Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland: Ein Handbuch [Reprint 2011 ed.] 9783110893229, 9783110110777

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Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland: Ein Handbuch [Reprint 2011 ed.]
 9783110893229, 9783110110777

Table of contents :
Geleitwort
Vorwort
Die Autoren
Erster Teil. Entstehung und Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland
§ 1 Hoftag und Reichstag von den Anfängen im Mittelalter bis 1806
§ 2 Volksvertretungen im monarchischen Konstitutionalismus (1814–1918)
§ 3 Wandlungen des Parlamentarismus: Von Weimar nach Bonn
Zweiter Teil. Grundlagen der parlamentarischen Demokratie
§ 4 Die Stellung der Parlamente in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes
§ 5 Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz
§ 6 Parlament und Parteien
§ 7 Parlament und organisierte Interessen
§ 8 Parlament, Öffentlichkeit und Medien
Dritter Teil. Das Parlamentsrecht in Geschichte und Gegenwart
§ 9 Geschäftsordnungen deutscher Volksvertretungen
§ 10 Schichten des Parlamentsrechts: Verfassung, Gesetze und Geschäftsordnung
§ 11 Parlamentsbrauch, Gewohnheitsrecht, Observanz
Vierter Teil. Der Deutsche Bundestag und seine Mitglieder
I. Die Bundestagswahl und ihre Auswirkungen
§ 12 Wahlkampf, Wahlrecht und Wahlverfahren
§ 13 Wahlprüfung
§ 14 Beginn und Ende der Wahlperiode, Erwerb und Verlust des Mandats
II. Rechte und Pflichten der Abgeordneten
§ 15 Die Stellung des Abgeordneten nach dem Grundgesetz und den Abgeordnetengesetzen in Bund und Ländern
§ 16 Entschädigung und Amtsausstattung
§ 17 Indemnität und Immunität
§ 18 Geschäftsordnungsrechtliche Befugnisse des Abgeordneten
§ 19 Verhaltensregeln
§ 20 Geheimschutz im Bundestag
§ 21 Fraktion und Abgeordneter
§ 22 Abgeordneter und Fraktion
§ 23 Unvereinbarkeiten zwischen Bundestagsmandat und anderen Funktionen
III. Parlamentssoziologie
§ 24 Zusammensetzung und Sozialstruktur des Bundestages
Fünfter Teil. Gliederungen, Organe und Verfahren des Bundestages
I. Wahlen im Bundestag
§ 25 Selbstorganisation und Ämterbesetzung
§ 26 Kreationsaufgaben und Wahlverfahren
II. Organe der Leitung, Planung und Selbstverwaltung
§ 27 Präsident und Präsidium
§ 28 Der Ältestenrat
§ 29 Die Verwaltung des Bundestages
III. Das Gesetzgebungsverfahren
§ 30 Stationen, Entscheidungen und Beteiligte im Gesetzgebungsverfahren
IV. Parlamentarische Anträge
§ 31 Die Behandlung der Anträge im Bundestag: Rechte, Formen und Verfahren
V. Die parlamentarische Rede
§ 32 Theorie und Praxis der Parlamentsdebatte
§ 33 Rederecht und Redeordnung
§ 34 Das parlamentarische Ordnungsrecht
§ 35 Das Stenographische Protokoll
Sechster Teil. Der Bundestag als Forum und zentraler Ort der politischen Willensbildung
I. Das Plenum
§ 36 Parlamentsöffentlichkeit: Transparenz und Artikulation
II. Die Fraktionen
§ 37 Politische Bedeutung, Rechtsstellung und Verfahren der Bundestagsfraktion
III. Die Opposition
§ 38 Verfassungsrechtliche Bedeutung und politische Praxis der parlamentarischen Opposition
IV. Die Ausschüsse
§ 39 Das Ausschußsystem im Bundestag
§ 40 Das Ausschußverfahren nach der Geschäftsordnung und in der Praxis
§ 41 Vorbereitung und Gestaltung der Ausschußarbeit durch die Fraktionen
§ 42 Öffentliche Anhörungen
V. Ausschüsse und Gremien mit besonderen Funktionen
§ 43 Der Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung
§ 44 Haushaltsausschuß und Haushaltsverfahren
§ 45 Der Petitionsausschuß
§ 46 Untersuchungsausschüsse
§ 47 Enquete-Kommissionen
Siebter Teil. Das parlamentarische Regierungssystem
I. Regierungsbildung
§ 48 Koalitionen, Kanzlerwahl und Kabinettsbildung
II. Parlamentarische Kontrolle
§ 49 Formen, Verfahren und Wirkungen der parlamentarischen Kontrolle
§ 50 Parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste
§ 51 Der Wehrbeauftragte des Bundestages
III. Bundestag und Bundesregierung
§ 52 Rechte des Bundestages und seiner Mitglieder gegenüber der Regierung
§ 53 Rechte der Regierung im Bundestag
§ 54 Parlament und Ministerialverwaltung
Achter Teil. Das Parlament in seinen organschaftlichen Außenbeziehungen
I. Bundestag und Bundesrat
§ 55 Gesetzgebung zwischen Parlamentarismus und Föderalismus
§ 56 Der Bundesrat als Parlament der Länderregierungen
§ 57 Vermittlung zwischen Bundestag und Bundesrat
§ 58 Der Gemeinsame Ausschuß
II. Wahl des Bundespräsidenten
§ 59 Die Bundesversammlung
III. Parlament und Verfassungsgerichtsbarkeit
§ 60 Der Bundestag als Wahlorgan, Gesetzgeber und Prozeßpartei im Verhältnis zum Bundesverfassungsgericht
IV. Bundestag und zwischenstaatliche Versammlungen
§ 61 Europarat, WEU, NATO, Europäisches Parlament
V. Vertretung des Bundestages in außerparlamentarischen Gremien
§ 62 Verwaltungs-, Aufsichts- und Mitwirkungsgremien mit parlamentarischer Beteiligung
Neunter Teil. Das Parlamentsrecht in den Bundesländern
§ 63 Entwicklung und gegenwärtige Lage des parlamentarischen Systems in den Ländern
§ 64 Flächenländer
§ 65 Stadtstaaten
§ 66 Die besondere Stellung des Abgeordnetenhauses von Berlin
§ 67 Bundestag und Länderparlamente
Zehnter Teil. Exkurs
§ 68 Die Volkskammer der DDR: Befugnisse und Verfahren nach Verfassung und politischer Praxis
§ 69 Parlamentshäuser zwischen Zweckmäßigkeit, Repräsentationsanspruch und Denkmalpflege
Stichwortverzeichnis

Citation preview

Parlamentsrecht und Parlamentsp

Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland

Ein Handbuch herausgegeben von

Hans-Peter Schneider und Wolfgang Zeh

w DE

G

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1989

ClP-Titelaufnähme

der Deutschen

Bibliothek

Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik Deutschland : ein Handbuch / hrsg. von Hans-Peter Schneider u. Wolfgang Zeh. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1989 ISBN 3-11-011077-6 NE: Schneider, Hans-Peter [Hrsg.]

© Copyright 1989 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Ubersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Schutzumschlag Entwurf: Thomas Beaufort, Hamburg Satz und Druck: Saladruck, Berlin 36. - Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer G m b H , Berlin 61 Printed in Germany

Geleitwort Manche Bücher machen erst mit ihrem Erscheinen klar, daß sie bisher fehlten: Sie zeigen schlaglichtartig die Lücke, die sie alsbald ausfüllen. So-ist es bei diesem Werk. 40 Jahre lang hat sich in der Bundesrepublik Deutschland die parlamentarische Demokratie bewährt, bis nun zum ersten Mal eine umfassende Darstellung des gesamten Rechts einschließlich seiner politisch-praktischen Handhabung erscheint, das Parlament und Parlamentarismus konstituiert, ausprägt und umgibt. Der letzte Versuch einer Gesamtdarstellung liegt bald 75 Jahre zurück: Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches von Hatschek von 1915; es erschien — zufällig? — auch erst über 40 Jahre nach der Konstituierung des Deutschen Reichstages. Die parlamentarische Regierungsform ist nichts Selbstverständliches, kann es im Grunde auch nicht sein. Sie ist an viele Voraussetzungen gebunden, die in der Gesellschaft, im Verfassungskonsens, in der Rechtsordnung und in der politischen Kultur erst geschaffen sein müssen und sich dort auch wandeln. Das macht es notwendig, die Lebens- und Entwicklungsbedingungen der parlamentarischen Demokratie und auch die täglichen Probleme und Anpassungserfordernisse für das Parlament nicht zu eng, zu kurzatmig oder nur aus der Innenwelt des Bundestages sehen und lösen zu wollen. Größere Zusammenhänge und Wechselbeziehungen sind zu bedenken. Das hier vorgelegte Buch liefert dafür Grundlagen und Zugänge. Es zeigt den Bundestag in allen seinen Rechtsbeziehungen, Wechselwirkungen und Tätigkeitsfeldern. Seine Verflechtungen und Konflikte mit der Regierung, seine gebende und nehmende Rolle gegenüber der Öffentlichkeit, seine Machtteilung mit dem Bundesrat, seine vielfältigen und hochdifferenzierten Aktivitäten zwischen allen Staatsorganen, sozialen Gruppen und politischen Strömungen — erst der vieldimensionale Einblick, empirisch belegt und rechtlich abgesichert, macht demokratischparlamentarische Regierungsweise faßbar. Wissenschaft kann, wenn zum tieferen Verständnis, Fortentwicklung der Regeln Das ist die Wirkung, die ich

sie verständlich dargestellt wird, einen Beitrag leisten zur weiteren Einwurzelung und zur bewußteren und Werte unseres freiheitlichen Parlamentarismus. diesem Buch wünsche.

Bonn, September 1989

Prof. Dr. Rita Süssmuth Präsidentin des Deutschen Bundestages

Vorwort Seit vierzig Jahren existiert die Bundesrepublik Deutschland als funktionsfähige parlamentarische Demokratie. Ihr staatliches Leben wurde von Anfang an maßgeblich durch den Deutschen Bundestag geprägt, der alle bedeutenden politischen Fragen bearbeitet, debattiert und in den Grundlagen entschieden hat. Damit hat die Staatspraxis den Vorgaben des Grundgesetzes Wirksamkeit verschafft, welches die zentrale Rolle des Parlaments im Kreis der Verfassungsorgane wollte und will. Gleichwohl hat sich über dieser Praxis kein allseits und jederzeit verbindliches, zur Tradition verfestigtes und von dorther ganz selbstverständlich die Politik leitendes Konzept der parlamentarischen Lebensweise des Staates entwickelt. Gerade die verfassungsrechtlichen Konturen des demokratischen Parlamentarismus in der Bundesrepublik sind nach wie vor Diskussionsstoff, sind an manchen Stellen nur skizziert, nur versuchsweise und fragmentarisch ausgeführt. Das hängt auch damit zusammen, daß die Geschichte von Parlamentsrecht und parlamentarischer Praxis in Deutschland ungeachtet aller Brüche und fundamentalen Wandlungen beträchtliche Kontinuitäten aufweist, welche sich mit den veränderten Voraussetzungen nach der Verkündung des Grundgesetzes spezifisch gemischt haben. So zeigt „die" Geschichte dieser 40 Jahre auch „das" Geschichte der teils erstarrten, teils fließenden Strömungen und Sedimente in den geistigen Grundlagen aktueller Parlamentsverständnisse. Der hier vorgelegte Versuch, das Parlamentsrecht in seinem weitesten Sinne einschließlich der praktischen Handhabung umfassend darzustellen und einzuschätzen, hatte diese Ausgangslage zu berücksichtigen. Historische Längsschnitte bis zurück ins Mittelalter, besonders aber ins 19.Jahrhundert erschließen die Entwicklungslinien des Parlamentarismus in Deutschland wie auch des Parlaments- und Geschäftsordnungsrechts deutscher Volksvertretungen. Grundlagenbeiträge zu den wichtigsten Kategorien der parlamentarischen Demokratie und zur verfassungsrechtlichen Struktur des parlamentarischen Regierungssystems untersuchen die Existenzbedingungen und Handlungsvoraussetzungen für das Parlament im Staat des Grundgesetzes. Vor diesem Hintergrund werden Institutionen und Funktionen, Organisationen und Aktionen des Parlaments in der repräsentativen Demokratie bis in die Einzelheiten entfaltet. Leitende Idee war Zusammenführung, Ubersicht und Bilanz am Maßstab demokratisch-parlamentarischer Anforderungen unserer Verfassungsordnung. In dieser Konzeption konnte das Buch nur als Gemeinschaftswerk entstehen. Mochte es 1915 noch denkbar sein, angesichts der begrenzten Stellung des Reichstags in Staat und Gesellschaft den Versuch einer Darstellung aus einer Hand vorzulegen, wie Hatschek es getan hat (verlegt übrigens bei Göschen, dem Rechtsvorgänger unseres Verlages), so wäre dies heute nach vier Jahrzehnten parlamentarischer Demokratie in Deutschland und angesichts der zugleich zentra-

Vili

Vorwort

len und weit verzweigten Funktionen des Bundestages kaum mehr möglich — vollends dann nicht, wenn nicht nur Theorie und Literatur dargestellt, sondern vor allem auch die parlamentarische Praxis herangezogen und mit jenen zusammen verarbeitet werden soll. Das aber ist in kaum einer Materie so notwendig wie im Parlamentsrecht: Es erschließt sich als am stärksten dynamischer und oszillierender Faktor des Verfassungslebens erst ganz, wenn seine tatsächliche Interpretation, Handhabung und Wirkungsweise in der politisch-parlamentarischen Praxis in Betracht gezogen werden. Daher führt dieses Buch Autoren aus der Staatsrechtslehre, den historischen und den politischen Wissenschaften mit solchen aus Parlamenten, Verfassungsrechtsprechung, Ministerien und politischer Publizistik zusammen. Die Vielfalt der unterschiedlichen Positionen und Sichtweisen, gerichtet auf ein und denselben Gegenstand, erzeugt Dialog und Kontrast zwischen Wissenschaft und Praxis, zwischen Norm und Wirklichkeit, auch zwischen innen und außen, und eröffnet so die Möglichkeit, aus den juristischen, politischen, historischen und pragmatischen Konturen ein gleichsam dreidimensionales Bild der parlamentarischen W i r k lichkeit zu gewinnen. Entstanden ist kein Lehrbuch und kein Kommentar, sondern ein Parlamentsbuch, das — über das Parlament als Institution hinausgreifend — auch ein Parlamentarismus-Buch geworden ist, eine in vielem empirische und zugleich rechtlich fundierte Darstellung der repräsentativen parlamentarischen Demokratie in Funktion. Es ist nicht Schlußstein, sondern eher Baustein und im Blick auf die Zukunft vielleicht Grundstein. So gleicht die Darstellung ihrem Gegenstand: Nicht Einheit und Einheitlichkeit kennzeichnen das Parlament, sondern Vielfalt, Offenheit, Meinungskampf. Das Buch über das Forum der Nation trägt daher seinerseits die Merkmale eines Forums, auf dem jeder für seine Ansicht letztlich selbst verantwortlich ist. Wir erhoffen uns von ihm breite Information, kritische Auseinandersetzung und einen Beitrag zur Lebenskraft des demokratischen Parlamentarismus, von dessen W i r k samkeit auch künftig ein Gutteil unserer Freiheit abhängen wird. Die Herausgeber haben in vielerlei Hinsicht zu danken: vor allem den Mitautoren für die enge, verständnisvolle Zusammenarbeit, sodann vom Verlag de Gruyter Herrn Dr. Hassenpflug und Frau Dr. Walther für ihr Vertrauen in das gemeinsame Werk und die Unterstützung bei seiner Herstellung, sowie nicht zuletzt Herrn Assessor Klaus Seidel und Frau Angelika Berlit für die Durchsicht der Manuskripte, die Betreuung der Korrekturen und die Anfertigung des Registers. Ohne die intensive Mithilfe aller hätte das Buch nicht in dieser Form und jedenfalls nicht rechtzeitig zur 40. Wiederkehr der konstituierenden Sitzung des Ersten Deutschen Bundestages am 7. September 1989 erscheinen können. Dabei mußte sogar auf letzte Aktualität verzichtet werden. Da die abgeschlossenen Manuskripte spätestens am 1. Februar 1989 vollständig vorlagen, konnte selbst die wichtige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Rechten eines fraktionslosen Abgeordneten vom 13. Juni 1989 („Wüppesahl-Urteil") nicht mehr berücksichtigt werden — ein weiteres Beispiel dafür, daß Parlamentsrecht als „politisches Verfahrensrecht" wie die Politik selbst ständig im Fluß ist. Hannover und Bonn, September 1989 Hans-Peter Schneider · Wolfgang Zeh

Inhaltsverzeichnis Geleitwort Vorwort Die Autoren

V VII XIII

Erster Teil. Entstehung und Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland §1

Hoftag und Reichstag von den Anfängen im Mittelalter bis 1806 (PETER MORAW)

§2

Volksvertretungen im monarchischen Konstitutionalismus

§3

Wandlungen des Parlamentarismus: Von Weimar nach Bonn

(1814-1918) QÖRG-DETLEF KÜHNE) ( K L A U S VON B E Y M E )

3 49 101

Zweiter Teil. Grundlagen der parlamentarischen Demokratie §4 §5 §6 §7 § 8

Die Stellung der Parlamente in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes ( H A N S M E Y E R ) Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz

117

(HASSO HOFMANN / HORST DREIER)

165

Parlament und Parteien ( D I E T E R G R I M M ) Parlament und organisierte Interessen ( R U D O L F S T E I N B E R G ) Parlament, Öffentlichkeit und Medien ( S T E N M A R T E N S O N )

199 217 261

Dritter Teil. Das Parlamentsrecht in Geschichte und Gegenwart §9

Geschäftsordnungen deutscher Volksvertretungen (GERALD KRETSCHMER)

§10 Schichten des Parlamentsrechts: Verfassung, Gesetze und Geschäftsordnung ( J O S T P I E T Z C K E R ) § 11 Parlamentsbrauch, Gewohnheitsrecht, Observanz (HELMUTH SCHULZE-FIELITZ)

291 333 359

X

Inhaltsverzeichnis

Vierter Teil. Der Deutsche Bundestag und seine Mitglieder I. Die Bundestagswahl § 12

und ihre

Auswirkungen

Wahlkampf, Wahlrecht und Wahlverfahren

( W O L F G A N G SCHREIBER)

.

§ 13 W a h l p r ü f u n g (GERALD KRETSCHMER)

401 441

§14 Beginn und Ende der Wahlperiode, Erwerb und Verlust des Mandats ( L U D G E R - A N S E L M VERSTEYL)

II. Rechte und Pflichten der

467

Abgeordneten

§15 Die Stellung des Abgeordneten nach dem Grundgesetz und den Abgeordnetengesetzen in Bund und Ländern (PETER BADURA) §16 Entschädigung und Amtsausstattung ( H A N S H E R B E R T VON A R N I M ) . . . § 1 7 Indemnität und Immunität ( H A N S H U G O K L E I N ) §18 Geschäftsordnungsrechtliche Befugnisse des Abgeordneten (HERMANN-JOSEF SCHREINER) §19

555

593

Verhaltensregeln (HANS-ACHIM ROLL)

607

Geheimschutz im Bundestag ( G E R H A R D J A H N / D I E T E R E N G E L S ) § 2 1 Fraktion und Abgeordneter ( C L A U S A R N D T ) § 2 2 Abgeordneter und Fraktion ( H I L D E G A R D H A M M - B R Ü C H E R ) §23 Unvereinbarkeiten zwischen Bundestagsmandat und anderen §20

F u n k t i o n e n ( D I M I T R I S T H . TSATSOS)

III.

489 523

619 643 673

701

Parlamentssoziologie

§24 Zusammensetzung und Sozialstruktur des Bundestages (ADALBERT HESS)

727

Fünfter Teil. Gliederungen, Organe und Verfahren des Bundestages I. Wahlen im

Bundestag

§ 2 5 S e l b s t o r g a n i s a t i o n u n d Ä m t e r b e s e t z u n g (HEINHARD STEIGER) § 26

Kreationsaufgaben und Wahlverfahren

II. Organe der Leitung, Planung und

( H E I N H A R D STEIGER)

763 773

Selbstverwaltung

§ 27

Präsident und Präsidium

§28

D e r Ältestenrat (HANS-ACHIM ROLL)

809

§ 29

Die Verwaltung des Bundestages

829

(JOSEPH BÜCKER)

(PETER SCHINDLER)

795

Inhaltsverzeichnis

III. Das

XI

Gesetzgebungsverfahren

§ 3 0 Stationen, Entscheidungen und Beteiligte im Gesetzgebungsverfahren (BRUN-OTTO BRYDE)

IV. Parlamentarische

859

Anträge

§ 3 1 D i e Behandlung der Anträge im Bundestag: Rechte, F o r m e n und Verfahren (RUDOLF KABEL)

V. Die parlamentarische

883

Rede

§ 3 2 Theorie und Praxis der Parlamentsdebatte (WOLFGANG ZEH)

917

§ 3 3 R e d e r e c h t u n d R e d e o r d n u n g (JOHANN CHRISTOPH BESCH)

939

§34

D a s p a r l a m e n t a r i s c h e O r d n u n g s r e c h t (JOSEPH BÜCKER)

941

§ 35 D a s Stenographische P r o t o k o l l (FRIEDRICH-LUDWIG KLEIN)

975

Sechster Teil. Der Bundestag als Forum und zentraler O r t der politischen Willensbildung I. Das Plenum § 36 Parlamentsöffentlichkeit: Transparenz und Artikulation (LEO KISSLER)

993

II. Die Fraktionen § 3 7 Politische Bedeutung, Rechtsstellung und Verfahren der Bundestagsf r a k t i o n (JÜRGEN JEKEWITZ)

1021

III. Die Opposition § 3 8 Verfassungsrechtliche Bedeutung und politische Praxis der parlamentarischen O p p o s i t i o n ( H A N S - P E T E R SCHNEIDER)

1055

IV. Die Ausschüsse § 3 9 Das Ausschußsystem im Bundestag (WOLFGANG ZEH)

1087

§ 40 Das Ausschußverfahren nach der Geschäftsordnung und in der Praxis (PETER DACH)

1103

§ 4 1 Vorbereitung und Gestaltung der Ausschußarbeit durch §42

die F r a k t i o n e n (MICHAEL MELZER)

1131

Ö f f e n t l i c h e A n h ö r u n g e n (SUZANNE S . S C H Ü T T E M E Y E R )

1145

XII

Inhaltsverzeichnis

V. Ausschüsse

und Gremien

mit besonderen

Funktionen

§ 4 3 Der Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung (MANFRED SCHULTE / WOLFGANG Z E H )

§ 4 4 Haushaltsausschuß und Haushaltsverfahren (PETER EICKENBOOM) . . . § 45 Der Petitionsausschuß §46

1161

1183

(WOLFGANG GRAF VITZTHUM / WOLFGANG MÄRZ)

1221

U n t e r s u c h u n g s a u s s c h ü s s e (MEINHARD SCHRÖDER)

1245

§ 4 7 Enquete-Kommissionen (WOLFGANG HOFFMANN-RIEM / U D O RAMCKE)

1261

Siebter Teil. D a s p a r l a m e n t a r i s c h e R e g i e r u n g s s y s t e m I.

Regierungsbildung

§ 4 8 Koalitionen, Kanzlerwahl und Kabinettsbildung ( H A N S - P E T E R SCHNEIDER / WOLFANG Z E H )

II. Parlamentarische

1297

Kontrolle

§ 4 9 Formen, Verfahren und Wirkungen der parlamentarischen Kontrolle ( W I N F R I E D S T E F F ANI)

§ 5 0 Parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste (CLAUS ARNDT) . . §51 Der Wehrbeauftragte des Bundestages (ECKART BUSCH)

III.

Bundestag

und

1325

1369 1393

Bundesregierung

§ 52 Rechte des Bundestages und seiner Mitglieder gegenüber d e r R e g i e r u n g (SIEGFRIED MAGIERA)

§ 5 3 Rechte der Regierung im Bundestag (MEINHARD SCHRÖDER) § 54 Parlament und Ministerialverwaltung (FRIEDRICH BISCHOFF / M I C H A E L BISCHOFF)

1421

1447 1457

Achter Teil. Das Parlament in seinen organschaftlichen Außenbeziehungen I. Bundestag

und

Bundesrat

§ 55 Gesetzgebung zwischen Parlamentarismus und Föderalismus ( W O L F - R Ü D I G E R SCHENKE)

1485

§ 56 Der Bundesrat als Parlament der Länderregierungen (KONRAD REUTER)

1523

Inhaltsverzeichnis

XIII

§ 5 7 Vermittlung zwischen Bundestag und Bundesrat (MAX DIETLEIN) . . . . § 5 8 Der Gemeinsame Ausschuß ( R U P E R T S C H I C K )

II. Wahl des

1579

Bundespräsidenten

§59

Die Bundesversammlung

III.

Parlament

und

( W O L F G A N G KESSEL)

1599

Verfassungsgerichtsbarkeit

§ 60 Der Bundestag als Wahlorgan, Gesetzgeber und Prozeßpartei im Verhältnis zum Bundesverfassungsgericht ( C H R I S T O P H G U S Y )

IV. Bundestag

1565

und zwischenstaatliche

. . . .

1619

Versammlungen

§61 Europarat, WEU, N A T O , Europäisches Parlament ( M I C H A E L SCHWEITZER)

V. Vertretung

des Bundestages

1657

in außerparlamentarischen

Gremien

§62 Verwaltungs-, Aufsichts- und Mitwirkungsgremien mit parlamentarischer Beteiligung ( R . PETER D A C H )

1695

N e u n t e r Teil. Das P a r l a m e n t s r e c h t in den B u n d e s l ä n d e r n § 63 Entwicklung und gegenwärtige Lage des parlamentarischen Systems in den Ländern ( M A N F R E D F R I E D R I C H ) §64 Flächenländer ( H E I N R I C H A. G R O S S E - S E N D E R ) § 6 5 Stadtstaaten ( P E T E R S C H U L Z ) § 6 6 Die besondere Stellung des Abgeordnetenhauses von Berlin ( W I L H E L M A . KEWENIG / S T E P H A N GEORG SASSENROTH)

§ 6 7 B u n d e s t a g u n d L ä n d e r p a r l a m e n t e (HARTMUT KLATT)

1707

1719 1743 1761

1777

Z e h n t e r Teil. E x k u r s §68 Die Volkskammer der DDR: Befugnisse und Verfahren nach Verfassung und politischer Praxis ( E C K H A R D JESSE) § 6 9 Parlamentshäuser zwischen Zweckmäßigkeit, Repräsentationsa n s p r u c h u n d D e n k m a l p f l e g e (MICHAEL S. CULLEN)

Stichwortverzeichnis

1821

1845

1891

Die Autoren CLAUS ARNDT, D r . jur., Senatsdirektor a. D . , Lehrbeauftragter für Staatsrecht an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung Hamburg HANS

HERBERT

VON

ARNIM,

Dr.

jur.,

o.

Professor

an

der

Hochschule

für

Verwaltungswissenschaften Speyer PETER BADURA, Dr. jur., o. Professor für Öffentliches Recht, Rechts- und Staatsphilosophie in der Juristischen Fakultät der Universität München JOHANN

CHRISTOPH

BESCH,

Ministerialdirigent,

Abteilungsleiter

Parlaments-

dienste Bundestagsverwaltung Bonn KLAUS VON BEYME, Dr. phil., o. Professor an der Universität Heidelberg FRIEDRICH BISCHOFF, Dr. jur., Dr. phil., Ministerialdirektor i. e. R . , Rechtsanwalt in Bonn MICHAEL BISCHOFF, Richter am Landgericht Köln, z. Zt. abgeordnet in die Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf BRUN-OTTO BRYDE, Dr. jur., o. Professor an der Universität Gießen JOSEPH BÜCKER, D r . jur., Direktor beim Deutschen Bundestag, B o n n ECKART BUSCH, Dr. jur., Ministerialrat in der Verwaltung des Deutschen Bundestages, Bonn MICHAEL S. CULLEN, Μ. Α., Bauhistoriker, Journalist, Berlin R. PETER DACH, Dr. jur., Regierungsdirektor in der Verwaltung des Deutschen Bundestages, Bonn MAX DIETLEIN, Dr. jur., Präsident des Verfassungsgerichtshofs und des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, Münster/Bonn HORST DREIER, Dr. jur., Akademischer R a t / Ö f f e n t l i c h e s Recht, Rechtstheorie, Verwaltungswissenschaften an der Universität Würzburg PETER EICKENBOOM, D r . phil., Ministerialrat beim Deutschen Bundestag, Bonn, Leiter des Sekretariats des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages, Bonn DIETER ENGELS, Dr. jur., Regierungsdirektor im Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages, Bonn MANFRED FRIEDRICH, D r . rer. pol., Professor an der Universität Göttingen DIETER

GRIMM,

Dr.

jur.,

LL.M.,

Richter

des

Bundesverfassungsgerichts,

o. Professor an der Universität Bielefeld, Karlsruhe/Bielefeld

D i e Autoren

XVI

HEINRICH A. GROSSE-SENDER, Direktor beim Landtag Düsseldorf

Nordrhein-Westfalen,

CHRISTOPH GUSY, Dr. jur., Professor an der Universität Mainz H I L D E G A R D H A M M - B R Ü C H E R , D r . r e r . n a t . D r . h . c . , S t a a t s m i n i s t e r a. D . ,

MdB,

Außenpolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, Initiatorin der Interfraktionellen Initiative Parlamentsreform, Bonn ADALBERT HESS, Dr. phil., Ministerialrat in der Verwaltung des Deutschen Bundestages, Bonn WOLFGANG

HOFFMANN-RIEM,

Dr.

jur.,

LL. M.,

Universitätsprofessor

an

der

Universität Hamburg, Direktor des Hans-Bredow-Instituts für Rundfunk und Fernsehen an der Universität Hamburg HASSO HOFMANN, Dr. jur., o. Professor an der Universität Würzburg GERHARD JAHN, Rechtsanwalt u. Notar, Bundesminister a. D., Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Bonn JÜRGEN JEKEWITZ, D r . jur., Ministerialrat im Bundesministerium der Justiz, Bonn ECKHARD JESSE, Dr. phil., Dipl.-Politologe, Hochschulassistent im Fach Politikwissenschaft an der Universität Trier RUDOLF KABEL, D r . jur., Leiter des Fraktionsbüros der CDU/CSU-Fraktion, Bonn WOLFGANG KESSEL, Dr. rer. pol., Ministerialrat, Leiter d. Fachbereichs Zeitgeschichte u. Allgemeine Politik im Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages, Bonn WILHELM A. KEWENIG, Dr. jur., L L . M., Professor, Rechtsanwalt in Frankfurt LEO KISSLER, Dr. jur., Dr. rer. pol., o. Professor an der Fernuniversität Hagen HARTMUT KLATT, Dr. phil., Ministerialrat in der Verwaltung des Deutschen Bundestages, Bonn FRIEDRICH-LUDWIG KLEIN, Ministerialrat, Leiter des Stenographischen Dienstes in der Verwaltung des Deutschen Bundestages, Bonn HANS HUGO KLEIN, Dr. jur., o. Professor für öffentliches Recht an der Universität Göttingen, Richter des Bundesverfassungsgerichts, Karlsruhe GERALD KRETSCHMER, Dr. jur., Ministerialrat in der Verwaltung des Deutschen Bundestages, Sekretär des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung, Bonn JÖRG-DETLEF KÜHNE, Dr. jur., Universitätsprofessor für öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte an der Universität Hannover WOLFGANG MÄRZ, Dr. jur., Wissenschaftlicher Assistent an der Juristischen Fakultät der Universität Tübingen SIEGFRIED MAGIERA, Dr. jur., Μ. A. (Pol. Science), o. Professor an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

XVII

Die Autoren

STEN MARTENSON, D r . phil., Journalist, Vorsitzender der Bundespressekonferenz, Bonn MICHAEL MELZER, Dr. jur., Ministerialrat im Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Bonn HANS MEYER, D r . jur., Professor an der Universität Frankfurt PETER MORAW, Dr. phil., Professor an der Universität Gießen JOST PIETZCKER, D r . jur., o. Professor für öffentliches Recht an der Universität Bonn KONRAD REUTER, Dr. jur., Ministerialrat im Sekretariat des Bundesrates, Bonn HANS-ACHIM ROLL, Dr. jur., Ministerialrat in der Bundestagsverwaltung, Bonn STEPHAN G E O R G S A S S E N R O T H , A S S . j u r . , P e r s ö n l i c h e r R e f e r e n t d e s

Parlaments-

präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin WOLF-RÜDIGER SCHENKE, Dr. jur., o. Professor an der Universität Mannheim RUPERT SCHICK, Dr. jur., Ministerialdirektor, Dienste des Deutschen Bundestages, Bonn

Leiter der

Wissenschaftlichen

PETER SCHINDLER, Ministerialrat, Referatsleiter „Publikationen" in der Verwaltung des Deutschen Bundestages, Bonn HANS-PETER SCHNEIDER, D r . jur., U n i v e r s i t ä t s p r o f e s s o r an d e r U n i v e r s i t ä t

Han-

nover, F B Rechtswissenschaften, L G Staats- und Verwaltungsrecht, Mitglied des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs, Hannover WOLFGANG SCHREIBER, D r . jur., Ministerialdirektor i m B u n d e s m i n i s t e r i u m

des

Innern, Leiter der Abteilung „Polizeiangelegenheiten" im Bundesministerium des Innern, Bonn HERMANN-JOSEF SCHREINER, Regierungsdirektor in der Verwaltung des Deutschen Bundestages, Bonn MEINHARD SCHRÖDER, Dr. jur., o. Professor an der Universität Trier SUZANNE S. SCHÜTTEMEYER, Dr. rer. pol., Akademische Rätin, Universität Lüneburg, Redakteurin, Zeitschrift für Parlamentsfragen, Hamburg MANFRED SCHULTE, M d B und Vors. des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung bis 1987 PETER SCHULZ, Rechtsanwalt, Hamburg HELMUTH SCHULZE-FIELITZ, Dr. jur., Privatdozent an der Universität Bayreuth MICHAEL SCHWEITZER, Dr. jur., Professor an der Universität Passau WINFRIED STEFFANI, Dr. phil., Dipl.-Politologe, Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Hamburg HEINHARD STEIGER, Dr. jur., L L . M. (Harvard), Universitätsprofessor an der Justus-Liebig-Universität Gießen RUDOLF STEINBERG, Dr. jur., o. Professor an der Johann Wolfgang GoetheUniversität, Frankfurt a. M.

XVIII

Die A u t o r e n

T H . T S A T S O S , Dr. jur., o. Professor an der Fernuniversität Hagen, o. Professor für Verfassungsrecht an der Pantiosuniversität Athen

DIMITRIS

Dr. jur., Rechtsanwalt, Fachanwalt für Verwaltungsrecht, Burgwedel (Hannover)

L U D G E R - A N S E L M VERSTEYL,

Dr. jur., L L . M . , o. Professor an der Universität Tübingen, Vizepräsident der Universität Tübingen

WOLFGANG GRAF VITZTHUM,

Dr. jur., Ministerialrat, Leiter der Abteilung Wissenschaftliche Dokumentation beim Deutschen Bundestag, Bonn, api. Professor an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

WOLFGANG ZEH,

Erster Teil

Entstehung und Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland Übersicht § 1 Hoftag und Reichstag von den Anfängen im Mittelalter bis 1806

§2 Volksvertretungen im monarchischen Konstitutionalismus (1814-1918)

(PETER M O R A W )

(JÖRG-DETLEF KÜHNE)

I. Einführung II. Das Mittelalter (10. Jahrhundert bis 1519) 1. Der Hoftag im hohen und späten Mittelalter (10. Jahrhundert bis etwa 1470) 2. Die Entstehung des Reichstags (etwa 1470-1519) III. Von der Reformation zum Dreißigjährigen Krieg (1519-1629) 1. Die Ausformung des Reichstags im Zeitalter Kaiser Karls V. (1519-1555) 2. Zusammensetzung und Arbeitsweise des frühneuzeitlichen Reichstags 3. Vom Augsburger Religionsfrieden zum letzten Höhepunkt des monarchischen Prinzips (1555-1629) IV. Vom Dreißigjährigen Krieg zum Ende des Alten Reiches (1630-1806) 1. Im Umkreis des Westfälischen Friedens (1630-1663) 2. Entstehung und Wirken des Immerwährenden Reichstags (1663-1795/97) 3. Im Strudel des Untergangs (1795/97-1806) V. Würdigung

3

12

12 15

24

24

27

34

37 37

40 45 46

I. Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen 1. Konstitutionalismus und monarchisches Prinzip a) Grundlagen b) Verschiebungen im Zuge der deutschen Verfassungswellen 2. Ständeversammlung und Volksvertretung 3. Parlamentarismus und parlamentarischer Gedanke a) Gesetzgebungshoheit b) Budgethoheit c) Regierungsbesetzung

II. Auswahl und Schutz der Parlamentarier 1. Auswahlkriterien a) In den Privilegiertenkammern b) Besetzungsverfahren der Wahlkammern c) Wahlrechts- und Wählbarkeitsreduktionen 2. Schutzgehalt des Abgeordnetenstatus a) Mandatsfreiheit b) Diäten c) Immunität 3. Externe Mandatssteuerungen . . . a) Allgemein b) Bei Beamten

49 49 49 52 54 56 56 59 61

65 65 65 67 70 73 73 74 75 77 77 78

1. Teil: Entstehung und Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland III. Zur inneren Organisation der Parlamente 1. Geschäftsordnungsbefugnis und Geschäftsordnungsautonomie . . 2. Geschäftsleitung a) Organe b) Negative und positive Präsidialbefugnisse 3. Geschäftsgang im Plenum a) Regierungsvorrang b) Abgeordnetenvereinzelung . . 4. Vorberatungsgremien a) Offizielle b) Inoffizielle

2. Funktionsweise des parlamentarischen Systems 105 3. Die Ausübung der Funktionen des Reichstags 106 II. Nationalsozialismus

94 98

§ 3 Wandlungen des Parlamentarismus: V o n Weimar nach Bonn (KLAUS VON

110

87

BEYME)

I. Weimar 103 1. Das parlamentarische System der WeimarerVerfassung 103

III. Bundesrepublik 1. Das parlamentarische System des Grundgesetzes 2. Die Funktionsweise des parlamentarischen Systems 3. Die Ausübung der parlamentarischen Funktionen durch den Deutschen Bundestag

110

IV. Abschließende Bemerkungen

114

110 111

112

§ 1 Hoftag und Reichstag von den Anfängen im Mittelalter bis 1806 PETER M O RAW

I. Einführung Die Geschichte von Hoftag und Reichstag des Alten Reiches umfaßt im geschlos- 1 senen Zusammenhang fünf Sechstel der mehr als tausendjährigen deutschen Ver- Geschichtszeitraum gangenheit. Angesichts der gewaltigen Wandlungen, die sich vom zehnten bis zum R°ichsta frühen neunzehnten Jahrhundert ereignet haben, kann dieser Zusammenhang als bemerkenswerte Tatsache gelten. Sie sollte im deutschen Geschichtsbild stärker hervortreten. Der wichtigste Einschnitt in der Geschichte der „Tage" liegt später als das Jahr 1806, das Todesjahr des Alten Reiches. Denn nicht der Bundestag der deutschen Bundesverfassung von 1815, ein dem alten Reichstag nicht unverwandter Gesandtenkongreß, sondern erst die Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49 und dann der Reichstag des Norddeutschen Bundes von 1867 und des Deutschen Reiches von 1871 sind prinzipiell andersartige, nämlich demokratisch gewählte Versammlungen gewesen. Trotz dieser Wesensverschiedenheit hat man den Namen „Reichstag" wieder aufgenommen, um sich in den Zusammenhang der deutschen Geschichte zu stellen. Dies war auch nicht unbegründet. Denn zwischen dem Hoftag und Reichstag 2 des Heiligen Römischen Reiches und den modernen deutschen Parlamenten Hoftag, Reichstag und bestehen zwar fundamentale Unterschiede, aber auch bemerkenswerte Berühdeutsche 1 rungspunkte . In einem Satz gesagt: Man hob sich deshalb voneinander ab, weil man jeweils den gleichen Standort hatte, nämlich (zusammen mit sehr wenigen anderen Institutionen) in der Mitte der jedesmal anders beschaffenen vormodernen und modernen Geschichte des Gemeinwesens. ' H.HOFMANN Repräsentation, 1974; H.RAUSCH (Hrsg.) Die geschichtlichen Grundlagen der modernen

Volksvertretung,

2 Bde.,

1974-80;

K.BOSL

U. K . M Ö C K L ( H r s g . ) D e r

moderne

Parlamentarismus und seine Grundlagen in der ständischen Repräsentation, 1977; U . SCHEUNER Das repräsentative Prinzip in der modernen Demokratie, in: DERS. Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S. 245-269; H. BOLDT Parlament, parlamentarische Regierung, Parlamentarismus, in: O.BRUNNER u.a. (Hrsg.) Geschichtliche Grundbegriffe, B d . 4 , 1978, S . 6 4 9 - 6 7 6 ; Repräsentation,

ebd.,

Bd.5,

1984,

S.509-547;

H.DREIER

Der

Ort

der

A.PODLECH

Souveränität,

in:

H.DREIER U. J.HOFMANN (Hrsg.) Parlamentarische Souveränität und technische Entwicklung 1986, S. 11—44; D.GRIMM Entstehungs- und Wirkungsbedingungen des modernen Konstitutionalismus, in: D. SIMON (Hrsg.) Akten des 26. deutschen Rechtshistorikertages Frankfurt am M a i n . . . 1986, 1987, S . 4 5 - 7 6 .

Frau Dr. S.JAHNS gab hilfreiche Hinweise.

1. Teil: Entstehung und Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland

4

Schon deshalb darf man vom Hoftag und alten Reichstag nicht sprechen, ohne

Beachtung der die gesamte damalige Staats- und Sozialverfassung der Deutschen mitzubeachten 2 . damaligen Staats- und Genau so wird man vorgehen, wenn man Hoftag und alten Reichstag mit den Sozialverfassung

entsprechenden Einrichtungen anderer Länder Europas vergleichen möchte 3 .

Daher ist es auch verfehlt, die ältere Vergangenheit nach „modernen" EinzelDurchforschung der heiten jener Versammlungen zu durchforschen, um diese hervorzuheben; auch Vergangenheit nach nicht die griechische Antike oder das ältere englische Parlament waren demokramodernen tisch im Sinn unserer Gegenwart. Die Grundformen legitimer Staatlichkeit sind Einzelheiten

von der Aufklärung an neuartig fundiert worden.

5

Aufgabe

Fundamentale Tatbestände

Die Aufgabe ist vielmehr, die Herausforderungen und Antworten, die Probleme und Problemlösungen des Gemeinwesens in ihrer jeweiligen Gegenwart zeitentsprechend aufzusuchen und dann darzulegen, was jedes Mal auf die stets drängenden Fragen nach Frieden und Recht, nach Selbstbehauptung und innerer Organisation erwidert worden ist. Darüber wenigstens für die eigene Geschichte Bescheid zu wissen gehört zur eigenen Existenz. Möchte man sich von Beginn an des richtigen Verständnisses von Hoftag und altem Reichstag versichern, so sind zunächst einige vielleicht banal klingende, jedoch auch für dieses Thema fundamentale Tatbestände zu nennen: Jegliches europäische Gemeinwesen hohen Alters hat sich von sehr einfachen zu immer komplizierteren Lebensformen fortentwickelt; es war von den Anfängen an sozial geschichtet; man hat demgemäß sehr verschiedenen Anteil an seiner Leitung und Organisation genommen; wer führte, bemühte sich sogleich und in der Zukunft, dem Gebilde als Ganzem und seiner inneren Ordnung so viel Legitimität wie nur möglich zu sichern. Als im zehnten Jahrhundert jenes Gemeinwesen als eines der ältesten des Kontinents ins Leben trat, das man bald mit gutem Grund deutsch nennen kann, fanden sich sofort weitere Wesenszüge vor, die für unsere Frage grundlegend waren und blieben: das karolingische Erbe des Königtums und einer auch in politischer Hinsicht christlich-kirchlichen Kultur, die karolingische und nicht nur karolingische Situation der Mitsprache von Adelsgruppen, das heimische Erbe einer einfachen Agrargesellschaft mit dünner Besiedlung und schwerwiegenden Kommunikations- und Verkehrsproblemen — daher auch mit sehr großen Schwierigkeiten, politische Macht zu

2

Grundlegend sind die Propyläen Geschichte Deutschlands (bisher erschienen Bd. 2: H. KELLER Zwischen regionaler Begrenzung und universalem Horizont, 1024-1250, 1986; Bd. 3: P. MORAW Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung, 1250-1490, 1985; B d . 4 : H.LUTZ Das Ringen um deutsche Einheit und kirchliche Erneuerung, 1490-1648, 1983; Bd. 5: R. VIERHAUS Staaten und Stände, 1648-1763, 1984), die Neue Deutsche Geschichte (bisher erschienen Bd. 1: F.PRINZ Grundlagen und Anfänge, bis 1056, 1985, u. Bd.2: A.HAVERKAMP Aufbruch und Gestaltung, 1056-1273, 1984) und Das Reich und die Deutschen (bisher erschienen Bd. 2: H.BOOCKMANN

Stauferzeit und

spätes Mittelalter,

1125-1517,

1 9 8 7 , u. B d . 3 :

H.SCHILLING

Aufbruch und Krise, 1517-1648, 1988). Knapp: W. CONZE U. V. HENTSCHEL (Hrsg.) Ploetz Deutsche Geschichte, 4. Aufl., 1988. Vgl. H.BOLDT Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 1984, 3

u.

P. MORAW,

K.O.

FRHR.

V. A R E T I N ,

N . HAMMERSTEIN,

W . CONZE

Reich

I-V,

in:

O.BRUNNER u.a. (Hrsg.) Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, 1984, S . 4 2 3 ^ 8 8 . TH. SCHIEDER (Hrsg.) Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 1: Europa im Wandel von der Antike zum Mittelalter, 1976; Bd. 2: Europa im Hoch- und Spätmittelalter, 1987; Bd. 3: Die Entstehung des neuzeitlichen Europa, 1971; Bd. 4: Europa im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklärung, 1968.

§ 1

Hoftag und Reichstag von den Anfängen im Mittelalter bis 1806 (MORAW)

5

konzentrieren, zu kumulieren und zu perpetuieren. Ungeachtet aller Veränderungen, die sich bei diesen Tatbeständen vollzogen haben, und ungeachtet ihrer nach und nach stattfindenden Ergänzung durch neue Fakten gehört zu den für dieses Thema bemerkenswerten Einsichten diese: Jene Grundgegebenheiten haben das deutsche Schicksal sehr lange Zeit, bis ins 19. Jahrhundert hinein, bestimmt — oder auf diese Abhandlung angewandt: Hoftag und alter Reichstag sind dadurch gekennzeichnet, daß sie die Ausgangspunkte ihrer Existenz zwar abwandeln, nicht aber wirklich verändern oder gar „überwinden" konnten. Denn entgegen mancher populären Meinung gab es zwar viel Auf und Ab, Hin und Her im Bereich der deutschen Ereignisgeschichte von damals, aber wenig Wandel in den Grundprinzipien. Von diesen Grundprinzipien interessieren hier zunächst zwei: das hohe Maß an 7 Legitimität der zentralen Königsgewalt und die besondere Stärke der adeligen Grundgegebenheiten Teilgewalten. Beide Phänomene waren im europäischen Vergleich in dieser Hinsicht wohl einzigartig; beide Kräfte haben sich die Macht im Gemeinwesen geteilt und sich auch vielfach gegeneinander gestellt. Damit ist schon die Geschichte von Hoftag und altem Reichstag im Rahmen der Gesamtverfassung gekennzeichnet. Der Begriff „Verfassung" meint dabei das konkrete Gefüge und Kräftespiel, die zunächst schriftlos-gewohnheitsrechtlich bestanden und erst nach und nach verschriftlicht und wissenschaftlich verrechtlicht wurden. Es ist ein fundamentaler Unterschied zur Moderne, daß eine solche Verfassung nicht wie Konstitutionen seit 1776 eine legitime, einheitliche Staatsgewalt erst hervorbrachte, sondern legitime originäre Herrschaftsgewalten verschiedenen Ranges voraussetzte. Als dritte Grundgegebenheit sei festgehalten, daß der ältere deutsche Geschichtsraum im Vergleich zu den zeitgenössischen Durchdringungsmöglichkeiten außergewöhnlich groß gewesen ist und schon deshalb nur schwer zentral gestaltbar war; man kann in dieser Hinsicht ζ. B. die englischen Verhältnisse nicht mit den deutschen und daher auch nicht ohne weiteres Ober- und Unterhaus und Reichstag vergleichen. Als eine vierte Grundgegebenheit sei hervorgehoben, daß offenbar schon früh — gewissermaßen als Gegenpol zur zweit- und drittgenannten Rahmenbedingung — im Reich ein Grundkonsens bestand, den man weniger sprachlich denn politisch als deutsch bezeichnen kann; seine Spannweite erstreckte sich von der Selbstverständlichkeit des Beisammenbleibens bis zum leidenschaftlichen Patriotismus. Wichtig bei diesen Grundgegebenheiten ist der Hinweis, daß sie die deutsche Geschichte eher quantitativ akzentuieren denn als etwas qualitativ Besonderes bezeichnen. Auch der Hof- und Reichstag war eine durchaus europäische Problemlösung, wenngleich unter spezifisch deutschen Bedingungen. Die Mitte der Verfassung der älteren Gemeinwesen des Kontinents bildete 8 normalerweise das Königtum. Dieses bedurfte keiner Begründung oder Rechtferti- Königtum gung, sondern wurde einfach vorausgesetzt. So war es dem Prinzip nach auch im Reich. Das Königtum war in seiner im Normalfall allgemein akzeptierten Selbstauffassung der einzige Quellpunkt legitimer Staatlichkeit für das Ganze, also modern formuliert der Gesetzgebung, Regierung und Justiz und von deren Institutionen; sein Hauptproblem war die dabei auftretende Diskrepanz von Theorie und Praxis. Die Prinzipien der Volkssouveränität und der Gewaltenteilung finden sich erst in modernen Verfassungen. Auch ein sich ausbildender zentraler „Tag" war

6

1. Teil: Entstehung und Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland

primär auf in irgendeiner Form abgeleitete (oder auf zu Unrecht beanspruchte) Legitimität angewiesen4. 9 Das deutsche Königtum wies zwei Besonderheiten auf, von denen die eine jene Wahlmonarchie, Ableitung oder Neubildung von Legitimität von „Tagen" nachdrücklich, die deutscher Kön^und a n c j e r e z u m g u t e n Teil begünstigte: 1. Die Monarchie war eine Wahl- und keine Erbherrschaft wie bei den Nachbarn oder in den deutschen Territorien. Den Königswählern, seit dem 13.Jahrhundert den Kurfürsten, war die Zentralgewalt gerade in ihrer schwierigsten Situation ausgeliefert. Indem es seinen Rechten und Ansprüchen nach und nach Dauer zu verleihen verstand, wurde das Kurfürstentum die eine Wurzel des Reichstags. 2. Eine andere Besonderheit der Monarchie bestand darin, daß nur der deutsche König Kaiser zu werden und damit die höchste weltliche Würde des papstchristlichen Europa zu erwerben vermochte. Seit 1508 geschah dies durch die Annahme des Titels, im Mittelalter war ein Romzug notwendig. Es war ein heilsgeschichtlicher Tatbestand, weil es sich um das letzte der vier Weltreiche handelte, die im Plan Gottes vorgesehen schienen, und es war die Würde Karls des Großen und der Imperatoren der Antike, die hier fortgesetzt wurde. Mag die erste Aussage mit anderen Verständnismodellen konkurriert haben und im 16. Jahrhundert für viele zwischen den Konfessionen zerrieben worden sein, die zweite teilten die maßgebenden Zeitgenossen uneingeschränkt bis ins 17. Jahrhundert hinein; von da an wurde sie „historisiert" und relativiert — aus wissenschaftlichen Gründen und weil das Reich als ein eigentlich deutsches auch legitimatorisch in sich selbst ruhen sollte5. Dem deutschen Mittelalter freilich galt mit gutem Grund das römische Reich der Antike als einziger wirklicher Staat der jedermann geläufigen Vergangenheit, als höchstrangige und legitimste Staatsform, die bekannt war. 10 Nachdem Kaiser Otto der Große (936-973) die weltgeschichtliche EntscheiRömisches und dung jener „Übertragung des Reiches" realisiert hatte, griff der zweitstärkste Fränkisches Reich Monarch, der westfränkisch-,,französische", nach der zweitbesten Legitimation, der fränkischen der Karolinger. So wurden die beiden ältesten „Großstaaten" des papstchristlichen Europa aus Legitimitätserwägungen Römisches und Fränkisches Reich genannt, obwohl weder das Rom des Augustus zum einen noch das Aachen Karls des Großen zum anderen Reich gehörten und jedermann wußte, daß Deutsche und Franzosen und nicht Römer und Franken darin wohnten. 4

5

G . DILCHER V o m ständischen Herrschaftsvertrag zum Verfassungsgesetz, in: Der Staat 27 (1988), S. 161-193, bes. 171 ff., hebt das Gewicht des Konsenses (als Bindung des Herrn an die Zustimmung der Betroffenen) hervor gegenüber der hier bevorzugten Betonung der herrscherlichen Vollgewalt. Die Ungewißheit betrifft besonders die ältere quellenarme Zeit lange vor der Entstehung des Reichstags. — Der hierdurch aufgerufene Bedeutungsinhalt von „Konsens" meint natürlich etwas ganz anderes als die im vorliegenden Text mehrfach behandelte Frage des Grundkonsenses (als Loyalität gegenüber Kaiser und Reich) und des Verfassungs- oder „konstitutionellen" Konsenses (als Loyalität gegenüber Verfahren). Zu den begleitenden Theoretikern, die aus Raumgründen nicht einmal erwähnt werden können, F . H . SCHUBERT Die deutschen Reichstage in der Staatslehre der frühen Neuzeit, 1966; D . WII.I OWKIT R e c h t s g r u n d l a g e n d e r T e r r i t o r i a l g e w a l t , 1 9 7 5 ; N . HAMMERSTEIN D a s

„Reich"

in den Vorstellungen der Zeitgenossen, in: R. A. MÜLLER (Hrsg.) Reichsstädte in Franken, Bd. 1, 1987, S. 44-55; M. STOLLEIS (Hrsg.) Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert, 2. Aufl., 1987; DERS. Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, 1988.

§1

H o f t a g und Reichstag von den Anfängen im Mittelalter bis 1806 (MORAW)

7

Zwar vergrößerte der hohe Rang des Kaisertums die Distanz zu den Ständen, noch mehr aber begünstigten seine auswärtigen Aufgaben die Entfaltung der Teilgewalten daheim. Nicht zufällig formte sich der Reichstag unwiderruflich im Zeitalter desjenigen Herrschers aus, der die Universalmonarchie auf den Gipfel führte und in dessen Reich tatsächlich die Sonne nicht unterging, im Zeitalter Karls V. (1519-1556). Die zweite, bedeutsamere Wurzel des Reichstags war der Hoftag des Königs. Es handelte sich um diejenige Versammlung der Großen des Reiches, die vom Anfang der deutschen Geschichte an und längst auch schon in noch älteren Gemeinwesen je nach dem Bedarf von Regierung, Gesetzgebung und Justiz des Herrschers ziemlich formlos einberufen und veranstaltet worden ist. Seine Absichten sollten im Gespräch mit den Mächtigen realisiert werden. Wie es unzählige Male in den Texten des Mittelalters und der früheren Neuzeit heißt, mochte diese Versammlung dem Herrn „Rat und Hilfe" erbringen, wozu sie prinzipiell verpflichtet war. Eine solche Machtkonzentration im konkreten Fall zu lenken und zu zähmen, statt daß sie sich politisch selbständig machte, war ein schwieriges, im Lauf der Zeit in unterschiedlichem Maße gelöstes Problem des Herrn — vor allem angesichts seiner vielfältigen Uberforderung durch große Aufgaben, denen unzureichende Mittel gegenüberstanden. Auch hat dabei das Auf und Ab der Ereignisgeschichte, darunter Unkontrollierbares wie der dynastische Zufall und auswärtige Einwirkung, eine große Rolle gespielt.

11 Kaisertum und Teilgewalten

12 Hoftag des Königs

Aus größerer Distanz und auf die Dauer betrachtet, waren die Verselbständi- 13 gung des Hoftags und damit die Entstehung des Reichstags für die deutschen Verselbständigung des Verhältnisse wohl etwas Folgerichtiges, Notwendiges und Wünschenswertes — Hoftags soweit der Historiker solche Aussagen überhaupt wagen darf. Denn der Weg aus dem archaischen 10. Jahrhundert zur sich ankündigenden Moderne des frühen 19. Jahrhunderts ist unter anderem gekennzeichnet durch einen gewaltigen Zuwachs an Herausforderungen und Aufgaben und demgemäß durch eine beträchtliche Ausweitung des Staatszwecks. All diesem konnte man unter den vorgegebenen Bedingungen schwerlich von einem Punkt aus, vom Hof des Herrschers und von den daraus nach und nach erwachsenden Behörden, gerecht werden. So war die Einrichtung eines Dualismus, eine vordemokratische Gewaltenteilung, wohl unvermeidlich. Es kam alles darauf an, wie dieses Unvermeidliche ausgestaltet wurde. Charakteristisch für den deutschen Dualismus sind sehr lange bewahrte altertümliche Wesenszüge. Dies gilt für die sozialen und für die rechtlichen Verhältnisse. Dem hocharistokratischen Charakter des Reiches gemäß, aber auch infolge seiner großen Ausdehnung und der dadurch gegebenen unübersehbaren Vielfalt der Kräfte war und blieb es ein Dualismus des Herrschers mit den Allermächtigsten, den Reichsfürsten. Kleinräumige Ständeversammlungen, wie diejenigen in Tirol, Württemberg oder den Lausitzen, konnten Niederadel, mittleren Klerus, Städter und womöglich auch ländliche Kräfte berücksichtigen. Was Hoftag und Reichstag betrifft, so spielten die Abgesandten der Freien und Reichsstädte, die ohnehin nur einen winzigen Teil der deutschen Kommunen vertraten, vom Anfang bis zum Ende eine Rolle am Rand. Die Reichsfürsten nahmen an Hof- und Reichstagen aufgrund

14 Dualismus des Herrschers mit den

15 Kleinräumige Ständeh a r a k t e r d e s Hofund Reichstags

c

8

1. Teil: Entstehung und Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland

eigener politischer Berechtigung teil, sie vertraten niemanden als sich selbst. Auch die Städteboten wurden nicht gewählt, sondern von ihrer Obrigkeit entsandt und instruiert. Der Repräsentationscharakter des H o f - und Reichstags war also aus gut erkennbaren Sachgründen so minimal wie nur möglich. Von dieser Eigenschaft führt keine Brücke zum modernen Parlamentarismus, schwerlich auch von den zahlreichen deutschen Stände-Landtagen. Nirgends konnte daher auch am H o f und Reichstag vom Volk als ideeller Ganzheit die Rede sein. Statt dessen ging es darum, daß dem einen Monarchen eine Mehrzahl von Personen, ihrerseits Herren, gegenübertrat, die mehr als einen Standpunkt äußerte. Dabei dachte man seit dem 16. Jahrhundert an eine einigermaßen lückenlose „Vertretung" der Großräume des Reiches. In der Praxis trat auch durch den Zuwachs an fachkundigem Personal der Fürsten auf dem Reichstag eine nicht zu unterschätzende Ausweitung solcher „Repräsentation" ein. Daß Fürsten subjektiv oder objektiv als Sachwalter aller ihrer Untertanen auftraten, ist schon aus wohl verstandenem Eigeninteresse nicht selten gewesen. Allesamt waren dies jedoch sehr indirekte Vertretungen.

16

Die Grundsituation am H o f - und Reichstag war hierarchisch, nicht einmal im fürstlichen Milieu sollte man von Gleichrangigkeit reden. Vorbild dafür war der beträchtliche Abstand des Königs oder Kaisers zu allen Teilnehmern des Tages, außer es handelte sich um nahe Verwandte oder Vertraute. N o c h deutlicher war die unüberbrückbare soziale Kluft zwischen Fürsten und Städtevertretern. Die Kurfürsten wahrten, solange der Reichstag im hergebrachten Sinn funktionierte, aus politischen Gründen Distanz zu den Fürsten. Den Fürsten untereinander war kaum etwas wichtiger als das Betonen ihres persönlichen Vortritts vor geringer geachteten „Kollegen" und wenn möglich das Aufrücken in eine etwas höher bewertete Position auf der Fürstenbank. Zur politischen Kultur an der Spitze des Reiches gehörten jedenfalls die sozialen Regeln des Hochadels, nicht alles wurde durch Juristen „versachlicht". Vieles davon hat über 1806 hinaus noch ein Jahrhundert weitergewirkt. So wird man besser auch nicht — wieder abgesehen von Intentionen der letzten Phase um 1800 — von einem Bundesverhältnis der Reichsglieder sprechen, das wenigstens formal die Gleichrangigkeit seiner Glieder zur Voraussetzung hätte; dabei müßte man auch in unzulässiger Weise von der Rolle des Kaisers absehen.

17

Ungeachtet solcher Vorbehalte kann man die Bedeutung des Reichstags als sich seit etwa 1470 ausbildende zweite zentrale Plattform oder Bühne des Reiches überhaupt nicht überschätzen. Er stand bis ins 18. Jahrhundert neben dem Hof des Herrschers, der stets vornehmeren Institution. Es war eine der größten Schwächen des Reiches, daß es extremen Mangel an zentralen Einrichtungen litt; gab es doch keine ständige, glücklich gelegene Hauptstadt oder Mittelpunktslandschaft wie in Frankreich und England und endlich auch in Spanien, von denen aus das Land politisch erschlossen worden wäre und wo wie selbstverständlich die Entscheidungen hätten fallen können — wie in der Französischen Revolution in Paris. So war jeder Zuwachs an irgendwie beschaffener Zentralität überaus kostbar. Die räumliche Zweipoligkeit von Kaiserhof und Reichstag wurde immer deutlicher und ist schließlich im Gegenüber von Wien und Regensburg (Sitz des Reichstags seit 1663) fixiert worden; zuvor waren Hoftage und Reichstage vorwiegend in süddeutschen Reichs- und Freistädten (Nürnberg, Frankfurt am Main, Augsburg, Worms, Speyer u. a.) zu Gast.

Hierarchische Grundsituation am H o f - und Reichstag

Reichstag und Kaiserhof

§1

H o f t a g und Reichstag von den Anfängen im Mittelalter bis 1806 (MORAW)

9

Hier traf sich neben der durch Geburt zur Herrschaft bestimmten Elite die Elite 18 der Fachleute. Es waren immer häufiger gelehrte Juristen niederadeliger und vor E ' l t e der Fachleute, allem bürgerlicher Herkunft. Politik als Beruf wurde hier zum ersten Mal Wirk- ¡ f ¿ ¿ U B c b e lichkeit — nach und nach auch für wichtige Entscheidungen, da die Fürsten vom 17. Jahrhundert an immer seltener zum Reichstag kamen und die immer wesentlicher werdenden Details denen überließen, die damit umgehen konnten, den Experten. In ihrem Kreis sind die großen Probleme der Reichspolitik, zumal die konfessionellen, formuliert, erörtert und wenn möglich gelöst oder mit Absicht — um eine Minimaleinigung zu ermöglichen — in der Schwebe gehalten worden. Die besondere deutsche Rechtskultur verzeichnete hier eine erste bedeutsame Blüte; hier war zu Hause, was im europäischen Vergleich vom 16. bis zum 19. Jahrhundert als typisch deutsch erscheint: ein eher unpolitisches, jedenfalls gegenüber der Machtpolitik der großen Monarchen in der (häufig enttäuschten) Hoffnung auf Verschontbleiben abstinentes Verhalten, das dafür juristisch vollendet durchgeformt war und (juristische) Gerechtigkeit und Frieden als höchste Werte begriff. Keine Chance hätte hingegen ein deutscher Dritter Stand gehabt, sich (um 1800) auf dem Reichstag als Vertretung der Nation zu konstituieren — wegen der geschilderten und noch zu schildernden Wesenszüge dieser Versammlung; im übrigen hat es ein einheitliches, genügend potentes und machtvertrautes (statt „nur" gebildetes) Bürgertum bei uns damals gar nicht gegeben. Auch die rechtlichen Verhältnisse des Hof- und Reichstags waren altertümlichmittelalterlich, wenigstens zunächst. Denn in diesem Bereich ist eine bemerkenswerte Entwicklung zu beobachten. Obgleich der alte, legitime Rechtsgrund der „Tage" stets derselbe blieb und bleiben mußte, weil es bis 1806 keine Revolution in Deutschland gegeben hat, ist er durch eine sich verändernde Praxis, der eine entsprechende Theorie zu folgen suchte, in der Welt der Tatsachen am Ende fast obsolet geworden. So tat sich zunehmend eine Spannung, ja ein Widerspruch in der Reichsverfassung auf — parallel zu anderen Spannungen und Widersprüchen, die dann neben dem harten Zugriff der Machtgeschichte am Untergang des Reiches und mit ihm des Reichstags Anteil hatten. Ungeachtet des Tatbestands, daß der Dualismus zwischen Kaiser und Reichstag in vielen Fällen kein inhaltliches Gegeneinander mit sich brachte und daß auch von den handelnden Personen her gesehen scharfe Kontroversen keineswegs die Regel waren, neigte wohl jede alteuropäische Ständeversammlung dazu, die Ziele ihrer Glieder zu Lasten des Herrn zu fördern. Dabei mochte man sich mindestens seit dem 14. Jahrhundert durch Aussagen von Publizisten und Juristen bestärkt sehen, die auf Konsensprinzipien aus dem kanonischen Recht hinwiesen („Was alle angeht, soll von allen gebilligt werden") und eine angeblich weit zurückreichende eigenständige Verankerung von Partnern des Herrschers im Volkswillen aufsuchten (z.B. die Kurfürsten als Vertreter des „römischen" Volks bei Wilhelm von Ockham, t vor 1350). Die Entstehungsgeschichte bringt jedoch an den Tag, daß der Reichstag praktisch-pragmatisch herangewachsen ist und nicht theoretisch-„politologisch" konstruiert wurde. So kann man jenen Gedankengängen für die entscheidende Entstehungsphase höchstens flankierenden Charakter zusprechen. Erst als der Reichstag ausgeformt war, hat man die Theoretiker anzuhören begonnen.

19 Dritter Stand

20 Rechtsgrund der j e r Reichsverfassung

21 Neigungen 5 t t ^j° p ä ' S C ' l e r Versammlungen Aussagen von Publizisten und Juristen

22 PraktischPragmatisches ^ Re¡chstags

10

1. Teil: Entstehung und Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland

23

So wird man den Anfang beim Herrscher nehmen, der nach dem Herkommen politisch-rechtlich (nicht unbedingt gerichtlich) mit gleicher Wirksamkeit allein oder im Zusammenhang mit seinen Großen zu handeln vermochte. In jener Vollgewalt und Eigenständigkeit ist er (und zwar auch für das Gerichtswesen) durch die Rezeption des römischen Rechts bekräftigt worden. Die Zustimmung der Großen war rechtsbestärkend, zweckmäßig und wünschenswert, aber nicht rechtsnotwendig. Auf dieser Basis ist der alte Reichstag entstanden, nicht auf der Grundlage eines originären Mit- oder gar Alleinbestimmungsrechts von Repräsentanten oder Pseudo-Repräsentanten. Die Lehre von der Territorialgewalt der Fürsten war bis hin zum 17. Jahrhundert eine Lehre von (vom Kaiser) abgeleiteter Gewalt. Das Notrecht (Necessitas-Gedanke) als Inpflichtnahme von gar nicht Beteiligungswilligen hat im 15. und 16. Jahrhundert eine große Rolle gespielt. Mit alledem unterscheidet sich der Reichstag ein weiteres Mal fundamental von einem modernen Parlament.

24

So konnte es auch kein modernen parlamentarischen Beschlußprinzipien entsprechendes „souveränes" Entscheidungsverhalten geben. Vielmehr wurde ein „Reichs(tags)gutachten" durch kaiserliches Dekret, wenn es dem Willen des Herrschers entsprach, in Gestalt eines „Abschieds" gültig gemacht. Andernfalls blieb das Gutachten unwirksam. Der Begriff „Reichstagsbeschluß" kann strenggenommen nur auf den Herrscher gerichtet verwendet werden, man sollte ihn unerklärt und isoliert nicht gebrauchen. Handlungen, die (ex post gesehen unrechtmäßig) über diese Situation hinausgriffen, wurzelten im 13. bis frühen 15. Jahrhundert gelegentlich in einem damals weiter gedehnten Rechtsverständnis der Kurfürsten. Nicht mehr geschah Derartiges offenbar im Reichstag, der gleichzeitig mit der Verrechtlichung des Reiches, gleichsam unter der Kontrolle eines rasch heranwachsenden Juristenstandes, ins Leben trat und die Königswähler zähmte.

25

Unter diesen Umständen sind vor allem drei Möglichkeiten der Wirkung und Mitwirkung des frühen Reichstags zu nennen: 1. die Selbstbestimmung über Umfang und Modalitäten von „Rat und Hilfe", die die Mitglieder des Reichstags als Lehnsleute oder Untertanen des Kaisers schuldeten und daher an und für sich nicht Gegenstand eines Beschlusses sein konnten; dazu gehörten ebensogut Verfahrensfragen wie Steuerbewilligungen (aufgrund der alten Romzugspflicht), die demnach anders zu bewerten sind als Beschlüsse moderner Parlamente mit gleicher Thematik; 2. das Handeln aufgrund vertraglicher Vereinbarung mit dem Herrscher, das gewöhnlich von beiderseitigen Zugeständnissen gekennzeichnet war; 3. das Handeln im Zusammenhang mit „freiwilligen" Selbstverpflichtungen, wie anläßlich der Türkenkriege außerhalb des Reiches.

26

Solchen Selbstverpflichtungen der Reichstagsglieder entsprachen diejenigen des Kaisers. Das seit 1519 bestehende Institut der Wahlkapitulation ist hierfür der klassische Fall. Sie stand verfassungsrechtlich gleichrangig neben dem „Abschied" des Reichstags, an welchem die Stände mitgewirkt hatten, und ist damit (wenn auch inhaltlich „pervertiert") Beweisstück für die nach wie vor fortbestehende Legitimität herrscherlichen Handelns auch ohne Reichstag. Demgemäß sind die Texte des Westfälischen Friedens gleichermaßen in den „Abschied" des folgenden Reichstags und in die nächste Wahlkapitulation aufgenommen worden.

Vollgewalt und Eigenständigkeit des Herrschers und Reichstagsentstehung

Kein souveränes Entscheidungsverhalten des Reichstags

Wirkung und Mitwirkung des frühen Reichstags

Wahlkapitulation, „Abschied" des Reichstags

§ 1

Hoftag und Reichstag von den Anfängen im Mittelalter bis 1806 (MORAW)

11

Die Situation von „Abschied" und Wahlzusage wiederholt sich lehrreich in der 27 Situation der beiden obersten Gerichte im Reich, des Kammergerichts in Speyer Kammergericht, oder Wetzlar und des Reichshofrats in Wien. Beide waren ebenfalls und gleicher- R e i c h s h o f r a t maßen aus der Legitimität des Herrschers als obersten Richters hervorgegangen und blieben weiterhin auf diese angewiesen; daher erschienen sie als gleichrangig, obwohl das erstgenannte personalpolitisch unter den Einfluß der Stände geraten war, während der Reichshofrat der Hand des Kaisers nicht entglitt. Wie die Rechtslage auch beschaffen sein mochte, im Umkreis des Reichstags 2 8 entschieden zuletzt die politischen Realitäten. Gerade der hochabstrakte Rechtsbe- Politische Realitäten reich, der hier zur Sprache gekommen ist, war am meisten bedroht. Es gab im Reich zwar wie gesagt einen politisch-patriotischen Grundkonsens. Ungeachtet aller Juristenkunst bestand jedoch kein gesicherter „konstitutioneller" und Verfahrens-Konsens, der wie im Verfassungsstaat der Moderne auf Grundnormen und Verfahren aufgeruht hätte, die die Staatsgewalt erst schufen und die logisch durchkonstruiert und voll einklagbar gewesen wären. An derlei für die ältere Vergangenheit zu denken ist nicht nur anachronistisch; unzeitgemäße Korrektheit in diesem Bereich hätte — zuerst im Konfessionskampf und dann im habsburgischpreußischen Dualismus — das Reich zerrissen. Der Realpolitiker wird das Geschehen im Reich und am Reichstag zuletzt als großes System von Tauschgeschäften verstehen, die einen heiklen Balancezustand der durch die Ereignisgeschichte immer wieder veränderten Wirklichkeit anpassen sollten. Der Versuch, den Gordischen Knoten militärisch zu durchhauen, ist mehrfach unternommen worden, jedoch ohne Erfolg. Denn die großen Konflikte wickelte man entlang einer Art von Gleichgewicht ab, bei welchem sich auf der Gegenseite des Kaisers als des mächtigsten immer eine genügend große Zahl von Fürsten einstellte. Als Folge dieser Situation wird man zwei Eigenschaften der Reichs- und 2 9 Reichstagsverfassung hervorheben: 1. Sie schien bestenfalls bis ins frühe 17.Jahr- Eigenschaftender unc * hundert offen zu sein für plötzliche Umschwünge aus der herrscherungünstigen

Reicnstaesvertassune

„Normallage" in herrschergünstige „Sonderlagen". Am Ende hat sich die „Nor- Reformkapazität mallage" durchgesetzt. Für eine absolute Monarchie bestanden zwar alle rechtlichen, aber immer weniger realpolitische Voraussetzungen. 2. Fundamentale Verfassungsfragen im Reich sind offen geblieben, erkennbar ζ. B. am NichtVollzug der wichtigsten Aufträge des Westfälischen Friedens. Ohne diese Unentschiedenheit jedoch hätte das Reich nicht bestehen können. Denn im Prinzip war seine Verfassung unveränderbar mittelalterlich-königlich-kaiserlich und kirchlichkatholisch; eine „Reform" dieser Prinzipien war machtpolitisch nicht durchsetzbar, jedenfalls nicht vor dem endenden 18.Jahrhundert, und hätte das Reich zerstört, wie es dann wirklich geschehen ist. Die Praxis, wie sie vor dieser letzten Generation gehandhabt wurde, mußte gegebenenfalls rechtzeitig die Augen verschließen und hat dies getan. Die bestehende Reformkapazität war nicht groß; ihre Obergrenze bezeichnet der erfolgreich beschrittene Weg vom mittelalterlichen Hoftag zum mittelalterlichen Reichstag, denen wir uns nun zuwenden.

12

1. T e i l : E n t s t e h u n g und E n t w i c k l u n g des Parlamentarismus in D e u t s c h l a n d

II. Das Mittelalter (10. Jahrhundert bis 1519) 1. Der Hoftag im hohen und späten Mittelalter (10. Jahrhundert bis etwa 1470) D e r Begriff

3 0 Der Begriff „Hoftag" 6 ist ein Kunstwort der Historiker. Er bezeichnet ein Herr„ H o f t a g " Schaftsinstrument europäischer Könige und Fürsten im hohen und späten Mittelalter und realisierte häufig zugleich den Anspruch der vornehmsten Beherrschten auf Mitwirkung bei dieser Herrschaft. 31 Hoftage ordneten sich aus der Sicht des Herrn seinem grundlegenden ExistenzH o f t a g räum, dem Hof, zu und wurden von hier aus, nicht aus sich selbst heraus und Hof o r g a n i s j [ e r t Der Herrscher lud seine getreuen weltlichen und geistlichen Großen zwecks „Rat und Hilfe" zu sich, die damit ihrer bald „Hoffahrt" genannten Pflicht nachkamen. Herrscher und Hof des Hochmittelalters und vielfach auch des Spätmittelalters zogen umher, so daß man Hoftage in verschiedenen Regionen abhalten konnte. Damit wurden die Hauptkräfte des Landes, Herrscher und hoher Adel samt Kirchenführern, miteinander in Verbindung gebracht. Der Hoftag war als Herrschaftsmittel um so geeigneter, je weniger er den Herrn durch feste Formen band. 32

Mitwirkung

'

c er

der M o n a r c h i e

33 Schwierige Rahmenbedingungen,

Einzdcrelgnlsse 34 Hoftageder karolingischen Herrscher

Das Maß der Mitwirkung der Großen auf den Hoftagen bleibt im Hoch- und häufig auch im Spätmittelalter meist schwer bestimmbar und ist „politisch", das heißt je nach der konkreten Verteilung der Machtmittel zu beurteilen. Infolge des überall noch jahrhundertelang währenden, im Reich sogar zum Dauerproblem gewordenen Mangels an umfassender königlicher Verwaltung überall im Land konnte man jedenfalls der Mitarbeit und damit dem Einfluß der Großen nicht ausweichen — und dies um so weniger, je größer das Herrschaftsgebiet war. Dieser Praxis stand die Theorie von der nur durch den Willen Gottes beschränkten Allmacht der Monarchie gegenüber, so daß eine riesige Spannweite von politischen Möglichkeiten gegeben war. Demgemäß stand das Phänomen „Hoftag" der individualisierenden Abwandlung durch die konkreten Verhältnisse weit offen. Daß die deutsche Geschichte im europäischen Vergleich von Anfang an durch besonders schwierige Rahmenbedingungen und durch besonders wechselvolle £ ¡ n z e l e r e ¡ g n ¡ s s e gekennzeichnet ist, hat sich auch auf die Geschichte von Hoftag und

Reichstag ausgewirkt.

Unter den karolingischen Herrschern des fränkischen und dann des ostfränkisehen Reiches sind im 8. und 9. Jahrhundert Hoftage bekannt, die nicht selten von K I R C H L I C H E Teilnehmern, Verlaufsformen und Themen mitbestimmt waren.

6

E i n e m o d e r n e M o n o g r a p h i e hierzu gibt es nicht. P. MORAW Reichstag (ältere Zeit), in: H a n d w ö r t e r b u c h zur deutschen Rechtsgeschichte (künftig: H R G ) , 2 8 . Lief., 1987 (künftig B d . 4 ) , S p . 7 8 1 - 7 8 6 . Vgl. B.DIESTELKAMP H o f f a h r t , ebd., B d . 2 , 1978, S p . 2 0 3 - 2 0 5 ; J.FLECKENSTEIN Friedrich B a r b a r o s s a und das Rittertum, in: F e s t s c h r . H . H e i m p e l , B d . 2 , 1972,

1023-1041;

P . SCHMID D i e Regensburger Reichsversammlungen im Mittelalter, in: Verhandlungen d. hist. Vereins f. O b e r p f a l z u. Regensburg 112 ( 1 9 7 2 ) , S. 3 1 - 1 3 0 ; G . KREUZER D i e H o f t a g e der K ö n i g e in A u g s b u r g im F r ü h - und H o c h m i t t e l a l t e r , in: P . F R I E D ( H r s g . ) B a y e r i s c h - S c h w ä b i s c h e L a n desgeschichte an der Universität Augsburg 1 9 7 5 - 1 9 7 7 , 1979, S. 8 3 - 1 2 0 ; H . PATZE ( H r s g . ) D e r R e i c h s t a g von G e l n h a u s e n , 1981.

§1

Hoftag und Reichstag von den Anfängen im Mittelalter bis 1806 (MORAW)

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Am Anfang der deutschen Geschichte ließen die Anstrengungen der ottoni- 35 schen Dynastie, vor allem Kaiser Ottos des Großen (936-973), ein noch recht Ottonen unfertiges Land zur Vormacht des papstchristlichen Europa aufsteigen und erbrachten die Kaiserwürde. Selbst den Ottonen bereitete der heimische Adel nicht geringe Schwierigkeiten, mit denen man sich im Bündnis mit der Kirche auf Hoftagen auseinandersetzte. Die erste große Krise der deutschen Geschichte, der Investiturstreit (1076-1122), betraf auch den Hoftag. Eine bedenkliche Sonderform, der Königslose Tag, d. h. die Versammlung der Großen ohne und damit oft gegen den Herrscher, trat im Reich zuerst während des Vorspiels zu jenem Konflikt, während der Minderjährigkeit König Heinrichs IV. (1056-1106) zutage, nämlich 1062 bis 1065. Bald gab es dergleichen mit noch größerem Gewicht im Investiturstreit selbst, ζ. B. in Tribur, auch räumlich gegenüber dem Hoftag von Oppenheim (1076). Selbst in Tribur blieb der Herrscher, wenn auch im Negativen, entscheidender Bezugspunkt; denn man drohte mit der Erhebung eines Gegenkönigs, die dann ein Jahr später erstmals verwirklicht wurde. Ohnehin war der Urtyp des Königslosen Tages der immer wiederkehrende Wahltag. Indessen wiesen auch die Wahltage weder feste Formen noch eine klar umgrenzte Teilnehmerzahl auf.

36

Investiturstreit, Königslose Tage, Wahltage

In staufischer Zeit sind bei wieder stabilisierter Herrschermacht die Hoftage 37 Kaiser Friedrich Barbarossas (1152-90) hervorzuheben, vor allem derjenige in Hoftage Gelnhausen zur Absetzung Herzog Heinrichs des Löwen (1180) und die Tage in Friedrich Barbarossas Mainz von 1184 und 1188. Besonders den festlichen Tag von 1184 kann man ungeachtet mancher Spannungen unter den anwesenden Vornehmen als einen Höhepunkt hochmittelalterlicher Hoftagsherrlichkeit bezeichnen. Etwa zur gleichen Zeit löste sich aus der Schar der Großen des Reiches der Stand der weltlichen und geistlichen Reichsfürsten heraus. Sie galten fortan als die Ersten im Reich nach dem Herrscher, auch auf den H o f - und Reichstagen, und strebten zugleich in ihrer Region am intensivsten nach Landesherrschaft, der ersten Stufe territorialer Staatlichkeit.

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Weltliche und geistliche Reichsfürsten

Die Königswahl wurde indessen, zumal seit 1198, zu einem Akt, der für 39 ungefähr ein Viertel)ahrtausend nicht mehr so eng wie bisher mit einer vorwalten- Königswahl, den Dynastie verbunden war und damit stärker umkämpft wurde. Aus dem Kurfürsten Fürstenstand trat eine Gruppe von bevorrechteten Königswählern, die Kurfürsten, hervor, die sich zwar nicht sozialständisch, aber verfassungsrechtlich abhoben: die Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier, der König von Böhmen, der Pfalzgraf vom Rhein, der Herzog von Sachsen und der Markgraf von Brandenburg. Im Jahr 1257 ist ihre charakteristische Siebenzahl zum ersten Male bei den Wahlhandlungen zu erkennen. Im späten Mittelalter 7 differenzierte sich das politische Leben immer mehr und 40 wurde unruhiger und unübersichtlicher. In der Zeit der „kleinen" Könige von Starke Wähler und Rudolf von Habsburg (1273-91) an standen starken Wählern schwache Gewählte schwache Gewählte Aus Reichstagen des 15. und 16.Jahrhunderts, 1958; E.SCHUBERT König und Reich, 1979; P.MORAW Versuch über die Entstehung des Reichstags, in: H.WEBER (Hrsg.) Politische Ordnungen und soziale Kräfte im Alten Reich, 1980, S. 1-36; DERS. Organisation und Funktion von Verwaltung im ausgehenden Mittelalter, §§ 1—4, in: K. G. A. JESERICH U. a. (Hrsg.) Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1, 1983, S. 21-65, bes. 53 ff.; B.-U. HERGEMÖLLER Fürsten, Herren

14

l.Teil: Entstehung und Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland

gegenüber. Die meisten Fürsten blieben zugunsten des weiteren Ausbaus ihrer Landesherrschaft den Hoftagen fern. Besucht wurden diese vor allem von den Kurfürsten, von Gefolgsleuten des Herrschers aus seinem Erbbesitz, die ohnehin öfter am H o f weilten, und von Großen aus der Region des Hoftagsorts. Daneben traten einzelne und Gruppen aus dem Hochadel unterhalb des Fürstenstandes, aus Niederadel und Großbürgertum hervor, die aus den königsnahen Landschaften in Franken und Schwaben, am Mittelrhein und an der Mittelelbe/Saale stammten. Sie dienten dem Herrschertum weithin unabhängig von der nun fast bei jeglicher Wahl wechselnden Dynastie. Dies geschah zum eigenen Vorteil und oft aus Familientradition und stellte zugleich ein kontinuitätsförderndes Element am Hof und auf den Tagen dar. Von einem sozialständischen Zusammenhalt oder gar Antrieb je von Fürsten, Grafen oder Bürgern kann man nicht sprechen; entscheidend war das persönliche Interesse.

41

Besondere Höhepunkte politischen Handelns auf Hoftagen boten zuerst unter

Höhepunkte Kaiser Ludwig dem Bayern (1314-47) die Treffen in Frankfurt am Main und politischen Handelns Koblenz, denen ein Kurfürstentag in Rhens vorausgegangen war (alle 1338), und auf Hoftagen dann unter Kaiser Karl IV. (1346-78) die Versammlungen der Goldenen Bulle im H.Jahrhundert

(1356) in Nürnberg und Metz. Hier wurde das erste und dauerhafteste „Reichsgrundgesetz" verkündet, dort hatte man sich im letzten großen Ringen mit dem Papsttum zur Verteidigung der Reichsrechte als Rechte von Herrscher und Kurfürsten solidarisiert.

42

Die Veranstaltungen Karls waren Hoftage in idealtypischer Form, wirklich wie

Hoftage in ein „gesteigerter" H o f . Die Versammlungen Ludwigs und erst recht des schwachen idealtypischer Form Königs Ruprecht (1400-10) wiesen bereits Merkmale kommender Reichstage auf, und Vorformen was freilich keine Dauer gewann, sondern nur der rückblickende Historiker des Reichstags

registriert. Auf dem idealen Hoftag erschienen praktisch nur Gefolgsleute des Herrschers, politische Ablehnung wurde ebenso wie Gleichgültigkeit durch Fernbleiben zum Ausdruck gebracht; allein die Kurfürsten, die sich infolge der Ausweitung ihrer von der Königswahl abgeleiteten Rechte immer besser legitimiert fühlten, reagierten gegebenenfalls eigenständig. Ruprecht beherrschte seine Hoftage nicht mehr gänzlich, so daß sich Parteienbildung zeigte und harte Opposition zu Wort kam.

43

Die zweite Wurzel des Reichstags wird man wie erwähnt im Kurfürstentum 8

Kurfürstentum erblicken. Die Goldene Bulle hatte seine Stellung in unmittelbarer Nähe des im 14. und Herrschers und in klarer Distanz zu den „einfachen" Fürsten fixiert. Daher kann 15. Jahrhundert

die Bulle als Markstein in der Vorgeschichte des Reichstags gelten. Jahrhundertelang waren die Kurfürsten als einzige Verfassungsinstitution neben dem König und Kaiser wirklich populär. Man begann ihnen eine lange Vorgeschichte zuzuschrei-

8

und Städte zu Nürnberg 1355/56, 1983; A.LAUFS Reichsregiment, in: H R G (Fn.6), 27.Lief, (künftig Bd. 4), 1986, Sp. 739-747; H. ANGERMEIER Reichstagsakten, Deutsche, in: H R G (Fn. 6), 28. Lief., 1987, Sp. 794-797; R. AULINGER Der Deutsche Reichstag in Spätmittelalter und früher Neuzeit, in: R. A. MÜLLER (Hrsg.) Reichsstädte in Franken, Bd. 1, 1987, S. 125-142; P. MORAW Reichstag (ältere Zeit) (Fn.6); H.BOOCKMANN Geschäfte und Geschäftigkeit auf dem Reichstag im späten Mittelalter, in: Hist. Zeitschrift 246 (1988), S. 297-325. W.BECKER Der Kurfürstenrat, 1973; E.KAUFMANN Kurfürsten, in: H R G (Fn.6), Bd.2, 1978, Sp. 1277-1290; A . ERLER K u r w ü r d e , ebd., Sp. 1314-1319.

§1

H o f t a g und Reichstag von den Anfängen im Mittelalter bis 1806 (MORAW)

15

ben, den Publizisten galten sie als Repräsentanten der Allgemeinheit im Sinne der zeitgenössischen politischen Theorie. Die Stabilisierung des Kurfürstentums fiel in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts; aber noch generationenlang, bis in die 1420er Jahre, bildeten die Kurfürsten kein Kollegium mit wirklichem Zusammenhalt. Aktiv waren bis dahin in erster Linie die rheinischen Vier. Die Krise König Wenzels (1378-1400/19) bot den Anlaß, das gewonnene Selbstbewußtsein in erneuten Königslosen Tagen zu erproben. Infolge der stark geminderten Attraktivität des Herrschers fanden sie Anklang bei Fürsten, Grafen und Herren. König Sigismunds (1410-37) vieljährige Abwesenheit vom Reich erzwang unter der Führung von Kurfürsten und päpstlichem Legaten — zumeist vom Herrscher gebilligt — weitere Königslose Tage mit bedeutungsschweren Entscheidungen. Die Verteidigung des Glaubens gegen die Ketzerei der Hussiten war Anlaß zu den ersten Akten der Selbstorganisation des Reiches als eines Gebildes, das sich wenn nötig auch ohne den König als handlungsfähig erweisen mußte. Im Jahr 1422 hatte man auf einem Tag in Nürnberg die erste Reichsmatrikel als Liste der leistungspflichtigen Reichsglieder erstellt, 1427 wurde in Frankfurt am Main erstmals allen Reichsangehörigen eine Geldsteuer auferlegt. Es war eine Selbstverpflichtung ohne den König, die von den wichtigsten „Leistungsträgern" und zugleich verfassungsmäßig Königsnächsten, den Kurfürsten und den Reichsstädten, gelenkt werden sollte. An der Spitze stand eine in Nürnberg ansässige Zentralinstanz aus sechs Vertretern der Kurfürsten, drei Abgesandten von Reichsstädten und dem obersten Feldhauptmann, die Mehrheitsbeschlüsse fassen konnte. Unterhalb ihrer sollte eine vierstufige Steuerverwaltung mit Zentren in Köln, Nürnberg, Erfurt, Salzburg und Breslau entstehen, von der Teile wirklich ins Leben getreten sind. Dies alles war kurzatmig, beschrieb aber die Gesamtsituation des aktiven Dualismus vor dem Reichstagszeitalter. Nach dem Ende der Hussitenkrise riß dieser Faden wieder ab. Kaiser Friedrich III. (1440-93) handhabte eine Generation hindurch das Instrument des Tages mit der größten Zurückhaltung.

44

Königslose Tage mit bedeutenden Entscheidungen, Sigismund und Friedrich III.

2. Die Entstehung des Reichstags (etwa 1470-1519) Der Reichstag entstand im Halbjahrhundert nach 14709 und wurde in der darauf- 45 folgenden Generation endgültig ausgeformt. Ein präzises Geburtsdatum kann man Reichstagsentstehung, nicht angeben. Die große Neuerung war nicht das Ergebnis langwährender prinzi- Einflußfaktoren pieller Reformgedanken und besserer Einsicht in die Staatsnotwendigkeit, sondern die Folge eines Schrittes nach dem anderen unter dem Druck harter N o t und die Konsequenz unbeabsichtigter Nebenwirkungen dieser Schritte. Drei Herausforde' Außer Fn. 7 F. FRENSDORF'!·' Reich und Reichstag, in: Hansische Geschichtsblätter 16 (1910), S. 1-43; H . ANGERMEIER Die Reichsregimenter und ihre Staatsidee, in: Hist. Zeitschrift 211 (1970), S. 265-315; DERS. Bayern und der Reichstag von 1495, ebd., 224 (1977), S. 580-614; E. ISENMANN Zur Frage der Reichsstandschaft der Frei- und Reichsstädte, in: Stadtverfassung Verfassungsstaat - Pressepolitik, Festschr. f. E. Naujoks, 1980, S. 91-110; H . ANGERMEIER (Bearb.) Deutsche Reichstagsakten unter Maximilian I, Bde. V/1 u. V/2, 1981; G.SCHMIDT Der Städtetag in der Reichsverfassung, 1984; P.MORAW Fürstentum, Königtum und „Reichsreform" im deutschen Spätmittelalter, in: Blätter f. dt. Landesgesch. 122 (1986), S. 117-136; P . J . HEINIG Städte und Königtum im Zeitalter der Reichsverdichtung, in: La ville, la bourgeoisie et la genèse de l'état moderne, Paris 1988, S. 87-111.

16

46 Aufgabe der Distanz

^"d^R

rS

47 A u ß e r e und innere

Situation des Reichs

Passivität

48 der

Reichsglieder

49 Der Tag von W o r m s

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B ed eutun S h f

Begriff

Reichstag"

1. Teil: E n t s t e h u n g u n d E n t w i c k l u n g des P a r l a m e n t a r i s m u s in D e u t s c h l a n d

rungen waren am wichtigsten: der Ansturm von Feinden im Osten, Westen und Süden, der Türken, Ungarn, Burgunder und Franzosen, der so bedrohlich war wie nie zuvor, der Aufstieg der Kaiserdynastie der Habsburger in bisher nicht vorstellbare kontinentale Dimensionen und der Durchbruch langfristiger Entwicklungsprozesse zur Oberfläche des Geschehens. Dies waren Vorgänge in Wirtschaft und Technik und im sozialen und kulturellen Leben. Alle diese Faktoren führten eine rapide Beschleunigung des historischen Prozesses herbei, wie dies seit dem 12. und 13.Jahrhundert nicht mehr vorgefallen war. Oder anders formuliert: Zahlreiche bisher eher durch ihr Nebeneinander gekennzeichnete Kräfte vereinten sich zu einem einzigen Handlungszusammenhang; die Entstehung Deutschlands wurde vollendet. Der Anfang gehört der Ereignisgeschichte an. Kaiser Friedrich III. sah sich seit 1470 genötigt, die Politik der Distanz gegenüber den Reichsgliedern aufzugeben und ein naturgemäß spannungsvolles Zusammenwirken mit ihnen in die Wege zu leiten; denn er allein vermochte die politisch-militärisch-finanzielle Gesamtsituation nicht mehr auszubalancieren. Der Tag von Regensburg 1471 war als herkömmlicher Hoftag gemeint, konnte aber in dieser Gestalt nicht durchgehalten werden, und noch deutlicher zeigte sich dies an den folgenden Tagen. Sie schwankten hin und her zwischen den alten Regeln und tastenden Versuchen, das sich verdichtende Gesamtkräftespiel des Reiches mit neuen Verhaltensweisen institutionell einzufangen. Große Klarheit über die Einzelphasen dieses aufregenden Vorgangs der Anpassung eines weitgedehnten Gemeinwesens an gewaltige Herausforderungen besteht noch nicht, auch weil den Zeitgenossen die langfristige Perspektive verschlossen war. Es handelte sich schon wegen der äußeren Dimensionen, aber auch angesichts der Eile, mit welcher Altertümliches an „Modern" Agonales heranzuführen war, um ein wohl in Europa einmaliges Geschehen. Gleichzeitig liefen damals ungeheuer aufwendige und von rascher Abfolge von Erfolg und Mißerfolg gekennzeichnete Militäraktionen an zwei oder gar drei p r o n t e n a b ; a m Rhein, in den Niederlanden, im österreichisch-ungarischen Südosten und in Norditalien. Währenddessen setzte sich innerhalb des Reiches das vom dynastischen Ehrgeiz kraftvoll gespeiste Ringen um landesherrliche und hegemoniale Positionen fort, und zwischen den Häusern Habsburg und Wittelsbach blieb es bei der großdynastischen Rivalität um die erste Rolle im Reich. Inneres und Außeres griffen ineinander, wobei die allermeisten Reichsglieder a H e in die heimische Situation ins Auge faßten und die Frage nach der Selbstbehauptung des Ganzen am liebsten dem Kaiser überließen. Seitdem es ein „Reich" gab, das dem Herrscher auf dem Reichstag gegenübertrat, zeigte sich diese schon für die damalige Zeit als naiv zu bezeichnende Abstinenz (es war die Generation Machiavellis); kein Problem wird man durch Nichtbeachten aus der Welt schaffen oder so das Mitleid der Feinde rühren. Die Überlebensfähigkeit des Reiches, die seit anderthalb oder gar zweieinhalb Jahrhunderten nicht ernsthaft beansprucht worden war, stand in der Tat auf der Probe. Der erste Tag König Maximilians I. (1493-1519), der 1495 in Worms stattfand u n c J w ¡ e üblich als „Debüt" eines neuen Herrschers besonders gut besucht war, stellt einen ersten Höhepunkt des Geschehens dar. Allerdings ist zu beachten, daß Königshof vor und nach den Wormser Monaten und ebenso während dieser ein politisches Zentrum ersten Ranges und ein überlegenes soziales Zentrum

§1

H o f t a g und Reichstag von den Anfängen im Mittelalter bis 1806 (MORAW)

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geblieben ist. Gegenüber dem Tag von Worms wird man den Begriff „Reichstag" ohne Zögern gebrauchen, wie es auch die Zeitgenossen taten, wenngleich keineswegs regelmäßig oder auch nur überwiegend. Uberhaupt kann man bei dem Bemühen um Präzision nicht leicht auf der politischen Begrifflichkeit von damals fußen. Die deutsche politische Sprache war wenig entwickelt, regional unausgeglichen und logisch nicht durchgeformt und sollte dies alles noch mindestens ein Jahrhundert bleiben, während ihr die bewährte Stütze des Lateinischen zu entgleiten begann. Heute mag das Wort „Reichstag" eindeutig scheinen, um 1500 war es dies mitnichten. Es ist als „saloppe" Kurzformel aus „Unser (= des Königs) und des Reiches T a g " entstanden und konnte ursprünglich ebensogut herrscherlich (als Hoftag) wie ständisch (als Reichstag etwa im späteren Sinn) verstanden werden. Der zweitgenannte Bedeutungsinhalt setzte sich gemäß der realen Verfassungsentwicklung durch. Als Wesenszüge des Reichstags um 1500 sind zunächst festzuhalten: 1. Gemäß der hervorragenden Rolle, die die Kurfürsten als bisher einziges 50 organisiertes Gegenüber des Königs gespielt haben, erblickt man sie auch als Kern K u r f ü r s t e n , der des Reichstags, gemäß seiner hierarchischen Struktur als obersten der drei „Räte", E r z b i s c h o f von Mainz, Praxis des als ein Gremium für sich. Weiterhin nahmen sie wesentliche oder gar wesentlichere Reichstags und Aufgaben im Reich neben und vor dem Reichstag wahr. Der vornehmste der Herrscher Kurfürsten, der Erzbischof von Mainz, zog folgerichtig eine dirigierende und organisierende Rolle an sich. Dadurch erwuchs dem Herrscher ein persönliches Gegenüber, ja er wurde aus der heranwachsenden internen Praxis des Reichstags faktisch ausgeschlossen. Auch wenn er auf anderen Wegen wieder in diesen Eingang fand, hatte sich hierin ein grundsätzlicher Unterschied zum Hoftag auf getan. 2. Die Reichsstädte, die als wichtigste Glieder des Kronguts den Hauptanteil 51 der Steuerlast getragen hatten und trugen, soweit sie vom außererbländischen Reichsstädte, Reich herrührte, hatten sich während der Abwesenheit des Königtums im Namen Städte des Reichs von den Kurfürsten in Pflicht nehmen lassen. Sie standen vor dem lange Zeit von ihnen nur undeutlich erkannten Dilemma, ob sie sich auf den alten Königsbezug konzentrieren oder sich auch noch in die unbekannte ständische Zukunft vorauswagen sollten. Herrscher und Kurfürsten samt Fürsten zerrten an ihnen. Schließlich blieben sie beiden Seiten ausgeliefert und mußten in unglücklicher Unentschiedenheit beiderseits des entstehenden „institutionalisierten Dualismus" verharren. Der König griff als Stadtherr oder Stadtvogt weiterhin autoritativ in ihre Angelegenheiten ein, von denen viele damals und später mit dem Reichstag nichts zu tun hatten. Zugleich wollte man sich wenigstens phasenweise ständeartig verhalten und bildete so schließlich einen dritten „ R a t " des Reichstags. Einladungen an alle Freien Städte und Reichsstädte waren 1471 und 1489 ergangen und wurden seit 1495 regelmäßig. Aber dies hatte mit Mitbestimmung und Reichsstandschaft nichts zu tun, außer in den Augen der Städter selbst. Sie forderten wohl seit 1487 ein Teilnahmerecht und besetzten 1495 die ihnen in den Reichstagsausschüssen angebotenen Plätze. Trotz alledem blieben der soziale Rückstand uneinholbar und damit die Randsituation unveränderbar. Verlierer waren die Städte schon bei der Goldenen Bulle von 1356 gewesen. Auch auf dem Reichstag wurde ihnen Mitsprache bestenfalls bei den Modalitäten und teilweise beim Umfang ihres

Freie

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1. Teil: Entstehung und Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland

Zahlens zugestanden, v o m Informationsfluß waren sie vielfach abgeschnitten, ihre politische Rolle blieb defensiv und passiv. Bemerkenswerter ist der Tatbestand, daß sich die Städte seit 1471 über ihre regionalen B ü n d e hinaus auf allgemeinen Städtetagen trafen, u m eine gemeinsame H a l t u n g zu erarbeiten. Dies ist ein H a u p t z e u g n i s für die „Verdichtung" des Reiches. Ein zweites ist nicht weniger wichtig: D i e Freien Städte paßten sich ungeachtet ihrer besseren Rechte ohne viel Aufsehen den Reichsstädten an und blieben fortan nicht mehr von den Lasten des Gemeinwesens verschont.

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3. Unvergleichlich wesentlicher war die Einbeziehung der weltlichen und geistlichen Fürsten, Reichsgrafen und Reichsprälaten in einen weiteren, den zweiten „ R a t " des entstehenden Reichstags (wohl seit 1487) — in D i s t a n z zu den Kurfürsten und in noch viel größerem A b s t a n d zu den Städten. D e r extrem geringe Anteil, den zumal die weltlichen Fürsten mit sehr wenigen A u s n a h m e n am Gesamtinteresse g e n o m m e n hatten, und die Tatsache, daß ihre Gehorsamspflicht gegenüber dem Herrscher sehr theoretisch geworden war, können als notorisch gelten. D i e s geschah dem A u s b a u regionaler Macht zuliebe, den man als Träger und Glied regionaler H e g e m o n i a l s y s t e m e betrieb. E s hat zweifellos mehrere G r ü n d e für den fundamentalen Meinungswandel der Fürsten gegeben. V o r allem war er Ergebnis kleiner Schritte, deren letzte K o n s e q u e n z den Beteiligten nicht bewußt gewesen sein kann, da sie doch so sehr ihre Interessen verletzte. Solche kleinen Schritte ergaben sich aus der Rivalität mit den Kurfürsten, denen man inzwischen das Feld nicht allein überlassen wollte, aus harten Gegensätzen untereinander, für die sich ein neuer A u s t r a g u n g s o r t zu eröffnen schien, aus Loyalität z u m K ö n i g t u m als A u s d r u c k des neu aktivierten G r u n d k o n s e n s e s , auch weil der Herrscher in Militär und Verwaltung neue Positionen anzubieten hatte, und aus einzelnen unterschiedlichen H o f f n u n g e n , Fehlkalkulationen und Unausweichlichkeiten. Jedenfalls war der Fürstenrat ein „ R e s t " , der aus denjenigen bestand, die sich zuletzt der Verdichtung des Reiches anbequemten, und war demgemäß unlogisch zusammengeflickt. N a c h oben hin hatten sich die sozialständisch gleichrangigen Kurfürsten ausgeschlossen; nach unten mußten die sozialständisch minderrangigen Grafen und Prälaten m ü h s a m einbezogen werden; untereinander war man machtpolitisch so verschieden wie nur möglich; geistliche und weltliche Fürsten, sonst überall im Ständewesen getrennt, wurden zusammengespannt; die Frage, wie es um die Teilhabe des H a u s e s Österreich-Burgund stand, war ungeklärt. Gleichwohl begann die für das Z u s t a n d e k o m m e n des Reichstags unentbehrliche Mitwirkung der Fürsten zu funktionieren, wenn auch um den Preis von sich bald eröffnenden seltsamen Ungereimtheiten und nur mit Nachhilfe der K u r f ü r sten und besonders des Herrschers. Diese sahen die D i n g e unter augenblicksbezogenen fiskalischen, keineswegs unter organisationslogischen oder gar langfristig„konstitutionellen" Aspekten an.

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4. In der T a t war es primär ein K a m p f um Lasten, die möglichst z u m Schaden anderer zu verteilen waren, wenn man ihnen schon als zu „Rat und H i l f e " Verpflichtete in der N o t des Reiches nicht ausweichen konnte. Eher hierher als allein in eine abstrakte Geschichte der „ D e m o k r a t i s i e r u n g " E u r o p a s gehören auch die P r o b l e m e der Mehrheitsentscheidung und der B i n d u n g der Abwesenden durch die Anwesenden. Sie wurden ebenfalls fiskalisch und damit im Endergebnis

Fürsten, Reichsgrafen, Reichsprälaten, Fürstenrat

Lastenverteilung, Mehrheitsentscheidung, Bindung der Abwesenden

§1

H o f t a g und Reichstag von den Anfängen im Mittelalter bis 1806 (MORAW)

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zugunsten der Kräftigung der Stände gehandhabt. Dieser Verteilungskampf hat wohl mehr als jedes andere Moment den Reichstag hervorgebracht und zwar abermals von Einzelschritt zu Einzelschritt, ohne Vorstellung von einem Endziel. Dabei ist zu beachten, daß die Besucher der frühen Reichstage außerhalb von dessen Sitzungen Besucher eines Hofes waren. Daher ist zur Festigung des Neuen die große Zahl der Tage sehr wichtig gewesen, wie es von den Herausforderungen um und nach 1500 und im Zeitalter Karls V. erzwungen worden ist. Hingegen war der Anteil der sogenannten Reichsreformliteratur an der Entstehung des Reichstags überaus gering. Gerade die sehr konkrete Entstehungsweise des Reichstags hat ihn unwiderstehlich und unwiderruflich gemacht.

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Die vier Grundurkunden des Wormser Reichstags verdienen als Beispiele des endlich doch gelungenen Zusammenwirkens von König und Ständen Aufmerksamkeit. Es waren: 1. Die Errichtung des Ewigen Landfriedens, der die rechtliche Selbsthilfe zugunsten ordentlicher Gerichtsverfahren beendete, was nach etwa einer Generation wirklich durchgesetzt wurde. Damit wurde die Rechtsgemeinschaft des Reiches befestigt oder gar erst aufgerichtet. Interessenpolitisch gesehen kam der Landfriede der Territorialisierung der Fürsten zugute und beengte den kleineren Adel.

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2. Die partielle Umorganisation des Königlichen Kammergerichts als Hauptteil des Tausches von Königsrechten gegen Geldleistungen der Stände; es wurde ein fester Sitz, also die Lösung vom weiterhin wandernden Herrscherhof, und die Bestellung des größten Teils der Beisitzer durch die Stände nach hierarchischregionalem Proporz zugestanden. Die höchstrichterliche Gewalt verblieb natürlich dem Herrscher und damit die Ernennung des Kammerrichters und die durch den königlichen Rat weiterhin ausgeübte Hofgerichtsbarkeit, die bald in Gestalt des Reichshofrats institutionalisiert wurde. Im Jahr 1500 wurde die zukunftsreiche Gliederung des Reiches in zunächst sechs, seit 1512 dann zehn Kreise verwirklicht — vorerst um einen Teil der Kammergerichtsbeisitzer zu bestimmen, bald aber auch, um weitere, vor allem militärische Aufgaben zu erfüllen.

G r o ß e Anzahl der T a g e um und nach 1500, Reichsreformliteratur

G r u n d u r k u n d e n des W o r m s e r Reichstags

56 Errichtung des Ewigen Landfriedens

57 Kammergericht, höchstrichterliche G e w a l t , Reichshofrat, Gliederung des Reiches in Kreise

3. Die Bewilligung einer von allen Reichsangehörigen zu zahlenden vierjähri- 58 gen Steuer, des „Gemeinen Pfennigs", nicht unähnlich dem Vorgehen von 1427. Bewilligung des Auch diese Steuer sollte, diesmal in Frankfurt am Main, von einer etwa nach dem „ G e m e i n e n Pfennigs" Proporz der Bewilligenden bestellten Behörde beaufsichtigt werden und sollte vor allem der Rückzahlung der dem Herrscher vorschußweise gewährten „Eilenden Hilfe" dienen. 4. Die „Handhabung (des) Friedens und (des) Rechts" mag man in der Grundstimmung, nicht im Detail als eine Art erster Legitimierung des Reichstags auffassen. Nicht realisiert wurden u. a. dessen hier vorgesehene jährliche Einberufung und das Bestreben, die königliche Politik insoweit mitzubestimmen, als sie von den Ständen mitfinanziert wurde. Aber es war ein Text, in dem sich Maximilian für alle sichtbar selbst beschränkte als Konsequenz der Notlage, in der er sich in Worms befand.

59 „ H a n d h a b u n g des Friedens und des Rechts"

Vermutlich führten Schwierigkeiten mit Einberufung und Besuch allzu häufiger 60 Reichstage zur Idee eines abgekürzt „Reichsregiment" genannten Ausschusses, der Reichsregiment in der Tat das Reich mitregieren oder gar regieren wollte. Was 1495 gescheitertes

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1. Teil: Entstehung und Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland

Projekt blieb, ist fünf Jahre später in einer anderen Königskrise verwirklicht w o r d e n : ein G r e m i u m aus zwanzig Ständevertretern mit einem königlichen Statthalter an der Spitze, das zu Mehrheitsbeschlüssen fähig war. V o n der M o d e r n e her gesehen schien nun ein harter V e r f a s s u n g s k a m p f entbrennen zu sollen, weil die königliche Beschlußgewalt bis auf wenige Rechte an dieses Regiment fiel. D i e Wirklichkeit sah aber ganz anders aus. D a s Regiment scheiterte nach zwei Jahren kläglich, weil es weder v o m Herrscher noch von den Ständen akzeptiert wurde. Dies lehrt den Beobachter, das Verfassungsdenken der G e g e n w a r t nicht unbesehen auf eine Zeit zu übertragen, in der die Majestät und das geschriebene Wort, Adelswelt und J u r i s p r u d e n z sich anders zueinander verhielten als in der Moderne. Was wir Verfassung nennen, war damals vielfach ein Verhältnis unter Großen, denen fürstliches Ansehen viel mehr galt als Texte auf Papier, oder besser: dies waren i n k o m m e n s u r a b l e Größen. Eine „konstitutionelle" Reichsführung, wie sie Erzbischof Berthold von M a i n z (1484-1504) damals erstrebte, auch um über den hoffnungslosen N i e d e r g a n g seines Territoriums hinwegzutäuschen, war unzeitgemäß und übrigens auch keineswegs uneigennützig. E s war noch viel zu früh für jene staatliche Disziplin, die ferner liegenden Vorteilen das N a h e , auch wenn es schwer fällt, unterzuordnen bereit ist und die den Verfassungskonsens höher schätzt als Parteigewinn. In diesem Licht muß man auch den entstehenden Reichstag insgesamt beurteilen. D e r W e g in die m o d e r n e Welt war eben weit — auch im Bereich der Staatsverfassung.

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T r o t z solcher Einschränkungen war es sehr wesentlich für das deutsche Schick-

Modernisierung der sal, was um 1500 geschah: Eine bis dahin fast allein auf die schmale Basis des Verfassung

K ö n i g t u m s gestützte Verfassung w u r d e im Wettlauf mit dem D r u c k der U m w e l t stark verbreitert und damit modernisiert — natürlich in harten Interessenkonflikten, die beim Weg v o m Nebeneinander z u m Mit- und Ineinander unvermeidlich waren. Eine neue de facto-Legitimität des Reichstags trat neben die uralte Legitimität des Herrschers — auf eine keineswegs unumstreitbar klare, vielmehr nur genetisch und nicht systematisch begreifbare Weise — und behielt Dauer. Dies geschah teilweise gegen den Widerstand des K ö n i g s , z u m anderen Teil förderte er das N e u e , ohne dieses T u n als F ö r d e r u n g zu erkennen. Ebensosehr gegen die R ä s o n der Betroffenen führte das Verhalten der Fürsten und Städte zu immer mehr G e l d - und Militärleistungen für das Reich. Es stellte sich also ein Geschehen ein, ohne daß es die Hauptbeteiligten so wollen konnten. Dessenungeachtet mündeten beiderseits entstandene Selbstbindungen in ein Mehr an bald allgemein anerkannter Verrechtlichung und Staatlichkeit ein.

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Zusammenhalt im Reich

Wir nennen dies den „institutionalisierten D u a l i s m u s " . E s war ein im Funktionieren besserer und zugleich realitätsnaher Zusammenhalt der Deutschen. D a b e i beobachtet man quälend langsame und wie erwähnt konfliktreiche Verfahren; es war aber auch ein Zusammenhalt von räumlicher A u s d e h n u n g und sachlicher Komplexität ohnegleichen in E u r o p a und ein Z u s a m m e n h a l t in einer Adelswelt, die sich an den R e s p e k t vor dem Papier ebenso wie an den zweckmäßigen U m g a n g mit dem G e l d erst langsam gewöhnte. Texte mochten Extrempositionen enthalten; der Weg, den die Realität nahm, war entscheidend. D a z u gehörte die Begegnung von immer mehr Adelsherren und immer mehr Fachleuten, die nach und nach die um 1500 noch deutlich sichtbare mittelalterliche Schwerpunktbildung durch Süd-

§1

Hoftag und Reichstag von den Anfängen im Mittelalter bis 1806 (MORAW)

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oder gar Südwestdeutsche ablöste. Ein Denken in gemeinsamen Begriffen und gemeinsamen Inhalten wuchs heran, wie dies womöglich schon im mehrmonatigen Beisammensein in Worms zum Ausdruck kam. Dazu zählte die Ausweitung des Horizonts, der im Normalfall ein regionaler Horizont war, auf das Gesamtreich. Dabei wird man beachten, daß nicht weniges mit einem hohen Maß von Ubereinstimmung der Beteiligten geschah (und damit de facto den Reichstag förderte). So erwies es sich noch vor 1500 als zweckmäßig, auf den Tagen wesentlich mehr Themen als nur die großen Konfliktstoffe der Reichsverfassung zu behandeln. Es waren keine Themen etwa im Sinne einer Sozialpolitik mit langfristigen Zielvorstellungen, aber man befaßte sich mit sozialen und wirtschaftlichen Einzelproblemen in nicht geringer Zahl. Nimmt man dies alles zusammen, so kann man sagen: Es waren Erfahrungen, die Franzosen und Engländer je für sich schon etwas früher, in der säkularen Auseinandersetzung ihres Hundertjährigen Krieges im 14. und frühen 15. Jahrhundert, erworben hatten. In diesen Krieg der beiden Monarchien waren, wie man ganz richtig gesagt hat, Dynastien hineingegangen und Nationen herausgekommen. Daß man Ahnliches für Deutschland feststellen kann, war auch die Folge elementarer Prozesse, die in diesen Jahrzehnten den Volkskörper umgestalteten. Uberlebensfähigkeit und Anpassungsfähigkeit, die beiden Haupteigenschaften staatlicher Existenz, speisten sich im Reich auch aus anderen als staatlichen Quellen. Dazu gehörten das Auftreten des ersten Massenmediums der Geschichte, des Buch- und bald auch „Zeitungs"drucks zusammen mit der ebenso neuen Druckgrafik, die kräftige Vergrößerung der Bildungsschicht und innerhalb ihrer der Juristen- und Literatenkreise, eine neue Wirtschaftsblüte mit sehr verstärktem Kapitalverkehr und zahlreichen technischen Neuerungen und das Heranwachsen patriotischen Denkens mindestens bei Teilen des Adels, des gehobenen Bürgertums und der Bildungsschicht. Im 16. Jahrhundert konnte sich in Deutschland in fast jeder Hinsicht viel großräumigeres Geschehen mit viel mehr Beteiligten abspielen, als dies im 14. Jahrhundert oder davor vorstellbar erscheint.

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Verlierer der neuen Lage war aus mittelalterlicher Sicht das Königtum. Der Weg zur legitimen Verengung der Herrscherrechte war eingeschlagen. Der H o f hatte sein Monopol als Führungs-, Organisations- und Integrationsinstanz eingebüßt. Erst das Versagen des Hofes in diesen Funktionen oder — gerechter geurteilt — sein hoffnungsloses Überfordertsein schon angesichts der alten und erst recht gegenüber der neuen Situation haben den Reichstag möglich gemacht. Fortan konkurrierte der H o f mit seinen sozialen und politischen Mitteln mit dem Reichstag; dabei behielt er die unentbehrliche Funktion der Stabilisierung von Gruppen, die der Reichseinheit unabhängig vom Reichstag dienten. Jedoch weilte er seit dem frühen 17. Jahrhundert endgültig am Rand des Reiches, in Wien. Die Krise jener Integrationsfunktion im späteren 18.Jahrhundert, im Zeitalter Josephs II. und danach, fiel zeitlich und kausal mit der Endkrise des Reiches zusammen. Prinzipiell verhielt es sich mit dem Hofproblem wie mit dem ungelöst gebliebenen Metropolenproblem. Ein einziger H o f und eine einzige Metropole, die den deutschen Geschichtsraum hätten wirklich durchgestalten können, hätten größer sein müssen als jeder reale Beispielsfall in Europa, so groß, wie es die allgemeinen Rahmenbe-

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Außerstaatliche Faktoren der Uberlebens- und Anpassungsfähigkeit des Reichs

Königtum als Verlierer, H o f p r o b l e m und Metropolenproblem

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1. Teil: Entstehung und Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland

dingungen nicht zugelassen haben. Denn entwicklungsgeschichtlich gesehen belegte die Mitte Europas in diesen Jahrhunderten nicht mehr als einen Mittelplatz. Konkret-politisch betrachtet wird die frühneuzeitliche Zukunft des Reiches 65 Kaisertum und durch jenes Patt bezeichnet, das man schon 1495 beobachten kann. Anders als in Fürstentum Frankreich, wo sich nach und nach die absolute Monarchie durchsetzte, und anders als in England, wo das Ständeparlament der Stärkere wurde, konnte im Reich keines der beiden großen Kraftzentren „Kaisertum" und „Fürstentum" das andere wirklich besiegen. Oder sollte man nicht lieber von einem erfolgreichen Kompromiß sprechen, der beiden Seiten im Kern ihr Recht beließ? Das Vorwissen nämlich, daß dieser Ausgleich für völlig anders gewordene Gegebenheiten, diejenigen des späteren 18. Jahrhunderts, den Keim des Untergangs in sich barg, sollte man zunächst außer acht lassen. Angemessener ist wohl die Beobachtung, daß die unmittelbar bevorstehenden großen Herausforderungen, die Reformation und die Konfessionalisierung, bewältigt wurden und daß sich währenddessen und schon zuvor beide Seiten die neuen Möglichkeiten bewußt machten, die der Reichstag bot. Der Herrscher stützte sich ihm gegenüber immer mehr auf die ihrerseits modernisierten Erbländer und auf die Mittel der Großdynastie. Seine Reichstagspolitik war weder im Detail noch im ganzen erfolglos; denn die separierenden Techniken der Hoftagspraxis erfüllten immer noch ihren Zweck, und es gewann der Reichstag insgesamt keine eigenständige Legitimität; Königslose Tage als antikönigliche Tage mit dem Schein des Rechts gab es nicht mehr. Die Fürsten nutzten ihrerseits den Reichstag als Disziplinierungsmittel gegenüber den heimischen Ständen und Steuerzahlern. So stand bald ein wieder erstarktes Herrschertum einem kompakter gewordenen Fürstentum gegenüber und zwar in einem verrechtlichten Verhältnis. Dies war die deutsche Variante einer Problematik, die allen alten Staaten oder „Staaten" Europas bei der Auseinandersetzung mit neuen Mitinteressenten am Gemeinwesen und Mitträgern des Gemeinwesens aufgegeben war.

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Auftakt zur ersten deutschen Teilung

Zu den Grundgegebenheiten, die das deutsche Schicksal als Ergebnis der Entscheidungen um 1500 fortan bestimmten, gehört ein letzter wesentlicher Punkt. So unausweichlich die Modernisierung des Reiches durch den Reichstag und andere Neuerungen schien, wenn man im Mächteeuropa der Neuzeit vorerst bestehen wollte — der Preis war hoch. Man kann ihn als Auftakt zu einer ersten deutschen Teilung bezeichnen. Kurz vor 1500 hatte der deutsche Geschichtsraum seinen größten Umfang erreicht — in Gestalt einer „vorkonstitutionellen" Situation oder „Offenen Verfassung", in lockerer Vielfalt und entsprechendem historischen Reichtum zahlreicher unterschiedlicher Kräfte. Den Weg dahin würde man grob mißverstehen, wenn man ihn von später her staatlich-machtpolitisch deuten wollte. Nicht einheitliche neuzeitliche Machtpolitik war seine Voraussetzung, sondern „pluralistischer" dynastischer Ehrgeiz, der dann erst einmündete in die in der Geschichte ruhende Würde des Reiches und auf die konkurrenzlose Legitimität seines Hauptes traf. Die Umwandlung dieser lockeren, veraltenden Situation unter dem Druck der Feinde in eine modernere und „dichtere" war ein Geschehen ohnegleichen; es schuf nicht nur die bisher behandelten institutionellen, sondern auch räumliche Probleme. Entlang älterer Bruchlinien trat eine Dreiteilung in ein „Reichstags-Deutschland", in die kaiserlichen Erbländer und in Gebiete ein, die keinem dieser beiden Bereiche angehörten.

§1

H o f t a g und Reichstag von den Anfängen im Mittelalter bis 1806 (MORAW)

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Die habsburgische Großdynastie 1 0 war eine überaus dynamische Kräfteballung, 67 die sich durch den konkurrierenden Anspruch des Hauses Valois auf den Vorrang Habsburgische in Europa ständig neu herausgefordert sah. Sie faßte ihre Erbländer in Ober- Großdynastie deutschland und in den Niederlanden samt Burgund durchaus konsequent als zwei Territorienkomplexe auf, die „Reichstags-Deutschland" parallel geordnet waren. So verhielt es sich fiskalisch; denn die neuen Steuern des Reiches und die alten Einkünfte aus den Erbländern dienten dem gleichen Zweck, vor allem der ungeachtet aller Deklamation des Reichstags weiterhin vom Herrscher verwirklichten Außen- und Militärpolitik des Reiches. Und so verhielt es sich ständepolitisch; denn dem Reichstag entsprachen aus der Sicht des Königs die Stände in Tirol, Kärnten usw., so daß diese Länder auch auf dem Reichstag nicht vertreten waren. Ebenso wichtig wie Entscheidungen, die Maximilian mit diesem fällte, waren allein getroffene dynastische Entschlüsse. Im Jahr 1526 wurden die böhmischen Länder, die trotz des kurfürstlichen Ranges ihres Herrn wegen der Hussitenkrise und ihrer Folgen nicht an der „Verdichtung" des Reiches teilgenommen hatten, in den (viel schärfer zugreifenden) Verdichtungsprozeß der Erbländer einbezogen; im Jahr 1551 trennte die Erbordnung Karls V. die niederländisch-burgundischen Gebiete zugunsten der spanischen Linie vom österreichischen Zweig ab, so daß die Bindung an das Binnenreich gelockert wurde. Das Hauptbeispiel für eine Region, die sich weder „Reichstags-Deutschland" 6 8 noch den kaiserlichen Erbländern zuordnete, sondern im „unverdichteten", d. h. Eidgenossenschaft, weniger belastenden Reich verbleiben wollte, ist die Eidgenossenschaft". Das Hamburg Streben nach Befreiung von den Regelungen von 1495 war kein Einzelfall, so dachten auch ein Teil der Kurfürsten und der Herrscher selbst. Bemerkenswert war hingegen die geglückte militärische Selbstbehauptung gegen den letzten Versuch, die habsburgischen Rechte in der späteren Schweiz durchzusetzen (1499), und die geglückte politische Selbstbehauptung gegenüber dem Reichstag. Von diesem aus gesehen war die Eidgenossenschaft als innenpolitisch singuläres und sozial eher randständiges Gebilde ohne fürstlichen Herrn, auch wegen ihrer Adelsfeindschaft, kaum einbeziehbar; dies hätte zu viel konstitutionelle Phantasie erfordert. Indem sich die unbesiegbaren Eidgenossen mit ihrer Verweigerung behaupteten, lösten sie sich nach und nach zwar nicht aus der Rechtsgemeinschaft, aber aus der Handlungsgemeinschaft des Reiches. Bei alledem handelten sie altertümlich, nicht modern. Ähnliches taten lange Zeit auch die Hamburger, nur konnten sie dies aus Gründen der Geographie nicht durchhalten, die den Schweizern sehr zu gute gekommen war. 10

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V. PRESS Die Erblande und das Reich von Albrecht II. bis Karl VI. (1438-1740), in: R. A. KANN u. F. E. PRINZ (Hrsg.) Deutschland und Osterreich, 1980, S. 44-88; DERS. Bayern, Osterreich und das Reich in der frühen Neuzeit, in: Verhandlungen d. Hist. Vereins f. Oberpfalz und Regensburg 120 (1980), S. 493-519; DERS. Das römisch-deutsche Reich — ein politisches System in verfassungs- und sozialgeschichtlicher Fragestellung, in: G . KLINGENSTEIN U. H . LUTZ (Hrsg.) Spezialforschung und „Gesamtgeschichte", 1981, S. 221-242; DERS. Schwaben zwischen Bayern, Österreich und dem Reich 1486-1805, in: P.FRIED (Hrsg.) Probleme der Integration Ostschwabens in den bayerischen Staat, 1982, S. 17-78; DERS. The Habsburg C o u r t as Center of the Imperial Government, in: Journal of Modern History 58, suppl. (1986), S.23—45. P. MORAW Reich, König und Eidgenossen im späten Mittelalter, in: Jahrb. d. Hist. Ges. Luzern 4 (1986), S. 17-33.

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69 H e r z o g t u m Preußen, livländische Territorien

1. T e i l : E n t s t e h u n g und E n t w i c k l u n g des P a r l a m e n t a r i s m u s in D e u t s c h l a n d

Außerhalb des Reichstags blieb auch das 1466 geteilte O r d e n s l a n d b z w . (seit 1525) H e r z o g t u m Preußen, weil seine B i n d u n g an die Institutionen von Papsttum und Universal-Kaisertum nicht wirksam in eine B i n d u n g an das flächenhafte Reich umgewandelt werden konnte. E b e n s o w e n i g realisierte sich der Reichstagsbezug der livländischen Territorien, o b w o h l diese z u m Reich gehörten; dafür ist offenbar die Entfernung zu dem „überseeischen" L a n d zu groß gewesen, das am E n d e des 16. Jahrhunderts verlorenging.

III. Von der Reformation zum Dreißigjährigen Krieg (1519-1629) 1. D i e A u s f o r m u n g des R e i c h s t a g s im Zeitalter K a i s e r K a r l s V . (1519-1555)

70 ,Die Grundentscheidungen der Reichstagsgeschichte sind um 1500 gefallen, in den A u s g e s t a l t u n g der Grundentscheidungen

folgenden drei Jahrhunderten hat man sie ausgestaltet.' Dieser Satz steht unter einem entscheidenden Vorbehalt: V o r a u s s e t z u n g dafür ist die Kontinuität der Reichsgeschichte wenigstens in ihren H a u p t z ü g e n . N u r dann setzt auch ein zweiter Satz die A k z e n t e richtig: ,Die H a u p t p h a s e n jener Ausgestaltung spiegeln bis ins 18.Jahrhundert hinein eindrucksvoll die Anstrengung wider, mit den schwierigsten Zeitproblemen fertig zu werden.' Unter jenem selben Vorbehalt steht noch ein dritter Satz: , D a s Zeitalter Karls V. (1519-56) und der Reformation — die erste jener H a u p t p h a s e n — ist dadurch charakterisiert, daß sich damals die innere A u s f o r m u n g des Reichstags vollzogen hat.'

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Schwerlich haben sich der älteren deutschen Geschichte ein andermal weitergespannte Alternativen zur bisherigen E x i s t e n z f o r m eröffnet als in der Generation Karls V. D i e von A n f a n g an latent bestehende und einmal (in der Stauferzeit) der Realität nähergerückte Möglichkeit, daß sich als Werk einer außerordentlichen D y n a s t i e ein universales Kaiserreich die deutsche Geschichte unterwerfen würde, ist niemals klarer vor A u g e n getreten als unter Karl V. D a n n hätte auch der Reichstag seinen Sinn verloren, denn sein Reich war — wie wir hörten — „Reichstagsdeutschland" mit der bald verwirklichten Aussicht, die kaiserlichen Erblande einzubeziehen, nicht aber ein Weltreich. Z u r gleichen Zeit zerbrach der einheitliche G l a u b e , auf dem Welt und Reich seit Menschengedenken wie selbstverständlich aufgeruht hatten, ausgerechnet mitten in Deutschland. Schon weil gerade hier im vorausgegangenen Jahrhundert eher kirchlich-christliche als nationale Solidarität der Anlaß gewesen war, zu den Waffen zu greifen und sein L e b e n zu wagen, standen ein weiteres Mal Reich und Reichstag auf der Probe.

Universales Kaiserreich, Zerbrechen des einheitlichen Glaubens

72 Kraftvolle Kontinuität, K o n s t a n t e n deutscher Geschichte

Angesichts beider unerhörter Herausforderungen scheint erstaunlich, wie wenig v o m Bestehenden durch sie zertrümmert worden ist, wie kraftvoll also die Kontinuität war. O d e r auch nicht so erstaunlich dann, wenn man die oft gesuchten Konstanten deutscher Geschichte hier findet: im G r u n d k o n s e n s , von dem man bei den Verantwortlichen weniger redete als ihn unbefragt lebte, in den G r u n d z ü g e n der Reichsverfassung, wie sie das Mittelalter eingeprägt und mit konkreten Interessen verknüpft hatte, und in den Wurzeln beider Phänomene in der Geschichte, mit der man sich unlösbar verbunden sah. So kann man sich tatsächlich von den drei eingangs formulierten Sätzen leiten lassen.

§ 1

Hoftag und Reichstag von den Anfängen im Mittelalter bis 1806 (MORAW)

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Karl V. war ungeachtet der Tatsache, daß er der Weltherrschaft im Sinne der 73 Zeit näher kam als irgendein anderer Kaiser, auch die Zentralfigur der Reichstags- Karl V . als geschichte seiner Zeit, o b er im Reich anwesend war oder nicht. In den ersten Zentralfigur der Reichstagsgeschichte zwanzig Jahren seiner Regierung hat er sich nur 1521/22 und 1530/32 hier aufgehalten, danach allerdings von 1540 bis 1554. Demgemäß zerfällt die Reichstagsgeschichte in zwei Phasen von 1521 bis 1532 und von 1541 bis 1551/55. Es haben achtzehn oder neunzehn Reichstage stattgefunden. Binnendeutschland war nicht das Kernland der Herrschaft, Karls H o f war nicht 74 binnendeutsch, sondern niederländisch-spanisch-italienisch, ganz anders als beim Karl V . und Binnendeutschland Vorgänger und Nachfolger. Angesichts des fortdauernden Wechselspiels zwischen H o f und Reichstag war 75 klar, daß es Ersatzkonstruktionen für jenes Manko geben mußte. Der Reichstag Ersatzkonstruktionen Karls V. ist im Zusammenhang mit der Vielzahl der Tage auch dadurch gekennzeichnet, daß er Hoffunktionen übernahm, so daß also gleichsam eine Umkehrung der Konstellation Maximilians eintrat. Dies aber genügte nicht; so wuchs nach und nach der Kaiserbruder und Nachfolger Ferdinand I. (1556-64), seit 1522 Inhaber der österreichischen Erbländer und seit 1531 durch die Königswürde legitimiert, mit seinem deutschen H o f in die Rolle einer zweiten politischen und sozialen Bezugsgröße hinein. Die Dynastie wurde doppelpolig, weil Karl nun von den Niederlanden aus handelte (ein historischer Grund für die Wahl Brüssels, der Hauptstadt Karls, zur Hauptstadt [West-]Europas). Der Reichstag stand gleichsam dazwischen — auch insofern, als nun die 76 Erbländer im Fürstenrat durch Ferdinand vertreten wurden. Damit begann ihre Reichstag und Erbländer Einbeziehung in den Reichstag, die durch das Wachstum der Kreisverfassung (Österreichischer und Burgundischer Reichskreis 1512) eingeleitet, durch die kommende burgundische Fürstenstimme fortgesetzt und von der „Readmission" der böhmischen Kurfürstenwürde (1708) gekrönt worden ist. Einzelstimmen für die verschiedenen habsburgischen Linien (seit 1564) wurden nicht angestrebt, weil man mehr Nachteile als Vorzüge vermutete. Der Integration in den Reichstag trat freilich mehr oder minder eine realpolitische Eigenständigkeit gegenüber; das Kaisertum und im 18. Jahrhundert dann die europäische Großmachtstellung neuen Stils machten sie notwendig. Stellt man die Frage nach der stärksten Kraft, die der gewaltigen Macht der Großdynastie in Deutschland gegenüberstand, so ist die mittelalterliche Antwort die richtige: Kurfürstentum und Fürstentum. Ungeachtet aller noch so heftigen Polarisierung in Glaubensfragen hat sich die fürstliche Solidarität wenigstens im ganzen als die stärkste Kraft erwiesen. Sie richtete sich auch bei katholischen Fürsten gegen den Kaiser, wenn er durch allzuviel Erfolg gegenüber protestantischen Territorien allzu mächtig zu werden drohte. Der klassische Fall ist Bayern. Neben der „Vielbeschäftigung" Karls und dem Türkendruck findet man hier das wichtigste Motiv für das politische Uberleben der reformatorischen Ideen. Das Forum dafür war der Reichstag, wenn auch noch nicht — wie später — allein: denn die verfassungstechnische Offenheit des Zeitalters zeigt sich an Bünden und Bündnisprojekten, die politisch und organisatorisch mit dem Reichstag konkurrierten. Nachdem der von Habsburg geführte Schwäbische Bund 1534 am konfessionellen Gegensatz gescheitert war, handelte es sich vor allem um das drei Jahre

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Kaiser und Fürsten, U b e r l e b e n der reformatorischen Ideen

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1. Teil: Entstehung und Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland

zuvor geschaffene protestantische Bündnis von Schmalkalden (zerbrochen 1546/47) und das Projekt eines Kaiserlichen Bundes von 1547/48, dessen Erfolg wohl den Reichstag überflüssig gemacht hätte. Wenigstens in den letzten Jahren des alles entscheidenden Endkampfes von 1547 bis 1552 ging es den Fürsten weniger um die Konfession als um ihre politische Existenz gegenüber dem Kaiser. Diese war schon untrennbar mit der Institution „Reichstag" verbunden, während dem Herrscher die Option für ein Ja oder ein Nein offenstand. Dabei waren freilich handelnde Personen wohl noch wichtiger als die abstrakte Institution; der Rückhalt an einer Personengemeinschaft, den die Institution bot, war immer noch das eigentlich Erstrebte oder das nicht Geschätzte. 78 Von den Reichstagen Karls V. 12 ist wohl die Versammlung in Worms von 1521, Wormser Reichstag während welcher Luther dem Kaiser begegnete, die bekannteste. Überhaupt hat die von 1521 Popularität der Reformationsreichstage vieles dazu beigetragen, die ganze Institution unter Zeitgenossen und Nachlebenden bekannt zu machen. Dadurch trat manches andere Langfristige zu Unrecht in den Hintergrund: die Kurfürsten als die nach wie vor wichtigste Gruppe im und neben dem Reichstag, die Mechanismen der Reichsverfassung im ganzen oder die Rolle des Kaisers selbst. Worms war gut besucht nicht wegen Luther, sondern weil es sich wie einst 1495 um den ersten Reichstag eines neuen Herrschers handelte, dem wieder viel Begeisterung entgegenschlug. Es begann hier eine Periode der Ausgestaltung der Reichsverfassung, die vielleicht die wichtigste der frühen Neuzeit war; mit der Reichsexekutionsordnung des Augsburger Reichstags von 1555, die den Kreisen und Fürsten wesentliche Befriedungs- und Vollstreckungsrechte zusprach, fand sie den Abschluß. 79 Reichsmatrikel, Wormser Edikt

Unter anderem wurde in Worms mit einer deutlich verbesserten, später immer ¡ d e r fortentwickelten Reichsmatrikel die Grundlage für das kommende Reichssteuerwesen und in späterer Deutung für das Recht der Reichsunmittelbarkeit oder gar für die Reichszugehörigkeit gelegt. Das Wormser Edikt, das Luther und seine Anhänger in die Acht tat, war hingegen kein Reichstagsprodukt, sondern ein aus herrscherlicher, nach wie vor dem Reichstag gleichrangiger Machtvollkommenheit erlassener Text.

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§1

H o f t a g und Reichstag von den A n f ä n g e n im Mittelalter bis 1806 (MORAW)

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Beschränkt war der Herrscher juristisch durch seine Zusagen in der Wahlkapi- 80 tulation, die ihm die Kurfürsten zu ihren Gunsten abgerungen hatten. Sie gestand Wahlkapitulation, ζ. B. fortan deren Mitsprache bei der Reichstagseinberufung zu und begründete das Zweites Reichsregiment seit 1521 arbeitende zweite Reichsregiment. Es geriet freilich durch Ferdinands Führung rasch unter habsburgischen Einfluß und war insgesamt bis zu seinem Erlöschen bei der Rückkehr des Kaisers viel weniger belangvoll, als seine Vorkämpfer gehofft hatten. Eine Anzahl seiner freilich gescheiterten Projekte (Zoll-, Münz- und andere Wirtschaftsordnungen, Landfriedens- und Militärregelungen) zeigt, daß die territoriale Welt noch nicht jedermann so abgeschlossen schien, wie sie dies dann von Jahrzehnt zu Jahrzehnt wirklich wurde. Beschränkt war der Herrscher aber vor allem faktisch durch den Willen 81 derjenigen, die er nicht zum schuldigen Gehorsam zwingen konnte, der Fürsten. B e s c h r ä n k u n g des An ihnen ist das Wormser Edikt politisch gescheitert. In den acht Jahren, in denen H e r r s c h e r s durch die Fürsten Karl nach 1521 vom Binnenreich abwesend war, hat es sich in Glaubens- und Kirchenfragen fundamental verändert. Man kann den ganzen langen Weg bis zur Resignation des Kaisers hier nur mit 82 wenigen Worten andeuten. Auf dem Speyerer Reichstag von 1526 wurde der S p e y e r e r Reichstag Umgang mit dem Wormser Edikt den Ständen insoweit anheimgestellt, als sie es 1526, E r n e u e r u n g des Wormser Edikts und gegenüber Gott und Kaiser verantworten könnten. Der neue Glaube breitete sich dessen S u s p e n d i e r u n g immer rascher aus. Der Augsburger Tag vier Jahre später, an welchem Karl wieder selbst teilnahm, sah nach dem Bekenntnis der Protestanten und der katholischen Gegenschrift die Erneuerung des Wormser Edikts, das aber schon 1532 unter dem Druck der Türkengefahr wieder vorläufig suspendiert wurde. Es entstand abermals ein Freiraum bis zur Rückkehr Karls im Jahr 1540. Der Augsburger Reichstag von 1547/48 sollte dann nach dem Sieg im Schmal - 8 3 kaldischen Krieg die kaiserliche „Zwischenreligion" des „Interim" bis zu einem A u g s b u r g e r Reichstag Konzil realisieren und endlich auch das monarchische Prinzip, die Vor- oder gar von 1547/48 Alleinherrschaft des Kaisers im Reich, zur Geltung bringen. Beides ist nach Anfangserfolgen gescheitert. Dieses Scheitern führte über die Rebellion der protestantischen „Kriegsfürsten" 8 4 zur Katastrophe des Passauer Vertrags (1552) und zum Augsburger Religionsfrie- Protestantische den von 1555, der eine neue Periode der Reichs- und Reichstagsgeschichte auf der „ K r i e g s f ü r s t e n " , Passauer Vertrag, Basis der Realitäten des Dualismus einleitete. Man war zu den Prinzipien von 1495 A u g s b u r g e r zurückgekehrt. Religionsfriede 2. Z u s a m m e n s e t z u n g und Arbeitsweise des frühneuzeitlichen Reichstags Das 16. Jahrhundert ist die am meisten bewegte und die interessanteste Periode der 8 5 Reichstagsgeschichte. So mag es an dieser Stelle zweckmäßig sein, Zusammenset- Z u s a m m e n s e t z u n g und A r b e i t s w e i s e des zung und Arbeitsweise des Reichstags zu beschreiben, auch wenn dabei Begriffe Reichstags und Verfahren einbezogen werden, die erst wesentlich später gut erkennbar 13 sind . K.RAUCH ( H r s g . ) T r a k t a t über den Reichstag im 16.Jahrhundert, 1905; H.CONRAD D e u t s c h e Rechtsgeschichte, B d . 2 , 1966; A . W O L F Hausherrschaft und Territorialherrschaft an T a g u n g s orten von Ständeversammlungen und Parlamenten, in: l u s c o m m u n e 1 (1967), S. 3 4 - 6 0 ; K . SCHLAICH C o r p u s Evangelicorum und C o r p u s C a t h o l i c o r u m , in: D e r Staat 11 (1972),

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86 Die drei Räte des Reichstags

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Kurfürstenrat

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E r z b i s c h o f von Mainz

1. T e i l : Entstehung und Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland

Die drei Räte oder auch Kollegien des Reichstags waren alles andere als gleichartige, gleichrangige und in gleicher Weise funktionierende Gebilde; sie machten zusammen zwar den Reichstag aus, aber dieser war nicht in sie eingeteilt. So hat der Umgang der Räte miteinander stets ein Problem dargestellt; viel einfacher war die Willensbildung innerhalb eines Rates. Die „Geschäftsordnung" des Kurfürstenrats war die Goldene Bulle von 1356, der Grundsatz der Mehrheitsentscheidung bei der Königswahl ist sogar schon 1338 festgelegt worden. Infolge des de facto-, nicht de jure-Ausscheidens der böhmischen Stimme schon vor der Entstehung des Reichstags gehörten dem Kurfürstenrat zunächst nur noch sechs Mitglieder an. Im Jahr 1648 wurde eine achte pfälzische Stimme als Ersatz für das alte Pfälzer Stimmrecht geschaffen, das der Kaiser 1623 an Bayern übertragen hatte. Seit 1692/1708 gab er eine neunte Kurstimme an Braunschweig-Lüneburg-Hannover, im letztgenannten Jahr gelang ihm auch die Wiedereinführung der böhmischen Stimme. Mit der Vereinigung von Bayern und Pfalz 1777 fiel die pfälzische Stimme weg. V o r der Endkrise der Reichsverfassung bestand nie ein Zweifel am uneinholbaren Vorsprung der Kurfürsten vor den anderen Räten, wie ihn das Mittelalter geschaffen hatte. Die Verteidigung dieses Vorrangs, zum Beispiel im Vorfeld des Westfälischen Friedens, rückte die Kurfürsten immer wieder an den Kaiser heran und schuf Distanz zu den Fürsten. Der erste unter den Kurfürsten war der Erzbischof von Mainz, der in der entscheidenden Zeit „weicher" Strukturen um 1500 in der Tradition seiner Wahlvorrechte und des Erzkanzleramts die Führung („Direktorium") des Reichstags an sich gezogen hatte und dessen Kanzlei betrieb und dadurch beträchtlichen Einfluß ausübte. Er war der Sprecher des Reichstags gegenüber dem Kaiser. Auch im Kurfürstenrat leitete er die Sitzungen und formulierte die für die Meinungsbildung entscheidenden Umfragen.

S. 2 1 8 - 2 3 0 ; H . NEUHAUS Reichstag und Supplikationsausschuß, 1977; K. SCHLAICH Maioritasprotestatio-itio in partes-corpus Evangelicorum, in: Zs. d. Savigny-Stiftung f. Rechtsgesch. 94, Kan. A b t . 63 (1977), S . 2 6 4 - 2 9 9 u. 95, Kan. A b t . 64 (1978), S. 1 3 9 - 1 7 9 ; M.HECKEL Itio in partes, ebd., S. 1 8 0 - 3 0 8 ; W.SELLERT Conclusum imperii, in: H R G ( F n . 6 ) , Bd. 1, 1971, S p . 6 3 0 f . ; H . - J . BECKER Protestatio, Protest, in: Zeitschr. f. hist. Forschung 5 (1978), S . 3 8 5 ^ 1 1 2 ; W.SELLERT Kuriatstimme, in: H R G ( F n . 6 ) , B d . 2 , 1978, Sp. 1 2 9 3 f . ; DERS. Kurien, ebd., Sp. 1 2 9 4 - 9 7 ; R . AULINGER Das Bild des Reichstags im 16. Jahrhundert, 1980; H . NEUHAUS Reichsständische Repräsentationsformen im 16. Jahrhundert, 1982; DERS. Zwänge und E n t wicklungsmöglichkeiten reichsständischer Beratungsformen in der zweiten Hälfte des 16. J a h r hunderts, in: Zeitschrift f. hist. Forschung 10 (1983), S. 2 7 9 - 2 9 8 ; K . SCHLAICH Die Mehrheitsabstimmung im Reichstag zwischen 1495 und 1613, ebd., S. 2 9 9 - 3 4 0 ; H . NEUHAUS Die rheinischen Kurfürsten, der Kurrheinische Kreis und das Reich im 16.Jahrhundert, in: Rhein. Vierteljahrsblätter 48 (1984), S. 1 3 8 - 1 6 0 ; J . F . BATTENBERG Das Römisch-Deutsche Königtum und die Legitimation mehrheitlicher Entscheidungen im Spätmittelalter, in: Zeitschrift d. Savigny-Stiftung f. Rechtsgesch. G e r m . Abt. 103 (1986), S. 1 - 4 1 ; R . HOKE Reichsabschiede, in: H R G ( F n . 6 ) , Lief. 2 7 (künftig Bd. 4), 1986, Sp. 5 1 9 - 5 2 3 ; H . NEUHAUS Reichsdeputation, ebd., Sp. 5 4 9 - 5 5 3 ; A . GERLICH Reichsstände, Reichsstandschaft, ebd., Sp. 7 6 0 - 7 7 3 ; H . NEUHAUS Wandlungen der Reichstagsorganisation in der ersten Hälfte des 16.Jahrhunderts, in: J . KUNISCH (Hrsg.) N e u e Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte (Zeitschr. f. hist. Forschung, B e i h . 3 ) , 1987, S. 1 1 3 - 1 4 0 .

§1

Hoftag und Reichstag von den Anfängen im Mittelalter bis 1806 ( M o m w )

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Der Fürstenrat war das größte Kollegium. Es bestand aus zwei Bänken, der 89 weltlichen und der geistlichen. Das Präsidium der erstgenannten führte Bayern, Fürstenrat dasjenige der zweitgenannten Osterreich (wegen seiner schon erwähnten Verspätung im Reichstag) im Wechsel mit Salzburg. Die Stimmführung im Fürstenrat (Virilstimmen) stellte anders als bei den Kurfürsten, bei denen die Goldene Bulle die Unteilbarkeit der Kurlande festgelegt hatte, ein Problem dar. Erst nach und nach (wohl im späten 16. Jahrhundert) ging man von der persönlichen Stimme des Fürsten, die demnach bei Linienteilungen vermehrbar war, auf das an das Territorium gebundene und damit fixierte Stimmrecht über. Davon unabhängig gab es beträchtliche Unterschiede im realpolitischen Gewicht der Stimmen. Größere Reichsstände suchten daher mit mehr oder weniger Recht Stimmen zu häufen (Kurpfalz und Hessen je 4, Württemberg 2, seitdem 1654 offenkundig zu Unrecht eine Stimme für Mömpelgard durchgesetzt worden war, usw.). Seit 1641 suchte der Kaiser durch die Erhebung treuer Gefolgsleute in den Fürstenstand zielbewußt Stimmenpolitik zu betreiben, was jedoch bald durch Kooptationsansprüche des Fürstenrats gebremst, wenn auch nicht verhindert wurde. Die Stimmen der säkularisierten geistlichen Fürstentümer verblieben den protestantischen Inhabern. Sessions-, das heißt Rangfragen im Fürstenrat blieben ungeachtet kaiserlicher Ordnungsversuche ständige Begleitmusik der Reichstage, weil es kein Kriterium gab, welches das regionale Nebeneinander überzeugend in ein hierarchisches Nacheinander hätte verwandeln können. Nur mit zahlreichen Rechtsvorbehalten und vorläufigen Einigungen, die dann faktisch Dauer gewannen, war die Praxis möglich. Viele Inkonsequenzen verblieben. Die Sitzordnung war für den politischen Einfluß wesentlich, weil die „Umfragen" statt zu „modernen" Abstimmungen zu inhaltlichen Äußerungen anleiteten und daher ein möglichst frühes Votieren die beste Gestaltungschance bot. Die Matrikel von 1521 führte 49 geistliche und 31 weltliche Reichsfürsten auf, 1792 zählte der Fürstenrat 59 weltliche und 35 geistliche Virilstimmen. Österreich führte damals abgesehen von der böhmischen Kurstimme drei Virilstimmen, Brandenburg-Preußen außer seiner Kurstimme fünf Virilstimmen. Es gab stets eine klare katholische Mehrheit, die geistlichen Stimmen traten fast geschlossen für den Kaiser ein. Reichsgrafen und -herren und Reichsprälaten waren keine Fürsten, realisierten jedoch aufgrund ihrer Reichsstandschaft eine Gruppenvertretung auf dem Reichstag (Kuriatstimme), für die nur der Fürstenrat in Frage kam. Es führten dort seit dem 16. Jahrhundert die schwäbischen und die Wetterauer Grafen, seit 1641 auch die fränkischen und seit 1653 die niedersächsisch-westfälischen Grafen und Herren je eine Kuriatstimme (zuletzt zusammen 103 Mitglieder). Die schwäbischen (22) und die rheinischen (18) Reichsprälaten taten es ihnen mit ebenfalls je einer Kuriatstimme gleich. Die Reichsritterschaft war zwar reichsunmittelbar, aber auf dem Reichstag nicht vertreten.

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Reichsgrafen und -herren, Reichsprälaten, Reichsritterschaft

Der Städterat bestand aus der rheinischen und der schwäbischen Bank mit 91 insgesamt 51 Kommunen (1792), die Matrikel von 1521 hatte mit 84 gerechnet. Städterat Von jenen galten 1648 dreizehn als katholisch und fünf als „vermischt", die übrigen waren protestantisch. Schon bei den Städtetagen des ausgehenden Mittelalters ist erkennbar, daß man im internen Betrieb des Kollegiums ein „demokratisches" Verhalten schwerlich erwarten darf. Vielmehr übten Führungsstädte eine eindeu-

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1. T e i l : Entstehung und Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland

tige Vorherrschaft aus und brachten die kleinen zur Gefolgschaft. Das Direktorium hatte die gastgebende Stadt des Reichstags, also von 1663 an Regensburg, inne. Weil die Reichsverfassung in ihrem Kern kaum wandelbar war, ist die ungünstige Ausgangssituation der Städte niemals wirklich verbessert worden. Dafür bot auch ihre wirtschaftliche Situation kaum je ein „systemsprengendes" Argument. Durch kaiserlichen Entschluß wurde ihnen nach langem juristischem Bemühen 1548 das Recht auf Vorstellung ihrer Ansichten vor den beiden höheren Räten zugesprochen; doch stand es in deren freier Entscheidung, ob sie dies beachten wollten. Das von gelehrter Jurisprudenz vorgetragene Streben nach Reichsstandschaft stützte sich in der Tat, visiert man der Reichstradition entlang, auf dürftige Argumente. So haben die Städte mit dem „Votum decisivum" von 1648 mehr einen augenblicklichen als einen dauernden Erfolg errungen, dieses war schon angesichts der Entstehungsgeschichte dieses Artikels sehr zweifelhaft. Dahinter stand auch nicht eigentlich ein Streben nach bürgerlicher Emanzipation in irgendeinem modernen Sinn, sondern nach Minderung der Steuerlast. 92 Entscheidungsprozeß, D

hlf e ' h ^ j ^ d e ' Folgepflicht

Beim Entscheidungsprozeß innerhalb der Räte sind schon im ausgehenden Mittelalter Mehrheitsbeschlüsse aufweisbar, die — den deutschen Rechten an sich ~~ zuerst im kirchlichen und dann im städtischen, schiedsgerichtlichen und g er icbtlichen Milieu bekannt waren. Ungeachtet eines unbestreitbaren Zuwachses an Verfahrensbewußtsein am Reichstag darf man aber seine Mehrheitsfrage nicht isoliert „modern" erörtern. Kurz gesagt, die Dinge dürften um so „demokratischer" verlaufen sein, je weniger wichtig sie waren. Oder anders formuliert: Infolge der außerordentlichen Kräfteballung am Reichstag wurde gerade bei fundamentalen Fragen der Verfahrensbereich hoffnungslos überfordert. In diesem war zu viel zweifelhaft und unkalkulierbar: die Verbindlichkeit und die Grenzen des Verfahrens und das zumutbare Ausmaß des Vertrauens in dieses, die Gleichrangigkeit oder Ungleichrangigkeit der Beteiligten, die Wirksamkeit von Meinungsführern, die Rolle der Sitzordnung, die Neigung zur inhaltlichen Äußerung statt zur Ja-Nein-Alternative. Unter solchen Voraussetzungen war Einmütigkeit das Idealziel, der Weg dahin schien eine untergeordnete und flexibel handhabbare Frage zu sein. Die Folgepflicht der Minderheit, die die Einmütigkeit nachträglich herstellte, galt keineswegs als überholtes Prinzip. Es war möglich, daß der Kaiser den Unterlegenen Gehorsam befahl; er blieb ja der Herr, wenn schon weniger des Reichstags, so doch seiner Glieder. Die Folgepflicht konnte man vor allem durch den durchaus nicht seltenen Akt der „protestatio", also durch eine besondere Erklärung, durchbrechen. Von diesen ist die bekannteste diejenige der „Protestanten" am Reichstag von Speyer im Jahr 1529. Ohnehin stellte die Konfessionsfrage die Entscheidungsmechanismen des Reichstags gründlich auf die Probe, wie im folgenden Abschnitt erörtert wird.

93 Genau so zurückhaltend verhält man sich am besten gegenüber dem anderen Ausschusse „modernen" Prinzip des Reichstags, seinen Ausschüssen. Es hat diese zuerst im Zeitalter König Sigismunds (1410-1437) gegeben, und zwar sowohl nach dem unproblematischen Hoftagsmodell, indem königliche Räte mit einer ungefähr gleichen (kleinen) Zahl von Räten der Stände zusammenwirkten, da alle Beteiligten eigentlich Diener des Herrschers waren, als auch „reichstagsartig" allein unter den Ständen, als sich Königslose Tage häuften. Die große Zeit der Ausschüsse war das

§1

Hoftag und Reichstag von den Anfängen im Mittelalter bis 1806 (MORAW)

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16. Jahrhundert. Am bemerkenswertesten sind die interständischen Ausschüsse — insofern, als sie der hierarchischen politischen Gesellschaft das Prinzip des gleichen Stimmrechts am härtesten gegenüberstellten; dabei ist die Kopfzahl der Ausschußmitglieder von vornherein nach Proporz festgelegt worden. Solche Ausschüsse sollten aber eher als zeitweilige Durchbrechung des normalen „altertümlichen" Betriebs des Reichstags gelten denn als Vorgriff auf die unbekannte parlamentarische Zukunft. Ja es bleibt zu erwägen, ob jene Gebilde nicht mehr am Reichstag wirkten als Teile des Reichstags waren. Es gab in der Tat besondere Gründe, öfter Krisensituationen, die auf diese Weise so rasch wie möglich bewältigt werden sollten und bewältigt wurden. Die Ungeduld der Fachleute für Türkenhilfe, Kammergericht, Polizeisachen und anderes auf ständischer (und kaiserlicher) Seite hat hier manchen Erfolg erzielt. Interständische Ausschüsse standen aber immer unter dem Vorbehalt der Grundsatzopposition der Kurfürsten, denn sie wären natürlich von einer Majorisierung durch die Fürsten hart betroffen worden. Man kann sich indes nur schwer vorstellen, daß man unter diesen so unklug war, solches prinzipiell statt im tatsächlich in Versuchung führenden Einzelfall zu unternehmen. Denn ein derartiges „systemfremdes" Vorgehen hätte am Ende ein Bündnis von Kaiser und Kurfürsten zugunsten der legitimen Ordnung provoziert und wäre zweifellos zum Schaden der Initiatoren ausgegangen. Interständische Ausschüsse waren primär ein Mittel der Verständigung und 94 Willensbildung der Stände. Man kann ζ. B. einen solchen „zentralen" Ausschuß am Interständische Wormser Reichstag von 1521 mit neunzehn Mitgliedern beobachten (sechs Vertre- Ausschüsse ter der Kurfürsten, acht der Fürsten, einer der Prälaten, je zwei der Grafen und der Städte). Interständische Ausschüsse waren auch Mittel und Waffe des Kaisers in der kurzen Blütezeit des monarchischen Prinzips 1547/48. Mit seinem Ende verschwand auch diese Alternative — eines von vielen Zeichen des 16. Jahrhunderts, daß bei weitem noch nicht alles entschieden war, daß aber auch schon das Wahrscheinliche und das Unwahrscheinliche zu Tage lagen. Eine andere Variante bietet der den damals fehlenden Hof partiell ersetzende 95 Supplikationsausschuß, der einem Petitionsausschuß von heute ungefähr vergleich- Supplikationsbar scheint, jedoch thematisch bedeutsamer, im Handlungsspielraum aber viel ausschuß bescheidener war; denn der einzig legitime Adressat jeder Supplik war der Kaiser, der vom Ausschuß streng genommen nur „Rat und Hilfe" erfuhr. Von 1521 an war dieser mit sechs kurfürstlichen und sechs fürstlichen Abgesandten sowie mit je einem Vertreter der Prälaten und Grafen und mit zwei Städteboten besetzt, für die alle ein Sekretär des Erzbischofs von Mainz gewissermaßen die praktische Seite erledigte. So mögen politisch nicht allzu wichtige Fragen relativ effektiv behandelt worden sein, die man sonst einem Hofbeamten, dem Hofrat oder gar dem Herrscher selbst unterbreitet hätte. Kurzfristig gesehen verlor der Ausschuß seinen Sinn mit dem Wiederauftreten eines arbeitsfähigen Hofes, langfristig durch die endgültige Abschließung der Territorien. Wichtiger war die Frage, ob man nicht mit Hilfe des Ausschußwesens die 96 ganze schwerfällige und teure Instanz des Reichstags bei annähernd gleicher Perpetuieren des Autorität einigermaßen perpetuieren könne. In der vollen Breite der Politik ist dies Reichstags mit Hilfe des im Fall der schon erwähnten Reichsregimente gescheitert. Dies mußte aus dem Ausschußwesens? gleichen Grund geschehen, weshalb es noch kein modernes Mehrheitsverfahren

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Ordentliche und außerordentliche Reichsdeputationen

1. Teil: Entstehung und Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland

oder auch noch kein Papiergeld statt Gold- und Silbermünzen, die ihren Wert in sich trugen, geben konnte: Der Grundkonsens bezog sich sehr wohl auf die Existenz, aber noch kaum auf die Verfahren des Gemeinwesens. Daher waren klar umrissene Einzelaufträge am wirksamsten. In der Reichsexekutionsordnung von 1555 wurden Ordentliche Reichsdeputationen begründet (zuerst 1569), das heißt, nach ständischem Proporz zusammengesetzte Reichstagsausschüsse, die außerhalb der Reichstagssession tagten. Ihr Arbeitsgebiet war innerhalb eines geordneten mehrstufigen Verfahrens die Sicherung des Landfriedens. Dies öffnete sie bald auch dem regionalen Proporz, indem jeder Reichskreis mindestens einen Vertreter stellen mußte. Sie, denen man mehr Zukunft gewünscht hätte, wirkten freilich (mit einer Ausnahme 1642/45) nur in der verhältnismäßig befriedeten und zugleich immer noch relativ territorial offenen Phase zwischen dem Augsburger Religionskompromiß von 1555 und der konfessionellen Krise bald nach 1600. Der Frankfurter Reichsdeputationstag von 1577 hat noch die bis zum Ende des Reiches gültige Reichspolizeiordnung beschlossen. Mehr Erfolg war dem Institut der Außerordentlichen Reichsdeputation beschieden, die mit ganz verschiedenen Einzelaufgaben nach Reichstagsbeschluß ad hoc ins Leben trat. Der bekannteste dieser Ausschüsse ist derjenige, der den Reichsdeputationshauptschluß vom 25. Februar 1803 erarbeitete, den letzten Ordnungsversuch schon mitten im Strudel des Untergangs.

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Eine scheinbar sehr moderne und nach abstraktem Urteil wünschenswerte Institution, der aus den Reichskreisen von 1554 bis 1577 heraufwachsende Reichskreistag, der wenigstens regionale Gerechtigkeit statt des auch in dieser Hinsicht eher feudal-„zufälligen" Reichstags verkörpert hätte, blieb dagegen ohne Dauer. Der Reichskreistag lief den Existenzprinzipien des Alten Reiches genauso zuwider wie der den Historikern so sympathische zentralistische „Gemeine Pfennig", der — wie wir noch hören werden — als Reichssteuer zugunsten der weniger „modernen" Matrikularbeiträge wieder aufgegeben wurde. Alles, was punktuell modern scheint, aber „systemfremd" war, blieb zum Scheitern verurteilt, weil man den historischen Prozeß nicht betrügen kann. Er hätte in Deutschland zwar einige wenige Male zuungunsten der Territorien umgelenkt werden können, ist aber nicht umgelenkt worden. Die altmodischen Matrikularbeiträge haben noch das Bismarckreich erhalten helfen.

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Das Verfahren auf dem Reichstag war das folgende: Nach ordentlicher Einberufung durch den Kaiser und dem Eintreffen der Berufenen wurde auf einer gemeinsamen Sitzung der drei Räte die Proposition des Kaisers verlesen. Sie zählte die Verhandlungspunkte des Reichstags auf. Daran waren die Stände gebunden. Der Inhalt der Proposition wurde punktweise in den einzelnen Räten behandelt. Der normale Weg der Meinungsbildung war abgesehen von vertraulichen Besprechungen die Umfrage. Dabei boten „Stimmführer" ihre Versionen zur Zustimmung aus, zu denen die übrigen Mitglieder inhaltlich Stellung nahmen. Nach mehr oder weniger häufiger Wiederholung dieser Prozedur kam man am Ende zum erreichbaren Höchstmaß an Ubereinstimmung, die in eine „Relation" einmündete.

Reichskreistag, Gemeiner Pfennig, Matrikularbeiträge

Verfahren auf dem Reichstag

Der Kurfürstenrat trat mit dieser an den Fürstenrat in dem Bestreben heran, eine einheitliche Meinung beider Räte zu bilden. Dies wickelte sich gegebenenfalls im mehrfachen Hin und Her der Auffassungen beider Räte ab („Korrelation" des

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Hoftag und Reichstag von den Anfängen im Mittelalter bis 1806 (MORAW)

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Fürstenrats). Hatten sich beide Räte geeinigt, wurde dieser Entschluß vor dem Städterat zur Zustimmung verlesen. Dieser erhielt Gelegenheit zum Einwand, ohne daß sich dies in der Regel auf das Endergebnis wesentlich auswirkte. War auf diese oder jene Weise eine gemeinsame Meinung erarbeitet worden, wurde sie dem Kaiser als „Reichsbedenken" oder „Reichsgutachten" (Consultum Imperii) unterbreitet. Nun suchten Kaiser und Stände in mehr oder weniger langen Verhandlungen zur Ubereinstimmung zu gelangen. Erreichte man dies, war der Weg zum Ziel frei. Dabei schuf erst die Entscheidung des Kaisers Recht und Gesetz, wie es von Anfang an gewesen war. Dies geschah in der späteren Zeit durch sein „ H o f " - oder „Kommissionsdekret". Das Gutachten der Stände allein war ohne Wirksamkeit; was der Reichstag beschloß, entschied er auf den Kaiser hin. Dessen faktisch erzwungene, vor allem durch Wahlkapitulation und Reichsgrundgesetze (Goldene Bulle, Augsburger Religionsfriede, Westfälischer Friede) fixierte Selbstbeschränkung und Beschränkung haben dazu geführt, daß er reichstagsunabhängiges Recht und Gesetz in immer weniger Fällen unbestritten (Reservatrechte) geschaffen hat und auch immer seltener bestritten so handelte.

100 Folgen der Beschränkung des Kaisers

Historisch betrachtet war bis 1648 die Rechtsgültigkeit seines Handelns mit 101 und ohne Reichstag dieselbe; und man müßte sich kaum dadurch stören lassen, daß Rechtsgültigkeit kaiserlichen Handelns die politische Praxis der Zeitgenossen und die ihr dienenden Juristen je nach Parteimeinung verschieden damit umgegangen sind. Eine präzise rechtsförmliche Abgrenzung der Sphären von Kaiser und Ständen 1 0 2 hat es vor und nach 1648 nie gegeben, ganz abgesehen davon, daß gewiß bis in die Sphärenabgrenzung, Neuzeit hinein ein Stück Papier kaum geeignet schien, die Majestät zu begrenzen, Einschnitt von 1648 die Gott allein verantwortlich war. Wenn aber Recht und Gesetz in der Tat das sind, was auch akzeptiert wird, dann hat sich nach und nach ein starker Wandel vollzogen. Wesentliche Satzungen allein aus kaiserlicher Gewalt, im 14., 15. und 16. Jahrhundert noch gut erkennbar (ζ. B. das Kaisergesetz „Licet iuris" von 1338, das Wiener Konkordat von 1448 oder der Geistliche Vorbehalt von 1555), wurden vom 17.Jahrhundert an zur extremen Ausnahme (Reichshofratsordnung 1654). V o r allem hat der Westfälische Friede den Haupteinschnitt geschaffen, seit welchem sich kaiserliche Regierung weithin in kaiserliche Politik umbildete. Schließlich hat sich auch altes ungeschriebenes Recht immer mehr in neues Juristenrecht verwandelt und damit sein Wesen zuungunsten des Herrschertums, das im Kern unbeschrieben-unbeschreibbar blieb, geändert. Alles Entschiedene wurde vom Erzbischof von Mainz in einem Konzept als „Reichsabschied" oder nach 1663 als „Reichsschluß" (Recessus Imperii, C o n clusum Imperii) zusammengefaßt und nach sorgfältiger Prüfung durch Vertreter aller Beteiligten in zwei Ausfertigungen urkundlich niedergelegt. Die öffentliche Verlesung in der Schlußsitzung des Reichstags machte den Text nach altem Brauch rechtswirksam, so daß er in einer Diktatstunde am nächsten Tag von den Notaren der Stände für den eigenen Bedarf nachgeschrieben werden konnte. Natürlich wurde er auch rasch gedruckt. Die beiden Originalurkunden gingen an den Kaiser und das Erzkanzlerarchiv. Reichshofrat und Kammergericht erhielten den Text zur „Insinuation", damit sie ihn fortan ihrer Rechtsprechung zugrundelegten.

103 Verfahrensmäßige Behandlung der Entscheidungen

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104

1. Teil: Entstehung und Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland

Weil es sich bei „Abschieden" und „Schlüssen" um kaiserliches Recht handelte,

Einklagbarkeit vor war es durch den kaiserlichen Fiskal, eine Art Kronanwalt, vor den kaiserlichen den kaiserlichen Gerichten einklagbar. Dies war besonders beim Steuerwesen von Belang, konnte Gerichten

aber in der Regel nur gegenüber mindermächtigen Ständen exekutiert werden.

3. V o m Augsburger Religionsfrieden zum letzten Höhepunkt des monarchischen Prinzips (1555-1629) 105 Mit dem Augsburger Religionsfrieden und seinen Folgen und dem Dreißigjährigen

Abschnitte der Krieg und seiner Vorgeschichte sind die beiden Schwerpunkte genannt, die Reichstagsgeschichte 75 Jahre Reichstagsgeschichte in zwei verschiedenartige und doch eng zusammen-

hängende Abschnitte teilen14. Der Religionsfriede von 1555 besiegelte die Niederlage Karls V. gegenüber den 106 Religionsfriede Fürsten, setzte ein „nationales" Kaisertum statt des universalen wieder durch und von 1555 nahm Lúthers Reformation in die Reichsverfassung auf. Es war das Ereignis eines Reichstags, und der Reichstag als Institution wurde Orientierungspunkt und Bühne der Reichsgeschichte bis zum Ende des Jahrhunderts. Indessen war es ein Ausgleich des eigentlich Unausgleichbaren und daher nur solange wirklich funktionsfähig, als er von der Generation der Leidgeprüften mit Anstrengung gewollt wurde. König Ferdinand I. und eine Mittelpartei der Fürsten hatten ein für dieses prinzipienfreudige Zeitalter sehr beachtliches Maß an politischer Klugheit gezeigt. 107

Die Reichsstände, nicht die Untertanen durften über ihre Konfession entschei-

Reichsstände und den; geistliche Fürsten aber sollten Land und Leute verlieren, wenn sie evangelisch Konfession, der werden wollten. Dieser „Geistliche Vorbehalt" ist mit königlicher Machtvollkom„Geistliche menheit in den „Abschied" aufgenommen worden; der Widerstand der ProtestanVorbehalt"

ten dagegen war damit zugleich ein Widerstand gegen die herrscherliche Machtvollkommenheit, ohne daß ein solcher grundsätzlich mit dem Luthertum zu tun gehabt hätte. Umgekehrt war das Kaiserhaus gewiß katholisch, aber zumindest in der Person Maximilians II. (1564-76) eher weitherzig als pointiert. Der „Geistliche Vorbehalt" sicherte jedenfalls die katholische Mehrheit im Fürstenrat für fast ein Vierteljahrtausend und damit das Fortbestehen der Reichsverfassung. ,4

H. BECKER Der Speyerer Reichstag von 1570, Diss. Mainz 1969; H. LUTZ U. A. KOHLER (Hrsg.) Das Reichstagsprotokoll des kaiserlichen Kommissars Felix Hornung vom Augsburger Reichstag 1555, 1971; W.SCHULZE Das Haus Österreich auf den Reichstagen des späten 16.Jahrhunderts, in: Osterreich in Gesch. u. Literatur 16 (1972), S. 121-131; G.PFEIFFER Augsburger Religionsfriede, in: Theol. Realenzyklopädie, B d . 4 (1976), S.639-645; W.SCHULZE Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert, 1978; M. LANZINNER Friedenssicherung und Zentralisierung der Reichsgewalt, in: Zeitschr. f. hist. Forschung 12 (1985), S. 287-310; M.HECKEL Deutschland im konfessionellen Zeitalter, in: Deutsche Geschichte, Bd.2, 1985, S. 155-354; DERS. Reichsrecht und „Zweite Reformation", in: H.SCHILLING (Hrsg.) Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland — Das Problem der „Zweiten Reformation", 1986, S . 11—43; H . A N G E R M E I E R D e u t s c h e R e i c h s t a g s a k t e n — R e i c h s v e r s a m m l u n g e n v o n

1556-1662,

in: Jahrb. d. hist. Forschung in der Bundesrepublik Deutschland, Berichtsjahr 1985, 1986, S . 3 9 ^ 5 ; P.MORAW Der „Gemeine Pfennig", in: U.SCHULTZ (Hrsg.) Mit dem Zehnten fing es an, 1986, S. 130-142, 277; M. LANZINNER Die Denkschrift des Lazarus von Schwendi zur Reichspolitik (1570), in: J.KUNISCH (Hrsg.) Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte (Zeitschr. f. hist. Forschung, Beih. 3), 1987, S. 141-185.

§1

Hoftag und Reichstag von den Anfängen im Mittelalter bis 1806 (Moraw)

35

Daß der Reichstag ungeachtet der Stabilisierung des Kaiserhofs Mittelpunkt der politischen Geschichte blieb, hing mit der Labilität des Gleichgewichts zusammen, das man 1555 geschaffen hatte. Es war überhaupt nur zustandegekommen, weil Katholiken und Protestanten den Frieden verschieden zu deuten imstande waren: jene als vorübergehende erzwungene Notlösung, diese als Rechtssicherung ihrer Position auf Dauer. Problematisch war auch, daß beide Konfessionen nur einen einzigen wahren wiederherzustellenden Christenglauben als mit der Reichsverfassung vereinbar ansahen, dies sollte jeweils ihr Glaube sein. Man muß also die Unvollkommenheit und die Notwendigkeit der Unvollkommenheit, die allein den Ausgleich ermöglicht hatten, zugleich ins Auge fassen, um die Schwierigkeiten dieser Generationen zu ermessen. Zur Lösung einer eigentlich unlösbaren Aufgabe war der Reichstag das einzig denkbare Forum. So machte auch seine Ausgestaltung und Verschriftlichung — ζ. B. in Gestalt des Protokollierens der Rätesitzungen — deutliche Fortschritte und bewegte sich damit ungefähr parallel zur „Bürokratisierung" der großen H ö f e . Das religiöse Problem wurde mit alledem wenigstens in seiner Handhabung säkularisiert, wiewohl das Denken der Beteiligten alles andere als säkular war. Auch wenn die Zeitgenossen am stärksten das Zermürbende dieser Lage empfunden haben dürften, handelte es sich aufs Ganze gesehen um eine bedeutende Leistung. Sie ruhte auf der Fürstensolidarität — einem eher stillen, aber darum nicht weniger wirksamen Stück Grundkonsens — und Schloß damit jede wirksame Machtvermehrung des Kaisers aus. Es war auch ein defensives Geschäft, das leicht von anderen Fragen ablenkte.

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Labiles Gleichgewicht und Stellung des Reichstags, Katholiken und Protestanten

109

Ausgestaltung und Verschriftlichung des Reichstags, Fürstensolidarität

Gleichwohl war man sich beim ernsten Problem der Türkengefahr einig. Diese 1 1 0 war neben der Konfessionsfrage das Hauptthema der Reichstagsgeschichte nach Türkengefahr 1555. So sehr die osmanische Bedrohung in der ersten Jahrhunderthälfte der Opposition gegen den Kaiser Spielraum verschafft hatte — nun stellte sie sich als ein Medium heraus, um die Stände zugunsten des Kaisers zu disziplinieren und sie zu bisher ungeahnten, auch später nicht mehr übertroffenen Leistungen für das Gesamtreich zu veranlassen. Es handelte sich um einen innenpolitischen Faktor ersten Ranges, der die Durchgestaltung der Reichsverfassung etwa zum Jahrhundertende hin auf den Höhepunkt führte. Zwischen 1556 und 1608 verzeichnet man elf Reichstage, davon sieben in Regensburg, was allein schon das Vorwalten des Kaisers kenntlich macht. Die Reichssteuerfrage war ein Problem seit der Hussitenzeit. Die einzige ordentliche Reichssteuer, der „Kammerzieler", diente seit dem Konstanzer Reichstag von 1507 recht und schlecht dem Unterhalt des Kammergerichts. Anstrengungen in der Art des „Gemeinen Pfennigs", die an den Territorien vorbei den einzelnen Untertan zu erfassen suchten, waren inzwischen immer wieder (zuletzt 1551) unternommen worden, ohne doch wirklich zufrieden zu stellen. Denn sie waren gegenüber der Territorialstruktur „systemfremd" und blieben auch unberechenbar, weil es keinerlei statistische Unterlagen gab. Daher wandte man sich seit 1507 dem „systemkonformen" und daher auch langfristig erfolgreicheren Modell der Matrikularbeiträge zu. Es beruhte auf einer uralten, gänzlich unbestreitbaren Pflicht aller reichszugehörigen Herren und Obrigkeiten, der außerordentlichen Beisteuer zum R o m z u g des Herrschers zur Kaiserkrönung. Daher kam die

111

Reichssteuerfrage, Matrikularbeiträge, Mittelbewilligungen der Reichstage

36

1. Teil: Entstehung und Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland

Rechengröße der Steuer zu ihrem Namen „Römermonat", als Einheit eines Heeres von 4000 Reitern und 20 000 Fußsoldaten, das mit einem Sold von zwölf bzw. vier Gulden monatlich 128 000 Gulden kostete. U m ein solches Heer zu finanzieren, war 1521 die schon erwähnte Matrikel als Grundlage für das Umlegen dieser Summe auf die Reichsglieder aufgezeichnet worden, denen die Art und Weise der Aufbringung freigestellt war. Die Reichstage der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bewilligten dem Kaiser für seine gewaltigen Militäranstrengungen das Vielfache jenes Geldes. Der Reichstag von 1576 sagte zum Beispiel 60 Römermonate zu, der Reichstag von 1603 als Höhepunkt 86. Es war ein steiler Anstieg, denn von 1519 bis 1555 sind 73, von 1556 bis 1606 409 Römermonate genehmigt worden. Auch wenn niemals die volle Summe eingezogen wurde, sind von 1576 bis 1606 mit über 30 Millionen Gulden doch mehr als achtzig Prozent der Veranschlagung realisiert worden, während gleichzeitig das konfessionelle Problem in der Schwebe blieb und sich zum Jahrhundertende hin zuzuspitzen begann. Es handelte sich wohl um die größte Einzelleistung des Alten Reiches.

112

Die Verwaltung dieser Summen wurde gemäß der ständischen Balance von einer Behörde auf der kaiserabgewandten Seite des Dualismus vorgenommen, vom Reichspfennigmeister mit seinen Gehilfen. Er arbeitete mit erstaunlicher Effektivität. Den sozialen Regeln des Zeitalters entsprach es, daß sich dieses Amt auf seinem Höhepunkt abermals um 1600, unter der Leitung von Zacharias Geizkofler, dem Herrscherhof so sehr näherte, daß man nahezu von einer kaiserlichen Behörde reden kann.

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Am Ende des 16. Jahrhunderts verschärfte sich die konfessionelle Situation im Reich. Begonnen hatte dies schon in den siebziger oder gar sechziger Jahren mit der Hinwendung der Kurpfalz zum Kalvinismus, wodurch die alte Rivalität dieses Wittelsbacher Fürstentums mit dem Haus Habsburg verschärft wurde. Inzwischen hatte sich eine neue Generation der Fürsten auch in ihrem Heiratsverhalten konfessionell polarisiert und damit die herkömmliche Solidarität gemindert. Die Konfessionen waren theologisch schärfer abgegrenzt, die Territorien weiter gefestigt worden. Den kaiserlichen Behörden, voran dem Reichshofrat, schrieb man einen betont gegenreformatorischen Kurs zu. Mit den Türken hatte man 1606 Frieden geschlossen. Diese und andere Gründe überließen den Scharfmachern beider Seiten größeren Spielraum und schwächten die so empfindlichen Mechanismen des Ausgleichs. Es erhob sich Opposition dagegen, daß die katholische Mehrheit des Reichstags so großzügig Römermonate bewilligte. Das Kaiserhaus, dem sie zuletzt zugute kamen, schien pointierter katholisch zu sein als zu Maximilians II. Zeiten oder war in einer unübersichtlichen Lage. Es sah so aus, als ob sich die ganze Reichsverfassung langsam, aber sicher dem Katholizismus zuneigte.

114

Den Reichstag betraf dies seit 1582 vor allem in der Frage des Mehrheitsrechts bei freiwilligen Steuerbewilligungen; die Türkenhilfe war freiwillig, da man außerhalb des Reiches, in Ungarn, wenn auch für das Reich kämpfte. Die Protestanten strebten Übereinkünfte auf der Basis der konfessionellen Parität an, ebenso wie sie es bei den obersten Gerichten im Reich wünschten. Die Katholiken lehnten dies mit dem Hinweis auf das Herkommen und als „staatlichen" Rückschritt strikt ab, da es sich nicht um eine Gewissensfrage handele. Demgegenüber schien man das Neue nur durch Verweigerung erzwingen zu können. Aber hiermit zögerten viele,

Einnahmenverwaltung, Reichspfennigmeister

Verschärfung der konfessionellen Situation

Reichstags krise nach 1600

§1

Hoftag und Reichstag von den Anfängen im Mittelalter bis 1806 (MORAW)

37

weil dies wie Verrat an Kaiser und Reich aussah und weil nach einem Kammergerichtsurteil in Steuersachen die Exekution drohte. So ging erst der Reichstag von 1603 ohne „Abschied" auseinander, da ihn die protestantischen Aktivisten unter Pfälzer Führung verließen. Der Reichstag von 1613 ließ wenig Hoffnung auf Ausgleich, weil die Evangelischen gegen seinen „Abschied" scharf protestierten. Schon zuvor waren wie einst zu Karls V. Zeiten konfessionelle Militärbündnisse entstanden, 1608 die evangelische „Union" und ein Jahr später die katholische „Liga". Die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) kann als bekannt vorausgesetzt werden. Als Kaiser Ferdinand II. (1619-37) im schwankenden Kampfgeschehen die Oberhand zu gewinnen schien, wagte er im Restitutionsedikt von 1629 — zum letzten Mal — den Griff nach der Monarchie im vollen Sinn, wenn auch nicht mehr als universales, sondern als dynastisches Programm. Dazu gehörten wie gewohnt die alleinige Rechtsetzung aus herrscherlicher Vollgewalt, die Rückkehr zum Monopol des Hofes und der Hofbehörden, der Verzicht auf den Reichstag zugunsten von Gefolgschaftstreffen, die Disziplinierung der Fürsten und auch die alleinige Militärhoheit (Friede von Prag 1635). Aber wie 1547/48 war die Stunde des Triumphes kurz. Vor allem hatten die Kurfürsten, auf die ein Kaiser welcher Konzeption auch immer keinesfalls verzichten konnte, sich durchaus ständisch verhalten und verweigert. Wieder wehrte sich das katholische Bayern, inzwischen mit dem Pfälzer Kurhut ausgestattet, bis zum äußersten aus dynastischer Rivalität und nicht weniger das sonst nur gedämpft protestantische Kursachsen. Der Kaiser hatte zwar seinen heimischen Adel unterworfen und die Erbländer erfolgreich modernisiert, aber im Reich zu Unrecht mehr auf die Konfession gesetzt als mit der Fürstensolidarität gerechnet. Ferdinand III. (1637-57) mußte die Politik des Vaters auch für das Thema „Reichstag" liquidieren und zum alten Stil zurückkehren.

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Griff nach der Monarchie im vollen Sinn, Verweigerung der Kurfürsten

IV. Vom Dreißigjährigen Krieg zum Ende des Alten Reiches (1630-1806) 1. Im Umkreis des Westfälischen Friedens (1630-1663) Die 1644 eröffneten Friedensverhandlungen schufen vier Jahre später in Münster und Osnabrück Vertragswerke' 5 , die zu Marksteinen der Reichsverfassung wurden. Einen anderen Markstein stellte das Verfahren dar, das die Kongresse prägte: Es konnte für das Reich nicht auf die zentrale Gewalt konzentriert werden, obwohl dies der Kaiserhof gemäß dem Handeln von 1629 und 1635 gewollt hatte. 15

F. WOLFF Corpus Evangelicorum und Corpus Catholicorum auf dem Westfälischen Friedenskongreß, 1966; H . H A A N D e r R e g e n s b u r g e r K u r f ü r s t e n t a g von 1636/1637, 1967; K . BIERTHER

Der Regensburger Reichstag von 1640/1641, 1971; R.v. KIETZELL Der Frankfurter Deputationstag von 1642-1645, in: N a s s . Annalen 83 (1972), S. 9 9 - 1 1 9 ; G . BUCHSTAB Reichsstädte,

Städtekurie und Westfälischer Friedenskongreß, 1976; F. DICKMANN Der Westfälische Frieden, 4. Aufl. hrsg. v. K. REPGEN 1977; A.LAUFS Jüngster Reichsabschied, in: H R G (Fn. 6), Bd. 2, 1978, Sp. 468-472; W. ZIEGLER Die Regensburger Reichstage der frühen Neuzeit, in: D. ALBRECHT (Hrsg.) Zwei Jahrtausende Regensburg, 1979, S. 97-119; A. SCHINDLING Der Westfälische Frieden und der Reichstag, in: H. WEBER (Hrsg.) Politische Ordnungen und soziale Kräfte

116

Vertragswerke von Münster und Osnabrück, Verfahren der Friedenskongresse

38

1. T e i l : E n t s t e h u n g u n d E n t w i c k l u n g des P a r l a m e n t a r i s m u s in D e u t s c h l a n d

Jedoch haben die unabweisbaren militärisch-politischen Realitäten der allerletzten Kriegsphase, als die deutschen Mitkämpfer, auch der Kaiser, zu Tode erschöpft waren, anders entschieden. Zur Schwächung Deutschlands sollten es Verhandlungen in der Art eines Reichstags sein, dessen Glieder damit in das europäische Kräftespiel eingeführt wurden. Sein Zeremoniell und seine Geschäftsführung boten in der Tat Vorbilder, auf die man sich zu einigen vermochte.

117 Fortexistenz des R e i c h s als Staatswesen, innere Machtverteilung

118 R e g e l u n g e n des Westfälischen Friedens

Zwar verstümmelte der Friede nach dem Willen der Feinde das Reich und entließ die nördlichen Niederlande und die Schweiz, aber er setzte seine Fortexistenz als Staatswesen als selbstverständliche „Geschäftsgrundlage" der Zukunft voraus. Das Reich sollte allerdings in der inneren Machtverteilung vom Mittelalter Abschied nehmen und tat dies auch. Zwar stand der Kaiser immer noch über den Ständen, und bald nahm seine Macht, gestützt auf die Erbländer und treue Gefolgsleute, wieder beträchtlich zu. Aber dies war nun zumeist Sache von Politik, nicht mehr von Regierung als Ausdruck einer wenn auch eingeengten Vollgewalt. Davon blieb nun nicht viel mehr als ein Vorrang an Würde und die Handhabung von Einzelrechten. Auch dies hatte Frankreich diktiert. Weil von ständischer Seite schwerlich modernisierende Impulse zu erwarten waren, wurde die staatliche Entwicklung des Reiches damit gleichsam angehalten, so daß Konkurrenzfähigkeit und Selbstbehauptungskraft immer mehr schwinden mußten. Das Neue brach sich deutlicher als bisher nur noch in den Territorien Bahn, wiewohl durchaus ungleich. Im einzelnen formulierte der Westfälische Friede vielfach Tatbestände, die als ständisch-protestantische Reichstagsziele wohlbekannt waren. Ganz neue Wege sind nicht eingeschlagen worden. Ein Hauptmoment war die Bindung des Kaisers an die Zustimmung der Räte bei der Gesetzgebung, in der äußeren und der Militärpolitik. Das andere war die Bildung von zwei Blöcken, des „Corpus Evangelicorum" und des „Corpus Catholicorum", mit getrennten Beratungen (Itio in partes) in allen Fragen religiöser Natur. Dies Schloß Mehrheitsentscheidungen aus und machte eine „gütliche Vereinbarung" (Amicabilis compositio) notwendig. In das Corpus der Protestanten sahen sich die Reformierten einbezogen. Den Ständen wurde volle Landeshoheit und das Waffen- und Bündnisrecht zugebilligt, außer gegen Kaiser und Reich. Eine lange Liste weiterer wichtiger Punkte sollte auf dem nächsten Reichstag geregelt werden.

119

Die Verträge von 1648 erbrachten die wichtigste Legitimierung, die der Reichstag je erfuhr; in vieler Hinsicht wechselte er erst jetzt vom „de facto-Bereich" in und Reichstag, den „de jure-Bereich" hinüber. Genauso wichtig war freilich, was nicht geändert unveränderte Bereiche wurde: die hierarchische Grundstruktur der Reichsverfassung, das Miteinander der drei Räte mit ihren weiterhin sehr verschiedenartigen Bedingungen, die Rolle des Herrschers gegenüber dem Reichstag. Sah man den Kaiser als geschwächt an, so waren dies auch die Kurfürsten; bei 120 Z u r Stellung d e s den Gewinnern, den Fürsten, besaß er nach wie vor eine sichere Mehrheit. Sollte K a i s e r s , die b e i d e n das konfessionelle Problem langsam an Gewicht verlieren und damit das Patt der V e r t r ä g e v o n 1648

„Corpora"

im A l t e n R e i c h , 1980, S. 1 1 3 - 1 5 3 ; DERS. L a d i è t e d e R a t i s b o n n e et les villes i m p é r i a l e s , in: G . LIVET U. B . V O G L E R ( H r s g . ) P o u v o i r , ville et s o c i é t é en E u r o p e 1 6 5 0 - 1 7 5 0 , 1981, S. 4 0 5 ^ 1 1 2 ; Κ . REPGEN D e r W e s t f ä l i s c h e F r i e d e u n d d i e U r s p r ü n g e d e s e u r o p ä i s c h e n G l e i c h g e w i c h t s , in: J a h r e s - u. T a g u n g s b e r i c h t der G ö r r e s - G e s e l l s c h a f t 1985, 1986, S. 5 0 - 6 6 . V g l . F n . 16.

§

1

Hoftag und Reichstag von den Anfängen im Mittelalter bis 1806

(Moraw)

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Blöcke nicht künftig die Politik bestimmen, stand der langsamen Rückkehr zum alten Ubergewicht der kaiserlich-katholischen Seite nicht viel im Weg; sollte dies nicht gelingen, so war es gut, wenn möglichst viel offen blieb und man von den Lücken der neuen Verfassung aus zu handeln vermochte. In der Tat hat der Kaiser, solange er eindeutig der stärkste war (bis 1740), schwerlich größere Schwierigkeiten im Reichstag vorgefunden als vor 1648. Eine Abgrenzung der speziellen Kaiserrechte (Iura reservata) von den gemeinsam ausgeübten (Iura comitialia) ist nie erfolgt. Die beiden „Corpora" kann man nicht in gleicher Weise wie die Räte als unangefochtene Bestandteile der Reichstagsverfassung betrachten; stets war hier die Rechtsmeinung der Katholiken anders als die der Protestanten. Immer noch gehörte zu Reich und Reichstag das Ungeregeltbleiben wesentlicher Punkte. Das verhältnismäßig gelassene Urteil aus kaiserlichem Interesse setzt eine 121 institutionell-statische Sicht der Dinge voraus, die das Stehenbleiben der Nach- Westfälischer barn annimmt. Sie genügt nicht. Das Urteil über den Westfälischen Frieden als als deutsche Katastrophe deutsche Katastrophe ist (abgesehen von den Gebietsverlusten) dann zutreffend, wenn man die Selbstbehauptungsfrage des Reiches im Europa der Mächte bedenkt, das früher oder später von einer Zone minderer Kräfteakkumulation und Entschlußkraft zum Zugriff eingeladen wurde. Hierzu ist „ReichstagsDeutschland " durch 1648 geworden. Nicht für alle Zukunft mochte der Kaiser mit den eigenen Mitteln dafür eintreten. Zwar hat eine Situation der Balance fast ein Jahrhundert Bestand gehabt. Nicht mehr bestehen konnte sie, als eine Mächterivalität europäischen Formats im Reich selbst auftrat und als die Herausforderung insgesamt — ob von außen oder von innen — so groß wurde, daß dysfunktional und zur Selbstbehauptung unfähig gewordene Stände nicht mehr einfach mitgeschleppt werden konnten.

Friede

So führt kein Weg am Auseinandertreten des historischen Urteils vorbei: Der 122 Reichstag, den wir weiterhin bei seiner Arbeit beobachten, wurde zwar ein immer Reichstag und gründlicherer und korrekterer Garant der Rechtsordnung im Reich (der Reichs- Rechtsordnung, Reformunfähigkeit, hofrat hat sich wohl flexibler gezeigt); es war aber eine Ordnung, die immer Rechtsbruch weniger konkurrenzfähig und daher immer mehr gefährdet war. Gerade weil jedes deutscher Staaten gute Recht so gut geschützt wurde, stand am Ende die größte Ungerechtigkeit, das Ende aller Rechte, die der Reichstag bewahrt hatte. Dabei war dieser natürlich nur das Abbild, wenngleich ein vielbeachtetes, einer Situation, die das ganze Reich außerhalb seiner modernen Führungsmächte betraf und als Reformunfähigkeit einer mittelalterlichen Verfassung bezeichnet werden muß. Als die Lage aufs äußerste zugespitzt war, schien sie nur durch den Rechtsbruch der großen deutschen Staaten bewältigt werden zu können, die inzwischen eigene Legitimität, eigene Räson und nur ihnen verpflichtete Führungsgruppen gewonnen hatten. Damals war die Welt aus den Fugen. Die Erschütterung ganz Europas dürfte in 123 der Tat die einzige Chance geboten haben, einen neuen Anlauf zur Verstaatung des Erschütterung Reiches von einer deutschen Führungsmacht aus zu unternehmen; denn eine Europas als Chance zur Verstaatung des einigermaßen verfassungskonform-kaiserliche (notwendigerweise gegen Fürsten Reichs und Protestanten gerichtete) Lösung erscheint ebenso unrealistisch wie eine friedlich-uneigennützig bundesstaatliche (notwendigerweise gegen den Kaiser gewandt). Wahrscheinlich hat allerdings nicht erst das Jahr 1648, sondern die staatlich-territoriale Entwicklung im Reich insgesamt eine andere Endsituation als

40

1. Teil: Entstehung und Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland

die machtpolitische Katastrophe ausgeschlossen. Weil auch die deutschen Großmächte versagten, stand am Ende Napoleon. 2. Entstehung und Wirken des Immerwährenden Reichstags (1663-1795/97)

124 Auf dem Weg in das 18. Jahrhundert überholten Herrscherhof und Fürstenhöfe

„Immerwährender" mit ihren heranwachsenden Behörden den Reichstag als Entscheidungszentrum Reichstag, endgültig. Man könnte daher dem ereignisgeschichtlichen Zufall, daß der Reichstag Reichspolitik durch gerade jetzt „immerwährend" wurde, das heißt fortan ohne Unterbrechung tagte, Fachleute

seinen festen Sitz im Regensburger Rathaus nahm und damit endlich zum selbsttragenden Gebilde wurde 16 , eine innere Konsequenz abgewinnen: Auf seine Weise wurde auch er einigermaßen zur rechten Zeit „höfisch", selbst wenn nicht mehr der Kaiser, sondern sein immerhin fürstlicher Prinzipalkommissar, und nicht mehr die Reichsfürsten als Träger der Mitentscheidung, sondern ihre Gesandten dort wirkten. Man kann dies auch insofern als Modernisierung verstehen, als damit ansehnliche Teile der Reichspolitik in übergreifender und zugleich räumlich ungefähr ausgeglichener Weise in die Hände von Fachleuten gerieten; dabei vertraten diese oft mehrere Stände gleichzeitig. Diese Fachleute wirkten weiterhin als Träger des schon geschilderten besonderen Entscheidungsprozesses des Reichstags, als Kontakt- und Informationspersonen und als Agenten des rechtlich-politischen Ausgleichs — im Dienst einer rückwärtsblickenden Gerechtigkeit zum Wohl vor allem der kleineren Reichsglieder.

125

So wurde der Reichstag zum Forum der Reichseinheit als Garant des Rechts-

Zur Bedeutung des friedens. Damit wurde er unter anderem auch zum Partner der nun dort wie an den Reichstags nach 1663

großen Höfen ansässig werdenden ausländischen Gesandten. Nicht jedoch wurde U. K Ü H N E Geschichte der böhmischen Kur in den Jahrhunderten nach der Goldenen Bulle, in: Archiv f. Urkundenforschung 1 0 ( 1 9 2 8 ) , S . 1 - 1 1 0 ; K . O . v . A R E T I N Heiliges Römisches Reich 1 7 7 6 - 1 8 0 6 , 2 Bde., 1 9 6 7 ; T H . R O H R Der deutsche Reichstag vom Hubertusburger Frieden bis zum bayerischen Erbfolgekrieg (1763-1778), Diss. Bonn 1967; K.MÜLLER Zur Reichskriegserklärung im 17. und 18.Jahrhundert, in: Zeitschr. d. Savigny-Stiftung f. Rechtsgesch., Germ. Abt. 9 0 ( 1 9 7 3 ) , S . 2 4 6 - 2 5 9 ; E.-R. H U B E R Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1 7 8 9 , Bd. 1, 2 . Aufl. Nachdruck 1 9 7 5 ; N . H A M M E R S T E I N Karl VII. und Frankfurt am Main, in: Archiv f. Frankfurts Gesch. u. Kunst 57 (1980), S. 19-48; H.MATIS (Hrsg.) Von der Glückseligkeit des Staates, 1 9 8 1 ; A. S C H I N D L I N G Reichstag und europäischer Frieden, in: Zeitschr. f. hist. Forschung 8 (1980), S. 159-177; DERS. Die Anfänge des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg, Ms. Habilitationsschr. Würzburg 1 9 8 2 ; W. F Ü R N R O H R Die Vertreter des habsburgischen Kaisertums auf dem Immerwährenden Reichstag, in: Verhandlungen d. Hist. Vereins f. Oberpfalz u. Regensburg 1 2 3 ( 1 9 8 3 ) , S. 7 1 - 1 3 9 u. 1 2 4 ( 1 9 8 4 ) , S. 9 9 - 1 4 8 ; V. P R E S S Das wittelsbachische Kaisertum Karls VII., in: Land und Reich, Stamm und Nation, Festg. f. Μ. Spindler, Bd. 1, 1 9 8 4 , S. 2 0 1 - 2 3 4 ; R. H O K E Prinzipalkommissar, in: H R G ( F n . 6 ) , Bd. 3 , 1 9 8 4 , Sp. 1 9 6 2 - 6 5 ; H . N E U H A U S Reichskrieg, in: H R G ( F n . 6 ) , 2 7 . Lief, (künftig in B d . 4 ) , 1 9 8 6 , Sp. 6 8 7 - 6 9 3 ; R. V I E R H A U S Deutschland im Zeitalter des Absolutismus. 1 6 4 8 - 1 7 6 3 , in: Deutsche Geschichte, Bd. 2 , 1 9 8 5 , S. 3 5 5 - 5 1 2 ; K. O. v. A R E T I N Vom Deutschen Reich zum Deutschen Bund, ebd., S . 5 1 3 - 6 7 2 ; V . P R E S S Friedrich der Große als Reichspolitiker, in: H . D U C H H A R D T (Hrsg.) Friedrich der Große, Franken und das Reich, 1 9 8 6 , S. 2 5 - 5 6 ; J. K U N I S C H (Hrsg.) Staatsverfassung und Heeresverfassung in der europäischen Geschichte der frühen Neuzeit, 1 9 8 6 ; DERS. Absolutismus, 1 9 8 6 ; K . O . v. A R E T I N Das Reich, 1 9 8 6 ; R. V I E R H A U S Deutschland im 18.Jahrhundert, 1987; P.MORAW Reichshofrat, in: H R G (Fn.6), 27. Lief, (künftig Bd.4), 1 9 8 7 , Sp. 6 3 0 - 6 3 8 ; A. S C H I N D L I N G Die Ausbildung des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg, in: H . D I C K E R H O F (Hrsg.) Festgabe H . Hürten z. 6 0 . Geburtstag, 1 9 8 8 , S. 3 0 1 - 3 1 5 .

§1

H o f t a g und Reichstag v o n den Anfängen im Mittelalter bis 1806 (MORAW)

41

Regensburg zum Forum der Selbstbehauptung des Reiches gegenüber der durch diese Gesandten vertretenen Machtpolitik und Staatsräson und schon gar nicht zu einem Forum der Weltpolitik wie London oder Paris oder selbst Wien. Daß der Reichstag von 1663 im Zuge langwieriger Beratungen nach und nach 126 „immerwährend" wurde, war vor allem eine Folge der offenen Probleme, die der Offenlassen Probleme Westfälische Friede vor sich her geschoben hatte. Dieses Offenlassen war die Voraussetzung dafür gewesen, daß der Friede überhaupt zustande kam, und blieb weiterhin die Voraussetzung für das Bestehen des Reiches, wie es seit 1555 und im Grunde seit der Entstehung des Reichstags der Fall gewesen war. Dies war eine Sache des älteren Rechts selbst, das ungeschriebener Gewohnheit und ehrwürdigen Traditionen entstammte und diese beiden weitertrug, das seinem Wesen nach aus heute ganz verschieden qualifizierten Rechtsquellen gleichermaßen schöpfte und mit dem Monopol klar formulierter Artikel nichts zu tun hatte, wenn es diese auch nach und nach inselhaft zuließ. Dies war auch eine Sache der „unausgetragenen" Reichsverfassung insgesamt, die die Prinzipien der Vollgewalt des Kaisers und des Konsensrechts der Fürsten auf heute irritierende Weise unentschieden stehen ließ und nur die Legitimierungshierarchie — mit dem Kaiser an der Spitze — als Ordnungskriterium anzubieten scheint. Es war schließlich auch eine Sache der Politik, denn das Ausformulierte beschränkte den Kaiser; was nicht formuliert war, ließ ihm die Chance, seine Majestät und seine soziale und militärischpolitische Überlegenheit zur Geltung zu bringen.

der

Vieles, was als Wesenszug des 16. Jahrhunderts benannt worden ist, blieb auf 127 dem Reichstag des 17. und 18. Jahrhunderts bestehen: das Vorwalten konfessionel- Merkmale des ler Gesichtspunkte, die Politik als Denken in einem hierarchischen Gefüge, die Reichstags des 17. und 18. Jahrhunderts, Legitimierung des Standpunkts mit alten und uralten Argumenten, die treue Kaiser und Reichstag Gefolgschaft der kleinen, allerdings immer mehr veraltenden Kräfte für den Kaiser. Auch deshalb war die Lage für ihn nicht so ungünstig, wie 1648 viele erhofft hatten. Man kann die Reichstagsgeschichte von diesem Datum bis zum tiefen Einschnitt von 1740 auch als Geschichte des Wiedererstehens eines kaiserlichen Herrschaftsinstruments auffassen, das freilich altaristokratisch-vorsichtig, ja staatsklug gehandhabt wurde und Formen indirekter Einflußnahme hochschätzte. Man suchte nicht die Westfälischen Verträge frontal zu durchbrechen. Es gibt eine klare Linie des Aufstiegs von Leopold I. (1658-1705) zu Joseph I. (1705-11); die Jahre Karls VI. (1711-40), die von neuen dynastischen Voraussetzungen gekennzeichnet sind, brachten Höhepunkt und Umschwung. Die Triumphe über die Türken solidarisierten mit Begeisterung, die mühsame Defensive gegen die Franzosen mit Ingrimm; beides war politisch sehr wirksam. Gegen den Kaiser war nichts durchsetzbar, auch außenpolitisch handelte er weithin für das Reich allein. So wurden die Freiheiten von 1648 von der Gesamtheit der Stände weniger als 128 erwartet und je für sich nur von den wenigsten genutzt — eigentlich nur gemäß den Kurfürsten am Rhein, mittelalterlichen Schwachstellen des Kaisers: beim „Verfassungseinbruch", den die Aufstieg von Brandenburg-Preußen Kurfürsten im 14. und 15.Jahrhundert erzielt hatten, und angesichts der hergebrachten Kontaktarmut zum Norden. Jedoch wurden die Kurfürsten am Rhein immer schwächer. So endete der Versuch des Mainzers Johann Philipp von Schönborn (1647-73), wie einst Berthold von Henneberg im Reich institutionell statt machtfundiert mitzureden, mit dem „Rheinbund" von 1658 in der recht

42

129 Verstaatung der Territorien, wachsende Unterschiede

130 Reichstagsgesetzgebung

131 Wiener Behörden, Re^chs^cis^Teh're vom Reichsstaatsrecht

132 Politische Konsensbildung

133 Reichsarmce,

Einzeleliten. Gesamtelite, Reichspatriotismus

1. Teil: Entstehung und Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland

unpopulären Gefolgschaft Frankreichs und scheiterte dann gänzlich. Viel gefährlicher und zuletzt für das Alte Reich tödlich war der Aufstieg einer wirklich konkurrenzfähigen Macht im kaiserfernen Norden, Brandenburg-Preußens seit dem Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm (1640-78). Karl V. hatte die habsburgischen Positionen im Nordwesten der spanischen Linie gegeben, die unglücklich gehandelt hatte; das Wiederherstellungsbemühen des Kaisertums im 18. Jahrhundert war nicht umfassend genug, man blickte eher nach Italien als auf die Niederlande. Währenddessen bediente sich Brandenburg-Preußen der nichtreichischen und unkaiserlichen Mittel von Militär und Bürokratie und überholte das alte Zentrum Kursachsen. Wie dieses fast stets, war freilich auch BrandenburgPreußen generationenlang prinzipiell loyal zu Kaiser und Reich, bis dann die Versuchung der Macht unwiderstehlich wurde. Dieses hätte in den Einzelheiten nicht so geschehen müssen. Heute ist jedoch erkennbar, daß der Kaiser seine Erfolge im Reichstag mit veraltenden Mitteln und in einem veraltenden Forum erzielte, früher oder später also auf dieser Linie nicht mehr weiterkommen konnte. Als unaufhaltsam muß dabei die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt fortschreitende Verstaatung der Territorien, auch der neuen Großmacht „Osterreich", gelten sowie die wachsenden Unterschiede zwischen den großen und den kleinen: Beides veränderte die Existenzbedingungen von Reich und Reichstag grundsätzlich. Dies ist der Hintergrund, vor welchem die ansehnlichen Leistungen der Reichstagsgesetzgebung nach 1648 zu bewerten sind, die Reichsdefensionalordnung von die Reichskommerzienordnung von 1713, die Reichshandwerksordnung von 1731 und andere. Sie standen in der Tradition der Rechtsformung seit dem Zeitalter Karls V., seit dem Strafgesetzbuch von 1532 (Constitutio criminalis Carolina), der Reichspolizeiordnungen (1530-77) oder der Reichsmünzordnung von 1551. In dieselbe, immer noch vereinheitlichende Richtung wirkten ein (abnehmenT e ü der Wiener Behörden, die obersten Gerichte im Reich oder auch die ^ e ' c ^ s P o s t ' die weiterhin auf der kaiserlichen Rechtsherrschaft und kaiserlichen Privilegien beruhten, oder auch die Lehre vom Reichsstaatsrecht an den Universitäten, die seit 1600 immer weiter ausgebaut worden war. Hier bestand ein Parteienkampf wie in der Politik, der gemäß dem Verlauf der deutschen Hochschulgeschichte die Protestanten im Vorteil sah und insgesamt den Umschwung der Gesamtsituation zugunsten der Fürsten begleitete. Von den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts an stellten sich immer größere Schwierigkeiten bei der politischen Konsensbildung am Reichstag ein. Man erkannte> J a ß J ¡ e z u m konfessionellen Ausgleich erarbeitete Corpus-Struktur machtpolitisch genutzt werden konnte; dem Ende des Reiches zu wurde weit überwiegend nur noch nach diesen Blöcken „abgestimmt". Neue einheitsstiftende Faktoren fehlten. Es war nicht gelungen, ein stehendes Heer im Reichsganzen aufzubauen, vor allem weil Kaiser und Stände ein solches Machtmittel als innenpolitisch zu riskant ansahen; die Reichsarmee blieb wie zuvor anlaßgebunden und war daher schwerfällig und kaum entwicklungsfähig. Zum zweiten bot das Reich erst recht jetzt eine Basis nur für punktuelle, kleine und eher voneinander isolierte Einzel-

§

1

H o f t a g und R e i c h s t a g v o n den A n f ä n g e n im Mittelalter bis

1806 (Moraw)

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eliten, wie diejenige in R e g e n s b u r g . E s gab keine wirklich große Gesamtelite, die ihr Lebensinteresse mit d e m Reich verbunden und sich gar nach unten sozial geöffnet hätte, in die noch weit entfernte Z u k u n f t eines kraftvollen Bürgertums hinein. Statt dessen zogen H ö f e , A r m e e n und Behörden der Einzelstaaten solche Eliten auf sich. So gab es auch keine k o m p a k t e Interessentenbasis für den wieder wachsenden Reichspatriotismus des 18.Jahrhunderts; er blieb zumeist „freischwebend"-bildungsbürgerlich und konnte sich auf manchmal merkwürdige Weise mit dynastisch-staatlichen Einzelpatriotismen verbinden. V o m großen U m s c h w u n g von 1740 spielte sich nichts auf d e m Reichstag ab, aber er w u r d e sehr stark davon betroffen. N a c h dem T o d Kaiser Karls VI., als kein Sohn zur V e r f ü g u n g stand, fiel Friedrich II. von Preußen ( 1 7 4 0 - 8 6 ) ins habsburgische Schlesien ein und meldete sich die uralte dynastische Rivalität der Wittelsbacher zu Wort. O b w o h l das Kaisertum Karls VII. von Bayern (1742^-5) kläglich scheiterte, erschütterte es im Verein mit den preußischen Erfolgen die Reichsverfassung bis in die G r u n d f e s t e n . D i e einen beruhten auf o f f e n e m Rechtsbruch, das andere verstieß gegen die gewachsene Realität. D i e Reichsverfassung war eben, ohne daß man dies juristisch formuliert hätte, habsburgisch geworden, schon bevor es den Reichstag gegeben hatte, und konnte anders nicht mehr sein. D e r eingeübte D u a l i s m u s von Kaiser und Ständen ruhte nur z u m geringen Teil auf einem „konstitutionellen" K o n s e n s , z u m größeren auf einem vordualistisch legitimierten oder gar elementaren M a c h t „ k o n s e n s " . D i e Beteiligten waren daher nicht einfach austauschbar. Zugleich traten endgültig jene langfristigen unwiderstehlichen Entwicklungen zutage, die die Z u k u n f t von altem Reich und Reichstag noch grundsätzlicher in Frage stellten. O b die Kaisermacht oder ob Preußen obsiegte, in beiden Fällen handelte es sich inzwischen u m Kraftzentren europäischen F o r m a t s mit M a c h t p o litik und Staatsräson modernen Stils, mit starken H e e r e n , .ihnen angepaßten Finanzen und mit aufsteigender Bürokratie und sich zentralisierender Wirtschaftspolitik. S o waren das übrige Reich und seine Glieder nicht beschaffen, und sie fielen eher immer noch weiter zurück. Es w u r d e die Frage formulierbar, in welchem Maß und o b überhaupt sich das Reich für Österreich und Preußen noch verlohne. D i e Reichstagsgeschichte von 1740 bis zur Französischen Revolution hat die A u s w i r k u n g dieser Realitäten und den aus dem Selbsterhaltungstrieb erwachsenden Widerstand der kleineren Mächte z u m T h e m a ; er w u r d e von den alteingewurzelten N o r m e n und Regeln gestützt. So kann man weiterhin Routinearbeit beobachten, die freilich seltener als zuvor in das Ergebnis eines „Reichsschlusses" einzumünden scheint, sodann die Widerspiegelung der neuen Kräfteballungen, das heißt vor allem die Indienstnahme des Reichstags durch den Kaiser, und das Spiel der Kleinen im U m k r e i s des Reichstags, der ihnen immer mehr als das wertvollste Koordinationszentrum, ja als Rettungsanker erschien. Im Siebenjährigen Krieg (1756-63), in welchem Preußen die Reichsverfassung abermals verletzte, setzte der Kaiser die Reichsexekution durch, so daß die Reichsarmee a u s z o g und bei R o ß bach eine bittere N i e d e r l a g e erlitt (1757); die Reichsacht w u r d e durch protestantisch-norddeutsche Fürstensolidarität verhindert.

