutlich ist jedoch, daß eine Untersuchung des Naturbegriffs bei Hamann nicht nur als Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion über die dialektische Theologie, sondern auch zu einem oekumenischen Gespräch über die wesentlichen theologischen Unterschiede zwischen der katholischen und protestantischen Glaubenslehre von Bedeutung sein kann. Trotz zunehmender oekumenischer Kontakte zwischen beiden Traditionen gibt es noch zu wenig theologische Auseinandersetzung über die Frage, was uns auf der grundlegenden Ebene der Glaubenslehre trennt und verbindet, und über die Ursachen dafür.

'

Die neologische Theologie der Aufklärung geht nach Jansen Schoonhovens Auffassung von der "klassischen - dem Thomismus entsprechenden - Vermittlungstheorie" aus. Natuur en genade,

137.

1.2 Natur und Gnade in theologiegeschichtlicher Perspektive

13

12 Natur und Gnade in theologiegeschichtlicher Perspektive 1.2.1 Karl Barth und die katholische Theologie Im vorigen Paragraphen wurde die Frage des Naturverständnisses in der Theologie Hamanns von drei Gesichtspunkten aus näher umrissen. Der dritte hier dargestellte Zusammenhang der Fragestellung betraf den Unterschied zwischen der katholischen und der protestantischen Sicht des Verhältnisses von Natur und Gnade. Dabei haben wir die traditionelle Auslegung dieses Unterschiedes, zu der sich noch immer viele Vertreter der beiden Traditionen bekennen und die bei mehreren Hamanninterpreten für den Stellenwert Hamanns in der Theologiegeschichte ausschlaggebend ist, kurz umschrieben. Da der dogmengeschichtliche Standpunkt bei der Beurteilung von bestimmten theologischen Entwürfen (und sicherlich, wenn es um das Verhältnis von Natur und Gnade geht) solch eine bedeutende Rolle spielen kann, scheint es uns wichtig, darauf noch etwas näher einzugehen. Eine gewisse Kenntnis der einzelnen im Laufe der Jahrhunderte vertretenen Modelle des Verhältnisses Natur-Gnade, ermöglicht es, die Fragestellung dieser Hamannstudie noch weiter zuzuspitzen. Zudem ist diese Kenntnis sowohl für eine theologiegeschichtliche Einordnung als auch für eine Aktualisierung von Hamanns Denken unerläßlich. Kommen wir zunächst noch einmal auf Karl Barths Verständnis der Theologiegeschichte zurück. In den ersten Teilen seiner Kirchlichen Dogmatik bringt Barth seine Ablehnung der katholischen Theologie vor allem auf den Nenner des Kampfes gegen die 'analogia ends', eine Formel, die von E. Przywara als Bezeichnung der Grundstruktur des katholischen Denkens dargelegt und interpretiert wurde. Von diesem Ausgangspunkt aus, allerdings im negativen Sinn, bezeichnet Barth die 'analogia entis' als das "Grundschema katholischen Denkens"9 und nennt sie "die große Truglehre"10, "die Erfindung des Antichrist und [ich] denke, daß man ihretwegen nicht katholisch werden kann."11 Wie kommt es zu dieser heftigen Ablehnung? Weil Barth die 'analogia entis' als einen Versuch auffaßt, unabhängig von der besonderen Offenbarung aufgrund eines allgemeinen Seinsbegriffs zur Gotteserkenntnis zu gelangen. Der ungehorsame Mensch glaubt, auf diese Weise durch Projektion eines endlichen und von der Schöpfung abgeleiteten

' 10 11

Barth, K., Die kirchliche Dogmatik, Die Lehre von Gott, Bd. 11,1, (19401), Zollikon/Zürich 19462, 658. KD 11,1, 658. Die kirchliche Dogmatik, Die Lehre vom Wort Gottes, Bd. 1,1, (19321), Zollikon/Zürich 1947s, VIII.

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Kapitel 1 Problemstellung. Natur und Gnade, Sprache und Vernunft

Begriffs von sich aus Zugang zum transzendenten Gott zu bekommen. Das Theologoumenon der 'analogia ends' offenbart die Grundstruktur des katholischen Denkens durch die Jahrhunderte: neben und vor der besonderen Offenbarung gibt es natürliche Gotteserkenntnis, die dem natürlichen Menschen auch in seinem gefallenen Zustand wesentlich eigen ist. Reaktionen von katholischer Seite haben später deutlich gemacht, daß Barths Auslegung der 'analogia ends' nicht stichhaltig ist12. Die ausführlichste Widerlegung ist in der eindrücklichen Studie von H.U. von Balthasar, Karl Barth, Darstellung und Deutung seiner Theologie (1951)13, zu finden. Zunächst weist von Balthasar deutlich darauf hin, daß es bei dieser umstrittenen 'analogia ends' um eine von Gott selbst ermöglichte Analogie geht. Mit seiner besonderen Offenbarung tritt Gott in einen von ihm selbst als Schöpfer angelegten ontologischen und hermeneutischen Rahmen. Nur aufgrund dieses theozentrisch begründeten Zusammenhangs ist ein sinnvolles analogisches Reden - mit Hilfe menschlicher kreatürlicher Worte - über Gottes trinitarisches Handeln möglich14. Es kann allerdings nie als philosophisches Netz benutzt werden, das man über Gott und seine Offenbarung auswirft, um auf diese Weise eigenmächtig über ihn verfügen zu können. In Begriffen von Natur und Gnade läßt sich dies kurz folgendermaßen formulieren: die ontologische und hermeneutische Analogie zwischen Natur und Gnade kommt durch die Gnade, und nicht durch die Natur als neutralen Unterbau der Gnade, zustande. Die Analogie ist nicht durch die Natur konstituiert, sondern wurde ihr vom Schöpfer geschenkt. Das zweite wichtige Element in von Balthasars Widerlegung ist der Hinweis darauf, daß es nicht möglich ist, so über 4 die katholische Theologie' zu sprechen, wie es Karl Barth tut. Denn gerade in bezug auf das Verhältnis von Natur und Gnade ist am Ende der mittelalterlichen Scholastik nach 12

13 14

Vgl. zu einer zusammenfassenden Beschreibung von Barths Kampf gegen die 'analogia entis' und zum Verlauf der Diskussion: Wissink, J., De inzet van de theologie, Een onderzoek naar de motieven en de geldigheid van Karl Barths strijd tegen de natuurlijke theologie, Amersfoort 1983, 131-157, 377-388; und: Track, J., s.v. 'Analogie', in: Theologische Realenzyklopädie, Herausgegeben von G. Krause und G. Müller, Bd. II, Berlin/New York 1978, 638-652. Vgl. zum protestantischen Mißverständnis bezüglich der 'analogia entis': Jüngel, E., Gott als Geheimnis der Welt, Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 1986', 383-389. Einsiedeln 1976\ Von Balthasar, Karl Barth, 269: "Von dem Schreckgespenst der analogia entis, das Barth daraus machte, ist bei ihm [Przywara] schlechterdings nichts zu finden." "Wenn aber Przywara dennoch von 'katholischer Grundform' spricht, dann meint er die Art und Weise, wie im Katholischen innerhalb des umgreifenden 'Ja' zur Offenbarung (als Erlösung aus dem immer wieder zurückfallenden 'Nein' des Sünders) der Raum offen bleibt für alles, was erlösbares und erlöstes kreatürliches Denken sein kann."

1.2 Natur und Gnade in theologiegeschichtlicher Perspektive

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Thomas von Aquin eine tiefgreifende Verlagerung eingetreten. Kurz gesagt geht es darum, daß die Natur aufgrund eines wachsenden Interesses an der natürlichen Wirklichkeit und ihrer Eigenständigkeit nicht mehr ausschließlich in ihrer transzendierenden Ausrichtung auf die sie umfassende Gnade verstanden wurde, sondern als ein selbständiger Unterbau der Gnade, die die Natur als eine zusätzliche und für die Natur nicht wesentliche Wirklichkeit krönen kann. Diese neue Auffassung von Natur und Gnade, die in der Barockscholastik vorherrschend wurde, bedeutete einen einschneidenden Bruch mit der patristischen und mittelalterlichen Wirklichkeitsauffassung. Seitdem hat der Begriff 'cognitio naturalis' auch eine ganz andere Bedeutung. Er beinhaltet nicht mehr Erkenntnis der theozentrisch begründeten und zur Gnade transzendierenden Natur, Erkenntnis auf Grund dieser transzendierenden Ausrichtung der Natur, sondern Erkenntnis der Natur und auf Grund der Natur als autonomem Unterbau. Kurzum: die natürliche Theologie, gegen die sich Barth wendet, ist ein Phänomen der Zeit nach der mittelalterlichen Scholastik! Sie entstand zur Zeit der Renaissancephilosophie und der Barockscholastik, als die natürliche Wirklichkeit immer mehr als eigenständige Wirklichkeit erlebt wurde, die der sie vervollkommnenden Gnade vorausgeht und ihr gegenübersteht. Höhepunkt dieser Entwicklung war die Aufklärung, in der viele begannen, die Gnade als einen überflüssigen oder sogar die natürliche Wirklichkeit erstickenden Überbau zu sehen. In seinem Kampf gegen die natürliche Theologie der Aufklärung und des Idealismus hat Barth daher weitgehend Recht, nicht jedoch, wenn er die moderne Form der natürlichen Theologie in die patristische und mittelalterliche Theologie zurückprojiziert. Dort ist das Verhältnis von Natur und Gnade, allgemeiner und besonderer Offenbarung und von Theologie und Philosophie wesentlich anders als in der Neuzeit. Von Balthasar kommt sogar zu der überraschenden Schlußfolgerung, daß Barths Christologie und Gnadenlehre sich so sehr der katholischen Orthodoxie nähern, daß die übrigen Unterschiede in diesen Fragen ein kirchliches Schisma nicht rechtfertigen13. Zum selben Schluß kommt J. Wissink in seiner Studie über Karl Barths Kampf gegen die natürliche Theologie16. Barth muß seiner Ansicht nach der Vorwurf gemacht werden, "daß er die Alte Kirche, das Mittelalter und die Reformationszeit zu voreilig mit der bürgerlichen Neuzeit zusammengewürfelt habe"17. "Zwischen Barth und Thomas steht die Neuzeit. Da steckt

15 16 17

Vgl. Von Balthasar, Karl Barth, 389. Wissink, op.cit. Wissink, op.cit., 240.

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Kapitel 1 Problemstellung. Natur und Gnade, Sprache und Vernunft

der eigentliche Feind Barths, und nicht in der scholastischen 'cognitio naturalis'."18

1.2.2 Natur und Gnade von der Patristik bis zur Aufklärung Ein klares Verständnis der theologiegeschichtlichen Entwicklungen in bezug auf das Thema Natur und Gnade ist natürlich bei einer differenzierteren Behandlung der bereits angeschnittenen Fragen nicht nur im Falle der Interpretation Barths hilfreich. Es ist genauso wichtig für eine gute Einordnung von Hamanns Denken in die Geschichte der Theologie und für eine sorgfältige Analyse dieses Fragenbereichs in seiner Theologie. Deshalb wollen wir noch etwas ausführlicher auf die Geschichte des Naturbegriffs in der christlichen Theologie eingehen. Von Balthasar und Wis sink konnten in ihren diesbezüglichen Ausführungen auf die bahnbrechenden Forschungsarbeiten von Henri de Lubac S.J. zurückgreifen, der den oben erwähnten Umschwung in der Übergangszeit vom Mittelalter zur Renaissance ausführlich und gut dokumentiert beschrieben hat19. Nach anfänglich starkem Widerstand aus der eigenen Kirche haben die Einsichten de Lubacs sich maßgeblich durchgesetzt, obwohl sie, soweit wir feststellen können, auf 18

19

Wissink, op.cit., 377; vgl. op.cit., 214-216, 311-327. Wissink schließt sich der These von Chr. Gestrich, Neuzeitliches Denken und die Spaltung der dialektischen Theologie, Tübingen 1977, 380-390, an, daß der Ansatz, das Schicksal und die Aporien der dialektischen Theologie im Lichte ihrer Auseinandersetzimg mit dem modernen Denken seit der Aufklärung als dem säkularisierten Erbe der vorhergehenden christlichen Theologie verstanden werden müssen. Gestrich ist ausserdem der Ansicht, daß die Meinungsverschiedenheiten zwischen den einzelnen Vertretern der dialektischen Theologie und die ungelösten Probleme auf ein mangelhaftes Verständnis nicht nur der Grundtendenzen des neuzeitlichen Denkens, sondern auch der geistesgeschichtlichen Einordnung und Bedeutung vorheriger theologischer Entwürfe zurückzuführen seien. Das habe sich besonders bei Barths Ablehnung der natürlichen Theologie gerächt. Hinzu kommt wohl noch, daß er kein hinreichend systematisches Instrumentarium besessen hat, was durch eine intensive Kenntnis der mittelalterlichen Scholastik weitgehend hätte vermieden werden können. Ausserdem hätte dies die Möglichkeit geboten, das Gespräch mit Rom auf der breiteren Grundlage einer gemeinsamen theologisch-philosophischen Tradition zu führen. Surnaturel, Etudes historiques, Paris 1946; Augustinisme et thiologie moderne, Paris 1965; Le mystire du surnaturel, Paris 1965. Einen kurzen Überblick über de Lubacs ganzes Werk gibt H.U. von Balthasar in: Henri de Lubac, Sein organisches Lebenswerk, Einsiedeln 1976. Zu einer Übersicht über die Theologen, die schon früher Ansätze in der von de Lubac eingeschlagenen Richtung gegeben hatten (unter ihnen Maurice Blondel in l'Action (1893)), siehe: Le mystire du surnaturel, 231-255. Zu einer Studie über de Lubac und das Problem Natur - Gnade, siehe: Figure, M., Der Anruf der Gnade; Über die Beziehung des Menschen zu Gott nach Henri de Lubac, Einsiedeln 1979.

1.2 Natur und Gnade in theologiegeschichtlicher Perspektive

17

protestantischer Seite sehr wenig zur Kenntnis genommen wurden. Im Anschluß an die Studien von de Lubac gibt J.H. Walgrave im zweiten Teil seines Werkes Geloofen theologie in de crisis20 anhand der Problematik von Natur und Gnade einen knappen und klaren Überblick über die Entwicklungen in der christlichen Theologie von der Patristik bis zur modernen Zeit. Wenn wir nun auf die wichtigsten Wendepunkte in der theologiegeschichtlichen Entwicklung eingehen, nehmen wir diesen Überblick von Walgrave zum Ausgangspunkt, wobei wir jedoch hier und da eigene Akzente setzen21. Patristik und Mittelalter In der antiken Philosophie hat der Begriff 'physis' verschiedene Bedeutungsaspekte, auf die wir hier nicht eingehen können22. Einfluß gewinnt vor allem die Auffassung des Aristoteles, der 'physis' als das Wesen der natürlichen Seienden (der 'physis' als der Gesamtheit der phänomenalen Wirklichkeit) definiert, das zugleich ihr immanentes Bewegungsprinzip ist. Wenn wir dann sehen, wie der ganze Kosmos durch diese Essenzen bestimmt wird, gelangen wir zu einer Wirklichkeitsauffassung, die im Wesentlichen nicht nur die des Aristoteles ist, sondern das ganze antike Denken kennzeichnet. Der Kosmos und seine Dynamik gelten darin als ewig, notwendig23 und vom geistigen und göttlichen Sein durchdrungen24. Wenn die Kirchenväter versuchen, zu einer theologisch-philosophischen Darlegung ihrer christlichen Wirklichkeitsauffassung zu gelangen, benutzen sie den antiken Begriffsapparat. So übernehmen sie die Bedeutung des Begriffs 'physis' als Essenz, was sie aber nicht daran hindert, eine ganz andere Auffassung von Gott, Mensch und Kosmos zu entwickeln. Die natürliche Wirklichkeit ist kein ewiger, notwendiger und göttlicher Kosmos mehr, sondern kontingente Schöpfung, die dank des freien Schöpfungshandelns

M 21

22 23

24

Kasterlee o.J. (1966), 105-340 (Teil II: 'Van de oudchristelijke wereld naar de moderne wereld'). Siehe zu einer kurzen Übersicht auch: Feiner, J., Löhrer, M., (Hrsg.), Mysterium salutis, Grundriß heilsgeschichtlicher Dogmatik, Einsiedeln/Zürich/Köln, Bd. II, Die Heilsgeschichte vor Christus, 546-557 (G. Muschalek); Kasper, W., Der Gott Jesu Christi, Mainz 19832, 100-104. Vgl. zum antiken Naturbegriff: Hager, F.P., s.v. 'Natur', in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Sp. 421-441. Der Sachverhalt ρ ist notwendig, wenn zum gleichen Zeitpunkt nicht-p nicht möglich ist. Der Sachverhalt ρ ist kontingent, wenn zum gleichen Zeitpunkt auch nicht-p möglich ist. Vgl. zu einer kurzen Darstellung der Wirklichkeitsauffassung in der antiken Philosophie: Veldhuis, H., Geen begrip voor de Ander, De kritiek van Emmanuel Levinas op de westerse filosofie, in het bijzonder op het denken van Husserl en Heidegger, Utrecht 1990, 7-20.

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Kapitel 1 Problemstellung. Natur und Gnade, Sprache und Vernunft

Gottes besteht. Auch geschaffene Seiende haben eine 'physis' im Sinne von 'Essenz'. Die ontologische Exemplifizierung dieser Essenzen ergibt sich jedoch nicht notwendigerweise aus den Essenzen selbst, sondern aus einem freien Willensakt des Schöpfers. Die Schöpfung ist gut, aber nicht göttlich. Im Vergleich zur antiken Sicht ist das eine Relativierung der Natur, zugleich erhält sie jedoch auch eine neue geschenkte Würde. Das kommt vor allem in der Auffassung vom Menschen zum Ausdruck. Der Mittelpunkt des menschlichen Wesens liegt nun nicht mehr in der Vernunft, wie wichtig diese Fähigkeit auch ist, sondern im Willen, im Herzen, von wo aus eine freie und persönliche Liebesbeziehung zu Gott und dem Mitmenschen möglich ist. Aus dieser persönlichen, von Gott begründeten Beziehung zwischen ihm und dem Geschöpf entsteht eine (Heils)Geschichte und wird die antike zyklische Zeit aufgebrochen und in eine lineare Geschichte von der Schöpfung zum Eschaton hin verwandelt. Die frühchristliche Theologie, die sich für die einzig wahre Philosophie hielt, verließ den antiken Monismus, indem sie Schöpfer und Schöpfung gegenüberstellte, - nicht um zu einem strengen Dualismus zu gelangen, sondern zur Dualität einer persönlichen Beziehung, die ihren Ursprung in der göttlichen Person hat. In Begriffen von Natur und Gnade bedeutet dies, daß die Natur gegenüber Gott und seiner Gnade keineswegs neutral oder autonom ist. Sie ruht im schöpferischen und bewahrenden Handeln Gottes und ist mit einer teleologischen Ausrichtung auf Gott hin geschaffen, die nur durch die Gnade zu ihrer Bestimmung kommen kann. Zugespitzt auf die menschliche Natur bedeutet das: Der Mensch ist als selbständige Person von und gegenüber Gott geschaffen. Gleichzeitig hat Gott durch seinen Schöpfungsakt eine natürliche Sehnsucht nach der Gnade in den Menschen gelegt, die nur durch die Gnade selbst erfüllt werden kann. Die menschliche Natur hat also eine natürliche Finalität, die über die menschliche Natur hinausgeht und nur durch die übernatürliche Gnade an ihr Ziel gelangen kann25. Daß die Natur eine Finalität hat, die sie von ihrem eigenen Wesen her nicht verwirklichen kann, ist aristotelisch gesehen paradox und unmöglich. Gerade dies 'Paradox' bildet den Kern der ganzen patristischen und mittelalterlichen Theologie. Sie sieht die natürliche Wirklichkeit in all ihren Aspekten innerhalb der vertikalen und theozentrischen Perspektive der Gnade. Damit wollen die Kirchenväter das horizontale natürliche Leben nicht geringschätzen, sondern sie 25

Eine bekannte und sorgfältige Formulierung dieser Finalität stammt von Johannes Dims Scotus, Ordinatio, Prologus, Pars 1, Quaestio 1, Opera omnia, I, Civitas Vaticana 1950, 19: " concedo Deum esse finem naturalem hominis, sed non naturaliter adipiscendum sed supernatural!ten"

1.2 Natur und Gnade in theologiegeschichtlicher Perspektive

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teilen die Grundüberzeugung, daß die natürliche Wirklichkeit nur in ihrer Beziehung zur Gnade zu ihrem Recht und ihrer Erfüllung gelangt. Wirkliche Humanität ist nur durch Vergöttlichung ('theopoifcsis') der menschlichen Natur möglich. Vergöttlichung bedeutet dann nicht, daß der Mensch selbst Gott wird, sondern daß seine Natur durch die göttliche Gnade mehr und mehr in eine enge, unverbrüchliche Gottesbeziehung aufgenommen und vervollkommnet wird. Diese altchristliche Auffassung vom Menschen ist vor allem durch das Werk Augustinus' für die mittelalterliche Scholastik bis einschließlich Thomas von Aquin26 und Duns Scotus27 richtungweisend geworden. "Tu excitas, ut laudare te delectet, quia fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donee requiescat in te"28, lautet der klassische Satz, in dem Augustinus die für den Menschen wesentliche Ausrichtung auf Gott zum Ausdruck bringt. Was bedeutet nun in diesem Zusammenhang die Wirklichkeit der Sünde? Die Gottessehnsucht wird als wesentliche menschliche Ausrichtung dadurch nicht aufgehoben; der Mensch bleibt Geschöpf und Bild Gottes, auch wenn dieses Bild durch die Sünde getrübt ist. Durch seine freie Entscheidung gegen Gott und für die Sünde entfremdet er sich jedoch von seinem eigenen Wesen. Die 'imago Dei' bleibt - genauso wie das 'liberum arbitrium' - als seine wesentliche Grundform bestehen, aber der Sünder wendet sich gegen die Verwirklichung der darin enthaltenen Bestimmung, der 'similitudo Dei'. Das transzendierende Grundverlangen seines Herzens nach Gott trachtet er durch selbstsüchtige Begierde und eigenmächtig erstrebten Genuß zu ersticken. Es ist besonders ein protestantisches Mißverständnis, daß die Auffassung, die natürliche Sehnsucht nach Gott sei wesentlich für den Menschen und bleibe auch nach dem Sündenfall bestehen, automatisch zu einer Relativierung der Sünde führe. Zunächst einmal ist das 'desiderium naturale' nicht ein freier Willensakt, der durch die Sünde aufgehoben werden könnte, und also auch nicht etwas, dessen das Geschöpf sich als Frucht des eigenen Willens rühmen könnte. Der 'appetitus naturalis' ist eine ontologische Bestimmung der menschlichen Natur im Verhältnis zu Gott, auf der die menschliche Freiheit gründet und die ihre Ausübung erst ermöglicht. Der Mensch hat die Möglichkeit, sich dieser Bestimmung seiner Natur zu 26 27

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Vgl. de Lubac, Surnaturel, 431-494; Walgrave, op.cit., 117-122. Vgl. Wolter, Α., 'Duns Scotus on the natural desire for the supernatural', in: The new scholasticism, 23 (1949), 281-317. Aurelius Augustinus, Confessiones, Liber primus, 1,1. Bibliothek der Kirchenväter, Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte Schriften, Aus dem Lateinischen übersetzt von A. Hoffmann, Bd. VII, München 1914,1: "Du selbst veranlaßt ihn, in deinem Preis seine Wonne zu suchen, denn geschaffen hast du uns im Hinblick auf dich, und unruhig ist unser Herz, bis es ruhet in dir."

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Kapitel 1 Problemstellung. Natur und Gnade, Sprache und Vernunft

widersetzen, aber dann offenbaren die Folgen der Sünde auf negative Weise, wie der Mensch von Gott geschaffen ist und wozu Gott ihn bestimmt hat. Der Verwirklichung dieser Bestimmung kann der Mensch sich zwar widersetzen, von den ontologisch-geschöpflichen Voraussetzungen kann er sich nicht lösen, genauso wenig wie ein Durstiger seinen Durst nicht dadurch verliert, daß er nicht trinkt. Kommen wir noch einmal auf das Wort des Augustinus zurück, "inquietum est cor nostrum, donee requiescat in te": diese Unruhe des Menschen hat seit dem Sündenfall zwei Ursachen. Es ist zunächst die Unruhe des im Menschen von Gott angelegten Verlangens nach der ewigen Gemeinschaft mit Gott, aber sie wird noch verstärkt, wenn der Mensch vor Gottes Erfüllung seines Verlangens flieht. Dadurch daß der Mensch sich von Gott abwendet, wird die von Gott geweckte Unruhe nicht beschwichtigt, sondern intensiviert. So erlebt der Mensch in seinem gefallenen Zustand eine doppelte Unruhe. Beide können nur von der überwältigenden Gegenwart der Gnade Gottes aufgehoben werden. So wie die ganze Natur auf die Gnade ausgerichtet und in einen umfassenden theozentrischen Zusammenhang aufgenommen ist, ist es auch die Vernunft. Die Vernunft ist eine natürliche Fähigkeit. Diese Fähigkeit entwickelt sich jedoch nur auf die richtige natürliche Weise, wenn sie innerhalb der Perspektive von Glauben und Gnade benutzt wird. So wie die Natur nur vom höheren Gesichtspunkt der Gnade aus richtig verstanden wird, kann die Vernunft und die Wissenschaft, die sie betreibt, sich lediglich im Horizont des Glaubens entfalten. Deshalb kann Philosophie keine neutrale Wissenschaft neben oder gegenüber der Theologie sein. Beide benutzen rationale Argumente und zwar vom theozentrischen Gesichtspunkt aus. Der Unterschied liegt 'lediglich' darin, in welchem Maße auf besondere Offenbarungselemente wie Inkarnation und Trinität zurückgegriffen wird. Christliche Theologie und Philosophie werden beide vom Glauben aus motiviert und heuristisch orientiert: "Fides quaerens intellectum"29, wie der Spruch Anselms lautet. Trotzdem sind Anselm und viele seiner scholastischen Nachfolger der Auffassung, daß wichtige philosophische Argumente aus ihrer 'philosophia Christiana' auch für die nichtgläubige Philosophie unwiderlegliche Überzeugungskraft haben. So ist der ontologische Gottesbeweis in Anselms Proslogion durchaus ein 'Beweis' im streng logischen Sinne des Wortes. Heuristisch hat Anselm diesen Beweis als Reflexion über die Glaubenser-

19

Anselmus, Proslogion, Opera omnia, Hrsg. F.S. Schmitt, 6 Bde, Edinburgh-London 1946-1951, Bd. I, 94.

1.2 Natur und Gnade in theologiegeschichtlicher Perspektive

21

fahrung entdeckt, aber da nun er entdeckt ist, ist es ein streng logischer Gottesbeweis, in dem der Glaube kein logisch-konstitutives Element ist30. Das neue Denken: die Trennung zwischen Natur und Gnade Die christliche Auffassung von Glaube und Wirklichkeit gelangt in der Übergangszeit vom Mittelalter zur Renaissance in eine tiefe Krise. Es entsteht eine neue Wirklichkeitsauffassung, die dazu führt, daß die Natur immer mehr als ein selbständiger, autonomer Unterbau der Gnade gesehen wird. Die Finalität der Natur wird nicht mehr in ihrer Ausrichtung auf die transzendente Gnade, sondern als immanent natürlich verstanden. Statt Erfüllung des natürlichen Verlangens ist die Gnade eine zusätzliche Gabe, die hinzukommt zum natürlichen Glück, das die Natur sich in der selbständigen Verwirklichung der immanenten Finalität selbst beschaffen kann. Es ist nicht leicht, für diese Umwälzung, die das Erwachen des modernen europäischen Geistes auslöste, eine Erklärung zu geben. Wir möchten hier auf eine wichtige Entwicklung hinweisen, nämlich das Aufkommen des Aristotelismus, dessen Wurzeln bereits im 12. Jahrhundert liegen. Im 12. Jahrhundert entwickelt sich ein neues, starkes Interesse an der natürlichen und sinnlichen Wirklichkeit mit ihrer Gesetzmäßigkeit, ihren Möglichkeiten und ihrer Vielfalt und an der Stellung des Menschen in dieser Wirklichkeit31. Dieser neue Realismus geht mit einer religiösen Erweckungsbewegung Hand in Hand, die das neue Gefühl für die natürliche Wirklichkeit im Sinne der augustinischen Theologie in die Grundausrichtung auf die Gnade zu integrieren vermag. Die neue Selb-ständigkeit der Natur führt nicht zu einer Durchbrechung der klassischen theozentrischen Perspektive. Die Dinge ändern sich dadurch, daß seit der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts die wiederentdeckten und übersetzten Schriften des Aristoteles das neue Interesse an der 'natura' in Beschlag nehmen und sich viele

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31

Walgrave relativiert den Anspruch der wissenschaftlichen Beweisführung in der mittelalterlichen Scholastik zu sehr, wenn er behauptet, der Beweis sei kein konstituierender Faktor des gläubigen Lebens und habe lediglich für die bereits Gläubigen Überzeugungskraft (vgl. op.cit., 130 f.). Denn die Überzeugungskraft der Beweisführung beruht nicht auf dem Glauben, sondern auf der logischen Gültigkeit der Beweisführung, die als vernünftige Klärung eine Stärkung des Glaubens ist. Die Vernunft entfaltet sich innerhalb einer Dialektik von Glaube und Vernunft, worin der Glaube hermeneutisch den Vorrang hat, die Vernunft aber trotzdem Beweise entwickelt, deren Gültigkeit für Gläubige und Nichtgläubige evident sein kann. Vgl. zu einer kurzen Kennzeichnung dieser Entwicklung: Grijs, F.J.A. de, Goddelijk mensontwerp, Een thematische Studie over het beeld Gods in de mens volgens het Scriptum van Thomas van Aquine, 2 Bände, Hilversum/Antwerpen 1967, Bd. 2, 359370 (ausgehend von der Arbeit M.-D. Chenus); und: Gregory, T., s.v. 'Natur', in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Darmstadt 1984, Sp. 444-447.

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Kapitel 1 Problemstellung. Natur und Gnade, Sprache und Vernunft

christliche Theologen mit Hilfe des nicht christianisierten aristotelischen Begriffsapparats mit der Natur auseinandersetzen. Mit dem aristotelischen Gedankengut dringen wichtige Elemente der antiken Naturauffassung in die augustinische und theozentrische Natur-Gnade Struktur ein. Das führt dazu, daß die Natur von der Gnade als ihrem übernatürlichen Ziel getrennt und als neutraler Unterbau mit einer immanenten Finalität verselbständigt wird. Dies neu aufkommende aristotelische Denken beherrscht dann die theologische und philosophische Diskussion im 13. Jahrhundert weitgehend. Diese Entwicklung kann auch nicht verhindert werden durch die bekannten Verurteilungen aristotelischer Thesen durch Bischof Etienne Tempier 1270 und 1277. Thomas von Aquin (1224/25-1274) unternimmt einen großangelegten Versuch, möglichst viele Elemente der aristotelischen Philosophie in den klassisch-christlichen Zusammenhang zu integrieren. Duns Scotus (ca. 12661308) steht einer solchen Integration skeptischer gegenüber und gelangt zu einer eindrucksvollen Stärkung und zum Ausbau der augustinischen Sicht. Beide Theologen können jedoch nicht verhindern, daß sich die neue Auffassung von Natur und Gnade immer mehr durchsetzt. Zudem wird diese Auffassung durch die neuen Strömungen von Renaissance und Humanismus maßgeblich verstärkt. Im Rückgriff hinter das altchristliche und mittelalterliche Erbe wendet man sich den Quellen der antiken Literatur und Wissenschaft zu. Dank der Faszination durch die antike Naturerfahrung, muß die augustinische Ausrichtung auf das Übernatürliche einer humanistischen und naturalistischen32 Ausrichtung auf das Innerweltliche weichen. Der erste Theologe, der konsequent von der neuen Trennung zwischen Natur und Gnade ausgeht, ist Cajetanus (1469-1534), ein berühmter Thomaskommentator und der Kardinal, vor dem Luther sich 1518 verantworten muß33. Er hat mit seiner Auffassung eine ganze Reihe von Nachfolgern aus der Barockscholastik, wie z.B. Dominicus Bane ζ (1528-1604), Francisco Suarez (1548-1617), und Johannes a Sane to Thoma (1589-1644). Sie lesen Thomas von Aquin aufgrund dieses neuen Trennungsmodells, und die

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13

Mit den Begriffen 'naturalistisch' und 'Naturalismus* bezeichnen wir im Folgenden Wirklichkeitsauffassungen, die die Natur immanent ohne Bezugnahme auf eine transzendente göttliche Wirklichkeit interpretieren. Steht Thomas von Aquin in Bezug auf das Verhältnis Natur-Gnade noch ganz in der augstinischen Tradition, wie de Lubac und Walgrave meinen? Nach Ansicht von A. Vanneste gibt es bereits im Werk von Petrus Lombardus und Thomas von Aquin deutliche Ansätze für eine 'Zweistockwerk-Theologie*. Vgl. Vanneste, Α., 'Saint Thomas et le problfeme du surnaturel', in: Ephemerides theologicae lovanienses, 64 (1988), 348-370.

1.2 Natur und Gnade in theologiegeschichtlicher Perspektive

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Thomasinterpretation verfolgt dann bis in unser Jahrhundert den so eingeschlagenen Weg weiter34. De Lubac und Walgrave gehen nicht auf die Rolle ein, die der Nominalismus bei der immer stärkeren Trennung zwischen Natur und Gnade gespielt hat. Ockham und seine Anhänger lehnen den neuen aristotelischen Essentialismus und das Notwendigkeitsdenken stark ab. Sie betonen die radikale Kontingenz der Schöpfung, verstärken jedoch mit ihrem Nominalismus die Tendenz zur Trennung von Natur und Gnade. Da die Schöpfung nicht mehr als Abbild der göttlichen Gedanken gesehen werden kann und Schöpfung (als Aktualisierung der 'potentia ordinata') und Schöpfer (mit seiner 'potentia absoluta') nur noch in dem unergründlichen Willen Gottes verbunden sind, verliert die natürliche Wirklichkeit ihren transzendierenden Bezug zur Gnade. Die moderne Trennung zwischen Natur und Gnade führt außerdem zu einer Loslösung der Vernunft vom Glauben. Die Vernunft wird nun als neutrale Fähigkeit gesehen, die sich ausschließlich auf natürlich erworbene Kenntnis gründet. 'Natürlich' bedeutet nun etwas ganz anderes als zuvor. Das Natürliche steht als immanente Lebenssphäre dem Übernatürlichen gegenüber, zu dem lediglich der Glaube Zugang verleiht. Theologie und Philosophie werden zwei voneinander unabhängige Disziplinen, die aus unterschiedlichen Erkenntnisquellen schöpfen. Sie betreffen die voneinander getrennten Bereiche Natur und Gnade, und da, wo sie sich berühren, müssen sie versöhnt werden oder muß eine doppelte - nämlich philosophische und theologische - Wahrheit angenommen werden33. 'Der Philosoph' par excellence ist Aristoteles: sein Werk zeigt unübertrefflich, zu welcher Erkenntnis die Vernunft auf natürliche Weise ohne Zutun der Gnade gelangen kann. Die Reformation

Drei Kapitel widmet Walgrave den Theologen und theologischen Strömungen, die in unmittelbarer Reaktion auf das Trennungsdenken versuchten, sich dagegen zu wenden und sich alle auf Augustinus beriefen. Er behandelt u.a. M. Baius und C. Jansenius, die er positiver als de Lubac beurteilt, obwohl er zugibt, daß sie sich doch in wichtigen Punkten in Denkmuster der 34

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Bereits 1937 schreibt W. Lampen in 'Natuur en bovennatuur volgens de scholastiek der oudere Franciscaanse school' in: Collectanea Franciscana Seerlandica, 3 (1937), Nr. 7, (47-70), 57, über die natürliche, angeborene Sehnsucht nach dem übernatürlichen Glück: "Erst in der Nachfolge des Cajetanus fingen die Theologen an, diese Lehre zu verlassen; sie nahmen damals lieber ein mera non-repugnantia an. In der letzten Zeit beginnt man, sich wieder zögernd der scholastischen Auffassung zuzuwenden." Die Lehre von der doppelten Wahrheit ist u.a. bei Siger von Brabant (ca. 1235-ca. 1282) und BoCthius von Dacia (ca. 1270t) zu finden.

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Kapitel 1 Problemstellung. Natur und Gnade, Sprache und Vernunft

von ihnen bekämpften Theologie zu verstricken drohen. So überträgt Baius das gegenseitige Verhältnis von Natur und Gnade in ein Rechtsverhältnis, in dem die Natur aufgrund ihrer natürlichen Verdienste ('merita') Recht auf die Gnade hat und Gott der Natur seine Gnade schuldig ist ('debitum')36. Das veranlaßte die theologische Gegenpartei dazu, nun gerade zu betonen, daß das Wesen der Gnade lediglich gewährleistet ist, wenn sie als etwas Zusätzliches, von der Natur Unerwartetes gesehen wird, das Gott dem Menschen nicht schuldig ist. Ganz überraschenderweise rechnet Walgrave auch Luther und Calvin zur 'mittelalterlichen Reaktion* auf das zeitgenössische Trennungsdenken. Gegenüber dem neuen Naturverständnis und dem damit verbundenen optimistischen Menschenbild legen die Reformatoren den Akzent auf die radikale Entartung der menschlichen Natur. 'Natur' bezeichnet bei ihnen oft die von der Sünde verdorbene (zweite) Natur. Dennoch halten Luther und Calvin an der augustinischen Grundstruktur der ersten Natur, so wie sie in ihrer Abhängigkeit von der Gnade und Ausrichtung auf die Gnade von Gott geschaffen und bestimmt wurde, fest. Walgrave bezeichnet die Theologie Luthers und Calvins als eine legitime Reaktion auf das zeitgenössische Denken im Sinne der altchristlichen und mittelalterlichen Theologie37 Vor allem Calvins Werk bietet gute Anknüpfungspunkte für Walgraves überras sehende Auffassung. Dennoch scheint uns der theologische Standpunkt der Reformatoren nicht so eindeutig, wie er behauptet. Zunächst stellt sich die Frage: Wird die Sünde als Eigenschaft der zweiten Natur in Luthers und Calvins Anthropologie durch ihre Leugnung des 'liberum arbitrium' nicht doch zu sehr zu einer Eigenschaft der ersten Natur ontologisiert, was sich dann auch in der Gottes- und Erwählungslehre niederschlägt"? Hinzu kommt die Frage, ob sich Luthers und Calvins Kritik an der mittelalterlichen Theologie nicht schon ganz von der modernen Perspektive leiten läßt. Sie verurteilen die Scholastik als aristotelische Entstellung und können sie nicht 36

37

M

Vgl. de Lubac, Surnaturel, 15-37, Augustinisme et thiologie moderne, 15-48, Le mystire du surnaturel, 71-74,125-127; Walgrave op.cit., 159-177; Von Balthasar, Karl Barth, 280 f. Walgrave, op.cit., 154: "Wir können den Schluss ziehen, daß Luther in gewissem Sinn noch ein Vertreter des Mittelalters, und zwar ein echter extremer Vertreter des Mittelalters, ohne den technischen Begriffsapparat der Scholastik ist. Das eigentliche Menschsein ist völlig Gnade und zur Ausrichtung auf Gott berufen". Walgrave, op.cit., 158: "Durch diese Lehre bleibt Calvin auf der Linie des patristischen und mittelalterlichen Denkens." Vgl. Luthers 'Deus absconditus' in seinem De servo arbitrio und Calvins Lehre der doppelten Prädestination. In beiden Entwürfen wird die grundlegende Unfreiheit des gefallenen Menschen auf Gott zuriickprojiziert, indem Unglaube und Glaube einseitig auf Gottes unergründliche Verwerfung und Erwählung zurückgeführt werden.

1.2 Natur und Gnade in theologiegeschichtlicher Perspektive

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mehr als Fortsetzung der augustinischen Theologie sehen. Augustinus wird ja gerade gegen die Theologen des Mittelalters angeführt. Die

Aufklärung

Die Entwicklungen, die Aristotelismus, Renaissance und Humanismus ausgelöst haben, beherrschen allmählich das gesamte geistige Klima Europas. Auch die protestantische Theologie bietet kaum oder keinen Widerstand und gestaltet ihre Entwürfe im neuen Sinne. Der endgültige Sieg geschieht in der Aufklärungszeit. Dann setzt sich überall die Meinung durch, daß die emanzipierte Natur kaum oder kein Bedürfnis mehr nach Orientierung auf die Gnade und Erfüllung durch die Gnade habe. Die autonom gewordene Vernunft entwirft rationalistische Systeme, die die Wirklichkeit der Gnade vielleicht noch als willkommene Möglichkeit akzeptieren, aber sie an sich nicht nötig haben. Der Empirismus schließt den Menschen in die Sinnes Wahrnehmung ein. Ein überall aufkommender Moralismus und Sittlichkeitsstreben appellieren an natürliche Neigungen, versprechen selbst verschafften Genuß und Glück und verlagern die geistliche Erfüllung durch die Gnade ins Jenseits. Gott wird eine supernaturalistische Quelle von übernatürlichen Wundern, ein deistischer Gott auf Abstand oder eine überflüssige Hypothese. In den folgenden Kapiteln werden einige konkrete philosophische und theologische Strömungen der Aufklärung dargestellt, wobei immer wieder deutlich wird, daß sie auf diesen vor Jahrhunderten entstandenen Bruch zwischen Natur und Gnade zurückzuführen sind. Soweit nun ein kurzer Überblick über die Interpretationsgeschichte des Themenbereichs Natur und Gnade. Im Anschluß an die vorhergehenden Paragraphen bildet sie den systematischen und theologiegeschichtlichen Hintergrund für die Untersuchung von Hamanns Naturbegriff in den folgenden Kapiteln. Aus der historischen Perspektive ergibt sich nun das Folgende: Wenn wir Hamanns Denken mit aktuellen Fragen über natürliche Theologie, natürliche Gotteserkenntnis, das Bild Gottes nach dem Sündenfall, die Natur als Anküpfungspunkt der Gnade, das Verhältnis von Theologie und Philosophie, usw. konfrontieren wollen, müssen wir zunächst untersuchen, welchem Natur-Gnade Modell Hamanns Theologie am meisten entspricht. Greift er die altchristliche und mittelalterliche Auffassung wieder auf, oder entfaltet er seine Theologie innerhalb der zeitgenössischen theologischen und philosophischen Strukturen, auch wenn er sich darin gegen das Aufklärungsdenken wendet? Unser Rückgriff auf die augustinische Theologie soll verhindern, daß wir uns in unserer Interpretation unbewußt und einseitig von Alternativen unseres modernen Denkens leiten lassen. Das Modell, das

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Kapitel 1 Problemstellung. Natur und Gnade, Sprache und Vernunft

uns dort für die Begriffspaare Natur-Gnade, Vernunft-Glaube, PhilosophieTheologie, allgemeine Offenbarung-besondere Offenbarung geboten wird, ist nicht das einzig mögliche39. Die erst nach Jahrhunderten christlicher Theologie entstandene Trennung von Natur und Gnade kann nicht selbstverständlicher Ausgangspunkt für die Untersuchung von Hamanns Naturbegriff sein. Aus mancherlei Gründen kann man Hamann als einen originellen Denker bezeichnen, der systematisch und geschichtlich schwierig einzuordnen ist. Dennoch lohnt sich solch ein Versuch, denn erst wenn 'ungewöhnliche' Denker aus ihrer Isolierung befreit werden, kann ihre Stimme in ihrer Originalität wirklich gebührend gewürdigt werden.

1.3 Natur als Text; Sprache und Vernunft Nach allem bisher Gesagten drängt sich die Frage auf, warum der Untertitel dieses Buches nicht wie bei Jansen Schoonhoven 'Natur und Gnade bei J.G. Hamann', sondern allgemeiner 'Der Naturbegriff in der Theologie Hamanns' lautet. Grund dafür ist die Art, wie Hamann selbst seine Sicht von Natur und Gnade entfaltet. Er tut das nämlich vor allem in einem hermeneutischen Rahmen, der seine eigenen Fragen mit sich bringt, auf die wir im Zusammenhang mit dem Naturbegriff näher eingehen müssen, die jedoch zum großen Teil über diesen Rahmen hinausgehen. Hamann entdeckt das Wesen der natürlichen Wirklichkeit und ihr Verhältnis zur Gnade und Offenbarung von der seiner Ansicht nach alles begründenden Sprache aus. Die Wirklichkeit hat eine Logosstruktur, die auf das schöpferische und erlösende Wort Gottes zurückzuführen ist. Die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Gnade erhält so einen ausdrücklich hermeneutischen Kontext. Daß die Sprache der Schlüssel für das Verständnis von Hamanns Theologie in all ihren Aspekten ist, haben jüngere Studien auf mancherlei Weise gezeigt. Aber bisher wurde noch nicht genug erforscht, inwieweit dies Sprachdenken für Hamanns Naturbegriff ausschlaggebend ist. Zwar erkennt Jansen Schoonhoven die wichtige Rolle, die die Sprache bei Hamann spielt, jedoch vermag er diese Erkenntnis für das Hauptthema seines Buches nicht fruchtbar zu machen40. Neben den bereits angeführten Gründen ist dies ein wichtiger Grund, um Hamanns Naturbegriff erneut, auch vom hermeneutischen Gesichtspunkt aus, zu untersuchen. Angesichts der Bedeu39

40

Diese Erkenntnis fehlte in Barths Auseinandersetzung mit früheren theologischen Entwürfen zu sehr. Vgl. §§ 1.1.2 und 1.2.1. Vgl. Jansen Schoonhoven, Natuur en genade, 262.

1.3 Natur als Text; Sprache und Vernunft

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tung, die hermeneutische Fragen in der modernen Theologie und Philosophie gewonnen haben, kann dies zudem noch zur aktuellen Relevanz seines Denkens beitragen. Hamanns Naturbegriff können wir nur richtig erfassen, wenn wir ihn im Zusammenhang mit seinem Denken über Sprache sehen. Der hermeneutische Ansatz stellt uns jedoch vor ein Grundproblem, das eng mit der Frage von Natur und Gnade zusammenhängt, jedoch zugleich als selbständige Forschungslinie viel Aufmerksamkeit verdient. Ebenso wie in den vorigen Abschnitten werden wir auch diesen Teil unserer Problemstellung auf einem theologiegeschichtlichen Hintergrund erörtern.

1.3.1 'Das Buch der Natur' in theologiegeschichtlicher Perspektive Es ist eine Grundüberzeugung Hamanns, daß Gott sich nicht nur im Buch der Schrift, sondern auch im Buch der Natur offenbart. Zwar kann die Natur nur von der Offenbarung in der Schrift her richtig verstanden werden, jedoch ist sie ebenso wie die Schrift ihrem Wesen nach sprachlich und kann als solche transzendierend auf Gott verweisen, hat also Offenbarungsgehalt. Mit dieser Auffassung schließt Hamann sich einer langen christlichen Tradition an. Die Meinung, daß auch die Schöpfung ein von Gott gechriebenes Buch sei, finden wir bereits bei Augustinus, der eine mystisch-symbolische Wirklichkeitsauffassung entwickelte, die in der augustinisch-franziskanischen Tradition des Mittelalters einen großen Einfluß gewann41. Wenn die Metapher des Buches für die Natur zutrifft, stellt sich die Frage, in welcher Sprache das Buch geschrieben ist und was wir darin über Gott lesen können. Im Anschluß an den platonischen Gedanken der Teilhabe ist Augustinus der Auffassung, die sinnliche Wirklichkeit sei eine Exemplifizierung der transzendenten, notwendigen und unveränderlichen Ideen in Gott. Die große Veränderung gegenüber dem Piatonismus ist die Auffassung Augustinus', die Exemplifizierung der Ideen in der empirischen Wirklichkeit ergebe sich nicht notwendigerweise aus den Ideen selbst, sondern geschehe durch das freie Schöpfungshandeln Gottes. Die Schöpfung ist kein notwendiger, sondern kontingenter Ausdruck und Abbild der göttlichen Ideen: sie

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Vgl. zur Metapher vom 'Buch der Natur': Nobis, H.M., s.v. 'Buch der Natur', in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Herausgegeben von J. Ritter, Darmstadt 1971, Bd. I, Sp. 957-959; Kohlenberger, H.K., s.v. 'Buch der Schöpfung', op.ciL, Sp. 959-960; Rothacker, E., Das 'Buch der Natur', Materialien und Grundsätzliches zur Metapherngeschichte, Bonn 1979; Blumenberg, Η.,Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt am Main 1981.

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Kapitel 1 Problemstellung. Natur und Gnade, Sprache und Vernunft

hätte auch nicht sein können. Allerdings ist es so, daß, genau wie bei Plato und Plotin, der auf Gott verweisende Charakter der Schöpfung in ihren Essenzen liegt. Die Essenzen, die in der Schöpfung in endlicher Form zum Ausdruck kommen, und ihre gegenseitige Beziehung, verweisen auf die vollkommene Essenz Gottes selbst. Mit Ausnahme der Schöpfungstatsache selbst offenbaren sie also nichts über Gottes kontingentes Handeln an der Schöpfung, das heißt: über die eigene Bedeutung der Heilsgeschichte. Für die Interpretation der Heilsgeschichte muß Augustinus uns auf das Buch der Schrift verweisen, das von der Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung erzählt. Das bedeutet, daß dieselbe natürliche Wirklichkeit, die als 'vestigium' und 'imago'42 von den eigenen Essenzen aus auf Gottes vollkommenes, trinitarisches Wesen verweist, zusammen mit Gott in einen zweiten hermeneutischen Zusammenhang, und zwar den der Heilsgeschichte, aufgenommen ist. Die hermeneutische Dynamik ist hier eine ganz andere, denn sie betrifft die geschichtliche Entfaltung und den Fortgang von akzidentellen Bedeutungen, die auf typologische Weise miteinander in Verbindung stehen und um das zentrale Heilsgeschehen der Inkarnation hin angeordnet sind. Die sinnliche Wirklichkeit gehört also in zwei hermeneutische Zusammenhänge: a) als Gesamtheit der exemplifizierten Essenzen verweist sie auf die essentiellen Eigenschaften Gottes; b) innerhalb des von der Schrift erschlossenen Horizonts der Heilsgeschichte erhält sie kontingent-typologische Bedeutung. Das Verhältnis dieser beiden Ebenen ist eins der Grundprobleme der Theologie des Augustinus43. Es ergibt sich aus seiner Auseinandersetzung mit dem antiken Gedankengut, das er für die Auslegung der christlichen Wirklichkeitsauffassung nutzbar machen wollte. An der Tatsache, daß es bei Gott und der Schöpfung auch um notwendige Strukturen gehe, zweifelten Augustinus und viele mittelalterliche Theologen nicht. Die Frage ist jedoch, wie der kontingenten Offenbarung und Heilsgeschichte im Gegensatz zum anti42

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Insofern sie stofflich oder leiblich sind, sind alle Geschöpfe 'vestigia Dei'. Als geistiges Wesen ist der Mensch zugleich 'imago Dei'. In bezug auf Augustinus' Schöpfungslehre formuliert Gilson dies Problem folgendermaßen: "Assuröment, Augustin sait fort bien que ce mot [cröation] dösigne le don de l'etre par l'Etre; mais puisque l'Etre se rdduit pour lui ä Vessentia, la citation ellememe tend naturellement ä se röduire, dans sa doctrine, au rapport de ce qui 'est vraiment' ä ce qui ne mirite pas vraiment le nom d'etre, c'est-ä-dire, de l'immuable au changeant, de l'6temel au temporel, du m6me ä Γ autre, de l'un au multiple. Augustin a 6prouv6 les plus grandes difficultös ä mötamorphoser en rapports d'existence des relations correctement congues pour relier entre elles des essences. Bref, Augustin s'est engagi dans l'entreprise, sans doute impossible, d'interprdter la crdation en termes de participation." Gilson, έ . , Introduction ά l'itude de Saint Augustin, Paris 1982 (deuxifeme edition 19411), 263; vgl. auch 260.

1.3 Natur als Text; Sprache und Vernunft

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ken Denken ein Platz eingeräumt werden kann, und wie man sich diesen im Verhältnis zu den ontologischen und hermeneutischen Notwendigkeitsstrukturen vorstellen muß. Außerdem stellt sich die Frage: wie ist Theologie als Wissenschaft des Kontingenten möglich, wenn sich nach Aristoteles' Ansicht Wissenschaft nur auf das Notwendige beziehen kann? Augustinus schuf in wichtigen Punkten die Grundlage für das weitere Durchdenken dieser Fragen, ohne sie alle beantworten zu können. Die mittelalterliche Scholastik läßt sich zum großen Teil als eine einzige große Bemühung verstehen, diesen ganzen Fragenkomplex zu lösen44. Wir können die Frage, die uns hier beschäftigt, noch einmal anhand von Bonaventura verdeutlichen. Ganz im Sinne von Augustinus sieht Bonaventura die Schöpfung als ein vom Schöpfer geschriebenes und auf ihn verweisendes Buch45. Die geschaffenen Seienden verweisen als 'vestigia' und 'imagines dei' auf Gott und bilden zusammen eine Leiter, auf der der Gläubige kontemplativ zu ihm hinaufsteigen kann. In der gefallenen Schöpfung ist dieser Aufstieg allerdings nur möglich, wenn unsere Augen durch die übernatürliche Gnade (wieder) für die Zeichenhaftigkeit der Schöpfung geöffnet werden46. Dann ermöglicht es die Gnade auch, daß der menschliche Geist als Bild Gottes zur 'similitudo', der übernatürlichen Ähnlichkeit mit Gott, vervollkommnet wird. Es stellt sich nun die Frage, wie die (wiederhergestellte) Zeichenhaftigkeit der Schöpfung sich zur Zeichenhaftigkeit der übernatürlichen Gnade verhält. In Itinerarium mentis in deum sind 'vestigium' und 'imago' essentielle Eigenschaften der Geschöpfe, die auf Gottes Macht, Weisheit, Güte und Trinität, also auf Gottes essentielle Eigenschaften, verweisen. Auch auf den höheren Stufen der kontemplativen Leiter geht es um die Anschauung von Gottes Trinität und vollkommenem Wesen. Gleichzeitig ist dieser Aufstieg von Essenz nach Essenz nur dank der übernatürlichen Gnade Gottes möglich. Das bedeutet, daß der Mensch in den kontingenten Horizont der Heilsgeschichte gestellt wird, so wie sie uns von der Heiligen Schrift entfaltet wird. Das Buch der Schrift wird über das Buch der (gefallenen) Natur gelegt, und so entdecken wir die volle essentialistische Zeichenhaftigkeit der Schöp-

** Vgl. Vos, Α., Kermis en noodzakelijkheid, Een kritische analyse van het absolute evidentialisme in wijsbegeerte en theologie, Kampen 1981. " Siehe zum 'Buch der Natur (oder der Schöpfung)' bei Bonaventura: Rauch, W., Das Buch Gottes, Eine systematische Untersuchung des Buchbegriffes bei Bonaventura, München 1961; Zweerman, Th., 'Prolegomena zur Lektüre von Texten Bonaventuras über das Buch der Schöpfung', in: Franziskanische Studien, 71 (1989), 29-41. Bonaventura gebraucht die Metapher des 'Buches' in einem sehr weiten Sinn. So spricht er auch über Gott und Christus als Buch. Vgl. Rauch, op.cit., S-1S. 44 Vgl. Bonaventura, Itinerarium mentis in deum, Cap. 1,8, IV,2.

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Kapitel 1 Problemstellung. Natur und Gnade, Sprache und Vernunft

fung47. Wie ist das jedoch möglich? Wie kann die kontingente, geschichtliche Heilsordnung der Schrift uns etwas über den essentiellen 'ordo' von und zwischen Schöpfung und Schöpfer aussagen? Oder kehren wir die Frage um: ist die mystische Begegnung mit dem Herrn nicht Anschauung und Genuß seiner kontingenten Liebe, die der Grund der Schöpfung und Heilsgeschichte ist? Wie wird dann die typologisch-geschichtliche Gotteserfahrung in den essentialistischen Aufstieg zu Gott integriert?48 Kurz zusammengefaßt geht es um die Grundfrage, wie die beiden Bücher der Offenbarung Gottes sich zueinander verhalten: das Buch der Natur und ihre Essenzen, und das Buch der Schrift und ihre heilsgeschichtlich-typologischen Bedeutungsmuster. Nach der Entstehung der modernen Naturwissenschaft stellt sich diese Frage erneut in anderer Form. Das Buch der Natur ist, wie Galilei sagt49, in mathematischer Sprache geschrieben. Die physikalisch-mathematischen Essenzen werden nun allerdings nicht mehr wie im platonischen und augustinischen Exemplarismus als Hinweise auf Gott und sein vollkommenes Wesen, sondern als naturimmanente Gesetzmäßigkeiten gelesen. Die

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Rauch, op.cit., 174.: "Der Buchcharakter dieses neuen Wortes Gottes ist also nicht zufällig, sondern grundsätzlich verwurzelt in der Anlage der Welt. Gerade weil die Schrift Buch ist, ist sie 'kosmisch', baut sie gleichsam die gefallene und in ihrem Buchcharakter abgestorbene Welt wieder auf. Sie holt die Welt wieder ein in ihre Zeichenhaftigkeit; sie ist das Wörterbuch und der Schlüssel zur Sprache des Buches der Schöpfung." Durch die Schrift "ist in Wahrheit die Schöpfung ihrem inneren Gesetz nach wieder geheilt." Aber auch: "Etwas neues kommt in und mit der Schrift, etwas, das sich nicht aus dem Weltlauf entwickelt oder aus der Welt herauswächst. Das Ziel, das die Schrift der Welt setzt und in dem sich der Kreis vollendet, ist aus der Welt heraus nicht mehr zu verwirklichen." Rauch, op.cit., 180. Das hermeneutische Problem, das sich aus dieser doppelten Situierung der Welt ergibt, wird von Rauch nicht erkannt. A. Gerken behauptet, Bonaventura, der ein großes Interesse an heilsgeschichtlicher Theologie hatte, habe durch seine Bindung an den aristotelischen Wissenschaftsbegriff das Dilemma von wissenschaftlicher Erkenntnis und heilsgeschichtlicher Erkenntnis nicht zu überwinden vermocht. Vgl. Gerken, Α., 'Besaß Bonaventura eine Hermeneutik zur Interpretation der Geschichte?', in: Wissenschaft und Weisheit, 37 (1974), (19-39), 22 ff. Vgl. zum Dilemma, auf das Gerken hinweist: Vos, Kennis en noodzakelijkheid, 4958. Wie sehr Bonaventura aus der Perspektive der heilsgeschichtlichen Kontingenz dachte, zeigt seine Auffassung, daß in der Endzeit die spekulative, d.h. auf notwendiger Argumentation beruhende Theologie und Philosophie aufgehoben werden und daß unsere Erkenntnis ganz auf 'auctoritas' beruhen werde. Vgl. Ratzinger, J., Die Geschichtstheologie des Heiligen Bonaventura, München/Zürich 1959, 155-161; Gerken, op.cit., 27. Vgl. Galilei, G., Le opere, Ed. nazionale, 20 Bde, Firenze 1890-1909, Bd. VI, II saggiatore, 232; vgl. zum Verhältnis von Schrift und Natur: Bd. V, 'Lettera a madama Cristina di Lorena', 316 f.

1.3 Natur als Text; Sprache und Vernunft

31

naturwissenschaftliche Betrachtung der Wirklichkeit führt seit dem 18. Jahrhundert immer mehr zu einer säkularisierten, unhistorischen Wirklichkeitsauffassung. Beeindruckt vom Erfolg der Physik, versucht man, die einzelnen Dimensionen von Natur und Kultur aufgrund immanenter Gesetzmäßigkeiten zu erklären. Als Reaktion darauf kommen der Idealismus, die Phänomenologie und die deutsche hermeneutische Philosophie (Dilthey, Heidegger, Gadamer) mit Geschichtsauffassungen auf, die den Nachdruck stark auf das Veränderliche und Geschichtliche legen und wenig oder keinen Raum für übergeschichtliche Gesetzmäßigkeiten lassen. Außerdem besteht in diesen Strömungen die starke Neigung, die geschichtliche Entwicklung pan(en)theistisch zu vergöttlichen und als einen notwendigen Prozeß zu interpretieren.

1.3.2 Sprache und Vernunft bei Hamann Der kurze historische Überblick zeigt, wie sehr die hermeneutische Thematik mit der Frage von Natur und Gnade zusammenhängt. Wie wir noch sehen werden, ist das auch bei Hamann der Fall. Auf das Problem des Verhältnisses von übergeschichtlicher notwendiger Bedeutung und geschichtlichkontingenter Bedeutung stoßen wir bei ihm vor allem in seiner Auffassung des Verhältnisses von Sprache und Vernunft. Es läßt sich kurz folgendermaßen formulieren: Wenn die auf Gottes Wort zurückzuführende Sprache nach Hamanns Meinung als kontingent-geschichtliches Phänomen die Grundstruktur der ganzen Wirklichkeit bildet, bedeutet das dann, daß jedes begriffliche Muster, das die Vernunft entdeckt, in seinem Ursprung geschichtlich ist und es sich also nie um übergeschichtliche Essenzen oder Gesetze, auch nicht in der Logik, Mathematik oder Physik, handeln kann? Diese Frage, die in der gegenwärtigen Diskussion über die Hermeneutik der einzelnen Wissenschaften noch immer eine Schlüsselrolle spielt, wird uns in dieser Studie noch viel beschäftigen.

1.4 Zusammenfassung Die Problemstellung dieser Studie ist nun aus doppelter geschichtlicher Perspektive und von aktuellen Fragen in Theologie und Philosophie aus präzisiert und umrissen worden. Zusammengefaßt geht es um die folgenden wesentlichen Fragen:

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Kapitel 1 Problemstellung. Natur und Gnade, Sprache und Vernunft

1) Wie bestimmt Hamann das Verhältnis von Natur und Gnade, von natürlicher und übernatürlicher Gotteserkenntnis, und wie hebt sich seine Auffassung in dieser Hinsicht vom Hintergrund der patristisch-mittelalterlichen Wirklichkeitsauffassung und des späteren modernen Trennungsdenkens ab? 2) Mit welchen hermeneutischen Auffassungen hängt Hamanns Verständnis von Natur und Gnade zusammen? Wie bestimmt Hamann das Verhältnis von übergeschichtlichen und geschichtlich gebundenen Bedeutungsmustern? 3) Welcher Beitrag zu aktuellen theologischen und philosophischen Fragen zum Naturbegriff und der Hermeneutik der Natur ist von Hamanns Denken aus möglich?

Kapitel 2 Der junge Hamann vor seiner Bekehrung

2.1 Einleitung Das Ereignis, das für Hamanns ganzes weitere Leben und Werk entscheidend wurde, war seine Bekehrung in London (1758). Durch diese Bekehrungserfahrung gelangte er zu wesentlichen theologischen Einsichten, die wir bereits in den Londoner Schriften finden und die den bleibenden Kern seines ganzen späteren Werkes bilden. Natürlich kam eine solche Bekehrungserfahrung nicht wie vom Himmel gefallen. Sie folgte auf eine Krise am Ende eines langen Prozesses. Eine Krise ist eine Scharniererfahrung, die das 'alte' Leben nicht nur vom 'neuen' trennt, sondern auch damit verbindet. Die Entwicklung von Hamanns Denken nach seiner Bekehrung läßt sich daher ohne ein Verständnis dessen, was dieser Krise vorausging, nicht gut verstehen. Dieses Kapitel enthält eine kurze Darstellung des jungen Hamann vor seiner Bekehrung. Es ist keine genetische Beschreibung seiner geistigen Entwicklung, sondern eine Skizzierung des geistigen und intellektuellen Klimas, in dem er aufwuchs, und der Elemente dieses Klimas, die ihn am meisten beeinflußt haben. Hamanns Auseinandersetzung mit dem Kraftfeld, in dem er aufwuchs, führte ihn zu einer Krise und Bekehrung. Die Einsichten, die sich aus dieser Bekehrung ergaben, kann man daher als Verarbeitung von Themen, Fragen und Sehnsüchten verstehen, mit denen der Geist seiner Zeit ihn konfrontierte und die er sich häufig zu eigen gemacht hat.

2.2 Lutherische Erziehung und Pietismus Die wichtigsten Einflüsse im Leben eines Menschen sind oft nicht so auffällig. Bei Hamann ist es seine religiöse Erziehung. Seine Eltern waren gläubige Lutheraner, die ihn mit Bibel, Gebet, Kirchenlied, Predigt und Luthers Kleinem Katechismus erzogen. Von seiner Studentenzeit an wird Hamann geistig noch auf mancherlei Umwegen gehen, aber der lutherische Glaube, den er von zu Hause mitbekommen hatte, ist stets ein wichtiger Bezugsrahmen geblieben. Auch seine Londoner Bekehrung ist ohne die Auswirkung dieses religiösen Erbes undenkbar.

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Kapitel 2 Der junge Hamann vor seiner Bekehrung

In Hamanns Jugend und Ausbildungszeit war das religiöse Klima von Königsberg noch stark vom Pietismus geprägt. Die besondere Situation Königsbergs bestand darin, daß durch Zutun des bedeutenden Repräsentanten des Pietismus Franz Albert Schulz (1692-1763) ein mehr oder weniger harmonisches Verhältnis zwischen Pietismus und Wolffianismus1 entstanden war. Schulz vertrat beide Richtungen2. Dies gilt auch für Martin Knutzen (1713-1751), den außerordentlichen Professor für Logik und Metaphysik, Schüler von Schulz und Lehrer von Kant und Hamann, der eine Verbindung zwischen Pietismus, Wolffianismus und moderner Naturwissenschaft herstellte3. Natürlich stand Hamann in Kirche und Schule in vielerlei Hinsicht unter pietistischem Einfluß. Er erhielt jedoch keine ausgesprochen pietistische Erziehung und Ausbildung4. Seine Erziehung war zwar streng, aber nicht streng pietistisch: Zu Hause wurde Karten gespielt, sein Vater rauchte Pfeife, und neben dem Sprachunterricht erhielt Hamann Musik-, Mal- und Tanzunterricht5. Nachdem Hamann eine Zeitlang Haus- und Privatschulunterricht genossen hatte, wurde er nicht ins streng pietistische Collegium Friedericianum, sondern in die gemäßigtere Kneiphöfische Schule geschickt6. Sein Lieblingsdozent an der Universität, C.H. Rappolt, war Gegner des Pietismus7. Mit Anerkennung spricht Hamann im Lebenslauf über seinen Paten und Beichtvater M. Lilienthal, der in der Familie Hamann einen wichtigen Platz einnahm, jedoch kein strenger Pietist war8.

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'Wolffianismus' bezeichnet die Philosophie Christian Wolffs (1679-1754) und seiner Anhänger, die eine systematisierende Entfaltung wichtiger Grundsätze aus der Philosophie von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) ist. 2 Vgl. Erdmann, B., Martin Knutzen und seine Zeit, Leipzig 1876, 22-47; Konschel, P., Der junge Hamann nach seinen Schriften und Briefen im Rahmen der lokalen Kirchengeschichte, Königsberg 1915,6 f.; Hubatsch, W., Geschichte der Evangelischen Kirche Ostpreussens, 3 Bde, Güttingen 1968-'69, Bd. I, 203 f. 5 Vgl. Erdmann, op.ciL, 115-121; Konschel, Der junge Hamann, 23 Fußnote 1. * Vgl. Konschel, Der junge Hamann, 10 Fußnote 1. 5 Vgl. Ν II 12:27. 6 Vgl. Ν II 18:30-. 7 Vgl. zu Rappolt: Ν II 19:33-; Erdmann, op.cit., 114; Konschel, Der junge Hamann, 25 Fußnote 1; Unger, R„ Hamann und die Aufklärung, Studien zur Vorgeschickte des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert (19111), Tübingen 1968\ 123 mit Fußnoten. " Vgl. Konschel, Der junge Hamann, 28 Fußnote 1.

2.3 Die Aufklarung

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2.3 Die Aufklärung Entscheidend für die Entwicklung von Hamanns Denken im positiven, aber vor allem im kritischen Sinne, war die geistige Kultur der Aufklärung. Wir dürfen die Tatsache nicht übersehen, daß er wichtige Elemente der Aufklärung in sein Denken übernahm und daß sie weiterwirkten, auch nach seiner Bekehrung. Trotzdem wurde die Gedankenwelt der Aufklärung das Ziel seiner Kämpfe. Hamanns Schriften nach seiner Bekehrung sind insgesamt ein großer Kreuzzug gegen die Grundgedanken der Aufklärung. Zum Verständnis seines Werkes, sowohl von der Aufklärung her als auch im Gegensatz zur Aufklärung, ist es darum besonders wichtig, näher zu untersuchen, wie der junge Hamann die Aufklärungskultur in sich aufnimmt. Wann fing die Aufklärung an, und wie müssen wir diese Phase der europäischen Kulturgeschichte inhaltlich definieren? Diese Fragen lassen sich schwer beantworten. Meistens wird das 18. Jahrhundert als das Jahrhundert der Aufklärung bezeichnet, aber ihre Wurzeln liegen bereits in der Renaissance. Nach Ansicht P. Hazards hat sich die Krise des europäischen Geistes, die die Renaissance hervorgerufen hatte, im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts überall durchgesetzt9. Damals erscheint Newtons berühmtes Werk Philosophiae naturalis principia mathematica (1687), das einen ungeheuren Einfluß auf die europäische Geistesgeschichte ausübt. Nach Auffassung Cassirers wird die newtonsche Methode das Paradigma für die 'Denkform' der Aufklärung, wie er es nennt10. Nach einer Zeit des deduktiven Rationalismus im Gegensatz zum induktiven Empirismus stellt die Physik eine eindrucksvolle Synthese zwischen beiden her. Durch eine experimentelle Wechselwirkung zwischen physikalischer Theoriebildung und empirischer Wahrnehmung gelingt es ihr, die Naturgesetze in mathematische Formeln zu übersetzen. Dieser Erfolg führt zu einer Wissenschaftsauffassung, die eine Synthese von rationaler Strenge und empirischer Treue erstrebt, eine Synthese, die zum Ideal für die anderen Wissenschaften wird. Die für die Aufklärung bezeichnenden Entwicklungen setzen in Deutschland später als in Frankreich ein. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun-

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Hazard, P., La crise de la conscience europienne 1680-1715 (19351), Paris 1961, IX: "Nous avons voulu montrer qu'ä peu prfes toutes les idöes qui ont paru rdvolutionnaires vers 1760, ou m6me vers 1789, s'6taient exprimdes d6jä vers 1680. Alors une crise s'est op6r6e dans la conscience europöenne; entre la Renaissance, dont eile procfcde directement et la Revolution fran?aise, qu'elle pripare, il n'y en a pas de plus importante dans l'histoire des id^es." Op.cit, 416: "Entre la Renaissance et l'6poque que nous venons d'dtudier la parentd est indöniable." Vgl. zum Verhältnis Renaissance - Aufklärung § 1.2.2. Vgl. Cassirer, E„ Die Philosophie der Aufklärung (19321), Tübingen 19733, 1-35.

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Kapitel 2 Der junge Hamann vor seiner Bekehrung

derts verliert dort die rationalistische Philosophie von Leibniz und Wolff ihre führende Rolle. Diese neu aufkommenden Tendenzen und Strömungen lassen sich auf den allgemeinen Nenner einer neuen Aufgeschlossenheit für die empirische Wirklichkeit von Mensch und Natur bringen. Die orientierende und normierende Bedeutung der Vernunft wird nicht geleugnet, man versucht jedoch, dem großen empirischen Reichtum von Mensch und Natur stärker gerecht zu werden. Anthropologisch und erkenntnistheoretisch impliziert dies eine Neubewertung von sinnlicher Erfahrung und Gefühl, die nicht mit der Vernunft konkurrieren, sondern unentbehrliche Dimensionen und Erkentnisquellen der natürlichen Wirklichkeit sind, die die Vernunft erhellen will. Die neuen Aufklärungsgedanken beschränken sich nicht auf einen kleinen geschlossenen Kreis von gelehrten Denkern und Schriftstellern, sondern werden von einer viel breiteren Schicht des höheren Bürgertums getragen und verbreitet. Sie ist nicht an komplizierten, weltfremden Systemen interessiert, sondern an praktischer Lebensweisheit, die für wohlhabende und gebildete Bürger leicht verständlich ist. Die philosophische Literatur bekommt einen populär-wissenschaftlichen Charakter und wird anhand der Kriterien von Tugend und gesellschaftlichem Nutzen beurteilt. Die rechte Wissenschaft steht im Dienst des konkreten Lebens: eine Auffassung, die schon vom Pietismus mit seinem großen Interesse an den 'realia' und der gläubigen Praxis angebahnt wurde. Hamanns Studienzeit und Lehrtätigkeit fallen genau in die Periode, in der sich diese Wende in der deutschen Aufklärung vollzieht. Wie wurde er konkret damit konfrontiert, und welchen Einfluß hat dies auf ihn gehabt?

2.3.1 Empfindsamkeit 1746 läßt Hamann sich als Theologiestudent immatrikulieren. Aus dem Theologiestudium wird allerdings nicht viel. Bereits nach drei Semestern wechselt er in die juristische Fakultät über11. Der Grund für diesen Wechsel ist "eine neue Neigung zu Alterthümern, Critic -- hierauf, zu den sogenannten schönen und zierlichen Wissenschaften, Poesie, Romanen, Philologie, den französischen Schriftstellern und ihrer Gabe zu dichten, zu mahlen, schildern, der Einbildungskraft zu gefallen ect." (Ν II 21:3-). Unter dem Deckmantel des Jurastudiums läßt Hamann die ernsthafte Wissenschaft und Gelehrtheit auf sich beruhen und läßt sich durch die neue Aufklärungs-

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Konschel, Der junge Hamann, 27 Fußnote 1: "Diese Abwendung von der Theologie ist auch in Ostpreußen in dieser Zeit nichts Seltenes."

2.3 Die Aufklärung

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literatur von der Empfindsamkeit mit ihrem verfeinerten Geschmack und ihrer sensiblen Aufgeschlossenheit für das menschliche Seelenleben anregen und mitziehen. Als literarische Strömung war die deutsche Empfindsamkeit eine Reaktion auf den Klassizismus Gottscheds und seiner Schule und bahnte den Weg für den späteren Sturm und Drang und die Romantik. Wichtig war der Einfluß aus England: Die Essays von Shaftesbury, die Night thoughts von Edward Young und die Romane von Samuel Richardson trugen sehr zur Änderung des Klimas bei. Bekannte deutsche Schriftsteller sind in diesem Zusammenhang Chr.F. Geliert, F. von Hagedorn, J.W.L. Gleim, G.E. Lessing (in seinen Dramen) und F.G. Klopstock. Im Zentrum der 'Empfindsamkeit' steht das Gefühl, das nach einer Zeit des Vorrangs der ratio die ihm gebührende Stellung und Anerkennung fordert. Diese neue Hinwendung zum Gefühlsleben knüpft beim Grundstreben der späten Aufklärung an, sich von der christlichen und rationalistischen Geringschätzung und Unterdrückung der menschlichen Natur zu befreien. Aufgrund der Überzeugung, daß die Natur des Menschen wesentlich gut sei, müssen all ihre Aspekte und Fähigkeiten, und nicht nur die Vernunft, zu ihrem Recht kommen können12. Jedoch wird das Gefühl nun nicht auf Kosten der Vernunft verherrlicht. Man sucht ein subtiles Gleichgewicht und eine Einheit von Gefühl und Vernunft13, denn gerade in der Ausgewogenheit beider findet der Mensch sein Gleichgewicht, sein Vergnügen und seine Zufriedenheit. Maßlosigkeit des Verstandes und des Gefühls gehen auf Kosten seiner Tugend und Gemütsruhe und machen den Menschen ungeeignet, konstruktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. In der Literatur der Empfindsamkeit lassen sich zwei Richtungen unterscheiden, und zwar auf grund der Art, wie das Gefühl angesprochen und intensiviert wird. Zunächst gibt es den Gefühlsbereich der Hypochondrie, Schwermut und Wehmut. Diese Empfindungen bilden den Grundton der gesamten empfindsamen Literatur14, werden jedoch nirgendwo so kultiviert wie in der sogenannten Friedhofs- und Grabliteratur. Darin meditiert der

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Vgl. Sauder, G., Empfindsamkeit, Bd. I, Stuttgart 1974, 196. Die natürlichen Neigungen des Menschen sind Mitgefühl ('sympathy'), Wohlwollen ('benevolence'), Freundschaft, usw. Die Front gegen die Augustinische Lehre der Erbsünde und auch gegen Hobbes Anthropologie ist breit. Vgl. Sauder, op.cit., 125 ff. Vgl. Sauder, op.cit., 147 ff. Vgl. zur Einstellung der Aufklärung zur Melancholie: Schings, H.-J., Melancholie und Aufklärung, Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977 (über Hamann: 278-292).

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Kapitel 2 Der junge Hamann vor seiner Bekehrung

Dichter oder Schriftsteller zwischen den Grabsteinen empfindsam über die menschliche Endlichkeit und Sterblichkeit. Die Night thoughts (1742-'45) von Edward Young werden ebenso wie die Meditations among the tombs (1748) von James Hervey in ganz Europa gelesen15, auch von Hamann: Während seiner Hofmeisterzeit, in der er unter viel Unruhe und Schwermut zu leiden hat, gehören Young und Hervey zu seinen bevorzugten Schriftstellern16. Anläßlich des Todes seiner Mutter 1756 schreibt Hamann ein Denkmal·1 im Geiste von Youngs Night thoughts, denen er auch das Motto entnimmt. Die trübsinnigen Empfindungen über eigene Sünde und Sterblichkeit, die dort zum Ausdruck kommen, lassen jedoch nicht auf eine existentielle Erschütterung schließen. Sie sind von einem anderen Empfindungsstrom gefärbt: dem optimistischen Vertrauen in Gottes unaufhörliche "Regierung und Vorsehung", womit er "durch Wunder und Geheimnisse unsere Vernunft zur höheren Weisheit erzieht" (Ν II 237:27-). Das ist kennzeichnend für die Literatur der Empfindsamkeit: Schwermut ist dort zwar ein Hauptmotiv, aber der Pessimismus reicht selten so weit, daß das aufgeklärte Grundvertrauen in die vernünftige und von der Vorsehung gelenkte Ordnung der Welt dadurch wirklich beeinträchtigt wird. Die Grundlage bildet ein für die Aufklärung bezeichnender Optimismus, der zwar angefochten wird, aber selten verschwindet. Autor und Leser genießen eine dialektische Gefühlsdynamik, in der Wehmut und Fröhlichkeit sich gegenseitig auslösen und verstärken, während sie gleichzeitig von einem optimistischen Grundvertrauen umschlossen werden. Der Optimismus der Empfindsamkeit herrscht im literarischen Rokoko mit seinem leichtfüßigen Stil und seinem Hang nach Zierlichkeit und problemlosem Genuß vor. Englischer 'wit' und französische Frivolität und Galanterie sind tonangebend; sie sollen die schwermütigen 'Grübeleyen' vertreiben und ein Gefühl des Vergnügens und der Zufriedenheit bewirken. Diese Gefühlsideale - die von einer melancholischen Grundlage gespeist werden - üben eine starke Anziehungskraft auf den jungen Studenten Hamann aus und wecken in ihm die 'neue Neigung' zur schöngeistigen Literatur. Diese Neigung teilt er mit den Mitstudenten, mit denen er unter der

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Ausführlich zur Grabliteratur von Young und Hervey: Tieghem, P. van, Le priromantisme, III Bde, Paris 1948, Bd. II, 1-205. Vgl. für die Hofmeisterzeit zu Young: ZH I 134:24, 142:26, 143:31, 151:28, 155:23, 199:34, und zu Hervey: ZH I 134:25, 140:22, 196:4. In den 'Londoner Schriften' werden Young und Hervey mehrmals erwähnt. Vgl. zu Hamanns Rezeption von Young und Hervey: Konschel, Der junge Hamann, 47 Fußnote 1; Unger, R., 'Hamann und die Empfindsamkeit' (19291), in: Wild, R., (Hrsg), Johann Georg Hamann, Darmstadt 1978, 173-200. Ν II 233-238.

2.3 Die Aufklärung

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Leitung seines Freundes Johann Gotthelf Lindner im Jahre 1749 eine Wochenschrift für Frauen mit dem Titel Daphne gründet18. Daphne gehört zur Gattung der Moralischen Wochenschriften, die entscheidend zur Verbreitung der Aufklärungsideale im Bürgertum beigetragen haben19. Von Dichtern wie Geliert und Hagedorn angeregt, wollen die Gründer der Zeitschrift auch in Königsberg mit seiner drückenden Atmosphäre von schwerfälligem Rationalismus und ernstem Pietismus mehr Raum schaffen für Entspannung, Leichtigkeit, Scherz, Zierlichkeit, Zärtlichkeit, usw. Daphne soll dazu beitragen, das Leben und die Vernunft von einem Übermaß an Gewichtigkeit und Starrheit zu befreien. Die Perspektive der Frau und der Weiblichkeit wie Jugendliche sie erfahren - scheint dazu ganz besonders geeignet. Nach Meinung Nadlers können Hamann acht Beiträge zu Daphne zugeschrieben werden20. Sie lassen erkennen, wie sehr der junge Student für die sensible Atmosphäre der aufgeklärten Empfindsamkeit empfänglich war. Vergnügen, Zärtlichkeit, Genuß, Tugend und Glückseligkeit sind die Kernworte. Erstrebtes Ziel ist ein Leben, in dem Glück und Tugend einander entsprechen und in dem eine begründete Hoffnung auf ein noch besseres Jenseits besteht und in dem die Leitung der Vernunft und Religion unentbehrlich ist. Dies Streben wird in gefühlvollen Freundschaften21, häufig vor allem in der Form des Briefwechsels erfüllt und verwirklicht. Die Empfindsamkeit führt auch zu einer höheren Bewertung der Frau und ihres 'zärtlichen' Gefühlslebens. Hamann meint in einem seiner Beiträge zu Daphne22, die (wohlerzogene) Frau sei durch die Zärtlichkeit ihrer Empfindungen mehr zum Glauben veranlagt als der verstandesmäßig eingestellte Mann. Die rationalistischen Männer neigten bisweilen zur Skepsis oder Spekulation. Im echten Glauben gehe es zunächst um empfindsame Praxis, die dem weiblichen Wesen mehr liege.

u 19 20 21

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Insgesamt wurden 60 Nummern herausgegeben, von Mitte März 1749 bis Mitte Juni 1750. Vgl. Martens, W., Die Botschaft der Tugend, Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1968. Ν IV 13-34. Siehe zu einer ausführlichen Besprechung von Hamanns Beiträgen: Kracht, Th., Erkenntnisfragen beim jungen Hamann, Frankfurt 1981, 66-133. Vgl. zum Freundschaftsideal des 18. Jahrhunderts: Rasch, W., Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im Deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts, Halle a.d. Saale 1936. Vgl. Ν IV 17-19.

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Kapitel 2 Der junge Hamann vor seiner Bekehrung

2.3.2 Shaftesbury Von England aus hat nicht nur Edward Young, sondern auch Shaftesbury (1671-1713) großen Einfluß auf die deutsche Kunst und Literatur ausgeübt13. In seiner Hofmeisterzeit machte Hamann eine Übersetzung der zwei bekanntesten Essays von Shaftesbury: A letter concerning enthusiasm und Sensus communisu. Da einige inhaltliche und stilistische Elemente aus diesen Essays in Hamanns Spätwerk wieder auftauchen, lohnt es sich, an dieser Stelle etwas näher darauf einzugehen25. Ironie, Witz, Humor und Satire In beiden Essays, insbesondere in 'Sensus communis', hält Shaftesbury ein warmes Plädoyer für die Benutzung der verwandten rhetorischen Mittel 'irony', 'wit', 'humour', 'satyre', 'raillery' und 'ridicule'. Sein wichtigstes Ziel dabei ist die Prüfung der Wahrheit und Unwahrheit. Sogenannte Wahrheit, die mit viel Ernst und Aplomb vorgetragen wird, soll durch leichten Spott entkräftet werden. Am besten läßt sich der Einfluß von Fanatikern, die bereit sind für ihre 'Wahrheit' zu sterben, mit der Bloßstellung ihres lächerlichen Verhaltens durch Spott und Satire einschränken. Gerade im Bereich der Religion, wo soviel Pathos oder scheinheiliger Ernst die Schwäche der eigenen Position verhüllen sollen, sind Ironie und leichter Spott sehr nützliche Methoden. Sie sind viel wirksamer als Einschränkung der Meinungsfreiheit und Unterdrückung oder Verfolgung durch die Regierung oder die Kirche. Aufzwingen der Wahrheit durch Gewalt fordert nur dazu heraus, die eingenommenen Standpunkte noch stärker zu verteidigen.

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Vgl. zum Einfluß von E. Young auch unten, § 4.9.1. Vgl. zu Shaftesbury: Küntzel, H., Essay und Aufklärung, Zum Ursprung einer originellen Deutschen Prosa im 18. Jahrhundert, München 1969, 119-153 (zu Hamann - Shaftesbury: 141-143). Ά letter concerning enthusiasm to my lord *****' in: Shaftesbury, (Anthony Ashley Cooper) Earl of. Characteristics of men, manners, opinions, times (17111), Herausgegeben, mit Anmerkungen, von J.M. Robertson, mit einer Einleitung von S. Grean, 2 Bde, Indianapolis/New York 1964,3-39; 'Sensus communis; an essay on the freedom of wit and humour in a letter to a friend', op.cit., 41-99. Ursprünglich 1708 resp. 1709 erschienen. Später wurden sie in Characteristics (1711) aufgenommen, die 1790 schon zum zehnten Mal neu aufgelegt wurden. Hamann benutzte die Ausgabe von 1733. Siehe zu seinen Übersetzungen: Ν IV 133-153 ('Sendschreiben von der Begeisterung an den Mylord') und ΝIV 155-191 ('Sensus communis, ein Versuch über die Freyheit des Witzes und Scherzes in einem Brief an einen Freund'). Da sie keinen sichtbaren Einfluß auf Hamanns Denken ausgeübt haben, gehen wir auf die von ihm in seiner Hofmeisterzeit ebenfalls übersetzten Schriften von Ren6 Rapin (vgl. Ν IV 43-129) und Albert Radicati (vgl. Ν IV 193-207) hier nicht weiter ein.

2.3 Die Aufklärung

41

Nicht daß Shaftesbury die Wahrheit und Religion an sich lächerlich machen wollte26. Es geht ihm darum, das Lächerliche, sofern es wirklich vorhanden ist, sichtbar zu machen. Wahrheit bedeutet für Shaftesbury Gleichgewicht, Harmonie, Schönheit, Erkenntnis des richtigen Verhältnisses. Die läuternde Bedeutung von Ironie und Witz liegt darin, daß in ihrem Lichte das Zuviel oder Zuwenig an Maß und Gewicht zutage tritt. Den jungen, schwermütigen Hamann aus dem schwerfälligen Königsberg spricht die elegante, leicht ironische und humoristische Weltanschauung des englischen Grafen sehr an. Als Mitarbeiter des Handelsunternehmens Berens macht er dann später den Versuch, solch eine Einstellung in die Praxis umzusetzen: als Mann von Welt mit Geschmack und 'gesunder Vernunft' zu leben, sich in gesellschaftlichen Kreisen zu bewegen wissen und für die Gesellschaft nützlich zu sein. Nach seiner Bekehrung behält Hamann eine Vorliebe für Ironie und Satire; sie sind überall in seinem Werk zu finden. In seiner ersten Veröffentlichung, Sokratische Denkwürdigkeiten (1759), spielt die sokratische Ironie eine wichtige Rolle; wir werden jedoch sehen, daß dort die auf diese Weise enthüllte Wahrheit eine andere ist als bei Shaftesbury. Begeisterung,

Schwärmerei

Shaftesbury, der Philosoph des Gleichgewichts und der Harmonie, wendet sich in Ά letter concerning enthusiasm' gegen die Störung des Gleichgewichts von Vernunft und Empfindung durch 'enthusiasm'. Eine zu starke Leidenschaft sieht er als große Gefahr, vor allem, wenn Religion dabei eine Rolle spielt. Dieses Übermaß kann sich in zweierlei Hinsicht äußern: in Schwermut, Trägheit, Trübsinn einerseits, oder in Schwärmerei, Begeisterung, Fanatismus, Ekstase, usw. anderseits. Oft sind sie verbunden: "There is a melancholy which accompanies all enthousiasm."27 Jeder Mensch und jede Weltanschauung oder Religion läuft Gefahr, das richtige Gleichgewicht von Empfindung und Vernunft zu verlieren28. Das beste Heilmittel ist "to give liberty to wit"29. Als Hamann an der Übersetzung dieses Essays über 'enthusiasm' (von ihm als 'Begeisterung' oder 'Schwärmerey' übersetzt)

24

27 28 29

Die deutschen Leser bekamen diesen Eindruck allerdings, weil 'humour', 'ridicule' und 'raillery' häufig mit den viel schärferen Begriffen 'Spott' und 'Spötterey' übersetzt wurden. Op.cit., 12 (Ν IV 137:18-)· Sogar der Atheismus kann 'fanatic' werden: " since even atheism is not exempt from it." Op.cit., 37 (Ν IV 152:28-): vgl. auch: Characteristics, 196. Op.cit., 15 {Ν IV 139:45)

42

Kapitel 2 Der junge Hamann vor seiner Bekehrung

arbeitet, kann er nicht ahnen, daß seine eigenen Freunde ihn einmal der von Shaftesbury abgelehnten 'Schwärmerey' bezichtigen würden30. Shaftesbury ist allerdings kein Philosoph der trockenen, nüchternen Vernunft. Am Ende seines Essays weist er auf eine legitime, göttliche Form der Verzückung hin31. Sie tritt auf, wenn der Mensch mit der göttlichen Schönheit, Güte und Wahrheit in Berührung kommt und mit seiner ganzen Existenz an der göttlichen Schöpferkraft teilhat; indem er sich selbst transzendiert, findet er sein wahres, göttliches Selbst. Durch die rechte Begeisterung nehmen wir an der Schöpferkraft und Ordnung der Natur und des Kosmos teil. Diese Gedanken über die göttliche Begeisterung bilden den Kern von Shaftesburys platonischer, panentheistischer und stark ästhetisch gefärbter Philosophie32, die insbesondere in Deutschland großen Einfluß hatte. Natürliche

Eigenliebe

Häufig erörtert wurde im 18. Jahrhundert die Frage, inwieweit der Mensch seinem Wesen nach egoistisch oder altruistisch sei33. In 'Sensus communis' bestreitet Shaftesbury Hobbes Auffassung, der Mensch sei von Natur aus lediglich auf sein Eigeninteresse bedacht, das er mit allen Mitteln erstrebe. Seiner Ansicht nach gibt es eine edle Form der Eigenliebe, die von gleicher Art ist wie die Zuneigung für Verwandte, Freunde und Mitbürger, wobei beide auf den Stand der Natur zurückzuführen sind34. Die natürliche Eigenliebe ist ein integrierender Baustein für ein harmonisches zusammenleben in der Gesellschaft. Durch seine Bekehrung kommt Hamann zur Einsicht, daß diese 'natürliche Eigenliebe' einen übernatürlichen Ursprung hat.

2.3.3 Hume Obwohl die Aufklärung in Preußen nicht einen derartig starken Impuls von der neuen Wissenschaft bekam wie in England und Frankreich, war man in Königsberg relativ gut über die Newtonsche Physik und die englische Phi30 31 32 33 34

Vgl. zur negativen religiösen Konnotation von 'Schwärmerey': Sauder, op.cit., 140 ff. Vgl. op.cit., 38 f. (Ν IV 153:4-). Vgl. zu Shaftesburys Ästhetik: Cassirer, op.cit., 417-427. Eine Zusammenfassung dieser Diskussion in Bezug auf die Empfindsamkeit gibt Sauder, op.cit., 73-85. Op.cit., 73 f. (Ν IV 175:3-): "Thus faith, justice, honesty, and virtue, must have been as early as the state of nature, or they could never have been at all. The civil union, or confederacy, could never make right or wrong, if they subsisted not before."

2.3 Die Aufklärung

43

losophie unterrichtet. Zunächst einmal war dort Martin Knutzen, durch den Kant und Hamann Newtons Physik kennenlernten35. Knutzen kam aus der Schule Wolffs, war aber vom englischen Empirismus beeinflußt. Er befaßte sich mit den englischen Freidenkern und wandte sich gegen ihren empiristischen Skeptizismus. Ein anderer Liebhaber der englischen Literatur war Johann Jacob Quandt (1686-1772), Repräsentant der lutherischen Orthodoxie in Königsberg und ein großer Gegner des pietistischen Schulz36. Wahrscheinlich wurde das Interesse am englischen Empirismus bei Hamann vor allem durch den Unterricht C.H. Rappolts (1702-1753) geweckt, der außerordentlicher Professor für Physik war und mit Anerkennung in Hamanns Lebenslauf erwähnt wird37. Rappolt hatte selbst einige Zeit in England verbracht und hielt in Königsberg Vorlesungen über die englische Sprache und Philosophie38. Hamanns frühes Interesse am englischen Empirismus zeigt sich in dem Studium, das er bereits als Hofmeister David Hume widmet39. Er vertieft sich in Humes Empirismus und dessen skeptische Einstellung zur Vernunft, die ihn auch nach seiner Bekehrung nicht mehr loslassen werden. Immer wieder greift er auf Humes Werk zurück und läßt sein eigenes Denken wesentlich davon beeinflussen. Inhaltlich ist ein erstes Zeichen der empiristischen Einstellung Hamanns in den Briefen eines VatersM (zwei fiktiven Briefen eines Vaters an seinen Sohn) und im Fragment Über Descartes'1 zu finden. Im zweiten Brief fordert der Vater seinen Sohn auf, den Weg der 'gesunden Vernunft' nicht zu verlassen. Die gesunde Vernunft lasse sich nicht von der gegenwärtigen Mode 'der Methode' mitreißen, sondern halte sich an die drei Quellen: Geschichte, Natur und Offenbarung. Mit 'der Methode' meint Hamann die geometrische Methode, die seit Descartes' Discours de la mithode die Philosophie beherrschte. Seiner Ansicht nach geht die geometrische Deutlichkeit auf erste Begriffe zurück, die die Einbildungskraft hervorgebracht hat. Die 'Gewißheit ihrer Lehrart' herrscht daher nur im Bereich der

35

34 37 38

39 40 41

Vgl. Ν II 19:18-. Siehe zu Knutzens Rezeption von Newton: Waschkies, H.-J., Physik und Physikotheologie des jungen Kant, Amsterdam 1987. Vgl. Erdmann, op.cit., 114; Unger, Hamann und die Aufklärung, 593 f. Vgl. Ν II 19:33-. Vielleicht kam Hamann auch durch Theodor Christoph Lilienthal (1717-1781), Sohn des bereits erwähnten Paten und Beichtvaters, mit der englischen Literatur und Philosophie in Berührung. Lilienthal unternahm eine Reise nach England. Vgl. Ν II 20: 14-; Unger, Hamann und die Aufklärung, 595; Konschel, Der junge Hamann, 30 f. Vgl. ZH I 178:26-. Ν IV 213-217. Ν IV 221-223.

44

Kapitel 2 Der junge Hamann vor seiner Bekehrung

(deduktiven) Philosophie. "Hieraus seht ihr schon, wie schwer, ja wie unmöglich ihre Anwendung in einer Wissenschaft wird, die von ganz verschiedenem Wesen ist." (ΝIV 217:25-). Hamann gibt hier eine psychologistische Deutung der geometrischen Axiome und Sätze. Ihre Deutlichkeit und Gewißheit gehen auf unsere Einbildungskraft zurück und sind als solche individuell geprägt. Obwohl er Hume nicht erwähnt, ist es auffällig, daß diese Auffassung - die er niemals mehr ändern wird - Humes Auslegung der Geometrie in A treatise of human nature (1739-1740) entspricht. Wenn er in den Metakritik (1784) dieselbe Auffassung wiederholt, gibt es ausdrückliche Hinweise auf Hume42. Hamanns psychologistische Interpretation der geometrischen Methode ist auch in einem kurzen Textfragment über den Discours de la mithode von Descartes zu finden, dem folgendes Zitat entnommen ist: "Der Ursprung und die Natur der Geometrie ist ohne Zweifel der Grund derjenigen Lehrart, die man in andern Wissenschaften so sorgfältig gewesen ist, nachzuahmen: die ersten Begriffe in derselben sind durch die Einbildungskraft willkührlich bestimmt worden und hiengen von derselben ab; so entspringt aus ihrer Natur dieselbe Vollkommenheit ihrer Übung."43

2.3.4 Der aufgeklärte Kaufmann Von 1752 bis 1756 ist Hamann zunächst in Livland und dann in Kurland Hofmeister aber viel 'vergnügte Zufriedenheit' verschafft ihm dies nicht. Als sein früherer Studienfreund, der Kaufmannssohn Johann Christoph Berens, 1754 von einer Frankreichreise zurückkehrt, gelingt es ihm auch leicht, Hamann für das neue Ideal des Kaufmanns als 'Ritter der Aufklärung' zu gewinnen. Hamann befaßt sich nun eingehend mit politischer, juristischer und volkswirtschaftlicher Literatur. Den Tod seiner Mutter 1756 nimmt er zum Anlaß, als Hofmeister zu kündigen und eine Anstellung bei der Familie Berens anzunehmen. Bereits zuvor fertigt er im Auftrag dieser Firma eine zusammenfassende Übersetzung von zwei kleineren Werken über den Handel

42



Auf die Übereinstimmung mit Humes Auffassung über die Geometrie in Treatise kommen wir im Zusammenhang mit Hamanns Metakritik ausführlicher zurück in § 7.4.1: Allgemeine Ideen; ihr a postiori Charakter. ΝIV 222:43- (kurs. H.V.). Vgl. zu Hamann - Descartes: Bräutigam, B., Reflexion des Schönen - schöne Reflexion, Überlegungen zur Prosa ästhetischer Theorie - Hamann, Nietzsche, Adorno Bonn 1975, (Hamann: 22-97), 23-27; Majetschak, S., 'Der Stil als Grenze der Methode - Über Hamanns Descartes-Lektüre', in: Acta 5, 227-237.

2.3 Die Aufklärung

45

von Plumard de Dangeuil resp. Bernardo de Ulloa an und schreibt dazu eine Beilage44. Die Beylage*5, die in den Kreuzzügen (1762) neu aufgelegt wurde, ist ein Lob auf den Handel46. Sie zeigt ganz deutlich, wie stark der junge Hamann von den Aufklärungsidealen beeinflußt wurde, läßt jedoch auch die Unzufriedenheit mit seiner eigenen Situation erkennen. Wir möchten diesen Paragraphen nun mit einigen Gedanken aus dieser Beylage illustrativ abschließen47. Hamann beginnt mit einem Hinweis darauf, daß er die Kenntnisse über diesen Gegenstand mehr seinem besten Freund (Berens) als allen gelesenen Büchern zu verdanken habe. Danach widmet er den göttlichen Vergnügen und Pflichten der Freundschaft zwei Abschnitte. Dann klagt er über seine eigene Situation. Der Beruf des 'Hofmeisters' hängt ihm wie ein Mühlstein um den Hals. Im Dienste der adligen Familien erlebt er, wie die Gesellschaft zu einer Ständegesellschaft erstarrt ist, in der allerlei Untugenden und Vorurteile vom Vater auf den Sohn übertragen werden und lediglich ein gutes Einkommen und leichtes Leben erstrebt werden. Verantwortung und Einsatz für 'das gemeine Wesen' scheinen ausgestorben zu sein. Diese traurige Lage hat beim Verfasser "eine Art Menschenhasses, der keine Krankheit der Galle noch der Einbildung, sondern eine Schwermuth der Vernunft ist", hervorgerufen (Ν IV 228:31 -)48. Es gibt leider einige Denket49, die meinen, der Mensch sei nur auf sein Eigeninteresse gerichtet. Aber besteht im Menschen nicht eine natürliche Neigung, sich für gemeinschaftliche Belange einzusetzen, die in Ehe, Verwandtschafts- und Freundschaftsbeziehungen zum Ausdruck kommt50? Ist außerdem die Ungleichheit der Menschen nicht eine Folge der Vorsehung Gottes, um uns so voneinander abhängig zu machen? Die Vorteile unserer

44

45 46 47

48

49 50

Das Ganze erscheint 1756 unter dem Titel: Des Herrn von Dangeuil Anmerkungen über die Vortheile und Nachtheile von Frankreich und Großbritannien in Ansehung des Handels und der übrigen Quellen von der Macht der Staaten. Auszug eines Werks über die Wiederherstellung der Manufacturen und des Handels in Spanien. Beylage des deutschen Übersetzers. Ν IV 225-242. Vgl. Merlan, Ph., 'J.G. Hamann as a spokesman of the middle class', in: Journal of the history of ideas, 9 (1948), 380-384. Vgl. zur Beylage: Strässle, U., Geschichte, geschichtliches Verstehen und Geschichtsschreibung im Verständnis Johann Georg Hamanns, Eine entwicklungsgeschichtliche Untersuchung der Werke zwischen 1756 und 1772, Bern 1970, 19-28. Hamann interpretiert und stilisiert seine depressive Unruhe also von einer aufgeklärten Gesellschaftsanalyse aus. Nach seiner Bekehrung kommt er zu einer ganz anderen Erklärung. Zum Beispiel Hobbes und Mandeville. Vgl. zum selben Thema den Schluß von § 2.3.2 über Shaftesbury.

46

Kapitel 2 Der junge Hamann vor seiner Bekehrung

gegenseitigen Abhängigkeit treten nirgends deutlicher zutage als in den Wohltaten des Handels. Danach hält Hamann seine Lobrede auf den Handel. Hier nun einige Beispiele: Die Freiheit, auf der der Handel beruht, hat eine Ausstrahlung auf andere gesellschaftliche Bereiche. Ein gutes Beispiel ist Holland, wo der Gewissenszwang um des Handels willen abgeschafft wurde und "die so vernünftige als wohltätige Glaubensfreyheit" (Ν IV 231:19) gesetzlich garantiert ist. Außerdem werden durch den Handel die unnatürlichen Standesunterschiede verschwinden. Der Handelsgeist hat auch durchaus Einfluß auf Philosophie und Wissenschaft gehabt. "Der Gelehrte ist aus den spanischen Schlössern der intellektualischen Welt und aus dem Schatten der Büchersäle auf den großen Schauplatz der Natur und ihrer Begebenheiten, der lebenden Kunst und ihrer Werkzeuge, der gesellschaftlichen Geschäfte und ihrer Triebfedern zurückgerufen; er ist ein aufmerksamer Zuschauer, ein Schüler, ein Vertrauter des Bauren, des Handwerkers, des Kaufmanns, und durch gemeinnützige Beobachtungen und Untersuchungen sein Gehülfe und Lehrer geworden." (Ν IV 232:17-)51. Der Handelsadel ist von ganz anderer Art als der Kriegsadel. Die Kriegszeiten sind übrigens vorbei52. Der Kaufmann hat die Stelle des Soldaten eingenommen. Der echte Handelsgeist richtet sich zunächst auf das Interesse der Allgemeinheit und erst danach auf das unmittelbare Eigeninteresse des Kaufmanns. Um des Vaterlands und des Gemeinwohls willen muß der rechte Kaufmann zuweilen zur Selbstverleugnung imstande sein. Darauf muß er durch eine gute Erziehung vorbereitet werden. Hamann schließt seine Lobrede mit einer Erörterung über die große Bedeutung der Familie und des gesunden Familiengeistes; natürlich schwebt ihm dabei die Familie Berens vor Augen.

2.4 Humanistische

Philologie

Hamanns literarisches und wissenschaftliches Interesse wurde gewiß nicht nur durch die verschiedenen Tendenzen der Aufklärung geprägt. Sehr inten51

52

Dieser Abschnitt bringt zum Ausdruck, was Hamann beim Übergang von seiner Hofmeistertätigkeit und Studierzimmergelehrtheit zum Kaufmannsstand vor Augen schwebte. Als leuchtendes Vorbild der neuen Wissenschaft führt er die französische Encyclopedic an (vgl. Ν IV 232:45-)· ΝIV 234:27-: "Unsere Zeiten sind nicht mehr kriegerisch und die Thaten der berühmtesten Helden werden uns bald wie die Ebentheuer des Don Quixote vorkommen." Im selben Jahr bricht der siebenjährige Krieg aus.

2.4 Humanistische Philologie

47

siv verarbeitet er auch die ehrwürdige Tradition der humanistischen Philologie. Dabei handelt es sich um 'Philologie', nicht in der modernen, verengten Bedeutung, sondern um den Begriff in einem sehr umfassenden Sinn, wie er seit der Renaissance und zum Teil auch noch in Hamanns Zeit verstanden wird. Die humanistische Bewegung des 15. Jahrhunderts hatte ihren Ursprung in den 'studia humanitatis': grammatica, rhetorica, poetica, his tori a und ethica53. Logica, physica, metaphysica und mathematica gehörten nicht dazu54. Der Humanismus war zunächst eine literarisch-rhetorische Bewegung, und erst in einer späteren Phase kam die Philosophie noch hinzu35. P.O. Kristeller bezeichnet den Humanismus der Renaissance als eine breite kulturelle und literarische Bewegung, "die im wesentlichen nicht philosophisch war, aber bedeutende philosophische Implikationen und Konsequenzen hatte"56. Auf diesem Hintergrund muß auch die humanistische Philologieauffassung gesehen werden57. Demnach besteht eine enge Verbindung zwischen der Philologie und den vielen anderen Fachgebieten, wie Geschichte, Philosophie, Geographie, usw. Aufgrund seines literarischen Anliegens ist die Philologie für den Humanismus der erste und wichtigste Zugang zu den einzelnen Wissenschaftsbereichen. Sie steht dadurch in enger Beziehung zur Polyhistorie, denn Wortkenntnisse bleiben leer und formal, wenn sie nicht

53

Kristeller, P.O., Renaissance thought, New York 19612, 9 f.: "By the First half of the fifteenth century, the studia humanitatis came to stand for a clearly defined cycle of scholarly disciplines, namely grammar, rhetoric, history, poetry, and moral philosophy, and the study of each of these subjects was understood to include the reading and interpretation of its standard ancient writers in Latin and, to a lesser extent, in Greek." 54 Kristeller, op.cit., 10: "This stubborn fact seems to me to provide irrefutable evidence against the repeated attempts to identify Renaissance humanism with the philosophy, the science, or the learning of the period as a whole." Kristeller, op.cit., 101: "TTieir domains were the fields of grammar, rhetoric, poetry, history, and the study of the Greek and Latin authors. They also expanded into the field of moral philosophy, and they made some attempts to invade the field of logic, which were chiefly attempts to reduce logic to rhetoric." " Kristeller, op.cit., 19: "After the middle of the fifteenth century, the influence of humanistic learning spread outside the limits of the studia humanitatis into all areas of Renaissance culture, including philosophy and the various sciences. some of the humanists also began to realize that a thorough study of philosophy should be added to the studia humanitatis." 56 Kristeller, op.cit, 22. 57 Die folgenden Ausführungen beruhen zum großen Teil auf: der Einleitung und dem ersten Kapitel von V. Hoffmanns ausgezeichneter Studie Johann Georg Hamanns Philologie, Berlin/Köln/Mainz 1972; Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Basel 1989, s.v. 'Philologie' (A. Horstmann), Sp. 555-560., und s.v. 'Polyhistorie/Polymathie* (W. Schmidt-Biggemann), Sp. 1083-1085.

48

Kapitel 2 Der junge Hamann vor seiner Bekehrung

mit enzyklopädischen Kenntnissen der Fülle von Dingen und Fakten in dem wissenschaftlichen Universum einhergehen, das die Philologie erschlossen hat. Im 17. Jahrhundert profiliert die Philologie sich dann deutlicher als wissenschaftliche Disziplin und löst sich ausdrücklich von der Mathematik und der Logik. Dennoch deckt sie auch weiterhin einen sehr weiten Bereich ab. Im Anschluß an G.J. Vossius definiert A.E. Miras: "Philologia occupatur circa Sermonem et Historiam"58; und zur 'sermonis historia' werden dann Geographie, Chronologie, Genealogie, Geschichte (sowohl die geistliche als die profane) und Literaturgeschichte gerechnet. Ein wichtiger Aspekt der humanistischen Philologie und Polyhistorie ist die Tatsache, daß philologische Detailforschung (zum Beispiel Etymologie) Ausgangspunkt für allerlei philosophische und theologische Spekulation ist. Der Forscher schaut so durch kleine philologische Öffnungen in einen großen spekulativen Guckkasten. Zudem bietet die Detailforschung auch Gelegenheit zum Spiel mit Worten und Bedeutungen. Philologischer Humor, Ironie und Satire machen sich darum trotz aller polyhistorischen Gelehrsamkeit geltend. Die polyhistorische Tradition der Philologie setzt sich bis ins 18. Jahrhundert fort. Außerdem verselbständigen sich die einzelnen philologischen Subdisziplinen immer mehr, wenn auch unter Beibehaltung des philologischen Ansatzes. Zwei Entwicklungen fallen dabei auf. Erstens die Verbindung zwischen Philologie und Naturforschung ('Realienkunde'). Und zweitens die Entwicklung der Philologie als formaler Disziplin zum selbständigen Fach und vor allem zur 'Kritik'. Sie löst sich von biblisch-hermeneutischen Bindungen, und der Philologe wird zum 'Kunstrichter', der aufgrund von literarischen, philosophischen und ästhetischen Kriterien urteilt. Die Person des Kunstrichters stellt so die Verbindung zwischen traditioneller Philologie und den neuen literarischen Entwicklungen der Aufklärung her. 'Kritik' wird bekanntlich eins der Schlüsselworte der Aufklärung. Kommen wir nun zu Hamann zurück. In seiner Hofmeisterzeit liest Hamann erstaunlich viel, wie aus den zwei noch erhaltenen Notizbüchern aus dieser Zeit ersichtlich ist5®. Es zeigt sich darin, daß Hamann diese Tradition der humanistischen Philologie und Polyhistorie in ihrer ganzen Breite aufnimmt. Allerlei Gelehrtenlexika, Wörterbücher, polyhistorische Sammel-

58 59

Minis, A.E., Universia Philologia, Lipsiae 1694,1, zitiert in: Hoffmann, Johann Georg Hamanns Philologie, 19. Von Nadler in Ν V 125-276 herausgegeben; vgl. zu den Notizbüchern: Ν V 377-381 und Hoffmann, Johann Georg Hamanns Philologie, 29-69.

2.4 Humanistische Philologie

49

werke, wissenschaftliche Zeitschriften und Bibliographien werden erwähnt60. Wichtige Namen sind u.a. J.F. Reimmann61, J.A. Fabricius, J. Wower, J. Clericus, J.M. Chladenius und J.S. Popowitsch. Im Zusammenhang mit Hamanns späterer Hermeneutik ist es von Bedeutung, daß er sehr von der humanistisch-polyhistorischen Verbindung von philologischer Detailforschung und philosophisch-theologischer Spekulation fasziniert war*2. In diesem Lichte ist auch sein Interesse an der Kabbala zu verstehen. 'Im Kleinen spiegelt sich das Große': der Ursprung dieser hermeneutischen Einsicht liegt im Falle Hamanns zum Teil in seinem intensiven Umgang mit der humanistisch-philologischen Literatur63. Außerdem beweisen Hamanns Aufzeichnungen seinen Sinn für das geistreiche Spiel mit Worten und Bedeutungen, für die Ironie, die Satire und den Humor auf der Ebene des philologischen Details64. Auch in dieser Hinsicht besteht eine Beziehung zwischen der humanistischen Philologie und dem Stil seiner späteren Schriften. Hamanns literarisch-humanistische Bildung fing nicht erst nach seiner Studentenzeit an. Die Grundlage hierfür wurde bereits in den Privatschulen 60

61

62

63 64

Hoffmann, Johann Georg Hamanns Philologie, 38: "Ein Blick in die Studierstube mit ihrer endlosen Titelreihung, die durch größere Übersetzungsstücke unterbrochen ist, läßt vermuten, daß der Akzent dieser Kärrnerarbeit, die sich größtenteils auch an Hand des gleichzeitigen Briefwechsels verfolgen läßt, auf der Linie der barocken polyhistorischen Gelehrsamkeit liegt. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, wenn man den großen Anteil der bibliographischen Hilfsmittel, der Gelehrtengeschichten, Gelehrtenlexika und Rezensions-Periodica, erkennt". Das Werk Jacob Friedrich Reimmanns (1668-1743) erhält in den Notizbüchern viel Beachtung. Vgl. hierzu: Gajek, B., Sprache beim jungen Hamann, Bern 1967, 40-54. Reimmann war ein angesehener Gelehrter, der in einer umfassenden 'historia literaria' alle wissenschaftlichen Erkenntnisse von der Frühzeit bis zur Gegenwart sammeln und ordnen wollte. Sein großes Vorbild war Bacons De dignitate et augmentis scientiarum. Aber bei Reimmann, der in der Tradition des deutschen Humanismus stand, nahm die moderne Naturwissenschaft einen viel weniger bedeutenden Platz ein als bei Bacon. Bacon teilte die wissenschaftliche Geschichtsschreibung in 'historia naturalis' und 'historia civilis' (wozu die 'historia literaria' gehört) ein. Reimmann verwarf diese Einteilung und sah die 'historia naturalis' als einen Teil der 'historia literaria'. Gajek, Sprache beim jungen Hamann, 46: "Reimmann sieht also in Sprache und Philologie getreu der humanistischen Überlieferung den Kern der Wissenschaften." Hoffmann, Johann Georg Hamanns Philologie, 40: "Hamann rezipiert also Philologie polyhistorischer Ausprägung, wie sie sich aus der humanistischen Tradition entwickelt hatte. Diese vereint philologische Kleinarbeit (Mikrologie) mit erstaunlich weitgespannten Verbindungen zu anderen Wissenschaftsgebieten". Op.cit., 41: "Innerhalb der polyhistorischen Gelehrsamkeit fasziniert Hamann offensichtlich die mikrologische Detailuntersuchung, die sich erstaunlich oft mit spekulativen Ansprüchen und krauser Darstellung verbindet." Siehe zur Besprechung dieses philologisch-hermeneutischen Prinzips in Hamanns Werk: Hoffmann, Johann Georg Hamanns Philologie, 80-86. Vgl. Hoffmann, Johann Georg Hamanns Philologie, 45-47.

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Kapitel 2 Der junge Hamann vor seiner Bekehrung

('Winkelschulen') und der Kneiphöfischen Schule gelegt, die er besuchte. Der Sprachunterricht stand dort im Mittelpunkt des Lehrplans, wobei die Schüler viel zu umfangreiche Mengen von Stoff verdauen mußten. Hamann beschwert sich später darüber, daß er mit "einer Menge Wörter und Sachen deren Verstand, Grund, Zusammenhang, Gebrauch ich nicht kannte" (N II 13:40-) konfrontiert wurde. Darauf führt er auch die Tatsache zurück, daß er so viel Mühe hat, seine Gedanken "in Ordnung zu sammeln und mit Leichtigkeit auszudrücken." (Ν Π 14:12-). In seiner Studentenzeit bekommt Hamann Gelegenheit, sich von der äußerst trockenen polyhistorischen Schulphilologie zu lösen. Die 'neue Neigung' zur schöngeistigen Literatur der Aufklärung bringt ihn auf eine neue literarische Fährte. Doch bedeutet dies nicht den Abschied vom Erbe der humanistischen Tradition; beweisen doch die Notizbücher, daß er diese Tradition später wieder intensiv aufnimmt. Die polyhistorischen Folianten behalten ihren Platz neben den handlichen, zierlichen Bändchen der Aufklärungsliteratur. Hamanns Bekehrung wird zu einer großen Änderung seines Leseverhaltens führen und ihn zu einer neuen Auffassung der Philologie bringen65. Doch zeigen noch erhaltene Fragmente aus späteren Notizbüchern, daß philologische Studien ein fester Bestandteil seiner geistigen Aktivität bleiben.

25 Physikotheologie 2.5.1 Hamanns Kenntnis der Physikotheologie In § 2.3.1 wurden Young und Hervey als zwei Autoren der 'Empfindsamkeit' erwähnt, die vom jungen Hamann viel gelesen wurden. In diesem Paragraphen müssen wir nochmals auf beide zurückkommen, da es in ihrem Werk noch andere Elemente gibt, die Hamann beeinflußt haben. Die wehmütigen Betrachtungen an Gräbern sind bei Young und Hervey nämlich mit doxologischen Äußerungen über die Zeichen der Güte und Vorsehung Gottes in seiner Schöpfung verbunden. Die Betrachtungen über die menschliche Endlichkeit und Sterblichkeit stehen im optimistischen Rahmen physikotheologischer Überlegungen, die sehr zu ihrer Beliebtheit beigetragen haben.

45

Sie wird in der erwähnten Studie von Hoffmann ausführlich analysiert.

2.5 Physikotheologie

51

Die Physikotheologie war eine populärwissenschaftliche Strömung, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der neuen Physik entstanden war und im 18. Jahrhundert sehr umfangreich wurde. Eine große literarische Produktivität brachte breiten Schichten des höheren Bürgertums diese Synthese von neuer Naturerfahrung und Glaube nahe66. Auch ohne konkrete Hinweise ist anzunehmen, daß der äußerst belesene Hamann die Physikotheologie einigermaßen kannte. Die physikotheologische Literatur war nämlich im 18. Jahrhundert so weit verbreitet, daß sich ihr kein einziger Intellektueller ganz entziehen konnte. Die Werke von W. Derham, F.C. Lesser, J.F. Martinet, Β. Nieuwentyt und vielen anderen wurden im Original oder in Übersetzung in ganz Europa gelesen; eine Neuauflage folgte auf die andere. Die Bedeutung der Physikotheologie zeigt sich nicht zuletzt darin, daß führende Naturwissenschaftler wie R. Boyle, WJ. 's Gravensande und P. van Musschenbroek in geringerem oder stärkerem Maße Physikotheologen waren. Bis in seine kritische Periode stand Hamanns Königsberger Mitbürger Immanuel Kant unter dem Einfluß bedeutender physikotheologischer Ideen67. Direkte Hinweise darauf, daß Hamann die Physikotheologie kannte, sind folgende: Hamanns Lehrer Knutzen und Rappolt waren auch Physikotheologen68. Im Lebenslauf erzählt Hamann, er sei Mitglied einer physikotheologischen Gesellschaft gewesen, die Knutzen gegründet habe, die "aber", wie er 46

67

M

Vgl. zur Physikotheologie die folgenden Studien: Philipp, W., (Hrsg.), Das Zeitalter der Aufklärung, Klassiker des Protestantismus, Bd. VII, Bremen 1963, XI-CIV (Einleitung von Philipp); Philipp, W., Das Werden der Aufklärung in theologiegeschichtlicher Sicht, Göttingen 1957; Philipp, W., 'Physicotheology in the age of Enlightenment: appearance and history', in: Studies on Voltaire and the eighteenth century, 57 (1967), 1233-1267; Bots, J., Tussen Descartes en Darwin, Geloof en natuurwetenschap in de 18e eeuw in Nederland, Assen 1972; Stebbins, S., Maxima in minimis, Zum Empirie- und Autoritätsverständnis in der physikotheologischen Literatur der Aufklärung, Frankfurt am Main/Bern/Cirencester 1980; Krolzik, U., Säkularisierung der Natur, Providentia-Dei-Lehre und Naturverständnis der Frühaufklärung, Neukirchen-Vluyn 1988, 133-186. Hierzu ausführlich: Waschkies, op.cit. Kants Ablehnung des physikotheologischen Gottesbeweises in Kritik der reinen Vernunft kostete ihn einige Selbstüberwindung. Vgl. dort: A 623, 687, 816!, 827. Die teleologische Ordnung der Natur nimmt in seinem ganzen Werk einen wichtigen Platz ein. Vgl. Hoffmann, Johann Georg Hamanns Philologie, 33. Zu Knutzen: Waschkies, op.cit. (siehe Register); Graubner, H., 'Physikotheologie und Kinderphysik, Kants und Hamanns gemeinsamer Plan einer Physik für Kinder in der physikotheologischen Tradition des 18. Jahrhunderts', in: Acta 5, (117-145), § I. Von C.H. Rappolt erwähnt Philipp: Commentarius de damno per locustas agris illato, num earum beneficio compensari possit, Berlin 1730. Vgl. Philipp, Das Werden der Aufklärung, 207, Physicotheology, 1243.

52

Kapitel 2 Der junge Hamann vor seiner Bekehrung

schreibt, "nicht zu Stande kam" (Ν Π 19:21). Konschel und Waschkies schließen aus anderen Angaben, daß diese Gesellschaft wohl doch kurze Zeit bestanden haben müsse69. In den Brocken wird W. Derham, einer der berühmtesten Physikotheologen, erwähnt70. In den Notizbüchern werden der Reihe nach drei Werke über 'Insectotheologie', 'Hydro-theologie und 'Acridotheologie' verzeichnet71. Wichtige Quellen für Hamanns Kenntnis der Physikotheologie waren zweifellos Edward Young und James Hervey. In der Hamannliteratur wurde zu wenig berücksichtigt, daß die Night thoughts von Young und die Meditations and contemplations und Theron and Äspasio von Hervey zum breiten Strom physikotheologischer Literatur gerechnet werden müssen72. Der mögliche Einfluß Youngs und Herveys auf Hamann betrifft nicht nur eine empfindsame und gläubige Grundstimmung, sondern auch die physikotheologischen Auffassungen, in denen diese Stimmung sich bei ihnen niederschlägt.

2.5.2 Kurze Charakteristik der Physikotheologie Eine kurze Kennzeichnung der Physikotheologie muß folgende Punkte berücksichtigen: 1. Die Grundeinstellung der Physikotheologie ist empirisch-induktiv; sie wendet sich ausdrücklich gegen das axiomatisch-deduktive Denken Descartes, Spinozas und anderer Rationalisten. Als theologische Interpretation der modernen experimentellen Wissenschaft gründet sie sich auf experimentellempirische Daten. Will man die Physikotheologie als 'natürliche Theologie' kennzeichnen, so muß sie allerdings von der mehr logisch-argumentativen 'theologia naturalis' als Teil der traditionellen Theologie unterschieden werden. Der Physikotheologe will nicht durch Beweisführung überzeugen,

69 70 71 72

Konschel, Der junge Hamann, 23 Fußnote 1; Waschkies, op.cit., 56-60. Vgl. Ν I 304:16. Vgl. TV V 156:16-, 294:32-. Unger, 'Hamann und die Empfindsamkeit', 179, weist auf ihren physikotheologischen Einschlag hin, aber geht nicht weiter darauf ein. Vgl. zu Young: St. John Bliss, Is., Edward Young, New York 1969, 127-132; Bots, op.cit., 106-108. Zu Hervey: Bots, op.cit., 117-119. Hervey wurde von John Wesley bekehrt, der auch eine Physikotheologie geschrieben hat: A survey of the wisdom of God in the creation; or a compendium of natural philosophy, 2 Bde, Bristol 1763. Wesley gab 1743 und 1770 eine Auswahl von Youngs Night thoughts heraus.

2.5 Physikotheologie

53

sondern die Fülle physikalischer Phänomene selbst sprechen lassen; er möchte beweisen, indem er aufzeigt73. 2. Die apologetische Front der Physikotheologie ist eine doppelte: einerseits bekämpft sie deistische, rein mechanistische und deterministische Erklärungen der Natur, wobei vor allem die Namen von Hobbes und Spinoza erwähnt werden. Anderseits richtet sie sich gegen 'Epikureismus' oder 'Demokritismus', das heißt eine Erklärung der Natur, in der die Wirklichkeit als eine zufällig-willkürliche Zusammenballung von Atomen gesehen wird. Zwischen Determinismus und Zufallsdenken vertritt die Physikotheologie eine personalistische Wirklichkeitsauffassung. Sie gründet sich auf die teleologische Doppelstruktur der Natur. Vor allem verweisen die Schönheit und Zweckmäßigkeit der Natur auf die Existenz und die vollkommenen Eigenschaften einer göttlichen Person: den Schöpfer. Außerdem legt die Natur von Gottes Vorsehung, seiner gegenwärtigen und beständigen Fürsorge für die Schöpfung, Zeugnis ab. Außer auf den Schöpfer als ihren Ursprung verweist die Natur auch auf den Menschen, denn die ganze Natur ist zum Dienste des Menschen als Krone der Schöpfung geschaffen. Die Schöpfung ist da zum Dienst am Menschen und seinen Bedürfnissen. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Natur nach dem physikotheologischen Naturverständnis sozusagen zwischen zwei personalistischen Polen, dem Schöpfer und dem von ihm geschaffenen Menschen, ausgespannt ist. 3. Die Naturgesetze sind durch Gottes freien Willen geschaffen und hätten also auch anders sein können; sie beruhen auf Gottes Freiheit und seiner 'creatio continua'. Und hier liegt genau der Grund, weshalb sie nicht axiomatisch-deduktiv abgeleitet werden können, sondern experimentell entdeckt werden müssen. Unsere Vernunft kennt die Struktur der Wirklichkeit nicht a priori, ohne vorherige Wahrnehmung. Außerdem ist die Schöpfung kein von Gott geschaffener Mechanismus, um den er sich nun nicht mehr kümmert. Durch die Erhaltung und Vorsehung steht er mit ihr in einer aktuellen und ständigen Beziehung74. 4. Die apologetische Wirkung der physikotheologischen Literatur liegt vor allem in ihrem stark doxologischen Charakter. Sehr häufig erklingen Ausrufe der Verwunderung und Anbetung. Durch die Verbindung von empirischen Argumenten und doxologischer Rhetorik wird der ungläubige Opponent

73

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Vgl. Philipp, Das Werden der Aufklärung, 18-20, 72 f., 128-136; Barth, H.-M., Atheismus und Orthodoxie, Analysen und Modelle christlicher Apologetik im 17. Jahrhundert, Göttingen 1971, 251-254; Krolzik, op.cit., 62, 151. Vgl. Philipp, Physicotheology, 1239. Wie sehr das Naturverständnis der Physikotheologie demjenigen Newtons entspricht, wird aus Krolziks Beschreibung von Newtons Naturverständnis deutlich, op.cit., 99-121.

54

Kapitel 2 Der junge Hamann vor seiner Bekehrung

dringend aufgefordert, seine Augen zu öffnen, die Natur mit ihrer Schönheit und Zweckmäßigkeit zu betrachten, darüber nachzusinnen und dankbar zu erkennen, daß alles, von der Herrlichkeit und Weisheit des Schöpfers zeugt75. 'Meditation', 'contemplation', 'Betrachtung' sind zentrale Ausdrücke in der physikotheologischen Literatur. Hier liegt auch die gefühlsmäßige Verbindung zwischen Physikotheologie und Empfindsamkeit. 5. Es ist ein Grundzug der großen Fülle physikotheologischer Literatur und dies ist einer ihrer faszinierenden Aspekte -, daß sie Ausdruck einer weitverbreiteten und sehr optimistischen Grunderfahrung ist. Philipp und Bots bezeichnen sie als ein großes Gefühl der Erleichterung: die Natur ist durchsichtig und zuverlässig geworden. Mit der neuen Physik entsteht ein 'aufgeklärtes', begeistertes Naturgefühl. Das unendliche Weltall flößt dem Menschen keine Angst mehr ein, sondern füllt sich mit transzendentem Schöpfungslicht76. Für eine ausgewogene Deutung und Beurteilung des bekannten Aufklärungsoptimismus ist es wichtig, diese physikotheologische Grunderfahrung mit zu berücksichtigen77. Das Licht der Aufklärung ist nicht nur das Licht der Vernunft. Es ist zugleich das göttliche Licht, das von allen Teilen der Schöpfung reflektiert wird und die natürliche Wirklichkeit für den Menschen transparent und verständlich macht. Die Newtonsche Physik bedeutet für den Physikotheologen keine Entzauberung im Sinne einer neutralisierenden Objektivierung, in der die Gotteserfahrung überhaupt keine Rolle mehr spielt. Im Gegenteil, die Transparenz der Natur ist gerade durch das Licht 'aus der Höhe' möglich geworden. In diesem Licht gewinnt die bekannte Gedichtstrophe von Alexander Pope ihren

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Der Physikotheologe steht im hermeneutischen Zirkel des christlichen Glaubens und der Gotteserkenntnis aus der Natur. Dies wird von M. Büttner, 'Theologie und Klimatologie im 18. Jahrhundert', in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie, 6 (1964), 154-191, nicht erkannt. Seiner Ansicht nach wollen die echten Physikotheologen "unter Absehung des Glaubens und der Schrift" (161) einen natürlichen Weg zu Gott zeigen. Aufgrund dieser stringenten Definition folgert Büttner, daß sogar J.A. Fabricius und B. Nieuwentyt "streng genommen" keine Physikotheologen gewesen seien (vgl. 161 Fußnote 24, 168 Fußnote 5). Damit hat Büttner allerdings selbst seine Definition und die darauf beruhende Charakterisierung des physikotheologischen Projektes falsifiziert. Vgl. zum betreffenden hermeneutischen Zirkel: Philipp, Das Werden der Aufklärung, 106-111, 163-166, Das Zeitalter der Aufklärung, LXVI, Physicotheology, 1261-1263. Vgl. Philipp, Das Werden der Aufklärung, 98 ff., 147 ff., Das Zeitalter der Aufklärung, LXI-LXV, LXX-LXXIII, Physicotheology, 1264-1267; Bots, op.cit., 144-146. Karl Barths Ablehnung jeder Art von natürlicher Theologie hindert ihn nicht daran, dies authentische physikotheologische Grundgefühl positiv zu beurteilen. Vgl. Die Kirchliche Dogmatik, Die Lehre von der Schöpfung, Bd. 111,1, Zollikon/Zürich 1945, 464 f.

2.5 Physikotheologie

55

besonderen Sinn: "Nature, and Nature's Laws lay hid in Night: God said, Let Newton be! and All was Light."1*

6. Im Zusammenhang mit Hamanns Hermeneutik sollte darauf hingewiesen werden, wie stark in der Physikotheologie der Gedanke betont wird, daß Gottes Macht, Größe, Weisheit usw. sich gerade in den kleinsten Dingen und Organismen widerspiegeln79. Nicht zuletzt kann man durchs Mikroskop die strahlende Herrlichkeit und Weisheit des Schöpfers sehen. Insekten, Muscheln und Schneekristalle sind beliebter Gegenstand der Forschung und des Lobpreises. 7. Häufiger Gegenstand der Diskussion im 18. Jahrhundert ist 'das Wunder'. Die verschiedenen theologischen und philosophischen Standpunkte kommen bei dieser Diskussion oft gut zum Ausdruck. Die deistische und die deterministische Auffassung schließen das Wunder - im Sinne einer Unterbrechung der Naturgesetze - aus. Für den Supranaturalismus ist das Wunder ein übernatürlicher Eingriff Gottes in eine im übrigen selbständig funktionierende Wirklichkeit. Die Physikotheologen schließen das Wunder nicht aus, sondern sind überzeugt, daß alles ein Wunder ist. Daß es eine zuverlässige und durchsichtige Schöpfung gibt, die durch das aktuelle und vorsehungsvolle Handeln Gottes in all ihren Bestandteilen bleibend instandgehalten wird, ist das größte Wunder. Entweder ist alles ein Wunder, oder nichts ist ein Wunder80. 8. Schließlich teilt die Physikotheologie den klassischen Gedanken der 'Seinskette', 'the great chain of being'81. Dies bedeutet, daß alle geschaffenen Seienden vom höchsten Engel bis zum niedrigsten Staubkorn eine Seinskette bilden. Der Mensch nimmt darin eine Zwischenstellung ein. Da er aus Leib und Seele besteht, ist er das Bindeglied zwischen dem Geistigen und dem Materiellen. Aus diesen 8 Punkten dürfte deutlich geworden sein, daß die Physikotheologie des 18. Jahrhunderts interessanter ist, als häufig aufgrund der lächerli78

19 80 81

Butt, J., (Hrsg.), The poems ofAlexander Pope, London 1963,808: "Die Natur und der Natur Gesetze lagen verborgen in Nacht: Gott sagte, es werde Newtonl und alles war Licht." Vgl. Stebbins, op.cit., 180-183. Vgl. Stebbins, op.cit., 183-186. Vgl. zur Geschichte dieses Konzepts: Lovejoy, A.O., The great chain of being, Cambridge (Massachusetts)/London, (19361), 197814. Darin zu Derham: 133 f., zu Young: 136 ff. Vgl. auch: Philipp, Das Zeitalter der Aufklärung, XVII-XIX, LVIII, 103; Formigari, L., in: Dictionary of the history of ideas, (Ph.P. Wiener, Hrsg.), New York 1973, Bd. I, s.v. 'Chain of being' (325-335). Vgl. zur Geschichte der homerischen 'catena aurea' als Metapher für die Seinskette: Frenz, P., Studien zu traditionellen Elementen des Geschichtsdenkens und der Bildlichkeit im Werk Johann Gottfried Herders, Frankfurt am Main/Bern 1983, 99-240.

56

Kapitel 2 Der junge Hamann vor seiner Bekehrung

chen Beispiele physikotheologischer Argumentation angenommen wird81. Die ihr zugrundeliegenden theologischen und philosophischen Prinzipien sind wichtig für das Verständnis der Rolle der Naturwissenschaften und ihrer Praxis im 18. Jahrhundert und spielen teilweise noch eine wichtige Rolle in jüngeren Diskussionen über das Verhältnis von Glaube und Wissenschaft. Im nächsten Kapitel werden wir sehen, wie Hamann einige physikotheologische Motive in der Theologie seiner Londoner Schriften kritisiert oder verarbeitet83.

2.6 'Lateinisches Exercitiwn' Zum Abschluß der Darstellung des jungen Hamann möchten wir kurz auf eine kleine Schrift Hamanns aus dem Jahre 1751 eingehen. Am 3. April dieses Jahres promoviert sein Freund Johann Gotthelf Lindner an der Königsberger Universität mit der Dissertation Commentatio philosophica de somno et somniis. Hamann steht ihm dabei als Respondent mit einer kurzen Abhandlung, Lateinisches exercitiumüber die Wahrsagungsbedeutung von Träumen, zur Seite. An sich ist das Lateinische exercitium inhaltlich von geringer Bedeutung, es behandelt jedoch ein Thema, das in Hamanns Denken einen wichtigen Platz behalten wird85. Im Mittelpunkt der Ausführungen Lindners und Hamanns steht das Verhältnis von Leib und Seele. In der wolffschen Schule war dies Jahrzehnte lang ein brennendes Problem86. In der Diskussion ging es um die Frage, ob die Korrelation von Leib und Seele durch eine 'harmonia praestabilita' oder durch eine direkte gegenseitige Beeinflussung, einen 'influxus physicus' von Leib und Seele, zu erklären sei. Daß letztere Auffassung die Oberhand gewann, war unter anderem der Schrift Systema causarum ejficientium 82

83 84

85

84

Barth gibt in KD ΙΠ,Ι, 454-463 eine kleine Auswahl komischer Beispiele. Aus F.C. Lessers Insectotheologie (1738) zitiert er, KD, 111,1,456: "Was sagst du nun, verstockter Atheist, Der du des Schöpfers Sein und Macht in Zweifel ziehest, Wenn du die Polizei der Bienen siehest?" Vgl. auch: Veldhuis, H., 'Hamanns Naturbegriff in seinen Londoner Schriften und in Beziehung zur Physikotheologie', in: Acta 5, 99-115. Ν II 219-223. Deutsche Paraphrase und Übersetzung des größten Teils in: Gildemeister, C.H., Johann Georg Hamann' s, des Magus in Norden, Leben und Schriften, 6 Bde (1857-1873'), Bd. I, Gotha 18752, 20-23. Das Lateinische exercitium erhält in der Hamannliteratuur wenig Beachtung. Lediglich bei Unger finden wir eine ausführliche Besprechung. Vgl. Unger, Hamann und die Aufklärung, 120-123, und Jansen Schoonhoven, Natuur en genade, 28 f. Vgl. Erdmann, op.ciL, 55-97.

2.6 'Lateinisches Exercitium'

57

(1745) von Martin Knutzen zu verdanken". Die Titel einiger seiner Schriften lassen darauf schließen, daß auch für Rappolt, Hamanns Lieblingsdozent, die Beziehung von Leib und Seele ein wichtiges Thema war88. Lindner gibt in seiner Dissertation eine physiologische Erklärung des Traums aufgrund der Influxus-Theorie. Durch den 'nexus' von Seele und Leib sei die Seele vom Zustand des Leibes abhängig und seien Träume Folge der verringerten physiologischen Tätigkeit. Hamann will nicht leugnen, daß die (träumende) Seele, will sie sich äußern, von materiell-sinnlichen Vorstellungen und Worten abhängig ist, aber findet Lindners Erklärung der Träume doch zu begrenzt. Gibt es doch Traumerfahrungen, die physiologisch nicht zu erklären sind; zweimal beruft Hamann sich dabei auf die Bibel. "Denk' indessen nicht, ich spotte aller Träume; dafür steht mir die heilige Schrift und die Erfahrung in zu hohem Ansehen, als daß ich ihnen allen gleiche Gültigkeit beimessen sollte."89 Etwas weiter spricht Hamann vom Einfluß der Geisterwelt auf unsere Seele: "Die Beziehung, in der wir sowohl mit den Patriciern des Himmels als dem Plebs der bösen Geister stehen, läßt auch auf die Träume sich ausdehnen; zu geschweigen, daß die Gegenwart der Seelen oder Gespenster verschiedenen Ranges von deren Einfluß auf unsere Seele die Geheimnisse der heiligen Schrift uns unterrichten, am vorzüglichsten geeignet ist, die Knoten der menschlichen Natur zu lösen. Daher die

Mahnungen unserer guten Geister, die wir ja oft erschrecket unbeachtet lassen, daher die Bekümmernisse, für deren Urheber wir unsere Seele nicht anzusehen uns getrauen, daher die Entschlüsse, deren Gründe wir nicht wissen, die ernsten Gedanken, welche wir dem Zufall beimessen, die Handlungen, deren Mittelursachen unser Geist nicht einsieht."90 In diesen Abschnitten behauptet Hamann - gegenüber Lindner -, daß die Seele nicht nur durch den 'nexus' mit dem Leib in einem kausalen Zusammenhang mit der physischen Wirklichkeit stehe, sondern anderseits auch mit der geistigen Wirklichkeit der Geister (und Gottes) Verbindung habe. Die Seele nimmt eine Zwischenstellung ein, sie verbindet die geistige und die

17

Vgl. Erdmann, op.cit. 84 ff. De existentia dei ex mentis cum corpore unione demonstranda (1723) und Manifestatio deitatis in mentis corporisque humani harmonia clarissime perspicienda (17??; nicht im Druck erschienen); erwähnt bei Unger, Hamann und die Aufklärung, 593; der letzte Titel auch in: Konschel, Der junge Hamann, 25 Fußnote 1. Rappolt verteidigt in diesen Texten die 'harmonia praestabilita'. " Gildemeister, op.cit., 21 (Ν II 222:7-)· 90 Gildemeister, op.cit., 23 (Ν II 223:2-; kurs. H.V.). M

58

Kapitel 2 Der junge Hamann vor seiner Bekehrung

physische Wirklichkeit. Aus beiden Welten wird Einfluß ausgeübt. Nicht jede (Traum)Erfahnxng der Seele kann physiologisch erklärt werden91. Die Verbindung von Leib und Seele ist der 'Knoten' der menschlichen Natur. In seinem 'exercitium' versucht der zwanzigjährige Hamann, leicht ironisch92 und recht unbeholfen, etwas vom Wunder dieses 'Knotens' zu verstehen und zu bewahren. Die rätselhafte Verbindung von Leib und Seele, wodurch der stoffliche, vergängliche Mensch für den Kontakt mit Geistern und Gott aufgeschlossen ist, ist ein Hauptthema in Hamanns Gesamtwerk. In der ersten Schrift, in der er sich hiermit befaßt, lehnt er eine physiologische Erklärung ab und besteht auf der Aufgeschlossenheit der Seele für die geistige Wirklichkeit. In dieser Überzeugung wird er später durch seine Bekehrung noch verstärkt, und sie wird zum Kern seiner theologischen Anthropologie.

2.7 Zusammenfassung

Wenn wir uns im Rückblick noch einmal alle erwähnten Aspekte von Hamanns geistigem und geistlichem Hintergrund vor Augen halten, fällt auf, daß sie eine stark antirationalistische Grundtendenz gemein haben. Das Gefühl der 'Empfindsamkeit', der englische Empirismus, der rhetorische Einschlag der humanistischen Philologie, die empiristische Einstellung der Physikotheologie: sie richten sich alle gegen die Vorherrschaft einer deduktiv eingestellten Vernunft, die meint, die Wirklichkeit apriorisch entdecken zu können, ohne sich auf Gefühl oder Erfahrung zu berufen. Hamann ist vor allem durch seinen Glaubenskampf gegen die aufgeklärte Vernunft bekannt geworden, aber es wäre ein Mißverständnis, anzunehmen, daß seine Kritik an der Vernunft ausschließlich auf seinen in London entstandenen christlichen Glauben zurückzuführen sei. Die kritische Einstellung wird in der Zeit davor wesentlich durch den Einfluß der humanistischen Philologie und durch Strömungen innerhalb der Aufklärung selbst vorbereitet. Letztere stimulieren seinen Sinn für Empfindung und sinnliche Erfah91

91

Darum mißt Hamann der Meinung einiger Philosophen Bedeutung bei, "die dafür halten, es sei des Menschen Seele einer höhem Tugend im Schlafe fähig. Das Vermögen, die Zukunft zu erspähen, ist nach deren Meinung dann am mächtigsten, wenn die Seele in Bewegung und Thätigkeit des Körpers nicht einzuwirken braucht. Diese Annahme knüpfen sie an den Verkehr der Geisterweit mit uns, aus deren Umgang unser Geist die Geheimnisse des Schicksals sich zusammen lesen könne." Gildemeister, op.cit., 22 (Ν II 222:13-). Seine Verteidigung ist eigentlich eine vorsichtige Kritik an Lindner.

2.7 Zusammenfassung

59

rung; die humanistische Philologie weckt sein Interesse an der Sprache als primärem Zugang zur Wirklichkeit und als Vermögen, das fundamentaler als die abstrahierende Vernunft ist93. Diese empiristische und sprachliche Grundhaltung des jungen Hamann wird dann durch seine Bekehrung theologisch vertieft und erhält von daher in seinem Protest gegen den Geist der Aufklärung eine neue Zuspitzung.

93

Gajek, Sprache beim jungen Hamann, 10: "Zum anderen ist das hervorstechendste Merkmal seines Werkes, nämlich die Mittelstellung der Sprache, nur zu verstehen, wenn man sie von der großen philologisch-theologischen Bewegung des abendländischen Humanismus herleitet"

Kapitel 3 Krise und Bekehrung Die Theologie der Londoner Schriften 3.1 Einleitung Dieses Kapitel ist Hamanns Londoner Schriften gewidmet. Unter der Voraussetzung, daß darin die theologische Grundlage für sein gesamtes Werk gelegt wurde - eine Hypothese, die in den folgenden Kapiteln noch geprüft wird soll versucht werden, die Theologie dieser Schriften ziemlich ausführlich darzulegen. Zwar handelt es sich um eine Sammlung von Tagebuchaufzeichnungen, jedoch entdeckt man darin bei näherer Untersuchung das, was man 'die Theologie des jungen Hamann' nennen könnte. Da er in seinen folgenden Schriften die Grundzüge dieser Theologie weiter ausarbeitet, ist eine Gesamtanalyse an dieser Stelle angebracht, um so Hamanns Naturverständnis in diesen Schriften genau bestimmen zu können. Zugleich liefert uns diese Untersuchung für die Auslegung der weiteren Schriften, die viel stärker auf ein Thema oder nur einige Themen zugespitzt sind, einen orientierenden theologischen Rahmen.

3.2 Die Londoner Schriften Im Auftrag der Firma Berens reist Hamann nach London, wo er im April 1757 ankommt. Seine Mission mißlingt, und nach mancherlei Umherschweifen ist er finanziell und geistig vollkommen ruiniert. Im Februar 1758 mietet er ein billiges Zimmer, führt notgedrungen ein karges Leben, zieht sich mit seinen Büchern zurück und beginnt die Bibel zu lesen1. Am 19. März2 beginnt er mit einer zweiten fortlaufenden Lektüre der Bibel. "Dieser Anfang, wo ich noch sehr unvollkommene und unlautere Begriffe von Gottes Worte zur Lesung desselben mitbrachte, wurde gleich 1

2

Die englische 'King James Version*. Vgl. Ν V 281:4-24; Ernst, P., Hamann und Bengel, Ein Aufriß ihrer Werk- und Lebensbeziehungen als Abriß wesentlicher Hamann-Züge, Königsberg 1935,15 Fußnote 1; Fechner, J.-U., 'Philologische Einfälle und Zweifel zu Hamanns Londoner Aufenthalt: Die 'Senel-Affäre* und die 'Generalbeichte", in: Acta 1 (1-21), 4. Vgl. Ν I 7:1. Im Lebenslauf wird der Anfang auf den 13. März datiert (Ν II 40:12), was wahrscheinlich ein Druck- oder Schreibfehler ist

3.2 Die Londoner Schriften

61

mit mehr Aufrichtigkeit als ehmals den 13. März von mir gemacht. Je weiter ich kam, je neuer wurde es mir, je göttlicher erfuhr ich den Inhalt und die Würkung desselben." (Nil 40:10-). Bei dieser zweiten fortlaufenden Lektüre der Bibel macht Hamann Aufzeichnungen in der Form eines 'Tagebuchs eines Christen', wie er es zunächst nennt. Später ändert er den Titel in Biblische Betrachtungen eines Christen3. Im Anschluß daran schreibt er (vom 29. April an) einige Betrachtungen zu Kirchenliedern; dann folgen noch die Brocken (vom 16. Mai an). Nach den Biblischen Betrachtungen arbeitet er seit dem 21. April an den Gedanken über meinen Lebenslauf, die nach seiner Rückkehr in Riga abgeschlossen werden. Keine dieser Schriften ist für die Veröffentlichung bestimmt, und nur der LebenslaufisX auch für seinen Vater, seinen Bruder und seine Freunde geschrieben worden. Die Biblischen Betrachtungen sind in der Form eines Tagebuchs verfaßt und sind also kein wissenschaftlicher exegetischer Kommentar der einzelnen Bibelbücher. Es ist eine Sammlung kurzer Aufzeichnungen und längerer Ausführungen zu bestimmten Texten. Die Auswahl ist stark von Hamanns damaligem geistigen Interesse bestimmt. Jedoch hat Nadler unrecht, wenn er behauptet: "Das Meiste vollends, was sich auf die Bibel bezieht, will die betreffende Schriftstelle gar nicht erläutern sondern das innere Erlebnis aus Anlaß dieser Stelle und die Nutzanwendung auf das eigene persönliche Leben festhalten." (Ν I 322). Hamann will durchaus den Text erläutern, allerdings geschieht dies auf stark applikative Weise, denn - darauf wird er auch in seinen späteren Schriften bestehen - Erläuterung ohne Anwendung, ohne eine existentielle Bezugnahme, ist nicht möglich. Außerdem sind die Biblischen Betrachtungen in der Wir-form geschrieben, was auch darauf hinweist, daß ihr Verfasser sich bewußt ist, daß sein - neu entdecktes Zentrum außerhalb seiner selbst liegt und mehr als eine rein subjektive Bedeutung hat. Hamanns Bekehrung ergibt sich aus der Schrift, und ihren objektiveren Niederschlag bilden die Biblischen Betrachtungen. Die mehr subjektivbiographische Wiedergabe finden wir im Lebenslauf. Dort erzählt Hamann, selbstverständlich in der Ich-form, seine Bekehrungsgeschichte und gibt einen Überblick über seinen bisherigen Lebensweg.

3

Das Wort 'Betrachtungen' erinnert an Herveys Meditations and Contemplations, die bei Hervey primär die Natur zum Gegenstand haben.

62

Kapitel 3 Krise und Bekehrung. Die Theologie der Londoner Schriften

3.3 Krise und Bekehrung Für einen Leser der Hofmeisterbriefe Hamanns ist es keine Überraschung, daß es in London zu einer entscheidenden Krise kommt. In diesen Briefen und anderen Texten jener Zeit erweckt er den Eindruck eines begabten jungen Mannes, der kräftig in Entwicklung begriffen ist, dem es aber nicht gelingt, die verschiedenen Kräfte zu einer ausgewogenen Einheit zu integrieren. Nach seiner Studentenzeit macht er äußerlich vor allem den Eindruck eines optimistischen, selbstgefälligen und tugendsamen Aufklärungsjünglings4. Allmählich wird freilich deutlich, daß sich hinter der optimistischen Fassade noch eine ganz andere Wirklichkeit verbirgt. Immer stärker wird er von Schwermut, Unruhe, Unzufriedenheit mit sich selbst und Misanthropie gequält. Zwischen aufgeklärtem Optimismus und schwermütigem Pessimismus, zwei Empfindungsströmen, die sich gegenseitig polarisieren und dabei verstärken, wird Hamann richtungslos hin und her gerissen und ist sich selber ein Rätsel. "Ich konnte ungeachtet alles Anlasses zufrieden zu seyn, mich der Freude in der Gesellschaft der edelsten, muntersten, gutherzigsten Menschen beydes Geschlechts nicht überlassen. Mein Gehirn sah einen Nebel von Begriffen um sich, die es nicht unterscheiden konnte, mein Herz fühlte Bewegungen, die ich nicht zu erklären wußte, nichts als Mistrauen gegen mich selbst und andere, nichts als Qual wie ich mich ihnen nähern oder entdecken sollte" (Ν Π 27:8-). Seine Briefe aus jener Zeit beweisen, daß bei derartigen Äußerungen kaum von nachträglicher frommer Übertreibung die Rede sein kann5. In London überstürzen sich dann die Ereignisse und vollzieht sich eine Umkehr, die für Hamanns weiteres Leben entscheidend wird. Von einer ausführlichen Analyse dieser Bekehrung kann an dieser Stelle keine Rede sein6. Da jedoch die Struktur seiner Bekehrungserfahrung für die Theologie seiner Londoner Schriften entscheidend wurde, können wir auf einen kurzen Abriß nicht verzichten. 4

5 6

Seinem Bruder schreibt er 1753: "Ich bin weder zum Heuchler noch zum ruchlosen geboren. Ohne mich zu smäucheln, ich finde einen Beruff ν einen Geschmack zur Tugend in mir, der mich tausend Wollüste in guten Handlungen empfinden läßt, v. mir jede Ausschweifung zum Laster schwürig und eckel macht" (ZH I 37:15-). Auch nach seiner Bekehrung bleibt Hamann ein Melancholiker. Siehe zu seiner neuen Deutung dieser Melancholie: Schings, op.cit., 281-292. Vgl. Sievers, H., Johann Georg Hamanns Bekehrung, Ein Versuch, sie zu verstehen, Zürich/Stuttgart 1969. Die Biblischen Betrachtungen und der Lebenslauf haben denselben Anlaß, und es ist daher auffällig, daß bisher die Möglichkeit einer gegenseitigen Auslegung noch wenig benutzt wurde. Sievers analysiert zwar die Schlüsselstellen aus beiden Schriften, gelangt jedoch nicht zu einem detaillierten terminologischen Vergleich.

3.3 Krise und Bekehrung

63

Der wirkliche Durchbruch vollzieht sich bei der Lektüre und den Überlegungen zu Deut. 5:23-7: Israel wagt es bei der Gesetzgebung auf dem Berg Sinai nicht, sich Gott ohne Moses Vermittlung zu nähern. Während er über diesen Text nachdenkt, 'hört' Hamann seine Seele schreien: 'Schrey', 'schreyen' und 'seufzen' sind die Schlüsselbegriffe in den drei Hauptabschnitten der Biblischen Betrachtungen und des Lebenslaufs, in denen die

Bekehrungserfahrung zum Ausdruck gebracht wird8. In diesem 'Schrey' vernimmt Hamann den Ruf dreier Stimmen, und mit dem Ineinanderfließen dieser Stimmen vollzieht sich die große Wende. Zunächst hört er den 'Schrey' von Abels Blut, das um Rache ruft: " die Stimme eines erschlagenen Bruders, der sein Blut rächen wollte" (Ν II 41:3-). Diese Stimme macht Hamann bewußt, wie sehr er von Gott entfremdet ist. Aufgrund dieser Entfremdung erfährt er Gott als den zürnenden Gott, ein verzehrendes Feuer, und mit den Israeliten sieht er ein, daß er ohne Vermittler nicht vor Gott treten kann. " ich konnte es nicht länger meinem Gott verheelen, daß ich der Brudermörder, der Brudermörder seines eingeborenen Sohnes war." (Ν Π 41:8-). Aus anderen Stellen geht hervor, daß das Wesentliche dieses Christusmordes für Hamann in seiner Gleichgültigkeit der Liebe Gottes gegenüber liegt, der in Christus sein Bruder und Freund wurde; Sünde ist für ihn vor allem Gleichgültigkeit. Die zweite Stimme, die im 'Schrey' der Seele Hamanns zum Ausdruck kommt, ist der verzweifelte Schrei Kains, sein eigener Schrei, der Schrei des Brudermörders, der vor der Rache des Herrn zittert. Dann geschieht jedoch das Wunder der dritten Stimme: es ist die Stimme Moses, der im Namen des Volkes Schuld bekennt und um Vergebung fleht; es ist die Stimme Christi, dessen Blut nicht mehr nach Blutrache schreit, denn sein Blut ist aufgrund der Liebe vergossen, die Rache und Zorn zu überwinden trachtet. "Höre [so sagt Gott] in deinem Herzen, in der Tiefe desselben, wenn meine Gegenwart dir nahe genug kommt, wie den Israeliten, einen Engel9 seufzen, einen Engel, der sich für schuldig erkennt, der mich um Gnade anruft, Deut. V., dessen Stimme ich höre, dessen Worte mir gefallen, einen Engel, der wie die Erde, die ihren Mund öffnete, Abels Blut zu empfangen, schreyet, das Blut erkennt, das für ihn vergossen ist" (Ν I 76:19-). "Wir hören alsdenn in unserm Herzen das Blut des Versöhners

7 8 9

Vgl. Ν I 76:22, 294:4-, Ν II 40:39. Diese Schlüsseltexte sind: Ν175:37 bis einschl. 76:26,78:4-27, Ν II 40:10 bis einschl. 41:22. Mit dem Engel ist sowohl ein Schutzengel (vgl. Ν I 151:2) als auch Moses gemeint; vgl. auch Exodus 23:20-23.

64

Kapitel 3 Krise und Bekehrung. Die Theologie der Londoner Schriften

schreyen; daß die Blut Rache um Gnade schreyt. Alle Wunder der heiligen Schrift geschehen in unserer Seele." (Ν I 78:16-). 'Die Blutrache schreit um Gnade': treffender läßt sich Hamanns Bekehrungserfahrung nicht zum Ausdruck bringen. Das Wunder des Trostes und der Gnade, das er erfährt, liegt darin, daß die Stimme Christi, des ermordeten Bruders, den verzweifelten Schrei des Mörders gnädig und tröstend übernimmt und 'umstimmt'. Das Opfer überwindet die ratlose Angst seines Mörders vor Zorn und Rache10. Dieser Sieg geschieht dadurch, daß Christus ganz in seine Nähe kommt, wie ein Freund 'in seine Seele schleicht'11. Der erhabene Gott des Sinai läßt sich herab und überbrückt selbst den Abstand. Sein Geist dringt in die Seele des verlorenen Geschöpfes und erneuert es von innen her12. Die Herablassung und innige Nähe Gottes umschreibt Hamann unterschiedlich, wobei die trinitarische Abwechslung auffällt13. So schreibt Hamann zu Deut. 4: "Was für ein herrliches Capitel! Jedes Wort, was aus dem Munde Gottes geht, ist eine ganze Schöpfung von Gedanken und Bewegungen in unsrer Seele. Er ist, wo sein Wort ist, er ist, wo sein Sohn ist. Ist sein Wort in uns, so ist sein Sohn in uns, ist sein Wort in uns, so ist der Geist dieses Worts in uns. Er verläst den Himmel, er macht ihn einöde und leer, und kommt in unsere Herzen, nicht nur, wie aus der wüsten und leeren Erde, ein Paradies aus denselben (zu machen), sondern das Gezelt des Himmels selbst aufzuschlagen. Ο wie sollte uns dieser Erdenkloß heilig seyn, auf dem Gott würdigt seine Hütte aufzuschlagen, weil unser armer Geist unter derselben wohnt." (Ν I 64:3-). Wie sich später noch zeigt, liegt in einem Text wie diesem die ganze Theologie des bekehrten Hamann bereits 'in nuce' beschlossen. Im Blick auf die folgenden Ausführungen sollte noch darauf hingewiesen werden, daß Hamann überzeugt ist, er habe erst in eine solch elende Lage geraten müssen, ehe Gott Gelegenheit bekam, gehört zu werden. Vorher verhüllte Satan durch allerhand Zerstreuungen die wirkliche Lage. Es ist die Taktik des Satans, uns von uns selbst abzulenken, so daß wir uns selbst nicht kennenlernen und so auch den 'Schrey' unserer Seele ersticken und über-

10 11 12

13

Ν I 295:12-: "Fragt euer eigen Herz, woran es die Stimme des Bluts kennt, das kräftiger redt als Abels." Vgl. Ν II 39:40-. Ν 1151:3-: "Der Geist Gottes verkleidet sich in unsere eigene Stimme, daß wir seinen Zuspruch, seinen Rath, seine Weisheit aus unsrem eigenen steinichten Herzen mit Verwunderung hervorquillen sehen." Vgl. Ν I 76:2-, 296:6-.

3.3 Krise und Bekehrung

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stimmen14. Deshalb kann es nötig sein, daß unsere Lage erst so elend wird, daß es nicht mehr möglich ist, unser eigenes Schreien und Seufzen und den darin verborgenen Geist, der mit uns seufzt, noch weiter zu leugnen. Gott und Mensch müssen beide manchmal in die Tiefe gehen, um sich finden zu können.

3.4 Die Theologie der Londoner Schriften Durch seine Bekehrung gelangt Hamann zu einer überraschenden theologischen Kreativität. Obwohl die Londoner Schriften weitgehend den Charakter eines Tagebuchs haben, sind sie reich an theologischen Gedanken. In diesem Abschnitt werden wir sie zusammenfassend ordnen und zeigen, daß sie wie Mosaiksteinchen in einen zusammenhängenden theologischen Grundriß passen. Zentrum dieses Grundrisses, von dem alle Linien ausgehen, ist Hamanns Grundüberzeugung, daß Gott Liebe ist. Aus seiner Liebe erschafft Gott den Menschen, um ihn zu lieben und von ihm geliebt zu werden. Was auch immer geschieht: Er wird alles tun und daransetzen, um diese Liebesbeziehung zu dem von ihm geschaffenen Menschen zustande zu bringen, zu bewahren, wiederherzustellen und zu erneuern. Hamann hat die Liebe als ein Hinabsteigen, eine Herunterlassung Gottes in die Tiefen seines Lebens und seiner Seele erfahren. Wir werden sehen, daß diese Grunderfahrung der Kondeszendenz Gottes seine ganze Theologie strukturiert und prägt. Er ist in den Londoner Schriften kein 'systematischer Theologe' im gewöhnlichen Sinn des Wortes. Daß trotzdem ein solch starker Zusammenhang zwischen all den verschiedenen 'losen' Gedanken besteht, liegt an seiner unbedingten Überzeugung von der strahlenden Wahrheit, daß Gott sich in die Niedrigkeit herablassende Liebe ist.

H

Ν I 81:23-: "Gott hört uns schreyen, wenn der Teufel uns mitten in unsern Sünden zu kitzeln scheint. Gott hört uns schreyen, wenn uns der Schlaf oder Rausch der Sünden an nichts weniger als an uns selbst denken läßt; des tomehr denkt er denn an uns. Er weiß die Noth, in der wir alsdenn sind; diese unsere Noth ist das Geschrey, das Gott nöthig hat, um uns zu hören."

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Kapitel 3 Krise und Bekehrung. Die Theologie der Londoner Schriften

3.4.1 Gotteslehre Die Eigenschaften In der Physikotheologie ist vielfach die Rede von Gottes 'vollkommenen Eigenschaften', wie z.B. seine Allwissenheit, Allmacht und Weisheit, die selbstverständlich auch von Hamann anerkannt werden. Zugleich teilt er die physikotheologische Auffassung - gegenüber dem Determinismus und Zufallsdenken - daß diese Eigenschaften durch Gottes aktuelles Handeln in der Natur sichtbar sind. So bemerkt er zu Hiob 1:22: "Der Satan scheint so viel Antheil an der Regierung dieser Welt zu nehmen, um die Menschen in ihrem Glauben an Gottes Eigenschaften und Vorsehung irre zu machen; daß sie denken sollen, es geschieht alles von ungefehr oder so nothwendig" (Ν I 144:5-)· Hingegen ist an einer Reihe anderer Stellen eine implizite Polemik sowohl mit dem Judentum als mit der Physikotheologie zu spüren, wenn er davor warnt, Gottes vollkommene Eigenschaften von seinem Heilsplan und seiner barmherzigen Liebe zu trennen. " die Reden der 3 Freunde Hiobs lehren uns, wie unhinlänglich ein Glaube oder eine Erkenntnis des göttlichen Namens, die sich auf seine allgemeinen Eigenschaften gründet, ist." (Ν I 147:34-)15. Wenn wir in einem derartigen 'allgemeinen' Glauben steckenbleiben, verkennen wir Gottes 'Gnade', 'Versöhnlichkeit' und 'Menschenliebe'16. Alle Eigenschaften Gottes haben ihr Zentrum in seiner Liebe, der sie untergeordnet sind. So kann es geschehen, daß Gott in seiner Offenbarung und Inkarnation auf seine Allwissenheit und Allmacht verzichtet, jedoch nicht auf seine kondeszendierende Liebe. Zu Gen. 3:9-: "Gott verheelt den Menschen diejenigen Eigenschaften, die ihm als einem Sünder schrecklich seyn können. Er verleugnet hier seine Allwissenheit; er läßt sich zu der Blindheit Adams herunter." (Ν I 19:5-)17. Trinität Hamanns Gotteslehre steht auf dem Boden der altchristlichen Dogmen der Zweinaturenlehre und der Trinität. Die Wesenstrinität ist für ihn zwar Ausgangspunkt, aber nicht Gegenstand vieler Überlegungen. Um so mehr geht er auf die Trinität als Strukturfaktor der göttlichen Ökonomie ein. Das eine Werk Gottes entfaltet sich trinitarisch. Die Werke des Vaters, Sohns und Heiligen Geistes sind unmittelbar aufeinander bezogen, da sie der 15 16 17

Vgl. Ν I 144:14-. Ν I 148:3-. Ebenfalls im Blick auf die Physikotheologie: Ν I 203:1-. Ν1129:1-: "Wer sieht nicht die Allmacht Gottes hier gleichsam gebunden durch seine übrigen Eigenschaften". Vgl. Ν I 83:23-.

3.4 Die Theologie der Londoner Schriften

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einen Liebe des einen Gottes entspringen. Gottes Einheit erweist sich in der Einheit seines trinitarischen Handelns. Es gibt sehr viele Abschnitte in den Londoner Schriften, die den trinitarischen Charakter der einen Heilsgeschichte Gottes unterstreichen". Eine nähere Untersuchung läßt wiederum eine implizite Kritik an der Physikotheologie erkennen. Hamann spürt die Gefahr, daß es dort zu sehr um die Schöpfung geht. Er fürchtet eine Schöpfungstheologie, die von der Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung absieht und nicht mit der Christologie und Pneumatologie verbunden ist. Christus als 'Pantokrator' wird mißverstanden, wenn wir übersehen, daß er auch der 'Verächtlichste der Menschen' geworden ist. Für Hamann ist die Inkarnation das Zentrum der Heilsgeschichte, von dem aus das eine Werk von Vater, Sohn und Heiligem Geist die richtige christologische Beleuchtung erhält. Diese zentrale Ausrichtung auf die Inkarnation wird darin am deutlichsten, daß Hamann auch das Werk des Schöpfers und des Geistes als Akt der Kondeszendenz, der Herunterlassung und Erniedrigung versteht. Gott offenbart seine Liebe auf unübertreffliche Weise in der Selbsterniedrigung seines Sohnes. Von diesem Christusgeschehen her verstehen wir zugleich sein schöpferisches Handeln als Akt der kondeszendierenden Liebe und erkennen auch seinen Geist, der sich in die menschliche und unzulängliche Sprache der Schrift herabläßt und in den chaotischen Tiefen unseres Herzens wohnt. Es ist anzunehmen, daß Hamann bei dieser trinitarischen Ausweitung des Kondeszendenzmotivs stark von James Hervey beeinflußt wurde, mit dessen Schriften er sich zur Begleitung seiner Bibellektüre intensiv befaßte. In den Meditations and Contemplations läßt Hervey an einigen Stellen seinen physikotheologischen Lobpreis auf die Schöpfung in einer Beschreibung des noch viel herrlicheren Werkes der Gnade Gottes in Christus gipfeln. Greifen wir ein treffendes Zitat aus dem Band 'Contemplations on the starry heavens' heraus, in dem er die Güte Gottes, wie sie sich in der Kondeszendenz Christi offenbart, ausdrücklich über die Herrlichkeit der Schöpfung stellt: "Siehe dieses ungeheure Firmament und bewundere die Kondeszendenz dei18

Ν I 39:39-: "Gott der Vater muB sich gefallen lassen, sich wie die übrigen Personen der hochgelobten Dreyeinigkeit erniedrigt zu sehen, wie davon sehr viele wirkliche Beyspiele in der Schrift sind". Ν I 91:7-: "Wie hat sich Gott der Vater gedemilthigt, da er einen Erdenkloß nicht nur bildete, sondern auch durch seinen Othem beseelte. Wie hat sich Gott der Sohn gedemüthigt! Er wurde ein Mensch, er wurde der Geringste unter den Menschen, er nahm Knechtsgestalt an Wie hat sich Gott der heilige Geist erniedrigt, da er ein Geschichtsschreiber der kleinsten, der verächtlichsten, der nichts bedeutendsten Begebenheiten auf der Erde geworden". Ν I 282:21-: " die Liebe, die ihn bewogen, unser Schöpfer und Erlöser zu seyn, diese Liebe kann uns allein zu einem Geschöpf (machen), das er mit Gefallen betrachtet und mit dem Worte versiegelt: es ist sehr gut; und mit dem Worte der zweyten Schöpfung: es ist vollbracht." Vgl. außerdem: Ν I 16:9-, 70:15-, 95:7-, 134:37-, 251:16-, 292:20-.