134 Preußen, Rivalität d e r Wittelsbacher, E r s c h ü t t e r u n g der Reichsverfassung

135 O s t e r r e i c h und Preußen als Kraftzentren europäischen Formats

136 Reichstagsgeschichte seit 1740, Siebenjähriger K r i e g

44

1. Teil: Entstehung und Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland

137 Ein tiefer Einschnitt, der Anfang vom Ende des Reichstags, war zu verzeichnen, Opposition gegen den a J s sícti. dort wohl erstmals erfolgreiche Opposition gegen den Kaiser bildete: im KaÍSe üb E er den Kaiser J a h r 1 7 8 5 u n t e r d e r F ü h r u n g Preußens („Fürstenbund"). Dieses betrieb Interessenpolitik in reichstagsgemäßen Formen, was die Kleineren eine Zeitlang zu täuschen vermochte. Dahin hatten offenbar nicht so sehr die Erfolge Friedrichs des Großen wie die weitverbreitete Enttäuschung über den Kaiser, Joseph II. (1765-90), geführt. Dieser verfolgte, wie es die Vorgänger in die Wege geleitet hatten, österreichisches Großmachtstreben auch innerhalb des Reiches, jedoch nun mit sehr geringer Rücksicht auf die gewachsenen Zustände. Es scheint „Planspiele" mit den Territorien anderer Reichsstände seit den sechziger Jahren gegeben zu haben. Josephs aufgeklärte Politik der raschen Modernisierung Österreichs bedrohte unmittelbar die geistlichen Fürsten und die kleinen weltlichen Gewalten O b e r deutschlands. Beide waren in der Tat im Sinne des Machtstaatsgedankens überholt, weil sie sich nicht mehr selbst behaupten konnten und praktisch auch nicht mehr bündnisfähig waren. Wenn aber Arrondierung an die Stelle indirekter Herrschaft trat, war der Reichstag im Sinn der hergebrachten Kaiserpolitik und womöglich diese selbst nicht mehr funktionsfähig. Keine geringere Vertrauenskrise und Erschütterung der Werte, diesmal auch unter den mittleren Mächten, löste Josephs Vorhaben aus, Bayern gegen die österreichischen Niederlande einzutauschen, als die bayerische Linie der Wittelsbacher ausstarb (1777); damit wären Gebietsveränderungen auch bei anderen verbunden gewesen. Im Jahr 1784 hat der Kaiser gemäß alledem den Zerfall des Reichstags in Betracht gezogen. 138 Da sich beide deutschen Großmächte mit nicht allzuviel zeitlichem Abstand — Zwangsläufigkeit des ihrem staatlichen Interesse folgend — von Reich und Reichstag und deren altem Wandels^Aruind z u emanzipieren bereit waren (und zwar bevor die Französische Revolution Transformation

b r a c h ) und da das „Dritte Deutschland" über recht vage Projekte hinaus zum Erhalt der Reichsverfassung nur wenig beizutragen vermochte, kann man kaum umhin, den sich abzeichnenden Wandel von den alten zu unbekannten neuen Formen für zwangsläufig zu halten. Jedoch ist damit noch nichts über die Art und Weise der Transformation ausgesagt. Hier gab es wohl bis zur letzten Phase, als gegenüber der Hegemonie Napoleons keine Alternative mehr bestand, verschiedene Möglichkeiten. Gewiß scheint nur, daß der innerdeutsche Dualismus hätte ausgekämpft werden müssen, wie es dann auch wirklich, wenngleich viel später, geschah (1866).

aus

139 Angesichts der Französischen Revolution rückten Kaiser und König zusammen Österreich und (1790). Ein Jahr später verurteilte der Reichstag die Übergriffe auf die Rechte der Preußen Reichsstände im Elsaß durch sein Gutachten, mit dessen Inkraftsetzung der Kaiser freilich zögerte. Als der revolutionäre Nachbar gleichwohl dem Herrscher den Krieg erklärte (1792), trat Preußen auf dessen Seite, und der Reichstag stellte den Reichskrieg fest. Man rechnete mit einem raschen Sieg, doch es kam ganz anders. Die deutschen Mächte gerieten in die Defensive, so daß Preußen zuerst den Frieden suchte (Basel 1795) und der Kaiser nicht viel später (Campo Formio 1797). Beide Monarchen waren bereit, das linke Rheinufer, das ihnen nur ungefähr zur Hälfte gehörte, preiszugeben, und planten für sich selbst eine Entschädigung auf Kosten rechtsrheinischer Reichsglieder. Beide haben damit ihre Reichspflichten und Treu und Glauben im Reich abermals gröblich verletzt; obendrein nahmen sie

§1

Hoftag und Reichstag von den Anfängen im Mittelalter bis 1806 (MORAW)

45

den Umsturz der Reichsverfassung zugunsten einer Quasi-Teilung Deutschlands in eine südliche und eine nördliche Hälfte als Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit in Kauf. 3. Im Strudel des Untergangs (1795/97-1806) Ein Kongreß in Rastatt sollte diese Planungen vollziehen, doch verzögerte der zweite Koalitionskrieg (1798-1801) zwischen Osterreich und Frankreich, bei Neutralität Preußens, die Entscheidung. Noch einmal bewilligte der Reichstag hundert Römermonate (1799). Der Friede von Lunéville verschlimmerte aber nur die Lage. So formulierte eine Außerordentliche Reichsdeputation nach zwingenden französischen Vorgaben und russischer Einflußnahme durch ihren „Hauptschluß" vom 25.2.1803 die Neuordnung des rechtsrheinischen Deutschland, Reichstag und Kaiser stimmten zu. Es verschwanden die geistlichen Fürstentümer mit drei Ausnahmen und die Reichsstädte bis auf sechs (seit 1805 nur noch fünf). Der Wettlauf der Höfe mittleren Ranges um die Protektion von Paris und St. Petersburg führte zur Stärkung des „Dritten Deutschland" zwischen seinen beiden Großmächten. Frankreich wollte das Ende des Reiches, Österreich und Preußen taten wenig dagegen.

140

Zweiter Koalitionskrieg

141

Friede von Lunéville, Neuordnung

Die Neuordnung des Reichstags spitzte diese Situation noch zu, vor allem zu 142 Lasten des Kaisertums. Aus dem Kurfürstenrat schieden Köln und Trier aus. Dafür Neuordnung des wurden Salzburg (für den habsburgischen Großherzog von Toscana, bis 1805), Reichstags Württemberg, Baden und Hessen-Kassel aufgenommen, so daß nun vier katholischen Kurfürstentümern sechs protestantische gegenüberstanden. Im Fürstenrat wäre bei insgesamt 127 Viril- und vier Kuriatstimmen eine ganz klare protestantische Mehrheit (77/78 zu 53/54) entstanden; dabei wären durch Stimmenhäufungen 78 Fürstenstimmen von Kurfürsten geführt worden. Das Städtekollegium wurde völlig bedeutungslos. Man zielte auf eine föderative Ordnung mit stark geschwächter Spitze ab. Für den Fürstenstand erließ der Kaiser das ratifizierende Dekret nicht, so daß sich die Lage zwischen neuen Realitäten und verstümmelter alter Rechtsordnung noch mehr verwirrte. Ein dritter, kurzer Krieg zwischen Frankreich und dem Kaiser begann und endete 1805 (Friede von Preßburg), in welchem Bayern, Württemberg und Baden schon mit Napoleon marschiert sind. Kurz vor dessen französischer Kaiserkrönung hatte Kaiser Franz II. (1792-1806 bzw. 1804-35) zusätzlich die Würde eines erblichen Kaisers von Osterreich angenommen (1804). Zwei Jahre später errichtete Napoleon einen Rheinbund aus sechzehn deutschen Staaten, die vor dem Reichstag den Austritt aus dem Reich erklärten (1.8.1806). Nach einem französischen Ultimatum legte Franz am 6. August die Krone des Reiches nieder. Damit erlosch das Kaisertum und mit ihm das Reich. Bis zuletzt war neben Wien Regensburg die deutsche Bühne dieses zuletzt gespenstischen Geschehens, der französische Gesandte am Reichstag war das Sprachrohr des Diktators' 7 . Außer Fn. 1 und 16 A.SCHARNAGL Zur Geschichte des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803, in: Hist. Jahrb. 70 (1951), S. 238-259; W.WAGNER (Hrsg.) Das Staatsrecht des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, 1968; H.SCHULZE Der Weg zum Nationalstaat, 1985;

143

Dritter Koalitionskrieg, Rheinbund, Niederlegung der Krone des Reiches

46

144 D a s E n d e des Reiches, Napoleon

145

F o r m e l v o m „Heiligen Römischen Reich", B r ü c k e zur Z u k u n f t

1. Teil: Entstehung und Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland

Nicht moderne Ideen von Freiheit und Gleichheit führten das Ende des Reiches herbei, vielmehr entschied fremde Machtpolitik, auch weil Napoleon einen kleinen Teil von dessen Legitimität auf sich leiten wollte: Er führte nun auch einen Kaisertitel, nannte sich König von Italien und seinen Sohn König von R o m und griff damit Herrschertitel des untergehenden Reiches wörtlich und im Anklang auf. Im eigenen Land freilich hatte die Formel vom „Heiligen Römischen Reich" inzwischen an Anziehungskraft verloren. Im fließenden Ubergang war längst vor 1806 immer häufiger auch in offiziellen Texten (des Kaisers, des Reichstags, auswärtiger Mächte) und ohnehin privat gleichbedeutend von „Deutschland", „deutscher Nation", „deutschem Vaterland" und „deutschem Reich" die Rede; in dieselbe Richtung bewegte sich das Reichsstaatsrecht an den Universitäten. Diese Gleichsetzungen schlugen ebenso die Brücke zur Zukunft wie eine Anzahl sachlicher Kontinuitäten. Der Rheinbund und der Deutsche Bund von 1815 führten Wesenszüge des Alten Reiches fort; dessen letzte verzweifelte Anstrengung, die Neuordnung von 1803, war die Grundlage des deutschen 19. Jahrhunderts.

V. Würdigung 146 Hoftag und Reichstag des Heiligen Römischen Reiches waren keine demokrati-

H o f t a g , Reichstag, kleinräumige Versammlungen und demokratische Struktur

schen Parlamente, ebensowenig wie alle anderen mit großen Räumen befaßten Körperschaften Europas vor dem endenden 18.Jahrhundert. Wenn jenes von kleinräumigen Versammlungen behauptet wird, ist auch Vorsicht am Platz. Denn es ist unzulässig, einzelne demokratisch erscheinende Wesenszüge isoliert hervorzuheben; damit zerreißt man den Zusammenhang der prinzipiell anders gefügten vormodernen Vergangenheit unseres Kulturkreises und gerät in Gefahr, Geschichte zu verfälschen.

147

Zum Beispiel wurde der Gedanke allumfassender und grundsätzlicher sozialer Gerechtigkeit (nicht sozialer Gerechtigkeit in vielen Einzelfällen) unausweichlich begrenzt von der Dominanz der Lebenswelt der sozial ungleichen, nämlich ständisch gegliederten Gesellschaft, die gottgewollt erschien, auch von einem im Vergleich zur Moderne sehr engen Staatszweck. Es wäre also grob anachronistisch zu wünschen, daß sich der alte Reichstag mit jenem Thema befaßt hätte. Ebensosehr ist die auf den Idealen von Freiheit und Gleichheit, auf der Idee der Volkssouveränität und auf dem allgemeinen Wahlrecht der Staatsbürger aufruhende Demokratie eine Errungenschaft der Moderne, bei uns eine Verbindung französischer Ideen mit englischen Institutionen. Es handelt sich dabei um die Ne«errichtung der Voraussetzungen legitimer Staatsgewalt; vorausgegangen ist wie fast überall etwas ganz anderes, das originäre Herrschaftsrecht einer Monarchie.

Soziale Gerechtigkeit und Demokratie, Errungenschaften der Moderne

O . DANN Freiheit und Gleichheit, in: D e r N a m e der Freiheit 1288-1988, Ergänzungsbd., 1988, S. 87-93; K . O . V.ARETIN Säkularisation, in: H R G ( F n . 6 ) , 29. Lief, (künftig in Bd. 4), 1988, Sp. 1263-1267; D.GRIMM Deutsche Verfassungsgeschichte 1776-1866, 1988; V.PRESS Altes Reich — Rheinbund — Deutscher B u n d . Kontinuität und Diskontinuität. Unveröff. Manuskript.

§ 1

H o f t a g und R e i c h s t a g von den A n f ä n g e n im Mittelalter bis 1 8 0 6 (MORAW)

47

Der Bereich des Demokratischen ist jedoch nicht das einzige Merkmal moder- 1 4 8 ner Volksvertretungen. Zwei andere Wesenszüge sind kaum minder bedeutsam: W e s e n s z ü g e m o d e r n e r die Stellung in der politischen Mitte des Gemeinwesens und die zentrale Rolle in V o l k s v e r t r e t u n g e n und H o f t a g s o w i e dessen Rechts- und Friedenssystem. In diesen beiden verantwortungsschweren alter R e i c h s t a g Wirkungsbereichen haben Hoftag und alter Reichstag den modernen Verhältnissen nachdrücklich vorgearbeitet. Diese Leistungen verdienen auch heute Beachtung und Respekt. Auch sind sie 1 4 9 deshalb von Belang, weil sie vom Zusammenhang der deutschen Geschichte über Z u s a m m e n h a l t der ein Jahrtausend hinweg zeugen. Es ist nämlich möglich und notwendig, Hoftag d e u t s c h e n G e s c h i c h t e und alten Reichstag als einheitlichen Geschehenszusammenhang vom 10. bis zum 19. Jahrhundert zu verfolgen. Es handelt sich dabei auch im europäischen Vergleich um bemerkenswerte Tatbestände — als Teil des Staatswerdungsprozesses eines der ältesten und großen Gemeinwesen des Kontinents. Dabei mag besonders interessieren, wie die Reichsverfassung aus sehr elementaren Voraussetzungen hervorwuchs und sich nach und nach differenzierte, weil sie auf immer neue Herausforderungen zu antworten genötigt war. Hier kann man von beachtlichen politischen Reifungsprozessen und ebensogut von wohl bis hèute nachwirkenden Besonderheiten dieser Vorgänge sprechen, wie von der speziell im Reichstagsmilieu beheimateten „Rechts"- statt (wie anderswo) „Machtpolitologie". An der Schwelle zur Moderne erwies sich die Reichsverfassung nicht mehr als konkurrenzfähig; auch die Gründe dafür mögen bedenkenswert sein. Angesichts des Hoftags und alten Reichstags könnte sich schließlich die deut- 1 5 0 sche Demokratie einer ihrer Unterlassungssünden bewußt werden: der Vernach- U n t e r l a s s u n g s s ü n d e lässigung der notwendigerweise vordemokratischen, aber notwendigen älteren der d e u t s c h e n Demokratie deutschen Geschichte.

§2 Volksvertretungen im monarchischen Konstitutionalismus (1814-1918)-· JÖRG-DETLEF KÜHNE

I. Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen 1. Konstitutionalismus und monarchisches Prinzip a)

Grundlagen

Prägend für das Parlamentsrecht, seine Entfaltung und Grenzen im Untersuchungszeitraum ist die Grundspannung zwischen den beiden vorgenannten Prinzipien. Ihre entscheidenden normativen Grundlagen sind unter dem gängigen Komplexbegriff des monarchischen Konstitutionalismus die Art. 13 D B A , 57 WSA und später Art. 15 ff. BRV. Dabei enthält Art. 13 D B A mit dem bekannten Gebot, „landständische Verfassungen stattfinden" zu lassen, durchaus keine präzise Grundlegung des Konstitutionalismus. Aufgrund seiner nur stichwortartigen Kürze bot dieser Artikel nicht mehr als den normativen Fußpunkt für einen Konstitutionalismusgedanken, der zwischen Verfassungsrecht und -theorie sowie offenen politischen Forderungen oszillierte und sich auch genetisch kaum stärker fixieren ließ. Als Konzession an die Reform- wie Volksbewegung vor und im Zuge der Befreiungskriege hatte man dabei u. a. psychologisierend an die Bevölkerungsintegration in den frisch arrondierten süddeutschen Staaten gedacht wie an eine konservierende rechtsstaatliche Sicherung im antirevolutionären Sinne, an eine partizipatorische Bewältigung der kriegszerrütteten Staatsfinanzen wie an die Institutionalisierung eines national zuverlässigen Gegengewichtes in den ehemali-

* Abkürzungen: BRV = Bismarcksche Reichsverfassung einschl. Verf. des Norddt. Bundes; D B A = Deutsche Bundesakte (1815); FRV = Frankfurter Reichsverfassung; G O = autonome Geschäftsordnung; G O G = Geschäftsordnungsgesetz; H = Hannover, hann.; Ρ = Preußen, preuß.; R = Reich; S = Sachsen, sächs.; V R T = Verhandlungen des Reichstags (ab 1867); V U = Verfassungsurkunde; V W K A = Verhandlungen der württ. Zweiten Kammer (Kammer der Abgeordneten); W = Württemberg, württ.; WSA = Wiener Schlußakte (1820). Literatur: M.BOTZENHART Dt. Parlamentarismus 1848-1850, 1977; H.BRANDT Parlamentarismus in Württemberg 1819-1870, 1987; P.-M. EHRLE Volksvertretung im Vormärz, 2 Teile, 1979; (A. GRÖBER) Bericht der Geschäftsordnungskommission über die Revision der Geschäftsordnung der Zweiten Kammer des Württ. Landtags, in: VWKA 1907/09, Beilagenbd. 105, S. 369-684; J. HATSCHEK Das Parlamentsrecht des Dt. Reiches, 1. Teil 1915 (zit.: Hatschek I), DERS. Dt. und Preuß. Staatsrecht Bd. 1, 1922 (zit.: Hatschek II); E. R. HUBER Dt. Verfassungsgeschichte seit 1789, 2. Aufl., Bd. I—III, 1967-70, Bd. IV, V, 1969/78; G. MEYER / G . ANSCHÜTZ Lehrb. des Dt. Staatsrechts, 7. Aufl. 1919. Punktuelle Beleuchtungen bei G. RITTER (Hrsg.) Gesellschaft, Parlament und Regierung, 1974.

1 Grundspannung p™^!"·" ^ e n o r m a t · Grundlagen

e

1. Teil: Entstehung und E n t w i c k l u n g des Parlamentarismus in Deutschland

50

gen Rheinbundmonarchien 1 . Modern gesprochen war Art. 13 D B A mithin ein Rahmengebot. Es gewährte hinsichtlich der organisatorischen Konkretisierung zunächst rein deskriptiv zu verstehender Parlamente ganz erheblichen Spielraum und veranlaßte eine Flut einschlägiger Interpretationen und Theoriebildungen 2 , die im Gegensatz zur Normwirklichkeit bemerkenswert aufgearbeitet sind. Ihr gemeinsamer Nenner ist die urkundliche Fixierung sowie Institutionalisierung einer wenigstens partiell bürgerschaftlichen Partizipation. Anstoß und Ermutigung geben insoweit die angloamerikanischen Verfassungszustände sowie das Verfassungslaboratorium Frankreichs seit 1789. Gegenüber diesen westlichen Vorbildern erweist sich freilich nicht zuletzt aufgrund des zeitgleichen Reformabsolutismus das historische Recht in seiner konkreten Ausprägung des monarchischen Prinzips hierzulande als zählebiger. Als Schranke der Konstitutionalismusforderung gedacht ist dieses Gegenprinzip in Art. 57 WSA kaum weniger offen formuliert als Art. 13 D B A und läuft im Ergebnis auf die Entgegensetzung zweier Generalklauseln hinaus. Angesichts der daraus resultierenden Deutungsoffenheiten reicht die Schwankungsbreite von einer materiell verstandenen inneren Souveränität des Monarchen als alleinentscheidendem Faktor des politischen Lebens bis hin zu seiner nur formellen, symbolischen Rechtsträgerschaft gegenüber den Kammern 3 . 2 Die völlig unterschiedliche Ausdeutbarkeit hat u. a. dazu geführt, von einem Ausdeutbarkeit dilatorischen Formelkompromiß 4 zu sprechen. Dies ist zeitgenössisch allerdings noch nicht voll bewußt gewesen. Die Stände sind anfangs und nach jedem Thronwechsel erneut üblicherweise von Harmonievorstellungen beherrscht 5 , die von einer allseitigen, d. h. auch monarchischen Kooperations- und Kompromißbereitschaft ausgingen und Enttäuschungen nur allzu lange auf falsche Berater, ausländische Ehefrauen usw. zurückzuführen geneigt sind. Auch hat die weite Ausdeutbarkeit rückblickend dazu geführt, Art. 57 WSA entgegen seiner Schrankenfunktion und der Normsystematik eines auch zeitlichen Vorlaufs des Art. 13 D B A als „institutionelle Garantie des deutschen Konstitutionalismus" 6 zu bezeichnen. Für diese Lesart läßt sich immerhin anführen, daß das monarchische Prinzip nach einem Wort OESTREICHS7 die deutsche Verfassungswirklichkeit und -theorie bis 1918 beherrscht hat. Wenn auch eine wachsende Tendenz zum Defensivprinzip 1

Dazu

näher HUBER I S. 315 ff; WUNDER L a n d s t ä n d e u. Rechtsstaat, in: Z H F

S. 1 3 9 - 1 8 5 ,

181 f f ;

KEHR

Preußische

Finanzpolitik

1806-1810,

1984;

MAGER

Das

5 (1978), Problem

der Landständischen Verfassungen auf dem Wiener K o n g r e ß 1814/15, in: H Z 217 (1974), S. 2 9 6 - 3 4 6 , 343. 2

5

Vgl. i.e. die Arbeiten von H . B O L D T D t . Staatslehre im V o r m ä r z , 1975 u. H.BRANDT Landständische Repräsentation im dt. V o r m ä r z , 1968. Vgl. die franz. F o r m e l : « L e roi régne mais il ne gouverne p a s » einerseits und den dagegen gerichteten A u s s p r u c h des bay. K ö n i g s nach der Julirevolution andererseits: « L e roi régne et gouverne et il administre» (ZUBER D e r „Fürst-Proletarier", L . Ν. OETTINGEN-WALLERSTEIN, 1978, S. 98); zu den verschiedenen Modellen samt Zwischenstufen eingehend BOLDT ( F n . 2 ) S . 2 8 2 ff.

4

S o FRI AU Ι·' D e r Staatshaushaltsplan im Spannungsfeld zwischen Parlament u. Regierung, L . B d . 1968, S. 57; ähnl. C . SCHMITT Staatsgefüge u. Z u s a m m e n b r u c h des Zweiten Reiches, 1934, S. 11, 39 „ S c h e i n k o m p r o m i ß " .

5

Z u t r e f f e n d KLEINKNECHT S. J o r d a n (1792-1861). Ein dt. Liberaler im V o r m ä r z , 1983, S . 6 6 f .

6

HUBER III S . 7 .

7

Monarchisches Prinzip, in: FRAENKEL/BRACHER ( H r s g . ) Staat u. Politik, 1957, S. 195-198, 195.

§2

Volksvertretungen im monarchischen Konstitutionalismus (1814-1918) (KÜHNE)

51

zu ergänzen wäre, spricht für diesen empirischen Befund noch zweierlei. Einmal die aus Art. 57 WSA gefolgerte verfassungsrechtliche Zuständigkeitsvermutung für die Krone (praesumtio regis)8, die sich materiell verdünnt selbst in § 84 FRV findet. Und zum anderen — in schärfstem Gegensatz zu England — die verbreitete verfassungstheoretische Klassifizierung der Parlamente als Hilfs- oder Sekundärorgane der Staatsgewalt9. Die zutreffende Erfassung der parlamentarischen wie parlamentsrechtlichen 3 Entwicklung setzt mithin die Bewußthaltung der elementaren Gegenkräfte beider Widerstreit Prinzipien und ihres Ringens voraus. Das heißt allerdings nicht, daß stets von P r m z l P l e n Polarität oder schroffem Dualismus ausgegangen werden müßte. Die Realität erweist sich vielmehr als regional und temporär schwankend und nähert sich 1848/49 sogar den hochliberalen Vorstellungen einer kondominialen Zweieinheitlichkeit von Fürst und Volk(svertretung) an10. Zu einer mehr als punktuellen oder gar dominanten Amalgamierung beider Prinzipien in diesem Sinne ist es indessen ebensowenig gekommen wie zu der einheitlichen Struktur, die von konservativer Seite im Spätkonstitutionalismus u. a. zur Abwehr westlich-parlamentarischer Formen der Verfassungsorganisation behauptet wurde". Der real dominierende Widerstreit beider Prinzipien läßt sich normativ an der äußeren Rechtsstellung der Legislativkörperschaften und namentlich ihrem Verhältnis zum Monarchen wie an den Regelungen über Abgeordnetenstatus und Geschäftsverfahren ablesen. Was sich auf diesem Felde in größter Vielfalt zeigt, vermag erst vor dem Hintergrund der vorerwähnten Grundspannung Ein- und Durchsichtigkeit zu gewinnen. Beispielhaft sind insoweit mit durchaus treffendem Machtgespür das parlamentshemmende Gegengewicht eines Staats- oder Geheimen Rats 12 , monarchische Einberufungs- und Auflösungsrechte sowie Bestätigungsrechte hinsichtlich der Kammerpräsidenten, parlamentarische Selbstversammlungsverbote, Offentlichkeitsbeschränkungen, fraktionshemmende Sitzordnungen, die Verweigerung von Gesetzesinitiative und Regierungseinfluß sowie das Fehlen von materieller Geschäftsordnungsautonomie und Dienstherrenfähigkeit hinsichtlich des Kammerpersonals' 3 . Es handelte sich bei den unterschiedlichen » Näher dazu HUBER I S . 6 5 3 f , III S. 12; EHRLE S.271; BOLDT ( F n . 2 ) S. 44 ff. J . H E L D System des Verfassungsrechts der monarchischen Staaten Deutschlands, 1.Teil, 1856, S.388; OPITZ Das Staatsrecht des Königreichs Sachsen, 2. Bd. 1887, S. 4; ähnl. bereits GERBER über öffentliche Rechte, 1852 ( N D 1913), S. 84: weil kein staatsrechtl. Wille, der unmittelbar auf Unterwerfung des Volkes wirke; H . A. ZACHARIAE Landtag in den dt. Staaten, in: BLUNTSCHLI/ BRATER (Hrsg.) Dt. Staatswörterbuch, Bd. 6, 1861, S. 277-310, 284 „keine Mitsouveräne"; v. CAMPE Die Lehre von den Landständen nach gemeinem Dt. Staatsrechte, 2. Aufl. 1864, S. 361; die sog. Herrschertheorie stellte gar die Organqualität überhaupt in Abrede, dazu G.JELLINEK Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1914, S. 545. Zu England ZACHARIAE (wie vor) S . 2 8 3 f und s . u . F n . 4 9 .

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12

13

D a z u i.e. KÜHNE Die Reichsverfassung der Paulskirche, 1985, S . 4 6 7 f f . Uberzeugend E.-W. BÖCKENEÖRDE Der Verfassungstyp der dt. konstitutionellen Monarchie im 19.Jh. (1967), in: DERS. (Hrsg.) Moderne dt. Verfassungsgeschichte, 2. Aufl. 1981, S. 146-170, 161 f; ähnl., aber weniger abgewogen bereits C . SCHMITT ( F n . 4 ) ; zur kons. Einheitlichkeitsbehauptung auch FAULENBACH Ideologie des dt. Weges, 1980, S. 214 ff, 298 ff. Auch zu seinem spätkonst. Niedergang durch den Aufstieg der Parlamente H.SCHNEIDER Der Preuß. Staatsrat, 1952, S.213, 252, 296 ff. Einzelheiten s . u . II u. III.

52

I. Teil: Entstehung und Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland

Einzelausgestaltungen stets um Austarierungen der beiden Grundprinzipien, wobei in die Reihe der Tariergewichte auch die Besetzungsmodalitäten der Legislativkörperschaften gehörten. Hier gab Art. 13 DBA mit dem Adjektiv „landständisch" das entscheidende Stichwort. Seine interpretatorische Spannweite verläuft spätestens seit den Karlsbader Beschlüssen (1817) zwischen den Eckwerten einer Besetzung „im Sinn historischer Stände und . . . im Sinn einer Repräsentation der zeitgenössischen Sozialstruktur"' 4 , worauf noch näher einzugehen sein wird. b) Verschiebungen im Zuge der deutschen

Verfassungswellen

4 Wird der monarchische Konstitutionalismus insgesamt als Epoche zwischen dem Verfassungswellen, Absolutismus einerseits und dem Parlamentarismus andererseits verstanden, parlamentarischer er fjj^j-j e r w e itere Untergliederungen. Sie beruhen darauf, daß es in Deutschland seit 1815 in annähernd periodischen Abständen zu Verfassunggebungen bzw. Novellierungen oder Interpretationsanstößen kommt, die den Konstitutionalismus mehr und mehr in der Offensive zu Lasten des monarchischen Prinzips zeigen. Stichwortartig seien die bekannten Verfassungswellen von 1814/19, 1831/33, 1848/49 und 1867/71 genannt15, während die Anstöße von 1878/79, 1892 und 1908 ff weniger bekannt und eher auf die Reichsebene beschränkt bleiben16. Ungeachtet gewisser regionaler Unterschiede geht mit diesen Verfassungswellen ein parlamentarischer Aufstieg einher, der bereits quantitativ faßbar ist. Geht von dem Dreiviertel der deutschen Staaten, die bis zur Julirevolution 1830 Verfassungen geschaffen haben, nur ca. die Hälfte über rein altständische Beteiligungsformen i. S. der Konstitutionalismusforderung hinaus, verschiebt sich das Bild anschließend. Rein altständische Verfassungen treten nun nicht mehr in Kraft 17 . Ab 1848 werden sich dann bis 1918 sämtliche Staaten der Konstitutionalismusforderung beugen, wobei lediglich die beiden Mecklenburg in altständischen Verfassungszuständen verharren, während sonst vorhandene altständische Restelemente in Kammerbesetzung und -organisation zunehmend abgebaut werden. 5 Verschiebungen ergeben sich auch daraus, daß sich eine zunehmende VerstärRechtsstaats- kung der Konstitutionalismusforderung durch das andere große Offensivprinzip forderung, Zernierung d e s 1 9 r a h r hunderts feststellen läßt, die mehr und mehr entfaltete Rechtsstaatsfordes monarchischen . .. . ... . . . . . . Prinzips Gerung. Aus diesem Doppelangriff resultiert eine wachsende Zernierung des monarchischen Prinzips. Zu nennen sind hier die überindividuelle Ausbildung des Staates zur juristischen Person18 verbunden mit einer Trennung von Staats- und 14 15

16

17

18

HUBER I S . 6 4 1 u. umfassend H.HOFMANN Repräsentation 1974, S . 4 3 2 f f . Hierzu VAN CALKER Die Verfassungsentwicklung in den dt. Einzelstaaten, in: ANSCHÜTZ/ THOMA (Hrsg.) H a n d b u c h des D t . Staatsrechts B d . I, 1931, S. 49-63, 55 ff. Zu 1878/79, d . h . den Debatten um das Stellvertretergesetz u. Bismarcks Bruch mit den Liberalen, vgl. HUBER III S. 823 ff, MORSEY, Die oberste Reichsverwaltung unter Bismarck 1867-1890, 1957, S. 302 ff; zu den Forderungen nach verantwortl. Reichsministern 1892 vgl. V.BENNIGSEN /E.RICHTER V R T 120, 5015 ff (204. Sitz., 2 6 . 3 . 1 8 9 2 ) ; zu den nach der DailyTelegraph-Affaire ab 1908 ausgelösten Debatten s . u . I 3 c . Vgl. dazu den Uberblick bei HUBER I S . 6 5 6 f , zuzüglich Lauenburg, das seine altständische Verfassung behielt. Zeitgen. E.ALBRECHT Rezension des Maurenbrecherschen Staatsrechts (1837), N D 1962; s . a . E.-W. BÖCKENFÖRDE O r g a n , Organisation, Juristische Person, in: Fortschritte des Verwaltungsrechts, F S H . J . Wolff 1973, S . 2 6 9 - 3 0 5 , 273 mit w. N a c h w .

§2

Volksvertretungen im monarchischen Konstitutionalismus (1814-1918) (KÜHNE)

53

H a u s g u t des Fürsten 1 9 sowie ein zunehmender A u s b a u der Gewaltentrennung 2 0 , die dem Gedanken ungeteilter monarchischer Souveränität i. S. des Art. 57 W S A ebenfalls entgegenarbeitet. Bleibt noch, sonstige temporäre wie regionale Untergliederungen zu nennen, 6 deren parlamentsrelevanter sachlicher Umriß indessen nicht ohne weiteres klar ist. F r ü h - , M ä r z und SpätSo wird der verfassungsrechtliche Begriff des Frühkonstitutionalismus zum Teil konstitutionalismus auf die Zeit bis 1830 beschränkt, schließt überwiegend aber auch den Julikonstitutionalismus bis 1847 ein und ist partiell sogar bis 1866 ausgedehnt worden 2 1 . Weniger eingefahren ist demgegenüber der Begriff des Spätkonstitutionalismus mit einem dezidierten Beginn ab 1850 sowie der H o c h - oder Märzkonstitutionalismus von 1848/49. Die G r ü n d e für die unverkennbaren Unsicherheiten bei beiden Bezeichnungen beruhen darauf, daß die Haupttriebkraft des Konstitutionalismus, der Liberalismus ab 1850 geschlagen ist und aus seiner Sicht die Phase des Spätkonstitutionalismus zum Teil nur noch als Scheinkonstitutionalismus 2 2 bezeichnet wird. Für die obsiegende Richtung des liberal-konservativen K o m p r o misses einschließlich einer konformen Verfassungshistoriographie verschiebt sich die hohe Zeit des Konstitutionalismus hingegen auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts 2 3 . In der Sache läßt sich diese Bewertungsdivergenz freilich durch nähere Betrachtung der Rechtslage unterlaufen bzw. als eher terminologischer Streit ernüchtern. Die frühkonstitutionelle Zeit bis 1848 ist aus parlamentarischem Blickwinkel durch eine Zernierung der Legislativkörperschaften b z w . durch eine kompetenzielle Negativbilanz gekennzeichnet: neben fehlendem Gesetzesinitiativrecht und Einfluß bei der Ministerbestellung kein Kontrollrecht über Innenverwaltung, Heer und auswärtige Gewalt 2 4 . Die märzkonstitutionelle Phase von 1848/49 wird man demgegenüber als höchste Bejahung sämtlicher vorgenannter Befugnisse bezeichnen und die spätkonstitutionelle Zeit ab 1850 auf einer Linie zwischen Früh- und Märzkonstitutionalismus ansetzen können. Daß zum Teil mit Hilfe allgemein historischer Begriffe wie Vor- und N a c h m ä r z 7 (Reaktion) weitere Untergliederungen vorgenommen werden 2 5 , sei nur am Rande W e i t e r e erwähnt. Denn eine überzeugende parlamentsrelevante Typisierung ist damit U n t e r g l i e d e r u n g e n und bislang ebensowenig erreicht worden wie mit den geographisch orientierten U n t e r s c h e i d u n g e n Begriffen des süd-, mittel- und norddeutschen Konstitutionalismus. A m überzeugendsten erscheint insoweit noch, in der genannten Reihenfolge auf einen maßgeblichen Einfluß der französischen Charte (1814), der belgischen Verfassung (1830) und angelsächsischer Verfassungszustände hinsichtlich der Legislativkörperschaften abzustellen. Weitere Unterscheidungen, etwa anhand des Aspekts von Bera19

V g l . §§ 1 ff T i t . I I I B a y V U , § 5 9 B a d V U ; §§ 102, 188 ff W V U ; §§ 156 ff M e c k l e n b u r g - S c h w e r i n

20

K Ü H N E ( F n . 10) S. 348 f f .

21

B e s c h r ä n k u n g a u f d i e Z e i t b i s 1820 bei H U B E R B d . I , S . 3 3 6 f , 3 5 0 , 3 8 7 f f ; b i s 1862 j e d e n f a l l s

(1849).

h i n s i c h t l i c h d e r F i n a n z g e w a l t FRIAUF ( F n . 4 ) S. 15. G u t e C h a r a k t e r i s i e r u n g bei FABER R e s t a u r a t i o n u. R e v o l u t i o n , in: JUST ( H r s g . ) H d b c h . d e r D t . G e s c h i c h t e , B d . 3 I b , 1 9 7 9 , S. 101 ff. 22

Z u d i e s e m T o p o s B o L D T ( F n . 2) S. 139 f; K Ü H N E ( F n . 10) S. 4 7 3 ; J . BECKER L i b e r a l e r S t a a t U. K i r c h e in d e r Ä r a v o n R e i c h s g r ü n d u n g u. K u l t u r k a m p f , 1973, S. 3 9 2

23

In d i e s e m S i n n e e t w a H U B E R I I I S . 11 f f .

24

D a z u n ä h e r s . u . I 3.

25

Z . B . H U B E R II S . 3 0 9 f f , 4 3 5 f f .

„Semikonstitutionalismus".

54

1. Teil: Entstehung und Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland

tung oder Entscheidung, des Erhalts altständischer Separatrechte sind demgegenüber eher unklar bzw. wären noch zu leisten. 2. Ständeversammlung und Volksvertretung

8 Bereits formal erhellt aus dem Verfassungswortlaut im Untersuchungszeitraum,

Damalige Parlamente, traditionalistische Bezeichnungen

Volksvertretungsbegriff, Begriffsverwendungen

daß bei damaligen Parlamenten nicht von Volksvertretungen im analytischen Sinne gesprochen werden kann. Schlagen sich doch die Konkretisierungen des landständischen Verfassungsgebotes (Art. 13 D B A ) durchaus sinngerecht in traditionalistischen Bezeichnungen wie Ständeversammlung, Stände, Landstände, Land- und Reichstag nieder 26 . Obwohl der Begriff Stände und Volksrepräsentation auf den Wiener Konferenzen „weitgehend synonym" 2 7 gebraucht wurde, war es sehr bald zu einer Differenzierung und Perhorreszierung des Volksvertretungsbegriffes gekommen: durch die Karlsbader Beschlüsse und insbesondere den von GENTZ dazu vorgetragenen Angriff auf Repräsentativkörperschaften 28 . Das hat praktische Folgen. Während bis dahin verschiedene Verfassungen den Begriff der „Volksrepräsentation" oder „Volksvertretung" bzw. den des Volksvertreters für sämtliche Kammermitglieder verwenden 29 , streicht die spätere Verfassung Württembergs aus der ursprünglich vorgesehenen Bezeichnung „Kammer der Volksabgeordneten" die Vorsilbe Volk 30 . Die verfassungsamtliche Verwendung des Volksbegriffs wird seither vermieden. Erst in der Zeit des Märzkonstitutionalismus werden offizielle Begriffe wie „Volksvertretung", „Volkshaus", „Volkskammer" sprunghaft, aber vorübergehend zunehmen 31 . Lediglich inoffiziell, d.h. in der staatstheoretischen wie -rechtlichen Literatur 32 rangieren die Kammern zunehmend unter dem Begriff der Volksvertretung. Die Gründe dafür beruhen vornehmlich auf Erweiterungen in der Zusammensetzung und Aufgabenstellung, wobei neben der Distanz von vorkonstitutionellen Zuständen auch westlich-parlamentarische Versammlungen als Vergleich dienten. Dabei geben die letzteren einen Maßstab für die Volksvertretungen vor, der sich erstens durch die Teilnahme aller (Klassen) an der Bestellung der Repräsentanten durch Wahlen (Volksrepräsentation) und zweitens durch die generelle Aufgabe nationaler Willenseinheit (Nationalrepräsentation bzw. -einheit) kennzeichnen läßt33. «i-Repräsentation aus8. Während der (wie immer titulierte) Vorsteher (das „Haupt") die Person der Körperschaft gegenüber anderen Personen repräsentiert, dominiert in der Innenansicht die kollegiale Verkörperung der Verbandsvielheit durch eine Versammlung, eine Teilkörperschaft, welche den Verband der Glieder konkret bildet, d. h. rechtlich aktuell herstellt, und die Gesamtheit der Mitglieder zudem gleichnishaft abbildet. Eine Menge von Menschen wird zu einer solchen repräsentativen Vwsammlung, einem „Auszug" des Ganzen, indem die Teilnehmer nicht ut singuli, also nicht als einzelne für sich, sondern ut universi als Glieder der Gesamtheit und d. h. praktisch: nach der Majoritätsregel entscheiden. So ist es die Anerkennung des Mehrheitsprinzips, welche aus einer Versammlung einen Verband und aus denen, die für andere zusammentreten, eine repräsentative Teilkörperschaft des Ganzen macht. Was die Mehrheit beschließt, wird so angesehen, als ob es alle beschlossen hätten. Und diesen Grundsatz überträgt man auf die Mehrheitsentscheidung einer Minderheit, sofern diese repräsentativ ist. Schon in der ältesten kollegialen Repräsentationseinrichtung des deutschen Reichsstaatsrechts: dem Kurfürstenkollegium, kreuzen sich auf diese Weise der 5 6 7

8

H . G. WALTHER Imperiales Königtum, Konziliarismus und Volkssouveränität, 1976, S. 10. Dazu W.ULLMANN Law and Politics in the Middle Ages, L o n d o n 1984, S. 65 ff, 91 ff. Vgl. O.V.GIERKE Das deutsche Genossenschaftsrecht, B d . 3 , 1881 ( N D 1954), S. 1 8 6 f f ; HOFMANN ( F n . 1) S. 122 ff, 145 ff; A.PODLECH Art. Repräsentation, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hrsg. v. O . BRUNNER u. a., Bd. 5, 1984, S. 5 0 9 f f (510 ff); I. REITER Art. Repräsentation, in: H R G (28. Lfg.) 1987, S p . 9 0 4 f f ; B . HALLER Repräsentation, 1987, S . 4 7 f f . Hierzu und zum folg. HOFMANN (Fn. 1) S. 191 ff, 284 ff, jeweils m. w. N . ; DERS. D e r spätmittelalterliche Rechtsbegriff der Repräsentation in Reich und Kirche, in: D e r Staat 27 (1988), S. 523 ff (526 ff).

§5

Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz (HOFMANN/DREIER)

167

institutionell-statisch-hierarchische Gedanke, daß ein erlesener Teil für das Ganze steht, mit dem egalitär-dynamischen Prinzip, daß es die Mehrheit ist, welche die Gesamtheit vertritt. Jene bereits um die Mitte des 15. Jahrhunderts begrifflich so erfaßte Antithese von vorstandschaftlicher Stellvertretungs- und mitgliedschaftlicher Identitätsrepräsentation 9 scheint auch noch im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland durch. Sprechen wir doch einerseits von der Repräsentation der Bundesrepublik durch den Bundespräsidenten gemäß Art. 59 I G G und andererseits nach Art. 38 I G G von der Repräsentation des Bundesvolks durch den Bundestag. Die ganze historische Skala der Machtverteilungen zwischen den Trägern vorstandschaftlicher Vertretungsrepräsentation einerseits und körperschaftlicher Identitätsrepräsentation andererseits wird sichtbar, wenn man die zugunsten des Parlaments weitgehend auf Symbolik reduzierte Repräsentationsfunktion des republikanischen Präsidenten mit der absorptiven Repräsentation des absoluten Monarchen vergleicht, von dem T H O M A S H O B B E S vermittels des Repräsentationsgedankens sagen konnte: rex est populusxa.

Verfassungsrecht der Bundesrepublik, historische Skala der Machtverteilungen

Die korporationstheoretische Bipolarität der Repräsentation wird freilich nicht 8 immer wahrgenommen. Das führt bei der Ausarbeitung allgemeiner Theorien der Theorien der Repräsentation leicht zu einseitigen begrifflichen Fixierungen. Im politischen Repräsentation Spannungsfeld der verschiedenen Träger und Arten der Repräsentation gewinnen dann auch einschlägige Theorien allein durch Bekräftigung oder Kritik politische Bedeutung. Besonderes Gewicht kommt bei diesen Theoriebildungen ferner den Vorstellungen über die politische Einheit des Verbandes, namentlich der Nation zu. Es macht einen Unterschied, ob diese Einheit als etwas Vorgegebenes betrachtet wird, das nur aktualisiert und sichtbar gemacht werden muß, oder stärker als eine beständige Aufgabe erscheint. Auch wie Einheit und Einheitsbildung gedacht werden, beeinflußt naturgemäß die Repräsentationstheorien. Es gilt nicht gleichviel und hat nicht dieselben Konsequenzen, ob man sich die Einheit des Verbandes als ästhetisch-moralische Realisierung von etwas Ideellem vorstellt oder die politische Einheit eher als soziale Integration realer Kräfte begreift. 3. Idealistische Konzepte: Repräsentation als Realisierung einer höheren A r t von Sein, Wertverwirklichung oder Selbstvergütung Eine in der Weimarer Republik begründete und zumindest in Deutschland sehr einflußreiche Lehre hat besonders darauf abgestellt, daß Repräsentation keines- Repräsentation wegs nur eine notgeborene Technik zur Herstellung verbindlicher Entscheidungen keineswegs nur notgeborene Technik in großen menschlichen Verbänden und für sie sei. Das ist historisch und sachlich an sich richtig. C A R L S C H M I T T und ihm (sowie R U D O L F S M E N D ) folgend G E R H A R D L E I B H O L Z 10 machten daraus allerdings eine Gegenposition und steigerten sie zu einem höchst C A R L S C H M I T T , GERHARD

' Siehe ebd., S . 5 2 7 f . 10

Vgl. HOFMANN

( F n . 1) S . 3 9 2 ; H . D R E I E R

D e r O r t d e r S o u v e r ä n i t ä t , in: DERS. / H . H O F M A N N

(Hrsg.) Parlamentarische Souveränität und technische Entwicklung, 1986, S. 11 ff (16 ff).

LEIBHOLZ

2. Teil: Grundlagen der parlamentarischen Demokratie

168

fragwürdigen R e p r ä s e n t a t i o n s - I d e a l i s m u s 1 1 . In der R e p r ä s e n t a t i o n k o m m e , so die K e r n t h e s e SCHMITTS, „eine h ö h e r e A r t des Seins z u r k o n k r e t e n E r s c h e i n u n g " 1 2 . N a c h LEIBHOLZ ist R e p r ä s e n t a t i o n einer „spezifisch ideellen W e r t s p h ä r e verhaft e t " , so daß nur „transzendente O r d n u n g s m ä c h t e und Ideen, G e m e i n s c h a f t e n , wie ζ. B . die K i r c h e , das Volk, die N a t i o n , der Staat, die d u r c h b e s t i m m t e ideelle W e r t e z u s a m m e n g e h a l t e n w e r d e n " , nicht aber wirtschaftliche o d e r soziale

Interessen

repräsentiert w e r d e n k ö n n e n 1 3 . D i e F u n k t i o n der R e p r ä s e n t a t i o n bestehe folglich darin, diejenigen „ W e r t e , die eine G e m e i n s c h a f t z u einer k o n k r e t e n W e r t t o t a l i t ä t z u s a m m e n s c h l i e ß e n , der N a t i o n sichtbar z u m a c h e n " 1 4 . „ D a ß etwas, was nicht präsent ist, gegenwärtig g e m a c h t w i r d " , erscheint als Dialektik der Repräsentation, w e l c h e r die „Duplizität der personellen E x i s t e n z " v o n R e p r ä s e n t a n t und R e p r ä sentiertem „wesensmäßig eigen" sein soll 1 5 . D a die W e r t v e r g e g e n w ä r t i g u n g n u r v o n besonders qualifizierten P e r s o n e n geleistet w e r d e n kann, gewinnt R e p r ä s e n t a tion

einen

elitär-aristokratischen

Charakter16.

In parlamentarischen

Systemen

k ö n n e sich dieser W e r t b e z u g neben der R e p r ä s e n t a t i o n s f u n k t i o n der R e g i e r u n g auch in den A b g e o r d n e t e n

realisieren,

sofern

sie als H o n o r a t i o r e n

in

freier

Selbstbestimmung, nur d e m G e m e i n w o h l verpflichtet und sozusagen „mit einem Heiligenschein u m k l e i d e t " ihre E n t s c h e i d u n g e n fällen 1 7 . SCHMITT definiert die R e p r ä s e n t a t i o n geradezu als das N i c h t d e m o k r a t i s c h e an der D e m o k r a t i e , die er d u r c h Identität v o n R e g i e r e n d e n und Regierten b e s t i m m t sieht 1 8 .

11

Zum folg. H.HOFMANN Legitimität gegen Legalität, 1964, S. 150ff; H.STEIGER Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, 1973, S. 153 ff, 167 ff; W. MANTL Repräsentation und Identität, 1975, S. 149ff; H.-R. LIPPHARDT Die Gleichheit der Parteien vor der öffentlichen Gewalt, 1975, S.530ff; H.RAUSCH Repräsentation und Repräsentativverfassung, 1979, S.28, 36f, 42ff u.ö.; V.HARTMANN Repräsentation in der politischen Theorie und Staatslehre in Deutschland, 1979, S. 259 ff; DERS. Zur Staatsrechtslehre der Weimarer Verfassung, in: J ö R N F 29 (1980), S. 43ff; K.-U. MEYN Kontrolle als Verfassungsprinzip, 1982, S. 135ff. J.KIMME Das Repräsentativsystem unter besonderer Beachtung der historischen Entwicklung der Repräsentation und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1988, S. 89 ff.

12

C. SCHMITT Verfassungslehre, 1928 (6. Aufl. 1983), S. 210; vgl. damit: DERS. Römischer Katholizismus und politische Form, 2. Aufl. 1925 (Neuausg. 1984). G. LEIBHOLZ Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20.Jahrhundert (1929), 3. Aufl. 1966 (ND dieser Ausg. u.d.T.: Die Repräsentation in der Demokratie, 1973), S. 32 ff; DERS. Art. Repräsentation, in: Evangelisches Staatslexikon (EvStL), 3. Aufl., hrsg. V. R.HERZOG u.a. 1987, Sp.2986ff (2987); ähnlich SCHMITT Verfassungslehre (Fn. 12) S.210, 217. LEIBHOLZ EvStL (Fn. 13) Sp.2988f. Ebd., Sp.2986; ganz ähnlich SCHMITT Verfassungslehre (Fn. 12) S.209f.

13

14 15 16

Vgl. SCHMITT V e r f a s s u n g s l e h r e ( F n . 12) S . 2 1 9 ;

17 18

LEIBHOLZ W e s e n der Repräsentation (Fn. 13)

ff. LEIBHOLZ Wesen der Repräsentation (Fn. 13) S. 175 f. SCHMITT Verfassungslehre (Fn. 12) S.204f, 218. Eine „kraftvolle Repräsentation" (ebd. S.315) kann sich SCHMITT nur gegen das Parlament vorstellen. Daß Repräsentation und Souveränität prinzipiell unvereinbar seien, behauptet auch S. LANDSHUT Der politische Begriff der Repräsentation, 1964, in: Zur Theorie und Geschichte der Repräsentation und Repräsentativverfassung, hrsg. v. H.RAUSCH 1968, S. 482 ff; vgl. dazu auch D. STERNBERGER Kritik der dogmatischen Theorie der Repräsentation (1971), in: DERS. Herrschaft und Vereinbarung, Schriften III, 1980, S. 173 ff (213 ff). — Die Entgegensetzung von Volkssouveränität und Repräsentation hat ihr Pendant in der Schwierigkeit, Demokratie als Idee der Autonomie mit Souveränität als S. 1 6 6

§5

Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz (HOFMANN/DREIER)

169

Derlei idealistische, von Weimarer Einheitssehnsüchten motivierte Stilisierungen führen mehr oder weniger zwangsläufig zur Kritik an der schlechten Realität, insbesondere zur Abwertung der bestehenden parlamentarischen Einrichtungen und deren tatsächlichen Verfahrensweisen. L E I B H O L Z hat die Parlamente in der von den Parteien dominierten Demokratie denn auch als „plebiszitäre Hilfsorganisationen" ohne wirklichen Repräsentationscharakter bezeichnet 19 . Ahnlichen Vorbehalten begegnet die im Kern moralische Repräsentationslehre 11 H E R B E R T KRÜGERS, welche die bundesrepublikanische Entwicklung aus der Tradi- HERBERT KRÜGER tion der deutschen Pflichtenethik heraus kontrapunktiert. Repräsentation erscheint ihm als der „Weg zur Richtigkeit von Sein und Handeln des Staates" durch „SelbstVergütung" der staatlichen Gruppe, deren Repräsentanten das „bessere Ich" des Staatsvolkes verkörpern 20 . Im Widerspruch zum (rousseauistischen) Gedanken demokratischer Identität, im Gegensatz aber auch zum (angelsächsischen) Wettbewerbsmodell verlangt die Idee der Repräsentation nach K R Ü G E R „vom natürlichen Menschen eine spontane innere Wandlung mindestens im Maße einer ersten SelbstErhebung und Selbst-Berichtigung über seine natürliche Natur hinaus und erwartet aus einer Kombination und Steigerung solcher Selbst-Erhebungen und SelbstBerichtigungen das Höchstmaß der dem Menschen überhaupt erreichbaren Richtigkeit" 2 '. Weil es bei der Wahl angeblich um die Auslese der Besten des Volkes und nicht um die parlamentarische Abbildung partikulärer Interessen geht, sieht K R Ü G E R schon im Wähler eine in diesem Sinne „repräsentative Figur" 22 . Schlechterdings repräsentationswidrig erscheint es ihm demzufolge, „wenn sich ein Parlament in irgendeiner Weise über die Meinung des Volkes unterrichtet und seine Entscheidungen hiernach bestimmt" 23 . Prinzipiell verfehlt sind demgemäß natürlich auch alle Arten von Plebisziten. Bestätigt diese Lehre in dem letzten Punkt auch die das Grundgesetz wie die meisten Politiker und Staatsrechtler in der Bundesrepublik bestimmende Angst vor Volksentscheidungen 24 , so vermochte sie darüber hinaus am Vorabend der unruhigen Jahre von 1968 an doch keine breitere Wirkung zu erzielen. 4. Realistische Konzepte: Repräsentation als Herrschaftstechnik, Arbeitsteilung oder Interessenvermittlung Sozusagen die vergleichsweise realistische Urform dieses moralisch verinnerlichten Repräsentationsgedankens findet sich in der publizistischen Wegbereitung der

12 Federalist Papers: HAMILTON, MADISON

A u s d r u c k einer zu einem höchsten P u n k t gesteigerten H e r r s c h a f t zu vermitteln: vgl. W . J . unl ^I AY STANKIEWICZ In Defense of Sovereignty, in: DERS. (ed.), In Defense of Sovereignty, L o n d o n u . a . O . 1 9 6 9 , S . 3 f f ; M . KRIELE Einführung in die Staatslehre, 1 9 7 5 , S. 188. " LEIBHOLZ A r t . V o l k s v e r t r e t u n g , in: Evangelisches Staatslexikon, 2. A u f l . , hrsg. v. H.KUNST U. S. GRUNDMANN 1 9 7 5 , S p . 2 8 3 6 f f (2837). 20

H . KRÜGER Staatslehre, 2. A u f l . 1 9 6 6 , S. 2 3 2 ff; z u r Kritik P. BADURA D i e Tugend des Bürgers und der G e h o r s a m des Untertanen, in: J Z 1966, S. 123 f f ; MEYN (Fn. 1 1 ) S. 2 3 8 f f ; vgl. aber auch D . SUHR Repräsentation in Staatslehre und Sozialpsychologie, in: D e r Staat 2 0 ( 1 9 8 1 ) , S. 5 1 7 f f .

21

KRÜGER (Fn. 20) S. 2 3 8 . Ebd., S. 250. Ebd., S . 2 4 3 . Vgl. dazu: H . HOFMANN Bundesstaatliche Spaltung des D e m o k r a t i e b e g r i f f s ? , in: FS f ü r K . H . NEUMAYER, 1985, S . 2 8 I f f .

22 23 24

170

2. Teil: Grundlagen der parlamentarischen Demokratie

amerikanischen Unionsverfassung: den Federalist Papers von 1787/8825. Hierin haben A L E X A N D E R H A M I L T O N , J A M E S M A D I S O N und J O H N J A Y das erste Konzept repräsentativ-demokratischer Herrschaft in einem großen Flächenstaat entworfen. Sie akzeptieren den bestehenden Interessenpluralismus und machen auf dieser Grundlage representative democracy ( H A M I L T O N ) zum Inbegriff der Demokratie. Die „Federalists" betrachten die unterschiedlichen Meinungen also nicht als Störfaktor des Repräsentationsvorgangs, sondern als dessen Grundlage. Die partikularen Interessen der einzelnen Bürger bilden gleichsam das Rohmaterial, das im Verlauf des Repräsentationsverfahrens eine Veredelung erfährt. Die durch den stufenweisen Prozeß „kommunikative(r) Erweiterung" 26 bewirkte Abschleifung der Besonderheiten aller einzelnen Standpunkte soll letztlich zur Entbergung des den vielen Einzelwillen zugrundeliegenden gemeinsamen Interesses führen. Dieser „Filterprozeß" 27 mache es möglich und stelle sicher, daß die abschließende Mehrheitsentscheidung der Repräsentanten immer auf die Bestrebungen, Interessenkalküle und Zwecksetzungen der Bürger bezogen bleibt, wenngleich in verfeinerter und reflektierter Gestalt. 13

Auf dem europäischen Kontinent hat dann der große Verfassungskonstrukteur in der Französischen Revolution unter dem Begriff der Nationalrepräsentation „mit gleicher grundsätzlicher Kraft die Souveränität des Gemeinwillens wie die Notwendigkeit seiner Repräsentation verkündet" 28 . SIEYES war durchdrungen vom Gedanken gesellschaftlichen Fortschritts kraft umfassender Arbeitsteilung. Neben der Steigerung der Rationalität durch freien Austausch der Argumente behauptete er sowohl für verfassunggebende wie für gesetzgebende Versammlungen eine Steigerung der Effektivität und Leistungsfähigkeit des politischen Systems infolge funktionaler Ausdifferenzierung spezieller Repräsentationsorgane 29 . 14 Den Kompromißcharakter der Demokratie hervorhebend, hat 150 Jahre später K E L S E N H A N S K E L S E N den Gedanken der Repräsentation als einer wegen der „Kompliziertheit der sozialen Verhältnisse" unausweichlichen Entwicklung wiederaufgenommen: vom Urbild direkter, unmittelbarer Demokratie und autonomer SelbstSIEYES

HANS

SIEYES

25

T h e F e d e r a l i s t P a p e r s . ALEXANDER HAMILTON, JAMES MADISON, J O H N JAY T e x t a u s g a b e , h r s g .

v. C . ROSSITER N e w Y o r k 1961; dazu neuestens HALLER (Fn. 7) S. 96 ff; J. HEIDEKING Die Verfassung vor dem Richterstuhl — Vorgeschichte und Ratifizierung der amerikanischen Verfassung 1787-1791, 1988, bes. S. 302 ff, 379 ff; H.DREIER Demokratische Repräsentation und vernünftiger Allgemeinwille — Die Theorie der amerikanischen Federalists im Vergleich mit der Staatsphilosophie Kants, in: A ö R 113 (1988), S. 450 ff (458 ff); M. WHITE Philosophie, T h e Federalist, and the Constitution, N e w Y o r k / O x f o r d 1987, S. 1 3 8 f f , 145ff. 26

H A L L E R ( F n . 7) S. 148.

27

HEIDEKING ( F n . 2 5 ) S . 3 2 8 . E.ZWEIG Die Lehre vom Pouvoir Constituant, 1909, S. 118. Vgl. E . J . SIEYES Politische Schriften 1788-1790, hrsg. v. E . SCHMITT U. R. REICHARDT 2. Aufl. 1981, S. 225 ff, 266 f. Siehe dazu K . LOEWENSTEIN Volk und Parlament nach der Staatstheorie der französischen Nationalversammlung von 1789, 1922 ( N D 1964), S. 10 ff, 205 ff, 238, 256 f, 290 ff; ST. BREUER Sozialgeschichte des Naturrechts, 1983, S. 394 ff; E . SCHMITT Repräsentation und Revolution, 1969, S. 177 ff, 277 ff; DERS. Repraesentatio in toto und repraesentatio singulariter, in: H Z 213 (1971), S. 5 2 9 f f (563 ff); P. BADURA in: Bonner K o m m e n t a r zum Grundgesetz ( B K ) , A r t . 3 8 (Zweitbearb. 1966), R d n . 3 f f , 12, 13; HOFMANN Repräsentation (Fn. 1) S . 4 0 7 f ; M . FORSYTH Reason and Revolution. T h e Political T h o u g h t of the A b b é Sièyes, N e w Y o r k / Leicester 1987, S. 128 ff.

28 29

§5

Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz (HOFMANN/DREIER)

171

bestimmung aller hin zur Übertragung der Entscheidungsmacht auf Vertreterversammlungen, die nach dem Mehrheitsprinzip entscheiden 30 . Weil ihm Repräsentation folglich als Notbehelf und Kompensation für die im Grunde erstrebenswerte, aber nicht realisierbare Urform der direkten Demokratie erscheint, begreift KELSEN die auf den Legitimations- und Autorisationszusammenhang abstellende Identität von Volks- und Repräsentantenwillen als notwendige und keineswegs abwertend gemeinte „Fiktion" 3 1 . Gleichwohl versteht er Repräsentation jedoch nicht nur formal als sozialtechnisches Mittel zur Erzeugung der staatlichen Ordnung. Im historischen Rückblick wird der parlamentarischen Repräsentation vielmehr das Verdienst des politischen Ausgleichs und der Mäßigung des Demokratiegedankens zugesprochen. Das Parlament sei nicht nur ein Produkt notwendiger Arbeitsteilung, sondern schaffe die für die soziale Integration notwendige Möglichkeit, die bestehenden Differenzen „nicht auf blutig revolutionärem Wege zu überwinden, sondern friedlich und allmählich auszugleichen" 32 . In dieser pragmatischen Sicht notwendiger Verarbeitung gesellschaftlicher Gegensätze ist dann weder die Ergänzung des Repräsentationsprozesses um plebiszitäre Elemente noch die offenkundig beschränkte Leistungsfähigkeit der partei- und interessengebundenen Abgeordneten ein grundsätzliches Problem. Gemessen an K E L S E N S nüchternem Konzept ist ein theoretischer Rückschritt, 15 was allein vor dem Hintergrund der Wertrepräsentationsideologie als bundesrepu- Repräsentation blikanischer Fortschritt an Realismus erscheint: nämlich die Rede von der „Reprä- organisierter Interessen sentation organisierter Interessen" 33 . Weil die Parteien, so die These, mittlerweile zu staatlichen Institutionen geworden seien, die Gesellschaft im Verhältnis zum Staat der Repräsentation jedoch nicht entbehren könne, seien nun eben Kirchen, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und sonstige Interessengruppen an deren Stelle getreten: als Vertretung und Verkörperung gesellschaftlicher Belange gegenüber dem Staat. In diesem Kontext bedeutet Interessenrepräsentation also bloß das Herantragen verbandlich vorstrukturierter und organisierter Interessenstandpunkte an den nach wie vor als Einheit vorausgesetzten Staat. Damit fällt der Begriff der Repräsentation auf den Gedanken der Vermittlung zwischen Gesellschaft und Staat zurück, wie ihn einst die deutschen Liberalen des Vormärz zur Uberbrückung der Gegensätze zwischen der aufgeklärten bürgerlichen Erwerbsund Bildungsgesellschaft und der monarchischen Staatsanstalt entwickelt hatten 34 . 5. Parlamentarische Repräsentation in der Demokratie Staatsrechtliche Repräsentation hat nicht nur mit verbindlicher Entscheidungsfin- 16 dung, sondern auch mit der sie tragenden politischen Einheitsbildung zu tun. In Entscheidungs30

11

Vgl. H.KELSEN V o m Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929 ( N D 1981), bes. S. 27 ff. D a z u näher: H . DREIER Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei H a n s Kelsen, 1986, S. 249 ff. KELSEN (Fn. 30) S. 30; DERS. Allgemeine Staatslehre, 1925 ( N D 1960), S. 301 ff. Siehe dazu auch M A N T L ( F n . 11) S. 6 5 ff.

33

KELSEN Staatslehre ( F n . 3 1 ) S . 3 6 1 . J . H . KAISER Die Repräsentation organisierter Interessen, 2. Aufl. 1978, bes. S. 354 ff; DERS. Art. Repräsentation, in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, 6. Aufl., B d . 6, 1961, S p . 8 6 5 f f (867).

34

V g l . H O F M A N N R e p r ä s e n t a t i o n ( F n . 1) S . 4 4 6 f f .

32

findung, Einheitsbildung, Wille des Volkes

172

2. Teil: Grundlagen der parlamentarischen D e m o k r a t i e

beidem stellt sich die Identität eines komplexen Verbandes her und dar 35 . Mit der Individualisierung und Pluralisierung, mit der sozialen, politischen, kulturellen und konfessionellen Segmentierung der modernen Gesellschaft wird die Herstellung und Bewahrung einer Einheit zum zentralen Problem 3 6 . Die beliebte Formel, wonach in der Französischen Revolution an die Stelle des Willens des absoluten Monarchen der Wille der souveränen Nation getreten sei, ist geeignet, darüber hinwegzutäuschen, daß der individualistisch gedachte Wille des Volkes selbst bei größtmöglicher nationaler Homogenität ein Mythos oder eine Fiktion ist 37 . Erst recht zeigt sich in einer inhomogenen Gesellschaft der den Staat tragende, nämlich allgemein verbindliche und damit Einheit zugleich her- und darstellende „Wille" des Volkes als eine organisations-, formulierungs- und gestaltungsbedürftige Größe.

V

17 Demokratische Repräsentation des Volks „willens" kann daher nicht einfach als Demokratische Spiegelung, Verdichtung, Aktualisierung, Umsetzung oder Umformung einer k " z u m i n < l e s t : ' a t e n t irgendwie präexistenten statischen Einheit gedacht werden. Sie a ' 3 e r a u c h nicht zur statistischen Unverbindlichkeit eines punktuellen Demokratie

*rr"T

demoskopischen Meinungsbildes verflüchtigen. Nicht zur Einheit, sondern zur Verdoppelung und Verschärfung der Zwietracht würde eine Repräsentation führen, die nichts anderes wäre als die verhältnismäßige Abbildung der widerstreitenden Meinungen und Interessen. Andererseits genügt es dem Demokratieprinzip nicht, wenn staatliche Stellen als Institute der Repräsentation sich um die Verwirklichung des Gemeinwohls bemühen — selbst dann nicht, wenn sie damit Erfolg haben. Denn das wäre eine „vom Volk und dem demokratischen Prozeß abgelöste Bestimmung der öffentlichen Interessen, der Belange der Allgemeinheit, des allgemeinen Wohls" 3 8 . Demokratische Identität als Kern- und Bezugspunkt demokratischer Repräsentation läßt sich nicht in einer höheren Seinsebene oder einem Wertehimmel jenseits der Einzelwillen verankern, sondern muß aus ihnen gewonnen, von ihnen abgeleitet werden. Es reicht, sagt das Bundesverfassungsgericht, nicht hin, daß „eine Obrigkeit sich bemüht, noch so gut für das Wohl von ,Untertanen' zu sorgen; der Einzelne soll vielmehr in möglichst weitem Umfange

35

Z u m P r o b l e m kollektiver Identität in S o z i o l o g i e und Sozialphilosophie jetzt: A . BLANKENAGEL T r a d i t i o n und Verfassung, 1987, S. 3 4 5 ff.

D a z u H . H E L L E R Staatslehre, 6 . A u f l . 1983, S . 2 5 9 f f , 2 6 9 f f ; DERS. Politische D e m o k r a t i e und

3

soziale H o m o g e n i t ä t (1928), in: G r u n d p r o b l e m e der D e m o k r a t i e , hrsg. v. U . MATZ 1973, S. 7 f f (10 ff); P. HABERLE D i e Verfassung des Pluralismus, 1980, z. B. S. 45 ff, 55 ff; DREIER D e m o k r a tische Repräsentation (Fn. 2 5 ) S. 4 5 6 ff, 4 6 4 ff. J ü n g s t e r U b e r b l i c k über die Pluralismus-Diskussion: P . DUNLEAVY/B. O'LEARY T h e o r i e s o f the State — T h e Politics o f Liberal D e m o c r a c y , H o u n d m i l l s 1987, S. 13 ff. 37

H i e r z u und zum folg.: R. A . RHINOW G r u n d p r o b l e m e der schweizerischen D e m o k r a t i e , in: Zeitschr. f. Schweizerisches R e c h t , N F 103 II ( 1 9 8 4 ) S. 111 ff (172 ff); Η . HOFMANN Parlamentarische Repräsentation und parteienstaatliche D e m o k r a t i e , in: DERS. R e c h t — Politik — Verfassung, 1986, S. 2 4 9 ff; DREIER ( F n . 10) S. 12, 22 f; A. GREIFELD Z u r Entstehung des Staatswillens aus dem Bürgerwillen nach dem D e m o k r a t i e p r i n z i p des Grundgesetzes, in: D e m o k r a t i e und W i r t s c h a f t , hrsg. v. J.MARKO U. A.STOLZ 1987, S. 1 2 3 f f ; P.BADURA D i e parlamentarische D e m o k r a t i e , in: H a n d b u c h des Staatsrechts, hrsg. v. J. ISENSEE U. P. KIRCHHOF B d . I, 1987, § 2 3 R d n . 2 8 , 2 9 ; E . - W . BÖCKENFÖRDE D e m o k r a t i s c h e Willensbildung und Repräsentation, ebd., B d . II, 1987, § 3 0 R d n . 9 .

38

E . - W . BÖCKENFÖRDE D e m o k r a t i e und Repräsentation,

1983, S . 2 2 ;

Verfassungsprinzip, in: H d b S t R B d . I ( F n . 37), § 2 2 R d n . 5 .

DERS. D e m o k r a t i e als

§5

R e p r ä s e n t a t i o n , Mehrheitsprinzip und M i n d e r h e i t e n s c h u t z (HOFMANN/DREIER)

173

verantwortlich auch an den Entscheidungen für die Gesellschaft mitwirken" 39 . Deshalb vermag die bloße Billigung staatlichen Handelns, wie sie ebenso nichtdemokratischen Herrschaften zuteil werden kann, den staatlichen Einrichtungen nach demokratischem Verständnis keinen repräsentativen Charakter zu verleihen40. Daß die politischen Parteien entgegen der Auffassung von L E I B H O L Z keine bloßen Verstärker und Sprachrohre des Volkswillens sind und das Problem demokratischer Repräsentation sich durch diese vemeintlich besondere parteienstaatliche Form unmittelbarer Demokratie nicht erledigt hat, bedarf heute keines detaillierten Nachweises mehr 41 . Kein Wunder, wenn angesichts so vieler Schwierigkeiten einer demokratischen Repräsentation des Volkes und seines „Willens" immer wieder die Alternative unmittelbarer Partizipation des einzelnen an der Staatswillensbildung in Akten direkter Demokratie beschworen wird. Aber auch dies ist nur scheinbar eine Alternative: Auch hier handeln die Aktivbürger für das Gesamtvolk, auch hier ist die Mehrheitsentscheidung verbindlich für alle. Die repräsentative Struktur direktdemokratischer Entscheidungsprozesse ist lediglich verdeckt 42 . Die vermeintliche Unmittelbarkeit der Teilhabe erweist sich als „eine andere Art der Mediatisierung" 43 . Das staatsrechtliche Problem der Repräsentation kann so nicht umgangen, das Problem einer demokratischen Theorie dieser Repräsentation nicht als Schwierigkeit allein der inneren Spannung oder vermeintlichen Widersprüchlichkeit der parlamentarischen Demokratie oder des pluralistischen Parteienstaates relativiert werden. Unter den gegebenen sozialen, politischen und kulturellen Bedingungen müs- 18 sen die Entscheidungen der staatlichen Vertretungsorgane als (einstweilige) End- Demokratische punkte eines komplexen und vielschichtigen Verfahrens der Artikulation, Abglei- R e p r ä s e n t a t i o n als chung, Korrektur und Neudefinition politischer Bestrebungen und aller möglichen übergreifender Interessen verstanden werden. Demokratische Repräsentation ist damit ein facet- G e s t a l t u n g s p r o z e ß tenreicher Gestaltungsproze/?, der das Parlament übergreift. Die demokratische Vertreterversammlung hat in der „Repräsentationspyramide" 44 des modernen Staates zwar einen Repräsentationsvorrang, aber kein Repräsentationsmonopol. Der Umstand, daß der institutionalisierte staatliche Willensbildungsprozeß von allen informellen politischen Prozessen klar unterschieden und dessen Eigengesetzlichkeit gewahrt werden muß, erlaubt dennoch nicht, ihren Zusammenhang, die Rückkoppelungen und Wechselwirkungen zu negieren und Staats- und Volkswillensbildung als für sich existierende Größen zu behandeln 45 . Die Vorstellung, daß

w 40

B V e r f G E 5, 85 (205). D a z u allgemein H . D R E I E R Staatliche Legitimität, G r u n d g e s e t z und neue soziale B e w e g u n g e n , in: D e m o k r a t i e und Wirtschaft ( F n . 37) S. 1 3 9 f f .

41

Vgl. dazu HOFMANN ( F n . 37).

42

Vgl. H.MEYER Wahlsystem und Verfassungsordnung,

43

P. BADURA D i e politische Freiheit in der D e m o k r a t i e , in: F S für Η . SIMON 1987, S. 193 ff ( 2 0 7 ) .

44

H . P . BULL D i s k u s s i o n s b e m e r k u n g , in: W D S t R L 33 ( 1 9 7 5 ) , S. 137; vgl. auch K . EICHENBERGER G e s e t z g e b u n g im Rechtsstaat, in: W D S t R L 4 0 ( 1 9 8 2 ) , S . 7 f f ( 2 3 ) .

45

Vgl. H . HOFMANN Verfassungsrechtliche Sicherungen der parlamentarischen D e m o k r a t i e , in: Konsens

u n d K o n f l i k t , hrsg. v. A.RANDELZHOFER

1973, S. 199; RHINOW ( F n . 3 7 )

u . W . SÜSS 1 9 8 6 , S . 2 6 7 f f ;

S.210.

D.GRIMM

Die

politischen Parteien, in: H a n d b u c h des Verfassungsrechts, hrsg. v. E . BENDA, W . MAIHOFER, H . - J . VOGEL Studienausgabe, T e i l 1, 1984 ( H d b . V e r f R ) , S. 3 1 7 ff, 327 ff. Zur K r i t i k an der R e c h t s p r e c h u n g des Bundesverfassungsgerichts s. bereits H . ZWIRNER D i e R e c h t s p r e c h u n g des Bundesverfassungsgerichts z u r Parteienfinanzierung, in: A ö R 93 ( 1 9 6 8 ) , S. 81 ff (111 ff).

174

2. Teil: Grundlagen der parlamentarischen Demokratie

das Staatsvolk in einem periodisch wiederkehrenden punktuellen Akt, in dem Volks- und Staatswillensbildung ausnahmsweise zusammenfallen, das parlamentarische Repräsentationsorgan kreiert, um danach in politische Bedeutungslosigkeit zurückzufallen (sofern es sich nicht in einer direktdemokratischen Eruption äußert), geht an der Realität des modernen Verfassungsstaates 4 6 ebenso vorbei wie an der Idee demokratischer Souveränität. Symbol für die demokratische Verflechtung staatlich institutionalisierter und gesellschaftlich informeller politischer Prozesse ist die Öffentlichkeit der Parlamentsverhandlungen.

19

Wird der gesellschaftliche Werte- und Interessenpluralismus nicht als Gefahr für die Repräsentation, sondern als deren Grundlage betrachtet, so kommt den Faktoren der „Vorformung des politischen Willens" 47 besondere Bedeutung zu. Zu nennen sind: — der Prozeß öffentlicher Meinungsbildung, insbesondere die Nutzung der demokratischen Mitwirkungs- und Kommunikationsrechte jenseits des Wahlrechts 48 ; — die Interessenverfolgung durch Verbände (soweit die Interessen organisationsfähig sind) und die damit verbundene Vorklärung und Vorstrukturierung 49 ; — die politischen Parteien in ihrer Eigenschaft als Massenintegrationsparteien („Volksparteien") 5 0 . 20 Als Massenorganisationen mit allgemeinen Programmen unterscheiden sich die Parteien politischen Parteien von Interessenverbänden kategorial. Die Parteien haben die Aufgabe, kontinuierliche politische Partizipation zu vermitteln, Interessen zu sichten, zu bündeln und zu gewichten, nichtorganisierte und durchsetzungsschwache Interessen wahrzunehmen, politische Programme zu entwickeln, zudem Führungspersonal auszubilden und zu präsentieren und mit alledem Entscheidungsalternativen zu strukturieren. Das Gelingen des demokratischen Repräsentations-

Faktoren der V o r f o r m u n g des politischen Willens

Politische

46

47

48

49

50

Vgl. E.BOHNE Der informale Rechtsstaat, 1981, S. 5 0 f f , 71 ff, 116ff, 2 3 4 f f ; H.SCHULZEFIELITZ D e r informale Verfassungsstaat, 1984, insbes. S. 96. Der Begriff stammt von U . SCHEUNER D e r Staat und die intermediären Kräfte, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 1 (1957), S . 3 0 f f , 34 ff. D a s B V e r f G hat ihn aufgenommen: E 8, 104 (113, 115); 20, 56 (98). — Zum folgenden auch die sozialwissenschaftliche Studie von C . SCHULZ Der gezähmte Konflikt. Z u r Interessenverarbeitung durch Verbände und Parteien, 1984, insb. S. 9 ff, 50 ff. Vgl. W.SCHMITT GLAESER Die grundrechtliche Freiheit des Bürgers zur Mitwirkung an der Willensbildung, in: H d b S t R B d . II ( F n . 3 7 ) § 3 1 R d n . 2 1 f f ; M . KLOEPFER Öffentliche Meinung, Massenmedien, ebd., § 35 Rdn. 23 ff; dazu F. SCHÄRPE Demokratietheorie zwischen U t o p i e und A n p a s s u n g , 2. Aufl. 1972, S . 8 7 f f . D a z u neuestens K.DAMASCHKE D e r Einfluß der Verbände auf die Gesetzgebung, 1986, insbes. S. 16 ff; U . v . ALEMANN Organisierte Interessen in der Bundesrepublik, 1987; H . - P . ULLMANN Interessenverbände in Deutschland, 1988; s. bereits U . SCHEUNER D a s repräsentative Prinzip in der modernen Demokratie (1961), in: DERS. Staatstheorie und Staatsrecht. Gesammelte Schriften, 1978, S. 245 ff (265 ff); DERS. Politische Repräsentation und Interessenvertretung (1961), ebd., S. 3 3 7 ff. Eingehend hierzu und zum folg. MEYN (Fn. 11) S. 262 ff, 370 ff; vgl. auch K.HESSE Art. Parteien, politische, in: E v S t L (Fn. 13) Sp. 2435 ff (2440 ff); W. MÖSSLE Regierungsfunktionen des Parlaments, 1986, S. 20 ff; sowie SCHEUNER D i e Parteien und die Auswahl der politischen Leitung im demokratischen Staat (1958), in: DERS. ( F n . 4 9 ) S. 3 4 7 f f (352 ff), sowie ebd., S. 344 ff.

§5

Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz (HOFMANN/DREIER)

175

prozesses hängt heute in hohem Maße davon ab, daß die (durch Professionalisierung und Oligarchisierung gekennzeichneten und unter kurzfristigem Erfolgsdruck stehenden) politischen Parteien ihrer besonderen Repräsentationsfunktion gerecht werden. Sie besteht in der Aufnahme und Durchsetzung nicht organisierbarer ,allgemeiner' Belange einschließlich der Sorge für künftige Generationen sowie der Entwicklung langfristiger Strategien, Perspektiven und Reformkonzepte für die Ordnung des politischen Gemeinwesens.

II. Die staatsrechtlichen Fragen demokratischer Repräsentation 1. Parlamentarische Repräsentation und Volkssouveränität Versteht man Demokratie von der Idee individueller Selbstbestimmung her als 21 Form der Identität von „Subjekt und Objekt der Herrschaft", als „Herrschaft des D i r e k t e und Volkes über das Volk" 5 1 , so stellt die direkte (und dazu möglichst einstimmige) reprasentat,ve I )emokΓ3Γ1 f

Entscheidung aller Bürger über die gemeinsamen Angelegenheiten den Idealfall dar. Die repräsentative Demokratie erscheint demgegenüber als defizienter Modus 52 . Diese Sicht ist vor allem durch R O U S S E A U fixiert worden, der die Souveränität der egalitären Staatsbürgergesellschaft verkündet und diese Souveränität zugleich für unteilbar und nicht repräsentierbar erklärt hat53. Da die oft beschworene athenische Demokratie den modernen Nationalstaaten jedoch aus vielerlei Gründen nicht als Muster dienen kann und weil Identität bloß einen theoretischen Grenzfall darstellt, welcher den Staat überflüssig machte, ist diese Betrachtungsweise sachlich wie historisch wenig sinnvoll54. In Wahrheit hat weder die representative democracy der „Federalists" noch die 22 Nationalrepräsentation nach dem gleichfalls epochemachenden Modell des A B B É Parlamentarische S I E Y E S der souveränen Nation irgendetwas genommen, sie „mediatisiert" oder R e P r a s e n t a t l o n un< l ι

,

. . . .

,

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.

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,

.

.

.

durch eine „souveräne Vertretung der Nation ersetzt 35 , sondern sie als Kreationsorgan der Volksvertretung allererst konstituiert und organisiert. Vor dem damit gesetzten Ende der ständisch-korporativen Partikularrepräsentation und dem nationalen Alleinvertretungsanspruch der Monarchie hat es in der Staatenwelt ein irgendwie handlungsfähiges Rechtssubjekt Staatsvolk im Sinne einer prinzipiell egalitären Staatsbürgergesellschaft nirgends gegeben. Und es hat rechtlich nie auf eine andere als repräsentative Weise existiert. Der entscheidende Gegensatz ist folglich nicht der zwischen Volkssouveränität und Repräsentation, sondern jener zwischen demokratischen und nichtdemokratischen Formen der Repräsentation. Der springende Punkt liegt darin, daß die parlamentarische Repräsentation ihren

51 52

51 54

KELSEN Wesen und W e r t der D e m o k r a t i e ( F n . 3 0 ) S. 14. Hierzu und zum folg. eindringlich E . - W . BÖCKENFÖRDE Mittelbare/repräsentative D e m o k r a t i e als eigentliche F o r m der D e m o k r a t i e , in: F S für K . EICHENBERGER 1982, S. 301 ff. J . - J . ROUSSEAU DU C o n t r a t social II 1. Vgl. z u m folg. a u c h A . H . BIRCH R e p r e s e n t a t i o n , L o n d o n 1 9 7 1 , S. 3 0 ff; P . GRAF KIELMANSEGG

Volkssouveränität, 1977, S. 156 ff; KRIELE ( F n . 18) S. 228 ff, 2 4 0 ff; M . TRAPP Ü b e r einige Unterschiede zwischen antiker und moderner Staatsauffassung, in: P V S 2 9 (1988), S. 2 1 0 ff. 55

S o a b e r ZWEIG ( F n . 2 8 ) S. 2 3 9 .

Volkssouveränität

176

2. T e i l : G r u n d l a g e n der parlamentarischen D e m o k r a t i e

besonderen Charakter, ihre spezifische Gestalt gerade aus der Idee der Volkssouveränität erhält 56 , genauer: aus der Idee der Souveränität des einen egalitären (nicht ständisch, korporativ oder sonstwie „organisch" aufgebauten) Staatsvolkes. So gesehen ist Repräsentation durch eine gewählte Volksvertretung „die praktische Verwirklichung der Volkssouveränität in einem verfassungsrechtlich geordneten Staat" 57 . Umgekehrt muß sich diese Art von Repräsentation in der Praxis folglich immer wieder als taugliche Vermittlungs- und Realisierungsform der Volkssouveränitätsidee erweisen. Denn darauf ruht der Anspruch, Demokratie im Sinne einer Vermittlung zwischen Selbstbestimmung und Fremdherrschaft auch in einem Flächenstaat zu realisieren. Dafür genügt die Herstellung eines formalen Legitimations- und Zurechnungszusammenhanges nicht. Darüber hinaus muß das Handeln der Leitungsorgane so beschaffen sein, „daß die einzelnen und die Bürger insgesamt (das Volk) in diesem Handeln sich wiederfinden können" 5 8 . Und um dies zu garantieren, reicht wiederum die staatliche Institutionalisierung eines repräsentativen Willensbildungsprozesses nicht hin. 23 Demokratische R e p r ä s e n t a t i o n im Sinne des Grundgesetzes

Demokratische Repräsentation im Sinne des Grundgesetzes soll daher verstanden werden als die in einem rechtlich gesicherten Umfeld freier, also auch vielfältig organisierter politischer Kommunikation durch Wahlen nach demokratischen Grundsätzen begründete und ständig erneuerte Beziehung der Autorisierung und Anerkennung sowie der Kontrolle und Kritik zwischen dem durch die Wahlberechtigten verkörperten Staatsvolk und der aus den gewählten Abgeordneten als Grundlage und Zentrum des Regierungssystems gebildeten Volksvertretung 59 . 2. Herrschaftscharakter, Zentralität und Einheit der Repräsentation in der parlamentarischen Demokratie

2 4 Parlamentarische Repräsentation im Zeichen der Volkssouveränität bedeutet nach Das Parlament in der alledem nicht Aufhebung von Herrschaft, sondern eine bestimmte Art ihrer Demokratie Organisation, Legitimation und Kontrolle. In der Demokratie ist das Parlament die vom Volk unmittelbar legitimierte und damit höchste Herrschaftsinstanz 60 , Inbegriff demokratischer Staatlichkeit. Über das Gesetzgebungsrecht und den Einfluß auf Bildung und Ausübung der Regierung im sog. parlamentarischen Regierungssystem fungiert das vom Volk gewählte Parlament als Gravitationszentrum des Verfassungsstaates 61 . Deshalb müssen „alle an die ältere Staatslehre anknüpfenden Vorstellungen vom Staat als einer vorfindlichen, über und außerhalb

56

G r u n d l e g e n d M . D R A T H D i e E n t w i c k l u n g der V o l k s r e p r ä s e n t a t i o n , 1 9 5 4 , S. 7 ff, 12 ff.

57

P.BADURA Staatsrecht, 1986, D 10.

58

BÖCKENFÖRDE D e m o k r a t i e und R e p r ä s e n t a t i o n ( F n . 3 8 ) S. 19. D a s B V e r f G spricht in ähnlicher W e i s e von einem „ V e r a n t w o r t u n g s - und V e r t r a u e n s z u s a m m e n h a n g " ( E 4 2 , 1 2 5 / 1 4 2 ) .

59

Ä h n l i c h , aber f o r m a l e r : BADURA ( F n . 3 7 ) R d n . 31.

60

V g l . K . H E S S E G r u n d z ü g e des Verfassungsrechts der B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d ,

16.Aufl.

1988, R d n . 5 7 4 ; H.RAUSCH B u n d e s t a g und B u n d e s r e g i e r u n g , 4. A u f l . 1 9 7 6 , S. 7 5 f ; F.SCHÄFER D e r Bundestag, 2. A u f l . 1975, S. 13 ff, 3 9 , 4 8 . 61

Vgl. DRATH ( F n . 5 6 ) passim; MÖSSLE ( F n . 5 0 ) passim. Siehe auch MEYN ( F n . 11) S . 9 4 f f , 2 3 4 ff u. ö . ; S.MAGIERA Parlament und Staatsleitung in der V e r f a s s u n g s o r d n u n g des G r u n d g e s e t z e s , 1 9 7 9 , S. 159 ff ( 1 6 7 ff), 2 2 8 ff.

§5

Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz (HOFMANN/DREIER)

177

der Gesellschaft stehenden" — und demgemäß über das Volk erhabenen — „substanzhaften Einheit die Wirklichkeit des modernen Staates verfehlen"62. Die Idee der Volkssouveränität läßt also auch keinen Raum für einen Gegenpol der demokratischen Repräsentation, für ein andersartiges ,Gegenüber'. Es gibt keine aus eigenem, höherem Recht legitimierte Instanz mehr, der die verschiedenartigen Meinungen, Bestrebungen und Interessen der Gesellschaft bloß ,präsentiert' werden63. Damit sind insbesondere alle staatsrechtlichen Vorstellungen von einer Mittelposition des Parlaments zwischen Gesellschaft und Staat (und damit außerhalb der eigentlichen Staatsanstalt) überholt, wie sie die Altliberalen des Vormärz begründet und der deutschen Staatslehre vererbt haben64. Uberholt ist sonach auch die Auffassung von einer nur defensiven oder negativen Funktion des Parlaments. Damit war die bloße Verteidigung von Rechten und Wahrung von Interessen durch Beschränkung und Rationalisierung gouvernementaler Machtausübung gemeint, eine Einstellung, welche selbst die Parteien des Bismarckreiches prägte, die Parlamentarisierung der Reichsregierung praktisch unmöglich machte und noch das Weimarer Regierungssystem belastete65. Positiv formuliert: die parlamentarische Volksvertretung ist „von der Peripherie in das Zentrum des Staates" gerückt66. Parlamentarische Repräsentation im Zeichen modern verstandener Volkssou- 2 5 veränität, d.h. nach Maßgabe des Prinzips der Souveränität des egalitären Staats- Verkörperung des bürgervereins, bedeutet darüber hinaus die Verkörperung des Staatsvolks, genauer: der Aktivbürgerschaft als einer trotz aller sozialen, politischen, wirtschaftlichen, Demokratisierung konfessionellen und kulturellen Gegensätze und Differenzen rechtlich gleichwohl homogenen, prinzipiell nach einem Recht für alle lebenden Einheit. Demokratie, hat RICHARD THOMA gesagt, sei einerseits die volle politische Emanzipation der sozialen Unterschicht, andererseits die Abschaffung aller stabil-unabsetzbaren Obrigkeit. Und weiter: „Demokratisierung ist der Name für das welthistorisch epochemachende Wagnis der abendländischen Zivilisation, die handarbeitenden Klassen trotz oder wegen ihrer gewachsenen, ja vielleicht alle andern Klassen und Gruppen überwachsenden Zahl zu gleichem Rechte in den Staat hineinzunehmen. Es ist der Versuch, die ordnende Herrschaftsgewalt aus einem Herrn und Bändiger über einer interessengespaltenen Gesellschaft zum Geschöpf und Diener einer irgendwie im Grunde doch als interessensolidarisch begriffenen Nation zu machen. Eine Resultante mannigfaltigster Komponenten und Entwicklungen, unter denen, wenn nicht das schwerste, so doch auch nicht das leichteste Gewicht der Entfaltung der Idee der Freiheit, Gleichheit und brüderlichen Verbundenheit

62

K. HESSE Bemerkungen zur heutigen Problematik und Tragweite der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft (1975), in: Staat und Gesellschaft, hrsg. v. E . - W . BÖCKENFÖRDE 1976, S. 484 ff (489); ähnlich SCHEUNER Politische Repräsentation ( F n . 4 9 ) S . 3 3 8 .

63

Ausführlich dazu D.JESCH Gesetz und Verwaltung, 2. Aufl. 1968, S. 76 ff, 92 ff. Vgl. bei F n . 6 2 . Vgl. H.HOFMANN Das Problem der cäsaristischen Legitimität im Bismarckreich, in: DERS. Recht - Politik - Verfassung, 1986, S. 181 ff (200 ff) m. w. N . MÖSSLE (Fn. 50) S . V ; ausführlich S. 132 ff; s. auch bereits JESCH (Fn. 63), S . 2 0 5 .

64 65

66

178

26 Rechtliche H o m o g e n i t ä t des Parlaments, freies Mandat

2. T e i l : Grundlagen der parlamentarischen D e m o k r a t i e

zukommt." 6 7 Daß dem ein demokratisches, d.h. allgemeines und gleiches Wahlrecht zu entsprechen hat, ist selbstverständlich. Korrespondieren muß dieser Demokratisierung indes auch die vollständige rechtliche Homogenität des Parlaments, die Uberwindung aller Partikularitäten der Repräsentation. Bewirkt wird dies durch das klassische Instrument des freien Mandats 6 8 . Der dem historischen Muster der französischen Verfassung von 1791 folgende Satz des Art. 38 I 2 G G , wonach die Abgeordneten Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden sind, bezeichnet einen geschichtlichen Entwicklungsschritt von außerordentlicher Tragweite. Voll zu würdigen ist das freilich nur vor dem Hintergrund des ancien régime. Heute scheint jene Formel auf den ersten Blick eher überständig und realitätsfern. In Wahrheit ist sie jedoch — befreit man sie von ideologischem Ballast — auch jetzt noch von grundlegender Bedeutung. Indem sie jeden einzelnen Abgeordneten trotz des je partikulären Wahlvorgangs und ungeachtet aller politischen Abhängigkeiten und Loyalitäten in gleicher Weise zum Teil eines gesamtstaatlichen Organs mit gesamtstaatlicher Entscheidungsbefugnis und gesamtstaatlicher Verantwortung erklärt, sichert sie die rechtliche Homogenität des Parlaments in einer der Rechtsgleichheit in der demokratischen Staatsbürgergesellschaft entsprechenden Weise. Nicht ist damit jedoch gemeint, daß das Parlament gesellschaftliche Homogenität abbilden oder wenigstens vorstellen soll.

27 Abgeordnete als Repräsentanten der Gesamtheit?

Sieht man das Parlament dergestalt im Ganzen als eine repräsentative ,Teilkörperschaft', dann besteht keine Notwendigkeit, den einzelnen Abgeordneten in offenkundigem Widerspruch zur Realität als Repräsentanten der Gesamtheit zu idealisieren und die niemals erfüllbare Erwartung an ihn heranzutragen, er werde in absoluter Distanz zu allen bloß partikularen Interessen einzig und allein dem (von wem definierten?) Gemeinwohl dienen 69 . 3. Periodizität der Wahl

28 Da es in der Demokratie prinzipiell nur auf den Willen des Volkes rückführbare Bedeutung der Wahl, Erfordernis periodischer Neuwahlen

staatliche Gewalt geben darf, kommt der Wahl als dem konstitutiven Akt der Bestellung bestimmter Personen zur Ausübung der Herrschaftsgewalt ausschlaggebende Bedeutung zu. Die Wahl ist das Band, welches die Aktivbürgerschaft mit der Vertretungskörperschaft verknüpft. Doch darf, wie schon der berühmte ,Enzyklopädist' v. HOLBACH schrieb, „kein Stand von Staatsbürgern für immer das Recht erhalten, die Nation zu vertreten . . . Eine Körperschaft, deren Mitglieder ununterbrochen das Recht genössen, den Staat zu vertreten, würde bald zu dessen Herren oder Tyrannen werden." Deshalb müssen „neue Wahlen die Vertreter

a

R.THOMA Das Reich als D e m o k r a t i e , in: Handbuch des Deutschen Staatsrechts, hrsg. v. G . A N S C H U T Z U. R . T H O M A B d . 1, 1 9 3 0 , S . 1 8 6 f f

68

69

(189ff).

D a z u grundlegend CHR. MÜLLER Das imperative und freie Mandat, 1966. Vgl. auch nachfolgend im T e x t unter N r . 5. Vgl. DRATH ( F n . 56) S. 1 9 f f , 2 9 f f ; H.MEYER Das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes, in: V V D S t R L 33 (1975), S. 69 ff (93); MEYN ( F n . 11) S . 2 6 6 ; Η . - Ρ . SCHNEIDER in: Alternativkommentar zum Grundgesetz, Bd. 2, 1984, A r t . 38 R d n . 18; DREIER D e m o k r a t i sche Repräsentation ( F n . 2 5 ) S. 464 ff. Siehe auch B V e r f G E 4 4 , 308 (316).

§5

R e p r ä s e n t a t i o n , M e h r h e i t s p r i n z i p und M i n d e r h e i t e n s c h u t z (HOFMANN/DREIER)

179

daran erinnern, daß sie ihre Macht von der Nation erhalten haben" 7 0 . Die Verknüpfung parlamentarischer Repräsentation mit dem demokratischen Prinzip der Volkssouveränität drückt sich folglich auch und gerade im Erfordernis periodischer Neuwahlen aus 71 . Demokratische Wahlen legitimieren Herrschaft, limitieren sie aber zugleich zeitlich und machen sie dadurch reversibel. In der Demokratie könne Herrschaft, pflegt man zu sagen, nur „Herrschaft auf Zeit" sein 72 . Gemeint ist mit dieser etwas ungenauen Formulierung sachlich zutreffend die notwendige zeitliche Begrenzung der Herrschaftsausübung. Demokratie heißt, wie ARISTOTELES sagt, Herrschen im Wechsel (έν μέρει) 73 . Daraus folgt zugleich, daß die Dauer der Vertretungsperiode vorab festliegen muß und daß — anders als im britischen System der Parlamentssouveränität 74 — eine Selbstverlängerung der laufenden Legislaturperiode durch die Abgeordneten ausgeschlossen ist 75 . Das Volkssouveränitätsprinzip im Grundgesetz jedenfalls läßt eine solche Form absorptiver Repräsentation nicht zu. Mit diesem allgemeinen Hinweis auf die demokratische Funktion der Wahl ist jedoch die Frage nach dem Wahlsystem noch nicht beantwortet. 4. Parlamentarische Repräsentation und Wahlrechtssystem a)

Honoratiorenparlamentarismus

Von ständischen Vertreterversammlungen unterscheidet sich Repräsentation im 2 9 Zeichen der Volkssouveränität durch die egalitäre Grundlage des allgemeinen und Unterschied zwischen gleichen Wahlrechts. Diese Gegenüberstellung von ständischer Partikularrepräsen- ständischen und demokratischen tation und demokratischer Volksvertretung läßt freilich leicht vergessen, daß der V o l k s v e r t r e t u n g e n , historische Durchbruch des Volkssouveränitätsgedankens in der Französischen S I E Y E S Revolution sich im Konzept des ABBÉ SIEYES ursprünglich mit einem elitären Repräsentativprinzip ohne „egalitäre Nivellierung der politischen Willensbildung" 7 6 verband. SIEYES sah in der parlamentarischen Repräsentation ja nicht nur einen technischen Notbehelf, sondern mehr ein Verfahren zur Steigerung der „Wirksamkeit des politischen Systems durch Arbeitsteilung und Kondensierung politischer Willensbildung" 7 7 . Daher sollten die Vertreter der Nation die besten und qualifiziertesten Kräfte des Volkes sein, befähigt, aufgrund höherer Einsicht das Gemeinwohl zu erkennen und zu realisieren. Da dies nur in einem an der Vernunft und dem gemeinsamen Interesse der Nation orientierten Verfahren 70

D'HOLBACH

Art. Représentants,

zit. nach:

Artikel aus der von D I D E R O T u n d

D'ALEMBERT

hrsg. E n z y k l o p ä d i e , 1 9 8 5 , S . 7 1 5 . 71

Vgl. B a y V e r f G H E

NF

11 II

1 (6); B V e r f G E

18, 151 ( 1 5 4 ) ; J . ISENSEE G r u n d r e c h t e

und

D e m o k r a t i e , in: D e r Staat 2 0 ( 1 9 8 1 ) , S. 161 ff (170). 72

K.STERN Das Staatsrecht der B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d , B d . I , 2 . A u f l . 1 9 8 4 , S. 6 0 9 .

73

ARISTOTELES P o l i t i k 1 3 1 7 b 2 0 .

74

Vgl. T H . LANGHEID Souveränität und Verfassungsstaat, D i s s . K ö l n 1 9 8 4 , S. 86 ff.

75

V g l . S T E R N S t a a t s r e c h t I ( F n . 7 2 ) ; DERS. S t a a t s r e c h t I I , 1 9 8 0 , S . 7 0 .

76

BADURA ( F n . 2 9 ) R d n . 13. Zu den B e s o n d e r h e i t e n der englischen E n t w i c k l u n g K . LOEWENSTEIN Beiträge zur Staatssoziologie, 1 9 6 1 , S. 3 4 f f , 6 5 f f ; H.SETZER W a h l s y s t e m und P a r t e i e n e n t w i c k lung in England, 1973; A . M . BIRKE E n g l a n d , in: Parlamentarismus und D e m o k r a t i e im E u r o p a d e s 1 9 . J a h r h u n d e r t s , h r s g . v. H . - D . L O O C K u . H . S C H U L Z E 1 9 8 2 , S . 2 1 f f .

77

PODLECH ( F n . 7) S. 5 2 5 ; hierzu und z u m folg. auch F n . 2 9 und HOFMANN R e p r ä s e n t a t i o n ( F n . 1) S. 4 0 6 ff.

180

2. Teil: Grundlagen der parlamentarischen Demokratie

des Austausches rationaler Argumente geschehen kann, bedürfen die Teilnehmer dieses Diskurses besonderer Qualifikationen. So spricht SIEYES zwar allen die „natürlichen und gesellschaftlichen Rechte" zu, beschränkt die „politischen Rechte" aber auf diejenigen Bürger männlichen Geschlechts, welche über genug Muße, Bildung und Besitz verfügen, um sich mit den allgemeinen Angelegenheiten zu befassen 78 . Sollten diese Überlegungen auch zu einer Aristokratie des Geistes führen, so legten sie doch gleichzeitig den Grund für ein plutokratisches (Persönlichkeits-)Wahlrecht. Nach einem vielzitierten Wort ist die .Aristokratie der Geburt' auf diese Weise von der ,Aristokratie des Geldes' abgelöst worden 79 . 30 Seine schroffste Ausprägung erhielt das Zensuswahlrecht allerdings erst nach Zensuswahlrecht, d e r Restauration der Monarchie 80 . 1791 waren schätzungsweise immerhin zwei GUIZOT j ) r ¡ t t e ] b¡ s j r e | Viertel der über 25 Jahre alten Männer als Urwähler wahlberechtigt. Aber nur etwa die Hälfte davon kam auch als Wahlmänner in Betracht. Unter der Geltung der Charte von 1814 schrumpfte die Zahl der aktiv Wahlberechtigten drastisch. Selbst nach den Lockerungen durch den Bürgerkönig L o u i s P H I L I P P E (1830-1848) betrug ihre Zahl nur ca. 200 000 bis 240 000 bei einer Gesamtbevölkerung von 30,5 Millionen. GUIZOT, Hauptvertreter der sog. „Doktrinäre" und Minister L o u i s PHILIPPES, hat für dieses hochzensitäre Wahlsystem die theoretische Grundlage geliefert 81 . Er ging nicht nur — wie im 19. Jahrhundert üblich — davon aus, daß in der deliberierenden Versammlung durch rationale Diskussion und durch wechselseitigen unbeschränkten Austausch der Argumente einer vorausgesetzten objektiven Wahrheit und damit einer vernünftigen Entscheidung der Weg geebnet werden soll. In dem von ihm propagierten Modell elitärer Repräsentation schwindet die SiEYESsche Vorstellung, daß in der von der öffentlichen Meinung getragenen parlamentarischen Diskussion ein präexistenter Wille des Volkes sich läutere, weil für G U I Z O T die öffentliche Vernunft der Gesellschaft nicht nur in den einzelnen verstreut, sondern als etwas historisch Konkretes gemäß den unterschiedlichen Bedingungen der individuellen Entwicklung ungleich unter ihnen verteilt ist. Die Fähigkeit zur Teilhabe an der Aktualisierung der öffentlichen Vernunft und Moral wird sonach durch die soziale Stellung des Individuums determiniert. Folglich erscheint Repräsentation nach Maßgabe eines hochzensitären Wahlrechts für G U I Z O T als natürliches Verfahren, um die historisch-konkrete Vernunft der Gesellschaft aus ihr herauszuziehen, da in dieser historischen Situation von den sozialen Bedingungen her eben nur die bürgerliche Oberschicht dazu befähigt, dazu prädestiniert ist, Vernunft, Wahrheit und Gerechtigkeit dieser Gesellschaft zu sich selbst zu bringen.

78 79 80

81

SIEVES ( F n . 2 9 ) S . 2 5 1 . A . MATHIEZ Die Französische Revolution, Bd. 1, 1950, S. 129. Hierzu und zum folg.: A.TECKLENBURG Die Entwicklung des Wahlrechts in Frankreich seit 1789, 1911, S. 65 ff, 115 ff, 122 ff; R . R . PALMER Das Zeitalter der demokratischen Revolution, 1970, S. 5 9 7 f f ; F . F U R E T / D . R I C H E T D i e Französische Revolution, 1987, S. 1 5 2 f f ; M.ERBE Frankreich von der großen Revolution zur dritten Republik, 1982; DERS. Frankreich, in: Parlamentarismus und Demokratie (Fn. 76) S. 33 ff; G . ZIEBURA Frankreich 1789-1870, 1979, S. 107 f, 122 ff, 124. Im einzelnen dazu: L . D I E Z DE CORRALL Doktrinärer Liberalismus, 1964, S. 137ff; HOFMANN Repräsentation (Fn. 1) S. 440 ff.

§5

Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz (HOFMANN/DREIER)

181

Wo allerdings auf diese Weise nur die Vertreter einer relativ homogenen 31 sozialen Schicht mit ihren im Prinzip vermutlich ähnlichen Interessen sich treffen, G e g e n s ä t z e , ist es plausibel, darauf zu vertrauen, daß Gegensätze als bloße Meinungsverschie- Mehrheitsentscheidungen denheiten in einer rationalen Debatte ausgeglichen werden, Mehrheitsentscheidungen aber jedenfalls die allen gemeinsamen Grundinteressen unberührt lassen. Diesen Hintergrund sollte man bedenken, wenn das Idealbild des rationalen parlamentarischen Diskurses als Folie aktueller Parlamentarismuskritik benutzt wird, wie das etwa in nachhaltiger Weise C A R L S C H M I T T getan hat 82 . b) Proportionale Repräsentation oder Repräsentation der Mehrheit? Mit der Durchsetzung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts ist allen Theorien 32 elitärer Repräsentation die Grundlage entzogen. Heute ist die Frage bei der P r o p o r t i o n a l e Einrichtung der parlamentarischen Repräsentation nur noch die, ob sie als .propor- Repräsentation, tionale' oder als Repräsentation der Mehrheit' ausgestaltet wird. Dabei ist die Repräsentation der Mehrheit Einsicht wichtig, daß beide Möglichkeiten nur unter der Voraussetzung sinnvoll sind, daß die Abgeordneten unbeschadet ihrer rechtlichen Stellung im Parlament gerade nicht als völlig unabhängige Honoratioren gedacht werden. Mit der p r o portionalen' oder sumerischen' Repräsentation verbindet sich seit jeher die Vorstellung, daß das Parlament ein „Spiegelbild der Meinungen und Bestrebungen des Volkes" 8 3 darstellen solle, gleichsam einen Mikrokosmos bildet, der sich zur Gesamtheit der Gesellschaft ähnlich verhält wie eine Landkarte zum Territorium 8 4 . Die Mehrheit wird hingegen (auch) dann repräsentiert, wenn im Parlament die in den einzelnen Wahlkreisen oder sonstigen Teilkörperschaften mit Mehrheit gewählten Kandidaten sitzen, ohne daß der jeweils unterlegenen Minderheit ein ihrem Stimmengewicht adäquater Anteil der Mandate eingeräumt würde. Damit sind zwei „antithetische" oder „polare" Prinzipien politischer Repräsen- 33 tation bezeichnet 85 . Auch wenn die konkreten Wahlrechtsregelungen mit ihren „ P o l a r e " Prinzipien, höchst unterschiedlichen Rahmenbedingungen niemals typenrein sind, bleiben strukturelle Unterschiede doch strukturelle Unterschiede, die es rechtfertigen, von Mehrheits- und Verhältniswahl zu sprechen 86 . Diese Differenzen lassen das Diktum des Buridesverfas-

82

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85

D a g e g e n schon R . THOMA Z u r Ideologie des Parlamentarismus (1925), in: Parlamentarismus, hrsg. v. K.KLUXEN 5. A u f l . 1980, S. 54 ff. STERN Staatsrecht 1 (Fn. 72) S. 963; W. BICK Mehrheitsbildende Wahlsysteme und Wahlkreiseinteilung, 1975, S. 6; TH. ESCHENBURG D e r M e c h a n i s m u s der Mehrheitsentscheidung, 1970, S . 33 ff. Diese Metapher stammt wohl von MIRABEAU; vgl. G.JELLINEK Mirabeau und das d e m o k r a t i sche Wahlrecht. Geschichte eines Zitats, in: DERS. A u s g e w ä h l t e Schriften und R e d e n , B d . 2, 1911, S. 82 ff. D . N O H L E N W a h l r e c h t u n d P a r t e i e n s y s t e m , 1 9 8 6 , S . 8 1 ; W . H E U N D a s M e h r h e i t s p r i n z i p in d e r D e m o k r a t i e , 1 9 8 3 , S . 1 1 4 F ; v g l . B . V O G E L / D . N O H L E N / R . - O . S C H U L T Z E W a h l e n in D e u t s c h -

land, 1971, S. 27 ff. 86

D a z u B. SCHUTT Wahlsystemdiskussion und parlamentarische D e m o k r a t i e , D i s s . H a m b u r g , 1973, S. 1 4 f f ; E.SCHIFFER Wahlrecht, in: H d b . V e r f R , Teil 1 ( F n . 4 5 ) S . 2 9 5 f f ( 2 9 8 f f ) ; E.JESSE Wahlrecht zwischen Kontinuität und R e f o r m , 1985, S. 144 ff; NOHLEN (Fn. 85) S. 93 ff; H.MEYER D e m o k r a t i s c h e Wahl und Wahlsystem, in: H d b S t R II (Fn. 37), § 3 7 R d n . 2 5 f f .

182

2. Teil: G r u n d l a g e n der parlamentarischen D e m o k r a t i e

sungsgerichts von der prinzipiellen Wahlfreiheit des einfachen Gesetzgebers 8 7 fragwürdig erscheinen 8 8 . 34 D a s Mehrheitswahlrecht beruht auf einem funktionalen RepräsentationsprinM e h r h e i t s w a h l r e c h t zip, insofern es auf eine regierungsfähige Parlamentsmehrheit zielt 89 . Dieses System gilt daher als stabilitätsfördemd 9 0 . D e r Preis dafür besteht bekanntlich in der Einschränkung der Erfolgswertgleichheit der Wählerstimmen und d e m z u f o l g e in einer möglicherweise gravierenden D i s k r e p a n z zwischen der G e s a m t z a h l der Wählerstimmen und der Mandatsverteilung 9 1 . D i e Parlamentsmehrheit kann K r e a tion einer Wählerminderheit sein. Gerechtfertigt wird dies außer mit den n o r m a lerweise zu erwartenden sicheren Mehrheits- und stabilen Regierungsverhältnissen auch noch dadurch, daß der Wahlvorgang bei der Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen als „ A u s w a h l von Delegierten lokaler Einheiten für das Parlament" erscheint 9 2 . D a s Parlament stellt sich in dieser Perspektive als Gesamtheit lokaler Teilkörperschaften dar, von denen eine jede eben nur mit einer Stimme sprechen kann: der des siegreichen Kandidaten. D a s Mehrheitswahlrecht ist im G r u n d e also typisch für Systeme, die das Parlament nicht individualistisch, sondern korporativ verwurzelt sehen, mithin gerade nicht als Sammelbecken der individuellen Bestrebungen und Interessen betrachten 9 3 .

35 Verhältniswahlrecht, Sperrklauseln

36 D i s k u s s i o n u m die Einführung des

Dagegen bezweckt das P r o p o r z s y s t e m in erster Linie eine — die Bündelung der verschiedenen politischen Kräfte durch die politischen Parteien natürlich nicht verleugnende — Abspiegelung aller Meinungen, Interessen und Bestrebungen der Gesellschaft im Parlament. Ein solches minderheitenfreundliches Wahlrecht 9 4 birgt die Gefahr in sich, daß das Parlament zur Stätte vieler heterogener Parteien wird, die ohne den Z w a n g zur Einwerbung breiter Wählerschichten sich auf die Vertretung ihrer Klientel beschränken. D a r a u s folgt: mindere Stabilität der Regierung, Z w a n g zu Koalitionen, damit geringerer Einfluß des Wählers auf die Regierungsbildung und schwächere Verbindung von Abgeordneten und Wählern 9 5 . D e n Gefahren der Parteienzersplitterung muß mit dem systemfremden und verfassungsrechtlich nicht unbedenklichen Mittel von Sperrklauseln begegnet werden 9 6 . In der Bundesrepublik hat zur Zeit der „ G r o ß e n K o a l i t i o n " (1966-1969) eine breite, noch eine ganze Weile nachhallende Diskussion über die Einführung des

Mehrheitswahlrechts

87

V g l . B V e r f G E 1, 2 0 1 ( 2 4 6 f f ) ; E 3 4 , 81 (99). S i e h e j ü n g s t V e r f G H R h e i n l . - P f a l z D V B 1 . 1 9 8 8 , 7 8 6 .

88

Z u r K r i t i k MEYER ( F n . 8 6 ) , R d n . 2 2 f f , 33 ff m . w . N .

89

V g l . BICK ( F n . 8 3 ) ; ESCHENBURG ( F n . 8 3 ) S. 33 f f .

90

D i e s e r E f f e k t ist freilich nicht s i c h e r ; v g l . N O H L E N ( F n . 85) S. 133.

91

V g l . e b d . S. 103 f f .

92

MEYER ( F n . 86) R d n . 2 7 .

93

Z u d e r a l t e n g l i s c h e n V o r s t e l l u n g v o m P a r l a m e n t als „ G e s a m t g e n o s s e n s c h a f t aller c o m m u n i t a t e s d e s K ö n i g r e i c h s " O . BRUNNER L a n d u n d H e r r s c h a f t , 5. A u f l . 1 9 6 5 ( N D 1984), S . 4 2 2 ;

HOF-

MANN R e p r ä s e n t a t i o n ( F n . 1) S. 338 f f . 94

N O H L E N ( F n . 85) w e i s t d a r a u f hin ( S . 2 3 1 ) , d a ß in m a n c h e n L ä n d e r n d a s M e h r h e i t s w a h l r e c h t a b g e s c h a f f t w o r d e n ist, weil s o n s t ein R e g i e r u n g s w e c h s e l nicht m ö g l i c h g e w e s e n w ä r e . D i e B e i b e h a l t u n g d e s M e h r h e i t s w a h l r e c h t s hätte m . a. W . d i e f ü r d i e A k z e p t a n z d e s M e h r h e i t s p r i n zips wesentliche C h a n c e des Machtwechsels ausgeschlossen.

95

HESSE ( F n . 6 0 ) R d n . 147.

96

V g l . MEYER ( F n . 86) S. 2 2 5 f f ; JESSE ( F n . 86) S. 221 f f , 2 3 4 ff.

§5

Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz (HOFMANN/DREIER)

183

Mehrheitswahlrechts stattgefunden 97 . Unter dem Eindruck des ersten Kanzlersturzes wegen Führungsschwäche, des ersten Koalitionswechsels innerhalb einer Legislaturperiode, einer als Krise erlebten wirtschaftlichen Rezession, des plötzlichen und unerwartet starken Aufkommens einer rechtsradikalen Partei und der Resonanz außerparlamentarischer Protestbewegungen ging erneut das Schreckgespenst der „Weimarer Verhältnisse" um. Dabei hat man — wie bei der Auseinandersetzung um die 5 %-Sperrklausel 98 — häufig übersehen, daß die Effekte eines Wahlsystems entscheidend von den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten, insbesondere von Art, Zustand und Verhältnis der Parteien abhängen und daß folglich auch ein Mehrheitswahlrecht die Weimarer Republik schwerlich gerettet hätte99. Vergleicht man nun die den hier nur idealtypisch betrachteten Wahlsystemen 37 zugrundeliegenden Demokratie- und Repräsentationsvorstellungen, so ergibt Unterschiede sich: Das Mehrheitswahlrecht entspricht einer eher funktionalen Demokratie- zwischen den Wahlsystemen, theorie, das Verhältniswahlrecht einem eher partizipatorischen Ansatz' 00 . In der Verhältniswahlrecht Terminologie F R I T Z S C H A R P F S : das Mehrheitswahlrecht ist output-, das Verhält- als adäquates niswahlrecht input-orientiert101. Das Verhältniswahlrecht betrachtet das Wahlge- Wahlsystem biet als eine Einheit, die Wähler sozusagen als Atome, während dem Mehrheitswahlsystem die Vorstellung einer korporativen Gliederung zugrundeliegt. Hier ist der primäre Wahlkörper und damit der entscheidende Bezugspunkt für den Wahlakt nicht das gesamte Land, sondern ein bestimmter Wahlkreis. Und dieser Wahlkreis ist nicht bloß eine wahltechnische Einrichtung, sondern lokale Korporation102. Infolge des sozialen Egalisierungsprozesses und der Entwicklung der Parteienstaatlichkeit gibt es für eine solche Deutung jedoch keine Ansatzpunkte mehr. Der Wahlvorgang dient nicht länger der Bestellung lokaler Vertreter, sondern entscheidet über die parteipolitische Zusammensetzung des Parlaments. Das Verhältniswahlrecht entspricht der „inneren Logik" der parteienstaatlichen Demokratie 103 . Gerade weil es Pluralität pflegt, die Vielfalt der Interessen politisch vermittelt, den gleichen Erfolgswert der Wählerstimmen sichert und damit Minderheiten schützt, ist das Verhältniswahlrecht das „verfassungsrechtlich adäquate 97

98

99

100

101

Zu dieser Diskussion z . B . MEYER Wahlsystem ( F n . 4 2 ) insbes. S . 2 7 f f ; SCHÜTT (Fn. 86); JESSE ( F n . 8 6 ) S. 113 ff. Vgl. H.HOFMANN Die Entwicklung des Grundgesetzes nach 1949, in: H d b S t R I ( F n . 3 7 ) , § 7 Rdn. 20. Siehe dazu E . FRIESENHAHN Zur Legitimation und zum Scheitern der Weimarer Reichsverfassung, in: Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie, hrsg. v. K..D. ERDMANN u. H.SCHULZE, 1981, S. 81 ff (87 f), und die Berechnungen von H.JÄCKEL Die politische Bedeutung der Wahlsysteme, in: F S f. K . LOEWENSTEIN 1971, S.241 ff (249 ff), wonach das relative Mehrheitswahlrecht britischer Prägung der N S D A P wahrscheinlich schon 1932 die absolute Mehrheit der Reichstagssitze eingebracht hätte. Wichtiger scheint allerdings die Frage, wie die Sitzverteilung 1930 ausgesehen hätte! B I C K ( F n . 8 3 ) S . 5 f f ; M E Y E R W a h l s y s t e m ( F n . 4 2 ) S. 1 7 8 f f ; U . V . ALEMANN P a r t e i e n s y s t e m e i m

Parlamentarismus, 1973, S. 139 f f F.SCHARPF Demokratietheorie zwischen Theorie und A n p a s s u n g , 2. Aufl. 1972, S. 21 ff, 29 ff.

102

V g l . MEYER W a h l s y s t e m ( F n . 4 2 ) S . 9 6 ; H E U N ( F n . 8 5 ) S . 117.

103

BADURA (Fn. 29) Anh. z. Art. 38 Rdn. 21; siehe auch schon R.THOMA D e r Begriff der modernen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff, in: Erinnerungsgabe f. M . W E B E R B d . 2, 1923, S . 3 7 f f (43 ff).

184

2. Teil: Grundlagen der parlamentarischen Demokratie

Wahlsystem"' 0 4 . Es „verstärkt... jene Tendenz der Freiheit, die verhindern soll, daß der Wille der Mehrheit schrankenlos über den der Minderheit herrsche" 105 . 5. D a s freie Mandat 38 Schon die Erörterung der Einheit parlamentarischer Repräsentation hat das freie Bedeutung des freien Mandat der Volksvertreter als „ein notwendiges Strukturelement der parteienstaatMandats, der lichen parlamentarisch-repräsentativen Demokratie" erwiesen 106 . Der dadurch besondere Status der begründete besondere, durchaus eigenartige verfassungsrechtliche Status der AbgeAbgeordneten ordneten ist weder als Stellvertretung oder Auftrag zu begreifen noch mit der richterlichen Unabhängigkeit zu vergleichen 107 , die ja nur dazu dient, den Richter um so wirksamer an das Gesetz zu binden. Klar und eindeutig ist lediglich der negative Sinn des Ausschlusses aller Formen des gebundenen (imperativen) Mandats 108 . Dieser Umstand ließ und läßt im Anschluß an E D M U N D B U R K E Raum für allerlei positive Deutungen mehr oder weniger idealistischer Art wie für historische Rückbezüge auf ehedem wirklich oder nur vermeintlich gegebene gesellschaftliche Bedingungen. 39

Daß das Parlament der Gegenwart kein Honoratiorenparlament mehr ist, daß es sich weniger aus herausragenden Persönlichkeiten als aus Berufspolitikern, Parteifunktionären, Fachleuten und Interessenvertretern zusammensetzt, die über Kandidatenauslese und Fraktionsdisziplin in ihre Parteien eingebunden sind, kann dann leicht als Ergebnis eines geschichtlichen Verfalls des Parlamentarismus erscheinen. 40 In Wahrheit ist das freie Mandat jedoch kein „letztes Rückzugsgefecht eines Freies Mandat kein altväterlichen Honoratioren-Parlamentarismus" (RIDDER), kein anachronistisches anachronistisches Überbleibsel, das im Parteienstaat keine Existenzberechtigung mehr hätte. Diese „Überbleibsel" namentlich von L E I B H O L Z vertretene Meinung 109 verkennt zweierlei: zum einen, daß das freie Mandat gar keine bürgerlich-liberale Erfindung, sondern eine viel ältere Rechtstechnik der Entscheidung durch beschließende Versammlungen ist, und zum anderen: daß verfassungsrechtliche Einrichtungen natürlich einem Funktionswandel unterliegen können.

Zusammensetzung des Parlaments

41

Gesamtvertretung, rechtlich homogene Beschlußkörperschaft und freies Mandat

Unter diesem nüchternen Aspekt ist heute folgendes festzuhalten: 1. Erst das freie Mandat macht eine Gesamtvertretung in dem Sinne möglich, daß auch diejenigen den gemeinsamen Beschlüssen die Anerkennung nicht verweigern können, deren ,Vertreter' zur überstimmten Parlamentsminderheit gehören. 104

E. FRIESENHAHN Parteien und Parlamentarismus nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, in: Deutsch-Spanisches Verfassungsrechtskolloquium, hrsg. v. A. RANDELZHOFER 1981, S. 23 ff (27). Ausdrücklich als verfassungswidrig verwerfen das Mehrheitswahlrecht E. KÜCHENHOFF Volkslegitimation, Stabilität und Kontrolle des Regierens unter Mehrheitswahlrecht und Verhältniswahlrecht, in: Mehrheitswahlrecht?, hrsg. v. H . ZILLESSEN 1967, S. 44 ff (50, 65); BADURA (Fn.29), Anh. zu Art. 38 R d n . 2 2 ; MEYER Wahlsystem ( F n . 4 2 ) S. 221 ff.

105

KELSEN ( F n . 3 0 ) S. 62.

106

Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages, Zur Sache 3/76, S. 75. So aber N . ACHTERBERG Das Parlament im modernen Staat, in: DVB1.1974, S. 693 ff (703).

107

ios V g l . d i e S t u d i e v o n MÜLLER ( F n . 6 8 ) . Z u BURKE s. H . F . PITKIN T h e C o n c e p t of R e p r e s e n t a -

tion, B e r k e l e y / L o s A n g e l e s / L o n d o n 1972, S. 168ff; HOFMANN ( F n . l ) , S . 4 5 4 f f ; P.ALTER E d m u n d Burke. Reformdenken in der Epoche der Revolution, in: Geschichte und politisches Handeln, hrsg. v. DEMS. u.a., 1985, S. 7 0 f f . 109

G . LEIBHOLZ Parteienstaat und repräsentative Demokratie, in: DVB1.1951, S. 1 ff, 6 ff (7).

§5

Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz (HOFMANN/DREIER)

185

Das imperative Mandat war immer ein Mittel der Obstruktion 1 1 0 . Erst das freie Mandat macht aus der Versammlung der Volksvertreter eine rechtlich homogene Beschlußkörperschaft, in der das Mehrheitsprinzip Anwendung finden kann. Daß die Abgeordneten politisch in Partei und Fraktion eingebunden sind, steht auf einem ganz anderen Blatt 1 ". Funktionell sind freies Mandat und Parteienstaatlichkeit zwei verschiedene Dinge. Die entsprechenden verfassungsrechtlichen Regelungen (Art. 38 12 und Art. 21 G G ) sind also nicht etwa „prinzipiell unvereinbar" 1 1 2 , sondern ergänzen sich, indem sie verschiedene Aspekte desselben Problems regeln 113 . Verfehlt ist es daher auch, freies Mandat und Parteiabhängigkeit als Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit zu kontrastieren 114 . 2. Die rechtliche Freistellung der Abgeordneten bedeutet: Offenhalten von Alternativen, Erhaltung eines Aktionsspielraums. Das freie Mandat ermöglicht freie Kommunikation, situationsgemäße Informationsverarbeitung und flexible Beschlußfassung. Es ermöglicht die Darstellung von Differenzen und deren Ausgleich, hat also auch eine „integrative Funktion" für das G a n z e " 5 . 3. Das freie Mandat schließt die Rückkopplung zwischen Parlamentariern und Wahlvolk nicht aus, sondern ganz bewußt ein. N u r eine rechtlich freie Entscheidung setzt unter „Rechtfertigungszwang" und schafft damit Verantwortlichkeit 116 . 4. Das freie Mandat dient der innerparteilichen Demokratie i. S. des Art. 21 I 3 GG 1 1 7 . Indem es die Stellung des Abgeordneten für eine gewisse Zeit unangreifbar macht, verleiht es ihm Selbständigkeit gegenüber der Partei. Das gibt ihm die Möglichkeit, „Gesichtspunkte zu vertreten, die von der offiziellen Parteilinie abweichen, damit die innerparteiliche Diskussion voranzutreiben und den Kampf um die innerparteilichen Führungspositionen aufzunehmen"" 8 . Diese parteiinterne Freiheit aber ist um so wichtiger, als die Parteien in der „Vorformung des politischen Willens" eine ganz zentrale Rolle spielen 119 .

42

Freies M a n d a t und Parteienstaatlichkeit

43

B e d e u t u n g der rechtlichen Freistellung der Abgeordneten

44

Rückkopplung zum Wahlvolk

45

Innerparteiliche Demokratie

5. Dieselbe Bedeutung kommt dem freien Mandat für die Stellung des Abge- 46 ordneten in seiner Fraktion zu. Schließt es doch nicht nur den Fraktionszwang Stellung des aus 120 , sondern setzt auch der Fraktionsdisziplin 121 gewisse Grenzen. D a selbst A b g e o r d n e t e n Fraktion

110 111

112 113 114 115

1,7

118

119 120

121

Vgl. MÜLLER ( F n . 6 8 ) S. 161 ff. Siehe dazu H.SENDLER Abhängigkeiten des unabhängigen Abgeordneten, in: N J W 1985, S. 1425 ff, insbes. 1427 ff; N.SCHOLTIS Minderheitenschutz in kommunalen Vertretungskörperschaften, 1986, S. 187, 198. So aber B V e r f G E 2, 1 (72). Vgl. HOFMANN Parlamentarische Repräsentation ( F n . 3 7 ) S. 255 ff. So aber STERN Staatsrecht I (Fn. 72) S. 1073. E n q u e t e - K o m m i s s i o n Verfassungsreform (Fn. 106) S . 7 6 . D a z u GRIMM ( F n . 4 5 ) S. 334 f. Vgl. dazu STERN Staatsrecht I (Fn. 72) S. 1073; M. STOLLEIS Parteienstaatlichkeit — Krisens y m p t o m e des demokratischen Verfassungsstaats? in: W D S t R L 44 (1986), S. 8 ff (16). Z u m innerparteilichen Demokratiegebot auch W. HENKE D a s Recht der politischen Parteien, 2. Aufl. 1972, S. 4 9 f f , und D . T H . TSATSOS/M. MORLOK Parteienrecht, 1982, S. 3 5 f f , 198 ff. K . HESSE Art. Abgeordneter, in: E v S t L (Fn. 13), Sp. 11 ff (14); vgl. auch E n q u e t e - K o m m i s s i o n Verfassungsreform (Fn. 106) S. 78. Vgl. bei Fn. 47 und F n . 5 0 . Hierzu und zum folg. H . H . KLEIN in: H d b S t R Bd. II ( F n . 3 7 ) , § 4 1 , Rdn. 1 3 f f ; TH.MAUNZ in: G r u n d g e s e t z - K o m m e n t a r , hrsg. v. TH.MAUNZ, G.DÜRIG u . a . Art. 38 Rdn. 12 ( m . w . N . ) . Vgl. H . - H . KASTEN Möglichkeiten und Grenzen der Disziplinierung der Abgeordneten durch eine Fraktion, in: ZParl. 1985, S. 475 ff.

in der

186

2. Teil: Grundlagen der parlamentarischen Demokratie

Austritt oder Ausschluß aus der Fraktion nicht zum (sofortigen) Verlust des Mandats führen122, ist die Fraktion prinzipiell gezwungen, „mit allen ihren Mitgliedern Konsens herzustellen und sie alle an der fraktionsinternen Willensbildung teilnehmen zu lassen" 123 . 47 6. Das freie Mandat immunisiert das Parlament gegen die Spaltung einer Partei Spaltung einer Partei m ¡ t den daraus folgenden konkurrierenden Ansprüchen auf die Mandate.

III. Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz 1. Bedeutung und Herkunft der Mehrheitsregel 4 8 Der Satz, daß „Mehrheit entscheidet", ist ein Prinzip, aber kein Produkt der Mehrheitsregel: Demokratie. Zwar scheint keine Demokratie ohne Mehrheitsentscheidung mögBedeutung und j j ^ a b e r g£bt es Majoritätsbeschlüsse ohne Volksherrschaft. Auch oligarchische Gremien der verschiedensten Art entschieden und entscheiden nach Mehrheit: vom Kardinalskollegium über einzelne Kurien der Ständevertretungen, patrizische Ratsversammlungen, Richterkollegien und wissenschaftliche Gremien bis hin zum Zentralkomitee der KPdSU. Es handelt sich also um eine politisch sozusagen neutrale Entscheidungstechnik kollegialer Beschlußkörper. Genauer: eine an einer einheitlichen, für alle verbindlichen Entscheidung interessierte Mehroder Vielzahl von Personen wird erst dadurch zu einer funktionsfähigen, stabilen Körperschaft, daß sie sich der Mehrheitsregel unterwirft. Ein klassisches Beispiel bietet das Kurfürstenkollegium124, das auf diese Weise zur Keimzelle des Repräsentationsorgans „Reichstag" wurde125. Schon im ersten Versuch eines systematischen deutschen Staatsrechts, dem Traktat De iuribus regni et imperii Romanorum des Kanonikers und Kanonisten L U P O L D VON BEBENBURG von 1340 ist dieser Zusammenhang von körperschaftlicher Einheit, Mehrheitsprinzip und Repräsentativfunktion gesehen und behandelt126. Nach dem römischrechtlichen (hauptsächlich durch das Kirchenrecht vermittelten) Vorbild 127 wandelt sich die im Einstimmigkeitsprinzip wurzelnde germanische Folgepflicht der Minderheit zur Unterwerfungspflicht128. Konsequenterweise wird die Mehrheitsentscheidung der Kur122

123

124

125

126

127

128

V g l . N . ACHTERBERG P a r l a m e n t s r e c h t ,

1 9 8 4 , S. 2 5 4 ff; J.KÜRSCHNER

D i e Statusrechte

des

fraktionslosen Abgeordneten, 1984, S. 70 ff, 72 ff. F. SCHÄFER Sondervotum zum Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform (Fn. 106) S. 84 (85); zur relativen Unabhängigkeit des Abgeordneten in Partei und Fraktion bereits SCHEUNER ( F n . 4 9 ) S . 2 6 3 , 338 f; s. auch MÖSSLE (Fn. 50), S. 144 ff. Dazu maßgeblich W . BECKER Der Kurfürstenrat, 1973. Staatstheoretisch ist dieser Zusammenhang in einigen Versionen des Gesellschaftsvertrages ausgearbeitet; vgl. etwa Lockes zweite Abhandlung über die Regierung, Kap. V I I I Nr. 99. Vgl. P. MORAW Versuch über die Entstehung des Reichstags, in: Politische Ordnungen und soziale Kräfte im alten Reich, hrsg. v. H.WEBER 1980, S. 1 ff (24ff). Vgl. HOFMANN Repräsentation (Fn. 1) S. 225 ff; DERS. Rechtsbegriff der Repräsentation (Fn. 8) S . 5 3 0 ff. Dig. 50, 1 , 1 9 (SCAEVOLA): Quod maior pars curiae effecit, pro eo habetur, ac si omnes egerint. Dig. 50, 17, 160, 1 (ULPIAN): Refertur ad universos, quod publice fit per maiorem partem. Hierzu und zum folg. mit Nachw. HOFMANN Rechtsbegriff der Repräsentation (Fn. 8) S. 529 ff. Zur Geschichte des Majoritätsprinzips O . v. GIERKE Uber die Geschichte des Majoritätsprinzips, in: Schmollers J b . 39 (1915), S. 565 ff; U . SCHEUNER Das Mehrheitsprinzip in der D e m o -

§5

Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz (HOFMANN/DREIER)

187

fürsten in der Goldenen Bulle von 1356 im Gegensatz zum Rhenser Weistum aus dem Jahre 1338 überhaupt nicht mehr als zwiespältige Entscheidung betrachtet. Die Kanonisten hatten die Mehrheitsregel schon früher als ein für die menschlichen Verbände und ihre Beschlüsse wesentliches Prinzip erkannt und diskutiert129. Sie gaben für die fiktive juristische Gleichsetzung der Mehrheit mit der Gesamtheit auch eine Begründung: viele würden wahrscheinlich das Wahre und Gute leichter treffen als wenige. Daraus folgt dann freilich, daß der Mehrheit nur dann das Übergewicht zukommt, wenn der zahlenmäßig stärkere Teil im konkreten Fall zugleich auch der vernünftigere ist. So verfestigt sich seit dem 12. Jahrhundert die kirchliche Lehre von der pars maior et sanior. Ob mit der größeren Zahl jeweils auch die höhere Vernunft (sanioritas) war, entschied danach der vorgesetzte Jurisdiktionsträger. Da für die Papstwahl eine solche Entscheidungsinstanz fehlt, gilt hier seit 1179 das Erfordernis der 2/3-Mehrheit130. Daß gerade einer numerisch so „qualifizierten" Mehrheit besondere Kraft zugeschrieben wurde, läßt sich gleichfalls ins römische Recht zurückverfolgen, und zwar in das Gemeinderecht131. Danach handelte es sich ursprünglich gar nicht um ein besonderes BeschlußQuorum, sondern um das Quorum der Beschlu&fähigkeit eines Stadtrats. In diesem Sinne ist der Satz (trotz etlicher Modifikationen durch die Kanonisten) auch weitergegeben worden, und zwar regelmäßig in klarer Unterscheidung zwischen den Erfordernissen der Beschlußfähigkeit und der Verbindlichkeit eines Beschlusses132. Durch den Kanon über die Papstwahl herausgehoben und dogmatisiert, wird die Zweidrittelmehrheit einer Versammlung im Sinne der Identitätsrepräsentation133 nun jedoch mit dem Ganzen identifiziert: zwei Drittel repräsentieren die Gesamtheit134, während der Beschluß der einfachen Mehrheit dem

kratie, 1973, S. 13 ff, 17ff, 35 ff; H . HATTENHAUER Zur Geschichte von Konsens- und Mehrheitsprinzip, in: Mehrheitsprinzip, Konsens und Verfassung, hrsg. v. DEMS. U. W. KALTEFLEIT E R 1986, S. 1 ff. -

L

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gewesen sein mag. Sie ist eine Konsequenz der über den Parteienwettbewerb gesteuerten repräsentativen Demokratie mit allgemeinem Wahlrecht, welche sich nicht auf die Wahl beschränkt, sondern in dem gewählten Staatsorgan fortsetzt. Die Mediatisierung wird verstärkt durch die Anforderungen an moderne Parlamente, die es wegen der Größenordnung des Entscheidungsbedarfs und der Kompliziertheit der Entscheidungsmaterien nicht mehr erlauben, daß jeder Abgeordnete zu allen anstehenden Problemen eine eigene Position bezieht und an der Ausarbeitung der Entscheidungsvorschläge selbst mitwirkt. Die Fraktion gleicht dieses Defizit aus, indem sie Sachkompetenz auf der Basis einer einheitlichen politischen Grundanschauung bereithält und dem einzelnen Abgeordneten auf diese Weise dort Orientierungsmöglichkeiten bietet, wo ihm selbst die Fähigkeit oder Zeit zur Erarbeitung eines eigenen Standpunkts fehlen. Die Fraktionsdominanz im Parlament ist also im Kern unausweichlich. Im einzelnen erzeugt sie jedoch Probleme, die nach rechtlicher Regelung rufen. 24 Art. 38 Abs. 1 Satz 2 G G , der das Mandat, den Redeinhalt und die Stimmabgabe Schutzumfang der J e s Abgeordneten dem Zugriff der Fraktion entzieht, erfaßt damit nur die GrundAbgeordnetenfreiheit ] a g e n j e s repräsentativen Mandats. Er schweigt dagegen zu den spezifischen Wirkungsbedingungen des einzelnen Abgeordneten in einem fraktionell gegliederten und beherrschten Parlament9. Diese werden nachhaltig durch die Mittelausstattung, die Zugehörigkeit zu Parlamentsausschüssen und Fraktionsarbeitskreisen und die Redechancen bestimmt, die allesamt die Fraktion zuteilt. Es liegt auf der Hand, daß sie damit über ein Instrumentarium verfügt, das auch zur Maßregelung oder Disziplinierung von Abgeordneten eingesetzt werden kann, die vom Fraktionskurs abweichen. Sein Gebrauch ist daher verfassungsrechtlich nicht unproblematisch. Ohne daß der Einsatz sich als Auftrag oder Weisung im Sinn des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 G G darstellte, kann er im Ergebnis doch denselben Effekt haben. Für die Verfassungsinterpretation folgt daraus, daß sie den Schutzumfang der Abgeordnetenfreiheit der Gefährdungslage anpassen muß. Ähnlich wie die RechtspreArbeit

9

Vgl. dazu STEIGER Organisatorische Grundlagen (Fn. 8); P. HABERLE Freiheit, Gleichheit und Öffentlichkeit des Abgeordentenstatus, N J W 1976, S. 537; S.MAGIERA Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, 1979, S. 137ff; M.SCHRÖDER Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, 1979, S . 2 9 0 f , 310ff; H . J . VONDERBECK Die Rechte eines Mitglieds des Deutschen Bundestages, ZParl 14 (1983), S. 311; W. HARTH Die Rede- und Abstimmungsfreiheit der Parlamentsabgeordneten der Bundesrepublik Deutschland, 1983; K . ABMEIER Die parlamentarischen Befugnisse der Abgeordneten des Deutschen Bundestages nach dem Grundgesetz, 1984; H . - H . KLEIN Status des Abgeordneten, in: ISENSEE/ KIRCHHOF Handbuch des Staatsrechts, Bd. 2, S. 3 6 7 ; D . BIRK Gleichheit im Parlament, N J W 1988, 2 5 2 1 ; R. KASSING Das Recht der Abgeordnetengruppe, 1988.

§6

Parlament und Parteien (GRIMM)

209

chung den Grundsatz freier und gleicher Wahl nach und nach vom Wahlakt selber ins Vorfeld der Wahl erstreckt hat, bedarf auch das Prinzip des freien Mandats einer Ausdehnung ins Vorfeld der formellen Weisungen oder Aufträge. Ausgangspunkt ist dabei die Regel des Art. 38 Abs. 1 G G , daß die Abgeordne- 2 5 ten Mitglieder des Deutschen Bundestages sind. Der Bundestag setzt sich aus Art. 38 als ihnen, niemandem sonst, zusammen. Daraus folgt ein Anspruch jedes Abgeordne- a bgeordnetenten auf Mitwirkung an allen Funktionen, die dem Organ durch die Verfassung Gleichheitssatz zugewiesen sind. Was das Organ an Kompetenzen besitzt, wirkt sich bezüglich seiner Mitglieder als Teilnahmerecht aus. Dazu zählen die Gesetzgebung, die Haushaltsfeststellung, die Wahl anderer Staatsorgane, namentlich des Bundeskanzlers, die politische Entschließung, die Information und die Kontrolle samt der auf diese bezogenen öffentlichen Aussprachen und inhaltlichen Vorbereitungen. Dabei kennt Art. 38 Abs. 1 G G keine Ausnahmen oder Privilegien. Da jeder Abgeordnete als Vertreter des ganzen Volkes gilt, kommt auch jedem der gleiche Status zu. Art. 38 Abs. 1 G G enthält einen abgeordnetenspezifischen Gleichheitssatz. Modifikationen sind nur in dem Maß zulässig, wie es die parlamentarische Arbeitsteilung erfordert. Für das Rederecht hat das Bundesverfassungsgericht dies bereits ausdrücklich festgestellt10. Es gilt jedoch auch für die übrigen von der Fraktion zugeteilten Wirkungsmöglichkeiten. Wer Fraktionsmitglied ist, darf prinzipiell nicht von ihnen ausgeschlossen werden. Alle fraktionsvermittelten Befugnisse und Wirkungsmöglichkeiten gehen frei- 2 6 lieh mit dem Fraktionsausschluß verloren. Zwar läßt er die Kernbefugnisse des Wirkungen des Abgeordneten: das Recht, an der Plenarverhandlung teilzunehmen, dort zu Wort Fraktionsausschlusses zu kommen und seine Stimme abzugeben, unberührt. Der ausgeschlossene Abgeordnete büßt aber die Vorteile der innerfraktionellen Arbeitsteilung und die institutionelle Hilfe der Fraktion ein. Vor allem jedoch wird er von denjenigen Parlamentsorganen ausgeschlossen, deren personelle Besetzung die Geschäftsordnung des Bundestages den Fraktionen vorbehalten hat, also von den Ausschüssen und vom Ältestenrat. Der ausgeschlossene Abgeordnete geht damit nicht nur der Möglichkeit verlustig, auf die Planung und Vorbereitung des Parlamentsbetriebs Einfluß zu nehmen, die er vorher, sofern er nicht selbst dem Ältestenrat angehörte, vermittels seiner Fraktion hatte. Vor allem verliert er angesichts der Funktion der Ausschußarbeit, Gesetzentwürfe zu beraten, mit Sachverständigen und Interessengruppen zu erörtern, Änderungsvorschläge zu erarbeiten und die Regierungs- und Verwaltungskontrolle auszuüben, die Möglichkeit, an der materiellen Entscheidungstätigkeit teilzunehmen, und behält lediglich das Recht, an der förmlichen Sanktion der vorher getroffenen Entscheidungen mitzuwirken".

10

11

B V e r f G E 10, 4 (11); 60, 374 (379); zur Gleichheit der Abgeordneten vgl. das sog. Diätenurteil B V e r f G E 40, 2 9 6 ( 3 1 7 f ) . Vgl. dazu neben der o . a . Literatur H . - H . KLEIN Zur Rechtsstellung des Bundestagsabgeordneten als Ausschußmitglied, D O V 1972, S . 3 2 9 ; J.WEILER Ausschußrückzug als verschleiertes imperatives Mandat? D O V 1973, S . 2 3 1 ; W . DEXHEIMER D i e Mitwirkung der BundestagsFraktionen bei der Besetzung der Ausschüsse, in: F G für W . BLISCKE 1982, S . 2 5 9 ; H . - H . KASTEN Ausschußorganisation und Ausschußrückruf, 1983; M.BECKER D i e Abberufung eines Abgeordneten aus einem Parlamentsausschuß im Spannungsfeld zwischen Fraktionsdisziplin

210

2. Teil: Grundlagen der parlamentarischen Demokratie

27 Der Ausschluß aus der Fraktion verschlechtert also die innerparlamentarische Notwendigkeit einer Rechtsstellung des Abgeordneten und seine faktischen Wirkungsmöglichkeiten Regelung des beträchtlich. Dennoch steht der Fraktionsausschluß eines Abgeordneten nach der

rraktionsausschiusses

vorherrschenden Anschauung im rechtlich nicht weiter begrenzten Belieben der Fraktion. Sichert dagegen Art. 38 Abs. 1 Satz 2 G G dem einzelnen Abgeordneten nicht nur die Zugehörigkeit zum Parlament und die Teilnahme an seinen förmlichen Entscheidungen, sondern auch die zur Erfüllung dieser Funktion unerläßlichen Voraussetzungen, dann ist der Fraktionsausschluß keine innerparteiliche Angelegenheit, sondern berührt Statusrechte, die nicht von der Partei oder der Fraktion, sondern vom Grundgesetz verliehen sind. Daher kann die Entscheidung nicht im freien Ermessen der Fraktion stehen. Das ist bereits für den weniger einschneidend wirkenden Parteiausschluß gesetzlich anerkannt und bedarf auch für den parlamentarischen Bereich der Regelung. Ahnlich wie der Parteiausschluß zum Schutz des Bürgers muß auch der Fraktionsausschluß zum Schutz des Abgeordneten bestimmten Anforderungen unterworfen werden. 28 D a die Fraktionsmitgliedschaft an die Parteimitgliedschaft geknüpft ist und die Rechtfertigung und Fraktion geradezu als „Partei im Parlament" erscheint, rechtfertigt ein Parteiaus-

Fraktions^usTcWusses

§§ 1 0 A b s · 4 u n d 5> 1 4 P a r t G a u c h d e n Fraktionsausschluß. Soll dagegen ein Abgeordneter bei fortbestehender Parteizugehörigkeit aus der Fraktion ausgeschlossen werden, so kann es dafür nicht ausreichen, daß er in einzelnen Fällen von der Fraktionslinie abgewichen ist. Innerparteiliche Demokratie umfaßt auch die Möglichkeit innerparteilicher Opposition. Das hat die Fraktion als Parteigliederung zu respektieren. Der Fraktionsausschluß darf nicht allein auf Verstöße gegen die Fraktionsdisziplin gestützt werden. Andererseits ist die Fraktion jedoch über ein politisches Programm definiert. In ihr schließen sich Abgeordnete zusammen, die diesem Programm verpflichtet sind. Wo der Abgeordnete die Grundidentifikation mit dem Programm aufkündigt oder mit seinem Diskussions- und Abstimmungsverhalten nicht nur fallweise, sondern anhaltend gegnerische Fraktionen unterstützt, ist ein Ausschluß zulässig. Die Rechtmäßigkeit des Ausschlusses kann nach §63 B V e r f G G im Wege der Organklage überprüft werden, wobei die ausschließende Fraktion Antragsgegner ist.

Schluß nach d e n Vorschriften der

4. Der fraktionslose Abgeordnete 2 9 Angesichts der Zahl und Bedeutung parlamentarischer Wirkungsmöglichkeiten, Bedeutung von Art. 38 ¿ ε π ι Abgeordneten nicht schon aufgrund seiner Mitgliedschaft im Parlament für fraktionslose zustehen, sondern erst durch die Fraktionen vermittelt werden, gewinnt das Abgeordnete Zuteilungsproblem für den fraktionslosen Abgeordneten noch größeres Gewicht als für den fraktionsgebundenen 12 . Seine Stellung ist besonders prekär, weil man allen Parteien ein gemeinsames Interesse daran unterstellen kann, den Wirkungskreis solcher Abgeordneter zu beschränken, damit der über interfraktionelle

12

und freiem Mandat, ZParl 15 (1984), S . 2 4 ; C.ARNDT Der Bundestagsabgeordnete als Ausschußmitglied, ZParl 15 (1984), S . 5 2 3 ; J.VETTER Die Parlamentsausschüsse im Verfassungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 1986. Vgl. dazu J . KÜRSCHNER Die Statusrechte des fraktionslosen Abgeordneten, 1984; ferner die in Fn. 11 genannte Literatur.

§6

Parlament und Parteien (GRIMM)

211

Absprachen organisierte Parlamentsbetrieb durch sie möglichst wenig gestört wird und kein Anreiz zum Fraktionsaustritt entsteht. Verfassungsrechtlicher Maßstab für die Bestimmung der Statusrechte ist auch hier der aus Art. 38 Abs. 1 G G entwickelte Grundsatz gleicher Teilhabe an allen Funktionen, die dem Parlament durch das Grundgesetz zugewiesen sind. Für Abstimmungen stand das von Anfang an außer Frage. Für das Rederecht hat das Bundesverfassungsgericht bereits vor längerer Zeit geklärt, daß jeder Abgeordnete Anspruch auf eine Grundredezeit hat, auch wenn ihn keine Fraktion als Redner nominiert. Eine Reihe weiterer Funktionen ist hier zu erörtern 13 . Bei Anträgen und Initiativen unterliegt der einzelne Abgeordnete derzeit engen 30 Beschränkungen. Er besitzt lediglich die Möglichkeit, gemäß §105 G O B T kurze K e i n individuelles Einzelfragen an die Regierung zu richten und gemäß § 82 Abs. 1 G O B T in der Initiativrecht zweiten Lesung von Gesetzentwürfen Änderungsanträge zu stellen. Dagegen verlangt § 76 Abs. 1 G O B T für „Vorlagen" die Urheberschaft einer Fraktion oder die Unterstützung von mindestens fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages. Dazu zählen unter anderem Gesetzentwürfe, Beschlußempfehlungen, Anträge auf Einsetzung eines Ausschusses, Große und Kleine Anfragen. Die Vorschrift begründet für das Initiativrecht also kein Fraktionenmonopol. Das Q u o r u m orientiert sich lediglich an der Mindestgröße einer Fraktion. Der einzelne Abgeordnete muß sich für Initiativen daher stets die Unterstützung weiterer Abgeordneter sichern. Dabei ist er nicht auf eine Partei beschränkt. Unter diesen Umständen liegt in der Regelung aber keine Diskriminierung des fraktionslosen Abgeordneten. Vielmehr unterliegen alle Abgeordneten, ob Angehörige großer oder kleiner Fraktionen, Opponenten innerhalb einer Fraktion oder Fraktionslose, denselben Bedingungen. Wer den überlasteten Bundestag mit einem Beschlußanliegen befassen will, soll das nur tun können, wenn er dafür bei anderen Abgeordneten Rückhalt findet. Im Unterschied dazu legt die Geschäftsordnung die Besetzung der Bundestags- 31 ausschüsse ganz in die Hand der Fraktionen. Nach §57 G O B T benennen sie die F r a k t i o n s h e r r s c h a f t Mitglieder der Ausschüsse durch Mitteilung an den Präsidenten. In der u b e r d l e A v s s c h u s s c Parlamentspraxis hat sich das Benennungsrecht zum Abberufungs- und Umbesetzungsrecht erweitert und auch in dieser Form die Billigung der herrschenden Meinung gefunden. Ein Anspruch des einzelnen Abgeordneten auf Zugehörigkeit zu einem Ausschuß wird überwiegend nicht anerkannt 14 . Fraktionslosen Abgeordneten ist damit die Ausschußarbeit nicht rundheraus versperrt. D a sie aber von einer Fraktion benannt werden müssen, besitzen sie faktisch keine Aussicht, je in einen Ausschuß zu gelangen. Mißt man § 5 7 G O B T an dem aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 G G folgenden Recht jedes einzelnen Abgeordneten auf Teilnahme an den Funktionen des Parlaments, wäre die Benachteiligung fraktionsloser Abgeordneter nur dann unschädlich, wenn in den Ausschüssen keine verfassungsrechtlichen Kompetenzen des Parlaments ausgeübt, sondern lediglich vorbereitende Maßnahmen ohne präjudizielle Wirkung getroffen würden. O b das der Fall ist, läßt sich

" 14

Beim B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t ist ein Verfahren anhängig, das d e m n ä c h s t z u einer weiteren K l ä r u n g f ü h r e n k ö n n t e (2 B v E 1/88). Vgl. die A n g a b e n in F n . 11.

212

2. T e i l : G r u n d l a g e n der parlamentarischen D e m o k r a t i e

nicht rechtlich, sondern nur empirisch beurteilen. F ü r die Mitwirkungsmöglichkeit des A b g e o r d n e t e n k o m m t es darauf an, w o die Entscheidungen des Parlaments materiell, nicht w o sie formell fallen.

32

Untersucht man die Parlamentspraxis darauf hin, so zeigt sich, daß die Beratung und Ä n d e r u n g von Gesetzentwürfen, die P r ü f u n g des Haushaltsplans und der Mittelverwendung, die parlamentarische Mitregierung durch Genehmigungs- oder Freigabevorbehalte, aber auch die intensivierte Regierungskontrolle der Sache nach in die A u s s c h ü s s e abgewandert sind. Bleibt es rechtlich auch dabei, daß Entscheidungen mit verbindlicher Außenwirkung in der Regel nur v o m Plenum gefällt werden können, s o erweisen sich die Plenarberatungen bei näherem Hinsehen doch überwiegend als bloße Darstellung der verschiedenen Standpunkte mit anschließender Ratifikation der Ausschußvorlagen. D i e Verfassungsinterpretation kann an solchen Wirklichkeitsbefunden nicht vorübergehen, wenn sie den Realisierungsanspruch der Verfassungsnormen nicht aushöhlen will. Ist die Beobachtung über die Gewichtsverlagerung v o m Plenum zu den Ausschüssen zutreffend, dann steht damit fest, daß ein keinem A u s s c h u ß zugeteilter Abgeordneter von der materiellen Entscheidung abgeschnitten wird und nur noch an ihrer formellen Sanktion teilnimmt. D a s läßt sich aber mit seinem Teilhabeanspruch nicht vereinbaren. A r t . 38 A b s . 1 G G garantiert dem Abgeordneten vielmehr auch die Mitwirkung an der Ausschußarbeit.

33

D e r A n s p r u c h kann freilich nicht auf einen ganz bestimmten Ausschuß gerichtet sein. D a nicht alle Ausschüsse gleich attraktiv sind, dessen ungeachtet aber gleichmäßig beschickt werden müssen, könnte ein Recht des freien Zugriffs die Funktionsfähigkeit des Parlaments nicht gewährleisten. D e n Fraktionen muß vielmehr das Recht zugebilligt werden, über die Verteilung der ihnen zustehenden Ausschußplätze unter ihre Mitglieder zu entscheiden. D a ß dabei die Wünsche einzelner A b g e o r d n e t e r unerfüllt bleiben, läßt sich nicht vermeiden. Wenn aber der fraktionsgebundene Abgeordnete über seine Ausschußzugehörigkeit nicht selbst entscheiden kann, genießt auch der fraktionslose A b g e o r d n e t e keine Wahlfreiheit. Fraktionslosigkeit ist kein ausreichender G r u n d für Ungleichbehandlung, aber ebensowenig f ü r Privilegierung. Besitzt der fraktionslose A b g e o r d n e t e kein Zugriffsrecht auf einen Ausschuß, dann muß ihm der A u s s c h u ß z u g a n g auf andere Weise verschafft werden. D e m steht derzeit jedoch das Benennungsrecht der Fraktionen im Wege. Daher muß geprüft werden, inwieweit sich dieses mit Art. 38 A b s . 1 G G vereinbaren läßt und welche Sonderregelung für fraktionslose A b g e o r d n e t e denkbar wäre.

34

Grundsätzlich läßt die pluralistisch-repräsentative D e m o k r a t i e keinen D u r c h griff von Parteien oder Parteigremien auf Staatsämter zu. Vielmehr bedarf es auch dort, w o die Parteien oder ihre Untergliederungen Vorschlags- und Benennungsrechte haben, eines zwischengeschalteten Staatsakts. D a s Problem stellt sich hier z w a r nicht in seiner vollen Schärfe, weil das A m t des Abgeordneten bereits durch die Wahl begründet ist und nur noch die Verteilung der Amtsträger auf U n t e r o r gane des Parlaments in Frage steht. D e n n o c h kann es angesichts des A n s p r u c h s jedes A b g e o r d n e t e n auf Mitgliedschaft in einem Ausschuß nicht bei der alleinigen Fraktionsbenennung bleiben, wenn nicht alle A b g e o r d n e t e n einer Fraktion angehören. D a h e r läge es nahe, auch die Ausschußbesetzung dem Bundestagsplenum zu übertragen. Indessen könnte eine solche Regelung nicht verhindern, daß eine

R e c h t auf A u s s c h u ß mitgliedschaft

K e i n Recht auf den A u s s c h u ß der eigenen Wahl

Einschaltung eines Parlamentsorgans

§6

Parlament und Parteien (GRIMM)

213

Mehrheit diese Befugnis mißbrauchte, um oppositionelle Gruppen zu schwächen, indem sie die Abgeordneten abweichend von deren Vorschlägen auf die Ausschüsse verteilte. U m dieser Versuchung vorzubeugen, bietet es sich an, die Entscheidung einem Leitungsorgan des Plenums, dem Präsidenten, dem Präsidium oder dem Ältestenrat, zu übertragen oder ihm zumindest die Zuteilung fraktionsloser Abgeordneter zuzuweisen' 5 . Die Verlagerung der Entscheidungskompetenz auf ein Leitungsorgan des Par- 35 laments böte zugleich eine angemessene Lösung des Rückrufproblems. Auch Entsprechende Autoren, die einen Anspruch des Abgeordneten auf Mitgliedschaft in einem Regelung des Ausschuß-Rückrufs Ausschuß verneinen, erkennen die Gefahr einer Untergrabung des freien Mandats und daher ein Schutzbedürfnis des Abgeordneten vor Abberufung oder Umsetzung an 16 . Vorgeschlagen wird ein völliger Ausschluß des Rückrufs oder zumindest eine Mißbrauchskontrolle. N u r um letztere geht es freilich, denn eine Fraktion kann anerkennenswerte Gründe für Veränderungen haben. So müssen etwa Tatsachen, die einen Fraktionsausschluß rechtfertigen würden, wie die permanente Abstimmung mit dem Gegner, auch eine Umbesetzung erlauben. Ähnlich verhält es sich beim Nachrücken eines Abgeordneten, der über andere Sachkompetenzen verfügt als sein Vorgänger. Ist der abberufene Abgeordnete mit der Veränderung nicht einverstanden, so gelangt die Fraktion durch das Entscheidungsrecht eines Dritten unter Begründungszwang, der auf ihren eigenen Entschluß vorwirkt und eine erste Mißbrauchshürde bildet. Die zweite liegt in der Prüfung der Gründe durch das entscheidende Organ, dem ein Recht der Mißbrauchskontrolle zusteht, mit dem die Pflicht einhergeht, das freie Mandat des Abgeordneten zu schützen.

III. Das offene Problem der Selbstbegünstigung Die politischen Parteien unterliegen wie jede andere gesellschaftliche Gruppe der 3 6 parlamentarischen Gesetzgebung. Wie jede andere gesellschaftliche Gruppe haben Parteien als sie daher ein Interesse an ihnen günstigen Gesetzen. Im Unterschied zu allen Gesetzgeber in eigener anderen gesellschaftlichen Gruppen müssen sich die Parteien aber nicht damit begnügen, den Gesetzgeber in ihrem Sinn zu beeinflussen. Sie beherrschen vielmehr mittels der ihnen angehörenden Abgeordneten und der von diesen gebildeten Fraktionen den Gesetzgebungsbetrieb und verfügen daher auch über die Möglichkeiten, ihren Interessen umweglos im Gesetz Rechnung zu tragen 17 . Darin liegt einer der Gründe für die Schwierigkeit, Fehlentwicklungen des Parteiensystems gesetzlich zu korrigieren. Gesetzliche Korrekturen sind angesichts der Parteiendominanz im Parlament stets Selbstkorrekturen. Mögen sie daher im Interesse des demokratischen Systems noch so erwünscht sein, bestehen doch nur geringe Aussichten auf ihre Verwirklichung, wenn sie die organisationsspezifi15 16 17

Vgl. S.HÖLSCHEIDT Der Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages, 1988, S. 45 ff. Vgl. etwa KLEIN (Fn. 11). Vgl. dazu H . - P . SCHNEIDER Gesetzgeber in eigener Sache. Zur Problematik parlamentarischer Selbstbetroffenheit im demokratischen Parteienstaat, in: D . GRIMM / W . MAIHOFER ( H r s g . ) Gesetzgebungstheorie und Rechtspolitik (Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie Bd. 13), 1988, S. 327.

214

37 Fehlende verfassungsrechtliche Regelung

2. Teil: Grundlagen der parlamentarischen Demokratie

sehen Eigeninteressen aller Parteien berühren und vom Parteienstandpunkt aus betrachtet als Preisgabe von Einflußpositionen oder Machtbasen erscheinen. Auf das Problem der Selbstbegünstigung der politischen Parteien oder ihrer parlamentarischen Untergliederungen war das Modell parlamentarischer Repräsentation nicht eingerichtet. Es bezog sich auf den Dualismus von Repräsentanten und Repräsentierten und institutionalisierte den Schutz vor Selbstbegünstigung in der Allgemeinheit des Gesetzes. Das Gesetz, welches die Abgeordneten in ihrer Eigenschaft als Repräsentanten beschlossen, fiel wiederum auf sie in ihrer Eigenschaft als Staatsbürger zurück. Ausnahmen vom allgemeinen Gesetz zugunsten von Repräsentanten waren unzulässig, und nur Differenzierungen, die die Funktionsfähigkeit des Parlaments selber sicherstellten wie etwa die Immunität der Abgeordneten, ließen sich mit der Allgemeinheit des Gesetzes vereinbaren. Wegen der allgemeinen Geltung von Gesetzen, die die Abgeordneten als deren Urheber stets einschloß, waren auch keine Befangenheitsregeln erforderlich, wie sie für Organe, die Einzelfallentscheidungen treffen und dabei in Interessen- oder Loyalitätskonflikte geraten können, bestehen. Die organisationsspezifischen Eigeninteressen der politischen Parteien innerhalb und außerhalb des Parlaments kamen im ursprünglichen Modell ebensowenig vor wie die Interessen von Berufspolitikern und fanden deswegen in der verfassungsrechtlichen Konstruktion auch kein G e gengewicht.

38

Von einer Übertragung der Befangenheitsregeln und Mitwirkungsverbote, die für Richter, Verwaltungsbeamte und kommunale Amtsträger entwickelt worden sind, auf das Parlament ist eine Lösung des Problems nicht zu erwarten 18 . Da bei aller funktionalen Spezialisierung der Gesetze das Allgemeinheitserfordernis jedenfalls den Erlaß von Einzelfallgesetzen verhindert, taucht die typische Konstellation, auf die Befangenheitsregeln und Mitwirkungsverbote zugeschnitten sind, hier nicht auf. Es ist ja nicht die Begünstigung eines einzelnen Abgeordneten oder der ihm verwandtschaftlich oder freundschaftlich verbundenen Personen, die das Problem aufwirft, sondern die Selbstbegünstigung der politischen Parteien oder der Abgeordneten in ihrer Gesamtheit. Mitwirkungsverbote würden unter diesen Umständen das Parlament als Ganzes ausschalten und also stets, wenn Fragen der politischen Parteien oder der Abgeordnetengesamtheit geregelt werden müßten, einen von der allgemeinen Repräsentation gelösten, parteiunabhängig konstruierten, aber gleichwohl demokratisch legitimierten Spezialgesetzgeber nötig machen. Dafür sind aber überzeugende Lösungen bislang nicht angeboten worden. Desto mehr wird man nach externen Kontrollen der Gesetzgebung in eigener Sache, namentlich solchen durch das Bundesverfassungsgericht, fragen.

39

Die verfassungsgerichtliche Kontrolle setzt freilich eine verfassungsrechtliche Bindung des Gesetzgebers und einen Kläger gegen Verletzungen dieser Bindung voraus. Deswegen hat sie sich dort als verhältnismäßig wirksam erwiesen, wo die Regierungspartei die Opposition oder die Parlamentsparteien ihre außerparlamentarischen Konkurrenten zu benachteiligen suchten. Hier findet Diskriminierung

Untauglichkeit der Befangenheitsregeln

Verfassungsgericht als Korrektiv

18

Vgl. dazu einerseits N . ACHTERBERG Die Abstimmungsjbefugnis des Abgeordneten bei Betroffenheit in eigener Sache, A ö R 109 (1984), S . 5 0 5 ; andererseits F . - J . PEINE D e r befangene Abgeordnete, J Z 1985, S . 9 1 4 .

§6

Parlament u n d Parteien (GRIMM)

215

innerhalb des Parteiensystems statt, und die Diskriminierten können sich auf den aus Art. 21 G G abgeleiteten parteispezifischen und streng formalen Gleichheitssatz berufen und ihre Rechte im Wege der Organklage vor dem Bundesverfassungsgericht geltend machen. Dabei hat das Gericht in einer Anzahl von Fällen Diskriminierungen mittels des Wahlrechts, des Parteienrechts oder des Haushaltsgesetzes korrigiert, so bei den Zugangsvoraussetzungen zur Wahl oder zum Parlament, aber auch im Vorfeld der Wahl bei der Wahlwerbung oder der Regierungspropaganda. Ebenso haben bei der Parteienfinanzierung aus öffentlichen Kassen Korrekturen stattgefunden. Es lassen sich aber auch verschiedene Entscheidungen nennen, in aenen schwer begründbare Abweichungen vom Grundsatz der Parteiengleichheit hingenommen oder sogar gerechtfertigt wurden 19 . Wird das Gleichheitsgebot dagegen nicht berührt, weil eine Regelung oder 40 Vergünstigung allen Parteien zugute kommt, fallen externe Kontrollen der Selbst- V e r s a g e n d e s begünstigung erheblich schwerer. Der Grund liegt darin, daß sich selbst bei K o r r e k t i v s bei Interessenidentität naheliegenden Verfassungsverstößen selten ein Antragsberechtigter zur Klage ent- Parteien schließen wird. Das ist insbesondere bei direkter Parteienfinanzierung mittels staatlicher Zuwendungen aus dem Haushalt oder indirekter Parteienfinanzierung mittels staatlicher Steuerverzichte bei Zuwendungen Dritter der Fall. Es spielt aber auch eine Rolle bei der Verteilung von Einflußpositionen, etwa den beamtenrechtlichen Regelungen über die politischen Beamten, oder bei der Konstruktion von Aufsichtsgremien, etwa in den öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten. Schließlich sind die Diätenregelungen für die Abgeordneten zu nennen, bei denen Zuteiler und Empfänger identisch sind, so daß das geschärfte Interesse der Öffentlichkeit für die Abgeordnetenvergütung keineswegs unbegründet ist. Besonders schwer faßbar erscheinen schließlich diejenigen Fälle, in denen der Gesetzgeber durch Nicht-Handeln die Ausdehnung des Parteieinflusses auf Bereiche, die der Parteienkonkurrenz nicht offenstehen, einzudämmen versäumt. Prinzipielle Lösungen dieses Problems sind nicht in Sicht. Es kann vielmehr nur 41 darum gehen, die Gelegenheiten zum Mißbrauch parlamentarischer Kompetenzen B e t e i l i g u n g im Eigeninteresse der Parteien oder der parteigebundenen Abgeordneten nach p a r t e i u n a b h ä n g i g e r Gremien Möglichkeit zu begrenzen. Dafür kommen zum einen spezielle Publizitätsanforderungen in Betracht, wie sie das Bundesverfassungsgericht beispielsweise für Diätengesetze aufgestellt hat 20 . Zum anderen wird die Möglichkeit diskutiert, in das Gesetzgebungsverfahren, sobald es um Regelungen geht, die die Abgeordneten oder die Parteien selbst betreffen, ein nicht interessiertes, parteiunabhängige$. Gremium einzubeziehen 21 . Diese Beteiligung kann freilich keine Mitentscheidung,

" V g l . zur Parteienrechtsprechung b e s o n d e r s H . - R . LIPPHARDT D i e Gleichheit der politischen Parteien vor der öffentlichen G e w a l t , 1975; s o w i e J . A . FROWEIN D i e R e c h t s p r e c h u n g des B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t s z u m Wahlrecht, A ö R 99 (1974), S. 72; unter den später ergangenen E n t s c h e i d u n g e n sind h e r v o r z u h e b e n B V e r f G E 44, 125 ( W a h l w e r b u n g der B u n d e s r e g i e r u n g ) ; 70, 324 ( K o n t r o l l e der G e h e i m d i e n s t e ) ; 73, 40 ( P a r t e i e n f i n a n z i e r u n g ) (die letzten beiden als Beispiele f ü r s c h w e r b e g r ü n d b a r e A b w e i c h u n g e n ) . 2 0 B V e r f G E 40, 2 9 6 (316 f). 21 V g l . SCHNEIDER ( F n . 17), S . 3 4 4 ( „ S e n a t f ü r P a r l a m e n t s f r a g e n " ) ; ähnlich K.TROLTSCH D e r V e r h a l t e n s k o d e x v o n A b g e o r d n e t e n in westlichen D e m o k r a t i e n , in: A u s Politik und Zeitgeschichte (1985), Β 2 4 / 2 5 , S. 14 ff.

der

216

2. Teil: Grundlagen der parlamentarischen Demokratie

sondern nur eine Begutachtung sein. Gleichwohl verspräche sie einen Kontrolleffekt, weil die Parteien wegen der Vorwirkung einer solchen Kontrolle Maßnahmen, die aller Voraussicht nach beanstandet werden würden, zögernder ergriffen oder, wenn sie dennoch nicht von ihnen abließen, unter erhöhten Legitimationsdruck gerieten, der durchaus Korrekturen erzwingen kann, wie jüngst das Beispiel der geplanten Amnestie für Abgeordnete, die in die Parteispendenaffäre verwickelt waren, gezeigt hat. 42 Prinzipielle Schwäche der Verfassung c c c c n u b c r den

Auch in solche Korrektive dürfen freilich keine übertriebenen Hoffnungen gesetzt werden, denn es.sind wiederum die politischen Parteien in ihrer Rolle als beherrschende Faktôren des Gesetzeebunesprozesses, die die Kontrolleremien .

.

.

.

Parteien einrichten und dann personell beschicken müssen. Wie das Beispiel der Rundfunkräte zeigt, sind dabei selbst Inkompatibilitätsregeln oder Vorschriften, die die Parteien in eine klare Minderheitsposition verweisen, nicht geeignet, einen parteiunabhängigen Standpunkt des gesellschaftlichen Kontrollgremiums zu sichern und die Dominanz parteipolitischer Gesichtspunkte zu brechen. Darin äußert sich die prinzipielle Schwäche des Staatsrechts gegenüber den politischen Parteien. Als Vermittler zwischen Volk und Staat und Kreationsorgane für öffentliche Ämter tauchen sie hinter allen öffentlichen Institutionen auf und haben ihren Einfluß immer schon zur Geltung gebracht, ehe die verfassungsrechtlichen Kautelen ihren disziplinierenden Effekt entfalten22. Am Beispiel von Parlament und Parteien zeigt sich daher erneut, daß die Parteien, wiewohl für die repräsentative und pluralistische Demokratie unersetzbar, doch eine der wesentlichen Schwachstellen des Systems bilden, gegen die überzeugende Abhilfen bisher nicht entdeckt worden sind.

22

Vgl. GRIMM Parteien ( F n . 2 ) , S. 3 6 9 ff; DERS. W D S t R L 44 (1986), S. 124.

§ 7 Parlament und organisierte Interessen RUDOLF

STEINBERG

I. Einleitung Die Interessen stellen das Rohmaterial der gesellschaftlichen Prozesse dar. Ebenso vielfältig wie ihre Stoßrichtung sind die ihrer Pflege dienenden gesellschaftlichen Verbände. Unter ihnen können umfassend höchst unterschiedliche soziale Gruppierungen verstanden werden, angefangen von der Familie und den allen möglichen Zwecken dienenden Vereinen über Wirtschaftsunternehmen, Religionsgesellschaften, politischen Parteien, Gemeinden bis hin zum „Staatsverband". Da und soweit alle diese Verbände Interessen verfolgen — ideelle oder wirtschaftliche, altruistische oder egoistische, öffentliche oder private, gemeine oder individuelle, manifeste oder latente —, ließen sie sich auch als „organisierte Interessen" verstehen. Ein derartiger, äußerst verschiedene soziale Erscheinungen umfassender Begriff wäre jedenfalls für die vorliegende Fragestellung wenig hilfreich. Nachfolgend wird deshalb die Betrachtung beschränkt auf Interessenverbände oder — in einer weitgehend synonym verwandten Terminologie — Interessengruppen. Bei ihnen handelt es sich um solche Zusammenschlüsse von natürlichen oder juristischen Personen oder aber auch um Personengruppen, d. h. Verbänden, die — auf Dauer angelegt — Einfluß auf staatliche Entscheidungen zu nehmen suchen, ohne politische Parteien zu sein. Die Zielrichtung der Staatsgerichtetheit ihrer Arbeit kommt in der englischen Bezeichnung „pressure group" 1 zum Ausdruck. Allerdings verdeckt der Begriff „pressure", daß die Ausübung von Druck nicht das einzige, wahrscheinlich noch nicht einmal das wichtigste Mittel erfolgreichen Verbandseinflusses darstellt (s. u. Rdn. 71 ff). Die Definition der Verbände organisierten Interesses durch das Merkmal der Staatsgerichtetheit darf im übrigen auch nicht den Blick dafür verstellen, daß ihr Wirken in nicht unerheblichem Ausmaß auch nach innen — gegenüber den eigenen Mitgliedern — gerichtet ist. Auf diesen Aspekt des Verbandswesens macht die neuere Verbandsforschung zunehmend aufmerksam (s.u. Rdn. 81, 111).

1 Interessen,

gesellschaftliche Verbände

2 Interessenverbände

Interessenverbände versuchen staatliche Entscheidungen zu beeinflussen. 3 Adressaten des Verbandseinflusses sind alle staatlichen Organe, die der Legislative, Beeinflussung der Exekutive und nicht zuletzt — wenngleich eher verdeckt und mittelbar — der staatlicher

Entscheidungen, Adressaten

1

Vgl. R. BREITLING Art. Pressure G r o u p s , in: H D S W Bd. 8, 1964, S. 5 2 8 f f . KEY Politics, Parties and Pressure G r o u p s , 5. Aufl. N e w Y o r k 1964, S. 17 ff.

Vgl. auch V . O .

2. Teil: G r u n d l a g e n der parlamentarischen D e m o k r a t i e

218

Judikative, auf allen staatlichen Ebenen — Bund, Länder und Gemeinden 2 . An dieser Stelle werden vornehmlich die Einwirkungen auf den Bundestag behandelt; doch können die anderen staatlichen Gewalten nicht gänzlich ausgeklammert werden, da und soweit sie die Entscheidungen des Parlamentes rechtlich oder faktisch präjudizieren. Mittelbar auf die Parlamente wirken die Verbände aber nicht nur über die staatlichen Stellen, sondern auch über andere intermediäre Kräfte ein. Zu nennen sind hier insbesondere die politischen Parteien und die öffentliche Meinung. Wegen der zunehmenden supranationalen Einbindung der Bundesrepublik Deutschland eröffnen sich schließlich neue Felder des Verbandseinflusses. 4 Die Abgrenzung der Einflußverbände von anderen gesellschaftlichen VereiniVeremigungen zur gungen vermag in der sozialen Realität nur unvollkommen zu gelingen. Zunächst pflege gemeinsamer j sJ . l 1 ¡ n z u w e ¡ s e n a u f solche Gruppierungen, deren wesentlicher Zweck in der Pflege gemeinsamer Interessen, z. B. im sportlichen, musischen oder sonstigen Freizeitbereich oder in karitativen Betätigungen liegt3. Aber dennoch können auch derartige — vornehmlich auf örtlicher Ebene tätigen — Vereine wenigstens punktuell zu Interessenverbänden werden, wenn sie Forderungen an staatliche Stellen richten, z. B. auf Bezuschussung aus der Gemeindekasse oder aber auf Berücksichtigung ihrer Belange bei der Bauleitplanung dringen. Das gilt jedoch häufiger für die Zusammenschlüsse derartiger Vereine zu Landes- und Bundesverbänden, z.B. bei der Forderung des Deutschen Sportbundes auf angemessene Besteuerung der Sportvereine und deren Übungsleiter. 5 Von ungleich größerer politischer Bedeutung als derartige GelegenheitsinteresVerbände der senverbände sind die Verbände der Tarifvertragsparteien sowie der WirtschaftsTarifVertragsparteien, u n j Berufsverbände. Zwar suchen diese die Interessen ihrer Mitglieder durchaus Berufsverbände a u c h interessenverbandsmäßig zu fördern. Dieses beschreibt jedoch nicht ihre wesentliche Funktion: Diese besteht in der selbstverantwortlichen Wahrnehmung zentraler, für das Gemeinwesen bedeutsamer Aufgaben 4 . Das ist augenfällig für die Tarifvertragsparteien, deren Lohnabmachungen über Erfolg oder Mißerfolg der staatlichen Wirtschaftspolitik mitentscheiden5; es gilt aber nicht weniger für die

2

4

N u r selten erfaßt die Verbandsforschung die L ä n d e r - und Gemeindeebene. Vgl. H . J . VARAIN Parteien und Verbände. Eine Studie über ihren A u f b a u , ihre Verflechtung und ihr Wirken in Schleswig-Holstein 1945-1958, 1964; H.SCHNEIDER ( H r s g . ) Verbände in Baden-Württemberg, 1987. — Zur Tätigkeit auf Gemeindeebene P. RASCHKE Vereine und Verbände, 1978, und zu einem k o m m u n a l e n Politikbereich J . MÜNDER D e r Jugendwohlfahrtsausschuß, 1987. J.WEBER Art. Verbände I. Begriff und T y p o l o g i e , in: Staatslexikon, 7. Aufl. B d . 5, 1989, nennt allein für F r a n k f u r t am Main 2643, für München ca. 6000 und D u i s b u r g ca. 1100 im Vereinsregister des Amtsgerichts eingetragene Vereine, für die Bundesrepublik nennt er g r o b e Schätzungen von über 200 000 Vereinigungen. — Vgl. auch G . WURZBACHER / E. v. SCHRÖTTER D a s G r u n d r e c h t der freien Vereinigungen und seine Verwirklichung in der Bundesrepublik D e u t s c h l a n d , 1966. D a z u besonders E . - W . BÖCKENFÖRDE D i e politische Funktion wirtschaftlich-sozialer Verbände, in: R.STEINBERG ( H r s g . ) Staat und Verbände, 1985, S . 3 0 5 f f , 313; D.GRIMM Verbände, in: H a n d b u c h

des Verfassungsrechts,

hrsg. v. E . B E N D A / W . M A I H O F E R / H . - J .

S. 3 7 3 ff, 3 7 7 ff. 5

V g l . die B e i s p i e l e bei BÖCKENFÖRDE a a O ( F n . 4 ) S. 318 ff.

VOGEL

1983,

§7

Parlament und organisierte Interessen (STEINBERG)

219

Wirtschafts- 6 und Berufsverbände 7 , welche zur Ordnung großer gesellschaftlicher Bereiche beitragen. Beispielsweise sei nur auf die private Normsetzung durch Verbände etwa der D I N - N o r m e n oder der VDI-Richtlinien hingewiesen, deren Wirkungen weit über den Verbandsbereich hinausreichen und die damit — staatlichen Rechtssätzen vergleichbar — „Außenrechtswirksamkeit" entfalten 8 . Es mag an dieser Stelle dahinstehen, ob das Merkmal der „Teilnahme . . . an der Ausübung politischer Entscheidungsgewalt" ausschließlich diesen wirtschaftlichsozialen Verbänden zuerkannt werden kann, während sich die Interessenverbände an der politischen Willensbildung im Vorfeld der politischen Entscheidungszuständigkeit beteiligten 9 . Die verfassungsrechtliche Problematik derartiger Verbände weist jedoch über die hier zu behandelnde Fragestellung des Verhältnisses von Parlament und organisierten Interessen im engeren Sinne weit hinaus. Sie berührt freilich die Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems insoweit, als neben den verfaßten staatlichen Organen und damit auch neben den Parlamenten parakonstitutionelle soziale Mächte ihren Anteil an der Ausübung der Staatsgewalt in Anspruch nehmen. Nicht zum Thema gehören schließlich einzelne Wirtschaftsunternehmen. Zwar 6 treten auch diese — jedenfalls soweit es sich um „Unternehmen von öffentlicher WirtschaftsBedeutung" 1 0 handelt — wie die wirtschaftlich-sozialen Verbände nicht nur in u n t e r n e l l m e n selbstverantwortlicher Wahrnehmung gemeinwichtiger Aufgaben, sondern auch — jedenfalls gelegentlich — auf staatliche Stellen Einfluß nehmend auf. Und obgleich es sich bei ihnen ungeachtet ihrer gesellschaftsrechtlichen Konstruktion um soziale Verbände handelt", werden sie herkömmlich — anders als ihre Zusammenschlüsse — aus der Betrachtung der Interessenverbände zutreffend ausgeklammert. Ihr Gegenstand ist vornehmlich nicht die staatsgerichtete Einflußnahme, sondern die Produktion von Gütern und Dienstleistungen und die damit verbundenen Allokationsentscheidungen. Und auch ihre rechtliche Basis beruht nicht nur wie bei den Verbänden insgesamt auf der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 G G , s.u. Rdn. 100), sondern vor allem auf der privatnützigen Verfügung über Eigentum (Art. 14 Abs. 1 G G ) und der in Art. 12 Abs. 1 G G geschützten Gewerbefreiheit.

'' D a z u H . LESSMANN D i e öffentlichen A u f g a b e n und Funktionen privatrechtlicher Wirtschaftsverbände, 1976; H.WEBER Unternehmerverbände zwischen Markt, Staat und G e w e r k s c h a f t e n , 1987. 7 Z u r Regelungsgewalt berufsständischer K a m m e r n vgl. etwa B V e r f G E 33, 125. * D a z u P. MARBURGER D i e Regeln der Technik im Recht, 1979; vgl. auch H . WEBER a a O (Fn. 6) S. 46 ff. -

9

A u s der Rechtsprechung instruktiv B V e r w G , U r t . v. 2 2 . 5 . 1 9 8 7 , B V e r w G E 77, 285, 290 ff. S o BÖCKENFÖRDE a a O ( F n . 4 ) S. 312; ähnlich GRIMM a a O ( F n . 4 ) , S. 379, der aber die wirtschaftlich-sozialen Verbände schwächer als solche kennzeichnet, die „in der L a g e sind, auf die E r f ü l l u n g von Staatsaufgaben unmittelbar einzuwirken und dadurch, ohne eine staatsorganschaftliche Stelle zu bekleiden, ihre Interessen unvermittelt im staatlichen E n t s c h e i d u n g s p r o z e ß zur Geltung bringen k ö n n e n " .

D a z u H.KRÜGER Allgemeine Staatslehre, 1964, S . 4 0 7 f f . " Vgl. R . M . C Y E R T / J . G . MARCH A Behavioral T h e o r y of the Firm, E n g e l w o o d C l i f f s , N . J . 1963; C H . I. BARNARD T h e Functions of the Executive, C a m b r i d g e , M a s s . 1972. 10

220

2. T e i l : G r u n d l a g e n der parlamentarischen D e m o k r a t i e

7 Weniger trennscharf ist auch die Abgrenzung der Interessenverbände von einem anderen, neueren Phänomen, den sogenannten Bürgerinitiativen12, die durchaus auf — manchmal handgreifliche — Einflußnahme angelegt sind. Soweit es sich um vorübergehende, meist auf die Erreichung eines Zieles gerichtete Gruppierungen handelt, fehlt das den Interessenverbänden eigene Definitionsmerkmal der Dauerhaftigkeit. Soweit sie jedoch eine gewisse Dauer aufweisen und nicht nur auf ein konkretes Ziel gerichtet sind, agieren auch sie als Interessenverbände, so ζ. B. der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz e. V. (BBU) oder der basis- und bürgerinitiativ-orientierte Bund für Umwelt und Naturschutz in Deutschland e. V. (BUND) 1 3 .

Bürgerinitiativen

8 Politische Parteien

Mit den Interessenverbänden gemein haben die politischen Parteien die Einflußnahme auf staatliche Entscheidungen. Die politischen Parteien zeichnen sich jedoch durch eine besondere, ihnen eigene Form der Einflußnahme aus. Nach der Legaldefinition des §2 Abs. 1 ParteienG müssen sie gerade parlamentarisch, d.h. an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen. Diese formale, an rechtlichen Regeln orientierte Abgrenzung kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß Parteien und Verbände sachlich um so größere Gemeinsamkeiten aufweisen, je enger die von einer Partei wahrgenommenen Belange sind. Die den politischen Parteien des Typs „Volkspartei" obliegenden Aufgaben des Ausgleichs und der Integration unterschiedlicher Interessen werden hier nur eingeschränkt oder gar nicht wahrgenommen. Beispiele hierfür sind vor allem sogenannte Interessenparteien wie eine Bauernpartei, Mittelstandspartei oder Flüchtlingspartei.

9 Die genaue Zahl der Interessenverbände in der Bundesrepublik Deutschland ist Zahl der unbekannt. In der beim Deutschen Bundestag geführten Verbandsliste haben sich I n t e r e s ^ n v e r b ä n d e ^ 1 9 8 7 1331 v e r bände registrieren lassen. Die Zahl der bundesweiten Interessenverbände wird auf 5000, einschließlich ihrer regionalen Untergliederungen auf über 20000 geschätzt14. Sie unterscheiden sich erheblich nach Art und Gewicht der von ihnen vertretenen Interessen, Zahl der Mitglieder, Organisationsstruktur, Organisationsgrad sowie verbandlicher Konkurrenzsituation15. 10 Die mit Abstand wichtigsten Verbände sind zweifellos die Verbände des Verbände des Arbeits- Arbeits- und Wirtschaftslebens. Dazu gehören die Spitzenverbände der einzelnen und Wirtschaftslebens W i r t s c h a ftsbranchen, die Arbeitgeberverbände, die Berufsverbände und die Gewerkschaften. Als wirtschaftliche Interessenverbände sind auch öffentlichrechtlich organisierte Verbände, ζ. B. die Kammern der Wirtschaft, anzusehen, da ihnen nicht nur die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben, ζ. B. im Bereich der

12

G . F . SCHUPPERT, Bürgerinitiativen als Bürgerbeteiligung an staatsrechtlichen Entscheidungen,

13

Beide V e r b ä n d e verfügen über B ü r o s in B o n n und sind in der Verbandsliste (s. R d n . 117 und

14

WEBER a a O (Fn. 3).

15

Zur T y p o l o g i e des Verbandswesens vgl. etwa R . BREITLING D i e V e r b ä n d e in der B u n d e s r e p u -

A ö R 102 ( 1 9 7 7 ) , S . 3 6 9 f f . F n . 161) auf S . 4 6 ( B B U ) und auf S . 3 9 ( B U N D ) verzeichnet.

blik Deutschland, 1955, S. 8 f f ; H.SCHNEIDER, D i e Interessenverbände, 5. Aufl. 1979; TH. ELLWEIN D i e großen Interessenverbände und ihr E i n f l u ß , in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 4 8 / 1973, S . 2 2 f f ; J . W E B E R D i e Interessengruppen Deutschland, 1977, S . 7 4 f f .

im politischen S y s t e m der Bundesrepublik

§7

Parlament und organisierte Interessen (STEINBERG)

221

Ausbildung übertragen ist, sondern ihnen auch die Geltendmachung ihrer Mitgliederinteressen obliegt (so § 1 Abs. 1 I H K G , §§ 87 und 91 Abs. 1 N r . 1 HandwO) 1 6 . Zu einer zweiten Gruppe lassen sich zahlreiche Sozialverbände rechnen, die 11 freilich ebenso wie die wirtschaftlichen Verbände nur teilweise interessenverbands- Sozialverbände mäßig tätig werden, im übrigen aber ihre sozialen oder karitativen Aufgaben unmittelbar wahrnehmen 17 . Hierzu rechnen ζ. B. das Deutsche Rote Kreuz und die sonstigen Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege, der Bund der Vertriebenen, der Verband der Kriegs- und Wehrdienstopfer, Behinderten und Sozialrentner Deutschlands e.V. (VdK) sowie der Verband für Rentenversicherungsträger oder der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge. Aus einem weiteren Bereich der kulturellen Verbände sind vor allem die Re- 12 ligionsgesellschaften hervorzuheben und die in ihrem Umkreis bestehenden Grup- Religionspierungen' 8 . Ungeachtet ihres herausgehobenen verfassungsrechtlichen Status (Art. gesellschaften 140 G G ) sind sie als Interessenverbände anzusehen, soweit sie Einfluß auf staatliche Stellen auszuüben suchen. „Begibt sich die verfaßte Kirche, über ihren geistlichen Auftrag hinausgehend, in den weltlich-politischen Bereich, so entfallen die Voraussetzungen ihres besonderen Status, sie kann sich auf diesen Status nicht berufen 1 9 ." Als Verbände des Freizeitbereichs sind bereits die Spitzenverbände des Sports erwähnt worden; hierzu zählen auch der Deutsche Alpenverein, die Automobilverbände, insbesondere der A D A C , sowie die Musikverbände und Sängerbünde. In den letzten Jahren haben vor allem die Umweltschutzverbände 2 0 ( B U N D , B B U , früher schon der D N R ) das in Deutschland traditionell schwache Spektrum von politischen Vereinigungen im Sinne von Meinungsgruppen verstärkt 21 . Nicht als Interessenverbände anzusehen sind hingegen auch die Zusammenschlüsse solcher Einrichtungen der (mittelbaren) Staatsverwaltung wie der K o m munen, denen die Wahrung örtlicher Gesamtinteressen (Art. 28 Abs. 2 S. 1 G G : Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft), nicht jedoch gesellschaftlicher Partikularinteressen, anvertraut sind 22 . Zwar versuchen die kommunalen Spitzenverbände in der Tat Einfluß auf die Entscheidungen (anderer) staatlicher Stellen zu nehmen, doch sind derartige „Binneneinflüsse" innerhalb der ausdifferenzierten Staatsorganisation auch für andere staatliche Akteure selbstverständlich, ja unentbehrlich. Es erscheint deshalb kaum sinnvoll, mit dieser Begründung etwa die " Dazu etwa R. HENDLER Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip, 1984; L. FRÖHLER/ P. OBERNDORFER Körperschaften des öffentlichen Rechts und Interessenvertretung, 1974. 17 Vgl. A. RINKEN D a s Öffentliche als verfassungstheoretisches Problem dargestellt am Rechtsstatus der Wohlfahrtsverbände, 1971. 18 A. HOLLERBACH et al., Religiöse Vereinigungen, in: H . SCHNEIDER (Hrsg.) a a O (Fn. 2) S. 305 ff. Zu den erfolgreichen Einwirkungen vor allem katholischer Verbände auf die Frankfurter Verfassungsberatungen vgl. die instruktive Studie von H . ZWIRNER Zur Entstehung der Selbstbestimmungsgarantie der Religionsgesellschaften i.J. 1848/49, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kan. Abt. 78 (1987), S . 2 1 0 f f . 19 K. HESSE Freie Kirchen im Freien Gemeinwesen, in: DERS. Ausgewählte Schriften, 1984, S. 472; ebenso A . HOLLERBACH Die Kirchen unter dem Grundgesetz, W D S t R L 26 (1968), S. 57 ff. 20

Vgl. M . L E O N H A R D U m w e l t v e r b ä n d e , 1986.

21

Dazu R.STEINBERG Interessenverbände in der Verfassungsordnung, PVS 14 (1973), S . 5 2 mit Fn. 242. Ähnlich wohl H . J . SCHRÖDER Gesetzgebung und Verbände, 1976, S. 116 ff; a. A . WEBER a a O (Fn. 15) S . 157 ff.

22

13

Verbände des Freizeitbereichs, Umweltschutzverbände

14

Kommunale Spitzenverbände

222

2. Teil: Grundlagen der parlamentarischen Demokratie

Ministerpräsidentenkonferenz oder ein Bundesministerium, das im zuständigen Bundestags-Ausschuß auf die Passage „seines" Gesetzentwurfs hinwirkt, als Interessenverband zu bezeichnen. Dieser Begriff — soll er nicht jegliche Kontur verlieren — sollte deshalb auf Organisationen nicht-staatlicher, gesellschaftlicher Interessen beschränkt bleiben. Von einem der staatsrechtlichen Stellung der Gemeinden angemessenen Verständnis geht auch §25 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien Teil II ( G G O II) aus, der ebenso wie §69 Abs. 5 G O B T gegenüber den Regelungen, welche die Interessenverbände betreffen (§24 G G O II, §70 Abs. 1 GOBT), eine besondere und weitergehende Mitwirkung der kommunalen Spitzenverbände vorsieht. 15 Vielfalt der Interessenverbände

Auch ohne die Einbeziehung der kommunalen Spitzenverbände wird damit außerordentliche Vielfalt höchst unterschiedlicher Interessenverbände sichte j n e einheitliche empirische und rechtliche Erfassung und Bewertung erschwert.

ejne

II. Erscheinungsformen parlamentarischen Verbandseinflusses 1. Unmittelbarer Einfluß a) Gegenstand

der

Einflußnahme

16 Vornehmliches Ziel der Verbandsaktivitäten ist es, den Vorstellungen des VerbanZiel der Verbandsaktivitäten, Adressat(en) der Einflußversuche

17 Bundestag

18 Exekutive

19 E i n f l u ß n a h m e der Verbände auf alle Gesetzgebungsstadien

des bei allen die Verbandsmitglieder direkt oder indirekt berührenden staatlichen Entscheidungen Geltung zu verschaffen. Ein Verband wird seine Einflußversuche deshalb auf diejenige(n) Stelle(n) des staatlichen Entscheidungsprozesses richten, die der Erreichung dieses Zieles förderlich, erst recht die dafür unabdingbar ist (sind). Die Struktur des Verbandseinflusses hängt deshalb nicht unwesentlich von der Struktur des staatlichen Entscheidungsprozesses ab 23 . In diesem ragt der Bundestag durch das verfassungsrechtliche Monopol für die Beschlußfassung über Bundesgesetze heraus (Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG). Kein Gesetz kann ohne einen Beschluß des Bundestages Zustandekommen. Beim Bundestag liegt damit die formelle verfassungsrechtliche Autorität für die Gesetzgebung. Kein Verband kann diese Tatsache außer acht lassen (s.u. R d n . 2 0 f f ) . Der Bundestag ist allerdings nicht der einzige und — wie zahlreiche Untersuchungen belegen — nicht einmal der wichtigste Akteur im Gesetzgebungsverfahren. Die faktische Autorität liegt überwiegend bei der Exekutive, die demnach auch als der vornehmliche Adressat des Verbandseinflusses in der Bundesrepublik anzusehen ist (dazu Rdn. 41 ff). Gleichwohl widerspricht dem nicht die Feststellung, „daß die Einflußnahme der Verbände auf die Gesetzgebung in allen Stadien dieses politischen Prozesses erfolgt: von der Ausarbeitung der Referenten- und Regierungsentwürfe über die verschiedenen Plenar- und Ausschußberatungen im Bundesrat und vor allem im Bundestag, gegebenenfalls bis zu den Kompromißverhandlungen im Vermittlungsausschuß" 24 . 23 24

Vgl. H.ECKSTEIN Pressure G r o u p Politics, Stanford 1960, S.20. O . STAMMER et al. Verbände und Gesetzgebung, 1965, S. 21, 201 ff z u m Personalvertretungsgesetz. — Ähnliches zeigen auch die Studien von V. GRÄFIN BETHUSY-HUC Demokratie und

§7

Parlament und organisierte Interessen (STEINBERG)

223

Die Einflußnahme auf den Bundestag hängt nicht zuletzt davon ab, ob hierzu 2 0 noch eine Notwendigkeit besteht. Sind die Verbandsvorstellungen bereits bei der Einflußnahme auf den Formulierung des Regierungsentwurfs berücksichtigt worden, wird der Verband ^ u n ^ e s t a § dessen weiteres Schicksal im Bundestag allenfalls beobachten, die Verabschiedung unterstützen und intensivere Aktivitäten erst bei gefahrverheißendem politischen Widerstand entfalten. Die Situation fehlenden oder schwachen parlamentarischen Verbandseinflusses dürfte vorherrschend sein bei der Vielzahl unter den Fraktionen des Bundestages nicht kontroverser Gesetzentwürfe. Für sie gilt die Feststellung zum Chemikaliengesetz, wonach das Parlament „in jeder Hinsicht eine marginale Rolle" 25 spielte. In dieser Situation brauchen die im vorparlamentarischen Stadium erfolgreichen Verbände nicht mehr aktiv zu werden. Die Gesetzentwürfe erreichen den Bundestag bereits als „verbandsfeste" Vorlage 26 . Die Entstehungsgeschichte des ChemG zeigt aber auch, daß die bei der Formulierung des Gesetzentwurfs durch die Ministerialverwaltung nicht oder nur unzulänglich berücksichtigten, erst recht die überhaupt nicht beteiligten Verbände versuchen, ihre Auffassung in den parlamentarischen Beratungen — im konkreten Falle allerdings erfolglos — durchzusetzen 27 . Die Geschichte dieses Gesetzes macht jedoch auch deutlich, daß die Situation faktischer Bedeutungslosigkeit des Parlaments nicht nur bei eher „technischen", unpolitischen Regelungen zu beobachten ist, deren Auswirkungen auf die unmittelbar Betroffenen beschränkt sind. Die Materie des ChemG berührt die gesamte Bevölkerung nicht nur als Arbeitnehmer und Verbraucher, sondern auch in ihren elementaren Gesundheitsinteressen, da die natürlichen Lebensgrundlagen betroffen sind28. Es handelte sich auch insoweit um ein „hochpolitisches", weil außerhalb der Fraktionen des Bundestages kontroverses Gesetz, das nicht nur von den Umweltverbänden, sondern auch von fachlich kompetenten Wissenschaftlern, so dem Sachverständigenrat für Umweltfragen und dem Vorsitzenden der MAKKommission, der Chemiegewerkschaft und selbst Teilen der staatlichen Administration abgelehnt wurde29.

21 Faktische

Bedeutungslosigkeit des Parlaments

Allerdings läßt sich dieses Ergebnis — wie das aller Fallstudien — nicht 2 2 generalisieren. In anderen Fällen hat der Bundestag von seiner formellen Autorität Aktiver Eingriff des auch Gebrauch gemacht und aktiv gestaltend in den Gesetzgebungsprozeß einge- q " " ^ ^ 6 5 ^o/eß und Verbandseinfluß Interessenpolitik, 1962; F. NASCHOLD Kassenärzte und Krankenversicherungsreform, 1967; P. ACKERMANN Der Deutsche Bauernverband im politischen Kräftespiel der Bundesrepublik, 1970. 25

V. SCHNEIDER Politiknetzwerke der Chemikalienkontrolle. Eine Analyse einer transnationalen Politikentwicklung, 1988, S.234F; vgl. auch ebd., S. 101 ff, 217, 220 ff. Ähnlich H.SCHNEIDER G e s e t z g e b u n g , 1 9 8 2 , R d n . 128.

W. HENNIS Verfassungsordnung und Verbandseinfluß, in: STEINBERG (Hrsg.) aaO (Fn. 4) S. 87. 27 Vgl. V.SCHNEIDER aaO (Fn.25) S. 125ff zu den Umweltverbänden. — Ebenso K.DAMASCHKE Der Einfluß auf die Gesetzgebung. Am Beispiel des Gesetzes zum Schutz vor gefährlichen Stoffen, 1986, S. 131; vgl. auch STAMMER aaO (Fn.24) S . 2 1 3 ; P . A . PHILIPP Die Offenlegung des Einflusses von Interessenverbänden auf die Staatswillensbildung in der Bundesrepublik Deutschland — vier Fallstudien zum Wettbewerbsrecht, 1974, S. 80 und 206. 2» V.SCHNEIDER aaO (Fn.25) S . 6 3 f f . 2'' Vgl. ebd., S. 205 ff, 211 ff, 220 f. 26

224

2. Teil: Grundlagen der parlamentarischen Demokratie

griffen 30 . Verlagert sich dadurch das Zentrum effektiver Macht ins Parlament, so folgt dem unweigerlich auch der Verbandseinfluß. 23 Als Zwischenergebnis läßt sich festhalten, daß der Bundestag je nach konkreter Zwischenergebnis Entscheidungsstruktur ein mehr oder weniger wichtiger Adressat des Verbandseinflusses ist, daß darüber hinaus der Bundestag als Inhaber der formalen Gesetzgebungskompetenz niemals ganz von den Verbänden außer acht gelassen werden darf. b) Formen

und Mittel der parlamentarischen

Einflußnahme

24 Von einer klassischen Form des Verbandseinflusses zeugt der in Amerika geprägte Lobbyismus

Begriff des Lobbyismus. Damit wurden diejenigen Interessenvertreter gemeint, die im 19. Jahrhundert in den Gängen der Abgeordnetenhäuser in Washington, vor allem aber in den Einzelstaaten die Abgeordneten in ihrem Sinne zu beeinflussen versuchten 31 . Heute findet ein derartiger Austausch nicht mehr — jedenfalls nicht mehr primär — in der Lobby des Bundeshauses statt. Statt dessen bestehen andere formelle oder informelle Formen der Einflußnahme.

25

(1) Den wichtigsten O r t institutioneller Einwirkungsmöglichkeit der Interessenverbände stellen die Anhörungen („hearings", dazu s.u. § 4 4 ) nach § 7 0 Abs. 1 G O B T dar, in denen neben Sachverständigen auch „Interessenvertreter" angehört werden können. Obwohl die Möglichkeit zu öffentlichen Anhörungen seit 1952 besteht, wurde von diesem Instrument erst seit der V.Wahlperiode (1965-1969) in einer stärkeren Weise Gebrauch gemacht 32 , so daß heute „kaum ein Gegenstand von herausragendem sozialpolitischen Gewicht das Stadium der parlamentarischen Beratung ohne Einschaltung eines hearings" durchläuft 33 .

Anhörungen

26 Allgemeine Aussprache

Gemäß § 70 Abs. 4 S. 1 G O B T besteht die Möglichkeit, „in eine allgemeine Aussprache mit den Auskunftspersonen ein[zu]treten, soweit dies zur Klärung des Sachverhalts erforderlich ist". Hierdurch wird die nicht unproblematische, von den Interessenverbänden bereits seit den Zeiten der Frankfurter Nationalversammlung angestrebte 34 Einrichtung einer gemeinsamen Sitzung von Abgeordneten und Interessenvertretern praktiziert.

30

Vgl. NASCHOLD a a O ( F n . 2 4 ) S. 2 2 0 ff, wo es den Verbänden erst in der parlamentarischen Beratung gelang, die Krankenversicherungsreform zum Scheitern zu bringen. — Als anderes Beispiel nennt HANS SCHNEIDER a a O ( F n . 2 5 ) Rdn. 128, das Hochschulrahmengesetz von 1976. — A u f Landesebene berichtet der Hessische Datenschutzbeauftragte SIMITIS, das Hessische Datenschutzgesetz sei während der parlamentarischen Beratungen „entscheidend" in nahezu jeder Vorschrift geändert worden.

31

Vgl. E. LANE L o b b y i n g and the Law, Berkeley etc. 1964, S. 18 ff; V . LANGBEIN Die rechtliche Regelung des Lobbyismus in den Vereinigten Staaten, 1967, S. 14 ff.

32

Vgl. die Angaben in: P. SCHINDLER Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1 9 4 9 - 1 9 8 2 , 1983, S. 603 ff; DERS. Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1 9 8 0 - 1 9 8 4 , 1986, S. 589 ff.

33

So F . W . APPOLDT Die öffentlichen Anhörungen („hearings") des Deutschen Bundestages, 1971, S. 50 zur Praxis in der V. und V I . Wahlperiode. — Vgl. auch die Analyse der öffentlichen Anhörungen der Ausschüsse für Finanzen, Haushalt sowie Arbeit und Sozialordnung des 9. Deutschen Bundestages von B . WESSELS Kommunikationspotentiale zwischen Bundestag und Gesellschaft, ZParl 1987, S. 285 ff., 290 ff.

34

Dazu G . ZIEBURA Ausschußwesen und Interessenvertretung in der ersten deutschen Nationalversammlung, in: H . J . VAREIN (Hrsg.) Interessenverbände in Deutschland, 1973, S.57.

§7

Parlament und organisierte Interessen (STEINBERG)

225

Die Anhörungen vermögen im wesentlichen zwei Funktionen zu erfüllen. Zum einen wird für solche Verbände ein Forum für ihre Stellungnahme geschaffen, die in den früheren Stadien der Entwurfsarbeit nicht beteiligt waren. Allerdings besteht die Gefahr, daß in diesem Stadium Einwirkungsmöglichkeiten vorgetäuscht werden, die angesichts der Vorverlagerung der faktischen Entscheidung in den vorparlamentarischen Raum nicht mehr bestehen 35 . Die Anhörungen geraten so vielfach zu Alibiveranstaltungen einer nur scheinbar offenen Entscheidungssituation, zur Legitimation der längst feststehenden Auffassungen der politischen Kontrahenten im Ausschuß, zur öffentlichkeitswirksamen Darstellung der Verbandspositionen und zur verbandsinternen Dokumentation der Aktivitäten der Verbandsspitze.

27

Darunter leidet auch die zweite mögliche Funktion der öffentlichen Anhörungen, die Schaffung eines Stückes Transparenz des Verbandseinflusses. Zwar besteht die Möglichkeit der Kenntnisnahme der Bürger wegen der Öffentlichkeit der Anhörungen, doch hängt dies von der Berichterstattung in den Medien ab, die — wenn überhaupt — eher auf publikumswirksame, kontroverse Themen beschränkt bleibt, zu denen die unterschiedlichen Standpunkte ohnehin bekannt sind 36 . Ein weiteres Stück Transparenz im Sinne einer Information des Gesamtparlaments und einer Dokumentation der während der Gesetzgebung vertretenen Auffassungen stellt der Ausschußbericht dar. In ihm sollen die bei den öffentlichen Anhörungen dargelegten Auffassungen „in ihren wesentlichen Punkten" wiedergegeben werden (§66 Abs. 2 S. 2 G O B T ) . Es handelt sich hierbei um eine zu wenig beachtete, gleichwohl bedeutsame Bestimmung. Bedauerlicherweise scheint sie entgegen der in der „Soll"-Vorschrift zum Ausdruck kommenden Rechtspflicht zur regelmäßigen Anwendung nur unregelmäßig und uneinheitlich praktiziert zu werden 37 .

28

F o r u m für Verbandsstellungnahmen, Begleiterscheinungen

Transparenz des Verbandseinflusses

29

Ausschußbericht

Der Informationsgehalt sowohl der Öffentlichkeit der Ausschußsitzungen als 30 auch der Berichte wird jedoch dann eingeschränkt, wenn ein maßgeblicher Ver- Gefahren für die band nicht die von ihm in den vorparlamentarischen Verhandlungen geäußerten Informationsfunktion der öffentlichen Anhörungen

Kritisch DAMASCHKE a a O (Fn. 27) S. 127ff; H.-J. MENGEL Die Funktion der parlamentarischen Anhörung im Gesetzgebungsprozeß, D O V 1983, S . 2 2 6 f f , 233: „ritualisiertes Verfahren". Sehr skeptisch auch zu den "hearings" des bad.-württ. Landtages G . HECK Die Anhörung der Verbände im Gesetzgebungsverfahren — das Schulgesetz als Fallbeispiel, in: HERBERT SCHNEIDER a a O (Fn. 2) S. 65 ff, 79 ff. Demgegenüber SCHRÖDER a a O (Fn.22) S. 106 ff, 115; WEBER a a O (Fn.15) S . 2 9 7 f . * So auch MENGEL a a O (Fn. 35) S . 2 2 9 f . 35

37

In zahlreichen Fällen wird in den Berichten lediglich die Tatsache der Anhörung vermerkt ohne Nennung der Beteiligten oder ihrer Positionen. So etwa in den Anhörungen zum Bundesnaturschutzgesetz, Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten vom 21.5.1976, BT-Drucks. 7/5251; zum Jugendarbeitsschutzgesetz, Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung vom 5.1.1976, BT-Drucks. 7/4544; zum Chemikaliengesetz, Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie und Gesundheit vom 2 4 . 6 . 1 9 8 0 , BT-Drucks. 8/4295. — In anderen Fällen wird immerhin auf vertretene Positionen ohne Verbandsnennung hingewiesen, so zum Verkehrslärmschutzgesetz, Bericht des Ausschusses für Verkehr und für das Postund Fernmeldewesen vom 2 8 . 2 . 1 9 8 0 , BT-Drucks. 8/3730. N o c h anders wird die Teilnahme bestimmter Verbandsvertreter ohne Nennung ihrer Positionen angegeben. So zum Montan-Mitbestimmungsgesetz Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung vom 3 . 4 . 1 9 8 1 , BT-Drucks. 9/309. -

226

31

Bewertung der öffentlichen Anhörungen

32

Informelle Kontakte zu Abgeordneten, Zahlungen an Abgeordnete

33

Institutionalisierte Form der Kontakte

34

Bundestagsmitglieder als Verbandsvertreter i.e.S.

2. Teil: Grundlagen der parlamentarischen Demokratie

Forderungen vertritt, sondern medienwirksam den dort gefundenen Kompromiß verteidigt 38 . Eine noch größere Gefahr für die Informationsfunktion der öffentlichen Anhörungen entsteht schließlich dadurch, daß Interessenten unter der Camouflage eines „Sachverständigen" auftreten. Auch dafür liefert die Anhörungspraxis Belege 39 . Die Bewertung der öffentlichen Anhörungen bleibt deshalb zwiespältig. Zur Eröffnung effektiven Verbandseinflusses sind sie für die starken Verbände überflüssig, für die schwachen Verbände ungeeignet, zur Förderung der Transparenz des Verbandseinflusses nur höchst eingeschränkt tauglich, zu dessen Kanalisierung insgesamt untauglich. (2) Von ungleich größerer Bedeutung für die parlamentarischen Einflußmöglichkeiten der Verbände sind demgegenüber informelle Kontakte zu „nahestehenden" Abgeordneten 4 0 . Dies kann in relativ unverfänglicher Weise geschehen durch die Veranstaltung sogenannter „parlamentarischer Abende" der Verbände in ihren Bonner Vertretungen. Die Gunst eines Abgeordneten kann jedoch auch in direkterer Form gesucht werden. Eine Form derartiger Interessentenzahlungen 41 an Abgeordnete stellt die Gewährung von Gehältern als hauptamtliche Verbandsfunktionäre oder die Vergütung für Beraterverträge dar. Aber auch über andere direkte Zahlungen an Abgeordnete, vor allem im Zusammenhang mit der Finanzierung der Wahlkampfkosten, besteht kein Zweifel, selbst wenn der Nachweis hierfür selten gelingt 42 . Die Kontakte zwischen Verbänden und „nahestehenden" Abgeordneten bestehen in durchaus institutionalisierter Form, etwa in Gestalt von der Kontaktpflege dienenden Arbeitskreisen der Interessenten, Verbindungsleuten oder „Kontaktgruppen" in den Fraktionen. Die wichtigste Gruppe der „nahestehenden" Abgeordneten dürfte diejenigen Bundestagsmitglieder umfassen, die Verbandsvertreter im engeren Sinne sind, d. h. „hauptberuflich oder ehrenamtlich Funktionen in einem Verband ausüben oder ausgeübt haben ( z . B . Geschäftsführer von Verbänden, Verbandsvorsitzende auf Kreis-, Bezirks- und Bundesebene, Verbandsmitglieder, Verbandsangestellte,

38 35

40 41

42

Verbandsteilnehmer und Positionen finden sich in dem Bericht des Ausschusses für Forschung und Technologie vom 12.3.1986 zur „Zukünftigen Entwicklung von Großforschungseinrichtungen", BT-Drucks. 10/5178 oder zum Gesetz über steuerliche Maßnahmen zur Förderung schadstoffarmer Personenkraftwagen usw. Bericht des Finanzausschusses vom 2 7 . 2 . 1 9 8 5 , BTDrucks. 10/2942. DAMASCHKE a a O (Fn.27) S. 130 f zum Chemikaliengesetz. Beispiele dafür bei L. A. VERSTEYL Der Einfluß der Verbände auf die Gesetzgebung, Diss. iur. Bochum 1972, S. 147 ff. Vgl. auch die Angaben bei WESSELS a a O (Fn.33) S. 297ff. Vgl. H . H . VON ARNIM Das Verbot von Interessentenzahlungen an Abgeordnete, hrsg. vom Karl-Breuer-Institut des Bundes für Steuerzahler e.V., 1976, S. 7. Gelegentlich berichtet „Der Spiegel" über derartige Aktivitäten, so über Zahlungen des Bundesverbandes der pharmazeutischen Industrie, vgl. Der Spiegel N r . 27/1985, S. 29 ff; über Zahlungen der Versicherungswirtschaft, Der Spiegel Nr. 34/1985, S. 19 ff. — Der Verfasser selbst konnte bei einem Bonner Spitzenverband die Existenz eines Wahlkampffonds in Millionenhöhe feststellen, der an „nahestehende" Abgeordnete und Kandidaten ausgeschüttet wurde.

§7

Parlament und organisierte Interessen (STEINBERG)

227

Gewerkschaftssekretäre und Vertreter der innerparteilichen Interessengruppen)" 4 3 . Sie sind in den nachstehenden Tabellen (siehe Seite 228 u. 229) aufgeführt. Bei der Ubersicht sind einfache Verbandsmitglieder nicht berücksichtigt. Auf- 35 fällig erscheint die Dominanz der Vereinigungen im Wirtschafts- und Arbeitsbe- Verbandsförderung reich sowie die deutliche Zunahme der Zahl der Verbandsvertreter von 48,5 % in des Bundestages der VII. Wahlperiode auf 69 % in der I X . Wahlperiode, die jedoch in der X . Wahlperiode wieder auf 58,1 % zurückgegangen ist 44 . Insbesondere die in der I X . Wahlperiode erreichte Zahl der Verbandsvertreter überhaupt, bei der C D U / C S U Fraktion von fast 90 % , mag überraschen, wenngleich freilich die Zahl in Wirklichkeit durch in ihr enthaltene Mehrfachzählungen geringer sein mag. Eher dem allgemeinen Bild der politischen Parteien entspricht die Verteilung der unterschiedlichen Verbandsinteressen auf die verschiedenen Fraktionen. Findet sich in der C D U / C S U - F r a k t i o n eine nicht unerhebliche Zahl von Vertretern aus Industrie-, Arbeitgeber- und mittelständischen Verbänden, so fehlen diese in der S P D nahezu völlig. Umgekehrt weist die S P D einen höheren Anteil an Verbandsvertretern aus Arbeitnehmerorganisationen auf, die auch in der C D U / C S U - F r a k t i o n — wenn auch nur etwa halb so stark — vertreten sind, und nur in der F. D . P.Fraktion völlig fehlen. Die Verbandsfärbung des Bundestages ist noch eindrucksvoller, wenn die „einfachen" Mitglieder in bestimmten Verbänden berücksichtigt werden. Auch wenn — wie zutreffend bemerkt wurde — die Erfahrung dagegen spricht, „die bloße Verbandsmitgliedschaft gleichzusetzen mit einer aktiven und dauerhaften Identifizierung mit den gerade aktuellen Zielen der Verbandsführung" 4 5 , so darf man doch bei den 238 Mitgliedern von DGB-Gewerkschaftlern im I X . Deutschen Bundestag 46 oder dem guten Drittel Angehöriger des öffentlichen Dienstes 4 7 auf jeden Fall ein offenes O h r und Verständnis für die Belange „ihres" Verbandes erwarten. Ihren bedeutsamsten Platz besitzt die eingebaute L o b b y des Bundestages in 36 dessen Ausschüssen (dazu s. u. Rdn. 37). Bei ihnen handelt es sich um die Arbeits- Bundestagsausschüsse einheiten des Parlaments, in denen die wirkliche Arbeit an den ihnen regelmäßig und InteressentenAbgeordnete überwiesenen Gesetzentwürfen geleistet wird (§ 80 Abs. 1 G O B T ) , die mit einer Beschlußempfehlung an das Plenum endet (§ 66 Abs. 2 S. 1 G O B T ) . Da die Fraktionen aus gutem Grund ihre Fachleute in die jeweiligen Ausschüsse entsenden, die häufig eben gleichzeitig die einschlägigen Verbandsvertreter sind, finden sich die Vertreter der Unternehmerverbände, der Gewerkschaften, der Landwirte oder der Beamten in den für ihre Gruppeninteressen wichtigen Ausschüssen wieder, die damit gelegentlich zu „Verbandsinseln" zu werden drohen 4 8 .

« SCHINDLER aaO ( F n . 3 2 ) S . 2 0 5 . Frühe Zahlen bei G . LOEWENBERG Parlamentarismus im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, 1969, S. 157 ff.

44

45

WEBER a a O (Fn. 15)

46

Vgl. SCHINDLER H a n d b u c h 1 9 8 2 - 1 9 8 4 aaO ( F n . 3 2 ) , S . 2 0 6 . D e r Anteil der Gewerkschaftler insgesamt ist in der 11. Legislaturperiode auf 5 9 , 7 % gestiegen. Vgl. E . - P . MÖLLER Interessen der Sozialpartner im X I . Deutschen Bundestag, ZParl 1988, S. 195. Vgl. H a n d b u c h 1 9 8 2 - 1 9 8 4 a a O ( F n . 3 2 ) S. 198, 2 0 9 .

47 4

S.281.

» S o BREITLING a a O ( F n . 15) S. 137.

2.Teil: Grundlagen der parlamentarischen Demokratie

228

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geringeren Eigenauspragungen als die Regelungen des Grundgesetzes. Fur den Bundesrat, die Vertretung der Delegierten aus 25 Ländern und den Reichstag, dessen Wahlperiode zunächst 3 Jahre betrug und ab 1888 auf 5 Jahre verlängert wurde, bestand kein Selbstversammlungsrecht, sieht man von einem ZweidrittelBerufungsverlangen des Bundesrates gem. Art. 14 RV 1871 einmal ab. Vielmehr oblag es dem Kaiser, die Häuser zu berufen, zu eröffnen, zu vertagen oder zu schließen, Art. 12 RV 1871. Zwar mußten im Fall der Reichstagsauflösung, die keine Selbstauflösung war, sondern einen Beschluß des Bundesrates und die Zustimmung des Kaisers voraussetzte, binnen 60 Tagen Neuwahlen und binnen weiterer 30 Tage eine Konstituierung des neuen Reichstages stattfinden, Art. 25 RV 1871, aber auch den so neugewählten Reichstag konnte der Kaiser wieder auflösen. Lediglich das Wahlprüfungsrecht stand gem. Art. 27 S. 1 RV 1871 dem Reichstag selbst zu. 8 Das Mandat des Abgeordneten setzte die von der Wahlkommission 18 zu Voraussetzungendes erfolgende Proklamation des Wahlergebnisses voraus, die anschließende Vorlage Mandatserwerbs e i n e s p 0 li z e i a ttestes über die Wählbarkeit des Betreffenden, §33 Abs. 1 W R " und die rechtzeitige, nämlich innerhalb von 8 Tagen eingehende vorbehaltlose Erklärung über die Annahme der Wahl gegenüber dem Wahlkommissar. Die allgemeine Wählbarkeitsvoraussetzung unter Einbeziehung der Inelegibilität, §§3, 4 W G von 1869 bzw. Inkompatibilität waren ebenfalls zu beachten 20 . Der Verlust des Abgeordnetenmandats entsprach im wesentlichen den heutigen Gründen 21 .

15 16

17

18 19

20

21

Wahlgesetz für den Reichstag des Norddeutschen Bundes vom 31. Mai 1869, R G B l . , S. 145. Zur Parallelität der Wahlrechtsgrundsätze statt aller: J. HATSCHEK Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, 1915, S. 267 ff. Verkündet am 20. April 1871, R G B l . , S . 6 4 ; in Kraft getreten am 4. Mai 1871; außer Kraft getreten gem. Art. 178 Abs. 1 W R V am 14. 8 . 1 9 1 9 . Zur Funktion und Zusammensetzung vgl. HATSCHEK Parlamentsrecht (Fn. 16), S. 383 ff. Wahlreglement vom 28. Mai 1870, R G B l . , S . 2 7 5 , Eine Ausführungsverordnung zum Wahlgesetz, zuletzt geändert durch Bek. vom 4 . 6 . 1 9 1 3 , R G B l . , S. 314. Zur Funktion und Zusammensetzung vgl. HATSCHEK Parlamentsrecht (Fn. 16), S. 573 ff; vgl. auch u. IV 1 b). Zur Funktion und Zusammensetzung vgl. HATSCHEK Parlamentsrecht (Fn. 16), S. 581 ff; vgl. auch u. I V 2.

§14

B e g i n n und E n d e d e r W a h l p e r i o d e , E r w e r b und V e r l u s t des M a n d a t s (VERSTEYL)

471

4. 1919 Beginn und Ende der grundsätzlich 4jährigen Wahlperiode bestimmten sich so, wie 9 es das Grundgesetz insgesamt bis zur Änderung von Art. 39 22 und seither auch im Parallelen Falle der Auflösung noch ebenfalls vorsieht: spätestens 60 Tage nach Ablauf erfolgte die Neuwahl des Reichstages, der sich spätestens am 30. Tag danach zu konstituieren hatte, Art. 23 der Weimarer Verfassung^. Da zwischen Beendigung und Konstituierung zweier Wahlperioden eine „parlamentslose" Zeit vorgesehen war und zusätzlich gem. Art. 24 WRV auch noch während der Wahlperiode eine Unterscheidung in Tagungsperioden vorgenommen wurde, bestand gem. Art. 35 Abs. 2 und Art. 40 a WRV ein gesonderter Ausschuß zur Wahrung der Rechte der Volksvertretung gegenüber der Reichsregierung für die Zeit außerhalb der Tagungen oder für die übrige Zeit des nicht präsenten Reichstages. Die Parallelnorm des Grundgesetzes, Art. 45, wurde 1976 aufgehoben24.

der

Auch die Bestimmungen der Weimarer Verfassung über den Mandatserwerb sowie -verlust entsprachen im 2. Abschnitt Art. 20-40 a25 und im 4. Abschnitt Art. 60-67 über den Reichsrat schon weitestgehend den Regelungen des Grundgesetzes. Mit dem Reichswahlgesetz vom 27. 4.1920 2 6 und der Verordnung über Reichswahlen und -abstimmungen27 endeten die auf der Frankfurter Nationalversammlung basierenden Grundsätze. Das Mandat begann nach Benachrichtigung durch den Kreiswahlleiter, die verbunden war mit der Aufforderung zur Annahmeerklärung. Anders als es §33 des Wahlreglements vom 28.5.1870 entsprach28, galt hier eine Nichterklärung als Annahme29. Der Verlust des Mandats erfolgte außer bei Beendigung der Wahlperiode oder vorzeitiger Reichstagsauflösung, Art. 22 Abs. 1 S. 1 und Art. 25 S. 1 WRV, durch persönlich bedingte Gründe, wie sie auch im Rahmen heutiger Regelungen des Bundestages Gültigkeit haben.

III. Die Wahlperiode 1. Begriffsbestimmung Das Grundgesetz spricht in Art. 39 Abs. 1 S. 2 und 3 von Wahlperiode, in Abs. 3 S. 1 wird der Terminus der Sitzung verwendet. Andere Unterscheidungen, etwa die von Tagungs- oder Sitzungsperioden oder der Legislaturperiode, wie sie die früheren Verfassungen kannten, bestehen für das Grundgesetz nicht mehr. Zu Recht wird in der Literatur darauf hingewiesen, daß zwischen den Termini 10 „Legislatur"- und „Wahl"-Periode ein mehr als sprachlicher Unterschied insoweit W a h l p e r i o d e = bestehe, als der erstere Begriff nur auf eine der Parlamentsfunktionen abstelle Le g ls ' atur P erl °de? 22

Ä n d e r u n g d u r c h das 3 3 . G e s e t z zur Ä n d e r u n g des G G v o m 2 3 . 8 . 1 9 7 6 , B G B l . I, S . 2 3 8 1 .

23

D i e Verfassung des D e u t s c h e n R e i c h e s v o m 1 1 . 8 . 1 9 1 9 , R G B l . , S. 1 3 8 3 , W R V .

24

Vgl. die G G - Ä n d e r u n g in F n . 2 2 .

25

A r t . 4 0 a, eingefügt d u r c h G e s e t z v o m 2 2 . 5 . 1 9 2 6 , R G B l . I, S . 5 4 7 .

26

R G B l . , S. 6 2 7 .

27

R e i c h s s t i m m o r d n u n g v o m 14. 3 . 1 9 2 4 , R G B l . I, S. 173.

28

W a h l r e g l e m e n t , s . o . F n . 19.

29

H . P O H L in: G . A N S C H Ü T Z / R . T H O M A

H a n d b u c h des D e u t s c h e n Staatsrechts, B d . I ,

S . 3 9 8 ; E.TATARIN-TARNHEYDEN, in: e b d . ,

S.422.

1930,

472

4. T e i l : D e r D e u t s c h e B u n d e s t a g und seine Mitglieder

und daher historisch bedingt auch nur auf eingeschränkte Kompetenzen der Parlamente früherer deutscher Verfassungen Bezug nehme 30 . Betrachtet man das Parlament aber entsprechend der tradierten Gewaltenteilungstheorie: LegislativeExekutive-Judikative, so verstand man doch bereits bei Entstehung des Parlamentarismus unter Legislaturperiode etwa die Zeitspanne = Periode, innerhalb der das gewählte Organ bestand. Der Zusatz „Legislativ" diente insoweit der Abgrenzung zu den übrigen Institutionen. In Anbetracht der erweiterten Funktionen des Parlamentes, neben der der Gesetzgebung etwa die der Wahl-, Artikulations-, Initiativ- und Kontrollfunktionen, um die terminologischen Zuordnungen UWE T H A Y S E N S ZU verwenden 31 , kann das Wort von der Legislaturperiode daher zwar nicht im Sinne der Aufgabenstellung, wohl aber weiterhin als zeitliches Abgrenzungskriterium synonym mit dem der Wahlperiode verwendet werden. Nimmt man im übrigen den Begriff der Wahlperiode absolut, so kann auch dieser sich als unzutreffend erweisen. Während nämlich der Wähler bei der Stimmabgabe ein Parlament für die Dauer seiner Wahl, nämlich 45-48 Monate, Art. 39 Abs. 1, 2 G G , zu bestimmen meint, kann sich infolge vorzeitiger Auflösung diese Wahl ebenfalls als zu einer kürzeren Periode führend herausstellen. Insofern wäre der Begriff „Maximal(Wahl-)Periode" zwar zutreffender, aber gleichermaßen überflüssig wie sprachlich unbefriedigend. 2. Beginn der Wahlperiode a)

Regelfall

11 Die jeweilige Wahlperiode beginnt an dem Kalendertag des ersten Zusammentritts, Datendes 11. und ¡ m allgemeinen formell als Konstituierung erfolgend, der neu gewählten Abgeord12. Bundestages n g t e n d e r Bundestagswahl. Die 10. Wahlperiode begann folglich am 29.3.1983 3 2 . Der Fristbeginn regelte sich gem. Art. 39 Abs. 1 G G mit der Folge, daß zwischen dem 29.12.1986 und 28.2.1987 die Wahlperiode beendet sein mußte. Wegen der Benennung der Frist in Monaten kommt § 188 Abs. 2 B G B zum Tragen, der ein Fristende im Februar beim 28. oder 29. (Schaltjahr) Monatstag vorsieht33. Die Konstituierung des 11. Bundestages hätte spätestens am 28.3.1987 erfolgen müssen, da in Art. 39 Abs. 2 G G nämlich von Tagen und nicht, wie in Abs. 1, von Monaten die Rede ist. Der Bundestag schöpfte die Frist aber nicht aus, sondern beendete am 18.2.1987 durch die konstituierende Sitzung des 11. Bundestages34 die Wahlperiode des 10. Bundestages. Die Neuwahl zum 12. Bundestag kann demnach frühestens am 1. Sonntag (§ 16 S. 2 BWahlG) sein, der auf den 18.11.1990 folgt, und muß spätestens am letzten Sonntag bis zum 18.1.1991 erfolgen. Der 12. Bundestag muß dann spätestens jeweils 30 Tage später erstmals zusammentreten.

10

G . KRETSCHMER in: B o n n e r K o m m e n t a r , A r t . 3 9 , Z w e i t b e a r b e i t u n g , R d n . 4 .

31

U . THAYSEN Parlamentarisches Regierungssystem in der B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d , O p l a d e n

32

B T a g P l . - P r o t . 1 0 / 1 , S. 1.

1 9 7 6 , S. 1 7 - 6 8 . 33

O.PALANDT/H.HEINRICHS B G B - K o m m e n t a r , 4 7 . A u f l . , 1988, A n m . 2 a , § 1 8 8 B G B .

34

B T a g P I . - P r o t . 1 1 / 1 , S. 1.

§14

Beginn und Ende der Wahlperiode, Erwerb und Verlust des Mandats (VERSTEYL)

473

In der Literatur wird erwogen, ob Ende und Beginn der aufeinanderfolgen- 12 den Wahlperioden innerhalb eines Tages erfolgen können, mit der Folge, daß Ermittlung der „2 Bundestage" zeitverschoben innerhalb eines Kalendertages bestehen und wie im Tagesfrist Falle einer nicht rechtzeitigen Konstituierung innerhalb der dann abgelaufenen Frist zu verfahren sei. Im ersteren Fall wird die Meinung vertreten, die Fristbestimmungen der §§188 ff BGB seien insoweit nicht anwendbar, als es nicht auf den (Kalender-)Tag, sondern auf die Stunde ankomme 35 . Dieser Auffassung kann mit der h. M.36 nicht zugestimmt werden. Die Fristbestimmungen des BGB haben schon aus Gründen der Rechtsklarheit und -einheitlichkeit übergreifende Geltung, jedenfalls dann, wenn anderes Recht nicht entgegensteht. Die Fristen aus Art. 39 G G können jedoch vollends auf der Basis der §§188 ff BGB erfüllt werden. Die Annahme K R E T S C H M E R S , diese Lösung führe unzulässigerweise zu einem Tag Verlängerung der Wahlperiode, trifft deswegen nicht zu, weil der konstituierende Akt für den 11. Bundestag um 11.00 Uhr 37 den gesamten Tag beinhaltet. Die Wahlperiode des 10. Bundestages endete also zwar auch am 18.2.1987, spitzfindig gesagt aber — nach 11.00 Uhr — ex tunc um 0.00 Uhr. b)

Ausnahmefälle

Ungeklärt ist die Rechtslage, wenn aus Vorsatz oder höherer Gewalt nicht rechtzeitig innerhalb der Frist der Wahlperiode des alten Bundestages zur Konstituierung des neuen eingeladen wird, bzw. der Einladung nicht rechtzeitig gefolgt werden kann. Dabei ist der Verteidigungsfall gem. Art. 115 h GG, wonach sich die Wahlperiode um 6 Monate verlängert, verfassungsrechtlich geregelt. Immerhin ist es denkbar, daß sowohl nach Ablauf dieser verlängerten Frist wie auch sonst infolge von Naturereignissen ein rechtzeitiger Zusammentritt des neu gewählten Parlamentes nicht möglich wäre. Eine ähnliche Situation könnte eintreten, wenn der vorherige Bundestagspräsident nicht rechtzeitig zur konstituierenden Sitzung einlädt. Es erscheinen mehrere Alternativen möglich bei einem Konflikt wie diesem, „an dem das Grundgesetz an seine Grenzen stößt" 38 . Zunächst kann jeder der stellvertretenden Parlamentspräsidenten der ablaufenden Wahlperiode zur Konstituierung der neuen einladen. Sollte auch dies aus subjektiven oder objektiven Gründen nicht erfolgen und auch verfassungsgerichtlicher einstweiliger Rechtsschutz unmöglich werden, könnte — subsidiär — eine ansonsten nicht mögliche Einberufung durch den Bundeskanzler oder den Bundespräsidenten gem. Art. 39 Abs. 3 S. 2 G G erfolgen. Bundeskanzler und Bundespräsident sind zwar im Normalfall nicht zur konstituierenden Einberufung berechtigt 39 , da der Wortlaut von Art. 39 Abs. 3 GG nur von „Wiederbeginn" spricht und 35 36 37 38

39

KRETSCHMER Bonner Kommentar (Fn.30), Rdn. 17 zu Art. 39. Statt aller: SCHREIBER Wahlrecht (Fn. 12), Rdn. 3 zu § 16 m. N . S.o. Fn.34. H.-P. SCHNEIDER in: AK Grundgesetz, Rdn. 19 zu Art. 39, für den Fall der nicht erfolgenden Konstituierung. S o a b e r T . MAUNZ i n : T . MAUNZ / G . DÜRIG / R . HERZOG / R . SCHOLZ ( H r s g . )

Grundgesetz-

k o m m e n t a r , R d n . 1 4 zu A r t . 39; H . VON MANGOLDT/F. KLEIN G r u n d g e s e t z k o m m e n t a r , 1964,

Anm. V 1 b) zu Art. 39.

13 Verteidigungsfall, Naturereignisse

14 Keine ordnungsgemäße Ladung zur Konstituierung

15 Vizepräsident, Bundespräsident, Bundeskanzler

474

16 Selbstversammlung

17 In dubio: pro Fortbestand

4. Teil: D e r D e u t s c h e Bundestag und seine Mitglieder

andere Verfassungsorgane so in die Autonomie des Bundestages eingreifen könnten 40 . In dem oben geschilderten Ausnahmefall treten allerdings die genannten Bedenken als weniger schwerwiegend zurück, so daß hier auch der Bundeskanzler oder der Bundespräsident zu der konstituierenden Sitzung einladen könnten. Auch wäre es möglich, daß neugewählte Abgeordnete, deren Status sich mit der Annahme der Wahl 41 gefestigt hat, die Einberufung verlangen bzw. selbst durchführen und die Konstituierung bewirken. Dazu gehört zwar die Wahl von Präsident, Stellvertreter und Schriftführer, § 1 Abs. 4 G O B T , die Wahlperiode beginnt jedoch schon bei Sitzungseröffnung 4 2 . Sollten alle diese Möglichkeiten nicht gegeben sein, blieb der bisherige Bundest a g gewissermaßen aus dem Gedanken eines übergesetzlichen Notstandes gleicherm a ß e n C O ntra constitutionem wie ratio constitutionis über die Frist des Art. 39 Abs. 1 G G hinaus als Organ bestehen. Insoweit ist der Verfassungsgrundsatz, daß es keine parlamentslose Zeit geben kann, und weil die als Ersatz ursprünglich existente Institution des Ausschusses gem. Art. 45 G G gestrichen wurde 43 , stärker als die Fristbestimmung, da letztere lediglich dem Zweck dient, dem Wahlbürger kontinuierlich ein neues Recht auf personelle Zusammensetzung zu geben. Von daher kann der Grundsatz aufgestellt werden, daß das Ende einer Wahlperiode immer erst zu Beginn einer neuen Wahlperiode erfolgen kann. 3. Sitzungsperiode — Unterbrechung der Wahlperiode?

18 Frühere deutsche Verfassungen kannten noch neben der Legislatur- bzw. WahlpePermanentes r iode die Unterzeiteinheit Tagungs- bzw. Sitzungsperiode oder Session. Zu Recht Parlament s j c ] 1 Jgj. Parlamentarische Rat für die Permanenz des Parlaments ausgesprochen und die in der Praxis natürlich vorkommenden Unterbrechungen der Tagungen, etwa wegen der Parlamentsferien, nicht als mit Neukonstitution notwendig werdenden selbständigen Zeiträumen unterhalb der Schwelle der Wahlperiode betrachtet 44 . Die seit Jahren bestehende Tagungspraxis mit ihren Rhythmen von Tagungswochen und solchen, in denen überwiegend Ausschüsse tätig sind, bzw. die Abgeordneten ihren übrigen Verpflichtungen nachgehen können, und auch die Dauer der Parlamentsferien ergibt sich aus der jährlich neu festgesetzten Übersicht des „Zeitplanes des Deutschen Bundestages 4 5 . Die Wahlperiode wird also durch andere Zeiteinheiten nicht unterbrochen. 4. Ende der Wahlperiode 19 Das Ende der Wahlperiode ist — wie oben unter III 2 a) dargelegt — durch den Beendigung nach vier Beginn der folgenden zeitlich festgelegt. O b die Regeldauer der Wahlperiode von Jahren höchsten s vier Jahren bis zu ihrem Ende angemessen erscheint, ist für die hiesige

40

KRETSCHMER Bonner K o m m e n t a r (Fn. 30), R d n . 2 2 zu Art. 39; STERN Staatsrecht ( F n . 4 ) , § 2 6 III 5 a).

41

SCHREIBER W a h l r e c h t ( F n . 12), R d n . 7 z u

42

KRETSCHMER ( F n . 3 0 ) , in: Bonner K o m m e n t a r (Fn. 30), R d n . 27 zu Art. 39. S. G r u n d g e s e t z ä n d e r u n g , Fn. 22.

43

§45.

44

R . W . FÜSSLEIN in: J ö R , B d . I , n. F . ( 1 9 5 1 ) , S. 3 5 6 ff.

45

F ü r 1988 z . B . z u m Stand v o m : 4 . 6 . 1 9 8 7 .

§ 14

B e g i n n und E n d e der W a h l p e r i o d e , E r w e r b und V e r l u s t des M a n d a t s (VERSTEYL)

475

Darstellung ohne Bedeutung. Pauschal mag gelten: Ein frühes Ende und damit ein kurzfristiger Wahlakt stärkt das plebiszitäre Element der Demokratie — ein spätes Ende mit einer längeren Wahlperiode die Effizienz der Parlamente. Der VierJahres-Rhythmus verbindet beide Erkenntnisse in einem sinnvollen Kompromiß. Gewissermaßen außerplanmäßig endete die Wahlperiode in der Geschichte der 2 0 Bundesrepublik zweimal, nämlich die des 6. Bundestages 1972 und die des 9. Bun- Vorzeitige destages 1983. Jeweils kam es aufgrund „fehlgeschlagener" Vertrauensfragen der ^ Kanzler B R A N D T und K O H L gem. Art. 68 G G zu vorzeitiger Parlamentsauflösung, Neuwahlen und daher einer früheren Konstituierung des neuen Bundestages. Nur der letztere Fall wurde gerichtlich entschieden46, wobei das Bundesverfassungsgericht zwar feststellte, daß die in Art. 39 Abs. 1 S. 1 G G festgelegte Dauer der Wahlperiode auch Anteil an dem Status des Abgeordneten habe 47 , dennoch habe der Bundeskanzler das Recht zu prüfen, ob „eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht mehr sinnvoll ermöglicht" sei48. Sei dies der Fall, könne er die Vertrauensfrage gem. Art. 68 G G stellen, und der Bundespräsident sei an die Kanzlermaßstäbe gebunden. Dem Urteil ist zwar zu Recht vorgeworfen worden, eine tatsächlich vorhandene politische Mehrheit könne mit dem derart sanktionierten Weg für ein nicht vorhandenes Selbstauflösungsrecht des Parlamentes votieren und damit die Wahlperiode willkürlich abkürzen. Die schlimmsten Befürchtungen in der Literatur, „englische Verhältnisse" könnten zur Willkür des Kanzlers führen, haben sich jedoch bisher nicht bestätigt, was angesichts der deutschen Parlamentsgeschichte und des Selbstverständnisses des Parlamentes auch nicht verwundert. Der Weg über Art. 68 G G zur vorzeitigen Beendigung der Wahlperiode wird wegen des damit verbundenen Risikos immer ultima ratio einer, wenn auch von den Abgeordneten selbst „verschuldeten" und zumindest von der Kanzlerseite subjektiv empfundenen Ausweglosigkeit bleiben.

6

Die Selbstauflösung wäre ein durchaus probates und ist ein hinlänglich empfoh- 21 lenes Mittel49 der vorzeitigen Wahlperiodenbeendigung. Der Bundestag hat sich E m p f e h l u n g z u m aber bisher gegen eine entsprechende Änderung von Art. 39 G G entschieden. Von S e l b s t a u f l ö s u n g s r e c h t daher wird die Selbstauflösung, wie sie die Enquete-Kommission Verfassungsreform des Deutschen Bundestages vorgeschlagen hatte50, vorläufig nicht eintreten. Diese Empfehlung lautet wie folgt: Art. 39 sei wie folgt zu ändern:... Abs. 2: Auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder kann der Bundestag mit einer ¡ n J e n Bundestag gelangte, kann nicht mehr Mitglied eines Verfassungsorgans sein. Allerdings reicht nicht die — ggf. auch offensichtliche — Verfassungswidrigkeit der Partei aus, solange sie nicht ausdrücklich vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochen wurde. Nur zu Beginn der Bundesrepublik wurden diese Fälle für die SRP und die KPD 8 9 relevant. Die vor wie nach den Urteilen vertretenen Auffassungen90, Mandatsverlust und Parteiverbot seien nicht zwingend miteinander verknüpft, vermögen nicht zu überzeugen. Dies könnte nur der Fall sein, wenn der Abgeordnete als unabhängiger Kandidat gewählt und anschließend der Fraktion einer verbotenen Partei beigetreten wäre, was aber nie der Fall war. Im übrigen sind die Stimmen für ihn jedenfalls auch wegen der Zugehörigkeit zu der als verboten festgestellten Partei erfolgt. Das Parteiverbot umfaßt damit auch die Auswirkungen auf deren Stimmergebnisse und damit auf das so erlangte Mandat. Der Zeitpunkt des Mandatsverlustes soll nach herrschender Meinung in der Wissenschaft aber nicht mit der rechtskräftigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, sondern mit dem anschließenden Beschluß durch den Ältestenrat des Bundestages gem. §47 Abs. 1 Nr. 2 BWahlG eintreten91. Dieser Meinung wird " w e c J e r formell noch in der Sache. Zwar beruht auch der Inhalt des Haushaltsplans auf einer Willensentscheidung des Parlaments. Bei Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache kommt es aber nicht darauf an, daß das Parlament entscheidet, sondern, wie es entscheidet, nämlich in öffentlichkeitswirksamen Gesetzgebungsverfahren; und in dieser Hinsicht ist der Haushaltsplan dem Spezialgesetz nicht entfernt ebenbürtig. Haushaltspläne sind Werke von gewaltigem Umfang mit tausenden von Einzelposten, in denen man politisch heikle Entscheidungen leicht verbergen kann, jedenfalls dann, wenn die Abgeordneten sich einig sind, wie dies bei finanziellen Leistungen an sich selbst häufig der Fall ist. Haushaltspläne werden — anders als Gesetze — auch nicht im Gesetzblatt veröffentlicht, lediglich der sog. Gesamtplan, aus dem die Beträge, auf die es ankommt, aber nicht ersichtlich sind. Medien und Öffentlichkeit pflegen aus diesen Gründen Erhöhungen von Zahlungen, die nur im Haushaltsplan ihren Niederschlag finden, gar nicht wahrzunehmen, selbst dann, wenn sie in gewaltigen Sprüngen erfolgen. Dies wird besonders deutlich bei den staatlichen Zahlungen an die Fraktionen 25 und politische Stiftungen26. Es gilt aber auch etwa für die Erstattung von Mitarbeiterkosten von Abgeordneten, deren Höchstbetrag im Bund und in den meisten Ländern nicht im Abgeordnetengesetz, sondern nur im Haushaltsplan genannt ist. Dies ist mit dem hier von Verfassungs wegen geltenden Gesetzesvorbehalt nicht in Einklang zu bringen. Die nicht im Gesetz, sondern nur im Haushaltsplan festgelegten Mittel für die Beschäftigung von Mitarbeitern von Bundestagsabgeordneten sind von 1978 bis 1988 dreimal so schnell gestiegen wie die gesetzlich fixierten Mittel für Bundestagsabgeordnete selbst. 37 Ebensowenig dürfte es ausreichen, wenn Teile des finanziellen Status des Geschäftsordnung ist Abgeordneten in der Geschäftsordnung des Parlaments geregelt werden, wie es im kein Gesetz ß u n c j u n ( j j n d e n Ländern geschieht; auch dies dürfte mit dem Gesetzesvorbehalt nicht vereinbar sein. 38 Manche Länder sind dazu übergegangen, gestaffelte Erhöhungen der EntschäGestaffelte digungen für mehrere aufeinanderfolgende Jahre zu beschließen27, z. B. SchleswigErhöhungen H o i s t e i n > Hessen, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Berlin. So hat der Hessische Landtag 1985 gestaffelte jährliche Erhöhungen bis ins Jahr 1989 beschlossen. Mißt man derartige „Staffeldiäten" an den genannten verfassungs24

VON A R N I M ( F n . 2 3 ) S . 1 2 4 6 f .

25

VON ARNIM Staatliche Fraktionsfinanzierung ohne Kontrolle? (Heft 62 der Schriftenreihe des Karl-Bräuer-Instituts des Bundes der Steuerzahler) 1987. Die Frage, ob die Entscheidungen über Globalzuschüsse an die politischen Stiftungen neben der Bereitstellung im Haushaltsplan der besonderen gesetzlichen Grundlage bedürfen, hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Stiftungsentscheidung vom 14. 7.1986 ausdrücklich offengelassen ( B V e r f G E 71, 1 [39]). CHR. GRAF PESTALOZZA Die Staffeldiät oder: D a s Parlament als Dunkelkammer, N J W 1987, S. 818.

26

27

§ 16

Entschädigung und Amtsausstattung (VON ARNIM)

533

rechtlichen Grundsätzen, so erscheinen sie verfassungsrechtlich in hohem Maße problematisch. Die „Staffeldiäten" sind darauf angelegt, die späteren jährlichen Erhöhungen ohne neuerliche öffentliche Diskussion zu erreichen und sie auf diese Weise der öffentlichen Kritik zu entziehen. Die Bedenken erhöhen sich noch, wenn die gesetzliche Berichtspflicht nicht mit dem Staffelungsrhythmus synchronisiert ist oder die Staffel vorzeitig modifiziert und durch eine neue Staffel überlagert wird, wie dies in Hessen der Fall war 28 . Derartige Staffelungen verstoßen u. a. gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz, daß jede Erhöhung der Entschädigung durch eine selbständige Entscheidung im Plenum des Parlaments beschlossen werden muß29. Ebenso erscheint es problematisch, wenn bei Entscheidungen in eigener Sache die in den Geschäftsordnungen der Parlamente vorgesehenen Mindestfristen des Gesetzgebungsverfahrens, ζ. B. die Frist, die mindestens zwischen Einbringung des Gesetzentwurfs und seiner ersten Lesung oder zwischen Vorlage der Berichte und Beschlußempfehlungen von Parlamentsausschüssen und seiner zweiten Lesung liegen muß, nicht streng eingehalten werden und dadurch die öffentliche Kontrolle unterlaufen wird. Die regelmäßig bestehenden Ausnahmevorschriften passen für Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache nicht. Von ihnen darf nur im öffentlichen Interesse, nicht im Interesse der Betroffenen selbst, Gebrauch gemacht werden. Die Vorbehalte dürfen deshalb nicht zur Schwächung der gerade bei Entscheidungen in eigener Sache unverzichtbaren öffentlichen Mitwirkung und Kontrolle benützt werden. Dahin geht aber die Vermutung, wenn die genannten Fristen bei Entscheidungen in eigener Sache nicht beachtet werden. Da gerade in solchen Fällen ein gesteigertes öffentliches Interesse an realer Öffentlichkeit besteht und die Einhaltung der Fristen Voraussetzung für öffentliche Diskussion und wirksame Kontrolle ist, müssen die Bestimmungen der Geschäftsordnungen als von der Verfassung überlagert betrachtet werden. Die verfassungskonforme Auslegung verlangt, daß von den Ausnahmevorbehalten bei Entscheidungen in eigener Sache von Verfassungs wegen grundsätzlich kein Gebrauch gemacht werden darf 30 .

39 Strenge Beachtung der Verfahrensfristen bei eigener Sache

Neben solch „äußeren" Verfahrensvorschriften sind bei Entscheidungen des 40 Parlaments in eigener Sache auch die Regeln des „inneren" Verfahrens peinlich zu Strenge Beachtung der beachten. Danach hat der Gesetzgeber „das einschlägige Entscheidungsmaterial, y £ g f ' n n e r e n die Daten der Entscheidungsfindung, umfassend heranzuziehen, aufzubereiten und gegeneinander abzuwägen" 31 . Das Bundesverfassungsgericht hat, auch wenn es nur eine Vertretbarkeitskontrolle vornimmt, zu überprüfen, ob „der Gesetzgeber sich an einer sachgerechten und vertretbaren Beurteilung des erreichbaren 28 29

30 31

VON ARNIM Macht macht erfinderisch (Fn. 1) S . 6 7 f f . Eine bloß zweijährige Staffelung könnte möglicherweise zulässig sein. So W. M A A S S / H . H . RUPP Verfassungsrechtliche Fragen der Abgeordnetenentschädigung in H e s s e n , Gutachtliche Äußerung vom 1 0 . 9 . 1 9 8 8 für die vom Hessischen Landtag eingesetzte K o m m i s s i o n zur Überarbeitung des Hessischen Abgeordnetengesetzes, S. 84 ff unter Hinweis auf die Zulässigkeit von Zweijahreshaushalten. VON ARNIM Macht macht erfinderisch (Fn. 1) S. 153 ff. G . SCHWERDTFEGER Öffentliches Recht in der Fallbearbeitung, 8. Aufl. 1986, R d n . 4 9 8 ; DERS. Optimale Methodik der Gesetzgebung als Verfassungspflicht, Festschrift Ipsen 1977, S. 173 ff.

534

4. Teil: D e r Deutsche Bundestag und seine Mitglieder

Materials orientiert hat. Er muß die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen ausgeschöpft haben, um die voraussichtlichen Auswirkungen seiner Regelung so zuverlässig wie möglich abschätzen zu können und einen Verstoß gegen Verfassungsrecht zu vermeiden" 32 . Bei Entscheidungen des Parlaments in eigener Sache mit ihrem gesteigerten Kontrollbedarf müssen diese Anforderungen erst recht gelten. (Genau genommen wäre hier sogar an eine über die Vertretbarkeitskontrolle hinausgehende intensivierte inhaltliche Kontrolle zu denken 33 .) 41 Wirkung von Verfahrensmängeln : Ungültigkeit des Gesetzes oder intensive Inhaltskontrolle?

42 Diätenkommission

Die Frage, welche Auswirkungen derartige Verfahrensmängel auf die Gültigkeit des Gesetzes haben, ist umstritten. Das Bundesverfassungsgericht ist im Mitbestimmungsurteil davon ausgegangen, daß die Verletzung der genannten Anforderungen an das innere Gesetzgebungsverfahren durchaus Konsequenzen auch für die Gültigkeit des Gesetzes und die Gerichtskontrolle haben kann: Wenn den unter Rdn. 40 angeführten „Anforderungen des Verfahrens . . . Genüge getan (sei), so erfüllen sie . . . die Voraussetzung inhaltlicher Vertretbarkeit; sie konstituieren insoweit die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, die das Bundesverfassungsgericht bei seiner Prüfung zu beachten hat." 34 Damit ist allerdings noch nichts darüber gesagt, welche Konsequenzen sich ergeben, wenn den genannten Anforderungen nicht Genüge getan wird. Auch wenn man in solchen Fällen grundsätzlich nicht allein wegen des Verfahrensverstoßes schon Nichtigkeit des Gesetzes annehmen will, so spricht doch vieles dafür, dies bei Entscheidungen in eigener Sache — jedenfalls bei groben Verfahrensmängeln — dennoch zu tun. Würde das in eigener Sache entscheidende Parlament bei groben Verfahrensmängeln die Ungültigkeit des Gesetzes riskieren, hätte es ein massives Eigeninteresse, die Regeln penibel einzuhalten. Aber selbst dann, wenn man dieser Auffassung nicht zu folgen bereit ist, muß jedenfalls die verfassungsgerichtliche Inhaltskontrolle mit gesteigerter Intensität durchgeführt werden35. Dies gilt bei Entscheidungen in eigener Sache, wo die Gefahr des inhaltlichen und verfahrensmäßigen Mißbrauchs besonders nahe liegt, in erhöhtem Maße und erst recht dann, wenn es tatsächlich zu groben und gröbsten Verfahrensmängeln kommt, so wenn die Initiatoren des Gesetzes die Öffentlichkeit (und vielleicht auch viele Abgeordnete) über entscheidungsrelevante Umstände und Zusammenhänge falsch informieren und wenn die Summe der Falschinformationen und der gesamte Verfahrensgang die Vermutung nahelegen, daß es sich hierbei um ein wohlkalkuliertes Vorgehen handelt36. Im Interesse der erforderlichen Öffentlichkeit und Begründbarkeit von Diätenentscheidungen ist die Einsetzung unabhängiger Diätenkommissionen rechts- und staatspolitisch zu begrüßen, ohne aber verfassungsrechtlich geboten zu sein. Ihre Gutachten über Höhe und Struktur der Entschädigung, die zu veröffentlichen

B V e r f G E 50, 2 9 0 (333 f). Vgl. B V e r f G E 50, 2 9 0 (333). » B V e r f G E 50, 2 9 0 (334). 35 Vgl. auch E . BENDA Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber im dritten Jahrzehnt des Grundgesetzes, D Ö V 1979, S . 4 6 5 (467 f m . w . N . ) . 36 Beispiele betreffend das Hessische Abgeordnetengesetz bei VON ARNIM Macht macht erfinderisch (Fn. 1) S. 53 ff, 128 ff, 155 f; DERS. D e r hessische Diätenfall ( F n . 1) S. 47 ff. 32

33

§16

Entschädigung und Amtsausstattung (VON ARNIM)

535

sind, können Kriterien für die möglichst rationale Diskussion und Beurteilung vermitteln 37 . Die Öffentlichkeitskontrolle entfaltet in der Regel allerdings nur bei relativ einfachen, leicht zu erfassenden Sachverhalten und Regelungen Wirkung, insbesondere hinsichtlich der Höhe der Abgeordnetenentschädigung. Dagegen ist die strukturelle Ausgestaltung der Entschädigung zum Teil derart unübersichtlich und kompliziert, daß sie der Öffentlichkeit regelmäßig nur schwer nahegebracht und von ihr deshalb auch nur eingeschränkt kontrolliert werden kann. Das führt leicht dazu, daß Parlamente bei der Diätengestaltung, statt sich offen Einkommen in der gewünschten Höhe zu bewilligen, dazu neigen, in das schwer durchschaubare „Drumherum" der Entschädigungsleistungen auszuweichen: dreizehnte Entschädigung, großzügige Invaliden-, Alters- und Hinterbliebenenversorgung, hohe steuerfreie Kostenpauschalen, großzügige Anrechnungsvorschriften beim Zusammentreffen mehrerer Bezüge etc. Hier ist das Bedürfnis für eine wirksame verfassungsgerichtliche Kontrolle deshalb besonders groß. Das Bundesverfassungsgericht hat denn auch mit Recht gerade hier Grenzen für die Parlamente entwickelt, was wiederum dadurch ermöglicht wird, daß sich hinsichtlich der strukturellen Ausgestaltung tatsächlich auch halbwegs stringente verfassungsrechtliche Beurteilungskriterien finden lassen.

43

Unterscheidung zwischen H ö h e und Struktur der

Abgeordneten entschädigung

7. Zwei Entschädigungskategorien: Alimentation und Aufwandsentschädigung Die Entschädigung, welche die Abgeordneten nach den neuen, nach dem Diäten- 44 urteil erlassenen Abgeordnetengesetzen des Bundes und der Länder erhalten, Unterschiedliche besteht aus zwei Hauptbestandteilen: der „Entschädigung mit Alimentationscha- Anforderungen rakter" und der Aufwandsentschädigung, die den besonderen Aufwand abdecken soll, der in Ausübung des Mandats anfällt. Beide Arten von Leistungen sind auseinanderzuhalten, weil für sie unterschiedliche rechtliche Anforderungen gelten: Die alimentative Entschädigung muß grundsätzlich allen Abgeordneten in gleicher Höhe gewährt und versteuert werden wie die Einkommen aller anderen Bürger auch. Die Aufwandsentschädigung darf dagegen, vorausgesetzt, daß sie sich am tatsächlichen Aufwand orientiert, unterschiedlich hoch sein und unterliegt auch nicht der Besteuerung. Der alimentative Teil der Entschädigung umfaßt folgende Unterbestandteile: 4 5 Aktivenentschädigung (Grundentschädigung), Ubergangsgeld und (Alters-, Invali- Bestandteile der den- und Hinterbliebenen-)Versorgung. Hinzu kommt die Beihilfeberechtigung Alimentation bei Krankheits-, Geburts- und Todesfällen.

II. Alimentation 1. Grundentschädigung Art. 48 Abs. 3 S. 1 G G gibt dem Abgeordneten einen Anspruch auf eine angemes- 46 sene Entschädigung, d. h. sie muß „der Bedeutung des Amts unter Berücksichti- Bemessungskriterien 37

VON ARNIM Macht macht erfinderisch (Fn. 1) S. 150 ff.

536

47

„Vollalimentation" versus „Teilalimentation"

4.Teil: Der Deutsche Bundestag und seine Mitglieder

gung der damit verbundenen Verantwortung und Belastung und des diesem Amt im Verfassungsgefüge zukommenden Ranges gerecht werden" 38 . Bei Konkretisierung der Beträge hat der Gesetzgeber einen weiten Spielraum, der sich noch erweitert, wenn man mit dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 30. 9. 1987 davon ausgeht, der Gesetzgeber sei verfassungsrechtlich nicht verpflichtet, eine Vollalimentation zu gewähren39. Die Grundsätze des Art. 48 Abs. 3 S. 1 G G gelten über Art. 28 Abs. 1 S. 1 G G grundsätzlich auch für Landesparlamente (oben Rdn. 23). Was dies im einzelnen bedeutet, insbesondere nach dem neuen Urteil des Bundesverfassungsgerichts, bedarf der Spezialuntersuchung. Die Landesgesetzgeber haben Ende der siebziger Jahre nach dem Diätenurteil teils erklärtermaßen eine „Vollalimentation" festgesetzt (so Bayern, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen), andere Länder dagegen verbal nur eine „Teilalimentation" (Baden-Württemberg, SchleswigHolstein, Saarland und ursprünglich auch Rheinland-Pfalz), obwohl auch die von ihnen festgesetzten Entschädigungen der Höhe nach durchaus eine Vollalimentation darstellen und deshalb dem Diätenurteil genügen, wenn sie auch niedriger liegen als die in Bayern oder Niedersachsen. Die Stadtstaaten spielen eine Sonderrolle, besonders Hamburg, das auch nach dem Diätenurteil am Konzept eines Feierabendparlaments und am ursprünglichen Verständnis der Entschädigung als Aufwandsentschädigung festgehalten hat.

48 In jüngster Zeit wird die Frage wieder diskutiert, ob es wirklich nötig ist, daß Teilzeitabgeordneter? Parlamentarier, insbesondere in den Landesparlamenten, Vollzeitabgeordnete sein sollen. Die Befürworter des Teilzeitabgeordneten zielen dahin, eine repräsentativere Zusammensetzung der Parlamente zu erreichen und dadurch die zunehmende Bürger- und Basisferne zu bremsen. Es soll auch solchen Personen, die Erfahrung im Privatberuf haben, erleichtert werden, ein Mandat zu übernehmen und dabei ihren privaten Beruf (wenn auch vielleicht eingeschränkt) fortzuführen. Die Tätigkeit in einem Landesparlament braucht — angesichts seiner vergleichsweise geringeren und immer weiter abnehmenden Aufgaben 40 — für die Mehrheit der Abgeordneten kein „fulltime-job" zu sein, jedenfalls dann nicht, wenn die Parlamentsarbeit organisatorisch gestrafft würde. „Können wir es uns leisten", so fragte W A L T E R W A L L M A N N am 19. Oktober 1988 im Hessischen Landtag, „daß hochqualifizierte Bürgerinnen und Bürger aus allen möglichen Lebensbereichen, die bereit wären, sich als Kandidaten nominieren zu lassen und ihre Arbeit als Abgeordnete zu tun, der politischen Arbeit verloren gehen, weil sie unter den obwaltenden Umständen den Beruf dem Mandat vorziehen, die aber unter veränderten Bedingungen zur Mandatsannahme bereit wären?" 41 49 Soll die Diskussion über den „Teilzeitabgeordneten" in den Parlamenten Vollalimentation unvoreingenommen geführt werden und ohne Furcht, man könne sich durch seine verlangt nicht Befürwortung den Diätenast absägen, auf dem man sitzt, so bedarf es zunächst Vollzeitparlamentarier einer verfassungsrechtlichen Klarstellung: Die Bemessung der Diäten ist weitge» BVerfGE 4 0 , 2 9 6 ( 3 1 5 ) ; dazu VON ARNIM Bonner Kommentar (Fn.2) Rdn. 113 ff m . w . N .

3 3

« B V e r f G E 76, 256 (341-343).

40

41

H. EICHER Der Machtverlust der Landesparlamente, 1988. Hessischer Landtag, 12.Wahlp., S.3120.

§ 16

Entschädigung und Amtsausstattung (VON ARNIM)

537

hend unabhängig von der Frage, ob die Mehrheit der Abgeordneten eine Voll- oder Teilzeittätigkeit ausübt. (Für bestimmte Abgeordnete, insbesondere solche mit besonderen Funktionen, muß auch das Mandat in einem Landesparlament Vollzeittätigkeit bleiben können.) Der Abgeordnete ist, wie das Bundesverfassungsgericht im Diätenurteil unterstrichen hat, nicht wie der Beamte zur Leistung von Diensten verpflichtet42. Die Höhe seiner Entschädigung hängt nicht unmittelbar von der Dauer seiner Mandatstätigkeit ab. Das bestätigt auch der Vergleich mit Mitgliedern kommunaler Volksvertretungen, die in Großstädten oft kaum weniger engagiert sind als Landtagsmitglieder, ohne einen Anspruch auf entsprechend hohe Entschädigung zu haben. Hinzu kommt, daß die (zu entschädigende) Abgeordnetentätigkeit kaum entwirrbar in die (nicht zu entschädigende) parteipolitische Tätigkeit übergeht und eine scharfe Abgrenzung empirisch wie normativ kaum möglich sein dürfte. Im übrigen hat das Parlament von Verfassungs wegen einen weiten Spielraum bei der Bemessung seiner steuerpflichtigen Entschädigung (Rdn. 46). In zwei Ländern (Hessen seit 1981 und Rheinland-Pfalz seit 1985) wird die 5 0 Entschädigung 13mal im Jahr gewährt43. Zur Herstellung der Vergleichbarkeit ist 13. Entschädigung Hessen und in Tabelle 1 die 13. Entschädigung entsprechend umgerechnet.

i

Rheinland-Pfalz

2. Zusatzentschädigung für Funktionsträger Die Entschädigung muß für alle Abgeordneten gleich hoch bemessen sein. Eine 51 Ausnahme hat das Diätenurteil nur für den Parlamentspräsidenten und seine Erhöhte Stellvertreter zugelassen; „ihre angemessene Entschädigung wird dadurch mitbe- Entschädigung nur für stimmt, daß sie an der Spitze eines obersten Verfassungsorgans stehen" 44 . Von s e ¡ n e Stellvertreter dieser Möglichkeit haben fast alle Parlamente Gebrauch gemacht. Der Präsident erhält in den meisten Parlamenten insgesamt die doppelte Entschädigung, in Bremen die dreifache; in Hessen erhält er dagegen wie normale Abgeordnete nur die einfache Entschädigung. Vizepräsidenten erhalten in der Regel insgesamt die eineinhalbfache Entschädigung (Tabelle 1J45. 3. Beihilfe Abgeordnete haben Anspruch auf Beihilfe in Krankheits-, Geburts- und Todesfällen nach beamtenrechtlichen Grundsätzen (für den Bund: § 2 7 1 AbgG). 4. Versorgung Abgeordnete erhalten Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenversorgung.

« B V e r f G E 40, 2 9 6 (316). 4 3 Dazu für Hessen VON ARNIM Macht macht erfinderisch (Fn. 1) S. 53 ff; verfassungsrechtliche Bedenken unter Hinweis auf die Materialien ( B T - D r u c k s . 7 / 5 5 3 1 , S. 7) bei MAASS/RUPP Gutachtliche Äußerung ( F n . 2 9 ) S . 4 7 , 50 f. 44 45

B V e r f G E 40, 2 9 6 (318). Zur Frage, o b Fraktionsvorsitzende entgegen dem Diätenurteil eine höhere Entschädigung erhalten sollten, VON ARNIM Macht macht erfinderisch (Fn. 1) S. 9 3 - 9 8 .

538

4. Teil: Der Deutsche Bundestag und seine Mitglieder

Tabelle 1. Abgeordnetenentschädigung (steuerpflichtig) in Bund und Ländern Monatsbeträge in D M *

1988

Abgeordneter 1989 1990 1991

Präsident5 (1988)

Vizepräsident5 (1988)

Bund (§11)

9013

9 0 1 3 x 2 = 18026

9013x 1,5 = 13520

Flächenstaaten Baden-Württemberg (§ 5) Bayern (Art. 5) Hessen (§5)' Niedersachsen (§ 6) Nordrhein-Westfalen (§ 5) Rheinland-Pfalz (§5) 2 Saarland (§5) Schleswig-Holstein (§6)

5842 7858 6 825 7150 6735 6576 5540 5400

5842x2 = 11684 7858x2 = 15716 6 825' 7150x2 = 14300 6735x2 = 13470 6 5 7 6 x 2 = 13152 5540x2 = 11080 5400x2 = 10800

5 842x 1,5= 8763 7858x 1,5= 11 787 6825' 7150x 1,5= 10 725 6735x 1,5= 10103 6576x 1,5= 9864' 5540x 1,5= 8310 5400x 1,5= 8100

4 6 0 0 x 2 = 9200 3 6 3 2 x 3 = 10896

4600x1,5 = 6900 3632x2 = 7264

Stadtstaaten Berlin (§6) Bremen (§ 5) Hamburg4

4600 36323

7150

6931

7296

7662

* Stand: 1 . 1 1 . 1 9 8 8 (Nordrhein-Westfalen: 1 . 1 . 1 9 8 9 gem. Gesetz vom 2 7 . 1 0 . 1 9 8 8 ) . 1 In Hessen w i r d die Entschädigung 13mal im J a h r gezahlt. Die Beträge in der Tabelle sind zur Herstellung der Vergleichbarkeit entsprechend umgerechnet (ein Zwölftel des Jahresbetrages). Die 13mal im J a h r gezahlte Entschädigung beträgt (nominal) im J a h r 1988 6300 D M , 1989 6600 D M . 2 In Rheinland-Pfalz wird (ebenso wie in Hessen) die Entschädigung 13mal im Jahr gezahlt. Die Beträge sind auch hier entsprechend umgerechnet: Im Jahr 1988 m u ß die 13. Entschädigung in der alten H ö h e von 5917 D M auf 12 Monate umgelegt werden; das ergibt für Januar bis J u n i 6410 D M . Zum 1 . 7 . 1 9 8 8 w u r d e die Entschädigung (auch die 13. Entschädigung) um 142,50 D M erhöht. Bei U m l e g u n g dieser 142,50 D M auf die 6 verbleibenden M o n a t e Juli bis Dezember ergibt sich ein Betrag von insgesamt 6576 D M . Die 13mal im J a h r gezahlte Entschädigung beträgt seit der Erhöhung z u m 1 . 7 . 1 9 8 8 um 142,50 D M 6060 D M , 1989 6397,50 D M , 1990 6735 D M , 1991 7072,50 D M . 3 A b 1. 7.1988. In Bremen w i r d zusätzlich der durch Sitzungen und Reisen entstehende Erwerbsausfall unter bestimmten Umständen erstattet ( § 6 ) . 4 In H a m b u r g bleibt die bisherige Regelung unverändert. Danach erhalten die Abgeordneten kein steuerpflichtiges Gehalt. Zur Aufwandsentschädigung unten Tabellen 4 und 5. In H a m b u r g w i r d auf Antrag der Verdienstausfall erstattet (§ 4). 5 Die Beträge für die Präsidenten und ihre Stellvertreter sind die diesen Gruppen zustehenden Gesamtbeträge, also einschließlich der allgemeinen Abgeordnetenentschädigung. 6 In Rheinland-Pfalz steigen auch die erhöhten Beträge für die Präsidenten, ihre Stellvertreter von 1988 bis 1991 entsprechend den Steigerungsraten der allgemeinen Entschädigung. 7 A b 1989: 7150 D M .

a)

Altersversorgung

52 Abgeordnete, die nach einer gewissen Mindestzeit (meist zwei Legislaturperioden) Mindestversorgung a u s J e m Parlament ausscheiden und ein bestimmtes Mindestalter haben (meist de È tschacl· V ^ Jahre), erhalten eine Mindestaltersversorgung von meist 35 v. H. (im Bund Höchstversorgung 25 v. H.) der Entschädigung, die mit jedem zusätzlichen Jahr Parlamentszuge75 v. H. hörigkeit ansteigt, bis die Höchstversorgung von 75 v. H. der Entschädigung er-

§16

Entschädigung und Amtsausstattung ( v o n

Arnim)

539

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540

4. Teil: D e r Deutsche Bundestag und seine Mitglieder

reicht ist, die dann durchweg ab dem 55. Lebensjahr bezogen werden kann. Einen Überblick über die Regelungen im Bund und in den Ländern gibt Tabelle 2. 53 Die Altersversorgung für Abgeordnete ist sehr viel großzügiger als etwa die Verfassungsrechtliche beamtenrechtliche Versorgung, weil eine Vollversorgung in etwa der Hälfte der Zweifel Zeit erlangt wird und der ehemalige Abgeordnete jünger und damit insgesamt länger in ihren Genuß kommt. Es fragt sich, ob eine derart günstige Regelung zur Sicherung der Unabhängigkeit des Abgeordneten erforderlich und verfassungsrechtlich unproblematisch ist. Es sei daran erinnert, daß Art. 48 Abs. 3 GG den Abgeordneten nur einen Anspruch auf angemessene Entschädigung „während der Dauer ihrer Zugehörigkeit zum Parlament" gibt46. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung aus dem Jahre 1971 die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Altersversorgung für Abgeordnete zugestanden47, und davon geht wohl auch das Diätenurteil aus48. Bemerkenswert aber ist, daß das Gericht in der Entscheidung von 1971 ausdrücklich nur eine „begrenzte" Altersversorgung zugelassen hat49.

54

Die extrem günstige hessische Mindestversorgung, die schon nach zwei Legislaturperioden und einem Lebensalter von 55 Jahren einen Anspruch von zwei Dritteln der Aktivenentschädigung gibt (bis zum Erreichen des 63. Lebensjahres, ab dem die normale Regelung gilt) und damit erheblich günstiger ist als vergleichbare Regelungen im Bund und in anderen Ländern, dürfte kaum mehr als angemessen anzusehen sein50. 55 Parlamentspräsidenten und ihre Stellvertreter erhalten entsprechend ihrer meist Präsidenten und erhöhten steuerpflichtigen Aktivenentschädigung entsprechend erhöhte AltersverVizepräsidenten sorgung bis zu maximal insgesamt dem doppelten Betrag der Altersversorgung für normale Abgeordnete. Die Zusatzversorgung bemißt sich nach der Dauer der Ausübung der Ämter. Hessische Sonderregelung

b)

Invalidenversorgung

Erleidet ein Abgeordneter oder ein ehemaliger Abgeordneter ohne grobes Verschulden Gesundheitsschäden, die ihm die weitere Ausübung seines Mandats nicht mehr erlauben, so hat er Anspruch auf Altersentschädigung (für den Bund: §22 AbgG). c)

Sterbegeld

Stirbt ein Abgeordneter (unter bestimmten Voraussetzungen auch ein ehemaliger Abgeordneter), so erhalten seine Hinterbliebenen ein Sterbegeld in Höhe der zweifachen Entschädigung (für den Bund: §24 AbgG). 46

47 48 49

50

B V e r f G E 40, 2 9 6 (315, ähnlich auch 312 und 328). Dieser Gesichtspunkt wird in B V e r f G E 76, 2 5 6 (341 ff) betont. B V e r f G E 32, 157 (165). B V e r f G E 40, 2 9 6 (330). Wie F n . 4 7 . — Vgl. zum Ganzen VON ARNIM B o n n e r Kommentar ( F n . 2 ) Rdn. 128 ff; zum teilweise fortbestehenden Ruhegeld nach altem Recht VON ARNIM D e r hessische Diätenfall ( F n . l ) S . 19, 33 f. D a z u VON ARNIM Macht macht erfinderisch (Fn. 1) S. 103 ff; MAASS/RUPP Gutachtliche Äußerung (Fn. 29) S. 67 ff.

§16

d)

Entschädigung und Amtsausstattung (VON ARNIM)

541

Hinterbliebenenversorgung

Die Hinterbliebenenversorgung umfaßt die Versorgung des überlebenden Ehegatten und der Abkömmlinge eines Abgeordneten oder ehemaligen Abgeordneten. Voraussetzung ist — ohne Rücksicht auf das Lebensalter des Verstorbenen — lediglich, daß er die Mindestdauer, die zur Erreichung einer Altersentschädigung erforderlich ist, Mitglied des Parlaments war. Der überlebende Ehegatte erhält 60 v. H., Abkömmlinge erhalten als Vollwaise 20 v. H., als Halbwaise 12 v. H. der Altersentschädigung, die der Verstorbene erhalten hat bzw. erhalten hätte. Die Höhe ist also unabhängig von der Dauer der Parlamentsmitgliedschaft des Abgeordneten oder des ehemaligen Abgeordneten, wobei Hinterbliebene von Abgeordneten mindestens so gestellt werden, als wäre der Verstorbene 11 Jahre im Parlament gewesen (für den Bund: §25 AbgG). 5. Übergangsgeld Scheidet ein Abgeordneter aus dem Parlament aus, so hat er Anspruch darauf, daß 5 6 ihm die Entschädigung in voller Höhe noch eine gewisse Zeit weitergezahlt wird. Staffelung nach Die Dauer der Zahlung hängt davon ab, wie lange der ehemalige Abgeordnete Parlamentszugehörigkeit Mitglied des Landtags war. Nach vier Jahren Parlamentszugehörigkeit beträgt das Übergangsgeld in der Regel 6 Monate. Die Höchstdauer, die meist nach 22 Jahren Mitgliedschaft erreicht wird, beträgt im Bund drei Jahre, in den meisten Ländern zwei Jahre, in Niedersachsen und Berlin eineinhalb Jahre, in Bremen ein Jahr und in Hamburg drei Monate. Einen Überblick gibt Tabelle 3 (siehe Seite 536). Eine bis zu zwei Jahre lange Gewährung des Übergangsgeldes in voller Höhe 57 für ehemalige Landtagsabgeordnete erscheint nicht unproblematisch51. Funktion Problematische des Übergangsgeldes ist es, den aus dem Parlament Ausscheidenden den Übergang Höchstdauer in den privaten Beruf zu erleichtern und eine Start- und Anpassungshilfe zu geben. Da Abgeordnete aus dem öffentlichen Dienst nach Ablauf des Mandats einen Anspruch auf Wiedereinstellung besitzen, bedürfen sie einer solchen Übergangshilfe weniger. Sie ist vielmehr primär für solche ehemaligen Abgeordneten bestimmt, die im Privatberuf wieder Fuß fassen müssen. Hier darf allerdings nicht übersehen werden, daß Landtagsabgeordnete ein Übergangsgeld sehr viel weniger nötig haben als Bundestagsabgeordnete. Gerade in Landesparlamenten kann ein großer Teil der Abgeordneten neben dem Mandat seine berufliche Tätigkeit zumindest teilweise noch aufrechterhalten. Für solche Abgeordnete sind deshalb die Umstellungsschwierigkeiten nach dem Ausscheiden aus dem Parlament relativ gering. Eine zweijährige Zahlung erscheint deshalb möglicherweise übertrieben. Dies gilt um so mehr, als das Übergangsgeld ohne Rücksicht darauf gewährt 58 wird, ob der frühere Abgeordnete bereits aus seinem privaten Erwerbsberuf ein Keine Anrechnung ausreichendes Einkommen bezieht und deshalb gar nicht darauf angewiesen ist. private Bezüge Private Einkünfte werden durchweg nicht angerechnet. (Anderes gilt für öffentlich-rechtliche Einkünfte.) Bestimmungen hinsichtlich der Anrechnung privater Einkommen in den Abgeordnetengesetzen einiger Länder wurden wieder aufgehoben. Die fehlende Anrechnung ist um so problematischer, als der Anspruch auf 51

Dazu VON ARNIM B o n n e r Kommentar ( F n . 2 ) Rdn. 127. Z u m teilweisen fortbestehenden Ü b e r gangsgeld nach altem R e c h t VON ARNIM D e r hessische Diätenfall (Fn. 1), S. 19, 33 f.

auf

542

4. Teil: D e r D e u t s c h e Bundestag und seine Mitglieder

Übergangsgeld selbst dann entsteht, wenn der Abgeordnete auf eigenen Wunsch aus dem Landtag ausscheidet oder nicht mehr kandidiert. Auch wer ausscheidet, um ein lukratives Angebot aus der Privatwirtschaft anzunehmen, erhält das volle Übergangsgeld 52 . Gleiches gilt natürlich für den, der bereits während seiner Mitgliedschaft im Parlament ein für sich genommen schon ausreichendes Einkommen aus einem privaten Erwerbsberuf erhalten hat und dieses nach dem Ausscheiden aus dem Parlament beibehält. T a b e l l e 3 . Ü b e r g a n g s g e l d f ü r a u s g e s c h i e d e n e A b g e o r d n e t e in B u n d u n d L ä n d e r n G e s a m t s u m m e in

DM* Betrag nach

Betrag nach

1 Jahr

4 Jahren

Höchstbetrag

Dauer der Parla-

Pariamen ts-

Pariamen ts-

keit zur Erlangung

zugehörigkeit

zugehörigkeit

des H ö c h s t -

mentszugehörig-

betrages Bund ( § 1 8 1 )

9013

( E x 1)

6 3 0 9 1 ( E x 7)

324468 ( E x 3 6 )

21 J .

Baden-Württemberg (§ 101)

17526

Bayern (Art. 111)

23 574

(Ex3)

35052 ( E x 6 )

140208 ( E x 2 4 )

22 J .

(Ex3)

47148 ( E x 6 )

188592 ( E x 2 4 )

Hessen ( § 1 0 1 )

22 J .

18900' ( E x 3 )

3 7 8 0 0 (Ε χ 6 2 )

163 800 ( E x 2 6 3 )

22 J .

Niedersachsen ( § 1 6 1 , I I I )

21450

(Ex3)

42 900 ( E x 6 )

128 700 ( E x 18)

16 J .

Nordrhein-Westfalen ( § 1 1 1 )

20205

(Ex3)

40410 ( E x 6 )

161640 ( E x 2 4 )

22 J .

Rheinland-Pfalz ( § 1 0 1 )

18180' ( E x 3 )

36360 ( E x 6 )

121200 ( E x 2 0 )

Saarland ( § 1 0 1 )

16620

(Ex3)

33240 ( E x 6 )

132 960 ( E x 2 4 )

18 J . 22 J.

Schleswig-Holstein (§ 161)

16200

(Ex3)

32400 ( E x 6 )

129600 ( E x 2 4 )

22 J .

Flächenstaaten

Stadtstaaten Berlin ( § 1 0 1 )

4 6 0 0 ( Ε χ 1)

18400 ( E x 4 )

8 2 8 0 0 ( E x 18)

13 J .

Bremen ( § 1 1 1 )

3632

14528 ( E x 4 )

43 584 ( E x 12)

12 J .

Hamburg ( § 1 1 1 1 3 )

5400 ( A E x 3 )

*

(Exl)

5400 ( A E x 3 )

5 4 0 0 ( A E χ 3)

1J.

A u s g e s c h i e d e n e Parlamentspräsidenten und ihre Stellvertreter erhalten z u m e i s t ein — entsprec h e n d i h r e r h ö h e r e n E n t s c h ä d i g u n g ( a u ß e r in H e s s e n ) — e r h ö h t e s

Ubergangsgeld.

Stand: 1 . 1 1 . 1 9 8 8 (Nordrhein-Westfalen: 1 . 1 . 1 9 8 9 gem. Gesetz vom 2 7 . 1 0 . 1 9 8 8 ) . 1

G e s t a f f e l t e j ä h r l i c h e E r h ö h u n g e n d e r E n t s c h ä d i g u n g b i s 1 9 8 9 in H e s s e n , b i s 1 9 9 1 in R h e i n l a n d Pfalz gesetzlich festgelegt. H i e r sind die B e t r ä g e für 1 9 8 8

2

zugrundegelegt.

W e n n die V o r a u s s e t z u n g e n des G e s e t z e s ü b e r die G e w ä h r u n g einer jährlichen d u n g v o r l i e g e n , w i r d in H e s s e n e i n e z u s ä t z l i c h e E n t s c h ä d i g u n g

Sonderzuwen-

(„Weihnachtsentschädigung")

g e z a h l t . D a s w ä r e n d a n n 7. 3

Einschließlich zweier

E =

„Weihnachtsentschädigungen".

Entschädigung.

AE =

Aufwandsentschädigung.

Besonders prekär wird die Nichtanrechnung, wenn es sich um Zahlungen aus öffentlichen Mitteln handelt, die nur formal privatrechtlich eingekleidet sind, wie insbesondere Bezüge von privatrechtlich organisierten, aber in öffentlicher Hand befindlichen Unternehmen, etwa kommunaler Versorgungsunternehmen. 59 Z a h l u n g über die Altersgrenze hinaus?

Es erscheint sinnwidrig und rechtspolitisch nicht gerechtfertigt, das Übergangsgeld Abgeordneten zu geben, die nach Erreichen der normalen Altersgrenze 52

D a z u f ü r H e s s e n VON ARNIM M a c h t m a c h t e r f i n d e r i s c h ( F n . 1) S . 1 0 1 .

§16

Entschädigung und Amtsausstattung (VON ARNIM)

543

ausscheiden. Das Übergangsgeld soll eine Start- und Anpassungshilfe geben, für die beim Übergang in den Ruhestand kein Bedarf besteht. Die Abgeordnetengesetze enthalten gleichwohl bisher keine dahingehenden Einschränkungen. Der Parlamentspräsident und seine Stellvertreter erhalten im Bund und in den 60 meisten Ländern ein Übergangsgeld in doppelter bzw. eineinhalbfacher Höhe 5 3 , Präsidenten und und zwar auch dann, wenn sie das Amt beim Ausscheiden aus dem Parlament erst Vizepräsidenten kurze Zeit innegehabt haben. Hier fällt das erwähnte Privileg der Nichtanrechnung privater Einkommen besonders ins Gewicht. 6. Steuerliche Behandlung Die überkommene (Einkommen-)Steuerfreiheit der Abgeordnetenentschädigung beruhte auf ihrem ursprünglichen Charakter als echter Aufwandsentschädigung (Rdn.7f). Die Steuerfreiheit der Entschädigung war bei ihrer Einführung im Reichstag ausdrücklich mit der Erwägung begründet worden, es handle sich um eine Entschädigung für Auslagen, die „dem Betreffenden aus Anlaß der Ausübung eines öffentlichen Mandats erwachsen" und die „der Besteuerung ebensowenig unterliegen wie die Repräsentationsgelder und die Tagegelder der Beamten" 5 4 . Diese Begründung hat hinsichtlich der alimentativen Teile der Entschädigung ihre Grundlage verloren, nachdem anerkannt ist, daß diese heute zur Finanzierung des Lebensunterhalts des Abgeordneten dient. Derartiges Einkommen ist grundsätzlich der Steuer zu unterwerfen, wie das Einkommen anderer Bezieher auch 55 ; rechtfertigende Gründe für die Steuerfreiheit der Entschädigung sind nicht ersichtlich. Vor allem kann das Repräsentationsprinzip (Art. 38 Abs. 1 S. 2 G G , Art. 48 Abs. 3 S. 1 G G ) die Steuerfreiheit nicht begründen 56 . Die Steuerfreiheit der Entschädigung war damit zu einem willkürlichen Privileg geworden; sie verstieß gegen Art. 3 Abs. 1 G G .

61

Das Gesetz zur Neuregelung der Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestages hat die Konsequenz gezogen und „Entschädigungen, Amtszulagen, . . . Übergangsgelder, . . . , die aufgrund des Abgeordnetengesetzes, sowie vergleichbare Bezüge, die aufgrund der entsprechenden Gesetze der Länder gezahlt werden", der Einkommensbesteuerung unterworfen, und zwar als sonstiges Einkommen (vgl. §22 N r . 4 S. 1 EStG). Versorgungsbezüge der Abgeordneten im Bund „sowie vergleichbare Bezüge, die aufgrund der entsprechenden Gesetze der Länder gezahlt werden", sind steuerrechtlich der Beamtenversorgung gleichgestellt (vgl. §22 Nr. 4 S. 1 und S. 4 Buchst, b i . V . m . §19 Abs. 2 EStG).

63

Die frühere Steuerfreiheit...

62

. . . ist heute nicht mehr gerechtfertigt

Die Regelung des Einkommensteuergesetzes

Die Besteuerung der Abgeordnetenbezüge ist auch aus politisch-psychologi- 64 schen Gründen zu begrüßen. Denn sie führt dazu, daß die Abgeordneten die Politisch53

54 55

Anders in Rheinland-Pfalz, wo der Präsident des Landtags und seine Stellvertreter nur ein einfaches Ubergangsgeld erhalten, wie alle anderen Abgeordneten auch (vgl. § 10 Abs. 1 i . V . m . § 5 Abs. 1 A b g G RhPf.). Stenogr. Berichte über die Verhandlungen des Reichstags vom 12.5.1906, S.3138. B V e r f G E 40, 296 (328); vgl. H . H . VON ARNIM Abgeordnetenentschädigung und Grundgesetz (Heft 32 der Schriftenreihe des Karl-Bräuer-Instituts des Bundes der Steuerzahler), 1975, S. 38 ff

m.N.

56

B V e r f G E 40, 296 (328); VON ARNIM Abgeordnetenentschädigung und Grundgesetz (Fn. 55) S. 42 ff.

psychologische Wirkung

544

4. Teil: D e r Deutsche Bundestag und seine Mitglieder

Wirkung der von ihnen beschlossenen Steuergesetze selbst voll zu spüren bekommen. Daraus können sich günstige Rückwirkungen auf die Arbeit des Steuergesetzgebers ergeben.

III. Öffentliche Bedienstete im Parlament 65

V o r dem Diätenurteil und den darauf beruhenden neuen Abgeordnetengesetzen traten öffentliche Bedienstete, wenn sie in den Bundestag gewählt worden waren, in den Ruhestand und erhielten dann neben der Abgeordnetenentschädigung ein Ruhegehalt. Dies galt zumeist auch in den Bundesländern; die Inkompatibilität war hier allerdings zum Teil auf bestimmte Kategorien von öffentlichen Bediensteten beschränkt, so daß die nicht darunterfallenden Gruppen neben der Abgeordnetenentschädigung nach früherem Recht ihre Dienstbezüge weiter erhielten. Andererseits war in Bremen und Hamburg schon bisher in Anlehnung an die Regelungen in England und den U S A vorgesehen, daß die von Inkompatibilitätsvorschriften betroffenen Abgeordneten ohne Bezüge beurlaubt werden 57 .

66

Das Bundesverfassungsgericht hat die Kumulation von Abgeordnetenentschädigung und Ruhegehalt im Diätenurteil für verfassungswidrig erklärt. Das dem Beamten aufgrund der Annahme des Mandats gezahlte Ruhegehalt sei „ein mit dem Mandat verbundenes Privileg", das „seine Berechtigung in dem Augenblick verloren (hat), in dem der Abgeordnete angemessen alimentiert wird" 5 8 . Die doppelte Alimentation aus öffentlichen Kassen verstoße gegen den formalisierten Gleichheitssatz, nach welchem die Abgeordneten ein einheitliches Einkommen erhalten müssen. Denn Zahlungen aus dem Dienstverhältnis, welche bestimmte Abgeordnete neben ihrer Entschädigung erhalten, ohne dafür entsprechende Dienste zu leisten, wirken sich wie eine auf diese Gruppe von Abgeordneten beschränkte Erhöhung der Entschädigung aus und müssen deshalb materiell eine Einheit mit der Entschädigung bilden.

67

Aus diesen Gründen mußte der Gesetzgeber öffentliche Bedienstete, die Mitglieder des Parlaments werden und nicht mehr im öffentlichen Dienst tätig sind, entweder ohne Bezüge beurlauben, oder für diese Zeit das Ruhen ihrer Rechte und Pflichten anordnen. Die Gesetzgeber haben sich durchweg für letzteres entschieden. Sie haben dabei zumeist an einer strengen Inkompatibilität festgehalten und z . B . für den Bund festgelegt, daß ein ins Parlament gewählter Beamter mit Dienstbezügen mit der Annahme der Wahl aus seinem Amt ausscheidet und die Rechte und Pflichten aus seinem Dienstverhältnis ruhen. Entsprechendes gilt für Richter, Soldaten und Angestellte des öffentlichen Dienstes (für den Bund: § § 5 , 8 AbgG). Auch in den meisten Bundesländern wurden entsprechende Regelungen erlassen.

68

In Hessen besteht die Besonderheit, daß hauptamtliche Wahlbeamte auf Zeit (insbes. Bürgermeister, Landräte, hauptamtliche Beigeordnete) und politische Beamte (deren Kreis in Hessen besonders weit gezogen ist) mit dem Tag der

Früheres Recht

Beamtenprivileg verfassungswidrig

Rechte und Pflichten inkompatibler Beamter ruhen

Hessische Sonderregelung für Wahlbeamte und politische Beamte

"

Vgl. B V e r f G E 40, 2 9 6 (307).

« B V e r f G E 40, 296 (322).

§16

Entschädigung und Amtsausstattung (VON ARNIM)

545

Annahme der Wahl in den Ruhestand treten und Ruhegehalt beziehen. Diese Regelung, zu der es nichts Vergleichbares im Bund und in anderen Ländern gibt, widerspricht dem Diätenurteil59. Das Bundesverfassungsgericht hat es für verfassungswidrig erklärt, daß ins Parlament gewählte Beamte neben ihrer Entschädigung noch Ruhestandsbezüge aus dem Beamtenverhältnis erhalten (oben Rdn. 66). In Baden-Württemberg, Berlin und Schleswig-Holstein ist die Inkompatibilität auf bestimmte Kategorien von öffentlichen Bediensteten beschränkt. Andere nicht darunter fallende Bedienstete können ihren Dienst teilweise weiter ausüben und werden dann entsprechend (teil)besoldet. Diese Regelungen sind mit den im Diätenurteil entwickelten Grundsätzen prinzipiell vereinbar, denn diese wenden sich nur gegen Einkommen, für welches der Abgeordnete keine Dienste leistet. Einige Länder (Baden-Württemberg, Bremen, das Saarland und SchleswigHolstein) sehen einen sog. Ausgleichsbetrag vor, den ein in den Landtag gewählter öffentlicher Bediensteter (des jeweiligen Landes), dessen Rechte und Pflichten aus dem unvereinbaren Amt ruhen, neben der Entschädigung erhält; er beträgt ζ. B. in Baden-Württemberg 50 v. H. des im Zeitpunkt der Annahme des Mandats erworbenen Ruhegehaltsanspruchs, im Saarland 25 v. H. der zuletzt gewährten Dienstbezüge, höchstens 25 v. H. der Grundentschädigung. Der Ausgleichsbetrag ist ein Ersatz für das im Diätenurteil für verfassungswidrig erklärte Ruhegehalt inkompatibler Bediensteter und begegnet von daher verfassungsrechtlichen Bedenken60.

69 Kompatible Amter

70 ..Ausgleichsbetrag v e r f a s s u n g s w 'dng

Mit dem Abgeordnetenamt bleibt das Amt eines Ministers oder Parlamentari- 71 sehen Staatssekretärs nach wie vor vereinbar, zu sehr gehört das „Parlamentarier- Kompatibilität von kabinett" zu den typischen Kennzeichen unseres parlamentarischen Regierunessy- Abgeordnetenmandat .

.

.

. .. „

.. .

?

.

stems6' (zur Anrechnung der Bezüge Rdn. 80). Das schließt naturlich de constitutione ferenda nicht aus, daß die Verfassung die Unvereinbarkeit von Regierungsamt und Abgeordnetenmandat festlegt, wie dies in Bremen (Art. 108 Abs. 1 Brem Verf.) und in Hamburg (Art. 38 a HbgVerf.) geschehen ist.

und Ministeramt

IV. Interessentenzahlungen Nach anscheinend verbreiteter Praxis erhalten Funktionäre von Unternehmen, 72 Wirtschaftsverbänden oder Gewerkschaften, die ins Parlament gewählt werden, Lobbyverträge ihre bisherigen Bezüge neben der Abgeordnetenentschädigung weiter, auch wenn sie infolge der Übernahme des Mandats nur noch teilweise in der Lage sind, ihre bisherigen Funktionen wahrzunehmen und die nach dem privatrechtlichen Vertrag geschuldeten Dienste zu leisten. Bisweilen versuchen Interessenten auch, Abgeordnete durch sog. Beraterverträge finanziell an sich zu binden, wobei die eigentliche Gegenleistung des Abgeordneten im Einsatz seines parlamentarischen Einflusses für die Interessen des Financiers liegt. Diese Praxis begründet die Gefahr einer finanziellen Beeinflussung des Abgeordneten durch „einflußreiche Gruppen der 59

60 61

VON ARNIM Macht macht erfinderisch (Fn. 1) S. 79 ff; MAASS/RUPP Gutachtliche Äußerung (Fn. 29) S. 88 f. Näheres bei VON ARNIM B o n n e r K o m m e n t a r (Fn. 2) Rdn. 141. HANS MEYER W D S t R L

33, 69 (86).

546

4. Teil: D e r Deutsche Bundestag und seine Mitglieder

Gesellschaft" 62 und damit einer Beeinträchtigung seiner Unabhängigkeit (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG), zu deren Sicherung die Entschädigung gerade gewährt wird (Art. 48 Abs. 3 Satz 1 GG). Zugleich widerspricht die Zahlung solcher „arbeitsloser" Einkommen der gebotenen strengen finanziellen Gleichstellung der Abgeordneten63. 73 Das Bundesverfassungsgericht hat deshalb im Diätenurteil Bezüge, welche Gesetzliche Abgeordnete „aus einem Angestelltenverhältnis, aus einem sog. Beratervertrag Vorkehrungen oder ähnlichem, ohne die danach geschuldeten Dienste zu leisten, nur deshalb erforderlich erhalten, weil von ihnen im Hinblick auf ihr Mandat erwartet wird, sie würden im Parlament die Interessen des zahlenden Arbeitgebers, Unternehmers oder der zahlenden Organisation vertreten und nach Möglichkeit durchzusetzen versuchen", als „mit dem unabhängigen Status der Abgeordneten und ihrem Anspruch auf gleichmäßige finanzielle Ausstattung in ihrem Mandat" für unvereinbar erklärt. Art. 48 Abs. 3 S. 1 i. V. m. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG und der formalisierte Gleichheitssatz verlangten gesetzliche Vorkehrungen gegen derartige Bezüge64.

74

Diese Grundsätze, deren Bedeutung das Bundesverfassungsgericht dadurch unterstrichen hat, daß es sie in die Leitsätze des Diätenurteils aufnahm, gelten auch für die Abgeordneten der Landesparlamente. Zu den Grundsätzen des demokratischen Rechtsstaats im Sinne des Grundgesetzes (Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG) gehört auch der unabhängige Status der Abgeordneten. Der formalisierte Gleichheitssatz als eine Erscheinungsform des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) bindet ohnehin alle staatliche Gewalt (Art. 1 Abs. 3 GG), also auch die der Länder. 75 Die Gesetzgeber im Bund und in den Ländern sind, wie das Gericht mit Recht niedersächsische betont hat, verfassungsrechtlich verpflichtet, eine nähere Regelung zu treffen65. Regelung Eine dahingehende Regelung ist etwa im Abgeordnetengesetz Niedersachsen erfolgt. §27 Abs. 3 und Abs. 4 NdsAbgG lauten:

Geltung auch für Landesabgeordnete

Die

„(3) Abgeordneten dürfen mit Rücksicht auf ihr Mandat keine anderen als die in diesem Gesetz vorgesehenen Zuwendungen gemacht werden. Insbesondere darf einem Abgeordneten eine Vergütung aus einem Dienst- oder Werkverhältnis nur gewährt werden, soweit sie dem Wert einer vom Abgeordneten tatsächlich erbrachten und mit seinem Mandat nicht zusammenhängenden Tätigkeit entspricht. Besondere Dienste, die der Abgeordnete seiner Fraktion leistet, dürfen vergütet werden. (4) Wer eine . . . nach Absatz 3 verbotene Zuwendung empfängt, hat sie oder, falls dies nicht möglich ist, ihren Wert an das Land abzuführen. D e r Präsident des Landtags macht den Anspruch geltend."

76 Signalwirkung

Eine ähnliche Vorschrift enthält §23 AbgG Saarland. Die Bedeutung der Vorschriften liegt vor allem darin, daß sie klarstellen, „was e in Abgeordneter, der seriös ist, tun darf und was er nicht tun darf", und auf diese Weise eine Art „Signalwirkung" entfalten können66.

B V e r f G E 40, 296 (313). « B V e r f G E 40, 296 (318). M B V e r f G E 40, 296 (318 f). 65 B V e r f G E 40, 296 (319). — Zu den formalen und inhaltlichen Anforderungen VON ARNIM Bonner Kommentar ( F n . 2 ) Rdn. 150 ff. 6 6 So mit Recht WILLI GEIGER D e r Abgeordnete und sein Beruf, in: Politik als Beruf?, 1979, 105 (126). 62

§16

Entschädigung und Amtsausstattung (VON ARNIM)

547

In den meisten anderen Ländern und im Bund finden sich einschlägige Regelun- 77 gen in der Anlage zur Geschäftsordnung des Parlaments, die aber inhaltlich hinter Regelungen der der niedersächsischen Regelung zurückbleiben. O b sie ausreichen, ist zweifelhaft. Anlage zur Geschäftsordnung Bedenken ergeben sich auch formell, weil die Geschäftsordnung des Parlaments reichen nicht aus kein Gesetz ist (oben Rdn. 37) 67 . In Bayern und Hessen findet sich bisher keine einschlägige Regelung, weder im 78 Abgeordnetengesetz noch in der Geschäftsordnung des Landtags. Das verfas- Keine Regelung in sungsrechtliche Gebot, derartige Regelungen zu erlassen, ist dort bisher gänzlich Bayern und H e s s e n ignoriert worden.

V. Zusammentreffen von Bezügen Beim Zusammentreffen mehrerer Bezüge aus der Staatskasse enthalten die Abge- 79 ordnetengesetze besondere Bestimmungen über Art und Umfang der Anrechnung. Vier Fallgruppen Die Grundregel enthält §29 des Abgeordnetengesetzes des Bundes, der auch Ausgangspunkt für die Regelung der Länder ist. Vier Fallgruppen sind zu unterscheiden: a) Zusammentreffen von Abgeordnetenentschädigung mit Einkommen aus 80 einem Amtsverhältnis (etwa eines Ministers) oder einer Verwendung im öffent- Zwei aktive B e z ü g e lichen Dienst (etwa eines Beamten). Hier ergeben sich also zwei aktive Bezüge, die Abgeordnetenentschädigung und Einkommen aus einem damit zu vereinbarendem Amt. Nach §29 Abs. 1 A b g G wird die Abgeordnetenentschädigung um 50 v. H., höchstens jedoch bis zu 30 v. H . der Bezüge aus dem kompatiblen Amt gekürzt. b) Zusammentreffen von Abgeordnetenentschädigung mit öffentlichen Versorgungsbezügen. Hier ruhen die Versorgungsbezüge zur Hälfte, höchstens jedoch bis zu 50 v. H . der Abgeordnetenentschädigung (§29 Abs. 2 A b g G ) . c) Zusammentreffen der Altersentschädigung eines Abgeordneten mit aktiven Bezügen aus einem Amtsverhältnis oder einer Verwendung im öffentlichen Dienst. Hier ruht die Altersentschädigung zur Hälfte des Betrages, um den sie und die aktiven Bezüge die steuerpflichtigen Bezüge aus der Abgeordnetentätigkeit übersteigen (§29 Abs. 3 AbgG). d) Zusammentreffen der Altersentschädigung des Abgeordneten mit Versorgungsbezügen eines ehemaligen Beamten oder Ministers. Hier ruht die Altersentschädigung zur Hälfte des Betrages, um den sie und die Versorgungsbezüge die steuerpflichtigen Bezüge aus der Abgeordnetentätigkeit übersteigen (§29 Abs. 4 AbgG). Die Regelungen sind erheblich günstiger als die vergleichbaren Bestimmungen des Beamtenrechts und deshalb unter dem Aspekt des Gleichheitssatzes problematisch 68 . Das Bundesverfassungsgericht hat im Diätenurteil hervorgehoben, es fehle „an jedem sachlich zureichenden Grund", solche Fälle „anders als entsprechend

67 68

D a z u VON ARNIM Bonner K o m m e n t a r ( F n . 2 ) Rdn. 152 ff m. w . N . D a z u VON ARNIM Bonner K o m m e n t a r ( F n . 2 ) Rdn. 1 5 7 f f ; MAASS/RUPP Gutachtliche Äußerung ( F n . 2 9 ) S. 73 ff.

81

Entschädigung und Versorgungsbezüge

82

Altersentschädigung und Gehalt

83

Zwei Versorgungsbezüge

84

Anrechnungsprivileg

548

4. Teil: Der Deutsche Bundestag und seine Mitglieder

den gegenwärtig im Beamtenrecht geregelten Grundsätzen zu behandeln und die Abgeordneten zu privilegieren. . . . Dies wäre unvereinbar mit dem Gleichheitssatz 85 Die Amtszulagen, die der Parlamentspräsident und seine Stellvertreter erhalten, N u r teilweise sind nur teilweise in die Anrechnungsregelung einbezogen (vgl. z.B. §29 Abs. 8 Einbeziehung von AbgG des Bundes), was angesichts der ohnehin großzügigen AnrechnungsvorAmtszulagen schriften der Abgeordnetengesetze erst recht problematisch erscheint.

VI. Amtsausstattung

86

Sachleistungen

87 Einheitspauschale im Bund, in Bayern und Berlin

88

Hessische Pauschale

89 Unterschiedliche Erstattungskategorien

90 Abschlag bei Mitgliedern der Landesregierung

91 Erstattung von Mitarbeiterkosten

Der Abgeordnete erhält (neben den alimentativen Teilen der Entschädigung) zur Abgeltung seiner durch das Mandat veranlaßten Aufwendungen Geld- und Sachleistungen als Amtsausstattung. Zu den Sachleistungen gehören meist die Bereitstellung eines eingerichteten Büros am Sitz des Parlaments, die Benutzung der Dienstfahrzeuge und der Fernmeldeeinrichtungen des Parlaments (für den Bund: § 12 Abs. 4 AbgG). Hinsichtlich der Geldleistungen bestehen erhebliche Unterschiede zwischen den Parlamenten. Einen Gesamtüberblick gibt Tabelle 4 (siehe Seite 543). Im Bund, in Bayern und Berlin gibt es eine Einheitspauschale, die alles abgilt (mit Ausnahme der Kosten für die Beschäftigung von Mitarbeitern). In Hessen ist die Pauschale dreifach gestaffelt (3500, 4000 oder 4500 DM) je nach der Entfernung des Wohnorts des Abgeordneten von Wiesbaden 70 . In anderen Ländern bestehen mehrere Erstattungskategorien: eine Pauschale für allgemeine Unkosten, nach der Entfernung des Wohnorts vom Parlamentssitz gestaffelte Fahrtkosten, teilweise aber auch Kilometergeld und Tagegelder, die in manchen Ländern pauschaliert sind (mit Abzügen beim Fehlen bei Sitzungen), daneben, jedenfalls in Flächenstaaten, meist noch ein Ubernachtungsgeld. Bei Mitgliedern der Landesregierung, oft auch bei anderen Abgeordneten, die über einen Dienstwagen verfügen (ζ. B. Parlamentspräsident), erfolgt ein Abschlag, dessen Höhe allerdings erstaunliche Unterschiede aufweist. In vielen Parlamenten werden den Abgeordneten Aufwendungen für die Beschäftigung von Mitarbeitern erstattet, regelmäßig im Rahmen von Höchstbeträgen, die aber meist lediglich im Haushalts/?/*«« (in den Abgeordnetengesetzen ist unzutreffend von Haushaltsgesetzen die Rede) genannt sind. Das reicht nicht aus, um dem hier geltenden Gesetzesvorbehalt zu genügen (oben Rdn. 36). Daß man Erhöhungen im Haushaltsplan leicht verbergen kann, zeigt ein Beispiel: Der Höchstbetrag für die Kostenerstattung für Mitarbeiter bayerischer Landtagsabgeordneter betrug bis zum 1. September 1987 1930 DM. Seitdem wurde er angehoben und beträgt jetzt 2562 DM. Die Erhöhung um ein Drittel ergibt sich im Zweijahreshaushalt des Freistaates Bayern für 1987/88 aber nicht aus dem Einzelplan 01 des Landtags, wo man sie eigentlich vermuten würde, sondern ist in den Erläuterungen zu Einzelplan 13 verborgen. In den Erläuterungen zu Einzelplan 01 stehen B V e r f G E 40, 2 9 6 (329 f). Hinzu kommt in Hessen noch eine unabhängig vom Kostennachweis gewährte Ubernachtungspauschale.

§16

Entschädigung und Amtsausstattung ( v o n A r n i m )

549

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Ö _J3 ο ω α ε 3 " ^ öß i § "«s: s - " c.Ξ g ooíes in Art. 38 Abs. 1 G G unserer parlamentarischen Demokratie zu gestärktem Ansehen, zu erneuerter Glaubwürdigkeit und mehr freiheitlicher Lebendigkeit verhilft.

70

BT-Drucksache 11/2206, 11/2207, 11/2208, 11/2209.

§23 Unvereinbarkeiten zwischen Bundestagsmandat und anderen Funktionen DIMITRIS T H .

TSATSOS

I. Parlamentarische Inkompatibilität: Begriff und Institut 1. Einleitendes Die Kumulation von Abgeordnetenmandat und anderen öffentlichen oder privatberuflichen Tätigkeiten kann wichtige Funktionsverwirklichungsprobleme aufwerfen. Diese Probleme betreffen entweder die eine oder beide kumulierten Funktionen oder Tätigkeiten. Für das Parlamentsrecht sind solche Funktionsprobleme relevant, die auf der Seite der parlamentarischen Funktion liegen. Deshalb ist auch die Frage, welche Tätigkeit ein Abgeordneter neben seiner Funktion als Vertreter des ganzen Volkes nicht ausüben darf, so alt wie die Institution der Volksvertretung im Verfassungsstaat der Neuzeit'. Das Rechtsinstitut, mit dem Probleme behandelt werden, die sich aus Funktionskumulationen ergeben, wird gemeinhin mit Inkompatibilität bezeichnet 2 . Parlamentarische Inkompatibilitäten enthalten somit die Regelungen, die, mit welchen Sanktionen auch immer, dem Abgeordneten eine andere — öffentliche oder private — Funktion der Tätigkeit untersagen. Solche Normen, das liegt auf der Hand, prägen neben dem sonstigen Abgeordnetenrecht 3 sehr wesentlich die Rechtsstellung der Abgeordneten. Das Grundgesetz, die Länderverfassungen und die einschlägigen einfachgesetzlichen Regelungen kennen eine Vielfalt von Normen, die mit unterschiedlichen Sanktionen die gleichzeitige Ausübung zweier Tätigkeiten untersagen. Allerdings beschränkt sich das Inkompatibilitätsrecht nicht auf solche konkreten Normierungen. Allein die Existenz eines Parlaments mit repräsentativer Funktion wirft das Problem der Inkompatibilität bereits auf. Denn erst die personelle Besetzung des Parlaments birgt die Gefahr in sich, daß der Träger eines öffentli-

1

2

3

Z u r geschichtlichen E n t w i c k l u n g der parlamentarischen I n k o m p a t i b i l i t ä t e n vgl. aus der älteren Literatur statt vieler: W . WEBER Parlamentarische I n k o m p a t i b i l i t ä t e n , A ö R , N . F . , B d . 19 (1930) S. 161 ff. Eine u m f a s s e n d e geschichtliche D a r s t e l l u n g mit v o l l s t ä n d i g e n Q u e l l e n a n g a b e n findet sich bei R. STOBER B o n n e r K o m m e n t a r , Art. 137 I ( Z w e i t b e a r b e i t u n g ) , A , I, III, I V ; vgl. auch D.TSATSOS D i e parlamentarische B e t ä t i g u n g v o n öffentlichen Bediensteten, 1970, S. 129 ff u n d 136 ff. Z u m Begriff der I n k o m p a t i b i l i t ä t vgl. statt vieler: R . STOBER K o m m e n t a r ( F n . 1) R d n . 1 f f ; W.WEBER I n k o m p a t i b i l i t ä t ( F n . 1) S . 2 0 8 - 2 3 2 . V g l . vor allem die §§ 1 7 - 2 0 dieses W e r k e s .

Funktionskumulation, Funktionsverwirklichungsprobleme

Parlamentarische Inkompatibilitätsregelungen

E x i s t e n z eines Parlaments und Inkompatibilitätsproblem

702

Rechtfertigung und Funktion von Inkompatibilitätsregelungen

4. Teil: Der Deutsche Bundestag und seine Mitglieder

chen Amtes oder Vertreter einer bestimmten Interessengruppe die gleichzeitige Mandatsträgerschaft gebrauchen oder sogar mißbrauchen könnte. Aus diesem Interessenwiderstreit sind Regelungen überhaupt zu rechtfertigen, die einem Abgeordneten als Vertreter des ganzen Volkes die Ausübung bestimmter Tätigkeiten versagen. Solche Rechtsnormen dienen dazu, die politische Aufgabe des Mandatsträgers mit der Ausübung eines öffentlichen Amtes in Einklang zu bringen. Insofern stellt sich das Problem nicht nur als ein verfassungspolitisches Thema dar, sondern auch als eine Frage der Verfassungsorganisation und Verfassungspraxis und letztendlich als eine Frage des Selbstverständnisses des Abgeordneten und seines Mandats 4 . 2. Überblick über die Rechtslage

Das deutsche Recht kennt recht ausführliche Inkompatibilitätsregelungen sowohl im Bereich des Bundes als auch im Bereich der Länder 5 . 5 a) Bereits im Grundgesetz finden sich Normen, die die Inkompatibilität regeln. Bundespräsident Gemäß Art. 55 I G G darf der Bundespräsident neben seinem Amt keine weitere politische Tätigkeit oder sonst ein auf Erwerb gerichtetes Amt ausüben. Dadurch soll ein möglicher Interessenkonflikt in der Person des Bundespräsidenten vermieden werden, der dadurch entsteht, daß gleichzeitig gesetzgeberische Funktionen und das Amt des Staatsoberhauptes und Repräsentanten ausgeübt werden. Diese Unvereinbarkeit ist Ausfluß der Gewaltenteilung und soll die unabhängige Ausübung des Amtes des Bundespräsidenten sichern und schützen. Dabei ist nicht die Mitgliedschaft in einer Partei, wohl aber jede aktive Tätigkeit für diese Partei ausgeschlossen 6 .

4

Aus der inzwischen unübersichtlichen Inkompatibilitätsliteratur vgl.: W.BERKA Beamte als Abgeordnete, in: Juristische Blätter 1979, S. 636 ff; BULL/STEFFANI/VERSTEYL Urteile zur Inkompatibilität von Amt und Mandat, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 6 (1975) S. 165 ff; TH. ESCHENBURG Der Beamte in Partei und Parlament, in: D O V 1952, S. 289ff; E. FRAENKEL Freiheit und politisches Betätigungsfeld der Beamten in Deutschland und den USA, in: Deutschland und die westlichen Demokratien, 1964, S. 155 ff; H.HÄFELE Verbeamtung des Bundestages?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1972, S. 103 f f ; J . HENKEL Die Rechtsstellung der in den Bundestag gewählten Beamten, in: Z B R 1 9 7 7 , S. 1113 ff; G. NEEBE Amt und Mandat, in: Z B R 1971, S.41 ff; P. RÖSSLER Unvereinbarkeit von Amt und Mandat, in: Öffentlicher Dienst und Politischer Bereich, Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 37 (1968) S. 81 ff; D.SCHEFOLD Kommunalwirtschaftliche Inkompatibilitäten, 1977; W . W . SCHMIDT Die Unvereinbarkeit vom Parlamentsmandat und Exekutivfunktion in ausländischen Rechtsordnungen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen 1970, S. 181 ff; U.THAYSEN Inkompatibilität und innerparteiliche Demokratie, in: Zeitschrift für Parlamentsrecht 1970, S. 198 ff; D . TSATSOS Die verfassungsrechtliche Problematik der Inkompatibilität von Richteramt und Mandat, in: D R i Z 1964, S. 251 ff; DERS. Die Unzulässigkeit der Kumulation von Bundestags- und Bundesratsmandat, Recht und Staat, Heft 310/311,1965; DERS. Inkompatibilität zwischen dem Bundespräsidentenamt und dem parlamentarischen Mandat, in: D Ö V 1965, S. 597 ff; grundlegend für die aktuelle Diskussion: K. SCHLAICH Wählbarkeitsbeschränkungen für Beamte nach Art. 137 I G G und die Verantwortung des Gesetzgebers für die Zusammensetzung der Parlamente, in: A ö R 105 (1980) S. 188 ff.

5

Vgl. N . ACHTERBERG Probleme der Inkompatibilität, in: ZgStW 126 (1970) S. 344 ff; A. v. CAMPENHAUSEN Aktuelle Probleme der Inkompatibilität, in: J Z 1975, S. 349 ff; G . STURM Die Inkompatibilität, 1967; G . CHR. V. UNRUH / W. FROTSCHERDÌC Entwicklung des Inkompatibilitätsprinzips im neueren deutschen Verfassungsrecht, in: DVB1. 1969, S. 821 ff.

* V g l . D . TSATSOS B u n d e s p r ä s i d e n t e n a m t ( F n . 4 ) .

§23

Unvereinbarkeiten zwischen Mandat und anderen Funktionen (TSATSOS)

703

b) Eine weitere Inkompatibilitätsvorschrift findet sich in § 2 G O B R a t . Die gleichzeitige Mitgliedschaft im Bundesrat und Bundestag ist danach ausgeschlossen. Dadurch ist auch dem Prinzip des Föderalismus der Vorzug gegeben, da ansonsten eine Kontrolle der gesetzgebenden Körperschaft gefährdet werden könnte 7 . Dagegen ist keine Inkompatibilität zwischen der Mitgliedschaft im Bundestag und der Bundesregierung gegeben. In der Praxis gehören der Bundeskanzler und die Bundesminister regelmäßig dem Bundestag an.

Mitgliedschaft im Bundestag und Bundesrat bzw. in der Bundesregierung

c) Gemäß Art. 94 I, 3 G G i. V. m. § 3 III B V e r f G G ist es den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts verwehrt, gleichzeitig dem Bundestag, dem Bundesrat, Mitglieder des Bundesverfassungsder Bundesregierung oder einem Landesorgan anzugehören. Mit der Ernennung gerichts eines Mitglieds des Bundesverfassungsgerichtes zu einem oben erwähnten Organ entfällt automatisch die Mitgliedschaft im Bundesverfassungsgericht. Gemäß § 3 IV B V e r f G G ist sogar jede andere berufliche Tätigkeit (bis auf die eines Hochschullehrers) ausgeschlossen 8 . d) Weiterhin ist als besondere Vorschrift zur Inkompatibilität Art. 45 b G G 8 über den Wehrbeauftragen des deutschen Bundestages zu nennen. Gemäß § 14 III Wehrbeauftragter des Gesetzes über den Wehrbeauftragten ist auch ihm die Mitgliedschaft in der Regierung des Bundes oder eines Landes oder in einer gesetzgebenden Körperschaft oder eine sonstige besoldete Tätigkeit verwehrt 9 . e) Es sei noch aufmerksam gemacht auf andere Bestimmungen wie: § § 1 7 , 18 II 9 B D a t S c h G hinsichtlich des Datenschutzbeauftragten, § 4 6 II N r . 5 SoldG für Weitere Soldaten und auf § 3 I V B R H G bezüglich der Stellung der Mitglieder des Bundes- Inkompatibilitätsregelungen rechnungshofes. Dabei ist die Qualifizierung der Mitglieder des Bundesrechnungshofes als Beamte nicht unproblematisch. Jedoch kann diese Qualifizierung dahinstehen, da auf die Mitglieder des Bundesrechnungshofes die Vorschriften über Richter gem. § 3 IV B R H G für anwendbar erklärt worden sind. Somit unterfallen auch die Bundesrechnungshofmitglieder der Bestimmung des Art. 137 I G G 1 0 . f) U m das Spektrum der Inkompatibilitätsregelungen erschöpfend darzulegen, 10 sei auch noch die Inkompatibilität zwischen dem Amt eines Landtagsabgeordneten Doppelmandate und eines Bundestagsabgeordneten erwähnt". Es stellt sich auch die Frage, ob eine gleichzeitige Mitgliedschaft im Bundestag und einer anderen Volksvertretung, ζ. B. im Europaparlament nach dem Europawahlgesetz, zulässig ist 12 . g) Gemäß Art. 137 I G G kann die Wählbarkeit von Beamten, Angestellten des 11 öffentlichen Dienstes, Berufssoldaten, freiwilligen Soldaten auf Zeit und Richtern Art. 1 3 7 1 G G im Bund, in den Ländern und den Gemeinden beschränkt werden 1 3 . Diese

Vgl. D. TSATSOS Bundestags- und Bundesratsmandat ( F n . 4 ) S. 8. " Vgl. unten III, 6. ' Vgl. Gesetz über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages i. d. F. der Bekanntmachung vom 16. Juli 1982 ( B G B l . I, S.677). 10 Vgl. W . WEBER Inkompatibilität ( F n . l ) S. 197ff, 199; G.STURM Inkompatibilität (Fn. 5) S. 8 4 f ; H . - E . F O L Z / R . HERRMANN Die richterliche Unabhängigkeit der Mitglieder der Rechnungshöfe, in: J Z 1973, S. 7 6 9 f f ; D.SCHEFOLD Inkompatibilitäten ( F n . 4 ) S. 5 3 f . 11 Vgl. darüber unten IV, 1. 12 Vgl. hierzu unten IV, 2. 13 Vgl. D.TSATSOS Pari. Betätigung ( F n . l ) S . 5 5 und dazu K.SCHLAICH Wählbarkeitsbeschränkungen ( F n . 4 ) S. 195. 7

704

4. Teil: D e r D e u t s c h e B u n d e s t a g und seine Mitglieder

Ermächtigung ist von einer zentralen Bedeutung für das gesamte Inkompatibilitätsrecht' 4 . Der einfache Gesetzgeber hat von dieser Ermächtigung Gebrauch gemacht 15 .

II. Die grundgesetzliche Ermächtigung zur Einführung von parlamentarischen Inkompatibilitäten nach Art. 137 I G G 1. Entstehungsgeschichte des Art. 137 I G G

12 Eigentlich vermutet man Art. 137 I G G im thematischen Zusammenhang zu den

anderen Vorschriften über die Rechtsstellung der Abgeordneten, wie z. B. Art. 38 und Art. 48 G G , oder zu den Staatsbürgerrechten nach Art. 33 G G . Stattdessen findet sich diese Vorschrift am Ende der Verfassung unter den Ubergangs- und Schlußbestimmungen. 13 Art. 137 I G G gelangte unter dem starken Einfluß der Bestrebungen der Art. 1371 G G und westlichen Besatzungsmächte in das Grundgesetz' 6 . Sie verfolgten eine strikte Besatzungsmächte Trennung von öffentlichem Dienst und parteipolitischer (und) parlamentarischer Tätigkeit. Art. 137 I G G wurde ohne große Diskussion in die Verfassung aufgenommen. 14 Die Besatzungsmächte waren bei ihrer Haltung erheblich durch ihr HeimatD a s Heimatrecht der recht bestimmt worden. Sie wollten eine allgemein politische Tätigkeit der Besatzungsmächte, Bediensteten als auch deren Mitwirkung in der legislativen Körperschaft unterZielsetzung der binden. Besatzungsmächte Das französische Verfassungsrecht ist von dem Gedanken beherrscht, die Kandidatur eines öffentlichen Bediensteten von Anfang an zu beschränken, um den Mißbrauch des öffentlichen Amtes zu vermeiden. Dies stellt aber einen Ausschluß der Wählbarkeit dar 17 . Dagegen war die Entwicklung in England18 und den USA19 anders. Beiden Verfassungsordnungen ist der Grundsatz der Inkompatibilität immanent, bei der Motivation gegen die Kumulation von Staatsamt und politischer Funktion hingegen divergieren sie doch erheblich. Mit dem Verbot von Amt und Mandat wollte man in England ursprünglich den Schutz des Parlaments vor dem Einfluß des Monarchen durch seine Staatsdiener erreichen. Das Innehaben eines Amtes und Abgeordnetenmandates bot besonders die Gelegenheit, die VolksverZ u r Stellung des Art. 1371 G G im Grundgesetz

14 15

17

18

Vgl. unten II. Vgl. hierzu unten III. Vgl. das Frankfurter D o k u m e n t N r . 1 v o m 1 . 7 . 1 9 4 8 , in: E. R . HUBER D o k u m e n t e zur Deutschen Verfassungsgeschichte, 1961, S. 197 und darüber ausführlich D.TSATSOS Pari. Betätigung (Fn. 1) S. 37-77. Vgl. P. AVRIL L e régime politique de la V. e République, 4. Aufl., 1979, S. 391 ff; C H . DEBBASCH u . a . D r o i t constitutionnel et institutions politiques, 2 . A u f l . 1986, S . 6 7 9 f f ; JOSEPH-BARTHÉLEMY C h r o n i q u e Constitutionnelle de France, in: R D R S P , Bd. 39 (1922) S. 125 ff. Vgl. E . C . S . W.J.M.

19

WADE and G.PHILLIPS

MACKENZIE

Free

Elections,

Constitutional 1957,

S.39;

Law, J.D.B.

8.Aufl.,

1970, S.99,

MITSHELL

109ff,

Constitutional

477; Law,

2. A u f l . , 1968, S. 109f, 120ff. Vgl. F . O G G / O . RAY Introduction to American G o v e r n m e n t , 9. A u f l . , 1945, S . 4 9 2 f , 511; P . P . RIPER H i s t o r y of the United States Civil Service, 1958, S. 105.

§23

Unvereinbarkeiten zwischen Mandat und anderen F u n k t i o n e n (TSATSOS)

705

tretung im Sinne der Krone zu beeinflussen 20 . Nachdem die politische Gewalt vom Monarchen auf die Regierung übergegangen war, wurde die Forderung nach parteipolitischer Neutralität der öffentlichen Bediensteten immer stärker. Im Streben nach parteipolitischer Neutralität der Verwaltung wurzelt die Idee einer Inkompatibilität, die sich nun auf bestimmte Amter beschränkt. Dabei steht weniger das Prinzip der Gewaltenteilung im Vordergrund, als die personelle Abgrenzung innerhalb des Staates. Die Entwicklung der englischen Inkompatibilität erfolgte somit nicht unbedingt dogmatisch, sondern eher von der jeweiligen Funktion des Amtes und des parteipolitischen Charakters des Mandates her 2 1 . In den U S A verläuft die Entwicklung anders. D o r t steht die Unabhängigkeit des Parlaments, das Ansehen der Verwaltung und das Vertrauen der Bürger in die Integrität und Sachlichkeit ihrer Amtsträger im Vordergrund. U m diesem Postulat gerecht zu werden, wurde den Politikern das Instrument der Ämterpatronage abgenommen 2 2 und durch die Unvereinbarkeit von Amt und Mandat ersetzt. Gleichwohl sollten die politischen Parteien in ihrer Unabhängigkeit von der Exekutive geschützt werden. Unter diesem Eindruck erfolgte auch die Einflußnahme der Besatzungsmächte auf die einschlägigen Regelungen des Grundgesetzes. Grundsätzlich beabsichtigten sie eine Demokratisierung des öffentlichen Dienstes. Die ersten deutschen Verfassungs- und Gesetzesbestimmungen der Länder, die 1 5 diese im Rahmen ihrer eingeschränkten Autonomie erlassen konnten, mußten alle Landerregelungen und unter dem Druck der Besatzungsmächte abgeändert werden. Die Angehörigen des B e s a t z u n g s m ä c h t e öffentlichen Dienstes sollten alle von der Parteipolitik und der Mitgliedschaft in den gesetzgebenden Körperschaften ausgeschlossen werden. Die Länder wurden gezwungen, strenge Inkompatibilitätsregeln aufzunehmen, um die außerparlamentarische, politische Betätigung der Beamten zu beschränken. Aufgrund des großen Widerspruchs wurde jedoch ein Kompromiß geschaffen. Eine völlige politische Isolierung der Beamten wurde abgelehnt. Ebenso wandte man sich gegen den Ausschluß der Beamten aus dem Parlament, wie auch gegen die Beschränkung ihrer parteipolitischen Betätigungsfreiheit 23 . Die Forderungen der Besatzungsmächte entsprachen nicht der deutschen Tradition. Somit beschränkte man sich auf eine Unvereinbarkeit der Amts- und Mandatsausübung, wobei die Wählbarkeit der öffentlichen Bediensteten als solche erhalten bleiben sollte. Mit den Arbeiten des Parlamentarischen Rates am 1. September 1948 begann die 1 6 Einflußnahme auf die zukünftige Verfassung des Bundes. Die Besatzungsmächte Parlamentarischer Rat beabsichtigten die Entpolitisierung des öffentlichen Dienstes und die strikte Tren^ „ ^ nung von Amt und Mandat. Dem Beamten sollte selbst das Eintreten für ein politisches Programm untersagt werden 24 . Diesen Forderungen konnte auch der Parlamentarische Rat nicht zustimmen. Deshalb läßt die aufgenommene Regelung die eigentliche Wählbarkeit der Beamten unberührt. Auch dem Prinzip einer

20 21 22 23 24

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

G.MEYER Das parlamentarische Wahlrecht, 1901, S . 2 5 . D . TSATSOS Pari. Betätigung (Fn. 1) S. 37 ff. ausführlich D . TSATSOS Pari. Betätigung (Fn. 1) S. 65 ff. D . TSATSOS Pari. Betätigung (Fn. 1) S . 5 5 f f . § 2 6 des Gesetzes N r . 15 vom 1 5 . 3 . 1 9 4 9 .

706

4. Teil: Der Deutsche Bundestag und seine Mitglieder

parteipolitischen N e u t r a l i t ä t des öffentlichen D i e n s t e s ist der Parlamentarische R a t nicht gefolgt. M i t der E r m ä c h t i g u n g s b e s t i m m u n g des A r t . 137 I G G , der nur v o n der M ö g l i c h k e i t , nicht aber d e m G e b o t der W ä h l b a r k e i t s b e s c h r ä n k u n g spricht, sind die V o r s t e l l u n g e n der westlichen B e s a t z u n g s m ä c h t e n u r in sehr b e g r e n z t e m U m f a n g verwirklicht w o r d e n .

17 H i e r stellt sich die F r a g e , welchen interpretatorischen W e r t die A u s e i n a n d e r s e t Wert der z u n g mit den B e s a t z u n g s m ä c h t e n f ü r die A u s l e g u n g des A r t . 137 I G G gehabt hat. Auseinandersetzung O b der G r u n d s a t z der parteipolitischen N e u t r a l i t ä t des öffentlichen D i e n s t e s mit den der deutschen V e r f a s s u n g i m m a n e n t ist, m u ß a u f g r u n d der G e s a m t k o n z e p t i o n des Besatzungsmächten für die Auslegung G r u n d g e s e t z e s untersucht w e r d e n . W e n n m a n an den historischen G e s e t z g e b e r a n k n ü p f t , darf m a n nicht die einmalige f a k t i s c h e M i t w i r k u n g eines extraneus — hier der B e s a t z u n g s m ä c h t e — außer acht lassen. A l l e r d i n g s b e s c h r ä n k t sich die historische W i r k u n g des F a k t o r s „ B e s a t z u n g s m ä c h t e " im wesentlichen auf die E n t s t e h u n g s z e i t des G r u n d g e s e t z e s . D e r D r u c k der B e s a t z u n g s m ä c h t e ist also entstehungszeitlich, nicht aber geltungszeitlich zu werten. D a s ist auch d a r a u s ersichtlich, daß d e r Parlamentarische R a t sich nicht den B e s a t z u n g s w ü n s c h e n g e f ü g t hat. A u ß e r d e m stand der Parlamentarische R a t z w a r unter d e m situationsbedingten D r u c k der B e s a t z u n g s m ä c h t e , es b e s t a n d aber kein direkter Z w a n g , eine v o n ihm nicht gewollte politische E n t s c h e i d u n g zu treffen. D a m i t sind diese außenstehenden F a k t o r e n z w a r v o n großer B e d e u t u n g f ü r die E n t s c h e i d u n g des V e r f a s s u n g s g e b e r s . Allerdings ist das G r u n d g e s e t z den V o r s t e l l u n g e n der B e s a t z u n g s m ä c h t e nur a n s a t z w e i s e gefolgt, s o daß deren V o r s t e l l u n g e n der historische G e s e t z g e b e r sich nicht z u eigen g e m a c h t hat. A b e r auch w e n n m a n die V o r s t e l l u n gen der U S A u n d E n g l a n d s als entstehungsgeschichtlichen Willen des G e s e t z g e bers ansehen wollte, ist zu beachten, d a ß mit A r t . 137 I G G nur die M ö g l i c h k e i t — nicht ein G e b o t — einer W ä h l b a r k e i t s b e s c h r ä n k u n g g e t r o f f e n w o r d e n ist. E s läßt sich i n s o f e r n aus der R e g e l u n g an sich, als auch aus d e m deutschen Verhalten erkennen, d a ß sich das G r u n d g e s e t z der I n k o m p a t i b i l i t ä t als A u s w i r k u n g der G e w a l t e n t e i l u n g z w a r g e ö f f n e t hat, aber d e m Anliegen der E n t p o l i t i s i e r u n g eine A b s a g e erteilt hat 2 5 . 2. Räumlicher und personeller Geltungsbereich der Ermächtigung 18 A r t . 137 I G G betrifft alle politischen W i l l e n s b i l d u n g s o r g a n e , o h n e R ü c k s i c h t auf

Geltungsbereich des die staatsrechtliche E b e n e , der sie a n g e h ö r e n . V o n ihr w e r d e n alle B e a m t e n , Art. 1371 GG Angestellten des öffentlichen D i e n s t e s , S o l d a t e n und Richter erfaßt. Schwierigkeiten bestehen bei der D e f i n i t i o n d e r A n g e s t e l l t e n des öffentlichen D i e n s t e s . G r u n d sätzlich ist auf d e n öffentlich-rechtlichen C h a r a k t e r des A r b e i t g e b e r s abzustellen. Fehlt dieser, ist z u p r ü f e n , o b der A n g e s t e l l t e eine staatsabhängige T ä t i g k e i t a u s ü b t , die v o n d e m R e g e l u n g s c h a r a k t e r des A r t . 137 I G G erfaßt w e r d e n sollte 2 6 . Bei den S o l d a t e n bestehen vergleichbare B e g r i f f s b e s t i m m u n g e n in § 1 S o l d G 2 7 . Z u den Richtern zählen auch die Richter auf Zeit, P r o b e u n d kraft A u f t r a g s o w i e die

25

26

27

Vgl. ausführlich D.TSATSOS Pari. Betätigung ( F n . l ) S.73 —77; a. A. K.SCHLAICH Wählbarkeitsbeschränkungen (Fn. 4) S. 195 ff; R . STOBER Kommentar (Fn. 1) Rdn. 60. Vgl. D.TSATSOS Pari. Betätigung (Fn. 1) S . 2 1 8 f f .

Darüber unten, III, 5.

§23

707

U n v e r e i n b a r k e i t e n z w i s c h e n M a n d a t und anderen F u n k t i o n e n (TSATSOS)

neben- und ehrenamtlichen Verwaltungsrichter (§§ 1 6 , 1 9 V w G O ) , da immer auf die Art der ausgeübten Tätigkeit und nicht die Rechtsstellung abzustellen ist 28 . Zum personellen Geltungsbereich des Art. 137 I G G gehören nicht die Minister, da ihr Status nicht dem Beamtenbegriff entspricht 29 . Ebenso scheiden nach § 8 Abs. 3 A b g G die kirchlichen Bediensteten aus, da ihnen die notwendige Staatsbezogenheit fehlt 30 . 3. Inkompatibilität oder Ineligibilität? Praxisrelevant und durch K L A U S S C H L A I C H 3 1 aktualisiert ist die Frage, was mit 1 9 Beschränkung der Wählbarkeit gemeint ist. Dazu ist auf die Gegenüberstellung Ineligibilität, von Ineligibilität und Inkompatibilität einzugehen. Ineligibilität bedeutet die I n k o m p a t i b i l i t ä t Ungültigkeit der Kandidatur oder Wahl eines öffentlichen Bediensteten. Inkompatibilität läßt hingegen den Wahlakt bestehen und statuiert nur die Pflicht des Gewählten, sich zwischen Amt und Mandat zu entscheiden. Dabei liegt der sachliche Grund in der Mißbilligung der Kumulation zweier Funktionen. Die Inkompatibilität knüpft die Beschränkung der Mandatsausübung an die außerparlamentarische Betätigung. Die Ineligibilität stellt schon ein Verbot, bzw. die Ungültigkeit der Wahl dar. Deshalb besteht der Unterschied zwischen den beiden Begriffen in der Unterschiedlichkeit der Sanktion, nicht aber in der Unterschiedlichkeit der Sachverhalte. Inkompatibilität ist somit der Oberbegriff, Ineligibilität hingegen eine mit besonders strengen Sanktionen versehene Inkompatibilität 32 . Jede Form von Inkompatibilität stellt eine Beschränkung des passiven Wahlrechts und der freien Mandatsausübung dar 33 . Das kann dann nicht in Frage gestellt werden, wenn man Art. 137 I G G nicht isoliert von anderen einschlägigen Bestimmungen des Grundgesetzes sehen will. Die Beschränkung der Wählbarkeit stellt einen Eingriff in das durch Art. 38 I 1 G G garantierte passive Wahlrecht dar. Art. 48 I G G begründet einen Anspruch auf Urlaub und erleichtert den öffentlichen Bediensteten den Weg zur Erlangung eines parlamentarischen Mandats. Jede zusätzliche Voraussetzung beschränkt — wenn auch nur faktisch — die Ausübung des von der Verfassung in Art. 48 I G G garantierten Rechts. Damit ist jede parlamentarische Inkompatibilität eine Einschränkung des so verstandenen passiven Wahlrechts34.

20

Insofern ist die Unterscheidung von Inkompatibilität und Ineligibilität für das Verständnis des Art. 137 I G G ein unbrauchbares Kriterium 3 5 . Daraus kann nicht

21

28

Vgl. unten, I I I , 6. B u n d e s - und L a n d e s m i n i s t e r stehen in keinem B e a m t e n v e r h ä l t n i s , s o n d e r n in einem hältnis.

Amtsver-

Vgl. hierzu R . STOBER K o m m e n t a r ( F n . 1) R d n . 2 9 3 mit weiteren Q u e l l e n - und L i t e r a -

turangaben. 30

Z u den kirchlichen B e d i e n s t e t e n vgl. R . STOBER K o m m e n t a r ( F n . 1) R d n . 8 6 f f .

31

K . SCHLAICH W ä h l b a r k e i t s b e s c h r ä n k u n g e n ( F n . 4 ) S . 2 1 4 ff.

32

Vgl. D . TSATSOS Pari. B e t ä t i g u n g ( F n . 1) S. 86 ff; anders K . SCHLAICH W ä h l b a r k e i t s b e s c h r ä n -

33

V g l . a.

kungen ( F n . 4 ) S . 2 1 I f f .

Α. K. SCHLAICH

Wählbarkeitsbeschränkungen

(Fn.4) S.214ff;

vgl. auch H.FREUND

A b g e o r d n e t e n v e r h a l t e n : A u s ü b u n g des M a n d a t s und p e r s ö n l i c h e Interessen, 34

1986, S. 127ff.

So zu R e c h t die h e r r s c h e n d e M e i n u n g . Vgl. statt vieler: W . LEISNER D i e U n v e r e i n b a r k e i t von öffentlichem A m t und P a r l a m e n t s m a n d a t , unter b e s o n d e r e r B e r ü c k s i c h t i g u n g der V e r h ä l t n i s s e im L a n d e R h e i n l a n d - P f a l z , 1 9 6 7 , S . 4 3 .

35

Vgl. D . TSATSOS Pari. B e t ä t i g u n g ( F n . 1) S. 97.

B e s c h r ä n k u n g des

passiven W a h l r e c h t s u n d der freien Mandatsausübung

Wählbarkeitsbeschränkung

4. Teil: D e r D e u t s c h e B u n d e s t a g u n d seine Mitglieder

708

die Grenze zwischen unzulässiger und zulässiger Wählbarkeitsbeschränkung ermittelt werden. Die Grenze ist eher dort zu suchen, w o die aus der Beschränkung sich ergebenden Nachteile mit dem sie legitimierenden Verfassungsgrundsatz abzuwägen sind. Eine Wählbarkeitsbeschränkung ist nur dann zulässig, wenn sie sich aus der Verfassung selbst ergibt und nur in dem Maße, in dem es erforderlich ist, dem verfassungsrechtlichen Legitimierungsgrund zu entsprechen. Wie das Bundesverfassungsgericht zutreffend gesagt hat, darf Art. 137 I G G nicht als Ermächtigung dafür interpretiert werden, die Wählbarkeit von öffentlichen Bediensteten durch Ineligibilitäten auszuschließen 36 . Art. 137 I G G spricht von Beschränkung, nicht von Aufhebung der Wählbarkeit, und damit ist auch die äußerste inhaltliche G r e n z e der Ermächtigung grundgesetzlich vorgegeben. Es m u ß für den Beamten weiterhin die Möglichkeit bestehen, sich als Bewerber aufstellen zu lassen, gewählt zu werden und die Wahl anzunehmen. N u r die Mandatsausübung kann von bestimmten dienstrechtlichen Folgen abhängig gemacht werden.

22 Partielle Ineligibilitäten, regionale Ineligibilität

KLAUS SCHLAICH37

legt die Ermächtigung des Art. 1 3 7 I G G weiter aus und sieht in ihr einen typischen Grundrechtsvorbehalt, der sogar partielle Ineligibilitäten zuläßt. G a n z abgesehen davon, daß er bald mit seiner Grundrechtsvorbehaltstheorie in Widerspruch gerät 38 , weist sein Hauptmodell einer partiellen Ineligibilität unüberwindbare verfassungsrechtliche Schwierigkeiten auf. S C H L A I C H regt die Figur der regionalen Ineligibilität der öffentlichen Bediensteten als F o r m zulässiger und effektiver Wählbarkeitsbeschränkung an. Seine Hinweise auf das englische Recht helfen allerdings nicht weiter, weil dort sowohl der Grundsatz des allgemeinen passiven Wahlrechts als auch die Disqualifications-Regelung in der F o r m einer regionalen Ineligibilität gleichrangiges Recht darstellen und keine normhierarchischen Probleme, um die es ja hier gerade geht, a u f k o m m e n lassen. Regionale Ineligibilitäten kennt übrigens das griechische Verfassungsrecht 3 9 . D o r t aber, und das ist eine f ü r den Interpreten wichtige rechtsvergleichende Indikation, hat es der Verfassungsgeber f ü r erforderlich gehalten, solch eine gravierende Einschränkung des passiven Wahlrechts verfassungsrechtlich abzusichern. Deshalb wurde diese F o r m der regionalen Ineligibilität in den Verfassungstext aufgenommen. Das wäre auch nach deutschem Recht durch Grundgesetzänderung möglich.

4. Der zuständige Gesetzgeber 23 Die Wählbarkeit der Beamten kann nur durch Gesetz beschränkt werden. D a f ü r Gesetzliche Beschränkung

m u ß ein formelles Gesetz oder eine den Anforderungen des Art. 80 I G G genügende Rechtsverordnung vorliegen. 24 Fraglich bleibt aber, wem die Gesetzgebungskompetenz zusteht. So weist die Gesetzgebungs- Beschränkung der Wählbarkeit eines Landesbeamten in den Bundestag sowohl ' t o " 1 P e t e n z · eine landesdienstliche Komponente als auch eine bundeswahlrechtliche K o m p o -

Wechselwirkung

.

.

nente auf (Art. 70, 38 III G G ) . Auch die Wahl eines Bundesbeamten in einen 36

37

38 39

B V e r f G E 38, 326 (337). D a r a u s ergibt sich, d a ß bei d e r I n a n s p r u c h n a h m e des A r t . 137 I G G das G e b o t des g e r i n g s t m ö g l i c h e n Eingriffs beachtet w e r d e n m u ß . (So z u t r e f f e n d : R. STOBER K o m m e n t a r [ F n . 1], R d n . 118.) K . SCHLAICH W ä h l b a r k e i t s b e s c h r ä n k u n g e n ( F n . 4 ) S . 2 1 3 . Vgl. u n t e r 5 . a ) S . 7 0 4 f . Vgl. A r t . 56, 57 d e r griechischen V e r f a s s u n g v o n 1975/1986.

§23

U n v e r e i n b a r k e i t e n z w i s c h e n M a n d a t und anderen F u n k t i o n e n (TSATSOS)

709

Landtag weist entsprechend sowohl eine bundesdienstliche als auch eine landeswahlrechtliche Komponente auf. Diese Wechselwirkung hat der Gesetzgeber im Bund und in den Ländern zu beachten 40 . Für die Wählbarkeitsbeschränkung eines Bundesbediensteten in den Bundestag 25 und eines Landesbeamten in den Landtag ist ausschließlich der Bund bzw. das A n s c h l i e ß e n d e Zuständigkeit Land zuständig. Hier besteht keine Zuständigkeitskollision zwischen Bund und des B u n d e s b z w . Ländern, weil entweder der Bund oder die Länder die alleinige Regelungsbefugnis der L ä n d e r , für beide Komponenten besitzen. Die Kollisionsfälle treten erst auf, wenn der K o l l i s i o n s f ä l l e Bund oder die Länder in den jeweils anderen Zuständigkeitsbereich hineinwirken. Für die Wählbarkeit eines Bundesbeamten in ein Landesparlament oder eine 26 Gemeindevertretung folgt die Zuständigkeit von Bund und Land aus Art. 73 N r . 8 Wählbarkeit eines Bundesbeamten und Art. 70 G G . Dienstrechtliche Sanktionen kann allein der Bund, wahlrechtliche in einen L a n d t a g Sanktionen allein das Land statuieren. Der Bundesgesetzgeber muß also den o d e r eine landesverfassungsrechtlichen Grundsatz des allgemeinen passiven Wahlrechts G e m e i n d e v e r t r e t u n g beachten und darf ihn nicht durch seine dienstrechtliche Regelung im Ergebnis aufheben. Andernfalls würde eine bundesrechtliche Regelung gegen die Verfassungsautonomie der Länder verstoßen. Für die Wählbarkeit von Landesbeamten in den Bundestag ergibt sich aus 27 Art. 38 III, 70 und 75 N r . 1 G G eine Rahmenzuständigkeit des Bundes (und somit W ä h l b a r k e i t v o n L a n d e s b e a m t e n in auch eine rahmeninterne Kompetenz der Länder). Der Bund hat jedoch von seiner Bundestag Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht, als er in dem Gesetz zur Neuregelung der Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestages auch die Stellung der Landes- und Kommunalbeamten regelte. Dadurch hatte der Bund unmittelbar geltendes Landesrecht geschaffen. Das erscheint bedenklich. Das B R S t G konnte sich nicht auf Art. 75 Nr. 1 G G stützen. Hier ist die Rahmenkompetenz überschritten, da den Ländern kein eigener Raum zur Wahrnehmung ihrer Regelungskompetenz verblieben ist. Die Regelung des Bundes ist so ausführlich, daß sie auf Landesebene ohne weiteres anwendbar ist. Auch entfallen Art. 72 und 74 G G als Kompetenzregeln. Hier verdrängt die Rahmenkompetenz die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Ebenso entfällt eine Bundeskompetenz kraft Sachzusammenhangs, da über Art. 75 N r . 1 G G sowohl dem Bund als auch den Ländern diese Materie ausdrücklich zusammen zugewiesen ist. Art. 137 I G G enthält keine Kompetenzregelung. Gegen eine solche Qualifizierung des Art. 137 I G G spricht vor allem die Stellung unter den „Ubergangs- und Schlußbestimmungen". Hätte der Gesetzgeber diese Absicht verfolgt, hätte er dies durch die Worte „durch Bundesgesetz" verdeutlichen müssen und sich nicht bloß auf eine Ermächtigungsnorm beschränken dürfen. Damit gelten auch hier die allgemeinen Bestimmungen. Nimmt das Land seine Gesetzgebungskompetenz aber durch eine dienstrechtliche Regelung wahr, darf es nicht an die Annahme des Bundestagsmandates solche dienstrechtlichen Sanktionen knüpfen, daß es dem Gewählten aus diesen Gründen nicht mehr möglich ist, sein passives Wahlrecht auf Bundesebene auszuüben. Hier wäre nicht nur ein Verstoß gegen Art. 137 I G G gegeben, sondern auch die Gesetzgebungskompetenz überschritten 41 . 40

Vgl. ausführlich R . STOBER K o m m e n t a r (Fn. 1) R d n . 181 ff. Vgl. ausführlich D.TSATSOS Pari. B e t ä t i g u n g ( F n . 1) S. 101 ff; R.STOBER K o m m e n t a r ( F n . 1) R d n . 181 ff.

den

710

4. T e i l : D e r D e u t s c h e Bundestag und seine Mitglieder

5. Der legitimierende Grund a) Zum Erfordernis

eines legitimierenden

Grundes

28 Hat der Gesetzgeber den Personenkreis ausreichend beachtet, ein formelles Gesetz Ermächtigung des A r t . 1 3 7 1 G G und Erfordernis eines legitimierenden Grundes

erlassen und das passive Wahlrecht nur beschränkt und nicht ausgeschlossen, sind die formalen Voraussetzungen des Art. 137 I G G erfüllt. Fraglich ist aber, ob zu der Wahrnehmung der Ermächtigung nicht ein besonderer legitimierender Grund erforderlich ist. Ohne einen solchen Grund würde die Einschränkung u. U. weiter gehen, als sie für die Erhaltung des durch das Inkompatibilitätsinstitut zu schützenden Gutes notwendig ist. Hier muß doch verfassungssystemgerecht ein adäquates Prinzip erkennbar sein, das sich an den Zielen der Verfassung orientiert. Denn der Parlamentarische Rat hatte ja gerade der Entpolitisierung des Beamtentums mit einer strengen Trennung von parlamentarischer Tätigkeit und öffentlichem Amt eine Absage erteilt. Er begnügte sich mit einer Ermächtigung zu einer Wählbarkeitsbeschränkung42. K L A U S S C H L A I C H hat mit beachtlichen Argumenten gegen das Erfordernis eines aus der Verfassung herzuleitenden legitimierenden Grundes als Wahrnehmungsvoraussetzung der Ermächtigung des Art. 137 I G G die Diskussion wiederbelebt und bereichert43. Nach Art. 137 I G G sei es Sache des Gesetzgebers, den Zweck der einschränkenden Gesetze zu bestimmen. Bei Art. 137 I G G müsse man interpretativ so vorgehen wie bei anderen einfachen, nicht bereits im Vorbehalt qualifizierten Grundrecbts-Vorbebalten. Der Verfassungsgeber habe sich also damit begnügt, eine Ermächtigung für den Gesetzgeber in das Grundgesetz aufzunehmen; er habe den Gesetzgeber in der Auswahl der legitimierenden Gründe für seine gesetzlichen Regelungen nicht beschränken wollen44. Gerade aber diese These, Art. 137 I G G sei ein Grundrechts- Vorbehalt, impliziert eine Abwägung zwischen dem Schutzbereich der einzuschränkenden (hier Art. 38 I 1 und Art. 48 I G G ) und dem Schutzbereich der einschränkenden (hier Art. 137 I G G ) Norm. Eine solche schutzhierarchische Konzeption, geht es um gleichrangiges Verfassungsrecht, kann sich nur aus dem Grundgesetz ergeben. Was als in concreto wichtig genug ist, um das passive Wahlrecht einer so großen Bevölkerungsgruppe massiv einzuschränken45, kann der Gesetzgeber nicht verfassungsfrei entscheiden. Zu diesem Ergebnis kommt überraschenderweise auch S C H L A I C H selbst, wenn er sich bemüht, das Ziel der von ihm erwünschten „Entbeamtung" der Parlamente mit verfassungstheoretiscben Überlegungen zu untermauern46.

42

43

Vgl. ausführlich D.TSATSOS Pari. Betätigung ( F n . 1) S. 129 ff; R.WAGNER Die Zulässigkeit des parlamentarischen Doppelmandats, 1986, S. 24. Vgl. K . SCHLAICH Wählbarkeitsbeschränkungen ( F n . 4 ) S. 2 2 3 ff. Aber auch vor SCHLAICH ist die im T e x t vertretene Auffassung auf Skepsis gestoßen. So vgl. z . B . R.STOBER K o m m e n t a r ( F n . 1) R d n . 2 1 2 ; D.SCHEFOLD Inkompatibilitäten ( F n . 4 ) S . 5 1 .

44

So K. SCHLAICH Wählbarkeitsbeschränkungen

45

Vgl. die statistischen Angaben bei R. STOBER K o m m e n t a r ( F n . 1) nach Rdn. 74. K . SCHLAICH Wählbarkeitsbeschränkungen ( F n . 4) S. 2 3 0 - 2 3 8 , arbeitet mit Stichworten wie „materiell verstandenes Gewaltenteilungsprinzip", das „spezifische aliud des Parlamentes" und die „repräsentativ-pluralistische Zusammensetzung" der Parlamente.

46

( F n . 4) S. 2 2 7 .

§23

Unvereinbarkeiten zwischen Mandat und anderen F u n k t i o n e n (TSATSOS)

711

Man könnte somit zu folgendem (vorläufigen) Ergebnis k o m m e n : Die Wählbarkeit von öffentlichen Bediensteten darf nicht weiter eingeschränkt werden, als es verfassungsfunktional erforderlich ist. Als verfassungsrechtliche G r ü n d e f ü r die Inkompatibilität k o m m e n der G r u n d - 29 satz der parteipolitischen Neutralität des öffentlichen Dienstes (unten, b), die Mögliche Gründe für hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums (unten, c), der G r u n d s a t z des die Inkompatibilität freien Mandats (unten, d), die „Entbeamtung" der Parlamente (unten, e) und der Grundsatz der Gewaltenteilung (unten, f) in Frage. b) Die parteipolitische

Neutralität

des öffentlichen

Dienstes

Der parteipolitischen Neutralität des öffentlichen Dienstes liegt der Gedanke 30 zugrunde, daß die Parteipolitik zur Gesellschaft und der öffentliche Bedienstete Parteipolitische zum Staat gehören. Aus der Vereinigung beider Tätigkeiten in einer Person Neutralität erwachse die Gefahr, daß die Diensttätigkeit den parteipolitischen Sonderinteressen zum O p f e r falle. Aber hat sich der Grundgesetzgeber wirklich f ü r eine parteipolitische Neutralität der Beamten entschieden? Der Grundsatz der parteipolitischen Neutralität ist weder im Grundgesetz noch in der Gesetzgebung des Bundes oder eines Landes normiert. Gerade im Gegenteil folgt das Recht auf parteipolitische Betätigung aus positivrechtlichen N o r m e n . Dazu gehören die Institutionalisierung der politischen Parteien durch Art. 21 G G und alle daraus folgenden Konsequenzen 4 7 . Weiterhin sind in § 53 I BBG politische Mäßigung und Zurückhaltung von den Beamten gefordert. Diese Pflicht ist aber ohne das Recht und die Möglichkeit auf politische Betätigung gar nicht denkbar 4 8 . A u ß e r d e m müssen sich politische Neutralität im A m t und politische Aktivität im Parlament nicht ausschließen, sie bedingen sich vielmehr. Auch in Art. 48 I G G , der — auch — dem Beamten ein Recht auf Urlaub einräumt, um seinen Wahlkampf zu ermöglichen, k o m m t eher eine Gewährleistung der politischen Betätigung z u m Ausdruck als eine Beschränkung. Selbst aus Art. 137 I G G kann ein Prinzip der parteipolitischen Neutralität nicht hergeleitet werden. Wollte der Grundgesetzgeber eine strenge Trennung von A m t und Mandat statuieren, hätte er nicht bloß eine Ermächtigung an den Gesetzgeber ausgesprochen, sondern direkt ein Kumulationsverbot erlassen. Dieses Ergebnis wird durch die Entstehungsgeschichte des Art. 137 I G G bestätigt 49 . Insofern stellt das Prinzip einer parteipolitischen N e u tralitätspflicht keinen legitimierenden G r u n d f ü r die Beschränkung der Wählbarkeit von öffentlichen Bediensteten dar. c) Die hergebrachten

Grundsätze

des

Berufsbeamtentums

Einen die Wählbarkeitsbeschränkung von öffentlichen Bediensteten legitimieren- 31 den G r u n d könnte man in Art. 33 V G G suchen. D a f ü r müßte die Verhinderung H e r g e b r a c h t e 47

V g l . D . TSATSOS / M . M O R L O K P a r t e i e n r e c h t 1 9 8 2 , S. 1 7 8 f.

« Vgl. statt vieler: U . BATTIS B B G - K o m m e n t a r , 1980, zu § 5 2 N r . 3 (S. 306): „Neutralität des Berufsbeamtentums in der Demokratie" — betont zutreffend BATTIS —, „darf nicht als antiparteiliche, antipluralistische und unpolitische Neutralitätsideologie mißverstanden werd e n . . . " ; DERS. zu §53, N r . 1 (S. 301) sagt unmißverständlich: „In Deutschland haben die Beamten traditionell das Recht, sich politisch zu betätigen." « Vgl. oben II, 1.

G r u n d s ä t z e des Berufsbeamtentums

712

4. Teil: D e r Deutsche Bundestag und seine Mitglieder

der Kumulation von Amt und Mandat der verfassungsrechtlichen Tradition des deutschen Beamtentums seit 1919 entsprechen. Einen solchen Befund liefert die deutsche Verfassungsgeschichte nicht. Ein kurzer Blick auf die Inkompatibilität in der konstitutionellen Monarchie zeigt, daß die Beamten unter den Parlamentsmitgliedern zum regierungsfreundlichen Verhalten gezwungen waren50. In der Weimarer Reichsverfassung zeigt sich dagegen die Tendenz, alle Rechtsnormen, die zur organisatorischen Abgrenzung von Exekutive und Legislative beitragen, aufzuheben. Die Übernahme eines besoldeten Amtes bewirkte nicht mehr den Mandatsverlust. Das war darin begründet, daß das Beamtentum nach Ablösung der Monarchie und der in der Person der Monarchen verkörperten Staatlichkeit nun von einer parteipolitischen Parlamentsmehrheit abhängig war51. Allen Beamten wurden die politische Freiheit und Vereinigungsfreiheit gewährt und parteipolitische Rechte garantiert. Es war nicht einmal eine staatsfreundliche Gesinnung für die Beamtenlaufbahn erforderlich. Dadurch bahnte die Weimarer Reichsverfassung neue Wege zur Politisierung der Beamten 52 . Es fehlt also an einer entsprechenden geschichtlichen Tradition, die Grundlage dafür gewesen wäre, die Inkompatibilität als hergebrachten Grundsatz im Sinne des Art. 33 V G G zu sehen53. d) Das freie

Mandat

32 Als legitimierender Grund könnte aber die Sicherung der Ausübung des freien Freie Mandats in Frage kommen. Eine Gefahr könnte sich aus der Pflicht des AbgeordMandatsausübung n e t e n ergeben, möglicherweise in zwei Eigenschaften tätig zu werden: einerseits in seiner Tätigkeit im Staatsapparat, andererseits in der allein seinem Gewissen unterworfenen freien Mandatsausübung. Hier könnte die erforderliche Unabhängigkeit gemäß Art. 38 I 2 G G gefährdet sein und somit einen legitimierenden Grund darstellen. Gemäß Art. 38 I 2 G G soll der Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes sein. Durch seine Stellung als Abgeordneter soll das Parlament nicht zu einem Faktor werden, an den sich Sonderinteressen besonders gern wenden 54 . Der repräsentative Charakter des parlamentarischen Mandats muß gewahrt bleiben. Dabei ist der Abgeordnete nur seinem Gewissen unterworfen. Und welches parlamentarische Verhalten mit der Abgeordnetenfunktion noch vereinbar ist, bestimmt der Abgeordnete somit auch selbst. Aber auch wenn der Abgeordnete nur nach seinem Gewissen handelt, kann es gerade mit seinem Gewissen vereinbar sein, Sonderinteressen zu favorisieren und sie zu verfolgen. Es besteht kein Verbot,

50

51

52

53

54

Vgl. Königlicher Erlaß vom 20. Dezember 1893, der den Beamten die politische Treuepflicht auch im Wahlkampf und im Parlament abverlangte. Vgl. A. KÖTTGEN Das deutsche Berufsbeamtentum und die parlamentarische Demokratie, 1928, S. 29 ff. T . ESCHENBURG (Fn. 1) S. 46; vgl. z. B. Art. 39, 130 II W R V ; zu den wirtschaftlichen Inkompatibilitäten siehe unten V. Vgl. ausführlich JESS in: B o n n e r Kommentar, Art. 137 (Erstbearbeitung), Anm. II A 4; D.TSATSOS Pari. Betätigung ( F n . 1) S. 1 2 9 f f ; R.WAGNER Doppelmandat ( F n . 4 2 ) S . 2 4 ; R.STOBER Kommentar (Fn. 1 ) Rdn. 155 m. w. N . Vgl. statt vieler: CHR.MÜLLER Das imperative und das freie Mandat, 1966; I.V.MÜNCH Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2 (Art. 2 1 - 6 9 ) 2. Aufl., 1983, Art. 38, R d n . 57 ff.

§23

U n v e r e i n b a r k e i t e n z w i s c h e n M a n d a t u n d a n d e r e n F u n k t i o n e n (TSATSOS)

713

Weisungen zu befolgen. Art. 38 1 2 G G will nur verhindern, daß ausgesprochene Weisungen für den Abgeordneten verbindlich sind55. Deshalb kann auch Art. 38 12 G G nicht der Grundsatz entnommen werden, dem Abgeordneten die Kumulation von Mandats- und Amtsführung zu untersagen. Denn mit der Inkompatibilität wäre dem Abgeordneten gerade untersagt, Interessen besonderer Art im Parlament zu vertreten, auch wenn dies seiner politischen Uberzeugung und seinem Gewissen entspricht. Mit dieser Bindung würde erst die Gefahr entstehen, die Art. 38 I 2 G G gerade verhindern will. Gruppeninteressen sind mit der repräsentativen Funktion des Parlamentes nicht unvereinbar. Daher bietet auch der Grundsatz der freien Mandatsausübung keine Grundlage für den legitimierenden Grund des Art. 137 I GG 56 . e) Die „Entbeamtung"

der Parlamente

Das Problem der „Verbeamtung des Parlaments" ist alt und wird immer wieder — 33 auch durch das Bundesverfassungsgericht 57 — hervorgehoben 58 . Bei dieser Sicht V e r b e a m t u n g u n d geht es nicht um die Gewaltenteilungsrelevanz des einzelnen Bediensteten, der » E n t b e a m t u n g d e r Parlamentsmitglied ist, sondern um die Gewaltenteilungsrelevanz einer zu großen Anzahl von öffentlichen Bediensteten im Parlament. K L A U S S C H L A I C H versucht, über die Ermächtigungsbestimmung des Art. 137 I GG, den Weg zur „Entbeamtung" der Parlamente verfassungsrechtlich vorzuebnen 59 . Obwohl er kurz zuvor betont hat, der Gesetzgeber brauche sich nicht auf einen aus der Verfassung herzuleitenden legitimierenden Grund zu berufen (es reiche allein Art. 137 I GG) 60 , unternimmt er es nun durch sein Bemühen, aus der Logik des Grundgesetzes die Zulässigkeit der „Entbeamtung" des Parlamentes zu gewinnen 61 . S C H L A I C H sieht in der immer größer werdenden Zahl von öffentlichen Bediensteten in den Parlamenten die Gefahr einer Praxis, die dazu beitrage, „den sachlichen, ,charakterlichen' Unterschied der Gewalten weiter einzuebnen" 62 und somit das spezifische aliud der Parlamente zu gefährden. Das Grundgesetz sei nicht „ohne eine gewisse Konzeption über die Zusammensetzung des Parlamentes" 63 und zu dieser Konzeption gehöre der Pluralismus der RepräsentationM. „Für Art. 137 I G G " — so S C H L A I C H — „ergibt sich aus dem Gesagten, daß es nicht schon von vornherein allgemeinen Prinzipien des Grundgesetzes und dessen Wahl- und Parlamentsrecht

55

Z u r G r e n z p r o b l e m a t i k , o b A r t . 38 I 2 G G die Bestrafung d e r A b g e o r d n e t e n b e s t e c h u n g zuläßt, vgl. D . KÜHNE D i e A b g e o r d n e t e n b e s t e c h u n g . Möglichkeiten einer gesetzlichen G e g e n m a ß n a h m e ' u n t e r d e m G r u n d g e s e t z , 1971. 56 Vgl. ausführlich D.TSATSOS Pari. Betätigung (Fn. 1) S. 1 4 2 f f ; H.FREUND A b g e o r d n e t e n v e r h a l ten (Fn. 33) S. 83 ff; f e r n e r D . SCHEFOLD I n k o m p a t i b i l i t ä t e n (Fn. 4) S. 15 f; vgl. auch u n t e r V. " B V e r f G E 40, 296 ff (321). 58

V g l . R . STOBER K o m m e n t a r ( F n . 1) R d n . 7 2 ; K . S C H L A I C H W ä h l b a r k e i t s b e s c h r ä n k u n g e n

(Fn.4)

S. 230 ff. 59

K . S C H L A I C H W ä h l b a r k e i t s b e s c h r ä n k u n g e n ( F n . 4 ) S. 2 3 0 f f .

60

K. SCHLAICH W ä h l b a r k e i t s b e s c h r ä n k u n g e n (Fn. 4) S. 227: „ D e r V e r f a s s u n g s g e b e r hat sich d a m i t b e g n ü g t , eine E r m ä c h t i g u n g f ü r den G e s e t z g e b e r in das G r u n d g e s e t z a u f z u n e h m e n , . . . " K.SCHLAICH W ä h l b a r k e i t s b e s c h r ä n k u n g e n ( F n . 4 ) S . 2 3 I f f . Κ.SCHLAICH W ä h l b a r k e i t s b e s c h r ä n k u n g e n ( F n . 4 ) S.233.

61 62 63

K . S C H L A I C H W ä h l b a r k e i t s b e s c h r ä n k u n g e n ( F n . 4 ) S. 2 3 5 .

'' 4 K . S C H L A I C H W ä h l b a r k e i t s b e s c h r ä n k u n g e n ( F n . 4 ) S. 2 3 6 .

714

4. Teil: D e r Deutsche Bundestag und seine Mitglieder

widerspricht, die Ermächtigung des Art. 137 I GG interpretatorisch auch für solche Wählbarkeitsbeschränkungen in Anspruch zu nehmen, die der Gegensteuerung gegen eine Verbeamtung der Parlamente dienen. Eine solche Interpretation des Art. 137 I G G fügt sich vielmehr in die angedeutete Konzeption einer Verantwortung des Gesetzgebers für Pluralismusdefizite in der Zusammensetzung des Parlamentes ein 65 ." Keine Nuance solcher Überlegungen vermag an der Kernaussage von KLAUS SCHLAICH etwas zu ändern: sie geht dahin, daß Art. 137 I GG, auch wenn nur negativ und „nur" im Sinne einer nicht unbedenklichen Quotenlogik, als Instrument der Lenkung der Parlamentsbesetzung interpretiert werden kann. Art. 137 I GG bietet für eine solche negative Quotenkonzeption für die Wahl von Bediensteten in das Parlament so wenig Grundlage, wie Art. 3 II GG eine wahlrechtliche Quotenregelung für Frauen ermöglicht. Außerdem scheitert eine solche Konzeption an Art. 3 I i. V. m. Art. 38 11 GG. Die „Entbeamtung" der Parlamente hängt mit der Kandidatenaufstellungspolitik der politischen Parteien zusammen. Im Rahmen dieser Politik kann — wenn überhaupt — dem Problem begegnet werden. Ein Gesetz gegen die Verbeamtung der Parlamente würde auch das Kandidatenaufstellungsrecht der Parteien einschränken und somit die durch Art. 21 I G G geschützte Parteiautonomie verletzen. Die Verbeamtung der Parlamente ist auch aus der Sicht des Autors eine Entwicklung, die man nicht aus den Augen verlieren darf. Die Möglichkeit des Rechts aber, korrektiv in den politischen Prozeß einzugreifen, hat Grenzen. Sie ergeben sich nicht nur aus der Verfassung, sondern zugleich aus dem Wesen des Rechts. f ) Das Gewaltenteilungsprinzip (nur) als Sicherung einer „funktionsgerechten Funktionsausübung" 34 Verfassungsrechtsprechung und Verfassungstheorie haben den Grundsatz der Gewaltenteilungs- Gewaltenteilung als den Grund für die Wählbarkeitsbeschränkung durch Inkom66 grundsatz p at ¡b¡l¡ t aten angesehen . Teilweise soll die Inkompatibilität sogar in Art. 2 0 II 2 GG normiert sein. Bei der genauen Untersuchung dieser These ist nicht nur auf den positivrechtlichen Gewaltenteilungsgrundsatz, sondern auch auf den ideengeschichtlichen Gehalt dieses Prinzips einzugehen. Grundsätzlich besagt Art. 20 II 2 GG zunächst einmal, daß drei Funktionen unterschieden werden und durch besondere Organe wahrgenommen werden sollen. Was im einzelnen unter Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung zu verstehen ist, und mit welcher Strenge diese Teilung vorzunehmen ist, läßt sich aus Art. 20 II 2 G G nicht herleiten. Ebenso sagt Art. 20 II 2 GG nicht, ob die terminologische Abgrenzung auch eine sachliche Abgrenzung nach sich ziehen muß und ob eine Ämterhäufung erlaubt ist oder nicht. Das ergibt sich erst aus dem 65

K. SCHLAICH Wählbarkeitsbeschränkungen (Fn.4) S. 241-242. So auch R. STOBER K o m m e n t a r (Fn. 1) R d n . 94 ff. Vgl. TH.TSATSOS Peri Politeias, Staatstheoretische Studien, Hrsg.: H . MOSLER/H. SCHNEIDER/ H.STREBEL 1972, S. 174ff; H.PETERS Die Gewaltenteilung in m o d e r n e r Sicht, in: Arbeitsgemeinschaft f ü r Forschung des Landes N R W , H e f t 25, 1974; W.LEISNER Unvereinbarkeit von öffentlichem Dienst u n d Abgeordnetenstellung, 1968: R. STOBER K o m m e n t a r (Fn. 1) Rdn. 94 ff und B V e r f G E 12, 73 ff; 18, 172 ff.

§23

Unvereinbarkeiten zwischen M a n d a t und anderen F u n k t i o n e n (TSATSOS)

715

Gefüge und der Organisation der Verfassungsordnung und dem funktional wirkenden Ordnungsprinzip. Der Gewaltenteilungsgrundsatz will zunächst nur eine Kompetenzverteilung schaffen. Daraus läßt sich aber keine Inkompatibilität ableiten. Die Annahme, daß nur derjenige Beamte ein funktionsfähiger Beamter sei, der 35 nur Bediensteter und nicht Parlamentarier ist, oder umgekehrt, kann mit dem F u n k t i o n s g e r e c h t e modernen Bild eines öffentlichen Bediensteten nicht vereinbar sein. Erst durch die F u n k t l o n s a u s u b ung Gestaltung des Gewaltenteilungssystems in einem sehr konkreten Normgefüge wird erkennbar, welche Funktion ein bestimmtes Organ hat und mit welchen Aufgaben es tätig wird. Somit kann sich erst aus der Funktionsausübung die Forderung nach Inkompatibilität erschließen. Erst die Verbindung von zusätzlicher Funktion und Person kann dem Träger eines öffentlichen Amtes, das jener Funktion im Wesen oder in der Zielsetzung gegenläufig ist, ein Hinweis auf ein funktionsgefährdendes Dilemma sein. Es genügt also nicht der Umstand, daß eine Funktion der anderen abstrakt widerspricht67. Nur die konkrete Gefährdung der funktionsgerechten Funktionsausübung stellt den die Wahrnehmung des Art. 1371 G G legitimierenden Grund dar. Fraglich ist, wann durch Kumulation von Amt und Mandat eine solche konkrete Verletzung vorliegt. Dabei ist darauf abzustellen, ob erst bei Ausübung zweier Tätigkeiten durch eine Person die funktionsgerechte Funktionsausübung nicht mehr gewährleistet ist, oder ob bei einer Vielzahl von Trägern der einen Funktion, die auf die andere Funktion einwirken können, die Ausübung der anderen Funktion beeinflußt ist. Hier sind die konkrete Normlage und die tatsächlichen politischen Gegebenheiten zu beachten. Von der Normlage hängt diese Feststellung insofern ab, als die Beziehung zwischen beiden Funktionen an dem konkreten Organisationssystem abzulesen ist. So ergibt sich die von der Verfassung gewollte Funktionsqualität des Abgeordnetenmandats aus Art. 38 I 2 G G : Der Abgeordnete ist berufen, als unabhängiger und nur seinem Gewissen unterworfener Mandatsträger seine legislative Tätigkeit und seine politische Kontrollfunktion auszuüben; die von der Verfassung gewollte Funktionsqualität der Aufgaben, die den in Art. 137 I G G erwähnten Bediensteten anvertraut worden sind, ergibt sich aus den Rechtsnormen, die ihre Zuständigkeit und die Art der Funktionserfüllung regeln; der Gesetzgeber hätte hier die Möglichkeit, zu differenzierten Ergebnissen zu kommen, je nachdem, ob es sich um die Funktion ζ. B. der Richter, der politischen Beamten, der Ministerialbürokratie, der Angestellten oder der Bundeswehrangehörigen handelt. Die Gegensätzlichkeit der Funktionen muß sich aus der Normlage im Bereich beider Funktionen ergeben: Sie ist dann vorhanden, wenn jede Funktion von ihrem Träger eine Einstellung verlangt, die sich nicht in Übereinstimmung mit der Einstellung befindet, die die andere von ihrem Träger verlangt. Diese Gegensätzlichkeit also setzt voraus, daß es sich um Funktionsbereiche handelt, die sich begegnen. Die Feststellung, daß durch die Kumulation von Amt und Mandat die funktionsgerechte Ausübung gefährdet wird, hängt aber auch von den konkreten

So aber W . W E B E R Inkompatibilität ( F n . 1) S. 168.

716

4. Teil: D e r Deutsche Bundestag und seine Mitglieder

faktischen politischen Gegebenheiten ab; an der politischen Praxis, d. h. an der Art und Weise, wie die Funktionsträger die rechtlichen Normierungen in die Wirklichkeit umsetzen, kann man die Gegensätzlichkeit ablesen, die sich von den Funktionen auf die Personen überträgt. So ist es durchaus denkbar, daß unter gleicher Normlage in einem Lande die Gefahr einer funktionsstörenden Pflichtenkollision und somit die Voraussetzung einer Inkompatibilität von Amt und Mandat vorhanden ist, in einem anderen dagegen nicht. Diese Unterschiedlichkeit kann sowohl in der Einstellung der Bürokratie der Regierung gegenüber als auch in anderen für die Verfassungswirklichkeit wichtigen politischen Gegebenheiten bestehen. So kann ζ. B. auf den Umfang abgehoben werden, in dem die öffentlichen Bediensteten in ihrem parlamentarischen Verhalten von ihrer Zugehörigkeit zum öffentlichen Dienst sich beeinflussen lassen. Die Frage, wann die Kumulation von Amt und Mandat eine Hemmung oder ein Hindernis zur funktionsgerechten Funktionsausübung ist, kann nur duch eine doppelte, nämlich durch eine Norm- und eine Tatsachenprüfung beantwortet werden. Diesem doppelten Charakter des Kriteriums entspricht der hier vorgeschlagene Begriff: Der Begriffsteil „funktionsgerecht" enthält die Normbezogenheit des Kriteriums, weist den Interpreten auf die Teleologie der rechtlichen Regelung hin und ergibt sich aus der Normlage; der Begriffsteil „Funktionsausübung" enthält die Tatsachenbezogenheit des Kriteriums, weist den Interpreten auf die politischen Gegebenheiten hin und ergibt sich aus der Staatspraxis. 36 Ergebnis

Der Befund könnte wie folgt lauten: Die funktionsstörende Gegensätzlichkeit | r c ) dann inkompatibilitätsrelevant, wenn sie sich von der funktionalen auf die personale und auf die konkret sachliche Ebene überträgt. Damit ergibt sich, daß die parlamentarische Betätigung nicht schlechthin mit einem Amt unvereinbar ist. Das ergibt sich auch daraus, daß in Art. 137 I G G eine Ermächtigungsnorm geschaffen wurde, die eventuelle Differenzierungen zuläßt. Gerade diese Sachbezogenheit erhält die Flexibilität des Art. 137 I G G im verfassungsrechtlichen Gefüge, womit auch eine undifferenzierte Homogenität zwischen Bundes- und Landesgesetzen wie auch den einzelnen Landesgesetzen untereinander vermieden wird 68 .

w

III. Die Wahrnehmung der Ermächtigung des Art. 137 I G G durch den einfachen Gesetzgeber 1. Problemstellung 3 7 Die gesetzlichen Vorschriften, die aufgrund des Art. 137 I G G erlassen worden Rechtstechnischer s j n d ; weisen zwar Unterschiede auf, lassen aber ganz allgemein den rechtstechni-

W e g des Gesetzgebers

s c h e n

W g g

d g s

G e s e t z g e b e r s

erkennen:

a) An die Wahl des Beamten zum Abgeordneten wird zwar sein Ausscheiden aus dem Amt, aber nicht aus dem öffentlichen Dienst geknüpft. Zudem hat er einen Anspruch auf Wiederverwendung nach Ablauf der Wahlzeit. Der Pflicht zur Niederlegung des Amtes steht die Entlassung bei Nichterfüllung dieser Pflicht gegenüber. 68

Ausführlich H . FREUND Abgeordnetenverhalten (Fn. 33) S. 98 ff.

§23

Unvereinbarkeiten zwischen Mandat und anderen Funktionen (TSATSOS)

717

b) Die Ernennung eines Abgeordneten des Bundestages zum Beamten hat seine Entlassung zur Folge, wenn er innerhalb einer Frist sein Mandat nicht niederlegt. c) Einzugehen ist noch auf einige Besonderheiten bezüglich der Wahlbeamten auf Zeit, der Bundeswehrangehörigen, der Richter und der Ehrenbeamten. 2. Die Wahl eines öffentlichen Bediensteten in den Bundestag Die grundsätzlichen Rechtsfolgen der Wahl eines öffentlichen Bediensteten in den 3 8 Bundestag, nämlich das Ausscheiden aus dem Amt, nicht aber aus dem öffentlichen Ausscheiden Dienst, gelten seit Inkrafttreten des Gesetzes vom 11. Mai 1951 (BGBl. I, S. 297), toTdnwe'n esetz das eine zeitlich abgegrenzte Geltung hatte und durch das Bundesrechtsstellungsgesetz vom 4. August 1953 (BGBl. I, S. 777) abgelöst worden ist. Heute ist die Rechtsstellung der in den Bundestag gewählten öffentlichen Bediensteten durch die § § 5 - 9 des geltenden Abgeordnetengesetzes (AbgG), zuletzt i. d.F. vom 16. Januar 1987 (BGBl. I, S. 143), geregelt69. Vom Tage der Annahme der Wahl eines Beamten mit Dienstbezügen in den 39 Bundestag ruhen seine Rechte und Pflichten aus dem Dienstverhältnis, und zwar Ruhen der Rechte und für die Dauer der Mitgliedschaft. Ehrenbeamte sind somit von der Regelung ^ l i c h t e n aus dem ausgeschlossen. Für sie besteht — de lege lata — keine Einschränkung70. Ehrenbeamte Anders als nach dem früher geltenden Recht erhalten die in den Bundestag gewählten Beamten keine Ruhestandsbezüge, dafür aber haben sie einen Anspruch, wie freilich alle Abgeordneten, nach § 11 AbgG auf angemessene Abgeordnetenentschädigung.

40 Keine ^eoTdneten21186' ents^hädigung

Es ruhen allerdings nicht alle Pflichten und alle Rechte des Beamten. So ζ. B. 41 ruht nicht die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit, wie auch das Verbot der U m f a n g der ruhenden Annahme von Belohnungen und Geschenken. Der Beamte hat gleichwohl Pflichten und Rechte Anspruch auf Amts- oder Dienstbezeichnung mit dem Zusatz „außer Dienst" 71 . Dem in den Bundestag gewählten Beamten räumt der Gesetzgeber einen 4 2 rechtlichen Anspruch auf Wiederverwendung nach Beendigung des Mandats (§ 6 Anspruch auf AbgG) ein. Von grundsätzlicher Bedeutung ist sein Recht auf ein Amt, das Wiederverwendung derselben oder einer gleichwertigen Laufbahn angehört wie das zuletzt bekleidete Amt, und das mit mindestens demselben Endgrundgehalt ausgestattet sein muß72. Die Regelung sichert die berufliche Zukunft des in den Bundestag gewählten Beamten und ermöglicht ihm somit die Wahrnehmung eines passiven Wahlrechts. Die Regelung bewegt sich insofern im Rahmen der ratio des Art. 137 I GG. Beide eben erwähnten Grundsätze gelten gleichwohl für Richter, Berufssoida- 4 3 ten und Soldaten auf Zeit entsprechend (§8 1 AbgG). Sinngemäß gelten jene Richter, Soldaten, Angestellte Grundsätze für Angestellte des öffentlichen Dienstes. "

70 71

72

Vgl. R. STOBER K o m m e n t a r (Fn. 1) R d n . 2 7 6 f f ; zur Vorgeschichte des Rechtsstellungsgesetzes vgl. B T - D r u c k s . , 1. W P N r . 3865, 3944, 4306. Vgl. die Problemübersicht bei J . HENKEL R e c h t s stellung (Fn. 4) S. 1113 ff. Vgl. dazu unten I I I , 7. § 5 I A b g G . Vgl. die besonderen Vorschriften über den in den einstweiligen Ruhestand versetzten Beamten (§ 5 I I A b g G ) und über den Beamten auf Widerruf im Vorbereitungsdienst (§5 III AbgG). Vgl. die ausführliche Regelung und das einschlägige Verfahren in § 6 I und II wie § 7 A b g G .

718

4. Teil: Der Deutsche Bundestag und seine Mitglieder

44

Gemäß § 7 a BRRG, § 8 a BBG, § 17 DRiG und § 4 IV SoldG gilt für Angehörige des öffentlichen Dienstes während der Mandatszeit ein Beförderungsverbot. 45 Eine abweichende Regelung gilt nach § 9 AbgG für die Rechtsstellung der in Professoren an einer den Bundestag gewählten Professoren an einer Hochschule. Einmal wird ihr Hochschule Wiederverwendungsanspruch in dem Sinne konkretisiert, daß sie in ihrem bisherigen Amt an der gleichen Hochschule verwendet werden müssen. Zum anderen können Professoren eine Tätigkeit in Forschung und Lehre sowie die Betreuung von Doktoranden und Habilitanden während der Mitgliedschaft im Bundestag wahrnehmen. Die Länder haben grundsätzlich die Konzeption des Bundesabgeordnetengesetzes übernommen73. 46 Es bleibt noch die Frage nach der faktischen Inkompatibilität, wenn insbesonFaktische dere junge Beamte ohne ein hohes Ruhegehalt ein Mandat ausüben wollen. Dies ist Inkompatibilität allerdings keine Frage der Inkompatibilität, sondern der angemessenen Diäten. Das passive Wahlrecht kann nicht von der finanziellen Lage eines einzelnen Beamten abhängen. Ein verfassungskonformes Gesetz gemäß Art. 137 I GG muß sich nicht der Diätenregelung annehmen, sondern lediglich verhindern, daß an die Annahme der Wahl beamtenrechtliche Sanktionen geknüpft werden, die die Laufbahn des Beamten hemmen könnten74. Beförderungsverbot

3. Die Ernennung eines Abgeordneten des Bundestages zum Beamten 47 Die Rechtsfolgen der Ernennung eines Bundestagsabgeordneten zum Beamten Ernennung eines regelt § 28 Nr. 2 BBG. Der Beamte ist zu entlassen, wenn er nicht sein Mandat in Abgeordneten zum einer angemessenen Frist niederlegt. Das gleiche gilt für die Ernennung eines Beamten Bundestagsabgeordneten zum Landesbeamten75. Die Unterlassung der Niederlegung des Mandates stellt einen Entlassungsgrund aus dem Beamtenverhältnis dar. Diese Einschränkung des Abgeordneten, sich zum Beamten ernennen zu lassen, bedeutet eine an Art. 137 I GG zu messende Inkompatibilität76, denn sie tangiert die durch Art. 3812 und 48 II GG geschützten Rechte. Entscheidet sich der Abgeordnete für die Annahme der Wahl, so ist er von einer Beamtenlaufbahn ausgeschlossen. Dadurch wird die Bereitschaft zur Kandidatur und Annahme einer Wahl eingeschränkt und auf das passive Wahlrecht des Kandidaten eingewirkt. 73 74

75

76

So vgl. z.B. § 5 I Ns. AbgG; Art.29ff. Bay. AbgG; §31 ff N R W AbgG. Von faktischer Ineligibility spricht — bezüglich des kommunalen Bereiches — das Bundesverfassungsgericht (E 48, 64 ff). Eine solche faktische Ineligibilität liege auch dann vor, wenn, trotz rechtlicher Zulässigkeit der Kumulation wegen ihrer Rechtsfolgen, die Entscheidung für das Mandat nicht möglich sei. Grundsätzlich seien auch solche faktischen Ineligibilitäten durch Art. 137 I GG nicht gedeckt. Solche Unwählbarkeiten sind nach Auffassung des Gerichts im kommunalen Bereich nur dann zulässig, wenn ansonsten der Gefahr von Interessenkollisionen nicht wirksam zu begegnen sei. Diese Begründung vermag nicht zu überzeugen, denn es gibt keinen ersichtlichen Grund, macht man sie sich zu eigen, sie nicht auf Landes- und Bundesebene zu übertragen. Damit aber würde man die Voraussetzungen zur Entleerung des passiven Wahlrechts von seinem allgemeinen Sinngehalt herstellen. Vgl. §§33 III BRRG, 30 BW. AbgG, 31 Bl. AbgG, 35 Nr. 5 Bre. BG, 31 Hess. AbgG, 34 S. 1 Nr. 4 Hamb. BG, 37 II Nds. BG, 31 Nr. 3 LBG N R W , 39 II Nr. 1 Rh.-Pf. LBG, 45 I Nr. 1 Saarl. BG, 39 SchH AbgG und Art. 33 Bay. AbgG. Eine entsprechende Regelung enthält §21 II 2 DRiG. Vgl. D.TSATSOS Pari. Betätigung (Fn. 1) S. 192 ff.

§ 23

Unvereinbarkeiten zwischen Mandat und anderen Funktionen (TSATSOS)

719

§28 Nr. 2 BBG und Art. 137 I G G gehen von der Wahl eines bereits ernannten Beamten aus. Aber auch derselbe Sachverhalt in zeitlich umgekehrter Reihenfolge fällt unter die Wählbarkeitsbeschränkung des Art. 137 I GG. Die Geltung einer Inkompatibilitätsregel kann nicht davon abhängen, ob die betroffene Person zuerst die Beamten- oder Abgeordneteneigenschaft innegehabt hat. Wollte man die hier aufgeworfene, umgekehrte Sachgestaltung nicht an Art. 1371 G G messen77, müßte Art. 33 II G G als Maßstab herangezogen werden. Art. 33 II G G erfaßt aber den Zugang und nicht das Verbleiben in einem Amt. Es würde eine nicht von Art. 33 II G G erfaßte Thematik herangezogen. §28 Nr. 2 BBG kann damit nur dann mit dem Grundgesetz konform sein, wenn sich die Beschränkung im Hinblick auf das wahrzunehmende Amt ergibt. Jedoch ist zu beachten, daß sich die Ernennung eines Abgeordneten zum Beamten von der Wahl eines Beamten zum Abgeordneten dadurch unterscheidet, daß der erste Fall zu einer korruptiven Personalpolitik der Regierung führen kann. Die Vergabe von Ämtern an Abgeordnete könnte zum Versuch einer korruptiven Beeinflussung ihres Verhaltens im Parlament führen. Diese Gefahr besteht ohne Zweifel. Allerdings sollte man dabei die Bedeutung des zu vergebenden Amtes berücksichtigen, denn nur bei wichtigen Ämtern kann ernsthaft von der Gefährdung der funktionsgerechten Funktionsausübung des parlamentarischen Mandates oder des öffentlichen Amtes gesprochen werden. Für diejenigen Ämter, die eine Inkompatibilität rechtfertigen, liegt die Sanktion der Entlassung im Rahmen des Art. 137 I GG. Die Abgeordneteneigenschaft ist ein Hindernis der Ernennung zum Beamten; erfolgt die Ernennung dennoch, so stellt die Entlassung ein sachgemäßes Korrektiv dar78.

48 ^^^®gGu U I "„ e k e h r t e ' Sachgestaltung, Art. 33 II GG

n d

49 Ernennung eines Ζ1™ kort.uptive Personalpolitik

50

Sanktion der Entlassung

4. Wahlbeamte auf Zeit Besondere Aufmerksamkeit verdient die Frage, in welchem Umfang eine Inkompatibilitätsregelung bei den Wahlbeamten auf Zeit zulässig ist79. Hier sind insbesondere die gemeindlichen Wahlbeamten und Kreisvorsteher/Oberkreisdirektoren zu nennen80. Sie sind wichtige Träger der Kommunalhoheit und üben wichtige Angelegenheiten als Verwaltungsorgane aus. Obwohl sie Beamte der Gemeinde sind, haben sie oft rein staatliche Aufgaben zu erfüllen. Die Auffassung, die Rechtfertigung einer Inkompatibilität entfalle, weil die Wahlbeamten auf Zeit ihr Amt auf dem Wege der politischen Wahl erwerben, weil sie also, wie die Parlamentarier, Politiker seien81, überzeugt nicht. Politische Artgleichheit der Legitimation der Funktionsträger schließt keinesfalls normativ77

Vgl.

C. H. ULE

Öffentlicher Dienst, in: Die Grundrechte, hrsg. von

Κ . A . BETTERMANN / H . C .

NIPPERDEY B d . IV, 2, 1962, S . 6 5 7 . 78 79

80

81

Vgl. U . B A T T I S Kommentar (Fn.48) §28, Rdn.2b. Vgl. hierzu und zum folgenden ausführlich D. T S A T S O S Pari. Betätigung (Fn. 1) S. 198-217 m. w. A. Nach § 10 AbgG können die Länder durch Gesetz für Wahlbeamte auf Zeit von § 6 (Wiederverwendungsanspruch) abweichende Regelungen treffen. Vgl. ausführlich R. S T O B E R Kommentar (Fn. 1) Rdn. 309 ff. So H . S C H N E I D E R Parlamentarische Betätigung der kommunalen Wahlbeamten, in: ZBR 1 9 5 8 , S . 72 ff ( 8 0 ) und F. S T U R M Inkompatibilität (Fn. 5 ) S . 1 6 4 .

51 Inkompatibihtatsregelung bei """" " " " Wahlbeamten auf Zeit

720

52 Bundesgesetzgebung

53 A u s f ü h r u n g von Bundesgesetzen

54 Aufsichtsverhältnisse

55 Ergebnis

4. Teil: D e r D e u t s c h e B u n d e s t a g u n d seine Mitglieder

funktionale Gegensätzlichkeiten aus. Oft sogar wird die funktionale Gegensätzlichkeit durch den politischen Charakter zweier Funktionen nicht abgeschwächt, sondern geradezu verstärkt. Das ist bei den kommunalen Wahlbeamten der Fall, denn es gehört zu ihrer politischen Funktion, die verfassungsrechtlich gewährleistete Autonomie der Gemeinde auch politisch mit dem Engagement des Kommunalpolitikers gegenüber dem Staat zu verwirklichen. Diese Frage läßt sich allein danach beantworten, ob die Kumulation von Amt und Mandat eine Gefährdung der funktionsgerechten Funktionsausübung bedeutet. Diese Gefahr könnte entstehen: durch den Einfluß des Bundes (oder Landes) auf das Kommunalrecht (a), durch die Ausführung der Bundes- oder Landesgesetze durch die kommunalen Gebietskörperschaften (b), im Rahmen von Aufsichtsverhältnissen (c)82. a) Die Bundesgesetzgebung kann vielfältig Einfluß auf das Kommunalrecht nehmen. Das geschieht ζ . B. durch die Rahmenkompetenz des Bundesgesetzgebers, die Rechtsverhältnisse der im öffentlichen Dienst der Gemeinde stehenden Personen zu regeln (Art. 75 Nr. 1 GG)83. Die Wahlbeamten auf Zeit, die Mitglieder des Bundestages wären, würden sicher nicht ohne besondere Anteilnahme an solchen Entscheidungen mitwirken. b) Die Wahlbeamten auf Zeit können bei der Ausführung von Bundesgesetzen Einfluß nehmen. Das geschieht nicht nur im Falle des unmittelbaren Vollzugs von Bundesgesetzen durch Gemeinden als eigene Angelegenheit der Länder nach Art. 83 und 84 GG, oder bei dem mittelbaren Vollzug von Bundesgesetzen durch Gemeinden im Rahmen der Bundesauftragsverwaltung nach Art. 85 ff GG, sondern auch bei der unmittelbaren Zuweisung von Aufgaben durch den Bund an die Gemeinden zur Wahrnehmung im Selbstverwaltungs- oder Auftragsbereich. Der Wahlbeamte auf Zeit, der gleichzeitig Mitglied des Bundestages wäre, käme von der Normlage her in ein inkompatibilitätstragendes Funktionsspannungsverhältnis. c) Bei den Aufsichtsverhältnissen zwischen Bund und Gemeinden tritt eine funktionale Gegensätzlichkeit zwischen Bundestagsmandat und Wahlamt sehr mittelbar und schwach auf. Die Gemeinde ist bei der Erfüllung ihrer Aufgaben dem Land und nicht dem Bund gegenüber verpflichtet. Für die Kommunalaufsicht sind ausschließlich Landesbehörden zuständig84. Es ergibt sich: Für die Einbeziehung der Wahlbeamten auf Zeit in die Inkompatibilitätsregelung des § 5 AbgG liegt ein fundierter legitimierender Grund vor. Die Kumulation von Bundestagsmandat und Wahlamt auf Zeit kann deshalb eine funktionsgerechte Funktionsausübung beider Funktionen bewirken, weil die Bun82

85 84

D a s B V e r f G (E 7, 155 [165 ff, 169]) h e b t die b e s o n d e r e I n k o m p a t i b i l i t ä t s r e l e v a n z d e r W a h l b e a m t e n auf Zeit h e r v o r : „Es liegt auf d e r H a n d , d a ß d e r h a u p t a m t l i c h e B ü r g e r m e i s t e r niemals in gleicher W e i s e u n d in gleichem M a ß e u n a b h ä n g i g sein k a n n , w i e d e r B e a m t e im allgemeinen; s o w o h l die sachliche N o t w e n d i g k e i t w i e a u c h der W u n s c h , w i e d e r g e w ä h l t z u w e r d e n , b r i n g e n i h n n o t w e n d i g in eine gewisse A b h ä n g i g k e i t von d e r G e m e i n d e v e r t r e t u n g . " Vgl. d a z u S. BROSS A u s der R e c h t s p r e c h u n g des B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t s : Beihilfe — I n k o m p a t i b i l i t ä t s - u n d K o a l i t i o n s r e c h t , in: R i A 1981, S. 214 ff, 215. A u s f ü h r l i c h D.TSATSOS Pari. Betätigung (Fn. 1) S. 209 ff. Vgl. H . J . W O L F F / O . B A C H O F / R . S T O B E R V e r w a l t u n g s r e c h t II, 5 . A u f l . , 1987, § 8 6 I X , R d n . 1 7 8 f f ; G . C H R . V. UNRUH G e m e i n d e r e c h t , in: I.V.MÜNCH ( H r s g . ) B e s o n d e r e s V e r w a l t u n g s r e c h t , 5. A u f l . 1979, S. 111.

§23

Unvereinbarkeiten zwischen Mandat und anderen Funktionen (TSATSOS)

721

desgesetzgebung vielfältig Einfluß auf das Kommunalrecht nimmt und weil der Kommunalbeamte auf Zeit bei der Ausführung von Bundesgesetzen mitwirkt 8 5 . 5. B u n d e s w e h r a n g e h ö r i g e Bei der Wahl eines Bundeswehrangehörigen ergeben sich vergleichbare Rechtsfol- 56 Wahl eines gen nach § 2 5 II S o l d G .

Bundeswehr-

Eine Definition des Soldatenbegriffs gibt das Grundgesetz nicht. J e d o c h kann angehörigen, hier auf den Begriff im Soldatengesetz zurückgegriffen werden, wonach jeder, der Soldatenbegriff aufgrund der Wehrpflicht oder freiwilliger Verpflichtung in einem Wehrdienstverhältnis steht, den Status eines Soldaten bekleidet ( § 1 1 S o l d G ) . So sehr die Unparteilichkeit der Bundeswehr erforderlich ist, so räumt das 57 Grundgesetz dem Gesetzgeber jedoch keine Möglichkeit ein, die Unparteilichkeit Unparteilichkeit der Bundeswehr durch parlamentarische Inkompatibilität auszugestalten. D e n n — wie oben dargestellt — ist mit A r t . 137 I G G nicht das Ziel verfolgt worden, allgemein eine Entpolitisierung der betreffenden Bediensteten zu erreichen. Das Soldatengesetz läßt die Kandidatur eines Bundeswehrangehörigen gerade zu ( § 2 5 II S o l d G ) . Bei der Tätigkeit als Mitglied einer kommunalen Vertretung wird die Verein- 58 barkeit mit dem Soldatenamt sogar gem. § 2 5 I I I S o l d G ausdrücklich für vereinbar Mitgliedschaft in einer kommunalen erklärt, weil dem Soldaten der erforderliche Urlaub unter Belassung seiner Bezüge Vertretung zu gewähren ist. D a m i t soll der Soldat der Erfüllung seiner staatsbürgerlichen Pflicht nachkommen können 8 6 . 6. R i c h t e r Auch die Inkompatibilität zwischen Richteramt und parlamentarischem Mandat entspricht den einschlägigen Inkompatibilitätsregelungen für Beamte 8 7 . D e r R i c h terbegriff wird weder in A r t . 137 I G G noch an anderer Stelle des Grundgesetzes erläutert. D e m Grundgesetz liegt der traditionelle Richterbegriff zugrunde, w o nach Berufsrichter und Laienrichter erfaßt sind. Es sind alle Personen einzubeziehen, die Rechtsprechungsgewalt ausüben. F ü r Art. 137 I G G kann nichts anderes gelten, da dies ansonsten der Parlamentarische Rat deutlich hätte zum Ausdruck bringen müssen. D a es auf die materiell wahrgenommene Tätigkeit ankommt, ist bei gleichzeitiger Ausübung von Richteramt und Mandat eine vergleichbare Interessenkollision gegeben. Deshalb sind vom Richterbegriff die Berufs- und E h r e n richter umfaßt.

85

86 87

Auf kommunaler Ebene stellt sich die Frage, ob Art. 137 I G G auch Angestellte privatrechtlicher, von der Gemeinde beherrschter Unternehmen umfaßt. Eine solche Inkompatibilitätsnorm enthält Art. 31 IV Nr. 3 BayGO. Zu Recht hat das BVerfG entschieden (BVerfGE 48, 64 ff und dazu die Ausführungen von C. BRODERSEN in: JuS 1979, S.58f), daß der Begriff des Angestellten in diesem Zusammenhang nicht außerhalb der ratio des Art. 137 I G G ausgelegt werden kann. Das gebietet eine Unterscheidung zwischen „einfachen" und „leitenden" Angestellten solcher Unternehmen. Für die letzteren wird zu Recht die Zulässigkeit einer Inkompatibilität bejaht. Vgl. D. TSATSOS Pari. Betätigung (Fn. 1) S. 222 ff. Vgl. §§4 I, 21 II, 36 II DRiG; ausführlicher darüber D.TSATSOS Pari. Betätigung (Fn. 1) S. 226-241 m . w . A .

59 Inkompatibilität zwischen Richteramt und Mandat, Richterbegriff

722

4. Teil: D e r Deutsche Bundestag und seine Mitglieder

60 Hier scheidet die Gefährdung der Abgeordnetenfunktion durch die Richter aus, Zur Zulässigkeit der J a d u r c h d i e richterliche Unabhängigkeit gemäß Art. 97 G G eine andere Situation recetan"'für'Richter v o r l i e g t - E s besteht allein die Gefahr, daß das Richteramt durch die politische Tätigkeit verletzt werden könnte. Aus der personellen und sachlichen U n a b h ä n gigkeit ergibt sich, daß ein Richter niemals ein Staatsorgan sein kann, das an Weisungen gebunden ist (Art. 97, 20 II GG) 8 8 . Insofern ist eine rechtlich relevante Beeinträchtigung weder der richterlichen Tätigkeit durch die legislative Arbeit noch der legislativen Arbeit durch die Richterfunktion gar nicht möglich. D e n n der Abgeordnete ist keiner staatlichen Behörde unterworfen, er ist weisungsfrei gemäß Art. 38 I 2 G G . Der Richter aber, der gleichzeitig Parlamentsmitglied ist, ist durch seine Mitwirkung am Zustandekommen eines Gesetzes einer gewissen Voreingenommenheit ausgesetzt, wenn er später dieses Gesetz auslegen und Wertmaßstäbe entwickeln soll. Dadurch ist seine innere Freiheit im Prozeß geschmälert. Gleichwohl hat der Richter die Möglichkeit, die Verfassungsgemäßheit eines Gesetzes in Frage zu stellen. Diese richterliche Kontrollfunktion gemäß Art. 100 I G G wäre durch die gleichzeitige Parlamentsmitgliedschaft ebenfalls in Frage gestellt. D u r c h die parteipolitische Ausgestaltung des Parlaments wird dieser Konflikt noch verstärkt. Die Kumulation von Richteramt und Mandat gefährdet die N o t w e n d i g keit einer kritischen Einstellung des Richters zu den einzelnen N o r m e n der geschriebenen Rechtsordnung. Mit der Zugehörigkeit des Richters zu der legislativen Körperschaft kann dieser seiner Aufgabe als ein wertungsfreier, unbefangener Dritter nicht mehr nachkommen. Damit ist auch die Inkompatibilitätsregelung des D R i G zulässig. 7. Ehrenbeamte

61 Das Bundesverfassungsgericht hat die A n w e n d u n g von Art. 137 I G G auf die Inhaber eines Ehrenamtes, Ehrenbeamte

Inhaber eines Ehrenamtes mit der Begründung verneint, sie seien weder Beamte noch Angestellte im Sinne der grundgesetzlichen Ermächtigung 8 9 . Auch das Abgeordnetengesetz stellt in § 5 I auf Beamte mit Dienstbezügen ab. Von ihrer Funktion her aber gesehen, können Ehrenbeamte genauso bedeutende, nach außen wirkende Staatsfunktionen ausüben wie einige Berufsbeamte. Das zeigt sich am besten bei einigen Kommunalämtern, die in kleinen Gemeinde nicht durch einen hauptamtlichen Beamten, sondern durch einen Ehrenbeamten bekleidet werden 9 0 . Die Inkompatibilitätsrelevanz einer Funktion bestimmt sich doch nicht danach, ob der Amtsträger hauptamtlich oder ehrenamtlich tätig ist, vor allem dann nicht, wenn ein und dasselbe A m t sowohl ehrenamtlich als auch hauptamtlich geführt werden

8

* D a z u siehe K. EICHENBERGER Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem, 1960, S.32; Ε. FRIESENHAHN U b e r den Begriff u n d die Arten der Rechtsprechung unter besonderer Berücksichtigung der Staatsgerichtsbarkeit nach dem G r u n d g e s e t z und den westdeutschen Landesverfassungen, in: Festschrift Richard T h o m a , 1950, S. 31. 8 » B V e r f G E 18, 173 (184, 185). *> Vgl. z. B. § 42 II B W G O ; Art. 34 I und II B a y G O ; § 44 Hess. G O ; § 70 I N d s . G O ; § 57 I N R W G O ; § 4 9 R h . - P f . G O ; §§52 ff Saarl. G O ; § 4 8 Schi. H G O .

§23

Unvereinbarkeiten zwischen Mandat und anderen Funktionen

(TSATSOS)

723

kann. Hinzu kommt, daß auch die Rechtsstellung des Ehrenbeamten sich nach dem allgemeinen Beamtenrecht richtet 91 . Aus allen diesen Gründen kann der Ausschluß der Ehrenbeamten aus dem personellen Geltungsbereich des Art. 137 I GG und die entsprechende Regelung des § 5 I AbgG nicht überzeugen.

IV. Das parlamentarische Doppelmandat 1. Zur Inkompatibilität von Bundestags- und Landtagsmandat a) Funktionsverwirklichungsprobleme kann es nicht nur zwischen Amt und Mandat geben, sondern auch bei der gleichzeitigen Ausübung zweier Mandate, also im Falle des sog. parlamentarischen Doppelmandats. Das Grundgesetz enthält hier keine ausdrücklichen Bestimmungen 92 . Rechtsprechung und Literatur halten eine Mandatskumulation ganz überwiegend — de lege lata — für zulässig: Weder aus dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung noch aus dem Bundesstaatsprinzip noch aus dem Prinzip der repräsentativen Demokratie sei eine entsprechende Inkompatibilität abzuleiten 93 . Auch in der Verfassungspraxis ist das Doppelmandat Bundestag/Landtag bekannt, in den letzten Wahlperioden allerdings im wesentlichen lediglich in Form kurzfristiger — bis drei Monate dauernder — Ubergangsfälle 94 . b) Die Stellungnahmen in der wissenschaftlichen Literatur werden regelmäßig zugleich mit kritischen Anmerkungen zur Rechtslage und zur tatsächlichen Praxis verbunden. Dabei wird vor allem auf die besonders hohe Arbeitsbelastung schon durch ein einziges Mandat — jedenfalls im Bundestag — abgestellt, vor allem im Hinblick auf das „Diäten-Urteil" des Bundesverfassungsgerichts 95 . Die aus der

Diesen Grundsatz enthält § 177 I BBG, § 115 BRRG und die entsprechenden Landesbeamtengesetze. Hier geht es nur um die Ehrenbeamten, d. h. um Personen, „die neben ihrem bürgerlichen Beruf, . . . Aufgaben i. S . v. § 4 (BBG) wahrnehmen" (U. B A T T I S Kommentar [Fn. 48] S. 585 f), nicht hingegen um Personen, die bloß eine ehrenamtliche Tätigkeit übernehmen (ζ. B. Tätigkeit eines Ratsherrn), und die im Gegensatz zu den Ehrenbeamten dem Grundsatz der Verfassungstreuepflicht nicht unterliegen (vgl. U. B A T T I S ebenda); vgl. auch H. J. W O L F F / O . B A C H O F / R . S T O B E R Verwaltungsrecht II (Fn. 84) § 1 1 0 112 c. 92 Art. 137 GG ist weder einschlägig noch analogiefähig, so auch R. S T O B E R Kommentar (Fn. 1) Rdn. 243 m. w. N. Angesichts der sehr kurzen und letztlich nicht entschiedenen Erörterungen im Parlamentarischen Rat — vgl. dazu JöR, N. F., Bd. 1, S. 348 — sind auch aus dem Schweigen des Verfassungsgebers keine abschließenden Folgerungen zu ziehen. « Vgl. zunächst statt aller: R . W A G N E R Doppelmandat ( F n . 4 2 ) S . 4 6 - 8 8 , m . w . N . S. 1 8 f . Das BVerfG hat gesetzlich angeordnete Folgen aus einem Doppelmandat (Begrenzung der Aufwandsentschädigungen) überprüft (und für zulässig erachtet), dabei aber das Doppelmandat selbst nicht in Frage gestellt, vgl. BVerfGE 4, 144, es vielmehr in der Entscheidung zur Inkompatibilität nach dem Bremischen Kirchengesetz ebenso für zulässig angesehen wie die Normierung einer Kompatibilität, vgl. BVerfGE 42, 312 (327). 94 Detaillierte Datenzusammenstellung bis zur 10.Wahlperiode des Bundestages von R . W A G N E R Doppelmandat (Fn.42) S.91 ff mit Anhang ( l . W P : 115 Doppelmandate, seit der 4 . W P zwischen 25 und 5, dabei maximal 7 über drei Monate andauernd). Vgl. BVerfGE 40, 296; R. W A G N E R Doppelmandat (Fn. 42) S. 89 ff und die Nachweise dort und S. 1 8 F; darüber hinaus N . A C H T E R B E R G Parlamentsrecht, 1984, S . 2 3 5 f .

62 Doppelmandat,

Rechtsprechung

und Literatur, Verfassungspraxis

63 Stellungnahmen in der wissenschaftlichen Literatur

724

4. Teil: D e r Deutsche Bundestag und seine Mitglieder

Kritik gezogene Folgerung resultiert jeweils in dem Vorschlag der Einführung einer entsprechenden Inkompatibilität de lege ferenda%. Die vorgenannte Kritik ist in der Sache berechtigt, in den verfassungsrechtlichen Schlußfolgerungen aber inkonsequent. Denn in der Sache knüpft sie an die vom Grundgesetz selbst angelegte Ausgestaltung des parlamentarischen Mandats an, die in ihrer verfassungspraktischen Entwicklung („full-time-job") 97 auch die Billigung des Bundesverfassungsgerichts gefunden hat98. 64 c) Folgerungen sind mithin aus der Verfassungsrechtslage, nicht aus einer Grundsätzlicher irgendwie gearteten politischen „Fehlentwicklung" zu ziehen. Demgemäß spricht Ausschluß des mehr dafür, das Grundgesetz und auch die Verfassungen der Bundesländer so zu Doppelmandats, Ubergangsmodalitäten interpretieren, daß ein Doppelmandat im Grundsatz ausgeschlossen ist. Nur eine solche Inkompatibilität entspricht der (konkreten) bundesstaatlichen Organisation nach dem Grundgesetz, die von eigenständigen Verfassungsräumen von Bund und Ländern, von der ILigenstaatlichkeit der Länder und auch von eigenständigen Vertretungen des jeweiligen Staatsvolkes ausgeht. Sie muß auch in personeller Hinsicht verwirklicht werden99. Die — theoretisch wie praktisch — nicht auszuschließende, vielmehr geradezu unabweisbare Vernachlässigung eines Volksvertretungsmandats, nur weil der konkrete Amtswalter ein anderes Mandat wahrnehmen will, kann nicht als Bestandteil der Verfassungskonzeption (sei es im Bund, sei es in den Ländern) angesehen werden. Nur ein solches Verständnis entspricht den grundgesetzlichen Abgrenzungen, aber auch Verschränkungen zwischen Bund und Ländern sowie den Prinzipien aus Art. 20 II sowie 28 III GG. Auf der anderen Seite kann damit keineswegs der Ubergang von einem Mandat zum anderen verboten sein, vielmehr erfordert der auch hier anzulegende Maßstab der funktionsgerechten Funktionsausübung geradezu die Entwicklung sachgerechter Ubergangsmodalitäten, insbesondere für den in der Praxis gar nicht so seltenen Fall der Wahl eines Landtagsabgeordneten in den Bundestag. Im Ergebnis ist daher von einer grundsätzlichen Inkompatibilität von Bundestags- und Landtagsmandat auszugehen, die für Übergangsfälle durch ein Optionsrecht, aber auch eine Optionspflicht — etwa entsprechend der Regelung in §2 GOBRat — verfassungspraktisch umzusetzen ist. 2. Zur Inkompatibilität von Bundestags- und Europaparlamentsmandat

65 Dieses Doppelmandat ist unter anderen rechtlichen Voraussetzungen zu beurtei-

Abgeordnetenmandat im Bundestag und im Europaparlament

len. Bis zur ersten Direktwahl des Europäischen Parlaments 1979 sahen die Autoren wie F n . 9 5 . Das Bundesverfassungsgericht sieht insoweit jedenfalls in Art. 48 II G G keinen Hinderungsgrund, da diese Vorschrift von vornherein „den Doppelmandatar nicht im A u g e " habe, B V e r f G E 42, 312 (327). B V e r f G E 40, 2 9 6 (314). B V e r f G E 40, 2 9 6 (315) spricht von der „ . . . nicht zufälligen, sondern notwendigen und innerlich folgerichtigen, schwerlich reversiblen Entwicklung". D a ß eine Vertretung des Landesvolkes „beim" und „gegenüber" dem Bund nicht durch Doppelmandate, sondern durch die Wahlkreis- und Landeslistenabgeordneten des Bundestages sowie das Bundesorgan Bundesrat bereits geregelt ist, braucht nicht weiter hervorgehoben zu werden. Im Ergebnis wohl ebenso v. ARNIM B o n n e r Kommentar, Art. 48 (Zweitbearbeitung) Rdn.44.

§23

U n v e r e i n b a r k e i t e n z w i s c h e n M a n d a t u n d a n d e r e n F u n k t i o n e n (TSATSOS)

725

Gemeinschaftsverträge vor, daß die Europaabgeordneten aus der Mitte der Parlamente der Mitgliederstaaten zu berufen waren; seit der Direktwahl schreiben Gemeinschafts- und innerstaatliches Recht zwar das Doppelmandat nicht mehr vor, lassen es aber ausdrücklich zu 1 0 0 . Die praktischen Erfahrungen haben aber zu der allgemeinen Uberzeugung geführt, daß es insbesondere wegen der großen Arbeitsbelastung nicht mehr sachgerecht ist, Abgeordnete zwei Mandate gleichzeitig wahrnehmen zu lassen 101 . Dem Grundgesetz ist zunächst kein Verbot eines solchen Doppelmandats zu entnehmen — es wendet sich naturgemäß allein an den Bundestagsabgeordneten und verlangt von ihm, dieses Mandat keinesfalls zu vernachlässigen. Wenn nunmehr auch das — nach dem Grundgesetz zulässigerweise hervorgebrachte — Gemeinschaftsrecht und die nationalen Umsetzungsakte (Europawahlgesetz, Europaabgeordnetengesetz) auch von dem Mitglied des Europäischen Parlaments einen entsprechenden Einsatz verlangen und deswegen Doppelmandate ausschließen, so kann gegen eine entsprechende Optionslösung von Grundgesetzes wegen nichts eingewendet werden.

V. Wirtschaftliche Inkompatibilitäten für Abgeordnete des Bundestages? Unter wirtschaftlichen Inkompatibilitäten werden in der Fachliteratur zweierlei 66 Kumulationsprobleme bezeichnet 102 . Einmal Formen der geschäftlichen Verbin- Wirtschaftliche dung eines Abgeordneten zum Staat und zum anderen Formen der privatwirt- Inkompatibilitäten schaftlichen Bindungen eines Parlamentsmitgliedes 103 . Hierzu ist die Frage aufgeworfen, ob durch entspechende „wirtschaftliche Inkompatibilitäten" für Abgeordnete die ausschließliche Gewissensunterworfenheit des Abgeordneten zu schützen sei 104 . Solche Inkompatibilitäten aber, die das Mandat vor mandatsfremden Einflüssen schützen sollten, haben bis heute in das deutsche Recht keinen Eingang gefunden 105 . Im Ausland sind hingegen solche Bestimmungen nicht unbekannt 106 . 100

V g l . A r t . 138 I E W G - V e r t r a g , A r t . 1, 5 u n d 6 D i r e k t w a h l a k t u n d d a z u R . W A G N E R D o p p e l m a n d a t ( F n . 4 2 ) S. 100 f.

101

V g l . R . W A G N E R ( w i e F n . 4 2 ) S. 1 0 6 f f mit D a t e n z u s a m m e n s t e l l u n g . G r i e c h e n l a n d h a t i m W a h l g e s e t z v o m 2. J u l i 1981 bereits d a s D o p p e l m a n d a t , g e s t ü t z t auf A r t . 6 II D i r e k t w a h l a k t , a u s g e s c h l o s s e n ; v g l . R . W A G N E R ( F n . 5 8 ) , S. 111.

102

Vgl. C.SCHMITT Verfassungslehre,

1928, S. 191, 195, 2 5 5 ; W . W E B E R

I n k o m p a t i b i l i t ä t ( F n . 1)

S. 161, 2 3 9 ; R . B Ü T T N E R W i r t s c h a f t l i c h e I n k o m p a t i b i l i t ä t e n , D i s s , j u r . , B e r l i n , 1933; H . F R E U N D V e r h a l t e n s r e g e l ( F n . 3 3 ) ; D . TSATSOS Pari. B e t ä t i g u n g ( F n . 1) S . 145 ff m . w . N . 103

I m ersten Fall s p r i c h t W . W E B E R v o n älteren, i m z w e i t e n v o n reinen w i r t s c h a f t l i c h e n I n k o m p a tibilitäten. V g l . W . W E B E R I n k o m p a t i b i l i t ä t e n ( F n . 1) S . 2 4 0 .