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Kapitel 3 Krise und Bekehrung. Die Theologie der Londoner Schriften

nes Gottes. Dies ist erstaunlich. Aber daß der ewige Souverän seinen Sohn gab, auf daß er Fleisch werde und unser Retter werde! Soll ich das ein Wunder der kondeszendierenden Güte nennen? Vielmehr, was sind alle Wunder, was sind alle Geheimnisse gegenüber dieser unaussprechlichen Gabe!"19 Überraschend in diesem und einigen anderen Zitaten ist es, daß wir hier das Grundmotiv von Hamanns Theologie, die Kondeszendenz Christi, finden20. Und noch überraschender ist, daß Hervey wie später auch Hamann nicht nur die Inkarnation, sondern auch die Schöpfung als Akt der Kondeszendenz auffaßt. Erwählung Wie stark die verschiedenen Werke der göttlichen Personen aufeinander bezogen sind und ihre Einheit in Gottes Liebe finden, kommt deutlich in Hamanns Gedanken über die Erwählung zum Ausdruck. Hamann kennt zwar eine Erwählung von Ewigkeit her, aber keine doppelte Prädestination21. Jeder Mensch ist von Gott geschaffen und damit auserwählt und bestimmt für seine Liebe und sein Heil. Es ist sogar so, daß die Schöpfung im Blick auf die Liebe geschieht, die in Christus offenbart wird. Aus den noch zu zitierenden Abschnitten ergibt sich, daß Hamann eine supralapsarische Erwählungslehre vertritt, allerdings nicht in dem Sinne wie im Supralapsarismus der reformierten Orthodoxie -, daß der Sündenfall Instrument der Erwählung und Verwerfung wird. Bei Hamann ist der Sündenfall kein Mittel für Gott, um sein Urteil der Verwerfung ausführen zu können. Im Gegenteil, der Sündenfall wird in Gottes bleibender Absicht, daß alle Menschen selig werden, 'aufgefangen'. Das 'supra' liegt darin, daß Gott in Christus alle Menschen auserwählt hat, und das gilt auch wenn der " Hervey, J., Meditations and contemplations, II Bde, London, 1764", Bd. II, 134 f.: "Behold this immense Expanse, and admire the Condescension of thy God. This is amazing. But that the Everlasting Sovereign should give his Son, to be made Flesh, and become our Saviour! Shall I call it a Miracle of condescending Goodness? Rather, What are all Miracles, what are all Mysteries, to this ineffable Gift!" Wir zitieren den 17. Druck! 20 Vgl. op.cit., 135-138. Hervey betont dort die tiefe Herablassung Christi sehr stark ("Did ever Grace stoop so low?" 135), und paraphrasiert dabei den Christushymnus aus Philipper 2. 21 Soweit wir feststellen können, hat Hamann Calvin nicht gelesen. Einer Anspielung in einem seiner Briefe ist jedoch zu entnehmen, daß er wußte, daß Calvins Erwählungslehre nach Ansicht seiner Gegner Determinismus impliziert. Hamann vergleicht dort, wie üblich in damaligen lutherischen Kreisen, die doppelte Prädestination mit der Leibnizschen 'harmonia praestabilita', die beide wegen ihres impliziten Determinismus von viel Lutheranern abgelehnt wurden. Auch durch Zutun von Hamanns Lehrmeister Knutzen mußte die 'harmonia praestabilita' vor dem 'influxus physicus' weichen (siehe oben, § 2.6). Vgl. ZH I 377:16-; Konschel, Der junge Hamann, 138 Fußnote 2.

3.4 Die Theologie der Londoner Schriften

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Sündenfall nicht stattgefunden hätte22. Auch abgesehen von der Sünde ist Christus der Grund von Schöpfung und Erwählung. Der Sünde gebührt nicht so viel Ehre, daß sie allein das Motiv für Gott sein könnte, um sich dem Menschen so zu nähern, wie er es durch das Kommen seines Sohnes und das Innewohnen seines Geistes tut. "Gott liebte uns nicht nur in der Zeit ~ also, daß er seinen eingeborenen Sohn gab ~ daß er uns gleich ward, Sünde an unserer Statt und ein Opfer derselben: sondern er liebte uns von Ewigkeit her in seinem Sohn, und wählte uns in ihm. Nichts als Liebe — in der Schöpfung — im Fall ~ in der Menschwerdung Gottes — ja bis in der Sorge der Ewigkeit. Hier fingen sich also meine Jahre in Gott und in der Liebe seines Sohnes an; diese Erwählung in Jesu ist mein wahrer Geburtstag und der erste Augenblick meines Daseyns. Diese Erwählung in Jesu bewog Gott mich in Adam zu schaffen, seinen eingebornen Sohn mir gleich zu machen und durch ihn das Heyl hervorzubringen" (Ν I 259:21-)23. Zweck der Fleischwerdung ist nicht nur Versöhnung und Wiederherstellung der Schöpfung, sondern auch Verwirklichung der endgültigen Bestimmung der Schöpfung: Teilnahme an der göttlichen Natur24. Diese supralapsarische Finalität der Schöpfung, Fleischwerdung und Völlendung ist eine äußerst wichtige Grundstruktur der Theologie Hamanns, auch in seinem späteren Werk. Sie ist die wichtigste Gewähr gegen eine autonome Verselbständigung der natürlichen Wirklichkeit und macht deutlich, daß die Natur nicht nur aufgrund der Sünde, sondern auch von ihrem eigenen geschaffenen Wesen her, nicht ohne die Gnade bestehen kann und auf die Gnade angelegt ist25. Als Schöpfung setzt sie die besondere Gnade in Christus voraus: "Die Natur setzt in ihren Hervorbringungen die Menschwerdung Gottes zum voraus und die Gnade gleichfalls." (Ν I 293:27-)26. Aufgrund dieser Auffas-

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Anlaß für uns, den Begriff 'Supralapsarismus' in dieser Weise neu zu interpretieren, sind diesbezügliche Anregungen von D. Chantepie de la Saussaye und K. Barth. Vgl. Chantepie de la Saussaye, D., Beoordeling van het werk van dr. J.H. Schölten over De leer der Hervormde Kerk, met een voorrede van J.J.P. Valeton jr., Utrecht 18852, 341; Barth, K., Die kirchliche Dogmatik, Die Lehre von Gott, Bd. 11,2, (19421), Zollikon/Zürich 19462, 151-155. Vgl. zu Barths Supralapsarismus unten § 9.3.7. Vgl. Ν I 292:20-. Ν I 268:3-: "Diese Theilnehmung der göttlichen Natur war der Endzweck der Menschwerdung Gottes und sind beyde gleich große Geheimnisse". Zwei der wenigen Ausleger, die diesen wesentlichen Bezug der Schöpfung auf die Gnade Christi als Grundstruktur von Hamanns Theologie erkannt haben, sind : E. Burger, in J.G. Hamann, Schöpfung und Erlösung im Irrationalismus, Göttingen 1929 (vgl. 44-55, 71 f.), und W. Leibrecht in Gott und Mensch bei Johann Georg Hamann, Gütersloh 1958, insbesondere 173-182. Vgl. Ν I 16:9-, 70:15-.

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Kapitel 3 Krise und Bekehrung. Die Theologie der Londoner Schriften

sung, die von verschiedenen Theologen der Patristik und des Mittelalters vertreten wurde27, wehrt sich Hamann stark gegen die moderne Tendenz der Verselbständigung der Natur. So lehnt er zum Beispiel die Physikotheologie ab, die sich oft mehr für den Abglanz der Herrlichkeit Gottes in Heuschrecken als für Gottes kondeszendierende Liebe zum nichtigen und verlorenen Menschen interessiert28. Außerdem ist die Schöpfung an sich noch ein unzulänglicher Spiegel der Liebe und Herrlichkeit Gottes. Sie ist erst der Anfang und besitzt eine heilsgeschichtliche Ausrichtung auf die Vereinigung mit Christus29. Alle Menschen sind in Christus auserwählt, aber nicht alle Menschen werden selig. Die Ursache dafür liegt allerdings nicht bei Gott und seiner Verwerfung, sondern beim Menschen selbst. Wesentlich für Gottes Gnade ist, daß darin die von ihm geschaffene Freiheit des Menschen respektiert wird. Gott zwingt nicht, denn Liebe zwingt nicht. Um dies genauer erläutern zu können, müssen wir an dieser Stelle einige Aspekte des Abschnitts über die Anthropologie vorwegnehmen. Der Mensch besitzt die Fähigkeit der freien Entscheidung. Seine Freiheit ist jedoch eine geschaffene Freiheit; sie beruht nicht autonom auf sich selbst, sondern auf der freien und vorsehungsvollen Schöpfungstat des Schöpfers. Diese gnädige Schöpfungsgabe ist durch den Sündenfall nicht verlorengegangen30. Allerdings ist der Mensch mit seiner Freiheit durch eigene Schuld in eine elende Lage geraten. In dieser Lage können wir uns nicht mehr für das

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Bekannt ist vor allem die Auffassung des Duns Scotus. Vgl. Duns Scotus, Sententiae III, dist. 7, q. 3. Auf das Thema der nicht ausschließlich durch die Sünde motivierten Inkarnation kommen wir in § 9.3 zurück. Ν I 258:19-: "Die Liebe Gottes war der Grund der Schöpfung. Gott wählte besonders das menschliche Geschlecht, das jüngste und kleinste, um seine Liebe an derselben zu offenbaren und in dieser Liebe für die Heuschreken der Schöpfung seinen großen herrlichen Namen allen übrigen Geschlechtern, größeren Welten, ja selbst den Einwohnern und Fürsten des Himmels. Diese Liebe bewog ihn, sein Bild uns in der Schöpfung einzudrucken". Vgl. Ν II 43:33-. Krolzik, op.cit., 185 f.: "Trotz notwendiger Korrekturen hat [K.] Barth recht, wenn er darauf abstellt, daß den Physikotheologen das Leiden nur am Rande und letztlich als Unmöglichkeit in den Blick kommt. Den Grund dafür hat Barth zutreffend in der mangelnden christologischen Durchdringung der physikotheologischen Gedanken gesehen." Ν l 260:30-: "Die Liebe Jesu zu uns Menschen bewog Gott, uns zu schaffen, weil die Größe und Wohlthätigkeit seines Wesens nicht durch die Schöpfung allein ausgedrückt und verherrlicht werden konnte; ja weil selbige durch die Schlacken endlicher Dinge gewissermaßen verdunkelt und in einem Unrechten Licht vorgestellt wurde oder erschien." Nach seiner Rückkehr aus London befaßt Hamann sich intensiv und mit steigender Bewunderung mit den Schriften Luthers. Luthers Auffassung über den 'geknechteten Willen' übernimmt er jedoch nicht.

3.4 Die Theologie der Londoner Schriften

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Gute entscheiden; nicht, weil wir uns nicht mehr entscheiden könnten, sondern weil die zu wählende Wirklichkeit der Güte Gottes infolge der Sünde nicht mehr gegenwärtig ist. Sachlich formuliert: Das Entscheidungsvermögen ist noch vorhanden, aber das Objekt (Gottes Güte) nicht mehr. Darum kann nur Gott selbst durch das Werk seines Sohnes und Geistes unsere Lage so wiederherstellen, daß seine Güte und Liebe erneut eine reale Wirklichkeit werden, wofür man sich in Dankbarkeit entscheiden kann31. Nur durch eine neue, gnädige Initiative Gottes kann der Mensch wieder in Freiheit das volle Maß seiner Liebe annehmen und genießen - oder ablehnen32.

3.4.2 Schöpfungslehre Die Natur Hamann übernimmt in seinem Naturverständnis eine Reihe von Grundzügen der Physikotheologie. Die Natur ist durch einen freien Schöpfungsakt Gottes ins Leben gerufen worden. Die Naturgesetze sind nicht notwendig. Gott hätte andere schaffen können. Die Natur ist, nachdem sie einmal geschaffen ist, kein unabhängig funktionierender Mechanismus; sie beruht auf der 'creatio continua' des Schöpfers und zeugt von seiner Vorsehung33. Wenn alle Dinge von Gott abhängig sind, sollte man auch nicht die sogenannten 'Wunder' von Gottes übrigem Handeln in der Schöpfung und Vorsehung trennen: " so hat man in der Weltweisheit öfters die Natur

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Metzke, Hamanns Stellung, 29: "Damit ist zugleich nicht nur der klare Unterschied Hamanns von dem Idealismus der Freiheit enthüllt, sondern auch der Unterschied von den deterministischen Anschauungen der Zeit gegeben." Soweit handelt es sich um unsere systematisierenden Formulierungen. Die folgenden Zitate, im Zusammenhang mit Hamanns Schöpfungslehre gelesen, können unseres Erachtens nur in diesem Sinne kohärent interpretiert werden: Ν I 53:4-: "Gottes Religion, die gröste Beförderinn der Freyheit; das einzige Mittel, ihm zu gefallen, ein freywilliges Opfer." Ν I 66:34-: " weil ich [Gott] keinen von euch verlieren will, als der verloren seyn will, der es mir unmöglich macht, euch zu retten". Der Teufel benutzt "Gewalt und Drohungen", wahrend Gott hingegen "alles freywillig von uns verlangt." (Ν I 88:23-). Ν I 178:18-: " unterdessen der einige wahre Gott sich zum Menschen macht und wenn er mit selbigem ringt, sich übermannt und überwunden bekennt, Wahrheit und Gnade als die einzigen Mittel braucht, die Menschen zu gewinnen." Am Ende eines Abschnitts über Gottes besondere Wunder, wodurch er uns überzeugen, aber nicht zwingen will, Ν1219:20-: "Deine Allmacht scheint, ο Gott! auf nichts als unseren Willen zu warten, um ihre Größe an uns zu offenbaren." Vgl. außerdem noch: Ν I 215:1-, 242:15-. Ν I 24:21-: " wie alle Dinge, die wir in dem Lauf der Natur und zu ihren Gesetzen zählen, unmittelbar von Gott abhängen."

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Kapitel 3 Krise und Bekehrung. Die Theologie der Londoner Schriften

ihrem Schöpfer entgegensetzen wollen und von wiedernatürlichen und übernatürlichen Werken geredt. Wie viele Wunder hat Gott gethan, möchte man sagen, daß wir nichts für Natur erkennen sollen; und was ist in der Natur, in den gemeinsten und natürlichsten Begebenheiten, das nicht ein Wunder für uns ist, ein Wunder im strengsten Verstände." (Ν I 24:27-). Gottes besondere Wunder sind vollkommen natürlich, und alles Natürliche ist ein Wunder. Natur und Gnade können nicht als zwei heterogene Wirklichkeiten gegenübergestellt werden34. Die supranaturalistischen Befürworter der Wunder gehen eigentlich von demselben Naturverständnis aus wie ihre naturalistischen Gegenspieler, denn Deist und Naturalist versuchen aufgrund derselben Verselbständigung der Natur die Wunder wegzuerklären35. Hamann ist übrigens der Meinung, daß Gott nach dem Neuen Testament keine 'besonderen' Wunder mehr tue, weil sie nicht mehr nötig seien36. Wie die Physikotheologen ist Hamann der Auffassung, daß Gott die Natur zum Dienste des Menschen und seines Glücks geschaffen habe. Sie sei keine selbständige Größe, sondern dem Menschen und seiner Beziehung zu Gott untergeordnet. Bei Hamann kommt jedoch viel stärker zum Ausdruck, daß die Natur durch diese Einordnung aufgenommen ist in die Heilsgeschichte Gottes und des Menschen, daß Schöpfung, Versöhnung und Erneuerung nicht untergeordnete Variationen in einem zeitlosen Rahmen sind, sondern daß die Natur in die Weite des Bundes zwischen Mensch und Gott aufgenommen ist und mit umgestaltet wird. Er bringt diese heilsgeschichtliche Perspektive treffend zum Ausdruck, wenn er zum Lobgesang der Hanna bemerkt, daß Gott die Naturgesetze zum Dienste der Geringen und Armen geschaffen hat, die er aus dem Staub und Schlamm aufrichtet37. Gott hat die Natur im Blick auf den Menschen und seine Bedürfnisse geschaffen. Von ihren Erzeugnissen kann der Mensch sich ernähren und kleiden; ihre Früchte kann er genießen. Aufgrund der vom Schöpfer angeleg-

M

Alexander, W.M., Johann Georg Hamann, Philosophy and faith, The Hague 1966,128: " a world so removed from God that the presence of God is thought of as 'supernatural', in which great energy can be expended pro and con on the problem of how God can intermittently 'break into* a foreign domain - this kind of world Hamann does not recognize." " Vgl. Ν I 217:33-, 220:36-. 16 Ν I 225:34-: "Diese haben nach der Weisheit Gottes aufgehört". 37 1.Samuel 2:8, King James Version: "He raiseth up the poor out of the dust, and lifteth up the beggar from the dunghill, to set them among princes, and to make them inherit the throne of glory: for the pillars of the earth are the Lord's, an he hath set the world upon them." Hamann hierzu: "Die Pfeiler der Erde sind des Herrn und er hat die Welt auf sie gesetzt Gott hat die Gesetze, die er dem Sonnenstaube gegeben, zum Grunde deijenigen gelegt, nach denen die Sonne selbst sich bewegen soll" (Ν I 97:14-). Vgl. Ν I 102:11-, 166:33-.

3.4 Die Theologie der Londoner Schriften

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ten teleologischen Korrelation von außermenschlicher Natur und menschlichen Bedürfnissen kann der Mensch seine Existenz als eine ihm geschenkte Wohltat erleben. Die geschaffene Natur kann die menschlichen Bedürfnisse jedoch nicht vollständig befriedigen; dies kann allein das Heil Christi bewirken. Der Mangel an natürlicher Erfüllung weist auf die übernatürliche Erfüllung durch die Gnade hin. So zeigt sich, daß bei Hamann die korrelative Finalität von Natur und menschlichen Bedürfnissen eine typologische Widerspieglung der supralapsarischen, auf die Beziehung von Gott und Mensch gerichteten Finalität der Schöpfung, Menschwerdung und Vollendung ist38. Ein anderer, historisch einflußreicher Gedanke, den Hamann übernimmt, ist die der 'Seinskette'39. Die geschaffene Wirklichkeit ist wie eine Kette, ein 'nexus' oder eine Leiter von Seienden, wobei das niedrigste Glied aus den materiellen, leblosen Dingen besteht und das höchste Glied der Seinskette (im Bereich des Geschaffenen) durch die immateriellen Geister und Engel dargestellt wird. Dazwischen liegt eine lange und vielfaltige Reihe von Zwischenwesen. Der Mensch nimmt unter all diesen Wesen die Mittelstellung ein. Durch seinen Leib ist er mit der niedrigeren, materiellen Reihe verbunden; durch seine Seele steht er mit der höheren Welt der Geister in Verbindung. Der Mensch ist also gewiß nicht das höchste Geschöpf, die glorreiche Spitze der Seinspyramide. Er nimmt eine doppeldeutige Mittelstellung ein, die ihn in zweierlei Hinsicht abhängig macht: "So wie der Leib den Gesetzen der äusseren Gegenstände unterworfen ist, der Luft, dem Boden, der Würkung anderer Körper: so müssen uns wir unsere Seele gleichfalls vorstellen. Sie ist dem beständigen Einfluß höherer Geister ausgesetzt und mit selbigen verknüpft" (Ν I 300:30-). Umso erstaunlicher ist es, daß Gott nun gerade ihn, "ein sehr entferntes Glied in der Reyhe der erschaffenen Dinge" (Ν I 305:11-), als seinen Augapfel, als das Geschöpf auserwählt hat, dem er die ganze Natur, auch die Welt der Engel, untergeordnet hat. Nur so ist dieser 'Bürger zweier Welten' die Krone der Schöpfung. 3

' Ν I 293:10-: "Kuiz die Ergötzlichkeiten, die Bequemlichkeiten, die Wohltaten die wir Herren der Erde genüssen , scheinen alle aus einem menschlichen Gesichtspunct und Herzen, daß ich so menschlich und thöricht rede, geflossen zu seyn oder meinen Ausdruck zu verbessern, daß der Gott und Schüpfer aller Dinge der liebreiche Menschensohn und gleich den Kindern ein Theilnehmer unsers Fleisches und Blutes werden wollte und geworden ist. Ist die Schöpfung ein menschliches Werk; was wird die Erlösung nicht seyn, die uns Menschen um so viel näher angeht. Die Natur setzt in ihren Hervorbringungen die Menschwerdung Gottes zum voraus und die Gnade gleichfalls." 39 Vgl. Ν1260:37-, 300:30-, 301:16-, 304:31-. Diese Auffassung war im 18. Jahrhundert sehr weit verbreitet, nicht nur in der Physikotheologie (vgl. § 2.5.2, Punkt 8). Vgl. Lovejoy, The great chain of being, 183-226.

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Kapitel 3 Krise und Bekehrung. Die Theologie der Londoner Schriften

Die Abhängigkeit der Natur vom Schöpfer kommt zudem noch auf zweierlei Weise zum Ausdruck. Negativ offenbart sie sich, wenn die Beziehung zu Gott gestört wird und die Bedürftigkeit und Unzulänglichkeit der Natur im 'Schrey' der Schöpfung zum Ausdruck kommen. Da dieser Schrei vor allem im Hilferuf des Menschen vernommen wird, soll hierauf erst später im Abschnitt über die Anthropologie eingegangen werden. Positiv äußert diese Abhängigkeit sich in der natürlichen Offenbarung. Hamann ist auch der Auffassung, daß die Natur von Gott und seiner Weisheit zeugt. Dies natürliche Zeugnis wird allerdings erst im Zusammenhang der heilsgeschichtlichen Beziehung zwischen Gott und Mensch richtig gehört und verstanden. Diese hermeneutische Rangordnung hängt mit der ontologischen Ausrichtung der Natur auf die Gnade zusammen40. Die

Engel

Hamann glaubte an Engel oder Geister (er benutzt beide Bezeichnungen durcheinander), was in seiner Zeit noch sehr üblich war41. Engel nehmen in den Londoner Schriften einen wichtigen Platz ein. Sie gehören zum höheren Bereich der Seinshierarchie, sind Diener Gottes und haben die Aufgabe, jedenfalls eine Reihe von ihnen - die Erde zu leiten, ihren Bewohnern beizustehen und sie zu beschützen42. Hamann übernimmt auch die traditionelle Auffassung, daß der Satan ein gefallener Engel - also auch ein Geschöpf sei, der den Menschen zur Sünde verführt habe43. Anthropologie

Wie wir bereits festgestellt haben, dreht sich nach Hamanns Auffassung in der Schöpfung und Geschichte alles um die Beziehung zwischen Gott und Mensch. Anthropologisch impliziert dies die zentrale Bedeutung der Seele. Die Seele ist das Zentrum des Menschen, dort liegt der Anknüpfungspunkt für Gottes Liebesbezeugung, dort können Gott und Mensch sich am innigsten begegnen und lieben, ohne daß es zu einer monistischen Einswerdung kommt und ohne daß damit die Transzendenz Gottes verloren geht. " alles ist nichts, außer 'God and my own Soul"' (ΝI 204:5-). Entsprechend dem

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Auf die Frage der natürlichen Offenbarung kommen wir weiter unten noch zurück. Auch Is. Newton räumt den Engeln viel Platz ein. Vgl. Manuel, F., The religion of Isaac Newton, Oxford 1974, 99-104. Vgl. Is. Newton, Observations upon the prophecies of Holy Writ, particularly upon the prophecies of Daniel and the Apocalypse of St. John (17331). Vgl. u.a.: Ν I 78:2-, 89:22-, 112:20-, 177:35-, 273:24-, 276:11-, 310:23-. Siehe weiter unten den Paragraphen über die Sündenlehre und das Böse.

3.4 Die Theologie der Londoner Schriften

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Vorhergehenden beschreibt Hamann die Geschichte dieser innigen Beziehung zwischen Gott und der Seele als ein militärisches Geschehen44. Unsere Seele ist ein Glied der Seinskette und als mittleres Glied mit der materiellen und geistlichen Wirklichkeit verbunden. Durch diese doppelte Abhängigkeit ist Selbsterkenntnis oft so schwierig. Dazu gelangen wir lediglich durch Erkenntnis Gottes, der "die ganze Kette in seiner Hand hält" (Ν I 305:15), und der "Mittelwesen, die mit uns in Verbindung stehen" (Ν I 301:28). Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis bedingen sich gegenseitig. Nur durch Gotteserkenntnis entdecken wir unser eigenes Elend und unseren Reichtum voll und ganz. Das war die wichtigste Entdeckung des bekehrten Hamann in London45. Dieselbe implikative Beziehung entdeckt Hamann zwischen Selbstliebe, Nächstenliebe und Liebe zu Gott46. Ist der Mensch ein altruistisches Wesen, oder ist er im Gegenteil ein egoistisches Raubtier? Oder gibt es eine positive Form von Eigenliebe, eine konstruktive Kraft, deren wir uns nicht zu schämen brauchen, wie Shaftesbury meint?47 Hamann greift dies Thema auf und behauptet, Selbstliebe und Selbsterkenntnis seien nicht möglich ohne liebevolle Kenntnis des Nächsten, der ein Spiegel für uns selbst sei. Unsern Nächsten kennen wir nur als den uns von Gott Geschenkten, der selbst in Christus unser Nächster geworden ist. So kann es keine Selbstliebe und Selbsterkenntnis ohne Liebe zu Gott und dem Nächsten geben48.

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Hamann bringt seine trinitarische Sicht gut in seiner Erläuterung zu Genesis 2:7 (Ν I 15:7-) zum Ausdruck: "Der Othen des Lebens in unserer Nase ist hingegen ein Hauch Gottes. Dasjenige also, was das sicherste Zeichen von der Vereinigung unserer Seele mit dem Leibe ist, beschreibet uns Moses als eine Würkung des göttlichen Hauches. Die geheimnisvolle Natur der menschlichen Seele, die Wichtigkeit derselben, die Abhängigkeit von ihrem Urheber sind in dem sinnlichsten und einfachsten Bilde ausgedrückt. Ein Rathschluß Gottes wird vorher eingeführt. Gott nimmt sich die Mühe, den Staub der Erde zu bilden. Die übrige Schöpfung scheint in Ansehung dieser ein opus tumultuarium zu seyn. Das gröste Geheimnis wird beschlossen, daß Gott sein gebildetes Werk anhaucht. Dieser Hauch ist das Ende der ganzen Schöpfung, so wie unser verklärter Heyland die FrUchte seiner großen Erlösung in eben dem Bilde eines geheimnisvollen Anhauchens seinen Jüngern mittheilte. Joh: XX.22." Vgl. Ν I 75:38-, 78:9-, 203:29-, 204:10-, 236:1-, 300:17-, Ν II 43:5-, 43:40-, Vgl. Brocken, § 1 (Ν I 299-302). Vgl. § 2.3.2. Ν I 302:22-: "Gott und mein Nächster gehören also zu meiner Selbsterkenntnis, zu meiner Selbstliebe. Was für ein Gesetz, was für ein entzückender Gesetzgeber, der uns befiehlt, ihn selbst mit ganzem Herzen zu lieben und unsern Nächsten als uns selbst. Dies ist die wahre und einzige Selbstliebe des Menschen, die höchste Weisheit der Selbsterkenntnis eines Christen, der nicht nur Gott als das höchste, wohltätigste, einzig und allein gute und vollkommene Wesen liebt sondern überdem weiß, daß dieser Gott selbst sein Nächster und seines Nebenmenschen Nächster im strengsten Verstände

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Kapitel 3 Krise und Bekehrung. Die Theologie der Londoner Schriften

Daß der Mensch ein abhängiges und transzendierendes Wesen ist, äußert sich in seinen Bedürfnissen und seiner Sehnsucht, seinem Hunger und Durst, sowohl im geistigen als körperlichen Sinn. Der geistige Hunger und Durst findet seine Befriedigung in der Liebe Gottes, wenn sein Geist in die Seele einzieht. Aber auch die leibliche Bedürftigkeit zeugt von der teleologischen Ausrichtung auf die Erfüllung, die von anderswo kommt. Der leibliche Hunger und Durst halten das Bewußtsein wach, daß wir keine autonomen und autarken Wesen sind49. Im Leiblichen wird die transzendierende Beziehung des Menschen zu Gott typologisch sichtbar30. Es ist also deutlich, daß Hamann in seiner Beschreibung des Verhältnisses von Leib und Seele vom hermeneutischen Prinzip der Beziehung von Buchstabe und Geist ausgeht. Die geistige Abhängigkeitsbeziehung wird im Leiblichen sichtbar, und umgekehrt wird der 'Buchstabe' des Leibes erst von der geistigen Sinngebung der Seele aus richtig interpretiert. Wie die Natur im Dienste der Beziehung zwischen Gott und Mensch zum Reden und zu ihrem Recht gelangt, so erhält auch das Leibliche aufgrund seiner Beziehung zur Seele in ihrer Ausrichtung auf Gott seinen eigenen rechtmäßigen Platz und seine Erfüllung . Geistig und leiblich wird die Abhängigkeit von Gott und seinen Gaben schmerzlich spürbar, wenn die Beziehung zu ihm zerstört wird. Dann werden alle menschlichen Qualitäten nichts anderes als Quellen des Leids und Elends. Zu unserem Schaden und unserer Schande müssen wir erfahren, daß

geworden ist, damit wir alle mögliche Ursache hatten, Gou und unsern Nächsten zu lieben." 4 ' Ν I 85:9-: "Gott hat mit einer bewundernswürdigen Weisheit eine Harmonie, ein so außerordentlich Band und Scheidewand zugleich zwischen den Kräften des Leibes und der Seele, zwischen den Gewässern oben und unten eingeführt, daß sie sich einander ersetzen, einander dienstfertig sind, und in ihrer Entfernung einen Zusammenhang finden. Gott hat unserm Leib das Gefühl des Hungers gegeben, daß wir eben eine solche Notwendigkeit in unserm Geiste zum voraus setzen sollen. Ja vielleicht macht der Hunger, der Kummer, die Dürre, worinn unser Geist lebt, den Leib so schwach, so gierig." Ν1 164:22-: "Alle Bedürfnisse des menschlichen Lebens und der menschlichen Natur sind sich einander ähnlich, sie sind Kundschafter, die uns ein entfernteres Land entdecken sollen. Der Hunger ist uns nicht deswegen gegeben, daß wir nichts als essen sollen; die Schaam und Blöße nicht, daß wir uns nichts als Kleider anschaffen sollen; Gott hat uns so viele Bedürfnisse gegeben, er hat sie so untergeordnet, daß uns die bloße Natur den Werth derselben, die Ordnung, nach der wir sie befriedigen sollen lehren könnte". Vgl. auch: Ν I 72:23-, 121:2-, 126:38-, 162:40-, 197:10-, 218:16-, 223:36-, 268:3-, 302:38-. 50 Hamann spricht u.a. von einer 'typischen Geschichte' (Ν I 228:40) und von 'Prophezeyung* (Ν I 237:17-). Alexander, Johann Georg Hamann, Philosophy and faith, 189: "What significance then does he see in our physical, emotional and psychological drives? These are symbols of the fact that our destiny as human beings transcends their fulfillment." Vgl. Metzke, Hamanns Stellung, 18; Schreiner, op.cit., 60.

3.4 Die Theologie der Londoner Schriften

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wir nicht 'selfsupporting' sind. Die positive Seite dieser Prüfungen kann sein, daß sie 'Zuchtmeister' auf Christus werden. Unsere leiblichen und geistigen Fähigkeiten erfahren dann dasselbe wie Israel unter dem Gesetz: einerseits spüren sie ihr eigenes Unvermögen, anderseits aber kann diese Ohnmacht zu einem 'Schrey' um Hilfe und Erfüllung durch Gottes Gnade werden. Dieser 'Schrey* durchbricht die Verschlossenheit des autonomen Menschen und ist bereits der Anfang der Wiederherstellung der Beziehung zu Gott; denn "seine Barmherzigkeit und Weisheit giebt der ganzen Schöpfung eine Stimme, jeder derselben ihre eigene Stimme, das heist, jede hat Gottes Mildthätigkeit zu seinem Glück nöthig, hat seine Schranken, die Gott ersetzen muß, hat sein Maas, das er füllen muß." (Ν I 81:19-). Dieser Vergleich mit Israel unter dem Gesetz stammt von Hamann selbst, der ihn vor allem auf die Vernunft bezieht. Wenn die Vernunft autonom, ohne Beziehung zu Gott vorgehen will, wird sie ihre eigenen Grenzen und ihre Ohnmacht erfahren. Das hat Hamann vor allem von seiner Beschäftigung mit Hume gelernt51. Die Juden leben unter dem Gesetz, die Griechen unter der Vernunft; beide sind heilig und gut, aber beide sind auch Zuchtmeister auf Christus. "Ein Philosoph, welcher der Vernunft zu gefallen das göttliche Wort aus den Augen setzt, ist in dem Fall der Juden, die desto hartnäckiger das neue Testament verwerfen, je fester sie an das alte zu hangen scheinen." (Ν I 9:7-)ί2. In seiner Kritik an der Aufklärung wendet Hamann sich zwar vor allem gegen die 'Vernunft', aber nicht weil er grundsätzlich Antirationalist wäre. Er kämpft gegen den aufgeklärten 'intellectus', insofern er nicht mehr im Lichte der 'fides' denken will53. Wie gesagt findet unser geistiges und leibliches Verlangen seine Erfüllung in Gott und seinen Gaben in der Gnade und der Natur. Hamann bringt häufig seine Verwunderung darüber zum Ausdruck, daß Gottes Gaben unseren Bedürfnissen so gut entsprechen: 'Zum voraus' weiß Gott, wessen wir bedürfen, und 'zum voraus' ist er schon bereit, uns seine Gaben zu schenken. Adam erfährt zu seiner Überraschung, daß Gott das Verlangen seines

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Vgl. §4.3.1. " Ν I 29:22-: "Die Juden unter ihrem Gesetz und die Heiden unter dem Licht, unter der Vernunft, sind in völliger Gleichheit vor Gott. Beyde Offenbarungen, weder Gesetz noch Natur und Gewissen, waren zu ihrer Seeligkeit hinlänglich; diese beruhte allein auf dem göttlichen Erfüller und Genugthuer des Gesetzes, auf dem Lichte der Heyden". Vgl. auch: Ν I 229:15-, 316:40-. 53 Vgl. zur 'Vernunft': Ν I 9:6-, 18:9-, 21:29-, 26:29-, 30:32-, 31:6-, 52:33-, 74:11-, 77:27-, 94:38-, 95:27-, 99:37-, 103:15-, 106:17-, 117:15-, 144:39-, 147:3-, 152:31-, 167:12-, 173:2-, 219:35-, 238:18-, 264:38-, 274:23-, 302:2-. Ein Großteil dieser Stellen ist vernunftkritisch, aber in einigen werden die 'Sinne und Leidenschaften' unter dieselbe Kritik gestellt. Hamann geht also nicht vom Gegensatz Vernunft - Gefühl aus.

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Kapitel 3 Krise und Bekehrung. Die Theologie der Londoner Schriften

Herzens nach einem Mitmenschen über alle Maßen erfüllt. "Er sähe nichts als ein Bedürfnis seiner Natur durch Gottes Liebe und Vorsehung gestillt, eine Frage seines Herzens beantwortet: Gott war seinen Wünschen zuvorgekommen, hatte selbige übertroffen. Dies findt der Glaube eben auf die Art in noch größeren Maaße in Jesu Christo." (Ν I 295:27-). Auf diese Weise knüpft die Gnade also bei der - gefallenen - Schöpfung an, eine Korrelation, die sich schon in Hamanns supralapsarischem Verständnis der Erwählung abzeichnet. Die wahre 'Humanität' - um einen Begriff seines späteren Schülers Herder zu benutzen - entfaltet sich im Lichte der Gnade. Das bedeutet nicht, daß Gott bei unseren eigenwilligen und egozentrischen Bedürfnissen und Ansprüchen anknüpft; angesichts dieser Bedürfnisse und Ansprüche wird die Gnade zum Gesetz, das uns verurteilt und kreuzigt. Der Weg Gottes zum sündigen Menschen führt durch den Engpaß des Kreuzes und der Niedrigkeit, aber wenn Gott und Mensch sich am Treffpunkt der Liebe und Demut wiedergefunden haben, öffnet sich von da aus wieder das ganze Feld; dann erweisen sich Gnade und Natur als Erfüllung unserer tiefsten Wünsche und Sehnsüchte, die Gott selbst in uns angelegt hat54. Vorher wußten wir allerdings kaum, welche tief verborgenen Sehnsüchte dies nun wirklich sind. Wir kannten uns selbst nicht mehr und liefen hinter eigenen sündigen Projektionen her. Gott kommt uns von zwei Seiten entgegen, als Schöpfer und Erlöser, über die Natur und den Leib und über die Gnade und den Geist. Auf beiden Wegen kommt derselbe Gott zum selben Menschen; 'kein Wunder', daß beide Wege aneinander anschließen.

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Über die überraschende Korrelation zwischen unserem Verlangen und Gottes Gaben in Natur und Gnade kann Hamann nicht genug reden. Ν I 286:27-: "Diese Füglichkeit unserer Religion mit allen unseren Neigungen, Trieben und Bedürfnissen unserer Natur; diese genaue Beziehung ihrer Wahrheiten und Entdeckungen mit unseren grösten Mängeln und kleinsten Unvollkommenheiten so wohl als mit unsem höchsten und übersteigernsten Wünschen ist eine Quelle ungemein fruchtbarer und entzückender Betrachtungen ~ und nächst dem ein überzeugender Beweis, daß sie mit der Natur einen Urheber hat. So wie der ganze Plan der Natur auf die äußerlichen körperlichen Bedürfnisse und Bequemlichkeiten der Menschen gegründet ist; so der ganze Plan der Gnade auf die Natur." Ν I 294:9-: "Die Gnade ist also wie die Natur eine Schöpfung oder Erfüllung unserer eigenen Gedanken und Wünsche; sie giebt unserer Seele alles dasjenige schon fertig und gegenwärtig, ohne das sie nicht im stände wäre ihr Daseyn, ihr Leben und Heyl zu genüssen. Wie die Natur alles dasjenige zum Voraus vorbereitet und vorgedacht hat, was die Stimme unserer leiblichen Bedürfnisse von dem Schöpfer hätte fordern können: so hat die Gnade für uns geschlachtet und zugerichtet und wir haben nichts nöthig als ihren Ruf zu folgen, um an ihrem Abendmal theilzunehmen". Vgl. außerdem: Ν I 17:3-, 77:10-, 78:4-, 146:12-, 162:40-, 234:24-, 252:24-, 267:4-, 292:39-, 294:13-, 295:14-, Ν II 46:6-.

3.4 Die Theologie der Londoner Schriften

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Ein anderes wichtiges Thema Hamanns sind die 'Sinne und Leidenschaften'. Viele Ausleger sehen in Hamanns positiver Wertung der Leiblichkeit, des Gefühls und der Leidenschaften, usw. den Kern seines Denkens. Seine Polemik gegen die Aufklärung wird dann vom Gegensatz zwischen Gefühl und Vernunft aus gesehen, und daher gilt er als einer der Begründer der Romantik. Wie irreführend dieses Auslegungsschema ist, mag inzwischen wohl deutlich sein. Die Grundbewegung der Theologie Hamanns führt nicht von der Vernunft zum Gefühl, sondern von der Autonomie zur Theozentrik. Von dieser theozentrischen Ausrichtung aus entdeckt er auch genügend Raum für die 'Sinne und Leidenschaften'. Der Rahmen seiner Anerkennung von Leiblichkeit, Gefühl und Genuß - auch in seinen späteren Schriften - ist diese Korrelation von Natur und Gnade, die wir gerade dargelegt haben. Nur im Lichte der Gnade kommen die einzelnen natürlichen Fähigkeiten zu ihrem eigenen, allerdings relativen Recht. Hamann hat in London nur zu sehr erfahren, worauf Zügellosigkeit der Sinne und Leidenschaften hinauslaufen kann: in die Verzweiflung. Mehrmals erklingt in den Londoner Schriften auch die Warnung vor dieser Maßlosigkeit55. Der Mensch ist nach dem Bilde Gottes geschaffen. Die Übereinstimmung, um die es hier geht, liegt im essentiellen Vermögen des Schöpfers und des Geschöpfs, zu lieben und geliebt zu werden. Das Wunder besteht darin, daß Gott und Mensch sich trotz ihrer unermeßlich großen Unterschiede in Freiheit lieben können; das ist der Kern der Analogie56. Anthropologisch äußert sich diese Beziehung darin, daß der Mensch aus Leib und Seele besteht. Im Lateinischen exercitium hat Hamann die Seele als den Knotenpunkt der menschlichen Natur bezeichnet57. Nun steht ihm deutlicher vor Augen, auf welche Weise Leib und Seele und Gott und Mensch miteinander 'verknüpft' sind. Durch die Seele steht der leibliche und endliche Mensch in einer transzendierenden Beziehung zu Gott. Die Seele beseelt den Leib und verleiht ihm seine Bedeutung; dies geschieht jedoch aufgrund einer transzendierenden 55

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In einer Anmerkung zum Hohenlied, Ν1173:2-: "Im Prediger [dem Bibelbuch] hat der Geist Gottes die Schwermuth der tiefsinnigen Vernunfft zum Mantel seiner Offenbarung gemacht; hier bedienet er sich der Entzückung der stärksten und sanftesten Leidenschafft, die die Menschen zu fühlen fähig sind, und die wie die Vernunft eben so großem Misbrauch ausgesetzt ist und gar zu offt ein Schwerdt in der Hand des Rasenden und der tödlichste und ekelhafteste Gifftbecher wird." Vgl. auch: Ν174:11-, 181:19-, 183:23-, 190:28-, 192:13-, 219:38-, 238:18-. Ν I 258:24-: "Diese Liebe bewog ihn, sein Bild uns in der Schöpfung einzudrucken — Gott hat eben die Liebe für jeden einzelnen Menschen, die er für das ganze Geschlecht derselben gehabt hat, weil jeder einzelne Mensch Sein Bild in der Schöpfung erhielt." Andere Belegstellen für das 'Bild Gottes': Ν I 13:23, 18:27, 50:4, 55:32, 67:32, 110:14, 212:39, 213:13, 235:33, 250:5, 253:40. Vgl. § 2.6.

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Kapitel 3 Krise und Bekehrung. Die Theologie der Londoner Schriften

Beziehung zum Atem Gottes, von dem sie abhängig bleibt58. Bild Gottes zu sein bedeutet, als Einheit von Leib und Geist auf den Geist Gottes ausgerichtet sein, eine wartende Ausrichtung, die in der Teilnahme an Gottes Natur ihre Erfüllung findet. Auch hier zeigt sich wieder die supralapsarische Korrelation von Natur und Gnade: die Einheit von Leib und Seele, die für den Menschen als Bild Gottes kennzeichnend ist, weist auf die Einheit der menschlichen und göttlichen Natur in Christus und auf die Einswerdung des Heiligen Geistes mit unserem Geist voraus59. Über die menschliche Freiheit schließlich wurde das Wesentliche bereits bei der Erörterung von Hamanns Erwählungslehre gesagt. Vorsehung

Bei Hamann erhält das Thema der Vorsehung genauso wie in der Physikotheologie viel Beachtung60. Der Unterschied besteht allerdings darin, daß er auch hier weit stärker trinitarisch denkt, geht es doch um die göttliche Vorsehung und Regierung des Vaters und des Sohnes und des Geistes. Auch die 'allgemeine' Vorsehung Gottes des Schöpfers ist eine 'besondere', sie ist Teil der einen 'Haushaltung' Gottes61. Umgekehrt ist die besondere Wirkung und Leitung des Heiligen Geistes die Zuspitzung seiner allgemeinen Vorsehung. Hamanns Einordnung der Vorsehung in die eine 'oeconomia' Gottes, deren Zentrum die Erscheinung Christi ist, kommt in der Wahl seiner Beispiele zum Ausdruck. Genau wie die Physikotheologen weist er gerne darauf hin, daß Gottes Weisheit und Regierung gerade in den allerkleinsten Dingen sichtbar werden. Freilich wählt er seine Beispiele nicht aus dem Pflanzenund Tierreich, sondern vor allem aus der Heilsgeschichte, die deutlich macht, daß Gottes Vorsehungshandeln in den kleinen Angelegenheiten

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Ν I 15:35-: " daß unsere Seele ein Daseyn seines Hauches hat; daß er dasselbe weder vernichtet noch erniedrigt sehen kann, was in seinem Bilde gemacht, und eine so genaue Beziehung zu seinem eigenen unendlichen Wesen hat". Vgl. Ν I 299:14-. Ν I 268:3-: "Diese Theilnehmung der göttlichen Natur war der Endzweck der Menschwerdung Gottes und sind beyde gleich große Geheimnisse, deren Vorbild aber in dem Wesen des Menschen und den Theilen desselben gelegt ist. Eine ungleich vollkommenere Einigkeit als die zwischen Seele und Leib herrscht." Ν I 292:20-: "Der Gott Mensch ist der Schöpfer , machte die göttliche Natur zur Figur und nach der Ähnlichkeit und dem Bilde der Menschlichen, die er annehmen wollte aus eben dem Grund der Liebe, warum er den Menschen nach dem Bilde Gottes schuf." Vgl. Ν I 38:7-, 125:39-, 144:5-, 168:27-, 168:36-, 176:21-, 177:25-, 181:35-, 225:26-, 236:5-, 267:8-, 302:11-. Vgl. Ν I 225:26-, 236:5-.

3.4 Die Theologie der Londoner Schriften

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unseres Lebens seiner gnädigen und immer tieferen Herablassung in unsere Wirklichkeit entspringt42.

3.4.3 Die Sünde und das Böse Daß die Struktur der frühen Theologie Hamanns stark von der Art seiner Bekehrungserfahrung bestimmt wurde, zeigt sich vor allem in seiner Behandlung der Themen der Sünde, des Bösen und der menschlichen Endlichkeit. Hier ist sein Ringen um theologische Klarheit ganz besonders zu spüren. Doch wachsen bei ihm schon eine Reihe zusammenhängender Erkenntnisse, die wir nun im einzelnen darzulegen versuchen. Der Sündenfall beginnt in der Welt der Engel. Satan, der den Auftrag hat, die Menschen zu leiten und zu beschützen, kann nicht ertragen, daß sie schließlich Gott allein Ehre und Gehorsam schuldig sind. Aus Neid verführt er die Menschen, trachtet sie von ihrem Schöpfer zu trennen, um selbst Alleinherrscher zu werden. Die Tatsache, daß der Satan die Verbindung zwischen Gott und Mensch durch Versuchungen zu zerstören trachtet, spielt in den Londoner Schriften eine große Rolle. Gewiß, der Mensch ist letztlich selbst verantwortlich, jedoch weiß Hamann auch aus eigener Erfahrung, daß der Mensch in einem größeren Zusammenhang von Mächten und Versuchungen lebt. Persönliche Verantwortung bleibt der unausweichliche Schnittpunkt, aber damit ist nicht alles gesagt. Es gibt auch Verblendung, die durch allerlei Versuchungen und Ablenkungsmanöver des Satans verursacht wird. Er trachtet die Menschen so zu verblenden, daß sie ihr eigenes Selbst, ihre Abhängigkeit von Gott nicht mehr erkennen und bejahen. Kurzum, nicht alles Böse hat seine Ursache im Menschen63. Hamann leugnet seine eigene Verantwortung und Schuld nicht. Im Lebenslauf bezeichnet er sich selbst als

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Ν I 53:12-: "Gott hat in der Geschichte so wohl, als [in] den Gesetzen Moses seine Aufmerksamkeit, die sich bis auf die kleinsten Dinge erstreckt, gewiesen. Gott hat durch eine tiefe Herunterlassung vielleicht an seinem eigenen Beyspiel uns die Demuth lehren wollen." Dieses Zitat läßt gut erkennen, wie das physikotheologische Motiv des 'Großen im Kleinen' christologisch umgedeutet wird. Vgl. auch: Ν I 36:35-, 38:7-, 53:24-, 88:29-, 91:12-, 128:4-, 183:13-!, 217:31-, 222:1-, 254:2-, 288:13-, 309:15-. Es ist auffällig, daß gerade Hiob 32 u.f. der einzige in den Biblischen Betrachtungen erläuterte Bibelabschnitt ist, von dem Hamann sagt, er verstehe ihn nicht. Dort gibt Elihu Hiob eine scharfe Zurechtweisung, als er Gott gegenüber auf seiner eigenen Gerechtigkeit bestehen bleibt und sein Elend nicht als Strafe für begangene Sünden hinnehmen kann. Vgl. Ν I 147:21-, 149:15-, und ZH II 198:36-.

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Brudermörder Christi, aber diese Erkenntnis geht Hand in Hand mit seiner Erfahrung der bedrohenden Wirklichkeit der Mächte und Verführungen64. Satan verführte den Menschen, der Mensch ging darauf ein und Gott ließ es zu. Warum ließ Gott es zu? Weil die Sünde ihn nicht daran hindert, seinen Plan mit der Schöpfung auszuführen. Im Gegenteil, er wird seine Gnade in der Erlösung des Menschen aus Sünde und Verderben noch herrlicher und reichlicher schenken, als er es bereits als Schöpfer getan hat. In vielen seiner Tagebuchaufzeichnungen legt Hamann von diesem 'Triumph der Gnade'65 über die Sünde aus eigener Erfahrung Zeugnis ab66. Gerade aus eigener Erfahrung folgert er mit so viel Nachdruck und Verwunderung, daß Gott den Sündenfall - -seinen eigenen Fall - zulasse, weil er am Ende dieses Weges noch gnädiger sein und ihm noch näher kommen könne. Die Auflehnung des Menschen gegen Gott, mit allem Elend, das daraus entsteht, benutzt Gott als Gelegenheit, um seine Beziehung mit dem Menschen noch inniger, intensiver und reicher zu gestalten, als sie vorher schon war. Hamann betont so sehr, daß Gott die Sünde in seine endgültige Absicht mit dem Menschen aufzunehmen vermag, daß es scheint, als habe Gott die Sünde sogar nötig, um sein Ziel zu erreichen67. An einer Stelle benutzt Hamann sogar den Begriff 'brauchen'68. Dieser Eindruck entsteht auch aufgrund seiner Bemerkungen über den Nutzen und die Notwendigkeit von

M

Hamanns Satanologie in den Biblischen Betrachtungen scheint sich erst nach seiner Lektüre von Lev. 18:22 über die Sodomie richtig zu entfalten. Zweifellos denkt er dabei zurück an seine Freundschaft mit einem Lautenspieler (dessen Name nicht bekannt ist) und dessen homosexuelle Beziehimg mit einem gewissen Senel. Wir haben die starke Vermutung, daß diese Senelaffaire, die die Wende seines Lebens auslöste, der Ausgangspunkt für Hamanns Gedanken über den Satan und seine Taktik ist. 45 Ein Ausdruck, der dem Titel von G.C. Berkouwers Buch über die Theologie K. Barths: Der Triumph der Gnade in der Theologie Karl Barths, aus dem Holländischen übersetzt von Theo Preis, Neukirchen 1957, entnommen ist. 66 Ν I 232:6-: "Die Folgen der Sünde mögen so mannigfaltig, so schwer seyn, wie sie wollen; so kommen sie dem Seegen der Erlösimg, der freyen Gabe, der Vergebung der Sünden und Rechtfertigung vor Gott nicht bey. Gott (erlaubt, daß) alle durch die Sünde eines Einzigen unglücklich werden, damit seine Gnade und die freye Gabe durch Gnade durch einen einzigen Mann sich desto herrlicher und überschwänglicher beweise ~ und was ist der Sünder gegen den!" Ν I 259:1-: "Ja er ließ uns gleich unwissenden Kindern ein Meisterstück seiner Hand verderben, selbst in der Absicht, weil er uns ein besseres Geschenk an dessen Stelle zugedacht hatte." Ν I 259:16-: "Gott hat uns nicht nur so lieb uns diese erschreckliche Beleidigung seiner selbst zu vergeben, sondern die Zulassung derselben war ein Geheimnis einer noch größeren Liebe." Vgl. Ν I 17:23-, 101:24-, 294:30-. 67 Vgl. u.a.: Ν I 36:38-, 61:3-, 71:38-, 79:32-, 80:7-, 83:29-, 84:27-, 97:24-, 108:31-, 142:9-, 148:27-, 156:16-, 161:6-, 187:27-, 225:26-, 230:27-, 238:22-, 247:37-, 293:38-, 317:16-. " Ν I 317:22-.

3.4 Die Theologie der Londoner Schriften

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Prüfungen und Verführungen69. Dies ist jedoch eine perspektivische Verzerrung, die sich daraus ergibt, daß Hamann die Rolle des Bösen und der Sünde von seiner eigenen Situation her stark (über)akzentuiert. Für ihn hatten Prüfungen und Verführungen mit all ihren negativen Folgen letztlich eine segensreiche Wirkung; sie wurden Zuchtmeister auf Christus. Sein Hochmut zerstörte sich schließlich selbst, so daß Demut und Wiederherstellung Raum gewinnen konnten, wie im Gleichnis vom verlorenen Sohn, der die Liebe seines Vaters nach seinem Leben unter den Schweinen mehr genoß als je zuvor. Von dieser positiven Rolle aus, die die Sünde (auch) spielt, geht Hamann dann einmal so weit, daß er behauptet, Gott 'brauche' die Sünde, um seine Güte zu offenbaren. Wenn hier wirklich 'benötigen' gemeint ist70, widerspricht das seiner Auffassung, daß die Schöpfung bereits als solche auf die Gnade hin angelegt sei: "Die Natur setzt in ihren Hervorbringungen die Menschwerdung Gottes zum voraus und die Gnade gleichfalls." (TV I 293.27-)71. Jedoch ist, wie gesagt, vor allem in der Frage der Sündenlehre spürbar, daß Hamann noch auf der Suche ist. Auf jeden Fall würde Hamann nicht behaupten, daß Gott selbst das Böse schaffe, weil er diesen Umweg unbedingt nötig hätte. Fast immer spricht er von Gottes Zulassung und Regierung, aber nicht vom Schaffen. Worum es geht, bringt er genau mit den Worten zum Ausdruck, daß Gott "das Gute schafft und das Böse regiret." (Ν I 68:36-). Jedoch gibt es drei Stellen, wo von Gott, der das Böse oder das Übel schafft, die Rede ist (Ν I 210:25, 264:23, 304:26). In allen drei Fällen zitiert Hamann Jesaja 45:7: "(So spricht der Herr zu seinem Gesalbten, dem Cores :) Ich bin der Herr, und keiner mehr; der ich das Licht mache und schaffe die Finsternis; der ich Frieden gebe, und schaffe das Übel". Auf alle drei Stellen, an denen Hamann diesen Text zitiert, werden wir nun kurz eingehen. a) Die erste Stelle ist eine Anmerkung zu Markus 10:18: "Niemand ist gut denn der einige Gott". Hamann erläutert dies in dem Sinne, daß Gott unendlich und vollkommen sei, alle Geschöpfe hingegen endlich und begrenzt seien. "Das Daseyn eines jeden endlichen Wesens ist schon ein würkliches Übel. Jes. 45, 7." (Ν I 210:24-). Das 'Übel' im Jesajatext wird

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Vgl. u.a.: Ν I 7:16-, 71:38-, 79:9-, 82:3-, 84:38-, 249:37-, 269:36-. Es kann auch 'gebrauchen' gemeint sein. Vgl. Ν III 41:5. Vgl. auch noch ΝI 223:35-: " nichts als Jesum den gekreuzigten. Dies ist also der einzige Gegenstand, für den uns der Trieb der Neugierde von Gott eingepflanzt ist; dies ist der einzige Gegenstand, der demselben genug thun kann, der unsere Neugierde in Weisheit verwandelt. Dies ist ein Durst, den wir, ongeachtet unserer Erbsünde, fühlen, und der durch alle irrdische Brunnen zunimmt, die Hitze vermehrt an statt selbige niederzuschlagen, zu löschen."

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also nicht im ethischen Sinn ausgelegt, sondern als das Übel unserer Endlichkeit aufgefaßt. b) In der zweiten Stelle äußert Hamann sein Erstaunen darüber, daß Gott einen verfluchten Sünder wieder zu einem glücklichen Menschen umschaffen kann. Er sagt dann: "Dies ist mehr als aus Nichts schaffen. Dies kann niemand als Gott thun, Böses zu schaffen und zum Feinde zu machen; Finsternis zu schaffen und das zu Licht zu bilden. Jes. XLV.7." (Ν I 264:22-). Aus der Fortsetzung wird deutlich, daß mit dem 'Bösen', das geschaffen und zum 'Feind' gemacht wurde, der Mensch gemeint ist. Gott schuf den Menschen nicht als Engel, aber machte aus ihm nach dem Sündenfall mehr als einen Engel72. Unsere Auslegung ist folgende: wenn Hamann hier auf diese Weise Jesaja zitiert, macht er Aussagen, die streng genommen nicht mit den Grundzügen seiner Theologie zu vereinbaren sind, sondern aus einer rhetorischen und doxologischen Zuspitzung der Gegensätze zu erklären sind. c) Im § 4 der Brocken geht Hamann näher auf die Frage vom Ursprung des Bösen ein: "Welche Frage hat die Weltweisen mehr zu schaffen gemacht als der Ursprung des Bösen, oder die Zulassung desselben? Gott selbst sagt: Ich schaffe das Böse" (ΝI 304:24-). Sehr wahrscheinlich will er mit diesem Jesajatext die sogenannten 'Weltweisen' etwas herausfordern. Sofort danach beginnt er jedoch mit einer sachlichen Behandlung der Frage und unterscheidet dann allerdings ausdrücklich zwischen 'sittlichem Übel' (zum Beispiel 'Faulheit') und 'physischem Übel' (zum Beispiel Krankheit)73. Er bezeichnet beides als 'Übel', weil es in beiden Fällen um eine Störung der von Gott geschaffenen und von ihm abhängigen Seinskette geht. Nach dieser Unterscheidung kommt die zentrale Stelle, in der er die erwähnten Markus- und Jesajatexte wiederum in Begriffen der menschlichen Endlichkeit auslegt74. Bezüglich dieser Endlichkeit sagt Hamann, wir sollten uns eher verwundern,

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Ν I 264:29-: " der Erde einen Kloß zu rauben, der ein Brand der Hölle wurde, und den als eine Ceder des Himmels, in mehr als einen Engel zu verwandeln - das heist unendlich mehr als einen Engel schaffen." Die Schlußfolgerung Metzkes, Hamanns Stellung, 15 Fußnote 1: "Hamann scheidet also nicht - religiös gesprochen - Sünde und Leid", scheint uns, auch angesichts der weiteren Erörterung, falsch. Terminologisch ist Hamann nicht immer konsequent, wohl aber sachlich. Ν I 305:18-: "Nichts giebt uns ein so außerordentlich Licht in die ganze Natur der Dinge, als die große Wahrheit unseres Heilands: Niemand ist gut als der einige Gott. Anstatt also zu fragen: wo kommt das Böse her? sollten wir die Frage vielmehr umkehren und uns wundern, daß endliche Geschöpfe fähig sind, gut und glücklich zu seyn. Hierinn besteht das wahre Geheimnis der göttlichen Weisheit, Liebe und Allmacht. Es giebt nicht mehr als eine einzige Verbindung, die Gott zum Gesetz unserer Natur und ihres Glücks gemacht. Alles dasjenige, was der Mensch gegen diesen Zusammenhang thut, löst das allgemeine Band auf, die Harmonie, den Frieden".

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daß "endliche Geschöpfe fähig sind, gut und glücklich zu seyn". Wenn wir nicht 'gut und glücklich' sind, liegt das nicht an Gott, sondern an unserem Widerstand gegen das 'allgemeine Band' zwischen Gott und uns75.

3.4.4 Christologie, Versöhnung Hamanns Betrachtungen kreisen um ein Zentrum, nämlich Christus. "Die Offenbarung im Fleisch ist der Mittelpunct von allem." (Ν I 242:31). Die Christologie ist der alles beherrschende Orientierungspunkt seiner theologischen Betrachtungen, wie es in den vorhergehenden Ausführungen bereits in vielen Punkten zum Ausdruck kam. Ausgangspunkt ist die klassische Zweinaturenlehre. Christus ist Gott und Mensch und die zweite Person der Dreifaltigkeit. Das Besondere an der Christologie Hamanns ist die Art, wie die Inkarnation das Paradigma für alle Bereiche seiner Theologie wird. Kernpunkt der Inkarnation und des Werkes Christi ist, daß Gott selbst darin vollkommen sehen läßt, daß er Liebe ist, daß er den sündigen Menschen noch immer liebt und die Gegenliebe des Menschen wiederzugewinnen trachtet. Das bedeutet auch, daß in Christus die eine Absicht Gottes, die Einheit seines trinitarischen Werkes sichtbar wird. Vom christologischen Zentrum aus wird strahlend deutlich, daß alle Taten Gottes, auch die seiner Schöpfung, Vorsehung und Regierung, in seiner Liebe gründen. Durch diese christologische Zentrierung wird eine zu isolierte Stellung der Schöpfungslehre, wie es im Deismus und weitgehend in der Physikotheologie der Fall war76, vermieden. Wie sehr Hamanns Theologie sich um den Mittelpunkt der Offenbarung der Liebe in Christus entfaltet, zeigt sich darin, daß er auch das Werk des Schöpfers und des Heiligen Geistes als Akt der Demut und Herunterlassung sieht. Liebe bedeutet immer, sich zur Ebene des anderen, zu seinem Herzen, zu seiner Seele herablassen. Daher sind auch die Schöpfung und die Eingebung der Schrift Akte der Herablassung Gottes, denn in all seinen Taten versucht er, das Herz endlicher, sterblicher, leiblicher und sündiger Geschöpfe zu erreichen, indem er sich herabläßt. Die Herablassung Gottes ist der

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16

Vgl. Ν I 307:8-. Siehe zu unserer Widerlegung der Auslegung von M. Seils zu Hamanns Verständnis des Bösen (Theologische Aspekte, 107 ff.): Veldhuis, 'Hamanns NaturbegrifP, Anmerkung 31. Vgl. den impliziten Vorwurf in Ν I 202:6-: " euer Gesicht soll sich weiter erstrecken. Jenseits dem Vorgebürge der sichtbaren Schöpfung liegt euer Vaterland, dessen König [Christus] ihr für euch sehet." Vgl. auch: Ν I 202:32-,

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Kern der Bekehrungserfahrung Hamanns und das große Thema seines Londoner Tagebuchs77. Manche Stellen bringen dies sehr treffend zum Ausdruck: "Wie hat sich Gott der Vater gedemüthigt, da er einen Erdenkloß nicht nur bildete, sondern auch durch seinen Othem beseelte. Wie hat sich Gott der Sohn gedemüthigt! Er wurde ein Mensch, er wurde der Geringste unter den Menschen, er nahm Knechtsgestalt an, er wurde der unglücklichste unter den Menschen; er wurde für uns zur Sünde gemacht; er war in Gottes Augen der Sünder des ganzen Volks. Wie hat sich Gott der heilige Geist erniedrigt, da er ein Geschichtsschreiber der kleinsten, der verächtlichsten, der nichts bedeutendsten Begebenheiten auf der Erde geworden, um dem Menschen in seiner eigenen Sprache, in seiner eigenen Geschichte, in seinen eigenen Wegen der Rathschlüsse, die Geheimnisse und die Wege der Gottheit zu offenbaren?" (Ν I 91:7-)78. In Christus geht Gott in der Gabe seiner Liebe bis zum Äußersten. Gott muß ganz in die Tiefe gehen, so tief wie der Mensch gefallen ist, um von diesem Tiefpunkt aus Sünde und Schuld von innen, von unten her zu überwinden. Unserer Ansicht nach ist damit das Wesentliche über Hamanns Versöhnungsverständnis gesagt. Eine umfassende Versöhnungslehre, in der Begriffe wie Stellvertretung, Strafe, Satisfaktion usw. genau umschrieben werden, gibt er nicht. Ein einziges Mal knüpft er ausdrücklich bei der paulinisch-lutherischen Rechtfertigungslehre an79. Im übrigen weist seine ziemlich unbefangene und nicht besonders konsequente Benutzung von Begriffen der lutherischen Rechtfertigungslehre darauf hin, daß er sich nicht allzu sehr daran gebunden fühlt. Das zeigt sich auch in den verschiedenen Abschnitten, die einen eher 'empfindsamen' und pietistischen Geist atmen. Hamann sucht vor allem Formulierungen, die den persönlichen Charakter der Versöhnung soviel wie möglich zum Ausdruck bringen80, ohne dabei auf 77

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Schreiner, op.cit., 54: "Die 'Herablassung Gottes' ist geradezu der cantus firmus der 'biblischen Betrachtungen'". Blanke, Hamann-Studien, 111: "Mit dem Ausdruck 'Herunterlassung Gottes' führt Hamann einen Begriff ein, den er in der Folgezeit zu dem eigentlichen Rückgrat seines Denkens gemacht hat." Ν I 5:2-: "Gott ein Schriftsteller! - Die Eingebung dieses Buchs ist eine eben so große Erniedrigung und Herunterlassung Gottes als die Schöpfung des Vaters und Menschwerdung des Sohnes. Der Schöpfer ist geleugnet, der Erlöser gekreuzigt, und der Geist der Weisheit gelästert worden." Vgl. Ν I 193:8-, 228:15-, 232:15-, 260:3-, 270:30-. Ν I 226:36-: " glauben, daß er von Gott gesandt war, uns von dieser Liebe zu überführen, womit er uns liebte". Ν I 254:18-: "So viel Liebeskünste hat der Hey land gebraucht, um uns seinem Vater desto angenehmer zu machen". Vgl. u.a. auch: Ν I 64:10-, 156:36-, 189:36-, 227:21-, 255:38-. Das Persönliche zeigt sich auch in der Auswahl der 'Kirchenlieder' in Ν I und den Aufzeichnungen dazu. Sievers, op.cit., 74: "Das ist das für uns Neuartige an diesem Geschehen, daß alle Vorstellungen, die in Hamanns Darstellung zum Ausdruck

3.4 Die Theologie der Londoner Schriften

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die Aspekte des göttlichen Zorns, der Strafe, Stellvertretung und Rechtfertigung zu verzichten. Einige Bereiche der Christologie werden hier nicht erörtert, weil Hamann zu wenig darüber sagt, oder weil sie nicht wesentlich von den Grundzügen der lutherischen Glaubenslehre abweichen81.

3.4.5 Pneumatologie Da verschiedene pneumatologische Aspekte weiter oben bereits zur Sprache kamen, können wir uns hier kurz fassen. Das Bezeichnendste ist, daß das Werk des Heiligen Geistes ausdrücklich eine trinitarische Dimension hat. Der Geist ist in das Werk des Vaters und des Sohns mit einbezogen und führt dieses Werk aus. Der Geist schwebt über dem Chaos vor der Schöpfung. Er beseelt die Propheten, überschattet Maria, Jesus haucht ihn auf seine Jünger, und der Geist inspiriert die Schriften. Nach der Himmelfahrt ist der Heilige Geist in erster Linie Geist Christi. Christus, der Gott-Mensch, sitzt auf seinem Thron, aber sein Geist sucht, bewohnt und erneuert unsere Seelen. So wohnt Christus im Himmel und sein Geist in uns82. Es ist verständlich, daß Hamann aufgrund seiner Bekehrungserfahrung sein Augenmerk vor allem auf die kritische und erneuernde Wirkung des Heiligen Geistes in der menschlichen Seele richtet83. Die Neuschöpfung seiner Seele aus diesem Chaos ist für Hamann ein größeres Wunder als die erste Schöpfung aus dem Nichts oder dem Urchaos. Auf die Kirche und die Sakramente geht Hamann in den Londoner Schriften kaum ein. Dies ist aus der Situation zu erklären, in der diese Londoner Tagebuchaufzeichnungen entstanden: Hamann lebte allein und auf sich selbst angewiesen in einem kleinen Zimmer irgendwo in London. Auch über die Eschatologie wird nicht viel gesagt. Der Bekehrte lebte in seiner Begeisterung noch stark vom Reichtum der Gegenwart. Das wird sich in seinem späteren Werk ändern.

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kommen, dem innerweltlichen Bereich der persönlichen menschlichen Kontakte entnommen sind. Gott selbst erscheint als Freund." Vgl. op.cit., 76 f. Das Piötistisch-'Empfindsame' hören wir in Hamanns Aussagen über Gott und Christus als 'Freund' (vgl. u.a. Ν II 39:40-, Ν I 231:25-, 265:36-), oder 'Menschenfreund' (Ν I 192:20, 198:2,6). Vgl. zum möglichen Einfluß Zinzendorfs: Fechner, 'Philologische Einfälle und Zweifel', 9-11. Hamann widmet der Himmelfahrt einige wunderschöne Seiten: 'Am HimmelfahrtsTage' (Ν I 270-276). Vgl. Ν 1 64:9-, 273:12-. Vgl. u.a.: Ν I 76:2-, 78:25-, 86:37-, 93:15-, 93:38-, 151:3-, 190:13-, 212:24-.

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Kapitel 3 Krise und Bekehrung. Die Theologie der Londoner Schriften

3.4.6 Offenbarung; Hamanns Hermeneutik Gott offenbart sich in der Natur, der Geschichte und der Schrift. In diesem dreifachen Offenbarungsgeschehen läßt sich eine vertikale und eine horizontale Struktur unterscheiden. Unter letzterer ist die Struktur des linearen zeitlichen Prozesses der Heilsgeschichte von Adam bis zum Eschaton zu verstehen, in der Hamann die Tatsachen und Ereignisse in einem typologischen Zusammenhang sieht. Die vertikale Struktur betrifft die Beziehung zwischen Gott und Mensch, die durch Gottes Kondeszendenz zustande kommt und ein menschlich analogisches Reden über ihn ermöglicht. Als fortschreitender Prozeß ist die Offenbarung also eine Verbindung von vertikal und horizontal typologischer Analogie. Die vertikale Analogie durchläuft typologisch den Gang der heilsgeschichtlichen Zeit. Die vertikale Struktur; Offenbarung als Enthüllung und Verhüllung. Es ist für Hamanns Schriftauffassung kennzeichnend, daß er auch die Schrift als eine Form der Offenbarung Gottes in Knechtsgestalt sieht. Wie Christus durch die Menschwerdung in die Tiefen der menschlichen Existenz hinabstieg, so stieg und steigt auch der Heilige Geist in eine Reihe bruchstückhafter und äußerst menschlicher Geschichten über unauffällige Erlebnisse eines kleinen östlichen Volkes hinab84. Offenbarung bedeutet nach Ansicht Hamanns immer, daß Gott sich zu den Menschen herabläßt, daß er seine Offenbarung menschlich 'einkleidet'. In dieser hermeneutischen Sicht haben die Menschlichkeit und Unzulänglichkeit der Schrift durchaus ihren Platz. Kehrseite dieser menschlichen Art der Selbstoffenbarung Gottes ist freilich die Verborgenheit des Göttlichen im Menschlichen. Seine Selbstoffenbarung im Menschlichen bedeutet zugleich, 84

Es ist nahezu sicher, daß Hamann auch durch den Einfluß von Knutzen und Hervey zu dieser Schriftauffassung gelangt ist. Vermutlich kannte er Knutzens Betrachtung über die Schreibart der Heiligen Schrift, und insbesondere über die Mosaische Beschreibung der Erschaffung der Welt, durch ein Göttliches Sprechen (1741l; als 'Zugabe* in: Philosophischer Beweiß von der Wahrheit der Christlichen Religion, Königsberg 17474, 273-296). Darin kennzeichnet Knutzen das Reden Gottes in der Schrift als einen Akt der Kondeszendenz und sieht eine Analogie zwischen der Knechtsgestalt Christi und der der Schrift. Vgl. Gründer, K., Figur und Geschichte, Johann Georg Hamanns 'Biblische Betrachtungen' als Ansatz einer Geschichtsphilosophie, Freiburg/München 1958, 56-60; Graubner, op.cit., § I. Hervey wird in den Biblischen Betrachtungen als derjenige erwähnt, der Hamann von dem göttlichen Charakter der Schrift überzeugt hat (vgl. Ν I 8:7-). Hamann kannte die meisten Werke Herveys. Darin werden die Begriffe 'adaption' und 'condescension* wiederholt zur Erklärung von Stil und Form der Bibel benutzt. Vgl. hierzu: Gründer, Figur und Geschichte, 51 f.; J0rgensen, S.-A., 'Hamann und Hervey, Zur Bibellektüre der Londoner Krise', 1986 [Typoskript].

3.4 Die Theologie der Londoner Schriften

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daß er sich darin verbirgt. Innerhalb dieser Dialektik der Enthüllung und Verhüllung lassen sich drei Ebenen unterscheiden. 1) Zunächst ist Gottes Offenbarung immer in irgendeiner Weise sinnlicher, leiblicher oder materieller Art, denn der Mensch ist Seele und Leib, so daß er eine rein geistige Offenbarung nicht begreifen kann. Er ist immer auf eine materiell sinnliche Form angewiesen, in der die geistige Bedeutung inkarniert ist. Es gibt keine Bedeutung ohne Zeichen; es geht immer um Geist und Buchstabe, Geist und Gestalt. Sprache hat so gesehen wesentlich sinnbildlichen, gleichnishaften Charakter. Als Einheit von Leib und Seele ist der Mensch selbst ein Bild, nämlich das Bild Gottes. Als solcher ist er bei allem Sprechen und Vernehmen auf sinnliche Bilder und Gleichnisse angewiesen85. Gott berücksichtigt also die Tatsache, daß wir leiblich sinnliche Menschen sind. Unvermeidliches Risiko dieser 'accomodatio' ist es, daß wir uns aufgrund der Verborgenheit der Bedeutung im kontingent geschichtlichen Zeichen durch den Buchstaben irreführen lassen, daß wir im Buchstaben nicht das wahre Licht widergespiegelt sehen. Dann sehen oder hören wir zwar das Äußerliche, verstehen es aber nicht als 'Gleichnis'. 2) Gott paßt sich außerdem an die vielen anderen Formen und Folgen unserer Endlichkeit an. Er berücksichtigt unsere Schwäche, Hilflosigkeit und unser Unvermögen. Er gebraucht in seiner Offenbarung unsere Leidenschaften und Eigenarten, ja sogar unsere Vorurteile. Über die Tatsache, daß der große Gott sich in menschlichen Kleinigkeiten offenbart, verwundert Hamann sich mehr als die Physikotheologen über die Zeichen der Herrlichkeit Gottes in den Insekten86. Um uns so nahe wie möglich zu kommen, läßt er sich auf unsere Ebene herab und schenkt uns seinen Schatz in irdenen Gefäßen87. Dies steigert 85

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Ν1 157:39-: "Die Schrift kann mit uns Menschen nichts anders reden, als in Gleichnissen, weil alle unsere Erkenntnis sinnlich, figürlich und der Verstand und die Vernunft die Bilder der äußerlichen Dinge allenthalben zu Allegorien und Zeichen abstracter, geistiger und höherer Begriffe macht." Ν1315:6-: "Jede Geschichte [in der Bibel] trägt das Ebenbild des Menschen, einen Leib, der Erde und Asche und nichtig ist, den sinnlichen Buchstaben; aber auch eine Seele, die den Hauch Gottes und der Athem seines Mundes, das Licht und das Leben [ist]". Vgl. auch: Ν I 11:14-, 12:24-, 26:16-, 37:40-, 98:24-, 121:2-, 190:24-, 226:24-, 298:13-, 303:13-, Vgl. Ν I 258:19-, 288:13-, Ν II 43:33-. Ν I 10:33-: "Femer, Gott hat sich so viel möglich bequemt und zu der Menschen Neigungen und Begriffe, ja selbst Vorurtheilen und Schwachheiten heruntergelassen." Ν 191:12-: "Wie hat sich Gott der heilige Geist erniedrigt, da er ein Geschichtsschreiber der kleinsten, der verächtlichsten, der nichts bedeutendsten Begebenheiten auf der Erde geworden, um dem Menschen in seiner eigenen Sprache, in seiner eigenen Geschichte, in seinen eigenen Wegen der Rathschlüsse, die Geheimnisse und die Wege der Gottheit zu offenbaren?" Ν1158:14-: "Ich wiederhole mir selbst diese Betrachtung

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natürlich noch die Gefahr, daß wir aufgrund des irdenen Charakters des Gefäßes den Schatz übersehen. Wir können über den menschlichen und fehlbaren Charakter der Schrift so enttäuscht sein, daß wir den Reichtum, der uns darin angeboten wird, übersehen. Hamann vergleicht die Bibel mit den Lumpen, mit denen Jeremia aus der Grube gezogen wurde". Wir könnten auf den hochmütigen Gedanken kommen, daß Gott uns mit solchen Lumpen nicht helfen kann. 3) Es gibt noch eine letzte und tiefste Ebene, auf die Gott sich in seiner Offenbarung herabläßt, und zwar die der Folgen der Sünde. Er hat keine Sünde begangen, wohl aber deren Folgen: Leiden, Lästerung, Strafe, usw., auf sich genommen. Der Höhepunkt der Offenbarung Gottes ist so zugleich der Tiefpunkt89. Vor allem die ersten beiden Punkte könnten den Eindruck erwecken, Hamann gehe vom Akkommodationsgedanken aus, der sich im 18. Jahrhundert so stark verbreitet hat. Danach gilt Gott als der große Pädagoge, der sich an das Niveau seiner Schüler anpaßt. Seine Aufgabe ist die 'Erziehung des Menschengeschlechts'90, die in der Kindheit Israels beginnt und im Zeitalter der erwachsenen Aufklärung ihrer Vollendung entgegengeht. Demgegenüber behauptet Hamann, daß Gott sich in sehr vieler Hinsicht gerade nicht an den Menschen anpasse, denn er übergehe alle Ebenen und Gestalten, die unserer autonomen Selbstbehauptung dienen. Es gibt lediglich eine Ebene, an die Gott sich 'anpaßt': die Ebene der Demut. Gott sucht Verbindung zu unserem Herzen, unserer Seele, wo wir verletzlich, hilflos und demütig sind. Seine niedrige 'accommodatio' erfordert unsere niedrige 'applicatio'. Die 'accommodatio' gilt lediglich - aber dann auch voll und ganz - für die Seele, die für Gottes Liebe aufgeschlossen ist. Wenn die Beziehung zu Gott dort wirklich zustande kommt, können von diesem Zentrum aus alle anderen menschlichen Gestalten und Vermögen - von ihrer autonomen Verkrampfung befreit - im Lichte der Gnade wachsen und sich

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[über die Menschlichkeit der Schrift] so öfters, weil selbige ein Hauptschlüssel mir gewesen, Geist, Hoheit und Geheimnis, Wahrheit und Gnade zu finden, wo der natürliche Mensch nichts als eine poetische Figur oder einen rhetorischen Tropum oder Idiotismen der Grundsprache, der Zeiten, des Volks, kleine Wirthschafftsregeln [findet]". Ν I 253:29-: "Wie menschlich, wie schwach und niedrig macht sich Gott unsretwegen?" Vgl. auch: Ν I 9:40-, 34:21-, 55:36-, 90:4-, 127:26-, 136:3-, 195:37-, 210:37, 256:40. Vgl. Ν I 5:22, 176:8. ΝI 84:17-: "Wie [hat] Gott sich heruntergelassen im Geschenk seines Heiligen Geistes und seines eingebomen Sohnes. Wie er in beyden durch unsere Sünde und die Anstifter derselben gedemüthigt worden ~ Sein Sohn bis zum Tode am Kreutz." Vgl. Ν I 5:7, 19:7-, 91:8-, 99:24-, 211:18-. Der Titel eines bekannten Werks von Lessing.

3.4 Die Theologie der Londoner Schriften

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entfalten. Solange Gottes Offenbarung allerdings nicht von einem empfanglichen Herzen verstanden und bejaht wird, wird sie als Torheit, als ein Gesetz erlebt, an dem wir lediglich unsere Ohnmacht und Verzweiflung entdecken. Offenbarung, die nicht als Ausdruck der Demut Gottes verstanden wird, wird zur Rute eines Zuchtmeisters91. Kein Wunder, daß Hamann aufgrund dieser Offenbarungslehre scharfe Kritik an der rationalistischen Bibelexegese äußert, für die Form und Inhalt der Offenbarung Kriterien der aufgeklärten Vernunft und Sittlichkeit zu entsprechen haben, und für die die menschliche Gestalt der Schrift ein Ärgernis ist92. Trotzdem ermöglicht sein eigenes Offenbarungsverständnis durchaus die Verarbeitung der aufkommenden Schriftkritik. Die moderne Textkritik und die vergleichende religionsgeschichtliche Forschung betonen

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Ν I 100:4-: "Gott, deine Weisheit hat die Thorheit der Menschen, die Sünde der Menschen, zu unserm Zuchtmeister auf Christum, zu unserm Ruhme in Christo gemacht. Gott! wie hat der Stolz in das menschliche Herz kommen können. Die ganze Schrift ist in einer Art geschrieben, worinn du dich selbst hast demüthigen wollen, um uns die Demuth zu lehren". Ν I 102:24-: "Wie ist in den geringsten Bildern, in den geringsten derselben ein Sinn, ein Verstand, der sich aufschließt, wenn wir mit Einfalt und Demuth Gottes Wort lesen, mit eben der Einfalt und Demuth, die Gottes Geist angenommen, da er sich den Menschen durch dasselbe entdeckt hat." Ν I 158:3-: "Außer dieser Betrachtung [über die Herunterlassung] sehen wir, daß es Gott gefallen hat, seinen Rath mit uns Menschen zu verbergen, uns so viel zu entdecken, als zu unserer Rettung nöthig ist, und zu unserem Trost, zu gleicher Zeit aber auf eine Art, die die Klugen der Welt, die Herrn derselben hintergehen sollte; daher hatte Gott nichtswürdige, verächtliche, ja Undinge, wie der Apostel sagt, zu Werkzeugen seines geheimen Raths und verborgenen Willens gemacht". Vgl. außerdem: Ν I 5:4-, 6:5-, 9:34-, 10:12-, 10:35-, 11:21-, 12:37-, 53:14-, 119:30-, 169:26-, 193:13-, 221:1-, 224:18-, 234:35-, 299:10-. Ν I 10:16-: "Die Rede ist nicht von einer Offenbarung, die ein Voltaire, ein Bolingbroke, ein Shaftesbury annehmungswerth finden würden, die ihren Vorurtheilen, ihrem Witz, ihren moralischen, politischen und magischen Grillen am meisten ein Genüge thun würde, sondern vor [= von] einer Entdeckung solcher Wahrheiten, an deren Gewißheit, Glaubwürdigkeit und Richtigkeit dem ganzen menschlichen Geschlecht gelegen wäre. Leute, die sich Einsicht genug zutrauen, um eines göttlichen Unterrichts entbehren zu können, würden in jeder anderen Offenbarung Fehler gefunden haben, und haben keine nöthig. Sie sind die Gesunden, die des Arztes nicht bedürfen." Ν I 11:31-: "Es hat an dem guten Willen der Philosophen nicht gefehlt, die Schöpfung als eine natürliche Begebenheit zu erklären; es ist daher kein Wunder, daß sie Moses einen gleichen Einfalt zugetraut haben und dieses anstatt eine Erzählung von ihm erwarten, ich sage eine Erzählung. Die nach dem Begriff der Zeit abgemessen, und gewissermaßen mit den Begriffen der Zeit, in denen er schrieb, in Verwandnis stehen mußte". Ν I 12:12-: "Daß Moses von der Natur nach aristotelischem, cartesischen oder newtonischen Begriffen hätte sich erklären sollen, würde ebenso eine lächerliche Forderung seyn, als daß Gott sich in der allgemeinen philosophischen Sprache hätte offenbaren sollen, die der Stein der Weisen in so manchen gelehrten Köpfen gewesen. Daß Moses für den Pöbel allein geschrieben, ist entweder ohne allen Sinn oder eine lächerliche Art zu urtheilen."

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den zeit- und kulturgebundenen Charakter der Bibel. Dies ist für Hamann kein Problem, er meint im Gegenteil, daß die Zeitgebundenheit und Menschlichkeit der Offenbarung statt lästiger Nebensächlichkeiten gerade wesentlich für die Offenbarung als liebevolle Herunterlassung Gottes in unsere menschliche Welt seien. Daß rationalistische Schriftexegeten sich mit dieser Niedrigkeit der Offenbarung so schwer tun, läßt auf ihren eigenen Hochmut schließen: Sie weigern sich, sich mit Gott in das (allzu) Menschliche herabzulassen. Die horizontale Struktur; Typologie Die oben beschriebene Offenbarungsstruktur von Buchstabe und Geist ist dynamischer Art, denn der Geist versucht mehr und mehr, den Eigen-sinn des Buchstaben von Innen her zu überwinden. Immer weiter läßt Gott sich in die menschliche Geschichte herab, um vom Tiefpunkt aus seine geschändete Schöpfung zu erneuern. Die heilsgeschichtliche Dynamik erhält dadurch eine typologische Struktur, die ihr Zentrum im Christusgeschehen hat. Um diesen Mittelpunkt herum erweisen sich alle Taten und Worte Gottes als Teil der einen und immer tieferen Herunterlassung Gottes. Christus ist das hermeneutische Zentrum, und von ihm aus erhalten die biblischen Geschichten und die Ereignisse, von denen sie berichten, einen typologischen Bezug zur Inkarnation und zueinander. In dieser Sicht ist jedes Ereignis eine 'Figur', ein 'Vorbild', ein 'Sinnbild', ein 'Gleichnis'; es ist prophetisch, denn die innere Dynamik von Geist und Buchstabe, vom Schatz in irdenen Gefäßen, weist voraus oder zurück auf die Fülle der Offenbarung Gottes in Christus. Daß ein Ereignis 'typos' dessen ist, was noch kommt, bedeutet nicht, daß dies Ereignis lediglich zukunftsweisend ist und darüber hinaus keinen selbständigen Wert hat. Nein, jedes Ereignis hat Offenbarungsgehalt an sich selbst, denn Gott läßt sich darin und dabei aktuell ein: ein Sicheinlassen auf den Menschen, das auf ein noch intensiveres Sicheinlassen verweist; umgekehrt wird der relative Eigenwert des 'typos' erst von der christologischen Erfüllung aus richtig deutlich93. Die typologischen Figuren verbinden Schöpfung und Eschaton und machen so die teleologische Beziehung zwischen beiden sichtbar. Die Schöpfungsgeschichte und die Schöpfung selbst sind darum die 'typoi' der Neu-

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Vgl. zu Hamanns Typologese: Büchsei, E., Biblisches Zeugnis und Sprachgestalt bei J.G. Hamann, Untersuchungen zur Struktur von Hamanns Schriften auf dem Hintergrund der Bibel (19531), Giessen/Basel 1988, 57-99; Gründer, Figur und Geschichte, 93-158.

3.4 Die Theologie der Londoner Schriften

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Schöpfung durch Christus*4. Das 'Medium' zwischen diesen beiden Äußersten ist Christus, um dieses 'Medium' liegt die Geschichte Israels, der Kirche und der heidnischen Völker. Die typologischen Zusammenhänge zwischen Israel, Christus, der Kirche und den heidnischen Völkern werden erst im Lichte der Offenbarung in Christus sichtbar95. Wir haben von Christus als dem Zentrum der typologischen Auslegung Hamanns gesprochen, eigentlich ist jedoch dies hermeneutische Zentrum die zweipolige Beziehung zwischen Christus und der Seele. Die typologischen Zusammenhänge erscheinen uns nämlich nur in ihrer konzentrischen Anordnung um den christologischen Mittelpunkt hin, wenn sie von unserer Seele applikativ verstanden und uns zu eigen gemacht werden. Darum kann Hamann sagen: "Jede biblische Geschichte ist eine Weissagung — die durch alle Jahrhunderte — und in jeder Seele des Menschen erfüllt wird." (Ν I 315:3-Γ.

Gründer weist mit großem Nachdruck darauf hin, daß Hamanns Typologese streng von der Allegorese unterschieden werden müsse97. Auch wenn Hamann selbst gelegentlich den Begriff 'Allegorie' benutze, seien in seiner Auslegung die historischen Ereignisse doch keine uneigentlichen 'vehicula' überzeitlicher geistiger Wahrheiten, sondern behielten ihren intrinsischen Eigenwert, dessen typologisch-verweisende Funktion auf der horizontalen 94 95 96

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Vgl. u.a. Ν I 15:18-, 16:9-, 67:3-. Vgl. zur Schöpfungstypologie: Büchsei, Biblisches Zeugnis, 79; Gründer, Figur und Geschichte, 107-109. Vgl. zur typologischen Bedeutung Israels u.a.: Ν I 11:14-, 303:11-, 319:2-. Ein kleiner Griff aus der Fülle der typologischen Betrachtungen: Ν137:37-: "Das Leben der Patriarchen ist voller Allegorien der jüdischen Geschichte; das heist, Gott hat in der Regierung ihrer Lebensumstände Muster gegeben von dem Plane, nach dem er die Juden führen wollte." Ν I 40:36-: " wie wichtig muß die Erlösung, wie unveränderlich und ewig der Gewinn derselben seyn, da die heilige Schrift nichts thut, als diese Geschichte in Bildern wiederholen." Ν I 83:9-: "Wie alles dieses die Unvollkommenheit dieser Vorbilder anzeigt, als auch, daß der vollkommenste Heyland für uns zur Sünde von Gott gemacht war." Ν I 90:4-: "Daher hat Gott Früchte unsers eigenen Bodens gesammlet, eine Wahl davon gemacht und die Empfindungen unserer eigenen Natur, die Begebenheiten unseres eigenen Volks zu Vorbildern zu Zuchtmeistern, zu Lehrern, Tröstern, Kundschaftern in der heiligen Schrift gemacht." Ν I 123:36-: "Sehen wir nicht alienhalben Zeigefinger auf Christum und sein Evangelium? der Plan der ganzen Zeit hat einen Mittelpunkt, auf den sich alle Linien, alle Figuren beziehen und vereinigen." Ν I 189:25-, über Jona: " die Kürze, die Fülle, die Abstechungen in den Begebenheiten und Sitten, die Wunder im Großen und Kleinen und die Mannigfaltigkeit und Feinheit machen dies kleine Buch zum Zeichen und Muster, wie der Prophet selbst ein Vorbild des größten Zeichens und Musters vorstellen sollte." Vgl. außerdem: Ν I 11:14-, 28:34-, 33:9-, 39:4-, 43:23-, 44:3-, 79:24-, 80:33-, 88:29-, 89:3-, 93:29-, 98:12-, 102:40-, 103:30-, 112:21-, 128:18-, 132:19-, 135:31-, 137:16-, 139:10-, 147:28-, 159:39-, 172:23-, 177:21-, 178:14-, 181:35-, 221:8-, 230:6-, 237:16-, 238:31-, 243:26-, 246:15-, 315, 318:3-, Ν II 40:17-, Figur und Geschichte, 116 f., 143.

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Kapitel 3 Krise und Bekehrung. Die Theologie der Londoner Schriften

Ebene der Heilsgeschichte liege. Obwohl uns dies im wesentlichen eine richtige Auslegung der Typologese Hamanns zu sein scheint, sind hier doch einige kritische Randbemerkungen angebracht, auch schon deshalb, weil verschiedene andere Hamanninterpreten Gründers Unterscheidung übernommen haben. Erstens hatte der Begriff 'Allegorie' in der Geschichte der Bibelexegese sehr lange nicht die ahistorische Bedeutung, die er gegenwärtig meistens hat. Nach Auffassung de Lubacs enthielt das patristische und mittelalterliche Allegorieverständnis bereits die (historischen) Aspekte, die wir jetzt 'typologisch' nennen. Die strenge Begriffsunterscheidung ist seiner Ansicht nach erst seit einem Jahrhundert gebräuchlich und darf also nicht in die Zeit davor zurückprojiziert werden®8. Zweitens legen Gründer und einige andere Hamannausleger zuweilen eine ziemlich übertriebene Abneigung gegen alles zutage, was mit Allegorese und Mystik zusammenhängt. Deshalb können sie die mehr vertikal mystische Dimension der Schriftauslegung Hamanns nicht leicht einordnen. So sieht Hamann in bestimmten Ereignissen typologische Verweise auf 'himmlische Rathschlüsse und Geheimnisse'. Wie könnte es auch anders sein: Quelle und Ursprung der heilsgeschichtlichen Dynamik und ihres Fortgangs liegen 'in der Höhe', in Gottes Herzen, in seinem Ratschluß, im transzendenten Geheimnis^einer Liebe. 'Gott ist Liebe': unsere Entdeckung und Erfahrung dieser Wahrheit ist kontingent geschichtlich, diese Wahrheit selbst aber ist ewig. Außerdem hält Hamann bestimmte weltliche Ereignisse für 'typoi' von Ereignissen, die sich in der Welt der Engel abspielen. Die vertikale Struktur der 'great chain of being' wirkt sich so in der Typologie aus99. Zudem fordert die vertikal-mystische Dimension auch ihren Platz, weil die Seele in ihrer vertikalen Ausrichtung auf Gott einer der Pole des typologisch-hermeneutischen Zentrums ist. Gründer übersieht die erwähnten Vorbilder der 'vertikalen Typologie' nicht100, sondern stellt sie als eine 'zweite Gruppe' von 'Vorbildern der Heilserfahrungen' neben die 'erste Gruppe' von 'Vorbildern der Heilsereignisse', ohne daß die gemeinsame vertikal-horizontale Grundstruktur beider Gruppen genügend aufgedeckt wird101.

* 99 100 101

Vgl. Lubac, H. de, Der geistige Sinn der Schrift, Übers, von M. Gisi, Geleitwort von H.U. von Balthasar, Einsiedeln 1952, 21, 34-38. Vgl. Büchsei, Biblisches Zeugnis, 81-83. Gründer, Figur und Geschichte, 103-109. Wichtig in diesem Zusammenhang ist Hamanns Gebrauch des Begriffs 'Wiederholung'; vgl.: Ν I 40:35-, 79:24-, 238:31-. Ein Geschehen kann typologisch 'wiederholt' werden, wobei die 'Wiederholung' eine Vertiefung und Erfüllung des 'typos' ist. Die typologische 'Wiederholung' kommt aufgrund der vertikalen Beziehung zu Gott

3.4 Die Theologie der Londoner Schriften

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Außerdem muß darauf hingewiesen werden, daß zwar die historischtypologische Struktur nicht aufgehoben wird, die vertikal transzendente Beleuchtung jedoch so stark ist, daß Hamann - vom modern exegetischen Standpunkt aus - in seiner typologischen Deutung viel zu weit geht. An einigen Stellen geschieht dies auf Kosten des heilsgeschichtlichen Eigenwerts der betreffenden Geschichte. Ein krasses Beispiel ist Hamanns Auslegung der ersten Begegnung zwischen Saul und Samuel, worin er ein Gespräch zwischen den Personen der Trinität sieht. Ein anderes Beispiel ist die Geschichte Ruths, die er als eine Geschichte über das Schicksal der menschlichen Seele auslegt. Gründer und andere lehnen diese überspannte Typologese natürlich ab, aber da sie die vertikale (Über-)Spannung der Offenbarungslehre Hamanns verkennen, können sie sie damit auch als Hamanninterpreten nicht genügend würdigen102. Wir haben festgestellt, daß ein Wort, ein Ereignis oder eine Tatsache sowohl im vertikalen als im horizontalen typologischen Sinne ß/Wcharakter haben kann. Die 'Figur' oder das 'Bild' spielt in Hamanns Hermeneutik eine entscheidende Rolle, weil er auf diese Weise erläutern kann, wie eine Tatsache oder ein Text sowohl ein vertikaler als auch ein horizontaler Verweis sein und einen bedeutungsvollen Platz innerhalb der allumfassenden Heilsgeschichte einnehmen kann. In seinen folgenden Schriften geht Hamann ausführlich auf diesen Bildcharakter der Offenbarung ein.

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zustande, der durch seine Sinngebung 'typos' und Erfüllung aufeinander bezieht. Auch noch in einem anderen Punkt sind wir mit Gründers Auslegung nicht einverstanden. Er behauptet, es gehe in der christlichen Typologese im allgemeinen, und in Hamanns Typologese insbesondere, nicht so sehr um die Auslegung der Schrift als vielmehr der darin beschriebenen Geschichte. Gründer, Figur und Geschickte, 135: "Das geistlich zu Verstehende und theologisch zu Deutende ist hier nicht eigentlich mehr der Text, sondern die geschichtliche Wirklichkeit". Scheint uns diese Interpretation in Bezug auf die christliche Typologie im allgemeinen schon falsch zu sein, so gilt dies sicher im Falle Hamanns: Die typologische Struktur der Geschichte erweist sich nur durch Deutung der nicht von vornherein transparenten Schrift und aufgrund dieser Schrift. Erst in der konzentrierten Gestalt der Schrift wird sichtbar, daß beide, die Schrift und die ganze (Heils)Geschichte durch die Dynamik von Gestalt und Geist getrieben werden. Aus dem gleichen Grunde hat Gründer nicht recht mit seiner Behauptung, der Sinn der Schrift sei eindeutig, die darin beschriebene Wirklichkeit aber mehrdeutig. Vgl. Figur und Geschichte, 135. Die 'Sprache' der Schrift öffnet die hermeneutische Perspektive im Blick auf Gottes Reden in der Geschichte. Es ist merkwürdig, daß Gründer das selbst feststellt und sich also auch widerspricht; Figur und Geschichte, 159: " die ontologischen Formalstrukturen des typologischen Geschichtsverständnisses sind mutatis mutandis die der Sprache. Für Hamanns Theologie und Philosophie der Sprache bedarf es darum keines Neuansatzes mehr."

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Kapitel 3 Krise und Bekehrung. Die Theologie der Londoner Schriften

Das Verhältnis von Altem und Neuem Testament Wir haben festgestellt, daß die Dialektik von Buchstabe und Geist, Gesetz und Evangelium, eine wichtige Rolle in Hamanns Anthropologie, Hermeneutik und Offenbarungslehre spielt. Dasselbe altchristliche Prinzip bildet den Ansatz für sein Verständnis des Verhältnisses von AT und NT. Die Inkarnation ist ein vollkommen neuer Akt Gottes: ein Durchbruch in den Verhältnissen, die im AT festgefahren waren. Gleichzeitig wird vom NT aus um so deutlicher, daß die Gnade im AT bereits im Begriff ist, die eigenmächtigen und starren Gestalten des Buchstaben und des Gesetzes zu durchbrechen. Zur endgültigen Einnahme des menschlichen Herzens ist eine neue und einzigartige Tat Gottes nötig, aber im Rückblick sehen wir, daß im AT die ersten Breschen bereits geschlagen sind103. Die Dialektik von Gesetz und Evangelium deckt sich also nicht mit der Dialektik von AT und NT, sondern besteht bereits innerhalb des AT104.

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Hamanns Verständnis des Verhältnisses von AT und NT verleitet ihn nicht zu herablassenden christlichen Aussagen über die Juden. Zwei Stellen bringen eine scharfe christliche Selbstkritik in bezug auf die Juden zum Ausdruck: "Welches Land kann sich eines solchen Patrioten, eines solchen Liebhabers des Vaterlandes, eines solchen Menschenfreundes rühmen, als das Land Israel. Wie ist es möglich, daB man die Juden ohne Mitleiden ansehen kann, und die Grausamkeit gegen dies Volk scheint mit zu den Sünden zu gehören, welche die Heyden gegen sie begiengen. Sind wir nicht eben die Mörder dieses Menschenfreundes gewesen? Übertreffen wir vielleicht nicht, wir Christen, die wir uns nach seinem Namen nennen, ihre Hartnäkigkeit, Undankbarkeit und Verstockung?" (Ν I 198:1-, zu Math. 10:6). "Die Juden bleiben noch immer ein Spiegel, in dem wir Gottes Geheimnisse in der Erlösung des Menschlichen Geschlechts als ein Rätzel sehen. Ist es nicht eben der Unglaube, der in uns selbst herrscht, dessen Strafe wir an diesem Volk für uns selbst fürchten lernen sollen? Haben wir den Sohn Gottes nicht so gut gekreutzigt wie sie. Bauen wir nicht die Gräber der Propheten, die sie umgebracht haben. Hat Jesus aufgehört, ein König der Juden zu seyn? Ist die Aufschrift seines Creutzes geändert worden? Verfolgen wir ihn nicht also in seinem Volk?" (Ν I 319:2-). Diese nuancierte Auffassung kommt gut in Hamanns Kommentar zu Esra und Nehemia zum Ausdruck. Zu Esra 9:4 (" und es versammelten sich zu mir Alle, die des Herrn Wort, des Gottes Israels, fürchteten") bemerkt er "Und jeder zitterte bey den Worten des Gottes Israel, v. 4. Der Geist des alten Bundes, den Paulus beschreibt, ein Geist der Furcht, der Knechtschaft, ist in Esra kenntlich." (Ν I 132:36-). Aber zu Nehemia 9 schreibt er: "Wie betet das Buch Nehemiah gegen Esdra. Hier ist ein Vorschmack des evangelischen Geistes; dies ist nicht allein der Geist, der in Esdra unter dem Gesetze unterdrückt ist, sondern der in dem Mundschenken Gottes nach dem Gwächse des neuen Bundes schmeckt. Es ist ein Schlüssel der ganzen Geschichte Moses, der grösten Wunder und der Kern der göttlichen Offenbarung im alten Testament." (Ν I 138:23-) Vgl. in bezug auf das AT/NT auch: Ν I 193:25-, 199:12-, 215:22-, 227:34-, 228:1-, 230:6-, 231:23-.

3.4 Die Theologie der Londoner Schriften

97

Offenbarung in Natur und Geschichte Gott offenbart sich zugleich in der Natur und der 'allgemeinen' Geschichte. Die ganze Wirklichkeit gründet in seiner Schöpfung, Erhaltung und Regierung; das kommt in der essentiellen Struktur der Wirklichkeit und in ihrer akzidentellen Geschichte zum Ausdruck. Darum verweist sie auf beiden Ebenen auf Gott als ihren Schöpfer und 'Regierer'105. Da Hamann über den Offenbarungsgehalt der außerbiblischen Geschichte wenig sagt, konzentrieren wir uns auf die Natur. In der eben zitierten Stelle nennt er genau die zwei Hauptpunkte, die auch im physikotheologischen Naturverständnis bekämpft werden: das atomistische Zufallsdenken und den Determinismus. Hamann ist auch der Meinung, daß diese zwei Naturauffassungen abgelehnt werden müssen, aber indem er sie als 'Unglaube' und 'Aberglaube' bezeichnet, deutet er zugleich an, daß eine richtige Naturauslegung von der Glaubensperspektive aus möglich ist. Die Natur spricht zwar von Gott, aber der Schlüssel zur Entzifferung dieses Textes liegt in der besonderen Offenbarung der Schrift106. Gott hat seinen Text durchaus auch in das Buch der Natur geschrieben; diese ontologische und hermeneutische Tatsache ist unabhängig von unserem Glauben oder Unglauben107. Dieser Text wird allerdings für uns erst im Lichte der Schrift gut lesbar. Natürliche Religion im negativen Sinn ist für Hamann nicht die Auffassung, daß auch 105

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Ν I 9:13-: "Die Naturkunde und die Geschichte sind die zwey Theile, auf welche die wahre Religion beruht. Der Unglaube und der Aberglaube gründen sich auf eine seichte Physik und seichte Historie. Die Natur ist so wenig einem blinden Ungefehr als ewigen Gesetzen unterworfen, als sich alle Begebenheiten aus Charakteren und Staatsgründen aufschlüßen lassen. Ein Newton wird als ein Naturkundiger von der weisen Allmacht und als Geschichtschreiber von der weisen Regierung Gottes gleich stark gerührt werden." JV I 5:8-: "Das Wort dieses Geistes ist ein eben so großes Werk als die Schöpfung und ein eben so groß Geheimnis als die Erlösung der Menschen ist, ja dies Wort ist der Schlüssel zu den Werken der ersteren und den Geheimnissen der letzteren." Ν I 70:37-: "Alles ist Weisheit in deiner Ordnung der Natur, wenn der Geist deines Worts unsem aufschließt. Alles ist Labyrinth, alles Unordnung, wenn wir selbst sehen wollen." Ν I 148:19-: "Was für ein versiegeltes Buch ist selbst die Natur ohne die Auslegung seines Geistes und ihres Schöpfers." Ν I 292:6-: "Laßt uns die Fackel des göttlichen Wortes und des Glaubens in die Natur nehmen, um den Schöpfer derselben zu erkennen und anzubeten. Wissen wir nicht, daß seine Liebe zu uns den ganzen Entwurf im Großen und Kleinen gemacht". Ν I 303:35-: "Natur und Geschichte sind daher die 2 grossen Commentarii des Göttlichen Wortes und dies hingegen der einzige Schlüssel, uns eine Erkenntnis in beyden zu eröffnen." Ν I 308:34-: "Das Buch der Natur und der Geschichte sind nichts als Chyffern, verborgene Zeichen, die eben den Schlüssel nöthig haben, der die heilige Schrift auslegt und die Absicht ihrer Eingebung ist." Vgl. auch: Ν I 68:16, 72:11-, 75:37-, 92:1-, 106:4-, 119:19-, 246:26-, 302:34-, Burger, op.cit., 41: "Nicht die Deutung macht die Dinge zum Symbol; in ihrer Existenz sind sie ein Hinweis auf den, durch den sie existieren, auf die göttliche Wirklichkeit, in der sie gründen. Ihr Dasein selber enthält den Hinweis auf Gott."

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Kapitel 3 Krise und Bekehrung. Die Theologie der Londoner Schriften

Natur und Geschichte Offenbarungsgehalt hätten, sondern daß die Offenbarung ohne den Glauben verstanden werden könne. So ist also sogar eine natürliche Religion der Schrift möglich!10®. Außerdem ist Hamann der Auffassung, daß die Offenbarung in der Natur sich nicht im entferntesten mit der Offenbarung an Israel und der Kirche messen könne, mit der Offenbarung in Christus als Mittelpunkt109. Die physikotheologischen Erkenntnisse werden damit stark christologisch zentriert, aber nicht abgelehnt. Die physikotheologische Auslegung der Natur ist wesentlicher Bestandteil der Theologie Hamanns, denn darin werden die Grundpositionen von Schöpfer, Naturgesetzen) und Geschöpf entscheidend bestimmt. Allerdings darf man nicht vergessen - wozu die Physikotheologie zuweilen neigt -, daß naturwissenschaftliche Wahrnehmung an sich nicht zur Erkenntnis ausreicht, daß die Naturgesetze kontingent sind, daß sie auf Gottes Freiheit beruhen und daß er sie im Blick auf den Menschen geschaffen hat. Auf diesen Gedanken kommt man erst im Bereich von Kirche und Glauben aufgrund der Erfahrung, daß Gott eine Person ist, die den Menschen bis zum Ende liebt. Offenbarung an die Heiden Auch die Heiden leben von der Gnade Gottes und besitzen deshalb eine gewisse Gotteserkenntnis. Heiden haben Gotteserkenntnis, aber sie reicht bei weitem nicht für ihr Glück und ihre Seligkeit aus: beides muß gesagt werden110. Wie die Christen und Juden werden auch die Heiden im Gericht nach dem Maß der ihnen verliehenen Offenbarung und Gnade gemessen111.

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Ν I 303:38-: "Was will der Unterscheid zwischen natürlicher und geoffenbarter Religion sagen? Wenn ich ihn recht verstehe, so ist zwischen beyden nicht mehr als der Unterscheid zwischen dem Auge eines Menschen, der ein Gemälde sieht, ohne das Geringste von der Malerey und Zeichnung oder der Geschichte, die vorgestellt wird, zu verstehen, und dem Auge eines Malers; zwischen dem natürlichen Gehör und dem musikalischen Ohr." Ν I 49:28-: "Gott welche Wunder in deiner Erlösung! in deinem Wesen, in deinen Eigenschaften. Die Natur verschwindt vor deinem Wort. Hier ist das Allerheiligste; die ganze Schöpfung ist nur ein Vorhof gegen dasjenige, was wir in diesem deinem Worte sehen." Ν I 91:25-: "Die Natur ist herrlich, wer kann sie übersehen, wer versteht ihre Sprache? Sie ist stumm, sie ist leblos für den natürlichen Menschen. Aber die Schrift, Gotteswort, die Bibel, ist herrlicher, ist vollkommener". Vgl. auch: Ν187:29-, 91:25-, 119:19-, 265:13-, 270:30-, 271:40-, 272:9-. Ν I 303:8-: "In den Geschichten, Gesetzen und Gebräuchen aller Völker finden wir, daß ich so sage, den sensum communem der Religion. Alles lebt und ist voll von Winken auf unsern Beruf und auf den Gott der Gnade." Ν I 123:2-: " er wird ihre Treue in den Pflichten des bürgerlichen Lebens, in der Vorgeschichte des natürlichen Gewissens, für gültig annehmen. Er hat sie nicht einer besondern Offenbarung seines Willens und seiner Eigenschaften gewürdigt; er wird

3.4 Die Theologie der Londoner Schriften

99

Aber trotzdem versagen das natürliche Gewissen und die natürliche Vernunft hoffnungslos in bezug auf eine persönliche Gottesbeziehung. Wie das Gesetz bei den Juden, so offenbaren das Gewissen und die Vernunft der Heiden ihre Ohnmacht und Sünde. So kennt der Heide zwar den Zorn und die Unversöhnlichkeit Gottes, aber nicht seine liebevolle Kondeszendenz. "Beyde Offenbarungen, weder Gesetz [der Juden] noch Natur und Gewissen [der Heiden], waren zu ihrer Seeligkeit hinlänglich; diese beruhte allein auf dem göttlichen Erfüller und Genugthuer des Gesetzes, auf dem Lichte der Heyden" (Ν I 29:24-) m . Sprache

In Hamanns späterem Werk wird die Sprache das integrierende Zentrum seines Denkens. Soweit kommt es in den Londoner Schriften noch nicht. Allerdings sind erste Versuche, die Beziehung zwischen Gott und Mensch als 'Sprachgeschehen' zu verstehen, deutlich vorhanden, und zwar zunächst in Hamanns Beschreibung seiner Bekehrungserfahrung. Die große Wende vollzieht sich während der Lektüre der Schrift und dem Nachdenken darüber. Erst durch den Blick in den Spiegel des Wortes, wird Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis möglich113. Überdies erlebt Hamann die entscheidende Begegnung mit Christus, indem er eine 'Stimme' hört, die seinem eigenen 'Schrey' Stimme verleiht. Dieses gnädige Innewohnen der Stimme Christi im 'Schrey' seiner Seele ist die Erfahrung, der Hamanns Theologie entspringt. Die zentrale Stelle, die die Dialektik von Buchstabe und Geist in den Londoner Schriften einnimmt, ist die wichtigste Grundlage für Hamanns späteres 'Sprachdenken'. Nahezu alle wichtigen Themen der Londoner Schriften, die im späteren Werk wieder auftauchen, stehen irgendwie im Zusammenhang mit dieser Dialektik. Gottes Herablassung in Schöpfung, Fleischwerdung und Vollendung wird anhand der Dynamik der irdischen Zeichen und ihrer geistigen Bedeutung hermeneutisch interpretiert. Auf diese Weise versucht Hamann zu verstehen, wie unsere endliche und sinnliche Wirklichkeit analogisch-typologisch transzendierender Bedeutungsträger

112 11J

daher nicht eben den Faden und eben das Bleigewicht über sie brauchen, nach dem er jene richten wird." Vgl. Ν I 28:30-, 32:30-, 118:29-, 228:15 bis einschl. 229:14!. Ν II 43:19-: " ja ich bekenne, daß dieses Wort Gottes eben so große Wunder an der Seele eines frommen Christen, er mag einfältig oder gelehrt seyn, thut als diejenigen die in demselben erzählt werden".

100

Kapitel 3 Krise und Bekehrung. Die Theologie der Londoner Schriften

göttlicher Bedeutung werden kann114. In den späteren Schriften trachtet er dann, dieses sprachliche Geheimnis der Wirklichkeit immer tiefer zu ergründen und von daher die verschiedenen Formen des Aufklärungsdenkens zu bekämpfen.

3.5 Hamanns Typologese in literaturgeschichtlicher

Perspektive

Wir haben festgestellt, daß der Bildcharakter der Wirklichkeit in Hamanns Hermeneutik eine entscheidende Rolle spielt. Als Bild oder Figur kann eine natürliche oder historische Gegebenheit in horizontale und vertikale Richtung verweisen und transzendieren. Hamann benutzt hierbei die typologische Methode, die seit Jahrhunderten traditionelle Methode der Schriftauslegung, die er nicht nur durch seine Erziehung und Ausbildung in Königsberg, sondern auch zum Beispiel durch die Schriften Herveys kennengelemt hatte115. Ein Vergleich mit de Lubacs Studie116 macht deutlich, wie sehr Hamanns Typologieverständnis in seinen wesentlichen Punkten bei der patristischen und mittelalterlichen Hermeneutik der Schrift anknüpft. Da Hamanns Naturverständnis eng mit seiner Hermeneutik zusammenhängt, ist es sinnvoll, an dieser Stelle noch kurz auf den literaturgeschichtlichen Hintergrund der typologischen Methode einzugehen. Eine eingehende Untersuchung der typologischen oder 'figuralen Methode', wie er sie nennt, hat Erich Auerbach vorgenommen. In seiner Studie 'Figura'117 zeigt er, daß die Typologie auf die Bibel zurückgeht und im Anschluß daran einen vorrangigen Platz in der altchristlichen und mittelalterlichen Literatur einnimmt. Die Allegorie hingegen (in ihrer ahistorischen Bedeutung) hat ihre Wurzeln in der heidnisch-antiken Tradition. Im Gegensatz zum antiken Lebensgefühl erforderte das christliche Wirklichkeitsverständnis eine Hermeneutik, in der die Bedeutung der sinnlichen und historischen Wirklichkeit einen viel wichtigeren Platz einneh-

114

115 116 117

Vgl. Ν I 190:24-: "Nächst dem Reichthum Gottes in der Natur , ist keine größere Schöpfung als diese Allmacht der menschlichen Sprache zu den Gedanken der Cherubim und Seraphim. Wie schwellen, wie glühen, wie rauschen die sinnlichen Eindrücke zum Gefühl und Augenschein des Glaubens und des Geistes." Vgl. J0rgensen, 'Hamann und Hervey', 8 f. De Lubac, Der geistige Sinn der Schrift. Auerbach, E., 'Figura' (19381), in: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern/München 1967, 55-92.

3.S Hamanns Theologie in literaturgeschichtlicher Perspektive

101

men konnte. Sie fand sie in der biblischen, vor allem von Paulus entwickelten Typologie118. In seinem monumentalen Werk Mimesis119 beschreibt Auerbach ausführlich, wie die figurale Methode sich in der europäischen Literaturgeschichte durchgesetzt hat. Außerdem zeigt er, daß die figurale Methode von Anfang an mit einer ganz eigenen Stilauffassung verbunden war. In der antiken Literatur bestand eine strenge Stiltrennung: der gehobene rhetorische Stil galt lediglich für das Schicksal von Menschen aus der höchsten sozialen Schicht, die als tragische Helden von überpersönlichen Mächten getrieben wurden. Die niedrigere Wirklichkeit des einfachen Volkes konnte nur im niedrigen Stil der Kommödie oder Satire beschrieben werden. Unter dem Einfluß des Christentums, das sich auf ein Buch gründete, das den Maßstäben der antiken Stilauffassung ganz und gar nicht entsprach, entstand eine völlig andere Literaturform, in der wie in der Bibel äußerst ernsthaft über das alltägliche Leben 'gewöhnlicher' Menschen gesprochen wurde. Eine Schlüsselfigur in dieser Entwicklung war Augustinus. Aufgrund seiner antik-rhetorischen Schulung hatte er zunächst große Schwierigkeiten mit dem realistischen und unzulänglichen Stil der Schrift. Im Laufe der Zeit wuchs jedoch die Einsicht bei ihm, daß der niedrige Gott, der seine erhabendsten Wahrheiten nicht für die aristokratischen Weisen dieser Welt, sondern für die Niedrigen und Menschen einfältigen Herzens bestimmt habe, diesen niedrigen Stil bewußt gewählt habe. Der 'typos' dieser 'humilitas' ist Christus, in dem Gott sich in die niedrigsten Bereiche der menschlichen Existenz herabgelassen und die Trennung zwischen dem Erhabenen und dem Niedrigen überwunden hat. Mithin ist die christliche Typologese als hermeneutische Methode, die nicht über die alltägliche Wirklichkeit und ihre geschichtliche Dynamik hinausgehen, sondern sie im Lichte der Offenbarung verstehen will, eng mit den Motiven der Kondeszendenz und 'humilitas' verbunden, Motive, die in der augustinisch-franziskanischen Tradition eine entscheidende Bedeutung erhalten haben. Stilistisch äußert sich dies in der Verbindung von Typologie und 'sermo humilis' (oder 'piscatorius'): die realistische und heilsgeschichtliche Bezogenheit der Typologie kommt in rhetorisch unzulänglicher Volkssprache von Hirten und Fischern zum Ausdruck120.

m

119 120

Vgl. Goppelt, L., Typos, Die typologische Deutung des Alten Testaments im Neuen (19391), Darmstadt 1981. Auerbach, E„ Mimesis (1946 1 ), Bern 1988'. Vgl. Auerbach, Mimesis, 68-77, 146-166. Vgl. einen früheren Artikel von Auerbach über Augustinus und den 'sermo humilis': 'Sacrae Scripturae sermo humilis', in: Neuphilologische Mitteilungen, 42 (1941), 57-67, und in: Gesammelte Aufsätze, 21-26.

102

Kapitel 3 Krise und Bekehrung. Die Theologie der Londoner Schriften

Weiterhin zeigt Auerbach in Mimesis anhand von konkreten Beispielen, daß der durch Typologie und 'sermo humilis' ermöglichte Realismus der christlichen Literatur in der Übergangszeit vom Mittelalter zur Renaissance so stark wird, daß er seine typologische Begrenzung durchbricht121. Seit Dante erhält die menschliche Wirklichkeit solch ein eigenes Gewicht, daß die transzendent-typologische Sinngebung in den Hintergrund rückt oder ganz verschwindet. Die Einheit von typologischer Bedeutung und Realismus fällt nach der Renaissance in zwei Strömungen auseinander: eine realistische Strömung122, die sich immer wieder mit der Frage auseinandersetzt, wie die zeitliche und irdische Wirklichkeit als sinnvolles Geschehen verstanden werden kann, und eine humanistische Strömung - in den französischen Klassizismus mündend -, die auf antike rhetorische und hermeneutische Grundsätze (darunter die Allegorie) zurückgreift und damit den mittelalterlichen Realismus aufgibt123. Die hier zusammengefaßten Darlegungen Auerbachs sind überraschend aufschlußreich im Blick auf eine historische Einordnung der typologischen Hermeneutik Hamanns. Wir haben ja bereits festgestellt, daß auch seine Typologese wesentlich mit dem Kondenszendenzmotiv verwoben ist. Gerade durch die zentrale Bedeutung der 'Demut Gottes' als tiefstem Beweggrund für die Offenbarung erhält seine Typologese eine theologische Tiefe, die verhindert, daß sie zu einer abgenutzten Methode verflacht, und entspricht seine Hermeneutik stark der altchristlichen und mittelalterlichen Literatur, auch wenn Hamann selbst sich dessen nicht so bewußt ist. Auffallend ist zudem, daß Auerbachs literaturgeschichtliche Darstellung mit der von de Lubac und Walgrave umrissenen Entwicklung des Naturverständnisses, wie sie in Kapitel 1 kurz ausgeführt wurde, parallel läuft. Gemeinsamer Kern beider Darstellungen ist die Tatsache, daß durch eine

121

122 123

Zu Dantes Divina comedia, Mimesis, 193: "Und in dieser unmittelbaren und bewundernden Teilnahme am Menschen wendet sich die in der göttlichen Ordnung gegründete Unzerstörbarkeit des ganzen, geschichtlichen und individuellen Menschen gegen die göttliche Ordnung; sie macht sie sich dienstbar und verdunkelt sie; das Bild des Menschen tritt vor das Bild Gottes. Dantes Werk verwirklichte das christlich-figurale Wesen des Menschen und zerstörte es in der Verwirklichung selbst; der gewaltige Rahmen zerbrach durch die Übermacht der Bilder, die er umspannte." Durch die französisch-burgundische Kultur. Vgl. Mimesis, 246-249. Mimesis, 302: "Im Laufe des 16. Jahrhunderts nun lockerte sich die christlich-figurale Rahmenvorstellung fast überall in Europa; und zugleich traten die antiken Vorbilder und die antike Theorie wieder ungetrübt vor die Augen." Mimesis, 369: "Die klassisch-französische Trennung der Stile ist weit mehr als die bloße Nachahmung der Antike im Sinne der Humanisten des 16. Jahrhunderts; das antike Vorbild wird übersteigert, und es gibt einen scharfen Bruch mit der jahrtausendalten, christlichstilmischenden Volksüberlieferung".

3.S Hamanns Theologie in literaturgeschichtlicher Perspektive

103

zunehmende Verselbständigung der natürlichen Wirklichkeit die Natur aus der (typologischen) Umfassung durch die Gnade heraustritt und ihren eigenen autonomen Weg sucht. Hamann versucht, diesen Zusammenhang mit der Gnade wiederzuentdecken; hermeneutisch greift er dabei auf die figurale Methode zurück. Die übernatürliche Sehnsucht der Natur wird enthüllt und erfüllt durch Gottes gnädige Herablassung, deren typologisches Zentrum die Knechtsgestalt Christi ist.

3.6 Zusammenfassung; Vergleich mit Jansen Schoonhovens Interpretation der Londoner Schriften 3.6.1 Zusammenfassung In seinem Londoner Tagebuch schreibt Hamann keine Dogmatik; es handelt sich um Tagebuchaufzeichnungen eines gerade bekehrten jungen Mannes, der seine neuen Erfahrungen und Einsichten suchend zu formulieren trachtet. Wir hoffen jedoch, deutlich gemacht zu haben, daß man in den Londoner Schriften bereits von einer zusammenhängenden theologischen Struktur sprechen kann. Zugespitzt auf den Naturbegriff läßt sich dies alles in den folgenden Punkten zusammenfassen: 1 .Die Natur ist weder in ihrem heilen, noch in ihrem gefallenen Zustand eine selbständige, in sich geschlossene Wirklichkeit. Sie ruht beständig im schaffenden und bewahrenden Handeln Gottes. 2. Die Abhängigkeit der Natur von der Gnade und ihr transzendierender Bezug auf die Gnade tritt in ihrer teleologischen Ausrichtung auf die Menschwerdung Christi und die Erfüllung und Vollendung durch den Heiligen Geist zutage. Seit dem Sündenfall kommt sie vor allem im 'Schrei' des verlorenen Menschen zum Ausdruck. Allerdings ist die Natur nicht nur wegen der Sünde, sondern auch von ihrem eigenen Wesen her auf die Gnade Christi ausgerichtet. Die Korrelation zwischen den Erzeugnissen der außermenschlichen Natur und den leiblichen Bedürfnissen ist eine typologische Vorabbildung des Zusammenhangs zwischen geistlichen Bedürfnissen und der Gnade. 3. Schöpfung, Erneuerung und Vollendung der Natur geschehen durch Gottes gnädige Kondeszendenz. 4. Die gegenseitige Beziehung zwischen der natürlichen (gefallenen) Schöpfung und Gott konkretisiert sich hermeneutisch in der figuralen Dialektik von Gestalt und Geist in Natur, Geschichte und Schrift.

104

Kapitel 3 Krise und Bekehrung. Die Theologie der Londoner Schriften

Angesichts dieser Hauptpunkte läßt sich mit Recht der Schluß ziehen, daß Hamanns Naturbegriff in sehr engem Zusammenhang mit der frühchristlichen und mittelalterlichen Theologie steht. Auch bei ihm hat die Natur ein natürliches Verlangen nach übernatürlicher Gnade. In verschiedenen patristischen und mittelalterlichen Theologien findet man die supralapsarische Auffassung, die Menschwerdung Christi sei nicht nur durch die Sünde motiviert124. Außerdem erinnert Hamanns starke Betonung der Kondeszendenz unmittelbar an die augustinisch-franziskanische Theologie, in der die 'humilitas Dei' als (Kreuz)Weg, auf dem das übernatürliche Verlangen der Natur geweckt und erfüllt wird, einen so zentralen Platz einnimmt123. Die Übereinstimmung wird schließlich noch auffälliger, wenn man bedenkt, daß Hamanns Hermeneutik von Buchstabe und Geist, wie wir bereits feststellen konnten, stark der altchristlichen und mittelalterlichen Schriftauffassung entspricht. Diese Übereinstimungen sind vor allem frappant, weil der junge Hamann die patristische und mittelalterliche Theologie kaum kannte126. Erst später beschäftigte er sich mit den Kirchenvätern; die mittelalterliche Scholastik blieb für ihn zeitlebens ein verschlossenes Buch. Die theologischen Erkenntnisse des neubekehrten Hamann sind Ergebnis eines lutherischen Erbes, das durch den Schmelztiegel seiner Krise und Bekehrung hindurchgegangen ist. In den folgenden Kapiteln wird sich zeigen, daß Hamann in der Weiterentwicklung seines Denkens von den theologischen Grundzügen, die wir in den Londoner Schriften festgestellt haben, nicht mehr abweicht. Wenn es stimmt, daß Hamann darin den wichtigsten Spuren der 'katholischen' Theologie der Patristik und des Mittelalters folgt - ohne sich dessen deutlich bewußt zu sein -, wird die Frage umso interessanter, wie er von diesen theologischen Voraussetzungen aus auf eigene Weise das Gespräch mit dem Aufklärungsdenken aufnimmt.

3.6.2 Vergleich mit der Interpretation Jansen Schoonhovens Diese Bewertung der Londoner Schriften deckt sich nicht mit der Jansen Schoonhovens, der sie als Präludium von "nur relativem Wert" sieht127. Grund für Jansen Schoonhovens Beurteilung ist, daß Hamann in den Lon-

123

126 127

Vgl. hierzu § 9.3.1. Vgl. zu Bonaventura: Geiken, Α., Theologie des Wortes, Das Verhältnis von Schöpfung und Inkarnation bei Bonaventura, Düsseldorf 1963, 315-334 (5. Kap.: 'Die Demut Gottes'). Im allgemeinen war die Kenntnis vor allem der mittelalterlichen Theologie im 18. Jahrhundert auf einen Tiefpunkt gesunken. Natuur en genade, 8.

3.6 Zusammenfassung; Vergleich mit Jansen Schoonhovens Interpretation

105

doner Schriften seiner Ansicht nach noch zu optimistisch, zu sehr im Sinne der Aufklärung über die natürliche Offenbarung spreche; "die Eierschalen der Aufklärung kleben noch an seinen neugeborenen Begriffen"128. Die neue Richtung werde in den Biblischen Betrachtungen zwar schon eingeschlagen, habe sich aber noch nicht zu einer konsistenten Theologie auskristallisiert. Jansen Schoonhoven schreibt: " Ein merkwürdiges Zitat aus den Biblischen Betrachtungen : 'Wie jeder Buchstabe im Buche der Natur den weisen Schöpfer, jede Zeile in der Geschichte der Völker den gerechten Regierer, so ruft, so schreit jeder Sünder in der heiligen Schrift den Erlöser der Welt für die Menschen aus.' Der Anfang scheint natürliche Theologie im Sinne der Aufklärung zu sein; der Schluß atmet einen ganz anderen Geist: in der Heiligen Schrift, nicht außerhalb der besonderen Offenbarung Gottes, ruft jeder Sünder die Herrlichkeit Christi aus. Der Parallelismus zwischen den beiden Satzteilen läßt die Frage aufkommen, ob Hamann in seinem Denken auch hier nicht dazu neigt, die Offenbarung in Natur und Geschichte als eine vom Glauben an Christus abhängige Offenbarung zu sehen."129 Nach dem folgenden Hamannzitat: "Die Heyden erkannten Gott und hatten Einsichten, die wir Christen selbst mit Bewunderung lesen; demohngeachtet fielen sie in die abgeschmackteste Abgötterey, in die abscheulichsten Mißbräuche und Laster des Fleisches" (= Ν I 229:8-), folgert Jansen Schoonhoven: "Es ist deutlich, Hamann ist dem Problem Natur und Gnade noch nicht gewachsen."130 "Die Richtung, die Dynamik von Hamanns Denken in diesen Monaten kann aufgrund des oben Ausgeführten folgendermaßen zusammengefaßt werden: aus der Gedankenwelt der Aufklärung kommend arbeitet er sozusagen noch selbstverständlich mit ihrer Lehre, daß Gott aus der Natur und der Geschichte erkannt werden könne. Allerdings - 'die Natur verschwindet vor deinem Worte', die Offenbarung Gottes in seinem Wort nimmt ihn in Beschlag, und in diesem hellen Lichte verbleicht die 'natürliche Gotteserkenntnis' immer mehr."131 In dieser Darstellung geht Jansen Schoonhoven von einer sehr kritischen, aber einseitigen Auffassung der 'natürlichen Theologie' aus, die vor allem unter dem Einfluß von Karl Barth weithin ein wichtiger Ausgangspunkt moderner protestantischer Theologie wurde. Darin wird kein Unterschied zwischen der natürlichen Theologie der Aufklärung und der der Patristik und des Mittelalters gemacht; jede Form der natürlichen Theologie ist verdächtig

128 129 130 131

Natuur Natuur Natuur Natuur

en en en en

genade, genade, genade, genade,

138. 144. 145. 148.

106

Kapitel 3 Krise und Bekehrung. Die Theologie der Londoner Schriften

geworden132. Im Grunde wird dadurch die Tendenz der Aufklärung, die Natur aus der theologischen und trinitarisehen Gesamtstruktur loszulösen, im umgekehrten Sinn akzeptiert133. In diesem Kapitel ist hoffentlich deutlich genug geworden, daß Hamann sich bereits in den Londoner Schriften entscheidend von dem autonomen Naturverständnis der Aufklärung gelöst hat. Er vertritt kein natürliches Offenbarungsvermögen einer in sich selbst geschlossenen Wirklichkeit, sondern das einer geschaffenen Natur, die nach dem Sündenfall nicht nur ihre Abhängigkeit von Gott, sondern auch ihre deszendierende Ausrichtung auf ihn nicht vollkommen verloren hat.

152 113

Vgl. hierzu § 1.2.1. Eine ähnliche Kritik äußert W. Leibrecht an der Hamanndeutung von Fr. Lieb, einem Theologen der dialektischen Schule. Vgl. Lieb, Fr., Glaube und Offenbarung bei J.G. Hamann (19261), in: Wild (Hrsg), Johann Georg Hamann, 119-145; Leibrecht, Gott und Mensch bei Hamann, 34 Fußnote 12 (gegen Lieb, op.cit., 141), 40 Fußnote 25 (gegen Lieb, op.cit., 126).

Kapitel 4 Die Wirklichkeit als Bild Gegen die natürliche Theologie des 'toten Buchstabens' 4.1 Einleitung Im vorigen Kapitel wurde die Theologie der Londoner Tagebuchaufzeichnungen Hamanns umrissen. Es soll nun näher untersucht werden, wie er bestimmte Grundzüge daraus in seinen folgenden Schriften weiterführt oder ändert und welche Folgen dies für sein Naturverständnis hat. In den Londoner Schriften thematisiert Hamann das Verhältnis von Natur und Gnade (und dessen Geschichte) hermeneutisch als eine analogischtranszendierende Beziehung, die sowohl vertikal als auch horizontal durch eine Dialektik von Buchstabe und Geist, sinnlichem Zeichen und geistiger Bedeutung, gekennzeichnet ist. Aufgrund dieses Ansatzes gelangt Hamann immer mehr zu der Überzeugung, daß die Wirklichkeit von grundlegend 'sprachlicher' Art ist und daß diese Wirklichkeit und ihre Beziehung zu Gott lediglich vom Wesen der Sprache her verstanden werden können. Daß Gott sich trinitarisch und gnädig in unsere Wirklichkeit einläßt, ist ein sprachliches Geschehen, in dem der 'Buchstabe' durch den Geist gelenkt und erfüllt wird. Zugleich ist diese geheimnisvolle Verbindung und Dialektik von Buchstabe und Geist der Ansatz für die Polemik gegen verschiedene Wirklichkeitsanschauungen der Aufklärung in all seinen kleinen Schriften. Dabei lassen sich zwei Hauptrichtungen unterscheiden: 1. Er bekämpft Naturwissenschaftler, Historiker, Exegeten und andere, die aufgrund eines empirischen Positivismus nur einen Blick für den toten Buchstaben, für bedeutungslose Fakten, haben. Hingegen weist Hamann auf die Einheit und Dynamik von Zeichen und Bedeutung, Buchstabe und Geist hin. Die dialektische Einheit befreit die positivistischen 'facta' aus ihrer hermeneutischen Isolierung und läßt die sinnliche Wirklichkeit analogisch und typologisch zum Sprechen gelangen. 2. Die andere Front ist genau entgegengesetzt: es sind Theologen, Philosophen und andere Wissenschaftler, die die Wahrheit und Vernunft von jedem empirischen und kontingenten Makel zu reinigen versuchen. Für sie ist Wahrheit lediglich die ewige und zeitlose Wahrheit der reinen Vernunft. Nach Hamanns Überzeugung verwirklicht sich Wahrheit jedoch immer nur sinnlich und geschichtlich. Wahrheit und Bedeutung ohne sinnliche und geschichtliche 'Inkarnation* ist für uns nicht erkennbar.

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Kapitel 4 Gegen die natürliche Theologie des 'toten Buchstabens'

Eine andere Form dieses rationalistischen Reinigungstrebens, gegen die Hamann sich ebenfalls wendet, kommt in den wiederholten Versuchen zum Ausdruck, aufgrund formaler Kriterien Sprachsäuberungen und -reformen vorzunehmen. In diesem Kapitel soll auf die erste der beiden Richtungen1, nämlich Hamanns Bekämpfung der 'Hermeneutik des toten Buchstabens', eingegangen werden. Ausgangspunkt sind dabei die Schriften des Zeitraums von 1759-17632, ohne daß wir uns jedoch streng auf sie beschränken. Nach Kapitel 5, in dem wir uns eingehender auseinandersetzen mit Hamanns Sprachauffassung, wie er sie im Gespräch mit Herder entfaltet, soll in den Kapiteln 6 und 7 seine Kritik der 'reinen Vernunft'3 erörtert werden. Diese Einteilung entspricht im Wesentlichen der Entwicklung der Schriften Hamanns.

4.2 Hamanns neuer Stil

4.2.1 Sokratisch-prophetisches Selbstbewußtsein Ehe wir auf das Hauptthema dieses Kapitels eingehen, soll zunächst einiges zum Stil der so schwer verständlichen Schriften Hamanns gesagt werden. Dieser Stil ist bewußt gewählt und keine direkte Folge seiner psychischen Veranlagung, was klar aus der Tatsache hervorgeht, daß die Londoner Schriften viel leichter zugänglich sind. Die Ursache für den neuen kryptischen Stil liegt in Hamanns Erfahrungen nach seiner Rückkehr aus London. Kurz nach seiner Ankunft in Riga im Juli 1758 gerät Hamann in einen heftigen Konflikt mit seinem Freund Christoph Berens. Bereits von London aus hatte er einen unbefangenen, freudigen Brief geschrieben, um Berens seinen neuen 'Zustand' mitzuteilen4, aber Berens war davon durchaus nicht erbaut. Sein Freund und Mitarbeiter Hamann war zu seiner Ausbildung mit einer handelspolitischen Mission nach London geschickt worden, und nun

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Zur selben Zweiteilung gelangt J.A.B. Jongeneel in seiner Analyse der Aufklärungstheologie in: Het redelijke geloof in Jezus Christus, Een Studie over de wijsbegeerte van de Verlichting, Wageningen 1971; vgl. insbesondere 41. Somatische Denkwürdigkeiten (1759), Wolken (1761), Kreuzzüge (1762), Schriftsteller und Kunstrichter (1762), Leser und Kunstrichter (1762), Hamburgische Nachricht (1763) und Fünf Hirtenbriefe (1763). Von den zwei Formen des Purismus, die Hamann bekämpft: 'reine Sprache' und 'reine Vernunft', werden wir lediglich auf letztere eingehen. Vgl. ZH I 414:30-.

4.2 Hamanns neuer Stil

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kommt er als 'Schwärmer', als frommer Abergläubischer zurück! Berens Widerwille ist so groß, daß er Hamann zunächst daran hindert, seine Schwester Catharina zu heiraten. Danach setzt er alles daran, um Hamann wieder zum Aufklärungsglauben zu bekehren, und bedient sich dabei Lindners und sogar Kants, jedoch ohne Erfolg. Hamann reagiert auf diese Bekehrungsversuche mit den Sokratischen Denkwürdigkeiten, einer polemischen und missionarischen Schrift, die sich zunächst einmal gegen Berens und Kant richtet3. Aufgrund des Unverständnisses seiner Freunde entwickelt sich bei Hamann ein prophetisches Bewußtsein. Er fühlt sich wie ein Rufer in der Wüste, wie ein Zeuge, der das Los Jesu und der Propheten teilt. Als er zur gleichen Zeit den pseudoplatonischen Dialog der Zweite Alkibiades liest, erkennt er sich auch im Leben und Schicksal des Sokrates wieder. So wächst ein prophetisch- sokratisches Selbstbewußtsein, das ihn dazu veranlaßt, die Sokratischen Denkwürdigkeiten zu schreiben, eine Schrift, in der Hamann später den Beginn seiner Autorschaft sieht6. Es ist zugleich das erste kleinere Werk in dem komplizierten Stil, der Hamanns Werk so berüchtigt gemacht hat. Dieser Stil entsteht auch als Reaktion auf das Unverständnis seiner Freunde. In seinem Lebenslauf hatte er offen und begeistert von seiner Bekehrung berichtet, aber sein bester Freund hatte ihn "mit Eckel" durchgeblättert7. "Wie sage ich es meinen Freunden?" Dies wird für Hamann eine brennende Frage. In Christus hat er einen Freund für sein ganzes Leben gefunden, aber seine früheren Freunde verstehen ihn nicht mehr*. Die Auseinandersetzung mit ihnen wird für Hamann eine schmerzliche, aber lehrreiche Erfahrung, aus der er wichtige hermeneutische Schlußfolgerungen zieht und die ihn zu einem Stil führt, der sich seiner Überzeugung nach aus seiner christlichen Existenz ergibt. In den Sokratischen Denkwürdigkeiten äußert er dazu einige hermeneutisch-rhetorische Gedanken, die einen guten Ausgangspunkt für eine kurze Beschreibung bilden. Über Hamanns neuen Stil ließe sich ein ganzes Buch schreiben, wir werden uns hier jedoch auf

3

6 7 8

Textausgaben mit Kommentar und Anmerkungen sind: HH1 (von F. Blanke); Seils, M., (Hrsg.), Entkleidung und Verklärung, Eine Auswahl aus Schriften und Briefen des 'Magus im Norden', Berlin 1963, 123-162; Johann Georg Hamann, Somatische Denkwürdigkeiten, Aesthetica in nuce, mit einem Kommentar herausgegeben von S.-A. J0rgensen, Stuttgart 1968, 3-73; Sturm und Drang, Kritische Schriften, Heidelberg, o.J., 61-84; Siehe auch: O'Flaherty, J.C., Hamann's Socratic memorabilia, A translation and commentary, Baltimore 1967. Vgl. Ν III 349:2-, ZH II 118:23-, ZH V 315:21-. Vgl. ZH I 305:9, 308:27, 415:5-. Erst am Ende seines Lebens fand Hamann eine Freundin, Amalie von Gallitzin, von der er sich auch als Christ voll und ganz verstanden fühlte.

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eine kurze Skizzierung der zugrundeliegenden theologischen Motive beschränken9.

4.2.2 Die christologisch-sokratische Methode Hamanns Stil seit den Sokratischen Denkwürdigkeiten ist nur verständlich, wenn man erkennt, daß er dabei absichtlich an die Struktur der biblischen Offenbarung, wie sie im vorigen Kapitel dargelegt wurde, anknüpft. Die christologische Typologie in Verbindung mit der Dialektik von Buchstabe und Geist (von Enthüllung und Verhüllung) wird für ihn zum stilistischen und hermeneutischen Rahmen seiner eigenen Schriften. Gleichzeitig macht er in diesem Rahmen von der 'sokratischen Methode' oder 'indirekten Mitteilung'10 Gebrauch, die er als rhetorische Verstärkung der biblischen Wechselwirkung zwischen Buchstabe und Geist benutzt. Eine Beschreibung dieser sokratischen Methode gibt uns daher indirekt Aufschluß darüber, inwiefern der Stil Hamanns der hermeneutischen Grundstruktur der Offenbarung entspricht. In den Sokratischen Denkwürdigkeiten kennzeichnet Hamann seinen Stil folgendermaßen: "Ich habe über den Sokrates auf eine sokratische Art geschrieben. Die Analogie war die Seele seiner Schlüsse, und er gab ihnen die Ironie zu ihrem Leibe. Ungewißheit und Zuversicht mögen mir so eigenthümlich seyn als sie wollen; so müssen sie hier doch als ästhetische Nachahmungen betrachtet werden." (Ν II 61:10-). Analogie war die Seele, Ironie der Leib der Argumentation des Sokrates. Dieser Vergleich zeigt, wie Hamann die sokratische Methode mit der hermeneutischen Struktur von Buchstabe/Geist, Gesetz/Evangeliumn, usw. ver9

10

Vgl. zu Hamanns Stil u.a.: Unger, Hamann und die Aufklärung, 482-575; Büchsei, Biblisches Zeugnis und Sprachgestalt bei J.G. Hamann; Blackall, E.A., The emergence of German as a literary language 1700-1775, Cambridge 1959, 426-450; J0rgensen, S.-A., 'Zu Hamanns Stil' (1966), in: Wild, R., (Hrsg.) Johann Georg Hamann, 372390; Hoffmann, Johann Georg Hamanns Philologie (insbesondere Kapitel 2); Baur, W.-D., 'Hamann als Publizist, Die Beiträge zu den "Königsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen" (1764-1776)', in: Acta 5, 255-274. Eine Bezeichnung, die auf Kierkegaard zunickgeht. Gerade von Hamanns 'indirekten Methode' war Kierkegaard stark fasziniert Vgl. zu Hamann und Kierkegaard: Rodemann, W., Hamann und Kierkegaard, Gütersloh 1922, Faksimile, auf Anfrage neugedruckt durch University Microfilms International, Ann Arbor (Michigan)/London 1983; Gründer, K., 'Geschichte der Deutungen', in: HH1, 47-51; Gregor Smith, R., 'Hamann and Kierkegaard', in: Dinkier, Ε., (Hrsg.), Zeit und Geschichte, Dankesgabe an Rudolf Bultmann zum 80. Geburtstag, Tübingen 1964, 671-685; Steffensen, S., 'Kierkegaard und Hamann', in: Orbis litterarum, 22 (1967), 399-417; Baudler, G., 'Im Worte sehen', Das Sprachdenken Johann Georg Hamanns, Bonn 1970, 317-326.

4.2 Hamanns neuer Stil

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flicht. Die Ironie stellt das kritische ('Ungewißheit'), die Analogie das verbindende ('Zuversicht') Element dar. Ironie Die Ironie, die in Hamanns Schriften immer wieder vorkommt, hat folgende Funktionen: 1. Durch die Ironie wird ein Abstand geschaffen, der wegen der Verletzlichkeit des Autors nötig ist. Ironischer Spott und Verhüllung sind der Schild des Wahrheitszeugen gegen den kränkenden Spott des Widersachers11. 2. Außerdem ist der Schutz der Ironie nötig, weil die Wahrheit des Evangeliums zu kostbar ist, um vor die Schweine geworfen zu werden12. Der ironische Stil bringt also den Skandalon-Charakter der Wahrheit zum Ausdruck. Diejenigen, die meinen, die Wahrheit gepachtet zu haben, werden dadurch abgeschreckt13. 3. Die Ironie will den Leser so wachrütteln, daß sein eingebildetes Wissen und seine Sicherheit ins Wanken geraten14. Der Leser soll somit in eine Krise geraten, wodurch sein Widerstand gebrochen wird und er zur demütigen Aufgeschlossenheit für die Offenbarung der Wahrheit (im Falle des Sokrates für seinen 'Genius') gelangt. Die Ironie hat also eine kritische und eine schöpferische Funktion. Beide Aspekte erläutert Hamann, indem er Sokrates mit dessen Vater, der Bildhauer war, und seiner Mutter, die Hebamme war, vergleicht. In seinen Gesprächen war Sokrates ein Bildhauer, der,"indem er wegnimmt und hauet, was am Holze nicht seyn soll, eben dadurch die Form des Bildes fördert." (Ν II 66:25-). Deutet dieses Bild des Bildhauers vor allem auf die kritische

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ZH I 324:27-: "Ich werde mit Gottes Hülfe aller der Feßeln, unter denen ich jetzt schreiben muß, entledigt seyn, wenn meine Freunde mit mehr Liebe zur Wahrheit den Grund meiner Handlungen zu erkennen Verlangen bezeigen werden." Später schreibt Hamann in den Wolken: "Folgende ist in der Vorrede an Niemand, den Kundbaren ausgelassen worden: Ihr sollt das Heiligthum nicht den Hunden geben, und eure Perlen sollt ihr nicht vor die Säue werfen: auf daß sie dieselbigen nicht zertreten mit ihren Füßen, und sich wenden, und euch zerreißen, Matth. VII. Bey einer neuen Auflage dieser Charteque, die Hofnung hat um einen halben Bogen stärker zu erscheinen, könnte diese Schriftstelle gleichfalls eingeflickt werden." (Ν II 87:20-). "Wir müßen uns des Menschensohnes und seines Bekenntnißes nicht schämen; aber auch nicht die Perlen seiner Lehre jedermann vorwerfen." (ZH I 292:1-). ZH I 339:32-: " so braucht der Christ die Ironie um den Teufel damit zu züchtigen. Diese Figur ist die erste in seiner [des Paulus] Redekunst gewesen". ZH I 377:26-: " ich glaube wie Socrates alles, was der andere glaubt - und geh nur darauf aus, andere in ihrem Glauben zu Stühren. Dies muste der weise Mann thun, weil er mit Sophisten umgeben war, und Priestern, deren gesunde Vernunft und gute Werke in der Einbildung bestanden. Es giebt eingebildte gesunde und ehrliche Leute, wie es malades imaginaires giebt."

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Funktion der Ironie des Sokrates, so kommt die positive Auswirkung dieses ironischen 'Abbruchs' stärker im Bild der Hebamme zum Ausdruck: Die Ironie will auf mäeutische Weise helfen, 'die Wahrheit, die im Verborgenen liegt', geboren werden zu lassen. Sokrates und Hamann schaffen die Wahrheit also nicht selbst, sondern helfen mäeutisch bei der schmerzhaften Geburt der Wahrheit. Es soll nun noch kurz ein Vergleich mit den bereits erwähnten Essays von Shaftesbury gezogen werden15. Dort hat die Ironie auch eine kritische und reinigende Wirkung. Die Wahrheit allerdings, die Hamann vorschwebt, ist keine ästhetisch-platonische Idealität, sondern ein Schatz in irdenen Gefäßen. Die Demut, die erforderlich ist, um diesen Schatz zu finden, bedeutet immer eine Krise für die ausgeglichene und selbstbewußte Bescheidenheit, wie Shaftesbury sie propagiert16. Analogie Ironie und ihr verwandte Stilformen benutzt Hamann, um unempfängliche Leser mit der rauhen Schale der biblischen Wahrheit und seiner eigenen Auslegung davon zu konfrontieren. Der geistliche Kern enthüllt und verhüllt er in analogischer Bildersprache. Dies läßt sich am besten anhand der Somatischen Denkwürdigkeiten selbst, die Hamann als "mimische Arbeit"17 bezeichnet, illustrieren. Er will damit zum Ausdruck bringen, daß sie voller Nachahmungen sind, die dem Ganzen eine analogische und typologische Struktur verleihen. Schlüsselfigur in dieser analogischen Mimik ist Sokrates. Die Aufklärungsdenker sahen in dem vernünftigen und weisen Sokrates eins ihrer großen Vorbilder18. Hamann knüpft bei dieser Sokratesverehrung an, indem er seine aufgeklärten Zeitgenossen im Spiegel ihres Idols mit dem Wider15 16

17 18

Vgl. § 2.3.2. Wenn Hamann sich in den Wolken humorvoll gegen die Behauptung eines Rezensenten (Chr. Ziegra in Hamburgische Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit, 1760 nr.57, vgl. Ν II 86-90), er habe einen kranken Geist, verteidigt, erklärt er, parallel zu Shaftesburys Unterscheidung zwischen einer fanatischen und einer göttlichen Form der Begeisterung (vgl. ZH1410:12-), man müsse gut zwischen der Torheit eines psychisch Kranken und derjenigen unterscheiden, die durch geniale Inspiration versursacht werde. Zu letzterer zitiert er verschiedene Beispiele aus der antiken Literatur und der Bibel, wie z.B. Paulus vor Festus und die Apostel zu Pfingsten, die man auch für geistesgestört oder betrunken hielt. In ihrer "Thorheit des Genies" war die "Weisheit des Widerspruchs" verborgen, die von den damaligen Ziegras nicht erkannt wurde (vgl. Ν II 98:17-, 107:7). Hamann benutzt so Shaftesburys Unterscheidung und auch dessen Plädoyer für den Spott zugunsten von (religiösen) Phänomenen, die Shaftesbury verabscheute. Vgl. hierzu Schings, op.cit., 289 f. Vgl. Ν II 61:17, ZH I 378:24-, 404:11-. Vgl. Böhm, B„ Sokrates im achtzehnten Jahrhundert (1929), Neumünster 19662.

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Spruch der sokratischen und biblischen Wahrheit konfrontiert. Dabei benutzt er eine zweifache Analogie: zum einen die Analogie zwischen der Beziehung Sokrates - Athener Sophisten einerseits und Hamann - aufgeklärte Sophisten anderseits; zum anderen die zwischen Sokrates und Christus, die beide für die Wahrheit lebten und starben. Aufgrund dieser doppelten Analogie braucht Hamann (nach Sokrates' Vorbild) allerlei Gleichnisse und Bilder, die er im Blick auf eine höhere Wahrheit transparent zu machen versucht. Die benutzten Begriffe, Bilder und Anspielungen entnimmt er unterschiedlichen Kontexten, die er durch die gegenseitigen Analogien in einen typologischen Zusammenhang setzt: 1. Erstens benutzt Hamann die Sprache seiner aufgeklärten Opponenten, so daß ihre Aufmerksamkeit durch ein erstes Moment des Wiedererkennens geweckt wird. Diese Anpassung ist ein Akt der Kondeszendenz: Hamann läßt sich auf das Sprachniveau des Angesprochenen herab, so wie Gott sich in seiner Offenbarung auf das Niveau der menschlichen Sprache herabläßt. Sie ist allerdings zugleich eine Verhüllung und Maskierung. Lediglich durch eine kongeniale Bemühung wird der Leser den analogischen Zusammenhang erkennen. Wenn er sich durch die Aufklärungssprache täuschen läßt und schon von vornherein zu wissen glaubt, was gemeint ist, wird ihm die tiefere, analogisch angedeutete Wahrheit entgehen. 2. Zweitens ahmt Hamann Sokrates sowohl stilistisch als inhaltlich nach. Indem er den Lesern so den Spiegel des Lebens und Schicksals von Sokrates vorhält, versucht Hamann sie - unter ihnen vor allem Berens und Kant - zur Selbsterkenntnis und wahren Weisheit zu bringen und ihnen außerdem die Augen für seine eigene sokratische Situation zu öffnen. 3. Drittens - und dies ist der wichtigste analogisch-mimische Zusammenhang - benutzt Hamann häufig die biblische Sprache. Anspielungen auf die Bibel und biblische Zitate bilden den letzten und entscheidenden hermeneutischen Horizont, dem alle anderen Bilder ihre primäre Bedeutung entlehnen19. Die anderen Zitate erscheinen dadurch in einem neuen Licht, was u.a. dazu führt, daß die Autoren, gegen die Hamann sich wendet, von ihrem eigenen Text verurteilt werden20. Im Lichte der Offenbarung läßt Hamann seine Opponenten sich aussprechen und widersprechen und führt sie mithilfe ihres eigenen Textes zur Offenbarung. Durch diese dreifache analogische Komposition entsteht ein großer typologischer Zusammenhang, der das Leben und die Situation des Autors (Hamann), des Sokrates und des Lesers (vor allem Berens und Kants) chris19 20

Vgl. in Ein fliegender Brief (1786): "Nein, jede Analogie, sie sey ersonnen oder gefunden beruht auf einer demissa coelo, quae formam loquendi dedit" (W (43):3-). Vgl. Baur, 'Hamann als Publizist', §§ HI.

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tologisch erhellt. Christus ist das hermeneutische Zentrum, und von diesem Zentrum aus scheint das biblische Licht durch den Spiegel des Sokrates auf Hamann und seine Leser. Diese spiegelnde Vermittlung ist nötig, weil Hamann die Erfahrung gemacht hat, daß eine direkte 'Erhellung' nicht möglich ist. Lediglich über den indirekten Weg des Sokrates und der sokratischen Methode kann er Zeuge Christi sein, der selbst auch den indirekten Weg gegangen ist21. Dieser Überblick über den Ursprung von Hamanns Bildmaterial ist noch unvollständig, denn es gibt viele andere Zitate oder Zitatfragmente aus der antiken und zeitgenössischen Literatur, die auch typologisch integriert werden und im Gesamtzusammenhang eine unterstützende Funktion erhalten. Die gesamte abendländische Kultur und Hamanns polyhistorische Kenntnis dieser Kultur gelangen so in den typologischen Horizont der Offenbarung. Innerhalb dieses Horizonts können auch heidnische Schriftsteller und Denker (wie Sokrates) Mitzeugen der Offenbarung werden.

4.2.3 Centotechnik Hamann stellt seinen eigenen Text also aus Begriffen, Zitaten oder Zitatfragmenten zusammen, die aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen stammen und analogisch miteinander verbunden werden. So soll - um ein Bild von Hamann selbst zu benutzen - durch die Verbindung, die sie eingehen, eine chemische Reaktion entstehen, in der die Energie der einzelnen Textfragmente freigesetzt wird22. Diese besondere Technik, die sogenannte Centotechnik23, erklärt nicht nur, warum Hamann so viel Zeit für die Zusammenstellung seiner kleinen Schrif21

22 23

Aus seinen Aufzeichnungen läßt sich schließen, daß Hamann erst 1777 das berühmte Buch von Joseph Butler, The analogy of religion natural and revealed to the constitution and course of nature, London 1736, kennengelemt hat. Vgl. Ν V 331:34Bei Butler spielt die Analogie eine ganz andere Rolle als bei Hamann. Butler benutzt die Analogie als Argumentationsgrundsatz in seiner Apologie des natürlichen und offenbarten Gottesdienstes. Von der natürlichen Erkenntnis ausgehend, die auch von seinen deistischen Opponenten akzeptiert wird, versucht er, durch analogische Argumentation die Wahrscheinlichkeit des Inhalts der natürlichen und offenbarten Religion zu beweisen. Hamann hingegen nimmt die Offenbarung zum hermeneuüschen Ausgangspunkt und zeigt, daß die Natur von da aus auf analogische Weise als sinnvolle, aber gebrochene Wirklichkeit enthüllt wird. Bei ihm kann keine Rede von natürlicher Erkenntnis und analogischer Argumentation als neutralen Ausgangspunkten sein, denn erst im Lichte der Offenbarung kommt die Analogie zustande. Vgl. Ν II 71:25-. Vgl. Wilpert, G. von, Sachwörterbuch der Literatur, 1979 6 ,128, s.v. 'cento' ("Weitverbreitet bereits bei den homerischen Rhapsoden").

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ten nötig hatte, sondern auch, warum sein Werk so schwer lesbar ist. Die beabsichtigten analogischen Verbindungen sind nämlich nur verständlich, wenn der Leser genügend mit den verschiedenen Kontexten vertraut ist, aus denen der Centotext zusammengestellt ist. Zudem ist die Herkunft der benutzten Begriffe und Zitate oft noch besonders schwer zu entdecken, weil Hamann häufig die Fundstelle nicht angibt.

4.2.4 Kondeszendenz und Verborgenheit in der Bildersprache Daß Hamann das sokratische Analogiedenken in seine christologischtypologischen Gesamtsicht integriert, unterstreicht er in den Wolken (1761), einer noch kryptischeren Schrift, mit der er auf die Rezension Chr. Ziegras reagiert, der die Somatischen Denkwürdigkeiten wegen ihrer unverständlichen Bildersprache als unnatürliche Mißgeburt eines Geisteskranken bezeichnet hatte24. Hamann erklärt, sein mimischer Stil sei kein Ergebnis eines verwirrten Geistes, sondern Ausdruck einer zeugnishaften 'Nachahmung' und 'Nachfolge' der Offenbarung. Auf die Ärgernis erregende Weise des Sokrates lockt er "seine Mitbürger aus den Labyrinthen ihrer gelehrten Sophisten zu einer Wahrheit die im Verborgenen liegt, zu einer heimlichen Weisheit" (Ν II 77:5-). Es geht darum, das demütige Bewußtsein der eigenen Ohnmacht und Unwissenheit bei den Lesern zu wecken und sie so zur gleichen Demut zu führen wie die Gottes selbst, der sich uns in anthropomorphen Offenbarungsgestalten schenkt. Die rätselhafte Antwort Apollos an Chairephon auf seine Frage, wer der weiseste aller Menschen sei, ist nach Ansicht Hamanns ein gutes Beispiel für die "Achtsamkeit und Entäusserung womit Apoll seine Anbeter zum Verstände seiner Geheimniße gängelte." (.Ν II 71:16-). Wenn sogar die Götter (Apollo, der Gott Israels) sich nicht schämen, 'unverständliche' Bildersprache zu benutzen, warum sollten wir es denn tun?25

24

25

Vgl. Ν II 87:2-. Siehe zu einer Ausgabe mit Anmerkungen: Seils, (Hrsg.), Entkleidung und Verklärung, 163-176. Eine andere Anspielung in den Sokratischen Denkwürdigkeiten auf die Verborgenheit der Offenbarung in der alltäglichen Bildersprache ist folgende Bemerkung über Sokrates Stil: "Die Kunstrichter waren mit seinen Anspielungen nicht zufrieden, und tadelten die Gleichnisse seines mündlichen Vortrages bald als zu weit hergeholt, bald als pöbelhaft. Alcibiades aber verglich seine Parabeln gewissen heiligen Bildern der Götter und Göttinnen, die man nach damaliger Mode in einem kleinen Gehäuse trug, auf denen nichts als die Gestalt eines ziegenfüßigen Satyrs zu sehen war." (Ν II 80:4-). Vgl. zu anderen Andeutungen der Knechtsgestalt der Offenbarung in den Sokratischen Denkwürdigkeiten: Ν II 62:7-, 68:15-, 69:15-, 82:8-.

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Der von Hamann zitierte Spruch des Heraklit: "oute legei oute kruptei, alla semainei"26 bringt seine Absicht genau zum Ausdruck: nicht das unverhüllte und direkte Reden ('legei'), und ebenso wenig kryptische Unverständlichkeit als Ziel an sich ('kruptei'), sondern bedeuten ('sümainei'): auf verhüllte Weise auf die in menschlichen Zeichen verborgene Wahrheit Gottes hinweisen. Die Bibel ist voller Bildersprache, und Hamann hat für eine solche Bildersprache eine Vorliebe, weil sie die Verbindung zwischen Analogie/Typologie und Kondeszendenz ermöglicht, eine Verbindung, die laut Auerbach für die frühchristliche und mittelalterliche Literatur kennzeichnend war27 und von Hamann auf ganz eigene Weise wieder aktualisiert wird.

4.2.5 Auswertung Nachdem es deutlich genug sein dürfte, daß Hamanns undurchsichtiger Stil auf sein Bewußtsein der Verborgenheit der Offenbarung zurückzuführen ist, bleibt die Frage bestehen, ob diese Art, dem Geheimnischarakter der biblischen Wahrheit Rechnung zu tragen, glücklich gewählt ist. Errichtet er so nicht Schranken, die der Skandalon-Charakter des Evangeliums nicht notwendigerweise impliziert? Macht er es seinen Gegnern nicht unnötigerweise schwer? Die Erfahrung lehrt uns leider, daß seine rhetorischen Methoden sogar Lesern, die durchaus die von ihm geforderte kongeniale Empfänglichkeit für das Geheimnis des Evangeliums besitzen, den Weg versperren. Ein Großteil der Schriften Hamanns ist nur für diejenigen verständlich, die sich in der Bibel und vielen anderen Schriften der Antike und Neuzeit sehr gut auskennen. Soviel spezifische Kenntnis kann man jedoch nicht voraussetzen, selbst nicht bei seinen gebildeten Zeitgenossen. Anscheinend schirmt Hamann aufgrund seiner eigenen Verletzlichkeit das Evangelium in seiner Verletzlichkeit durch die indirekte Methode so sehr ab, daß auch den eventuellen 'Freunden im Glauben' ein direktes Verständnis seines Werkes versperrt wird. Hier liegt eine wichtige Ursache für die Tragik Hamanns, der mehr als nötig der Unverstandene geblieben ist. Aber das hindert nicht, daß Stil und Inhalt seiner Schriften uns vor die wichtige Frage

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27

Vgl. Ν II 94:29-: "Gewiße Schriftsteller müßen währender Zeit sich nicht schämen die Dichtersprache so gut sie können nachzulallen, die am Hofe des Gottes zu Delphos eingeführt war, nach den bekannten Sprüchwort: oute legei oute kruptei, alla simainei." Vgl. Diels, H., Kranz, W., Die Fragmente der Vorsokratiker, Griechisch und Deutsch, Bd. 1, 1956', Fr. 22B93, S. 172: "Der Herr, dem das Orakel in Delphi gehört, sagt nichts und birgt nichts, sondern bedeutet." Vgl. §3.5.

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stellen, welche Hermeneutik und Rhetorik bei der Entfaltung des 'arcanum' befolgt werden müssen.

4.3 Hamanns Hume-Rezeption: sakramentaler Empirismus Im Kapitel 2 wurde festgestellt, daß das Denken des jungen Hamann durch verschiedene Einflüsse einen stark empiristischen und antirationalistischen Einschlag bekommen hatte. Wie er diese empiristische Einstellung in sein theologisches Denken nach seiner Bekehrung integrierte, kann zunächst einmal am besten anhand seiner Rezeption Humes verdeutlicht werden28. Bereits in den Jahren seiner Hofmeistertätigkeit setzte er sich mit Hume auseinander, und kurz nach seiner Rückkehr aus London 1759 widmete er sich wiederum Hume. Sein Leben lang war Hamann von den zwei Hauptmerkmalen des Humeschen Denkens, dem radikalen Empirismus und der grundlegenden Skepsis gegenüber der abstrahierenden und deduktiven Vernunft, fasziniert. Mit diesen beiden zusammenhängenden Auffassungen war Hamann nicht nur vor seiner Bekehrung, sondern auch danach vollkommen einverstanden. Allerdings war der bekehrte Hamann keinesfalls ein Skeptiker. Wie er dennoch zentrale Elemente der Philosophie Humes zur Unterbauung seiner eigenen Theologie aufzunehmen vermochte, zeigt sich bereits in den Sokratischen Denkwürdigkeiten. Hume kommt da in zwei wichtigen miteinander zusammenhängenden Abschnitten des zweiten Teils zur Sprache, die anhand der einleitenden Sätze erläutert werden sollen.

4.3.1 Glaube Wir fangen mit dem zweiten Absatz an, der mit dem folgenden Satz beginnt: "Unser eigen Daseyn und die Existentz aller Dinge ausser uns muß geglaubt und kann auf keine andere Art ausgemacht werden." (Ν II 73:21-)29.

24

29

Vgl. die folgenden Studien: Merlan, Ph., 'From Hume to Hamann', in: The personalist, 32 (1951), 11-18; Swain, Ch.W., 'Hamann and the philosophy of David Hume', in: Journal of the history of philosophy, 5 (1967), 343-351; Berlin, I., 'Hume and the sources of German anti-rationalism', in: Morice, G.P., (Hrsg.), David Hume, Bicentenary papers, Edinburgh 1977,93-116; Redmond, M., 'The Hamann-Hume connection', in: Religious studies, 23 (1987), 95-107. Vgl. Hamanns Brief vom 27-4-1787 an F.H. Jacobi: "Ich war von Hume voll, wie ich die Sokr. Denkw. schrieb, und darauf bezieht sich S. 49 meines Büchleins. Unser eigen Daseyn u die Existenz außer uns muß geglaubt und kann auf keine andere Art

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Hier knüpft Hamann an eine Stelle aus Humes Philosophical essays concerning human understanding (1748)30 an. Dort sagt Hume, daß die scheinbar selbstverständliche Auffassung, äußere Gegenstände bestünden auch, wenn wir sie nicht wahrnehmen, eine Frage des 'belief' sei31. Dieser 'belief' kommt durch instinktive Extrapolierungen zustande, die auf der (begrenzten) induktiven Grundlage sinnlicher Wahrnehmung vorgenommen werden. Durch einen "starken Naturinstinkt" nehmen wir an, daß diese Gegenstände auch bestehen, wenn wir sie nicht wahrnehmen. Ebenso ist die Auffassung, es gebe immergültige Naturgesetze, nichts weiter als ein instinktiver 'belief'. Wie integriert Hamann nun diese skeptische Darstellung des 'belief in sein Glaubensdenken? Er teilt Humes Meinung, daß sinnliche Erfahrung die einzige Grundlage unserer Erkenntnis sei, und akzeptiert die damit verbundenen skeptischen Schlußfolgerungen über die Vernunft. Da jedoch die empirische Wirklichkeit seiner Ansicht nach eine typologische Buchstabe-Geist Struktur hat, endet er nicht in der Skepsis. Bei Hume ist 'belief' eine instinktive Extrapolierung aufgrund eines empirischen Minimums, aber Hamanns 'belief 'nährt sich aus dem materiell-geistigen Reichtum des empirischen Maximums, wodurch der 'belief' zu einer typologischen Glaubensinduktion wird. Ohne den typologisch-analogischen Zusammenhang sind empirische Tatsachen bedeutunslose und nichtssagende Zeichen, in denen wir nichts anderes ννα/ir-nehmen als die Ohnmacht der neutralen Vernunft und der neutralen Erfahrung. Hamann schätzt Hume in seiner sokratischen Kritik der Vernunft. Es ist auch seine Lektüre Humes, die ihn zum Vergleich der Vernunft mit dem jüdischen Gesetz anregt; beide ent-

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bewiesen werden." (ZH VII 167:9-). Die seit 1758 An enquiry concerning human understanding heißen. Hume, D., Enquiries concerning the human understanding and concerning the principles of morals, L.A. Selby-Bigge (Hrsg.), Oxford 1951, 151. Diese Textstelle Humes finden wir auch wieder in Zweifel und Einfalle über eine vermischte Nachricht (1776), wenn Hamann dort wiederum seine Auffassung von Glaube und Vernunft darlegt (vgl. Ν III 190:16-, 191:21-). Vielleicht denkt Hamann auch an eine ähnliche Stelle in einem von ihm übersetzten Kapitel aus Humes Treatise. Vgl. Ν IV 365:23(= A treatise of human nature, L.A. Selby-Bigge (Hrsg.), Oxford 19782, 266). Hamanns Übersetzung erscheint 1771 in Königsbergsche gelehrte und politische Zeitungen, aber ist vielleicht schon viel eher entstanden. Vgl. Unger, Hamann und die Aufklärung, 932.