104

D e r G e d a n k e ist d e m d e u t s c h e n R e c h t s d e n k e n nicht f r e m d . V g l . z . B . G . LEIBHOLZ D a s W e s e n der R e p r ä s e n t a t i o n u n d d e r G e s t a l t w a n d e l der D e m o k r a t i e i m 2 0 . J a h r h u n d e r t , 1960, S. 172, Anm.4.

105

Vgl. H.FREUND Verhaltensregel

106

S o ζ. B . in F r a n k r e i c h A r t . 15 der O r d o n . N r . 5 8 - 9 9 8 v o m 2 4 . O k t o b e r 1 9 5 8 , w o n a c h der A b g e o r d n e t e nicht d e m A u f s i c h t s r a t etc. einer ausschließlich a u f w i r t s c h a f t l i c h e T ä t i g k e i t gerichteten G e s e l l s c h a f t a n g e h ö r e n d a r f , w e n n ihre T ä t i g k e i t das K r e d i t - u n d S p a r w e s e n b e t r i f f t . A u s f ü h r liche, a b e r in d i e V e r f a s s u n g a u f g e n o m m e n e w i r t s c h a f t l i c h e I n k o m p a t i b i l i t ä t s r e g e l u n g e n b e i d e r A r t e n kennt d a s g r i e c h i s c h e V e r f a s s u n g s r e c h t , vgl. A r t . 5 7 d e r V e r f a s s u n g v o n 1 9 7 5 / 1 9 8 6 .

(Fn.33).

726

4. Teil: D e r D e u t s c h e Bundestag und seine Mitglieder

Wirtschaftliche Inkompatibilitäten für Abgeordnete — käme man zu dem kaum begründbaren Ergebnis, sie würden in der Praxis das Ergebnis bringen, was man von ihnen erhofft — wären mit Art. 38 I 2 G G unvereinbar und somit ohne Grundgesetzänderung verfassungswidrig. Wirtschaftliche Inkompatibilitätsnormen enthalten eine — wenn auch nur negative — Determinierung der Gewissensentscheidung des Abgeordneten, also gerade das, was Art. 38 I 2 G G ausschließen wollte. Wie U. S C H E U N E R 1 0 7 ZU Recht bemerkt, versperrt die These von der Antinomie zwischen pluralistischer Gesellschaft und Repräsentation den Weg zu einer modernen Theorie der Repräsentation. Die Aussperrung der Interessenvertretung aus dem Parlament um der Repräsentation wegen scheitert gerade am Grundsatz des freien Mandats. Die Beziehung von Geld und Politik auf der Ebene des Parlaments zu regulieren und somit die Glaubwürdigkeit der Parlamentarier durch Rechtssanktionen retten zu wollen, wäre ein Indiz für einen Kredibilitätsverlust der Parlamente und der Politik überhaupt, einen Kredibilitätsverlust, den das Recht, das ja selbst Produkt einer politischen Entscheidung ist, nicht abzufangen vermag, jedenfalls nicht durch das Institut von wirtschaftlichen Inkompatibilitäten.

107

Politische Repräsentation und Interessenvertretung, in: D Ö V 1965, S. 577 (578).

III.

Parlamentssoziologie

§24 Zusammensetzung und Sozialstruktur des Bundestages ADALBERT

HESS

I. Das geschichtliche Erbe So sehr sich der 1949 gegründete westdeutsche Staat in seiner politischen und rechtlichen Ausgestaltung und Zielsetzung vom Deutschen Reich in seiner Endphase der totalitären Diktatur wie überhaupt von wesentlichen Prägungen der Vergangenheit abzusetzen bestrebt war, ist er doch kausal eng mit der gesamten Geschichte bis zu den Anfängen der Bundesrepublik verbunden. Der Deutsche Bundestag erweist sich — wenn wir hier sukzessiv von der unmittelbaren Vergangenheit in die entfernter liegenden Phasen zurückschreiten — als das Ergebnis der Nachkriegsgeschichte seit 1945, des sog. Dritten Reiches, der Weimarer Republik und der Spätzeit des Kaiserreiches. So war ζ. B. ADENAUER ja noch vor 1918 Mitglied des preußischen Herrenhauses gewesen. — Alle diese Phasen haben auch personell oder soziologisch im Bundestag ihre Spuren hinterlassen. 1. Die Nachkriegszeit ab 1945 war gekennzeichnet durch einen außerordentlich großen Bedarf an politischem Personal, das den Besatzungsmächten wie den neu- oder wiedergegründeten politischen Parteien für den politischen und administrativen Neuaufbau als geeignet oder akzeptabel erscheinen konnte (vgl. auch Abschnitt I I . l ) . Diese Situation ist aus einer ganzen Reihe von Sozialdaten der späteren Bundestagsmitglieder mit ersichtlich. Eine große Zahl von ihnen brachte beispielsweise (zumeist nicht in den Bundestagshandbüchern, aber in anderen biographischen Handbüchern und Mitteilungen) eine gleichzeitige Mitgliedschaft in mehreren Parlamenten zum Ausdruck. Man findet nicht selten die Angabe: (Gleichzeitig) MdB, M d L , M d K . Häufig wurden neben den Mandaten noch gouvernementale oder sonstige politische sowie administrative Funktionen ausgeübt. Eine Reihe von Bundestagsmitgliedern war — manche von ihnen jahrelang — gleichzeitig Landesminister, viele von ihnen auch Oberbürgermeister, Bürgermeister, Landrat usw. Später haben neue faktische Entwicklungen (Zunahme des politischen Nachwuchses, Verstärkung der Konkurrenz und Rivalität in den Parteien, Kritik der öffentlichen Meinung) wie auch diverse rechtliche Regelungen (Inkompatibilitäten) zur Verminderung jener Kumulation von Funktionen beigetragen.

Kumulation von Mandaten und F u n k t i o n e n in der Nachkriegszeit

Ferner ist auf die weit gefächerte ethnische und regionale Provenienz des führenden politischen Personals der Bundesrepublik hinzuweisen. Sie hat ihre D e r Bundestag als Ursache in Vorgängen nach 1945, die aber wiederum Ergebnis der vorausgegange- regionales und „Völkergemisch"

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4. Teil: D e r Deutsche Bundestag und seine Mitglieder

nen Gewaltherrschaft und des Krieges sind. Als Stichworte sind hier zu nennen: Rückkehr von Verfolgten aus der Emigration, Heimkehr aus Kriegsgefangenenschaft (oft auch bei Wohnsitz im Osten bevorzugt in die Westzonen), Einströmen von Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen aus den Ostgebieten und aus Osteuropa, auch Flucht und Ausweichen aus der Ostzone, zudem eine starke Binnenwanderung in Westdeutschland selbst. Zu den Flüchtlingen und Vertriebenen gehörte auch eine beachtliche Zahl solcher, die — wie die Sudetenländer und andere Deutschstämmige aus Osteuropa — gar nicht dem alten Deutschen Reich (bis 1918) angehört hatten. In den Abgeordnetendaten selbst drückt sich dieser große — Mittel- und Osteuropa verändernde — ethnische Umwandlungsprozeß mit aus. Als eine herausragende Besonderheit für die Bundesrepublik bleibt festzuhalten, daß ein übermäßig hoher Anteil der Parlamentsmitglieder, die nunmehr konkrete politische Gestaltungsaufgaben für den neuen Staat übernommen hatten, überhaupt nicht auf dessen Boden geboren waren. 2. Wie sah es nun mit der politischen Provenienz der Bundestagsmitglieder in Hinsicht auf Haltung und Schicksal im sog. Dritten Reich aus? Der Autor hat diesbezüglich über die Biographien in den Bundestagshandbüchern hinaus eine ganze Reihe von anderen biographischen Handbüchern, auch einige Einzelbiographien sowie zahlreiche zeitgenössische und spätere Zeitungsberichte ausgewertet. Es konnten allerdings auch damit in einer ganzen Reihe von Fällen weder informatorische Lücken noch Widersprüche beseitigt werden. Dies gilt insbesondere für die Abgeordneten der Anfangszeit des Bundestages. Die nachfolgenden Angaben können deshalb, ungeachtet aller Bemühung um Vollständigkeit und Sorgfalt, nur als Annäherungswerte gelten. Doch werden, wie ich meine, die wesentlichen Konturen sichtbar und gestatten eine Reihe von Aussagen zur politischen Situation und Ausrichtung (der späteren Bundestagsmitglieder) in der Zeit der Diktatur. 3 Von den eindeutigen Pro- oder Contra-Haltungen und unverkennbaren Grenzen der Schicksalsmerkmalen abgesehen, bereiten entsprechende Zuordnungen — dies gilt ^a^HnnereVor'än^e ^ Krisenepochen — a u c ' 1 deshalb Schwierigkeiten, weil politische Gesinnungen und Einstellungen ein dynamischer Prozeß sind, mit zeitlichen Schwankungen und Veränderungen nach dem moralischen und geistigen Zuschnitt der einzelnen, der beruflichen und privaten Situation, dem individuellen Erleben, usw. Bei relativ „Unpolitischen" führte oft erst die sich ab 1942 deutlich abzeichnende militärische Niederlage zu einer inneren Distanzierung vom Regime. — Es ist schwer, in Menschen hineinzuschauen oder gar innere Wandlungen über ganze Zeiträume hinweg zu verfolgen. Selbst bei einer prominenten Figur kann das allenfalls eine ausführliche Spezialbiographie leisten. Wenn hier Angaben zur Zahl der vom Regime verfolgten und beeinträchtigten späteren Abgeordneten gemacht werden, mußte im wesentlichen doch auf konkrete Sachverhalte (Haft, Emigration, Entfernung aus dem Amt, usw.) zurückgegriffen werden. In Hinsicht auf die hier abgegrenzten zwei Gruppen von Verfolgten und Beeinträchtigten, aber auch über diesen Personenkreis hinaus, müssen verständlicherweise zum Teil „fließende Ubergänge" in Rechnung gestellt werden. Es kann niemand ermessen, ob ein von außen gesehen „leichtes Schicksal" nicht doch tiefe Spuren und Wunden hinterlassen hat. Auch von offensichtlich nicht Beeinträchtigten wurden möglicherweise erlittene Demütigungen und Insulte, die innerlich nicht überwunden werden

§24

Zusammensetzung und Sozialstruktur (HESS)

729

konnten, verschwiegen. Eine Statistik kann solches persönliche Leid und Empfinden nicht zum Ausdruck bringen. Dies gilt natürlich — umgekehrt — auch in Fällen des Verschweigens unguter Verhaltensweisen bei solchen, die bezüglich der NS-Zeit später als „Unpolitische" figurierten. Die Statistik kann also allenfalls Schicksalsgruppen abgrenzen, bei deren Mitgliedern nach allen erkennbaren Daten (bis 1945) eine dezidierte Einstellung gegen das Regime, mit Prägungen, die auf unterschiedliche Art in die Nachkriegspolitik hineinwirkten, vorauszusetzen sind. Zu den Verfolgten und Beeinträchtigten (vgl. unten) wurden u. a. diejenigen 4 nicht gerechnet, die — ohne vom Regime persönlich behelligt zu werden — als meist N i c h t alle „kleine" Angestellte von Parteien und Gewerkschaften mit deren Verbot und Geschadigten Auflösung 1933 ihre Stellung verloren. Sie haben in der Regel auch bald wieder eine berufliche Position erlangt. Nicht berücksichtigt wurden zudem — soweit sie vom Regime unbehelligt blieben — einige mit dem Verbot ihrer Parteien „entmachtete" Parlamentsmitglieder (bis 1933), die zumeist wieder den vorpolitischen Beruf ausüben mußten (was wohl in einzelnen Fällen mit einer erheblichen „StatusVerringerung" verbunden war). Sie waren gewiß beeinträchtigt, und bleibende politische Ressentiments sind auch hier anzunehmen. Aber nicht alle, die durch die Existenz und die Politik des „Dritten Reiches" geschädigt wurden, können im spezifischen Sinne als vom Regime Verfolgte und Beeinträchtigte gelten. Opfer des Regimes (und dennoch nicht Verfolgte) waren schließlich auch die — politisch inaktiven — Kriegsteilnehmer, insbesondere soweit sie schwer verwundet wurden oder ihre Gesundheit in langer Kriegsgefangenschaft dauernden Schaden nahm. Auch die zahlreichen späteren Abgeordneten, die ihre Heimat verloren, müssen in jenem weiteren Sinne als Opfer gelten, wobei freilich — ungeachtet der deutschen Aggression mit ihrer menschenverachtenden Ostpolitik — in den Vorgang der Vertreibung fremde Verantwortung und Schuld mit verwoben sind. Es mag hier nur angefügt sein, daß selbst eine Reihe von eindeutigen Regimegegnern im Bundestag (Haft oder Emigration) aus der Heimat vertrieben worden ist. Nicht berücksichtigt bei der Zahl der Verfolgten und Beeinträchtigten wurden ferner einige schwer zu beurteilende (auch durch keine weiteren Daten gestützte), möglicherweise leicht aufgebauschte Benachteiligungsfälle. So ζ. B. bei biographischen Hinweisen wie: „Hatte — als politisch unzuverlässig geltend — Schwierigkeiten, in den juristischen Beruf zu kommen"; oder: „1933 zum stellvertretenden Bürgermeister von . . . gewählt, aus politischen Gründen . . . nicht bestätigt"; wie auch: „Zwischen 1933 und 1945 politisch gefährdet, jedoch als unersetzbarer Fachmann . . . im Amte belassen." 3. Nunmehr unmittelbar zur Statistik der vom Regime Verfolgten und Beeinträchtigten (mit Erinnerung an die oben gegebenen Vorbehalte und einschränkenden Hinweise). Stichtag der Erfassung ist der 16.11.1949. Bundestagsmitglieder insgesamt: 410, davon 142 C D U / C S U (24 CSU), 136 SPD, 53 FDP, 58 Mitglieder diverser bürgerlicher Parteien, 6 Nationale Rechte und 15 KPD. (1) Lebensbedrohende Verfolgungen und andere durch das Regime bewirkte Beeinträchtigungen gravierender Art (KZ, Zuchthaus oder sonstige Inhaftierungen und Internierungen von längerer Dauer; Emigration. Zum Teil auch Kombinationen davon in verschiedenen zeitlichen Folgen).

waren

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4. T e i l : D e r Deutsche Bundestag und seine Mitglieder

Dieser 1. Kategorie sind (1949) 122 Abgeordnete zuzurechnen, davon 24 C D U / C S U (4 C S U ) , 70 S P D , 5 F D P , 6 Diverse bürgerliche Parteien, 2 Nationale Rechte und 15 K P D . (2) Verfolgungen und Beeinträchtigungen sonstiger Art (Haft oder Internierung für kurze Zeit, Entlassungen oder Zwangspensionierungen von Angehörigen des öffentlichen Dienstes sowie sonstige die berufliche Existenz gezielt schädigende Maßnahmen; Anklagen wegen „Wehrkraftzersetzung"; u.a.). Soweit dies die Unterlagen vermitteln, war das Schicksal der Angehörigen dieser zweiten Kategorie — in einem elementaren Sinne — weniger gravierend. Der eine oder andere von ihnen kam sogar (ohne daß dies die Täter entschuldigen soll) relativ gut davon. Einige entlassene Beamte wechselten in die Wirtschaft über und machten dort eine (ihre vormaligen Chancen mindestens finanziell übertreffende) Karriere. Wenn sich ein aus dem Amt Entfernter später — was auch vorkam — in exponierter Weise dem Regime dienstbar machte, wurde er hier nicht berücksichtigt. Die Maßnahmen dieser 2. Kategorie sind gleichwohl, weit überwiegend auch in ihrer Auswirkung für die Betroffenen, als nicht zu entschuldigendes Unrecht einzustufen. Dieser 2. Kategorie sind (1949) 79 Abgeordnete zuzurechnen, davon 37 C D U / C S U (6 C S U ) , 27 S P D , 9 F D P und 6 Diverse bürgerliche Parteien. 4. Wenn man die Daten aus beiden Kategorien zusammenfaßt, ergibt sich von 5 H o h e r den Fraktionen und politischen Richtungen folgendes Bild:

Verfolgtenanteil bei S P D und K P D

6

D e r Verfolgtenanteil bei den bürgerlichen Parteien

Sehr hoch ist der Anteil der Verfolgten und Beeinträchtigten in der linken Hälfte des politischen Spektrums. Bei der SPD sind dies zus. 99 Abgeordnete (davon 70 Verfolgte gravierender Art, auch besonders viele, die in K Z - H a f t waren). Die 99 Abgeordneten (von zus. 136) machen 72,8 % , also rd. drei Viertel, der SPD-Fraktion aus. Maximal war der Anteil der Regimegegner bei der K P D . Die 15 Verfolgten und Beeinträchtigten gravierender Art (KZ, Zuchthaus, Emigration — zum Teil in Kombinierungen —, überwiegend über lange Zeiträume hinweg) repräsentieren — das bedeutet einen Verfolgtenanteil von 1 0 0 % — die gesamte Fraktion. Bei der C D U / C S U stellen die Verfolgten und Beeinträchtigten (von denen allerdings die der 2. Kategorie zahlreicher als die der 1. Kategorie sind) mit 61 Abgeordneten (von zus. 142) rd. 43 % der Fraktion dar. Bei der C S U allein ist der entsprechende Anteil — 10 von zus. 24 Abgeordneten — dem in etwa analog. — Immerhin ist also auch bei den Christdemokraten der Anteil der Verfolgten und Beeinträchtigten nicht allzu weit von der Hälfte der Fraktionsmitglieder entfernt. Bei der F D P , die in der Nachkriegszeit überwiegend die vormalige nationalliberale und weniger die fortschrittlich-freisinnige Tradition fortsetzte, betrug der Anteil der Verfolgten und Beeinträchtigten (auch hier waren die der 2. Kategorie zahlreicher als die der 1. Kategorie) mit 14 von zus. 53 Abgeordneten 25,4 % , also etwas mehr als ein Viertel. Die übrigen (kleinen) Fraktionen, Gruppen sowie Unabhängigen wurden hier — mit Ausnahme der Nationalen Rechten und der K P D — aus Gründen der statistischen Vereinfachung zu einem Kontingent von 58 Mitgliedern „Diverser bürgerlicher Parteien" zusammengefaßt (vgl. dazu Abschnitt II.2.). Bei ihnen

§24

Zusammensetzung und Sozialstruktur (HESS)

731

machten die 12 Verfolgten und Beeinträchtigten 2 0 , 7 % aus. Die entsprechenden Anteile sind jedoch innerhalb der einzelnen politischen Gruppierungen nicht gleich. Relativ hoch ist dieser Anteil mit 6 Verfolgten und Beeinträchtigten (davon 5 gravierender Art) von 17 Abgeordneten insgesamt (also mit mehr als einem Drittel) bei der Bayernpartei. — Der in diesem Kontingent von 58 Mitgliedern mit einbegriffene einzige Bundestagsabgeordnete vom S S W , H E R M A N N C L A U S E N , gehörte ebenfalls zu den Verfolgten. Immerhin waren selbst unter den 6 Mitgliedern der Nationalen Rechten zwei vormals Verfolgte (gravierender Art). Eine Gegnerschaft gegen die totalitäre Diktatur Schloß eine nationale (in diesen Fällen wohl eher nationalistische) Gesinnung nicht aus. Dies galt damals — mit Ausnahme der KPD — für viele vormals verfolgte Abgeordnete, auch für Mitglieder der SPD-Fraktion (vgl. auch Abschnitt v.l.)· 5. Die Verfolgten und Beeinträchtigten (also jene, die beiden Kategorien 7 angehören) bildeten — wie ersichtlich — zu Beginn der 1. Wahlperiode ein D e r Kontingent von 201 Abgeordneten, von denen die größere Zahl (122 Abg.) Verfolgte gravierender Art waren. Zählt man einige weitere Abgeordnete hinzu, die zwar nicht den beiden Kategorien angehören, aber gleichwohl als „Ressentiment-Geladene" und innere Opponenten zum Regime gelten können (wie ζ. B. einige 1933 „entmachtete", aber nicht verfolgte Parlamentsmitglieder, vgl. oben), so ergibt sich — in Hinsicht auf Schicksal und Einstellung von vor 1945 — eine knappe „antifaschistische" Mehrheit. Diese sich aus allen Fraktionen rekrutierende Mehrheit muß jedoch als bloß numerische, politisch sehr heterogene Größe angesehen werden, deren Hauptnenner keine Grundlage für eine gemeinsame neue Politik abgab. Verfolgte rücken oft in der Not zusammen; in einer veränderten Situation — jetzt verurteilten zudem alle Parteien prinzipiell die vergangene Gewaltherrschaft — treten jedoch die auf Gegenwart und Zukunft gerichteten parteipolitischen Ziele und damit die Unterschiede wieder in den Vordergrund. Dies schließt nicht aus, daß einzelne — auch bleibende — Zielsetzungen wie Wiedergutmachungsleistungen oder Förderung der Beziehungen zu Israel von vormaligen Verfolgten und Regimegegnern — die für diesen Anliegenbereich äußerst sensibel waren — in besonderem Maße befürwortet und getragen worden sind. Verständlicherweise wurde auch die erste Regierungskoalition (1949) personell und programmatisch nicht auf der Grundlage einer spezifisch „antifaschistischen Politik" gebildet. Bei den Fraktionen der Regierungsmehrheit — C D U / C S U , F D P und DP — hatten die vormals Verfolgten und Beeinträchtigten (78 von zus. 212 Abg.) einen Anteil von 36,8 % oder — zählt man einige weitere nichtverfolgte Regimegegner hinzu — von ca. 40 % . Dieser Anteil lag deutlich unter der — oben erwähnten — knappen Mehrheit vormaliger Gegner im gesamten Bundestag. Diese Differenz bringt aber auch wiederum zum Ausdruck, daß (läßt man die an der Koalition nicht beteiligten kleinen bürgerlichen Parteien hier außer acht) der Anteil der Verfolgten und Beeinträchtigten besonders hoch bei der parlamentarischen Opposition war. Hieraus ergab sich aber auch keine spezifisch „antifaschistische" Oppositionspolitik. Als Beispiel kann schon der unüberbrückbare Gegensatz zwischen der SPD und der KPD dienen, die beide, wäre das vorausgegangene

Bundestag als ZUm

732

4. Teil: D e r Deutsche Bundestag und seine Mitglieder

Schicksal vieler ihrer Mitglieder ein politisch gestaltungsfähiger Nenner gewesen, besonders eng hätten zusammenarbeiten müssen. Dies schließt nicht aus, daß es Verstehen und Sympathie, begründet durch die frühere Erlebniswelt, zwischen einzelnen Abgeordneten aller Fraktionen gegeben hat (wie ja selbst die harthumorigen

Wortwechsel

zwischen

ADENAUER

und

HEINZ

RENNER,

vom

gemeinsamen Rheinländertum abgesehen, auch davon noch Spurenelemente enthielten). Werfen wir, wiederum vom gesamten Bundestag ausgehend, noch einen Blick auf die politische Provenienz der nicht den Verfolgten, Beeinträchtigten und sonstigen Regimegegnern zuzuordnenden großen Minderheit. Sie bestand überwiegend aus Personen, die — zum Teil auch wegen ihres jungen Jahrganges — für die Zeit vor 1945 als unpolitisch gelten konnten. Hinzu kommt eine Reihe von schwer zu klärenden Fällen. Bei ca. 10 Abgeordneten kann — nach dem gesamten Eindruck der biographischen Angaben — ein stärkeres Engagement für das NS-Regime vorausgesetzt werden. Darüber hinaus sind bei einer Reihe von „Unpolitischen" Mitläufer-Attribute (ζ. B. Parteimitgliedschaften ohne Aktivitäten) anzunehmen. Hier könnten oft nur gesonderte, auf Einzelpersonen konzentrierte biographische Studien weitere Ergebnisse zeitigen. Auch die moralische Bewertung bleibt schwierig. Denn es ist evident, daß z . B . ein hoher Beamter oder Industriekapitän im „Dritten Reich", auch wenn er nie Parteimitglied wurde, dem Regime oft nützlicher war als ein „kleiner" NS-Ideologe. Auch nach 1949 gelangten weiterhin Unpolitische der NS-Zeit in den Bundestag, freilich auch weiterhin vormals Verfolgte: So z . B . aus Berlin die Jüdin JEANETTE W O L F F ( M d B

1 9 5 2 - 1 9 6 1 , S P D ) , die aus l a n g j ä h r i g e r K Z - H a f t

befreit

worden war und dçn Ehemann und zwei Töchter als Opfer zu beklagen hatte, oder ERIK BLUMENFELD (MdB 1961-1980, C D U / C S U , noch jetzt MdEP), im KZ von 1942 bis 1945. Der als Halbjude verfolgte ERIK BLUMENFELD wird hier zugleich mit erwähnt, um die verringerte Zahl von Juden oder Nachkommen von Juden im deutschen Nachkriegsparlamentarismus in Erinnerung zu bringen1. 8

In der oben erwähnten, aus dem Zusammenbruch resultierenden nationalen soziologischen Vielfalt des Bundestages (vgl. Abschnitt I.I.), die sich auch in den späteren Wahlperioden erhielt, fehlte im Vergleich zu den historischen deutschen Parlamenten2 weitgehend der jüdische Anteil. Die fast völlige Vernichtung des deutschen (und in großen Bereichen des europäischen) Judentums hat auch die deutsche Parlamentskultur, die vormals in hohem Maße von Juden mitgetragen und belebt worden war, ärmer und eintöniger gemacht. 9 6. Nachfolgend noch eine knappe Ubersicht über die Bundestagsmitglieder Abgeordnete von vor (Stand: 1 6 . 1 1 . 1 9 4 9 ) , die bereits Parlamentsmandate in der Weimarer Republik 1933 im Bundestag innehatten (spätere Verfolgte und Nichtverfolgte): Juden und Parlament

unc

1

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Eine knappe Darstellung des Lebensweges von JEANETTE WOLFF findet sich u. a. in: Berliner Morgenpost am 2 0 . 5 . 1 9 7 6 , sowie in: Berliner Zeitung am 1 8 . 3 . 1 9 8 1 . — Zu ERIK BLUMENFELD siehe die biographische Ubersicht in: Munzinger-Archiv/Int. Biograph. Archiv. Aus der diesbezüglichen umfangreichen Literatur sei hier nur ein Titel zitiert: E. HAMBURGER Juden im öffentlichen Leben Deutschlands. Regierungsmitglieder, Beamte und Parlamentarier in der monarchistischen Zeit 1848-1918, Tübingen 1968.

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Zusammensetzung und Sozialstruktur (HESS)

733

— 26 Abg. waren MdR (davon 3 auch Mitglied der Nationalversammlung 1919/ 20); — 15 Abg. waren Mitglied des preußischen Landtags; — 24 Abg. waren Mitglied eines anderen deutschen Landtags (davon 15 in Bayern, Württemberg, Baden und Hessen, 9 in mittel- und norddeutschen Ländern einschließlich der Hansestädte); — 17 Abg. waren (was in etwa als „gleichwertig" mit einem MdL in einem mittleren oder kleineren deutschen Land gelten kann) Mitglied eines preußischen Provinziallandtages. Eliminiert man die in dieser Aufstellung enthaltenen Doppelzählungen, so kommt man (bei Nichtberücksichtigung kommunaler und lokaler Mandate) für 1949 auf eine Zahl von 70 Parlamentsmitgliedern der Weimarer Republik (verschiedene Personen). Solche ehemaligen Parlamentsmitglieder gelangten (wieder oder neu) auch nach 1949 noch eine geraume Zeit in den Bundestag. Der letzte Reichstagsabgeordnete war dort ERNST LEMMER, C D U / C S U (MdB von 1952 bis zu seinem Tode 1970), der letzte Landtagsabgeordnete (Sachsen) HERBERT WEHNER, S P D ( M d B von 1949 bis zu seinem Ausscheiden 1983).

Darüber hinaus hatten und haben zahlreiche Bundestagsmitglieder Väter und andere Vorfahren und Verwandte, die Mitglieder deutscher Parlamente vor 1933 (oder 1918) gewesen waren. Der damit berührte größere — historische wie auch anthropologische — Fragenbereich kann hier nicht behandelt werden. Einige diesbezügliche Beispiele bringt jedoch in Verbindung mit einer speziellen Thematik der spätere Abschnitt IV. 7. Die in diesem I. Abschnitt vermittelten Zahlen stützen die verbreitete These — mindestens in ihrer allgemeinen Aussage —, daß die deutsche Nachkriegspolitik nicht von einer homogenen Gegenelite zum NS-Regime bestimmt worden ist3. Für den Deutschen Bundestag der Anfangszeit muß gleichwohl die Zahl der vormals Verfolgten, Beeinträchtigten sowie der aus der Weimarer Tradition heraus regimefeindlich und demokratisch Gesinnten höher eingeschätzt werden, als dies mit Hinweisen auf angeblich nur kleine Gruppen von ehemaligen Regimegegnern in der deutschen Nachkriegspolitik öfters geschieht. Politische Verhaltensweisen lassen sich jedoch aus den Zahlen der vormals Verfolgten und NichtVerfolgten nur sehr bedingt ableiten (vgl. auch Abschnitt V). Darauf weist u. a. das bemerkenswerte Phänomen hin, daß Mitglieder einer jüngeren, von der NS-Zeit nicht mehr unmittelbar betroffenen Generation — auch von Politikern — mit dem „Dritten Reich" oft härter ins Gericht gegangen sind als selbst die, die in jener Epoche gelebt und gelitten haben. 3

Zur deutschen Nachkriegselite — unter knapper Auswertung und Begutachtung einer Reihe von diesbezüglichen in- und ausländischen Forschungsarbeiten — siehe vor allem D.HERZOG Politische Führungsgruppen. Probleme und Ergebnisse der modernen Elitenforschung, D a r m stadt 1982, S. 6 4 - 7 2 . Siehe dazu auch die Besprechung in der W o c h e n z e i t u n g „Das Parlament", N r . 37, 1 7 . 9 . 1 9 8 3 . — Entsprechende bibliographische Hinweise (insbesondere auf Literatur über die Bundestagsmitglieder bezogen) enthält auch das „Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1982" (P.SCHINDLER), hrsg. vom Presse- und Informationszentrum des Deutschen Bundestages, B o n n 1983, sowie der dazugehörige Ergänzungsband (für die Jahre 1980 bis 1984) von 1986.

734

4. T e i l : D e r D e u t s c h e B u n d e s t a g u n d seine Mitglieder

II. Die Berufsstruktur 10 1. Bekanntermaßen ist — theoretisch wie praktisch — eine der schwierigsten Beruf und Politik Aufgaben der Parlamentssoziologie die Darstellung der Berufsstruktur. Hierzu einige Hinweise. Der Abgeordnetenwerdegang (wie der der Politiker überhaupt) ist oft gekennzeichnet durch eine enge, bisweilen sehr früh beginnende Verzahnung von beruflichen und politischen Tätigkeiten. Der Verfasser hat in Verbindung mit der Beschreibung einer Reihe von Grundtypen der politischen Betätigung auch auf die Exponenten eines „Hangelsystems" hingewiesen 4 , bei dem sich die berufliche und die politische Stellung eines Politikers wechselseitig fördern und die Gesamtkarriere begünstigen. Bei einer weitergehenden Verschmelzung der beruflichen und der politischen Funktionen, gar bei einem völligen Hineinwachsen in die Politik, die zuletzt selbst zum Beruf werden kann, wird es soziologisch immer schwieriger, noch einen nichtpolitischen Beruf herauszufiltern. Andererseits führt auch die Abgrenzung einer gesonderten Kategorie „Berufspolitiker" (oder auch nur „politiknahe Berufe") nicht sehr weit. Denn der Berufspolitiker ist keineswegs leichthin an bestimmten Sozialdaten zu erkennen, auch nicht allein an Berufssituationen, die ihn ökonomisch als von der Politik abhängig erscheinen lassen. Die Dauer einer politischen Betätigung, speziell einer Mandatsausübung, reicht ebenfalls nicht als Argument für eine entsprechende Zuordnung aus. So kann sich ζ. B. ein Fabrikant oder ein Universitätsprofessor auch nach langen Jahren einer Parlamentsmitgliedschaft noch immer mehr als Fabrikant bzw. als Professor denn als Politiker empfinden (oder umgekehrt sich schon sehr bald innerlich von seinem nichtpolitischen Beruf losgelöst haben). Auch die tägliche oder wöchentliche Arbeitszeit und Inanspruchnahme eines Abgeordneten liefert noch kein ausreichendes Argument für die Definition eines Berufspolitikers 5 . Das Entscheidende ist eben dies, daß der Berufspolitiker — ungeachtet aller Syndrome, die sich mit in bestimmten Sozialdaten und in der ökonomischen Lage zu erkennen geben können — im Kern ein bestimmter charakterlicher Typus ist. Insbesondere sein elementarer Trend zu politischer Aktivität kann nur über eine ausführliche biographische Untersuchung erfaßt und beurteilt werden. Einzelne Sozialdaten vermögen durch-

4

A . HESS H a n d e l n und Erkenntnis. S p a n n u n g s f e l d e r im Bereich politischen Wirkens, S. 4 3 - 5 3 in: Parlament und B i b l i o t h e k . Festschrift f ü r W o l f g a n g D i e t z z u m 65. G e b u r t s t a g , M ü n c h e n 1986. Siehe d o r t insbes. S . 4 7 f .

5

A u f die D i s k u s s i o n , die d u r c h das sog. Diätenurteil des B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t s v o m 5 . 1 1 . 1 9 7 5 angeregt w u r d e und die bis heute anhält, kann hier nicht eingegangen werden. E s w i r d lediglich auf die V e r ö f f e n t l i c h u n g der — mit d i e s e m Fragenbereich in enger V e r b i n d u n g stehenden — V o r t r ä g e und Stellungnahmen einer wissenschaftlichen T a g u n g verwiesen: Politik als B e r u f ? D a s A b g e o r d n e t e n b i l d im historischen W a n d e l . P r o t o k o l l eines Seminars der D e u t schen V e r e i n i g u n g für Parlamentsfragen, hrsg. v. Presse- und I n f o r m a t i o n s z e n t r u m des D e u t schen B u n d e s t a g e s , B o n n 1979 ( Z u r Sache 1/79). — F ü r die B e r u f s p o l i t i k e r - T h e m a t i k i n s g e s a m t (auch w e n n d a s politisch-gesellschaftliche U m f e l d jener historischen E p o c h e nicht m e h r das unsrige ist) gilt nach wie vor als klassische E i n f ü h r u n g und D a r s t e l l u n g : M . WEBER Politik als B e r u f , 4. A u f l . , Berlin 1964 (gedruckter V o r t r a g v o n 1919). Siehe ferner: A . HESS Politikerberufe und Politiker — Betrachtungen z u r P a r l a m e n t s s o z i o l o g i e , S. 5 8 1 - 5 8 7 in: ZParl., 16. J g . , 1985, H e f t 4 ( z u m B e r u f s p o l i t i k e r siehe insbes. S. 586 f).

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Zusammensetzung und Sozialstruktur (HESS)

735

aus „Hinweise" zu geben, aber doch nicht die Biographie zu ersetzen. Auch die Herausarbeitung von Karrieremustern — hier als mittlerer Weg zwischen der größeren Einzelbiographie und der summarischen Berufsstatistik anvisiert — reicht diesbezüglich nicht aus6. Typenbildungen erfordern immer auch die Erfassung von charakterlichen, oft von sehr tiefen Persönlichkeitsschichten genährten Eigenschaften, die sich zumeist erst bei der Betrachtung eines ganzen Lebensweges (einschließlich der Spätphasen) und über die Beobachtung immer wiederkehrender Züge des Verhaltens und Entscheidens zu erkennen geben. Immerhin kann, um die hier angewandte Methode zu umreißen, eine Berufssta- 11 tistik, die auf dem erkennbaren und abgrenzbaren — nichtpolitischen — Hauptbe- Aussagemöglichkeiten ruf im Sinne der Erwerbsstellung vor der erstmaligen Annahme eines Bundestags- einer Berufsstatistik mandates beruht, eine Reihe wichtiger Aufschlüsse und Hinweise geben. So u. a. zur wirtschaftlichen Lage des Betreffenden (ζ. B. zu vorhandenen, nicht vorhandenen oder ungewissen beruflichen Absicherungen), zu beruflichen oder fachlichen Vorkenntnissen, und — wenn auch in engen Grenzen — zu psychologischen Voraussetzungen (mögliche Prägungen durch Ausbildung und frühere Berufsausübung). Vor allem aber wird die gemeinsame beruflich-soziale Ausgangsbasis, auch deren Verschiedenheit bei den einzelnen Fraktionen, sichtbar. Diese nachfolgend veranschaulichte Basis dient insbesondere der Darlegung der 12 diesbezüglichen historischen Entwicklung (Wandel und Kontinuität). Sie ist dage- Sozialdaten gen weniger für voraussagende Festlegungen auf ein bestimmtes politisches Han- präformieren Handeln deln geeignet. Gegen eine Verwendung im letzteren Sinne spricht nicht allein die Verbindlichkeit rechtlicher und politisch-ethischer Grundsätze, die insbesondere aus dem Privileg des — dem Allgemeinwohl verpflichteten — freien Mandates resultieren. Auch die Empirie stützt nicht Vorstellungen vom Abgeordneten, die ihn zum schieren ökonomischen und ideologischen Exponenten seiner Sozialdaten machen wollen. Die persönliche politische Entscheidungsfindung (bei der trotz Fraktionsdisziplin und „Sachzwängen" das individuelle Verantwortungsbewußtsein und der faktische Handlungsspielraum nie unterschätzt werden sollten) wie der politisch-parlamentarische Willensbildungsprozeß insgesamt ist zumeist ein komplizierter, sich monokausalen Erklärungen entziehender Vorgang. Bestimmte Dispositionen, zugleich solche, die mit den Sozialdaten verwoben sind, geben sich gewiß auch zu erkennen, und es soll hier keinem weltfremden Idealismus das Wort geredet werden. Doch die verbreitete Annahme, man könne aus einer Berufsstatistik schlechtweg die Interessenlage und das zu erwartende politische Handeln von Abgeordneten ablesen, kann hier nicht gestützt werden.

6

Beispiel für eine Darstellung, in der auch Karrieremuster herausgearbeitet sind, ist das W e r k von D . HERZOG Politische Karrieren. Selektion und Professionalisierung politischer Führungsgruppen, Opladen 1975. Im Rahmen der schon hinsichtlich des umfangreichen empirischen Materials sehr weiten Zielsetzung kann — unbeschadet der obigen Feststellung — die Arbeit als sehr gut gelten. In einer weiteren Studie hat HERZOG Problemstellungen und Ergebnisse der Elitenforschung insgesamt, auch unter Einschluß bedeutender ausländischer Darstellungen, behandelt. Zahlreiche der dort vorgestellten W e r k e enthalten ebenfalls Karrieremuster und vergleichbare gestrafft-biographische Typisierungen: D . HERZOG Politische Führungsgruppen. Probleme und Ergebnisse der modernen Eliteforschung, Darmstadt 1982 (siehe auch Abschnitt I A n m . 3).

nicht das

736

13 Methodische Schwierigkeiten, problematisches Quellenmaterial

14 D i e ersten W a h l p e r i o d e n als besonderer Problemkreis

4 . T e i l : D e r D e u t s c h e B u n d e s t a g und seine Mitglieder

Auch bei Beschränkung auf den Hauptberuf vor der erstmaligen Annahme des Bundestagsmandates treten immer wieder Schwierigkeiten bei der Auswertung des empirischen Materials auf. So ζ. B. wegen häufigeren Berufswechsels, Doppel- und Mehrfachberufen oder wegen in ihrer Relevanz schwer einschätzbaren Nebentätigkeiten der Abgeordneten. Die Biographien in den Parlamentshandbüchern — dies gilt in besonderem Maße für die Anfangszeit des Bundestages — sind häufig lückenhaft, oder es fehlt bei Berufsangaben die Konkretisierung des Status (so besagt ζ. B. die bloße Angabe „Lehrer" nicht, ob es sich um einen Beamten oder Angestellten handelt; eine „Fürsorgerin" läßt offen, ob sie eine Beamtin, eine Angestellte im öffentlichen Dienst oder auch außerhalb des öffentlichen Dienstes ist). Zweifelsfälle dieser Art lassen sich — dies auf die gegenwärtige Zeit bezogen — oft nicht einmal durch den (infolge der Neufassung der Verhaltensregeln, vgl. Anlage 1 G O B T ) 1988 veröffentlichten Teil 2 des Amtlichen Handbuchs des Deutschen Bundestages klären. Auch die Feststellung des Rechtscharakters einer vormaligen Organisation als Arbeitgeber des späteren Abgeordneten — z . B . aus der Vorkriegszeit — ist nicht selten mit erheblichem Aufwand verbunden. Unklare Aussagen und widersprüchliche Angaben (aus Versehen, Desinteresse oder bedingt durch den Zeitgeist) vermitteln vor allem die Biographien in den Parlamentshandbüchern und anderen Handbüchern aus der Anfangszeit der Bundesrepublik. So haben, um nur ein Beispiel zu bringen, die vormaligen Berufsoffiziere unter den Abgeordneten ihren Beruf zumeist nicht erwähnt oder kunstvoll umschrieben („Wehrmacht"). — In jedem Falle mußte zu einer einigermaßen zuverlässigen Erfassung der Berufsstruktur eine Fülle von Unterlagen — neben biographischen Handbüchern der verschiedensten Art auch ein umfangreiches Zeitungsarchiv — benutzt werden. Eine Problematik eigener Art — dies wurde oben schon angedeutet — wirft die Erfassung der Berufe der Mitglieder der ersten Wahlperioden (seit 1949) auf. Die Nachkriegszeit, die einerseits gekennzeichnet ist durch das Ergebnis der Zerstörung oder Unterbrechung zahlreicher beruflicher Existenzen (Gewaltherrschaft, Krieg, Vertreibung), andererseits durch die rasche Zuteilung administrativer und politischer Aufgaben an Personen, die den Besatzungsmächten wie den neu- oder wiedergegründeten Parteien oder anderen politischen Organisationen als geeignet und akzeptabel erschienen (was oft zu einer erheblichen politisch-beruflichen Ämterkumulation führte), ist als Spiegelbild der Berufsstruktur denkbar ungeeignet. Als relativ stabil und krisenfest über das Kriegsende hinweg erwiesen sich allenfalls die Existenzen von in Westdeutschland ansässigen Selbständigen (Unternehmer, Kaufleute, Handwerker, Landwirte) und Freiberuflern. — Es wurde deshalb für die Bundestagsmitglieder der ersten beiden Wahlperioden der Hauptberuf vor 1945 zugrunde gelegt (der oft auch nur bis 1933 oder 1939 ausgeübt werden konnte). Dies legte zudem die Altersstruktur nahe (Durchschnittsalter der Abg. 1949: 51 Jahre; ältester Jg.: 1875, jüngster Jg.: 1922). Bei einer Reihe von Abgeordneten, deren markantes Berufsbild sich in den Jahren bis 1933 zu erkennen gibt, wird man allerdings auch schon für damals eine „Politisierung" ihres Berufs akzeptieren müssen (ζ. B. bei Karrieren von parteipolitisch geförderten Beamten und Funktionären). Bei einer Reihe von Angehörigen jüngerer Jahrgänge — die vor 1933 noch keinen Beruf haben konnten — sind zudem besondere berufsbeein-

§24

Zusammensetzung und Sozialstruktur (HESS)

737

flussende Faktoren (durch Emigration, Verfolgung oder Behinderung in Deutschland, Wehr- und Kriegsdienst wie auch durch regime- und kriegsbedingte Berufsangebote) in Rechnung zu stellen. Insgesamt ist jedoch in Hinsicht auf die Mitglieder der ersten Wahlperioden die Berufssituation in der Zwischenkriegszeit sehr viel aussagekräftiger als die nach 1945. 2. Bei 11 Wahlperioden und insgesamt weit mehr als 2000 Abgeordneten 15 (verschiedene Personen) seit 1949 war eine Straffung der tabellarischen Daten Konzentration des unbedingt notwendig. Es soll hier darauf ankommen, die wesentlichen Entwick- Datenmaterials lungslinien sichtbar zu machen, was bei einer Ausuferung in kaum noch überschaubare Datenansammlungen nicht möglich wäre. So wurden zuerst die — in diesem Falle sehr spezifizierten — Berufsangaben von der 1. und 11. Wahlperiode unmittelbar gegenübergestellt (Tabelle 1, s.S. 738). Hierbei muß freilich die Verschiedenheit der Gesamtzahlen im Auge behalten werden (1949: 410 Abg., 1987: 519 Abg.). Es folgen dann die sehr gestrafften Berufsstatistiken, die die Verteilung (mit ihren Wandlungstrends) auf die Fraktionen verdeutlichen sollen (Tabellen 2 bis 4). Auch hier werden nur die Daten von 1949 (1. WP), 1969 (6. WP) und 1987 (11. WP) gebracht. Die textliche Auswertung vermittelt dann freilich auch Daten aus den dazwischenliegenden Wahlperioden, um bestimmte Entwicklungslinien zu verdeutlichen. Die Stichtage der soziologischen Erfassung sind jeweils so gewählt, daß sie einen Stand von ca. zwei Monaten nach der konstituierenden Sitzung wiedergeben. Hier galt es, eine Anfangsphase der Konsolidierung verstreichen zu lassen, die die Regierungsbildung mit einschloß und in der kurzfristige Parlamentsmitgliedschaften von Experimentier- und Abwartekandidaten — die für die Wahlperiode nicht charakteristisch sind — ihr Ende fanden. Die tabellarische Beschränkung auf die 1., die 6. und die 11. Wahlperiode bringt gleichwohl längerwährende politische Konstellationen zum Ausdruck. Am Anfang der ADENAUER-Ära bestand eine Regierungskoalition von C D U / C S U , F D P und Deutscher Partei (DP). Die erheblichen Mandatsgewinne der C D U / C S U 1953 und 1957 beschleunigten allerdings das Ausscheiden, SichUmformen oder Abbröckeln der kleineren Koalitionspartner. Gegen Ende der 3. Wahlperiode (in der von Anfang an die F D P nicht mehr der Koalition angehörte) löste sich im Bundestag die (ohnehin nur noch als „Anhang" der C D U bestehende) D P auf. Es etablierte sich damit zugleich ein von 1961 bis 1983 währendes „Dreiparteiensystem". Das 1961 erneuerte Bündnis von C D U / C S U und F D P wurde in der 5. Wahlperiode von der großen Koalition abgelöst, die jedoch nicht einmal drei Jahre bestand (1966 bis 1969) und berufssoziologisch keine gesonderte Darstellung erfährt. Die 6. Wahlperiode (ab 1969) steht hier für den Beginn der bis 1982 währenden sozialliberalen Koalition. Die nachfolgende Koalition von C D U / C S U und F D P wird durch die derzeitige 11. Wahlperiode mit repräsentiert. — Eine wesentliche Änderung brachte vor allem auch der Eintritt (10. WP, ab 1983) der Grünen in den Bundestag, der das „Dreiparteiensystem" aufhob und zugleich ein politisches Rollenspiel beendete, bei dem jeweils (seit 1961) nur eine Fraktion in der parlamentarischen Opposition gestanden hatte. Hinsichtlich der Regierungsparteien ist — im Unterschied zur alten Koalition von C D U / C S U und F D P (bis 1966) — hervorzuheben, daß die C S U eine sichtbar aktivere Rolle spielt und sich über das

16

Politische Konstellation und Parteien

4. Teil: Der Deutsche Bundestag und seine Mitglieder

738 T a b e l l e 1. Berufsstatistik der 1. B T : B e r u f e bis 11. B T : B e r u f e bis Gesamtzahl 1949: Gesamtzahl 1987:

Mitglieder des l . u n d 11. D e u t s c h e n Bundestages (Stand: 1 6 . 1 1 . 1 9 4 9 u. 1 6 . 4 . 1 9 8 7 ) 1945 (insbes. B e r u f e bis 1933 oder bis 1 9 3 9 ) zur erstmaligen A n n a h m e des M a n d a t e s 410 A b g . (einschl. 8 Berliner A b g . ) 519 A b g . (einschl. 22 Berliner A b g . )

1. B e a m t e a) Sog. politische B e a m t e b) Andere B e a m t e des höheren Dienstes (Verwaltung) c) B e a m t e des gehobenen und des mittleren Dienstes (Verwaltung) d) R i c h t e r und Staatsanwälte e) Berufssoldaten f) Kommunale Wahlbeamte g) Professoren an Universitäten und H o c h s c h u l e n n) A n d e r e Wissenschaftler an Universitäten und Hochschulen i) L e h r e r an G y m n a s i e n ( u . ä . ) j) L e h r e r an G r u n d - , H a u p t - und Realschulen (vormals an Volksschulen usw.) ( u . ä . ) zus. 2. Angestellte und A r b e i t e r im öffentlichen Dienst (auch bei K ö r p e r s c h a f t e n , Anstalten und Stiftungen des öffentlichen R e c h t s ) zus. 2. a) Bedienstete in Verwaltungen der E G sowie in ausländischen B e h ö r d e n , zus. 3. Pfarrer und andere T h e o l o g e n (sowie D i a k o n e ) a) kath. b) evang. zus. 4. Angestellte von politischen und gesellschaftlichen Organisationen a) Angestellte von Parteien und F r a k t i o n e n ( u . ä . ) b) Angestellte von G e w e r k s c h a f t e n und anderen Arbeitnehmerorganisationen c) Angestellte sonstiger Organisationen und Institutionen mit politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und karitativen Zielsetzungen zus. 5. Angestellte in der Wirtschaft (in Industrie, H a n d e l , H a n d w e r k , G e w e r b e und entsprechenden V e r b ä n d e n ) zus. 6. Selbständige (oft zugleich in entsprechenden V e r b ä n d e n tätig) a) Selbständige in Industrie, Handel, H a n d w e r k und G e w e r b e . Auch quasi-unabhängige Wirtschaftsexponenten b) Selbständige in L a n d - und Forstwirtschaft zus. 7. A n g e h ö r i g e freier Berufe a) Rechtsanwälte und Notare 1 b) Angehörige anderer freier Berufe ( Ä r z t e , A p o t h e k e r , Ingenieure, Steuerberater, Journalisten und Schriftsteller) zus. 8. Hausfrauen zus. 9. Arbeiterzus. 10. Sonstige* zus. Insgesamt 1

:

3

1949

1987

6 15

7 49

10 3 4 11 6

13 14 5 28 14

4 4

8 25

17 "80 ( = 1 9 , 5 % )

30 Ï93 ( = 3 7 , 2 % )

17 ( = 4 , 1 % )

28 ( = 5 , 4 % )

-

3 (=0,6%)

2 3 5 («1,2%)

2 2 (=0,4%)

27

24

41

21

25 93 ( = 2 2 , 7 % )

25 70 ( = 1 3 , 5 % )

48 ( = 1 1 , 7 % )

62 ( = 1 2 , 0 % )

37 37 74 ( = 1 8 , 1 % )

43 22 65 ( = 12,5 % )

31

37

9 40 ( = 9 , 8 % )

28 65 ( = 12,5 % )

12 ( = 2 , 9 % )

9 (=1,7%)

22 ( = 5,4 % )

9 ( = 1,7 % )

19 ( = 4 , 6 % )

13 ( = 2 , 5 % )

410 (= 1 0 0 , 0 % )

519 ( = 1 0 0 , 0 % )

H i e r h a n d e l t es sich um F r e i b e r u f l e r im engeren S i n n e . B e z ü g l i c h der Z a h l e n z u m 11. B T ist Auf f o l g e n d e s h i n z u w e i s e n : W e i t e r e A b g e o r d n e t e mit d e r B e r u f s a n g a b e R e c h t s a n w a l t w u r d e n wegen ihrer l a n g j ä h r i g e n L a u f b a h n im ö f f e n t l i c h e n D i e n s t und ihrer d i e s b e z ü g l i c h e n R e c h t s s t e l l u n g (vgl. § § 5 bis 10 A b g e o r d n e t e n g e s e t z ) den B e a m t e n z u g e o r d n e t (siehe insbes. G r u p p e n 1 b und 1 d ) . H i n z u k o m m e n e i n i g e w e i t e r e R e c h t s a n w ä l t e , die im w e s e n t l i c h e n s e l b s t ä n d i g e U n t e r n e h m e r sind o d e r in D i e n s t v e r h ä l t n i s s e n z u U n t e r n e h m e n u n d e n t s p r e c h e n d e n V e r b ä n d e n stehen und d i e d e s h a l b d e r G r u p p e 5 o d e r 6 z u g e o r d n e t w u r d e n . W e i t e r e A b g e o r d n e t e w a r e n z w a r z u B e g i n n ihrer B e r u f s l a u f b a h n A r b e i t e r , ü b t e n j e d o c h d a n n einen anderen B e r u f aus, der für d i e E i n o r d n u n g in das v o r l i e g e n d e S c h e m a sehr viel m e h r c h a r a k t e r i s t i s c h ist. A u f einen f r ü h e r e n A r b e i t e r b e r u f (dies gilt für die M i t g l i e d e r d e r ersten w i e der s p ä t e r e n W a h l p e r i o d e n ) weisen relativ viele A b g e o r d n e t e der G r u p p e 4 b h i n . S o n s t i g e im 1. B T : V o r a l l e m s o w e i t o h n e B e r u f s t ä t i g k e i t v o r 1945 ( i m w e s e n t l i c h e n J a h r g a n g 1 9 1 6 und j ü n g e r ) ; S o n s t i g e im 11. B T : N o c h in d e r A u s b i l d u n g b e f i n d l i c h e o d e r o h n e b i s h e r i g e B e r u f s a u s ü b u n g , auch u n k l a r e B e r u f s b i l d e r o d e r W e r d e g ä n g e , die k e i n e r d e r o b i g e n K a t e g o r i e n z u g e o r d n e t w e r d e n k ö n n e n .

§24

Zusammensetzung und Sozialstruktur (HESS)

739

Tabelle 2. Verteilung der Berufsgruppen auf die Fraktionen usw.: 1. Bundestag (Stand: 16.11.1949) SPD

FDP

Diverse bürgerl. Part.

Nation. Rechte

KPD

Zus.

30

28

8

12

2

_

80

6

6

3

2

-

-

17

1

2

-

2

-

-

5

30

43

3

6

-

11

7 39 15 8 2 4

23 2 9 2 15 6

7 19 9 2 1 1

11 13 6

-

-

142

136

53

58

CDU/ CSU

1. Beamte 2. Angestellte u. Arb. im offend. D. 3. Pfarrer (kath. oder ev.) 4. Angestellte v. polit, u. gesellschaftl. Organisai. 5. Angestellte in d. Wirtschaft 6. Selbständige 7. Freiberufler 8. Hausfrauen 9. Arbeiter 10. Sonstige Insgesamt

-

2 4

93

2

2 2

48 74 40 12 22 19

6

15

410

1 1 -

-

Mitwirken in der Fraktionsgemeinschaft mit der C D U hinaus immer wieder als eigenständiger Koalitionspartner zu erkennen gibt. Beim 1. Bundestag muß freilich (ohne daß hier der Einfluß des Wahlrechts und 17 die zum Teil an die Weimarer Republik erinnernde politische Landschaft der Parteienvielfalt im Nachkriegszeit erörtert werden kann) die Vielzahl der Fraktionen, Gruppen, 1-Bur>destag Hospitanten und Fraktionslosen hervorgehoben werden. Das Geschäftsordnungsrecht verlangte anfänglich für die Anerkennung als Fraktion eine Mindestzahl von 10 Abgeordneten, später (mit Geltung ab Januar 1952) eine Mindestzahl von 15 Abgeordneten, was — bei ohnehin vorhandener Labilität — Umgruppierungen und Krisenerscheinungen bei den „Kleinen" zur Folge hatte. Neben der C D U / C S U , der SPD und der FDP (und ihren Hospitanten) sind für die Anfangszeit der 1. Wahlperiode (Stand: 16.11.1949) folgende Fraktionen, Gruppen usw. zu nennen: Die Deutsche Partei (DP) mit 17 Abgeordneten (nur aus den vier norddeutschen Küstenländern); das Zentrum mit 10 Abgeordneten (nur aus NordrheinWestfalen); die Bayernpartei (BP) mit 17 Abgeordneten sowie die Wirtschaftliche Aufbauvereinigung (WAV) mit 12 Abgeordneten (die Mitglieder beider Fraktionen kamen aus Bayern, und ihr Erfolg korrespondierte mit hohen Verlusten der CSU, die lediglich 24 Mandate erlangte). Die WAV ist besonders schwer zu beschreiben. FRIEDRICH KARL FROMME hat ihren Charakter in einem Bericht zum Tode von ALFRED LORITZ (FAZ vom 22.11.1979) mit folgender Formel umrissen: „Herrschende Ansicht ist, daß es sich um eine Art Poujadismus, also rabiate Vertretung von Mittelstandsinteressen, gehandelt habe." — Zu erwähnen sind

740

4. Teil: D e r Deutsche Bundestag und seine Mitglieder

noch zwei bürgerliche Fraktionslose: Dr. FRANZ OTT von der Notgemeinschaft (Württemberg-Baden) und HERMANN CLAUSEN vom Südschleswigschen Wählerverband (SSW). Die Angehörigen der damit genannten kleinen Fraktionen und politischen Splittergruppen — regional konzentriert und mit einer politischen Ausrichtung im wesentlichen von der Mitte bis nach rechts — sind aus Gründen der statistischen Vereinfachung nachfolgend als „Diverse bürgerliche Parteien" (zus. 58 Abg.) zu einer Kategorie zusammengefaßt. Als eigene Kategorie werden ferner die sechs Abgeordneten gebracht, die überwiegend als Vertreter ausgeprägt rechts stehender Parteien in den Bundestag gewählt wurden und sich dort — freilich mit schwacher Kohärenz — als Nationale Rechte zusammenschlossen (fünf kamen aus Niedersachsen, einer aus Hessen). Die Gruppe war ziemlich heterogen. Zu ihr gehörten „Dr. FRANZ RICHTER" (der 1952 als FRITZ RÖSSLER entlarvt wurde, vormals hoher Funktionär der NSDAP), weiter ein Schriftsteller aus der NS-Zeit, zwei ihrer Herkunft und ihrem Werdegang nach eher altkonservative Figuren sowie zwei Abgeordnete, die Gestapohaft bzw. KZInternierung erlebt hatten. Eine eigene Kategorie bilden zuletzt auch die 15 Mitglieder der KPD (davon neun aus Nordrhein-Westfalen). Durch den verschärften Ost-West-Gegensatz und eine weitgehende Ubereinstimmung ihrer politischen Positionen mit denen der DDR-Führung gerieten diese Abgeordneten im Bundestag bald in die völlige politische Isolation. 3. Der Verfasser verwendet nachfolgend — mit nicht sehr großen Abweichungen — das von ihm 1971 erstellte und von da an seitens der Bundestagsverwaltung benutzte berufssoziologische Einteilungsschema. Auch die Zahlen beruhen jeweils auf eigenen Ermittlungen und Berechnungen. 4. Der zeitlich geraffte große Vergleich der Berufe — 1949 und 1987 (Tab. 1) — macht als erstes die Verdoppelung des Beamten-Anteils deutlich. Es muß hier allerdings betont werden, daß ein hoher, die 33 %-Grenze überschreitender Beamten-Anteil, wie jetzt, bereits — mit geringfügigen Schwankungen — seit der 7. Wahlperiode (ab 1972) gegeben war. Die 6. Wahlperiode (vgl. Tab . 3) wies zwar noch mehr als 30 Beamte weniger auf (zus. 160 Abg. = 3 0 , 9 % ) , zeigte dafür aber einen hohen Anteil von Angestellten des öffentlichen Dienstes (zus. mit einem Arbeiter im öffentl. D.: 46 Abg. = 8 , 9 % ) . Eine stattliche Anzahl von Beamten im Parlament ist einerseits ein altes Charakteristikum der deutschen Verfassungsgeschichte (einschließlich großzügiger Inkompatibilitätsregelungen) und Ausdruck einer politisch-gesellschaftlichen Kultur seit dem Frühkonstitutionalismus 7 . Andererseits erweist sich die starke 1

Nachfolgend nur einige wenige Literaturhinweise zum Problemkreis der Beamten in deutschen Parlamenten. Eine schon klassische Darstellung, die aber noch immer aktuelle Aussagen enthält, ist das Werk von W . CLAUSS Der Staatsbeamte in der Verfassungsentwicklung der deutschen Staaten, Karlsruhe 1906 (hier wird auf die vollständige Fassung verwiesen, nicht auf den verbreiteten Teildruck). Vgl. weiter: A. HESS Statistische Daten und Trends zur „Verbeamtung der Parlamente" in Bund und Ländern, S.34—42 in: ZParl., 7.Jg., 1976, Heft 1 (auch mit Ausführungen zur geschichtlichen Entwicklung und mit Angaben zum Beamtenanteil in historischen deutschen Parlamenten); K. KREMER D e r Weg ins Parlament. Kandidatur zum Bundestag, 3. Aufl., Heidelberg 1986, insbes. S. 91 ff.

§24

741

Zusammensetzung und Sozialstruktur (HESS)

Zunahme der Beamtenzahl im Bundestag ab 1953 — also schon in den frühen Wahlperioden, dann mit der Annäherung an die Verdoppelung bereits in der mittleren Zeitphase — doch in einem konkreteren Sinne als erklärungs- und interpretationsbedürftig. Die Vergleichszahlen von 1949 und 1987 bringen Daten zu Berufen, deren Ausübung sich auf einen Zeitraum von mehr als 70 Jahren verteilt (ζ. T . noch vor 1918 liegt). Die Zahlen spiegeln damit im ganzen wie im einzelnen sehr unterschiedliche politische und gesellschaftliche Situationen wider. U m dies an einer Beamtengruppe zu veranschaulichen: In der Zwischenkriegszeit (oder gar vor 1918) lagen zwischen einem Regierungsrat und einem Regierungsinspektor oder zwischen einem Studienrat und einem Volksschullehrer noch „gesellschaftliche Welten". Auch das Einkommen vieler selbständiger Handwerker reichte damals oft nicht an das eines Beamten des höheren Dienstes heran. O b die — jeweils im Vergleich zu 1987 — besonders kleinen Zahlen der Gruppen 1 b, 1 d und 1 i von 1949 (vgl. Tab. 1) mit bedingt sind durch deren vormalige gesellschaftliche (und das bedeutet auch numerische) Exklusivität, läßt sich nicht beweisen. Bei den Gruppen 1 a und 1 f (Politische Beamte und Kommunale Wahlbeamte) ist die Differenz zu 1987 nicht so augenfällig. Dort sind politisch geförderte Karrieren schon durch den Weimarer Parteienstaat in Rechnung zu stellen, d . h . von einem Personenkreis auszugehen, der — wie die „Funktionäre" (siehe Gruppe 4) — eine wichtige und durch die Nachkriegsumstände begünstigte Rolle bei der Vermittlung beruflichpolitischer Erfahrungen von vor 1933 für den staatlichen Neuaufbau nach 1945 spielte.

Tabelle 3. Verteilung der Berufsgruppen auf die Fraktionen: 6. Bundestag (Stand: 1 6 . 1 2 . 1 9 6 9 ) CDU/

SPD

FDP

Zus.

CSU 1. Beamte

76

79

5

160

2. Angestellte u. A r b . im öffentl. Dienst

15

28

3

46

1

4

3. Pfarrer (ev.)

-

5

4. Angestellte v. polit, u. gesellschaftl. Organisât.

31

54

3

88

5. Angestellte in d. Wirtsch.

32

30

3

65

6. Selbständige

57

8

11

76

7. Freiberufler

30

20

6

56

8. Hausfrauen

3

4

-

7

9. Arbeiter

3

6

-

9

2

4

-

6

250

237

10. Sonstige (einschl. Bedienstete d. E G usw.) Insgesamt

31

518

742

4. Teil: D e r Deutsche Bundestag und seine Mitglieder

Insgesamt hat sich dann die Situation der Beamtenschaft in der Bundesrepublik grundlegend gewandelt: Ausbildungserweiterungen auf allen Stufen (auch mit einem Trend zur Akademisierung des gehobenen Dienstes), Erhöhung der Studentenzahlen und der Zahl der Hochschulabsolventen, Besoldungsangleichungen, im ganzen eine erhebliche Stellenvermehrung im öffentlichen Dienst (zwischen 1970 und 1980 schließlich ein Anstieg um mehr als 3 0 % auf über 4 Millionen Bedienstete) — dies übrigens mit parallelen Entwicklungen in den europäischen Nachbarstaaten — sind nur einige Stichworte. Das Verschwinden von Relikten des Obrigkeitsstaates führte gewiß zum Abbau von gesellschaftlichen Schranken innerhalb und außerhalb des dienstlichen Handelns; es hatte auch beim einzelnen Beamten eine größere Freiheit für politische Aktivitäten zur Folge. Andererseits müssen die administrativen Vermassungs- und Bürokratisierungstendenzen gesehen werden — mit Zügen einer Unrast, wie sie für noch nicht abgeschlossene Entwicklungen charakteristisch sind. Die Tätigkeit im Rahmen einer zahlenmäßig stark ausgedehnten Leistungsverwaltung, die den wachsenden Anforderungen einer modernen Gesellschaft an den Staat und einer Uberfülle von gesetzlichen Regelungen für weite Lebensbereiche gerecht werden muß, ist in jedem Falle etwas anderes als das vormalige, dem Obrigkeitsstaat verpflichtete Wirken eines bevorrechtigten Berufsstandes, der dazu noch in sich selbst streng hierarchisch gegliedert war. Solche Wandlungen haben zumeist erhebliche Bewußtseinsveränderungen zur Folge, die auch die Ansprüche des Selbstwertgefühls auf neue Kriterien verweisen. Es gibt einzelne sehr konkrete Motive und begünstigende Faktoren für die politische Aktivität von Beamten: Ζ. B. die Kenntnis der relevanten Gesetze sowie Verwaltungserfahrungen, die bereits eine gewisse „Politiknähe" gewährleisten; im Bereich der Lehrberufe (die auch hinsichtlich der Zeitgestaltung flexibler sind) resultieren Motive auch aus bestimmten volkspädagogischen, auf breiten Aktivismus ausgerichteten Neigungen (in den mittleren Wahlperioden fiel der Anteil der Abgeordneten aus Lehrberufen allerdings unter die Grenze eines Drittels der Beamtenzahl, er stieg damals dagegen in einer Reihe von Landtagen steil an); hinzu kommt die klar geregelte Rechtsstellung (mit Wiederverwendungsanspruch) gemäß § § 5 bis 10 Abgeordnetengesetz oder (vor 1977) gemäß analoger älterer Vorschriften. Diese Existenzsicherung hat sich übrigens auch für die Parteien als vorteilhaft erwiesen, die hier nicht mit einer zusätzlichen Verantwortung der Versorgung für ausscheidende Politiker belastet werden; bei jüngeren Akademikern, die sehr früh ein Mandat anstreben, verbindet sich hier die elementare Existenzsicherung mit dem das Odium der Berufslosigkeit vermeidenden und durchaus „vorzeigbaren" Studienabschluß; Motive liegen auch im Bestreben, sich vom bisherigen Beruf abzusetzen: Die Chance des „Aufstiegs" durch die Abgeordnetentätigkeit ist zugleich die des „Ausstiegs" aus dem bisherigen Beruf — einem oft grauen Beamtenalltag mit seinen Abhängigkeiten und einengenden Aufgabenstellungen. Wichtiger aber als die Darlegung dieser Einzelmotive ist zuletzt der zusammenfassende Hinweis auf den oben dargestellten Zusammenhang: Mindestens im Kern spiegelt der Beamtenanteil im 1. Bundestag die vormals privilegierte, oligarchisch geprägte alte Beamtenschaft wider. Der doppelt so große Beamtenanteil im

§24

Z u s a m m e n s e t z u n g u n d S o z i a l s t r u k t u r (HESS)

743

11. Bundestag kann dagegen als Widerspiegel eines inneren und äußeren Demokratisierungsprozesses beim öffentlichen Dienst gelten, der nunmehr nach seiner Funktion wie seiner personellen Rekrutierung auf breiter Basis mit der Bevölkerung verbunden ist. Wer die „Verbeamtung der Parlamente" kritisiert, sollte diesen wichtigen Umstand nicht übersehen: Der „bedienstete Arbeitnehmer" hat den obrigkeitsstaatlich legitimierten Beamten alter Prägung abgelöst. Beim weiteren Vergleich der Zahlen von 1949 und 1987 wird — sozusagen als 18 Gegenstück zum Anstieg bei den Beamten — die starke Abnahme des Anteils der F u n k t i o n ä r e s o w i e Funktionäre (Angestellte von politischen und gesellschaftlichen Organisationen: A n g e s t e l l t e in d e r Wirtschaft Gruppe 4) erkennbar. Der hohe Anteil der Funktionäre in der Anfangszeit des Bundestages kann zum Teil (dies gilt analog für die insgesamt jedoch erheblich kleinere Zahl der Arbeiter) als Relikt von Weimar gelten. Der Funktionärs-Anteil bröckelte dementsprechend in den weiteren Wahlperioden und zuletzt auf fast die Hälfte ab (1949 rd. 23 % , 1969 rd. 1 7 % , 1987 rd. 13,5 %). Besonders prägnant war der Zahlenrückgang speziell bei den Gewerkschaftsfunktionären (Gruppe 4 b). Stabil geblieben ist dagegen — mit ca. 12% über alle Wahlperioden hinweg — der Anteil der Angestellten in der Wirtschaft (Gruppe 5). Allerdings hat sich dort eine gewisse Veränderung des inneren Proporzes zuungunsten der „kleineren" Angestellten ergeben. — Den Angestellten in der Wirtschaft kann übrigens ebensowenig wie den oben genannten Funktionären (oder den Arbeitern) bei der Annahme eines Abgeordnetenmandates gekündigt werden (siehe Art. 48 Abs. 2 G G ) . O b bei diesen Angestellten gleichwohl die Existenzsicherung, in der beruflichen Praxis, ebenso dauerhaft und solide wie diejenige im öffentlichen Dienst ist, kann schwer beurteilt werden. Bei längerer Parlamentsmitgliedschaft besteht jedoch hier — wie für alle anderen Parlamentsmitglieder — der Anspruch auf Altersentschädigung gemäß §§19 bis 21 Abgeordnetengesetz. Geringer geworden ist auch — wenn freilich nicht so ausgeprägt wie bei den 19 Funktionären — der Anteil der Selbständigen (1949 rd. 1 8 % , 1969 knapp 1 5 % , S e l b s t ä n d i g e 1987 12,5 %). Die Verringerung wurde vor allem durch die Abnahme der Zahl der F r e i b e r u f l e r selbständigen Land- und Forstwirte bewirkt (Gruppe 6 b). Speziell bei den Selbständigen in Industrie, Handel, Handwerk und Gewerbe (Gruppe 6 a) hat sich der Anteil durch die verstärkte Wahl von quasi-unabhängigen Wirtschaftsvertretern (Mitgliedern von Vorständen, Aufsichtsräten usw. größerer Unternehmen, also von Personen, die schwerlich den schieren Angestellten zugerechnet werden können) in etwa stabil gehalten. Eine gewisse Abnahme der Zahl der Selbständigen bedeutet freilich nicht, daß damit die Interessen dieses Berufsbereiches — Wirtschaft, Landwirtschaft, Einflüsse der Arbeitgeber — vermindert wären. Interessenvertretung artikuliert sich nicht allein — nicht einmal unbedingt — über Mandatsinhaber „aus der Sparte"; sie wirkt über einen sehr viel differenzierteren Willensbildungsprozeß in die gesetzgebenden Körperschaften hinein. Zudem könnte in Grenzfällen ein mittelloser, beruflich schlecht abgesicherter Abgeordneter gegenüber einer hartnäckigen Lobby eher nachgeben als ein wohlhabender. Auch ist bei allen Berufsgruppen die Heterogenität der Persönlichkeiten in Rechnung zu stellen. Ein R O B E R T P F E R D M E N G E S vertrat völlig andere wirtschaftspolitische Ordnungsvorstellungen als ein P H I L I P R O S E N T H A L . Dem verbreiteten Gedanken einer berufssoziologisch klar

und

744

4. Teil: D e r Deutsche Bundestag und seine Mitglieder

abgrenzbaren „Fünften Kolonne", deren Einfluß an der Zahl ihrer Parlamentssitze ablesbar wäre, muß auch hier entgegengetreten werden. Etwas angestiegen ist andererseits die Zahl der Freiberufler (Gruppe 7: 1949 rd. 1 0 % , 1969 rd. 11 % , 1987 12,5%). Die Rechtsanwälte und Notare — die in Deutschland wie die Beamten auf eine lange „Parlamentstradition" zurückblicken können — sind unter den Angehörigen freier Berufe im Bundestag seit 1949 die Hauptgruppe. Ihr Anteil blieb insgesamt ziemlich konstant, während der Anstieg für die Gesamtgruppe 7 durch die Zunahme bei den anderen Freiberuflern bewirkt wurde. 20 Neben den hier figurierenden „echten" Rechtsanwälten gibt es im Bundestag Rechtsanwälte s e ¡ t den mittleren Wahlperioden eine wechselnde Zahl von Rechtsanwälten, deren diesbezügliche Berufsangabe nicht charakteristisch für den in diesem Zusammenhang ausschlaggebenden Werdegang bis zur erstmaligen Annahme des Mandates ist und die deshalb bei entsprechenden anderen Berufen mitgezählt sind (siehe Anm. 1 zu Gruppe 7 a, Tab. 1). Das Bestreben von Volljuristen — auch aus dem öffentlichen Dienst —, sich ungeachtet der politischen Tätigkeit um die Zulassung als Rechtsanwalt zu bemühen, hat gewiß eine ganze Reihe von Gründen. Hier nur einige Hinweise: Ein Rechtsanwalt darf (im Unterschied zum Beamten, dessen Rechte und Pflichten während der Parlamentsmitgliedschaft ruhen) auch neben dem Mandat — freilich soweit Zeit und Kräfte dies persönlich gestatten — beruflich tätig sein und hinzuverdienen. Auch ein „neuer" Rechtsanwalt, der „eigentlich" Beamter ist und die Rechtsstellung gemäß §5 Abgeordnetengesetz hat, kann diesen zweiten Beruf neben dem Mandat ausüben (hier sei nur als Stichwort das sog. „Häfele-Urteil" von 1978 gebracht). Die Angabe eines „beratenden Berufes" im Amtlichen Handbuch ist zudem ein Vorteil bzw. eine Vereinfachung gemäß der Bestimmung des § 1 Abs. 2 Nr. 6 Verhaltensregeln für Mitglieder des Deutschen Bundestages (Anlage 1 G O B T ) . Ein weiterer, eher immaterieller Grund sollte ebenfalls nicht übersehen werden. Es wurde oben, bei der Befassung mit dem öffentlichen Dienst, auf gewisse Vermassungs- und Egalisierungserscheinungen in diesem Bereich hingewiesen, die (von den administrativen Spitzenpositionen und den Professoren abgesehen) gewiß nicht ohne Auswirkung auf den gesellschaftlichen Nimbus blieben. Die meisten freien Berufe haben dagegen ihren diesbezüglichen Standard auch in den letzten Jahrzehnten sehr gut behauptet. „Rechtsanwalt" ist noch immer (wie im freiberuflichen Bereich weiterhin der Arzt oder der Diplomingenieur) eine eindrucksvolle Berufsangabe, zugleich von vorteilhafter (einer engen funktionellen Festlegung sich entziehenden) Unverbindlichkeit, dazu nicht übermäßig prätentiös oder volksfremd. Die Anzeigepflicht des Berufes (für das Amtliche Handbuch) gemäß § 1 der Verhaltensregeln deckt sich hier gewiß überwiegend mit den Selbstdarstellungsinteressen der Betreffenden. Soweit in diesem Zusammenhang die „nicht echten" Rechtsanwälte mit angesprochen waren, sollte damit in keiner Weise der Soupçon fehlender Seriosität angedeutet sein. Einmal besteht durchaus die Möglichkeit, daß auch Neu- oder Nebenberufler in dieser Domäne ernsthaft ihren zukünftigen Hauptberuf vorbereiten. Andererseits sind auch auf diesem Felde Aktivitäten, soweit sie nicht gegen die Vorschriften der Verhaltensregeln verstoßen, schwerlich zu beanstanden. Als

§24

Zusammensetzung und Sozialstruktur (HESS)

745

Prophylaxe gegen ein berufsfremdes Ideologentum können sie sogar politisch wünschenswert sein. Gestiegen ist in besonderer Weise der Anteil der übrigen Freiberufler, unter denen vor allem die Journalisten ein größeres Kontingent stellen. Die übrigen — kleinen — Einzelgruppen traten seit 1949 in oft wechselnder Stärke auf, sie erschienen manchmal nur mit einem oder gar keinem Abgeordneten. Allgemeine Gründe sind dafür nur schwer zu erkennen. Uberraschend ist beispielsweise, seit 1983, die vermehrte Wahl von Apothekern, die derzeit allein mit vier Freiberuflern im Bundestag vertreten sind. Die Zahl der freiberuflichen Arzte war bislang im Durchschnitt eher kleiner, wobei jedoch der Hinweis auf ein stets zusätzliches bescheidenes Kontingent von Ärzten, die in Dienstverhältnissen stehen und deshalb insbesondere den Gruppen 1 oder 2 zugerechnet werden mußten, nicht fehlen soll. Im Zusammenhang mit den Freiberuflern, gelegentlich aber auch mit den 21 Selbständigen, ist das Argument sehr verbreitet, diese Gruppen seien sämtlich Benachteiligung „unterrepräsentiert", da dort eine Mandatsausübung gar nicht oder nur mit F r e ' b e r u f l e r ? erheblichen Risiken für die Existenz der Praxis oder des Unternehmens usw. möglich sei. Das Argument hat oft eine polemische Zielrichtung gegen die große Zahl von Beamten in Bundestag und Landtagen („Beamtenparlamente", „Funktionärsparlamente" u. ä.). Hierzu ist folgendes festzustellen: Das Argument ist — mindestens für eine ganze Reihe von Berufsgruppen — schon im rein numerischen Sinne falsch. Die Freiberufler und die Selbständigen sind im ganzen keineswegs „unterrepräsentiert". So entspricht z . B . die — in der Tat nicht mehr allzu große — Zahl der selbständigen Land- und Forstwirte im Bundestag prozentual noch immer in etwa dem betreffenden Anteil dieser Berufsgruppe an den Erwerbstätigen in der Bevölkerung. Es gibt darüber hinaus in diesem rein numerischen Sinne ausgesprochene Fälle von „Überrepräsentation", insbesondere bei den Journalisten und den Rechtsanwälten. Während die Angehörigen des öffentlichen Dienstes (Gruppen 1 und 2) im Bundestag gewiß rd. doppelt so stark vertreten sind wie der öffentliche Dienst bei den Erwerbstätigen in der Bevölkerung, sind allein die 37 „echten" Rechtsanwälte und Notare (1987) — es sind etwas mehr als 7 % der Bundestagsmitglieder — gegenüber dem nicht einmal 0,2 %-Anteil dieser Berufsgruppe im Erwerbstätigenbereich ca. 40mal „überrepräsentiert". In Hinsicht darauf, daß die Abgeordneten Vertreter des ganzen Volkes und nicht ihres Berufsstandes sind, soll hier nicht die beklemmende Phantasmagorie solcher Anteilsvergleiche geleugnet werden. Das Argument des Existenz-Risikos einer Mandatsausübung durch Angehörige der selbständig-freien Berufe ist nicht völlig unbegründet. Die Schwierigkeiten mögen in einzelnen Fällen erheblich sein. Das Argument verkennt aber doch, als Globalformel gebraucht, die starke motivatorische Dynamik eines politischen Betätigungswillens. Wer sich ernsthaft, einschließlich einer Mandatsausübung, der Politik widmen will, wird die Risiken eingehen oder gegebenenfalls auf bestimmte berufliche Zielsetzungen verzichten (auch ein „verbeamteter" junger Forscher kann nicht gleichzeitig ein bedeutendes wissenschaftliches Projekt durchführen und engagierter Politiker sein). Ein etablierter Freiberufler wird in vielen Fällen die

der

746

4. Teil: D e r Deutsche Bundestag und seine Mitglieder

nichtpolitische Existenz trotz Mandat behaupten können. Die Risikobereitschaft ist zudem in diesen Sparten geradezu berufsspezifisch. Das Argument der Benachteiligung, als ein schieres Räsonnieren gegen die „Privilegien der anderen", ist — soweit es nicht schon als verselbständigtes Vorurteil der öffentlichen Meinung auftritt — in vielen Fällen eine bloße Schutzbehauptung von politisch Inaktiven: Sie möchten gewiß auch gern einmal ein Mandat ausüben, es aber gleichsam auf goldenem Teller präsentiert bekommen, ohne die Mühsal des Engagements und des Aufstiegs in einem langen und harten Ausleseprozeß. 22 Arbeiter im Bundestag

Werfen wir noch einen Blick auf die Arbeiter im Bundestag (Gruppe 9). Ihre Zahl war in der Tat schon in den — ihnen noch „günstigeren" — ersten Wahlperioden gering, sie hat sich dann weiter, mindestens prozentual, noch erheblich verringert. Selbst die jeweils ca. 10 überzeugenden Angaben eines Arbeiter-Berufes seit den mittleren Wahlperioden beziehen sich biographisch oft auf weit zurückliegende Ausgangstätigkeiten. Eine sehr viel größere Zahl von Abgeordneten hat aber gleichwohl beruflich als Arbeiter begonnen, jedoch dann den gesellschaftlichpolitischen Aufstieg über einen anderen, in Hinsicht auf die hiesige statistische Erfassungsmethode dominierenden Beruf — ζ. B. als Gewerkschaftssekretär — vollzogen (siehe auch Anm. 2 zu Gruppe 9). Die kleine Zahl von „echten" Arbeitern im Bundestag bedeutet aber keineswegs, daß dort Arbeiterinteressen nicht vertreten würden (allerdings sagt, umgekehrt, auch die sehr hohe Anzahl von — oft nur noch formellen — Gewerkschaftsmitgliedschaften im Bundestag wenig aus). Die Vertretung von Arbeiterinteressen ist teils eine Frage des jeweiligen traditionellen politisch-geistigen Standortes, teils eine Frage der unabdingbaren Verantwortung für das Ganze und der daraus abzuleitenden Gewichtung der großen gesellschaftlichen Einzelinteressen und -bedürfnisse (dies alles sollte unbedingt vom — nichtpolitischen — Beruf des Abgeordneten unabhängig sein). Die unmittelbare Kenntnis und Erfahrung der „Arbeitswelt" (in diesem spezifischen Sinne) kann gewiß für die Vertretung von Arbeiterinteressen sehr hilfreich sein. Es darf aber nicht übersehen werden, daß der Politiker wie speziell der Abgeordnete im funktionell-technischen Sinne zuletzt ein geistiger Beruf ist oder sein sollte (ungeachtet des hohen zeitlichen Anteils notwendiger Funktionen, die eher mit physischer Anstrengung in Verbindung gebracht werden). Hierin liegt vielleicht auch der elementare Grund dafür, daß der Arbeiter — ungeachtet vorhandener Talente und erworbener Fachkenntnisse — zumeist erst über andere Funktionen, die ihm neben größeren politischen und gesellschaftlichen Kontakten und Aufstiegsmöglichkeiten auch ein auf weitere Zusammenhänge bezogenes Wissen und entsprechendes Darstellungsvermögen vermitteln, einflußreichere politische Funktionen und Mandate erlangt. — Daß Politiker und Abgeordnete (von eindeutigen Fachleuten abgesehen) sich selbst so selten zur elementaren geistigen Komponente ihres Wirkens bekennen, hat sicherlich eine ganze Reihe von Gründen. So liegt z . B . schon der gefürchtete Vorwurf des „Akademikerparlaments" im politischen Raum, und die Betonung des geistigen Arbeitens könnte dem Nimbus urtümlicher Volksnähe abträglich sein. Es ist aber nicht sicher, ob diese Rechnung aufgeht. Der Primat des Geistigen (und sein Allgemeinnutzen) wird gemeinhin auch von denen anerkannt, die ihm nicht durch ihren Beruf auf spezielle Weise dienstbar sein können.

§24

747

Zusammensetzung und Sozialstruktur (HESS)

5. Die Verteilung der Berufsgruppen auf die Fraktionen (siehe Tab. 2 bis 4) macht für die Anfangszeit vor allem die — personell von der Zwischenkriegszeit noch wesentlich bestimmte — „Klassengesellschaft" deutlich. Der 1. Bundestag zeigt die starke Dominanz der Selbständigen und ein deutliches Uberwiegen der Freiberufler — im Vergleich zum linken Spektrum — bei der C D U / C S U , der FDP und den „Diversen bürgerlichen Parteien". Auch die Hausfrauen sind vor allem noch bei der C D U / C S U vertreten. Von den Beamten (Verwaltung wie auch Lehrberufen) — dies ist aus Tabelle 2 nicht unmittelbar ersichtlich — gehören die „höheren Chargen" überwiegend dem bürgerlichen Lager an. Umgekehrt zeigt sich die Dominanz der „Funktionäre" (Gruppe 4) und der Arbeiter (Gruppe 9) bei der SPD wie auch — wenngleich mit kleineren absoluten Zahlen — bei der KPD. Die der SPD-Fraktion auch angehörenden 23 Angestellten der Wirtschaft — eine relativ große Gruppe — schließen freilich eine Anzahl von sogenannten „kleinen Angestellten" mit ein.

Tabelle 4. Verteilung der Berufsgruppen auf die Fraktionen: 11. Bundestag (Stand: 16.4.1987) CDU/

SPD

FDP

Die

Zus.

Grünen

CSU 89

85

10

9

193

2. Angestellte d. öffentl. Dienst.

7

15

-

6

28

3. Diakone (ev.)

1

1

-

-

1. Beamte

2

4. Angestellte v. polit, u. gesellschaftl. Organisât.

19

39

5

7

5. Angestellte in d. Wirtsch.

31

18

8

5

70 62

6. Selbständige

45

12

1

65

7. Freiberufler

36

7 14

11

4

65

8. Hausfrauen

1

3

2

3

9

9. Arbeiter

1

7

-

1

9

4

4

-

8

16

234

193

44

519

10. Sonstige (einschl. Bedienstete d. E G usw.) Insgesamt

48

Die weitere Entwicklung (siehe vor allem Tab. 3 u. 4) scheint den Eindruck zu 23 erwecken, als habe sich weiterhin die „Klassengesellschaft" behauptet oder sogar Abbau noch verstärkt (insbesondere durch die nach wie vor eindrucksvollen Zahlen der »^' a s s f Selbständigen und der Freiberufler bei der C D U / C S U und FDP sowie die der „Funktionäre" — Gruppe 4 — bei der SPD). Einfache politische Rechnungen gehen hier freilich schon deshalb nicht auf, weil die FDP seit 1969 mit der SPD koalierte. — Die allgemeine starke Zunahme der Zahl der Angehörigen des öffentlichen Dienstes im Bundestag (Gruppen 1 u. 2), bei denen die SPD die C D U /

748

4. T e i l : D e r D e u t s c h e Bundestag und seine Mitglieder

CSU schon leicht überflügeln konnte (und auch mit den — akademisch ausgebildeten — „höheren Chargen" in etwa gleichgezogen hat), relativiert jedoch stark die anderen Berufsdaten. Damit wird eben doch der Trend zur Ausbildung der modernen Volksparteien und zur soziologischen Angleichung der Fraktionen erkennbar. Auch die Grünen haben ja einen beachtlichen Anteil von Angehörigen des öffentlichen Dienstes. Daß sich der Abbau der „Klassengesellschaft" gerade in der besonderen Stärke des (freilich jetzt „demokratisierten") öffentlichen Dienstes manifestiert — vgl. auch oben (Abschn. II.4.) — ist geschichtlich nicht ganz ohne Ironie. Wie sehr sich zudem — auch im Vergleich zu historischen deutschen Parlamenten — die Sozialstruktur bei manchen Kategorien gewandelt hat, soll knapp an zwei weiteren (kleinen und an sich sehr unterschiedlichen) Berufsgruppen verdeutlicht werden: Den Soldaten und den Theologen. 24 Bis zur 4. Wahlperiode waren nur Berufssoldaten aus der Zeit von vor 1945 im Berufssoldaten sowie Bundestag. Von der 5. Wahlperiode an gehörten dem Parlament auch BerufssoldaTheologen t e n ^ _ a u c j j o c } e r ) a j s jQ n g e re Offiziere bzw. Unteroffiziere, nur — aus der Bundeswehr kamen. Während bis zu den mittleren Wahlperioden Berufssoldaten fast nur im rechten Teil des Parlamentsspektrums saßen, hielten sie sich (es waren insges. jeweils ca. 6. Abgeordnete) seitdem parteipolitisch die Waage. 1987 kam nur noch ein Berufssoldat der C D U / C S U in den Bundestag. Es handelt sich gewiß jeweils um kleine absolute Zahlen, und Zukunftsprognosen sind hier nicht angebracht. Allgemeine Wandlungen sind aber doch unverkennbar. Um dies noch einmal an zwei — sicher sehr konträren und nicht unbedingt mit anderen Berufssoldaten identifizierbaren — Figuren zu verdeutlichen: Der Generalmajor a.D. und Friedensforscher G E R T B A S T I A N (MdB in der 10. WP) stellte einen politischen Typus dar, wie man ihn sich in der politischen Wirkenszeit des Generals der Panzertruppe a. D. H A S S O VON M A N T E U F F E L (MdB in der 2 . WP) schwerlich hätte vorstellen können 8 . Eine in großen Zügen analoge Entwicklung zeigt sich auch bei den — evangelischen — Pfarrern und anderen Theologen im Bundestag9. Seit den mittleren Wahlperioden — wenngleich ihre absolute Zahl freilich mehr und mehr geschrumpft ist — gehören sie überwiegend der linken Hälfte des Parlamentsspektrums an. Zukunftsprognosen sind allerdings auch hier unangebracht. Immerhin läßt sich eines sagen: Beide Berufsgruppen sind nicht mehr — wie noch sehr ausgeprägt bis in die Anfangszeit unseres Jahrhunderts — typische Repräsentanten von „Thron und Altar".

8

U m hier eine weiter zurückliegende E p o c h e in Erinnerung zu bringen: D a s Wahlgesetz für den Reichstag des N o r d d e u t s c h e n B u n d e s v o m 31. Mai 1869 (das auch im Kaiserreich weitergalt) gewährte den Soldaten zwar nicht das aktive, aber das passive Wahlrecht. D i e s e Regelung brachte besonders überzeugend das Vertrauen der O b r i g k e i t in das Offizierskorps zum A u s -

9

druck. Z u den katholischen Priestern (in V e r b i n d u n g mit Inkompatibilitäten und der Weitergeltung des R e i c h s k o n k o r d a t e s von 1 9 3 3 ) vgl. auch A . H E S S Politikerberufe ( F n . 5), S . 5 8 1 .

§24

Z u s a m m e n s e t z u n g und Sozialstruktur (HESS)

749

III. Geschlecht sowie Alter 1. Der Anteil der Frauen im Bundestag überstieg bis 1987 nie oder allenfalls knapp 2 5 10 % 1 0 . N u r innerhalb einzelner Fraktionen wurde diese Grenze gelegentlich Frauen in Politik überschritten. Eine Änderung dieser Situation ergab sich dann vor allem durch die un¡ e s e Vorschrift wird in der Praxis vielfach nachsichtig gehandhabt. Auch kann der Präsident die Redezeit verlängern (vgl. §35 Abs. 1 Satz 4 GOBT). Die G O B T sieht heute nicht mehr vor, daß einem Abgeordneten, dem wegen Überschreitung der Redezeit das Wort entzogen worden ist, das Wort in derselben Aussprache nicht wieder erteilt werden darf. 50 e) Die

Ausschließung

33 Der Ausschluß von der Sitzung (§38 G O B T ) ist die schärfste DisziplinarmaßScharfste Disziplinar- nähme.51 Sie setzt eine schuldhafte „gröbliche Verletzung der Ordnung" — wie etwa maßnahme, „ r o b e Beschimpfungen des Präsidenten oder anderer Abgeordneter 52 — in der Voraussetzungen

.

.

.

.

Sitzung oder in unmittelbarer Nähe des Sitzungssaales voraus. Nicht erforderlich ist, daß ein milderes Disziplinarmittel, insbesondere ein Ordnungsruf, vorher erfolglos angewendet worden ist (vgl. § 38 Abs. 1 Satz 1 GOBT). Die Entscheidung über den Ausschluß von der Sitzung steht im pflichtgemäßen Ermessen des amtierenden Präsidenten. 47

V g l . N . ACHTERBERG P a r l a m e n t s r e c h t ( F n . 10) S . 6 5 7 .

411

RITZEL/BÜCKER Handbuch ( F n . 2 ) § 3 7 A n m . d ; vgl. auch bereits R.VOGLER Die Ordnungsgewalt (Fn. 1) S.23 sowie K. PERELS Das autonome Reichstagsrecht (Fn. 14) S. 95. Vgl. im einzelnen RITZEL/BÜCKER Handbuch ( F n . 2 ) § 3 7 Anm. k sowie H.TROSSMANN Parlamentsrecht (Fn. 10) §41 R d n . 5 . Vgl. RITZEL/BÜCKER Handbuch (Fn.2) § 3 5 Anm. III d. Zur geschichtlichen Entwicklung vgl. K . - H . NELAMISCHKIES Die Disziplin (Fn. 4) S. 89 ff sowie R.VOGLER Die Ordnungsgewalt (Fn. 1) S . 2 5 f f .

49

50 51

52

V g l . R I T Z E L / B Ü C K E R H a n d b u c h ( F n . 2 ) § 38 A n m . 1 1 a ; H . TROSSMANN P a r l a m e n t s r e c h t ( F n . 10) §42 Rdn.3.

§ 34

D a s parlamentarische O r d n u n g s r e c h t (BÜCKER)

969

Ausgeschlossen werden kann jedes Mitglied des Bundestages, sofern es nicht gleichzeitig dem gem. Art. 43 Abs. 2 Satz 1 G G zu allen Sitzungen des Bundestages und seiner Ausschüsse zutrittsberechtigten Personenkreis angehört. Der Ausschluß gilt zunächst für den Rest der Sitzung, in der die gröbliche Ordnungsverletzung erfolgt ist. Soll der Ausschluß auf weitere Sitzungstage erstreckt werden, muß der Präsident gem. § 38 Abs. 1 Satz 2 G O B T bis zum Schluß der Sitzung bekanntgeben, für wieviele Sitzungstage der Betroffene ausgeschlossen wird. Die Höchstdauer beträgt 30 Sitzungstage.53 Die Entscheidung über die Dauer des Ausschlusses liegt im pflichtgemäßen Ermessen des amtierenden Präsidenten; die Bekanntgabe dieser Entscheidung kann jedoch in seinem Namen durch den jeweils amtierenden Präsidenten erfolgen. Unterbleibt eine Entscheidung des Präsidenten über die weitere Dauer des Ausschlusses bis zum Schluß der Sitzung, so verliert der Präsident sein Entscheidungsrecht, und der betroffene Abgeordnete bleibt nur für die abgelaufene Sitzung ausgeschlossen.54

34 Adressat 35 Dauer

Der Ausschluß von der Sitzung kann nur während der Sitzung vorgenom- 3 6 men werden. Eine nachträgliche Verhängung dieser Disziplinarmaßnahme noch Z e i t p u n k t nach Schluß der Sitzung, etwa weil dem Präsidenten das Fehlverhalten entgangen ist oder er die von ihm getroffene Disziplinarmaßnahme nunmehr für zu milde erachtet, kommt nicht in Betracht. Es besteht auch kein Bedürfnis für ein solches Recht des Präsidenten, denn Voraussetzung für den Sitzungsausschluß ist eine gröbliche Ordnungsverletzung. Ist ein Fehlverhalten dem Präsidenten aber nicht einmal aufgefallen oder hielt er ein milderes Mittel, etwa einen Ordnungsruf, für ausreichend, wird diese Voraussetzung regelmäßig fehlen.55 Bei Irrtum über die Person oder in der Sache kann der Sitzungsausschluß 37 zurückgenommen werden. 56 Rücknahme In §38 Abs. 2 - 5 G O B T sind die Rechtsfolgen des Ausschlusses von der 3 8 Sitzung geregelt. Nach §38 Abs. 2 G O B T hat der ausgeschlossene Abgeordnete R e c h t s f o l g e n , den Sitzungssaal unverzüglich zu verlassen. Tut er dies nicht, hat der Präsident z w a n g s w e i s e ihn darauf hinzuweisen, daß sein Verhalten bei der Bemessung der Ausschluß- Sitzungssaal dauer erschwerend berücksichtigt wird. Wenn sich der betroffene Abgeordnete weigert, den Sitzungssaal zu verlassen, begeht er Hausfriedensbruch (§ 123 StGB). Der Präsident kann ihn aufgrund des Hausrechts und der Polizeigewalt (Art. 40 Abs. 2 Satz 1 G G ) zwangsweise entfernen lassen.57

^

Durch §38 Abs. 3 G O B T wird der Ausschluß von der Sitzung auch auf 3 9 Ausschußsitzungen erstreckt. Der ausgeschlossene Abgeordnete ist jedoch im E r s t r e c k u n g auf übrigen nicht gehindert, seine parlamentarischen Aufgaben wahrzunehmen, A u s s c h u ß s i t z u n g e n z . B . von seinem Initiativrecht Gebrauch zu machen; verwehrt ist ihm nur, 53

Z u r P r o b l e m a t i k der D a u e r des Ausschlusses vgl. RITZEL/BÜCKER H a n d b u c h ( F n . 2 ) b e m . 4 zu §§ 3 6 ^ ( 1

Vor-

GOBT.

54

RITZEL/BÜCKER H a n d b u c h ( F n . 2 ) § 3 8 A n m . 1 2 d .

55

V g l . RITZEL/BÜCKER H a n d b u c h ( F n . 2 ) § 3 8 A n m . 1 2 e ; eine S i t z u n g s u n t e r b r e c h u n g den Präsidenten nicht, nach W i e d e r e r ö f f n u n g der S i t z u n g einen A b g e o r d n e t e n ßen, vgl. H.TROSSMANN P a r l a m e n t s r e c h t ( F n . 10) § 4 2 R d n . 7.

56

RITZEL/BÜCKER H a n d b u c h ( F n . 2 ) § 3 8 A n m . 1 2 c .

57

RITZEL/BÜCKER H a n d b u c h ( F n . 2 ) § 3 8 A n m . I I 2 b .

hindert

auszuschlie-

970

5. T e i l : Gliederungen, O r g a n e und Verfahren des Bundestages

Anträge mündlich zu stellen. E r darf auch als Z u h ö r e r auf der Besuchertribüne des Plenarsaales die Sitzungen des D e u t s c h e n Bundestages verfolgen. 5 8

40

N a c h § 3 8 A b s . 4 G O B T ist ein ausgeschlossener A b g e o r d n e t e r , der wider-

Widerrechtliche

rechtlich versucht, an Plenar- oder Ausschußsitzungen teilzunehmen, darauf hin-

Sitzungsteilnahme

zuweisen, daß sein Verhalten eine Verlängerung des Ausschlusses nach sich zieht.

41

G e m . § 3 8 A b s . 5 G O B T gilt der ausgeschlossene A b g e o r d n e t e als nicht beur-

Finanzielle

laubt; er darf sich nicht in die Anwesenheitsliste eintragen. Dies hat zur Folge, daß

Nebenfolgen

ihm die in § 14 A b g G festgesetzten Beträge von der Kostenpauschale abgezogen werden.

f ) Unterbrechung 42

und Aufliebung

der Sitzung

N a c h § 4 0 G O B T kann der Präsident die Sitzung auf bestimmte Zeit unterbrechen

Störende Unruhe in oder aufheben, wenn im Bundestag störende U n r u h e entsteht, die den Fortgang der Versammlung ^

Verhandlungen in Frage stellt. A u s dem Z u s a m m e n h a n g dieser Regelung mit

den Vorschriften der § § 3 6 - 3 8 und 41 G O B T ergibt sich, daß die störende U n r u h e unter den Mitgliedern des Bundestages entstanden sein m u ß (für Ordnungsverletzungen durch Nichtmitglieder trifft § 4 1 G O B T eine Sonderregelung), die einzelnen Störer aber nicht festgestellt werden k ö n n e n (sonst kämen M a ß n a h m e n nach §§36-38 G O B T

in Betracht). D i e in das E r m e s s e n des Präsidenten

gestellten

M a ß n a h m e n der U n t e r b r e c h u n g oder A u f h e b u n g der Sitzung sind keine eigentlichen D i s z i p l i n a r m a ß n a h m e n , weil sie Störer und N i c h t s t ö r e r gleichermaßen treffen. 5 9 W e n n der Präsident sich kein G e h ö r verschaffen kann, verläßt er den Präsidentenstuhl; dadurch wird die Sitzung u n t e r b r o c h e n ( § 4 0 Satz 2 G O B T ) .

4. Rechtsbehelfe 43 D e r — amtierende — Präsident übt die Disziplinargewalt eigenverantwortlich und Eigenverantwortlichkeit und Unabhängigkeit des Präsidenten

unabhängig aus. 6 0 Seine Entscheidungen unterliegen — abgesehen von § 3 9 G O B T ( E i n s p r u c h ) — nicht der N a c h p r ü f u n g durch den Bundestag oder eines seiner O r g a n e . K r i t i k an Disziplinarentscheidungen des Präsidenten durch betroffene oder andere Mitglieder des Bundestages stellt ihrerseits eine Verletzung

der

parlamentarischen O r d n u n g dar. E s ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß sich das Präsidium oder der Ältestenrat — auch im Z u s a m m e n h a n g mit einer einzelnen D i s z i p l i n a r m a ß n a h m e — mit Fragen der Disziplinargewalt befassen. Dies jedoch nicht zwecks K o n t r o l l e oder Revision einer bereits durch den amtierenden Präsidenten getroffenen Disziplinarentscheidung, sondern nur im H i n b l i c k auf die künftige H a n d h a b u n g der Disziplinargewalt, insbesondere etwa zur Sicherstellung einer möglichst einheitlichen H a n d h a b u n g durch die jeweils amtierenden Präsidenten. 6 1

44

Gegen einen O r d n u n g s r u f oder einen Sitzungsausschluß, nicht jedoch gegen

Einspruch

andere Disziplinarmaßnahmen, kann der betroffene A b g e o r d n e t e gem. § 3 9 G O B T

58 59

RITZEL/BÜCKER H a n d b u c h ( F n . 2 ) § 3 8 A n m . III b. Vgl. bereits oben bei R d n . 14; zu den Begriffen „ A u f h e b u n g " und „ U n t e r b r e c h u n g " der Sitzung und ihren F o l g e n vgl. im einzelnen RITZEL/BÜCKER H a n d b u c h ( F n . 2 ) § 4 0 A n m . 1 d, e.

60

S. oben bei R d n . 3.

61

RITZEL/BÜCKER H a n d b u c h ( F n . 2 ) V o r b e m .

lb

zu § § 3 6 ^ t l

GOBT.

§ 34

D a s parlamentarische O r d n u n g s r e c h t (BÜCKER)

971

bis zur nächsten Plenarsitzung Einspruch einlegen, der aber keine aufschiebende Wirkung hat. Der Einspruch muß schriftlich begründet werden. Er wird als Vorlage gem. § 77 Abs. 1 G O B T gedruckt und an die Mitglieder des Bundestages verteilt. Er muß auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung gesetzt werden. Der Bundestag entscheidet ohne Aussprache über den Einspruch. Gibt er ihm statt, so ist damit gleichzeitig die Disziplinarmaßnahme des Präsidenten aufgehoben. Die in der G O B T förmlich vorgesehenen Disziplinarmaßnahmen 62 können 4 5 zum Gegenstand eines Organstreitverfahrens gem. Art. 93 Abs. 1 N r . 1 G G i. V. Organstreitverfahren mit §§ 63 ff BVerfGG vor dem Bundesverfassungsgericht gemacht werden. Das Bundesverfassungsgericht kann hierbei gem. § 6 7 B V e r f G G nur feststellen, ob die beanstandete Disziplinarmaßnahme gegen eine Bestimmung des Grundgesetzes verstoßen hat; aufheben kann es die Maßnahme nicht. Falls sie noch Folgewirkungen hat, ist der Bundestag verpflichtet, diese zu beseitigen. 63

III. Ordnungsmaßnahmen gegenüber sonstigen Sitzungsteilnehmern 1. Rechtsstellung der sonstigen Sitzungsteilnehmer Sitzungsteilnehmer, die nicht Mitglieder des Bundestages sind, können sein: 46 Mitglieder des Bundesrates und der Bundesregierung sowie ihre Beauftragten A d r e s s a t e n (Art. 43 Abs. 2 G G ) . Sitzungsteilnehmer ist weiter der Wehrbeauftragte, wenn er nach § 115 Abs. 1 G O B T an der Beratung seiner Berichte teilnimmt oder gem. § 6 WBeauftrG i. V . m . § 115 Abs. 2 G O B T herbeigerufen wird. 64 Die Ausübung der gegenüber Nichtmitgliedern des Parlaments im Hausrecht 47 (ergänzendem Verfassungsgewohnheitsrecht sowie notfalls der Polizeigewalt) Zutritts- und wurzelnden allgemeinen Ordnungsgewalt (§41 Abs. 1 G O B T ) 6 5 wird durch das Rederecht verfassungsrechtlich garantierte Zutritts- und Rederecht der Mitglieder und Beauftragten der Bundesregierung und des Bundesrates beschränkt. Der Wehrbeauftragte hat dagegen kein eigenes Zutritts- und Rederecht; für ihn besteht nach Maßgabe von § 6 WBeauftrG und § 115 G O B T nur eine Pflicht zur Anwesenheit und die Verpflichtung, Rede und Antwort zu stehen. 66 Angehörige des nach Art. 43 Abs. 2 G G Zutritts- und redeberechtigten Perso- 4 8 nenkreises, die zugleich Abgeordnete sind — praktisch vor allem Regierungsver- Sitzungsteilnehmer treter — , unterliegen je nachdem, in welcher Funktion sie an der Sitzung teilneh- mit D o p p e l f u n k t i o n men und reden, der Disziplinargewalt nach Maßgabe der §§35 Abs. 3, 36 ff, 119 Abs. 2 G O B T oder der allgemeinen Ordnungsgewalt. In der Regel wird schon bei N i c h t dagegen eine R ü g e i . e . S . , weil sie keine Rechtsnachteile zur Folge hat, vgl. B V e r f G E 60, 374 (380 ff). « Vgl. RITZEL/BÜCKER H a n d b u c h ( F n . 2 ) V o r b e m . l d zu § § 3 6 - 4 1 G O B T . M Die in einer Sitzung dienstleistenden Angehörigen der Bundestagsverwaltung sind keine Sitzungsteilnehmer, vgl. H . TROSSMANN Parlamentsrecht (Fn. 10) § 4 5 R d n . 1. 65 S. oben bei Rdn. 5 f. Vgl. J.BÜCKER D e r A b g e o r d n e t e hat das Wort, in: E.BUSCH ( H r s g . ) Parlamentarische D e m o kratie — Bewährung und Verteidigung, Festschrift für H . Schellknecht z u m 65. G e b u r t s t a g , 1984, S. 39 (41 f). 62

972

5. T e i l : G l i e d e r u n g e n , O r g a n e und V e r f a h r e n des Bundestages

der Worterteilung klar, in welcher Eigenschaft sie sprechen. Im übrigen müssen Umstände wie der (vorher) eingenommene Sitzplatz oder der Inhalt des Redebeitrages herangezogen werden. 2. Einzelne Ordnungsmaßnahmen 4 9 Aufgrund seiner allgemeinen Ordnungsgewalt kann der Präsident gegenüber sonM a ß n a h m e n z u r stigen Sitzungsteilnehmern bei Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes G e w ä h r l e i s t u n g eines alle zur Gewährleistung eines ungestörten Sitzungsablaufs geeigneten Maßnahmen ungestörten treffen, die nicht mit dem Zutritts- und Rederecht nach Art. 43 Abs. 2 G G Sitzungsablaufs kollidieren. Die förmlichen Ordnungsmittel gem. §§35 Abs. 3, 36 ff G O B T stehen ihm hier allerdings nicht zur Verfügung. 67 Zulässig sind gegenüber dem nach Art. 43 Abs. 2 G G Zutritts- und redeberechtigten Personenkreis jedoch zum Teil vergleichbare Maßnahmen. 50 U n z u l ä s s i g k e i t von Sitzungsausschluß und W o r t e n t z i e h u n g

51 H i n w e i s auf Verhandlungsgegenstand

52 Hypothetischer Ordnungsruf

Unzulässig sind bei diesem Personenkreis eine Verweisung aus dem Saal oder ähnliche Maßnahmen, weil sie das Zutrittsrecht gem. Art. 43 Abs. 2 Satz 1 G G verletzen würden. Unzulässig ist mit Rücksicht auf das Rederecht gem. Art. 43 Abs. 2 Satz 2 G G grundsätzlich auch eine Entziehung des Wortes. Bei einer mißbräuchlichen Inanspruchnahme des Rederechts 68 kann das Wort jedoch auch „Redeprivilegierten" entzogen werden. 69 Der Präsident kann sie kraft seiner — von der Ordnungsgewalt zu unterscheidenden — Leitungsbefugnis auch jederzeit zwecks Abgabe geschäftsleitender Erklärungen und Mitteilungen unterbrechen. 70 Ein dem förmlichen Sachruf entsprechender Hinweis ist zulässig71, in seiner Anwendung aber dadurch begrenzt, daß das Rederecht gem. Art. 43 Abs. 2 Satz 2 G G von Verfassungs wegen „jederzeit", also auch außerhalb der Tagesordnung und damit auch ohne Beschränkung auf den jeweiligen Verhandlungsgegenstand ausgeübt werden kann. Ein solcher Hinweis kann aber die möglichen geschäftsordnungsrechtlichen Folgen gem. § 4 4 Abs. 3 G O B T (Eröffnung der Aussprache über Ausführungen außerhalb der Tagesordnung auf Verlangen einer Fraktion oder von anwesenden fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages) verdeutlichen. 72 Praktisch bedeutsam sind vor allem Maßnahmen und Erklärungen, die dem Ordnungsruf und seinen formlosen Vorstufen entsprechen. Alter parlamentarischer Tradition entsprechen Formulierungen wie: „Herr Minister..., wenn Sie diese Äußerung als Abgeordneter getan hätten, so hätte ich Ihnen einen Ordnungsruf erteilt!". 73 Im übrigen kann der Präsident Ermahnungen und Beanstandungen aussprechen und ordnungswidrige Verhaltensweisen — ζ. B. Zwischenrufe oder U n t e r b r e c h u n g und A u f h e b u n g der Sitzung g e m . § 4 0 G O B T sind keine speziell gegen die sonstigen S i t z u n g s t e i l n e h m e r gerichteten M a ß n a h m e n und kollidieren auch nicht mit dem Zutritts- und R e d e r e c h t gem. A r t . 43 A b s . 2 G G , weil dieses nur im R a h m e n der Sitzung besteht; vgl. M.SCHRÖDER, in: B K , A r t . 4 3 R d n . 102. Vgl. zu d e n k b a r e n Fällen B V e r f G E 10, 4 ( 1 8 ) . H . TROSSMANN Parlamentsrecht ( F n . 10) § 4 5 R d n . 2 . 3 . Vgl. bereits H . v. BRENTANO DI TREMEZZO D i e Rechtsstellung des Parlamentspräsidenten, Diss. 1930, S. 6 5 . RITZEL/BÜCKER H a n d b u c h ( F n . 2 ) § 3 6 A n m . 1 d. Vgl. KL. F . ARNDT Parlamentarische G e s c h ä f t s o r d n u n g s a u t o n o m i e ( F n . 7) S. 118. V g l . RITZEL/BÜCKER H a n d b u c h ( F n . 2 ) § 4 1 A n m . I d b b ; K.PERELS D a s a u t o n o m e R e i c h s t a g s recht ( F n . 14) S. 96 f.

§ 34

D a s parlamentarische O r d n u n g s r e c h t (BÜCKER)

973

störende Unterhaltungen auf der Regierungs- oder Bundesratsbank — untersagen. 74

IV. Ordnungsmaßnahmen gegenüber Zuhörern Nach dem für die Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages geltenden Prinzip 53 der Öffentlichkeit (Art. 42 Abs. 1 Satz 1 G G ) hat jedermann grundsätzlich freien Zuhörerstatus Zutritt zu den Zuhörertribünen. 7 5 Das Publikum ist nur berechtigt zuzuhören; es ist gehalten, die Verhandlungen unter Wahrung von Ruhe und Anstand zu verfolgen, insbesondere nicht durch Äußerung von Beifall oder Mißbilligung zu stören. Zuhörer unterliegen der im Hausrecht (und notfalls der Polizeigewalt) wurzelnden allgemeinen Ordnungsgewalt des Präsidenten (vgl. §41 Abs. 1 GOBT).76 Die G O B T ermächtigt den Präsidenten in § 41 Abs. 2 77 zu besonderen Maßnah- 5 4 men gegen eine Störung der Verhandlungen durch Zuhörer, falls weniger ein- Entfernung von der schneidende Mittel wie formlose Ermahnungen u. ä. nicht ausreichen: Einzelne jcrÎrlbû ne ^ " " 8 feststellbare Störer, die Beifall oder Mißbilligung äußern oder Ordnung und Anstand verletzen, kann der Präsident sofort von den Tribünen entfernen lassen. Weiterhin kann der Präsident die Tribünen — oder einzelne Tribünen — wegen störender Unruhe räumen lassen, wenn die Störer nicht einzeln feststellbar sind. Die Räumung der Tribünen ist nicht gleichbedeutend mit einem Ausschluß der Öffentlichkeit — hierfür ist ein Beschluß des Bundestages mit 2/3-Mehrheit erforderlich (Art. 42 Abs. 1 Satz 2 G G ) —, steht also dem Zutritt anderer Zuhörer nicht entgegen. 78 Dennoch wird diese Maßnahme nur als ultima ratio in Betracht kommen. 7 9

V. Die Aufrechterhaltung der Ordnung in den Ausschüssen Zur Ordnungsgewalt in den Ausschüssen enthält die G O B T in § 5 9 Abs. 3 und 4 55 nur wenige besondere Vorschriften; nach § 74 G O B T gelten für Ausschüsse im G e s c h ä f t s o r d n u n g s rechtliche Regelungen übrigen die Bestimmungen der Geschäftsordnung grundsätzlich entsprechend. In den Ausschüssen wird die Ordnungsgewalt durch den Vorsitzenden ausge- 56 übt. Die G O B T unterstellt in § 59 Abs. 3 ausdrücklich allerdings nur Sitzungsteil- O r d n u n g s g e w a l t des Ausschußnehmer, die nicht Mitglieder des Bundestages sind, und Zuhörer der Ordnungsgevorsitzenden walt des Vorsitzenden, die insoweit nur im Hausrecht, nicht auch in der — nicht übertragbaren — Polizeigewalt ihre Grundlage hat. 80 Gegenüber Ausschußmit74 75 76 77

Vgl. RITZEL/BÜCKER H a n d b u c h (Fn.2) §41 A n m . I d . F ü r Ehrengäste, D i p l o m a t e n und Pressevertreter stehen eigene Tribünen zur V e r f ü g u n g . Vgl. oben bei R d n . 5. Ergänzend und konkretisierend k o m m e n Vorschriften der gem. § 7 A b s . 2 Satz 2 GOBT v o m Präsidenten erlassenen H a u s o r d n u n g v. 11. Juni 1975 — T e x t bei RITZEL/BÜCKER H a n d b u c h (Fn. 2) im Anschluß an die K o m m e n t i e r u n g von § 7 GOBT — hinzu.

78 RITZEL/BÜCKER H a n d b u c h ( F n . 2 ) 79

§41 Anm.II2.

Vgl. N . ACHTERBERG Parlamentsrecht (Fn. 10) S . 6 6 1 . Vgl. H . TROSSMANN Parlamentsrecht (Fn. 10) § 7 1 R d n . 2.5.

974

5. T e i l : G l i e d e r u n g e n , O r g a n e u n d V e r f a h r e n d e s B u n d e s t a g e s

gliedern als Mitgliedern des Bundestages übt der Vorsitzende die O r d n u n g s g e w a l t in entsprechender A n w e n d u n g von § 7 A b s . 1 Satz 2 G O B T aus. 1 " 57 G e g e n ü b e r Ausschußmitgliedern kann der Vorsitzende die zur Wahrung der M a ß n a h m e n O r d n u n g erforderlichen Maßnahmen treffen. Einen förmlichen O r d n u n g s r u f i. S. gegenüber von § 3 6 G O B T , gegen den gem. § 3 9 G O B T Einspruch möglich wäre, kann er Ausschußmitgliedern jedoch nicht erteilen, ebensowenig ein Ausschußmitglied von der Sitzung ausschließen. 8 2 A n d e r e Mitglieder des Bundestages, die nicht Ausschußmitglieder sind, sondern als Zuhörer an der Sitzung teilnehmen (vgl. § 69 A b s . 2 Satz 1 G O B T ) , kann der Vorsitzende jedoch bei gröblicher Verletzung der O r d n u n g notfalls des Saales verweisen. 8 3

58 Maßnahmen gegenüber sonstigen Sitzungsteilnehmern und Zuhörern

59 Unterbrechung und B e e n d i g u n g der Sitzung

G e g e n ü b e r sonstigen Sitzungsteilnehmern kann der Ausschußvorsitzende grundsätzlich die gleichen Maßnahmen treffen wie der Präsident in einer Plenarsitzung, d. h. auch hier nur mit den sich aus dem Zutritts- und Rederecht gem. Art. 43 A b s . 2 G G ergebenden Beschränkungen. 8 4 A u s k u n f t s p e r s o n e n bei öffentlichen Ausschußsitzungen (vgl. § 70 G O B T ) sind Sitzungsteilnehmer 8 5 ; sie unterliegen der O r d n u n g s g e w a l t des Ausschußvorsitzenden in ähnlicher Weise wie Zuhörer 8 6 . N a c h § 59 A b s . 4 G O B T kann der Ausschußvorsitzende eine Sitzung (auf bestimmte Zeit) unterbrechen oder — im Einvernehmen mit den Fraktionen im Ausschuß — beenden, wenn der ordnungsgemäße Ablauf der Sitzung nicht mehr gewährleistet ist. D i e Vorschrift des § 4 0 Satz 2 G O B T — Unterbrechung der Sitzung durch Verlassen des Präsidentenstuhles — gilt für Ausschüsse nicht entsprechend. 8 7

sl

S o H . TROSSMANN P a r l a m e n t s r e c h t ( F n . 10) § 7 1 R d n . 2 . 5 b e r e i t s u n t e r d e r G e l t u n g d e r d u r c h § 7 4 G O B T e r s e t z t e n f r ü h e r e n R e g e l u n g ( § 7 1 a. F . ) , d i e n u r f ü r d i e B e r a t u n g u n d B e s c h l u ß f a s s u n g in d e n A u s s c h ü s s e n eine e n t s p r e c h e n d e G e l t u n g — z u d e m n u r d e r „ G r u n d s ä t z e " — d e r GOBT

vorgesehen

hatte, w o b e i

als R e c h t s g r u n d l a g e d a s

Hausrecht

angesehen wird;

zur

R e c h t s l a g e u n t e r d e r W e i m a r e r R e i c h s v e r f a s s u n g v g l . R . V O G L E R D i e O r d n u n g s g e w a l t ( F n . 1) S. 4 4 f. 82

RITZEL/BÜCKER H a n d b u c h ( F n . 2 ) § 5 9

81

RITZEL/BÜCKER H a n d b u c h ( F n . 2 ) § 5 9 A n m . l l l b .

Anm.lllb.

«

S. o b e n bei R d n . 4 9 ff.

85

D e r V o r s i t z e n d e e i n e s U n t e r s u c h u n g s a u s s c h u s s e s hat g e g e n ü b e r Z e u g e n u n d S a c h v e r s t ä n d i g e n gem. Art. 44 A b s . 2 S a t z 1 G G

i.V. m. den Vorschriften über den Strafprozeß

zusätzliche

Befugnisse. 86

Vgl. H . T R O S S M A N N / H . - A . ROLL Parlamentsrecht (Fn. 26) § 5 9 R d n . 3 . 1 . 1 und 3.1.3.

87

H . T R O S S M A N N / H . - A . R O L L P a r l a m e n t s r e c h t ( F n . 2 6 ) § 5 9 R d n . 5.

§35 Das Stenographische Protokoll FRIEDRICH-LUDWIG

KLEIN

I. Geschichtlicher Rückblick Mit dem Aufkommen des Parlamentarismus in Deutschland in der ersten Hälfte 1 des 19. Jahrhunderts entstand das Bedürfnis, den Inhalt der Verhandlungen der Geschichte Volksvertretungen durch Aufzeichnung und Wiedergabe für die Gegenwart und die Zukunft festzuhalten und ihm so die gewünschte Publizität zu verschaffen. Großbritannien und — nach der Französischen Revolution — auch Frankreich waren hier vorangegangen: In diesen Ländern wurden schon im 17. und im 18. Jahrhundert für die Anwendung im Parlament geeignete — „geometrische" —! Stenographiesysteme entwickelt und zur wörtlichen Fixierung der Parlamentsde^ batten eingesetzt. Nach einer Reihe im Ergebnis erfolgloser Versuche, diese ausländischen Systeme für die deutsche Sprache zu adaptieren, schuf der Münchner K a n z l i s t FRANZ XAVER GABELSBERGER ( 1 7 8 9 - 1 8 4 9 ) A n f a n g des 19. J a h r h u n d e r t s

seine „Redezeichenkunst", ein erstmals „kursives" Kurzschriftsystem, und legte damit die entscheidende graphische Grundlage für die Entwicklung weiterer Systeme, u. a. STOLZE und STOLZE-SCHREY. 1924 entstand dann durch eine Kombination insbesondere der Systeme GABELSBERGER und STOLZE-SCHREY die Deut-· sehe Einheitskurzschrift, das heute nahezu ausschließlich gelehrte und von allien deutschen Parlamentsstenographen benutzte Stenographiesystem. , GABELSBERGER erprobte sein System mit Erfolg in der seit 1819 tagenden ersten Ständeversammlung in München, andere deutsche Landtage folgten mit der stenographischen Aufzeichnung ihrer Verhandlungen, und 1848 wurde in der Frankfurter Nationalversammlung unter der Regie des Abgeordneten Professor WiGÀRb, eines Schülers GABELSBERGERS, zum erstenmal ein „Stenographischer Dienst" eingerichtet, der die Aufgabe hatte, den Inhalt der Verhandlungen der Nationalversammlung durch einen Stenographischen Bericht dem Volke zugänglich zu machen 1 . Ebenso wurde in der |Folge im Erfurter Unionsparlament von 1850, im Norddeutschen Reichstag von 1867/70, im Deutschen Reichstag seit 1871 sowie schließlich im Deutschen Bundestag seit 1949 verfahren.

1

F . - L . KLEIN 1 8 4 8 - 1 9 7 3 : 125 J a h r e Stenographischer Bericht im deutschen Zentralparlament, in: N e u e Stenographische Praxis ( N S t P r ) , 1973, S. 2 5 ff.

976

5. Teil: Gliederungen, Organe und Verfahren des Bundestages

II. Rechtliche Grundlage und rechtliche Qualität des Stenographischen Berichts 2 Rechtliche Grundlage für die Erstellung des Stenographischen Berichts über die Rechtsgrundlage Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages 2 ist § 116 Abs. 1 GOBT 3 : U b e r jede Sitzung wird ein Stenographischer Bericht (Plenarprotokoll) angefertigt.

Diese Vorschrift schließt sich insofern an Artikel 42 Abs. 1 Satz 1 G G — „Der Bundestag verhandelt öffentlich" — an, als durch den Stenographischen Bericht die Publizität der Verhandlungen des Bundestages über den Kreis der während der Sitzung Anwesenden hinaus für eine praktisch unbegrenzte Öffentlichkeit ermöglicht wird: Er kann über einen Verlag käuflich erworben werden, so daß jeder Bürger sich zumindest nachträglich anhand des authentischen Stenographischen Berichts genau über den Sitzungsinhalt informieren kann4. Die in Klammern beigefügte Kurzbezeichnung „Plenarprotokoll", die in den weiteren Vorschriften der Geschäftsordnung durchgehend verwendet wird, fand 1980 Aufnahme in die Geschäftsordnung, nachdem einige Landtage hiermit vorangegangen waren. Sie begegnet gewissen Bedenken, weil durch sie einmal nicht zum Ausdruck kommt, daß es sich um einen auf stenographischer Niederschrift beruhenden wörtlichen Bericht und nicht um ein mehr oder weniger ausführliches Inhalts- oder Beschlußprotokoll handelt, und weil sie zudem eine Verwechslung mit dem in § 120 G O B T geregelten „Amtlichen Protokoll" nahelegt. Um diesem Irrtum vorzubeugen, erscheint auf der Titelseite jedes Sitzungsberichts weiterhin auch die Bezeichnung „Stenographischer Bericht". 3 Gelegentlich wird die Frage aufgeworfen, ob durch den Stenographischen Beurkundung der Bericht der Verhandlungsinhalt „beurkundet" werde, ob mithin der Bericht eine Verhandlungen öffentliche Urkunde sei. Für diese Auffassung spricht zunächst formal, daß die Vorschriften über den Stenographischen Bericht in der Geschäftsordnung in den Abschnitt „Beurkundung und Vollzug der Beschlüsse des Bundestages" aufgenommen worden sind. Die Tatsache, daß es neben dem Stenographischen Bericht das Amtliche Protokoll gibt, welches (nur) die Beschlüsse beurkundet, steht der Ansicht, daß auch der Stenographische Bericht als amtliche Urkunde anzusehen ist, nicht entgegen: Dem Erfordernis der gesetzlichen Grundlage dürfte durch die Regelung des Stenographischen Berichts in der Geschäftsordnung Genüge getan sein. Auch kann aus dem Fehlen einer Unterschrift unter dem Stenographischen Bericht nicht geschlossen werden, daß es sich bei ihm nicht um eine Urkunde handle; denn eine öffentliche Urkunde bedarf im Gegensatz zur Privaturkunde keiner Unterschrift 5 . Außerdem hat jeder Redner das Recht, die vom Stenographischen Dienst erarbeitete Fassung seiner Ausführungen vor der Drucklegung 2

3

4

5

In den Sitzungen der Bundestagsausschüsse wird nur zum Teil ein stenographisches Protokoll angefertigt. Zur Entwicklung der Geschäftsordnungsbestimmungen über die stenographische Berichterstattung s. K . GUTZLER Geschäftsordnungen und stenographische Berichterstattung, in N S t P r , 1957, S. 37 ff und 69 ff. Zur Publizität der Parlamentsverhandlungen s. K. PESCHEL Die Publizität der Verhandlungen des Bundestags, in NStPr, 1955, S. 1 ff. So GUTZLER Geschäftsordnungen und stenographische Berichterstattung (Fn. 2) S. 44.

§ 35

D a s Stenographische Protokoll (KLEIN)

977

durchzusehen, und er billigt diese Fassung durch seine Unterschrift (!) auf einem Begleitzettel, falls er nicht ausdrücklich auf die Wahrnehmung seines Korrekturrechts verzichtet und so den Wortlaut seiner Rede „ungesehen" billigt. Daher erscheint die Ansicht, daß durch den Stenographischen Bericht eine amtliche Beurkundung der Verhandlungen des Parlaments erfolgt, richtig6. Auf die rein theoretische Möglichkeit, daß Amtliches Protokoll und Stenographischer Bericht hinsichtlich der Wiedergabe der Beschlüsse voneinander abweichen, so daß die Frage aufkommen könnte, welches der beiden Protokolle „höherrangig" sei, braucht hier nicht eingegangen zu werden. Ohnehin arbeiten in Fällen der Unklarheit der Verfasser des Amtlichen Protokolls und der Stenographische Dienst zusammen, so daß es hier nicht zu Divergenzen kommen kann.

III. Inhalt und Herstellung des Stenographischen Berichts Der Stenographische Bericht wird vom Stenographischen Dienst, einer Organisationseinheit der Verwaltung des Deutschen Bundestages in der Abteilung „Parlamentsdienste", erarbeitet und von einer privaten Vertragsdruckerei gedruckt. Er gibt authentisch den Gesamtablauf der Plenarsitzung wieder. Für seinen Inhalt ist in der Bundestagsverwaltung nur der Stenographische Dienst verantwortlich. Außer ihm hat lediglich der (amtierende) Präsident ein Recht zur Einflußnahme (s. unten III 2, Rdn. 15). 1. Inhalt Darüber, was der Stenographische Bericht im einzelnen zu enthalten hat, ist der Geschäftsordnung nichts zu entnehmen. Vielmehr heißt es ganz lapidar, daß „über jede Sitzung" „ein Stenographischer Bericht . . . angefertigt" wird. Das Adjektiv „Stenographischer" macht jedoch deutlich, daß es sich um einen wörtlichen Bericht handelt, der auf der Grundlage der stenographischen Niederschrift hergestellt wird. Mittelbar ist aus § 119 G O B T zu schließen, daß außer den Ausführungen der Redner auch Zwischenrufe Bestandteil des Berichts sind. In der Praxis werden in den Textteil des Stenographischen Berichts in „Normaldruck" aufgenommen: — der Wortlaut der Tagesordnungspunkte, — der Wortlaut aller Reden, Erklärungen, Zwischenfragen, Zusatzfragen während der Fragestunde, Antworten der Regierung in der Fragestunde sowie der geschäftsleitenden und sonstigen Bemerkungen des amtierenden Präsidenten, also der Wortlaut alles dessen, was während der Sitzung gesprochen wird, — der Wortlaut der von den Stenographen verstandenen verhandlungsrelevanten Zwischenrufe, möglichst unter Angabe des Namens des Zwischenrufers bzw. der Zwischenruferin und der Fraktion, 6

S o auch K o m m e n t a r zum Bonner G r u n d g e s e t z (Bonner K o m m e n t a r ) , Art. 42 112; anderer Ansicht H . TROSSMANN/H.-A. ROLL Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, 1981, §116 Rdn. 1.

4 Inhalt

5 Textteil

978

5. T e i l : Gliederungen, O r g a n e und Verfahren des Bundestages

— Bekundungen des Beifalls, der Zustimmung, des Widerspruchs, der Heiterkeit usw., die in Klammern als „Regiebemerkungen" eingerückt in den Berichtstext eingefügt werden, — zum Verständnis des Gesamtgeschehens erforderliche Angaben über nur visuell wahrnehmbare Vorfälle (ζ. B. „Die Fraktion der SPD verläßt den Saal", „Der Redner entfaltet ein Plakat"). Zum Zeichen dafür, daß es sich nicht um gesprochenen Text handelt, werden in „Kleindruck" in den Textteil des Stenographischen Berichts eingefügt: — vom amtierenden Präsidenten nicht im einzelnen verlesene amtliche Mitteilungen, z . B . Listen von Zusatztagesordnungspunkten, auf die die Fraktionen sich verständigt haben, — der Wortlaut der Fragen zur mündlichen Beantwortung in der Fragestunde, der allen Abgeordneten gedruckt vorliegt, — bei namentlichen Abstimmungen, die das Abstimmungsverhalten der einzelnen Abgeordneten ausweisenden Namenslisten. 6 Anlagi n

Als Anlagen werden dem Stenographischen Bericht angefügt:

— die Liste der entschuldigten Abgeordneten, — die schriftlichen Antworten auf Fragen zur mündlichen Beantwortung in der Fragestunde, die wegen Ablaufs der für die Fragestunde angesetzten Zeit nicht mehr mündlich beantwortet werden können, soweit der Fragesteller sie nicht zurückzieht, sowie die Antworten auf Fragen, für die der Fragesteller ausdrücklich um schriftliche Beantwortung gebeten hat, — schriftliche Erklärungen zur Abstimmung (§31 Abs. 1 G O B T ) . Vereinzelt ist in den letzten Jahren auch in Abweichung von der Geschäftsordnung auf Beschluß des Hauses der Text schriftlich vorbereiteter Ausführungen als Anlage in den Stenographischen Bericht aufgenommen worden, wenn diese aus Mangel an Zeit nicht mehr mündlich haben vorgetragen werden können. Diese Praxis begegnet erheblichen Bedenken. Sie „privilegiert" Redner, die ihre geplanten Darlegungen vorher im Wortlaut niedergeschrieben haben, gegenüber denjenigen, die in Befolgung des § 33 Satz 1 G O B T „in freiem Vortrag" sprechen wollen und deswegen kein Manuskript zu Protokoll geben können. Außerdem bleiben diese schriftlichen Ausführungen ohne Echo. Sie können unter Umständen beleidigende oder unparlamentarische Wendungen enthalten, die, wären sie mündlich vorgetragen worden, Widerspruch hervorgerufen hätten oder vom Präsidenten hätten gerügt werden müssen. Auch könnte durch diese „schriftlichen Reden" die den Rednern zugemessene Redezeit weit überschritten werden, ohne daß der Präsident die Möglichkeit hätte, „das Wort zu entziehen". Und schließlich würde durch ein solches Verfahren, wenn es Schule machte, das Parlament (parlare = sprechen) ad absurdum geführt. 7 Dem Stenographischen Bericht wird ein Inhaltsverzeichnis vorangestellt, in Inhaltsverzeichnis dem die behandelten Tagesordnungspunkte sowie unter Angabe der Seitenzahl im Bericht die Redner namentlich aufgeführt werden, die zu ihnen gesprochen haben. Bei Fragestunden werden kurzgefaßte Angaben des Inhalts der Fragen, sogenannte abstracts, sowie die Namen der Fragesteller und der antwortenden Regierungsmitglieder angegeben. Hat eine namentliche Abstimmung stattgefun-

§ 35

Das Stenographische Protokoll (KLEIN)

979

den, so wird im Inhaltsverzeichnis vermerkt, wo das Ergebnis zu finden ist. Auch die Begrüßung ausländischer Gäste, die vom Präsidenten namens des Hauses ausgesprochenen Glückwünsche zu Geburtstagen, Nachrufe, Bezeugungen der Anteilnahme am Schicksal der Opfer von Katastrophen u. ä. sowie schließlich die Bezeichnung der Anlagen finden Aufnahme in das Inhaltsverzeichnis. Für die Sammelbände der Stenographischen Berichte werden jeweils gesonderte Inhaltsverzeichnisse nach einem bestimmten Ordnungsschema angefertigt. Die gelegentlich erforderliche nachträgliche Berichtigung offensichtlicher gravierender Druckfehler in früheren Berichten wird zwischen Sitzungstext und Anlagen abgedruckt. 2. Herstellung Während der Plenarsitzung nehmen 12 bis 14 „Turnusstenographen" 7 , die sich, um eine rasche Fertigstellung des Berichts zu erreichen, alle fünf Minuten ablösen, den gesamten Verhandlungsabiauf stenographisch 8 auf und diktieren in der Zeit bis zu ihrem erneuten Fünfminuteneinsatz ihren Aufnahmeabschnitt („Turnus") jeweils unmittelbar anschließend einer Maschinenschreiberin in die Maschine. Durch diesen ständigen Wechsel von Aufnahme und Diktat wird erreicht, daß jede Rede bereits etwa eine Stunde nach ihrem Ende maschinengeschrieben vorliegt. Während des Diktats bringen die Turnusstenographen redaktionelle Korrekturen am Wortlaut der Reden an, die sich bei der Umsetzung des gesprochenen Wortes in die lesbare gedruckte Form als notwendig erweisen. Das Recht bzw. die Pflicht der Stenographen, diese sprachliche Bearbeitung vorzunehmen, ist in allen Parlamenten der Welt anerkannt. Diese sprachliche Bearbeitung ist das notwendige Korrektiv, das die freie Rede in gewisser Weise erst möglich macht: Der Redner braucht nicht zu befürchten, daß seine in freier Rede bisweilen nicht formvollendeten Sätze in ihrer Urfassung in den Stenographischen Bericht gelangen. E r kann im Vertrauen auf die sprachliche Glättung durch den Stenographischen Dienst seinen Gedanken „spontan" Ausdruck verleihen. Die Stenographen üben mit ihrer Redaktionstätigkeit, bei der sie gehalten sind, sich so eng wie möglich an die Worte des Redners zu halten und Stil und Duktus der Rede nur in dem wirklich erforderlichen Umfang zu ändern, das den Rednern nach § 1 1 7 G O B T zustehende Korrekturrecht in deren Interesse vorweg aus. Selbstverständlich gelten für sie hierbei die gleichen Grenzen, die nach § 1 1 8 G O B T auch für die Redner selbst gezogen sind: Der Sinn der Rede oder ihrer einzelnen Teile darf nicht geändert werden. Im wesentlichen handelt es sich um notwendige grammatikalische und syntaktische Begradigungen, um die Berichtigung offensichtlicher Lapsus linguae, soweit sie ohne Reaktion bleiben, und zuweilen um Umstellungen innerhalb der Sätze, die geboten sind, damit der in der freien Rede durch besondere Betonung erkennbare Sinn auch in der gedruckten

7

8

Die Stenographen des Deutschen Bundestages sind Beamte des höheren Dienstes mit Universitätsabschluß. Zur Kontrolle werden auch Tonbandaufzeichnungen angefertigt, die jedoch in aller Regel nur den Wortlaut dessen wiedergeben, was der Redner ins M i k r o p h o n spricht, nicht jedoch Zwischenrufe und sonstige Reaktionen aus dem Saal.

8 Verfahren der P rot °k°llierung, ^

9 Redaktionstätigkeit

980

5. Teil: Gliederungen, Organe und Verfahren des Bundestages

Version zum Ausdruck kommt. In Einzelfällen kommt es jedoch auch vor, daß einem Redner die Darlegung eines Gedankens so unvollkommen gelingt, daß es erheblicher „hermeneutischer" Bemühungen des Stenographen bedarf, ehe dieser den Sinn der Rede erfaßt hat, um ihn dann verständlich formulieren zu können9. 10 Zwischenrufe werden, soweit sie verstanden werden und für den Ablauf der Zwischenrufe Debatte von Belang oder kennzeichnend sind, in den Stenographischen Bericht aufgenommen, insbesondere natürlich dann, wenn der Redner auf sie eingeht. In Deutschland hat die Aufnahme von Zwischenrufen in den Stenographischen Bericht eine lange Tradition. Zwischenrufe gelten hier als Bestandteil der Verhandlung, zumal dann, wenn sie dem Fortgang der Debatte und der Klarstellung mißverständlicher Formulierungen in den Ausführungen der Redner dienen. Die Aufnahme auch zahlreicher Zwischenrufe in den Sitzungsbericht erscheint aber oft auch deshalb gerechtfertigt oder sogar nötig, um die während der Debatte herrschende „politische Atmosphäre" sichtbar werden zu lassen. In bestimmten politischen Situationen wäre der Stenographische Bericht ohne die Zwischenrufe nicht als vollständig zu werten' 0 . Auch dürfte es im wohlverstandenen Interesse vieler Abgeordneter, die durch sachliche Zwischenrufe die Diskussion beleben, liegen, daß ihre Einwürfe — die sie möglicherweise nicht als Redner vorbringen können, da sie als solche nicht das Wort erhalten — Eingang in den Stenographischen Bericht finden. Den Zwischenrufen ist in der Geschäftsordnung eine eigene Vorschrift gewidmet: §119. Sein Absatz 1 sieht die Möglichkeit vor, einen Zwischenruf, der vom Stenographischen Dienst in die Niederschrift, d. h. in die maschinenschriftliche Übertragung der stenographischen Aufzeichnung, aufgenommen worden ist, „mit Zustimmung des" (amtierenden) „Präsidenten und der Beteiligten" zu streichen, so daß er im gedruckten Bericht nicht erscheint. Hier ist vor allem an beleidigende Zurufe zu denken, die in kontroversen Debatten mitunter „in der Hitze des Gefechts" gemacht und nachträglich bedauert und „zurückgenommen" werden. Soweit sich aus ihnen im Verlauf der Sitzung keine Weiterungen ergeben, wird in solchen Fällen dem Wunsche des Zwischenrufers Rechnung getragen. Nach Absatz 2 der gleichen Vorschrift kann der Präsident einen Zwischenruf, der ihm entgangen ist, auch noch in der nächsten Sitzung rügen. Dies kommt in der Praxis vornehmlich dann in Betracht, wenn ein entsprechender Zwischenruf kurz vor Schluß der Sitzung gefallen ist. Normalerweise werden Zwischenrufe, die nach der Praxis des Bundestages einen Ordnungsruf oder eine sonstige Reaktion des Präsidenten nach sich ziehen, noch während der Sitzung gerügt, nachdem sie dem 9

10

Zur Problematik der Redaktionstätigkeit s. P. ROSTOCK Die redaktionelle Bearbeitung von Parlamentsreden in den Stenographischen Diensten, in NStPr, 1980, S. 66 ff; 1981, S. 1 ff und 57 ff; ferner W.-D. KIRST Hermeneutik der Rede und Stenographischer Bericht, in NStPr, 1973, S. 68 ff. In Großbritannien gilt dagegen der Grundsatz, daß nur der Redner „das Wort hat". Daher wird in den Official Report des Unterhauses bei Zwischenrufen lediglich in Klammern das lapidare Wort „Interruptions" eingefügt. S. dazu auch F.-L. KLEIN Das Plenarprotokoll, in H . - A . ROLL (Hrsg.) Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages, Festgabe für Werner Blischke, 1982, S.240.

§ 35

D a s S t e n o g r a p h i s c h e P r o t o k o l l (KLEIN)

981

Präsidenten vom Stenographischen Dienst — weisungsgemäß — mitgeteilt worden sind. Parallel zu den Turnusstenographen nehmen sechs „Revisoren" — Stenographen mit mehr als 25jähriger dienstlicher Erfahrung — in halbstündlichem Wechsel ebenfalls den Sitzungsverlauf stenographisch auf. Sämtliche Ausführungen werden also gleichzeitig durch zwei Stenographen aufgezeichnet. Dadurch wird die Beweiskraft der stenographischen Niederschrift „verdoppelt". Die Revisoren unterstützen die Turnusstenographen bei ihrer Arbeit und prüfen die von diesen erarbeiteten Übertragungen anschließend auf Richtigkeit, Vollständigkeit und Korrektheit der redaktionellen Bearbeitung. Sie sorgen außerdem für die „Kohärenz" des Gesamtberichts. Dazu sind sie durch ihre längere Anwesenheit im Plenarsaal besser in der Lage als der Turnusstenograph, der jeweils nur fünf Minuten aufnimmt. Nach der Bearbeitung durch den Revisor erhalten die Redner, sofern sie nicht auf die Ausübung dieses Rechts verzichten — was in vielen Fällen im Vertrauen auf die Zuverlässigkeit des Stenographischen Dienstes geschieht —, die Niederschrift ihrer Ausführungen zur Prüfung gemäß § 117 G O B T . Ihnen steht für die Durchsicht eine Frist von zwei Stunden zur Verfügung. Diese Frist wurde 1980 expressis verbis in der Geschäftsordnung verankert — sie galt bis dahin aufgrund einer entsprechenden Anweisung des Präsidenten —, um ihr einen besonderen Nachdruck zu verleihen. Ihre Einhaltung ist nämlich Voraussetzung für eine kontinuierliche Fertigstellung des Berichts in der vorgegebenen Zeit. Gibt ein Redner die Niederschrift seiner Ausführungen nicht fristgerecht zurück, so geht sie in der vom Stenographischen Dienst erarbeiteten Fassung in Druck. Ihre Billigung durch den Redner wird in diesem Fall unterstellt. Selbstverständlich gilt die ZweistundenKorrekturfrist für alle Redner in gleicher Weise, also auch für Mitglieder der Bundesregierung und des Bundesrates".

11 Revisoren

12 Rednerkorrektur

Die Frage, ob den Rednern überhaupt gestattet werden solle, an ihren Ausführungen vor der Durcklegung etwas zu ändern, wird, nachdem sie anfangs vereinzelt, zum Teil mit Verve, verneint worden war — „Das W o r t sie sollen lassen stahn" —, inzwischen allgemein bejaht. Jeder Redner muß das Recht haben, in das, was ihm später unter Berufung auf den gedruckten Stenographischen Bericht zugeschrieben wird, zuvor Einblick zu nehmen. Die Bestimmung der Geschäftsordnung, daß durch eine Korrektur Sinn und 13 Inhalt der Rede oder ihrer einzelnen Teile nicht geändert werden dürfen, hat den G r e n z e n des Charakter einer Generalklausel. Versuche, die Grenzen des Korrekturrechts exak- K o r r e k t u r r e c h t s ter, vielleicht sogar kasuistisch zu präzisieren, scheitern zwangsläufig, weil sie nie allen Eventualitäten gerecht werden können. Eine solche Präzisierung wäre auch kaum wünschenswert, weil sie einerseits den Redner ständig in Zweifel über die Zulässigkeit seiner Änderungswünsche versetzen und andererseits auch die Arbeit des Stenographischen Dienstes über Gebühr einengen würde. Im Interesse der Authentizität und Glaubwürdigkeit des Stenographischen Berichts sollte die in der Geschäftsordnung statuierte Generalklausel jedoch tunlichst restriktiv ausgelegt werden. "

So a u c h ] . B Ü C K E R H a n d b u c h für die Parlamentarische Praxis, 1 9 8 7 , § 1 1 7 , A n m . 2 b .

982

5. Teil: Gliederungen, O r g a n e und Verfahren des Bundestages

Als zulässig sind zunächst rein stilistische Änderungen anzusehen, etwa das Streichen eindeutig überflüssiger Füllwörter oder Wiederholungen, durch die das Gewollte besser, vor allem klarer zum Ausdruck kommt. Es fragt sich jedoch, ob das Recht zu derartigen stilistischen Verbesserungen im Extremfall dazu führen darf, daß nahezu jeder Satz einer Rede umformuliert wird unter Berufung darauf, daß ja Sinn und Inhalt dadurch nicht geändert würden. Hier schlägt unter Umständen Quantität in Qualität um: Die gedruckte Rede wäre bei Akzeptierung so zahlreicher stilistischer Korrekturen eine völlig andere als die tatsächlich gehaltene. Schon diese Erwägung zeigt, wie fließend die Grenzen des Rechts sind, das die Geschäftsordnung den Rednern zuerkennt. Erlaubt sind auch im Interesse der Klarstellung gebotene sprachliche Umstellungen, ferner die Berichtigung versehentlich falscher Zahlenangaben, wenn die irrtümlich falsche Angabe nicht anschließend von Zwischenrufern oder späteren Rednern aufgegriffen worden ist. Eine Berichtigung verbietet sich in solchen Fällen aber etwa auch, wenn es sich um eine politisch sehr „brisante" Äußerung handelt, bei der mit einem Rekurs in späteren Debatten oder in den Medien zu rechnen ist. Das gleiche gilt für die Richtigstellung von Zitaten. Als zulässig wird im allgemeinen auch die Einfügung kleiner verdeutlichender Satzteile anzusehen sein, soweit diese Hinzufügungen keine zusätzlichen umstrittenen Argumente oder Gedanken enthalten, welche, wären sie gehört worden, eine Reaktion der Gegenseite ausgelöst hätten. Eindeutig unzulässig ist dagegen eine Korrektur, durch die Zwischenrufe und andere Reaktionen des Auditoriums oder Ausführungen nachfolgender Redner unverständlich würden, die den ursprünglichen Wortlaut zum Anlaß einer Replik genommen haben. Das gleiche gilt für Formulierungen, die zu Ordnungsmaßnahmen des amtierenden Präsidenten geführt haben. Auch das Streichen politisch gravierender Aussagen — von denen anzunehmen ist, daß sie in den Medien aufgegriffen werden — sowie etwa auch als Versprechen aufzufassende Zusagen seitens der Regierung wäre eine nicht zu akzeptierende Verfälschung des Sitzungsberichts. Daß ein Redner Korrekturen nur an seinen eigenen Ausführungen, nicht aber ζ. B. am Wortlaut von Zwischenrufen während seiner Rede — die er bei der Durchsicht mitliest und über die er sich möglicherweise ärgert — anbringen darf, versteht sich von selbst. Auch ein Einfügen oder Ändern von Beifalls- oder Widerspruchsbekundungen oder von „Regiebemerkungen" wie „Heiterkeit" o. ä. liegt nicht in der Kompetenz des Redners, sondern ausschließlich in der des Stenographischen Dienstes, der aufgrund jahrzehntelanger Praxis gewisse — ungeschriebene — Grundsätze für die „Qualifizierung" unterschiedlicher Zustimmungs- oder Mißfallensbezeugungen entwickelt hat: Beifall, lebhafter Beifall, starker Beifall, stürmischer Beifall, langanhaltender Beifall, Zustimmung, Heiterkeit, Lachen, Unruhe usw. 12 .

12

Zur Problematik des Korrekturrechts s. W . KÜHNEL Das Korrekturrecht des Abgeordneten, in N S t P r , 1963, S. 85 ff; 1966, S. 1 ff; ferner G.OSTERMEYER Korrekturen in stenographischen Parlamentsberichten, in N S t P r , 1979, S. 33 ff; 1980, S. 1 ff; s. auch BÜCKER Handbuch (Fn. 11), §118, Anm. I b .

§35

D a s Stenographische Protokoll (KLEIN)

983

§117 Abs. 1 Satz 4 G O B T bestimmt, daß Niederschriften von Reden „vor 14 ihrer Prüfung durch den Redner einem anderen als dem Präsidenten nur mit Verbot der ; λvor Zustimmung" des Redners zur Einsicht überlassen werden" dürfen. Während Überlassung κ oHnör/lurpni langer Debatten treten häufig einzelne Abgeordnete oder auch Minister mit der Bitte an den Stenographischen Dienst heran, die Ausführungen eines Redners einsehen zu dürfen, weil sie auf diese antworten wollen. Auch Pressevertreter erbitten sich unter Hinweis auf den Redaktionsschluß ihrer Zeitung nicht selten Kopien der Niederschrift. Der Stenographische Dienst macht die Herausgabe unkorrigierter Niederschriften stets von der — nach Möglichkeit schriftlichen — Zustimmung des Redners abhängig. Dem amtierenden Präsidenten hingegen werden unkorrigierte Teile der Niederschrift auf Anforderung unverzüglich zugestellt. Das geschieht vor allem häufig, wenn es um die Klärung der Frage geht, ob wegen einer bestimmten Äußerung eine Ordnungsmaßnahme — Rüge, Ordnungsruf — angezeigt ist. Nach Rückgabe der von den Rednern durchgesehenen Niederschrift an den Stenographischen Dienst werden die von diesen erbetenen Korrekturen von den Revisoren auf ihre Zulässigkeit geprüft. Ergeben sich hier Zweifel, so versucht zunächst der Leiter des Stenographischen Dienstes, mit dem Redner eine Verständigung zu erzielen (§118 Abs. 1 Satz 2 GOBT). In der Praxis wird diese Verständigung fast immer erreicht: Entweder zieht der Redner seinen Änderungswunsch ganz zurück oder er akzeptiert eine vom Stenographischen Dienst vorgeschlagene, noch als zulässig erachtete Alternative. In den äußerst seltenen Fällen, in denen eine solche Verständigung nicht zustande kommt, muß die Entscheidung des amtierenden Präsidenten eingeholt werden13. Die Revisoren bereiten bei der zweiten Durchsicht ihre Aufnahmeabschnitte außerdem abschließend für den Druck vor, d. h. sie fügen alle für das Layout erforderlichen Anweisungen für die Setzer, z.B. die Fettung von Stichworten zur Erhöhung der Übersichtlichkeit des Berichts, in die Niederschrift ein und erteilen durch ihre Paraphe das Imprimatur. Vor der Weiterleitung der Niederschrift an die Druckerei — sie erfolgt, beginnend etwa vier Stunden nach Sitzungsbeginn, fortlaufend stündlich — sieht der Leiter des Stenographischen Dienstes, der die letzte Verantwortung für den Inhalt des Stenographischen Berichts trägt, jede Seite abschließend durch. Für die Erstellung des Inhaltsverzeichnisses und die drucktechnische Aufbereitung der Anlagen sind besondere Kräfte des Stenographischen Dienstes zuständig, die dabei eng mit dem Leiter des Dienstes zusammenarbeiten. Die Druckerei ist vertraglich gehalten, an Plenarsitzungstagen die für den Druck des Stenographischen Berichts erforderlichen Maschinen und das nötige Personal vorzuhalten und den Bericht zu den vereinbarten Zeiten auszuliefern. Der gedruckte Stenographische Bericht über die Plenarsitzung liegt in jedem Fall — auch bei ganztägigen Sitzungen, die bis in den späten Abend andauern 13

Daß nach § 9 Abs. 2 G O B T die Schriftführer u. a. die Aufgabe haben, „die Korrekturen der Plenarprotokolle zu überwachen", ist ein obsoletes Relikt aus den Anfängen der stenographischen Berichterstattung. Die Schriftführer des Bundestages haben diese Aufgabe nie wahrgenommen. Daher sollten diese Worte in der genannten Bestimmung gestrichen werden.

Rednerdurchsicht

15 Zweite Revision — kt

16 Druckvorbereitung

17

Schlußdurchsicht durch den Leiter

18 Druck

984

5. Teil: Gliederungen, Organe und Verfahren des Bundestages

können — in Vorausexemplaren am Morgen und in fertig gehefteter Form am Mittag des auf die Sitzung folgenden Tages vor.

IV. Bedeutung des Stenographischen Berichts 19 Die durch die so erreichte rasche Fertigstellung gewährleistete Aktualität verschafft

Mannigfache Bedeutung des Stenographischen Berichts

dem Stenographischen Bericht eine mannigfache Bedeutung: — Er sorgt für die größtmögliche Publizität der Parlamentsverhandlungen 14 . — Er dient dem Parlament selbst als wichtiges Material für die weitere Arbeit: In nahezu jeder Sitzung werden anhand des Stenographischen Berichts Ausführungen in früheren Debatten zitiert, und die Plenarberichte bilden oft die Grundlage für die Ausschußarbeit. — Für die Exekutive in Bund, Ländern und Gemeinden ist der Stenographische Bericht unentbehrlich bei der Vorbereitung und Durchführung von Verwaltungsmaßnahmen. — Die Justiz zieht den Stenographischen Bericht für die Ermittlung des Willens des Gesetzgebers bei der Gesetzesauslegung heran. — Parteien, Gewerkschaften, Verbände und Organisationen der unterschiedlichsten Art, Auslandsvertretungen, Universitäten und wissenschaftliche Institutionen, Presse, Rundfunk und Fernsehen sind für ihre Arbeit dringend auf den Stenographischen Bericht angewiesen. — Last not least bietet der Stenographische Bericht für die Geschichtsschreibung ein durch nichts zu ersetzendes Quellenmaterial.

14

Die Stenographischen Berichte werden gemäß § 1 1 6 Abs. 2 G O B T an die Mitglieder des Bundestages verteilt. Darüber hinaus werden sie kostenlos an zahlreiche Empfänger innerhalb und außerhalb des Parlaments versandt, so u. a. an alle obersten Bundes- und Landesbehörden, die Länderparlamente, alle Bundesgerichte sowie zahlreiche Landesgerichte, alle Universitäten, zahlreiche Bibliotheken, die in Bonn akkreditierte Presse, Auslandsvertretungen.

Sechster Teil

Der Bundestag als Forum und zentraler Ort der politischen Willensbildung Übersicht I. Das

Plenum

§ 3 6 Parlamentsöffentlichkeit: T r a n s p a r e n z u n d Artikulation (LEO

KISSLER)

Vorbemerkung I. D a s Plenum im Prozeß politischer Kommunikation: Begriff und Funktionen von Öffentlichkeit, Vermittlung und Repräsentation . . 1. Der Bundestag als Offentlichkeitsorgan: Dimensionen parlamentarisch-politischer Kommunikation a) Politischer Vermittlungsprozeß und parlamentarische Publizität b) Demokratisches Repräsentationsprinzip und gesellschaftliches Publikum c) Parlamentarische Öffentlichkeit und politische Kommunikation 2. Der Bundestag als Organ für Öffentlichkeit: Funktionen parlamentarisch-politischer K o m munikation a) Politische Sozialisation (Bildungsfunktion) b) Demokratische Beteiligung (Partizipationsfunktion) . . . c) Rationalisierung von Herrschaft (Legitimationsfunktion) 3. Der Bundestag als Organ der Öffentlichkeit: die Akteure parlamentarisch-politischer K o m munikation

993

993

993

993

995

995

996 996 996

997

998

a) Der Abgeordnete: das Freie Mandat und seine Bedeutung für die Repräsentationsöffentlichkeit b) Die Opposition: die parlamentarischen Minderheitenrechte und ihre Bedeutung für die Kontrollöffentlichkeit c) Die Massenmedien: die Rundfunk- und Pressefreiheit und ihre Bedeutung für die Verhandlungsöffentlichkeit des Deutschen Bundestages II. Das Plenum — ein O r t politischer Kommunikation? Institutionelle Grundlagen und empirischer Befund 1. Die Verhandlungsöffentlichkeit a) Sitzungsöffentlichkeit b) Die Parlamentsberichterstattung c) Die Ausschußöffentlichkeit 2. Die Kontrollöffentlichkeit . . . . a) Die Große Anfrage (§§ 100 ff G O B T ) b) Die Kleine Anfrage (§§104 ff G O B T ) c) Die Fragestunde (§ 105 u. Ani. 4 G O B T ) d) Die Aktuelle Stunde (§106 u. Ani. 5 G O B T ) 3. Die Repräsentationsöffentlichkeit a) „Parlieren" und Debattenordnung

998

999

999

1001 1001 1001 1003 1005 1006 1007 1008 1008 1009 1011 1011

986

6. Teil: D e r Bundestag als Forum und zentraler O r t der politischen Willensbildung

b) Parlamentarische Herrschaftsstruktur und Debattenstil c) Sozialprofil des Bundestages und Themenstruktur der Debatte III. Das Plenum — Quelle für Reformöffentlichkeit? Parlamentarischpolitische Kommunikation und Parlamentsreform

1011

1013

1. Parlamentarische Öffentlichkeit als Reformgegenstand 1015 2. Parlamentarische Öffentlichkeit als Reformbedingung 1017 3. Reformalternativen: der Bundestag — elektronisches oder öffentliches Parlament? 1018

1015

II. Die Fraktionen § 37 Politische Bedeutung, Rechtsstellung und Verfahren der Bundestagsfraktionen

8. Entwicklung in den Ländern . . . 1034 9. Handhabung im Europäischen Parlament 1035

(JÜRGEN JEKEWITZ)

I. Einleitung

1021

II. Begriff „Fraktion"

1021

III. Historische Entwicklung 1022 1. Vorgeschichte in England 1022 2. Entwicklung in Frankreich . . . . 1023 3. Übernahme in Deutschland nach 1815 1025 4. Ausformung in Deutschland seit 1848 bis zum Ende des Kaiserreichs 1028 5. Aufnahme in England und Frankreich 1031 6. Institutionalisierung in Weimar und vorläufige Geschäftsordnung des Bundestages 1032 7. Regelung im Deutschen Bundestag 1032

IV. Existenz und Wirkungsweise 1. Keine Gründungsfreiheit 2. Zusammensetzung 3. Begrenzung der Wirkungsdauer 4. Wirkungsbereiche a) Beteiligung an der Parlamentsarbeit b) Initiativ- und Beteiligungsfunktionen c) Beteiligung an der Parteiarbeit V. Rechtsstellung, Organisation und Verfahren 1. Definitionsversuche 2. Organisation und Finanzierung a) Binnenstruktur b) Finanzmittel c) Personal 3. Fraktionsinterne Verfahren . . . .

1036 1037 1037 1039 1040 1041 1043 1044

1045 1045 1048 1048 1050 1051 1052

III. Die Opposition § 3 8 Verfassungsrechtliche Bedeutung und politische Praxis der parlamentarischen Opposition (HANS-PETER

SCHNEIDER)

Einleitung I. Die Opposition im parlamentarischen System 1. Ursprung und Wandel der parlamentarischen Opposition in Deutschland

1055

1056

1057

2. Die parlamentarische Opposition im Verfassungsgefüge des Grundgesetzes 1062 3. „Opposition" als Rechtsbegriff . 1068 II. Aufgabe und Funktionen der parlamentarischen Opposition 1071 1. Das Machtwechselziel 1071 2. Kritik 1073 3. Kontrolle 1073 4. Alternativenbildung 1074 5. Neue Oppositionsaufgaben im Sozialstaat 1076

6. T e i l : D e r B u n d e s t a g als F o r u m und zentraler O r t der politischen W i l l e n s b i l d u n g

987

2. H a m b u r g

1081

in B u n d und L ä n d e r n

1077

3. S c h l e s w i g - H o l s t e i n

1083

1. D i e O p p o s i t i o n im B u n d e s t a g . .

1079

4. Ü b r i g e B u n d e s l ä n d e r

1085

I I I . D i e Rechtsstellung der O p p o s i t i o n

IV. Die Ausschüsse 1. G e s i c h t s p u n k t e

§ 3 9 Das Ausschußsystem im B u n d e s t a g

zur

Bildung

von A u s s c h ü s s e n

1103

a) A n z a h l und S t ä r k e der A u s -

(WOLFGANG Z E H )

schüsse Einleitung

1087

I. E n t w i c k l u n g

und

Merkmale

1. Ausschüsse

und

1088 seit

Beginn

der

Bundesrepublik 3. Parallelität system

1088

Gesetzgeber-

funktion 2. E n t w i c k l u n g

und

1089

von

Ausschuß1091

I I . A u f g a b e n und R e c h t s g r u n d l a g e n 1093

1. Fachausschüsse

1093 1094 Angele-

genheiten des Parlaments

1097 und

1098

1. Ö f f e n t l i c h k e i t und N i c h t ö f f e n t lichkeit der A u s s c h ü s s e 2. Ö f f e n t l i c h k e i t

durch

1098 Anhö-

rungen 3. T e n d e n z zu F a c h p a r l a m e n t e n . .

1099 1100

4. F a c h d i f f e r e n z i e r u n g und p o l i t i sche Integration

1101

Vorsit-

zenden

1108 1109

a) O r d e n t l i c h e M i t g l i e d e r . . . .

1109

b) Stellvertretende M i t g l i e d e r .

1111

sonderen Funktionen 4. B e g i n n

und

Ende

1112

von

Aus1113

a) D i e K o n s t i t u i e r u n g c) D i e

Auflösung

1113

eines

1114

Aus1114

II. D i e A r b e i t s w e i s e der A u s s c h ü s s e . . a) Ü b e r w e i s u n g von V o r l a g e n b) D a s S e l b s t b e f a s s u n g s r e c h t a) D i e

Aufgaben

.

1118

c) D i e B e r a t u n g im A u s s c h u ß .

1119

d) D i e T e i l n a h m e b e r e c h t i g t e n .

1120

e) D i e B e r i c h t e r s t a t t e r

1121

f) Interessen Vertreter

1123

g) E i n z e l n e P r o b l e m e

1124

h) A n h ö r u n g e n

1125

Zusammenarbeit mitberatenden

mit Aus-

j) B e s c h l u ß e m p f e h l u n g

(PETER DACH)

1127 und

Bericht

I. B i l d u n g und B e s e t z u n g v o n A u s -

3. A u f g a b e n 1103

1116 1116 1116

b) D a s O b l e u t e g e s p r ä c h

schüssen

u n d in der P r a x i s

1114

Vorsit-

zenden

den

n a c h der G e s c h ä f t s o r d n u n g

des

1114 1114

2. D i e E r l e d i g u n g d e r A u f g a b e n . .

i) D i e

§ 4 0 Das Ausschußverfahren

schüssen

1106

des

1. D i e B e f a s s u n g des A u s s c h u s s e s .

Entwick-

lungstendenzen

Auswahl

schusses

4. M i t w i r k u n g s - und B e t e i l i g u n g s -

III. Besonderheiten

auf die F r a k t i o n e n b) D i e

b) W i r k u n g der D i s k o n t i n u i t ä t 1095

gremien

1106

a) D i e V e r t e i l u n g d e r V o r s i t z e

schüssen

2 . Investigative und k o n t r o l l i e r e n 3. Ausschüsse für eigene

vorsitzenden

c) A u s s c h u ß m i t g l i e d e r mit b e -

der Ausschüsse

de Ausschüsse

1105

2. D i e B e s t i m m u n g des A u s s c h u ß -

3. D i e B e s e t z u n g des A u s s c h u s s e s

Regierungsgliede-

rung

Unter-

ausschüsse

der

G r e m i e n s t r u k t u r im B u n d e s t a g . . .

1103

b) S o n d e r a u s s c h ü s s e ,

1128 des A u s s c h u s s e s

weiteren V e r f a h r e n

im 1129

988

6. Teil: D e r Bundestag als Forum und zentraler O r t der politischen Willensbildung

§ 4 1 Vorbereitung und Gestaltung der Ausschußarbeit durch die Fraktionen (MICHAEL

MELZER)

Vorbemerkung I. Grundsatzfragen der Vorbereitung und Gestaltung der Ausschußarbeit durch die Fraktionen 1. Die politische Bedeutung der Ausschußarbeit 2. Die unterschiedlichen Ausgangslagen von Regierungsund Oppositionsfraktionen . . . 3. Das Verhältnis von Fraktion und Regierung in seiner Auswirkung auf die Ausschußarbeit 4. Das Verhältnis von Fraktion und Partei in seiner Auswirkung auf die Ausschußarbeit . . . 5. Die Bedeutung von Koalitionsfragen 6. D e r Einfluß des Bundesrates . . . II. Die Struktur der Fraktionen im Verhältnis zur Ausschußarbeit . . . 1. Die horizontale Struktur der Fraktionen a) Arbeitsgruppen b) Arbeitskreise 2. Die Apparate der Fraktionen . . 3. Die vertikale Struktur der Fraktionen 4. Die Gebundenheit der Ausschußarbeit an die Fraktionsdisziplin III. Mechanismen und Ablauf der Vorbereitung der Ausschußarbeit . . . . 1. Anlaß und Beginn der Vorbereitungsarbeit 2. Die Abfolge der Abstimmungsmechanismen

1131

1131 1131

1132

1133

a) D e r engere Fraktionsvorstand 1138 b) Arbeitsgruppen und Arbeitskreise 1139 c) Fraktionsvorstand und G e samtfraktion 1139 3. Die inhaltliche Zielrichtung und Gebundenheit der Vorbereitungsarbeit 1140 4. Die Rolle des Berichterstatters . 1140 5. Vorbereitung in Arbeitsgruppen und Arbeitskreisen 1141 IV. Die Gestaltung der Ausschußarbeit durch die Fraktion 1142 1. Die Routine der Ausschußarbeit 1142 2. Sondersituationen, der überparteiliche Kompromiß 1143

1133 1134 1135 1135 1135 1135 1136 1136 1136

1137 1138 1138 1138

§ 42 Öffentliche Anhörungen (SUZANNE S. SCHÜTTEMEYER)

I. Vorbemerkung und Fragestellungen II. Hearings Erbe?

(MANFRED WOLFGANG

SCHULTE/ ZEH)

Vorbemerkung I. Einführung 1. Ein Ausschuß für die eigenen Angelegenheiten des Parlaments

1161 1161 1161

ein

1145

amerikanisches 1145

III. Die Entwicklung der Hearings in Recht und Praxis des Deutschen Bundestages

1147

IV. Hearings — ein Mittel zur besseren Erfüllung der Parlamentsfunktionen? 1. Gesetzgebungsfunktion 2. Kontrollfunktion 3. Artikulationsfunktion 4. Öffentlichkeitsfunktion

1153 1153 1155 1157 1158

V . Hearings — eine Zwischenstufe zu mehr Öffentlichkeit?

1159

V. Ausschüsse und Gremien mit besonderen § 43 Der Ausschuß für Wahlprüfung, I m m u n i t ä t und Geschäftsordnung



Funktionen

2. Grundsätzliches zur Arbeitsweise des Ausschusses II. Aufgaben und Besonderheiten des Ausschusses 1. Relative Autonomie des Ausschusses 2. Zur Zusammensetzung des Ausschusses 3. Rückkoppelung zu den Fraktionen

1163 1166 1166 1167 1169

6. Teil: Der Bundestag als Forum und zentraler O r t der politischen Willensbildung III. Aufgaben und Arbeitsweise des Geschäftsordnungsausschusses im einzelnen 1. Auslegung der Geschäftsordnung 2. Generelle Auslegungsentscheidungen und ihre Umsetzung . . . 3. Änderung und Fortentwicklung der Geschäftsordnung 4. Der Geschäftsordnungsausschuß als parlamentsrechtlicher Fachausschuß

§ 4 4 Haushaltsausschuß haltsverfahren (PETER

und

1171 1171 1176 1178

1179

Haus-

989

2. Die Berichterstattergruppe zum Einzelplan 14 3. Die qualifizierten Sperren und Zustimmungsvorbehalte 4. Die allgemeinen Berichtspflichten der Bundesregierung IV. Das Entlastungsverfahren 1. D e r Rechnungsprüfungsausschuß des Haushaltsausschusses 2. Die Bemerkungen des Bundesrechnungshofes und ihre Aktualisierung 3. Die Entscheidungen des Rechnungsprüfungsausschusses im Gang des Entlastungsverfahrens

1207 1208 1209 1210 1211

1212

1213

EICKENBOOM)

Einleitung

1183

I. Die Haushaltsberatungen 1. Die Erste Lesung des Haushaltsentwurfs 2. Überweisung nur an den Haushaltsausschuß 3. Das Berichterstattersystem des Haushaltsausschusses 4. Die Beratung in den Fraktionsarbeitsgruppen 5. Die Beratung im Plenum des Haushaltsausschusses 6. Der Entscheidungsfreiraum des Haushaltsausschusses a) Verfassungsrecht und Verfassungspraxis b) Die Bedeutung der Form der Haushaltspläne für den Entscheidungsfreiraum des Haushaltsausschusses c) Prüfungsvorgaben für den Haushaltsausschuß d) Gebundene Haushalte und Gestaltungshaushalte e) Personalentscheidungen . . . f) Globale Haushaltsentscheidungen g) D e r Finanzplan 7. Die Zweite und Dritte Lesung des Haushaltsentwurfs II. Notbewilligungsrecht tragshaushalt

und

1185 1185 1186 1187 1190 1191 1192 1192

1194 1197 1198 1201 1201 1202 1203

Nach-

III. Haushaltsausschuß und Vollzug des laufenden Haushalts 1. Unterrichtungen des Haushaltsausschusses

1204 1205 1206

V. Die Beratung der Finanzvorlagen . 1. Die Mitberatung 2. Die Beratung nach § 96 G O B T .

1215 1215 1216

VI. Partner des Haushaltsausschusses . 1. D e r Bundesminister der Finanzen 2. D e r Bundesrechnungshof

1217

V I I . Das Selbstverständnis des haltsausschusses

1217 1218

Haus1220

§ 4 5 D e r Petitionsausschuß (WOLFGANG G R A F VITZTHUM / WOLFGANG

MÄRZ)

I. Stellung und Aufgaben des Petitionsausschusses 1. D e r Petitionsausschuß als ständiger Pflichtausschuß 2. Petitionsausschuß und Petitionsrecht 3. Die Volksvertretung als Petitionsadressat 4. Funktionen des parlamentsgerichteten Petitionsrechts II. Die parlamentarische Behandlung von Petitionen 1. D e r Gang der parlamentarischen Petitionsbehandlung . . . . 2. Das Petitionsinformationsrecht 3. Die besonderen Rechte nach dem G 45 c-Gesetz 4. Das Petitionsüberweisungsrecht III. Zur Zukunft des parlamentsgerichteten Petitionsrechts

1221 1221 1222 1225 1228

1230 1230 1235 1237 1239

1241

990

6. Teil: D e r Bundestag als F o r u m u n d zentraler O r t der politischen Willensbildung

§ 46 Untersuchungsausschüsse (MEINHARD

SCHRÖDER)

I. Eigenart und A u f g a b e 1. Allgemeine Gesichtspunkte . . . a) Inhalt u n d Zweck des U n tersuchungsrechts b) Ausgestaltung als Minderheitenrecht 2. Typologische Erfassung der Untersuchungsausschüsse 3. Eignung u n d praktische Bedeutung II. Rechtsgrundlagen 1. A r t . 44 G G 2. IPA-Regeln und Geschäftsordnungsrecht 3. Ausschußpraxis und Gerichtsentscheidungen als Verständnisund Entscheidungshilfe III. Verfassungsrechtliche Grenzen und Maßstäbe 1. A n s a t z p u n k t e 2. Einzelheiten a) Das Gewaltenteilungsprinzip b) Bundesstaatlichkeit ! c) Minderheitenschutz d) Schutz der Privatsphäre . . . IV. G r u n d z ü g e des Verfahrens 1. Einsetzung und Zusammensetzung der Untersuchungsausschüsse a) Modalitäten der Einsetzung b) Z u s a m m e n s e t z u n g 2. Beweiserhebung in öffentlicher Verhandlung 3. Beweismittel a) Beiziehung von Akten in amtlichem Gewahrsam . . . . b) Zeugenbeweis c) Beschlagnahme und D u r c h suchung 4. Beendigung des U n t e r s u chungsverfahrens V. Rechtsschutz

1245 1245 1245 1245 1246 1247 1247 1247 1248

1248 1249 1249 1249 1249 1250 1250 1252 1252

1252 1252 1253 1254 1254 1254 1255 1256 1257 1258

VI. R e f o r m b e s t r e b u n g e n

1258

§ 47 Enquete-Kommissionen (WOLFGANG UDO

HOFFMANN-RIEM/

RAMCKE)

I. Geschichtliche Entwicklung

1261

II. Rechtsgrundlagen und Aufgaben . . 1262 1. Rechtsgrundlagen und rechtliche Stellung 1262 2. A u f g a b e n 1263 III. Einsetzung, Z u s a m m e n s e t z u n g und A u f l ö s u n g 1. Einsetzungsverfahren 2. A u f t r a g s b e s t i m m u n g 3. Personelle Z u s a m m e n s e t z u n g . a) Auswahl der Mitglieder . . . b) B e r u f u n g und Entsendung der Mitglieder c) Rechte und Pflichten der Mitglieder 4. Interne Organisation a) Vorsitz b) Sekretariat c) U n t e r k o m m i s s i o n e n d) Fraktionsobleute 5. Finanzierung 6. Beendigung a) E r f ü l l u n g des Auftrags . . . . b) G r u n d s a t z der Diskontinuität c) Möglichkeit der Neueinsetzung IV. Verfahrensregeln 1. E i n b e r u f u n g , Tagesordnung, Verhandlungsleitung, Protokollierung 2. Beschlußfähigkeit, -fassung und -durchführung 3. Öffentlichkeit — NichtÖffentlichkeit 4. Anwesenheitsrecht b z w . -pflicht der Regierung b z w . des Bundesrats 5. Anwesenheit von Nichtmitgliedem 6. Zeitliche Begrenzung V. Informationsbeschaffung und -auswertung 1. Eigener Sachverstand 2. Fraktionsarbeitskreise und Assistenten 3. Wissenschaftlicher Dienst 4. Mitarbeiter der Ministerialbürokratie 5. Amtshilfe 6. A n h ö r u n g e n a) Öffentliche und nichtöffentliche A n h ö r u n g e n b) Schriftliche Stellungnahmen im Vorfeld

1264 1264 1265 1266 1266 1267 1268 1268 1268 1269 1270 1270 1270 1271 1271 1271 1271 1272

1272 1272 1273

1273 1276 1277

1277 1277 1277 1278 1278 1278 1279 1279 1279

6. Teil: D e r Bundestag als F o r u m u n d zentraler O r t der politischen Willensbildung 7. Einschaltung von Forschungsinstituten u. ä 1280 VI. Folgen der Kommissionsarbeit . . . 1. Bericht, Zwischenbericht, Sondervoten 2. Veröffentlichung 3. Behandlung im Parlament . . . . 4. I n f o r m a t i o n der Öffentlichkeit VII. Schwierigkeiten sachverständiger Analyse 1. Maßgeblichkeit politischer Verwendungszusammenhänge . 2. Spannungsreiche Arbeitssituation 3. Disfunktionalität des M e h r heitsprinzips

1280 1280 1280 1281 1281

4. Chancen wechselseitiger K o m munikation 5. Bedeutung des Konsenses/Dissenses mit den jeweiligen politischen S t r ö m u n g e n 6. Fehlen anerkannter Regeln über den U m g a n g mit U n s i cherheit 7. Widerstände gegen die T h e m a tisierung grundlegender Alternativen

991

1285

1286

1286

1287

1282 1283 1284 1284

VIII. Symbolisch-rituelle F u n k t i o n von Enquete-Kommissionen IX. R e f o r m ü b e r l e g u n g e n 1. Reformziele 2. R e f o r m a n s ä t z e

1287 1288 1288 1289

I. Das

Plenum

§36 Parlamentsöffentlichkeit: Transparenz und Artikulation LEO

KISSLER

Vorbemerkung Parlamentsöffentlichkeit bedeutet keine quantité negligéable des modernen Parla- 1 mentarismus, sondern sein Herzstück: die parlamentarisch vermittelte politische Öffentlichkeit politische Kommunikation (vgl. I). Ihr zentraler Ort ist das Plenum.

durch

Kommunikation

Die Bedeutung des Plenums des Deutschen Bundestages für parlamentarische 2 Vermittlung und Repräsentation bemißt sich nach dem Grad parlamentarisch- Öffentlichkeit institutionalisierter Öffentlichkeit in Form von Publizität. Gefragt werden muß Publizität und Publikum aber auch, wen diese erreicht. Öffentlichkeit ist immer Publizität und Publikum. Beide Dimensionen parlamentarischer Öffentlichkeit sind Gegenstand des folgenden Beitrags, jedoch mit unterschiedlicher Gewichtung. Die Darstellung der institutionellen Grundlagen und Praxis parlamentarischer Öffentlichkeit geht exemplarisch vor. Sie beschränkt sich auf die Publizitätsempirie des Bundestagsplenums (vgl. II). Der empirische Befund parlamentarischer Öffentlichkeit entscheidet darüber, ob der Bundestag imstande ist, sich selbst als Gegenstand von Parlamentsreform und als Motor für Parlamentarismusreform wiederzuentdecken (vgl. III).

als

I. Das Plenum im Prozeß politischer Kommunikation: Begriff und Funktionen von Öffentlichkeit, Vermittlung und Repräsentation Das Plenum des Bundestages wird zum Ort von politischer Kommunikation, wenn es mit parlamentarisch-institutionalisierter Publizität die Vermittlung des politischen Prozesses mit einem gesellschaftlichen Publikum herstellen kann und dessen Teilnahme an diesem Prozeß durch Repräsentation sichert. Diese Vermittlungs- und Repräsentationsleistung erbringt der Bundestag als Öffentlichkeitsorgan. 1. Der Bundestag als Öffentlichkeitsorgan: Dimensionen parlamentarisch-politischer Kommunikation a) Politischer Vermittlungsprozeß

und parlamentarische

Publizität-

An der Öffentlichkeitsaufeabe des Bundestages scheiden sich die Geister. Wer .

.

.

.

.

. .

e t ·

3.

T7

. ,



Historische Grundlagen

heute noch darauf insistiert, daß das Parlament „um seiner Vermittlungsfunktion p ar l. Öffentlichkeit

994

6.Teil: Der Bundestag als Forum und zentraler Ort der politischen Willensbildung

wegen (...) nur dort Parlament (ist), wo es öffentlich handelt, in der Regel also nur im Plenum"', setzt sich der Kritik aus, einem klassisch-altliberalen Pariamen tsverständnis aufzusitzen, das immer schon wirklichkeitsfremd war. Denn das „englische Mutterparlament" des 18. Jahrhunderts war ein Geheimparlament, ein nichtöffentliches Kommunikationsmedium „zwischen privilegierten Ständen und Gruppen einerseits und der Krone andererseits" 2 . Und wird das klassische Idealbild des „öffentlichen" Parlaments nicht völlig zum ideologischen Zerrbild angesichts eines Bundestages, dem man nachsagt, „in Bonn bleibt nichts geheim, es sei denn, es geschehe im Parlament" 3 ? Die richtige Antwort erschließt sich dem Blick auf die verfassungsgeschichtlichen Wurzeln des Publizitätsprinzips und seiner Normierung im Rechtsstaats- und Demokratiegebot des Grundgesetzes. 4 Das „Öffentliche soll öffentlich sein" 4 , heißt die frühkonstitutionelle Maxime. Verfassungs- An ihr entzündete sich die Kardinalforderung des aufstrebenden Bürgertums gegen geschichtliche die fürstliche Arkanhaltung nach Publizität staatlichen Handelns. Sie leitete parlaWurzeln mentsgeschichtlich die Geburtsstunde jener politischen Einrichtung ein, die das Publizitätspostulat politisch-praktisch umzusetzen hatte: das öffentliche Parlament. Der historische „Strukturwandel der Öffentlichkeit" 5 verschob die Funktionen des Parlaments im Prozeß politischer Kommunikation (vgl. unten 1.2) und definierte die Rolle seiner Akteure um (vgl. unten 1.3). Gleichwohl hat sich mit ihm die parlamentarische Vermittlungsaufgabe nicht erledigt. Wenn die Staatsgewalt vom Bürger als rechtmäßig angesehen werden, d. h. Grundgesetzliche legitimiert sein soll, so setzt dies Vertrauen voraus. Vertrauen aber entsteht durch Normierung Kommunikation. Diese kommt durch Informationsaustausch zustande. Information aber bedarf der Publizität. Mit der demokratisch gebotenen steht die rechtsstaatlich erforderliche Publizität in einem engen Bedingungsverhältnis. „Die Rationalität der demokratischen Publizität — Zugänglichkeit, Überschaubarkeit, Möglichkeit der Einsichtnahme und Teilhabe — vertieft die rechtsstaatliche Rationalität als eine Sonderform formeller Öffentlichkeit, indem sie nicht nur Uberschaubarkeit, sondern Einsehbarkeit, nicht Einsichtnahme, sondern die Möglichkeit wirklicher Einsicht gewährt" 6 . Rationalitätssicherung als Publizitätsaufgabe erinnert an

1

2 3

4

5

6

TH. ELLWEIN / A. GÖRLITZ Parlament und Verwaltung, Teil I, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1967, S. 242. Vgl. W. STEFF ANI Parlamentarische und präsidentielle Demokratie, Opladen 1979, S. 170. Zit. nach E. ROSE/J. HOFMANN-GÖTTIG Selbstverständnis und politische Wertung der Bundestagsabgeordneten. Ergebnisse repräsentativer Umfragen, in: ZParl. 1/1982, S.62. C . WELCKER A r t .

Ö f f e n t l i c h k e i t , i n : C . v. ROTTEK / C . WELCKER

(Hrsg.)

Das

Staatslexikon,

Bd. 10, 2. Aufl. Altona 1848, S.258. Dazu grundlegend J. HABERMAS Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied und Berlin, 5. Aufl. 1971. A. RINKEN D a s Öffentliche als verfassungstheoretisches Problem, dargestellt am Rechtsstatus der Wohlfahrtsverbände, Berlin 1971, S.276 und S. 287 zur Beschränkung des Publizitätsprinzips. Zur Grenzziehung zwischen demokratisch und rechtsstaatlich gebotener Publizität und obrigkeitsstaatlichem Arkanum vgl. grundlegend R. MARCIC Die Öffentlichkeit als Prinzip der Demokratie, in: Η . EHMKE/C. SCHMIDT/Η. SCHAROUN (Hrsg.) Festschrift für Adolf Arndt zum 65. Geburtstag, Frankfurt a. M. 1969, S. 267ff (S. 287) und zur Verschwiegenheitspflicht des

§36

Parlamentsöffentlichkeit: Transparenz und Artikulation (KISSLER)

995

das aufklärerische Erbe parlamentarischer Öffentlichkeit: Überwindung von voluntas durch ratio. Es konkretisiert sich im Vermittlungsprozeß auf der Grundlage parlamentarisch-institutionalisierter Publizität auf der einen und in der Repräsentationsaufgabe des Parlaments gegenüber einem gesellschaftlichen Publikum auf der anderen Seite. b) Demokratisches Repräsentationsprinzip und gesellschaftliches Publikum Demokratische Repräsentation setzt parlamentarische Publizität voraus. Diese schafft Transparenz des parlamentarisch-politischen Prozesses und sichert dadurch Information für ein außerparlamentarisch-gesellschaftliches Publikum. Die parlamentarisch-repräsentative Demokratie bedarf „ihrem Wesen nach einer lebendigen Wechselwirkung zwischen Volk und Parlament. Publizität der Parlamentsarbeit ist daher eines ihrer Lebenselemente" 7 . Das andere ist die öffentliche Resonanz, die durch den Wahlakt, zumeist aber medienvermittelte Informationsbeantwortung der Repräsentierten. Information durch parlamentarische Publizität und Informationsbeantwortung in Form von politischer Teilnahme konstituieren einen Prozeß politischer Kommunikation zwischen innerparlamentarisch-institutionalisierter und außerparlamentarisch-politisch fungierender Öffentlichkeit. Der historische Strukturwandel der Öffentlichkeit hat diesen Kommunikationszusammenhang zerrissen. Ein gesellschaftliches Publikum räsonnierender Privatleute existiert nicht mehr. Das einst vom Parlament gestiftete politische Räsonnement läßt sich nicht durch die diffuse Zustimmungshaltung zum Bundestag ersetzen. Öffentlichkeitsorgan ist deshalb der Bundestag insoweit, als er einen politischen Diskussionszusammenhang zwischen Entscheidungsträgern und -empfängern herstellt und damit ein parlamentarisches Publikum erst konstituieren hilft. Publizität und Publikum und das heißt parlamentarische Öffentlichkeit stellen sich gegenseitig, aber auch nur gegenseitig her, nämlich durch politische Kommunikation. Diese zu begründen, markiert im Kern die Öffentlichkeitsfunktion des Parlaments8. Der Bundestag erfüllt sie als Öffentlichkeitsorgan.

6 Repräsentation durch Kommunikation

7 Strukturwandel der Öffentlichkeit

8 Die Offentlichkeits-

funktion des Bundestages

c) Parlamentarische Öffentlichkeit und politische Kommunikation Öffentlichkeitsorgan ist der Bundestag im doppelten Wortsinn: Als Organ für die 9 Öffentlichkeit und als Organ der Öffentlichkeit. Im ersteren Fall stehen die Der Bundestag als Funktionen parlamentarisch-politischer Kommunikation zur Debatte: die teaching Öffentlichkeitsorgan function durch politische Sozialisation, die Partizipationsfunktion durch demokratische Beteiligung und schließlich die Legitimationsfunktion durch Rationalisierung von Herrschaft.

7 8

Abgeordneten als Publizitätsschranke K. SCHULTE Volksvertreter als Geheimnisträger, Pfaffenweiler 1987. K.PESCHEL Die Publizität der Verhandlungen des Bundestages, in: Bulletin 55, N r . 76, S. 631. Grundlegend L. KISSLER Die Öffentlichkeitsfunktion des Deutschen Bundestages. TheorieEmpirie-Reform, Berlin 1976.

9%

10

Parlamentarische Offentlichkeitsformen

6. Teil: Der Bundestag als Forum und zentraler O r t der politischen Willensbildung

Der Bundestag fungiert dagegen als Organ der Öffentlichkeit durch die Zuschreibung dieser Aufgaben an politische und gesellschaftliche Akteure: den Abgeordneten, die parlamentarische Opposition und die Massenmedien. Das freie Mandat des Abgeordneten ermöglicht Repräsentationsöffentlichkeit, die Minderheitenrechte der Opposition Kontrollöffentlichkeit. Der Rundfunk- und Pressefreiheit der Medien kommt zentrale Bedeutung für die Verhandlungsöffentlichkeit des Plenums zu. Mit diesen drei Formen parlamentarischer Öffentlichkeit sind die institutionellen Grundlagen parlamentarisch-politischer Kommunikation benannt. (Zu ihrer Praxis vgl. II.) 2. Der Bundestag als Organ für Öffentlichkeit: Funktionen parlamentarisch-politischer Kommunikation a) Politische Sozialisation

(Bildungsfunktion)

11 „Die Öffentlichkeit der Ständeversammlungen ist ein großes, die Bürger vorzüg-

Die Sozialisationsaufgabe der Ständeversammlung

lich bildendes Schauspiel und das Volk lernt daran am meisten das Wahrhafte seiner Interessen kennen" und weiter „die Öffentlichkeit (ist) das größte Bildungsmittel für die Staatsinteressen überhaupt. In einem Volke, wo dieses stattfindet, zeigt sich eine ganz andere Lebendigkeit in Beziehung zum Staat als da, wo die Ständeversammlung fehlt oder nicht öffentlich ist" 9 . Was H E G E L hier für die Ständeversammlung behauptet, gilt auch für das Parlament. Die Idee von der parlamentarischen Sozialisationsaufgabe ist so alt wie das öffentliche Parlament selbst. Sie zielt auf den Abbau von Entfremdung zwischen Staat und Bürger, zwischen politischem System und Gesellschaft.

12

Die dem Parlament von jeher zugeschriebene „teaching function" ( W . B A G E HOT) hat der Deutsche Bundestag durch seine Öffentlichkeitsfunktion zu erfüllen. Der Bundestag teilt seine politische Sozialisationsaufgabe mit anderen politischen und gesellschaftlichen Einrichtungen: vor allem mit den Parteien, Verbänden und Bürgerinitiativen10. Uber diese „Transmissionsriemen" (W. STEFFANI) laufen vor allem die Informationsprozesse aus der Gesellschaft in das politische System. Die organisatorische Umsetzung von Information aus dem politischen System in die Gesellschaft hinein, obliegt dagegen vornehmlich dem Parlament. Sozialisationsagentur ist der Bundestag nur als Öffentlichkeitsorgan; denn seine Sozialisationsleistung hängt maßgeblich von seiner kommunikationsstiftenden parlamentarischen Öffentlichkeit ab.

Die Sozialisationsaufgabe des Parlaments

b) Demokratische

Beteiligung

(Partizipationsfunktion)

13 Parlamentarische Öffentlichkeit ist ambivalent. Sie kann der einseitigen unbeantDemonstrative und wortbaren Information über bereits getroffene Entscheidungen dienen. Eine solpartizipative chermaßen demonstrative Publizität zielt in der Regel nicht auf die Herstellung Publizität von politischer Kommunikation, sondern auf die Beeinflussung der Wählerschaft bei der Stimmabgabe. Sie schmälert nicht nur die politische Sozialisationsleistung des Parlaments, sondern blockiert auch eine weitere zentrale parlamentarische * G . W . F . HEGEL Grundlinien der Philosophie des Rechts. Zusatz zu § 3 1 5 , in: DERS.: Werke 7, Frankfurt a . M . 1970, S.482. 10 Vgl. L. KISSLER Politische Sozialisation, Baden-Baden 1979, S. 83 ff.

§36

P a r l a m e n t s ö f f e n t l i c h k e i t : T r a n s p a r e n z und A r t i k u l a t i o n ( K I S S L E R )

997

Aufgabe: die Förderung demokratischer Beteiligung. O h n e diese läuft Demokratie Gefahr „derart Obrigkeitsstaat zu werden, daß für den Bürger gesorgt, er aber nicht selbst an der Gestaltung seiner Verhältnisse und am Bewahren seiner Freiheit beteiligt wird. Beides erfordert wenigstens ein Mindestmaß an wirklicher, d. h. mitentscheidender Beteiligung des Einzelnen. Sie zu vermitteln, ist in erster Linie Sache des Parlaments" 1 1 . Sich beteiligen kann nur, wer weiß wozu und woran er partizipiert und wer die 14 Entscheidungsgrundlagen und -ziele kennt. Die Voraussetzungen für demokrati- P a r l a m e n t a r i s c h e s sche Beteiligung sind deshalb beantwortbare parlamentarische Information (parti- P u b l i k u m d u r c h politische zipative Publizität) und Möglichkeiten der Informationsbeantwortung (Partizipa- K o m m u n i k a t i o n tion), mithin politische Kommunikation zwischen Entscheidungsträgern und -empfängern. Organ für die Öffentlichkeit wird der Bundestag, wenn es ihm gelingt, ein gesellschaftliches Publikum von Partizipanten zu konstituieren, das sich an parlamentarisch inszenierter politischer Kommunikation beteiligt. Kommunikation ist die Grundlage für Beteiligung. Sie überwindet die Entfremdung zwischen politischen Einrichtungen und Bürger. Sie schafft Vertrauen. N u r als Öffentlichkeitsorgan ist der Bundestag deshalb auch Legitimationsorgan für politische Herrschaft. c) Rationalisierung

von Herrschaft

(Legitimationsfunktion)

Legitimationsbegründung für politische Herrschaft findet in den westlichen 15 Demokratien vor allem durch Wahlen statt. Der Wahlakt als Vertrauensvorschuß L e g i t i m a t i o n (Neuwahl) und Vertrauensbeweis (Wiederwahl) 12 bedarf permanenter Informa- Beteiligung tion, auf der Grundlage eines Kommunikationszusammenhangs zwischen Parlament und Bürger. „Soll eine Wahl eine informierte Entscheidung ermöglichen und soll die stete Kommunikation zwischen Parlament und Öffentlichkeit kontrollierbares Vertrauen begründen, so gehört es zu den wichtigsten Aufgaben des Parlaments, die hierfür notwendigen Voraussetzungen optimal zu schaffen" 1 3 . In einem politischen System, wo die Informationsbeantwortung, sprich Bürger- 16 beteiligung auf den Wahlakt beschränkt ist, ohne eingebunden zu sein in einen L e g i t i m a t i o n permanenten Austausch von Meinungen, Kritik und Interessenartikulation in Rationalität einem Prozeß politischer Kommunikation, bleibt ungeklärt, wie die Wahl Ausdruck einer rationalen Wählerentscheidung sein kann. N u r wo der Disput nicht in der Demonstration bereits getroffener Entscheidungen versandet, sondern durch beantwortbare Information über das Entscheidungsprogramm den Bürger in den Entscheidungsprozeß selbst mit einbezieht, stellt sich die Rationalität politischen Entscheidungshandelns ein und wird der Bundestag seiner oben skizzierten Vermittlungsaufgabe gerecht (vgl. 1.1.a)). Nur rationale ist legitime Herrschaft. „Als Legitimationsorgan im Kern betroffen" ist der Bundestag demnach nicht erst dann, wenn er seine Arbeitsergebnisse

11

T H . E L L W E I N / A . G Ö R L I T Z P a r l a m e n t und V e r w a l t u n g ( F n . 1) S. 2 4 0 .

12

Vgl. H . - U . JERSCHKE O f f e n t l i c h k e i t s p f l i c h t der E x e k u t i v e und I n f o r m a t i o n s r e c h t d e r Presse,

13

W.STEFFANI D e m o k r a t i e ( F n . 2 ) S. 176.

Berlin 1 9 7 1 , S. 6 9 ff, S. 118 ff.

durch

durch

998

6. T e i l : D e r B u n d e s t a g als F o r u m und zentraler O r t der politischen W i l l e n s b i l d u n g

und Entscheidungen nicht mehr publik machen kann 14 , sondern wenn er diese scheinrational, weil verdeckt, in den „Dunkelkammern" der Ausschüsse und Fraktionen gewinnt. Politische Herrschaft, wie sie im Entscheidungshandeln sich konkretisiert, legitimiert der Bundestag nicht als Institution moderner Arkanhaltung, sondern als kommunikationsstiftendes Öffentlichkeitsorgan. Wer sind seine Akteure? 3. Der Bundestag als Organ der Öffentlichkeit: die Akteure parlamentarisch-politischer Kommunikation

a) Der Abgeordnete: das Freie Mandat und seine für die Repräsentationsöffentlichkeit

Bedeutung

Der Abgeordnete ist das Subjekt der parlamentarischen Öffentlichkeit. Er ist Informationsempfänger und Informant im Prozeß parlamentarisch-politischer Kommunikation. Diese Kommunikationsaufgabe wächst ihm unmittelbar aus seinem Repräsentantenstatus zu. Der Abgeordnete entscheidet für das ganze Volk, gewählt wurde er aber nur von einem Teil. Die Anerkennung der Entscheidungen von individuell bestellten Amtswaltern als Entscheidungen des Bundestages setzt eine allgemeine Verbundenheit des Abgeordneten mit dem Wahlvolk voraus. Diese wird hergestellt und gesichert durch politische Kommunikation. Sie ergänzt und konkretisiert die im Wahlakt gegebene allgemeine Zustimmung, rationalisiert und legitimiert die politische Entscheidung. Deshalb gibt es, wie oben ausgeführt (vgl. 1.1 .b)) keine demokratische Repräsentation ohne kommunikationsstiftende Publizität. Diese ist die Grundlage für die Repräsentationsöffentlichkeit des Bundestages. 17 Die Kommunikationsfunktion des Freien M a n d a t s

18 A b g e o r d n e t e r und Fraktion

Rechtlich und institutionell abgesichert wird die parlamentarische Repräsentationsöffentlichkeit durch das Freie Mandat (Art. 38 Abs. 1, Satz 2 G G ) . Dessen kommunikative Aufgabe besteht darin, die Kommunikationskanäle zwischen Parlament und Bürger über die Grenzen von sozialen Klassen und Schichten hinweg offen zu halten. Indem es das Spektrum an gesellschaftlichen Interessen, die an den Abgeordneten herangetragen werden, offen hält und nicht, wie beim imperativen Mandat durch festgelegte Instruktionen verengt, begründet das Freie Mandat Repräsentationsöffentlichkeit. Es berechtigt den Abgeordneten nicht nur auf Meinungen, Vorstellungen u. a. m. einzugehen, sondern verpflichtet ihn auch dazu. Seinem Repräsentantenstatus wird er nur durch das Bemühen um kommunikative Angleichung von unterschiedlichen Interessenanforderungen gerecht; denn diese gehören zu den entscheidungserheblichen, im „Gewissen" (Art. 38 Abs. 1, Satz 2 G G ) zu reflektierenden Umständen. Die vom Freien Mandat begründete Stellung des Abgeordneten als Kommunikator bestimmt auch sein Verhältnis zur Fraktion. Deren Anleitungen und Vorgaben gegenüber unterliegt der Abgeordnete einem „Pflichtreflex" der Beachtung (Fraktionsdisziplin) 15 . Mit ihm rückt die Fraktion und vor allem die OppositionsS o H . OBERREUTER in der D i s k u s s i o n : „ G e d a n k e n zum P a r l a m e n t . Selbstverständnis, A r b e i t s weise, W i r k s a m k e i t " , in: Z P a r l . 2/1986, S . 2 7 3 . A u s der umfangreichen Literatur zum A b g e o r d n e t e n s t a t u s g e g e n ü b e r der F r a k t i o n vgl. den Ü b e r b l i c k bei H . H . KASTEN M ö g l i c h k e i t e n und G r e n z e n der Disziplinierung des A b g e o r d n e ten d u r c h seine F r a k t i o n : Fraktionsdisziplin,

Fraktionszwang

Z P a r l . 4/1985, S. 4 7 5 ff mit weiteren N a c h w e i s e n .

und F r a k t i o n s a u s s c h l u ß ,

in:

§36

P a r l a m e n t s ö f f e n t l i c h k e i t : T r a n s p a r e n z und A r t i k u l a t i o n (KISSLER)

999

fraktion(en) als weiterer Akteur politischer Kommunikation ins Blickfeld und damit auch eine weitere Dimension parlamentarischer Öffentlichkeit: die Kontrollöffentlichkeit. b) Die Opposition: die parlamentarischen Minderheitenrechte und ihre Bedeutung für die Kontrollöffentlichkeit Wer informieren will, muß selbst informiert sein. Information beschafft sich das Parlament durch seine Kontrolltätigkeit. Sie ist das rechtsstaatlich erforderliche Pendant zur demokratisch gebotenen Repräsentationsaufgabe. Die Bedeutung des Parlaments im Prozeß politischer Kommunikation sowie ein Großteil von Kommunikationsthemen ergeben sich somit aus der Umsetzung des parlamentarischen Informations- und Kontrollanspruchs. Der Ort, an dem Kontrollöffentlichkeit entsteht, ist das Plenum des Bundesta- 19 ges. Hier informiert sich das Parlament über das Regierungshandeln durch Wahr- D i e K o n t r o l l r e c h t e als nehmung seines Interpellationsrechts, vor allem aber durch die Anfragerechte, I n f o r m a t i o n s instrumente Fragestunde und Aktuelle Stunde. Neben der Plenumskontrolle übt der Bundestag auch über ad hoc eingesetzte, spezielle ständige und generell über seine ständigen Ausschüsse Kontrolle aus. Eine parlamentarische Kontrollkommission ( P K K ) überwacht die Nachrichtendienste. Sie zielt, ebenso wie die Kontrolltätigkeit, die der Bundestag in einem dichten Netz informeller parlamentarischer Kommunikation wahrnimmt, nicht auf die Herstellung von Kontrollöffentlichkeit. Sie bleiben deshalb im folgenden ausgeblendet. Der eigentliche Adressat des Informations- und Kontrollanspruchs und damit 20 das Subjekt der parlamentarischen Kontrollöffentlichkeit ist jedoch nicht das D i e O p p o s i t i o n als S u b j e k t der Gesamtparlament, sondern die Oppositionsfraktion(en). Dies ist das Ergebnis Kontrollöffentlichkeit einer historischen Entwicklung, welche die ehemals zwischen Regierung und Parlament verlaufende politische Konfliktlinie nunmehr zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit auf der einen und parlamentarische Opposition auf der anderen Seite verschoben hat. Wenn die Regierung den exekutiven Arm der Mehrheitsfraktion(en) darstellt, dann verlagert sich entsprechend die Kontroll- und damit die Informationsaufgabe auf die Minderheitsfraktion(en). Daraus folgt: die Bedeutung der parlamentarischen Kontrollrechte für die Kontrollöffentlichkeit des Bundestages hängt entscheidend von ihrem Ausbau zu Minderheitenrechten ab. Dies trifft für die Anfragerechte der Großen, Kleinen und Mündlichen Anfrage zu. Auch die Aktuelle Stunde ist als Minderheitenrecht normiert. Die im Plenum des Bundestages erzeugte Kontrollöffentlichkeit führt nur insoweit zur politischen Kommunikation mit einem gesellschaftlichen Publikum, als sie eingespeist wird in zumeist medienvermittelte Prozesse der parlamentarischen Information. c) Die Massenmedien:

die Rundfunk-

für dieVerhandlungsöffentlichkeit

und Pressefreiheit des Deutschen

und ihre

Bedeutung

Bundestages

„Das parlamentarische Regime lebt von der Diskussion, wie soll es die Diskussion

21 Historische Wurzeln

verbieten? ( . . . ) Der Rednerkampf auf der Tribüne ruft den Kampf der Preßbengel der V e r h a n d l u n g s hervor, der debattierende Club im Parlament ergänzt sich notwendig durch öffentlichkeit

1000

6. Teil: Der Bundestag als Forum und zentraler Ort der politischen Willensbildung

debattierende Clubs in den Salons und Kneipen, die Repräsentanten, die beständig an die Volksmeinung appelieren, berechtigen die Volksmeinung, in Petitionen ihre Meinung zu sagen 16 ." Wenn heute in Kneipengesprächen die Debatte im Parlament kaum noch eine Rolle spielt, dann auch deshalb, weil sich die institutionellen Grundlagen der parlamentarischen Publizität geändert haben. Die Arbeit der „Preßbengel" übernahm weitgehend die Fernsehkamera im Plenarsaal. Das Fenster, zu dem hinaus Reden gehalten werden, ist in Wirklichkeit die Mattscheibe. Die Massenmedien, vor allem das Fernsehen, prägen das Bild (Image) des Bundestages in der Öffentlichkeit. Sie transportieren die Themen politischer Kommunikation aus der Gesellschaft in das Parlament, aber auch umgekehrt. Die parlamentarische Repräsentations- und Kontrollöffentlichkeit ist Medienöffentlichkeit. Deren Qualität bestimmt sich nach dem Zustand der in Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG garantierten Meinungs- und Informationsfreiheit sowie der Pressefreiheit und der Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Fernsehen (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG)17. 22

Parlamentarische Publizität ist medienvermittelte Publizität. Ihre zentrale Form i s t dj e Verhandlungsöffentlichkeit des Bundestages. Sie ist von bloßer Erklärungsöffentlichkeit öffentlichkeit, wie ζ . B. der Ausschußsitzungen des Bundestages, zu unterscheiden. Diese konstituiert sich durch Erklärungen, Stellungnahmen, Auskünfte, mithin durch demonstrative Publizität gegenüber einem von der nichtöffentlichen Verhandlung ausgeschlossenen Publikum. 23 Verhandlungsöffentlichkeit verlangt demgegenüber allgemeine Zugänglichkeit, Verhandlungs- entweder unmittelbar durch Sitzungsöffentlichkeit oder mittelbar durch Parlamentsöffenthchkeit berichterstattung. Beide Öffentlichkeitsformen sind in Art. 42 GG und §19 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GOBT) normiert. Danach verhandelt der Bundestag öffentlich. „Bundestag" meint hier das Plenum. Der Öffentlichkeitsgrundsatz bleibt deshalb auf Plenarsitzungen beschränkt. 24 Die Vorschrift der Sitzungsöffentlichkeit sichert die rechtliche Möglichkeit Sitzungsöffentlichkeit f r e ien Zutritts für jeden Mann /jede Frau in den Zuhörerraum und für jede als Berichterstatter ausgewiesene Person auf die Pressetribüne. Sie schließt nicht aus, daß die faktische Zutrittsmöglichkeit beschränkt wird, ζ. B. durch die Ausgabe von Eintrittskarten. Die in Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG normierte Sitzungsöffentlichkeit des Bundestages konkretisiert das Informationsrecht des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Deshalb steht den Medien, entgegen der überkommenen Rechtsauffassung, ein subjektiv-öffentliches Recht auf Teilnahme an den öffentlichen Verhandlungen des Bundestages zu 18 . Nur so wird die Verfassungsvorschrift der „Schlüsselrolle" gerecht, die den Medien im Prozeß politischer Kommunikation zukommt, indem sie die Sitzungsöffentlichkeit auf ein breites gesellschaftliches Publikum erweitern. Unter den Voraussetzungen des Art. 42 Abs. 1 Satz 2 und 3 GG kann die Öffentlichkeit ganz oder teilweise ausgeschlossen werden. Erklärungs-

16

17 18

K.MARX Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: K.MARX/F.ENGELS Werke 8, Berlin 1973, S. 153. Dazu ausführlich L. KISSLER Die Offentlichkeitsfunktion (Fn. 8) S. 471 ff. Vgl. R. DIETRICH Die Funktion der Öffentlichkeit der Parlamentsverhandlungen im Strukturwandel des Parlamentarismus (iur. Diss.), Tübingen 1970, S. 115ff.

§ 36

P a r l a m e n t s ö f f e n t l i c h k e i t : T r a n s p a r e n z und A r t i k u l a t i o n (KISSLER)

1001

Die in Art. 42 Abs. 3 G G garantierte Verantwortungsfreiheit der Parlamentsbe- 2 5 richterstattung komplettiert die Sitzungsöffentlichkeit. Nach traditioneller parla- V e r a n t w o r t u n g s mentarischer Rechtsüberzeugung handelt es sich hierbei um kein Presse- sondern um freiheit ein Parlamentsprivileg. Allerdings weist auch die Verantwortungsfreiheit der Berichterstattung „grundrechtliche Aspekte eines durch Art. 5 geschützten Kommunikationsvorgangs auf" 1 9 ; denn die Privilegierung hat eine doppelte Funktion im Prozeß medienvermittelter parlamentarisch-politischer Kommunikation: sie ermöglicht erstens parlamentarische Publizität in Form von Repräsentations- und Kontrollöffentlichkeit und fördert zweitens die parlamentsöffentliche politische Meinungsbildung. Die Vorschriften der Verhandlungsöffentlichkeit des Bundestages in Form von 2 6 Sitzungsöffentlichkeit und Verantwortungsfreiheit der Parlamentsberichterstattung Rechtsgrundlage fur bilden damit im Verbund mit den Grundrechten des Art. 5 G G die rechtliche P°'j t i s c h^ ^ Grundlage für die politische Kommunikation zwischen Parlament und gesellschaftli- K o m m u n ¡ k a t i o n chem Publikum. Ihre institutionelle Ausgestaltung und Praxis werden im folgenden dargestellt.

II. Das Plenum — ein Ort politischer Kommunikation? Institutionelle Grundlagen und empirischer Befund 1. Die Verhandlungsöffentlichkeit a)

Sitzungsöffentlichkeit

Der Bundestag verhandelt (auch) öffentlich, vor allem aber geheim. Diesen Eindruck vermittelt die bisherige Praxis. Zwischen 1949 und 1987 kamen auf eine öffentliche Bundestagssitzung nahezu 11 nichtöffentliche. Der Abgeordnete verbringt in der Sitzungswoche durchschnittlich 9,3 Stunden im Plenum, 9,9 Stunden dagegen auf Reisen 20 . Im Verlaufe von zehn Wahlperioden (WP) führte der Bundestag 3420 öffentliche 2 7 Sitzungen durch, davon 2208 Plenarsitzungen, 496 öffentliche Informationssitzun- D a s V e r h ä l t n i s v o n gen von Ausschüssen (Anhörungen), 715 Sitzungen von Untersuchungsausschüssen ö f f e n t l i c h e n zu nichtöffentlichen und eine öffentliche Sitzung des Ständigen Ausschusses gem. Art. 45 G G . Im gleichen S i t z u n g e n Zeitraum stehen den öffentlichen 36 906 nichtöffentliche Sitzungen gegenüber, nämlich solche des Bundestagsvorstandes (96), Kommissionssitzungen des Vorstandes (261), Sitzungen des Bundestagspräsidiums (346), des Ältestenrats (1112), Kommissionssitzungen des Ältestenrats (392), Sitzungen der Fraktionen und ihrer Vorstände (8977), der Ausschüsse und Unterausschüsse (24 816), Sonderausschußsitzungen (516), Enquête- (355) und Europa-Kommissions-Sitzungen (35). Das Verhältnis von öffentlichen zu nichtöffentlichen Sitzungen verhält sich demnach wie 1 :10,8. Für die ersten neun Wahlperioden weist die Statistik sogar ein durchschnittliches Verhältnis von 1 : 12 aus. 19 20

MAUNZ/DÜRIG/HERZOG/SCHOLZ G r u n d g e s e t z - K o m m e n t a r , M ü n c h e n 1 9 8 7 , A r t . 42 R d n . 2 8 . D i e s e und die weiteren Zahlenangaben sind, soweit keine anderen Q u e l l e n ausgewiesen w e r d e n , den folgenden W e r k e n e n t n o m m e n : P. SCHINDLER D a t e n h a n d b u c h zur G e s c h i c h t e des D e u t s c h e n Bundestages 1 9 8 0 bis 1 9 8 4 , B a d e n - B a d e n 1986, S . 9 0 ; DERS. D e u t s c h e r B u n d e s t a g 1 9 4 9 - 1 9 8 7 : Parlaments- und W a h l s t a t i s t i k , in: Z P a r l . 2 / 1 9 8 7 , S. 197.

1002

6. Teil: D e r Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

Auch wenn sich in der 10. WP das Gewicht zugunsten der Sitzungsöffentlichkeit leicht verschoben hat, ohne allerdings das beste Ergebnis der 6. WP von 1 : 6,9 zu erreichen, so bleibt doch der Gesamteindruck von einem Parlament, das sich weitgehend aus der Öffentlichkeit herausnimmt. 28 Die Verlagerung der parlamentarischen Arbeit in zahlreiche nichtöffentliche Das „halböffentliche" Gremien hat dem Bundestag häufig den Vorwurf eingebracht, ein „halböffentliches Parlament Parlament" zu sein — ein Euphemismus angesichts der herrschenden Praxis. Allerdings ist die angelegte Meßlatte sehr grobrastrig. Schaut man genauer hin, 29 D e r herrschende dann zeichnet sich in der 10. WP im Bereich der Sitzungsöffentlichkeit eine Trend: mehr bemerkenswerte Entwicklung ab. Die Anzahl der Plenarsitzungen stieg von durchSitzungsöffentlichkeit schnittlich 220 auf 256. Noch nie gab es — mit Ausnahme der ersten WP — eine so lange Gesamtsitzungszeit (1789 Stunden), und noch nie war die durchschnittliche Sitzungszeit pro Arbeitsjahr so hoch (430:38 Stunden) und dauerte die einzelne Plenarsitzung so lange (6 :35 Stunden) wie zwischen 1983 und 1987. Diese Zahlen belegen den herrschenden Trend zum Ausbau der Sitzungsöffentlichkeit. Sitzungsöffentlichkeit setzt zunächst unmittelbare Zugänglichkeit zur Plenarsitzung voraus. 30 Den freien Zugang zur Besuchertribüne nutzten im Jahre 1970 174 000 BesuBesucherentwicklung cher, im Jahre 1977 noch 56551. In den letzten Jahren ist die Besuchertribüne zwar immer gut besetzt, aber die ca. 220 (und nach dem Umzug des Bundestages im Herbst 1986 ins „Wasserwerk" wegen der räumlichen Enge nur noch ca. 120 Besucher 21 ), die im Stundenwechsel in die Plenarsitzung „schnuppern" dürfen, können nicht mehr als einen ersten und sehr oberflächlichen Eindruck von der Plenumsarbeit gewinnen. Dabei handelt es sich vor allem um ein jugendliches Teilpublikum der Verhandlungsöffentlichkeit. Ca. 45 % der Bundestagsbesucher sind Jugendliche. Dem trägt der Bundestag auch mit einer „Jugend-Fragestunde" Rechnung, die seit dem 21.5.1981 regelmäßig im Plenarsaal veranstaltet wird.

31

Seit 1. Januar 1988 gibt das Referat Öffentlichkeitsarbeit eine mündliche Vorweginformation für den anschließenden Besuch der Plenarsitzung. Darüber hinaus stehen schriftliche Materialien zur Verfügung. So veröffentlicht der Besucherdienst ein Mal pro Sitzungswoche eine Besucherinformation mit dem Titel „Zur Tagesordnung". Das Pressezentrum des Bundestages gibt eine Reihe von Publikationen heraus, die sich an Besucher/innen und andere Adressatenkreise richten, wie z . B . die Schrift „Im Plenarsaal", das Magazin „Der 10. Deutsche Bundestag", das Faltblatt „Weg der Gesetzgebung" und „Kürschners Volkshandbuch Deutscher Bundestag". Das Referat Öffentlichkeitsarbeit führt seit 1980 ganztägige Parlamentssemi32 Parlamentsseminare nare für ausgewählte Zielgruppen durch. Sie sollen mit Struktur- und Arbeitsweise des Bundestages vertraut machen. Im ersten Jahr fanden 10, im Folgejahr bereits 40 Seminare statt. Inzwischen wurde das Angebot erheblich ausgeweitet, auf 120 Seminare in 1987. Für 1988 sind 150 Seminare vorgesehen.

Besucherinformation

21

Die Zahlenangaben stammen vom Besucherdienst des Bundestages auf Anfrage am 5. März 1988.

§36

Parlamentsöffentlichkeit: Transparenz und Artikulation (KISSLER)

1003

Die Sitzungsöffentlichkeit und die mit ihr korrespondierende Öffentlichkeitsarbeit des Bundestages sind ein wichtiges Standbein der parlamentarischen Verhandlungsöffentlichkeit. Ihr zweites ist die Parlamentsberichterstattung. b) Die

Parlamentsberichterstattung

Die amtliche Parlamentsberichterstattung wird vor allem getragen vom Stenogra- 3 3 phischen Dienst des Bundestages. Er erstellt den stenographischen Bericht der Der stenographische Plenarverhandlungen. Dieser gibt die Reden und Abstimmungen im Wortlaut B e n c ^ l t wieder, aber auch die begleitenden Kundgebungen des Hauses, Beifall, Zwischenrufe u. a. m. Die protokollarische Dokumentation des Sitzungsverlaufs und der Verhandlungsatmosphäre beeindruckt nicht nur durch ihre Quantität von insgesamt 130 934 Seiten, davon 20091 Seiten in der 10. WP. Sie stellt auch eine qualifizierte Publizität der Bundestagsverhandlungen her. Dem hohen Informationswert des stenographischen Berichts entspricht jedoch nicht eine entsprechend große Verbreitung. In kleiner Auflagenhöhe von 3900 Exemplaren wird er vor allem an amtliche Stellen, Verbände und andere gesellschaftliche Organisationen abgegeben. Zur amtlichen Berichterstattung zählen auch die Drucksachen des Deutschen Bundestages. Auch hier schlägt sich der quantitative Zuwachs von Drucksachen (43 543 von 1949—1987, davon 6830 in der 10. WP) nicht in einer entsprechend großen Auflagenhöhe (3500) nieder. Um die amtliche Parlamentsberichterstattung auf ein größeres gesellschaftliches Publikum auszuweiten, wurde nach US-amerikanischem Vorbild seit Sommer 1976 versucht, in jedem Stadt- und Landkreis sog. Depositarbibliotheken einzurichten. Die Statistik weist bis Ende 1984 immerhin 108 Bibliotheken aus, die die stenographischen Berichte und Bundestagsdrucksachen in ihrem Bestand führen. Es darf jedoch bezweifelt werden, ob dieses verbesserte Angebot an Parlamentsberichterstattung auch auf die entsprechende Nachfrage eines interessierten Publikums trifft. Diese wird — soweit vorhanden — nach wie vor eher von der nichtamtlichen pkrlamentsberichterstattung der Massenmedien befriedigt. Traditioneller Träger der nichtamtlichen Parlamentsberichterstattung ist die Presse. Das Verhältnis von Parlament und Presse wird überschattet vom Substanzverlust der pressemedialen Parlamentsberichterstattung. Er äußert sich in quantitativer Hinsicht darin, daß die Tagespresse nach wie vor keine kontinuierliche parlamentarische Berichterstattung kennt und über die Arbeit des Bundestages ausführlich nur in der überregionalen Tagespresse berichtet wird. Authentische Wiedergaben der Plenarsitzungen finden sich (zumeist gekürzt) in der Wochenzeitung „Das Parlament". Ein qualitativer Substanzverlust kommt in den wenigen zusammenfassenden Wiedergaben der Bundestagsverhandlungen darin zum Ausdruck, daß jene vor allem ergebnis- und nicht prozeßorientiert sind22. Diese Tatsache wurde schon frühzeitig kritisiert, sie kennzeichnet aber bis heute die pressemediale parlamentarische Publizität. 22

Sie widmen sich „stärker den Entscheidungen als dem W e g , der zu ihnen führte" ( T H . DEHLER Parlament und Presse, in: Z V + Z V , 6 2 . J g . 1965, S. 1991).

34 Die

Drucksachen

35 Die Depositarbibliotheken

36 Die Presseberichterstawung

1004

6. Teil: D e r Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

Ihre schwerste Hypothek trägt die Presseberichterstattung jedoch an der strukturellen Unterordnung des politischen unter den publizistischen Faktor. Sie ist dem Aktualitäts-, Publizitäts- und Periodizitätsdruck der Presse geschuldet23. Die Transformation des politisch-rhetorischen Vorgangs in einen publizistischen Bericht, wie sie von der pressemedialen Berichterstattung vorzunehmen ist, tritt in eine aussichtslose Konkurrenz zu Ereignissen, die den Stempel des Einmaligen und Ungewöhnlichen tragen, mit dem Ergebnis, daß der Parlamentsbericht häufig entfällt oder im Blattinnern „versteckt" wird. Hohe Auflagen und weite Verbreitung müssen mit Vereinfachung und Nivellierung der Berichterstattung erkauft werden. Eine gewinnorientierte Presse unterwirft notwendigerweise die Parlamentsberichterstattung ihrem eigengesetzlichen Warencharakter. 37 Die Rundfunk- und Fernsehberichterstattung

Ungleich bedeutsamer für die parlamentarische Publizität ist die RundfunkFernsehberichterstattung. Ein Uberblick über die Rundfunk- und Fernsehsen24 zeigt, daß es kein festes Programmm ¡ t Parlamentsberichterstattung . Berichte über die Parlamentsarbeit sind fakultativ. Sie werden in scjiema regelmäßige aktuelle Sendungen eingebaut. Plenarsitzungen überträgt der W D R live zugleich für alle Sender der ARD, sofern sie von ihm für wichtig erachtet werden. Im Vergleich zu anderen politischen und gesellschaftlichen Arenen und Ereignissen erscheint der Bundestag in der Programmgestaltung eher unwichtig. Bezeichnenderweise wird in der Diskussion über die Ausweitung des Fernsehangebots die Einrichtung eines „Sportkanals" erwogen, nicht dagegen die Aufwertung und Verstetigung der Parlamentsberichterstattung in einem „Parlamentskanal". un¿

Die Erweiterung der Verhandlungsöffentlichkeit auf ein Millionenpublikum durch Rundfunk und Fernsehen hat ihren Preis. Sie birgt die Gefahr (der Kampf der Parlamentsfraktionen um die günstigsten Sendezeiten für ihre Starredner weist darauf hin), daß die Parlamentsrede zum unterhaltsamen Spektakel, der Redner zum „Entertainer" wird. Die Fraktionen nutzen die Plenarsitzung als parteipolitisches Public-relations-Instrument, die Fernsehberichterstattung als kostenfreie Werbezeit im Kampf um die Wählergunst. Zwar macht sie Rede und Redner/in publik. Die kommunikationsstiftende Publizität der parlamentarischen Arbeit bleibt jedoch auf der Strecke. 38 Die parlamentarischen Vereinigungen

Ein Vergleich von amtlicher und nichtamtlicher Parlamentsberichterstattung zeigt, daß ihr Informationsgehalt und damit ihre Qualität für parlamentarischpolitische Kommunikation sich umgekehrt proportional verhält zur Quantität ihrer Adressaten. Entweder erreicht die Berichterstattung einen kleinen Kreis von Informationsadressaten oder ein großes gesellschaftliches Publikum von Medienkonsumenten. Im ersteren Fall reduziert sie das politische Kommunikationsangebot auf ein interessiertes parlamentarisches Fachpublikum. Um dieses zu erweitern, haben sich intermediäre Organisationen zwischen Parlament und Öffentlichkeit gebildet: die parlamentarischen Vereinigungen. Ihre Tätigkeit ist durchweg öffentlichkeitsbezogen und „Parlamentsberichterstattung" im weiteren Sinn: sei es durch die Publikation wissenschaftlicher Arbeiten (wie z. B. von der Kommission

23

24

Vgl. H . HAFTENDORN Die politische Funktion der Parlamentsberichterstattung, in: Publizistik, 6. Jg. 1961, H. 5/6, S. 282 ff. P. SCHINDLER Datenhandbuch (Fn. 20) S. 954 ff.

§36

Parlamentsöffentlichkeit: T r a n s p a r e n z und Artikulation (KISSLER)

1005

für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien e.V.), durch Vorträge und Informationsabende (wie ζ. B. von der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft e.V.) oder durch die Herausgabe einer eigenen Zeitschrift (wie z . B . von der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen e.V.). Die parlamentarischen Vereinigungen stellen ein parlamentarisches Fachpublikum dar, das einem erweiterten politischen, journalistischen und wissenschaftlichen Publikum parlamentarisch-politische Kommunikationsangebote unterbreitet. Die massenmedial vermittelte Information verflacht dagegen zur demonstrativen Publizität, an der sich in der Regel keine politische Kommunikation entzündet. Fazit: Sitzungsöffentlichkeit und Parlamentsberichterstattung inszenieren parlamentarisch-politische Kommunikation mit einem (wachsenden?) parlamentarischen Expertenpublikum, kaum jedoch mit dem Bürger.

c) Die

Ausschußöffentlichkeit

Die Vorschrift der Verhandlungsöffentlichkeit gilt nur für das Plenum. Die 39 Ausschüsse unterliegen dagegen der Erklärungsöffentlichkeit. Deshalb ist die Die ErklärungsAusschußarbeit selbst nichtöffentlich, mit der Folge, daß die eigentlichen Schau- öffentlichkeit plätze der Interessen und Politikbearbeitung abgedunkelt bleiben25. Die „Sachauseinandersetzung mit ihrem Pro und Kontra, mit dem Wandel der Haltungen der einen und der anderen Fraktion, mit den oft erheblichen Änderungen der Regierungsvorlagen, damit das eigentlich Spannende der Gesetzgebungsarbeit" 26 entzieht sich der unmittelbaren Kenntnisnahme durch Zuhörer/innen, insbesondere auch durch Journalisten. Das Ergebnis ist ein zwar fleißiges, aber unscheinbares Parlament. Der durch die Verhandlungsöffentlichkeit sichtbar gemachte Teil seiner Arbeit gleicht der Spitze des Eisberges. Dies ist der Grund, warum „ein besserer Einblick in die Ausschußarbeit für die allgemeine Öffentlichkeit nachgerade dringend geworden ist, um deren Fixierung auf die Plenarversammlung als dem vermeintlichen Ort der Entscheidungsfindung (...) zu lockern. Möglich ist das nur, indem die Öffentlichkeit in Form von Presse und Medien zu Ausschußsitzungen zugelassen wird 27 ." Die Geschäftsordnung des Bundestages räumt denn auch Ausschüssen das Recht ein, „für einen bestimmten Verhandlungsgegenstand oder Teile desselben die Öffentlichkeit zuzulassen" (§69 Abs. 1 Satz 2 GOBT). Darüber hinaus können sie öffentliche Anhörungen durchführen (§ 70 GOBT). Von diesem Recht machen die Ausschüsse zunehmend Gebrauch 28 . Fast ein 40 Drittel (162) der insgesamt 496 öffentlichen Anhörungen entfallen in die letzte D i e öffentlichen Anhörungen Wahlperiode. 25

26 27

28

Aufschlußreich zur H e r a u s b i l d u n g funktional differenzierter K o m m u n i k a t i o n s n e t z w e r k e u n d zur „ A r e n e n b i l d u n g " in den Ausschüssen ist der Beitrag von B . WESSELS K o m m u n i k a t i o n s p o tentiale zwischen Bundestag und Gesellschaft, in: ZParl. 2 / 1 9 8 7 , S. 300 ff. TH. DEHLER Parlament und Presse ( F n . 2 2 ) S. 1990/1991. W . Z E H Altersschichten in der G e s c h ä f t s o r d n u n g des Deutschen Bundestages, in: Z P a r l . 3/1986, S. 411. O h n e daß deshalb die verbreiteten „nichtöffentlichen A n h ö r u n g e n " an B e d e u t u n g f ü r die parlamentarische K o m m u n i k a t i o n verloren hätten, vgl. B. WESSELS K o m m u n i k a t i o n s p o t e n t i a l e (Fn. 25) S . 2 9 0 f .

1006

41

Strukturwandel der parlamentarischen Öffentlichkeit

6. Teil: Der Bundestag als Forum und zentraler Ort der politischen Willensbildung

Stärkung und Ausbau der parlamentarischen Öffentlichkeit zeichnet sich auch im Bereich der grundsätzlich öffentlich tagenden Untersuchungsausschüsse ab. Die vier Untersuchungsausschüsse der 10. W P führten 209 öffentliche Sitzungen durch. Wenn inzwischen die öffentliche Anhörung zum Normalfall bei fast allen bedeutenden Gesetzgebungsvorhaben geworden ist, dann zeigt dies eine Verschiebung der parlamentarischen Öffentlichkeitsstruktur an — von der Plenums- zur Ausschußöffentlichkeit. Sie könnte die Kluft zwischen den die parlamentarischen Funktionen usurpierenden Ausschüssen einerseits und einem zunehmend bedeutungsloseren Plenum andererseits noch vergrößern — eine Tendenz, die durch das Selbstbefassungsrecht der Ausschüsse (gem. § 6 2 Abs. 1 G O B T ) noch gefördert wird. Mit der Verlagerung von parlamentarischer Öffentlichkeit auf die Ausschüsse verlagern sich zugleich auch Grundprobleme der Verhandlungsöffentlichkeit: Wie kann gesichert werden, daß die öffentliche Anhörung nicht zur bloßen Anhörung von unterschiedlichen Expertenmeinungen zu vorweg in Arkanbereichen getroffenen Entscheidungen degeneriert, und wie läßt sich die politisch-parlamentarische Kommunikation zwischen Abgeordneten und Experten erweitern: vom parlamentarischen Teilpublikum einer „Gelehrtenöffentlichkeit" auf ein gesellschaftliches Publikum? Zu beantworten sind diese Fragen nicht zuletzt mit Blick auf die Öffentlichkeitspraxis des Plenums: seine Kontroll- und Repräsentationsöffentlichkeit. Denn diese bestimmen weitgehend die Themen politisch-parlamentarischer K o m m u n i kation und die Art und Weise, wie verfahrensöffentlich mit ihnen umgegangen wird. U n d letztlich entscheiden sie darüber, ob mit dem Bedeutungszuwachs der Ausschüsse für die parlamentarische Öffentlichkeit des Bundestages ein schleichender Relevanzverlust seines Plenums als öffentliches F o r u m einhergeht 29 . 2. Die Kontrollöffentlichkeit

42

Beurteilungskriterien für Kontrollöffentlichkeit

Welche Bedeutung der Kontrollöffentlichkeit für das Profil des Bundestagsplenums als O r t politischer Kommunikation z u k o m m t , wird deutlich anhand dreier Kriterien: (1) die quantitative Ausübungsrate: welche Kontrollinstrumente wurden wie oft eingesetzt? Subjekt der Kontrollöffentlichkeit ist die parlamentarische Opposition. „ D i e Verlängerung der Regierung ins Parlament hinein" (vgl. dazu oben I.3.b)) „hatte die Verlängerung der Opposition in die Öffentlichkeit hinein bewirkt" 3 0 . Für die Bewertung der Öffentlichkeitspraxis gibt deshalb (2) neben der quantitativen Ausübungsrate den Ausschlag, wer von einem

29

30

Eine weitere Abwertung des Plenums hängt darüber hinaus auch davon ab, ob es mit seiner Verhandlungsöffentlichkeit als Medium zwischen Ausschüsse und gesellschaftliches Publikum treten kann, um die Ausschußöffentlichkeit zu verstärken und zu verbreitern. O b diese Chance zu nutzen ist, wird u. a. entschieden von einer verbesserten Berichterstattung (gem. § 66 G O B T ) als „Nabelschnur" zwischen Ausschüssen und Plenum. K. Kluxen Die parlamentarische Opposition (Einführung), in: ders. (Hrsg.) Parlamentarismus, Berlin 1971, S. 393 ff (S.395).

§ 36

P a r l a m e n t s ö f f e n t l i c h k e i t : T r a n s p a r e n z und A r t i k u l a t i o n (KISSLER)

1007

Kontrollinstrument Gebrauch macht. Entscheidend ist die Beteiligungsquote der parlamentarischen Opposition und schließlich (3) ihr Öffentlichkeitsbezug. Wie sieht danach der empirische Befund der parlamentarischen Kontrollöffentlichkeit aus31? a) Die Große Anfrage

(§§100ff

GOBT)

Große Anfragen führen in der Regel zur öffentlichen Debatte über ihren Gegenstand. Häufig handelt es sich dabei um Grundsatzdebatten, weil die Große Anfrage dazu dient, .„Großes' zur Sprache zu bringen" 32 , d. h. Richtungskontrolle auszuüben. Dieser zentralen Bedeutung der Großen Anfrage für die parlamentarische 43 Kontrollöffentlichkeit wurde der Bundestag lange nicht gerecht. Nach 160 Großen A u s ü b u n g s q u o t e Anfragen in der 1. W P verzeichnen wir einen ständigen Rückgang der Ausübungs- G r o ß e n A n f r a g e rate. Unterbrochen durch einen kleinen Aufschwung in der 5. W P (45 Große Anfragen) erreicht er schließlich in der 7. W P seinen Tiefststand (27 Große Anfragen). Zu einer merklichen Wiederbelebung der Großen Anfrage kommt es in der 8. W P (47) und schließlich zu einem sprunghaften Anstieg in der 10. W P auf die Höchstmarke von 175 Großen Anfragen.

der

Wenn der Bundestag, mit Ausnahme der ersten beiden und der letzten Wahlpe- 44 riode, dieses wichtige Kontrollinstrument weitgehend ungenutzt ließ, dann war B e t e i l i g u n g s q u o t e der dies vor allem auf die Zurückhaltung der Regierungsfraktionen zurückzuführen. O p p o s i t i o n an der G r o ß e n Anfrage Wie kein anderes Kontrollinstrument ist die Große Anfrage zur Domäne der parlamentarischen Opposition geworden. Läßt man die interfraktionell gestellten Großen Anfragen unberücksichtigt, dann ergibt sich das folgende Bild: Von den insgesamt 695 Großen Anfragen wurden 460 (= 66,2 % ) von den Oppositionsfraktionen eingebracht, davon 38,1 % (1. WP), 52,6 % (2. WP), 87,7 % (3. WP), 68,9 % (4. WP). Nach einer ausgeglichenen Verteilung der Ausübungsquote in der atypischen 5. WP steigt der Oppositionsanteil von 80,6 % (6. WP) über 70,8 % (7. WP), 7 0 , 2 % (8. WP) und 7 5 , 0 % (9. WP) auf 8 4 , 0 % in der 10. WP. 147 von insgesamt 175 Großen Anfragen wurden in der 10. WP von der Opposition eingebracht, davon allein 87 von der Fraktion Die Grünen. Die hohe Beteiligungsquote der parlamentarischen Opposition belegt den 45 Informationswert der Großen Anfrage. Ihre Bedeutung für die Herstellung von 9 e r Kontrollöffentlichkeit des Bundestages blieb jedoch lange Zeit marginal. Erst in Ö f f e n t l i c h k e i t s b e z u g der G r o ß e n A n f r a g e der 10. WP wurde durch eine entsprechende quantitative Ausübungsrate der Qualität der Großen Anfrage als Kontroll- und Informationsinstrument des Bundestages Rechnung getragen. 31

Q u e l l e n der f o l g e n d e n statistischen A n g a b e n sind für die 1 . - 7 . W P : P.SCHINDLER D a t e n h a n d b u c h zur G e s c h i c h t e des D e u t s c h e n Bundestages 1 9 4 9 - 1 9 8 2 , B o n n 1 9 8 3 , S. 7 4 9 ff und L . KISSLER D e r D e u t s c h e B u n d e s t a g . E i n e verfassungssystematische, verfassungsrechtliche und verfassungsinstitutionelle U n t e r s u c h u n g , in: J ö R N F 1977, B d . 2 6 , S. 43 ff (S. 91 ff); f ü r die 8 . - 1 0 . W P : P.SCHINDLER D a t e n h a n d b u c h ( F n . 2 0 ) S. 7 0 6 f f ; DERS.: P a r l a m e n t s - und Wahlstatistik ( F n . 2 0 ) S. 195 ff; schriftliche A u s k u n f t des Referats Sach- und S p r e c h r e g i s t e r v o m 2 4 . F e b r u a r 1988 und

32

eigene B e r e c h n u n g e n .

TH. E L L W E I N / A .

GÖRLITZ Parlament (Fn.

1) S.223.

1008

6. Teil: D e r Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

b) Die Kleine Anfrage

(§§104 f f G O BT)

46 Einen etwas anderen Verlauf nimmt die Entwicklung der Kleinen Anfrage. Ihre

D i e Ausübungsrate der Kleinen Anfrage

Ausübungsrate steigt von 355 ( l . W P ) — nach einer gewissen Stagnation bei 377 (2. WP), 411 (3. W P ) und 308 (4. WP) - auf 488 (5. WP) und 569 (8. WP) an. Nach einem kontinuierlichen Rückgang auf 480 (7. WP), 434 (8. WP) und schließlich 297 (9. W P ) schnellt — parallel zur Großen Anfrage — auch die Anzahl der Kleinen Anfragen auf 1006 in der 10. W P hoch.

47

Im Unterschied zur Großen Anfrage entspricht diesem quantitativen jedoch nicht ein qualitativer Zuwachs im Kontroll- und Informationswert. Zwar liegt die Beteiligungsquote der Opposition mit 66,4 % an den insgesamt 4725 Kleinen Anfragen gleichauf mit dem Oppositionsanteil an den Großen Anfragen (66,2 % ) . Die Kleine Anfrage ist jedoch, abgesehen von der 1. W P , wo die Opposition bereits mit 58,9 % beteiligt war, erst wieder ab der 6. W P (82,8 % ) zu einer Oppositionsdomäne geworden. Nach einem erneuten Aufschwung in der 8. W P (84,3 % ) und 9. W P (84,1 % ) lag der Oppositionsanteil in der 10. W P bei 7 6 , 0 % .

48

Im Ergebnis weist diese Bilanz, im Vergleich zur Großen Anfrage, erstens einen erheblich geringeren Informationswert der Kleinen Anfrage über den Zeitraum der ersten fünf Wahlperioden aus. Zweitens belegt die Statistik ein insgesamt ausgeglichenes Verhältnis in der Oppositionsbeteiligung an beiden Anfrageformen, das durch den enormen Anstieg der Beteiligungsquote an der Kleinen Anfrage ab der 6. W P zustande kommt. Drittens aber folgt daraus keineswegs, daß der Kontrollund Informationswert der Kleinen dem der Großen Anfrage vergleichbar wäre; denn entscheidend ist der Öffentlichkeitsbezug beider Anfrageformen. Das Verfahren der Kleinen Anfrage ist grundsätzlich schriftlich, und deshalb weitgehend „entparlamentarisiert". Es dient, wie die steigende Oppositionsbeteiligung belegt, zunehmend der effektiveren Information der parlamentarischen Opposition auf dem Feld der Leistungs- und Sachkontrolle, weniger aber der Kontrollöffentlichkeit für ein außerparlamentarisches Publikum.

Die Beteiligungsquote der Opposition an der Kleinen Anfrage

D e r mangelnde Öffentlichkeitsbezug der Kleinen Anfrage

c) Die Fragestunde

(§105 u. Ani 4

GOBT)

Jeder Abgeordnete hat das Recht bis zu zwei Mündliche Anfragen in der Fragestunde an die Bundesregierung zu richten. Im Unterschied zu der Kleinen Anfrage zeichnet sich das Verfahren der Mündlichen Anfrage durch seinen Offentlichkeitsbezug aus. Nicht die ursprüngliche Anfrage, aber die Antwort und die Zusatzfragen werden im Plenum vorgetragen.

49

Die Ausübungsrate der Mündlichen Anfrage

Schriftlich beantwortet werden dagegen Fragen, die einen Tagesordnungspunkt der laufenden Sitzungswoche betreffen. Der Fragesteller ist berechtigt, zwei Zusatzfragen zu stellen. Weiterhin soll der Präsident weitere Zusatzfragen durch andere Abgeordnete zulassen, soweit sie in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Hauptfrage stehen. Darüber hinaus ist jeder Abgeordnete berechtigt, monatlich bis zu vier Fragen zur schriftlichen Beantwortung an die Bundesregierung zu richten, die auf Verlangen des Fragestellers ebenfalls in der Fragestunde mündlich eingebracht werden, falls keine Beantwortung innerhalb einer Woche eingegangen ist. Das Institut der Fragestunde wurde 1952 eingeführt und seither einschneidenden Veränderungen unterworfen, die auf eine flexiblere Handhabung abzielten

§36

P a r l a m e n t s ö f f e n t l i c h k e i t : T r a n s p a r e n z und A r t i k u l a t i o n (KISSLER)

1009

und die Kontrollöffentlichkeit der Fragestunde verbesserten. Zunächst in quantitativer Hinsicht: Während in den Jahren 1952/53 ganze 393 Mündliche Anfragen gestellt wurden, stieg ihre Zahl, nach den ersten technischen Korrekturen, in der 2 . W P bereits auf 1069 und auf 1536 in der 3 . W P an. Die noch in der 3 . W P eingeführte Neuerung, wonach jede Plenarsitzung durch eine Fragestunde einzuleiten ist, wirkte sich in der 4. W P mit 4786 Mündlichen Anfragen voll aus. Die 5. W P brachte, wohl bedingt durch die Große Koalition, einen sprunghaften Anstieg auf 10 733 Mündliche Anfragen. Im folgenden dürften die Neuformulierung der Richtlinien für die Fragestunde und deren dadurch bewirkte allgemeine Politisierung einen weiteren Motivationsschub für eine verstärkte Inanspruchnahme ausgelöst haben. In der 6. W P wurden 11 073, in der 7. W P bereits 18 497 und in der 8. W P 23 467 Mündliche Anfragen gestellt. Nach einem Rückgang auf 12 069 Anfragen der verkürzten 9. W P weist die 10. W P wieder 22 864 Mündliche Anfragen aus. Allerdings verzeichnet die Statistik ab der 6. W P eine bemerkenswerte, und für 50 den Kontroll- und Informationswert der Fragestunde ausschlaggebende Verlage- D e r a b n e h m e n d e Offentlichkeitsbezug rung von der Mündlichen zur Schriftlichen Anfrage. Von den Anfragen der 6. W P der F r a g e s t u n d e wurden 4107 und von jenen der 7. W P bereits 5572 als Schriftliche Anfragen eingereicht. Damit war eine Entwicklung eingeleitet, die in der 8 . W P zu einem Gleichgewicht im Verhältnis von Mündlichen (11 826) und Schriftlichen Anfragen (11 621) und in der 9. W P schließlich zu einem starken Ubergewicht der Schriftlichen Anfragen (9413) gegenüber den Mündlichen (4971) führte. In der 10. W P wurden dann mehr als doppelt so viele Schriftliche (15 836) wie Mündliche Anfragen (7028) gestellt. Diese zunehmende „Verschriftlichung" des Verfahrens wird durch die Neufas- 51 sung der G O B T 1980 noch verstärkt, indem sie das Fragerecht auch auf die D i e B e t e i l i g u n g s q u o t e sitzungsfreie Zeit ausweitet (Ani. 4 Nr. 13 G O B T ) . Sie wird nicht ausgeglichen der O p p o s i t i o n an der Mündlichen Anfrage durch eine stärkere Oppositionsbeteiligung. In der l . W P wurden 6 8 , 8 % , in der 2. W P 58,2 % der Mündlichen Anfragen von Abgeordneten der Oppositionsfraktionen gestellt. Nach einem Höchststand von 75,5 % (3. WP) ging die Beteiligung der Opposition stark zurück, auf 56,7 % in der 4. WP. Sie pendelte sich in der 7. W P bei 68,9 % ein und lag in der 10. W P bei 65,5 % . Im Ergebnis signalisiert der Rückgang der Mündlichen Anfragen von 12 925 (7. W P ) auf 7028 (10. WP) bei immer weniger Fragestunden (223 in der 5. W P über 168 in der 6. W P bis zu 142 in der 10. WP) 3 3 einen zunehmenden Relevanzverlust der Fragestunde für die Kontrollöffentlichkeit des Bundestages. Dieser wird jedoch kompensiert durch die „Öffentlichkeitskarriere" eines weiteren Kontrollund Informationsinstruments: der Aktuellen Stunde. d) Die Aktuelle Stunde β 106 und Ani. 5

GOBT)

Eine Aktuelle Stunde „für Aussprachen zu Themen von allgemeinem aktuellem Interesse" (Ani. 5 G O B T ) findet statt, wenn sie im Ältestenrat vereinbart, oder von 33

In jeder S i t z u n g s w o c h e dürfen nur F r a g e s t u n d e n von einer G e s a m t d a u e r von 180 M i n u t e n stattfinden. I m V e r g l e i c h : im englischen U n t e r h a u s findet an vier T a g e n p r o W o c h e je eine Fragestunde von einer Stunde D a u e r statt (vgl. H . - A . R O L L / A . R Ö T T G E R Z u r N e u f a s s u n g der G e s c h ä f t s o r d n u n g des Bundestages, in: Z P a r l . 4 / 1 9 8 0 , S. 4 8 4 ff ( S . 4 8 9 ) .

1010

6. T e i l : D e r B u n d e s t a g als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

einer fraktionsstärkemäßigen Anzahl von Abgeordneten im Anschluß an eine Fragestunde verlangt wird. Sie kommt auch unabhängig von der Fragestunde zustande, wenn eine gleiche Anzahl von Abgeordneten dies beantragt. Ihre Dauer ist auf eine Stunde begrenzt, wobei allen Abgeordneten lediglich 5 Minuten Redezeit zur Verfügung stehen, aber dann zur allgemeinen Debatte ohne Beschränkung auf Fünfminutenbeiträge übergegangen wird, wenn ein Regierungs-, Bundesratsmitglied oder einer ihrer Beauftragten länger als 10 Minuten spricht. Die Aktuelle Stunde ist als Minderheitenrecht ausgebaut und verfahrensmäßig öffentlichkeitsbezogen.

52 Die Ausübungsrate der Aktuellen Stunde

53 Die Beteiligungsquote der O p p o s i t i o n an der A k t u e l l e n Stunde

54 Der hohe Offentlichkeitsbezug der A k t u e l l e n S t u n d e

Von der Aktuellen Stunde wurde zunächst nur zögernd und auch später kaum Gebrauch gemacht. Nach ihrer Einführung im Jahre 1965 fanden in der 4 . W P lediglich 2, in der 5. W P 17 und nach einem Einbruch in der 6. W P (8) in der 7. W P 20 Aktuelle Stunden statt. 9 Aktuelle Stunden in der 8. W P und 12 in der 9 . W P verstärkten den Eindruck von ihrem parlamentarischen Schattendasein. Die 10. W P brachte dann mit 117 Aktuellen Stunden den Durchbruch. Inzwischen ist eine Plenarsitzung ohne Aktuelle Stunde die Ausnahme. „Dieser Erfolg der Aktuellen Stunde beruht vor allem darauf, daß eine Minderheit, meist war es die SPD-Fraktion oder die Fraktion Die Grünen, die Durchführung dieser Aussprache mit Fünfminuten-Beiträgen durchsetzen kann. Auch die weitgehende Freiheit bei der Wahl des Themas ( . . . ) trägt dazu bei, daß die Aktuelle Stunde ein außerordentlich beliebtes Instrument der parlamentarischen Auseinandersetzung wurde" 3 4 . Unsere Bilanz bestätigt diese Einschätzung und belegt den hohen Kontroll- und Informationswert der Aktuellen Stunde. Abgesehen von der atypischen 5 . W P kamen sämtliche Aktuelle Stunden der 4. und 6. W P auf Antrag der Opposition zustande. Von den 17 Aktuellen Stunden der 7. W P wurde nur eine interfraktionell beantragt, 16 dagegen von der Opposition. Das Gleiche gilt für die 8. W P , in der von 9 Aktuellen Stunden 8 auf das Konto der Opposition und lediglich eine auf das einer Regierungsfraktion gingen. Selbst bei den 117 Aktuellen Stunden der 10. W P bleibt der Oppositionsanteil mit 90 (= 7 6 % ) noch vergleichsweise hoch. Im Ergebnis kann deshalb die Aktuelle Stunde als das öffentlichkeitswirksamste Instrument des Bundestages bezeichnet werden. Sie zeichnet sich, zusammen mit der Großen Anfrage, durch die höchste Oppositionsbeteiligung ( 8 6 , 3 % ) und ein öffentlichkeitsbezogenes Verfahren im Plenum aus. Darüber hinaus haben beide Kontroll- und Informationsinstrumente gemeinsam, daß sie bis zur 10. W P ihrem hohen Öffentlichkeitswert, mangels entsprechender quantitativer Inanspruchnahme, nicht gerecht werden konnten. Heute prägen sie jedoch entscheidend das Öffentlichkeitsprofil des Bundestages. Inwieweit das in ihnen angelegte politische Kommunikationspotential tatsächlich ausgeschöpft werden kann, hängt von der Fähigkeit des Plenums ab, nicht nur Information zu gewinnen, sondern auch mit einem gesellschaftlichen Publikum auszutauschen. Diese Kommunikationsleistung erfüllt der Bundestag durch seine Repräsentationsöffentlichkeit. Mit welchem Erfolg?

34

H . - A . ROLL G e s c h ä f t s o r d n u n g s p r a x i s im 10. D e u t s c h e n B u n d e s t a g , in: Z P a r l . 3 / 1 9 8 6 , S. 3 1 6 .

§36

1011

P a r l a m e n t s ö f f e n t l i c h k e i t : T r a n s p a r e n z und A r t i k u l a t i o n (KISSLER)

3. Die Repräsentationsöffentlichkeit a) „Parlieren"

und

Debattenordnung

Im Wort „Parlament" steckt „parlieren". Geredet wird im Bundestagsplenum in der parlamentarischen Debatte. Sie verkörpert das zentrale Medium der Repräsentationsöffentlichkeit. Wer, wann und zu welchen Themen in der Debatte das Wort ergreifen darf, ist 5 5 streng geregelt 35 . Die Tagesordnung sowie die Dauer der Redezeit zu den einzel- R e c h t l i c h e und nen Punkten werden vom Altestenrat unter Beteiligung der Fraktionen im Kon- institutionelle G r u n d l a g e n der sensverfahren festgelegt. Debatte Redeordnung und -zeit wurden inzwischen mehrmals mit dem Ziel korrigiert, möglichst viele Abgeordnete zu Wort kommen zu lassen und durch Rede und Gegenrede die Debatte lebendig zu gestalten. So beschränkte die Kleine Parlamentsreform von 1969 die bis dahin einstündige Redezeit pro Redner rigide auf 15 Minuten. Obgleich von diesem Grundsatz in der Praxis häufig abgewichen wurde, hat sich danach der Anteil der Debattenredner um ca. 10 % erhöht. Eine weitere Verbesserung brachte die Neufassung der G O B T von 1980. Sie überantwortet die Debattengestaltung und -dauer vorrangig dem Ältestenrat (§ 35 G O B T ) . Dieser vereinbart in der Regel 10 oder 5 Minuten pro Redebeitrag und 45 Minuten für die einleitenden Beiträge bei längeren Aussprachen. Daraus folgt allerdings nicht, daß jeder Abgeordnete, der dies wünscht, das Wort ergreifen kann; denn die Gesamtredezeit zu einem Tagesordnungspunkt ist begrenzt. „Für den einzelnen Abgeordneten ist es noch immer nicht einfach, im Plenum zu Wort zu kommen. Der Weg zum Rednerpult führt über die Fraktionsgeschäftsführer" 36 . Im Ergebnis hat somit der Bundestag das Rederecht „sehr modern" (W. ZEH), soll heißen effizienzorientiert gestaltet: „Es bringt die Erkenntnis zum Ausdruck, daß die Plenardebatte nicht dazu dienen kann, die Willensbildung des Parlaments jetzt erst zu leisten ( . . . ) . Vielmehr gilt es in diesem Stadium, der Öffentlichkeit ein zusammengefaßtes und vereinfachtes Bild des Für und Wider zu vermitteln, welches in den zahlreichen Stufen der Entscheidungsvorbereitung eine Rolle gespielt hat, gleichsam also den Konflikt noch einmal nachzustellen', lind so die Bürger von der Triftigkeit des eigenen Standpunktes zu überzeugen und ihnen die Möglichkeit zu geben, sich ihrerseits eine Meinung anhand der ausgebreiteten Argumente zu bilden." 37 Die Debattenordnung mag diesem schlichten Publizitätsanspruch genügen. Wird ihm aber auch die Debattenpraxis gerecht? b) Parlamentarische

Herrschaftsstruktur

und

Debattenstil

Der Bundestag gleicht einem Geisterhaus. Während man Stimmen hört, streift die 5 6 Fernsehkamera über endlose Reihen leerer Bänke. Dieses vertraute öffentliche Bild Der ' e e r e Plenarsaal von der durchschnittlichen Bundestagsdebatte provoziert gelegentlich Medien35

V g l . dazu im einzelnen den Beitrag von JOHANN CHRISTOPH BESCH in diesem B a n d

§33

R e d e r e c h t und R e d e o r d n u n g . 36

Vgl. P . S C H O L Z P a r l a m e n t s r e f o r m

seit

1969. E i n e B i l a n z

Bundestag, in: Z P a r l . 3/1981, S . 2 7 4 . 37

W . Z E H G e s c h ä f t s o r d n u n g ( F n 2 7 ) S . 4 0 1 f.

ihrer W i r k u n g e n

im

Deutschen

1012

Das

6. Teil: D e r Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

schelte bis zur Forderung, das Fernsehen aus dem Plenarsaal zu verbannen38. Aber: „Darstellungsprobleme des Parlaments in der Öffentlichkeit lassen sich (...) nicht dadurch lösen, daß man die Darstellung anderer über das Parlament einschränkt 39 ." Das Problem reicht tiefer. Es wurzelt in der Herrschaftsstruktur des Bundestages. 57 Kennzeichnend für die internen Herrschaftsverhältnisse des Parlaments ist die Dreiklassen- arbeitsteilige und hierarchische Organisation der Abgeordnetentätigkeit. Sie geneParlament riert eine „parlamentarische Dreiklassengesellschaft" (H. A P E L ) aus den Mitgliedern der engeren Fraktionsführung, den Verbandsvertretern und dem „Fußvolk". Die Debatte wird von derjenigen Gruppe kontrolliert, die zum einen über die besten Ressourcen zur Informationsbeschaffung und -Verarbeitung verfügt und die zum anderen ihren Informationsvorsprung auch in die Debatte einbringt. Diese Bedingungen werden weder von den Verbandsvertretern noch vom „Fußvolk" erfüllt. Ersteren fehlt es in der Regel an Motivation, sich über die Ausschußarbeit hinaus an der Debatte zu beteiligen, letzteren fehlen die Mittel zur eigenen Informationsbeschaffung. Vielmehr gehört jener Abgeordnetentyp, der die parlamentarische Debatte beherrscht, zum Bundestagsmanagement und/oder betreibt seine Mandatsausübung als Beruf. 58

Die Abgeordneten selbst sind in hohem Maße (65 % der Jungparlamentarier und 80 % der Altparlamentarier) „mit dem jetzigen Verlauf der Plenardebatten"40 unzufrieden. Gefordert werden mehr Diskussion, mehr Spontaneität und noch kürzere Beiträge. Die Kritik der Parlamentarier macht sich demnach vor allem an der Art und Weise breit, wie im Plenum bislang debattiert wird. Und in der Tat ist es der herrschende Debattenstil, der die Öffentlichkeitswirkung der parlamentarischen Debatte erheblich einschränkt. 59 Stilprägend ist der dominierende Abgeordnetentyp — der Berufspolitiker. „Sein M a n a g e r - A u f f a s s u n g Arbeitsstil" war bereits in den 60er Jahren „weitgehend der Stil des ganzen Hauses von der Politik und geworden" 4 ' und ist es bis heute geblieben. Zwei Grundeinstellungen kennzeichnen Korpsgeist den Berufspolitiker: die Manager-Auffassung von der Politik und der gruppenspezifische Korpsgeist. Forcierte Arbeitsteilung, Bürokratisierung und Hierarchisierung des parlamentarischen Prozesses sind die Folgen. Erstere fördern die Dominanz des Sachverstandes und die Ablösung des politischen Rhetorikers durch den Experten. Die Hierarchisierung des parlamentarischen Prozesses sichert das „Redemonopol" in den Führungsgruppen der Fraktionen mit der Folge weitgehender Abstinenz der „Hinterbänkler" von der Debatte. Am ehesten kommt mehrfach derjenige zu Wort, der dem engeren Fraktionsvorstand angehört42. Abgeordnetenkritik an der Debatte

3

" Vgl. den Vortrag von H . H . KLEIN Gedanken zum Parlament: Selbstverständnis, Arbeitsweise, Wirksamkeit, in: ZParl. 2/1986, S. 268 und seine im gleichen H e f t , S. 271 ff abgedruckte Diskussion durch die Deutsche Vereinigung für Parlamentsfragen.

39

D i s k u s s i o n s b e i t r a g v o n N.KORSCHENBROICH in: Z P a r l . 2 / 1 9 8 6 , S . 2 7 9 .

40

Vgl. die empirischen Belege bei E. R O S E / J . HOFFMANN-GÖTTIG Selbstverständnis und politische Wertungen der Bundestagsabgeordneten. Ergebnisse repräsentativer U m f r a g e n , in: ZParl. 1/1982 S. 66. G . LOEWENBERG Parlamentarismus im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 1971, S. 167. Belege bei P. SCHOLZ Rederecht und Redezeit im Deutschen Bundestag, in: ZParl. 1/1982, S. 32.

41

42

§36

1013

Parlamentsöffentlichkeit: T r a n s p a r e n z und Artikulation (KISSLER)

Der Korpsgeist der stilprägenden Abgeordnetengruppe schlägt sich in der verbreiteten Bereitschaft nieder, Differenzen durch Kompromisse zu überbrücken. Diese Bereitschaft geht oft weit über das verfassungspolitisch und -psychologisch gebotene Maß hinaus, in existenziellen Fragen Einigkeit über die politischen Fronten hinweg zu demonstrieren. Verwurzelt in der deutschen Parlamentstradition, nährt der Korpsgeist die Tendenz zur entpolitisierten, nur noch bei spektakulären Gesetzgebungsmaterien kontroversen, ansonsten aber vom Fachjargon der Fraktionsspezialisten beherrschten Debatte. Im „Schichtwechsel der Experten" 4 3 verkommt diese zum inszenierten Auftritt, der mit eingeübtem Rollenspiel Spontaneität und Improvisation erstickt und den politischen Gehalt der Debatte auf ihren publizistischen Effekt reduziert. c) Sozialprofil des Bundestages und Themenstruktur der Debatte Was im Plenum des Bundestages zur Sprache kommt, ist sozial vermittelt, d. h. Ausdruck seiner Fähigkeit zu sozialer Repräsentation. Natürlich kann und soll der Bundestag keine Disneyland-Ausgabe der bundesdeutschen Gesellschaft sein. Demokratische Repräsentation ist aber an ein Mindestmaß von sozialer Repräsentation gebunden. Die parlamentarische Debatte lebt von der Sprache und der durch sie transportierten Themen. Daß Sprachverhalten und -kompetenz geschlechts- und schichtenspezifisch ausgeprägt sind, ist unstrittig. Die soziale Zusammensetzung des Parlaments prägt deshalb seine Repräsentationsöffentlichkeit. Der Bundestag ist weit davon entfernt, eine Gesellschaft en miniature zu sein. Nach wie vor handelt es sich um ein Männerparlament. Von der 1. bis zur 10. W P hatten 173 Frauen ein Mandat inne, von insgesamt 2022 Abgeordneten (= 8,6 %) 4 4 . Zwar waren noch nie so viele Frauen im Bundestag wie in der 10. W P , nämlich 51. Aber der Anteil von weiblichen Abgeordneten liegt immer noch unter 1 0 % . Er verteilt sich allerdings sehr unterschiedlich auf die Fraktionen: 6 , 7 % der C D U / C S U und 8,6 % der F.D.P.-Fraktion sind Frauen. Bei den Oppositionsfraktionen beträgt der Frauenanteil 1 0 , 4 % (SPD-Fraktion) und 3 5 , 7 % bei der Fraktion Die Grünen. Verlängert man die Zunahme des Frauenanteils von der 9. zur 10. W P in die Zukunft, „so wird erst in der 41. W P , d. h. im Jahr 2107, jeder zweite Abgeordnete eine Frau sein" 4 5 . Es könnte allerdings auch schneller gehen, wenn der Zuwachs um 30 weibliche Abgeordnete in der 11. W P (Frauenanteil von nunmehr 1 5 , 6 % ) keine Ausnahme bliebe. Düsterer sieht allerdings das Bild des Frauenanteils an parlamentarischen Führungspositionen aus 46 . Von den durch die Bundestagsfraktionen zu besetzen43

H . - P . SCHNEIDER Entscheidungsdefizite der Parlamente. Ü b e r die N o t w e n d i g k e i t einer W i e derbelebung der P a r l a m e n t s r e f o r m , in: A ö R , B d . 105, 1 9 8 0 , S . 4 f f

44

(S.32).

D e r durchschnittliche Frauenanteil in den Nationalversammlungen und im D e u t s c h e n R e i c h s tag lag bei 6,2 % . Ausführliches D a t e n - und biographisches Material, in: D e u t s c h e r Bundestag, Hauptabteilung

wissenschaftliche

Dienste

Parlamentarierinnen

in

Deutschen

Parlamenten

1 9 1 9 - 1 9 8 3 , B o n n 1983. 45

B.HÖCKER Frauen in der Politik: Gängige H y p o t h e s e n zum Präsenzdefizit auf dem empirischen Prüfstand in B r e m e n , in: ZParl. 1 / 1 9 8 6 , S. 65.

«> Vgl. P.SCHINDLER D a t e n h a n d b u c h ( F n . 2 0 ) S . 2 2 9 f f .

60

Das Männerparlament

61 Frauenanteil an Führungspositionen

1014

6. Teil: D e r Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

den Führungspositionen vergaben in der 10. W P die C D U / C S U - F r a k t i o n 5 von 77 Positionen an weibliche Fraktionsmitglieder und die F.D.P.-Fraktion 0 von 19 Positionen. In der SPD-Fraktion konnten 3 von 24 Führungspositionen von Frauen besetzt werden. Bei den Grünen dagegen zunächst 3 und ab April 1984 sogar 5 von 7 Positionen. Deshalb verwundert es auch nicht, wenn die Parlamentarierinnen dieser Fraktion vergleichsweise häufiger in der Debatte das Wort ergreifen (können) als ihre Kolleginnen aus den anderen Fraktionen.

62 Frauen als Rednerinnen

Angesichts der nach wie vor dominierenden geschlechtsspezifischen Besetzung von Führungspositionen durch Männer gehören die weiblichen Abgeordneten zur „Leichtlohngruppe im Bundestag", was nicht nur ihren Zugang zum Rednerpult erschwert, sondern auch Atmosphäre und Stil der Debatte prägt. Der Geräuschpegel im Plenum steigt in der Regel beträchtlich an, wenn eine Frau ans Rednerpult tritt. Rednerinnen haben nicht nur mit mehr, sondern auch mit anders gearteten Zwischenrufen zu rechnen als ihre männlichen Kollegen: von „zur Sache Schätzchen", über „Sie sehen besser aus, als Sie reden" bis zu „Küßchen, Küßchen" 4 7 .

Das Sozialprofil des Bundestages zeichnet sich durch drei weitere Merkmale aus: Verbeamtung, Akademisierung und soziale Nivellierung. 63 Der Bundestag ist ein Beamtenparlament. Nahezu ein Drittel (31,1 % ) der „Verbeamtung" des Abgeordneten der 10. W P waren Beamte. Sie prägen auch das Sozialprofil des Bundestages 11. Deutschen Bundestages. Jeder sechste Abgeordnete kommt aus einem Lehrberuf. Am stärksten „verschult" ist die Fraktion der Grünen (Fraktionsanteil: 'Λ)48.

64

„Akademisierung" des Bundestages

65 Soziale Nivellierung

Ungebrochen ist auch der Trend zur Akademisierung des Parlaments. 350 (= 6 7 , 4 % ) Abgeordnete des 11. Bundestages verfügen über eine abgeschlossene Universitätsausbildung. Der Anteil mit Hochschulausbildung ist noch beträchtlich höher. Mehr als ein Drittel sind promoviert. Verbeamtung und Akademisierung sind Indizien für die soziale Herkunft der Abgeordneten vornehmlich aus der Mittelschicht. Die sozialen Unterschichten fallen als parlamentarisches Rekrutierungsfeld fast völlig aus. Der Arbeiteranteil an der Berufsstruktur des Bundestages liegt bei unter 2 % . Beim Bundestag handelt es sich demnach um ein sozial nivelliertes, „verbeamtetes" Akademikerparlament. Die Folgen dieses außerordentlich homogenen Sozialprofils für die Repräsentationsöffentlichkeit sind eklatant. Deren Themen werden vornehmlich aus der Mittelschichtperspektive gesehen, andere bleiben ganz ausgeblendet. Ein vom Sozialcharakter der Mittelschicht geprägter politischer Stil verstärkt zudem die in der parlamentarischen Herrschaftsstruktur angelegten Folgen für die parlamentarisch-politische Kommunikation. Die sozialstrukturell bedingte, vornehmlich juristisch gefärbte politische Kultur mit ihrer vom Fachjargon getragenen parlamentarischen Debatte, trifft sich mit einer herrschaftsstrukturell bedingten Expertensprache. Das Harmoniestreben des Mittelschichtcharakters findet sich wieder im Korpsgeist des Berufspolitikers. Sie schmälern den Offentlichkeitswert der parlamentarischen Debatte.

47

48

So die Abgeordnete RENATE SCHMIDT in: Frankfurter Rundschau N r . 22 vom 22. September 1984. Vgl. Informationsdienst des Instituts der Deutschen Wirtschaft (iwd), 14.Jg., N r . 5 vom 4.2.1988, S.3.

§36

Parlamentsöffentlichkeit: Transparenz und Artikulation (KISSLER)

1015

Fazit: Die Repräsentationsöffentlichkeit des Bundestages vermag deshalb die in der 10. WP erzielten Fortschritte auf den Feldern der Verhandlungs- und vor allem der Kontrollöffentlichkeit nur unzureichend in parlamentarisch-politische K o m munikation umzusetzen. Der Bundestag tagt zwar länger öffentlich, er ist auch besser informiert als seine Vorgänger. Er hat sogar, vor allem durch die Fraktion der Grünen, seine Antennen für die gesellschaftlichen Themen eines in den neuen sozialen Bewegungen verorteten, außerparlamentarischen Publikums ausgebaut. Aber den verengten kommunikativen Frequenzbereich eines „Mittelschichtparlaments" konnte er nicht erweitern. Mit vermehrten Anfragen und Aktuellen Stunden werden nur die alten gesellschaftlichen Teilöffentlichkeiten eines juste milieu erreicht, für das der Bundestag als „sounding-board" fungiert. Im Verhältnis zu weiteren Bereichen der Gesellschaft und anderen sozialen Schichten bleibt es bei einem „so tun, als o b " — einem verhandlungsöffentlich produzierten Schein von parlamentarischer Öffentlichkeit. Ihm entspricht auf der Seite des Publikums die verbreitete diffuse Unterstützungshaltung gegenüber dem Parlament — anstelle seiner positiv-kritischen Akzeptanz 4 9 . Dies ist nicht allein dem Parlament, sondern auch einer spezifischen Vermittlungsfehlleistung der Massenmedien anzulasten. Weil diese die parlamentarischen Öffentlichkeitsdefizite des Bundestages nicht kompensieren, sondern eher verstärken, bringen sie ihn ein Stück weit voran auf dem Weg in die Sackgasse: vom halböffentlichen zum scheinöffentlichen Parlament. Richtungsänderung durch Parlamentsreform ist deshalb das Gebot der Stunde.

III. Das Plenum — Quelle für Reformöffentlichkeit? Parlamentarisch-politische Kommunikation und Parlamentsreform Das Thema Parlamentsreform ist so alt wie die Institution selbst und feiert gegenwärtig wieder Konjunktur. Dies darf als Indiz gelten für ein Maß an Reflexivität des Parlaments, das seine überlebensnotwendige Lernfähigkeit garantiert. Parlamentarische Öffentlichkeit ist nicht nur Reformgegenstand (vgl. 1.) sondern auch Bedingung für eine Parlamentsreform, die den Namen verdient (vgl. 2.). Da Öffentlichkeitsdefizite Reformdefizite begründen, sind aktuelle Bestrebungen, den Informationshaushalt der Abgeordneten mit neuen Informations- und Kommunikationstechniken auszurüsten, auf ihre Öffentlichkeitswirkung hin zu durchleuchten (vgl. 3.). 1. Parlamentarische Öffentlichkeit als Reformgegenstand Die Reformgeschichte des Bundestages weist, neben zahlreichen Korrekturen, drei Zäsuren auf, die für seine Öffentlichkeitsfunktion bedeutsam sind: die Kleine Parlamentsreform von 1969, das Abgeordnetengesetz von 1976 und die Neufassung der Geschäftsordnung von 1980. 49

Vgl. S . S . SCHÜTTEMEYER Bundestag und Bürger im Spiegel der Demoskopie, Opladen 1986, S. 238 ff.

66

V o m halböffentlichen zum scheinöffentlichen Parlament

1016

67

6. Teil: Der Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

A n die Reforminitiativen des 5. Deutschen Bundestages, die im F r ü h s o m m e r

Die Kleine 1969 in die sog. Kleine Parlamentsreform mündeten, war die Erwartung gerichtet, Parlamentsreform von die Strukturmängel einer parlamentarischen „ M i s c h f o r m " von Rede- und Arbeits1969

parlament, wie sie der Bundestag zu verkörpern sucht, zu beseitigen oder so doch wenigstens ihre Auswirkungen abzufedern. Dies ist gescheitert. Z w a r sah die Kleine Parlamentsreform u. a. wichtige Korrekturen zur Verbesserung der Verhandlungsöffentlichkeit vor, wie z . B . die Redezeitverkürzung, die allerdings nicht die freie Rede, sondern das Ablesen v o m Manuskript förderte, und die fakultative Öffentlichkeit der Ausschußsitzungen. Insgesamt aber steigerte der R e f o r m p r o z e ß vor allem die E f f i z i e n z der parlamentarischen Arbeit, kaum jedoch ihre Transparenz. Mit insgesamt 109 Initiativen brachte der Bundestag ein v o m Effizienzdenken geprägtes Selbstverständnis z u m A u s d r u c k und förderte dadurch seinen weiteren „ R ü c k z u g aus der Öffentlichkeit" (TH. ELLWEIN) in die Arkanbereiche der Ausschüsse 5 0 .

68

D i e s e Entwicklung wurde auch durch die N e u f a s s u n g der G e s c h ä f t s o r d n u n g

Die N e u f a s s u n g des des Bundestages von 1980 nicht unterbrochen. Gleichwohl bringt auch sie öffentG O B T 1980

lichkeitswirksame Korrekturen. D i e N e u f a s s u n g stellt durch eine weitere Straffung der D e b a t t e n o r d n u n g die Plenardebatte in den „Dienst der T r a n s p a r e n z " (W. ZEH), nicht jedoch der politischen K o m m u n i k a t i o n . Sie stärkt die Rechte der Fraktionen, darunter auch die Minderheitenrechte der O p p o s i t i o n , was, wie oben gezeigt w u r d e (vgl. II.2.), der Kontrollöffentlichkeit zugute k o m m t , nicht jedoch die Rechte des Abgeordneten. Im Endeffekt schreibt die neu gefaßte Geschäftsordnung die Effizienzorientierung der Kleinen Parlamentsreform fort 5 1 . D i e Chance, mit einer großen Anstrengung des Bundestages zur Selbstreform, sein Plenum zu einem O r t politischer K o m m u n i k a t i o n aufzuwerten, w u r d e vertan.

69

Wenn dieser O r t auch weiterhin nicht von einem neuen Abgeordnetentyp, der sich als politischer K o m m u n i k a t o r versteht, besetzt werden kann, dann ist dies u. a. dem Abgeordnetengesetz von 1976 geschuldet. D a s G e s e t z regelt die Rechtsstellung des Angehörigen des Öffentlichen Dienstes als Abgeordneter neu. E r kann nunmehr nicht mehr, wie früher üblich, während seiner M a n d a t s a u s ü b u n g befördert werden ( § § 3 - 6 A b g G ) . F ü r beamtete A b g e o r d n e t e ordnet das G e s e t z das Ruhen der Beamtenrechte und -pflichten an ( § 5 A b g G ) , mit der Folge, daß Ruhegelder und entsprechende B e z ü g e nicht mehr, wie bisher, für die Zeit der Abgeordnetentätigkeit beansprucht werden können. Entsprechende Folgen sieht das G e s e t z für die Angestellten des Öffentlichen Dienstes vor (§ 8 A b g G ) .

70

D a s G e s e t z setzt damit das sog. Diätenurteil des Bundesverfassungsgerichts v o m 5. N o v e m b e r 1975 um. D e r Gleichheitsgrundsatz — so das Urteil — gebiete, daß jedem Abgeordneten eine gleich hoch bemessene Entschädigung für seine M a n d a t s a u s ü b u n g zusteht, die den Charakter eines zu versteuernden E i n k o m m e n s hat. Mit dieser F o r m der Abgeordnetenalimentierung wurden nicht nur die Privilegien des öffentlich bediensteten Abgeordneten abgebaut — ohne daß aller-

Das Abgeordnetengesetz von 1976

D a s Diätenurteil des B V e r f G von 1975

50

51

Vgl. die detaillierte Darstellung und Bewertung der Kleinen Parlamentsreform auf der G r u n d lage der von U . THAYSEN zusammengestellten Synopse der Reforminitiativen bei L. KISSLER Die Öffentlichkeitsfunktion (Fn. 8) S. 527 ff. S o auch P.SCHOLZ Parlamentsreform ( F n . 3 6 ) S . 2 8 6 .

§ 36

Parlamentsöffentlichkeit: Transparenz und Artikulation (KISSLER)

1017

dings der weiteren Verbeamtung des Bundestages wirksam Einhalt geboten worden wäre. Vor allem wurde der Weg zum Berufsparlamentarier geebnet und damit zu einer weiteren Professionalisierung der parlamentarischen Arbeit mit ihren oben beschriebenen Folgen für die Repräsentationsöffentlichkeit des Bundestages. 2. Parlamentarische Öffentlichkeit als Reformbedingung Verlauf und Ergebnis bisheriger Reformbemühungen des Bundestages, insbesondere der Kleinen Parlamentsreform von 1969, zeigen, daß die Stärkung parlamentarischer Öffentlichkeit im Zuge von Reformmaßnahmen selbst nur als öffentlicher Prozeß Erfolg haben kann. Selbstverständnisdebatten, wie in der 10. WP, können zunächst nur Impulse geben. Bestenfalls legen sie unterschiedliche Vorstellungen über Sein und Sollen des Parlaments offen und benennen seine Entwicklungsalternativen52. Entscheidend ist jedoch, daß Parlamentsreform selbst zum Thema politisch-parlamentarischer Kommunikation und damit von öffentlicher Meinungsbildung avanciert. Diese herzustellen ist vor allem Sache der Medien, das Parlament allein ist damit überfordert. Untersucht man die reformbegleitenden Presseerzeugnisse während der 5. WP, dann wird deutlich, daß die Medien sich dieser Aufgabe nicht gestellt haben53. Der Reformprozß scheiterte damals auch am Fehlen eines aktiven parlamentarischen Publizistenpublikums. Der Bundestag konnte zwar temporär und punktuell medienvermittelte Reformöffentlichkeit herstellen, aber nicht kommunikativ verfestigen. Es spricht nichts dafür, daß die massenmediale Erweiterung der aktuellen parlamentarischen Reformdiskussion auf ein gesellschaftliches Publikum heute eher zu erreichen ist. Die aufgezeigten Strukturmängel parlamentarischer Öffent..... , .. .. . , · Ι T> R J-1 · J hchkeit erschweren nicht nur die innerparlamentarische Retormdiskussion und verhindern die Herausbildung eines kritischen Publizistenpublikums. Sie werden auch massenmedial reproduziert und perzipiert durch die Medienkonsumenten. Die entscheidende Reformbarriere muß demnach in der gegenseitigen Verstärkung von parlamentarischen und massenmedialen Strukturmängeln für eine öffentliche Reformdiskussion gesehen werden. Am Beginn einer realistischen Reformstrategie steht deshalb — so das Fazit — nicht die Selbstreform des Parlaments, sondern die Medienreform durch das Parlament. Diese hätte die institutionellen Voraussetzungen für einen medienunterstützten parlamentarischen Reformprozeß erst zu schaffen. Kann diese Aufgabe von den neuen Informations- und Kommunikationsmedien übernommen werden, mit denen der Bundestag bis Mitte der 90er Jahre ausgestattet werden soll?

52

53

Zum Beispiel zwischen klassisch-altliberalem und Gruppenparlament, vgl. E. SCHUTT WETSCHKY Parlamentsreform: Meilenstein oder Sackgasse?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Β 48/87 vom 28. November 1987, S. 3 ff. Zum empirischen Nachweis vgl. L. KISSLER Rechtssoziologie für die Rechtspraxis, Neuwied und Darmstadt 1984, S. 81 ff.

71 Die Massenmedien als

Reformvehikel

72 Die Verstärkung der . Offentlichkeitsdefizit j u r c j 1 j ¡ Medien

1018

6. Teil: Der Bundestag als Forum und zentraler Ort der politischen Willensbildung

3. Reformalternativen: der Bundestag — elektronisches oder öffentliches Parlament? 73 Der Bundestag hat seine Reformdiskussion in der 10. W P institutionalisiert. ParalPohtische Reform und Jel Z ur Einrichtung der ad-hoc-Kommission „Parlamentsreform" liefen Initiativen , , , t e c ' l r l ' s c ' i e z u r technischen Modernisierung des Bundestages an, deren Auswirkungen auf Modernisierung

74 Langzeitperspektive und Gestaltungs, . . . T ertordernis der luKTechniken

75 Personalbedarf

.

.

.

.

.

.

seine politische Reform gravierend sein werden. Im Juni 1984 konstituierte sich die Unterkommission zum „Einsatz neuer Informations- und Kommunikationstechniken und -medien". Sie vergab bereits im November 1984 eine wissenschaftliche Studie mit dem Ziel, „Möglichkeiten zur Unterstützung der Tätigkeiten der Parlamentarier durch neue Informations- und Kommunikationstechniken und -medien ( P A R L A K O M ) zu entwickeln". 5 4 Welche Perspektiven ergeben sich für die Informations- und Kommunikationsleistung des Bundestages aus der geplanten Ausstattung mit modernen Informations- und Kommunikations-(IuK-)Medien, die auf Vernetzung und Digitalisierung (ISDN) basieren? Die Einführung von neuen Techniken geschieht in der Regel verdeckt und schleichend, mit der Folge, daß Prognosen über ihre Auswirkungen schwierig sind. Entscheidend ist jedoch erstens die zeitliche Perspektive und zweitens die Art und Weise, wie neue Techniken eingeführt und angewendet werden, d. h. ihre aktive Gestaltung durch die Benutzer. Was kurzfristig betrachtet harmlos erscheint, wie z . B . Videotext, Komforttelefon, Euro-Signal, wird mittelfristig bereits heikler: Bildschirmtext auf digitalisierter Basis (ISDN) und die mögliche Verknüpfung von Daten- und Informationssystemen. „Langfristig schließlich die denkbare totale Technisierung der Politik: der Volksvertreter, der seinen Wählern aus Gründen der Effektivität nur noch elektronisch präsent ist, der die Sorgen und Nöte seiner Wähler (so wie sie ihn ,gefiltert' erreichen) mit aufwendigen Analyseprogrammen interpretiert und dann errechnet bekommt, was politisch relevant ist 55 ." Allerdings sind Gestaltungsinteresse und -kompetenz der Abgeordneten begrenzt. Zwar ist man mit der derzeitigen technischen Ausrüstung der Abgeordnetenbüros nicht zufrieden, andererseits sehen nur wenige Abgeordnete in der technischen Aufrüstung die Lösung ihrer Informationsprobleme und — nach bisherigen Analysen — auch zu Recht. Die Vorteile, die sich aus dem Zugang zu Datenbanken und aus anderen Anwendungsmöglichkeiten der IuK-Techniken potentiell bieten, sind nur unter Einsatz von erheblichem Fachwissen und nicht ohne umfangreiche Personalaufstockung (um ca. 900 Stellen) zu nutzen. Aus Datenbergen wird erst dann handlungsrelevante Information, wenn sie für die Abgeordnetentätigkeit kleingearbeitet sind.

76 Von der IuK-Ausstattung des Bundestages wird erwartet, daß sie das InformaPolitische Erwartungen tionsgefälle innerhalb der Fraktionen ausgleiche und den Informationsvorsprung an die Technik

54

55

Zur Vorgeschichte und zum Stand der Ausstattung des Bundestages mit IuK-Medien unter besonderer Berücksichtigung der „PARLAKOM"-Studie vgl. die detaillierte Darstellung und kritische Würdigung bei H.-J. L A N G E Informatisierung des Parlamentarismus. Zur Einführung neuer Informationstechniken im Deutschen Bundestag — Legitimationsprobleme einer technisierten Demokratie (polis-Sonderband) Fernuniversität Hagen, M ä r z 1987. H.-J. L A N G E Informatisierung (Fn.54) S. 176 und zum folgenden.

§36

Parlamentsöffentlichkeit: T r a n s p a r e n z und Artikulation (KISSLER)

1019

des technisch bereits aufgerüsteten Regierungsapparates und der Ministerialbürokratien gegenüber dem Parlament abbauen könne. Ein informatives Gegengewicht in den Händen des Abgeordneten würde seine Position in der Herrschaftsstruktur des Bundestages stärken und das Parlament insgesamt aufwerten. Voraussetzung wäre allerdings, daß die IuK-Medien personen- oder parlamentsbezogen eingeführt werden. Im ersteren Fall sind sie auf die spezifischen Erfordernisse des Abgeordnetenbüros zuzuschneiden, im zweiten Fall an den Ressourcen des Gesamtparlaments, des wissenschaftlichen Dienstes und der Ausschüsse auszurichten. Aber würde dadurch nicht zugleich einem antiquierten Parlamentsverständnis Vorschub geleistet, das die politische Konfliktlinie zwischen Regierung und Parlament und nicht realitätsnah im Parlament zwischen Regierung/Regierungsmehrheit und Opposition zieht? Mit ziemlicher Sicherheit wird deshalb die IuK-Ausstattung des Bundestages 77 fraktionsbezogen ausgelegt. Sie wird dann das Informationsgefälle zwischen Frak- Politische F o l g e n tionsführung und einfachen Abgeordneten noch vergrößern und die ausgeprägte I u K - T e c h n i k innerparlamentarische Hierarchie auch noch technisch absichern, mit den oben genannten (vgl. II.3.) negativen Folgen für die Repräsentationsöffentlichkeit des Bundestages.

der

Ob allerdings von einer personenbezogenen IuK-Ausstattung positive Effekte 7 8 für die parlamentarische Öffentlichkeitsfunktion zu erwarten wären, ist äußerst O f f e n t l i c h k e i t s f o l g e n zweifelhaft. Denn entscheidend ist, wozu der Abgeordnete seinen verbesserten IUK-Technik Informationshaushalt nutzt: für die kompetentere und noch fleißigere Ausschußarbeit oder für eine Schärfung der Kontroll- und Informationsinstrumente im Plenum. Unterstellen wir, die IuK-Ausstattung des Bundestages wird, was absehbar ist, in den gegebenen strukturell-organisatorischen Rahmen der parlamentarischen Politikbearbeitung eingepaßt, dann wäre damit zugleich auch die Rolle des Ausschußexperten und Berufspolitikers als Normalrolle des Abgeordneten festgeschrieben. Die Informatisierung der parlamentarischen Politikbearbeitung festigt das herrschende Selbstverständnis des Abgeordneten, der sein Tätigkeitsfeld weniger im Plenum als in den Ausschüssen sieht56. Sie verstärkt dadurch den herrschenden Trend in der Sozialisationsleistung des Bundestags nach innen. Diese kommt zum Ausdruck im „massenhaften Abfall" der Abgeordneten von der zunächst vertretenen Publizitätsforderung, in einer Umorientierung im Verlaufe der Mandatsausübung, die sich auf die Formel bringen läßt: „Öffentlichkeit parlamentarischer Arbeit scheint nur für Außenstehende ein zentraler Wert" 5 7 . Wenn bei entsprechender technischer Infrastruktur „eine Präsenz der Abgeord- 7 9 neten im Parlament nicht mehr nötig ist", weil die Debatte durch „Computer- Orgamsatorischru | tt ^ re ^} e Konferenzen" ersetzbar wird 58 , dann ist mit der technischen zugleich eine weitreichende organisatorisch-strukturelle Entscheidung getroffen: für das Arbeits- und gegen das Redeparlament. Bekanntlich kumuliert der Versuch einer Synthese beider Parlamentstypen in der Praxis vorwiegend ihre Mängel. Er führt zur

56

Vgl. E. R O S E / J . H . GÖTTIG Selbstverständnis ( F n . 3 )

57

B. BADURA/J. REESE Jungparlamentarier in B o n n — ihre Sozialisation im D e u t s c h e n B u n d e s tag, Stuttgart-Bad C a n n s t a d t 1 9 7 6 , S. 45.

58

H . - J . LANGE I n f o r m a t i s i e r u n g ( F n . 5 4 ) S. 182.

S.67.

1020

6. Teil: Der Bundestag als Forum und zentraler Ort der politischen Willensbildung

strukturell angelegten Überforderung des Abgeordneten und erzeugt Reformdruck. Die politische Reformentscheidung für eine der Alternativen ist deshalb längst überfällig, möglicherweise aber auch wegen selbstgesetzter technischer „Sachzwänge" bald hinfällig; denn das elektronische Parlament ist mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Arbeitsparlament. Seine „Architektur" sieht ein Plenum als Ort politischer Kommunikation nicht mehr vor. 80 Die neuen Informations- und Kommunikationstechniken können dagegen nur Reformalternativen dann neue Informations- und politische Kommunikationschancen mit einem gesellschaftlichen Publikum eröffnen, wenn die politische Reform des Bundestages nicht auf dem Altar seiner technischen Modernisierung geopfert wird. Der HighTech-Weg vom halböffentlichen zum elektronischen Parlament ist kurz. Lang und beschwerlich dagegen die Reformstrecke zum öffentlichen Parlament.

II. Die Fraktionen

§ 37 Politische Bedeutung, Rechtsstellung und Verfahren der Bundestagsfraktionen JÜRGEN JEKEWITZ

I. Einleitung Das Grundgesetz vermittelt vom Deutschen Bundestag — wie die meisten Landesverfassungen von dem jeweiligen Landesparlament — das Bild einer abstrakten geschlossenen Einheit: Obwohl der dritte Abschnitt in Art. 38 G G mit den die Wahl und den Status der Abgeordneten konstituierenden Grundsätzen beginnt, wird in den folgenden Verfassungsbestimmungen der Deutsche Bundestag als Verfassungsorgan weitgehend losgelöst von seiner konkreten personellen und politischen Zusammensetzung behandelt. Anders als andere Verfassungsorgane, die ebenfalls aus Personenmehrheiten gebildet werden, ist der Bundestag jedoch auf der einen Seite politisch ganzheitlich zusammengesetzt, weil in ihm anders als ζ. B. in der Bundesregierung, in der Bundeskanzler und Bundesminister der bzw. den Mehrheitsfraktionen angehören, alle politischen Kräfte, die in der Wahl die erforderliche Bestätigung durch den Wähler erhalten haben, vorhanden sind1. Dafür ist dem Parlament auch allein eigen, von Natur aus aus kontroversen Gruppen zusammengesetzt zu sein2. Quer zu der horizontalen institutionellen und organisatorischen Gliederung des Parlaments, wie sie von der Verfassung selbst, den sie konkretisierenden Gesetzen und letztlich durch die eigene Geschäftsordnung getroffen wird, und durch sie hindurch verläuft deshalb eine vertikale politische Gliederung, die von der geschriebenen Verfassung nur insoweit wahrgenommen wird, als sie außerhalb des Abschnittes über den Bundestag in Art. 21 G G mit den politischen Parteien deren Ursprung und in Art. 53 a Abs. 1 Satz 2 G G 3 mit der eher beiläufigen Erwähnung der Fraktionen deren gruppenmäßige Verfestigung anerkennt.

Parlamentsbild des GG

Ganzheitliche Zusammensetzung des Bundestages

Vertikale politische Gliederung des Parlaments

II. Begriff „Fraktion" Obwohl alle modernen demokratischen Verfassungsordnungen mit einem partei- 4 enstaatlichen parlamentarischen System ähnlich intensive politische Gruppenbil- Unterschiedliche Begriffswahl

1 2 3

F.SCHÄFER Der Bundestag, 4. Aufl., 1982, S.31. Ebd. S. 74. Eingefügt durch das 17. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 2 4 . 6 . 1 9 6 8 , B G B l . I S. 709.

1022

6. Teil: Der Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

düngen aufweisen, ist der Gebrauch der Bezeichnung „Fraktion" eine für Deutschland und das deutsche Parlamentsrecht 4 spezifische Erscheinung. Aus dem weiteren deutschen Sprachraum wird der Begriff nur in der Schweizer Bundesversammlung und dort in erster Linie im Nationalrat verwendet 5 . Bereits der österreichische Nationalrat und die Parlamente der österreichischen Bundesländer 6 , aber auch der polnische Sejm verwenden für die parlamentsinternen Zusammenschlüsse von Abgeordneten gleicher Parteizugehörigkeit die Bezeichnung „Klubs", die sich entsprechend Klubsatzungen geben und Klubobmänner an ihre Spitze wählen. Im englischen und französischen Sprachraum ist dagegen eher verschwommen von der „Parlamentarischen Gruppe" (parliamentary group, groupe parlementaire) oder deutlicher wie in England von der „Parlamentarischen Partei" bzw. „Partei im Parlament" (parliamentary party) die Rede.

III. Historische Entwicklung 1. Vorgeschichte in England 5 In der unterschiedlichen Begriffswahl spiegelt sich noch heute die unterschiedliche Politische Gruppen historische, zumindest zeitversetzte Entwicklung dieses Phänomens wider. Diverwährend der gierende und konkurrierende politische Gruppen, die im Verhältnis von Mehrheit Revolutionsjahre und Opposition zueinanderstanden und wechselseitig die Oberhand zu erlangen trachteten, gab es schon in England während der Revolutionsjahre, als das britische Unterhaus nicht nur beratende, sondern auch exekutivische Funktionen an sich gezogen hatte. Unter C R O M W E L L , erst recht aber unter der Restauration wurde die Bedeutung Bedeutungsruckgang Parlaments und in ihm die der politischen Gruppen aber wieder reduziert: Das des Parlaments britische Unterhaus des 18. Jahrhunderts repräsentierte im Kern durch die engbeund der politischen Gruppen g r e n z t e Wählerschaft nur die wirtschaftlich und sozial maßgebliche Aristokratie. Entsprechend betrachtete sich der einzelne Abgeordnete als Vertreter lokaler Interessen oder als Repräsentant örtlicher Hoheitsorgane, nicht etwa als Vertreter des ganzen Volkes. Die lose Zuordnung zu konservativen „Tories" oder liberalen „Whigs" war eher persönlich und zufällig. 7 Ihre eigentliche Prägung erhielt die Gruppenstruktur des Unterhauses durch die Gruppenstruktur des starke Stellung der englischen Krone und die von dieser geübten Möglichkeit der Unterhauses Schaffung arbeitsfähiger Mehrheiten durch Stimmenkauf und Ämterpatronage 7 . 8 Erst mit der Wahlreform von 1832 wandelte das bis ins 17. Jahrhundert Wirkungen der zurückreichende englische Klubwesen seine bisher überwiegend gesellige Tendenz Wahlreformen in eine bewußt politische Zwecksetzung, indem zur Hilfestellung bei den umständlichen Formalitäten bei der Eintragung in die Wählerlisten für die der jeweiligen

4

5 6 7

Z u m Anwendungsbereich des Parlamentsrechts vgl. M.SCHRÖDER Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, 1979. Vgl. G.KRETSCHMER Fraktionen. Parteien im Parlament, 1984, S. 31 f. E b d . S. 29 ff. H . KRAMER Fraktionsbindungen in den deutschen Volksvertretungen 1819-1849, 1968, S. 248 ff m. w. N .

§37

D i e B u n d e s t a g s f r a k t i o n e n (JEKEWITZ)

1023

Parteirichtung nahestehenden Wahlberechtigten lokale „Registrations-Clubs" gegründet wurden. Die weiteren Wahlreformen von 1867 und 1884 mit dem Zutritt neuer Wählergruppen führten dann zur Schaffung zentraler, den Erfordernissen der modernen Massenwahl genügender Parteiorganisationen zunächst durch die Liberalen, in der Reaktion auf deren Wahlsieg 1868 auch durch die Konservativen, die dann auch starken Einfluß auf die für die jeweilige Richtung aufgestellten Abgeordneten und deren konkretes Verhalten im Unterhaus ausübten. Die politische Partei schuf sich also erst ihre Organisation im Parlament. 2. Entwicklung in Frankreich In Frankreich verlief die Entwicklung insoweit anders, als hier im Umfeld der Revolution bei der Gestaltung und Organisation der Parlamentsarbeit überkommene eigene und übernommene fremde Erfahrungen aufeinanderstießen und nach einem Ausgleich suchen mußten. So waren Parlamentsausschüsse als politische Arbeitseinheiten in der Anlage bereits von den frühen Generalständen her bekannt, wo sich Vertreter der einzelnen Provinzen und Regionen zur Verhandlung über bestimmte gemeinsame Fragen trafen, über die sie sich vorher innerhalb der eigenen Gruppe abgestimmt hatten.

9 Ausgleich zwischen verschiedenen Parlamentsausschuss

Als im April 1789 die neugewählten Abgeordneten in Versailles zusammentra- 10 ten, brachten sie neben anderen Vorstellungen über das englische Parlamentsver- Frankreich 1789, r^l l·, c " A u ~ run un8en fahren den Gedanken der politischen Clubs mit, dessen erstes Kind der „Club breton" der Vertreter der Bretagne war, die in einem angemieteten Kaffeehaus regelmäßige Zusammenkünfte veranstalteten 8 . D a sich dabei zunehmend Gemeinsamkeiten nicht nur in regionalen, sondern auch in politischen Grundsatzfragen herausstellten, traten diesem Club, der sich nach Verlegung des Sitzes der Nationalversammlung nach Paris in dem Refektorium des ehemaligen Dominikanerklosters „St. J a k o b " traf und von dort den neuen Namen „Jakobiner" erhielt, bald Abgeordnete anderer Provinzen bei. Ähnlich verlief die Gründung des Clubs der „Girondisten", ursprünglich Abgeordnete aus der Gironde, und der später entstehenden Clubs der „Cordeliers", der „Feuillants" und in der Nationalversammlung von 1792 der „Montagnards". Diese Entwicklung kollidierte von Anfang an mit der revolutionären Auffas- 11 sung, daß die Abgeordneten Vertreter des ganzen Volkes, nicht aber irgendwelcher Ausschüsse »Bureaux" Interessen, Landstriche oder politischer Gruppen sein sollten. Andererseits mußte eine vielköpfige Personengruppe im Interesse ihrer Arbeitsfähigkeit in irgendeiner Weise gegliedert werden, wozu sich mit den „Bureaux" der Generalstände Vorbilder der Vergangenheit anboten. Schon am 7. Juni 1789 beschloß so die Versammlung des Dritten Standes, die noch nicht den Namen „Nationalversammlung" angenommen hatte, erneut „Bureaux" einzurichten, in denen „alle wichtigen Beratungsgegenstände diskutiert werden sollten, bevor sie der Beschlußfassung zu unterwerfen seien" 9 . Sie teilte sich zu diesem Zweck in zwanzig Gruppen zu je dreißig Mitgliedern, die ihrerseits dann Arbeitsausschüsse (comités de travail) 8

H . KRAMER ( F n . 7) S. 2 5 6 m . w . N .

* J.JEKEWITZ Parlamentsausschüsse und Ausschußberichterstattung, in: Der Staat 25 (1986) S. 3 9 9 ff ( 4 0 8 f).

1024

6. Teil: Der Bundestag als Forum und zentraler Ort der politischen Willensbildung

einsetzten, die ersten vier schon am 19. Juni 1789, zwei Tage nach dem ersten Zusammentritt der neuen Volksvertretung, darunter ein Wahlprüfungsausschuß und ein Ausschuß zur Redaktion der Geschäftsordnung. Wirkten dabei teilweise noch die „Généralités", die Vorgänger der „Départements", mit den neuen „Bureaux" zusammen, so kehrten in der Constituante die vertrauten Einrichtungen, die als organisatorischer Zusammenschluß lokaler Vertreter Sinn gehabt hatten, in völlig neuer Form wieder, indem die Gesamtkörperschaft jetzt nach dem Alphabet aufgeteilt wurde, und zwar jeden Monat neu und in einer Weise, die verhinderte, daß ein Abgeordneter beim folgenden Mal in demselben „Bureau" und mit denselben Kollegen zusammen sein konnte. Es handelte sich also nicht mehr um organische Gliederungen, sondern um mehr oder weniger willkürliche — wie sie später dann auch im deutschen Sprachraum genannt wurden — „Abteilungen", mit denen jeder Verfestigung von Interessen oder Verstetigung von Bindungen entgegengewirkt werden sollte. Das führte soweit, daß die so immer wieder neugebildeten „Bureaux" nicht ihrerseits die Ausschüsse durch unmittelbare Wahlen beschickten, sondern in jedem von ihnen zunächst eine erste Phase parlamentarischer Beratung zu jedem Gegenstand stattfand, als deren Abschluß dann ein Vertreter der in der Diskussion hervorgetretenen Mehrheitsmeinung als Berichterstatter des „Bureau" in den betreffenden Ausschuß gewählt wurde. 10 12 Dieses im damaligen Frankreich und auch später als rational angesehene, in Legislative 1791 Wirklichkeit aber nur als ideologisch bedingtes institutionalisiertes Mißtrauen vor allem gegen die aufkommenden politischen Gruppierungen zu bezeichnende Nebeneinander trieb in der Legislative noch schillerndere Blüten. Sie sah bereits in ihrer Geschäftsordnung vom 28. Oktober 1791 Fachausschüsse vor, die das gesamte Spektrum der Zuständigkeiten der Versammlung abdeckten, aber lediglich zur Entscheidungsvorbereitung beizutragen hatten. Die Aufteilung der Abgeordneten auf die „Bureaux" erfolgte nicht mehr allein in der alphabetischen Reihenfolge der Namen, sondern auch noch nach der — auch heute noch üblichen — alphabetischen Reihenfolge ihrer Departements, um so zu verhindern, daß mehrere Abgeordnete eines Departements demselben „Bureau" zugeteilt werden konnten". Die Ausschüsse waren dann wieder von den inzwischen zwölf Abteilungen zu besetzen und hatten deren Zahl entsprechend je 12, 24 oder 48 Mitglieder, von denen alle drei Monate die Hälfte neu gewählt werden mußte, so daß sie als Institutionen zwar permanent, personell aber nicht-ständig waren12. 13 Trotz dieser Vorsorge verselbständigten sich unter der Convention zwischen Entwicklung bis 1814 1792 und 1795 die Ausschüsse und wurden zu politisch dominierten ständigen exekutivischen Einrichtungen, deren bekannteste das berüchtigte „Comité de Salut Public" und das „Comité de Sûreté Générale" waren, von denen das erstere — an den Sitzungen der Ausschüsse konnten zu dieser Zeit grundsätzlich alle Abgeordneten teilnehmen — geheim zu beschließen hatte. Als Reaktion auf die damit gemachten Erfahrungen untersagte die Verfassung des sich anschließenden Directoire beiden Kammern ausdrücklich die Bildung irgendwelcher ständiger „comi10 11 12

B. DECHAMPS Macht und Arbeit der Ausschüsse, 1954, S. 124. Ebd. S. 123 f. Ebd. S. 42.

§ 37

Die Bundestagsfraktionen (JEKEWITZ)

1025

tés" und erlaubte ihnen lediglich, Spezialausschüsse für bestimmte Einzelfragen zu bilden, die nach einer rein vorberatenden Prüfung wieder auseinanderzugehen hatten. Mit der Restauration tauchten zusätzlich wieder die „Bureaux" auf, nur daß sie jetzt sogar durch das Los bestellt wurden. Zu ihrer Aufgabe hieß es in Art. 45 der Charte von 1814: „La chambre se partage en bureaux pour discuter les objets qui lui ont été présentés de la part du Roi". Permanente Ausschüsse blieben dagegen ausgeschlossen; die Geschäftsordnung der Nationalversammlung erlaubte wiederum lediglich Spezialausschüsse, die sich erneut aus je einem Vertreter der jetzt neun „Bureaux" zusammensetzen sollten 13 . Parallel dazu ging auch die Bedeutung des politischen Gruppenwesens zurück. Das neu eingeführte Zensuswahlrecht, die Beschränkung der Kompetenzen der Volksvertretung und die zunehmende Behinderung der politischen Presse erwiesen sich als wirksame Waffe gegenüber parteipolitischen Sammlungsbestrebungen. Zwar kamen in den Jahren nach 1815 die auf die freiwillig eingenommene Sitzordnung zurückgehenden Gruppenbezeichnungen auf, die politisch zwischen einer extremen Rechten (reaktionäre Monarchisten), einer gemäßigten Rechten (gemäßigte Monarchisten), einem rechten Zentrum (gleichfalls der Monarchie zuneigend), einem linken Zentrum (gemäßigte Liberale) und einer Linken (radikale Liberale) unterschieden, und obwohl auch diese Gruppen gesellige Zirkel unterhielten, in denen gleichgesinnte Volksvertreter zu einem mehr oder weniger regelmäßigen Gedankenaustausch zusammentrafen, waren die Unterschiede jedoch nicht scharf ausgeprägt, was kurzlebige Zwischenformen ermöglichte' 4 . Zusammen mit der Atomisierung des Beratungs- und Abstimmungsverfahrens mit Hilfe der Besetzung der Ausschüsse wurde deshalb jede verstärkte und verfestigte Form politischer Organisation und gruppensolidarischen Verhaltens verzögert. Zwischen der Entwicklung des Ausschuß- und der des Fraktionswesens bestand ein wechselseitiger Kausalnexus 15 , wie sich später noch deutlicher zeigen sollte.

14

Bedeutungsrückgang des politischen Gruppenwesens, Gruppenbezeichnungen

3. Übernahme in Deutschland nach 1815 Diese Vorgeschichte und die dabei gemachten Erfahrungen fehlten bei der Entste- 15 hung der frühkonstitutionellen Verfassungen auf deutschem Boden. Auch in Deutscher Teilen Deutschlands waren zwar wie in Spanien und Italien im Umfeld der ^ französischen Revolution politische Clubs entstanden; sie wurden aber bereits 1793 durch ein Reichsgesetz verboten und standen als organisierte Gruppen nach 1815 nicht zur Verfügung. Die konstitutionellen Monarchien reagierten zudem auf die ihnen abgerungene Aufnahme von Vertretungskörperschaften in den weiterhin exekutivisch orientierten und dominierten Staatsaufbau mit einer Reihe von Einschränkungen, die auch auf das Verhältnis des einzelnen Abgeordneten zur politischen Organisation zurückwirkten. Dazu gehörten die begrenzten tatsächlichen Mitwirkungsrechte ebenso wie die Wahlrechtsbeschränkungen, vor allem aber die Bevormundung von Organisation und Verfahren des Landtags durch von den 13

E.PIERRE Traité de droit politique électoral et parlementaire, 4. Aufl., 1910, S. 861; JEKEWITZ ( F n . 9 ) S. 410 m . w . N .

14

KRAMER ( F n . 7) S. 2 1 7 .

15

DECHAMPS ( F n . 10) S. 109 ff.

1026

6. Teil: D e r Bundestag als F o r u m u n d zentraler O r t der politischen Willensbildung

Regierungen erlassene Geschäftsreglements einschließlich der Vorschriften über Sitz- und Redeordnung 16 . 16 Von den bei der Verfassungsentwicklung führenden süd- und mitteldeutschen Baden im Vergleich Staaten wies Baden das fortschrittlichste Wahlrecht auf, weil in seiner Zweiten mit anderen deutschen Kammer das ständische Element fast ganz fehlte, während in Bayern, Württemberg Staaten, Baden als P r o t o t y p und Sachsen, sowie in Kurhessen, das nur eine Kammer kannte, ein großer Teil der Volksvertreter weiter von Ständen und Körperschaften entsandt wurden. N u r in Baden gab es auch keine besondere Platzordnung wie in Bayern und Sachsen, wo die Sitzplätze der Abgeordneten durch das Los zugeteilt wurden, oder wie in Kurhessen, wo die Plätze nach der Standeszugehörigkeit zugewiesen waren. Und nur in der badischen Zweiten Kammer unterlag die Worterteilung keinen starren Regeln etwa wie in Bayern, wo nicht die Reihenfolge der Wortmeldungen, sondern die Rangfolge der Plätze bestimmend war. Trotz der allen frühkonstitutionellen Staaten gemeinsamen Ausnutzung der Abhängigkeitsverhältnisse nicht nur der Beamten unter den Abgeordneten durch die Regiérung, waren damit in Baden die besten Voraussetzungen für eine stärkere Gruppenbildung auf der Grundlage politischer Gemeinsamkeiten gegeben, die über eine Frontstellung zwischen regierungstreuer Mehrheit und liberaler Opposition hinausging 17 . 17 E n t w i c k l u n g in Baden ab 1831

Den Ausgangspunkt dafür schufen die Landtagswahlen 1831, die unter dem Einfluß der Pariser Juli-Revolution den Liberalen in Baden die Mehrheit der Sitze in der Zweiten Kammer und als Folge ein gesteigertes Selbstbewußtsein gegenüber der Regierung brachten. Zum ersten Mal in der deutschen Parlamentsgeschichte erfolgten regelmäßige abendliche Vorberatungen unter den liberalen Abgeordneten 18 . Sie wurden nicht zuletzt zur Verständigung über das taktische Vorgehen im Landtag erforderlich, weil der Stimmenvorsprung der Opposition durch die in ihren Reihen aufgetretenen Meinungsverschiedenheiten verspielt zu werden drohte. Anlaß war das von der Regierung auf Antrag der Liberalen vorgelegte Pressegesetz, Kristallisierungspunkt die erstmalige Berufung eines Parlamentariers liberaler Herkunft in ein Ministeramt. Obwohl der deutsche Konstitutionalismus die westeuropäische theoretische Entwicklung zum parlamentarischen Regierungssystem nicht mitvollzogen hatte 19 und am monarchischen Prinzip festhielt, lagen faktisch die Bedingungen dafür vor und zwangen die Opposition um ihres Selbstverständnisses und der von ihr vertretenen politischen Ansichten willen zu verstärkten Anstrengungen der Koordination und Selbstorganisation, die in dem Augenblick wieder verblaßten, als die Restauration die Gegensätze zwischen Regierung und Landtag erneut verschärfte und auch gemäßigt eingestellte Abgeordnete in das Oppositionslager trieb, so daß sich die Regierung einer geschlossenen Mehrheit gegenübersah, die nicht nur die Auflösung des Landtags überdauerte, sondern sich auch in den Landtagswahlen von 1842 als geschlossene Opposi16

17

Anschaulich G.ZIEBURA Anfänge des deutschen Parlamentarismus, in: F G Fraenkel, 1968, S. 185ff m . w . N . Zu den Entwicklungen in Bayern, W ü r t t e m b e r g , Kurhessen und Sachsen vgl. KRAMER (Fn. 7) S. 21 ff.

18

KRAMER ( F n . 7) S . 4 3 .

19

W . BOLDT Die Anfänge des deutschen Parteienwesens. Fraktionen, politische Vereine und Parteien in der Revolution 1848, 1971, S. 21.

§ 37

D i e B u n d e s t a g s f r a k t i o n e n QEKEWITZ)

1027

tion behaupten konnte20. Als sich als Folge dieser Entwicklung der Druck der Regierung lockerte, mußten auch die intern weiter vorhandenen Spannungen und Meinungsunterschiede wieder aufbrechen. So war eine Abstimmungsniederlage der Opposition bei den Ausschußwahlen zu Beginn des Landtages von 1843, die auf das Verhalten einer Gruppe gemäßigter Liberaler zurückging, Anlaß für eine Neugruppierung im Halbrund des Beratungssaales, indem innerhalb der der Pariser Deputiertenkammer nachgebildeten politischen Sitzordnung von „links" nach „rechts" jetzt die Radikalen von ihren gemäßigten Gesinnungsgenossen auch optisch abrückten21. Die erneute Berufung eines Liberalen in die Regierungsspitze 1846 kündigte nicht nur einen Wandel im Verfassungssystem in bezug auf das Verhältnis von Parlament und Regierung an, sondern spaltete die bisherige Opposition in drei verschiedene Richtungen, die sich nach ihrem Verhalten gegenüber dem neugebildeten Ministerium unterschieden: Ein radikaler Flügel lehnte jedes Einlenken ab; eine kleine Gruppe liberaler Volksvertreter legte sich auf eine bedingungslose Unterstützung des Ministeriums fest; und eine gemâfiigté Gruppe suchte eine vermittelnde Haltung einzunehmen. In diesem Zusammenhang wurde auch erstmals — soweit feststellbar — der Begriff „Fraktion", und zwar negativ im Sinne einer Abspaltung benutzt: Der Wortführer der gemäßigten Liberalen erläuterte seinen und seiner Freunde Standort dahingehend, daß, solange sich das Ministerium auf die rechte Seite stütze, „so lange gehören wir notgedrungen der Opposition an und bilden, wenn auch für uns stehend doch immerhin eine Fraktion derselben" 22 . Diese Ausgangslage als im Grunde gegen die tiefe Aversion des frühen Liberalismus gegenüber jeder Form von Organisation innerhalb wie außerhalb der Kammern 23 durch die äußeren Umstände erzwungene Ausdifferenzierung innerhalb der Opposition hatte zwei Folg en: Sie veranlaßte einmal auch die die Regierung stützenden Konservativen, in Vorberatungen ihr Verhalten im Landtag abzusprechen und dadurch rudimentäre Ansätze von organisierter Gruppenbildung zu entwickeln; sie führte weiter dazu, daß die Wahlkämpfe nicht mehr allein zwischen den sogenannten „Volksfreunden" und den „Servilen" als Anhängern des reaktionären Ministeriums geführt wurden, sondern daß im Lager der Opposition entsprechend der Einstellung des einzelnen Kandidaten zu radikaldemokratischen Forderungen zwischen „Halben" und „Ganzen" unterschieden wurde 24 , was erstmals zu liberalen Doppelkandidaturen für einzelne Wahlkreise und als Folge zu einer gezielten Auswahl bereits bei der Urwahl der Wahlmänner führte, wodurch die dem indirekten Wahlsystem zugedachte Funktion, die Wählerschaft gegen eine zu starke Politisierung abzuschirmen, durchkreuzt wurde.

20

KRAMER ( F n . 7 ) S . 4 8 f.

21

KRAMER ( F n . 7 ) S. 51 m . w . N . Fundstelle bei KRAMER (Fn. 7) S. 54. W. D . HAUENSCHILD Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktionen, 1968, S . 2 4 , siedelt den Begriff erst in der Frankfurter Nationalversammlung an.

22

25

ZIEBURA (Fn. 16) S. 190.

24

KRAMER ( F n . 7 ) S . 6 9 f f .

18 Folgen der Ausdifferenzierung Opposition

1028

6. Teil: D e r Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

4. A u s f o r m u n g in Deutschland seit 1848 bis zum Ende des Kaiserreichs

19 Die in Baden gewonnenen Erfahrungen einschließlich der Bezeichnung „Fraktion"

Entwicklung nach den März-Ereignissen 1848

kamen zum Tragen, als nach den März-Ereignissen 1848 erstmals ein gesamtdeutsches Parlament mit nicht nur umfangreichen Kompetenzen, sondern — jedenfalls nach eigener Auffassung — als alleiniger Träger der verfassunggebenden Gewalt möglich wurde. So bezeichneten sich bereits die Anhänger einer republikanischen Staatsform im sogenannten Vorparlament, zu denen die radikalen Linken aus Baden gehörten, als „demokratische Fraktion", die ihrerseits ein „Central-Comité" zur Beförderung der Wahlbewegung in Deutschland bestimmte, das am 4. April 1848 ein eigenes Wahlmanifest verkündete und zur Gründung von Provinzialwahlvereinen zur besseren Umsetzung der darin enthaltenen Grundsätze aufrief 25 . Dies geschah auch zur Abgrenzung von den aufgekommenen vaterländischen Vereinen, die nicht als Organisation einer Partei bzw. politischen Richtung, sondern als eine der gesamten Bevölkerung gegründet wurden: Hier handelte es sich um das Programm einer Fraktion, die auf dieser Grundlage eine eigene Wahlorganisation, nicht ein allgemeines Vereinswesen aufbauen wollte 26 .

20

Die in dieser Form bisher nicht bekannte große Zahl und die unterschiedliche Herkunft der schließlich zur Frankfurter Nationalversammlung gewählten Abgeordneten weckte bei vielen „dringend die Notwendigkeit, daß man sich organisiere" 27 . Das galt nicht nur für die Linke, sondern ebenso für die gemäßigten Konstitutionellen 28 . Andererseits wurde durch die auf Vorarbeiten von R O B E R T VON MOHL29 zurückgehende Geschäftsordnung nach französischem Vorbild und aus ähnlichen Erwägungen wie ursprünglich in Frankreich die alle vier Wochen erneuerte Aufteilung der Abgeordneten durch das Los auf 15 Abteilungen vorgeschrieben, die alle Vorlagen vorzuberaten und dann je ein Mitglied mit absoluter Stimmenmehrheit in die ad hoc gebildeten Ausschüsse zu entsenden hatten, da zumindest die Altliberalen die Bildung von Fraktionen als „Beweis von unfertiger staatlicher Erziehung" 3 0 radikal ablehnten. Deshalb traf man sich schon sehr früh außerhalb der Nationalversammlung und ihrer Abteilungssitzungen zu ersten politischen Kontaktaufnahmen in den zahlreichen Hotels und Gasthöfen Frankfurts. Auf dem Weg über die Suche nach Gleichgesinnten, die viele Abgeordnete zunächst in mehrere der entstehenden Kreise und Versammlungsorte führte, bildeten sich bald Schwerpunkte um einige politisch festgelegte und wegen ihrer Anschauungen bekannte Persönlichkeiten, aus denen wiederum regelmäßige verabredete Besprechungen mit bestimmten, z . T . persönlich geladenen Teilnehmern entstanden. „Klubs" dieser Art, wie die Bezeichnung ebenfalls nach französischem Vorbild schon von den Maitagen an lautete, gab es als festere Gruppierungen

Klubs der Frankfurter Nationalversammlung

Vgl. BOLDT (Fn. 19) S. 75, 85 und die dort S. 103 ff abgedruckten Aufrufe. · BOLDT (Fn. 19) S . 7 4 f . 27 Tagebuchaufzeichnungen des Abg. Droysen vom 1 6 . 5 . 1 8 4 8 , zitiert bei KRAMER (Fn. 7) S. 75 Fn. 1. 28 Zu den Vorstellungen von der Organisation und Funktion eines solchen Zusammenschlusses vgl. das Zitat bei ZIEBURA (Fn. 16) S.203. 25 2(

2

' JEKEWITZ ( F n . 9 ) S. 4 1 1 ; a u c h ZIEBURA ( F n . 16) S. 194.

30

Zitat bei ZIEBURA (Fn. 16) S. 196.

§ 37

D i e Bundestagsfraktionen (JEKEWITZ)

1029

zuerst auf der demokratischen Linken und, wenn auch weniger stark konturiert, auf der konservativen Rechten; länger zur Gruppenbildung brauchten die liberalen Abgeordneten, wobei es daneben weiter eine Reihe ungebundener Parlamentarier gab. Gemeinsam war den Zusammenschlüssen, daß man dort auch die Verhandlungsgegenstände der nächsten Tage im Plenum und den Abteilungen und das eigene Verhalten dazu vorberiet. Bereits bei diesen Vorberatungen auftauchende Differenzen in der Sache wie Abweichungen von dem verabredeten Auftreten bei den späteren Verhandlungen der Nationalversammlung führten über immer neue Abspaltungen zu einem allmählichen Verdichtungsprozeß mit schärferer Konturierung der einzelnen politischen Gruppen, der sich in eigenen programmatischen Aussagen, vor allem aber in der Aufstellung von eigenen Statuten, die in erster Linie der Disziplinierung der Mitglieder dienten, niederschlug 31 . Unter „Partei" wurde die politische Grundrichtung verstanden; was zur „Parteisache" erklärt wurde, unterlag dem Fraktionszwang, dessen Überwachung, wie vorher in Baden, durch die freiwillig eingenommene Sitzordnung erleichtert wurde. Diese Entwicklung schlug auf das parlamentarische Verfahren als solches durch. Nicht nur die Besetzung der Ausschüsse wurde bei äußerlichem Fortbestehen der Abteilungen Sache der „Klubs"; und delikate Gegenstände wie die Aufwandsentschädigung für den Präsidenten wurden außerhalb der Nationalversammlung zwischen den Klubs abgesprochen. Auch die Antragstellung und das Rederecht im Plenum wurden von der Unterstützung durch eine festgelegte Zahl von Abgeordneten abhängig gemacht, was zu Protesten der Unabhängigen führte, denn dadurch wurde, wie es in einer förmlichen Verwahrung zum Protokoll der Nationalversammlung am 22.12.1848 hieß, „denjenigen Abgeordneten, welche keinem der zehn Klubs (oder wie der Euphemismus lautet: ,Fractionen') sich angeschlossen haben, der Ausdruck ihrer Meinungen außerordentlich erschwert" 32 .

21

Vorberatungen, Verdichtungsprozeß, „Partei", Fraktionszwang

22

Auswirkungen auf parlamentarische Verfahren

Zurückzudrehen war die Entwicklung jedoch nicht mehr. Auch in der preu- 23 ßischen Nationalversammlung von 1848 entstanden schon früh sich ausdifferen- Preußische zierende politische Gruppierungen, die nur nicht mehr nach ihren Versamm- Nationalversammlung lungsorten, sondern schon nach ihren Anführern benannt wurden 3 3 . Auch hier gab es eine nach Klubzugehörigkeit vorgenommene Platzaufteilung, die ebenso der Förderung des Zusammengehörigkeitsgefühls wie der Kontrolle der Fraktionsdisziplin diente, die noch deutlicher als in den Statuten der Fraktionen der Frankfurter Nationalversammlung satzungsmäßig verankert war. So durften die Mitglieder der Fraktion Harkort als des rechten Zentrums nur zuvor von der Klubmehrheit befürwortete Anträge unterstützen; die Minderheit hatte grundsätzlich nach den Mehrheitsbeschlüssen der Fraktion abzustimmen. Als schon damals mögliche Variante war dem einzelnen Klubmitglied jedoch eingeräumt, bei Gewissenskonflikten nach seiner Uberzeugung zu stimmen, allerdings nur

31

V g l . d i e T e x t e bei KRAMER ( F n . 7) S. 2 7 1 f f ; BOLDT ( F n . 19) S. 163 ff.

32

Zitat bei KRAMER ( F n . 7) S. 2 2 9 ; HAUENSCHILD ( F n . 2 2 ) S. 25.

33

HAUENSCHILD ( F n . 2 2 ) S . 2 5 M.W. N .

1030

6. Teil: Der Bundestag als Forum und zentraler Ort der politischen Willensbildung

nach vorheriger schriftlicher Anzeige bei der Fraktionsführung; wer von diesem Recht dreimal Gebrauch gemacht hatte, galt als aus der Fraktion ausgeschieden 34 . Ahnlich wie in der Frankfurter Nationalversammlung unter dem Schock der 24 Seniorenkonvent Septemberereignisse die Fraktionen des Zentrums zur besseren Koordinierung der konservativen Mehrheit mit der sog. Neunerkommission aus je drei Delegierten jeder Fraktion den ersten interfraktionellen Ausschuß ins Leben gerufen hatten 35 , entstand aus den dort aufgetretenen Problemen der Ausschußbesetzung mit dem Seniorenkonvent als insoweit spezifisch deutschem Beitrag zu Parlamentsorganisation und Parlamentsverfahren jene Institution, die den wechselseitigen Kausalnexus zwischen der Entwicklung des Ausschuß- und der des Fraktionswesens noch einmal vor Augen führte 36 . Ein solcher Seniorenkonvent fand sich erstmals im preußischen Abgeordnetenhaus in der Mitte der sechziger Jahre, „namentlich aus dem Bedürfnis, der Minderheit des Hauses bei der Besetzung der Kommissionen gerecht zu werden" 3 7 . Es handelte sich um die, wie H A T S C H E K es nannte, Vereinigung der Partei- bzw. Fraktionsführer, die unter einem eigenen Vorsitzenden zunächst außerhalb der sonstigen verfaßten Organisation des Parlaments wirkte, dessen Arbeit aber wesentlich bestimmte. Uber den Norddeutschen Reichstag wurde dieses Gremium auf den Reichstag des Deutschen Reiches der Verfassung von 1871 übernommen, der ab 1874 offizielle Protokolle über dessen Verhandlungen führte; im stärker durch nationale Spannungen geprägten österreichischen Abgeordnetenhaus, wo zunächst versucht worden war, bei der Bildung der Abteilungen, die auch hier erst die Ausschüsse zu beschicken hatten, auch landsmannschaftliche Elemente zu berücksichtigen, ging die Ausschußbesetzung ebenfalls auf die „Parteiclubs" über, die sich ihrerseits in den sog. Klubobmännerkonferenzen ein entsprechendes Organ schufen 38 . Entsprechend ihrem Charakter als zwar faktisch einflußreichem, aber rechtlich unverbindlichem Gremium bestanden die Seniorenkonvente ursprünglich nur aus je einem Vertreter jeder zugelassenen, d. h. geschäftsordnungsgemäß konstituierten Partei bzw. Fraktion. Seit den achtziger Jahren kam im Reichstag als ungeschriebene weitere Voraussetzung hinzu, daß eine solche Gruppe mindestens 15 Mitglieder, und zwar Vollmitglieder plus Hospitanten, haben mußte. Es war dies die Zahl, die nach der Geschäftsordnung zur Unterstützung eines selbständigen Initiativantrages ausreichte, aber auch erforderlich war. Durch Beschluß des Reichstags vom 8. Mai 1912, als der Seniorenkonvent selbst

25

Fraktions- sich schon nach dem Stärkeproporz zusammensetzte, wurde diese Entwicklung mindeststärke, formalisiert und damit nicht nur erstmals offiziell eine Fraktionsmindeststärke Fraktionsstärke als festgelegt, sondern die Fraktionsstärke zur Grundlage jeder Beteiligung an den Beteiligungsgrundlage

Parlamentsgeschäften gemacht 39 .

34

N a c h w e i s e bei KRAMER ( F n . 7) S . 2 3 5 .

35

ZIEBURA ( F n . 16) S . 2 1 5 f.

36

JEKEWITZ ( F n . 9 ) S . 4 1 2 .

37

J. HATSCHEK Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, 1915, S. 175. Ebd. S. 156 ff m . w . N . Zur österreichischen Entwicklung vgl. auch KRETSCHMER (Fn.5) S. 30. H. WOLLMANN Fraktionen, in: RÖHRING/SONTHEIMER (Hrsg.) Handbuch des deutschen Parlamentarismus, 1970, S. 140. Vgl. auch JEKEWITZ (Fn.9) S.413 m . w . N .

38 39

§37

D i e B u n d e s t a g s f r a k t i o n e n (JEKEWITZ)

1031

Wie H A T S C H E K es ausdrückte, war die Folge, „daß Mitgliedervereinigungen 2 6 von weniger als 15 Mitgliedern gewissermaßen nur durch die Gnade des Senioren- Ausschußbesetzung konvents an der Kommissionsbildung beteiligt wurden, nicht kraft eines Vereinbarungsanspruchs" 4 0 . Fraktionslose oder, wie sie genannt wurden, „Wilde" wurden deshalb regelmäßig als solche bei der Berechnung nicht berücksichtigt, wohl aber Mandate der ursprünglichen Gruppe, für die sie erlangt worden waren, für die Besetzung zugerechnet, wie auch Fraktionen für die Ausschußbildung sich durch Abkommen zusammenschließen konnten, was durch die gegenüber heutigen schematischen Berechnungsarten komplizierte Form der Sitzverteilung nahegelegt war 41 . 5. A u f n a h m e in E n g l a n d und Frankreich Eine ähnliche Entwicklung, auch hier ausgelöst durch die Verschiebung der 27 Aufgabenschwerpunkte zwischen Plenum und Ausschüssen vor dem Hintergrund England und einer zunehmenden politischen Durchstrukturierung der Parlamente, erfolgte etwa F r a n ^ r e ' c h zeitgleich in England 4 2 und Frankreich. In der französischen Abgeordnetenkammer hatte sich das Mißtrauen gegen ständige Ausschüsse besonders lange gehalten; nicht nur deswegen hielt man weiter an dem im Deutschen Reichstag längst zur Bedeutungslosigkeit verkommenen System der Bestellung der Ausschußmitglieder durch die „Bureaux" fest. Spätestens mit der Einführung „großer" Ausschüsse mit 33 Mitgliedern, also mehr als der Zahl der Abteilungen, wurde dafür jedoch eine Listenwahl erforderlich, die zwar auch noch innerhalb der „Bureaux" erfolgte, bei der aber bereits auf die Parteizugehörigkeit der Kandidaten geachtet wurde. Hinzu kam schon bald als Ausnahme die Möglichkeit, die Mitglieder der Ausschüsse nicht mehr durch die „Bureaux", sondern wiederum nach Listen von der Gesamtkörperschaft wählen zu lassen, was eine proportionale Vertretung von Mehrheit und Minderheit nahelegte 43 . Als 1902 durch Änderung der Geschäftsordnung 16 große Ständige Ausschüsse für die Deputiertenkammer eingeführt wurden 44 , blieb es zwar formal bei der Bestellung durch die „Bureaux", deren Nutzen etwa P I E R R E noch 1910 vehement verteidigte 45 . Unter dem Druck vor allem der erstarkenden Sozialisten 46 wurde die Ausschußbesetzung aber tatsächlich Angelegenheit der politischen Gruppen, bis 1913 die Kammer auch förmlich für ihren Haushaltsausschuß beschloß, die Sitze darin nach der Stärke der Parteien aufzuteilen 47 . Damit waren auch hier die Fraktionen als politische Einheiten innerhalb der Organisation des Parlaments anerkannt.

40

HATSCHEK ( F n . 36) S. 2 3 0 .

41

Zu den Institutionen des „Alternats" und des „Ausgleichs des Parteikontos" vgl. ebd. S. 1 8 6 f f ; auch J . HATSCHEK/P. KURTZIG Deutsches und Preußisches Staatsrecht, 2. Aufl., 1930, B d . l , S. 496 ff.

42

JEKEWITZ ( F n . 9 ) S . 4 1 4 m . w . N .

43

Vgl. das Zitat aus dem J a h r 1880 bei PIERRE (Fn. 13) S. 892, F n . 4 . Vgl. E.PIERRE Traité de droit politique électoral et parlementaire, Supplément, 2. Aufl., 1910, S. 654 f. E b d . S. 647 ff. Vgl. den Bericht in L ' A u r o r e v o m 5. 7.1905, zitiert bei HATSCHEK (Fn. 36) S. 120, Fn. 1.

44

45 46 47

HATSCHEK ( F n . 3 6 ) S. 120.

1032

6. Teil: Der Bundestag als Forum und zentraler Ort der politischen Willensbildung

6. Institutionalisierung in Weimar und vorläufige Geschäftsordnung des Bundestages 2 8 Die förmliche Institutionalisierung auf dem Wege einer Verrechtlichung erfolgte Institutionalisierung jedoch erst nach dem 1. Weltkrieg und bezeichnenderweise erneut in Deutschland. in Weimar Nachdem bereits die Beratungen der Weimarer Nationalversammlung von den Fraktionen dominiert worden waren, erhob der Reichstag sie durch seine Geschäftsordnung vom 12. Dezember 1922 mit eigenen Bestimmungen über ihre Bildung, ihre Reihenfolge und ihre Stellenanteile an den Gremien des Parlaments in den §§ 7 bis 9 in den Rang offizieller Arbeitsgliederungen. Dem so gesetzten Beispiel folgten die meisten Länderparlamente 48 . 29 Mit der Übernahme der alten Reichstagsgeschäftsordnung als vorläufige Vorläufige Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vom 20. September 1949 wurden Geschäftsordnung des auch diese Vorschriften übernommen. Während § 7 Abs. 1 Satz 1 in der ursprüngliBundestagi chen Fassung aber mit dem Beschluß des kaiserlichen Reichstags vom 8. Mai 1912 eine Fraktionsmindeststärke von 15 Mitgliedern vorgeschrieben hatte, was trotzdem eine Reihe von Abgeordneten bzw. Parteien, die aufgrund des von der Verfassung vorgegebenen Verhältniswahlrechts auch mit niedrigen Stimmanteilen ins Parlament eingezogen waren, bei an sich hoher Zahl von Fraktionen zeitweilig oder dauernd vom Fraktionsstatus und den mit ihm verbundenen Rechten ausschloß 49 , wurden jetzt nur noch mindestens 10 Mitglieder vorgeschrieben. Damit kam man auch der Zentrumspartei entgegen, die im Bundestag der 1. Wahlperiode gerade mit 10 Mandatsträgern vertreten war. Erhalten blieb zunächst auch die Bestimmung des § 7 Abs. 1 Satz 2, daß bei der Berechnung der Fraktionsstärke Gäste mitzählen; die Zusammenarbeit von C D U und C S U in einer Fraktion wurde dadurch ermöglicht, daß § 7 Abs. 2 Satz 2 weiter für die Bemessung des wichtigen Stellenanteils den Zusammenschluß mehrerer Fraktionen und den Anschluß von fraktionslosen Mitgliedern an eine Fraktion zuließ. 7. Regelung im Deutschen Bundestag 30 Diese auf den Ausgangspunkt in dem komplizierten Berechnungssystem für die GOBT1951, Ausschußbesetzung 5 0 zurückgehende Regelung wurde in der endgültigen Entwicklungen bis Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vom 6. Dezember 1951 aufgegezum Ende der 51 3. Wahlperiode ben . In einem neuen § 10 Abs. 1 Satz 1 waren Fraktionen jetzt als Vereinigungen von Mitgliedern des Bundestages, die der gleichen Partei angehören, definiert. Nach §10 Abs. 1 Satz 2 wurde die zur Bildung einer Fraktion notwendige Mitgliederzahl einem Beschluß des Bundestages überantwortet, der nur ein Mehrheitsbeschluß sein und jeweils am Beginn einer Wahlperiode gefaßt werden konnte und mußte; § 10 Abs. 1 Satz 3 Schloß Gäste beim Zustandekommen einer Fraktion

48

Vgl. die Wiedergabe in der Textsammlung von O . T H . ZSCHUCKE Die Geschäftsordnungen der deutschen Parlamente, mit einer Einleitung und einem Sachregister, 1928; zur damaligen Rechtslage W. LEBENSTEIN Die Rechtsstellung der Parteien und Fraktionen nach deutschem Reichsstaatsrecht, Diss. Frankfurt 1925.

49

V g l . d a s S c h a u b i l d bei KRETSCHMER ( F n . 5 ) S. 2 3 m . w . N .

50

Vgl. oben bei Rdn.25. Vgl. die Synopse in: Die Geschäftsordnungen deutscher Parlamente seit 1848, 1986.

51

§ 37

D i e B u n d e s t a g s f r a k t i o n e n (JEKEWITZ)

1033

jetzt aus, ließ sie in § 1 0 Abs. 3 für bestehende Fraktionen jedoch wieder zu, nur daß sie nicht bei der Feststellung der Fraktionsstärke, wohl aber wiederum bei der Bemessung des Stellenanteils mitzuzählen waren. Zum ersten Mal wurden in einem §10 Abs. 4 auch „Gruppen" als Zusammenschlüsse von Mitgliedern des Bundestages unterhalb der Fraktionsmindeststärke anerkannt, ohne daß damit irgendwelche Rechte verbunden waren; in eher negativer Abgrenzung erwähnte § 1 0 Abs. 5 „technische Arbeitsgemeinschaften" zwischen Fraktionen 52 . Daß das auch zur Absicherung der Machtverhältnisse der großen Fraktionen geschah, zeigte sich an dem Beschluß vom 16. Januar 1952, als der Bundestag unter Anwendung des neuen § 10 Abs. 1 Satz 2 seiner Geschäftsordnung die Fraktionsmindeststärke wieder auf 15 Mitglieder erhöhte 53 : Die KPD-Fraktion hatte bereits im Mai 1950 das entscheidende 15. Mitglied verloren; Abgeordnete von Bayernpartei und Zentrum hatten sich nach vorangegangenen Abspaltungen im Dezember 1951 zur Föderalistischen Union mit 22 Mitgliedern zusammengeschlossen; große Teile der ursprünglich ebenfalls in Fraktionsstärke vertretenen Wirtschaftlichen Aufbauvereinigung hatten sich als Deutsche Partei Bayern der Fraktion der Deutschen Partei angeschlossen. Aus zunächst acht Fraktionen wurden bereits im Verlauf der 1. Wahlperiode auf diese Weise nur noch fünf. In Fortsetzung des Konzentrationsprozesses, an dem das Wahlrecht maßgebenden Anteil hatte, schmolz die Zahl von vier Fraktionen in der 2. Wahlperiode auf drei am Ende der 3. Wahlperiode 54 , ohne daß die Fraktionsmindeststärke heraufgesetzt worden wäre. In § 10 Abs. 1 Satz 4 der Geschäftsordnung des Bundestages vom 6. Dezember 31 1951 war in Ausnahme von dem Grundsatz der Zugehörigkeit zur gleichen Partei F r a k t i o n s als Konzession an die C D U / C S U geregelt, daß die Bildung einer Fraktion durch g e m c i n s c h a f t von CDU/CSU, Mitglieder des Bundestages, die nicht Mitglieder ein und derselben Partei sind, nur Ä n d e r u n g d e r G O B T mit Zustimmung des Bundestages erfolgen kann. Nach unbeanstandeter stillschweigender Inanspruchnahme während der ersten drei Wahlperioden kam es darüber erstmals zu Beginn der 4. Wahlperiode zu Diskussionen; zu Beginn der 5. Wahlperiode 1965 wurde angesichts der veränderten Stärkeverhältnisse dann eine förmliche Abstimmung über die Zustimmung zu einem solchen Zusammenschluß verlangt und durchgeführt, weil die Abgeordneten von C D U und CSU allein nicht die erforderliche Mehrheit gehabt hätten, und die F.D.P. durch ihr Stimmverhalten der SPD die Position der stärksten Fraktion mit allen daraus folgenden Vorteilen einschließlich der Besetzung des Amtes des Bundestagspräsidenten hätte verschaffen können 55 . Deshalb erfolgte mit der sog. „Kleinen" Parlamentsreform vom 27. März 1969 56 für den Bundestag eine radikale Änderung der Voraussetzungen für den Zusammenschluß von Abgeordneten als Fraktion: Die Mindestzahl wurde in Übernahme der Sperrklausel des Wahlrechts auf 5 Prozent der Mitglieder des Bundestages festgesetzt, was bei der gesetzlichen nicht durch Uberhangmandate erhöhten Mitgliederzahl von 518 Abgeordneten einer 52

H . R I T Z E L / H . BÜCKER H a n d b u c h für die parlamentarische Praxis, 1 9 8 1 , § 10 G O B T , A n m . V .

53

Vgl. das Schaubild bei KRETSCHMER ( F n . 5 ) S . 2 4 ; auch P.SCHINDLER ( H r s g . ) D a t e n h a n d b u c h

54

V g l . die Darstellung im D a t e n h a n d b u c h ( F n . 5 3 ) S. 2 3 8 ff.

55

N . ACHTERBERG P a r l a m e n t s r e c h t , 1 9 8 4 , S . 2 7 9 F .

zur G e s c h i c h t e des D e u t s c h e n B u n d e s t a g e s 1 9 4 9 - 1 9 8 2 , 3. A u f l . , 1 9 8 4 , S . 3 4 , 2 3 4 .

» BT-Drucks. V/4008.

1034

6. T e i l : D e r Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

Fraktionsmindeststärke von 26 Mitgliedern entspricht; erforderlich war jetzt die Zugehörigkeit zu „derselben Partei oder solchen Parteien . . . , die auf Grund gleichgerichteter politischer Ziele in keinem Land miteinander in Wettbewerb stehen." Damit war die Fraktionsgemeinschaft von C D U und CSU, soweit sie nicht wie durch den wieder rückgängig gemachten „Kreuther Beschluß" der CSU zu Beginn der 8. Wahlperiode oder durch die häufiger von beiden Seiten wechselseitig ins Gespräch gebrachte Ausdehnung des jeweiligen politischen Einfluß- und Wirkungsbereichs durch die Partner selbst in Frage gestellt wird, nunmehr von der Anerkennung durch Dritte unabhängig; die Zustimmung des Bundestages wurde nach § 10 Abs. 1 Satz 2 G O B T nur noch erforderlich, wenn sich Abgeordnete außerhalb der vorgenannten Voraussetzungen zu einer Fraktion zusammenschließen wollen. 8. Entwicklung in den Ländern 3 2 Eine ähnliche Entwicklung hinsichtlich der für eine Fraktionsbildung erforderliLänderparlamente, c hen Abgeordnetenzahl haben die entsprechenden Bestimmungen der LänderparKommunal- ] a m e n t e genommen. Die 5-Prozent-Klausel findet sich inzwischen in den körperschaften Geschäftsordnungen des Abgeordnetenhauses von Berlin und des Landtages von Nordrhein-Westfalen; in Niedersachsen und Rheinland-Pfalz wird in den Landtagsgeschäftsordnungen auf den nach dem Landeswahlgesetz erforderlichen Anteil an der Gesamtstimmenzahl Bezug genommen. Durch Parlamentsbeschluß festgelegt wird die Mindestmitgliederzahl nach den Geschäftsordnungen der Hamburger Bürgerschaft und der Landtage von Hessen, dem Saarland und Schleswig-Holstein. In den drei übrigen Länderparlamenten gelten noch absolute Zahlen, nämlich in Bayern 10, in Baden-Württemberg 8 und in Bremen 5 Abgeordnete 57 . Diese Regelung ist für Bayern vom dortigen Verfassungsgericht für verfassungsgemäß erachtet worden, als die F.D.P. nach der Landtagswahl 1974 nur noch mit 8 Abgeordneten vertreten war und gegen die Verweigerung des Fraktionsstatus die Gerichte anrief58. Auch für die Kommunalvertretungskörperschaften ist die Existenz von Fraktionen inzwischen durch die jeweiligen Landesgesetzgeber in den Gemeinde- und Landkreisordnungen anerkannt59; noch stärker als bei den Parlamentsfraktionen spielt bei den Ratsfraktionen die Mindestmitgliederzahl eine Rolle 60 .

57

A C H T E R B E R G ( F n . 5 5 ) S. 2 7 9 .

58

B a y V e r f G H Entscheidung vom 3 0 . 4 . 1 9 7 6 , B a y V e r f G H E 2 9 , 6 2 , B a y V B l . 76, S. 431 ff. Vgl. dazu einerseits H.ARNDT/M.SCHWEITZER M a n d a t und Fraktionsstatus. Überlegungen

zur

Versagung des Fraktionsstatus für 8 A b g e o r d n e t e der F . D . P . im Bayerischen Landtag, in: ZParl. 7 ( 1 9 7 6 ) S. 71 ff, und andererseits R . SCHMIDT Z u m Verfahren über den Fraktionsstatus der F . D . P . in B a y e r n , in: F S von der H e y d t e , 1977, S. 1 1 7 9 f f . D a z u auch B V e r f G E 4 3 , 1 4 2 f f , mit A n m . H . LISKEN Fraktionsstatus und Wahlgleichheit, Z P a r l . 9 ( 1 9 7 8 ) S. 320, und G . STRUNK D V B 1 . 1 9 7 7 , S . 6 1 5 f f , sowie G.KISKER D e r Streit um den Fraktionsstatus, J u S 1980, S . 2 8 4 f f . 59

Vgl. dazu ausführlich Κ. H . ROTHE Ü b e r Begriff, R e c h t e und Pflichten der Ratsfraktionen, D V B 1 . 1 9 8 8 , S. 3 8 2 ff m . w. N . ; auch O . FLIEDNER P r o b l e m e der Organisation und Arbeitsweise der F r a k t i o n e n , V O P 1979, S. 144 ff, 2 2 8 ff, 2 9 5 ff.

60

Vgl. dazu M . FRÖHLINGER D i e Festsetzung der F r a k t i o n s s t ä r k e im Gemeinderat, D V B 1 . 1 9 8 2 , S . 6 8 2 f f , und P.DACH D i e Fraktionsstärke, D V B 1 . 1 9 8 2 , S. 1 0 8 0 f .

§ 37

D i e B u n d e s t a g s f r a k t i o n e n (JEKEWITZ)

1035

9. H a n d h a b u n g im Europäischen Parlament Auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaften kamen die in den nationalen Parlamenten, aus denen sich die Abgeordneten des Vertretungsorgans zunächst rekrutierten, mit einer politischen Gliederung des Parlaments gemachten Erfahrungen von Anfang an zum Tragen. Bereits in der Gemeinsamen Versammlung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die zum ersten Mal am 10. September 1952 zusammentrat, arbeiteten die Mitglieder über die nationale Herkunft hinweg nach politischen Gemeinsamkeiten zusammen. Obwohl die Geschäftsordnung nur allgemein eine gerechte Vertretung nach Mitgliedstaaten und politischen Richtungen vorsah, berücksichtigte man schon bei der Besetzung des Präsidiums und der Ausschüsse im Januar 1953 die vorhandenen politischen Gruppierungen. Die damit faktisch vorhandene Gliederung wurde am 16. Juni 1953 durch die Annahme einer Entschließung legalisiert, die die Erweiterung der Geschäftsordnung um einen Art. 33 a vorsah, der Abgeordneten auf Grund ihrer politischen Zugehörigkeit die Bildung von Fraktionen ermöglichte und gleichzeitig die Mindestzahl der notwendigen Mitglieder auf neun festsetzte. Daraufhin konstituierten sich die Christliche Demokratische Fraktion mit 38 Mitgliedern, die Sozialistische Fraktion mit 23 Mitgliedern und die Fraktion der Liberalen und Nahestehenden mit 11 Mitgliedern; ihre Gründungserklärungen wurden im Amtsblatt der Gemeinschaft veröffentlicht. Daneben gab es bis 1957 3, zuletzt 1958 einen fraktionslosen Abgeordneten 6 '. Als nach der Fusion der bestehenden Gemeinschaftsteile die parlamentarische Versammlung zum ersten Mal als gemeinsame Vertretung für Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl und Europäische Atomgemeinschaft zusammentrat, übernahm sie die bestehende Geschäftsordnung und damit auch die Regelung in bezug auf die Fraktionen. Am 21. März 1958 gab sie sich den Namen „Europäisches Parlament" und beschloß, daß die Abgeordneten nach Fraktionen getrennt sitzen sollten. Die neue eigene Geschäftsordnung vom 23. Juni 1958 erhöhte lediglich die Mindeststärke auf 17 Abgeordnete. Eine Herabsetzung auf 14 Mitglieder ermöglichte es 1965 den französischen gaullistischen Abgeordneten, eine eigene „Fraktion der Europäischen Demokraten für den Fortschritt", seit dem 24. Juli 1984 „Vereinigung der Europäischen Demokraten", zu bilden. 1973 erfolgte erneut im Interesse einer inzwischen vertretenen Gruppierung eine Änderung dergestalt, daß es zwar grundsätzlich bei einer Fraktionsmindeststärke von 14 Mitgliedern blieb, 10 Abgeordnete jedoch ausreichen sollten, wenn sie aus mindestens drei Mitgliedstaaten kamen. Damit konnten die kommunistischen Abgeordneten im Oktober 1973 die „Fraktion der K o m m u nisten und Nahestehenden" gründen 62 .

33

Gemeinsame Versammlung der EGKS

34

Entwicklung nach der Fusion der Gemeinschaftsteile

Angesichts der Verdoppelung der Mitgliederzahl des Europäischen Parlaments 35 bei den ersten Direktwahlen im Juni 1979 verabredeten die Fraktionsvorsitzenden Entwicklung seit den ersten Direktwahlen

61

J. D. KURLEMANN Zur Rolle der Fraktionen im Europäischen Parlament, G S Sasse, 1979, S. 269; N . GRESCH Transnationale Zusammenarbeit in der E G , 1977, S. 39; DERS. Die supranationale Fraktion im Europäischen Parlament, ZParl. 7 (1976) S. 190 ff; G.RUTSCHKE Die Mitwirkung der Fraktionen bei der parlamentarischen Willensbildung im Europäischen Parlament im Vergleich zu den Parlamenten der Mitgliedstaaten, Diss. 1986, S. 11.

62

KURLEMANN ( F n . 6 1 ) S . 2 7 0 ; RUTSCHKE ( F n . 6 1 ) S . 13.

1036

6. Teil: Der Bundestag als Forum und zentraler O r t der politischen Willensbildung

von vier der inzwischen fünf Fraktionen eine Erhöhung der Mindestzahl auf 29, bei Abgeordneten aus mindestens zwei Mitgliedstaaten auf 21 Mitglieder. Noch unter der alten Geschäftsordnungsregelung kam es in dem neugewählten Parlament am 19. Juli 1979 jedoch zu einem Zusammenschluß von 13 Abgeordneten unterschiedlicher politischer und nationaler Herkunft zur „Fraktion für Technische Koordination und Verteidigung der Unabhängigen Gruppen und Abgeordneten", also im Grunde einer Gegenorganisation zur bestehenden politischen Struktur des Europäischen Parlaments. Diese Gruppierung widersetzte sich verständlicherweise jeder Heraufsetzung der Fraktionsmindeststärke, die sie erneut ihrer Wirkungsmöglichkeiten beraubt hätte63. Nach harten Auseinandersetzungen kam es zu dem Kompromiß, daß nach Art. 26 Abs. 5 der Geschäftsordnung weiterhin für die Fraktionsbildung mindestens 21 Abgeordnete, wenn sie aus einem einzigen Mitgliedsstaat, 15, wenn sie aus zwei, und 10, wenn sie aus drei und mehr Mitgliedstaaten kommen, erforderlich sein sollten. Damit sollte zugleich die Entstehung echter „europäischer" Fraktionen stimuliert und die organisatorische Verfestigung kleinerer nationaler Gruppen verhindert werden. Davon profitierte neben dem bereits erwähnten Zusammenschluß Unabhängiger, der sich nach der 2. Direktwahl 1984 in „Regenbogenfraktion" umbenannte, die am 16. Januar 1973 fast ausschließlich aus britischen Konservativen bestehende „Europäische Konservative Fraktion", die seit dem 17.Juli 1979 als „Fraktion der Europäischen Demokraten" firmiert, und die am 23. Juli 1984 gegründete „Fraktion der Europäischen Rechten", deren 16 Mitglieder aus Frankreich, Griechenland und Italien kommen 64 .

IV. Existenz und Wirkungsweise 36 Die in den gemeinsamen historischen Wurzeln angelegte Wechselbeziehung zwiFraktion und Partei sehen Parlamentsfraktionen und politischen Parteien hat im Laufe der Entwicklung eine Umkehr erfahren. Während sich ursprünglich im Parlament vertretene Abgeordnete auf Grund einer politischen Gleichgesinntheit dort zusammenschlossen und erst daran anschließend Unterstützung für ihre Ideen auch außerhalb des Parlaments suchten, ist mit der organisatorischen Verfestigung und Perpetuierung dieser Unterstützung und dem Zusammenwachsen ihrer ursprünglich getrennten Funktionen als Wahlverein wie als politischer Resonanzboden die politische Gruppierung außerhalb des Parlaments zur biologischen Mutter von dessen politischer Durchstrukturierung geworden: Fraktionen „entstehen" nicht mehr durch den Zusammenschluß, d. h. aus einem Willensakt von Abgeordneten gleicher politischer Ausrichtung, sondern sind in dem Augenblick latent vorhanden, in dem eine politische Partei als Ergebnis einer Wahl zu einem Parlament in einem Parlament vertreten ist. Insoweit sind die Fraktionen des modernen Parlamentarismus „älter" als die Vertretungskörperschaft in der konkret-personellen Zusammensetzung der jeweiligen Legitimationsperiode. Sie beginnen im allgemeinen ihre Arbeit bereits vor der Konstituierung des Parlaments, also vor Beginn der Wahlpe65

64

Vgl. die Darstellung bei KURLEMANN (Fn.61) S.271 m. w . N . RUTSCHKE (Fn.61) S. 14.

§ 37

Die Bundestagsfraktionen

(JEKEWITZ)

1037

riode, weil sie dessen konkrete Organisation und damit Arbeitsweise von Anfang an bestimmen; dazu müssen sie sich zunächst selbst organisieren, d. h. handlungsund verhandlungsfähig machen. 1. Keine Gründungsfreiheit Eine „Gründungsfreiheit" von Fraktionen im eigentlichen Sinne, für deren Aus- 3 7 übung lediglich in den Parlamentsgeschäftsordnungen einige Rahmenbedingungen Keine festgelegt sind 65 , gibt es deshalb nicht. Zwar kann der einzelne ins Parlament „Gründungsfreiheit" von Fraktionen gewählte Abgeordnete sich unter Berufung auf Art. 38 Abs. 1 G G der organisatorischen Einbindung entziehen. Da aber unter den Bedingungen des modernen Parteienstaates, zumal bei einem Verhältniswahlrecht mit Sperrklausel, erfolgreiche unabhängige Kandidaturen praktisch ausgeschlossen sind, erfolgt bereits die Mandatsübernahme als Repräsentant einer politischen Gruppe, die sich nicht zu organisieren braucht, sich jedoch im Fall der Nichtorganisation jeder Wirkungsmöglichkeit begibt. Die in einigen Geschäftsordnungen geforderte Zugehörigkeit der sich in einer Fraktion zusammenschließenden Abgeordneten zu derselben politischen Partei 66 ist von daher ebenso eine Selbstverständlichkeit wie das etwa in Bayern, Bremen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein sich noch findende Relikt, daß ein Abgeordneter nur einer einzigen Fraktion angehören darf. Sinn haben derartige Klarstellungen noch auf der Ebene des Europäischen Parlaments, wo nationale Herkunft der Mandatsträger und gemeinsame politische Zugehörigkeit in transnationalen Fraktionen zusammengeführt werden müssen; mit dem Entstehen transnationaler europäischer Parteien werden auch sie überflüssig. Etwas anderes drückt aber auch § 10 G O B T nicht aus, wenn dort die Möglichkeit der Fraktionsbildung zugunsten von C D U und C S U auch auf diejenigen Mitglieder des Bundestages erstreckt wird, die auf Grund gleichgerichteter politischer Ziele in keinem Land miteinander im Wettbewerb stehen 67 . 2. Zusammensetzung Das wesentliche Erfordernis für die Erlangung des Fraktionsstatus ist deshalb in 3 8 der Parlamentswirklichkeit die Erreichung der jeweils vorgegebenen Mindestmit- Fraktionsstatus Mindestgliederzahl. Das ist dort unproblematisch, wo wie beim Bundestag seit 1969 und mitgliederzahl, den Landtagen von Berlin, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Rheinland- Veränderungen Pfalz die Fraktionsmindeststärke unmittelbar über die Wiederholung des entsprechenden Prozentsatzes oder indirekt über die Bezugnahme auf das Wahlgesetz definiert ist und durch Uberwindung der wahlrechtlichen Sperrklausel in jedem Fall erfüllt wird 68 . Veränderungen können sich hier nur im Laufe der Wahlperiode durch Ausscheiden einzelner Abgeordneter aus ihrer Fraktion unter Beibehaltung

65

S o aber KRETSCHMER ( F n . 5) S. 4 6 .

66

Vgl. dazu E. RÖPER Politische Homogenität von Fraktionen und Gruppen gerichtlich in Zweifel gezogen. Zur Fragwürdigkeit eines V G - E n t s c h e i d e s , ZParl. 15 (1984) S. 7 ff. Dazu W . DEXHEIMER D i e CSU-Landesgruppe. Ihre organisatorische Stellung in der C D U / C S U - F r a k t i o n , ZParl. 3 (1972) S . 3 0 7 f f . Vgl. dazu W.SCHMIDT Chancengleichheit der Fraktionen, in: D e r Staat 9 (1970) S . 4 8 6 . D i e Kritik daran bei ACHTERBERG ( F n . 55) S. 279, Fn. 1 überzeugt nicht.

67

68

und

1038

6. Teil: D e r B u n d e s t a g als F o r u m u n d zentraler O r t d e r politischen Willensbildung

des Mandats ergeben. Denn der zu Beginn der Wahlperiode erlangte Fraktionsstatus bleibt nicht für deren gesamte Dauer ohne Rücksicht auf die Mitgliederzahl erhalten 69 . Fraktionen, die gerade noch die Mindestzahl von Mitgliedern erreicht haben, müssen deshalb darauf achten, daß sie keine Abgeordneten verlieren, wie es immer wieder geschieht70. Andererseits können Fraktionen, die mehr als die Mindestmitgliederzahl aufweisen, sich leichter von bisherigen Mitgliedern trennen71 oder etwa nachgerückte Abgeordnete gar nicht erst aufnehmen, obwohl sie auf der Liste ihrer Partei gewählt worden sind72. Ubertritte unmittelbar oder nach einer Schamfrist als fraktionsloser Abgeordneter von einer Fraktion zu einer anderen oder der Zusammenschluß aus einer oder mehreren bestehenden Fraktionen ausgetretener Abgeordneter zu einer neuen eigenen Fraktion, die früher häufiger waren 73 , sind nicht nur wegen der inzwischen festgeschriebenen Bedingung der Zugehörigkeit zu derselben Partei seltener geworden; die politische Bindung als Voraussetzung für die Erlangung eines Mandats läßt im Fall eines Zerwürfnisses mit den bisherigen politischen Freunden im allgemeinen auch die in allen deutschen Parlamentsgeschäftsordnungen außer von Bayern und RheinlandPfalz noch vorgesehene Rolle als Gast oder Hospitant nicht zur Anwendung kommen, die dadurch zu einer verfassungssoziologischen Rarität 74 geworden ist. 39 Probleme hinsichtlich der Anerkennung als Fraktion kann es dort geben, wo Mindeststärke in J¡ e Fraktionsmindeststärke in absoluten Zahlen, die größer als die nach dem U

1

V LI

a^so u t e n z a

en,

A n z e i g e an den Präsidenten

Wahlrecht erreichbare Mindestmandatszahl sind, vorgegeben ' i · O b das durch Festlegung im Text der jeweiligen Geschäftsordnung selbst oder auf Grund der Geschäftsordnung durch gesonderten Beschluß erfolgt: es handelt sich zunächst einmal weniger um einen zulässigen Akt der Parlamentsaufsicht über die Fraktionen 75 als um ein Gebrauchmachen von der Geschäftsordnungsautonomie, mit dem eine Mehrheit eine Minderheit von bestimmten Rechten fernhalten kann und das deshalb einer besonderen Rechtfertigung bedarf, um Bestand zu haben 76 . Die in den Geschäftsordnungen des Bundestages und der Bremer Bürgerschaft eingeräumte Möglichkeit des Zusammenschlusses von Abgeordneten, die zusammen nicht Fraktionsstärke erreichen, zu einer Gruppe ist solange keine Kompensation, als damit keine eigenen Rechte verbunden sind, die die Chancengleichheit wiederherstellen. Im Bundestag, wo es zuletzt am 28. September 1960 zur Inanspruchnahme des entsprechenden § 10 Abs. 4 der Geschäftsentsprechenden

w r(

" 70

71

72

73 74 75 76

N d s S t G H , O V G E 17, 508. Vgl. die N a c h w e i s e im D a t e n h a n d b u c h ( F n . 5 3 ) S. 236 ff; auch D a t e n h a n d b u c h 1980-1984, 1986, S. 358 ff. D e s h a l b trat d e r A b g . Bastian in d e r 10. W a h l p e r i o d e des Bundestages aus der F r a k t i o n „Die G r ü n e n " aus, w ä h r e n d die A b g . Kelly ihr M a n d a t behielt. Vgl. den A u s s c h l u ß des A b g . Wiippesahl aus d e r F r a k t i o n „Die G r ü n e n " in der 11. W a h l p e r i o d e des Bundestages am 2 6 . 1 . 1 9 8 8 , 58. S t z g . / 4 . 2 . 1 9 8 8 / S . 3 9 6 7 A. Vgl. d e n Fall des A b g . Emeis, d e r im D e z e m b e r 1975 in den B u n d e s t a g der 7. W a h l p e r i o d e n a c h r ü c k t e , v o n d e r S P D - F r a k t i o n aber nicht a u f g e n o m m e n w u r d e . Vgl. die N a c h w e i s e im D a t e n h a n d b u c h ( F n . 5 3 ) S . 2 3 6 f f . Vgl. o b e n bei R d n . 3 2 . So aber HAUENSCHILD ( F n . 2 2 ) S.41. D a z u v o r d e m H i n t e r g r u n d der E n t s c h e i d u n g des B a y V e r f G H (Fn. 58) H . J . DELLMANN F r a k t i o n s s t a t u s als g e s c h ä f t s o r d n u n g s m ä ß i g e V o r a u s s e t z u n g f ü r die A u s ü b u n g parlamentarischer Rechte, in: DVB1.1976, S. 153 ff, gegen J. LINCK in: D Ö V 1975, S.689; vgl. auch KISKER

§37

Die Bundestagsfraktionen (JEKEWITZ)

1039

Ordnung kam, als von der ursprünglich 17-köpfigen Fraktion der D P der sog. Ministerflügel mit 9 Abgeordneten zur C D U / C S U übergewechselt war 7 7 , spielt das keine Rolle, weil hier nur ein selbstverschuldeter Verlust einer zunächst vorhandenen Fraktionseigenschaft eintreten kann; in der Bremer Bürgerschaft ist versucht worden, wenigstens finanziell einen Ausgleich zu schaffen 78 . Soweit die Bildung einer Fraktion wie einer Gruppe und ihre Bezeichnung sowie die Namen der Vorsitzenden, Mitglieder und Gäste dem Parlamentspräsidenten schriftlich anzuzeigen ist, liegt darin nur ein nachträgliches Formerfordernis, kein konstitutiver Akt 7 9 . 3. Begrenzung der Wirkungsdauer Aus der Vorgabe, daß eine Fraktion der Zusammenschluß der für eine politische 4 0 Partei zu einem Parlament gewählten Abgeordneten ist, folgt auch die Begrenzung Wirkungsdauer; der Wirkungsdauer. Sie kann bereits im Verlauf der Wahlperiode dadurch beendet ^ ¿ Λ ^ ΐ ο ^ η ^ , ' ο η ' 1 8 werden, daß der Fraktionsstatus verlorengeht oder aufgegeben wird. Ein Verlust p r a k t ¡ o n e n tritt einmal ein, wenn die zunächst vorhandene Mindestmitgliederzahl durch Austritt oder Ausschluß einzelner Mitglieder oder ganzer Gruppen unterschritten wird. Grund dafür können grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten über die Arbeit der Fraktion, der politischen Partei oder beider Körperschaften sein. D a das einmal errungene Mandat wegen Art. 38 Abs. 1 G G weder der Verfügung durch die Fraktion noch durch die politische Partei unterliegt, kann ein Abgeordneter ebensowenig, wie er gezwungen werden kann, einer Fraktion beizutreten, gezwungen werden, in ihr zu verbleiben; als Kehrseite gibt es aber auch keinen Anspruch des einzelnen Abgeordneten, in eine Fraktion aufgenommen zu werden oder ihr anzugehören, obwohl er ursprünglich für die ihr korrespondierende politische Partei ins Parlament gewählt worden und in dieser Partei vielleicht weiter Mitglied ist. Deshalb können auch Fraktionsspaltungen, wie sie im Bundestag in den ersten beiden Wahlperioden erfolgten 80 , von der jeweiligen „Mutterfraktion" nicht verhindert werden, ohne daß diese Fragen bisher verfassungsgerichtlich ausgetragen worden sind. Dem Zusammenschluß von auf diese Weise aus mehreren Fraktionen ausgeschiedenen Abgeordneten zu einer neuen eigenen Fraktion steht allerdings heute das Erfordernis der Zugehörigkeit zur selben politischen Partei entgegen, das jedoch gegebenenfalls dadurch umgangen werden kann, daß eine solche Partei „nachgegründet" wird. Als Gegenstück zum Zusammenschluß als Fraktion ist auch ohne ausdrückliche Regelung die freiwillige Auflösung theoretisch denkbar, aber praktisch ausgeschlossen, weil dadurch die mit dem

77

78

79 80

( F n . 5 8 ) und bereits früh SCHMIDT (Fn. 68) S. 495. Zur Geschäftsordnungsautonomie in diesem Bereich auch B V e r f G E 70, 324 mit abweichendem V o t u m der Richter B ö c k e n f ö r d e und Mahrenholz; dazu J . SCHERER Fraktionsgleichheit und Geschäftsordnungskompetenz des B u n destages, in: A ö R 112 (1987) S. 189 ff. Vgl. den Nachweis im Datenhandbuch ( F n . 5 3 ) S.247f. Auch H. T R O S S M A N N Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, 1977, S . 6 9 . J . JEKEWITZ Fraktionszuschüsse in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: ZParl. 15 (1984) S . 1 4 f f . A C H T E R B E R G ( F n . 5 5 ) S.281. Vgl. oben bei R d n . 3 1 .

1040

6. Teil: D e r Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

Fraktionsstatus verbundenen kollektiven Wirkungsmöglichkeiten aufgegeben würden. Während einer Wahlperiode entfallen kann der Fraktionsstatus schließlich durch den vollständigen Mitgliederverlust nach § 46 Abs. 1 Ziff. 5 Bundeswahlgesetz als Folge eines Parteiverbots durch das Bundesverfassungsgericht 81 . 41 Da Fraktionen aus Abgeordneten eines für eine bestimmte Legitimationsdauer Fraktionen und Ende gewählten Parlaments gebildet werden, ist ihre Existenz in jedem Fall von dessen konkret-personeller Zusammensetzung abhängig. Sie ist zeitlich begrenzt durch den regulären Ablauf der Wahlperiode oder deren vorzeitige Beendigung durch Auflösung des Parlaments. Zur Vermeidung von parlamentslosen Zeiten verknüpft Art. 39 Abs. 1 Satz 2 G G für den Bundestag das Ende der Wahlperiode mit dem ersten Zusammentritt des neugewählten Parlaments, so daß bis zu diesem Zeitpunkt auch seine Fraktionen weiterbestehen, obwohl bereits neue andere Mandatsträger vorhanden sein können, die für dieselbe politische Partei und gegebenenfalls als „Nachfolger" bisheriger Abgeordneter gewählt worden sind. Da und soweit sich die Fraktionen bereits vor diesem ersten Zusammentritt zu konstituieren pflegen 82 , können nebeneinander oder gemeinsam Sitzungen der „alten" und der „neuen" Fraktion stattfinden, die sich in ihrer personellen Zusammensetzung unterscheiden. Uber die Organ-Diskontinuität der Vertretungskörperschaft und die darin angelegte Diskontinuität der Parlamentsarbeit 83 hinweg sind Fraktionen somit ein Element der Verzahnung und damit der politischen Kontinuität, obwohl sie selbst infolge ihrer personellen Bindung an das jeweilige Parlament rechtlich der personellen Diskontinuität unterliegen und faktisch mangels Erreichens der erforderlichen Mandate bei der nächsten Wahl mit dem Ende der Wahlperiode untergehen können 8 4 . 4. Wirkungsbereiche 4 2 Bereits von ihrer Definition als Parteien im Parlament her ist unmittelbares und Wirkungsfeld eigentliches Betätigungs- und Wirkungsfeld der Fraktionen das konkrete Pariaun< ^ s o w e ' t Aus estaJt'n"Ter m e n t ' die jeweiligen Verfassungen keine Aussagen über das Fraktionsstellung Verhältnis zwischen Parlament und Fraktionen machen, können die Fraktionen als politische Gliederungen des Parlaments ihre Stellung im Parlament selbst näher ausgestalten. Dabei unterscheidet sich die Interessenlage von Regierungsfraktion bzw. -fraktionen und den entsprechenden Gruppierungen der Opposition nur graduell; denn in erster Linie geht es um die Statuierung und Abgrenzung von Rechten, die nur von einer politisch definierten und verfaßten Personenmehrheit wahrgenommen werden können, gegenüber dem einzelnen Abgeordneten und sonstigen, durch andere gleichgerichtete Interessen und Ziele ad hoc zusammengeführten bzw. zusammengespannten Gruppierungen. O b das unter Inanspruchnahme der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie oder im Kleid eines förmlichen Gesetzes geschieht, ist im Ergebnis gleich. Wie in anderen Fällen

81

ACHTERBERG ( F n . 5 5 ) S . 2 8 3 . A . M . HAUENSCHILD ( F n . 2 2 ) S. 193.

82

Vgl. oben bei Rdn. 36. Vgl. dazu J. JEKEWITZ D e r Grundsatz der Diskontinuität im Staatsrecht der Neuzeit und seine Anwendung auf den Deutschen Bundestag, 1977. Zu den Rechtsfolgen eines solchen Untergangs vgl. unten bei R d n . 65.

83

84

§ 37

D i e B u n d e s t a g s f r a k t i o n e n (JESEWITZ)

1041

handelt es sich bei den so hervorgebrachten Normen um konkretisiertes Verfassungsrecht, das in seinem Bestand an der Verfassung selbst zu messen ist 85 . Maßstab ist dabei, wieweit der einzelne Abgeordnete durch die für eine Effektivierung der Parlamentsarbeit für notwendig erachtete Bündelung seiner Rechte 86 zulässigerweise „mediatisiert" 87 oder durch die Einbindung in eine Gruppe eigener Wirkungs- und Gestaltungsmöglichkeiten beraubt wird. So sind bestimmte Quoren für die Geltendmachung bestimmter Rechte parlamentsgeschichtlich nichts Neues; sie dienten schon früh dem Nachweis der „Ernsthaftigkeit" eines Anliegens und damit der Rationalisierung der Parlamentsarbeit. Bereits am Beginn der förmlichen Anerkennung der Fraktionen stand eine an der Zahl der geschäftsordnungsmäßig zur Unterstützung eines Antrags erforderlichen Abgeordneten orientierte Mindeststärke 88 . Kennzeichnend für die Erstarkung der Bedeutung der Fraktionen ist, daß 4 3 zunehmend eine Verlagerung derartiger Privilegierungen von einem bloßen Privilegierung der Quorum auf die organisierte und verfaßte Gliederung der Fraktion zu beobachten ist. Diese Entwicklung haben allerdings nicht alle Parlamente in gleichem Maße B u n d e s t a g als ' und mit gleicher Konsequenz vollzogen. In einzelnen Geschäftsordnungen sind F r a k t i o n e n p a r l a m e n t Antragsrechte noch und in größerer Zahl bloßen Abgeordnetengruppen eingeräumt, die in anderen bereits den Fraktionen zuerkannt sind, ohne daß der Grund immer deutlich wird 89 . Am eindeutigsten ist hier die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, die insoweit mit der sog. „Kleinen Parlamentsreform" von 1969 auch formell den Wandel zum Fraktionenparlament normiert hat 90 . Mit der Neufassung im Jahre 1980 ist das nur verdeutlicht worden, indem nicht mehr die Unterstützung durch Abgeordnete in Fraktionsstärke verlangt wird, sondern alternativ eine Fraktion oder 5 vom Hundert der Mitglieder des Bundestages als das erforderliche Quorum aufgeführt sind. Diese Offenlegung bisher versteckter Fraktionsrechte ist zwar nicht ohne Kritik geblieben91, aber nicht generell, sondern nur im konkreten Einzelfall unter den genannten Gesichtspunkten zu hinterfragen. a) Beteiligung an der Parlamentsarbeit Eine Kategorisierung und Systematisierung der den Fraktionen eingeräumten 4 4 Rechte ist schwierig, da die Zuordnung je nach Ansatz und Wirkung auch anders R e c h t e , personelle vorgenommen werden kann 92 . Auf ihre Mitwirkung im Parlament bezogen, ist O r g a m s a t i o n d e r zwischen Initiativ-, Beteiligungs- und Schutzrechten unterschieden worden 93 . Bei 85

D a z u J.JEKEWITZ Bundesverfassungsgericht und Staatsorganisationsrecht des G r u n d g e s e t z e s , in: F S W a s s e r m a n n , 1 9 8 4 , S . 3 8 1 ff.

86

Vgl. dazu K . ABMEIER D i e parlamentarischen B e f u g n i s s e des A b g e o r d n e t e n des

Deutschen

Bundestages nach dem G r u n d g e s e t z , 1984; J . KÜRSCHNER D i e Statusrechte des f r a k t i o n s l o s e n A b g e o r d n e t e n , 1984. 87

B e g r i f f bei E . R Ö P E R W e i t e r e Mediatisierung der A b g e o r d n e t e n , in: Z P a r l . 13 ( 1 9 8 2 ) S. 3 0 4 ff.

88

V g l . o b e n bei R d n . 2 4 .

89

ACHTERBERG ( F n . 5 5 ) S . 2 9 1 , 2 9 3 f.

90

W . Z E H A l t e r s s c h i c h t e n in der G e s c h ä f t s o r d n u n g des D e u t s c h e n B u n d e s t a g e s , in: Z P a r l . 17

91

Vgl. KRETSCHMER ( F n . 5 ) S . 6 1 .

( 1 9 8 6 ) S. 3 9 7 ff. 92

KRETSCHMER ( F n . 5 ) S . 4 4 ; ACHTERBERG ( F n . 5 5 ) S . 2 9 1 . HAUENSCHILD ( F n . 2 2 ) S. 82 ff.

1042

6. Teil: D e r Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

der personellen Organisation der Parlamentsarbeit fließen alle drei Elemente zusammen, wenn, wie in § 12 der Geschäftsordnung des Bundestages formuliert, die Zusammensetzung von Arbeits- und Lenkungsgremien des Parlaments im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen vorzunehmen ist. Es handelt sich dabei zunächst um ein Beteiligungs- und Schutzrecht, weil damit klargestellt ist, daß jede Fraktion Anspruch auf eine Vertretung in diesen Gremien hat, und insoweit alle Fraktionen gleich sind94. Durch die Bezugnahme auf das Stärkeverhältnis wird sichergestellt, daß keine Umkehrung der Mehrheitsverhältnisse eintritt, auch in diesen Gremien sich vielmehr die durch das Wahlergebnis vorgegebene politische Zusammensetzung des Parlaments widerspiegelt, was nur dadurch relativiert wird, daß hier auch Gäste berücksichtigt werden können. Für die praktische Inanspruchnahme dieses Rechts ist dagegen wichtig, daß sie unter Beachtung der Reihenfolge der Fraktionen zu erfolgen hat, die sich nach der tatsächlichen Zahl ordentlicher Mitglieder bemißt und über die bei gleicher Mitgliederstärke das Los entscheidet. Reihenfolge und zu berücksichtigende Größe der einzelnen Fraktionen sind damit die bestimmenden Eckwerte für die Berechnungsverfahren, nach denen die Aufteilung erfolgt; Veränderungen und Verbesserungen dieser Berechnungsverfahren95 sind nicht nur dort, wo ihre Festlegung wie in der Geschäftsordnung des Bundestages dem jeweiligen Parlament überlassen ist, stets auch Ausdruck nicht nur absichtsfreier verhältnismäßiger Berücksichtigung der Fraktionen 96 . Das gilt für die Vertretung in dem aus dem Parlamentspräsidenten und seinen Stellvertretern gebildeten Präsidium, bei den Schriftführern und im Altestenrat ebenso wie für die Besetzung des Vorsitzes von Ausschüssen und bei der Sitzverteilung in den ständigen Fachausschüssen, deren Unterausschüssen, in Untersuchungsausschüssen, für den Bundestag in Enquête-Kommissionen, im Vermittlungsausschuß, im Gemeinsamen Ausschuß als dem Notparlament für den Verteidigungs- und Spannungsfall, in der parlamentarischen Kontrollkommission zur Überwachung der Nachrichtendienste und im Gremium nach §9 des G-10Gesetzes und für andere Einrichtungen, in die etwa der Bundestag Mitglieder und Vertreter entsendet97. 45 Gesamtkopfzahl

E t Γ ι ™ ' •rsonelle Besetzung

Wo die Beteiligung einer jeden Fraktion nicht zwingend vorgeschrieben ist wie b e i m Notparlament oder beim Zwischenausschuß des Bayerischen Landtags98, bleibt als variable Größe, die auch in einem solchen Kontext Manipulationen zu Lasten einzelner, meist kleiner Fraktionen erlaubt, dort, wo sie jeweils durch Mehrheitsbeschluß festgelegt wird, die Gesamtkopfzahl derartiger Gremien. Eher, als zur Aufstockung bis auf eine Mitgliederstärke, die bei Zugrundelegung des gewählten Berechnungsverfahrens die Berücksichtigung jeder Fraktion und

95

97 98

Vgl. aber B V e r f G E 70, 324 ff, und dazu die Kritik von SCHERER (Fn. 76). Vgl. bei Rdn. 30. So wurde das bis 1970 beim Bundestag zugrundegelegte, größere Fraktionen bevorzugende Verfahren nach d ' H o n d t zugunsten des mathematischen Proporzverfahrens nach Hare und Niemeyer aufgegeben, um der F . D . P . entgegenzukommen. U m den logischen Sprüngen dieser Berechnungsart zu entgehen, wird seit der 9. Wahlperiode des Bundestages das Rangmeßzahlverfahren nach St. Lague in der Weiterentwicklung durch Schepers angewandt. Vgl. die Aufzählung bei KRETSCHMER ( F n . 5 ) S. 51 f. ACHTERBERG ( F n . 5 5 ) S . 2 9 2 m i t

Fn.55.

§ 37

Die Bundestagsfraktionen

(Jekewitz)

1043

zugleich eine proportionale Vertretung gewährleistet, wird in solchen Fällen zum üblicherweise mit dem Argument der Arbeitsfähigkeit begründeten Instrument der Verkleinerung gegriffen werden. Auf diese Weise ist im Bundestag bisher die Fraktion der „Grünen" von einer Vertretung im Präsidium und in den parlamentarischen Kontrollgremien im Sicherheitsbereich ferngehalten worden, ohne daß die dafür angeführten, vom Bundesverfassungsgericht gebilligten" Motive zu überzeugen vermögen. Dem Einfluß von außen entzogen ist die Entscheidung über die personelle Besetzung der derart den einzelnen Fraktionen zugefallenen Positionen; sie erfolgt durch die Fraktionen selbst und nach den im Rahmen von deren Selbstorganisationsrecht aufgestellten Regeln und schließt das Recht zum Rückruf ein 100 . b) Initiativ- und

Beteiligungsfunktionen

Den Initiativ- wie Beteiligungsfunktionen sind auch die meisten Rechte zuzurechnen, die für die Fraktionen mit Bezug auf die Sacharbeit im Parlament, und zwar im Plenum wie in den Ausschüssen, ausformuliert sind. Bei diesen Vorschriften handelt es sich von der Anlage her ursprünglich überwiegend um Minderheitenrechte, die aber ζ. B. beim Bundestag dadurch einen eigenen Charakter gewonnen haben, daß für die Inanspruchnahme seit 1980 an die Stelle der Abgeordneten in Fraktionsstärke die Fraktion als solche und nur daneben eine an der Fraktionsmindeststärke orientierte Zahl von Abgeordneten getreten ist' 0 '. Daran ändert nichts, daß relativ willkürlich auf die absolute Zahl oder die Zahl anwesender Abgeordneter abgestellt ist, denn auch dann sind die Fraktionen insoweit bevorzugt, als sie etwa bei geringer Präsenz in der jeweiligen konkreten Situation das Vorhandensein des Quorums nicht nachzuweisen brauchen.

46

In konsequenter, vom Bundesverfassungsgericht nicht beanstandeter 102 Weiterentwicklung dieser Tendenz hat der Bundestag in seiner Geschäftsordnung die „Fraktion im Ausschuß" eingeführt und die proportional verkleinerte Wiedergabe der politischen Gruppierungen auf dieser Ebene mit vergleichbaren Initiativ- und Schutzrechten ausgestattet. Neben dem Anspruch einer jeden Fraktion, in einem Ausschuß und bei den Arbeiten eines Ausschusses etwa in einem von diesem eingesetzten Unterausschuß und bei der Durchführung einer Anhörung im Auftrag des Ausschusses durch einzelne seiner Mitglieder vertreten zu sein, sind als gleichwertig und gleichgewichtig die Rechte zu sehen, die den von den jeweiligen Fraktionen benannten Ausschußmitgliedern in bezug auf die Abwicklung der Ausschußgeschäfte zustehen. V o r allem dort, wo eine Fraktion in einem Ausschuß nur mit einem einzigen Mitglied vprtrpfpn ιςί Inancnriir Vin a h r Jirrl KP

47

derartiger Rechte deutlich, daß nicht mehr die Gruppierung politisch identifizierbarer Personen, sondern die politische Gruppierung, die durch Personen repräsentiert ist, den Motor parlamentarischer Arbeit ausmachen. Das kommt auch darin

Vgl. bei Rdn. 44. a z u M . Becker Die Abberufung eines Abgeordneten aus einem Parlamentsausschuß im Spannungsfeld zwischen Fraktionsdisziplin und freiem Mandat, in: ZParl. 15 (1984) S. 2 4 ff. io· Vgl. die Auflistung bei Kretschmer ( F n . 5 ) S. 63 ff. 102 In der Flick-Entscheidung B V e r f G E 67, 100 ff. 99

100 Yg[ d

Rechte mit Bezug auf die Sacharbeit, Inanspruchnahmeberechtigung

Fraktion im Ausschuß, Fraktionen als „ M o t o r " der Parlamentsarbeit

1044

6. Teil: D e r Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

zum Ausdruck, daß Vorlagen und Anträge im Bundestag selbst dort, wo sie von einzelnen Abgeordneten initiiert worden sind, zusätzlich als politische Identifikation von dem jeweiligen Fraktionsvorsitzenden für die Fraktion getragen werden. Alle Fraktionen haben deshalb in ihren Verfahrensordnungen Vorsorge dafür getroffen, daß der dazu erforderliche politische Konsens rechtzeitig vorher hergestellt wird: Die Einbringung nicht mit der Fraktion abgestimmter Vorlagen im Plenum wird als Widerspruch zu der beanspruchten Fraktionssolidarität angesehen 103 ; das freie Mandat entfaltet seine Wirkung damit vorrangig als Unterstützung des einzelnen Abgeordneten in seiner Fraktion, nicht gegen seine Fraktion 104 . c) Beteiligung an der Parteiarbeit 4 8 Der zweite Wirkungsbereich einer Fraktion ist die politische Mutterpartei, auf die ihre Existenz zurückgeht. Dabei handelt es sich um ein labiles Miteinander, das weitgehend ohne rechtliche Regelung auskommen muß, aber durch die die Fraktionsarbeit im Parlament prägenden verfassungsorganisationsrechtlichen Vorgaben mitbestimmt wird. Obwohl die Fraktion als Partei im Parlament auftritt, ist sie als Folge des freien Mandats der einzelnen Fraktionsmitglieder nicht Befehlsempfänger der jeweiligen politischen Partei. Andererseits braucht die politische Partei die Fraktion zur Umsetzung ihrer politischen Programmatik, wo diese auf konkretes staatliches Handeln nicht nur in der Form der Gesetzgebung ausgerichtet ist 105 . Als Sanktions- und Druckmittel, mit dem wiederum über das einzelne Fraktionsmitglied auf die Fraktion als Ganzes gezielt wird, steht ihr als Folge ihres Aufstellungsmonopols für die Wahlbewerber nur die Verweigerung einer erneuten Kandidatur zur Verfügung. Das gilt nicht nur für den einzelnen Wahlkreiskandidaten, sondern in noch größerem Maße für die im Verhältniswahlsystem bestimmende Listenplazierung, steht allerdings unter dem Vorbehalt, erst nachträglich, nämlich für das Ende einer Wahlperiode zu wirken und deshalb für eine aktuelle Einflußnahme auszufallen. Das 1981 durch Parteitagsbeschluß der Berliner F.D.P. aufgerichtete Verbot an die eigene Fraktion im Abgeordnetenhaus, mit der C D U eine Koalition einzugehen, hat deshalb faktisch ebensowenig Wirkung gehabt wie die spektakuläre Anzeigenaktion, mit der der Bundesvorstand der Grünen die eigene Bundestagsfraktion zur Einbringung eines Gesetzentwurfes mit einem bestimmten Inhalt zwingen wollte 106 .

Partei und Fraktion

49 Fraktionen moderater als die Mutterparteien, Pragmatismus

Die gelegentlich geäußerte Auffassung, bei konservativen Parteien fielen die wesentlichen politischen Entscheidungen eher in der Fraktion als in der Partei, bei s ¡ c j 1 fortschrittlich verstehenden eher in der Partei als in der Fraktion, ist in dieser Form nicht haltbar. Fraktionen sind als Folge des gestuften Auswahlprinzips für Wahlbewerbungen in der Regel politisch moderater als ihre Mutterparteien; die Notwendigkeit der Kompromißsuche in Koalitionen wie im durchaus kompetiti103

104

105 106

Vgl. den noch als Regierungsfraktion gefaßten Beschluß der S P D im Bundestag: Zum Selbstverständnis der Fraktion, vom 2 3 . 6 . 1 9 8 1 , in: Das Parlament vom 4 . 7 . 1 9 8 1 , S. 5. W . Z E H Gliederung und Organisation des Deutschen Bundestages, in: ISENSEE/KIRCHHOF (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 1987, S. 391 ff, 398. Z u m ganzen N . GANSEL Partei und Fraktion, in: Neue Gesellschaft 1978, S. 920 ff. Vgl. K . J . SCHWEHN in: Die Welt vom 2 5 . 2 . 1 9 8 8 und 2 4 . 5 . 1 9 8 8 , sowie Bonner GeneralAnzeiger vom 2 6 . 5 . 1 9 8 8 , S. 16.

§37

Die Bundestagsfraktionen (JEKEWITZ)

1045

ven Miteinander mit anderen Fraktionen läßt sie zudem pragmatischer vorgehen, da sie an unmittelbar zurechenbaren Erfolgen, nicht an der lupenreinen Vertretung noch so gutgemeinter Ideen interessiert sein müssen. Darüberhinaus verfügen sie über das für die Umsetzung politischer Programmatik in öffentlichkeitswirksame Politik erforderliche Instrumentarium. Das verhilft den Fraktionen zu größerem Einfluß auf die jeweilige Partei als umgekehrt107. Befördert wird diese Tendenz durch eine Reihe institutioneller Vorkehrungen 5 0 in den Parteisatzungen, die von ihrer Anlage her der besseren Koordinierung Parteisatzungen, dienen sollen, in der Praxis jedoch die Rolle der Fraktionen verstärken. So ist ein Identität handelnder Personen von der C D U gestellter Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion kraft Amtes Mitglied des Präsidiums des Bundesparteitages seiner Partei. In der CSU gehören die dieser Partei entstammenden Präsidenten und Vizepräsidenten des Bundestages und des bayerischen Landtags automatisch zu den Delegierten des Parteitages und den Mitgliedern des Parteiausschusses; der Vorsitzende der CSULandesgruppe im Bundestag und der CSU-Fraktion im Landtag sind Mitglieder des Landesvorstandes. Bei der SPD entsenden die Bundestagsfraktion und die Gruppe ihrer Abgeordneten im Europäischen Parlament je ein Zehntel ihrer Mitglieder als Delegierte mit allerdings nur beratender Stimme zu den Bundesparteitagen; dem Parteirat gehören die Vorsitzenden der Fraktionen im Bundestag und in den Landtagen sowie der Obmann der Gruppe der Abgeordneten im Europäischen Parlament an. Am deutlichsten ist die hervorgehobene Stellung der Fraktion bei der F.D.P.: Die Mitglieder ihrer Bundestagsfraktion haben nicht nur Stimmrecht auf den Bundesparteitagen; im Bundeshauptausschuß wie im Präsidium der Partei ist die Bundestagsfraktion von Amts wegen vertreten; und die F.D.P.-Bundestagsfraktion kann die Einberufung eines außerordentlichen Bundesparteitages, des Bundeshauptausschusses und des Bundesvorstandes verlangen108. Befördert und verstärkt wird diese institutionelle Verklammerung durch die Identität handelnder Personen, die sich am deutlichsten darin äußert, daß der Vorsitzende der jeweiligen Organisationsebene einer Partei häufig zugleich an die Spitze der Fraktion auf der entsprechenden Ebene parlamentarischer Vertretung im Rahmen der Staatsorganisation gewählt wird.

V. Rechtsstellung, Organisation und Verfahren 1. Definitionsversuche Die sich überlagernde, im Bild der Partei im Parlament zum Ausdruck kommende 51 Verankerung sowohl im vorgelagerten politischen wie im unmittelbar staatsorgani- Rechtliche Zuordnung satorischen Raum macht eine rechtliche Zuordnung der Fraktionen schwierig. Das Fraktionen gilt sowohl für die Beschreibung ihres Verhältnisses zu den beiden „Mutter-" 107 Vgl. PH. JENNINGER O f t muß die Fraktion die Führung übernehmen, in: H . KLATT (Hrsg.) D e r Bundestag im Verfassungsgefüge, 1980, S. 43 ff. Zur Kritik für den Bereich der S P D P. CONRADI Die S P D auf dem W e g zum Wahlverein?, in: D e r Vorwärts vom 2 . 7 . 1 9 8 8 , S. 8 f. 108

Vgl. die Nachweise im einzelnen bei KRETSCHMER ( F n . 5 ) S. 199 ff. Auch K . SPITZMÜLLER Nicht bloß ein ausführendes O r g a n der Partei, in: KLATT (Fn. 107) S. 51 ff.

1046

6 . T e i l : D e r B u n d e s t a g als F o r u m und zentraler O r t der politischen W i l l e n s b i l d u n g

Institutionen wie für die Definition ihrer Rechtspersönlichkeit, mit der sie am Rechtsleben teilnehmen. Rechtsprechung dazu, die mangels einschlägiger und eindeutiger Aussagen in den Verfassungen, Organisationsgesetzen 109 oder Geschäftsordnungen verbindliche Hinweise geben könnte, fehlt. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zwar bei bisher 25 Gelegenheiten 110 ausdrücklich oder nebenbei auch zum Recht der Fraktionen geäußert. Eine Analyse dieser und anderer Entscheidungen" 1 ergibt aber kein in sich schlüssiges, über eine Beschreibung der Wirkungsweise hinausgehendes Bild, wenn dort etwa Fraktionen als „Teile und ständige Gliederungen einer parlamentarischen Körperschaft" 1 1 2 , als „von der Verfassung anerkannte Teile eines Verfassungsorgans" 113 oder als „notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens und als Gliederung des Bundestages der organisierten Staatlichkeit eingefügt" 114 bezeichnet werden. 52 F r a k t i o n e n als Organe?

Soweit das Bundesverfassungsgericht durch die Wortwahl und den unmittelbaVergleich von Ausschüssen und Fraktionen 115 selbst Argumente dafür geliefert p r a k t ¡ o n e n a [ s Organe des Parlaments und damit, da dieses seinerseits Staatsorgan ist, als Staatsunterorgan oder „mittelbares Staatsorgan" zu qualifizieren 116 , geht diese Zuordnung fehl, da von den für den rechtlichen Organbegriff maßgeblichen Voraussetzungen zwar ein Zustandekommen als eigenständige Institution kraft organisatorischem Rechtssatz oder ermächtigendem Einzelakt nachvollzogen werden kann, es aber an der Zuständigkeit zur Wahrnehmung von Kompetenzen der tragenden juristischen Person fehlt, weil die einzelne Fraktion eben nicht für den Bundestag als solchen und an dessen Stelle 117 , sondern aus eigenem Recht und eigenem politischen Willen handelt. Deshalb ist entgegen der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts 118 die Inanspruchnahme des Rechts aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 G G , Verfahrensbeteiligter an einem Organstreit zu sein, auch keine Prozeßstandschaft" 9 . Die Fraktionen sind aber auch keine Organe der jeweiligen Partei, da sie nicht durch einen Kreationsakt der Parteien entstehen und anders als diese dem staatsorganschaftlichen Bereich zuzurechnen sind 120 . Mehr

ren

lm

I m Saarland regelt ein G e s e t z wesentliche F r a g e n der L a n d t a g s o r g a n i s a t i o n .

110

V g l . die A u f l i s t u n g bei KRETSCHMER ( F n . 5) S . 4 5 Schaubild 6; zuletzt B V e r f G E 6 7 , 100; 7 0 , 3 2 4 ff.

' " H . KERBUSCH D i e F r a k t i o n e n im Spiegel der J u d i k a t u r der Verfassungsgerichte, in: Z P a r l . 13 ( 1 9 8 2 ) S. 2 2 5 ff. 112

B V e r f G E 2 0 , 5 6 , 104.

115

B V e r f G E 4 3 , 142, 147.

114

B V e r f G E 70, 3 2 4 , 3 6 2 .

115

B V e r f G E 2 0 , 56 ff.

1

So zuletzt HAUENSCHILD ( F n . 2 2 ) S. 167 ff. W e i t e r e N a c h w e i s e bei ACHTERBERG ( F n . 5 5 ) S. 2 7 5 Fn. 3.

117 KRETSCHMER

(Fn.5) S. 38

f; ACHTERBERG ( F n .

55) S.275 m.w.N.

118

V g l . zuletzt B V e r f G E 6 7 , 100 ff. A u c h K. SCHLAICH D a s Bundesverfassungsgericht, 1 9 8 4 , S. 83.

119

V g l . bereits J.JEKEWITZ D i e Kostenlast b e i m V e r f a s s u n g s p r o z e ß . Z u m Beitrag des Verfassungsp r o z e ß r e c h t s z u r „ K o n s t i t u t i o n a l i s i e r u n g " der O p p o s i t i o n unter d e m G r u n d g e s e t z , in: J Z 1 9 7 8 , S . 6 6 7 f f ; DERS. A k t e n e i n s i c h t mit H i l f e des Bundesverfassungsgerichts, in: D Ö V

1984,

S. 421 ff. Z u m G e s a m t k o n t e x t vgl. H . W . RINCK D i e F r a k t i o n e n in der Verfassungsgerichtsbarkeit, D i s s . 1 9 5 7 . 120 V g l . etwa VON MANGOLDT / KLEIN G r u n d g e s e t z , 2. A u f l . B d . I I 1 9 6 4 , A r t . 4 0 A n m . I I I 1 d.

§37

Die Bundestagsfraktionen

1047

(JEKEWITZ)

als alles andere handelt es sich um eine eigenständige, demokratisch legitimierte Repräsentation im parteienstaatlichen parlamentarischen System 1 2 1 . Wegen dieser Definitionsschwierigkeiten ist versucht worden, die verfassungsrechtliche Stellung und die parlamentarischen Rechte und Pflichten der Fraktionen von ihrer sonstigen Existenz und Teilnahme am Rechtsverkehr zu trennen. O b w o h l sie dem öffentlichen Recht zuzurechnen sind, paßt auf ihr Tätigwerden keine der für juristische Personen des öffentlichen Rechts zur Verfügung stehenden Rechtsfiguren, die alle zu stark vom Verwaltungsrecht geprägt sind. So sind öffentlichrechtliche Körperschaften als Gebiets- oder Personalkörperschaften typische Institutionen der mittelbaren Staatsverwaltung, die durch besonderen Staatshoheitsakt in Form oder auf Grund eines Gesetzes Zustandekommen 122 und über abgegrenzte, ihnen von dritter Seite zugewiesene Zuständigkeiten verfügen 123 . Dieser so verschiedene Ansatz kann auch nicht dadurch überspielt werden, daß insoweit lediglich eine „Gleichstellung" der Fraktionen mit Körperschaften des öffentlichen Rechts vorgeschrieben wird, wie es ein auf Vorarbeiten der Interparlamentarischen Arbeitsgemeinschaft zurückgehender, nie zu Ende beratener Entwurf in der 6. Wahlperiode des Bundestages vorsah 1 2 4 . Ebensowenig wird die eigene Konstruktion eines öffentlich-rechtlichen Vereins, auf die zurückgegriffen worden ist, weil das öffentliche Recht ansonsten keine passenden Organisationsformen zur Verfügung stellt 1 2 5 , dem besonderen Charakter der Fraktionen gerecht 126 . Es ist deshalb schon früh die Auffassung vertreten worden, Fraktionen fielen allein unter das Vereinsrecht der § § 2 1 ff B G B 1 2 7 , seien aber mangels Eintragung im Vereinsregister lediglich nichtrechtsfähige Vereine im Sinne von § 5 4 B G B . D a zumindest im Innenverhältnis zum Parlament jedoch normativ begründete Rechte und Pflichten bestehen, ist in neuerer Zeit als Variante die Rechtsfigur eines innenrechtsfähigen Vereins des Bürgerlichen Rechts eingeführt worden 1 2 8 . Fraktionen werden jedoch in vielfältiger Weise auch im Außenrechtsverhältnis, etwa als Arbeitgeber der bei ihnen Beschäftigten, tätig, so daß dieser Ansatz ebenfalls nicht weiterführt 129 . Alle diese Definitionsversuche übersehen letztlich, daß das Staatsor-

121

H . BORCHERT D i e F r a k t i o n — eine eigenständige demokratisch legitimierte Repräsentation im parteienstaatlichen parlamentarischen System, in: A ö R 102 ( 1 9 7 7 ) S. 2 1 0 ff. Z u r D i s k u s s i o n vgl. auch E . M . WERBERGER D i e staatsrechtliche Stellung der Bundestagsfraktion, Diss. W ü r z b u r g 1961, und A.TSCHERMAK VON SEYSENEGG D i e F r a k t i o n e n im D e u t s c h e n Bundestag und ihre verfassungsrechtliche Stellung, Diss. Freiburg 1971.

122

ACHTERBERG ( F n . 5 5 ) S. 2 7 6 .

123

KRETSCHMER ( F n . 5 ) S . 3 7 f .

124

E n t w u r f eines G e s e t z e s über die Rechtsstellung der F r a k t i o n e n , B T - D r u c k s . V I / 3 6 9 0 ; vgl.

125

J.MOECKE D i e R e c h t s n a t u r der parlamentarischen F r a k t i o n e n , in: N J W 1965, S. 2 7 6 ff; DERS.

auch KRETSCHMER ( F n . 5 ) S . 3 8 f . D i e parlamentarischen F r a k t i o n e n als Vereine des öffentlichen R e c h t s , in: N J W 1965, S. 5 6 7 ff; DERS. D i e verfassungsrechtliche Stellung der F r a k t i o n e n , in: D O V 1966, S. 162 ff. 126

Zur

Kritik

vgl.

bereits

KRETSCHMER ( F n . 5 ) 127

HAUENSCHILD

(Fn.22)

S. 154 ff;

ACHTERBERG

(Fn. 55)

S.277;

S.36f.

S o b e r e i t s LEBENSTEIN ( F n . 4 8 ) S. 1 3 5 ; i h m f o l g e n d SCHÄFER ( F n . 1) S . 1 3 2 u n d

M.SCHULTE

M i t w i r k e n an den Richtlinien der Politik, in: KLATT ( F n . 107) S. 39. 128

ACHTERBERG ( F n . 5 5 ) S . 2 7 7 f.

129

Z u r mangelnden E i g n u n g aller dieser Definitionsversuche auch KRETSCHMER ( F n . 5) S. 35 ff.

53

F r a k t i o n e n als öffentlich-rechtliche K ö r p e r s c h a f t e n oder öffentlich-rechtliche Vereine?

54

F r a k t i o n e n als Vereine des Privatrechts?

1048

6. Teil: D e r Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

ganisationsrecht der modernen parlamentarischen Demokratie sich jeder Zuordnung zu Kategorien des überkommenen Verwaltungsrechts wie des Privatrechts entzieht; in der Sache bringen sie auch nichts, da die tatsächlichen Probleme auch ohne eine Festschreibung des Rechtsstatus der Fraktionen gelöst werden. 2. Organisation und Finanzierung a)

Binnenstruktur

5 5 Wie alle Personenmehrheiten haben die Parlamentsfraktionen eigene Formen der Organisation und Arbeitsweise entwickelt, die arbeitsteilig wirken und die Effizienz als Zusammenschluß von Abgeordneten derselben politischen Richtung verstärken sollen, gleichzeitig durch die damit zwangsläufig verbundene Mediatisierung des einzelnen Abgeordneten aber zu einer Hierarchisierung und damit zur faktischen Einschränkung der abstrakt vorgegebenen Gleichheit aller Parlamentsmitglieder führen. Als Ausfluß des Selbstorganisationsrechts der Fraktionen werden die Grundzüge dazu als verbindliche Binnenrechtsregelungen in Geschäftsoder Arbeitsordnungen festgelegt 130 , die ebensowenig wie die eigentlichen Parlamentsgeschäftsordnungen autonome Satzungen, sondern konkretisiertes Verfassungsrecht, wenn auch nur von begrenzter Reichweite sind 131 .

Formen der Organisation und Arbeitsweise, Nebenfolge, Binnenrechtsregelungen

56 Vollversammlung, Vorstand, Vorsitzender, Fraktionsgeschäftsführer

57 Arbeitskreise, Arbeitsgruppen, Mitarbeiter

58 Einflußfaktoren für die Binnenstruktur

In institutioneller und organisatorischer Hinsicht zeichnen die Fraktionen in ihren Geschäftsordnungen auf den ersten Blick die Strukturen nach, die sich beim Gesamtparlament herausgebildet haben: Da es sich bei den Mitgliedern um eine Gemeinschaft grundsätzlich Gleichberechtigter handelt, ist oberstes Entscheidungsorgan die Fraktionsvollversammlung, die sich als politisches Leitungs- und Führungsgremium einen Vorstand und als Repräsentanten an der Spitze einen Vorsitzenden wählt, denen die Koordinierung nach innen und außen obliegt, wobei der tägliche Geschäftsbetrieb von einem oder mehreren Fraktionsgeschäftsführern besorgt wird, die nicht unbedingt Abgeordnete zu sein brauchen. Die sachliche Vorarbeit für die Haltung der Fraktion in den Ausschüssen und im Plenum des Parlaments wie für die eigenen Entscheidungen und Initiativen wird in Arbeitskreisen und Arbeitsgruppen geleistet, in denen sich die Fachleute zusammenfinden bzw. in die sie von der Fraktion berufen werden, die vor allem als ordentliche oder stellvertretende Mitglieder für die Fraktion in die Ausschüsse entsandt worden sind. Beide Wirkungsbereiche werden durch einen Kreis von der Fraktion angestellter oder ihr von der Parlamentsverwaltung zur Verfügung gestellter Mitarbeiter unterstützt. Varianten in Zahl und Umfang der so geschaffenen und der Willensbildung der Personengesamtheit vorgeschalteten Organe hängen einmal von der Größe der jeweiligen Fraktion ab: Eine kleine Fraktion braucht sich nicht im selben Maße arbeitsteilig zu organisieren wie eine große, da die Kommunikation und Koordina-

130

131

Vgl. den Abdruck der Geschäftsordnungen der Bundestagsfraktionen von C D U / C S U , S P D und F . D . P . bei SCHÄFER (Fn. 1) und ACHTERBERG (Fn. 55) S. 789 ff. Ein Musterentwurf einer Fraktionssatzung findet sich in R O P , S. 240543. JEKEWITZ (Fn. 85). Vgl. auch § 7 Abs. 3 G O L T Bayern, der eine geschriebene Fraktionsgeschäftsordnung verlangt, die den Grundsätzen der Parlamentsgeschäftsordnung und der Verfassung nicht widersprechen darf.

§ 37

Die Bundestagsfraktionen

(JEKEWITZ)

1049

tion schneller und eventuell auch leichter zu bewältigen ist, kann es häufig aber auch nicht, weil sie etwa bereits in den Parlamentsausschüssen nur mit einem Mitglied vertreten ist und auch sonst nicht über genügend Personal verfügt. Sie werden aber auch durch die unterschiedlichen Politikanforderungen an Regierungs- und Oppositionsfraktionen sowie durch ein unterschiedliches Politikverständnis bestimmt. So ist die Organisationsstruktur der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in den 59 Jahren ihrer Regierungsverantwortung bis 1969 relativ unausgeprägt geblieben132, CDU/CSU-Fraktion, während die SPD-Bundestagsfraktion als Opposition bereits in der 2. Wahlperiode SPD-Fraktion den engen Bereich der Zuständigkeit eines einzelnen Parlamentsausschusses übergreifende Arbeitskreise einrichtete'33, unter deren Dach Arbeitsgruppen die Fachbereichstätigkeit der Ausschüsse betreuen. Diese Gliederung hat die C D U / C S U im Bundestag zu Beginn der 9. Wahlperiode aufgegeben und sich nur noch in Arbeitsgruppen organisiert, die den Ausschüssen des Parlaments entsprechen, die wiederum an der Zuständigkeitsverteilung der Ressorts der Bundesregierung ausgerichtet sind134. Das gibt den Arbeitsgruppen größeren Handlungsspielraum und ihren Vorsitzenden größeren Einfluß, geht aber gelegentlich auf Kosten der politischen Geschlossenheit und erfordert gegebenenfalls nachträgliche, dem Erscheinungsbild der Gesamtfraktion abträgliche Koordinationsanstrengungen des Vorstandes. Aus eben diesem Grund hat die SPD-Bundestagsfraktion zu Beginn der 10. Wahlperiode ihre Organisation in der Weise gestrafft, daß jeder stellvertretende Vorsitzende zugleich Vorsitzender eines Arbeitskreises ist, die Koordinierung in beide Richtungen also bereits in einem Frühstadium stattfindet. Das drückt sich auch in der zeitlichen Abfolge der Zusammenkünfte der einzelnen Gremien aus, wie sie z.B. bei der SPD-Bundestagsfraktion geübt wird: Zunächst tagt der aus dem Vorsitzenden, seinen Stellvertretern und den parlamentarischen Geschäftsführern bestehende geschäftsführende Vorstand; ihm folgt die Sitzung des Gesamtvorstandes mit den übrigen gewählten Beisitzern. In einer zweiten Phase treten die Arbeitskreise und Arbeitsgruppen zusammen, bevor die politische wie sachliche Arbeit in einer Sitzung der Gesamtfraktion gebilligt und formalisiert wird. Daneben gibt es in allen Fraktionen immer auch Gruppierungen und formelle 60 oder informelle Zusammenschlüsse, die quer zu dieser hierarchischen, sachar- Gruppierungen, r η ι

beitsorientierten Gliederung wirken. Dabei kann es sich um fraktionsoffizielle, gH£ZW eigens eingerichtete Arbeitsgruppen zur Behandlung von Querschnittsfragen wie Zusammenschlüsse bei der SPD-Bundestagsfraktion oder um in der eigenen Geschäftsordnung anerkannte Standesgruppen der Frauen, der Arbeitnehmer, der Vertriebenen- und Flüchtlingsabgeordneten, des Diskussionskreises Mittelstand und der Arbeitsgemeinschaft Kommunalpolitik wie bei der CDU/CSU-Bundestagsfraktion handeln. Aber auch politische Strömungen können sich innerhalb oder außerhalb des

133

W. DEXHEIMER/M. HARTMANN Zur Geschichte und Struktur der Arbeitskreise und -gruppen in der C D U / C S U - B u n d e s t a g s f r a k t i o n , in: ZParl. 1 (1969/70) S. 232 ff. Vgl. die Angabe in: Die Fraktion der S P D im Deutschen Bundestag 1949-1981. Eine Chronik. Uberreicht ihrem Vorsitzenden Herbert Wehner zum 75. Geburtstag von der Sozialdemokratischen Bundestagsfraktion am 11. Juli 1981.

134

KRETSCHMER ( F n . 5 ) S . 9 5 ,

132

96.

1050

6. Teil: Der Bundestag als Forum und zentraler Ort der politischen Willensbildung

sonstigen förmlichen Organisationsgefüges einer Fraktion verfestigen und artikulieren; bekannteste Beispiele sind die bis in die 10. Wahlperiode des Deutschen Bundestages bei der SPD-Fraktion einflußreichen „Kanalarbeiter" und die später als Gegenpol gegründete „Parlamentarische Linke". Im Bundestag, aber auch in den Landtagen größerer Flächenstaaten spielen schließlich landsmannschaftliche Zugehörigkeiten eine Rolle. 61 Eine eigene Bedeutung, die auch organisatorisch hervorgehoben ist, hat in CSU-Landesgruppe, dieser Hinsicht die CSU-Landesgruppe innerhalb der CDU/CSU-Bundestagsfrakandere tion 135 . Sie versteht sich als „Parlamentarische Vertretung einer autonomen ParLandesgruppen tei" 136 ; die Zusammenarbeit mit der C D U gründet auf einer besonderen Fraktionsvereinbarung, die im Kern auf ein Nichtüberstimmen in Fragen der föderalen Ordnung abstellt, längst aber auch politische Ziele einschließt und deren regelmäßige Erneuerung zumindest von Seiten der CSU nicht als selbstverständlich angesehen wird, wie der bereits erwähnte „Kreuther Beschluß" 137 gezeigt hat. Die CSU-Landesgruppe hat sich eine eigene Geschäftsordnung gegeben, die vier eigene Organe vorsieht, nämlich die Landesgruppenvollversammlung, den Landesgruppenvorstand, den Parlamentarischen Geschäftsführer und den Vorsitzenden, wobei die beiden letzteren in dieser Eigenschaft zugleich dem Vorstand der Gesamtfraktion angehören. Sie hat auch eigene Arbeitskreise bzw. Arbeitsgruppen eingerichtet, deren Sprecher in wichtigen Fragen zusammen mit dem Gegenpart aus der C D U aufzutreten pflegen. Andere Landesgruppen sind weniger stark konturiert, da sie durch die gemeinsame politische Herkunft in die jeweilige Fraktion eingebunden sind. Ihr Zusammenhalt und ihr Einfluß sind aber in den Bundestagsfraktionen von C D U / C S U und SPD nicht zu unterschätzen; in kleineren Fraktionen tritt ihre Bedeutung zurück. b)

Finanzmittel

62 Parallel zu der organisatorischen Durchstrukturierung der Fraktionen sind deren Ansprüche in bezug auf die sachliche und persönliche Zuarbeit gestiegen. Das war nur möglich durch eine Erschließung eigener Finanzmittel. Wurden in den Frühzeiten von den Parlamentsverwaltungen lediglich kostenlos Büro- und Sitzungsräume zur Verfügung gestellt, während der eigentliche Geschäftsbedarf von den Fraktionen selbst, d. h. ihren Mitgliedern bzw. den sie entsendenden politischen Parteien getragen werden mußte, finanzieren sich die Fraktionen seit 1945 zunehmend und ständig steigend durch Fremdmittel in der Form von Zuwendungen aus den öffentlichen Haushalten 138 . Das ist etwa vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich damit gerechtfertigt worden, daß die Fraktionen als Gliederungen des Bundestages der organisierten Staatlichkeit eingefügt sind139. Die daneben in allen

Finanzmittel

133

DEXHEIMER ( F n . 67).

136

S o d e r T i t e l d e r A b h a n d l u n g v o n P . RÖHNER i n : KLATT ( F n . 1 0 7 ) S. 4 7 ff.

137

Vgl. oben bei Rdn.31. Ausführlich J.JEKEWITZ Das Geld der Parlamentsfraktionen, in: ZParl. 13 (1982) S. 314 ff m. w. N . BVerfGE 20, 56, 104.

138

139

§ 37

Die Bundestagsfraktionen

1051

(JEKEWITZ)

Fraktionen von ihren Mitgliedern weiter erhobenen Fraktionsbeiträge 140 sind inzwischen im Vergleich zu einer verschwindenden Größe geworden. Für die Bemessung hat sich ein System herausgebildet, das von einem Sockelbetrag für jede Fraktion und einem an der Kopfzahl der Mitglieder anknüpfenden Zuschlag ausgeht; Oppositionsfraktionen erhalten einen zusätzlichen Zuschlag, der die auch wirtschaftlichen Nachteile, für die eigene Arbeit nicht die Unterstützung durch den Regierungsapparat zur Verfügung zu haben, ausgleichen soll. Da sich diese Leistungen auf Fraktionen beschränken, werden Streitigkeiten um die Anerkennung des Fraktionsstatus immer auch mit Blick auf die materielle Ausstattung geführt. Kritik an dem Zuschnitt der Zuwendungen richtet sich in erster Linie auf die 6 3 haushaltsrechtliche Zuordnung, die Art und Weise des Zustandekommens und die K r i t i k Kontrolle der Verwendung 141 . Soweit angesichts der Tatsache, daß es sich hier wie bei den Abgeordnetendiäten um eine Form der Selbstbegünstigung handelt, gefordert worden ist, ein rechtlich verbindlicheres Gerüst zur Verfügung zu stellen, ist die gleiche Skepsis geboten wie bei den Versuchen einer gesetzlichen Definition des Fraktionsstatus 142 . Regelungs- und Vollzugsdefizite gibt es jedoch bei der Kontrolle der Verwen- 6 4 dung. Die meisten Fraktionsgeschäftsordnungen sehen zwar eine interne Haus- V e r w e n d u n g s haltsaufstellung vor, der eine davon unabhängige, ebenfalls interne Finanzkon- K o n t r o l l e trolle gegenübergestellt ist; da es sich um die Verwaltung fremder, bereits vorher summenmäßig feststehender Mittel handelt, wird eine Überwachung sich aber eher auf die Korrektheit der Kassenführung als die strikte Orientierung der Ausgaben an den Aufgaben als Fraktion richten 143 . Eine bisher nur freiwillige Uberprüfung durch die Rechnungshöfe steckt noch in ihren Anfängen. c) Personal Die derart zur Verfügung stehenden Gelder werden in erster Linie zur Deckung 6 5 der Personalkosten ausgegeben. Denn aus der ursprünglichen Sekretariatshilfe 144 M i t a r b e i t e r der sind regelrechte Fraktionsverwaltungen unter der Leitung und Verantwortung von Fiktionen und der .

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Parlamentarischen Geschäftsführern entstanden, die uberwiegend von den Fraktionen selbst besoldet werden. Bei den Bundestagsfraktionen gibt es ζ. B. neben den Mitarbeitern in den Büros der gewählten Funktionsträger eigene Pressestellen, Boten- und Fahrdienste sowie Druckereien; wissenschaftliche Mitarbeiter sind den Arbeitsgruppen und Arbeitskreisen zugeordnet und beraten die Gesamtfraktion und die einzelnen Fraktionsmitglieder auf bestimmten Fachgebieten. Soweit in 140

Ü b e r b l i c k bei H . KLATT D i e A b g a b e n der M a n d a t s i n h a b e r an Partei und F r a k t i o n , in: Z P a r l . 7 ( 1 9 7 6 ) S. 61 ff.

141

A u ß e r F n . 138 und 78 auch J. JEKEWITZ N o c h einmal: V e r w e n d u n g von F r a k t i o n s z u s c h ü s s e n , in: R e c h t und Politik 1 9 8 5 , S. 34 ff; H . H . VON ARNIM Staatliche F r a k t i o n s f i n a n z i e r u n g o h n e K o n t r o l l e ? , 1987.

142 143

Vgl. o b e n bei R d n . 5 1 . D a s gilt vor allem für die U m w e g f i n a n z i e r u n g der eigenen Partei, vgl. dazu die Beispiele bei JEKEWITZ ( F n . 7 8 ) .

144

N a c h w e i s e für die S P D - B u n d e s t a g s f r a k t i o n in der C h r o n i k ( F n . 133), für den Stand bis 1 9 6 9 J. GLÜCKERT D i e Hilfsdienste der F r a k t i o n e n , in: Z P a r l . 1 ( 1 9 6 9 / 7 0 ) S. 28 ff.

Abgeordneten

1052

6. Teil: D e r Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

einer Zwischenphase wegen der Konzentration derartiger Hilfsdienste bei der Fraktionsspitze von einer „parlamentarischen Dreiklassengesellschaft" gesprochen worden ist 145 , ist dieses Problem durch die Einführung eigener Abgeordnetenmitarbeiter für jeden Bundestagsabgeordneten abgemildert worden. Dafür sind neue Spannungen durch die Unterschiede in der sozialen Absicherung entstanden: Während die persönlichen Mitarbeiter der Abgeordneten vertraglich nur an diese und damit an ihr durch die Zäsur der Wahlperiode bestimmtes politisches Schicksal gebunden sind, tritt bei den Fraktionsmitarbeitern, soweit sie nicht ohnehin von den Parlamentsverwaltungen oder aus Behörden des Bundes oder eines Landes nur zur Dienstleistung abgeordnet sind, die Fraktion als Arbeitgeber, meist im Angestelltenverhältnis, auf. Das gilt auch für Beamte, die sich für eine Mitarbeit in einer Fraktion befristet beurlauben lassen. Da in der Regel jede Fraktion von ihrem Fortbestehen auch in der nächsten Wahlperiode ausgeht, können Probleme entstehen, wenn sich die Mitgliederzahl und damit die Höhe der Zuwendungen drastisch verringert oder der Wiedereinzug ins Parlament nicht gelingt. Arbeitsrechtlich ist in diesen Fällen der Arbeitgeber fortgefallen, in bezug auf die aus den Zuschüssen erworbenen Sachwerte der Eigentümer. Eine Unterscheidung danach, daß hinsichtlich der bisher bei der Fraktion Beschäftigten die Parlamentsverwaltung für eine Lösung zu sorgen hat, das Sachvermögen, obwohl es mit öffentlichen Mitteln für öffentliche Zwecke angeschafft worden ist, aber an die politische Partei fällt 146 , wird der Aufgabe und Stellung der Fraktionen nicht gerecht. 3. Fraktionsinterne Verfahren 66 Neben Aussagen zu Organisation und Zuständigkeiten enthalten die FraktionsgeVerfahrensregelungen Schäftsordnungen in unterschiedlicher Dichte Regelungen der fraktionsinternen Verfahren. Obwohl die Arbeits- und Konfliktsschwerpunkte sich bei Regierungsund Oppositionsfraktionen unterscheiden können, geht es in der Regel darum, die Ausübung der dem einzelnen Fraktionsmitglied als Parlamentarier durch die jeweilige Verfassung zuerkannten Rechte in einer verfassungskonformen Weise in die gemeinsame politische Willensbildung und Willensäußerung einzubinden. Wegen des Ranggefälles in der Hierarchie der Normen hüten sich alle Fraktionsgeschäftsordnungen davor, Regelungen zu treffen, die den Eindruck eines verfassungswidrigen Fraktionszwangs erwecken könnten. Da jedoch keine politische Gruppierung im Parlament ohne Fraktionsdisziplin bzw. Fraktionssolidarität' 47 auskommt, finden sich durchgehend Konfliktsregulierungsmechanismen, die mögliche Auseinandersetzungen und Meinungsdifferenzen in einem Frühstadium formalisieren und kanalisieren sollen. Dabei ist den meisten Regelungen dieser Art anzusehen, daß sie aus einem konkreten Anlaß heraus entstanden sind und durchaus nicht jede denkbare Situation erfassen. Sie gipfeln durchweg in einer Verweisung jeder Frage von politischem Gewicht zur Beratung und Entscheidung in der Fraktionsvollversammlung, da hier gleichberechtigte Mandatsträger aufeinandertreffen. 145

H.APEL D e r deutsche Parlamentarismus, S. 121 ff.

146

S o a b e r K R E T S C H M E R ( F n . 5 ) S. 5 5 .

147

Begriff bei SCHÄFER (Fn. 1).