4.3 Hamanns Hume-Rezeption: sakramentaler Empirismus

119

hüllen unser Unvermögen und können so Zuchtmeister auf Christus werden32, aber Hume bleibt beim skeptischen Nullpunkt stecken33. Dadurch daß Hamann eine typologische Auffassung von der empirischen Wirklichkeit hat, erhält seine Auslegung des 'belief' einen ganz anderen, nicht-skeptischen Inhalt. Die Sicherheit des Glaubens, die keineswegs durch rationale Überlegungen gewonnen wird, geht auf Gottes Bedeutung zurück, die in sinnlichen Zeichen inkarniert ist. Hamanns Empirismus ist ein Empirismus der sakramentalen Wirklichkeit, was im Schlußsatz des hier besprochenen Abschnittes zum Ausdruck kommt: "Der Glaube ist kein Werk der Vernunft und kann daher auch keinem Angrif derselben unterliegen; weil Glauben so wenig durch Gründe geschieht als Schmecken und Sehen" (Ν II 74:2-)34. 'Schmecken und Sehen' ist eine Formulierung aus Psalm 34:9, die in die Abendmahlsliturgie aufgenommen wurde. Dort, beim Abendmahl, hat Hamann den wahren 'Empirismus' gelernt35. Eigentlich ist Hume noch zu wenig Empiriker, denn er hat keinen Sinn für die theozentrische Bedeutung, die sich im gegenständlich-leiblichen Zeichen verbirgt; er bleibt beim äußeren Zeichen stecken.

4.3.2 Empfindung Hauptthema der Sokratischen Denkwürdigkeiten ist die sokratische Unwissenheit, die ein 'typos' der Unwissenheit des Glaubens ist. Sokrates wußte, daß er nichts wußte, und war auf die Inspiration seines 'daimonion' angewiesen. Seine 'docta ignorantia' war im Grunde nicht die Summe einer skeptischen Argumentation, sondern eine existentielle Grunderfahrung. Darauf weist Hamann im einleitenden Satz des anderen Abschnitts hin, der sich auf Hume bezieht: "Die Unwissenheit des Sokrates war Empfindung."(N II

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M

33

Vgl. Ν II 108:19-, Ν III 279:17-; ZH I 355:36-, 379:30-; Büchsei, E., 'Paulinische Denkfiguren in Hamanns Aufklärungskritik', in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie, 30 (1988) (269-284), 269-272. Vgl. auch weiter unten § 7.3.4. Darin unterscheidet er sich von Sokrates, dessen Bewußtsein der eigenen Unwissenheit ihn für die Eingebungen seines 'Genius' empfänglich machte. Vgl. Ν I 92:1-, 311:14-, Ν II 207:2-, Ν III 32:13-, ZH I 130:14-, 384:30-, 409:21-; ZH IV 6:4-; und ZH V, 267:32-: "Schmecken und Sehen wie freundlich der Herr ist, übertrifft alle Beweise ist der beste Dank, Schild und Lohn, den wir dem Geber bringen können." Hegel, op.cit., 316: "Was Hamann seinen Geschmack an Zeichen nennt, ist daß ihm alles gegenständlich Vorhandene seiner eigenen inneren und äußeren Zustände wie der Geschichte und der Lehrsätze nur gilt, insofern es vom Geiste gefaßt, zu Geistigem geschaffen wird".

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73:10). Bei 'Empfindung' denkt Hamann hier an einen Teil aus Humes Essays, wo 'belief von 'fiction' unterschieden wird36. Der Unterschied zwischen beiden liegt darin, daß es bei 'belief um ein 'Gefühl' oder eine 'Empfindung' geht, die bei 'fiction' fehlt. Durch dieses Gefühl der Evidenz steht 'belief' epistemisch auf einer höheren Ebene als 'fiction', oder ins Deutsche übersetzt: 'Glaube' kennt eine Form der 'Empfindung', die die 'Einbildung' nicht hat. Die Glaubenssicherheit geht also auf eine Evidenzerfahrung zurück, und von derselben Art war Sokrates' Bewußtsein seiner eigenen Unwissenheit. Aber, fragt Hamann sich dann, wenn 'belief' durch ein 'feeling' der Evidenz gekennzeichnet wird, warum hat Hume dann doch noch so viele Beweise für seine und unsere Unwissenheit nötig? Ist Hume im Grunde seines Herzens also doch noch ein Rationalist? Jedenfalls stellt Hume 'belief' also nicht nur der ohnmächtigen Vernunft, sondern auch der 'imagination' gegenüber. Hamann bezieht sich darauf, wenn er weiter sagt, daß auch die poetische 'Einbildungskraft' den Glauben nicht schaffen könne. "Der Philosoph [mit seiner Vernunft] ist dem Gesetz der Nachahmung so gut unterworfen als der Poet. Die Einbildungskraft, wäre sie ein Sonnenpferd [von Apollo] und hätte Flügel der Morgenröthe, kann also keine Schöpferinn des Glaubens seyn." (Ν II 74:9-). Mit anderen Worten: Die Vernunft und die poetische Einbildungskraft sind beide auf die 'Nachahmung' der Offenbarungswirklichkeit angewiesen37. Hamanns Ausgangspunkt ist also nicht der Gegensatz zwischen Gefühl und Vernunft, wie lange Zeit angenommen wurde38. Er versucht, beide, genau wie die anderen menschlichen Fähigkeiten, im Nährboden des Glaubens wurzeln zu lassen. Fassen wir diesen Paragraphen zusammen, dann zeigt sich, daß nach Hamanns Ansicht der biblische Glaube den eigentlichen und unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit liefert39. Nur durch den Glauben gerät die Wirklichkeit in die richtige Perspektive und erhalten die Dinge ihre eigentliche Bedeutung. Außerhalb des Glaubens zerfallen Natur und Geschichte zu nichtssagenden, toten Buchstaben. Ohne den Glauben verkehren sich alle

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Hume, Enquiries, 47-50. Als Hamann in einem Brief an Lindner eine Zusammenfassung der Somatischen Denkwürdigkeiten machte, schrieb er über diese hier erörterte Stelle: "Glauben geschieht eben so wenig durch Gründe als Schmecken und Sehen. Phantasie ist nicht Glaube." (ZH I 409:21-). 'Phantasie' ist hier die direkte Übersetzung von Humes 'fiction'. Vgl. auch: ZH I 428:26-, und eine Stelle aus dem von Hamann übersetzten Kapitel von Humes Treatise: Ν IV 366:19- (= A treatise of human nature, 267). Vor allem in der Interpretation R. Ungers und vieler anderer von ihm abhängigen Hamanninterpreten. Metzke, J.G. Hamanns Stellung, 72: "Der Glaube stellt die ursprünglichste Relation zur Wirklichkeit dar".

4.3 Hamanns Hume-Rezeption: sakramentaler Empirismus

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Fähigkeiten des Menschen in leblose Werkzeuge seiner Autonomiebestrebungen. Zur vollen Entfaltung gelangen sie lediglich, wenn sie vom Boden der sinnlich-geistigen Glaubenswirklichkeit genährt werden. Es bleibt allerdings die Frage, ob Hamann genügend erkannt hat, daß letztere Möglichkeit auch für die bekehrte Vernunft gilt, denn der 'mortificatio' der Vernunft aufgrund der Philosophie Humes folgt kaum eine 'vivificatio'.

4.4 Auf dem Wege zur Sprache In Hamanns Verarbeitung von Humes Empirismus haben wir ein bejahendes und ein kritisches Element festgestellt. Er teilt die Meinung Humes, daß wir für all unsere Erkenntnis auf sinnliche Wahrnehmung angewiesen sind. Gleichzeitig kritisiert er den positivistischen Charakter von Humes Empirismus, als ob die empirischen Tatsachen unabhängig von der Bedeutung, die sie zum Ausdruck bringen, wahrgenommen werden könnten. Empirische Tatsachen haben zeichenhaften Charakter, stellen eine unverbrüchliche Einheit von Zeichen und Bedeutung dar. Diese dynamische Einheit versucht Hamann von der Dialektik von Buchstabe und Geist, Leib und Seele, Gesetz und Gnade her zu verstehen. Diese Begriffspaare entnimmt er der biblischen Anthropologie und Hermeneutik. Auf diesem Weg wächst bei ihm die Einsicht, daß die gesamte Wirklichkeit Sprachcharakter besitzt, eine Logosstruktur, die auf das Wort Gottes zurückgeht. Die klassisch christliche Auffassung, daß die Schrift der Schlüssel zum Verständnis der gesamten Wirklichkeit sei, impliziert nach Hamanns Meinung, daß wir von der biblischen Offenbarung her einen Einblick in das sakramentale Geheimnis aller Sprache in Natur und Geschichte gewinnen können. Bereits vor seiner Bekehrung hatte Hamann ein großes philologisches Interesse, wie es aus seinen damaligen Notizbüchern hervorgeht. Der Tradition der Philologie- und Wissenschaftsauffassung der Renaissance verhaftet, war er bereits mit der zentralen Bedeutung der Sprache vertraut. Nach seiner Bekehrungserfahrung, die eine intensive Begegnung mit dem Wort der Schrift war, konzentrierte sich sein Interesse in neuer Weise auf die Sprache. Nach seiner Londoner Zeit versuchte er, seine neue Wirklichkeitserfahrung in eine allgemeine, umfassende Hermeneutik zu übertragen, die sich aus der 'besonderen* Hermeneutik der Schrift ergab. Nach London wurde Hamann

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'Philologe' im mehrfachen Sinne dieses Wortes: seine philologischen Kenntnisse und Studien wurden nun von der Liebe zum Wort motiviert40. Die einzelnen Elemente seines christianisierten Philologieverständnisses hat Hamann treffend im Titel seiner Kreuzzüge des Philologen (1762) zusammengefaßt, einem Sammelband, von dem die meisten Texte vorher bereits einzeln erschienen waren41. Ehe wir auf diesen Titel und auf die wichtigste Schrift dieses Bandes, Aesthetica in nuce, näher eingehen, besprechen wir zunächst drei Texte - von denen zwei in die Kreuzzüge aufgenommen sind - aus denen hervorgeht, daß Hamann sich immer mehr auf das Geheimnis der Sprache konzentriert.

4.4.1 Die Augustinuszitate bei Chladenius Die Preußische Akademie der Wissenschaften veranstaltete für das Jahr 1759 ein Preisausschreiben über den "gegenseitigen Einfluß der Sprache auf die Meinungen, und der Meinungen auf die Sprache". Den Preis erhielt Johann David Michaelis42 (1771-1791), Professorin Göttingen und berühmter Bibelexeget und Orientalist, der in den Kreuzzügen Hamanns wichtigster Gegner ist. Dieses Preisausschreiben war auch für Hamann Anlaß, sich mit dem Wesen der Sprache auseinanderzusetzen. Ein erstes Anzeichen dafür finden wir in einem Brief vom 1. Juni 1759 an Lindner, in dem er von einigen Zitaten aus dem Buch XII der Confessiones*3 des Augustinus berichtet, auf die er in den Opuscula Academica (1750) von J.M. Chladenius gestoßen war und die mit ein Anlaß für "einige allgemeine Betrachtungen über die Menschliche Sprache überhaupt" (ZH I 336:21-) waren. Im Zusammenhang mit der Auslegung der ersten Genesisverse, von denen viele Interpretationen bestanden, sagt Augustinus an den betreffenden Stellen, daß es oft unmöglich sei, mit Sicherheit festzustellen, was Moses selbst damit gemeint habe. In dem Falle solle man sich nicht darüber strei-

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Ν II 263:50-: "Erstlich deutet sein Name einen Liebhaber des Lebendigen, nachdrücklichen, zweyschneidigen, durchdringenden, markscheidenden und kritischen Worts an". Zunächst in den Wöchentlichen Königsbergischen Frag- und Anzeigungsnachrichten und danach noch als selbständige Ausgabe. Michaelis, J.D., Beantwortung der Frage von dem Einfluß der Meinungen in die Sprache und der Sprache in die Meinungen welche den, von der Königlichen Academie der Wissenschaften für das Jahr 1759, gesetzten Preis erhalten hat, in: Dissertation qui a remporti le prix proposi par Γ Academie Royale des sciences et belles lettres de Prusse, sur Γ influence riciproque du langage sur les opinions, et des opinions sur le langage. Avec les pieces qui ont concouru, ä Berlin MDCCLX, 1-84. Cap. XXVI und XXXI.

4.4 Auf dem Wege zur Sprache

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ten, und es könnten verschiedene wahre Auslegungen, die der einen Wahrheit Gottes alle gerecht werden, nebeneinander akzeptiert werden. Entscheidend sei letztlich die persönliche Beziehung zur Wahrheit, die Liebe zur Wahrheit; ihr dürfe durch intellektuelle Streitereien über die historisch richtige Auslegung kein Abbruch getan werden. Der historische Buchstabe kann also mehrdeutiger Spiegel verschiedener Aspekte der einen geistigen Wahrheit werden. Wenn er selbst Moses gewesen wäre, sagt Augustinus, hätte er auch gewünscht, so (vieldeutig) schreiben zu können, daß jeder einfache oder gelehrte Leser seine eigenen Auffassungen - sofern sie richtig sind - darin erkennen könnte. Augustinus lehnt also eine eindeutige Bindung von Zeichen und Bedeutung, Buchstabe und Geist ab, was zugleich bedeutet, daß die vom Verfasser beabsichtigte Bedeutung nicht die einzig mögliche und einzig wahre ist. Entscheidend bei der Auslegung eines Textes ist, ob der Ausleger selbst durch die 'Caritas' eine persönliche Beziehung zur Wahrheit hat. Hamann ist von diesem hermeneutischen Verständnis des Augustinus angenehm überrascht, und obwohl er die Preisfrage der Akademie nicht ausdrücklich erwähnt, läßt seine Wortwahl darauf schließen, daß er Augustinus' Auffassung als Antwort darauf ansieht. Die Akademie fragt nach dem Verhältnis von Sprache und Meinungen, und Hamann teilt Augustinus' Auffassung, daß dieses Verhältnis nicht eindeutig festgelegt werden könne und dürfe. Ein bestimmter Text kann unterschiedlich ausgelegt werden, während die verschiedenen Auslegungen ('Meinungen') Aspekte der einen Wahrheit Gottes sind. Umgekehrt kann die eine Wahrheit in verschiedenen Meinungen, Sprachen und Schreibstilen zum Ausdruck kommen (und sich verhüllen). Durch diese Auffassung des Augustinus unterstützt, wehrt Hamann sich gegen zeitgenössische Gelehrte wie Michaelis, die die typologische Auslegung der Schrift stark einschränken wollen und eine eindeutige historischkritische Exegese erstreben. Zugleich betont er stärker als Augustinus in den Confessiones den Verborgenheitscharakter der biblischen Offenbarung, denn die Vieldeutigkeit der (Offenbarungs)Sprache muß zugleich dazu beitragen, daß die Perlen nicht vor die Schweine geworfen werden. Augustinus' Wunsch, von allen verstanden zu werden, muß nach Hamanns Auffassung verbunden sein mit dem Auftrag, so verhüllt zu schreiben, daß die Wahrheit nicht mißbraucht werden kann. Es ist besser, überhaupt nicht, als falsch verstanden zu werden.

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4.4.2 'Versuch über eine Akademische Frage' Das Preisausschreiben der Preußischen Akademie gewann Michaelis, der sich in seiner Beantwortung vor allem auf den zweiten Teil der Frage richtete: Wie kann die Sprache einen positiven oder negativen Einfluß auf wahre und unwahre Meinungen haben? Ein Beispiel für positiven Einfluß ist der Gebrauch der Etymologie bei der Ermittlung der richtigen Wortbedeutungen44. Ein Beispiel für die Irreführung durch die Sprache findet Michaelis bei Augustinus, der durch seine Unkenntnis der hebräischen Redensarten die Stelle über Gottes Verstockung des Pharao falsch verstand. Die Folgen waren verhängnisvoll: Zusammen mit Mohammed wurde Augustinus der Begründer der deterministischen Lehre der doppelten Prädestination45. Michaelis' Beantwortung wird für Hamann zum Anlaß, selbst etwas über das Preisausschreiben zu veröffentlichen im Versuch über eine akademische Frage (1760). Er ist der Ansicht, Michaelis hätte die Frage erst näher erläutern müssen, ehe er eine Antwort formulierte; denn was ist mit 'opinion' und was mit 'langage' gemeint? Hamanns Versuch ist vor allem eine Bemühung, die Frage der Akademie weiter zu vertiefen und dadurch die Richtung einer möglichen Antwort anzugeben. Indirekt wendet er sich damit gegen Michaelis Beantwortung46. Das Wichtigste im Versuch ist die Art, wie Hamann die gegenseitige Beziehung von Meinungen und Sprache bestimmt. Michaelis strebt nach objektiv wahren und unwahren Auffassungen und ihrem eindeutigen Ausdruck in der Sprache. Hamann jedoch führt die Beziehung von Meinungen und Sprache auf das dynamische Verhältnis von Seele und Leib zurück47.

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Michaelis, Beantwortung, 13 ff. Michaelis, Beantwortung, 64 ff. Hamann nimmt diese Kriük an Augustinus in Aesthetica in nuce, Ν II 212 f. aufs Korn. Vgl. ZH II 23:5-, 26:31-. Ν II 121:23-: "Eine Verhältnis und Beziehung zwischen dem Erkenntnisvermögen unserer Seele, und dem Bezeichnungsvermögen ihres Leibes ist eine ziemlich geläufige Wahrnehmung, über deren Beschaffenheit und Gränzen aber noch wenig versucht worden." Ν II 125:12-: "Da der Begrif von dem, was man unter Sprache versteht, so vielbedeutend ist; so wäre es am besten denselben nach der Absicht zu bestimmen, als das Mittel unsere Gedanken mitzutheilen und anderer Gedanken zu verstehen. Das Verhältnis der Sprache zu dieser doppelten Absicht würde also die Hauptlehre seyn, aus welcher die Erscheinungen von dem wechselsweisen Einfluß der Meynungen und Sprache so wohl erklärt als zum voraus angegeben werden könnten." Michaelis vergleicht auch selbst das Verhältnis von Sprachzeichen und Bedeutung mit der Beziehung von Leib und Seele. Vgl.: Michaelis, Beantwortung, 66 (bezüglich Augustinus): " lateinische Worte waren der Leib, in den eine Punische Denckungsart gefahren war." Vgl.auch: Michaelis, J.D., Entwurf der typischen Gottesgelartheit (1753), Zweyte und vermehrte Auflage, Göttingen/Bremen 1763, Cap. 1, 8 f.

4.4 Auf dem Wege zur Sprache

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Voller Humor bemerkt er, daß so gesehen die Formulierung der Preisfrage über den 'Einfluß' zwischen beiden48 bei Anhängern von Leibniz' 'harmonia praestabilita' oder Skeptikern wie Hume, die nicht an die Kausalität glauben, keinen Gefallen finden werde49. Zu einer eigenen detaillierten Darlegung des Verhältnisses von Seele und Leib einerseits und Meinung und Sprache anderseits gelangt Hamann nicht, seine Absichten sind allerdings deutlich. Erstens bringt er den unverbrüchlichen Zusammenhang zwischen Meinung und Sprache, Bedeutung und Zeichen ans Licht, indem er die Fragestellung auf die Verbindung von Seele und Leib überträgt. Meinungen können lediglich mit Hilfe von sinnlich materiellen Sprachzeichen geäußert ('offenbart') und mitgeteilt werden. Die Sprache ist der Leib der Bedeutung. Zweitens werden die Begriffe 'Wahrheit', 'Bedeutung' und 'Sprache' durch ihre Rückführung auf das Verhältnis von Seele und Leib personalisiert und dynamisiert. Für Hamann ist Wahrheit immer persönlich zugeeignete oder abgelehnte Wahrheit. Bedeutung wird lediglich durch kongeniale Deutung materieller Zeichen verstanden, und Sprache und Bedeutung haben ihren Ursprung und ihr Ziel in Personen, die Bedeutung verleihen und erhalten. In einem schönen Abschnitt aus einem eher geschriebenen Brief an Lindner, in dem er ebenfalls auf das Preisausschreiben anspielt, läßt er viel deutlicher als im Versuch sehen, welche theologische Hermeneutik er vor Augen hat, wenn er das Wesen der Sprache von der Verbindung zwischen Leib und Seele aus bestimmt50. Er schreibt dort, daß unsere unsichtbare Seele sich durch sichtbare und sinnliche Zeichen offenbare, was eine gewisse Demut unseres Denkens erfordere. Welch ein Beweis der Allmacht und Demut Gottes ist es jedoch, daß sogar er seine Geheimnisse in der Knechts-

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Hamann denkt an den 'influxus physicus'. Vgl. Ν II 122:3-. ZH I 393:28-: "Das unsichtbare Wesen unserer Seele offenbart sich durch Worte - wie die Schöpfung eine Rede ist, deren Schnur von einem Ende des Himmels biß zum andern sich erstreckt. Zwischen einer Idie unserer Seele und einem Schall, der durch den Mund hervorgebracht wird ist eben die Entfernung als zwischen Geist und Leib, Himmel und Erde. Ist es nicht eine Erniedrigung für unsere Gedanken, daß sie nicht anders sichtbar gleichsam werden können, als in der groben Einkleidung willkührlicher Zeichen und was für ein Beweiß Göttlicher Allmacht - und Demuth - daß er die Tiefen seiner Geheimniße, die Schätze seiner Weisheit in so kauderwelsche, verworrene und Knechtsgestalt an sich habende Zungen der Menschlichen Begriffe einzuhauchen vermocht und gewollt. Freylich schuf er uns nach Seinem Bilde - weil wir dies verloren, nahm er unser eigen Bild an - Fleisch und Blut, wie die Kinder haben, lernte weinen - lallen - reden - lesen - dichten wie ein wahrer Menschensohn; ahmte uns nach, um uns zu Seiner Nachahmung aufzumuntern."

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gestalt unserer irdischen und menschlichen Begriffe offenbart! In Christus ist er Mensch geworden, ahmte unser Verhalten und unsere Sprache nach, um uns so zu seiner Nachahmung zu ermuntern. Vom Kondeszendenzmotiv her sieht Hamann also einen typologischen Zusammenhang zwischen der demütigen Inkarnation Gottes (in allen Formen seiner Offenbarung) und der demütig machenden 'Inkarnation' der Seele im Leib und der ideellen Bedeutung in sinnlicher Sprache51. Dies bedeutet, daß die Art, wie der Mensch als Geschöpf Bedeutung verleiht und empfängt, eine typologische Vorbereitung der Offenbarung in Christus ist, was mit dem wichtigen Gedanken in den Biblischen Betrachtungen übereinstimmt, daß die Schöpfung auf die Offenbarung in Christus hin angelegt ist, und beide Ausdruck der Kondeszendenz Gottes sind. Um auf Hamanns Versuch zurückzukommen: wichtig darin ist die implizite Kritik an Michaelis und seinen Geistesverwandten, wenn er behauptet, daß vollständige Kenntnis des materiell-leiblichen Aspektes einer Sprache bei weitem noch keine Garantie für ein richtiges Verständnis des Geistes, des 'Genies' oder Naturells dieser Sprache sei. Damit relativiert Hamann das wachsende Interesse an den Orientalia unter den Bibelexegeten. Sprachwissenschaftliche, archeologische, historische, botanische, völkerkundliche, religionsgeschichtliche und ganz gleich welche wissenschaftlichen Kenntnisse über die altorientalischen Völker bedeuten nicht automatisch ein besseres Verständnis des Geistes der Schrift. Hingegen ist es möglich, daß jemand mit wenig wissenschaftlichen Kenntnissen doch das 'Genie' der Schrift zu verstehen vermag52. Eine Zusammenfasung seiner theologisch-hermeneutischen Gedanken findet Hamann in den Worten von 1. Kor 13:8, daß Erkenntnis und Weissagungen aufhören, aber die Liebe niemals vergeht. Mit Augustinus sagt Hamann so, daß kongeniales Verständnis der Schrift primär das Licht der Liebe (der 'Caritas') erfordert.

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Dieser Vergleich ist bereits in den Londoner Schriften zu Finden. Vgl. § 3.4.6: Die vertikale Struktur. Ν II 123:14-: "Der Ehrentitel eines Sprachmeisters und Polyhistors ist entbehrlich für den, der das Glück haben soll das Genie ihrer Profession [das heißt: kongeniale Textinterpretation] zu treffen." Vgl. hierzu: Hoffmann, Johann Georg Hamanns Philologie, 174.

4.4 Auf dem Wege zur Sprache

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4.4.3 'Vermischte Anmerkungen' Die Vermischten Anmerkungen über die Wortfügung in der französischen Sprache (1760) knüpfen bei der alten Streitfrage über die Vorteile der französischen Sprache gegenüber anderen Sprachen, vor allem dem Lateinischen, an53. Ein wichtiger Diskussionspunkt betraf die Inversion: die Möglichkeit, die Wortreihenfolge zu ändern, ohne daß der Satz eine andere grammmatische Struktur erhält, was im Lateinischen in viel stärkerem Maße möglich ist als im Französischen. In seinen Vermischten Anmerkungen bezieht Hamann die deutsche Sprache in diese Frage mit ein und weist darauf hin, daß auch das Deutsche viel mehr Möglichkeiten für die Inversion bietet als das Französische54. Auf seine Ausführungen hierzu braucht hier nicht weiter eingegangen zu werden55. Jedoch sollte noch etwas über die Einleitung und den Schluß der Schrift gesagt werden, in der Hamann auf die große Bedeutung einer wirklichen Einsicht 'in die Tiefen der Sprache' (vgl. Ν II 130:11) hinweist. Eine Bemerkung von Leibniz aufgreifend, weist Hamann auf die Verwandtschaft von Geld und Sprache ('Wortwechsel') hin56. Geld spielt eine große Rolle im Staat Friedrichs des Großen; es bildet die Grundlage der Gesellschaft. Das geistige Fundament der Gesellschaft liegt jedoch im Geheinmnis der Sprache verborgen. Darum nannte Luther die Theologie, die höchste der Wissenschaften, "eine Grammatick zur Sprache der heiligen Schrift"57 (Ν II 129:8-). Leider ist die Unwissenheit der Gelehrten über die Tiefen der Sprache sehr groß, was vor allem für Philologen58 beschämend ist. In ihrer Blindheit für das sakramentale Geheimnis der Sprache sind sie von der Quelle des Lebens, Christus, dem Wort des Lebens, abgeschnitten. Diese christologische Zuspitzung des Sprachinteresses Hamanns klingt im Schlußabschnitt der Ver53

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Zu einer Übersicht über diesen Sprachkampf seit dem 16. Jahrhundert vgl. Unger, R., Hamanns Sprachtheorie im Zusammenhange seines Denkens, Grundlegung zu einer Würdigung der geistesgeschichtlichen Stellung des Magus in Norden, München 1905, 189 ff. Vgl. Ν II 130:31-. Vgl. Unger, Sprachtheorie, 189-196; Blackall, op.cit., 444,454 (Herder zur Inversion). Vgl. hierzu: Knoll, R., 'Wort und Ware, Geist und Geld', in: Johann Georg Hamann, Insel Almanach auf das Jahr 1988, Herausgegeben von O. Bayer, B. Gajek, J. Simon, Frankfurt am Main 1987, 128-137. Diese Äußerung Luthers fand Hamann in Gnomon Novi Testamenti (1742) von J.A. Bengel. ZH II 10:5-: "In der Vorrede führt der Autor einen sehr merkwürdigen Ausspruch unsers Luthers an, der von dem philosophischen Geiste dieses Mannes ein Zeugnis giebt: Nil aliud esse Theologiam, nisi Grammaticam in Spiritus sancti verbis occupatam. Diese Erklärung ist erhaben und nur dem hohen Begriff der wahren Gottesgelehrsamkeit adaequat." Vgl. Ernst, Hamann und Bengel, 24, 74-76. Ν II 130:16-: " die Banquiers der gelehrten Republick".

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mischten Anmerkungen an, wenn er sich gegen rationalistische Versuche, die Sprache zu säubern und zu uniformieren, wehrt59. Gelehrte Philologen, meint Hamann, gebe es im 'Jahrhundert der Aufklärung' genug, aber ihre Weisheit sei nur theoretische Kenntnis des 'reinen Buchstabens' und nicht des 'Geistes' der Sprache. Nur einmal in vielen Jahrhunderten schenke Gott aller Wissenschaft und Weisheit ein 'Gottesbild' in der Gestalt eines 'Menschenbildes', das als das fleischgewordene Wort die Sprache erneuert und bereichert60.

4.4.4 'Kreuzzüge des Philologen' Der Titel Im April 1762 erscheint Hamanns Band Kreuzäge des Philologen, ein Sammelband kleiner Schriften, von denen die meisten bereits früher einzeln veröffentlicht waren. Neu darin ist die Aesthetica in Nuce, die Hamanns bekannteste Schrift werden sollte61. Die Kreuzzüge sind ein hermeneutisches Manifest, in dem Hamann sich vor allem gegen die hermeneutischen Erkenntnisse der modernen historisch-kritischen Forschung wendet, die stark im Aufkommen war und deren wichtigster deutscher Vertreter damals Michaelis war. Wie häufig bei Hamann gibt auch der Titel Kreuzzüge des Philologen über die Art dieses Sammelbandes weitgehend Aufschluß. Auf die Mehrdeutigkeit des Begriffs 'Philologe' wurde bereits hingewiesen. Der Begriff 'Kreuzzüge' enthält die folgenden Verweise:

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Gegen solche Versuche der Sprachreinigung wehrt Hamann sich vor allem in der Neuen Apologie des Buchstabens h (1773) und in den Zwey Scherflein zur neuesten Deutschen Litteratur (1780). Ν II 136:3-: "Die Reinigkeit einer Sprache entzieht ihrem Reichthum; eine gar zu gefesselte Richtigkeit, ihrer Stärke und Mannheit. - In einer so grossen Stadt, als Paris ist, liessen sich jährlich, ohne Aufwand, vierzig gelehrte Männer aufbringen, die unfehlbar verstehen, was in ihrer Muttersprache lauter und artig, und zum Monopol dieses Trödelkrams nöthig ist. - Einmal aber in Jahrhunderten geschieht es, daß ein Geschenk der Pallas, - ein Menschenbild, - vom Himmel fällt, bevollmächtigt, den öffentlichen Schatz einer Sprache zu verwalten, oder zu vermehren." Textausgaben mit Kommentar oder Anmerkungen sind: Seils, (Hrsg.), Entkleidung und Verklärung, 315-354; Johann Georg Hamann, Sokratische Denkwürdigkeiten, Aesthetica in nuce, mit einem Kommentar herausgegeben von S.-A. J0rgensen, Stuttgart 1968, 75-147; Lumpp, H.-M., Philologia crucis, Zu Johann Georg Hamanns Auffassung von der Dichtkunst, Tübingen 1970; Sturm und Drang, Kritische Schriften, 119-145,837-841; Nicolai, H., (Hrsg.), Sturm und Drang, Dichtungen und theoretische Texte, Mit Anmerkungen von E. Raabe und U. Schweikert, Darmstadt 1971, 2 Bde, I, 7-30, II, 1742-1755.

4.4 Auf dem Wege zur Sprache

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Zunächst wird damit der polemische Charakter der gesammelten Schriften angedeutet: Es sind Kreuzzüge gegen den Geist der Zeit, verbreitet von Michaelis, aber auch von Mendelssohn und Lessing, die gemeinsam mit Nicolai die Verfasser der tonangebenden Briefe die neueste Litteratur betreffend sind. Voller Selbstspott weiß Hamann den möglichen Eindruck einer zu pathetischen Kreuzzugsmentalität zu vermeiden, indem er den Titel mit einer ostpreußischen Legende in Zusammenhang bringt62. Darin wird erzählt, daß die labyrinthartigen prähistorischen Ruinen, die sich an verschiedenen Stellen um die Ostsee herum befinden, von Deutschen Ordensrittern angelegt seien. Sie hätten dort auf symbolische Weise Kreuzzüge unternommen, um so der Pflicht wirklicher Kreuzzüge nach Jerusalem enthoben zu sein. Hamann will damit sagen, die Kreuzzüge seien auch ein solch fauler, labyrinthartiger Kreuzzug, ein Kreuzzug eines törichten Don Quichote63, der nichts sei im Vergleich zu den großangelegten Unternehmen eines Michaelis. Eins dieser Unternehmen war eine große dänische Expedition nach Südarabien, die Michaelis zum großen Teil vorbereitet hatte. Ziel dieser Expedition war die wissenschaftliche Erforschung des archäologischen, geographischen, sprachlichen und sonstigen Hintergrunds der Bibel: also eine Art wissenschaftlicher 'Kreuzzug' im Dienst der modernen Bibelwissenschaft. Sehr wichtig für Hamann ist natürlich, daß er sein Werk im Zeichen des Kreuzes schreibt. Mit Bezugnahme auf Luthers 'Theologia crucis' bezeichnet er sich selbst als 'Philologus crucis'64. In den Kreuzzügen will Hamann die rationalistische Exegese seiner Zeit mit der Ärgernis erregenden Kreuzesgestalt der Kondeszendenz Gottes in Geschichte und Schrift konfrontieren65. 'Aesthetica in nuce' Kern der Kreuzzüge ist die Aesthetica in nuce, die die Elemente der anderen Schriften des Sammelbandes wieder aufgreift und integriert66. 42 63 M

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Vgl. ZH II 195:1-, 202:20-, Ν II 267:30-. Mit dem Hamann sich gerne verglich. Vgl. Ν III 19:28-. Vgl. Hamburgische Nachricht, Ν II 249:30-. Ist der Anfang des Vorwortes der Kreuzzüge, "Dem Leser unter der Rose" (Ν II 115:1), eine Anspielung auf die Rose und das Kreuz im Wappen Luthers? Vgl. § 5.6.1. Ν II 263:53-: " hiernächst funckelt im Panier seiner fliegenden Sammlung jenes Zeichen des Ärgernisses und der Thorheit, in welchem der kleinste Kunstrichter mit Constantin überwindt". Der Titel ist dem Werk Die ganze Ästhetik in einer Nuß oder Neologisches Wörterbuch (1754) van Chr.O. von Schönaich, einer Gottschedschen Satire auf Klopstock, entnommen. Abgesehen davon, daß am Ende der Aesthetica in nuce der hebraisierende Klopstock einigermaßen gegen die rationalistische Kunstkritik verteidigt wird, bestehen keine weiteren inhaltlichen Verbindungen mit dem Werk von Schönaichs.

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Kapitel 4 Gegen die natürliche Theologie des 'toten Buchstabens'

Der Begriff 4 Aesthetica', im Sinne von 4Kunsttheorie', war vom Anhänger Wolffs, A.G. Baumgarten ( 1 7 1 4 - 1 7 6 2 ) , geprägt worden, der als erster versuchte, eine selbständige philosophische Kunsttheorie zu entwickeln67. In seiner Aesthetica in nuce liefert Hamann jedoch keine Kunsttheorie. Allerdings ordnet er die 'Aesthetica' als Kunsttheorie in einen weiteren hermeneutischen Rahmen ein und räumt dabei - noch viel nachdrücklicher als Baumgarten - der sinnlichen Erfahrung einen großen Platz ein. In der Aesthetica in nuce wird häufig Bezug genommen auf De sacra poesi Hebraeorum ( 1 7 5 3 ) , ein einflußreiches Werk des englischen Bischofs Robert Lowth68 ( 1 7 1 0 - 1 7 8 7 ) . Es wurde in Deutschland durch die Ausgabe von Michaelis bekannt, der eine Einleitung und kritische Anmerkungen hinzufügte69. Lowth liefert in seinem Buch eine ausführliche Besprechung des Alten Testaments anhand ästhetischer Kriterien70, also eine Art Ästhetik der hebräischen Poesie im Alten Testament. In seiner Aesthetica in nuce liefert auch Hamann eine 'aesthetica' des Alten Testaments und legt ebenfalls den Nachdruck auf die zentrale Stellung der Poesie. Es geht ihm dabei allerdings nicht um eine Kunsttheorie oder eine ästhetische Philologie im engeren Sinn, sondern um eine theologische Hermeneutik71, nicht nur der Schrift, sondern auch der Profanliteratur und der Natur und Geschichte. Er ist auf der Suche nach einer 'aesthetica' der ganzen Wirklichkeit als Offenbarungsbereich Gottes. Aufgrund von Genesis 1-3 formuliert er seine christologisch zugespitzte Schöpfungslehre, die den hermeneutischen

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'Aesthetica' im weiteren Sinne definiert Baumgarten als 'scientia cognitionis sensitivae'. Vgl. Aesthetica § 1, in: Schweizer, H.R., Ästhetik als Philosophie der sinnlichen Erkenntnis. Eine Interpretation der Aesthetica A.G. Baumgartens mit teilweiser Wiedergabe des Lateinischen Textes und Deutscher Übersetzung, Basel/Stuttgart 1973, 106. 'Aesthetica* als Kunsttheorie ('theoria liberalium artium') ist die 'scientia perfectionis cognitionis sensitivae'. Vgl. Aesthetica § 14, in: Schweizer, op.cit., 114. " Vgl. Dyck, J., Athen und Jerusalem, Die Tradition der argumentativen Verknüpfung von Bibel und Poesie im 17. und 18. Jahrhundert, München 1977, 99-101; Kraus, H.-J., Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 19823, 119; Hoffmann, Johann Georg Hamanns Philologie, 23 f. 69 Das Werk von Lowth ist einer der Faktoren, die J.G. Herder dazu veranlassen, sein Werk Vom Geist der Ebräischen Poesie (1782-'83) zu schreiben. Vgl. zum Verhältnis Lowth - Herder: Dyck, op.cit., 101 f.; Kraus, op.cit., 119 f.; Hoffmann, Johann Georg Hamanns Philologie, 23 f. 70 Damit stimuliert er die Verbindung von Philologie und Kunsttheorie, die - in der Person des Kunstrichters - in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts sehr wichtig wird. 71 Vgl. Bräutigam, op.cit., 79-97, und vor allem: J0rgensen, S.-A., 'Hamanns hermeneutische Grundsätze', in: Toellner, R., (Hrsg.), Aufklärung und Humanismus, Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, Bd. VI, Heidelberg 1980, (219-231), 219 f.

4.4 Auf dem Wege zur Sprache

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Rahmen bildet, in dem jede andere 'aesthetica' und Philologie - einschließlich der modernen Bibelwissenschaft - ihren rechtmäßigen Platz erhält. Hauptthema der Aesthetica in nuce ist die Bild- oder 'Logos'-Struktur der Wirklichkeit. Das wird bereits auf der ersten Seite mit den folgenden zwei Kernsätzen angekündigt: "Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts" (Ν II 197:15). "In Bildern besteht der ganze Schatz menschlicher Erkenntniß und Glückseeligkeit." (N II 197:22-).

Im Zusammenhang mit antirationalistischen Motiven bekamen immer mehr Literaturhistoriker aus Hamanns Zeit einen Blick für den besonderen Charakter der altorientalischen mythologischen Bildersprache, die sie für die Urform der menschlichen Sprache hielten72. Bei den alten Völkern waren Gefühl und Vernunft noch ungetrennt und bestand noch eine organische Einheit zwischen Religion, Wissenschaft und Kunst, die in poetisch-mythologischer Sprache adäquat zum Ausdruck kam. Literatur- und kunstgeschichtlich war die Poesie älter als die Prosa, die wie die philosophische Sprache erst später entstand, als die ursprüngliche Einheitserfahrung verlorengegangen war. Hamann knüpft bei diesen Erkenntnissen an, wenn er die Poesie - im weiteren Sinn als Bildersprache verstanden73 - die Muttersprache der Menschheit nennt. Der zweite Satz des Zitates macht jedoch deutlich, daß seiner Ansicht nach die analogische Bildersprache auch jetzt noch die hermeneutische Grundlage all unseres Denkens und Sprechens sein müsse, und diesen Grundgedanken will er weiter entfalten74. In der Aesthetica in nuce stellt Hamann das Bild als die ontologische und hermeneutische Grundkategorie dar, weil Sprache und Wirklichkeit lediglich als Bild vertikal und typologisch transzendieren können. Als Bild erhält ein sinnlich und endlich Seiendes die Möglichkeit, auf das Geistige und auf Gott zu verweisen. Umgekehrt kann Gott den endlichen und sinnlichen Menschen auf dem Wege des Bildes ansprechen. Im Bild besteht eine Verbindung zwischen sinnlichem Zeichen und geistiger Bedeutung, die ein Gespräch zwi72

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Von ihnen kennt Hamann u.a.: Th. Blackwell, A.Y. Goguet en R. Lowth. Vgl. Unger, Hamann und die Aufklärung, 246 f. einschließlich der Fußnoten. Die wir nun narrative Sprache nennen würden. Vgl. den Aufruf in den Hirtenbriefen, "die dramatische Poesie in ihre Kindheit zurückzuführen, sie zu verjüngen und zu erneuren." (Ν II 364:18-). In früheren Zeiten war man sich noch der Offenbarungsfähigkeit der Poesie bewußt: ""Die Poeterey", sagt Martin Opitz, "ist anfangs nichts anders als eine verborgene Theologie und Unterricht von göttlichen Sachen gewesen."" (Ν II 365:12-, vgl. ZHI 438:20-). Ν I 241:30: "Die wahre Poesie ist eine natürliche Art der Prophezeyung".

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sehen Gott und Mensch ermöglicht. Zugespitzt auf das Thema dieser Studie bedeutet dies: das Bild ist das Medium, durch das Natur und Gnade im Zusammenhang miteinander stehen! Außerdem verwirklicht das Bild die hermeneutisch-historische Beziehung zwischen den Menschen untereinander und zwischen den Zeiten. Mit Hilfe des Bildes können endliche und an den Leib gebundenen Menschen geistig und geistlich miteinander in Kontakt kommen, können sie sich verstehen. Ebenso ist mit Hilfe des Bildes ein Verständnis der Geschichte und der alten Texte möglich. Es gibt noch eine dritte Trennung, die durch das Bild überwunden wird, und zwar die Trennung zwischen Verstand und Gefühl. In der poetischnarrativen Sprache kommen alle menschlichen Fähigkeiten als organische Einheit zu ihrem Recht, entsteht eine Einheit zwischen Denken und Gefühlsbeziehung. Zusammenfassend: Der Verstand und Gefühl umfassende Bezug auf Gott und den Mitmenschen durch alle Zeiten kommt durch das vertikal und horizontal deszendierende Medium des Bildes zustande. In den folgenden Paragraphen soll näher untersucht werden, wie Hamann diese zentrale hermeneutische Erkenntnis für die einzelnen Wirklichkeitsbereiche weiter ausarbeitet.

4.5 Hermeneutik der Natur In diesem Paragraphen soll untersucht werden, was die Zentralstellung der Kategorie des Bildes für Hamanns Hermeneutik der physikalischen Wirklichkeit bedeutet. Der Mensch wird dabei zunächst außer Betracht gelassen.

4.5.1 Hamann und Kant über ein Physikbuch für Kinder Zur Unterstützung der Bemühungen Berens', Hamann von seiner religiösen 'Schwärmerey' zu heilen, hatte Kant Hamann im Sommer 1759 vorgeschlagen, einige Artikel aus der Encyclopidie zu übersetzen und sich so für die Verbreitung der Aufklärung nützlich zu machen. Hamann lehnte das Angebot ab und reagierte mit dem Schreiben der Sokratischen Denkwürdigkeiten. Noch vor deren Erscheinen kam Kant 1759 mit einem neuen Vorschlag: zusammen sollten sie ein Physikbuch für Kinder schreiben, wobei Hamann vor allem seine didaktischen Kenntnisse einbringen sollte.

4.S Hermeneutik der Natur

133

Den Gedanken eines Physikbuchs für Kinder übernahm Kant vermutlich von Charles Rollin, der in De la maniire d'enseigner et d'itudier les belleslettres (1726-1728) einen Entwurf einer 'Physique des Enfants' im physikotheologischen Stil erstellt hatte75. Didaktischer Ausgangspunkt einer derartigen Physik für Kinder, die vor allem das Interesse an der Natur und die Bewunderung für die Natur wecken sollte, mußte nach Ansicht Rollins der Schöpfungsbericht in der Genesis sein. Dieses im Gegensatz zur 'Physique des Savans', die den Leser mit der modernen, kausal-gesetzmäßigen Naturauslegung bekanntmachte. Rollin unterschied also zwischen einem-kindlichen und einem erwachsenen Naturverständnis und meinte, daß der Schöpfungsbericht nur noch für ersteres einen bedeutenden Wert habe. Kant war mit dieser Trennung nicht einverstanden. Er meinte, Kinder verdienten genauso gut ein Physikbuch, worin man nicht von der Genesis, sondern von der modernen Physik ausginge. Sie müßten schon früh mit der neuen Wissenschaft vertraut gemacht werden, denn der Genesisbericht sei für wirkliche Erkenntnis der Natur eine veraltete Quelle, auch für Kinder. In drei Briefen erklärte Hamann Kant, warum er nicht auf seinen Vorschlag eingehen könne76. Auch er war nicht mit Rollins Trennung einverstanden, allerdings aus genau entgegengesetzten Gründen. Während Rollin meinte, die Schöpfungsgeschichte habe noch einen Wert für die Kinder, aber Kant auch das nicht mehr einsehen konnte, bestand Hamann auf der bleibenden Bedeutung der Genesis für das Naturverständnis der Kinder und Erwachsenen! Bereits in den Biblischen Betrachtungen trieb Hamann seinen Spott mit zeitgenössischen Denkern, die die Genesis aufgrund einer modernen naturwissenschaftlichen Weltanschauung verurteilten. Die Schöpfungsgeschichte ist eine bildhafte 'Erzählung'77, in der Gott in seiner Kondeszendenz von der alltäglichen Bildersprache der damaligen Erzähler und Zuhörer Gebrauch macht; in diesem Sinne ist die biblische Offenbarung orts- und zeitgebunden. 75

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Rollin, Ch., De la maniire d'enseigner et d'itudier les Belles - Lettres, Par rapport ά Γ esprit et au coeur. Nouvelle Edition faite sur celle de Paris 1740 revue et corrigöe par l'auteur. Bd. 4, Amsterdam 1745. J.A. Fabricius übersetzte Rollins Entwurf und Schloß damit das Vorwort zu seiner Übersetzung von W. Derhams Physicotheologie oder Natur-Leitung zu Gott (17301), Hamburg 1832 2 ab. Vgl. Graubner, 'Physikotheologie und Kinderphysik', 127-130. Vgl. ZH1444-453. Die ersten zwei Briefe nimmt Hamann später als 'Zugabe ζweener Liebesbriefe an einen Lehrer der Weltweisheit, der eine Physick für Kinder schreiben wollte' in den Fünf Hirtenbriefen das Schuldrama betreffend (1763) auf; vgl. Ν II 369374. Vgl. zu den drei Briefen: Wild, R., 'Natur und Offenbarung, Hamanns und Kants gemeinsamer Plan zu einer Physik für Kinder', in: Geist und Zeichen, Festschrift für Arthur Henkel, Heidelberg 1977, 452-468. Vgl. N l 11:34-,

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Diese 'Gebundenheit' bedeutet jedoch keinesfalls, daß das dort wiedergegebene WirklichkeitsVerständnis für uns nun überholt ist. Die Genesis ist nicht nur eine Geschichte für die Menschheit in ihrem kindlichen und mythologischen Zeitalter, die nun - im erwachsenen Zeitalter der Aufklärung höchstens noch für die religiöse Erziehung von Menschen in ihrer (mythologisierenden) Kindheit brauchbar ist. Wichtig an der Offenbarung in der Genesis ist, daß sie uns eine Bedeutungsdimension der Natur enthüllt, die in der modernen Naturwissenschaft verloren zu gehen droht. Die Natur ist und bedeutet mehr als die naturwissenschaftlichen Gesetze beschreiben können, und dieses 'Mehr' ist von wesentlicher Bedeutung für einen verantwortlichen Umgang mit der Natur und der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Worum es Hamann geht, erklärt er anhand der bekannten Metapher des 'Buches der Natur'78. Wir können sehr viel philologische Kenntnisse der Sprache haben, in der ein Buch geschrieben ist, aber diese Kenntnisse sind an sich für ein wirkliches Verständnis der Bedeutung der Erzählung unzureichend. Das Verständnis eines Buches dem 'Geiste' nach ist mehr als Kenntnis der 'Buchstaben'. Dasselbe gilt für die Auslegung der Natur. Die moderne Physik vermittelt uns Kenntnis der Buchstaben, des 'Abes', aber wenn unsere Kenntnis sich darauf beschränkt, bleibt die Natur für uns eine stumme und neutrale Größe. Das, was die Natur uns als Gottes Schöpfung sagen will, wird dann nicht vernommen. Dies geschieht nur, wenn wir sie innerhalb des hermeneutischen Horizonts der Schöpfungsgeschichte lesen. Wer 'Moses und den Propheten' nicht glaubt, kommt in seiner Naturwissenschaft nicht über den 'Buchstaben' der Natur hinaus und wird das Geheimnis des dort verborgenen Geistes nicht entdecken79. Die Bildersprache der Natur gelangt von der Bildersprache der Schrift aus zum Sprechen, und wir dürfen in unserem Hochmut nicht wie Kant meinen,

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ZH I 450:12-: "Die Natur ist ein Buch, ein Brief, eine Fabel (im philosophischen Verstände) oder wie Sie sie nennen wollen. Gesetzt wir kennen alle Buchstaben darinn so gut wie möglich, wir können alle Wörter syllabiren und aussprechen, wir wißen so gar die Sprache in der es geschrieben ist — Ist das alles schon genung ein Buch zu verstehen, darüber zu urtheilen, einen Charakter davon oder einen Auszug zu machen. Es gehört also mehr dazu als Physik um die Natur auszulegen. Physik ist nichts als das Abc. Die Natur ist eine Aequation einer unbekannten Größe; ein hebräisch Wort, das mit bloßen Mitlautern geschrieben wird, zu dem der Verstand die Puncte setzen muß." Vgl. bereits in den Biblischen Betrachtungen: " es fehlt uns noch ein Derham, der uns nicht den Gott der nackten Vernunft, daß ich so rede, sondern den Gott der heiligen Schrift im Reich der Natur aufdeckt; der uns zeigt, daß alle ihre Schätze nichts als eine Allegorie, ein mythologisch Gemälde himmlischer Systeme ~ so wie alle Begebenheiten der weltlichen Geschichte Schattenbilder geheimerer Handlungen und entdeckter Wunder sind. Jer. XXXII.20." (Ν I 304:16-).

4.5 Hermeneutik der Natur

135

daß wir dieser mythologischen Sprache entwachsen seien80. Wiederum zeigt sich, wie Hamann die Motive der Bildersprache und der Kondeszendenz miteinander verbindet: Wenn wir Kindern (oder Erwachsenen!) etwas über die Natur erzählen wollen, müssen wir das in der Nachfolge ('Nachahmung') Gottes tun, der sich in Natur und Schrift offenbart, indem er sich auf unsere Ebene der 'kindlichen' Bildersprache herabläßt81. Die Natur zeugt bildhaft von ihm, aber dieses Zeugnis läßt sich nur von der Schöpfungsgeschichte aus verstehen, die die wahre Art der Schöpfung und des Schöpfungsaktes bildhaft enthüllt. Liebevolle Kondeszendenz zur Bildersprache als Grundmodell des Schöpfungs- und Offenbarungshandelns Gottes ist für unsere Pädagogik normativ. Den rechten Zugang zur Natur und Schrift finden wir nur, wenn wir uns als Lehrer und Schüler herablassen und uns in den hermeneutischen Bildhorizont der Schöpfungsgeschichte begeben. Meinen wir hingegen, die modernen physikalischen oder philosophischen Theorien genügten, dann verlieren wir die rechte Perspektive auf die Natur als Schöpfung, wie sie durch die mythologische Bildersprache der Genesisgeschichte angelegt ist82.

4.5.2 Die Natur in der 'Aesthetica in nuce' Abstraktion

Welche Folgen es hat, wenn die Bildhaftigkeit der Natur nicht mehr beachtet wird, macht Hamann in der Aesthetica in nuce deutlich. Er äußert dort scharfe Kritik an den abstrakten Systemen der modernen Philosophie und Physik, die mit ihren mathematischen Erklärungen die Bildhaftigkeit der Natur und damit zugleich ihre transzendierende Finalität auslöschen. Die moderne Physik sieht von Gottes "vestigia aut signacula"83 in der Natur ab, was dazu führt, daß sie zur neutralen Sache gemacht, verselbständigt und der menschlichen Willkür ausgeliefert wird. "Jede Kreatur wird wechselweise euer Schlachtopfer und euer Götze." (Ν II 206:25). Wird die Natur nicht als Schöpfung gesehen, dann kann der Mensch entweder sich selbst zum Gott erklären und die Natur - als willkürliche und nichtssagende Zusammenbal80

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ZH I 447:22-: "Schämen Sie sich also nicht, H.H. wenn Sie für Kinder schreiben wollen, auf dem hölzernen Pferde der mosaischen Geschichte zu reiten". Vgl. ZH I 445:35-; 446:14-; 451:6-. Vgl. ZH I 446:33-: " so ist ein historischer Plan einer Wissenschaft immer besser als ein logischer . Die Natur nach den sechs Tagen ihrer Geburt ist also das beste Schema für ein Kind, das diese Legende ihrer Wärterin so lange glaubt, bis es rechnen, zeichnen und beweisen kann". Ν II 211:36 (vgl. Ν II 207:36): ein Zitatfragment aus Bacon. Vgl. zu Bacon § 4.5.3.

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lung von Atomen verstanden - seinem manipulierenden Willen unterwerfen ('Epikureismus'), oder er vergöttlicht umgekehrt die Natur und unterwirft sich ihr als zwanghaftem Proseß ('Stoicismus') 84 . In beiden Fällen ist das Bewußtsein verlorengegangen, daß die Natur Schöpfung ist, das heißt, von einer göttlichen Person geschaffen und für Personen bestimmt. Die Natur versucht, sich unserer Tyrannei zu entziehen und sehnt sich nach der Freiheit, die sie vor dem Sündenfall noch hatte, als Adam die Bildersprache der Schöpfung noch verstand83. Adam wußte, daß alle Geschöpfe ihr wahres Wesen von Gottes schöpferischem Sprechen herleiten, daß sie alle, jedes nach seiner Art, sind, wie sie in der Sprache Gottes sind, wie Gott sie nennt. Wenn der Mensch sich in diesen Sprach- und Namenszusammenhang zwischen Gott und der Schöpfung einfügt, kann er als Bild Gottes an Gottes schöpferischem Sprechen Anteil haben. Der Mensch kann Mitschöpfer des Sprach- und Bildraumes (konzentriert im Namen) sein, innerhalb dessen er selbst und die niedrigeren Geschöpfe die vollkommene Freiheit und sakramentale Gegenwart Gottes in der Schöpfung genießen können*6. Die abstrahierende, mathematische Lesung der Natur, die diese Bildersprache nicht versteht, vergleicht Hamann mit einer Lektüre Homers, wenn unter Weglassung der Vokale α und ω ein unverständlicher Text übrigbleibt. Ebenso verschwindet bei der abstrahierenden Naturauslegung das α und ω der Natur: Christus87, das Licht der Welt. "Alle Farben der schönsten Welt

** Ν II 208:3-: "Ihr macht die Natur blind, damit sie nämlich eure Wegweiserin seyn soll! oder ihr habt euch selbst vielmehr durch den Epikurismum die Augen ausgestochen, damit man euch ja für Propheten halten möge Ihr wollt herrschen über die Natur, und bindet euch selbst Hände und Füße durch den Stoicismus, um desto rührender über des Schicksals diamantene Fesseln in euren vermischten Gedichten fistuliren zu können." Vgl. Ν II 206:4-. 85 Die Natur "thut ihr Bestes euer Tyranney zu entwischen, und sehnt sich unter den brünstigen Umarmungen nach derjenigen Freyheit, womit die Thiere Adam huldigten, da GOTT sie zu dem Menschen brachte, daß er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch sie nennen würde, so sollten sie heißen." (Ν II 206:27-). 86 Ν II 206:32-: "Diese Analogie des Menschen zum Schöpfer ertheilt allen Kreaturen ihr Gehalt und ihr Gepräge, von dem Treue und Glauben in der ganzen Natur abhängt. Je lebhafter diese Idee, das Ebenbild des unsichtbaren GOttes in unserm Gemüth ist; desto fähiger sind wir Seine Leutseeligkeit in den Geschöpfen zu sehen und zu schmecken, zu beschauen und mit Händen zu greifen. Jeder Eindruck der Natur in dem Menschen ist nicht nur ein Andenken, sondern ein Unterpfand der Grundwahrheit: Wer der HERR ist. Jede Gegenwürkung des Menschen in die Kreatur ist Brief und Siegel von unserm Antheil an der Göttlichen Natur, und daß wir seines Geschlechts sind." Vgl. zum sakramentalen 'Schmecken und Sehen' § 4.3.1. " Vgl. Offenb. 1:8, 21:6, 22:13.

4.5 Hermeneutik der Natur

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verbleichen: sobald ihr jenes Licht, die Erstgeburt der Schöpfung erstickt." (Ν II 206:22-)· Die Sprache der Schöpfung Die Natur spricht in der Bildersprache zu uns, und darum ist Poesie "die Muttersprache des menschlichen Geschlechts". Die Harmonie der Sprache der Schöpfung ist allerdings durch den Sündenfall verlorengegangen: " wir haben an der Natur nichts als Turbatverse88 und 'disiecti membra poetae' zu unserm Gebrauch übrig89." (Ν II 198:33-). Es ist die Aufgabe des Poeten, die 'disiecti membra' wieder "in Geschick zu bringen" (Ν II 199:2-), und dann können auch die Philosophie und die anderen Wissenschaften innerhalb des so wiederhergestellten hermeneutischen Horizontes des Glaubens ihren rechtmäßigen Platz erhalten. Wichtig ist, daß die (erneute) Möglichkeit, Gottes Reden in der Natur zu verstehen, keine Aufhebung der Verborgenheit seiner Offenbarung bedeutet. Eine bekannte Stelle aus der Aesthetica in nuce lautet: "Rede, daß ich Dich sehe! — Dieser Wunsch wurde durch die Schöpfung erfüllt, die eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur ist" (Ν II 198:2s-) 9 0 . Die Äußerung "Rede, daß ich dich sehe" ist schon bei Lucius Apuleius von Madaura zu finden und kommt u.a.in den Apophthegmata von Erasmus vor91. Letzterer erzählt von einem Vater, der seinen Sohn zur Beurteilung zu Sokrates schickt, worauf Sokrates dem Sohn sagt: "Loquere ut te videam." Hamann will damit sagen, daß das Sehen Gottes in der Schöpfung auf dem 'Umweg' der Sprache geschieht und damit an der sprachlichen Dialektik von Verborgenheit und Unverborgenheit, von Buchstabe und Geist teilhat. Das Lesen des Buches der Natur ist - wie das Lesen der Schrift - eine Synthese des Sehens und Hörens, in der der sprachliche Charakter des Hörens nicht aufgehoben wird. Als Bild wird die Wirklichkeit nur durch das Medium der Bilder-

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Verse, deren Text verworren ist. 'Disiecti membra poetae': Zitat von Horaz. Mit 'poeta' meint Hamann natürlich (den gekreuzigten) Gott selbst, den er an einer späteren Stelle den "Poet am Anfange der Tage" nennt und der derselbe ist wie der "Dieb am Ende der Tage" (vgl. Ν II 206:20-). Die Stelle ist interpretiert bei: Bayer, O., "Schöpfung als "Rede an die Kreatur durch die Kreatur", Die Frage nach dem Schlüssel zum Buch der Natur und Geschichte', in: Acta 2, (57-75), 60-62. Siehe zur Stelle bei Lucius Apuleius (geboren ca. 124): Fauser, M., 'Rede, daß ich Dich sehe', Carl Gustav Jochmann und die Rhetorik im Vormärz, Hildesheim/Zürich/New York 1986, 110 f. Der Spruch wird in Knutzens Betrachtung über die Schreibart der Heiligen Schrift zitiert. Vgl. zum Spruch bei Knutzen, Erasmus und Hamann: Ringleben, J., '"Rede, daß ich dich sehe." Betrachtungen zu Hamanns theologischem Sprachdenken', in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie, 30 (1988), (209-224), 212.

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spräche gesehen91, die die "Muttersprache des menschlichen Geschlechts" ist. Die Einzigartigkeit der Sprache liegt darin, daß in keiner anderen Kommunikationsform eine solche Verbindung von Nähe und Distanz, Immanenz und Transzendenz möglich ist. Nirgendwo kann die Transzendenz so sehr als Transzendenz in der Immanenz gegenwärtig sein wie in der Sprache. Sprechend oder schreibend können Gott oder unser Mitmensch uns sehr nahekommen und zugleich doch ihre Eigenart, Verborgenheit und Freiheit wahren. Hamann lehnt den 'Durst' nach unmittelbarer Gotteserfahrung, nach unvermittelter Sichtbarkeit der Offenbarung, wie er sie später bei Lavater, dem Physiognomen und Sammler von Wundern spürt, ab93. Das sakramentale 'Schmecken und Sehen' ist eine direkte Erfahrung im sprachlichen Kontext des Evangeliums, die die Transzendenz Gottes nicht aufhebt und darum sakramental ist. 'Schmecken und Sehen' ist kein 'Bekucken und Betasten' des Glaubensgeheimnisses, über das wir wissenschaftlich verfügen könnten®4. Gott war Adam nahe durch die Sprache der Schöpfung, und diese Sprache gelangt für uns alle nur durch die Sprache der Schrift wieder zum Reden. Gerade dieser analogische Sprachcharakter wird in der empiristischen und abstrahierenden Lesart der modernen Naturwissenschaft nicht 'gehört'. Viele moderne Naturwissenschaftler gleichen einem Arzt, der meint, seinen Patienten durch eine Untersuchung seines Körpers kennenlernen zu können, ohne mit ihm ins Gespräch zu kommen. Wie das Geheimnis des Mitmenschen, so lernen wir auch das Geheimnis der Natur nur kennen, wenn wir hören, was sie uns zu sagen hat.

4.5.3 Hamann und Bacon Francis Bacon (1561-1626) wird in der Aufklärung als Begründer der modernen Naturwissenschaft verehrt, und Hamann nutzt diese Verehrung

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n 94

Ν II 199:4-: "Reden ist übersetzen - aus einer Engelsprache in eine Menschensprache, das heist, Gedanken in Worte, - Sachen in Namen, - Bilder in Zeichen" (vgl. 1 Kor. 13:1, 14:1-). Vgl. §5.6.3. In Sokratische Denkwürdigkeiten: "Einen Körper und eine Begebenheit bis auf ihre ersten Elemente zergliedern, heißt, Gottes unsichtbares Wesen, seine ewige Kraft und Gottheit ertappen wollen. Wer Mose und den Propheten nicht glaubt, wird daher immer ein Dichter, wieder sein Wissen und Wollen, wie Buffon über die Geschichte der Schöpfung und Montesquieu über die Geschichte des Römischen Reichs." (Ν II 64:13-; 'Dichter' hat - im Gegensatz zu 'Poet' - die Bedeutung von 'Phantast'; vgl. die folgenden Briefstellen über Buffon: ZH I 180:6-, 307:10-, 335:18).

4.S Hermeneutik der Natur

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strategisch aus, indem er sich in der Aesthetica in nuce mehrmals zustimmend auf ihn beruft. Nicht daß er seine Renaissancephilosophie, die er vor allem aus De dignitate et augmentis scientiarum (1623) kennt, insgesamt akzeptiert hätte95, einzelne Elemente Bacons greift er jedoch auf, löst sie aus ihrem Renaissancezusammenhang und weiß sie aus eigener Sicht dankbar gegen die Aufklärung zu gebrauchen96. Den drei menschlichen Fähigkeiten, 'memoria', 'imaginatio' und 'ratio' entsprechend, unterteilt Bacon das menschliche Wissen in 'historia', 'poesis' und 'philosophia', eine Dreiteilung, die Hamann übernimmt97. Im Gegensatz zu dem Bild, das man sich später von Bacon machte, schätzte er die Poesie9", die er in epische, dramatische und parabolische Poesie einteilte, sehr. Poesie liefert zwar keine wissenschaftliche, auf Tatsachen beruhende Erkenntnis wie Philosophie und Geschichte, aber gerade in ihrer Nichtgebundenheit an Fakten liegen ihre wertvollen Möglichkeiten. So kann die Poesie eine vollkommenere Welt als die faktische darstellen. Sie kann Ausdruck göttlicher Erleuchtung sein, durch die die vollkommenen religiösen und sittlichen Wahrheiten symbolisch erschaut werden. Für Bacon ist Poesie also nicht 'mimesis' der Natur, so wie sie nach dem Sündenfall faktisch ist, sondern wie sie war und sein sollte. Die ideale Ordnung, die die Poesie sichtbar machen kann, ist vor allem sitdicher Art und ist das Ziel, wonach wir streben sollten99. Dieses Sittlichkeitsstreben ist bei Hamann nicht vorhanden, wohl aber die restaurative und antizipierende Funktion der Poesie, die in der Aesthetica in nuce eine entscheidene Rolle spielt100. Bacons Interesse gilt vor allem der 'poesis parabolica', die er in zwei Arten einteilt: 'ad illustrationem' und 'ad involucrum'. Bei der zweiten Art,

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Mit einem Zitat aus Piatons Kratylos bringt Hamann seine ironsche Distanz zum Ausdruck. Vgl. Ν II 197:29-. Vgl. zum Verhältnis Hamann - Bacon insbesondere: J0rgensen, S.-A., 'Hamann, Bacon, and tradition', in: Orbis litterarum, 16 (1961), 48-73. Vgl. Ν U 199:1-, 205:6-. Vgl. Harrison, J.L., 'Bacon's view of rhetoric, poetry, and the imagination', in: Vickers, B., (Hrsg.), Essential articles for the study of Francis Bacon, Hamden 1968, 253-271. Sie zeigt unserem Geist "a more ample greatness, a more perfect order, and a more beautiful variety than it can anywhere (since the Fall) find in nature." Bacon, Fr., The works of Francis Bacon, gesammelt und herausgegeben von J. Spedding, 14 Bde, (Faksimile-Neudruck, Stuttgart/Bad Cannstatt 1962-'63), Bd. IV (translations), London 1860, 315 f. Diese Stelle wird auch von Lowth in seiner De sacra poesi zitiert; vgl: Lowth, R., Lectures on the sacred poetry of the Hebrews, translated by G. Gregory, to which are added, the principal notes of professor Michaelis, and notes by the translator and others, 2 Bde, (London 17781), New York 1971 (Neudruck), Bd. I, Π Ι 9. Hamann lernt also auch durch Lowth Bacons Poesieverständnis kennen. Vgl. insbesondere Ν II 198:32-.

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auf die er am meisten eingeht, handelt es sich um Weisheit, die esoterisch in der Bildersprache verborgen liegt. Bacon denkt dabei an die vielen altorientalischen Mythen, die er als Poesie 'ad involucrum' auffaßt, in der verschiedene, lediglich für die geistige Elite bestimmte wichtige Wahrheiten allegorisch verborgen liegen. Bacon teilt hierbei das weit verbreitete My then Verständnis der Renaissance, die ohne Vermittlung der Patristik und des Mittelalters Zugang zur Literatur der Antike suchte und die antike Mythologie vor allem allegorisch aktualisierte101. Hat die Poesie im allgemeinen nach Bacons Auffassung eine ethische und ästhetische Funktion, so enthält die mythische Poesie 'ad involucrum' zum Teil auch Wissen über die universelle Ordnung der Natur. In der vorphilosophischen Zeit, als man noch nicht argumentierte, wurde dieses Wissen auf poetisch-sinnliche Weise zum Ausdruck gebracht und übermittelt102. In Sapientia Veterum (1609) und De dignitate et augmentis scientiarum (1623) legt Bacon eine Reihe antiker Mythen aus und entdeckt darin u.a. naturalistische und mechanistische Wahrheiten. Hamanns Verarbeitung der Auffassungen Bacons über Poesie, Mythologie und Magie ist bezeichnend dafür, wie er bei Autoren, die sich inhaltlich wesentlich von ihm unterscheiden, doch positiv anknüpfen kann. Bacons Schätzung der esoterischen Poesie - als Weisheit, die in der Bildersprache verborgen liegt - ist für Hamann eine willkommene Unterstützung seines Offenbarungsverständnisses. Außerdem teilt er die Auffassung Bacons durchaus, daß auch die alten heidnischen Mythen verborgene Weisheit enthalten. Zugleich zeigt jedoch Hamanns Auseinandersetzung mit den alten Mythen, daß er sie nicht allegorisch und naturalistisch, sondern typologisch und christologisch auslegt. Er löst Bacons Mythenauffassung von ihrem Renaissancegehalt und legt die alte heidnische Mythologie - wie die Kirchenväter und Vertreter des Mittelalters103 - anhand der besonderen Offenbarung aus. Ein Beispiel hierfür ist Bacons und Hamanns unterschiedliche Deutung einer der Geschichten über den Ursprung des Gottes Pan. In seiner allegorischen Deutung behauptet Bacon, Pan (die Natur) sei nicht der Sohn der Penelope (der Materie) und der frechen Buhler (der platonischen Ideen oder

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Vgl. zu Bacon und der antiken Mythologie: Rossi, P., Francis Bacon, From magic to science, übersetzt aus dem Italienischen von S. Rabinovitch, London 1968, 73-134. Bereits bei Bacon und einigen seiner Zeitgenossen ist der Gedanke zu finden, daß die Poesie die 'Muttersprache' des menschlichen Geschlechtes sei. Vgl. Rossi, op.cit., 79 f.; Bacon, Fr., De sapientia veterum, in: The works of Francis Bacon, Bd. VI, London 1861, 698 (vgl. 628): "For as hieroglyphics came before letters, so parables came before arguments." Vgl. Chenu, M.D., 'Involucrum, Le mythe selon les thöologiens mddidvaux', in: Archives d'histoires doctrinale et litteraire du moyen age, 22 (1955), 75-79.

4.5 Hermeneutik der Natur

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aristotelischen Formen), sondern der Penelope und des Merkur (= das Wort Gottes, der 'Logos')104. Hamann verweist im folgenden Zitat darauf: "Bacon vergleicht die Materie der Penelope; - ihre freche Buhler sind die Weltweisen und Schriftgelehrten. Die Geschichte des Bettlers, der am Hofe zu Ithaka erschien, wißt ihr; denn hat sie nicht Homer in griechische und Pope in englische Verse übersetzt?" (Ν II 210:8-). Hamann stimmt zu, daß Pan (die Natur) der Sohn der Materie und des göttlichen Logos ist; aber dieser Logos erscheint später, wie Odysseus, in Gestalt eines Bettlers, der nicht erkannt wird105. Dabei macht er eine Anspielung auf Joh. 1:11: "Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf." Christus, der Bettler, kam in sein Eigentum: Er ist der rechtmäßige Eigentümer der Natur und der Schrift, und nicht die "Weltweisen und Schriftgelehrten"106. In engem Zusammenhang mit seiner Auffassung der antiken Mythologie steht Bacons Magie Verständnis. Als scharfer Gegner der Magie im Sinne der Manipulierung übernatürlicher Kräfte akzeptiert er lediglich die natürliche Magie, die als Vollendung der Naturphilosophie nicht versucht, sich den Naturkräften zu widersetzen, sondern sie gerade optimal benutzen und aktivieren will. Diese natürliche Magie bestand seiner Ansicht nach bereits in vorphilosophischen Zeiten, als der Mensch in der Magie ein Wissen von der universalen Harmonie zwischen Mensch und Natur besaß, das die Grundlage der späteren Philosophie und Wissenschaft wurde. U.a. bedienten sich die 'Weisen aus dem Morgenland' dieser natürlichen Magie.

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Vgl. Bacon, Fr., The works, Bd. IV, 318 ff., The works, Bd. VI, 707 ff. Essais ά la Mosaique, Ν II 294:31-: " pour detruire comme le Roi d'ltaque, en lambeaux de gueux, les rivaux de sa Penelope". Ein anderes gutes Beispiel ist Hamanns typologische Deutung des Mythos, in dem Zeus sich in einen Kuckuck verwandelt, um Heras Liebe zu gewinnen. ZW I 394:10-: "Auch die Heyden hatten ein Wörtchen von diesen Geheimnißen, in ihre Mythologie einzuflechten, vernommen. Jupiter verwandelte sich um die Gunstbezeigungen seiner rechtmäßigen Gemalinn zu genüßen, in einen elenden, von Regen träufenden, zitternden und halbtodten Guckuck - Der Jude, der Christ verwirft daher seinen König, weil er wie eine Henne um seine Keuchlein girrt, und in sanftmüthiger, elender Gestalt um die Rechte seiner Liebe wirbt. Der Heyde, der Philosoph erkennt die Allmacht, die Hoheit, die Heiligkeit, die Güte Gottes; aber von der Demuth seiner Menschenliebe weiß er nichts. Als ein schöner Stier, als ein Adler, Schwan und güldener Regen theilte sich Jupiter seinen Bulerinnen mit." Vgl. Leser und Kunstrichter, Ν II 348:6-. Ganz im Sinne Augustinus' (vgl. De civitate dei, X, 29) sagt Hamann hier, daß der entscheidende Unterschied zwischen der heidnischen und der christlichen Gotteserkenntnis in der Kondeszendenz liege. Obwohl in den heidnischen Mythen hier und da bereits ein 'Wörtchen' auf die Inkarnation verweist, zeigt die Tatsache, daß Zeus meist in erhabenen und schönen Gestalten erscheint, daß dort noch kein Bewußtsein der göttlichen Demut vorhanden ist.

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Kapitel 4 Gegen die natürliche Theologie des 'toten Buchstabens'

Auch in seinem Magieverständnis stand Bacon unter dem Einfluß der Renaissance, die die Magie - insbesondere die natürliche Magie - nach ihrer Verurteilung und Verfolgung durch die Kirchen im Mittelalter rehabilitierte107. Diese Rehabilitierung ging mit der in der Renaissance ebenfalls weitverbreiteten Auffassung Hand in Hand, daß auch unter den heidnischen Völkern Erkenntnis des wahren Gottes bestehe, die durch außerbiblische Offenbarung empfangen oder von den Juden, ζ. B. über Moses und die Ägypter, überliefert sei. Wenn Hamann sich, entgegen der abstrahierenden Physik seiner Zeit, auf Bacons Magieauffassung beruft, stellt er sie wie die Mythologie in einen typologischen und christologischen Zusammenhang. In der Aesthetica in nuce geschieht dies implizit anhand von drei Zitaten aus Bacons Werk, in denen dieser nacheinander sagt: 1) die göttlichen Ideen kämen als 'signacula creatoris' in der Natur zum Ausdruck; 2) der Magier suche die 'naturae vestigia aut signacula'; und 3) die Weisen aus dem Morgenland hätten sich dieser Magie bedient108. Obwohl Bacon sich mit 'vestigia' noch auf das symbolisch-typologische Wirklichkeitsverständnis des Mittelalters bezieht, ist sein Renaissancedenken abgesehen von platonischen Elementen schon weit davon entfernt. Hamann, der ebenfalls den Hinweis auf die Weisen aus dem Morgenland benutzt, legt allerdings die von Bacon erwähnten 'vestigia' und 'signacula' als Zeichen aus, die typologisch auf die auf Christus zentrierte Heilsgesichte verweisen, so wie sie den Weisen den Weg zur Krippe nach Bethlehem wiesen109. Wenn F.C. von Moser ihn später, auf die Weisen aus dem Morgenland verweisend, den 'Magus in Norden' nennt, nimmt Hamann diese Bezeichnung als Ehrentitel an. Er versteht sich als 'Magus', der Gottes 'vestigia' überall in der Natur und der Geschichte, in der Schrift und der Profanliteratur wiederzuentdecken und auszulegen hofft. Wie die anderen Weisen versucht er so, den König und die Gelehrten seiner Zeit zur Krippe Christi zu führen110. Als letzte Gemeinsamkeit zwischen Bacon und Hamann sei noch die Schriftauslegung erwähnt. Zustimmend zitiert Hamann Äußerungen Bacons, in denen dieser die Mehrdeutigkeit der Schrift verteidigt. Zwei Extreme müssten freilich abgelehnt werden: daß alles in den Text hineingelesen wird

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Vgl. Rossi, op.cit., 11-22. Vgl. Bacon, The works of Francis Bacon, Bd. I, London 1858, 218, 542 f., 573; Ν II 207:30-, 211:33-. Diese typologische Umdeutimg der Magie ist ebenfalls in Hamanns schöner Weihnachtsmeditation Die Magi aus Morgenlande zu spüren. Vgl. J0rgensen, 'Hamann, Bacon and Tradition', 70.

4.S Hermeneutik der Natur

143

wie in der Kabbala oder daß lediglich die buchstäbliche und menschliche Bedeutung angenommen wird.

4.6 Hermeneutik

der menschlichen

Natur

4.6.1 Der Mensch als Bild Gottes Inhaltlich wird der vorige Paragraph in zugespitzter Form noch einmal aufgegriffen, wenn wir uns dem Menschen als Geschöpf schlechthin zuwenden. Im Mittelpunkt der Anthropologie Hamanns steht der Mensch als Einheit von Seele und Leib. Der 'Knoten der menschlichen Natur' beschäftigte ihn bereits im Lateinischen Exercitium111, und in der Aesthetica in nuce kommt er darauf zurück: "Endlich krönte GOTT die sinnliche Offenbarung seiner Herrlichkeit durch das Meisterstück des Menschen. Er schuf den Menschen in Göttlicher Gestalt; ~ zum Bilde GOttes schuf er ihn. Dieser Rathschluß des Urhebers löst die verwickeltsten Knoten der menschlichen Natur und ihrer Bestimmung auf. Blinde Heyden haben die Unsichtbarkeit erkannt, die der Mensch mit GOTT gemein hat112. Die verhüllte Figur des Leibes, das Antlitz des Hauptes, und das Äußerste der Arme sind das sichtbare Schema, in dem wir einher gehn113; doch eigentlich nichts als ein Zeigefinger des verborgenen Menschen in uns;- 'Exemplumque DEI quisque est in imagine parua.' [Manilius Astron, Lib. IV]". (Ν II 198:1-). Hier wird deutlich, wie Hamann zu einer hermeneutischen Entfaltung des Problems Leib/Seele gelangt. Als sinnliche Offenbarung der Herrlichkeit Gottes ist die Schöpfung essentiell bildhaft. In ihrer konzentriertesten Form finden wir diese Bildhaftigkeit im Menschen, der als Leib und Seele Bild Gottes ist114. Hamann sieht in der Analogie zwischen Gott und Mensch die folgenden Aspekte:

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Vgl. § 2.6. Vgl. Röm. 1:20: "Damit, daß GOttes unsichtbares Wesen, das ist, seine ewige Kraft und Gottheit, wird ersehen, so man deß wahrnimmt an den Werken, nämlich an der Schöpfung der Welt" Vgl. ZH I 393:28, Ν II 139:27. Balthasar, H.U., von, 'Hamanns theologische Ästhetik', in: Philosophisches Jahrbuch der Görresgesellschaft, 68 (I960), (36-65), 39: " wobei hier über die Verborgenheit des leiblich erscheinenden Geistes hinaus das Trinitarische der Leibgestalt gemeint ist: verborgen zeugender Vater, erscheinender Sohn, Geist als wirkende Extremität." Sokratische Denkwürdigkeiten, Ν II 66:9-: "Wie der Mensch nach der Gleichheit Gottes erschaffen worden, so scheint der Leib eine Figur oder Bild der Seelen zu seyn."

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Kapitel 4 Gegen die natürliche Theologie des 'toten Buchstabens*

Erstens entspricht die Weise, wie die Seele dem menschlichen Leib Bedeutung verleiht und so den Leib als 'sichtbares Schema' zum Ausdruck und Instrument der Sinngebung werden läßt, der Art und Weise, wie der unsichtbare Gott in der geschaffenen Natur spricht. Die verborgene Seele verleiht den leiblichen Zeichen Bedeutung, und zwar am deutlichsten in der menschlichen Sprache, in der die dynamische Einheit von Leib und Seele sich in der Einheit von Buchstabe und Geist äußert. Die Verborgenheit der Seele beruht u.a. auf der Tatsache, daß die Seele sich zwar nur sinnlich äußern kann, aber nicht an einen bestimmten leiblichen Ausdruck gebunden ist. In ihrer Sinngebung ist sie frei und transzendent in Bezug auf den Leib. Sie kann sich also auch aus bestimmten Gestalten 'zurückziehen', andere wählen, oder sich in ihrer Innerlichkeit verbergen. Die Einzigartigkeit des Menschen liegt darin, daß er als einziges Geschöpf wie Gott freier Ursprung der Sinngebung ist. Alle materiell Seienden haben einen bildhaften und verweisenden Charakter, den sie primär dem Reden Gottes verdanken, aber nur der Mensch empfangt von Gott die Verheißung und den Auftrag, als antwortendes Wesen sein Schöpfungswerk fortzusetzen, um die göttliche Sinngebung auf menschliche Weise zu beantworten, zu bereichern und zu übersetzen115. Die Tiere sind erst so, wie Gott sie beabsichtigt hat, wenn Adam ihnen einen Namen gegeben hat, und Adam ist erst vollends Mensch, wenn er Eva gegenübergestellt wird, einem Menschen, der sein Sprechen beantwortet, der ihm einen 'Namen' gibt. Es besteht also eine einzigartige Analogie zwischen göttlicher und menschlicher Sinngebung, zwischen der Art, wie der unsichtbare Gott in der Schöpfung spricht und wie die unsichtbare menschliche Seele sich im Leiblichen 'ausspricht'. Dank dieser Analogie gibt es kein Geschöpf, das ein solches auf Gott hin transzendierendes Vermögen hat wie der Mensch. Die Verborgenheit seines Innern verweist auf die Verborgenheit Gottes, auf den verborgenen Ursprung aller Sinngebung116. In London fand Hamann Gott auf 115

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Ν II 206:32-: "Diese Analogie des Menschen zum Schöpfer ertheilt allen Kreaturen ihr Gehalt und ihr Gepräge, von dem Treue und Glauben in der ganzen Natur abhängt." Herde, H., Johann Georg Hamann zur Theologie der Sprache, Bonn 1971, 121: " eine solche Auslegung die die Sprachlichkeit des Menschen zum Ausgang nimmt, was jetzt einmal besagen will, daß der Mensch aufgrund dieser seiner Sprachlichkeit die ihm von Gott zugewiesene Rolle des 'Ebenbildes Gottes' wahrnimmt, und zum andern, daß das menschliche Sprechen der Sprache als das menschliche Zur-Verfügung-Haben der Gottes-Sprache verstanden wird." Meinhold, P., 'Hamanns Theologie der Sprache', in: Acta 1, (53-65), 59: "Der eigentliche Grund für ein geisterfülltes menschliches Reden, das Hamann als 'prophetisches Reden' schlechthin bezeichnen kann, liegt in dem abbildhaften Charakter des menschlichen Geistes in bezug auf den göttlichen Geist. Es besteht nach Hamann eine letzte Relation zwischen Gott und Mensch, die ihren Grund in der Schöpfung des

4.6 Hermeneutik der menschlichen Natur

145

dem Grunde seiner Seele: dort hörte er ihn reden, 'schreyen'. Das bedeutet nicht, daß Gott und die Seele eine monistische Einheit bilden, sondern daß die Seele der Ort der größten Intimität zwischen unserem Geist und dem Heiligen Geist ist, einer Intimität, die Beziehungscharakter hat und ohne die Vermittlung des (Bibel)Wortes nicht möglich ist. Das Verhältnis von Leib und Seele ist von jeher der 'verwickeltste Knoten' in der theologischen und philosophischen Anthropologie. Für Hamann liegt die Lösung des Rätsels in der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Die Einheit und Dialektik von Seele und Leib läßt sich hermeneutisch als Einheit von Bedeutung und Zeichen verstehen, wobei die Seele zugleich schöpferischer - aus Gottes Sinngebung (Gnade) schöpfender - Ursprung von Sinngebung ist. Das wichtigste Glied in 'der großen Seinskette' - zwischen dem Stofflichen und dem Geistigen - ist der Mensch. Er ist ein 'Doppelwesen', Geist und Leib, Engel und Tier. In dieser Doppelheit wird die Bildhaftigkeit der ganzen sinnlichen Wirklichkeit in höchstem Grade sichtbar117; in dieser Doppelheit liegt die Verheißung und das Risiko für die ganze Schöpfung.

4.6.2 'Die Magi aus Morgenlande': der Mensch als Gleichnis Seine hermeneutische Anthropologie veranschaulicht Hamann eindrucksvoll in seiner Weihnachtsmeditation Die Magi aus Morgenlande zu Bethlehem,18.

Er beginnt mit einem Hinweis auf zwei bevorstehende wissenschaftliche Reisen, die erste unter Leitung von James Cook zur Südsee, um dort den Sonnendurchgang der Venus zu beobachten, die zweite unter Leitung von Karsten Niebuhr nach Südarabien, im Auftrag des dänischen Königs und weitgehend vorbereitet von J.D. Michaelis. Ziel der ersten Reise war eine bessere Kenntnis der Natur, Ziel der zweiten ein besseres Verständnis der Schrift119.

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Menschen als dem Abbild Gottes hat." Vgl. auch Ν II 207:7 -. Ν II 207:2-: "Je lebhafter diese Idee, das Ebenbild des unsichtbaren GOttes in unserm Gemüth ist; desto fähiger sind wir Seine Leutseeligkeit in den Geschöpfen zu sehen und zu schmecken, zu beschauen und mit Händen zu greifen." Vgl. 1 Joh. 1:1. Ν II 137-141. Text mit begleitendem Kommentar: Büchsei E., 'Hamanns Schrift 'Die Magi aus Morgenlande", in: Theologische Zeitschrift, 14 (1958), 191-213. Obwohl auch die zweite Expedition den Sonnendurchgang der Venus beobachten sollte. Vgl. Michaelis, J.D., Vragen aan een gezelschap van geleerden, Die op bevel zyner Majesteits des Körtings van Deenmarken naar Arabie reizen, waarbij gevoegd is, beoordeling van Niebuhrs beschrijving van Arabie, übersetzt und herausgegeben von

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Kapitel 4 Gegen die natürliche Theologie des 'toten Buchstabens'

In seiner Betrachtung will Hamann sich mit einer anderen Reise befassen: mit der Reise der Weisen aus dem Morgenland zur Krippe in Bethlehem120, um so die modernen Weisen (wie Michaelis), die wissenschaftliche Reisen zum 'Stern' und in den Osten unternehmen, auf sokratische Weise zum Stern und zur Krippe in Bethlehem zu führen. Die modernen Weisen vergleicht er mit den biblischen Weisen, um so die erste Gruppe auf die Spur der zweiten zu leiten. Hamann will keine astrologischen oder kosmologischen Theorien über den Stern von Bethlehem verkünden, sondern sich auf "eine allgemeine Betrachtung über die Moralität ihrer [der Weisen] Reise" beschränken. (Ν II 139:24). Sein Ansatz ist folgende hermeneutische These: "Das menschliche Leben scheinet in einer Reihe symbolischer Handlungen zu bestehen, durch welche unsere Seele ihre unsichtbare Natur zu offenbaren fähig ist, und eine anschauende Erkäntniß ihres würksamen Daseyns ausser sich hervor bringt und mittheilet." (Ν II 139:26-). Menschliche Handlungen sind symbolisch, gleichnishaft, das heißt, sie sind wie Zeichen (Bilder, 'typoi'), die nur vom unsichtbaren geistigen Inneren, der Seele her, verstanden werden können. Eine Kenntnis der menschlichen Außenseite, des 'Buchstabens' allein, ist für ein wirkliches Verständnis nicht hinlänglich. Dies macht Hamann deutlich, indem er das Vorgehen der Weisen anhand der üblichen Grundsätze der Gesinnungs- und Zweckethik ethisch beurteilt121. Daran gemessen scheint ihre Reise ein moralisch nicht vertretbares und verhängnisvolles Unterfangen! Denn was sind ihre Motive? Die Weisen lassen sich von irgendeiner alten Sage leiten und lassen ihr Vaterland um eines ausländischen Königs willen im Stich.

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J. van Ekers, Amsterdam/Utrecht 1774, Vöorreden XXXIX. Ν II 139:28-: " so mag es mir erlaubt seyn, dem Andenken der Weisen aus Morgenland einige Weyrauchkörner sokratischer Einfälle anzuzünden." Er faßt sie im folgenden "Gesetz der Erfahrung und Vernunft" (Ν II 140:1-) zusammen: "Der blosse Körper einer Handlung kann uns ihren Werth niemals entdecken; sondern die Vorstellung ihrer Bewegungsgründe und ihrer Folgen sind die natürlichsten Mittelbegriffe, aus welchen unsere Schlüsse nebst dem damit gepaarten Beyfall oder Unwillen erzeuget werden." (Ν II 139:30-; kurs. H.V.). E. Büchsei weist in 'Hamanns Schrift 'Die Magi aus Morgenlande", 199 Fußnote 18, auf einen sehr ähnlichen Abschnitt in Humes Treatise hin, wo Hume das Prinzip seiner Gesinnungsethik darlegt: "'Tis evident, that when we praise any actions, we regard only the motives that produced them, and consider the actions as signs or indications of certain principles in the mind and temper. The external performance has no merit. We must look within to find the moral quality. This we cannot do directly; and therefore fix our attention on actions, as on external signs. But these actions are still considered as signs; and the ultimate object of our praise and approbation is the motive, that produc'd them." Treatise, 477.

4.6 Hermeneutik der menschlichen Natur

147

Und was sind die Folgen? Der grausame Kindermord in Bethlehem, während der neugeborene König nach Ägypten flüchten muß. Für diejenigen, die lediglich die Außenseite der menschlichen Handlungen sehen und sich darauf verlassen, ist die Reise der Weisen, ja die ganze Heilsgeschichte, ein unverständliches und törichtes Geschehen. Diese Warnung richtet Hamann an Michaelis und andere zeitgenössische Exegeten, die hohe Erwartungen an die Zunahme philologischer, historischer, archeologischer und vieler anderer Arten von Sachkenntnis knüpfen. Michaelis 'exegetischer Materialismus'122 wird ihn daran hindern, im Kind der Krippe den König der Juden zu entdecken. Sachkenntnis und aufgeklärte sittliche Auffassungen sind für ein kongeniales Verständnis der göttlichen Offenbarung in unseren menschlichen Gestalten unzulänglich123. Es besteht die Gefahr, daß wir Hamanns hermeneutisches Prinzip, wonach das menschliche Leben aus einer Reihe symbolischer Handlungen besteht, "durch welche unsere Seele ihre unsichtbare Natur zu offenbaren fähig ist" (Ν II 139:26-), im Sinne Humes auslegen, der Handlungen als 'äußere Zeichen innerer Motive' ('external signs of inner motives') versteht. Es geht Hamann letztlich nicht um die Verborgenheit der menschlichen Motive in menschlichen Taten, sondern um die Verborgenheit des Göttlichen im Menschlichen. Der tiefste Grund und die tiefste 'Motivierung' des Menschen liegen in seiner transzendierenden Ausrichtung als Bild Gottes - oder in der Auflehnung dagegen; die 'unsichtbare Natur' unserer Seele ist ihr geistiger Bezug auf den unsichtbaren Gott124. Das Besondere der Magi ist, daß darin die Verborgenheit unserer Seele supralapsarisch mit der verborgenen Offenbarung in Christus verbunden wird. Unsere Geborgenheit in Gott wird als

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Vgl. Ν II 239:35. Ν II 140:24-: "Es giebt Handlungen höherer Ordnung, für die keine Gleichung durch die Elemente (Satzungen) dieser Welt heraus gebracht werden kann. Eben das Göttliche, das die Wunder der Natur, und die Originalwerke der Kunst zu Zeichen macht, unterscheidet die Sitten und Thaten beruffener Heiligen. Nicht nur das Ende, sondern der ganze Wandel eines Christen ist das Meisterstück des unbekannten Genies [Gott], das [Akkus.] Himmel und Erde für den einigen Schöpfer, Mittler und Selbsthalter erkennet und erkennen wird in verklärter Menschengestalt. Unser Leben, heist es, ist verborgen mit Christo in GOtt." Die Begriffe "Originalwerke" und "Genie" sind Anspielungen auf das einflußreiche Werk von E. Young, Conjectures on original composition (1759); vgl. § 4.9.1. Vgl. zum Schlußsatz: Kol. 3:3; Ν IV 282:36-: "Die Sittlichkeit der Handlungen scheint daher eher ein Maaßstab der Werkheiligkeit, als eines mit Christo in Gott verborgenen Lebens zu seyn. In der Nachfolge Jesu, der durch Leiden Gehorsam lernte und volkommen geworden, besteht die Fülle aller Tugend". Ν II 139:27. Vgl. Aesthetica in nuce, Ν II 198:5-: "Blinde Heyden haben die Unsichtbarkeit erkannt, die der Mensch mit GOTT gemein hat."

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Kapitel 4 Gegen die natürliche Theologie des 'toten Buchstabens'

verborgene Bestimmung unseres natürlichen Lebens durch Christus, Gottes Sohn in Knechtsgestalt, das Kind in der Krippe, enthüllt und erfüllt123.

4.6.3 Das getrübte Bild; die Sünde Verborgenheit

als Flucht und

Selbstrechtfertigung

Wie die Bedeutung im Buchstaben, so ist die Seele im Leib verborgen. Diese Dialektik der Enthüllung und Verhüllung ist wesentlich für die heile Schöpfung, sie wird allerdings noch durch die Sünde verstärkt. Das deutet Hamann mit einem Vor-bild aus Genesis 1-3 an: " die erste Kleidung des Menschen war eine Rhapsodie von Feigenblättern. — Aber GOTT der HERR machte Röcke von Fellen, und zog sie an - unsern Stammeltern, welche die Erkenntnis des Guten und Bösen Schaam gelehrt hatte." (Ν II 198:13-). Die Zerstörung der Harmonie zwischen Gott und dem Menschen und zwischen den Menschen untereinander äußert sich in unserer Erfahrung der Scham, in dem Bedürfnis, unsere Seele zu verbergen, wobei die Verhüllungsfunktion unseres Leibes durch allerlei Arten von Feigenblättern verstärkt werden muß126. Die selbstgemachte Kleidung, in der wir uns vor seinem Angesicht verbergen, nimmt Gott uns doch weg. Jedoch läßt er uns nicht hilflos in der Nacktheit unserer Sünde zurück, sondern bekleidet uns selbst mit seiner Kleidung: "Warum flechten wir nun Schürze von Feigenblättern, wenn Röcke von Fellen fertig auf uns warten? Wünschen wir etwan auch lieber gar nicht entkleidet, sondern überkleidet zu werden, damit wir nicht bloß erfunden werden?"127 Die spannungsgeladene Dynamik der Enthüllung und Verhüllung wird also durch die sündige Selbstbedeckung des Menschen, der sich im 'Buchstaben' seines Leibes verschanzt, verstärkt. Die transzendierende Offenheit von Natur und Schrift wird verkannt; statt eines verweisenden Mediums werden sie zur Bastion der Selbstrechtfertigung. Während Gott doch neue 'Beklei-

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Büchsei, 'Hamanns Schrift 'Die Magi", 199 Fußnote 17: "Die Menschwerdung Gottes in Christus bleibt das Zentrum auch der anthropologischen Aussagen Hamanns." Vgl. Ν II 97:7-, Hirtenbriefe, Ν II 362:21-, Vgl. 2. Kor. 5:2-: "Und über denselbigen sehnen wir uns auch nach unserer Behausung, die vom Himmel ist, und uns verlanget, daß wir damit überkleidet werden; So doch, wo wir bekleidet, und nicht bloß erfunden werden. Denn dieweil wir in der Hütte sind, sehnen wir uns, und sind beschweret; sintemal wir wollten lieber nicht entkleidet, sondern überkleidet werden, auf daß das Sterbliche würde verschlungen von dem Leben. Der uns aber zu demselbigen bereitet, das ist GOtt, der uns das Pfand, den Geist, gegeben hat."

4.6 Hermeneutik der menschlichen Natur

149

dung', neue transzendierende und vermittelnde Bilder und Gestalten für uns bereit liegen hat! Das Bild Gottes und die Sünde Durch die Sünde ist die ursprüngliche Harmonie zwischen Gott und Mensch verlorengegangen. Hamann läßt keinen Zweifel darüber bestehen, daß dadurch die Bildhaftigkeit der Wirklichkeit stark beeinträchtigt ist: " wir haben an der Natur nichts als Turbatverse und 'disiecti membra poetae' zu unserm Gebrauch übrig." (Ν II 198:33-). Es ist allerdings die Frage, ob die Sünde nach Ansicht Hamanns die Schöpfung so sehr beeinträchtigt hat, daß die ontologische Bildhaftigkeit der Wirklichkeit vollkommen verlorengegangen ist. Diese Frage spielt in den Diskussionen über die natürliche Theologie eine wichtige Rolle, zugespitzt in der Frage, ob das Bild Gottes im Menschen ganz verloren ist, oder 'lediglich' verdunkelt12*. Jansen Schoonhoven behauptet, nach Hamanns Theologie sei das Bild Gottes nach dem Sündenfall zwar als Bestimmung bestehen geblieben, aber faktisch nicht mehr vorhanden: "Das Wesentliche des Bildes Gottes ist allerdings verlorengegangen."129 Darum gibt es auch keinen 'Anknüpfungspunkt' für die Gnade: "Ein verlorengegangenes Bild kann also unmöglich Anknüpfungspunkt für Gottes Gnade sein. Man kann in der menschlichen Natur keine Stelle zeigen, von der man sagen könnte: siehe, das ist nun noch ein Rest der Verbindung mit Gott"130. Nachdem Jansen Schoonhoven allerdings festgestellt hat, daß die Ebenbildlichkeit Gottes als Bestimmung bestehen geblieben sei, sagt er weiter: "Auch die Verborgenheit seines inneren Wesens ist geblieben, sowie die Gabe der Sprache und das Vermögen, zu handeln (jedoch beide sind durch die Verderbnis der Sünde beeinträchtigt)."131. Für Hamann ist diese Verborgenheit nun gerade ein essentielles Merkmal des Menschen als Bild Gottes, und diese Verborgenheit ist bestehen geblieben und wird sogar von 'blinden

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Vgl. die Diskussion zwischen Karl Barth und Emil Brunner hierzu. Natuur en genade, 244. Auch H.-M. Lumpp, Philologia crucis, 82 Fußnote 22, sagt: "Wenn Hamann von einer "Analogie des Menschen zum Schöpfer" spricht, ist das keine anthropologische Feststellung, sondern Gesetz und Evangelium: Der Mensch sollte und darf Gott ähnlich sein; als Sünder steht er aber nicht in "dieser Analogie"!" Hamann meint in dem betreffenden Abschnitt jedoch, daß "diese Idee, das Ebenbild des unsichtbaren GOttes" nicht "lebhaft" (vgl. Ν II 207:2) "in unserm Gemüth ist". Es ist also eher so, daß es faktisch zwar dort ist, wir es aber nicht sehen und erfahren. Auf derselben Seite wird Bacons Aussage zitiert, Gott habe seine 'ideae' als 'vera signacula Creatoris' den Geschöpfen aufgedrückt. Das ist immer noch so, aber der Mensch sieht sie wegen seiner 'mentis idola' nicht. Natuur en genade, 271. Natuur en genade, 244.

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Kapitel 4 Gegen die natürliche Theologie des 'toten Buchstabens'

Heyden' erkannt! Auch wenn das Bild Gottes also ernsthaft getrübt und seine verweisende Kraft stark vermindert ist, so sind die Ebenbildlichkeit Gottes als transzendierende Essenz des Menschen und auch das darin begründete Sprach vermögen bestehen geblieben. Auch der gefallene Mensch lebt von der Gnade des Wortes Gottes, sonst könnte er nicht existieren. In seiner Schöpfungslehre deckt Hamann die ontologische und hermeneutische Grundstruktur auf, die durch die Sünde nicht verlorengeht, sondern innerhalb derer die Sünde verstanden werden muß. Die Geschichte der Sünde, Erlösung und Erneuerung vollzieht sich innerhalb des essentiellen Rahmens, den Gott in seiner Schöpfung angelegt hat. Die Gnade hat also wohl einen 'Anknüpfungspunkt': Gott knüpft darin nicht bei den Fähigkeiten des Menschen an, insofern dieser sie autonom umgewandelt hat, sondern bei der Bildstruktur, die er selbst durch seine 'creatio continua' - den verheerenden Folgen der Sünde zuwider - lebendig erhält132. Die Unsicherheit Jansen Schoonhovens in Bezug auf die Problematik des Bildes Gottes ergibt sich aus seiner Interpretation von 'Natur und Gnade bei J.G. Hamann" 33 . Seiner Ansicht nach impliziert die notwendige Ablehnung jeder Form der natürlichen Theologie die Aussage, daß nichts Positives mehr über die sündige Schöpfung gesagt werden kann, sofern sie nicht von Christus gerettet und erneuert wurde. Jede positive Wertung der gefallenen Natur versteht er als Suche nach einem autonomen 'Anknüpfungspunkt' für die Gnade. Inzwischen dürfte deutlich genug geworden sein, daß auch Hamann 'natürliche Theologie' ablehnt, sofern sie von verselbständigten natürlichen Fähigkeiten ausgeht, jedoch nicht, wenn sie sich auf trans zendierende und von Gott abhängige Strukturen in Mensch und Natur bezieht, die trotz der Sünde (und Gott sei Dank!) bestehen geblieben sind und sich nach der erneuernden Wirkung Christi und des Heiligen Geistes ausstrecken. Die

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Blanke, Hamann-Studien, 96: "Auch Hamann weiß natürlich, daß dies Ebenbild durch den Fall verwirkt ist, aber nach seiner Überzeugung doch nicht vollständig. Es gibt auch im gefallenen Menschen noch Spuren der früheren Unschuld. Zu ihnen gehört die Fähigkeit, zu sprechen und Gesprochenes zu verstehen. Das ist also göttliches Erbe, ein Band, das auch den gefallenen Menschen mit seinem Gott noch verbindet, und an das darum der Allmächtige, wenn er mit dem Sünder Gemeinschaft stiften will, anknüpfen kann." Im selben Sinne: Leibrecht, Gott und Mensch, 107-114; Alexander, Johann Georg Hamann, Philosophy and faith, 190. Ε. Büchseis These, daß die Ebenbildlichkeit Gottes in Hamanns ' Sprachdenken' keine wichtige Rolle spiele, scheint uns nach allem bisher Gesagten nicht stichhaltig. Vgl. ΗΗΛ, 114, 119 Fußnote 20, 121 f. Diese Unsicherheit zeigt sich auch, wenn er vom genialen Künstler sagt: "Dort kommt noch etwas davon zum Ausdruck, daß der Mensch ursprünglich nach dem Bild Gottes geschaffen ist." Natuur en genade, 268.

4.6 Hermeneutik der menschlichen Natur

151

Sünde kann die in unserer Seele verborgene Frage nach Gott niemals völlig auslöschen, sie kann niemals völlig ungeschehen machen, daß wir 'coram Deo' leben.

4.7 Hermeneutik der Geschichte 4.7.1 Mythologische Umarmung Auslegung als Akt der Demut und Hingabe Hamann widmet die Einleitung der Sokratischen Denkwürdigkeiten der Frage, wie die Geschichte der Philosophie verstanden und dargestellt werden müsse. Er tut dies anhand einer Parabel134: Die Geschichte der Philosophie ist wie das Standbild des berühmten französischen Ministers Richelieu. Diese Statue hat der große Künstler Girardon sehr kunstvoll geschaffen. Ludwig XIV. bezahlte die Unkosten und bewunderte das Bild. Peter der Große jedoch, der in die Niederlande fuhr, um sich im Schiffsbau zu orientieren und so wie Noah und Jesus Zimmermann wurde, beging eine Schwäche: Er ging zum Standbild und bot dem stummen Bild die Hälfte seines Reiches, wenn es ihn lehren würde, die andere Hälfte zu regieren. Mit diesem Gleichnis will Hamann zum Ausdruck bringen, daß man die Geschichte (der Philosophie) auf dreierlei Weise behandeln kann: 1. Man kann ein gelehrtes Kunstwerk daraus machen; Hamann erwähnt die gelehrten 'Kolosse' von Th. Stanley und J.J. Brucker, große Sammelwerke ohne organische Einheit, und das Werk .von A.F.B. Deslandes, eine 'chinesische Kaminpuppe' im Stil des verfeinerten französischen Geschmacks. 2. Andere tun nichts weiter als diese gelehrten Kunstwerke bewundern. 3. Die richtige Haltung jedoch sieht Hamann bei Peter dem Großen135, wie er durch den Vergleich mit Jesus und Noah angibt. Die richtige Haltung im Umgang mit der Geschichte (der Philosophie) zeichnet sich durch Hingabe, Demut und einen applikativen Bezug aus. Peter der Große "both grosmüthig" die Hälfte seines Reiches an; er "begieng eine Schwachheit", indem er seine Unwissenheit und sein Unvermögen bekannte, und wollte etwas von Richelieu lernen. Den applikativen Bezug Peters des Großen vergleicht Hamann mit dem Bildhauer Pygmalion, der sich in das von ihm selbst 134 135

Ν II 62:3-19. Ν II 62:7: " der Scythe [der Russe] aber begieng eine Schwachheit" (kurs. H.V.).

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Kapitel 4 Gegen die natürliche Theologie des 'toten Buchstabens'

geschaffene Venusbild verliebte, es liebevoll umarmte und es so lebendig machte136. Die Geschichte wird nach Ansicht Hamanns für uns nur lebendig, wenn wir ihr gegenüber dieselbe Einstellung haben, die auch zum Verständnis der Heilsgeschichte und der Schrift nötig ist: einen innerlichen und applikativen Bezug und Hingabe, Demut und Bewußtsein der eigenen Unwissenheit. Hamann weist vor allem mit der Pygmalionsage auf die Bedeutung eines emotionalen und liebevollen Bezugs hin137. Nur der 'Liebhaber' 138 kommt mit dem Geheimnis der Geschichte in Berührung. Das heißt nicht, daß der Ausleger selbst das schöpferische Vermögen besitzt, die Geschichte lebendig zu machen. Bei Pygmalion konnte das Wunder nur durch eine zusätzliche Tat der Venus geschehen. Die Geschichte wird nicht durch die schöpferische, sondern durch die mäeutische Tätigkeit des Autors oder Auslegers lebendig139. Von sich selbst sagt Hamann, er sei nicht im Besitz des 'Geheimnisses der Palingenesie" 40 und er könne nicht mehr als der 'Arm eines Wegweisers' sein141. Affektive Kongenialität bedeutet auch nicht, daß die Distanz zum (historischen) Objekt subjektivistisch aufgehoben wird. Ein Bezug, der dem Objekt, auf das er ausgerichtet ist, gerecht wird, kann und muß mit der notwendigen Distanz verbunden sein, wie bei einem Maler, der zurücktritt, um sein Bild aus dem Abstand zu beurteilen142. Eine Haltung der Liebe und Freundschaft impliziert Kongenialität: Pygmalion umarmt sein eigenes Standbild, der Staatsmann Peter der Große bittet den Staatsmann Richelieu um etwas. Hamann formulierte dieses Prinzip der Kongenialität bereits in den Biblischen Betrachtungen: "Die Notwendigkeit, uns als Leser in die Empfindung des Schriftstellers, den wir vor uns haben, zu versetzen, uns seiner Verfassung so viel möglich zu nähern, die wir durch eine glückliche Einbildungskraft uns geben können, zu

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Vgl. Schlüter, H., Das Pygmalion-Symbol bei Rousseau, Hamann, Schiller, Drei Studien zur Geistesgeschichte der Goethezeit, Zürich 1968, 45-71; Sckommodau, H., Pygmalion bei Franzosen und Deutschen im 18. Jahrhundert, Wiesbaden 1970. Über die Somatischen Denkwürdigkeiten selbst sagt Hamann, sie seien nicht ohne "Affect der Freundschaft" (Ν II 61:8), ohne ein wenig "Schwärmerey und Aberglauben" zu verstehen (Ν II 63:31; eine ironische Anspielung auf die Vorwürfe Berens' ihm gegenüber). Vgl. Ν II 150:12, 171:16. ZHI 390:3-: " Pigmalions , große Bildhauer, deren liebreiches Herz den Othem des Lebens ihnen mittheilen wird, si Diis placet." Vgl. Ν II 76:18. Ironisch gegen Historiker, die meinen, dieses Geheimnis wohl zu besitzen, aber nicht weiter kommen als zu einer Konstruktion 'toter* Fakten. Vgl. Ν II 76:25-. Vgl. Ν II 63:18-20; Hoffmann, Johann Georg Hamanns Philologie, 212.

4.7 Hermeneutik der Geschichte

153

welcher uns ein Dichter oder Geschichtsschreiber so viel möglich zu helfen sucht, ist eine Regel, die unter ihrer Bestimmung ebenso nöthig als zu anderen Büchern ist." (Ν I 8:29-). Es ist nicht zufällig, daß dieser Kongenialitätsbegriff bedeutende Übereinstimmungen mit der späteren romantischen Hermeneutik aufweist, denn Hamanns Auffassungen hatten einen wichtigen Einfluß auf seinen Schüler J.G. Herder, der die Hermeneutik der Romantik begründete. Wie sich im nächsten Kapitel noch zeigt, ging gleichzeitig der theologische Rahmen von Hamanns Hermeneutik durch Herders Auslegung weitgehend verloren. Herder und andere verstanden nicht, daß Hamanns Verständnis der Kongenialität nicht individuell-psychologisch, sondern christologisch-typologisch ist. Letzteres kommt in den Sokratischen Denkwürdigkeiten zum Ausdruck, wenn er die Geschichte als 'Mythologie' bezeichnet. Geschichte als Mythologie Im Zusammenhang mit der Parabel von Peter dem Großen weist Hamann auf die Möglichkeit hin, daß so wie die antike Geschichtsschreibung gegenwärtig als Mythologie gesehen wird, später auch die moderne Geschichtsschreibung unter dieses Urteil fallen und 'poetisch' ausgelegt werden wird. Er spielt damit auf die Letters on the study and use of history des englischen Philosophen Bolingbroke an, in denen dieser aufgrund rationalistischer Kriterien behauptet, daß antike (und biblische) Geschichtsschreibung unzuverlässig sei und wie die heidnische Mythologie aus 'Fabeln' bestehe143. Diese 'Fabeln' müßten als Ergebnis menschlicher Einbildung poetisch verstanden werden.

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Bolingbroke, H.StJ., Letters on the study and use of history, To which are added two letters, and reflections upon exile, 2 Bde, (London 1752), New York 1970 [Neudruck], 118: " because such antient history will never gain sufficient credit with any reasonable man." Op.cit., 121: " antient traditions are an heap of fables, under which some particular truths, inscrutable, and therefore useless to mankind, may lie concealed; which have a just pretence to nothing more, and yet impose themselves upon us, and become under the venerable name of antient history the foundations of modern fables; the materials with which so many systems of fancy have been erected." Gegen Bolingbrokes Letters wandte sich James Hervey in Remarks on Lord Bolingbroke's Letters on the study and use of history (1752), von denen Hamann teilweise eine Übersetzung anfertigte. Vgl. Ν IV 441, 447. Vgl.zum Mythenverständnis der Aufklärung: Zedier, J.H., Grosses vollständiges Universal-Lexikon, 68 Bde, Halle/Leipzig 1732-'54, Graz 1961, Bd. 22, Sp. 17611765, s.v. 'Mythologie', und Bd. 27, Sp. 2066-67, s.v. 'Philosophie (Griechische fabelhaffte) oder Mythologische Philosophie'; Poser, H., 'Mythos und Vernunft, Zum Mythenverständnis der Aufklärung', in: Poser, H. (Hrsg.), Philosophie und Mythos, Berlin/New York 1979, 130-153.

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Kapitel 4 Gegen die natürliche Theologie des 'toten Buchstabens'

Wie gesagt wurde man sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts immer stärker der Eigenart der altorientalischen Poesie und Mythologie bewußt. Aus rationalistischer Sicht, wie bei Bolingbroke, bedeutete dies eine Abwertung der alten Geschichtsschreibung, berichtet sie uns doch nicht, was tatsächlich geschehen ist. Andere hingegen, worunter Blackwell und Lowth, schätzten den poetischen und mythologischen Charakter der altorientalischen Literatur als Ausdruck tiefsinniger Weisheit144. An diese positive Beurteilung knüpft Hamann an und baut sie hermeneutisch weiter aus. Im Gegensatz zu Bolingbroke hat er keinerlei Schwierigkeiten mit dem mythologischen Charakter der antiken Geschichtsschreibung. Vielleicht ist es sogar so, daß nicht allein die antike, sondern alle Geschichte und (gute) Geschichtsschreibung mythologisch ist: "Doch vielleicht ist die ganze Historie mehr Mythologie, als es dieser Philosoph meynt, und gleich der Natur ein versiegelt Buch, ein verdecktes Zeugnis, ein Räthsel, das sich nicht auflösen läßt, ohne mit einem andern Kalbe, als unserer Vernunft zu pflügen." (Ν II 65:9-). Nicht nur die Natur, sondern auch die Geschichte ist ein Buch, das nur aufgrund des Buches der Schrift zum Sprechen gelangt. Die Geschichte hat eine typologische Bildstruktur, die nur durch mythologische oder poetische Geschichtsschreibung und nur innerhalb des hermeneutischen Bildhorizonts der Offenbarung verstanden werden kann. Aus einer rationalistischen, historisch-kritischen Sicht bleibt von der Geschichte nicht mehr übrig als eine polyhistorische Reihe von Tatsachen, eventuell mit einem unhistorischen Rahmen verbunden, der über die Geschichte gestülpt wird145.

4.7.2 Prophetische Geschichtsdeutung Kurz nach den Sokratischen Denkwürdigkeiten enfaltet Hamann im zweiten Brief des Kleeblatts Hellenistischer Briefe sein mythologisches Geschichts-

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Zur Zeit Hamanns und Herders gibt es noch keinen klar definierten Mythosbegriff (vgl. Kraus, op.cit., 149 f.). Lowth, Herder u.a. verstehen den Mythos vor allem als sinnlichpoetische Bildersprache, in der die antiken vorphilosophischen Völker ihre Weisheit zum Ausdruck brachten. Diesen Mythenbegriff verarbeitet Hamann in seiner typologischen Hermeneutik. Aesthetica in nuce, Ν II 205:2-: "Wenn unsere Theologie nämlich nicht so viel werth ist als die Mythologie: so ist es uns schlechterdings unmöglich, die Poesie der Heyden zu erreichen - geschweige zu übertreffen; Taugt aber unsere Dichtkunst nicht: so wird unsere Historie noch magerer als Pharaons Kühe aussehen".

4.7 Hermeneutik der Geschichte

155

Verständnis näher146. Das Kleeblatt besteht aus drei Briefen, die er 17591760 vermutlich an den Königsberger Professor für orientalische Sprachen, Georg David Kypke 147 (1724-1779), schreibt und die zum ersten Mal in den Kreuzzügen veröffentlicht werden. Im zweiten Brief entwickelt Hamann seine Gedanken über die Geschichte anhand seines Leseplans, den er Kypke vorlegt. Er schreibt, daß er mit Homer, Pindar und anderen griechischen Dichtern angefangen habe148. Nach der Poesie kommen die Philosophen an die Reihe, vor allem Plato und Aristoteles 149 , wonach er zum Schluß die Historiker liest. Hamann geht also von der Dreiteilung Poesie, Philosophie und Geschichte aus, die wir bereits in der Aesthetica in nuce vorfanden 150 . Dort zeigte sich, daß die Poesie den Vorrang hat, weil sie mit ihrer transzendierenden und analogischen Bildersprache die richtige hermeneutische Perspektive anlegen kann, auf die bei den anderen Wissenschaften nicht zu verzichten ist. So geht Hamann auch von einer hermeneutisehen Rangordnung aus, wenn er in seinem Studienplan der Poesie den Vorrang gibt und die Geschichte als letzte an die Reihe kommt. Dies geht aus seiner Erläuterung zum Geschichtsstudium hervor: "Es gehört beynahe eben die Sagacität und vis diuinandi dazu, das Vergangene als151 die Zukunft zu lesen. Wie man in den Schulen das Neue Testament mit dem Evangelisten Johannes anfängt; so werden auch die Ge144

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Vgl. Löhrer, K., Kommentar & Interpretation zu Johann Georg Hamanns 'Kleeblatt Hellenistischer Briefe', Kopenhagen 1969 [Typoskript]. Vgl. zur Erläuterung des Titels: Ν II 270:20-; Lumpp, Philologia crucis, 168 Fußnote 15. Siehe zu einer Ausgabe (mit Anmerkungen) des zweiten Briefs: Seils, (Hrsg.), Entkleidung und Verklärung, 187-199. Vgl. zu den Argumenten: Hoffmann, Johann Georg Hamanns Philologie, 59·. Vgl. zu Homer: ZH II 1:15-, 4:28-, 4:36-, 5:24-, 23:30-, 97:10-, 115:9, 147:27-. Vgl. zu Euripides: ZH II 10:26- (Abrundung). Vgl. zu Sophokles: ZH II 10:27-, 97:9-. Vgl zu Pindar: ZH II 45:9-, 97:9-. Vgl. zu Aischylos: ZH II 45:10-, 97:7-. Vgl. zu Aristophanes: ZH II 23:27-. 1761-'62 liest Hamann tatsächlich die Werke des Plato und des Aristoteles. Vgl. zu Aristoteles: ZH II 61:35-, 65:10-, 78:8-, 81:34-, 89:15-, 93:18, 97:5-, 103:18. Vgl. zu Plato: ZW II 117:31-(10-10-1761; Anfang derPlatolektüre), 118:20-, 121:7- (Kratylos, über die Sprache), 122:34-, 123:10-, 124:16-, 124:28-, 133:35, 145:11-, 156:1-, 165:10-, 170:8 (18-9-1762: Abrundung). Trotz all dieser Lesearbeit gelangt Hamannn nicht zu einer wirklichen philosophischen Verarbeitung dieser Philosophen. Viele Zitate aus ihren Werken tauchen als Fußnoten oder später hinzugefügte Marginalien auf, sind dann aber eher kryptische Veranschaulichungen Hamannscher Gedankengänge, als daß sie einen eigenen konstruktiven Beitrag leisten könnten. Vgl. Hoffmann, Johann Georg Hamanns Philologie, 104 Fußnote 31. Vgl. Ν II 199:1-, 205:6-, und § 4.5.3. Dieses 'als' lesen wir im Zusammenhang mit 'eben': Um die Vergangenheit lesen zu können, ist genauso viel 'Sagacität' und 'vis divinandi' nötig wie für die Zukunft; Hoffmann liest: "'das Vergangene' ist 'als die Zukunft zu lesen'" ; vgl. Johann Georg Hamanns Philologie, 182.

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Kapitel 4 Gegen die natürliche Theologie des 'toten Buchstabens'

schichtschreiber als die leichtesten Schriftsteller angesehen. Kann man aber das Vergangene kennen, wenn man das Gegenwärtige nicht einmal versteht? ~ Und wer will vom Gegenwärtigen richtige Begriffe nehmen, ohne das Zukünftige zu wissen? Das Zukünftige bestimmt das Gegenwärtige, und dieses das Vergangene, wie die Absicht Beschaffenheit und den Gebrauch der Mittel" (Ν II 175:29-)· In diesem Zitat entwirft Hamann eine hermeneutische Zeitstruktur, in der die Zukunft den Vorrang hat. Der letzte Horizont jeglichen Verständnisses ist der eschatologische: wenn wir den nicht im Blick haben, bleibt auch die Geschichte ein verschlossenes Buch. Wir meinen, es sei leichter, die Geschichte als die Zukunft zu kennen, sind doch die historischen Tatsachen bereits vergangen, liegen fest und können also untersucht werden. Allerdings ist dies ein MißVerständnis, denn ohne den typologisch-eschatologischen Zusammenhang fallen all diese Tatsachen auseinander wie loser Sand. Aus diesem Grunde hat die Poesie in Hamanns Leseplan den Vorrang. Die Dichtung geht der Geschichte und Philosophie hermeneutisch voraus, weil sie aufgrund einer prophetischen Schau der Zukunft Gottes bildhaft die Perspektive enthüllen kann, die allen Tatsachen ihren Sinn verleiht. Ohne die eschatologisch orientierte Enthüllung der Wirklichkeit durch die Dichtung gleicht die Geschichte dem Feld voller verdorrter Totengebeine in der Vision Ezechiels: "Ich möchte eher die Anatomie für einen Schlüssel zum 'Gnoothi seauton' ansehen, als in unsern historischen Skeletten die Kunst zu leben und zu regieren suchen, wie man mir in meiner Jugend erzählen wollen. Das Feld der Geschichte152 ist mir daher immer wie jenes weite Feld vorgekommen, das voller Beine lag, — und siehe! sie waren sehr verdorret. Niemand als ein Prophet kann von diesen Beinen weissagen, daß Adern und Fleisch darauf wachsen und Haut sie überziehe. — Noch ist kein Odem in ihnen — bis der Prophet zum Winde weissagt, und des Herrn Wort zum Winde spricht"153 (Ν II 176:8-). Der Prophet hat hier den Platz des Dichters eingenommen. Die wahre Poesie ist die biblische Prophetie154, die die dürren historischen Fakten in den geistigen und transzendierenden Zusammenhang der Heilsgeschichte stellt. 152

153 1M

Lessing hatte im 52. Litteraturbrief den traurigen Zustand des 'Feldes der Geschichte', und die historischen Quellen, "oft so verderbt und unrein", beklagt; vgl. Lumpp, Philologia crucis, 170 Fußnote 24. Vgl. Ezechiel 37:1-10. In ZH I 367:31 bezeichnet Hamann den 'Christen' und 'Poeten' als Synonyme. Der Poet 'par excellence' ist Gott selbst; vgl. Aesthetica in nuce, Ν II 206:20-: "Der Poet am Anfange der Tage ist derselbe mit dem Dieb am Ende der Tage." (vgl. Offenb. 16:15).

4.7 Hermeneutik der Geschichte

157

Die Geschichte muß von ihrem 'Entwurf' 1 " her, d.h. von der eschatologischen Verheißung Gottes her verstanden werden. Zwischen Zukunft und Vergangenheit liegt die Gegenwart, deren Kenntnis zum Verständnis der Vergangenheit auch nötig ist. Die Zukunft ist die der Poesie eigene Zeitdimension, die Vergangenheit die der Geschichtsschreibung. Zwar sagt Hamann es nicht so ausdrücklich, aber aufgrund des Vorhergehenden ist anzunehmen, daß Hamann die Gegenwart als die der Philosophie eigene Zeitdimension sieht. Die Philosophie, und dabei läßt sich auch an die Physik denken, ist auf analytische Erkenntnis der Gegenwart gerichtet, während der synthetische Zusammenhang der wissenschaftlichen Erkenntnis, wie in der Geschichtswissenschaft, von der prophetischen Poesie her kommen muß156. Vermutlich sucht Hamann mit der Bindung der Philosophie an die Gegenwart eine Möglichkeit, darauf hinzuweisen, daß die Philosophie sich aus dem zeitlichen Zusammenhang der Geschichte lösen will. Die Philosophie ist auf übergeschichtliche Wahrheiten gerichtet, die immer gültig und also immer 'gegenwärtig' sind. Sie kann sich deshalb ganz auf die Gegenwart richten, aber versteht diese nicht als eine 'geschichtliche' Zeitdimension: das 'Jetzt' der Gegenwart ist lediglich Durchgangspunkt für die überzeitliche Wahrheit157. Wenn er die Zukunft als die der Poesie eigene Zeitdimension bezeichnet, macht Hamann deutlich, daß sein Interesse an der altorientalischen Mythologie und Poesie nicht einem nostalgischen Heimweh nach dem verlorenen

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Hoffmann, Johann Georg Hamanns Philologie, 182: "Eine Auslegung, die das Vergangene lebendig erkennen will, muß seiner Genese nachgehen und es von seinem Entwurf her verstehen." Es liegt tatsächlich auf der Hand, wie Hoffmann hier Heideggersche Begriffe zu benutzen. In Heideggers hermeneutischer Zeitanalyse hat die Zukunft den Vorrang, aber seine 'Zukunft' ist eine ganz andere als die Hamanns, nämlich der Tod. Ν II 176:1-: "Um das Gegenwärtige zu verstehen ist uns die Poesie behülflich auf eine synthetische, und die Philosophie, auf eine analytische Weise." Vgl. in Biblische Betrachtungen, ΝI 125:31-: "Der gegenwärtige Augenblick ist nur ein todter Rumpf, dem der Kopf und die Füße fehlen; er bleibt immer auf der Stelle, worauf er liegt. Das Vergangene muß uns offenbart werden und das Zukünftige gleichfalls." Diese Auslegung findet in Ein Fliegender Brief, W (49): 1-, (60): 12- Unterstützung. Hier bindet Hamann Poesie und Philosophie wiederum an eine hermeneutische Zeitstruktur. Poesie läßt das Abwesende der Vergangenheit und der Zukunft gegenwärtig werden. Philosophie macht das Gegenwärtige abwesend: "wirkliche Gegenstände zu nackten Begriffen und bloß denkbaren Merkmalen, zu reinen Erscheinungen und Phänomenen entkleidet." (W (49):7-). In diesem Zitat bezieht sich Hamann auf die Erkenntnislehre Kants, der in der Kritik der reinen Vernunft erklärt, das 'Ding an sich' könne nicht erkannt werden, sondern lediglich seine transzendental strukturierte Erscheinung. Vgl. § 6.5.2; Wild, 'Metacriticus bonae spei', 177-182.

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Kapitel 4 Gegen die natürliche Theologie des 'toten Buchstabens*

Paradies entspringt. Seiner Ansicht nach wird der wahre Dichter nicht von einer romantischen Regression, sondern von der prophetischen und eschatologischen Erwartung der Zukunft Gottes getrieben. Der 'Fluchtpunkt' seiner hermeneutischen Perspektive liegt nicht in der Vergangenheit, sondern im Tag der Wiederkunft. Im Vergleich zu den Londoner Schriften bedeutet dies eine Erweiterung des Blickfeldes. Nicht daß die christologische Konzentration geringer wäre, aber sie ist nun in eine starke eschatologische Bewegung aufgenommen. Der zweite Teil des Briefes knüpft bei der vieldiskutierten Frage an, was nun die Grundregel der schönen Künste sein müsse: 'Nachahmung der Natur' oder 'Nachahmung der Alten'?158 "Wo ist die Auslegung von beyden, die unser Verständnis öfnet?" (Ν II 177:15-). Indem er die Frage so stellt159, weist Hamann bereits in die Richtung seiner Antwort: "Wer kein Fell über sein Auge hat, für den hat Homer keine Decke160. Wer den hellen Tag noch nie gesehen161, an den werden weder Didymus noch Eusthatius162 Wunder thun." (Ν II 177:21-). Diese Zitate zeigen noch einmal, daß die theologische Hermeneutik für Hamann zugleich Ausgangspunkt der allgemeinen Hermeneutik ist. Etwas herausfordernd formuliert könnte man sagen: ein Christ versteht den Heiden besser als der Heide sich selbst.

4.7.3 Exkurs: Hamann und das Geschichtsverständnis des 18. Jahrhunderts Gegenstand vieler Diskussionen ist die Frage, inwieweit das Denken im 18. Jahrhundert ein historisches Bewußtsein, ein Bewußtsein der Eigenart der geschichtlichen Dynamik und des geschichtlichen Fortschritts besaß. Cassirer lehnt die gängige Auffassung ab, "daß das achtzehnte Jahrhundert ein spezifisch-'unhistorisches' Jahrhundert gewesen sei". "Denn das achtzehnte Jahrhundert ist es gewesen, das auch in diesem Gebiet die eigentlich-philosophische Grundfrage gestellt hat."163

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Darüber unten in § 4.9.1 mehr. Vgl. Lukas 24:27, 45 (Jesus legt den Emmausjüngem die Schrift aus). Vgl. Exodus 34:29- (Moses bedeckt sein strahlendes Angesicht vor dem Volk); 2 Kor. 3:13- ("Moses, der die Decke vor sein Angesicht hing", "bleibt dieselbe Decke unaufgedeckt über dem alten Testament, wenn sie es lesen, welche in Christo aufhöret", "die Decke vor ihrem Herzen"). Vgl. Johannes 8:56: "Abraham, euer Vater, ward froh, daß er meinen Tag sehen sollte, und er sah ihn und freuete sich." Zwei Homerspezialisten. Cassirer, op.cit., 263.

4.7 Hermeneutik der Geschichte

159

Vor allem seit Augustinus entstand in der Theologie und Philosophie Verständnis für das, was wir als echte Geschichte bezeichnen möchten. Unter 'echter' Geschichte verstehen wir die kontingente und lineare Dynamik zwischen Gott und Mensch und den Menschen untereinander. Die Zukunft liegt offen, und es können wirklich neue Dinge erwartet werden. Die Heilsgeschichte ist ein universaler Zusammenhang der Sinngebung, dessen Mittelpunkt die Inkarnation ist und in dem die 'zufälligen GeschichtsWahrheiten' ihren sinnvollen Platz erhalten. Demgegenüber bietet dieser christozentrische Bedeutungszusammenhang dem modernen Geschichtsbewußtsein zu wenig Raum für die historische Distanz, Einzigartigkeit und Relativität. Dies moderne Geschichtsbewußtsein setzt sich im 18. Jahrhundert endgültig durch und kommt in der Säkularisierung der Geschichtsschreibung zum Ausdruck164. Voltaire, Hume und Gibbon schreiben die ersten großen Geschichtswerke, die nicht mehr von der christlichen Geschichtsperspektive ausgehen165. Als die Geschichte jedoch nicht mehr im christlichen Zusammenhang, sondern eher wie u.a. bei Voltaire von einer stark antichristlichen Gefühlsposition her verstanden wird, drängt sich die Frage auf, welcher andere Zusammenhang den geschichtlichen Tatsachen wieder einen Sinn geben kann. Man könnte sagen, daß das achtzehnte Jahrhundert tatsächlich die Geschichte entdeckt hat, jedoch vor allem als Problem. Es entdeckte die geschichtlichen Tatsachen in ihrer kontingenten Fremdheit, einer Fremdheit, die nur durch das Anbringen eines neuen hermeneutischen Horizonts überwunden werden kann; aber welches? Viele, unter ihnen auch Voltaire, nahmen die Physik zum Vorbild und versuchten, die kontingenten Phänomene auf übergeschichtliche psychologische und moralische Gesetze zurückzuführen166. Dadurch drohte das spezifisch 'Geschichtliche' jedoch wieder verloren zu gehen, was zur Schlußfolgerung verleiten kann, daß das Denken im achtzehnten Jahrhundert unhistorisch gewesen sei. Bayle und Hume gingen den Weg der Skepsis: "Das historische Sein liegt vor Bayle wie ein ungeheurer Trümmerhaufen; Eine eigentliche geschichtsphilosophische Absicht, eine teleologische Gesamtdeutung der Geschichte liegt daher Bayle gänzlich fern"167; und Hume "glaubt nicht 164

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Gay, P., The Enlightenment, An interpretation, The science of freedom (1969), New York/London 1977, 385: "The philosophes made their revolution in history by secularizing its subject matter." Voltaire, (Francois Marie Arouet de), Essai sur les moeurs et I'esprit des nations (1756); Hume, D„ History of England (1759-1762); Gibbon, E., The decline and fall of the Roman empire (1776-1788). Vgl. Cassirer, op.cit., 293-295. Cassirer, op.cit., 272 f.

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Kapitel 4 Gegen die natürliche Theologie des 'toten Buchstabens'

länger, in den tiefsten Sinn des Geschehens eindringen und seinen Plan enthüllen zu können."16* Lessing und Herder stellten die geschichtlichen Tatsachen in den Zusammenhang der Entwicklung und des Fortschritts. Bei Lessing war jedoch noch der Hintergrund der 'notwendigen Vernunftwahrheiten' vorherrschend, während Herder nach Ansicht Cassirers "den Bann des Identitätsprinzips endgültig gebrochen" hat169. Doch gab es auch bei Herder - auf den wir im nächsten Kapitel noch näher eingehen werden - zwei starke vereinheitlichende Grundmotive: sein Humanitätsideal und seinen deterministischen Pantheismus. Am stärksten war die Krise des Geschichtsverständnisses in der Theologie spürbar. Dort verursachte die historische Kritik eine starke Verfremdung von Schrift und Tradition, was viele dazu veranlaßte, den Glauben auf eine Reihe ewiger Grundwahrheiten zu reduzieren, die nicht durch die kontingente Dynamik der Geschichte beeinträchtigt werden können170. Im achtzehnten Jahrhundert war ein zentrales Problem die ausgewogene Bestimmung des Verhältnisses von Notwendigkeit und Kontingenz, Ewigem und Zeitlichem, Allgemeinem und Persönlichem, Deduktion und Induktion usw. Seit Newton schien man für dieses Problem im Bereich der Physik eine Lösung zu finden. Eine philosophische Grundlage hierfür lieferte Kant mit seinen 'synthetischen Urteilen a priori'. Herder unternahm einen ähnlichen Versuch für die Geisteswissenschaften. Angesichts der drohenden Sinnlosigkeit der Geschichte trat Hamann jedoch für die 'altmodische' Lösung ein. Auf neue Weise vertrat er die klassisch-christliche Auffassung, daß der einzigartige Sinn geschichtlicher Tatsachen sich nur innerhalb der typologischen Perspektive der Heilsgeschichte erhellt. Innerhalb dieses Horizonts zerfällt die Geschichte nicht in einen 'Trümmerhaufen' von Fakten und wird auch nicht auf eine Reihe von Veranschaulichungen allgemeiner und zeitloser Wahrheiten reduziert171.

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Cassirer, op.cit., 304. Gay, op.cit., 381: "The germs of historicism are in these views: the historians of the Enlightenment were not quite so different from Ranke as Ranke and his followers liked to believe." Cassirer, op.cit., 309. In Anknüpfung an die Studien von E. Auerbach beschreibt H.W. Frei in The eclipse of biblical narrative, A study in eighteenth and nineteenth century hermeneutics. New Haven/London 1974, wie in der biblischen Hermeneutik des achtzehnten Jahrhunderts der historische Realismus und die typologische Bedeutung, die bis dahin eine Einheit gebildet hatten, auseinanderfallen. Seit diesem Bruch stehen typologische und historisch-kritische Exegese als zwei Arten der Bibelauslegung einander gegenüber. Goppelt, op.cit., 243, zur neutestamentlichen Typologie: "Die Typologie entnimmt die ntl Heilsgeschichte der bloß kontingenten Faktizität und stellt sie unter den ewigen Heilsratschluß Gottes".

4.7 Hermeneutik der Geschichte

161

Lediglich im Licht der Offenbarung kann die geschichtliche und endliche Tatsache sinnvoll werden172. Zwei Jahrhunderte nach Hamann scheint die Welt der Wissenschaften endgültig in eine große Zahl selbständiger Fachgebiete zerfallen zu sein, unter denen die Theologie eine von vielen ist, wobei allerdings ein chronischer Zweifel über ihren wissenschaftlichen Status besteht. Die Frage nach dem letzten, umfassenden Horizont, in dem all diese wissenschaftliche Erkenntnis ausgerichtet und zu einem sinnvollen Ganzen zusammengefaßt werden kann, ist freilich immer noch aktuell. Hamann regt dazu an, aufs Neue zu erwägen, ob die Bild-Geschichten der Schrift uns diese Perspektive eröffnen können, und befürwortet durch den Vorrang, den er der prophetischen Poesie einräumt, implizit den hermeneutischen Vorrang der Theologie. Auf die Geschichte zugespitzt stellt sich die Frage: Muß eine Hermeneutik der Geschichte und Geschichtsschreibung nicht auf eine christologische Hermeneutik universeller Tragweite zurückgreifen? Oder können die letzten Fragen der Sinngebung und des Sinnverständnisses anderswo beantwortet werden?173

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173

Metzke, J.G. Hamanns Stellung, 112: "Hamann hat die Geschichte also zugleich als ein sinnhaftes Geschehen erlebt, das mehr ist als eine Reihe von Vorgängen, das gerade als Geschichte über sich als bloße empirische Tatsächlichkeit hinausweist, allerdings nicht auf eine Idee , sondern auf Gott als geschichtlich Handelnden." Christus, de zin der geschiedenis (Nijkerk 19593), lautet der Titel eines Buches von H. Berkhof. Im letztem Kapitel, in dem es um die 'Deutung der Geschichte* geht, sagt Berkhof, die Offenbarung sei ein Geheimnis, das im Eschaton offenbar werde, aber jetzt noch in der Relativität der Geschichte verborgen sei. Doch sei die Verborgenheit kein Grund zur Skepsis: "Was aber dann? Müssen wir dann also schweigen? Und in zwei Welten leben, in einer Welt der historisierenden Geschichtsbetrachtung und in einer zweiten Welt abstrakter Urteile Gottes über die Geschichte, einer Welt, die mit der ersten nicht im Zusammenhang steht? Das kann nicht die Alternative sein. Denn Relaüvität bedeutet noch nicht Agnostizismus. Die Tatsache, daß das Reich Christi und das des Antichristen beide noch nicht offenbar, sondern unter dem Schein des Gegenteils verborgen und überall miteinander verstrickt sind, bedeutet nicht, daß es nichts zu sehen und zu erkennen gäbe. Die Weltgeschichte ist nicht schwarz-weiß, aber auch nicht gleichmäßig grau. Das Auge des Glaubens unterscheidet dunkelgrau und hellgrau, und es weiß, daß diese Gradunterschiede von grundsätzlichen Unterschieden herrühren." (187). Die Auffassung, die Berkhof hier äußert, ist im Wesen die gleiche wie die Hamanns. Und obwohl er darin nuancierter als Hamann ist, ist auch Berkhof der Auffassung, daß eine christliche Geschichtsdeutung nicht auf die analogische oder typologische Methode verzichten könne. Vgl. op.cit., 124-126. Vgl. auch: Berkhof, H., Christelijk geloof, Een inleiding tot de geloofsleer, Fünfte, überarbeitete Auflage, Nijkerk 1985, 47.

162

Kapitel 4 Gegen die natürliche Theologie des 'toten Buchstabens'

4.8 Hermeneutik der Schrift Im vorigen Kapitel wurde bereits vieles zu Hamanns Schriftauffassung in den Londoner Schriften gesagt. In den Kreuzzügen tauchen dieselben Grundzüge wieder auf, nun allerdings konkretisiert und entfaltet in der Polemik mit anderen, unter denen Michaelis den wichtigsten Platz einnimmt. Johann David Michaelis (1717-1791)174 wird von H.-J. Kraus als der wichtigste Alttestamentler des achtzehnten Jahrhunderts bezeichnet175. Hamann polemisiert in den Kreuzzügen also nicht gegen den ersten Besten, sondern gegen den Vertreter der modernen Bibelwissenschaft schlechthin. Hamanns Kritik betrifft drei Punkte: die Typologie, den mangelhaften Stil der Schrift und die Entstehung der profanen Philologie in der Bibelwissenschaft.

4.8.1 Typologie Michaelis rationalistisches Bibelverständnis kommt stark in seiner Auffassung der bei Hamann so beliebten Typologie zum Ausdruck176. Im Entwurf der typischen Gottesgelartheit (1753) und in seinen Anmerkungen zu Lowths De sacra poesi lehnt Michaelis die typologische Schriftauslegung zwar nicht ab, schränkt sie jedoch mittels strenger Regeln stark ein. Seiner Ansicht nach ist es grundsätzlich möglich, daß ein biblisches Sinnbild zugleich eine historische, eine dogmatische und eine typologische Bedeutung hat177. Grundregel muß allerdings sein, daß ein Text niemals mehr als eine typologische Bedeutung haben kann178. Es liegt Michaelis viel an der "Gewißheit

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Vgl. Zu einer biographischen Skizze über Michaelis: O'Flaherty, J.C., 'J.D. Michaelis: Rational Biblicist', in: The journal of English and Germanic philology, 49 (1950), 172181; Smend, R., 'Johann David Michaelis und Johann Gottfried Eichhorn - zwei Orientalisten am Rande der Theologie', in: Moeller, B., (Hrsg.), Theologie in Göttingen, Eine Vorlesungsreihe, Göttingen 1987, (58-81), 59-71; Entscheidend für Michaelis' weiteres Leben ist sein Besuch 1741-'42 in England, wo er stark unter den Einfluß der Aufklärungstheologie gerät. Mehr inhaltlich zu Michaelis: Hoffmann, Johann Georg Hamanns Philologie, 21, 23, 27, Kap. III C, D, E, F.; Kraus, op.cit., 97103. Ein Überblick über die Beziehung Michaelis - Hamann ist: Ringleben, J.f 'Göttinger Aufklärungstheologie - von Königsberg her gesehen', in: Moeller, (Hrsg.), Theologie in Göttingen, (82-110), 83-99. Vgl. Kraus, op.cit., 97. Vgl. hierzu: Kraus, op.cit., 102 f.; Hoffmann, Johann Georg Hamanns Philologie, 188 f. Vgl. Michaelis, Entwurf, 19 f. Als 'Sinnbild' kann ein Text also mehrere Bedeutungsschichten haben, aber als typologisches 'Vorbild' nur eine. So kann ein Bild nicht zugleich 'Typos' von Christus und der Kirche sein. Vgl. Michaelis, Entwurf, 47.

4.8 Hermeneutik der Schrift

163

und Zuverläßigkeit in der Auslegung der heiligen Schrift"179, und er kann nicht glauben, daß "GOtt uns eine Offenbarung habe schenken wollen, die dergestalt nicht zweydeutig, sondern vieldeutig sey, daß wir den Sinn GOttes nie mit Gewißheit erreichen können"180. Hamann wendet sich gegen diesen typologischen Monismus181, weil es dann seiner Ansicht nach nicht mehr möglich ist, daß im menschlichen Text das dynamische Reden Gottes hörbar wird und der Text Bindeglied in der horizontal-typologischen Heilsgeschichte wird. Die Tatsache, daß in dem einen Text das Göttliche und Menschliche, sowie Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zusammentreffen, setzt eine typologische Mehrdimensionalität und Beweglichkeit des Textes voraus, ohne die er gesetzlich fixiert wird oder in lose Atome zerfallt. Als Hamann sich in der Aesthetica in nuce unmittelbar an Michaelis wendet und seine Schriftauffassung kritisiert, richtet er sich in einer langen Fußnote zugleich gegen einen Geistesverwandten von Michaelis, den deistischen Theologen George Benson (1699-1762). Für die deutsche Übersetzung seiner Paraphrase einer Reihe neutestamentlicher Bücher182 hatte Benson eine Einleitung unter dem Titel geschrieben: 'Abhandlung von der Einheit des Verstandes der heiligen Schrift, darin gezeigt wird, daß keine Stelle der heiligen Schrift mehr als einen einzigen Verstand habe'. Im Blick auf diese Einleitung fragt Hamann sich zunächst, warum Einheit und typologische Vielfalt im Verständnis der Schrift nicht miteinander vereinbar sein könnten183. Danach geht er auf die gängige Bezeichnung der typologischen Bedeutung als 'mystische' Bedeutung ein und wendet gegen Benson ein, daß eher die buchstäbliche Bedeutung eines Textes als mystisch bezeichnet werden müsse. Denn welche alle Umstände umfassende Kenntnis ist zur Bestimmung der buchstäblichen Bedeutung nicht schon nötig, und wie 175 180

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183

Michaelis, Entwurf, 41. Michaelis, Entwurf, 41, vgl. 47. Er wendet sich deshalb gegen die Coccejaner, die "einerley Weissagungen für mehrmal erfüllet halten". Michaelis, Entwurf, 40. Vgl. zu Michaelis Kritik am Typologieverständnis Lowths: Lowth, Lectures, Bd. I, 238: " this hypothesis of a double sense being applicable to the same words, is far from resting on any solid ground of argument" und 244: " but let us remember, that we have no right to say a work has relation to every person of whom something similar might be said, but to that person alone, who is the actual subject of it. If Christ, therefore, be the subject of this poem [Ps. 2], let us set aside David altogether." Vgl. Ν IV 284:43- und 287:3-, wo Hamann ironisch über Michaelis' "Furchtsamkeit und Gelehrsamkeit" bei der Anwendung der Typologie spricht. Benson, G., Paraphrastische Erklärung und Anmerkungen über einige Bächer des Neuen Testaments, übers, von J.P. Bamberger, Leipzig 1761. Ν II 203:31-: "Zuförderst müste man D. George Benson fragen: ob die Einheit mit der Mannigfaltigkeit nicht bestehen könne?" Vgl. zu dieser Frage § 4.4.1, über Hamanns Betrachtungen zum Augustinuszitat in Chladenius.

164

Kapitel 4 Gegen die natürliche Theologie des 'toten Buchstabens'

kann überhaupt jemals ein objektiver Standpunkt erreicht werden?184 Nicht daß die buchstäbliche Bedeutung unwichtig wäre, aber abgesehen davon, daß sie durch eine typologische Deutung nicht verlorengeht185, ist sie häufig mindestens ebenso schwer festzustellen.

4.8.2 Die unreine Sprache der Schrift; 'Kleeblatt Γ Im ersten, sehr inhaltsreichen Brief des Kleeblatts186 knüpft Hamann bei der alten, aber in seiner Zeit noch aktuellen Diskussion über die Reinheit des neutestamentlichen Griechisch an187. Aus dogmatischen Gründen waren einige Gelehrte der Ansicht, das neutestamentliche Griechisch könne keine Hebraismen, Latinismen, usw. enthalten. Michaelis gibt in den §§ 19-28 seiner Einleitung in die göttlichen Schriften des Neuen Bundes (1750) einen Überblick über die Geschichte dieser Diskussion. Michaelis selbst ist der Meinung, daß das Griechische des Neuen Testaments durchaus durch allerlei '-ismen' 'verunreinigt' sei und schließt sich damit G.D. Kypke an, der in seinen Observationes sacrae (1755) eine Sammlung von Paralleltexten aus den Kontextsprachen zusammengestellt hat. Im ersten Brief seines Kleeblatts ergreift Hamann für den Standpunkt Michaelis und Kypkes Partei. Von ungebildeten Männern in einer jüdischrömisch-hellenistischen Umgebung geschrieben, könne das Griechische des Neuen Testaments nicht anders als 'unrein' sein188. Für Kypke und Michaelis 184

185 186

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Ν II 203:35-: "Der buchstäbliche oder grammatische, der fleischliche oder dialectische, der kapernaitische oder historische Sinn sind im höchsten Grade mystisch, und hängen von solchen augenblicklichen, spirituösen, willkührlichen Nebenbestimmungen und Umständen ab, daß man ohne hinauf gen Himmel zu fahren, die Schlüssel ihrer Erkenntnis nicht herabholen kann, und keine Reise über das Meer noch in die Gegenden solcher Schatten [Vgl.: Homer, Odyssee, elfter Gesang] scheuen muß [Anspielung auf die dänische Expedition von Michaelis]." Vgl. zur Deutung dieser Stelle: Unger, Hamann und die Aufklärung, 242-245; J0rgensen, 'Kommentar*, 102, 104; Lumpp, Philologia crucis, 72-74; Hoffmann, Johann Georg Hamanns Philologie, 187 f. Vgl. Ν II 203:2-, Eine Ausgabe mit Anmerkungen ist: Seils, (Hrsg.), Entkleidung und Verklärung, 261269. Vgl. zu diesem Streit: Irmscher, J., 'Der Streit um das Bibelgriechisch', in: Acta antiqua academiae scientiarum Hungaricae, 7 (1959), 127-134; Sandt, H.W.M. van de, Joan Alberti, een Nederlandse theoloog en classicus in de achttiende eeuw, Utrecht 1984, 119-121,202-216. Ν II 169:33-: "Es fällt mir sehr bequem zu glauben, daß die Bücher des neuen Bundes 'ebraisti, ell&nisti, römaisti' geschrieben sind, wie der Titel des Kreutzes. Joh. 19, 20. Wenn es wahr ist, daß sie im jüdischen Lande unter der Herrschaft der Römer von Leuten, die keine literati ihres Seculi waren, aufgesetzt worden: so ist der Charackter

4.8 Hermeneutik der Schrift

165

ist dieses allgemeine hermeneutische Argument eine ausreichende Unterstützung ihres Standpunktes, aber Hamann geht darüber hinaus und verstärkt seine Verteidigung der Unreinheit des neutestamentlichen Griechisch durch eine spezifisch theologische Argumentation. Er tut dies in einem hervorragenden Abschnitt, dessen wichtigste Stellen zitiert werden sollen: "Es gehört zur Einheit der göttlichen Offenbarung, daß der Geist GOttes sich durch den Menschengriffel der heiligen Männer, die von ihm getrieben worden, sich eben so erniedrigt und seiner Majestät entäußert, als der Sohn Gottes durch die Knechtsgestalt und wie die ganze Schöpfung ein Werk der höchsten Demuth ist. Den allein weisen GOtt in der Natur bloß bewundern ist vielleicht eine ähnliche Beleidigung mit dem Schimpf, den man einem vernünftigen Mann erweist, dessen Werth nach seinen Rock der Pöbel schätzet. Wenn also die göttliche Schreibart auch das alberne - das seichte - das unedle erwählt, um die Stärke und Ingenuität aller Profanscribenten zu beschämen: so gehören freylich erleuchtete, begeisterte, mit Eyfersucht gewaffnete Augen eines Freundes, eines Vertrauten, eines Liebhabers dazu, in solcher Verkleidung die Strahlen himmlischer Herrlichkeit zu erkennen. Es gilt auch hier: Vox populi, vox Dei. Wir haben diesen Schatz göttlicher Urkunden mit Paulo zu reden, 'ev ostrakinois skeuesin, hina fc huperbolö t&s dunameoos ei tou Theou kai m& ex h£moon' lw und der Stylus curiaedes Himmelreichs bleibt wohl, besonders in Vergleichung asiatischer Höfe, der sanftmüthigste und demüthigste1*1. Das äußerliche Ansehen des Buchstabens ist dem unberittenen Füllen einer lastbaren Eselin" 2 ähnlicher, als jenen stolzen Hengsten, die dem Phaeton1'3 die Hälse brachen; Der Zeitungs- und Briefstyl gehören nach allen Rhetoricken zum humili generi dicendi, von dem uns wenig analoges in der griechischen Sprache übrig geblieben. In diesem Geschmack muß gleichwohl die Schreibart der Bücher des N.B. beurtheilt werden, und hierinnen sind sie gewissermaßen original"4." (Ν II 171:4-). In vier Punkten sollen nun die Grundgedanken dieses konzentrierten Textes dargelegt werden.

1,9 ,so 1,1 m 193

ihrer Schreibart der avthenikeste [sie!] Beweiß für die Urheber, den Ort und die Zeit dieser Bücher. Im wiedrigen Falle würde die Kritick unendlich mehr für sich haben, sich gegen die Zuverlässigkeit derselben ungläubig zu gebärden." 2. Kor. 4:7: "Wir haben aber solchen Schatz in irdischen Gefäßen, auf daß die überschwängliche Kraft sei GOttes, und nicht von uns". Hof-, Kanzleistil. Vgl. Math. 21:5: "Saget der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig, und reitet auf einem Esel, und auf einem Füllen der lastbaren Eselin." Vgl. die vorige Fußnote. Der verwegene Sohn des Sonnengottes Helios. Anspielung auf Conjectures on original composition (1759) von Ε. Young. Vgl. §4.9.1.

166

Kapitel 4 Gegen die natürliche Theologie des 'toten Buchstabens'

1. Im Kleeblatt tritt Hamann mit zeitgenössischen Exegeten wie Michaelis und Kypke in Diskussion, die wesentlich dazu beigetragen haben, daß die Philologie und Hermeneutik des 18. Jahrhunderts sich von der biblischen Hermeneutik befreiten. Stand bis zum 17. Jahrhundert die profane Philologie im Schatten der biblischen Philologie, so kehrte sich das Verhältnis im 18. Jahrhundert um, und die Bibel galt philologisch-hermeneutisch immer mehr als ein gewöhnliches Buch, genauso menschlich wie alle anderen. Deshalb konnte Michaelis aus allgemeinen hermeneutischen Erwägungen die sprachliche Unzulänglichkeit der Schrift hinnehmen. Hamann lehnt die Ergebnisse der modernen Bibelforschung nicht ohne weiteres ab, wendet sich jedoch gegen die ihr zugrunde liegenden hermeneutischen Grundsätze. Für ihn wird die Entdeckung des menschlichen Charakters der Schrift Anlaß, die biblische Hermeneutik theologisch fest in der Gottes- und Offenbarungslehre zu verankern. Die Menschlichkeit der Schrift ist keine Bedrohung ihres göttlichen Gehalts und ist auch keine profane Menschlichkeit, sondern durch Gottes Demut und Liebe akzeptierte Menschlichkeit!195 Die Unreinheit der Schrift ist ein wesentlicher Aspekt des Kreuzescharakters der Offenbarung. Den Rhetorikbüchern zufolge gehört der Stil des Neuen Testaments zum 'humilis genus dicendi'. Hamann ist sich dessen noch bewußt, daß die 'humilitas' dieses Stils durch die Niedrigkeit Gottes selbst in der Schöpfung, Inkarnation und Inspiration hervorgerufen wurde196. Michaelis stört sich nicht an der sprachlichen Unreinheit der Schrift. Daß er dennoch kein Verständnis für deren theologisch-hermeneutische Bedeutung hat, erweist sich nach Hamanns Meinung allerdings in Michaelis' Verurteilung der Nachahmung hebräischer Poesie in der neuen geistlichen Dichtung und Kanzelsprache197. Für Hamann ist es selbstverständlich, daß es

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Die Verbindung der Menschlichkeit der Schrift mit der Kondeszendenz Gottes ist auch in der Schriftlehre K. Barths wesentlich. Barth, K., Die Kirchliche Dogmatik, Die Lehre vom Wort Gottes, Bd. 1,2, (19391), Zollikon/Zürich 1945\ 783 f.: "Seine Kondeszendenz, seine Selbstpreisgabe, seine Herablassung - anhebend in seinem Einswerden mit der menschlichen Natur in Jesus Christus, fortgehend in der Berufung seiner ersten Zeugen, vollendet sich darin, daß es durch das Wort der ersten Zeugen auch zu uns kommt, um uns zu Glaubenden und zu Zeugen zu erwecken." Vgl. zum Thema der Kondeszendenz Gottes auch: KD 11,1, 579-583; Die Kirchliche Dogmatik, Die Lehre von der Versöhnung, Bd. IV, 1, Zollikon/Zürich 1953, 145-148. Die traditionsgeschichtliche Richtigkeit dieser Erkenntnis ist in den oben erörterten Studien von Erich Auerbach nachgewiesen. Vgl. § 3.5. Vgl. Lowth, R., De sacra poesi Hebraeorum praelectiones academiae Oxonii, Notas et epimetra adiecit Joannes David Michaelis, Goettingae 1758, XIX (dieser Abschnitt wird in Löhrer, op.cit., 170 f. zitiert und übersetzt). Vgl. zur hebraisierenden Dichtung: Hoffmann, Johann Georg Hamanns Philologie, 166.

4.8 Hermeneutik der Schrift

167

orientalische Elemente in der gegenwärtigen christlichen Kanzelsprache gibt, wenn die christliche 'Denkungsart' jüdischen Ursprungs ist198. Michaelis' puristische Auffassung in diesem Punkt ist für Hamann ein Zeichen dafür, daß Michaelis mit dem menschlichen Aspekt der Offenbarung theologisch doch nichts anzufangen weiß. 2. Die göttliche Offenbarung nimmt Knechtsgestalt an, ist in 'irdenen Gefäßen' verborgen. Deshalb sind kongeniale Augen eines 'Freundes', eines 'Liebhabers' 199 nötig, um das Göttliche im Menschlichen, den 'Schatz' in den 'irdenen Gefäßen', zu entdecken. Nur demütige Augen sehen das Licht der demütigen Offenbarung Gottes, und das bedeutet, daß profane philologische Erkenntnis allein für eine richtige Schriftauslegung unzureichend ist200 3. Das Mangelhafte und Menschliche an der Bibel ist für den gläubigen Leser eine Quelle der Freude und Dankbarkeit, denn er erkennt darin Gottes kondeszendierende Liebe; aber für den Philosophen und Exegeten, der nur für das 'Schöne und Erhabene' einen Blick hat, ist es Quelle des Ärgernisses und der Verwirrung. An diesem Ärgernis kann der hochmütige Leser sich festbeißen und sich verhärten; er kann allerdings auch in seiner Selbstsicherheit so erschüttert werden, daß der Weg der Demut geöffnet wird. 4. Im ersten Absatz der hier behandelten Stelle weist Hamann ausdrücklich darauf hin, daß alle Werke Gottes ihre Einheit in seiner kondeszendierenden Liebe finden. In Schöpfung, Versöhnung und Schrift geht Gott ein in eine Geschichte der sich intensivierenden Liebe, die in einer zunehmenden Herablassung in das Menschliche zum Ausdruck kommt. Wer Gott lediglich als den weisen, allmächtigen Gott aus der Natur kennt201, kennt ihn erst von der 'Außenseite'. Zusammenfassend läßt sich wie im vorigen Paragraphen feststellen, daß die neuen philologischen und hermeneutischen Erkenntnisse für Hamann kein Anlaß sind, die traditionelle biblische Hermeneutik aufzugeben und als eine Sonderform der allgemeinen Hermeneutik zu behandeln, sondern gerade umgekehrt Anlaß, die biblische Hermeneutik theologisch so zu vertiefen und

199 200

201

Ν II 170:37-: "Kurz, das Orientalische in unserm Kanzelstyl führt uns auf die Wiege unsers Geschlechts und unsrer Religion zurück". Hamann bezieht sich damit zugleich auf Michaelis Beantwortung, in der das Verhältnis von 'Sprache' und 'Denkungsart' im Mittelpunkt steht. Auf dieses Thema kommt Hamann im Versuch über eine akademische Frage zurück. Vgl. zur Poesie in der Kanselsprache: ZH I 368:26 bis einschl. 369:12. Wie Pygmalion. Vgl. § 4.7.1. Ν II 169:21-: "Der Streit über die Sprache und Schreibart des Neuen Testaments ist mir nicht ganz unbekannt; ich zweifele daher, daß eine bloße Sprachkunst hinreiche den Widerspruch der Meynungen aufzuheben. Hierzu gehört wirklich eine höhere Philosophie" (kurs. H.V.). Eine Gefahr der Physikotheologie; vgl. § 3.4.1: Die Eigenschaften.

168

Kapitel 4 Gegen die natürliche Theologie des 'toten Buchstabens'

zu nuancieren, daß die neue Erkenntnis darin integriert werden und sie selbst ihre universelle hermeneutische Tragweite behalten kann202.

4.8.3 Michaelis' exegetischer Positivismus; 'Kleeblatt III' Im dritten Brief des Kleeblatts ist Michaelis wiederum Zielscheibe der Kritik Hamanns, und diesmal noch viel unverhohlener. Anlaß ist Michaelis Beurtheilung der Mittel, welche man anwendet, die ausgestorbene Hebräische Sprache zu verstehen (1757). Das biblische Hebräisch ist eine tote Sprache, wie kann der moderne Mensch sie noch verstehen? Michaelis legt dar, welche philologischen Kenntnisse für ein gutes Verständnis der Bibel nötig sind. Insbesondere gediegene Kenntnis der benachbarten 'Dialekte': Syrisch, Chaldäisch, Äthiopisch, Samaritanisch, Talmudisch und vor allem Arabisch hält er für unentbehrlich. Viel Aufmerksamkeit widmet er in diesem Zusammenhang den grundlegenden Origines hebraeae (1761) des Niederländers Albert Schultens, einem Werk, das Hamann in seinem dritten Brief ausführlich zitiert. Der Titel von Michaelis' Beurtheilung ist an sich schon eine Herausforderung für Hamann203: Wie wird die 'tote' Sprache des Alten Testaments wieder 'lebendig'? Nach allem bisher Gesagten dürfte Hamanns Antwort bekannt sein: durch den Geist und nicht nur durch philologische Gelehrtheit. Michaelis' Beurtheilung weckt den Eindruck, als hätten nur gelehrte Orientalisten noch Zugang zum Geheimnis der Schrift, aber das ist nach Hamanns Ansicht der hermeneutische Grundfehler der modernen Exegese. Die philologischen Kenntnisse mögen noch so groß sein, ohne die befruchtende Wirkung des Heiligen Geistes bleibt die Sprache der Schrift so tot wie die Gebärmutter Saras, und bleibt der moderne Exeget so 'ohnmächtig' ('impotent') wie Abraham204.

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Die universale Tragweite der theologischen Hermeneutik wird im zweiten Brief des Kleeblatts weiter entfaltet. Vgl. § 4.7.2. Anspielungen auf Michaelis' Beurtheilung in Aesthetica in nuce sind: Ν II 197:11-,

201:18-,

Ν II 179:26-: "Bey allen den Verdiensten dieses Autors [Michaelis] find ich ein 'prooton pseudos' in den ältesten und jüngsten Schriften, die ich bis hieher von ihm zu lesen bekommen, und das mir in seiner Beurtheilung der Misbräuche [!] in Erlernung der hebräischen Sprache stärker als sonst aufgestoßen." Ν II 182:16-: "Es könnte aber bey allen Kunstmitteln auch hier heißen: Ihr versteht die Schrift nicht, noch die Kraft GOTTES, weder ihre Eingebung noch Auslegung, die nicht von philologischen Gründen abhängt. Die Origines der hebräischen Mundart mögen daher so tod seyn als der Uterus der Sara: - die wundertätigsten Sprachforscher sind bisweilen auch die ohnmächtigsten Exegeten".

4.8 Hermeneutik der Schrift

169

Michaelis' Gelehrtheit ist eine Festung, in der Hunger gelitten wird205. Anstatt allerlei orientalische Dialekte zu vergleichen, hätte er sich besser mit dem Wesen der Sprache selbst befassen können: "Eine nähere Untersuchung und Erklärung des Dialects wäre nöthiger gewesen, da dies die Entelechie206 der ganzen Schrift ist ."(Ν II 181:16-). Zu dieser letzteren Bemerkung schreibt Hamann eine Fußnote mit einigen Zitaten aus Schultens Origines hebraeae. Der Schlußteil dieses Zitats207 behandelt die 'origines' der Sprache, die aufgrund ihres Alters vor allem im Hebräischen und seinen 'Dialekten' erhalten geblieben sind. Diese Fußnote ist ein frühes Zeichen von Hamanns Interesse an der 'origo', dem 'Ursprung' der Sprache, ein Interesse, das theologisch-hermeneutischer Art ist, wie sich bei der Erläuterung des Ritters von Rosencreuz208 noch zeigen wird.

4.9 Hamanns 'Aesthetica' der Nachfolge Die Kreuzzüge sind zunächst einmal kein literarisch-ästhetisches Manifest, sondern eine theologische Hermeneutik der ganzen Wirklichkeit. Dennoch geht Hamann bereits seit den Sokratischen Denkwürdigkeiten wiederholt auf aktuelle kunsttheoretische Diskussionen ein, denen er allerhand Begriffe und Regeln entnimmt, die er hermeneutisch erweitert und uminterpretiert. Auch wenn die ästhetische Theorie also einen zu begrenzten Rahmen für das Verständnis von Hamanns Werk darstellt, ist sie doch einer der Bereiche, in denen sich die wichtigsten Entwicklungen der Aufklärung abgespielt haben

205 206 207 Ml

Vgl. den Briefpassus über J.A. Bengel und sein Gnomon Novi Testamenti: "Er hat einen glücklichen Ausdruck in Sinnsprüchen; einer der seinigen ist gewesen: Te totum applica ad textum: rem totam applica ad te. Es ist ein 'husteron proteron' in dieser Sentenz. Das erste muß das letzte. Je mehr der Christ erkennt, daß in diesem Buch von ihm geschrieben stehet; desto mehr wächst der Eyfer zum Buchstaben des Wortes. Die Critik ist eine Schulmeisterinn zu Christo; so bald der Glaube in uns entsteht, wird die Magd ausgestoßen und das Gesetz hört auf. Der geistl. Mensch urtheilt denn; und sein Geschmack ist sicherer als alle pädagogische Regeln der Philologie und Logic." (TM II 9:29). Ausführlich zu dieser Stelle: Ernst, Hamann und Bengel, 113-125. Vgl. zu Michaelis' Ablehnung des 'testimonium spiritus sancti internum': J0rgensen, 'Hamanns hermeneutische Grundsätze', 224. Vgl. Ν II 180:30-. Die Seele, das Beseelende. Vgl. zu Belegstellen und Übersetzung: Löhrer, op.cit., 140-143. Vgl. zum Begriff 'origines' bei Hamann: Bayer, O., Knudsen, Chr., Kreuz und Kritik, Johann Georg Hamanns Letztes Blatt, Text und Interpretation, Tübingen 1983, 78-80.