1966;

DERS. in: R Ö H R I N G / S O N T H E I M E R

(Fn.39)

§ 37

Die Bundestagsfraktionen

(JESEWITZ)

1053

Die Bestimmungen über das Verfahren des Plenums sind deshalb in allen 67 Fraktionen besonders umfangreich. Sie reichen von der Teilnahmeberechtigung Fraktionsüber das eigentliche Verfahren bis hin zur Protokollerstellung. Auch soweit den ^''esord™™'""^ Organen der Fraktion geschäftsordnungsmäßige Pflichten auferlegt sind, beziehen sie sich überwiegend auf das Verhältnis zur Gesamtheit der Fraktion und bestimmen von daher die Agenden der Fraktionsvollversammlungen. Daraus hat sich ein mehr oder weniger feststehendes, in allen Fraktionen ähnliches Tagesordnungsschema entwickelt: Nach einem aktuellen politischen Bericht des Fraktionsvorsitzenden, dem sich bei Regierungsfraktionen ein Bericht des Bundeskanzlers oder eines der eigenen Partei angehörenden Regierungsmitgliedes anschließen kann und der, weil er zugleich der politischen Standortbestimmung dient, auch veröffentlicht wird, wird über die Arbeit des Fraktionsvorstandes einschließlich der parlamentarischen Geschäftsführer in dem aktuellen Zeitraum, somit der vorangegangenen Sitzung berichtet und diskutiert. Dabei haben die Fraktionsmitglieder Gelegenheit, Fragen zu stellen und Anregungen zu geben; hier wird häufig auch Kritik an einzelnen Vorgängen oder Verhaltensweisen geübt. Deshalb kann dieser erste und eigentlich politische Teil der Fraktionssitzungen länger dauern als der zweite Teil, der der Vorbereitung der Plenar- und Ausschußsitzungen der betreffenden Arbeitswoche des Parlaments dient. Hier berichten die Vorsitzenden der Arbeitskreise und Arbeitsgruppen, bzw. die eigenen Berichterstatter über die empfohlene Haltung zu einzelnen Sachkomplexen und die vorgesehenen Redner im Plenum. In einem dritten Teil werden sonstige Fragen, die die Gesamtfraktion berühren oder interessieren könnten, behandelt. Sondersitzungen werden erforderlich, wenn plötzlich Situationen entstehen, die 6 8 neuen Beratungs- und Entscheidungsbedarf nach sich ziehen. Fraktionssitzungen Sondersitzungen, sind deshalb spontaner und lebendiger als die Beratungen zum eventuell identisehen Gegenstand im Parlament als solchem, anders als im Parlament steht das Fraktionssitzungen Ergebnis häufig vorher nicht fest oder läßt sich nicht einschätzen. Das liegt auch daran, daß Fraktionssitzungen grundsätzlich unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfinden, auch wenn die Öffentlichkeit nachträglich über Inhalt und Ablauf informiert wird. An den Fraktionssitzungen nehmen zwar nicht nur Abgeordnete, sondern 69 neben den Fraktionsmitarbeitern auch sonstige zugelassene oder geladene Gäste Teilnehmer, R e d e Stlmmrecllt> teil; Rede- und Stimmrecht haben aber nur die ordentlichen Fraktionsmitglieder 148 . Gelegentlich, vor allem wenn es um Fragen des politischen Selbstverständnisses oder der Standortbestimmung geht, werden auch Klausurtagungen, z . T . sogar bewußt außerhalb des Sitzes des Parlaments, durchgeführt, bei denen die Abgeordneten ganz unter sich sind. Die bekannteste war die der CSU-Landesgruppe im Bundestag, die zu dem nach dem Tagungsort benannten „Kreuther Beschluß" führte 149 .

148

Vgl. dazu J. LINCK Zur Mitgliedschaft von Personen ohne Abgeordnetenmandat in Parlamentsfraktionen, in: ZParl. 11 (1980) S. 511 ff. Vgl. oben bei R d n . 3 1 .

III. Die Opposition

§38 Verfassungsrechtliche Bedeutung und politische Praxis der parlamentarischen Opposition HANS-PETER

SCHNEIDER

Einleitung Das Phänomen der politischen Opposition ist keineswegs auf eine bestimmte 1 Staatsform oder gar auf die moderne Demokratie westlicher Prägung festgelegt. Es Begriff der setzt noch nicht einmal die Existenz eines Parlaments, geschweige denn die »Opposition Einführung des parlamentarischen Regierungssystems voraus. Versteht man unter „Opposition" vielmehr im weitesten Sinne Dissens, Widerspruch, Gegensatz oder Kontrast, kann damit sowohl eine innere Grundhaltung (Einstellung) gemeint sein, mit der sich einzelne oder Gruppen von den vorherrschenden Zielen oder Bestrebungen unterscheiden, als auch eine nach außen in Erscheinung tretende politische Bewegung (Gegenkraft), die der jeweiligen Regierung oder Regierungspartei mehr oder weniger geschlossen gegenübersteht und sie zumindest von der Richtigkeit ihrer Vorstellungen zu überzeugen, wo nicht auf legalem oder gar gewaltsamem Wege zu beseitigen und in der Herrschaft abzulösen trachtet. Im letzteren Fall setzt oppositionelles Handeln immer auch ein Minimum an Ideologie und Organisation voraus'. Ohne auf die diversen Formen und Gestalten politischer Opposition hier näher 2 eingehen zu können, wie sie sich unter jeweils besonderen historischen Bedingun- Legitime und gen in den einzelnen Ländern herausgebildet haben 2 , lassen sich doch zwei ' " e 8 l t i m e Opposition Grundtypen voneinander unterscheiden, die vor allem für die Rechtsstellung der Opposition im Staate von Bedeutung sind: zum einen die legitime, sich im Rahmen der bestehenden Ordnung bewegende und mit verfassungskonformen Mitteln agierende Opposition innerhalb oder außerhalb eines Parlaments und zum anderen die illegitime, das gesamte politische System in Frage stellende und zumeist den gewaltsamen Umsturz planende Opposition, deren Aktivitäten nicht nur gegen eine bestimmte Regierung, sondern auch und vor allem gegen die staatlichen

' Zur Begriffsgeschichte vgl. CHR. PETZKE Das Wesen der politischen Opposition. Formen und Funktionen der Opposition im staatlichen Leben, Diss. München 1960; I.BODE Ursprung und Begriff der parlamentarischen Opposition, 1962. 2 Dazu H . - P . SCHNEIDER D i e parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1974, S. 9 0 f f . - Zur Vielfalt außerhalb Deutschlands vgl. H . OBERREUTER (Hrsg.) Parlamentarische Opposition. Ein internationaler Vergleich, 1975.

1056

6. Teil: Der Bundestag als Forum und zentraler Ort der politischen Willensbildung

Institutionen gerichtet sind. N u r die legitime Opposition kann als „konstitutionalisierter Widerstand" bezeichnet werden 3 , weil nur sie die verfassungsrechtlichen Regeln des politischen Machtkampfs und Machtwechsels respektiert und es nicht — wie C A R L S C H M I T T aufgrund seiner „Freund/Feind-Theorie" suggerieren wollte — darauf abgesehen hat, nach der Machtübernahme „die Tür hinter sich zu schließen, also auf legale Weise das Prinzip der Legalität zu beseitigen" 4 . Auf der anderen Seite ist die Anerkennung einer legitimen Opposition zugleich das wichtigste Merkmal eines demokratisch regierten Gemeinwesens; dergestalt, daß die freiheitliche Demokratie im modernen Sinne geradezu als „Staatsform mit legitimer Opposition" definiert werden kann 5 . 3 Ungeachtet dieser „Ubiquität" der politischen Opposition im allgemeinen und Opposition als ihrer spezifisch demokratischen Legitimität im besonderen gewinnt sie jedoch den verfassungsrechtliche ^ a n g e ¡ n e r „verfassungsrechtlichen Institution" nur innerhalb von Regierungssystemen, bei denen das Parlament maßgeblichen Anteil an der Staatsleitung hat. Es war daher kein Zufall, sondern strukturbedingt, daß die Opposition als Einrichtung des Verfassungslebens und politischer Machtfaktor erst mit dem Aufkommen der Parlamentsherrschaft in England um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert reale Bedeutung erlangt hat 6 . Dabei spielte es zunächst keine entscheidende Rolle, ob und inwieweit die Regierung dem Parlament verantwortlich war. Auch in der konstitutionellen Monarchie gab es eine institutionalisierte Opposition, die hier sogar in Gestalt des Gesamtparlaments den landesherrlichen Kabinetten gegenübertrat 7 . Das eigentliche „Wechselspiel" zwischen Regierung und Opposition, von dem die moderne Demokratie lebt, kann freilich nur bei einem parlamentarischen System, in dem der Bestand einer Regierung vom Vertrauen der Mehrheit des Parlaments abhängt, zur vollen Entfaltung und Wirksamkeit gelangen mit der Folge, daß eine oppositionelle Minderheit im Parlament die jeweilige Regierung in periodischem Turnus ablöst. Davon soll im folgenden allein die Rede sein.

I. Die Opposition im parlamentarischen System Opposition als notwendiger Bestandteil der parlamentarischen Demokratie

Wohl können mehr oder weniger effektive Formen politischer Opposition auch außerhalb des Parlamentarismus entstehen. Es gibt umgekehrt aber kein parlamentarisches System in der Welt, das auf Dauer ohne die Existenz einer organisierten, loyalen, allgemeinen und prinzipiellen Opposition auskäme, die sachliche wie personelle Alternativen zur vorhandenen Regierung anzubieten hat und aufgrund dessen jederzeit fähig und willens ist, die Macht im Staate zu übernehmen, ohne So H.KRÜGER Allgemeine Staatslehre, 2.Aufl., 1966, S.201 f. C.SCHMITT Legalität und Legitimität, 1932, S. 38. Ähnlich A. ARNDT Die Entmachtung des Bundestages, in: Die neue Gesellschaft 6 (1959), S. 431. Vgl. G. BURDEAU L'évolution de la notion d'opposition, in: Revue d'histoire constitutionnelle et parlementaire 1954, p.208sv.; A. S. FOORD His Majesty's Opposition 1714-1830, 1964; R. A. DAHL L'avenir de l'opposition dans les démocraties, 1965; W.JÄGER Politische Partei und parlamentarische Opposition. Eine Studie zum politischen Denken von Lord Bolingbroke und David Hume, 1971. Dazu L. GALL Das Problem der parlamentarischen Opposition im deutschen Frühliberalismus, in: FS für Th. Schieder, hrsg. von K. Kluxen und W. J. Mommsen, 1968, S. 153 ff.

§38

Die parlamentarische Opposition

(SCHNEIDER)

1057

das Verfassungssystem insgesamt anzutasten. Insofern ist diese Art von Opposition innerhalb des Parlaments nicht nur ein wesentlicher, sondern auch ein notwendiger Bestandteil der parlamentarischen Demokratie. Fehlt sie oder agiert sie überwiegend außerhalb des Parlaments, so treten in der Regel schwere Strukturkrisen der politischen Ordnung auf, die meist den Übergang zu autoritäten oder totalitären Herrschaftsverhältnissen nach sich ziehen. Eine solche Entwicklung läßt sich geradezu exemplarisch am Schicksal des parlamentarischen Systems in Deutschland nachzeichnen, das immer zugleich auch mit dem Erfolg oder Mißerfolg einer Oppositionspartei untrennbar verbunden war. 1. U r s p r u n g und Wandel der parlamentarischen Opposition in Deutschland a) Obwohl das parlamentarische System in Deutschland noch kurz vor dem Zusammenbruch des Kaiserreichs erst im Oktober 1918 eingeführt wurde, hatte Opposition unter sich allein aufgrund der Tatsache, daß BISMARCK in seinem Bemühen um Unter- Bismarck stützung durch wechselnde Reichstagsmehrheiten einer stetigen Parlamentarisierung der Reichsgewalt Vorschub leistete, schon unter der Reichsverfassung von 1871 im Deutschen Reichstag eine sehr aktive, wenn auch heterogene parlamentarische Opposition herausgebildet. Während einerseits die Sozialdemokraten — durch die Sozialistengesetze zu Staatsfeinden erklärt — mit revolutionären Zielvorstellungen und andererseits die linksliberalen Gruppen als eingeschworene Gegner der BiSMARCKSchen Sozialpolitik lange Zeit in radikaler Ablehnung verharrten, war lediglich das Zentrum, seit dem Kulturkampf zum Widerstand gedrängt, auf konstruktive politische Mitwirkung bzw. von Fall zu Fall sogar auf begrenzte Kooperation mit der Regierung eingestellt und bildete so unter WINDTHORST8 die erste kohärente und loyale parlamentarische Opposition in Deutschland. Es entbehrt daher nicht einer gewissen tragischen Konsequenz des vorparlamentarischkonstitutionellen Systems, daß nach dem Wahlsieg der oppositionellen Gruppen im Jahre 1890 ausgerechnet gezielte Indiskretionen von einem Gespräch mit WINDTHORST über Möglichkeiten langfristiger Zusammenarbeit zwischen Regierung und Zentrum unmittelbar zu BISMARCKS Sturz beitrugen. Ahnlich erging es im Frühsommer 1909 dem Reichskanzler v. BÜLOW, dessen zwei Jahre zuvor mühsam errungene Mehrheit über der Reichsfinanzreform zerfiel, als Deutschkonservative und Zentrum aus dem „Bürgerblock" ausbrachen und die Erbschaftssteuervorlage verwarfen 9 ; v. BÜLOW erklärte seinen Rücktritt und wurde vom Kaiser auf Betreiben einflußreicher Abgeordneter entlassen. Den Höhepunkt dieser Entwicklung in Richtung auf ein parlamentarisches System, stets vorangetrieben durch die jeweilige Opposition, bildete schließlich der Zusammentritt führender Politiker der Nationalliberalen, des Zentrums, der Fortschrittlichen Volkspartei und der Sozialdemokraten zum sog. „Interfraktionellen AusVgl. dessen programmatische Reichstagsrede vom 8. Mai 1979 (RT-StB 53, 995); dazu auch H. B E L L Art. „Opposition", in: StL 1929 (5. Aufl.), Sp. 1718 f. Näheres bei E . R . H U B E R Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1 7 8 9 , Bd. 4 , 1 9 6 9 , S. 3 1 5 ff, der zur Parallelität der politischen Konstellation beim Rücktritt B I S M A R C K S und B Ü L O W S die unfreiwillig „progressive" Rolle der Konservativen hervorhebt. Vgl. auch W. F R A U E N D I E N S T Demokratisierung des deutschen Konstitutionalismus in der Zeit Wilhelms II., in: ZStW 113 (1957), S. 738 ff.

6

Einführung des parlamentarischen Systems

1058

6. T e i l : D e r B u n d e s t a g als F o r u m u n d zentraler O r t d e r p o l i t i s c h e n W i l l e n s b i l d u n g

schuß" im Kriegsjahr 1917, der ein umfassendes Koalitionsprogramm ausarbeitete und ein direktes Mitspracherecht bei der Kanzlerbestellung und Ministerauswahl beanspruchte10. Die Parlamentarisierung der Reichsgewalt wurde also in Deutschland nicht von einer parlamentarischen Mehrheit im Einvernehmen mit der Regierung gegen eine oppositionelle Minderheit, sondern auf der Basis einer im Proporzdenken befangenen „Großen Koalition" der Parlamentsfraktionen gegen die Regierung durchgesetzt. Dieses Vorgehen entsprach allerdings durchaus dem konstitutionalistischen Selbstverständnis der Parteien und Abgeordneten des monarchischen Reichstags. 7 b) Obwohl also die Einführung des parlamentarischen Systems durch Reichs„ H m k e n d e r " gesetz vom 28. Oktober 1918 an der Schwelle zur Weimarer Republik in erster Parlamentarismus I m i e Werk einer Opposition fast aller Reichstagsparteien war, fand sich niemand, der nunmehr auch die Institutionalisierung der parlamentarischen Opposition in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 gefordert hätte. Im Gegenteil: Die vorherrschenden Gleichgewichts- und Proporzvorstellungen der Weimarer Koalition führten zur Schaffung eines „hinkenden" Parlamentarismus", der von Anfang an der Gefahr einer wechselseitigen Blockade von Reichstag und Reichspräsident ausgesetzt war. Im Falle eines Konflikts zwischen beiden Verfassungsorganen lag mit dem selbständigen Parlamentsauflösungsrecht nach Art. 25 WRV und dem Notverordnungsrecht des Art. 48 Abs. 2 WRV die Prärogative sogar beim Reichspräsidenten. Ungeachtet zahlreicher warnender wie kritischer Stimmen12 hatte damit jene an der „krypto-parlamentarischen" Regierungspraxis in der späten konstitutionellen Monarchie orientierte „krypto-konstitutionelle" Theorie des parlamentarischen Regierungssystems, wie sie insbesondere von R E D S L O B und P R E U S S vertreten wurde 13 , die Oberhand gewonnen und die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für den späteren Ubergang zu einer plebiszitär legitimierten Präsidialdiktatur geschaffen, die den Niedergang der Weimarer Republik einleitete. 8 O p p o s i t i o n e n in d e r Weimarer Republik

Zunächst verlief allerdings die Praxis der Weimarer Regierungsbildung völlig in parlamentarischen Bahnen und blieb unter weitgehender Ausschaltung des Reichsp r ä s id e nten in erster Linie den politischen Initiativen der Parteien und Fraktionen im Reichstag überlassen. Der sog. „Weimarer Koalition" von SPD, Zentrum, DVP und D D P stand jedoch bis 1924 von vornherein eine heterogene Opposition auf dem rechten und linken Flügel, bestehend aus Deutschnationalen und Nationalsozialisten einerseits sowie USPD und Kommunisten andererseits, gegenüber. Erst in der Phase relativer Stabilität (1924-1928) kam es zu einer konstruktiven Opposition 10

V g l . d a z u U.BERMBACH V o r f o r m e n p a r l a m e n t a r i s c h e r K a b i n e t t s b i l d u n g in D e u t s c h l a n d , 1967; D . GROSSER V o m m o n a r c h i s c h e n K o n s t i t u t i o n a l i s m u s zur p a r l a m e n t a r i s c h e n D e m o k r a t i e ,

11

S o R . THOMA D i e rechtliche O r d n u n g des p a r l a m e n t a r i s c h e n R e g i e r u n g s s y s t e m s , in: H D S t R I, 1930, S. 504. D a r u n t e r v o r allem E . KAUFMANN D i e R e g i e r u n g s b i l d u n g in Preußen u n d im R e i c h e u n d die R o l l e d e r P a r t e i e n , in: A u t o r i t ä t u n d Freiheit. G e s a m m e l t e Schriften I, 1960, S. 374 ff ( 3 8 5 ) ; L.WITTMAYER D i e W e i m a r e r R e i c h s v e r f a s s u n g , 1923, S. 3 1 6 f f ; U . SCHEUNER U b e r die vers c h i e d e n e n G e s t a l t u n g e n des p a r l a m e n t a r i s c h e n R e g i e r u n g s s y s t e m s , in: A ö R N F 13 (1922), S. 2 0 9 - 2 3 3 ; 3 3 7 - 3 8 0 . V g l . H . BEYERSDORFF D i e Staatstheorien in d e r v e r f a s s u n g g e b e n d e n d e u t s c h e n N a t i o n a l v e r s a m m l u n g v o n 1919, D i s s . jur. K i e l 1928, S. 102 ff.

1970.

12

13

§ 38

D i e p a r l a m e n t a r i s c h e O p p o s i t i o n (SCHNEIDER)

1059

durch die SPD, der die Weimarer Republik nicht nur maßgeblich ihre Gründung, sondern in dieser Zeit loyaler Minderheitspolitik auch ihr vorläufiges Uberleben verdankt. Spätestens seit 1930 aber trugen die Auseinandersetzungen um die Notverordnungsherrschaft der Präsidialkabinette mit dem Reichstag wieder unverkennbar konstitutionalistische Züge. Dem Anwachsen der republikfeindlichen Kräfte von N S D A P und K P D — eine Opposition, die sich nur in der Ablehnung der bestehenden demokratischen Ordnung einig war und sich im übrigen blutig bekämpfte — hatte schließlich das parlamentarische System nichts mehr entgegenzusetzen. Nachdem man sich schon 1919 zu einer konsequenten Parlamentarisierung der Reichsgewalt (einschl. des Reichspräsidenten) nicht hatte durchringen können, begünstigten starke weltanschauliche und soziale Spannungen in Verbindung mit dem Verhältniswahlrecht die Entstehung extremistischer Massenparteien auf dem rechten und linken Flügel, welche selbst kleinere verfassungstreue Parteien in der Opposition immer wieder zur Unterstützung der jeweiligen Regierung nötigten, so daß sich eine starke und funktionierende (d. h. machtwechselfähige) Opposition im Reichstag nur vorübergehend herausbilden konnte. Daher ist selbst der Weimarer Staatsrechtslehre, sofern sie nicht von vornherein das im Liberalismus wurzelnde und dem Mehrheitsprinzip verpflichtete parlamentarische System schlechthin als geistesgeschichtlich überholt ablehnte 14 , die essentielle Bedeutung einer effektiven parlamentarischen Opposition im demokratischen Gemeinwesen verborgen geblieben, wenngleich die zur Beseitigung der Mißstände erörterten Reformvorschläge (Stärkung der Parteien und Fraktionen, Einführung des Mehrheitswahlrechts, Erweiterung des Minderheitsschutzes, konstruktives Mißtrauensvotum) zumindest mittelbar auch wichtige neue, den Oppositionsstatus betreffende Anregungen enthielten. — Nach der Machtergreifung des Nationalsozialismus war allerdings durch das „Gesetz gegen die Neubildung von Parteien" vom 14. Juli 1933 de facto zugleich jede organisierte Opposition unter Strafe gestellt und in die Illegalität des politischen Widerstands abgedrängt.

„ O p p o s i t i o n " in d e r Weimarer Staatsrechtslehre

c) Infolge der Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Einparteienregime 10 begann sich für die Verfassungsentwicklung der deutschen Länder nach 1945 vor O p p o s i t i o n in allem im Oppositionsverständnis ein grundlegender Wandel abzuzeichnen. U m L ä n d e r n n a c h einerseits staatsfeindliche, destruktive Oppositionsbildungen zu verhindern, andererseits aber den Bestand einer verfassungstreuen demokratischen Opposition im Parlament zu gewährleisten, entschloß sich die Beratende Versammlung des Landes Baden in Verbindung mit der staatsrechtlichen Anerkennung der politischen Parteien nach Art. 118 ff der Badischen Verfassung vom 22. Mai 1947 erstmals zu einer positiven Normierung der parlamentarischen Opposition 1 5 . Aus ähnlichen

H

A l l e n v o r a n C . SCHMITT D i e g e i s t e s g e s c h i c h t l i c h e L a g e d e s h e u t i g e n P a r l a m e n t a r i s m u s , 2 . A u f l . ,

15

V g l . A r t . 120 d e r B a d i s c h e n V e r f a s s u n g ( R e g B l . 1 9 4 7 , S . 1 3 9 ) :

1926.

„ ( 1 ) P a r t e i e n m ü s s e n sich als m i t v e r a n t w o r t l i c h f ü r d i e G e s t a l t u n g d e s p o l i t i s c h e n L e b e n s u n d f ü r d i e L e n k u n g d e s S t a a t e s f ü h l e n , g l e i c h g ü l t i g , o b sie an d e r B i l d u n g d e r L a n d e s r e g i e r u n g m i t b e t e i l i g t s i n d o d e r z u ihr in O p p o s i t i o n s t e h e n . (2) H a b e n sie sich an d e r B i l d u n g d e r R e g i e r u n g b e t e i l i g t , s o ist es ihre P f l i c h t , d a s I n t e r e s s e d e s L a n d e s ü b e r d a s I n t e r e s s e d e r Partei z u stellen. S i e m ü s s e n b e r e i t sein, d i e V e r a n t w o r t u n g a b z u g e b e n , s o b a l d s i c h eine n e u e M e h r h e i t bildet.

den 1945

1060

6. Teil: Der Bundestag als Forum und zentraler Ort der politischen Willensbildung

Erwägungen wurde kurz darauf auch in Schleswig-Holstein — dem englischen Beispiel folgend — die parlamentarische Stellung des „Oppositionsführers" diätenmäßig hervorgehoben 16 . 11 Bedauerlicherweise fanden jedoch diese vielversprechenden Ansätze konseOpposition im quenter Verwirklichung des parlamentarischen Prinzips unter weitgehender Parlamentarischen Rat ¿ u r ü c k d r ä n g u n g J e s herkömmlichen Gewaltenteilungsschemas bereits bei der Schaffung des Grundgesetzes kaum mehr Beachtung. Obwohl sich insbesondere der Abg. Z I N N (SPD) schon im Organisationsausschuß des Parlamentarischen Rates nachdrücklich für ein Regierungssystem mit funktionsfähiger parlamentarischer Opposition ausgesprochen hatte 17 , und später im Ausschuß für Wahlrechtsfragen auch die Abg. S C H R Ö T E R (CDU, zugleich Oppositionsführer im schleswigholsteinischen Landtag) und K R O L L (CSU) unter Hinweis auf die Notwendigkeit einer starken, konstruktiven und homogenen Opposition in der parlamentarischen Demokratie für die Übernahme des englischen Mehrheitswahlrechts eingetreten waren 18 , glaubte man im Hauptausschuß ebenso wie im Plenum überwiegend 19 , alle der Weimarer Verfassung angelasteten Schwierigkeiten damaliger Regierungsinstabilität allein durch die Einführung des konstruktiven Mißtrauensvotums behoben zu haben, und lehnte nicht nur das relative Mehrheitswahlrecht ab, sondern verzichtete sogar auf die ursprünglich vorgesehene 20 Verankerung des parlamentarischen Regierungssystems in Art. 20 Abs. 1 GG. 12 Ebensowenig wurde bei den Beratungen des Art. 21 GG eine dem badischen Opposition in der Vorbild entsprechende verfassungsrechtliche Regelung des Oppositionsstatus in Rechtsprechung des Betracht gezogen, da „bei unserer soziologischen Struktur . . . das Ziel einer solchen Vereinfachung etwa bis zum Zweiparteiensystem hin auf diesem Wege (3) Stehen sie in Opposition zur Regierung, so obliegt es ihnen, die Tätigkeit der Regierung und der an der Regierung beteiligten Parteien zu verfolgen und nötigenfalls Kritik zu üben. Ihre Kritik muß sachlich, fördernd und aufbauend sein. Sie müssen bereit sein, gegebenenfalls die Mitverantwortung in der Regierung zu übernehmen." 16 Der in der 3. Sitzung des schleswig-holsteinischen Landtages vom 5.8.1947 gefaßte Beschluß, dem „Führer der Opposition" eine besondere Aufwandsentschädigung zu zahlen, wurde am 17.6.1952 in §2 Abs. 2 Buchst, b des Gesetzes über die Entschädigung der Abgeordneten des schleswig-holsteinischen Landtages (GVB1. S. 21) übernommen. 17 Laut Kurzprotokoll der 5. Sitzung des Ausschusses für Organisationsfragen vom 23.9.1948, S. 3, erklärte ZINN, daß man „einer Regierung eine wirkliche Chance geben und eine echte Opposition schaffen" müsse. Vgl. die Protokolle des Ausschusses für Wahlrechtsfragen, 2. Sitzung vom 22.9.1948 (S. 31 ff), 7. Sitzung vom 5.10.1948 (S. 56 ff), 9. Sitzung vom 14.10.1948 (S. 29 ff). - Unterstützung fanden diese Bestrebungen vor allem in den Sachverständigenberichten von E. P. W A L K (Deutsche Wählergemeinschaft) in der 9.Sitzung (S.2ff) und von Reichskanzler a.D. L U T H E R in der 7. Sitzung ( S . 2 ff). L U T H E R rechnet „die Bildung einer in sich geschlossenen Opposition" sogar zu den Hauptfunktionen eines Wahlrechts (S. 40; vgl. auch S. 16-20). " Mit Ausnahme des Abg. SÜSTERHENN (CDU) und weniger anderer. SÜSTERHENN trat bereits in der 2. Sitzung des Parlamentarischen Rates vom 8.9.1948 für „ein Mehrheitswahlrecht und ein darauf gegründetes, durch das Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition gekennzeichnetes Regierungssystem" ein (PR-StB, S. 22). 20 Die dem Ausschuß für Grundsatzfragen in der 11.Sitzung vom 14.10.1948 (Prot. S. 1) vorliegende Fassung des Art. 21 (später Art. 20) Abs. 1 GG lautete zunächst: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat mit parlamentarischer Regierungsform und bundesstaatlichem Aufbau."

§38

Die parlamentarische Opposition (SCHNEIDER)

1061

zweifellos nicht erreichbar" sei21. Erst die aufgrund von verschiedenen Organklagen der Oppositionsfraktionen im Bundestag22 bzw. von Verbotsanträgen gegen politische Parteien ergangenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts — insbesondere zum Begriff der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" — haben mit der verfassungsjuristischen Absicherung des „Rechts auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition" 23 , der Begründung verfassungsrechtlicher „Pflichten der Opposition" 24 , der Erwähnung des Prinzips der „Chancengleichheit zwischen Regierung und Opposition" 25 sowie mit dem Hinweis auf die „Oppositionsaufgabe" der parlamentarischen Kontrolle 26 zu einer gewissen vorläufigen Klärung auch des parlamentarischen Oppositionsstatus und seiner normativen Grundlagen beigetragen. Allerdings konnte sich diese Judikatur maßgeblich auf eine gegenüber allen 13 früheren Epochen strukturell veränderte Verfassungspraxis in der Bundesrepublik Opposition in der Deutschland stützen. Bereits die ersten vier Legislaturperioden des Deutschen Bundesrepublik Bundestages (1949-1965) führten wider Erwarten, wenn auch mitbedingt durch die Verbote der antidemokratischen Opposition (SRP und KPD) und begünstigt durch die loyale Haltung der übrigen Parlamentsparteien, zur Ausbildung eines sog. „Zweigruppensystems" 27 mit der SPD als funktionsfähiger homogener parlamentarischer Opposition 28 . Abgesehen von einem kurzen, wenn auch wegen des Anwachsens extremistischer Bestrebungen auf dem rechten und linken Flügel (NPD, K P D / M L ) äußerst riskanten Zwischenspiel der „Großen Koalition" aus C D U / C S U und SPD (mit der F D P als einziger Oppositionsfraktion) in den Jahren 1966-1969 29 , kehrte man im Bundestag sehr schnell wieder zu jenem „Alternanzmodell" der Gründerzeit zurück, bei dem jeweils Koalitionsregierungen, unterstützt von den Mehrheitsfraktionen, einer Einparteienopposition im Parlament gegenüberstanden. Von der sechsten bis zur neunten Wahlperiode (1969-1982) waren dies das sozialliberale Bündnis aus SPD und F D P auf der einen und die So der Abg. DIEDERICHS (SPD) in der 7. Sitzung des Parlamentarischen Rates vom 21.10. 1948 (PR-StB 110). 22 Eine gute Ubersicht bis zum Jahre 1968 findet sich bei H. RIDDER In Sachen Opposition. Adolf Arndt und das Bundesverfassungsgericht, in: FS für A. Arndt zum 65. Geburtstag, hrsg. von H. Ehmke, C.Schmidt, H.Scharoun, 1969, S.323ff. « Vgl. BVerfGE 2, 1 (12 f); 5, 85 (140 f). 24 Dazu BVerfGE 2, 143 (170 f). 25 Offengelassen in BVerfGE 10, 4 (18 f). 2desstaat Opposition im Bundestag getragen werden, kann diese hier in begrenztem Rahmen einerseits aktuelle Macht ausüben und zum anderen gleichzeitig ihre „Regierungsfähigkeit" im Bund auf Landesebene unter Beweis stellen. Hinzu kommt, daß die Länderregierungen über den Bundesrat auch an der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mitwirken (vgl. Art. 50 GG). Befindet sich nun die Macht in den Ländern partiell oder gar überwiegend in den Händen der Oppositionsparteien des Bundestages, dann kann wegen der damit verknüpften Veto-Positionen (vgl. Art. 77 GG) die Regierung(smehrheit) verstärkt zur politischen Rücksichtnahme auf die Ländervertretung und d. h. praktisch zum Aushandeln von Kompromissen gezwungen sein, die der Herrschaftskonstellation auf Bundesebene de facto den Charakter von „Großen Koalitionen" oder „Allparteienregierungen" verleihen. Insofern benutzt die Opposition im Bund bei abweichenden Mehrheitsverhältnissen in Bund und Ländern das Machtinstrument des Bundesrates völlig zu Recht als Vehikel der Durchsetzung ihrer politischen Vorstellungen. Selbst wenn man in diesem „gemischten System", das die politischen Verant- 22 wortlichkeiten oft nicht hinreichend klar zu trennen erlaubt, eine Schwächung der Vielfalt und parlamentarischen Regierungsform erblickt37, läßt sich nicht leugnen, daß die Wettbewerb bundesstaatliche Ordnung auf der anderen Seite namentlich durch ihre minderheitsschützende Wirkung das demokratische „Alternanzprinzip" erheblich verstärkt. Denn die Opposition im Bund kann ihre politischen Zielvorstellungen, 35

36 37

Ebenso N. GEHRIG Gewaltenteilung zwischen Regierung und parlamentarischer Opposition, in: DVBl. 1971, S. 633 ff. Vgl. BVerfGE 2, 143 (170 f). Vgl. M.FRIEDRICH Landesparlamente in der Bundesrepublik, 1975.

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23

„Repolitisierung" des Bundesstaates

6. T e i l : D e r Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

auch soweit sie damit auf gesamtstaatlicher Ebene nicht durchzudringen vermag, wenigstens für den begrenzten Raum eines Landes realisieren, in dem sie über die Mehrheit verfügt, um auf diesem Wege Führungspersonal heranzubilden und eine alternative Politik nicht nur zu reklamieren, sondern konkret zu demonstrieren. Freilich setzt dieser oppositionsfördernde Effekt alternativer politischer Führung voraus, daß den Ländern noch in ausreichendem Umfang politische Materien von substantiellem Gewicht zur eigenverantwortlichen Gestaltung übrig bleiben. Je weniger dies im Hinblick auf den zunehmenden Unitarisierungszwang (Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse, Uberformung durch EG-Recht) der Fall ist, desto eher werden oppositionelle Länderregierungen schon aus Profilierungsgründen dazu neigen, mit dem Bund auch auf den Gebieten in Konkurrenz zu treten, welche ihm vorbehalten oder zumindest als Gemeinschaftsaufgabe ausgewiesen sind (z.B. bei der Wirtschaftsförderung, Strukturpolitik, Forschungs- und Entwicklungsplanung, aber auch in der Jugend-, Gesundheits- und Sozialpolitik). So ergibt sich der scheinbar paradoxe Befund, daß gerade die zunehmende Vereinheitlichung des bundesstaatlichen Ordnungsgefüges durch das gegenläufig wirkende demokratische Erfordernis des Wechselspiels von Regierung und Opposition partiell konterkariert wird und im Verhältnis von Bund und Ländern zu einer „Repolitisierung" mit verstärkter Konfliktbereitschaft auf beiden Seiten führt 38 . Auf diese Weise verleiht letztlich auch umgekehrt die demokratische Ordnung dem Bundesstaatsprinzip neue Lebenskraft.

24

d) Zugleich mit den Staatsstrukturbestimmungen der Demokratie, des Rechtsstaats und des Bundesstaats stellen auch die Grundrechte konkrete verfassungsrechtliche Bestandsgarantien und Funktionsnormen der Opposition dar. Denn zum einen gehört das „Recht auf Bildung und Ausübung einer Opposition" zu den Wesenselementen der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung" im Sinne von Art. 21 Abs. 2, 18 G G und damit zum unverbrüchlichen Kerngehalt des Grundgesetzes (vgl. Art. 79 Abs. 3 GG). Zum anderen jedoch kann dieses „Recht auf Opposition", verstanden als generelle Gründungs- und Betätigungsfreiheit oppositioneller Gruppen und Bestrebungen, nur im Rahmen von Grundrechten wahrgenommen werden, soweit sich die parlamentarische Opposition nicht auf spezielle staatsorganschaftliche Minderheitsrechte stützen kann.

25

Als Konkretisierungen dieser allgemeinen Oppositionsfreiheit kommen in erster Linie die politischen Grundrechte der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 5, 8, 9 G G ) und das Petitionsrecht (Art. 17 G G ) in Betracht. Sie sind es auch, deren sich die außerparlamentarische Opposition vornehmlich bedient, wenn sie auf ihre Absichten und Ziele in der Öffentlichkeit aufmerksam machen will. Unter dem Aspekt eines so verstandenen Demonstrationsrechts als Ausdruck von legitimem Oppositionsverhalten (Widerspruch) erscheint es verfassungsrechtlich bedenklich, friedliche Sitzblockaden von zeitlich begrenzter Dauer schlicht als nötigende „Gewalt" im Sinne von §240 StGB einzustufen39. Demge-

Grundrechte; Recht auf Opposition

Oppositionsfreiheit

38

39

D a z u H . - P . SCHNEIDER Kooperation, K o n k u r r e n z oder Konfrontation. Entwicklungstendenzen des Föderalismus in der Bundesrepublik, in: Lebendige Verfassung, hrsg. von A. Klönne, 1 9 8 1 , S . 9 1 ff. Vgl. dazu B V e r f G E 73, 2 0 6 (242 ff, 250).

§38

Die parlamentarische Opposition (SCHNEIDER)

1067

genüber hat das Bundesverfassungsgericht die „politische" Meinungsäußerung stets als besonders schützenswert angesehen und private Belange dahinter zurücktreten lassen 40 . Das gleiche gilt für „politisches" Theater und dessen Einbeziehung in den Schutzbereich der Kunstfreiheit 41 . In beiden Fällen ist nicht zuletzt auch der allgemeinen Oppositionsfreiheit ein guter Dienst erwiesen worden. e) Ein evidenter Grundrechtsbezug ergibt sich schließlich beim Prinzip der 2 6 Chancengleichheit zwischen Regierung und parlamentarischer Opposition, das — Oppositionsgleichheit obwohl bisher noch nicht ausdrücklich anerkannt 42 — für die Alternanzdemokratie ebenso unverzichtbar ist wie die Oppositionsfreiheit, wenn es bei der „Prämie auf den legalen Machtbesitz" nicht einfach sein Bewenden haben soll. Eng verknüpft mit dem Grundsatz der Chancengleichheit von Parteien 43 und Fraktionen 4 4 , der aus Art. 21 Abs. 1 in Verb, mit Art. 3 Abs. 1 G G abgeleitet wird, verlangt es nicht nur bei Wahlen, sondern auch während einer Legislaturperiode gleiche Bedingungen in der öffentlichen, namentlich parlamentarischen Auseinandersetzung zwischen der Regierung(smehrheit) einerseits und den Oppositionsfraktionen andererseits, und zwar innerhalb wie außerhalb des Parlaments. Die Skala der Gleichheitsanforderungen reicht dabei von der formalen Rechtsgleichheit über die politische Waffengleichheit bis hin zu gleichen oder wenigstens annähernd vergleichbaren finanziellen Möglichkeiten für die Darstellung der eigenen politischen Ziele ebenso wie für die Kritik des Gegners. Letzterem Petitum hat das Bundesverfassungsgericht in seinem viel beachteten 2 7 Urteil zur Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung aus dem Jahre 1977 weitge- Öffentlichkeitsarbeit hend Rechnung getragen, wenn auch nicht durch Beteiligung der Opposition an ^eS'erung den entsprechenden Haushaltsmitteln der Regierung, sondern durch Beschränkung der Regierungswerbung: „In einem freiheitlichen Staat, in dem der Mehrheitswille in den Grenzen der Rechtsstaatlichkeit entscheidet, müssen Minderheitsgruppen die Möglichkeit haben, zur Mehrheit zu werden. Demokratische Gleichheit fordert, daß der jeweils herrschenden Mehrheit und der oppositionellen Minderheit bei jeder Wahl aufs neue die grundsätzlich gleichen Chancen im Wettbewerb um die Wählerstimmen offengehalten werden 4 5 ." In einer späteren Entscheidung von 1986 zum Recht der Opposition auf 2 8 Mitwirkung in parlamentarischen Gremien scheinen diese Sätze jedoch wieder in Chancengleichheit der Fraktionen

40 41 42 43

44

45

So B V e r f G E 61, 1 (11); 66, 116 (139); 73, 206 (258). In B V e r f G E 67, 213 (227 f); 75, 369 (377). Offengelassen in B V e r f G E 10, 4 (16). Grundlegend H . - R . LIPPHARDT Die Gleichheit der politischen Parteien vor der öffentlichen Gewalt, 1970; H . C H R . JÜLICH Chancengleichheit der Parteien, 1967. Dazu W.SCHMIDT Chancengleichheit der Fraktionen unter dem Grundgesetz, in: Der Staat 9 (1970), S. 481 ff. So B V e r f G E 44, 125 (145). Daraus leitet das Gericht für die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung ein Verbot ab, „die Oppositionsparteien (zu) bekämpfen" bzw. „sich mit negativem Akzent oder gar herabsetzend über die Oppositionsparteien und deren Wahlbewerber zu äußern" (S. 150). D a sich die aus Haushaltsmitteln finanzierten Druckwerke der Regierung für Wahlkampfzwecke der Opposition nicht eigneten, werde „die im Rahmen der staatlichen Wahlkampfkostenerstattung gebotene und gewahrte Chancengleichheit durch den zusätzlichen Einsatz öffentlicher Mittel zugunsten der Mehrheits- und zu Lasten der Oppositionsparteien unterlaufen und empfindlich gestört".

1068

6. Teil: Der Bundestag als Forum und zentraler Ort der politischen Willensbildung

Vergessenheit geraten zu sein. Zwar wird auch hier das Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition bekräftigt. Der Schutz von Minderheiten gehe jedoch „nicht dahin, die Minderheit vor Sachentscheidungen der Mehrheit zu bewahren (Art. 42 Abs. 2 G G ) , wohl aber dahin, der Minderheit zu ermöglichen, ihren Standpunkt in den Willensbildungsprozeß des Parlaments einzubringen" 4 6 . Dem werde grundsätzlich dadurch Rechnung getragen, daß bei der Besetzung parlamentarischer Kontrollgremien die Opposition insgesamt nicht übergangen werde, sondern wenigstens eine (große) Oppositionsfraktion dort vertreten sei 47 . Der damit gerechtfertigte Ausschluß der Fraktion der „Grünen" im Bundestag von der Haushaltskontrolle der Geheimdienste verstößt eklatant gegen das Prinzip der Chancengleichheit aller Parlamentsfraktionen 48 und verletzt insbesondere das Recht auf Oppositionsgleichheit. Denn bei mehreren Oppositionsfraktionen im Parlament darf nicht einfach unterstellt werden, daß eine auch die Interessen der anderen mitvertreten kann. Neben diesem Gleichheitsaspekt berührt die Entscheidung jedoch vor allem das wichtige Problem des „Oppositionsbegriffs", dem im folgenden weiter nachgegangen werden soll. 3. „Opposition" als Rechtsbegriff 2 9 a) Im Mittelpunkt der neueren verfassungsrechtlichen Diskussion über den O p p o Juristischer sitionsbegriff steht naturgemäß die bisher weitgehend unbeantwortete Frage nach Bedeutungsgehalt s e ¡ n e m spezifisch juristischen Bedeutungsgehalt. So wurde beispielsweise noch 1971 während der Ausschußberatungen über die Verfassungs- und Parlamentsreform in Hamburg dem von der oppositionellen C D U - F r a k t i o n geäußerten Wunsch nach einem besonderen Oppositionsgesetz (analog dem Parteiengesetz) entgegengehalten, daß zunächst einmal „von vornherein ganz genau definiert werden" müsse, „was unter Opposition (im Rechtssinne) zu verstehen ist" 49 . D e m g e g e n ü b e r hat schon v o r langer Zeit insbesondere ADOLF ARNDT unter

46 47

48

49

B V e r f G E 70, 324 (363). Ebenda, S. 365 f; auf S. 359 heißt es bereits: „Dem Parlament bleibt es vorbehalten, sich für den Beratungsmodus zu entscheiden, der nach seiner — willkürfreien — Einschätzung den Geheimschutzinteressen hinreichend dient und zugleich den Grundsätzen der parlamentarischen Demokratie Rechnung trägt. Die hier gewählte Lösung dieses Spannungsverhältnisses durch Bildung eines möglichst kleinen Gremiums, dessen Zusammensetzung durch Persönlichkeitswahl bestimmt wird und gleichzeitig auch die Opposition nicht übergeht, sprengt nicht den Rahmen zulässiger Rücksicht auf die mit dem Verfahren verfolgten Geheimhaltungsinteressen." — Demgegenüber stellt das abweichende Votum des Richters MAHRENHOLZ mit Recht unmißverständlich klar: „Jede Hintanhaltung gleichberechtigter Teilhabe von Abgeordneten am parlamentarischen Prozeß aus politischen Gründen ist eine Diskriminierung" (S.373; Herv. im Original). Das gilt in noch stärkerem Maße für die jüngste Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, wonach auch aus anderen wichtigen Gründen die Mitgliederzahl von Parlamentsausschüssen so begrenzt werden darf, daß nicht alle Fraktionen dort vertreten sind (vgl. BayV e r f G H D Ö V 1989, 308 ff). Hierin liegt ein klarer Verstoß gegen das Prinzip der Fraktionsgleichheit, die ähnlich wie die Wahlrechtsgleichheit (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 G G ) streng formal zu verstehen ist und zumindest jeder Fraktion den Anspruch auf ein Grundmandat in allen Ausschüssen verbürgt. Laut Niederschrift über die Sitzung des Ausschusses für Verfassung, Geschäftsordnung und Wahlprüfung der Bürgerschaft vom 2 2 . 1 2 . 1 9 7 0 , S . 3 .

§38

D i e parlamentarische O p p o s i t i o n (SCHNEIDER)

1069

Hinweis auf die genannte Judikatur des Bundesverfassungsgerichts die These vertreten, daß inzwischen „der Begriff Opposition selber zum Rechtsbegriff geworden" sei50. Zweifellos war und ist es ein bleibendes Verdienst dieser Rechtsprechung, die parlamentarische Opposition aufgewertet und in den Rang einer Verfassungsinstitution gehoben zu haben. Die praktischen Konsequenzen dieser „Konstitutionalisierung" haben sich jedoch bisher weniger in den Verfassungstexten, als vielmehr im einfachen (Parlaments-)Recht niedergeschlagen. b) Zwar begegnet man auf Bundesebene dem Wort „parlamentarische Opposi- 3 0 tion" lediglich in § 92 Abs. 2 Ziff. 3 StGB 5 1 . Das Landesrecht kennt den Opposi- Vielfalt des tionsbegriff jedoch in all seinen praktisch bedeutsamen juristischen Varianten und O p p o s i t i o n s b e g r i f f s Ausformungen: Zunächst findet er sich als verfassungsrechtliche Kategorie in Art. 23 a der Landesverfassung der Freien und Hansestadt Hamburg 52 . Von „Oppositionsfraktionen" ist ebenfalls in einem Parlamentsbeschluß der hamburgischen Bürgerschaft 53 , außerdem in §§ 37 Abs. 1 Satz 4, 108 Abs. 4 Satz 2 und 109 Abs. 1 Satz 3, Abs. 3 Satz 3 der Geschäftsordnung des bayerischen Landtages sowie in einer Verwaltungsanordnung des Landtagspräsidenten von Baden-Württemberg54 und nicht zuletzt in zahlreichen neueren Vorschriften über die Fraktionszuschüsse die Rede, soweit dort ein sog. „Oppositionsbonus" vorgesehen ist55. Auf „Oppositionsparteien" bezieht sich § 5 Abs. 1 des bayerischen Gesetzes über die Errichtung einer Akademie für Politische Bildung vom 27. März 1957 56 . Das schleswig-holsteinische Abgeordnetenentschädigungsgesetz sah bis zu seiner Novellierung aufgrund des Karlsruher „Diäten-Urteils" 57 im Jahre 1978 gemäß

50

A. ARNDT O p p o s i t i o n , in: N e u e S a m m l u n g 8 (1968), S. 1 ff (2).

51

Ein Antrag der S P D - F r a k t i o n im Bundestag aus dem J a h r e 1966, den O p p o s i t i o n s b e g r i f f in Verbindung mit dem Prinzip von „ R e d e und G e g e n r e d e " in § 33 A b s . 1 der G e s c h ä f t s o r d n u n g zu verankern (vgl. B T - D r u c k s . V / 3 9 6 ) , fand nicht die erforderliche M e h r h e i t .

52

D i e bisher einzig vergleichbare Regelung in A r t . 120 der badischen Verfassung v o m 2 2 . 5 . 1 9 4 7 ist bereits im J a h r e 1953 außer K r a f t getreten. Vermutlich wird als nächstes Bundesland Schleswig-Holstein die parlamentarische O p p o s i t i o n in seine V e r f a s s u n g a u f n e h m e n .

53

V o m 1 7 . 2 . 1 9 7 1 (vgl. Anlage 9 des Berichts des Verfassungsausschusses [Drucks. VII/894]).

vom

21.1.1971

54

N r . 1085 über die E i n r i c h t u n g eines „Parlamentarischen B e r a t u n g s d i e n s t e s " v o m 5 . 1 1 . 1 9 6 4 .

55

Vgl. § 35 A b s . 1 Satz 2 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des A b g e o r d n e tenhauses von Berlin v o m 2 1 . J u l i 1978 ( G V B 1 . S. 1497) i . d . F . v o m 7 . 1 0 . 1 9 8 6 ( G V B 1 . S. 1629); § 3 7 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder der B r e m i s c h e n Bürgerschaft v o m 1 6 . O k t o b e r 1978 ( B r e m . G B l . S . 2 0 9 ) i . d . F . vom 2 6 . 6 . 1 9 8 4 ( B r e m . G B l . S. 185); § 8 A b s . 3 des Gesetzes über die Aufwandsentschädigung an die A b g e o r d n e t e n der B ü r g e r s c h a f t und über die G e w ä h r u n g von Zuschüssen an die F r a k t i o n e n vom 1 9 . M a i 1961 ( G V B I . S. 165) i . d . F . v o m 19. 3 . 1 9 8 7 ( G V B I . S. 83); § 3 0 Satz 2 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Landtags N o r d r h e i n - W e s t f a l e n v o m 2 4 . A p r i l 1979 ( G V . N W . S . 2 3 8 ) i . d . F . v o m 1 7 . 1 2 . 1 9 8 5 ( G V . N W . S. 7 6 4 ) ; § 3 6 a A b s . 1 Satz 3 des Landesgesetzes ü b e r die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Landtags R h e i n l a n d - P f a l z v o m 2 1 . J u l i 1978 ( G V B I . S . 5 8 7 ) i . d . F . v o m 1 7 . 1 2 . 1 9 8 6 ( G V B I . S. 3 7 4 ) ; § 2 9 Satz 2 des Gesetzes N r . 1103 über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Landtages des Saarlandes v o m 4. Juli 1979 ( A m t s b l . S. 6 5 6 ) i. d. F . v o m 24. 9 . 1 9 8 6 ( A m t s b l . S. 9 8 9 ) . Insoweit hat zweifellos das „ D i ä t e n - U r t e i l " des Bundesverfassungsgerichts ( B V e r f G E 4 0 , 2 9 6 ff) der V e r r e c h t l i c h u n g des parlamentarischen O p p o s i t i o n s s t a t u s ungewollt erheblichen V o r s c h u b geleistet.

56

G V B I . S. 103.

57

Vgl. B V e r f G E 4 0 , 2 9 6 f f ( 3 1 8 ) .

1070

6. Teil: D e r Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

§§ 2 Abs. 2 Buchst, c, 5 Abs. 7 Satz 4 ein besonderes Gehalt für den „Führer der Opposition" vor, während in den Haushaltsplänen mehrerer Bundesländer (ζ. B. Baden-Württemberg, Hamburg, Hessen) auf „Abgeordnete der Opposition" hingewiesen wird. Darüber hinaus handeln einige Bestimmungen zwar nicht ausdrücklich, aber doch zumindest der Sache nach insofern von „Opposition", als sie sich der Formel „stärkste nicht an der Regierung (Senat) beteiligte Fraktion" bedienen58 und damit zugleich eine erwägenswerte Definition des Rechtsbegriffs „parlamentarische Opposition" nahelegen.

31 Opposition als parlamentarische Minderheit

32 Parlamentarische Opposition

33 Definition der Opposition im Parlament

c) In der Tat ist mit einer bloßen Erwähnung der „parlamentarischen Opposition" noch keineswegs hinreichend geklärt, wer damit eigentlich konkret gemeint ist. Soll darunter die Gesamtheit aller Minderheitsfraktionen oder nur die stärkste von ihnen verstanden werden? Und wie steht es mit dem Begriff „Minderheit"; fallen darunter auch diejenigen Teile des Parlaments, die zwar nicht selbst in der Regierung vertreten sind, diese jedoch tolerieren? Eine in sich schlüssige Antwort erfordert die Rückbesinnung auf bestimmte Verfassungsmaßstäbe, die für die Rechtsverhältnisse innerhalb des Parlaments gelten. Hierzu gehört nicht nur das Prinzip der Chancengleichheit von Regierung und Opposition, sondern auch der Grundsatz der Chancengleichheit der Fraktionen und die Berücksichtigung der Tatsache, daß sich die parlamentarische Willensbildung hauptsächlich in den Fraktionen vollzieht. Daraus ergibt sich zunächst zwingend, daß mit „parlamentarischer Opposition" im organisationsrechtlichen Sinn (d. h. soweit nicht die „Verfassungsinstitution" als solche angesprochen ist) nicht die Gesamtheit aller Minderheitsfraktionen gemeint sein kann, weil diese politisch überhaupt nicht handlungsfähig ist, sondern schon jede einzelne nicht an der Regierung beteiligte Fraktion an sich. Nur so kann dem Gebot der doppelten Chancengleichheit (vertikal im Verhältnis zur Regierung und horizontal in bezug auf die Fraktionen untereinander) genügend Rechnung getragen werden. Hinzu kommt, daß die Aufgabe der Opposition, den Machtwechsel herbeizuführen, ein Mindestmaß an innerer Geschlossenheit und die klare Trennung der politischen Verantwortung voraussetzt. Deshalb fallen nicht nur die Fraktionen aus dem Oppositionsbegriff heraus, welche als Mehrheit im Parlament die Regierung tragen, sondern auch jene, die sie lediglich dulden, ohne in der Regierung aktiv mitzuwirken. Denn auch sie nehmen an der Regierung insofern teil, als sie in der Regel den Regierungschef mitgewählt haben oder zumindest nicht unmittelbar einen Machtwechsel anstreben und dadurch indirekt die Regierung stützen. Zusammengefaßt führen diese Überlegungen zu folgender Definition: Unter „parlamentarischer Opposition" ist jede nicht an der Regierung beteiligte (d. h. sie weder tragende noch duldende), jedoch potentiell regierungsfähige und -willige Parlamentsfraktion zu verstehen, wobei „Regierungsfähigkeit" im Mehrparteiensystem praktisch Koalitionsfähigkeit bedeutet und „Nichtbeteiligung" an der Regierung sowohl den Ausschluß von jeglicher Leitungsgewalt im Sinne von Art. 65 G G (Richtlinienkompetenz, Ressortverantwortung, Mitgliedschaft im 58

Vgl· § 63 Abs. 2 Satz 2 der Geschäftsordnung des Berliner Abgeordnetenhauses i. d. F . vom 21. Februar 1984.

§ 38

D i e parlamentarische Opposition (SCHNEIDER)

1071

Kabinett) als auch den Verzicht auf die Duldung einer Minderheitsregierung meint. In dieser Konzeption fallen den Oppositionsfraktionen bestimmte Aufgaben zu, aus denen sich wiederum Rückschlüsse auf ihre Rechtsstellung ziehen lassen. Beide Problemkreise sind nunmehr näher auszuleuchten.

II. Aufgabe und Funktionen der parlamentarischen Opposition Opposition ist kein Selbstzweck. Nicht selten trägt gerade dieses — gelegentlich von der Regierung(smehrheit) sogar geförderte — Mißverständnis, Opposition werde ohne sachlichen Grund allein um des Widerspruchs willen betrieben, wesentlich dazu bei, die Aktivitäten der Oppositionsfraktionen in der Öffentlichkeit zu diskreditieren und dem ohnehin schon ausgeprägten Harmoniebedürfnis weiter Bevölkerungskreise zusätzliche Nahrung zu bieten. Demgegenüber kann nicht oft genug betont werden, daß es nicht nur das legitime Recht, sondern geradezu eine verfassungsrechtliche Pflicht jeder parlamentarischen Opposition ist, möglichst rasch einen Machtwechsel herbeizuführen und die bestehende Regierung im Amte abzulösen. Daß ein solches Ziel nicht im kooperativen Miteinander, sondern nur in der konfliktreichen politischen Auseinandersetzung (also nicht im „Schlafwagen", sondern im „Dienstabteil") zu erreichen ist, liegt auf der Hand. Der Streit ist gleichsam die Lebensluft der Opposition. Zur politischen Kultur in einem oppositionsfreundlichen Klima gehört daher zugleich die Pflege demokratischer „Streitkultur". Sie zu bewahren und zu fördern ist nicht zuletzt auch Sache der Opposition selbst, die der Demokratie den besten Dienst gerade dadurch leisten kann, daß sie ihre spezifischen Funktionen so konsequent und überzeugend wie möglich wahrnimmt.

34

Opposition als demokratische Funktion

1. Das Machtwechselziel a) Ein schwieriges Grundproblem politischer Herrschaft bildet für jedes Regierungssystem die Nachfolgefrage. Während in Monarchien die dynastische Erbfolge meist durch ein Gesetz geregelt wird, das sich sogar der Verfügung des amtierenden Herrschers selbst entzieht, versuchen moderne Diktaturen eine gewisse Kontinuität der Machtausübung dadurch zu erreichen, daß die regierende Partei aus sich heraus einen Nachfolger hervorbringt. W o dies nicht gelingt, ist sowohl in der Monarchie wie in der Diktatur ein revolutionärer Umsturz oft der einzige Ausweg. N u r die Demokratie kennt den friedlichen Ubergang von einer Regierung zur anderen allein aufgrund unmittelbarer Volkswahl (vgl. Art. 20 Abs. 2 G G ) . Dabei leistet sich die parlamentarische Demokratie mit der Existenz einer handlungsfähigen Opposition sogar den „Luxus" einer kompletten Regierung im Wartestand.

35

Politische Herrschaft und staatliche Kontinuität

D e r Grund für diese extensive Vorsorge ist ein dreifacher: Erstens kann ein 36 solches System alternativer Staatsleitung besonders rasch und flexibel auf Vertrau- System alternativer ens· und Legitimitätsverluste eines Machtapparats reagieren, ohne daß es sofort Staatsleitung zur Staatskrise kommt. Zum zweiten verbürgt jene „Verdoppelung" von Herrschaftsfunktionen ein Höchstmaß an öffentlicher Kontrolle und damit zugleich an sachlicher Richtigkeit der Regierungsarbeit. U n d drittens endlich führt die K o n kurrenz zweier annähernd gleich starker Machtblöcke zu einer Optimierung auch

1072

j

6. Teil: D e r Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

der Sachentscheidungen selbst, weil das Fehlverhalten der einen Seite sofort der anderen Seite zugute kommen würde und sich deshalb die Regierung — permanent bedroht vom Damoklesschwert des Machtverlusts — politische Irrtümer um so weniger leisten kann, je wirksamer sich die Opposition als glaubwürdige Alternative59 in Szene zu setzen vermag. 37 b) Die Tatsache freilich, daß die parlamentarische Opposition den baldigen Methoden der Machtwechsel als ihr wichtigstes strategisches Ziel permanent im Auge behalten t Opposition. sa g t j^gh nichts über die jeweils in bestimmten Situationen anzuwendende Kooperation »Taktik" aus. Ein ständiges blindes „Anrennen" gegen die Regierung, vielleicht noch dramatisch verstärkt durch wiederholt erfolglose Mißtrauensanträge, würde dem Ansehen der Opposition ebenso schaden und ihren Neuigkeitswert abnutzen wie umgekehrt eine allzu vertrauensvolle und konstruktive Zusammenarbeit mit der Regierung. Es kommt daher stets darauf an, eine möglichst attraktive und publikumswirksame Balance zwischen Intransigenz und Kooperationsbereitschaft zu finden, wobei die Akzentuierung der einen oder anderen taktischen Variante auch davon abhängt, wie sich im konkreten Fall die Regierung verhält. Im Endeffekt sollte also der Opposition jedes legale Mittel konzediert werden, wenn es sie nur dem Machtwechsel als ihrem Hauptanliegen ein Stück näher bringt. 38

Chancengleichheit von Opposition und Regierung

c) Dies verlangt freilich nicht nur viel persönliche Energie, Willenskraft, Ausdauer, Geduld und Zielstrebigkeit von der Opposition, sondern auch gewisse objektive Rahmenbedingungen, welche die zunächst nur abstrakte Möglichkeit eines Machtwechsels überhaupt erst „real" werden lassen. Hierzu gehört in erster Linie das Prinzip der Chancengleichheit von Opposition und Regierung, zu dessen Anerkennung als unabdingbare verfassungsrechtliche Voraussetzung jenes demokratischen Wechselspiels sich das Bundesverfassungsgericht bisher nicht hat durchringen können 60 . Dabei geht es nicht nur allgemein um eine Parität der Chancen, die Macht zu erhalten oder zu erwerben, sondern ganz konkret um bestimmte Rechtspositionen im parlamentarischen Alltag. Wenn der Regierung ζ. B. nach den Pressegesetzen und Rundfunkstaatsverträgen ein Verlautbarungsrecht zusteht, muß dies auch der Opposition eingeräumt werden. Werden der Regierung für ihre Öffentlichkeitsarbeit Steuermittel zur Verfügung gestellt, so hat auch die Opposition darauf Anspruch. Kann die Regierung im Parlament jederzeit das Wort ergreifen, etwa zur Abgabe einer Regierungserklärung (vgl. Art. 43 Abs. 2 Satz 2 GG), dann muß dies außerhalb der vereinbarten Redezeit auch ein Vertreter der Opposition tun und der Regierung unmittelbar antworten dürfen. Die Zahl dieser Beispiele ließe sich leicht vermehren. Es bleibt hier festzuhalten, daß derartige Oppositionsrechte, soweit sie sich nicht unmittelbar aus dem Grundsatz oppositioneller Chancengleichheit herleiten lassen, künftig im Wege der Rechtsänderung (Verfassung, Geschäftsordnung) vorgesehen werden sollten, damit die Möglichkeit eines Machtwechsels, herbeigeführt nicht nur durch ein Versagen der Regierung, sondern vor allem aufgrund eigener Anstrengungen der Opposition, auch an praktisch-politischem Realitätsgehalt gewinnt.

59

60

CARLO SCHMIDT (Die Opposition als Staatseinrichtung, in: Der Wähler 5 [1955], S. 498 ff) spricht dabei von der „Aufgabe, der andere Beweger der Politik zu sein". Vgl. B V e r f G E 10, 4 (16).

§38

Die parlamentarische Opposition (SCHNEIDER)

1073

2. Kritik a) Von den drei klassischen Oppositionsfunktionen (Kritik, Kontrolle, Aiternati- 3 9 venbildung) wird immer wieder die kritische Auseinandersetzung mit der Regie- Opposition als rungspolitik im Grundsatz und im Einzelfall an vorderster Stelle genannt 61 . Auf Schiedsrichter den ersten Blick mag diese Form der „Negation" des gouvernementalen Gestaltungswillens für ein Oppositionsverhalten selbstverständlich erscheinen und keiner weiteren Erklärung bedürfen. Bei genauerem Hinsehen bedeutet „Kritik" jedoch nicht nur Ablehnung, sondern — seinem griechischen Ursinn entsprechend — Beurteilung oder „Bewertung" mit dem Ziel, eine Sache „entscheidbar" zu machen. So verstanden, muß sich also die Regierungspolitik dem Urteil der Opposition stellen, die in der Rolle eines öffentlichen „Schiedsrichters" mit dem Finger auf Regelverstöße oder Schwachstellen zeigt und auf diese Weise die Voraussetzungen dafür schafft, daß im Anschluß an jene Auseinandersetzung das Parlament in Vertretung des Volkes über eine bestimmte Angelegenheit „verantwortlich", d.h. sachkundig, problembewußt und rational nachvollziehbar entscheiden kann. Insofern muß sich die Regierung einerseits vor der Opposition rechtfertigen und andererseits deren Tadel gefallen lassen. Umgekehrt darf die Opposition nicht in bloßer Zurückweisung der Regierungspolitik verharren, sondern sollte das Für und Wider sorgfältig gegeneinander abwägen. b) Dazu bedarf es vor allem einer innerparlamentarischen Redeordnung, die 4 0 nach dem Prinzip von „Rede und Gegenrede" konzipiert ist (vgl. § 28 Abs. 1 Satz 2 R e d e GOBT), also den Dialogcharakter der parlamentarischen Auseinandersetzung betont. Daß nach jedem Beitrag eines Regierungsmitglieds Vertreter der Opposition das Wort erhalten, hat sich inzwischen — soweit nicht ausdrücklich geregelt — in den meisten Parlamenten als allgemeiner Brauch bereits durchgesetzt. Jedoch gehört zu einer offenen Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition noch sehr viel mehr als lediglich die alternierende Rednerfolge. Kurzbeiträgen müßte zum Beispiel der Vorrang vor angemeldeten und vorbereiteten „Standardreden" eingeräumt werden. Spontanerklärungen dürften nicht nur in Form von Zwischenfragen zugelassen werden. Und vor allem: Ein diskussionsfreundlicherer Plenarsaal (wie er für den Bundestag mit der Kreisform zur Zeit geplant ist) sollte auch kürzere Wortwechsel ermöglichen und ein Debattenklima erzeugen helfen, das gruppendynamische Prozesse fördert und nicht unterdrückt. Ein derart offener „Diskurs" ist jedenfalls selbst dann, wenn das Entscheidungsverhalten der einzelnen Abgeordneten bereits durch Fraktionsbeschlüsse weitgehend vorprogrammiert sein mag, für die Herstellung von Transparenz, Rationalität und Zurechenbarkeit politischer Entscheidungen von kaum zu überschätzender Bedeutung.

und

Gegenrede

3. Kontrolle a) An zweiter Stelle der Oppositionsfunktionen steht die „Kontrolle" von Regie- 4 1 rung (einschl. der Regierungsmehrheit) und Verwaltung. Ursprünglich abgeleitet Formen aus dem Begriff der „Gegenrolle" (mlat.: contrarotulus), ist das Wort aus dem ^,ΙΤΓΓΙΙΓ" 1 ^' 1 " kaufmännischen Rechnungswesen allmählich in die Politik abgewandert und hat 61

Vgl. statt anderer W. HENNIS Parlamentarische Opposition und Industriegesellschaft, in: Gesellschaft - Staat - Erziehung 1 (1956), S. 205 ff (208 f).

1074

6. Teil: Der Bundestag als Forum und zentraler Ort der politischen Willensbildung

hier immer mehr den Sinn von Überprüfung oder Überwachung angenommen. Aufgabe der Opposition ist es also, die Regierung im Grundsatz und im Einzelfall daraufhin zu kontrollieren, ob sie sich im Rahmen der Verfassung bewegt und wie sie ihren „Wählerauftrag" erfüllt, d. h. in welcher Weise sie die Ziele aus ihrem Regierungsprogramm konkret verwirklicht und praktisch erreicht hat 62 . So gesehen korrespondiert die Oppositionskontrolle mit der parlamentarischen Verantwortung der Regierung einerseits und dem Vertrauenserweis des Volkes andererseits 63 . Sie konkurriert zugleich mit zwei anderen Formen parlamentarischer Kontrolle: nämlich zum einen mit der Regierungskontrolle durch die eigene Mehrheit, die überwiegend nicht öffentlich innerhalb der Mehrheitsfraktion(en) in der Absicht ausgeübt wird, die Tätigkeit der Regierung zu verbessern und ihre Machtposition zu festigen, sowie zum anderen mit der Kontrolle des Gesamtparlaments, die auf eine stärkere Mitwirkung und Beteiligung der Volksvertretung an der Regierungsarbeit im ganzen abzielt. 42 Kontrollrechte der Opposition

b) Beiden Varianten ist die Oppositionskontrolle jedoch einerseits über-, andererseits unterlegen. Ihr Vorzug liegt vor allem darin, daß sie öffentlich erfolgt, ja auf die Beeinflussung der öffentlichen Meinung geradezu angelegt ist und daß sie Fehler kompromißlos aufdeckt, ohne dabei auf Erfordernisse des Machterhalts Rücksicht nehmen zu müssen. Ihre Schwäche liegt freilich darin begründet, daß sie hierbei lediglich über parlamentarische Minderheitsrechte verfügt, aufgrund deren sie zwar Verantwortlichkeiten offenlegen und Sanktionen fordern, nicht jedoch selbst gestaltend auf den politischen Prozeß Einfluß nehmen kann. Zu diesen Minderheitsrechten, deren sich die Opposition zur Erfüllung ihrer Kontrollaufgabe in erster Linie bedient, gehören ζ. B. das parlamentarische Untersuchungsrecht (Art. 44 G G ) , das Frage- oder Interpellationsrecht (Art. 43 Abs. 1 G G in Verb, mit § § 1 0 0 - 1 0 5 G O B T ) , das Recht, öffentliche Anhörungen zu verlangen (§ 70 Abs. 2 G O B T ) , Enquête-Kommissionen einzusetzen (§ 56 Abs. 1 Satz 2 G O B T ) , eine „Aktuelle Stunde" durchzuführen (§ 106 G O B T ) oder ein abstraktes Normenkontrollverfahren beim Bundesverfassungsgericht einzuleiten (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 G G ) . Außerdem ist eine Mitwirkung der Opposition jeweils dort unverzichtbar, wo sie dank zwingend vorgeschriebener Zweidrittelmehrheit über eine Veto-Position verfügt (wie z . B . bei den Verfassungsrichterwahlen nach § 6 Abs. 2 und 5 B V e r f G G ) . Insgesamt sind all diese Minderheitsrechte auch ungeachtet der Tatsache, daß es sich nicht um spezifische Oppositionsrechte handelt, noch stark ausbaufähig und -bedürftig, wenn sie „Waffengleichheit" zwischen Regierung und Opposition herstellen sollen. 4. Alternativenbildung

4 3 a) Die dritte (und wohl wichtigste) Hauptfunktion parlamentarischer OpposiOpposition als tionsfraktionen besteht in der Entwicklung, Vorstellung und — wo möglich — Alternative und j ) u r c j j s e t z u n g eigener personeller oder sachlicher „Alternativen" zur Regierung. Diese Aufgabe der Herausbildung einer prinzipiell „anderen" Politik beschränkt 62 63

Dazu ausführlich GEHRIG Parlament — Regierung — Opposition (Fn. 27), S. 3 ff. Vgl. insbesondere U . SCHEUNER Verantwortung und Kontrolle in der demokratischen Verfassungsordnung, in: FS für G.Müller, hrsg. von Th. Ritterspach und W.Geiger, 1970, S . 3 7 9 f f .

§38

Die parlamentarische Opposition (SCHNEIDER)

1075

sich jedoch, genau genommen, nicht nur auf Abweichungen oder Differenzen von der Mehrheitslinie, sondern umfaßt selbstverständlich auch das Aufspüren bisher unbekannter Probleme, die Entdeckung neuer Themen oder die Erarbeitung originärer Programme der Opposition, kurz: das Ergreifen der „Initiative" ganz unabhängig davon, was die Regierung plant oder umsetzt. Auch diese Funktion ist schon frühzeitig von B O L I N G B R O K E erkannt und als „a system of conduct likewise" beschrieben worden 64 . Mit jenen eigenen Alternativen und Initiativen (beides läßt sich oft nicht völlig trennen) zielt die Opposition in eine doppelte Richtung: Einerseits hält sie diese Konzepte der Regierung vor, um so zu versuchen, ihr möglichst weitgehend den eigenen Willen aufzuzwingen; andererseits wendet sie sich damit aber auch an den Bürger, um auf diesem Wege ihre Regierungsfähigkeit zu demonstrieren, ja mehr noch, sich selbst als die „bessere" Regierung darzustellen. So gesehen kommt in der politischen „Alternativenbildung" durch die Opposition immer zugleich ein Stück Machtkonkurrenz und (vorgezogener) Wahlkampf zum Ausdruck. b) Qualität und Uberzeugungskraft der Oppositionsinitiativen und -alternati- 4 4 ven hängen freilich nicht nur vom Einfallsreichtum der parlamentarischen Minder- Opposition und heit, sondern auch von deren Informationsstand ab, genauer: von der Kenntnis Information dessen, was die Regierung vorhat oder worauf sie sich bei ihren Entscheidungen stützt. Daher hat die Opposition stets ein geradezu existentielles Interesse an einem möglichst ungehinderten Zugang zu Regierungsinformationen. Denn die Regierung verfügt in der Regel nicht nur über einen erheblichen Vorsprung an spezialisiertem Sachwissen gegenüber dem Gesamtparlament, sondern kann aufgrund dienstrechtlicher Vorschriften in der Regel auch ihre Ziele und Absichten überwiegend geheimhalten, bis durch eine kaum mehr abänderbare Entscheidung vollendete Tatsachen geschaffen worden sind. Die wenigen Minderheitsrechte, die der Opposition zu Gebote stehen, um an das Regierungswissen heranzukommen, reichen vielfach nicht aus, wenn es darum geht, gerade im Informationssektor Chancengleichheit herzustellen65. Hinzu kommt, daß auch die Parlamente insgesamt ihre Gesetzgebungs- und 4 5 Kontrollfunktionen in Zukunft immer weniger kompetent werden wahrnehmen Parlamentskönnen, wenn sie über die wichtigsten Fragen der aktuellen Politik von der l n f ° r m a t l o n s g e s e t z Regierung nicht frühzeitig und vollständig unterrichtet werden 66 . Zur Änderung M

' ,5

H . S . - J . BOLINGBROKE O n the Spirit of Patriotism (1736), ed. by A. Hassal, 1926. Vgl. dazu auch S. LANDSHUT Formen und Funktionen der parlamentarischen Opposition, in: Wirtschaft und Kultursysteme. A. Rüstow zum 70. Geburtstag, hrsg. von G . Eisermann, 1955, S. 214 ff. Näheres bei H . - P . SCHNEIDER Opposition und Information. Der Aktenvorlageanspruch als parlamentarisches Minderheitsrecht, in: A ö R 99 (1974), S. 628 ff. Vgl. dazu die Vorschläge der Enquête-Kommission für Verfassungs- und Parlamentsreform des Schleswig-Holsteinischen Landtags. Ein künftiger Art. 23 der Landesverfassung soll wie folgt lauten: „Die Landesregierung ist verpflichtet, den Landtag als oberstes Organ der politischen Willensbildung über die Vorbereitung von Gesetzen und Verordnungen, über Grundsatzfragen der Landesplanung, der Standortplanung und Durchführung von Großvorhaben, über die Mitwirkung im Bundesrat sowie über die Zusammenarbeit mit dem Bund, den Ländern, anderen Staaten, der Europäischen Gemeinschaft und deren Organen frühzeitig und vollständig zu unterrichten" (Schlußbericht, hrsg. von der Präsidentin des Schleswig-Holsteinischen Landtages, 1989, S. 81).

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6. Teil: D e r Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

dieses unbefriedigenden Zustands könnte sowohl ein Aktenvorlageanspruch als auch ein umfassendes Auskunftsrecht des Parlaments gegenüber der Regierung, tunlichst als Minderheitsrecht ausgestaltet, wesentlich beitragen67. Entsprechende Mitteilungs- und Berichtspflichten der Regierung sollten zusätzlich durch ein Parlamentsinformationsgesetz begründet werden, wie es zur Zeit in SchleswigHolstein geplant ist68. Daß von solch erheblich erweiterten Zugriffsbefugnissen des Parlaments auf Regierungsinformationen in erster Linie die Opposition profitieren würde, liegt auf der Hand. Denn die Mehrheitsfraktionen haben insoweit bisher schon kaum irgendwelche Barrieren zu überwinden gehabt und sich oft sogar den Sachverstand der Ministerialbürokratie in ihren Arbeitskreisen direkt zunutze machen können. 5. Neue Oppositionsaufgaben im Sozialstaat 4 6 a) Skeptische Stimmen in der Literatur, die vor allem unter dem Eindruck „Großer Koalitionen" (zunächst in Österreich, später auch in der Bundesrepublik) gegen Ende der sechziger Jahre einen zunehmenden Verfall der „Oppositionsfunktionen" feststellen zu müssen glaubten69, orientierten sich damals zumeist nur an den klassischen Oppositionsaufgaben, ohne zu bedenken, daß unter den Bedingungen des modernen, egalitär-demokratischen und leistungsorientierten Sozialstaats auch neue Betätigungsfelder hinzukommen können. So wurde ζ. B. behauptet, daß es einer Regierung sehr viel leichter gelingen würde, Wähler an sich zu binden, und zwar einfach durch Befriedigung ihrer materiellen Bedürfnisse. Damit übersah man jedoch nicht nur Verteilungsgrenzen bei knappen staatlichen Ressourcen, sondern auch den Umstand, daß bestimmte schwer organisierbare Minderheiten und Randgruppen in der Gesellschaft bereits von vornherein aus der Distributionssphäre herausfielen. Infolgedessen fällt gerade im Sozialstaat die Aufgabe der Mobilisierung und Aggregation unzufriedener oder benachteiligter Gesellschaftsschichten vor allem der parlamentarischen Opposition zu. Sie hat in erster Linie „wählerorientiert" vorzugehen und die Interessen derjenigen Bevölkerungsteile aufzunehmen, die sich von der Regierung hintangestellt und vernachlässigt fühlen70. Nur wenn sie auf diesem Felde erfolgreich agiert, wird sie allmählich mehrheitsfähig werden und die Regierung im Amte ablösen können.

Mobilisierung und Aggregation

47 Innovation und Reformbereitschaft

b) Aus dem raschen Wandel der Lebensverhältnisse im modernen Sozialstaat der Industriegesellschaft ergibt sich auch im politischen Bereich die unabweisbare Notwendigkeit permanenter Innovation der Willensbildungs- und Entscheidungsabläufe. Dies setzt eine Steigerung der Lernfähigkeit bei laufender Entscheidungsarbeit durch Gewinnung und Einschaltung selbständiger Erneuerungsfaktoren aus dem gesellschaftlichen Bereich voraus, welche die Variabilität und Flexibilität der sozialen Entwicklung gewährleisten. Auch zur Initiierung und Perpetuierung denten fünf Ausschüsse konstituiert. Hierzu übernimmt der jeweilige Präsident zunächst den Vorsitz und teilt nach den Angaben der Fraktionen mit, welche Abgeordneten ordentliche und welche stellvertretende Mitglieder sein werden. Auf seine Frage nach Vorschlägen für den Vorsitz schlägt der Obmann der vorschlagsberechtigten Fraktion das jeweilige Ausschußmitglied vor. Dieser wird dann durch Akklamation zum Vorsitzenden „bestimmt"; es sei denn — was auch vorgekommen ist —, daß von einer Seite eine besondere Demonstration etwa durch Enthaltung beabsichtigt w i r d " . Anschließend überläßt der Präsident die Leitung dem neuen Vorsitzenden. 2 9 Weitere Tagesordnungspunkte werden in dieser konstituierenden Sitzung nur bei I " der Regel keine besonderer Eilbedürftigkeit beraten. Auf rechtliche Bedenken stoßen weitere w e l t e r e B e r a t u n g Beratungen nicht, wenn darüber Einigkeit im Ausschuß besteht.

11

Vgl. H.TROSSMANN Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, 1977, § 6 9 R d n . 3 mit Beispiel.

1114

6. Teil: D e r B u n d e s t a g als F o r u m und zentraler O r t d e r politischen W i l l e n s b i l d u n g

b) Wirkung der

Diskontinuität

Der Ausschuß hört auf zu bestehen mit dem Ende der Wahlperiode, also gemäß Art. 39 A b s . 1 Satz 2 G G mit dem Zeitpunkt des Zusammentritts des neuen Bundestages. Bis dahin, auch nach der Bundestagswahl, kann er noch in alter Besetzung zusammentreten und Beschlüsse fassen. 30 Mit Zusammentritt des neuen Bundestages verfallen die nicht erledigten, im D i s k o n t i n u i t ä t Ausschuß „hängen gebliebenen" Vorlagen der Diskontinuität 1 2 . D a s kann je nach entschlackt Ausschuß eine beträchtliche Liste von Vorlagen sein, die somit nicht abschließend Ausschußarbeit beraten werden. In der Regel ist dies aber bei diesen Vorlagen so gewollt. Die Diskontinuität k o m m t ja nicht überraschend; was die Mehrheit für notwendig hält, wird sie zumeist auch rechtzeitig über die Hürden bringen. Auch den Ausschüssen kommt somit der Sinn der Diskontinuität zugute, nach neuen Bundestagswahlen neu anfangen zu können. Allerdings greift man zweckmäßigerweise bei einer materiellen Weiterbearbeitung eines Themas in der neuen Periode auf die damaligen Beratungsergebnisse zurück.

c) Die Auflösung eines Ausschusses D a der Bundestag nach § 54 Abs. 1 G O B T die Ausschüsse einsetzt, kann er im Rahmen seines Selbstorganisationsrechts einen Ausschuß auch wieder auflösen 1 3 . Die oben beschriebene Berücksichtigung der Belange der Minderheit müßte aber auch dann gewährleistet sein. Soweit das Selbstorganisationsrecht beschränkt ist durch eine grundgesetzliche Absicherung eines Ausschusses, ist die Auflösung dieses Ausschusses durch einen Plenarbeschluß allerdings nicht möglich.

31

A u f l ö s u n g nach Ressortumbildung

Praktisch denkbar ist etwa die Zusammenfassung der Aufgaben zweier Ausschüsse bei einem. N a c h einer Umorganisation der Regierungsressorts wäre mit einer entsprechenden Umgestaltung der Zuschnitte der einzelnen Ausschüsse zu rechnen. Derartige Maßnahmen bedürfen aber stets eines Plenarbeschlusses. Kein Ausschuß kann von sich aus die Arbeit einstellen.

II. Die Arbeitsweise der Ausschüsse 1. Die B e f a s s u n g des A u s s c h u s s e s

a) Überweisung von Vorlagen

32 N a c h § 6 4 A b s . 1 G O B T sind die „Verhandlungsgegenstände . . . die dem Ausschuß Uberweisung durch Plenum

überwiesenen Der Regelfall 33 gibt es einige U b e r w e i s u n g d u r c h des Plenums, Präsidenten werden 1 4 . 12

13

14

Vorlagen und Fragen aus dem Geschäftsbereich des Ausschusses". ist die Überweisung durch das Plenum an einen Ausschuß; daneben Vorlagen, die unmittelbar durch den Präsidenten ohne Beteiligung aber in der Regel unter Beteiligung des Altestenrates, überwiesen

Z u r W i r k u n g der D i s k o n t i n u i t ä t im einzelnen s. J.JEKEWITZ D e r G r u n d s a t z der D i s k o n t i n u i t ä t der Parlamentsarbeit, 1977, S. 245 ff. S. H . F R O S T D i e P a r l a m e n t s a u s s c h ü s s e , ihre Rechtsgestalt und ihre F u n k t i o n e n , dargestellt an den A u s s c h ü s s e n des B u n d e s t a g e s , in: A ö R 95 (1970), S. 3 8 f f , 53. U b e r w e i s u n g e n durch den Präsidenten: §§ 80 A b s . 3, 75 A b s . 1 B u c h s t , e G O B T : „ B e r i c h t e und Materialien z u r U n t e r r i c h t u n g des B u n d e s t a g e s ( U n t e r r i c h t u n g e n ) " — „nach V e r e i n b a r u n g im A l t e s t e n r a t "

§40

Das Ausschußverfahren nach der Geschäftsordnung und in der Praxis (DACH)

1115

Wenn eine Vorlage zwei oder mehr Ausschüssen zur Beratung überwiesen 3 4 werden soll, so muß einer als federführender Ausschuß benannt werden. Die Uberweisung an zahlreiche Regelung des §80 Abs. 1 Satz 1, 2.Hs. G O B T , daß ein Gesetzentwurf „nu: Ausschüsse besonderen Fällen gleichzeitig mehreren Ausschüssen überwiesen werden" kann, entspricht nicht der Praxis. Die Auswahl des federführenden Ausschusses ist in der Regel unproblematisch bei Regierungsvorlagen und entspricht meist der dortigen Ressortzuständigkeit. Bei komplexeren Gesetzen kann aber der Bundestag auch einmal einem anderen Ausschuß die Federführung übertragen. Gelegentlich kommt es zu einem Tauziehen hinter den Kulissen, weil der federführende Ausschuß als einflußreicher gilt. Etwas schwieriger ist gegebenenfalls die Auswahl der mitberatenden Ausschüsse. Ein Ausschuß mit geringerem Arbeitsanfall ist eher geneigt, eine Mitberatung anzumelden. Die Ausschüsse mit stärkerer Belastung werden sich dagegen nicht so sehr um eine Mitberatung bemühen, nur weil in einer Vorlage auch ein Aspekt aus ihrer Zuständigkeit angesprochen ist. Diese Fragen werden im Regelfall auf Verwaltungsebene im Kreis der Ausschußsekretäre vorbesprochen und als Vorschlag dem Altestenrat unterbreitet. Dieser macht nach Prüfung dem Plenum seinen Vorschlag, das höchst selten abweicht. Die Entscheidung liegt aber beim Plenum und kann dort auch in streitiger Abstimmung getroffen werden. Daneben kann sich nach § 80 Abs. 1 Satz 2 G O B T auch ein weiterer Ausschuß „im Benehmen mit dem federführenden Ausschuß" — also ohne vorherige UberWeisung — „gutachtlich an der Beratung beteiligen". Ein Unterschied zur Mitberatung wird in praxi kaum bestehen, außer daß die Vorlage eben nicht vom Plenum überwiesen wurde. Die von §63 Abs. 2 G O B T verlangte Berücksichtigung der Belange der mitberatenden Ausschüsse gilt hier daher nicht. Der umgekehrte Fall, daß ein Ausschuß die Beratung einer ihm überwiesenen Vorlage förmlich ablehnt, dürfte kaum vorkommen und wäre auch im Hinblick auf §62 Abs. 1 Satz 1 G O B T („Die Ausschüsse sind zu baldiger Erledigung der ihnen überwiesenen Aufgaben verpflichtet") bedenklich. Denkbar wäre es als Protestsignal wegen Überlastung und ungenügender Beratungszeit. Das bedeutet nicht, daß alle Mitberatungsmöglichkeiten intensiv wahrgenommen werden. Das Votum des mitberatenden Ausschusses lautet oft „wurde zustimmend zur Kenntnis genommen", manchmal mit Angabe der Mehrheitsverhältnisse, oder auch schlicht „Kenntnisnahme". Damit ist dem Ausschuß die Möglichkeit der Mitwirkung eingeräumt worden. Seine Aufgabe hat der Ausschuß erledigt. In welcher Weise er von seinen Möglichkeiten Gebrauch macht, bleibt seinem politischen Urteil überlassen.

§ 92 §93 §94 §95

Satz Satz Satz Abs.

1 1 1 1

G O B T : bestimmte Rechtsverordnungen — „im Benehmen mit dem Ältestenrat" G O B T : bestimmte E G - V o r l a g e n — „im Benehmen mit dem Altestenrat" G O B T : Stabilitätsvorlagen zur Uberweisung an den Haushaltsausschuß Satz 4 G O B T : Ergänzungsvorlagen

§ 9 5 Abs. 1 Satz 5 G O B T : Nachtragshaushaltsvorlagen — „auf Vorschlag des Ältestenrates" § 1 1 4 Abs. 1 G O B T : „Die Berichte des Wehrbeauftragten."

35 Technische Vorbereitung

36 Gutachtliche

^ e t e l ''g u n S

37 Intensität der Mitberatung

häufig

1116

6. T e i l : D e r Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

b) Das

Selbstbefassungsrecht

3 8 Nach § 6 2 Abs. 1 Satz 3 G O B T können sich Ausschüsse „jedoch mit anderen Problematik des Fragen (als den ihnen überwiesenen) aus ihrem Geschäftsbereich befassen". Das Selbstbefassungsrechts j a m ¡ t s t a t u ¡ e r t e Selbstbefassungsrecht der Ausschüsse war früher umstritten 15 . Es wurde erst 1969 in der Geschäftsordnung verankert. In der Geschäftsordnung des Reichstages vom 12. Dezember 1922 hieß es noch in § 3 8 Abs. 5: „Der Ausschuß hat sich nur mit dem ihm überwiesenen Gegenstande zu beschäftigen."Gegen das Selbstbefassungsrecht wurde eingewandt, daß das Gesamtparlament faktisch in eine Vielzahl von kleinen, spezialisierten Einzelparlamenten zerfällt, wenn jeder Ausschuß ohne Beteiligung des Plenums seine Themen und Aufgaben sucht und diese erledigt. Diesen Bedenken wird auch heute dadurch Rechnung getragen, daß die Ausschüsse nach Beratungen aufgrund des Selbstbefassungsrechts weder nach außen — etwa an die Bundesregierung — gerichtete Beschlüsse fassen noch dem Plenum eine Beschlußempfehlung, die mit „Ja" oder „Nein" zu beantworten wäre, vorlegen können 16 . Folgerungen aus diesen Beratungen bleiben den geschäftsordnungsmäßigen Wegen vorbehalten, die über die Fraktionen — oder eine entsprechende Anzahl einzelner Abgeordneter — in das Plenum führen. Die an den Beratungen beteiligten Ausschußmitglieder können in ihren Fraktionen für entsprechende Initiativen werben. Nur so ist gewährleistet, daß bei aller notwendigen Spezialisierung die Fraktionen die Entwicklung steuern und damit die politische Verantwortung tragen können. 39 Allerdings kann es durchaus Meinungsäußerungen im Ausschuß geben, die von Wirkungen der denen, die es angeht, wahrgenommen und ernstgenommen werden. So hat sich die Selbstbefassung Ausschußberatung j m Rahmen des Selbstbefassungsrechts zu einem Instrument der laufenden Kontrolle des Parlaments gegenüber der Regierung entwickelt. Zu einem Ereignis, das über die Medien die Bevölkerung bewegt, wird, wenn eine Zuständigkeit gegeben ist, der verantwortliche Minister oder einer seiner Staatssekretäre in den zuständigen Ausschuß gebeten (Art. 43 Abs. 1 G G ) . Je nach zeitlicher Lage kann dies auch — allerdings nur mit der Genehmigung des Präsidenten — in einer Sondersitzung nach § 60 Abs. 3 G O B T geschehen. Der Ausschuß bewährt sich insofern als Plenum im Kleinen, als er damit unter Umständen die ansonsten verlangte Sondersitzung des Plenums überflüssig macht. Diese Entlastung des Plenums wird freilich mit einer Minderung an zentraler Steuerung erkauft. 40 Da es sich hierbei überwiegend um Kontrolle der Regierung handelt, geht die Kontrollmöglichkeit Initiative meist von der Opposition aus. Allerdings kann die Regierung hier auch für Opposition und eine gute Gelegenheit zur Selbstdarstellung finden und daher entsprechende MaßMehrheit nahmen anregen. 2. Die Erledigung der Aufgaben a) Die Aufgaben

des

Vorsitzenden

Nach § 5 9 Abs. 1 G O B T „obliegt dem Vorsitzenden die Vorbereitung, Einberufung und Leitung der Ausschußsitzungen sowie die Durchführung der Ausschuß15

Siehe z. B . H . FROST Die Parlamentsausschüsse (Fn. 13) S. 59. Bedenkliche Gegenbeispiele bei H . RAU Aufgaben, Funktion und Stellung der Bundestagsausschüsse, in: G.RÜTHER (Hrsg.) D i e „vergessenen" Institutionen, 1979, S . 4 4 1 ff, 4 5 9 f .

§40

Das Ausschußverfahren nach der Geschäftsordnung und in der Praxis (DACH)

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beschlüsse". Neben dieser generellen Norm regeln auch die ihr folgenden Bestimmungen einzelne Befugnisse und Aufgaben des Vorsitzenden. Ähnlich wie der Präsident für den gesamten Bundestag ist der Vorsitzende für 41 die Arbeit seines Ausschusses verantwortlich. Er ist dabei zwar kein politisches Vorsitzender Neutrum, aber doch zur Neutralität in seiner Amtsführung verpflichtet. Die ^ s T lf " β ' t politischen Vorstöße kommen von den Fraktionen oder einzelnen Abgeordneten; sie werden durch den Vorsitzenden kanalisiert und koordiniert. Für die Arbeit im Einzelnen bedient er sich des Ausschußsekretariats, dessen Leiter er zwar nicht im verwaltungsmäßigen Sinne ist 17 , das ihm aber zur Erfüllung seiner Aufgaben zur Verfügung steht. Sobald dem Ausschuß eine Vorlage überwiesen wurde, wird der Vorsitzende 4 2 nach Rücksprache mit den Fraktionen 18 ein oder mehrere Mitglieder bitten, die Be- Die konkreten richterstattung zu übernehmen. Die Berichterstatter werden dann die Ausschußbe- Aufgaben ratung dieser Vorlage betreuen. Der Vorsitzende läßt ihnen das hierzu beim Ausschuß eingehende Material zukommen, wie etwa Stellungnahmen von Verbänden, Bürgerpost, Äußerungen der Bundesregierung oder aus dem Bundesrat. Auch die sachdienliche Verteilung sonstigen Materials an die einzelnen Fachleute der Fraktionen veranlaßt der Vorsitzende. Die Erledigung der sich durch Uberweisungen an den Ausschuß sammelnden und der weiteren Aufgaben, die absehbar auf den Ausschuß zukommen, muß längerfristig geplant werden. Dies geschieht in Abklärung mit den Vorstellungen der Fraktionen. Nicht zuletzt muß der Beratungsbedarf für die nächsten Sitzungswochen geklärt und eine entsprechende Tagesordnung festgelegt werden. Auch hierzu hält der Vorsitzende Rücksprache mit den Obleuten der Fraktionen. Die eigentliche Sitzungsleitung ist demnach nur die sichtbare Spitze des Eisber- 4 3 ges19. Ausschußsitzungen beginnen regelmäßig mit letzten Korrekturen an der Die Leitung der Tagesordnung, die möglichst einvemehmlich vorgenommen werden, und der Sitzung entsprechenden Mitteilung an alle Beteiligten. Der Vorsitzende kann die Sitzung um so besser leiten, je besser er selbst mit der anstehenden Beratung vertraut und auf sie vorbereitet ist. Dabei kommt es für ihn weniger auf Detailkenntnisse in der jeweiligen Fachfrage an als auf das Wissen um den exakten Streitverlauf, den Stand der Angelegenheit, wo noch Bewegungsspielraum sein könnte und was unverzichtbar ist. Beratungen ziehen sich oft über größere Zeiträume hin, fußen manchmal auf Beratungen in vorangegangenen Wahlperioden und beziehen zu der Materie

17

18

19

H.FROST Die Parlamentsausschüsse (Fn. 13) S . 5 8 bezeichnet den Ausschußvorsitzenden insofern als „Bürochef". So zu Recht J.JEKEWITZ Parlamentsausschüsse und Ausschußberichterstattung, in: Der Staat 1986, S. 399 ff, 418; zumindest mißverständlich H. TROSSMANN / H . - A . ROLL Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, Ergänzungsband, 1981, § 7 0 R d n . 2 . 2 . Es ist nicht vorstellbar, daß der Ausschuß mit Mehrheit beschließt, welches Mitglied aus einer Minderheitsfraktion Berichterstatter werden soll. Zu den Abweichungen der Sitzungsleitung eines Vorsitzenden gegenüber der des Präsidenten siehe H.TROSSMANN ( F n . 11) § 7 1 R d n . 2 ; TROSSMANN/ROLL ( F n . 18) § 7 4 R d n . 3 . 1 und 3 . 2 ; RITZEL/BÜCKER ( F n . 7 ) § 5 9 A n m . I c , I I , I I I b .

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6. Teil: D e r Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

abgegebene Erklärungen aus dem außerparlamentarischen Bereich ein. Der Vorsitzende muß also den Sach- und Streitstand aller in seinem Ausschuß anhängigen Angelegenheiten verfügbar haben. Er hat die Beratungen zu moderieren. Hierzu erteilt er nicht nur das Wort, sondern kann es auch selbst ergreifen. 44 Der Vorsitzende hat dafür zu sorgen, daß der Ausschuß seine Aufgaben in Moderation der angemessener Zeit erledigt. Dafür wird er auch Kompromisse vorschlagen und zu Beratung geeigneter Zeit Beschlußvorschläge unterbreiten. Er läßt über die gestellten Anträge abstimmen, stellt die schließlich gefaßten Beschlüsse zusammen und läßt sie im Protokoll festhalten.

45

Umsetzung der Beschlüsse

Im Anschluß an die Sitzung muß das sich aus den Beratungen und Beschlüssen Ergebende veranlaßt werden. Das kann die Vorbereitung der weiteren Beratung sein durch Einholung von Stellungnahmen, Genehmigungen des Präsidenten oder Mitteilungen von gefaßten Beschlüssen. Wurde die Beratung einer Vorlage abgeschlossen, unterschreibt der Vorsitzende die Beschlußempfehlung des Ausschusses an das Plenum zusammen mit den Berichterstattern, nicht aber den dazu zu erstellenden Bericht. Neben dieser Sitzungstätigkeit vertritt der Vorsitzende die Interessen des Ausschusses im Hause, insbesondere gegenüber dem Präsidenten, wie auch außerhalb des Hauses, insbesondere gegenüber Bundesregierung, Bundesrat und interessierter Öffentlichkeit wie Verbänden, Medien und Wissenschaft. b) Das

Obleutegespräch

Der Vorsitzende ist bei seiner Arbeit weitgehend auf die Zusammenarbeit mit den Fraktionen angewiesen. Der institutionalisierte Ort dafür ist das Obleutegespräch. Zu diesem lädt der Vorsitzende regelmäßig die Obleute aller Fraktionen, das entsprechend fungierende Mitglied einer kleineren Fraktion und den Stellvertretenden Vorsitzenden ein. Die Obleutebesprechung hat für den Ausschuß dieselbe Funktion wie der Ältestenrat für das Plenum. Hier werden die Geschäfte des Ausschusses, der Ablauf seiner Beratungen festgelegt; hier bringen die Obleute die Wünsche ihrer Fraktionen ein. 46 Ein größerer Ausschuß muß aus der Fülle seiner Arbeit auswählen und die Obleutegespräch als Arbeit strukturieren. Die Mehrheitsfraktionen wollen die wichtigen RegierungsLeit gs " m ™ 5 vorlagen in angemessener Zeit beraten wissen. Die Minderheitsfraktionen wollen ihre Vorlagen nicht ad infinitum verschieben lassen und können notfalls das Druckmittel eines Zwischenberichts nach § 62 Abs. 2 G O B T 2 0 einsetzen. Oft lassen sich Vorlagen aus beiden Lagern verbinden, zumindest in der Beratung, gelegentlich sogar im Ergebnis. Liegt etwa schon eine Oppositionsvorlage vor, so kann es klug sein, auf entsprechende Bitte die Beratung zurückzustellen, bis auch ein paralleler Entwurf von der Regierung, aus dem sie tragenden Teil der „Mitte des Hauses" oder aus dem Bundesrat vorliegt.

20

§ 6 2 Abs. 2 G O B T : „Zehn Sitzungswochen nach Überweisung einer Vorlage können eine Fraktion oder fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages verlangen, daß der Ausschuß durch den Vorsitzenden oder Berichterstatter dem Bundestag einen Bericht über den Stand der Beratungen erstattet. Wenn sie es verlangen, ist der Bericht auf die Tagesordnung des Bundestages zu setzen."

§40

Das Ausschußverfahren nach der Geschäftsordnung und in der Praxis (DACH)

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Auch die nicht vorlagenbezogenen Aufgaben des Ausschusses, wie Empfang von Delegationen, Informationsreisen oder Wahrnehmung repräsentativer Verpflichtungen, werden hier besprochen und koordiniert. Der Vorsitzende kann hierfür Vorschläge machen, aber die Entscheidung liegt bei den Fraktionen, und sie wird von deren Obleuten herbeigeführt. Letztlich entscheidet auch hier die Mehrheit; eine angemessene Beratung aller Vorlagen soll jedoch sichergestellt sein. Zwar wird nach §61 Abs. 1 GOBT „Termin und Tagesordnung . . . vom Vorsitzenden festgesetzt", aber der Ausschuß — also im Streitfalle die Mehrheit — kann „vorher darüber beschließen" und damit den Vorsitzenden binden. Die Mehrheit kann nach § 61 Abs. 2 GOBT Punkte von der Tagesordnung absetzen. Viel hängt von Stellung und Geschick des Vorsitzenden ab; er kann sein Amt 47 nicht gegen die Mehrheit oder gegen die Obleute führen. Das Obleutegespräch ist Institutionalisierte auch der Ort, wo taktische Maßnahmen, die für die kommende Sitzung ins Auge Zusammenarbeit gefaßt sind, angekündigt werden, damit die Gegenseite sich entsprechend einrichten kann. Zwar kann die Ausschußarbeit auch unter hartem Einsatz der Mehrheit in Verfahrensfragen erledigt werden, und dazu wird Anlaß gesehen, wenn man der Minderheit Obstruktion vorwerfen zu müssen glaubt. Die Arbeit wird aber bei einer gewissen Kooperation im Obleutegespräch wesentlich erleichtert. Zu Verhärtungen, die sich im Obleutegespräch mangels Konsens über die Abläufe ankündigen, kommt es daher eher bei den hochpolitischen, aktuell umstrittenen Vorlagen. Streit in der Sache ist zwar das Elixier der Politik, das letztlich für das politisch 48 richtige Ergebnis sorgt. Aber unter dem Gesichtspunkt der „baldigen Erledigung „Streitkultur" der (dem Ausschuß) überwiesenen Aufgaben" (§61 Abs. 1 Satz 1 GOBT) ist ein gewisses Maß von Konsens in Verfahrensfragen erforderlich. Überdies kann Streit in mehr oder weniger angemessener Form ausgetragen werden. Hier liegt eine elementare Aufgabe des Obleutegesprächs. Bezogen auf Beratungsgegenstände kann und soll das Obleutegespräch nur die Verfahrensfragen für den Ausschuß vorstrukturieren. In der Sache selbst kann hier kaum etwas geklärt werden. Dazu sind die Berichterstatter im Gespräch mit den anderen Beteiligten, überwiegend der Bundesregierung, berufen. c) Die Beratung im Ausschuß Während im Plenum eher eine grundsätzliche Stellungnahme abgegeben und die 49 generelle Haltung der Fraktionen bekanntgegeben wird, ist der Ausschuß der Ort Wesen der der Einzelberatung. Da hier die praktische, ergebnisorientierte Detailarbeit zu Ausschußberatung leisten ist, geht es hier bei weitem nicht so kontrovers zu, wie es die Öffentlichkeit bezüglich des gesamten Parlamentes annimmt. Während im Plenum „gleichsam das Modell des zugrundeliegenden Konflikts gegenüber der Öffentlichkeit darzustellen und die Argumente für die Willensbildung zu liefern" sind21, ist die Ausschußarbeit im Grundsatz mehr auf Konsens angelegt. Dazu zwingt auch die Detailarbeit, die anders gar nicht zu leisten wäre. Der Bundestag gilt als fleißiges Arbeitsparlament, der sich um nahezu jedes Detail kümmert. Er wird auch in der Öffentlichkeit für jedes Detail verantwortlich 21

SCHÄFER ( F n . 7 ) S . 9 9 ,

100.

1120

6. Teil: D e r Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

gemacht, und die Abgeordneten akzeptieren dies. Ein britischer Abgeordneter zieht dagegen — generell gesprochen — die offene, unter Umständen kurzfristige Feldschlacht im Plenum vor und verachtet die eher verwaltungsmäßige Kleinarbeit in den Ausschüssen 22 . Im Bundestag sind die Ausschüsse diejenigen Gremien, in denen die Vorlagen erst ihre endgültige Gestalt annehmen, und oft wird die ihnen überwiesene Fassung einer Vorlage wesentlich verändert.

50 Friktionen, Ausschuß-/ Plenarbetrieb

51 Ablauf der Beratung im Ausschuß

Zugleich hat sich die Arbeit in den Ausschüssen auch organisatorisch stark verselbständigt. So gibt es nur ein begrenztes Zeitbudget, und es ist immer wieder schwierig, den Zeitbedarf für Ausschüsse und Plenum zu vereinbaren. In der Vorhand ist prinzipiell das Plenum. Die Ausschüsse haben den Eindruck, ihnen werde durch unvorhergesehene Plenarveranstaltungen, wie Regierungserklärungen oder Aktuelle Stunden, zu viel Beratungszeit genommen. Die Ausschußvorsitzenden wollen die Arbeit ihrer Ausschüsse erledigen, während die Parlamentarischen Geschäftsführer mehr den Plenarbetrieb im Auge haben. Mit verschiedenen zeitlichen Organisationsmodellen werden Lösungen für dieses Problem diskutiert 23 . Im Ausschuß beginnt die Beratung einer größeren Vorlage zumeist damit, daß die Berichterstatter in einer ersten Runde die grundsätzliche Haltung ihrer Fraktionen darlegen. Anschließend wird auf Problempunkte hingewiesen, und es werden Fragen an die Gegenseite, möglicherweise an die Vertreter des Bundesrates und insbesondere an die Bundesregierung gestellt. Daraus ergeben sich in der Regel Prüfungsaufträge, Bitten um weitere Formulierungsvorschläge oder Hinweise auf Anderungsbedarf. Die Berichterstatter können auch gebeten werden, zunächst zu klären, wo und inwieweit Einigkeit besteht und wo Probleme liegen. Auch zu solchen Berichterstattergesprächen können unter Umständen Regierungsvertreter oder andere interessierte Personen hinzugezogen werden. Die Beratung wird wieder aufgenommen, wenn die Berichterstatter ein Ergebnis vorlegen können. d) Die

Teilnahmeberechtigten

Politische Positionen können nur von den an den Beratungen förmlich Beteiligten in die Ausschußberatungen eingebracht werden. An den Beratungen können im Grundsatz alle Abgeordneten sowie die Beauftragten von Bundesregierung und Bundestag (Art. 43 Abs. 2 G G ) teilnehmen. Anträge können nur von Ausschußmitgliedern gestellt werden, die auch allein abstimmungsberechtigt sind.

52 Teilnahmeberechtigung von Abgeordneten

53 Keine Teilnahmeberechtigung von Fraktionsmitarbeitern

In § 69 G O B T findet sich eine sehr differenzierte Regelung zur Teilnahmeberechtigung. Diese kann auf die namentlich benannten Mitglieder beschränkt werden, was beim Auswärtigen, Innerdeutschen und Verteidigungsausschuß regelmäßig für alle Sitzungen geschieht sowie beim Innenausschuß in Angelegenheiten der Inneren Sicherheit. Nicht teilnahmeberechtigt sind also auch die Fraktionsmitarbeiter, wovon aber bei Untersuchungsausschüssen und Enquete-Kommissionen häufig abgewichen 22

23

Zu den Gründen für diese Unterschiede s. a. W . STEFFANI Stichwort „Ausschüsse" in: SONTHEIMER/RÖHRING (Hrsg.) Handbuch des deutschen Parlamentarismus, 1970, S. 36 und Handbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, 1977, S . 3 7 . Vgl. Bericht der A d - h o c - K o m m i s s i o n Parlamentsreform, B T - D r u c k s . 10/3600, S. 15 f.

§40

D a s Ausschußverfahren nach der Geschäftsordnung und in der Praxis (DACH)

1121

wird, ohne daß die Rechtsgrundlage für die Abweichung klar wäre. Im Interesse einer besseren Unterstützung der Abgeordneten wurde die Teilnahmeberechtigung für Fraktionsmitarbeiter gefordert 24 . Bedenken dagegen beruhen unter anderem darauf, daß es dann zu einer Art Stellvertretung kommen könnte und die verfassungsrechtlich gebotene Repräsentation nicht mehr gegeben wäre. Außerdem ist der Ausschuß auch der Ort, in der Abgeordnete unter sich ihre Gedanken entwickeln können, ohne von vornherein die Wirkung ihrer Äußerungen in der Öffentlichkeit berücksichtigen zu müssen. Dies ist auch einer der Gründe gegen die Öffentlichkeit von Ausschußsitzun- 54 gen, die immer wieder gefordert wird zur besseren Transparenz der Arbeit des Nicht-Öffentlichkeit Bundestages. Von der seit 1969 bestehenden Möglichkeit des §69 Abs. 1 Satz 2 der . . . G O B T , mit einfacher Mehrheit die Zulassung der Öffentlichkeit zu beschließen, wird bislang nur vereinzelt Gebrauch gemacht25. Art und Intensität der Teilnahme der dazu Berechtigten hängen sehr von der 55 Vorlage ab. Naturgemäß ist die Bundesregierung zu einem eigenen Entwurf in Unterschiede je nach anderer Weise gefragt als etwa zu einem Antrag einer Oppositionsfraktion. Aber Art der beratenen Vorlage auch hier kann ein Vertreter der Bundesregierung um seine fachliche, weniger um seine politische Bewertung gebeten werden. Eine politische Bewertung dort könnte einem Beamten aus einem Ministerium übelgenommen werden, nicht dagegen der Spitze des Hauses. Wenn von einem Entwurf die Belange der Länder stark tangiert werden, so werden auch die Beauftragten der Bundesratsmitglieder, die die Ausschußsitzungen regelmäßig verfolgen, aber in der Praxis selten ums Wort bitten, zu ihrer Haltung befragt. e) Die

Berichterstatter

Die wesentlichen Anstöße gehen jedoch von den Berichterstattern aus. § 65 G O B T lautet: „Vorbehaltlich der Entscheidung des Ausschusses benennt der Vorsitzende einen oder mehrere Berichterstatter für jeden Verhandlungsgegenstand." Mit der Berichterstattung gemäß § 66 G O B T ist die Darstellung des Ablaufs der 56 Ausschußberatung gegenüber dem Plenum gemeint, also nach Abschluß der Betreuung während Beratung. Demgemäß wurden früher Berichterstatter oft erst zu diesem Zeitpunkt Ausschußphase bestellt. Es hat sich jedoch als zweckmäßig herausgestellt, Berichterstatter bereits zu Beginn der Befassung des Ausschusses mit einer Vorlage zu berufen, damit sie die Vorlage auf ihrem gesamten Weg durch den Ausschuß bis zurück ins Parlament betreuen und für die Bearbeitung verantwortlich sind. Die Anzahl der Berichterstatter je Verhandlungsgegenstand ist nicht festgelegt, 57 wie überhaupt die Geschäftsordnung den Ausschüssen Spielraum zur Entwicklung Anzahl der eigener Usancen bietet. In manchen Ausschüssen, insbesondere bei unstreitigen Berichterstatter Vorlagen, wird nur ein Berichterstatter bestellt. In manchen Ausschüssen wird je 24 25

Siehe Bericht der Ad-hoc-Kommission Parlamentsreform, BT-Drucks. 10/3600, S. 23. Argumente für und gegen die Öffentlichkeit von Ausschußsitzungen s. bei J. LINCK Die Öffentlichkeit der Parlamentsausschüsse aus verfassungsrechtlicher und rechtspolitischer Sicht, D Ö V 1973, S. 513-520; RITZEL/BÜCKER (Fn. 7) Vorbemerkung zu §54 A n m . 3 ; VETTER (Fn. 10) S. 205 bis 217.

1122

58

Auswahl der Berichterstatter

59 Gestaltung der Arbeit der Berichterstatter

6. Teil: Der Bundestag als F o r u m und zentraler Ort der politischen Willensbildung

ein Berichterstatter aus der Regierungsmehrheit und aus der Opposition benannt, bei einigen Vorlagen einer aus jeder Fraktion. Dies kann der besseren Verteilung der Arbeit und/oder der Einbindung aller Fraktionen in Arbeit und Ergebnis dienen. Die Fraktion schlägt möglichst denjenigen Abgeordneten als Berichterstatter vor, der sich generell mit dem Gebiet befaßt, in das die fragliche Vorlage gehört. Diese Abgeordneten kennen die Zusammenhänge, den Diskussionsstand in Politik, vorparlamentarischem Raum und Wissenschaft und gelten allgemein als Fachleute, oft auch als Sprecher ihrer Fraktion für dieses Gebiet 26 . Vor der ersten Beratung im Ausschuß trägt der Berichterstatter in seiner Arbeitsgruppe vor, legt seine Meinung zu Vor- und Nachteilen eines Entwurfs dar, so daß es durch die Beratung in der Arbeitsgruppe zu einem — vorläufigen — Meinungsbild der Fraktion kommt. Die so erarbeitete Haltung der Fraktion trägt der Berichterstatter im Ausschuß vor, im Austausch mit seinen Partnern aus den anderen Fraktionen. Kleinere Fraktionen mit nur einem oder zwei Ausschußmitgliedern können diese fachliche Aufteilung allenfalls in geringem Umfang vornehmen, so daß deren Mitglieder quasi allzuständig sind. Die Qualität der Argumentation und des Austausche mit den Partner-Berichterstattern ist wesentlich für die Frage, wieviel von der eigenen Fraktionshaltung in das Ergebnis einfließt, falls die Sache überhaupt streitig ist und soweit man zu Änderungen bereit ist. Auch wenn letzteres nicht der Fall ist, kann ein oppositioneller Berichterstatter durch geschicktes Taktieren, hartnäckiges Fragen und zähes Verhandeln noch manches verändern oder Probleme verdeutlichen. Vor diesen Schwierigkeiten sehen sich Mehrheits-Berichterstatter naturgemäß nicht. Aber auch sie sind keineswegs von vornherein bereit, etwa einen Entwurf der Bundesregierung oder aus dem Bundesrat, selbst wenn dessen Mehrheit regierungsfreundlich ist, zu übernehmen.

60 Die Berichterstatter müssen sich daher auch bei den betroffenen Kreisen Kontakte, informieren und deren Meinung in die Beratung einbringen. Umgekehrt sehen Informationen der Vertreter der organisierten Interessen in den Berichterstattern ihre AnsprechpartBerichterstatter ner. Die Abgeordneten wiederum als Fachleute für bestimmte Gebiete kennen die einschlägigen Organisationen oder sonstigen Interessen und bilden sich eine Meinung zu ihnen. Die Berichterstatter sind es im Allgemeinen, die nach Absprache Änderungsvorschläge unterbreiten und die Vorschläge der Gegenseite zunächst beurteilen. Werden in der Sitzung neue Vorschläge gemacht, muß der Berichterstatter beurteilen, ob man diese ad hoc übernehmen kann oder ob man sie erst in der eigenen Arbeitsgruppe erörtern muß. Die Berichterstatter zeigen schließlich auf, inwieweit Einigkeit zwischen beiden Lagern besteht und wo auch nach den Verhandlungen unterschiedliche Auffassungen fortbestehen. 26

Zu dieser Arbeitsteilung und dem daraus folgenden Koordinierungsbedarf s. a. G . KRETSCHMER Verfahrensweisen und Strukturprobleme der Gesetzesberatung im Bundestag, in: SCHRECKENBERGER/KÖNIG/ZEH (Hrsg.), Gesetzgebungslehre, 1986, S. 167 ff, 171 f.

§40

D a s A u s s c h u ß v e r f a h r e n nach der G e s c h ä f t s o r d n u n g und in der Praxis (DACH)

1123

Bei den dieses Verfahren abschließenden Abstimmungen, die bei umfangreichen Änderungen recht kompliziert sein können, sind sie nach entsprechender Vorklärung innerhalb der Arbeitsgruppe die Stimmführer und somit für das richtige Abstimmungsverhalten in gewisser Weise verantwortlich. Das heißt nicht, daß der Berichterstatter die Stimmen seiner Fraktion geschlossen abgeben könnte. Wenn ein Abgeordneter anders abzustimmen wünscht, ist ihm dies rechtlich unbenommen. Aber die anderen Abgeordneten können sich im Grundsatz darauf verlassen, daß ihr Berichterstatter die gemeinsam erarbeitete und an der generellen Linie orientierte Haltung vertritt. Nach den Abstimmungen ist dem Plenum Bericht zu erstatten. Die Beschlußempfehlung selbst muß vom Ausschuß abgegeben werden. Sie wird daher von den Berichterstattern und vom Vorsitzenden unterschrieben. Den erläuternden schriftlichen Bericht geben dagegen die Berichterstatter in eigener Verantwortung ab, indem sie darstellen, wie aus ihrer Sicht die Beratungen verlaufen sind und welches die Gründe für vorgenommene Änderungen waren. Bei mehreren Berichterstattern kann es hierzu durchaus auch mehrere Darstellungen geben 2 7 .

61 Summführerschaft

62 B e r i c h t e r s t a t t u n g im Plenum

O f t sind es die Berichterstatter, die anschließend im Plenum nicht nur von den Beratungen berichten, sondern noch einmal dem gesamten Haus und der Öffentlichkeit darlegen, warum man zu dem empfohlenen Ergebnis gekommen ist oder welche Bedenken dagegen bestehen. Auch hier legen sie in der Regel die Fraktionshaltung dar und sind für ihre Fraktionskollegen die Stimmführer bei den anschließenden Abstimmungen. f)

Interessenvertreter

Da die Ausschußphase der für das Ergebnis bedeutungsvollste Abschnitt ist, setzen 63 hier auch die an dem Entwurf interessierten Kreise an. Die Einflußnahme oder L o b b y i n g nichts deren Versuch von Seiten organisierter Interessenvertreter hat in der veröffentlich- A n s t ö ß i g e s ten Meinung oft den Geruch von etwas eigentlich Unzulässigem. Was aber wäre von einem Gesetzgeber zu halten, der sich um die Meinung derjenigen, die das Gesetz letztlich zu spüren bekommen, nicht kümmert? Es ist legitim, daß derjenige, der ein Interesse verfolgt, beruflich oder privat, sich deshalb an den Gesetzgeber, konkret seinen Abgeordneten wendet. Wenn eine Berufsgruppe eine bestimmte gesetzliche Regelung wünscht oder eine vorgesehene für verfehlt hält, muß sie dies ebenso zum Ausdruck bringen können wie der Bürger, der etwa eine bestimmte Verteidigungspolitik oder ζ. B. Tierversuche für verfehlt hält, ebenso wie die Bundesländer, die etwa eine bestimmte Regelung als zu verwaltungsaufwendig oder finanziell belastend einschätzen. Bedenklich werden Einflußversuche erst dann, wenn sie verdeckt sind, 64 wodurch der Eindruck entsteht, daß sie unlautere Mittel verwenden, oder wenn ein B e d e n k l i c h e Einfluß mangels Gegengewicht übermächtig ist. Solange gleichgewichtete Kräfte E i n f l u ß v e r s u c h e von entgegengesetzten Seiten auf den Gesetzgeber einwirken, ist für das Ergebnis ein guter Kompromiß zu erwarten. Gefährdet sind bei diesem System allerdings diejenigen, die nicht über starke Interessenvertreter verfügen. 27

So auch JEKEWITZ ( F n . 18) S . 4 2 2 mit h i s t o r i s c h e r V e r t i e f u n g ; anders TROSSMANN ( F n 11) § 7 4 Rdn.4.

1124

6. Teil: D e r Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

65

U m mehr Transparenz herbeizuführen, wird gemäß Anlage 2 zur Geschäftsordnung die „Registrierung von Verbänden und deren Vertretern" beim Präsidenten durchgeführt und seit dem 24. Januar 1974 jährlich als amtliche Beilage zum Bundesanzeiger veröffentlicht. Die Anzahl der registrierten Interessenvertreter stieg von 635 auf 1331 im Jahre 1987. Es ist fraglich, ob das Verzeichnis seinem ursprünglichen Ziel dient. Es hat sich zu einer Art Akkreditierungsliste entwickelt; jeder Verband, der etwas auf sich hält, will sich dort verzeichnet finden.

66

Der Idealfall des Miteinander-Ringens der interessierten Seiten vor dem Gesetzgeber als Schiedsrichter findet durchaus auch in der Praxis statt. Das kann man gut verfolgen in öffentlichen Anhörungen. Aber auch im kleineren Kreis haben schon Berichterstatter entgegengesetzte Interessenvertreter zum unmittelbaren Austausch der Argumente eingeladen.

„Lobbyliste"

Einzelne Wege des Lobbying

Ständig erreichen den Ausschuß Stellungnahmen und Vorschläge von interessierten Bürgern, Wissenschaftlern und Verbänden. Diese läßt der Vorsitzende an die Mitglieder, zumindest aber an die Berichterstatter weiterleiten. Der hier gesammelte und eingebrachte Sachverstand ist für die Gesetzgebung von großer Bedeutung. Es ist schon vorgekommen, daß ein Änderungsvorschlag eines Verbandes von einem Abgeordneten unter ausdrücklichem Bezug auf diesen Vorschlag und die Uberzeugungskraft der dafür vorgebrachten Argumente übernommen, zum Antrag erhoben worden und schließlich sogar Gesetz geworden ist.

67

Berücksichtigung, nicht Verwirklichung zu erwarten

Die Berücksichtigung, nicht erst die volle Verwirklichung der eingebrachten Vorschläge führt auch zu einer höheren Akzeptanz bei den betroffenen Kreisen. Unzufrieden ist, wer sich überfahren fühlt, nicht aber, wer weiß, daß man seinen Argumenten trotz gehöriger Beachtung aus anderen Gründen nicht folgen konnte. So stellt sich gerade die Ausschußphase als intensiver Austausch zwischen Repräsentant und Repräsentierten dar. g) Einzelne

68

Diskontinuität als Problem

69

Folge des Wahlsystems: Koalitionen

Probleme

Wohl am deutlichsten als problematisch empfinden es Antragsteller, wenn ein Entwurf nicht oder nicht in der erwarteten Zeit das parlamentarische Verfahren durchläuft. Da der größte Teil der Gesetzentwürfe von der Regierung stammt, wird dort über Verzögerungen am häufigsten geklagt. Wenn einen Gesetzentwurf die Diskontinuität ereilt, so steckt dahinter meist ein mehrheitlicher politischer Wille. Wenn aber Ausschußberatungen sich über eine ganze Legislaturperiode hinziehen, so liegt dies oft — so weit entfernt diese Ursache auch zunächst scheinen mag — am geltenden Wahlsystem. Das ausgeprägte Verhältniswahlsystem führt nämlich fast stets zu Koalitionen, und dies bedeutet, daß streitige Vorlagen nur erfolgreich sein können, wenn sich die Koalitionspartner geeinigt haben. Die Suche nach dem hierzu erforderlichen Kompromiß ist oft die Ursache für Verzögerungen bei politisch brisanten Vorlagen. Wenn politisch weniger umstrittene Vorlagen lange liegengelassen werden, so ist der politische Wille, zu einem Abschluß zu kommen, bislang nicht stark genug gewesen, oder die vorhandenen Bedenken konnten noch nicht entkräftet werden.

§40

Das Ausschußverfahren nach der Geschäftsordnung und in der Praxis (DACH)

1125

Für Vorlagen aus der Opposition kann zwar ein erfolgreicher Abschuß über- 7 0 haupt nicht erzwungen werden. Deren Beratung kann aber nicht endlos verzögert Zwischenbericht nach werden. Denn jede Fraktion kann nach § 6 2 Abs. 2 G O B T „zehn Sitzungswochen § 6 2 Abs. 2 GOBT nach Uberweisung einer Vorlage . . . verlangen, daß der Ausschuß . . . einen Bericht über den Stand der Beratungen erstattet. Wenn sie es verlangt, ist der Bericht auf die Tagesordnung des Bundestages zu setzen". Von dem Mittel wird zwar nicht oft Gebrauch gemacht, aber seine bloße Existenz wirkt. Allerdings muß die Minderheit vorsichtig im Umgang mit diesem Druckmittel sein, weil sonst die Mehrheit kurzerhand Ablehnung der Vorlage beschließt. In der Ausschußarbeit wird die Notwendigkeit eines sachorientierten Umgangs miteinander deutlicher als im Plenum. Die mehr fachbezogene Argumentation im Ausschuß fordert und fördert dies. Der Zwischenbericht nach § 6 2 Abs. 2 G O B T stellt zugleich das Korrektiv dafür, daß das Plenum mit der Uberweisung an einen Ausschuß die Sache aus der Hand gegeben hat 28 . Einen weiteren typischen Problemfall bei der Gesetzgebungsarbeit stellt das 71 sogenannte „Aufsatteln" dar. Manche Entwürfe verlassen den Ausschuß mit „Aufsatteln" anderem Inhalt, als sie ihn bei der Uberweisung hatten. Das ist unbedenklich, solange sich die Änderungen und Ergänzungen im Rahmen der Zielsetzung des ursprünglichen Entwurfs halten. Bedenklich ist es aber, wenn z . B . im Rahmen eines Artikelgesetzes ein neuer Artikel mit einer völlig neuen, zusammenhanglosen Gesetzesänderung eingefügt wird. Damit werden die vorgesehenen Gesetzgebungswege verlassen und Beteiligungsrechte umgangen. Meist geschieht dies auch, um möglichst schnell oder unauffällig ein anderes Problem mitzulösen. Die Grenzen zwischen dem Zulässigen und dem Unzulässigen sind sicher fließend. Wenn die Regierung sich an einen Abgeordneten mit der Bitte wendet, durch einen Antrag im Ausschuß schnell noch eine Problemlösung unterzubringen, so sollte sie hierfür solche Entwürfe im Gesetzgebungsgang wählen, bei denen der thematische Zusammenhang deutlich ist. Dann ist formal nichts einzuwenden 29 . h)

Anhörungen

Nach § 70 Abs. 1 Satz 2 G O B T „ist bei überwiesenen Vorlagen der federführende 7 2 Ausschuß auf Verlangen eines Viertels seiner Mitglieder (zur Durchführung einer Minderheitenrecht bei Anhörung) verpflichtet; bei nicht überwiesenen Verhandlungsgegenständen . . . überwiesenen erfolgt eine Anhörung auf Beschluß des Ausschusses". Seltener sind bei den meisten Ausschüssen die nicht-öffentlichen Anhörungen (s. § 76 Abs. 6 G O B T ) . Sie finden zur fachspezifischen Unterrichtung bei eher

28

29

Siehe

hierzu

SCHÄFER

( F n . 10) S . 1 1 4 ;

TROSSMANN

( F n . 11)

§60

Rdn. 1 am

Ende;

für

ein

Rückholrecht des Plenums spricht sich aus RAU (Fn. 16) 467 f. Beispiel für mangelnden Zusammenhang siehe bei H.-A. ROLL Geschäftsordnungspraxis im 10. Deutschen Bundestag, in: ZParl. 1986, S.322; der Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung hat in der 10. Wahlperiode zu dieser Frage die folgenden Entscheidungen getroffen: „Bei der Beratung eines Gesetzentwurfs in einem Ausschuß dürfen die Ausschußmitglieder Anträge zur Änderung oder Ergänzung des Gesetzentwurfs einbringen, die in unmittelbarem Sachzusammenhang zu der Vorlage stehen. Ein unmittelbarer Sachzusammenhang ist anzuerkennen, wenn die Ergänzungen am Gesetzgebungsgrund oder an den Gesetzgebungszielen der ursprünglichen Vorlage anknüpfen."

1126

6. Teil: Der Bundestag als Forum und zentraler Ort der politischen Willensbildung

unpolitischen oder jedenfalls innerhalb des Ausschusses nicht streitigen Angelegenheiten statt. Während früher öffentliche A n h ö r u n g e n recht ungewöhnlich waren und jede von ihnen besondere Beachtung fand, gehört heute eine A n h ö r u n g fast z u m notwendigen Bestandteil der Ausschußberatung eines einigermaßen bedeutungsvollen Gesetzes 3 0 . In erster Linie geht es bei einer A n h ö r u n g darum, die M e i n u n g der Fachleute zu einem Entwurf oder auch zur Frage des „ O b " einer gesetzlichen Regelung kennenzulernen. D i e Fachleute werden um ihre fachliche, nicht um ihre politische Beurteilung gebeten, was sich gerade bei großen Verbänden nicht immer ganz trennen läßt.

73

D i e Bereitschaft, aus dem Ergebnis der A n h ö r u n g Schlüsse zu ziehen, ist

Folgen einer unterschiedlich entwickelt und wird von dem Ergebnis beeinflußt. Z w a r sieht die Anhörung

Mehrheit nicht unbedingt ein Bedürfnis zur D u r c h f ü h r u n g einer A n h ö r u n g , wenn sie ihren Entwurf nicht ändern will. A b e r bei überwiesenen Vorlagen genügt ein qualifiziertes Verlangen der Minderheit. E s hat auch schon Fälle gegeben, in denen die Mehrheit nach dem Ergebnis der A n h ö r u n g ihre Ansicht änderte.

Eine A n h ö r u n g kann auch dazu dienen, den Entwurf in der Ausschußfassung der Fachwelt vorzustellen und durch Einbindung in die weitere Beratung mögliche Widerstände abzubauen. Schließlich kann eine A n h ö r u n g auch dazu gedacht sein, einen Entwurf zu „ k i p p e n " . O b dies gelingt, hängt v o m Ergebnis und der politischen Macht der engagierten K r ä f t e ab. E s geht also nicht nur um das Sammeln von Sachkunde.

74

Sehr großer Zeitbedarf

75

Beschlußfassung auf der Tagesordnung

76

Begrenzung der Zahl der Anhörpersonen

Eine A n h ö r u n g bedarf, um möglichst ertragreich zu sein, eines beachtlichen zeitlichen Vorlaufs. Wird die A n h ö r u n g von der Minderheit erst in einem sehr späten Stadium der Ausschußberatung beantragt, so ist die Mehrheit nicht unbedingt bereit, diese starke V e r z ö g e r u n g zuzugestehen, weil sie darin die Gefahr der V e r z ö g e r u n g sieht. Zunächst muß nach § 70 A b s . 1 Satz 3 G O B T bereits in der T a g e s o r d n u n g angekündigt sein, daß in dieser Ausschußsitzung ein Beschluß über die D u r c h f ü h r u n g einer A n h ö r u n g gefaßt werden soll. Zugleich sollte über den Zeitpunkt der A n h ö r u n g und über die G e s a m t z a h l der A n h ö r p e r s o n e n Beschluß gefaßt werden. Wenn der Ausschuß nach § 70 A b s . 2 Satz 2 G O B T „eine Begrenzung der Anzahl der anzuhörenden Personen (beschließt), kann von der Minderheit nur der ihrem Stärkeverhältnis im Ausschuß entsprechende Anteil an der Gesamtzahl der anzuhörenden A u s k u n f t s p e r s o n e n benannt w e r d e n " . D a s führt zu einer Aufteilung der Sachverständigenanzahl nach dem Stärkeverhältnis aller Fraktionen. V o n dieser Begrenzung w u r d e bislang recht wenig G e b r a u c h gemacht, was zu einer Vergrößerung der Gesamtzahl der Anhörpersonen führte.

77

D a n a c h legen die Fraktionen mehr oder weniger umfangreiche und detaillierte

Rechtzeitig Fragenkataloge vor, aus denen eine einheitliche, gegliederte Fragenliste gebildet schriftliche wird. D i e Sachverständigen werden eingeladen unter B e i f ü g u n g der fraglichen Stellungnahmen

Entwürfe und des Fragenkataloges. E s k o m m t der A n h ö r u n g sehr zugute, wenn sie 30

Anzahl der Anhörungen durch federführende Ausschüsse in der 8. Wahlperiode: 114 (davon etwa 40 % öffentlich), in der verkürzten 9. Wahlperiode: 42, in der 10. Wahlperiode 182 (davon etwa 70 % öffentlich).

§40

Das Ausschußverfahren nach der Geschäftsordnung und in der Praxis (DACH)

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durch schriftliche Stellungnahmen der Sachverständigen vorbereitet ist, zu deren Abgabe eine Frist von etwa 4 Wochen gesetzt wird. In der Anhörung selbst sollen die Sachverständigen nicht ihre schriftlichen 78 Stellungnahmen vortragen, sondern die persönlichen Schwerpunkte markieren. N u r Schwerpunkte Das kann in fünf bis zehn Minuten erfolgen — wer länger redet, bringt sich um vorzutragen seine Wirkung —, zumal von jedem Sachverständigen nur erwartet wird, daß er zu den Fragen aus dem Katalog Stellung nimmt, für die er sich kompetent glaubt. Nach diesen einleitenden Statements werden Fragen von den Ausschußmitgliedern an die Sachverständigen gestellt. Eine Diskussion der Sachverständigen untereinander kann im Einzelfall die unterschiedlichen Auffassungen verdeutlichen. Bundesregierung und Bundesrat können nicht verlangen, als solche in der 79 Anhörung angehört zu werden. Wen der Ausschuß in der Anhörung befragen will, Beauftragte i. S. Art. 43 G G keine liegt allein bei ihm. Denn wenn es in Art. 43 Abs. 2 Satz 2 G G auch heißt: „Sie (die Anhörpersonen Beauftragten von Bundesrat und Bundesregierung) müssen jederzeit gehört werden", so dürfen sie damit doch nicht das Selbstorganisationsrecht der Ausschüsse beeinträchtigen. Das Recht, „jederzeit" gehört zu werden, würde mißbraucht, wenn es ohne Rücksicht auf die Belange der Ausschußarbeit ausgeübt würde. Die vorstehende Frage ist kaum relevant geworden, weil die Beauftragten in der nächsten regulären Sitzung zu diesem Thema gehört werden müssen und sich alle Seiten in der Regel um eine vernünftige Zusammenarbeit bemühen. Das Zutrittsrecht zu Anhörungssitzungen besteht allerdings in gleicher Weise wie bei normalen Sitzungen. In der Praxis werden auch Landesbeamte, ungeachtet möglicher Bedenken aus dem Gesichtspunkt des Föderalismus, vom Ausschuß unmittelbar zu Anhörungen gebeten, wenn ihm an den Kenntnissen dieses Beamten und nicht seiner Behörde gelegen ist. Die Ausschüsse sind übrigens aufgrund der Entscheidung des Geschäftsordnungsausschusses nicht an Abs. 2 der Anlage 2 zur G O B T — Registrierung von Verbänden und deren Vertretern — gebunden 31 und können auch nichtregistrierte Verbände einladen. i) Die Zusammenarbeit

mit den mitberatenden

Ausschüssen

Mitberatungen sind vorgesehen, damit Fachausschüsse zu Teilaspekten ihren Beitrag leisten können. Nach § 63 Abs. 2 G O B T „sollen die beteiligten Ausschüsse mit dem federführenden Ausschuß eine angemessene Frist zur Übermittlung ihrer Stellungnahme vereinbaren".

Die Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Ausschüssen erfordert ein hohes 80 Maß an Koordination, auch wenn die Regelungen zur Koordination nicht schritt- Koordinationsregeln unterentwickelt gehalten haben mit der Aufteilung und breiten Streuung von Zuständigkeiten 32 aufgrund der zunehmenden Spezialisierung . Der mitberatende Ausschuß will sich nicht mit einer Vorlage befassen, die eventuell im federführenden Ausschuß

31

32

So auch RITZEL/BÜCKER (Fn. 7) § 70 A n m . 11 c unter Hinweis auf eine entsprechende Entscheidung des Geschäftsordnungsausschusses aus dem Jahre 1979; anders noch TROSSMANN (Fn. 11) § 7 3 R d n . 11. Siehe hierzu KRETSCHMER ( F n . 2 6 ) S. 170 ff (173).

1128

6. Teil: D e r Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

noch stark verändert wird, während der federführende Ausschuß für seine Beratungen oft auf das Votum eines mitberatenden Ausschusses angewiesen ist 33 . Dieses Problem wird nur gelöst durch koordinierende Gespräche außerhalb der Ausschußsitzungen. Unter Umständen ist aber eine erneute Befassung des mitberatenden Ausschusses notwendig. 81 Die Fraktionen wollen in den unterschiedlichen beteiligten Ausschüssen trotz Fachgesichtspunkte/ a J l e r fachspezifischen Sichtweisen möglichst ein einheitliches Votum abgeben. Die Fraktionsraison Z u s t i m m u n g d einen Fraktion in dem einen Ausschuß bei Ablehnung durch dieselbe Fraktion in dem anderen Ausschuß gilt in der Regel als Panne. Verzögerungen in der Ausschußberatung beruhen oft auf dem Bemühen, solche fraktionsinternen Schwierigkeiten zu beheben. „Den Bericht an den Bundestag . . . kann nur der federführende Ausschuß erstatten" (§63 Abs. 1 G O B T ) . Ein mitberatender Ausschuß kann sich mit seinem Anliegen also nicht unmittelbar an das Plenum wenden, vom Haushaltsausschuß im Rahmen des § 96 Abs. 2 G O B T abgesehen. Das Votum des mitberatenden Ausschusses muß dem Plenum vom federführenden Ausschuß mitgeteilt werden. e

82 Intensität der Mitberatung

r

Die Intensität der Mitberatung ist sehr unterschiedlich. Sie reicht von der bloßen Kenntnisnahme bis zur grundsätzlichen Bearbeitung und Änderung in Teilbereichen und kann auch zur Empfehlung einer fachspezifisch motivierten Ablehnung des gesamten Entwurfs reichen. (Von letzterem deutlich zu unterscheiden ist die Ablehnung eines Minderheitenentwurfs in allen beteiligten Ausschüssen durch die Mehrheit.) Der federführende Ausschuß kann auch von solch grundsätzlichen Voten des mitberatenden Ausschusses abweichen; er sieht sich dann aber einem erhöhten Begründungszwang ausgesetzt34. j) Beschlußempfehlung

und Bericht

83 Die Empfehlung des Ausschusses an das Plenum wird vom gesamten Ausschuß beschlossen. Sie muß jeweils so gefaßt sein, daß das Plenum dazu „Ja" oder Beschlußempfehlung s a g e n k a n n und wird üblicherweise eingeleitet: „Der Bundestag möge beschließen, . . . " . Die Empfehlung bezieht sich in der Regel auf den zugrundeliegenden, dem Ausschuß seinerzeit überwiesenen Entwurf und kann von der bloßen Kenntnisnahme oder Zustimmung oder Ablehnung bis zur vollständigen Neufassung gegenüber dem Entwurf reichen. Bei umfänglichen oder komplizierten Änderungen werden Entwurf und Ausschußfassung in einer Synopse gegenübergestellt. Bei Änderungen geringeren Umfangs wird üblicherweise formuliert: Formulierung der

33

Besonders kompliziertes Beispiel: Das Landpachtgesetz sollte aufgehoben und sein materieller Teil — das landwirtschaftliche Pachtrecht — in das B G B zurückgeführt werden gemäß Regierungsentwurf auf B T - D r u c k s . 10/509; der verbleibende verfahrensmäßige Teil sollte im Landpachtverkehrsgesetz — B T - D r u c k s . 10/508 — neu geregelt werden. F ü r B T - D r u c k s . 10/ 508 war der Landwirtschaftsausschuß federführend und der Rechtsausschuß mitberatend; bei B T - D r u c k s . 10/509 war es umgekehrt. Die Beratung beider Entwürfe war nur zusammen sinnvoll, und sie konnte nur erfolgen unter Berücksichtigung der Haltung des jeweils anderen Ausschusses.

34

Siehe z . B . B T - D r u c k s . 10/3223, Beschlußempfehlung und Bericht des Landwirtschaftsausschusses zum Regierungsentwurf des Saatgutverkehrsgesetzes, B T - D r u c k s . 10/700, mit der dem das gesamte Gesetz ablehnenden einstimmigen V o t u m des Rechtsausschusses nicht gefolgt wurde, allerdings mit wenig überzeugender Begründung.

§40

D a s Ausschußverfahren nach der Geschäftsordnung und in der Praxis (DACH)

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„ . . . zuzustimmen mit der Maßgabe, daß es (an dieser und jener Stelle) wie folgt heißt: . . . " . Die Grenze zwischen den verschiedenen möglichen Formen ist fließend. Gegebenenfalls wird in die Beschlußempfehlung eine weitere Entschließung aufgenommen, mit der der politische Wille zur weiteren Arbeit auf diesem Gebiet artikuliert wird oder auch Berichtspflichten der Bundesregierung aufgestellt werden 35 . Der Bericht beginnt meist mit den Formalien des zeitlichen Ablaufs der Beratungen. Er nennt etwaige Besonderheiten des Verfahrens, wie Durchführung und Umfang einer Anhörung. Im weiteren werden die Voten der mitberatenden Ausschüsse mitgeteilt, erforderlichenfalls wörtlich. Dies kann in einem allgemeinen Teil geschehen, in dem auch die generelle Haltung des Ausschusses oder die von Mehrheit und Minderheit zu dem Entwurf dargestellt wird. Der besondere Teil hat den Sinn und die Folgen von Änderungen zu erläutern, die durch den Ausschuß vorgenommen wurden, und stellt damit eine erste Kommentierung dar, die bei der späteren Rechtsanwendung hilfreich sein kann. Wiederholungen aus der Entwurfsbegründung erübrigen sich.

84 Weitere Entschließung 85 Gestaltung des

Berichts

Dabei geben die Berichterstatter stets ihre Sicht, in der Regel abgestimmt mit 86 ihren Fraktionen, nicht etwa die Meinung des Ausschusses wieder. Bei umstritte- Verantwortlichkeit für nen Änderungen wird dies deutlich gemacht (s. auch §66 Abs. 2 Satz 1 G O B T ) . Es den Bericht kann sich aber auch die Notwendigkeit ergeben, zwei voneinander abweichende Auffassungen bei scheinbar objektiven Fragen darzustellen, etwa welche Stellungnahmen Sachverständige abgegeben haben. K o m m t es hier zu unterschiedlichen Auffassungen, kann dies nicht mit Mehrheit entschieden, sondern muß parallel dargestellt werden. Der Bericht ist von jedem der Berichterstatter zu vertreten 36 . Beschlußempfehlung und Bericht werden schließlich mit einem Vorblatt 3 7 versehen und vom Ausschuß dem Plenum zugeleitet. Das Vorblatt enthält in kürzester Form Angaben zu Problem, Lösung, Alternativen und Kosten und soll der großen Zahl der nicht beteiligten Abgeordneten eine schnelle Information ermöglichen. 3. Aufgaben des Ausschusses im weiteren Verfahren Sobald die Beratungen abgeschlossen sind, muß dies dem Ältestenrat mitgeteilt 87 werden, damit dieser über die Terminierung der abschließenden Plenarbehandlung Rückleitung ans befinden kann. Dabei wird auch zugleich mitgeteilt, wann mit dem Vorliegen von ^ ' e n u m Beschlußempfehlung und Bericht zu rechnen ist. Wenn die Regierung an einer Vorlage politisch sehr interessiert ist, kann sie versuchen, Einfluß auf die Terminbestimmung zu nehmen. 35 36

37

Siehe hierzu SCHÄFER (Fn. 7) S. X14 f und TROSSMANN (Fn. 11) § 6 0 Rdn. 7.2. So richtigerweise JEKEWITZ (Fn. 18) S.422 entgegen TROSSMANN/ROLL (Fn. 18) § 6 5 Rdn. 2.5 und TROSSMANN (Fn. 11) §74 Rdn. 4; siehe aber auch dort Rdn. 11, wo die Ausschußbeschlußfassung zur Berichterstattung stark eingeschränkt wird für den heute üblichen Fall zweier Berichterstatter; unzutreffend: W. STEFFANI Stichwort „Ausschüsse", in: SONTHEIMER/ RÖHRING (Hrsg.) Handbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, 1977, S.41, I V b . Siehe hierzu RITZEL/BÜCKER (Fn. 7) Anhang zu §66.

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6. Teil: D e r Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

88 Bei der abschließenden Plenarberatung kann ebenfalls das W o r t zur BerichterstatAufgaben bei der Plenarberatung

tung ergriffen werden. Dies ist selten und geschieht meist nur, um einen z . B . aus Zeitmangel fehlenden schriftlichen Bericht (vorläufig) zu ersetzen oder um letzte Berichtigungen anzubringen. Auch gravierende Besonderheiten des Verfahrens sind schon aufgegriffen worden. Das W o r t zur Berichterstattung ist insofern zu trennen von der allgemeinen Aussprache, die aber o f t ebenfalls von den Berichterstattern bestritten wird.

89

Sollten sich nach der abschließenden Plenarbehandlung offenkundige Unrichtigkeiten der Beschlußempfehlung herausstellen, so wird in dem Berichtigungsverfahren nach §§ 62 Abs. 3 Satz 4, 47 Abs. 2 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien, Besonderer Teil ( G G O II) ebenfalls der Ausschuß noch einmal eingeschaltet.

Berichtigungsverfahren

§41 Vorbereitung und Gestaltung der Ausschußarbeit durch die Fraktionen MICHAEL MELZER

Vorbemerkung Die Vorbereitung und Gestaltung der Ausschußarbeit durch die Fraktionen unterliegt bestimmten Verfahrensweisen und Abstimmungsmechanismen, vergleichbar jeder Tätigkeit in Verwaltung oder Politik. Die Beschreibung derselben oder ihre wissenschaftlich-theoretische Analyse würde dem Thema jedoch nicht allein gerecht werden können. In der Ausschußarbeit konkretisiert sich letztlich der politische Gestaltungswille der Parteien über die bloße Meinungsäußerung hinaus bei ihrer Einflußnahme auf den zentralen Zuständigkeitsbereich des Parlamentes, die Gesetzgebung. Dies führt dazu, daß die politische Bedeutung von Vorhaben, die politische Durchsetzungskraft von Gruppierungen und Personen die Bedeutung von Verfahrensweisen und Abstimmungsmechanismen in ganz besonderem Maße relativieren. Es gilt also, nicht zuletzt diese Bedingungen der Vorbereitung und Gestaltung der Ausschußarbeit durch die Fraktionen aufzuzeigen.

1

D a s Verhältnis von Verfahrensweisen und politischen Einflüssen

I. Grundsatzfragen der Vorbereitung und Gestaltung der Ausschußarbeit durch die Fraktionen 1. Die politische Bedeutung der Ausschußarbeit Uber die Bedeutung der Ausschußarbeit ist viel nachgedacht und viel geschrieben worden. Dennoch ist gerade dieser Bereich parlamentarischer Arbeit für die breite Zur politischen Öffentlichkeit weitgehend unbekannt geblieben. Der Grund dafür liegt in der — Bedeutung der Ausschußarbeit jedenfalls in der Regel — fehlenden Öffentlichkeit. Diese wiederum gilt aber als eines der Grundelemente, um die spezifische Bedeutung der Ausschußarbeit zu sichern: In den Ausschüssen soll es möglich sein, ohne die direkte Notwendigkeit zur Selbstdarstellung in eine intensive fachliche Auseinandersetzung einzutreten, möglichst auch Kompromisse im Interesse der Gemeinschaft zu entwickeln. Natürlich ist eine solche fachliche Rolle der Ausschußarbeit nicht losgelöst zu sehen von der politischen Meinungsbildung. Vielmehr geht es darum, die parteipolitische Willensbildung, politisch-programmatische Aussagen auf konkrete Vorhaben anzuwenden. Man darf sagen, daß Politik hier inhaltlicher, streitiger, praxisnäher als in jedem anderen Moment von der politischen Meinungsbildung bis zur parlamentarischen Entscheidung sein kann. Die hieraus resultierende politische

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6. Teil: Der Bundestag als Forum und zentraler Ort der politischen Willensbildung

Bedeutung kann nicht in der erfolgreichen öffentlichen Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner liegen, sondern in der eher langfristigen Wirkung der inhaltlichen Ergebnisse der Gesetzgebungsarbeit. Ausschußarbeit hat wenig Einfluß darauf, welche Politik gemacht wird, welche Gesetze das Parlament erreichen, aber sie hat entscheidenden Einfluß auf den inhaltlichen Wert der Gesetzgebung. Sie bestimmt also nicht kurzfristig das Bild der Politik, aber langfristig deren Güte, jedenfalls in dem für die Legislative sehr zentralen Bereich der Gesetzgebung. 3 N u n ist es eher eine Selbstverständlichkeit, daß Vorbereitung und Gestaltung Die Abhängigkeit von litischen A r b e j t a bhängen. Diese oben grundsätzlich skizzierte Bedeutung unterliegt aber starken allgemein-politischen Einflüssen. Insbesondere zwei Gesichtspunkte verdienen dabei Beachtung: Der erste Gesichtspunkt betrifft die Stärke der legislativen Aktivität einer Legislaturperiode. Zahlreiche umfangreiche und komplizierte Gesetzgebungsvorhaben geben der Ausschußarbeit hohe Priorität. Eine zurückhaltende Gesetzgebung läßt dagegen die Bedeutung der Ausschußarbeit sinken. Der zweite Gesichtspunkt ergibt sich aus den periodisch sehr unterschiedlichen Kräfteverhältnissen zwischen Regierung und Parlament, innerhalb der Fraktionen und innerhalb von Koalitionen. Starke Regierungen oder auch einzelne Ressortminister können durch Einsatz politischer Vorgaben oder auch durch das Gewicht des ihnen verfügbaren Apparates den Gestaltungsspielraum in den Ausschüssen erheblich verringern. Starke Fraktionsführungen können entweder den Gestaltungsspielraum in den Ausschüssen gegenüber der Regierung vergrößern oder auch die Abstimmung innerhalb der Fraktion so intensivieren, daß den Ausschüssen selbst nur noch der Nachvollzug bleibt. Koalitionsfragen können wiederum völlig andere Kräfteverhältnisse hervorrufen. Vielleicht etwas pointiert ließe sich sagen, daß gerade labile Koalitionen bei Fragen, die unterschiedliche Auffassungen erkennbar werden lassen, der fachlichen Meinungsbildung in den Ausschüssen und ihrer Vorbereitung in den Fraktionen wenig Raum geben können. Dies kann dazu führen, daß Materien, die typisch für die Aufarbeitung in den Ausschüssen wären, schon vor dem Eintritt in die parlamentarische Behandlung mit politischer Vorgabe so verfestigt werden, daß die Bedeutung der Ausschußarbeit minimiert wird. Dies könnte — auch unabhängig von Koalitionen — eine der Zukunftsfragen des Parlamentarismus werden. Die Sorge von Regierungen vor dem „Gesichtsverlust" bei Scheitern eines Vorhabens führt zunehmend zu frühzeitigen politischen Festlegungen vor der parlamentarischen Beratung.

2. Die unterschiedlichen Ausgangslagen von Regierungs- und Oppositionsfraktionen 4 Regierungs- und Oppositionsfraktionen unterliegen bei der Gestaltung ihrer Ausschußarbeit völlig unterschiedlich gearteten, vom Gewicht her aber ähnlich bedeutsamen einerseits Erleichterungen, andererseits Restriktionen. Oberstes Ziel der Regierungsfraktionen muß der Erfolg der Regierung sein. Sie können sich einerseits voll auf die Vorleistung und den Apparat der Regierung stützen, brauchen in der Regel keine eigenen Entwürfe erarbeiten oder sich dabei der Hilfe der Ministerialbürokratie bedienen. Andererseits bergen, sobald Entwürfe der

Das Spannungsverhältnis von Regierungserfolg und Regierungskontrolle

§41

Vorbereitung und Gestaltung der Ausschußarbeit durch die Fraktionen (MELZER)

1133

Regierung vorliegen, Änderungen dieser Entwürfe im parlamentarischen Bereich die Gefahr, entweder als Konflikt im Regierungslager interpretiert oder gar als Erfolg der Opposition kommentiert zu werden. Die Regierungsfraktionen werden deshalb immer dazu neigen, schon vor der eigentlichen Ausschußarbeit grundsätzlich Übereinstimmung mit der Regierung zu erzielen und insoweit die Kontrolle der Regierung und die inhaltliche Auseinandersetzung zwischen Regierung und Parlamentariern nicht in den Parlamentsausschüssen zu suchen, sondern in die Gremien der Fraktionen zu verlagern. Insoweit gewinnt bei den Regierungsfraktionen der Bereich der Vorbereitung der Ausschußarbeit ein weit höheres Gewicht als die Gestaltung der Ausschußarbeit. Vorrangiges Ziel der Opposition ist die kritische Kontrolle der Regierung. Sie wiederum steht einerseits vor der Notwendigkeit, eigene Entwürfe und Vorstellungen in vollem Umfange innerhalb der Fraktionen erarbeiten zu müssen. Bei dem dadurch zwangsläufig entstehenden Kapazitätsdefizit werden Oppositionsfraktionen immer dazu neigen, sich stärker auf die Zuarbeit der Parteigremien abzustützen. Andererseits sind die Oppositionsfraktionen von der direkten Verantwortung für das Ergebnis der parlamentarischen Arbeit entbunden, sie stehen in der Regel unter keinem Zeit- oder Erfolgsdruck für bestimmte Vorhaben. So können sie sowohl bei der Behandlung von Regierungsvorlagen ihr Augenmerk auf bestimmte politische Streitpunkte konzentrieren als auch bei eigenen Vorschlägen die letzte Umsetzungsgenauigkeit zurückstellen. Denn auch solche eigenen Vorschläge beinhalten durch das Aufzeigen politischer Alternativen in erster Linie eine Kontrollfunktion und nicht aktuelle Realisierungsüberzeugung. 3. D a s Verhältnis von Fraktion und Regierung in seiner A u s w i r k u n g auf die Ausschußarbeit Aus dem vorstehenden Abschnitt ergibt sich bereits, daß diese Fragestellung auf 5 die Regierungsfraktionen zugeschnitten ist. Die parlamentarische Arbeit jeder Die Zusammenarbeit Regierungsfraktion besteht in einer Gratwanderung zwischen auch ihrer verfas- m l t der Regierung sungsmäßigen Aufgabe der Kontrolle der Regierung und ihrem politischen Verständnis, den gemeinsamen Erfolg abzusichern. O b die politische Initiative dabei nun stärker von der Fraktion oder von der Regierung ausgeht, ist weitestgehend eine Frage der Gewichtung, auch des parteipolitischen Gewichtes handelnder Personen, aber ohne entscheidenden Einfluß auf die Struktur dieses Verhältnisses selbst. Erfolgreiche Vorbereitung und Gestaltung der Ausschußarbeit durch die Regierungsfraktionen steht und fällt mit der engen Zusammenarbeit mit der Regierung. Die Beteiligung der Regierungsmitglieder auf allen Ebenen der Fraktionsarbeit, insbesondere auch die direkte Einschaltung sowohl der Leitungs- als auch der Fachebene der Ressorts in die Arbeit der die Ausschußarbeit konkret vorbereitenden Gremien der Fraktionen ist für Regierungsfraktionen unverzichtbar. 4. D a s Verhältnis von Fraktion und Partei in seiner A u s w i r k u n g auf die Ausschußarbeit Fast regelmäßig finden sich im Regierungslager die auch parteipolitisch stärksten ®. p r a k t ¡ o n a | s Personen innerhalb der Regierung. In Verbindung mit der Tatsache, daß Vorhaben Organ der Partei

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6. Teil: Der Bundestag als Forum und zentraler Ort der politischen Willensbildung

des Regierungslagers ebenfalls in der Regel aus der Regierung präsentiert werden, führt dies dazu, daß Einflußnahme durch R ü c k k o p p l u n g mit der Partei vielfach direkt mit der Regierungsebene erfolgt. D e r K o n t a k t Fraktion zur Partei tritt gegenüber den Kontakten Fraktion zur Regierung und Regierung zur Partei eher zurück. Bei der O p p o s i t i o n stellt sich dieses Verhältnis sowohl von den Personen als auch von den Bedingungen völlig anders dar. D i e Fraktion ist auf Bundesebene diejenige politische Institution, welche die politischen A u f f a s s u n g e n der Partei sowohl öffentlich repräsentieren als auch in der Gesetzgebungsarbeit konkret vertreten kann und muß. E n g e A b s t i m m u n g zwischen Fraktion und Partei, gemeinsame Arbeitsgruppen zu Sachthemen, deren Ergebnisse dann vielfach in die Ausschußarbeit eingehen, sind hier unverzichtbar, um ein Gegengewicht gegen Regierung und Regierungsfraktion erhalten zu können.

5. Die Bedeutung von Koalitionsfragen Koalitionen im Regierungslager verändern das bisher skizzierte G r u n d m u s t e r der Die Relativierung der Rahmenbedingungen. Erstens: Im Verhältnis zu den v o m jeweiligen KoalitionsUnterschiede von partner geleiteten Ressorts ist s o w o h l die Möglichkeit der N u t z u n g des Apparates Regierungs- und der Ministerialbürokratie eingeschränkt als auch die Bereitschaft zu seiner N u t Oppositionsfraktion

zung verringert, da vorausgesetzt wird, daß dieser Belange des Partners stärker gewichtet. Zweitens: Auch die politische N o t w e n d i g k e i t , vor allem den gemeinsamen E r f o l g von Regierung und Fraktion zu sehen, relativiert sich, da jeder Partner einen möglichst großen Anteil an diesem E r f o l g sucht. Dies führt dazu, daß sich die Vorbereitung — nicht die Gestaltung — der Ausschußarbeit in den Regierungsfraktionen bei von dem Koalitionspartner in der Regierung verantworteten Bereichen stark an diejenige der O p p o s i t i o n s f r a k t i o n e n annähert. D a s Gewicht der Fraktionen wird in diesen Bereichen, auch im Verhältnis zu der Partei, wieder stärker. Dies birgt wiederum ähnliches Konfliktpotential und ähnliche Konfliktbereitschaft wie zwischen Regierung und Oppositionsfraktionen. Im G e g e n s a t z z u m normalen Konflikt zwischen Regierung und O p p o s i t i o n ist der Konflikt zwischen Regierung und einer Koalitionsfraktion jedoch nicht durch A b s t i m m u n g auflösbar und birgt für die Regierung ein hohes politisches Risiko.

8

Das Koalitionsgespräch

D a s zur Konfliktbereinigung entwickelte Instrument Koalitionsgespräch ist deshalb politisch hochrangig besetzt und findet in der Regel nicht zwischen den Koalitionsfraktionen, sondern zwischen den Koalitionsvertretern aus Parteien, Regierung und Fraktionen statt. D i e eigenständige Funktion der Fraktionen verliert hier erheblich an Gewicht. Insbesondere wenn schon bei der Entwicklung erster Vorstellungen von neuen Vorhaben konfliktträchtige Einzelfragen öffentlich und einer Behandlung in Koalitionsgesprächen zugeführt werden, wird die weitere Arbeit in Fraktionen und Ausschüssen weitgehend vorbestimmt. Meistens läßt sich dann auch feststellen, daß die Ausschußarbeit nur noch wenig Zeit beansprucht. Natürlich ist es grundsätzlich auch außerhalb von Koalitionsproblemen möglich, daß die politische F ü h r u n g Vorgaben für die Ausschußarbeit macht. E s ist aber sicher richtig, daß einerseits eine Regierung, die nur von der Z u s t i m m u n g ihrer eigenen Fraktion abhängt, dieser mehr Handlungsfreiheit läßt, und daß andererseits eine Fraktion, welche nicht den drohenden Machtverlust durch einen

§41

Vorbereitung und Gestaltung der Ausschußarbeit durch die Fraktionen (MELZER)

1135

schwankenden Koalitionspartner fürchtet, auch mehr Rechte in Anspruch nimmt. Es bleibt leider die Erkenntnis, daß die Bedeutung der Ausschußarbeit bei Koalitionsregierungen tendenziell geringer ist.

6. Der Einfluß des Bundesrates Vor allem wiederum im Bereich Gesetzgebung ist eine sinnvolle Arbeit der 9 Fraktionen in den Ausschüssen ohne enge Rückkopplung mit den Parteifreun- Die parteipolitische den in den Bundesländern undenkbar. Dies ist nicht nur darin bedingt, daß der ^ " S m ^ ™ Bundesrat mit den entsprechenden Mehrheiten Maßnahmen des Bundesgesetzgebers blockieren kann, sondern vor allem auch darin, daß das Interesse der Gesamtpartei unterschiedliche Auffassung zu Gesetzgebungsvorhaben in Bund und Ländern allenfalls bei Fragen toleriert, welche sehr spezifische regionale Besonderheiten haben. Auch hier liegt die Abstimmungspriorität im Regierungslager jedoch bei der Regierung und nicht bei der Fraktion, während die Opposition die Abstimmung durch die Fraktion vornimmt, und zwar sowohl mit Landesregierungen, welche von der gleichen Partei getragen werden, als auch mit den Landtagsfraktionen dieser Partei. Diese Abstimmung erfolgt nicht nur punktuell, sondern sehr weitgehend in institutionalisierten gemeinsamen Arbeitsgruppen.

II. Die Struktur der Fraktionen im Verhältnis zur Ausschußarbeit 1. Die horizontale Struktur der Fraktionen Die horizontale Struktur der Fraktionen folgt einer thematischen Gliederung, welche sich eng an die Ausschußstruktur und damit letztlich an die Ressortstruktur der Bundesregierung anlehnt. Die horizontale Struktur der Fraktion ist damit wesentlich auf die Ausschußarbeit ausgerichtet.

a)

10 Die Entsprechung von

Fraktions- und Ausschußstruktur

Arbeitsgruppen

In der Regel ist jedem Ausschuß eine Arbeitsgruppe zugeordnet, in welcher die 11 dem jeweiligen Ausschuß angehörenden Fraktionsmitglieder mitwirken. Bei gro- Die Arbeitsgruppen ßen Ausschüssen ist es auch möglich, daß die großen Fraktionen mehrere Arbeitsgruppen zuordnen, um bestimmten Themenbereichen besonderes Gewicht zu verleihen. Die Vorsitzenden dieser Arbeitsgruppen sind vielfach identisch mit dem Obmann der Fraktion im Ausschuß. Ausschußvorsitzende haben dagegen in der Arbeitsgruppe regelmäßig keine Funktion. Diese Arbeitsgruppen bearbeiten die den zugeordneten Ausschuß betreffenden Sachbereiche in zwei Richtungen, nämlich einmal für die Gestaltung der Ausschußarbeit und zum anderen für die Entscheidung der Gesamtfraktion. Wie im Ausschuß selbst wird auch in der Arbeitsgruppe für jedes Thema ein 12 Berichterstatter benannt, der meistens wiederum identisch ist. Themen, welche Der Berichterstatter

1136

6. Teil: Der Bundestag als Forum und zentraler O r t der politischen Willensbildung

bei der Ausschußarbeit zur Mitberatung verschiedener Ausschüsse führen, werden auch in den Fraktionen von mehreren Arbeitsgruppen behandelt. b)

Arbeitskreise

13 Eine zusätzliche Verzahnung von Sachbereichen, welche regelmäßigen Koordinierungsbedarf hervorrufen, erfolgt in den Arbeitskreisen, die sich aus mehreren Arbeitsgruppen zusammensetzen. Diese Arbeitskreise bilden die Schnittstelle zwischen der horizontalen und der vertikalen Struktur der Fraktionen. Obwohl die Arbeitskreise vor allem dem Koordinierungsgedanken unterliegen, ergibt sich hier doch schon ein deutlicher hierarchischer Einfluß. 14 Dies gilt vor allem dann, wenn der Arbeitskreisvorsitz mit einer hervorgehobeDie Funktion der nen Funktion in der Fraktionshierarchie verbunden ist. Die großen Fraktionen Vorsitzenden unterliegen in dieser Frage gewissen Schwankungen. So hat die SPD Ende der siebziger Jahre eine sehr weitgehende Ämterverteilung versucht. Letztlich setzt sich aber doch immer wieder die Tendenz durch, im engeren Fraktionsvorstand auch die großen thematischen Bereiche zu repräsentieren. Dies kann wie Anfang der siebziger Jahre bei der SPD dadurch erfolgen, daß Personenidentität zwischen stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden und Ausschußvorsitzenden besteht oder aber zwischen stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden und Arbeitskreisvorsitzenden. Letzteres bietet sich vor allem für die Opposition an, um ihre Spitzenleute als Widerpart der Regierungsmitglieder deutlich hervorzuheben.

Die Arbeitskreise

2. Die Apparate der Fraktionen 15 Die Apparate der Fraktionen entsprechen der horizontalen Gliederung nach Die Apparate Arbeitsgruppen und Arbeitskreisen. Dabei sind je nach Bedeutung und Umfang der Materie ein bis mehrere Mitarbeiter jeder Arbeitsgruppe zugeteilt, während in der Regel ein Mitarbeiter dem Arbeitskreisvorsitzenden für dessen Geschäftsführung zuarbeitet. Die Aufgabenstellung dieser Mitarbeiter unterscheidet sich in hohem Maße zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktion. In den Regierungsfraktionen ist eine weitgehende Beschränkung auf organisatorische Arbeiten und auf Kontakte zu den Ministerien möglich, da von dort inhaltliche Zuarbeit kommt. In den Oppositionsfraktionen müssen diese Mitarbeiter dagegen in hohem Maße die inhaltliche Arbeit der Arbeitsgruppe unterstützen, eigene Entwürfe vorbereiten und Vorlagen der Regierung überprüfen. Dabei hängt es sehr stark von der persönlichen Stellung der Arbeitsgruppenvorsitzenden ab, inwieweit der ein-zelne Abgeordnete als Berichterstatter auf diese Mitarbeit zurückgreifen kann oder inwieweit die Zuarbeit des Apparates auf Arbeitsschwerpunkte konzentriert wird. 3. Die vertikale Struktur der Fraktionen 16 Die vertikale Struktur der Fraktionen beginnt und endet jeweils bei der Gesamtheit Die Einbindung in die Fraktion bildenden Abgeordneten. Die horizontal in Arbeitsgruppen und Fraktionshierarchie Arbeitskreis gegliederte Fraktion verfügt über eine vertikale Gliederung in Fraktionsgesamtheit, Fraktionsvorstand und engerer Fraktionsvorstand. Dabei stehen, wie schon beschrieben, horizontale und vertikale Gliederung meist in enger

§41

Vorbereitung und Gestaltung der Ausschußarbeit durch die Fraktionen (MELZER)

1137

Beziehung, da die Vorsitzenden der Arbeitsgruppen in der Regel Mitglied des Fraktionsvorstandes, die Vorsitzenden der Arbeitskreise — oder jedenfalls die Repräsentanten der entsprechenden Themenbereiche — Mitglied des engeren Fraktionsvorstandes sind. Auf diese Weise wird die Arbeit der Arbeitsgruppen und Arbeitskreise an die 1 7 Fraktionsführung herangebracht. Im Fraktionsvorstand erfolgt so — vergleichbar Der Vergleich dem Kabinett bei der Regierung — die Abstimmung zwischen den Ergebnissen der Arbeitseinheiten und der politischen Zielvorgabe. Der entscheidende Unterschied zu der Regierung liegt dabei darin, daß es sich bei dem Fraktionsvorstand nicht wie beim Kabinett um die letzte Entscheidung handelt, sondern daß Beschlüsse des Fraktionsvorstandes anschließend wiederum der Gesamtfraktion zur Beschlußfassung vorgelegt werden. Hier ergibt sich wiederum ein wichtiger Unterschied zwischen Regierungs- und Oppositionsfraktionen:

j

In der Opposition reicht es in der Regel aus, die Gesamtfraktion erst am Ende 1 8 der Ausschußarbeit vor der Plenarentscheidung oder bei Einbringung eigener Die Befassung der Initiativen zu befassen. Abweichungen davon ergeben sich meist nur bei öffentli- Gesamtfraktion chen Ausschußaktivitäten, insbesondere Anhörungen oder Befassung mit sehr aktuellen Themen (die meist ebenso hätte im Plenum erfolgen können) sowie bei Ausschüssen wie Untersuchungsausschüssen mit hoher öffentlicher Anteilnahme. In Regierungsfraktionen dagegen müssen problematische Inhalte schon vor der Ausschußentscheidung der Gesamtfraktion vorgetragen werden, da im Plenum realistisch für Regierungsfraktionen keine Alternative zwischen Ablehnung und Zustimmung besteht, wie sie der Opposition immer offen ist. 4. Die Gebundenheit der Ausschußarbeit an die Fraktionsdisziplin Natürlich besteht im Ausschuß sowenig wie im Plenum eine rechtliche Gebunden- 1 9 heit des Abgeordneten an die Beschlußfassung der Fraktionsgremien. Die tatsächli- D i e Bindungswirkung chen Erfordernisse einer effektiven politischen Auseinandersetzung sind jedoch der Fraktionsvorbereitung gleich oder sogar noch stärker, da die Mehrheitsverhältnisse in den Ausschüssen sehr viel knapper sind als im Plenum. Bei einer Mehrheit von 20 Stimmen im Plenum ergibt sich in einem Ausschuß von 25 Mitgliedern ein Verhältnis von 1 3 : 1 2 , das heißt ein einzelner Abgeordneter könnte die Ausschußmehrheit umkehren. Die Kombination der NichtÖffentlichkeit der Ausschußarbeit mit der betont fachbezogenen Auswahl der Mitglieder durch die Fraktionen ergibt deshalb zwar durchaus die Möglichkeit einer intensiven Sachdiskussion, allerdings letztlich ohne Einfluß auf die Mehrheitsverhältnisse. Gerade weil die Fraktionen bei der Vielschichtigkeit und Komplexität der heutigen Gesetzgebungsmaterie auf das Votum der Experten in den Ausschüssen vertrauen müssen, erwarten sie auf der anderen Seite, daß die Ausschußmitglieder Vorgaben aus Arbeitsgruppen, Arbeitskreis oder Fraktion umsetzen. Es erscheint deshalb undenkbar, daß die Vertreter einer Fraktion eine Vorgabe aus dieser im Ausschuß ohne Rückkopplung aufgeben.

1138

6. Teil: D e r Bundestag als F o r u m u n d zentraler O r t der politischen Willensbildung

III. Mechanismen und Ablauf der Vorbereitung der Ausschußarbeit 1. Anlaß und Beginn der Vorbereitungsarbeit 20 Die Vorbereitung der Ausschußarbeit durch die Fraktionen beginnt konkret in D e r Beginn der ¿ ε π ι Moment, in dem ein Gesetzgebungsvorhaben das Parlament erreicht oder ein Vorbereitung Thema eine Aktualität bekommt, die eine Befassung des Ausschusses oder gar des vorgegebener Themen Plenums wahrscheinlich oder aus Sicht einer Fraktion politisch wünschenswert erscheinen läßt. Davon zu trennen ist die schon weit früher einsetzende Befassung mit zu erwartenden Gesetzgebungsvorhaben oder mit Themen, die für eine mögliche Ausschußberatung durch die Fraktionen erst aufbereitet und aktualisiert werden. 21 Die Einbringung und Vorbereitung von Themen für die Ausschußbefassung, Die Entwicklung J¡ e n i c h t mit Gesetzgebungsvorhaben der Regierung zusammenhängen, ist dabei eigener Themen j e r Opposition weit stärker ausgeprägt. Sie muß versuchen, Ausschüsse und Plenum mit möglichst vielen Themen außerhalb der laufenden Gesetzgebung zu befassen, da sie nur auf diese Weise über das Parlament ein Gegengewicht zur Öffentlichkeit der Regierungsarbeit erreichen kann. Allerdings ist dabei zu beachten, daß es sich hierbei in der überwiegenden Anzahl um Aktivitäten handelt, bei denen die Ausschußbefassung entweder gar nicht erfolgt oder zweitrangig ist. Es handelt sich dabei im eigentlichen Sinne nicht um eine Vorbereitung der Ausschußarbeit, steht aber in engem Sachzusammenhang. Dies gilt beispielsweise für die Einbringung von Kleinen und Großen Anfragen, die keine Ausschußarbeit kennen oder bei Aktuellen Stunden, die dennoch meist den Aufgabenbereich eines Ausschusses oder sogar dort aktuell behandelte Themen betreffen. In allen Fällen, also sowohl bei Vorlagen der Regierung als auch bei Themen, die entweder durch äußere Ereignisse aktuell werden oder die aus Partei und Fraktion, durch einen einzelnen Abgeordneten, durch die Fraktionsführung oder durch Parteibeschlüsse aufgeworfen werden, bestimmen die Arbeitsgruppen einen Berichterstatter, der sich dieser Frage annimmt und seine Wertung oder Vorschläge der Arbeitsgruppe präsentiert. 2. Die Abfolge der Abstimmungsmechanismen 22 Die Abfolge der Abstimmungsmechanismen ist geprägt von dem zeitlichen Aufbau Die Anpassung der d e r parlamentarischen Sitzungswochen, wobei die Sitzungen der Fraktionsgremien Mechanismen an die w ¡ e < j e r u m ihrerseits auf die Erfordernisse dieser Abstimmungen ausgerichtet sind. Sitzungswoche

a) Der engere

Fraktionsvorstand

23 In der Regel beginnt die Abfolge am Montag einer Sitzungswoche mit dem Die Rolle des engeren Zusammentreffen des engeren Fraktionsvorstandes (Fraktionsvorsitzende, Fraktionsvorstandes Geschäftsführer sowie gegebenenfalls Vertreter der Regierung oder der Partei). Dieses Gremium befaßt sich zwar nicht mit Detailfragen der Vorbereitung oder Gestaltung der Ausschußarbeit, aber sehr intensiv mit der Abklärung politischer Prioritäten und möglicher Streitpunkte innerhalb der Fraktion und mit dem politischen Gegner. Insoweit fällt hier die Vorentscheidung, welche Materien auch

§41

V o r b e r e i t u n g und G e s t a l t u n g der A u s s c h u ß a r b e i t d u r c h die F r a k t i o n e n (MELZER)

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der Ausschußarbeit routinemäßig vorbereitet werden und welche Materien besonders gewichtet werden, das heißt wo engere Abstimmung zwischen der zuständigen Arbeitsgruppe und dem Fraktionsvorstand sowie eine Betonung der öffentlichen Darstellung der Fraktionsposition für erforderlich gehalten wird. b) Arbeitsgruppen

und

Arbeitskreise

Der Sitzung des engeren Fraktionsvorstandes am Montag folgt in der Regel nicht 2 4 die Sitzung des Fraktionsvorstandes, vielmehr treten am Dienstag zunächst D i e S i t z u n g e n der Arbeitsgruppen und Arbeitskreise zusammen. Dies bedeutet, daß im engeren Arbeitsgruppen und Fraktionsvorstand entwickelte Vorstellungen oder aufgeworfene Fragen, welche die Ausschußarbeit der laufenden Woche betreffen, direkt ohne vorherige Befassung des Fraktionsvorstandes oder der Gesamtfraktion in die Arbeitsgruppe eingespeist werden müssen, sofern von diesen noch Umsetzungsarbeit geleistet werden muß. Arbeitsgruppen und Arbeitskreise behandeln in ihren Sitzungen sowohl die 2 5 politisch aktuellen Fragen, welche sachlich in den Bereich des von ihnen betreuten D i e A d d r e s s a t e n d er Ausschusses gehören, ohne daß bereits oder überhaupt eine Ausschußberatung S i t z u n g s e r g e b n i s s e ansteht, als auch die Fragen, die sich aus der Tagesordnung des Ausschusses ergeben. Die Behandlung der Themen hat dabei zwei Addressaten, nämlich Fraktionsvorstand und Fraktion für die interne Abstimmung einerseits und die Ausschußberatung andererseits. Wird in der Arbeitsgruppe erkennbar, daß ein Thema innerhalb der Arbeitsgruppe oder im Verhältnis zu anderen Gruppierungen der Fraktion oder Partei bzw. bei Regierungsfraktionen im Verhältnis zur Regierung streitig werden oder daß sich eine besondere, auch öffentlich bedeutsame Konfrontation mit dem politischen Gegner ergeben kann, bringt die Arbeitsgruppe das Thema auf die Tagesordnung zumindest des Fraktionsvorstandes, wenn nicht auch der Gesamtfraktion. Daneben werden alle wichtigeren Themen, bevor die abschließende Ausschußberatung ansteht, der Fraktion unterbreitet, bei Routineangelegenheiten erfolgt die Befassung der Fraktion dagegen in der Regel erst vor der Behandlung im Plenum. c) Fraktionsvorstand

und

Gesamtfraktion

Nach den Arbeitsgruppen und Arbeitskreisen, aber vor den Ausschußsitzungen 2 6 am Mittwoch und den Plenarsitzungen am Donnerstag und Freitag tagen am D i e B e f a s s u n g von Dienstag regelmäßig Fraktionsvorstand und Fraktion. Dabei erfolgen kaum einmal F r a k t i o n s v o r s t a n d und G e s a m t f r a k t i o n inhaltliche Detailberatungen von Themen folgender Ausschußsitzungen, vielmehr verfolgen die Beratungen in diesen Gremien das Ziel, abzuklären, ob die in den Arbeitsgruppen entworfenen Vorstellungen dem politischen Gesamtbild der Fraktion entsprechen, ob die notwendige Abstimmung mit anderen Sachbereichen und anderen Gremien erfolgt ist, ob sich aus der besonderen Sachkunde eines Abgeordneten der Fraktion zusätzliche Erkenntnisse ergeben. Vor allem aber wird hier entschieden, ob die Auffassung der Arbeitsgruppe, welche diese im Ausschuß vertritt, anschließend die geschlossene Zustimmung der Fraktion im Plenum finden kann, und es wird ermöglicht, daß alle Abgeordneten in Kenntnis der beabsichtigten Fraktionshaltung sich öffentlich äußern können.

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6. Teil: D e r Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

3. Die inhaltliche Zielrichtung und Gebundenheit der Vorbereitungsarbeit 2 7 Die Zielrichtung der Vorbereitungsarbeit der Fraktionen ist in sehr hohem Ausmaße entscheidungsbetont, das heißt es geht nicht so sehr darum, die Ausschußberatungen so vorzubereiten, daß dort ein vorher noch offenes Ergebnis gefunden werden, sondern daß in der Fraktion entschieden werden kann, welches Ergebnis im Ausschuß angestrebt und getragen werden soll. Dies schließt nicht aus, daß im Ausschuß durchaus eine sehr sachbezogene, argumentative Auseinandersetzung möglich ist und daß sich die Fraktionen auf solche Diskussionen, oft weniger mit der gegnerischen Fraktion als mit den Vertretern der Regierung, sehr intensiv vorbereiten. Natürlich werden eigene Entwürfe wie Vorlagen der Gegenseite auf ihre sachliche Konsistenz und ihre Entsprechung zu der verfolgten politischen Absicht von den Experten sehr genau durchberaten, offene Fragen herausgearbeitet und Alternativen auch im Detail entwickelt.

Die Betonung der Entscheidungsfindung

28

Im Vordergrund steht aber immer die Vorbereitung des Votums, das regelmäßig in der Fraktion vor der Beschlußfassung im Ausschuß festgelegt wird. Dies ist im Ausschuß noch weit zwingender als im Plenum, wenn man sich vergegenwärtigt, daß eine Mehrheit von 20 Sitzen im Plenum bei einem durchschnittlichen Ausschuß immer noch nur einer EinStimmenmehrheit entspricht. Deshalb wird in Fällen, in denen im Ausschuß überraschend eine unvorbereitete Entscheidungssituation entsteht, fast immer eine Unterbrechung für eine Sitzung der Fraktionsarbeitsgruppen nötig werden.

29

Die sogenannte NichtÖffentlichkeit hat auf diese Gebundenheit wenig Einfluß. Sie kann weder hindern, daß Fraktion oder Partei eine für falsch gehaltene Entscheidung kritisieren mit erheblichem politischen Schaden für den verantwortlichen Arbeitsgruppenvorsitzenden, noch daß bestimmte Argumentationen im Ausschuß bekannt werden, da die anwesenden Vertreter der Länder und Ressorts eine durchaus wirksame und bedeutsame Öffentlichkeit darstellen. Deshalb umfaßt die Gebundenheit der Ausschußarbeit durch die Vorbereitung in der Fraktion auch die politisch für wichtig angesehene Argumentation.

Die Vorbereitung des Votums

Die Bindungswirkung und die NichtÖffentlichkeit des Ausschusses

4. Die Rolle des Berichterstatters 3 0 Sobald ein Ausschußthema festliegt oder von einer Fraktion geplant wird — diese Die Bestimmung des Planung kann von der Fraktion und Fraktionsführung kommen oder getragen Berichterstatters w e r c j e r l j s ; e k a n n sich aber zunächst auch nur auf die zuständige Arbeitsgruppe beschränken —, wird ein Berichterstatter (oder bei komplexen Materien eine Gruppe) bestimmt, der (die) grundsätzlich die Verantwortung für die weitere Behandlung trägt. Allerdings relativiert sich dies je nach der politischen Bedeutung des Themas und dem politischen Gewicht des Arbeitsgruppenvorsitzenden, der für besonders wichtig gehaltene Themen jederzeit zum Gegenstand der Behandlung in der Arbeitsgruppe und auch in informellen Gesprächskreisen machen kann. Die Arbeit der Fraktion kennt insoweit nicht die Formalität der Ausschüsse, sondern bestimmt sich immer wieder selbst durch politische Erfordernisse und politische Durchsetzungskraft.

§41

Vorbereitung und G e s t a l t u n g der Ausschußarbeit durch die Fraktionen (MELZER)

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Der Berichterstatter kann dann frei über die von ihm bei der Vorbereitung 31 einzusetzenden Mittel entscheiden. Er kann den Apparat der Fraktion, den wissen- D i e Möglichkeiten schaftlichen Dienst des Bundestages, Vertreter der Ressorts, Fraktions- und Partei- Berichterstatters freunde sowie Experten heranziehen. Die Intensität der Vorbereitung hängt nicht nur von der politischen Bedeutung des Themas, sondern ebenso von dem Engagement des Abgeordneten ab. Gerade bei inhaltlich sehr schwierigen Themen, die sich nicht auf klare politische Vorgaben reduzieren lassen, kann ein einzelner berichterstattender Abgeordneter hier die Entscheidung seiner Fraktion und damit auch die folgende Ausschußarbeit entscheidend prägen, da die Fraktion dabei darauf angewiesen ist, sich auf das Votum des Experten zu verlassen. Berichterstatter der Regierungsfraktionen stützen ihre Vorbereitung ganz regel- 3 2 mäßig auf die Zusammenarbeit mit den Vertretern der Ressorts ab. Dies ermöglicht D e r Einfluß der zwar einerseits eine hohe Ausnutzung der Arbeitskapazität, verstärkt aber anderer- Exekutive seits das Gewicht der Exekutive gegenüber der Legislative in teilweise nicht mehr kontrollierbarem Ausmaße. Es gibt Fälle, in denen der Regierungsentwurf und der Ausschußbericht, die Große Anfrage einer Fraktion und die Antwort der Regierung und der Debattenbeitrag aus der Fraktion von ein und demselben Referenten eines Ressorts geschrieben werden.

des

5. Vorbereitung in Arbeitsgruppen und Arbeitskreisen Arbeitsgruppen und Arbeitskreise sind die entscheidenden Gremien der Vorberei- 33 tung der Ausschußarbeit. Sie setzen sich zusammen aus den Ausschußmitgliedern D i e A r b e i t s g r u p p e n der Fraktion, eventuell ergänzt durch sachverständige Fraktionsmitglieder, die als zentrale G r e m i e n der V o r b e r e i t u n g (auch) anderen Ausschüssen angehören. Die Beratung der Materie in den Arbeitsgremien unterliegt zunächst derselben 34 Zielsetzung wie im Ausschuß selbst, es soll die sachliche Konsistenz eines Vorha- D i e Ziele der A r b e i t in bens (oder einer Regierungshandlung) und ihre Entsprechung zu politischen den A r b e i t s g r u p p e n und die U n t e r s c h i e d e Zielsetzungen abgeklärt werden. Dennoch ergeben sich eine ganze Reihe entschei- zur Ausschußarbeit dender Abweichungen: Die Arbeitsgruppen verfügen über eine größere Vielzahl von Instrumenten. Sie können nicht nur wie der Ausschuß Vertreter der Ressorts oder in Anhörungen Interessenvertreter und Sachverständige heranziehen, sondern sie können auch sehr viel flexibler kleinere Arbeitsgruppen und gemeinsame Arbeitsgremien mit Experten bilden, können vor allem ihre Sitzungsfrequenz und die Schwerpunkte ihrer Tagesordnung freier bestimmen. Die Arbeitsgruppen verfügen weiterhin tatsächlich im Gegensatz zu dem Ausschuß über eine weitgehende Nichtöffentlichkeit, das heißt über die Möglichkeit, Meinungen auch sehr streitig auszutragen. In den Fraktionsarbeitsgruppen stehen sich nicht zwei getrennte Lager gegen- 35 über, deren Mitglieder sich jeweils gegenseitig unterstützen, wobei sehr oft nicht D i e ein gemeinsames Ergebnis der beiden Lager, sondern eine klare Abgrenzung des gegensätzlicher Positionen angestrebt wird. Vielmehr hat die Diskussion in den Fraktionsarbeitsgruppen immer das Ziel, individuelle Auffassungen auf eine einzige Gesamtauffassung zuzuführen. Die Diskussion innerhalb der Fraktion ist

Notwendigkeit Konsenses

1142

Die

6. T e i l : D e r B u n d e s t a g als F o r u m und zentraler O r t der politischen W i l l e n s b i l d u n g

deshalb regelmäßig offener und vielfältiger als im Ausschuß, aber auch immer auf K o m p r o m i ß und Konsens ausgerichtet. D a s Ergebnis muß sein, daß alle Mitglieder letztlich das Votum mittragen können. 36 Eine weitere grundsätzliche Abweichung der Arbeit in den Fraktionsgremien V o r b e r e i t u n g d e s ergibt sich ganz zwingend aus ihrem Vorbereitungscharakter. Es werden nicht nur V o t u m s und der Sachverhalte aus eigener Sachkenntnis behandelt und Fragen zur Aufklärung an erforderlichen A u f k l ä r u n g Experten gestellt, um das eigene Votum zu diesen Sachverhalten und Fragen festzulegen, sondern es werden vor allem auch die Fragestellungen vorbereitet, welche im Ausschuß an die Experten, Vertreter der Regierung oder Interessenvertreter gestellt werden sollen. Dabei erfolgt die Vorbereitung dieser Fragestellungen unter zwei Gesichtspunkten. Der erste, zunächst augenscheinliche, ist die inhaltliche Aufklärung zur Findung des eigenen Votums. In der Praxis tritt dieser Aspekt jedoch deutlich zurück hinter der Suche nach zusätzlichen Bestätigungen für die bereits zuvor intern festgelegte Entscheidung und Argumentation. Der Ausschuß ist für die Fraktion in starkem Maße auch ein Übungsplatz für die später folgende argumentative Auseinandersetzung im Plenum und in der Öffentlichkeit. Deshalb legen Arbeitsgruppen der Regierungsfraktionen größten Wert darauf, bereits in der Arbeitsgruppe Ubereinstimmung mit der Regierung herzustellen, während O p p o sitionsfraktionen intensiv darum bemüht sind, Konflikte von Regierungsvorhaben mit bestimmten öffentlichen Interessen deutlich zu machen. Oppositionsfraktionen können nur in ganz wenigen Ausnahmefällen anstreben, im Ausschuß zu sachlichen Kompromissen zu kommen und dafür Vorschläge auszuarbeiten, in aller Regel geht es darum, Schwachstellen von Regierungsvorhaben aufzuzeigen und dagegen Argumentationen zu entwickeln, nicht aber diese Schwachstellen zu bereinigen.

37 D i e V o r b e r e i t u n g von „unpolitischen" Materien

Dabei ist allerdings immer zu berücksichtigen, daß ein sehr großer Teil der Ausschußarbeit eine letztlich unpolitische Materie betrifft. In diesem Bereich ist jedoch auch die Vorbereitung der Ausschußarbeit durch die Fraktion allein den Experten überlassen, ohne daß besondere politische Abstimmungsmechanismen Bedeutung gewinnen.

IV. Die Gestaltung der Ausschußarbeit durch die Fraktion 1. D i e R o u t i n e der A u s s c h u ß a r b e i t

38 Die grundsätzliche Gestaltung der Ausschußarbeit durch die Fraktionen leitet sich Der Vorrang von O b m a n n und Berichterstatter

aus dem bereits zur Vorbereitung Ausgeführten ab. Im Hinblick auf die durch diese Vorbereitung eingetretene Gebundenheit überlassen die Fraktionen weitgehend zu allgemeinen Fragen die Wortführung dem O b m a n n , zu Sachthemen dem jeweiligen Berichterstatter. Die innerhalb der Fraktion aufgeworfenen Fragen, Argumentationen und Entscheidungen werden abgewickelt. Tauchen während der Sitzung nichtvorbereitete Fragen auf, werden, soweit irgend möglich, nur allgemeine Stellungnahmen abgegeben, um zunächst die Rückkopplung in der Fraktion zu suchen.

§41

Vorbereitung und Gestaltung der Ausschußarbeit durch die Fraktionen (MELZER)

1143

Die Sachbezogenheit und Harmonie vieler Ausschußberatungen beruht meist nicht auf derem oft beschriebenen sachlichen und nichtöffentlichen Charakter, sondern in dem klaren Wissen ihrer Mitglieder über die grundsätzliche Gebundenheit des jeweiligen Gegenübers. Dies ermöglicht vielfach eine eher ironische als harte und auch durchaus sachbezogene Diskussion, ohne daß sich im Ausschuß selbst die Entscheidungslage verändern würde. Die wirkliche Entscheidungssuche ist in der Fraktion erfolgt oder wird dorthin übertragen. Wirklichen Einfluß auf die Entscheidung haben letztlich nur öffentliche Ausschußsitzungen, also vor allem Hearings, deren Ergebnisse durchaus die Meinungsbildung der Fraktionen in Frage stellen können, in denen die Vertreter der Fraktionen zwar versuchen, Unterstützung für ihre Meinung zu finden, aber gleichzeitig Offenheit für andere Meinungen, die nicht vorher genau erkennbar waren, zeigen müssen.

39 Die Offenheit fur eine ÄnderunS des V o t u m s

40 Die Sondersituation ° f f e n t ' i c ' i e r Sitzungen

2. Sondersituationen, der überparteiliche K o m p r o m i ß Vor eine andere Ausgangslage sehen sich die Fraktionen gestellt, wenn eine Materie 41 derartige Bedeutung gewinnt, daß eine gemeinsame Entscheidung nicht Routine Die Mängel der ist, sondern die Akzeptanz des politischen Systems insgesamt in Frage steht. Hier scheint auf den ersten Blick die große Aufgabe der Ausschußarbeit und ihrer Kompromißfindung Vorbereitung durch die Fraktionen zu liegen. Die Erfahrung zeigt jedoch, daß gerade hier dieses Instrument, die Förmlichkeit des Ausschusses, seine eingeschränkte, aber doch vorhandene Öffentlichkeit, seine Festlegung auf bestimmte Mitglieder nicht trägt. Gerade in diesen Fällen sucht die Politik nach informellen Lösungen, vergleichbar dem Instrument des Koalitionsgesprächs. Die Suche nach einem überparteilichen Konsens in der Rentenreform Anfang 1989 ist ein klares Beispiel. Dieser Konsens wurde nicht in den zuständigen Ausschüssen des Deutschen Bundestages erarbeitet, sondern in informellen Gremien der Fraktionen und Parteien. Dafür kamen zwar dieselben Abstimmungsmechanismen der Fraktionen in Anwendung wie bei der Vorbereitung von Ausschußsitzungen, aber eben nicht mit der Zielrichtung der Ausschußbefassung. Als Schlußfolgerung daraus läßt sich ableiten, daß die Öffentlichkeit der 4 2 Ausschußsitzung einerseits zu groß ist, um eine wirkliche offene Diskussion zu Die Schlußfolgerung ermöglichen, andererseits zu klein, um die Fraktionen dort zu Meinungskorrekturen zu bewegen, daß die Ausschußarbeit zu formalisiert ist, um ein Forum wirklicher Kompromißsuche zu sein, daß die Vorbereitung und Gestaltung der Ausschußarbeit durch die Fraktionen letztlich vor allem dem Zweck der eigenen Meinungsbildung und ihrer Darstellung im Plenum und in der Öffentlichkeit dient, nicht aber der Arbeit im Ausschuß selbst. Der Ausschuß ist im wesentlichen das Forum, um die Meinungsbildung der Fraktionen überprüfen zu können.

§ 42 Öffentliche Anhörungen SUZANNE S . SCHÜTTEMEYER

I. Vorbemerkung und Fragestellungen Die Urteile der Rechts- und Politikwissenschaften über Funktionen und Nutzen der parlamentarischen Anhörungen in der Bundesrepublik sind kontrovers. Einerseits wird ihnen attestiert, die Forums- und Kontrollfunktion des Parlaments zu beleben, ohne der legislativen Effektivität Abbruch zu tun 1 ; sie seien zu einer „institutionellen Nahtstelle von staatlicher und gesellschaftlicher Machtausübung" geworden 2 . Andererseits erscheint ihr Informationswert für Abgeordnete, Exekutive und Öffentlichkeit gering, werden sie als „ritualisiertes Verfahren" eingeschätzt, das Entscheidungsinhalte nicht verändern kann, sondern nur noch zusätzlich legitimieren soll3. Parlamentsfunktionen werden im folgenden als Raster dienen, mit dessen Hilfe Bilanz gezogen werden soll für dieses Instrument, das bereits in der ersten Geschäftsordnung des Bundestages verankert worden war: Haben die öffentlichen Anhörungen die Gesetzgebungs- und Kontrollfunktion des Parlaments gestärkt und strukturelle Nachteile (insbesondere der Opposition) gegenüber der Exekutive abgebaut oder sind sie legitimatorisches Feigenblatt, das zudem noch den Gesetzgebungsprozeß verlangsamt? Ist die Kapazität des Bundestages, Interessen zu artikulieren, durch Hearings vergrößert worden? Wird der Bundestag mit ihrer Hilfe seiner Offentlichkeitsfunktion besser gerecht, das Publikum zu informieren und den politischen Prozeß transparent zu machen?

1 Urteile über

jj^nktionen u n t ' p a r i a m e n t a r ; s c her Anhörungen

2 Parlamentsfunktionen

¡^^'«el'lun"en S ^

II. Hearings — ein amerikanisches Erbe? Im US-Kongreß geht einer Abstimmung über eine Gesetzesvorlage im Ausschuß 3 in aller Regel ein Hearing (oder mehrere) voran 4 . Diese Praxis parlamentarischen Hearing: Untersuchungsrechts kann sich nicht auf eine ausdrückliche Ermächtigung durch und US-Verfassung, Supreme Court die Verfassung stützen. Durch die „implied-powers-theory" des Supreme Court 1

2 3

4

Vgl. F. W . A P P O L D T Die Öffentlichen Anhörungen („Hearings") des Deutschen Bundestages, Berlin 1971, S. 112. Ebd. S. 106. Vgl. H.-J. M E N G E L Die Funktion der parlamentarischen A n h ö r u n g im Gesetzgebungspro/.eß, in: D Ö V 1983, S. 226-233, S.233. Vgl. z . B . M . E . J E W E L L und S . C . P A T T E R S O N The Legislative Process in the United States, 4. Auflage, N e w Y o r k 1986, S. 161 f.

1146

6. Teil: Der Bundestag als Forum und zentraler Ort der politischen Willensbildung

wurde vielmehr dem Kongreß zugestanden, daß er zur Erfüllung seiner verfassungsmäßigen Gesetzgebungskompetenzen auch Untersuchungskompetenzen wahrnehmen mußte 5 . Erst das Recht, sich im Kontakt mit Betroffenen und Experten die nötigen Informationen zu verschaffen, erst die Auskunftspflicht der Exekutive gegenüber dem Parlament (in den Grenzen des „executive privilege") ermöglichen es diesem, seinen Aufgaben als Legislative nachzukommen. Folgerichtig erkannte das Oberste Gericht dem Kongreß das Recht zu, strafrechtliche Sanktionen gegen Auskunftspersonen zu verhängen, um die gewünschten Informationen zu erhalten. „investigative hearings", Anhörungen zu Gesetzesvorhaben

Zwar gibt es im Kongreß auch „investigative hearings", die in Inhalt und Zielsetzung eher den deutschen Untersuchungsausschüssen, der Praxis von Skandal- und Mißstandsenqueten ähneln; bei fließenden Grenzen ist allerdings der weitaus größte Teil der Anhörungen in Senat und Repräsentantenhaus der Vorbereitung von Gesetzesvorhaben gewidmet. Damit eröffnen sie zum einen den beteiligten und betroffenen Interessen die Möglichkeit, ihre Positionen und Sicht der Fakten darzulegen; zum anderen dienen sie als Informationsquelle für die Abgeordneten, nicht zuletzt gegenüber der Exekutive und ihrer Bürokratie, die keinen Zutritt zu den Plenarberatungen des Kongresses hat. Hearings sind zudem ein Mittel, um Unterstützung für oder Opposition gegen eine Gesetzesvorlage zu mobilisieren — sowohl innerhalb von Senat oder Repräsentantenhaus als auch außerhalb bei Wählern und Öffentlichkeit. Auch wenn einzelne Aspekte der Hearings eher skeptisch beurteilt werden —

Hearings als Kernstück ζ. B. ihr meinungsbildender Wert für die Abgeordneten 6 — gelten sie insgesamt der Tätigkeit als „Kernstück der Tätigkeit des amerikanischen Parlaments" 7 . des US-Kongresses

6

Die Anschauung dieses Beispiels veranlaßte KARL MOMMER (SPD), in der

Regelung über ersten Legislaturperiode des Deutschen Bundestages dem Geschäftsordnungsaus„öffentliche schuß vorzuschlagen, „öffentliche Ausschußuntersuchungen" in der neuen InformationsGeschäftsordnung vorzusehen. Während Vorstöße, die Sitzungen der Bundessitzungen" in der G O B T von 1951 tagsausschüsse generell öffentlich abzuhalten, ohne Erfolg blieben, wurden

„öffentliche Informationssitzungen" in die Regelung des § 7 3 der G O von 1951 aufgenommen 8 . Der Vorsitzende des Geschäftsordnungsausschusses bezeichnete dies als „komplette Übernahme des amerikanischen Systems der public hearings" 9 .

Rechtsgestalt der deutschen Anhörungen

Mag dies auch die Intention im ersten Bundestag gewesen sein: Die tatsächliche Rechtsgestalt der deutschen Anhörungen blieb hinter jener der Kongreßhearings zurück. Der investigatorische Charakter, wie er aus den amerikanischen BestimFür die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Hearings in den U S A siehe ausführlich F. W. APPOI.DT ( F n . 1) S. 3 0 ff.

Vgl. H.WASSER Die Vereinigten Staaten von Amerika. Porträt einer Weltmacht, Stuttgart 1980, zitiert nach der Taschenbuchausgabe, Frankfurt/M. u.a. 1984, S.353. E.FRAENKEL Das amerikanische Regierungssystem, 3. Aufl., Opladen 1976, S.303; ebenso H.WASSER ( F N . 6 ) S. 134.

Für die Geschichte der Entwicklung der einschlägigen bundesdeutschen Geschäftsordnungsbestimmungen siehe R. TENHAEF Die öffentlichen Anhörungen der Ausschüsse des Deutschen Bundestages im parlamentarischen Entscheidungsprozeß, Magisterarbeit, Bonn 1985. So H . G . RITZEL in der 119. Sitzung der l . W P , Sten. B e r . , S. 4 5 5 7 D .

§ 42

Ö f f e n t l i c h e A n h ö r u n g e n (SCHÜTTEMEYER)

1147

mungen hervorgeht und durch die Einräumung von Zwangsmitteln unterstrichen wird, wohnte dem deutschen §73 Abs. 2 nicht inne: „ D e r n i c h t ö f f e n t l i c h e n S i t z u n g k ö n n e n auf B e s c h l u ß d e s A u s s c h u s s e s ö f f e n t l i c h e I n f o r m a t i o n s s i t z u n g e n v o r a n g e h e n . Z u d i e s e n s i n d nach B e d a r f I n t e r e s s e n v e r t r e t e r ,

Auskunftspersonen

u n d S a c h v e r s t ä n d i g e , die P r e s s e s o w i e s o n s t i g e Z u h ö r e r z u g e l a s s e n , s o w e i t es d i e R a u m v e r h ä l t nisse gestatten."

In dieser Form kann die bundesdeutsche Regelung durchaus als Weiterentwick- 8 lung älteren deutschen Parlamentsrechts — von der Paulskirchenversammlung, W e i t e r e n t w i c k l u n g dem Reichstag des Norddeutschen Bundes und des Kaiserreiches bis hin zur d e s älteren d e u t s c h e n Parlamentsrechts Weimarer Republik — angesehen werden, deren Initialzündung nach dem Zweiten Weltkrieg zwar aus den Vereinigten Staaten kam, jedoch eben nicht zur vollständigen Kopierung der amerikanischen Hearings führte. Gänzlich durchgesetzt hat sich allerdings der Terminus: Die in der G O vorgegebenen Begriffe „öffentliche Informationssitzung" oder „öffentliche T e r m i n u s in P r a x i s Anhörung" werden kaum verwendet; Praxis und Wissenschaft sprechen von u n d W i s s e n s c h a f t „Hearings".

III. Die Entwicklung der Hearings in Recht und Praxis des Deutschen Bundestages Die 1951 beschlossene Fassung des §73 G O B T blieb bis 1969 unverändert. 10 Empfehlungen der Interparlamentarischen Arbeitsgemeinschaft „Zur Regelung der Entwicklungen auf Interessenvertretung" von 1965, die u.a. das Instrument des Hearings stärken wollten, wurden nicht in konkrete Maßnahmen des Bundestages umgesetzt. Erst im Zuge der „Kleinen Parlamentsreform" wurde § 73 G O B T in bezug auf Hearings leicht verändert und ergänzt. So hatte die Einführung des Selbstbefassungsrechts der Ausschüsse entsprechende Anpassungen für Anhörungen erforderlich gemacht: Für überwiesene Vorlagen wurden Hearings zu einem Minderheitenrecht ausgestaltet; für nicht überwiesene blieb es der Ausschußmehrheit vorbehalten, Anhörungen zu beschließen. Außerdem flössen Erfahrungen, die inzwischen mit der Anwendung des §73 G O B T gcmacht worden waren, in Regelungen ein, die die Durchführung der Hearings effektiver machen sollten. 1975 räumte der Bundestag durch Einfügung eines weiteren Absatzes in §73 G O B T kommunalen Spitzenverbänden eine Sonderstellung ein. Die 1980 vorgenommene Gesamtrevision der Geschäftsordnung — seither sind „öffentliche Anhörungssitzungen" in § 70 G O B T geregelt — brachte keine nennenswerten Veränderungen mit sich, sondern stellte im wesentlichen Rechte der Ausschußminderheit und mitberatender Ausschüsse klar, ersetzte die Mußvorschrift hinsichtlich schriftlicher Stellungnahmen von Auskunftspersonen durch eine Sollvorschrift und begründete die Geltung der Vorschriften über öffentliche Anhörungen auch für Anhörungen in nichtöffentlicher Sitzung 10 . Die Grundregel für Hearings in der Geschäftsordnung lautet heute: 10

Siehe d a z u im e i n z e l n e n die K o m m e n t i e r u n g d e s § 7 0 , in: H . TROSSMANN u n d H . - A . ROLL P a r l a m e n t s r e c h t d e s D e u t s c h e n B u n d e s t a g e s , E r g ä n z u n g s b a n d , M ü n c h e n 1981, S. 1 5 3 - 1 5 9 .

1148

6. Teil: Der Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

„Zur Information über einen Gegenstand seiner Beratung kann ein Ausschuß öffentliche Anhörungen von Sachverständigen, Interessenvertretern und anderen Auskunftspersonen vornehmen."

11

Auch wenn hinsichtlich der alten wie der neuen Fassung der Geschäftsordnung unstrittig ist, daß Anhörungen sowohl der Information des Ausschusses durch die (Bereichs-)Öffentlichkeit als auch der Information der Öffentlichkeit durch den Ausschuß dienen können, so machen die unterschiedlichen Formulierungen doch eine Gewichtsverlagerung deutlich: Die Wortwahl von 1951 rückt die Herstellung von Öffentlichkeit in den Vordergrund; 1969 liegt die Priorität auf der Informationsgewinnung für den Ausschuß. O b hiermit eine Veränderung in der Praxis und Bewertung der Funktionen von Hearings einhergeht, wird noch zu erörtern sein.

12

Obwohl also die erste Geschäftsordnung des Bundestages die Anhörungen verankerte und obwohl mindestens die Initiatoren dieses Instruments einige Erwartungen daran knüpften, fand in der ersten Wahlperiode kein Hearing statt; in der zweiten und dritten gab es jeweils eins und in der vierten sechs. In der fünften Wahlperiode stieg die Zahl der öffentlichen Anhörungen sprunghaft auf 58 an und erreichte ihren (vorläufigen) Höhepunkt 1983-1987 mit 165 Hearings". Diese quantitative Entwicklung wirft zwei Fragen auf: Worauf ist die nahezu Verzehnfachung der Hearings von der vierten zur fünften Wahlperiode zurückzuführen? Warum verdoppelte sich ihre jährliche Durchschnittszahl noch einmal in der zehnten, nachdem sie sich auf durchschnittlich 18 bis 20 Anhörungen pro Jahr eingependelt hatte?

13

Zweifelsohne spielte die Raumnot, in der der Bundestag seine Arbeit in den ersten zwei Jahrzehnten der Bundesrepublik verrichten mußte, eine gewisse Rolle für die seltene Durchführung von Hearings 1 2 . Nicht ohne Grund hatte die erste Fassung der G O B T den Zusatz in § 73 erhalten: „ . . . soweit es die Raumverhältnisse gestatten". Allerdings ist der drastische Anstieg der Hearings 1965 erfolgt — also noch vor Fertigstellung des neuen Hochhauses, so daß das praktische Defizit geeigneter Sitzungszimmer nicht allein für den sparsamen Umgang mit diesem Instrument verantwortlich ist. Gewichtiger scheint die Unerfahrenheit der Nachkriegsparlamentarier gewesen zu sein, die nur insoweit mit parlamentarischem Untersuchungsrecht und auch dann nur in engerem Sinne vertraut waren, als sie im Reichstag der Weimarer Republik Mandate innegehabt hatten. Deshalb war Angst vor Fehlschlägen 13 genauso ein Grund für die Zurückhaltung gegenüber der Veranstaltung von Hearings wie die aus traditionellem Soupçon gespeiste Befürchtung, daß die Mitwirkung von Interessengruppen Sachlichkeit und „Objektivität" der Ausschußberatungen beeinträchtigen könnte 14 .

Gewichtsverlagerung

Quantitative Entwicklung der Hearings, Fragestellungen

Faktoren für die Hearing-Abstinenz in den ersten vier Wahlperioden

Zu diesem nicht besonders „hearing-freundlichen" Hintergrund trat die Fixierung der ersten Bundestage auf die Plenararbeit. Erst seit dem Einzug der Grünen 11

Vgl. zur statistischen Erfassung der öffentlichen Anhörungen P.SCHINDLER Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages, Band 1: 1949-1982, Bonn 1983, S. 603 ff; Band 2: 1980-1984, Baden-Baden

1 9 8 6 , S . 5 8 6 f f ; 1 9 8 0 - 1 9 8 7 , B a d e n - B a d e n 1 9 8 8 , S . 4 8 2 ff

(5.WP:58,

6. W P : 8 0 , 7. W P : 7 6 , 8 . W P : 7 0 , 9 . W P : 5 1 , 10. W P : 165 H e a r i n g s ) . 12

13 14

Vgl. G . LOEWENBERG Parlamentarismus im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, Tübingen 1971. Vgl. R. TENHAEF (Fn. 8) S. 26 unter Berufung auf M d B MOMMER. V g l . G . L O E W E N B E R G ( F n . 12) S . 3 3 8 F .

§42

Öffentliche Anhörungen (SCHÜTTEMEYER)

1149

ins Parlament 1983 wurden wieder Plenarsitzungszeiten erreicht, wie man sie aus den ersten beiden Legislaturperioden kannte. Entsprechend geringer war zunächst die Bedeutung der Ausschüsse, was teilweise durch anstehende Themen (ζ. B. Grundsatzfragen der Außenpolitik), teilweise durch das Selbstverständnis der Abgeordneten bedingt wurde. Diese Faktoren hätten wahrscheinlich nicht die fast vollständige HearingAbstinenz des Bundestages bewirkt; ausschlaggebend war der Zeitdruck, unter dem eine Fülle von gesetzgeberischen Maßnahmen zur Bewältigung der Kriegsfolgen getätigt werden mußte: „Öffentliche Informationssitzungen galten als Zeitvergeudung." 1 5 Die allmähliche Verlagerung der Parlamentsarbeit vom Plenum auf die Ausschüsse und der Wandel in der S P D von einem kompetitiven zu einem kooperativen Oppositionsstil, der die „Mitregierung" über die Ausschüsse suchte, stellten Rahmenbedingungen für eine häufigere Nutzung der Hearings her. In der ersten Jahreshälfte 1966 wurden zwei große Anhörungen zur Reform des politischen Strafrechts und zur Einführung der Mehrwertsteuer veranstaltet. Die Erfolgsbilanzen und die Zufriedenheit, die Anhörende wie Angehörte äußerten, mögen als Initialzündung gewirkt haben 16 , die sich unter den spezifischen Bedingungen der Großen Koalition besonders gut fortsetzen konnte. Eine übermächtige Regierungsmehrheit und eine auf 49 Abgeordnete reduzierte Opposition ließen einerseits Transparenz des politischen Prozesses als immer dringlicher erscheinen; andererseits konnte sich bei solchen Verhältnissen das Parlament als eigenständige Größe gegenüber der Regierung profilieren, was zu verstärkten Forderungen nach Effizienz der parlamentarischen Arbeit führte. Ein Mittel, das beiden Zwecken diente, war das Hearing. Es schuf Möglichkeiten für die Abgeordneten, sich unabhängig von der Ministerialbürokratie zu informieren und Sachverstand anzueignen; damit wurden gleichzeitig die Chancen der Regierungskontrolle — auch mehrheitsintern — verbessert. Hearings erlaubten der Opposition, sich der Öffentlichkeit als einziger parlamentarischer Gegenpol der Regierung zu präsentieren und stellten ein gewisses Maß an Durchsichtigkeit des Regierungshandelns her 17 . Hatten die Nachkriegsbedingungen die Anwendung des Hearings nachhaltig verlangsamt, so begünstigten die Konstellationen der Großen Koalition es überproportional. Dieses Zusammentreffen resultierte in einem „Anstieg und Popularitätsgrad, wie er in der Geschichte des Deutschen Bundestags bei wohl keiner anderen parlamentarischen Einrichtung oder Verfahrensweise auch nur annähernd beobachtet werden konnte" 1 8 . 15 16

17

18

R.TENHAEF (Fn.8) S.26. Vgl. H.RAUSCH Bundestag und Bundesregierung, München 1976, S. 112 f sowie J.WEBER Die Interessengruppen im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart u. a. 1977, S. 2 9 6 f. Schon in der Debatte zur Regierungserklärung Kiesingers im Dezember 1966 hatte der damalige Vorsitzende der SPD-Fraktion, HELMUT SCHMIDT, die Bedeutung der öffentlichen Anhörungen hervorgehoben und gefordert, dieses Mittel häufiger einzusetzen, 82. Sitzung der 5. WP, Sten. Ber., S. 3720 C / D . F . W . A P P O L D T ( F n . 1) S . 4 5 .

14

Gründe für die Abkehr von der Hearing-Abstinenz

15

Konstellationen der Großen Koalition und Entwicklung der Hearings

1150

16 Änderung der Geschäftsordnungsregelung über Hearings

17 Hearings in der 10. Wahlperiode, Oppositionsfraktionen und Hearings

18 Verhältnis von Hearings zu eingebrachten Gesetzentwürfen

6. Teil: D e r Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

Ohne im einzelnen auf Ziele und Dimensionen der Parlamentsreform von 1969 eingehen zu können 1 9 , erscheint folgende Vermutung in bezug auf die Änderung von § 73 Abs. 2 G O B T plausibel: Die Erfahrungen mit den Anhörungen im 5. Bundestag hatten die Abgeordneten gelehrt, daß mit diesem Instrument das Verhältnis des Parlaments zur Regierung zugunsten des ersteren verändert und seine Teilhabe am Gesetzgebungsprozeß vergrößert werden konnte. Nicht die Erhöhung der Transparenz und öffentlichen Partizipation stand im Vordergrund — dies sollte durch andere Teile der Reform erreicht werden; ohnehin war das Hearing bereits in der Geschäftsordnung von 1951 ein „öffentlichkeitsfreundliches" Element. Bei der Änderung des § 73 G O B T ging es primär um parlamentsinterne Gewichtsverteilungen: der Bundestag und/oder die Opposition als wirksamerer Gegenpart der Regierung, nicht als besserer Informant der Öffentlichkeit. Die Betrachtung der quantitativen Entwicklung der Hearings seit der S.Wahlperiode (vgl. Rdn. 12 i. V. m. Fn. 11) hatte ergeben, daß sich der jährliche Durchschnitt in der 10. Wahlperiode noch einmal ungefähr verdoppelte. Aus einer 1987 durchgeführten Umfrage der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages bei allen Ausschußsekretären 2 0 geht hervor, daß es überwiegend die Oppositionsfraktionen sind, die Anhörungen beantragen. Insofern ist der Einzug der Grünen in den Bundestag und die damit erfolgte Belebung zahlreicher parlamentarischer Aktivitäten 21 eine Ursache für den Anstieg der Hearings seit 1983. Durch den Regierungswechsel dürfte auch die S P D in ihrer neuen Rolle häufiger auf die Anhörung als Instrument der Opposition zurückgegriffen haben. O b über diese gleichsam „normale" gesteigerte Aktivität einer „neuen" Opposition hinaus die Entwicklung der Hearings in der 10. Wahlperiode ein Indiz für ein gewandeltes Parlaments- und Demokratieverständnis ist, wird bei der systematischen Analyse der Funktionen von Hearings eruiert werden. U m den Stellenwert der Anhörungen zutreffender einschätzen zu können, sollten zudem nicht die absoluten Zahlen allein herangezogen werden, sondern das Verhältnis von Hearings zu eingebrachten Gesetzentwürfen. Ausweislich der genannten Umfrage galten in der 8. bis 10. Wahlperiode zwei Drittel der Hearings konkreten Gesetzesvorhaben; eigene Auszählungen 22 ergaben für die 4. bis 7. Wahlperiode einen eher noch höheren Anteil. In der folgenden Tabelle werden daher jeweils zwei Drittel der Gesamtzahl der Hearings der Verhältnisberechnung zugrunde gelegt.

" Vgl. dazu U.THAYSEN Parlamentsreform in Theorie und Praxis. Eine empirische Analyse der Parlamentsreform im 5. Deutschen Bundestag, Opladen 1972. 20

21

22

Die „Erhebung der Sekretäre der Bundestagsverwaltung vom 23. April 1987 über die Erfahrungen bei Anhörungen in den Fachausschüssen und Enquête-Kommissionen des Deutschen Bundestages" wurde freundlicherweise von den Wissenschaftlichen Diensten des Bundestages zur Verfügung gestellt. Vgl. dazu W . ISMAYR Die Grünen im Bundestag: Parlamentarisierung und Basisanbindung, in: ZParl. 16. Jg. (1985), Heft 3, S. 2 9 9 - 3 2 1 . Auf der Grundlage des von P.SCHINDLER erarbeiteten Datenhandbuches zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1982, B o n n 1983, S. 607 ff.

§42 Tabelle

Ö f f e n t l i c h e A n h ö r u n g e n (SCHÜTTEMEYER)

1151

1: Ö f f e n t l i c h e A n h ö r u n g e n p r o e i n g e b r a c h t e n G e s e t z e n t w ü r f e n 5.WP

6.WP

7.WP

8.WP

9.WP

10. W P

1965-1969

1969-1972

1972-1976

1976-1980

1980-1983

1983-1987

Eingebrachte 665

577

670

485

242

522

Hearings

Gesetzentwürfe

38 ( 5 8 )

53 ( 8 0 )

50 ( 7 6 )

46 (70)

34 ( 5 1 )

110 ( 1 6 5 )

Verhältnis

1:17,5

1:10,9

1:13,4

1:10,5

1:7,1

1:4,7

Inzwischen wird also zu jedem fünften Gesetzentwurf eine A n h ö r u n g veranstaltet. D i e Ausschußsekretäre stellten übereinstimmend fest, daß „sich A n h ö r v e r fahren bei Gesetzesberatungen (in den federführenden A u s s c h ü s s e n ) zur G e w o h n heit ausgebildet . . . haben; sie werden nahezu automatisch von der einen oder anderen Ausschußseite beantragt oder einvernehmlich schon in O b l e u t e b e s p r e chungen festgelegt" 2 3 . Außerdem werden in Hearings Gutachten und Berichte e n t g e g e n g e n o m m e n , 19 die Auswirkungen politischer Maßnahmen behandeln oder der längerfristigen A n h ö r u n g s t ä t i g k e i t Politikplanung dienen; ohne damit auf konkrete Gesetzesvorlagen b e z o g e n zu o h n e B e z u g z u konkreten sein, fließt auch diese Anhörungstätigkeit häufig in die G e s e t z g e b u n g ein 2 4 . G e s e t z e s v o r l a g e n Insgesamt können Hearings gut 20 Jahre nach ihrer „ E n t d e c k u n g " als wohletabliertes Instrument des Bundestages bezeichnet werden. U m den statistischen B e f u n d der Anhörungspraxis im B u n d e s t a g a b z u r u n d e n , 20 ist noch auf die nach Ausschüssen variierende Häufigkeit und die z u n e h m e n d e V e r t e i l u n g d e r H e a r i n g s auf Öffentlichkeit der Anhörungsverfahren hinzuweisen (Tab. 2, S. 1146). D e m Schwergewicht der A n h ö r u n g e n auf Gesetzesvorbereitung entspricht weitgehend ihre Verteilung auf die Ausschüsse. D i e klassischen Gesetzgebungsausschüsse rangieren, wie zu erwarten, in der Zahl der durchgeführten Hearings an der Spitze. D i e Gleichung: „ G e s e t z g e b u n g s last entspricht Häufigkeit der A n h ö r u n g e n " paßt jedoch nicht nahtlos. S o rangiert beispielsweise der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung hinter dem Finanz-, Rechts- und Innenausschuß an vierter Stelle bei den federführend behandelten Gesetzesvorlagen, hingegen an erster Stelle bei den Hearings. „ E s ist zu vermuten, daß die Materie dieses A u s s c h u s s e s an der Nahtstelle zwischen Kapital und Arbeit ein Interessen-clearing häufiger nötig macht als in anderen Politikbereichen." 2 5 Vieles spricht für WESSELS verallgemeinernde A n n a h m e , daß die Q u a l i t ä t der jeweiligen Ausschußmaterie, ihre „Konfliktträchtigkeit, Komplexität und Reichweite" zur Zeit das ausschlaggebende Kriterium dafür ist, o b sich die quantitative Belastung mit Gesetzesvorlagen in der Häufigkeit von H e a r i n g s widerspie„ E r h e b u n g der Sekretäre . . . " ( F n . 2 0 ) Vorblatt. B.WESSELS

hat d i e

Unterteilung

in G e s e t z e ,

Planung,

Gutachten

allerdings zu niedrigeren Zahlen für die H e a r i n g s zu G e s e t z e n

vorgenommen,

kommt

als d i e E r h e b u n g bei

Sekretären; B.WESSELS Öffentliche A n h ö r u n g e n , informelle K o n t a k t e u n d innere L o b b y wirtschafts- und sozialpolitischen S. 2 8 5 - 3 1 1 , S. 2 9 1 . B.WESSELS ( F n . 2 4 ) S . 2 9 2 .

Parlamentsausschüssen,

in: Z P a r l .

den in

1 8 . J g . ( 1 9 8 7 ) , H e f t 2,

Ausschüsse

1152

6. Teil: D e r Bundestag als Forum und zentraler O r t der politischen Willensbildung

Tabelle 2. Verteilung der Hearings auf Ausschüsse. ( 2 . - 1 0 . Wahlperiode, ohne Enquête-Kommissionen) 2 6

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20.

Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Innenausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Finanzausschuß Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Verkehr Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Forschung und Technologie Ausschuß für Wirtschaftliche Zusammenarbeit Ausschuß für Wirtschaft Sportausschuß Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen Auswärtiger Ausschuß Verteidigungsausschuß Haushaltsausschuß Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung Petitionsausschuß

Sitzungen

Themen

74 57 54 46 34 33 26 23 20 19 18 15 13 11 10 9 5 4 1 0

61 48 43 28 27 27 14 16 14 18 15 11 12 6 7 3 3 4 1 0

gelt27. Wenn allerdings die oben belegte Tendenz wächst, daß die Durchführung von Anhörungen zu Gesetzentwürfen ein Automatismus wird, sich also die bundesdeutsche der amerikanischen Praxis annähert, wird dieses Kriterium an Bedeutung verlieren. 21 Ebenfalls steigende Tendenz weist der Anteil öffentlicher Anhörungen an der Zunehmende Gesamtzahl der von den Ausschüssen veranstalteten Hearings auf. In der 8. WahlÖffentlichkeit der

Anhorungsvertahren

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£6 von 156 A n h ö r u n g e n öffentlich, in der 9. waren es 43 von 87 und .

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in der 10. bereits 159 von 207 28 ; dies entspricht einer Steigerung von 42,3 über 49,4 auf 76,8 Prozent. 22 Uber den Befund des wohl-etablierten Instruments hinaus kann also für die Resümée Praxis der Anhörungen resümiert werden: Bei schwierigen, konfliktträchtigen Materien wird das Hearing immer mehr zum Regelfall im Bundestag — eine öffentliche Anhörung auf fünf Gesetzentwürfe gegenüber einer auf 18 vor 20 26

Quelle: P.SCHINDLER Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages, Band 1: 1849-1982, Bonn 1983; Band 2: 1 9 8 0 - 1 9 8 4 , Baden-Baden 1986 sowie einen Vorabdruck des 3.Bandes für die 10. W P , den P.SCHINDLER freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat.

27

Konfliktträchtigkeit und Komplexität liegen letztlich auch schon dem — insofern nur in seinen Einzelbeispielen überholten — Katalog zugrunde, den HEINZ RAUSCH vor mehr als zehn Jahren aufgestellt hat, um die bevorzugten Themenbereiche von Hearings zu erfassen: hochpolitische Gesetze; umfassende wirtschafts- und finanzpolitische Änderungen, die eine Fülle von Interessenten unmittelbar berühren; Reformen auf den Gebieten Wissenschaftsförderung, Bildungsplanung, Technologie und Hochschulwesen; Verfassungsfragen; Spezialgesetze für bestimmte Gruppen; aaO S. 114.

28

Vgl. die von P.SCHINDLER bearbeiteten Chroniken des Deutschen Bundestages, S.Wahlperiode, S . 2 3 5 , 9. Wahlperiode, S . 2 3 1 , 10. Wahlperiode, S . 2 8 3 ; warum diese Angaben von jenen in den Datenhandbüchern abweichen, konnte nicht geklärt werden.

§42

Ö f f e n t l i c h e A n h ö r u n g e n (SCHÜTTEMEYER)

1153

Jahren; drei von vier Anhörungen sind öffentlich. Hält diese Entwicklung an, gehört das öffentliche Hearing bald zum festen Bestand jedes Gesetzgebungsverfahrens.

IV. Hearings — ein Mittel zur besseren Erfüllung der Parlamentsfunktionen? Von ihrer Anlage her können Hearings in der vollen Bandbreite parlamentarischer 2 3 Funktionen wirksam werden 29 : Indem sie Informationsstand und Sachkenntnis der Wirkungen der Abgeordneten verbessern, die Beteiligung von Forschung und Wissenschaft am Hearings legislativen Prozeß institutionalisieren, dienen sie der Gesetzgebungsfunktion; gleichzeitig wird damit die Kontrollaufgabe des Parlaments gestärkt, die außerdem noch durch die Offenlegung von Verbandseinflüssen und die Diskussion der Vorlagen von Regierung und Ministerialbürokratie besser wahrgenommen werden kann; Interessen werden angemessener artikuliert, da sie direkt beteiligt sind. Die Offentlichkeitsfunktion des Bundestages gewinnt in mehrfacher Hinsicht: Der Kommunikationsfluß zwischen Publikum und Parlament wird in beide Richtungen aktiviert, der Bedeutungsverlust des Plenums partiell durch das Parlament selbst aufgefangen, die politische Entscheidung transparenter gestaltet; da Hearings den einzelnen Abgeordneten Profilierungsmöglichkeiten bieten, tragen sie zur Rekrutierungsfunktion bei. Insgesamt erhöhen sie die Entscheidungsrationalität und die legitimatorische Leistungsfähigkeit des Parlaments. Hat der Bundestag dieses in Hearings steckende Potential in der Vergangenheit voll ausgeschöpft? 1. Gesetzgebungsfunktion Gegen die Bedeutung von Hearings im Gesetzgebungsprozeß wird eingewandt, 2 4 daß sie in einer Phase stattfinden, in der „sich eine Diskussion über die beste K r i t i k an den Regelung ihrem Ende, nämlich der abschließenden Lesung im Parlament, Hearings im ι

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nähert 30 . Ihr Wert tur die Information der Abgeordneten sei gering zu veranschlagen, rechtfertige nicht einmal den Aufwand der Durchführung 3 ': Die Abgeordneten der Mehrheit seien bereits durch „ihren" Minister und dessen Bürokratie über die Arbeitskreise der Fraktion informiert, die Ausschußmitglieder der Opposition würden sich auch schon weit vor dem Hearingsstadium des Gesetzes die nötigen Kenntnisse für ihre Meinungsbildung verschaffen, die nicht dem Ausschuß angehörenden MdBs hätten — Folge des arbeitsteiligen, von Experten dominierten Parlaments — ohnehin kein Interesse. Da alle Positionen zum Zeitpunkt des Hearings festgelegt sind, kann dieses, so MENGEL, auch nicht mehr zur Versachlichung der Diskussion beitragen. 29

Vgl. dazu F . W . APPOLDT ( F n . 1) S . 5 8 - 7 4 und

S.87ff;

im A n s c h l u ß an APPOLDT und w e i t g e -

hend identisch d a m i t : L . KISSLER D i e O f f e n t l i c h k e i t s f u n k t i o n

des D e u t s c h e n

Bundestages,

B e r l i n 1976, S . 2 3 6 - 2 4 6 und P . M . STADLER D i e parlamentarische K o n t r o l l e der B u n d e s r e g i e rung, O p l a d e n 1 9 8 4 , S. 1 8 3 - 1 9 2 ; siehe a u ß e r d e m N . ACHTERBERG P a r l a m e n t s r e c h t , T ü b i n g e n 1984, S. 3 7 , 110, 4 1 4 f. 30

H . - J . MENGEL D i e F u n k t i o n der parlamentarischen A n h ö r u n g im G e s e t z g e b u n g s p r o z e ß , in: D Ö V 1 9 8 3 , S. 2 2 6 - 2 3 3 , S . 2 3 3 . Vgl. ebd.,

s. 2 2 9 .

Gesetzgebungsprozeß

1154

6. Teil: D e r Bundestag als Forum und zentraler O r t der politischen Willensbildung

In dieselbe Richtung zielt Kritik, Anhörungen vergrößerten nur die Informationsüberflutung des Parlaments, „brächten lediglich eine deklamatorische Wiederholung längst bekannter Auffassungen" und würden somit — teilweise bewußt von der Opposition zu diesem Zwecke eingesetzt — das Gesetzesvorhaben verzögern 32 . 25 Tatsächlich werden, wie gezeigt, die meisten Hearings von der Opposition Hearings als Mittel beantragt; der weitaus größte Teil wird dann aber einvernehmlich beschlossen. In oppositioneller der Umfrage der Ausschußsekretäre wurde lediglich von zwei Ausschüssen berichObstruktion? tet, daß die Anhörungen „gelegentlich auch strittig" 33 waren. Wenn die Opposition das Hearing als Instrument der Obstruktion benützte, wäre der einvernehmliche Beschluß wohl kaum zur Regel geworden. Das Argument, die Mehrheit würde sich aus Furcht vor öffentlicher Kritik scheuen, ein Hearing abzulehnen, ist insoweit nicht stichhaltig, als dem mit der Aufdeckung der oppositionellen Obstruktionsabsichten begegnet werden könnte. Schließlich macht die Entwicklung des Hearings zum legislatorischen Regelfall diesen Kritikpunkt weitgehend obsolet. 26 Informationswert für die Abgeordneten

Schwerer wiegt der Vorwurf, die Anhörungen brächten keinen Informationsgewinn für die Abgeordneten. Die allgemeine Kenntnis der Strukturen und Verfahren von Parlament und Fraktionen macht diesen Defizitbefund sehr plausibel. Partiell wird er durch die Praxis gestützt: Mangelnde Präsenz der Abgeordneten bei den Hearings wird beklagt, die „Vorprogrammierung" der Ergebnisse durch Auswahl entsprechender Sachverständiger festgestellt und als häufiges Motiv für die Anhörung angeführt, bereits vorgefaßte Meinungen bestätigt zu bekommen 34 . Dagegen steht die Beobachtung aus den Ausschüssen, Hearings seien in der 10. Wahlperiode öfter anberaumt worden, weil mehr Sachinformation benötigt worden sei und weil „umfassendes und zunehmendes Informationsbedürfnis" der Abgeordneten bestanden habe; die „Gewinnung zusätzlichen Rats von Fachleuten für die Gesetzesberatungen" wird zum Teil als wichtigster Grund für Anhörungen angesehen35. Das Bild ist also nicht einheitlich. Mag die Skepsis im Hinblick auf Abgeordnete mit hervorgehobenen Positionen zutreffen, so hat das Hearing offenbar für andere doch beträchtlichen Informationswert: „Einfache" Abgeordnete der Opposition wie der Mehrheit verfügen nicht ohne weiteres über spezialisierte Informationsressourcen, befinden sich daher häufig gegenüber den Experten der Ministerialbürokratie im selben Boot und nutzen das Hearing, um „das Dickicht (der Gesetzgebung) etwas aufzulösen" 36 . Für alle Abgeordneten und die Bedeutung des Hearings im Gesetzgebungsverfahren gilt: Der Versuch, eine mit anderweitigen Mitteln gebildete Meinung durch betroffene Interessen und (wissenschaftlichen) Sachverstand abzusichern, kann Kenntnisstand und Diskussion immer dann bereichern, wenn er von unterschiedlichen Seiten vorgenommen wird — was bei BundestagsDiese Kritikpunkte referiert P. SCHINDLER Öffentliche Anhörungen und Aktuelle Stunden des 6. Bundestages, in: ZParl. 4. Jg. (1973), Heft 1, S. 10-17, S. 10. 33 „Erhebung der Sekretäre . . . " (Fn. 20) S. 1. M Ebd., S . 4 3 f sowie Vorblatt, S . 2 . 35 Ebd., S. 3 7 f sowie Vorblatt, S . 2 . 3'· H.RAUSCH (Fn. 16) S. 114. 32

§42

Öffentliche Anhörungen (SCHÜTTEMEYER)

1155

hearings die Regel ist. Zudem ist oft — und auch das gilt für alle Beteiligten — nicht das Sachwissen das begehrte G u t der Anzuhörenden, sondern ihre Gewichtung von Tatsachen und ihre Bewertung von Entscheidungsalternativen. Die spezifische Situation der öffentlichen Anhörung macht deutlicher als jeder informelle Kontakt und jede gutachtliche Stellungnahme, wer mit welcher Intensität wofür und wogegen steht. So ist es schließlich auch nicht verwunderlich, daß die Annahme, Hearings erfolgten zu spät im Gesetzgebungsprozeß und könnten daher Entscheidungsinhalte nicht mehr verändern, durch die Ausschußsekretäre widerlegt wird: „ N u r drei Ausschußsekretariate können kaum oder nur selten unmittelbare Folgen für die Gesetzentwürfe . . . beobachten." Der dokumentierte Einfluß der Hearings reicht von „Änderungen an einzelnen Formulierungen über vollständige Überarbeitung des Gesetzentwurfes bis hin zu einem Stop einzelner Gesetzesinitiativen" 3 7 .

27

Das Hearing schließt nicht die Informationslücke zwischen Ministerialbürokratie und Abgeordneten, wenn damit die Unterschiede in Faktenkenntnissen und Sachwissen gemeint sind. Zuweilen und für manche Abgeordnete verringern Anhörungen diese Unterschiede; auch ist die — im Vergleich zu E n q u ê t e - K o m missionen — unkompliziertere Einbeziehung außerparlamentarischen wissenschaftlichen Sachverstands in die Parlamentsarbeit nicht zu unterschätzen. Aber nicht daran bemißt sich der primäre Wert von Hearings für die Gesetzgebungsfunktion.

28

Veränderung von Entscheidungsinhalten durch Hearings

Hearings und Informationslücke zwischen Bürokratie und Abgeordneten

Der Bundestag als „Resonanzboden des Zumutbaren" muß nicht nur im 2 9 Verhältnis zur Regierung, sondern auch zu divergierenden gesellschaftlichen Inter- Gesetzgeberische essen schwingen. Die gesetzgeberische Schwingungsbreite wird wesentlich von „Schwingungsbreite" Motiven und Prioritäten, von D r o h - und Akzeptanzpotentialen der Beteiligten und Betroffenen bestimmt. Diese auszuloten — das ist der wesentliche Beitrag des Hearings zur Gesetzgebungsfunktion des Bundestages. 2. K o n t r o l l f u n k t i o n Öffentliche Anhörungen können Kontrollwirkung gegenüber der Exekutive und gegenüber Verbandseinflüssen — externen wie internen — entfalten. Daß der Zugewinn an Kontrolle über die gesetzvorbereitende Ministerialbürokratie durch einen Zugewinn an Sachinformationen in Hearings nicht allzu hoch veranschlagt werden kann, wurde bereits dargelegt. Die Veränderungen, die an Regierungsentwürfen infolge von Hearings vorgenommen werden, belegen indes, daß der Spielraum der Exekutive durch Hearings insgesamt eingeschränkt worden ist.

30 Kontroll Wirkung gegenüber Exekutive und Verbandseinflüssen

Ein eher kämpferisch-offensiver Kontrollstil, insbesondere gegenüber Regie- 31 rungsmitgliedern direkt, ist in Anhörungen allerdings selten zu beobachten; zum Kontrollstil Beispiel wird vom Herbeirufungsrecht kaum je Gebrauch gemacht: „ D i e Fälle, daß ein Minister aufgrund von Artikel 43 Absatz 1 von einem Ausschuß herbeigerufen wird, sind sehr selten. Die Minister legen im allgemeinen Wert darauf, zu den Ausschüssen in einem guten Verhältnis zu stehen; deshalb wird man immer eine Vereinbarung zwischen dem Ausschuß und dem Minister treffen können, wann 37

„Erhebung der Sekretäre . . . " ( F n . 2 0 ) S. 30 f.

1156

6. Teil: D e r Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

der Minister zur Verfügung steht und über welche Fragen dabei gesprochen werden soll. Selbst wenn harte Diskussionen geführt werden, bemüht man sich allseitig, ein gutes Klima zu erhalten."38 Was hier für die Ausschußpraxis generell beschrieben wird, trifft auf Hearings mindestens ebenso zu. Ihr Stil entspricht eher dem wissenschaftlicher Beratung als bohrender Investigation. Ob das Fehlen des Informationserzwingungsrechts und des Kreuzverhörs nach amerikanischem Vorbild diesen Stil geprägt hat, oder ob dieser Stil jenes Fehlen verursacht hat: Das seit dem Regierungswechsel 1982/83 und dem Einzug der Grünen in den Bundestag veränderte Oppositionsverhalten zeigt inzwischen mehr Bereitschaft zur Kontroverse auch in den Anhörungen 39 . 32 Jedenfalls trifft es nicht zu, daß die Diskussion weitgehend an den AbgeordneRolle der t e n vorbeiläuft und „zwischen sachkundigen Ministerialbeamten und den Experten Abgeordneten j e r Verbände oder den geladenen Wissenschaftlern geführt wird" 40 . Zum einen wird in allen Ausschüssen die strikte Befragung und nicht die in der Geschäftsordnung auch vorgesehene Aussprache praktiziert; zum zweiten sind diese Befragungen eindeutig Domäne der Mitglieder der (federführenden und mitberatenden) Ausschüsse; Vertreter der Bundesregierung haben sich nur in fünf Ausschüssen und dort auch „nur selten und zurückhaltend" an der Befragung beteiligt41. Damit ist nicht das sachlich häufig gegebene Ubergewicht der Ministerialbürokratie widerlegt, das auch durch Hearings nur ansatzweise gemildert werden kann; dieses sollte indes nicht unnötig überhöht und die Rolle der Abgeordneten bei der Gewinnung von Urteilsvermögen, das mehr ist als die Sammlung von Fakteninformationen, nicht unterschätzt werden. 33 Nach A P P O L D T „bewirkt das Hearing . . . eine Relativierung, ja geradezu eine Verbandskontrolle Kontrolle der Verbandsmitwirkung durch Offenlegung der Interessen" 42 . Der durch Hearings gjjjfjyß^ d e n Interessengruppen im Referentenstadium auf die Gesetzentwürfe ausüben, kann in den Anhörungen aufgedeckt und ein Gegengewicht durch die Einladung bislang nicht berücksichtigter Interessen geschaffen werden. Dabei ist zu bedenken, daß die Abgeordneten selbst in vielfältige Interessen eingebunden, häufig selbst Verbandsangehörige sind und somit zuweilen das Kontrollbestreben reduziert sein dürfte. Die Vertretung divergierender Interessen im Parlament führt allerdings zu gewisser gegenseitiger Kontrolle und Ausbalancierung, die sich in aller Regel in der Konstellation der Ausschußanhörung wiederfindet. Das ideale Ergebnis von Verbandskontrolle durch Hearings ist nicht die Verhinderung von Verbandseinfluß schlechthin, sondern seine Mäßigung und Gleichmäßigkeit durch Publizität. Es darf vermutet werden, daß die mehr und mehr gewohnheitsmäßig durchgeführten Anhörungen in diesem Sinne präventiv auf allzu deutlichen Lobbyismus in den Ministerien wirken. Die „allgegenwärtige" parlamentsinterne Lobby ist schwerer in den Griff oder besser: in das Scheinwerferlicht der öffentlichen Kritik zu bekommen. 38

39

F. SCHÄFER Der Bundestag. Eine Darstellung seiner Aufgaben und seiner Arbeitsweise, 4. Aufl., O p l a d e n 1982, S. 118. Vgl. „ E r h e b u n g der Sekretäre . . . " (Fn. 20) S. 38.

40

P. M . STADLER ( F n . 2 9 ) S. 192.

41

„ E r h e b u n g der Sekretäre . . . " (Fn. 20) S. 25. F . W . APPOLDT (Fn. 1) S . 6 0 , Hervorhebung im Original.

42

§42

Öffentliche Anhörungen (SCHÜTTEMEYER)

1157

Versteht man unter parlamentarischer Kontrolle in erster Linie kritische Kon- 3 4 troverse, so schneidet das Hearing als Kontrollinstrument des Bundestages eher Bewertung des mäßig ab. Positive Tendenzen sind jedoch durch den Profilierungsdruck auf Hearings als Kontrollinstrument nunmehr zwei Oppositionsfraktionen erkennbar. Zieht man den Kontrollbegriff weiter, ist festzustellen, daß von Hearings zahlreiche Impulse auf die endgültige Abfassung der Gesetze ausgehen. Auch dürften die nicht direkt mit Gesetzesvorlagen befaßten Hearings den Abgeordneten Eindrücke vermitteln, die in spätere Initiativen einfließen. Inwieweit die zunehmende Anwendung des Hearings die Verbände zu mehr 3 5 Zurückhaltung zwingt und sie auf die Bestandsfestigkeit ihrer Argumentation in Keine abschließende der öffentlichen Auseinandersetzung der Anhörung verweist, ist nicht abschlie- Beurteilung der Wirkung von Hearings ßend zu beurteilen. Hier wie auch hinsichtlich eines gegebenenfalls von Hearings auf Verbände ausgehenden größeren Rechtfertigungszwangs der inneren Lobby müssen Einzel- und innere L o b b y fallstudien weiteren Aufschluß bringen. 3. Artikulationsfunktion Hearings können ein „Einfallstor effektiver Interessendurchsetzung" 43 sein. Dort 3 6 können Verbände, die bereits auf vorangegangenen Ebenen der Gesetzgebungsvor- Hearings als Mittel bereitung zum Zuge gekommen sind, die Sicherung ihres Erreichten betreiben, und der Verbände und Interessengruppen jene Gruppen, die sich nicht genügend oder gar nicht berücksichtigt fühlen, zur Interessenwerden versuchen, ihre Interessen in den Entscheidungsprozeß einzubringen. Mit durchsetzung dieser Institutionalisierung des Verbandseinflusses sind Vorteile und Risiken für die Artikulationsfunktion des Bundestages verbunden. Für die gehörten Verbände und die von ihnen vertretenen Bürger erhöht sich 3 7 der Eindruck parlamentarischer Responsivität. Auch wenn ihre Positionen nicht Angehörte Verbände vollständig in politische Maßnahmen und Regelungen umgesetzt werden, so fühlen und von ihnen vertretene Bürger sie sich dennoch eher repräsentiert als übergangene Gruppen. Die in den letzten Jahren immer häufiger erhobene Forderung nach mehr 3 8 direkter Beteiligung der Bürger an der Politik, nach plebiszitären Ergänzungen der Forderung nach Verfassung hat mindestens dem Geiste nach Eingang in die Hearingspraxis des direkter Bürgerbeteiligung Bundestages gefunden: „In der großen Zahl der Geladenen kommt auch die und Hearingspraxis Überzeugung der Opposition zum Ausdruck, kein Interessierter/Betroffener dürfe vom jeweiligen parlamentarischen Integrationsprozeß ausgeschlossen werden. Und schließlich vertreten alle Geladenen Wählergruppen." 44 Inzwischen laden fast alle Ausschüsse auch Betroffene ein; als in einem Ausschuß in der 10. Wahlperiode darauf verzichtet wurde, führte dies zu massiver Kritik 4 5 . So schafft der Bundestag mehr Nähe zu den Repräsentierten und erhöht seine Aufnahmebereitschaft für gesellschaftliche Interessen. O b damit nicht auch auf längere Sicht eine Erwartungshaltung produziert wird, die erst mit der Umsetzung und nicht lediglich mit der Anhörung ihrer Interessen zufrieden ist, muß abgewartet werden. Die Beteiligung der Interessengruppen durch Hearings verbessert solange die 3 9 Artikulationsfunktion des Bundestages, wie ihm darüber nicht der Spielraum zu Interessengruppen« E b d . , S. 62. 44 „Erhebung der Sekretäre . . . " (Fn. 20) S. 45. 4 5 Vgl. ebd., S. 17.

beteiligung und Artikulationsfunktion

1158

6. Teil: D e r Bundestag als Forum und zentraler O r t der politischen Willensbildung

eng wird, die vorgetragenen Positionen gegeneinander abzugleichen und gemeinwohlverträglich zu machen — also Repräsentationsleistung zu erbringen. 40 Die Öffnung des Repräsentationsverständnisses, die sich bei der Praktizierung Öffnung des des Hearings anzubahnen scheint, ist von dieser Gefahr allerdings noch weit Repräsentationsentfernt. Zur Zeit wirkt sie eher als Gegengewicht zu solchen Gruppen, die in der verständnisses Vergangenheit bei Hearings deutlich bevorzugt wurden 46 . 41 Die wachsende Zahl von Hearings und die zunehmende Orientierung an einer Hearings als Mittel für Art „Betroffenheitsprinzip" 47 weisen darauf hin, daß der Bundestag dieses Instruangemessenere ment als Hilfs- und Kontrollmittel für eine angemessenere Interessenartikulation Interessenartikulation versteht. Diese Funktion erfüllt es übrigens auch dann, wenn es — wie Kritiker meinen — nur ein Ritual ist 48 , denn als solches erhöht es die Akzeptanz des parlamentarischen Interessenausgleichs. 42 Das richtige Maß angehörter und berücksichtigter Interessen

Der Bundestag kann zu wenigen und zu vielen Interessen die Chance geben, angehört zu werden; er kann bestimmte Interessen zu schwach, andere zu stark berücksichtigen. Welches hier das richtige Maß ist, um die Artikulationsfunktion bestmöglich zu erfüllen, wird immer umstritten sein. Letztlich ist es ablesbar an dem Grad des sozialen Friedens, den der Bundestag mit seiner Repräsentationsleistung insgesamt herstellt. 4. Öffentlichkeitsfunktion

4 3 Einerseits wird die Rolle, die das Hearing für die Öffentlichkeitsfunktion des Einschätzungen über Bundestages spielt, als „kommunikative Schaltstation zwischen Parlament und die Bedeutung des Öffentlichkeit" 4 9 bezeichnet und darin der größte Wert des Hearings gesehen; Hearings für die andererseits wird seine Informationsfunktion für die Bürger unter Verweis auf die Öffentlichkeits50 funktion meist geringe Resonanz in den Medien sehr gering eingeschätzt . 44 Maßstab für die Erfüllung der Öffentlichkeitsfunktion

Es scheint, als wenn die Hürde, welche die Wissenschaft gerade für die Öffentlichkeitsfunktion häufig errichtet, von keinem Parlament je überwunden werden kann. Wenn der Maßstab für die Erfüllung dieser Funktion durch Hearings der Informationswert für die breite Öffentlichkeit ist, muß das Urteil beschämend ausfallen. Angemessener dürfte es sein, die Anhörung im Vergleich zu den sonstigen Leistungen des Bundestages auf diesem Feld zu bewerten.

45

Auch bei parlamentsfreundlich niedrigen Hürden sind hier die übereinstimmend größten Defizite zu verzeichnen: Zuviel geschieht in Bonn hinter verschlossenen Türen, die Außendarstellung des Parlaments ist unattraktiv und ungenügend. 46 Vor diesem Hintergrund sind Hearings ein öffentlicher Lichtblick im wahrsten Leistungen der Sinne des Wortes: Sie lassen den parlamentarischen Entscheidungsprozeß im Hearings Zusammen- und Gegenspiel von Ministerien, Experten und Verbänden, Mehrheits- und Oppositionsfraktionen etwas durchsichtiger werden; sie bündeln noch einmal im erhellenden Gegeneinander die — zweifelsohne auch anderweitig verDefizite

« Vgl. B.WESSELS ( F n . 2 4 ) S . 2 9 6 f . 4 7 Ebd., S. 296. «

S o H . - J . MENGEL ( F n . 3 0 ) S. 2 3 I f f .

49

F . W . A P P O L D T ( F n . 1) S. 6 9 .

50

Vgl. H . - J . MENGEL ( F n . 3 0 ) S . 2 2 9 f .

§42

Öffentliche Anhörungen (SCHÜTTEMEYER)

1159

fügbaren — Sachargumente und vor allem die Gewichtungen der Beteiligten und Betroffenen, die — öffentlich kundgetan — einen anderen Rang erhalten als im vertraulichen, mindestens geschlossenen Kreis der mit der Entscheidung Befaßten; und sie eröffnen einen Kommunikationsweg — sei er nun effizient oder „nur" legitimatorisch — in den Bundestag hinein. All dies wird aber in aller Regel nicht für das breite Publikum geleistet; die 4 7 Spezialisierung und Arbeitsteilung in Gesellschaft wie Politik und die folglich Adressaten der anstehenden Probleme machen eine solche Erwartung ohnehin unrealistisch. All Leistungen dies wird geleistet „to whom it may concern" — und deren Zahl wächst. Die häufigere Nutzung des Hearings und seine Anwendung bei weniger 4 8 technischen, stärker streitbefangenen Gegenständen dehnt seine Öffentlichkeits- Ausdehnung der Wirkung außerdem aus. Dann wirkt es nicht im Detail informativ, sondern im OffenthchkeitsGrundsätzlichen aufklärend: Es zeigt den Konflikt- und Kompromißcharakter demokratisch-parlamentarischer Entscheidung.

V. Hearings — eine Zwischenstufe zu mehr Öffentlichkeit? Hearings tragen in Grenzen zur besseren Erfüllung der Gesetzgebungs-, Kontrollund Artikulationsfunktion bei. Mehr als alles andere aber dienen sie der Öffentlichkeitsfunktion. Mögen sie im Hinblick auf die übrigen Aufgaben des Parlaments auch noch so skeptisch beurteilt werden: Hearings sind bisher eines der wenigen Mittel, mit denen verhindert werden kann, daß der „Rückzug aus dem Plenum nicht . . . auch zu einem Rückzug aus der Öffentlichkeit" 5 1 wird. Die Stärkung, die die Ausschüsse mit der zunehmenden Nutzung des Hearings erfahren, entspricht ihrem generellen Bedeutungszuwachs im Parlamentarismus der Bundesrepublik. Gleichzeitig ist das Parlament als Institution einem zunehmenden Legitimationszwang unterworfen. Das Hearing kann diesen mindern, indem es Verfahren und Inhalte der Politik offenlegt; wenn der Bundestag seit einigen Jahren mehr und mehr Anhörungen veranstaltet, so ist dies nicht zuletzt eine Reaktion auf Zweifel an der repräsentativen Demokratie und ein Indikator für die wachsende Uberzeugung, daß er mehr Öffentlichkeit schuldet, um seine Akzeptanz als Institution und in der Sache zu sichern. Dafür sind Hearings gut, besser als für alles andere. Da Hearings aber allein nicht gut genug sind, um die Verfassungsnorm grundsätzlicher Publizität staatlicher Machtausübung einzulösen, sollten sie als erfolgreiche Zwischenstufe angesehen werden zu einer generellen Öffentlichkeit der Ausschußarbeit.

51

F . W . A P P O L D T ( F n . 1) S . 6 9 .

49

Besondere Bedeutung der Hearings für die Öffentlichkeitsfunktion

50

Stärkung der Ausschüsse, Legitimationszwang des Parlaments

51

Hearings als Zwischenstufe zur generellen Ausschußöffentlichkeit

V. Ausschüsse und Gremien mit besonderen

Funktionen

§ 43 Der Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung MANFRED SCHULTE/ WOLFGANG

ZEH

Vorbemerkung Die im bundestagsinternen Sprachgebrauch seit langem übliche Bezeichnung „1. Ausschuß" für den Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung — sie entspricht der Reihenfolge, in der die Ausschüsse im Handbuch des Bundestages und gegebenenfalls in Parlamentsmaterialien aufgeführt werden — stellt keine Rangfolge oder Bewertung dar. Welcher Ausschuß der wichtigste oder bedeutendste ist, kann auch nicht entschieden werden. Zufällig ist diese Bezeichnung des Ausschusses aber nicht. Sie verweist vielmehr auf seine besonderen Aufgaben, die eng auf den Bundestag und die Stellung seiner Abgeordneten selbst bezogen sind. Insofern ist dieser Ausschuß mit Fachausschüssen nicht vergleichbar, die mit der parlamentarischen Kontrolle der Regierung befaßt sind, auch wenn er in einigen Fällen solche Aufgaben wahrnimmt.

I. Einführung 1. Ein Ausschuß für die eigenen Angelegenheiten des Parlaments a) Die drei Gebiete, auf denen dieser Ausschuß gemäß seiner Bezeichnung tätig ist, 1 gehören zum verfassungsgerichtlichen Kernbereich des demokratischen Pariamen- Verfassungsrechtlich tarismus. Sie sind alle durch das Grundgesetz fundiert und in den Grundzügen ^ u n t ' i e r t e Aufgaben auch vorgegeben: Nach Art. 41 Abs. 1 Satz 1 G G ist die Wahlprüfung „Sache des Bundestages. Er entscheidet auch, ob ein Abgeordneter des Bundestages die Mitgliedschaft verloren hat" — keine Selbstverständlichkeit angesichts des Umstandes, daß diese Entscheidungen in der Frühgeschichte deutscher Volksvertretungen durch die Exekutive getroffen wurden. Nach Art. 46 Abs. 2 und 3 G G stellt die Immunität der Abgeordneten die Funktionsfähigkeit des Bundestages sicher, indem gewährleistet wird, daß Abgeordnete nur mit seiner Genehmigung strafrechtlich zur Verantwortung gezogen oder anderem Zwang unterworfen werden können 1 . Und nach Art. 40 Abs. 1 Satz 2 G G gibt der Bundestag „sich eine Geschäftsordnung", und diese Autonomie zur Regelung seiner eigenen Ordnung

' Umfassend zu Indemnität und Immunität: H . - H . KLEIN § 1 7 in diesem Hdb.

1162

6. Teil: Der Bundestag als Forum und zentraler O r t der politischen Willensbildung

und seines eigenen Verfahrens ermächtigt ihn nicht nur, sondern verpflichtet ihn auch 2 . D e r Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und G e s c h ä f t s o r d n u n g ist daher auf verfassungsrechtlich bestelltem Felde tätig, und auch in der alltäglichen Arbeit haben viele seiner A u f g a b e n und Entscheidungen engen B e z u g zu verfassungsrechtlichen oder verfassungspolitischen Fragen. Wenn er auch eher als eine Streitschlichtungsstelle und nicht gerade als ein internes „Verfassungsgericht" des Bundestages angesprochen werden sollte, so gilt es doch zu erkennen, daß er z u m Hüter der „inneren H ü t e r nicht nur der inneren „ V e r f a s s u n g " — der G e s c h ä f t s o r d n u n g — des Verfassung" des Parlaments bestellt ist, sondern auch wesentlicher Elemente der Stellung des Bundestages Bundestages und seiner Mitglieder nach innen und nach außen. D i e s bringt Voraussetzungen und Verpflichtungen für seine Arbeitsweise mit sich, von denen später die Rede sein wird. b) D i e Z u s a m m e n f ü h r u n g der drei Aufgabenkreise in einem Ausschuß geschah

Entwicklung seit 1949 erst mit Beginn der 3. Wahlperiode des Bundestages (1957). In der 1. Wahlperiode ab

1949 war die Liste der Ausschüsse angeführt v o m „ A u s s c h u ß zur Wahrung der Rechte der Volksvertretung gemäß Art. 45 des G r u n d g e s e t z e s " , der inzwischen weggefallen ist 3 , ihm folgte an zweiter Stelle der Wahlprüfungsausschuß und an dritter der A u s s c h u ß für G e s c h ä f t s o r d n u n g und Immunität. In der 2. Wahlperiode ab 1953 war der „Interimsausschuß" nach Art. 45 G r u n d g e s e t z ganz nach hinten gerückt; den ersten Platz nahm nun, mit verändertem Aufgabenzuschnitt, der A u s schuß für W a h l p r ü f u n g und Immunität ein, gefolgt v o m Ausschuß für Geschäftsordnung 4 . D a ß die seit nunmehr über 30 Jahren bestehende Zusammenlegung der A u f g a b e n noch nicht v o m Anbeginn des Bundestages an durchgeführt war, hat keine konzeptionellen G r ü n d e , die etwa auf die Verfassungslage zurückgingen. Hier spielten Fragen des H e r k o m m e n s und der pragmatischen A b f o l g e der A u f g a b e n — Wahlprüfung als gesonderte und unmittelbar nach der Bundestagswahl zu erledigende, später im L a u f e der Wahlperiode zurücktretende A u f g a b e — sowie Schwerpunktsetzungen in den anstehenden A u f g a b e n — Überarbeitung der ursprünglich mit einigen Änderungen v o m Weimarer Reichstag übernommenen Geschäftsordnung — die wesentliche Rolle. D i e Z u s a m m e n l e g u n g der drei Aufgabenkreise in einem G r e m i u m hat sich inzwischen nicht nur fraglos bewährt; sie bringt auch systematisch zutreffend die innere Verwandtschaft der Gebiete und ihre gemeinsame verfassungsrechtliche Grundlage z u m A u s d r u c k . Organisatorische Differenzierung des Ausschusses

Organisatorisch bildet der A u s s c h u ß übrigens im Hinblick auf seine drei Hauptgebiete keine Einheit. D e r Wahlprüfungsausschuß, der aufgrund des Wahl2

3

4

Der Umstand, daß es sich bei der Geschäftsordnungsautonomie nicht nur um ein Recht des Parlaments, sondern auch um eine Pflicht zum entsprechenden Tätigwerden handelt, wird zugrundegelegt im Sondervotum der Verfassungsrichter Böckenförde und Mahrenholz in der Entscheidung des BVerfG zur Kontrolle der Wirtschaftspläne der Nachrichtendienste durch ein besonderes Gremium des Bundestages, vgl. B V e r f G E 70, 366ff., 380 ff. Das geschah durch das 33. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 23. August 1976 (BGBl. S. 2381 ) als Folge der Änderung von Art. 39 G G , mit welcher bewirkt wurde, daß die Wahlperioden des Bundestages — auch bei einer Auflösung — nahtlos aneinanderschließen und eine „parlamentslose Zeit" mit der Notwendigkeit des „Interimsausschusses" nicht mehr eintreten kann. Einzelheiten hierzu im Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1982, verfaßt und bearbeitet von P.SCHINDLER 3. Auflage 1984, S. 566ff.

§43

D e r Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und G e s c h ä f t s o r d n u n g (SCHULTE/ZEH)

1163

prüfungsgesetzes des B u n d e s 5 eine zusätzliche normative G r u n d l a g e hat — dessen Einrichtung also nicht aufgrund der Parlamentsautonomie im jeweiligen Ermessen eines jeden Bundestages steht, der vielmehr in jedem Fall eingerichtet werden müßte —, bildet einen „ A u s s c h u ß im A u s s c h u ß " : D e r gesamte A u s s c h u ß für Wahlprüfung, Immunität und G e s c h ä f t s o r d n u n g besteht derzeit aus 13 Mitgliedern, der Wahlprüfungsausschuß aus sieben Mitgliedern, die im Plenum des Bundestages gewählt werden. Folgerichtig wird zu den Sitzungen getrennt für Wahlprüfungs-, Immunitäts- und Geschäftsordnungsangelegenheiten eingeladen. 2. G r u n d s ä t z l i c h e s z u r A r b e i t s w e i s e des A u s s c h u s s e s D i e Darstellung konzentriert sich im folgenden auf das Gebiet des G e s c h ä f t s o r d - 5 nungsrechts und seiner A n w e n d u n g , das auch den Schwerpunkt der A u f g a b e n des Kxmsensprinzip Ausschusses ausmacht. D a s Verfahren der W a h l p r ü f u n g wie auch das Institut der Immunität werden in diesem Band an anderer Stelle behandelt. J e d o c h soll zunächst, gleichsam vor der K l a m m e r , auf ein besonders bedeutsames Arbeitsprinzip hingewiesen werden, welches die Arbeit dieses A u s s c h u s s e s in allen seinen Funktionen in besonderer Weise, stärker als die anderer A u s s c h ü s s e des Bundestages, prägt. Es handelt sich um das Konsensprinzip, das B e m ü h e n nämlich, Entscheidungen nicht durch Mehrheitsbeschlüsse möglichst rasch herbeizuführen, sondern die Konflikte in einer Weise zu bearbeiten und zu lösen, die möglichst allen politischen Kräften des H a u s e s eine Z u s t i m m u n g zur gefundenen L ö s u n g ermöglicht. a) In der Z u s a m m e n s e t z u n g des Ausschusses spiegelt sich wie bei allen A u s - 6 schüssen des Bundestages in verkleinerter F o r m das Verhältnis von Mehrheit und Politische Minderheit wider, wie es im Bundestag als ganzen jeweils besteht. D i e Partei(en), Z u s a m m e n s e t z u n g die aufgrund der Bundestagswahl — in der Bundesrepublik bisher mit einer einzigen A u s n a h m e immer im Wege einer Koalition — eine parlamentarische Mehrheit und damit die Regierung bilden können, stehen der Minderheit, der parlamentarischen O p p o s i t i o n , gegenüber. Diese für die parlamentarische Regierungsform kennzeichnende und die alltägliche Arbeit bis ins Detail prägende Grundstruktur wird in allen Ausschüssen, K o m m i s s i o n e n und G r e m i e n des B u n destages proportional abgebildet. D e m n a c h hat auch dieser A u s s c h u ß im Zweifel die Möglichkeit, mit der Regierungsmehrheit gegen die O p p o s i t i o n jede von der Mehrheit gewünschte legale Entscheidung durchzusetzen. D a s geschieht zwar auch in den anderen A u s s c h ü s s e n nicht rigoros; zur Demokratie in einer pluralistischen Gesellschaft gehört der K o m p r o m i ß , solange der Satz gilt, daß die v o m Wähler verliehene Herrschaft auf Zeit keinen M o n o p o l anspruch auf Wahrheit und Richtigkeit umfaßt, sondern nur eine temporäre, ablösbare und gegebenenfalls bestätigungsbedürftige B e f u g n i s z u m politischen Handeln. F ü r den hier dargestellten Ausschuß gilt dies aber in gesteigertem Maße. In ihm kristallisieren sich die U m s t ä n d e in besonderer Weise heraus, welche die F o r d e r u n g nach dem K o m p r o m i ß und die N o t w e n d i g k e i t des demokratischen Konsenses begründen. 5

Wahlprüfungsgesetz vom 12. M ä r z 1951 ( B G B l . I S. 166), zuletzt geändert durch G e s e t z v o m 24. Juni 1975 ( B G B l . I S. 1593).

1164

7 Prozeßrecht fur das Parlament

8 Geschäftsordnung und demokratischer Mehrheitswechsel

6 . T e i l : D e r Bundestag als F o r u m und zentraler O r t der politischen Willensbildung

b) Die Geschäftsordnung bildet gleichsam das Prozeßrecht für das Parlament. Anders als im gerichtlichen Verfahren wird dieses Prozeßrecht aber nicht von den streitenden Parteien vorgefunden, sondern von ihnen selbst geschaffen und verändert. Das bedeutet, daß das „faire Verfahren", welches jedes Prozeßrecht im freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaat zu bieten hat, schon bei der Gestaltung dieses Prozeßrechts eingehalten werden muß. Es muß allen Beteiligten faire Chancen gewährleisten und kann daher nicht von Fall zu Fall nach den Präferenzen der jeweiligen Mehrheit geregelt werden. Leitender Gedanke muß daher immer die Funktionsfähigkeit des Bundestages als solchem sein, nach innen, aber auch nach außen in seinem Verhältnis zur Regierung, zum Bundesrat, zu Parteien, Medien, Öffentlichkeit und jedem einzelnen Bürger. Die Handelnden im Geschäftsordnungsausschuß müssen daher, obwohl allesamt in ihren Fraktionen verankerte Politiker, in erheblichem Maße von jeweils aktuellen politisch-taktischen Bedürfnissen absehen und sich den Institutionen, ihren verfassungsrechtlichen Grundlagen und ihren Funktionserfordernissen zuwenden. Darin bestätigt sich zugleich, inwieweit das Parlament Ernst macht mit der Erkenntnis, daß es nur Macht auf Zeit ausübt und vermittelt und daß der demokratische Mehrheitswechsel jederzeit möglich sein muß. Wer heute die Mehrheit bildet, kann morgen in der Opposition sein, und umgekehrt. Solange diese Erkenntnis real und präsent ist, macht es auch politisch-pragmatisch Sinn, das Prozeßrecht für das parlamentarische Verfahren so zu gestalten und zu erhalten, daß die Institutionen auch nach einem Rollentausch ohne Änderung der Verfahrensvorschriften voll funktionstüchtig sind. Die Wirkung dieser im Bundestag geübten Verhaltensmaxime geht über den pragmatischen Sinn indessen weit hinaus: Geschützt und funktionsfähig erhalten werden dadurch auch die Minderheitsrechte der Geschäftsordnung und damit die staats- und gesellschaftspolitisch bedeutende Rolle der jeweiligen Opposition, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Kernbestand der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gehört 6 . Davon gewinnt wiederum die gemeinsame Arbeit des Kollegialorgans Bundestag.

9

c) Ahnliches gilt für das Aufgabengebiet des Immunitätsrechts. Auch hier ist Konsensprinzip im Ausschuß von der Erkenntnis geprägt, daß es insoweit U"Anwendung Parteien und Fraktionen, auf Mehrheit oder Opposition ankommt, sondern auf die Funktionsfähigkeit des komplizierten Gefüges des Bundestages insgesamt. Hier wäre jeder Eindruck, eine Entscheidung über die Aufhebung oder Nichtaufhebung der Immunität eines Abgeordneten, also seine Uberantwortung oder Nichtüberantwortung an die Justiz, habe irgendwie mit der Zugehörigkeit des Abgeordneten zur Mehrheit oder zur Opposition zu tun, nicht nur für alle Beteiligten, sondern besonders für das Institut der Immunität selbst höchst schädlich. Das gilt ganz unabhängig davon, daß der Ausschuß seit langem fast regelmäßig den Ersuchen um Aufhebung der Immunität nachkommt, oft im dringenden Interesse des betroffenen Abgeordneten selbst, dem an einer Klärung von Vorwürfen durch die Justiz in Hinblick auf die Öffentlichkeit gelegen ist. Entscheidend für die Sicherung der Stellung des Bundestages und seiner Mitglieder ist hier ganz

Immunitätsrecht in

J

a s

Redeprivilegien von der ersten Wahlperiode bis heute deutlich verändert. Es wird jetzt merklich klarer auf das Rednerverhältnis von Pro und Contra abgehoben und weniger auf die annähernd gleiche Zeitberücksichtigung von Bundesregierung und Bundestag. Auch wird innerhalb des Bundestages die Redezeit nicht lediglich nach den dort vorfindbaren Fraktionsstärken zugeteilt. Sicherlich, nach dem Wortlaut des Grundgesetzes sind die Bundesregierung und die Mitglieder des Bundesrates gegenüber den Abgeordneten gemäß einer aus dem 19. Jahrhundert stammenden Verfassungstradition deutlich privilegiert (Art. 43 Abs. 2 GG). In der Verfahrenspraxis werden die Redezeiten der so Privilegierten jedoch nicht nur innerhalb des allgemeinen Bundestagskontingents berücksichtigt, sondern möglichst weitgehend auch dem maßgeblichen Verhältnis von Regierungsmehrheit und Opposition — der Parität angenähert — zugerechnet 14 . Der öffentliche, mitunter polemisch zugespitzte „Schlagabtausch" im Plenum 7 9 mag den Eindruck erwecken, als ob die Regierungsmehrheit unisono der Apologe- Öffentliche Kritik tik folge, während allein die Opposition zur kritischen Kontrolle der Regierung durch die O p p o s i t i o n bereit sei. Richtig ist, daß die Oppositionsfraktionen vor allem im Plenum ihre Rolle darin erkennen, die Bundesregierung und die sie tragende Koalitionsmehrheit im Bundestag öffentlich zur Rede zu stellen, sie zu kritisieren und sie auf diese Weise zur Rechenschaftslegung ihres Handelns zu zwingen. Soweit eine Opposition dieser Aufgabe nachkommt, erfüllt sie durchaus ihre kritische Funktion und sorgt im allgemeinen Interesse dafür, daß sich die Regierenden permanent vor der Bevölkerung und ihren Wählern erklären, rechtfertigen müssen. In einer pluralistischen Demokratie ist dies für eine Opposition, die sich als wählbare Alternative darstellen will, nicht nur im eigenen Interesse rollengeboten, vielmehr ist diese Handlungsweise auch im Interesse des gesamten politischen Gemeinwesens ihre wichtigste Aufgabe. Es bildet eine Voraussetzung dafür, daß die Regierenden ihrer „Sterblichkeit" versichert werden und daß sie gemäß freiheitlicher Demokratie stets „zur Disposition des Volkes" stehen. Schließlich kann eine Wählerschaft nur dann mit einer amtierenden Regierung erfolgreich „abrechnen", wenn sich ihr zur Ablösung fähige oder, koalitionsbezogen, zur teilweisen Änderung bereite Oppositionsfraktionen und -parteien dafür anbieten.

14

Dazu P. SCHINDLER Zum Streit um die gerechte Redezeitverteilung, S. 2 5 3 - 2 5 8 , sowie zur neueren Entwicklung DERS. ( F n . 4 ) II. S. 545.

in:

ZParl.

(3/71),

1348

7. Teil: Das parlamentarische Regierungssystem

80

All diese richtigen Erkenntnisse dürfen jedoch nicht zu der falschen Schlußfolgerung verleiten, als ob die parlamentarische Kontrollfunktion ernsthaft nur auf Seiten der Oppositionsfraktionen wahrgenommen werde. Richtig ist vielmehr, daß die Opposition ihrer Kontrollfunktion betont öffentlich-kritisch, die Mehrheit hingegen eher intern-kritisch nachkommt. Dies ist einerseits dann der Fall, wenn die Regierungsmehrheit von einer Koalition gebildet wird, deren Partner einander wechselseitig kontrollieren — sei es mehr vertrauensvoll oder mehr skeptisch (interne „Bereichsopposition"). Andererseits besteht üblicherweise eine ähnliche, durchaus kritische Wechselbeziehung zwischen den einzelnen Flügeln und den weitgehend eigenständigen Mitgliedern innerhalb einer Fraktion sowie generell im Verhältnis zwischen dem führenden bzw. amtierenden Regierungspersonal und den im Parlament entscheidenden Abgeordneten der Regierungsmehrheit. Nicht selten haben Minister und auch der Bundeskanzler vor der eigenen Fraktion und deren Arbeitskreisen einen schwierigeren Stand, der dort praktizierten kritischen Kontrollwahrnehmung gerecht zu werden, als später gegenüber der „offiziellen" Opposition im Plenum.

81

Im Plenum selbst wird das einander kontrollierende Streitgespräch zwischen Regierungsmehrheit und Opposition sowohl im Rahmen der Fragestunden, Aktuellen Stunden und Aussprachen zu Großen Anfragen wie in allen hierfür geeigneten Debatten durchgeführt. Dazu zählt nicht jede Aussprache bei Gesetzesbeschlüssen, da viele Gesetze in breitem Konsens nahezu einstimmig verabschiedet werden15. Dazu gehören jedoch die Haushaltsdebatten und all jene Anlässe — ζ. B. Stellungnahmen zu Berichten der Regierung und anderen Instanzen, Aussprachen zu Mißbilligungs-, Vertrauens- und sonstigen besonderen Anträgen —, in denen sich das Gegenüber von Regierungsmehrheit und Opposition dramatisieren läßt.

Interne Mehrheitskontrolle

Möglichkeiten des öffentlichen Streitgesprächs

3. Ausschußsitzungen und Pressemitteilungen

82 Öffentlich tagende Ausschüsse sind einem demokratischen Parlament angemessen.

Öffentlich tagende Ausschüsse als Gebot

Abweichungen von diesem („unangenehmen"?) Grundsatz können nur mit pragmatischen Überlegungen begründet werden. Dies geschieht üblicherweise mit der Formel, daß die „wahre, eigentliche" Parlamentsarbeit, die Beratung von Anträgen, in vertraulicher Atmosphäre ohne die Verführung zu „Fensterreden" stattfinden müsse: Je weniger Öffentlichkeit, desto mehr Offenheit! Der amerikanische Supreme Court-Richter W I L L I A M D O U G L A S ' 6 hat einmal die These verkündet: „Geheimhaltung in einem Regierungssystem ist grundsätzlich undemokratisch und eine beständige Quelle bürokratischer Irrtümer." Er formulierte damit einen Maßstab, der erst recht für demokratische Parlamente und deren Fachausschüsse gilt.

83

Nun gibt es auch im Bundestag für dessen Ausschüsse keineswegs ein generelles Geheimhaltungsgebot. In §69 Abs. 1 Satz 1 G O B T steht bis heute „lediglich" die

>69 Abs. I S . 1 G O B T , Informationen aus nichtöffentlichen Sitzungen

Der Prozentsatz der „völlig" einstimmig verabschiedeten Gesetze hat insbesondere seit dem Auftreten der Grünen im Bundestag deutlich abgenommen, siehe Statistik in: ZParl. (2/87), S. 195. Zum Ganzen SCHINDLER (Fn. 4) II. S. 655 ff, besonders Graphik S . 6 5 7 . In der Entscheidung N e w Y o r k Times C o . v. United States (Pentagon Papers Case) 1971, 403 U . S . 713.

§49

F o r m e n , V e r f a h r e n u n d W i r k u n g e n der p a r l a m e n t a r i s c h e n K o n t r o l l e (STEFFANI)

1349

Bestimmung: „Die Beratungen der Ausschüsse sind grundsätzlich nicht öffentlich." Damit unterliegen sie weder den Geboten der Öffentlichkeit noch denen der Geheimhaltung. Nicht-öffentlich besagt, daß zwar während der Beratungen nicht einmal Vertreter der Medien zugelassen sind, wohl aber nach und außerhalb der Ausschußsitzungen über deren Arbeit und Beschlüsse berichtet werden darf. Was der Vorsitzende und einzelne Mitglieder oder Fraktionen von der Arbeit ihrer Ausschüsse zu berichten gedenken, kann folglich zum Gegenstand von Pressemitteilungen gemacht werden. Dementsprechend hat der Bundestag sogar sein Pressezentrum beauftragt, nach einer Sitzungswoche die Parlamentskorrespondenz „woche im bundestag (wip)" herauszugeben, in der auch über den Stand der verschiedenen Ausschußberatungen berichtet wird. Daß dieses Mitteilungsrecht erstrebenswert, wenn nicht selbstverständlich ist, 84 läßt § 69 Abs. 1 G O B T in Satz zwei erkennen, mit dem eine „Teil-Öffentlichkeit" Z u l a s s u n g d e r ermöglicht wird: „Der Ausschuß kann beschließen, für einen bestimmten Ver- Ö f f e n t l i c h k e i t , H a n d h a b u n g in handlungsgegenstand oder Teile desselben die Öffentlichkeit zuzulassen." Die Praxis Geschäftsordnung sieht also vor, daß das verfassungsrechtliche Gebot öffentlicher Verhandlungen dadurch umgangen werden kann, indem Verhandlungsgegenstände in den Ausschüssen zwar grundsätzlich nicht öffentlich zu beraten sind, die Öffentlichkeit auf Beschluß jedoch zugelassen werden darf 17 . Wenn in der Praxis hiervon bisher fast gar kein Gebrauch gemacht worden ist, so dürfte dies allerdings schwerlich nur an der restriktiven Geschäftsordnungsbestimmung liegen.

der

Auf jeden Fall findet die parlamentarische Kontrolle in den Fachausschüssen 85 des Bundestages entsprechend der dort geltenden Nicht-Öffentlichkeits-Regel — „ K r a c h " nach außen, abgesehen von den öffentlichen Anhörungen sowie den Beweiserhebungen in H a r m o n i e nach innen? Untersuchungsausschüssen gemäß Art. 44 G G — in nahezu all ihren Phasen nicht öffentlich statt. Es kann daher kaum verwundern, wenn der öffentliche Eindruck entsteht, daß die polemisch zugespitzten Auseinandersetzungen im Parlamentsplenum das Verhältnis von Regierungsmehrheit und Opposition „fürs V o l k " bestimmen, während die konkrete Detailarbeit und eventuelle kollegiale Verständigung in Form von Konsens und Kompromiß die parlamentarische Öffentlichkeit scheue und daher die Verborgenheit der Ausschußberatung suche. Die Parole scheint zu lauten: „Krach für das Publikum, Harmonie hinter den Kulissen." Als Folge hiervon kann es geschehen, daß in der breiten Öffentlichkeit — und 86 bei so manchem Betrachter — die Ansicht von der parlamentarischen Unfähigkeit U n f ä h i g k e i t z u r zu problemangemessener Sach- und Leistungskontrolle vorherrscht. Zugleich wird Sach- u n d Leistungskontrolle?, die gerade in parlamentarischen Regierungssystemen legitime Koexistenz überein- legitime K o e x i s t e n z stimmender und kontroverser politischer Richtungskontrolle nicht wahrgenommen, da insofern die Plenarverhandlungen — wie insbesondere die alljährlichen Haushaltsdebatten — vornehmlich vom kontroversen Aspekt bestimmt werden. Bereits 1 9 7 0 hat W I L H E L M K E W E N I G in diesem Zusammenhang darauf hinge- 87 wiesen, daß sich seiner Beobachtung nach in den Ausschüssen des Bundestages ein K o n t r o l l e als „parlamentarische Mitregierung"

17

Bei F.SCHÄFER heißt es n o c h 1975: „ A l l g e m e i n e ö f f e n t l i c h e A u s s c h u ß s i t z u n g e n w ü r d e n d a s P l e n u m e n t m a c h t e n , die S a c h e r ö r t e r u n g u n d A u f k l ä r u n g nicht f ö r d e r n . " DERS. D e r B u n d e s t a g — E i n e D a r s t e l l u n g seiner A u f g a b e n u n d A r b e i t s w e i s e , 2. A u f l . , 1975, S. 127. Z u r „ P u b l i z i t ä t der V e r h a n d l u n g e n " generell SCHINDLER ( F n . 4 ) II. S. 5 5 2 f.

1350

7. T e i l : D a s p a r l a m e n t a r i s c h e R e g i e r u n g s s y s t e m

neues Kontrollverständnis entwickelt habe. Parlamentarische Kontrolle werde nicht mehr als „Aufsicht über fremde A m t s f ü h r u n g " , sondern als „ Z u s a m m e n w i r k e n verschiedener Instanzen auf ein gemeinsames Ziel" verstanden. E r nannte dies „parlamentarische Mitregierung" 1 8 . K E W E N I G hat damit hervorgehoben, was in einem parlamentarischen System unter parlamentarischer Kontrolle von Seiten der Mehrheit zu verstehen ist. O b und inwieweit öffentlich-kritisch agierende O p p o s i tionsfraktionen ebenfalls ein gemeinsames Ziel erkennen und bekennen können, haben sie zu entscheiden. Sind sie dazu in der Lage, werden sie nicht auf bloßen Lösungsalternativen beharren, sondern auf die entscheidungsfähige Mehrheit Einfluß zu nehmen versuchen.

88 V e r a n t w o r t u n g der Mehrheit, Kritikfähigkeit der Opposition

In einer pluralistischen D e m o k r a t i e sollte jede verantwortliche, gemeinwohlorientierte Mehrheit bemüht sein, einer oppositionellen Einflußnahme entgegenzuk o m m e n . D e n n gemäß demokratischer Mehrheitsregel entscheiden zwar parlamentarische Mehrheiten rechtsverbindlich. Alle jedoch, auch die unterlegenen Minderheiten, sind anschließend der getroffenen Entscheidung unterworfen. Hier rechtzeitig die Z u m u t u n g s f r a g e für die überstimmten Minderheiten zu stellen, ist nicht ein „falsches E n t g e g e n k o m m e n " , sondern oftmals ein Anzeichen gebotener Klugheit und gemeinwohlorientierter Verantwortung. F ü r eine O p p o s i t i o n mag sich dabei das Problem ergeben, daß mitwirkende Z u s t i m m u n g in den Ausschüssen zugleich eingeschränkte Kritikfähigkeit im Plenum bedeuten kann. V o r diesem D i l e m m a steht allerdings jede O p p o s i t i o n , die sich nicht nur im Interesse ihrer Anhänger sowohl als Regierungsalternative als auch einflußnehmende politische K r a f t begreift 1 9 .

89

Grundsätzlich wird parlamentarische Kontrolle somit auch in ihrer Phase der Informationsbewertung in den Ausschüssen mitvollzogen. Sobald ein Ausschuß einen empfehlenden Mehrheitsbeschluß für die Plenarverhandlung faßt, stellt er die Konsensfähigkeit des Bundestages fest: Entweder konnte ein breiter K o n s e n s erarbeitet b z w . gefunden werden, oder der Beschluß bleibt schon im Ausschuß auf die Reihen der Regierungsmehrheit beschränkt.

90

Obgleich dieser Erfahrungssatz prinzipiell für alle A u s s c h ü s s e gilt, spielt der Haushaltsausschuß hierbei doch eine besondere Rolle. Soweit er sich mit Fragen der Sach- und Leistungskontrolle befaßt, ist seine Arbeitsweise durch einen erheblichen K o n s e n s gekennzeichnet. Dieser K o n s e n s reicht bei der v o m Bundesrechnungshof vorbereiteten R e c h n u n g s p r ü f u n g sogar noch weiter 2 0 . E r umfaßt mitunter auch die politische Richtungskontrolle (Entlastung nach Art. 114 G G ) . Anderes gilt jedoch für die Empfehlungen des Ausschusses an das Plenum, die ressortmäßig gegliederten Haushaltsposten anzunehmen. H i e r stellen die Oppositionsfraktionen zumeist falsche Weichenstellungen und allzu „parteiliche" Zielvorgaben der Mehrheit fest. D i e politische Richtungskontrolle beider Seiten, Mehrheit wie Minderheit im Ausschuß, wird demgemäß bei der Vorlage des Haushaltsplans entsprechend kontrovers ausfallen.

Informationsb e w e r t u n g in den Ausschüssen

Haushaltsausschuß Bundesrechnungshof, Rechnungsprüfung

W . KEWENIG Staatsrechtliche P r o b l e m e parlamentarischer M i t r e g i e r u n g a m Beispiel der Arbeit der B u n d e s t a g s a u s s c h ü s s e , 1970. " V g l . THAYSEN ( F n . 3 ) S . 6 1 . 2 0 D a t e n bei SCHINDLER ( F n . 4 ) I. S. 772 f, II. S. 750 f. Z u r G e s c h i c h t e der R e c h n u n g s p r ü f u n g der ehemalige Präsident des B u n d e s r e c h n u n g s h o f e s K . WITTROCK Parlament, R e g i e r u n g und R e c h n u n g s h o f , in: Z P a r l . (3/86), S. 4 1 4 ^ 1 2 2 . 18

§49

F o r m e n , V e r f a h r e n und W i r k u n g e n der parlamentarischen K o n t r o l l e (STEFFANI)

1351

4. Das freie Mandat als Rechtsschutz des Abgeordneten Mit dem freien Mandat des Bundestagsabgeordneten wird festgestellt, daß ein 91 gewähltes Parlamentsmitglied während der Dauer seiner Amtszeit für all seine P e r s ö n l i c h e Handlungen persönlich verantwortlich ist. Schließt sich ein Abgeordneter in V e r a n t w o r t u n g des A b g e o r d n e t e n und seinem Urteil und seinen Abstimmungen anderen an, trägt er hierfür die volle „ A m t s g e w i s s e n " , Verantwortung. In einer pluralistischen Demokratie muß er zudem in der Lage I n d e m n i t ä t s r e c h t sein, dem Wähler für sein Tun und Lassen als Abgeordneter Rechenschaft abzulegen. Wenn im Grundgesetz in diesem Zusammenhang vom „Gewissen" des Abgeordneten die Rede ist (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 G G ) , ist damit sein „Amtsgewissen" gemeint: Ein Abgeordneter „verdient" in einer pluralistischen Demokratie den Rechtsschutz seines Mandats, wenn er seiner Amtspflicht nachkommt, nach bestem Wissen und Gewissen verbindlich für andere zu entscheiden. Dafür besitzt er sein Indemnitätsrecht (Art. 46 Abs. 1 G G ) . Dies ist der Sinn seiner Rede- und Abstimmungsfreiheit im Bundestag 2 '. Entscheiden kann ein Abgeordneter normalerweise nur dann, wenn er sich 9 2 mehrheitsfähig zeigt. Dabei ist er auf die Zusammenarbeit mit anderen angewiesen. Z u s a m m e n a r b e i t des Dem dienen die Parteien insbesondere bei der Nomination von Parlamentskandi- A b g e o r d n e t e n , F r a k t i o n s z w a n g als daten und nach deren Wahl die Fraktionen im Bundestag. Übt ein Abgeordneter V e r r a t des M a n d a t s hier Fraktionsdisziplin, so zeigt er an, daß er sein freies Mandat vornehmlich in Zusammenarbeit mit den anderen über seine Partei nominierten und gewählten Amtskolleginnen und -kollegen wahrnimmt. Er verriete sein Mandat, wenn er sich dabei einem Fraktionszwang unterwürfe, weil er sich dann in verfassungswidriger Weise entmündigen würde. Wenn Abgeordnete (leichtfertigerweise) von Fraktionszwang sprechen — als Alibi für eigenes Versagen oder weil sie wiedergewählt werden wollen, was das freie Mandat weder garantieren kann noch will —, ist stets Gefahr im Verzuge. Sollte sich ein Abgeordneter andererseits seiner eigenen und jeder anderen Fraktion entfremden, würde er hiermit seinen parlamentarischen Einfluß entscheidend schwächen: Im Parlament verlöre er jede ernsthafte Handlungsfähigkeit. Im Bundestag sind Fraktionsdisziplin und freies Abgeordnetenmandat insoweit 9 3 aufeinander bezogen, als eines ohne das andere kaum vorstellbar ist. Denn einer- F r a k t i o n s d i s z i p l i n seits wäre ein Abgeordneter ohne die Unterstützung durch seine Fraktion, die von und freies M a n d a t , F r a k t i o n s w e c h s e l als ihm Disziplin erwartet, parlamentarisch hilflos. Andererseits wird der einzelne F r e i h e i t s g e b r a u c h Abgeordnete erst durch sein freies Mandat sowohl im Parlament als auch in seiner eigenen Fraktion konfliktfähig. Ohne das freie Mandat seiner Mitglieder wäre eine Fraktion unter dem Grundgesetz verfassungswidrig: Konsequenterweise besitzt jeder Abgeordnete das Recht, ohne Mandatsverlust seine Fraktion zu verlassen und dadurch im Extremfall die Mehrheitsstabilität bzw. das Verhältnis von Regierungsmehrheit und Opposition sowie deren jeweilige Einheitlichkeit zu gefährden. In der politischen Praxis des Bundestages hat dies zur Folge, daß die relative 9 4 Geschlossenheit einer Fraktion von ihrer Integrationskraft gegenüber möglichst G e s c h l o s s e n h e i t allen Mitgliedern, die unter Mitnahme „ihres" Mandats „jederzeit" die Fraktions- F r a k t i o n 21

E i n g e h e n d e r dazu mein A u f s a t z : A b g e o r d n e t e n e i d und freies M a n d a t , in: W.STEFFANI Pluralistische D e m o k r a t i e , 1980, S. 1 6 7 - 1 9 8 , s o w i e Z P a r l . ( 1 / 7 6 ) , S. 8 6 - 1 1 2 , ( 1 / 8 1 ) , S. 1 0 9 - 1 2 2 und ( 2 / 8 5 ) , S. 2 4 6 - 2 5 6 .

einer

1352

95

Konfliktfähigkeit, Abgeordnetenaufgaben und freies Mandat

96

D e r Abgeordnete als persönlich verantwortlicher Sachwalter bei der Parlamentskontrolle

7. Teil: Das parlamentarische Regierungssystem

gemeinschaft verlassen könnten, abhängt. Eine Fraktion sollte und wird daher alles, was ihr möglich erscheint, dafür tun, eine solche Situation nicht eintreten zu lassen. All das bedeutet für den einzelnen Abgeordneten nicht nur parlamentarische „Konfliktfähigkeit", sondern vor allem auch das Recht und die Pflicht, den Aufgaben eines Mitgliedes des Bundestages nachzukommen. Im vorliegenden Fall heißt dies, er hat seinen Beitrag zur Erfüllung der parlamentarischen Kontrollpflicht zu leisten: durch Informationsgewinnung, -Verarbeitung aber auch durch Informationsbewertung und Entscheidung in seinen kollegialen Kontakten, in seiner Fraktion und gegebenenfalls im Parlamentsplenum. Dazu kann das freie Mandat dem Abgeordneten zwar nur indirekt politische Hilfe gewähren, dafür aber unmittelbar den notwendigen verfassungsrechtlichen Schutz. Wenn er ihn nicht einsetzt, trägt er auch für diese Handlungsweise als parlamentarischer Mandatsträger die volle persönliche Verantwortung. Durch sein rechtlich geschütztes freies Mandat wird jedes Mitglied des Bundestages zum persönlich verantwortlichen Sachwalter bei der Ausübung parlamentarischer Kontrolle — auch und gerade bei seiner Mitwirkung und seinen Handlungsmöglichkeiten in der eigenen Fraktion sowie innerhalb der Regierungsmehrheit und Opposition.

V. Stellungnahmen und Entscheidungen 9 7 Parlamentarische Kontrolle endet nicht mit der politischen Bewertung gewonnener Entscheidung durch Uberprüfungserkenntnisse. Diese Erkenntnisse verlangen im Parlament vielmehr Mehrheit e ¡ n e r Entscheidung. Auf Seiten der Opposition werden kritische Informationsbewertungen oft genug zu bloßen Stellungnahmen und ablehnenden Voten führen. Denn im Verfassungsorgan Parlament entscheidet die hierfür erforderliche und hierzu befugte Mehrheit. 1. Parlamentarische Entscheidungen 9 8 Ein Parlament kann im Verlauf seines Kontrollprozesses auf vielfältige Weise Entscheidungs- entscheiden. So kann es zum einen aufgrund der erarbeiteten Kontrollergebnisse . ,

öglichkeiten, [ J e s c | 1 l i e ß e n ) keine besonderen Entscheidungen zu fassen, indem es beispielsweise

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Entscheidung

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» z u r Kenntnis nimmt — womit der Regierung und Staatsverwaltung möglicherweise zustimmende Akzeptanz ihres Handelns oder stillschweigende Hinnahme signalisiert wird. Denn „Nichtentscheidung" ist auch eine Form der Entscheidung. Zum anderen kann eine Parlamentsmehrheit Initiativen und kritisierende Kontrollanträge aus den Reihen der Opposition mit mehr oder weniger betonter Dramatik ablehnen und sich so dagegen entscheiden. Schließlich kann die Mehrheit selbst ihre Zustimmung zum Handeln der Regierung durch entsprechende Plenarabstimmungen herausstreichen, oder sie zeigt Änderungsbedürfnisse, die ihrer Meinung nach bestehen, durch darauf abzielende „sanktionierende" (Gesetzes-)Beschlüsse an. Wichtig ist dabei der Umstand, wann die, bzw. eine Mehrheit allein beschließen kann, und in welchen Fällen sie an die Minderheitsrechte anderer gebunden ist.

etwas

§49

Formen, Verfahren und Wirkungen der parlamentarischen Kontrolle (STEFFANI)

1353

D a m i t wird erneut auf die dreifache Konstellation von Parlament und Regierung, Regierungsmehrheit und O p p o s i t i o n sowie Mehrheit und Minderheit verwiesen. Parlament und R e g i e r u n e (Bundestag und Bundesregierung) sind in ihren B e f u g ,

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99 Parlament/Regierung, R-eglerungsmehrheit/ Opposition,

nissen wechselseitig auteinander bezogene, jedoch zugleich jeweils mit eigenen Mehrheit/Minderheit K o m p e t e n z e n ausgestattete Verfassungsorgane. Regierungsmehrheit und O p p o s i tion sind von den Parlamentsfraktionen organisierte Verfassungsinstitutionen, deren unterschiedliche Stellungen im parlamentarischen Prozeß sie einander kritisch beobachten lassen und deren verschiedene politisch-programmatische Positionen die gesamte parlamentarische Kontrollarbeit prägen. Mehrheit und Minderheit sind wiederum in der Verfassung und G e s c h ä f t s o r d n u n g vorfindbare G r u n d begriffe, mit denen die Verfügungsmöglichkeit über parlamentarische Einrichtungen und Befugnisse bezeichnet wird. E s k o m m t in diesem Z u s a m m e n h a n g nicht selten vor, daß die Begriffe Regierungsmehrheit und O p p o s i t i o n mit den Verfassungs- und G e s c h ä f t s o r d n u n g s b e zeichnungen Mehrheit und Minderheit gleichgesetzt werden. D a s ist keineswegs angängig und ohne weiteres zulässig. Wohl wird es immer wieder v o r k o m m e n , daß die Entscheidungsgrößen Mehrheit und Minderheit mit den Verfassungsinstitutionen Regierungsmehrheit und O p p o s i t i o n identisch erscheinen. D e n n o c h tauchen die Entscheidungsgrößen Mehrheit und Minderheit nicht nur im Verfassungsorgan Parlament, sondern immer wieder auch innerhalb der Verfassungsinstitutionen und den sie bildenden Fraktionen auf. Darüber hinaus kann es auch im Bundestag passieren, daß sich eine Mehrheit b z w . Minderheit bei bestimmten Ansichten oder gar A b s t i m m u n g e n aus Abgeordneten zusammensetzt, die in unterschiedlicher Anzahl jeweils beiden Verfassungsinstitutionen entstammen. U n d schließlich ist es keineswegs ungewöhnlich, daß eine abstimmende A u s s c h u ß - oder Regierungsmehrheit die Mitglieder der Regierungsmehrheit sowie der stärksten O p p o s i t i o n s fraktion umfaßt, während sich die Minderheit auf die kleinste O p p o s i t i o n s f r a k t i o n beschränkt. Z u d e m ist es durchaus möglich — wenn in der B u n d e s r e p u b l i k bisher auch nur gelegentlich und kurzfristig geschehen —, daß eine Regierungsmehrheit im Bundestag ihre Abstimmungsmehrheit verliert und die O p p o s i t i o n s f r a k t i o n e n zumindest numerisch eine Mehrheit bilden. O d e r daß, wie es gegen E n d e des ersten Kabinetts BRANDT/SCHEEL der Fall war, die O p p o s i t i o n z w a r eine Gesetzesmehrheit, die Regierungsfraktionen hingegen eine G e s c h ä f t s o r d n u n g s m e h r h e i t zu mobilisieren vermögen 2 2 . Auch derartige, wenngleich eher selten aktivierbare Möglichkeiten sind bei einer Betrachtung der sanktionierenden Entscheidungsphase parlamentarischer Kontrolle im A u g e zu behalten. 2. M i n d e r h e i t s r e c h t e Ein demokratisches Parlament muß beides leisten: es muß zu verbindlichen Entscheidungen in der L a g e sein und es muß seine Entscheidungen im Pro und C o n t r a öffentlich begründen können. E s darf dabei seine Balance nicht verlieren. Denn ein Parlament, das nichts oder wenig zu entscheiden hat, droht den C h a r a k ter eines rhetorischen Theaters anzunehmen, worauf die Polemik „ Q u a s s e l b u d e " D a z u SCHINDLER ( F n . 4 ) I. S . 4 1 3 .

100

Verbindliche Entscheidungen des Parlaments, öffentliche B e g r ü n d u n g im Parlament

7. T e i l : D a s parlamentarische Regierungssystem

1354

abzielt. Ein Parlament hingegen, das ohne öffentliche Begründung von Pro und Contra entscheidet, droht zum autoritären Repressionsinstrument zu entarten. 101 In einer Demokratie, in der grundsätzlich nach der Mehrheitsregel entschieden Mehrheitsregel, wird 23 , gilt dies auch für die verbindlichen Entscheidungen im Parlament. Von Entscheidungsdiesem Grundsatz gibt es drei Abweichungen, die ihn keineswegs aufheben, jedoch veranlassung, relativierend konkretisieren. So ist zunächst die Frage zu klären, wer unter welchen Minderheitenrecht, b e s o n d e r e Q u o r e n Bedingungen eine Parlamentsentscheidung veranlassen kann: Wer entscheidet, daß und wann entschieden werden muß? Zum zweiten kann es Fälle geben, in denen — abweichend vom generellen Grundsatz — einer Minderheit das Recht zugestanden wird, bestimmte Aktionen des Parlaments und seiner Hilfsorgane z.wingend zu veranlassen. Und drittens können die Verfassung oder ein Gesetz vorsehen, daß für gewisse Entscheidungen besondere Quoren aufzubringen sind, falls es zu einem verbindlichen Beschluß kommen soll: Sei es, daß die Mehrheit der Abstimmenden genügt, oder daß eine absolute Mehrheit — die Mehrheit der Mitglieder des Parlaments — erforderlich ist, oder daß nur mit einer Zweidrittelmehrheit (entweder der Abstimmenden oder — wie in Art. 79 Abs. 2 G G vorgesehen — der Mitglieder des Parlaments) entschieden werden kann. 102 K o n s e q u e n z e n für die Minderheit

Die zuletzt genannten Formen der Entscheidung haben für dagegenstehende Minderheiten ihre Konsequenzen. Verfügt beispielsweise eine geschlossen auftretende Minderheit bei Zweidrittel-Quoren über mehr als ein Drittel der Parlamentsmitglieder, so besitzt sie eine Sperrminorität: O h n e ihre Mitwirkung kann kein positiver Beschluß gefaßt werden. Die Bedeutung dieser unterschiedlich gelagerten Minderheitsrechte im parlamentarischen Kontrollprozeß gilt es knapp zu skizzieren. a) Initiativen

und

Anträge

1 0 3 Seit der „Kleinen Parlamentsreform" von 1969 wurde an vielen Stellen der Geschäftsordnung des Bundestages eine gleichlautende Formel eingefügt, mit der Vorlagen nach der in nahezu allen wesentlichen Fragen parlamentarischer Minderheitsinitiative das G O B T , §§ 7 5 , 7 6 A b s . 1 hierfür erforderliche Minderheitsquorum festgestellt wird. Im Mittelpunkt steht GOBT dabei § 76 G O B T . Im vorangehenden § 75 wird zunächst als Oberbegriff für zahlreiche Initiativen und sonstige Anträge das Wort „Vorlagen" verwandt (siehe auch Art. 76 G G ) , wobei zwischen selbständigen (ζ. B. Gesetzentwürfe) und unselbständigen Vorlagen (ζ. B. Änderungsanträge in der zweiten und dritten Gesetzesberatung im Bundestag) unterschieden wird. § 76 Abs. 1 G O B T stellt dann grundsätzlich fest: „Vorlagen von Mitgliedern des Bundestages (§ 75) müssen von einer Fraktion oder von fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages unterzeichnet sein, es sei denn, daß die Geschäftsordnung etwas anderes vorschreibt oder zuläßt." Minderheitsquorum,

104 A n t r ä g e der O p p o s i t i o n , Fraktionsmindeststärke, Antragsberechtigung

Unter die Bezeichnung „Vorlagen von Mitgliedern des Bundestages" fallen nicht nur Minderheitsinitiativen schlechthin, sondern insbesondere alle Anträge der Verfassungsinstitution Opposition. Eine Opposition kann im Bundestag also 23

Siehe hierzu m e i n e n A u f s a t z : M e h r h e i t s e n t s c h e i d u n g e n und M i n d e r h e i t e n in der pluralistischen V e r f a s s u n g s d e m o k r a t i e , in: Z P a r l . ( 4 / 8 6 ) , S. 5 6 9 - 5 8 6 , und H.ABROMEIT K o r r e k t i v e parlamentarischer M e h r h e i t s h e r r s c h a f t : E i n Ü b e r b l i c k , in: Z P a r l . ( 3 / 8 7 ) , S. 4 2 0 - 4 3 5 .

§49

F o r m e n , V e r f a h r e n u n d W i r k u n g e n d e r p a r l a m e n t a r i s c h e n K o n t r o l l e (STEFFANI)

1355

stets dann auf vielfältige Weise antragstellend initiativ werden, wenn sie über das Mindestmaß der Fraktionsstärke verfügt (gemäß § 10 Abs. 1 G O B T sind Fraktionen „Vereinigungen von mindestens fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages"). Eine Oppositionspartei wird diese Stärke zumeist aufbringen, da sie wegen der 5-Prozent-Klausel des Bundeswahlgesetzes sonst im Bundestag nicht vertreten wäre. Anderenfalls, d. h. sobald eine Initiative nicht von einer Fraktion ausgeht, müssen Vorlagen von „fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages unterzeichnet" sein. Eine kleinere Minderheitengruppe oder einzelne Abgeordnete bleiben somit in diesen Fällen von der Möglichkeit ausgeschlossen, das Parlament zu einer Abstimmung nötigen zu können. Eine Oppositionsfraktion bzw. eine das erforderliche Quorum aufbringende 105 Minderheit kann zwar die Initiative ergreifen, nicht jedoch positive Entscheidun- K e i n e p o s i t i v e gen erzwingen. Das ist auch nicht der Sinn derartiger Initiativen. Bei den meisten E n t s c h e i d u n g s erzwingung, Sinn der Oppositionsanträgen geht es weniger um den Entscheidungserfolg, als vielmehr M i n d e r h e i t s i n i t i a t i v e n um die Gelegenheit, themenbestimmende Aussprachen herbeizuführen, laufende Kontrollprozesse mit kritischen Kommentaren zu begleiten und letztlich die Regierungsmehrheit zur Stellungnahme anhalten zu können. Mit all diesen minderheitsrechtlich geschützten Initiativen ist demnach die 1 0 6 Chance verbunden, eine Aussprache herbeizuführen, in der sich die unterschiedli- H e r b e i f ü h r u n g chen Positionen, aber auch die übereinstimmenden Auffassungen begründen und öffentlicher Aussprachen herausstreichen lassen. Und zwar in öffentlicher Verhandlung im Plenum des Bundestages. Daß eine Minderheit darüber hinausgehend auch verbindliche Beschlüsse fassen kann, ist eine Ausnahme von der Mehrheitsregel.

b) Beschlußrechte

einer

Minderheit

In drei Fällen kann eine Minderheit des Bundestages nicht nur selbst Initiativen 107 ergreifen, sondern verbindliche Beschlüsse fassen, um — abgesehen von Anfragen F ä l l e v e r b i n d l i c h e r an die Bundesregierung — besondere Verfahren parlamentarischer Kontrolle M i n d e r h e i t s beschlußfassung, einleiten und teilweise auch mitbestimmen zu können. Es sind dies die Einsetzung T h e m a d e s von Enquete-Kommissionen, die Einsetzung parlamentarischer Untersuchungs- K o n t r o l l v e r f a h r e n s ausschüsse und die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts. In allen drei Fällen kann eine dafür jeweils qualifizierte Minderheit selbstverständlich auch das Thema des Kontrollverfahrens bestimmen. In § 5 6 Abs. 1 G O B T wird seit 1969 erklärt: „Zur Vorbereitung von Entschei- 1 0 8 dungen über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe kann der Bundestag E n q u e t e eine Enquete-Kommission einsetzen. Auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder K o m m i s s i o n e n , Untersuchungsist er dazu verpflichtet. Der Antrag muß den Auftrag der Kommission bezeich- a u s s c h ü s s e nen." Damit wird auch eine Opposition in die Lage versetzt, falls sie das erforderliche Quorum von einem Viertel der Mitglieder des Bundestages aufzubringen vermag, sowohl die Einsetzung wie den Auftrag der Kommission zu bestimmen. Die Parlamentsmehrheit ist verpflichtet, diesem Antrag zu folgen. Allerdings nur dann, wenn das Thema des „Enquete"-Auftrages im Rahmen der Kompetenzen des Bundestages liegt. Anderenfalls müßte die Mehrheit den Antrag zurückweisen. Einer damit nicht einverstandenen Minderheit stünde anschließend der Klageweg zum Bundesverfassungsgericht offen. An dessen Entscheidung wäre auch die

7. Teil: Das parlamentarische Regierungssystem

1356

B u n d e s t a g s m e h r h e i t g e b u n d e n . D a es sich hierbei u m ein Minderheitsrecht handelt, bedeutet die E i n s e t z u n g v o n E n q u e t e - K o m m i s s i o n e n allerdings kein b e s o n deres „ O p p o s i t i o n s r e c h t " . G l e i c h e s gilt f ü r die E i n s e t z u n g u n d B e n e n n u n g des F e s t s t e l l u n g s t h e m a s v o n p a r l a m e n t a r i s c h e n U n t e r s u c h u n g s a u s s c h ü s s e n ( A r t . 44 G G ) . A u c h hierbei handelt es sich u m ein generelles Minderheitsrecht u n d nicht u m ein spezielles O p p o s i tionsrecht. E b e n s o steht der P a r l a m e n t s m e h r h e i t n u r d a n n d a s R e c h t einer V e r w e i g e r u n g z u , w e n n sie gegen d a s U n t e r s u c h u n g s t h e m a verfassungsrechtliche B e d e n ken hat, die im Streitfall allein v o m B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t rechtsverbindlich entschieden w e r d e n k ö n n e n . W ä h r e n d es in E n q u e t e - K o m m i s s i o n e n z w i s c h e n Mehrheit u n d Minderheit a u f g r u n d g e m e i n s a m e r E r k e n n t n i s i n t e r e s s e n k a u m zu ernsthaften Streitigkeiten k o m m e n d ü r f t e , auch nicht anläßlich k o m m i s s i o n s i n t e r n eingebrachter M i n d e r heitsanträge, sieht die P r o b l e m l a g e in parlamentarischen U n t e r s u c h u n g s a u s s c h ü s sen mit ihren gewichtigen K o n t r o l l b e f u g n i s s e n o f t m a l s anders a u s . Wie die E r f a h r u n g lehrt, neigen Mehrheiten dieser A u s s c h ü s s e in der Regel w o h l d a z u , einer antragstellenden Minderheit s o weit wie (der M e h r h e i t ) m ö g l i c h e n t g e g e n z u k o m m e n . D e n n n u r s o kann eine M e h r h e i t m ö g l i c h s t v o n vornherein d e m V e r d a c h t b e g e g n e n , sie w o l l e peinliche U n t e r s u c h u n g e n e r s c h w e r e n o d e r blockieren, weil sie etwas zu v e r b e r g e n habe. D e n n o c h w i r d eine im P a r l a m e n t t o n a n g e b e n d e Mehrheit auch im U n t e r s u c h u n g s a u s s c h u ß d a f ü r s o r g e n , daß sie v o n einer „ u n t e r s u c h e n d e n " O p p o s i t i o n nicht aus e r k e n n b a r e m politischem Interesse öffentlich „ v o r g e f ü h r t " wird. E i n e im P a r l a m e n t f ü r dessen E n t s c h e i d u n g e n verantwortliche M e h r h e i t w i r d i n s b e s o n d e r e bei parlamentarischen U n t e r s u c h u n g s a u s s c h ü s s e n , deren E i n s e t z u n g eine O p p o s i tion e r z w u n g e n hat, b e d e n k e n , d a ß derartige G r e m i e n im Streit z w i s c h e n R e g i e r u n g s m e h r h e i t und O p p o s i t i o n ihren C h a r a k t e r als politische K a m p f i n s t r u m e n t e üblicherweise k a u m verbergen k ö n n e n 2 4 . 109 E i n e O p p o s i t i o n kann aber nicht bloß bei der E i n s e t z u n g u n d T h e m e n b e s t i m Anrufung des m u n g v o n E n q u e t e - K o m m i s s i o n e n o d e r U n t e r s u c h u n g s a u s s c h ü s s e n den B u n d e s Bundesverfassungstag „in die P f l i c h t " nehmen u n d faktisch an seiner Stelle entscheiden. Sie kann gerichts unter gewissen U m s t ä n d e n auch b e s t i m m e n , o b sie z u r V e r t e i d i g u n g ihrer V e r f a s s u n g s r e c h t e eine verbindliche E n t s c h e i d u n g des B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t s herbeif ü h r e n will. D a s ist nicht n u r bei s o g e n a n n t e n „ O r g a n s t r e i t i g k e i t e n " m ö g l i c h , s o n d e r n v o r allem bei G e s e t z e n , die die B u n d e s t a g s m e h r h e i t beschlossen hat: der s o g e n a n n t e n „ a b s t r a k t e n N o r m e n k o n t r o l l e " . D i e s e s R e c h t , Mehrheitsents c h e i d u n g e n auf ihre V e r f a s s u n g s m ä ß i g k e i t hin ü b e r p r ü f e n u n d d a z u eine G e richtsentscheidung herbeiführen zu k ö n n e n , bedeutet in ihrer politischen R ü c k w i r k u n g auf die B u n d e s t a g s m e h r h e i t eine b e d e u t e n d e S t ä r k u n g o p p o s i t i o n e l l e r Kontrolltätigkeit.

110 F ü r eine O p p o s i t i o n läßt sich dieser W e g allerdings lediglich d a n n gehen, w e n n Opposition als solche sie die hierfür erforderlichen V o r a u s s e t z u n g e n erfüllt. D e n n die V e r f a s s u n g s i n s t i nicht rechtsfähig t u t i o n O p p o s i t i o n ist im B u n d e s t a g als O p p o s i t i o n nicht rechtsfähig. W e d e r d a s 24

Vgl.

U.THAYSEN

Die

Wahrheiten

der

THAYSEN/SCHÜTTEMEYER ( F n . 6) S. 1 1 - 3 0 .

parlamentarischen

Untersuchungsausschüsse,

in:

§49

F o r m e n , Verfahren und W i r k u n g e n der parlamentarischen K o n t r o l l e (STEFFANI)

1357

Grundgesetz noch die Geschäftsordnung des Bundestages kennen den Begriff Opposition. Wohl hat das Bundesverfassungsgericht bereits 1952 im SRP-Urteil festgestellt, daß zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes unverzichtbar „das Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung von Opposition" 2 5 gehöre. Nach der Geschäftsordnung des Bundestages kann die Verfassungsinstitution Opposition jedoch erst tätig werden, wenn sie — wie jede andere Gruppe von Abgeordneten auch — über den Rechtsstatus einer Fraktion verfügt (bei Organstreitigkeiten) oder bei Normenkontrollverfahren das erforderliche Quorum von einem Drittel der Mitglieder des Bundestages aufbringen kann. Als Oppositionsgruppen waren dazu bisher allein die C D U / C S U - und die SPD-Fraktion in der Lage. Während der Großen Koalition von 1966 bis 1969 wurde die Opposition von der relativ kleinen F D P - F r a k t i o n gebildet. Sie konnte keine Normenkontrollklagen einbringen. c)

Sperrminoritäten

Eine Opposition wird sich insbesondere dann mit einer abstrakten N o r m e n k o n trollklage an das Verfassungsgericht wenden, wenn sie der Uberzeugung ist, daß ein bestimmtes, vom Bundestag verabschiedetes Gesetz wegen seiner Regelungen nicht mit einfacher, sondern allenfalls mit verfassungsändernder Zweidrittelmehrheit hätte beschlossen werden dürfen. Im Klartext hieße das, der Gesetzesbeschluß hätte der Zustimmung der Opposition bzw. eines Teils von ihr bedurft — einer Zustimmung, die von den Abgeordneten der Opposition höchstwahrscheinlich nicht zu erhalten war. Klagt eine entsprechend qualifizierte Oppositionsminorität vor dem Bundesverfassungsgericht, macht sie damit folglich dreierlei deutlich: Zum ersten, daß die Bundesrepublik ein demokratischer Verfassungsstaat ist, in dem sowohl relative wie absolute Mehrheiten nur im Rahmen des geltenden Verfassungsrechts entscheiden und einzelne wie Minderheiten ihre Rechte einklagen dürfen. Zum zweiten, daß der Bundestag in all seinen Entscheidungen an die Verfassung gebunden ist und eine Opposition demnach nicht undemokratisch handelt, wenn sie ernsthafte verfassungsrechtliche Bedenken auf dem dafür vorgesehenen Rechtsweg klären läßt. Und zum dritten, daß sie bei ihrer parlamentarischen Kontrollarbeit im Konfliktfall mit einer nicht kompromißbereiten Regierungsmehrheit sogar den beschwerlichen Gang zum Verfassungsgericht nicht scheut, ungeachtet aller hiermit möglicherweise verbundenen Unbilden. Die Regierungsmehrheit kann sich dadurch vor die Alternative gestellt sehen, entweder mit der Opposition künftig eine Verständigung anzustreben, oder mit ihr das Risiko richterlicher Letztentscheidung einzugehen. An diesem Beispiel abstrakter Normenkontrolle läßt sich die politische Bedeutung einer oppositionellen Sperrminorität in zweierlei Hinsicht verdeutlichen. Zum einen kann eine Opposition, falls sie im Bundestag die Sperrminorität von einem Drittel plus einem Abgeordneten aufbringt, verfassungsändernde Beschlüsse im Parlament verhindern. Zum anderen kann sie aber auch eine „Unterwande25

S R P - U r t e i l vom 2 3 . 1 0 . 1 9 5 2 , B V e r f G E 2, 1 (13). D a z u auch H . - P . SCHNEIDER D i e parlamentarische O p p o s i t i o n im Verfassungsrecht der Bundesrepublik D e u t s c h l a n d , B d . I , 1974, S. 2 0 8 ff.

rn S p e r r m i n o r i t ä t bei Verfassungsänderung

112 B e d e u t u n g einer Klage der O p p o s i t i o n v o r dem Bundesverfassungsgericht

113 B e d e u t u n g der oppositionellen Sperrminorität

1358

7. Teil: Das parlamentarische Regierungssystem

rung" des Zweidrittelerfordernisses dadurch verhindern, indem sie mit dem Quorum von einem Drittel der Mitglieder des Bundestages den Gang zum Bundesverfassungsgericht riskiert, um hier bei einem mit einfacher oder absoluter Mehrheit verabschiedeten Gesetz gegebenenfalls feststellen zu lassen, daß das Gesetz (bzw. die eine oder andere seiner Bestimmungen) ohne eine Verfassungsänderung nichtig ist. 114 en rundregel bei

m

Generell gilt die Grundregel, derzufolge die ablehnende Wirkung einer Sperri n o r i t ä t mit der wachsenden H ö h e des für eine Zustimmung erforderlichen

Sperrminorität

Quorums zunimmt. Dabei bildet eine Sperrminorität (Passivität, Enthaltung) den Gegenpol zu einem Zustimmungserfordernis (Aktivität, positives Votum). Die Plausibilität dieses Sachverhalts ist leicht zu bestätigen: Bei Minderheitsquoren wirkt die „Stimmenthaltung" einer Mehrheit dann wie eine Ablehnung, wenn hierdurch das Zustandekommen eines erforderlichen Quorums verhindert wird. Im umgekehrten Fall eines erhöhten Mehrheitsquorums (ζ. B. bei notwendigen Zweidrittelmehrheiten), kommt nun einer Stimmenthaltung der Sperrminorität die Wirkung einer ablehnenden Abstimmung zu. Bereits die Möglichkeit, eine Sperrminorität einsetzen zu können, stärkt demnach die Konfliktfähigkeit und hiermit die Kontrolltätigkeit einer Opposition in ihrer Auseinandersetzung mit der Regierungsmehrheit.

115

Greifen diese Grundregeln schon bei „offenen Sachentscheidungen", so steigert sich die strategische Bedeutung von Sperrminoritäten noch bei nichtöffentlichen bzw. geheimen Personalwahlen. Das Grundgesetz selbst schreibt in keinem Fall geheime Wahlen durch den Bundestag vor. Dafür haben jedoch der Gesetzgeber und die Geschäftsordnung des Bundestages gesorgt. Am weitesten ging der Gesetzgeber mit der Wahl der Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 94 Abs. 1 G G . E r entschied sich für ein Wahlverfahren, das den Konsens zwischen Regierungsmehrheit und Opposition geradezu vorschreibt: Der Bundestag setzt einen vertraulich tagenden, zwölf Abgeordnete zählenden Wahlmännerausschuß ein, in dem laut § 6 Abs. 5 des Bundesverfassungsgerichts-Gesetzes nur zum Richter gewählt werden kann, „wer mindestens acht Stimmen auf sich vereinigt". Das angeordnete breite Zustimmungserfordernis soll das Vertrauen aller Seiten in die richterliche Unabhängigkeit fördern.

Personalwahlen, Wahl der Bundesverfassungsrichter

116 Wahl des

knappe Mehlie'te"' und Stimmenthaltung

117 Wahl des BundestagsPräsidenten

Ahnliche Argumente führten dazu, daß das Gesetz über den Wehrbeauftragten des Bundestages seit 1957 in § 1 3 vorschreibt: „Der Bundestag wählt in geheimer ' t der Mehrheit seiner Mitglieder den Wehrbeauftragten." Dieses Verfahren gilt für alle Wahlgänge, so daß bei knappen Mehrheiten die Stimmenthaltung einiger Abgeordneter der Regierungsmehrheit erfolgreiche Wahlen zu gefährden vermag und bereits hierdurch eine Verständigung zwischen der Parlamentsmehrheit und den Oppositionsfraktionen naheliegen wird. In diesen Fällen kann eine Personalbestellungs-Kontrolle zur politischen Richtungskontrolle werden: um eine faire Amtsführung auch gegenüber Minderheiten sicherzustellen. Gleiche Erwartungen sind mit der Bestellung des Bundestagspräsidenten nach § 2 Abs. 2 G O B T verbunden. Allerdings gilt hier die absolute Stimmenmehrheit nur für die ersten zwei Wahlgänge. Führen sie zu keinem Erfolg, findet anschließend ein Stichentscheid zwischen den zwei Anwärtern mit der höchsten Stimmenzahl statt. m

§ 49

F o r m e n , Verfahren und Wirkungen der parlamentarischen Kontrolle (STEFFANI)

1359

Der Text des Grundgesetzes schreibt nur bei der Kanzlerwahl absolute Mehrheiten vor. Allein Art. 63 Abs. 4 G G läßt erst nach vierzehn Tagen vergeblicher Wahlversuche die Kanzlerwahl mit einfacher Mehrheit zu. Aber selbst für einen mit relativer Mehrheit gewählten Kanzler greift das konstruktive Mißtrauensvotum von Art. 67 Abs. 1 G G : Der Bundeskanzler kann nur durch die Wahl eines Nachfolgers mit der Stimmenmehrheit der Mitglieder des Bundestages aus seinem Amt des Regierungschefs abberufen werden.

118 Kanzlerwahl, Mißtrauensvotum

3. Mehrheitsrechte Der Prozeß parlamentarischer Kontrolle gipfelt auf Seiten der Opposition oftmals in ihrer öffentlich-kritischen Stellungnahme. Erst auf Seiten der Regierungsmehrheit fällt die Entscheidung, ob die von ihr, in ihren Reihen oder von anderen durchgeführten Kontrollarbeiten zu unmittelbaren, mehrheitlich beschlossenen Schlußfolgerungen führen — oder ob die Androhung von Konsequenzen, bzw. die bloße Möglichkeit hierzu, bei der Regierung bereits die erwarteten Haltungsänderungen oder Maßnahmen bewirkt. Der Parlamentsmehrheit stehen für ihre Entscheidungen allgemeine und spezielle Kontrollmittel zur Verfügung. Zu den allgemeinen Sanktionsinstrumenten gehören die parlamentarische Gesetzgebungskompetenz und das generelle Beschlußrecht. Es wird im Einzelfall schwer belegbar sein, wann ein Gesetz bloß Ausdruck eines politischen Gestaltungswillens und wann einer sanktionierenden Kontrollhandlung ist. Oftmals wird beides in kaum differenzierbarer Weise eine Rolle spielen. Der exakte Nachweis einer sanktionierenden Kontrollhandlung seitens der Parlamentsmehrheit wird schon wegen ihrer überwiegend nichtöffentlichen Kontrollarbeit kaum möglich sein.

119 Parlamentarische K o n t r o l l e und Opposition, Entscheidung der Regierungsmehrheit

120 Allgemeine und spezielle Kontrollmittel

Obgleich Gesetzesbeschlüsse das wirkungsvollste Instrument mehrheitlicher Sanktionsausübung sein dürften — weshalb die Regierung mit ihrer Ministerialverwaltung gut überlegen muß, was sie den Abgeordneten der Parlamentsmehrheit mit ihren Regierungsvorlagen zumutet —, spielen die speziellen Kontrollmittel im Bewußtsein von Öffentlichkeit und Literatur eine größere Rolle: Ihr Einsatz ist sicherlich viel seltener, der Nachweis sanktionierender Kontrollabsicht allerdings leichter. Das bedeutendste unter den speziellen Sanktionsmitteln parlamentarischer Kontrolle, mit dem gegebenenfalls während der Wahlperiode eine politische „Wende" — mindestens personell an der Regierungsspitze — herbeigeführt werden kann, ist im Deutschen Bundestag das konstruktive Mißtrauensvotum. Es steht in enger Beziehung zur Vertrauensabstimmung. Dazu gehören weiterhin die mehr indirekt wirkenden Abstimmungen über Entlassungs- und Mißbilligungsanträge. Schließlich ist auch auf all jene sonstigen Mehrheitsbeschlüsse zu verweisen, mit denen das Parlament seine Kritik bzw. seinen Unwillen über ministerielles Verhalten bekunden kann — wie z. B. bei der Befürwortung von Herbeirufungsanträgen gemäß Art. 43 Abs. 1 G G . a) Konstruktives

Mißtrauensvotum

Das parlamentarische Abberufungsrecht macht aus einer Nur-Legislative ein Parlament; eine Versammlung also, die zumindest den Regierungschef und mit ihm

121 Formen spezieller Kontrollmittel

122 Abberufungsrecht und Parlament, Ernennung des Regierungschefs

1360

7. Teil: Das parlamentarische Regierungssystem

die Regierung aus politischen Gründen „stürzen" kann. Normalerweise wird der Premierminister oder Ministerpräsident in einem parlamentarischen Regierungssystem vom Staatsoberhaupt ernannt, bevor das Parlament zu seiner und der Regierung Ernennung formal Stellung nehmen kann. Tatsächlich entscheidend ist allerdings die Macht des Parlaments, eine Regierung aus politischen Gründen aus dem Amt entfernen zu können. Denn allein diese Möglichkeit wird es in einer Demokratie jedem Staatsoberhaupt geraten sein lassen, keinen Regierungschef gegen den artikulationsfähigen Willen der aktuellen Parlamentsmehrheit zu er-

123

Bundesrepublik: Ernennung des Regierungschefs nach seiner Wahl

Die Bundesrepublik gehört zu den ganz wenigen parlamentarischen Ländern, wo das Staatsoberhaupt den Regierungschef erst nach seiner formellen Wahl durch das Parlament ernennen darf26. Diese Sonderregelung gehört zu den Erbschaften der Weimarer Republik (schon dort gab es in den Ländern, die nach der Abdankung der Könige und Fürsten nach 1918 keine Staatsoberhäupter mehr hatten, Parlamentswahlen der Ministerpräsidenten) und ihres Untergangs (Adolf Hitler wurde am 30.Januar 1933 vom Reichspräsidenten zum Reichskanzler ernannt, obwohl er bis März 1933 nicht einmal eine Koalitionsmehrheit im Reichstag hatte).

124

Die Wahl des Bundeskanzlers durch den Bundestag (Art. 63 GG) und sein alleiniges Recht, dem Bundespräsidenten weitere Mitglieder der Regierung vorzuschlagen (Art. 64 Abs. 1 GG), stützen seine Position außerordentlich. Diejenigen Mitglieder einer Parlamentsfraktion, die eine allzu großzügige Ausnutzung dieser Machtstellung vermuten, werden ihre Kritik am Verhalten des Kanzlers kaum verhehlen. 125 Die starke Stellung des Bundeskanzlers wird noch unterstrichen, wenn seine Konstruktives Abberufung zum einen durch ein konstruktives Mißtrauensvotum und zum andeMißtrauensvotum, ren durch das Erfordernis eines absoluten Mehrheitsvotums verbindlich vorgeSturz nur bei schrieben ist. Zeigt sich der Bundestag zu einem absoluten Mehrheitsvotum für absoluter Mehrheit für den Nachfolger einen Regierungschef nicht in der Lage, ist die Regierung verfassungsrechtlich nicht abberufbar. Wegen dieser hervorragenden Position wird der Wahl des Bundeskanzlers sowie der damit faktisch verbundenen Koalitionsfrage und prognostischen Erwartung außerordentliche Bedeutung beigemessen. Zumal ein erfolglos verlaufendes konstruktives Mißtrauensverfahren den amtierenden Regierungschef erheblich stärken und den unterlegenen Kandidaten empfindlich treffen wird27. Starke Stellung des Bundeskanzlers

126

Mißtrauensan träge in den Jahren 1972 und 1982, Praxis im Jahre 1982

Es ist daher kaum verwunderlich, daß — angesichts des relativ stabilen Parteiensystems der Bundesrepublik — seit 1949 bis heute erst zwei Mißtrauensanträge gestellt wurden. Der erste im Jahre 1972, der zweite 1982. Der erste schlug fehl, der zweite führte zur „Wende" in Bonn: von Bundeskanzler H E L M U T S C H M I D T (SPD) zu Bundeskanzler H E L M U T K O H L (CDU/CSU). Vor und nach dem 1. Oktober 1982 hieß der Außenminister jedoch H A N S - D I E T R I C H G E N S C H E R (FDP). Denn 26

27

Als W . BAGEHOT (1867) von der „Wahlfunktion" des britischen Unterhauses sprach, meinte er stets dessen politische Wahlfunktion, nicht eine formelle Kompetenz, die es in England bei der „Wahl" der Regierung nicht gibt. D a ß die Wahl des Regierungschefs und damit auch das „konstruktive" Mißtrauensvotum durch das Parlament gemäß § 4 G O B T öffentlichkeitsscheu „mit verdeckten Stimmzetteln" erfolgt, dürfte unter allen parlamentarischen Demokratien einmalig sein.

§49

Formen, Verfahren und Wirkungen der parlamentarischen Kontrolle (STEFFANI)

1361

ein Kanzlerwechsel ließ sich 1982 nur deshalb erfolgreich durchführen, weil ein Wechsel der Bundestagsmehrheit hin zu einer neuen Mehrheit verwirklicht werden konnte. Erst der Zerfall der „alten" SPD-FDP-Mehrheit ermöglichte das Zustandekommen einer „neuen" CDU/CSU-FDP-Mehrheit. Die politische Entscheidung einer Minderheit der alten Koalitionsmehrheit ließ die neue Regierungsmehrheit entstehen. Da Mehrheiten in der Verfassungsrealität Verbindungen miteinander koalitionsfähiger Minderheiten sind, hing es im vorliegenden Fall vom politischen Willen der freidemokratischen Minderheitsfraktion ab, ob mit der dazu bereiten Oppositionsfraktion C D U / C S U eine neue absolute Mehrheit zustande kam. „Innerhalb" der alten Regierungsmehrheit wurde also von einer Minderheit (zu diesem Zeitpunkt bereits einer mehrheitsinternen Opposition) über das Zustandekommen einer entscheidungsfähigen neuen Regierungsmehrheit befunden. b)

Vertrauensabstimmung

Während das konstruktive Mißtrauensvotum von denen ausgeht, die eine neue 127 Regierungsmehrheit wünschen, kann die Vertrauensfrage nur vom Bundeskanzler Doppelsinniger selbst gestellt werden (Art. 68 Abs. 1 GG). Der Begriff Vertrauensfrage ist nicht , „Vertrauensfrage" schon deshalb doppelsinnig, weil er dem Text des Grundgesetzes unbekannt ist — Vorschlagsrecht zur lediglich in der amtlichen Inhaltsübersicht vom Jahre 1948 ist er zu finden und Parlamentsauflösung zwar in der Formulierung „Vertrauensfrage des Bundeskanzlers". Vielmehr verbindet Art. 68 des Grundgesetzes den Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, auf problematische Weise mit der Befugnis, dem Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestages vorzuschlagen. Denn dieses Vorschlagsrecht kann der Bundeskanzler nur dadurch gewinnen, wenn sein Antrag, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages findet. Daß der Bundeskanzler einen Antrag stellen muß, mit der Bitte, ihm das politische Vertrauen dadurch auszusprechen, indem sein Antrag kein absolutes Mehrheitsvotum erhält, da er erst hierdurch das allein ihm zustehende Recht wahrnehmen kann, dem Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestages vorzuschlagen, ist schon eine höchst merkwürdige Verfassungsbestimmung. Der doppelsinnige politische Gehalt des Wortes Vertrauen liegt folglich darin, daß damit zum einen das Verständnis politischer Verbundenheit und Akzeptanz gemeint ist, zum anderen aber auch die Amtsgarantie einer bestehenden Regierung. Die Vertrauensfrage im Verständnis politischer Verbundenheit kann somit — 128 je nach Absichtsbekundung des Kanzlers — einmal mit der Zustimmung und ein Vertrauensfragen des andermal mit der Ablehnung des Antrages gemäß Art. 68 G G beantwortet werden. ^ t 68 Bittet der Bundeskanzler um Zustimmung, wird sein Antrag lauten, ihm nach ç ç Art. 68 G G „das Vertrauen auszusprechen". Bittet er um NichtZustimmung, um dem Bundespräsidenten die Parlamentsauflösung vorschlagen zu können, wird der Kanzler lediglich vom „Antrag gemäß Art. 68 des Grundgesetzes" sprechen. Im erstgenannten Fall läßt sich die Vertrauensfrage des Bundeskanzlers nur mit der Zustimmung zum Antrag beantworten, im zweiten nur mit einer Nichtzustimmung. Wer im letztgenannten Fall dennoch zustimmen würde, hätte damit im Sinne politischer Verbundenheit dem Kanzler das geforderte politische Vertrauen verweigert, seine Vertrauensfrage damit ablehnend beschieden.

1362

7. T e i l : D a s p a r l a m e n t a r i s c h e R e g i e r u n g s s y s t e m

129 Ein Bundeskanzler kann die Bundestagsauflösung lediglich vorschlagen, nicht Bundestagsauflösung hingegen erzwingen. Der Bundespräsident wird sich dann verweigern müssen, und Bundespräsident wenn die Opposition — zumindest die stärkste Oppositionsfraktion — eine Neuwahl des Bundestages zum gegebenen Zeitpunkt als politisch unakzeptabel ablehnt. Erst wenn alle zustimmen: 1. Parlamentsmehrheit und Opposition, die bei weitem überwiegende Mehrheit des Bundestages also, 2. der vorschlagende und die Auflösungsorder gegenzeichnende Bundeskanzler, der damit die politische Verantwortung für die Auflösung übernimmt, sowie 3. der die Auflösung und anschließenden Neuwahlen anordnende Bundespräsident — erst wenn sie alle für Neuwahlen sind, kann das komplizierte Auflösungs- und Neuwahlverfahren des Bundestages im Anschluß an einen (auf Empfehlung des Bundeskanzlers) abgelehnten Vertrauensantrag nach Art. 68 G G als grundgesetzkonform angesehen werden. Bedingung ist, daß nicht zwischenzeitlich ein neuer Bundeskanzler mit absoluter Mehrheit gewählt wird (Art. 68 Abs. 1 Satz 2 GG) 2 8 . 130 Fazit: Will ein Bundeskanzler seine gefährdet erscheinende Regierungsmehrheit Ziele des „solidarisch" hinter sich scharen oder sie zusammenhalten, wird er die ZustimBundeskanzlers, mung zu seinem Vertrauensantrag zum politischen Ziel erklären. Will er eine Maßnahmen zur Neuwahl des Bundestages erreichen — und dabei dem Bundespräsidenten die volle V e r w i r k l i c h u n g der

Ziele Verantwortung nach Art. 63 Abs. 4 Satz 3 G G nicht aufbürden —, bleibt lediglich der Weg über Art. 68 G G . Er muß sich dabei vergewissern, daß er für eine Neuwahl die Zustimmung aller Seiten des Parlaments findet. Erst dann kann er damit rechnen, daß der Bundespräsident dem Auflösungsvorschlag zustimmen wird. 131 Entsprechend diesen Kriterien ist bei den bisher drei Vertrauensfragen auch V e r t r a u e n s f r a g e n in verfahren worden. Lediglich Bundeskanzler H E L M U T S C H M I D T forderte den Bund e r Praxis, die destag im Februar 1982 auf, seinem Vertrauensantrag mit absoluter Mehrheit B e d e u t u n g der zuzustimmen, was auch geschah. Demgegenüber erklärten sowohl W I L L Y B R A N D T Opposition (September 1972) wie H E L M U T K O H L (Dezember 1982) in ihren jeweiligen Schreiben an den Bundespräsidenten wörtlich, daß sie „den Antrag gemäß Art. 68 des Grundgesetzes" stellten 29 . W I L L Y B R A N D T hatte seinen Antrag gemäß Art. 68 G G fünf Monate nach dem mißglückten konstruktiven Mißtrauensvotum der C D U / C S U - F r a k t i o n vom April 1 9 7 2 eingebracht, H E L M U T K O H L zwei Monate nachdem er am 1. Oktober 1 9 8 2 im Rahmen eines konstruktiven Mißtrauensvotums zum Bundeskanzler gewählt worden war. Die F D P hatte 1982 ihren Regierungsbeitritt von einer Bundestagsneuwahl zu Beginn des Jahres 1983 abhängig gemacht. Die Wahlen sollten weder davor noch danach stattfinden. Dies hatte auch die erste Regierungserklärung des Kabinetts K O H L / G E N S C H E R festgestellt. Die „Vertrauensfrage" der Kanzler B R A N D T und K O H L konnte in beiden Fällen nur deshalb zur Auflösung des Bundestages führen, weil sowohl die oppositionelle C D U / C S U - F r a k t i o n im Jahre 28

29

F ü r Einzelheiten siehe W . ZEH B u n d e s t a g s a u f l ö s u n g ü b e r die V e r t r a u e n s f r a g e — M ö g l i c h k e i t e n u n d G r e n z e n der V e r f a s s u n g , in: ZParl ( 1 / 8 3 ) , S. 1 1 9 - 1 2 7 , s o w i e die S t e l l u n g n a h m e n u n d K o m m e n t a r e z u m U r t e i l des B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t s v o m 1 6 . 2 . 1 9 8 3 v o n H . H . KLEIN, R . W . STROHMEIER u n d R . KLEMMT in: Z P a r l . ( 3 / 8 3 ) , S. 4 0 2 ^ 1 3 5 . Z u r C h r o n i k d e r „ V e r t r a u e n s f r a g e n " d e r B u n d e s k a n z l e r H . SCHMIDT u n d H . KOHL im J a h r e 1982 siehe SCHINDLER ( F n . 4 ) II. S. 4 2 5 ff.

§ 49

F o r m e n , V e r f a h r e n und W i r k u n g e n der parlamentarischen K o n t r o l l e (STEFFANI)

1363

1972 wie die SPD-Fraktion 1982 Neuwahlen zustimmten: Die Bundestagsmehrheit und der Bundeskanzler konnten nur deshalb so handeln, wie sie es taten, weil die jeweilige Opposition dies faktisch tolerierte.

c) Entlassungs- und

Mißbilligungsvoten

Ein erfolgreiches Mißtrauensvotum führt zum Regierungswechsel. „Erfolgreiche" 132 Vertrauensabstimmungen können entweder die amtierende Bundesregierung festi- E n t l a s s u n g s v o t u m als gen oder dem Kanzler die Möglichkeit eröffnen, dem Bundespräsidenten die A p p e l l an den Kanzler, Auflösung des Bundestages vorzuschlagen. Entlassungsvoten haben demgegenüber Mißbilligungs- oder die Wirkung, den Bundeskanzler lediglich zum personalpolitischen Handeln aufzu- T a d e l s a n t r ä g e fordern. Bei Mißbilligungs- oder Tadelsanträgen würde hingegen bereits ein bloßes Mehrheitsvotum ausreichen. Auch hierbei vermag eine Minderheit bzw. die O p p o sition zwar Anträge zu stellen, gültige Beschlüsse kann aber lediglich eine dazu erforderliche relative Mehrheit fassen. Ein „erfolgreiches" Entlassungsvotum setzt sowohl eine zustimmende Mehrheit wie eine entsprechende Entscheidung des Bundeskanzlers voraus (Art. 64 Abs. 1 G G ) . Dennoch ist es mehr als fraglich, ob sich ein Bundeskanzler heute einem vom Bundestag beschlossenen Entlassungsantrag wirklich ernsthaft verweigern könnte. Die politische Wirkung eines solchen Votums wäre „außerordentlich". Eine ähnliche Wirkung hätten mehrheitlich akzeptierte Mißbilligungs- oder Tadelsanträge. Aus diesem Grunde werden entsprechende Minderheitsanträge mehr Signale und Anlässe für öffentlich-kritische Stellungnahmen im Bundestagsplenum sein, als ernsthafte Vorlagen mit der Erwartung, mehrheitlich angenommen zu werden. Die Regierungsmehrheit zur öffentlichen Ablehnung solcher speziellen Sanktionsanträge im Parlamentsplenum nötigen zu können, ist für die antragstellende Oppositionsfraktion meistens Grund genug, sie gezielt einzusetzen. Neben diesen Verfahrensweisen gibt es noch die Möglichkeit, den Bundeskanz- 133 ler zu ersuchen, die Vertrauensfrage nach Art. 68 G G zu stellen („Vertrauensfrage- V e r t r a u e n s f r a g e Ersuchen"). Eine Opposition könnte diesen Weg beschreiten, wenn eine amtierende E r s u c h e n Regierung im Parlament keine absolute Mehrheit mehr mobilisieren kann und der Bundeskanzler politisch „vorgeführt" werden soll. Auch hierbei hätte ein erfolgreicher Parlamentsbeschluß keinerlei rechtliche, vielmehr allenfalls politische Wirkung. Die Absicht, durch parlamentarische Mehrheitsbeschlüsse politische Aufmerk- 134 samkeit und Wirkung erzielen zu wollen, sollte in einem pluralistisch-demokratisch Z u r Zulässigkeit der legitimierten Bundestag selbstverständlich sein. Dafür dürfte ihm auch auf Bundes- S a n k t i o n s a n t r ä g e ebene insbesondere gegenüber den Mitgliedern der Bundesregierung ein uneingeschränktes Beschlußrecht ohne unmittelbare Rechtswirkung zustehen. Es ist demzufolge eher verwunderlich, wenn es immer noch als „umstritten" gilt, ob derartige spezielle Sanktionsanträge, weil sie als solche im Grundgesetz nicht ausdrücklich vorgesehen (aber auch nicht verboten) sind, „überhaupt zulässig" seien. In der Praxis des Bundestages gab es bisher während der 1. Wahlperiode einen 135 und 1986 drei Mißbilligungsanträge gegen den Bundeskanzler; allerdings bis Anfang Praxis 1988 immerhin dreizehn Entlassungs- sowie fünfzehn Mißbilligungsanträge und einen Tadelsantrag (Verteidigungsminister KAI-UWE VON HASSEL im März

im B u n d e s t a g

1364

7. Teil: Das parlamentarische Regierungssystem

1966) gegen Bundesminister. All diese Anträge wurden entweder im Plenum abgelehnt oder auf ähnliche Weise abgetan bzw. für erledigt erklärt. Nur der SPDAntrag über das „Vertrauensfrage-Ersuchen" an den Bundeskanzler L U D W I G E R H A R D wurde am 8. November 1966 von einer Bundestagsmehrheit angenommen. Am 28. Oktober waren die vier Bundesminister der F D P sowie deren Fraktion aus der Regierungskoalition ausgetreten. Bis zur Bildung der Regierung K I E S I N G E R / B R A N D T mit ihrer Großen Koalition vom 1. Dezember 1966 stellte das Kabinett E R H A R D nur noch eine Minderheitsregierung dar. d) Sonstige

Mehrheitsbeschlüsse

1 3 6 Zu den sonstigen Mehrheitsbeschlüssen im Sinne sanktionierender Kontrollausübung gehören — neben den bereits mehrfach erwähnten Gesetzesbeschlüssen, die

Herbeirufung von

'm'^'Teder

^eute ' m wesentlichen Novellierungen geltenden Rechts betreffen sowie den Haushalts- oder Finanzbeschlüssen — sowohl rechtsverbindliche als auch bloß appellierende Parlamentsentscheidungen. Unter die rechtsverbindlichen fallen die in Art. 43 Abs. 1 G G vorgesehenen Entscheidungen des Bundestages, mit denen er und seine Ausschüsse „die Anwesenheit jedes Mitgliedes der Bundesregierung verlangen" können. Uber die Praxis in den Bundestagsausschüssen berichtet F R I E D R I C H S C H Ä F E R : „Die Fälle, daß ein Minister aufgrund von Art. 43 Absatz 1 von einem Ausschuß herbeigerufen wird, sind sehr selten. Die Minister legen im allgemeinen Wert darauf, zu den Ausschüssen in einem guten Verhältnis zu stehen; deshalb wird man immer eine Vereinbarung zwischen dem Ausschuß und dem Minister treffen können, wenn der Minister zur Verfügung steht, und über welche Fragen dabei gesprochen werden soll. Selbst wenn harte Diskussionen geführt werden, bemüht man sich allseitig, ein gutes Klima zu erhalten." 30 Auch in Plenarsitzungen sind ausdrückliche Herbeirufungen relativ selten. Dennoch kommt es vergleichsweise oft vor, daß oppositionelle Anträge auf eine Herbeirufung bestimmter Regierungsmitglieder mehrheitliche Zustimmung finden. Handelt es sich hierbei doch nicht nur um ein „grundlegendes parlamentarisches Kontrollrecht" (Thaysen), sondern um ein sanktionierendes Kontrollmittel mit begrenzter Reichweite. Vor allem die Opposition kann erwarten, daß bei der Behandlung wichtiger Fragen der zuständige Minister oder ein verantwortlicher Vertreter Rede und Antwort steht. Im Interesse ordnungsgemäßer Verhandlung und aus Selbstachtung wird eine Mehrheit dabei öfter als sonst Unterstützungsbereitschaft zeigen 31 .

137 Herbeirufungsstatistik

Dies findet sich in der Herbeirufungsstatistik bestätigt 32 . Bis Anfang 1988 W U rden insgesamt 39 Herbeirufungsanträge eingebracht, von denen immerhin 12 angenommen (darunter zwei, 1954 und 1985 einstimmig) und 19 abgelehnt wurden (darunter einer 1962 bei Stimmengleichheit). Die übrigen konnten durch zwischenzeitliches Erscheinen des Herbeigewünschten oder sonstwie erledigt werden.

30

F.SCHÄFER ( F n . 17) S. 117.

31

U . THAYSEN Zur Praxis eines grundlegenden parlamentarischen Kontrollrechtes: D i e Herbeirufung von Regierungsmitgliedern durch das Parlament, in: ZParl. (4/74), S. 4 5 9 - 4 6 9 .

32

Vgl. SCHINDLER ( F n . 4 ) I. S. 421^125, II. S . 4 3 1 f und III. S. 3 6 3 - 3 6 6 .

§49

F o r m e n , Verfahren und Wirkungen der parlamentarischen Kontrolle (STEFFANI)

1365

Im übrigen kann es sich vornehmlich bei jenen Mehrheitsbeschlüssen, mit 1 3 8 denen ein mehr oder weniger präzis formulierter Parlamentswille angezeigt werden Aufforderungen und soll, sowohl um Aufforderungen an die Bundesregierung zu bestimmten Verhal- Resolutionen tensweisen, Berichten oder Gesetzesvorlagen handeln wie andererseits auch um Stellungnahmen zu Verhaltensweisen, Berichten oder sonstigen Äußerungen der Regierung bzw. einzelner ihrer Mitglieder. Dabei wird es zumeist um Ersuchen oder Bitten an die Bundesregierung gehen, die zwar überwiegend rechtlich unverbindlich, politisch jedoch zu beachten sind. All diese Beschlüsse kommen nur zustande, wenn sie von einer Mehrheit gefaßt werden, die ihre eventuell regierungskritischen Erwägungen in konziliant verbrämter Form und Sprache äußern kann. In einem parlamentarischen System wird eine Regierung vornehmlich die Entscheidungen der Parlamentsmehrheit mit besonderer politischer Sensibilität behandeln müssen: Das gilt ebenso für öffentlich bezeugte Zustimmungen (hinter denen sich möglicherweise vertraulich geführte Auseinandersetzungen verbergen) wie für kritische Bekundungen — gleichgültig, ob sie eher offen oder mehr verborgen bzw. „verklausuliert" erfolgen. Denn der Parlamentsmehrheit stehen auch im Bundestag eine ganze Reihe teilweise recht weitreichende, unmittelbar sanktionsfähige Kontrollbefugnisse zur Verfügung.

139 Regierung und Entscheidunge der Parlamentsmehrheit

VI. Parlamentarische Kontrolle im Bundestag Als das Bundesparlament einer parlamentarischen Demokratie ist der Bundestag 1 4 0 nicht souverän, sondern an jene Bestimmungen des Grundgesetzes gebunden, die Kontrollrechte des seine Befugnisse im Bund feststellen. Zu ihnen gehören all die Rechte, die dem Bundestages Bundestag bei der Ausübung seiner parlamentarischen Kontrolle, d. h. bei seiner sanktionsfähigen Uberprüfung der Bundesregierung und der ihr gegenüber weisungsgebundenen Verwaltung zur Verfügung stehen. Diese Rechte können im einzelnen im Grundgesetz selbst oder darauf bezogen in Bundesgesetzen bzw. in der Geschäftsordnung des Bundestages näher spezifiziert und präzisiert werden. Die so genauer ausgeführten oder bestimmten Rechte des Bundestages und seiner rechtsfähigen Einrichtungen bzw. Ämter beziehen sich auf alle Phasen des parlamentarischen Kontrollprozesses, für den die Stichworte Informationsgewinnung, Informationsverarbeitung, Informationsbewertung (Würdigung und Kritik) sowie unmittelbar (Mehrheit) oder mittelbar (Opposition) wirkende Sanktionsausübung stehen. Wird der parlamentarische Kontrollprozeß in all seinen Phasen und deren wechselseitigen Aus- und Einwirkungen erfaßt, kann im Bundestag — seiner verfassungsrechtlich gesicherten Möglichkeit nach — von einer umfassenden K o n trollfähigkeit gesprochen werden. Daß die für außenstehende Beobachter erkennbare und nachvollziehbare, tatsächlich geleistete Kontrollarbeit von dieser M ö g lichkeit fundamental abweiche, ist als These ebenso unhaltbar, wie die Behauptung optimaler Kontrollausübung insbesondere seitens der Mehrheit fragwürdig wäre. Der Bundestag und seine Mitglieder sind bei ihrer Kontrolltätigkeit in drei grundlegende Systembeziehungen eingebunden, die ihre Arbeitsweise wesentlich prägen: Es geht dabei um die Spannungsverhältnisse zwischen den Verfassungs-

141 Kontrollfähigkeit und Kontrollarbeit

142 Drei Systembeziehungen, Mehrheit und Minderheit

1366

7. T e i l : D a s p a r l a m e n t a r i s c h e R e g i e r u n g s s y s t e m

Organen Bundestag und Bundesregierung, zwischen den Verfassungsinstitutionen Regierungsmehrheit und Opposition sowie zwischen den Entscheidungsgrößen Mehrheit und Minderheit: — Mit der Betonung der Verfassungsorgane wird die Stellung des Bundestages gegenüber der Bundesregierung hervorgehoben. — Liegt die Akzentsetzung bei der den politischen Alltag bestimmenden Entgegensetzung und Kooperation von Regierungsmehrheit und Opposition, erscheint die Opposition oftmals als der eigentliche Repräsentant parlamentarischer Kontrolle, womit Kontrolle auf die öffentlich-kritische Tätigkeit der Opposition reduziert wird. Von der mehr intern ausgeübten Kontrollarbeit in den Reihen der Regierungsmehrheit wird demgegenüber weit weniger die Rede sein. — Eine unmittelbar sanktionsfähige Kontrolle — deren mittelbare Wirkung auf die Regierung und Verwaltung die Bundestagsarbeit kennzeichnet — erfordert nahezu immer einen relativen oder absoluten Mehrheitsbeschluß. Dazu ist normalerweise allein die Regierungsmehrheit fähig. Gerade in ihren Reihen kommt es demnach auf die interne Beziehung und Integrationsfähigkeit von Mehrheiten und Minderheiten an, mit dem Ergebnis, daß in einem konkreten Streitfall eine Minderheit innerhalb der Mehrheit darüber entscheiden kann, ob und in welcher Zusammensetzung eine Parlamentsmehrheit überhaupt zustande kommt. Im Extremfall — der im Bundestag gegen Ende September 1972 eintrat — kann von einer Abgeordnetenminderheit sogar darüber entschieden werden, ob die bisher maßgebliche Regierungsmehrheit weiterhin bestehen bleibt. 143 Wenn es zu den zentralen Aufgaben eines demokratischen Parlaments gehört, Der Bundestag als fü r die Legitimation der Regierung und des von ihr zu verantwortenden Handelns R e s o n a n z b o d e n des zu sorgen, dann fällt der Regierungsmehrheit dabei die Hauptlast zu. Sie kann politisch Z u m u t b a r e n hierin von der Opposition Unterstützung finden; sie muß vor ihr zur öffentlichen Rechenschaftslegung angehalten werden. Der Bundestag bildet insofern zwischen seiner Wahl und Neuwahl durch die stimmberechtigte Bürgerschaft den demokratisch legitimierten Resonanzboden des politisch Zumutbaren. Daß die hierfür erforderlichen Kontrollbeschlüsse dem Mehrheitsvotum unterliegen, ist der eine Sachverhalt; daß der Parlamentsmehrheit bei der Feststellung von politischer Unzumutbarkeit die Hauptaufgabe zukommt, ist der andere. 144

Jede opponierende Minderheitsgruppe innerhalb der Regierungsmehrheit — gleichgültig ob innerhalb einer Fraktion oder als selbständige Koalitionsfraktion — Regierungsmehrheit s t e h t dahgj- vor allem während der Entscheidungsphase im Zentrum des parlamentarischen Kontrollprozesses. Ihre Mitglieder müssen immer von neuem nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden, inwieweit nach ihrem Urteil (noch) eine akzeptable Ubereinstimmung zwischen der Regierungsführung, der Bevölkerung sowie dem im Sinne des Gemeinwohls als richtig Erkannten besteht. Sollten hierbei unüberbrückbare Gegensätze ausgemacht werden, können es oftmals wenige Abgeordnete sein, an deren Entscheidungsbereitschaft es liegen wird, ob und wie sich die Mehrheitsfrage im Parlament stellt. Da dies auch bei der parlamentarischen Kontrolle des Bundestages nahezu allen Abgeordneten stets bewußt bleibt, bildet Minderheiten in der

§49

F o r m e n , Verfahren und Wirkungen der parlamentarischen Kontrolle (STEFFANI)

1367

er bis heute trotz aller streitigen Auseinandersetzungen sowohl für seine einzelnen Mitglieder wie gegenüber der Bundesregierung ein politisch konfliktfähiges Verfassungsorgan.

§50 Parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste CLAUS ARNDT

I. Kontrolle der Nachrichtendienste 1. Kontrolle durch das Parlament a) Die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeiten beschäftigt den Bundestag und die Landtage praktisch seit ihrer Konstituierung. Dabei gilt im parlamentarisch-demokratischen Staat des Grundgesetzes für die Kontrolle der Nachrichtendienste grundsätzlich nichts anderes als für alle anderen Zweige der Verwaltung auch. Dennoch liegt es auf der Hand, daß wichtige Elemente effektiver Kontrolle durch die Öffentlichkeit und das Parlament bei den Diensten fehlen — und wegen der unumgänglich zu wesentlichen Teilen geheim erfolgenden Tätigkeit dieser Behörden auch fehlen müssen. Auf der anderen Seite ist ihre wirksame Überwachung gerade wegen dieser Tätigkeit im Geheimen wichtiger als bei jedem anderen Zweig der Verwaltung, ist doch die Gefahr freiheitsgefährdenden Mißbrauchs aus der Natur der Sache — also nicht aufgrund bösen Willens der Beteiligten — so groß wie nirgend sonst bei staatlichen Einrichtungen. Hier gilt in gesteigertem Maße das K O N - F U - T S E zugeschriebene Wort, nach dem Macht stets korrumpiert. Und Wissen (besonders geheimes Wissen) bedeutet immer auch Macht. b) Somit ist zunächst einmal — wie bei allen anderen Exekutivstellen — in erster Linie das Bundestagsplenum berufen, hier tätig zu werden. Da dieses jedoch grundsätzlich öffentlich tagt (Art. 43 Abs. 1 Satz 1 GG) und zudem über 500 Mitglieder umfaßt, ist es normalerweise im Hinblick auf geheimzuhaltende Sachverhalte und Tatbestände ein zur Nachrichtendienstkontrolle wenig geeignetes Gremium. Gleichwohl kann es hiervon durchaus Ausnahmen geben. Die üblichen Mittel der parlamentarischen Kontrolle (Große und Kleine Anfragen, mündliche Fragen, Zwischenfragen) zeitigen hier schon deshalb in aller Regel nur geringe Wirkung, weil sich die Bundesregierung (und zwar normalerweise legitim) auf allgemeine und wenig aussagekräftige Antworten beschränkt'.

1 Kontrolle als Machtbegrenzung

2 Möglichkeiten »"gemeiner Kontrolle

Ähnliches gilt auch für die fachlich zuständigen Ausschüsse (Innenausschuß für 3 den Verfassungsschutz, Verteidigungsausschuß für den MAD), die zwar nichtöf- Kontrolle über fentlich tagen und ihre Sitzungen auch für geheim erklären können. Der Verteidi- A u s s c ' l u s s e gungsausschuß ist zudem ein sogenannter geschlossener Ausschuß nach §69 Abs. 2 1

J. SCHWAGERL Verfassungsschutz in der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1985, S. 288.

1370

7 . T e i l : D a s parlamentarische R e g i e r u n g s s y s t e m

der Geschäftsordnung des Bundestages, zu dessen Sitzungen nur den Mitgliedern und deren namentlich benannten Stellvertretern der Zutritt gestattet ist. Gleichwohl ist auch die Zahl dieser Abgeordneten sehr hoch (58), so daß hier Vergleichbares — wenn auch abgestuft — wie für das Plenum gilt. 4 Eine besondere Stellung nimmt der Haushaltsausschuß ein, der die WirtschaftsH a u s h a l t s a u s s c h u ß pläne der Nachrichtendienste zu beraten hat. Diese müssen der Geheimhaltung unterliegen, da aus ihnen unschwer Gliederung, personelle Stärke, Ausrüstung, bestimmte Arbeitsmethoden u. ä. abgelesen werden können. Bis zur 9. Wahlperiode genehmigte ein Unterausschuß des Haushaltsausschusses, dem je ein Vertreter einer jeden Fraktion angehörte, diese Wirtschaftspläne. Zu Beginn der 10. Wahlperiode wurde zunächst eine Vorschrift in das Haushaltsgesetz aufgenommen 2 , nach der in Anlehnung an § 4 Abs. 2 und 3 des Gesetzes über die parlamentarische Kontrolle nachrichtendienstlicher Tätigkeit des Bundes3 eine Kommission aus Mitgliedern des Haushaltsausschusses gebildet wurde, in die kein Mitglied der Fraktion der Grünen gewählt werden sollte. Nachdem das Bundesverfassungsgericht dieses Vorgehen gebilligt hatte4, fügte die Regierungsmehrheit aus CDU/' CSU und F D P eine entsprechende Regelung als Dauerlösung mit dem Dritten Gesetz zur Änderung der Bundeshaushaltsordnung5 als § 10 a in dieses Gesetz ein, durch den das „Vertrauensgremium" des Haushaltsausschusses als ständige Einrichtung etabliert wird. Maßgebend für diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, eine solche Regelung durch Gesetz zuzulassen und den Bundestag nicht auf den Weg zu verweisen, eine Lösung dieses Problems mit Hilfe seiner Geschäftsordnungsautonomie nach Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG zu suchen, war u. a., daß der Bundesrat weder der Schaffung noch der Aufhebung des Gesetzes zustimmen müsse. Ebenso falle der Einfluß der Bundesregierung auf diese Gesetzgebungsmaterie nicht ins Gewicht, da sie nicht nennenswert auf den Geschäftsgang des Bundestages einzuwirken vermöge, obwohl sie nach Art. 110 Abs. 3 G G das Einbringungsmonopol für Haushaltsgesetze besitze. Wie jedoch schon die sehr zurückhaltende Formulierung des Verfassungsgerichtsurteils, vor allem aber die beiden Sondervoten6 zeigen, ist diese Regelung trotz alledem keineswegs frei von verfassungsrechtlichen Bedenken. Diese resultieren einmal aus der Tatsache, daß es der ausdrückliche Zweck dieser Vorschrift ist, alle Bundestagsabgeordneten von der Beratung und Kontrolle der Wirtschaftspläne der Nachrichtendienste des Bundes auszuschließen, die nicht Mitglieder des durch diese Vorschrift geschaffenen kleinen Gremiums sind, wird hier doch eine typische Parlamentsaufgabe der überwältigenden Mehrheit der Bundestagsabgeordneten entzogen. Erscheint es jedoch noch durchaus diskutabel, ob die notwendige Geheimhaltung eine solche Regelung vor dem Grundgesetz rechtfertigt, so kommt aber der Umstand hinzu, daß das Parlament hier eine Materie durch Gesetz geregelt hat, die eigentlich der

2 3

§ 4 A b s . 9 Satz 1 Haushaltsgesetz 1 9 8 4 ( B G B l . I 1983 S. 1516). Gesetz

über

die parlamentarische

Kontrolle

nachrichtendienstlicher

Tätigkeit

des

Bundes

( P K K G ) v o m 11. April 1978 ( B G B l . I S . 5 4 3 ) . H i e r z u H . - U . EVERS N J W 1978, S. 1144 und C.ARNDT D V B 1 . 1 9 7 8 , S . 3 8 5 und 5 5 2 . 4

B V e r f G E 70, 3 2 4 .

5

V o m 6 . August 1 9 8 6 ( B G B l . I S. 1 2 7 5 ) .

B V e r f G E 70, 3 6 6 ( 3 6 9 f f ) ( E . G . MAHRENHOLZ) und 3 8 0 ( 3 8 2 f f ) ( E . W . BÖCKENFÖRDE).

§ 50

Parlamentarische K o n t r o l l e der N a c h r i c h t e n d i e n s t e (ARNDT)

1371

parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie unterliegen müßte. Deren historischer Ausgangspunkt war das Bestreben, das Parlament bei der Regelung seiner eigenen Angelegenheiten — insbesondere seines Verfahrens — unabhängig von seinem verfassungsmäßigen Gegenspieler, der monarchischen Exekutive, zu machen. Aber auch heute hat Art. 40 Abs. 1 G G durchaus noch einen Sinn und wurde vom Parlamentarischen Rat keineswegs nur aus Gründen der Tradition in das Grundgesetz aufgenommen. Der Bundestag soll in der Geschäftsordnung alle Materien regeln, die dafür wichtig sind, daß er seine eigenen Entscheidungen aufgrund der ihm von der Verfassung verliehenen Kompetenzen allein und ohne Einfluß anderer Verfassungsorgane treffen kann. Dies gilt insbesondere gegenüber den ζ. B. an der Gesetzgebung beteiligten Organen Bundesrat und Bundesregierung. Regelt der Bundestag eine der Sache nach in seine Geschäftsordnungsautonomie fallende Materie in der Form eines Gesetzes, so begibt er sich — auch für eventuelle spätere Änderungen — und unter Verzicht auf den auch für die Geschäftsordnung geltenden Grundsatz der Diskontinuität in die Abhängigkeit zumindest von Bundesrat und Bundesregierung. Allerdings weist W . W . SCHMIDT7 darauf hin, daß es im Bund und in den Ländern eine große Zahl von Fällen gibt, in denen der Sache nach zur Geschäftsordnungsautonomie des Parlaments gehörende Materien durch förmliche Gesetze geregelt sind 8 . Dies muß jedoch nicht unbedingt als Beweis der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit gewertet werden — selbst wenn man die Staatspraxis auch als eine mögliche Rechtsquelle ansieht. Gleichwohl wird man jedenfalls dann, wenn parlamentarische Minderheitsrechte nicht gefährdet werden und die sich bei der Wahl der Gesetzesform ergebenden Abhängigkeiten vom Parlament ausgeräumt werden können (ζ. B. durch Zurückweisung eines Bundesrats-Einspruchs nach Art. 77 Abs. 4 G G oder eine Organklage auf Mitwirkung durch Gegenzeichnung und Ausfertigung gegen die Bundesregierung oder den Bundespräsidenten nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 G G ) , dem Bundesverfassungsgericht folgen können, das solche Einbrüche in die Geschäftsordnungsautonomie hinzunehmen bereit ist, wenn deren Kern nicht berührt wird, das Gesetz nicht der Zustimmung des Bundesrats bedarf und überdies gewichtige sachliche Gründe dafür sprechen, die Form des Gesetzes zu wählen 9 . Bedenken könnten sich allerdings trotzdem aus dem Zwang ergeben, Einsprüche des Bundesrates mit den jeweils qualifizierten Mehrheiten des Art. 77 Abs. 4 G G zurückzuweisen, da der Bundestag seine Geschäftsordnung jedenfalls generell mit einfacher (unqualifizierter) Mehrheit ändern kann. N u r eine Abweichung im Einzelfall (Durchbrechung) bedarf nach § 126 G O B T der Zustimmung von zwei Dritteln der anwesenden Mitglieder des Bundestages. Diese Schwierigkeit könnte der Bundestag nur dann durch Rekurrieren auf seine Geschäftsordnungsautonomie ausräumen, wenn er vorher das entgegenstehende Gesetz mit einem Aufhebungsgesetz beseitigt hätte. Denn das förmliche Gesetz steht in der Normenhierarchie über der Geschäftsordnung. Nur wenn man alle diese Schwierigkeiten und Komplikationen für gut überwindbar hält, kann man es dahingestellt sein lassen, o b der Bundestag nicht

7

W . W . SCHMIDT D Ö V 1 9 8 6 , S . 2 3 6 ( 2 3 9 ) .

8

E.RÖPER ZParl. 1984, S . 5 2 9 .

' W i e E . W . BÖCKENFÖRDE es verlangt ( F n . 6).

1372

7. Teil: D a s parlamentarische Regierungssystem

wirklich in allen Fällen einer besonderen verfassungsrechtlichen Ermächtigung bedarf, um eine in seine Autonomie fallende Regelung durch förmliches Gesetz zu treffen 10 . In der Praxis spielte die Ausübung der parlamentarischen Kontrolle durch die 5 Untersuchungs- Einsetzung von Untersuchungsausschüssen nach Art. 44 G G eine nicht zu unterausschüsse schätzende Rolle. Acht solcher Ausschüsse haben sich seit der Konstituierung des Bundestages bisher um die Aufklärung von Vorgängen bemüht, die den Verdacht von Unregelmäßigkeiten oder Gesetzesverstößen hatten entstehen lassen". Nicht immer waren die Aufklärungsergebnisse vollständig oder überzeugend. Gleichwohl ist vieles an das Tageslicht gefördert worden, was nicht verborgen bleiben durfte. Nach Art. 45 a Abs. 2 G G hat der Verteidigungsausschuß ebenfalls das Recht, sich als Untersuchungsausschuß zu konstituieren. Dies ist auch in einer Anzahl von Fällen geschehen, wenngleich hier nachrichtendienstlich relevante Themen nur in zwei von insgesamt zehn Fällen (bis zur 10. Wahlperiode) zu untersuchen waren (Spionagefall L U T Z E / W I E G E L und Entlassung des Generals Dr. K I E S S L I N G ) . 6 Es muß jedoch darauf hingewiesen werden, daß prinzipiell der Bundestag nicht Parlament und weniger geeignet ist, Staatsgeheimnisse zu bewahren als andere Verfassungsorgane Geheimschutz oder Behörden und Gerichte auch. Dabei sind unter Staatsgeheimnissen nur solche Tatsachen und Informationen zu verstehen, die im Interesse des Staates insgesamt vor dem öffentlichen Bekanntwerden geschützt werden müssen, damit nicht die Freiheit der Entscheidung und die Sicherheit des Gemeinwesens als solchem beeinträchtigt werden. Bloße Regierungsgeheimnisse zählen nicht hierzu — ebensowenig wie Dienstgeheimnisse 12 . U m seiner dem Gesamtstaat obliegenden Pflicht zur Wahrung echter Geheimnisse zu genügen, hat der Bundestag sich eine Geheimschutzordnung 1 3 gegeben. 2. Parlamentarisches Vertrauensmännergremium 7 D a sich aber andererseits schon früh die Erkenntnis durchgesetzt hatte, daß die Das PVMG klassischen Kontrollinstrumente von Öffentlichkeit und Parlament hier in der Praxis weitgehend versagen, wurde 1956 auf Vorschlag von Bundeskanzler KONRAD A D E N A U E R ein von allen Fraktionen des Bundestages beschicktes „Parlamentarisches Vertrauensmännergremium" (PVMG) geschaffen, in dem der Bundeskanzler präsidierte und das nur auf dessen Einladung hin zusammentreten konnte. Obwohl unter Bundeskanzler W I L L Y B R A N D T das Selbstversammlungsrecht des P V M G eingeführt, der unter den Parlamentariern rotierende Vorsitz geschaffen wurde und das P V M G einberufen werden mußte, wenn eine Fraktion dies verlangte, blieb diese Kontrollmöglichkeit unbefriedigend, weil das Gremium B V e r f G E 70, 324 (361). " A u f z ä h l u n g R d n . 4 7 zu § 1 P K K G bei H.ROEWER Nachrichtendienstrecht in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1987. Vgl. auch die Aufstellung in den Datenhandbüchern zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949-1982 und 1980-1984, Bonn 1983 und BadenBaden 1986, S. 617 ff und 594 ff. 12 A . ARNDT jun., D a s Staatsgeheimnis als Rechtsbegriff und Beweisfrage, Gesammelte juristische Schriften, München 1976, S . 2 8 5 . 13 Anlage 3 zur Bekanntmachung vom 2. Juli 1980 ( B G B l . I S. 1256). 10

§ 50

Parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste (ARNDT)

1373

zugleich personell so zusammengesetzt und erweitert worden war, daß geheimhaltungsbedürftige Sachverhalte dort kaum noch ohne Gefahr für den Staat erörtert werden konnten. 3. Reformvorschläge a) Gleichwohl blieben alle Bestrebungen und Forderungen nach zusätzlicher, 8 spezifisch parlamentarischer Kontrolle ohne politisches Echo. So enthielt der Sonderausschuß fur Bericht des 2. Untersuchungsausschusses der 5. Wahlperiode („Hirsch-Ausschuß") Nlchrkhte'Idfenste einen Formulierungsvorschlag für die Schaffung eines fünfköpfigen Bundestagsausschusses für die Nachrichtendienste, der in Art. 45 a G G eingefügt werden sollte 14 . Der entsprechende Antrag erhielt im Plenum jedoch nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit, obwohl er von allen Fraktionen gemeinsam eingebracht worden war. b) Auch die Enquete-Kommission des Bundestages für Fragen der Verfas- 9 sungsreform lehnte sowohl in der 6., als auch in der 7. Wahlperiode entsprechende Vorschläge der Vorschläge mit Mehrheit ab, so daß sie im Abschlußbericht nur als Sondervotum V e r f a s s ^ r T f o ™ ' 0 " artikuliert werden konnten. Das Sondervotum des Abgeordneten Dr. A R N D T (Hamburg) 1 5 , dem sich der Abgeordnete Dr. L E N Z (Bergstraße) anschloß, ging dabei entgegen der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts 1 6 , aber in Ubereinstimmung mit den Sondervoten der Richter M A H R E N H O L Z und B Ö C K E N F Ö R D E 1 7 , von der Annahme aus, daß es das Grundgesetz gebiete, alle Fraktionen einschließlich solcher verfassungswidriger, aber nicht nach Art. 21 Abs. 2 G G verbotener Parteien an einem Ausschuß zu beteiligen, der ein Parlamentsausschuß ist. Wolle man dieses Ergebnis ebenso vermeiden wie das jederzeitige Zutritts- oder Rederecht der Mitglieder des Bundesrates und der Bundesregierung (Art. 43 Abs. 2 G G ) , dann müsse man ein Verfassungsorgan sui generis schaffen, für dessen Gründung dem Sondervotum ein Formulierungsvorschlag beigefügt ist. c) Die Zahl der weiteren Vorschläge, die zur Verbesserung der Kontrolle der 10 Nachrichtendienste gemacht wurden, ist Legion. So schlug der SPD-Abgeordnete BundestagsEMMERLICH18 selbst Mitglied der Parlamentarischen Kontrollkommission N T C W ^ I D ^ N T E ? ( P K K ) — die Berufung zweier „Beauftragter des Bundestages für die Kontrolle der Nachrichtendienste" vor, die die mit anderen Aufgaben überlasteten Mitglieder der P K K unterstützen sollten. Anders als z. B. der Datenschutzbeauftragte sollten diese Beauftragten ihre Erkenntnisse mit Rücksicht auf die notwendige Geheimhaltung nicht dem Bundestag, sondern ausschließlich den Mitgliedern der P K K zuleiten dürfen. N o c h vor der Bildung der P K K hatte H.-P. S C H N E I D E R die Bildung eines parlamentarischen Kontrollausschusses vorgeschlagen, für dessen Schaffung jedoch das Grundgesetz hätte geändert werden müssen 19 . UbereinstimBundestagsdrucksache V/4445. Bundestagsdrucksache 7/5924, S . 7 6 = Z u r Sache 3/76, S. 168. 16 B V e r f G E 70, 324 (365). 17 Vgl. F n . 6 . 18 A . EMMERLICH D i e neue Gesellschaft 1982, S. 934. " H . - P . SCHNEIDER V e r f a s s u n g s s c h u t z - G r u n d o r d n u n g s h ü t e r , Sicherheitsdienst o d e r G e h e i m polizei? in W . D . NARR ( H r s g . ) Wir Bürger als Sicherheitsrisiko, Reinbek 1977, S . 9 3 (132), vgl. auch v o m gleichen A u t o r N J W 1978, S. 1601. 14 15

1374

7. T e i l : Das parlamentarische Regierungssystem

mend ist hier bei nahezu allen Autoren, die sich publizistisch oder wissenschaftlich mit der Thematik der Kontrolle der Nachrichtendienste — sei es durch Verstärkung der parlamentarischen Möglichkeiten oder in anderer Form — befassen, das Unbehagen über „die unzulängliche Kontrolle der Nachrichtendienste" 2 0 zu beobachten. 4. Das Gesetz über die Parlamentarische Kontrollkommission 11 Erst 1978 haben die gesetzgebenden Körperschaften dann das Gesetz über die Die PKK parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste verabschiedet, das — vergleicht man die endgültige Fassung mit dem ursprünglich von den damaligen Koalitionsfraktionen S P D und F D P eingebrachten Entwurf 2 1 — allerdings während der parlamentarischen Beratung viel an Präzision verloren hat. Dies beruhte vor allem darauf, daß man das Gesetz mit breiter Mehrheit verabschieden wollte und ein Konsens mit der damaligen Opposition C D U / C S U nur auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner gefunden werden konnte. 12 a) Die zentrale Problematik des Kontrollgesetzes besteht in der AusbalancieProbleme rung des parlamentarischen Kontrollrechts mit den nachrichtendienstlichen N o t PKK-Lösung wendigkeiten. Einerseits soll weder die Nachrichtenbeschaffung, noch die Gewinnung geheimer Mitarbeiter erschwert oder gar unmöglich gemacht, noch die Zusammenarbeit mit befreundeten ausländischen Diensten erschwert werden. Andererseits aber kann das Gesetz die verfassungsrechtliche Kompetenz des Parlaments zur Kontrolle der ganzen Exekutive — und damit auch der Nachrichtendienste — nicht ausräumen. Das Gesetz löst das doppelte Dilemma dadurch, daß es die von ihm begründeten Kontrollbefugnisse als „parlamentarisch" bezeichnet (§ 1 Abs. 1 P K K G ) und Mitgliedern des Bundestages vorbehält (§ 5 P K K G ) , auf der anderen Seite aber ausdrücklich betont, daß die Rechte des Bundestages und seiner Ausschüsse unberührt bleiben (§ 1 Abs. 2 P K K G ) und daß die andersartigen und zum Teil weitergehenden Kontrollbefugnisse nach dem Gesetz zu Art. 10 G G den in diesem Artikel vorgesehenen Organen und Hilfsorganen vorbehalten bleiben (§ 3 Abs. 3 P K K G ) . Bei der Verabschiedung des Gesetzes hat der Abgeordnete Dr. KLEIN (Göttingen) die Auffassung vertreten, das Gesetz könne nicht ohne Verfassungsänderung beschlossen werden 22 . Zwar ist der Vorbehalt zugunsten des Bundestages in § 1 Abs. 2 P K K G nur deklaratorisch, da in der Tat ein einfaches Bundesgesetz die verfassungsrechtlichen Kompetenzen des Parlaments rechtlich nicht beseitigen oder beschneiden kann. Aber gerade weil das so ist, rein rechtlich also die Kontrolle durch die Parlamentarische Kontrollkommission neben die des Parlaments und seiner Ausschüsse tritt, konnte das Gesetz ohne Verfassungsänderung verabschiedet werden. Dies vom Recht her begründete Ergebnis wird nicht dadurch ausgeräumt, daß politisch und effektiv die Kontrolle der Dienste in Zukunft von der neugebildeten Kommission ausgeübt werden soll und wird. 20

21 22

So H . BORGS-MACIEJEWSKI Beilage Β 6 / 7 7 vom 12. Februar 1977 zur Wochenzeitung „Das Parlament", S. 12 mit weiteren Nachweisen. Bundestagsdrucksache 8 / 1 1 4 0 und 8 / 1 5 9 9 . Sten. Niederschrift zur 78, S . 6 0 9 9 D (6101 B). Ähnliche Bedenken machen H . ROEWER ( F n . 11) R d n . 4 bis 9 zu § 1 P K K G und E . FRIESENHAHN D i e K o n t r o l l e der Dienste, Verfassungsschutz und Rechtsstaat, K ö l n 1981, S . 8 7 (107) geltend.

§50

Parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste (ARNDT)

1375

Dieses Resultat wird verfassungsrechtlich korrekt noch durch die Festlegung in den §§ 1 Abs. 1 und 4 P K K G ergänzt, nach denen Gegenstand der Kontrolle die Bundesregierung ist (und nicht die Dienste selbst), und daß deren politische Verantwortung für die Tätigkeit der Dienste unberührt bleibt. b) Die Kontrolle durch die Kommission erfolgt auf dem Wege der Unterrich- 13 tung durch die Bundesregierung (§ 3 Abs. 1 PKKG), wobei der Verpflichtung der Durehführung der Regierung zu umfassender Information der Kommission über die allgemeine P K K - K o n t r o l l e Tätigkeit der Dienste23 der grundsätzlich nach Gegenstand und Umfang unbeschränkte Anspruch dieses Gremiums auf entsprechende Unterrichung gegenübersteht. Durch § 3 Abs. 2 P K K G wird der Bundesregierung zum Schutze des Nachrichtenzugangs ein gewisser Spielraum hinsichtlich Zeit, Art und Umfang der Information eingeräumt, wobei das Gesetz davon ausgeht, daß es zum Wesen der vorgesehenen Kontrolle gehört, daß sie im nachhinein, nicht aber als präventive oder begleitende Kontrolle stattfindet. Allerdings soll die Bundesregierung auch befugt sein, bereits zu einem früheren Zeitpunkt zu unterrichten24. Das Geheimnis des Nachrichtenzugangs und der Quellenschutz müssen aber in jedem Fall gewahrt bleiben. Da Sinn der Kontrolle der Nachrichtendienste nicht nur die Verhinderung des Mißbrauchs der ihnen anvertrauten öffentlichen Gewalt, sondern sie zugleich auch dazu bestimmt ist, den Diensten das Vertrauen zu verschaffen, ohne das keine Institution des demokratischen Staates bestehen und auf die Dauer sachlich qualifizierten und verfassungstreuen Nachwuchs für ihr Personal finden kann, muß die parlamentarische Kontrolle von außen durch eine Personalpolitik für die Spitzenpositionen ergänzt werden, die alle im demokratischen Spektrum relevanten politischen Gruppierungen so beteiligt, daß die Dienste innenpolitisch neutralisiert werden25. c) Weil das Gesetz im Gegensatz zu dem ihm zugrundeliegenden ursprüngli- 14 chen Antrag26 die Zuständigkeit der Nachrichtendienste des Bundes nicht festlegt Kontrollaufgaben der und gegeneinander abgrenzt, sondern sich auf ihre Aufzählung und die Feststel- P K K lung beschränkt, ihre Aufgaben und Befugnisse seien in Gesetzen und Organisationserlassen geregelt (§ 1 Abs. 1 PKKG), wird es auch zu den Aufgaben der Kommission gehören müssen, die Einhaltung der Kompetenzabgrenzung (etwa das Verbot für den B N D , „Inlandsaufklärung" zu betreiben27) sorgfältig zu überwachen. Die Zusammenarbeit der Dienste und die Weitergabe ihrer Erkenntnisse an Strafverfolgungsbehörden ist in Richtlinien28 geregelt, die nicht veröffentlicht sind. Die genaue Beachtung dieser Festlegungen, die für die Dienste als Teile der Exekutive verbindlich sind, unterliegt der Kontrolle durch die Kommission

23

24 25 26 27

28

Begründung zu §3 P K K G im Bericht des Bundestags-Rechtsausschusses (Bundestagsdrucksache 8/1599, S. 6). Eine gegenständliche Beschränkung, wie sie H.ROEWER (Fn. 11) annimmt, findet im Gesetzeswortlaut, der von „umfassender Unterrichtung" spricht, keine Stütze. Ausschußbericht (Fn. 23). C.ARNDT Das Parlament, N r . 3 vom 17.Januar 1976, S. 12. Bundestagsdrucksache 8/1140. Der Auftrag des Bundesnachrichtendienstes ist beschrieben in § 1 der Dienstanweisung für den B N D vom 4. Dezember 1968, abgedruckt im Bericht des 2. Untersuchungsausschusses der 7. Wahlperiode des Bundestages, Bundestagsdrucksache 7/3246, S. 47. Z . B . Koordinierungsrichtlinien vom 30.Juni 1972 (J.SCHWAGERL D Ö V 1974, S. 109 [113]).

1376

7. Teil: D a s parlamentarische Regierungssystem

ebenso wie die Einhaltung des geltenden Rechts in Verfassung und Gesetzen. Allerdings ist es zumindest seit dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts29 äußerst zweifelhaft, ob unveröffentlichte und verwaltungsinterne Richtlinien ausreichen, um den dort vorgeschriebenen Datenaustausch zu legitimieren, ohne daß eine entsprechende spezialgesetzliche Regelung besteht. 15 Einen besonderen Schwerpunkt bildet bei der Kontrolle die Auslegung des Nachrichten- Begriffs „nachrichtendienstliches Mittel" in § 3 Abs. 3 des Verfassungsschutzgesetdienstliche Mittel zes 30 , wobei zu beachten ist, daß auch die Kommission die aus dieser Vorschrift fließenden Rechte der Verfassungsschutzämter nicht erweitern kann31, sondern vielmehr die Einhaltung ihrer Grenzen zu kontrollieren hat. Obwohl der Bundestag noch 1972 durch seinen Berichterstatter für die Novellierung des Verfassungsschutzgesetzes, den Abg. Sieglerschmidt, zum Ausdruck gebracht hat, es sei weder möglich noch zweckmäßig, den Begriff der nachrichtendienstlichen Mittel im Gesetz näher zu präzisieren32, so ist doch fraglich, ob dieser Begriff dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entspricht. Zwar soll und kann die Befugnis zur Anwendung nachrichtendienstlicher Mittel nicht Rechtsgrundlage zum Eingriff in Grundrechte sein. Dazu ist der Begriff zu unbestimmt und außerdem fehlt es für die aufgrund eines Gesetzes einschränkbaren Grundrechte an der nach Art. 19 Abs. 1 Satz 1 G G erforderlichen Klausel. Als Rechtfertigungsgrund für Eingriffe in Rechtsgüter, die nur durch einfaches (Bundes- oder Landes-)Gesetz geschützt sind, reicht §3 Abs. 3 Satz 2 VerfSchG im allgemeinen jedoch aus33, wenngleich die Präzisierung — zumindest in der Form einer beispielhaften Aufzählung von Mitteln, die regelmäßig benutzt werden dürfen — äußerst wünschenswert wäre. Durch eine solche exemplarische Nennung im Gesetzestext könnte zugleich deutlich gemacht werden, Eingriffe welchen Gewichts und welcher Tiefe nach dem Willen des Gesetzes noch zulässig sein sollen. 16 d) Die Mitglieder der Kommission müssen Abgeordnete des Bundestages sein, Wahl der PKK bedürfen der Legitimation durch eine Wahl mit der Mehrheit der Stimmen des Parlaments („Kanzlermehrheit") und verlieren ihr Amt nicht nur, wenn sie aus dem Bundestag, sondern auch, wenn sie aus der Fraktion ausscheiden, die sie benannt hat (§5). Das Gesetz verzichtet im Hinblick auf die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts über den verfassungsrechtlichen und verfassungsgerichtlichen Schutz parlamentarischer Minderheiten gegen den Mißbrauch durch die Mehrheit34 darauf, ein über die absolute Mehrheit hinausgehendes Quorum für die Wahl vorzuschreiben. Damit die Kontrolle der Dienste in ihrer Kontinuität nicht durch das Ende der Legislaturperiode unterbrochen wird, bestimmt § 6 Abs. 4 P K K G , ' B V e r f G E 65, 1. Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes vom 27. September 1950 (BGBl. S.682), der § 3 in der Fassung des Gesetzes vom 7. August 1972 ( B G B l . I S. 1382). 51 Ζ. B. durch Anerkennung eines „übergesetzlichen N o t s t a n d e s " oder der Anwendung des § 34 S t G B zugrundeliegenden Prinzips. 32 Zu Drucksache des Bundestages VI/3533, S.5. 33 So ist z . B . die Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes i.S. von §201 S t G B nicht unbefugt, wenn sie vom Verfassungsschutz im Rahmen seiner Zuständigkeit erfolgte, eine etwa gleichzeitig erfolgende Verletzung von Art. 13 G G jedoch nicht gerechtfertigt. 34 B V e r f G E 30, 1 (31).

2

30

§ 50

Parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste (ARNDT)

1377

daß die Kommission ihre Tätigkeit auch über das Ende der Wahlperiode des Bundestages bis zur Wahl ihrer Nachfolgerin durch den nächsten Bundestag ausübt. e) Das Gesetz regelt die Zahl der Mitglieder, die Zusammensetzung und die 17 Arbeitsweise der Kontrollkommission nicht selbst, sondern überläßt diese Entschei- Bedeutung des dung dem Einsetzungsbeschluß des Bundestages zu Beginn einer jeden Legislaturperiode (§ 5 Abs. 2 P K K G ) . Allerdings verpflichtet § 6 Abs. 2 P K K G die Kommission, e S C u s s e s mindestens einmal im Vierteljahr zusammenzutreten. Jedes einzelne Mitglied kann jederzeit die Einberufung der Kommission fordern, so daß auch die jeweilige Opposition ein Informationsverlangen durchsetzen kann. Das Minderheitenrecht bezieht sich aber nur auf den Zusammentritt der Kommission, die in § 3 Abs. 1 P K K G festgelegte Unterrichtungspflicht der Bundesregierung und der dieser korrespondierende Anspruch bestehen nur für die Kommission als solche, nicht für deren einzelnes Mitglied. Nach § 6 Abs. 2 Satz 2 P K K G ist die Kommission verpflichtet, sich eine Geschäfts- 18 Ordnung zu geben, in der unter anderem zu regeln ist, welche Aufgaben dem Sekreta- Arbeit der PKK riat obliegen, wo dieses einzurichten ist und welche besonderen Vorkehrungen zur Gewährleistung der Geheimhaltung zu treffen sind. Die Geschäftsordnung darf im Rahmen der in § 6 Abs. 1 P K K G von Gesetzes wegen bestimmten Geheimhaltung der Beratungen auch regeln, welche Personen Zutritt zu den Beratungen haben oder erhalten können. D a die Kommission kein Organ des Bundestages ist, gilt Art. 43 Abs. 2 G G für sie nicht, der den Mitgliedern und Beauftragten von Bundesrat und Bundesregierung ein jederzeit ausübbares Zutritts- und Rederecht 35 gewährt. Das Gleiche gilt auch für das Recht der Mitglieder des Bundestages, nach § 69 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Bundestages an allen Sitzungen aller Bundestagsausschüsse als Zuhörer teilzunehmen, wenn der Bundestag nicht beschließt, die Teilnahmebefugnis auf die ordentlichen Mitglieder und ihre Stellvertreter zu beschränken. 5. Kontrolle des Verfassungsschutzes in den Ländern Während der Bund über drei unterschiedliche Nachrichtendienste verfügt, die 19 trotz ihrer jeweils verschiedenen Aufgabenstellungen (Bundesamt für Verfassungs- Kontrolle schutz nach der Legaldefinition des Art. 73 N r . 10 Buchst, b G G : Schutz der L a n d e r n freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestandes und der Sicherheit des Bundes oder eines Landes — einschließlich der Spionageabwehr —, Militärischer Abschirmdienst: Verfassungsschutz im Bereich der Bundeswehr und Bundesnachrichtendienst [ B N D ] : Auslandsnachrichtendienst) nach einem Gesetz einheitlich durch die Parlamentarische Kontrollkommission kontrolliert werden, besteht in den Bundesländern lediglich ein Nachrichtendienst, der Verfassungsschutz. Besitzt der Bund für diesen Bereich nur eine Koordinierungskompetenz aus Art. 73 Nr. 10 Buchst, b G G , so haben die Länder sämtlich ihre Zuständigkeit für den Verfassungsschutz durch besondere Gesetze geregelt, die in der Regel zugleich auch Vorschriften über die parlamentarische Kontrolle enthalten 36 . Keine 35 36

C . ARNDT ZParl. 1976, S . 3 1 7 . Eine Zusammenstellung dieser G e s e t z e nach dem Stande von 1986 findet sich in den beiden K o m m e n t a r e n H.BORGS-MACIEJEWSKI/F.EBERT D a s Recht der Geheimdienste, Stuttgart 1986, S. 265 ff und H.ROEWER (Fn. 11) S. 291 ff, ferner J . SCHWAGERL der eine ausführliche Darstellung der Auseinandersetzungen um diese G e s e t z e bringt (Fn. 1).

in den

1378

7. Teil: Das parlamentarische Regierungssystem

solchen Bestimmungen weisen die Gesetze Bayerns und Hessens auf, während sich das saarländische Gesetz auf den Halbsatz beschränkt, der den Minister des Innern verpflichtet, dem zuständigen Ausschuß des Landtages auf Ersuchen Auskunft zu erteilen. Ahnlich knapp ist die Berliner Regelung gefaßt, während die übrigen Länder in der Regel einen ganzen Abschnitt ihres Verfassungsschutzgesetzes der Errichtung, den Kompetenzen und sonstigen Rechten der parlamentarischen Kontrollkommission widmen. Die ausführlichsten Regelungen enthalten die Gesetze Bremens und Hamburgs. Die Mitglieder der parlamentarischen Kontrollkommissionen — meist drei mit je einem ständigen Vertreter — werden von den Landtagen mit Mehrheit (in Hamburg in geheimer Abstimmung mit zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen) gewählt und haben umfassende Kontrollbefugnisse und meist ausdrücklich auch das Recht auf Akteneinsicht. Vielfach sind insbesondere bei den Gesetzen, die die parlamentarische Kontrolle ausführlicher und weitergehend regeln — wie in Hamburg und Bremen — erhebliche Auseinandersetzungen in den Landtagen, in der Publizistik und der allgemeinen Öffentlichkeit voraufgegangen. Doch weder sind die angedrohten Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht nach Inkrafttreten der Gesetze erhoben, noch sind trotz einer inzwischen vieljährigen Praxis in der Zwischenzeit Beschwerden darüber vorgebracht worden, daß die genaue Ziselierung der parlamentarischen Kontrolle sich nachteilig auf die tatsächliche Arbeit der betreffenden Verfassungsschutzbehörden ausgewirkt hätte.

II. Post- und Fernmeldekontrolle 1. Im Zuständigkeitsbereich des Bundes 20 a) Bis zum Herbst 1968 hatte Art. 10 G G in der damals geltenden Fassung in der Alliiertes Vorrecht Praxis nur eine sehr beschränkte Bedeutung, weil die U S A , Frankreich und bis 1968 Großbritannigf, e s j ^ h j n Art. 5 Abs. 2 Satz 1 des Generalvertrages 37 kraft Besatzungsrechts vorbehalten hatten, „zum Schutz der Sicherheit von in der Bundesrepublik stationierten Streitkräften" in der Bundesrepublik Telefone abzuhören, Post zu kontrollieren und den Telegramm- und Fernschreibverkehr mitzulesen. Dies geschah in den einzelnen Besatzungszonen mit unterschiedlicher Intensität. A m stärksten war die amerikanische Armee hier engagiert, am geringsten die französische. Amerikanische Dienststellen gingen zeitweilig bis zur totalen Uberwachung des gesamten Post- und Fernmeldeverkehrs zwischen der Bundesrepublik und einzelnen auswärtigen Staaten. Entsprechend umfangreich waren die hierfür eingerichteten Stellen und entsprechend zahlreich das Personal. Zudem gab es zahlreiche konkrete Anhaltspunkte dafür, daß die Uberwachungsmaßnahmen keineswegs nur dem vertraglich zugesicherten Zweck des Schutzes der in der Bundesrepublik stationierten Streitkräfte dienten und daß wirtschaftliche Konkurrenzgesichtspunkte vielfach nicht mit der erforderlichen Sicherheit ausgeschaltet waren. D a andererseits der Generalvertrag das Erlöschen der alliierten Rechte für den Fall vorsah, daß die deutschen Behörden entsprechende Vollmachten durch die 37

Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten vom 26. Mai 1952 in der Fassung vom 30. März 1955 ( B G B l . II S.301, 305).

§ 50

Parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste (ARNDT)

1379

deutsche Gesetzgebung erhalten haben und dadurch in den Stand gesetzt werden, wirksame Maßnahmen zum Schutz der Sicherheit der alliierten Streitkräfte einschließlich der Fähigkeit zu treffen, ernstlichen Störungen der Sicherheit und Ordnung zu begegnen, gehörte es zu den wichtigsten Aufgaben der deutschen Gesetzgebung, durch den Erlaß geeigneter Rechtsnormen endlich Herr im eigenen Hause zu werden. D a dies nicht ohne Änderung der damals geltenden Fassung des Art. 10 G G möglich war, lag es als dringendste Aufgabe im deutschen Interesse, eine solche Änderung vorzunehmen, als die Große Koalition 1967 daran ging, das bereits jahrelang politisch schwärende Problem der sogenannten Notstandsverfassung zu lösen. Neben den Änderungen der Art. 35 und 91 G G , die die verfassungsrechtlichen Konsequenzen aus den Erfahrungen der Hamburger Flutkatastrophe 1962 zogen 38 , war allein die Problematik des Art. 10 G G durch die alliierte Praxis von bedrängender Aktualität. Alle anderen Gegenstände der Notstandsverfassung besaßen nur mehr oder weniger theoretische Bedeutung, weil niemand wußte und bis heute weiß, ob sie jemals praktisch angewendet werden (müssen). So entschlossen sich Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung im Rahmen 21 des 17. Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes auch den Art. 10 G G zu ändern, Notstandsverfassung dessen Abs. 2 eine Fassung erhielt, die Beschränkungen des Post- und Fernmeldegeheimnisses zum Schutz der freiheitlichen und demokratischen Grundordnung, des Bestandes oder der Sicherheit des Bundes oder eines Landes aufgrund eines Gesetzes zuließ, die dem Betroffenen nicht mitgeteilt zu werden brauchen und an Stelle des Rechtswegs einer Nachprüfung durch von den Volksvertretungen bestellte Organe und Hilfsorgane unterworfen werden konnten. Gestützt auf diese verfassungsrechtliche Ermächtigung erließen der Bund und alle Bundesländer 3 9 Ausführungsgesetze zu Art. 10 G G . b) Die Grundgesetz-Änderung selbst und das auf diese gestützte Bundesge- 22 setz 40 mußten mehrfach die Feuerprobe höchstrichterlicher Uberprüfung bestehen. Art. 10 n. F. vor So entschied zunächst das Bundesverfassungsgericht 41 auf Antrag des Landes Gericht Hessen und einiger Verfassungsbeschwerdeführer, daß die Neufassung des Art. 10 Abs. 2 G G und des Art. 19 Abs. 4 Satz 3 G G durch das 17. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes in der sich aus den Entscheidungsgründen ergebenden Auslegung verfassungsgemäß ist. Auch das Ausführungsgesetz des Bundes wurde vom Bundesverfassungsgericht mit einer Ausnahme als verfassungskonform bestätigt: Das Gericht erklärte lediglich § 5 Abs. 5 insoweit für nichtig, als er die Unterrichtung eines Betroffenen über eine gegen ihn getroffene Beschränkungsmaßnahme auch dann ausschloß, wenn sie ohne Gefährdung des Zwecks der Beschränkung erfolgen kann. Die Verfassungsbeschwerdeführer haben gegen diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angerufen und die Verletzung der Artikel 8 (Briefgeheimnis), 6 (rechtliches Gehör und faires Verfahren) und 13 (Rechtsweggarantie) der Konvention der Menschen38 39 40

41

C . ARNDT D V B L . 1968, S. 729. Außer Berlin. Vgl. Abschnitt II N r . 3 Buchst, c. Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Gesetz zu Art. 10 G G / G 10) vom 1 3 . J u n i 1968 ( B G B l . I S . 9 4 9 ) , geändert durch Gesetz vom O . S e p t e m b e r 1978 ( B G B l . I S. 1546). B V e r f G E 30, 1.

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7.Teil: D a s parlamentarische Regierungssystem

rechte und Grundfreiheiten 42 gerügt. In einem umfangreichen und auf sorgfältigen Untersuchungen beruhenden Urteil 43 hat der Gerichtshof einstimmig festgestellt, daß das deutsche Recht in der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts die Europäische Menschenrechtskonvention nicht verletzt 44 . Auf eine Verfassungsbeschwerde hin hat weiter das Bundesverfassungsgericht entschieden, daß die nach §3 G 10 zulässige sogenannte strategische Post- und Fernmeldekonrolle verfassungsrechtlich ebenfalls zulässig ist 45 .

23

Soweit das Bundesverfassungsgericht § 5 Abs. 5 G 10 für verfassungswidrig und nichtig erklärt hatte, hat die nach § 9 Abs. 4 G 10 gebildete Kommission der Bundesregierung auferlegt, alle seit 1968 von Beschränkungsmaßnahmen nach dem G 10 Betroffenen nach Abschluß der Überwachung zu benachrichtigen, sofern dies ohne Gefährdung des Zwecks der Beschränkung erfolgen kann. Seit 1978 steht eine entsprechende Vorschrift im Gesetz (§ 5 Abs. 5 G 10). Will die Bundesregierung im Einzelfall keine Benachrichtigung vornehmen, so darf sie dies nur tun, wenn die Kommission diese Unterlassung ausdrücklich durch Beschluß genehmigt. Verweigert die Kommission die Genehmigung, so muß die Bundesregierung unverzüglich benachrichtigen.

24

c) Die 1978 verabschiedete Novelle zum G 10 hat weiter eine vorher schon seit mehreren Jahren geübte Praxis neu in das Gesetz eingefügt: § 9 Abs. 2 G 10 wurde so geändert, daß der zuständige Bundesminister nunmehr verpflichtet ist, die Kommission über die von ihm angeordneten Beschränkungsmaßnahmen vor deren Vollzug zu unterrichten und ihre Zustimmung einzuholen. Dies bedeutet eine stärkere Sicherung des betroffenen Bürgers, weil in den Fällen, in denen die Kommission die Zulässigkeit oder Notwendigkeit einer Maßnahme verneint, eine Überwachung gar nicht erst stattfindet. Allerdings machte diese Neuregelung auch die Einführung einer Eilfallregelung notwendig.

25

d) Das G 10 kennt neben der Zuständigkeit der Justiz (Art. 2 G 10 = §§ 100 a bis 101 StPO) zwei Kompetenzen, kraft deren die Nachrichtendienste in das Grundrecht des Art. 10 G G eingreifen dürfen und die kontrolliert werden müssen: 1. Die Individualkontrolle nach § 2 Abs. 1 G 10, bei der der Postverkehr (Briefund Paketpost), die Telefongespräche, Fernschreiben, Telegramme, Telexverkehr usw. einer Person insgesamt oder einzeln überwacht werden dürfen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, daß diese Person bestimmte schwere, in § 2 Abs. 1 G 10 in einem Katalog abschließend aufgezählte und mit Strafe bedrohte Handlungen („Katalogstraftaten") plant, begeht oder begangen hat. Überwacht

Benachrichtigungspflicht für den Betroffenen

Die Novelle von 1978

Strategische und Individualkontrolle

« Vom 7. August 1952 ( B G B l . II S.685) ( M R K ) . « Vom 6. September 1978, Fall Klass und andere ( N J W 1979, S. 1755 mit Anmerkung von C . ARNDT). 44

45

Die besondere Bedeutung dieses Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte besteht allerdings weniger darin, daß die Bundesrepublik Deutschland eine so ausgiebige Bestätigung ihrer Rechtsstaatlichkeit auch auf diesem heiklen Gebiet erhalten hat, als darin, daß nunmehr auch die übrigen Staaten, die die M R K ratifiziert haben, hinsichtlich der von ihnen praktizierten Post- und Telefonüberwachung von dem Gerichtshof in Zukunft mit dem gleichen strengen Maßstab gemessen werden dürften. Bisher kennt jedoch nur Großbritannien (Interception of Communications Act 1985 vom 25. Juli 1985) ein ähnliches Gesetz wie die Bundesrepublik. B V e r f G E 67, 157. C.ARNDT N J W 1985, S. 107.

§ 50

Parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste (ARNDT)

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werden dürfen ferner auch Personen, von denen aufgrund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, daß sie für den Verdächtigen bestimmte oder von ihm herrührende Mitteilungen entgegennehmen oder weitergeben oder daß der Verdächtige ihren Anschluß benutzt. 2. Neben der Individualkontrolle kennt das Gesetz auch noch eine andere Überwachungsart, die sogenannte strategische Kontrolle (§3 Abs. 1 G 10). Hier werden nicht Postsendungen an ein Individuum oder dessen Fernsprechanschluß kontrolliert, sondern Post- und Fernmeldeverkehrsbeziehungen46 global. Dies sind durch eine Kenn-Nummer oder ein anderes individualisierendes Merkmal gekennzeichnete Telefonkabel zwischen zwei Fernmeldeämtern oder eine entsprechende Festlegung zur regelmäßigen Versendung von mit Brief- und Paketpost gefüllten Postsäcken zwischen zwei Postverwaltungen. Das eine Ende einer solchen Verkehrsbeziehung muß sich stets außerhalb des Bundesgebietes in einem Gebiet befinden, von dem die Bundesrepublik mit einem bewaffneten Angriff bedroht werden könnte. Dies bedeutet jedoch nicht unbedingt, daß dieses Gebiet mit der Bundesrepublik eine gemeinsame Grenze haben oder ihr unmittelbar benachbart sein müßte. Auch wenn hier das Gewinnen von abstrakten Nachrichten das Ziel ist, bei dem Absender und Empfänger zufällig und vom Zweck der Maßnahme her in aller Regel uninteressant sind, wird doch in den Schutzbereich des Art. 10 G G eingegriffen. Das ist auch dann der Fall, wenn ζ. B. bei einer Telefonkontrolle vielfach Anrufer und Angerufener nicht identifizierbar sind. e) Das G 10 hat für alle Eingriffe der Nachrichtendienste in das Grundrecht aus 2 6 Art. 10 G G zwei Kontrollinstanzen geschaffen: als von der Volksvertretung Kontrolhnstanzen gewähltes Organ das Gremium nach § 9 Abs. 1 G 10. Dieses besteht aus fünf Abgeordneten, die der Bundestag zu Beginn einer jeden Legislaturperiode aus seiner Mitte wählt. Es muß mindestens alle sechs Monate zusammentreten, um dann einen allgemeinen — nicht auf einzelne Beschränkungsmaßnahmen abgestellten — Bericht des zuständigen Ministers 47 entgegenzunehmen. Daneben ist das Gremium Kreationsorgan der Kommission nach § 9 Abs. 4 G 1 0 , muß deren Geschäftsordnung zustimmen (§ 9 Abs. 4 Satz 4 G 10) und hat bei der Bestimmung der Gefahrengebiete mitzuwirken, deren Post- und Fernmeldeverkehrsbeziehungen mit der Bundesrepublik einer Beschränkung nach §3 Abs. 1 G 10 unterworfen werden dürfen. Grundsatzfragen der Handhabung des G 10 sind von der Bundesregierung mit dem Gremium zu erörtern. Die Kommission (§9 Abs. 4 G 10) besteht aus einem Vorsitzenden, der die Befähigung zum Richteramt besitzen muß, und zwei Beisitzern. Für jedes Kommissionsmitglied wird ein Stellvertreter bestimmt, der verpflichtet ist, an allen Sitzungen teilzunehmen. Die Kommission gibt sich eine Geschäftsordnung, die der Zustimmung des Gremiums nach § 9 Abs. 1 G 1 0 bedarf. Die Mitglieder der Kommission genießen bei ihrer Amtsführung richterliche Unabhängigkeit und

47

C.ARNDT Recht und Politik 1980, S . 4 2 und 116, sowie N J W 1985, S. 107. Zuständig für Beschränkungsmaßnahmen nach § 2 G 10 ist für alle Dienste der Bundesminister des Innern, für Maßnahmen nach § 3 G 10 nach einem Beschluß der Bundesregierung vom 18. September 1968 der Bundesminister der Verteidigung.

1382

7. Teil: Das parlamentarische Regierungssystem

sind infolgedessen Weisungen nicht unterworfen. Sie werden nach Anhörung der Bundesregierung (die der Sicherheitsüberprüfung dient) gewählt. Die Amtsdauer der Kommissionsmitglieder ist mit der jeweiligen Wahlperiode des Bundestages identisch, überdauert diese jedoch am Schluß bis zur Neuwahl ihrer Nachfolger — längstens jedoch drei Monate nach dem Zusammentritt des neugewählten Bundestages. Dies ist erforderlich, weil ohne die Kommission das G 10 nicht vollziehbar ist. Es darf aber ein Vakuum weder beim Vollzug des G 10 aus Gründen der Sicherheit, noch beim Schutz des Bürgers gegen unberechtigte Eingriffe in sein Grundrecht aus Art. 10 G G entstehen. Erfahrungsgemäß vergehen jeweils nach der Neukonstituierung des Bundestages mehrere Wochen, bis das Parlament alle von ihm zu berufenden Gremien besetzt hat. Es kommt hinzu, daß die Sicherheitsüberprüfung, denen die Kommissionsmitglieder im Hinblick auf den Umfang der ihnen bei ihrer Tätigkeit bekanntwerdenden geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen unterzogen werden (müssen), stets eine gewisse Zeit erfordert. 27

Rechte und Pflichten der Dreierkommission

Die Kommissionsmitglieder müssen nicht Abgeordnete, können es aber sein. Die Kommission tagt stets geheim. Sie besitzt das Recht, alle Organe, Behörden und sonstigen staatlichen Stellen, die mit der Vorbereitung, Entscheidung, Durchführung und Überwachung eines Eingriffs in das Grundrecht aus Art. 10 G G befaßt sind und alle von diesen getroffenen Maßnahmen laufend zu überwachen. Hierzu müssen der Kommission alle für die Entscheidung erheblichen Unterlagen (Akten, Dossiers, Tonbänder, Tonbandnachschriften, Photokopien, Bilder usw.) zugänglich gemacht werden. Weiter ist es erforderlich, daß die Kommission ungehinderten Zugang zu allen Dienststellen, Einrichtungen und Anlagen besitzt, die entweder der durch Art. 10 G G geschützten Kommunikation oder deren Überwachung nach dem G 10 dienen. Die Kommission ist damit das eigentliche Kontrollorgan für die gegenüber dem einzelnen Bürger vorzunehmenden Grundrechtseingriffe und Beschränkungsmaßnahmen aufgrund des G 10. Sie ist zugleich das in Art. 10 Abs. 2 G G vorgesehene Hilfsorgan. Ihre Tätigkeit schließt den Rechtsweg an die Gerichte bis zur Benachrichtigung des Betroffenen aus. Mit Recht hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, daß jedoch auch nur eine Kommission dieses Status, die mit solchen Vollmachten ausgestattet ist, im Sinne von Art. 10 Abs. 2 G G den Rechtsweg an die Gerichte ausschließen kann. Dies bedeutet, daß die konkrete Regelung im G 10 de facto Verfassungsrang besitzt, weil jede prinzipiell andere Ausformung des Kontrollvorganges unweigerlich zur Wiederherstellung des Rechtsweges an die Gerichte (Art. 19 Abs. 4 G G ) führte.

28 Bei Besetzung sowohl des Gremiums als auch der Kommission ist die RechtOpposition muß sprechung des Bundesverfassungsgerichts zu beachten, nach der einerseits nicht beteiligt sein einseitig und unter Mißbrauch der Mehrheit verfahren werden darf, andererseits aber nicht unbedingt alle Fraktionen in ihnen vertreten sein müssen48. Die Opposition muß daher stets beteiligt sein, die Besetzung allein durch eine Fraktion oder Koalition wäre mißbräuchlich. 29 f) Art. 10 Abs. 2 G G legt nicht fest, welcher der drei klassischen Gewalten49 die Dogmatische Organe und Hilfsorgane zuzuordnen sind, deren Nachprüfung an die Stelle des

Einordnung der Dreierkommission

48

B V e r f G E 30, 1 (31) und 70, 327 (365).

49

Die Dreiteilung der Gewalten gehört zwar zu den klassischen Lehren des Rechts. Dennoch darf im modernen demokratischen Staat der Volkssouveränität keine Gewalt aus der einheitlichen

§ 50

Parlamentarische K o n t r o l l e der N a c h r i c h t e n d i e n s t e (ARNDT)

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Rechtsweges zu den Gerichten treten darf. Während Art. 45 b G G den Wehrbeauftragten als „Hilfsorgan des Bundestages" bezeichnet und so unzweideutig dem Parlament zuordnet, fehlt in Art. 10 Abs. 2 G G eine solche Festlegung. Andererseits wurde Art. 45 b durch das 7. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes 1956 50 in die Verfassung eingefügt, so daß man davon ausgehen kann, daß die 12 Jahre später erfolgte Änderung des Art. 10 Abs. 2 G G das einfache Gesetz nicht festlegen wollte, welcher Gewalt die zu errichtenden Organe und Hilfsorgane zugeordnet werden sollten. Sonst hätte sich der Wortlaut sicher enger an Art. 45 b G G angelehnt. Zwar spricht eine Reihe von Äußerungen, die an der Gesetzgebung maßgeblich beteiligte Personen getan haben, für die Annahme, daß die Organe der verfassungsändernden Gewalt 1968 in erster Linie an spezifisch parlamentarische Organe gedacht haben, deren Nachprüfung den Rechtsweg zu den Gerichten sollte ersetzen können. Dies wird vor allem bei J. G L Ü C K E R T deutlich, der darauf hinweist, daß man im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren damals wegen der Einbeziehung der jeweiligen Opposition in einer politisch-parlamentarischen Kontrolle einen erheblichen Vorteil gegenüber jeder gerichtlichen Uberprüfung sah 5 '. Darüber hinaus erblickte man in dem Institut der Abgeordneten-Indemnität52 eine weitere Sicherung gegen die Verletzung des Grundrechts aus Art. 10 G G , da es jedem Abgeordneten, der Mitglied des Kontrollorgans ist, auf diese Weise möglich wäre, ohne Furcht vor Strafverfolgung im Parlament über etwaige gesetzund verfassungswidrige Praktiken zu berichten. Demgegenüber wurde darauf verwiesen, daß insbesondere die langjährige Spruchpraxis der Gerichte in Staatsschutzsachen durchaus kein Anlaß sei, den gerichtlichen Rechtsschutz im Sinne besseren Freiheitsschutzes für den Bürger überzubewerten 53 . Dennoch kann — abgesehen von der Tatsache, daß leges sua fata habent und Recht sich stets vom Willen und den Absichten seiner Schöpfer emanzipiert — W A L T E R S E U F F E R T 5 4 nicht widersprochen werden, wenn er feststellt, daß Art. 10 Abs. 2 G G in der Fassung, die er schließlich am Ende des verfassungsändernden Gesetzgebungsverfahrens erhalten hat, von Verfassungs wegen nicht gestattet, ein Parlamentsorgan mit der Nachprüfung von Uberwachungsmaßnahmen zu betrauen, das als solches begrifflich jederzeit zur Disposition der Parlamentsmehrheit stünde. Aber auch W A L T E R S E U F F E R T , selbst Vorsitzender des Senats, der das Urteil zu Art. 10 G G gefällt hat, warnt mit geschichtlichen Beispielen vor der Annahme, Freiheit und Schutz des Staatsbürgers seien a priori bei den Gerichten besser als bei den Parlamenten aufgehoben.

Staatsgewalt h e r a u s g e l ö s t und isoliert w e r d e n . D e r Staat des G r u n d g e s e t z e s ist vielmehr gekennzeichnet d u r c h das P r i n z i p der auf einzelne O r g a n e delegierten einheitlichen Staatsgewalt, die mit H i l f e des institutionellen Mittels der O r g a n t r e n n u n g ein S y s t e m der C h e c k s and balances bilden. D i e F r a g e der Z u o r d n u n g d e s einzelnen O r g a n s zu einer der drei „ k l a s s i s c h e n " G e w a l t e n erscheint unter diesem G e s i c h t s p u n k t v o n relativer B e d e u t u n g . 50

V o m 19. M ä r z 1956, S. 111.

51

J. GLÜCKERT Z R P

52

A r t . 46 A b s . 1 G G , § 3 6 S t G B . ] . GLÜCKERT ( F n . 5 1 ) . W . SEUFFERT Wie w a n d e l b a r m u ß eine V e r f a s s u n g sein? F r a n k f u r t e r A l l g e m e i n e Z e i t u n g v o m 9. M ä r z 1971, S. 10.

53 54

1969, S. 176.

1384

7. Teil: D a s parlamentarische Regierungssystem

30

Untersucht man die konkrete Ausformung der Kommission durch § 9 anhand der in der Wissenschaft vertretenen Theorien über das Wesen des Gerichts — konkreter: Des Richterlichen —, so kommt man je nach Ausgangspunkt der einzelnen Auffassungen zu unterschiedlichen Ergebnissen (vom Fehlen des rechtlichen Gehörs einmal abgesehen). E. F R I E S E N H A H N S ebenso berühmte wie einfache Formel, nach der Richter sei, wer als von zwei Parteien Unabhängiger deren Streit schlichte 55 , führte die Kommission näher an ein Gericht heran, während etwa die prozeßrechtliche Schule J. GOLDSCHMIDTS, die im Richten den Vorgang sieht, der den Rechten Rechtskraft verleiht 56 , die Kommission mehr in den Bereich der Exekutive rückte, da ihre Entscheidungen nicht in Rechtskraft erwachsen, sondern unter Umständen bei Eröffnung des Rechtsweges nach § 5 Abs. 5 G 10 zumindest incidenter ebenfalls gerichtlicher Kontrolle unterliegen. Andererseits fehlt aber bei der Kommission wiederum das klassische Merkmal der Exekutive im demokratischen Rechtsstaat: Die Weisungsgebundenheit, die allein die parlamentarische Verantwortlichkeit sicherstellen kann.

31

Das Bundesverfassungsgericht scheint die Kommission dennoch als ein Exekutivorgan anzusehen. Zwar setzt es sich mit dieser Frage nur in dem Teil seines Urteils auseinander, der sich nicht mit dem G 10 als dem einfachen Gesetz befaßt. Andererseits legt es bei der Untersuchung, ob die Änderung des Art. 10 Abs. 2 G G mit Art. 79 Abs. 3 G G vereinbar ist, den Begriff „Organ" in so nachdrücklicher Weise dahin aus, daß es sich hier um eine Institution „innerhalb des Funktionsbereichs der Exekutive" oder „im Felde der Exekutive" 5 7 (was immer diese Begriffe auch konkret bedeuten mögen) handele, daß man wegen der bei der Prüfung des G 10 im späteren Teil des Urteils weitgehend und unter Verwendung der gleichen Worte und Formeln erfolgten Verweisung wohl nicht fehlgeht in der Annahme, das Gericht habe die konkret nach § 9 G 10 ausgestaltete Kommission der Exekutive zuordnen wollen. Dieses Ergebnis wird noch dadurch unterstrichen, daß das Gericht feststellt, eine so umschriebene und mit solchen Vollmachten ausgestattete Institution verletze den Kern, der der rechtsprechenden Gewalt vorbehalten sei, jedenfalls bei Erfüllung bestimmter Kriterien nicht, könne dann die nach Art. 19 G G sonst durchgängig vorgeschriebene gerichtliche Kontrolle ersetzen und sei insoweit auch mit dem nach Art. 79 G G in Art. 20 G G unantastbaren Prinzip der Gewaltentrennung vereinbar. Logischerweise muß das Bundesverfassungsgericht die Kommission daher außerhalb der rechtsprechenden Gewalt angesiedelt sehen. Und dafür, daß das Bundesverfassungsgericht das Organ in Art. 10 Abs. 2 G G dem Parlament zurechnete, gibt das Urteil erst recht keine Anhaltspunkte.

32

Die Tatsache, daß jede dieser Auffassungen über die Zuordnung der Kommission gute Gründe für und gegen sich hat, erweist sich als Hinweis darauf, daß es wenig sinnvoll erscheint, die Kommission generell der einen oder anderen klassi-

K o m m i s s i o n ein Gericht?

K o m m i s s i o n Teil der Exekutive?

Kommission: O r g a n eigner Art

55 56

57

E. FRIESENHAHN H a n d b u c h des Deutschen Staatsrechts, Bd. II, S. 523 (524). J . GOLDSCHMIDT Der Prozeß der Rechtslage, Berlin 1925, S. 151, 496. Vgl. auch A . ARNDT jun., Richter, Gericht, Rechtsweg in der Reichsverfassung, A ö R B d . 60 ( = B d . 21 n . F . ) , S. 183 (216) und DERS. D a s Bild des Richters, Gesammelte juristische Schriften, München 1976, S. 325. B V e r f G E 30, 1 (28).

§50

Parlamentarische Kontrolle der Nachrichtendienste (ARNDT)

1385

sehen Gewalt zuzurechnen. Untersucht man hingegen ihre konkreten Tätigkeiten und Aufgaben, so wird man feststellen, daß jeweils einzelne — wenngleich oft entscheidend wichtige — Elemente fehlen, die für ein Gericht, ein Parlamentsorgan oder eine Exekutivbehörde charakteristisch sind. So wird die Kommission nach Praxis und Selbstverständnis wie ein Verwaltungsgericht tätig, wenn sie über die Entscheidungen eines Ministers befindet, eine Beschränkungsmaßnahme anzuordnen, aufzuheben oder auslaufen zu lassen oder den Betroffenen einer solchen Maßnahme nach ihrer Beendigung nicht zu benachrichtigen. Das Gleiche gilt für die Entscheidung über die Beschwerde eines Bürgers, der sein Grundrecht aus Art. 10 G G verletzt glaubt. Von einem Verwaltungsgericht unterscheidet sich die Kommission in diesen Fällen praktisch aber (jedoch auch: Fast nur) dadurch, daß sie dem Betroffenen rechtliches Gehör nicht gewährt und nicht gewähren kann. Ihre Rechte gehen einem Gericht gegenüber andererseits aber insoweit weiter, als sie selbst rechtlich einwandfreie Maßnahmen aus Gründen der Zweckmäßigkeit aufheben kann (§ 9 Abs. 2 Satz 3). Soweit die Kommission von Amts wegen — also mehr wie ein parlamentarisches Hilfsorgan — tätig wird, fehlt ihr wiederum die für ein solches Organ typische Abhängigkeit und Berichtspflicht gegenüber dem Parlament. Die Kommission wertet vielmehr die Erkenntnisse, die sie bei ihren Kontrollen erlangt, selbst anschließend wie ein Gericht aus und wird daher insoweit — weil ohne Anstoß von außen — tätig, wie es bei einem Inquisitionsgericht üblich war. Die gesetzgebenden Bundesorgane waren sich bei der Schaffung des G 10 über diese Zwitterstellung der Kommission durchaus klar; auch das Bundesverfassungsgericht hat die Zuständigkeit der Kommission für Zweckmäßigkeitsprüfungen ausdrücklich gebilligt und es nicht beanstandet, daß sie auch von Amts wegen tätig werden kann58. Wie schon das Bundesverfassungsgericht mit Recht darauf hingewiesen hat, wieviel wichtiger es ist, daß die Kontrolle durch ein auf der Basis von Art. 10 Abs. 2 G G konstituiertes Organ der gleichwertig sein muß, die auf dem (gerichtlichen) Rechtswege erfolgen könnte, so daß es nicht darauf ankomme, ob ein solches Organ innerhalb oder außerhalb des Parlaments etabliert wird, so erscheint es sinnvoll, im Wege einer differenzierenden Betrachtungsweise die Kommission je nach ihrer konkreten Tätigkeit einmal mehr als ein Organ anzusehen, das sich dem Charakter eines besonderen Verwaltungsgerichts stark annähert, zugleich aber in anderen Fällen ähnlich wie ein parlamentarisches Hilfsorgan tätig wird. C. GUSY59 verkennt daher Aufgabe und Tätigkeit der G 10-Kommission, wenn 33 er sie als „parlamentarische Kontrolle" beschreibt, die stets nur eine allgemeine Übt Kommission politische Kontrollaufgabe zu erfüllen vermöge, jedoch eine effektive Verbesse- κ " ^ ^ ™ * ™ ^ ' 1 6 rung des Rechtsschutzes für den Betroffenen kaum bedeute. Gerade die jetzt gefundene konkrete Konstruktion der Kommission nach § 9 Abs. 4 G 10 gewährleistet den von GUSY geforderten funktionsfähigen Mechanismus für den Einzelfall. Da die G 10-Kommission nach ihrer gesetzlichen Ausgestaltung eben kein „parlamentarischer Dreierausschuß", sondern ein Staatsorgan sui generis, eben 58

B V e r f G E 30, 1 (23/24).

59

C . GUSY N J W 1 9 8 1 , S. 1 5 8 1

(1585/86).