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Kapitel 4 Gegen die natürliche Theologie des 'toten Buchstabens'

und den Hamann darum als Kampfplatz gegen die Aufklärung gewählt hat209. Dies kann anhand von Hamanns Gebrauch zweier wichtiger Begriffe aus der Kunsttheorie, 'Genie' und 'Nachahmung', konkret erläutert werden.

4.9.1 Genie und Mimesis Die 'Nachahmung', ein Begriff der in Hamanns Werk regelmäßig vorkommt, erfüllte in der Kunsttheorie seiner Zeit eine Schlüsselfunktion. In der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts stand die ästhetische Theorie in Deutschland, wie sie vor allem durch Gottsched vertreten wurde, stark unter dem Einfluß des französischen Klassizismus (Batteux, Boileau)210. Dieser Klassizismus orientierte sich streng rationalistisch an der antiken MimesisTheorie, die seit der Renaissance stark an Einfluß gewonnen hatte. Zwei Kunstregeln galten dabei als Ausgangspunkt. Erstens die Regel des Aristoteles, daß der Künstler die Natur nachahmen müsse. Unter 'Natur' verstand man dabei die gesetzmäßig und vernünftig geordnete Natur, deren Harmonie und Schönheit der Künstler nur nachahmen kann, wenn er sich streng an eine Reihe ästhetischer Richtlinien hält. Die zweite klassizistische Grundregel schrieb Nachahmung der antiken Kunst vor, weil darin die Natur auf unübertreffliche Weise kunstvoll nachgeahmt ist. Alexander Pope faßte beide Grundregeln so zusammen: "Lerne deshalb gegenüber alten Regeln eine rechte Achtung; Die Natur kopieren bedeutet sie [diese Regeln] kopieren."211

Im weiteren Verlauf des achtzehnten Jahrhunderts gelang es der ästhetischen Theorie, sich immer mehr von dieser rationalistischen Umklammerung zu befreien. Die Entwicklung spiegelt sich in dem Bedeutungswandel der Begriffe 'Genie', 'Nachahmung' u.a. wider. Eine Diskussion zur Zeit der Abfassung der Sokratischen Denkwürdigkeiten betraf die Frage, inwieweit

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Vgl. zu Hamanns Bekämpfung der kunsttheoretischen Auffassungen der Aufklärung: J0rgensen, S.-A., Fünf Hirtenbriefe das Schuldrama betreffend, Einführung und Kommentar, Historisk-filosofiske Meddelelser udgivet af Det Kongelige Danske Videnskabernes Selskab, 39, no. 5, (1962), K0benhavn 1962, 38-78, 165-168; Lumpp, Philologia crucis, 107-186. Vgl. u.a.: Cassirer, op.cit., 373 ff.; Schmidt, J., Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Philosophie und Politik 1750-1945, Bd. 1, 'Von der Aufklärung bis zum Idealismus', Darmstadt 1985, 18-22. An Essay on Criticism I, zit. in j0rgensen, S.-A., Fünf Hirtenbriefe, 46: "Learn hence for ancient rules a just esteem; To copy nature is to copy them."

4.9 Hamanns 'Aesthetica' der Nachfolge

171

das künstlerische Genie an Regeln gebunden sei. Homer, Milton und Shakespeare kannten die klassischen Regeln überhaupt nicht, waren sie aber nicht trotzdem große Künstler? 1759 erschienen zwei Veröffentlichungen, die einen Durchbruch für die Trennung von Genie und rationalistischer Nachahmung bedeuteten: im Februar 1759 äußerte Lessing sich im 17. der Briefe die neueste Litteratur betreffend zu dieser Frage, und ungefähr um dieselbe Zeit erschien die auch in Deutschland sehr einflußreiche Schrift von E. Young: Conjectures on original composition112. Beide waren der Meinung, daß Shakespeare, Milton und Homer die Kunstregeln nicht nötig hatten, denn ihre Unkenntnis in dieser Sache wurde durch ihr künstlerisches Genie und ihre künstlerische Originalität, durch die sie klassische und natürliche Kunstwerke zu schaffen wußten und unbewußt die Naturgesetze befolgten, reichlich kompensiert. Lessing hatte Hamann wohl schon gelesen, aber Youngs Conjectures kannte er beim Schreiben der Somatischen Denkwürdigkeiten wahrscheinlich noch nicht, obwohl die Übereinstimmungen auffallend sind. In einer deutlichen Anspielung auf diese Diskussion stellt Hamann die Freiheit des Heiligen Geistes, die er im Leben des Sokrates typologisch ausgeprägt sieht, der gesetzlichen Bindung an rationalistische Kunstregeln gegenüber213. In der Aesthetica in nuce bringt Hamann die zwei klassischen Kunstregeln zur Sprache und gibt ihnen eine ganz eigene Wendung. Was er unter der Nachahmung der Natur versteht, ist im Vorhergehenden bereits deutlich geworden: der wahre Künstler hört auf das 'Sprechen' der Natur und bringt dies auf seine eigene und engagierte Weise in bildhafter Sprache oder anderen Kunstformen zum Ausdruck. Danach geht Hamann auf die zweite Regel, die 'Nachahmung der Alten', ein und fragt sich, warum viele die antiken Schriftsteller so vergöttern, während sie am Reichtum des Alten und Neuen Testaments achtlos vorbeigehen214. Vielleicht weil sie Anstoß nehmen an dem nicht so Erhabenen, an

212 213

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Hamann verweist darauf in Kreuzzüge: Ν II 150:5-, 164:15, 200:38-. Ν II 75:3-: "Was ersetzt bey Homer die Unwissenheit der Kunstregeln, die ein Aristoteles nach ihm erdacht, und was bey einem Shakespear die Unwissenheit oder Übertretung jener kritischen Gesetze? Das Genie ist die einmüthige Antwort. Sokrates hatte also freylich gut unwissend seyn; er hatte einen Genius, auf dessen Wissenschaft er sich verlassen konnte, den er liebte und fürchtete als seinen Gott, an dessen Frieden ihm mehr gelegen war, als an aller Vernunft der Egypter und Griechen, dessen Stimme er glaubte, und durch dessen Wind der leere Verstand eines Sokrates so gut als der Schoos einer reinen Jungfrau, fruchtbar werden kann." Ν II 209:18-: "Warum bleibt man aber bey den durchlöcherten Brunnen der Griechen stehen, und verläst die lebendigsten Quellen des Altherthums? Wir wissen vielleicht selbst nicht recht, was wir in den Griechen und Römern bis zur Abgötterey bewundem. Das Heil kommt von den Juden - Noch hatte ich sie nicht gesehen; ich erwartete

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Kapitel 4 Gegen die natürliche Theologie des 'toten Buchstabens'

der Knechtsgestalt dieser orientalischen kleinen Schriften? Natürlich bewundert auch Hamann die klassischen griechischen und römischen Autoren sehr. Er zitiert sie oft, aber die 'lebendigste Quelle des Altherthums' ist für ihn die Schrift. Von den klassischen Kunstregeln ausgehend, kommt Hamann zu der Schlußfolgerung: "Natur und Schrift also sind die Materialien des schönen, schaffenden, nachahmenden Geistes" (Ν II 210:7-)215. Nach den zwei vorhergehenden Beispielen läßt sich Hamanns Genie- und Mimesisauffassung kurz in den folgenden drei Punkten umreißen: 1. Mit Young und Lessing verteidigt Hamann die Originalität des Genies gegenüber der rationalistischen Bindung an Kunstregeln216. In den Hirtenbriefen zieht er eine Parallele zwischen dem paulinischen Gegensatz zwischen der christlichen Freiheit und der jüdischen Gesetzlichkeit einerseits und der Freiheit des künstlerischen Genies gegenüber der Gesetzlichkeit der 'ästhetischen Wahrscheinlichkeit' und des 'gesunden Verstandes' anderseits217. Wie der Engel von Bethesda, so "muß ein Genie sich herablaßen Regeln zu erschüttern; sonst bleiben sie Wasser: - und man muß der erste seyn hereinzusteigen, nachdem das Wasser bewegt wird, wenn man die Wirkung und Kraft der Regeln, selbst erleben will" (Ν II 362:3-). Wie Paulus das Gesetz nicht abschaffen will, so Hamann auch nicht die Regeln der Kunst218, aber er wehrt sich gegen gesetzliche Fixierung dieser Regeln, die erst ihren Nutzen beweisen, wenn sie schöpferisch 'in Bewegung' gebracht werden.

aber in ihren philosophischen Schriften gesundere Begriffe [gegen Mendelssohn] - zu eurer Beschämung - Christen!" 215 Vgl. zur gleichen Neuauslegung der beiden Mimesisregeln den zweiten Brief des Kleeblatts: Ν II 177:7-. 216 Vgl. zu Hamanns Genieverständnis: Unger, Hamann und die Aufklärung, 275-305; Grappin, P., La thiorie du ginie dans le preclassicisme allemand, Paris 1952, 187220; Lumpp, Philologia cruris, 107-143; Schmidt, op.cit., 96-119. 217 "Dramatische Gerechtigkeit": Ν II 362:25, 33. Denselben Vergleich zieht Hamann in den Chimärischen Einfällen, in denen er sich gegen Moses Mendelssohns rationalistische Kritik an Rousseaus Julie, ou la nouvelle Heloi'se (1761) wendet. In Mendelssohns Berufung auf die Regeln der 'ästhetischen Wahrscheinlichkeit' erkennt Hamann den gesetzlichen Juden: "Wer ist aber der ästhetische Moses, der Bürgern eines freyen Staats schwache und dürftige Satzungen vorschreiben darf? (die da sagen: Du sollt das nicht angreifen, du sollt das nicht kosten, du sollt das nicht anrühren. In der Natur ist manches unrein und gemdin für einen Nachahmer )" (Ν II 163:28-). Abaelard wurde von seinem Onkel Fulbert entmannt; der zweite Abaelard wird vom Juden Mendelssohn beschnitten: "Wie wollen Sie den erstgebornen Affect [die Leidenschaft] der menschlichen Seele dem Joch der Beschneidung unterwerfen?" (Ν II 164:21-). Vgl. J0rgensen, S.-A., 'Empfindung und Wahrscheinlichkeit, Hamanns Metakritik über Mendelssohns Besprechung von Rousseaus Julie ou la Nouvelle Hilolse', in: Text & Kontext, 9 (1981), 237-249. "· Vgl. Ν II 361:27-,

4.9 Hamanns 'Aesthetica' der Nachfolge

173

2. Hamanns Geniebegriff ist jedoch nicht im Sinne eines immanenten schöpferischen Vermögens zu verstehen, das auf göttliche Weise aus dem göttlichen Reichtum der Natur schöpft. Diese Entwicklung des Geniebegriffs wird bei Young und Shaftesbury sichtbar219 und setzt sich, durch Leibnizsche und Spinozasche Motive verstärkt, bei Herder und Goethe durch. Die 'Nachahmung der Natur' wird dann auch im gleichen Sinne pantheistisch umgedeutet. Auch nach Hamanns Verständnis wird das Genie göttlich inspiriert. Es ist freilich die Inspiration des Heiligen Geistes, die den unwissenden und unfruchtbaren Menschen neu schafft, ohne daß es zu einer monistischen Vergöttlichung der menschlichen Kreativität kommt. Das wirkliche Genie kennt die eigene Unwissenheit und Ohnmacht; es weiß, daß die wahre Kreativität nicht den eigenen natürlichen Kräften entspringt, über die es autonom verfügt, sondern der demütigen Empfänglichkeit für die beseelende Eingebung des Geistes. " alle ästhetische Thaumaturgie reicht nicht zu, ein unmittelbares Gefühl zu ersetzen, und nichts als die Höllenfahrt der Selbsterkänntnis bahnt uns den Weg zur Vergötterung" (Ν II 164:16-), sagt Hamann zu Moses Mendelssohn220. 3. Diese theozentrische Empfänglichkeit und Kreativität kommt in einem nachahmenden Denken, Handeln und Schaffen im Horizont der typologischen Wirklichkeit Gottes zum Ausdruck. Nachahmung geschieht in gläubiger Kon-genialität mit Gottes bildhafter Offenbarung in Natur, Geschichte und Schrift221, sie ist Nachahmung oder Nachfolge des "Poeten am Anfange der Tage" (Ν II 20&.20)222. Mit seiner anderen Auffassung der Nachahmung versucht Hamann, die Kunsttheoretiker seiner Zeit von ihrem verarmten Mimesisverständnis zu

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Vgl. § 2.3.2: Begeisterung, Schwärmerei. ZW II 168:23-: "Genie ist eine Dornenkrone und der Geschmack ein Purpurmantel, der einen zerfleischten Rücken deckt." Gegen Mendelssohns Genieauffassung, Ν II 260:22-: "Das wahre Genie kennt nur seine Abhänglichkeit und Schwäche, oder die Schranken seiner Gaben. Die Gleichung seiner Kräfte ist eine negative Größe." Vgl. Ν II 260:33-, 263:34-, 363:10-. Ν II 74:9-: "Der Philosoph ist dem Gesetz der Nachahmung so gut unterworfen als der Poet." Im Lebenslauf, Ν II 14:15-: "Ein rechtschaffener Lehrmeister muß bey Gott und sich selbst in die Schule gehen, wenn er die Weisheit seines Amtes ausüben wUl; er muß ihn nachahmen so wie er sich in der Natur und in der heiligen Schrift offenbart, und vermöge beyder in gleicher Art in unsrer Seele." Vgl. auch: Ν II 16:15-. Hamann schließt die Wolken, in denen die geniale Inspiration - von der Außenwelt als Wahnsinn aufgefaßt - Hauptthema ist, mit 1. Kor. 11:1 ("Seid meine Nachfolger, gleichwie ich Christi."): "Summimfctai mou ginesthe, adelphoi, kathoos kagoo XRISTOY" (Ν II 109:8-). Vgl. ZH I, 394:9: "[Christus] ahmte uns nach, um uns zu Seiner Nachahmung aufzumuntern", und Zwey Scherflein (1780), Ν III 234:22-: "ästhetischen Gehorsam des Kreuzes".

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Kapitel 4 Gegen die natürliche Theologie des 'toten Buchstabens'

bekehren223 und in den typologischen und transzendierenden Raum der (später in Auerbachs Mimesis beschriebenen) jüdisch-christlichen Tradition zurückzuführen. Nur innerhalb dieses 'mimischen' Raumes gelangen Gott und Natur wirklich zum Sprechen224. Überdies kann der Mensch in seiner ganzen Geschöpflichkeit, mit all seiner Sinnlichkeit und all seinen Leidenschaften, nur dort vollkommen zu seinem Recht kommen.

4.9.2 Sinne, Leidenschaften und Sexualität Der ganze

Mensch

Bekannt ist Hamann wohl vor allem durch seine antirationalistische Befürwortung des Gefühls und der Leidenschaften geworden. Hierin sah die junge Generation Herders einen Wegweiser zum 'Sturm und Drang', zur Befreiung der menschlichen Natur, die unter dem Joch der traditionellen Theologie und Philosophie stöhnte. Auch Hamann ging es um eine Befreiung der menschlichen Natur von den Fesseln der autonomen Vernunft, allerdings nicht durch eine Ablösung dieser Natur vom Grund des Evangeliums, sondern gerade durch eine viel tiefere Verwurzelung darin. Außerhalb der Offenbarungsperspektive wird der Mensch unterschätzt oder überschätzt, werden seine 'grandeur' und seine 'misere' beide verkannt. Die Größe des Menschen liegt in der geheimnisvollen Einheit von Leib und Seele, durch die er transzendierend auf Gott ausgerichtet ist, seine Offenbarung hören und beantworten kann, Bedeutung erhalten und sprechend Bedeutung verleihen kann. Zugleich ist der Mensch leiblich, verwundbar, sterblich, sowohl in geistiger als in leiblicher Hinsicht sehr abhängig. Beide Aspekte, Transzendenz und Endlichkeit, werden in der Anthropologie und Ästhetik des Rationalismus und der Aufklärung nicht genug erkannt. Sie wollen dem Menschen Würde verleihen, indem sie ihn gerade des Höchsten, nämlich der Gottesbeziehung, berauben. Umgekehrt trachten sie in ihrem Streben nach Autonomie und sittlicher Vollkommenheit die in ihren Augen weniger schö-

223

224

J.D. Boyd weist darauf hin, daß die Aufklärung eine sehr verkümmerte Auffassung vom antiken Mimesisbegriff hatte. Vgl. Boyd, J.D., The function of mimesis and its decline, Cambridge(Massachusetts), 1968, 125 f. Boyd, op.cit., 76, zum Naturverständnis im 18. Jahrhundert: "At the risk of oversimplifying a complicated situation, I suggest that the dominant and limiting character of the thinking which shaped this cosmological noetic was its univocal quality, an inability or unwillingness to cope with the analogies everywhere present in human life, both because of man's situation as a creature of God and as a mysterious blend of matter and spirit."

4.9 Hamanns 'Aesthetica' der Nachfolge

175

nen Seiten des Menschseins zu verschleiern, umzuwandeln oder zu unterdrücken. In seiner Ablehnung eines 'keuschen' und rationalistischen Menschenverständnisses geht Hamann viel weiter als der Empirismus der späten Aufklärung. Dies ergibt sich aus einem Vergleich mit den Romanen von Richardson, dem bürgerlichen Trauerspiel von Lessing, der Kunstkritik der Litteraturbriefe, usw. Als die spätere Aufklärung den Klassizismus verläßt und die Kunst eine Angelegenheit des höheren Bürgertums wird, das die führende Rolle des Adels übernommen hat, kommt es noch nicht zu einer wirklichen Verarbeitung des realistisch Menschlichen. Die sinnliche, triebhafte, unberechenbare und oft abstoßende Natur des Menschen wird zur 'schönen Natur' stilisiert; der Mensch erscheint dort als der tugendsame und empfindsame Bürger225. Hamanns Realismus des Geschöpflichen hat seinen Ursprung in dem realistischen Menschenbild der Bibel. Lediglich im Licht der Offenbarung erscheint der Mensch, wie er ist: schön und häßlich, außergewöhnlich und bizarr, vernünftig und triebhaft, spirituell und erotisch, Engel und Tier zugleich. So kann es auch nur vom Glauben her zur Annahme all dieser oft so gegensätzlichen Aspekte des Menschseins kommen. Die hermeneutische Bedeutung Gegenüber dem gnostischen und unnatürlichen Gebrauch von Abstraktionen in der Philosophie und der Physik der Aufklärung - um eine Formulierung Hamanns zu gebrauchen - verteidigt er die große Bedeutung der 'Sinne und Leidenschaften'. Die Sinne sind wichtig, weil die Bildersprache auch immer sinnlich ist, wie auch der Mensch als Bild Gottes Seele und Leib ist. Zwar ist die späte Aufklärung von der Bedeutung der Sinne überzeugt, anders allerdings steht es mit den Leidenschaften. Die Sinne an sich genügen nach Ansicht Hamanns nicht, denn sie bringen uns nur mit der Außenseite, mit dem 'Buchstaben' in Kontakt. Hinzukommen muß noch der applikative Bezug, die Liebe eines Pygmalion, die Leidenschaft eines 'Liebhabers'; sonst bleibt die Natur ein totes und sprachloses Ding. Ohne diesen leidenschaftlichen Bezug gelangt - trotz aller wissenschaftlichen Hilfsmittel von Michaelis auch 'die ausgestorbene Hebräische Sprache' der Bibel nicht zum Leben. Es geht bei Hamanns Verteidigung der Leidenschaften nicht um eine Verherrlichung der irrationalen Kräfte des Gefühls und der Leidenschaft, sondern

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Vgl. J0rgensen, Fünf Hirtenbriefe,

60-65.

176

Kapitel 4 Gegen die natürliche Theologie des 'toten Buchstabens'

um den unentbehrlichen existentiellen Bezug im Kontakt mit Gott und dem Mitmenschen und im Verständnis von Natur, Geschichte und Schrift. In den Briefen der ersten Zeit nach der Rückkehr aus London kommt das Thema der Leidenschaften öfter zur Sprache226. Im Blick auf die feurige 'Schwärmerey' seines jungen Glaubens werfen seine Freunde ihm ein Übermaß an Leidenschaft vor. Hamann antwortet darauf, daß Freundschaft, Wahrheit und Glaube ohne 'Affekte und Leidenschaften' nicht denkbar seien. Seinem Freund Lindner schreibt er: " sollte mein Freund der HErr Rector Lindner in Riga nicht auch irren können, der ohne Leidenschaft sich zutraut das 'theion' und das menschliche Herz immer treffen zu können [?]". (ZH II 72:13-). Hamanns hermeneutisches Plädoyer für die Leidenschaften zeigt, wie sehr er auf der Einheit von Leib und Seele besteht. Wenn es wirklich um einen geistigen Bezug auf einen bestimmten Bedeutungszusammenhang geht, dann ist er immer mit einem leiblich-gefühlsmäßigen Ausdruck verbunden, auch wenn er in unserem innersten Empfinden liegt. Das Geistige kann lediglich im Leiblichen und durch das Leibliche bestehen; es ist nicht das Leibliche, jedoch hat es nur Bedeutung als Bedeutung des Leiblichen. Hamanns Aufgeschlossenheit für alle Aspekte des Menschseins führt ihn zu einer für seine Zeit ungebräuchlichen Hochschätzung der Erotik und Sexualität. Dies kommt unter anderem in einem zunehmenden Gebrauch der Bildersprache aus dem Bereich der Erotik und der Fortpflanzung zum Ausdruck. Auffällig ist, daß er durch diese Metaphorik eine Analogie zwischen dem kongenialen Verstehen, Kennen und Glauben einerseits und der sexuellen Beziehung, die zum Zeugen und Gebären von Kindern führt, anderseits suggeriert. Die mäeutische Bildersprache entwickelt er damit weiter in Richtung auf die Erotik und unterstreicht so, daß menschliche Kreativität zu nichts führt, wenn sie nicht wie bei der Fortpflanzung innerhalb einer leidenschaftlichen Beziehung wirkt227. In der Aesthetica in nuce bezeichnet

224

227

Vgl. ZH I 405:37-, 416:33-, 428:21-, 431:10-, 442:20-, 27-, 448:17-, ZH II 71:26-, 73:24-, 76:10. Vgl. in Leser und Kunstrichter, Ν II 345:27-: "Dies Übliche in den Kennzeichen [die Kriterien der gängigen Ästhetik] beweist den Mangel der wesentlichsten und fruchtbarsten Grundsätze, von denen allein die Kenntniß und der Genuß, die Liebe und Fortpflanzung schöner Naturen abhängt." Mit der Parallele 'Kenntis und Genuß' 'Liebe und Fortpflanzung' macht Hamann eine Anspielung auf die zwei Bäume im Paradies. Ν II 347:22-: "Schriftsteller und Leser sind zwo Hälften, deren Bedürfnisse sich aufeinander beziehen, und ein gemeinschaftliches Ziel ihrer Vereinigung haben, wo Fülle und Hülle, Blöße und Hunger vier Räder, und Rad im Rade ein einziges Rad sind [vgl. Ezech. 1:15, 10:9-], anzusehen wie der Augapfel eines Zeisignestes; denn das ästhetische Geheimniß der schönen Natur heist in Schäfererzählungen ein Stein der Weisen, in Zergliederungen Schaam, in der Erfahrung aber das liebe Kreuz; - ein Noli

4.9 Hamanns 'Aesthetica' der Nachfolge

177

Hamann die abstrahierenden Philosophen als 'allegorische Eunuchen', die glauben, in kühler Distanz die Buchstaben der Natur auslegen zu können228, während sie keine einzige lebendige Wahrheit zu zeugen oder zur Welt zu bringen vermögen. Hamanns hohe Einschätzung der Leidenschaft und Sexualität führt uns natürlich zu der alten Frage, wie die erotischen Aspekte im Rahmen der 'agapö' sowohl anthropologisch als hermeneutisch ihren Platz erhalten. Auch für Augustinus war kein kongeniales Verständnis der Natur oder Schrift ohne eine liebevolle Beziehung zur Offenbarung möglich. Mit Liebe meinte er allerdings ausschließlich die 'caritas', die Liebe, die sich von der egozentrischen Schwerkraft des 'eroos' befreit hat. Bei Hamann setzt sich die Auffassung immer stärker durch, daß so, wie das ganze menschliche Dasein in der 'agape' geborgen ist, auch der 'eroos' darin geborgen sein kann und muß229. Daß dies seine Spannungen mit sich bringt, erfuhr er durchaus am eigenen Leibe, als 1762 seine Leidenschaft zu Regine Schuhmacher, dem Dienstmädchen seines Vaters, entbrannte, und es ihm nicht gelang, sich von ihr zu lösen230.

4.10 Rezeption durch Herder und Goethe Hamanns Gedankengut konnte erst durch die säkularisierende Verarbeitung bei Herder und Goethe einen wichtigen Anstoß zur Entstehung des 'Sturm

me längere für Kämmerlinge". "Augapfel eines Zeisignestes" ist eine Anspielung auf zwei Verszeilen aus dem Gedicht 'Das Zeisignest' (1751) von Johann Christoph Rost, über die Berührung der weiblichen Geschlechtsteile: "Wer dahin greift, wohinn er griff, der greift den Mädchen an die Seele." Zitiert in: Fechner, J.-U., 'Johann Georg Hamann, "Leser und Kunstrichter", Einführende Bemerkungen im Rösselsprung', in: 221

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Acta 2, (99-134), 119. Ν II 207:15-: "Ich rede mit euch, Griechen! weil ihr euch weiser dünkt, denn die Kammerherren [Eunuchen] mit dem gnostischen Schlüssel". Ν II 208:11-: "Wenn die Leidenschaften Glieder der Unehre sind, hören sie deswegen auf, Waffen der Mannheit zu seyn? Versteht ihr den Buchstaben der Vernunft klüger, als jener allegorische Kämmerer der alexandrinischen Kirche [Origenes] den Buchstaben der Schrift, der sich selbst zum Verschnittenen machte, um des Himmelreichs willen? Die grösten Bösewichter gegen sich selbst, macht der Fürst dieses Aeons zu seinen Lieblingen; — seine Hofnarren sind die ärgsten Feinde der schönen Natur". Von Balthasar, 'Hamanns theologische Ästhetik', 54: "Für Hamanns Ästhetik ist diese Bergung des Eros in der Agape entscheidend wichtig." Auf Hamanns Versuche in späteren Schriften, noch viel nachdrücklicher Erotik und Sexualität in eine theologische Anthropologie zu integrieren, kommen wir im Kapitel 8 zurück.

178

Kapitel 4 Gegen die natürliche Theologie des 'toten Buchstabens'

und Drang' geben. Die Verkennung des theologischen Gehaltes der Schriften Hamanns, die bereits bei seinen Zeitgenossen geschah, läßt sich nicht nur durch seinen kryptischen Stil erklären. Dies wird aus den Reaktionen von Herder und Goethe auf die Aesthetica in nuce beziehungsweise die Somatischen Denkwürdigkeiten deutlich.

4.10.1 Goethe und die 'Sokratischen Denkwürdigkeiten' Abgesehen von der Rezension Ziegras wurden die Sokratischen Denkwürdigkeiten recht positiv aufgenommen, aber wirklich verstanden wurden sie nicht, auch nicht von Moses Mendelssohn, obwohl er im 113. Litteraturbrief eine im wesentlichen positive Rezension schrieb. Während nur wenige Zeitgenossen Hamanns die wirkliche Tragweite der Sokratischen Denkwürdigkeiten erfaßten, stellte Johann Wolfgang Goethe eine wichtige Ausnahme dar. Als sich der junge Goethe 1771 auf der Suche nach Stoff für ein neues Drama mit den Sokratischen Denkwürdigkeiten befaßte, schrieb er hierzu an Herder: "Jetzo studir ich Leben und Todt eines andern Helden, und dialogisir's in meinem Gehim. Noch ist's nur dunckle Ahndung. Den Sokrates, den Philosophischen Heldengeist, "die Eroberungswuth aller Lügen und Laster besonders derer die keine scheinen wollen"231; oder vielmehr den göttlichen Beruf zum Lehrer der Menschen, die 'exousian' des 'metanoeite' . Ich brauche Zeit das zum Gefühl zu entwickeln. Und dann weiss ich doch nicht ob ich von der Seite mit Aesopen und la Fontainen verwandt bin, wo sie nach Hamannen mit dem Genius des Sokrates sympatisiren232; ob ich mich von dem Dienste des Götzenbildes das Plato bemahlt und verguldet, dem Xenophon räuchert, zu der wahren Religion hinaufschwingen kann, der statt des Heiligen ein groser Mensch erscheint, den ich nur mit Lieb Entusiasmus an meine Brust drücke, und rufe[:] mein Freund und mein Bruder. Und das mit Zuversicht zu einem grosen Menschen sagen zu dürfen! - Wär ich einen Tag und eine Nacht Alzibiades, und dann wollt ich sterben." 23 '

Goethe stimmt Hamann zu, daß ein wirkliches Verstehen (zum Beispiel von Sokrates) nur durch eine kongeniale 'Umarmung' möglich sei. Außerdem versteht er sehr gut, was das Ziel dieser 'Umarmung' in den Sokratischen Denkwürdigkeiten ist: "zu der wahren Religion hinaufschwingen", aber

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Zitat aus den Sokratischen Denkwürdigkeiten·, vgl. Ν II 63:34-. Hinweis auf Hamanns Bemerkung, daß Äsop und J. de Lafontaine mehr Einfühlungsvermögen gehabt hätten als viele gelehrte Historiker. Vgl. Ν II 63:21-. Der junge Goethe, M. Morris (Hrsg.), 6 Bde, Leipzig 1910, Bd. 2, 120.

4.10 Rezeption durch Herder und Goethe

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Goethe kann dies nicht nachvollziehen. Für ihn ist Sokrates kein Heiliger, kein 'typos' Christi, sondern ein 'großer Mensch'234. Goethes Brief läßt sehr deutlich erkennen, wie Hamanns Schriften von der jungen Generation des 'Sturm und Drang' aufgenommen werden. Herder, Goethe und andere fühlen sich durch die intuitiven, antirationalistischen Züge seines Denkens inspiriert, aber von Anfang an nehmen sie Hamanns Gedankengut seine theologische Tragweite und geben ihm eine autonom humanistische Wendung. Das Wichtige an dem Goethezitat ist, daß Goethes Umdeutung, zumindest an dieser Stelle, nicht auf einem von Hamanns Stil verursachten Mißverständnis beruht, sondern offensichtlich eine bewußte Entscheidung ist. Die theozentrische Kongenialität Hamanns wird in eine geniale und göttliche 'Sympathie' mit autonomen 'Menschenbrüdern' und dem schöpferischen Reichtum der göttlichen Natur verwandelt. Diese Verwandlung wird große Folgen für die Geschichte der Hermeneutik haben.

4.10.2 Die 'Dithyrambische Rhapsodie' von J.G. Herder Die Aesthetica in nuce gab vor allem durch die Vermittlung Johann Gottfried Herders einen wichtigen Impuls zum Enstehen des 'Sturm und Drang' und der Romantik. Zugleich war es auch Herder, der bewußt die Grundlage für die säkularisierte und humanistische Rezeption von Hamanns Werk schuP 5 . Nachdem er 1762 in Königsberg angekommen war, um dort an der Universität zu studieren, kam der junge Herder mit Hamann in Kontakt, von dem er 1764 Englischunterricht erhielt. Im gleichen Jahr schrieb er eine Rezension der Aesthetica in nuce, die Hamann nicht besonders gefiel und die auch nicht veröffentlicht wurde236. Der Titel lautete: Dithyrambische Rhapsodie über die Rhapsodie kabbalistischer Prose237. Diese kritische kleine Schrift des zwanzigjährigen Herder ist ganz im Stil der Aesthetica in nuce verfaßt: Es ist auch eine 'Rhapsodie', die zum großen Teil aus Zitaten aus den Aesthetica in nuce zusammengestellt ist. Wichtig ist, daß diese Rhapso-

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Der Deutlichkeit halber: Hamann sieht den Heiden Sokrates als einen 'typos' von Christus, und nicht als einen (anonymen) Christen. ZH I 428:29-: "Ein ungesaltzen Saltz und ein christlicher Sokrates gehören in eine Klaße. Mein Sokrates bleibt als ein Heyde groß, und nachahmenswürdig. Das Christenthum würde seinen Glanz verdunkeln." Vgl.: J0rgensen, 'Kommentar', 190-191 (Nachwort). Vgl. ZH II 265:22-, 315:32-. Erstmals im Druck erschienen in: Warda, Α., 'Ein Aufsatz J.G. Herders aus dem Jahre 1764', Euphorion, Ergänzungsheft 8 (1909), 75-82.

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Kapitel 4 Gegen die natürliche Theologie des 'toten Buchstabens'

die deutlich zeigt, daß Herder bereits damals die theologischen Anliegen seines Lehrers nicht verstanden hat. Vier Punkte aus seinem Kommentar seien hier genannt. 1. Herder gibt rundheraus zu, er habe die Aesthetica in nuce nicht begriffen: "Seine Wissenschaft ist ein Tintflecken auf Löschpapier, wohin unzälige Lettern zusammengefloßen sind: seine Gedanken sind Aussichten, seine Aussichten Schlußsätze, zu denen uns das Gerüst der Prämißen fehlt, u. seine Worte also Sprüche des Weisen, zu erhaben vor jeder Ein- u. Anwendung."238 "Narren sind wir, wenn wir sein Buch ohne ihn zu kennen, lesen; und Narren als seine Vertraute, denen er einbildet, sie wissen was von ihm, u. siehe da! sie wissen nichts!"239 2. Beim Lesen von Herders Kommentar fällt auf, wie er die mehr theologischen Aussagen in der Aesthetica in nuce konsequent übersieht. Es kann Herder, dem Theologen und intelligenten Leser und Hamanns Vertrautem, nicht entgangen sein, daß die Zielrichtung der Aesthetica in nuce letztlich theologisch-kerygmatischer Art ist. Trotzdem macht er gar keinen Versuch, sie zu verstehen. 3. Inhaltlich wendet sich Herders Kritik vor allem gegen Hamanns Hoffnung auf ein Wiederaufleben der mythologischen Poesie. Herder zufolge ist das nicht möglich, denn die orientalische Denk- und Dichtart sei zeit- und kulturgebunden und könne im heutigen 'Philosophischen Jahrhundert' nicht wiederbelebt werden. In seinen späteren Schriften ist Herder in dieser Frage optimistischer, jedoch läßt sich hier bereits sein genetisch-historisches Denken erkennen: jede Zeit hat ihre eigene Kultur und Denkweise, deren Bedeutung und Wert nicht mit Kriterien von außen gemessen werden können. 4. Erstaunlich ist Herders Selbstbewußtsein im Schlußteil seiner Rhapsodie. Darin kündigt der junge Theologiestudent an, nicht Hamann, sondern er selbst werde den neuen Kontinent des Dichtens und Denkens entdecken und bebauen!240 Diese Prophezeiung wird sich erfüllen, aber die von Herder 238 239 240

Warda, op.cit., 81. Warda, op.cit., 82. Warda, op.cit., 82: " nicht vom leibnizischen Columb [Hamann], der hier eine Insel u. da eine Insel entdeckte; sondern vom Wolfischen Amerikus [Herder] der auf vestes Land trat, bekam die neue Welt den Namen!" Schöne, Α., 'Herder als HamannRezensent, Kommentar zur Dithyrambischen Rhapsodie', in: Euphorion, 54 (1960), (195-201), 201: "Der junge Herder, der in seiner Dithyrambe Hamanns Samenkörner auffängt und die ersten Ansätze seines künftigen Werkes aus ihnen keimen läßt, noch ganz der Schüler seines großen Lehrers und doch schon eigenes, historisches, genetisches Denken gegen dessen Lehren einsetzend, hat im Schlußsatz der aus gutem Grunde ungedruckten Dithyrambischen Rhapsodie ein Programm entworfen, ja eine Prophezeiung gewagt, die für den, der seine dunklen Worte durchschaute, als

4.10 Rezeption durch Herder und Goethe

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entdeckte 'neue Welt' des 'Sturm und Drang' und der Romantik ist nicht das gelobte Land, auf das Hamann ihn verwiesen hatte.

4.11

Zusammenfassung

Die einzelnen Wirklichkeitsbereiche der Natur, Geschichte, Kultur und Schrift sind nun zur Sprache gekommen. In jedem dieser Bereiche wendet Hamann sich gegen den Positivismus der physikalischen, historischen Tatsache oder des historisch-kritischen 'Buchstabens'. Immer wieder weist er auf die ontologische und hermeneutische Dimension der geistigen und transzendierenden Bedeutung hin, die im materiellen Zeichen verborgen liegt und die als solche der ganzen Wirklichkeit einen sprachlichen Charakter verleiht. Die Wirklichkeit verdankt ihre Bedeutung zwei Quellen der Sinngebung: zunächst Gott, dem ersten Ursprung allen Sinns und allen Seins; und dann auch dem Menschen, der, von ihm als antwortendes Wesen geschaffen, teilhaben darf an Gottes sinngebender Kreativität. Das Gespräch zwischen Gott und Mensch, das in allen Bereichen der Wirklichkeit geführt wird, konzentriert sich im Wort der Schrift, mit der Menschwerdung Christi als Zentrum. Den hermeneutischen Zusammenhang zwischen den einzelnen Wirklichkeitsbereichen stellt Hamann durch Parallelsetzung einer Reihe von Begriffspaaren her, die den 'Angelpunkt' zwischen Natur und Gnade angeben: Zeichen und Bedeutung, Buchstabe und Geist, Gesetz und Evangelium, Leib und Seele. Den geistigen Führern der Aufklärung, die die natürliche Wirklichkeit immer konsequenter als ein in sich geschlossenes Ganzes zu verstehen trachten, versucht Hamann die Augen für die Gleichnishaftigkeit dieser Wirklichkeit, für die gnädige Bedeutung, die sich in all den Gestalten der Natur und Kultur verbirgt oder verbergen kann, zu öffnen. Ohne diese Bedeutung wird es dunkel in der Welt, werden Mensch und Natur leblose Gestalten, geht die ganze von der Aufklärung so erstrebte Menschlichkeit verloren.

ungeheure Anmaßung erscheinen mußte. Aber auch wenn er selber nicht gerade ein Systematiker wurde, und wenn es dann viel weniger darum ging, unsere Ästhetik zu sichern, als vielmehr doch darum, unsere Poetische Zunge zu lösen - er hat den eigenen Orakelspruch erfüllt. Erstaunlich zu denken: kaum zwanzig Jahre alt war er, und noch nichts hatte er veröffentlicht, was irgends ins Gewicht fiel, als er schon wußte: Nicht vom Kolumbischen, Leibnizischen Hamann, der hier eine Insel und dort eine Insel entdeckt, sondern vom Amerigischen, Wolffischen Herder, der auf festes Land treten wird, wird die neue Welt den Namen bekommen!"

Kapitel 5 Die Herderschriften über den Ursprung der Sprache

5.1 Einleitung Im Jahre 1770 erschien die Abhandlung über den Ursprung der Sprache von Johann Gottfried Herder, Hamanns Freund und Schüler. Unangenehm überrascht durch Herders Abhandlung reagierte Hamann mit einer Reihe kleiner polemischer Schriften, von denen Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung (1772) die wichtigste ist. In diesem Kapitel soll die gesamte Schriftenreihe aus der Zeit von 1771-1773 besprochen werden, die wir als zusammenhängende Einheit als 'Herderschriften' bezeichnen. J.G. Herder war der einzige direkte Schüler Hamanns. In seiner Studentenzeit machte er sich wichtige Hamannsche Motive zu eigen, die in seinem Gesamtwerk einen bleibenden Platz einnehmen sollten, wie zum Beispiel den Vorrang der Poesie, die grundlegende Bedeutung der Sprache und den analogischen Charakter der Wirklichkeit. Zugleich zeigte sich bereits bei der Erörterung der Dithyrambischen Rhapsodie Herders, daß er schon sehr früh seinen eigenen Weg ging, von der theologischen Ausrichtung der Hamannschen Themen absah und sie in einen ganz anderen Zusammenhang stellte. Von vornherein ist Hamann sich des Abstandes zwischen Herder und ihm bewußt. Wenn letzterer in der Abhandlung sehr selbstbewußt seine Wirklichkeitsauffassung darlegt, und zwar ausgerechnet im Zusammenhang mit Hamanns Lieblingsthema, der Sprache, kann Hamann nicht anders als den Kampf gegen Herder aufnehmen. So geschieht das Merkwürdige, daß da, wo die Aufklärung über Herder den Weg zur Romantik einschlägt und Hamann seinen Zeitgenossen eine andere Richtung zeigen will, er gegen seinen eigenen Schüler den Kampf aufnehmen muß. In Hamanns Werk aus der Zeit von 1758-1763, das im vorigen Kapitel erörtert wurde, ist die analogische und transzendierende Bildhaftigkeit der Wirklichkeit das zentrale Thema. Gerade weil Herder inhaltlich daran anzuknüpfen scheint, in Wirklichkeit jedoch den theologischen Zusammenhang von Hamanns Gedankengut leugnet, entfaltet Hamann in seinen Herderschriften die theologischen Implikationen seiner Gedanken über die Sprache viel ausdrücklicher. Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache wird für Hamann Anlaß, Herder ausdrücklich vor die Wahl zwischen einem genetischen Naturalismus und einem theozentrischen Analogiedenken zu stellen.

5.2 Hamann und Herder in der Zeit von 1762-1770

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5.2 Hamann und Herder in der Zeit von 1762-1770 5.2.1 Hamanns Jahre der Leidenschaft und Unruhe Zwischen der Hamburgischen Nachricht (1763) und Des Ritters von Rosencreuz (1772) liegen neun Jahre, in denen Hamann wenig schreibt, aber viel erlebt. 1762 war Anna Regina Schumacher als Dienstmädchen seines Vaters ins Haus gekommen. Hamann verliebt sich leidenschaftlich in sie, fühlt sich jedoch zugleich noch an Catharina Berens1 gebunden und ist sich außerdem bewußt, daß die ungebildete Regina nicht gut zu ihm paßt. Seine Unruhe wird so groß, daß er im Jahre 1764 die Flucht ergreift und eine Reise antritt. Noch im gleichen Jahr kehrt er nach Königsberg zurück, hält es dort aber nicht aus und fährt 1765 nach Mitau, wo er beim Rechtsanwalt und Hofrat Chr.A. Tottien eine Stelle als Sekretär annimmt. Diesen begleitet er auf einer Reise nach Warschau. Im September 1766 stirbt Hamanns Vater, aber erst im Januar des folgenden Jahres kehrt Hamann nach Königsberg zurück. U.a. durch die Vermittlung Kants erhält er im Mai desselben Jahres eine Stelle als Übersetzer bei der von Franzosen geleiteten Preußischen Acciseverwaltung. Um Weihnachten 1768 zieht er mit Anna Regina zusammen, und im September 1769 wird ihr erstes Kind, Johann Michael, geboren. In der Zeit von 1764-1770 erscheint nur eine selbständige Veröffentlichung von Hamanns Hand, und zwar eine Übersetzung des englischen Werks über die Gicht: Ferdinando Warner's vollständige und deutliche Beschreibung der Gicht (1770). Diese Übersetzung fertigt er auf Bitten von J. Green, einem Kaufmann und großen Freund Kants, an. Es ist nicht verwunderlich, daß auch der Hypochonder Hamann sich für diese Stoffwechselkrankheit interessiert. Daneben liefert er ab Februar 1764 eine Reihe von Beiträgen für die Königsbergschen gelehrten und politischen Zeitungen (Februar 1764 - Juni 1776). Es handelt sich hauptsächlich um Rezensionen, Zusammenfassungen und Teilübersetzungen. In dieser Zeit entwickelt sich auch ein intensiver Kontakt zwischen Hamann und Herder. Herder nimmt Englischunterricht bei Hamann, und als dieser 1764 auf Reisen geht, nimmt Herder mit einem schwärmerischen Lied Abschied von ihm2. Auf Fürsprache Hamanns bekommt er im gleichen Jahr eine Stelle an der Domschule von Riga, deren Rektor Lindner ist. Es entsteht

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Hamann bleibt überzeugt, auch nachdem er mit Anna Regina zusammenwohnt, daß Catharina und er von Gott füreinander bestimmt sind. Vgl. ZH II 258:20-.

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Kapitel 5 Die Herderschriften über den Ursprung der Sprache

ein reger Briefwechsel zwischen Hamann und ihm, und als Hamann Tottiens Sekretär wird, besuchen sie sich einige Male. 1769 verläßt Herder Riga, um eine Bildungsreise anzutreten. Der Briefwechsel mit Hamann schläft ein. Er kommt erst wieder 1772 in Gang, als Hamann auf Herders Preisschrift über den Ursprung der Sprache reagiert. Seitdem unterhalten sie guten brieflichen Kontakt, aber zu einer persönlichen Begegnung kommt es nicht mehr.

5.2.2 Die Entwicklung des jungen Herder Daß Herder einen ganz anderen Weg als sein Lehrmeister Hamann einschlagen würde, war aufgrund der Dithyrambischen Rhapsodie zu vermuten. In welche Richtung dieser Weg führt, wird bereits in seinen ersten Schriften aus den sechziger Jahren wie dem Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst (1764; unveröffentlicht) und den Fragmenten über die neuere deutsche Literatur (1766-'67) deutlich, deren erste Fassung Herder mit einem Schlag literarisch berühmt macht3. In diesen Schriften werden einige Hamannsche Themen aufgegriffen: die Sprache und ihr Ursprung, die Poesie mit ihrem bildhaften und sinnlichen Charakter, die Leidenschaften, Sprache als Grundlage der menschlichen Erkenntnis und Kultur, Sprache als Ausdruck des Geistes (des einzelnen und des Volkes), eine poetische Auslegung der Genesis, u.a. All diese Themen verbindet er jedoch mit einer ganz anderen Wirklichkeitsauffassung als der Hamanns. Ausgehend vom Gedankengut des Epikur, Lukrez {De rerum natura) u.a., entwickelt Herder eine naturalistische und zyklische Natur- und Geschichtsauffassung, in der die transzendierende Gottesbeziehung kaum eine Rolle spielt4. Die Natur- und Kulturauffassung des Epikur und Lukrez

3 4

Die zweite, überarbeitete Fassung der Fragmente (1768) blieb unveröffenüicht. Vgl. Herder, J.G., Werke, Herausgegeben von W. Proß, Bd. I, Herder und der Sturm und Drang 1764-1774, München/Wien 1984, Register s.v. 'Lukrez', 'Epikur'. Op.cit., 719: "Für H. [Herder] und später für den ganzen Weimarer Kreis hatte Lukrez eine ähnliche Funktion wie Spinoza". Proß, W., 'Herder und die Anthropologie der Aufklärung', in: Herder, J.G., Werke, Herausgegeben von W. Proß, Bd. II, Herder und die Anthropologie der Außdärung, München/Wien 1987, (= 'Nachwort', 1128-1229), 1157: "Denn die Brisanz des anüken Wissens, im Humanismus der Renaissance vielfach nur als gelehrtes Ornament verwendet, liegt vor allem im Konzept eines Natur-Begriffes, der diese als eigene, autonome Wesenheit begreift, die weder eines Schöpfers bedarf noch das Eingreifen göttlicher Mächte in den Naturablauf kennt".

5.2 Hamann und Herder in der Zeit von 1762-1770

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entfaltet er auf genetisch-organische Weise5, wodurch der antike Naturbegriff zwar so uminterpretiert wird, daß die Geschichte darin einen wesentlichen Platz erhält, aber die naturalistische Geschlossenheit des antiken Naturbegriffs trotzdem bestehen bleibt6. Deutlich epikureische oder lukrezische Elemente in Herders Früh werk sind folgende: - Religion entsteht aus Furcht; diese Furcht verschwindet mit der Zunahme von (philosophischer) Erkenntnis und (philosophischer) Einsicht. - Die Entwicklung der menschlichen Kulturgeschichte geschieht durch Zufall ('von Ohngefähr'). - Das Kulturstreben des Menschen wird durch seine bedrohte und bedürftige Lage motiviert. - Herders Abneigung gegen das antropomorphe Reden über Gott (wozu unten noch einiges mehr) ist durch seine Lukrezlektüre zumindest verstärkt worden. Herders Übereinstimmung mit dem antiken Naturbegriff wird später noch stärker, wenn er das gegen den antiken Determinismus gerichtete Zufallsdenken des Epikur und Lukrez7 aufgibt und die genetische Entwicklung von Mensch und Natur als einen deterministischen Prozeß8 zu sehen beginnt. Bereits im Versuch und in den Fragmenten wehrt Herder sich stark gegen Theorien, die der Sprache einen göttlichen Ursprung zuschreiben. Sprache muß als wichtigste Kulturäußerung immanent-genetisch aus dem natürlichen Zustand des Menschen erklärt werden: "Und wozu nützt diese Hypothese: die Poesie hat einen göttlichen Ursprung; sie erklärt nichts: sie fodert selbst noch Erklärung. Sie erklärt nichts, denn sie sagt eigentlich bloß: ich sehe Wirkungen, die ich nicht aus natürlichen Ursachen herleiten kann: folglich kommen sie von Gott: ein Schluß der Barmherzigkeit, der alle weitere Untersuchung aufhebt". 9

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Wichtige Metaphern, die Herder dabei gebraucht, sind ein wachsender Baum (vgl. Werke I, 10, 21, 698-701) und die Lebensphasen von Kind, Jüngling, Erwachsenem und Greis (vgl. Werke I, 145-148). Eine andere Quelle naturalistischen Einflusses ist The natural history of religion (1757) von David Hume, der darin auch epikureische Grundgedanken entfaltet. Vgl. Herders Exzerpt in: Sämmtliche Werke, Herausgegeben von B. Suphan, Bd. XXXII, Berlin 1899, 193-197. Vgl. Long, A.A., Hellenistic Philosophy, London 1974, 56-61. Spinoza war für Herder bereits kein Unbekannter mehr. Vgl. die Aufzeichnungen in: Herder, Werke II, 52-56. Werke I, 22 {Versuch).

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Kapitel 5 Die Herderschriften über den Ursprung der Sprache

5.2.3 Eine erste Auseinandersetzung Der Konflikt zwischen Hamann und Herder, der in ihren Schriften über den Ursprung der Sprache zutage tritt, zeichnet sich bereits in einem Briefwechsel vom April 1768 ab. In dem betreffenden Briefpaar kommen zwei Themen zur Sprache, die in ihrer späteren Diskussion über den Sprachursprung wieder auftauchen: zum einen der Sündenfall, der ein wichtiges Hindernis für Herders organisch-genetisches Verständnis der Geschichte des Menschen ist, und zum andern die Beziehung zwischen Sünde und Sexualität. Der Brief Herders Herder erinnert Hamann in seinem Brief an ein früheres Gespräch über "die sich aus einander wickelnden Zustände der Menschen" (ZH II 408:32-). Das wichtigste Problem dabei war nach Herders Meinung die Frage, wie das Böse in die Welt gekommen sei10. Er verweist dabei auf Rousseaus Discours sur l'origine et les fondements de l'inägalitäparmi les hommes (1755), den er sehr schätzt, der jedoch keine genetische Erklärung für den Übergang vom guten Naturzustand in den schlechten Zustand des Besitzes und Neids gibt11. Dann entwickelt Herder hierzu eigene Gedanken, die er später in der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts (2 Bände von 1774, bzw. 1776) weiter entfaltet. Eigentlich müßten wir eine alte orientalische Urkunde aus der frühesten Zeit der Menschheit haben, schreibt er12. Mit dieser 'orientalischen Urkunde' bezieht sich Herder auf die ersten Kapitel der Genesis, die als Ausgangspunkt für eine richtige Auslegung des Sündenfalls nicht philosophisch oder dogmatisch ausgelegt werden dürfen: "Ich lese also Orientalisch, Jüdisch, alt, Poetisch; nicht Nordisch, Christlich, neu, u. Philosophisch"13. Zugleich äußert Herder mehrmals Kritik an der ärgerlichen Auslegung H. Beverlands (geboren um 1653), nach dessen Meinung der Sündenfall in der Geschlechtsgemeinschaft zwischen Adam und Eva bestanden habe14.

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Vgl. ZH II 408:33-, Vgl. ZH II 409:14-, ZH II 409:23-: "Am besten wäre es, wenn wir hierüber eine Art von Urkunde, von alter Urkunde hätten? Aber vermuthlich wird sie Orientalisch seyn, da sich der erste Zustand der Menschen wahrscheinlich nach Orient hinschiebt." ZH II 410:1-; kurs. H.V. Beverland vertritt diese Auffassung in Peccatum originale 'kat'eksochin' sie nuneupatum Philologice , 1678. Nach Beverlands Ansicht besteht die Gottesebenbildlichkeit des Menschen in der Möglichkeit des Menschen, wie Gott selbst Menschen zu schaffen nach unserem Bild und uns ähnlich. Der Sündenfall bedeutete jedoch, daß

5.2 Hamann und Herder in der Zeit von 1762-1770

187

Dann kommt Herder zu seiner eigenen genetischen Auslegung von Genesis 3: " was der Baum der Erkenntn. Gutes u. Böses sey? was er ist? Es ist das Risquo, das der Mensch auf sich nahm, außer seinen Schranken, sich zu erweitern, Erkenntn. zu sammeln, fremde Früchte zu genießen, andern Geschöpfen nachzuahmen, die Vernunft zu erhöhen, und selbst ein Sammelplatz aller Instinkte, aller Fähigkeiten, aller Genußarten seyn zu wollen, zu seyn wie Gott (nicht mehr ein Thier)" (ZH II 410:24-). Herders Neuauslegung von Genesis 3 enthält die folgenden Elemente: 1) Der Sündenfall ist im Grunde ein positives Ereignis, eine Phase im Wachstumsprozeß des Menschen, durch die er sich zur wirklichen Humanität entfalten kann. 2) Durch die schöpferische Überschreitung seiner Grenzen unterschied der ursprüngliche Mensch sich endgültig von den Tieren, und vollkommen Mensch sein, heißt, 'wie Gott sein'! Den Wunsch, wie Gott zu sein, hält Herder also nicht für Hochmut, sondern für ein legitimes Streben auf dem Wege zur vollen Humanität. 3) Der Sündenfall hat nach dieser Auffassung zwar negative Folgen, wie z.B. eine Schwächung der physischen Fähigkeiten des Menschen, aber das sind Begleiterscheinungen eines im wesentlichen positiven Prozesses. Herders Auffassung, daß der Mangel an physischen Qualitäten beim Menschen durch hohe und spezifisch menschliche Fähigkeiten reichlich kompensiert werde, taucht in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache wieder auf. Die Antwort Hamanns Hamann sagt Herders hochtrabendes Menschenbild nicht sehr zu, und er reagiert mit einem kryptischen Brief voller Ironie und Spott. Zunächst macht er eine Anspielung auf Herders Ablehnung der Hypothese Beverlands15.

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Adam und Eva sich, eher als Gott es wollte, dieses schöpferisch Gott-ähnlich-Sein angeeignet haben. Vgl. hierzu: Graubner, H., in: "Origines", Zur Deutung des Sündenfalls in Hamanns Kritik an Herder', in: Poschmann, B„ (Hrsg.), Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder 1988, Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, Rinteln 1989, (108-132), 120. Durch seinen Lebenswandel und den erotischen Gehalt seiner Veröffentlichungen verursachte der Niederländer Beverland viel Ärger und Aufregung. Vgl. Aa, A.J. van der, Biographisch woordenboek der Nederlanden (1852-1878 1 ), weiterredigiert von K.J.R. van Harderwijk und C.D.J. Schotel, 7 Bde, Bd.I, Amsterdam 1969 [Neudruck], 151 f. Vgl. zu Hamanns und Herders Interesse an Beverland: ZH II 332:5-, 408:26-. In ihrer Erörterung des hier besprochenen Briefpaars geht E. Büchsei nicht auf die Hypothese Beverlands ein. Ihre Auslegung bleibt deshalb zu allgemein. Vgl. HH 4,2326. Hingegen äußert sich Graubner in "Origines"', 110 f., 119 f. ausführlich zur Hypothese Beverlands.

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Kapitel 5 Die Herderschriften über den Ursprung der Sprache

Diese Ablehnung hängt seiner Meinung nach mit Herders optimistischer Sicht des schöpferischen Menschen zusammen, dessen Bestimmung es sei, 'wie Gott zu sein'. Gehört zu diesen Schöpfungsfähigkeiten nicht auch die Sexualität? Läuft Herders Humanismus nicht auf eine prüde Anthropologie hinaus, in der die Vergöttlichung des Menschen mit einer Leugnung und Unterdrückung anderer menschlicher Fähigkeiten Hand in Hand geht? "Und meine grobe Einbildungskraft ist niemals im Stande gewesen, sich einen schöpferischen Geist ohne genitalia vorzustellen." (ZH II 415:22-). Er treibt seinen Spott mit Herders optimistischem Humanismus weiter, indem er verdeckt darauf hinweist, daß Herders Anthropomorphic16, d.h. seine Kennzeichnung des Menschen als schöpferischen Geist, der Gott gleich wird, sich nicht auf "ein Ohr, Auge, Hand und Mund"17 beschränken kann, sondern auch die Fähigkeit des Stuhlgangs mit einbegreifen mußis. So ironisiert Hamann mit Hinweisen auf die anthropomorphen Fähigkeiten der Sexualität und des Stoffwechsels Herders Vergöttlichung des Menschen und versucht, ihn zu einer biblisch-geschöpflichen Anthropologie zurückzuführen. Zurückgreifend auf die Hypothese Beverlands fragt Hamann sich auch, ob sie nicht doch einige Wahrheitsmomente enthält. Wie er sich das genauer denkt, läßt sich aufgrund dieses Briefes allein nicht leicht feststellen, aber Hamann sieht einen Zusammenhang zwischen Sündenfall und Geschlechtsgemeinschaft, wobei Eva und Maria (ebenso wie Adam und Christus in den Paulusbriefen) Gegenbilder von einander sind19. Auf dieses Thema werden

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Vermutlich bezeichnet er damit Herders menschliches Streben, 'wie Gott' zu sein. Herder tut selbst, was er anderen vorwirft, d.h. er beachtet den Unterschied zwischen Gott und Mensch nicht. Vielleicht will Hamann damit sagen: "Gerade Deine Vergöttlichung des Menschen ist gottlose Anthropomorphie!". ZH II 415:26. Dies bezieht sich unseres Erachtens auf das Hören der Schlange und das Sehen, Nehmen und Essen des Apfels, Handlungen, durch die der Mensch nach Herders Ansicht 'wie Gott' wird. ZH II 415:25-: "Da der Anthropomorphismus auf ein Ohr, Auge, Hand und Mund sich nicht allein erstrecken kann, so können wir einen schöpferischen Geist mit eben dem Euphemismo uns in einer Figur denken zu deren Verstand wenigstens ein Schlafrock oder eine orientalische Kleidung nöthig ist, wenn wir uns dasjenige vorstellen wollen, was die Mystiker ausdrücken: seine Füße decken. Dadurch also, daß ein schöpferischer Geist seine Füße deckt, entsteht dasjenige, was den ästhetischen Nasen unter dem deutschen Namen D..., und den philosophischen Nasen unter einem andern, der moralischer oder metaphysischer klingt, so viel Runzeln zuzieht." Welche Bedeutung "seine Füße decken" in der Mystik hat, ist uns nicht bekannt. Vermutlich denkt Hamann bei 'Mystik' an die Theosophie. Vgl. 1. Sam. 24:4, Ν II 101:33, Ν III 227:1. ZH II 416:14-: "Aber die Mähre von einer Jungfrau, die von dem heiligen Geiste der Überschattung gewürdigt wurde, ist freylich mit der Mähre von einer Ehebrecherin [Eva], die es mit einem schönen Geiste, fürchterlichen Andenkens, zu thun hatte, immer eines der größten orientalischen Systeme, die in kein ander menschlich Herz noch Sinn jemals gefallen sind." ZH II 417:6-: "Einige Züge der Beverlandschen

5.2 Hamann und Herder in der Zeit von 1762-1770

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wir im Kapitel 8 bei der Erörterung späterer Schriften, in denen Hamann ausführlicher über die Beziehung zwischen Sexualität und Sündenfall spricht, noch einmal zurückkommen20. Hamann geht auch auf Herders Erörterung der Bedeutung der Genesis ein. Er ist durchaus mit ihm einverstanden, daß die Frage nach dem Ursprung des Bösen ohne diese alte 'Urkunde' nicht beantwortet werden könne; allerdings führt er ein anderes Argument als Herder an: "Denn zu einer Geschichte der Schöpfung gehört unstreitig Offenbarung" (ZH II 416:11-). Mit anderen Worten: die Genesisgeschichten können nur zu einem richtigen Verständnis der Schöpfung und des Sündenfalls beitragen, wenn sie nicht nur als eine alte orientalische Urkunde, sondern vor allem als Offenbarung verstanden werden. Wenn die Genesis keine Offenbarung enthält, bleibt sie eine Sammlung alter Textfragmente, die das Labyrinth möglicher Theorien nur vergrößern. Indirekt verwahrt Hamann sich so gegen Herders profane Hermeneutik der biblischen Schriften21. Sein Leben lang interessierte Hamann sich für alte 'Urkunden', die Offenbarung über die Grundfragen des Daseins enthalten können. Herder und er gehen von einer engen hermeneutischen Beziehung zwischen alten, ursprünglichen Texten, historischen Ursprungsfragen und philosophischen und theologischen Grundfragen aus. Deshalb nimmt die Genesis in Hamanns

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Hypothese, werden Sie nicht leugnen können, passen wirklich auf ein Paar Stellen der Geschichte meisterlich. Eva scheint eine Verlobte, wie Maria des Joseph gewesen zu seyn. Dieser erkannte seine Braut nicht nach dem Geheimniß des Engels, und Adam erkannte sein Weib nach der Vertraulichkeit mit einem Thiere [die Schlange]. Die ganze Theorie der Opfer, die hier ihren Anfang nimmt, und unter dem Neuen Bunde aufgehört hat, ist immer ein großes Augenmerk für mich gewesen." Darauf vorausgreifend sei Folgendes gesagt: Vermutlich teilt Hamann bereits in dem hier erörterten Brief Beverlands Auffassung - die er dann später weiter entfaltet - daß Sexualität und Fortpflanzungsfähigkeit Wesensaspekte des Menschen als Bild Gottes seien. Kein Wunder also, daß die erste Folge des Sündenfalls als eigenmächtiges sexuelles Streben, 'Gott gleich zu sein', sich als Scham vor der eigenen mißbrauchten Geschlechtlichkeit äußert. Wenn nun Herder und andere Aufklärungsdenker die menschliche Geschlechtlichkeit verhüllen oder leugnen, ist das zugleich ein Ausdruck dieser verdrängten Scham und eine Leugnung des Sündenfalls und der eigenen Sünde. Durch das Leugnen der eigenen Geschlechüichkeit und die Scham davor verdoppeln Herder und seine Geistesverwandten gleichsam den Sündenfall. Vgl. zur Ästhetik des 'schönen Geistes', die sich daraus ergibt: Graubner, '"Origines"', 122 ff. Vgl. aus demselben Brief: "Ich halte mich an den Buchstaben und an das Sichtbare und Materielle wie an den Zeiger einer Uhr - aber was hinter dem Zifferblatte ist, da findet sich die Kunst des Werkmeisters, Räder und Triebfedern, die gleich der mosaischen Schlange eine Apokalypse nöthig haben." (ZH II 416:22-; kurs. H.V.).

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Kapitel 5 Die Herderschriften über den Ursprung der Sprache

Schriften immer einen wichtigen Platz ein22. Die Diskussion mit Herder über die 'Urkunde' wird später in einem Briefwechsel mit Kant über Herders Älteste Urkunde (auf die in § 5.9 eingegangen werden soll), fortgesetzt.

5.3 Die Preisfrage der Berliner Akademie der Wissenschaften über die Entstehung der Sprache Die Frage des Ursprungs der Sprache und der Schrift, die bereits im Kratylos von Plato und der sophistischen Diskussion über das 'thesei' oder 'physei' auftaucht, findet in der Philosophie und Theologie des 18. Jahrhunderts viel Beachtung23. William Warburton, ein Vertreter der englischen Orthodoxie, vertritt in seinem vielgelesenen Werk The Divine Legation of Moses (1738-1741) die Auffassung, die Sprache sei von Gott eingesetzt und den ersten Menschen durch eine übernatürliche Unterweisung beigebracht worden. Nach diesem supranaturalistischen Unterricht wurde die weitere Entwicklung der Sprache dem Menschen und seinen eigenen Fähigkeiten überlassen. Etienne Bonnot de Condillac gelangt in dem Essai sur l'origine des connoissances humaines und später auch in dem Traiti des animaux (1755) zu einer entgegengesetzten Hypothese. Seiner Ansicht nach hat die menschliche Sprache im tierischen Laut und in den tierischen Gebärden als unartikulierten Ausdruckformen seiner tierischen Gefühle ihren Ursprung. Triebfedern für das Entstehen und die Weiterentwicklung der Sprache seien die angeborenen Bedürfnisse und die natürliche Neigung zum sozialen Kontakt. Auch Jean Jacques Rousseau setzt sich in seinem Discours sur l'origine et les fondements de l'inigalitä parmi les hommes (1755), mit diesem Problem auseinander, findet jedoch keine Lösung. Einerseits neigt er zu der von John Locke vertretenen Vereinbarungsstheorie: die Menschen trafen

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In Aesthetica in nuce und dem Ritter von Rosencreuz wird Genesis 1-3 häufig zitiert. Außerdem hat Hamann einmal eine unvollendete Schrift über die ersten Kapitel der Genesis angefangen. Vgl. ZH II 416:8-, ZH III 34:18-30. Vgl. zu einem Überblick: Borst, Α., Der Turmbau von Babel, Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker, Bd. III, Umbau, Teil 2, Stuttgart 1961, 1395-1520; Unger, Hamanns Sprachtheorie, 155-161; HH 4 1523; Blackall, op.cit., 462-465; Salmony, H.A., Die Philosophie des jungen Herder, Zürich 1949, 18-52 (Überblick seit Heraklit). Ein neuerer und umfangreicher Sammelband über 'den Ursprung der Sprache' mit historischen Studien und zeitgenössischen Theorien ist: Gessinger, J., Rahden, W. von, (Hrsg.), Theorien vom Ursprung der Sprache, 2 Bde, Berlin/New York 1989.

5.3 Die Preisfrage über die Entstehung der Sprache

191

innerhalb des 'contrat social' Vereinbarungen darüber, welches Wortzeichen auf welchen Gegenstand verweist. Anderseits fragt er sich, ob dieser Vertrag die Sprache gerade nicht schon voraussetzt. Zudem hat Rousseau noch einen zweiten Teufelskreis vor Augen: Sprache setzt die Denkfähigkeit voraus, aber auch das Umgekehrte gilt. Er trifft schließlich keine endgültige Entscheidung und läßt die Möglichkeit des göttlichen Unterrichts offen. In seinem nachgelassenen Essai sur l'origine des langues (1782) entscheidet sich Rousseau schließlich für die Naturlauttheorie von Condillac. Pierre Louis Moreau de Maupertuis, Leiter der Berliner Akademie der Wissenschaften, veröffentlicht 1754 die Dissertation sur les diffärents moyens, dont les hommes se sont servis pour exprimer leurs idäes. Seiner Ansicht nach äußerte sich der Mensch zunächst in tierischen Lauten und ging dann, als dieses Mittel dem sich vervollkommnenden Menschen nicht mehr genügte, auf 'gestes de convention' über: artikulierte Laute, die aufgrund getroffener Vereinbarung bestimmte Ideen zum Ausdruck bringen. Seine Hypothese ist also eine Verbindung der Naturlauttheorie von Condillac und der Vereinbarungstheorie. Ein anderes Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften, Johann Peter Süßmilch, ist nicht mit seinem Kollegen Maupertuis einverstanden und kommt mit einem Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht von Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe heraus (1756)24. Er führt einen doppelten Beweis an. Das eine Argument ist der von Rousseau festgestellte Teufelskreis der Sprache und Vernunft, die sich gegenseitig voraussetzen. Dieser Teufelskreis kann nach Süßmilchs Ansicht nur durchbrochen werden unter der Voraussetzung, daß die Sprache von Gott kommt. Seine andere Begründung stammt aus dem Bereich der Physikotheologie: die Sprache ist ein so vollkommenes und wirksames Bauwerk, daß es unvorstellbar ist, der Mensch selbst habe sie erfunden; ihr Schöpfer muß wohl Gott sein. Zusammengefaßt geht es in diesem Überblick um drei Grundpositionen, die eventuell kombiniert werden können: 1. die Sprache entspringt den 'tierischen' Fähigkeiten des Menschen; 2. sie wurde vom Menschen mittels Vereinbarungen erfunden; 3. Gott hat sie dem Menschen geschenkt - ob nun in vollkommener Form oder nicht - oder sie darin unterrichtet. Die Berliner Akademie der Wissenschaften wollte 1769 die Lösung dieser Frage vorantreiben, indem sie für das nächste Jahr eine Preisfrage aus-

"

Süßmilchs Versuch wurde erst 1766 veröffentlicht und fand damals viel Beachtung, u.a. bei Herder und Lessing.

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Kapitel 5 Die Herderschriften über den Ursprung der Sprache

schrieb. In welchem Sinne die Lösung nach Auffassung der von Friedrich dem Großen geleiteten Akademie gesucht werden müsse, ergibt sich nur allzu deutlich aus der Formulierung der Frage: "Angenommen die Menschen sind ihren natürlichen Fähigkeiten überlassen, sind sie dann in der Lage, die Sprache zu erfinden? und auf welche Weise gelangen sie von sich aus zu dieser Erfindung?" 25 " die Menschen ihren natürlichen Fähigkeiten überlassen": das ist der Ausgangspunkt der Akademie. Herder nimmt die Herausforderung dieser Formulierung an und gewinnt den Preis.

5.4 Herders Ρ reis schrift 5.4.1 Die Grundlinie seiner Erörterung26 Parallel zur zweifachen Preisfrage zerfällt auch Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache in zwei Teile: I. "Haben die Menschen, ihren Naturfähigkeiten überlaßen, sich selbst Sprache erfinden können?" II. "Auf welchem Wege der Mensch sich am füglichsten hat Sprache erfinden können und müßen?" Teil I Teil I beginnt Herder mit der These: "Schon als Thier hat der Mensch Sprache. Alle heftigen, und die heftigsten unter den heftigen, die schmerzhaften Empfindungen seines Körpers, alle starke Leidenschaften seiner Seele äußern sich unmittelbar in Geschrei, in Töne, in wilde, unartikulierte Laute." (3)27. Herder stimmt mit Condillac überein, daß das 'thierische Geschrei' eine wichtige Grundlage der menschlichen Sprache sei, weshalb er Süßmilch auch kritisiert. Allerdings ist er nicht der Meinung Condillacs, daß die 25

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"En supposant les hommes abandonnös ä leurs facultds naturelles, sont-ils en £tat d'inventer le langage? et par quels moyens parviendront-ils d'eux-memes ä cette invention?" Textausgaben mit Kommentar: Herder, J.G., Abhandlung über den Ursprung der Sprache, Herausgegeben von H.D. Irmscher (mit Anmerkungen und Nachwort), Stuttgart (19661) (Reclam) 1985; Proß, W., J.G. Herder, "Über den Ursprung der Sprache", Text, Materialien, Kommentar, München/Wien o.J.; Herder, Werke II, 251357 (Text), 895-979 (Kommentar). Abhandlung, 3. Die Seitenzahlen beziehen sich auf die erste Ausgabe und sind als Marginalien in die hier benutzten Textausgabe aufgenommen: Herder, J.G., Abhandlung über den Ursprung der Sprache, in: Sämmtliche Werke, Herausgegeben von B. Suphan, Bd. V, Berlin 1891, 1-148.

5.4 Herders Preisschrift

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spezifisch menschliche Sprache genetisch aus den 'Tönen' des Menschen als Tier, als 'empfindsame Maschine', abgeleitet werden könne. Der Ursprung der Sprache darf nicht in der Übereinstimmung zwischen Mensch und Tier, sondern muß gerade im Unterschied gesucht werden. Herder legt dar, daß dieser Unterschied in der 'Besonnenheit', der menschlichen Fähigkeit zur Reflexion, liegt. Der Mangel an sinnlichem Wahrnehmungsvermögen und treffsicheren Instinkten wird durch eine viel größere Sphäre der Wirksamkeit und vor allem durch das Zentrum dieser Wirksamkeit, die Besonnenheit, ausgeglichen. Besonnenheit ist die Fähigkeit, bestimmte Merkmale von Gegenständen (durch 'Anerkennung') abzusondern, sie festzuhalten und damit die betreffenden Dinge wiederzuerkennen. Durch die Besonnenheit geht der Mensch im großen Strom der Empfindungen nicht unter. Wie geschieht denn diese Anerkennung genau? "Durch ein Merkmal, was er absondern muste, und was, als Merkmal der Besinnung, deutlich in ihn fiel. Wohlan! laßet uns ihm das 'eureka' zuruffen! Dies Erste Merkmal der Besinnung war Wort der Seele! Mit ihm ist die Menschliche Sprache erfunden!" (53). Mit dem Erwachen der Reflexion entsteht also gleichzeitig die Sprache. Sprache und Vernunft gehören also nach Herders Ansicht zusammen, auch wenn er noch nicht sicher ist, ob sie identisch oder äquivalent sind. Zunächst schlägt Herder eine Äquivalenz der Sprache und Vernunft vor, wenn er sagt: " so halte ich den ewigen Kreisel an, besehe ihn recht, und nun sagt er ganz was anders: ratio et oratiol,,2i (61). Später behauptet er freilich: " im Grunde der Seele sind beide Handlungen ['Anerkennen' und 'Namengebung'] Eins" (73), so daß der Teufelskreis der Sprache und Vernunft, der Rousseau und Süßmilch Schwierigkeiten bereitete, aufgehoben zu sein scheint29.

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Nach Ansicht Salmonys ist Herder in seinem späteren Werk wohl konsequent in der Gleichsetzung der Sprache und Vernunft. Salmony, Die Philosophie des jungen Herder, 14-17, 84-86. Verschiedentlich setzt Herder sich in der Abhandlung mit Rousseaus Discours sur l'origine et les fondements de l'in£galiti parmi les hommes (1755) auseinander. Die deutsche Übersetzung davon erschien 1756 und war von Mendelssohn erstellt worden, der ein Nachwort ('Sendschreiben' an Lessing) hinzugefügt hatte. Auch dieses Sendschreiben war auf Herders Abhandlung von Einfluß. Vgl.: Laudiert, F., 'Die Anschauungen Herders über den Ursprung der Sprache, ihre Voraussetzungen in der Philosophie seiner Zeit und ihr Fortwirken', in: Euphorion, 1 (1894), (747-771), 758761; Proß, J G. Herder, "Über den Ursprung der Sprache", 157-159, 213-216 (Fragmente aus diesem Sendschreiben).

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Kapitel S Die Herderschriften über den Ursprung der Sprache

Teil II Im Teil II der Abhandlung formuliert Herder vier Naturgesetze, nach denen der Mensch die Sprache 'am füglichsten' erfinden konnte und mußte: 1. "Der Mensch ist ein freidenkendes, thätiges Wesen, deßen Kräfte in Progreßion fortwürken; darum sei er ein Geschöpf der Sprache!" (144). 2. "Der Mensch ist in seiner Bestimmung ein Geschöpf der Heerde, der Gesellschaft: die Fortbildung einer Sprache wird ihm also natürlich, wesentlich, nothwendig." (170; gegen Rousseau). 3. "So wie das ganze Menschliche Geschlecht unmöglich eine Heerde bleiben konnte: so konnte es auch nicht Eine Sprache behalten. Es wird also eine Bildung verschiedner Nationalsprachen." (187). 4. "So wie nach aller Wahrscheinlichkeit das Menschliche Geschlecht ein Progreßives Ganze von einem Ursprünge in Einer großen Haushaltung ausmacht: so auch alle Sprachen, und mit ihnen die ganze Kette der Bildung." (203). Anhand dieser vier Gesetze entfaltet sich aus dem Keim der schöpferischen Besonnenheit eine große und bunte Landschaft der Sprache, Kultur und Geschichte. Am Schluß der Abhandlung unternimmt Herder einen letzten scharfen Angriff auf Süßmilchs 'höhere Hypothese' des göttlichen Ursprungs. Er bezeichnet sie als unfundierten Unsinn, der nichts erklärt und Gott durch banale Antropomorphien erniedrigt. Seine eigene Hypothese über den menschlichen Ursprung hingegen zeige die Größe Gottes in den schöpferischen Fähigkeiten seines Geschöpfes, des Menschen als Bild Gottes 30 .

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Abhandlung, 218 ff.: "In allen Fällen wird die Hypothese eines Göttlichen Ursprungs in der Sprache - versteckter, feiner Unsinn! Ich wiederhole das mit Bedacht gesagte, harte Wort Unsinnl und will mich zum Schluß erklären. Die Menschliche Erfindung hat Alles für- und durchaus Nichts gegen sich: Wesen der Menschlichen Seele und Element der Sprache; Analogie des Menschlichen Geschlechts und Analogie der Fortgänge der Sprache - das große Beispiel aller Völker, Zeiten und Theile der Welt! Der Höhere Ursprung ist, so fromm er scheine, durchaus ungöttlich: Bei jedem Schritte verkleinert er Gott durch die niedrigsten, unvollkommensten Anthropomorphien. Der Menschliche zeigt Gott im größesten Lichte: sein Werk, eine Menschliche Seele, durch sich selbst, eine Sprache schaffend und fortschaffend, weil sie sein Werk, eine Menschliche Seele ist. Sie bauet sich diesen Sinn der Vernunft, als eine Schöpferin, als ein Bild seines Wesens. Der Ursprung der Sprache wird also nur auf eine würdige Art Göttlich, so fern er Menschlich ist." Bereits in den Fragmenten wirft Herder Süßmilch vor, er habe den Ursprung der Sprache nicht "aus der Natur derselben" erklärt. (Vgl. Werke I, 153). Werke I, 155: "Kurz! die ganze Hypothese vom Göttlichen Ursprünge der Sprache, ist wider die Analogie aller Menschlichen Erfindungen, wider die Geschichte aller Weltbegebenheiten, und wider alle Sprachenphilosophie. Über Göttliche Produktionen läßt sich gar nicht urteilen, und alles Philosophieren darüber 'kat'anthroopon' [anthropomorph]

5.4 Herders Preisschrift

195

Die Akademie hatte in ihrer Preisfrage "eine Hypothese" verlangt, "die den Sachverhalt deutlich erklärt und allen Schwierigkeiten gerecht wird"31. Herder schließt seine Preisschrift jedoch mit der äußerst selbstbewußten Bemerkung, daß er dieses Gebot der Akademie übertreten habe, da er keine Hypothese, sondern einen Beweis liefere, der auf harten Tatsachen beruhe32.

5.4.2 Die Art von Herders Beweis Herder glaubt, einen Beweis zu liefern, allerdings nicht rationalistischer Art. Kennzeichen seiner eigenen Beweismethode in der Abhandlung ist eine organisch-naturalistische Analogieargumentation. Die spezifische Art des Menschen und seines kulturellen Handelns findet er durch analogischen Vergleich mit anderen Bereichen der organischen Natur, in erster Linie durch den Vergleich mit den (anderen) Tieren. Bereits im Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst sagt Herder explizit, seine Argumentation beruhe auf der 'Analogie der Natur'33. Dieses Prinzip soll sein gesamtes Werk beherrschen und bildet auch den Kern seines Beweises in der AbhandlungSo entdeckt Herder durch einen phylogenetischen Vergleich zwischen Mensch und Tier, aufgrund ihrer gemeinsamen 'thierischen Oekonomie', die Besonnenheit als spezifisch menschliche 'Schadloshaltung' für seinen Mangel an instinktiven Fähigkeiten35. Ebenso entdeckt Herder durch analogische Argumentation die Art der Weiterentwicklung der Sprache: die vier oben zitierten Naturgesetze leitet er analogisch aus der organischen Natur und dem organischen Wachstum von Mensch und Menschheit ab.

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wird mißlich und unnütz". "une hypothfcse qui expliquät la chose clairement, et qui satisfit ä toutes les difficultis". Vgl. Abhandlung, 222. Werke I, 59: " so habe ich vor meinem Gegner, der gar nichts für sich hat, noch immer etwas Großes zum Voraus: - die Analogie der Naturl" Vgl. die ausgezeichnete Studie H.D. Irmschers: 'Beobachtungen zur Funktion der Analogie im Denken Herders', in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 55 (1981), 64-97. Irmscher zeigt darin auch, in welchem Sinne Herders Analogiebegriff eine Säkularisierung von Hamanns Analogiebegriff und Ästhetik ist (vgl. 82 f., 88 f.). Abhandlung, 40 f: " so wäre nach aller Analogie der Natur diese Schadloshaltung seine Eigenheit, der Charakter seines Geschlechts so wäre diese Einstimmung ein genetischer Beweis, daß hier die wahre Richtung der Menschheit liege Und fänden wir in diesem neugefundnen Charakter der Menschheit sogar den nothwendigen genetischen Grund zu Entstehung einer Sprache für diese neue Art Geschöpfe Man siehet, ich entwickle aus keinen willkührlichen, oder gesellschafüichen Kräften, sondern aus der allgemeinen thierischen Oekonomie."

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Kapitel 5 Die Herderschriften über den Ursprung der Sprache

Wie sich bereits zeigte, ist auch Hamann ein Analogiedenker. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn wir im Folgenden feststellen, daß er seine Kritik an Herder vor allem auf die Art zuspitzt, wie Herder die Analogie der Natur als hermeneutisches und ontologisches Grundprinzip einsetzt.

5.4.3 Der Einfluß von Leibniz und Bonnet Es würde zu weit führen, hier näher auf den Einfluß vieler anderer Schriften über die Art und den Ursprung der Sprache - unter ihnen die in § 5.3 erwähnten Schriften - auf Herders Abhandlung einzugehen36. Wir verweisen nur kurz auf Texte von Leibniz und Bonnet. G.W. Leibniz 1766 erschienen Leibniz' Nouveaux essais sur /'entendement humain, mit denen sich Herder eingehend befaßt hat37. Ihr Einfluß ist vor allem in den zwei folgenden Punkten zu spüren38: Leibniz' Auffassung von der menschlichen 'Apperzeption', die im Unterschied zur 'Perception' eine bewußte, von Aufmerksamkeit und Erinnerung begleitete Vorstellung ist und die zugleich verschiedene Grade der Klarheit und Deutlichkeit kennt, taucht in Herders 'Besonnenheit' und 'Anerkennung' wieder auf. Im primitivsten und sinnlichsten Zustand hat der Mensch laut Herder noch 'Besonnenheit', "nur im minder merklichen Grade"39. Außerdem entspricht Herders Analogiedenken stark der Leibnizschen 'lex continui', nach der das Weltall sowohl ontologisch als erkenntnistheoretisch als ein einziges großes 'continuum' erscheint, das vom kleinsten Staubteilchen bis zum höchsten Geschöpf sehr graduell differenziert ist. Obwohl Herder annimmt, daß zwischen Mensch und Natur eine Wechselwirkung besteht, gleicht bei ihm der menschliche Geist doch stark einer Leibnizschen Monade, die in sich selbst die dynamische Kraft zu gradueller Selbstentfaltung besitzt: " so ist die Genesis der Sprache ein so inneres Dringniß, wie der Drang des Embryons zur Geburt bei dem Moment seiner Reife. Die Ganze Natur stürmt auf den Menschen, um seine Sinne zu entwickeln, bis er Mensch sei."40 36

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Vgl. hierzu: Proß, J.G. Herder, "Über den Ursprung der Sprache", 135-178; Herder, Werke II, 895-979 (Kommentar Proß). Vgl. zur Leibnizrezeption des jungen Herder die Exzerpte in Werke II, 32-56, und die Erläuterung von Proß, op.cit., 847 ff. Vgl. das 'Nachwort' von Irmscher in: J.G. Herder, Abhandlung (Reclam), 152-155. Abhandlung, 51. Abhandlung, 148.

5.4 Herders Preisschrift

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Ch. Bonnet W. Proß hat daraufhingewiesen, daß Herders Erklärung des Sprachursprungs offensichtlich weitgehend auf ähnliche Gedanken in Contemplation de la Nature (1764) van Charles Bonnet zurückgeht41. Darin stellt dieser einen phylogenetischen Vergleich zwischen den Tieren und dem Menschen an und bestimmt auf diesem Wege die spezifische Art der menschlichen Sprache. Bei Bonnet findet Herder eine moderne Variante der lukrezischen Methode, die soziologisch-kulturelle Phänomene von der physikalisch-biologischen 'condition humaine' aus erklärt.

5.4.4 Herders Deismus Kennzeichnend für den Deismus ist die Auffassung, daß die Wirklichkeit zwar von Gott geschaffen sei, sich aber seitdem aus eigenen natürlichen Kräften weiterentwickeln könne, oder falls noch von einem direkten Einwirken der göttlichen Vorsehung die Rede sei, geschehe dieses ausschließlich durch die Naturgesetze; für historisch vermittelte Gnade und besondere Offenbarung ist kein Platz42. Im Gegensatz zum traditionellen Deismus hat Herder keine mechanisch-mathematische, sondern eine organische Naturauffassung. Trotzdem wird auch seine Abhandlung von dieser deistischen Grundstruktur bestimmt, wie es im folgenden Zitat gut zum Ausdruck kommt: "Leute sollten doch bedenken, daß [der Mensch] aus den Händen der Natur, im frischesten Zustande seiner Kräfte und Säfte, und mit der besten, nächsten Anlage kam, vom Ersten Augenblicke sich zu entwickeln. Über die ersten Momente der Sammlung muß freilich die schaffende Vorsicht, gewaltet haben — doch das ist nicht Werk der Philosophie, das Wunderbare in diesen Momenten zu erklären; so wenig sie seine Schöpfung erklären kann."43 Herder behauptet hier also, daß Gott sich ganz zu Anfang zwar noch direkt mit dem Menschen befaßt habe, aber danach nicht mehr. Auf welche Weise es hier um göttliches Eingreifen ging, sei außerdem eine Frage der Theologie und nicht der Philosophie. Die Trennung von (selbständiger) Natur und Übernatur läuft also für Herder mit der Trennung von Philosophie und Theologie parallel.

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Vgl. Proß, J.G. Herder, "Über den Ursprung der Sprache", 157-164. Siehe zu einer Charakterisierung des Deismus: Stoker, W., De christelijke in de filosofie van de Verlichting, Groningen 1980, 48-92. Abhandlung, 146 f.

godsdienst

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Kapitel 5 Die Herderschriften über den Ursprung der Sprache

Dasselbe Naturverständnis taucht in Herders Auffassung vom Menschen als Bild Gottes wieder auf. Bild Gottes sein bedeutet, daß der Mensch von Gott geschaffen ist als selbständiges Geschöpf, das auch selbst schöpferisch tätig sein kann44. In seiner Kreativität kommt seine göttliche Herkunft zum Ausdruck. Nicht als abhängiges Geschöpf, sondern als unabhängiger Schöpfer ist er Bild des Schöpfers.

5.4.5 Exkurs: über Sprache und Vernunft Rousseau und Süßmilch setzten sich mit der Frage auseinander, ob die Vernunft der Sprache vorausging oder umgekehrt, scheinen beide sich doch gegenseitig vorauszusetzen. Herder löst das Problem, indem er beide schließlich für identisch hält. Damit trifft er eine Entscheidung, die nicht nur den psychologisch-genetischen Ursprung der Sprache und Vernunft, sondern auch das in Kapitel 1 angedeutete Problem der hermeneutischen Beziehung von Sprache und Vernunft betrifft. Herders Abhandlung ist ein Anlaß, diese Problematik, die uns in den folgenden Kapiteln noch eingehend beschäftigen wird, bereits etwas näher zu umreißen. Allgemein gesagt geht es um die Beziehung zwischen Zeichen und Bedeutung und ihren jeweiligen ontologischen und hermeneutischen Status. F. de Saussure hat erneut darauf hingewiesen, daß zwischen der materiellen Gestalt des Zeichens ('signifiant') und der darin 'inkarnierten' Bedeutung ('signifii') kein essentieller Zusammenhang besteht. Dieser Zusammenhang ist 'arbiträr'45, denn das materielle Zeichen ist eine kontingente historische Gestalt, die etwas anderes bedeuten kann oder hätte bedeuten können. Wie steht es jedoch mit der Bedeutung selbst? Sind die Bedeutungen und ihre gegenseitigen Beziehungen kontingent-historisch wie die Zeichen? "Vernunft ist Sprache", wird später auch Hamann sagen, aber was beinhaltet dieses 'ist'? Besagt dies lediglich, daß Begriffsstrukturen ausschließlich durch psychologische und materielle Zeichen, die immer kontingent-historischer Art sind, gedacht und gesagt werden können? Oder geht die Identifikation weiter, und haben die Begriffsstrukturen auch selbst am kontingenthistorischen Charakter der Schrift teil? Diese Frage drängt sich vor allem bei

44

45

Abhandlung, 221: "Der Menschliche [Ursprung] zeigt Gott im größesten Lichte: sein Werk, eine Menschliche Seele, durch sich selbst, eine Sprache schaffend und fortschaffend, weil sie sein Werk, eine Menschliche Seele ist. Sie bauet sich diesen Sinn der Vernunft, als eine Schöpferin, als ein Bild seines Wesens." 'Willkührlich', wie Herder und andere es in seiner Zeit nannten.

5.4 Herders Preisschrift

199

der Logik und Mathematik auf46, denn eine vollständige Identifikation von Sprache und Begrifflichkeit impliziert die Aufhebung des überzeitlichen Status der logischen und mathematischen Wahrheiten. Sie führt außerdem zu einer Historisierung der naturwissenschaftlichen Ergebnisse. Die logischen und mathematischen Muster, die sich in der faktischen Wirklichkeit abbilden, sind dann mit dieser Wirklichkeit in die kontingente und ständige Wandlung der Geschichte aufgenommen. Erkennendes Subjekt und erkanntes Objekt sind dann beide Teil eines in diesem Sinne radikal 'geschichtlich' verstandenen historischen Prozesses. In den folgenden zwei Kapiteln soll eingehend untersucht werden, wie Hamann sich gegenüber Aufklärungsphilosophen wie Lessing und Kant verhält, die an übergeschichtlichen Wahrheiten festhalten, und in wieweit er die soeben skizzierte Problematik, die in den heutigen hermeneutischen Diskussionen immer noch zentrale Bedeutung hat, zu lösen vermag.

5.5 Hamanns erste Reaktion in 'Zwo Recensionen' Hamanns Reaktion auf Herders Preisschrift ist vierfach47. In einer der Zwo Recensionen liefert er eine erste kritische Besprechung. Darauf folgt später die Beylage, in der Hamann unter dem Pseudonym Aristobulus eine 'Abfertigung' seiner eigenen Herderrezension gibt48. Danach veröffentlicht er Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung, die bedeutendste der Herderschriften. Schließlich schreibt er noch als Doppelschrift die Philologischen Einfalle und Zweifel und Au Salomon de Prusse, die kein einziger Verleger wegen ihres antifriedrizianischen Charakters herauszugeben wagt. In diesem Paragraphen sollen die Zwo Recensionen besprochen werden. Die Beylage kommt später an die Reihe, da sie, obwohl eher veröffentlicht, erst nach dem Ritter von Rosencreuz geschrieben wurde. Ende 1771 erscheint in den Königsbergschen gelehrten und politischen Zeitungen Hamanns Besprechung des Versuchs einer Erklärung des Ursprungs der Sprache von D. Tiedemann, der auch eine Antwort auf die Berliner Preisfrage ist. Diese nicht besonders originelle, rationalistische Schrift

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48

Eine Variante dieser Diskussion ist der mittelalterliche Universalienstreit. Siehe zum Text mit begleitendem Kommentar: HH 4 (E. Büchsei). Siehe außerdem die kommentierte Ausgabe von des Ritters von Rosencreuz in: Seils, (Hrsg.), Entkleidung und Verklärung, 271-288. Die zwei Rezensionen und die Beilage erscheinen erst einzeln in den Königsbergschen gelehrten und politischen Zeitungen und später zusammen als selbständige Schrift.

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Kapitel 5 Die Herderschriften über den Ursprung der Sprache

schätzt Hamann nicht sehr. Zum Schluß fügt er hinzu, er sei gespannt auf die Preisschrift Herders. Davor bemerkt er noch, daß die Lösung der Frage in der "Notwendigkeit der Verbindung der Töne mit den Vorstellungen" (N III 16:11-) - wie Tiedemann es formuliert - liegt. Inzwischen dürfte deutlich sein, daß Hamann dabei an die geheimnisvolle Verbindung zwischen Zeichen und Bedeutung, Buchstabe und Geist, Leib und Seele, denkt49. Anfang 1772 ist es so weit, daß Hamann die Abhandlung Herders besprechen kann. Es fällt sofort auf, daß er in seiner kurzen Rezension kein Wort der Bewunderung für den originellen und innovativen Charakter der Schrift Herders übrig hat. Hingegen treibt er seinen Spott mit Herders hochtrabenden Worten über den schöpferischen Menschen und auch mit sich selbst als Autor in einem schönen Beispiel seiner Centotechnik. Außerdem 'dekonstruiert' er die wichtigsten Kerngedanken der Grundkonzeption Herders. Hamanns Rezension ist kurz, aber mit scharfer Intuition geht er auf die Stellen aus der Preisschrift ein, die erkennen lassen, daß Herder trotzt aller Originalität bei der Gedankenwelt der Aufklärung anknüpft. Was Hamann wohl am meisten stört, ist die Tatsache, daß Herder sich so geringschätzig über die 'höhere Hypothese' äußert, die Gott für den Ursprung der Sprache hält und die nach Herders Ansicht zu blasphemischer Anthropomorphie führt. Nach Zitierung von Herders abfälliger Kritik50 reagiert Hamann folgendermaßen: "Hier! hier! (beym Leben Pharaonis!) hier ist Gottes Fingerl Diese Apotheose 'Apokolokuntoosis' 51 oder auch Apophteirosis52 schmeckt vielleicht mehr nach Galimathias53, als die niedrigste und unwürdigste aber dennoch privilegierte Anthropomorphie." (N III 18:25-). Herder lehnt das anthropomorphe Reden über Gott ab und meint, man würde Gott nur gerecht, wenn der Mensch als Bild Gottes zum Schöpfer der Sprache erhoben werde. Hamann hält dies jedoch für eine verderbliche Vergöttlichung ('Apotheose') des Menschen, die mit einer hochmütigen Ablehnung der gnädigen Kondeszendenz Gottes in die menschliche Wirklichkeit Hand in Hand geht. Sofern der Mensch göttliche Fähigkeiten besitzt, sofern er Bild Gottes ist, ist er es nicht durch eine naturalistische 'Apotheose', sondern durch eine "privilegierte Anthropomorphie": durch das Vorrecht, Gegenstand der anthropomorphen Liebe Gottes zu sein! Anthropomor49

50 51

52 53

Vgl. Philologische Einfalle und Zweifel, Ν III 40:10-: "Weil das Geheimniß der Ehe zwischen so entgegen gesetzten Naturen als der äußere und innere Mensch, oder Leib und Seele, groß ist ". Siehe das Zitat am SchluB von § 5.4a. Büchsei, HH 4, 139: "Titel einer dem Seneca zugeschriebenen Spottschrift auf den Kaiser Claudius: Versetzung unter die Kürbisse statt Apotheose." Vernichtung, Untergang. Verworrenes Zeug, Unsinn.

5.5 Hamanns erste Reaktion in 'Zwo Recensionen'

201

phes Reden über Gott ist darum kein unwürdiger 'Unsinn', weil Gott selbst als Schöpfer, Erlöser und Erneuerer anthropomorph, uns gleich geworden ist!54 Ein anderer Punkt der Kritik liegt in Hamanns Feststellung, daß Herder die Entwicklung der menschlichen Sprache "zwingt unter vier Hauptgesetze seiner Natur und seines Geschlechts" (N III 19:21-). Herder behauptet zwar, es gebe einen wesentlichen Unterschied zwischen dem tierischen Instinkt und der menschlichen 'Besonnenheit', aus der der Mensch in freier Kreativität handeln kann; aber Hamann befürchtet, daß Herders naturalistische Anthropologie trotzdem zu einem deterministischen Menschenbild führt, eine Befürchtung, die sich angesichts der späteren Entwicklung Herders als nicht unbegründet erweist. Insbesondere in den Philologischen Einfallen und Zweifeln greift Hamann diesen Punkt dann wieder auf und betont stark die menschliche, von Gott geschaffene Freiheit. Hamann bringt zum Schluß seiner Rezension die Hoffnung zum Ausdruck, es möge jemand kommen, der die "Richtung der akademischen Frage und ihrer Entscheidung" (Ν III 19:27-) bestreitet. Dabei denkt er an sich selbst: "Welche Dulcinee55 ist eines kabbalistischen Philologen56 würdiger, als die Individualität, Authenticität, Majestät, Weisheit, Schönheit, Fruchtbarkeit und Überschwenglichkeit der höheren Hypothese zu rächen" (Ν III 19:28-). Hamann kündigt so seine Absicht an, eine eigene Antwort auf die Preisfrage zu veröffentlichen und darin vor allem auf den Geist, der aus der Preisfrage spricht, einzugehen. Diese Antwort gibt er in Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung.

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Vgl. E. Jüngel, op.cit., 393 (§ 18 'Das Evangelium als analoge Rede von Gott'): "Der Übertragung des Modells menschlicher Rede auf Gott liegt die Gewißheit zugrunde, daß Gott sich gerade im Vollzug seiner Göttlichkeit zugleich als menschlich erwiesen hat. In diesem Ereignis [der Offenbarung] und als dieses vollzieht sich die Analogie des Glaubens, in der nicht etwa menschliche Worte Gott zu nahe treten, sondern Gott als Wort in menschlichen Worten Menschen nahe kommt." Die Geliebte des Don Quichote. Hamann, der törichte 'Ritter von Rosencreuz', der 'Kreuzzüge' gegen den Geist der Aufklärung hält, vergleicht sich selbst mit Don Quichote. Hamann las 1772 Cervantes* Don Quichote. Vgl. Ν III 23:23-, 113:18, ZH III 17:12-, Ν IV 426:17-. Der Verfasser der Kreuzzüge.

202

Kapitel 5 Die Herderschriften über den Ursprung der Sprache

5.6 'Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung' 5.6.1 Das Titelblatt Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache lautet der rätselhafte Titel der Schrift, mit der 'Ritter' Hamann wiederum einen Kreuzzug gegen den Geist der Zeit unternimmt. Wir beginnen unsere Erörterung mit einer Erläuterung des Titelblatts, weil es auf verhüllte Weise bereits viel über den Inhalt des ganzen Textes aussagt und außerdem ein gutes Beispiel der Centotechnik Hamanns ist. Aus seiner Ankündigung in den Zwo Recensionen wurde bereits deutlich, daß er diese Schrift als eine Fortsetzung der Kreuzzüge ansieht. Dies wird noch dadurch unterstrichen, daß er sie mit dem Aufruf: "Fauete Unguis!" ("Schweigt still!") anfängt, einem an das Publikum gerichteten Aufruf aus den zwei Versen des Horaz, mit denen Aesthetica in nuce beginnt57. Warum bezeichnet Hamann sich als Ritter 'von Rosencreuz'? Die Antwort liegt im Titel eines kleinen Werkes, das er an anderer Stelle im Ritter von Rosencreuz zitiert: Art Royal du Chevalier de Rosecroix ä Londres 1770. Es handelt sich um eine kleine Freimaurerschrift, in der die Rituale, die zum Grad des 'Ritters von Rosencreuz' gehören, beschrieben werden58. Zur näheren Erläuterung bedarf es eines kurzen Exkurses über die Freimaurer. (Exkurs: Die Freimaurerei59) Die erste Großloge der Freimaurer (Bund der Logen) wurde 1717 in London gegründet. Seitdem verbreitete sich die Freimaurerei schnell über West- und Mitteleuropa. Die Freimaurerlogen wurden sehr bedeutende Zentren der Verbreitung der Aufklärungsgedanken. Sie bildeten eine Art übergreifende 'Kirche' der universalen natürlichen Religion und Sittlichkeit, zu der man neben der Zugehörigkeit zu einer 'besonderen' Kirche gehören konnte. 57 58

59

Vgl. Ν II 197:1-. Vgl. Veldhuis, H., 'Art Royal du Chevalier de Rosecroix (publik par Fr. Köppen), Erläuterung und Transkription', in: Knoll, R., (Hrsg.), Johann Georg Hamann 17301788, Quellen und Forschungen, Bonn 1988, 277-291. Benutzte Literatur: Allgemeines Handbuch der Freimaurerei, Zweite völlig umgearbeitete Auflage von Lennings Encyclopädie der Freimaurerei, Leipzig 1862-1867 (3 Bde); Lennhof.E., Posner,O., Internationales Freimaurerlexikon, Zürich/Leipzig/Wien, 1932; Konschel,P., Hamanns Gegner, der Kryptokatholik D. Johann August Starck, Königsberg 1912, 10-13; Brockhaus Enzyklopädie, Wiesbaden 1968, Bd.6, s.v. 'Freimaurerei', 572-574; Dülmen, R.van, Die Gesellschaft der Aufklärer, Zur bürgerlichen Emanzipation und aufklärerischen Kultur in Deutschland, Frankfurt am Main 1986, 55-66.

5.6 'Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung'

203

Die ursprüngliche Freimaurerei besaß drei sogenannte 'Johannisgrade': Lehrling, Geselle und Meister. Dies änderte sich durch eine Reihe von Entwicklungen, die seit ungefähr 1740 viel Diskussion und Uneinigkeit verursachten. 1. Als wichtigste Änderung wurden, zunächst in Frankreich, zusätzlich zu den drei traditionellen Johannisgraden allerlei Systeme höherer Grade eingeführt. Das bekannteste wurde das schottische System, das sich um 1800 zu einem System von 33 Graden entwickelte und auch jetzt noch besteht. Wichtig für uns ist die Tatsache, daß einer der bekanntesten Grade dieses Systems der 'Ritter von Rosencreuz' war (und ist). 2. Man versuchte außerdem, die Freimaurerei mit älteren mittelalterlichen Bewegungen, vor allem dem Templer-Orden (Kreuzritter!), in Verbindung zu bringen. Dies führte zu allerlei literarischen Streit über die Zuverlässigkeit dieser historischen Rückkoppelung. 3. In Deutschland wurde die sogenannte 'strenge Observanz', die u.a. völligen Gehorsam an geheime Oberste bedeutete, von K.G. von Hund eingeführt. 4. Eine vierte Entwicklung betraf die Einführung eines Priesterstandes in die Freimaurerei, die schließlich nicht gelang. Ein großer Verfechter dieser Sache war J.A. Starck, auf dessen Namen wir noch verschiedentlich zurückkommen. In Königsberg wurde 1746 die erste Loge gegründet. Sie wurde 1760 unter dem Namen 'Zu den drei Kronen' wiedererrichtet und ging im Jahre 1769, als Starck Einwohner Königsbergs wurde, auf das schottische System und die strenge Observanz über. Wie überall waren die meisten Persönlichkeiten der Stadt Mitglied der Loge. Der bekannteste war Th.G. von Hippel, Rechtsanwalt und seit 1780 'Policeydirektor', 'Criminaldirector' und Oberbürgermeister; er war ein guter Freund Hamanns60. In diesem Lichte wird deutlich, daß das Titelblatt von Des Ritters von Rosencreuz

letzte Willensmeynung

auf Entwicklungen in der Freimaurerei

anspielt, die auch die Loge von Königsberg nicht unberührt gelassen hatten61,

60

61

Vgl. zu Hamann und von Hippel: Nadler, Johann Georg Hamann, 312-315; Kohnen, J., 'Hippel und Hamann', in: Acta 1, 22-39. Auf dem Titelblatt steht noch einiges, das mit der Königsberger Loge zusammenhängt: "Aus einer Caricaturbilderurschrift eilfertig übersetzt vom Handlanger des Hierophanten". Ein später hinzugefügtes Zitat lautet: '"kai egö poifesö Ierophantfen' Arrian. Epict.III.21" ["Auch ich werde einen Hierophanten auftreten lassen." Vgl. Ν III 141:25]. Erklärung: 'Eilfertig übersetzen' war Hamanns tägliche Arbeit. 'Caricaturbilderurschrift' bezieht sich vielleicht auf hieroglyphische Symbole für die Buchstaben des Aphabets, wie sie auf S.23 der Art Royal du chevalier de Rosecroix

204

Kapitel 5 Die Herderschriften über den Ursprung der Sprache

aber was bedeutet dies für die Auslegung der Schrift? Abgesehen von dem Zitat in der bereits erwähnten kleinen Freimaurerschrift, gibt es, soweit festgestellt werden konnte, keine anderen Verweise auf die Freimaurerei. In den Hierophantischen Briefen und Konxompax, die stark gegen J.A. Starck gerichtet sind, liegen die Dinge anders. Vielleicht läßt Hamann hier bereits durchschimmern, daß er die Freimaurerei für ein Phänomen der Aufklärung hält, gegen das er als törichter 'Ritter von Rosencreuz' zu Felde zieht. Eine direkte Beziehung zu Herder besteht dadurch, daß Herder bereits 1766 in Riga Freimaurer geworden war®2. Herder wird also der parodistische und polemische Gehalt nicht entgangen sein. Die Bezeichnung 'Ritter von Rosencreuz' ist besonders gut gewählt, wenn Hamann dabei auch an die Rose und das Kreuz in Luthers Wappen und Wappenspruch gedacht hat63. Obwohl es nicht sicher ist, daß Hamann diese Anspielung beabsichtigt, paßt sie gut zur Tendenz der Schrift, die man als eine kurze 'theologia crucis' der Sprache bezeichnen kann. Dies kommt auf dem Titelblatt durch das Motto aus 2. Kor. 4:13, "Credidi, propter quod locutus sum"64, zum Ausdruck, womit Hamann seine eigene Auffassung über den Ursprung der Sprache bereits angibt: ihr Ursprung liegt in der Glaubensbeziehung zwischen Gott und Mensch. Einige Verse davor sagt Paulus vom Evangelium: "Wir haben aber solchen Schatz in irdenen Gefäßen"; gerade von dieser 'communicatio idiomatum' des Göttlichen und Menschlichen, der Rose und des Kreuzes, handelt Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung. Wenn Luthers Rose und Kreuz tatsächlich mit gemeint sind, deutet Hamann mit der ambivalenten Bezeichnung 'Ritter von Rosencreuz' auf die für ihn so bezeichnende Weise an, daß er wie in den Kreuzzügen den aufgeklärten Zeitgeist aufgrund von Luthers 'theologia crucis' bekämpft. Es geht um eine 'letzte Willensmeynung'. Voller Selbstspott und Ironie spielt Hamann damit auf die kurz zuvor erfolgte Kürzung seines sowieso

62

63

44

zu finden sind. 'Hierophant' war der Name des Priesters in den Eleusinischen Mysterien und kommt jedenfalls seit 1774 in Schriften von Starck vor. In den Hierophantischen Briefen (1775) bezieht sich Hamann mit 'Hierophant' auf Starck. Daß Hamann bereits auf dem Titelblatt des Ritters von Rosencreuz auf Starck und seine Gedanken anspielt, ist anzunehmen, aber nicht sicher. Vgl. Haym, R., Herder nach seinem Leben und seinen Werken, 2 Bde, Berlin 1880'85, Bd. 1, 106; ZH II 434:5-. Hamann kannte Luthers Wappen; vgl. ZH II 302:4-, Der Wappenspruch lautet: "Des Christen Herz auf Rosen geht, auch wenn's unterm Kreuze steht." Nach einer Aussage von Prof. U. Köpf {Institut für Spätmittelalter und Reformation, Tübingen) kommt dieser Spruch im Werk Luthers nicht vor. Ob Hamann diesen apokryphen Lutherspruch kannte, ist nicht deutlich. "Ich glaube, darum rede ich."

5.6 'Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung'

205

schon kargen Gehaltes von 30 auf 25 Taler an65. Diese Gehaltskürzung, die ihn mit seiner Familie an den Rand des Existenzminimums bringt, empfindet er als direkte Folge der bürokratischen Ausbeutungspolitik Friedrichs des Großen. An verschiedenen Stellen in dem Ritter von Rosencreuz und in anderen Herderschriften nimmt Hamann diese 'arithmdthique politique' von Berlin aufs Korn. Somit richten diese Schriften sich sowohl gegen die Philosophie Babels (= Berlin) als gegen die Berliner Politik, die sich nach Hamanns Ansicht aus ihr ergibt. In Hamanns 'Testament' geht es um "den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache". Damit deutet er bereits an, daß er nicht die göttliche Hypothese eines Süßmilch, aber auch nicht die menschliche Hypothese Herders verteidigt. Der Ritter des Rosenkreuzes wird zeigen, wie in der Sprache ein Zusammentreffen Gottes und des Menschen möglich ist, auch wenn es um eine 'Rächung' der höheren Hypothese vom göttlichen Ursprung der Sprache geht. Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeunung setzt den "göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache" voraus, aber der Vorrang liegt bei Gott. Das wird durch das zweite Motto (auf dem Deckblatt) aus Piatos Philebus angekündigt. Darin ist die Rede vom höchsten Gut, das ein Geschenk der Götter ist und von Prometheus zur Erde gebracht wurde. Hamann läßt das 'DEORUM' und 'DIIS' dick und in Großbuchstaben drucken, um damit zu unterstreichen, daß die Sprache ein Geschenk Gottes und Prometheus lediglich ein Vermittler ist. Implizit ist dies bereits eine Kritik an Herders prometheischem Menschenbild. In seiner Preisschrift hatte Herder begeistert gerufen: "Der Brennpunkt ist ausgemacht, auf welchem Prometheus himmlischer Funke in der Menschlichen Seele zündet - beim ersten Merkmal ward Sprache"66.

5.6.2 'Communicatio idiomatum' gegenüber 'Analogie der Natur' Die Erläuterung zu soll nun mit einer Analyse der ersten zwei Abschnitte, in denen Hamann seinen theologischen Entwurf kurz aber deutlich darlegt, fortgesetzt werden.

65

66

Vgl.: Ν III 23:32-, 33:12-, 43:24-, 49:3, 14,52:5-, 12-, 53:1-, ZH III 8:19,18:2-("Jetzt bin ich auf 25 reducirt. Ich will aber wie Simson sterben und mich an den Philistern der 'arithmetique politique' rächen."), 67:25-. Abhandlung, 75.

206

Kapitel 5 Die Herderschriften über den Ursprung der Sprache

Erster Abschnitt: das 'Grundgesetz' Im ersten Abschnitt nimmt Hamann zur naturalistischen Ausgangshypothese der Berliner Preisfrage ("Angenommen, die Menschen sind ihren natürlichen Fähigkeiten überlassen ") Stellung: "Wenn man Gott zum Ursprung aller Wirkungen im Großen und Kleinen, oder im Himmel und auf Erden, voraussetzt; so ist jedes gezählte Haar auf unserm Haupte eben so göttlich, wie der Behemoth, jener Anfang der Wege Gottes. Der Geist der mosaischen Gesetze erstreckt sich daher bis auf die ekelsten Absonderungen des Menschlichen Leichnams. Folglich ist alles göttlich, und die Frage vom Ursprung des Übels läuft am Ende auf ein Wortspiel und Schulgeschwätz heraus. Alles Göttliche ist aber auch menschlich; weil der Mensch weder wirken noch leiden kann, als nach der Analogie seiner Natur, sie sey eine so einfache oder zusammengesetzte Maschiene, als sie will. Diese communicatio göttlicher und menschlicher idiomatum ist ein Grundgesetz und der Hauptschlüssel aller unsrer Erkenntnis und der ganzen sichtbaren Haushaltung." (Ν III 27:2-).

Dieser Annahme: "ihren natürlichen Fähigkeiten überlassen" aus der Preisfrage stellt Hamann eine ganz andere Hypothese gegenüber: die ganze Wirklichkeit ruht ständig im schöpferischen und regierenden Handeln Gottes. Daß Gott Schöpfer des Himmels und der Erde ist, akzeptieren die aufgeklärten Theologen zwar noch. Das bedeutet freilich nicht, daß die Wirklichkeit nach dem Schöpfungsakt sich selbst überlassen ist ("abandonnes "). Die theozentrische Heteronomie der Schöpfung ist so wesentlich für sie, daß selbst das Böse von Gottes Gnaden besteht67. Aufgrund des bleibenden Bezugs Gottes auf die ganze Schöpfung ist diese Schlußfolgerung gerechtfertigt: "Folglich ist alles Göttlich", womit nicht gesagt ist, daß Gott und Wirklichkeit pantheistisch zusammenfallen. Hamann versteht unter der Göttlichkeit der Schöpfung ihre deszendierende Ausrichtung auf und Abhängigkeit von Gott, die Beziehungscharakter hat, das heißt: Gott und die Wirklichkeit haben und behalten jeweils ihre eigenen, wesentlichen Eigenschaften. Dem Menschen wurde sein eigener begrenzter, stofflicher Bereich zugewiesen, er besitzt seine eigene Natur und kann "weder wirken noch leiden , als nach der Analogie seiner Natur". Hier benutzt Hamann das ontologische und hermeneutische Grundprinzip Herders: 'Analogie der Natur'. Er gibt Herder durchaus recht: der Mensch kann nicht anders als nach seiner natürlichen Art leben und handeln, und insofern Herder damit rationalistische und supranaturalistische Menschenbilder kritisiert, wie zum Beispiel das Süßmilchs, stimmt Hamann ihm zu. Er erhebt allerdings stark gegen Herders Auffassung Einspruch, daß die menschliche Natur eine geschlossene Wirk67

Vgl. zur Thematik des Bösen: § 3.4c.

5.6 'Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung'

207

lichkeit sei, innerhalb derer die hermeneutische Grundregel der 'Analogie der Natur' gelte und Gott nicht anthropomorph und sinnvoll zur Sprache kommen könne68. Die natürliche Wirklichkeit besitzt gerade als natürliche Wirklichkeit eine Ausrichtung auf ihren göttlichen Ursprung. Das Wunder der endlichen natürlichen Schöpfung liegt darin, daß sie sogar in ihrer Gebrochenheit von der für sie grundlegenden Beziehung zum Schöpfer zeugt, die zugleich ihre Bestimmung ist und bleibt. Das kommt am deutlichsten im Blick auf die Krone der Schöpfung, dem Menschen, nach Gottes Bild geschaffen, zum Ausdruck. Hamann schließt diesen Abschnitt mit einer Äußerung, die man durchaus als den Schlüssel seiner Theologie bezeichnen kann: "Diese communicatio göttlicher und menschlicher idiomatum ". Schien es bisher vor allem um Gott als Schöpfer, als bleibenden Ursprung der Wirklichkeit zu gehen, so gebraucht Hamann nun Begriffe aus der lutherischen Christologie und Abendmahlslehre, um die Verbindung des Göttlichen und Menschlichen in der geschaffenen Wirklichkeit zum Ausdruck zu bringen. Dadurch stellt er Schöpfungslehre, Christologie und Pneumatologie in einen Zusammenhang. Gott bringt in seiner Schöpfung eine 'communicatio' zwischen sich und dem Menschen zustande, die durch das Kommen des Sohnes und des Geistes bestätigt, wiederhergestellt und intensiviert wird. Schöpfungslehre, Christologie und Pneumatologie liegen in einer Linie, sind Abwandlungen des wesentlichen Bezugs der Natur auf die Gnade. Wie die Untersuchung der Londoner Schriften ergab, ist nach Ansicht Hamanns die transzendente Ausrichtung des geschaffenen Menschen auf Gott so wesentlich, daß sie - noch abgesehen vom Sündenfall - eine christologisch-pneumatologische Geschichte erfordert, durch die die Verbindung zwischen Gott und Mensch noch inniger wird. Die christologisch-pneumatologische Bestimmung des Menschen liegt bereits in der Schöpfungsbeziehung beschlossen. Diese supralapsarische Grundstruktur bringt Hamann an einer späteren Stelle des Ritters von Rosencreuz über die eschatologische Bedeutung der ursprünglichen Schöpfung nochmals zum Ausdruck: "Jede Erscheinung der Natur war ein Wort, - das Zeichen, Sinnbild und Unterpfand einer neuen, geheimen, unaussprechlichen, aber desto innigem Vereinigung, Mittheilung und Gemeinschaft göttlicher Energien und Ideen." (Ν III 32:21-). Hamann stellt sein 'Grundgesetz' Herders 'Analogie der Natur' gegenüber. Aus Unzufriedenheit über die supranaturalistische Verbindung von Natur und Gnade bestimmt Herder die Einzigartigkeit des Menschen nicht

a

Die Typologie als hermeneutisches Prinzip spielt bei Herder nur noch bei der Auslegung der biblischen Geschichte eine Rolle. Vgl. Frenz, op.cit., 76.

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Kapitel 5 Die Herderschriften über den Ursprung der Sprache

von der Gnade her, sondern durch einen analogischen Vergleich mit den Tieren. Auf diesem Weg entdeckt er den Menschen als ein besonnenes Wesen, das selbst die Sprache erschafft und sich dadurch einerseits wesentlich von den Tieren unterscheidet und anderseits Gott gleicht. Dies hat zur Folge, daß die Grenzen zwischen Gott und Mensch verschwimmen und Herder die Grundlage für den Pan(en)theismus der späteren Romantik legt. Im vorigen Kapitel haben wir festgestellt, wie wesentlich die analogische Denkform auch für Hamann ist, aber es geht ihm dabei um Analogien, die das transzendente Reden Gottes in der immanenten Natürlichkeit ermöglichen. Da diese analogische Verbindung von Transzendenz und Immanenz in Herders Abhandlung verlorengeht, gibt Hamann seinem Analogiebegriff nun viel ausdrücklicher einen theologischen und christologischen Inhalt, indem er ihn als 'communicatio idiomatum' bestimmt. Zusammengefaßt will er damit folgendes sagen: 1. Unser schöpferisches Vermögen hat seinen bleibenden Ursprung in Gott. Nicht menschliche Kreativität, sondern göttliche Herunterlassung im Vater, Sohn und Geist ist der Grund der 'communicatio'. 2. Die Transzendenz Gottes bleibt bestehen: es ist eine 'communicatio idiomatum': Gott bleibt Gott, der Mensch bleibt Mensch. 3. Die 'communicatio' zwischen Gott und Mensch besteht in vieler Hinsicht nicht dank, sondern trotz unserer 'Kreativität'. Das wird in der 'communicatio' des Kreuzesgeschehens offenbar, wenn der transzendente Gott in unserer sündigen Wirklichkeit 'untergeht'. Die Offenbarung ist keine pantheistische Synthese und seit dem Sündenfall auch keine harmonische Beziehung; sie ist ein Schatz in irdenen Gefäßen, sie ist beides, Rose und Kreuz. Deshalb beschreibt Hamann diese 'communicatio idiomatum' später auch als 'coincidentia oppositorum'69. Zweiter Abschnitt: die 'communicatio idiomatum' in der Sprache Der zweite Abschnitt greift die Hauptstruktur des ersten wieder auf, nun aber zugespitzt auf das Thema der Sprache: "Weil die Werkzeuge der Sprache wenigstens ein Geschenk der alma mater Natur sind, (mit der unsre starke Geister eine abgeschmacktere und lästerlichere Abgötterey treiben, als der Pöbel des Heidenthums und Pabstthums,) und weil, der höchsten philosophischen Wahrscheinlichkeit gemäs, der Schöpfer dieser künstlichen Werkzeuge auch ihren Gebrauch hat einsetzen wollen und müssen: so ist allerdings der Ursprung der menschlichen Sprache göttlich. Wenn aber ein höheres Wesen, oder ein Engel, wie bey Bileams Esel, durch unsre Zunge wirken will; so müssen

69

Vgl. ZH IV 287:5-, 462:7-.

5.6 'Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung'

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alle solche Wirkungen, gleich den redenden Thieren in Aesops Fabeln, sich der menschlichen Natur analogisch äußern, und in dieser Beziehung kann der Ursprung der Sprache und noch weniger ihr Fortgang anders als menschlich seyn und scheinen. Daher hat bereits Protagoras den Menschen mensuram omnium rerum genannt." (N III 27:15-).

Hamann geht hier einfach von der Voraussetzung aus, daß die Sprachwerkzeuge und ihr Gebrauch von Gott stammen. Danach erklärt er, warum diese 'höhere Hypothese' den menschlichen Charakter der Sprache völlig intakt läßt. Wenn sich ein höheres Wesen, Gott oder ein Engel, dem Menschen offenbaren will, ist dies nur analog zur menschlichen Natur möglich. Er gibt Herder also recht, allerdings in dem Sinne, daß Herders Analogiedenken zum Inkarnationsdenken wird: der Mensch versteht tatsächlich nur seine eigene menschliche Sprache, und deshalb kann Gott sich nicht anders verständlich machen als dadurch, daß er "sich der menschlichen Natur analogisch" äußert. Gott läßt sich auf die Ebene und die Möglichkeiten des Menschlichen herab, um dort das Göttliche zur Sprache zu bringen. Dann sind Hamann und Herder allerdings darin unterschiedlicher Meinung, daß die menschliche Sprache in all ihrer Menschlichkeit das Vermögen zu transzendieren besitzt, ein Vermögen, das Gott ihr selbst verliehen hat70. Herder folgte der 'Analogie der Natur' vom niedrigeren Gesichtspunkt der Tiere und gelangt auf diese Weise zu einer Vergöttlichung des Menschen. Hamann entdeckt die wahre Humanität durch analogischen Vergleich von einem höheren Gesichtspunkt, nämlich von Gott und seiner Offenbarung aus. Süßmilchs Hypothese tut Herder als 'nutzlose und schändliche Anthropomorphic' ab. Dadurch, daß er nicht menschlich über Gott denken und sprechen will, gibt Herder fromme Bescheidenheit vor, in Wirklichkeit aber tut er das Umgekehrte und vollzieht eine 'Apotheose' des Menschen. Hamann geht entgegengesetzt vor: der Mensch darf und kann anthropomorph reden, weil Gott selbst im Vater, Sohn und Geist anthropopmorph geworden ist. Gott selbst hat sich dem Maße des Menschen, der 'mensura omnium rerum' ist, angepaßt. Ablehnung dieser göttlichen Anthropomorphic ist kein Zeichen der Frömmigkeit, sondern Akt des Hochmuts; es ist Gleichgültigkeit gegenüber der gnädigen Herablassung Gottes.

70

Jaspers, K., Philosophische Logik, Bd. 1, Von der Wahrheit, München 1958, 441, zu Hamann: "Dem transzendierenden Suchen erscheint die Sprache als Chiffer der Transzendenz. Es wird versucht, durch Sprache auf Transzendenz zu blicken und die Chifferschrift, welche die Sprache ist, zu deuten."

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Kapitel 5 Die Herderschriften über den Ursprung der Sprache

5.6.3 Die Wirklichkeit als Sprache Die Sprache als Gabe und Aufgabe Später im Ritter von Rosencreuz hält Ritter Hamann eine kurze Predigt, in der er wie in den Kreuzzügen - nun allerdings im Zusammenhang mit der Frage nach dem Ursprung der Sprache darlegt, daß die Sprache, die auf das Wort Gottes zurückgeht, die transzendierende Grundstruktur der Wirklichkeit ist. Diese Grundstruktur bildet den ontologischen und hermeneutischen Kontext des Menschen und verdichtet sich anthropologisch in der menschlichen Rezeptivität und Kreativität. Beide Aspekte beleuchtet Hamann in einer kurzen Auslegung von Genesis 2. Die 'Logos'-Struktur der Wirklichkeit bringt er in den folgenden, bereits eher zitierten Sätzen zum Ausdruck: "Jede Erscheinung der Natur war ein Wort, - das Zeichen, Sinnbild und Unterpfand einer neuen, geheimen, unaussprechlichen, aber desto innigem Vereinigung, Mittheilung und Gemeinschaft göttlicher Energien und Ideen. Alles, was der Mensch am Anfange hörte, mit Augen sah, beschaute und seine Hände betasteten, war ein lebendiges Wort; denn Gott war das Wort." (N III 32:21-). Aus dieser Stelle geht deutlich hervor, daß Ritter von Rosencreuz das Hauptthema der Aesthetica in nuce, nämlich die Wirklichkeit als transzendierendes Bild, wieder aufgreift. Die Schöpfung ist als Sprache eine Verbindung, eine Vereinigung, eine 'Ehe' von Zeichen und Bedeutung, Buchstabe und Geist, Leib und Seele. Die verweisende Bedeutung des Natürlichen, ermöglicht durch Gottes 'communicatio' mit dem Menschen, ist zugleich ein Gleichnis der Inkarnation und Eucharistie: "Alles schmeckte und sah, aus erster Hand und auf frischer That, die Freundlichkeit des Werkmeisters, der auf seinem Erdboden spielte und seine Lust hatte an den Menschenkindern" (NIII 32:13-)71. Der Mensch empfängt seine Existenz und deren Sinn vom Reden Gottes; wie ein Kind von seiner Mutter, so ist er von Gott abhängig. Von dieser Abhängigkeit und Rezeptivität aus kann er sich allerdings zu einer eigenen, aber nicht autonomen Kreativität und Selbständigkeit entwickeln: "Nunmehr

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Der christozentrische Charakter der Hermeneutiek Hamanns kommt auch in seinem johanneischen Sprachverständnis zum Ausdruck: " denn Gott war das Wort." (Ν III 32:26; vgl. Joh. 1:1); " und begnüge mich also heute, durch eine Wallfahrt im schwarzen Aschensack, das Element der Sprache - das Α und Ο - das Wort - gefunden und genannt zu haben." (N III 32:35-). Vgl. Offbg. 1:8, 21:6, 22:13; Ν II 207:18 (Aesthetica in nuce). Das zweite Zitat bezieht sich auf Art Royal du Chevalier de Rosecroix, in der es um eine symbolische Suche des Ritters - gehüllt in ein schwarzes und mit Asche bestreutes Laken - nach dem 'verlorenen Wort' geht. Dieses Wort ist, wie sich dann zeigt, 'INRI'. Vgl. Veldhuis, 'Art Royal', 278.

5.6 'Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung*

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denkt euch, andächtige Brüder! wenn und so gut ihr nur könnt, die Geburt des ersten Menschenpaares - Ihre Blöße war ohne Schaam, ihr Nabel ein runder Becher, dem nimmer Getränk mangelt und die Stimme eines um die kühle Abendzeit im Garten wandelnden Gottes, die vernünfftige lautere Milch für diese junge Kindlein der Schöpfung, zum Wachsthum ihrer politischen Bestimmung, die Erde zu bevölkern und zu beherrschen durchs Wort des Mundes" (N III 31:27-). Hamann hat durchaus einen Blick für die hohe Bestimmung des Menschen. Darin will er hinter Herder nicht zurückstehen. Der Mensch darf mit seinem eigenen schöpferischen Wort die Welt verwalten; aber die menschliche Kreativität kann nur aufgrund gehorsamer Rezeptivität für das Wort Gottes bestehen, und dessen ist Herder sich nicht mehr bewußt. Nur so ist der Mensch "Lehnträger und Erbe der durch das Wort seines [Gottes] Mundes fertigen Welt." (N III 32:9). In den Philologischen Einfüllen und Zweifeln geht Hamann ausführlicher auf diese 'politische Bestimmung' des Menschen ein und betont dann die menschliche Freiheit und Verantwortung. Die Abhängigkeit von Gott ist keine Bedrohung der menschlichen Kreativität und Freiheit, sondern gerade ihre Garantie. Beides wird eher durch Herders Autonomiedenken bedroht, das auf einen naturalistischen Determinismus hinauszulaufen droht72. Wozu dies führen kann, zeigt sich laut Hamann in der aufgeklärten Moral und Politik Friedrichs des Großen. Der hermeneutische Ursprung der Sprache Kehren wir nun zur Frage zurück, um die es eigentlich ging: Wo liegt der Ursprung der Sprache? Hamann verteidigt die höhere Hypothese: Gott ist der Ursprung der Sprache, aber nicht auf eine supranaturalistische Weise. Durch kondeszendierende Akte schafft Gott die Natur und verleiht ihr Bedeutung. Er schafft menschliche Sprache und enthüllt und verhüllt sich in menschlicher Sprache; so, und zwar nur so, kann man den Ursprung der Sprache als 'göttlich und menschlich' bezeichnen. Dabei kann nicht von einer 'Symmetrie' zwischen Gott und Mensch die Rede sein. Menschlich ist der Ursprung der Sprache 'nur' in abgeleitetem Sinne.

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In seiner Abhandlung unterstreicht Herder die menschliche Freiheit im Unterschied zum tierischen Instinkt. Vgl. Irmscher in: J.G. Herder, Abhandlung, (Reclam), 152154. Zugleich spürt man, wie diese Freiheit unter dem Druck organischer Naturgesetze steht.

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Kapitel 5 Die Herderschriften über den Ursprung der Sprache

Inzwischen dürfte deutlich sein, daß für Hamann wie für Herder die Frage des Ursprungs keine ausschließlich historische Frage ist73. Zugespitzt geht es hierbei um ein richtiges Verständnis der aktuellen Wirklichkeit. Wenn es allerdings Herder und Hamann zugleich um den hermeneutischen Ursprung geht, stellen sich Fragen, wie sie bereits in § 5.4.5, dem Exkurs über Sprache und Vernunft, formuliert wurden. Hermeneutisch gesehen kann der historisch-genetische Ansatz nämlich keine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Sprache als 'Sinn', als Bedeutungszusammenhang geben. Wir Menschen entdecken uns selbst in einem transzendentalen Bereich des 'Sinns', und es stellt sich die Frage, wo dieser seinen Ursprung hat. Für Hamann liegt dieser Ursprung in Gott: der Mensch ist durch den göttlichen 'logos' und in ihm geschaffen, in dem 'logos', der wie das Licht der Schöpfung ist, durch das und in dem alles Geschaffene zum Dasein gelangt und dessen Quelle Gott ist. Diese theozentrische Sicht erhält durch Herder eine anthropozentrische Ausrichtung: seine Abhandlung führt zu der paradoxen Auffassung, daß der Mensch selbst der schöpferisch-transzendentale Ursprung seines hermeneutischen Kontextes sei. Das Verhältnis Hamann Herder ist darin exemplarisch für das 18. Jahrhundert: mit der Säkularisierung der Theologie und Philosophie setzt sich die Auffassung immer stärker durch, daß der menschliche Geist (oder GEIST) selbst der konstituierende transzendentale Ursprung alles Sinns und Seins sei. Dieser Übergang der Theozentrik zur Anthropozentrik im 18. Jahrhundert verleiht dem Wort 'Aufklärung' eine ambivalente Bedeutung. Die Physikotheologen wundern sich noch über das göttliche Schöpfungslicht, das die Wirklichkeit für die forschende Vernunft sinnvoll und transparent macht. Immer mehr jedoch hält sich die Vernunft selbst für die Quelle dieses Lichtes; von einer aufgeklärten Vernunft wird sie zu einer (sich selbst) aufklärenden Vernunft. 'Höhepunkt' dieser Entwicklung ist die Philosophie Kants. Seine Kritik der reinen Vernunft stellt Hamann wiederum vor die Frage nach dem Ursprung der Sprache, diesmal allerdings noch ausdrücklicher als hermeneutische Frage.

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Bereits bei Herder liegt "ein Zurücktreten des zeitlichen Moments im Begriff des Ursprungs" vor. "Zwischen menschlicher Natur und Sprache besteht nicht ein Kausal-, sondern ein Wesenszusammenhang." Irmscher in: J.G. Herder, Abhandlung (Reclam), 164, 163 f.

5.6 'Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung'

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5.6.4 Mensch oder Tier? Parodie auf Herders 'Analogie der Natur' Ein Großteil von der Schrift Ritter von Rosencreuz wird von einer Parodie auf Herders naturalistische Argumentation eingenommen. Hamann nimmt hierbei eine 'reductio ad absurdum' von Herders 'Analogie der Natur' vor. Dabei geht er folgendermaßen vor74: Der gelehrte Arzt P. Moscati hat kürzlich bewiesen, daß der aufrechte Gang eine Fähigkeit ist, die wir von unseren Eltern oder Betreuern lernen. Hamann kann mit viel humoristischen und bizarren Beispielen zeigen, daß auch das Essen und Trinken erlernt ist75, aber von wem haben die ersten Menschen es gelernt? Konsequent analog gedacht muß wohl angenommen werden, daß auch sie es gelernt haben müssen. Konsequent natürlich-analog gedacht gibt es dann nur eine Schlußfolgerung: Sie haben es von den Schweinen gelernt76. Aus diesem absurden Ergebnis zieht Hamann folgende Schlüsse: Wenn es erstens schon so ist, daß Essen und Trinken sowie der aufrechte Gang nicht von uns selbst erfunden, sondern mit Hilfe anderer erlernt werden, "wie kann es jemanden einfallen die Sprache als eine selbständige Erfindung menschlicher Kunst und Weisheit anzusehen?" (Ν III 31:4-). Wir besitzen die Gabe des Wortes, weil wir durch das Wort und im Wort geschaffen sind, und wir schaffen unsere Existenzvoraussetzungen nicht selbst. Zweitens will Hamann mit seiner Parodie darauf weisen, daß ein naturalistisches Analogiedenken wie das Herders sich ständig im ImmanentNatürlichen bewegt, wodurch es unmöglich wird, die eigene Würde des Menschen, durch die er sich von den Tieren unterscheidet, zu entdecken; der Mensch bleibt dann ein Tier. Herder glaubte, aufgrund der gemeinsamen 'thierischen Oekonomie' durch eine Argumentation der Analogie den spezifischen Unterschied zwischen Mensch und Tier entdecken zu können. Hamann meint jedoch, daß die spezifisch menschliche Würde eine Gabe Gottes ist, die nur im Lichte seiner Gnade bestehen und gesehen werden

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Vgl. Ν III 28:16-. Wobei er sich auf die ausbeuterische 'Gefräßigkeit' Friedrichs des Großen und seiner französischen Steuerbehörden bezieht. Ν III 29:14-: "Der glückliche Versuch, Leib und Seele durch Eicheln zusammen zu halten, war also eine Erfindung eurer gelehrigen und witzigen Erzväter, die das Glück hatten in großen Eichenwäldern zur Welt zu kommen, wo sie gewiß alle verhungert wären, wenn sie nicht durch den zufälligen Unterricht ihrer Nebenbuhler und Unterthanen auf der Mast, zur cynischen Diät der Eicheln sich flugs entschlossen hatten".

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kann. Er stimmt Herder zu, daß die Sprache die kostbarste menschliche Fähigkeit ist, aber gerade die Sprache besteht aufgrund der Transzendenz und ohne sie kann der Mensch nicht anders als ein Tier unter den Tieren gesehen werden. Eine humoristische Umkehrung der Argumentation Herders aufgrund der 'thierischen Oekonomie' liegt in Hamanns Beispiel, daß selbst Bileams Esel für uns nur verständlich wird, wenn er sich "der menschlichen Natur analogisch"77 äußert. Der Mensch, und nicht das Tier, ist 'mensura omnium' 74 , denn der Mensch ist die Krone der Schöpfung; er ist das Zentrum der Teleologie Gottes. Das bedeutet einen hermeneutischen Vorrang der 'menschlichen Oekonomie' gegenüber der 'thierischen Oekonomie'. Die erste Oekonomie' umfaßt die zweite, und nicht umgekehrt, wie es bei Herder zu geschehen droht. Wie gesagt schätzt Hamann Herders Ablehnung des Aufklärungsrationalismus und seine Berufung auf das Organisch-Natürliche, aber er will die Transzendenz wieder in Herders organisches Denken einführen, weil das organische, spontane, schöpferische und volle Leben in all seinen Aspekten erst durch die gnädige Krise, in die der Glaube uns bringt, möglich wird. Die entgleiste Sexualität In Ritter von Rosencreuz äußert sich Hamann mehrmals abfällig über naturalistische und materialistische Anthropologien wie die La Mettries, d'Holbachs und des Helv6tius79. Ihre Auffassungen berauben den Menschen seiner von Gott gegebenen Würde, und die üblen Folgen sieht Hamann besonders im homosexuellen Libertinismus Friedrichs des Großen, des Schirmherrn der französischen Materialisten80. Außerdem kritisiert er die materialistischen Auffassungen, die den Geschlechtsakt nicht anders als ein kausal-physisches Geschehen sehen können. Die entsprechenden Äußerungen voller sehr gewagter und bizarrer sexueller Anspielungen brauchen hier wohl nicht zitiert und ausgelegt zu werden. Wären sie nicht so kryptisch gewesen, hätten sie Hamann in große Schwierigkeiten bringen können, vor allem weil sie auch den König betrafen.

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Ν III 27:24; kurs. H.V. Vgl. Ν III 27:27. Vgl. u.a. Ν III 27:28-. Hamann spricht dort über das 'epikurische System' (vgl. Systime d'Epicure (1750) von La Mettrie). Der Epikureismus wurde bei verschiedenen, vor allem französischen materialistischen Aufklärungsdenkern beliebt. So regt er sich auf über einen Satz in Mutinies Royales (einer Schrift, die er Friedrich zuschreibt, die jedoch in Wirklichkeit eine Satire gegen Friedrich ist): " que l'on prie Dieu dans mon Royaume comme l'on veut et que l'on y f- [fornique ?] comme l'on peut." (N III 29:38-).

5.6 'Des Ritters von Rosencreuz letzte Willensmeynung'

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Mit all diesen Ausführungen will Hamann darauf hinweisen, daß ein naturalistisches Autonomiestreben, wie es in der Preisfrage der von Friedrich dem Großen geleiteten Akademie zum Ausdruck kommt, fatale Folgen für die Sexualität hat. Gerade in diesem Bereich wird ganz deutlich, daß der autonome Mensch in tierisches Verhalten verfällt, wenn er seine menschlichen Grenzen überschreitet.

5.7 Die 'Beylage' Obwohl die Beylage vorher, nämlich zusammen mit den Zwo Recensionen, erschienen war, wurde sie nach die Schrift Ritter von Rosencreuz geschrieben. Die Beylage richtet sich als 'Abfertigung' gegen die zwei Rezensionen, aber das Motto, "Die Farce dient ihm dazu, alles zu maskieren", verrät bereits, daß es wieder um ein Stückchen Maskenspiel Hamanns geht, der sich hinter dem Pseudonym Aristobulus verbirgt. Die Beylage ist deutlich eingeteilt: der erste Teil richtet sich gegen die akademische Preisfrage, der zweite Teil gegen die Politik Friedrichs des Großen81. Wir beschränken uns hier auf den ersten Teil, der in Anlehnung an die Zweiteilung der Preisfrage auch in zwei Teile zerfällt. Ebenso wie ein Teil des Ritters von Rosencreuz ist die Beylage eine Parodie auf die Berliner Preisfrage und die Beantwortung Herders. Wiederum beweist Hamann 'clairement' 82 , daß der Mensch nach der 'Analogie der Natur' die Sprache nur von den Tieren lernen konnte. Von Herders Analogiedenken ausgehend, beginnt Aristobulus/Hamann mit einer Neuformulierung des ersten Teils der Preisfrage, um sie dann selbst naturalistisch zu beantworten: "Die Aufgabe vom Ursprung der Sprache, so viel ich davon begreife, läuft darauf hinaus: "ob die erste, älteste, ursprüngliche Sprache dem Menschen auf eben die Art mitgetheilt worden, wie noch bisher die Fortpflanzung der Sprachen geschieht?"83 Wenn man vom "Kraislauf der Natur" und dem "Leitfaden der Ähnlichkeit" als den einzigen zuverlässigen Prinzipien ausgeht, muß die Antwort laut Aristobulus wohl 'ja' sein84. Danach muß im Zusammenhang mit dem zweiten Teil der Preisfrage gefragt werden, "durch welchen Weg heut zu Tage die Mittheilung der Spra-

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Ν III 20:9 bis einschl. 23:3, respektive 23:4 bis einschl. 24:22. In der Beylage versucht Hamann spottend, dieser kartesianischen Anforderung der Akademie zu entsprechen. Ν III 20:9-; kurs. H.V. Vgl. Ν III 20:20-.

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chen geschehe" (Ν III 21:4-). Die Antwort muß wohl lauten: durch Unterricht und nicht durch Erfindung. Im analogischen Rückschluß führt das zur absurden Schlußfolgerung, daß der Ursprung der menschlichen Sprache beim "thierische[n] Unterricht" liege (N III 22:6). Durch diese Parodie weist Hamann wiederum nach, daß der Mensch sich nicht von den Tieren unterscheiden läßt, wenn man ihn lediglich als im 'Kraislauf der Natur' gefangen sieht. Zum Schluß schlägt seine satirische Warnung noch in eine heftige Beschuldigung um: "Was sind die Meisterstücke unsrer stolzen Vernunft [anders] als Nachahmungen und Entwickelungen ihres blinden Instinkts [der Tiere]? Das geborgte Feuer aller schönen, freyen und geadelten Künste, als ein prometheisches Plagium85 des ursprünglich thierischen Naturlichtsl Haben wir nicht den Keim aller Erkenntniß des Guten und Bösen, ja selbst den philosophischen Baum der Encyclopädie86 dem Scepticismus eines listigen Thieres zu danken ?" (Ν III 22:13-). Sprache und Erkenntnis der Aufklärungsdenker stammen tatsächlich von den Tieren: sie stammen von der Schlange im Paradies. Dem 'lumen naturale' ihres 'thierischen Unterrichts' Gehör schenkend, haben die Anführer der Aufklärung hochmütig die ihnen zugewiesenen Grenzen überschritten, um 'wie Gott' sein zu können.

5.8 'Philologische Einfalle und Zweifel' Herders erste Reaktion auf die Zwo Recensionen, die Beylage und Des Ritters ist ein beleidigter Brief, in dem er klagt, Hamann habe ihn nicht begriffen: nur zum Schein habe er sich an die Aufklärungsphilosophie angepaßt. Die "Leibniz-Aesthetische Hülle" sei nun einmal "die einzige Masque", die in Berlin akzeptiert werde87. Herder beteuert Hamann, daß er bestimmt nicht vom Geist der Preisfrage beeinflußt sei. Daß er hierin aufrichtig war, kann bezweifelt werden, umso mehr als wir in einem späteren Brief lesen, daß er Hamann nachträglich bekennt, "daß ich auf dem Rande gewesen bin, mich in das Labyrinth aller unsrer schönen Geister u. Garköche des Jahrhunderts mit hineinzutummeln." (ZH III 28:26-).

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Vgl. Philipper 2:6! Hamann stellt den prometheischen Raub Herders und anderer Aufklärungsphilosophen der Entäußerung Christi gegenüber, der "es nicht für einen Raub hielt Gott gleich zu sein". 86 Vgl. die Encyclopidie von Diderot und d'Alembert, als das Symbol der Aufklärung. »7 Vgl. ZH III 11:13-.

5.8 'Philologische Ein fälle und Zweifel*

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Hamann wäre nicht Hamann gewesen, wenn er Herders Entschuldigung, er habe sich nur äußerlich der Formulierung der Preisfrage angepaßt, nicht virtuos gegen seinen abtrünnigen Schüler in einer neuen Schrift, Philologische Einfülle und Zweifel, ausgespielt hätte. Zusammen mit Au Salomon de Prusse bilden die Philologischen Einfülle eine Doppelschrift, die Hamann als Ganzes herausgeben wollte. Der Doppelcharakter von der Schrift Ritter von Rosencreuz, nämlich Kritik an der Philosophie Berlins und der Politik Berlins, gewinnt nun also in zwei einzelnen, aber zusammen zu veröffentlichenden Schriften Gestalt. Beide richten sich gegen eine gemeinsame Anthropologie, die sowohl in der Philosophie als auch in der Politik der Aufklärung zum Ausdruck kommt. In diesem Paragraphen beschränken wir uns auf eine Erläuterung der Philologischen Einfülle und Zweifel.

5.8.1 Eine kleine Anthropologie Die Philologischen Einfülle sind eigentlich ein einziger großer Angriff auf Herders analogischen Vergleich von Tier und Mensch. Im ersten Teil liefert er eine kurze alternative Anthropologie; der zweite Teil ist eine Dekonstruktion von Herders 'platonischem Beweis' des menschlichen Ursprungs der Sprache88. Hamann bezeichnet diesen Beweis als 'platonisch', weil Herder von dem Leibnizschen Gedanken der 'Apperzeption' als reflektierender Tätigkeit der sich entfaltenden Monade ausgeht, die mit der 'anamnesis' Piatos zu vergleichen ist. In beiden Fällen geht es um Aktivität und Kreativität, die nicht auf Rezeptivität beruht. Im Gegensatz dazu gibt Hamann sich als Aristoteliker, der den Nachdruck viel stärker auf die sinnliche Erfahrung von außen legt. Diesen Aristotelismus benutzt er als Maske für seine christlichen Grundgedanken, in der er gegen die "Leibniz-Aesthetische Hülle" Herders opponiert. In Hamanns anthropologischem Entwurf, der ständig bei Zitaten aus Aristoteles Werk anknüpft, stehen drei Aspekte im Mittelpunkt: die menschliche Würde, Freiheit und Rezeptivität. 1. Als Organismus hat der Mensch viel mit dem Tier gemein, aber die spezifische Art des Menschen liegt "in der richterlichen und obrigkeitlichen Würde eines Politischen Thiers" (N III 37:25-)89. Der Mensch ist im Unter-

" Teil 1: Ν III 37:1 bis einschl. 41:12; Teil 2: 41:13 bis einschl. 48:14. M Dieser Passus ist eine Verbindung zweier Zitate aus Aristoteles. Vgl. Bayer, O., Zeitgenosse im Widerspruch, Johann Georg Hamann als radikaler Aufklärer, München/Zürich 1988, 125-137 ('Kritik und Politik ').

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schied zum Tier ein sittliches und politisches Wesen, das sein Leben aus freier Verantwortung einrichten kann und darf, einer Verantwortung, die durch eigenes Urteil ('krisis') und Regierung ('archfc') Gestalt gewinnt90. Das ist eine Bestimmung, die nicht nur für privilegierte Bürger der 'polis' wie bei Aristoteles gilt, sondern für jeden Menschen wesentlich ist. Diese spezifische Würde beruht jedoch nicht auf sich selbst:"Diese Würde nun , setzt noch keine innere Würdigkeit noch Verdienst unsrer Natur zum voraus91; sondern ist, wie letztere selbst, ein unmittelbares Gnadengeschenk des großen Allgebers." (Ν III 37:28-). Die königliche Würde des Menschen ist wie seine ganze Natur Gnade, geschenkte 'grandeur'. Durch Gottes Schöpfergnade ist der Mensch über das Tier erhoben. Ohne die Gnade ist er das geringste der Tiere und muß er mit David sagen: " ich bin ein Wurm und kein Mensch" (Ν III 38:6-). So können die menschliche 'grandeur' und 'misere' nur innerhalb einer theozentrischen Anthropologie verstanden werden. 2. Wenn Herder die menschliche Sprachentwicklung als einen monadischschöpferischen Prozeß beschreibt, gleicht die Kreativität des Menschen zu sehr dem tierischen Instinkt, zumal Herder dazu übergeht, bestimmte Naturgesetze zu formulieren. Demgegenüber betont Hamann die Freiheit als einzigartige menschliche Eigenschaft und Voraussetzung für die menschliche Verantwortung92. Ja, für alle Bereiche der menschlichen Kreativität und Tätigkeit ist die Freiheit grundlegende Voraussetzung: "Ohne das vollkommene Gesetz der Freyheif3 würde der Mensch gar keiner Nachahmung fähig seyn, auf die gleichwol alle Erziehung und Erfindung beruht; denn der

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Die Unterscheidung von Gut und Böse als spezifisch menschliche Möglichkeit bringt Hamann bereits eher durch ein Zitat aus Aristoteles (Politico 1,2, 1253 a; vgl. Ν III 37:29-) zur Sprache. Darin unterscheidet Aristoteles zwischen 'phoonfc' (Äußerung von Schmerz und Genuß) und 'logos' (das menschliche Reden über Gut und Böse, gerecht und ungerecht). Hamann spielt damit auf Herders Erläuterung des tierischen Schreis und des menschlichen Sprechens an und deutet hiermit schon an, wie er selbst ihren spezifischen Unterschied bestimmen will. Formulierung aus Luthers Kleinem Katechismus. Ν III 38:8-: "Ohne die Freiheit böse zu seyn findt kein Verdienst und ohne die Freyheit gut zu seyn keine Zurechnung einiger Schuld, ja selbst keine Erkenntniß des Guten und Bösen statt. Die Freyheit ist das Maximum und Minimum aller unsrer Naturkräfte, und sowol der Grundtrieb als Endzweck ihrer ganzen Richtung, Entwickelung und Rückkehr. Daher bestimmen weder Instinct noch Sensus communis den Menschen', weder Natur- noch Völkerrecht den Fürsten [gegen Friedrich den Großen]." Vgl. Bayer, Zeitgenosse im Widerspruch, 108-124 ('Freiheit als Grundbegriff der Anthropologie '). Gegenüber Herders 'Naturgesetzen' weist Hamann auf das 'Gesetz der Freyheit' von Jak. 1:25. Vgl. zu Herders 'Gesetzgebung': Ν III 47:26-,

5.8 'Philologische Einfälle und Zweifel'

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Mensch ist von Natur unter allen Thieren der gröste Pantomim94." (N III 38:18-)9S 3.Schließlich weist Hamann darauf hin, daß die menschliche Selbstentfaltung kein monadischer Prozeß ist, sondern daß wir dabei auf Offenbarung und Überlieferung angewiesen sind96. Rezeptivität und Kreativität, sinnliche Erfahrung und Reflexion gehören wie Leib und Seele zusammen97. Im Zusammenhang mit diesen drei Punkten zieht Hamann, so wie Herder, immer wieder einen Vergleich zwischen Mensch und Tier, aber die Perspektive dieses Vergleichs ist bei ihm anders. Herder setzt unten, bei den Tieren an und stellt von da aus die Frage nach dem Menschen. Hamann hingegen beleuchtet die 'thierische Haushaltung' vom höheren Gesichtspunkt Gottes aus und stellt von da aus die Frage nach dem Menschen. Sein Analogiegebrauch ist in einen anagogischen, auf Gott gerichteten Aufstieg aufgenommen: "Die Analogie der thierischen Haushaltung ist die einzige Leiter zur anagogischen Erkenntniß der geistigen Oekonomie, welche sehr wahrscheinlich allein die Phänomenen und Qualitates occultas jener sichtbaren verkürzten Hälfte aufzulösen und zu ergänzen vermag." (N III 39:2ο-)98. Mit anderen Worten: ohne transzendente Perspektive kann die geistige Bedeutung der sichtbaren Natur nicht verstanden werden. In den letzten Abschnitten des ersten Teils geht Hamann weiter auf die ausgewogene Einheit der Rezeptivität, Freiheit und Kreativität (diese Reihenfolge!) ein99. Platonisch-leibnizsche Philosophen haben die Wahrheit verdreht, indem sie alles auf eine einzige "positive Kraft oder Endelechie der Seele" zurückführen (N III 40:7-). Damit verkennen sie die grundlegende menschliche Rezeptivität für die Erfahrung, Überlieferung und Offenbarung, die im Grunde eine Rezeptivität für Gott ist. Darum ist Hamanns Schlußfolgerung im ersten Teil, daß der Mensch die Sprache weder durch eigene

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Aristoteles sagt in seiner Poetica, daß der Mensch von allen Lebewesen die höchste mimische Fähigkeit besitze. Wie wichtig der 'Mimesis'-Begriff in der Philosophie und Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts und auch im Denken Hamanns ist, hat sich im vorigen Kapitel bereits gezeigt. Und die Fortsetzung: "Das Bewußtseyn, die Aufmerksamkeit, die Abstraction und selbst das moralische Gewißen scheinen gröstentheils Energien unsrer Freyheit zu seyn. Zur Freyheit gehören aber nicht nur unbestimmte Kräfte sondern auch das republicanische Vorrecht zu ihrer Bestimmung mitwirken zu können." (N III 38:22-). Hamann knüpft damit an die bekannte aristotelische These an: "Nichts ist also in unserm Verstände ohne vorher in unsern Sinnen gewesen zu seyn" (N III 39:10-). Vgl. Ν III 40:10-. Immer wieder verbindet Hamann wichtige Themen mit dem geheimnisvollen Zusammenhang von Leib und Seele, der den Menschen zum Bild Gottes macht. Vgl. Ν II 139:26- und 140:24- (Die Magi). Vgl. Ν III 40:16-.

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Kapitel 5 Die Herderschriften über den Ursprung der Sprache

Erfindung (Herder), noch durch 'anamnesis' (Plato) von sich aus hervorgebracht haben könne100.

5.8.2 Herders platonischer Beweis Im zweiten Teil der Philologischen Einfülle wendet Hamann sich gegen Herders 'platonischen' Beweis des menschlichen Ursprungs der Sprache. Dieser Beweis besteht nach Hamanns Ansicht aus zwei Teilen. Im ersten Teil behauptet Herder, der Mensch sei kein Tier, und dem stimmt Hamann natürlich zu101. Im zweiten Teil allerdings, der auf "das akademische Däumchen der Apperception" (Ν III 43:10-) zurückgeht, wird die Erfindung der Sprache so beschrieben, daß die menschliche Kreativität alle Züge des tierischen Instinks erhält: für Herder entsteht das menschliche Sprechen monadisch aus den angeborenen Fähigkeiten, ist hervorgebracht als etwas so Natürliches für den Menschen wie das Spinnengewebe für die Spinne und die Honigwabe für die Biene102. Nach Hamanns Ansicht jedoch kann der zuvor von Herder vertretene Unterschied zwischen Mensch und Tier nicht aufrechterhalten werden, wenn sowohl die Entfaltung des Menschen als auch des Tiers durch ein immanent natürliches Streben, eine 'Entelechie' (N III 40:8) oder einen

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Ν III 41:4-: "Der Mensch lernt, alle seine Gliedmaßen und Sinne, also auch Ohr und Zunge brauchen und regieren, weil er lernen kann, lernen muß und eben so gerne lernen will. Folglich ist der Ursprung der Sprache so natürlich und menschlich als der Urspung aller unserer Handlungen, Fertigkeiten und Künste. Ohngeachtet aber jeder Lehrling zu seinem Unterrichte mitwirkt nach Verhältnis seiner Neigung, Fähigkeit und Gelegenheiten zu lernen: so ist doch lernen im eigentlichen Verstände eben so wenig Erfindung als bloße Wiedererinnerung." Vgl. die Neuformulierung im Selbstgespräch, wo Hamann deutlich macht, daß der Begriff 'natürlich' für ihn das 'von Gott Abhängig-sein' umfaßt und er ihn nicht als Gegensatz zu 'göttlich' sehen will, Ν III 75:18-: " endlich daß der Ursprung der Sprache zwar nicht göttlich noch menschlich, dem despoüsch-dictatorischen Redegebrauch zufolge, aber überhaupt sehr natürlich sey". Vgl. Ν III 44:14-, Ν III 45:13-: "Denn was sagt der ganze positive Theil des platonischen Beweises positiver und ausdrücklicher, als daß der Mensch aus Instinct denke und rede — daß die positive Kraft zu denken und zu reden ihm angeboren und unmittelbar natürlich sey ; - daß die Erfindung der Sprache dem Menschen so wesentlich sey als der Spinne ihr Gewebe und der Biene ihr Honigbau - und daß nichts mehr dazu gehöre als den Menschen in den Zustand von Besonnenheit zu setzen, der ihm eigen ist, um dasjenige noch zu erfinden, was ihm schon natürlich ist --". Hiermit beschreibt Hamann den "runden Circul, ewigen Kreysel" (N III 42:3) von Herders platonischem Beweis. Siehe zum Problem dieses 'Zirkels' bei Rousseau, Süßmilch und Herder: § 5.3. und § 5.4a: Teil I.

5.8 'Philologische Ein fälle und Zweifel*

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'Instinkt' (Ν III 45:14), bestimmt wird und die Sprache so ihres transzendenten Ursprungs und ihrer transzendenten Bedeutung beraubt wird. Dann bringt Hamann eine persiflierende Neuformulierung von Herders 'platonischem Beweis'103, wobei er den Moment der Spracherfindung mit Ausdrücken aus Genesis 2 und 3 so beschreibt, daß der Übergang vom sprachlosen zum sprachbegabten Wesen den Charakter eines Sündenfalls erhält und es außerdem der Übergang vom "Unthier - ohne Instinct" zum "sprachschaffenden Thier" wird104. Durch diese Spiegelung von Herders Beweis an Genesis 3105 will Hamann deutlich machen, daß Herders Abhandlung den Grundfehler des Sündenfalls, nämlich das Streben, als autonomer Mensch 'wie Gott' zu sein, wiederholt. Vielleicht hatte Hamann hierbei wieder den Brief vor Augen, in dem Herder den Sündenfall als einen notwendigen Schritt im organischen Prozeß der menschlichen Selbstentfaltung ausgelegt hatte106.

5.8.3 Herders Rehabilitierung Im stark ironischen Schlußteil der Philologischen Einfülle akzeptiert Hamann sehr großmütig Herders Entschuldigung, er habe nicht anders gekonnt als von der "Leibniz-Aesthetischen Hülle" Gebrauch zu machen. Diese unglückliche Selbstdistanzierung beutet Hamann völlig aus, indem er die Abhandlung ironisch als eine 'Herunterlassung' zum verdorbenen Aufklärungsgeist bezeichnet. So versucht er, mit Hilfe eines seiner wichtigsten theologischen Motive Herder für seinen christlichen Standpunkt zurückzugewinnen: "Muste er sich nicht zur kritischen und archontischen Schwäche eines Jahrhunderts herunterlaßen, dessen Politik "? (N III 50:28-)107.

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Eine poetische Neuformulierung anhand biblischer Bildersprache (vgl. Ν III 45:39-). Hamann reagiert damit auf die antipoetische Bibelauslegung des Chr.T. Damm in seinem Werk Vom historischen Glauben (1772). Vgl. auch: Ν III 48:4-. Vgl. Ν III 46:5-38. Vgl. den Schluß von § 5.7 über einen ähnlichen Vergleich in der Beylage. Vgl. § 5.2c. Ν III 50:14-: "Als ein kluger Haushalter eines ungerechten Mammons hat er nichts anders als die Offenbarungen und Überlieferungen seines Jahrhunderts zum Grunde seiner Abhandlung legen und seinen Beweis auf Sand, Stückwerk, Holz, Heu, Stoppeln bauen können ~ aber freylich: alles nach der neuesten Bauart seines Zeitalters".

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Kapitel 5 Die Herderschriften über den Ursprung der Sprache

5.8.4 Das Nachspiel Hamann unternimmt verschiedene Versuche, seine Doppelschrift drucken zu lassen108. Die gegen Friedrich den Großen gerichteten Stellen sind jedoch so gewagt, daß kein Verlag es riskiert, sich die Finger daran zu verbrennen. Daraufhin richtet Hamann sich mit einem Gesuch an die örtliche Freimaurerloge 'Zu den drei Kronen'109, um einen Ausschuß einzusetzen, der beurteilen sollte, ob die Loge einen geheimen Druck herstellen könne110, was natürlich nicht geschieht. Der folgende Schritt ist Hamanns Selbstgespräch eines Autors, eine Bitte an Nicolai um Veröffentlichung. Dieser antwortet mit einem ablehnenden Brief im Hamannschen Stil, auf den Hamann wiederum mit seinem An die Hexe von Kadmonbor reagiert. Es läuft darauf hinaus, daß Hamanns Doppelschrift unveröffentlicht bleibt, und dies zur großen Erleichterung Herders, der das Schlimmste für seinen eigenen Ruf befürchtet.

5.9 Rezeption der Kritik Hamanns in Herders Spätwerk111 5.9.1 Herders 'Älteste Urkunde' Nachdem er sich in seiner Abhandlung mit dem Ursprung der Sprache befaßt hat, verlagert Herder in der Ältesten Urkunde112 seine Aufmerksamkeit auf die älteste Urkunde, nämlich Genesis 1. Inzwischen ist er Hofprediger in Bückeburg geworden, und es hat seine sogenannte 'orthodoxe Periode' begonnen. Hamanns Kritik an seiner Abhandlung ist deutlich einer der Anlässe, wenn auch nicht der wichtigste, für Herder gewesen, sich von der Aufklärung und ihren Berliner Vertretern zu distanzieren113, denn obwohl er sich genierte, Hamann namentlich zu erwähnen, tauchen viele Gedanken aus den Schriften Aesthetica in nuce und Ritter von Rosencreuz in der Ältesten Urkunde wieder auf.

108

109 110 111 112 111

Vgl. Manegold, op.cit., 43-48; Fechner, J.-U., 'Mien Man Hoam, Philologischer Steckbrief zu einem Pseudonym, oder die Lust des Autors an der Maske', in: Johann Georg Hamann, Insel-Almanach auf das Jahr 1988, 149-161. An den geheimen Ausschuß der G. u. V. Frey Maurer Loge zu Königsberg in Preußen. Wie so vieles geheim ist bei den Freimaurern. Ausführlich hierzu: HH 4, 65-97. Teile I bis einschl. III: 1774, Teil IV: 1776. Vgl. Haym, Bd. 1,499-501; Clark Jr., R.T., Herder: his life and thought, Berkeley/Los Angeles 1955, 180-185.

5.9 Rezeption der Kritik Hamanns in Herders Spätwerk

223

Herders Hauptmotiv in der Ältesten Urkunde ist es, Genesis 1 von allerlei rationalistischen physikalischen und metaphysischen Auslegungen zu befreien. Deshalb interpretiert er Genesis 1 von der hermeneutischen Perspektive aus, die er bereits kurz in dem erörterten Brief an Hamann (April 1768) dargelegt hatte, in dem er im Blick auf Genesis 3 über "eine Art von Urkunde" sprach, die "Orientalisch, Jüdisch, alt, Poetisch; nicht Nordisch, Christlich, neu, u. Philosophisch" gelesen werden müsse114. Genesis 1 ist eine orientalische Urkunde aus der goldenen Kindheit der Menschheit, als man noch mit Gefühl und in Bildern redete und schrieb. In der Urzeit dieser Urkunde war der Mensch noch nicht durch die Vorherrschaft der abstrahierenden Vernunft verdorben. Er erlebte die Wirklichkeit intuitiv bildhaft und stand noch mit den schöpferischen Kräften der Natur in Verbindung. Der Schöpfungsbericht kann deshalb nur verstanden werden, wenn wir auf unser eigenes Gefühl, unser eigenes poetisches Vermögen, das unter einer dicken rationalistischen Schicht begraben liegt, zurückgreifen. Herder ist nicht mit der aufgeklärten Auffassung einverstanden, daß ein nicht zu überbrückender Abstand zwischen der primitiven orientalischen Kultur mit ihren Fabeln und Mythologien und der hochstehenden westlichen rationalistischen Kultur bestehe115. Der orientalische Gefühlsmensch lebt in jedem von uns; er ist das Kind in uns, der unverdorbene junge Mensch, der Naturmensch. In seiner Deutung der einzelnen Bilder aus Genesis 1 versucht Herder, diesen ursprünglichen Menschen wieder in uns zu wecken. Daher sein dithyrambischer Stil, seine Kraftsprache, die Kongenialität mit dem Geist der ältesten Urkunde wecken will. Im Zusammenhang mit der Schöpfung des Menschen als Bild Gottes entwickelt Herder ein sehr optimistisches Menschenbild. Natürlich, "nicht Alles" im Menschen ist "schon entwickelt" (253), aber von Anfang an ist der Mensch ein wunderbarer Vertreter Gottes auf Erden. Mit zahlreichen Ausrufen versucht Herder, seine Bewunderung für den Menschen in Worte zu fassen: "Gottes Stelle zu vertreten! zu herrschen, zu walten, mit Schöpferkraft und Allgüte, würksam, still und verborgen, wie Er, in der Natur, ein

114 115

Vgl. ZH II 409:23-; siehe hierzu § 5.2c. Vgl. Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, Erster Band, welcher den Ersten, Zweiten und Dritten Theil enthält, (1774), in: Herder, J.G., Sämmtliche Werke, Herausgegeben von B. Suphan, Bd. VI, Berlin 1883, (abgekürzt: Suphan VI; unten zitieren wir aus dieser Ausgabe), 255 f. Hier liegt der Kern der Geschichtsauffassung Herders, wie er sie zum ersten Mal in Auch eine Philosophie der Geschichte (1774) darlegt. Darin wendet er sich gegen die rationalistische Auffassung, die die Geschichte der primitiven Völker für niedrigere Vorstadien auf dem Wege zur Aufklärung als dem Höhepunkt der Weltgeschichte hält. Herder behauptet, jede Zeit und Kultur müsse von sich selbst her beurteilt werden.

224

Kapitel 5 Die Herderschriften über den Ursprung der Sprache

Gott der Erde zu seyn, Segen, Leben und Glückseligkeit

zu verbreiten"

(275)116. Welche Schande, daß der "Philosophische Geist unsers Jahrhunderts sich und sein Geschlecht zum Vieh, ja unters Vieh erniedert [hat]"! (253). Nach einer ersten orientalisch-poetischen Auslegung von Genesis 1 (in Kap. II) versucht Herder dann deutlich zu machen, daß hinter all diesen Bildern ein 'Plan' steckt117: der Schöpfungsbericht ist eine Allegorie der Morgenröte118 und gibt wieder, wie der Naturmensch den Anbruch eines neuen Tages erlebte. "Es werde Licht!" verweist auf das erste Morgenlicht: jeder Tag wurde und wird vom Naturmenschen als eine neue Schöpfung erlebt. Im nächsten Kapitel erklärt Herder, daß der Schöpfungsbericht auf die Unterweisung Gottes zurückgehe, durch die er die chaotische und überwältigende Menge an Gefühlen und Eindrücken des Naturmenschen zu einem sinnvollen Ganzen geordnet und zugleich die Grundlage für alle menschliche Sprache und Erkenntnis geschaffen habe119. In der 'Ältesten Urkunde', in Genesis 1, ist dieser grundlegende Unterricht Gottes bewahrt geblieben. Damit ist allerdings noch nicht alles gesagt. Sehr ausführlich versucht Herder darzulegen, daß der erste Unterricht Gottes, der der Anfang aller Kultur war, einen hieroglyphischen Kern von 7 Bildern (7 Schöpfungstagen) hatte120. Dieser Kern ist seiner Ansicht nach im Hermes symbol121 bewahrt geblieben, das in der Weisheit und den Mythologien aller alten Kulturvölker als Urbild wiederzufinden ist, was er mit ausführlichen religionsvergleichenden Erläuterungen nachzuweisen versucht. Es ist also Herders Anspruch, die wahre Bedeutung nicht nur der 'Ältesten Urkunde', sondern aller Urkunden der ältesten Völker zu enthüllen! 1,6

Der Mensch ist "Repräsentant der Gottheit in sichtbarer Gestalt", "Untergott": sein Leib: "die aufgerichtete, schöne, erhabne Gestalt - nur Hülle und Bild der Seelei Schleier und Werkzeug der abgebildeten Gottheit." (248, 249). 117 Vgl. Kap. III, ('Plan'), Suphan VI, 255 ff. "· "Allegorie Gottes" (278). "Nichts mehr und minder als - Gemälde der Morgenröthe, Bild des werdenden Tages" (258). 1,9 " Bild, Ordnung, Lehrmethode, die ihm die Schöpfung unbetäubend und doch ganz, nach und nach und doch im Zusammenhange, mit Macht, Einwürkung, Lust fürs Herz und ohne Blendung und Düsterung des Auges gebe Lehrmethode Gottesl" (267). "Erstes Urbild und Vorbild aller Menschlichen Sprache, wie diese Offenbarung die erste Kräfteregung auf alles Menschliche Erkenntniß!" (275). 120 Vgl. Kap. VI ('Hieroglyphe'), Suphan VI, 288 ff. Büchsei, E., 'Hermeneutische Impulse in Herders 'Ältester Urkunde', in: Poschmann, B., (Hrsg.), Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder 1988, Rinteln 1989, (151-161), 157: "Sie ist das gottgegebene Samenkorn, aus dem das symbolisierende Vermögen des Menschen überhaupt erwächst." 121 Vgl. Suphan VI, 339 f.

5.9 Rezeption der Kritik Hamanns in Herders Spätwerk

225

Im Vergleich zu seiner Abhandlung ist auffallig, daß Herder nun, nach der Verarbeitung von Hamanns Kritik, den Ursprung der Sprache im 'Unterricht Gottes' sieht122! Nun behauptet er, die Natur des Sprachvermögens sei rezeptiv und könne nur durch göttliche Einwirkung geweckt werden; aber wie hat Gott das getan? " von innen? von aussen? Mystisch? Physisch? welche Unterscheidungen! ganz! Göttlich und Menschlich! nach Kräften von innen und Bedürfnissen von aussen - also allwaltender Unterricht Gottes für sein Bild, den Liebling seines Herzens!" (300). 'Göttlich und menschlich', so kennzeichnet Herder nach dem Vorbild Hamanns den Ursprung der Sprache. Für Hamann geht es dabei freilich um eine 'communicatio idiomatum' der Transzendenz und Immanenz, durch die der Mensch zwar auf Gott bezogen ist, aber nicht romantisch verherrlicht und vergöttlicht wird. Auch wenn Herder unter dem Einfluß Hamanns zu der Auffassung zurückkehrt, der Ursprung der Sprache sei göttlich, so wirkt das bei ihm eher wie eine romantische Selbsterhöhung der menschlichen Natur, als daß der Mensch durch Gott aufgerichtet und auf ihn bezogen wäre, wie bei Hamann. Derselbe Unterschied ist auf hermeneutischem Gebiet zu finden. Hamanns Befürwortung der Bildersprache zielt darauf ab, den transzendierenden und typologischen Horizont unserer Wirklichkeitserfahrung wiederzufinden. Durch die biblische Bildersprache verstehen wir Mensch und Wirklichkeit theozentrisch und christologisch. Bei Herder jedoch verweist die Bildersprache auf einen anderen letzten Horizont: die Natur und den natürlichen Gefühlsmenschen, die natürliche Wirklichkeitserfahrung, die in der Bildersprache der alten orientalischen Texte noch zu spüren ist. Sich kongenial in die Bildersprache von Genesis 1 einzufühlen, bedeutet bei Herder, daß kongeniale romantische Naturgefühle geweckt werden. Für Hamann hingegen bedeutet wahre Kongenialität, eines Geistes mit dem Heiligen Geist zu sein, was nur dadurch geschehen kann, daß man sich in den Bilderkontext der Schrift versetzt123.

122 123

Vgl. zu seiner impliziten Kritik an der Abhandlung: Suphan VI, 299 f. Von dieser Absicht her muß Hamanns Cento-Verarbeitung zahlreicher Bibeltexte verstanden werden. Es ist vielsagend, daß bei Herder hiervon keine Rede ist. Hamann lehnt Herders 'Sturm und Drang'-Sül ab und weist ihn in diesem Punkte wiederholt scharf zurecht. Vgl. ZH III 55:23-, 97:32-, 135:7-, Vgl. hierzu: Irmscher, H.D., 'Handschriften Hamanns im Nachlaß Herders', in: Herder-Studien, Herausgegeben von W. Wiora unter Mitwirkung von H.D. Irmscher, Würzburg 1960, (109-117), 110 Fußnote 10.

226

Kapitel 5 Die Herderschriften über den Ursprung der Sprache 5.9.2 Hamanns 'Prolegomena'

Nach Erscheinen der Ältesten Urkunde Herders (Teile I bis einschl. ΙΠ) entsteht darüber ein kurzer, aber interessanter Briefwechsel zwischen Hamann und Kant124. Hamanns erster Brief In seinem ersten Brief reagiert Hamann auf Kants Zusammenfassung der Ältesten Urkunde Herders mit einer eigenen Zusammenfassung in vier Punkten, die eigentlich implizit eine Kritik an Herder ist125: 1. Hamann übernimmt Herders Metapher von der 'Kindheit' der Menschheit und versteht sie in einem biblischen Zusammenhang. Damit will er sagen: der Schöpfungsbericht gibt über unseren wahren Ursprung Aufschluß; er erzählt von den von Gott geschaffenen und bleibend aktuellen Grundstrukturen der Wirklichkeit. Genesis 1 ist eine historische Geschichte mit ontologischen, anthropologischen und hermeneutischen Implikationen. 2. Im Gegensatz zu Herders eigener Absicht und deren Auslegung durch Kant erklärt Hamann, daß die Schöpfungsgeschichte eine 'historische

124

123

Nachträglich veröffenüicht Hamann seine zwei eigenen Briefe (mit einigen Änderungen) als selbständige kleine Schrift; Christiani Zacchaei Telonarchae Prolegomena über die neueste Auslegung der ältesten Urkunde des menschlichen Geslechts. In zweyen Antwortschreibenan Apollonium Philosophum (1774; Ν III 123-133). Also: Prolegomena zu Herders Ältester Urkunde von Zachäus, dem christlichen Oberzöllner (Hamann), geschrieben an Apollonius, den Philosophen (Kant). Der Titel ist eine Abwandlung eines bestehenden Titels, den Hamann irgendwo gefunden hatte: Consultationum Zacchaei Christiani et Apollonii Philosophi. Vgl. Ν III 128:36, ZH III 129:32-. ZH III 82:27-: "I. Die mosaische Schöpfungsgeschichte ist nicht von Mose selbst; sondern von den Stammvätern des menschl. Geschlechts. Dies Altertum allein macht sie uns zwar ehrwürdig', aber verräth zugleich die wahre Kindheit unsres Geschlechts.II. Diese Origines sind kein Gedicht, noch morgenländische Allegorie, am wenigstens ägyptische Hieroglyphen: sondern eine historische Urkunde im allereigentlichsten Verstände - ein ächtes Familienstück - ja zuverläßiger, als das gemeinste physicalische Experiment. III. Diese mosaische Archäologie ist der einzige und beste Schlüßel aller bisherigen Räthsel und Mährchen der ältesten morgenländischen und homerischen Weisheit, die von jeher implicite bewundert und verschmäht worden ohne jemals von den naseweisesten und kriechendsten Kritikern verstanden zu seyn - das aus dieser Wiege des menschl. Geschlechts zurückgeworfene Licht klärt die heil. Nacht in den Fragmenten aller Traditionen auf. Hier liegt der einzige zureichende Grund von der unerklärlichen Scheidewand und Veste wilder und cultivirter Völker. IV. Um jeden geneigten Leser mosaischer Schriften ihren ursprünglichen, einfältigen, überschwenglich fruchtbaren Sinn wiederherzustellen, gehört nichts mehr dazu als alle Festungswerke der neuesten Scholastiker und Averroisten zu sprengen, niederzureißen u.s.w."

5.9 Rezeption der Kritik Hamanns in Herders Spätwerk

227

Urkunde' und nicht eine Allegorie oder ein erfundenes Gedicht sei. Genesis 1 gibt keine genaue Beschreibung historischer Tatsachen. Es ist bereits deutlich geworden, daß Hamann nichts von Exegeten hält, die die Bibel wie ein historisches oder naturwissenschaftliches Sachbuch behandeln, aber Herder gegenüber will er doch darauf bestehen, daß die Schöpfungsgeschichte sich auf Schöpfungsakte Gottes, also auf alles begründende historische Gegebenheiten bezieht. Die Schöpfungsgeschichte ist eine bildhafte Erzählung, die Licht wirft auf die Urgeschichte126 des schöpferischen Redens Gottes, durch das er Mensch und Natur ins Dasein rief. Bei Herder ist diese Dimension von Genesis 1 und damit auch ihre ontologische und hermeneutische Bedeutung verlorengegangen127. 3. Die Schöpfungsgeschichte ist nicht nur der hermeneutische Schlüssel für das Verständnis von Mensch und Natur, sondern auch für die Auslegung der alten Traditionen aller anderen Völker. In diesem Punkte kann Hamann sich - formal - Herder anschließen, der das hieroglyphische Grundmuster von Genesis 1 in den Traditionen aller anderen Kulturvölker wiederentdeckt. Bei Hamann ist die Offenbarung allerdings sowohl hermeneutischer als normativer Orientierungspunkt, was bei Herder viel weniger zutage tritt. Er räumt der Schöpfungsgeschichte einen Platz im allgemeinen Kontext der anderen Traditionen ein, ohne daß von einer deutlichen perspektivischen Ordnung all dieser Traditionen von der Genesis her die Rede ist. 4. Es war Herders Absicht, Genesis 1 von allerlei rationalistischen Auslegungen zu befreien, womit Hamann von ganzem Herzen einverstanden sein kann. Am Ende seines Briefes klagt Hamann noch darüber, daß die Königsberger Universität J.A. Starck zum Professor ernannt habe. Er verdächtigt den Freimaurer Starck, insgeheim katholisch zu sein. Außerdem ist Starck ein Schüler von Michaelis und gehört also zur exegetischen Richtung, die von Herder und ihm selbst bekämpft wird. Hamanns zweiter Brief

Nachdem Kant in einem zweiten Brief auf zwei Punkte Hamanns eingegangen ist, reagiert er auch auf Hamanns Kritik an Starck. Sehr treffend schildert Kant dann die neue Situation der Bibelwissenschaft. Er sieht nur 126

127

Metzke, J.G. Hamanns Stellung, 93 f.: "In unmittelbarer Anknüpfung an Herder gibt er [Hamann] in den Prolegomena eine Zusammenfassung nicht so sehr von Herders als von seiner eigenen Meinung, die die Schöpfungsgeschichte als f/r-kunde (I) und echte Ur-geschichte (II) charakterisiert, von der aus zugleich die "Tradition" selbst verstanden (III) und in ihrem Sein und Schein enthüllt wird (IV)." Vgl. zu Herders Aufgabe des historischen Realismus in seiner biblischen Hermeneutik: Frei, op.cit., 183-201.

228

Kapitel 5 Die Herderschriften über den Ursprung der Sprache

zwei mögliche Standpunkte: einerseits den der Orthodoxie, der zweifellos unterliegen wird; anderseits den Standpunkt der modernen, spezialisierten und immer stärker säkularisierten Philologie und Exegese, den er im Gegensatz zu Hamann durchaus akzeptiert128. In seinem zweiten Brief gelingt es Hamann, herausgefordert durch Kant, seine Auslegung aus dem ersten Brief zu präzisieren. Es zeigt sich nun deutlicher, daß seine Beschreibung der Ältesten Urkunde im ersten Brief Herders Denken in eine bestimmte Richtung umlenken sollte, um ihn besser zu verstehen, als er sich selbst versteht. Wichtigster Punkt ist, daß Herder durch seine 'allegorische' Auslegung in Widerspruch zu seinem Ziel zu geraten droht, die Schöpfungsgeschichte von ihrer ursprünglichen, antirationalistischen Bedeutung her auszulegen. Nach Ansicht Hamanns geht es in dieser orientalischen Urkunde um das große Urfaktum der Schöpfung, dessen faktischer Inhalt nicht durch Allegorese zum Verschwinden gebracht darf. Schließlich gibt Hamann noch eine eindrucksvolle Reaktion auf Kants Überlegungen zur neuen Situation der Bibelwissenschaft und weist dabei noch auf einen dritten Weg zwischen Orthodoxie und profaner Philologie hin: "Unter allen Seelen, die für Wege zur Glückseeligkeit, zum Himmel und zur Gemeinschaft mit dem Ente Entium oder dem allein weisen Encyklopädisten des Menschlichen Geschlechts ausgegeben worden, wären wir die elendeste unter allen Menschen, wenn die Grundveste unsers Glaubens in einem Triebsande kritischer ModeGelehrsamkeit bestünde. Nein, die Theorie der wahren Religion bleibt nicht nur jedem Menschenkinde angemeßen und ist in seine Seele gewebt oder kann darinn wiederhergestellt werden, sondern bleibt auch eben so unersteiglich den kühnsten Riesen und Himmelsstürmern als unergründlich den tiefsinnigsten Grüblern und Bergleuten." (ZH III 89:17-).

Hamann lehnt die Auffassung, daß der gewöhnliche Gläubige den spezialistischen Kenntnissen der modernen Exegeten ausgeliefert sei, ab, denn ohne eine bestimmte Ausrichtung sind all diese Kenntnisse Treibsand, ein 'Trümmerhaufen' von Fakten, der keinerlei Halt bietet. Welche Ausrichtung wird denn vorausgesetzt? Die korrelative Beziehung zwischen dem menschlichen Herzen und Gottes Offenbarung! Der Mensch ist (nach der Beschreibung der Genesis-Urkunde) von Gott geschaffen, und diese kongeniale theozentrische Ausrichtung ist in die menschliche Seele verwoben oder kann wiederhergestellt werden. Ohne diese natürliche (!) Ausrichtung auf Gott ist die Seele

,M

Vgl. ZH III 86:21-

S.9 Rezeption der Kritik Hamanns in Herders Spätwerk

229

richtungslos und kann keinerlei wissenschaftliche Exegese eine Lösung bieten.

5.9.3 Und Herder? Herder hielt seine Älteste Urkunde für den Beweis, daß er kein Handlanger der Aufklärung geworden war, und in diesem Sinne hat Hamann sie auch aufgefaßt129. Dennoch läßt Hamann in seinen Briefen durchaus spüren, daß er über Herders Kurs noch lange nicht beruhigt ist130. Herders Älteste Urkunde wurde in der aufgeklärten Presse nicht positiv aufgenommen. Er war deshalb für Hamanns Solidarität in den Prolegomena dankbar. Zugleich spürte er deutlich, daß Hamann ihn in eine bestimmte Richtung drängen wollte. So schrieb er nach Empfang der Prolegomena an Hamann: "Sie haben meinen Sinn u. Zweck nicht blos wohlgefaßt, sondern auch sehr gesäubert u. idealisirt, daß in der Folge mir Ihre Winke auf meiner Bahn zu Hülfe kommen werden, daß ich reineres u. sicheres Ziel nehme." {ZH III 119:16-). In der Tat nimmt Herder sich dann in der Ältesten Urkunde Teil IV (1776) Hamanns 'Winke' noch mehr zu Herzen131. In den Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-1791), als deren Vorstudie Herder die Älteste Urkunde ansieht132, kehrt er jedoch endgültig auf den zuvor eingeschlagenen Weg eines christlich gefärbten, aber nach Autonomie strebenden Humanismus zurück133.

129 150

1,1

132 133

Vgl. ZH III 11:24-, 74:14-, Vgl. ZH III 115:27-, 116:24-, 243:34-. Ebenfalls aus dem Jahre 1774 stammt Herders Auch eine Philosophie der Geschichte. Wie weit Herder auch dort bereits von Hamann entfernt ist, beschreibt S.-A. J0rgensen in: 'Turbatverse und Fortgebäude, Über den fehlenden Einfluß J.G. Hamanns auf Herders Auch eine Philosophie der Geschichte', in: Poschmann, B., (Hrsg.), Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder 1983, Rinteln 1984, 111-121. In diesem vierten Teil, der Genesis 2 und 3 behandelt, wirkt Herder orthodoxer als je. Nun sieht er Genesis 1-3 als Geschichte anstatt Allegorie; vgl. Sämmtliche Werke, Herausgegeben von B. Suphan, Bd. VII, Berlin 1884, 70 f., 77 f. Außerdem deutet er den Sündenfall nicht mehr - wie im Brief vom April 1768 - als notwendigen Schritt in der genetischen Entfaltung des Menschen, sondern als Auflehnung gegen Gott; vgl. Suphan VII, 78 ff. Es ist möglich, daß diese vorübergehende Hinwendung zur Orthodoxie mit einer Stelle in Göttingen zusammenhing, die sich Herder erhoffte und im Zusammenhang womit seine Orthodoxie beurteilt wurde. Vgl. HH 4, 70 ff., 88 Fußnote 44, Clark, op.cit., 206-213. Vgl. ZH III 91:18-. Vgl. HH 4, 80-90. Vgl. zu Herders poetisch immanenter Auslegung des Alten Testaments: Dyck, op.cit., 101-112.

230

Kapitel S Die Herderschriften über den Ursprung der Sprache

5.10 Zusammenfassung Wenn Herder in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache die Auffassung vertritt, die Sprache sei eine völlig vom Menschen selbst geschaffene Wirklichkeit, trifft er Hamann damit im Kern seines Denkens. Mit Hamann ist Herder der Ansicht, daß die Wirklichkeit bildhaft sei, was einen analogischen und heuristischen Vergleich zwischen den verschiedenen Bereichen der Natur und zwischen den einzelnen Perioden der Geschichte möglich macht. Der entscheidende Unterschied zu Hamanns Wirklichkeitsauffassung ist jedoch der, daß Herder keinen Blick für die transzendierende Dimension der sprachlichen und analogischen Wirklichkeit hat, sondern diese immanent naturalistisch interpretiert. Deshalb erkennt er auch nicht, daß all die Analogien typologisch in der 'communicatio idiomatum' der Inkarnation und Eucharistie zentriert sind. Außerdem versteht er die Bedeutung dessen nicht mehr, daß der Mensch Bild Gottes ist. Letzteres führt ihn sowohl zu einer Überschätzung (Vergöttlichung, 'Apotheose'), als auch zu einer Unterschätzung des Menschen (ein sprechendes Tier)134. In seinen Herderschriften vertritt Hamann gegenüber Herders 'Analogie der Natur' die christliche 'communicatio idiomatum'. Er macht auf diese Weise deutlich, daß die romantische Hermeneutik Herders ebenso sehr zur christlichen 'philologia crucis' im Widerspruch steht, wie die von ihnen beiden bekämpfte Aufklärung. Zum Schluß dieses Kapitels sei noch auf eine Briefstelle verwiesen, in der Hamann auf Herders Ankündigung der Ältesten Urkunde reagiert: "Glauben Sie mir, liebster Freund, daß Ihr Thema glücklich gewählt ist und ein großes Feld immer für einen nachforschenden Geist bleibt, gesetzt daß man auch der Einbildungskraft daneben die Zügel ließe - aber ohne den Gehorsam die Analogie des Glaubens dabey zu verleugnen." (ZH III 35:9-; kurs. H.V.).

114

W. Proß, in: Herder, Werke II, 1133, zum gleichzeitigen Entstehen des Naturalismus und Anthropozentrismus in der Aufklärung: "Der gemeinsame Ursprung von 'Naturalismus' - der Einordnung des Menschen in einen Naturzusammenhang · und 'Historismus' liegt also in der paradoxen Einsicht, daß der Mensch gleichzeitig am Rande des physikalischen und im Zentrum des geistigen Universums steht."

Kapitel 6 Die Wirklichkeit als Bild Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten' 6.1 Einleitung Im Kapitel 4 wurde näher untersucht, auf welche Weise Hamann aufgrund seiner Hermeneutik von Buchstabe und Geist den Kampf aufnimmt gegen das positivistische und naturalistische Denken, das die empirische Faktizität nicht mehr als Verkörperung geistiger Bedeutung auffaßt. Nachdem wir im Kapitel 5 festgestellt haben, wie Hamann seine Hermeneutik gegenüber dem Analogiedenken Herders theologisch deutlicher fundiert, richten wir nun unser Augenmerk auf eine Reihe von Schriften, in denen Hamann sich vor allem gegen die andere, bereits in § 4.1 erwähnte Front wendet. Es handelt sich dabei um die Theologen und Philosophen, die mit in empirisch-kontingenten Zeichen inkamierter Bedeutung auch nichts anzufangen wissen und sich darum auf die überzeitlichen Vernunftwahrheiten richten, Wahrheiten, die nicht vom 'Zahn der Zeit' angetastet werden können. Sie glauben, auf diese Weise einen autonomen und überlegenen Standpunkt einnehmen zu können, von dem aus die gesamte Wirklichkeit verstanden werden kann, ohne daß irgendeine 'Aufklärung' durch die Offenbarung nötig wäre. Wie die Empiristen entziehen sie sich, nun allerdings im umgekehrten Sinne, dem Bedeutungsfeld der kontingenten Geschichte und leugnen die menschliche Empfänglichkeit für geschenkte Sinngebung und Abhängigkeit von dieser Sinngebung. Als Vertreter dieser rationalistischen Form der Aufklärungstheologie wählt Hamann insbesondere J.A. Starck, G.E. Lessing und M. Mendelssohn. Zunächst gehen wir auf die Polemik gegen den Theologen und Freimaurer Starck ein, eine rätselhafte Persönlichkeit, die gerade durch ihr rationalistisches Interesse an den antiken Mysterien und Ritualien verschiedene in der Aufklärungszeit wirksame Kräfte gut verkörpert.

232

Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten*

6.2 'Hierophantische Briefe' gegen JA. Starck 6.2.1 Entstehungsgeschichte Die Hierophantischen Briefe (1775) gehören mit dem Versuch einer Sibylle über die Ehe (1775), Konxompax (1779) und der Schürze von Feigenblättern1 zu den sogenannten 'Mysterienschriften'2. Die Schriften Über die Ehe und die Schürze geben eine theologische Bewertung der Ehe und der Sexualität. Gegenstand der Hierophantischen Briefe und des Konxompax sind die antiken Mysterien, die Freimaurerei und ihre Beziehung zum Christentum; in beiden Werken ist J.A. Starck einer der wichtigsten Opponenten. Starcks Disputation Anlaß zu den insgesamt sieben Hierophantischen Briefen war die zweite von zwei Disputationen, mit denen J.A. Starck 1774 seinen ordentlichen Lehrstuhl für orientalische Sprachen an der theologischen Fakultät von Königsberg antrat1. Starck war ein Schüler von Michaelis und spielte eine wichtige Rolle in der Freimaurerei, wo er ein sogenanntes Klerikat einführen wollte. Seit seiner Ankunft in Königsberg 1769 hatte Hamann zweifellos regelmäßig persönlichen Kontakt mit ihm, denn Starck wohnte zunächst eine Zeitlang zusammen mit Kant im Hause des Buchhändlers Kanter, wo Hamann viel verkehrte. Das Thema der zweiten Disputation Starcks lautete De tralatitiis ex gentilismo in religionem christianam. Er versuchte darin nachzuweisen, daß das ursprüngliche Christentum schon früh von allerlei Riten und Zeremonien aus dem Heidentum, vor allem aus den 'disciplina arcana' der Mysterienreligionen 'infiziert' worden sei4. In einem unveröffentlichten zweiten Band von De tralatitiis sollte beschrieben werden, wie auch auf dogmatischem Gebiet der ursprüngliche und reine christliche Glaube von heidnischen Einflüssen angetastet worden sei. Starcks Disputation ist in der Frage des heidnischen Einflusses auf den christlichen Glauben sehr ambivalent. Im Vorwort der Disputation bezeichnet er diesen Einfluß als Beispiel der menschlichen 'proclivitas ad delirandum', während er im Schlußparagraphen sehr viel nuancierter urteilt und es für 1 2

3 4

Unvollendet; Hamann arbeitete in den Jahren 1776-1779 daran. Text mit begleitendem Kommentar in HH 5 (E. Jansen Schoonhoven, M. Seils). Siehe zu kommentierten Ausgaben von Konxompax, Über die Ehe und Schürze: Seils, (Hrsg.), 207-231, 419-429, 433-448. Starck war bereits seit 1770 außerordentlicher Professor für orientalische Sprachen. Vgl. Starck, J.A., De tralatitiis ex gentilismo in religionem christianam, Regiomonti 1774, 7 ff.

6.2 'Hierophantische Briefe' gegen J.A. Starck

233

zulässig hält, daß das Christentum unter bestimmten Voraussetzungen Riten und Zeremonien aus dem Heidentum übernimmt3. Diese Ambivalenz wird begreiflicher, wenn man De tralatitiis mit zwei anderen Schriften Starcks, der Apologie des Ordens der Frey Maurer (17701, 17782) und Hephästion (1775) in Zusammenhang bringt. Dort beschreibt er die heidnischen Mysterien als verhüllenden Ausdruck eines rein deistischen Kerns: Gott, Tugend und Unsterblichkeit. Ebenso geht es in De tralatitiis um den reinen und einfachen christlichen Glauben und seine rituellen Ausdrucksformen. Bei Starck setzt sich der Gedanke immer mehr durch, daß der vernünftige und reine Kern des Glaubens in den verschiedenen alten Religionen, zu denen auch das Christentum gehört, wiederzufinden sei. In diesem Zusammenhang muß auch seine Freimaurertätigkeit gesehen werden. Die Freimaurerei verstand sich als eine alle Religionen übergreifende Weltanschauung, deren zentrales Geheimnis im deistischen Aufklärungsglauben lag. Dieser vernünftige Kern wurde als Geheimlehre in allerlei Riten, Formeln und Zeremonien verhüllt und zum Ausdruck gebracht. Es geht dabei also um eine spannungsvolle Verbindung von rationalem Inhalt und mysteriöser, ritueller Form. Aufgrund ihrer rationalistischen Einstellung haben Starck und die Seinen die Neigung, Riten und Symbolik als 'sinnlich' und antropomorph zu bekämpfen. Anderseits haben sie großes Interesse an und Achtung vor Riten und mythologischer Sprache als Symbolisierung der vernünftigen Grundwahrheiten. Starcks 'Apologie des Ordens der Frey Maurer' (1770) Als Hamann De tralatitiis kennenlernt, ist Starcks Hephästion noch nicht erschienen, wohl aber die Erstausgabe der Apologie?. Der Grundtenor der späteren Schriften Starcks ist darin schon zu spüren. Vor dem eigentlichen Teil der Apologie widmet Starck den antiken Mysterien einige Kapitel. Die Grundlinie seiner Ausführungen ist die folgende: Auch in den frühesten Zeiten gab es bereits "Geheimnisse, oder Mysterien" (27). Der Ursprung der meisten dieser Mysterien lag bei den Ägyptern, "und vom Mose selbst, bezeuget die Heilige Schrift, daß er in aller Weisheit der Aegyptier sey unterrichtet gewesen." (29). Die Mysterien wurden von Priestern bewahrt, und das gemeine Volk hatte keine Ahnung davon. In den geheimen Mysterien erhielten Isis, Osiris, Neitha, u.a., "die der Pöbel als Götter verehrete, eine ganz andere Deutung" (30). "Man merket genug, daß die Erkänntnis eines einigen göttlichen Wesens, der Unsterblichkeit der 5

6

In § V (S. 19) weist Starck darauf hin, daß nach Ansicht der Kirchenväter in den antiken Mysterien große und göttliche Wahrheiten verborgen lagen. Starck, J.A., Apologie des Ordens der Frey Maurer, Königsberg 1770.

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Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten'

Seele, der Strafen und Belohnungen in einem künftigen Leben, der vornehmste Gegenstand dieser Geheimnisse gewesen sind." (32). Weil sie "die Sitten besserten, und dem Menschen eine zukünftige Glückseeligkeit gewis verschaften" (34), standen die Mysterien in großem Ansehen, bis sie vom Christentum verdrängt wurden. Die Kirchenväter, wie z.b. Klemens von Alexandrien, bezichtigten die Mysterienreligionen der "schändlichsten Sitten und Gebräuche, und ein[es] scheusliche[n] Dienst[es] des Teufels" (36), aber das ist das Urteil Außenstehender, die alles nur vom Hörensagen haben. Kennt überdies nicht auch die Geschichte des Christentums allerlei Auswüchse? Schließlich vergleicht Starck die antiken Mysterien mit denen der Freimaurerei. Er ist dabei noch zurückhaltend: inhaltlich stimmten sie nicht überein, aber in den Riten gebe es wohl Parallelen7. In der Apologie von 1770 ist Starck zwar noch vorsichtig, aber suggestiv genug, um vermuten zu lassen, in welche Richtung er tendiert. Zusammengefaßt geht es um die folgenden Grundgedanken, die in seinen späteren Schriften weiter entfaltet werden: 1. In der Antike bestand ein grundlegender Unterschied zwischen dem Volksglauben und dem Glauben der in die Mysterien Eingeweihten. Das abergläubische Volk verehrte eine Vielzahl personifizierter Götter, der deistische Kern der Mysterien war hingegen: ein Schöpfergott, Tugend und Unsterblichkeit. 2. Wahrscheinlich stammt der deistische Kern des Christentums von den Ägyptern. 3. Auch jetzt besteht ein Unterschied zwischen Volksglauben und aufgeklärtem Glauben. Die letztere, die reinste Form des Glaubens bildet den Kern der Freimaurerei. Starcks Auffassungen sind nivellierend und elitär. Nivellierend, weil seines Erachtens der wahre Kern der antiken Religionen und der des Christentums identisch sind, nämlich: ein Gott, Tugend und Unsterblichkeit; elitär, weil dieser wahre Kern nur einer kleinen Gruppe aufgeklärter Eingeweihter zugänglich ist. Auf diesem Hintergrund muß vielleicht auch Starcks Bestreben verstanden werden, in der Freimaurerei ein Klerikat einzuführen. Hamann versteht u.a. auch aufgrund dessen, was er bereits von Starck weiß, die eigentlichen Absichten von Starcks De tralatitiis unmittelbar, auch wenn sie darin noch schwer zu erkennen sind8. Beim ersten Teil der Disputa7

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Vgl. Apologie (1770), 40 ff. ΖΗ III 78:13-: "Er redt immer wie in der Freumäurerapo/. von der doctrina arcana. Seine dogmata [Band II von De tralatitiis] dürften wol niemals erscheinen; aber wie leicht würde es ihm werden die Lehre der Menschwerdung, Versöhnung der Heil.

6.2 'Hierophantische Briefe' gegen J.A. Starck

235

tion ist er zugegen9, aber seine Entrüstung steigert sich so, daß er vorzeitig den Saal verläßt und beschließt, eine Gegenschrift, die Hierophantischen Briefe, zu verfassen, die 1775 erscheinen10. Inzwischen war Hamann auch zu der Überzeugung gelangt, daß Starck ein Kryptokatholik sei11. Es gibt tatsächlich Anzeichen dafür, daß er 1766 während eines Aufenthaltes in Paris katholisch geworden war. Inwieweit Starck in Königsberg noch zu dieser Entscheidung stand, ist nicht klar12. Allerdings entstand viele Jahre später in Deutschland noch große Aufregung, als die Berlinische Monatschrift 1785 Starck vorwarf, heimlich Jesuit zu sein13. Was Hamann dazu veranlaßte, Starck für einen Kryptokatholiken zu halten, wird unten noch erläutert.

6.2.2 Sieben Briefe gegen den Deismus und das 'Papsttum' Erster Brief In seinem ersten hierophantischen Brief weist Hamann sofort auf die oben angedeutete Ambivalenz von De tralatitiis in Bezug auf die heidnischen Riten hin14. Dann bezeichnet er Starck als "einen blinden Splitterrichter des Pabstums mit einem Sparren des Pabstums in seinem Schalksauge" (Ν ΙΠ 138:1-). Hier äußert Hamann also seinen Verdacht des Katholizismus. Es ist allerdings wichtig, daß nirgends in den Hierophantischen Briefen vom 'Katholizismus', sondern immer vom 'Papsttum' die Rede ist. Wie sich noch zeigen wird, geht es Hamann nicht um jegliche Ausdrucksform der katholischen Kirche, sondern um einen bestimmten Glaubenstyp, der sich vor allem in der Tradition der katholischen Kirche, jedoch nicht nur dort, durchgesetzt hat.

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Dreyeinigkeit als Reliquien des Heidenthums zu behandeln." Vgl. ZH III 77:12- (an Herder), Ν III 161. Vgl. zur Deutung des vollständigen Titels Vettii Epagathi Regiomonticolae hierophantische Briefe, HH 5 33 f. 'Hierophant' war der Priester der Eleusinischen Mysterien und kommt in Hephästion und der Apologie (1778) vor; Hamann meint Starck damit. Vgl. zum Terminus 'Hierophant' auch Ν III 25, Ν III 141:25. Vgl. ZH III 78:10-, 83:33-. Vgl. Konschel, Hamanns Gegner, 14 f., HH 5, 25 f. Vgl. Konschel, Hamanns Gegner, 56 ff. Ν III 137:17-: "Vergleichen Sie jenen pathetischen Anfang mit dem politischen Schluß des vor mir liegenden Semilibelli: so wird S. 1. die Einführung heidnischer Meinungen und Gebräuche procliuitati hominum ad delirandum, hingegen S. 69. der christlichen Freyheit, einer Herunterlassung zu der Schwäche der Heiden und einer vielleicht etwas eigennützigen Liebe zum Heil ihrer Seelen zugeschrieben".

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Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten'

Zweiter Brief Im zweiten Brief äußert Hamann einen ersten Grund für seine Vermutung, Starck sei ein Kryptokatholik. Er hält es nämlich für sehr verdächtig, daß ein lutherischer Pfarrer und Theologe in seiner Beurteilung der heidnischen Riten und Gebräuche Calvin, Menno und Fox wohl erwähnt, Luther jedoch nicht, während doch gerade Luther schon längst den größten Teil "jener heidnischen Gräuel" aus der christlichen Glaubenspraxis verbannt, aber zugleich einige dieser kirchlichen Gebräuche akzeptiert hat. Wenn Starck also kritisch, aber nuanciert über die heidnischen Gebräuche sprechen will, warum beruft er sich dann nicht auf Luther?13 Vermutlich wußte Hamann bereits von früheren Kontakten mit Starck, daß dieser nicht viel von Luther hielt. In einem Brief an Herder schreibt er, daß er Starck gern zum Proselyten des von ihm verspotteten Luther machen würde16. Dritter Brief In seinem dritten Brief kommt Hamann zum Kern der Sache, wenn er auf Starcks Unterscheidung zwischen dem ursprünglichen, reinen Christentum und den späteren heidnischen Zusätzen hinweist. Diesen Unterschied charakterisiert Hamann folgendermaßen: "Wenn man alle jüdische und heidnische Bestandteile vom Christentum mit pharisäischer Kritik absondern wollte: so bliebe eben so viel als von unserm Leibe durch eine ähnliche metaphysische Scheidekunst übrig - nemlich: ein materielles Nichts oder ein geistiges Etwas, das im Grunde für den Mechanismum des Sensus communis auf Einerley hinaus läufft." (Ν ΠΙ 142:4-).

Der Schlüssel zum Verständnis dieses Abschnitts liegt im Vergleich mit dem Versuch, Leib und Seele voneinander zu trennen; wer das tut, hat schließlich nichts anderes als einen toten Leib ('materielles Nichts'17) und eine Seele, die sich in nichts äußern kann, eine Bedeutung ohne Zeichen, ein 'geistiges Etwas', das man nur raten kann. Oder wie in einigen materialistischen Anthropologien der Aufklärung behauptet wird18: die Seele ist selbst auch etwas Leibliches, so daß 'materielles Nichts' und 'geistiges Etwas' auf

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Vgl. Ν III 139:11-. Vgl. zu Hamann-Starck-Luther: Blanke, 'Hamann und Luther', in: Hamann-Studien, 49-55. Vgl. ZH III 78:10-. Ist Hamanns Wunsch, Starck zum Anhänger Luthers zu machen, vielleicht ein verborgenes Motiv seiner schwer verständlichen Wahl Starcks zum Beichtvater? Vgl. ZH III 195:7-. Vgl. zu den Begriffen 'Nichts' und 'Etwas' auch Hamanns Rezension von: Robinet, J.B., De la nature, Bd. II, 1763, in: Ν IV 271 f. (siehe hierzu § 6.3.4). Hamann denkt an die französischen Materialisten wie Holbach, Lamettrie und Helv6tius, nach denen Friedrich der Große sich richtete. Vgl. Ν III 27:28-, HH 4 176 f.

6.2 'Hierophantische Briefe' gegen J.A. Starck

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das Gleiche hinauslaufen19. Durch seinen Vergleich mit der Einheit von Leib und Seele will Hamann also sagen, daß der geistige Kern des Christentums von seiner historisch kontingenten Ausdrucksform, die in vielerlei Hinsicht aus jüdischen und heidnischen Elementen besteht, nicht rationalistisch zu trennen sei. Der 'Geist' des christlichen Glaubens kann nicht vom historischen 'Buchstaben' losgelöst werden. Unmittelbar nach der Stelle über das 'materielle Nichts' und das 'geistige Etwas' zitiert und paraphrasiert Hamann einige Sätze aus einem anderen Werk, in dem das Christentum lächerlich gemacht und ebenfalls auf einen aufgeklärten Deismus reduziert wird. Und zwar handelt es sich um das von Friedrich dem Großen zusammengestellte Abrigi (1766) der Histoire eccUsiastique von Claude Fleury. Folgendes Zitat ist ein Cento Hamanns aus dem Vorwort Friedrichs "Einige Wunderwerke ausgenommen, welche nur poetische Köpfe schwindlich zu machen vermögen, ist das Christentum nichts als unser heutige Theismus21, und der Held jener jüdischen Secte ein homunculus von zweydeutiger Abkunft, der mit den Ungereimtheiten alter hebräischen Prophezeyungen die Recepte einer dem Stoicismus ähnlichen Sittenlehre zusammen mengte. Ihn apotheosirte das Concilium zu Nicäa, so wie das chalcedonische seinen heiligen Geist."22 Auf dieses nahezu blasphemische Vorwort kommt Hamann wiederholt zurück und gibt dadurch zu verstehen, daß Starck für ihn nur symptomatisch für eine Denkweise ist, die sich überall verbreitet23. In der zweiten Hälfte des dritten Briefs geht Hamann weiter auf den Versuch Starcks und anderer Theologen und Philosophen ein, den rationalen Kern des christlichen Glaubens ('geistiges Etwas') von der historischen Erscheinungsform ('materielles Nichts') zu isolieren.

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Diese Auslegung des 'Mechanismum des Sensus communis' ist aus einem Abschnitt weiter unten im Brief abzuleiten: "Weil aber der Begriff des Geistes, vermöge der neuesten philosophischen Offenbarungen, in einem guten Löffelvoll Grütze besteht, den jeder homunculus eines starken und schönen Geistes unter seinem goldenen Haarschädel oder seiner silbernen Glatze mit sich führt" (N III 143:33-). Hamann hielt Voltaire, Friedrichs früheren Hofphilosophen, für den Verfasser. Daß er auch Friedrich den Großen im Auge hatte, ergibt sich aus verschiedenen anderen Bemerkungen in den Hierophantischen Briefen. 'Theismus': Deismus (kurs. H.V.). Ν III 142:10-. Französischer Grundtext in: Avant-Propos de l'abrigi de Γ histoire ecclesiastique de Fleury, in: Oeuvres de Fridiric le Grand, Bd. VII, Berlin 1847, 151 ff.; Deutsche Übersetzung: HH 5, 55. ZH III 78:22-: "Sie [Starcks Disputation] verdient blos als ein national product einige Aufmerksamkeit, im Grunde ist es eine Wasserblase."

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Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten'

Zunächst fragt er sich, was denn in der 'Hypothese des Deismus'24 mit dem 'geistigen Etwas' gemeint sein könne. Nach einigen Vorschlägen läßt Hamann es einfach als unbekannte Größe stehen und richtet sich auf das 'materielle Nichts', die Geschichte des Deismus als historisches Phänomen, um es mit der "Kraft des Christentums" (Ν ΙΠ 144:9) zu vergleichen. Was stellt der Deismus von außen gesehen dar? Im Abrigi bezeichnet Friedrich der Große das Christentum geringschätzig als eine 'jüdische Secte'. Aber, meint Hamann, dann sei es wohl eine 'politische Secte', die mehr "Wirkungen von Umfange und Dauer" (Ν ΠΙ 144:34) in der Weltgeschichte verursacht habe als irgendeine andere Bewegung25. Der wahre Geist des Christentums sei kein rationalistischer Aufguß, sondern die 'Kraft' eines 'homunculus', die die ganze Weltgeschichte wie ein Ferment durchdringe, die verborgene Kraft des Heiligen Geistes, der außerhalb der historischen Erscheinungsformen, in denen er sich stark äußert, nicht verstanden werden könne. Was ist der Deismus im Vergleich dazu? Ein unbedeutendes 'Etwas', ein 'Nichts'! Vierter Brief

Der deistischen Trennung von überzeitlichen Vernunftwahrheiten und historischen Erscheinungsformen stellt Hamann die Einheit von Buchstabe und Geist gegenüber. Von diesem Ansatz aus wendet er sich in dem zuvor erläuterten dritten Brief gegen den Deismus Starcks und die Tatsache, daß er den 'Geist' vom 'Buchstaben' abstrahiert. Im vierten Brief geht Hamann auf die andere, eng damit zusammenhängende Tendenz von De tralatitiis ein, nämlich die Fixierung auf den 'Buchstaben'. Hamann meint, daß die rationalistische Trennung von Buchstabe und Geist zwei entgegengesetzte Konsequenzen habe, die sich gegenseitig hervorrufen und verstärken26: während Starck und die Seinen einerseits auf überzeitliche geistige Wahrheiten ausgerichtet sind, binden sie sich anderseits an empirische Äußerlichkeiten, tote Formen, die nicht mehr in die Dynamik des Geistes aufgenommen sind und das Le-

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Vgl Ν III 143:29. Ν III 146:12-: "Das Mährchen des Himmelreichs mag daher immerhin, in Vergleichung aller übrigen Universalmonarchien und ihrer pragmatischen Geschichte, ein kleines Senfkorn seyn: so ist wenigstens das Ferment dieser Secte unleugbar, unterdessen der Theismus durch die Modeseuche mehr und mehr zu einem tummen Salz ausartet". Vgl. Ν III 165:1-: " der Theismus, als ein natürlicher Sohn des Pabsttums und zu gleich sein ärgster Erb- und Hausfeind"; Ν III 164:27-: " aus blos entgegengesetzt scheinenden, aber wirklich correlaüven Trieben".

6.2 'Hierophantische Briefe' gegen J.A. Starck

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ben gesetzlich beherrschen. Letzteres bezeichnet Hamann als 'Papsttum'27, das in allerlei Varianten auftreten kann. Bei Starck handelt es sich um 'Papsttum', wenn er die oekumenischen und apostolischen Bräuche als normativ ansieht und sie unsere 'Freiheit in Christus' beherrschen lassen will; er stellt das katholische Traditionsprinzip über die lutherische 'Freiheit eines Christenmenschen'2*. Starck geht von einer goldenen Ursprungszeit des Christentums aus, aber die hat es nie gegeben. Das Wesen des Christentums ist nicht in einer bestimmten historischen Gestalt zu finden und ist älter als Heidentum und Judentum: " hat der Anfänger und Vollender unsers Glaubens nicht selbst gesagt: "Ehe denn Abraham -—""? (Ν III 149:15-). Hamann will den Geist des Christentums nicht rationalistisch vom historischen Buchstaben abstrahieren, aber ebenso wenig will er ihn an eine bestimmte Gestalt binden. Es geht ihm um die typologische Einheit und Dynamik von Buchstabe und Geist. In diesem Sinne spricht er auch über das 'Papsttum' als Phänomen, das älter als die katholische Kirche ist. Sein Samen lag zum Beispiel bereits im Herzen der Söhne des Zebedäus, die sich um den höchsten Platz in der Hierarchie des Himmelreichs stritten29. Starcks Traditionsprinzip gegenüber verweist Hamann dann auf die "alten Bruchstücke" (Ν III 150:11) der Schrift. Zugleich ist er sich sehr wohl bewußt, daß der Schriftglaube genauso leicht in Wortklauberei und gesetzliches 'Papsttum' ausarten kann. Eine moderne Form dieses Papsttums sind die moderne Philologie und Dogmatik, die den geistigen Inhalt der Schrift und ihr Ärgernis durch rationalisierende Exegese und umfangreiche philologische Detailstudien wegzunehmen trachten. Hamann teilt auch nicht die "jüdische Meynung, das ewge Leben in der Schrift zu haben"30 (N III 150:31-). Christus selbst beruft sich auf das Zeugnis über ihn in der Schrift 27

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Das Verhältnis 'Theimus/Papsttum' ist parallel zum Verhältnis Heidentum/Judentum und Vernunft/Gesetz. Vgl. die chiastische Parallelisierung in Ν III 165:9-. Vgl. Ν III 150:1-: "Beruht nicht der ganze Talmud des Pabsttums auf das Ansehen der Kirchenväter, und sollte dieser Name allein [Fußnote: Matth. XXIII, 9.] nicht ominöser seyn, als alle vocabula disciplinae arcanaeV Vermutlich bezieht sich diese Stelle auf § V von Starcks Disputation, in dem er nachweist, daß nach Ansicht der Kirchenväter in den antiken Mysterien göttliche Wahrheiten verborgen lagen. Übrigens beseitigt Hamann am Schluß des vierten Briefes das mögliche Mißverständnis, daß er nicht viel von den Kirchenvätern halte. Starcks Disputation hat ihn sogar zu einem 'cursus patristicus' angeregt; vgl. Ν III 152:27-, Ν V 314 ff., ZH III 94:14-, 104:9-, 166:11-, 262:4-, Natürlich denkt Hamann bei Starcks 'Papsttum* auch an dessen Versuch, in der Freimaurerei ein Klerikat einzuführen. Vgl. Ν III 149:4-, Anspielung auf Starcks Klerikat in der Freimaurerei. Vgl. Joh. 5: 39-40: "Suchet in der Schrift; denn ihr meinet, ihr habt das ewige Leben darinnen; und sie ist's, die von mir zeuget; Und ihr wollt nicht zu mir kommen, daß ihr das Leben haben möchtet."

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Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten'

und nicht auf die Schrift als menschliches Zeugnis31. Von einer biblizistischen Schriftauffassung will Hamann nichts wissen; die Schrift hat nur durch das 'testimonium Spiritus Sancti' Vollmacht. In diesem Sinne beruft Hamann sich auch auf die 'classische Regel', daß jedes Buch im Geist des Verfassers gelesen werden muß32. Also sollte man das auch bei der Bibel tun und sie 'im Geist' des Schöpfers Himmels und der Erden lesen, der als der König der Juden einen schmählichen, freiwilligen und verdienstvollen Tod starb und danach die frohe Botschaft der Auferstehung und Wiederkunft über die ganze Erde verkündigen ließ33. Liest man die Bibel so, dann entdeckt man, daß ihr Inhalt sowohl zu "dem Gott der Juden und dem allgemeinen Plan des großen Naturbuchs, als der besondern Theokratie des kleinen theistischen Volks und dem heiligsten Charakter seines gekreuzigten Königs" (Ν ΠΙ 152:5-) paßt. Dann erweist sich die Inspiration der Bibel durch den Heiligen Geist nicht mehr als ein unwahrscheinliches Lehrstück, sondern als erfahrene Wirklichkeit. So schließt Hamann den hermeneutischen Zirkel, von dem er hofft, daß seine Leser sich hineinbegeben. Der Skeptizismus lehnt eine Inspiration der Schrift ab und versucht, alles 'natürlich' zu erklären. Hamann hält eine solche 'natürliche' Auslegung jedoch für einen größeren Anschlag auf den gesunden Menschenverstand als die Erkenntnis der "im Evangelio aufgedeckte[n] Herunterlassung zur Thorheit und Schwäche und Trost unsers Geschlechts" (N III 152:20-). Gerade der Skeptizismus führt zu einer unnatürlichen Kombination von künstlichem Unglauben und willkürlichem Aberglauben, die sich zueinander verhalten wie Origenes' Allegorien zu seiner Hexapla oder seinem buchstäblichen Vollzug von Matth. 19:12 (Verschneidung)34. Das Beispiel des Ongines veranschaulicht, was geschieht, wenn Geist und Buchstabe auseinandergerissen werden: einerseits verfällt man in rationalistische oder allegorische Fantasien, anderseits klammert man sich an den starren 'Buchstaben'. Der siebte Brief Auf den fünften und sechsten Brief soll hier nicht näher eingegangen werden, da sie wenig Neues enthalten. Im siebten und letzten Brief schließt Hamann mit einer Charakterisierung des 'Papsttums' und des 'Theismus' in

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Vgl. Joh. 5: 34. Diese Regel war also schon lange vor Schleiermacher 'classisch'. Vgl. Ν III 151:6-; siehe auch: Ν III 154:16-, Ν I 8:29- und § 4.7.1: Auslegung als Akt der Demut und Hingabe. Vgl. Ν III 151:25-. Vgl. Ν III 152:22-.

6.2 'Hierophantische Briefe' gegen J.A. Starck

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sieben Punkten. Er vergleicht darin das christliche Leben mit einer Perle, die zwischen den zwei Muschelschalen des Buchstabens und Geistes verborgen liegt35. Deismus und Papsttum, die beide blind sind für die Bildhaftigkeit der Schrift und der Wirklichkeit, brechen die Einheit dieser Muschel auf und haben beide eine leere Schale übrig, auf der einen Seite eine zeitlose Wahrheit, auf der anderen einen toten 'Buchstaben'.

6.3 'Konxompax': Offenbarung als kontingentes Geheimnis 6.3.1 Entstehungsgeschichte Hamann setzt seinen Kampf gegen 'die ewigen Wahrheiten' in Konxompax (1779) fort. Über das Thema von Konxompax hat er lange nachgegrübelt. Der Plan bestand bereits im Juni 177536, aber die Ausführung ließ lange auf sich warten. Allerlei Probleme kamen dazwischen: der Tod seines Freundes Lindner, der Verkauf von dessen Bibliothek, Vorbereitungen für den Verkauf seiner eigenen Bibliothek (der nicht stattfand), Stellenwechsel und Schwierigkeiten mit der Übernahme seiner Dienstwohnung, die Geisteskrankheit und der Tod seines Bruders, seine schlechte Gesundheit und vor allem Depressionen und Schwermut37. Ende 1778 sieht Hamann wieder neue Möglichkeiten. Wahrscheinlich wird er auch durch den Streit motiviert, der über die von Lessing veröffentlichten 'Fragmente' von H.S. Reimarus entbrennt und den Hamann mit großem Interesse verfolgt38. Dann gerät die Sache allerdings wieder ins Stocken; 35

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Ν III 165:11-: " ob nicht der Theismus und das Pabsttum sich den Namen des Christentums mit eben so viel Schein als Eifer anmaaßen können und müssen, um die beyden Schaalen der Muchsei unter sich zu theilen"; "ob nicht die Perle des Christentums ein verborgenes Leben in Gott, eine Wahrheit in Christo dem Mittler und eine Kraft seyn müsse, die Weder in Worten und Gebräuchen, noch in Dogmen und sichtbaren Werken besteht, folglich auch nicht nach dialectischen und ethischen Augenmaaße geschätzt werden kann". Vgl. zum gleichen Bild Ein fliegender Brief, W (78):26-. Vgl. ZH III 188:19-. Ein schöner Artikel über Hamanns Wohl und Wehe in diesen Jahren ist: Henkel, Α., 'In telenio sedens, J.G. Hamann in den Jahren 1778-1782', in: Wild, R., (Hrsg.), Johann Georg Hamann, 299-313 (= ZH IV XI-XXIII: 'Einleitung'). Am 26. November 1778 schreibt er Herder: "Daß es mir an Sympathie für die gegenwärtige Crisin in der Theologie nicht fehlt, bester Gevatter! können Sie sich leicht vorstellen; Auch Falk und Ernst sind Waßer für meine Mühle. Zum Schluß des Jahres hoff ich noch die Materie der Geheimniße des Heidentums vorzunehmen; worüber ich Hippel mein Wort vor mir gegeben Meine Sache ist

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Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten'

Mitte Februar 1779 hat er immer noch keinen Anfang gemacht39. Danach verläuft alles plötzlich sehr schnell, und am 12. April ist die Arbeit abgeschlossen. Er bittet Herder, sich um den Druck und die Veröffentlichung zu kümmern40. Bereits am 16. Mai erhält er das erste Exemplar41.

6.3.2 Die Opponenten: Starck, Meiners, Steinbart und Lessing Konxompax gilt wohl als Hamanns kryptischste Schrift. Es ist ein einziges großes Cento, das ohne Kenntnis der benutzten Texte völlig unverständlich bleibt. Neben der Bibel handelt es sich vor allem um Werke von J.A. Starck, Chr. Meiners, G.S. Steinbart und G.E. Lessing42. Von diesen hat Hamann nur vor Lessing einigen Respekt, wenn er auch dessen Meinung durchaus nicht teilt. Die anderen drei erscheinen als geringere 'Götter' der Aufklärung, sind jedoch gerade in ihrer Mittelmäßigkeit repräsentativer für die Denkrichtung, die er anprangern will. JA. Starck Die zwei Werke Starcks, aus denen Hamann viel zitiert, sind Hephästion (1775) und die zweite, überarbeitete und erweiterte Ausgabe der Apologie des Ordens der Frey-Mäurer (17782)43. In beiden Werken entfaltet Starck Motive weiter, die bereits in der Apologie von 1770 vorhanden waren, wo er noch vorsichtig war. In Hephästion44 wagt er viel mehr und verursacht einen gehörigen Skandal45. In der Einleitung formuliert Starck seinen Ansatz: es kann nicht sein, daß Gott sich nur den Juden und Christen offenbart hat. Deshalb will er in Hephästion die Offenbarungsfragmente sammeln, die in den anderen alten Religionen zu finden sind.

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eigentl. nur die falsche Folgerungen die man aus den wenigen u dunkeln Datis zieht, zu berühren und in ein ander Licht zu bringen." (ZHIV 34:31-)· Vgl.: Lüpke, J., von, 'Hamann und die Krise der Theologie im Fragmentenstreit', in: Acta 5, 345-383. Vgl. ZH IV 48:9-, 29-. Vgl. ZH IV 68:20-. Vgl. ZH IV 80:2-. Hamann nennt sie "das Mark meiner Fragmente oder das Viergespann meiner Muse" CZH IV 122:24-). Starck, J.A., Hephästion, Königsberg 1775; Apologie des Ordens der Frey-Mäurer, Neue ganz umgearbeitete, und einzige authentische Ausgabe, Berlin 1778. Zum großen Verdruß Hamanns enthüllt Starck erst im Vorwort des zweiten Drucks, daß 'Hephästion' der Name eines ägyptischen Priesters ist, ohne dies allerdings zu belegen. Wie Hamann in Konxompax zu verstehen gibt, hält er nicht viel von Starcks wissenschaftlichen Qualitäten; vgl. HH 5, 319 (einschl. Fußnote 9), 321-326. Vgl. Konschel, Hamanns Gegner, 36 ff.

6.3 'Konxompax': Offenbarung als Kontingentes Geheimnis

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Hephästion besteht aus zwei Teilen: der erste "Von den Erkänntnißen des Heidenthums", der zweite "Von den Erkänntnißen des Judenthums". Im ersten Teil, über die antiken Religionen, geht Starck wie in der Apologie vom Unterschied zwischen Volksglaube und Mysterienreligion aus. Diesen Unterschied bezeichnet er auch als den Unterschied zwischen 'äußerer' und 'innerer Religion'. Aus Unkenntnis haben die Kirchenväter die Mysterienreligionen verleumdet und nicht gesehen, daß "in diesen Heiligthümern der Heiden große Lehren der Warheit verborgen gewesen seyn" (26). Der Ursprung all dieser Geheimnisse liegt bei den Ägyptern. Neu im Vergleich zur Apologie (1770) ist, daß Starck zwischen kleinen und großen Mysterien unterscheidet. Erstere waren für jederman zugänglich, letztere nur für einige Priester. Der Inhalt der kleinen Mysterien betraf den "dreyfachen Zustand des Menschen, nemlich einen Stand der Reinigung46, ein glückseliges und ein unglückseliges Leben, zu welchem allem der Grund in diesem Leben liegen sollte." (33 f.). Spuren dieser Erkenntnisse waren zwar bereits in der Volksreligion zu finden, wurden jedoch in den kleinen Mysterien nicht mehr sinnlich, sondern auf rein geistige Weise wie eine geläuterte Tugend erlernt. In den großen Mysterien erreichte man die "'Epopsia', den vollen Anblick. Hier wurde gleichsam der ganze Vorhang aufgezogen. Der Aberglaube und Götzendienst, der das unwißende Volk beschäftigte, wurde verbannt" (49). Die erste große Enthüllung war die, daß die Götter der Völksreligion nichts anderes als verstorbene Menschen sind. Dann nennt Starck die wichtigste Wahrheit, die enthüllt wurde, "nemlich die große Lehre von dem Daseyn eines Einigen wahren Gottes, der die Ursache aller Dinge, ihr Erhalter und Regierer ist, und mit dem gar keine cörperliche Begriffe könnten verbunden werden, sondern der nur allein im Verstände erkannt wurde." (53). So kannte man bereits in den großen Mysterien den wahren Gott der Aufklärung, der nicht mit antropomorphen und sinnlichen Begriffen bezeichnet und gedacht werden darf. Natürlich wurde auch die wahre Tugend offenbart, "diese göttliche Lehre , dieses der Menschheit würdiges Gesetz" (68). Nach dieser auffälligen Aufwertung des Heidentums äußert sich Starck im zweiten Teil ziemlich geringschätzig über die Gotteserkenntnis des Judentums. Die Erkenntnis der Erzväter war sehr unvollkommen. Sie hatten weder ein Bewußtsein von Gottes Allwissenheit und Allmacht, noch von einem Leben nach diesem irdischen Leben. Außerdem war ihre Moral nicht allzu rein.

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Also eine Art Fegefeuer.

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Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten*

Zu Moses Zeiten war Israel "ein sehr ungebildetes Volk" (87), ein "sehr unphilosophisches Volk" (161), mit einer starken, in Ägypten entstandenen Neigung zum Aberglauben und mit einer noch mangelhaften Tugend. Moses erzog sein Volk zu einem vernünftigeren und sittlicheren Glauben, obwohl er sich dem begrenzten Begriffsvermögen eines Volkes, das der Kindheit gerade erst entwachsen war, anpassen mußte. So ist auch der jüdische Kult an die damalige Entwicklungsphase und Art des jüdischen Volkes gebunden. Seitenlang bemüht Starck sich, zu widerlegen, daß der jüdische Kult ein typologi scher Hinweis auf Christus sei47. Er ist diesbezüglich noch viel radikaler als sein früherer Lehrmeister Michaelis48, mit dem er sich in eine ausführliche Diskussion einläßt. Starck ist kein Freund der Bildersprache, weil Bilder noch viel zu sinnlich sind, was für religiöse Angelegenheiten sehr schädlich ist. Israel glaubte zur Zeit Moses an den einzig wahren Gott, aber das war ein "Nationalgott" (140), den man anthropomorph verehrte. Die Trinität war unbekannt. Allerdings gab es eine Messiaserwartung und kannten sie die "vernünftige Lehre von der Satisfactione vicaria" (156). Seit David wurden die Begriffe des jüdischen Volkes 'aufgeklärter', aber wirklich philosophisch wurde die jüdische Religion erst während des Exils und in der Diaspora, als sie unter den Einfluß anderer östlicher Religionen geriet. Erst unter der Herrschaft der Perser verloren die Juden "ihren Hang zu dem dummen Polytheismus" (166). Ihr Glaube an den einen wahren Gott wurde "mit dem bey den Aegyptiern und ihren Schülern angenommenen Satz, daß der höchste Gott in einem unzugänglichen verborgenen Lichte wohne," (168), verbunden. Aus dem, was das spätere Judentum über den Zustand der Seele nach dem Tode lehrt, ergibt sich "der große Einfluß, den die morgenländische Philosophie auf die jüdischen Grundsätze gehabt [hat]" (176) Abschließend zieht Starck die Schlußfolgerung, daß auch Israel zu den "allgemeinen Warheiten, die so nothwendig sind, die einen so großen Einfluß auf das sittliche Verhalten der Menschen und ihre Glückseligkeit haben" (187), gelangt ist. Außerdem verweisen seine heiligen Bücher auf den Mittler, der kommen wird, denn es ist Gottes "väterliche Absicht" (188), sich über all seine Kinder zu erbarmen. Soweit zu Hephästion. Man kann sich vorstellen, wie sehr Hamann diese Schrift verabscheut hat49.

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Vgl. 101-128. Vgl. §4.8.1. An Herder, ZH III 189:4-: "Haben Sie den Hephästion bereits angesehen? - Ich weiß keine Lectur, die auf meinen Hypochonder so handgreiflich gewürkt als dies heillose Geschmier Ich habe 8 Tage nicht Ruhe gehabt".

6.3 'Konxompax': Offenbarung als Kontingentes Geheimnis

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Zu Starcks überarbeiteter Apologie (1778) können wir uns nun kurz fassen, da sie kaum etwas Neues enthält. Nach dem apologetischen Teil kommen die antiken Mysterien wiederum zur Sprache. Unter dem Einfluß von Meiners' Buch50, auf das im folgenden eingegangen werden soll, präzisiert Starck den Unterschied zwischen den kleinen und großen Mysterien. In den kleinen Mysterien wurden noch 'dramatische' und 'sinnliche Vorstellungen', 'Bilder und Hieroglyphen' benutzt (188 f.); in den großen Mysterien war nur von der "nackte[n] Wahrheit" (189) und Anschauung die Rede. Von Meiners übernimmt er auch den Gedanken, daß in den großen Mysterien die Lehre vom höchsten Gott mit einer "Lehre vom Daseyn der Dämonen oder mittlem Naturen" (192) verbunden wurde. Wiederum wagt er einen Vergleich zwischen den antiken Mysterien und denen der Freimaurer. Er bleibt vorsichtig, aber suggeriert nun doch deutlich inhaltliche Übereinstimmungen51. Chr. Meiners Ein anderes Werk über die antiken Mysterienreligionen, auf das Hamann sich bezieht, ist Über die Mysterien der Alten, besonders über die Eleusinischen Geheimnisse (1776) von Chr. Meiners52. Auch diese religionsgeschichtliche Studie ist ein unverkennbares Produkt der Aufklärung. Wie Starck ist auch Meiners der Auffassung, der Kern der Mysterienreligionen sei der eine Gott, Tugend und Unsterblichkeit. Im Teil I skizziert Meiners die historische Entwicklung der Mysterien in vier Phasen: 1) Die allerprimitivsten Völker hatten noch keine Mysterien. 2) Hatte sich eine gewisse Gesellschaftsstruktur entwickelt, dann entstand eine Kaste der Zauberer. Die Zauberer oder 'Jongleure' enthüllten Geheimnisse der Vergangenheit und Zukunft, aber keine "philosophische[n] Lehren, oder Religionsgrundsätze" (184).

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Starck verweist S. 186 auf Meiners. "Ich setze in manchen Stücken unsere Geheimnisse mit den Mysterien der Alten in Vergleichung. Ich glaube aber dabey, daß diejenigen die ausser uns sind, so billig seyn, und uns um deswillen nicht für Heiden und Götzendiener halten werden" (214). "Aus dieser Vergleichung aber kann ich wirklich und aus Ueberzeugung von unsern Geheimnissen sagen, was Cicero zum Pomponius sagte: Die Einweihung zu denselben haben wir wirklich als den Anfang zum Leben erkannt, und wir haben nicht allein dieses erhalten, daß wir mit Vergnügen leben, sondern daß wir auch mit einer bessern Hoffnung sterbenkönnen" (215). Meiners, Chr., Über die Mysterien der Alten, besonders über die Eleusinischen Geheimnisse, in: Vermischte philosophische Schriften, (3 Bde, 1775-*76), Bd. III, Leipzig 1776, 164-342.

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Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten'

3) Ein höherer Grad der Mysterien ist dort zu finden, wo eine Gemeinschaftsreligion mit Opfern, Festen, Göttern und Priestern entstand. Diese Mysterien waren exoterisch, und die Priester waren keine Lehrer des Volkes. Die Mysterien waren "dramatische Vorstellungen der Geschichte und Begebenheiten ihrer Götter" (188), die zu der "Denkungsart roher Völker" paßten und in den "finstern Jahrhunderten des Mittelalters" (198) sogar von der christlichen Kirche beinahe allgemein benutzt wurden. 4) Die höchste Form der Mysterien war esoterisch. Dabei handelte es sich um die Mysterien, "deren Priester zugleich Philosophen sind". "Sie bestanden weder aus heiligen Gaukeleyen, und Possenspielen [siehe 2], noch aus theatralischen Vorstellungen von Göttergeschichten [siehe 3]; sondern ihr Inhalt war eine Sammlung von Kentnissen, und Raisonnements, die der öffentlichen Volksreligion entgegen gesetzt waren" (205 f.). Im Teil II kommen die Eleusinischen Mysterien zur Sprache. Wie Starck unterscheidet auch Meiners zwischen kleinen und großen Mysterien. Es war Ziel der kleinen Mysterien, durch sinnliche Bilder das einfache Volk von Strafe und Belohnung im Jenseits zu überzeugen. In den großen Mysterien "sah man nicht blos, sondern man wurde unterrichtet" (292). Man "entgötterte" (295) die Volksgötter und lernte den einen Gott (wahrscheinlich aus der Natur und seinen Werken), sowie die wahre Art der Geister und Dämonen und die Glückseligkeit als wahre Bestimmung der menschlichen Seele kennen. Ob auch die Tugend gelehrt wurde, "ist ungewiß" (307). G.S. Steinbart Ein allerdings sehr geschmackloses Aufklärungswerk ist das System der reinen Philosophie oder Glückseligkeitslehre des Christenthums (1778) von G.S. Steinbart33. Hauptthema ist die 'Glückseligkeit'; sie ist "der Zustand einer fortdaurenden Zufriedenheit und des herrschenden Vergnügtseyns unsres Gemüths" (10). Zufriedenheit ist das Bewußtsein, daß unsere Vollkommenheit unsere Unvollkommenheit übertrifft, und Vergnügen ist ein klares und lebendiges Bewußtsein des Wachsens unserer Vollkommenheiten. Die Glückseligkeit gründet sich auf unsere Moralität, die das Übergewicht unserer Vollkommenheit verstärken muß.

Wir zitieren: Steinbart, G.S., System der reinen Philosophie oder Glückseligkeitslehre des Christenthums, für die Bedürfnisse seiner aufgeklärten Landesleute und andrer die nach Weisheit fragen eingerichtet, Zweite sehr vermehrte Auflage, Ziillichau 1780. Vgl. zu Steinbart: Aner, K., Die Theologie der Lessingzeit, Halle an der Saale 1929, 85 f.

6.3 'Konxompax': Offenbarung als Kontingentes Geheimnis

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Das fünfte und längste Kapitel behandelt die "willkührlichen Hypothesen, welche den Einfluß des Christenthums auf die Glückseligkeit verhindern" (94). Bei diesen 'willkührlichen Hypothesen' denkt Steinbart vor allem an die Theologie Augustinus' und Anselms54. Das 'afrikanische System' des Augustinus enthält laut Steinbart die folgenden, von ihm bekämpften Lehrsätze: 1) Die Erbsünde. 2) Der Mensch ist unfähig zu irgendwelchem Gutem und hat keinen freien Willen. 3) Alles Gute wird bewirkt von Gott; der Mensch ist dabei ganz passiv. 4) Die doppelte Prädestination und die unwiderstehliche Gnade. Steinbart ergreift für Pelagius und Arminius Partei und ist nicht mit Luther einverstanden. An einer späteren Stelle muß auch Anselm es entgelten: "So ist es fast unbegreiflich, wie unter den Theologen die ganz wiederchristliche Theorie von einer 'satisfactione vicaria' oder vertretenden Genungthuung Christi habe aufkommen können, als ob Gott durch Christum sich selbst erst habe besänftigen müssen." (142). Dies ist "ein sehr später Auswuchs der Augustinischen privat Meinungen. Erst gegen das Ende des elften Jahrhunderts brachte Anselmus, Bischof von Canterbury, ein eifriger Anhänger Augustins, diese Hypothese auf, und gründete solche nicht auf Schriftstellen; denn dergleichen finden sich nirgends; sondern auf einen Beweis 'a priori'." (142). Christus, der wahre Lehrer, hat uns der "gütigen nachsichtvollen väterlichen Gesinnungen Gottes" (144) versichert, und hat uns so "von aller Furcht einiges Zorns oder vorbestehender willkührlichen Strafen Gottes erlöset" (160).

Im letzten Kapitel stellt Steinbart sein "System der Glückseligkeitslehre des Christenthums" dar (207), worin er zwischen der 'Lehre', die aus der Natur und Vorsehung abgelesen werden kann, und der "Einkleidung der Glückseligkeitslehre in Geschichte" unterscheidet (232). Der Inhalt dieser 'Lehre' ist Gott, Tugend und Unsterblichkeit; das sind die "Hauptwahrheiten der Lehre Jesu" (210), die zusammen das "System über die Philosophie des Christenthums" (210) ausmachen. Dieses 'System' muß dem gemeinen Volk, das noch sinnlich denkt, durch Geschichten dargestellt werden. In der Vorrede und Einleitung betont Steinbart, daß der ganze Inhalt des Buches auf der einen Regel 'Sola Scriptura' beruht!

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Op.cit., 95: "so will ich erst zeigen, wie wenig Augustin die geringste Autorität in der Kirche zu haben verdienet". Aner, op.cit., 162: "Augustin war im Zeitalter der Neologie der meistgehaßte Mann." Vgl. zu Augustinus: Aner, op.cit., 228, 275, 299, 329, 332 Fußnote 2, 335 Fußnote 3.

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Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten'

G.E. Lessing Das wichtigste Lessingzitat in Konxompax ist die berühmte These aus der Schrift Über den Beweis des Geistes und der Kraft: "zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von nothwendigen Vernunftswahrheiten nie werden."55 In diesem Satz kommt tatsächlich das Wesentliche von Lessings Position zum Ausdruck. Es besteht "der garstige breite Graben"56 zwischen historischen Wahrheiten einerseits und allgemeinen metaphysischen und sittlichen Wahrheiten anderseits. Dieser Unterschied entspricht ungefähr dem zwischen kontingenten und notwendigen Wahrheiten, allerdings nicht ganz, denn es gibt unter den kontingenten Tatsachen eine Kategorie, die wohl beweiskräftig ist, und zwar die Tatsachen, die man selbst unmittelbar in der Gegenwart wahrnimmt57. Immer wieder geht Lessing vom Unterschied zwischen historischen und notwendigen Wahrheiten aus. Das Wesen des christlichen Glaubens ist eine ewige Lehre, eine Gesamtheit notwendiger Wahrheiten, und das bedeutet, daß die Wahrheit des Christentums durch historische (Un)Wahrheiten weder bewiesen noch widerlegt werden kann. In den von Lessing veröffentlichten 'Fragmenten' vertritt der Deist H.S. Reimarus eine radikale Form der natürlichen Theologie und greift das christliche Offenbarungsverständnis wiederholt scharf an. Er weist nach, daß die Schrift voller Widersprüche ist und daß Wunder, wie der Durchzug durch das Rote Meer und die Auferstehung, unmöglich stattgefunden haben können. Obwohl Lessing viel Verständnis für Reimarus zeigt, kann er dessen deistischen Standpunkt nicht teilen, denn wenn historische Fakten kein Fundament des Christentums sein können, ist das Bestreiten dieser Fakten nicht relevant. "Kurz: der Buchstabe ist nicht der Geist; und die Bibel ist nicht die Religion. Auch war die Religion ehe eine Bibel war. Das

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Über den Beweis des Geistes und der Kraft, An den Herrn Director Schumann, zu Hannover, in: Lessing, G.E., Sämtliche Schriften, Herausgegeben von K. Lachmann, Dritte, auf's neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch F. Muncker, 23 Bde, Berlin/Leipzig 1886-1924, Bd. XIII, Leipzig 1897, (1-8), 5. Über den Beweis, Bd. XIII, 7. Op.cit., Bd. XIII, 3: "Ein andres sind Wunder, die ich mit meinen Augen sehe, und selbst zu prüfen Gelegenheit habe: ein andres sind Wunder, von denen ich nur historisch weiß, daß sie andre wollen gesehn und geprüft haben." Hierbei knüpft Kierkegaard später an und behauptet, daß wir nur durch den Sprung des Glaubens mit Christus gleichzeitig werden können. Vgl. Kierkegaard, S., Philosophische Brosamen und Unwissenschaftliche Nachschrift, Herausgegeben von H. Diem und W. Rest, München 1976 (DTV), 228 (= Unw. Nachschr.): "Die Brosamen suchten dagegen zu zeigen, daß die Gleichzeitigkeit gar nichts hilft, weil es in alle Ewigkeit keinen direkten Übergang gibt, was ja auch eine grenzenlose Ungerechtigkeit gegen alle Späteren gewesen wäre".

6.3 'Konxompax': Offenbarung als Kontingentes Geheimnis

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Christenthum war, ehe Evangelisten und Apostel geschrieben hatten. Die Religion ist nicht wahr, weil die Evangelisten und Apostel sie lehrten: sondern sie lehrten sie, weil sie wahr ist."58 Die religiösen Grundwahrheiten und nicht die Schrift oder die apostolische Sukzession sind das Fundament des Christentums59. Dasselbe gilt für die Wunder Jesu und der Jünger. Sie haben für uns keine Beweiskraft mehr*0. Wunder waren in jener Zeit noch nötig, jetzt müssen wir aufgrund der Lehren Jesu selbst glauben61. Die Unterscheidung zwischen notwendigem Gehalt und historischer Gestalt wendet Lessing in Ernst und Falck auch auf die Freimaurerei an62: "Die Freymäurerei ist nichts willkührliches, nichts entbehrliches: sondern etwas notwendiges, das in dem Wesen des Menschen und der bürgerlichen Gesellschaft gegründet ist. Die Freymäurerei war immer."63 Welche Rolle spielen dann allerdings noch die historischen Ereignisse im Plan der göttlichen Vorsehung? Hat die Geschichte gar keine Bedeutung? In Bezug auf das Alte Testament gibt Lessing seine Antwort im ersten Band der Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts, die 1777 als Teil seines Kommentars zu den 'Fragmenten' von Reimarus erscheint. Dort legt er dar, daß die historischen Gestalten der Offenbarung und Schrift Formen göttlicher Pädagogik und Akkommodation seien. Gott paßt sich darin den begrenzten und sinnlichen Fähigkeiten "des ungeschliffensten, des -verwildertsten"64 Volkes an. Allerdings: "die Offenbarung [giebt] dem Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch

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'Ein Mehreres aus den Papieren des Ungenannten, die Offenbarung betreffend; Gegensätze des Herausgebers', in: Sämtliche Schriften, Bd. XII, Leipzig 1897, (428450), 428 f. Gotth. Ephr. Lessings nöthige Antwort auf eine sehr unnöthige Frage des Herrn Hauptpastor Goeze, in Hamburg, in: Sämtliche Werke, Bd. XIII (329-336), 333: "§. 6. Diese Regula Fidei also ist der Fels, auf welchen die Kirche Christi erbauet worden, und nicht die Schrift. § . 7 . Diese Regula Fidei ist der Fels, auf welchen die Kirche Christi erbauet worden, und nicht Petrus und dessen Nachfolger." Eine Duplik, in: Sämtliche Werke, Bd. XIII, (21-90), 31: "Die Wunder, die Christus und seine Jünger thaten, waren das Gerüste, und nicht der Bau. Das Gerüste wird abgerissen, sobald der Bau vollendet ist" Vgl. Über den Beweis, Bd. ΧΙΠ, 8. Lessing war in die drei traditionellen Freimaurergrade eingeweiht. Seine Unzufriedenheit über die Einführung höherer Grade und strikter Observanz ist in den Gesprächen IV und V von Ernst und Falck spürbar. Ernst und Falck, Gespräche für Freymäurer, in: Sämtliche Werke, Bd. XIII, (341368; 387-411), 344 f.; vgl. auch: Bd. XIII, 399. Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: Sämtliche Werke, Bd. XIII, (413-436), 417.

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Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten*

kommen würde: sondern sie gab und giebt ihm die wichtigsten dieser Dinge nur früher."65 Ein wichtiger Unterschied zwischen Lessing und anderen rationalistischen Theologen und Philosophen ist der, daß er die Fähigkeit der Vernunft, die ewigen Wahrheiten selbst deduktiv abzuleiten, viel skeptischer beurteilt. Er treibt gerne seinen Spott mit Theologen, die die Vernunftwahrheiten des Glaubens allzu leicht aus ihren rationalistischen Fingern zu saugen vermögen. Aus großer Achtung vor dem Wesen des christlichen Glaubens sucht Lessing nach Wegen, die die Evidenz seiner Wahrheit überzeugend in der konkret-historischen Existenz aufweisen, ohne daß sie durch die Relativität dieser Existenz beeinträchtigt wird66. Darum legt er den Nachdruck viel mehr auf die Erfahrung der Evidenz der ewigen Wahrheiten durch einen 'Beweis des Geistes und der Kraft', durch Offenbarung (vgl. Die Erziehung), durch die sittliche Wirkung der Wahrheit (vgl. Nathan der Weisef. In Lessings Werk besteht eine Spannung zwischen Rationalismus und existentieller Erfahrung68, was zu mehr rationalistischen Interpretationen einerseits und zu mehr existentialistischen Interpretationen anderseits geführt hat69.

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Die Erziehung des Menschengeschlechts, Bd. XIII, 416. Dabei scheint Lessing nicht genau genug zu unterscheiden zwischen notwendigen Wahrheiten, die unabhängig von Erfahrungswerten bewiesen werden können, so daß der 'breite garstige Graben' dann auch kein Problem ist, und kontingenten Wahrheiten, deren Evidenz im empirischen Bereich liegt. Von Lüpke, op.cit., 347: "Es geht Lessing und Hamann nicht so sehr um die Offenbarung als Gegenstand des historischen BewuBtseins, sondern vielmehr um die 'Wirklichkeit der Offenbarung', als einer gegenwärtig an der Vernunft geschehenden Offenbarung." Dazu muß allerdings bemerkt werden, daß bei Hamann diese 'gegenwärtig geschehende Offenbarung' innerhalb des historisch-hermeneutischen Horizonts der Schrift und Überlieferung geschieht, während dieser Horizont von Lessing gerade als 'garstiger Graben' problematisiert wird. Vgl. auch: Stoker, op.cit., 127-132 ('§ 5 Lessings Rationalisme: de met de geschiedenis 'vermittelte' rede'). In der Schrift Die Erziehung tritt die Spannung u.a. im Gegensatz zwischen § 4 und § 77 zutage; in § 4 sagt Lessing, der Verstand hätte die geoffenbarten Wahrheiten auch selbst entdecken können; in § 77 geht es um Begriffe, auf die der menschliche Verstand von sich aus nie gekommen wäre. Vgl. Beck, L.W., Early German Philosophy, Kant and his predecessors, Cambridge (Massachusetts) 1969,341 und 349; Copleston, F., A history of philosophy, Bd. 6, Teil I, The French Enlightenment to Kant, New York 1964, 148 f. Karl Barth gibt eine existentialistische Lessinginterpretation in: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert (1946, I9603), Hamburg 1975, 195-221 (vgl. vor allem 212). Die Verbindung zu Kierkegaard wird auch von H. Thielicke hergestellt in: Thielicke, H., Offenbarung, Vernunft und Existenz, Studien zur Religionsphilosophie Lessings, Gütersloh 1957, 167 f., und: Lessing, G.E., Die Erziehung des Menschengeschlechts und andere Schriften, Mit einem Nachwort von H. Thielicke, Stuttgart 1985 (Reclam), 88 ff.

6.3 'Konxompax': Offenbarung als Kontingentes Geheimnis

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Das gemeinsame Grundmuster Ziemlich ausführlich wurde oben auf die von Hamann aufgegriffenen Schriften Starcks, Meiners, Steinbarts und Lessings eingegangen, um ganz deutlich zu machen, mit welchem aufgeklärten geistigen Klima Hamann sich auseinanderzusetzen hatte. Von diesen Vieren hat Hamann, wie gesagt, nur vor Lessing als einem "Mann, der selbst gedacht [hatte], und dem es ein Ernst gewesen [war] eine neue Bahn zu brechen" (ZH V 403:13-) Achtung. Doch obwohl er Lessing in seiner Unzufriedenheit über die stümperhaften Kompromisse vieler Theologen zustimmt, besteht für ihn in den folgenden wesendichen Punkten doch kein Unterschied zwischen Lessing und den Aufklärungsdenkern von geringerem Format70: 1) Das Wesen des Christentums besteht aus einem deistischen Kern einiger ewiger und vernünftiger Wahrheiten über Gott, Tugend und Unsterblichkeit. 2) Diese deistischen Grundwahrheiten sind (zum Teil) auch in einigen nichtchristlichen Religionen vorhanden. 3) Sinnliche und bildhafte Vorstellungen sind eine niedrige Form der (Gottes)Erkenntnis. 4) Anthropomorphes Reden über Gott muß abgelehnt werden. 5) Wahre Gotteserkenntnis ist vernünftig und geistig. 6) Die Heilsgeschichte und die Berichte darüber sind eine pädagogische 'Einkleidung' der religiösen und vernünftigen Grundwahrheiten zum Nutzen derer, die noch nicht so aufgeklärt sind. 7) Es ist grundsätzlich möglich, daß der Mensch ohne Zutun einer besonderen Offenbarung mit seiner Vernunft die theologischen Grundwahrheiten selbst entdeckt.

6.3.3 Titelblatt Konxompax handelt von Mysterien, und das Titelblatt ist ganz im entsprechenden Stil abgefaßt. Der geheimnisvolle Begriff 'Konxompax' ist zusammengesetzt aus 'konx' und 'ompax', zwei Ausdrücken, die Hamann

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Wir können uns der Interpretation W. Oelmtlllers nicht anschließen, der den Abstand Lessings zu Starck und Meiners übertreibt und meint, Hamann habe in Lessing zu sehr einen Gegner gesehen. Vgl. Oelmüller, W., Lessing und Hamann, Prolegomena zu einem künftigen Gespräch, in: Collegium Philosophicum, Studien Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, Basel/Stuttgart 1965,272-302, und in: Wild, R., (Hrsg), Johann Georg Hamann, 340-371.

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Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten'

bei Starck und Meiners fand. Laut Starck waren es "Losungswörter von welchen es aber ungewiß ist, ob sie beym Eintritt oder beym Ausgange aus dem Tempel gegeben wurden."71 Nach Meiners Auffassung wurden mit diesen Worten die Eingeweihten voller Hoffnung, vollkommen, frei und befreit von aller Schuld, weggesandt72. Hamann hat 'Konxompax' sicher mit dem 'ite, missa est' der Messe assoziiert73. Er konnte also in dieser einen geheimnisvollen Wortzusammensetzung den Mysterien von Meiners und Starck das echte Mysterium der Eucharistie gegenüberstellen74. Der Untertitel von Konxompax lautet: 'Fragmente einer apokryphischen Sibylle über apokalyptische Mysterien'. 'Fragmente': Konxompax bekämpft die 'Fragmente' von Reimarus. 'Apokryphisch' bezieht sich auf die heiligen Schriften der Mysterienreligionen, deren Verlust Starck bedauerte. Hamann macht diesen Verlust mit seinen apokryphen Fragmenten wett75. Die Sibylle ist die gleiche wie im Versuch einer Sibylle über die Ehe; nach den 'Mysterien des Hymens' schreibt sie nun über die 'Mysterien der Alten'76. Die 'apokalyptischen Mysterien' sind die Geheimnisse des himmlischen Königreiches. Später zitiert Hamann Römer 16:25: 'kata apokalypsin mysteriou' (Ν III 223:21-; "durch welche das Geheimnis geoffenbaret ist").

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Apologie (1778), 180. Meiners, op.cit., 282. Starck und Meiners gründeten sich auf das Lexikon von Hesychius. Inzwischen besteht die Vermutung, daß diese Worte nichts mit den Mysterien zu tun haben und daß Hesychius 'Konx hom[oioos] pax' gemeint hat. 'Pax' bedeutet so etwas wie: 'basta!', 'genug!', und das wäre also auch die Bedeutung von 'konx'. Vgl. HH 5,189; A Greek-English Lexicon, zusammengestellt von H.G. Liddell und R. Scott, Eine Neuauflage von H. Stuart Jones, Oxford 1966, s.v. 'pax'. Vgl. ZH IV 96:17. Nach der Veröffentlichung von Konxompax hat Hamann sich noch sehr bemüht, die genaue Bedeutung von 'konx' und 'ompax' zu entdecken. Auf den gleichen Gegensatz deutet er mit dem ersten Motto aus Sprüche 9 hin. Dort lädt 'ein töricht wild Weib' ein, von ihrem Brot zu essen und von ihrem Wein zu trinken: " zum Narren spricht sie: 'Die verstohlenen Wasser sind süße, und das verborgene Brodt ist niedlich.' Er weiß aber nicht, daß daselbst Todte sind und ihre Gäste in der tiefen Hölle." (Sprüche 9: 16-18). Bei 'apokryph' denkt Hamann vielleicht auch an den SchluB der Schrift Über den Beweis des Geistes und der Kraft, XIII, 8, wo Lessing ein apokryphes Testament des Evangelisten Johannes ankündigt. ZW III 188:10-: " so möcht ich die Mysterien des Hymens zum Mittelbegriff brauchen überhaupt die Mysterien der Alten zu erläutern." Vgl. ZH III 184:34-,

6.3 'Konxompax': Offenbarung als Kontingentes Geheimnis

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6.3.4 Der Fluch der Kontingenz Die Wirklichkeitsflucht des Deismus und der Theosophie Hamann beginnt Konxompax mit einem satirischen Angriff auf Starck, Meiners und all ihre aufgeklärten Geistesverwandten, die meinen, daß in den antiken Mysterien "das heilige Feuer einer natürlichen seelichmachenden Religion" (ΝΙΠ 217:2-) verborgen sei und daß sie dieses Feuer nun wiedergefunden hätten. Danach bestreitet er die wissenschaftlichen Ansprüche Starcks. So beweist er anhand eines Eusebiuszitats, daß Klemens von Alexandrien nicht vom Hörensagen, sondern aufgrund eigener Erfahrungen über die heidnischen Mysterien geurteilt habe. Nach diesem ersten Geplänkel kommt Hamann zur Sache: " denkende Philologen und gelehrte Weltweise haben am Ende entweder ein reines Nichts oder ein zweydeutiges Etwas gefunden, das wie gut und böse entgegengesezt - Diese höchsten allgemeinsten Gattungsideen (Nichts und Etwas, gut und böse) sind bekanntermaaßen die ersten Gründe (Initio) und lezten Resultate ('teletai'77) aller theoretischen und practischen Erkenntnis. Aus ihrer Zusammensetzung und Anwendung durch's Anschauen71 des Einen in dem Vielen entsteht das außer- und übersinnliche oder transcendentale Licht der Vernunft" (Ν III 218:4-).

Zur Erläuterung dieser Stelle müssen wir bei den vier Begriffen 'Nichts, Etwas, gut und böse' ansetzen. Hamann entnimmt sie zwei Strömungen, der Philosophie und der Theosophie, die auch weiterhin in Konxompax miteinander verbunden werden. Die Begriffe 'Nichts' und 'Etwas' kamen bereits anläßlich der Hierophantischen Briefe zur Sprache, wo sie sich auf die abstrahierende Trennung von Tatsache und Bedeutung, Buchstabe und Geist beziehen. Hier in Konxompax wendet Hamann sich mit diesen Begriffen gegen dieselbe Denkweise, behandelt sie nun allerdings als die letzten allgemeinen und seines Erachtens inzwischen nichtssagenden Begriffe, mit denen Gott und Wirklichkeit im Deismus bezeichnet werden. 1764 hatte Hamann bereits einmal eine empörte Rezension eines deistischen Werkes geschrieben, in dem Gott und Schöpfung beide als ein 'Etwas' (ein 'quelque chose') bezeichnet werden: J.B. Robinet,

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'Initia' und 'teletai' sind Begriffe aus den Einweihungsriten der antiken Mysterienreligionen. Die intellektuelle Anschauung und die 'epopsia' der großen Mysterien.

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Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten'

De la nature, Bd. IF9. Den Tenor von Robinets Buch faßt Hamann folgendermaßen zusammen: "Wir können den Geist unsers Schriftstellers [Robinet] nicht kürzer und aufrichtiger als mit seiner eigenen Schlußfolge mittheilen. Quelque chose a έίέ faite; done quelque autre chose η'a pas έίέ faite, done celle-ci a fait I'autre. C' est ά quoi on devroit riduire la Theologie naturelle. "Etwas ist gemacht: folglich ist ein Etwas, das nicht gemacht ist; folglich hat dieses Etwas jenes Etwas gemacht." Auf ein quelque chose beruht der ganze Nachdruck dieser neuen Gottesgelehrtheit, und die Erklärung des Schöpfers auf ein Etwas, das, ohne selbst gemacht zu seyn, Etwas gemacht hat. In diesem erhabenen Begriffe eines Etwas findet Herr Robinet theils Bewegungsgründe der tieffsten Anbetung, theils den verdienstlichen Beruf zu einer sehr metaphysischen Bilderstürmerey" (Ν IV 271:9-). Robinet hat für Gott keine andere Bezeichnung als 'Etwas', weil er jegliches anthropomorphe Reden über Gott rigoros ablehnt. Hamann hält dies für eine Entweihung der menschlichen Sprache, die von Gott selbst das sakramentale Vermögen, ihn zur Sprache zu bringen, empfangen habe. Robinets zurückhaltendes Reden über Gott wecke den Anschein frommer Bescheidenheit, sei jedoch in Wirklichkeit eine Verleugnung des Namens Christi, die offensichtlich die Voraussetzung sei, um in der Aufklärungszeit als 'Philosoph' bezeichnet werden zu können. Mit dem Namen 'Philosoph' geschmückt, werde es "den boshaftesten und unvernünftigsten Schriftstellern immer leichter, durch ein eitles Nichts das Publicum zu bezaubern" (Ν IV 272:4-).

Hamanns Rezension Robinets bringt gut zum Ausdruck, warum er die natürliche Theologie der rationalistischen Philosophen so heftig bekämpft: mit ihrer autonomen Vernunft sehen sie von der konkreten, sinnlichen (Offenbarungs)Wirklichkeit ab, wodurch Gott auf ein inhaltsloses 'Etwas', das einem 'Nichts' entspricht, reduziert wird. Und da jegliches analoge und anthropomorphe Reden über Gott abgelehnt wird, reduzieren sie außerdem auch die konkrete Wirklichkeit auf ein nichtssagendes 'Etwas'. Sie wird ihres Offenbarungscharakters beraubt, und die menschliche Sprache wird mundtot gemacht. Als 'transzendentales Licht' übersteigt die Vernunft die konkrete Wirklichkeit, wodurch sie sich zugleich von der göttlichen Offenbarung löst. Die aufgeklärte Vernunft reflektiert nicht über den Glauben, sondern reflektiert sich aus dem Glauben heraus.

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Besprechung in den Königsbergschen gelehrten und politischen Zeitungen; vgl. Ν IV 271 f.

6.3 'Konxompax': Offenbarung als Kontingentes Geheimnis

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Zu unserer Überraschung zeigt sich, daß das Werk des Theosophen Jacob Böhme die zweite Quelle ist, der Hamann die Begriffe 'Nichts' und 'Etwas' entnimmt. Im Mysterium Magnumseiner Genesisauslegung, nennt Böhme Gott 'ein ewig Nichts', denn er könne nicht mit 'Etwas' aus der geschaffenen Wirklichkeit verglichen werden81. Das 'Nichts' will sich allerdings selbst erkennen und anschauen und schafft darum ein 'Etwas'82. So entsteht die Geschichte von Schöpfung, Sündenfall und Erlösung, die auf die dialektischspiegelnde Dynamik zwischen 'Nichts' und 'Etwas' zurückgeht. Das 'Etwas' umfaßt das Prinzip des Guten und Bösen, die beide von Gott herrühren83. Darum spricht Hamann über "ein zweydeutiges Etwas , das wie gut und böse entgegengesetzt [ist]". Die grundlegende Übereinstimmung mit den deistischen Theologen der Aufklärung ist nach Hamanns Ansicht die, daß auch Theosophen wie Böhme und dessen Schüler J.G. Gichtel84 mit ihrer Mystik der konkreten sinnlichen Wirklichkeit zu entfliehen versuchen. Wie die Vertreter der natürlichen Theologie halten sie das analogische und anthropomorphe Reden über Gott für illegitim. Ihre starke Ablehnung der Sinnlichkeit zeigt sich vor allem in der sehr negativen Wertung der Sexualität und Leiblichkeit. Sexualität und Verdauung sind nach Ansicht Böhmes Folgen des Sündenfalls, von dem wir durch die Vereinigung mit der Sophia wieder erlöst werden85. In der hier erläuterten Stelle werden natürliche Theologie und Theosophie noch sehr verdeckt auf einen Nenner gebracht. Später in Konxompax geschieht das explizit, worauf später noch eingegangen werden soll. Der zweite Teil des Zitates aus Konxompax (ab "Aus ihrer Zusammensetzung ") ist großenteils ein Cento aus J.A. Eberhards Werk, Von dem Begriffe der Philosophie und ihren Teilen (1778). Eberhard definiert darin 80

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Es handelt also auch von einem 'Mysterium*. Hamann beschäftigte sich 1776 mit Böhme. Daß er sich mit dem Mysterium Magnum befaßte, ergibt sich aus Notizen in seinen 'Studienheften'. Vgl. Ν V 324 ff. Vgl. Böhme, J., Mysterium Magnum, oder Erklärung über Das erste Buch Mosis (1623), in: Sämtliche Schriften, Faksimile-Neudruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden, Neu herausgegeben von W.-E. Peuckert, Stuttgart 1956-'61, (Bd. VII, 1450, Bd. VIII, 451-896), 5. Vgl. Böhme, op.cit., u.a. 6 und 12. Böhmes Undeutlichkeit in der Frage, ob das Böse nur als Möglichkeit oder auch als Wirklichkeit aus Gott hervorgeht, ist ein Grundproblem seiner Theosophie. Hamann las Gichteis Theosophische Sendschreiben (1700) im November 1778. Vgl. Ν V 344, ZH IV 51:3. Gichtel sagt, daß wir seit Adams Fall uns "wie das Vieh nehren und mehren"; Gichtel, J.G., Erbauliche theosophische Send-Schreiben eines in Gott getreuen Mitgliedes an der Gemeinschaft Jesu Christi unseres Herrn, Ehemals an seine vertraute Freunde geschrieben, Und nun zum gemeinen Nutz in Druck gegeben von Einem Unparteyischen, 2 Theile (1 Bd.) Heliopolis 1700, 53.

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Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten'

die Philosophie als eine axiomatische Wissenschaft, die die Beziehungen zwischen 'übersinnlichen und außersinnlichen Ideen', die auch Transscendentale' genannt werden, untersucht845. Hamanns Grundthese gegen die Lessings Im folgenden Abschnitt wendet Hamann sich (Lessing zitierend) gegen die rationalistische Verachtung der kontingenten und empirischen Heilsfakten: ""Die heilige Vernunft! die ihnen [den Philosophen] die Stelle einer Offenbarung vertritt und vor Vernunftschlüßen, sie mögen noch so fein, sie mögen noch so weit hergeholt seyn" "das Knie mit Ehrfurcht zu beugen" befiehlt17 - Aber ihre Leichnam [e] liegen auf den Gassen der großen Stadt, die da heißt geistlich die Sodoma und Egypten**, da unser HERR gekreuzigt und noch nicht auferstanden ist, weil keine "zufällige Geschichtswahrheit, kein physisches Factum noch politisches Phänomenen" "jemals ein Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten werden kann" - für gründliche und bündige Biederrichter90, die sich mit einem: Hoc est Corpus meum! oder Geheimniße sub utraque specie nicht abspeisen lassen" (N III 218:20-)· Die rationalistischen Philosophen sind selbst nichts mehr als eine Leiche, wenn sie die Tatsache leugnen, daß der Herr wahrlich auferstanden ist. Der Theologe J.S. Semler hatte einem Minister geschrieben, "daß er das physische factum der Auferstehung dahin gestellt seyn ließe"91, und Reimarus trachtete, den Auferstehungsbericht als Betrug der Jünger zu entlarven. Mit Lessing halten die Aufklärungsphilosophen die Heilstatsachen für "zufällige Geschichtswahrheiten", die nie die Grundlage eines seligmachenden Glaubens bilden können. Es ist verständlich, daß sie sich genauso wenig mit dem sinnlichen 'Mysterium' der Eucharistie 'abspeisen' lassen.

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Vgl. zu den betreffende^ Stellen aus Eberhard: Manegold, op.cit., XLIV. Vgl.: Mendelssohn, M., Über die Empfindungen, in: Gesammelte Schriften, Jubiläumausgabe, Bd. 1, Schriften zur Philosophie und Ästhetik /, Bearbeitet von F. Bamberger, Faksimile-Neudruck der Ausgabe Berlin 1929, Stuttgart/Bad Cannstatt 1971, (41123), 106: "Die dreymahl heilige Vernunft! die ihnen [den Philosophen] die Stelle einer Offenbahrung vertritt. Sie müssen vor allen Vernunftschlüßen, sie mögen noch so fein sein, sie mögen noch so weit hergeholt seyn, ihr Knie mit Ehrfurcht beugen." Vgl. Offenbarung 11:8. Vgl. Lessing (in seinem Kommentar zu Reimarus' Leugnung der Auferstehung): "Der grosse Proceß, welcher von der glaubwürdigen Aussage dieser Zeugen [der Auferstehung] abhing, ist gewonnen. Das Christenthum hat über die heydnische und Jüdische Religion gesiegt. Es ist da." 'Ein Mehreres aus den Papieren des Ungenannten, die Offenbarung betreffend', Bd. XII, 448. In Eine Duplik, Bd. XIII, 23, nennt Lessing Reimarus 'einen gründlichen und bündigen Mann'. ZH IV 54:24-; vgl. ZH IV 70:5-.

6.3 'Konxompax': Offenbarung als Kontingentes Geheimnis

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Gegenüber dieser rationalistischen Skepsis vertritt Hamann die Grundthese seines Konxompax: "daß außer- und übersinnliche Geheimniße, gleich dem ganzen Universo unter der Sonne, ein blendendes Nichts, ein eitles Etwas, kurz dem philosophischen Fluch und Widerspruch der Contingenz unterworfen sind und bleiben werden - bis auf den Tag des jüngsten Compilators und Schmelzers - in der Kraft EliäΓ (Ν III 219:11-).

Das bedeutet einfacher gesagt: Jeder Versuch der aufgeklärten Vernunft oder der theosophisehen Mystik, der sinnlichen und kontingenten Wirklichkeit zu entrinnen, ist zum Scheitern verurteilt. In diesem Leben sind wir auf sinnliche (Heils)Tatsachen angewiesen. Das 'Außer'- oder 'Übersinnliche' ist uns nicht zugänglich, denn das Geistige und Göttliche ist uns nicht anders gegeben als in der Form eines Schatzes in irdenen Gefäßen. Es gibt keinen Geist ohne irdische Gestalt, ohne 'Buchstaben'. Die Kontingenz der (Offenbarungs)Wirklichkeit ist ein Segen, sie entspringt Gottes freier und gnädiger Kondeszendenz in unsere Wirklichkeit. Lessing und Seinesgleichen verstehen sie jedoch als einen Fluch, wodurch sie sich selbst verfluchen, denn wer von der kontingenten Wirklichkeit absehen will oder darin nur ewige Wahrheiten sucht, versagt sich die Teilnahme an ihrem sakramentalen Geheimnis. Lessing hatte geschrieben: " der Buchstabe ist nicht Geist; und die Bibel ist nicht die Religion. Auch war die Religion ehe eine Bibel war". Sicher, so reagiert Hamann, Fleisch und Buchstabe ohne Geist sind nutzlos, aber "soll eine scheinheilige Philosophie und hypokritische Philologie das Fleisch kreutzigen und das Buch ausrotten, weil Buchstabe und historischer Glaube desselben weder Siegel noch Schlüssel des Geistes seyn kann?" (Ν III 227:11-). Hamanns 'Beweis' seiner Grundthese Seine Hauptthese will Hamann satirisch beweisen, indem er induktiv und analogisch92 darlegt, wie sehr die von Starck und Meiners bewunderten Mysterien (einschließlich der der Freimaurerei) 'dem Fluch und dem Widerspruch der Kontingenz' unterworfen sind. Dieser 'Beweis' besteht aus drei Schritten, von denen wir nur auf den dritten eingehen, weil Hamann darin ein neues und wichtiges Thema anschneidet.

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Durch "Induction und Analogie" (N III 219:20). Hamann weiß, daß er damit laut Eberhard keinen strengen Beweis liefert: "Der strenge Beweis eines vollkommen allgemeinen Satzes kann weder aus Induktion noch aus der Analogie - kann bloß aus Begriffen geführt werden." Eberhard, op.cit., zit. bei Manegold, op.cit, LIX.

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Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten'

Das dritte Glied in Hamanns Beweis besteht aus der doppelten Analogie zwischen den heidnischen Mysterien und der Theosophie, die Starck und Meiners übersehen haben. Die erste Übereinstimmung ist die, daß bei beiden die geschlechtliche Einswerdung Symbol für die Einswerdung mit Gott ist93. Hamann bezieht sich hier auf Starcks Erläuterung der sexuellen Symbolik in den antiken Mysterien. Laut Starck hatten diese Symbole ausschließlich eine tiefere philosophische Bedeutung; in der Theosophie wird die Einswerdung mit Frau Sophia in sexuellen Bildern beschrieben94. Die zweite Übereinstimmung besteht aus "einer gemeinschaftlichen Ader des Theismus, die man zum Vortheil der heidnischen und Nachtheil der christlichen Mystiker gedeutet, weil man den ewigen mystischen [Theosophie], magischen [antike Mysterien] und logischen [Aufklärungsphilosophie] Circul menschlicher Vergöttung und göttlicher Incarnation nicht gefaßt, worinn doch das ganze Arcanum unsrer neugebacknen Lehrer der Gottesgelehrsamkeit und Vernunftweisheit besteht." (Ν III 224:3-).

Die Aufklärungsdenker halten die Theosophie Böhmes und Gichteis für dunkle 'Schwärmerey'. Nach seiner Bekehrung wurde Hamann selbst bezichtigt, ein Schüler Böhmes und Gichteis zu sein95. Die deistischen Theologen und Philosophen sehen allerdings nicht ein, daß sie selbst ja Böhme und Gichtel sehr ähnlich sind. Denn sie versuchen genau wie in der Theosophie, ins Übersinnliche aufzusteigen, um so selbst die Einswerdung Gottes mit dem Menschen zu vollziehen. Sowohl in der Theosophie als auch im Aufklärungsdenken kommt die Menschwerdung Gottes nicht durch Gottes Kondeszendenz, sondern durch die menschliche Selbsterhöhung zustande, die in beiden Fällen erstrebt wird durch eine Lösung von der kontingenten, endlichen und stofflichen Wirklichkeit.

6.3.5 Selbstvergöttlichung oder Kondeszendenz. Hamanns Supralapsarismus in 'Konxompax' und 'Zweifel und Einfalle über eine vermischte Nachricht' Nach dem 'Beweis' seiner Hauptthese geht Hamann weiter auf den zuvor erläuterten 'ewigen Circul menschlicher Vergöttung und göttlicher Incar-

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Vgl. Apologie (1770) 36 f.; Apologie (1778) 166 ff. Ν III 223:30-: "Daher jene berüchtigte Schaambilder und eben so anstößige Redefiguren vom Limbus, Matrix, der Ehepflege mit der Jungfrau Sophia, z.E. in Gichteis erbaulichen theosofischen Sendschreiben ect." ('Limbus', hier: das männliche Geschlechtsorgan; 'Matrix': die Gebärmutter). Vgl. ZH I 307:6-.

6.3 'Konxompax': Offenbarung als Kontingentes Geheimnis

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nation' ein. Er legt dar, daß die natürliche Theologie der Aufklärung die Sünde der Selbstvergöttlichung nicht nur mit der Theosophie, sondern auch mit dem antiken Heidentum gemein hat. Der heidnische Polytheismus vergöttlichte die Natur, wodurch er Gott tötete und die Natur zu seinem Grab machte. Nach Ansicht Starcks und Meiners' distanzierten sich die Mysterien vom polytheistischen Volksglauben, aber Hamann stellt fest, daß der Mensch in den Mysterien sich selbst vergöttlichte, wodurch sein Leib nicht mehr der Tempel, sondern das Grab Gottes wurde96, und das gilt auch für die Mysterien der Freimaurerei! "Denn diese 'prolöpsis' Gott gleich zu seyn hatte aller philosophischen Erkenntniß und gesetzlichen Gerechtigkeit die Bahn gebrochen."97 (N III 224:20-). Wenn Hamann hier die Ursünde der Selbstvergöttlichung eine 'prolöpsis', eine Vorwegnahme nennt, will er damit zugleich sagen, daß das Streben nach Vergöttlichung teilweise in einem legitimen Verlangen, einer geheimen Verheißung Gottes an den Menschen wurzelt: die Bestimmung des Menschen ist es, mit Christus im Himmel zu thronen, seine 'Teilnahme an der göttlichen Natur'!98 Das Geheimnis dieser Bestimmung war den Juden anvertraut worden, aber auch die Heiden hatten ein gewisses Bewußtsein davon. Sogar Satan wußte etwas davon: "Ihr werdet wie Gott sein". Die satanische Ursünde aller Zeiten ist der Wille, diese hohe Bestimmung vorwegnehmend selbst zu verwirklichen. Das 'Gott gleich Sein' wird Gott getraubt, anstatt auf die Erfüllung der verheißenen Bestimmung durch die Inkarnation Christi zu warten, der Gott gleich zu sein "nicht für einen Raub 96

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Ν III 224:13-: "Durch den Polytheismum also wurde der Tempel der Natur, und durch die Mysterien der Tempel des Leibes zum Grabmal oder Mördergrube des Dings, dessen offenbarter Name das einzige unaussprechliche Geheimniß des Judentums - und dessen anonyme 'prolfepsis' tausend mythologische Namen, Idole und Attribute hervorgebracht, welche aber sämmtlich durch die Einweihung aufgelöset, oder vielmehr in die älteste Schoossünde der Selbstabgötterey concentrirt, zusammenflössen." Fand Hamann den Begriff 'prolfcpsis' zum ersten Mal bei Klemens von Alexandrien, mit dem er sich im Laufe seines 'pathetischen Kurses' beschäftigte? Vgl. das Zitat aus Klemens, Stromateis II, IV, 16,3 in Wiener 8,1,45. Vogel, C. de, Wijsgerige aspecten van het vroeg-christelijk denken, Baarn 1970, 25 f.: "Clemens lehrt außerdem daß man die Existenz Gottes mit Hilfe der Vernunft kennen könne, durch eine 'prolfcpsis' - was man beinahe mit dem Begriff religiöses Apriori wiedergeben könnte -, die allen rechtschaffenen Menschen gemein ist. Sie beruht auf göttlichem Einfluß - wenn man so will, 'allgemeiner Gnade' besonders stark bei Philosophen, die dadurch zur Vorstellung des einen Gottes kommen, der Ursprung und Ziel der Welt ist". Ν III 224:30-: " so legte Jehova den ersten Laut und Strahl des evangelischen Geheimnisses von der Bestimmung des Menschen zum 'sunthronismöi' (einer nicht blos figürlichen, sondern leibhaften Theilnehmung der göttlichen Natur) dem Lügenprediger Lucifer in den Mund". Vgl. 2. Petrus 1:4: " daß ihr durch dasselbige theilhaftig werdet der göttlichen Natur". Der Zusatz in Klammern ist eine Anspielung auf die lutherische Abendmahlslehre.

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Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten'

hielt". Adam tat einen Griff nach der göttlichen Macht. Denselben 'harpagmos'99 begeht die autonome Vernunft, wenn sie die Inkarnation zu den irrelevanten 'zufälligen Geschichtswahrheiten' zählt und "mit ihrer Jakobsleiter nach veijüngtem Maasstabe" den Himmel zu erreichen versucht100. Es besteht also tatsächlich ein 'Circul' menschlicher Vergöttlichung und göttlicher Inkarnation, aber es kommt darauf an, wie und durch wen die Bewegung dieses Zirkels vollzogen wird101. Die pneumatologische und eschatologische Teilhabe des Menschen an der göttlichen Natur ist die verborgene Bestimmung der Schöpfung. Die Sehnsucht nach dieser Bestimmung, die Gott in uns gelegt hat, ist die tiefste Triebfeder all unseres Tun und Lassens. Lediglich auf dem Hintergrund dieser Bestimmung und dieses Sehnens kann verstanden werden, was das Wesen der Sünde ist: der Wille, das Verlangen nach Gott selbst zu erfüllen, die eschatologische Bestimmung selbst zu verwirklichen. Indem Hamann Schöpfung, Inkarnation und Vollendung so supralapsarisch aufeinander bezieht, macht er deutlich, daß jede Form der wirklichen Erfüllung Gabe Christi und jeder eigenmächtige Griff danach Verleugnung seines Namens ist. In konzentrierter Form ist diese Grundstruktur der Theologie Hamanns in einer kleinen Schrift von 1776, Zweifel und Einfälle über eine vermischte Nachricht, formuliert102. Eine kurze Erläuterung dieser zentralen Stelle ist für das Verständnis von Konxompax aufschlußreich. Zunächst der Text:

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Ν III 224:25. Vgl. Phil. 2:6. Ν III 225:24-. Vgl. Ν III 225:3-: "Denn was ist die hochgelobte Vernunft mit ihrer Allgemeinheit, Unfehlbarkeit, Überschwenglichkeit, Gewißheit und Evidenz? Ein Ens rationis, ein Ölgötze, dem ein schreyender Aberglaube der Unvernunft göttliche Attribute andichtet. Das weite und breite, hohe und tiefe Verderben, welches in den Opusculis profligatis [den 'Fragmenten' von Reimarus] der jüngsten Offenbarung so gründlich und bündig aufgedeckt wird, ist der thätlichste Gegenbeweis von der Unvermögenheit und Eitelkeit ihrer Usurpation". Vgl. die folgende wichtige Stelle aus Golgatha und Scheblimini: "Um erstlich das unendliche Misverhältnis [zwischen Gott und Mensch] zu heben und aus dem Wege zu räumen, muß der Mensch entweder einer göttlichen Natur theilhaftig werden, oder auch die Gottheit Fleisch und Blut an sich nehmen. Die Juden haben sich durch ihre göttliche Gesetzgebung, und Ait Naturalisten durch ihre göttliche Vernunft eines Palladiums zur Gleichung bemächtigt: folglich bleibt den Christen und Nikodemen kein anderer Mittelbegriff übrig, als von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüthe zu glauben: Also hat Gott die Welt geliebt ~ Dieser Glaube ist der Sieg, welcher die Welt überwunden hat." (N III 313:2). Siehe zur Erläuterung Punkt 4 von § 6.4.4. Hamann reagiert darin auf Nicolais Erörterung einiger seiner Schriften in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek. Vgl. Büchsei, E., 'Don Quixote im Reifrock, Zur Interpretation der Zweifel und Einfälle über eine vermischte Nachricht der allgemeinen deutschen Bibliothek von J.G. Hamann', in: Euphorion, 60 (1966), 277-293.

6.3 'Konxompax': Offenbarung als Kontingentes Geheimnis

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"Unter allen Offenbarungen hat keine einzige eine so innige, anschauende, fruchtbare Beziehung auf alle unbestimmte Fähigkeiten, unerschöpfliche Begierden, unendliche Bedürfniße und Leidenschaften unserer Natur Ja, kein einziger Plan, als der durch Christum, das Haupt und durch den Leib seiner Gemeinde offenbart worden, erklärt die Geheimniße der höchsten, einzigsten, verborgensten und zur Mittheilung Ihrer selbst aufdringlichsten Majestät, dem ganzen System der Natur103 und menschlicher Geselligkeit analogischer . Das im Herzen und Munde aller Religionen verborgene Senfkorn der Anthropomorphose und Apotheose erscheint hier in der Größe eines Baums des Erkenntnißes und des Lebens mitten im Garten - aller philosophische Widerspruch104 und das ganze historische Rätzel unserer Existenz, die undurchdringliche Nacht ihres Termini a quo und termini ad quem sind durch die Urkunde des Fleisch gewordnen Worts äufgelöseL Wenn es den Speculan ten105 an Geist fehlt, die Grundlehren des Christenthums von der Verklärung der Menschheit in der Gottheit und der Gottheit in der Menschheit durch die Vaterschaft und Sohnschaft zu glauben, so ist es doch höchst unvernünftig, Wahrheiten, die vermöge ihrer Bestimmung dem natürlichen Menschen Thorheit und Ärgemiß seyn sollen, deshalb freventlich zu leugnen oder durchzustreichen" (N III 192:5-).

Diese Stelle enthält in nuce Hamanns ganze Theologie und ist als Schlüssel für ihr Verständnis von großer Bedeutung. Es folgt eine kurze Erläuterung: 1. Die in Christus geoffenbarte Gnade ist die Antwort auf all unsere Sehnsüchte und Bedürfnisse und ihre Erfüllung. Die Korrelation zwischen natürlicher Sehnsucht und gnädiger Erfüllung hat ihr Zentrum in der Fleischwerdung des Sohnes106. 101 104 105 106

Vgl. Systime de la nature von Holbach. Wie die Theodizeefrage. Nicolai bezeichnet Hamann in seiner Rezension als einen der "berühmtesten Spekulanten unserer Zeit". An dieser Stelle muß kurz auf die schwer zu ergründende Hamanninterpretation von G. Baudler in 'Im Worte sehen', Das Sprachdenken Johann Georg Hamanns, Bonn 1970, eingegangen werden. Baudlers Hauptthese ist, daß der Kern der Theologie Hamanns in der 'Urkorrespondenz des Daseins' zwischen der unendlichen menschlichen Sehnsucht und der Antwort der Wirklichkeit als Träger des Wortes Gottes liege. Der endliche und sündige Mensch erfahre, daß diese von Gott begründete Korrelation zwischen Mensch und Wirklichkeit von einer tödlichen Diskrepanz belastet sei; die Wirklichkeit könne das menschliche Verlangen nicht mehr stillen. In der schmerzlichen Erfahrung dieser Diskrepanz entdecke der Mensch Gott als den Grund, der auch diesen Abgrund trägt (vgl. 56) .Obwohl Baudler nicht aus dem Auge verliert, daß die Korrelation zwischen Mensch und Wirklichkeit nur durch Gottes Offenbarung möglich ist, erhält unseres Erachtens die 'Urkorrespondenz des Daseins' einen zu starken eigenen Akzent. So schreibt Baudler in Ablehnung der Interpreten, denen zufolge Hamanns Symbolismus eine Unterbewertung der Wirklichkeit impliziert: "Denn diese Wirklichkeit weist, von ihrer Ambivalenz her gesehen, nicht unmittelbar von sich weg auf Gott, sondern zuerst auf die ihr von Gott zugewiesene aber faktisch von ihr nicht mehr zu leistende Aufgabe: die schmerzende Sehnsucht des Menschen zu stillen. Ihr Zeichencharakter weist also zunächst auf ihre eigene innere Struktur und Zielsetzung

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Kapitel 6 Gegen die natürliche Ideologie der 'ewigen Wahrheiten'

2. Alle Religionen werden von dem grundlegenden Bewußtsein getrieben, daß der Mensch eine göttliche Bestimmung hat. Gott und Mensch werden so zueinander kommen, daß Gott menschlich wird ('Antropomorphose') und der Mensch göttlich ('Apotheose')107. Dieses Senfkorn allen menschlichen Strebens wird mit dem Baum der Erkenntnis und des Lebens im Paradies symbolisiert. Wenn man davon ißt, wird man 'wie Gott'. 3. Die entscheidende Frage ist allerdings, wie diese 'Apotheose' und 'Anthropomorphose' verwirklicht werden. Es gibt zwei Wege. Den ersten empfiehlt Satan: eigenmächtige Selbstvergöttlichung und auf diese Weise 'Erniedrigung' Gottes. Dieser vom Heidentum eingeschlagene Weg läuft sich buchstäblich tot. Der einzige Weg, der Zukunft hat, ist der umgekehrte: nur durch Gottes sich herablassende 'Anthropomorphose' in Christus gelangen wir zu unserer göttlichen Bestimmung ('Apotheose'). Nicht 'Anthropomorphose' durch 'Apotheose', sondern umgekehrt: unsere Vergöttlichung als Frucht der Menschwerdung Christi. Die 'Grundlehre' des Christentums ist: "Verklärung der Menschheit in der Gottheit und der Gottheit in der Menschheit durch die Vaterschaft und Sohnschaft" (Ν III 192:30-). Satan log also nicht, als er suggerierte, wir seien dazu bestimmt, 'wie Gott' zu werden. Gerade darin war seine Verführung so 'satanisch': er knüpfte bei einem berechtigten menschlichen Sehnen und Streben, bei einer von Gott selbst festgesetzten Bestimmung an. Seine große Lüge war allerdings, daß wir diese Bestimmung selbst verwirklichen könnten.

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als geschaffene Wirklichkeit. Erst indem sie durch diesen Verweis auf sich selbst den Abgrund erkennen läßt verweist und führt sie den Menschen zum Hören auf die gottmenschliche Urkorrespondenz des Daseins, in welcher er Gott begegnet. Aber grundsätzlich und vom Anfang her ist Gott nicht das Zentrum dieser Korrespondenz, sondern der Grund, der sie entspringen läßt und der sie trägt Der Mensch kommt nicht zu Gott, indem er von sich und der Welt abstrahiert, sondern indem er sich als Frage und die Welt als sein sollende Antwort dieser Frage nimmt und beides korrespondieren läßt. Erst in der wenngleich von Menschen verschuldeten und tödlichen Diskrepanz dieser Korrespondenz erfährt der Mensch Gott unmittelbar als Gott: als den Grund, der auch noch den 'Abgrund' trägt" (103 f.). Diese Unterscheidung zwischen Gott als dem 'Grund' und der von ihm getragenen 'Korrespondenz' zwischen Mensch und Wirklichkeit ist so in Hamanns Werk nicht zu finden. Für ihn geht es in dieser Beziehung zwischen Mensch und Wirklichkeit zunächst und unmittelbar um die Korrespondenz und die Diskrepanz zwischen Gott und Mensch. An erster Stelle steht die sprachliche, empirisch vermittelte Beziehung zwischen den Personen Gott und Mensch, von der Gott nicht nur Grund, sondern auch Zentrum ist. Vgl. zur 'Anthropomorphose' und 'Apotheose' bei Hamann: Thoms, Fr., Die Hauptprobleme der Religionsphilosophie bei Joh. Georg Hamann, Erlangen 1929,1116, 52-59.

6.3 'Konxompax': Offenbarung als Kontingentes Geheimnis

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Obiges Zitat macht wiederum deutlich, daß Hamanns Theologie stark mit der patristischen und mittelalterlichen Orthodoxie übereinstimmt. Seine Äußerungen über die 'Anthropomorphose' und 'Apotheose' erinnern unmittelbar an die patristische 'theopoifcsis' als Ziel der Schöpfung und Inkarnation108. 4. Das verborgene 'desiderium naturale' alles menschlichen Tuns und Lassens ist die Anthropomorphose und Apotheose. Die einzige Antwort darauf ist die Inkarnation, die damit zugleich der Schlüssel zum Verständnis von Natur und Geschichte ist. Aufgrund der Inkarnation wird sichtbar, worauf alles Streben von Mensch und Natur gerichtet ist, und zeigt sich, warum alle Versuche der Selbstvergöttlichung zu nichts führen müssen. Alle historischen Rätsel, alles Drängen der Völker, alles Seufzen und Sehnen von Fleisch und Geist werden grundlegend verständlich "durch die Urkunde des Fleisch gewordnen Worts"'09 (Ν ΙΠ 192:25-).

5. Dieses Zitat macht nochmals deutlich, wie Hamann über 'natürliche Theologie' denkt. Gottes Offenbarung korreliert mit der von ihm geschaffenen Natur, mit den von ihm geschaffenen natürlichen Bedürfnissen und Sehnsüchten des Menschen. Wenn das mit 'natürlicher Theologie' gemeint ist, ist Hamann durchaus ein Befürworter dieser Theologie, vorausgesetzt, daß es um eine von Gott beabsichtigte und verwirklichte Korrespondenz zwischen Natur und Gnade geht. Die so definierte natürliche Theologie ist jedoch das Gegenteil einer Theologie, die von einem autonomen Naturverständnis ausgeht. Ist mit dem 'natürlichen Menschen' der egozentrische Mensch mit seiner "selbstverklärten Menschennatur"110 (N III 191:2) gemeint, dann muß gesagt werden, daß Gottes Gnade "vermöge ihrer Bestimmung dem natürlichen Menschen Thorheit und Ärgerniß" (N III 193:3-) ist. "Daher kommt es, daß sie eine wirkliche in jedem Verstand allgemeine, der geheimen Geschichte und Natur des menschlichen Geschlechts völlig entsprechen-

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Burger, op.cit., 48: "Seine Gedanken von der göttlichen Ökonomie und von der Vergottung des Menschen zeigen denn auch eine gewisse Verwandtschaft des Denkens mit den Vätern der alten Kirche." Vgl. die bekannte Erklärung des Athanasius in De incarnatione verbi, c. 54: "Denn er ist Mensch geworden, damit wir vergöttlicht würden." Vgl. Walgrave, op.cit., 111 ff., (124: " die altchristliche und mittelalterliche Einheit von Menschsein und Vergöttlichung"). Diese Lehre der 'theopoiösis' implizierte keine Aufhebung der Grenze zwischen Gott und Mensch, sondern eine sehr enge pneumatologische Beziehung zwischen beiden. Vgl. zur patristischen 'theopoifesis': Haarlem, A. van, Incarnatie en verlossing bij Athanasius, Wageningen 1961, 84-87. Konxompax, Ν III 226:22-: Christus ist "der Brennpunkt aller Parabeln und Typen im ganzen Universo". Mit seiner "gesunde[n] Vernunft und gesunde[n] Moral" (N III 195:16); vgl. 189:18, 189:25, 190:8, 193:11-). Vgl. zu einer Beschreibung der 'gesunden Moral' als Folge der modernen Trennung zwischen Natur und Gnade: Walgrave, op.cit., 228 ff.

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Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten'

de Religion verwerfen" (Ν ΙΠ 191:8-)! Die sich als 'natürlich' bezeichnende Aufklärungstheologie trifft die unnatürliche Wahl, den christlichen Glauben als einzigen Schlüssel zum Verständnis von Natur und Geschichte über Bord zu werfen.

6.3.6 Christus als das wahre Mysterium Zwei längere Teile von Konxompax handeln von dem einen echten und wahren 'mystfcrion' der Weltgeschichte: dem Geheimnis der Offenbarung Gottes111. Diese Offenbarung ist kein übersinnliches Geheimnis, das auf dem Weg der rationalen oder mystischen Abstraktion zu erreichen wäre, ist doch das Geheimnis selbst sinnlich geworden, hat Fleisch und Blut angenommen, hat sich selbst dem 'Fluch und Widerspruch der Contingenz' unterworfen. An diesem Geheimnis erhalten wir allerdings nicht dadurch Anteil, daß wir unsere eigenwilligen 'Jakobsleitern' besteigen, sondern durch demütige Empfänglichkeit für das sakramentale Geheimnis der Kondeszendenz Gottes. Im Schlußteil von Konxompax schildert Hamann die universale Bedeutung des christlichen Geheimnisses für die Weltgeschichte. Judentum und Heidentum stehen in unterschiedlicher Beziehung zum 'Mysterium' der Schöpfung. Beide werden sie in Christus, dem neuen Menschen, vereinigt. Die 'Spaltung des Leibes' in Heidentum und Judentum und ihre Einigung in Christus, dem Haupt, bilden zusammen den typologisch-eschatologischen Brennpunkt von Natur und Geschichte112. In diesem Sinne ist die Geschichte keine Reihenfolge 'zufälliger Geschichtswahrheiten', die höchstens eine von überzeitlichen und ewigen Wahrheiten abgeleitete Bedeutung haben. Der historische Prozeß ist Träger geschichtlicher Sinngebung, weil das geheime Zentrum seiner kontingenten Dynamik in der Offenbarung des Himmelreichs liegt.

111 112

Vgl. Ν III 220:16 - 223:22, 226:9 - 227:22. Ν III 226:20-: "Diese Einheit des Hauptes sowohl als die Spaltung des Leibes in seinen Gliedern und ihrer differentia specifica ist das Geheimniß des Himmelreichs von seiner Genesis an bis zur Apocalypsi - der Brennpunkt aller Parabeln und Typen im ganzen Universo".

6.4 'Golgatha und Scheblimini'

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6.4 'Golgatha und Scheblimini': gegen das Bündnis von Judentum und Aufklärungsphilosophie 6.4.1 Entstehungsgeschichte Die komplizierte Entstehungsgeschichte von Golgatha und Scheblimini steht im engen Zusammenhang mit Hamanns Kantschriften. Dieser Paragraph ist daher zugleich eine Einleitung zu Hamanns Rezension von Kants Kritik der reinen Vernunft und der Metakritik, die beide im nächsten Kapitel erörtert werden. 1780 erscheinen anonym die Freymüthigen Betrachtungen über das Christenthum. Dieses Buch zur Frage der natürlichen Religion erregt Hamanns Ärger113, insbesondere als er später entdeckt, daß J.A. Starck der Verfasser ist. Ungefähr zur gleichen Zeit gelangen die 1779 postum erschienenen Dialogues concerning natural religion von David Hume in Hamanns Hände. Da er darin Hume wieder als einen wichtigen Mitstreiter in seinem Kampf gegen die natürliche Theologie erkennt, beschließt er, die Dialogues zu übersetzen und mit einer Beilage herauszugeben. Auf diese Weise will er einen neuen Angriff auf den bereits früher bekämpften Starck unternehmen114. Eine frühere Fassung der Übersetzung Hamanns ist erhalten geblieben. Mit der letzten Fassung hat Kant sich befaßt, und sie war vielleicht die wichtigste Quelle für Kants Kenntnis der Dialogues Humes, deren Einfluß in seiner Kritik der reinen Vernunft an verschiedenen Stellen nachgewiesen werden kann lls . Hamanns Übersetzung blieb unveröffentlicht, denn als bekannt wurde, daß noch jemand anders an einer Übersetzung arbeitete, und zwar C.G. Schreiter, zog Hamann seine Übersetzung zurück116. 1781 liest Hamann als erster Kants Kritik der reinen Vernunft. Sein Freund und Herausgeber J.F. Hartknoch117, der durch Vermittlung Hamanns das Herausgaberecht erhalten hatte, schickt ihm nämlich die Korrekturbogen. Als er am 22. Juli vom Verfasser ein gedrucktes Exemplar erhält, hat er 113 1,4 119

116

1,7

Vgl. ZH IV 195:8-. Vgl. ZH IV 205:22-, 302:22-, 312:10-. Vgl. Merlan, Ph., 'Hamann et les Dialogues de Hume', in: Revue de Mitaphysique et de Morale, 49 (1954), 285-289; Löwisch, D.-J., 'Kants Kritik der reinen Vernunft und Humes Dialogues concerning natural religion', in: Kant-Studien, 56 (1965), 170-207. ZH IV 233:9-. Nach dem Tod Hamanns soll Kant darauf gedrängt haben, daß Hamanns Übersetzung noch nachträglich veröffentlicht würde, was aber nicht geschehen ist. Vgl. Löwisch, op.cit., 176. Vgl. ZH IV 278:10-.

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Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten'

bereits eine Rezension fertiggestellt, die er aus Furcht, Kant würde sich gekränkt fühlen, nicht veröffentlicht11*. Im Dezember 1781 hat Hamann die Kritik der reinen Vernunft dreimal gelesen119. Obwohl Hamann seine Hume-Übersetzung zurückgezogen hat, erwägt er doch noch eine selbständige Ausgabe der 'Beilage'. Sie soll aus einer Reihe von Briefen mit dem Titel Epistolische Nachlese eines Misologen bestehen, der später in Schiblemini oder epistolische Nachlese eines Misologen verändert wird120. Der Plan schleppt sich allerdings hin, ohne daß es zur Ausführung kommt. Als Grund gibt er an, daß er auf die Veröffentlichung von Kants Prolegomena warte121. Der Titel wird nochmals geänderd und lautet nun: Schiblemini oder epistolische Nachlese eines Metakritikersm. Im August 1782 bestimmt er den Inhalt der fünf geplanten Briefe folgendermaßen123: 1) zur Hume-Übersetzung von Schreiter (erschienen Herbst 1781); 2) zu seiner eigenen Übersetzung und zu Mendelssohns negativer Beurteilung der Dialogues Humes124; 3) ein Vergleich der Juden und Philosophen; in diesem Brief wahrscheinlich auch die Polemik mit Starck; 4) Übersetzung des letzten Kapitels aus Humes Treatise of human nature, I; 5) zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Obwohl diese epistolische Nachlese nicht veröffentlicht wird, taucht der Inhalt in einzelnen Schriften oder Artikeln wieder auf. Die Rezension von Schreiters Hume-Übersetzung schickt Hamann an die Berlinische Monatschrifl125, sie wird allerdings nicht aufgenommen. Die Themen der Briefe 2 und 3 werden in Golgatha und Scheblimini wieder aufgegriffen126. Die Übersetzung aus Humes Treatise war 1771 bereits einmal in den Königsbergschen gelehrten und politischen Zeitungen erschienen127, und aus dem fünften Brief entsteht die Metakritik. Das ganze Vorhaben erhält einen neuen Impuls durch die Veröffentlichung von Mendelssohns Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783), das Hamann Anfang August 1783 schon beinahe dreimal gelesen n

· Vgl. ZH IV 312:20-, und 294:15-, 317:5-, Ν III 280:18. ZW IV 356:1. 120 Vgl. ZH IV 340:35, 343:20-. 121 Vgl. ZH IV 400:16-. m Vgl. ZH IV 413:20-, Kurz zuvor taucht der Begriff 'Metakritiker' zum ersten Mal im Briefwechsel auf: ZU IV 409:10. 123 Vgl. ZH IV 418:4-. 124 Vgl.: Mendelssohn, M., Gesammelte Schriften, Jubiläumsausgabe, Bd. 11, Briefwechsel I, Bearbeitet von B. Strauss, Mit Nachträgen von A. Altmann, Stuttgart/Bad Cannstatt 1974, 486. ,2S Vgl. ZH IV 465:32-. 124 Vgl. Ν III 317:15-318:6 (Brief 2), und: 312:36-313:14, 315:28-316:24 (Brief 3). 127 Vgl. Ν IV 364-370. 119

6.4 'Golgatha und Scheblimini'

267

hat128. Dies hat zur Folge, daß er das ursprüngliche Projekt der Nachlese in zwei Teile teilt: eine Schrift über Mendelssohns Jerusalem129 und eine 'Metakritik' über Kants Kritik der reinen Vernunft. Erstere wird im März 1784 abgeschlossen130 und erscheint im August131: Golgatha und Scheblimini. Eine Abschrift der Metakritik über den Purismus der Vernunft schickt er Herder im September132, aber es kommt nicht zur Veröffentlichung. Wenn wir den Anfang und das Ende dieser Verwicklungen vergleichen, sehen wir, daß das Paar Starck/Hume durch Mendelssohn/Kant ersetzt wurde. Inhaltlich läßt sich diese Verschiebung folgendermaßen erklären: Aus Hamanns Briefen wird deutlich, daß es ihm bei dem ganzen Vorhaben vor allem um zwei Themen geht: 1) Bekämpfung der natürlichen und spekulativen Theologie; 2) Widerlegung von Kants 'Reinigung' der Vernunft. Das Projekt setzt beim ersten Thema an, wobei Starck Zielscheibe ist und Humes empiristische Skepsis die wichtigste Waffe wird. Später ändert sich diese Konstellation: an die Stelle Starcks tritt Mendelssohn als Vertreter der natürlichen Theologie, und Kant wird als 'preußischer Hume' begrüßt133. Obwohl Hamann dankbar von Humes und Kants skeptischer Kritik an der natürlichen Theologie Gebrauch macht, sagen ihm die Standpunkte der beiden an sich durchaus nicht zu. Daß Humes Skepsis in der Verzweiflung steckenbleibt, betont er in Golgatha und Scheblimini. Im Falle Kants verlagert sich sein Interesse immer mehr auf dessen Versuch, die Vernunft von allen Erfahrungselementen zu 'reinigen'; er konzentriert sich also in der Metakritik auf eine Kritik in diesem Punkte.

6.4.2 Beschreibung von Mendelssohns 'Jerusalem' Stärker als alle bisher erläuterten Schriften ist Golgatha und Scheblimini ein einziges großes Cento, und zwar in diesem Fall aus Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783) von Moses Mendelssohn. Eine einge-

128 129

130 131 132 133

Vgl. ZH V 63:1-; vgl. ZH V 119:28. Hamann wurde hierzu durch eine Schrift J.F. Jacobis (nicht zu verwechseln mit dem bekannten Friedrich Heinrich Jacobi) gegen Mendelssohns Jerusalem angeregt. Der Titel von Jacobis Schrift ist nicht bekannt, es ist auch nicht bekannt, ob sie veröffentlicht wurde. Vgl. HH 7, 17 Fußnote 14; ZH V 131:4-, ZH VII 122:31-. Vgl. ZH V 131:7-. Vgl. ZH V 190:11-. Vgl. ZH V 210:16-, 216:35-. Vgl. u.a.: ZH IV 343:27- (" besonders seine Kritik aller speculativischen Theologie")·

268

Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten'

hende Erörterung dieses wichtigen kleinen Werkes ist deshalb unumgänglich134. Vorgeschichte In seiner eindrucksvollen Mendelssohnbiographie behandelt A. Altmann Jerusalem im Kapitel 'Political Reformer' 1 ". Zu Anfang des Kapitels beschreibt er, wie Mendelssohn aufgrund seines internationalen Rufes, auch bei Nichtjuden, verschiedentlich von jüdischen Gemeinschaften in Not um Hilfe gebeten wurde. In all diesen Fällen machte Mendelssohn auf würdige und sehr engagierte Weise seinen Einfluß bei den betreffenden Behörden zu Gunsten seiner unterdrückten Volksgenossen geltend. All diese Beispiele zeigen, daß die Juden sich trotz bedeutender Verbesserungen im Zeitalter der Aufklärung mit einer äußerst bedrohten und untergeordneten Lage zufriedengeben mußten. Wegen der geringsten Kleinigkeit konnten sie ausgewiesen werden136. 1780 wandten sich die Juden aus dem Elsaß mit der Bitte an Mendelssohn, ihnen bei der Aufstellung eines Memorandums an den französischen Staatsrat zu helfen, um auf diese Weise die Aufhebung einer Reihe von unterdrückenden Maßnahmen auf den Weg zu bringen. Mendelssohn bat daraufhin den nicht-jüdischen Regierungsbeamten und Kriegsrath Christian Wilhelm Dohm um Hilfe. Diese erste Zusammenarbeit mit Dohm erhielt eine wichtige Fortsetzung, als Mendelssohn ihn anregen konnte, ein Plädoyer für die Gewährung der Bürgerrechte an die Juden zu verfassen. Dieses einflußreiche Werk erschien 1781 unter dem Titel Über die bürgerliche Verbesserung der Juden und wurde kurz darauf ins Französische übersetzt. Als Fortsetzung und Unterstützung der Schrift Dohms veröffentlichte Mendelssohn 1782 eine deutsche Übersetzung einer Abhandlung des Amsterdamer Rabbis Manasseh Ben Israel von 1656 unter dem Titel Manasseh ben Israel, Rettung der Juden137. In seinem Vorwort geht Mendelssohn auf ein Thema ein, das Dohm in seiner Schrift angeschnitten hatte und das in

134

135 134 137

Ausgabe: Gesammelte Schriften, Jubiläumsausgabe, Bd. 8, Schriften zum Judentum, Bearbeitet von A. Altmann, Stuttgart/Bad Cannstatt 1983, 99-204; Anmerkungen Altmann: 278-366. Altmann, Α., Moses Mendelssohn, a biographical study, London 1973, 421-552. Vgl. auch: Schoeps, J.H., Moses Mendelssohn, Königstein/Ts. 1979, 70-82 ('V. Jüdisches Leben im Berlin Friedrichs II.'). 1708 erschien sie auf Englisch: Vindiciae Judaeorum: Or, α Letter in Answer to Certain Questions Propounded by a Noble and Learned Gentleman, Touching the Reproaches Cast on the Nation of the Jews; wherein all Objections are Candidly, and yet Fully Clear'd.

6.4 'Golgatha und Scheblimini'

269

Jerusalem im Mittelpunkt stehen sollte: Dohm hatte den Standpunkt verteidigt, daß jüdische Rabbis das Recht hätten, aus religiösen Gründen über Mitglieder aus der jüdischen Gemeinschaft den Bann zu verhängen. Mendelssohn ist damit nicht einverstanden, und mit religiösen und naturrechtlichen Argumenten spricht er sich gegen die Ausübung von Zwang in religiösen Fragen aus. Mit dieser Auffassung ruft Mendelssohn verschiedene negative Reaktionen hervor. Eine davon ist das anonyme Traktat Das Forschen nach Licht und Recht in einem Schreiben an Herrn Moses Mendelssohn (1782), mit einem Nachwort von D.E. Mörschel13®. In dieser Broschüre wird Mendelssohn vorgeworfen, er untergrabe die Religion seiner Väter, da im Alten Testament für die Abweichung von wesentlichen Punkten des jüdischen Glaubens durchaus strenge Strafen gälten. Der Verfasser der Broschüre fordert Mendelssohn heraus, entweder seinen Standpunkt besser zu begründen, oder zu erklären, warum er nicht zur wahren Freiheit des aufgeklärten Christentums übergehe139. Um der Gleichberechtigung der Juden willen und nicht so sehr, weil er sich persönlich angegriffen fühlt, nimmt Mendelssohn die Herausforderung an und schreibt Jerusalem als ausführliche Antwort auf die anonyme Broschüre. Eingehender als im Vorwort der Rettung der Juden behandelt er hierin das zentrale Thema der 'Zwangsrechte' in religiösen und politischen Angelegenheiten, zugespitzt auf die Religion und die politische Lage der Juden. 'Jerusalem' Teil I Mendelssohns Jerusalem ist durch die authentische Verbindung von jüdischem Glauben und europäischer Aufklärung und die Spannungen, die dies verursacht, eine interessante Schrift. Auf Grund der universellen Aufklärungswerte versucht Mendelssohn, die besondere jüdische Religion und

"* Eine Zeitlang dachte auch Mendelssohn, daß J. Sonnenfels der Verfasser sei, ein bedeutender Politiker, Anführer der Aufklärung in Wien und ein zum Katholizismus bekehrter Jude; Sonnenfels und Mendelssohn hatten großen Respekt voreinander. Erst nach Beendigung von Jerusalem erfährt Mendelssohn, daß nicht Sonnenfels, sondern A.F. Cranz der Verfasser ist (vgl. Altmann, op.cit., 502 ff., 511 ff.). 139 Dies war der zweite öffentliche Versuch, Mendelssohn zum Christentum zu bekehren. 1769 erschien La palingirUsie philosophique van Ch. Bonnet, teilweise durch J.C. Lavater ins Deutsche übersetzt, unter dem Titel Herrn Carl Bonnets philosophische Untersuchung der Beweise für das Christentum. Der Übersetzung war ein offener Brief an Mendelssohn hinzugefügt, in dem Lavater ihn bat, Bonnets Buch zu widerlegen, oder zum Christentum überzutreten. Dieser Bekehrungsversuch erregte viel Aufsehen und wurde von vielen, worunter Hamann (vgl. ZH IV 4:33-), als unangebracht empfunden. Lavater bat später um Entschuldigung. Vgl.: Jerusalem, 153 f.; Altmann, op.cit., 194-263; Schoeps, op.cit., 95-111.

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Lebensweise sicherzustellen. Sein Jerusalem ist ein eindrucksvoller Versuch, dem Judentum durch Anknüpfung an die Prinzipien der Aufklärung einen gleichwertigen Platz in der europäischen Kultur zu verschaffen, ohne daß es dabei zu einer völligen Assimilation kommt. Zugleich zeigt Jerusalem freilich sehr deutlich, welch mehrfaches Dilemma ein solcher Versuch mit sich bringt. Jerusalem besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil ist eine Abhandlung über das Verhältnis von Kirche und Staat und die Frage der Zwangsrechte, die die universelle Grundlage bilden mus, auf der die jüdische Religion einen eigenen Platz erhalten kann (siehe zweiten Teil). Da Mendelssohn die Theorie Hobbes' und Lockes unbefriedigend findet, entwickelt er in Teil I eine eigene Theorie über das Verhältnis von Kirche und Staat aufgrund der folgenden Definitionen: "Öffentliche Anstalten zur Bildung des Menschen, die sich auf Verhältnisse des Menschen zu Gott beziehen, nenne ich Kirche140 - zum Menschen, Staat. Unter Bildung des Menschen verstehe ich die Bemühung, beides, Gesinnungen und Handlungen so einzurichten, daß sie zur Glückseligkeit übereinstimmen; die Menschen erziehen und regieren" (110). "Gesinnungen und Handlungen": das ist die wichtigste Unterscheidung, die Mendelssohn in Teil I trifft. Kirche und Staat sind an beiden interessiert; auch der Staat hofft, daß die erwünschten Handlungen auf Grund der entsprechenden Absichten geschehen. Trotzdem kann und muß der Staat sich zufrieden geben mit den erforderlichen Handlungen, die er notfalls mit Gewalt erzwingen kann. Das Umgekehrte gilt für die Kirche: die Kirche kann sich nicht mit 'toten Handlungen' begnügen. Gute Gesinnungen können jedoch nie mit Gewalt erzwungen werden. Das Einzige, was die Kirche tun kann, ist "Belehren und Trösten; durch ihre göttlichen Lehren dem Bürger gemeinnützige Gesinnungen beibringen" (114). Woher nimmt der Staat allerdings seine 'Zwangsrechte', und warum hat die Kirche sie nicht? Zur Beantwortung dieser Frage gibt Mendelssohn zunächst eine naturrechtliche Erörterung, die den Kern seiner ganzen Schrift bildet141 und deren Ausgangspunkt der Unterschied zwischen dem 'Stand der Natur' und dem 'Stand der Gesellschaft' ist.

140

141

Mit 'Kirche' meint Mendelssohn sowohl die christliche Kirche als auch die Synagoge und die Moschee. Einen Großteil seiner Naturrechtstheorie verdankte Mendelssohn dem Juristen E.F. Klein, einem Anhänger der Naturrechtsphilosophie von Christian Wolff. Vgl. Jerusalem, 32 Fußnote 1, Altmann, op.cit., 497-500.

6.4 'Golgatha und Scheblimini'

271

Die Beschreibung des Standes der Natur beginnt mit einigen Definitionen142: ein 'Recht' ist die Befugnis, etwas als Mittel zum eigenen Glück zu gebrauchen. Die entsprechenden Mittel heißen 'Güter'. Eine Befugnis ist 'sittlich', wenn sie mit den Gesetzen der 'Weisheit und Güte' übereinstimmt. Die Güter, auf die der Mensch im Stand der Natur Recht hat, sind: 1) seine eigenen Fähigkeiten, 2) die Produkte seiner Fähigkeiten, 3) Güter die mit den Produkten so sehr verbunden sind, daß sie davon nicht getrennt werden können. Kurz: "Nicht alles Eigentum ist blos conventionell." (116)

Gegenwärtig sind die Menschen für ihr Glück auf gegenseitige Hilfe angewiesen143. Jeder hat darum die Pflicht, mit Gütern, auf die er verzichten kann, andern zu helfen. Freilich können 'Kollisionsfälle' zwischen dem eigenen Recht und dem des Nächsten entstehen. Wem steht in diesem Fall das 'Entscheidungsrecht' zu? Nur mir selbst! "Mir, und mir allein, kommt also im Stande der Natur das Entscheidungsrecht zu, ob und wieviel, wenn, wem und unter welchen Bedingungen ich zum Wohltun verbunden bin" (117). Nach Mendelssohns Auffassung stellt dies Recht das Wesen der natürlichen Freiheit des Menschen dar, die weitgehend sein Glück ausmacht144. Der Übergang in den Stand der Gesellschaft findet statt, wenn der Mensch sein Entscheidungsrecht durch eine freie Willenserklärung andern überträgt. Die Grundlage des Staates ist der Sozialvertrag der Untertanen, die ihr Recht, in Interessenkonflikten selbst zu entscheiden, an die Obrigkeit delegieren. Was bedeutet nun dieser Übergang für die Rechte und Pflichten? Sie werden jetzt 'vollkommen', weil sie mit Gewalt erzwungen werden können. Im Stand der Natur sind die Pflichten noch 'unvollkommen', da ihre Ausübung noch vom Gewissen des Pflichtträgers abhängig ist. Im Stand der Natur haben die natürlichen Rechte den Vorrang: die betreffenden Güter sind 'vollkommene' Rechte, die mit Gewalt verteidigt werden dürfen, während noch keinerlei vollkommene Pflicht besteht, einander dienstbar zu sein. 'Wohltun' wird erst nach dem Sozialvertrag eine Pflicht, die erzwungen werden kann. Nach diesem naturrechtlichen Exkurs kann Mendelssohn dann beweisen, daß die Kirche nicht wie der Staat 'Zwangsrechte' hat. Beruht die Kirche doch auf der Beziehung zwischen Gott und Mensch, und Gott ist kein Wesen, "das unseres Wohlwollens bedarf, unsem Beystand fordert, auf irgend eines von unseren Rechten zu seinem Gebrauch Anspruch macht, oder dessen Rechte mit den Unserigen je in Streit und Verwirrung gerathen 142 143 144

Vgl .Jerusalem, 114 f. Jerusalem, 116: " denn Besserseyn ist von Wohlwollen unzertrennlich." Vgl. Jerusalem, 120.

272

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können." (126). Gott ist autark, hat nichts von uns nötig; also können zwischen Gott und Mensch keine 'Kollisionsfalle' des 'Wohlwollens' entstehen und brauchen auch keine Rechte durch Gott oder um Gottes willen erzwungen zu werden. Hieraus leitet Mendelssohn auch ab, daß die Kirche kein Recht auf Eigentum hat und daß Geistliche, abgesehen von einer Entschädigung für Zeitverlust, kein Recht auf staatliche Besoldung haben. Der Staat, in dem es um das Verhältnis von Menschen untereinander geht, darf zwar Handlungen, jedoch nie Gesinnungen erzwingen. Fragen der Wahrheit oder Unwahrheit vertragen keinen Zwang oder Bestechung. "Weder Kirche noch Staat haben also ein Recht die Grundsätze und Gesinnungen der Menschen irgend einem Zwange zu unterwerfen" (138). Allerdings setzt auch Mendelssohn der Gewissensfreiheit gewisse Grenzen. Der Staat muß durchaus darauf achten, daß zum Beispiel Atheismus oder Epikureismus nicht "den Grund untergraben, auf welchem die Glückseligkeit des gesellschaftlichen Lebens beruhet" (131). Trotzdem bleibt Mendelssohn vorsichtig: "nur von ferne" soll der Staat Aufsicht führen, und "mit weiser Mäßigung" muß er die Hauptelemente begünstigen, die die drei großen Religionen gemeinsam haben und die zugleich die Grundlage des Staates bilden: Gott, Vorsehung und Unsterblichkeit. Mendelssohn schließt den ersten Teil mit einer eingehenden Erörterung der Frage des Eides145. Da Meinungen nicht erzwungen werden können, besteht seines Erachtens kein Grund für Kirche oder Staat, einen Eid abzunehmen, der als Vertrag dient, zu dessen Einhaltung der Beeidigte notfalls gezwungen werden kann. Man sollte es kirchlichen oder staatlichen Beamten also auch nicht allzu sehr anrechnen, wenn sie später zu anderen Auffassungen gelangen als denjenigen, auf die sie früher ihren Eid geschworen haben. 'Jerusalem'

Teil II

Im zweiten Teil verteidigt sich Mendelssohn gegen die Broschüre von Cranz und Mörschel. Die Aufforderung, zum Christentum überzutreten, lehnt er ab: "Nun ist das Christentum, wie Sie wissen, auf dem Judentume gebauet, und muß nothwendig, wenn dieses fällt, mit ihm über einen Hauffen stürzen. Sie sagen, meine Schlußfolge untergrabe den Grund des Judentums, und bieten mir die Sicherheit Ihres obersten Stockwerks an; muß ich nicht glauben, daß sie meiner spotten?" (154).

143

Ein heißes Eisen, weil die Glaubwürdigkeit eines von Juden abgelegten Eides in Frage gestellt wurde. Vgl. Jerusalem, 131 ff. und 325 f. (Anmerkungen Altmann); Altmann, op.cit., 496-499.

6.4 'Golgatha und Scheblimini'

273

Danach geht Mendelssohn auf den Vorwurf Morscheis im Nachwort der Broschüre ein, er scheine überhaupt nicht am Offenbarungsglauben, sondern nur an der vernünftigen Religion des Rationalismus interessiert zu sein. In seiner Antwort gibt Mendelssohn zu, daß er keine anderen ewigen Wahrheiten anerkenne als diejenigen, die die Vernunft selbst hervorbringen und einsehen könne. Solche Wahrheiten seien niemals Frucht einer besonderen Offenbarung. Was bedeutet das für sein Verständnis des jüdischen Glaubens? " ich glaube, das Judentum wisse von keiner geoffenbarten Religion, in dem Verstände, in welchem dieses von den Christen genommen wird. Die Israeliten haben göttliche Gesetzgebung. Gesetze, Gebote, Befehle, Lebensregeln, Unterricht vom Willen Gottes, wie sie sich zu verhalten haben ; aber keine Lehrmeinungen, keine Heilswahrheiten, keine allgemeine Vernunftsätze. Diese offenbaret der Ewige uns, wie allen übrigen Menschen, allezeit durch Natur und Sache, nie durch Wort und Schriftzeichen" (157). Mendelssohn unterscheidet drei Arten von Wahrheiten (157ff.): 1) Ewige Wahrheiten, die notwendig sind; sie entspringen dem Verstand Gottes, und wir können sie durch unsere Vernunft erkennen (Logik und Mathematik). 2) Ewige Wahrheiten, die im Willen Gottes ruhen; wir erkennen sie durch Vernunft und Beobachtung (physikalische und psychologische Gesetze). 3) Zeitliche Geschichtswahrheiten. Deren Wahrheit erkennen wir durch eigene Wahrnehmung oder durch 'Autorität und Zeugnis*. Zu den ewigen Wahrheiten rechnet Mendelssohn auch die erwähnte Trias Gott, Vorsehung und Unsterblichkeit146, die die gemeinsame Lehrgrundlage von Judentum, Christentum und Islam bildet und die wir durch 'Natur und Sache', und nicht durch besondere Offenbarung erkennen. Das Judentum, wie es von Moses am Berg Sinai gegründet wurde, kennt keine geoffenbarte Religion (d.h. geoffenbarte 'Lehrmeinungen'), sondern ist lediglich geoffenbarte Gesetzgebung. Der Glaube der Erzväter war die reine natürliche Religion147, die die universelle Grundlage für die besondere Gesetzgebung Moses bildete. Seit Moses bestand also das Judentum aus: a) Ewigen religiösen Wahrheiten148. Sie durften nicht durch "unmittelbare Offenbarung eingegeben, durch Wort und Schrift, die nur itzt, nur hier verständlich sind, bekannt gemacht werden." (191). 146 147

148

Vgl. Jerusalem, 160, 164. Jerusalem, 183: "Die Stammväter unserer Nation, Abraham, Isaak und Jakob, sind dem Ewigen treu geblieben, und haben lautere, von aller Abgötterey entfernte Religionsbegriffe bey ihren Familien und Nachkommen zu erhalten gesucht" Der dogmatische Kern des jüdischen Glaubens stimmt nach Mendelssohn mit den fünf Grundartikeln von Herbert von Cherbury überein; vgl. Jerusalem, 167; Anmerkungen Altmann, 347.

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b) Geschichtswahrheiten über die Urgeschichte, die Erzväter, das Entstehen der Nation, usw. Autorität und Wunder bestätigen ihre Wahrheit. c) Sittlichen und zeremoniellen Gesetzen, unmittelbar "von Gott durch Worte und Schrift bekannt gemacht" (193). Das Besondere am Judentum sind laut Mendelssohn nicht Lehrsätze, sondern Handlungen. "Daher hat auch das alte Judentum keine symbolischen Bücher, keine Glaubensartikel" die zu "Glaubensfesseln" (167) wurden, wie es im Christentum der Fall war und ist. Dieses kennt nämlich geoffenbarte Lehrsätze, die Anlaß zur Ausübung 'religiöser Macht' sind. Was ist also der Zweck und die Bedeutung der jüdischen Gesetzgebung, vor allem der Zeremonialgesetze? Zur Erläuterung dieser Frage läßt Mendelssohn sich auf einen langen Exkurs über die Entstehung und Entwicklung der Schrift ein. Die Erfindung der Schrift war eine Wohltat für die Menschheit, hatte aber auch viele schlechte Folgen. Die wichtigste war die, daß die Menschen allmählich das Zeichen für das gemeinte Ding selbst hielten, was im religiösen Bereich zum Bilderdienst führte. Anstatt Gott begann man die auf ihn verweisenden Zeichen und Bilder selbst als Gottheit zu verehren149. So verwandelte sich die reine natürliche Religion in Aberglauben und Götzendienst. Um die Menschheit von diesen Übeln zu befreien, gab Gott der jüdischen Nation die Gesetze. Nicht durch 'Zeichen' oder 'Bilderschrift', sondern durch die vorgeschriebenen Handlungen, mußten die Juden dazu gebracht werden, die Grundwahrheiten des Glaubens ständig zu überdenken150. Der andere Nutzen der Zeremonialgesetze ist der, daß sie vor einem zu theoretischen Glauben bewahren. "Das Zeremonialgesetz war das Band, welches Handlung und Betrachtung, Leben mit Lehre verbinden sollte." (193) Wie viele andere Aufklärungsphilosophen hat auch Mendelssohn also eine Abneigung gegen die Bildersprache. Interessant ist, daß bei ihm dabei die spezifisch jüdisch-religiöse Motivierung eine wichtige Rolle spielt: Wir dürfen uns von Gott kein Bild machen. Dies ist ein gutes Beispiel seiner Synthese von aufgeklärter Vernunft und jüdischem Glauben. Leider wurden die mosaischen Gesetze schon bald verkehrt angewandt. Das Volk verlangte ein Götzenbild und verehrte das goldene Kalb. Nach dieser Stelle folgen in Jerusalem einige Seiten, die die schönsten der ganzen Schrift sind, aber schwer in den von Mendelssohn gesteckten Rahmen passen. Leidenschaftlich engagiert beschreibt und zitiert er das Gespräch

14

' Vgl. Jerusalem, 181. Vgl. Jerusalem, 184.

1S0

6.4 'Golgatha und Scheblimini'

275

zwischen Moses und Gott auf dem Horeb, in dem Gott sich als der Barmherzige offenbart und verspricht, trotz allem mit Moses und seinem Volk weiterzuziehen. Diese Lehre von der Barmherzigkeit Gottes: " wie weit war das Heidentum von dieser Verfeinerung entfernt! Ihr findet in ihrer ganzen Götterlehre, in allen Gedichten und andern Überbleibseln der frühem Zeit keine Spur, daß sie irgend einer ihrer Gottheiten auch Liebe und Barmherzigkeit gegen die Menschenkinder zugeschrieben hätten." (186). "Daß die Lehre von der Barmherzigkeit Gottes bey dieser wichtigen Veranlassung zuerst der Nation durch Mosen bekannt gemacht worden sey, bezeuget der Psalmist ausdrücklich, an einem andern Orte [in Ps. 103]11151 (190). Hier spricht das jüdische Herz Mendelssohns, und zwar so stark, daß zuvor geäußerte Gedankengänge durchkreuzt werden, denn zur Offenbarung an Israel gehört nun auch die Lehre der Barmherzigkeit Gottes! Mendelssohn ist hier inkonsequent, aber wie glücklich ist diese Inkonsequenz!112 Wie steht es nun mit den religiösen Strafen (Zwangsrechten) im früheren Judentum? Zur Zeit des Moses und Elias bildeten Staat und Religion eine Einheit, denn Gott war zugleich ihr König, Anführer ihres Staates. Solange dies galt, war jede religiöse Pflicht auch eine bürgerliche Pflicht und umgekehrt. Religiöse Übertretungen waren auf diese Weise auch staatliche Verstöße gegen Gott als König und Gesetzgeber. Die ursprüngliche Einheit von Staat und Religion ging leider schon bald verloren. Das Volk wünschte sich einen König. Grundsätzlich war von diesem Augenblick an eine Kollision der Pflichten nicht mehr möglich, aber leider hielt man sich nicht an die Trennung. Staat und Kirche konkurrierten nur allzu häufig miteinander, " bis auf jene traurigen Zeiten herunter, in welchen der Stifter der christlichen Religion den vorsichtigen Bescheid ertheilte: gebet dem Kaiser, was des Kaisers, und Gotte, was Gottes ist. So ertraget denn beide Lasten, fiel der Bescheid aus, so gut ihr könnet; dienet zweien Herren in Geduld und Ergebenheit Und noch itzt kann dem Hause Jakobs kein weiserer Rath ertheilt werden, als eben dieser." (197 f.).

151

131

Mendelssohn zitiert den Psalm, und in der Beschreibung der Gefühle des Dichters bringt er seine eigene Ergriffenheit zum Ausdruck: "Dieser ganze Psalm ist Uberhaupt von äußerst wichtigem Inhalte. Leser, denen daran gelegen ist, werden wohl thun, ihn ganz mit Aufmerksamkeit durchzulesen, und mit obiger Betrachtung zu vergleichen. Er scheinet mir offenbar durch diese merkwürdige Stelle in der Schrift [Ex. 34:6] veranlasset, und nichts anders zu seyn, als ein Ausbruch lebhafter Rührung, in welche der Sänger durch Betrachtung dieses außerordentlichen Vorfalls gerathen ist." (191 Fußnote). Es ist merkwürdig, daß Altmann Mendelssohns Ausführungen über 'die Lehre der Barmherzigkeit* in seiner ausführlichen Besprechung von Jerusalem nicht berücksichtigt.

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Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten'

Die Trennung von Kirche und Staat bedeutet, daß die Gesetze über Tempeldienst und Landbesitz keine Gültigkeit mehr haben; aber alle persönlichen Gebote und Pflichten müssen noch streng beachtet werden. Mendelssohn schließt sein Jerusalem mit einer leidenschaftlichen Warnung gegen alle Versuche zur Glaubenseinigung: ein solches Streben laufe nur allzu leicht darauf hinaus, daß das Gewissen des Einzelnen an Einheitsformeln gebunden werde. Zusammenfassung Mendelssohns Jerusalem ist eine spannende Begegnung und Auseinandersetzung zwischen Judentum und Aufklärung. Um dem Judentum einen 'sicheren' Platz innerhalb der Aufklärung gewährleisten zu können, macht Mendelssohn große Zugeständnisse: rechtlich-ethisch wird das Judentum auf ein allgemeines Naturrecht gegründet; dogmatisch pfropft er den jüdischen Glauben auf ewige Hauptwahrheiten, die durch die aufgeklärte Vernunft erkannt werden, ohne den kontingent-historischen (Offenbarungs)Wahrheiten irgendeinen Platz von Bedeutung einzuräumen. Es ist im voraus zu erwarten, daß Hamann durch diesen Schritt unangenehm berührt ist. Für ihn mußte das eine Kapitulation vor der Aufklärung bedeuten, zumal das Christentum, wie Mendelssohn selbst sagt, auf dem unteren Stockwerk des Judentums errichtet ist!

6.4.3 Bund gegenüber Naturrecht; gegen 'Jerusalem' Teil I Golgatha und Scheblimini ist eine äußerst scharfe Schrift, voller Ironie, Parodie und Satire153. Grund dafür sind Hamanns Beunruhigung und Ärger darüber, daß Mendelssohn sein jüdisches Erstgeburtsrecht an die griechische Philosophie der Aufklärung verschachert hat. Die Centotechnik wird reichlich benutzt154. Unzählige Textfragmente aus Jerusalem werden in einen 153

154

Siehe zum Text mit begleitendem Kommentar HH 7 (L. Schreiner). Eine ausführliche Erörterung ist: Jansen Schoonhoven, E.,Jodendom - Christendom - Verlichting, Johann Georg Hamann en Moses Mendelssohn, een achttiende eeuws dispuut als bijdrage aan hedendaagse discussies, Nijkerk 198S, 18-127. Hamann sagt später über sein Golgatha: "Dieser Unmündige, Arme am Geiste hat so selten! so wenig! von seinem Eigenen geredet (Joh. VIII. 44.); hat über die Hälfte seiner fünf Bogen aus dem "merkwürdigen Buche" des Märkschen [Brandenburg] Jerusalems wörtlich rein aus- und abgeschrieben; Data aus noch merkwürdigeren und populaireren Schriften der Väter und Brüder nach dem Fleische zu seinen Mittelbegriffen an- und aufgenommen." (W (22):7-). Diese Formulierung gibt genau wieder, was Hamann mit seiner Centotechnik vorhat: dadurch, daß er Textfragmente Mendelssohns mit den 'Mittelbegriffen' des Alten und Neuen Testaments verbindet,

6.4 'Golgatha und Scheblimini'

277

derartigen Zusammenhang gestellt, daß sie fragwürdig und Spiegel einer anderen Bedeutung werden. Der Titel ist bereits eine Auseinandersetzung mit Mendelssohn. Mendelssohns aufgeklärtem Judentum stellt Hamann die heilsgeschichtliche Bedeutung von Golgatha und Scheblimini"5, Kreuz und Auferstehung, Erniedrigung und Erhöhung und auch Christentum und Luthertum gegenüber. Golgatha besteht aus drei Teilen; die ersten beiden sind parallel zu den zwei Teilen von Jerusalem konzipiert, der dritte Teil ist eine Schlußrede. Nach einem ironischen Anfang weist Hamann bereits sofort darauf hin, welcher grundlegende Gegensatz zur Diskussion steht: Mendelssohns Stand der Natur mit dem darauf gegründeten Sozialvertrag im Gegensatz zum göttlichen Bund mit Abraham und seinem Samen1S6. Der Jude Mendelssohn nimmt einen neutralen und autonomen Stand der Natur zum Ausgangspunkt; Hamann stellt Natur und Geschichte in den Zusammenhang des Bundes, den Gott mit Abraham, dem Stammvater Mendelssohns, geschlossen hat. Naturrecht: das Recht des Stärksten Ehe Hamann näher auf die Bedeutung des Bundes eingeht, äußert er zunächst eine Reihe von kritischen Fragen und Bemerkungen, mit denen er den autonomen Naturbegriff Mendelssohns von innen aufzubrechen versucht. Wir gliedern sie in fünf Punkte, wonach in fünf parallelen Punkten Hamanns eigener Standpunkt erläutert werden soll. 1) Wiederholt erwähnt Mendelssohn die sittlichen Naturgesetze der Weisheit und Güte. Aber, so fragt Hamann, wo liegt ihr Ursprung? Wenn sie nicht von selbst entstanden sind, sondern auf Gott zurückgehen, welche Bedeutung hat dies dann für den Naturbegriff?157

155

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157

erhalten sie ganz andere Bedeutungen, die den Text kritisch beleuchten. Der Ausdruck 'Scheblimini' kommt aus Ps. 110:1 ("Setze dich zu meiner Rechten"), und Hamann fand ihn in einer Studie über Luther, in der die Rede von 'Scheblimini* als Luthers 'spiritus familiaris' ist. Hamann benutzt diese Bezeichnung für den Geist Luthers und der Reformation. Vgl. ZH II 302:19-, ZH IV 343:17-, HH 7, 20-23, 47Sl. Hamann hatte im April 1780 die Lektüre Luthers wieder aufgenommen; vgl. ZH IV 181:26-, 182:22-, Ν V 354. Ν III 293:21-: "Herr Mendelssohn glaubt einen Stand der Natur, welchen er der Gesellschaft, wie die Dogmatiker einem Stande der Gnade, theils voraus- theils entgegen setzt. Desto wichtiger muß uns beiden der göttliche und ewige Bund mit Abraham und seinem Saamen seyn, wegen des auf diesem urkündlich feyerlichen Vertrage beruhenden und allen Völkern auf Erden vertieissenen und gelobten Seegens." Ν ΠΙ 294:29-: "Wo kommen aber die Gesetze der Weisheit und Güte her?" Ν III 295:37-: "Diese Gesetze nun werden als weltkundig und dem ganzen menschlichen Geschlecht offenbart, vorausgesetzt".

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Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten'

2) Mendelssohn behauptet, es gebe ein allgemein menschliches Recht auf Glückseligkeit. Wie ist dies jedoch mit einer besonderen, partikularen Offenbarung an Israel zu vereinbaren, die gleichfalls 'Nationalglückseligkeit' und 'persönliche Glückseligkeit' zum Ziel hat?15* 3) Hamann betont stark, daß Mendelssohns Naturrecht seines Erachtens nicht viel besser sei als das von Hobbes, denn Mendelssohn formuliere das Naturrecht so, daß es kaum vom Recht des Stärksten zu unterscheiden sei. So sei im Stand der Natur zwar die Rede von vollkommenen Rechten, die mit Gewalt verteidigt werden dürften, aber nicht von positiven vollkommenen Pflichten, sondern lediglich von vollkommenen 'Unterlassungspflichten'159. Bedeutet das eigentlich nicht, daß jeder für das kämpft, was er als seine Güter ansieht? Gegenüber Hobbes behauptet Mendelssohn, daß im Stand der Natur nicht nur von Macht, sondern auch von Recht die Rede sei. Jedoch macht Mendelssohns Verständnis des natürlichen Rechts es schwierig, noch zwischen Recht und Macht zu unterscheiden160. Ist der Stand der Natur eigentlich nicht ein Zustand des Krieges? Jeder hat wie die Soldaten im Krieg jeweils das gleiche Recht, den anderen umzubringen?161 Der Stand der Natur, in dem jeder für sein eigenes Interesse eintritt, läuft auf zwei Klassen hinaus: "Rechthabende und Pflichtträger" (N III 295:1). Da die Rechte im Stand der Natur stärker sind als die Pflichten, entsteht unvermeidlich eine Klasse der Stärksten, die ihre Rechte gelten lassen wollen, und eine Klasse der Schwachen, die die erzwungene Pflicht haben, die Starken in ihrem 'Recht' zu lassen. Nach Meinung Mendelssohns ist die ethisch-rechtliche Struktur der Gesellschaft im Naturrecht begründet. Das stimmt, meint Hamann: im Staat Friedrichs des Großen trete nur allzu deutlich zutage, daß der sogenannte Sozialvertrag eine Bestätigung des natürlichen Rechts des Stärksten sei und

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161

Vgl. Ν III 294:33-; vgl. Jerusalem, 192. Ν III 295:4-: "Bey den Rechthabenden wird blos auf den Stand der Natur; bey den Pflichtträgern zugleich mit auf den Stand der Gesellschaft Rücksicht genommen"; das heißt: vollkommene Pflichten bestehen erst auf Grund des Sozial Vertrages. Vgl. Jerusalem, 117. Ν III 294:25-: "Sind ferner Macht und Recht auch schon im Stande der Natur heterogene Begriffe: so scheinen Vermögen, Mittel, und Güter mit dem Begriffe der Macht gar zu nahe verwandt zu seyn, daß sie nicht bald auf Einerley hinauslaufen sollten." Vgl. Ν III 302:5-. Ν III 295:15-: "Wenn ich ein Recht habe, mich eines Dinges als Mittels zur Glückseeligkeit zu bedienen, so hat jeder Mensch im Stande der Natur ein gleiches Recht; gleichwie der Soldat, währendes Krieges, die Befugnis hat, den Feind umzubringen, und der Feind ihn. Oder sind die Gesetze der Weisheit und Güte so mannigfaltig, als mein und jedes andern Ich?"

6.4 'Golgatha und Scheblimini'

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daß die Rechthabenden sich nicht bewußt seien, daß sie positive Pflichten gegenüber der unterdrückten Klasse der steuerzahlenden Pflichtträger hätten. Ob das noch mit den von Mendelssohn gerühmten Gesetzen der Weisheit und Güte übereinstimmt?1*2 Mit diesen sarkastischen Bemerkungen spielt Hamann auf die Maßnahme Friedrichs des Großen an, die sogenannten Trinkgelder, die er und seine Kollegen beim Güterumschlag im Königsberger Hafen empfingen, für die Staatskasse einzufordern163. Daß der Sozial vertrag des preußischen Staates auf das natürliche Recht des Stärksten gegründet sei, werde in der Gestalt Friedrichs des Großen sehr deutlich. Wie ein Nimrod, der Stifter des gottlosen Babels, im rohen Stand der Natur lebend, kenne er kein anderes Prinzip, als daß ihm allein das Entscheidungsrecht darüber zukomme, ob und wie er verpflichtet sei, einem anderen wohlzutun164. 4) Laut Mendelssohn hat der Mensch die natürliche Pflicht, anderen wohlzutun. Hamann hat nicht unrecht, wenn er feststellt, daß dieses Wohltun im Dienst des Eigeninteresses stehe. Denn, meint Mendelssohn, "Besserseyn ist von Wohlwollen unzertrennlich"; " so wie wir aus vernünftiger Liebe zu uns selbst verbunden sind, unsere Nebenmenschen zu lieben."165 Aber, fragt Hamann, wenn die Nächstenliebe im Dienst des eigenen Ichs steht, wie kann dann noch die Rede von Kollisionsfällen zwischen der Pflicht der Nächstenliebe und dem rechtmäßigen Eigeninteresse sein?166 5) Fatal findet Hamann Mendelssohns Trennung von Gesinnung und Handlung, denn das bedeutet, daß die unterdrückten Pflichtträger nicht mehr an das Gewissen des Herrschers appellieren können. Umgekehrt brauchen die Herrscher das Gewissen ihrer Untertanen nicht mehr zu berücksichtigen.

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Ν III 295:31-: "Ist es aber Weisheit und Güte, unser Recht auf Mittel der Glückseeligkeit, und das schmahle Vermögen unserer Habseeligkeit noch durch Gesetze zu beschneiden und zu verstümmeln?" Sehr empört half Hamann seinen Kollegen bei ihren Versuchen, die Maßnahme rückgängig zu machen, was aber mißlang. Vgl. u.a. ZH IV 448:4-. Ν III 299:35-: "Für keinem Salomo, dem der Gott der Juden sehr grosse Weisheit und Verstand und getrost Herz gab, wie der Sand, der am Ufer des Meers liegt; - für keinen Nebucadnezar, dem der Gott der Juden die wilden Thiere gegeben, daß sie ihm dienen sollen: sondern nur für einen Philosophen ohne Gram und Scham, nur für einen Nimrod, im Stande der Natur, würde es sich ziemen, mit dem Nachdruck einer gehörnten Stirn auszuruffen: "Mir und Mir allein kommt das Entscheidungsrecht zu, ob? und wie viel? wem? wenn? unter welchen Umständen? ich zum Wolthun verbunden bin."" ("ohne Gram": 'Sans Souci', das Lustschloß Friedrichs des Großen). Vgl. Jerusalem, 24. Jerusalem, 116 resp. 127. Ν III 302:9-: "Ferner, wenn man durch Äußerung des Wohlwollens eben so viel gewinnt, als man durch Aufopferung verliert: so sind auch die Collisionsfälle Früchte einer armseeligen Sophisterey".

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Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten'

Nach Abschluß des Sozialvertrags haben die Machthaber das vollkommene Recht, ihre Forderungen gewissenlos zu erzwingen. Es sieht so aus, als ob das Gewissen nur im Stande der Natur, in dem die Ausübung der Macht noch nicht legitimiert ist, einigermaßen wirksam werden kann, dann allerdings nur durch die unterdrückten Pflichtträger, denn die Starken lassen ihr Gewissen nicht reden167. Mendelssohn sagt selbst, die Entstehung und Entwicklung der Schrift seien auf mannigfache Weise von Einfluß gewesen auf den Fortschritt und die Verbesserung der Auffassungen und Kenntnisse der Menschen168; dies habe u.a. zu Götzendienst geführt. Wie kann er also den engen Zusammenhang zwischen Gesinnung und Meinung einerseits und Handeln anderseits leugnen?169 Bundesrecht gegenüber Naturrecht Mendelssohns Recht der Natur stellt Hamann den Bund Gottes mit seiner Schöpfung gegenüber. Welchen Inhalt dieser Bund für Hamann hat, soll in fünf Punkten dargelegt werden, die mit den obigen fünf Punkten der Kritik korrelieren. Darin kommt deutlich zum Ausdruck, mit welcher Alternative Hamann dem Naturverständnis der Aufklärung entgegentritt. 1) Im folgenden Abschnitt umreißt Hamann seinen Standpunkt scharf: "Giebt es aber einen gesellschaftlichen Contract: so giebt es auch einen natürlichen, der ächter und älter seyn, und auf dessen Bedingungen der gesellschaftliche beruhen muß. Dadurch wird nun alles natürliche Eigentum wiederum conventioneil, und der Mensch im Stande der Natur von ihren Gesetzen abhängig, d.i. positiv verpflichtet eben denselben Gesetzen gemäß zu handeln, denen die ganze Natur und vornemlich des Menschen seine, die 167

lit 169

Ν III 297:28-: "Sind nun alle Bedingtingen, unter welchen ein Recht zukommt, den Rechthabenden gegeben: so ist der Pflichtträger seines Wissens und Gewissens und alles sittlichen Vermögens vollkommen beraubt. Bey dem unvollkommenen Recht [auf die Wohltaten anderer mir gegenüber im Stand der Natur] aber hängt noch ein Theil, nemlich der nicht gegebenen Bedingungen, von Wissen und Gewissen des Pflichtträgers ab; denn Pflichten und Gewissen scheinen für den Rechthabenden ganz entbehrliche Begriffe, unbekannte Grössen und qualitates occultae zu seyn." Vgl. Jerusalem, 115. Vgl. Jerusalem, 176. Ν III 298:15-: "Wenn ein Zusammenhang zwischen dem Physischen und Moralischen nicht geleugnet werden kann, und die verschiedenen Modificationen der Schrift und Bezeichnungsarten auch auf den Fortgang und Verbesserung der Begriffe, Meinungen und Kenntnisse verschiedentlich gewirkt haben müssen: so weiß ich nicht, wo die Schwierigkeiten herrühren, sich einen Zusammenhang zwischen sittlichen Vermögen und Lehrmeinungen vorzustellen. Das Einstimmen in Lehrmeinungen wiikt in unsere Gesinnungen, und diese in unser sittliches Urtheil und ein damit übereinstimmendes Gebaren."

6.4 'Golgatha und Scheblimini'

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Erhaltung des Daseyns, und den Gebrauch aller dazu gehörigen Mittel und Güter zu verdanken hat." (Ν ΠΙ 299:7-)· Der Sozialvertrag der Gesellschaft beruht nicht auf einem neutralen und autonomen Stand der Natur, sondern auf einem natürlichen Vertrag: dem Vertrag zwischen Gott und seiner Schöpfung! Die Natur ist von Gott geschaffen, und die Gesetze der Weisheit und Güte kommen aus seiner Hand. Der Mensch ist also nicht in erster Linie ein Rechthabender, sondern ein Pflichtträger gegenüber dem Schöpfer und den von ihm geschenkten Mitteln und Gütern der Natur. Mendelssohn gründet die Beziehungen zwischen Menschen auf ein abstraktes Recht der Natur, während Hamann sie auf die allumfassende Bundesbeziehung zwischen Schöpfer und Schöpfung zurückführt. Am Anfang von Golgatha und Scheblimini war bereits vom Bund mit Abraham die Rede. Obiges Zitat macht wiederum deutlich, daß Schöpfung und Erlösung für Hamann in einer Linie liegen. Der Bund mit Abraham ist eine Erneuerung und Bestätigung von Gottes Bund mit der ganzen Schöpfung. Im zweiten Teil von Golgatha wird diese Korrelation von Natur(Bund) und Gnaden(Bund) noch weiter ausgeführt, wozu unten Näheres. 2) Die Bundesbeziehung ist eine persönliche Beziehung zwischen Gott und Mensch als Geber und Empfänger. Das bedeutet, daß der Mensch sich nicht auf ein allgemeines und natürliches Recht auf Glückseligkeit berufen kann. Sofern er ein Recht darauf hat, ist es ein geschenktes Vorrecht170. 3) Der wahre Stand der Natur ist der Bund. Innerhalb des von Gott gestifteten Bundes ist der Mensch primär Pflichtträger, und es kann von einem ausschließlichen Entscheidungsrecht des Menschen keine Rede sein171. 4) Für Mendelssohn steht Nächstenliebe im Dienste eigenen 'Besserseyns' und eigener 'Glückseeligkeit'. In diesem egozentrischen Drang nach Selbstvervollkommnung glüht jedoch der Funke des Hochmuts und Aufruhrs gegen Gott: "Jede Lüsternheit zum Besserseyn ist der Funke eines höllischen Auf-

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Ν III 299:28-: "Er hat also weder ein physisches noch moralisches Vermögen zu einer anderen Glückseeligkeit, als die ihm zugedacht, und wozu er beruffen ist. Alle Mittel, deren er sich zur Erlangung einer ihm nicht gegebenen und beschärten Glückseeligkeit bedient, sind gehäufte Beleidigungen der Natur und entschiedene Ungerechtigkeit. Jede Lüsternheit zum Besserseyn ist der Funke eines höllischen Aufruhrs." Ν III 299:15-: "Der Mensch, als Pflichtträger der Natur hat demnach am allerwenigsten ein ausschließendes Recht und verhaßtes Monopol auf seine Fähigkeiten, noch auf die Producte derselben, noch auf die unfruchtbare Maulesel seiner Indüstrie, und traurigere Wechselbälge seiner usurpirenden Gewaltthätigkeit über die seiner Eitelkeit unterworfene Creatur wider ihren Willen. Nicht ihm selbst, nicht ihm allein, sondern jenen Gesetzen der Weisheit und Güte, die uns in dem unermeßlichen Reiche der Natur vorleuchten, ist das sittliche Vermögen untergeordnet, sich der Dinge als Mittel zu bedienen".

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Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten'

ruhrs." (N III 299:33-) Es ist die von Paulus und Luther so sehr bekämpfte Neigung zur Selbstrechtfertigung durch gute Werke. 5) Hamann richtet sein Augenmerk stark auf die Einheit von Gesinnung und Handlung. Er kommt daraufhin zum Kern seiner Widerlegung der Naturrechtstheorie Mendelssohns. Alle Vereinbarungen und also auch alle gesellschaftlichen Vereinbarungen zwischen Menschen beruhen auf dem sittlichen Vermögen, Ja oder Nein zu sagen und dieses Wort wahr zu machen. Da unsere geistigen Absichten sich lediglich in sinnlicher Sprache äußern können, darf äußere Sprache (Sprachhandlung) nicht von innerer Absicht getrennt werden172. Mendelssohn trennt die äußere Handlung von der unsichtbaren Gesinnung und der vom Handelnden beabsichtigten Bedeutung. Seiner Ansicht nach sind im Sozialvertrag innere Willenserklärungen nicht wirklich relevant. Es komme auf die Handlungen an, und die könnten notfalls erzwungen werden. Laut Hamann bedeutet eine solche Trennung das Ende jeglicher Art gerechter Gesellschaft, denn ein gesellschaftlicher Vertrag, oder irgendeine andere Vereinbarung, gehe in erster Linie davon aus, daß die Vertragspartner sich innerlich an das gesprochene Versprechen bänden. Wenn eine Vereinbarung oder ein Vertrag ihre Bedeutung nicht zunächst von der sittlichen Notwendigkeit ableiteten, das Vereinbarte auch zu halten, bleibe nichts übrig als Gewalt und das Recht des Stärksten m ; dann zerfalle die Gesellschaft völlig. Das Band einer gerechten Gesellschaft bildet die Sprache. In der Sprache inkarniert sich unsere Gesinnung, und das Aussprechen dieser Gesinnung ist ein erster und entscheidender Akt der Einhaltung des Vereinbarten174. Wir haben festgestellt, daß Hamann den Sozialvertrag in den Zusammenhang des natürlichen, von Gott geschaffenen Vertrags zwischen Schöpfer und 172

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Ν III 300:22-: " alle Gesellschaftliche Verträge beruhen, nach dem Rechte der Natur, auf dem sittlichen Vermögen Ja! oder Nein! zu sagen, und auf der sittlichen Notwendigkeit, das gesagte Wort wahr zu machen. Das sittliche Vermögen Ja! oder Nein! zu sagen gründet sich auf den natürlichen Gebrauch der menschlichen Vernunft und Sprache; die sittliche Notwendigkeit, sein gegebenes Wort zu erfüllen, darauf, daB unsere innere Willenserklärung nicht anders als mündlich oder schriftlich oder thätlich geäußert, geoffenbart und erkannt werden kann, und unsere Worte, als die natürlichen Zeichen unserer Gesinnungen, gleich Thaten, gelten müssen." Ν III 298:33-: "Bey vollkommenen Rechten tritt an die Stelle des sittlichen Vermögens physische Gewalt, und bey vollkommenen Pflichten die physische Notwendigkeit mit Gewalt erpreßter Handlungen. Mit einer solchen Vollkommenheit bekommt das ganze speculative Recht der Natur einen RiB, und läuft in das höchste Unrecht über". Ν III 300:31-: "Vernunft [die beabsichtigte Bedeutung] und Sprache [äußeres Zeichen] sind allso das innere und äußere Band aller Geselligkeit, und durch eine Scheidung oder Trennung desjenigen, was die Natur durch ihre Einsetzung zusammengefügt hat, wird Glaube und Treue aufgehoben, Lüge und Trug, Schand und Laster zu Mitteln der Glückseeligkeit gefirmelt und gestempelt"

6.4 'Golgatha und Scheblimini'

283

Geschöpf stellt. Die enge Beziehung und Rangordnung zwischen beiden Verträgen tritt am deutlichsten in der Sprache zutage, denn die Sprache, die eine gerechte Gesellschaft ermöglicht, ist ein von Gott geschenktes Recht, das auf dem schöpferischen Reden Gottes beruht. Gottes Wort ist unbedingt zuverlässig. In seinem Reden offenbart er uns seine Gesinnung, und die Verbindung zwischen seinem Reden und Handeln ist so wesentlich, daß jedes Wort Gottes ein schöpferisches Wort ist. Wir Menschen sind nach Gottes Bild geschaffen; damit ist Gottes Sprache Quelle und Norm unserer Sprache1". Der Bund zwischen Gott und Mensch ist ein Bund der Sprache. Lediglich auf der Grundlage dieses Bundes sind alle anderen Bünde und Verbindungen zwischen Menschen gültig und dauerhaft. Nach dem bisher Gesagten ist wohl verständlich, daß Hamann Mendelssohns leichtfertige Ansicht über einen Eidesbruch sehr übelnimmt. Für Hamann ist jeder Mißbrauch der Sprache bereits eine ernste Sache, eine Art Meineid, ganz zu schweigen von einem echten Meineid176. An den diesbezüglichen Stellen zeigt sich, wie es Hamann wiederum und zwar überzeugend gelingt, aufgrund der sprachlichen Grundstruktur der Wirklichkeit - in diesem Falle der Gesellschaft - den autonomen Naturbegriff der Aufklärung radikal zur Diskussion zu stellen und die Natur wieder in die personhafte Struktur des (Sprach)Bundes aufzunehmen. Das Recht der Natur ist vor allem das geschenkte Recht des Wortes. Wir dürfen uns des Wortes bedienen, aber dieser Adel verpflichtet: "Euer Ja sei Ja, euer Nein sei Nein."

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Ν III 301:18-: "Er spricht: so geschichts! - "und wie der Mensch alle Thiere nennen würde, sollten sie heissen". - Nach diesem Vor- und Ebenbilde der Bestimmtheit sollte jedes Wort eines Mannes die Sache selbst seyn und bleiben. Auf diese Ähnlichkeit des Gepräges und der Überschrift mit dem Muster unseres Geschlechts und dem Meister unserer Jugend - auf dieses Recht der Natur, sich des Worts, als des eigentlichsten, edelsten und kräftigsten Mittels zur Offenbarung und Mittheilung unserer innigsten Willenserklärung zu bedienen, ist die Gültigkeit aller Verträge gegründet". Ν III 301:28-: "Der Misbrauch der Sprache und ihres natürlichen Zeugnisses ist also der gröbste Meineyd, und macht den Übertreter dieses ersten Gesetzes der Vernunft und ihrer Gerechtigkeit zum ärgsten Menschenfeinde, Hochverräther und Widersacher deutscher Aufrichtigkeit und Redlichkeit, worauf unsere Würde und Glückseeligkeit beruht." Dunning, S.N., The tongues of men, Hegel and Hamann on religious language and history, Missoula (Montana) 1979, 152: " all use of language is, so to speak "under oath"." Vgl. Jakobus 5:12: " Vor allen Dingen aber, meine Brüder, schwöret nicht, weder bei dem Himmel noch bei der Erde noch mit keinem andern Eid. Es sei aber euer Wort: Ja, das Ja ist; und: Nein, das Nein ist, auf daß ihr nicht unter ein Gericht fallet."

284

Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten' 6.4.4 Das prophetische Wort; gegen 'Jerusalem' Teil Π

Teil zwei und die Schlußrede von Golgatha und Scheblimini sind eine Auseinandersetzung mit Mendelssohns Verständnis des Judentums in der zweiten Hälfte seines Jerusalem. Wir geben Hamanns Ausführungen in vier Punkten wieder. 1. Geschichtswahrheiten Nach Mendelssohns Ansicht besteht das Judentum aus: 1. ewigen Wahrheiten, die durch Vernunft und Natur erkannt werden; 2. historischen Wahrheiten; 3. geoffenbartem Gesetz. Der charakteristische Unterschied zum Christentum ist seines Erachtens der, daß das Judentum keine geoffenbarten Heilswahrheiten, sondern nur geoffenbartes Gesetz kennt177. Hamanns Antwort darauf ist, daß der große Unterschied zwischen Judentum und Christentum nicht ist Gesetz gegenüber geoffenbarter Lehrmeinung, sondern im Bereich der zweiten Art von Wahrheiten liege: der Geschichtswahrheiten und dem Glauben daran178. Die Grundlage beider, des Judentums und des Christentums, und ihr Unterschied liegen in Geschichtswahrheiten. Dies sind keine unverbundenen Tatsachen, die sinnlos der Vergangenheit anheimfallen und in Vergessenheit geraten, sondern Geschehnisse, die in einem prophetischen Zusammenhang der Verheißung und Erfüllung stehen, es sind //e/7itatsachen. Dieser prophetische Zusammenhang wurde durch den 'Geist der Vorsehung' angelegt, der die Geschichtswahrheiten aus der 177 178

Vgl. Jerusalem, 157; siehe oben § 6.4.2: 'Jerusalem' Teil II. Ν III 304:13 - 305:10: " und [ich] stimme mit Herrn Mendelssohn darinn gänzlich überein, daß das Judentum von keiner geoffenbarten Religion wisse, und zwar in dem Verstände, worinn es von ihm selbst genommen wird, d.i. ihnen eigentlich von Gott durch Wort und Schrift nichts bekannt gemacht und anvertraut worden sey, als nur das sinnliche Vehiculum des Geheimnisses, der Schatten von zukünfligen Gütern, nicht das Wesen der Güter selbst, deren wirkliche Mittheilung sich Gott durch einen höheren Mittler, Hohenpriester, Propheten und König, als Moses, Aaron, David und Salome» waren, vorbehalten hatte. Der charakteristische Unterschied zwischen Judentum und Christentum betrifft also weder un- noch mittelbare Offenbarung, in dem Verstände, worinn dieses von Juden und Naturalisten genommen wird -- noch ewige Wahrheiten und Lehrmeinungen -- noch Cerimoniel- und Sittengesetze: sondern lediglich zeitliche Geschichtswahrheiten, die sich zu einer Zeit zugetragen haben, und niemals wiederkommen . Dieser characteristische Unterschied zwischen Judentum und Christentum betrifft Geschichtswahrheiten nicht nur vergangener sondern auch zukünftiger Zeiten, welche vorausverkündigt und vorhergesagt werden, durch den Geist einer so allgemeinen als einzelnen Vorsehung, und die ihrer Natur nach, nicht anders als durch Glauben angenommen werden können. Jüdische Autorität allein giebt ihnen die erforderliche Authentie; auch wurden diese Denkwürdigkeiten der Vor- und Nachwelt durch Wunder bestätigt, durch Glaubhaftigkeit der Zeugen und Überlieferer bewährt, und durch eine Evidenz wirklicher Erfüllungen unterstützt".

6.4 'Golgatha und Scheblimini'

285

Vergangenheit als Verheißungen in Verbindung setzt zu zukünftigen Ereignissen der Erfüllung. Mendelssohn verkennt mit seinem verengten Offenbarungsbegriff den prophetischen Gehalt der jüdischen Geschichte und Religion. Er sieht lediglich die äußere Tatsache, das 'Vehiculum', den Schatten, aber nicht das Geheimnis selbst: Christus und die zukünftigen Güter, die er uns schenkt. Dadurch daß er die neutestamentlichen Geschichtswahrheiten nicht als Heilstatsachen akzeptiert, beraubt er das Alte Testament seiner prophetischen Bedeutung. Wie sein Freund Lessing und viele andere Aufklärungsdenker weiß auch Mendelssohn nichts mit der Bedeutung kontingent-historischer Tatsachen anzufangen; auch er reduziert schließlich den Inhalt seines Glaubens auf überzeitliche Vernunftwahrheiten. Die ganze jüdische Geschichte (einschließlich der neutestamentlichen Zeit) wird damit ihres sinnverleihenden Gehalts beraubt. 2. Glaube Im Anschluß an das Vorhergehende legt Hamann dar, was Glaube ist. Glaube ist nicht das Für-wahr-halten überzeitlicher Wahrheiten und ist mehr als Kenntnis historischer Tatsachen. Glaube ist das Vertrauen auf die heilsgeschichtliche und verheißungsvolle Bedeutung von Heilstatsachen179. Im Glauben haben wir Teil an der prophetischen Dynamik der (Heils)Geschichte, sehen wir die geistige Bedeutung des geschichtlichen 'Buchstabens', wodurch der geschichtliche 'Buchstabe' glaub-würdig wird. Bei der Erörterung von Golgatha Teil I wurde deutlich, wie das Verhältnis von Buchstabe und Geist in der Sprache die vertikale Grundstruktur des Bundes bildet. Im zweiten Teil von Golgatha konzentriert Hamann sich auf die horizontale Dynamik des Bundes, die fortschreitende Dialektik von Buchstabe und Geist, Gesetz und Evangelium, Verheißung und Erfüllung. Als Aufklärungsphilosoph verselbständigt Mendelssohn laut Hamann die Natur und nimmt ihr die vertikal-transzendierende Ausrichtung. Als gesetzlicher Jude tut er in horizontal-geschichtlicher Richtung dasselbe: er beraubt das Alte Testament seiner typologischen und prophetischen Tragweite und läßt es isoliert stehen innerhalb der Grenzen der sittlichen und Zeremonialgesetze. Er und die anderen Juden haben aus den mosaischen Gesetzen und

179

Glaube ist "Vertrauen, Zuversicht, getroste und kindliche Versicherung auf göttliche Zusagen und Verheißungen, und den herrlichen Fortgang ihres sich selbst entwickelnden Lebens in Darstellung von einer Klarheit zur andern, bis zur völligen Aufdeckung und Apokalypse des am Anfange verborgenen und geglaubten Geheimnisses in die Fülle des Schauens von Angesicht zu Angesicht" (N III 305:14-).

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Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten'

den rabbinischen Überlieferungen ein goldenes Kalb und aus Moses einen Papst gemacht180. Das Christentum hingegen "glaubt nicht an Lehrmeinungen der Philosophie, an keine Gesetze, die auch ohne Glauben daran gethan werden müssen . Nein, das Christentum weiß und kennt keine andere Glaubensfesseln181, als das feste prophetische Wort in den allerältesten Urkunden des menschlichen Geschlechts182 und in den heiligen Schriften des ächten Judentums, ohne samaritanische Absonderung183" (Ν ΙΠ 306:14-). 3. Die prophetische Bedeutung des Alten Testaments Hamann hält Mendelssohns Einschränkung der besonderen Offenbarung an Israel auf das Gesetz für eine Verkennung der Dialektik von Gesetz und Glaube, die im Alten Testament bereits vollständig vorhanden ist. Abraham, der Vater des Glaubens, glaubte dem Ewigen und war froh, "daß er Seinen Tag sehen sollte" (Ν ΙΠ 305:20-). Abraham glaubte "vor dem Gesetz", wie seine "Kinder und Erben der Verheißung nach dem Gesetze" (N III 307:25-), und Mose war nicht nur Gesetzgeber, wie Mendelssohn suggeriert, sondern auch Prophet. So besteht auch das Alte Testament aus Gesetz und Propheten184. Ferner: Obwohl die Juden vom Sklavenjoch Ägyptens befreit waren, machten sie sofort danach das Gesetz zu 'Handlungsfesseln' und zum 'Zuchtmeister'185. Sind sie innerlich denn noch immer unfrei?186 Es ist auffällig, daß Hamann Mendelssohn den gleichen Vorwurf macht, wie letzterer in Jerusalem den heidnischen Völkern, die die Zeichen und Bilder ihrer verweisenden Bedeutung beraubten und schließlich als Götter verehrten. Um das zu verhindern, gab Gott Israel die sittlichen und Zeremonialgesetze. Nach Hamanns Ansicht fallt Mendelssohn ins Schwert seiner

>M 1(1 1.2 1.3 1M

1,5 186

Vgl. Ν III 306:2-. So bezeichnet Mendelssohn die christlichen Dogmen und Bekenntnisschriften. Vgl. Herders Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (1774, über die Genesis). Also einschließlich der Propheten! Ν III 305:24-: "Dem Gesetzgeber Moses aber wurde der Eingang in das Land der Verheißung rund abgeschlagen; Der ganze Moses demnach sammt allen Propheten ist der Fels des christlichen Glaubens, und der auserwählte köstliche Eckstein, der von den Bauleuten verworfen, auch ihnen zum Eckstein, aber des Anstoßes, zum Felsen des Skandals geworden ist, daß sie sich aus Unglauben stoßen an das Wort, worauf ihr ganzes Gebäu beruht.'' Vgl. Ν III 306:36-. Ν III 307:5-: "Der außerordentliche Geschmack an Gesetzgebung und der königliche Luxus darinn beweist eine eben so große Unfähigkeit sich selbst, als seines gleichen zu regieren, und ist ein gemeinschaftliches Bedürfnis für Sclaven und ihnen ähnliche Despoten."

6.4 'Golgatha und Scheblimini'

287

eigenen Kritik: er selbst beraubt das jüdische Gesetz seiner prophetischen Verweisungskraft und verwandelt es in einen isolierten und tödlichen 'Buchstaben'! Mendelssohn bedauert, daß wir nach der Erfindung der Schrift Buchstabenmenschen geworden sind187, aber ist er selbst nicht auch ein Buchstabenmensch, ein Sklave des Gesetzes?1" Seit dem Tod und der Auferstehung Christi ('Golgatha und Scheblimini') ist das jüdische Gesetz abgeschafft und "ist das Himmelreich des Gesalbten eingeführt worden - und gleich einem Schmetterlinge dem leeren Raupengespinnste und der todten Puppengestalt des Judentums entflogen!" (N III 308:12-). Die isolierte und zeitgebundene, kirchenrechtliche und staatliche Bedeutung des jüdischen Gesetzes ist nach Christi Erscheinen nichts mehr als eine 'todte Puppengestalt'. Die tiefere Bedeutung des jüdischen Gesetzes ist jedoch die prophetische, die Ursache dafür ist, daß das Alte Testament noch lange nicht überholt ist189. Die Geschichte und Religion Israels empfangen und behalten ihre eigene, selbständige Bedeutung durch ihre typologische Ausrichtung auf Christus. In den Büchern Moses tritt diese typologische Bedeutung viel deutlicher in den erzählenden Berichten (über die Geschichtswahrheiten) zutage, als in den Teilen über das Gesetz190. Die Genesisgeschichten machen deutlich, welches der eigentliche prophetische Platz Israels ist: typologisch steht Israel zwischen den Heiden und Christus. Die Verheißungen für das ganze Menschengeschlecht werden auf diesem besonderen Weg der jüdischen Geschichte, die in das Kommen Christi mündet, erfüllt. Innerhalb dieser Perspektive ist das Judentum keine tote 'Puppengestalt': " so bleibt doch der Jude immer der eigentliche ursprüngliche Edelmann des ganzen menschlichen Geschlechts" (Ν ΠΙ 309:12-)191. Dann kann Hamann sogar positiv über das jüdische Gesetz sprechen: "Die Dauer ihrer Gesetzgebung ist vollends der stärkste Beweis von der Kraft ihres Urhebers, von der Überlegenheit seiner zehn Worte über die zusam-

1,7 1M 1,9

190

191

Vgl. Jerusalem, 169 f. Vgl. zur Charakterisierung Mendelssohns und der anderen Juden als 'Buchstabenmenschen' u.a.: Ν III 296:13, 298:13-, 302:27. Ν III 308:29-: "Nein, die ganze Mythologie der hebräischen Haushaltung war nichts als ein Typus einer transcendenteren Geschichte, der Horoskop eines himmlischen Helden, durch dessen Erscheinung alles bereits vollendet ist und noch werden wird, was in ihrem Gesetze und ihren Propheten geschrieben steht". Ν III 308:36-: "Unendlich schätzbarer ist die allerälteste Urkunde [Genesis], weil selbige das ganze menschliche Geschlecht angeht und Moses zugleich die wahren Verhältnisse desselben zu seinem Volke ohne selbstsüchtige Vorurtheile aufklärt, sich eben so sehr durch die einzelne Bruchstücke der ersten Vorwelt, als durch den ausführlichen Plan der Vorsehung, welche ihn zum Werkzeuge ihrer öffentlichen Anstalten erwählte, um die späteste Nachwelt unsterblich verdient gemacht hat." Vgl. ZH V 312:30-,

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Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten'

mengebettelte zwölf Tafeln192 Moses bleibt der grosse Pan, gegen den alle Pharaonen und ihre Schwarzkünstler ganz und gar seruumpecus193 sind." (N III 309:19-)· Israel steht typologisch zwischen Christus und der Menschheit. Die heidnischen Völker haben ohne die Geschichte Israels keinen Zugang zum Geheimnis Christi. Hermeneutisch hat die Geschichte des jüdischen Volkes eine universale und einzigartige Bedeutung, denn wie die Geschichte Israels lediglich von Christus als hermeneutischem Zentrum aus verstanden werden kann, so kann die Geschichte aller anderen Völker nur von der in Christus zentrierten Geschichte Israels aus verstanden werden194. Um das hermeneutische Zentrum von Kreuz und Auferstehung ('Golgatha und Scheblimini') liegt als erster konzentrischer Kreis das Judentum, und als zweiter Kreis um diesen die Geschichte und Religion aller andern Völker195. Von dieser typologischen Zentrierung aus erkennen wir bei den heidnischen Völkern vielleicht ein 'Analogon' zur jüdischen Sehnsucht nach dem Messias, nach einem 'himmlischen Retter und Ritter'196. Exkurs: Hamann und Lessing über das Alte Testament Hamann bezeichnet die jüdische Geschichte als ein 'Elementarbuch', einen 'Fingerzeig', Ausdrücke, die er Lessings Die Erziehung des Menschengeschlechts entnimmt1S7. Hamann und Lessing wollen beide damit zum Ausdruck bringen, daß die Geschichte Israels ein erstes Stadium in der Geschichte der Offenbarung ist. Sie teilen die Auffassung, daß die Offen192 1,3 1M

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OT

Die Leges XII tabularum, die ersten römischen Gesetze (ca. 450 v. Chr). 'Sklavisches Vieh* (Horaz); vgl. Ν II 85:12, 31. Der Name Christi ist "der verborgene Schatz aller außerordentlichen Gesetzgebungen, und mythologischen Religionsoffenbarungen, die köstliche Perle zwischen den beyden Austerschalen des Judentums und Heidentums". (Ein Fliegender Brief, W (78):24-); vgl. Konxompax, Ν III 226:22-: " der Brennpunkt aller Parabeln und Typen im ganzen Universo". Ν III 311:4-: "Daher scheint die ganze Geschichte des jüdischen Volks, nach dem Gleichnisse ihres Ceremonialgesetzes, ein lebendiges geist- und herzerweckendes Elementarbuch aller historischen Litteratur im Himmel, auf und unter der Erde ~ ein diamantner, fortschreitender Fingerzeig auf die Jobelperioden und Staatsplane der göttlichen Regierung über die ganze Schöpfung von ihrem Anfange bis zu ihrem Ausgange zu seyn". Ν III 311:17-: "Nicht nur die ganze Geschichte des Judentums war Weissagung; sondern der Geist derselben beschäftigte sich vor allen übrigen Nationen, denen man das Analogon einer ähnlichen dunkeln Ahndung und Vorempfindung vielleicht nicht absprechen kann, mit dem Ideal eines Retters und Ritters, eines Kraft- und Wundermanns, eines Goel's, dessen Abkunft nach dem Fleisch aus dem Stamme Juda, sein Ausgang aus der Höhe aber des Vaters Schooß seyn sollte." 'Fingerzeig': Bd. XIII, 426 (§ 46), 'Elementarbuch': Bd. XIII421 (§ 26), 426 (§§ 50 und 51).

6.4 'Golgatha und Scheblimini'

289

barung ein fortlaufender Prozeß ist, in dem Gottes Wahrheit immer vollständiger kundgetan wird. Worin unterscheiden sich Hamann und Lessing nun? Lessing sieht die Offenbarung als einen pädagogischen Prozeß, durch den wir ewige Wahrheiten kennenlernen, die die Vernunft im Prinzip auch ohne Zutun der Offenbarung entdeckt haben könnte15". Wenn wir diese Wahrheiten kennen, ist der vorhergehende Lernprozess nicht mehr von Belang. Das Alte Testament hat seit dem Erscheinen Christi, 'dem zuverlässigen Lehrer', keine Bedeutung mehr. Für Hamann ist Offenbarung die Offenbarung der Liebe Gottes, und diese Liebe kommt nicht in zeitlosen Wahrheiten, sondern in der Geschichte zum Ausdruck. Damit historische Tatsachen als Taten und Zeichen der Liebe Gottes verstanden werden können, müssen sie von der Offenbarung in Christus Und der jüdischen Geschichte aus, die Christus zur Vollendung bringt, interpretiert werden. Ohne das Alte Testament kann Christi Werk nicht verstanden werden und umgekehrt. Das Alte Testament und die Geschichte sind 'überholt', soweit sie erfüllt sind, aber als geschichtlich-hermeneutischer Horizont dieser Erfüllung sind sie keineswegs überholt. Ewige Wahrheiten können ohne Kontext verstanden und angenommen werden; deshalb kann Lessing die Geschichte schließlich hinter sich lassen. Geschichtliche Wahrheiten hingegen sind ohne hermeneutischen Kontext bedeutungslos. Ein anderer Unterschied zu Lessing ist die Kategorie der Verborgenheit. In dieser Welt sehen wir nie von Angesicht zu Angesicht. Eine zunehmende Enthüllung geht Hand in Hand mit einer zunehmenden Verhüllung. Gottes verborgene Wahrheit läßt sich nur im Glauben erkennen. 4. Juden und Griechen und das unendliche Mißverhältnis zwischen Gott und Mensch Mendelssohns Definition der 'Kirche' lautete: "Öffentliche Anstalten zur Bildung des Menschen, die sich auf Verhältnisse des Menschen zu Gott beziehen"199. Hamann hält diese Definition für eine spekulative Verkennung des wirklichen 'Verhältnisses' von Gott und Mensch. Statt einer heilen Beziehung, die als Grundlage für die Erziehung des Menschen dienen kann, besteht zwischen ihm und uns ein großer Abstand, ein 'unendliches Mißverhältnis'200. Dieser Abstand muß erst dadurch überbrückt werden, daß der

199 200

Vgl. Die Erziehung, Bd. XIII, 416 (§ 4). Jerusalem, 110. Ν III 312:36-: "Bey dem unendlichen Misverhältnisse des Menschen zu Gott, sind "öffentliche Bildungsanstalten, die sich auf Verhältnisse des Menschen zu Gott beziehen", lauter ungereimte Sätze in trocknen Worten, welche die inneren Säfte anstecken, je mehr ein speculatives Geschöpf davon einzusaugen bekommt."

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Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten'

Mensch göttlich wird, oder daß Gott Fleisch und Blut annimmt. Juden und Naturalisten tun ersteres unter dem Deckmantel des zweiten. Juden vergöttlichen ihr Gesetz und Naturalisten ihre Vernunft, während sie so tun, als ob es Gaben Gottes wären. Das jüdische Gesetz und die naturalistische Vernunft sind beide mit dem hölzernen (Götzen)Bild der Pallas Athene zu vergleichen, das aus dem Himmel gefallen sein soll, um Troja zu beschützen; Troja wurde trotzdem eingenommen201. Wir haben schon häufiger festgestellt, daß Hamann Parallelen zwischen dem Judentum und der Philosophie sieht. Der Jude verschafft sich eine autonome Stellung Gott gegenüber, indem er sich im 'Buchstaben' des Gesetzes verschanzt; die Aufklärungsphilosophen tun das Gleiche, indem sie die Vernunft verabsolutieren202. In der Person Mendelssohns zeigt sich die Verwantschaft zwischen Juden und Griechen ganz deutlich. Er ist jüdischer Grieche und griechischer Jude zugleich. Als Philosoph verselbständigt er Natur und Vernunft, als Jude verselbständigt er das Gesetz. Auf zweierlei Weise verbannt er so Gottes Geist aus Natur und Geschichte. Die Verwandtschaft zwischen dem Juden und dem Griechen ist sogar so stark, daß sie die Rollen tauschen können, ohne sich dessen selbst bewußt

201

302

Ν III 313:2-: "Um erstlich das unendliche Misverhältnis zu heben und aus dem Wege zu räumen, ehe von Verhältnissen die Rede seyn kann, welche öffentlichen Anstalten zum Beziehungsgrunde dienen sollen, muß der Mensch entweder einer göttlichen Natur theilhaftig werden, oder auch die Gottheit Fleisch und Blut an sich nehmen. Die Juden haben sich durch ihre göttliche Gesetzgebung, und die Naturalisten durch ihre göttliche Vernunft eines Palladiums zur Gleichung bemächtigt". In einem Brief an Jacobi gibt Hamann eine kurze Erläuterung dieser Stelle. Daraus geht hervor, daß er dabei nicht nur und an erster Stelle an die Sünde, sondern an den qualitativen Abstand zwischen Schöpfer und Geschöpf denkt. Diesen Abstand, der durch die Sünde vergrößert wird, überbrückt Gott selbst durch eine fortschreitende Herablassung in seine Schöpfung. ZH V 329:20-, an Jacobi: "Der Knoten des Misverhältnißes liegt zwar in unserer Natur, kommt aber wie sie selbst nicht von uns, und wird durch kein philosophisches Tichten und Trachten aufgelöst werden. De us intersit - dignus vindice nodus! Ohne diesen Knoten wäre kein Hexameron gedacht worden - und an keine Ruhe, nach verrichter Arbeit." Vgl. 319:23-. Der 'Knoten* liegt also in der Schöpfung selbst, die bereits vor dem Sündenfall auf die 'Auflösung' durch Christus angelegt ist. Vgl. zum 'Knoten' der menschlichen Natur § 4.6.1. Bei Kant geht das Hand in Hand mit einer Reinigung der Vernunft. Die Schlußzeilen der Metakritik lauten: "Vielleicht ist aber ein ähnlicher Idealismus die ganze Scheidewand des Judentums u. Heidentums. Der Jude hat das Wort u. die Zeichen; der Heide die Vernunft und ihre Weisheit-" (ZH V 216:32-). Der Heide verabsolutiert die Vernunft dadurch, daß er sie vom sinnlichen 'Buchstaben' löst; der Jude trennt den Buchstaben vom Geist. Als Hamann eine Abschrift der Metakritik an Herder schickt, schreibt er in dem begleitenden Brief: "Die Folge [die Fortsetzung der Metakritik} war eine 'metabasis eis alio genos' [das 'genos' Judentum] . Ich habe also das vornehmste in das kleine Golgatha [Golgatha und Scheblimini] verpflantzt." (ZH V 217:1-).

6.4 'Golgatha und Scheblimini'

291

zu sein203. Statt ihren Messias zu erwarten, haben die Juden die 'Leiche' des mosaischen Gesetzes zum Gott gemacht. Die Griechen hingegen sehnen sich nach der vollkommenen Wissenschaft, 'der Königin, die noch kommen soll'. Damit bezieht Hamann sich auf Kant, der im Vorwort der Kritik der reinen Vernunft die Metaphysik "die Königin aller Wissenschaften" nennt und die Erwartung ausspricht, daß die Metaphysik "in kurzer Zeit" vollendet werde204. Freilich, wie die Juden eine Leiche aus der Vergangenheit verehren, so setzen die Griechen ihre Hoffnung auf etwas, das' sich ebenfalls als Leiche herausstellt (wie Isebel auf dem Acker von Jesreel). Außer Kant erwähnt Hamann noch ein anderes Beispiel eines judaisierenden Griechen: David Hume. Am Schluß der Dialogues concerning natural religion seufzt Hume mit dem Munde Philos, die Vernunft sei in der Frage der Existenz Gottes so ohnmächtig, daß wir nach einer himmlischen Person, einem "adventitious Instructor" Ausschau halten müßten, der uns die ganze Wahrheit offenbare werde. "Ein philosophischer Skeptiker zu sein, ist bei einem Gelehrten der erste und wesentlichste Schritt, um ein gesunder, gläubiger Christ zu werden"205. In diesem Seufzer und der Hoffnung Philos findet Hamann eine ausgezeichnete Bestätigung seiner Hume-Interpretation206. Wie durchs Gesetz, so lernen wir auch durch die Vernunft unsere Ohnmacht kennen, und wie das Gesetz, so kann auch die Vernunft zu einem Zuchtmeister auf Christus werden. Dennoch vollzieht Hume ebenso wie die Juden diesen letzten Schritt nicht. Mit einem 'jüdischen Anachronismus' verlangt Hume auch weiterhin sehnlichst nach einem, 'adventitious Instructor', während der Messias schon vor langer Zeit gekommen ist!207

203

204 205

206

207

Ν III 315:28-: "Es ist allerdings betrübt nicht zu wissen, was man selbst ist [nämlich Jude oder Grieche], und beynahe lächerlich, gerade das Gegenteil von dem, was man will und meynt, zu seyn. Der Jude also ohne einen andern Gott, als über den vor dreytausend Jahren Michael, der Erzengel, sich zankte [vgl. Judas, 9.]; der Grieche, seit zweitausend Jahr in Erwartung einer Wissenschaft und Königin, die noch kommen soll, und von der man einmal wird sagen können: das ist Isabel!" Kritik der reinen Vernunft, A VIII, XX. Hume, D., Dialogues concerning natural religion, in: The natural history of religion, A.W. Colver (Hrsg.), und Dialogues concerning natural religion, J.V. Price (Hrsg.), Oxford 1976, (99-261), 261: "To be a philosophical Sceptic is, in a man of Letters, the first and most essential Step towards being a sound, believing Christian". Vgl. Hamanns Übersetzung einer vergleichbaren Stelle aus Humes Treatise in den Königsbergschen gelehrten und politischen Zeitungen (1771), Ν IV 364-367. Ν III 316:12-: "Selbst einem David Hume widerfährt's daß er judenzt und weissagt, wie Saul, der Sohn Kis. Wenn Philo die Anwandelung seines Erstaunens, seiner Schwermuth über die Größe und Dunkelheit des unbekannten Gegenstandes, und seine Verachtung der menschlichen Vernunft, daß sie keine befriedigende Auflösung einer so außerordentlichen und pompösen Frage seines Daseyns geben kann, endlich gebeichtet: so verliert sich doch die ganze Andacht der natürlichen Religion in dem

292

Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahiheiten' 6.4.5 Eine faire Beurteilung Mendelssohns?

Golgatha und Scheblimini ist in der Kritik an Mendelssohn äußerst scharf. Bei einigen oben nicht zitierten Stellen kann man sich fragen, ob Hamann nicht zu weit geht. Sogar Lavater schrieb Hamann, daß er seine Schwierigkeiten mit dem 'schwertscharfen' Ton von Golgatha habe20". Mendelssohn und seine Berliner Freunde waren vor allem über Hamanns Vorwurf des 'atheistischen Fanatismus' empört209. Atheismus, Spinozismus oder Epikureismus, und noch dazu in einer schwärmerischen Form, waren im achtzehnten Jahrhundert eine sehr schwere Beschuldigung. Zu einem richtigen Verständnis dieses Vorwurfs muß berücksichtig werden, daß es sich um ein Cento aus dem Johannesevangelium und aus Jerusalem handelt. In Jerusalem äußert sich Mendelssohn scharf gegen möglichen Fanatismus beim Atheismus210. Was Hamann selbst in diesem konkreten Fall unter 'Atheismus' versteht, sagt er mit einem Zitat aus Johannes 5: 23: " denn wer den Sohn leugnet, hat auch den Vater nicht, und wer den Sohn nicht ehrt, der ehrt auch den Vater nicht."211 (Ν ΙΠ 315:21-). Freilich ist aus Hamanns Briefen zu spüren, daß er sich doch Gedanken machte, ob er seinen Freund - denn so sah er Mendelssohn - nicht unfair behandelt habe212. Als er 1786 den Bericht von Mendelssohns Tod empfing, war er sehr bestürzt und

208 209 210 211

2,2

jüdischen Anachronismum eines sehnlichen Verlangens und Wartens, daß es dem Himmel gefallen möchte, die Schmach einer so groben Unwissenheit wo nicht zu heben, doch wenigstens durch ein ander Evangelium als des Kreutzes, und durch einen Parakleten, der noch kommen soll (adventitious Instructor) zu erleichtern." Laut Dunning, op.cit., 166 f., und Schreiner, HH 7, 157, bezieht Hamann "seines Daseyns" hier auf Philo, so daß es nicht mehr um die Frage nach dem Dasein Gottes, sondern Philos selbst gehL In An enquiry concerning human understanding sagt Hume, daß das Dasein von 'external objects' nicht bewiesen, sondern lediglich geglaubt werden könne; vgl. hierzu § 4.3.1 (über die Sokratischen Denkwürdigkeiten). Wir fragen uns, ob "seines" sich nicht doch auf Gott als den "unbekannten Gegenstand[es]" bezieht, wobei Hamann vermutlich auch an 'den unbekannten Gott' in Apg. 17:23 denkt. Vgl. ZHV 245:15-. Vgl. Ν III 315:19-, 309:35-. Vgl. Jerusalem, 201 Fußnote. Vgl. auch Hamanns Shaftesbury-Übersetzung, Ν IV 152:28-, Vgl. ZH V 351:13-. Vermutlich denkt Hamann auch an die Äußerungen Mendelssohns über die Dialogues von David Hume: "Sie enthalten die platteste Atheisterey, von der verwildersten Zweifelsucht unter tausend grotesken Gestalten dargestelllt, die den Leser immer aus einem Winkel in den andern äffen, und indem er sie greifen will, verschwinden. Die ganze Broschüre scheint eine bloße Neckerey zu seyn, mit welcher Hume irgend einen dogmatischen Großsprecher hat rasend machen wollen, und verdient keine ernsthafte Widerlegung." Gesammelte Schriften, Bd. 11, 486. Vgl. u.a. ZH VI 229:7-, 255:29-.

6.4 'Golgatha und Scheblimini'

293

tat es ihm leid, daß er Mendelssohn keinen Versöhnungsbrief geschrieben hatte213. Bei der Beurteilung der Kritik Hamanns an seinem jüdischen Freund muß man zwischen dem aufgeklärten Philosophen Mendelssohn und dem Juden Mendelssohn unterscheiden. Der Philosoph Mendelssohn wurde unseres Erachtens durchaus gerecht behandelt. Hamanns Analyse seines Naturrechtes ist präzise und korrekt. Hätte er freilich nicht etwas mehr Rücksicht auf die verletzliche Lage Mendelssohns als Jude nehmen können? Hamanns Schärfe läßt sich aus seiner Entrüstung darüber erklären, daß sein geschätzter jüdischer Freund den Adel seines jüdischen Glaubens verschleudert, indem er einen Pakt mit der Aufklärungsphilosophie schließt. Hätte er trotzdem nicht zurückhaltender sein müsen, da Jerusalem doch zunächst ein Plädoyer für die Gleichberechtigung der Juden ist? Hamanns Antwort darauf lautet, daß es den Juden keinerlei Vorteil bringe, sich mit der Philosophie und der Politik Friedrichs des Großen zu liieren. Das Naturrecht, auf das Mendelssohn sich gründe, sei eine Philosophie des Egoismus und Despotismus, des gleichen Despotismus, unter dem er als kleiner preußischer Beamter auch zu leiden habe. Unseres Erachtens kann man Hamann in einem Punkte den Vorwurf machen, Mendelssohn nicht gerecht geworden zu sein. Er erwähnt nämlich die schönen Seiten in Jerusalem über 'die Lehre von der Barmherzigkeit Gottes' mit keinem Wort. Gewiß passen sie nicht in den Rahmen der Aufklärungstheologie Mendelssohns, aber gerade hier ist er mehr als ein rationalistischer und gesetzlicher Jude, hier läßt er sich vom prophetischen Geist des Alten Testaments mitreißen. In diesen bewegten Worten über die Barmherzigkeit und Langmut Gottes hätte Hamann ein gemeinsames Glaubensbekenntnis finden können, das seine Kritik an Mendelssohn stärker und überzeugender gemacht hätte. Mendelssohn war in Jerusalem auf glückliche Weise inkonsequent, Hamann in Golgatha zu konsequent. Golgatha und Scheblimini wurde u.a. von Goethe, Herder, Lavater und Jacobi positiv aufgenommen214. Ob sie es wirklich gut verstanden haben, ist allerdings sehr die Frage. Ihre Anerkennung entsprang einer gemeinsamen Abneigung gegen das rationalistische Berlin. Dieses Berlin rezensierte Golgatha in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek durch eine herablassende und nichtssagende Besprechung von J.A. Eberhard. Hamann nahm sich vor, darauf mit einem kleinen Werk zu reagieren, das seine Autorschaft abschlie-

213 214

Vgl. ZH VI 227:10-. Vgl. zu einem Überblick über die Reaktionen ΗΗ 7, 34-36.

294

Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten'

ßen sollte: Entkleidung und Verklärung, Ein fliegender Brief an Niemand den Kundbaren.

65 'Ein fliegender Brief: wiederum über die prophetische Tragweite der alttestamentlichen Geschichte 6.5.1 Entstehungsgeschichte und Titel215 Nach dem Erscheinen von Golgatha und Scheblimini wartet Hamann mit viel Ungeduld auf eine Rezension in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, da er hofft, durch die erwartete Kritik einen Impuls für eine neue Schrift zu bekommen. Groß ist seine Enttäuschung, als er die Rezension im November 1785 zu sehen bekommt216. Der Rezensent war J.A. Eberhard, was Hamann allerdings nie entdeckt hat. Eberhard bespricht nacheinander drei Reaktionen auf Mendelssohns Jerusalem von J.F. Zöllner, Hamann und J.H. Schulz. Allerdings vermeidet er jegliche kritische Auseinandersetzung mit Hamann durch einen Hinweis auf dessen Unverständlichkeit. Ziemlich von oben herab stellt er fest, daß Hamann und sein Witz bisher wohlwollend verschont geblieben seien: " wir haben sie bisher ertragen, ob sie gleich den meisten nicht gefiel, weil sie mehr Verkleidung als Bekleidung schien."217 In ernsthaften Fragen allerdings, wie Mendelssohn sie dargelegt habe, könne Hamanns rätselhafte und zuweilen beleidigende Sprache nicht mehr akzeptiert werden. Da die Gefahr groß sei, den Verfasser mißverstanden zu haben, sei es besser, sich nicht an eine Beurteilung zu wagen. Eberhard erwähnt nur zwei Punkte, darunter den folgenden: "daß die Absicht der mosaischen Religionshandlungen ihre typische Bedeutung sey"21\ aber er geht nicht weiter darauf ein, während dies ja gerade das Hauptthema von Golgatha und Scheblimini ist. Auf dieses Thema kommt Hamann in Einem fliegenden Brief ausführlich zurück. Obwohl Hamann sehr enttäuscht ist, entschließt er sich doch, mit Einem fliegenden Brief zur Gegenreaktion anzusetzen. Während des Schreibens konzentriert er sich auf folgendes Ziel: 1) Abschluß seines schriftstelleri215

216 217 211

Vgl. Wild, R., 'Metacriticus bonae spei' .Johann Georg Hamanns 'Fliegender Brief, Einführung, Text und Kommentar, Bern/Frankfurt am Main 1975,53-55,60-64, Jansen Schoonhoven, Jodendom, Christendom, Verlichting, 128-132. Vgl. Wiener, G.A., Hamann's Schriften, Herausgegeben von Fr. Roth, Theil 8, Erste Abt., Nachträge, Erläuterungen und Berichtigungen, Berlin 1842, 381-386. Wiener, op.cit, 8,1, 382 f. Wiener, op.cit., 8,1, 384.

6.5 'Ein fliegender Brief

295

sehen Schaffens, 2) durch Enthüllung seines christlichen Selbstverständnisses, 3) anhand einer weiteren Kritik an Mendelssohn. Den Vorwurf Eberhards, sein Stil sei eher eine 'Verkleidung' als eine 'Bekleidung', nimmt Hamann zum Anlaß, seine Autorschaft mit einer 'Entkleidung' und einer 'Verklärung' zu beendigen. Nackt vor Gott und den Menschen, will er sich und die Bedeutung seiner Autorschaft enthüllen, eine 'Entkleidung', die einer 'Verklärung durch Gott', dem Wissen, durch Gottes rettende Gnade bekleidet zu sein, entspricht219. Ein fliegender Brief ist zugleich eine Reaktion auf Mendelssohns Morgenstunden (1785), worin Mendelssohn für seinen Freund Lessing eintritt, der von J.H. Jacobi des Spinozismus und des Atheismus bezichtigt war. Hamann denkt allerdings, daß die Morgenstunden zunächst eine Antwort auf seinen eigenen Vorwurf des Atheismus gegen Mendelssohn in Golgatha und Scheblimini sind220. Seit dem 17. Dezember 1785 arbeitet Hamann an einer ersten Fassung von Einem fliegenden Brief Im Sommer 1786 stockt die Arbeit. Im Frühjahr 1787 fängt er mit einer zweiten Fassung an, die allerdings auch nicht abgeschlossen wird221. R. Wild hat nachgewiesen, daß das Scheitern der ersten und der Unterschied zur zweiten Fassung mit Hamanns anfänglicher Unsicherheit darüber zusammenhängen, ob er Mendelssohn vor allem als Berliner Rationalisten oder als Juden ansprechen soll. Zugespitzt auf den Titel Jerusalem: bezieht er sich auf Berlin oder auf die Stadt der jüdischen Zukunftserwartung?222 Zum Titel Entkleidung und Verklärung, Ein fliegender Brief an Niemand den Kundbaren noch folgendes. Der Ausdruck 'Ein fliegender Brief kommt aus Sach. 5: 1,3: "Und ich hob meine Augen abermal auf, und sähe, und siehe, es war ein fliegender Brief. Und er sprach zu mir: Das ist der Fluch, welcher ausgehet über das ganze Land". Hamann versteht seine letzte Schrift also als eine Urteilsverkündigung an 'Niemand den Kundbaren', wie er bereits in den Somatischen Denkwürdigkeiten die aufgeklärte Leserschaft genannt hatte223. Mit einer letzten 'Entklei-

2,9 220

221

222 223

Vgl. zu 'Entkleidung' und 'Verklärung': Wild, 'Metacriticus', 69-72. Vgl. ZH VI 119:21-, 154:21-, 188:22, 201:19-; Christ, K., 'Johann Georg Hamann (1730-1788), Eine Portraitskizze nach hypochondrischen Briefen', in: Knoll (Hrsg.), Johann Georg Hamann 1730-1788, (233-276), 254. Wild gibt in 'Metacriticus' eine verbesserte Textausgabe beider Fassungen. Die folgende Erörterung bezieht sich darauf. Wilds Textausgabe hat eine eigene Numerierung, die wir mit einem 'W' kennzeichnen, um Verwechslung mit der Numerierung von Wilds Buch zu vermeiden. Vgl. Wild, 'Metacriticus', 90-91, 95-96, 197, 205. Vgl. Ν II 59:1-.

296

Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten'

dung und Verklärung' schließt er den Bogen seiner Autorschaft, die von den Sokratischen Denkwürdigkeiten an ein christliches Zeugnis gegen den 'Geist des Jahrhunderts' war. Der Kern der Schrift Ein fliegender Brief besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil legt Hamann in Reaktion auf das Unverständnis des Rezensenten und anderer Leser seines Werkes näher dar, was er die "typische Bedeutung meiner Autorschaft" nennt"4. Er veranschaulicht dies durch eine Auslegung des Titels Golgatha und SchebliminP25. Darauf folgt im zweiten Teil eine Kritik von Mendelssohns Jerusalem, oder über religiöse Macht und Judenthum, ebenfalls anhand einer Analyse des Titels22®. Obwohl der erste der beiden Teile eine gute Erläuterung Hamanns zum Stil und zur Hermeneutik seiner Autorschaft ist, soll im Blick auf das Thema dieses Kapitels lediglich der zweite Teil mit der Fortsetzung der Mendelssohnkritik in Golgatha erörtert werden.

6.5.2 Der Geist der Weissagung Nachdem er die typologische Bedeutung seiner Autorschaft im ganzen dargelegt hat, wendet Hamann sich einer biblisch-typologischen Interpretation des Titels Golgatha und Scheblimini zu, die in eine Kritik an Mendelssohns Buch übergeht. Dies geschieht ebenfalls anhand einer Analyse des Titels und aus derselben typologischen Perspektive. Hamanns wichtigster Vorwurf gegen Mendelssohn in Golgatha und Scheblimini war, wie gesagt der, daß Mendelssohn sowohl die religiösen Vernunftwahrheiten als auch die mosaischen Gesetze aus ihrem typologischprophetischen Zusammenhang reiße. Diese Linie verfolgt Hamann in seiner Schrift Ein fliegender Brief weiter, wobei er sich auf den Titel von Mendelssohns Buch konzentriert. Was versteht Mendelssohn nun unter 'Jerusalem', und wie verhält es sich zu 'religiöser Macht'? Ist mit Jerusalem das aufgeklärte Berlin oder die verwüstete Stadt im gelobten Land gemeint, oder symbolisiert es die Zukunftserwartung des verstockten Judentums227? Mendelssohns Undeutlichkeit in dieser Frage hängt damit zusammen, daß er sich nicht durch den 'Geist der Weissagung' leiten läßt, der die Bedeutung 'Jerusalems' im typologischen und eschatologischen Zusammenhang von Gesetz und Propheten und Psalmen und den "köstlichen Beylagen" (W (66): 224 225 224 227

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

W (20)-(35). W (34)-(46). W (46)-(64), W (65)-(75). W (46) ff., (65) ff., (70) ff.

6.S 'Ein fliegender Brief

297

16) des Neuen Testaments liest. Wie die Samaritaner liest auch Mendelssohn das Gesetz ohne Propheten und Schriften, und er hätte daher besser 'Samaria' zum Titel wählen können228. Er ist ein jüdischer Samaritaner, weil er das Alte Testament von seiner Fortsetzung und Erfüllung im Neuen Testament isoliert229. Nach Mendelssohns Ansicht sind die Geschichtswahrheiten und ihr typologischer Zusammenhang für die Religion nicht relevant. Kein Wunder, daß er über die wahre Bedeutung Jerusalems keinen Aufschluß geben kann. In der ersten Fassung des Fliegenden Briefs begründet Hamann seine Kritik an Mendelssohn mit einer ausführlichen Darlegung seiner eigenen Hermeneutik, die in der zweiten Fassung größtenteils weggelassen wird. Dabei beschreibt er den Unterschied und Zusammenhang zwischen dem philosophischen 'Geist der Beobachtung' und dem poetisch-prophetischen 'Geist der Weissagung'. Obwohl das meiste nach dem vorher Gesagten sicherlich bekannt klingt, ist es doch sinnvoll, hier auf den wichtigsten Teil dieser Ausführungen kurz einzugehen. Eine Analyse dieser Stelle eignet sich gut zur abschließenden Beurteilung dieses Kapitels. Sie lautet folgendermaßen: "Geist der Beobachtung und Geist der Weissagung sind die Fittige des menschlichen Genius. Zum Gebiete des ersteren gehört alles Gegenwärtige; zum Gebiete des letzteren alles Abwesende, der Vergangenheit und Zukunft. Das philosophische Genie äussert seine Macht dadurch, daß es, vermittelst der Abstraction, das Gegenwärtige abwesend zu machen sich bemüht; wirkliche Gegenstände zu nackten Begriffen und bloß denkbaren Merkmalen, zu reinen Erscheinungen und Phänomenen entkleidet130. Das poetische Genie äussert seine Macht dadurch, daß es, vermittelst der Fiction, die Visionen abwesender Vergangenheit und Zukunft zu gegenwärtigen Darstellungen verklärt. Kritik und Politik widerstehen den Usurpationen beyder Mächte; und sorgen für das Gleichgewicht derselben". (W (49): l-)231.

Mit dem 'Geist der Beobachtung' bezieht Hamann sich auf die Erkenntnisweise der Philosophie und Physik. Sie sehen in ihrer Wahrnehmung vom typologisch-heilsgeschichtlichen Kontext ab, wodurch sie die Objekte 'entkleiden' und so zu reinen Phänomenen oder Erscheinungen überzeitlicher Vernunftwahrheiten machen. In der Philosophie Humes sind es lediglich isolierte Phänomene, bei Kant erscheinen die Phänomene auf dem transzendentalen Hintergrund überzeitlicher apriorischer Wahrheiten232. Der Geist der 228 229 230 231

2,2

Vgl. W (65): 19-. Vgl. W (66): 13-. Vgl. die zweite Fassung: W (67):25-. Siehe zu und anläßlich dieser Stelle: Bayer, O., 'Rationalität und Utopie', in: Bayer, Umstrittene Freiheit, 134-151. Zur impliziten Diskussion mit Kant, vgl. Wild, 'Metacriticus', 177-182.

298

Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten'

Beobachtung 'sieht' die Geschichte nicht als Prozeß kontingenter und zeitlich bestimmter Geschichtswahrheiten. Das typisch Geschichtliche entgeht ihm, da er sich entweder auf die Ebene der Überzeitlichkeit stellt, oder an das phänomenale 'Jetzt' der unmittelbaren Wahrnehmung gebunden ist. Um mit Lessing zu sprechen: zwischen der Gegenwart einerseits und der Vergangenheit und Zukunft anderseits liegt ein 'garstiger breiter Graben'. Diesen Graben können wir nur durch den 'Geist der Weissagung' überbrücken. Er ist die poetisch-prophetische Erkenntnis, die einen Blick für die typologische Bildhaftigkeit der Wirklichkeit hat. Aus seiner Perspektive erscheinen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im heilsgeschichtlichen Strom kontingenter Bedeutung, der dem schöpferischen Handeln Gottes entspringt, sein Zentrum in der Inkarnation hat und sich auf die Vollendung der 'Apotheose' hinbewegt233. Mendelssohn "verschmäht[e] den Geist der Weissagung in den lebendigen Quellen historischer und prophetischer Wahrheit" (W (52):3-), wodurch sein Judentum entartet, und dies kommt in seinem undeutlichen Gebrauch des so prophetisch geladenen Namens 'Jerusalem' zum Ausdruck 234. Obwohl laut Hamann der Vorrang beim 'Geist der Weissagung' liegt, will er ihn nicht gegen den 'Geist der Beobachtung' ausspielen. Sie müssen durch "Kritik und Politik" im Gleichgewicht gehalten werden235. Hamann will die wissenschaftliche Vernunft und Empirie nicht ablehnen, fürchtet jedoch den Verlust des sakramentalen Kontextes, aus dem Reflexion und Empirie hervorgehen. Er stellt fest - so könnte man es formulieren daß im Aufklärungsdenken das verbindende 'quaerens' im 'fides quaerens intellectum' zu verschwinden droht und die Vernunft sich autonom von Glaube, Schrift und Tradition emanzipieren zu können glaubt. Im nächsten Kapitel werden wir sehen, daß Hamann in der Metakritik diese unumgängliche Situierung der Vernunft als ein Gegründetsein in der Sprache analysiert. Dann tritt auch das Kernproblem der Hermeneutik Hamanns völlig zutage: läuft sein Verständnis der Beziehung von Sprache und Vernunft nicht auf einen christlichen Historismus hinaus? oder zugespitzter:

233 2,4 235

Vgl. § 4.7.2 über den zweiten Brief von Kleeblatt. Vgl. W (66):32 - (67):20. Vgl. zur Erläuterung von "Kritik und Politik": Bayer, Knudsen, Kreuz und Kritik, 118121. Hamanns ausdrückliche Warnung, den 'Geist der Beobachtung' und den 'Geist der Weissagung' nicht gegeneinander auszuspielen, ist wahrscheinlich die Folge seiner Auseinandersetzungen mit Jacobi. Dieser geht von einem radikalen Gegensatz zwischen Glaube und Vernunft aus, den Hamann nicht akzeptieren will. Hierzu im folgenden Kapitel mehr.

6.5 'Ein fliegender Brier

299

auf einen heilsgeschichtlichen Historismus, in dem für die moderne Skepsis, aber auch für die exakte Wissenschaft kein Platz ist?236

6.5.3 Kritik an Lavaters 'Thomasglauben' Wichtig sind schließlich noch Hamanns kritische Bemerkungen im Blick auf Lavater237. Lavater ist stark fasziniert von Wundern als empirischen und evidenten Glaubensbeweisen. Hamann hält diese Faszination für unvereinbar mit dem Geheimnischarakter der sakramentalen Wirklichkeit. Die wahre heilsgeschichtliche Bedeutung der Natur, Geschichte und Schrift kann nicht "begucket und betastet" werden238. Der 'Geist der Weissagung' erfordert

234

237 238

Dieser Historismus tritt auch im Fliegenden Brief zutage, wenn Hamann Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sowie den 'Geist der Beobachtung' und den 'Geist der Weissagung' als subjektive Perspektiven oder Unterscheidungen bezeichnet, die nicht auf die Gegenstände selbst übertragen werden dürfen (vgl. W (57):8-32). In dieser Hinsicht stimmt er mit Kant überein, der auch behauptete, daß wir die 'Dinge an sich' nicht kennen, sondern nur die vom Subjekt konstituierten Phänomene. Kant versucht dabei, Skeptizismus und Relativismus zu vermeiden, indem er die Konstituierung des Objektes von transzendentalen apriorischen Strukturen aus geschehen läßt. Hamann lehnt solche überzeitlichen Muster ab und versucht, Relativismus zu vermeiden, indem er das Subjekt in den typologischen Kontext der Offenbarung stellt. Vgl. Wild, 'Metacriticus', 178-181, 417-418. Vgl. W (62):8 - (63):8; Wild, 'Metacriticus', 214 f. W (68):25; vgl. W (26):7, (27):8. Hamann hat diesen Ausdruck von Mendelssohn übernommen. Dieser schreibt im ' Vorbericht' der Morgenstunden zur vernichtenden Kritik Kants am spekulativen Rationalismus: "Die besten Köpfe Deutschlands sprechen seit kurzem von aller Spekulation mit schnöder Wegwerfung. Man dringet durchgehends auf Thatsachen, hält sich blos an Evidenz der Sinne, sammelt Beobachtungen, häuft Erfahrungen und Versuche, vielleicht mit allzugroßer Vemachläßigung der allgemeinen Grundsätze. Am Ende gewöhnet sich der Geist so sehr ans Betasten und Begucken, daß er nichts für wirklich hält, als was sich auf diese Weise behandlen läßt. Daher der Hang zum Materialismus, der in unsren Tagen so allgemein zu werden drohet, und von der andern Seite, die Begierde zu sehen und zu betasten, was seiner Natur nach nicht unter die Sinne fallen kann, der Hang zur Schwärmerey." Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes, in: Gesammelte Schriften, Jubiläumsausgabe, Bd. 3,2, Studien zur Philosophie und Ästhetik 1H2, Bearbeitet von L. Strauss, Stuttgart/Bad Cannstatt 1974, (1-175), 4 f. Den Materialismus oder Spiritualismus fürchtet Hamann ebenso. Dem stellt er jedoch nicht wie Mendelssohn eine nüchterne Form des Rationalismus, sondern einen hermeneutischen Sakramentalismus gegenüber, in dem das Sinnliche und das Geistige zusammengehen. ZHIV 6:4-, an Lavater: "Ihnen von Grund meiner Seele zu sagen, ist mein ganzes Christenthum (ich mag zu den fetten oder magern Kühen Pharaons gehören) ein Geschmack an Zeichen, und an den Elementen des Wassers, des Brods, des Weins. Hier ist Fülle für Hunger und Durst - eine Fülle, die nicht bloß, wie das Gestz, einen Schatten der zukünftigen Güter hat, sondern 'autfen tön eikona tön pragmatön', in so fern selbige durch einen Spiegel im Räthsel dargestellt, gegenwärtig und anschaulich

300

Kapitel 6 Gegen die natürliche Theologie der 'ewigen Wahrheiten'

keinen "Thomasglauben" (W (63) :8), der besondere Wunder nötig hat, denn die 'gewöhnliche' Wirklichkeit ist besondere Wirklichkeit genug239. Lavater ist eigentlich der Gegenpol Humes. Dieser sieht keine geistige Bedeutung im sinnlichen 'Buchstaben', während Lavater meint, diese Bedeutung im 'Buchstaben' festlegen zu können. Der Grundfehler beider liegt darin, daß sie die Dialektik von Buchstabe und Geist, die den 'mystferion'-Charakter der Wirklichkeit ausmacht, nicht erkennen und beachten.

6.6 Zusammenfassung

Im Mittelpunkt der in diesem Kapitel erörterten Schriften Hamanns steht das Unvermögen vieler Aufklärungsdenker, die Bedeutung der empirischhistorischen Wirklichkeit anzuerkennen, und ihr Rückgriff auf die 'ewigen Vernunftwahrheiten'240. Nachdem die Aufklärung sich vom hermeneutischen Zusammenhang der Offenbarung befreit hat, sucht sie einen neuen Rahmen für das Verständnis der kontingenten Wirklichkeit. Dieser neue Rahmen wird durch die autonome, von der Offenbarung unabhängige Vernunft entworfen, die die empirischen und historischen Phänomene auf ewige, übergeschichtliche Wahrheiten zurückführt. Auf diese Weise wird auch die Bedeutung der Heilsgeschichte auf ihren überzeitlichen, deistischen Kern reduziert. Hamann erkennt, daß diese rationalistische Festlegung der kontingenten (Heils)Tatsachen keinen Raum läßt für geschichtliche Bedeutung, die durch die Tatsachen selbst konstituiert wird. Dies hat zur Folge, daß das kontingente Sprechen der Natur und Geschichte nicht mehr vernommen wird. Die einzige Sprache, die die Wirklichkeit noch spricht, ist die der notwendigen Wahrheiten; abgesehen davon sind die Tatsachen stumm, nichtssagend, nichts mehr als 'brute facts'. Angesichts des Zerfalls der Wirklichkeit in nackte Tatsachen einerseits und zeitlose Wahrheiten anderseits greift Hamann auf den typologischen Sakramentalismus der christlichen Tradition zurück. In dieser von ihm aktualisierten Hermeneutik spielen die von Lessing und Mendelssohn problematisierten 'Geschichtswahrheiten' eine entscheidende Rolle: sie sind

239 240

gemacht werden können; den das 'teleion' liegt jenseits. Unser Ein- und Aussichten hier sind Fragmente, Trümmer, Stück- und Flickwerk - 'tote de prosöpon pros prosöpon, tote de epignösomai kathös kai epegnösthön'." Vgl. auch: ZH III 396: 9-. Vgl. im Zusammenhang mit Lavater: ZH VI 140:22-, 152:3-, 191:28-, 199:19-, 209:1-, 335:10-, 342:7-, 378:26-, ZH VII 29:32-, 132:7-, 355:19-, Vgl. zu dieser Frage Cassirer, 244 f.

6.6 Zusammenfassung

301

die Kontingenten Bedeutungskomplexe, die inkarniert sind in der Kontingenten Geschichte und im Zusammenhang dieser Geschichte konstituiert werden. Diese Bedeutungen werden in ihrer transzendierenden und typologischen Finalität nur von der zentralen Heilstatsache aus verständlich: der Inkarnation Christi. Es gibt noch einen anderen Königsberger, der mit der Kluft zwischen ewigen Vernunftwahrheiten und empirisch-kontingenten Tatsachen nicht zufrieden ist: Immanuel Kant. Seine Kritik der reinen Vernunft, in der verschiedene Tendenzen der Aufklärung zu einem System zusammengeschmiedet sind, wird für Hamann zum schwierigsten Prüfstein seines sakramentalen Wirklichkeitsverständnisses.

Kapitel 7 Gegen Kant und Jacobi: 'Vernunft ist Sprache'

7.1 Hamann und Kant; Einleitung Für Hamann galt Berlin als das Zentrum der deutschen Aufklärung. Dort hatte Friedrich der Große mit seinen Hofphilosophen seinen Sitz; dort erschienen die tonangebenden von Nicolai redigierten Zeitschriften Literaturbriefe und Allgemeine Deutsche Bibliothek. Berlin war für ihn das aufgeklärte Babel, von wo aus das kulturelle und politische Klima in Preußen beherrscht wurde. Es war jedoch Immanuel Kant, ein Königsberger Mitbürger, und genau wie er an der Peripherie Preußens lebend, der 1781 die Kritik der reinen Vernunft, das einflußreichste Buch der Aufklärung, veröffentlichte. Nach vielen Jahren unermüdlicher Arbeit legte Kant damit ein großes Werk vor, in dem er die wichtigsten Errungenschaften und Tendenzen der Aufklärung in einem einzigen kohärenten System zusammenzubringen versuchte. Die beiden Denkmotive, die Kant in seiner Kritik verbinden will, sind die grundlegende Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung einerseits und das epistemische Vermögen der autonomen Vernunft anderseits. Er hat die gleichen zwei Fronten wie Hamann: auf der einen Seite Denker, die in einem skeptischen Empirismus enden (wie Hume), auf der anderen Seite Rationalisten, die nicht genügend einsehen, daß ein sinnvoller Gebrauch der Vernunft sich auf eine ausreichende Verarbeitung empirischer Daten stützen muß. Kant ist der Ansicht, beide Seiten hätten ihre Berechtigung, freilich nur innerhalb der Grenzen, die er in der Kritik der reinen Vernunft absteckt. Innerhalb dieser strengen Grenzen gibt es dann seines Erachtens trotz des unentbehrlichen Beitrags der sinnlichen Wahrnehmung Raum für überzeitliche, notwendige Wahrheiten. Hamann ist sich von Anfang an bewußt, daß Kants Kritik ein Werk ist, das er besonders ernst nehmen muß. Kant, den er als einen Denker von Format kennt, entfaltet in seiner Kritik zwei zusammenhängende Motive, die auch für ihn selbst von großer Bedeutung sind: 1) die Kritik an der spekulativen Vernunft und 2) das Bewußtsein, an die empirische Wirklichkeit gebunden zu sein. Auch Kant hat die skeptische Kritik Humes nach vollzogen, aber er will ebensowenig wie Hamann selbst darin steckenbleiben. Der Unterschied ist allerdings der, daß Kant zwar Humes antirationalistische Kritik akzeptiert und die sinnliche Erfahrung berücksichtigt, jedoch einen

7.1 Einleitung

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Halt in ewigen Wahrheiten zu finden glaubt! Für Hamann, der es ablehnt von übergeschichtlichen Wahrheiten auszugehen und seinen Halt ausschließlich in der typologischen Strukturierung der kontingenten und empirischen Wirklichkeit findet, ist dieser Standpunkt eine besondere Herausforderung. Kann die Vernunft, wenn sie sich streng an die empirische Wirklichkeit hält, sich trotzdem autonom auf der Ebene der ewigen Wahrheiten behaupten? Wie Hamann die Herausforderung dieser Frage - und zwar der schwierigsten, mit der er sich in seinem Kampf gegen die Aufklärung auseinanderzusetzen hatte - in seiner Rezension und Metakritik beantwortet, ist Hauptgegenstand des ersten Teils dieses Kapitels. Da die Entstehungsgeschichte beider Texte bereits im § 6.4.1 beschrieben wurde1, können wir sofort mit einer ausführlichen Analyse von Kants Kritik der reinen Vernunft* beginnen.

7.2 'Kritik der reinen Vernunft' Aristoteles nahm eine Dreiteilung des Bereichs der Wissenschaften vor: die 'theöria', die 'praxis' und die 'poiesis'. Parallel zu dieser Dreiteilung schrieb Kant drei Kritiken: die Kritik der reinen Vernunft, über die theoretischen Wissenschaften, die Kritik der praktischen Vernunft, über die Ethik, die Kritik der Urteilskraft, über die Ästhetik und die Teleologie der Natur. In der KrV erforscht Kant die wissenschaftsphilosophischen Grundlagen der vier 'theoretischen' Wissenschaften: Logik, Mathematik, Physik und Metaphysik. Diese Grundlagenforschung hat einen begründenden und einen kritischen Zweck: angesichts des Skeptizismus, insbesondere dem Humes, sucht Kant nach den Fundamenten sicherer und notwendiger wissenschaftlicher Erkenntnis; aber den 'Dogmatismus' Chr. Wolffs (wie Kant es formuliert) und anderer rationalistischer Denker kritisiert er, insofern seine spekulative Erkenntnis wissenschaftlich nicht begründet ist. Zwischen Skeptizismus und Dogmatismus sieht Kant nur einen gangbaren Weg: "Der kritische Weg ist allein noch offen." (A 856). Der 'kritische Weg' der KrV ist ein Weg der Läuterung: der philosophische und wissenschaftliche Wildwuchs muß beseitigt werden, so daß die unerschütterlichen Fundamente der Wissenschaft und Philosophie freigelegt werden können.

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Siehe zu kommentierten Ausgaben dieser zwei Texte : Seils, (Hrsg.), Entkleidung und Verklärung, 289-296, 297-310. Abgekürzt: KrV. Benutzt wurde die Ausgabe von W. Weischedel in: Werkausgabe, Bd. III und IV, Suhrkamp-Taschenbuch 1974, die sowohl den Text des ersten Drucks (A) als auch des zweiten Drucks (B) enthält.

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Kapitel 7 Gegen Kant und Jacobi: 'Vernunft ist Sprache'

Diesem doppelten Ziel entsprechend wird die Grundstruktur der KrV durch zwei ausschlaggebende Kriterien für jede Disziplin, die Anspruch auf den Titel 'Wissenschaft' erhebt, bestimmt: 1) Das erste Kriterium einer strengen Wissenschaft ist, daß sie Erkenntnis α priori liefert, und Erkenntnis ist lediglich α priori, wenn sie notwendig und allgemein ist3. Dies Kriterium impliziert, daß Erkenntnis a priori 'rein' ist, das heißt: unabhängig von den Sinnen; denn sinnliche und induktive Erkenntnis führt lediglich zu einer induktiven und keiner wahren Allgemeinheit, geschweige denn Notwendigkeit. Empirisch begründete Erkenntnis ist deshalb nicht a priori, sondern α posteriori. 2) Das zweite wichtige Kriterium ist, daß wissenschaftliche Begriffe laut Kant nur sinnvoll sind, wenn sie sich auf mögliche sinnliche Erfahrung beziehen. Kritisch formuliert bedeutet das: wissenschaftliche Erkenntnis, die auf übersinnliche Gegenstände verweisen will, ist spekulativ, dogmatisch und unfundiert. Bei den weiteren Erörterung der KrV nehmen wir diese beiden Kriterien als Ausgangspunkt.

7.2.1 Das a priori Kriterium In Bezug auf den apriorischen Charakter der vier theoretischen Wissenschaften stellt Kant zwei Fragen: 1) Liefern sie a priori Erkenntnis? 2) Wenn ja, wie ist diese a priori Erkenntnis möglich? Die Logik enthält a priori Erkenntnis. Die Notwendigkeit und Allgemeinheit der logischen Urteile liegt in ihrem analytischen Aufbau. Unter einem analytischen Urteil versteht Kant einen Satz, dessen Prädikat bereits in der Definition des Subjektes enthalten ist. Analytische Urteile sind 'Erläuterungsurteile', denn das Prädikat erläutert das Subjekt und fügt ihm nichts hinzu. Die Sicherheit der logischen Urteile gründet sich auf das unwiderlegbare 'principium contradictionis', das Kant für 'das allgemeine und völlig ausreichende Prinzip aller analytischen Erkenntnis' hält4. Auch die Mathematik liefert a priori Urteile. Kant ist allerdings der Ansicht, daß mathematische Urteile nicht analytisch, sondern synthetisch

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Vgl. Α l f., Β 3 f. Vgl. A 151. Logische Erkenntnis ist für Kant analytische Erkenntnis, gegründet auf das Prinzip der Nichtwidersprüchlichkeit, aber dies Prinzip ist eine ungenügende Grundlage für die ganze Logik. Syllogistische Urteile zum Beispiel müßten nach Kants Auffassung als synthetisch bezeichnet werden. Vgl. Kneale, W., Kneale, M., The development of logic (1962'), Oxford 1984, 356-358.

7.2 'Kritik der reinen Vernunft'

305

seien: das Prädikat fügt dem Subjekt etwas Neues hinzu. Mathematische Sätze sind keine 'Erläuterungsurteile', sondern 'Erweiterungsurteile', denn sie liefern neue und sichere Erkenntnis. Arithmetik und Geometrie können nicht auf logische Prinzipien zurückgeführt werden; es geht dabei um synthetisierende Erfahrungsurteile, die dennoch a priori sind. Die Frage ist dann: wie können diese synthetischen Urteil doch a priori sein? Dasselbe gilt für die Physik. Die Physik formuliert synthetische Erfahrungsurteile, aber Kant ist überzeugt, daß die Newtonsche Physik echte Wissenschaft ist: sie liefert a priori Erkenntis. Auch hier stellt sich also die Frage: wie sind synthetische Urteile a priori möglich? In der Metaphysik geht es ebenfalls um synthetische Urteile; aber sind sie auch a priori? Davon kann man angesichts der großen Verwirrung und der vielen metaphysischen Systeme nicht wie bei der Mathematik und der Physik von vornherein ausgehen. Hier geht es also vielmehr um die Frage: ist Metaphysik als Wissenschaft möglich? In der Frage nach dem a priori Charakter gibt es bei der Logik also keine Probleme. Bei den übrigen drei Wissenschaften aber wohl: 1) Im Zusammenhang mit der Mathematik und Physik muß die zweite Frage beantwortet werden: wie sind synthetische Urteile a priori möglich? 2) In bezug auf die Metaphysik sind beide Fragen noch unbeantwortet: ist metaphysische Erkenntnis a priori möglich? Wenn ja, auf welche Weise? Synthetische Urteile α priori "Wie sind synthetische Urteile a priori in der Mathematik und Physik möglich?" Dies ist die Hauptfrage des ersten Teils der KrV: der 'Transzendentalen Elementarlehre', in der Kant die Möglichkeitsbedingungen synthetischer Erkenntnis a priori untersucht. Diese Bedingungen glaubt er im wahrnehmenden Subjekt, im Verstand und in der sinnlichen Erfahrung zu finden. Kurz umrissen sieht der Gedankengang folgendermaßen aus: Sowohl beim Verstand als bei den Sinnen muß zwischen Form und Inhalt, dem Formalen und dem Materialen, unterschieden werden. Und zwar sind es die formalen Strukturen der sinnlichen Erfahrung (erforscht in der 'transzendentalen Ästhetik') und der Verstand (erforscht in der 'transzendentalen Logik'), die die Möglichkeitsbedingungen5 sinnlicher Erkenntnis schlechthin bilden und zugleich den α priori Charakter der Mathematik und Physik garantieren.

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Bedingungen, die als 'transzendental' bezeichnet werden, da sie jeder möglichen Erfahrung konstitutiv 'vorausgehen'.

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Kapitel 7 Gegen Kant und Jacobi: 'Vernunft ist Sprache*

Zunächst zur sinnlichen Anschauung. Es gibt zwei Arten: die innere und die äußere Anschauung. Die 'reine Form' aller äußeren Anschauung ist der Raum: jede Erfahrung eines äußeren Gegenstandes geschieht im Raum. Die Form der inneren Anschauung ist die Zeit. Da jede äußere Anschauung ebenfalls Bewußtseinsveränderung, innere Anschauung ist, ist die Zeit "eine Bedingung a priori von aller Erscheinung überhaupt" (A34). Die formalen oder a priori Strukturen des Verstandes sind die sogenannten 'Kategorien* der Quantität, Qualität, Relation und Modalität, die jeweils wieder dreifach gegliedert werden. Diese Kategorien werden durch Urteile auf die sinnliche Erfahrung angewandt. Wie wird nun aber die Brücke zwischen den Kategorien und den sinnlichen Gegenständen geschlagen? Wie wird bestimmt, welche Kategorie(en) zutrifft (zutreffen)? Hierzu bedarf es einer Vermittlungstätigkeit, die durch die 'Einbildungskraft' geschieht. Die Einbildungskraft 'schematisiert' die Kategorien zu 'Bildern', 'Schemata', die die Subsumtion von sinnlichen Anschauungen ermöglichen. Es findet eine Art Versinnlichung der Kategorien statt, und Kant wählt dafür die a priori Form der Zeit, denn diese Form gilt für beide, innere und äußere Erfahrung. Die Schematisierung der Kategorien geschieht so als Temporalisierung der Kategorien6. Von den schematisierten Kategorien ausgehend kann der Verstand schließlich eine Reihe von Grundsätzen aufstellen; sie sind die gesuchten apriorischen Prinzipien, die die verstandesmäßigen Möglichkeitsbedingungen aller sinnlichen Erkenntnis schlechthin bilden. Einer dieser Grundsätze lautet: "Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung." (B 2337). Mit diesem Grundsatz will Kant die Kritik Humes am Kausalitätsbegriff widerlegen. Beim Kausalitätsprinzip lassen sich die folgenden Aspekte unterscheiden: 1) Es besteht eine Beziehung zwischen Ursache und Folge. 2) Diese Beziehung ist gesetzmäßig. 3) Die Gesetzmäßigkeit dieser Beziehung hat eine bestimmte Form (die Korrelation einer bestimmten Ursache und einer bestimmten Folge, ausgedrückt in bestimmten Zahlenverhältnissen). Hume kritisierte den a priori Charakter von 1, 2 und 3. Kant gibt eine transzendentale Begründung des a priori Charakters von 1 und 28; er weiß, daß 3 eine induktivempirische Frage ist.

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Die Zeit erhält eine fundamentale und konstitutive Bedeutung. Hier gibt es Anknüpfungspunkte für die Phänomenologie Husserls und Heideggers. In A 189 lautet der Grundsatz: "Alles, was geschieht (anhebt zu sein), setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt." Es würde hier zu weit führen, die Beweisführung Kants zu analysieren und zu prüfen.

7.2 'Kritik der reinen Vernunft'

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Zusammengefaßt: da sinnliche Anschauung und Verstand beide a priori Strukturen besitzen, die transzendentale Möglichkeitsbedingungen jeglicher möglichen Anschauung sind, werden Erfahrungsgegenstände nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten synthetisiert, wodurch synthetische Urteile a priori möglich sind. Die Gesetzmäßigkeit der mathematischen und physikalischen Gesetze ist also in den transzendentalen a priori Strukturen der subjektiven Erkenntnistätigkeit begründet. Dank der Formen von Raum und Zeit und der Grundsätze ist sichere Erkenntnis der empirischen Wirklichkeit möglich, aber es ist Erkenntis der Dinge, wie sie uns erscheinen; wir haben keine Erkenntnis der Dinge an sich. Wir haben ledglich Erkenntnis der phänomenalen und nicht der noumenalen Wirklichkeit. Die Formen und Kategorien ermöglichen als transzendentale Ordnungsstrukturen der sinnlichen Erfahrung sichere Erkenntnis. Allerdings muß es etwas zu ordnen geben, oder anders gesagt: sichere Erkenntnis bezieht sich immer auf die empirische Wirklichkeit. Damit kommen wir zum zweiten Kriterium der wissenschaftlichen Erkenntnis.

7.2.2 Das empirische Kriterium in der Logik, Mathematik und Physik Das Aufdecken der transzendentalen a priori Strukturen der Anschauung und des Verstandes betrachtet Kant als eine Widerlegung des Skeptizismus Humes. Angesichts des 'Dogmatismus' Wolffs und anderer Rationalisten will Kant jedoch Humes Forderung der empirischen Prüfung so weit wie möglich entgegenkommen. Aufgrund dieses empirischen Kriteriums greift er die Metaphysik nun auch kräftig an. Wie sich noch zeigen wird, haben freilich auch die Logik und die Mathematik unter Kants empirischem Kriterium zu leiden. Die Logik Ein richtiger Gebrauch der logischen und anderen Begriffe erfüllt nach Kants Ansicht zwei Bedingungen: "Zu jedem Begriff wird erstlich die logische Form eines Begriffs (des Denkens) überhaupt, und denn zweitens auch die Möglichkeit, ihm einen Gegenstand zu geben, darauf er sich beziehe, erfordert. Ohne diesen letztem hat er keinen Sinn, und ist völlig leer an Inhalt, ob er gleich noch immer die logische Funktion enthalten mag, aus etwanigen Datis einen Begriff zu machen." (A 239).

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Kapitel 7 Gegen Kant und Jacobi: 'Vernunft ist Sprache*

Logische Nichtwidersprüchlichkeit genügt also nicht, denn logisch richtige Begriffe, die empirisch leer sind, sind zwar 'logische Möglichkeiten', aber keine 'realen Möglichkeiten". Wann sind logische Begriffe also auch reale Begriffe? Wenn sie die 'Prinzipien möglicher Erfahrung' (die Formen von Raum und Zeit und die Grundsätze) implizieren10. Es ist allerdings die Frage, ob dies Kriterium Kant genügt. Wie steht es zum Beispiel mit einer Seejungfrau? Der Begriff 'Seejungfrau' erfüllt die Kriterien möglicher Anschauung; diese Möglichkeit wurde jedoch noch nie aktualisiert. Ist sie trotzdem eine reale Möglichkeit? Kant ist in diesem Punkt keineswegs deutlich. So gibt er drei Beispiele von Möglichkeiten, die seines Erachtens nicht real sind: 1. "Eine Substanz, welche beharrlich im Räume gegenwärtig wäre, doch ohne ihn zu erfüllen"; 2. "oder eine besondere Grundkraft unseres Gemüts, das Künftige zum voraus anzuschauen (nicht etwa bloß zu folgern)"; 3. "oder endlich ein Vermögen desselben, mit andern Menschen in Gemeinschaft der Gedanken zu stehen (so entfernt sie auch sein mögen)" (A 223 f.) Von diesen Beispielen sagt Kant: " ihre Möglichkeit muß entweder a posteriori und empirisch, oder sie kann gar nicht erkannt werden."11 Das heißt: diese Begriffe sind zwar logisch nicht widersprüchlich, aber wenn sie nicht a posteriori wahrgenommen werden, bleiben sie leere Begriffe. Dies bedeutet allerdings, daß für die Realität dieser Begriffe nicht nur die Möglichkeit einer Erfahrung, sondern auch die Wirklichkeit erforderlich ist. So sagt Kant es auch im folgenden Zitat: "Nun kann aber die Möglichkeit eines Dinges niemals bloß aus dem Nichtwidersprechen eines Begriffs desselben, sondern nur dadurch, daß man diesen durch eine ihm korrespondierende Anschauung belegt, bewiesen werden." (B 308).

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A 596 Fußnote: "Der Begriff ist allemal möglich, wenn er sich nicht widerspricht Das ist das logische Merkmal der Möglichkeit, und dadurch wird sein Gegenstand vom nihil negativum unterschieden. Allein er kann nichts destoweniger ein leerer Begriff sein, wenn die objektive Realität der Synthesis, dadurch der Begriff erzeugt wird, nicht besonders dargetan wird; welches aber jederzeit, wie oben gezeigt worden auf Prinzipien möglicher Erfahrung und nicht auf dem Grundsatze der Analysis (dem Satz des Widerspruchs) beruht. Das ist eine Warnung, von der Möglichkeit der Begriffe (logische) nicht sofort auf die Möglichkeit der Dinge (reale) zu schließen." Vgl. auch: A 147, 244, Β 303 Fußnote. A 1S6: "Die Möglichkeit der Erfahrung ist also das, was allen unsern Erkenntnissen a priori objektive Realität gibt." (A 234) " so, daß, wenn er [der Begriff] bloß im Verstände mit den formalen Bedingungen der Erfahrung in Verknüpfung ist, sein Gegenstand möglich heißt". A 223: " dessen Möglichkeit nur aus der Wirklichkeit in der Erfahrung kann abgenommen werden".

7.2 'Kritik der reinen Vernunft*

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Folgendes Zitat hingegen scheint die Auslegung zu unterstützen, daß 'mögliche Erfahrung' genügt: "Wenn eine Erkenntnis objektive Realität haben, d.i. sich auf einen Gegenstand beziehen, und in demselben Bedeutung und Sinn haben soll, so muß der Gegenstand auf irgend eine Art gegeben werden können. Einen Gegenstand geben , ist nichts anders, als dessen Vorstellung auf Erfahrung (es sei wirkliche oder doch mögliche) beziehen." (A 155; kurs. H.V.)12.

Es bleibt undeutlich, ob die hier erwähnte mögliche Erfahrung sich auf eine tatsächlich bestehende Sachlage beziehen muß. Genügt es auch, wenn sie sich auf eine mögliche, aber nie verwirklichte Sachlage bezieht? Noch ein anderes Beispiel zur Veranschaulichung des Problems, um das es hier geht. Nehmen wir den Satz: 'Väclav Havel wird 2000 Jahre alt*. Ist das eine reale Möglichkeit? Anscheinend wohl, denn alle Begriffe sind der Erfahrung entnommen13. Ein möglicher Einwand wäre, daß die Begriffsfcombination: 'ein Mensch, der 2000 Jahre alt wird', keine empirische Grundlage hat und also lediglich eine leere logische Möglichkeit ist. Angenommen es gäbe einen Menschen auf der Erde, der bereits 2000 Jahre alt wäre, wäre es damit auch eine reale Möglichkeit für Havel geworden? Wie weiß man das? Erst wenn die Möglichkeit verwirklicht ist? Enthält der Satz 'Havel stirbt im Alter von zwanzig Jahren' eine reale Möglichkeit? Man könnte annehmen, ja, aber Havels Sterben im Alter von zwanzig Jahren ist keine Eigenschaft, die a posteriori der Wahrnehmung entnommen ist. Wenn Kant sein empirisches Kriterium nicht darauf beschränkt, 'nicht im Widerspruch zu den Prinzipien der möglichen sinnlichen Erfahrung zu stehen', sondern auch die Forderung der aktuellen Wahrnehmung stellt, oder wenn er mögliche Wahrnehmung immer auf tatsächliche Sachverhalte bezieht, endet er bei 'the principle of plenitude'14: eine Möglichkeit ist nur

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Vgl. A 492 f.: "Daß es Einwohner im Monde geben könne, ob sie gleich kein Mensch jemals wahrgenommen hat, muß allerdings eingeräumet werden, aber es bedeutet nur so viel: daß wir in dem möglichen Fortschritt der Erfahrung auf sie treffen könnten; denn alles ist wirklich, was mit einer Wahrnehmung nach Gesetzen des empirischen Fortgangs in einem Kontext stehet." Es bleibt die Frage: Auch wenn es jetzt keine Mondbewohner gibt, sind sie dann trotzdem möglich? A 139: "Denn da haben wir gesehen, daß Begriffe ganz unmöglich sind, noch irgend einige Bedeutung haben können, wo nicht, entweder ihnen selbst, oder wenigstens den Elementen, daraus sie bestehen, ein Gegenstand gegeben ist". Vgl. Lovejoy, The great chain of being, 52.

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Kapitel 7 Gegen Kant und Jacobi: 'Vernunft ist Sprache'

real, wenn sie auch verwirklicht wird; und das impliziert ein Notwendigkeitsdenken13. Daß Kant sich in aristotelische Denkstrukturen verstrickt, zeigt seine Behandlung der modalen Kategorien. Wenn Kant die verschiedenen Arten logischer Urteile untersucht, um so die Kategorien zu entdecken, erörtert er auch die modalen Begriffe 'möglich', 'wirklich' und 'notwendig'. Er sagt dann, daß diese Begriffe dem Inhalt des Urteils nichts hinzufügten, sondern lediglich das Verhältnis des Urteils zum Denken ausdrückten. Modale Begriffe seien epistemische Begriffe, die ausdrücken, wie man einen bestimmten Sachverhalt denkt. 'Möglich' bedeute dann, daß man etwas nur als Denkexperiment erwägt; bei 'wirklich' denke man etwas als wahr; und bei 'notwendig' könne man nicht anders als es als wahr zu denken16. Auf die Problematik dieser epistemischen Übertragung modaler Begriffe gehen wir nun nicht weiter ein, jedoch soll noch untersucht werden , was geschieht, wenn Kant diese modalen Begriffe schematisiert17. Nicht schema-

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Denn wenn ρ zum Zeitpunkt von t, der Fall ist, ist nicht-p zum Zeitpunkt von t, eine nicht verwirklichte Möglichkeit. Wenn laut Kant die nicht verwirklichte Möglichkeit nicht-ptl keine reale Möglichkeit ist, muß pa notwendig sein. Folgendes Zitat aus der KrV deutet auf das 'principle of plenitude': "Zwar hat es den Anschein, als könne man auch geradezu die Zahl des Möglichen über die des wirklichen dadurch hinaussetzen, weil zu jener noch etwas hinzukommen muß, um diese auszumachen. Allein dieses Hinzukommen zum Möglichen kenne ich nicht. Denn was über dasselbe noch zugesetzt werden sollte, wäre unmöglich. Es kann nur die Verknüpfung mit irgend einer Wahrnehmung, hinzukommen" (A 231). Daß Kants KrV ein Notwendigkeitsdenken impliziere, ist die Auffassung von J. Hintikka und H. Kannisto in 'Kant on 'The great chain of being' or the eventual realization of all possibilities: a comparative study', in: Reforging the great chain of being, Studies of the history of modal theories, Hintikka, J., (Hrsg.), Dordrecht/Boston (USA) 1981,287-308. Eine wichtige, von Hintikka und Kannisto zitierte Beweisstelle wird unseres Erachtens falsch interpretiert. Kant schreibt dort: "Wenn ich mir demnach alle existierende Gegenstände der Sinne in aller Zeit und allen Räumen insgesamt vorstelle: so setze ich solche [Gegenstände] nicht vor der Erfahrung [unabhängig von der Erfahrung] in beide hinein, sondern diese Vorstellung ist nichts andres, als der Gedanke von einer möglichen Erfahrung, in ihrer absoluten Vollständigkeit." (A 495). Hintikka und Kannisto verstehen dies folgendermaßen: "All spatio-temporally existing objects of senses thus make up all the possible objects of experience." (op.cit. 29S). Aber Kant meint hier eine mögliche Wahrnehmung aller realen 'Gegenstände der Sinne in aller Zeit und allen Räumen', ohne hier zu behaupten, daß keine anderen Gegenstände möglich seien und also möglich wahrzunehmen seien. Diese epistemische Darlegung der modalen Begriffe bleibt nach der Schematisierung gültig. Vgl. A 233 f.: "Die Grundsätze der Modalität sind aber nicht objektiv-synthetisch, weil die Prädikate der Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit den Begriff, vom dem sie gesagt werden, nicht im mindesten vermehren . sie fügen zu dem Begriffe eines Dinges (Realen), vom dem sie sonst nichts sagen, die Erkenntniskraft hinzu". Vgl. A 144 f.

7.2 'Kritik der reinen Vernunft'

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tisiert sind es lediglich logische Begriffe ohne objektiv-empirische Relevanz. Wie oben bereits gesagt wurde, bedeutet schematisieren temporalisieren. Für den modalen Begriff 'möglich' heißt dies, daß die temporalen Bedingungen des 'möglich' hinzugefügt werden; 'a ist möglich' bedeutet dann: 'a ist möglich in der Zeit (zu irgendeinem Zeitpunkt)', und die temporale Bedingung lautet dann, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt a und nicht-a nicht gleichzeitig der Fall sein können. Diese Schematisierung Kants ist richtig: es ist der temporale Ausdruck des Grundsatzes der Nichtwidersprüchlichkeit. Allerdings ist die Situation bei 'notwendig' anders. Zum nicht schematisierten Begriff 'notwendig' sagt Kant: "So ist die Notwendigkeit nichts anders, als die Existenz, die durch die Möglichkeit selbst gegeben ist." (B 111). Schematisiert bedeutet 'notwendig' jedoch: "das Dasein eines Gegenstandes zu aller Zeit" (A 145), und das ist logisch falsch, denn auch ein kontingent Seiendes kann immer dasein. Es stimmt, daß Veränderung Kontingenz impliziert, aber umgekehrt impliziert Kontingenz nicht notwendigerweise Veränderlichkeit. Kant gibt eine aristotelische Übersetzung von 'notwendig' und 'kontingent': 'notwendig' deckt sich mit 'unveränderlich' und 'kontingent' wird 'veränderlich'1®.

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Eine ausführliche Studie über die aristotelischen und anderen Auffassungen der Kontingenz ist: Vos, Kennis en noodzakelijkheid. Im Kapitel über die Grundsätze entwickelt Kant seinen Notwendigkeitsbegriff noch weiter. Er sagt dort, daß von keinem einzigen Seienden das Dasein a priori erkannt werde (auch nicht von Gott, wie wir noch sehen werden). Wir kennen nur implikative Notwendigkeit: "Die Notwendigkeit betrifft also nur die Verhältnisse der Erscheinungen . Alles was geschieht, ist hypothetisch notwendig; das ist ein Grundgesetz, welches die Veränderung in der Welt einem Gesetze unterwirft" (A 227 f.). Die ganze sinnliche Wirklichkeit ist laut Kant gesetzmäßig, und das bedeutet bei ihm: implikativ notwendig. Wie dies mit freien Willensakten, die sich empirisch äußern, zu vereinbaren ist, ist ein Problem, mit dem Kant sich immer wieder auseinandersetzt. Vergleiche in der KrV den Gegensatz zwischen A 798 und A 802: "Der Wille mag auch frei sein, so kann dieses doch nur die intelligibele Ursache unseres Wollens angehen. Denn, was die Phänomene der Äußerungen desselben, d.i. die Handlungen betrifft, so müssen wir, nach einer unverletzlichen Grundmaxime sie niemals anders als alle übrige Erscheinungen der Natur, nämlich nach unwandelbaren Gesetzen derselben, erklären." (kurs. H.V.). Etwas weiter im Text hingegen: "Eine Willkür nämlich ist bloß tierisch (arbitrium brutum), die nicht anders als durch sinnliche Antriebe, d.i. pathologisch bestimmt werden kann. Diejenige aber, welche unabhängig von sinnlichen Antrieben, mithin durch Bewegursachen, welche nur von der Vernunft vorgestellet werden, bestimmet werden kann, heißt die freie Willkür (arbitrium liberum), und alles, was mit dieser, es sei als Grund oder Folge, zusammenhängt, wird praktisch genannt. Die praktische Freiheit kann durch Erfahrung bewiesen werden. Denn, nicht bloß das, was reizt, d.i. die Sinne unmittelbar affiziert, bestimmt die menschliche Willkür, sondern wir haben ein Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entfernete Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden" (letzter Kursivdruck H.V.).

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Kapitel 7 Gegen Kant und Jacobi: 'Vernunft ist Sprache'

Wahrscheinlich gelangt Kant zu einer Gleichsetzung von Veränderlichkeit und Kontingenz, weil Kontingenz aufgrund seiner empirischen Forderung lediglich durch wahrnehmbare Veränderung bewiesen werden kann: "Allein, frage ich: was versteht ihr unter zufällig? und ihr antwortet, dessen Nichtsein möglich ist, so möchte ich gern wissen, woran ihr diese Möglichkeit des Nichtseins erkennen wollt, wenn ihr euch nicht in der Reihe der Erscheinungen eine Sukzession und in dieser ein Dasein, welches auf das Nichtsein folgt (oder umgekehrt), mithin einen Wechsel vorstellt; denn, daß das Nichtsein eines Dinges sich selbst nicht widerspreche, ist eine lahme Berufung auf eine logische Bedingung, die zwar zum Begriffe notwendig, aber zur realen Möglichkeit bei weitem nicht hinreichend ist" (A 243 f.). Dies Zitat gibt die Richtung gut an, die Kants modale Strukturen unter dem Druck seiner empirischen Forderung annehmen: Kontingenz ist lediglich real, wenn sie durch tatsächliche Veränderung auch wahrgenommen wird; und eine Möglichkeit ist nur real, wenn sie auch verwirklicht wird, denn wie kann man sonst wissen, ob es sich um eine echte Möglichkeit handelt?19

" Es gibt in der B-Ausgabe der KrV eine interessante Fußnote, in der Kant selbst den problematischen Charakter seines empirischen Kriteriums angibt: "Man kann sich das Nichtsein der Materie leicht denken, aber die Alten folgerten daraus doch nicht ihre Zufälligkeit. Allein selbst der Wechsel des Seins und Nichtseins eines gegebenen Zustandes eines Dinges, darin alle Veränderung besteht, beweiset gar nicht die Zufälligkeit dieses Zustandes, gleichsam aus der Wirklichkeit seines Gegenteils, ζ. B. die Ruhe eines Körpers, welche auf die Bewegung folgt, noch nicht die Zufälligkeit der Bewegung desselben, daraus, weil die erstere das Gegenteil der letzteren ist. Denn dieses Gegenteil ist hier nur logisch, nicht realiter dem anderen entgegengesetzt. Man müßte beweisen, daß, anstatt der Bewegung im vorhergehenden Zeitpunkte, es möglich gewesen, daß der Körper damals geruhet hätte, um die Zufälligkeit seiner Bewegung zu beweisen, nicht daß er hernach ruhe; denn da können beide Gegenteile gar wohl mit einander bestehen." (B 291). Drei Elemente dieser Fußnote sind auffällig und wichtig: - Kant behauptet, daß echte Kontingenz synchrone Kontingenz sei: Das Gegenteil müsse zum gleichen Zeitpunkt möglich sein. Kant weist in diesem Zusammenhang auf die antike Philosophie hin, derzufolge diachrone Veränderung noch kein Beweis für Kontingenz sei. - Kant stimmt zu: "der Wechsel des Seins und Nichtseins beweiset gar nicht die Zufälligkeit". Dies ist jedoch falsch. Etwas, das sich ändert, kann nicht notwendig sein, so daß Veränderung durchaus ein Beweis der Kontingenz ist. - Der Beweis wirklicher 'Zufälligkeit' bedeutet, daß man beweist, daß das Gegenteil zum selben Zeitpunkt der Fall hätte sein können. Für Kant ist die logische Möglichkeit des Gegenteils (zum selben Zeitpunkt) jedoch kein genügender Beweis, denn beweisen bedeutet: nachweisen, daß das Gegenteil Gegenstand möglicher Erfahrung ist. Wenn dies zugleich die tatsächliche Wahrnehmung des Gegenteils impliziert, kann der Beweis nicht geliefert werden, da die entgegengesetzte Möglichkeit nicht verwirklicht ist. Für Kant scheint die Tatsache, daß die andere Möglichkeit nicht empirisch bewiesen werden kann, zugleich das Nichtbestehen dieser Möglichkeit zu implizieren.

7.2 'Kritik der reinen Vernunft'

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Mathematik Auch für die Mathematik stellt Kant die empirische Forderung, was er insbesondere anhand der Geometrie konkretisiert. Geometrische Sätze haben lediglich Bedeutung, wenn sie nicht nur keine logischen Widersprüche enthalten, sondern außerdem auch im Raum konstruierbar sind20. Damit will er sagen, daß Geometrie nur sinnvoll ist, wenn sie nicht nur logisch folgerichtig ist, sondern auch in der aktuellen Welt wahr ist21. Seit Einstein wissen wir freilich, daß in einem Raum, wo Schwerkraft herrscht, die euklidische Geometrie nicht anwendbar ist. Wir können Kant keinen Vorwurf machen, daß er das nicht wußte. Läßt allerdings seine Philosophie diese Variation verschiedener Arten Geometrie zu, so daß in einem Gravitations räum nichteuklidische Geometrie konstruierbar ist? Das scheint nicht der Fall zu sein, denn die a priori Grundsätze der Geometrie sind wie die Formen von Raum und Zeit unveränderlich im transzendentalen Subjekt begründet. Wären die a priori Grundsätze der Geometrie veränderlich - und würden sie also verschiedene axiomatische Systeme umfassen -, dann würde der a priori Charakter verlorengehen, denn 4a priori' bedeutet, wie wir festgestellt haben: notwendig und allgemein. Da Mathematik im transzendentalen Subjekt begründet ist, können ihre Gesetze nicht anders sein als sie sind und haben denselben modalen Status wie logische Gesetze. Logische und mathematische Gesetze sind notwendig wahr, das heißt: wahr in jeder möglichen Welt;

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Diese Interpretation wird durch den Schlußsatz bestätigt, in dem Kant sagt, daB beide Gegenteile wohl nacheinander zusammengehen könnten. Beide Gegenteile können also nicht zugleich miteinander bestehen, so daß die nicht verwirklichte entgegengesetzte Möglichkeit keine echte Möglichkeit ist? A 713 f.: "Einen Begriff aber konstruieren, heißt: die ihm korrespondierende Anschauung a priori darstellen. So konstruiere ich einen Triangel, indem ich den diesem Begriffe entsprechenden Gegenstand, entweder durch bloße Einbildung, in der reinen, oder nach derselben auch auf dem Papier, in der empirischen Anschauung, beidemal völlig a priori, ohne das Muster dazu aus irgend einer Erfahrung geborgt zu haben, darstelle. Die einzelne hingezeichnete Figur ist empirisch, und dient gleichwohl, den Begriff, unbeschadet seiner Allgemeinheit, auszudrücken, weil bei dieser empirischen Anschauung immer nur auf die Handlung der Konstruktion des Begriffs, welchem viele Bestimmungen, z.E. der Größe, der Seiten und der Winkel, ganz gleichgültig sind, gesehen, und also von diesen Verschiedenheiten, die den Begriff des Triangels nicht verändern, abstrahiert wird." A 220 f.: "So ist in dem Begriffe einer Figur, die in zwei geraden Linien eingeschlossen ist, kein Widerspruch, denn die Begriffe von zwei geraden Linien und deren Zusammenstoßung enthalten keine Verneinung einer Figur; sondern die Unmöglichkeit beruht nicht auf dem Begriffe an sich selbst, sondern der Konstruktion desselben im Räume, d.i. den Bedingungen des Raumes und der Bestimmung desselben, diese haben wiederum ihre objektive Realität, d.i. sie gehen auf mögliche Dinge, weil sie die Form der Erfahrung überhaupt a priori in sich enthalten."

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Kapitel 7 Gegen Kant und Jacobi: 'Vernunft ist Sprache'

und für Kant bedeutet 'mögliche Welt': eine für unsere Wahrnehmung zugängliche phänomenale Welt, deren Raum eine euklidische Struktur hat. Physik

Welchen Status haben die physikalischen Gesetze? Unsere sinnliche Erfahrung ist a priori gesetzmäßig geordnet, aber das transzendentale Subjekt schreibt nicht vor, daß es gerade diese Gesetze sind; sonst wäre experimentelle Induktion überflüssig. Hätten die physikalischen Gesetze also anders sein können, als sie tatsächlich sind?22 Hier haben wir dasselbe Problem: die Möglichkeit anderer Naturgesetze ist nicht verwirklicht, aber ist sie damit auch leer? Ist sie nur eine logische Möglichkeit, oder ist sie eine reale Möglichkeit, wie Newton in Berufung auf Gottes freien Schöpfungswillen dachte?23 Vielleicht sind die physikalischen Gesetze nur für unseren Kosmos essentiell (was Wunder ausschließt), und es hätte durchaus einen anderen Kosmos (ein anderes transzendentales Subjekt) geben können. Die Kantschen Grundsätze beschreiben dann die a priori Strukturen, die innerhalb unseres Kosmos hypothetisch notwendig und allgemein sind. Das Problem dieser Lösung ist, daß die a priori Forderung wiederum nicht erfüllt ist: die Gesetzmäßigkeit würde nicht für einen anderen möglichen Kosmos gelten und würde also nicht notwendig und allgemein sein. Bei Kants Auffassung der Logik, Mathematik und Physik haben wir uns länger aufgehalten, als für die Analyse der Kant-Schriften Hamanns strikt nötig gewesen wäre. Es ging darum, die Aporien so deutlich wie möglich zu machen, die sich aus Kants Versuch ergeben, die Haupttendenzen der Aufklärung in einem einzigen transzendentalen System zusammenzufassen. Kant bleibt zwischen den kritisch-empirischen und den begründend-transzendentalen Grundmotiven seines Systems, zwischen Skeptizismus und Dogmatismus gefangen. Vom Rationalismus her vertritt er a priori Strukturen der Wirklichkeit, geht aber darin so weit, daß es keinen Raum mehr für kontingente sinnliche Wirklichkeit zu geben scheint. Darüber hinaus läßt er sich durch Hume in die geschlossene Sphäre der phänomenalen Wirklichkeit einschließen, wodurch ebenfalls die Gefahr droht, daß die Wirklichkeit ihrer 22

23

Daß Kant kaum deterministische Absichten hat, erweist sich nicht nur aus seiner Verteidigung der menschlichen Freiheit in der KrV und der Kritik der praktischen Vernunft. Ganz überraschend gibt er in der Kritik der Urteilskraft das Kausalitätsprinzip als ein konstitutives a priori Prinzip auf und versteht es dann (lediglich) als eine regulative Maxime. Dies geschieht unter dem Druck seiner Anerkennung des physikotheologischen Gottesbeweises und seiner Verteidigung der göttlichen und menschlichen Freiheit (und der sich daraus ergebenden Teleologie). Vgl. Beck, op.cit., 485-487. Vgl. Krolzik, op.cit., 118.

7.2 'Kritik der reinen Vernunft'

315

Möglichkeitsalternativen beraubt wird und die a priori Strukturen der aktuellen Wirklichkeit Notwendigkeitscharakter erhalten. In der KrV tritt das Subjekt als transzendental, autonom, rational und auf die empirische Wirklichkeit bezogen auf. Zugleich ist es jedoch in einem deterministischen Netz gefangen, das es selbst als eine Gesamtheit transzendentaler Möglichkeitsbedingungen über die phänomenale Wirklichkeit gespannt hat.

7.2.3 Das empirische Kriterium in der Metaphysik Drei der vier theoretischen Wissenschaften haben wir nun erörtert. Übrig bleibt noch die Metaphysik. Nach dem bisher Gesagten ist die Antwort auf die Frage, ob sie als Wissenschaft möglich ist, bereits deutlich: nein, denn metaphysische Begriffe korrelieren nicht mit sinnlichen Gegenständen in Raum und Zeit. Dennoch habe der Mensch die natürliche und unvermeidliche Neigung, metaphysische Fragen zu stellen, meint Kant. Mit der Beschreibung dieses Phänomens beginnt die KrV: aus der konkreten Erfahrung steigt die menschliche Vernunft immer höher zu unseren letzten Daseinsbedingungen empor24. Dieses 'immer höher Steigen' entfaltet er später anhand des Unterschieds zwischen 'Verstand' und 'Vernunft'. 'Verstand' ist das menschliche Vermögen, die empirischen Gegebenheiten zu Begriffen und Sätzen zu synthetisieren. Die Produkte des Verstandes werden ihrerseits durch die Vernunft verarbeitet, die sie zu größeren Gesamtheiten zusammenzufassen versucht23. Die Vernunft verarbeitet Sätze des Verstandes als Schlüsse allgemeinerer Prämissen und steigt über eine Reihe von 'Prosyllogismen' (A 331) zu stets größeren Einheiten auf. Schließlich gelangt die Vernunft zu den drei höchsten und umfassendsten 'Ideen': Seele, Kosmos und Gott. 24

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A VII: "Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnisse [den metaphysischen]: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft In diese Verlegenheit gerät sie ohne ihre Schuld. Sie fängt von Grundsätzen an, deren Gebrauch im Laufe der Erfahrung unvermeidlich und zugleich durch diese hinreichend bewährt ist. Mit diesen steigt sie (wie es auch ihre Natur mit sich bringt) immer höher, zu entfemeteren Bedingungen." A 664: "Der Verstand macht für die Vernunft eben so einen Gegenstand aus, als die Sinnlichkeit für den Verstand. Die Einheit aller möglichen empirischen Verstandeshandlungen systematisch zu machen, ist ein Geschäfte der Vernunft, so wie der Verstand das Mannigfaltige der Erscheinungen durch Begriffe verknüpft und unter empirische Gesetze bringt."

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Kapitel 7 Gegen Kant und Jacobi: 'Vernunft ist Sprache'

Wichtig ist folgendes: diesen Ideen der Vernunft entspricht kein empirischer Gegenstand, wie bei den Begriffen des Verstandes! Die Verwirrung im Bereich der Metaphysik (einschließlich der Theologie) ist laut Kant auf den 'transzendentalen Schein der Ideen' zurückzuführen: man gebraucht sie als Verstandesbegriffe, die auf wahrnehmbare Gegenstände verweisen sollen. Hingegen ist der einzige legitime aber wichtige Gebrauch der Ideen 'regulativ' (im Gegensatz zu konstitutiv): heuristisch helfen und stimulieren sie uns, unsere Erkenntnis zu immer größeren Einheiten zu ordnen. Die transzendentalen Ideen sind 'Als ob-Ideen': wir tun, 'als ob' die Seele eine permanente Substanz wäre, 'als ob' der Kosmos ein geschlossenes Ganzes der Ursache und Folge wäre, 'als ob' die Natur eine teleologische, von Gott geschaffene Einheit wäre. In diesem 'als ob' liegt der regulativ-heuristische Gebrauch; wenn wir dieses 'als ob' vergessen und die Ideen als konstitutiv behandeln, lassen wir uns durch ihren transzendentalen Schein irreführen26. Der größte Teil der 'transzendentalen Dialektik' ist der Entwirrung und Widerlegung von Fehlschlüssen gewidmet, die durch den konstitutiven Gebrauch der Vernunftideen entstehen. Kant unterteilt sie in die 'Paralogismen' der rationalen Psychologie, die 'Antinomien' der rationalen Kosmologie und das 'transzendentale Ideal' der rationalen Theologie. Wir beschränken uns hier auf Kants Analyse der Gottesbeweise, die er für theologische Trugschlüsse hält. Der ontologische Gottesbeweis ist nach Ansicht Kants nicht stichhaltig, weil 'sein' kein reales Prädikat ist. Vorher hatte er bereits 'bewiesen', daß 'wirklich dasein' dem Reich der Möglichkeiten (= Prädikate) nichts hinzufügt27. Es kann deshalb von der Möglichkeit Gottes nicht zwingend auf die Wirklichkeit Gottes geschlossen werden28. 26 27 28

"Eine Illusion, die gar nicht zu vermeiden ist." (A 297). Vgl. A 230 f. Vgl. A 596-600. Mit der 'Semantik der möglichen Welten' aus der modalen Logik unserer Tage kann Kants Argumentation widerlegt und der ontologische Gottesbeweis verstärkt werden. Vgl. Vos, Α., 'De ontologische argumenten', in: Wijsgerig Perspectief, 24 (1983/84), 158-163; Hubbeling, H.G., Principles of the philosophy of religion, Assen/Maastricht 1987, 200-209; Siehe zu einer epistemischen Abwandlung des ontologischen Gottesbeweises mit Hilfe der Semantik der möglichen Welten: Vos, Kermis en Noodzakelijkheid, 377-384. Die Auffassung, daß 'dasein' kein reales Prädikat sei, hat Kant vielleicht bei Hume gefunden. Vgl. Treatise on human nature, 66 f.: "The idea of existence, then, is the very same with the idea of what we conceive to be existent. To reflect on any thing simply, and to reflect on it as existent, are nothing different from each other. That idea, when conjoin'd with the idea of any object, makes no addition to it. Whatever we conceive, we conceive to be existent." Op.cit, 96 Fußnote: " since in that proposition, God is, or indeed any other, which regards existence, the idea of existence is no distinct idea, which we unite with that of the object". Siehe auch Dialogues concerning

7.2 'Kritik der reinen Vernunft'

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Es ist für Kant wichtig, den ontologischen Gottesbeweis zu entkräften, denn wenn 'Gott' nicht einem wahrnehmbaren Gegenstand entspricht, sein Dasein aber trotzdem mit streng logischen Gründen bewiesen werden könnte, würde ein ernsthaftes Problem für Kants Philosophie entstehen: aus apriori Gründen muß Gottes Dasein angenommen werden (vgl. Kriterium 1), obwohl der Begriff 'Gott' empirisch keine Bedeutung hat (vgl. Kriterium 2). Der kosmologische und derphysikotheologische Gottesbeweis gehen beide von der Erfahrung aus, begehen aber den Fehler, über die Grenzen der Erfahrung hinauszugehen. Außerdem gebrauchen sie laut Kants Interpretation den ontologischen Gottesbeweis, der bereits widerlegt ist. Interessant ist Kants Erörterung des physikotheologischen Gottesbeweises. Er bedauert, auch diesen Beweis als einen Trugschluß entlarven zu müssen. Die kontingente Zweckmäßigkeit der Natur führt uns unwiderstehlich zum Vergleich mit menschlichen Kunsterzeugnissen, und aufgrund dieser Analogie nehmen wir an, daß es einen Weltbaumeister gibt, der die Welt in Freiheit teleologisch geordnet hat. Auch wenn dieser physikotheologische Analogiebeweis der transzendentalen Kritik nicht standhalten kann29, muß zugegeben werden, "daß, wenn wir einmal eine Ursache nennen sollen, wir hier nicht sicherer, als nach der Analogie mit dergleichen zweckmäßigen Erzeugungen [in Freiheit geschaffenen Kunstwerken], die die einzigen sind, wovon uns die Ursachen und Wirkungsart völlig bekannt sind, verfahren können." (A 626)30. Hier ist bei Kant eine starke Faszination zu spüren: sein 'Erstaunen' über die Teleologie, die schöpferischer Freiheit entspringt. In seinem späteren Werk räumt er dieser Grundintuition immer mehr Platz ein. Wie sich gezeigt hat, ist die transzendentale Idee 'Gott' eine 'Als ob'Idee: auf dem theoretischen Weg kann das Dasein eines korrelierenden Gegenstandes nicht bewiesen werden. Obwohl die theoretische Vernunft den Platz Gottes also noch offenlassen muß, kann die praktische Vernunft ihn dennoch ausfüllen. Im Kapitel 'Der Kanon der reinen Vernunft' beweist Kant das Dasein Gottes als notwendige Annahme der praktischen Vernunft31.

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natural religion, 215 f. (= Ν III 260). Wie Hume in seinen Dialogues concerning natural religion bereits nachgewiesen hat. A 622: "Die gegenwärtige Welt eröffnet uns einen so unermeßlichen Schauplatz von Mannigfaltigkeit, Ordnung, Zweckmäßigkeit und Schönheit, daß sich unser Urteil vom Ganzen in ein sprachloses, aber desto beredteres Erstaunen auflösen muß." A 623: "Dieser Beweis verdient jederzeit mit Achtung genannt zu werden. Er ist der älteste, kläreste und der gemeinen Menschenvernunft am meisten angemessene." A 811: "Gott also, und ein künftiges Leben, sind zwei von der Verbindlichkeit, die uns reine Vernunft [in ihrem praktischen Gebrauch] auferlegt, nach Prinzipien eben derselben Vernunft nicht zu trennende Voraussetzungen." Vgl. zu einer Wiedergabe des Beweises: Adriaanse, HJ., 'Het morele Godsbewijs, in het bijzonder bij Kant", in: Wijsgerig Perspectief, 24 (1983/84), 173-180; Hubbeling, op.cit., 122 f.

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Kapitel 7 Gegen Kant und Jacobi: 'Vernunft ist Sprache'

Auf diesem (Um)Weg der praktischen Vernunft 'rettet' Kant auch den physikotheologischen Gottesbeweis: "Dagegen, wenn wir aus dem Gesichtspunkte der sittlichen Einheit, als einem notwendigen Weltgesetze, die Ursache erwägen, die diesem allein den angemessenen Effekt, mithin auch für uns verbindende Kraft geben kann, so muß es ein einiger oberster Wille sein, der alle diese Gesetze in sich befaßt. Aber diese systematische Einheit der Zwecke in dieser Welt der Intelligenzen, welche, obzwar, als bloße Natur, nur Sinnenwelt, als ein System der Freiheit aber intelligibele, d.i. moralische Welt (regnum gratiae) genannt werden kann, führet unausbleiblich auch auf die zweckmäßige Einheit aller Dinge, die dieses große Ganze ausmachen, nach allgemeinen Naturgesetzen, so wie die erstere nach allgemeinen und notwendigen Sittengesetzen, und vereinigt die praktische Vernunft mit der spekulativen. Dadurch bekommt alle Naturforschung eine Richtung nach der Form eines Systems der Zwecke, und wird in ihrer höchsten Ausbreitung Physikotheologie." (A 815 f.; kurs. H.V.). In diesem Abschnitt bringt Kant den Grundtenor und die Grundspannung seines ganzen philosophischen Projektes zum Ausdruck. Die zwei fundamentalen Fragen, mit denen er sich auseinanderzusetzen hat, sind die folgenden: Wie begründe ich die einzelnen 'Reiche' der natürlichen Gesetzmäßigkeit einerseits und der sittlichen schöpferischen Freiheit anderseits; und wie können beide 'Reiche' in einen einzigen (teleologischen) Zusammenhang integriert werden?

7.3 Hamanns Rezension der 'Kritik der reinen Vernunft' 7.3.1 Eine erste Charakterisierung Noch ehe die KrV offiziell erscheint, hat Hamann bereits eine Rezension vorliegen32. Darin werden die Bedeutung und Entwicklung von Kants Riesenwerk im allgemeinen gut aufgezeigt und wiedergegeben33, so daß man seine Rezension durchaus als eine intelligente Zusammenfassung bezeichnen kann. Diese Beurteilung ist noch überzeugender, wenn man bedenkt, daß die KrV

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Eine Korrektur der Nadler-Ausgabe: In Ν III 279:23 muß statt 'Christus': 'Epikur' gelesen werden. " Als Zusammenfassung läßt die Rezension in einem Punkt zu wünschen tlbrig: Mit keinem einzigen Wort geht Hamann auf den Inhalt des 'Kanon'-Kapitels über die 'praktische Vernunft' ein.

7.3 Hamanns Rezension der 'Kritik der reinen Vernunft'

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wegen ihrer großen Schwierigkeit in den ersten Jahren kaum gelesen und begriffen wurde®4. Wie zu erwarten ist die Rezension ein Cento-Text, größtenteils zusammengestellt aus Sätzen und Satzteilen aus der KrV, so daß man die KrV gut kennen muß, will man Hamanns Rezension begreifen. Als einleitende Besprechung für Leser, die die KrV noch nicht kennen, ist die Rezension also nicht sehr geeignet. Auffällig ist allerdings, daß sie bei weitem nicht so undurchsichtig ist wie viele andere Schriften Hamanns. Er bemüht sich ernsthaft, einen klaren und übersichtlichen Text zu schreiben. Die Unverständlichkeit der Rezension liegt größtenteils daran, daß er zu viel von Kants eigenen Formulierungen Gebrauch macht. In der Rezension gelingt es Hamann meisterhaft, durch seine CentoTechnik die KrV zu ironisieren. Vor allem die äußerst hohen Ansprüche Kants, und mit Kant die der Aufklärung, werden durch die Art des Zitierens so beleuchtet, daß sie etwas Lächerliches bekommen. Hamann hat großen Respekt vor Kant, aber wenn dieser meint, die Grundlage für die 'absolute Vollendung aller Wissenschaften' legen zu können, kann Hamann nicht anders als diesen Anspruch ironisieren. Er beginnt mit einem gut gewählten Zitat aus einer Fußnote des Vorworts35: ""Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Critic, der sich alles unterwerfen muß. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung, durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdenn erregen sie gerechten Verdacht wider sich, und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, welche die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freye und öffentliche Prüfung hat aushalten können."" (N III 277:1-7*). In diesen zwei Sätzen erkennt Hamann das ehrgeizige Vorhaben, das die Aufklärung sich selbst zum Ziel gesetzt hat und das Kant meint, verwirklichen zu können: alles, auch 'Religion und Gesetzgebung', fallt unter die Kritik der autonomen Vernunft, und 'unverstellte Achtung' verdient nur das, was die Prüfung der Vernunft aushalten kann. Ironisierend fährt Hamann 34

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Gründer, Figur und Geschichte, 184: "Er [Hamann] setzt zu einer Schrift an, zunächst in Form einer Anzeige, nur referierend, aber schon dabei mit kaum glaublicher Sicherheit raffend." Metzke, E., 'Kant und Hamann' (1961), in: Wild, R., (Hrsg.) Johann Georg Hamann, (233-263), 239: "Was das heißt, wird daran deutlich, daB die Kritik der reinen Vernunft bei ihrem Erscheinen kaum einen wirklichen Leser fand, daß ein Mendelssohn das 'Nervensaft verzehrende Werk' nach zwei Jahren noch nicht zu Ende gelesen hat und noch 1784 Kants Kollege Schulz vom dem 'versiegelten Buch' spricht, das 'niemand öffnen kann.'" Vgl. Gulyga, Α., Immanuel Kant (19771), Frankfurt am Main 1985, 152-159. Wenn nötig, werden bei den Zitaten Hamanns, in denen Textfragmente aus der KrV verarbeitet sind, in den Fußnoten die Parallelstellen aus der KrV angegeben. Vgl. A XI.

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fort: "Mit unverstellter Achtung kündigt auch Recensent vorstehendes Werk an, um wenigstens durch seine eingeschränkte Anzeige eine freye und öffentliche Prüfung bey Lesern, die solcher gewachsen und durch Müsse so wol als Geschmack dazu beruffen sind, zu befördern."37 (Ν ΙΠ 277:7-11). Kant denkt, daß seine 'Kritik' jeglicher (Meta)Kritik standhalten könne, und meint, daß auf dieser Grundlage die Vollendung der Metaphysik in Reichweite komme. Die transzendentale Philosophie, die er in der KrV entwirft, "schwingt sich auf den Fittigen38 einer ziemlich abstracten Genealogie39 und Heraldik zu der monarchischen Würde und olympischen Hofnung, "als die Einzige aller Wissenschaften, ihre absolute Vollendung, und zwar in kurzer Zeit zu erleben40, ohne Zauberkünste"41 "alles aber aus Principien"42 - heiliger als der Religion, und majestätischer als der Gesetzgebung ihre [Principien]." (N III 277:25-). Der Schluß der Rezension Hamanns ist so scharf, daß die Ironie in bitteren Sarkasmus umschlägt. Diese für Kant kränkende Stelle, auf die wir hier nicht eingehen43, ist zweifellos der Grund dafür, daß Hamann seine Rezension schließlich nicht veröffentlichte.

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Vgl. A 752: "Zu dieser Freiheit gehört denn auch die, seine Gedanken, seine Zweifel, die man sich nicht auflösen kann, öffentlich zur Beurteilung auszustellen, ohne darüber für einen unruhigen und gefährlichen Bürger verschrien zu werden." A 5: "Eben so verließ Plato die Sinnenwelt, weil sie dem Verstände so vielfältige Hindernisse legte, und wagte sich jenseit derselben, auf den Flügeln der Ideen, in den leeren Raum des reinen Verstandes." Seine Kritik an Plato bezieht Hamann so auf Kant selbst. Vgl. auch: Ν III 279:14-, Kant entwirft seine KrV vor dem genealogischen Hintergrund des Skeptizismus und des Dogmatismus. Vgl. A IX f. A XIX f.: "Es kann, wie mich dünkt, dem Leser zu nicht geringer Anlockung dienen, seine Bemühung mit der des Verfassers zu vereinigen, wenn er die Aussicht hat, ein großes und wichtiges Werk, nach dem vorgelegten Entwürfe, ganz und doch dauerhaft zu vollführen. Nun ist die Metaphysik, nach den Begriffen, die wir davon geben werden, die einzige aller Wissenschaften, die sich eine solche Vollendung und zwar in kurzer Zeit, und mit nur weniger, aber vereinigter Bemühung, versprechen darf, so daß nichts vor die Nachkommenschaft übrig bleibt, als in der didaktischen Manier alles nach ihren Absichten einzurichten, ohne darum den Inhalt im mindesten vermehren zu können. Denn es ist nichts als das Inventariunt aller unserer Besitze durch reine Vernunft, systematisch geordnet." A XIII: "Zwar ist die Beantwortung jener Fragen gar nicht so ausgefallen, als dogmatischschwärmende Wißbegierde erwarten mochte; denn die könnte nicht anders als durch Zauberkünste, darauf ich mich nicht verstehe, befriedigt werden." A XII: "Ich verstehe aber hierunter ['Kritik der reinen Vernunft'] nicht eine Kritik der Bücher und Systeme, sondern die des Vernunftvermögens überhaupt, in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie, unabhängig von aller Erfahrung, streben mag , alles aber aus Prinzipien." Vgl. Ν III 279:33-.

7.3 Hamanns Rezension der 'Kritik der reinen Vernunft'

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Als Hamann den Plan für die Rezension der KrV faßte, hatte er zunächst nicht die Absicht, ein Urteil abzugeben **, aber an diesen Vorsatz hält er sich nicht. Abgesehen von der Ironisierung und der ausdrücklichen Verurteilung am Schluß gibt es zwei Stellen, in denen er inhaltlich, wenn auch noch nicht so ausführlich, Kritik äußert.

7.3.2 Kants Trennung von Verstand und Sinnlichkeit Der wichtigste Abschnitt - den wir in drei Teile gliedern - lautet folgendermaßen: I

"Gleichwohl hängt die Entscheidung der bloßen Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik noch immer von der vielseitigen und unerschöpften Frage ab: Was und wie viel kann Verstand und Vernunft, frey von aller Erfahrung, erkennen?43 Wie viel darf ich mit der Vernunft, wenn mir aller Stoff und Beystand der Erfahrung genommen wird, etwan auszurichten hoffen?" II Giebt es menschliche Erkenntnisse, unabhängig von aller Erfahrung47 - Formen unabhängig von aller Materie? Worinn besteht der formelle Unterschied der Begriffe α priori und α posteriori? Liegt gewis ein Geheimnis in der differentia specifica analytischer und synthetischer Urtheile verborgen, das keinem von den Alten eingefallen seyn sollte?4* Sind prius und posterius, Analysis und Synthesis nicht natürliche correlata, und zufällige opposita, beyde aber, wie die Receptivität des Subjects zum Prädicat, in der Spontaneität49 unserer Begriffe gegründet? III Sind ideae matrices'0 und ideae innatae nicht Kinder eines Geistes? Entspringen Sinnlichkeit und Verstand·, als die zween Stämme der menschlichen Erkenntnis, aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel, so daß durch jene Gegen-

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ZH IV 294:18-: " um vielleicht das Werk recensiren, aber nicht beurtheilen zu können". A XVII: " weil die Hauptfrage immer bleibt, was und wie viel kann Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung, erkennen, und nicht, wie ist das Vermögen zu denken selbst möglich?" A XIV: " nur daß hier die Frage aufgeworfen wird, wie viel ich mit derselben, wenn mir aller Stoff und Beistand der Erfahrung genommen wird, etwa auszurichten hoffen dürfe." Vgl. A XI. Vgl. A 10: "Es liegt also hier ein gewisses Geheimnis verborgen "; Fußnote: "Wäre es einem von den Alten eingefallen, auch nur diese Frage aufzuwerfen, ". A 51: "Wollen wir die Rezeptivität unseres Gemüts, Vorstellungen zu empfangen, so fern es auf irgend eine Weise affiziert wird, Sinnlichkeit nennen: so ist dagegen das Vermögen, Vorstellungen selbst hervorzubringen, oder die Spontaneität des Erkenntnisses, der Verstand." Die Formen von Raum und Zeit; vgl. ZH V 214:4.

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Kapitel 7 Gegen Kant und Jacobi: 'Vernunft ist Sprache'

stände gegeben, und durch diesen gedacht (verstanden und begriffen) werden": wozu eine so gewaltthätige, unbefugte Scheidung desjenigen, was die Natur zusammengefügt hat? Werden nicht beyde Stämme durch diese Dichotomie oder Zwiespalt ihrer transcendentalen Wurzel ausgehen und verdorren?" (N III 277:32-).

Im Teil I dieses Zitates wiederholt Hamann die Grundfrage der KrV. Kant beantwortet diese Frage, indem er nachweist, daß und wie der Verstand tatsächlich über a priori Erkenntnis unabhängig von aller Erfahrung verfügt. Dann stellt Hamann in II und III eine Reihe rhetorischer Fragen, worin er die Möglichkeit reiner Erkenntnis bezweifelt. In II fragt er sich, ob es denn einen formalen Unterschied zwischen a priori und a posteriori und zwischen analytisch und synthetisch gebe. Er versteht die Begriffspaare als korrelierende Gegensätze, die von verschiedenen Gesichtspunkten aus dasselbe Verhältnis ausdrücken. Wenn das Verhältnis zweier Begriffe derartig ist, daß der eine 'prius' ist, dann ist der andere notwendigerweise 'posterius' und umgekehrt. Desgleichen: wenn ein bestimmter Satz etwas synthetisiert, kann das Synthetisierte auch wieder analysiert werden und umgekehrt. Deshalb kann Hamann sagen, daß die 'Spontaneität' des einen Begriffs den anderen hervorruft. Als Analyse der.Begriffe, im Sinne Kants, stimmt dies allerdings nicht. Bei ihm sind a priori und a posteriori, analytisch und synthetisch, nicht Korrelate, die von verschiedenen Gesichtspunkten aus dasselbe Verhältnis bezeichnen. Ά priori' bedeutet, daß Formen und Kategorien der Erfahrung transzendental vorausgehen; 'a posteriori' bedeutet, daß induktive Begriffe der Erfahrung folgen. Das zweite Verhältnis ist also nicht die Umkehrung des ersten. 'Analytisch' ist ein Verhältnis zwischen Subjekt und Prädikat, wenn das Prädikat im Subjekt beschlossen liegt; 'synthetisch', wenn das Prädikat nicht im Subjekt beschlossen liegt. Also ist auch hier das zweite keine Umkehrung des ersten. Daß Hamann die Begriffe beider Paare als gegenseitige Umkehrungen auffaßt, bedeutet eigentlich, daß er die Möglichkeit der Erkenntnis a priori nicht akzeptiert. Er glaubt nicht an reine Erkenntnis, die unabhängig von der Erfahrung ist. Die Unmöglichkeit der von der Erfahrung unabhängigen Erkenntnis wird in III noch unterstrichen, wenn Hamann Kants eigene Vermutung aufgreift, daß Verstand und Sinnlichkeit einen gemeinsamen Ursprung haben. Wenn 51

A 15: "Nur so viel scheint zur Einleitung, oder Vorerinnerung, nötig zu sein, daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren uns Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden."

7.3 Hamanns Rezension der 'Kritik der reinen Vernunft'

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Kant selbst von einer tiefer liegenden Einheit ausgeht, wie kann er dann beide doch voneinander trennen (wollen), fragt Hamann sich. Die KrV ist eine "unbefugte Scheidung desjenigen, was die Natur zusammengefügt hat"52; mit dieser Formulierung weist Hamann bereits auf die Wirklichkeit hin, in der seiner Ansicht nach die gemeinsame Wurzel von Verstand und Sinnen, Zeichen und Bedeutung gesucht werden muß, nämlich die Sprache.

7.3.3 Kant als Mystiker Ein anderer Abschnitt, in dem Hamann seine Kritik äußert, lautet folgendermaßen: "Den Schluß der Elementarlehre S. 631-704 macht eine vorzügliche con amore ausgearbeitete Critik aller speculativen Theologie; wiewol die scharfsinnige Beobachtung über Piaton S. 314 auch an dem Gesetzgeber und Kunstrichter der reinen Vernunft selbst, bewährt werden dürfte." (Ν III 279:11-)· Im ersten Satz stimmt Hamann Kant in seiner Kritik an aller spekulativen Theologie, das heißt, aller Theologie, die über die Grenzen der Erfahrung hinausgeht, durchaus zu. In diesem Teil der 'Elementarlehre' ist auch der Einfluß der Dialogues Humes spürbar, mit denen Kant sich in der Übersetzung Hamanns befaßte. Der zweite Satz verweist auf eine Stelle, in der Kant mit Bedauern feststellt, daß Plato nicht nur die praktischen Ideen, sondern auch die theoretischen, wie die der Mathematik, hypostasiert habe: "Hierin kann ich ihm nun nicht folgen, so wenig als in der mystischen Deduktion dieser Ideen, oder den Übertreibungen, dadurch er sie gleichsam hypostasierte" (A 314 Fußnote53). Kants Kritik an Plato aufgrund des empiristischen Kriteriums ist laut Hamann freilich ein Schwert, in das er selbst fallt, denn, wenn er wie Plato Erkenntnis, unabhängig von jeglicher Erfahrung, für möglich hält, ist er ebenfalls ein 'Mystiker'54.

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Vgl. Ν III 40:3-, 300:31-; ZH V 214:7-. Vgl. A 854. Hamann äußert dies auch einmal Kant gegenüber, was dieser nicht bereit ist, ihm abzunehen. ZH IV 355:32-: "Er [Kant] war sehr vertraut mit mir, ohngeachtet ich ihm das vorige mal ein wenig stutzig gemacht hatte, da ich seine Kritik billigte aber die darinn enthaltene Mystik verwarf. Er wußte gamicht, wie er zur Mystik kam." Vgl. außerdem: ZH IV 293:36-, 330:14-, 29-; ZH V 94:36-, 95:23-; ZH V 212:31-; Hume, Dialogues concerning natural religion, 180:25- (= Ν III 254:40-); Bayer, Ο., 'Die Geschichten der Vernunft sind die Kritik ihrer Reinheit, Hamanns Weg zur Metakritik Kants', in: Acta 4, (9-87), 87:53- (= Entwurf der Metakritik). 'Mystik* hat für Kant

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Man kann sich Kants eventuelle Antwort vorstellen: 'Reine Erkenntnis* hat nur Bedeutung, wenn sie sich in der Erfahrung manifestieren kann; aber gleichzeitig gilt weiterhin, daß die Erfahrung für den a priori Charakter dieser Erkenntnis nicht konstitutiv ist: "Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung." (Β 1; kurs. H.V.). Hamann lehnt diese Unterscheidung zwischen 'mit* und 'aus' ab; für ihn ist Erfahrung immer konstitutiv für die Bedeutung, die darin zum Ausdruck kommt. Diese Auffassung entfaltet er vom Ausgangspunkt der Sprache her in der Metakritik weiter.

7.3.4 Hume als Zuchtmeister Schließlich wollen wir noch auf eine auffällige Übereinstimmung zwischen Kants Kritik und Hamanns Rezension hinweisen. Hamann vergleicht das Kapitel aus der KrV über 'Die Disziplin der reinen Vernunft' (in dem Hume besondere Aufmerksamkeit erfährt) "mit der paulinischen Theorie der Disciplin des Gesetzes" (Ν III 279:20). Wir wissen, daß Hamann die Skepsis Humes bereits öfter mit der paulinischen Kritik am Gesetz verglichen hat; dies war bereits 1759 in einem Brief an Kant der Fall55. Nun ist es auffällig, daß Kant denselben Vergleich in seinem Disziplin-Kapitel anstellt: "Und so ist der Skeptiker [Hume] der Zuchtmeister des dogmatischen Vernünftlers auf eine gesunde Kritik des Verstandes und der Vernunft selbst." (A 769). Hamann und Kant halten also beide Hume für einen nützlichen Zuchtmeister, der die spekulative Vernunft in die Grenzen der Erfahrung zurückverweist. Beide sind auch der Ansicht, daß der 'kritische Weg' sich nicht in der Skepsis totzulaufen brauche, denn auf der anderen Seite der engen Pforte der Erfahrung öffne sich das ganze Feld wieder. Freilich in der Beantwortung der Frage, wohin die Erfahrung uns denn bringen kann, gehen sie ganz eigene Wege.

35

und Hamann aufgrund ihres Empirismus eine negative Bedeutung. Wir haben gesehen, wie Hamann sich in Konxompax gegen die doketische Mystik der Theosophie wendet. Vgl. ZH I 379:30-,

7.4 'Metakritik über den Purismus der Vernunft'

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7.4 'Metakritik über den Purismus der Vernunft 7.4.1 Der Einfluß Humes In der Metakritik versucht Hamann, zu einer systematischen Kritik an Kant zu kommen, und formuliert außerdem eine alternative Theorie. Noch weniger als in der Rezension trachtet er, sich kryptisch zu verbergen. Der größte Teil der Metakritik ist ein ernsthafter Versuch, das Gespräch mit seinem berühmten Königsberger Mitbürger klar und sachlich aufzunehmen. Die Metakritik ist ein kurzer Text, jedoch zu lang, um hier ganz behandelt werden zu können. Wir wählen fünf wichtige Abschnitte aus, deren Erörterung noch ziemlich viel Platz in Anspruch nehmen wird56. Allgemeine Ideen; ihre Denotation Das erste Zitat, mit dem die Metakritik einsetzt, ist eins der zwei Fragmente, aus denen hervorgeht, auf welche Weise Hamann Humes Lehre der 'abstract ideas' aufgreift. Es enthält ein etwas verändertes Zitat aus Humes treatise on human nature: ""Ein großer Philosoph hat behauptet, das allgemeine u. abstracte Ideen nichts als besondere sind, aber an ein gewißes Wort gebunden, welches ihrer Bedeutung mehr Umfang oder Ausdehnung giebt, und zugl. uns jener bey einzelnen Dingen erinnert"[.] Diese Behauptung des eleatischen, mystischen u schwärmenden Bischoffs von Cloyne, Georg Berkeley, erklärt Hume für eine der grösten und schätzbarsten Entdeckungen, welche zu unserer Zeit in der gelehrten Republick gemacht worden. Was aber die wichtige Entdeckung selbst betrifft: so liegt selbige wol ohne sonderlichen Tiefsinn im bloßen Sprachgebrauch der gemeinsten Wahrnehmung und Beobachtung des Sensus communis offen u aufgedeckt." (ZH V 210: 19-).

Der Originaltext des Treatise-Zitats lautet folgendermaßen: "A great philosopher has disputed the receiv'd opinion in this particular, and has asserted, that all general ideas are nothing but particular ones, annexed to a certain term, which gives them a more extensive signification, and makes them recall upon occasion other individuals, which are similar to them. As I look upon this to be one of the greatest and most valuable discoveries that has been made of late years in the republic of letters, I shall here endeavour to confirm it by some arguments, which I hope will put it beyond all doubt and controversy."57

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Da die Abschrift der Metakritik in der ZW -Ausgabe des 'Briefwechsels* (ZH V 210216) zuverlässiger als der Nadlertext ist, zitieren wir daraus. " Treatise, 17 (Book I, Part I, section VII, 'Of abstract ideas').

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Kapitel 7 Gegen Kant und Jacobi: 'Vernunft ist Sprache'

In seiner Erläuterung dieser These entwickelt Hume eine psychologistische Theorie der Universalien, die sich in den folgenden Punkten zusammenfassen läßt: 1) Ideen sind Bilder sinnlicher 'impressions' in unserem Denken58. 2) Allgemeine oder abstrakte Ideen sind nicht möglich. Nehmen wir zum Beispiel die Idee des 'Dreiecks'. Jede Idee des 'Dreiecks' ist eine einzelne Idee eines bestimmten Dreiecks mit bestimmten Maßen. Die Idee 'Dreieck', bei der ich von jedem möglichen (bestimmten) Maße absehe, ist nicht möglich: " es ist völlig unmöglich, sich irgendeine Quantität oder Qualität vorzustellen, ohne einen genauen Begriff ihrer Maße zu haben"59. 3) Wie kann eine einzelne Idee doch allgemeine Bedeutung erhalten? Indem diese Idee verbunden wird mit einem allgemeinen Wort (dem Wort 'Dreieck' oder 'Triangel'). Über den 'Umweg' des allgemeinen Wortes 'Dreieck' wird diese einzelne Idee des 'Dreiecks' assoziativ mit anderen einzelnen Ideen eines 'Dreiecks' in Verbindung gebracht. Das allgemeine Wort 'Dreieck' ruft bei mir andere einzelne Ideen eines 'Dreiecks' in Erinnerung60. 4) Die assoziative Wirkung eines allgemeinen Wortes, wodurch eine einzelne Idee allgemeine Bedeutung erhalten kann, beruht auf 'habit' und 'custom'. Zusammengefaßt: Humes Bedeutungstheorie der allgemeinen Begriffe ist psychologistisch und denotativ: ein allgemeines Wort denotiert eine endliche Klasse von Referenten ('particular ideas'), die mindestens zwei Glieder hat. Nun hat Chr. Knudsen darauf hingewiesen, daß Hamanns 'Übersetzung' des Hume-Fragments in der Metakritik seiner Ansicht nach eine wesentliche inhaltliche Veränderung des Zitats verursacht habe61. Hamann übersetzt: " a certain term, which gives them a more extensive signification, and makes them recall upon occasion other individuals", nämlich so: " ein gewißes

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Treatise, 1: "By ideas I mean the faint images of these ['impressions'] in thinking and reasoning." Treatise, 18: " 'tis utterly impossible to conceive any quantity or quality, without forming a precise notion of its degrees". Treatise, 22: "A particular idea becomes general by being annex'd to a general term; that is, to a term, which from a customary conjunction has a relation to many other particular ideas, and readily recalls them in the imagination." Die Frage ist natürlich, wie Hume von der 'resemblance' zwischen einzelnen Ideen Rechenschaft ablegen kann. Ist die Eigenschaft, die einzelne Ideen gemein haben, wodurch sie unter einem gemeinschaftlichen Begriff zusammengefaßt werden können, eine 'abstract idea'? Das Problem ist nicht gelöst, sondern verschoben. Vgl. Knudsen, Chr., 'Das gewisse Wort, Johann Georg Hamanns Sprachtheorie zwischen Tradition und Vernunftkritik, (Für Jan Pinborg)', in: Cahiers de l'institut du moyen-äge grec et latin, Copenhague 44 (1983), 86-101.

7.4 'Metakritik über den Purismus der Vernunft'

327

Wort , welches ihrer Bedeutung mehr Umfang oder Ausdehnung giebt, und zugl. uns jener [Bedeutung] bey einzelnen Dingen erinnert". Nach Knudsen ändert sich durch diese Übersetzung folgendes: Erstens macht das allgemeine Begriff die einzelne Idee nicht zum Glied einer denotierten Klasse (Extension), sondern erweitert die Bedeutung (Konnotation) dieser Idee; zweitens erinnert das allgemeine Wort uns nicht an andere 'individuals', sondern umgekehrt: das allgemeine Wort erinnert uns 'bey einzelnen Dingen' an ihre Bedeutung. Wenn Knudsens Interpretation der 'Übersetzung' Hamanns stimmt, ist das Zitat Humes nicht mehr eine Theorie der Denotation (Extension), sondern der Konnotation (Intension, Bedeutung). Zwischen das allgemeine Wort und die einzelnen Referenten schiebt Hamann dann - bewußt oder unbewußt von Hume abweichend - die Ebene der Bedeutung oder Konnotation. Dies würde dem bereits dargelegten Unterschied zwischen Hume und Hamann entsprechen, daß nämlich laut Hamann die empirische Wirklichkeit Träger geistiger Bedeutung ist, wodurch sie analogisch und typologisch transzendieren kann62. Uns scheint es jedoch näher zu liegen, 'Bedeutung' im denotativen Sinn zu lesen, so daß Hamanns Übersetzung sachlich korrekt bleibt. Es steht dann dort, daß ein Wort die denotative Bedeutung eines Begriffs vergrößert und uns bei der Wahrnehmung einzelner Dinge an diesen denotativen Bereich erinnert. Auf jeden Fall steht fest, daß Hamann Humes Meinung teilt, die Allgemeinheit eines Begriffes sei auf die Verknüpfung einzelner Wahrnehmungen durch die Sprache zurückzuführen. Allgemeine Ideen; ihr α posteriori Charakter Der Einfluß von Humes Treatise zeigt sich in einem zweiten wichtigen Abschnitt, den wir in zwei Teile gliedern: I

"Zwar sollte man aus so manchen analytischen Urtheilen auf einen gnostischen Haß gegen Materie, oder auch auf eine mystische Liebe zur Form schließen; dennoch hat die Synthesis des Prädicats mit dem Subject, worinn zugl. das eigentliche Object der reinen Vernunft besteht, zu ihrem Mittelbegriff weiter nichts, als ein altes kaltes Vorurtheil für die Mathematik vor und hinter sich, deren apodictische Gewißheit hauptsächlich auf eine gleichsam kyriologische Bezeichnung der einfachsten sinnlichsten Anschauung, und hiernächst auf die LeichtigkeitQ ihre Synthesin und die Möglichkeit derselben in augenscheinlichen Constructionen oder symbolischen Formeln und Gleichungen, durch deren Sinnlichkeit aller Misverstand von selbst ausgeschloßen wird, zu bewähren und darzustellen.

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Vgl. § 4.3.1.

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Kapitel 7 Gegen Kant und Jacobi: 'Vernunft ist Sprache'

II Unterdeßen aber die Geometrie so gar die Idealität ihrer Begriffe von Puncten ohne Theile, von Linien und Flächen auch nach idealisch getheilten Dimensionen durch empirische Zeichen und Bilder bestimmt und figirt', misbraucht die Metaphysik alle Wortzeichen und Redefiguren unserer empirischen Erkenntnis zu lauter Hieroglyphen und Typen idealischer Verhältniße, und verarbeitet durch diesen gelehrten Unfug die Biderkeit der Sprache in ein so sinnloses, läufiges, unstätes, unbestimmbares Etwas = x, daß nichts als ein windiges Sausen, [ein Aberglaube] an entia rationis übrig bleibt." (ZH V 212:31-).

Zu I. In seinem Treatise erörtert Hume auch den Status der Geometrie und behauptet, diese sei im Gegensatz zur Algebra und Arithmetik keine formale und sichere Wissenschaft, da ihre Definitionen ('ideas') der Erfahrung ('impressions') entnommen seien63. In der Sprache Kants: geometrische Urteile sind synthetische Urteile α posterioriIn der Enquiry concerning human understanding verläßt Hume diese Auffassung und rechnet die Geometrie zum "abstract reasoning ά priori"65 Im Teil I des Zitates schließt Hamann sich der Auffassung des Treatise 66 an . Die Geometrie ist seiner Ansicht nach eine empirische Wissenschaft, deren Sicherheit auf den folgenden Elementen beruht: a) Sie bezieht sich auf 'einfache Anschauungen' der Punkte, Linien und Flächen, b) Diese einfachen Anschauungen können 'kyriologisch' gezeichnet werden67, c) Die Synthese der Anschauungen geschieht durch Konstruktionen oder durch 'symbolische' Formeln und Vergleiche, deren Sinnlichkeit jedes Mißverständnis ausschließt. Kurzum: die Geometrie ist 'einfach' und 'sinnlich' und deshalb sicher, und nicht wegen axiomatisch-formaler Bedeutungsmuster! In der Geometrie besteht laut Hamann eine derartig natürliche Verbindung

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Vgl. Treatise, 38-44, 71 f. Vgl. zu Kants Bekämpfung der Theorie Humes über die 'abstract ideas', angewandt auf die Geometrie, u.a.: A 713 f. Enquiries, 35. Vgl. auch Enquiries, 25: "All the objects of human reason or enquiry may naturally be divided into two kinds, to wit, Relations of Ideas, and Matters of fact. Of the first kind are the sciences of Geometry, Algebra, and Arithmetic; Though there never were a circle or triangle in nature, the truths demonstrated by Euclid would for ever retain their certainty and evidence." Diese psychologistische Auffassung der Geometrie fanden wir bereits in Hamanns Jugendwerk. Vgl. § 2.3.3; Majetschak, 'Der Stil als Grenze der Methode'. Die Begriffe 'kyriologisch', 'symbolisch' (oder 'hieroglyphisch') kommen bereits in der Aesthetica in nuce (Ν II 199:6-) vor, und bilden dort mit dem Terminus 'charakteristisch' eine Trias, die Hamann von J.G. Wächter (Naturae et scripturae concordia, Leipzig 1752) übernimmt. Wächter unterscheidet damit drei Stadien in der Entwicklung der Schrift, die drei Arten von Zeichen entsprechen : abbildende Zeichen ('kyriologisch'), symbolische Zeichen und willkürliche Zeichen ('charakteristisch'; konventionelle Zeichen). Vgl. Blackall, 442; Lumpp, Philologia crucis, 56 f.

7.4 'Metakritik über den Purismus der Vernunft'

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zwischen den benutzten Zeichen und der 'einfachen' Wahrnehmung, daß dadurch jedes Mißverständnis ausgeschlossen wird. Zu II. Nach Hume sind mathematische Punkte nicht unendlich teilbar, weil es kleinste und also unteilbare 'impressions' und 'ideas' gibt68. Im Teil II des angeführten Zitates kommt Hamann darauf zu sprechen und sagt, daß in der Geometrie "die Idealität ihrer Begriffe von Puncten ohne Theile, von Linien und Flächen auch nach idealisch getheilten Dimensionen durch empirische Zeichen und Bilder bestimmt und figirt [werde]". 'Puncte ohne Theile' usw. sind ideelle und ideale Bedeutungskomplexe, die sinnlich nicht wahrgenommen werden, jedoch durch bildhafte und symbolische Zeichen 'bestimmt und figirt' werden. Es besteht ein Unterschied und eine Kongruenz zwischen geometrischer Wahrnehmung oder Zeichen (bildhaft und einfach) und der 'Idealität ihrer Begriffe'. Durch die Kongruenz können Zeichen und Wahrnehmung Bedeutung haben, aber es besteht ein Unterschied, weil die idealisierenden Mathematiker dem Zeichen mehr Bedeutung beimessen als empirisch zum Ausdruck kommt69. Aufgrund des so bestimmten Verhältnisses von Zeichen und Bedeutung in der Geometrie beurteilt Hamann dann die Metaphysik. In der Geometrie gibt es zumindest noch ein Kongruenzverhältnis zwischen empirischer Wahrnehmung und empirischem Zeichen einerseits, und der ideellen Bedeutung anderseits. In der Metaphysik besteht diese Kongruenz jedoch nicht mehr. Erfahrung und Sprache sind dort nicht konstitutiv für die Bedeutung, so daß "alle Wortzeichen und Redefiguren unserer empirischen Erkenntnis" degradiert werden "zu lauter Hieroglyphen und Typen idealischer Verhältniße". Da die rationalistische Metaphysik (und auch Kant!) sich nicht auf die Erfahrung gründen, gibt es keine Analogie mehr zwischen Empirie (Sprache) und Bedeutung; die Sprache verliert ihre Bildhaftigkeit70.

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Vgl. Treatise, 38-44. Hamann dazu in einem Briefzitat: "Die ganze Gewißheit der Mathematik hängt von der Natur ihrer Sprache ab, und ihrer Schreiberey. Die Notwendigkeit aller Beweise aber, von der poetischen Licentz metaphysische Puncte, Linien und Flächen zu denken, die physisch unmöglich sind." (ZH V 359:33-). Wenn Hamann in diesem Zusammenhang von 'lauter Hieroglyphen* spricht, meint er eigentlich den 'charakteristischen' Gebrauch der Zeichen, denn die gewählten Zeichen sind vollkommen willkürlich und keinesfalls für die betreffende Bedeutung konstitutiv.

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Kapitel 7 Gegen Kant und Jacobi: 'Vernunft ist Sprache' 7.4.2 Kants mißlungene Reinigung der Philosophie

D i e KrV ist ein 'Purismus der Vernunft' von allen Erfahrungselementen. Das Kantsche Unternehmen ist laut Hamann der zweite Schritt in einem Reinigungsprozeß, der insgesamt drei Schritte umfaßt: I

"Die erste Reinigung der Philosophie bestand nemlich in dem theils misverstandenen, theils mislungenen Versuch, die Vernunft von aller Überlieferung, Tradition und Glauben daran unabhängig zu machen. II Die zweite ist noch transcendenter, und läuft auf nichts weniger als eine Unabhängigkeit von der Erfahrung und ihrer alltägl Induction hinaus - Denn, nachdem die Vernunft über 2000 Jahr, man weiß nicht was? jenseits der Erfahrung gesucht, verzagt sie nicht nur auf einmal an der progreßiven Laufbahn ihrer Vorfahren, sondern verspricht auch mit eben so viel Trotz dem ungedultigen Zeitverwandten, und zwar in kurzer Zeit, jenen allgemeinen und zum Katholicismo und Despotismo notwendigen und unfehlbaren Stein der Weisen, dem die Religion ihre Heiligkeit und die Gesetzgebung ihre Majestät flugs unterwerfen wird, besonders in der letzten Neige eines kritischen Jahrhunder(t)s, wo beyderseitiger Empirismus [der Religion und Gesetzgebung], mit Blindheit geschlagen, seine eigene Blöße von Tag zu Tag verdächtiger u. lächerlicher macht. III Der dritte, höchste und gleichsam empyrische Purismus betrifft also noch die Sprache, das einzige erste u letzte Organon und Kriterion der Vernunft71, ohne ein ander Creditiv als Überlieferung und USUM." (ZH V 211:26-). D i e erste Reinigung, u.a. von Descartes und Locke vollzogen, machte die Philosophie von Überlieferung, Tradition und Glauben unabhängig. Die zweite Reinigung ist die transzendentale Begründung der reinen Vernunft durch Kant. Wie die traditionelle Metaphysik, so versucht auch Kant die Erfahrung zu überschreiten ('transcendere'), aber nicht, wie es 2 0 0 0 Jahre der Fall war, auf das "jenseits der Erfahrung" (transzendent), sondern auf das 'diesseits der Erfahrung' hin (transzendental) 72 . Die reine Vernunft sucht ihren Halt nicht mehr im transzendenten Gott, sondern in sich selbst und ihrer transzendentalen Grundlage. Durch diese Selbstbegründung 'diesseits

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Young, Ε., Night thoughts (1742-'45), in: The works. Von ihm selbst revidiert und korrigiert, 3 Bde., Bd. I, London 1813, Night II, 35: "Speech, thought's canal! speech, thought's criterion too!" Vgl. den 'Entwurf der Metakritik, in: Bayer, Acta 4, 84:17-: "Der zweite Grad der Reinigung geht auf nicht weniger als eine Unabhängigkeit von aller Erfahrung los, und nachdem sie über 2000 Jahr ein allgemeines und notwendiges ich weis nicht was jenseits der Erfahrung gesucht, verzweifelt sie nicht nur auf einmal an diesem progreßieven Wege der Vorfahren und verspricht mit eben so viel Trotz der Nachkommenschaft und zwar in kurzer Zeit jenes allgemeine und notwendige Etwas diesseits der Erfahrung. Was ist am jenseits und diesseits gelegen, wenn nur das /leidige/ Kreuz der Induction aus der Erfahrung" [bricht ab].

7.4 'Metakritik über den Purismus der Vernunft'

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der Erfahrung' ist die Vernunft autonomer Richter, auch der Religion und Gesetzgebung und ihres "beyderseitige[n] Empirismus" geworden. Diese Autonomie ist der 'Stein der Weisen' für jede Form des Despotismus und 'Katholizismus'73. Allerdings hat Kant, anders als er selbst dachte, den Reinigungsprozeß der Vernunft nicht vollenden können. Dies ist nach Hamanns Ansicht erst der Fall, wenn die Vernunft sich auch von der Sprache gelöst hat, was unmöglich ist. Die Sprache ist das 'Organon und Kriterion der Vernunft', die gemeinsame Wurzel von Verstand und Sinnlichkeit. Eine reine Vernunft a priori, unabhängig von der Sprache, ist deshalb undenkbar, wie Hamann im folgenden zu beweisen versucht. Das bedeutet auch, daß die anderen beiden 'Reinigungen' der Vernunft zum Scheitern verurteilt sind, denn Sprache ist eine sinnlich und geschichtlich gewachsene Wirklichkeit (a posteriori). Da die Vernunft sich nicht von der Sprache lösen kann, bleibt sie auf Erfahrung, Überlieferung, Tradition und Glauben angewiesen.

7.4.3 Sprache als Ursprung der Welt und des Denkens Die Selbstbegründung der Vernunft scheitert, weil die Vernunft erkennen muß, daß sie in der tieferliegenden Wirklichkeit der Sprache gegründet ist. Die 'Kritik der reinen Vernunft' bedarf deshalb einer Metakritik von der Sprache her: "Bleibt es allso ja noch eine Hauptfrage: wie das Vermögen zu denken möglich sey1*! - das Vermögen rechts und links, vor und ohne, mit und über die Erfahrung hinaus zu denken? so braucht es keiner Deduction, die genealogische Priorität der Sprache vor den sieben heiligen Functionen logischer Sätze u Schlüße75, und ihre Heraldik zu beweisen. Nicht nur das ganze Vermögen zu denken beruht auf Sprache, den unerkannten Weißagungen und gelästerten Wunderthaten des

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Mit 'Katholizismus' meint Hamann das immer wiederkehrende Phänomen der autonomen Herrschaft über die Schrift und Tradition; das Papsttum ist davon ein wichtiger 'typos'. Vgl. § 6.2.2: Erster Brief und Vierter Brief. Für Kant war dies nicht die 'Hauptfrage'! Vgl. A XVII: " weil die Hauptfrage immer bleibt, was und wie viel kann Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung, erkennen, und nicht, wie ist das Vermögen zu denken selbst möglich?" Verweis auf die KrV, A 70 ("daß die Funktion des Denkens unter vier Titel gebracht werden könne, deren jeder drei Momente unter sich enthält")?

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Kapitel 7 Gegen Kant und Jacobi: 'Vernunft ist Sprache'

Verdienstreichen Samuel Heinke76 zu folge: sondern Sprache ist auch der Mittelpunct des Misverstandes der Vernunft mit ihr selbst"" (ZH V 213:18-).

Eine reine Vernunft unabhängig von jeglicher Erfahrung ist laut Hamann unmöglich. Diese Unmöglichkeit ergibt sich aus der Abhängigkeit von der Sprache, die sich auch darin zeigt, daß unser Denkvermögen auf das Sprachvermögen zurückgeht. Hamann beruft sich hierbei auf die Erkenntnisse des Taubstummenlehrers Heinike, der entdeckte, daß das menschliche Denkvermögen vom Sprachvermögen abhängig ist78. Im achtzehnten Jahrhundert war es eine weithin diskutierte Frage, inwieweit Erkenntnisse über die 'objektive' Wirklichkeit mit dem (guten) Funktionieren oder Nichtfunktionieren der Sinne zusammenhängen. Experimente mit Blinden und Taubstummen und Literatur hierüber versuchten, diese Frage zu beantworten. Nach der Heilung eines Blindgeborenen durch Cheselden (1728) schien die relativistischempiristische Richtung der Aufklärung recht zu bekommen: den optischen Raum mußte er entdecken lernen; durch den Tastsinn war er offensichtlich nicht schon a priori mit der Struktur des Raumes vertraut79. Beim Lernen erschließt uns jeder Sinn seine eigene Welt: dies Prinzip wendet Hamann im weiteren Sinn auf die Sprache an. Durch das Sprachvermögen öffnet sich uns die Welt und wird das Denken darüber möglich. Der Sinn der Welt ist uns in der sich geschichtlich entwickelnden Wirklichkeit der Sprache vorgegeben, in die unser Verstand schon immer eingebunden ist80. Diese immer schon bestehende Einbindung in die vorgegebene Sprach-

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Samuel Heinike (1727-1790) war ein berühmter Taubstummenlehrer. A XIII f.: "Ich bin ihren Fragen [der 'Vernunft'; H.V.] nicht dadurch etwa ausgewichen, daß ich mich mit dem Unvermögen der menschlichen Vernunft entschuldigte; sondern ich habe sie nach Prinzipien vollständig spezifiziert und, nachdem ich den Punkt des Mißverstandes der Vernunft mit ihr selbst entdeckt hatte, sie zu ihrer völligen Befriedigung aufgelöst." Gajek, Sprache beim jungen Hamann, 87: "Wenn man heute Hamanns Metakritik zu würdigen unternimmt, muß man berücksichtigen, daß Heinikes Ergebnis: ohne Sprache kann der Mensch nicht denken, von unserer zeitgenössischen Phoniatrie und Sprachpsychologie bestätigt worden ist." Vgl. ZH II 12:23-, Cassirer, op.cit., 153: "Jeder Sinn hat seine eigene Welt: und es bleibt nichts anderes übrig, als alle diese Welten rein empirisch zu erfassen und zu analysieren, ohne den Versuch zu machen, sie auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Die Philosophie der Aufklärung wird nicht müde, diese Relativität einzuschärfen." Vgl. ZH V 95:20-: " und halte mich jetzo an das sichtbare Element, an dem Organo oder Criterio - ich meyne Sprache. Ohne Wort, keine Vernunft - keine Welt." Dies schreibt Hamann am 2. November 1783 an Jacobi. Diese Tatsache untergräbt (wie ZH V 108:6-) die These L. Franks, daß Hamann erst nach seiner Auseinandersetzung mit Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Teil I, den er Ende Mai 1784 empfing, Gewißheit über das Verhältnis von Sprache und Vernunft gewonnen habe. Vgl. Frank, L., 'Herder and the maturation of Hamann's metacritical thought:

7.4 'Metakritik über den Purismus der Vernunft'

333

Wirklichkeit ist die Ursache und das Zentrum der vielen Mißverständnisse der Vernunft über sich selbst, vor allem wenn sie sich als autonom gegenüber der Sprache und jedem anderen Zusammenhang versteht. Durch Sprache gibt es ein 'In der Welt Sein' und öffnen sich die Formen von Raum und Zeit: "Die älteste Sprache war Musik, und nebst dem fühlbaren Rythmus des Pulsschlages und des Othems in der Nase, das leibhafte Urbild alles Zeitmaaßes und seiner ZahlVerhältniße. Die älteste Schrift war Malerey und Zeichnung, beschäftigte sich also eben so frühe mit der Oekonomie des Raums, seiner Einschränkung und Bestimmung durch Figuren. Daher haben sich die Begriffe von Zeit und Raum so allgemein und nothwendig gemacht, als Licht und Luft für Aug, Ohr und Stimme sind, daß Raum und Zeit wo nicht ideae innatae, doch wenigstens matrices aller anschaulichen Erkenntnis zu seyn scheinen." (ZH V 213:32-).

Diese Sätze erinnern uns an den historischen und hermeneutischen Primat der Dichtung, Malerei und Musik in der Aesthetica in nuce81. Insbesondere in ihrer Bildersprache kommt das Reden Gottes zum Ausdruck. Außerdem sind sie die kontingenten und geschichtlichen Urbilder, durch die sich die 'matrices' von Zeit und Raum öffnen. Diese Auffassung ist an sich für Kant noch akzeptabel, aber er lehnt den ihr zugrunde liegenden Gedanken ab, daß die sinnlichen Daten als Bilder konstitutiv für die a priori Strukturen dieser 'matrices' seien, wie Hamann meint. Diese 'matrices' kennen wir zwar (lediglich) 'mit' jeder willkürlichen Erfahrung, aber nicht 'aus' der Erfahrung. Auch wenn Hamann recht hätte und das Denk vermögen auf dem Sprachvermögen beruhte, ist damit noch nicht gesagt, daß die Wahrheit der Denkinhalte sprachabhängig ist. Auch wenn die Sprache immer 'organon' ist, ist sie damit noch nicht immer 'criterion'. Oder noch anders formuliert: Sprache ist zwar unentbehrlicher 'context of discovery', aber nicht immer 'context of justification'. Gegen diesen harten Punkt der KrV Kants unternimmt Hamann im Schlußteil der Metakritik einen letzten Angriff, und zwar einen Angriff, der ihn an die Grenzen seiner Hermeneutik führt82.

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A chapter in the pre-history of the Metakritik', in: Koepke, W., (Hrsg..), Johann Gottfried Herder, Innovator through the ages, Bonn 1982,157-189; vgl. vor allem 172. Vgl. auch Hamanns Entwurf der Metakritik von 1782 in Acta 4, (82-87), 85 f. Vgl. Ν II 197:15-; auch: Ν II 16:13-, ZH V 177:18-: "Vernunft ist Sprache 'Logos'; an diesem Markknochen nag' ich und werde mich zu Tod drüber nagen."

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Kapitel 7 Gegen Kant und Jacobi: 'Vernunft ist Sprache' 7.4.4 Eine 'Metakritik' aufgrund der Sprache

Im Schlußteil der Metakritik unternimmt Hamann einen äußersten Versuch, Kants a priori Denken zu widerlegen, indem er es in einer eingehenden Argumentation auf seine Unabhängigkeit von der Sprache prüft. Erst formuliert Hamann seine Bedeutungstheorie: "Wörter haben also ein ästhetisches und logisches Vermögen. Als sichtliche und lautbare Gegenstände gehören sie mit ihren Elementen zur Sinnlichkeit und Anschauung, aber nach dem Geist ihrer Einsetzung" und Bedeutung, zum Verstand und Begriffen. Wörter werden nur durch ihre Einsetzung und Bedeutung des Gebrauchs zu bestimmten Gegenständen für den Verstand. Diese Bedeutung und ihre Bestimmung entspringt, weltkundiger maaßen, aus der Verknüpfung eines zwar α priori willkührlichen und gleichgiltigen, α posteriori aber notwendigen und unentbehrlichen Wortzeichens mit der Anschauung des Gegenstandes selbst und durch dieses widerholte Band wird dem Verstände eben der Begriff vermittelst des Wortzeichens als vermittelst der Anschauung selbst mitgetheilt, eingeprägt und einverleibt." (ZH V 215:14-). Der Schlußsatz enthält Hamanns Bedeutungstheorie, die zwar stark mit der Humes übereinstimmt, diese jedoch, wie hier aus dem Wort 'Einsetzung' hervorgeht, sakramental uminterpretiert. Es geht um die Beziehung zwischen drei Elementen: Wortzeichen, Bezeichnetes und Bedeutung. D i e Verknüpfung zwischen Bezeichnetem und Wortzeichen ist konventionell: die Wahl des Zeichens ist a priori ganz willkührlich. Α posteriori ist das Wortzeichen unentbehrlich und notwendig, denn immer ist ein Zeichen (ganz gleich welches) nötig, um auf etwas verweisen zu können und Bedeutung zu vergegenwärtigen. Ist die 'Verknüpfung' von Zeichen und Bezeichnetem zu-

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Begriff aus der Abendmahlsliturgie; vgl. außerdem in Metakritik: " giebt uns die schlechte Busenschlange der gemeinen Volkssprache das schönste Gleichnis für die hypostatische Vereinigung der sinnlichen und verständlichen Naturen, den gemeinschaftlichen Idiomenwechsel ['communicatio idiomatum'!] ihrer Kräfte" (ZH V 214:29-); " das Sacrament der Sprache" (ZH V 216:29). Vgl. Blanke, HamannStudien, 23; Bayer, Acta 4, 16 ff. Ohne sinnliche Zeichen gibt es keine Bedeutung und auch keine sakramentale Gegenwart Gottes. In diesem Sinne muß das folgende Briefzitat über den 'Genuß' Gottes verstanden werden: "Bey mir ist nicht so wol die Frage: was ist Vernunft? sondern vielmehr: was ist Sprache? und hier vermuthe ich den Grund aller Paralogismen und Antinomien, die man jener zur Last legt. Daher kommt es, daß man Wörter für Begriffe, und Begriffe für die Dinge selbst hält. In Wörtern u. Begriffen ist keine Evidenz möglich, welche blos den Dingen und Sachen zukommt. Kein Genuß ergrübelt sich - und alle Dinge folglich auch das Ens entium ist zum Genuß da, und nicht zur Speculation." (ZH V 264:34-). "Kein Genuß ergrübelt sich" ist eine Äußerung des Dichters F. Hagedorn (1708-1754), die Hamann sehr lieb ist.

7.4 'Metakritik über den Purismus der Vernunft'

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stände gekommen ('Einsetzung'), erhält das Zeichen Bedeutung. Diese Bedeutung ist an diese, kontingent-geschichtlich gewachsene Verknüpfung gebunden und verwächst durch Wiederholung dieser Verknüpfung immer mehr mit ihr, wodurch gerade dieses Zeichen a posteriori notwendig wird. Die Feststellung ist wichtig, daß das 'a priori willkührlich' sich auf die Beziehung von Zeichen und Bezeichnetem und nicht auf die von Zeichen und Bedeutung bezieht! Das Zeichen ist allerdings konstitutiv für die Bedeutung: Veränderung des Zeichens impliziert Veränderung der Bedeutung, auch wenn das Bezeichnete dasselbe bleibt. Hamanns Hermeneutik läßt sich deshalb am besten am Beispiel der Poesie erläutern, bei der die Regel 'traduire c'est trahir' am deutlichsten zutrifft. Nun der folgende Schritt in Hamanns Widerlegung: Worte haben einen begrifflichen und einen empirischen Aspekt. Aufgrund dieser Zweiteilung stellt Hamann eine Reihe Fragen: 1. Kann man aus der Anschauung eines Wortes als sinnliches Zeichen dessen Begriff ableiten? Zugespitzt: a) Ist es möglich, aus der Materie des Wortes 'Vernunft' (7 Buchstaben, 2 Silben) den Begriff 'Vernunft' abzuleiten? b) Oder kann man aus der Form des Wortes 'Vernunft' (Reihenfolge der Buchstaben und Silben) den Begriff 'Vernunft' ableiten? "Hier antwortet die Kritik [in der KrV] mit ihren beyden Wagschaalen gleich." (ZH V 216: 1 -). Die Antwort ist in beiden Fällen 'nein'. 2. Umgekehrt gefragt: a) Ist es denn möglich, aus dem Begriff 'Vernunft' die Materie des Wortes abzuleiten? "Hier deutet die eine Wagschaale der Kritik ein entscheidendes Nein!" (ZH V 216:12-). Schließlich: b) Kann aus dem Begriff 'Vernunft' die Form (Reihenfolge der Buchstaben und Silben) des Wortes 'Vernunft' ersehen werden? Laut Hamann nicht; aber: "Hier schnarcht der Homer der reinen Vernunft [Kant] ein so lautes Ja! wie Hans und Grethe vor dem Altar, vermuthlich, weil er sich den bisher gesuchten allgemeinen Character einer philosophischen Sprache, als bereits erfunden im Geist geträumt." (.ZH V 216:16-). Kant kann hierauf antworten, daß die Reihenfolge der Buchstaben, genau wie die Buchstaben selbst, zur Materie und nicht zur Form gerechnet werden müssten. Außerdem wird die Form nicht vom Begriff abgeleitet, sondern sie ist als Form der Sinnlichkeit a priori gegeben. Dennoch wissen wir seit Einstein, daß die Form eines sinnlichen Gegenstandes, also auch eines Wortzeichens, nicht a priori gegeben ist. Es bedarf eines Experimentes, um zu erkennen, welche geometrischen Gesetze gelten. Für die Geometrie gilt, daß die Wahrheit ihrer Sätze nicht nur 'mit', sondern auch 'aus der Erfahrung' ersichtlich werden muß. In der Frage der sinnlichen Formen a priori hat Hamann also später recht bekommen. Sein eigener Versuch, diese Frage zu beantworten, muß allerdings als gescheitert gelten, zumal wenn man bedenkt,

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Kapitel 7 Gegen Kant und Jacobi: 'Vernunft ist Sprache'

daß der a priori Charakter der Logik noch vollkommen unberührt geblieben ist. Wenn Hamann schreibt: " die Form einer empirischen Anschauung ohne Gegenstand noch Zeichen deßelben aus der reinen und leeren Eigenschaft unsers äußern u. innern Gemüths heraus zu schöpfen ist der ganze Eckstein des kritischen Idealismus und seines Thurm- und Logenbaus der reinen Vernunft" (ZH V 216:20-; kurs. H.V.),

stimmt das nur teilweise, denn Kants Gebäude hat zwei Ecksteine: die Formen a priori und die Kategorien a priori. Mit den Kategorien sind wir im Bereich der Logik, deren Abhängigkeit von der Sprache Hamann nicht beweisen kann. Schließlich: es stimmt, daß physikalische und geometrische Gesetze keine notwendigen Wahrheiten sind, die in jeder möglichen Welt gelten; sie haben am kontingenten Charakter unseres Kosmos teil, was Kant nicht einsieht. Hamann verkennt freilich den hohen deduktiven Gehalt, den sie trotzdem haben84.

7.4.5 Hume, Hamann und Kant; eine Zusammenfassung Hamann und Kant sind beide stark vom Empirismus Humes beeinflußt. Es ist wohl sinnvoll, noch einmal kurz zusammenzufassen, wie sie ihren gemeinsamen empiristischen Ansatz unterschiedlich weiterentfalten. Hume: Ob eine objektive Welt außerhalb unserer Wahrnehmung besteht, kann nicht bewiesen werden. Die Wirklichkeit, die wir kennen, ist ein Cluster von 'impressions' und 'ideas', deren Gesetzmäßigkeit ausschließlich induktiv ist. Hamann: Die empirische Wirklichkeit, die unabhängig von uns besteht, hat geistige Bedeutung, wodurch sie als sprachliche Wirklichkeit sowohl horizontal-typologisch als auch vertikal transzendieren kann. Durch diese Bedeutung ist analogisches Sprechen über Gott möglich und kann er uns ansprechen. Diese Bedeutung ist kontingent-geschichtlicher Art und im wesentlichen in der Beziehung zu Gott begründet. In die von Gott geschaffene Sprachlichkeit eingebettet ist die menschliche Vernunft primär nicht konstitutiv, sondern rezeptiv. M

Sie enthalten deduktive Muster sogenannter implikativer Notwendigkeit (unter der Voraussetzung bestimmter empirischer Ausgangspunkte). Hamann akzeptiert nur induktive Allgemeinheit: "Weil ich auch von keinen ewigen Wahrheiten, als unaufhörlich Zeitlichen weiß: so brauche ich mich nicht in das Cabinet des göttlichen Verstandes, noch in das Heiligtum des göttlichen Willens zu versteigen" (Golgatha und Scheblimini, Ν III 303:36-).

7.4 'Metakritik über den Purismus der Vernunft'

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Kant: Die Wirklichkeit des 'Dings an sich' besteht zwar, aber wir können sie nicht erkennen. Wir erkennen lediglich die phänomenale Wirklichkeit, die apriorisch vom transzendentalen Subjekt aus strukturiert ist®3. Die Kritik Hamanns an Hume lautet, daß dieser die sinnliche Wirklichkeit empiristisch verflache. Seine Kritik an Kant ist, daß er sich durch die zeitlose a priori Erkenntnis aus der empirischen Wirklichkeit 'herausreflektiere'. Freilich macht auch Kant wie Hume Natur und (Heils)Geschichte 'sprachlos', wenn auch über den anderen Weg der reinen Vernunft. Hume und Kant schließen beide den Menschen in einer autonomen, aber 'beklemmenden' Welt ein, einer Welt, in der der Mensch allein mit sich selbst ist. Hamann sucht die Weite und findet sie im analogischen Vermögen der sprachlichen Wirklichkeit, wodurch diese mit dem transzendenten Gott in Verbindung tritt und in den Raum seines Redens aufgenommen wird.

7.4.6 Hamann und die moderne Hermeneutik Verschiedene heutige Philosophen und Theologen stellen Hamann an den Anfang einer hermeneutischen Tradition, zu der sie auch sich selbst in stärkerem oder geringerem Maße rechnen: Hamann, Herder, Humboldt, Hegel, Dilthey, Heidegger und Gadamer. Sie sind der Auffassung, Hamann habe in seiner Metakritik als erster gesehen, daß die Sprache der ursprünglichste und transzendentale Horizont jedes Verstehens und aller Erkenntnis sei. Es sei sein Verdienst, daß er die 'reine Vernunft' und ihre Produkte als in die Geschichtlichkeit der Sprache eingebettet aufgewiesen habe86.

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Zugespitzt auf die Frage, ob also überhaupt kein sinnvolles Sprechen über Gott möglich sei, hat Kant sich, vor allem seit Humes Dialogues, ständig mit dem Analogieproblem auseinandergesetzt. Von seinem empirischen Kriterium aus scheint ein analogisches und antropomorphes Sprechen über Gott unmöglich. Das Dasein Gottes, bewiesen als Postulat der praktischen Vernunft, bringt Kant freilich dazu, doch eine bestimmte Form der Analogie (die 'analogia proportionalis') anzunehmen. Vgl. KrV, A 674, 696 ff., Prolegomena (1783), § 58. Trotzdem bleibt die von Kant akzeptierte Form des analogischen Redens über Gott im Lichte seines eigenen empririschen Kriteriums bedeutungslos. Jüngel, op.cit., 381, zu Kants Analogieverständnis: 'Daß mit der menschlichen Erfahrung als solcher noch einmal eine Erfahrung gemacht werden kann, die ihrerseits nicht aus menschlicher Erfahrung her kommt, bleibt nicht nur unbedacht, sondern wird de facto ausgeschlossen." Vgl. zu einem Überblick über Kant und das Analogieproblem: Löwisch, op.cit., 191 ff. Vgl. Gründer, Figur und Geschichte, 184-189; Liebrucks, B., Sprache undBewußtsein, Bd. I, Frankfurt am Main 1964, 76, 286-340; Penn, J.M., Linguistic relativity versus innate ideas, The origin of the Sapir-Whorf hypothesis in German thought, Den Haag/Paris 1972, 48-53; Apel, K.-O., Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico, Bonn 19752, 49f, 75f, 299; Heintel, E., Einführung

338

Kapitel 7 Gegen Kant und Jacobi: 'Vernunft ist Sprache'

Wie wir feststellen konnten, hat Hamann tatsächlich versucht, die Vernunft auf die Sprache zurückzuführen. Es ist freilich auffallig, daß keiner der modernen Hamanninterpreten, die ihn deshalb bewundem, sich veranlaßt sieht, Hamanns Hermeneutik der Sprache und seine dadurch begründete Ablehnung übergeschichtlicher Bedeutungsmuster zu problematisieren. Beinahe kritiklos scheint Hamann in Besitz genommen zu werden von einer (vornehmlich) deutschen hermeneutischen Tradition, die insbesondere auf die Geisteswissenschaften ausgerichtet ist und sich gegen eine hermeneutische Vorherrschaft der exakten Wissenschaften wehrt. Wenn diese Hermeneutiker in der Nachfolge Hamanns die Sprache für den letzten transzendentalen Bedeutungshorizont halten, übersehen sie zu häufig, daß der Begriff transzendental damit einen anderen Inhalt als bei Kant erhält. Der transzendentale Charakter der Sprache bedeutet, daß wir uns in einer vorgegebenen Welt von Bedeutungen befinden. In diesem Sinne beginnt unser Denken nie bei einem Nullpunkt, ist es nicht 'rein'. Wir sind in eine Welt 'geworfen', deren Sinn uns durch geschichtliche Sprache erschlossen ist87. Allerdings finden wir unter dem vorgegebenen Sinn (logische und mathematische) Bedeutungsstrukturen, die zwar an der Geschichtlichkeit des Sinns teilhaben, dadurch aber nicht modifiziert werden. Sprache enthüllt uns sowohl die Welt als deren 'matrices'. Auch wenn also die Geschichtlichkeit der Sprache das 'organon' der 'matrices' ist, ihr 'criterion' ist sie nicht! Wenn Gründer sagt: "Sowenig es ein sprachfreies Denken gibt, so wenig gibt

17

in die Sprachphilosophie, Darmstadt 1975,18-21,131-134; Wild, 'Metacriticus bonae spei', 26-34; Simon, J., 'Vernunftkritik und Autorschaft. Reflexionen über Hamanns Kantkritik', in: Acta 1, 135-168; Gründer, K„ 'Sprache und Geschichte. Zu J.G. Hamanns 'Metakritik über den Purismum der Vernunft', in: Gründer, K., Reflexion der Kontinuitäten, Zum Geschichtsdenken der letzten Jahrzehnte, Göttingen 1982, (4873, 145-150), 52-54; Schmitt, W.H., 'Die logische Spannweite von Hamanns Satz: 'Vernunft ist Sprache", in: Scheer, B., Wohlfart, G., (Hrsg.), Dimensionen der Sprache in der Philosophie des Deutschen Idealismus, Bruno Liebrucks zum 70. Geburtstag zugeeignet, Würzburg 1982, 155-189; Wohlfart, G„ Denken der Sprache, Sprache und Kunst bei Vico, Hamann, Humboldt und Hegel, Freiburg/München 1984, 132-166; Bayer, 'Die Geschichte der Vernunft', Acta 4, 34-42; Bayer, Zeitgenosse im Widerspruch, 179-192; Piske, I., Offenbarung, Sprache, Vernunft, Zur Auseinandersetzung Hamanns mit Kant, Frankfurt am Main/Bem/New York/Paris 1989. Vgl. zur Verbindung mit Rosenzweig und Rosenstock-Huessy: Zak, Α., Vom reinen Denken zur Sprachvernunft, Über die Grundmotive der Offenbarungsphilosophie Franz Rosenzweigs, Münchener philosophische Studien, Neue Folge 1, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1987, 194-217 (Kap. VIII: 'Die Sprachzuwendung Rosenzweigs und Hamanns Stellung zu Kant'). Gründer, Figur und Geschichte, 189: " niemals fängt ein Denken voraussetzungslos an, denn mindestens hat die Sprache schon vor ihm und ihm vor-gedacht."

7.4 'Metakritik über den Purismus der Vernunft'

339

es eine übergeschichtliche und ungeschichtliche Vernunft"**, so ist das richtig in bezug auf das Denkvermögen, aber nicht in bezug auf alle Bedeutungsstrukturen, die das Denkvermögen erforscht. 'Transzendental' hängt bei Kant mit 'a priori' zusammen. Ά priori' bedeutet dann freilich etwas ganz anderes als die Behauptung, die Sprache sei als letzter hermeneutischer Horizont a priori Möglichkeitsbedingung von jeglichem Weltverständnis. Im letzteren Falle bedeutet 'a priori', daß die Sprache tatsächlich jedem möglichen Sinn Verständnis vorausgeht. Bei Kant jedoch bezieht sich 'a priori' auf die formalen Strukturen der sinnlichen Erfahrung. Diese Strukturen sind Möglichkeitsbedingungen im 'context of justification', während Sprache Möglichkeitsbedingung im 'context of discovery' ist*9. Im Falle der geschichtlichen Bedeutungen besteht keine scharfe Trennung zwischen 'discovery' und 'justification', weil das applikative Moment des Sinnverständnisses die gefundene Bedeutung geschichtlich verändert. Die exakten Wissenschaften jedoch sind 'exakt', weil es keinen Spielraum für Applikation gibt; man muß die gefundenen Sinnstrukturen so nehmen, wie sie sind. Wir haben bereits einmal Kants Aussage zitiert, daß all unsere Erkenntnis 'mit der Erfahrung anhebe doch nicht eben alle aus der Erfahrung'. Etwas abgewandelt kann man mit Hamann und anderen wohl sagen, daß alle Erkenntnis 'mit der Sprache anhebt', aber nicht alle Erkenntnis 'aus der Sprache' hervorgeht90.

75 Hamann und Jacobi

7.5.1 Der Kontext ihres Briefwechsels In diesem Kapitel über das Verhältnis von Sprache und Vernunft darf eine Analyse des Briefwechsels zwischen Hamann und Jacobi nicht fehlen. Dieses

M

Figur und Geschichte, 189. " Gründer, 'Sprache und Geschichte', 53: "Wenn die transzendentale Frage als Frage nach dem Apriori auf die Sprache verwiesen wird und Sprache nur als geschichtlich besondere wirklich ist, dann führt das zu einer entscheidenden Modifikation des Apriori-Begriffs. Die transzendentale Frage in ihrer kantischen wie in ihrer älteren Fassung zielte aufs Apriori als auf das jeglichem Empirischen und Faktischen Entgegengesetzte, auf das schlechterdings Zeitüberlegene." Wenn Gründer dort dann behauptet: " dann ist der Begriff des Apriori im alten Sinne verlassen", so muß hinzugefügt werden: "aber noch keinesfalls widerlegt". 90 Wir kommen in § 9.5 auf diese Problematik zurück.

340

Kapitel 7 Gegen Kant und Jacobi: 'Vernunft ist Sprache'

Thema steht nämlich im Mittelpunkt ihres brieflichen Kontakts. Im letzten Lebensabschnitt Hamanns ist Friedrich Heinrich Jacobi (1743-1819), der 'Glaubensphilosoph' aus Pempelfort bei Düsseldorf, sein wichtigster Briefpartner. Der Kontakt war 1782 durch Vermittlung von Matthias Claudius zustande gekommen. In der großen Zahl der Briefe spiegelt sich ein kompliziertes Verhältnis; es ist Jacobi, der Unterstützung bei dem von ihm sehr bewunderten 'Vater Hamann' sucht, während Hamann einen solch innigen Kontakt ziemlich beklemmend findet und durch den kritischen und ironischen Ton seiner Briefe immer wieder eine Distanz herstellt91. Was Hamann und Jacobi inhaltlich zusammenführt, ist der gemeinsame Kampf gegen den Rationalismus Berlins, und dies insbesondere in der Polemik beider gegen Mendelssohn. Ab November 1783 korrespondiert Jacobi mit Mendelssohn über den möglichen Spinozismus Lessings, eine Korrespondenz, die in den sogenannten Spinozismusstreit mündet. Im August 1784 erscheint Hamanns Golgatha und Scheblimini, das sich ebenfalls gegen Mendelssohn richtet. Der Spinozismusstreit und seine Folgen bilden das große Thema des Briefwechsels zwischen Hamann und Jacobi. Ehe wir inhaltlich darauf eingehen, folgt erst ein Überblick über die wichtigsten Ereignisse. 1780: Sommer: Jacobi führt Gespräche mit Lessing, in denen dieser sich positiv zur Philosophie Spinozas äußert. 1782: 12. August: Hamanns erster Brief an Jacobi nach Empfang von Jacobis Allwill. 1783: 16. Juni: erster Brief Jacobis an Hamann. Ab November: Jacobi korrespondiert mit Mendelssohn über den Spinozismus des 1781 verstorbenen Lessing. 1784: August: Golgatha und Scheblimini. Ab Oktober: Hamann empfängt die Schriftstücke, die Jacobi und Mendelssohn austauschen. 1785: Sommer: kurz nacheinander erscheinen: die Morgenstunden von Mendelssohn mit einer Verteidigung Lessings und Über die Lehre des Spinoza von Jacobi, das seinen Briefwechsel mit Mendelssohn enthält. Hamann denkt daran, seine Metakritik auszuarbeiten. November: Rezension von Golgatha und Scheblimini in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek. Hamanns erste Gedanken zu Einem fliegenden Brief. 1786: Januar: Mendelssohn stirbt. An Lessings Freunde von Mendelssohn erscheint (postum). April: Wider Mendelssohns Beschuldigungen von Jacobi. Mai: Die Resultate der Jacobischen und Mendelssohnschen

"

Eine gute Beschreibung der Beziehung Hamann - Jacobi gibt K. Christ, op.cit.

7.5 Hamann und Jacobi

341

Philosophie von Th. Wizenmann, Oktober: 'Was heißt: sich im Denken orientieren?' von Kant. 1787: Februar: Wizenmann stirbt. Wizenmann zu Kants 'Was heißt' im Deutschen Museum (postum). April: David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus von Jacobi. Ab November: Hamann debattiert mit F.K. Bucholtz über Jacobis Spinozabuch. 1788: März: Einige Betrachtungen über den frommen Betrug von Jacobi anläßlich des Katholizismusstreits. Juni: Hamann stirbt.

7.5.2 Jacobis 'Salto mortale' Wir haben wiederholt festgestellt, daß eins der großen Probleme der Aufklärungsphilosophie die Frage nach dem Verhältnis zwischen ewigen Vernunftwahrheiten und kontingent-geschichtlichen Tatsachen und ihrer Bedeutung ist. Der Aufklärung fehlt es an einer Hermeneutik und Logik der kontingenten und geschichtlichen Bedeutung, in der das Notwendige und Kontingente, das Ewige und Zeitliche in ein ausgeglichenes Verhältnis gebracht werden. Dieselbe Dualität ist im Verhältnis von Vernunft und Sinnen zu finden. Durch die Vernunft erkennen wir die ewigen Vernunftwahrheiten, die Sinne zeigen uns das Faktische und Kontingente. Wie aber werden die Gegebenheiten beider aufeinander bezogen, ohne daß ihre Eigenart dabei verlorengeht? Auf diese Fragen versucht Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft eine schlüssige Antwort zu geben. Dieselben Fragen hängen auch eng mit dem Problem von Natur und Gnade zusammen. Man weiß nicht mehr, auf welche Weise die freie Offenbarung Gottes in der kontingenten Wirklichkeit logisch und hermeneutisch verstanden werden kann. Die Offenbarung wird als paradox supranaturalistisches Geschehen gesehen, oder auf eine Reihe übergeschichtlicher Wahrheiten reduziert. In beiden Fällen ist die Natur eine selbständige empirische Wirklichkeit, ohne einen wesentlichen transzendierenden Bezug auf die Gnade. Diese Ohnmacht der aufgeklärten Vernunft angesichts der kontingenten (Offenbarungs)Wirklichkeit führt in der Philosophie Jacobis zu einer strengen Trennung von Vernunft und Sinnlichkeit. Jacobi glaubt nicht an das Vermögen der Vernunft, die konkrete Wirklichkeit in ihrer ganzen Fülle zu verstehen und zu respektieren. Seiner Ansicht nach bleibt der Mensch auf dem Wege der Vernunft immer Gefangener rationaler Konstruktionen, die, auf rationalistischen Grundsätzen beruhend, den Geheimnissen der konkreten Wirklichkeit nicht gerecht werden. Insbesondere zwei sehr wichtige Gegebenheiten kann die Vernunft nicht denken: unabhängige Persönlichkeit und

342

Kapitel 7 Gegen Kant und Jacobi: 'Vernunft ist Sprache'

Freiheit. Sobald die Vernunft von ihren logisch-kausalen Gesetzmäßigkeiten ausgeht, gelangt sie zu einem monistischen und fatalistischen Wirklichkeitsverständnis. Die Vernunft ist 'per se' totalitär, wodurch das Subjekt durch eigene Reflexion sich und den Anderen zu verlieren droht. Die vollkommenste Ausdrucksform eines philosophischen Systems ist die Philosophie Spinozas. Darin entwickelt die Vernunft streng deduktiv ihre eigene Wirklichkeit, in der kein Platz für Persönlichkeit und Freiheit, und also auch nicht für einen transzendenten und persönlichen Gott ist. Jacobis weitestgehende und für seine Zeitgenossen verblüffende Schlußfolgerung lautet deshalb, daß jede konsequente Philosophie im Grunde atheistisch sei. Kein Wunder, daß Mendelssohn erschüttert ist, wenn er von Jacobi erfährt, daß sein großer Freund Lessing Spinozist und also nach Jacobi auch Atheist gewesen sei. Hinzu kommt noch, daß Mendelssohn selbst kurz zuvor von Hamann in Golgatha und Scheblimini des Atheismus bezichtigt wurde92. Die totalisierende Vernunft eröffnet uns also keinen Zugang zu Gott und der Wirklichkeit. Sie schließt uns ein in ihre Luftschlösser aus Begriffen, die nichts aussagen über die faktische Realitäten von Gott, Mensch und Natur93. Wie gelangen wir also wohl zur Erkenntnis Gottes und der anderen Tatsachen? Durch den Glauben. Unter 'Glauben' versteht Jacobi so etwas wie eine intuitive Anschauung, die sinnlich oder geistig sein kann. Durch den Glauben als sinnliche Anschauung erhalten wir Gewißheit über unser Dasein und das Dasein der Welt. Durch die geistige Anschauung erhalten wir Gewißheit über das Dasein Gottes. Der Glaube durchbricht unser Schlafwandeln in den Traumwelten der Vernunft und schenkt uns Gewißheit über die faktische Wirklichkeit94. Umgekehrt ist die Gegenwart Gottes und der

92

93

94

Vgl. § 6.4.5.; Knoll, R., Johann Georg Hamann und Friedrich Heinrich Jacobi, Heidelberg 1963, 24 f. Vielleicht ist Jacobi unter dem Einfluß von Hamanns Golgatha und Scheblimini zu der Verbindung von Rationalismus und Atheismus gelangt. Das erste Mal, daß Jacobi die These aufstellt, Rationalismus und Spinozismus müßten notwendigerweise auf Atheismus hinauslaufen, ist nach der Veröffentlichung von Golgatha und Scheblimini; vgl. Scholz, H., (Hrsg.), Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn, mit einer historisch-kritischen Einleitung, Berlin 1916, 173. Jacobi an Hamann, ZH V 56:15-: "Nach meinem Urtheil ist das größeste Verdienst des Forschers: Daseyn zu enthüllen." (buchstäblich dieselbe Aussage in Jacobis Spinozabuch: Scholz, op.cit., 90). Vgl. zur Beziehung von Glaube und kontingenter Existenz: Scholz, op.cit., 169 f. op.cit., 170: "Einen Glauben, der nicht ewige Wahrheiten, sondern die endliche zufällige Natur des Menschen zum Gegenstande hat."

7.5 Hamann und Jacobi

343

Wirklichkeit in der evidenten Gefühlserfahrung des Glaubens ein Offenbarungsgeschehen95. Der Glaube ist also ein erkenntnistheoretisches Gewißheitsprinzip, das Jacobi in Antwort auf den nagenden Zweifel über Gott, Mensch und Freiheit entwickelt, einen Zweifel, der durch die Reflexion nicht überwunden werden kann, sondern vielmehr durch sie entsteht und verstärkt wird. Wie sehr Vernunft und Glaube sich ausschließen, geht aus Jacobis bekannter Äußerung in seinem Gespräch mit Lessing hervor, wenn er seinen Sprung aus der Philosophie zum Glauben als einen 'Salto mortale' bezeichnet96. Jacobis Philosophie ist ein wichtiges Symptom der Krise der Aufklärung am Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Aufgrund der Unzufriedenheit über die Dualität von Vernunft und Sinnen, Gott und Welt, Natur und Offenbarung drohen die verschiedenen Perspektiven zusammenzufließen in einer einzigen umfassenden spinozistischen Synthese, in der Gott und Mensch nicht mehr unterschieden werden können und ihre Freiheit nicht mehr gedacht werden kann. Den Beginn dieser Entwicklung sehen wir bei Herder, Goethe und Lessing, und sie mündet über die Romantik in die großen idealistischen Systeme von Fichte, Schelling und Hegel. Diesen Weg will Jacobi nicht gehen. Er sieht nur eine Alternative: einen völligen Bruch zwischen Glaube und Vernunft, Erfahrung und Vernunft, Freiheit und Vernunft, Freiheit und Natur97, usw. Am Ende des achtzehnten Jahrhunderts ist die mittelalterliche Auffassung von der Theologie und Philosophie als Reflexion über die Erfahrung geschenkter Freiheit eine Möglichkeit, die weit hinter den Horizont verschwunden ist9®. Daß Jacobis Philosophie eine Philosophie der Krise ist, unterstreicht er selbst durch einen wiederholten Hinweis auf seine Kindheit, die durch eine gestörte Beziehung zur Wirklichkeit gekennzeichnet war. Als Kind wurde er von Angstgefühlen über 'Dinge einer anderen Welt' gequält. Seitdem grübelte er über allerlei 'sonderbare Ansichten' und wuchs das Verlangen, "in w

Scholz, op.cit., 'Einleitung', XXXIX Fußnote 1: "Wirklichkeit, durch sinnliche und intellektuelle Anschauung offenbart, in beiden Fällen durch das Gefühl bewährt - das ist, so weit ich sehen kann, die präziseste und pregnanteste Formel der Jacobischen Erkenntni stheorie." 96 Vgl. Scholz, op.cit., 81, 91. 97 Siehe zu Jacobis Naturauffassung: Verra, V., 'Lebensgefühl, Naturbegriff und Naturauslegung bei F.H. Jacobi', in: Hammacher, K., (Hrsg.), Friedrich Heinrich Jacobi, Philosoph und Literat der Goethezeit, Frankfurt am Main 1971, 259-280. * Was Jacobi mit seinen spinozisüschen, romantischen und idealistischen Gegenern verbindet, ist das Verlangen nach Unmittelbarkeit. Darin liegt nach H. Timms Auffassung auch die Beziehung zu Jacobis religiösem Hintergrund; vgl. Timm, H., Gott und die Freiheit, Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit, Bd. I, Die Spinozarenaissance, Frankfurt am Main 1974, 147 ff.

344

Kapitel 7 Gegen Kant und Jacobi: 'Vernunft ist Sprache'

Absicht der besseren Erwartungen des Menschen zur Gewißheit zu gelangen"99. 'Gewißheit': das ist ein Kernbegriff in Jacobis psychologischer und wissenschaftlicher Biographie. Von Kind auf entbehrte er das, was wir nun wohl 'basic trust' nennen, ein Mangel, der zum Teil auf eine problematische Beziehung zu seinem Vater zurückzuführen ist100. Natürlich sollte man sich hüten, eine Philosophie allzu einfach vom biographischen Hintergrund aus zu interpretieren, aber Jacobi selbst stellt die Entstehungsgeschichte seiner Glaubensphilosophie auf diese Weise dar. Von Berlin aus wird Jacobis Berufung auf den Glauben mit Vorwürfen des Irrationalismus und der Schwärmery beantwortet und beschuldigt man ihn seinerseits des Atheismus: führt nicht gerade Jacobis Auffassung, durch die Vernunft könne Gott nicht erkannt werden, zum Atheismus?101 Ist Jacobis Vertrauen auf den blinden Glauben nicht eine Annäherung an den Autoritätsglauben der katholischen Kirche? Diesen letzten Vorwurf muß man in einem weiteren Zusammenhang sehen. Seit einiger Zeit führen die Berliner102 nämlich einen Kreuzzug gegen allerlei Formen des Jesuitismus und Katholizismus, die mit ihrem ' vernunftfeindlichen' und autoritären 'Papsttum' die Freiheit der Vernunft einschränken wollen. Die Berliner verbinden ihren eigenen Rationalismus mit der Freiheit des lutherischen Protestantismus und wenden sich von diesem Bündnis aus gegen alles, was sie als katholischen Irrationalismus und katholisches Machtdenken bezeichnen103. Konkrete Zielscheiben sind dabei u.a. Lavater, der das Lese- und Betbuch (1783) des Katholiken Johann Michael Sailer positiv empfohlen hatte104, und Johann August Starck, der frühere Opponent Hamanns, der verdächtigt wird, Kiyptojesuit zu sein105. Obwohl Jacobi in freundschaftlicher Beziehung zu Lavater und Sailer steht, will er vermeiden, daß er in das von Berlin bekämpfte Lager gerät106. Er veröffentlicht daher eine Verteidigung seines Glaubensbegriffs in David Hume über den Glauben oder über Idealismus und Realismus (1787), worin er sich auf zwei einflußreiche Vertreter der Aufklärung, Hume und Kant, 99 100 101 102 103

104 1W 106

Scholz, op.cit., 72 f. Vgl. Christ, op.cit., 234 f. Vgl. ZH VII 24:4-, C.F. Nicolai, J.E. Biester und F. Gedike. Dieser Streit gegen den Jesuitismus und Katholizismus muß auf dem Hintergrund eines wachsenden Einflusses allerlei mystischer, theosophischer und anderer kultischer Bewegungen in der Freimaurerei gesehen werden. Vgl. Weigelt, H., Lavater und die Stillen im Lande, Die Beziehungen Lavaters zu Frömmigkeitsbewegungen im 18. Jahrhundert, Göttingen 1988, 139 ff. Vgl. Konschel, Hamanns Gegner, 56 ff.; Christ, op.cit., 272 ff. Vgl. zu Jacobi und dem Katholizismus: Homann, K., F.H. Jacobis Philosophie der Freiheit, Freiburg/München 1973, 173 f.

7.5 Hamann und Jacobi

345

beruft107. Zunächst auf Hume: hat er nicht bewiesen, daß Erkenntnis der äußeren Wirklichkeit eine Frage des 'belief ist?10* Die Sinne vermitteln uns lediglich Vorstellungen der Gegenstände, nicht die Gegenstände selbst. Daß wir dennoch Gewißheit über diese Gegenstände haben, ist eine Glaubensintuition, die in der Anschauung selbst gegenwärtig ist. In diesem Punkt geht Jacobi weiter als Hume, denn für diesen ist die Berufung auf 'belief' eine skeptische Berufung. Wir kommen nicht weiter als nur zum 'belief. Für Jacobi hingegen ist Glaube eine Intuition der 'Gewißheit', die sich darüber hinaus auf Gott beziehen kann. Wahrscheinlich ist Jacobi durch Hamanns Sokratische Denkwürdigkeiten auf den Gedanken gekommen, sich auf Hume zu berufen109. Hamann zitiert dort Humes Essays, worin er sagt, unser eigenes Dasein und das der Dinge außerhalb unserer selbst könne lediglich geglaubt werden110. Auch Hamann geht hier über Humes Skepsis hinaus, indem er die sinnliche Erfahrung als Grundlage der Glaubensextrapolation mit der geistigen Bedeutung, die sich darin verbirgt, verbindet. Wenn er über Humes empiristischen Skeptizismus hinausgeht, ist das jedoch etwas anderes als bei Jacobi. Für Jacobi ist 'Glaube' eine unmittelbare Intuition und Gewißheit, während bei Hamann die Vermittlung des sinnlichen 'Buchstabens' eine intuitive Unmittelbarkeit ausschließt. Da Bedeutung immer sinnlich inkarniert ist, gibt es in diesem Leben für uns kein unmittelbares Schauen. Die Verborgenheit ist für Offenbarung und Glaube wesentlich. Darum hält Hamann Jacobis endlose Suche nach Gewißheit für ein Symptom eines zu geringen Glaubensvertrauens. Jacobi beruft sich auch auf Kant: hat dieser nicht mit einer durchschlagenden Argumentation bewiesen, daß der Verstand über die Wirklichkeit Gottes keine sicheren Aussagen machen kann, und hat er auf diese Weise nicht Platz schaffen wollen für den Glauben? Hat er außerdem nicht behauptet, daß wir mit unserem Verstand die 'Dinge an sich' nicht erkennen? Nicht daß Jacobi auch im übrigen mit Kant einverstanden wäre, denn Kant ist das idealistische Gegenstück zu Spinoza. Sein philosophischer Idealismus schließt das Subjekt in der vom eigenen Bewußtsein konstituierten Welt ein, aus der es keinen Zugang zur realen Welt des Dings an sich gibt. Angesichts dieses Idealismus verteidigt Jacobi seinen Glaubensrealismus: die Wirklichkeit besteht aus selbständig bestehenden Seienden, die, wie die Freiheit, lediglich durch den Glauben erkannt werden.

107

1M 109 1,0

Vgl. zum Einfluß Berkeleys und Reids auf Jacobis Erkenntnistheorie: Baum, G., Vernunft und Erkenntnis, Die Philosophie F.H. Jacobis, Bonn 1969 12-83. So bereits im Spinozabuch; vgl. Scholz, op.cit., 169. Vgl. Baum, op.cit., 19; Homann, op.cit., 162. Vgl. § 4.3.

346

Kapitel 7 Gegen Kant und Jacobi: 'Vernunft ist Sprache'

7.5.3 Hamanns Jacobi-Kritik Hamann ist ein Denker, der in seiner Kritik an Opponenten kaum zu einer systematischen Entfaltung seines eigenen Standpunktes gelangt. Trotzdem ist seine Intuition oft überraschend klar und ist es möglich, seine kurzen und treffenden Argumente gegen seine Opponenten extrapolierend zu entfalten und zu verstärken. Seine Kritik an Jacobi ist dafür ein gutes Beispiel. Hamann weiß sich mit seinem Freund Jacobi durch einen gemeinsamen Streit gegen den Rationalismus Berlins verbunden. Trotzdem überwiegt die Kritik in seinen Briefen an Jacobi. Obwohl diese kritische Einstellung teilweise auf ihre kaum zu einander passenden Charaktere zurückzuführen ist, führt Hamann auch sachlich sehr zutreffende Einwände gegen Jacobis Glaubensphilosophie an. Bereits in seinem ersten Brief an Hamann, noch vor Beginn des Spinozismusstreits, deckt Jacobi die Hauptmotive seines Denkens auf. Er spricht über das "ungeheure Loch" (ZH V 57:23) der Philosophie, das sich wie ein dunkler Abgrund vor ihm aufgetan habe. Die Philosophie kommt mit allerlei rationalen Erklärungen, aber über die Dinge selbst läßt sie uns im ungewissen. Worum es Jacobi geht, ist: "Daseyn zu enthüllen" durch 'Sinn' und 'Anschauung' (ZH V 56:16). Hamann reagiert darauf mit der Bemerkung, daß ihm das 'ungeheure Loch' "ein wenig ά la Pascal ergrübelt" (ZH V 94:28) zu sein scheine, und äußert seine Vermutung, daß Jacobis philosophische Resignation Folge einer persönlichen Krise sei. Angesichts der späteren Äußerungen Jacobis trifft Hamann hiermit den Nagel auf den Kopf. In einem späteren Brief geht Jacobi weiter auf sein Streben nach Gewißheit ein. Durch das Philosophieren erhalten wir keine Gewißheit, aber "wenn es eine gewiße Gottes Erkänntniß für den Menschen giebt, so muß in seiner Seele ein Vermögen liegen, ihn da hinauf zu organisieren. Ich glaube - Herr, hilf meinem Unglauben!"111 (ZH V 242:23-). Hamann, der inzwischen von Jacobi die ersten Texte über Spinoza erhalten hat, spürt darin das ungesunde Glaubensverständnis eines 'Grüblers', der krampfhaft nach Gewißheit sucht. Für ihn ist Glaubensgewißheit geschenkte Gnade; darum: " wozu ein Vermögen in der Seele, den Menschen da hinauf zu organisiren??"112 (ZH V 265:22-). Gott offenbart sich und schenkt seine Gnade in einer sakramentalen Wirklichkeit, die wir als Sakrament kosten, schmecken und genießen, wobei genießen etwas ganz anderes ist als grübeln über Glaubensgewißheit! "Kein Genuß ergrübelt sich - und alle Dinge folglich 111 112

Vgl. Markus 9:24. Vgl. auch ZH V 271:28-: "Ursprüngliches Seyn ist Wahrheit; mitgetheiltes ist Gnade."; dazu: Knoll, Johann Georg Hamann und Friedrich Heinrich Jacobi, 27.

7.5 Hamann und Jacobi

347

auch das Ens Entium ist zum Genuß da, und nicht zur Speculation." (ZH V 265:1-). Es ist äußerst wichtig zu beachten, daß Hamann in diesem Zitat wie so oft mit dem Begriff 'Genießen' auf das Essen und Trinken in der Eucharistie anspielt. Dem Rationalismus stellt er keinen Sensualismus, sondern sakramentale Glaubenserfahrung gegenüber. Diese Erfahrung ist das Fundament unseres Glaubens vertrauern, eines Vertrauens, das an der Verborgenheit und Mittelbarkeit als wesentlichen Merkmalen der Offenbarung nicht verzweifelt. Hamann bringt seine Hermeneutik ausgezeichnet in einem Brief an Christian Jakob Kraus zum Ausdruck: "Wer hier schmeckt wird dort zu sehn bekommen, wie freundlich der HErr des Weltalls ist." (ZH VII 304:15-). Hier schmecken wir Gottes Güte; die direkte Gewißheit eines unmittelbaren Schauens, auf die Jacobi so fixiert ist, ist eine eschatologische Gabe, die uns jetzt schon im Schmecken verheißen wird und die wir nicht durch einen 'Salto mortale' erhalten: "Sapere aude - zum Himmelreich gehört kein Salto mortale. Es ist gleich einem Senfkorn, einem Sauerteige" (ZH V 275:18-)113. In einem Brief vom Januar 1785 kommt Jacobi auf das menschliche Vermögen, zur Gewißheit zu gelangen (das 'Hinauforganisieren') zurück. Wahrheit ist seiner Ansicht nach sichere Erkenntnis der Wirklichkeit, die uns durch Gottes allgemeine Offenbarung gegeben ist und auf "ein[em] geheimnißvolle[n] Weg" (ZH V 320:35), nicht dem der Philosophie, sondern durch ein evidentes Gefühl der Wahrheit, zu uns kommt. Was Hamanns Vorwurf der 'Grübeley' betrifft: die verabscheuter selbst auch, zumindest wenn damit nicht die "Anstrengung des innersten ursprünglichsten Sinnes" (ZH V 321:31-) auf der Suche nach Gewißheit gemeint ist. Damit erwähnt Jacobi jedoch genau das, was Hamann so zuwider ist: die menschliche Anstrengung, um Gewißheit zu erlangen. Die Erfüllung unseres Strebens, zur Gewißheit zu gelangen, hängt nicht von unserer Anstrengung ab, sondern vom Gegenstand dieser Gewißheit: Gott114. Inzwischen wächst bei Hamann die Überzeugung, daß der Konflikt zwischen Jacobi und Mendelssohn nur von der Sprache aus bereinigt werden kann. Jacobi wirft Spinoza und Mendelssohn vor, sie tauschten die Wirklichkeit gegen Gedankenkonstruktionen ein; umgekehrt kann Mendelssohn wenig Verständnis für Jacobis 'Salto mortale' zum 'blinden' Glauben aufbringen. Beiden einseitigen Standpunkten stellt Hamann die Wirklichkeit der Sprache

113

IM

Vgl. zur 'Unmittelbarkeit' als hermeneutischem Thema bei Hamann und Jacobi: Olivetti, M.M., 'Der Einfluß auf die Religionsphilosophie Jacobis', in: Hammacher, K., (Hrsg.), Friedrich Heinrich Jacobi, Philosoph und Literat der Goethezeit, Frankfurt am Main 1971, 85-117. Vgl. ZH V 329:4-.

348

Kapitel 7 Gegen Kant und Jacobi: 'Vernunft ist Sprache'

gegenüber, in der Vernunft und Sinnlichkeit eine Einheit bilden. In der Sprache konkretisiert sich rationale Bedeutung, sie wird darin tatsächliche Wirklichkeit. Es gibt kein direktes Schauen, das über die Vermittlung der Sinnlichkeit und Rationalität in der Sprache hinausgeht. Der Glaube kann nicht auf die Vermittlung der Sprache und der Vernunft, die sich darin äußert, verzichten!115 Da die Lösung des Problems laut Hamann in der 'Sprache' liegt, entsteht bei ihm der Plan, seine Metakritik noch auszuarbeiten und zu veröffentlichen116. Nach dem Erscheinen der Rezension von Golgatha und Scheblimini in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek wird dieser Plan allerdings von den Vorbereitungen für Einen fliegenden Brief verdrängt117. Während des Gesprächs zwischen Jacobi und Lessing, das Anlaß für den Spinozismusstreit war, hatte letzterer gerufen: '"Hen kai Pan!' Ich weiß nichts anders."118 Mendelssohn versucht, in den Morgenstunden darzulegen, daß derartige Äußerungen Lessings als eine Form des 'geläuterten Pantheismus' aufgefaßt werden müßten, worin ein möglichst gutes Gleichgewicht zwischen Gottes Transzendenz und Immanenz gesucht werde119. Wir haben festgestellt, daß der supralapsarische Bezug Gottes auf seine Schöpfung der Grundgedanke der Theologie Hamanns ist. Alles dreht sich darin um die Anthropomorphose (Inkarnation) und die nur auf diesem Wege zustandekommende Theomorphose. Obwohl Hamann pantheistische Auffassungen, in denen Mensch und Gott zusammenzufallen drohen oder der Mensch außerhalb der Inkarnation vergöttlicht wird, ablehnt, kann er sich auch nicht mit dem Dualismus Jacobis zufriedengeben. So beschreibt Jacobi in seinem Spinozabuch den Unterschied zwischen seinem und Lessings Standpunkt folgendermaßen: "Lessing blieb dabey: daß er sich alles "natürlich aus gebeten haben wollte·" und ich: daß es keine natürliche Philosophie des Übernatürlichen geben könnte, und doch beydes (Natürliches und Übernatürliches) offenbar vorhanden wäre."120

115

116 1,7

119 ,J0

Vgl. zu einer Analyse des Briefwechsels zwischen Hamann und Jacobi aus den Jahren I782-'85, zugespitzt auf die 'Unmittelbarkeit* als hermeneutisches Problem: Olivetti, M.M., 'Les ddbuts de la philosophie du langage de Jacobi: La 'Considöration' de 1773 et la correspondance Jacobi-Hamann', in: Castelli, E, u.a., Γ Analyse du langage theologique, Le nom de Dieu, Actes du colloque organisd par le Centre International d'Etudes Humanistes et par l'Institut d'Etudes Philosophiques de Rome, Rome, 5-11 Janvier 1969, Paris 1969, (501-528), 507-528; Olivetti, M.M., 'Vernunft, Verstehen und Sprache im Verhältnis Hamanns zu Jacobi', in: Acta 1, 169-193. Vgl. ZH VI 65:20-, 75:27-, 108:3-. Ab ZH VI 154:27-. Scholz, op.cit., 77. Vgl. Scholz, op.cit., 32-44. Scholz, op.cit., 92.

7.5 Hamann und Jacobi

349

Kritisch und herausfordernd reagiert Hamann darauf, indem er den spinozistischen Ausdruck 'Hen kai Pan' übernimmt und ihn von seinem eigenen theologischen Standpunkt aus gegen Jacobi gebraucht121. Zum Beispiel in einem Brief vom März 1786: "Das Eins wurd All; das Wort wurde Fleisch; der Geist wurde Buchstab" (ZH VI 295:21-)122. Nur aufgrund der Inkarnation und der Dialektik von Buchstabe und Geist wird nach Hamanns Auffassung der Supranaturalismus überwunden, ohne daß man dabei in Pantheismus oder Naturalismus verfallt. 1786 mischt sich eine neue Stimme in den Spinozismusstreit. Es ist Thomas Wizenmann, ein junger Theologe und Freund Jacobis, der bereits 1787 im Alter von 27 Jahren an Tuberkulose sterben sollte. Wizenmann veröffentlicht im Frühjahr 1786 die Resultate der Jacobischen und Mendelssohnschen Philosophie, in denen er für Jacobi eintritt. Im Kantschen Sinne beweist er, daß es nicht möglich ist, durch eine a priori Argumentation das Dasein Gottes zu beweisen, wie Mendelssohn das in den Morgenstunden tut. Die Vernunft selbst kann den Sprung aus dem begrifflichen Bereich in die Wirklichkeit nicht machen123. Tatsachen werden nur durch den 'Glauben' erkannt, und nur dadurch erhält die Religion ihre konkrete und geschichtliche Form. Obwohl Wizenmann von Anfang an als Befürworter Jacobis gilt, gibt er an einigen Stellen in den Resultaten zu verstehen, daß er Jacobis Glaubensauffassung nicht in jeder Hinsicht teilt. Er stimmt zu, daß man mit der Vernunft allein in isolierten Gedankenwelten eingeschlossen bleibt; aber kommt man wohl durch innere und unmittelbare Intuition heraus? "Nur muß ich, für meinen Theil, bekennen, daß ich von einer solchen unmittelbaren Gewißheit keine Erfahrung habe."124 In seiner Erörterung von Kants Schrift 'Was heißt: sich im Denken orientieren?' ist er in diesem Punkt noch deutlicher und behauptet dort, er halte sich lieber an die Bibel und die Geschichte125.

121 122

123 124 125

Vgl. Knoll, Johann Georg Hamann und Friedrich Heinrich Jacobi, 52 f. Olivetti, Acta 1,182 Fußnote 28: "Paradoxerweise stellt eben diese Spaltung zwischen Natur und Übematur, Buchstabe und Geist das fortwährende Merkmal der Jacobischen Einstellung dar". Oder in der Formulierung Kants: 'sein' ist kein Prädikat. Wizenmann, Th., Die Resultate der Jacobischen und Mendelssohnschen Philosophie, (17861), mit einem Nachwort von R. Wild, Hildesheim 1984, 159. Wizenmann, Th., 'An den Herrn Professor Kant von dem Verfasser der Resultate Jakobischer und Mendelssohnscher Philosophie', in: Deutsches Museum, (1787), (116156), 118, zitiert von Wild in: Wizenmann, op.cit., 'Nachwort', 8: "Hier schieden wir uns. Jakobi schwang sich durch die Analogie der unerklärbaren menschlichen Willenskraft, die ihm ein lebendiger Funke aus der Gottheit ist, auf zu dieser Gottheit, als ihrer Quelle, in der Überzeugung, daß sich die Gottheit im Willen, je gereinigter er werde, desto inniger offenbare: ich hielt mich lieber an die Bibel, die für meine

350

Kapitel 7 Gegen Kant und Jacobi: 'Vernunft ist Sprache'

Merkwürdigerweise reagiert Hamann ziemlich zurückhaltend auf Wizenmanns Resultate. Dessen Artikel im Deutschen Museum findet jedoch seinen Beifall. Er ist durchaus einverstanden mit Wizenmanns Verweis auf die Offenbarung in der Schrift und Geschichte, statt Jacobis innerer und direkter Oewißheit' 126 . Im April 1787 erhält Hamann Jacobis David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Jacobi skizziert darin seine geistige Biographie und erzählt, daß er einmal sehr beeindruckt war von Kants Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration Gottes, worin das Dasein Gottes als absoluter und notwendiger Grund aller Möglichkeiten bewiesen wird127. In derselben Schrift bekämpft er jedoch Kants rationalistischen Idealismus und stellt ihm seinen eigenen Glaubensrealismus gegenüber. Noch stärker als in früheren Briefen reagiert Hamann auf Jacobis Humebuch mit einer Kritik an dessen Dualismus von Vernunft gegenüber Erfahrung und Idealismus gegenüber Realismus, indem er von der Wirklichkeit der Sprache ausgeht128: "Zwischen Deinen beyden Extremen fehlt ein Medium, das ich Verbalismus nennen möchte." (ZH VII, 156:18-)129. Zu Jacobis Verlangen nach reiner Erkenntnis bemerkt er kritisch: "Zusammengesetzte Wesen [aus Leib und Seele] sind keiner einfachen Empfindung, noch weniger Erkenntnis fähig. Empfindung kann in der menschl. Natur eben

124

127 128

129

individuelle Erkenntnis den erhabensten Gang der Menschenführung enthält und beurkundet; - an die Geschichte des Geschlechts überhaupt, welche höchst wahrscheinlich ganz andere, als blos philosophische Erkentnis Gottes voraussetzt." Vgl. ZH VII 146:33-, 150:5-. Es gibt keine Hinweise darauf, daB Hamann durchschaut hat, daß Wizenmann mit seinem Geschichtsbegriff den Weg Lessings und Herders weiterverfolgt und damit schließlich Spinoza viel näher kommt, als Hamann akzeptieren könnte. Vgl. zu Wizenmanns Identitätstheologie: Timm, op.cit., 242-275. Vgl. Jacobi, F.H., Werke, herausgegeben von F. Roth und F. Köppen, Bd. II (18151), Darmstadt 1968, 189 ff. Christ, op.cit., 261: "Gerade in der Auseinandersetzimg mit Jacobis David Hume sieht sich Hamann immer wieder gezwungen, den Zweck des Fliegenden Briefes zu erhellen: Identitätsfindung von Wortchiffre und Bezeichnetem in der Rückbesinnung auf eine mit sich absolut identische göttliche Ur- und Vernunftsprache, den Logos." ZH VII 158:3-: "Verbalismus oder Figurismusl Dieselbe Übertragung und communicatio idiomatum des Geistigen und Materiellen, der Ausdehnung und des Sinns, des Körpers und Gedankens. Allen Sprachen liegt eine allgemeine zum Grunde, Natur, deren Herr, Stifter und Urheber ein Geist ist, der allenthalben und nirgends ist, deßen Sausen man hört, ohn zu wißen den terminum a quo und ad quem, weil er frey ist von allen materiellen Verhältnißen und Eigenschaften, im Bilde, im Worte, aber innerlich." ZH VII 175:17-: "Was in Deiner Sprache das Seyn ist, möchte ich lieber das Wort nennen."

7.5 Hamann und Jacobi

351

so wenig von Vernunft, als diese von der Sinnlichkeit geschieden werden." CZH VII 165: 37-)130. Hamann verbindet Sinnlichkeit und rationale Idealität also aufgrund der Einheit von Zeichen und Bedeutung, die die Grundstruktur der sprachlichen Wirklichkeit bildet. Er ist der Ansicht, Jacobi trenne mit seinem Dualismus genau wie seine Opponenten das, was Gott in der sprachlichen Wirklichkeit zusammengefügt habe. Deshalb seien Jacobis philosophische Kernbegriffe, wie 'Glaube', 'Seyn' und 'Realismus', genauso künstlich wie die der Rationalisten. In beiden Fällen verliert man die konkrete Wirklichkeit der Sprache in der Natur, Geschichte und Schrift aus dem Auge und lebt mit eigenen Konstruktionen131. Hamanns Kritik wird freilich sehr scharf, wenn er Jacobi vorwirft, "mit einem geheimen Katholizismus" infiziert zu sein {ZH VII 475:12). Jacobis endlose Polemiken und 'Konzequenzerei' entspringen seines Erachtens daraus, daß er sich in einen unnatürlichen Gegensatz verbeißt, dessen beide Extreme von der Offenbarungswirklichkeit abstrahieren. Wiederholt haben wir festgestellt, daß Hamann für übergeschichtliche Bedeutungsmuster keinen Raum läßt. In dieser Hinsicht hat seine JacobiKritik von der Sprache aus dieselbe Schwäche wie seine Kant-Kritik. Aus der Perspektive der Sprache überwindet er zwar die Trennung zwischen Natur und Übernatur und zwischen Vernunft und Sinnen, aber zu einer befriedigenden Bestimmung des Verhältnisses von Sprache und Rationalität gelangt er nicht. So kann er auch Jacobis Furcht vor der Geschlossenheit deduktiver Systeme nicht überwinden. Er kann lediglich leugnen, daß es ewige Wahrheiten gibt, und behaupten, daß die von der Vernunft erkannte geistige Wirklichkeit in jeder Hinsicht 'geschichtlicher' Art sei. Inzwischen ist Jacobi immer mehr in den Streit der Berliner gegen das Gespenst des Katholizismus und des Papsttums hineingeraten. Ihr 'modisches Geschrei über das Papsttum' ist Hamann ein großes Ärgernis, weil seines Erachtens die rationalistische Philosophie Berlins genauso despotisch ist wie das von ihr bekämpfte Papsttum. Gerade die Diktatur der Vernunft unterdrückt die Freiheit des Geistes, einer Vernunft, die genauso gesetzlich ist wie das rabbinische Judentum und die päpstliche Lehrautorität. Als Merkmale des 'Papsttums', die also auch für den Berliner Rationalismus gelten, nennt Hamann: 1. Despotismus; 2. Unfehlbarkeit; 3. Verachtung oder Unter-

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131

ZH VII 165:7-: "Glaube hat Vernunft eben so nöthig: als diese jenen hat. Philosophie ist aus Idealismo u Realismo: wie unser(e) Natur aus Leib u Seele zusammengesetzt.)" Vgl. ZH VII 174:17-. ZH VII 221:7-: "Du hängst überhaupt zu viel an Kunstwörtern der philosophischen Sprache, die in meinen Augen nicht viel beßer als wächserne Nasen sind."

352

Kapitel 7 Gegen Kant und Jacobi: 'Vernunft ist Sprache'

driickung der Schrift; 4. Werkheiligkeit und Moralismus; 5. Aberglaube und Unglaube132. Im Sommer des Jahres 1787 bekommt Hamann endlich Gelegenheit, seine große Reise nach Westfalen anzutreten. Erstes Ziel ist eine persönliche Begegnung mit seinem Wohltäter und 'Sohn' Franz Kaspar Buchholtz, dem jungen Herrn von Welbergen, verbunden mit dem 'Kreis von Münster'. Mit Buchholtz führt er einige Debatten über Jacobis Spinozabuch. Hamann verfaßt darüber schriftliche Berichte, von denen Nadler zwei Fassungen aufgenommen hat133. Dort kommt Hamann darauf zurück, daß Jacobi die Ängste in seiner Kindheit vor den 'Dingen einer andern Welt' als Grundmotiv für sein späteres Streben nach Gewißheit anführt. Hamann meint hierzu: "Sich über Dinge einer andern Welt zu ängstigen, ist nicht die ursprüngliche Gemüthsart eines Kindes. Die Morgenröthe unsres Lebens ist mit Leichtsinn und Vorwitz ausgestattet. Ein Kind, das sich mit Dingen einer andern Welt beschäftigt, wird blödsinnig für die Elemente der sichtbaren und gegenwärtigen. Giebt es eine Gewißheit von irgendeiner Erwartung irgendeines Sterblichen auf dieser Welt [?] Wer hat die Gewißheit, den heutigen Tag zu überleben [?]" (Ν IV 456:32-)134. Jacobi ist nicht mit einem grundlegenden und unbefangenen Vertrauen auf die sichtbare Welt und die sichtbaren 'Elemente' als Zeichen der Nähe Gottes aufgewachsen135. Dieser Mangel an Grundvertrauen ist die Triebfeder seiner Sehnsucht nach einer Gewißheit, die nach Hamanns Ansicht im Diesseits nicht zu erreichen ist136.

7.6

Zusammenfassung

'Vernunft ist Sprache': mit dieser Grundthese wendet Hamann sich sowohl gegen Kant als auch gegen Jacobi. Kant zieht sich auf die a priori Strukturen

132 133 134

136

Vgl. ZH VI 273:12-, 295:30-, Ν IV 456-459. Vgl. Knoll, Johann Georg Hamann und Friedrich Heinrich Jacobi, 51 f.; Jacobi, Werke, Bd. IV (18191), Darmstadt 1968, Abt. 2, 70-73. Vgl. Hammacher, K., 'Der persönliche Gott im Dialog? J.G. Hamanns Auseinandersetzung mit F.H. Jacobis Spinozabriefen', in: Acta 1, (194-210), 204 f. K. Christ gibt in seiner Studie über Hamann und Jacobi näheren psychologischen AufschluB über Jacobis Verlangen nach ί/nmittelbarkeit, auch in seinem Verhältnis zu Hamann. Daneben macht seine Schilderung der Persönlichkeit Hamanns deutlich, daß dessen Offenbarungs- und Erkenntnislehre der Mittelbarkeit ebenfalls psychologische Hintergründe hat. Vgl. Christ, op.cit., insbesondere 243 ff.

7.5 Hamann und Jacobi

353

des transzendentalen Subjekts zurück und läßt keinen Raum für geschichtlich-empirisch gewachsene Bedeutung. Hamann behauptet demgegenüber, daß jede vom Verstand erkannte Bedeutung durch konstituierende sinnliche Zeichen vermittelt werde. Der Verstand besitze nur Erkenntnis, insofern er die Sprache der Zeichen verstehe. Jacobi sucht die Gewißheit auf der anderen Seite: in der intuitiven Unmittelbarkeit der (Glaubens)Erfahrung. Hamann weist ihn darauf hin, daß sinnliche Zeichen nur mittelbar Träger geistiger Bedeutung sind, die durch den Verstand erkannt wird. Die menschliche Vernunft ist bei Hamann kein Organ der Erkenntnis ewiger Wahrheiten, sondern dient zum Verständnis inkarnierter und kontingenter Bedeutung; aus dieser Sicht bekämpft Hamann Jacobis negative Auffassung der Vernunft.

Kapitel 8 Sexualität und Bild Gottes

8.1 Einleitung: Aufklärung und Befreiung Das Wesen der Aufklärung, wie sie sich selbst versteht, wurde von Immanuel Kant in seiner Abhandlung zur Frage 'Was ist Aufklärung' klassisch formuliert: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen."1 Aufklärung ist ein 'Auszug', ein 'Exodus' aus der Fremdherrschaft, aus religiösen, kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhängen, in denen andere uns das Gesetz vorschreiben, statt daß wir uns selbst dieses Gesetz ('nomos') vorhalten; Aufklärung ist der Auszug aus der Hetero-nomie in die Auto-nomie. Diese Selbstbefreiung ist eine grundsätzliche Möglichkeit, weil die Sklaverei, in die der Mensch sich selbst gebracht hat, das menschliche Selbst nicht so beeinträchtigt hat, daß es nicht selbst sein Joch abwerfen könnte. In seiner Abhandlung formuliert Kant das Grundstreben der Aufklärung so: Die in sich selbst ruhende und wesentlich unzerstörbare menschliche Natur muß von allerlei Fremdherrschaft befreit werden, sie muß zu sich selbst kommen, sich selbst kennenlernen und sich selbst bestimmen. Dabei geht es nicht um zügellose Freiheit, sondern um eine freie Selbstbestimmung, in der der Mensch selbst seine Grenzen zieht. Nur innerhalb der vom Menschen selbst festgesetzten Grenzen entsteht die wahre Humanität. Dieses Selbstverständnis der Aufklärung geht Hand in Hand mit einer sehr kritischen Einstellung zur überlieferten Theologie, Religion, Philosophie und Moral. Theologisch bedeutet der 'Auszug' der Aufklärung eine Verselbständigung der Natur, die aus dem theozentrischen Zusammenhang der Gnade gelöst wird. Der Überbau der Gnade und Offenbarung wird als etwas, das nicht zur Natur paßt, als eine Einengung, eine Behinderung der Entfaltung der Humanität erfahren. Außerdem wendet man sich gegen allerlei rationalistische Systeme der Theologie und Philosophie, die die vielfaltige sinnliche

1

Kant, I., 'Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?' (1784), in: Kant's gesammelte Schriften, Herausgegeben von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Erste Abtheilung, Kant's Werke, Bd. VIII, Abhandlungen nach 1781, Berlin/Leipzig 1923 (33-42), 35.

8.1 Einleitung: Aufklärung und Befreiung

355

Wirklichkeit zu wenig berücksichtigen und sie in einen Panzer der Systematik einsperren. Wärend in der traditionellen Moral die Liebe zu Gott als Ausrichtung, von der aus alle Aspekte des Lebens ihren eigenen, auf Gott bezogenen Platz erhalten, im Mittelpunkt stand, richtet der Mensch in der Aufklärung den Blick auf sich selbst, auf seine eigene Erziehung und Bildung, auf den innerweltlichen Nutzen, auf die Selbstliebe und Philanthropie2. Aus dem Rahmen der Offenbarung gelöst, ist die Bildung auf ein neues Gleichgewicht, ein neues Maß für das Leben ausgerichtet, wobei der Schwerpunkt beim Menschen selbst liegt. Wie sehr die Aufklärung nach einem neuen Gleichgewicht strebt, zeigen ihre vielfältigen Warnungen gegen das 'Zuviel', ein Zuviel an Rationalismus, Sinnlichkeit, Gefühl, Begeisterung, usw. Ihr Streben nach Befreiung der menschlichen Natur geht Hand in Hand mit einem ständigen Interesse am Maßhalten, aber wie wird dieses Maß bestimmt, welcher Maßstab wird dabei benutzt? Dies geschieht vor allem durch die Vernunft und von der Vernunft aus. Es ist die Vernunft, die das richtige Gleichgewicht zwischen sich und den anderen menschlichen Fähigkeiten, wie Gefühl und Sinnlichkeit, bestimmt. Das große Streben der Aufklärung ist: Befreiung der (menschlichen) Natur durch autonome Selbstbestimmung. Gegen dieses anspruchsvolle Vorhaben zieht Hamann nach seiner Bekehrung in all seinen Schriften zu Felde. In einem Brief an seinen Freund Christian Jakob Kraus, Professor für praktische Philosophie und Volkswirtschaft und befreundet mit Kant, gibt er eine treffende Analyse der Abhandlung Kants3. Wer ist eigentlich der wichtigste 'Vormund', von dem wir uns nach Kants Ansicht befreien müssen, fragt Hamann. Sind es nicht gerade die aufgeklärte Vernunft und ihre Anhänger? Sind es nicht die aufgeklärten Philosophen und Despoten, wie Kant und Friedrich der Große, die sich anmaßen, das 'blinde und unmündige Volk' erziehen zu müssen, indem sie es klein halten?

*

3

Kuhn, H., 'Liebe', Geschichte eines Begriffs, München 1975, 166: "Die Vernunft wurde fast ausschließlich als menschliche Vernunft, die Liebe fast ausschließlich als menschliche Liebe verstanden. Die Aufmerksamkeit richtete sich vorwiegend auf Liebe als gesellschaftliches Phänomen, wobei 'Gesellschaft' societas humana - Gemeinschaft unter Ausschließung Gottes - bedeutete." Vgl. ZH V 289-292. Studien hierzu sind: Büchsei, E., 'Aufklärung und christliche Freiheit: J.G. Hamann contra I. Kant', in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie, Berlin, 4 (1962), 133-157; Bayer, O., 'Selbstverschuldete Vormundschaft, Hamanns Kontroverse mit Kant um wahre Aufklärung', in: Umstrittene Freiheit, Theologischphilosophische Kontroversen, Tübingen 1981, 66-96; Bayer, Zeitgenosse im Widerspruch, 138-150.

356

Kapitel 8 Sexualität und Bild Gottes

Freilich ist es äußerst wichtig, darauf hinzuweisen, daß Hamann das aufgeklärte Verlangen nach Humanität, nach Befreiung der menschlichen Natur, nicht ablehnt. Als Streben nach mehr Aufgeschlossenheit gegenüber der natürlichen Wirklichkeit, ihrer Vielfalt und inneren Bedeutung nimmt er die Aufklärung ganz ernst. Er glaubt freilich nicht an den eingeschlagenen Weg der Autonomie. Im Gegenteil, die wahre Humanität wird seiner Ansicht nach nicht gefunden, indem man sich von der transzendenten Gnade abwendet, sondern indem man sich noch tiefer darin verankert! Natur und Gnade erhalten nur im Räume der Offenbarung die gebührende Bedeutung, die wahre Humanität entfaltet sich im Lichte der Transzendenz. Autonome Selbstbestimmung hingegen führt zu neuen Formen der Unterdrückung von Mensch und Natur4. Die Herrschaft der aufgeklärten Vernunft führt zu einer Instrumentalisierung der Natur, zu einem armseligen Menschenverständnis mit gesetzlichem Moralismus, neuer Prüderie, frivoler Oberflächlichkeit oder trostlosem Libertinismus. Außerdem bietet die Offenbarung eine viel realistischere Sicht der Wirklichkeit als der oberflächliche Optimismus und Moralismus wie er weithin in der Aufklärungsphilosophie herrscht. Die Offenbarung bringt nicht nur die wahre Bestimmung der natürlichen Wirklichkeit, sondern auch ihre Endlichkeit, Gebrochenheit und Abhängigkeit ans Licht. Hamanns Auffassung, daß die wahre Humanität in der theozentrischen Perspektive entstehe, läßt sich am besten anhand seiner Ausführungen über Erotik, Sexualität und Fortpflanzung erläutern. Bei diesen Themen zeigt es sich am deutlichsten, daß er ein viel realistischeres Menschenverständnis als die Aufklärung hat. Zugleich sehen wir dort, daß Hamann das klassischaugustinische Menschenbild, in dem der Mensch als ein zu Gott hin transzendierendes Wesen gesehen wird, so weit ausdehnt, daß auch die Wirklichkeit des 'erös' durch die Gnade begrenzend, aber bejahend umschlossen wird. Augustinus und viele andere Kirchenväter waren kaum in der Lage, der Wirklichkeit der Erotik und Sexualität einen positiven Platz einzuräumen. Sexualität war ihrer Ansicht nach als Mittel der Fortpflanzung legitim, aber der sexuelle Sinnengenuß konnte von den meisten patristischen und mittelalterlichen Theologen nicht anders erlebt und beurteilt werden als eine ego-

4

H. Kuhn, op.cit., 166, zur 'Liebe' in der Rokoko-Literatur: "Aber die gleiche Literatur läßt die Befürchtung auftauchen, daß sich etwa die Liebe, säkularisiert und sozialisiert, als 'vernünftige Liebe' thematisiert, im Licht der Aufklärungswissenschaft schließlich doch in nichts auflöste - oder jedenfalls in etwas Geringes, unwürdig des großen Namens der Liebe oder gar der 'wahren Liebe'."

8.1 Einleitung: Aufklärung und Befreiung

357

zentrische Erfahrung, die nicht in das transzendierende, auf Gott ausgerichtete Leben integriert werden kann5. Augustinus wird von vielen Aufklärungsdenkern als Urheber vieler Gottes- und menschenunwürdiger Mißverständnisse in Kirche und Theologie abgetan. Vor allem seine Sünden-, Erwählungs- und Versöhnungslehre müssen es entgelten. Zu Augustinus' Auffassungen über die Sexualität hört man allerdings weniger Kritik; so liberal waren die meisten Aufklärungsdenker noch nicht. Nun geht Hamann gerade in der Frage der Sexualität auf den Spuren der augustinischen Theologie(!) über Augustinus und die Aufklärung hinaus. In diesem Kapitel gehen wir auf drei Texte ein, in denen Hamann versucht, die menschliche Erotik, Sexualität und Fortpflanzung fest in seinem theologischen Menschenverständnis zu verankern. Es handelt sich um: den Versuch einer Sibylle über die Ehe (1775), die Schürze von

Feigenblättern

(1777-1779, unvollendet) und 'Das stellenlose Blatt' (177?, unvollendet). Vor allem in letzteren beiden Texten geht Hamann in seiner theologischen Begründung der Sexualität so weit, daß seine Gedanken hierüber einen spekulativen Charakter bekommen. Trotzdem ist deutlich, daß sein Versuch, den 'erös' als Teil der erschaffenen Natur in die theozentrische Perspektive der Gnade zu stellen, der Struktur seines theologischen Entwurfes entspringt und als solcher auch jetzt noch ein fruchtbarer Denkanstoß ist6. In den vorhergehenden Kapiteln haben wir wiederholt festgestellt, daß Hamann angesichts der rationalistischen und prüden Einstellung der Aufklärung für die Sinne und Leidenschaften eintritt. Ausgehend von der unverbrüchlichen Einheit von Leib und Seele, Buchstabe und Geist, wodurch die Wirklichkeit einen 'logos'-Charakter hat, will Hamann jeglichem abstrahierenden, asketischen, gnostischen oder moralistischen Versuch entgegentreten, unsere Leiblichkeit und unsere irdische Beschaffenheit zu leugnen. Ausgehend von der transzendierenden und sprachlichen Grundstruktur von Mensch und Wirklichkeit, hat Hamanns Denken, wie bereits dargelegt, zwei Fronten: Materialistische und naturalistische Wirklichkeitsauffassungen weist er auf den geistigen und transzendierenden Gehalt der materiellen Gestalt hin. Auf der anderen Seite bekämpft er Autoren, die die geistige Wahrheit von der stofflichen, materiellen und geschichtlichen Gestalt loslösen wollen, nicht weniger heftig. Die drei erwähnten Schriften gehören zur zweiten Front und konzentrieren sich dabei auf Sexualität und Fortpflanzung. Damit knüpfen sie bei Themen 5

6

Vgl. Knijff; H.W. de, Venus aan de leiband, Europa's erotische cultuur en christelijke sexuele ethiek, Kampen 1987, 102-136. Ein neuerer Versuch einer näheren theologischen Bestimmung der Sexualität und Erotik ist: De Knijff, Venus aan de leiband, 274-302.

358

Kapitel 8 Sexualität und Bild Gottes

an, die in den bereits erläuterten Schriften schon mehrmals aufgetaucht sind. Der rote Faden, der sich durch all diese Stellen zieht, ist Hamanns Überzeugung, daß die menschliche Rezeptivität (Erkenntnisgewinn) und Kreativität (Kunst und Wissenschaft) als intellektuelle Tätigkeiten nicht vom Leiblichen, Sinnlichen und Emotionalen losgelöst werden können. Rufen wir zwei Beispiele in Erinnerung: In der Einleitung der Somatischen Denkwürdigkeiten, die sich mit der Frage des rechten Verständnisses der (Philosophie-)Geschichte befaßt, weist Hamann auf die Notwendigkeit einer kongenialen Beziehung zum Objekt hin. Und zwar versteht er unter Kongenialität einen affektiven und liebevollen Bezug, der die ganze Person des Lesers einbezieht. Das richtige Verständnis der Literatur und Geschichte setzt die Haltung eines 'Liebhabers' voraus. In den Sokratischen Denkwürdigkeiten, der Aesthetica in nuce und den Wolken u.a. greift Hamann sehr häufig auf die Bildersprache der Geschlechtlichkeit und Fortpflanzung zurück, um den Prozeß des Erkenntnisgewinns zu beschreiben, wobei er an die mäeutische Metaphorik des Sokrates anknüpfen kann. Die Analogien lauten dann, daß 'kennen' und 'erkennen' ohne affektiven Bezug, demütige Empfänglichkeit und Sinnlichkeit nicht möglich sind. Wenn sie fehlen, können weder Kind noch Wahrheit 'auf die Welt kommen'. Nun läßt all diese erotische und mäeutische Bildersprache vermuten, daß Hamann nicht nur zwischen menschlicher Rezeptivität und Kreativität im Bereich der Wissenschaft und Kunst einerseits und der Sexualität und Fortpflanzung anderseits Analogien sieht, sondern gleichzeitig von einer engen Beziehung zwischen beiden ausgeht oder sie auf jeden Fall sucht. Das zeigt sich vor allem, wenn die Geschichte des Sündenfalls zur Sprache kommt und Hamann auf den Zusammenhang zwischen dem Griff nach Erkenntnis von Gut und Böse und dessen Folgen anspielt, die sich primär als Scham vor der eigenen Geschlechtlichkeit äußern. In den Schürzen wird dieser Zusammenhang ausdrücklich hergestellt. Die Schrift Über die Ehe geht in eine andere Richtung. Dort versucht Hamann, Sexualität und Fortpflanzungsvermögen als Wesensaspekte des Bildes Gottes zu definieren, so daß sie einen wichtigen antropologischen Platz erhalten und es nicht mehr möglich ist, sie abzuwerten oder zu ignorieren. Nur wenn sie so in eine theologische Anthropologie, die den Menschen als Bild Gottes beschreibt, aufgenommen werden, sind Sexualität, Erotik und Fortpflanzung gegen abstrahierende und asketische Tendenzen gesichert. Gleichzeitig sind sie dadurch in einen transzendierenden Zusammenhang aufgenommen, der Verabsolutierung und Pervertierung der Sexualität verhindern kann. Wie sich zeigte, spielt die Ebenbildlichkeit Gottes in Hamanns Anthropologie eine entscheidende Rolle. Bisher stand die auf Gott hin transzendieren-

8.1 Einleitung: Aufklarung und Befreiung

359

de Einheit von Leib und Seele, die sich auch in der menschlichen Sprache offenbart, dabei im Mittelpunkt. Die Seele verweist als verborgenes Geheimnis des Leibes auf die Verborgenheit Gottes, der Geist ist7. Auffällig in der Schrift Über die Ehe ist, daß dort die leiblichen Merkmale des Menschen schlechthin als Wesensaspekte der 'imago Dei' hervorgehoben werden. Die Frage, um welche Analogien zwischen Gott und seinem Handeln einerseits und der menschlichen Sexualität und Fortpflanzung anderseits es denn gehen kann, versucht Hamann in der Schrift Über die Ehe zu beantworten.

8.2 'Versuch einer Sibylle über die Ehe' 8.2.1 Entstehungsgeschichte Unmittelbarer Anlaß zum Versuch einer Sibylle über die Ehe war die Heirat von Hamanns Freund und Verleger J.F. Hartknoch. Hamann verfaßte die Schrift für ihn und seine Braut als Hochzeitsgeschenk. Andere Impulse waren das Büchlein Über die Ehe (1774) von Th. G. von Hippel, dem späteren Bürgermeister von Königsberg, und das obszöne Gedicht An Essay on woman (1763), das dem namhaften englischen Parlamentarier John Wilkes zugeschrieben wurde. Kombiniert tauchen die Titel beider kleinen Werke im Titel von Hamanns Versuch wieder auf*. Ein weiterer Anlaß, sich intensiver mit der Frage der Sexualität auseinanderzusetzen, waren vermutlich die Schriften Starcks über die antiken Mysterienreligionen. Ein Anknüpfungspunkt darin ist eine Stelle aus der Apologie des Ordens der Frey Maurer (17701), in der Starck sich gegen die negativen Urteile einiger Kirchenväter über die heidnischen Mysterienreligionen wegen ihrer sexuellen Aspekte wendet. Als Beispiel erwähnt er Klemens von Alexandriens Beschreibung der Bacchusmysterien. Nach Starck 7 8

Vgl. §§ 4.6.1 - 4.6.2. An essay on woman ist von Th. Potter. Vgl. Dictionary of national biography, S. Lee (Hrsg.), Bd. LXI, London 1900, s.v. Wilkes, John (242-250), 245, wo auch auf ein Manuskript verwiesen wird, das eine unechte Fassung des Essays ist. Das gedruckte Exemplar: Wilkes, J., An essay on woman, Aberdeen 1788 (24 S.), das im Besitz der Koninklijke bibliotheek in Den Haag ist, geht vermutlich darauf zurück. Vgl. außerdem: HH 5, 128 Fußnote 14. Von von Hippels Büchlein besteht ein neuerer Druck: Hippel, Th.G. von, Über die Ehe [Neuauflage des Erstdrucks 1774], mit Illustrationen von D. Chodowiecki, herausgegeben, mit Anmerkungen und einem Nachwort von W. Faust, Stuttgart 1972. Hamann wollte sein kleines Werk genauso wie das von Hippels drucken lassen. Was Hamann an den Schriften von Wilkes und von Hippels gefiel, war ihr gewagter Ton und Inhalt.

360

Kapitel 8 Sexualität und Bild Gottes

hat das von Klemens kritisierte Symbol gar keine sexuelle Bedeutung, sondern verweist auf das Schöpfungsvermögen der Natur®. Außerdem habe Klemens alles nur von Hörensagen gewußt. Starck versucht also, die sexuelle Bedeutung der antiken Mysterien wegzuinterpretieren und bezichtigt Klemens der Unkenntnis. Aus vielen später angebrachten Randbemerkungen zu seinen Schriften wissen wir, daß Hamann neben anderen Kirchenvätern auch Klemens ausführlich zu lesen begann10. In Konxompax bestreitet er Starcks Urteil, daß Klemens alles aus zweiter Hand habe11. In dem Versuch einer Sibylle über die Ehe wird eine Stelle aus Klemens zitiert, wo die Geschlechtsgemeinschaft als 'mystische Orgien der Natur'12 bezeichnet wird. Daran anknüpfend spricht Hamann von den 'Mysterien des Hymens'13. All diese Zusammenhänge bilden so gemeinsam den Komplex Starck - antike Mysterien - Sexualität - Ehe14. Starck schrieb über die Mysterien, versuchte aber, sie von ihrem sexuellen Gehalt zu lösen, und betrachtete sie lediglich als 'Hieroglyphen' eines deistischen Glaubensgeheimnisses. Dem stellt Hamann eine offenherzige und bejahende Darlegung der Sexualität als 'Mysterium des Hymens' gegenüber, und er verankert sie im 'imago Dei'13. Sprechendes Subjekt in der Schrift Über die Ehe ist eine Sibylle, in der Antike eine alte weise Frau mit prophetischen Gaben und im Besitz verborgener Weisheit. Sie wird die Geheimnisse des 'Hymens' enthüllen. Obwohl Hamann davor warnt, Über die Ehe autobiographisch zu interpretieren, hat er unverkennbar seine eigenen Erfahrungen mit Regine Schumacher darin

9

Apologie (1770), 37: "Ich würde erröthen, wenn ich dasjenige hier nur berühren solte, was der Hr. Clemens von Alexandrien so ganz umständlich, und doch nur alles auf das Zeugnis des Hören Sagens, von den Geheimnissen des Bacchus, zu erzählen weiß. Die schändliche Figur die an den Festen der Paamylien, bey den Aegyptern gezeiget wurde, die wir noch heute zu Tage auf der Bembinischen Tafel abgezeichnet haben, und Plutarch 'aidoion triplasion' nennet, und so beschaffen ist [Zeichnung], war einer ganz anderen Deutung, und ein bloßes Hieroglyph der zeugenden und alles besamenden Kraft in der Natur, welches Diodor von Sicilien, Plutarch, Macrobius, und andere geleite Alten bezeugen." Vgl. Hephaestion, 19 f. 10 Vgl. Wiener, op.ciL, 8,1, passim. " Vgl. Ν III 217:16-, 39-, 12 Ν III 201:30-; vgl. Ν IV 418:7-. " Ν III 201:3; vgl. ZW III 184:34, 188:11. 'Hymen': Jungfernhäutchen; auch: Gott der Ehe. u Vgl. auch Konxompax, Ν III 223:30-; HH 5, 231 f. 15 Danach wird er in Konxompax wiederum, und zwar ausführlicher, auf die antiken Mysterien eingehen. Beide kleinen Werke haben den asketischen Rationalismus als gemeinsame Front. Hamann weist selbst auf den Zusammenhang zwischen den beiden Mysterienschriften hin, vgl.: ZH III 184:32-,188:10-; außerdem wurden beide von einer 'Sibylle' geschrieben.

8.2 'Versuch einer Sibylle über die Ehe*

361

verarbeitet. Zum Teil ist sie es, die sich hinter der Maske der 'Sibylle' verbirgt16. Außerdem tritt am Schluß des kleinen Werkes noch Hamanns ehemalige Verlobte Catharina Berens auf.

8.2.2 Das 'mystörion' der Geschlechtlichkeit Da die Schrift Über die Ehe kompliziert ist, sollen die wichtigsten Abschnitte daraus zitiert und erläutert werden, um die Grundlinien entdecken und beurteilen zu können. Die Sibylle beginnt mit einem Aufruf an das junge Brautpaar Hartknoch, ihrem weisen Unterricht Gehör zu schenken, und fährt dann fort: "Ich sehe in Ihren zärtlichen, vertraulichen Blicken den kleinen tiefsinnigen Gott der Liebe, der mit sich selbst zu Rath geht, über das Meisterstück seiner Werke, das er beym Ausgange aller Entwürfe, Eroberungen und blinden Ebentheuer im Schilde führt und welches darauf hinausläuft: Laßt uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sey17 (N III 199:5-).

Hamann spielt hier auf Amor als 'den kleinen Gott der Liebe' an und überträgt diese Bezeichnung auf den Schöpfer in Genesis 1, der seine Schöpfung mit seinem 'Meisterwerk', dem Menschen, vollendet hat. Er erschuf dort keine geschlechtslosen Menschen, sondern er schuf sie 'als Mann und Frau'. Geschaffen sein nach dem Bild des 'Gottes der Liebe' bedeutet, Mann oder Frau zu sein und als solche aufeinander angewiesen zu sein. Von Genesis 1:27 ausgehend, nimmt Hamann die geschlechtliche Differenzierung also in das Bild Gottes auf und versteht die geschlechtliche Liebe zwischen Mann und Frau als eine Analogie der schöpferischen Liebe Gottes. Im folgenden Abschnitt wird diese Analogie auf die Fortpflanzung ausgedehnt: "Eine Welt von Kleinigkeiten, die es aber nicht in den Augen der Verliebten sind, gehört immer zum voraus dazu, ehe es zur Ausführung jenes göttlichen Einfalls komt, der eben so wenigen zu gerathen scheint, als der erste ursprüngliche Versuch dieser Art"." (N III 199:11-).

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In einem Brief an Hartknoch nennt Hamann sie "die arme Sibylle" (ZH ΠΙ 129:10). Hamann empfing das erste Exemplar von Über die Ehe "am Tage Adelgunde" (ZH III 151:2-). Seitdem bezeichnet er sich selbst als den Autor der Schrift Über die Ehe: "Sibylle Adelgunde" (ZH III 151:4, 157:37, 163:31). 17 Vgl. Genesis 1:26, 5:3. " Nämlich von Adam und Eva.

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Kapitel 8 Sexualität und Bild Gottes

Ehe Gott zur Erfüllung seines tiefsten Wunsches, der Erschaffung des Menschen, überging, hielt er mit sich selbst Rat ("Laßt uns ...."). So sind auch Kopf und Herz des Brautpaars voller verliebter Kleinigkeiten, ehe sie zur Geschlechtsgemeinschaft übergehen, die zur Geburt eines Kindes führen kann. Hier liegt die Analogie also zwischen Gottes Schöpfung des Menschen und dem menschlichen Schöpfungsakt der Geschlechtsgemeinschaft 19 . Leider, meint die Sybille, ist das Resultat oft nicht so gelungen, wie es ja schon mit Kain, dem ersten Menschenkind, aber auch dem ersten Mörder, fehlschlug. Dies tut jedoch der hohen Bestimmung des Menschen, Gottes Mitschöpfer auf Erden zu sein, keinen Abbruch: "Der Mensch ist vorzüglich ein GOTT der Erde, durch seine Bestimmung30 der Schöpfer, Selbsterhalter und Immer-Vermehrer Semper-Augustus11 seines Geschlechts zu seyn. Zwar ist dies Göttliche der ganzen sichtbaren Haushaltung einverleibt32, und eine Entwicklung des am Anfange ausgesprochenen Seegens33; doch ist kein einziges unserer Nebengeschöpfe, für einen überlegten und freywilligen Rathschluß oder einen Bund und gesellschaftlichen Vergleich34 zu dieser Absicht gemacht: so wie keines einer größeren Ausbildung fähiger ist und selbige nöthiger hat als der Mensch." (N III 199:15-). In der ganzen Schöpfung gibt es Zeichen, die auf Gott verweisen, aber nirgends spüren wir seine Schöpferhand so deutlich wie beim Menschen, der das einzigartige Vorrecht hat, aus eigenem Antrieb und freier Wahl selbst Menschen erschaffen zu können! Hamann betont zwei Aspekte, die Gottes

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Im selben Kapitel, dem Hamann die Bezeichnung 'die mystischen Orgien der Natur' entnimmt, schreibt Klemens von Alexandrien: " et l'homme est l'image de Dieu par ce fait que, tout homme qu'il est, il collabore ä la naissance de l'homme." Clement d'Alexandrie, Le pddagogue II, Texte Grec, Trad, de C. Mondösert, Notes de H.-I. Marrou, Sources chritiennes 108, Paris 1965, ΙΙ,Χ, 83,2, 164. Vgl. op.cit., 91,2, 177: "Nous qui avons part ä cette fonction divine de la cröation", und 93,1,179: "Ses dösirs, qui jusque-lä ötaient tout entiers ordonnds aux ötreintes amoureuses, s'en sont dötournds, et, maintenant occupös au dedans de la formation de l'enfant, ils collaborent avec le Cröateur." Vgl. Genesis 1:28: "Und Gott segnete sie, und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch, und füllet die Erde, und machet sie euch unterthan." 'Augustus' bedeutete ursprünglich: 'Vermehrer', später: 'der Erhabene'. Vgl. Ritter von Rosencreuz, Ν III 32:21-: "Jede Erscheinung der Natur war ein Wort, - das Zeichen, Sinnbild und Unterpfand einer neuen, geheimen, unaussprechlichen, aber desto innigem Vereinigung, Mittheilung und Gemeinschaft göttlicher Energien und Ideen. Alles war ein lebendiges Wort; denn Gott war das Wort." Vgl. Genesis 1:22: "Und Gott segnete sie und sprach: Seid fruchtbar und mehret euch und erfüllet das Wasser im Meer; und das Gefieder mehre sich auf Erden." Anspielung auf Rousseaus Du contrat social. In von Hippels Über die Ehe ist die Ehe primär ein zivilrechtlicher Vertrag. Vgl. von Hippel, op.cit, 29 f., 104 (Nachwort W.M. Faust).

8.2 'Versuch einer Sibylle über die Ehe*

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Schöpfungsvermögen analogisch widerspiegeln. Erstens, die Tatsache, daß der Mensch selbst Menschen erschaffen kann; zweitens, das spezifisch Menschliche hierbei im Vergleich zu den Tieren, nämlich daß dem Schöpfungsakt ein freier Willensentschluß vorausgeht, wie auch Gottes Schöpfung des Menschen seiner freien Wahl entspringt. Es ist ebenfalls etwas spezifisch Menschliches, daß der Mensch mehr als jedes andere Wesen lernfähig, entwicklungsfähig ist; darin liegt seine Größe. Zugleich gibt es kein Wesen, das dieser Ausbildung so sehr bedarf wie der Mensch25, und darin liegt seine Verletzlichkeit. Wie kommt es nun, daß der Mensch sich seiner Geschlechtlichkeit, die doch ein ganz wichtiger Aspekt seiner Gottesebenbildlichkeit ist, so oft schämt? Die Ursache liegt im sündigen Verlangen des Menschen, selbst seine Bestimmung, 'wie Gott' zu sein, vorwegnehmend zu verwirklichen. Er greift eigenmächtig danach und schämt sich seitdem seiner Gottesebenbildlichkeit, zu der seine Geschlechtlichkeit als wesentliches Element gehört26. Seit dem Sündenfall erlebt er seine von Gott geschenkte und verheißene 'Göttlichkeit' als eine Gott geraubte Ehre. Die Scham ist also keine natürliche Gegebenheit, die zur Schöpfung gehört, sondern eine Sitte, die auf eine 'urkundliche Begebenheit' zurückgeht: den Sündenfall. Dann behauptet Hamann, es sei vielleicht doch besser, nicht zu heiraten. Die Ehe sei ein freier Bund, auf "Vernunft und Treue" gegründet (Ν ΠΙ 199:34), aber im preußischen Staat mit seiner neuen Ehegesetzgebung27 werde die Ehe einerseits ganz legalistisch behandelt28, während dieselbe

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Mit Gott als erstem Lehrmeister. Vgl. aus den Herderschriften u.a. Ν III 30:35-. Ν III 199:24-: "Woher kommt es nun, daß wir uns jener Gleichheit mit GOTT als eines Diebstalls oder Raubes schämen? Ist nicht diese Schaam ein heimlicher Schandfleck unserer Natur, und zugleich ein stummer Vorwurf ihres herrlichen allein weisen und hochgelobten Schöpfers? - Ein angeborner, allgemeiner Instinct ist es nicht, wie aus dem Beyspiele der Kinder, Wilden und cynischen Schulen zu ersehen; sondern eine angeerbte Sitte, und alle Sitten und Gebräuche sind bedeutende Zeichen und Merkmale zur Erhaltung urkundlicher Begebenheiten und Fortpflanzung conventueller Gesinnungen eingesetzt." Vgl. Genesis 3:4-7,22; Phil. 2:6: " hielt er es nicht für einen Raub, Gott gleich sein". Der Mensch raubt die Göttlichkeit, während Christus sein Gottgleich-sein nicht für einen 'Raub' hielt und sich dessen entäußerte. Vgl. Ν ΠΙ 22:15, 224:20-. Die betreffende 'urkundliche Begebenheit' ist der Sündenfall. Vgl. Ν III 32:1-. Kurz zuvor war in Ostpreußen ein neues Ehegesetz in Kraft getreten. Vgl. HH 5, 148 Fußnote 8. Hamann denkt dabei wahrscheinlich auch an das Gerede über seine eigene Gewissensehe. Im Oktober 1776 an Herder: "Ungeachtet in keinem andern Lande eine GewißensEhe oder wie man meinen Fuß zu Leben nennen will, so gesetzmäßig als in Pr. ist: so scheint doch wirklich selbige gewißen Leuten anstößiger zu seyn als Hurerey und Ehebruch, weil Modesünden über Gesetze und Gewißen sind." (ZU III 263:1-).

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Kapitel 8 Sexualität und Bild Gottes

Gesetzgebung anderseits durch allerlei erweiternde Bestimmungen das Wesen der Ehe beeinträchtige. Grundsätzlich befürwortet Hamann eine gesetzlich geschlossene Ehe29, allerdings zum Schutz und zur Bekräftigung einer freien und wohl erwogenen Entscheidung zu gegenseitiger Treue. In dem Falle, w o eine Ehe völlig ausgehöhlt ist, wäre Hamann nicht gegen Ehescheidung30. Allerdings teilt er den katholischen Standpunkt, daß die Ehe als Zeichen der von Gott gestifteten Bedeutung ein Sakrament ist, aber das darf seines Erachtens nie auf Kosten der lutherischen 'Freiheit eines Christenmenschen' gehen. Nach dem Intermezzo über die Ehegesetzgebung kommt die Sibylle auf die Ehe als eine Gestalt des Bildes Gottes zurück, nun aber auch unter Verwendung von Texten aus den Paulusbriefen: "Das Geheimnis ist groß!3i - GOTTES Ebenbüd und Ehre, der Mann, und dessen Ehre, das Weib"32 - Das heist: Der Mann verhalt sich zu GOTT, wie das Weib zum Manne, und wo diese Drey Eins sind33, wird "das Weib durch Kinderzeugen selig34, und der Mann des Leibes Heiland33." Alle Mysterien des Hymens sind daher dunkle Träume, die sich auf jenen tiefen Schlaf beziehen, worinn die erste Männin zur Welt kam, als ein beredtes Vorbild für die Mutter aller Lebendigen.-" (N III 200:26-).

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Im Juni 1785 an Jacobi: " in Ansehung der Ehen bin ich ganz antipaulisch gesinnt, freue mich über jedes Paar, das Gott zusammenfügt, und bin weit entfernt zur Nachfolge meiner Ausnahme aufzumuntern." (ZW V 462:22-). Vgl.: ZH V 392:28 - 393:27. Dies geht aus seinen brieflichen Äußerungen über die schlechte Ehe einer Schwester Herders hervor: "Ungeachtet aller meiner katholischen Denkungsart über das Sacrament der heil. Ehe, denk ich doch die Wohltat der christl. u bürgert. Freyheit einer armen Frau einräumen zu können, die ihres Lebens nicht sicher ist" (ZW IV 136:36-). Vgl. ZH IV 131:9-. Vgl. Eph. 5:31-32: "Um deswillen wird ein Mensch verlassen Vater und Mutter, und seinem Weibe anhangen, und werden die zwei Ein Fleisch sein. Das Geheimnis ist groß: ich sage aber von Christo und der Gemeine." Vgl. 1 Kor. 11:7: "Der Mann aber soll das Haupt nicht bedecken, sintemal er ist Gottes Bild und Ehre; das Weib aber ist des Mannes Ehre." Ein Hinweis auf 1. Joh. 5:7-, wie in dem 'stellenlosen Blatt', HH 5,363? Oder (auch) auf Matth. 18:20-? Vgl. Klemens von Alexandrien in Stromateis 111,10: "Aber wer sind die 'zwei oder drei, die im Namen Christi versammelt sind', wo Christus [in der] Mitte ist'? Sind das nicht Mann, Frau und Kind, weil Mann und Frau durch Christus verbunden werden?" (= Patrologiae cursus completus, J.-P. Migne (Hrsg.), Series Graeca, Τ. VIII, col. 1169; Übers. R.D.). Vgl. 1 Tim. 2:15: "Sie wird aber selig werden durch Kinderzeugen". Eph. 5:23: "Denn der Mann ist des Weibes Haupt; gleichwie auch Christus das Haupt ist der Gemeinde, und Er ist seines Leibes Heiland." Im letzten Satzteil wird Christus der Heiland ('sötfcr') seines Leibes (der Gemeinde) genannt. Hamann führt den Vergleich vom Anfang dieses Verses weiter und bezeichnet den Mann als den Heiland des Leibes der Frau. Vgl. auch Ν III 202:33-, das unten zitiert wird.

8.2 'Versuch einer Sibylle Uber die Ehe'

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Im ersten Teil dieses Zitates verbindet Hamann einige bekannte Texte miteinander, in denen Paulus das Verhältnis Mann/Frau vom Verhältnis Christus/Gemeinde und Gott/Christus aus bestimmt. Exegetisch läßt sich manches dagegen einwenden, aber es ist deutlich, daß Hamann versucht, die Beziehung der Ehe, einschließlich der Geschlechtlichkeit, auch christologisch zu fundieren und in die Gottesebenbildlichkeit aufzunehmen. Wir stellen hier wiederum fest, daß für Hamann die Bedeutung des Geschöpflichen im Bezug zu Christus verankert liegt. Über die Ehe ist eine Mysterienschrift, denn sie handelt vom sakramentalen Geheimnis der geschlechtlich bestimmten Beziehung zwischen Mann und Frau, die eine Analogie der Beziehung Gottes mit dem Menschen (durch den Mann, bzw. die Gemeinde) in Christus ist36. Der zweite Abschnitt beschreibt diese Analogie wieder mit Bildern aus der Genesis 37 : wie Gott Eva aus dem Leib Adams 'geboren werden' ließ, so wird aus Eva - nach der Zeugung durch den Mann - das Menschengeschlecht geboren. Ehe die Sibylle ihre Unterweisung über die Ehe mit einem Märchen schließt, will sie das mögliche Mißverständnis ausräumen, als ginge es ihr um Pikanterien oder Obszönitäten. Ebensowenig ist sie aber eine vestalische Jungfrau oder Anhängerin Herrnhuts. All diese anti- oder hypersexuellen

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Wie sehr sich K. Barth auch in diesem Punkt Hamanns Auffassung des Verhältnisses von Natur und Gnade nähert, geht aus der KD, 111,1, § 41.3 über 'Den Bund als inneren Grund der Schöpfung' hervor. Entsprechend seiner Auffassung, daß die Schöpfung eine sakramentale Präfiguration des Bundes sei (vgl. KD, 111,1, 262 f.!), entdeckt Barth viele Analogien zwischen dem Schöpfungsbericht und dem Neuen Testament. Auf die typologische Analogie zwischen Erotik und Geschlechtlichkeit einerseits und dem Bund zwischen Christus und der Gemeinde anderseits geht er dabei ausführlich ein. KD, 111,1, 368: "Warum verläßt ein Mensch Vater und Mutter, um seinem Weibe anzuhangen, warum werden sie ein Leib? Darum, weil Jesus die Herrlichkeit seines Vaters verlassen wird um der Seinigen willen , weil er sich mit ihnen so völlig solidarisch erklären und real verbinden wird." Op.cit, 369: "Wenn das Alte Testament dem Geschlechtsverhältnis jene Würde gibt, so zielt es faktisch auf dessen Urbild, auf des Menschen Gottebenbildlichkeit als Mann und Frau, die in Gottes Plan und Erwählung zuerst das Verhältnis zwischen Jahve und Israel und dann erst - aber von jenem ihrem Ursprung her nun doch auch ganz direkt das Verhältnis der menschlichen Geschlechter ist. Weil Jesus Christus und seine Gemeinde der innere Grund der Schöpfung und weil wieder Jesus Christus der Grund der Erwählung und Berufung Israels war, darum konnte und mußte die Beziehung zwischen Jahve und Israel als eine erotische Beziehung beschrieben werden." Barth wiederholt seine typologische Auslegung in Die kirchliche Dogmatik, Die Lehre von der Schöpfung, Bd. 111,2, Zollikon/Zürich 1948, vgl. insbesondere 358-363. Wir kommen in § 9.4.6 auf Barths Schöpfungslehre zurück. Diese typologische Deutung der Genesis veranschaulicht Hamanns Aussage in seiner dritten These der Prolegomena·. "Das aus dieser Wiege unsers Geschlechts zurückgeworfene Licht klärt die heilige Nacht in den Fragmenten und Trümmern aller Traditionen auf." (Ν ΙΠ 125:24-).

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Kapitel 8 Sexualität und Bild Gottes

Entgleisungen laufen auf nichts anderes als "vermummte Traurigkeit und Verzweiflung"38 hinaus. Dann bringt die Sibylle ein 'mythisches Märchen' über ihre eigenen Erfahrungen mit der Liebe39. Sie erzählt darin, wie ein Mann sich ihr näherte und sie zunächst nichts von ihm und seinen Annäherungsversuchen wissen wollte. Die Aufrichtigkeit ihres Liebhabers rief jedoch einen "Feuerstrahl der Selbsterkenntnis"40 hervor, so daß sie ihre eigene Sexualität entdeckte und sie sich danach beide der Leidenschaft des anderen hingaben. Nach einem Angriff auf die scheinheilige bürgerliche Moral ihrer Zeit beschreibt die Sibylle schließlich den Koitus, der typologisch von der Genesisgeschichte aus beleuchtet wird: "Mitten im Weyrauch eines Schlummers sah ich jene Ribbe41 - und rief voll begeisterter habseliger Zueignung: "Das ist Knochen von meinen Knochen, und Fleisch von meinem Fleische. "42Wie sich ein Gemachte mit seinem Ursprung vereinigt, gieng er ein, wo er einst hergekommen war als des Leibes Heiland, und gleich einem treuen Schöpfer in guten Werken43 Schloß er die Lücke der Stätte zu mit Fleisch44, um die älteste MaculaturAi des menschlichen Geschlechts fernerweit zu erfüllen. Ja, heute übers Jahr versprech ich Ihnen, gähnendträumendes Brautpaar! das Ende meines Märchens4* ." (N III 202:29-).

Wiederum setzt Hamann hier den menschlichen Schöpfungsakt zum Schöpfungsakt Gottes parallel. Durch diesen Parallelismus bezieht sich der negativ klingende Begriff 'Makulatur' sowohl auf die Frau (beim Koitus), als auf den Mann (bei der Schöpfung Evas aus der Rippe Adams)47.

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Ν III 201:16-. Klingt hier nicht etwas von Regines Erfahrungen mit dem ungestümen Hamann an? Ν III 202:3-. Selbsterkenntnis spielt eine wichtige Rolle in Hamanns Anthropologie. Sie ist Korrelat der Gotteserkenntnis und betrifft nicht nur die eigene Sünde, sondern auch die eigene Emotionalität und Leiblichkeit. Der Penis. Vgl. Genesis 2:22. Vgl. Genesis 2:23. Vgl. 1. Petrus 4:19. Genesis 2:21: " und Schloß die Stätte zu mit Fleisch". Hamann übersetzt nach dem Vorbild Michaelis: "die Lücke der Stätte", was der 'Maculatur' entspricht. Fehldruck. Nämlich die Geburt eines Kindes. Jansen Schoonhoven, HH 5, 159: "Das zielt auf die 'Unvollständigkeit* des weiblichen Körpers, die in der Geschlechtsgemeinschaft vom Manne 'erfüllt' wird. Darum hat Hamann den Text, gestützt auf Michaelis, paraphrasierend erweitert: 'die Lücke der Stätte'."

8.2 'Versuch einer Sibylle über die Ehe'

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8.2.3 Beurteilung Die Grundlinie der Schrift Über die Ehe ist inzwischen deutlich geworden. Hamann will der Geschlechtlichkeit und dem Fortpflanzungsvermögen als zentralen Momenten der ehelichen Beziehung ausdrücklich einen positiven Platz einräumen, indem er sie protologisch und christologisch4* als wesentliche Aspekte der Ebenbildlichkeit Gottes beschreibt. Hamann ist der festen Überzeugung, daß Erotik und Fortpflanzung kostbare Gaben des Schöpfers sind. Von seiner theologischen Grundeinstellung aus, nach der die Natur eine transzendierende und analogische Ausrichtung auf die Gnade hat, führt dies zur Annahme, daß das erotisch-schöpferische Vermögen des Menschen in Gott und seinem Handeln als Ursprung dieses Vermögens typologisch verankert werden kann. Nur so erhält es seinen rechtmäßigen, aber begrenzten Platz. Hamann schätzt die Sexualität nicht nur als Mittel zur Fortpflanzung, sondern auch als eine unentbehrliche Dimension der ehelichen Beziehung an sich, die, wie das 'Märchen' erzählt, auch von der Frau erlebt wird. Jede wirkliche Beziehung kennt einen affektiven Bezug, der einen Wert an sich hat und zugleich Voraussetzung für das schöpferische Vermögen der Partner ist. Dies gilt nach Hamann genauso gut für Gott selbst. Der jüdisch-christliche Gott umfaßt auch 'den kleinen tiefsinnigen Gott der Liebe' (Amor)49. Einen Abglanz seiner Liebe sieht die Sibylle in den Augen des verliebten Brautpaars. Zugleich ist Hamann tief verwundert über die unglaubliche Tatsache, daß der Mensch Menschen erschaffen kann. Das bringt ihn dazu, die Beschreibung der Schöpfung des Menschen in der Genesis als einen 'typos' der menschlichen Zeugungstat zu sehen. Diese erotisch-schöpferische Typologie intensiviert er dann christologisch anhand von Paulustexten. Hamann unternimmt so einen faszinierenden Versuch, die Sexualität und Fortpflanzung analogisch im Bezug auf Gott zu 'bergen', einen Versuch, der allerdings auch Fragen aufwirft. Wenn die Beziehung zwischen dem Dreieinigen Gott und seiner Schöpfung mit der erotischen Beziehung Mann Frau verglichen werden kann, in wieweit stimmt dieser Vergleich dann? Wo liegt der univoke Kern dieser Analogie? Welche Aspekte der menschlichen Erotik, des Sinnengenusses und der Kreativität tauchen auch in Gottes

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ZW V 393:25-: "und zu was für einem hohen Ideal unsers mit Christo in Gott verborgenen Lebens hat eben derselbe Apostel den Ehstand aufgerichtet!" Hamann schreibt im Februar 1779 zu Herders Auslegung des Hohenliedes in Lieder der Liebe (1778): "Das hohe Lied ist der Nabel meiner Bibel und diese Auslegung das einzige u erste Buch von unserm Freunde nach meinem Geschmack bis auf einige abermalige kleine Ausfälle." (ZH IV 49:6-, an Hartknoch).

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Kapitel 8 Sexualität und Bild Gottes

Beziehung zur Wirklichkeit wieder auf? Zugespitzt: geht die Analogie so weit, daß man mit Recht von einem erotischen Bezug Gottes auf seine Schöpfung sprechen könnte (was Hamann übrigens nicht tut)? In engem Zusammenhang damit steht die bekannte Frage nach dem Verhältnis von 'erös' und 'agapfc'. Wenn der 'erös' in den Bereich der 'agapfc' aufgenommen wird, wird dann auf der Ebene der Gotteslehre Amor in JHWH aufgenommen? Wie kommt das in der Lehre von den göttlichen Eigenschaften zum Ausdruck? Anthropologisch könnte man fragen, ob Hamann den Eigencharakter der verschiedenen Arten der 'Liebe' ('erös', 'philia', 'agapö') und die gegenseitigen Spannungen, die dies mit sich bringt, genügend berücksichtigt. Wie immer wir Hamanns Versuch auch beurteilen, er entspringt seinem Verständnis des Verhältnisses von Natur und Gnade: alle Dimensionen der geschaffenen Natur, darunter auch die ungestüme und oft schwer zu handhabende Wirklichkeit der Sexualität und das einzigartige Vermögen der Fortpflanzung, erhalten innerhalb des theozentrischen Rahmens der Gnade ihren rechtmäßigen Platz. Im Vergleich zu allerlei Formen des Naturalismus und Libertinismus bedeutet diese theologische Einordnung eine Einschränkung. Zugleich ist sie, auch angesichts vieler asketischer und prüder Lebensauffassungen, eine Aufwertung, die die einzigartige menschliche Bedeutung der Sexualität und Fortpflanzung ins rechte Licht rückt50. Die wahre Humanität kommt innerhalb des von Gott geschenkten und umschlossenen Freiraumes zustande. Hamann ist überzeugt, daß diese klassisch-christliche Auffassung auch für die Sexualität, Erotik und Fortpflanzung gilt. Aufgrund dieser Überzeugung sucht er immer die 'Mitte' zwischen Verabsolutierung und Degradierung des Menschen, zwischen Engel und Tier, eine Mitte, die er nur von der Offenbarung in Christus her zu finden vermag. Zum Schluß dieses Paragraphen sei noch eine Bemerkung zum Stil von Hamanns Versuch gestattet. Sein Stil ist abgesehen von den Stellen, worin der Zeitgeist angeklagt wird, locker und leicht, wie es zum fröhlichen Ereignis einer Eheschließung paßt. Dieser heitere Stil wirkt relativierend, und das verhindert, daß die Sexualität durch alle theologischen Qualifikationen zu stark mit religiöser Bedeutung aufgeladen wird. Die theologische Ortsbestimmung ist zugleich eine Entdämonisierung: Die mythische Finster-

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Bayer, Zeitgenosse im Widerspruch, (205-213: 'Versuch einer Sibylle über die Ehe'), 213: "Hamann vergöttlicht das Geschlechtliche ebensowenig, wie er es verteufelt. Er versucht, recht menschlich davon zu reden und es in seiner geheimnisvollen sinnlichen, leiblichen und seelischen Tiefe ebenso zu erzählen wie in seinen andern Dimensionen: der sittlichen, gesellschaftlichen und rechtlichen."

8.2 'Versuch einer Sibylle über die Ehe*

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nis der antiken Mysterien31 wird durch Gottes Schöpfungslicht, das die Sexualität zu einem fröhlichen 'Geheimnis' erneuert, vertrieben.

8.3 'Schürze von Feigenblättern' über die 'pudenda' 8.3.1 Entstehungsgeschichte Mit Unterbrechungen arbeitete Hamann von Anfang 1777 bis Ende 1779 an den Schürzen, aber die Schrift wurde nicht vollendet. Der hinterlassene Teil hat eine äußerst komplizierte Entstehungs- und Textgeschichte, und einige Kenntnis dieses Sachverhaltes ist für die Interpretation unentbeljrlich52. Es gibt drei wichtige Anlässe, die als 'Ingredienzien' wieder in den Schürzen auftauchen. Die wichtigste Anregung war eine Frage, die Christoph Martin Wieland im Januar 1776 in das von ihm redigierte Monatsblatt der Teutsche Merkur hatte aufnehmen lassen. Sie lautete folgendermaßen: "Wird durch die Bemühungen kaltblütiger Philosophen und Lucianischer Geister gegen das was sie Enthusiasmus und Schwärmerey nennen, mehr Böses oder Gutes gestiftet? Und, in welchen Schranken müßten sich die Anti-Platoniker und Luciane halten, um nützlich zu seyn?"53 In dieser Frage wird der Gegensatz deutlich, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts solch eine große Rolle spielte: rationale Nüchternheit gegenüber leidenschaftlicher Begeisterung. Die Frage löste viele Reaktionen aus. Eine dieser Reaktionen, von einem anonymen Autor, veröffentlichte Wieland unter dem Titel 'Eines Ungenannten Antwort' und fügte eine kritische 'Nachricht' hinzu. Die 'Antwort' ist eine leidenschaftliche Verteidigung des 'Enthusiasmus' und bekämpft die kaltblütigen Geister, zu denen sich auch Wieland rechnete54. Der anonyme Autor weist außerdem darauf hin, daß Gut und Böse so miteinander verflochten sind, daß man sie als

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Die zu 'vermummter Traurigkeit und Verzweifelung' führt (Ν ΠΙ 201:16-). Vgl. auch am Schluß das Fragment aus Vergil über Aeneas' Fahrt in den Hades, Ν III 203:13, in Verbindung mit Ν III 198 und Ν III 201:17-. 52 Eine zuverlässige Textrekonstruktion hat erst M. Seils in HH 5 vorgelegt. Wir zitieren deshalb aus HH 5, 274-284. " Wieland, Chr. M., 'Fragen', in: Teutsche Merkur, Jän. 1776, 82. 54 Seils, HH 5, 285: "Sicherlich hat Wieland, durch und durch geprägt von der Lebensauffassung des Zynikers Lucian, die Folgenschwere seiner 'Frage' nicht völlig übersehen."

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Kapitel 8 Sexualität und Bild Gottes

überrationale Wirklichkeit nicht durch eine distanzierte Analyse scheiden kann. Hamann ist sehr von 'Eines Ungenannten Antwort' fasziniert und nimmt lange an, daß Herder der Autor ist35. Hingegen regt die Kritik in Wielands 'Nachwort' ihn so auf, daß er beschließt, mit einer eigenen Schrift seinen 'Landsmann' Herder in Schutz zu nehmen. Thematisch spricht Hamann der in der Frage formulierte Gegensatz natürlich an. Hinzu kommt noch, daß Hamann den letzten Satzteil, "mehr Gutes oder Böses gestiftet" - auch unter dem Einfluß der 'Antwort' - mit der 'Erkenntnis von Gut und Böse' in Genesis 3 assoziiert. Erst Anfang 1777 bekommt Hamann 'Eines Ungenannten Antwort' zu sehen. Die drei Ziffern 7 dieses Jahres sind ein zweites Motiv der Schürze: für Hamann symbolisieren sie die Trinität, die er als die 'pudenda der Religion' bezeichnet. Rationalistische Theologen und Philosophen wissen mit diesen 'pudenda' nichts anzufangen und wollen sie zu einem deistischen Monismus 'beschneiden'. Ein weiterer Anlaß ist ein Gedicht von Matthias Claudius, das 1777 erschien56. Es handelt sich dabei um einen Nachtwächter: "Er that das Horn aufs Maul, und blus, Und dann pflegt' er zu sagen: Das Klock hat zehn geschlagen."

In den folgenden Strophen wird der Nachtwächter vom Bürgermeister gerügt, der ihm befiehlt, nicht "das Klock", sondern "der Klock" zu rufen. Daraufhin verteidigt der Nachwächter sich folgendermaßen: "Der Klock reimt nicht zu meinem Horn97; Drum will ich das Klock halten."

Hamann weiß, daß keiner von beiden recht hat, denn es ist 'die Klock'. Er sieht in diesem Wortgefecht zwischen Nachtwächter und Bürgermeister eine komische Veranschaulichung der Versuche 'kaltblütiger Philosophen', Herrschaft auszuüben über die differenzierte Sprachwirklichkeit, in diesem Fall

" Es war J.C. Häfeli, ein Schüler Lavaters. Vgl.: Häfeli, J.C., 'Eines Ungenannten Antwort', in: Ternsche Merkur, Aug. 1776, 111-136, Sept. 1776, 207-220 (beide Teile mit einem Nachwort von Wieland). 56 Musen Almanach für 1777, J.H. Voß (Hrsg.), Hamburg 1777, 151 f., zitiert in HH 5, 291 f. 57 'da* Horn'.

8.3 'SchUrze von Feigenblättern' über die 'pudenda'

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über das Geschlecht von Wörtern, die 'etymologischen pudenda' wie Hamann sie in den Schürzen nennt5*. Gemeinsames Motiv der drei hier skizzierten Anlässe bilden die 'puden59 da' . Damit bezieht Hamann sich auf grundlegende Differenzierungen bei Gott (Dreifaltigkeit), dem Menschen (Geschlechtlichkeit) und der Sprache (Geschlecht der Wörter), die rationalistische Philosophen und Theologen als Ärgernis empfinden und die sie zu ignorieren oder wegzuerklären versuchen60. Die Schürze sind ein Versuch, diese Differenzierungen miteinander in Zusammenhang bringen, um sie so in einem tieferen Sinne zu verstehen, wobei Hamann die Genesisgeschichte über den Sündenfall als hermeneutischen Schlüssel benutzt.

8.3.2 Über 'pudenda' und Scham Die Schürze sind ein kompliziertes Fragment und der Niederschlag von Gedanken, die nicht gut auskristallisiert sind. Bei der Deutung müssen wir uns also vor zu weitreichenden Schlußfolgerungen hüten. Es können höchstens bestimmte Denkrichtungen aufgezeigt werden, die Hamann intensiv beschäftigt haben, die er aber nicht zu einem durchdachten Abschluß zu bringen vermochte. Der Titel, Schürze von Feigenblättern, läßt bereits vermuten, daß es hier um eine Schrift geht, die mit dem Versuch einer Sibylle über die Ehe thematisch verwandt ist. Bei den 'Schürzen' handelt es sich natürlich um die Feigenblätter, mit denen Adam und Eva ihre Scham bedeckten61. Wie Hamann die Feigenblätter interpretiert, wissen wir aus der Aesthetica in nuce und den Hirtenbriefen61. Sie symbolisieren die eigenmächtige Bedeckung, durch die der in Sünde gefallene Mensch sich vor Gott und dem Mitmenschen verbirgt, während Gott doch selbst 'Kleidung' für uns macht, um unsere Nacktheit und Schande zu bekleiden. Die Schürze sollten aus drei Teilen bestehen : 'Nachhelf eines Vocativs', 'Charfreytagsbuß für Capuciner'

" Gegen eine solche rationalistische Beschneidung der Sprache hatte Hamann sich schon früher in Neue Apologie des Buchstaben h (1773) gewandt. Er tut das wiederum in Zwey Scherflein (1780). 59 Vgl. zu den Belegstellen für 'pudenda': HH 5, 316 Fußnote 24. 40 Vgl. in Zweifel und Einfülle über eine vermischte Nachricht (1776), Ν III 179:31-: " den Unterscheid der drey Personen in der Grammatick wie in der Dogmatick, durch den gewaltigen Arm ihrer gesunden Vernunft zu proscribiren und aus dem Wege zu räumen." 61 Vgl. zu den Belegstellen für 'Schürze': Seils, HH 5, 310 Fußnote 2, und Ν III 190:23-. 61 Vgl. § 4.6.3: Verborgenheit als Flucht und Selbstrechtfertigung.

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Kapitel 8 Sexualität und Bild Gottes

und 'Die Brücke ohne Lehne'. Diese Titel stammen alle aus 'Eines Ungenannten Antwort'. Nur der erste Teil mit den vorausgehenden Widmungen davor wurde fertiggestellt. Wir analysieren davon lediglich die wichtigsten Abschnitte über die 'pudenda'. Unmittelbar zu Beginn erklärt Hamann, daß Wieland , wie seine Auffassung vom Menschen zeige, sich desjenigen nicht bewußt sei, " deßen Pudenda lebendige Glieder sind, die nach ihrer Auflösung und Verklärung schmachten - Von seinen Lenden über sich und unter sich sah ich' s wie Feuer glänzen um und um (HH 5, 275). Der Mensch ist nach Gottes Bild geschaffen, und zu dieser Gottesebenbildlichkeit gehört laut Hamann auch der Besitz 'lebendiger pudenda'. Die diesbezügliche Analogie zwischen Gott und Mensch illustriert Hamann mit einem Passus aus der Berufungsvision des Hesekiel, in der Gott mit feurigen Lenden beschrieben wird. Gott ist kein kühles, distanziertes Wesen, sondern sein Bezug auf die Schöpfung ist der Bezug einer leidenschaftlichen Liebe, symbolisiert durch die 'feurigen Lenden'. Ist also die Geschlechtlichkeit eine wesentliche geschöpfliche Gegebenheit, so zeigt sich an ihn doch auch das menschliche Verlangen und die Sehnsucht nach Vollendung und Erfüllung, nach Befreiung von der Scham, der egozentrischen Bindung und Gebrochenheit. In der Sexualität erkennt Hamann nicht weniger als in anderen Aspekten des Lebens das Seufzen der Schöpfung, die die Geborgenheit in Gott sucht. Für den geschlechtlichen Menschen gibt es die eschatologische Zukunft der "Auflösung und Verklärung", der Befreiung und Verherrlichung64. An einer späteren Stelle kommt Hamann auf den Streit zwischen Nachtwächter und Bürgermeister in Claudius' Gedicht zu sprechen und bezeichnet ihn als "das doppelte Misverständnis und öffentliche Ärgernis über die etymologische Pudenda einer Glocke" (HH 5, 279). Wie gesagt behandelt Hamann diesen Streit über das Geschlecht der Substantive als einen Hinweis auf die von rationalistischen Denkern erstrebten Abstraktionen von Gott und Natur. Daß er hierfür ein Beispiel aus der Grammatik wählt, ist nicht zufällig, denn in der Sprache konzentriert sich das Grundgeheimnis der

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Vgl. Hesek. 1:27: "Von seinen Lenden über sich und unter sich sähe ich es wie Feuer glänzen um und um." Vgl. zum Begriff 'Verklärung' das folgende in § 6.3.5 erläuterte Zitatfragment: " die Grundlehren des Christenthums von der Verklärung der Menschheit in der Gottheit und der Gottheit in der Menschheit durch die Vaterschaft und Sohnschaft" (N III 192:29-). Vgl. auch die Auslegung des Titels Entkleidung und Verklärung, Ein fliegender Brief, in: Wild, 'Metacriticus bonae spei', 69-72. op.cit, 71 f.: "Solcher Entkleidung des Menschen vor Gott korrespondiert seine Verklärung durch Gott Überkleidung meint also die Erlösung zum ewigen Leben; in diesem Sinn ist im Titel 'Verklärung* zu verstehen."

8.3 'Schürze von Feigenblättern' über die 'pudenda'

373

Wirklichkeit. Dort begegnen der dreieinige Gott und der geschlechtliche Mensch sich am intensivsten. In einem folgenden Abschnitt stellt Hamann durch eine Neuformulierung der Frage Wielands die Beziehung zwischen Geschlechtlichkeit und 'Gut und Böse' her65. Soviel geht daraus hervor, daß laut Hamann eine Frage wie die Wielands nach dem Guten oder Bösen verschiedener WirklichkeitsaufFassungen unwiderruflich den Punkt des Geschlechtlichen berührt66. Die aufgeklärten Rationalisten wollen mit ihrem hochmütigen Griff nach der absoluten Erkenntnis von Gut und Böse vom Geschlechtlichen und anderen Formen wesentlicher Differenzierung absehen. Darüber wollen und können sie nichts Deutliches sagen, während es doch gerade hier um wesentliche Merkmale Gottes oder der Schöpfung geht. Der wichtigste Abschnitt der Schürze steht am Ende: "Die Erkenntnis des Guten und Bösen und der zureichende Grund eines auf diesen Widerspruch beruhenden Systems ist das älteste und höchste Problem der Vernunft, der wir so viel Abstractiones ad placitum67 als Wörter auf der Welt zu verdanken haben; unterdeßen der Grundbegriff des Guten und Bösen so identisch und transcendent als der natürliche Unterscheid der Geschlechter ein verum signaculum Creatoris6* ist. Weil aber alles, was durch den natürlich-gemeinen Menschensinn und für selbigen irgend hervorgebracht worden und es je werden kann, das Ebenbild der sichtbaren Schöpfung und des Werkzeuges ihrer Offenbarung und Oekonomie an sich trägt, auch gar kein ander Muster noch Character des Gepräges statt finden kann: so ist es mehr ein physisches Bedürfnis als ästhetische Nachahmung oder philosophische Erfindung, wenn der Begriff des Geschlechtes bis auf die Bilder unserer Begriffe übertragen und denselben gröstentheils ad placitum nach der Analogie aller Abstractionen einverleibt worden. Hier also liegt vielleicht der Schlüßel69 zum Brunnen eleusinischer und gnostischer Geheimniße für diejenigen, welche als Inquisitoren des ewigen Proceßes gegen das der Hexerey beschuldigte alte Mütterlein Natur, an keine andre Geisterwelt als ihre lucianische glauben"70 (HH 5, 283 f.).

63

"Wird durch die Bemühungen kaltblütiger Philosophen und lucianischer Geister für und wieder das, was man schöne Wörter und bekannte örter nennt, Mehr oder Weniger gestiftet?" (HH 5,280). Hamann spielt hier auf das pikante Gedicht von J.C. Rost an: "Er griff, wohinn? die schönen örter Verlöhren ihren Werth durch die bekannten Wörter." Zitiert in HH 5. 335 Fußnote 3. Vgl. Fußnote 19 zu § 4.9.2: Die hermeneutische Bedeutung. 66 Vgl. ZH IV 143:28-: "Auffallend ist es doch immer daß unsere erste Erkenntnis des Guten u Bösen sich auf die Pudenda bezog". 67 Vgl. Bacon, The Works, Novum Organum, Bd. I, 218. " Vgl. Bacon, ibidem. 69 Vgl. Ν II 207:15-, ZH IV 143:32-. 70 In diesem Zitat sind einige Wendungen aus Wielands 'Nachricht' aufgegriffen.

374

Kapitel 8 Sexualität und Bild Gottes

Hamann bezeichnet die 'Erkenntnis von Gut und Böse' als das höchste Problem der rationalistischen und abstrahierenden Vernunft. Dabei denkt er sicher an die verschiedenen Entwürfe einer Theodizee, von denen Leibniz' Entwurf der bekannteste ist71. Nun leugnet Hamann zwar nicht, daß es einen Unterschied zwischen Gut und Böse gibt, wohl aber daß wir auf rationalistische Weise von der konkreten Wirklichkeit, in der Gut und Böse so miteinander verflochten sind, absehen und das Verhältnis beider in ein vernünftiges System bringen können. In der 'Antwort' hatte der 'Ungenannte' bereits behauptet, daß eine solche Analyse über unseren Verstand hinausgehe72. Hamann denkt dabei zunächst an die Art, wie Gott das Böse in seine Vorsehung, in die Heilsgeschichte, die eine 'coincidentia oppositorum' des Göttlichen und Menschlichen und des Guten und Bösen ist, aufzunehmen weiß73. Von dieser Heilsgeschichte sehen die 'Weltweisen' ab, die einen übergeschichtlichen Standpunkt einnehmen, um von da aus die Beziehungen zwischen Gott, Welt, Mensch, Gut und Böse zu klären. Diese Loslösung aus dem heilsgeschichtlichen Zusammenhang der Offenbarung zugunsten eines höheren Standpunkts ist gerade das Wesen des Sündenfalls74: man will sein 'wie Gott', von diesem 'Wie-Gott-sein' aus die Wirklichkeit in Augenschein nehmen und so 'Erkenntnis von Gut und Böse' erhalten. Diese Erkenntnis besteht jedoch aus nichts anderem als 'abstractiones ad placitum'. Diese von Bacon übernommenen Begriffe benutzt Hamann auch in der Aesthetica in nuce75, wo er auf die beiden Folgen der rationalistischen Abstraktion hinweist: die Loslösung aus dem Horizont der Offenbarung Gottes in Schöpfung und Geschichte, und die Unterdrückung von Sinnen und Leidenschaften76.

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Vgl. zu Hamanns Auffassung von der Theodizee und 'der Erkenntnis von Gut und Böse': Ν I 304:24-, Ν II 189:15-, 198:15-, 244:12-, 333:36-, 358:2-, Ν III 22:17-, 38:8, 242:8-, ZH I 243:18-, ZH II 21:8-, 215:16-, ZH VII 486:14- und § 3.4.3. 'Eines Ungenannten Antwort', 111: "Gut und böse - wie wunderbar und weit, und auf welchen Höhen und Tiefen laufen die Linien in- aus- und durcheinander! Wer will's sondern und fixiren!" Vgl. HH 5, 283: "identisch". Vgl. Zweifel und Einfülle über eine vermischte Nachricht, Ν III 190:16-: "Da der Glaube zu den natürlichen Bedingungen unserer Erkenntniskräfte und zu den Grundtrieben unserer Seele gehört; jeder allgemeine Satz auf guten Glauben beruht, und alle Abstractionen willkährlich sind und seyn müßen: so berauben sich die berühmtesten Speculanten unserer Zeit über die Religion selbst ihrer Vordersätze und Mittelbegriffe, die zur Erzeugung vernünftiger Schlußfolgen unentbehrlich sind, schämen sich ihrer eigenen Werkzeuge oder machen ein Geheimnis daraus, wo kein Geheimnis statt finden kann und decken die natürliche Schande ihrer Lieblingssünde wie Adam (Hiob XXXI. 33.). Vgl. Ν II 207:35. Vgl. Ν II 206:1-, 207:10-.

8.3 'Schürze von Feigenblättern' über die 'pudenda'

375

Aus demselben Baconzitat greift Hamann die Worte 'verum signaculum Creatoris' auf77. Der Unterschied der Geschlechter, den rationalistische Denker leugnen wollen, ist nach Hamann ein wahres Zeichen und Merkmal des Schöpfers, das er im Geschöpf 'ausgedrückt' hat. Das Geschlechtliche ist als 'vestigium' des Schöpfers selbst so sehr das Gepräge der Wirklichkeit, daß es in unsere Sprache eingedrungen ist, durch unseren Gebrauch häufig willkürlich ('ad placitum'), aber doch so, daß wir uns davon nicht lösen können. Diese menschliche Gewohnheit, den Stempel der Geschlechtlichkeit überall anzubringen, ist keine philosophische Erfindung oder künstlerische Nachahmung, sondern eher ein 'physisches Bedürfnis', so sehr ist es in unserer Geschöpflichkeit verankert. In den Eleusinischen Mysterien stand die Sexualität im Mittelpunkt, aber Starck, Meiners und andere bestreiten dies und halten sie für antike Vorläufer ihres deistischen Aufklärungsglaubens. Indem sie vom Sexuellen absehen, machen sie daraus gnostische Geheimnisse. Nach Hamanns Ansicht ist jedoch der Schlüssel zur Interpretation der antiken Mysterien und ihrer rationalistischen Auslegungen die Erkenntnis, daß die Geschlechtlichkeit ein 'signaculum Creatoris' ist. Versteht man dies nicht, drohen zwei Entgleisungen: entweder wird die Sexualität verabsolutiert, oder sie wird rationalistisch oder gnostisch verkannt und unterdrückt78. Hamann wendet sich hier gegen letztere Gruppe und nennt die Rationalisten "Inquisitoren", die "das alte Mütterlein Natur" der Hexerei bezichtigen. Sie glauben lediglich an die Geisterweit ihrer eigenen Abstraktionen. Soweit der erste Teil der Schürze. Die andern beiden Teile sind nie zustande gekommen. Aus dem Briefwechsel wissen wir allerdings, daß der zweite Teil, 'Charfreytagsbuß für Capuciner', die Dreieinigkeit behandeln sollte, die als 'pudenda' des Christentums die Grundlage des Predigtamts ist. Hier wollte Hamann sich also gegen die Bestrebungen wenden, die ärgerniserregende Trinität aus der Glaubenslehre wegzuschneiden (zu 'beschneiden').

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Bacon, Novum Organum, The Works, Bd. I, 218: "vera signacula Creatoris super creaturas". Vgl. auch Aesthetica in nuce, Ν II 207:36. ™ Vgl. Aesthetica in nuce, Ν II 207:10-.

376

Kapitel 8 Sexualität und Bild Gottes

8.4 'Das stellenlose Blatt'; die Geschlechtlichkeit zwischen Gott und Mensch Es gibt Hinweise darauf, daß Hamann den ursprünglichen Entwurf der 'Charfreytagsbuß', den geplanten zweiten Teil der Schürze, nach dem Lesen der Betrachtungen über das Universum (1777) von Carl Theodor von Dalberg aufgegeben hat. Dort stellt von Dalberg die Frage, durch welches 'Band* oder welchen 'Knoten' Schöpfer und Schöpfung miteinander verbunden seien. Die Antwort findet von Dalberg in der Verbindung von naturwissenschaftlichen Prinzipien wie Affinität, Attraktion und dem theologischen Prinzip der Liebe79. Gedanken, die Hamann hierzu entwickelt, sind abgesehen von dem Briefwechsel auch in einem losen Textfragment zu finden, von dem nicht sicher ist, zu welchem Titel es gehört, und das deshalb von Nadler die Bezeichnung 'Das stellenlose Blatt' erhielt80. Jedenfalls ist das 'stellenlose Blatt' inhaltlich so verwandt mit den Schürzen, daß eine Besprechung an dieser Stelle sinnvoll ist81. Aus einigen auffalligen Fragmenten im Briefwechsel geht hervor, daß Hamann anläßlich von Dalbergs Buch die Beziehung zwischen der Dreieinigkeit als den göttlichen 'pudenda' und der menschlichen Geschlechtlichkeit als deren Abspiegelung sehr weit durchführt. So schreibt er: "Vielleicht läst sich sein Problem ohne Chymie sinnlicher durch die Pudenda der göttl. u. menschl. Natur als den Mittelpunct ihrer Vereinigung auflösen." (ZH IV 113:9-). In einem späteren Brief heißt es: "Nun fallen mir die Pudenda als das einzige Band zwischen Schöpfung u Schöpfer ein." (ZH IV 139:18-). Zur Frage, wie Hamann sich dieses Band zwischen den göttlichen und menschlichen 'pudenda' vorstellt, erfahren wir etwas mehr in den ersten Abschnitten des 'stellenlosen Blattes'. Hamann vertritt dort den Standpunkt, daß leidenschaftliche geschlechtliche Liebe die Triebfeder alles menschlichen Schöp-

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Seils, HH 5,355: "Diesen 'Knoten' sucht Dalberg auf Grund halb naturwissenschaftlicher, halb theologischer Spekulationen zu finden, in denen er vom chemischen Prinzip der Affinität über das physische Prinzip der Attraktion auf das allgemeine Prinzip der 'Ähnlichwerdung' und von dort auf das theologische der 'Liebe' schließt." Dalberg, C.Th. von, Betrachtungen über das Universum (17771), Mannheim 17781, 111: "Ähnlichwerdung, Liebe ist das Band, das alle Wesen in der Schöpfung in ein Ganzes bindet Und eben auch Liebe, Ähnlichkeit, Ähnlichwerdung heben das Geschöpf zum Schöpfer empor, binden das Universum in ein Ganzes zusammen." op.cit., S ('Anzeige'): "Aber ο meine Schrift! wenn du das Glück hast einem Lambert, Mendelssohn [u.a.] dem miskannten Hamann, und andern solchen Männern, in die Hände zu fallen?" M Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder ist es ein Ansatz für 'Charfreytagsbuß', oder ein Fragment dessen, was als Panurgischer Versuch geplant war. " Wir zitieren den von Seils rekonstruierten Text in HH 5, 363-364.

8.4 'Das stellenlose Blatt*

377

fungsdrangs sei. Als ironisches Beispiel nennt er den Trojanischen Krieg, der aus Leidenschaft zu einer Frau entstanden sei und im Epos Homers, dem berühmtesten Werk der zur Zeit so vergötterten griechischen Kultur, beschrieben werde82. Dann folgt der Abschnitt, der laut Seils Hamanns wichtigste Aussage über das Geschlechtliche ist83: "Die Heimlichkeiten unserer Natur, in denen aller Geschmack und Genuß des Schönen, Wahren und Guten gegründet ist, beziehen sich, gleich jenem Baum Gottes mitten im Garten auf Erkenntnis und Leber?*. Beyde sind Ursachen so wol als Wirkungen der Liebe. Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herren*5; denn Gott ist die Liebe und das Leben ist das Licht der Menschen*6. Diese drey sind Eins und Zeugen am Himmel und auf Erden'7." (HH 5, 363). Im Zusammenhang mit den vorigen Paragraphen können wir zu folgender Interpretation kommen. Nach Hamann hat das schöpferische Vermögen des Menschen im Bereich der Fortpflanzung, Wissenschaft und Kultur seinen energetischen Ursprung in der geschlechtlichen Liebe 88 . Die Liebe bezieht sich auf Erkenntnis und Leben, was durch den Baum im Paradies symbolisiert wird. Erkenntnis und Leben sind darum im teleologischen Sinn sowohl Ursache als auch Folge der Liebe. Die geschlechtliche Liebe geht auf den Schöpfer zurück, dessen Liebe 'feurig ist und eine Flamme des Herrn', wie es im Hohenlied heißt. Er ist der schöpferische Ursprung des Lebens, der Liebe und des Lichts, von dem wir unser schöpferisches Vermögen über 82

HH 5, 363: "Cunnus teterrima belli causa - Hier lag der Funke zum Zorn des Achills und der Embryon der ganzen poetischen Welt und der ältesten claßischen Gelehrsamkeit, deren Chaos für die Andacht unsers erleuchteten und gesitteten Jahrhunderts erbaulicher ist als die morgenländischen Ruinen, kanaanitische und hellenistische Laren und Trümmer in den Urkunden des Judentums und Christentums." "Cunnus ...": Horatius, Serm. 1,3, 107-: "Denn längst vor Helena war Kriegsgrund oft die schnöde Lust am Weibe" (Übersetzung Seils HH 5, 365). 13 HH 5, 366: " die wichtigste Aussage zu seinem Verständnis vom 'Geschlecht' überhaupt". 84 Hamann geht von einem einzigen Baum aus. 85 Vgl. Das Hohelied 8:6: "Denn Liebe ist stark, wie der Tod; und ihr Eifer ist fest, wie die Hölle. Ihre Gluth ist feurig, und eine Flamme des Herrn." M Vgl. 1. Joh. 4:8, 16; Joh. 1:4. " Eine fragwürdige Anwendung von 1. Joh. 5:7-8: "Denn drei sind, die da zeugen im Himmel: der Vater, das Wort, und der heilige Geist; und diese drei sind Eins. Und drei sind, die da zeugen auf Erden: der Geist, und das Wasser, und das Blut; und die drei sind beisammen." u ZH II 415:22-: "Und meine grobe Einbildungskraft ist niemals im Stande gewesen, sich einen schöpferischen Geist ohne genitalia vorzustellen." ZH V 167:16-: "Doch die Pudenda unserer Natur hängen mit den Cammem des Herzens und des Gehirns so genau zusammen; daß eine zu strenge Abstraction eines so natürlichen Bandes unmöglich ist."

378

Kapitel 8 Sexualität und Bild Gottes

den Weg der Sexualität herleiten. So gesehen ist die Geschlechtlichkeit tatsächlich der Mittelpunkt der Vereinigung Gottes mit dem Menschen, wie das oben zitierte Brieffragment besagt. Gehen wir zum Schluß noch auf ein anderes Thema aus dem 'stellenlosen Blatt' ein. Im Zusammenhang mit einem Angriff gegen libertinistische und mechanistische Auffassungen der Sexualität unterscheidet Hamann zwei Arten von Schamlosigkeit89: Die paradiesische Unschuld ist eine 'Naivität', die noch keine Erkenntnis des Unterschiedes zwischen Gut und Böse hat, denn das Böse ist noch keine Wirklichkeit, die Gestalt gewonnen hat. Durch den Sündenfall wird das Böse Wirklichkeit und offenbart sich der Unterschied zwischen Gut und Böse. Dann entsteht auch das Schamgefühl, das sich zunächst als Scham vor der eigenen Geschlechtlichkeit äußert. Der Mensch kann allerdings den Weg des Bösen so weit gehen, daß er an einen Punkt 'jenseits der Scham' gelangt. Er lebt dann in einer zweiten Schamlosigkeit, die sich nicht mehr durch die störende und urteilende Gegenwart des Guten gehindert weiß. Die paradiesische Unschuld 'diesseits von Gut und Böse' hat sich dann in ein schamloses 'Jenseits von Gut und Böse' verwandelt. Diese Schamlosigkeit äußert sich in einer sexuellen Zügellosigkeit, die vielleicht vorgibt, die ursprüngliche Unschuld wiedergefunden zu haben, aber in Wirklichkeit ihr perverses Gegenteil ist90. Die Schande und Scham, die der Mensch selbst verursacht hat, kann er nicht eigenmächtig mit selbstgemachten Schürzen verhüllen, und sicher können sie nicht durch eine Flucht in perverse Schamlosigkeit überwunden werden. Für "Pudenda die nach ihrer Auflösung und Verklärung schmachten" {HH 5, 275), ist die einzige Zukunft diejenige, von Gott "überkleidet zu werden, damit wir nicht bloß erfunden werden" (Ν II 362:23-)91. Es bedarf keines Hinweises mehr, daß die Fragen am Schluß von § 8.2 inzwischen noch brennender geworden sind. Es wird nicht deutlich genug, wie Hamann die geistige und transzendierende Ausrichtung des Menschen auf Gott mit der Sexualität als Band zwischen Schöpfer und Geschöpf zu verbinden vermag. Jedenfalls muß jegliche Interpretation sich hüten,

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"Unschuld kennt keinen Unterscheid des Guten und Bösen, weiß daher auch von keiner Schande oder Schaam. Schuld, die weder einen Zeugen noch Rächer scheut, grämt u schämt sich nicht; sondern versteigt sich zur Ee [Ehe] mit einer Hei da Gott in wohnet." (HH 5, 363). Lesung und Deutung des letzten Satzteils sind unsicher; vgl. HH 5, 370 Fußnoten 33 und 35. Hier hat Hamann vor allem das Verhalten Friedrichs des Großen und seines Kreises vor Augen. Vgl. HH 5, 369 Fußnote 25. Vgl. 2. Kor. 5:2-. Seils, HH 5,371: "Unschuld der Liebe und damit auch Reinheit der geschlechtlichen Liebesbeziehung wird dem Menschen nur dort geschenkt, wo Gott selbst ihn durch Christus der Liebe öffnet."

8.4 'Das stellenlose Blatt'

379

Hamanns Theologie allzusehr aufgrund unvollendeter Schriften und Fragmente, wie die Schürze und das 'stellenlose Blatt', zu deuten. Beide Texte sind ein Denkversuch, den Hamann später nicht weiter entfaltet hat. Es handelt sich dabei um eine Radikalisierung von Grundmotiven, die bereits von Anfang an in Hamanns Werk vorhanden sind. Vor allem der Zusammenhang, den Genesis 3 zwischen dem eigenmächtigen Streben nach Erkenntnis von Gut und Böse und der darauffolgenden Scham vor der eigenen Geschlechtlichkeit herstellt, hat Hamann immer wieder beschäftigt. Wir haben bereits in seinem Briefwechsel mit Herder über die Beverlandhypothese gesehen, wie Hamann diesen Zusammenhang zu verstehen sucht92. Eine Interpretation der tastenden Gedanken Hamanns hierzu muß den ganzen Kontext seiner Theologie in anderen Schriften, auch aus der Zeit nach den Schürzen und dem 'stellenlosen Blatt'93, mit berücksichtigen. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die folgenden beiden Grundlinien wichtig: Erstens sieht Hamann den Menschen als eine dynamische Einheit von Leib und Seele. Deshalb darf kein menschliches Vermögen, also auch nicht die Sexualität, rein triebhaft oder physiologisch definiert werden94. Zweitens: Auch wenn Hamann in dem stellenlosen Blatt den Gedanken zu äußern wagt, die Sexualität sei der Durchgangspunkt der Schöpfungsenergie Gottes, bedeutet das nicht, daß er zu einer mystisch-sexuellen Vereinigung von Schöpfer und Geschöpf neigt; denn Gott ist Geist, ein feuriger Geist, aber nicht leiblicher Art. Außerdem verliert Hamann nie 'das unendliche Mißverhältnis'95 zwischen Gott und Mensch aus dem Auge. Da, wo Gott und Mensch sich christologisch und pneumatologisch begegnen, ist das eine 'coi'ncidentia oppositorum', eine 'communicatio idiomatum', eine "koinoonia ohne Transsubstantiation"96.

85 Zusammenfassung Das Grundstreben der Aufklärung ist die Befreiung der menschlichen Natur durch autonome Selbstbestimmung. Hamann bekämpft diesen Drang nach 92 93 94 95 96

Vgl. § 5.2.3. Vgl. zum Beispiel die in § 6.3.5 erörterte Stelle aus Zweifel und Einfalle über eine vermischte Nachricht (1776). Vgl. u.a. 'Das stellenlose Blatt', HH 5, 363, 3. Absatz. Vgl. § 6.4.4: 4. Juden und Griechen und das unendliche Mißverhältnis zwischen Gott und Mensch. ZW IV 254:32. So beschreibt Hamann die Verbindung des Göttlichen und Menschlichen in der Schrift.

380

Kapitel 8 Sexualität und Bild Gottes

Autonomie aufgrund der Auffassung, daß wirkliche Freiheit und Humanität nur durch heteronome Unterordnung der Natur unter Gottes Gnade und Offenbarung zustande kommen. Die von der Aufklärung erstrebte Autonomie führt seines Erachtens zu neuen Formen der Tyrannei, wodurch der Mensch wiederum nicht er selbst sein darf und kann. Das bedeutet unter anderem eine neue Form der Unterdrückung der sinnlichen und sexuellen Bedürfnisse; oder gerade ein zügelloses Sich-ausleben der Bedürfnisse, was ebenfalls eine Entwertung ihrer hohen menschlichen Bedeutung ist. Für Hamann ist diese Bedeutung nur gesichert, wenn die natürlichen Fähigkeiten der Erotik, Sexualität und Fortpflanzung analogisch in den Zusammenhang der Gnade aufgenommen werden. Dies ist nur möglich, wenn man sie schöpfungstheologisch als wesentliche Aspekte des Menschen als Bild Gottes bestimmt. In diesem Sinne sind Hamanns Versuche zu verstehen, Analogien zwischen Gottes schöpferischer Liebe einerseits und der menschlichen Liebe und Erotik, Sexualität und Fortpflanzung anderseits zu entdecken. Obwohl sich wichtige Fragen zu Hamanns konkreter Entfaltung dieser Gedanken stellen ließen, sollte jeder, der von einem augustinischen Menschenverständnis ausgehen will, aber der Sexualität und Erotik mehr Platz einräumen möchte, als dies bei den Kirchenvätern der Fall ist, seinen Versuch ernstnehmen. Hamanns Frage an uns lautet, ob eine analogische oder teleologische Beziehung zwischen dem menschlichen 'erös' und der uns von Christus geschenkten 'agapö' bestehe, mit allen anderen Gefühlsebenen dazwischen, und wenn dies der Fall ist, welche?97

97

Zu einer derartigen Teleologie gelangt de Knijff in Venus aan de leiband, 274-303. Er gibt dort (op.cit., 300 f.) eine 'Phänomenologie des Koitus', die seines Erachtens zeigt, daß im Akt des Koitus die drei Aspekte von 'erös', 'philia' und 'agapfc' enthalten und beabsichtigt sind. Von Hamann aus stellt sich dann noch die Frage, ob diese Teleologie umgekehrt auch gilt, und wenn ja, ob dies auch für Gott gilt

Kapitel 9 Die Natur im Zeichen der Gnade Die aktuelle Bedeutung der Theologie Hamanns 9.1 Einleitung In den vorhergehenden Kapiteln haben wir einen langen Weg durch die Schriften Hamanns zurückgelegt. Es war kein leichter Weg. Hamann tarnt seine Absichten durch seinen kryptischen Centostil so sehr - mehr als seine eigene Hermeneutik es erfordert daß wir immer wieder ausführliche Detailanalysen vornehmen mußten, um den verborgenen Gedankengängen auf die Spur zu kommen. Umso überraschender war es, allmählich feststellen zu können, welch großen Zusammenhang Hamanns Denken in allen Schriften seit seiner Bekehrung aufweist. Zunächst weckt sein Werk den Eindruck einer Sammlung 'fliegender Blätter' in aphoristischem Stil, voller kurzer, oft bizarrer Gedankenblitze, deren Rätselhaftigkeit den Leser ebenso sehr faszinieren wie ärgern kann. Sein Werk scheint eine Sammlung "kleine[r] Inseln" zu sein, "zu deren Gemeinschaft Brücken und Fähren der Methode fehlten"1, wie Hamann selbst den Stil des Sokrates einmal bezeichnete. Auf die Gefahr hin, manchmal 'den Boden unter den Füßen zu verlieren', haben wir in den vorigen Kapiteln die unterirdischen Verbindungen zwischen all den inselhaften Hamannschen Gedanken gesucht, und die Bemühungen waren nicht vergeblich. Wir haben eine faszinierende und zusammenhängende Theologie ans Licht bringen können, eine neue Darstellung klassischchristlicher Standpunkte, die sich als eine immer noch ernstzunehmende Alternative für das Aufklärungsdenken anbietet. Der geistige Umbruch der Aufklärung, in dem sich Tendenzen, die bereits viel früher wirksam waren, endgültig durchgesetzt haben, ist nach zwei Jahrhunderten noch eine höchst aktuelle Angelegenheit. Das moderne westliche Selbstbewußtsein, gekennzeichnet durch ein Streben nach Mündigkeit und Säkularisation, kann sich nur auf dem Hintergrund der 'crise de la conscience europdenne' (P. Hazard) verstehen, die in der Aufklärungszeit zutage tritt. Daß diese Krise und die Fragen, die sie aufwirft, kaum an Aktualität eingebüßt haben, ist insbesondere im Bereich der Kirche und Theologie spürbar. Wenn überhaupt irgendwo, so muß man sich dort der

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Sokratische Denkwürdigkeiten,

Ν

II 61:30-.

382

Kapitel 9 Die aktuelle Bedeutung der Theologie Hamanns

Frage stellen, wie Jahrhunderte christlichen Erbes durch die Krise des europäischen Geistes hindurch bewältigt werden können. Vielleicht wird auch nirgends die Last dieser Aufgabe stärker empfunden als dort. In diesem letzten Kapitel soll deutlich gemacht werden, daß Hamanns Antwort auf die Krise in vielerlei Hinsicht nicht weniger aktuell ist als die Krise selbst. Seine Reaktion auf das Wegfallen der Gnade als Sinnzusammenhang der natürlichen Wirklichkeit und die Art, wie er diese Reaktion hermeneutisch entfaltet, können unseres Erachtens ein fruchtbarer Ausgangspunkt für die Suche nach Auswegen aus den Sackgassen sein, vor denen die christliche Theologie bereits seit der Aufklärung steht. Wenn wir in diesem Kapitel versuchen, mit dem Gespräch zwischen Hamann und der gegenwärtigen Theologie einen Anfang zu machen, geht es nicht um die Begegnung mit einem einzigartigen und isolierten Denker, sondern um Hamann als originellen Vermittler klassisch-christlicher Standpunkte, 'Transformator' eines theologischen Erbes, das trotz der Aufklärung und aller dadurch ausgelösten Entwicklungen nicht als eine leblose Antiquität in Vergessenheit geraten darf. Die Originalität der Gedanken Hamanns schöpft ihre Kraft aus Erkenntnissen, die so alt wie die christliche Theologie sind. Es besteht eigentlich mehr Anlaß, sich zu verwundern, daß Hamann mit seiner mangelhaften Kenntnis der patristischen und mittelalterlichen Theologie so kurz nach seiner Bekehrung und dank dieser Bekehrung die Grundpositionen der 'katholischen' Theologie zutage zu fördern wußte, als über seine eigene Artikulation dieser Standpunkte. Wir beginnen deshalb im nächsten Paragraphen mit einer kurzen theologiegeschichtlichen Einordnung anhand der wichtigsten Elemente im Denken Hamanns. In den folgenden Paragraphen werden diese Elemente nochmals systematisch dargelegt und extrapolierend mit aktuellen theologischen Fragen in Zusammenhang gebracht.

9.2 Hamann als 'katholischer' Theologe Um Hamanns Auffassungen über Natur und Gnade in die Geschichte der Theologie einordnen zu können, müssen wir auf § 1.2.2 zurückgreifen, wo die Entwicklung des Denkens über Natur und Gnade von der Patristik bis zur Aufklärung kurz umrissen wurde. Am Schluß des dritten Kapitels haben wir bereits festgestellt, daß Hamanns Naturverständnis und Hermeneutik in den Londoner Schriften in wesentlichen Punkten der patristischen und mittelalter-

9.2 Hamann als 'katholischer' Theologe

383

liehen Theologie entsprechen2. Die Beschäftigung mit seinen übrigen Werken hat gezeigt, daß Hamann seine Auffassung von Natur und Gnade seitdem nicht mehr grundsätzlich geändert hat. Alle späteren theologischen Entwicklungen vollziehen sich aufgrund eines Natur-Gnade Modells, das bereits in den Londoner Schriften vorhanden ist und das im Wesentlichen nicht vom Grundmuster der patristischen und mittelalterlichen Theologie abweicht, ohne daß Hamann sich dessen so bewußt ist. Zur näheren Erläuterung dieser Einordnung der Theologie Hamanns soll die klassisch-chrisdiche Auffassung von Natur und Gnade nochmals kurz beschrieben werden. Anthropologisch zugespitzt geht sie davon aus, daß der Mensch, nach dem Bilde Gottes geschaffen, eine natürliche Sehnsucht nach Gott besitzt. Dieses 'desiderium naturale' ist für die menschliche Natur essentiell und kann durch die Sünde nicht zerstört werden. Die Erfüllung dieser Gottessehnsucht jedoch ist nicht essentiell, sondern akzidentiell. Akzidentiell bedeutet hier nicht 'nebensächlich' im Sinne von 'unwichtig', sondern hat die logisch-ontologische Bedeutung von 'nicht-essentiell'. Die Erfüllung des menschlichen Verlangens nach Gott ist eine akzidentielle Eigenschaft der menschlichen Natur, weil sie nur menschliche Wirklichkeit werden kann, wenn der Mensch sie in freier Dankbarkeit annimmt. Der Begriff des 'desiderium naturale' bedeutet also keinesfalls, daß der kontingente Charakter der Gnade beeinträchtigt und der Ernst der Sünde geleugnet wird. Sünde bedeutet Widerstand gegen Gottes Gnade, wodurch das 'desiderium naturale' zwar nicht verlorengeht, der Mensch aber durch Loslösung aus dem Zusammenhang der Gnade Gottes in eine elende und hilflose Lage gerät, in der seine transzendierende Abhängigkeit von Gott in einer radikalen Bedürftigkeit zum Ausdruck kommt. Bei einer Reihe von patristischen und mittelalterlichen Theologen spitzt sich dieses Verständnis von Natur und Gnade in der supralapsarisehen Auffassung zu, daß die Schöpfung durch Gott auf das Heil in Christus angelegt sei. Die Schöpfung kennt bereits als Schöpfung eine natürliche Sehnsucht nach der Erfüllung in Christus, eine Sehnsucht, die durch Gottes Fleischwerdung und pneumatologische Vollendung frei und gnädig erfüllt wird3. Innerhalb dieser supralapsarischen Struktur kommt die Sünde in aller Schärfe als Auflehnung gegen den kommenden und gekommenen Christus an den Tag. Daß der Kern der Theologie Hamanns sich mit der supralapsarischen Variante des klassisch-christlichen Verständnisses von Natur und Gnade 2 3

Vgl. § 3.6.1. Figura, op.cit, 239: "Tatsächlich manifestiert sich die Ungeschuldetheit der göttlichen Selbstmitteilung an die menschliche Freiheit in der Geschichte durch die Kontirtgenz der Erscheinung Christi und des Glaubens der Christen."

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Kapitel 9 Die aktuelle Bedeutung der Theologie Hamanns

deckt, ergibt sich in den Schriften nach der Londoner Zeit am deutlichsten aus den Abschnitten von Golgatha und Scheblimini und Zweifel und Einfülle, die in § 6.3.5 erörtert wurden. In Zweifel und Einfalle spricht Hamann über "die Grundlehren des Christenthums von der Verklärung der Menschheit in der Gottheit und der Gottheit in der Menschheit durch die Vaterschaft und Sohnschaft" (Ν ΙΠ 192:29-). Der Mensch ist als Geschöpf auf Vergöttlichung, Teilhabe an der göttlichen Natur, angelegt. Diese Vergöttlichung bedeutet kein monistisches Einswerden, wobei die Grenzen zwischen Schöpfer und Geschöpf verschwimmen, sondern eine pneumatologische Einheit in der Bezogenheit der göttlichen Person und der menschlichen Person aufeinander. Verwirklichung dieser eschatologischen Bestimmung ist nur durch die kondeszendierende Menschwerdung Gottes, seine Fleischwerdung, möglich, und nicht umgekehrt, als könnte der Mensch selbst sich aus autonomen Kräften diese Vergöttlichung aneignen. Dieses Streben ist gerade das Wesen dessen, was wir 'Sünde' nennen. In Zweifel und Einfälle formuliert Hamann treffend und knapp, daß die Korrelation von Anthropomorphose und Apotheose zu einer Ausrichtung und Erfüllung aller Munerschöpfliche[n] Begierden, unendliche[n] Bedürfniße und Leidenschaften unserer Natur" (Ν m 192:8-) führt, vorausgesetzt daß sie durch Gott selbst und seine anthropomorphe Offenbarung vollzogen wird. Dieses Geheimnis der Apotheose durch Anthropomorphose ist das verborgene Motiv aller Religionen in all ihrem guten und verkehrten Streben nach dem göttlichen Glück. Die supralapsarische Beziehung von Natur und Gnade entfaltet Hamann insbesondere hermeneutisch, wobei die sprachliche Dialektik von Buchstabe und Geist eine Schlüsselstellung einnimmt. Die Schöpfung ist eine empirische Wirklichkeit (der 'Buchstabe'), deren Bedeutung (der 'Geist') ihren Ursprung im schöpferischen Reden Gottes hat. Der Mensch ist ein einzigartiges Geschöpf in dem Sinne, daß er innerhalb des von Gott geschaffenen Zusammenhangs von Natur und Gnade auch selbst Ursprung der Sinngebung ist. Er besitzt das Vermögen der Sprache, aber der Ursprung der Sprache liegt bei Gott, wie Hamann Herder gegenüber behauptet. Die einzigartige Stellung des Menschen in der Schöpfung als sinnerhaltendes und sinngebendes Wesen kommt für Hamann in der dynamischen Einheit von Leib und Seele zum Ausdruck. Die Seele ist die Bedeutung des Leibes, sie ist von Gott geschaffen, aber zugleich freier Ursprung der Bedeutungsverleihung. Als Einheit des Leibes und der transzendierenden Seele ist der Mensch 'imago Dei', hat er eine Bildstruktur, die essentiell für seine Natur ist; auch der Sünder ist und bleibt Bild Gottes. Wenn der Mensch sündigt, sündigt er

9.2 Hamann als 'katholischer' Theologe

385

gegen die wesentliche Bestimmung seiner Natur, die 'mit Christus verborgen ist in Gott'4. In allen Schriften nach seiner Bekehrung setzt Hamann bei der sprachlichen Dialektik von Buchstabe und Geist an und versucht von da aus, die Augen seiner aufgeklärten Zeitgenossen für die hermeneutische Finalität der Natur in Bezug auf die Gnade zu öffnen. Die Aufklärung löst die Natur aus dem Sinnzusammenhang der Gnade und glaubt, daß Mensch und Wirklichkeit nur dann 'natürlich' werden, wenn sie sich nicht mehr auf das Licht der Gnade berufen. Hamann reagiert darauf mit dem Hinweis, daß Natur und Geschichte vollkommen nichtssagend, ein 'tötender Buchstabe' werden, wenn sie sich als säkularisierte Wirklichkeit vor dem Licht der Offenbarung abschirmen. Außerdem kann durch die autonome Vernunft und ihre ewigen Wahrheiten kein neuer Zusammenhang der Sinngebung geschaffen werden. Denn ewige Wahrheiten können der geschichtlichen Dynamik der kontingenten Wirklichkeit keinen Sinn verleihen. Hamanns supralapsarische Bestimmung von Natur und Gnade, die ihn zu einer sakramentalen Wirklichkeitsauffassung führt, impliziert keine verschleiernde Aufwertung der Natur, die sie schöner erscheinen läßt als sie im Grunde ist. Gerade im befreienden Licht der Offenbarung kommen nach Hamanns Ansicht die wahre Natürlichkeit unserer Natur und ihre Endlichkeit, Bedürftigkeit und verborgenen Tiefen ans Licht. Die von Gott geschenkte Gnade ist ein Schatz in irdenen Gefäßen, der den irdischen Charakter der Gestalt ausdrücklich offenbar macht. Die 'Erhöhung' durch die Gnade ist Frucht der Herablassung Gottes auf den 'Boden' der Wirklichkeit, an den Ort, wo sie 'keine Gestalt noch Schöne' hat. Die Knechtsgestalt der Offenbarung, deren Präfiguration die Kondeszendenz des Geistes Gottes in die irdische Gestalt der Schöpfung ist, erfordert unsere 'humilitas', bevor wir mit Christus 'als Könige herrschen werden'. Hamanns Hermeneutik steht in der von Auerbach erforschten Tradition des figuralen Realismus. Der Realismus dieser Tradition, die auf die Bibel zurückgeht, entsteht aus einer typologischen Beleuchtung des menschlichen Lebens, deren Brennpunkt im zentralen 'typos' Christi liegt, in dem Gott sich zur dunklen Schattenseite unserer Welt herabgelassen hat. Zusammenfassend können wir feststellen, daß Hamanns Verständnis von Natur und Gnade nicht nur stark der Theologie der Alten Kirche und der Kirche des Mittelalters entspricht, sondern daß er diese Theologie auch mittels der hermeneutischen Grundsätze der Typologese und der Dialektik von Buchstabe und Geist entfaltet, deren Wurzeln auch bereits in der patris-

4

Vgl. § 4.6.2.

386

Kapitel 9 Die aktuelle Bedeutung der Theologie Hamanns

tischen Theologie liegen. Seine Originalität besteht also nicht im Inhalt dieser Theologoumena, sondern darin, daß er sie in einer Zeit, in der man für die 'katholische' Theologie vor der Renaissance und Reformation kaum noch einen Blick hat, aufs neue formuliert und sie vor allem in seiner Auseinandersetzung mit der Aufklärung schöpferisch einzusetzen weiß. Gerade darin liegt die mögliche Bedeutung von Hamanns Werk für die gegenwärtige Theologie: Er versteht klassisch-christliche Auffassungen so zu aktualisieren, daß sie in den immer noch andauernden Diskussionen über die Aufklärung eine Rolle spielen können. Einen großartigen Versuch, die Aufklärung theologisch ernstzunehmen und sie theologisch zu überwinden, hat K. Barth unternommen. Obwohl sein Werk eine bedeutende Neuorientierung der Kirche und Theologie ausgelöst hat, haben grundlegende Probleme im Zusammenhang mit Natur und Gnade, Probleme, die seit dem sechzehnten Jahrhundert im Mittelpunkt des Gesprächs zwischen Rom und der Reformation gestanden haben, keine Lösung gefunden. Motiv der vorliegenden Studie war unter anderem die Erwartung, daß Hamanns Denken als Aktualisierung häufig in Vergessenheit geratener theologischer Grundpositionen einen bescheidenen Beitrag zur Entdeckung neuer Wege liefern könnte; Wege, die zu einer neuen 'katholischen' Theologie, ohne fruchtlose überholte Kontroversen führen könnten. Um es nicht bei diesen hoffnungsvollen Worten bewenden zu lassen, kommen wir in den folgenden Paragraphen auf die Hauptthemen der Theologie Hamanns zurück und stellen sie systematisch in den Zusammenhang gegenwärtiger Diskussionen in Theologie und Philosophie.

9.3 Das Motiv der Inkarnation

9.3.1 Die supralapsarische Christologie in historischer Perspektive Wenn Calvin im Kapitel XII des zweiten Buches der Institutio auf die Frage eingeht, warum Christus Mittler werden mußte, verwendet er den größten Teil dieses Kapitels auf die Bekämpfung der Auffassung Oslanders, daß Christus auch Mensch geworden wäre, wenn der Sündenfall nicht stattgefunden hätte. Calvin findet dies einen verwerflichen Gedanken, der der törichten Neugier deijenigen entspringt, die sich nicht in die Grenzen von Gottes ewigem Ratschluß schicken wollen, wonach es die Bestimmung

9.3 Das Motiv der Inkarnation

387

Christi ist, verlorene Menschen zu retten3. Sein wichtigster Einwand lautet also, daß die Vertreter dieser Auffassung von der Heilsgeschichte, wie sie in Gottes ewigem Ratschluß beschlossen liegt und sich konkret vollzogen hat, absehen; sie spekulieren über eine Wenn-Situation: wenn die Sünde nicht gewesen wäre6. Calvin hat mit seiner Auffassung, der Sündenfall allein sei das notwendige Motiv für die Inkarnation, viele Theologen aus der protestantischen und katholischen Tradition vor und nach ihm auf seiner Seite7. Daneben besteht jedoch seit der Patristik eine Tradition, derzufolge die Sünde nicht die Conditio sine qua non der Inkarnation ist. Elemente dieses Gedankens finden wir bei verschiedenen Theologen der Alten Kirche, sofern sie der Inkarnation neben der soteriologischen auch eine ontologische, anthropologische oder kosmische Bedeutung beimessen8. Expressis verbis ist der Gedanke u.a. bei Rupert von Deutz, Alexander von Haies, Robert Grosseteste, Albert dem

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Calvin, J., Unterricht in der christlichen Religion, Institutio religionis christianae, nach der letzten Ausgabe übersetzt und bearbeitet von Otto Weber, Neukirchen 1936, Bd. I, Buch II, Kap. XII, § 5: " so will ich nur darauf hinweisen: wer über Christus mehr zu fragen sich erlaubt oder mehr wissen will, als Gott in seinem Ratschluß festgesetzt hat, der macht sich in gottloser Vermessenheit einen neuen Christus!" Siehe aber auch Institutio, Übers. K. Müller, Verl. Neukirchen, Buch II, Kap. XII, § 1: "Selbst wenn der Mensch von aller Sünde freigeblieben wäre, so war doch sein Stand viel zu gering, als daß er ohne Mittler hätte zu Gott hindurchdringen können." Vgl. zur reformierten Theologie u.a.: Heppe, H., Die Dogmatik der evangelischreformierten Kirche, Neu durchgesehen und herausgegeben von E. Bizer, Neukirchen 19582, 323, 329. Vgl. Irenaeus, Adversus haereses, III, c. XXII: "Daher hat Paulus diesen Adam den Typus des zukünftigen genannt, weil das Wort als Schöpfer aller Dinge die zukünftige Heilsordnung des menschlichen Geschlechtes hinsichtlich des Sohnes Gottes auf sich selbst eingerichtet hatte, indem Gott zunächst den seelischen Menschen bildete, damit er von dem geistigen erlöst werde. Da nämlich der, welcher erlösen sollte, im voraus existierte, so mußte auch der, welcher erlöst werden sollte, geschaffen werden, damit der Erlöser nicht überflüssig wäre." Übersetzung: Des heiligen Irenäus Fünf Bücher gegen die Häresien, Buch I-III, übersetzt von E. Klebba, Bibliothek der Kirchenväter, Des heiligen Irenäus ausgewählte Schriften ins Deutsche übersetzt, Bd. I, Kempten/München 1912,308. Vgl. Bakhuizen van den Brink, J.N., Incarnatie en verlossing bij Irenaeus, 's-Gravenhage 1934, 19, 31 f. Vgl. Tertullianus, De resurrectione carnis, c. 6, zur Erschaffung des Menschen: "For whatever expression the clay took upon it, the thought was of Christ who was to become man (which the clay was) and of the Word who was to become flesh (which at that time the earth was). For the Father had already spoken to the Son in these words, Let us make man unto our own image and likeness. And God made man (the same thing of course as 'formed'): unto the image of God ('of Christ', it means) made he him. For the Word also is God, who being in the form of God thought it not robbery to be equal with God. (cf. Phil. 2. 6.)." Übersetzung: Evans, E., Tertullian's Treatise on the resurrection, Textausgabe mit Einleitung, Übersetzung und Kommentar, London 1960, 19.

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Kapitel 9 Die aktuelle Bedeutung der Theologie Hamanns

Großen und Johannes Duns Scotus zu finden9. Nach Duns Scotus wird diese Auffassung zur Streitfrage zwischen Scotisten und Thomisten10. Im neunzehnten Jahrhundert gewinnt die supralapsarische Christologie viel Anhang: in Deutschland bei vielen Vermittlungstheologen, wie I.A. Dorner und H. Martensen, in Frankreich bei A.R. Vinet, in England bei F.D. Maurice, B.F. Westcott und Mitgliedern der 'Lux mundi'-Gruppe um Ch. Gore, in den Niederlanden bei den Begründern der 'ethischen Theologie', D. Chantepie de la Saussaye und J.H. Gunning jr. Nach der Erwähnung dieser Theologen des neunzehnten Jahrhunderts ist es auffällig, daß wir für dieses Jahrhundert auf K. Barth als bekanntesten Vertreter der supralapsarischen Christologie verweisen können. Im Zusammenhang mit Hamann werden wir nun etwas ausführlicher auf die supralapsarische These eingehen, die Sünde sei nicht das erste und einzige Motiv der Inkarnation, und einige Einwände gegen diese These näher untersuchen11.

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Vgl. Duns Scotus, Sententiae, Uber III, dist. 7, q. 3; Balte, K.M., 'Duns Skotus* Lehre über Christi Prädestination im Lichte der neuesten Forschungen', in: Wissenschaft und Weisheit, 3 (1936), 19-35; Kandier, Α., 'Die Heilsdynamik im Christusbild des Johannes Duns Scotus', in: Wissenschaft und Weisheit, 27 (1964), 175-196, 28 (1965), 114; Iammarrone, G., 'Wert und Grenzen der Christologie des Johannes Duns Scotus in heutiger Zeit', in: Wissenschaft und Weisheit, 52 (1989), 1-20. Siehe zu Duns Scotus' Supralapsarismus und einem kurzen historischen Überblick mit weiteren Literaturhinweisen zwei Artikel von W. Dettloff: 'Die Geistigkeit des hl. Franziskus in der Christologie des Johannes Duns Scotus', in: Wissenschaft und Weisheit, 22 (1959), 1728; Theologische Realenzyklopädie, herausgegeben von G. Krause und G. Müller, Bd. IX, Berlin/New York 1982, s.v. 'Duns Scotus', (218-231), 223-227. Balte weist darauf hin, daß es in der Ordinatio (dem endgültigen von Scotus selbst autorisierten Text) um die Beziehung zwischen dem Sündenfall und der Prädestination Christi gehe, und daß lediglich in den Reportationes (den Vorlesungsaufzeichnungen der Studenten) ausdrücklich behauptet werde, der Sündenfall sei kein notwendiger Anlaß für die Inkarnation. Siehe zu einer textkritischen Ausgabe der Sententiae 111,7,3: Balte, C., (Hrsg.), Ioannis Duns Scoti Theologiae Marianae elementa, Sibenici 1933, 1-10. Siehe zu einem historischen Überblick der supralapsarischen These: Bissen, J.-M., 'La tradition sur la pr6destination absolue de J6sus-Christ du VII* au XIV* sifecles', in: La France franciscaine, 22 (1939), 9-34. Vgl. Chrysostome, Le motif de V incarnation et les principaux thomistes contemporains, Tours 1921; Kreling, P., Het motief der menschwording, in: Studio catholica, 15 (1939), 89-101; von Balthasar, Karl Barth, 336 f. Es ist auffällig, daß in dogmatischen Handbüchern diese Frage oft nicht oder nur summarisch behandelt wird, während hier doch auf der fundamentalsten Ebene die Frage nach dem Verhältnis von Gott und Schöpfung gestellt wird. Vgl. von katholischer Seite: Scheeben, M.J., Gesammelte Schriften, Bd. VI,2, Handbuch der katholischen Dogmatik, Bd. V,2, Zweite Auflage, herausgegeben von C. Feckes, Freiburg 1954, 221-226; Schmaus, M., Katholische Dogmatik, Bd. 11,2, München 1963*, 7072. Was die niederländische protestantische Theologie dieses Jahrhunderts anbelangt: Sehr kurze Erörterungen des supralapsarischen Standpunktes geben: Bavinck, H,

9.3 Das Motiv der Inkarnation

389

9.3.2 Kein Absehen von der Heilsgeschichte Wenn wir uns in Erinnerung rufen, wie Hamann zu seiner christozentrischen Schöpfungslehre und Anthropologie gelangt ist, müssen wir feststellen, daß Calvins Kritik an Oslander für ihn nicht zutrifft. Bereits in seinen Londoner Schriften taucht der Grundgedanke auf, daß die Natur auf die Gnade in Christus angelegt sei. Zu dieser Überzeugung gelangt er nicht dadurch, daß er vom Sündenfall und der damit hervorgerufenen Heilsgeschichte absieht; im Gegenteil, gerade in der Reflexion über seine eigene Glaubenserfahrung in den 'Biblischen Betrachtungen' entdeckt er, daß die Liebe Christi eine universale und mehr als soteriologische Bedeutung hat. Daß Hamann die Frage nicht ausdrücklich stellt, ob Christus auch gekommen wäre, wenn der Sündenfall nicht stattgefunden hätte, kommt daher, daß er von der konkreten Heilsgeschichte aus denkt. In dieser Heilsgeschichte stehend, erfährt er die Liebe Christi als eine Wirklichkeit, die die gefallene Schöpfung nicht nur versöhnt und wiederherstellt, sondern auch ihre Bestimmung und Vollendung ist. In London entdeckt er Christus als denjenigen, auf den er als Geschöpf schon immer gewartet hat, den er jedoch als Sünder nicht hat annehmen wollen12.

9.3.3 Die Sünde in christologischem Licht Eine häufig geäußerte Kritik an der supralapsarischen Christologie lautet, daß sie die Sünde auf ein lediglich nebensächliches Moment in der Geschichte des Menschen von der Schöpfung bis zur Inkarnation und Vollendung reduziere. Führt die Auffassung, das Kommen Christi sei nicht ausschließlich durch die Sünde motiviert, nicht zu einer Relativierung seines Versöhnungs- und Erlösungswerkes, des Kreuzes als Mittelpunkt der Heilsgeschichte? Der Terminus 'Relativierung' ist in diesem Zusammenhang an-

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Gereformeerde dogmatiek, 4 Bde, Kampen 1929", Bd. III, 259 f.; Korff, W.A., Christologie, De leer van het kamen Gods, 2 Bde, Nijkerk 1940-'41,1, 91 f.; Niftrik, G.C. van, Kleine dogmatiek, Nijkerk 19534, 79-82; Ruler, A.A. van, 'De verhouding van het kosmologische en het eschatologische element in de christologie' (1961), in: Verzameld werk, Bd. I, Nijkerk 1969, 156-174; Ruler, A.A. van, 'De mens, de zin van de geschiedenis', in: Theologisch werk, Bd. VI, Nijkerk 1973, 67-84; Berkhof, Christelijk geloof, 167-170; Beker, E.J., Hasselaar, J.M., Wegen en kruispunten in de dogmatiek, Bd. 3, Christologie, Kampen 1981, 216. Ausführlicher: Berkouwer, G.C., Dogmatische Studien, Het werk van Christus, Kampen 1953, 17-33; Jager, O., 'Is de incarnatie m66r dan een 'noodmaatregel'?', in: Rondom het Woord, 10 (1968), 71-102. Vgl. § 3.4.2: Die Natur und Anthropologie.

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Kapitel 9 Die aktuelle Bedeutung der Theologie Hamanns

gebracht, falls damit gemeint ist, daß die Liebe Christi weiter reicht, mehr bewirkt als 'lediglich' die Versöhnung. Diese Relativierung kommt allerdings nicht daher, daß die Sünde weniger ernstgenommen wird, sondern durch ein tieferes Eindringen in den verborgenen Reichtum der Liebe Christi. Diese hingebungsvolle Liebe offenbart sich als eine Wirklichkeit, die der Mensch nicht nur wegen seiner Sünde nötig hat, sondern auf die. hin er bereits als Geschöpf angelegt ist. Es ist wie in einer Ehe: die Konflikte zwischen den Partnern sind nicht das Motiv ihrer gegenseitigen Liebe, auch wenn die Art dieser Liebe in der Überwindung von Konflikten oft gerade am schärfsten ans Licht kommt. Bedeutet eine supralapsarische Christologie zwar in gewisser Hinsicht eine Relativierung der Sünde, so kommen jedoch erst innerhalb ihres Zusammenhangs die wahre Art und der Ernst der Sünde richtig ans Licht. Sünde als Widerstand gegen Gottes Liebe ist so immer Widerstand gegen die Liebe des kommenden und gekommenen Christus. In London entdeckt Hamann seine Gleichgültigkeit als ein Mitverantwortlich-Sein am Tode Christi. Seine Bekehrung beschreibt er als das Ineinanderfließen von drei Stimmen, drei Schreien: dem Schrei Abels, Kains und Christi. Die Ermordung Abels zu Beginn der Menschheitsgeschichte ist ein Mord an einem Geschöpf, das von Christus geliebt und gesucht wird. Vom Kreuz auf Golgatha aus erscheint der Mord an Abel als die erste Station des Leidenswegs Christi. Gegenüber Abel und Christus sieht Hamann sich selbst als einen neuen Kain. Er erkennt seine Sünde als Gleichgültigkeit gegenüber der Liebe Christi, die sich bereits seit der Schöpfung herabläßt, einer 'unmotivierten' Liebe, die von Anfang an darauf ausgerichtet ist, uns so nahe wie möglich zu kommen. Die Finalität der Schöpfung in Bezug auf die Inkarnation liegt für Hamann darin, daß bereits die Schöpfung ein Akt der Kondeszendenz Gottes ist und als solcher der Anfang einer Geschichte der Kondeszendenz, einer Liebesgeschichte, in der Gott in Christus sich seinem Geschöpf mehr und mehr nähert; einer Liebesgeschichte, die durch die Sünde eine dramatische Dynamik erhält, die jedoch in dieser Sünde nicht ihr eigentliches Motiv hat. Der Kreuzesweg Christi offenbart, daß die Sünde eine Beeinträchtigung des Schöpfungsgeheimnisses, nämlich der sich herablassenden Liebe Gottes ist, die in seinem Schöpfungsakt beginnt und in die Fleischwerdung Christi mündet. In London entdeckt Hamann Gottes Liebe wesentlich als Akt der Kondeszendenz; lieben bedeutet immer ein sich Herablassen auf die Ebene der Verletzlichkeit, dahin, wo der andere gefunden werden will13. Die Sünde 13

Wenn Liebe wesentlich Kondeszendenz ist, stellt sich die Frage, ob Berkhofs christozentrische Schöpfungslehre mit seiner adoptianischen Christologie zu vereinbaren ist. Berkhof, Christelijk geloof, 285: "Gott verdrängt die menschliche Person Jesu

9.3 Das Motiv der Inkarnation

391

und das Elend des anderen sind zwar ein wichtiges, aber doch zusätzliches Motiv für die Kondenszendenz, die 'Fleischwerdung' als aktuellen Vollzug der Liebe. Sich dieser Kondeszendenz zu verschließen, ist das Wesen der Sünde. Daß Hamann Sünde und Kreuz nicht emstnimmt, davon kann, wie wir gesehen haben, keine Rede sein. Er wendet sich gerade gegen Herder, wenn dieser die Sünde als ein notwendiges und nützliches Durchgangsstadium in der geschichtlichen Entfaltung der Menschheit relativiert14. Wenn Herder und viele nach ihm die Sünde und das Kreuz in ein romantisches, idealistisches oder evolutionäres Entwicklungsdenken aufnehmen, verlieren Sünde und Kreuz tatsächlich ihre kritische Bedeutung13. Allerdings ist der höhere Gesichtspunkt, von dem aus Hamann die Sünde relativiert und zugleich ihren wahren Ernst entdeckt, nicht der unpersönliche 'Geist' und seine notwendige Selbstentfaltung, sondern die Liebe Gottes, die einen Bund herstellt, innerhalb dessen Christus trotz der Sünde und durch die Sünde hindurch seinem Geschöpf immer näher kommt. Nicht durch distanzierte Spekulation, sondern durch seinen intensiven Umgang mit der Schrift, mit den Geschichten über Gottes Handeln mit dem Menschen, entdeckt Hamann Christi Liebe als Ursprung und Ziel der Schöpfung und die Sünde als den Widerstand dagegen. Der wahre Reichtum der Liebe Gottes und der wahre Ernst der Sünde kommen erst im supralapsarischen Zusammenhang von Natur und Gnade richtig ans Licht. Innerhalb dieses Zusammenhangs erhält die Sünde bei Hamann sogar einen so großen Nachdruck, daß es zuweilen, vor allem in den Londoner Schriften, so aussieht, als habe Gott die Sünde nötig, um sein Ziel zu erreichen. Das ist allerdings eine Verzerrung, die dadurch entsteht, daß Hamann den 'Triumph der Gnade* in seiner eigenen Verstrickung in die üblen Mächte der Sünde und des Bösen entdeckt. Gerade weil Hamann im Gegensatz zu den Befürchtungen Calvins und anderer nicht von der Heilsgeschichte absieht, mißt er der Sünde ein solch großes Gewicht bei, auch wenn die Sünde das noch viel

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nicht, sondern durchdringt ihn ganz mit seinem Geiste, also mit sich selbst." (Übers. R.D.) Wenn die Schöpfung auf das Heil in Christus angelegt ist, wie Berkhof behauptet (vgl. 170), impliziert das in Christus geschenkte Heil dann nicht eine Herablassung der Person Gottes selbst als des Ursprungs dieses Heils, eine Fleischwerdung, in der Gott sich viel tiefer hinab begibt als in einer pneumatologischen Adoption Jesu, so daß unsere pneumatologische Annahme als seine Kinder möglich wird? Vgl. § 5.2.3 und § 5.8.2. Inwieweit dies bei den deutschen 'Vermittlungstheologen' der Fall ist, wagen wir hier nicht zu beurteilen. Was die niederländische 'Vermittlungstheologie' betrifft: D. Chantepie de la Saussaye und J.H. Gunning jr. haben sich immer stark gegen eine idealistische Relativierung von Sünde und Kreuz gewehrt.

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Kapitel 9 Die aktuelle Bedeutung der Theologie Hamanns

größere Gewicht der Liebe Gottes in Christus nicht aufwiegen kann. Dieselbe Spannung sehen wir bei Karl Barth, der die Sünde einerseits als ontologische Unmöglichkeit beschreibt, die vor dem Triumph der Gnade nicht bestehen kann, anderseits jedoch das 'Nichtige' und die Sünde so sehr als 'Wirklichkeiten' betont, über die Gott von Anfang an triumphiert, daß der Eindruck entsteht, als habe Gott das Dunkel des Bösen und der Sünde nötig, um sein siegreiches Licht offenbaren zu können16*.

9.3.4 Ein 'geschlossenes System'? Wir können nun die Frage stellen, ob die supralapsarische Verbindung von Schöpfungslehre und Christologie nicht zu einem geschlossenen System führt, wodurch der kontingente Charakter des Erscheinens Christi verlorengeht17. Wenn 'geschlossenes System' bedeutet, daß der Supralapsarismus zur Auffassung führt, diese Schöpfung impliziere notwendigerweise das Kommen Christi, dann stimmt das. Gottes Schöpfungsbeschluß besagt wesentlich, daß er die Schöpfung in Christus bis zum Ende liebt. Schöpfung und Inkarnation implizieren einander, weil sie beide aus dem einem 'Motiv' Gottes, seiner Liebe, entstehen. Sein Schöpfungsbeschluß ist aufgrund der Art seines Bezugs auf die Schöpfung zugleich auch sein Beschluß zur Inkarnation. Oder vom umgekehrten Gesichtspunkt aus: In der Inkarnation offenbart sich, wer der Schöpfer ist, nämlich ein Schöpfer, der uns 'von Anfang an' in Christus liebt. Implikativ gesehen ist die Inkarnation also notwendig und essentiell für unsere Schöpfung. Diese implikative Notwendigkeit der Inkarnation verhindert jedoch nicht, daß die Inkarnation genauso kontingent ist wie die Schöpfung: durch Gottes freien und kontingenten Schöpfungsbeschluß impliziert, ist auch die Inkarnation im absoluten Sinne kontingent. Sie ist wie die Schöpfung ein freier Akt Gottes; wie auch umgekehrt die Schöpfung genauso gut eine Gnadentat ist

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Vgl. Berkouwer, De triomfder genade, 239 ff.; Miskotte, K.H., 'De triomf der genade' (1955; Besprechung von: Berkouwer, G.C., De triomfder genade, Kampen 1954), in: Miskotte, K.H., Verzameld werk 2, Karl Barth, inspiratie en vertolldng: inleidingen, essays, briefwisseling, Kampen 1987, (298-328), 312-322. Aus diesem Grunde schreckt Bonaventura schließlich davor zurück, den supralapsarischen Standpunkt einzunehmen, obwohl ihn die Struktur seiner Theologie stark in diese Richtung drängt. Vgl. Rauch, op.cit., 85-94; Gerken, Α., 'Bonaventuras Konvenienzgründe für die Inkarnation des Sohnes', in: Wissenschaft und Weisheit, 23 (1960), 131146; Gerken, Theologie des Wortes, 193-224.

9.3 Das Motiv der Inkarnation

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wie die Inkarnation. Zusammengefaßt bedeutet das: einander implizierend sind Schöpfung und Inkarnation beide freie Gnadenakte Gottes. In der Verbindung beider Aspekte liegt der einzigartige Charakter der Gnade: wenn sie uns geschenkt wird, entdecken wir sie als das, wonach wir uns zutiefst und oft unvermutet immer schon gesehnt haben, aber was uns allen in Freiheit geschenkt wird. Gnade bedeutet zugleich ein Wiedererkennen und eine überraschende Gabe. Hinzu kommt noch, daß die Sünde im Gegensatz zum 'desiderium naturale' keine essentielle Eigenschaft des Menschen ist. Als akzidentielle Wirklichkeit ist sie ein akzidentelles Motiv der Inkarnation und prägt Christi Leben und Werk auf akzidentielle Weise18. Darum sprechen wir von einem supralapsarischen Zusammenhang zwischen Schöpfung und Inkarnation und nicht zwischen Schöpfung und Kreuz. Das Kreuz ist die akzidentielle Gestalt, die die Inkarnation in einer von Sünde zerrissenen Wirklichkeit annimmt. Es sei nochmals darauf hingewiesen, 'akzidentiell' bedeutet nicht 'unwichtig'; mit 'akzidentiell' wird zum Ausdruck gebracht, daß der Kreuzestod nicht essentiell mit der Inkarnation gegeben ist, genauso wenig wie die Sünde essentiell mit der Schöpfung gegeben ist. Kondeszendenz ist die Grundform des Bundes zwischen Gott und Mensch, der in der Inkarnation Christi seinen zentralen Ausdruck findet. Der Kreuzescharakter der Inkarnation ist für die Inkarnation akzidentiell, denn wegen unserer Sünde führt die Inkarnation zum Kreuzestod19. Daß in Hamanns Theologie nicht das Kreuz, sondern die Inkarnation die christologische Grundform ist, geht auch aus seiner trinitarischen Anwen-

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Vgl. Barth, KD IV, 1, 37: "Man kann und muß also wohl die menschliche Übertretung als einen Zwischenfall und ihre Überwindung in Jesus Christus als Gottes kontingente Reaktion gegen diesen Zwischenfall verstehen. Es geschieht aber auch diese Reaktion als solche im Zug und in der Linie der im Willen Gottes von Anfang an festgelegten und im Gang befindlfthen Aktion. Sie ist doch nur deren besondere Gestalt angesichts jenes Zwischenfalles." Beker und Hasselaar, op.cit, 216, schreiben zum Motiv der Inkarnation: "Folgen wir Heppe auf dem Fuße, so fällt uns die Implikation der reformatorischen Rechtfertigungslehre auf, daß nämlich die Inkarnation als Tat Gottes auf die Schuld und die Vergebung der Sünden zugespitzt wird. Das Erscheinen Christi geschah im Blick auf die nicht einzulösende Schuld des menschlichen Geschlechts. Einen Heiland, der es nicht nötig hat, sich zu entäußern (Phil. 2), weil er bei der Herrlichkeit des geschaffenen Lebens anknüpft, kennt das reformatorische Bekenntnis nicht. Solche Gedanken kommen im Glaubensbekenntnis der Kirche nicht vor. Das Geheimnis der Inkarnation ist kein anderes als das Geheimnis in seinem Kreuzesleiden." (Übers. R.D.). Angesichts dieses 'reformatorischen Bekenntnisses' kann im Sinne Hamanns die Frage gestellt werden, ob Gottes Liebe zu seinen Geschöpfen nicht von ihrem Wesen her eine kondeszendierende Ausrichtung besitzt, so daß die Inkarnation bereits durch seine Liebe selbst und nicht erst durch die Sünde impliziert wird.

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Kapitel 9 Die aktuelle Bedeutung der Theologie Hamanns

dung der Anthropomorphie als essentieller Figur der Offenbarung hervor. Die Schöpfung hat eine sprachliche Bildstruktur, deren Mittelpunkt der Mensch als Bild Gottes ist. Die sprachliche und anthropomorphe 'communicatio idiomatum' der Schöpfung ist eine Präfiguration der christologischen und pneumatologischen 'communicatio idiomatum' zwischen Gott und Mensch. Christus, das menschgewordene Wort Gottes, tritt in die von Gott selbst angelegte und zu vollendende Logos-Struktur der Schöpfung ein, die durch den Menschen zu 'disiecti membra poetae' zerfallen ist30, stellt sie wieder her und intensiviert sie. Das Kreuz ist Zeichen der menschlichen Auflehnung gegen Christus, der für unsere Sünde und durch unsere Sünde stirbt, der jedoch die Sünde nicht als Grund nötig hat, uns zum Gegenstand seiner sich herunterlassenden Liebe zu erwählen.

9.3.5 Personalisierung der Natur; Erhöhung durch Kondeszendenz Durch die zentrale Bedeutung, die die Inkarnation erhält, ist Hamanns Theologie stark mit der der griechischen Kirchenväter verwandt. Das kommt vor allem darin zum Ausdruck, daß er gelegentlich von der Vergöttlichung des Menschen als Ziel der Vermenschlichung Gottes in Schöpfung und Inkarnation spricht21. Dieser Vergleich läßt zwei kritische Fragen aufkommen, die auch wiederholt an die griechisch-patristische Theologie gestellt wurden. Zum ersten: Droht Christus in einer supralapsarischen Christologie nicht eine Art kosmisches Prinzip zu werden, wodurch der persönliche und konkrete Beziehungscharakter der Heilsgeschichte verblaßt? Bei Hamann ist davon jedenfalls keine Rede. Die Inkarnation ist in seiner Theologie nicht ein Prinzip, auf grand dessen der persönliche Charakter des Heilswerkes Christi in einem allumfassenden kosmischen Geschehen zerfließt. Seine Christologie geht genau in die umgekehrte Richtung: keine Entpersonalisierung der Heilsgeschichte, sondern eine Personalisieoing des Kosmos. Wir haben diese christologisch-zentripetale Bewegung ganz deutlich beim Vergleich von Hamanns früher Theologie mit der Physikotheologie gesehen. In der Physikotheologie droht die Heilsgeschichte ihr Relief in einer verselbständigten Schöpfungslehre zu verlieren. Von den übergeschichtlichen Gesetzen der Natur fasziniert, verlagert sich das physikotheologische Interesse von der christologischen Mitte auf die allumfassenden kosmischen Strukturen, innerhalb derer die Bedeutung der historischen Erscheinung Jesu

20 21

Ν II 198:34; vgl. § 4.5.2: Die Sprache der Schöpfung. Vgl. § 6.3.5.

9.3 Das Motiv der Inkarnation

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nur noch schwer verständlich ist. Hamann übernimmt einige wichtige physikotheologische Grundsätze, zentriert sie jedoch christologisch als kosmische Peripherie auf Christus als die Mitte, der der ganzen Schöpfung seinen Namen einprägt22. Eine zweite kritische Frage lautet, ob Hamanns Aussagen über die Vergöttlichung des Menschen als Ziel der Inkarnation nicht ein gefährliches Erhöhungsdenken verraten. Hat nicht Christus unsere Natur angenommen, um ihre Gebrochenheit und Endlichkeit zu offenbaren, um uns von all unseren Phantasien über Vergöttlichung zu befreien, statt uns in einen übernatürlichen, göttlichen Stand zu erheben? Auch nach Hamanns Auffassung bedeutet Christi Fleischwerdung, daß offenbar wird, wer wir wirklich sind: sündig, elend, eigenmächtig, unmenschlich und bei weitem nicht göttlich. Häufig bekämpft er Aufklärungsdenker, die durch ihr idealisierendes Menschenbild die geschöpfliche und sündige Wirklichkeit des Menschen verschleiern und dem Menschen ein immanent-göttliches Format zuschreiben. Dieselben Aufklärungsdenker sind sich allerdings genauso wenig der wahren Bestimmung des Menschen bewußt, einer Bestimmung, die nur durch Christus enthüllt und verwirklicht werden kann: als freie Kinder Gottes im Lichtkreis seiner Liebe zu leben! Diese von Gott selbst verliehene Vergöttlichung bedeutet weder bei Hamann noch bei den Kirchenvätern eine Verwischung der Grenze zwischen Geschöpf und Schöpfer oder eine übernatürliche Verwandlung, wodurch der Mensch seine Geschöpflichkeit verlieren würde. Man kann dies zwar als Erhöhung bezeichnen, aber dann im Sinne einer Verwirklichung der natürlichen und von Gott festgelegten Bestimmung des Menschen, die nur durch seine Gnade zustande kommen kann. Im Vergleich zu der vorherigen Lage geht es dann um 'Erhöhung', allerdings in dem Sinne, daß sie in der von Gott geschaffenen Natur selbst intendiert ist. So bleibt zu berücksichtigen, daß in Hamanns Theologie die göttliche Bestimmung des Menschen nur durch Gottes Kondeszendenz verwirklicht wird. Wir werden Kinder Gottes durch seine Herablassung und nie durch Selbstvergöttlichung. Wir stellen hier wiederum fest: Sünde ist die Leugnung der sich herablassenden Liebe Gottes und der Wille, selbst zu einer götdichen Stellung emporzusteigen. Ohne unsere Bereitschaft, mit Christus den Weg in die dunklen Tiefen unserer Existenz zu gehen, gibt es keinen Weg empor, keine Erhöhung, keine Vergöttlichung.

22

Vgl. § 3.4.1: Trinität und § 3.4.2: Die Natur. Ebenso muß die griechische Patristik zunächst als eine christologische Personalisierung des antiken Denkens über die Natur als Kosmos gesehen werden.

396

Kapitel 9 Die aktuelle Bedeutung der Theologie Hamanns

9.3.6 Die 'communicatio idiomatum' nach trinitarischem Verständnis Hamanns Theologie ist ein deutliches Beispiel dafür, daß eine supralapsarische Zentralstellung der Inkarnation nicht bedeuten muß, daß die menschliche und göttliche Natur so aufeinander bezogen werden, daß die Grenzen zwischen Gott und Mensch sich zu verwischen drohen. Dabei ist es äußerst wichtig, daß die Art der Verbindung des Göttlichen und des Menschlichen in der Schöpfunglehre und der Pneumatologie anders ist als in der Christologie. Wenn Hamann in dem Ritter von Rosencreuz die 'communicatio idiomatum' den Schlüssel all "unsrer Erkenntnis und der ganzen sichtbaren Haushaltung" nennt (N III 27:13), benutzt er eine Definition aus der Zweinaturenlehre pneumatologisch als Wesensbestimmung der Sprache23. Sowohl in der Sprache als in Christus, dem fleischgewordenen Wort, geht es um eine 'communicatio', aber sie vollzieht sich auf unterschiedliche Weise. Christologisch geht es um eine 'communicatio' von zwei Naturen in einer Person, während es sich pneumatologisch um eine 'communicatio' zwischen Personen handelt, eine Beziehungseinheit, die Hamann eine 'koinönia ohne Trans substantiation' nennt24. Die Einheit von Gott und Mensch in Christus wird nicht auf dem Wege der Inkarnation, sondern pneumatologisch fortgesetzt. Auch hier geht es um 'Fleischwerdung' und Anthropomorphie: der Heilige Geist enthüllt und verhüllt sich in den Gestalten irdischer und menschlicher Zeichen, aber dieses Innewohnen hat Beziehungscharakter. Die Gestalten haben ihr Bedeutungsvermögen innerhalb des pneumatologischen Kontaktes zwischen Gott und Mensch; sie sind nicht die Verkörperung des göttlichen 'Ichs', sondern Zeichen des göttlichen Redens. Die so bestehende Dialektik von Gestalt und Geist impliziert eine nicht aufzuhebende Transzendenz der Person des Heiligen Geistes in bezug auf die von ihm in Dienst genommenen Gestalten. Hamanns protestantischer Einschlag liegt vor allem in seiner Pneumatologie: Unter Berufung auf die freie und eschatologische Dynamik des Geistes bekämpft er jegliche Form des jüdischen oder christlichen 'Papsttums', das die Offenbarung in bestimmten Gestalten, wie in der Schriftlehre, der Sakra-

21 24

Vgl. §5.6.2. ZH IV 254:28-: "Der Übergang vom Göttl. zum Menschl. dünkt mir immer ähnl. Misbrauch ausgesetzt zu seyn. Beyde Extreme müßen schlechterdings verbunden werden, um das Ganze zu erklären, 'ousia tou sömatos' und 'eksousia tou aksiömatos'. Durch diese Vereinigung wird das Buch heilig, (und) wie aus einem Menschen der Fürst. Eine 'koinönia' ohne Transsubstantiation - weder Leib, noch Schatten; sondern Geist." Vgl. hierzu: Bayer, 'Die Geschichte der Vernunft', in Acta 4, 16-18. Die aus der Patristik stammende Bezeichnung 'communicatio idiomatum' nimmt in Luthers Christologie und Abendmahlslehre einen sehr wichtigen Platz ein.

9.3 Das Motiv der Inkarnation

397

mentslehre, der Amtslehre, der Traditionsauffassung oder wie auch immer festzulegen trachtet. Gott kann uns allen nur ganz nahe kommen, wenn die göttliche Transzendenz und Freiheit gewahrt bleiben. Christus muß hingehen, um die Stätte zu bereiten für den Geist, der Gottes fleischgewordene Liebe pneumatologisch in unzähligen Gestalten austeilen kann. Auch wenn der Geist in uns wohnt, handelt es sich um eine persönliche und intime 'koinönia' zweier Personen mit ihrer jeweils eigenen Natur, nicht die christologische 'communicatio' zweier Naturen, sondern eine pneumatologische 'communicatio' zweier Personen. Die christologische Anhypostasie ist pneumatologisch eine Ketzerei. Wie wesentlich für Hamann die Dialektik von Buchstabe und Geist ist, haben wir in den vorhergehenden Kapiteln immer wieder feststellen können. Aufgrund der beweglichen Einheit von Zeichen und trans zendierender Bedeutung bekämpft er nicht nur die Empiristen, die die Wirklichkeit ihres sakramentalen Charakters berauben, sondern auch jeglichen Versuch, die sakramentale und prophetische Bedeutung in durch uns beherrschbare Gestalten festzulegen. Die Korrelation von Natur und Gnade ist kein Mechanismus, den wir beherrschen können, sondern eine von Gott gestiftete 'koinönia', die sich jeder eigenmächtigen Festlegung unsererseits entzieht. Die Hamannsche Dialektik von Gestalt und Geist ist gerade in ihrem kritischen Aspekt, den Hamann immer wieder gegen die Aufklärungstheologie einsetzt, stark verwandt mit der kritischen pneumatologischen Theologie von O. Noordmans, bei dem es allerdings strikt um eine Dialektik zwischen Sünde und Gnade geht23, während bei Hamann der kritische Charakter dieser Dialektik bereits in der sprachlichen Struktur der Schöpfung selbst begründet liegt und durch die Sünde nachhaltig verstärkt wird. Seine Hermeneutik von Buchstabe und Geist steht außerdem in einem supralapsarischen Zusammenhang von Natur und Gnade, der in der neueren Theologie wohl nirgends so scharf bekämpft wird wie in Noordmans Werk.

23

Vgl. zum Beispiel: Noordmans, O., Herschepping, Beknopte dogmatische handleiding voor godsdienstige toespraken en besprekingen (1934), in: Verzamelde werken, Bd. II, Dogmatische peilingen rortdom Schrift en belijdenis, Kampen 1979, (214-322), 259 f.: "Die Bibel entfaltet die Schöpfung nicht als Formprinzip, weil Gott im Sündenfall mitgeht. Sie [sc. die Schöpfungslehre] wird eine Lehre vom Sündenfall, denn die Linie bewegt sich nach unten, und gleichzeitig wird es eine Geschichte des Eintretens Gottes in die Welt, der Inkarnation. Man darf allerdings das Verhältnis zwischen Schöpfung und Inkarnation nicht als direkt auffassen. Die Schöpfung im Sinne der Gestaltung ist nicht auf die Inkarnation angelegt. Die Helden und Halbgötter des Heidentums retten den Menschen nicht. Nur wenn wir sie [die Schöpfung] als einen kritischen Begriff verstehen, ein Urteil, das den Sündenfall offenbart, paßt es zusammen. Die Inkarnation knüpft beim Sündenfall an." (Übers. R.D.).

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Kapitel 9 Die aktuelle Bedeutung der Theologie Hamanns

9.3.7 Hamanns und Barths Supralapsarismus gegenüber dem modernen Naturdenken Die Auffassung, daß das Erscheinen Christi nicht zunächst und ausschließlich durch die Sünde motiviert sei, stößt insbesondere in der protestantischen Theologie auf viele Einwände. Nach der Darlegung des von Hamann vertretenen supralapsarischen Standpunktes kommen wir zu dem Schluß, daß diese Einwände zwar auf mögliche Gefahren weisen, aber letztlich nicht begründet sind. Im Gegenteil, es hat sich gezeigt, daß die Motive dieser Kritik besser innerhalb als außerhalb der supralapsarischen Position zu ihrem Recht kommen. Am deutlichsten gilt dies für eine richtige Beurteilung der Sünde. Sie ist ein akzidentielles Motiv für Gottes sich herablassende Liebe, aber die Tatsache, daß wir dieser 'unmotivierten' Liebe gegenüber gleichgültig sind, kennzeichnet ihren Ernst. Eine christozentrische Schöpfungslehre schwächt den Kontrast zwischen der Gnade und der Sünde nicht ab, sondern verschärft ihn. Der Gegensatz zwischen Gnade und Sünde ist nur im Zusammenhang von Natur und Gnade verständlich. Dieser Ausgangspunkt verleiht der Theologie des überzeugten Lutheraners Hamann eine 'katholische' Tragweite, die die Spannung seiner lutherischen 'theologia crucis' nicht wegnimmt, sondern sie ermöglicht2®. Wie wir bereits früher festgestellt haben, sind die Übereinstimmungen zwischen Hamanns supralapsarischer Christologie und der K. Barths sehr auffällig. Barth sieht den Bund in Christus als 'inneren Grund' der Schöpfung: im Blick auf diesen Bund hat Gott uns erschaffen, und aufgrund dieser Finalität sieht Barth die Schöpfung als eine typologische Präfiguration des Gnadenbundes27. Diese grundlegende Übereinstimmung mit Hamanns Denken

* Hamanns Übereinstimmung mit Luther liegt vor allem im Bereich der Offenbarungslehre. Beide legen den Nachdruck auf die Verbindung von Enthüllung und Verhüllung, Immanenz und Transzendenz der Offenbarung in Natur, Geschichte und Schrift. Vgl. zu Luther: Kooiman, W.J., 'Gods maskerspel in de theologie van Luther', in: Beek, M.A., u.a., Maskerspel, zeven essay's voor W. Leendertz, Bussum 1955, 49-83. Vgl. zu einer Kritik an Barths supralapsarischer Christologie von lutherischer Seite: Prenter, R., 'Die Einheit von Schöpfung und Erlösung, Zur Schöpfungslehre Karl Barths', in: Theologische Zeitschrift, 2 (1946), 161-182. 27 Vgl. Barth, KD 111,1, 258 ff.; KD IV,1, 37: "Das Werk der Versöhnung in Jesus Christus ist die Erfüllung der von Gou ursprünglich gewollten und geschaffenen Vereinigung zwischen sich und dem Menschen, dem Menschen und sich. Er will und kann sie auch angesichts der menschlichen Übertretung nicht dahingefallen sein lassen. Er läßt sich in dem, was er als Schöpfer - nämlich als Sinn und Ziel, als den inneren Grund seines Schöpfungswerkes - wollte, durch des Menschen Übertretung nicht irre machen noch aufhalten." KD IV,1, 49: "Was in ihm [Christus] geschieht, das ist vielmehr auch abgesehen von Gottes Gegensatz zu des Menschen Sünde die Ausführung, nämlich die Besiegelung und die Offenbarung, das Urphänomen des positiven

9.3 Das Motiv der Inkarnation

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wird verständlich, wenn man bedenkt, daß beide sich mit ihrer christozentrischen Theologie gegen alle Varianten des modernen Denkens richten, in denen die natürliche Wirklichkeit verselbständigt und die Gnade als ein eigentlich überflüssiger Überbau definiert wird. Hamann und Barth vermögen Christus nicht als eine Person zu sehen, die wir eigentlich nicht nötig haben. Ebenso wenig ist er eine soteriologische 'Notmaßnahme,2S, die nur nötig ist, um unsere Geschöpflichkeit wiederherzustellen, denn auch als versöhntes Geschöpf können wir die Nähe Christi, die Inspiration seines Geistes, nicht entbehren. Die Gnade Christi ist keine Bedrohung unserer Natürlichkeit; sie hemmt unsere Sehnsucht nach geschöpflichem Genuß nicht, sondern macht ihn erst möglich. Der 'Christomonismus'29 Hamanns und Barths will die bunte Erfahrungs wirklichkeit nicht einengen und nivellieren, sondern bewirkt eine radikale und unaufgebbare Konzentration auf Christus als Mitte und Mittler, eine christologische 'Engführung'30, die nötig ist, ehe die Wirklichkeit sich in all ihrer Gebrochenheit und ihrem Reichtum vor uns entfalten kann31.

M 29

30 31

Willens Gottes in seinem Verhältnis zum Menschen und damit auch seines Schöpferund Herrenwillens im Ganzen. Nicht erst um jene Störung seines Willens aus dem Felde zu schlagen, nicht erst in dieser polemisch-irenischen Behauptung und Bereinigung seines Verhältnisses zum Menschen und damit zu der ganzen von ihm geschaffenen Welt gegenüber dem Auf- und Einbruch der menschlichen Sünde wollte Gott Mensch werden und ist er es tatsächlich geworden." Begriff van Rulers; vgl. van Ruler, 'De verhouding van het kosmologische en het eschatologische element in de christologie', 174. Pejorativer Begriff von van Ruler und anderen; vgl.: van Ruler, 'De verhouding van het kosmologische en het eschatologische element in de christologie', 169; van Ruler, 'De mens, de zin van de geschiedenis', 73 f. Bezeichnung von H.U. von Balthasar, Karl Barth, 253. Vgl. Wissink, op.ciL, 261. Miskotte, K.H., 'Het volk Gods in het wereldgebeuren' [über: K. Barth, KD, IV,3,2], in: Verzameld werk 2, (59-70), 68: "Der 'Christomonismus' ist ein falscher Begriff, der eine enge Lehre andeuten will; es ist umgekehrt: die Lehre, daß es im Himmel und auf Erden nichts anderes zu erkennen gibt als nach Analogie mit der Existenzweise Jesu Christi, durch den und zu dem alle Dinge geschaffen sind". (Übers. R.D.). Die Frage, warum ein Unterschied zwischen Hamanns und Barths Sicht der 'natürlichen Theologie' bestehen bleibt, soll im § 9.4.6 besprochen werden.

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Kapitel 9 Die aktuelle Bedeutung der Theologie Hamanns

9.4 Die Natur im Bilde der Gnade 9.4.1 Die Schöpfung als Bild Im vorigen Paragraphen wurde dargelegt, welche theologischen Grundlinien sich von Hamanns supralapsarischer Verbindung von Natur und Gnade aus abzeichnen. Nun richten wir unser Augenmerk auf die Art, wie er die typologische Finalität von Natur und Gnade hermeneutisch entfaltet, wobei er sich auf die (gebrochene) Sprachlichkeit der Wirklichkeit konzentriert. Mit einem modernen Ausdruck könnte man sagen, daß Hamann das Verhältnis Natur und Gnade auf die Swnfrage zuspitzt. Wie hat die Wirklichkeit, wie hat unser Leben Sinn, Bedeutung ? Die Sinnfrage ist vielleicht die wichtigste und brennendste Frage in der zeitgenössischen Theologie, aber freilich nicht nur dort. Begriffe wie 'Säkularisation' und 'Gottesfinsternis' sind Ausdruck des Bewußtseins, daß die immer noch zunehmende Ausrichtung auf diese konkrete Welt, in der wir leben, auf diese empirische Wirklichkeit von Zeit und Raum, Hand in Hand geht mit einem wachsenden Verlust an Sinnerfahrung, an Bedeutung, die dem Leben Tragkraft verleiht und die natürliche Wirklichkeit in einem sinnvollen und 'selbstverständlichen' Zusammenhang ordnet. Zugespitzt auf die Gottesfrage: je mehr wir uns bemühen, diese Wirklichkeit hier und jetzt 'erschöpfend' zu erleben, desto mehr scheint sie sich zwischen Gott und uns zu schieben und wird als sinnlos erfahren. Diese Dialektik der wachsenden Faszination durch die 'natürliche' Wirklichkeit einerseits und des Verlustes an sinnverleihender Orientierung anderseits ist die 'Krise des europäischen Geistes', die sich nach einer langen Vorbereitung in der Aufklärung endgültig durchsetzt. Die Metapher der 'Aufklärung' drückt antithetisch aus, welche "Reform der Denkungsart"32 damit gemeint ist: nicht das 'von anderswo' stammende Licht der Gnade und Offenbarung enthüllt uns den Sinn der natürlichen Wirklichkeit, wie im 'dunklen' Mittelalter geglaubt wurde, sondern das 'lumen naturale' der Natur selbst schafft den Raum für ein menschliches Dasein; nicht der höhere Gesichtspunkt der Offenbarung orientiert die Rationalität der Vernunft, sondern die autonome Vernunft ist ihr eigener 'point de vue'. In dieser Krise stehend und prophetisch seine Stimme erhebend gegen diesen Paradigmenwechsel von Offenbarung zu Aufklärung, hat Hamann seine 'fliegenden Blätter' in die Welt geschickt. Am kürzesten läßt sich seine Antwort auf die Herausforderung der Aufklärung in dem folgenden dreigliedrigen Satz zusammenfassen: a) Keine Verselbständigung der Natur, b) wohl

32

Vgl. Kant, 'Was ist Aufklärung?', 36.

9.4 Die Natur im Bilde der Gnade

401

Bindung an das Empirische, c) aber das Empirische ist Fundort der Transzendenz. Was Hamann mit der Aufklärung verbindet, ist sein Empirismus. Auch er ist gegen jegliche religiöse oder rationalistische Abkehr von der Welt, gegen jegliche gnostische, theosophische oder spiritualistische Flucht aus der Bindung an das Irdische. Das sinnliche Hier und Jetzt ist der Ort, wo das Leben gelebt werden muß und wo es auch sinnvoll gelebt werden kann. Obwohl schon häufiger darauf hingewiesen wurde, sollte nochmals ausdrücklich festgestellt werden, daß Hamann sich genauso wie, oder vielleicht sogar mehr als seine aufgeklärten Opponenten nach der Freude und dem Genuß des 'diesseitigen' Lebens sehnt; darin ist er ein Denker der Aufklärung gegen die Aufklärung33. Die natürliche Wirklichkeit ist sinnvoll, hat Bedeutung, die auch gefunden werden kann. Sie wird allerdings nicht entdeckt, - und da liegt Hamanns Widerstand gegen die Aufklärung - indem man sich an die empirischen Zeichen als an sich selbst sinnverleihende Gestalten klammert, geschweige denn von ihnen abstrahiert. Die Bedeutung dieser Wirklichkeit ist in den Zeichen gegeben, kann jedoch nicht immanent auf diese Zeichen reduziert werden. Der Ursprung der Sprache der Wirklichkeit liegt nicht in der Natur selbst, sondern im Jenseits, bei Gott. Nach dem Wegfallen des Sinnzusammenhangs der Gnade fehlt der Aufklärung eine Hermeneutik der kontingenten und empirischen Wirklichkeit, durch die ihre Bedeutung entdeckt werden kann. Nach Hamanns fester Überzeugung können die rechtmäßigen Bestrebungen der Aufklärung nur verwirklicht werden, wenn die christliche Wirklichkeitsauffassung aktualisiert wird, statt Abschied von ihr zu nehmen. Die natürliche Bedeutung der natürlichen Wirklichkeit wird nicht gefunden, indem man die Gnade als überflüssige Hypothese ablehnt,

33

Übrigens ist Hamann weit entfernt von einem romantischen Naturgefühl wie dem Herders und Goethes. Beschreibungen der 'freien Natur' gibt er kaum, aber umso mehr Beschreibungen der Tafelfreuden. Bezeichnend ist Hamanns brieflicher Bericht über einen Besuch bei der Fürstin von Gallitzin in Angelmodde. Sie nimmt ihn dort mit auf einen Spaziergang durch die wunderschöne Umgebung, aber Hamann beschreibt später nur, wie schwer ihm das Laufen gefallen sei. Hingegen werden alle gastronomischen Genüsse aufgezählt, die sie nach ihrer Rückkehr auf dem im Freien gedeckten Tisch erwarten. Später nennt er diesen Tag den schönsten seines Lebens. Vgl. ZH VII 361:17 -363:3; 410:26-. Hamann hatte eine schlechte Gesundheit; so hatte er infolge einer Krankheit schon in jugendlichem Alter eine Glatze, er hatte viele Darmbeschwerden, die u.a. durch übermäßiges Essen verursacht wurden, und er litt an Gicht. In seinen Briefen besteht die Phänomenologie seines täglichen Lebens zum großen Teil aus Beschreibungen dieser Leiden und deren Behandlung. Vgl. zu Hamanns Gesundheit: Ebstein, W„ 'Die Krankheit des Magus im Norden', in: Süddeutsche Monatshefte, 9 (1912), 162-178.

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Kapitel 9 Die aktuelle Bedeutung der Theologie Hamanns

sondern indem man sie als Kritik an aller unnatürlichen Pervertierung und als eschatologische Erfüllung des 'desiderium naturale' annimmt. Durch die Verbindung von empirischem Zeichen und transzendierender Bedeutung besitzt die Wirklichkeit die sprachliche Grundstruktur des Bildes. Im Zeichen als Bild ist Bedeutung inkarniert, die auf zweierlei Weise transzendiert: einerseits auf den unsichtbaren Gott hin, der der Ursprung aller möglichen Sinngebung ist, anderseits typologisch auf Christus als die hermeneutische Mitte der Welt hin34. In Christus als Bild Gottes schlechthin35 treffen diese horizontale und vertikale Ausrichtung der irdischen Bildstruktur zusammen: In ihm ist Gott selbst Mensch geworden, und in seiner Liebe findet die typologische Ausrichtung der Schöpfung und Geschichte ihr Zentrum. Daß die geschaffenen Dinge als transzendierendes Bild ihr Zentrum nicht in sich selbst haben, bedeutet keine doketische Geringschätzung der sinnlichen Wirklichkeit, als wäre sie nichts mehr als ein unwirkliches Schattenbild der echten geistlichen Wirklichkeit, die im Jenseits liegt und die wir durch eine mystische Weltflucht zu erreichen trachten müßten. Eine sinnliche Gestalt besitzt gerade ihre eigene und eigentliche Bedeutung als Bild der von Gott geschenkten und in ihr vergegenwärtigten Bedeutung. Die natürliche Gestalt gewinnt in dem Maße Eigenwert und Bedeutung, wie sie in der Lage ist, zeichenhaft die Gnade zu vergegenwärtigen. Es ist wie mit der Liebe: ihr eigenes Gewicht nimmt zu im Bezogensein auf den andern.

9.4.2 Schöpfung und Inkarnation Die natürliche Wirklichkeit hat nach Hamann nicht erst Bildcharakter durch die besondere Offenbarung in Christus, sondern sie besitzt ihn bereits als Schöpfung. Christi Fleischwerdung bedeutet, daß er, das Bild aller Bilder, in den Bildzusammenhang der Schöpfung tritt. Er kommt in 'sein Eigentum'36, das ihn als Ziel alles geschöpflichen Verlangens und Strebens erwartet. Durch das Erscheinen Christi ist jedoch nicht nur die wahre Art und Bestimmung der Schöpfung, sondern auch ihre Gebrochenheit infolge der Sünde offenbar geworden. Die Bildersprache der Schöpfung ist zu 'disiecti

34 M

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Vgl. § 3.4.6. Vgl. 2. Kor. 4:4: " des Evangelii von der Klarheit Christi, welcher ist das Ebenbild Gottes." Kol.l: 15-: "Welcher ist das Ebenbild des unsichtbarten Gottes, der Erstgeborne vor allen Kreaturen. Denn durch ihn ist Alles geschaffen". Vgl. Joh. 1:11.

9.4 Die Natur im Bilde der Gnade

403

membra poetae' zerfallen37; ihre Zeichen sind weitgehend autonome Gestalten geworden, in denen der Mensch sich gegenüber Gott und seinem Nächsten verschanzt. Auf diese Weise haben sie als gesetzliche Gestalten das Vermögen verloren, Träger des göttlichen Wortes, des Wortes des 'poeta', zu sein. Der 'poeta', von dem 'im Anfang' die Rede ist, gibt seine 'Dichtung' freilich nicht der Selbstvernichtung preis. Er hält an seinem ewigen Vorhaben fest, die Schöpfung zu ihrem Ziel zu führen, und läßt sich trotz und wegen der Sünde in die gebrochene Bildwirklichkeit unserer Welt herab. Christus, das fleischgewordene Wort, ist die Krise und Rettung all unserer Gestalten autonomer Selbstbehauptung. Indem er sie unter das Urteil seiner prophetischen Kritik stellt und sie für seine Liebe öffnet, stellt er zugleich den Gleichnischarakter der Wirklichkeit wieder her und intensiviert ihn. Er ist das eine Sakrament, durch das die Natur ihren verlorengegangenen sakramentalen Charakter wiedergewinnt, oder anders gesagt, durch das die Natur ihre Natürlichkeit und ihre natürliche Bestimmung wiederfindet. Im Lichte dieser Hermeneutik des Bildes läßt sich noch besser verstehen, wie Hamann zu seiner supralapsarischen Christologie gelangt. Daß wir theologisch immer von Christus ausgehen müssen, weil nur im Lichte seiner Offenbarung die wahre Art unserer Wirklichkeit als gefallene Schöpfung deutlich wird und weil nur er die Versöhnung von Gott und Mensch zustande bringen kann, ist für Hamann eine selbstverständliche Glaubensaussage. Allerdings reichen diese Gründe nicht aus, um Christi einzigartige Bedeutung zu bestimmen. Durch hermeneutische Reflexion über seine eigene Erfahrung gelangt er zu der Erkenntnis, daß Christus als der fleischgewordene Sohn nicht nur noetisch und soteriologisch, sondern auch schöpfungstheologisch Mittler zwischen Gott und Mensch ist. Gottes Liebe in Christus läßt sich in die Welt herab als ihr einzig möglicher Grund und ihre einzig mögliche Bestimmung, als der einzig mögliche Punkt der Konvergenz ihrer geschöpflichen und durch die Sünde fragmentierten Bildersprache. Das Licht der Welt enthüllt sich selbst als das Ziel dieser Welt und nicht nur als noetisches und soteriologisches 'Medium' im Dienste eines anderen Zieles. Weil Christus das Bild Gottes ist, in dem alle Dinge geschaffen sind, kann nur er als fleischgewordenes Bild des Vaters alle Spuren und Bilder in der Schöpfung und Geschichte auf ihre eschatologische Vollendung ausrichten: die 'recapitulatio' unter Christus als Haupt3". Diese Bestimmung ist nicht durch die Sünde motiviert, sondern hat dasselbe Motiv wie die Schöpfung: die Liebe Gottes. Hamanns hermeneutische Theologie ist die Entfaltung einer einzigen

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Ν II 198:34; vgl. § 4.5.2: Die Sprache der Schöpfung. Vgl. Eph. 1:4-12.

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Kapitel 9 Die aktuelle Bedeutung der Theologie Hamanns

großen Entdeckung, daß nämlich die Liebe Christi der einzig mögliche Sinn der Schöpfung und Geschichte ist39.

9.4.3 Kein sakramentaler Naturalismus Die Aufklärung glaubt, die echte Natürlichkeit des Lebens zu finden, indem sie sie von der Gnade befreit. Für Hamann hingegen liegt das Geheimnis der wahren Natürlichkeit im 'Sakrament der Sprache'40. Nur wenn unsere Augen sich für die auf Gott verweisende Bildersprache der Natur öffnen, kommt sie zu ihrem Recht. Nur als Sakrament ist die Natur natürlich. Das moderne Lebensgefühl, das sich in der Aufklärung Bahn bricht, erfährt Natur und Gnade als zwei einander fremde Wirklichkeiten. Die Gnade wird als etwas Widernatürliches erfahren, etwas das als 'Notmaßnahme' vielleicht noch nötig ist, aber danach zurücktreten muß, so daß die Natur den verlorenen Platz wieder einnehmen kann. Genau gegen dieses Lebensgefühl zieht Hamann in all seinen polemischen Schriften ins Feld. Die geistigen Führer der Aufklärung lassen sich nicht mehr mit dem 'hoc est corpus meum'41 abspeisen, aber Hamann ist sich bewußt, daß lediglich das 'Schmecken und Sehen' der Güte Gottes beim Abendmahl uns diesen natürlichen Geschmack des Lebens (wieder)geben kann42. Es dürfte nun deutlich sein, daß Hamanns sakramentale Wirklichkeitsauffassung nicht als sakrale Legitimierung eines verdeckten Naturalismus oder Vitalismus ausgelegt werden kann. Doch wird in den Ohren vieler protestantischer Theologen die Verbindung von Natur und Sakrament sehr verdächtig klingen43. Durch die dialektische Theologie Karl Barths aufmerksam gewor39

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Vgl. Ritter von Rosencreuz, Ν III 32:21-, über die gute Schöpfung: "Jede Erscheinung der Natur war ein Wort, - das Zeichen, Sinnbild und Unterpfand einer neuen, geheimen, unaussprechlichen, aber desto innigem Vereinigung, Mittheilung und Gemeinschaft göttlicher Energien und Ideen." Vgl. den Schluß der Metakritik, ZH V 216:28-: "Was die Transcendentalphilosophie matagrabolisirt, habe ich um der (S)schwachen Leser willen auf das Sacrament der Sprache, den Buchstaben ihrer Elemente, den Geist ihrer Einsetzung gedeutet, und überlaße es einem jeden die geballte Faust in eine flache Hand zu entfalten." ('Matagrabolisiren': Begriff von Rabelais, aus dem Griechischen: 'mataio-grapho-bolizein': 'schreibend eine vergebliche Peilung vornehmen'). Vgl. Ν III 218:30- und § 6.3.4: Hamanns Grundthese gegen die Lessings. Vgl. zur Beziehung Schöpfung - Abendmahl bei Hamann: Bayer, 'Schöpfung als "Rede an die Kreatur durch die Kreatur", in: Acta 2, 68-70. Siehe anderseits zu neueren oekumenischen Versuchen, zu einer neuen Verbindung von Schöpfung und Sakrament zu gelangen: Brinkman, M., 'De verwevenheid van schepping en sacrament, Nieuwe perspectieven vanuit de oecumenische discussie', in: Tijdschrifi voor theologie, 29 (1989) 38-54.

9.4 Die Natur im Bilde der Gnade

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den, werden sie die Frage stellen, ob Hamanns Auffassungen nicht doch Gefahr laufen, daß das Natürliche die Gnade in Beschlag nimmt, anstatt umgekehrt. Werden die natürlich-sakramentalen Gestalten nicht doch wieder Mittel, durch die wir innerhalb oder außerhalb der Kirche Gottes freie Gnade beherrschen können? Zur Beantwortung dieser Frage, die immer wieder gestellt werden muß, wenden wir uns nochmals einer Reihe von wesentlichen Elementen in Hamanns Hermeneutik zu, die eine Gewähr gegen eine Umkehrung der Finalität und der Abhängigkeitsbeziehung von Natur und Gnade bieten. Dazu gehört als erstes die transzendierende Ausrichtung der Bedeutung, die im Zeichen immanent ist. Der sakramentale Charakter der Sprache der Wirklichkeit ist eine Transzendenz in der Immanenz, die beinhaltet, daß das Maß des 'Buchstabens' für den inkarnierten Geist immer zu knapp ist. Der Buchstabe ist in die Dynamik des Geistes aufgenommen und nicht umgekehrt: der Buchstabe kann den Geist nicht in Beschlag nehmen, kann ihn nicht umfassen oder einschließen. Versucht er das doch, dann wird er zu einer gesetzlichen Gestalt, zu einem Buchstaben, der ohne den lebendigmachenden Geist tötet und stirbt. Da der Ursprung der Sinngebung bei Gott liegt und nicht welt-immament ist, wendet Hamann sich scharf gegen Herder, wenn dieser den Ursprung der Sprache in den Menschen verlegt und den Bildcharakter der Wirklichkeit aufgrund seines hermeneutischen Grundsatzes der 'Analogie der Natur' immanent deutet44. Die Natur besitzt ihre Gleichnis-

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Nach Ansicht P. Gays kommt das Autonomiestreben in der Aufklärung als kritischrationalistische Bekämpfung des bildhaft-mythologischen Autoritätsdenkens zum Ausdruck. Ausgehend von diesem Interpretationsmodell und sich mit dem 'enlightened criticism' identifizierend, dessen großes Vorbild für ihn Hume ist, hat Gay sein zweibändiges Werk über die Aufklärung entworfen: The Enlightenment, An Interpretation, The rise ofmodern paganism (1966), New York 1968 (vgl. u.a.: 89, 130 ff., 418 f., 423), The Enlightenment, An Interpretation, The science of freedom (1969), New York/London 1977. Zunächst scheint unsere Hamanndeutung Gays Interpretationsmodell zu bestätigen: Hamann bekämpft ja die Aufklärung mit einer Hermeneutik des Bildes. Aber Herder, dem Gay kaum Interesse schenkt, paßt nicht in sein Schema. Herder bekämpfte den rationalistischen Aspekt der Aufklärung mit einem organisch-genetischen Bilddenken und ist in diesem Punkte mit Hamann verwandt. Freilich ist auch Herder ein Kind der Aufklärung, denn indem er die von Hamann übernommene Hermeneutik des Bildes naturalistisch uminterpretiert, greift er das Grundstreben der Aufklärung, die natürliche Wirklichkeit zu verselbständigen und immanent zu erklären, auf. In Auflehnung gegen den kühlen Rationalismus der Aufklärung vollziehen Herder und Goethe den Übergang zum Sturm und Drang und zur Romantik; dieser Übergang geschieht allerdings in der Kontinuität des Grundbewußtseins der Aufklärung, daß die Natur eine in sich ruhende Wirklichkeit ist. Auch ein Aufklärungsphänomen wie die Freimaurerei und ihr Interesse an mythologischer Symbolik können mit Gays Interpretationsmodell nicht gut erfaßt werden. Der grundlegende Mangel in Gays Analyse besteht darin, daß er den

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Kapitel 9 Die aktuelle Bedeutung der Theologie Hamanns

haftigkeit nicht aus sich selbst, sondern sie wurde ihr gnädig geschenkt. Unser Leben ist 'mit Christus verborgen in Gott'. Wenn natürliche Zeichen sakramental von der Offenbarung in Anspruch genommen werden, tritt zugleich ihre Unzulänglichkeit in Bezug auf die Offenbarung ans Licht. In die prophetische und eschatologische Dynamik des Geistes aufgenommen, besagen die Gestalten mehr, als sie als empirische Gestalten sagen können: sie enthüllen ihre eigene Geschlossenheit und Armut, die die Sehnsucht nach der eschatologischen Erfüllung wecken, in der Gott 'alles in allen' sein wird45. Als Träger des prophetischen Geistes unterliegen die natürlichen Gestalten dem Urteil seiner Kritik, die ihre gestalthafte Autonomie und Trägheit aufdeckt und von innen her zerbricht; der Geist 'entledigt' sie ihrer autonomen Aufgeblasenheit, so daß sie von seinem 'pneuma' erfüllt werden können. Wir haben festgestellt, daß in Hamanns Hermeneutik der Primat der prophetischen Auslegung gilt, die mit einer Zeitstruktur verbunden ist, in der die Zukunft den Vorrang hat46. Die Inkarnation bedeutet nicht, daß die pneumatologische Dialektik von Buchstabe und Geist zum Stillstand kommt, sondern daß sie im Gegenteil stark in Bewegung gerät. Wie es sich unter anderem in seiner Polemik mit Mendelssohn zeigt, hält Hamann die Inkarnation für den zentralen Durchgangspunkt des dynamischen 'Geistes der Weissagung', der die Geschichte von der Schöpfung zum Eschaton vorantreibt47. In diese prophetische Bewegung fühlt Hamann sich aufgenommmen,

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Gegensatz zwischen bildhaft-mythologischem Denken und kritischem Rationalismus, der innerhalb der Aufklärung eine Rolle spielt, nicht von dem für die Aufklärung viel grundlegenderen Gegensatz aus, nämlich der durch die Gnade umfaßten Natur und Vernunft gegenüber autonomer Natur und Vernunft, beleuchtet. Einen ähnlichen Mangel enthält W. Pannenbergs Analyse der Anthropologie Herders in Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983,40-76. Für Pannenberg liegt die theologische Bedeutung der Anthropologie Herders in seinem Verständnis des Menschen als einem sich selbst transzendierenden Wesen. Pannenberg weist jedoch nicht darauf hin, daß Herder zu dieser Auffassung gelangt, nachdem er erst den (Hamannschen) Transzendenzbegriff, in dem die Natur über sich selbst hinaus auf den sie motivierenden Ursprung verweist, hinter sich gelassen hat. Herder hält die menschliche Transzendenz fiir immanent motiviert, wobei Gott sowohl die immanent menschliche 'Kraft', als auch die exzentrische Grenze der menschlichen Selbstbestimmung ist. Vgl. 1 Kor. 15:28. Vgl. §§ 4.7.2, 6.5.2. Vgl. §§ 6.3.6, 6.4.4. Wenn der nach Unmittelbarkeit strebende Jacobi zustimmend auf Hamanns Äußerung in Golgatha und Scheblimini reagiert, daß der unendliche Abstand zwischen Gott und Mensch nur überbrückt werden kann, wenn der Mensch die göttliche Natur annimmt oder umgekehrt (vgl. Ν III 313:2-, ZH V 319:23-), erwidert Hamann: "Hienieden ist von keiner Verwandlung noch Verklärung in die göttliche Natur die Rede - sondern von dem alten Wort Widergeburt . Kinder sollen wir

9.4 Die Natur im Bilde der Gnade

407

und von da aus legt er Zeugnis ab gegen alle positivistischen und rationalistischen Versuche, Gottes Geist festzulegen und zu neutralisieren. Die pneumatologische Ausrichtung seiner supralapsarischen Verbindung von Schöpfung und Inkarnation verleiht Hamanns Theologie eine derart kritische und eschatologische Beweglichkeit, daß sogar die kritische Theologie von Noordmans hier einen Anknüpfungspunkt finden könnte. Die Diskrepanz zwischen dem Zeichen und der darin inkarnierten Bedeutung kommt ebenfalls in der für Hamann so entscheidenden Auffassung zum Ausdruck, daß Gott sich in der Gestalt der 'humilitas', der Entäußerung, offenbart. Das sakramentale Innewohnen des Geistes ist keine antizipierende Erhöhung der natürlichen Gestalt, sondern ein verborgenes Innewohnen, das die Endlichkeit, Gebrochenheit und Sündhaftigkeit der Gestalt ans Licht bringt. Von dem Augenblick an, wo die Gestalt sich verselbständigt, sich zu göttlichem Ausmaß aufbläht, verliert sie ihre Fähigkeit, die Gnade zu vermitteln und fällt unter das Urteil des Kreuzes. Die demütige, sakramentale Einwohnung des Geistes enthüllt unsere wahre Natürlichkeit und ihre Gebrochenheit, eine Enthüllung, die zugleich eine Selbstverhüllung des Geistes ist48. Als wichtige hermeneutische 'Gewähr' gegen einen verkappten Naturalismus erwähnen wir zum Schluß den Primat des Wortes als Mittler der Offenbarung. Im Wort besteht die optimale Verbindung von Transzendenz und Immanenz, Geist und Sinnlichkeit, Zeichen und Bedeutung, Distanz und Nähe. Die Sprache ist die Grundform der Wirklichkeit, von der aus die (supralapsarische) Dynamik von Natur und Gnade verstanden werden muß49. Die Welt ist durch das Wort und im Wort und im Blick auf die Fleischwerdung des Wortes50 geschaffen, die pneumatologisch auf dem Wege der Schrift und der Überlieferung fortgesetzt wird. Hamann versteht das sakramentale 'Schmecken und Sehen' von der Wortgestalt der Offenbarung aus und nicht umgekehrt. In einigen Punkten haben wir noch einmal zusammengefaßt, warum Hamanns sakramentale Wirklichkeitsauffassung kein verkappter Naturalismus ist. Zugleich kann er jedoch an die empiristischen Tendenzen in der Aufklärung anknüpfen. P. Kondylis geht in der Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus von der These aus, daß die Aufklärung eine Vielfalt

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werden, um in das Himmelreich zu kommen - und dies fällt in kein sterblich Auge, sondern ist da ohne Schau." (ZW V 329:16-). Die beste Veranschaulichung der Hermeneutik Hamanns, die in der von Auerbach beschriebenen Tradition des figuralen Empirismus steht, sind die Malereien Rembrandts, in denen auf unübertroffene Weise unsere Geschöpflichkeit ans Licht kommt. Vgl. § 4.5.2: Die Sprache der Schöpfung, und § 5.6.3. Vgl. Joh. 1:1-14.

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Kapitel 9 Die aktuelle Bedeutung der Theologie Hamanns

von Versuchen darstelle, die Frage nach der Beziehung von Geist und Sinnlichkeit zu beantworten, eine Frage, die durch die Rehabilitierung der Sinnlichkeit besonders dringend geworden war51. Wenn diese These stimmt, kann Hamann zu Recht als 'ein Denker der Aufklärung gegen die Aufklärung' bezeichnet werden. In seiner stark antidoketischen Offenbarungslehre ist die empirische Gestalt von höchster Bedeutung, aber nur als Inkarnation transzendierender Bedeutung: darin findet sie ihren unschätzbaren Eigenwert. Die Schöpfung ist die sinnliche Offenbarung Gottes, die Menschwerdung ist F/mcAwerdung, die Auferstehung ist leiblich, der Geist wurde auf alles Fleisch ausgegossen, unsere Seele ist die Bedeutung unseres Leibes. Aufgrund dieser Verbindung - und Hamann ist der Meinung, der Mensch solle nicht scheiden, was Gott so zusammengefügt hat - läßt sich Hamanns Empirismus im Vergleich zu dem Humes als ein 'sakramentaler Empirismus' bezeichnen, ein Empirismus, in dem die Kategorie der Verborgenheit auch weiterhin einen wesentlichen Platz einnimmt52.

9.4.4 Der Mensch als Bild Gottes Nach dem bisher Gesagten steht es außer Frage, wie wichtig in Hamanns Anthropologie die Bezeichnung 'Bild Gottes' als essentielle Qualifikation des Menschseins ist. Nur diese Bildstruktur ermöglicht es, den Menschen als Geschöpf und Sünder zu verstehen. Das Faszinierende an der Anthropologie Hamanns ist, daß er das Verhältnis von Leib und Seele aus der hermeneutischen Perspektive betrachtet. Parallel zur pneumatologischen Einheit und Dialektik von Zeichen und Bedeutung sieht er die Seele als Bedeutung des Leibes53. Spezifisch anthropologisch ist die Tatsache, daß die Seele innerhalb des von Gott hergestellten schöpfungstheologischen und pneumatologischen Zusammenhangs - auch selbst Ursprung der Sinngebung ist. Aufgrund dessen ist der Mensch ein einzigartiges Geschöpf und nach der Unterscheidung der patristischen und mittelalterlichen Theologie 'imago dei' im Unterschied zu anderen Geschöpfen als 'vestigia dei'. Das transzen-

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Vgl. Kondylis, P., Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart 1981, 19: "Ich möchte nun die These aufstellen, die sogenannte Aufklärung sei ein Versuch oder vielmehr eine Vielfalt von Versuchen, die Frage nach den Beziehungen von Geist und Sinnlichkeit zu beantworten. Denn die Rehabilitation der Sinnlichkeit warf ungeheuere logische Probleme auf, deren Bewältigung um so dringender war, je unumgänglicher und unentbehrlicher die genannte Rehabilitation in dieser oder jener Form erschien." Vgl. §§ 4.3 und 6.5.3. Vgl. §4.6.

9.4 Die Natur im Bilde der Gnade

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dierende Wesen des Menschen konzentriert sich in seinem Sprach vermögen, durch das er mit Gott und dem Nächsten in Kontakt treten kann. An dieses Vermögen appelliert Gott mit seinem Wort, und dieses Vermögen versucht er als fleischgewordenes Wort wiederherzustellen und zu seiner Bestimmung zu führen. Hamanns hermeneutische Bestimmung des Menschen als 'Bild Gottes' bietet viele Möglichkeiten für eine zeitgenössische Anthropologie, die klassisch-christliches Gedankengut aufgreift und zugleich eine theologische Deutung all dessen ermöglicht, was in den letzten Jahrzehnten in der phänomenologischen Anthropologie entdeckt wurde. So kann die Bedeutung des Leibes aufgrund der hermeneutischen Dialektik von Gestalt und (menschlichem) Geist aufs neue durchdacht werden: einerseits als Verhüllung, Schutz, oder sogar Waffe, anderseits als Bedeutungsträger, als der verletzliche und transparente Ausdruck der Seele. Hierbei geht es auch um solche Fragen, wie die Seele als Bedeutung des Leibes dem anderen (oder Gott) sehr nahe sein kann, während die Distanz doch gewahrt bleibt; wie diese Einheit von Nähe und Distanz insbesondere in der Sprache zustande kommen kann; wie unser Sprechen die innigste 'koinönia' von Sinnlichkeit und Geist, Immanenz und Transzendenz, Natur und Gnade sein kann. Die Anthropologie Hamanns extrapolierend, haben wir die Qualifikation 'Bild Gottes' als eine essentielle Eigenschaft des Menschen bezeichnet. Was sind jedoch die Folgen der Sünde für den Menschen als Bild Gottes? Dazu müssen wir zwischen der menschlichen Bildstruktur als essentiellem Vermögen, das unter allen Umständen 'ansprechbar' bleibt, und der Ausübung dieses Vermögens unterscheiden. Als Sünder entfremdet der Mensch sich von seinem eigenen Wesen, indem er der Aktualisierung seines 'Bildvermögens' im Wege steht, einer Aktualisierung aufgrund der Gnade, die auf eine pneumatologische 'Vergöttlichung' des Menschen ausgerichtet ist. Die Aussage, daß jeder Sünder doch auch Geschöpf ist und bleibt, bedeutet, daß er das Vermögen behalten hat, Bild Gottes zu sein, und daß immer noch ein Mindestmaß dieses Vermögens aktualisiert ist. Mit dieser Äußerung wird keinesfalls ein autonom anthropologisches Fundament für die Gnade gelegt, sondern wird nur gesagt, daß dem Menschen, ganz gleich wie sündig er ist, seine von Gott geschenkte und durch die Schöpfung in ihm angelegte Bestimmung immer bleibt54. Gibt es beim Menschen einen Anknüpfungspunkt für die Gnade? Gewiß, es ist das Bild Gottes, das Christus in uns wachzurufen versucht, wenn er in unsere gebrochene Bildwirklichkeit eintritt; er hört und sucht unseren 'Schrei', der tief verdrängt ist, damit wir uns trösten

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De Grijs, op.cit., 616: "Das ist die Imago Dei: die Möglichkeit zu antworten."

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Kapitel 9 Die aktuelle Bedeutung der Theologie Hamanns

lassen. Diese Tatsache, daß Christus unser abbildendes, mimetisches Vermögen weckt, das wir als Bild Gottes besitzen, formuliert Hamann sehr schön, wenn er schreibt: "[Er] ahmte uns nach, um uns zu Seiner Nachahmung aufzumuntern." (ZH I 394:9).

9.4.5 Die besondere Hermeneutik ist allgemein Wie Hamann Natur und Gnade nicht als zwei selbständige Stockwerke sehen kann, so kann bei ihm auch nicht von einer Trennung zwischen einer besonderen biblischen und einer allgemeinen Hermeneutik die Rede sein. Überall, wo es um Bedeutung in Natur, Geschichte oder Schrift, im Heidentum, Judentum oder Christentum geht, kann sie nur von der in Christus offenbarten Liebe aus vollständig verstanden werden. Das bedeutet nicht, daß überall die besondere Offenbarung in Christus in alles hineingelesen wird, sondern daß jegliche Sinngebung innerhalb des von Gott geschaffenen Zusammenhanges der supralapsarisch auf Christus angelegten Wirklichkeit zustande kommt. Wie 'heidnisch', wie 'säkularisiert' eine kulturelle Ausdrucksform auch ist, ihre eigene Bedeutung kommt nur vom höheren Gesichtspunkt der Offenbarung aus ans Licht. Einsicht in alles menschliche Streben, in alles Suchen und Irren der Völker, in alle Größe oder Unmenschlichkeit der Kultur und Religion, erhalten wir nur, wenn wir sie im 'Zirkel der Anthropomorphose und Apotheose', im teleologischen Zusammenhang von Natur und Gnade sehen. Darin kann der Mensch sich auf die unterschiedlichste Weise äußern und sich einen Platz suchen, als mythischer Heide, philosophischer Grieche, Jude, Christ, säkularisierter Abendländer oder wer auch immer, aber jedes Selbstverständnis ist eine Stellungnahme innerhalb des von Gott geschaffenen ontologischen Zusammenhanges und 'lebt' von diesem Zusammenhang. Diese Auffassung verbirgt sich auch hinter Hamanns Centotechnik. Indem er Fragmente aus Schriften anderer mit Hilfe von Bibelfragmenten in der Perspektive der Offenbarung anordnet, zeigt er, daß die Meinung des betreffenden Autors eine Stellungnahme in Bezug auf die Offenbarung ist und daß in diesem 'Bezug' das Wesentliche der Bedeutung liegt. Das heißt nicht, daß Hamann die von den Verfassern selbst intendierte Bedeutung nicht berücksichtigt, aber er versucht, sie von der Offenbarung aus so zu beleuchten, daß die vom Verfasser selbst beabsichtigte Bedeutung um so schärfer, wenn auch oft antithetisch, zum Vorschein kommt. Im Falle eines von ihm bekämpften Aufklärungsdenkers versucht er, dessen Text so auszulegen, daß der Verfasser sich selbst zwar durchaus erkennt, sich aber zugleich im kritischen

9.4 Die Natur im Bilde der Gnade

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Licht der Offenbarung sieht. Der Opponent erhält nach der Cento-Behandlung Hamanns seinen Text zurück als ein Urteil, das er über sich selbst fällt. Es ist eine weithin akzeptierte Erkenntnis in der gegenwärtigen Hermeneutik, daß kein Verständnis ohne ein Vorverständnis möglich ist. Ohne das Vorverständnis als eigenen Horizont, von dem aus man an 'das Fremde' herangeht, ist kein Verständnis möglich. Objektivität in dem Sinne, daß man ohne jegliches Vorurteil zu einer Interpretation kommt, ist ein unerreichbares und an sich widersprüchliches Ideal. Es bleibt allerdings die Frage, welches Vörverständnis, welches Vorurteil der Bedeutung 'des anderen' am meisten gerecht wird. Hamanns Antwort darauf lautet, daß die von Gott selbst in die Schöpfung gelegte Sprachstruktur, die durch Christus wiederhergestellt und enthüllt wird, das einzige Vorurteil ist, das unser Vorverständnis ermöglicht und kritisch vor subjektivistischer Willkür bewahrt. Dabei kann es sich nicht darum handeln, daß man dem anderen das eigene Vorurteil aufzwingt, sondern daß ein möglichst offener Horizont des Verstehens angelegt wird, der uns selbst in der Begegnung mit dem anderen voll einbezieht. Daß wir die Wirklichkeit, wie auch immer, als Sinngebung erfahren können, daß wir sinnvoll mit und übereinander, mit und über Gott sprechen können, ist möglich, weil er uns 'in der Sprache' geschaffen hat; diese Sprache ist Gottes WoT-urteil, das unser Vor-Verständnis konstituiert. Sofern wir von diesem 'Vörverständnis' Abstand zu nehmen versuchen, werden Natur und Geschichte ihre Sprache verlieren, werden sie zu einer sinnlosen Anhäufung loser Tatsachen zerfallen, werden wir Menschen uns als gescheiterte Turmbauer zu Babel einander entfremden. Wenden wir diese Erkenntnis auf das Verhältnis von Schrift und Tradition und das Verhältnis der Schrift und irgendwelcher anderer Texte an, so zeigt sich, daß Hamann keine besondere Hermeneutik der Schrift kennt. Allerdings ist die Schrift etwas Besonderes, und zwar als sehr konzentrierter Ausdruck der Offenbarung, vermittelnd zwischen uns und Gott, einer Offenbarung, die mehr ist als die Schrift. In der Schrift und durch die Schrift entdeckt Hamann die Knechtsgestalt der Offenbarung Gottes in Christus als besonderen Ausgangspunkt für seine allgemeine Hermeneutik. Christus ist nicht nur der Schlüssel zum Verständnis der Schrift, sondern auch zum Verständnis aller Dinge in der Natur, Geschichte und Kultur, oder wie Bonaventura sagt: Christus ist das 'medium in omnibus'55. So kann die Schrift - selbst auch ein Centotext! - als das primäre und prophetische Zeugnis der Offenbarung Gottes in Christus der 'Schlüsseltext' werden, mit dem wir alle übrigen

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Vgl. zu Christus als 'medium' bei Bonaventura: Gerken, Theologie des Wortes,

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Textfragmente zu einem einzigen Cento verbinden56. Das ist zunächst die Aufgabe des Dichter-Propheten, als den Hamann sich selbst auch verstand, der, inspiriert durch den Geist der Prophetie, seine Zeitgenossen auf Christus als "de[n] Brennpunkt aller Parabeln und Typen im ganzen Universo" (Ν ΠΙ 226:22-) weist. Hamanns Hermeneutik stellt uns vor die kurze aber gravierende Frage, ob nicht jede gute Hermeneutik im direkten oder indirekten Sinne christliche Hermeneutik ist; oder anders formuliert: ist die Theologie, gerade als hermeneutische Wissenschaft, nicht die Königin der Wissenschaften? Oder noch konzentrierter, aber weniger anmaßend ausgedrückt: Kann von einem anderen letzten hermeneutischen Vorverständnis als dem der Liebe die Rede sein?57

9.4.6 Hamann und Barth über die 'natürliche Theologie' Zu Hamanns Sicht der 'natürlichen Theologie' können wir uns nun relativ kurz fassen. Natürliche Theologie, die - wie auch immer - von einer autonomen Ontologie, Anthropologie oder Erkenntnislehre ausgeht, lehnt Hamann radikal ab. Natürliche Theologie im Sinne einer wissenschaftlichen Deutung der 'natürlichen Religion' als autonomer Wirklichkeitserfahrung kann er nur als 'Unglaube' und 'Aberglaube' bezeichnen Die beiden Grundformen dieses Un- oder Aberglaubens im Aufklärungsdenken sind seiner Ansicht nach eine empiristische Verselbständigung der Wirklichkeit und eine Reduktion der Natur und Offenbarung auf einen Kernbestand von 'ewigen Wahrheiten'. In beiden Fällen wird die kontingente Beziehung von Natur und Geschichte zur Gnade und Offenbarung nicht berücksichtigt. 'Natürliche Theologie' ist im Gegensatz zu 'natürlicher Religion' kein 'Terminus technicus', den Hamann benutzt59. Verstehen wir allerdings darunter die theologische Deutung der natürlichen Wirklichkeit als Schöp54

Vgl. Hamanns bleibendes Interesse an Genesis 1-3 als dem 'Urmythos' aller Mythologie. ZH III 82:35-: "Diese mosaische Archäologie ist der einzige und beste Schlüßel aller bisherigen Räthsel und Mährchen der ältesten morgenländischen und homerischen Weisheit - das aus dieser Wiege des menschl. Geschlechts zurückgeworfene Licht (erhellt) klärt (allein) die heil. Nacht in den Fragmenten aller Traditionen auf." Vgl. § 5.9.2. " Vgl. auch § 4.7.3, den Exkurs über 'Hamann und das Geschichtsverständnis des achtzehnten Jahrhunderts*. 58 ZH VI 238:30- "Der Unglaube ist die älteste stärkste und nebst dem Aberglauben die einzige natürliche Religion." Vgl. Ν VI, 264, s.v. 'natürliche Religion' und ZH IV 195:13-, ZH VI 231:2-.

9.4 Die Natur im Bilde der Gnade

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fung Gottes und als Adressat der Offenbarung, dann enthält Hamanns Denken einen nicht unbeträchtlichen Teil 'natürlicher Theologie'. Ontologisch und anthropologisch geht es dabei um die geschaffene Bildstruktur der Wirklichkeit, die durch die Sünde nicht aufgehoben werden kann. Erkenntnistheoretisch impliziert dies ein gewisses Maß an Gotteserkenntnis, auch bei den Ungläubigen oder Andersgläubigen. Diese fragmentarische, aber wahre Gotteserkenntnis besitzt das Geschöpf, sofern es noch nicht von der Sünde verdorben ist, eine Erkenntnis, auf die es sich also auch nicht als autonomen Besitz berufen kann. Ihre wahre Art und Tragweite wird wie die der Sünde erst von der besonderen Offenbarung aus entdeckt. Diese Form der natürlichen Theologie hält, zumindest in ihrer supralapsarischen Version, am noetischen und ontologischen Primat Christi fest und kann von da aus Aussagen über die natürliche Wirklichkeit als geschöpfliche Voraussetzung der besonderen Gnade machen. Sie ist also kein allgemeiner Unterbau oder Rahmen der Christologie, sondern überträgt die Implikationen der Christologie auf alle Bereiche der natürlichen Wirklichkeit. Nur so ist eine adäquate Antwort auf die universalen Bestrebungen der autonomen natürlichen Theologie der Aufklärung möglich, die genau den umgekehrten Weg einschlägt: Sie versucht, Christus aus der Natur zu erklären, statt umgekehrt die Natur von Christus aus zu erklären. Die Bedeutung einer legitimen natürlichen Theologie wie der Hamanns liegt darin, daß sie die Wirklichkeitsebenen, die nicht von der besonderen Gnade in Anspruch genommen werden, nicht neutralen Formen der Ontologie, Anthropologie, Erkenntnislehre und Hermeneutik überläßt, oder sie lediglich als 'Sünde' zu qualifizieren weiß. Die universalen Bestrebungen der Aufklärung und der Kultur, die sie hervorgebracht hat, können nur beantwortet werden, wenn die Theologie Rechenschaft von einer Wirklichkeit abzulegen vermag, an der jeder Mensch teilhat, auch da, wo sie sich (noch) dem Einfluß der Gnade entzieht, wo sie aber als geschöpfliche Wirklichkeit in ihrem Bezogensein auf die Gande verstanden werden kann. Wenn wir nun zu einem Vergleich mit K. Barth und seiner Bekämpfung der natürlichen Theologie kommen, muß zunächst festgestellt werden, daß zwischen der Theologie beider aufgrund ihrer supralapsarischen Bestimmung von Schöpfung und Gnade eine grundlegende strukturelle Übereinstimmung besteht. Ein auffallendes Beispiel hierfür ist die weitgehende typologische Auslegung von Genesis 2 und der dort beschriebenen geschlechtlichen Beziehung zwischen Adam und Eva bei beiden60. Es gibt freilich noch eine zweite Linie in Barths Theologie, der gemäß sie für die Wirklichkeit der

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Vgl.: § 8.2.2; Barth, KD 111,1, 329-377; Barth, KD 111,2, 358-391.

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Kapitel 9 Die aktuelle Bedeutung der Theologie Hamanns

Natur, Kultur und Erfahrung weniger aufgeschlossen zu sein scheint als die Theologie Hamanns. Obwohl anzunehmen ist, daß gerade solch eine christologische Schöpfungslehre wie die Barths Raum bieten könnte für eine relativ selbständige theologische Bestimmung der natürlichen Wirklichkeit als Schöpfung, scheint Barth kaum dazu zu kommen. Dies hängt damit zusammen, daß er sich vom ersten Römerbrief an so sehr vor jeglicher Verselbständigung der Gnade hütet, die uns ihre Beherrschung ermöglichen würde, daß er zögert, die Schöpfung als Voraussetzung und Adressatin der Gnade in ihrer eigenen, aber von Gott geschenkten Beschaffenheit theologisch breit zu entfalten. Wie Wissink nachgewiesen hat, richtet sich Barths Bekämpfung der natürlichen Theologie gegen jeden philosophischen oder theologischen Versuch des Menschen, Gott gegenüber eine selbständige Position einzunehmen61. Damit ist freilich nicht ausgeschlossen, daß von Barths christozentrischem Denken aus eine theologische Deutung der natürlichen Wirklichkeit als Voraussetzung für die Gnade möglich ist62. Seine supralapsarische Verbindung von Natur und Gnade ist die wichtigste Garantie gegen einen verselbständigten Naturbegriff; diese Verbindung muß allerdings so 'ausgedehnt' werden, daß darin mehr Spielraum für die eigene, jedoch aufeinander bezogene Art beider Wirklichkeiten zustandekommt. Daß Barth auch selbst diesen Raum innerhalb der supralapsarischen Spannweite von Schöpfung und Bund mehr und mehr geschaffen hat, zeigt seine sogenannte 'Lichterlehre' in der KD IV,3 über das eigene Licht der Schöpfung63. Barth behauptet in der KD IV,3 ebenfalls, daß auch in der 'profanen' Welt Gleichnisse des Himmelreichs gefunden werden könnten, weil "de iure jeder Mensch, ja die ganze Kreatur von seinem Kreuz, von der in ihm geschehenen Versöhung herkommt, von ihr her zum Schauplatz seiner Herrschaft und auch so zum Empfänger und Träger seines Wortes bestimmt ist."64 Wie stark gleichzeitig Barths Zurückhaltung bleibt, den empirischen Gestalten - und insbesondere denen der Kirche(!) - eine heilsvermittelnde Fähigkeit zuzugestehen, ergibt sich aus seinem veränderten Sakramentsverständnis. In der KD

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Vgl. Wissink, op.cit., 276-310. Daß Barth selbst zu wenig dazu kommt, ist die wichtigste Kritik von Balthasars. Vgl. Karl Barth, 253 f.: "Die Verengung wurde an der Stelle klar, wo wir feststellen mußten, daß Barth zwischen Schöpfung und Bund nicht den ganzen nöügen Raum, die geforderte Spannweite, die freies Atmen erlaubt, offen läßt, daß das Voraus der Setzung in seiner relativen, aber wirklichen Eigenständigkeit nicht ganz zur Geltung kommt." Vgl. Barth, K., Die kirchliche Dogmatik, Die Lehre von der Versöhnung, Bd. IV,3, 1. Hälfte, Zollikon/Zürich 1959, 153 ff. KD IV,3, 130.

9.4 Die Natur im Bilde der Gnade

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I bis einschließlich III hat Barth noch ein sehr breites Sakraments Verständnis: Christus ist das erste Sakrament und der Grund der Sakramentalität der Offenbarung sowie der sakramentalen Kontinuität Israels und der Kirche. Sogar die Schöpfung hat als Gleichnis des Bundes einen sakramentalen Charakter. Jedoch in der KD IV,4 bricht Barth mit der kirchlichen Tradition und schlägt eine entscheidend veränderte Sakramentsauffassung vor*5. Nun sieht er Christus, den erhöhten Herrn, der uns durch den Heiligen Geist sein Heil schenkt, als das einzige Sakrament an, neben dem für andere Sakramente als Gnadenmittel kein Platz sein kann. Sogar Taufe und Abendmahl sind keine Sakramente, sondern dankbare und gehorsame Antworten auf die Gabe Christi als das eine Sakrament. In diesem Zusammenhang geht Barth bei der Taufe vom Unterschied zwischen der Geisttaufe und der von uns durchgeführten Wassertaufe aus, die Hamann als eine Trennung von empirischem Zeichen und geschenkter Bedeutung gewiß nicht akzeptiert hätte66. "Mit Furcht und Zittern, aber hier soll der Mensch nicht scheiden, was Gott zusammengefügt hat!", bemerkt Hasselaar ganz im Geiste Hamanns kritisch zu Barths Sakramentslehre67. Barths Theologie läuft durch ihre zwei ineinandergreifenden Grundmotive des Christozentrismus und der Kritik an der natürlichen Theologie Gefahr, durch Radikalisierung des zweiten Motivs alles so streng christologisch zu konzentrieren, daß die dort konvergierende Schöpfungslehre und Pneumatologie zu sehr verengt werden. Diese reduzierende Zuspitzung finden wir bei Noordmans, der den kritischen Charakter der dialektischen Theologie Barths verstärkt und die von Barth hergestellte Beziehung zwischen Schöpfung und Inkarnation ablehnt. Er gelangt zu einer sehr kritischen pneumatologischen Theologie, in der der traditionelle Schöpfungsbegriff bis auf ein Mindestmaß eingeengt ist und der kritisch-forensische Charakter des Geistes stark betont

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Vgl. Barth, K., Die kirchliche Dogmatik, Die Lehre von der Versöhnung, Bd. IV,4, Das christliche Leben (Fragment), Die Taufe als Begründung des christlichen Lebens, Zürich 1967. Siehe zur Entwicklung des Sakramentsverständnisses Barths: Binsbergen, A.J. van, Van zegel naar antwoord, De doopleer als sluitstuk in de ontwikkeling van Barths sacramentsopvatting, Bolsward 1982. Vgl. Bayer, O., 'Gegen System und Struktur, Die theologische Aktualität Johann Georg Hamanns', in: Acta 1, (40-50), SO: "Gegen die neuzeitliche Rationalität in ihrem Purismus und Puritanismus wie auch gegen jenen Spiritualismus, den selbst Barth nicht überwindet, ist für Hamann von dem Christusereignis her auch dessen Selbstmitteilung und Zueignung konstitutiv sinnlich', Gottes Menschenfreundlichkeit läßt sich 'schmecken* (Ps 34, 9).H Vgl. Hasselaar, J.M., 'Vragenderwijs bij kennisname van Barths doopleer', in: Hasselaar, J.M., Al luisterend..., een keuze uit het werk van prof.dr. J.M. Hasselaar aangeboden ter gelegenheid van zijn zestigste verjaardag, Utrecht 1977, (176-183), 183.

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Kapitel 9 Die aktuelle Bedeutung der Theologie Hamanns

wird. Offenbarung und Wirklichkeit geraten so sehr in ein antithetisches Gegenüber, daß Noordmans Theologie, wie die Theologie von Barths erstem und zweitem Römerbrief, die Form einer dialektischen Umkehrung erhält und damit auch die moderne Trennung zwischen Natur und Gnade beibehält. Eine andere mögliche Entfaltung der Theologie Barths zeigt uns das Werk Hamanns, in dem die beiden erwähnten Grundmotive auch zu finden sind. Ohne dem kritischen Charakter der Offenbarung Abbruch zu tun, weitet Hamann den supralapsarischen Zusammenhang schöpfungstheologisch und pneumatologisch so sehr aus, daß auf beiden Seiten mehr Raum für die sakramentalen Gestalten von Schöpfung und Kirche entsteht als bei Barth. Hamanns hermeneutische Lösung dieser Frage bietet unseres Erachtens gute Anknüpfungspunkte, um Barths Theologie unter Wahrung ihrer grundlegend kritischen Tendenz so neuzuformulieren, daß die Phänomenalität der Schöpfung, Geschichte, Kirche und Kultur stärker ins theologische Blickfeld gerät und somit der Vorwurf eines beklemmenden Christomonismus nicht mehr berechtigt ist. Schöpfungstheologisch weist Barths späteres Werk auch selbst in diese Richtung; ekklesiologisch allerdings droht aufgrund seines späteren Sakramentsverständnisses der dialektische Charakter der Offenbarung in die empirisch unvermittelte Gnade einerseits und die natürlichen Gestalten des antwortenden Gläubigen anderseits auseinanderzufallen. Von Balthasar schreibt in seinem Buch über Barth, dessen Gedanken über Natur und Gnade stünden der katholischen Tradition so nahe, daß die noch verbleibenden Unterschiede ein Schisma nicht rechtfertigten68. Etwas vorsichtiger wagen wir im Blick auf Hamann und auch Barth die Behauptung, daß beider Verständnis von Natur und Gnade so sehr in der Kontinuität der patristischen und mittelalterlichen Theologie steht, daß es gute Gründe dafür gibt, uns im Gespräch mit der zeitgenössischen katholischen Theologie zu fragen, ob jedenfalls im Bereich der Fragen von Natur und Gnade das Schisma zwischen Rom und der Reformation theologisch nicht überwunden werden könnte. Während die oekumenischen Perspektiven in diesem Punkte wahrscheinlich günstig sind, steht es anders um die Pneumatologie und Ekklesiologie. Von Balthasar stellt fest, daß im ekklesiologischen Bereich zumindest von Barthianischer Seite wichtige Gründe bestehen könnten, die Trennung zwischen Rom und der Reformation aufrechtzuerhalten69. Dasselbe gilt für Hamann. Es gibt bei ihm keine systematisch ausgearbeitete Pneumatologie, aber seine Auffassung über die pneumatologischen und hermeneutischen Auswirkungen der Inkarnation ist so beweglich und kritisch, daß sie

68 69

Von Balthasar, Karl Barth, 389. Ibidem.

9.4 Die Natur im Bilde der Gnade

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in einem gespannten Verhältnis zu den katholischen Ansichten über Papst, kirchliche Lehrgewalt, die vorherrschende Rolle der Tradition70, Sakramente (keine Trans substantiation!), Amt, Zölibat und die Marien- und Heiligenverehrung71 steht. Barths Befürchtung, die Gnade werde in der katholischen Ekklesiologie zu sehr an kirchliche Gestalten und Institutionen gebunden, findet sicherlich in Hamanns Werk Unterstützung. Hamanns Theologie ist eine 'katholische* Theologie, - das heißt: anknüpfend beim Natur-Gnade Denken aus der Zeit vor der Renaissance - in die jedoch die lutherische Freiheit der Gnade, die zugleich die Freiheit des Christenmenschen ist, die pneumatologische Dynamik und Kritik eingebracht hat.

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Sprache

und

Bedeutung

9.5.1 Problemstellung Im letzten Paragraphen dieses Kapitels müssen wir auf ein wichtiges und ungelöstes Problem der Hermeneutik Hamanns zurückkommen, das bereits im Kapitel 1 angekündigt72 und auf das danach mehrmals hingewiesen wurde. Ausgangspunkt für Hamanns Bestimmung der Beziehung von Natur und Gnade ist die Sprachlichkeit beider Wirklichkeitsdimensionen. Von daher bekämpft er alle Aufklärungsdenker, die von der kontingenten und sinnlichen Wirklichkeit absehen und sich auf einen Kernbestand ewiger Vernunftwahrheiten zurückziehen. Nach Hamann, der damit beim Nominalismus Humes anknüpft, ist ein solches Absehen von der sinnlichen Wirklichkeit nicht möglich, weil die Vernunft immer und unabänderlich im Sinnlichen 'inkarniert' ist. Diese Kritik spitzt sich am schärfsten in der Auseinandersetzung mit Kant zu, der in seiner Kritik der reinen Vernunft den Verstand zwar an die Empirie bindet, trotzdem aber nachzuweisen trachtet, daß Erkenntnis notwendiger a priori Wahrheiten, die empirisch zum Ausdruck kommen, möglich ist. Hamann versucht, ihn in diesem Punkte durch den Hinweis zu widerlegen, daß die Vernunft sich nicht von der Sprache befreien kann und somit ihrem kontingent-historischen Charakter unterworfen ist73. Dieselbe

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Übrigens hat Hamann eine höhere Auffassung von der Tradition als viele Protestanten. Für ihn gilt immer Schrift und Tradition, in dieser Reihenfolge und beide unter der kritischen Autorität des Geistes Christi. Vgl. § 9.3.6. Vgl. § 1.3. Vgl. §7.4.

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Kapitel 9 Die aktuelle Bedeutung der Theologie Hamanns

Antwort gibt er Lessing in Konxompax: Wir sind 'dem Fluch der Kontingenz' unterworfen, die für ihn gerade der Segen des freien und sakramentalen Wortes Gottes ist74. Die Auffassung, daß alle Bedeutung, auch die sogenannten ewigen Wahrheiten, innerhalb des transzendentalen Horizonts der Sprache zustande kommt und sich dem nicht entziehen kann, findet in der gegenwärtigen Hermeneutik viel Gehör75. Sie wurde vor allem von Heidegger und Gadamer entfaltet, die versuchten, in Auflehnung gegen die Vorherrschaft der exakten Wissenschaften, zu einer universalen Hermeneutik zu gelangen, die dem Charakter der Geisteswissenschaften gerecht wird und auch die exakten Wissenschaften mit einbegreifen kann. Dies führt unter anderem dazu, daß wie bei Hamann kein Raum mehr für notwendige Wahrheiten besteht, die nicht durch den geschichtlichen Charakter der sprachlichen Wirklichkeit 'angetastet' werden76. Später konnte diese Erkenntnis noch durch den Strukturalismus verstärkt werden, wonach ein Zeichen seine Bedeutung von der Stelle ableitet, die es in einem geschichtlich gewachsenen Zeichensystem einnimmt. Und solch eine Querverbindung ist auch zum späteren Wittgenstein möglich, demzufolge Worte ihre Bedeutung von ihrer Funktion in einem sozialen Sprachspiel ableiten77, sowie zu der Paradigmatheorie von Th.S. Kuhn, die die Entstehung und Veränderung wissenschaftlicher Paradigmen mit soziologischen und psychologischen Begriffen erklärt78. Am Schluß unserer Analyse der Metakritik Hamanns mußten wir feststellen, daß es Hamann nicht gelungen ist, Kant endgültig zu widerlegen. Außerdem haben wir einige kritische Fragen zu neueren Versuchen gestellt, wie bei Hamann alle Bedeutungsmuster, auch die der exakten Wissenschaften, innerhalb des transzendentalen Horizonts der Sprache einzuordnen und zu relativieren79. Das Problem der hermeneutischen Theorie Hamanns und 74 75

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Vgl. § 6.3.4. Vgl. zum Beispiel Kasper, op.cit, 105: "In der neueren Philosophie kam es zu einer Aufklärung der Aufklärung über sich selbst . Man erkannte, daß die menschliche Vernunft und das, was sie als natürlich und vernünftig erkennt, kulturellen, geschichtlichen Wandlungen unterliegen. Man weiß heute anders als Kant, daß die apriorischen Verstehensbedingungen des Menschen geschichtlich variabel sind." Vgl. zu dieser Auffassung bei Heidegger und Gadamer: Veldhuis, Geen begrip voor de Ander, 91-95. Vgl. Peursen, C.A. van, Ludwig Wittgenstein, Baarn 1965, 67 ff.; Nuchelmans, G., Overzicht van de analytische wijsbegeerte, Utrecht/Antwerpen 1978 4 ,171-189; Rochelt, H., 'Das Creditiv der Sprache (Von der Philologie J.G. Hamanns und Ludwig Wittgensteins)', in: Literatur und Kritik, 4 (1969), 169-176; Hein, H., 'Hamann und Wittgenstein, Aufklärungskritik als Reflexion über Sprache', in: Acta 2, 21-56. Vgl. Koningsveld, H., Het verschijnsel wetertschap, een inleiding tot de wetenschapsfilosofie, Amsterdam 19772, 155-175. Vgl. § 7.4.6.

9.5 Sprache und Bedeutung

419

vieler anderer besteht darin, daß damit der Versuch unternommen wird, wesentlich unterschiedliche Bedeutungsstrukturen - sowohl geschichtlich gewachsene als auch ewige und notwendige - aufeinander zurückzuführen, oder sie jedenfalls mithilfe eines einzigen hermeneutischen Modells zu thematisieren. So wurde lange Zeit versucht, alle Wissenschaften aufgrund des so erfolgreichen Modells der Naturwissenschaften zu verstehen und zu ordnen. Umgekehrt haben Heidegger, Gadamer und ihre Nachfolger getrachtet, den Objektivierungsdrang der exakten Wissenschaften durch eine universale, von den Geisteswissenschaften aus entwickelte geschichtliche Hermeneutik der Sprache einzuschränken. Ein Anstoß für diesen 'geschichtlichen' Ansatz war die Entdeckung der Quantentheorie. Behauptet sie nicht, daß eine strenge Trennung von Subjekt und Objekt selbst in der Physik nicht mehr möglich sei, so daß auch dort von objektiven, nicht auf das geschichtliche Subjekt bezogenen Wahrheiten keine Rede mehr sein könne? Hamanns Konflikt mit der Aufklärung über die Frage der 'ewigen Wahrheiten' betrifft ein Grundproblem, mit dem die Theologie sich bereits seit ihren Anfängen auseinanderzusetzen hat. Wenn Wissenschaft, wie Aristoteles behauptet, notwendige Erkenntnis von notwendigen Sachverhalten ist, wie kann dann die Theologie als Reflexion über eine weitgehend kontingente Glaubenswirklichkeit Wissenschaft sein?80 Entsprechend stellt Hamann Kant, Lessing und ihren Geistesverwandten die Frage, ob angesichts der sprachlichen Grundstruktur der Wirklichkeit Erkenntnis überzeitlicher Wahrheiten möglich sei. Wir lassen uns im Blick auf dieses grundlegende Problem der Hermeneutik Hamanns auf den Versuch ein, aufzuzeigen, daß diese brennende Frage, die im Mittelpunkt der Diskussionen über das Verhältnis von exakten und geistesgeschichtlichen Wissenschaften und auch über den wissenschaftlichen Status der Theologie steht, nicht durch eine eindimensionale Theorie beantwortet werden kann, die nur für eine einzige Art der Bedeutungsbildung Raum läßt. In dem Bewußtsein, daß es um ein sehr kompliziertes Problem geht, das hier unmöglich in allen Aspekten dargelegt, geschweige denn gelöst werden kann, unternehmen wir im nächsten Unterparagraphen einen ersten Versuch, innerhalb einer einzigen differenzierten hermeneutischen Theorie sowohl die notwendigen als auch die geschichtlichen Wahrheiten gelten zu lassen. Danach folgt die theologische Anwendung, und in § 9.3 kommen wir noch kurz auf Hamann und die 'ewigen Wahrheiten' zurück.

80

Siehe zur Geschichte des Wissenschaftsbegriffs in der Antike und im Mittelalter: Vos, Kennis en noodzakelijkheid, 1-104.

420

Kapitel 9 Die aktuelle Bedeutung der Theologie Hamanns

9.5.2 Bedeutung und Zeit; eine kurze Hermeneutik der Wissenschaften Die exakten Wissenschaften Die Bezeichnung 'exakt' verdanken die exakten Wissenschaften weitgehend der Tatsache, daß sie etwas entdecken, was wir im normalen Sprachgebrauch 'Gesetze' nennen: Regeln, kausale oder statistische Zusammenhänge, die sich als immer gültig erweisen. Sie formulieren Gesetzmäßigkeiten, die oft unveränderlich sind und aus diesem Grunde auch als 'überzeitliche' oder 'ewige Wahrheiten' bezeichnet werden. Es ist allerdings wichtig, festzustellen, daß diese 'Überzeitlichkeit', diese 'ständige Gültigkeit' sehr unterschiedlicher Art sein kann. Dies läßt sich anhand einer kurzen Erläuterung der sogenannten 'Gesetzmäßigkeit' der drei exakten Wissenschaften, Logik, Geometrie und Physik, deutlich machen. Logische Gesetze sind Aussagen, die notwendig wahr sind, das heißt: sie sind wahr in jeder möglichen Welt. Das bekannteste logische Gesetz ist das Gesetz der Nicht widersprüchlichkeit: ρ und nicht-p können nicht gleichzeitig der Fall sein in einer möglichen Welt. Die notwendige Wahrheit dieses und anderer logischer Gesetze kann durch logische Ableitungsregeln bewiesen werden. Über Inhalt und Anzahl dieser Regeln läßt sich streiten, aber der Anspruch bleibt bestehen, daß damit Gesetze abgeleitet werden können, die in jeder möglichen Welt wahr sind. Geometrische Gesetze sind konsistent, aber nicht immer wahr, das heißt: man kann sich eine mögliche Welt vorstellen, in der sie wahr sind, aber sie sind nicht in jeder möglichen Welt wahr. So ist die euklidische Geometrie zwar konsistent, aber nicht in jeder möglichen Welt wahr, wie wir seit Einstein wissen. Geometrische Gesetze können axiomatisch abgeleitet werden, aber ob eine bestimmte geometrische Gruppe von Axiomen und Lehrsätzen in der aktuell bestehenden Welt brauchbar ist, muß experimentell festgestellt werden*1. Physikalische Gesetze sind konsistent und haben durch Anwendung der Mathemathik einen bestimmten deduktiven Gehalt. Diese Gesetze können jedoch nicht axiomatisch oder logisch abgeleitet werden, sondern müssen induktiv-experimentell entdeckt werden. Außerdem muß das Experiment immer wieder beweisen, ob das 'Gesetz' noch gilt. Wir sehen also, daß nur logische Gesetze notwendig sind: nur sie sind in jeder möglichen Welt wahr und benötigen keinen experimentellen Nachweis. Bei mathematischen Gesetzen ist dies zuweilen der Fall und viel häufiger noch bei physikalischen Gesetzen. Es ist auch deutlich, daß der über-

81

Vgl. Kneale & Kneale, The development of logic, 380-387.

9.5 Sprache und Bedeutung

421

geschichtliche Charakter der Physik stark von dem der Logik abweicht. Streng genommen 'übergeschichtlich' ist von den drei zitierten Beispielen nur die Logik. Die physikalischen Gesetze sind Konstanten unserer aktuellen Wirklichkeit, die früher vielleicht nicht da waren und in der Zukunft vielleicht nicht bestehen. Theologisch könnte das heißen: sie sind von Gott geschaffen, er hätte andere schaffen können und wird das vielleicht noch tun. Physikalische Gesetze haben also in 'hohem' Maße geschichtlichen Charakter 2 . Die

Geisteswissenschaften

Um nun den Eigencharakter der exakten Wissenschaften und der Geisteswissenschaften im Verhältnis zueinander angeben zu können, werden wir auf die vor allem in der strukturalistischen Hermeneutik benutzte Unterscheidung zwischen Zeichen und Bedeutung zurückgreifen. Im § 5.2 wurde F. de Saussure erwähnt, nach dessen Auffassung kein essentieller Zusammenhang zwischen der materiellen Gestalt des Zeichens ('signifiant') und der dadurch bedeuteten Bedeutung ('signifie') besteht83. Dieser Zusammenhang ist willkürlich, denn das Zeichen ist eine kontingente Gestalt, die auch etwas anderes bedeutet haben könnte, eine andere Stelle im Bedeutungsfeld einnehmen kann oder hätte einnehmen können. Die Frage ist allerdings, ob diese These nicht lediglich für die Sprache der exakten Wissenschaften gilt. In den Formeln der exakten Wissenschaften sind Zeichen zwar nötig, um die Bedeutung sichtbar zu machen, aber sie sind für den Bedeutungsinhalt nicht konstitutiv. Jede willkürliche andere Gruppe von Zeichen kann benutzt werden, solange die Zeichen eines Satzes unterschiedlich sind, ihre 'Differenz' voneinander genügt. Dasselbe kann man zum Verhältnis von Bedeutung und Bezeichnetem (Referenten) sagen. Die Bedeutung bezieht sich auf eine sehr große Klasse von (möglichen) Sachverhalten. Jeder dieser Sachverhalte ist eine Exemplifizierung der betreffenden Bedeutungsstruktur, aber

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83

Hierin haben Hume und Hamann bezüglich der physikalischen Gesetzmäßigkeiten Recht. Die Quantenphysik hat entdeckt, daß im subatomaren Bereich sogar nicht von Gesetzmäßigkeit, sondern von Zufall die Rede ist. Außerdem zeigte es sich, daß eine objektive Beschreibung eines derartigen zufälligen Zusammentreffens, in dem Sinne, daß der Betrachter als physikalische Entität außerhalb des Experimentes steht, nicht mehr möglich ist, was noch nicht impliziert, daß die Objektivität der physikalischen Interaktion verlorengegangen ist und das realistische Wirklichkeitsverständnis zugunsten einer idealistischen oder verwandten Auffassung aufgegeben werden muß, wie Geisteswissenschaftler oft folgern. Siehe zu einer kurzen Erörterung von de Saussures Zeichentheorie: Berns, E., IJsseling, S., Moyaert, R, Denken in Parijs, Taal en Lacan, Foucault, Althusser, Derrida, Alphen aan den Rijn/Brussel 1981\ V, 'Jacques Derrida en de taalfilosofie', (139169, E. Berns), 142-149.

422

Kapitel 9 Die aktuelle Bedeutung der Theologie Hamanns

innerhalb dieser Klasse ist er eine willkürliche Exemplifizierung: im Vergleich zu den anderen Sachverhalten dieser Klasse fügt er selbst dem exemplifizierten Bedeutungsinhalt nichts hinzu, er bestätigt ihn nur. In den exakten Wissenschaften gibt es also eine 'exakte' Beziehung zwischen Konnotation (Bedeutung) und Denotation (Referenz). Wenn ein bestimmter Sachverhalt ρ im Widerspruch zur gesetzmäßigen Bedeutungsstruktur steht, kann dies zweierlei bedeuten: entweder gehört ρ zwar in die denotierte Klasse, aber die Gesetzmäßigkeit muß aufgegeben werden (ist falsifiziert), oder der Sachverhalt ist nicht relevant, weil er nicht in die denotierte Klasse gehört und das Gesetz gültig bleibt; daher die große Bedeutung der experimentellen Isolierung. Allerdings trifft Obenstehendes für den größten Teil unseres Sprachgebrauchs nicht zu. So ist es deutlich, daß in der Poesie und der Prosa eine bestimmte Sprache, eine bestimmte Zeichengruppe, nicht willkürlich mit einer anderen ausgetauscht werden kann. Das bedeutet, daß das Zeichen selbst für die Bedeutung, die es zum Ausdruck bringt, konstitutiv ist und 'traduire' immer auch 'trahir' ist. Man kann also nicht mehr sagen, daß der Zusammenhang zwischen 'signifiant' und 'signifid' willkürlich ist, denn ein anderes 'signifiant' ergibt direkt auch ein anderes 'signifi6'. Seit Wittgenstein ist häufig von 'Sprachspielen' die Rede, in denen die Bedeutung von Sprachelementen durch Spielregeln bestimmt wird. Ein bekanntes Beispiel ist das Schachspiel. Man kann irgendeine Schachfigur ohne weiteres durch eine Streichholzschachtel ersetzen, denn die 'Schachfigur' kann und darf nicht mehr tun, als die Stelle innerhalb des festgesetzten Feldes und die festgesetzten Regeln sichtbar machen. Es gibt freilich auch 'Sprachspiele', in denen die Regeln und Zeichen unmittelbar ineinandergreifen. Wenn ein Kind mit seinen Spielzeugtieren spielt, erfindet es mit diesem Spielzeug jederzeit seine eigenen 'Regeln', wobei das Spielzeug durchaus für das Spiel konstitutiv ist. Man braucht bloß einmal zu versuchen, das Spielzeugpferd durch eine Streichholzschachtel zu ersetzen! Außerdem sind die Spielregeln nicht ohne weiteres vorgegeben, auch nicht beim Schachspiel. Die Spieler können beschließen, sie zu ändern. So ist es auch mit der Sprache: die Regeln des Sprachspiels werden durch das aktuelle Reden und Schreiben ständig angepaßt oder geändert, wie denn die Sprache ein sich geschichtlich in der Zeit entwickelndes 'Spiel' ist. De Saussure unterscheidet zwischen 'langue' und 'parole': 'langue' ist die Sprache als vorgegebenes Zeichensystem, 'parole' ist der Sprechakt, der die 'langue' applikativ aktualisiert. Kennnzeichnend für die 'exakte' Wissenschaftssprache ist nun, daß sie eine strenge Parallelität der 'parole' und

9.5 Sprache und Bedeutung

423

'langue' erstrebt®4. Im anderen Sprachgebrauch gibt es jedoch meist eine elastische Spanne zwischen 'langue' und 'parole', die der applikative Raum des sprechenden Subjektes ist. Solange dieser subjektive Spielraum besteht, ist die semiotisch-strukturalistische Analyse unzulänglich und kann sie 'den Tod des Subjektes' nicht verkünden. Die semiotische Semantik muß ergänzt werden durch eine hermeneutische Semantik, die einen Blick für die konstitutive Bedeutung des Subjektes hat. Die Dialektik von Zeichen und Bedeutung läuft parallel zur Dialektik von Bedeutung und Bezeichnetem (Referenten). Der Unterschied zu gesetzmäßigen Bedeutungsstrukturen ist der, daß es keine feste Koppelung zwischen der Bedeutung und einer einzigen genau umschriebenen Klasse von Referenten gibt. In der Praxis des 'normalen' und kulturellen Sprachgebrauchs handelt es sich nicht nur um willkürliche Variation innerhalb einer bestimmten Klasse, sondern auch zwischen einzelnen Klassen. In diesem Fall impliziert denotative Variation zugleich Veränderung der Konnotation und entsteht analogisches Sprechen85. Die konstitutive Rolle von Zeichen und Bezeichnetem und des Menschen als Bedeutung verleihenden für die Konnotation eines Begriffs ist am stärksten bei individueller Bedeutung und einer einzigen referentiellen Verweisung. Dies kommt auf der Ebene des Zeichens am stärksten im Eigennamen zum Ausdruck. Der Eigenname ist einzigartig86 und verweist auf eine einzigartige kontingent-geschichtliche Gestalt. Sowohl die kontingente

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In der Logik läßt sich dies Ideal verwirklichen, weil sie nicht von der Induktion abhängig ist und also nicht 'von außen' gestört werden kann. In der angewandten Geometrie kann eine einzige Erfahrung genügen, um die eine 'langue' durch die andere zu ersetzen, aber die strenge Korrelation der (neuen) 'langue' und der (neuen) 'parole' bleibt gewahrt. In der Physik sind viele experimentelle Erfahrungen nötig, um sich dieser Korrelation so weit wie möglich zu nähern. Aufgrund neuer Erfahrungen mußten Einstein und andere die Newtonsche Physik korrigieren und erweitern. Trotzdem strebt die Physik auch weiterhin nach einer strengen Korrelation der 'langue' und 'parole', denn man glaubt auch weiterhin an eine übergeschichtliche, objektive Gesetzmäßigkeit der physikalischen Wirklichkeit, die in einer Gesamtheit von exakt formulierten Gesetzen ausgedrückt werden kann. Daß es Paradigmaverlagerungen in der Physik gibt, impliziert nicht die historische Veränderlichkeit der physikalischen Wirklichkeit; sie treten gerade auf, weil die unveränderlichen physikalischen Strukturen dazu Anlaß geben. Ohne epistemische 'Bekehrungen' gibt es keine bessere Erkenntnis objektiver ontologischer Strukturen. Es kann auch sein, daß die physikalische Wirklichkeit uns zwingt, das Paradigma der Gesetzmäßigkeit zu verlassen: so entdeckte die Quantenphysik eine Ebene (subatomar), auf der es nicht mehr in jeder Hinsicht um Gesetzmäßigkeit, sondern auch um Zufall geht. Ein Niederländer, der nur indische Elephanten gesehen hat, versteht unter 'Elephant' etwas anderes als ein Niederländer, der auch afrikanische Elephanten kennt. Gleiche Eigennamen sind Homonyme.

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Kapitel 9 Die aktuelle Bedeutung der Theologie Hamanns

Gestalt des Zeichens als die des Bezeichneten sind in hohem Maße mit konstitutiv für die Bedeutung des Wortes. Freilich kann man beschließen, eine bestimmte Bedeutung möglichst genau zu vereinbaren, aber so hat man noch kein logisches, mathematisches oder physikalisches Gesetz. In der Physik werden die Gesetze nicht durch Vereinbarung gültig, sondern aufgrund von entscheidenden Experimenten entdeckt. Daß es dabei um mehr als Stipulierungen geht, hängt damit zusammen, daß Experimente die formulierten Hypothesen im Prinzip falsifizieren können. In der Mathematik werden Gesetze axiomatisch abgeleitet, und sofern die betreffenden Axiome nicht vollkommen evident sind, muß die Wahrheit des betreffenden Gesetzes experimentell bewiesen werden. In der Logik ist das Experiment nicht erforderlich, denn die betreffenden Gesetze gelten in jeder möglichen Welt87. Wir kommen zu dem Schluß, daß in vielen hermeneutischen Bereichen das menschliche Subjekt, das Zeichen und der Referent konstitutiv für die Bedeutung sind. Dabei handelt es sich also um Bedeutung, bei der nicht vom 'geschichtlich' sprachlichen Kontext abgesehen werden kann, und da gilt Hamanns Ausspruch: 'Vernunft ist Sprache'. Auch in den exakten Wissenschaften sind die Zeichen und die Referenten kontingent-geschichtlich, aber damit tragen sie wenig (Physik) oder nichts (Logik) zur aktualisierten Bedeutung bei; sie aktualisieren diese nur, oder in Abwandlung der Aussage Kants: auch wenn es so ist, daß die Bedeutung 'mit der Sprache anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben aus der Sprache'. Bei den Geisteswissenschaften handelt es sich allerdings um einen unendlichen Reichtum an schwer festzulegenden Bedeutungen, die ihre eigene geschichtliche Gestalt suchen. Sie erfordern eine Hermeneutik der Metapher, die die Kontinuität und Variation der Bedeutungskomplexe zu thematisieren vermag. Damit wird allerdings nicht geleugnet, daß die kontingent-geschichtliche Variation der Bedeutungen innerhalb der Grenzen der Logik geschieht. Die metaphorische Dynamik spielt sich im Spielraum der logischen Bedeutungsmuster ab, so daß sie auch für die Geisteswissenschaften als Mindestvoraussetzungen der Bedeutung gelten. Daß sinnvolle Analogie zustande kommen kann, hängt auch damit zusammen, daß es einen eindeutigen und übergeschichtlichen Bedeutungsraum gibt, dessen 'transzendentale' Struk-

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Sind die logischen Gesetze denn nicht aufgrund stipulierter Ableitungsregeln abgeleitet? Sicherlich, aber wenn man diese Regeln nicht als evident akzeptieren will, stellt man sich die nicht geringe Aufgabe, die Evidenz mit Argumenten anzufechten, oder andere - evidentere - Regeln zu formulieren, von denen andere oder dieselben Gesetze abgeleitet werden können.

9.S Sprache und Bedeutung

425

turen die Logik analysiert", Strukturen, denen kein sinnvolles (wissenschaftliches) Reden sich entziehen kann89. Die Theologie Wenn wir nun das zuvor Gesagte auf die systematische Theologie übertragen, erweist sie sich dann als exakte Wissenschaft oder als metaphorische Geisteswissenschaft? Viele zeitgenössische Theologen bestreiten die erste Möglichkeit mit Nachdruck. Sie sind der Ansicht, daß die exakten Wissenschaften die Wirklichkeit objektivierend festlegen, um sie so denkend und technisch in den Griff zu bekommen. Die Theologie darf ihrer Ansicht nach aufgrund ihres einzigartigen 'Gegenstandes' und der geschichtlichen Beweglichkeit der Offenbarung und der (Heils)Geschichte dieser Versuchung der systematischen Objektivierung nicht erliegen. Obwohl dieses Theologieverständnis auf mögliche Gefahren weist, können wir es nicht bejahen. Auch die Theologie ist unseres Erachtens eine Wissenschaft im strengsten Sinne, und zwar insofern sie notwendige Erkenntnis enthält. Wir können dies anhand von zwei Schriften des Anselm, Proslogion und Cur deus homo, erläutern. In Proslogion liefert Anselm einen streng logischen Beweis für die notwendige Existenz Gottes. Dies ist also ein Stück Theologie, das sogar der Anforderung des Aristoteles entspricht: Wissenschaft liefert notwendige Beweise von notwendigen Sachverhalten. Wie steht es allerdings mit Gottes kontingentem Handeln und der Heilsgeschichte als kontingenter Wirklichkeit? Laut Aristoteles ist darüber keine wissenschaftliche Erkenntnis möglich, aber Anselm und andere mittelalterliche Theologen behaupten, daß das Notwendigkeitskriterium auch erfüllt sei, wenn notwendige implikative Zusammenhänge zwischen an sich kontingenten Sachverhalten nachgewiesen würden. Ein Beispiel dafür ist Cur deus homo90. Dort beweist Anselm, daß, wenn eine Reihe kontingenter Prämissen gegeben sind, Christi Menschwerdung notwendig gefolgert werden muß91. Ein wichtiger Teil der systematischen Theologie besteht darin, solche notwendigen implikativen Zusammenhänge zu entdecken und zu analysieren92. So könnte man beweisen, daß die Inkarnation ausschließlich aufgrund der Schöpfung Gottes und der Art seiner

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Möglichkeitsbedingung für ein analoges Reden ist eine 'univocatio ends', deren formale Strukturen die Logik untersucht. Vgl. zu einer vergleichbaren Einteilung der Wissenschaften: Hubbeling, op.cit., 25-27. Vgl. Vos, Kennis en noodzakelijkheid, 44-47. Die Prämissen sind: Gottes Beschluß, die himmlische Stadt zu vollenden, und der Sündenfall. Ob die Prämissen und die Schlußfolgerung, zwischen denen der notwendige Zusammenhang besteht, tatsächlich wahr sind, ist eine Frage der (gläubigen) Wahrnehmung. Systematische Theologie ist Reflexion über das im Glauben Vorgegebene.

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Kapitel 9 Die aktuelle Bedeutung der Theologie Hamanns

Liebe notwendig gefolgert werden muß. Ein solcher Beweis zeigt, daß der Sündenfall keine Conditio sine qua non für das Erscheinen Christi ist. Was die Bedeutungszusammenhänge anbelangt, die akzidentiellen Charakter haben, ist die systematische Theologie eine hermeneu tische Wissenschaft, die untersucht, wie heilsgeschichtliche Bedeutung sich metaphorisch und typologisch entwickelt und als sinnvolles Ganzes verstanden werden kann. Bedingung für eine sinnvolle Einheit ist, wie gesagt, ein eindeutiger und logisch strukturierter Raum, in dem das Gespräch zwischen Gott und Mensch stattfindet. Daß allerdings die kontingente Bedeutung, sofern nicht logisch-transzendental ableitbar, eine sinnvolle Anordnung um ein hermeneutisches Zentrum hat, ist das Wunder der Schöpfung und Offenbarung. Jeglicher mythologische, metaphorische und typologische Sinn und Un-sinn erhält eine Ausrichtung durch einen von Gott geschenkten eindeutigen Mittelpunkt, der Schöpfung und Geschichte zu einem sinnvollen Geschehen macht, nämlich die Liebe. Die Logik erforscht nur das Mindestmaß an transzendentalen Bedeutungsbedingungen, die auch die Theologie zu berücksichtigen hat. Gleichzeitig durchmißt die Theologie das hermeneutische All bis zum anderen äußersten Ende: der Liebe als der kontingenten und bedeutungsvollsten Inkarnation der Bedeutung. Sie stellt als eindeutiger Kern der von Gott ermöglichten vertikalen und horizontalen 'analogia caritatis' alle Bilder von der Schöpfung bis zum Eschaton in einen einzigen metaphorischen Zusammenhang93.

9.5.3 Hamann und sein Kampf gegen 'die ewigen Wahrheiten' Kommen wir nun zum Schluß nochmals auf Hamanns Kampf gegen die überzeitlichen Wahrheiten zurück. Mit Recht hat er scharf gesehen, daß in der Theologie und Philosophie der Aufklärung nicht oder kaum mehr von Reflexion über die Glaubenswirklichkeit die Rede ist. Nachdem sie sich erst vom hermeneutischen Kontext der Offenbarung gelöst haben, sehen viele Aufklärungsdenker die ewigen und natürlichen Wahrheiten als den Ort, von dem aus der Mensch seine eigene Autonomie begründen kann. Diese autonome Selbstbegründung führt zum Verlust der Verbindung mit der Quelle aller Sinngebung; es ist eine Autonomie der Vernunft, die im Sinnlosen schwebt. Diese von Hamann tief ausgelotete Entwurzelung des europäischen

" Eine 'analogia caritatis', die durch Gottes 'univocatio caritatis1 zustande kommen kann. Siehe zur 'analogia caritatis': Lochbrunner, M., Analogia Caritatis, Darstellung und Deutung der Theologie Hans Urs von Balthasars, Freiburg/Basel/Wien 1981, 281303, 311 f.; Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 407 f.

9.S Sprache und Bedeutung

427

Geistes hat sich in der Zeit nach der Aufklärung ganz durchgesetzt. Die Emanzipation des modernen Menschen hat einerseits zu einer stürmischen Entwicklung der Wissenschaft und Technik mit allen entsprechenden Möglichkeiten zur Verbesserung des menschlichen Lebens geführt; anderseits wird es immer schwieriger, orientierende Sinnerfahrung und Sinngebung zu finden. Die von der Aufklärung erstrebte Selbstentfaltung der Vernunft ist in vielerlei Hinsicht in ein unbegrenztes 'Wachstumsdenken' entartet, das nicht mehr weiß, welcher 'nomos' oder welches 'Licht' diesem Wachstum Richtung geben kann. Verwickelt in seinen Kampf gegen den Geist der Aufklärung, gelangt Hamann zu einer eindrucksvollen, aber auch wegen seines kryptischen Stils von wenigen verstandenen, theologischen 'Aesthetica'. Als ein christlicher Sokrates hofft er damit wiederum Interesse für die sakramentale Sprache der Natur und Gnade zu wecken. Er aktualisiert das klassisch-christliche Prinzip von Buchstabe und Geist und entwickelt es zu einer umfassenden Hermeneutik, wodurch er zugleich den empiristischeri^und anthropologischen Wünschen der Aufklärung gerecht zu werden versucht. Zudem zeigt er, daß nur auf diese Weise eine Antwort gegeben werden kann auf die seit der Aufklärung so brennende Frage, wie ein Verständnis der geschichtlichen Wirklichkeit möglich ist. Zugleich muß allerdings gesagt werden, daß Hamann in seinem Kampf gegen die Auffassung der Aufklärungsdenker, in der Theologie und Physik gehe es um ewige Wahrheiten94, zu weit gegangen ist. Er glaubte, daß solche Wahrheiten keinen Raum für kontingente Bedeutungsbildung ließen und auf jeden Fall zu einer Loslösung von der geschichtlichen (Offenbarungs)Wirklichkeit führten. Das ist allerdings ein Mißverständnis, und zwar auch ein hartnäckiges Mißverständnis vieler gegenwärtiger Theologen. Die notwendigen Wahrheiten der Theologie beziehen sich abgesehen vom Kern der Gotteslehre95 auf implikative Strukturen der kontingenten Wirklichkeit, die den Spielraum für eine unerschöpfliche metaphorische Kreativität angeben. Außerdem liefert uns lediglich die (Glaubens)Erfahrung die kontingente Wirklichkeit, deren implikative Strukturen in der theologischen Reflexion erforscht werden. Die Vernunft stellt sich dabei nicht als autonome Instanz

"

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Allerdings ist oft nicht deutlich, welche Wahrheiten hierzu gerechnet wurden, und es wird nicht genug zwischen 'notwendig', 'ewig' und 'unveränderlich' unterschieden. Zum Beispiel: ist die Unsterblichkeit der Seele eine ewige Wahrheit, weil Gott sie ihr als akzidentielle Eigenschaft schenkt, oder weil der Mensch essentiell, von seiner eigenen Natur aus unsterblich ist, wie die griechische Philosophie meinte? Nämlich die notwendigen Eigenschaften Gottes als eines notwendig Seienden. Wohlgemerkt: Gott besitzt auch eine Fülle von akzidentiellen Eigenschaften, wie zum Beispiel sein schöpferisches und erlösendes Handeln.

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Kapitel 9 Die aktuelle Bedeutung der Theologie Hamanns

in einer isolierten Notwendigkeitsdimension über den Glauben oder dem Glauben gegenüber, sondern erforscht die implikativen Strukturen der ihr im Glauben geschenkten Wirklichkeit. Wir können nicht mit Hamann sagen: 'Intellectus est verbum'. Jedoch bejahen wir mit Anselm und Hamann den hermeneutischen Vorrang des 'Verbums'. Mit seiner ausführlichen und noch immer aktuellen Hermeneutik macht Hamann deutlich, daß die Krise der Aufklärung nur aufgrund eines neuen Hörens, 'Schmeckens und Sehens' des sakramentalen 'Verbums' überwunden werden kann. Die Theologie muß allerdings stärker als Hamann ernst machen mit dem 'Verbum quaerens intellectum\ Viele gegenwärtige Theologen und Philosophen können Hamanns bekannter Äußerung zustimmen: "System ist schon an sich ein Hindernis der Wahrheit" (ZH, VI 276:15). Damit zahlen sie allerdings - wie Hamann - dem Streben der aufgeklärten Vernunft nach Alleinherrschaft zu viel Tribut96.

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Wir betonen nochmals, daß dieser Paragraph nicht mehr sein kann, als die Formulierung einiger wichtiger wissenschaftstheoretischer Ausgangspunkte, aufgrund derer ein entscheidendes Problem in der Hermeneutik Hamanns gelöst werden könnte. Um über Hamanns Gegensatz zwischen sprachlicher und übergeschichtlicher Bedeutung hinauszukommen - einem Gegensatz, der die gegenwärtige wissenschaftstheoretische und hermeneutische Diskussion noch immer beherrscht - wurden hier die ersten Linien einer hermeneutischen Theorie angegeben, in der notwendige und kontingente Bedeutungen ihren eigenen integrierten Platz erhalten können.

Epilog: 4Das letzte Blatt'

Gut einen Monat vor seinem Tode - er ist damals in Münster bei Amalie von Gallitzin zu Gast97 - schreibt Hamann ins 'Stammbuch' Mariannes, der Tochter der Fürstin, den letzten Text, den er hinterlassen hat und dem Nadler den passenden Titel Das letzte Blatt gegeben hat. Es geht um ein Postskript, das Hamann am 17. Mai einigen Zeilen aus den Etudes de la nature (1784) von J.H.B, de Saint-Pierre hinzufügt, die er 7 Monate zuvor bereits in Mariannes Stammbuch eingetragen hatte. Mit diesen Zeilen von Saint-Pierre bezieht sich Hamann - bezeichnenderweise - auf den vorherigen Text im Stammbuch: einen Rat der Schriftstellerin Sophie la Roche an Marianne. 'Das letzte Blatt' ist also der dritte Teil eines dreifachen Centotextes, dessen erster Teil von Sophie la Roche ist, während die beiden anderen von Hamann stammen. Hamanns 'letztes Blatt' ist ein sehr konzentriertes Cento, das mit Pascals Mimorial verglichen werden kann. Es ist sein geistiges Testament, ein Kristall, in dem jedes Wort in christologischem und eschatologischem Licht strahlt. Für eine eingehende Analyse dieses komprimierten Textes, der größtenteils aus Bibelfragmenten besteht, ist hier keine Gelegenheit98. Zum Schluß dieser Studie über Hamanns Naturbegriff zitieren wir lediglich die ersten zwei Abschnitte: "Si q. Sages de ce monde sont parvenus par leurs Etudes dela Nature (speculum in aenigmate) ä la vision d'un Etre des Etres de raison, d'un Maximum personifiö: Dieu a revelö (facie ad faciem) l'humanitö de Sa vertu et de sa Sagesse dans les Origines etymologiques de l'Evangile Judaeis Scandalum; Graecis Stultitiam 1 Cor 1.23.24. XIII.-Vetera transierunt ecce facta sunt omnia nova 2 Cor V 17 per EUM qui dixit: Ego sum Α et Ω Apoc. XXI.6. Prophetiae evacuabunt(ur), Linguae cessabunt, Scientia dcstruetur, evacuabiter quod ex part(e) est - Non

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98

Siehe zu Hamanns Aufenthalt in Münster: Gründer, K., 'Hamann in Münster' (1955), in: Wild (Hrsg.), Johann Georg Hamann, 264-298. Siehe zum Text und ausführlichen Kommentar: Bayer, Knudsen, Kreuz und Kritik.

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Epilog

est Judaeus neque Graecus: non est servus neque liber: non est masculus neque femina. OMNES - UNUS Gal. 111.28. — ä Munster ce 17 May la veille du Dimanche de la S. Trinitö 88.""

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Bayer, Knudsen, op.cit., 63. Übersetzung (R.D.): "Wenn einige Weise dieser Welt durch ihre Studien der Natur (durch einen Spiegel im Rätsel) zur Anschauung eines höchsten Seienden der Vernunft, eines personifizierten Maximums gelangt sind: Gott hat (von Angesicht zu Angesicht) die Menschenliebe seiner Kraft und seiner Weisheit in den etymologischen Ursprüngen des Evangeliums offenbart, für die Juden ein Ärgernis, für die Griechen eine Torheit. 1 Kor. 1:23,24, XIII." Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden 2. Kor. V:17 durch IHN, der gesagt hat: Ich bin das Α und das Ω Offbg. XXI:6. Prophetien werden aufhören, Sprachen werden verschwinden, Wissenschaft wirdt vernichtet werden, was Stückwerk ist, wird ausgedient haben, - Hier ist kein Jude noch Grieche: kein Knecht noch Freier: kein Mann noch Weib. ALLE - EINER Gal. 111:28."

— zu Münster diesen 17. Mai am Vorabend des Sonntags Trinitatis 88."

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Personenregister A Sancto Thoma, J. 22 Aa, A J . van der 187 Adam 69, 77, 88, 136, 138, 144, 186189, 260, 361, 374, 387, 413 Adriaanse, H.J. 317 Aischylus 155 Aesopus 178 Albert de Grote 387 Alembert, J. le Rond d' 216 Alexander, W.M. 54, 55, 72, 76, 150 Alexander van Hales 387 Altmann, A. 266, 268-270, 272, 273, 275 Aner, K. 246, 247 Anselmus 20, 247, 425, 428 Apel, K.-O. 337 Aristophanes 155 Aristoteles 17, 21, 23, 29, 155, 170, 171, 217-219, 303, 419, 425 Athanasius 263 Auerbach, Ε. 116, 160, 166, 385, 407 Augustinus 19, 20, 23, 25, 27-29, 101, 122-124, 126, 141, 159, 177, 247, 356,357 Bacon, F. 49, 135, 138-142, 373-375 Baius, Μ. 23, 24 Bakhuizen van den Brink, J.N. 387 Balid, K.M. 388 Balthasar, H.U. von 14-16, 24, 94, 143, 177, 388, 399, 416 Banez, D. 22 Barth, H.-M. 53 Barth, Κ. 8-15, 24, 54, 56, 69, 70, 105, 149, 166, 250, 365, 386, 388, 392, 398, 399, 412-416 Batteux, Ch. 170 Baudler, G. 110,261 Baum, G. 345 Baumgarten, A.G. 130 Baur, W.-D. 110,113 Bavinck, H. 388

Bayer, O. 127, 137, 169, 217, 218, 297, 298, 323, 330, 334, 338, 355, 368, 396, 404, 415, 429 Bayle, P. 159 Beck, L.W. 250, 314 Beker, E.J. 389, 393 Bengel, J.A. 60, 127, 169 Benson, G. 163 Berens, C. 1, 109, 183, 361 Berens, J.Chr. 1, 44, 45, 108, 109, 113, 132,152 Berkeley, G. 222, 325 Berkhof, Η. 161, 389-391 Berkouwer, G.C. 389, 392 Berlin, I. 117 Berns, Ε. 421 Beverland, Η. 186, 187, 379 Biester, J.E. 344 Binsbergen, A.J. van 415 Bissen, J.-M. 388 Blackall, E.A. 110, 127, 190, 328 Blackwell, Th. 131,154 Blanke, F. 3, 86, 109, 150, 236, 334 Blondel, Μ. 16 Blumenberg, Η. 27 Boehlich, W. 5 Böhm, Β. 112 Böhme, J. 255, 258 Boethius von Dacia 34 Boileau, N. 170 Bolingbroke, H.StJ. 91, 153, 154 Bonaventura 29, 30, 104, 392, 411 Bonnet, Ch, 196, 197, 269 Borst, A. 190 Bots, J. 5 1 , 5 2 , 5 4 Boyd, J.D. 174 Boyle, R. 51 Bräutigam, B. 44, 130 Brinkman, M. 404 Brucker, J.J. 151 Büchsei, E. 92-94, 110, 118, 145, 146, 148, 187, 199, 200, 224, 260, 355

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Personenregister

Bucholtz, F.K. 341 Buffon, G.-L. 138 Burger, E. 69, 97, 263 Butler, J. 114 Büttner, M. 54 Cajetanus, Thomas de Vio 22, 23 Calvin, J. 12, 24, 68, 236, 386, 387 Cassirer, E. 35, 42, 158-160, 170, 300, 332 Chantepie de la Saussaye, D. 69, 388, 391 Chenu, M.D. 140 Cherbury, H. van 273 Chladenius, J.M. 49, 122, 163 Christ, K. 295, 340, 344, 350, 352 Chrysostome, 388 Clark Jr., R.T. 222, 229 Claudius, M. 200, 340, 370, 372 Clericus, J. 49 Condillac, E.B. de 190-192 Cook, J. 145 Copleston, F. 250 Cranz, A.F. 269, 272 Dalberg, C.Th. von 376 Damm, Chr.T. 221 Dangeuil, P. de 45 Dante 102, 337 Derham, W. 51, 52, 55, 134 Descartes, R. 11, 43, 44, 51, 52, 330 Deslandes, A.F.B. 151 Dettloff, W. 388 Diderot, D. 216 Didymus 158 Dilthey, W. 31, 337 Dohm, Chr.W. 268, 269 Don Quichotte 28, 46, 129, 201, 260 Dorner, I.A. 388 Dülmen, R. van 202 Dunning, S.N. 283, 292 Duns Scotus, J. 18, 19, 22, 70, 388 Dyck, J. 130, 229 Eberhard, J.A. 255-257, 293, 294 Ebstein, W. 401 Einstein, A. 313, 335, 420, 423 Epikur 184, 185 Erdmann, B. 34, 43, 56, 57 Ernst, P. 60, 127, 169 Euripides 155

Eusebius von Caesarea 253 Eusthatius 158 Eva 144, 186-189, 361, 365, 371, 413 Fabricius, J.A. 49, 54, 133 Fauser, M. 137 Fechner, J.-U. 60, 87, 177, 222 Feiner, J. 17 Fichte, J.G. 343 Figura, M. 16, 383 Fleury, C. 237 Formigari, L. 55 Fox, G. 236 Frank, L. 332 Frei, H.W. 160, 227 Frenz, P. 207 Friedrich der Große 127, 192, 214, 215,217, 218,222, 236-238,267, 302, 340, 355 Gadamer, H.-G. 31,337,418,419 Gajek, B. 49, 59, 127, 332 Galilei, G. 30 Gallitzin, A. von 2, 109, 401, 429 Gay, P. 159, 160, 405 Gedike, F. 344 Geliert, Chr.F. 37,39 Gerken, A. 30,104,392,411 Gessinger, J. 190 Gestrich, Chr. 16 Gibbon, E. 159 Gichtel, J.G. 255,258 Gildemeister, C.H. 56-58 Gilson, 6. 28 Girardon, 151 Gleim, J.W.L. 37 Goethe, J.W. 2, 173, 177-179, 293, 343, 405 Goguet, A.Y. 131 Goppelt, L. 101, 160 Gore, Ch. 388 Gottsched, J.Chr. 37, 170 Greppin, P. 172 Graubner, H. 51, 88, 133, 187, 189 's Gravensande, W.J. 51 Green, J. 183 Gregor Smith, R. 110 Gregory, T. 21,139 Grijs, F.J.A. 21,409

Personenregister Gründer, Κ. 3, 7, 9, 39, 88, 92-95, 110,319, 337-339,429 Gulyga, Α. 319 Gunning Jr., J.H. 388, 391 Haarlem, A. van 263 Häfeli, J.C. 370 Hagedorn, F. 37,39,334 Hager, F.P. 17 Hammacher, K. 343, 347, 352 Hamann, J.C. 62, 241 Harrison, J.L. 139 Hartknoch, J.F. 265, 359, 361, 367 Hasselaar, J.M. 389, 393, 415 Haym, R. 204, 222 Hazard, P. 35, 381 Hegel, G.W.F. 2, 119, 283, 337, 338, 343 Heidegger, M. 17, 31, 337, 418, 419 Hein, Η. 418 Heinike, S. 331, 332 Heintel, Ε. 337 Helvitius, C.-A. 214, 236 Henkel, A. 133, 241 Heppe, H. 387, 393 Herde, Η. 144 Herder, J.G. 2, 78, 108, 127, 130, 153, 154, 160, 173, 177-181, 182-198, 200, 201, 204-209, 211-214, 216230, 235, 236, 241, 242, 244, 267, 290, 293, 332, 333, 337, 343, 363, 370, 379, 384, 391,405,406 Hervey, J. 38, 50, 52, 61, 67, 68, 88, 100, 153 Hintikka, J. 310 Hippel, Th.G. von 203, 241, 359, 362 Hobbes, Th. 37, 42, 45, 53, 270, 278 Hoffmann, V. 48-51, 110, 126, 130, 152, 157, 162, 164, 166 Holbach, P.H.Th. d' 214, 236, 261 Homann, K. 344, 345 Homer 136, 141, 155, 158, 164, 171, 377 Horatius Flaccus, Quintus 137, 202, 288,377 Horstmann, A. 47 Hubatsch, W. 34 Hubbeling, H.G. 316, 317, 425 Humboldt, W. von 337, 338

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Hume, D. 42-44, 77, 117-120, 125, 146,159, 185,265-267,291,292,302, 306,314, 316,317,323-329,336, 337, 341, 344, 345, 350, 405, 421 Hund, K.G. von 203 Iammarrone, G. 388 Irenaeus 387 Irmscher, H.D. 192, 195, 196, 211, 212, 225 Irmscher, J. 164 Jacobi, F.H. 2, 117, 290, 293, 295, 298, 302, 332, 339-353, 364, 406 Jacobi, J.F. 267 Jager, O. 389 Jansen Schoonhoven, E. 3, 8, 9, 12, 26, 56, 105, 149, 232, 276, 294, 366 Jansenius, C. 23 Jaspers, K. 209 Jongeneel, J.A.B. 108 J0rgensen, S.-A. 1, 88, 100, 109, 110, 128, 130, 139, 142, 164, 169, 170, 172, 175, 179, 229 Jiingel, E. 14,201,337,426 Kandier, A. 388 Kannisto, H. 310 Kant, I. 2, 34, 43, 51, 109, 113, 132134, 160, 190,199,226-228,232, 250, 265-267, 290,291,297-299, 301, 302320, 322-325, 329-331, 333, 335-339, 341, 344, 345, 349, 351, 352, 354, 355, 400, 417-419 Kanter, J.J. 232 Kasper, W. 17, 418 Kierkegaard, S. 1, 110, 248-250 Klemens von Alexandrien 234, 253, 259, 359, 360, 362, 364 Klein, E.F. 270 Klopstock, F.G. 37, 129 Kneale, M. 304, 420 Kneale, W. 304, 420 Knijff, H.W. de 357, 380 Knoll, R. 5, 127, 202, 295, 342, 346, 349,352 Knudsen, Chr. 169, 298, 326, 327, 429 Knutzen, M. 34, 43, 51, 57, 68, 88, 137 Köpf, U. 204 Kohlenberger, H.K. 27

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Personenregister

Kohnen, J. 203 Kondylis, P. 407, 408 Koningsveld, H. 418 Konschel, P. 34, 36, 38, 43, 52, 57,68, 202, 235, 242, 344 Kooiman, WJ. 398 Korff, W.A. 389 Kracht, Th. 39 Kraus, Chr.J. 347, 355 Kraus, H.-J. 130, 154, 162 Kreling, P. 388 Kristeller, P.O. 47 Krolzik, U. 51, 53, 70, 314 Küntzel, H. 40 Kuhn, H. 355, 356 Kuhn, Th.S. 418 Kypke, D. 155, 164, 166 Lafontaine, J. de 178 Lamettrie, J.O. de 236 Lampen, W. 23 La Roche, S. 429 Lauchert, F. 193 Lavater, J.K. 2, 138, 269, 292, 293, 299, 300, 344 Leibniz, G.W. 34, 36, 125, 127, 196, 216, 217, 221, 374 Leibrecht, W. 69, 106, 150 Lennhof, E. 202 Lesser, F.C. 47, 51 Lessing, G.E. 37, 90, 129, 156, 160, 171, 172, 175, 191, 193, 199, 231, 241, 242, 248-252, 256, 257, 285, 288, 289, 295, 298, 300, 418, 419 Lieb, F. 106 Liebrucks, B. 337, 338 Lilienthal, Th.Chr. 43 Lilienthal, M. 34 Lindner, J.G. 39, 56-58, 120,122, 125, 176, 183, 241 Lochbrunner, M. 426 Locke, J. 190, 330 Löhrer, K. 155, 166, 169 Löhrer, M. 17 Löwisch, D.-J. 265, 337 Lombardus, P. 22 Long, A.A. 185 Lovejoy, A.O. 7, 55, 73, 309

Lowth, R. 130, 131, 139, 154, 163, 166 Lubac, H. de 16, 17, 19, 22-24, 94, 100, 102 Lucrez 184, 185 Lüpke, J. von 242, 250 Lumpp, H.-M. 128, 149, 155, 156, 164, 170, 172, 328 Luther, M. 3, 6, 12, 22, 24, 127, 236, 247, 277, 282, 398 Majetschak, S. 44, 328 Mandeville, B. de 45 Manaseh ben Israel 268 Manegold, I. 5, 222, 256, 257 Manuel, F. 74 Martens, W. 39 Martensen, H. 388 Martinet, J.F. 51 Maupertuis, P.L.M. de 191 Maurice, F.D. 388 Meiners, Chr. 242, 245, 246, 251-253, 257-259, 375 Meinhold, P. 144 Mendelssohn, M. 129, 172, 173, 178, 193,231,256,266-282, 284-287,292300, 319, 340, 342, 347-349, 376,406 Menno Simons 236 Merlan, Ph. 45,117,265 Metzke, E. 3, 71, 76, 120, 161, 227, 319 Michaelis, J.D. 122-124, 126, 128130, 139, 145-147, 162-164, 166-169, 175, 227, 233, 244,366 Milton, J. 171 Miras, A.E. 48 Miskotte, K.H. 392, 399 Mörschel, D.E. 269 Moscati, P. 213 Moser, F.C. von 142 Musschenbroek, P. van 51 Nadler, J. 1, 5, 48, 61, 203, 318, 352, 376, 429 Newton, Is. 43, 55, 74, 97, 160, 314 Nicolai, Chr.F. 2, 128, 129, 222, 261, 302, 344 Niebuhr, K. 145 Nieuwentyt, Β. 51, 54

Personenregister Niftrik, G.C. van 389 Nobis, H.M. 27 Noordmans, Ο. 397, 407, 415, 416 Nuchelmans, G. 418 Ockham, W. von 23 Oelmüller, W. 251 Ο'Flaherty, J.C. 109, 162 Olivetti, M.M. 347-349 Opitz, Μ. 131 Origenes 177,240 Oslander, Α. 389 Pannenberg, W. 406 Pascal, Β. 1, 346 Paulus 96, 101, 112, 172, 204, 282, 365, 387 Peter der Große 151-153, Peursen, C.A. van 418 Philipp, W. 51,53-55 Pindar 155 Piske, I. 338 Piaton 28, 155, 178, 190, 220, 320, 323 Plotin 28 Pope, A. 5 4 , 5 5 , 1 4 1 , 1 7 0 Popowitsch, J.S. 49 Poser, H. 153 Prenter, R. 398 Proß, W. 184, 192, 193, 196, 197, 230 Przywara, E. 13, 14 Pygmalion 151, 152, 167, 175 Quandt, J J . 43 Radicati, A. 40 Rahden, W. von 190 Ranke, L. von 160 Rapin, R. 40 Rappolt, C.H. 3 4 , 4 3 , 5 1 , 5 7 Rasch, W. 39 Ratzinger, J. 30 Rauch, W. 29, 30,392 Redmond, M. 117 Rehm, W. 5 Reimarus, H.S. 241, 248, 249, 252, 256 Reimmann, J.F. 49 Richardson, S. 37, 175 Richelieu, A.J. 151, 152 Ringleben, J. 137, 162

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Ritter, J. 7, 27, 251 Robert Grosseteste 387 Robertson, J.M. 40 Robinet, J.B. 236, 253, 254 Rochelt, H. 418 Rodemann, W. 110 Rollin, Ch. 133 Rosenstock-Huessy, Ε. 1, 338 Rosenzweig, F. 1,338 Rossi, P. 140, 142 Rost, J.Chr. 177, 373 Rothacker, E. 27 Rousseau, J J . 152, 190, 191, 193, 194, 198, 220 Ruler, A.A. van 389, 399 Rupert van Deutz 387 Sailer, J.M. 344 Saint-Pierre, J.H.B, de 429 Salmony, H.A. 190, 193 Sandt, H.W.M. van de 164 Sauder, G. 37, 42 Saussure, F. de 198, 421, 422 Scheeben, M.J. 388 Schelling, F.W.J. 343 Schings, H.-J. 3 7 , 6 2 , 1 1 2 Schleiermacher, F. 240 Schlüter, H. 152 Schmaus, M. 388 Schmidt, J. 47, 170, 172 Schmidt-Biggemann, W. 47 Schmitt, W.H. 20, 338 Schönaich, Chr.O. von 129 Schöne, A. 180 Schoeps, J.H. 268, 269 Scholz, H. 342-345, 348 Schreiner, H. 76, 86 Schreiner, L. 276, 292 Schreiter, C.G. 265, 266 Schumacher, A.R. 2, 183, 360 Schultens, A. 168, 169 Schulz, F.A. 34, 43 Schulz, J.H. 294 Schweizer, H.R. 130 Sckommodau, H. 152 Seils, M. 9, 85, 109, 115, 128, 155, 164, 199, 232, 303, 369, 371, 376378

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Personenregister

Senel 60, 82 Shaftesbury 37,40-42,45, 75, 91, 112, 173, 292 Shakespeare, W. 171 Sievers, H. 62, 86 Siger von Brabant 23 Simon, J. 127, 338 Smend, R. 162 Sokrates 109, 110-115, 119, 120, 137, 171, 178, 179, 358, 381, 427 Sonnenfels, J. 269 Sophokles 155 Spinoza, B. de 53, 184, 185, 340, 345347, 350 Stanley, Th. 151 Starck, J.A. 202-204, 227, 231-239, 242-246, 251-253, 257, 258, 265267, 344, 359, 360,375 Stebbins, S. 51, 55 Steffensen, S. 110 Steinbart, G.S. 242, 246, 247 St. John Bliss, Is. 52 Stoker, W. 197, 250 Strässle, U. 45 Süßmilch, J.P. 191-194, 198, 205, 220 Swain, Ch.W. 117 Tempier, E. 22 Tertullianus 387 Thielicke, H. 250 Thomas von Aquin 15, 19, 21, 22 Thoms, F. 262 Tiedemann, D. 199, 200 Tieghem, P. 38 Timm, H. 343, 350 Tottien, Chr.A. 183 Track, J. 14 Ulloa, B. de 45 Unger, R. 34, 38, 43, 52, 56, 57, 110, 118, 127, 131, 164, 172, 190

Vanneste, A. 22 Veldhuis, H. 17, 56, 85, 202, 210, 418 Verra, V. 343 Vico, G. 2, 337, 338 Vinet, A.R. 388 Vogel, C. de 259 Voltaire, F.M. Arouet de 51, 91, 159, 237 Vos, A. 29, 30, 311, 316, 419, 425 Vos, H. de 7 Vossius, G.J. 48 Wächter, J.G. 328 Walgrave, J.H. 17, 19, 21-24, 102, 263 Warburton, W. 190 Warda, A. 179, 180 Waschkies, H.-J. 43, 51, 52 Weigelt, H. 344 Wesley, J. 52 Wieland, Chr.M. 369, 370, 372 Wiener, G.A. 259, 294 Wiener, Ph.P. 55 Wild, R. 5, 38, 106, 110, 133, 157, 241, 251, 252, 294, 295, 298, 299, 319, 338, 349, 350 Wilkes, J. 359 Wissink, J. 14-16, 399, 412, 414 Wizenmann, Th. 340, 341, 349, 350 Wohlfart, G. 338 Wolff, Chr. 37, 270 Wolter, A. 19 Wower, J. 49 Young, Ε. 37, 38, 40, 50, 52, 55, 147, 165, 171-173, 330 Zak, Α. 338 Zedier, J.H. 153 Ziegra, Chr. 112 Zinzendorf, N.L. von 87 Zöllner, J.F. 294 Zweerman, Th.H. 29