1386

7 . T e i l : D a s parlamentarische R e g i e r u n g s s y s t e m

Hilfsorgan im Sinne von Art. 10 Abs. 2 G G ist, bedeutet ihre nicht auf den Einzelfall bezogene Kontrolltätigkeit ebenfalls keine parlamentarische Mitregierung im Sinne W. KEWENIGS60. Die Kommission kontrolliert bei der Deutschen Bundespost, den Nachrichtendiensten und anderen Stellen lediglich, ob Post- und Fernmeldeüberwachungsmaßnahmen stattfinden, die sie oder eine Landeskommission nicht genehmigt hat. Sie hat es jedoch stets mit Nachdruck abgelehnt, zu geplanten oder vorbereiteten Beschränkungsmaßnahmen Stellung zu nehmen, ehe der zuständige Minister seine Entscheidung getroffen hat. Die Kommission arbeitet daher wie ein Gericht, soweit Einzelentscheidungen zu treffen sind. Lediglich ist ihr Entscheidungsspielraum weiter als der eines Gerichts, da sie auch auf Grund von Zweckmäßigkeitserwägungen rechtmäßig getroffene Entscheidungen (Beschränkungsmaßnahmen) eines Ministers aufheben kann. Dies sind jedoch auch dann keine politischen Entscheidungen. Die Zweckmäßigkeit bezieht sich darauf, ob es aus der Lage des konkreten Falles sinnvoll ist, hier die Mittel des G 10 einzusetzen. Zudem war die Kommission seit ihrer Konstituierung 1968 stets, wenn nicht ausschließlich, so doch fast nur aus Mitgliedern mit der Befähigung zum Richteramt besetzt, wenngleich dies nur für den Vorsitzenden gesetzlich vorgeschrieben ist. Im Prinzip unterscheiden sich daher die rechtsstaatlichen Garantien in den §§ 100 a ff StPO (= Art. 2 G 10) nicht von denen des Art. 1 G 10, zumal da auch die Mitglieder der Kommission nach § 9 Abs. 4 G 10 richterliche Unabhängigkeit besitzen. Die Praxis hat im Gegenteil gezeigt, daß — wie aus den auf Fragen in der Fragestunde des Bundestages bekanntgegebenen Zahlen der Postund Telefonüberwachung aufgrund der §§100 a ff StPO hervorgeht61 — von den Gerichten in erstaunlichem Umfang von ihren Vollmachten aus diesen Vorschriften Gebrauch gemacht wird. Alle bisher anläßlich von Kontrollen, die die Kommission nach § 9 Abs. 4 G 10 bei der Bundespost durchgeführt hat, oder aufgrund von Beschwerden von Personen, die sich überwacht vermuteten, aufgedeckten Unregelmäßigkeiten stammten aus dem Bereich der Justiz. Die zahlreichen 1968 geäußerten Zweifel daran, ob das Grundrecht aus Art. 10 G G besser durch die Gerichte oder eine andere Organisation der Kontrolle geschützt werden könne, haben sich hinsichtlich der Justiz (leider) bestätigt. In den Vereinigten Staaten von Amerika hat der Foreign Intelligence Surveillance Act of 1978 (der dem deutschen G 10 entspricht) 62 eine ganze eigene Gerichtsbarkeit mit drei Instanzen bis zum Supreme Court zum Schutze des Fernsprechgeheimnisses eingesetzt. Das Ergebnis war, daß von 1980, dem Zeitpunkt des Wirksamwerdens des FISA, bis 1983 1774 Anträge auf Telefonüberwachung von der Administration gestellt wurden. Kein einziger fand nicht die Billigung der Gerichte, lediglich einer wurde von einem FISA-Gericht geändert63. 34 A m t s d a u e r der Kommission

g) Weil die Kommission kein Parlamentsorgan im Rechtssinne ist, durfte § 9 Abs. 4 G 10 bestimmen, daß die „für die Dauer einer Wahlperiode des Bundesta60

W.KEWENIG

Staatsrechtliche

Probleme

parlamentarischer

Mitregierung,

1970

und

H.P.

SCHNEIDER O p p o s i t i o n und I n f o r m a t i o n , A ö R B d . 9 9 ( 1 9 7 4 ) , S. 6 3 7 . 61

D a s B u n d e s m i n i s t e r i u m für das P o s t - und F e r n m e l d e w e s e n führt h i e r ü b e r eine Statistik.

62

F o r e i g n Intelligence Surveillance A c t o f 1978 ( F I S A ) .

«

C.ARNDT D Ö V 1 9 8 6 , S. 169 ( 1 7 6 ) . R e p o r t 6 6 0 des 9 8 . K o n g r e s s e s ( " T h e F o r e i g n Intelligence A c t o f 1 9 7 8 , T h e F i r s t Five Y e a r s " ) .

§ 50

Parlamentarische K o n t r o l l e der N a c h r i c h t e n d i e n s t e (ARNDT)

1387

ges" bestellten Mitglieder der Kommission ihr Amt bis zur Wahl ihrer Nachfolger auszuüben berechtigt und verpflichtet sind. Die Institution, der sie angehören, hört nämlich nicht mit dem Ende der Bundestags-Wahlperiode zu bestehen auf64. Die Kommission ist verfassungsrechtlich mit dem Bundestag nicht so eng verknüpft, daß sie von Verfassungs wegen dessen Schicksal teilen müßte. Dies wird u. a. daran deutlich, daß sie auch (und möglicherweise sogar ausschließlich) aus Mitgliedern gebildet werden kann, die dem Bundestag nicht angehören. In den meisten Legislaturperioden war in der Praxis auch jeweils nur ein Kommissionsmitglied von insgesamt sechs Mitgliedern und Stellvertretern Bundestagsabgeordneter. h) Die Kontrolle jedes Einzelfalles — d. h. jeder Beschränkungsmaßnahme, die sich als Individualkontrolle nach § 2 G 10 darstellt, ebenso wie die einer Post- und Fernmeldeverkehrsbeziehung nach §3 G 10 — durch die Kommission nach § 9 Abs. 4 G 10 muß Rechtskontrolle sein, kann sich aber auch auf die Opportunität rechtlich an sich zulässiger Maßnahmen beziehen''5. Besondere Schwerpunkte jeder Kontrolle muß dabei die Überwachung darüber sein, daß alle Vorschriften des G 10, die dem Schutz des Bürgers und seiner Kommunikation dienen, strikt eingehalten werden. Hierzu zählen insbesondere die Verwertungsverbote und die Vernichtungsgebote. Nach § 7 Abs. 2 G 10 müssen Unterlagen über einen am Post- und Fernmeldeverkehr Beteiligten, der von einer individuellen Beschränkungsmaßnahme (§2 G 10) betroffen war, unter Aufsicht eines Beamten mit der Befähigung zum Richteramt vernichtet werden, wenn sie nicht mehr für den Überwachungszweck benötigt werden, der dem Antrag zugrunde lag. Insbesondere ist es strikt verboten, das etwa angefallene Material zu anderen Zwecken zu verwenden oder zu verwerten. Es darf nicht einmal aufgehoben oder gespeichert werden. Denn alle aus Überwachungsmaßnahmen erlangten Kenntnisse und Unterlagen dürfen nicht zur Erforschung anderer als der in §2 G 10 aufgezählten Handlungen (Katalogstraftaten) verwendet werden. Dies gilt sowohl für Informationen aus Individualmaßnahmen, als auch für solche aus der strategischen Kontrolle (§3 G 10) (in der Regel sogenannte Zufallserkenntnisse). Erkenntnisse und Unterlagen aus der strategischen Kontrolle dürfen außerdem nicht zum Nachteil von Personen verwendet werden, wenn nicht gegen die betreffende Person eine Maßnahme der Individualkontrolle angeordnet ist oder tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß sie angeordnet werden könnte, weil die Person verdächtig ist, eine Katalogstraftat zu planen, zu begehen oder begangen zu haben. Einzige Ausnahme hiervon sind Kenntnisse und Unterlagen, aus denen sich tatsächliche Anhaltspunkte dafür ergeben, daß jemand eine in § 138 StGB aufgeführte Straftat zu begehen vorhat, begeht oder begangen hat. Es liegt auf der Hand, daß es nicht vertretbar wäre, staatlichen Stellen die Verwertung von Erkenntnissen zu verwehren, die jeden Bürger unter Androhung von Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren zur Anzeige verpflichten. Die Kommission prüft in diesen Fällen nicht nur das Vorliegen der gesetzlich vorgeschriebenen Vernichtungsverhandlung (§7 Abs. 4 G 10), sondern überzeugt 64

K. KREMER in K. KREMER ( H r s g . ) Parlamentsauflösung, 1974, S . 4 7 ( 5 1 ) und K.REITER e b d . S. 89 (102).

65

B V e r f G E 30, 1 ( 2 3 / 2 4 ) .

35 K o n t r o l l e ist R e c h t s 1

^ ^ "ß'»k t p r ^f un g 36

Verwertungsverbote und Vernichtungsgebote

1388

7. Teil: Das parlamentarische Regierungssystem

sich durch persönliche Anwesenheit und Augenschein bei Stichprobenkontrollen selbst von der Ordnungsmäßigkeit der Vernichtungsvorgänge. 37 Zentrale Aufgabe der von der Kommission vorzunehmenden Kontrolle sind Verfahrenskontrolle jedoch vor allem der ordnungsgemäße Gang des Verfahrens und das Vorliegen der materiellrechtlichen Voraussetzungen für den Erlaß einer Beschränkungsmaßnahme. Nach § 4 G 10 muß für die Anordnung einer Individualkontrolle nach § 2 G 10 zunächst ein Antrag des Präsidenten oder Vizepräsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, des Leiters des Bundeswehr-Amtes für den militärischen Abschirmdienst ( M A D - A m t ) oder dessen Stellvertreter oder des Präsidenten oder Vizepräsidenten des Bundesnachrichtendienstes vorliegen, über den der Bundesminister des Innern dann zu entscheiden hat, ehe er ihn der Kommission nach § 9 Abs. 4 G 10 zur Genehmigung vorlegt. Anträge nach § 2 G 10 darf der Bundesnachrichtendienst allerdings nur stellen, wenn und soweit die Sicherheit seines eigenen Personals betroffen ist, da ihm im übrigen jede Tätigkeit im Inland strikt untersagt ist. Beschränkungsmaßnahmen nach § 3 Abs. 1 G 10 (strategische K o n trolle) setzen nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 G 10 für Post- und Fernmeldeverkehrsbeziehungen einen Antrag des Präsidenten oder Vizepräsidenten des Bundesnachrichtendienstes an den Bundesminister der Verteidigung 66 voraus.

38

Materiellrechtlich ist Gegenstand der Kontrolle der Kommission, ob die Voraussetzungen der §§ 1 und 2 G 10 vorliegen. Dies bedeutet, daß sie prüfen muß, ob die Beschränkungsmaßnahme der Abwehr einer Gefahr dienen soll und dient, die der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder dem Bestand oder der Sicherheit des Bundes oder eines Landes droht. Geschützt ist ferner die Sicherheit der in der Bundesrepublik Deutschland einschließlich des Landes Berlin stationierten alliierten Besatzungstruppen. Weiter muß die Kommission prüfen, ob der beantragten Maßnahme tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht zugrunde liegen, daß der Betroffene eine der in § 2 Abs. 1 G 10 ausdrücklich aufgeführten und mit Strafe bedrohten Handlungen („Katalogstraftaten") plant, begeht oder begangen hat. Schließlich muß der Bundesminister des Innern der Kommission als Grundlage ihres Genehmigungsbeschlusses darlegen, daß die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre (ζ. B. weil Observationen aufgrund der örtlichen Verhältnisse nicht möglich sind oder das Ansprechen von Zeugen oder Gewährspersonen die Gefahr der Enttarnung der Ermittlungen mit sich brächte). Der Eingriff in das Grundrecht aus Art. 10 G G muß mithin stets die ultima ratio der Untersuchungen sein. Sofern die Beschränkungsmaßnahme sich nicht gegen den Verdächtigen selbst richten soll (§ 2 Abs. 2 G 10), muß geprüft werden, ob der Betroffene für den Verdächtigen bestimmte oder von ihm herrührende Mitteilungen entgegennimmt oder weitergibt oder daß der Verdächtige den Telefon-, Telex- usw. Anschluß des Betroffenen benutzt.

39

Bei der strategischen Kontrolle ( § 3 Abs. 1 G 10) ist zunächst das Abgeordnetengremium nach § 9 Abs. 1 G 1 0 für die Feststellung zuständig, in welchen Gebieten die Gefahr eines bewaffneten Angriffs auf die Bundesrepublik erkennbar sein könnte, damit dieser Gefahr rechtzeitig begegnet werden kann. Die Feststel-

Kontrolle der materiellrechtlichen Voraussetzungen

Kontrolle der strategischen Überwachung

"

Zur Zuständigkeit des Bundesministers der Verteidigung vgl. F n . 47.

§ 50

Parlamentarische K o n t r o l l e der N a c h r i c h t e n d i e n s t e (ARNDT)

1389

lung eines solchen Gefahrengebietes hat dann bei der erforderlichen Genehmigung der Überwachung einer einzelnen Post- oder Fernmeldeverkehrsbeziehung für die Kommission grundsätzlich Tatbestandswirkung (d. h. sie muß prinzipiell von ihr nicht mehr erneut geprüft werden). Faßt man die Kontrollaufgaben der Kommission zusammen, so ergeben sich konkret folgende Tätigkeiten, die sie zum Schutze der Grundrechte der Bürger aus Art. 10 G G zu erfüllen hat: Sie muß tätig werden,

40 Kontrollaufgaben

1. wenn ein zuständiger Minister eine Beschränkungsmaßnahme anordnet, aufhebt oder auslaufen läßt, zur Genehmigung entweder der Maßnahme oder der Entscheidung darüber, ob er die grundsätzlich erforderliche Benachrichtigung des Betroffenen im Einzelfall unterlassen darf, 2. wenn ein Bürger sich beschwert, weil er sein Grundrecht aus Art. 10 G G verletzt glaubt, und 3. von Amts wegen, wenn die Kommission Tatsachen erfährt, die eine Verletzung dieses Grundrechtes befürchten lassen, oder aus Gründen der vorbeugenden Kontrolle zur Verhinderung von Verletzungen des Art. 10 G G . Auf die Wörter „von Amts wegen" stützt die Kommission zum Beispiel Kontrollbesuche bei Fernsprechvermittlungsstellen, Zustellpostämtern und anderen Einrichtungen der Bundespost sowie bei nachrichtendienstlichen Dienststellen. Die Kommission besitzt daher de constitutione et de lege lata das ζ. B. von B. SCHLINK67 vermißte Recht, von der Post selbständig Auskunft über laufende oder zurückliegende Beschränkungsmaßnahmen zu verlangen, und übt dieses Recht in der Praxis auch aus.

2. Datenschutz und parlamentarische Verantwortlichkeit Während die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder im Bereich des 41 G 10 keine Kontrollbefugnisse besitzen, da das G 10 verfassungsrechtlich veran- D a t e n s c h u t z und parlamentarische kerte lex spezialis zum Bundesdatenschutzgesetz 68 ist, bleibt die parlamentarische MinisterVerantwortlichkeit aller an Beschränkungsmaßnahmen nach dem G 10 beteiligten v e r a n t w o r t u n g Exekutivstellen — insbesondere des Bundeskanzlers (als „Ressortminister" für den Bundesnachrichtendienst 6 9 ) und der Bundesminister des Innern (für Anträge nach § 2 G 10) aus allen Diensten und der Verteidigung (für Anträge des B N D nach § 3 G 10) — in vollem Umfang erhalten. Sie tragen dem Parlament gegenüber die politische Verantwortung für die Anträge der ihrer Weisungsbefugnis unterworfenen Dienste ebenso wie für die spätere Durchführung der Maßnahmen und die Benachrichtigung der Betroffenen nach dem Ende der Beschränkungen. Lediglich dann, wenn die Kommission nach § 9 Abs. 4 G 10 einen Bundesminister entgegen seiner Absicht gezwungen hat, einen Betroffenen zu benachrichtigen, kann dem Minister natürlich kein politischer Vorwurf gemacht werden, wenn aus einer solchen Mitteilung Nachteile oder Schäden entstehen. Verfassungsrechtlich war die WITTE-WEGMANN ( F n . 2 0 ) S. 1 1 7 - 1 2 8 ; F.SCHÄFER D e r Bundestag, 4. Aufl., 1982, S . 2 3 2 f ; E.BUSCH Parlamentarische K o n t r o l l e , 2 . A u f l . , 1985, S. 119. — D a m i t erübrigt sich die (etwa von L . KISSLER D i e Offentlichkeitsfunktion des Deutschen Bundestages, 1976, S. 166, angenommene) Befürchtung einer „Entparlamentarisierung" der G r o ß e n Anfrage durch ihre — zunächst — schriftliche B e a n t w o r t u n g ; wie hier STERN ( F n . 3 ) S . 5 7 .

2

27

RITZEL/BÜCKER (Fn. 16) § 100 A n m . 1 b; TROSSMANN/ROLL (Fn. 16) § 100 R d n . 2.

1426

7. T e i l : Das parlamentarische Regierungssystem

Regierung und den sie tragenden Fraktionen einerseits sowie den Oppositionsfraktionen andererseits Gelegenheit zur Darstellung ihrer Grundsatzpositionen zu geben28. Hierdurch unterscheidet sich die Große Anfrage von den anderen Fragetypen, nicht hingegen durch eine — praktisch auch kaum mögliche — Differenzierung nach dem Fragegegenstand, -inhalt oder -umfang 29 . c) Kleine

Anfragen

2 0 In Kleinen Anfragen (§ 104 G O B T ) können eine Fraktion oder fünf vom Hundert Verfahren ¿er Mitglieder des Bundestages (§§ 75 Abs. 3, 76 G O B T ) von der Bundesregierung Auskunft über bestimmt bezeichnete Bereiche verlangen. Sie können kurz begründet werden, dürfen jedoch keine unsachlichen Feststellungen oder Wertungen enthalten. Der Bundestagspräsident, bei dem sie schriftlich einzureichen sind, leitet sie der Bundesregierung (konkret: dem Bundeskanzleramt) mit der Aufforderung zu, sie innerhalb von vierzehn Tagen — im Benehmen mit den Fragestellern auch später — schriftlich zu beantworten. Die Antwort der Regierung, die regelmäßig durch den zuständigen Ressortminister erfolgt, wird — wie zuvor die Kleine Anfrage selbst — als Bundestagsdrucksache veröffentlicht (§§ 75 Abs. 3, 77 GOBT). 21 Auch Kleine Anfragen werden überwiegend von den Oppositionsfraktionen Praxis eingebracht; ihre Zahl, die bis zur neunten Wahlperiode zwischen etwa 300 und 600 schwankte, ist in den letzten Jahren erheblich (10. Wahlperiode: 1006; 1987 allein: 280) gestiegen30. Im Unterschied zu Großen Anfragen erfolgt zu Kleinen Anfragen keine parlamentarische Aussprache. Ziel der Kleinen Anfragen ist nicht in erster Linie die politische Auseinandersetzung mit der Regierung, sondern vor allem die Information über bestimmte Sachgebiete durch die Regierung, deren Antworten im allgemeinen als sorgfältig und erschöpfend empfunden werden31. Bei Unzufriedenheit mit der Antwort können die Fragesteller ihr Anliegen zum Gegenstand einer Großen Anfrage mit anschließender Aussprache im Parlament machen 32 . d) Einzelfragen und Fragestunde 22 Zur mündlichen Beantwortung in der Fragestunde des Bundestages oder zur Verfahren schriftlichen Beantwortung kann jedes Mitglied des Bundestages nach näherer Bestimmung der „Richtlinien für die Fragestunde und für die schriftlichen Einzelfragen" (Anlage 4 G O B T ) kurze Einzelfragen an die Bundesregierung richten (§ 105 G O B T ) . Zur mündlichen Beantwortung kann jeder Abgeordnete über den Bundestagspräsidenten für die Fragestunden einer Sitzungswoche bis zu zwei Fragen stellen, die in jeweils zwei Unterfragen unterteilt sein können, kurz gefaßt 2» WITTE-WEGMANN ( F n . 2 0 ) S. 1 2 8 - 1 4 5 . 29

Vgl. dazu

RITZEL/BÜCKER

(Fn. 16) § 1 0 0

A n m . 1 b ; TROSSMANN/ROLL ( F n . 16) § 1 0 0

Rdn.3;

ACHTERBERG ( F n . 5) S. 4 6 9 . 30

31

32

Z u r Statistik SCHINDLER (Fn. 18) S. 197; DERS. ( F n . 2 5 ) S. 762; Ergänzungsband, S. 709, 743; ferner: W o c h e im Bundestag 2 0 / 1 9 8 7 , S . 5 5 . Vgl. näher WITTE-WEGMANN ( F n . 2 0 ) S. 1 4 9 - 1 6 1 ; SCHÄFER ( F n . 2 6 ) S . 2 3 5 ; BUSCH ( F n . 2 6 ) S . 123 f. RITZEL/BÜCKER ( F n . 1 6 ) § 1 0 4 A n m . II d ; TROSSMANN/ROLL ( F n . 1 6 ) § 1 0 4 R d n . 6 .

§ 52

R e c h t e des Bundestages und seiner Mitglieder (MAGIERA)

1427

und kurz zu beantworten sein müssen sowie keine unsachlichen Feststellungen oder Wertungen enthalten dürfen. Wird die Frage mündlich beantwortet, so dürfen der Fragesteller bis zu zwei und andere Abgeordnete mit Billigung des Bundestagspräsidenten weitere Zusatzfragen stellen. Zur schriftlichen Beantwortung kann jeder Abgeordnete ebenfalls über den Bundestagspräsidenten in jedem Monat bis zu vier Fragen stellen. Die Antwort erfolgt binnen einer Woche nach Eingang beim Bundeskanzleramt und wird in der folgenden Woche mit der Frage in einer Bundestagsdrucksache veröffentlicht. Ist sie nicht innerhalb der Frist beim Bundestagspräsidenten eingegangen, so kann der Fragesteller verlangen, daß seine Frage in der nächsten Fragestunde zur mündlichen Beantwortung aufgerufen wird. Von der Möglichkeit, Einzelfragen zu stellen, machen die Abgeordneten, und 2 3 zwar überwiegend diejenigen der Oppositionsfraktionen, regen Gebrauch 33 . Im Praxis Laufe der Entwicklung hat sich der Bundestag um eine Belebung dieses Frageinstruments bemüht 34 . Fragen von offenbar lediglich lokaler Bedeutung werden der Bundesregierung vom Bundestagspräsidenten stets zur schriftlichen Beantwortung übermittelt (Ziff. 2 der Richtlinien für die Fragestunde). Während die Fragen zur mündlichen Beantwortung in der Regel spätestens bis Freitag, 11 Uhr, vor der Sitzungswoche eingereicht werden müssen (Ziff. 8 der Richtlinien), können Fragen von offensichtlich dringendem öffentlichen Interesse (dringliche Fragen) vom Bundestagspräsidenten auch dann noch für die nächste Fragestunde zugelassen werden, wenn sie spätestens am Vortag bis 12 Uhr eingereicht werden (Ziff. 9 der Richtlinien). Infolge der Möglichkeit des Fragestellers, aber auch anderer Abgeordneter, in der Fragestunde Zusatzfragen an die Regierung zu richten, die regelmäßig durch den parlamentarischen oder den beamteten Staatssekretär des zuständigen Ministeriums, ausnahmsweise auch durch den Ressortminister selbst beantwortet werden, kann sich ein ergiebiges Wechselspiel von Fragen und Antworten zwischen Parlament und Regierung entwickeln, das sich von einer allgemeinen Parlamentsdebatte lediglich dadurch unterscheidet, daß die Abgeordneten auf Fragestellungen beschränkt sind35. e) Aktuelle Stunde Eine „Aussprache über ein bestimmt bezeichnetes Thema von allgemeinem aktuel- 2 4 len Interesse in Kurzbeiträgen von fünf Minuten (Aktuelle Stunde)" findet statt V e r f a h r e n aufgrund einer Vereinbarung im Altestenrat oder auf Verlangen einer Fraktion oder von fünf vom Hundert der Mitglieder bzw. der anwesenden Mitglieder des Bundestages (§ 106 G O B T mit Ziff. 1 der in der Anlage 5 G O B T zusammengefaßten „Richtlinien für die Aussprache zu Themen von allgemeinem aktuellen Interesse"). Die Aussprache auf Verlangen muß entweder unmittelbar nach Schluß

33

Vgl.

z u r Statistik SCHINDLER ( F n . 18) S. 197;

DERS. ( F n . 2 5 ) S . 7 5 2 ;

Ergänzungsband,

S. 7 0 9 ;

ferner: W o c h e im B u n d e s t a g 2 0 / 1 9 8 7 , S. 55. 34

Vgl. dazu WITTE-WEGMANN ( F n . 2 0 ) S. 1 6 1 - 2 0 0 ; H . - U . GECK D i e F r a g e s t u n d e im D e u t s c h e n

35

V g l . z u r P r a x i s W I T T E - W E G M A N N ( F n . 2 0 ) S. 1 6 1 - 1 8 4 ; SCHÄFER ( F n . 2 6 ) S . 2 3 6 f ; G E C K ( F n . 3 4 )

B u n d e s t a g , 1 9 8 6 , S. 1 9 - 5 5 .

S. 3 1 - 5 7 , 1 2 7 - 1 3 1 .

1428

7. Teil: D a s parlamentarische Regierungssystem

einer Fragestunde verlangt und durchgeführt werden oder unabhängig davon bis spätestens 12 U h r des Vortages verlangt werden (Ziff. 2 der Richtlinien) 3 6 . 25 Mit der Aktuellen Stunde, die erstmals 1965 eingeführt w u r d e und insbesondere Praxis s e ¡ t d e r 10. Wahlperiode zahlenmäßig erheblich z u g e n o m m e n hat, soll vor allem der Nachteil der Fragestunde ausgeglichen werden, bei der die Abgeordneten auf Fragen an die Regierung beschränkt sind 3 7 . Von der Möglichkeit, eine Aussprache in einer Aktuellen Stunde zu verlangen, wird deshalb regelmäßig im Anschluß an eine Fragestunde und ganz überwiegend von den O p p o s i t i o n s f r a k t i o n e n G e b r a u c h gemacht 3 8 . D a Sachanträge unzulässig sind und die A u s s p r a c h e somit ohne verbindliches Ergebnis bleibt, bietet die Aktuelle Stunde Gelegenheit zu einem offenen Meinungsaustausch und wird daher als wirkungsvolles und nützliches Parlamentsinstrument betrachtet 3 9 .

3. Berichte der Regierung 26 U n a b h ä n g i g von einer ausdrücklichen B e s t i m m u n g im G r u n d g e s e t z erstattet die

Verfahr

Praxis

Bundesregierung dem Bundestag und seinen Ausschüssen eine große, im L a u f e der Entwicklung ständig gewachsene Anzahl von Berichten 4 0 . Sie lassen sich vielfältig, etwa nach U r s p r u n g (Gesetz, Parlamentsbeschluß, Eigeninitiative), Inhalt (Gesamt-, Bereichs-, Maßnahmeberichte), Ziel (Unterrichtung über A u s w i r k u n gen von Gesetzen oder Parlamentsbeschlüssen, über Tätigkeit und Absichten der Regierung u. a.), F o r m (schriftlich, mündlich) oder Zeit (einmalig, periodisch, bedarfsentsprechend), einteilen 41 .

27

Bis zu ihrer N e u f a s s u n g im Jahre 1980 enthielt die G e s c h ä f t s o r d n u n g des Bundestages einen Abschnitt „ A u s k u n f t der Bundesregierung über die A u s f ü h r u n g von Bundestagsbeschlüssen", dessen Bestimmungen jedoch angesichts der N e u r e gelung der parlamentarischen Fragerechte gegenüber der Regierung als entbehrlich erachtet wurden 4 2 . D i e neue G e s c h ä f t s o r d n u n g enthält lediglich einige verfahrensrechtliche Regelungen zur Behandlung von Berichten zur Unterrichtung des Bundestages (§§ 75 A b s . 1 lit. e, 77, 93).

egelung

28 KabinettInformationen

In der Praxis nicht beibehalten wurden die in den Jahren 1973/74 eingeführten Kabinett-Informationen, in denen die Regierung das Parlament in Plenarwochen jeweils am Mittwoch über die vorangegangenen Kabinettsitzungen unterrichtete 4 3 . Weitere Einzelheiten der Richtlinien betreffen die R a n g f o l g e zeitlich kollidierender A u s s p r a cheverlangen sowie die R e d e o r d n u n g ; vgl. dazu die K o m m e n t i e r u n g e n bei RITZEL/BÜCKER (Fn. 16) zu § 106 und Anlage 5 G O B T , und TROSSMANN/ROLL (Fn. 16) zu § 106 G O B T . 37 Z u r Statistik vgl. SCHINDLER (Fn. 18) S. 197; ferner: W o c h e im Bundestag 20/1987, S . 5 5 . 3» Vgl. SCHINDLER ( F n . 2 5 ) S. 754; E r g ä n z u n g s b a n d , S. 743; W o c h e im Bundestag 20/1987, S . 5 5 . 36

3

" SCHÄFER ( F n . 2 6 ) S . 2 3 7 ; BUSCH ( F n . 2 6 ) S. 1 2 8 - 1 3 0 .

40 41

Z u r Statistik vgl. SCHINDLER ( F n . 2 5 ) S . 4 4 8 - 5 2 1 ; E r g ä n z u n g s b a n d , S . 4 4 3 - 4 8 7 . D a z u im einzelnen H . - U . DERLIEN D a s Berichtswesen der Bundesregierung, in: ZParl. 1975, 4 2 ^ 1 7 ; J . LINCK B e r i c h t e d e r R e g i e r u n g an d a s P a r l a m e n t , in: D Ö V 1 9 7 9 , 1 1 6 - 1 2 4 ; W . MÖSSLE

42

43

Regierungsfunktionen des Parlaments, 1986, S. 182-185. Vgl. Abschnitt X (§§ 115,116 G O B T a. F.) und dazu TROSSMANN (Fn. 4) A n m . zu §§ 115,116; ferner RITZEL/BÜCKER (Fn. 1 6 ) V o r b e m . zu §§ 100-106, S. 11. Vgl. nunmehr — zur Wiedereinführung — den A n t r a g von A b g e o r d n e t e n zur Ä n d e r u n g der G O B T , B T - D r u c k s . 11/2206 v. 2 7 . 4 . 1 9 8 8 , S. 4. Vgl. d a z u SCHINDLER (Fn. 25) S. 759 f ; RITZEL/BÜCKER (wie Fn. 42); zur möglichen Wiedereinführung vgl. Bericht der A d - h o c - K o m m i s s i o n Parlamentsreform des D t . Bundestages, B T - D r u c k s . 10/3600 v. 1. 7. 85, S. 9 f; ferner B T - D r u c k s . 11/246 v. 7. 5. 1987; 11/2206 v. 27. 4. 1988, S. 3.

§ 52

Rechte des Bundestages und seiner Mitglieder (MAGIERA)

1429

Seit langem umstritten ist die Frage, ob und inwieweit die Regierung dem Parlament zur Berichterstattung verpflichtet ist44. 4. Z u g a n g zu Akten, Datenbanken, Entscheidungsgrundlagen und Einrichtungen der Regierung Die bisher erörterten Instrumente — Herbeirufung von Regierungsmitgliedern, Fragen an die Regierung und Berichte der Regierung — beschränken sich auf Möglichkeiten der Fremdinformation durch die Regierung. Darüber hinaus besitzt bzw. erstrebt das Parlament Möglichkeiten zur Selbstinformation bei der Regierung, insbesondere durch Zugang zu Akten, Datenbanken, Entscheidungsgrundlagen und Einrichtungen der Regierung 45 . Eine ausdrückliche Bestimmung hierüber enthält das Grundgesetz nicht. Lediglich zugunsten von Untersuchungsausschüssen besteht nach Art. 44 Abs. 3 G G eine Pflicht der Verwaltungsbehörden zur Amtshilfe und damit u. a. zur Aktenvorlage. Eine entsprechende Amtshilfepflicht obliegt den Verwaltungsbehörden zugunsten des Wahlprüfungsausschusses nach § 5 Abs. 3 WPG. Umfassender bestimmt demgegenüber § 1 des Gesetzes nach Art. 45 c G G , daß „(z)ur Vorbereitung von Beschlüssen über Beschwerden nach Art. 17 G G . . . die Bundesregierung und die Behörden des Bundes dem Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages Akten vorzulegen, Auskunft zu erteilen und Zutritt zu ihren Einrichtungen zu gestatten (haben) 46 ."

29

Fremd- und Selbstinformation

30

Rechtsgrundlagen

Die rechtlich und politisch bedeutsame Frage geht dahin, ob es sich bei diesen 31 Möglichkeiten der Selbstinformation um Ausprägungen eines allgemeinen Verfas- Verallgemeinerungssungsprinzips oder lediglich um eng begrenzte Sonderregelungen handelt. Die Ad- fähigkeit hoc-Kommission Parlamentsreform des Bundestages hat in ihrem am 1. Juli 1985 veröffentlichten Bericht das zugrunde liegende Problem deutlich gemacht, wenn sie die Empfehlung ausspricht, daß die Bundesregierung gebeten werde, „bei Gesetzesanträgen dem . . . Informationsanspruch des Bundestages dadurch stärker Rechnung zu tragen, daß sie die fachlichen Grundlagen der Entscheidung für ihren Entwurf — Gutachten, Untersuchungen, Informationen aus Anhörungen im Vorbereitungsstadium u. a. — darstellt und gegebenenfalls offenlegt oder zugänglich macht 47 ." Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum FlickUntersuchungsausschuß, in der u. a. festgestellt wird, das Recht auf Vorlage von Akten der dem Bundestag verantwortlichen Regierung sei nicht lediglich Teil des

44 45

46 47

Dazu unten, Rdn. 40-41. Vgl. dazu den Überblick bei SCHRÖDER (Fn.5) Art. 43 Rdn. 17-19; ferner R. GROSS Zur Aktenvorlagepflicht gegenüber Parlamenten sowie ihren Ausschüssen und Mitgliedern, in: J R 1966, 60-61; H . BOGS Beratungsbereich der Regierung — Grenze einer Selbstunterrichtung der Opposition anhand von Akten?, in: Der Staat 1974, 209-238; B. DOBIEY Zur Frage eines unmittelbaren Zugangs des Parlaments zu Datenbanken der Regierung, in: ZParl. 1974, 316-325; H.-P. SCHNEIDER Opposition und Information — Der Aktenvorlageanspruch als parlamentarisches Minderheitsrecht, in: A ö R 1974, 628-646; vgl. auch die Nachw. unten, Rdn. 59 (Fn. 87). Vgl. ferner §§ 3 und 4 des zu Art. 45 b G G ergangenen Gesetzes über den Wehrbeauftragten. Vgl. oben (Fn.43) S. 13. Vgl. ferner den Antrag von Abgeordneten auf Ergänzung des § 7 5 G O B T , BT-Drucks. 11/2206 v. 27.4.1988.

1430

7. Teil: Das parlamentarische Regierungssystem

Rechts auf Amtshilfe, sondern „Bestandteil des parlamentarischen Kontrollrechts" 4 8 , ist zu prüfen, inwieweit der Bundestag ein verfassungsrechtlich begründetes Recht auf Selbstinformation bei der Regierung besitzt 49 . 5. Ersuchen und Weisungen an die Regierung 3 2 Während der Bundestag mit den bisher erörterten Instrumenten vor allem darauf Bedeutung abzielt, den persönlichen Kontakt mit den Regierungsmitgliedern herzustellen und von ihnen die erforderlichen Informationen zu erlangen, richtet er auch darüber hinausgehende Wünsche und Erwartungen an die Bundesregierung, um diese zu einem bestimmten Verhalten zu veranlassen. Eine ausdrückliche Regelung dazu findet sich im Grundgesetz nicht. 33 Praxis

34 Verfahren

Inhaltlich umfassen derartige „Ersuchen", „Aufforderungen" und „Aufträge" praktisch die gesamte innen- und außenpolitische Tätigkeit, zu der das Parlament die Regierung für fähig und verpflichtet hält 50 . Eine genauere systematische Zusammenstellung liegt bisher, soweit ersichtlich, nur für Ersuchen des Bundestages an die Regierung um Vorlage von Gesetzentwürfen vor 51 . Zahlenmäßig haben diese Ersuchen von 59 in der ersten auf 3 in der neunten Wahlperiode erheblich abgenommen. Die letzteren betrafen das Zustimmungsgesetz zum B-Waffenvertrag, die Weiterentwicklung des Behindertenrechts und eine Sozialgerechtere Verteilung der Bundesmittel in der Altershilfe für Landwirte; in der zehnten Wahlperiode wurden hingegen wiederum mehr, nämlich dreizehn, Ersuchen an die Regierung gerichtet 52 . Verfahrensmäßig äußert der Bundestag sein Verlangen durch (Mehrheits-) Beschluß aufgrund von — selbständigen oder (akzessorisch zu anderen Vorlagen, ζ. B. Gesetzentwürfen, Regierungserklärungen, Großen Anfragen) unselbständigen - (Entschließungs-)Anträgen (§§ 75 Abs. 1 lit. d, Abs. 2 lit. c, 77, 88 G O B T ) 5 3 . Während gegen die Zulässigkeit derartiger „schlichter" Parlamentsbeschlüsse im allgemeinen keine Bedenken bestehen, ist eine (rechtliche) Verpflichtung der Regierung, ihnen nachzukommen, ebenso grundsätzlich abzulehnen 54 .

48 4V 50

51

B V e r f G E 67, 100 (128 f). Dazu unten, Rdn. 59. Vgl. den U b e r b l i c k bei S. MAGIERA Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des G G , 1979, S. 2 1 0 - 2 1 7 ; ferner J.CRIEGEE Ersuchen des Parlaments an die Regierung, Diss. Tübingen, 1965, S. 3 2 - 4 3 ; M. OBERMEIER Die schlichten Parlamentsbeschlüsse nach dem B o n n e r G G , Diss. München, 1965, S. 1 7 - 2 6 ; K . - A . SELLMANN D e r schlichte Parlamentsbeschluß, 1966, S. 1 8 - 2 1 ; J.LINCK Zulässigkeit und Grenzen der Einflußnahme des Bundestages auf die Regierungsentscheidungen, Diss. Köln, 1971, S. 2 5 - 2 9 . Vgl. SCHINDLER ( F n . 2 5 ) Ergänzungsband, S. 4 8 8 - 5 2 9 ; DERS. (Fn. 18) S. 196.

"

SCHINDLER Datenhandbuch ( F n . 2 5 ) , Ergänzungsband 1 9 8 0 - 1 9 8 7 , 1988, S . 4 2 3 . Vgl. dazu näher die Kommentierungen zu diesen Bestimmungen bei RITZEL/BÜCKER (Fn. 16)

,4

Ausnahmen können sich aus dem Grundgesetz und gesetzlichen Bestimmungen ergeben; vgl.

und TROSSMANN/ROLL ( F n . 16). n ä h e r M A G I E R A ( F n . 5 0 ) S . 2 1 2 - 2 1 7 ; STERN ( F n . 3 ) S . 4 8 f ; H . H . K L E I N A u f g a b e n d e s B u n d e s t a -

ges, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1987, S. 3 4 1 - 3 6 6 ( 3 4 8 f).

§52

Rechte des Bundestages und seiner Mitglieder (MAGIERA)

1431

II. Verfassungsrechtliche Grundlagen und Grenzen 1. Rechte und Kompetenzen Wenn in dieser Untersuchung von „Rechten" des Bundestages und seiner Mitglie- 3 5 der bzw. von „Pflichten" der Bundesregierung gesprochen wird, so entspricht dies Sprachgebrauch und einem allgemeinen und ohne Pedanterie kaum vermeidbaren Sprachgebrauch 55 . Sachgehalt Der Sache nach geht es jedoch um Kompetenzen (bzw. Zuständigkeiten, Befugnisse) von Verfassungsorganen zur Wahrnehmung staatlicher Aufgaben 5 6 . Da alle staatliche Kompetenzausübung unter dem Grundgesetz der verfassungsrechtlichen Begründung bedarf und der verfassungsrechtlichen Begrenzung unterliegt 57 , kommt es deshalb darauf an, ob und inwieweit sich die hier erörterten „Rechte" des Bundestages bzw. „Pflichten" der Bundesregierung als Kompetenzen dieser Verfassungsorgane im Grundgesetz unmittelbar nachweisen oder zumindest mittelbar auf dieses zurückführen lassen. 2. Rechtsquellen a)

Geschäftsordnungen

Einzelne Rechte des Bundestages und seiner Mitglieder gegenüber der Bundesre- 3 6 gierung, insbesondere das Fragerecht 58 , haben eine ausdrückliche Regelung ledig- Rechtscharakter lich in der Geschäftsordnung des Bundestages erfahren. Die Geschäftsordnungen der obersten Bundesorgane enthalten zwar — entgegen früherer Ansicht — nicht nur formale Spielregeln oder technische Reglements, sondern „echte" (objektive) Rechtssätze, die — auch (verfassungs-)gerichtlich (Art. 93 Abs. 1 N r . 1 G G ) überprüfbare — Rechte und Pflichten begründen können 59 . Nach Art. 40 Abs. 1 Satz 2 G G ist der Bundestag jedoch lediglich ermächtigt, 37 „sich" eine Geschäftsordnung zu geben, d. h. seine verfassungsrechtliche Innenrecht Geschäftsordnungsautonomie beschränkt sich auf die interne Organisation und das Verfahren des Parlaments und seiner Mitglieder („Innenrecht") 60 . Rechte und Pflichten anderer, seien es Privatpersonen oder Verfassungsorgane, können auf diese Weise nicht begründet oder beschränkt werden. Selbst für das Hausrecht und die Polizeigewalt im Gebäude des Bundestages, die mit der Parlamentsautonomie eng verbunden sind, findet sich in Art. 40 Abs. 2 G G eine ausdrückliche Ermächtigung zugunsten des Bundestagspräsidenten neben der dem Parlament in Art. 40 Abs. 1 G G allgemein gewährten Geschäftsordnungsbefugnis. Soweit deshalb in der Geschäftsordnung des Bundestages Rechte des Parlaments gegenüber der Regierung, etwa ein Fragerecht, oder umgekehrt Pflichten der Regierung gegenüber dem Parlament, insbesondere eine Antwortpflicht, geregelt sind, bedarf es zu ihrer Vgl. schon G.JELLINEK Allgemeine Staatslehre, 3 . A u f l . , 1914, S . 5 6 1 A n m . 1; ferner etwa Art. 44, 45 a, 53, 53 a, 68, 69, 93 G G , §§ 7, 1 5 G O B T , § 1 G O B R e g . ; auch B V e r f G E 2, 143 (152). '''STERN ( F n . 3 ) S . 4 6 f ; D . BODENHEIM Kollision parlamentarischer Kontrollrechte, 1979, S. 2 8 - 3 3 ; z u m unterschiedlichen Sprachgebrauch vgl. R . STETTNER G r u n d f r a g e n einer K o m p e tenzlehre, 1983, S. 43-48. 57 Vgl. näher MAGIERA (Fn. 50) S. 75-82. 58 D a z u oben, Rdn. 16-25. 59 Vgl. im einzelnen STERN ( F n . 3 ) S . 8 1 - 8 5 ; ACHTERBERG ( F n . 5 ) S . 4 6 - 6 2 ; jeweils m . w . N . * S. o. Fn. 86. S. o. Rdn. 5. 100

D a z u KISKER N J W

1977, 889; BRYDE ( F n . 4 ) S. 350 ff.

1648

8. Teil: D a s Parlament in seinen organschaftlichen Außenbeziehungen

weite Gestaltungsspielräume. Desungeachtet läßt sich in der Vergangenheit nicht feststellen, daß sich das Parlament gegenüber dem BVerfG als demokratisches Gestaltungsorgan der Mittel des BVerfGG bedient hätte. Vielmehr zeigt die Genese der bedeutsamsten Änderungen dieses Gesetzes, daß die Neuregelungen regelmäßig im Einvernehmen mit dem Gericht stattfanden, wenn sie nicht gar vom Gericht angeregt und inhaltlich vorgeprägt wurden. Jede Begründung der Gesetzesanträge bringt das zum Ausdruck 101 ; wenn einmal von Vorschlägen des BVerfG abgewichen wird, dann nicht aus Gründen der aktiven Gestaltung durch den Bundestag, sondern aufgrund des „Votums der Länder". Die Gründe für ein solches Verhalten sind nicht in gleicher Weise offengelegt wie die Tatsache der Gefolgschaft gegenüber dem Gericht. Sie lassen sich allerdings aus den Grundfunktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit herleiten. 39 Maßgeblich dafür ist zunächst die Kassationsfunktion. Auch bei der SozialgestalGründe tung nach dem Grundgesetz kommt dem Gesetzgeber das erste, dem BVerfG aber das parlamentarischer j e t z t e w o r t z u Dieses entscheidet letztverbindlich auch über Änderungen des BVerfGG und hebt verfassungswidriges Recht auf. So sind die Gerichtsentscheidungen verbindlich; umgekehrt sind Gesetzesänderungen für das Gericht nur nach Prüfung bindend, wenn eine Verwerfung nicht in Betracht kommt. Dies gilt zwar nur auf Antrag; daß allerdings in einer politischen Auseinandersetzung um das BVerfG sich ein Antragsteller finden würde, ist nahezu unzweifelhaft. Eng damit verknüpft ist aber auch die Legitimationsfunktion des Gerichts. Diese ist gerade im Hinblick auf die Rechtsstellung des BVerfG relativ diffus, als die Legislative kaum prognostizieren kann, welche diesbezüglichen Gesetze mit dem Grundgesetz vereinbar wären und welche nicht. Der Umfang grundgesetzlicher Bindungen der Gesetze nach Art. 94 Abs. 2 Satz 1 G G ist nämlich nicht unumstritten. So werden etwa das Mehrheitsquorum nach §6 Abs. 5 BVerfGG' 0 2 oder die erweiterten Bindungswirkungen des §31 BVerfGG 1 0 3 zumindest auch aus dem Grundgesetz begründet. Die Grenze des Zulässigen könnte also durchaus eher erreicht sein als es aus dem Grundgesetz selbst ersichtlich ist. Aus der Perspektive des Gesetzgebers könnte eine Reaktion auf Niederlagen vor Gericht sehr wohl mit weiteren Niederlagen enden; eine Aussicht, die zumindest politisch für die jeweilige Parlamentsmehrheit durchaus dazu angetan sein könnte, von derartigen Versuchen Abstand zu nehmen. Und was läge dann näher, als sich über Rechtsänderungen bereits im Vorfeld zu verständigen, um nicht im Nachhinein Niederlagen hinnehmen zu müssen? Als zentrales Argument tritt aber noch die Konsensfunktion des Gerichts hinzu. Jede Parlamentsmehrheit, welche die Rechtsstellung des BVerfG anzutasten ver101 B T - D r u c k s . 2/1662, S. 7: „Von geringfügigen Ausnahmen abgesehen, ist die Bundesregierung mit dem vorliegenden Entwurf den oben erwähnten Einzelvorschlägen des B V e r f G gefolgt." B T - D r u c k s . 3/934, S. 2: „ D i e Bundesregierung kann sich dem V o t u m des Gerichts nicht verschließen." B T - D r u c k s . 4/1224, S. 8: „ D i e Bundesregierung hält es für geboten, die sehr bedeutsame Frage (die Änderung des Wahlverfahrens) . . . mit dem B V e r f G zu erörtern." B T D r u c k s . 6/388 Anlage 1: Förmliche Mitteilung des Beschlusses des Plenums des B V e r f G zum Gesetzesentwurf. B T - D r u c k s . 10/2951, S. 7: Weitergehende Vorschläge des B V e r f G werden aufgrund des „ V o t u m s der L ä n d e r " abgelehnt. 102 lra

S. o. Fn. 67. Etwa W.GEIGER N J W 1954, 1058.

§ 60

D e r Bundestag im Verhältnis zum Bundesverfassungsgericht (GUSY)

1649

sucht, würde ein Instrument schwächen, dessen sie sich schon nach der nächsten Wahl selbst bedienen könnte. Es ist letztlich die Austauschbarkeit der Rollen, welche den Konsens um das BVerfG erhält: Vor ihm kann jede Seite unterliegen, aber auch obsiegen. Wo die Aussicht auf spätere eigene Erfolge relativ groß genug ist, um inzwischen eigene Niederlagen in Kauf nehmen zu können, ist die Stellung des Gerichts unangetastet. Änderungen des BVerfGG würden nämlich ein Instrument schwächen, dessen der heutige Verlierer später selbst bedarf. Das gilt um so mehr, als unabsehbar wäre, ob eine spätere Mehrheit nicht die Stellung des Gerichts noch weiter schwächen könnte, so daß seine Rolle für die dann vorhandene Minderheit noch unbedeutender würde. Damit ist allerdings zugleich die politische Basis dieser Deutung umschrieben: Das Konsensargument ist nur so lange verwendbar, wie die Aussicht jeder Seite auf Erfolge vor Gericht besteht. Je einseitiger dessen Entscheidungen wären, um so wahrscheinlicher würde die Möglichkeit von Gegenmaßnahmen der permanent Unterlegenen. Hier stehen Konsensfunktion und Neutralität des Gerichts in einem unauflöslichen Kontext. Das Parlament erscheint so mit dem Instrument des BVerfGG kaum als 4 0 eigenständiger Gestaltungsfaktor gegenüber dem Gericht. In diesem asymmetri- Institutionelle Stärke sehen Kräftefeld ist das BVerfG als die eindeutig stärkere Macht definiert, solange d e s G e r i c h t s es diese Machtbasis durch Neutralität selbst erhält. 2. Verfassungsrechtsprechung in der Gesetzgebung Ist das Grundgesetz die Rahmenordnung des politischen Prozesses 104 , so nimmt 41 das BVerfG der Idee nach in diesem Prozeß nur eine periphere Rolle ein. In der BVerfGG Praxis hängt diese Rolle davon ab, wie das Gericht und die übrigen Staatsorgane dessen Prüfungsmaßstab und die Wirkungen seiner Entscheidungen qualifizieren. Das Gericht selbst umschreibt seine Prüfungskompetenz weit: Unter mehreren möglichen Auslegungsalternativen hat es diejenige zu wählen, welche die Geltungskraft des Grundgesetzes optimal verwirklicht 105 . Möglichst weitreichende Entfaltung der grundgesetzlichen Richtlinien und Impulse ist jedenfalls nach überkommener Rechtsprechung das maßgebliche Anliegen. Aber auch die Wirkungen seiner Entscheidungen versteht das Gericht weit. Urteile und Beschlüsse werden nicht nur rechtskräftig, sondern ergehen darüber hinaus gem. §31 Abs. 1 BVerfGG mit besonderer Bindungswirkung und gem. Abs. 2 in einigen Fällen sogar mit „Gesetzeskraft". Bindungswirkung erlangt nach ständiger Rechtsprechung nicht nur der Entscheidungstenor; vielmehr sollen daran auch die „tragenden Entscheidungsgründe" teilhaben 106 . Die Bestimmung, welche Gründe tragend sind und welche nicht, nimmt das Gericht bisweilen selbst in extensivem Sinne vor 107 . Die Bindungswirkung gilt auch gegenüber Dritten, die am Verfassungsrechtsstreit überhaupt nicht beteiligt waren108. Aber auch darüber hinaus weitet das

104 105

106 107 108

S.o. Rdn.5. B V e r f G E 6, 72; S. 15. B V e r f G E 1, 14, B V e r f G E 36, 1, B V e r f G E 7, 99,

32, 71; grundlegend dazu K.HESSE Die normative Kraft der Verfassung, 1959, 36 f; 19, 377, 392; 20, 56, 87; 24, 289, 297; 40, 88, 93. 36. 108 f; 8, 122, 141.

1650

8 . T e i l : D a s P a r l a m e n t in seinen organschaftlichen A u ß e n b e z i e h u n g e n

BVerfG die Bindungswirkung seiner Entscheidungen aus, wenn es im Einzelfall nicht nur über den gestellten Antrag entscheidet, sondern darüber hinaus weitere Rechtsfragen beurteilt109 oder neben den „tragenden Gründen" auch sonstige, nicht entscheidungserhebliche Ausführungen aufnimmt, die als obiter dicta zumindest Bedeutung erlangen" 0 . 42 Das so überaus flexible Instrumentarium des Gerichts vermag im politischen „ J u r i d i f i z i e r u n g d e s p r ozeß praktische Bedeutung weit über eine Randfunktion hinaus zu erlangen 1 ". o h t i s c h e n Prozesses j ) a r a u s resultiert die häufig beklagte „Juridifizierung des politischen Prozesses". Das Stichwort bezeichnet die Differenz zwischen den vom geltenden Recht indentierten politischen Aufgaben des BVerfG einerseits und den überschießenden tatsächlichen Entscheidungswirkungen andererseits. a) Konsensfunktion

und

Gesetzgebung

4 3 Die Konsensfunktion des BVerfG" 2 ist um so ausgeprägter, je eindeutiger seine Entscheidungen aus dem Grundgesetz hergeleitet sind. Verfassungskonsens und Qualität der Dogmatik des Verfassungsrechts hängen so unmittelbar zusammen. So umstritten viele Entscheidungen des Gerichts auch gewesen sein mögen: Gegenüber dem Gesetzgeber hat die Stabilisierung des Regelkonsenses stets gut funktioniert. Hat das Gericht ein Gesetz als verfassungswidrig kassiert, so hat das Parlament auch nach Ablauf längerer Zeiträume bei gewandelten Verhältnissen nicht versucht, das gleiche Gesetz noch einmal zu erlassen. Das gilt auch dann, wenn die ältere Entscheidung sehr umstritten oder die Gründe für ihr Ergehen unter neuen Aspekten diskussionswürdig waren" 3 . Bislang ist offenbar ein Abweichen von einer Gerichtsentscheidung als Abweichung vom Grundgesetz begriffen worden, was nur sinnvoll sein kann, wenn der ursprüngliche Beschluß oder das Urteil als unmittelbare Ausprägung des verfassungsrechtlich Gebotenen begriffen wird. Und den Verfassungskonsens wollte wegen eines Gesetzesvorhabens noch keine Seite aufkündigen.

„Negativer Konsens"

44 i t

G e s e t z g e b u n g als r

il

er assungsvo zug

Die Konsensfunktion jener Entscheidungen geht aber noch weiter. Insbesond e r e ¡ n umstrittenen Fällen ist Gesetzgebung bisweilen nicht mehr allein als σ ο jsjichtabweichung von verfassungsgerichtlichen Entscheidungen erklärbar, sondern kommt geradezu einem Nachvollzug solcher Judikate einschließlich der Gründe gleich114. Prototyp solchen Verhaltens ist etwa das Recht der Parteienfinanzierung, welches hinsichtlich des Finanzierungstatbestandes115, hinsichtlich der Finanzierungsberechtigten116 sowie der Art und Weise der Finanzierung117 die 109

E t w a B V e r f G E 39, 3 3 4 , 3 5 2 ; 40, 2 9 6 , 3 1 0 ff.

110

Ausgeprägt in B V e r f G E 20, 56, 113 ff; 4 8 , 127, 166 ff; 59, 117, 127 ff.

1,1

K r i t i s c h etwa W . HOFFMANN-RIEM D S t . 1971, 3 3 5 ; J.JEKEWITZ D S t . 1980, 5 3 5 ; GUSY E U G R Z

112

D a z u o. R d n . 5 .

113

S. j e t z t aber B V e r f G E 77, 8 4 ; anders früher B V e r f G E 2 1 , 2 6 1 ; p r o b l e m a t i s c h ist auch B V e r f G E

1 9 8 2 , 93 f.

36, 1, die weniger durch bundesdeutsche als vielmehr d u r c h völkerrechtliche E n t w i c k l u n g e n ausgehöhlt scheint. " 4 Beispiele bei C . LANDFRIED B V e r f G und G e s e t z g e b e r , 1 9 8 4 , S. 85 ff. 115

B V e r f G E 6, 2 4 4 ; 8, 5 1 ; 2 0 , 56; dazu LAUFER ( F n . 4 8 ) , S. 5 0 4 ff.

116

B V e r f G E 2 4 , 3 0 0 ; 41, 3 9 9 ; 73, 1.

117

B V e r f G E 6, 2 7 4 ; 8, 5 1 ; 2 4 , 3 0 0 ; 52, 6 3 ; 73, 4 0 .

§60

D e r Bundestag im Verhältnis zum Bundesverfassungsgericht (GUSY)

1651

Entwicklung der verfassungsgerichtlichen Judikatur exakt nachzeichnete. Ähnliches vollzog sich auch bei der Diätenregelung für Abgeordnete 118 oder am Recht der Hochschulorganisation 119 . Angesichts dieser — hier nur an Beispielen genannten — Entwicklung wird es verständlich, wenn das Gericht in Entscheidungen über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes ein inhaltlich anderes vorschlägt 120 , das auch weitgehend verabschiedet wird oder aber gar das für verfassungsgemäß gehaltene Gesetz im Wege der Vollstreckung seiner Entscheidungen gleich selbst erläßt121. Dies sind zwar nur Einzelbeispiele, und zwar besonders signifikante; sie zeigen aber angesichts der geringen Zahl von kassierten Gesetzen 122 doch eine bestimmte Tendenz an. Die Grundlage dieser Entwicklung war letztlich der Umstand, daß den verfassungsgerichtlichen Entscheidungen eine besondere Dignität beigemessen wurde. Bei der Verwerfung einer Rechtsnorm wurde vom Gericht geprüft, welche Rechtsfolgen aus dem Grundgesetz für den jeweiligen Sachbereich herzuleiten sind. Im Falle einer Differenz zwischen diesen Rechtsfolgen einerseits und dem zu prüfenden Gesetz andererseits erschien letzteres notwendig als verfassungswidrig. Letzteres läßt sich aus dem Entscheidungstenor entnehmen. Aus den Gründen aber läßt sich mehr herauslesen, nämlich die vom Grundgesetz nach Ansicht des BVerfG intendierte Lösung des jeweiligen Rechtsproblems. Was in den Gründen für grundgesetzlich zulässig gehalten wurde, erscheint dann dem Parlament als grundgesetzliche Antwort auf die Rechtsfrage, welche es mit dem gescheiterten Gesetz gerade gesucht hat. Ist also die Antwort auf die Rechtsfrage unmittelbar im Grundgesetz zu suchen, so erscheint nichts naheliegender, als daß die verfassungsgebundenen Instanzen die verfassungsgerichtlichen Entscheidungsgründe wie Verfassungsrecht akzeptieren und — sofern noch erforderlich — diese in Gesetzesform umgießen. Auf eben diese Weise nehmen die Gründe am Verfassungskonsens teil, der vom BVerfG bewahrt und durch Anwendung des Verfassungsrechts auf neue Fälle neu hergestellt wird. Dadurch erlangen auf der Grundlage verfassungsgerichtlicher Entscheidungen erlassene Gesetze eine neue Qualität: Sie sind nicht mehr — allein — Produkt politischen Wollens, Abwägens und Entscheidens, sondern vielmehr Resultante des grundgesetzlich Gebotenen. Solche Gesetze erlangen dadurch den Charakter der rechtlichen Alternativenlosigkeit und sind insoweit dem Parteienstreit entrückt. Dem entspricht dann auch eine faktisch erschwerte Aufhebbarkeit: Was das Grundgesetz befahl, kann die Legislative nicht einfach beiseite schieben. Eben daraus resultiert die Diskussion um die zeitlichen Grenzen der Bindungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen'2-. Der Nachvollzug verfassungsgerichtlicher Entscheidungen durch die Legisla- 4 5 tive zeigt: Die Konsensfunktion der Verfassungsrechtsprechung funktioniert. Dies K o n s e q u e n z e n für die Verfassungsdogmatik

"" BVerfGE i " BVerfGE 120 B V e r f G E 121 B V e r f G E 122 V o n 1951 gehalten; S .63 ff. 123 B V e r f G E

40, 296. 35, 79; 47, 327. 48, 127, 169 ff; dazu B V e r f G E 69, 1. 39, 1, 2 f. bis 1979 wurden zehn Bundesgesetze ganz und 150 teilweise für verfassungswidrig s. SCHLAICH (Fn. 8) S. 107; zur Statistik BENDA Grundrechtswidrige Gesetze, 1979, 20, 56, 88; 33, 199, 204; 69, 92, 103; 70, 244, 2 4 9 ; 77, 84, 103 ff; BRYDE ( F n . 4 ) S . 4 1 2 .

8. Teil: Das Parlament in seinen organschaftlichen Außenbeziehungen

1652

macht aber zugleich Grenzen und Gefährdungen deutlich: Erfährt der einzelne Entscheidungsgrund seine Rechtfertigung unmittelbar aus dem Verfassungskonsens, so ist dieser gefährdet, wenn jener nicht mehr unumstritten ist. Und eben diese Kluft schließt die Dogmatik des Verfassungsrechts: Je besser die Entscheidungsgründe, um so höher ist ihre Teilhabe am Verfassungskonsens und ihre Stabilisierungswirkung zugunsten eben dieses Konsenses. b) Gesetzgebung

und

Kassationsfunktion

4 6 Hat das Parlament eine verfassungswidrige Maßnahme beschlossen, so ist das BVerfG und BVerfG berechtigt, diese auf Antrag aufzuheben. Werden auf solche Weise VerMinderheitenschutz stöße gegen die Regeln des politischen Prozesses sanktioniert, so wirkt die Kassation vorwiegend als Instrument der Opposition oder betroffener Minderheiten, ihnen nachteilig erscheinende Maßnahmen zu verhindern. Dieser Effekt wird bisweilen so hoch geschätzt, daß das BVerfG primär als Instrument des Minderheitenschutzes qualifiziert wird124. Eine derartige Betrachtungsweise hat sich jedoch auch dem Umstand zu stellen, daß das Gericht keineswegs in der Mehrheitsdemokratie allein eine Instanz für die Minderheiten ist. Vielmehr hat die jeweilige Majorität — etwa durch die Richterwahl 125 — erheblichen Einfluß auf die Zusammensetzung und damit die Rechtsprechung des Gerichts. Minderheitenschutz ist eine, aber auch nur eine unter mehreren Aufgaben des Gerichts als Hüter der grundgesetzlichen Regeln des politischen Prozesses 126 . 47 Der „Gang nach

Die Kassationsfunktion des Gerichts begründet Wirkungen allerdings nicht erst ¡ t dem Erlaß angreifbarer Maßnahmen. Vielmehr sollen das Vorhandensein einer Karlsruhe" kassierenden Instanz und die Möglichkeit der Kassation nicht allein ex post die Beseitigung verfassungswidriger Maßnahmen sicherstellen. Sie erlangen zusätzlich auch Vorwirkungen: Die mögliche Kassation wird im politischen Prozeß antizipiert und instrumentalisiert. Der Aufwand für die Verabschiedung von Parlamentsbeschlüssen ist derart hoch, daß er nicht beliebig wiederholt werden kann. Wird der Beschluß wegen Verfassungswidrigkeit aufgehoben, so war der Aufwand sinnlos und damit vergebens. Schon um eine derartige, nachträgliche Entwertung des eigenen Handelns zu vermeiden, wird die Verfassungsmäßigkeit oder mögliche Verfassungswidrigkeit des eigenen Handelns von allen Staatsorganen ins Kalkül gezogen127. Das Verfassungsrecht wird so auch im Parlament zum Argument. Damit läßt sich die Prüfungskompetenz des BVerfG aber zugleich instrumentalisieren. Die Drohung mit dem „Gang nach Karlsruhe" ist so häufige parlamentarische Begleitmusik bei umstrittenen Gesetzgebungsprojekten. Diese Drohung wird m

124

H . RITTSTIEG in: W . D Ä U B L E R / G . KÜSEL B V e r f G u n d Politik, 1 9 7 9 , S. 135.

125

Dazu o. II. Deutlich wird dies etwa in den Normenkontrollverfahren, wo etwa der Antrag einer Landesregierung auf Prüfung von Bundesrecht oder von Bundesorganen auf Prüfung von Landesrecht oder die Richtervorlage keine spezifisch minderheitenschützende Funktion aufweisen. Die Lehre vom Minderheitenschutz geht von den — quantitativ allerdings tatsächlich bedeutsamsten — Verfassungsbeschwerden als prozessualem Ausgangspunkt aus. Das BVerfG stellt hier oft sehr hohe Anforderungen, die ihrerseits der Funktionsweise des Parlaments nicht immer gerecht werden; das „optimale Gesetzgebungsverfahren" ist aber keine Verfassungspflicht; näher C. GUSY ZRP 1985, 291.

126

127

§60

D e r Bundestag im Verhältnis zum Bundesverfassungsgericht (GUSY)

1653

zugleich zum politischen Faktor: Die „Niederlage in Karlsruhe" ist zwar keine solche im Rechtssinne, da das Normenkontrollverfahren Antragsgegner gar nicht kennt und daher die Legislative auch nicht „verurteilt" werden kann. Sie ist aber wohl eine politische Niederlage, die von der obsiegenden Seite in Argumente wie „Verfassungsbruch" oder „Erosion des Verfassungsbewußtseins" umgemünzt werden kann128. Eine solche Instrumentalisierung des Verfassungsrechts hat zugleich Folgen für die politische Alternativenauswahl des Gesetzgebers. Je eindringlicher die genannten Drohungen erfolgen, desto eher wird die Legislative vor derart „riskanten" Projekten zurückschrecken. Das gilt insbesondere, wenn die Rechtsfolgen des Grundgesetzes für den jeweiligen Sachbereich noch nicht eindeutig geklärt sind oder die Rechtsprechung des BVerfG noch nicht vollständig prognostizierbar erscheint. Die Antizipation der Kassationsfunktion führt so zu einer Verengung des politischen Handlungsspektrums über die Rechtsfolgen des Grundgesetzes hinaus. Der Bereich des Unzulässigen wird von demjenigen des „Verfassungswidrigen" auf denjenigen des „verfassungsrechtlich Bedenklichen" ausgedehnt. Beispiele hierfür finden sich in den Beratungen unterschiedlicher Bundesgesetze. Das gilt nicht erst dann, wenn ein politisch umstrittenes Steuergesetz schon deshalb mit Rückwirkung aufgehoben wird, weil dagegen eine Verfassungsbeschwerde erhoben worden war129. So verlief etwa die Diskussion um die Einführung des Mitbestimmungsgesetzes von 1976, die KriegsdienstverweigerungsNovelle von 1977 und ihre Folgegesetze sowie eine mögliche gesetzliche Regelung über die Rechtsverhältnisse von „Extremisten" im öffentlichen Dienst überwiegend oder doch in hohem Maße unter verfassungsrechtlichen — oder genauer: „verfassungsgerichtlichen" — Fragestellungen. Ließ sich hier die Berechtigung derartiger Verengungen des Argumentationsspektrums noch an nachträglich ergangenen Entscheidungen des BVerfG verifizieren, so kann sehr wohl auch der umgekehrte Umstand eintreten: Nachdem die Parlamentsmehrheit vor der „Drohung mit dem Gang nach Karlsruhe" zurückgewichen ist, verzichtet die Minderheit auf die Anrufung des Gerichts. Solche „ Vorwirkungen nie ergangener Entscheidungen des BVerfG" sind politikwissenschaftlich noch überhaupt nicht aufgearbeitet. Dementsprechend läßt sich der Realitätsgehalt derartiger „Vorwirkungen" auch nur schwer verifizieren: Hätte tatsächlich das Grundgesetz der jeweiligen Maßnahme entgegengestanden? Daß insoweit das Parlament zu ängstlich und zu wenig entscheidungsfreudig sei, wird von einzelnen Verfassungsrichtern als „Feigheit vor dem Freund" gerügt130. Vielleicht ist es aber auch lediglich die Verschiedenheit der Perspektive, welche die Prognoseunsicherheit über mögliche Gerichtsentscheidungen bei Außenstehenden — etwa dem Parlament — größer erscheinen läßt als bei beteiligten Richtern. 128 Wie wirksam derartige politische Argumente sind, zeigt sich insbesondere an dem U m s t a n d , daß sich regelmäßig alle Seiten als „Sieger" vor dem B V e r f G zu definieren versuchen, indem das Gericht „eigentlich" gerade ihre Rechtsauffassung bestätigt habe. Völlig unabhängig vom Entscheidungstenor gibt es dann „nur Sieger in Karlsruhe". 129

B e i s p i e l bei H . W A G N E R in: D Ä U B L E R / K Ü S E L ( F n . 1 2 4 ) S. 1 6 9 , 1 7 6 ; z u m f o l g e n d e n

(Fn. 114) S. 51 ff. 130

BENDA Z P a r l . 1 9 8 6 , 4 5 1 .

LANDFRIED

8. Teil: Das Parlament in seinen organschaftlichen Außenbeziehungen

1654

c) Gesetzgebung

und

Legitimationsfunktion

4 8 Die Antizipation der Rechtsprechung des BVerfG geht aber noch über die Auswirkungen von Kassationsfunktion hinaus. Sie betrifft nicht nur Rechtsfragen, welche vom Entscheidungen ß y e r f Q negativ entschieden worden sind. Die Vorwirkungen betreffen auch Rechtsfragen, welche vom Gericht positiv entschieden sind. Wer ein Gesetzesprojekt verwirklichen will, der beruft sich auf das BVerfG. Dadurch gehen Normen des Verfassungsrechts und aus ihnen abgeleitete Rechtssätze oder -prinzipien in die politische Diskussion ein. Politik erscheint bisweilen überwiegend als Nachvollzug des Verfassungrechts. 49 „Sachzwang" und „Rechtszwang

Der Grund für eine solche Berufung liegt regelmäßig in der Legitimationsfunk¡ o n J e r Verfassungsrechtsprechung. Bedarf Politik der politischen Rechtfertigung, S Q f j n ( j e t s j e J ¡ e s e a m wenigsten in der Entscheidung der zuständigen Instanz selbst. Vielmehr bedarf deren Entscheidung der Begründung. Solche Begründungen können aus „Sachzwängen" folgen, indem Politik als bloßer Nachvollzug des durch ihren Gegenstand Gebotenen erscheint. Sie können aber auch aus anderer Perspektive erfolgen, wenn sich diese gegen Sachzwänge durchsetzen können. Ein solcher anderer Grund kann das geltende Verfassungsrecht sein, welches nicht nur einen besonderen Geltungsrang hat, sondern alle Staatsorgane — und damit auch mögliche politische Gegner der jeweiligen Gesetzesbefürworter — bindet. So kann dann von den Befürwortern eines Projekts günstigstenfalls der Eindruck erzeugt werden, dessen Gegner entzögen sich ihrer Verfassungsbindung. Auf diese Weise tritt neben den „Sachzwang" als politisches Begründungssystem der „Rechtszwang". Er stellt unter Berufung auf das Grundgesetz die jeweiligen Begründungen alternativlos und entzieht sie dem politischen Streit, solange der politische Gegner nicht die Möglichkeit erlangt, sich auf konkurrierende Verfassungsprinzipien — etwa: Freiheit oder Sozialstaat — zu berufen. Unter dieser letzteren Bedingung ist die Argumentationssituation wieder offen. Dabei ist allerdings nicht zu übersehen, daß es sich hier um eine Argumentationssituation und keine Handlungssituation handelt. Das Grundgesetz kann zur Begründung von Gesetzesprojekten herangezogen werden, aber das Projekt wird nicht wegen des Grundgesetzes in Angriff genommen. Die Legitimationsfunktion betrifft nur die parlamentarische Darstellungsebene, nicht die Frage nach der Durchsetzungsfähigkeit im politischen Interessen- und Machtkampf. t

Wie begünstigt die Rechtsprechung des BVerfG eine derartige Praxis? Auf das Grundgesetz könnte man sich auch ohne Gericht berufen. Aber die Verfassungsrechtsprechung leitet aus dem Grundgesetz mit Anspruch auf — mehr oder weniger ausgeprägte — Bindungswirkung mehr Sätze her; und sie leitet konkretere Sätze her. Die Entscheidungsgründe führen so praktisch zu einer Vermehrung der grundgesetzlichen Aussagen zu allen möglichen Rechtsfragen; und sie führen zu einer Verdichtung der Rechtsfolgen. Politisch erscheint auf diese Weise das BVerfG als zusätzlicher Verfassungsgesetzgeber; „authentische Interpretation" 13 ' formiert und aktualisiert das Grundgesetz. Durch die Entscheidungs- und Begründungstätigkeit des Gerichts nimmt die Fähigkeit des Parlaments, sich auf tatsächliches oder vermeintliches Verfassungsrecht zu berufen, tendenziell zu, da die Zahl 131

Dagegen zu Recht SCHLAICH ( F n . 8 ) S. 130.

§60

Der Bundestag im Verhältnis zum Bundesverfassungsgericht (GUSY)

der möglichen Argumente steigt. Hier liegt die Legitimationswirkung die jedenfalls weiter reicht als diejenige des Grundgesetzes.

1655

des

Gerichts,

3. Z u s a m m e n f a s s u n g Auch als Gesetzgeber zeigt sich das Parlament gegenüber dem BVerfG in der 50 schwächeren Position. Juristisch ist es schwächer, weil das BVerfG über das Schwäche des alleinige Letztentscheidungsrecht verfügt. Und politisch ist es gleichfalls in der ^ a r ' a m e n t s schwächeren Position, weil der demokratische Regelkonsens eben vom BVerfG und nicht vom Parlament gehütet wird. Das Parlament ist der „geborene Verlierer" nicht nur vor dem BVerfG, sondern auch gegenüber dem BVerfG. Damit erweisen sich insbesondere Besorgnisse, die in der Frühzeit der Bundesrepublik auftauchten, als gegenstandslos, wonach das BVerfG institutionell zu schwach sein könnte, um seine Aufgaben wirkungsvoll erfüllen zu können. Diese Befürchtung hat sich nicht bewahrheitet 132 . Die Diskussion um das Thema „Parlamentarischer Gesetzgeber und B V e r f G " in den letzten 10 Jahren hatte demgegenüber die Tendenz, Kompetenzübergriffen des Gerichts vorzubeugen. Sie wurde dementsprechend offenbar eher von einer gegenteiligen Befürchtung getragen, nämlich derjenigen, daß sich das Parlament als zu schwach erweisen könnte.

V. Ausblick Auswege aus der geschilderten Situation relativer Schwäche des Parlaments und 51 relativer Stärke des BVerfG werden in unterschiedlichen Richtungen aufgezeigt. „Rechtsgehorsam" Weitgehende Einigkeit besteht darin, daß Forderungen nach Gehorsam gegenüber der Verfassung und damit dem Verfassungsgericht die dargestellten Tendenzen prinzipiell verstärken 133 . Zugleich bergen sie mehr Probleme, als sie lösen: Mit einem aus dem Grundgesetz abgeleiteten Gehorsam gegenüber dem Gericht droht jede Diskussion um strittige Urteile zugleich zu einer Diskussion um das Grundgesetz zu werden. Daraus entsteht die Gefahr einer Überforderung der Verfassung: Sie ist inhaltlich zu fragmentarisch und zu vage, als daß sie als Legitimationsstifter in jedem politischen Alltagskonflikt wirken könnte. Eben dieser Gefahr der Uberforderung des Verfassungsrechts will die Lehre 52 vom constitutional activism 134 vorbeugen. Danach soll die verfassunggebende constitutional Gewalt die jeweils aktuellen Legitimationsdefizite durch verstärkte Aktualisierung activism? des Grundgesetzes befriedigen. Diskussionsbedürftig ist aber doch, ob dies mehr als Scheinlösungen sein können. Legitimationsbedarf ist nicht dadurch befriedigt, daß das Problem im Grundgesetz erkannt, sondern dadurch, daß Akzeptanz für Lösungen hergestellt wird. Solche Lösungen können mit den „dilatorischen Formelkompromissen" von Staatszielbestimmungen kaum erreicht werden. Vielmehr droht hier ein umgekehrter Effekt einzutreten, daß nämlich durch Lösungssym132

133 134

Wenn es schon früher hieß, in der Adenauer-Ära habe es nur zwei wirksame Faktoren der Opposition in der Bundesrepublik gegeben, nämlich den S P I E G E L und das B V e r f G , so spricht manches dafür, daß die hier dargestellte Entwicklung keine aktuelle der letzten Jahre war. Zu dieser Forderung und ihren Problemen DOPATKA Das B V e r f G und seine Umwelt, 1982. Insbesondere E. DENNINGER KritV 1986, 291.

8. Teil: Das Parlament in seinen organschaftlichen Außenbeziehungen

1656

bole auf Verfassungsebene die tatsächlichen Lösungen verdrängt werden. Umweltschutzprinzipien im Grundgesetz sind kein Umweltschutz, können aber den — teils volens, teils nolens — Zustimmenden das Gefühl geben, nun etwas — wenn nicht gar genug — für den Umweltschutz getan zu haben. Auch ist noch nicht ausdiskutiert, ob ein solches Modell wirklich die politischen Instanzen stärkt. Legitimationsbedürfnisse werden nicht vom Gesetzgeber erzeugt, der so also nur von außen induziertem „Handlungsbedarf" nachläuft. Das Parlament entscheidet rechtlich, aber es leistet wenig praktische Steuerung für diejenigen, welche das Problem letztlich lösen müssen: nämlich die Exekutive — und ggf. die Justiz. Derartige symbolische Verfassungsänderungen bei abnehmendem Problemlösungsgehalt begründet eine Distanz von Anspruch und Wirklichkeit, die jeder Legitimationsbeschaffung besonders abträglich ist. 53

Ein Ausweg läßt sich allerdings erreichen, wenn das Parlament bei der Wahrnehmung seiner originären Gesetzgebungs- und Kontrollkompetenzen mehr poli^ e ^ h f b " " ^ ^ t ' s c ^ l e s Selbstbewußtsein zeigt. Bisweilen entsteht der Eindruck, als stünde der Bundestag der Reduzierung seiner politischen Alternativen keineswegs ablehnend gegenüber. Die Legitimationsfunktion verfassungsgerichtlicher Sätze im politischen Prozeß spricht jedenfalls dafür. Durch ein derartiges Verhalten wird das BVerfG der öffentlichen Diskussion entzogen; ein Zustand, der nach öffentlicher Kontrolle der Verfassungsgerichtsbarkeit geradezu ruft 135 . Mehr Selbstbewußtsein des Parlaments ist Voraussetzung dafür, daß der schleichende Kompetenzzuwachs des Gerichts auf das grundgesetzlich gebotene Maß zurückgeführt wird. Verfassungsgerichtsbarkeit ist auch rechtfertigungsbedürftig; und eben diese Rechtfertigung kann sie nur aus der Verfassung erlangen. Je intensiver diese Rechtfertigung politisch eingefordert wird, desto plastischer werden der Auftrag des Gerichts — und seine Grenzen. Umgekehrt liegen so die Chancen des Parlaments im Parlament selbst. Ihre Wahrnehmung kann allerdings von keiner Rechtsnorm angeordnet werden; sie ist vielmehr Voraussetzung der Demokratie und jeder demokratischen Verfassung.

Offentliche Kontrolle

135

Dafür

insbesondere

P. HABERLE

in:

DERS.

Verfassungsgerichtsbarkeit,

Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 12 ff.

1976,

S. 2 6 ff;

DERS.

IV. Bundestag und zwischenstaatliche

Versammlungen

§61 Europarat, WEU, N A T O , Europäisches Parlament MICHAEL SCHWEITZER*

I. Einleitung Zwischenstaatliche Versammlungen sind Einrichtungen oder Organe in interna- 1 tionalen Organisationen, die nicht die Staaten oder Regierungen, sondern die Begriff der Völker repräsentieren. Sie setzen sich daher aus weisungsfreien und unabhängi- zwischenstaatlichen Versammlung gen Delegierten zusammen und sind parlamentsartig organisiert. Die Delegierten werden von den Parlamenten entsandt oder von den Völkern direkt gewählt. Trotz ihrer parlamentsartigen Organisation besitzen diese Versammlungen aber kaum legislative Kompetenzen. Ihre Hauptaufgabe besteht in Beratung und Kontrolle. Man spricht daher von „quasi-parlamentarischen" Organen. Sie sind im Bereich der internationalen Organisationen eher selten. In Westeuropa existieren einige solche zwischenstaatliche Versammlungen. Dazu gehören neben den für die Bundesrepublik relevanten, nämlich der Bera- Westeuropäische tenden Versammlung des Europarates, der Versammlung der Westeuropäischen zwischenstaatliche Versammlungen Union, der Nordatlantischen Versammlung und dem Europäischen Parlament, noch der Rat des Nordischen Rates und der Interparlamentarische Beirat der Benelux-Wirtschaftsunion. Außerdem legen einige europäische Organisationen, die keine quasi-parlamentarischen Organe besitzen (z. B. O E C D , EFTA), der Beratenden Versammlung des Europarates einen Jahresbericht über ihre Tätigkeit vor. Insofern unterwerfen sie sich auch einer gewissen quasi-parlamentarischen Kontrolle. Wegen der mangelnden legislativen Kompetenz westeuropäischer zwischen- 3 staatlicher Versammlungen kann man sie nicht als supranationale Organe Supranationalität bezeichnen. Dies gilt selbst dort, wo sie Organe ansonsten als supranational zu bezeichnender Organisationen sind, wie z.B. bei den Europäischen Gemeinschaften.

Meinen wissenschaftlichen Mitarbeitern Herrn WOLFGANG HERZOG und Herrn MICHAEL MENTLER danke ich für ihre wertvolle Mitarbeit.

1658

8.Teil: Das Parlament in seinen organschaftlichen Außenbeziehungen

II. Beratende Versammlung des Europarates 1. Stellung im Rahmen des Europarates 4 Bei der Gründung des Europarates im Jahre 1949 wurde durch Art. 10 der Satzung Gründung d e s Europarates' neben dem Ministerkomitee auch eine Beratende Versammlung geschaffen. Entspricht dabei das Ministerkomitee den üblichen Leitungs- und Entscheidungsorganen der bis dahin existierenden internationalen Organisationen, so war die Einsetzung eines parlamentarischen Organs ein völkerrechtliches Novum. So wird denn auch die Gründung des Europarates als Geburtsstunde des institutionalisierten transnationalen Parlamentarismus bezeichnet2. 5 Die Stellung der Versammlung im Europarat, ihre Zusammensetzung und Organcharakter Kompetenzen sind im Kapitel V der Satzung des Europarates geregelt. Nach Art. 22 der Satzung des Europarates ist die Versammlung das beratende Organ des Europarates. 6 Da die Beratende Versammlung im Laufe der Zeit, ohne formale EntscheiBezeichnung dungsbefugnisse zu besitzen, über eine reine Beratungsfunktion hinausgewachsen ist und ihr seit 1970 nur noch Parlamentarier angehören können, hat sie im Herbst 1974 beschlossen, sich die Bezeichnung Parlamentarische Versammlung des Europarates zu geben3. Eine Satzungsänderung erfolgte in diesem Zusammenhang jedoch nicht, so daß es sich formell nach der Satzung um die Beratende Versammlung mit dem Arbeitstitel Parlamentarische Versammlung handelt. Letztere, gebräuchlichere Bezeichnung soll auch im folgenden verwendet werden. Der Ministerrat hat gegen diese Namensgebung keine Maßnahmen getroffen, verwendet aber bei seinen offiziellen Tagungen weiterhin den Satzungsnamen Beratende Versammlung 4 . Die Entwicklung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates weist insofern gewisse Parallelen zu der des Europäischen Parlaments auf5. Ursprünglich reines Beratungsorgan, entwickelte die Parlamentarische Versammlung schon bald ein politisches Selbstverständnis dahingehend, sich als Motor der Europaratsarbeit 6 und der gesamteuropäischen Integration im allgemeinen zu sehen. Dies dokumentierte sich in der Umbenennung in Parlamentarische Versammlung. 2. Zusammensetzung und Organisation 7 Die Parlamentarische Versammlung besteht nach Art. 25 der Satzung des EuropaZusammensetzung r a tes aus Vertretern jedes Mitgliedstaates, welche von deren Parlamenten aus ihrer Mitte gewählt oder nach einem von den Parlamenten bestimmten Verfahren aus 1 2

3 4

5 6

B G B l . 1950 S. 263. V. HEYDT Das Parlamentarische Organ des Europarates, in: Institut für Europa (Hrsg.), Das Europa der Siebzehn, 1974, S . 3 9 f f (39). The Parliamentary Assembly — Procedure and Praxis, hrsg. vom Europarat, 8. Auflage, 1983, S. 45. F. KREMAIER Das Europäische Parlament der Europäischen Gemeinschaften und die Parlamentarische Versammlung des Europarates, 1985, S.32. Siehe unten Rdn. 71. I. SEIDL-HOHENVELDERN Das Recht der Internationalen Organisationen einschließlich der Supranationalen Gemeinschaften, 4. Auflage, 1984, S. 163.

§61

Europarat, W E U , N A T O , Europäisches Parlament (SCHWEITZER)

1659

ihrer Mitte ernannt werden. Die 177 Sitze sind dabei gemäß Art. 26 der Satzung des Europarates wie folgt auf die 22 Mitgliedstaaten verteilt: Österreich Belgien Zypern Dänemark Frankreich Finnland Bundesrepublik Deutschland Griechenland Island Irland Italien

6 7 3 5 18 5 18 7 3 4 18

Liechtenstein Luxemburg Malta Niederlande Norwegen Portugal San Marino Schweden Schweiz Spanien Türkei Großbritannien und Nordirland

2 3 3 7 5 7 2 6 6 12 12 18

Gemäß Art. 25 lit. c der Satzung des Europarates können die Mitgliedstaaten für jeden Abgeordneten einen Stellvertreter bestimmen. Aufgrund der Tatsache, daß die Mitglieder der Versammlung durch ihr Mandat in den nationalen Parlamenten oft ausgelastet sind, wird von dieser Möglichkeit in der Praxis durchgehend Gebrauch gemacht, um die Beschlußfähigkeit des Plenums zu gewährleisten. Den Mitgliedern der Parlamentarischen Versammlung stehen nach Art. 40 lit. a der Satzung des Europarates die Vorrechte und Befreiungen zu, die für die Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich sind 7 . Konkretisiert werden diese Vorrechte durch das gemäß Art. 40 lit. b der Satzung des Europarates geschlossene Allgemeine Abkommen über die Vorrechte und Befreiungen des Europarates vom 2. September 1949 8 . Die Parlamentarische Versammlung organisiert sich im Plenum, dem Präsidium und in politischen Gruppen. Sie setzt Ausschüsse ein und wird hinsichtlich ihrer Verwaltung vom Generalsekretariat unterstützt. Das Plenum setzt sich formell aus den 177 Abgeordneten bzw. deren Stellvertretern zusammen. Die Sitzordnung richtet sich dabei nicht nach der Nationalität oder politischen Zugehörigkeit der Abgeordneten, sondern nach der alphabetischen Reihenfolge. Das Plenum tritt nach Art. 32 der Satzung des Europarates alljährlich zu einer ordentlichen Sitzungsperiode mit einer Höchstdauer von einem Monat zusammen. In der Praxis wird die Sitzungsperiode in drei Teilen abgehalten, so daß das Plenum jeweils im Mai, September/Oktober und Januar für etwa eine Woche zusammentritt. Die Plenarsitzungen finden im Europahaus in Straßburg statt. Obwohl lediglich Englisch und Französisch Amtssprachen des Europarates sind, kann in der Versammlung sowohl im Plenum als auch in den Ausschüssen auch deutsch und italienisch gesprochen werden, wobei Simultanübersetzung gewährleistet ist.

8 Immunitäten und Befre'ungen

9 Organisation 10 Plenum

Das Präsidium der Parlamentarischen Versammlung setzt sich aus dem Präsi- 11 denten und 13 Vizepräsidenten zusammen. Es wird vor Beginn jeder Sitzungs- Präsidium 7 8

K.CARSTENS Das Recht des Europarates, 1956, S. 147. Allgemeines Abkommen über die Vorrechte und Befreiungen des Europarates vom 2. September 1949 mit Zusatzprotokoll vom 6. November 1952 ( B G B l . 1954 II S.494).

1660

12 Politische Gruppen

13 Ausschusse

8. Teil: D a s Parlament in seinen organschaftlichen Außenbeziehungen

periode für die Dauer von einem Jahr gewählt. Die nähere Ausgestaltung dieser Wahl ist in der Geschäftsordnung geregelt, welche sich die Parlamentarische Versammlung gemäß Art. 28 lit. a der Satzung des Europarates gegeben hat9. Der Präsident leitet die Plenarsitzungen, führt den Vorsitz im Präsidium, im Ständigen und im Gemischten Ausschuß und repräsentiert die Parlamentarische Versammlung nach außen. Das Präsidium als Kollegialorgan der Versammlung arbeitet den Entwurf der Tagesordnung für die Plenarsitzungen sowie Neuentwürfe zur Geschäftsordnung aus. Weiterhin weist es Aufgaben an die zuständigen Ausschüsse weiter und unterhält die Kontakte zu anderen nationalen oder internationalen Parlamenten. Gemäß Art. 41 der Geschäftsordnung können die Abgeordneten politische Gruppen bilden. Derzeit gibt es sechs verschiedene Gruppen: Sozialisten, Christdemokraten, Europäische Demokraten, Liberale, Gemischte Demokratische Gruppe und Kommunisten sowie einige fraktionslose Mitglieder. Gemäß den Art. 43 ff der Geschäftsordnung setzt die Parlamentarische VerSammlung zu Beginn einer jeden Sitzungsperiode 13 Ausschüsse ein10: 1. Politischer Ausschuß (38 Mitglieder), 2. Ausschuß für Wirtschaft und Entwicklung (38), 3. Ausschuß für Sozialordnung und Gesundheit (38), 4. Rechtsausschuß (38), 5. Ausschuß für Kultur und Erziehung (38), 6. Ausschuß für Wissenschaft und Technologie (38), 7. Ausschuß für Umwelt, Raumordnung und Kommunalfragen (38), 8. Ausschuß für Wanderbewegungen, Flüchtlings- und Bevölkerungsfragen (33), 9. Ausschuß für Geschäftsordnung und Verfahren (29), 10. Landwirtschaftsausschuß (29), 11. Ausschuß für Parlamentarische und Öffentlichkeitsarbeit (25), 12. Ausschuß für die Beziehungen zu den europäischen Nichtmitgliedsländern (25), 13. Ausschuß für den Haushalt und das zwischenstaatliche Arbeitsprogramm (25).

Die Mitgliederzahl richtet sich nach der Bedeutung der Ausschüsse. Diese haben die Aufgabe, die Arbeit des Plenums in fachlich spezialisierter Weise vorzubereiten. Seit 1968 werden auch Unterausschüsse eingesetzt11. So hatte allein der Rechtsausschuß 1982 sechs Unterausschüsse. 14 Kein eigentlicher Ausschuß ist der Ständige Ausschuß. Er handelt zwischen den Ständiger Ausschuß Sitzungsperioden für die Parlamentarische Versammlung und führt deren Arbeit fort. Neben dem Präsidium der Parlamentarischen Versammlung gehören ihm die Ausschußvorsitzenden und einige ernannte Mitglieder an. Dabei werden in der Praxis regelmäßig auch die Vorsitzenden der politischen Gruppen berücksichtigt. Eine weitere Aufgabe des Ständigen Ausschusses ist die Ernennung der Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung im Gemischten Ausschuß. 15 Der Gemischte Ausschuß hat die Aufgabe, die Arbeiten des Ministerkomitees Gemischter Ausschuß

unc

J £} ει · Parlamentarischen Versammlung zu koordinieren. Ihm gehören jeweils 23

Die erste Geschäftsordnung wurde am 8. Dezember 1951 als Resolution N r . 7 beschlossen. Derzeitige Fassung vom Januar 1986. Text: Deutscher Bundestag, Referat Interparlamentarische Angelegenheiten (Hrsg.), Geschäftsordnung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (dt. Fassung). 10 Α. H . ROBERTSON Council of Europe, in: R. BERNHARDT (Hrsg.) Encyclopedia of Public International Law, Band 6, 1983, S.86 (88). " The Parliamentary Assembly ( F n . 3 ) S. 181. 9

§61

Europarat, W E U , N A T O , Europäisches Parlament (SCHWEITZER)

1661

Vertreter des Ministerkomitees und der Parlamentarischen Versammlung an (jeweils einer pro Mitgliedstaat). Auf Verwaltungsebene wird die Parlamentarische Versammlung vom Generalsekretariat unterstützt, das sowohl für das Ministerkomitee als auch für die Parlamentarische Versammlung tätig ist. Von besonderer Bedeutung für die Versammlung ist der Versammlungsdienst, welcher im Plenum und in den Ausschüssen die Sekretariatsfunktion wahrnimmt. Außerdem verfügt noch jede nationale Delegation über ein eigenes Sekretariat. Die Parlamentarische Versammlung wird als Organ des Europarates über dessen Budget finanziert. Dazu ist im Haushalt ein eigener Betrag ausgewiesen. Gemäß Art. 38 lit. d der Satzung des Europarates können darüber hinaus Ausgaben vom Ministerkomitee genehmigt werden.

16 Generalsekretariat

17 Finanzierung

3. Bestellung der Abgeordneten Nach der ursprünglichen Fassung des Art. 25 der Satzung des Europarates wurden die 18 Abgeordneten nach einem von den Regierungen der Mitgliedstaaten bestimmten Bestellung Verfahren, oft durch die Regierungen selbst, ernannt. Auf Initiative der Parlamentarischen Versammlung wurde Art. 25 der Satzung des Europarates im Jahr 1970 dahingehend geändert, daß nunmehr die Abgeordneten von den nationalen Parlamenten oder nach einem von den Parlamenten bestimmten Verfahren aus deren Mitte gewählt werden' 2 . Somit können seit 1970 nur noch Parlamentarier Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung werden. Einschränkungen gibt es nur insofern, als die gewählten Vertreter Staatsangehörige des jeweiligen Mitgliedstaates sein müssen und nicht gleichzeitig dem Ministerkomitee des Europarates angehören dürfen. Für die Bundesrepublik ist das Verfahren im Gesetz über die Wahl der Vertreter der Bundesrepublik zur Beratenden Versammlung des Europarates vom 11. Juni 1951 in der Fassung vom 4. August 1953 geregelt 13 . Danach werden die Abgeordneten vom Bundestag jeweils für die Dauer seiner Wahlperiode aus seiner Mitte gewählt. Die deutschen Wahlvorschriften entsprachen also von Anfang an der seit 1970 geltenden Fassung des Art. 25 der Satzung des Europarates. In den siebziger Jahren gab es Bestrebungen derjenigen Europaratstaaten, welche nicht Mitglieder der Europäischen Gemeinschaften sind, vor allem Österreichs, die Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung direkt von der Bevölkerung wählen zu lassen 14 . Angesichts der großen Schwierigkeiten, welche die Einführung der Direktwahl im Bereich der Europäischen Gemeinschaften mit sich brachte, erscheint eine Direktwahl, auf Europaratsebene jedoch kaum möglich. Die Beglaubigungsschreiben der Abgeordneten werden von den nationalen 19 Parlamenten an das Generalsekretariat des Europarates gesendet. Sie werden dann Beglaubigung von einem zu Beginn jeder Sitzungsperiode gewählten Ausschuß geprüft. 12

A. H . ROBERTSON European Institutions: Cooperation, Integration, Unification, 3. Auflage,

13

B G B l . 1951 I S.397; 1953 I S. 779. Siehe dazu die Stellungnahme von F. ERMACORA im Mitteilungsblatt der „Aktion Osterreich E u r o p a " , 2. Jahrgang N u m m e r 3 (Juli 1972).

1973, S . 4 3 . 14

1662

8. Teil: D a s Parlament in seinen organschaftlichen Außenbeziehungen

20 Die Abgeordneten berichten in ihren Parlamenten über die Tätigkeit der Unterrichtung der Parlamentarischen Versammlung. Die Unterrichtungen werden im Deutschen nationalen Parlamente B u n d e s t a g a l s Vorlagen im Sinne von §75 Abs. 1 lit. e G O B T behandelt, üblicherweise gem. § 77 Abs. 1 G O B T gedruckt und an die Mitglieder des Bundestages, des Bundesrates und an die Bundesministerien verteilt 15 . 4. Zuständigkeiten

21 Die Hauptaufgabe der Parlamentarischen Versammlung ist, wie schon ihr for-

Beratung

meller Satzungsname ausdrückt, die Beratung des Ministerkomitees. Gemäß Art. 22 der Satzung des Europarates erörtert sie Fragen, die in ihr Aufgabengebiet fallen, und übermittelt ihre Beschlüsse dem Ministerkomitee in Form von Empfehlungen. Die Fragen werden ihr gemäß Art. 23 lit. a der Satzung entweder vom Ministerkomitee unterbreitet oder resultieren aus einer Eigeninitiative der Parlamentarischen Versammlung. Letzteres ist in der Praxis der Regelfall. Die lediglich reagierende Behandlung von Fragen des Ministerkomitees ist dagegen relativ unbedeutend. Dabei gelingt es der Parlamentarischen Versammlung oft, eigenen Initiativen zum Durchbruch zu verhelfen. So basieren von den 103 bis 1979 erlassenen Europaratskonventionen fast 4 0 % auf einer Initiative der Parlamentarischen Versammlung 16 . Dies dokumentiert die große politische Bedeutung, die die Parlamentarische Versammlung erlangt hat 17 .

22

Weitere Zuständigkeiten besitzt die Parlamentarische Versammlung auf dem Gebiet der Personalentscheidungen. Gemäß Art. 36 lit. b der Satzung des Europarates ernennt sie auf Empfehlung des Ministerkomitees den Generalsekretär und seinen Stellvertreter. Das Verfahren des Art. 36 lit. b hat sich in der Praxis jedoch zugunsten der Parlamentarischen Versammlung verschoben. Statt einer Ernennung auf Empfehlung des Ministerkomitees gibt es nun eine Wahl aufgrund einer vom Ministerkomitee erstellten Kandidatenliste 18 . Dabei wird die Liste vorher im Gemischten Ausschuß zwischen Ministerkomitee und Versammlung abgesprochen. Ebenfalls eine Gewichtsverschiebung hat die Parlamentarische Versammlung bei der Wahl des Leiters des Versammlungsdienstes erreicht19, wo sie sich ein extrastatutäres Recht zur Aufstellung von Kandidaten erstritten hat.

23

Weitere wichtige Personalentscheidungen sind der Parlamentarischen Versammlung bei der Besetzung der Organe der Europäischen Menschenrechtskonvention anvertraut. Sie wählt gemäß Art. 39 E M R K die Mitglieder des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte aus einer Liste von Personen, die von den Mitgliedern des Europarates vorgeschlagen werden. Außerdem stellt die Parlamentarische Versammlung gemäß Art. 21 E M R K die Kandidatenliste auf,

Interne Personalentscheidungen

Externe Personalentscheidungen

H . T R O S S M A N N / H . A . ROLL Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, E r g ä n z u n g s b a n d 1981, § 7 7 G O B T A n m . 7. 16 F . KREMAIER ( F n . 4 ) S. 140. 17 P. LEUPRECHT G e d a n k e n z u r künftigen Rolle des Europarates, in: H . L . STADLER-RICHTER ( H r s g . ) D i e Evolution des Öffentlichen Rechts (Festschrift für F. E r m a c o r a ) , 1974, S. 134 ff (146). 18 V.HEYDT ( F n . 2 ) S . 5 1 . " Siehe oben R d n . 16. 15

§61

Europarat, W E U , N A T O , Europäisches Parlament (SCHWEITZER)

1663

aus welcher das Ministerkomitee die Mitglieder der Europäischen Kommission für Menschenrechte wählt 20 . Weitere Zuständigkeiten besitzt die Parlamentarische Versammlung im Bereich 2 4 ihrer inneren Organisation, insbesondere zum Erlaß der Geschäftsordnung nach Weitere Art. 28 der Satzung des Europarates, im Verfahren der autonomen Satzungsände- Zuständigkeiten rung und beim Beitritt neuer Mitgliedstaaten. Art. 41 lit. d der Satzung des Europarates sieht vor, daß Änderungen der Art. 23-35 (Kapitel V; Beratende Versammlung), 38 und 39 durch übereinstimmende Beschlüsse von Ministerkomitee und Parlamentarischer Versammlung, ohne Mitwirkung der Mitgliedstaaten, Zustandekommen. Für den Beitritt neuer Mitgliedstaaten ist gemäß Art. 4 der Satzung des Europarates eine Einladung des Ministerkomitees und die Hinterlegung der Beitrittsurkunde durch den eingeladenen Staat erforderlich. Eine Mitwirkung der Versammlung ist von der Satzung nicht vorgesehen. D a das Ministerkomitee jedoch zusammen mit der Parlamentarischen Versammlung den Art. 26 der Satzung des Europarates (Festlegung der Sitze in der Versammlung) ändern muß, konsultiert es die Versammlung jeweils schon vor der Einladung neuer Mitgliedstaaten. 5. Beschlußfassung Die generelle Mehrheitsregel für die Beschlußfassung in der Parlamentarischen Versammlung ist in Art. 29 der Satzung des Europarates festgelegt. Danach bedürfen alle Entschließungen der Versammlung einer Mehrheit von % der abgegebenen Stimmen. Ausnahmen davon kann die Versammlung nach Art. 30 der Satzung für Fragen des inneren Geschäftsganges ( z . B . Wahl des Präsidenten, Annahme der Geschäftsordnung) ebenfalls mit Vi der abgegebenen Stimmen beschließen. Von dieser Möglichkeit hat die Parlamentarische Versammlung Gebrauch gemacht und in Art. 36 lit. b seiner Geschäftsordnung geregelt, daß für Ernennungen im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen und im zweiten Wahlgang die relative Mehrheit erforderlich ist. Der Präsident kann, wenn nur ein Kandidat antritt, auch per Akklamation bestätigt werden 2 1 . Alle Beschlüsse, die nicht der Zweidrittelmehrheit gemäß Art. 29 der Satzung des Europarates und Art. 36 lit. a G O der Versammlung bedürfen, werden nach Art. 36 lit. c der Geschäftsordnung mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen gefaßt. Bei den Abstimmungen muß zwischen Personalwahlen und sonstigen Beschlüssen unterschieden werden 22 . So finden Wahlen und Ernennungen grundsätzlich in geheimer Wahl statt. Ausnahmen hierzu sind die Wahl des Präsidenten oder des Vizepräsidenten per Akklamation. Sonstige Beschlüsse der Parlamentarischen Versammlung können nach Art. 35 ihrer Geschäftsordnung auf drei verschiedene Arten gefaßt werden.

20

21 22

G . ADINOLFI Pouvoirs limités mais influence réelle d'un organe consultatif: Assemblée Parlamentaire du Conseil de l'Europe, in: European Yearbook 27 (1979), S. 25 ff (32). The Parliamentary Assembly (Fn. 3) S. 109. The Parliamentary Assembly ( F n . 3 ) S. 161 ff.

25 Abstimmungen

26 Formen der Beschlußfassun

S

1664

8. Teil: D a s Parlament in seinen organschaftlichen Außenbeziehungen

Üblicherweise wird per Handzeichen abgestimmt. Bleiben Zweifel am Abstimmungsergebnis, so wird eine Abstimmung durch Aufstehen und Sitzenbleiben durchgeführt. Bleiben immer noch Zweifel, so wird namentlich abgestimmt. Letzteres Verfahren findet ebenfalls Anwendung auf Antrag von zehn Abgeordneten oder auf Entscheidung des Präsidenten.

III. Versammlung der Westeuropäischen Union 1. Stellung im Rahmen der Westeuropäischen Union 27 Die Versammlung der Westeuropäischen Union ist das parlamentarische Organ Rechtsgrundlage d e r WEU, welches sich mit sicherheits- wie allgemeinpolitischen Fragen befaßt. Sie hat ihre Rechtsgrundlage in Art. IX des Brüsseler Vertrages, eingefügt durch Art. 5 des Protokolls zur Änderung und Ergänzung des Brüsseler Vertrages vom 23. Oktober 1954 23 , welcher lautet: „Der Rat der Westeuropäischen Union erstattet einer Versammlung, die aus Vertretern der Brüsseler Vertragsmächte bei der Beratenden Versammlung des Europarates besteht, jährlich einen Bericht über ihre Tätigkeit, insbesondere über die Rüstungskontrolle." 28 Zwar findet die Versammlung damit formell ihre Rechtsgrundlage als Organ Organcharakter d e r WEU, inhaltlich jedoch regelt die Vorschrift lediglich die Zusammensetzung der Versammlung sowie die jährliche Berichtspflicht des Rates. Hingegen läßt sie so wichtige Fragen wie Status, Organisation und Kompetenzen völlig offen. Diese Konturlosigkeit läßt sich zu einem großen Teil mit dem Zeitdruck erklären, unter dem nach dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft in der französischen Nationalversammlung die Änderungen des Brüsseler Vertrages vorgenommen worden sind 24 . 29 Die Versammlung fand daher, als sie ihre Tätigkeit mit der ersten Plenartagung Gründung a m 5. Juli 1955 aufnahm, ein weitgehendes Vakuum vor, welches sie insbesondere dadurch ausfüllte, daß sie sich eine eigene Charta und eine eigene Geschäftsordnung gab 25 . Auf dieser Grundlage basiert die Arbeit der Versammlung noch heute und erstreckt sich inzwischen weit über die in Art. IX des Brüsseler Vertrages genannte Entgegennahme des jährlichen Berichts des Rates der W E U hinaus. Die übrigen Organe der W E U und die Regierungen der Mitgliedstaaten haben die Tätigkeit der Versammlung stets gewürdigt und hervorgehoben. In ihrer „Erklärung von R o m " haben die Außen- und Verteidigungsminister der damaligen Mitgliedstaaten während einer Sondersitzung anläßlich des 30.Jahrestages der Änderung des Brüsseler Vertrages am 26. und 27. Oktober 1984 in Rom ausdrücklich an die Bedeutung der Versammlung der W E U erinnert, „die als das einzige vertraglich mit der Behandlung von Verteidigungsangelegenheiten beauftragte 23 24

25

B G B l . 1954 II S.258. Α. H . ROBERTSON (Fn. 12) S. 134; vgl. auch: W. KNOP Bundesrepublik Deutschland und Westeuropäische Union, 1983. Charter and Rules of P r o c e d u r e / C h a r t e et Règlement, hrsg. von der Versammlung der W E U , 1986; Charta auch abgedruckt in: International organization and integration, hrsg. von KAPTEYN U. a „ 2. Aufl., 1983, II Β 1 c.

§61

Europarat, W E U , N A T O , Europäisches Parlament (SCHWEITZER)

1665

europäische parlamentarische Gremium dazu aufgerufen ist, eine größere Rolle zu spielen" 26 . 2. Zusammensetzung und Organisation Die Versammlung der Westeuropäischen Union besteht aus 108 Mitgliedern, die 30 personengleich mit den Abgeordneten sind, welche die Vertragsstaaten des Brüsse- Zusammensetzung ler Vertrages in die Parlamentarische Versammlung des Europarates entsenden (Art. I X Brüsseler Vertrag; Art. II lit. a Charta der Versammlung der W E U [Charta WEU-V]) 2 7 . Die Sitzverteilung lautet gem. Art. 26 der insoweit anzuwendenden Satzung des Europarates 28 demnach: Bundesrepublik Deutschland Frankreich Italien Vereinigtes Königreich und Nordirland

18 18 18 18

Spanien Belgien Niederlande Portugal Luxemburg

12 7 7 7 3

Es werden ebensoviele stellvertretende Mitglieder bestimmt (Art. II lit. b Charta WEU-V). Die Delegierten können Fraktionen bilden (Regel 37 G O WEU-V). Derzeit sind sie in den Fraktionen der Christdemokraten, der Liberalen und der Sozialisten organisiert; daneben gibt es fraktionslose Abgeordnete 29 . Jeder Vertreter muß Staatsangehöriger des von ihm vertretenen Mitgliedstaates sein und darf nicht gleichzeitig Mitglied des Ministerrates der W E U sein. Die Versammlung tritt zu ihren öffentlichen Plenartagungen einmal im Jahr in der Regel am Sitz der Versammlung in Paris zusammen (Art. III lit. a, IV, IX Charta WEU-V). Sie genießt in Frankreich die für internationale Organisationen üblichen Vorrechte und Befreiungen 30 · 31 . In der Praxis ist es üblich geworden, die Jahrestagungen in zwei Teilen im Mai/Juni und Dezember abzuhalten. Daneben hat der Präsident das Recht, die Versammlung aus eigenem Entschluß oder auf Verlangen des Ministerrates der W E U oder auf Antrag von mindestens einem Viertel der Mitglieder der Versammlung zu Sondersitzungen einzuberufen (Art. III lit. b Charta WEU-V). Reden vor der Versammlung können in den offiziellen Sprachen aller Mitgliedstaaten gehalten werden; sie werden simultan in die anderen Sprachen übersetzt. Dokumente der Versammlung werden dagegen nur in den Arbeitssprachen Englisch und Französisch veröffentlicht (Art. X lit. a [i], b Charta WEU-V). 26

27

28 29 30

31

Abgedruckt in Bulletin N r . 129 vom 30.10.1984, hrsg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, S. 1138 f. E. VON PUTTKAMER nennt die Versammlung der W E U „eine ,Tochter' oder auch nur eine ,kleine Schwester' der Beratenden Versammlung des Europarates", in: Vorgeschichte und Zustandekommen der Pariser Verträge vom 23. Oktober 1954, Z a ö R V 17 (1957), S. 448 ff (463). S. Rdn. 7. F . H . M . POSSEN in: International organization and integration (Fn.25) Dir. I I B 1 , S . 5 . Ubereinkommen über den Status der Westeuropäischen Union, der nationalen Vertreter und des internationalen Personals vom 11.5.1955 (BGBl. 1959 II S. 705). Das Ubereinkommen (Fn.30) ist von allen Mitgliedstaaten der W E U ratifiziert worden, vgl. Fundstellennachweis Β Völkerrecht, hrsg. vom Bundesminister der Justiz, 1988, S.274.

31

Fraktionen

32

Plenartagungen

1666

8. Teil: Das Parlament in seinen organschaftlichen Außenbeziehungen

33

Zu Beginn jeder Jahrestagung wählt die Versammlung ihren Präsidenten und sechs Vizepräsidenten, wobei in den ersten beiden Wahlgängen die absolute Mehrheit benötigt wird (Regeln 9, 10 G O WEU-V). Bis zu ihrer Wahl führt der Alterspräsident den Vorsitz (Regel 5 G O WEU-V). 34 Zwischen den Plenartagungen ist ein Präsidialausschuß verantwortlich für die Präsidialausschuß ordnungsgemäße Fortführung der parlamentarischen Arbeit. Er besteht aus dem Präsidenten der Versammlung, seinen Vorgängern, solange diese ununterbrochen der Versammlung angehören, den sechs Vizepräsidenten, den Vorsitzenden der sechs Ausschüsse, die die Versammlung eingesetzt hat, sowie je einem von jeder Fraktion ernannten Abgeordneten (Regel 14 G O WEU-V). Der Präsidialausschuß führt die laufenden Geschäfte der Versammlung, legt Zeitpunkt und Dauer der nächsten Plenartagung fest und sorgt für die ordnungsgemäße Einladung der Delegierten.

Tagungspräsidium

35

Ausschüsse

Aufgrund von Art. VII lit. a, b Charta W E U - V hat die Versammlung sechs ständige Ausschüsse eingesetzt, in denen außerhalb der Vollversammlungen die eigentliche Detailarbeit geleistet wird. In den Ausschüssen wird jeder Tagesordnungspunkt der Versammlung auf der Grundlage einer Vorlage eines Berichterstatters diskutiert und vorbereitet. Der Berichterstatter bringt seinen Entscheidungsvorschlag dann auf der nächstfolgenden Plenartagung zur endgültigen Beschlußfassung ein. Die Versammlung der W E U hat folgende Ausschüsse eingerichtet 32 : — — — — — —

36

Sekretär

37

Finanzierung

Politischer Ausschuß. Ausschuß für Verteidigungs- und Rüstungsfragen. Ausschuß für Wissenschaft, Technologie, Luft- und Raumfahrt. Haushalts- und Verwaltungsausschuß. Geschäftsordnungsausschuß. Ausschuß für die Beziehungen zu den Parlamenten.

Die Sitzverteilung in den Ausschüssen ist in Regel 38 Abs. 2, 3 G O WEU-V festgelegt. In den Ausschüssen kann ebenfalls in den offiziellen Sprachen aller Mitgliedstaaten gesprochen werden; die Simultanübersetzungen erfolgen aber nur in die Arbeitssprachen Englisch und Französisch (Art. X lit. a [ii] Charta WEU-V). Zur Bewältigung der anfallenden Verwaltungsarbeiten bestellt die Versammlung auf Vorschlag des Präsidialausschusses einen Sekretär, der in seiner Tätigkeit unabhängig und nur seinen Pflichten als Beamter der W E U unterworfen ist. Der Sekretär hat vor der Versammlung einen Diensteid dahingehend abzulegen, daß er sein Amt unparteiisch wahrnehmen wird. Zur Vervollständigung seines Stabes können weitere Beamte ernannt werden (Regel 47 G O WEU-V). Der Sekretär ist zuständig für die Zusammenarbeit mit den anderen Organen der W E U ; er hält darüber hinaus den Kontakt zu den Regierungen und Parlamenten der Mitgliedstaaten und zu anderen internationalen Organisationen. Die Versammlung der W E U wird als Organ der W E U von dieser finanziert. Verfahrensmäßig wird der Budgetentwurf vom Haushalts- und Verwaltungsaus-

32

H . W . DEGENHARDT Treaties and Alliances of the World, 4. Aufl., 1986, S. 144.

§61

Europarat, W E U , N A T O , Europäisches Parlament (SCHWEITZER)

1667

schuß im Einvernehmen mit dem Präsidialausschuß erstellt und nach Beratung in der Versammlung dem Ministerrat zur Genehmigung vorgelegt 33 . Nach dessen Zustimmung werden vom Präsidenten der Versammlung im Rahmen der Haushaltsansätze Ausgaben bewilligt (Art. VIII lit. a, b Charta WEU-V). 3. Bestellung der Abgeordneten D a die Mitglieder der Versammlung der W E U personengleich mit denen der 3 8 Parlamentarischen Versammlung des Europarates sind, gelten für das Verfahren Bestellung der Bestellung die gleichen Bestimmungen. Gem. Art. 25 lit. a der Satzung des Europarates 3 4 und § 1 des Gesetzes über die Wahl der Vertreter der Bundesrepublik zur Beratenden Versammlung des Europarates vom 11. Juni 1951 35 in der Fassung des Gesetzes vom 4. August 1953 36 werden die deutschen Delegierten und ihre Stellvertreter jeweils für die Dauer einer Wahlperiode vom Bundestag aus seiner Mitte gewählt 37 . Sie bleiben im Amt, bis der neue Bundestag innerhalb von sechs Wochen nach seinem ersten Zusammentritt eine Neuwahl durchgeführt hat. Die Beglaubigung der Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung des 3 9 Europarates und ihrer Stellvertreter als Delegierte der Versammlung der W E U Beglaubigung unterliegt einem besonderen Verfahren: Der Präsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarates übermittelt dem Präsidenten der WEU-Versammlung eine förmliche Bestätigung ihrer Beglaubigungsschreiben. Die WEU-Versammlung prüft die Legitimation ihrer eigenen Abgeordneten somit nicht selbst. Lediglich für den Fall, daß die WEU-Versammlung zeitlich vor der Parlamentarischen Versammlung des Europarates zusammentritt, sieht Regel 6 der G O W E U - V vor, daß diese die Beglaubigung aufgrund offizieller Dokumente, die ihr die Parlamente oder Regierungen der Mitgliedstaaten oder der Präsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarates vorlegen, selbst vornimmt. Auch dies geschieht aber nur vorbehaltlich einer Ubereinstimmung mit der späteren Bestätigung durch die Parlamentarische Versammlung des Europarates. Im Zweifelsfall wird ein Delegierter bis zur Entscheidung durch die Versammlung vorläufig, aber mit vollen Rechten zugelassen 38 . Das Beglaubigungsverfahren hat auch Bedeutung für die Dauer der Amtspe- 4 0 riode der Abgeordneten: Sie beginnt mit dem Datum, an dem der Präsident der Dauer der Parlamentarischen Versammlung des Europarates die förmliche Bestätigung der Amtsperiode Beglaubigungsschreiben übermittelt bzw. die WEU-Versammlung sie im Ausnahmefall selbst vornimmt, und endet — außer durch Tod oder Rücktritt — nur durch Ablauf des Zeitraumes der Entsendung durch das nationale Parlament oder durch Widerruf der Beglaubigung durch die Parlamentarische Versammlung des Europarates (Regel 8 G O WEU-V). H . G . SCHERMERS International Institutional Law, Bd. 1, 2. Aufl., 1977, S.237. » Vgl. F n . l . 35 B G B l . 1951 I S. 397. 36 B G B l . 1953 I S. 779. 37 Die jeweiligen Abgeordneten und ihre Stellvertreter sind namentlich aufgeführt im Amtlichen Handbuch des Deutschen Bundestages, 11. Wahlperiode, hrsg. vom Deutschen Bundestag, 1987, S. 51. 38 The Parliamentary Assembly ( F n . 3 ) S. 278 f. 33

8. Teil: D a s Parlament in seinen organschaftlichen Außenbeziehungen

1668

41 Die Unterrichtung des Deutschen Bundestages über die Arbeit der VersammUnterrichtung l u n g der W E U erfolgt in der für die Berichte aus allen zwischenstaatlichen Versammlungen üblichen Weise 39 . 4. Zuständigkeiten 4 2 Die Versammlung der W E U nimmt gem. Art. IX des Brüsseler Vertrages den Entgegennahme des jährlichen Bericht des Rates der W E U über seine Tätigkeit, insbesondere über die Jahresberichts

R ü s t u n g s k o n t r o

H

e

entgegen.

Über den Umfang der Berichtspflicht in militärischen Fragen kommt es gelegentlich zu Kontroversen: Der Rat der W E U betrachtet die N A T O als grundsätzlich vorrangig zuständig in Fragen der militärischen Verteidigung und unterrichtet deshalb zum Teil nur eingeschränkt über die Aspekte der europäischen Sicherheitspolitik, während die Versammlung der W E U auch hier eine selbständige Überwachungs- und entsprechend eine umfassende Berichtspflicht des Rates annimmt 40 . Für die Entgegennahme des Jahresberichts ist folgendes Verfahren vorgesehen: Der Bericht wird zunächst allen Delegierten und ihren Stellvertretern vorab schriftlich übermittelt. Sodann befassen sich die zuständigen Ausschüsse mit dem Bericht, die dabei das Recht haben, Fragen dazu an den Rat zu richten. Der Text der Fragen ist der Versammlung zusammen mit den Antworten in den Stellungnahmen der Ausschüsse mitzuteilen. Verweigert der Rat unter Berufung auf das öffentliche Interesse Europas eine Antwort, so sind die Gründe hierfür anzugeben. Mit Zustimmung des Rates kann die Versammlung zu bestimmten Fragen des Jahresberichts Untersuchungsausschüsse einsetzen (Art. VII lit. f Charta WEU-V). Der Vorsitzende des Rates soll den Jahresbericht sodann in der Vollversammlung vortragen und vertreten. 43 Die Versammlung nimmt den Bericht mit einfacher Mehrheit an. Ein Antrag, Annahme oder ¿ ε η Bericht ganz oder teilweise abzulehnen, muß schriftlich von mindestens zehn Ablehnung Abgeordneten eingebracht werden. Über ihn darf frühestens nach Ablauf von 24 Stunden abgestimmt werden; seine Annahme bedarf der Mehrheit der Mitglieder der Versammlung (Art. V lit. d-h Charta W E U - V ; Regel 27 G O WEU-V). Gerade bei der Möglichkeit, den jährlichen Bericht des Rates abzulehnen, zeigt sich, daß die Befugnisse der Versammlung doch in gewissem Maße über diejenigen einer rein beratenden Institution hinausgehen. Zwar bindet eine solche Ablehnung den Rat rechtlich nicht, übt aber doch einen beträchtlichen politischen Druck aus 41 . Im Juni 1967 hat die Versammlung zum ersten Mal den Bericht des Rates zurückgewiesen 42 .

" 40

41

42

Siehe oben Rdn. 20. E.BAUER in: K. STRUPP/H.-J. SCHLOCHAUER Wörterbuch des Völkerrechts, B d . 3 , 2 . A u f l . , 1962, S. 835; K . IPSEN Rechtsgrundlagen und Institutionalisierung der atlantisch-westeuropäischen Verteidigung, 1967, S. 65 f; H . F . KÖCK /P.FISCHER G r u n d z ü g e des Rechts der internationalen Organisationen, 1981, S . 2 6 3 . J. KÖPFER in: Nordatlantikpakt — Warschauer Pakt, hrsg. von der Bayerischen Landeszentrale für Politische Bildungsarbeit, 2. Aufl., 1984, S. 129. F. H . M . POSSEN in: International organization and integration ( F n . 2 5 ) S . 6 ; The Parliamentary Assembly — Procedure and Practice (Fn.3) S. 280.

§61

Europarat, W E U , N A T O , Europäisches Parlament (SCHWEITZER)

1669

Hinsichtlich weiterer Zuständigkeiten geht Art. I Charta W E U - V erheblich 4 4 über die im Brüsseler Vertrag ausdrücklich eingeräumten hinaus. Danach nimmt Weitere die Versammlung die parlamentarische Funktion innerhalb der W E U wahr und Zustandigkei behandelt alle Themen, die sich aus dem Vertrag ergeben oder ihr vom Rat zur Stellungnahme vorgelegt werden. Das Mandat der Versammlung ist mithin ausgesprochen weit gefaßt: Bereits aus der Präambel des Brüsseler Vertrages wird deutlich, daß die W E U über ein Bündnis der kollektiven Selbstverteidigung hinaus die Einheit Europas fördern, der fortschreitenden Integration Antrieb geben und zu diesem Zweck die Zusammenarbeit auf wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Gebieten stärken soll. Damit hat aber auch die Versammlung die Kompetenz, all diese Fragen zu behandeln; sie kann sich praktisch mit allen Europa betreffenden Themen befassen 43 , ohne allerdings eine Entscheidungskompetenz zu besitzen. Insoweit hat also auch sie nur beratende Funktion 4 4 . 5. Beschlußfassung Bei den Abstimmungen in der Versammlung genügt im Regelfall die einfache 4 5 Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Lediglich bei Änderungen der Charta oder Abstimmungen der Geschäftsordnung oder bei einer Ablehnung des Jahresberichts ist die absolute Mehrheit der Delegierten, bei Wahlen zum Präsidenten und zu den Vizepräsidenten die bereits genannten besonderen Mehrheiten erforderlich (Regeln 34, 35 G O WEU-V). Die Abstimmungen erfolgen gewöhnlich durch Erheben von den Plätzen, auf Antrag von mindestens zehn Abgeordneten namentlich. Wahlen erfolgen in geheimer Abstimmung. Die Versammlung gilt als beschlußfähig, solange die Beschlußunfähigkeit nicht festgestellt ist. Die Beschlußfassung über einen Beratungsgegenstand kann in vier verschie- 4 6 denen Formen geschehen (Art.V lit. a Charta W E U - V ; Regel 28 A b s . 2 G O Formender Beschlußfassung WEU-V): — Empfehlungen können in jeder Angelegenheit, die sich auf die Ziele der W E U bezieht oder sonst mit ihr in Zusammenhang steht, abgegeben werden. Sie werden an den Ministerrat gerichtet. — Entschließungen geben den Standpunkt der Versammlung zu einem Beratungsgegenstand wieder und werden vom Präsidenten an nationale Parlamente, Regierungen und internationale Organisationen übermittelt. — Stellungnahmen dienen der Versammlung dazu, gegenüber dem Rat ihre Meinung zu äußern. — Anweisungen und Entscheidungen schließlich ergehen hinsichtlich interner Angelegenheiten der Versammlung, ihrer Ausschüsse oder Mitglieder.

43

A . H . ROBERTSON ( F n . 12) S. 1 3 6 ff.

«

A . H . ROBERTSON ( F n . 12) S. 1 3 8 ; I.SEIDL-HOHENVELDERN ( F n . 6 ) R d n . 1 2 1 2 ,

1213.

1670

8. Teil: D a s Parlament in seinen organschaftlichen Außenbeziehungen

IV. Nordatlantische Versammlung 1. Stellung im Rahmen der N A T O 47 Die Nordatlantische Versammlung ist eine interparlamentarische Einrichtung innerInformelles Gremium h a l b der abgegebenen Stimmen: Art. 24 Abs. 3 EGKSV, Art. 144 Abs. 2 E W G V und Art. 114 Abs. 2 E A G V (Mißtrauensvotum gegen die Kommission), Art. 78 § 8 EGKSV, Art. 203 Abs. 8 E W G V und Art. 177 Abs. 8 EAGV (Ablehnung des gesamten Haushalts). — Doppelte Mehrheit = Mehrheit der Mitglieder und 3/s der abgegebenen Stimmen: Art. 78 § 6 EGKSV, Art. 203 Abs. 6 E W G V und Art. 177 Abs. 6 E A G V (Ablehnung oder Abänderung von Haushaltsansätzen des Rates); Art. 78 § 9 Abs. 5 EGKSV, Art. 203 Abs. 9 E W G V und Art. 177 Abs. 9 E A G V (Feststellung eines Höchstsatzes der nichtobligatorischen Ausgaben); Art. 78 b §2 EGKSV, Art. 204 Abs. 3 E W G V und Art. 178 Abs. 3 E A G V (Genehmigung von nichtobligatorischen Ausgaben ohne Haushaltsplan). — Doppelte Mehrheit = % der Mitglieder und 3A der abgegebenen Stimmen: Art. 95 Abs. 4 E G K S V (kleine Vertragsrevision). Daneben hat das Parlament in seiner Geschäftsordnung weitere Ausnahmen festgelegt. So ist eine Beschlußfassung durch die Mehrheit der dem Parlament tatsächlich angehörenden Abgeordneten vorgesehen für die Entschließung, eine Plenarsitzung außerhalb des Sitzungsortes abzuhalten (Art. 10 Abs. 2 GO), und den Antrag auf Verweigerung der Entlastung der Kommission bezüglich der Haushaltsführung (Art. 63 G O in Verbindung mit Art. 5 der Anlage V zur GO). Für den Ausschluß der Öffentlichkeit von den Sitzungen sieht Art. 81 G O eine Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen vor. Diese Abweichungen der G O

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8. Teil: Das Parlament in seinen organschaftlichen Außenbeziehungen

vom vertraglichen Grundsatz sind, da es sich nur um Fragen der parlamentsinternen Organisation handelt, durch das Prinzip der Selbstorganisation und der Geschäftsordnungsautonomie gedeckt. 111 Das Verfahren der Beschlußfassung ist in den Artikeln 89 ff G O geregelt. Verfahren Grundsätzlich wird durch Handzeichen, also offen abgestimmt (Art. 94 Abs. 1 G O ) . Geheime Abstimmungen finden nur bei Ernennungen oder auf Antrag von einem Fünftel der Mitglieder des Parlaments statt (Art. 97 G O ) . Eine Abstimmung kann außer durch Handzeichen auch durch Aufstehen oder Sitzenbleiben (Art. 94 Abs. 2 G O ) , auf Antrag einer Fraktion oder 23 Abgeordneter namentlich (Art. 95 G O ) oder nach Anordnung des Präsidenten mittels elektronischer Abstimmungsanlage vorgenommen werden (Art. 96 G O ) . Die Abgeordneten müssen jedoch auf jeden Fall persönlich abstimmen, da eine Vertretung gemäß Art. 93 G O unzulässig ist.

VI. Vergleich der zwischenstaatlichen Versammlungen untereinander 112 Bei einem Vergleich der behandelten zwischenstaatlichen Versammlungen mit Maßstäbe parlamentarischem Charakter untereinander" 9 ist es zweckmäßig, zwischen einem Strukturvergleich und einem Funktionsvergleich zu unterscheiden. 1. Strukturvergleich

113 Der Strukturvergleich umfaßt dabei die Zusammensetzung und Organisation der Kriterien

Versammlungen sowie die Art der Bestellung ihrer Abgeordneten. Bezüglich der Zusammensetzung ist eine weitgehende Ubereinstimmung festZusammensetzung zustellen. Alle vier Organe bestehen aus Parlamentariern, wobei die Anzahl der Sitze jeweils nach einem bestimmten Verteilungsschlüssel zwischen den Mitgliedstaaten aufgeteilt wird. Als ungefährer Kontingentierungsmaßstab wird dabei die Bevölkerungszahl der Staaten herangezogen.

114

115 Bestellung

Große Unterschiede sind dagegen bei der Bestellung der Abgeordneten festzustellen. Als einzige Versammlung setzt sich das Europäische Parlament aus direkt von der Bevölkerung gewählten Abgeordneten zusammen. Die Abgeordneten der Beratenden Versammlung des Europarates und der Versammlung der Westeuropäischen Union werden durch eine Wahl innerhalb der nationalen Parlamente bestimmt. Die Bestellung der Vertreter für die Nordatlantische Versammlung erfolgt schließlich ohne förmliche Wahl dadurch, daß sie von den Fraktionen der nationalen Parlamente benannt werden. Diese Unterschiede in der Bestellung der Abgeordneten zeigt eine Abstufung in der demokratischen Legitimation. Die Tatsache, daß die Abgeordneten in drei der Versammlungen, nämlich im Europarat, in der W E U und in der N A T O , den nationalen Parlamenten entstammen und somit Doppelmandate haben, führte wegen der Mehrbelastung dazu, daß E. LOCHEN A Comparative Study of certain European Parliamentary Assemblies, European Yearbook, Vol. I V (1958), S. 150ff; H . - H . LINDEMANN Parliamentary Assemblies, International, in: R. BERNHARDT (Hrsg.) Encyclopedia of Public International Law, Bd. 5, 1983, S. 228 ff.

§61

Europarat, W E U , N A T O , Europäisches Parlament (SCHWEITZER)

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in diesen Gremien für jeden Delegierten ein Stellvertreter bestimmt wird. Im direkt gewählten Europäischen Parlament, in dem Doppelmandate zwar nicht ausgeschlossen sind, aber in der Praxis kaum vorkommen 1 2 0 , besteht dafür keine Notwendigkeit. Hinsichtlich der Organisation der vier Versammlungen sind weitgehende Parallelitäten festzustellen. Alle vier sind parlamentsartig strukturiert. Sie halten Plenarsitzungen ab, wählen ein Leitungsorgan in Form eines Präsidiums mit einem Präsidenten an der Spitze und setzen zur Bewältigung ihrer Aufgaben Ausschüsse ein. Dabei haben alle vier Versammlungen innerhalb der jeweiligen internationalen Organisation einen hohen Grad an Selbstorganisation aufzuweisen. So gibt sich jede von ihnen eine eigene Geschäftsordnung und regelt darin ihren inneren Aufbau sowie die Besetzung und die Arbeitsweise der einzelnen parlamentarischen Arbeitseinheiten. Unterschiede in der Organisation gibt es nur bezüglich des Grades der Internationalisierung. So bilden die Abgeordneten der Nordatlantischen Versammlung nationale Delegationen, während sie sich in den anderen Versammlungen in politischen Fraktionen formiert haben. A m weitesten ist diese Entwicklung, weg vom Vertreter des jeweiligen Staates hin zum Europaparlamentarier, im Europäischen Parlament fortgeschritten. Dies zeigt sich schon in der Sitzordnung. Im Gegensatz zur alphabetischen Sitzordnung der Beratenden Versammlung des Europarates gliedert sich die Sitzordnung im Europäischen Parlament nach den in den nationalen Parlamenten üblichen Fraktionssektoren.

116

Organisation

117

Fraktionsbildung

2. Funktionsvergleich Der Funktionsvergleich zwischen den Versammlungen behandelt ihre Stellung innerhalb der jeweiligen internationalen Organisation sowie ihre Befugnisse. Hierbei gibt es schon im Hinblick auf die Einsetzung Unterschiede. Während das Europäische Parlament und die Beratende Versammlung des Europarates schon mit der Gründung von E G und Europarat geschaffen wurden, basiert die Versammlung der Westeuropäischen Union auf einer Änderung des Gründungsvertrages (Brüsseler Vertrag von 1948) im Jahre 1954. Demgegenüber fehlt der Nordatlantischen Versammlung bis heute eine formelle Rechtsgrundlage. Sie ist formell betrachtet gar keine offizielle Einrichtung innerhalb der N A T O , während die anderen Versammlungen jeweils ein Organ innerhalb ihrer Organisationen sind.

118

Kriterien

119

Organcharakter

Eigentlich keinerlei Befugnisse besitzt die Nordatlantische Versammlung. Sie 120 befaßt sich mit allen politischen Fragen, die Aufgabengebiete der N A T O berühren, Befugnisse und äußert ihre Meinung dazu in Form von Empfehlungen und Entschließungen, ohne jedoch eine förmliche Beschlußkompetenz zu haben. Sie dient daher primär dem Meinungsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten der N A T O auf parlamentarischer Ebene. 120

Von den deutschen Abgeordneten übte 1987 keiner mehr ein Doppelmandat aus, ab 1988 wieder einer.

1690

8. Teil: D a s Parlament in seinen organschaftlichen Außenbeziehungen

Demgegenüber ist die Beratende Versammlung des Europarates nach dessen Satzung als vollwertiges Beratungsorgan ausgestaltet. Neben dieser Beratungsfunktion hat sie gewisse Befugnisse bei der Besetzung der Organe der Europäischen Menschenrechtskonvention und wirkt bei der Änderung des sie betreffenden V. Kapitels der Satzung des Europarates mit. Ebenfalls Beratungsfunktionen übt die Versammlung der Westeuropäischen Union aus. Darüber hinaus hat sie durch die Möglichkeit, den jährlichen Bericht des Rates abzulehnen, eine gewisse Kontrollfunktion. Da der Rat der Westeuropäischen Union an diese Ablehnung nicht gebunden ist, ist dies allerdings nur eine politische Kontrolle. Die meisten Zuständigkeiten besitzt das Europäische Parlament. Es übt weitgehende Beratungsbefugnisse sowie einige echte Kontrollkompetenzen aus, die, zumindest gegenüber der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, auch sanktionsbewehrt sind. Außerdem ist es durch Mitwirkungsbefugnisse an der Rechtsetzung der Europäischen Gemeinschaften beteiligt und besitzt einige echte Entscheidungsbefugnisse. 121 Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß das Europäische Parlament als Parlamentscharakter einziges als Parlament im herkömmlichen Sinne bezeichnet werden kann. Zwar sind auch beim Europäischen Parlament starke Funktionsdefizite im Vergleich zur klassischen Parlamentsdefinition festzustellen, dabei ist aber zu berücksichtigen, daß auch die Europäischen Gemeinschaften als internationale Organisationen nicht die politische Struktur einer parlamentarischen Demokratie aufweisen. Demgegenüber sind die Beratende Versammlung des Europarates und die Versammlung der Westeuropäischen Union als parlamentsartig organisierte Beratungsorgane von Europarat und Westeuropäischer Union einzustufen. Die Nordatlantische Versammlung ist schließlich lediglich als parlamentsartig organisiertes Forum des Meinungsaustausches zwischen den Mitgliedstaaten der N A T O zu qualifizieren.

VII. Vergleich zu nationalen Parlamenten 1. Strukturvergleich 122 Die vier zwischenstaatlichen Versammlungen unterscheiden sich hinsichtlich Zusammensetzung d e r Zusammensetzung von nationalen Parlamenten insoweit, als — außer beim Europäischen Parlament — vorgesehen ist, für die Mitglieder Stellvertreter zu ernennen, die im Fall der Verhinderung eines Delegierten diesen mit vollen Rechten vertreten. Dies ist generell bei nationalen Parlamenten nicht üblich; hier ist vielmehr das Mandat an die Person gebunden, und nur beim Ausscheiden eines Abgeordneten rückt ein Nachfolger nach. Die Möglichkeit einer Vertretung soll die zahlenmäßig stets vollständige Repräsentierung jedes Mitgliedstaates in den zwischenstaatlichen Versammlungen sicherstellen. 123 Die Organisation der vier zwischenstaatlichen Versammlungen gleicht der Organisation ¿ e r nationalen Parlamente. Wie diese haben sie sich — zumeist in den Geschäftsordnungen, die sie sich kraft ihres Organisationsrechtes gegeben ha-

§61

Europarat, W E U , N A T O , Europäisches Parlament (SCHWEITZER)

1691

ben — eine im wesentlichen gleiche O r g a n i s a t i o n g e s c h a f f e n , die m a n in d e n nationalen P a r l a m e n t e n ebenfalls v o r f i n d e t . D a z u g e h ö r e n ein P r ä s i d i u m , an dessen S p i t z e ein P r ä s i d e n t steht, welcher als o b e r s t e s repräsentatives u n d leitendes O r g a n f u n g i e r t . J e d e V e r s a m m l u n g hat A u s s c h ü s s e , m a n c h m a l auch U n t e r a u s s c h ü s s e eingesetzt, in d e n e n ein G r o ß t e i l d e r politischen Detailarbeit geleistet wird. J e d e V e r s a m m l u n g hat schließlich ein (General-)Sekretariat als v e r w a l t u n g s t e c h n i s c h e n U n t e r b a u . Lediglich die S t ä n d i gen A u s s c h ü s s e bei E u r o p a r a t und N A T O b z w . d e r P r ä s i d i a l a u s s c h u ß bei d e r W E U finden keine Parallele in den nationalen P a r l a m e n t e n . D a s beruht d a r a u f , d a ß die zwischenstaatlichen V e r s a m m l u n g e n nicht w i e nationale P a r l a m e n t e in P e r m a n e n z , s o n d e r n n u r w ä h r e n d relativ k u r z e r S i t z u n g s p e r i o d e n tagen. E s gilt also, eine o r d n u n g s g e m ä ß e F o r t f ü h r u n g der p a r l a m e n t a r i s c h e n A r b e i t sicherzustellen, w o f ü r im wesentlichen die Ständigen A u s s c h ü s s e v e r a n t w o r t l i c h sind. Parallelen z u d e n nationalen P a r l a m e n t e n weist d a g e g e n das erweiterte P r ä s i d i u m des E u r o p ä i s c h e n P a r l a m e n t s auf, welches die F u n k t i o n eines p e r m a n e n t e n P r ä s i d i u m s mit E l e m e n ten eines Ä l t e s t e n r a t e s . v e r b i n d e t . Wie in den nationalen Parlamenten bilden die A b g e o r d n e t e n auch in z w i s c h e n staatlichen V e r s a m m l u n g e n F r a k t i o n e n nach ihrer politischen Z u g e h ö r i g k e i t . E i n e A u s n a h m e stellt lediglich die N o r d a t l a n t i s c h e V e r s a m m l u n g d a r , in der n a t i o n a l e D e l e g a t i o n e n gebildet w e r d e n . In der B e s t e l l u n g der A b g e o r d n e t e n unterscheiden sich die V e r s a m m l u n g e n a m 124 meisten v o n nationalen Parlamenten. D i e z u e n t s e n d e n d e n A b g e o r d n e t e n w e r d e n Bestellung nicht v o m V o l k gewählt, s o n d e r n v o n d e n nationalen P a r l a m e n t e n nach jeweils differierenden V e r f a h r e n aus ihrer Mitte b e s t i m m t . D a m i t fehlt d e n D e l e g i e r t e n in den V e r s a m m l u n g e n die direkte d e m o k r a t i s c h e L e g i t i m a t i o n ; lediglich i n d i r e k t k ö n n e n sie ihr M a n d a t v o m Willen der Wähler ableiten. E i n e A u s n a h m e bildet allerdings das E u r o p ä i s c h e P a r l a m e n t . D o r t w e r d e n die A b g e o r d n e t e n u n m i t t e l b a r v o n den V ö l k e r n der Mitgliedstaaten der E u r o p ä i s c h e n G e m e i n s c h a f t e n g e w ä h l t .

2. Funktionsvergleich D i e zwischenstaatlichen V e r s a m m l u n g e n haben die Stellung eines O r g a n s d e r 125 jeweiligen internationalen O r g a n i s a t i o n , welcher sie z u g e h ö r i g sind. D a v o n a u s g e - Organcharakter n o m m e n ist die N o r d a t l a n t i s c h e V e r s a m m l u n g . Sie ist kein O r g a n der N A T O u n d hat auch keine f o r m e l l e R e c h t s g r u n d l a g e . D i e nationalen P a r l a m e n t e sind d e m g e g e n ü b e r i m m e r d u r c h w e g S t a a t s o r g a n e im V e r f a s s u n g s r a n g . D i e V e r s a m m l u n g e n f u n g i e r e n wie die P a r l a m e n t e als Institutionen der politi- 126 Befugnisse schen M e i n u n g s - u n d W i l l e n s b i l d u n g ; Integration ist stets eines der H a u p t z i e l e . D i e A u s s t a t t u n g mit B e f u g n i s s e n ist z u r E r r e i c h u n g dieser Ziele allerdings n u r rudimentär. L e d i g l i c h das E u r o p ä i s c h e P a r l a m e n t ist in g e r i n g e m M a ß e a m R e c h t s e t z u n g s v e r f a h r e n innerhalb der G e m e i n s c h a f t e n beteiligt; allen anderen V e r s a m m l u n g e n fehlt es auf d i e s e m den P a r l a m e n t e n ureigensten S e k t o r völlig an B e f u g n i s s e n . Sie sind nicht einmal K o n t r o l l o r g a n e ( A u s n a h m e : A n n a h m e / A b l e h n u n g des J a h r e s b e r i c h t s d u r c h die V e r s a m m l u n g d e r W E U ) , s o n d e r n dienen lediglich der B e r a t u n g o d e r bei der N A T O ü b e r h a u p t n u r als F o r m des M e i n u n g s austausches. Ihre p a r l a m e n t a r i s c h e F u n k t i o n e r s c h ö p f t sich also darin, D e n k -

1692

8. Teil: D a s P a r l a m e n t in seinen organschaftlichen A u ß e n b e z i e h u n g e n

anstoße zu geben, deren Umsetzung dann den mit Kompetenzen ausgestatteten internationalen Organen bzw. den zuständigen nationalen Stellen obliegt.

VIII. Bundestag und zwischenstaatliche Versammlungen 127 Die Verbindungen des Bundestages mit den zwischenstaatlichen Versammlungen K e i n E i n f l u ß auf die Willensbildung

128 B e s t e l l u n g der Abgeordneten

129 Doppelmandate

130 Unterrichtung

131 K o n f e r e n z der Präsidenten der europäischen parlamentarischen Versammlungen

sind nur als lose einzustufen. Insbesondere hat der Bundestag keine rechtliche Möglichkeit, auf die Willensbildung innerhalb der Versammlungen einzuwirken. Die Abgeordneten aller vier behandelten Versammlungen sind dem Bundestag gegenüber weisungsfrei und unabhängig. Eine grundsätzliche Verbindung besteht darin, daß der Bundestag die Abgeordneten und deren Stellvertreter zu den Versammlungen von Europarat und W E U durch Wahl aus seiner Mitte bestellt, wobei die Abgeordneten in beiden Versammlungen personengleich sind 121 . Schwächer ist die Verbindung zur Nordatlantischen Versammlung, deren Abgeordnete und Stellvertreter von den Fraktionen des Bundestages benannt werden, ohne daß eine Wahl durch das Plenum stattfindet 122 . Uberhaupt keinen Einfluß hat der Bundestag auf die Bestellung der Abgeordneten des Europäischen Parlaments, die direkt vom Volk gewählt werden. Durch diese Art der Bestellung entstehen für die Abgeordneten in der Versammlung von Europarat, N A T O und W E U Doppelmandate. Beim Europäischen Parlament sind sie rechtlich möglich 123 , in der Praxis aber seit 1986 nicht mehr existent 124 . Diese Doppelmandate bedingen eine zumindest faktische Verbindung zwischen den Versammlungen und dem Bundestag. Dies wirkt sich insbesondere im Bereich der Unterrichtung aus. Die Abgeordneten der Versammlungen berichten im Bundestag über ihre Tätigkeit in Form von Vorlagen im Sinne von § 75 Abs. 1 lit. e G O B T . Solange beim Europäischen Parlament keine Doppelmandate existieren, entfällt diese Möglichkeit der Unterrichtung. Diese findet vielmehr in Form der offiziellen Mitteilung von Entschließungen des Europäischen Parlaments durch dessen Generalsekretär statt. Die Entschließungen gelten nach allgemeiner Ansicht als Vorlagen im Sinne von § 75 Abs. 1 lit. e G O B T . Eine weitere Unterrichtung erfolgt durch die Bundestagsverwaltung 125 . Schließlich existiert auf der rein informellen Ebene eine Einrichtung, die die Verbindung der nationalen Parlamente mit den zwischenstaatlichen Versammlungen fördert, nämlich die Konferenz der Präsidenten der europäischen parlamenta-

S. o. R d n . 30. S. o . R d n . 60. A r t . 5 der A k t e z u r E i n f ü h r u n g allgemeiner unmittelbarer Wahlen der A b g e o r d n e t e n der V e r s a m m l u n g v o m 20. S e p t e m b e r 1976 (Fn. 71). E r s t seit 1988 gibt es d u r c h das N a c h r ü c k e n eines B u n d e s t a g s a b g e o r d n e t e n ins E P wieder ein Doppelmandat. S. o. R d n . 90. In einer Entschließung v o m 16. F e b r u a r 1989 ( A B l . 1989, N r . C 6 9 , S. 149 ff) spricht sich d a s E P f ü r eine verstärkte Z u s a m m e n a r b e i t mit den nationalen Parlamenten auf allen Sachgebieten aus.

§ 61

Europarat, W E U , N A T O , Europäisches Parlament (SCHWEITZER)

1693

rischen Versammlungen 126 . Sie besteht aus den Präsidenten der Parlamente der Mitgliedstaaten des Europarates, des Europäischen Parlaments, der Beratenden Versammlung des Europarates und der Versammlung der Westeuropäischen Union. Dazu kommen die Generalsekretäre bzw. Direktoren der jeweiligen parlamentarischen Versammlungen und einige weitere Delegationsmitglieder. Die Konferenz hat keine vertragliche Grundlage, keine Organisation und tagt an wechselnden Orten. Behandelt werden jeweils Themen von spezieller EGBedeutung und von allgemeiner Bedeutung. Der Bundestag arbeitet an dieser Konferenz mit. Daneben existieren einige Einrichtungen, die die Zusammenarbeit zwischen 132 den Parlamenten fördern sollen. Zu nennen sind dabei insbesondere die Aus- Sonstige schüsse der Versammlungen von Europarat und Westeuropäischer Union' 27 , die Elnnc htungen sich speziell mit dieser Zusammenarbeit befassen. Der Bundestag seinerseits hat 1979 ein „Sekretariat der deutschen Vertreter im Europäischen Parlament" eingerichtet, das die Kontakte zwischen den deutschen Abgeordneten im Europäischen Parlament und dem Bundestag fördert.

126 127

Vgl. dazu ausführlich E. THÖNE-WILLE Die Parlamente der E G , 1984, S. 183 ff. S. o. Rdn. 13 und R d n . 3 5 .

V. Vertretung des Bundestages in außerparlamentarischen

Gremien

§62 Verwaltungs-, Aufsichts- und Mitwirkungsgremien mit parlamentarischer Beteiligung R . PETER

DACH

I. Merkmale der Beteiligungsgremien Der Deutsche Bundestag besetzt nicht nur eigene Untergliederungen mit Abgeordneten, er entsendet auch Vertreter in eine Reihe von Gremien außerhalb des Bundestages. Hier werden nur diejenigen Entsendungen dargestellt, für die letztlich der Bundestag als Ganzer verantwortlich ist. 1. Entsendung außerhalb der V e r a n t w o r t u n g des Bundestages Daneben gibt es eine ganze Reihe von Einrichtungen, in deren Organe ebenfalls 1 Abgeordnete oder Personen aus dem politischen Raum im weitesten Sinne „entsandt" E n t s e n d u n g nicht durch den B u n d e s t a g werden, bei denen dies aber nicht dem Bundestag zugerechnet werden kann, sondern etwa den Fraktionen oder einzelnen von ihnen. Als Beispiele seien genannt: — — — — —

Absatzförderungsfonds der deutschen Land-, Forst- und Ernährungswirtschaft Deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit Deutsches Atomforum Goethe-Institut Studentenwerk

— Vereinigung technischer Uberwachungsvereine. Diese Liste ließe sich um ein Vielfaches verlängern. Sie ist auch niemals auf Dauer festgeschrieben, da wegen der Formlosigkeit der Beteiligung von Politikern regelmäßig Vereinigungen hinzukommen oder ausscheiden. Wegen dieser Formlosigkeit entziehen sie sich auch einer Beschreibung. Gleichwohl gelten für sie ebenfalls einige der Gesichtspunkte, die bezüglich der Organisationen mit Beschickungsrecht des Bundestages im folgenden genannt werden. 2. Entsendung unter V e r a n t w o r t u n g des Bundestages Auch die Entsendung von Vertretern durch den Bundestag selbst ist von großer Unterschiedlichkeit gekennzeichnet. Die Beschreibung im einzelnen erfolgt unter II. a) Der Anteil der vom Bundestag entsandten Vertreter schwankt zwischen der 2 Hälfte und einem Neuntel des jeweiligen Gremiums. Teils können vom Bundestag Gestaltungsvielfalt nur Abgeordnete entsandt werden, so beim Verwaltungsrat der Deutschen Bundespost, teils können auch andere Personen delegiert werden, so beim Programmbeirat

1696

3 Fraktionsproportionahtat

4 Keine eigentliche Wahl

5 Berechnungsverfahren

8.Teil: D a s Parlament in seinen organschaftlichen Außenbeziehungen

der Deutschen Bundespost. In einigen Fällen handelt es sich rechtlich nur um ein Vorschlagsrecht des Bundestages, so beim erwähnten Programmbeirat, anderenfalls wählt der Bundestag unmittelbar die betreffenden Gremienmitglieder, so bei den Rundfunkräten von Deutschlandfunk und „Deutscher Welle". Gemeinsames Merkmal aller Entsendungen durch den Deutschen Bundestag ist abej- '· Bauwelt 1958, H e f t 40, S . 9 9 2 , 1959, H e f t 3, S . 8 4 . 17 Bauwelt 1959, H e f t 43, S. 1266. 38 H . - C . HOFFMANN Bremen, 1987, S. 85 f. « Bauwelt 1961, H e f t 29, S. 821. 40 Bauwelt 1967, H e f t 6 / 7 , S. 153.

1856

10. Teil: Exkurs

könnte und doch schon wieder durch den Umschwung der Architekturvorstellungen unserer Zeit so fern, daß das rechte Gleichmaß im Urteil nicht aufkommen will 41 ." „Das Marktbild . . . erlitt durch das . . . Haus der Bürgerschaft eine vermeidbare Beeinträchtigung 42 ." c) Düsseldorf, Landtag von

Nordrhein-Westfalen43

Am 15. Juli 1946 teilte der Britische Militärgouverneur R O B E R T S O N K U R T S C H U MACHER und K O N R A D A D E N A U E R mit, daß das Britische Kabinett die Schaffung eines Landes Nordrhein-Westfalen am 28. Juni 1946 gebilligt hatte. Die „Provinz Nordrhein" war entstanden durch die Aufteilung in Besatzungszonen. Der nördliche Teil der alten Rheinprovinz war an die Briten, der südliche Teil an die Franzosen gegangen. Düsseldorf wurde Hauptstadt. Der erste Landtag sollte nicht gewählt, sondern ernannt werden. Die erste Sitzung des Landtags fand im Düsseldorfer Opernhaus am 2. Oktober 1946 statt. In der ersten Zeit mußte sich der Landtag, wie in den meisten anderen Bundesländern, mit provisorischen Räumen zufriedengeben. 28 Für die Arbeitssitzungen wählte man in den ersten „Notjahren" den „Gesoleisitzungen bei den $ a a l« d e r Henkel-Werke in Düsseldorf-Holthausen. „Oft mußten die Sitzungen, Henkelwerken z u Jenen j e c j e s m a l d a s Mobiliar antransportiert wurde, vorzeitig abgebrochen werden, denn der Saal stand außerdem den Städtischen Bühnen zur Verfügung und diente stationierten Truppen als Kinosaal." Der Landtag fühlte sich wie „fahrendes Volk". 1947 begann man mit der Restaurierung des Ständehauses am Schwanenteich, ab 15. Mai 1949 konnte der Landtag seine Sitzungen dort abhalten44. Dennoch erwiesen sich die Verhältnisse im Ständehaus auf die Dauer als unzureichend. Die Mitglieder des Provinziallandtags hatten selten getagt, hatten keine Büroräume, keine Telefonanlagen, keine Presseräume gebraucht, ihnen genügte ein kleiner Plenarsaal. Jetzt, 1949, hatte man ein Land zu vertreten, das fast zweimal so viele Einwohner hatte wie die Schweiz, das von der Fläche wohl auch doppelt so groß war. Es war klar, daß das Haus niemals ausreichen würde. So gab es immer wieder Pläne, es auszubauen oder einen Neubau zu errichten. Es gibt eine Skizze von H A N S S C H W I P P E R T — Erbauer des Plenarsaals des Bundestages — das Haus aufzustocken. Die „Zwänge der Denkmalpflege" standen jedoch einer Umgestaltung des Ständehauses im Wege. 1975 wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben. Im Ausschreibungstext hieß es u.a.: „Den wachsenden Anforderungen der sich weiterentwickelnden und umfangreicher werdenden Parlamentsarbeit konnte das historische Gebäude jedoch trotz zahlreicher Umbauten im Innern schon nicht mehr gerecht werden. Auch der Neubau eines Verwaltungsgebäudes mit Tiefgarage konnte die Schwierigkeiten zwar vorübergehend mildern, aber nicht dauerhaft beseitigen. Dem Parlament fehlten nach Anzahl und Ausstattung die für seine Arbeit erforderlichen Räumlichkeiten in einer für den Arbeitsablauf funktionsgerechten gegenseitigen

41

HOFFMANN o p . cit., S. 86.

42

G . DEHIO B r e m e n — Niedersachsen — Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler, 1977, S. 20. D e r Landtag von Nordrhein-Westfalen — Festschrift 1988. Siehe oben, R d n . 2 1 .

43 44

§69

Parlamentsbauten

(CULLEN)

1857

Zuordnung 4 5 ." Unter den prämiierten Entwürfen gab es den bemerkenswerten von OLAF JACOBSEN aus Düsseldorf — er plante an drei Seiten die Errichtung neuer Bürotrakte in einem gewissen Abstand zum Ständehaus. Die Ausführung scheiterte an einer Bürgerinitiative. Alle Neubaupläne scheiterten zunächst an der Frage des Standortes. Etwa 10 Jahre dauerte die Suche nach einem geeigneten O r t . G r o ß und repräsentativ mußte er sein, nicht zu teuer und in bester Lage. Erschwerend hinzu kamen Bürgerinitiativen, die die Planungen verzögerten. Die Rettung zeichnete sich erst 1978 ab, als die Stadt Düsseldorf auf die Idee kam, den Berger Hafen, ein Hafenbecken südlich der Kniebrücke, aufzugeben. Endlich wußte man, wo man bauen wollte, durfte, konnte.

29

Neubaupläne

Am 30. April 1981 faßte der Landtag den Beschluß, ein neues Gebäude zu errichten. Ein Wettbewerb wurde ausgelobt. Der Wettbewerb brachte 58 Entwürfe. Als Sieger gingen die Architekten FRITZ ELLER, MAIER, ROBERT WALTER u n d P a r t n e r „ e i n s t i m m i g " h e r v o r ; d e r P l a n gefiel

„wohl seiner Funktionalität und Symbolik wegen" [die vielen kreisrunden Säle] 46 . Die ursprünglichen Kosten wurden zunächst von 258 auf 191,75 Millionen herabgedrückt, sind jedoch bis zur Inbetriebnahme auf über 280 Millionen D M gestiegen. Das neue Landtagsgebäude sieht fast perfekt aus und hat rundweg L o b geerntet, zumeist mit Recht. Der runde Plenarsaal gibt den T o n an — alle Fraktions- und Hearing- bzw. Ausschußsäle sind auch kreisrund und mit hellen Hölzern ausgekleidet. Alle Versammlungsräume haben Tageslicht, einige haben spektakuläre Ausblicke auf Rhein, auf Altstadt und Kniebrücke. Was nicht in Elbsandstein verkleidet ist, ist in Glas und Stahl ausgeführt. Die Tragwerkskonstruktion über dem Sitzungssaal ist nicht schamhaft versteckt, sondern dezent verkleidet. Dennoch gibt es Probleme, die durch den Konflikt mit den Baubestimmungen und dem vorhandenen Geld entstanden sind. Nach einer ersten Kalkulation sollte das Haus weit mehr als 250 Millionen D M kosten. Der Grund war die H ö h e des Hauses. Bei Bauten über 25 m H ö h e forderte das Gesetz andere Fundamente, andere Feuerleitwege, was eine deutliche Verteuerung zur Folge gehabt hätte. U m die 25-Meter-Grenze nicht zu überschreiten, wurde daher auf Beschluß des Landtags ein Stockwerk weniger gebaut. Nur: mit dem einen Stockwerk sind 72 Abgeordnetenbüros ungebaut geblieben, und gerade der Wunsch nach mehr Abgeordnetenbüros war ausschlaggebend für den Neubau gewesen. Man hätte etwas Geld an anderer Stelle sparen können. Es gibt zum Beispiel einen runden Vorführraum — für Filme, Dias und Präsentationen verschiedenster Art. Dafür braucht man keine Fenster, und der Raum hat auch keine. N u r — er ist auf Erdgeschoßebene und nach Westen, nach Oberkassel ausgerichtet. Hätte man den Raum unter die Erde gelegt (was leicht möglich gewesen wäre), hätte man

45

C.HACKELSBERGER A r c h i t e k t u r des Staates — D e m o k r a t i e als B a u h e r r , in: I.FLAGGE ( H r s g . ) Architektur des Staates, E i n e kritische Bilanz staatlichen Bauens in N o r d r h e i n - W e s t f a l e n von 1946 bis heute, 1984, S . 2 4 (Zit.: HACKELSBERGER).

46

HACKELSBERGER

S.25.

30

D a s neue Landtagsgebäude für Nordrhein-Westfalen

1858

10. Teil: Exkurs

einerseits die teuere Sandsteinverkleidung gespart und andererseits weitere durch Tageslicht beleuchtete Zimmer, möglicherweise auch für die Abgeordneten, dazu gewinnen können. Ahnliches trifft auf den Technikraum im Nordwesten zu. Er ist ebenfalls fensterlos und mit Sandstein verkleidet. Auch ihn hätte man an anderer Stelle mit weniger Aufwand gut piazieren können. Es steht somit zu befürchten, daß der Wunsch nach U m - bzw. Neubau schon in Kürze laut wird. Inwiefern sich der Plenarsaal als Glücksfall erweist, ist noch nicht klar. Nicht nur ein Abgeordneter hält den Saal lediglich zur Entgegennahme von Regierungserklärungen für geeignet. Doch haben sich die Architekten und Ingenieure mit dem „richtungsorientierten Hören", einem sehr ausgeklügelten System von Mikrophonen und Lautsprechern, das man beim Internationalen Congress Centrum in Berlin abgeguckt hat, etwas einfallen lassen.

d) Hamburg,

Die Bürgerschaft

(Rathaus)*7

31 Die Hamburger Bürgerschaft tagt in einem Gebäude, das 1897 als Hamburger Das Rathaus in Rathaus fertiggestellt worden ist. Dieses Rathaus beherbergt nicht nur die BürgerHamburg s c | l a £ t > s o n d e r n auch die Regierung. Wie alle alten Städte hatte Hamburg ein altes Rathaus (aus dem 13. Jahrhundert), das vielfach umgebaut und verändert worden war, bis es 1842 dem großen Hamburger Brand zum Opfer fiel. Erst 1854 wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben, das Ergebnis jedoch nicht weiter verfolgt, da die Stadt in eine Wirtschaftskrise geriet. Ein zweiter Wettbewerb im Jahre 1876 wurde von den Architekten MYLIUS (aus Frankfurt) und BLUNTSCHLI (aus Zürich) gewonnen. Aber auch sie kamen nicht zum Zuge. Schließlich verbanden sich neun Hamburger Architekten unter der Leitung von MARTIN HALLER zum „Baumeisterbund": dieser hat das Hamburger Rathaus in der Form, wie wir es heute kennen, zwischen 1886 und 1897 ausgeführt. Es ist ein Wunder, daß das Haus in dem schwer zerstörten Hamburg überhaupt überlebt hat. Ja, es ist nahezu der einzige Bau, der so steht wie vor knapp 100 Jahren. Interessanterweise hatte HALLER schon 1880 auf die Defizite des Grundstücks hingewiesen und das repräsentativste Grundstück überhaupt, an der Binnenalster, wo heute das Hotel Vier Jahreszeiten am Jungfernstieg steht, als Rathausstandort empfohlen. Doch war dieses Grundstück nicht zu haben. So begnügte man sich mit einem anderen Grundstück und schuf einen besonders üppigen Bau, in dem es einen Sitzungssaal gibt, der etwa dieselben Abmessungen hat wie der des Reichstagsgebäudes. Es fiel den Hamburgern nach 1945 nicht schwer, dieses Rathaus sofort für parlamentarische Zwecke vorzusehen. WALTER SCHEEL sagte 1974: „Ich beglückwünsche Sie dazu, daß Sie dieses Rathaus ihr eigen nennen. Vielleicht empfindet es nicht jedermann als schön. Entscheidend ist, daß dieses Haus Hamburg überzeugend repräsentiert."

47

H . H I P P Das Hamburger Rathaus, in: Das Rathaus im Kaiserreich, hrsg. von E. M A I / J . PAUL/ S.WAETZOLDT 1982, S.226. Vgl. auch das Standardwerk von H.-J. BRANDT Das Hamburger Rathaus, eine Darstellung seiner Baugeschichte und eine Beschreibung seiner Architektur und künstlerischen Ausschmückung, 1957.

§ 69

1859

Parlamentsbauten (CULLEN)

e) Hannover, Landtag von

Niedersachsen48

Wie so viele Landtage mußte auch der niedersächsische Landtag nach dem 1. Weltkrieg auf Wanderschaft gehen. Zunächst tagte man in den Räumen der Stadthalle. Niedersachsens Parlamentarier haben sich in dem 1817-1842 nach Entwürfen 32 d e s b e r ü h m t e n H a n n o v e r a n e r B a u m e i s t e r s G E O R G LUDWIG LAVES e n t w o r f e n e n ,

Das Leineschloß

klassizistischen Schloß an der Leine eingerichtet. Allerdings ist der Blick heute und seine früheren Nutzungen beeinträchtigt durch die Nachbarschaft des ziemlichen nüchternen, von DIETER OESTERLEN angebauten Plenarsaals aus den 50er Jahren. Das Grundstück, auf dem das Leineschloß steht, kennt eine Bebauung schon seit dem 14. Jahrhundert, als dort ein Mennonitenkloster gestanden hat. Seit 1550 stand hier ein Gebäude, das — nach Brand- und anderen Katastrophen — mehrfach um- und angebaut und ab 1816 von LAVES zum Leineschloß ausgebaut wurde. Zwischen 1642 und 1930 war in diesem Bau über ein Dutzend Behörden untergebracht, u. a. die Renten- und Domänenkammern von Hannover, die Justizkanzlei, Bibliothek, Archiv, sogar das Hoftheater, die Oberzolldirektion, die Generaldirektion des Wasserbaus, und von 1867 bis 1873 auch einige preußische Behörden. Das Gebäude diente auch schon einmal als Landtagsgebäude bzw. parlamentarische Stätte: Am 12. August 1814 wurde hier die erste allgemeine Ständeversammlung des Königreichs Hannover eröffnet. Als Hannover 1866 preußische Provinz wurde, machte man aber dennoch keinen Landtag daraus. Das Haus wurde eine Liegenschaft der Hohenzollern und blieb es bis 1921, als der preußische Staat in Ermangelung eines Thronfolgers das Schloß der Stadt Hannover auf 100 Jahre zur Nutzung überließ. 1936 wurde das Haus zu einem Heeresmuseum und einer Gedenkstätte umgerüstet, was es bis zur großen Zerstörung vom 26. Juli 1943 blieb.

f ) Kiel, Landtag von

Schleswig-Holstein49

Der Landtag von Schleswig-Holstein ist einer der am schlechtesten behandelten der Nachkriegszeit. Auch hier gab es Probleme, geeignete Räume zu finden. Die erste Sitzung des schleswig-holsteinischen Landtags wurde am 26. Februar 1946 im neuen Stadttheater Kiel, dem heutigen Schauspielhaus, abgehalten. Die folgenden Sitzungen fanden in einem tischlosen, unbeheizten Raum im Theater am Wilhelmplatz in Kiel statt. Es gab aber auch Plenarsitzungen im Hörsaal der Milchforschungsanstalt und im Festsaal der pädagogischen Hochschule Hassee, im Hotel Seegarten in Eckernförde, in Flensburg und anderswo. Wegen der Raumnot beklagte sich der Landtagspräsident schon 1947, daß die Situation „unerträglich, unhaltbar, unzumutbar und unzureichend" sei. Die Wanderzeit der Kieler dauerte bis zum 3. Januar 1951, als man in das 1888 erbaute, nach Kriegszerstörungen wiederhergestellte Haus der Marineakademie einzog. Das Gebäude, in seinem Erscheinungsbild „monumental, aber auch heiter", war in gut vierjähriger Bauzeit von dem Berliner Baumeister FRANZ PUHLMANN am Düsternbrook direkt an der Förde errichtet worden. Mit diesem Neubau war die 48

49

G.SCHNATH Das Leineschloß, 1962; Landtag im Leineschloß, hrsg. vom Präsident des Niedersächsischen Landtages, 1985; H.BEYER Der Niedersächsische Landtag, 1980. U . LANGE 100 Jahre Haus an der Förde — von der Manneakademie zum Landeshaus, 1988.

33 Raumnot des Landtags von Schleswig-Holstein

10. Teil: Exkurs

1860

endgültige Entscheidung gefallen, daß die Marineakademie in Kiel bleiben und nicht, wie befürchtet, nach Berlin abwandern würde. Bis 1910 wurden alle Offiziere der Marine hier ausgebildet. Dann wurde ein Neubau der Marineschule in Flensburg in Dienst genommen, und das Gebäude an der Kieler Förde verlor viele seiner Funktionen. Nach dem 1. Weltkrieg wurde die Marineakademie aufgrund der Bestimmungen des Versailler Vertrags ganz aufgelöst. Man richtete daraufhin in dem Gebäude die Marinestation der Ostsee ein. Sie blieb dort bis Mitte 1945. Nachdem sich Schleswig-Holstein 1947 als selbständiges Bundesland konstituiert hatte und man damit auch ein Parlamentshaus brauchte, bot sich das Gebäude der Marineakademie an. Das Haus ist seit nunmehr fast 40 Jahren, in denen es mehrfach umgebaut wurde, ein nach wie vor funktionierendes Parlamentsgebäude an der Kieler Förde. Selbstverständlich nicht ohne Konzession an den gesteigerten Bürobedarf und die Fernsehberichterstattung der neuen Zeit. Im Landeshaus hat man am 6. Oktober 1988 die Einweihung des Hauses vor 100 Jahren gefeiert. g) Mainz, Landtag von Rheinland-Pfalz50 3 4 Im gewissen Sinne hatte das Gebäude bereits früh eine parlamentarische Kaum ein Das Landtag der Bundesrepublik kann auf eine so lange und farbige Geschichte seines Deutschordenshaus Sitzungsgebäudes zurückblicken wie der von Rheinland-Pfalz. Im Jahre 1990 feiern das Land und die Stadt Mainz das 250jährige Bestehen des Deutschordenshauses, des Hauses, das ab 1730 von ANSELM FRANZ R I T T E R VON GRÜNSTEIN errichtet und 1740 seiner Bestimmung übergeben wurde. Geschichte: Als sich in den Jahren 1792 und 1793 die erste deutsche Republik in Mainz etablierte, tagte der rheinische deutsche Nationalkonvent, das Parlament der Mainzer Republik, vom 17. bis 30. März 1793 im Deutschordenshaus51. Danach war das Haus Sitz der Generallandesadministration. Nach Abzug der Franzosen bezog Kurfürst F R I E D R I C H KARL das Haus, doch die Franzosen kamen wieder. Sie besetzten des Gebäude am 29. Dezember 1797 und machten es zum Sitz des französischen Stadt- und Festungskommandanten. ARENS zufolge verweilte N A P O L É O N 1804, 1806, 1808 und 1810 dort. N A P O L É O N hatte vor, aus dem Gebäude einen Kaiserpalast zu machen, doch, wie ein Kenner schreibt, „Die Vorsehung war dagegen" 52 . Zeitweilig war in dem Hause auch eine Artillerieschule untergebracht. Nach den Napoleonischen Kriegen wurde das Haus am 16. Juli 1816 dem Großherzog übergeben. Es wurde „Großherzogliches Schloß", Sitz des Gouverneurs, und blieb es bis 1918. Hier wohnte der Großherzog, wenn er sich in Mainz 50

F. ARENS Beiträge zur Kunstgeschichte und Geschichte des Mainzer Deutschordenshauses, in: Mainzer Zeitschrift, Jg. 56/57

1961/62,

1 9 6 1 , S. 8 7 - 1 1 8 ;

D e n k m a l p f l e g e in

Rheinland-Pfalz,

Jahresbericht V I - V I I , 1951/52-1952/53, S. 144 f; Denkmalpflege in Rheinland-Pfalz, Jahresberichte X I V - X V ,

1 9 5 9 - 6 0 , S. 5 3 - 5 6 ; R . DÖLLING M a i n z e r B a r o c k p a l a i s , R h e i n i s c h e K u n s t s t ä t -

ten, Heft 127, 1977, S . 2 6 - 3 2 ; A.SCHLEGEL Die Baugeschichte des Mainzer Deutschordenshauses, i n : M a i n z e r Z e i t s c h r i f t , J g . 5 6 / 5 7 1 9 6 1 - 6 2 ,

1 9 6 1 , S. 1 - 5 3 ; B . BUBACH-DÖRR / G . MUTH /

J . KOWALEWSKY Landtag Rheinland-Pfalz in Mainz, Neugestaltung des Plenarsaals und der Präsidialräume, o . J . 51

ARENS o p . c i t . , S . 1 1 4 .

52

W. SCHÄFKE Der Rhein von Mainz bis Köln, 1985, S. 76.

§69

P a r l a m e n t s b a u t e n (CULLEN)

1861

aufhielt, hier weilte aber auch WILHELM I. von Preußen. Eine ungewöhnliche Nutzung erfuhr das Haus, als es vom 15. September bis 16. Oktober 1842 der ersten großen allgemeinen deutschen Industrieausstellung als Ausstellungsort diente. 1845 wohnte Königin VICTORIA mit ihrem Prinzgemahl ALBERT dort; 1870 diente es als Quartier für König WILHELM I., der hier BISMARCK, ROON und MOLTKE e m p f i n g .

Vom 14. Dezember 1918 bis 1930 war das Gebäude Wohnsitz des französischen Generals. Als die Besatzung 1930 zu Ende ging und das Haus frei wurde, blieb es ohne Nutzung bis 1942; 1943 wurde hier, bis zum alles vernichtenden Bombenangriff am 27. Februar 1945, die Stadtverwaltung untergebracht. Die französische Militärregierung in Baden-Baden beschloß am 30. August 1946 die Schaffung eines „rheinpfälzischen Landes". Wahlen zur Bildung einer Beratenden Landesversammlung wurden im Herbst 1946 abgehalten. Die Versammlung tagte zunächst — ab 29. November 1946 — im Koblenzer Stadttheater. Die Beratende Landesversammlung beschloß die Verfassung des Landes im Hotel „Rittersturz" auf den Rheinhöhen bei Koblenz am 25. April 1947. Koblenz wurde Hauptstadt. Der Landtag konstituierte sich am 4. Juni 1947 im großen Saal des Koblenzer Rathauses. Für die Landtagsverwaltung wählte man das Verwaltungsgebäude des Städtischen Theaters. Am 26. Mai 1950 beschloß der Landtag, den Sitz der Regierung und des Landtags nach Mainz zu verlegen. Mainz wurde Hauptstadt von Rheinland-Pfalz. Es folgte der Beschluß, das Deutschordenshaus zum Landtag umzubauen. Von November 1950 bis zum 18. Mai 1951 wurde das Haus unter Oberbaurat H. DELP unter Beibehaltung der Fassaden zum Landtagsgebäude wiederaufgebaut 53 . Der rechteckige Plenarsaal erhielt eine einfache, fast fächerförmige Sitzordnung; die Stuckdecken und Lüster aus der alten Zeit blieben. Im Kapellenpavillon richtete man die Bibliothek ein. Weitere Umbaumaßnahmen — speziell der Restaurantanbau — erfolgten 1953. 1959 wurde, unter Protest der Denkmalpflege, der Verbindungstrakt zwischen dem Landtag und dem Zeughaus zum Fraktionstrakt ausgebaut. 1964 wurde der Plenarsaal unter Beibehaltung der Innenmaße „zeitgemäß" eingerichtet. Wie immer genügte dieser Umbau nicht. In der Folgezeit wurden immer neue Anträge auf U m - oder Ausbau gestellt. Ende 1985 wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben; als Sieger ging im August 1986 der Mainzer Architekt JOBST KOWALEWSKY

M a i n z wird Landeshauptstadt

hervor.

Der Plenarsaal wurde in seinen Maßen beibehalten, doch erhielt er eine kreisrunde Sitzordnung. Die erste Sitzung des Landtags im neuen Saal fand am 3. Mai 1987 statt. h) München,

35

Bayerischer Landtag

(Maximilianeum)54

Das imposanteste Parlamentshaus der Bundesrepublik liegt an der Isar — das Maximilianeum. 53

D e n k m a l p f l e g e in R h e i n l a n d - P f a l z , J a h r e s b e r i c h t e V I - V I I , 1 9 5 1 / 5 2 - 1 9 5 2 / 5 3 , S. 144.

54

D i e historische E n t w i c k l u n g des B a y e r i s c h e n Parlaments, 1 9 8 6 ; K . R I E D L Z u r B a u g e s c h i c h t e des M a x i m i l i a n e u m s , 1981.

36

Runde Sitzordnung

10. T e i l :

1862

37 Sitzungen in der Universität

38 Das Maximilianeum

Exkurs

Nach dem 2. Weltkrieg war das Haus des Bayerischen Landtages in der Prannerstraße zerstört, es blieb nichts anderes übrig, als das Haus abzureißen 55 . Das Vorparlament, der Beratende Landesausschuß, trat am 26. Februar 1946 in der Aula der Universität München zusammen. Nach den ersten Wahlen am 30. Juni 1946 wählte man eine Verfassungsgebende Landesversammlung, die in der großen Aula der Münchener Universität tagte. Zur Annahme der neuen Verfassung und für die Zusammensetzung des neuen Landtags mit zwei Kammern — einem Abgeordnetenhaus und einem Senat als Fortsetzung der früheren, 1919 aufgelösten 1. Kammer — wurden am 1. Dezember 1946 Wahlen abgehalten. Erneut trat man in der Großen Aula der Universität zusammen. Da die Universität ihren Lehrbetrieb aufnehmen wollte, mußten die Abgeordneten umziehen, zunächst ins Brunnenhoftheater der Residenz, dann in den Sophiensaal der Oberfinanzdirektion. Am 12. Januar 1949 hatte man die endgültige Lösung gefunden — das Maximilianeum. Auch der Senat war zwei Jahre ohne feste Bleibe; zunächst tagte er ebenfalls in der Großen Aula der Universität, dann im Sophiensaal der Oberfinanzdirektion, und später im Rathaus der Stadt München, bis er am 16. Februar 1949 auch ins Maximilianeum umzog. Dort sind beide Kammern bis heute geblieben. Das Maximilianeum wurde 1857-1874 nach Plänen von FRIEDRICH BÜRKLEIN errichtet. BÜRKLEIN war kurz zuvor als Sieger aus einem „Stil-Wettbewerb" hervorgegangen, den MAXIMILIAN II. im Bemühen um einen eigenständigen bayerischen Stil ausgeschrieben hatte. Als neugotischer Bau begonnen, wurde er ab 1864 - nach MAXIMILIANS Tode — mit einer aufwendigen Fassade im Renaissancestil versehen. Das Maximilianeum dient auch heute noch seiner ursprünglichen Bestimmung als Erziehungsinstitut entsprechend der Studienstiftung (für hochbegabte Studenten) 56 . i) Saarbrücken,

Landtag des

Saarlandesi1

1945 wurde das Saargebiet Teil der französischen Besatzungszone, 1946 jedoch wieder abgetrennt und wirtschaftlich an Frankreich angeschlossen, was besonders in der französischen Währung als Zahlungsmittel zum Ausdruck kam. Dennoch erhielt das Land im Oktober 1947 eine Selbstverwaltung und auch ein Parlament. In der Verfassung vom 15. Dezember 1947 wurde die Loslösung von Deutschland erklärt. Für ihr Landtagsgebäude wählte die Regierung des Saarlandes bereits 1947 das Gebäude der Casino-Gesellschaft.

39 D a s H a u s der „Casino-Gesellschaft"

Linksrheinisch hatte sich schon vor der französischen Revolution die Tradition der Lese- und Geselligkeitsvereine, Abendgesellschaften „für die Herbst- und Winterabende" entwickelt. Der erste entstand 1787 in Bonn; es folgten 1796 der Saarbrückener Verein, 1808 das Koblenzer Kasino, 1818 das Trierer. Erst nach 58 Jahren, nachdem man eine Vielzahl verschiedener Lokale als Versammlungsorte benutzt hatte, beschloß die Saarbrückener Casino-Gesellschaft 55

Siehe o b e n , R d n . 16.

56

E.DRÜEKE D e r Maximilianstil — Z u m Stilbegriff der A r c h i t e k t u r im 19. J a h r h u n d e r t , 1 9 8 1 .

57

Alter Saarbrücken K a l e n d e r 1984, Blatt J u n i ; F . LUTZ D e r B a u m e i s t e r JULIUS CARL RASCHDORFF

(1823-1914)

und

sein

Saarbrücker

Werk,

das

Gebäude

der

Casino-Gesellschaft

( 1 8 6 4 - 6 6 ) , heute Sitz des Saarländischen L a n d t a g e s , unveröffentlichtes M a n u s k r i p t , o h n e O r t , o h n e D a t u m , v o m Landtag des Saarlandes zur V e r f ü g u n g gestellt.

§69

Parlamentsbauten

(CULLEN)

1863

am 7. Mai 1864, ein eigenes Haus zu errichten. Ein Wettbewerb wurde ausgeschrieben; Sieger war JULIUS CARL RASCHDORFF, damals Stadtbaumeister von Köln, später Architekt des Ständehauses in Düsseldorf und des Domes in Berlin. Nach seinem Entwurf und unter der Bauleitung des Trierer Baumeisters JULIUS EMMERICH (der 1874 auch den Plenarsaal des preußischen Herrenhauses in Berlin umbaute), wurde das Gebäude in den Jahren 1865/66 ausgeführt. Von 1866 bis 1938 diente das Gebäude der Casino-Gesellschaft. Das Haus wurde in den vielen Jahren mehrfach umgebaut, auch gab es Anbauten. Während des 1. Weltkrieges diente das Gebäude zur Aufnahme von Kriegsverwundeten. Am 19. März 1938 beschloß der Verein die Selbstauflösung. Das Gebäude wurde dem Nationalsozialistischen Bund deutscher Technik ( N S B D T ) vermacht; 1945 wurde das Haus, in dem sich eine im Auftrage der NS arbeitende Förderanlagenbaufirma etabliert hatte, beschlagnahmt und unter Zwangsverwaltung gestellt. Mit der Konstituierung des Saarländischen Landtages im Oktober 1947 überwies der Verwalter das Haus dem Landtag, der es am 15. Dezember 1947 nach notdürftigen Umbauten als Landtagshaus bezog. Am 31. Januar 1956 beschloß der neugewählte Landtag des Saarlandes die Angliederung an die Bundesrepublik 58 , die am 1. Januar 1957 erfolgte. Aus dem Hause „französischer Prägung" wurde der Landtag des Bundeslandes Saarland. j) Stuttgart,

Landtag

von

Baden-Württemberg

Das Land Baden-Württemberg ist 1952 aus den Ländern Württemberg-Baden (Hauptstadt Stuttgart), Württemberg-Hohenzollern (Hauptstadt Tübingen) und Süd-Baden (Hauptstadt Freiburg im Breisgau) hervorgegangen. Für die ersten Versammlungen der Volksvertretung von Württemberg-Baden 40 (einer nicht gewählten, sondern ernannten vorläufigen Volksvertretung) mußten Württembergwegen der totalen Zerstörung des Württembergischen Ständehauses das Furtbach- Bad en haus, und parallel dazu der Festsaal der Mörikeschule in Stuttgart genügen. Hier trat die Versammlung vom 30. Januar bis zum 19.Juni 1946 zusammen. Nach Wahlen für die Verfassungsgebende Landesversammlung am 30. Juli 1946 trat sie am 15. Juli 1946 erneut im Furtbachhaus zusammen. Von der 35. Sitzung am 18.Juli 1947 an tagte das Parlament in der dem Allgemeinen Bildungsverein gehörenden „Stiftung Arbeiterheim" in der Heusteigstraße 45. Man hatte den Plenarsaal aus einem Festsaal mit Theaterbühne notdürftig zurechtgezimmert. Der Landtagspräsident sprach eine weitverbreitete Auffassung aus, als er sagte: „Wenn viele tausend Opfer einer verhängnisvollen Politik heute zusammengepfercht in Löchern und Winkeln hausen müssen, dann bescheidet sich auch der Landtag und nimmt vorlieb mit den Räumen, die unter den gegebenen Verhältnissen zur Verfügung stehen 59 ." In diesen Räumen tagte man bis zur Vollendung eines eigenen Landtagsgebäudes 1961. Erste parlamentarische Vertretung von Württemberg-Hohenzollern

war die 41

L a n d r ä t e t a g u n g , die v o n CARLO SCHMID am 3. N o v e m b e r 1 9 4 5 n a c h T ü b i n g e n

Wurttemberg-

einberufen wurde. Die Tagungsstätte war variabel — man tagte in der Burg von Hohenzollern 58 59

1. VON MÜNCH Dokumente des geteilten Deutschland, 2. Aufl., 1976, S . X L V . J.WiilK MdL und Landtagsgeschichte von Baden-Württemberg 1945-1984, 1984, S.33.

1864

10. Teil:

Exkurs

Bad Liebenzell, aber die meisten Versammlungen zwischen 1946 und 1952 fanden im Kloster (Schloß) Bebenhausen statt, die erste Sitzung am 22. November 1946. Der erste Landtag nach den freien Wahlen vom 18. Mai 1947 trat am 3. Juni 1947 zusammen — im Kloster (Schloß) Bebenhausen. 42 Baden bildete ein eigenes Land mit Regierungssitz zunächst in Karlsruhe, Baden später in Freiburg. Die Beratende Landesversammlung von Südbaden tagte von 1946 bis 1952 im Kaisersaal des „Kaufhauses". Am 18. Mai 1947 wurde der erste Landtag gewählt. Am 9. März 1952 fanden Wahlen zur Verfassungsgebenden Landesversammlung für alle drei südwestdeutschen Länder statt. Die konstituierende Versammlung fand in Stuttgart statt. Das Stuttgarter Provisorium in der Heusteigstraße blieb nach der Gründung des (neu zusammengesetzten) Landes Baden-Württemberg Landtagsgebäude. Die Suche nach einem neuen Domizil war jetzt unumgänglich. Die hierfür einberufene Kommission stand vor dem Problem: Sollte man, wie in Hannover und wie es auch der Stuttgarter Architekt P A U L B O N A T Z (der auch den Oldenburger Landtag gebaut hatte) vorschlug, das zerstörte Neue Schloß wiederaufbauen und zum Landtagsgebäude ausbauen, oder sollte man ein ganz neues Gebäude errichten? Und wenn ja, wo und wie? Ein etwas halbherziger Wettbewerb wurde 1953 ausgeschrieben. Aus ihm ging hervor, daß das Neue Schloß sich für die Zwecke des Landtages nicht ausbauen ließ60. Der Wettbewerb wurde von den Architekten P E T E R V O N S E I D L E I N und U L R I C H VON A L T E N S T A D T gewonnen, die einen Neubau vorgeschlagen hatten. Ihr Plenarsaal zeigte einen halbrunden Raum mit fächerförmiger Sitzordnung. Man war so entschlossen zu bauen, daß man DM 2 000 000 für den Bau im Etat bereitstellte. Doch gebaut wurde nichts, sondern nur gestritten und debattiert61.

Neubau

1957 wurde ein neuer, engerer Wettbewerb für einen Neubau ausgeschrieben: „Unnötigerweise" 62 . Das neue Gebäude sollte auf dem Gelände zwischen dem Neuen Schloß und dem Theater (Interimstheaterplatz) errichtet werden63. Das Grundstück, das an einen Gewerbebetrieb verpachtet war, mußte für eine siebenstellige Geldsumme abgelöst werden. In der Jury glaubte man, den überarbeiteten Entwurf von S E I D L E I N und A L T E N S T A D T ZU erkennen; er erhielt den ersten Preis. Als die Umschläge geöffnet wurden, stellte sich heraus, daß nicht S E I D L E I N oder A L T E N S T A D T , sondern der völlig unerfahrene Mainzer Architekt K U R T V I E R T E L der Sieger war. 43 Die Grundsteinlegung für das neue Landtagsgebäude fand am 24. Juni 1959 in Stuttgart s t a t t Ende März 1960 war Richtfest. Es entstand ein Streit über die weitere Ausführung, die schließlich dem Stadtarchitekten H O R S T L I N D E übertragen wurde. V I E R T E L ließ sich seinen Verzicht mit D M 8 0 0 0 0 0 ausbezahlen. Neben L I N D E waren jetzt die Architekten E R W I N H E I N L E , A C H I M K I E S S L I N G , H A N S S C H M I D B E R -

60

B a u w e l t 1955, H e f t 33, S . 6 4 4 .

61

BESELER/GUTSCHOW S. X I X .

62

B a u w e l t 1961, H e f t 38, S. 1063. B a u w e l t 1957, H e f t 16, S. 378.

63

§69

Parlamentsbauten (CULLEN)

1865

und B E R N H A R D W I N K L E R an der Bauausführung beteiligt64. Die Einweihung des neuen Hauses durch Dr. F R A N Z G U R K fand am 5./6.Juni 1961, die erste Sitzung im neuen Hause am 15. Juni statt. Das Gebäude hat DM 18 000 000 gekostet. „Im Mittelpunkt des würfelförmigen Gebäudes liegt der Plenarsaal. Ihm kommt in einem Parlament nicht nur räumlich die größte Bedeutung zu, ihm sollen sich alle übrigen Räumlichkeiten unterordnen. Deshalb sind die kleinen Sitzungssäle, die Arbeitsräume der Fraktionen, der Abgeordneten und der Landtagsverwaltung sowie die übrigen Nebenräume in den beiden Obergeschossen um den Plenarsaal gruppiert worden 65 ." GER

So willkommen die zentrale Lage des Neubaus war, so schwierig waren die Probleme, die sich den Technikern stellten. Sie hatten das Gebäude gegen den großen Verkehrslärm abzuschirmen. Geöffnete Fenster verboten sich damit von selbst. Im Stuttgarter Talkessel wäre das ohnehin nicht opportun gewesen. Das Gebäude wurde somit voll klimatisiert. Im übrigen hatte man schon damals ganz dezidierte Ideen hinsichtlich des Plenarsaals und der Akustik: „Den größten Einfluß auf die Form, Größe und Ausgestaltung des Plenarsaals übte die Forderung aus, daß bei Diskussionen jeder Abgeordnete von jedem Platz aus sprechen kann und daß man ihn ohne akustische Hilfsmittel im ganzen Saal hören soll. Alle unangenehmen Beschränkungen beispielsweise in der Größe der Presse- und Zuschauerplätze müssen von diesem Gesichtswinkel aus betrachtet werden 66 ." Der Neubau wurde schon damals nicht allen Wünschen nach Sitzungssälen, 44 Büroräumen etc. gerecht; manche Büroräume mußten unter vier Parlamentariern Zu wenig geteilt werden; für künftige Funktionen hatte man keinerlei Vorsorge getroffen. ~~ w e n l g Schon 1964 beschloß der Ältestenrat eine Erweiterung; diskutiert wurde u.a. eine Aufstockung des neuen Hauses oder ein Anbau, entweder in Richtung KonradAdenauer-Straße oder Akademiegarten. Man entschied sich für die KonradAdenauer-Straße. Ein 1974 ausgeschriebener Wettbewerb wurde aus finanziellen Gründen nicht weiter verfolgt. Immer wieder wurden Bedarfsplanungen angestellt: Das wichtigste waren Büroräume für die Abgeordneten und Sitzungssäle für die Fraktionen. 1980 wurde ein neuer, diesmal beschränkter, Wettbewerb für ein Baugrundstück an anderer Stelle ausgeschrieben. Ziel war jetzt „die städtebauliche Aufwertung des sogenannten ,Kulturellen Bereiches' zwischen Schillerstraße und Charlottenplatz". Mit der Landesbibliothek, dem Hauptstaatsarchiv und dem begrünten Fußgängerbereich über der vorgelagerten Tiefgarage waren wichtige Elemente bereits fertiggestellt. Die Erweiterung der Staatsgalerie und der Neubau des Kammertheaters befanden sich damals im Bau, und nach Meinung des Auslobers stellten sie einen weiteren großen Schritt zur Gesamtbebauung dar. Der Wettbewerb wurde von den Architekten R A I N E R Z I N S M E I S T E R und G I S E L H E R S C H E F F L E R aus Stuttgart gewonnen. Baubeginn war 1 9 8 5 . Am 22. April 1987 wurde Richtfest gefeiert, am 6. Juli 1987 konnte das Haus bezogen werden. Mit einem fast quadratischen Grundriß bietet der mit Weiler H 65 6t

Bauwelt 1961, H e f t 38, S. 1063. E . HEINLE Das neue Landtagsgebäude von B a d e n - W ü r t t e m b e r g , 1961. Bauwelt 1961, H e f t 38, S. 1063.

Platz Vorso

1866

10. Teil: Exkurs

Sandstein verkleidete Bau auf acht Ebenen 210 Büroräume: Er enthält Räume für die Abgeordneten (insgesamt 108) und Verwaltung, einen Gymnastikraum, eine Bibliothek, Erfrischungsräume, Fraktions- und Arbeitskreissäle, etc. Das Dach ist begrünt 67 . k) Wiesbaden, Landtag von Hessen68

Das

Der Landtag von Hessen umfaßt mittlerweile drei Gebäude: Das ehemalige klassizistische Stadtschloß, ein ehemaliges Militärkrankenhaus und ein Kavalierhaus, beide neben dem Schloß gelegen und beide ebenfalls aus dem ^ . J a h r h u n dert. 45 Das Schloß entstand 1837-1841 nach Plänen des hessischen Hofbaumeisters Stadtschloß G E O R G M O L L E R im Auftrag des Herzogs W I L H E L M VON N A S S A U . Der Bau zeigt den Einfluß seines Lehrers WEINBRENNER: Markantester Bauteil ist der Rundbau, der zum Eingang des Landtags umgebaut wurde. Das Haus hat eine abwechslungsreiche Geschichte: Hier wohnte Kaiser W I L H E L M II. regelmäßig. Einige Monate nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs war das Schloß Sitz des Arbeiter- und Soldatenrats von Wiesbaden. Viele Jahre lang diente es als Verwaltungsbau für französische und britische Armeen. 1930 ging das Schloß an die Preußische Staatliche Schloßverwaltung und wurde Museum. Während des 2. Weltkrieges war es Sitz eines deutschen Generalkommandos. Am 2. Februar 1945 wurde es von einer Sprengbombe zwar getroffen, doch nicht so hart, daß eine Wiederherstellung unmöglich gewesen wäre. Nach Behebung der Kriegsschäden wurde das Schloß für den Hessischen Landtag ausgebaut. Von 1946 bis 1960 wurde der Konzertsaal des Schlosses als Plenarsaal des Landtags genutzt; doch er war zu klein. Ein neuer Plenarsaal sowie die Lobby und verschiedene Sitzungsräume wurden innerhalb des Schloßbereichs neu errichtet, verbunden mit einem Neubau auf dem Gelände der Reithalle. Der 1961 erfolgte Abbruch der Reithalle war ein besonders gravierender Einschnitt in das Schloßgefüge. Doch das Schloß war für viele Zwecke des Landtages immer noch zu klein. Schon recht früh wurde daher für die Verwaltung des Landtages das Kavalierhaus hinzugenommen. Auch dieses Haus war am 2. Februar 1945 schwer getroffen, doch ab 1951 von Grund auf neu errichtet worden, und dient — mit einem zusätzlichen Stockwerk — seit seiner Fertigstellung der Verwaltung des Landtages. Seit 1987 gehört zum Komplex des Landtags auch das ehemalige Militärkrankenhaus neben dem Schloß. Es wurde 1 8 6 7 - 7 1 von P H I L I P P H O F F M A N N als „ W I L H E L M S Heilanstalt" errichtet und diente als Kur- und Rheumaanstalt.

VI. Das Bundeshaus in Bonn Für die Betrachtung dessen, was man nur schwer mit dem Begriff „Parlamentsbauwesen" umreißt, ist die Geschichte des Bundeshauses in Bonn nicht nur wichtig, 67 68

Haus der Abgeordneten Stuttgart, hrsg. vom Finanzministerium Baden-Württemberg, 1987. D . SCHNELLBACH Die Geschichte des Wiesbadener Stadtschlosses ( G r o ß e Baudenkmäler, Heft 354), 2. Aufl., 1985.

§69

Parlamentsbauten

1867

(CULLEN)

sondern für den Umgang mit Geschichte und Architektur allgemein paradigmatisch. Die Entwicklung bis zum Abriß hat verfassungspolitischen Staub aufgewirbelt, und der Abriß selbst wird für die Denkmalpflege, für das Parlamentsansehen und für Bonn Folgen haben. 1. Die Nachkriegszeit Der Architekt des Bundeshauses war 1 9 4 8 / 4 9 H A N S S C H W I P P E R T aus Düsseldorf. Damals herrschte der Gedanke, daß Bonn nur provisorisch als Hauptstadt fungieren und bald wieder Berlin die Hauptstadt sein würde69. Aufgabe des Architekten war es also, nicht nur zu bauen, sondern zum 4 6 Ausdruck zu bringen, daß der Bau nicht für die Ewigkeit bestimmt war. Zum Provisorium Bundeshaus wurde das Gebäude der ehemaligen, 1933 eingeweihten Pädagogi- V o r g a b e schen Akademie (PA) bestimmt. S C H W I P P E R T selbst schwebte zunächst ein Plenarsaal vor mit einem fast quadratischen Grundriß, in dem die Sitzordnung rund sein sollte — eine radikale Neuerung, die A D E N A U E R strikt ablehnte 70 . S C H W I P P E R T S Leistung war genial. Aus der Aula der PA wurde der Sitzungssaal des Bundesrates. Die Turnhalle wurde zur Lobby. An der Rheinseite wurde der 1000 qm große Plenarsaal angebaut, zunächst ohne Wandelgänge und ohne Präsidialbau. Im selben Jahr entstanden der dreigeschossige Südflügel, der Nordflügel für den Bundesrat und das Restaurant. Die konstituierende Sitzung des 1. Deutschen Bundestages fand am 7. September 1949 statt. Im Bundestag saßen 410 Abgeordnete. Am 30. September und am 3. November 1949 wurde Bonn endgültig zur Bundeshauptstadt gewählt71. Natürlich war das zunächst nur ein Notbehelf. Der Bundestag-Vorstand 47 beschloß am 21. November 1950 den zusätzlichen Bau eines sechsgeschossigen Das Abgeordnetenhochhauses (man staune über die Bescheidenheit) mit flachem Verbindungstrakt zum Südflügel. Dieses sog. „Alte Hochhaus" feierte am 19. Dezember 1951 Richtfest und wurde im Februar 1952 bezogen. Mit ihm standen 170 Abgeordnetenzimmer (jeweils ein Arbeitsraum für zwei Abgeordnete), mehrere Sitzungszimmer sowie Raum für das Archiv und die Bibliothek zur Verfügung. S C H W I P P E R T war an diesen und auch an allen weiteren Baumaßnahmen nicht mehr beteiligt72. Mit dem Hochhausbau war die Raumnot aber noch nicht gebannt — zumal die Zahl der Abgeordneten stieg. Am 5. Februar 1953 gab der Vorstand des Bundestages den Auftrag zur Prüfung einer Saalerweiterung, nachdem bereits eine Änderung des Bundeswahlgesetzes in Vorbereitung war. Das Gesetz wurde am 8. Juli 1953 verabschiedet; es brachte die 69

G . K N O P P / A . SCHUMACHER D a s B u n d e s h a u s ,

1984. B u n d e s t a g s p r ä s i d e n t JENNINGER hat

dies

im Plenum bestätigt. 17. Bundestagssitzung, 5 . J u n i 1987, S. 1 0 9 7 B . 70

G . K N O P P / A . SCHUMACHER o p . cit.

71

A. GROSSER Geschichte Deutschlands seit 1945, Eine Bilanz, 1976, S. 142.

72

F ü r die C h r o n o l o g i e siehe P. SCHINDLER Datenhandbuch Bundestag, Band I: 1 9 4 9 - 1 9 8 2 , Seiten 9 9 0 - 1 0 0 6 ; Band I I I : 1 9 8 0 - 1 9 8 7 , Seiten 8 6 7 - 8 8 6 . (Zit.: D a t e n h a n d b u c h . ) F e r n e r sei auf die Artikel „Zum B a u w e t t b e w e r b Bundestag und Bundesrat" in der N u m m e r 2 9 / 3 0 der „ B a u w e l t " , 8. August 1975, sowie „ Z u m Baupensum des 11. Deutschen Bundestags" in H e f t 5 der „Bauwelt" vom 30. Januar 1987 hingewiesen.

als

„Alte H o c h h a u s "

1868

10. Teil: E x k u r s

Zahl zunächst auf 509, später sogar auf 518 Abgeordnete. Der Sitzungssaal sollte nunmehr um 250 auf 1235 Quadratmeter erweitert werden. Dies ging nicht nur auf Kosten seiner „Intimität", sondern brachte auch erhebliche architektonische Probleme mit sich, da man einen Saal nicht einfach beliebig vergrößern kann. Während der Vorbereitungen auf den Umbau rückte erstmalig das Bonner Wasserwerk ins Blickfeld, das in unmittelbarer Nachbarschaft steht. Es besteht aus zwei um 1875 errichteten Klinkerbauten, die zu diesem Zeitpunkt noch die Stadt mit Wasser versorgten. Wegen des Neubaus der Heizungsanlage, aber auch, um „vor der interessanten, bewegten Baugruppe des Bundeshauses eine wohltuende, vergrößerte Freifläche zu erreichen" sollte das Wasserwerk „verlegt" — sprich: abgebrochen und an anderer Stelle wieder aufgebaut — werden 73 .

48

Erweiterung des Plenarsaals

in 68

Sofort nach der letzten Sitzung vor der Sommerpause am 29. Juli 1953 bemächtigten sich die Baukolonnen des Plenarsaals. Als der neugewählte Bundestag am 6. Oktober 1953 zu seiner ersten Sitzung zusammentraf, war man mit der Saalerweiterung fertig; außerdem gab es jetzt Presse- und Diplomatentribünen, gläserne Wandelgänge und den berühmten, von der Kritik nicht verschonten Bundesadler — die „Fette Henne" des Bildhauers L U D W I G G I E S . Damit war der Plenarsaal des Bundestages fertig, genau so, wie er uns bis 1987 vertraut war: Ein Bild, das um die Welt ging und das mit der — historisch betrachtet keineswegs selbstverständlichen — Wiederbegründung der deutschen Demokratie in aller Welt verbunden wurde. Nichtsdestoweniger gab es viele Mängel und entsprechende Kritik. Es gäbe zu wenig Räume und sie seien zu klein; das Restaurant habe den Charakter des „Wartesaals eines Zentralbahnhofs", die Speisen seien nicht gut, zu teuer usw. Das Ansehen des Parlaments, seine Würde kämen in der Architektur zu kurz 7 4 . Wenigstens ein Abgeordneter, der CDU/CSU-Parlamentarier BRESE, war der Auffassung, daß ein Zimmer pro vier Abgeordnete ausreichend sei, mehr zu bauen beschwöre eine „Krisis der Demokratie" h e r a u f . . . „machen Sie jetzt Schluß mit den Bauplänen" 7 5 !

Kurzum: Der Bundestag war wie ein Kind, das jedes Jahr neue und größere Kleidung braucht. Trotz der vielen An- und Umbauten war das Bundeshaus immer noch zu klein und schwer zu benutzen. Seit 1953 war das ein permanentes Problem. Immer wieder mußten neue Räume dazugemietet oder -gebaut werden. 49 1987 gehörten dem Bundestag im Raum Bonn 68 Liegenschaften; die Räume Bundestag waren teils teuer, teils zu entlegen; außerdem trat der Rhein nicht selten über die Liegenschaften Ufer, überschwemmte die Keller und erschwerte den Zugang zum Präsidialtrakt, wo Rattenfallen auslagen 76 . Die Unzufriedenheit mit dem Plenarsaal scheint beinahe so alt zu sein wie der Plenarsaal selbst. So meldete z . B . am 2.Dezember 1959 die Frankfurter Allge73

74 75 76

U . MAINZER V o m Pumpenhaus der Stadt zur H e r z k a m m e r der Republik — D a s ehemalige Wasserwerk der Stadt Bonn, in: Eisenarchitektur — Die Rolle des Eisens in der historischen Architektur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, 1985, S. 12 f. A b g . BECKER in der 225. Bundestags-Sitzung, 17. Juli 1952, S. 10101 D . 28. Bundestags-Sitzung, 6. Mai 1954, S. 1235 D . D a ß Rattenfallen im Bundeshaus auslagen, geht aus einer Äußerung von Bundestagspräsident JENNINGER hervor, die er in einem Gespräch mit Minister ZÖPEL am 13. August 1987 gemacht hat. Ein nicht genehmigtes Protokoll des Gesprächs liegt Vf. vor (zit. Protokoll).

§69

P a r l a m e n t s b a u t e n (CULLEN)

1869

meine Zeitung, daß der Ältestenrat ein Modell für den geplanten Umbau des Plenarsaals bestellt hatte, in dem der Saal mehr den Charakter eines Amphitheaters haben würde. Das Modell war geheim 77 . 2. Umbaupläne bis 1978 1 9 6 1 brachten führende Politiker — u.a. Bundestagspräsident G E R S T E N M E I E R — 50 einen Antrag ein, den Plenarsaal in der Form des englischen Parlamentssaales — U n t e r h a u s mit Sitzbänken, die sich gegenüber liegen — zu verwandeln; der Umbau hätte Sitzungssaal Bundestag? 1,2 Millionen D M gekostet. Vordergründig ging es um die „Würde" des Parlaments, die man durch einen solchen neuen Saal glaubte retten zu können. Doch zum Glück für das Bundeshaus war das Manöver von einigen durchschaut worden, so zum Beispiel von MdB B R E S E : „ . . . Die Würde dieses Hauses hängt nach meiner Meinung nicht von dem Raum ab, in dem wir tagen, die Würde dieses Hauses hängt vielmehr von uns selber ab, davon, wie wir uns hier dem Volke gegenüber zeigen 78 ." Für die F.D.P. war ein Saal, der nur auf zwei Seiten ausgerichtet ist, vollkommen indiskutabel. Auch sie wünschte sich eine Verbesserung der Verhandlungen, doch, wie BRESE bemerkt hat, läßt sich „der Geist der Verhandlungen durch die Architektur nicht beeinflussen". Das Problem sei nicht allein in der Sitzordnung zu suchen, sondern in der enormen Größe des Raumes überhaupt. Ein Saal für 520 Abgeordnete könne niemals Intimität verbreiten 79 .

Wortführer der „englischen Lösung" war G E R S T E N M A I E R selbst. Man warf die Frage auf, inwieweit der derzeitige Plenarsaal mit einem Hörsaal zu vergleichen sei. 80 G E R S T E N M A I E R : „Einer spricht, alles sieht her ." Kein minderer als C A R L O S C H M I D sprang G E R S T E N M A I E R bei. „Es handelt sich darum, ob die Struktur des Saales uns zwingt, Vorlesungen anzuhören, oder ob sie uns veranlaßt, zu diskutieren, weil wir uns dann einander nicht nur in einem doch recht abstrakten Sinne gegenüberstehen. Das einander politisch Gegenüberstehen muß auch sichtbar zum Ausdruck kommen 81 ." Der Riß ging durch die Parteien. E R W I N S C H O E T T L E Z. B. konterte C A R L O S C H M I D : „Man sollte einfach zur Kenntnis nehmen, daß das politische Klima, das heute in der Bundesrepublik vorhanden ist, ein Resultat einer bestimmten politischen Entwicklung ist, die man nicht durch architektonische Kunststücke verändern kann." Dagegen aus der SPD K A R L M O M M E R , der der Auffassung war, daß die Atmosphäre eines Saales schon eine Wirkung auf Redner und Zuhörer ausüben könne: „Das Funktionieren dieses Hauses ist entscheidend für den Bestand dieser Demokratie in Deutschland. Dieser Saal ist der schlechteste Saal in der W e l t . . . 82 ." Dennoch wurden die Umbaupläne nicht weiter verfolgt, angeblich, weil dadurch der provisorische Charakter Bonns als Bundeshauptstadt in Frage gestellt worden wäre. Doch man blieb unzufrieden. E R N S T L E M M E R schrieb 1 9 6 8 : „In dem

77 78 79 80 81 82

Bauwelt I960, H e f t 7, S. 147. Bundestags-Sitzung, 147. Bundestags-Sitzung, 147. Bundestags-Sitzung, 147. Bundestags-Sitzung, 147. Bundestags-Sitzung,

173. 8. M ä r z 8. M ä r z 8. M ä r z 8. M ä r z 8. M ä r z

1961, 1961, 1961, 1961, 1961,

S.8301 B. S.8302A. S. 8303 A. S.8304B. S. 8306.

f ü r den

1870

10. T e i l :

Exkurs

einer überdimensionalen Turnhalle ähnelnden Plenarsaal, wo die ,Hinterbänkler' beinahe auf die Verwendung von Ferngläsern angewiesen sind, kann nur höchst selten so etwas wie Atmosphäre entstehen 83 ." Den Streit zwischen den Anhängern von Zweckmäßigkeit und Repräsentation machte der „Funktionalist" A D O L F A R N D T in einem Vortrag in der Bonner „Parlamentarischen Gesellschaft" vom 31. März 1964 deutlich. Auch ihm waren Zopfstil und Repräsentation ein Greuel — für ihn gab es nur ein „zeitgerechtes" Parlamentsgebäude, das von den praktischen Erfordernissen ausging. Er kritisierte den Plenarsaal: „Unserem Plenarsaal fehlt jede Eignung für ein . . . Gespräch zwischen Regierungspartei und Oppositionspartei; allenfalls ist er für störende Gespräche nachbarlicher Art brauchbar." Doch war für A R N D T nicht der Plenarsaal, sondern das Abgeordnetenbüro das wesentliche: Während ein Landrat im schwäbischen Remstal über einen Stab sachkundiger Mitarbeiter und einen Dienstwagen verfüge, besitze er jetzt, „als Vertreter des ganzen Volkes, . . . nichts als ein Schließfach" 84 . Während der nächsten Jahre, als es um den Neubau des Hochauses und um eine Parlamentsreform ging, wurde der Wunsch nach einer Umgestaltung des Plenarsaals zurückgestellt. Er kam dafür mit erneuter Heftigkeit in der Plenardebatte des Bundestages vom 27. März 1969 zur Sprache. Es ging nicht um die „englische Lösung" — die war vom Tisch —, sondern vielmehr um die Atmosphäre des Plenarsaals. Nicht selten wurde für das vielseitig gescholtene schlechte Ansehen des Parlaments die Saalarchitektur verantwortlich gemacht. 51 U m alles auf einmal in den Griff zu bekommen, den Raumbedarf zu decken, Eine „große Lösung" d e n städtebaulichen Bezug zur Hauptstadt Bonn herzustellen, dem Parlament zu größerem Ansehen zu verhelfen und die technischen Dienste zu verbessern, wurde 1971 ein Wettbewerb ausgeschrieben. Auf der Grundlage dieses Wettbewerbs und einer genaueren Raumbedarfsanalyse schrieb der Bundestag im September 1972 einen erneuten Wettbewerb aus. D a dieser nicht die gewünschten Resultate erbrachte, beschloß man, die aussichtsreichsten Arbeiten überarbeiten zu lassen. Das Wettbewerbsergebnis brachte die unterschiedlichsten Lösungen. Es gab sowohl Totallösungen — kompletter Neubau auf der grünen Wiese — als auch alternative Lösungen — kompletter Neubau anstelle des bestehenden Bundeshauses — , und es gab die „baukonservatorische Lösung" — behutsame Erneuerung des alten Plenarsaals und Hinzufügung weiterer Bauwerke an anderer, in der Nähe des Bundeshauses gelegener Stelle. Gebaut wurde nichts, in der Öffentlichkeit hörte man nichts, sah man nichts. 3. Konkrete Planungen der achtziger J a h r e Aber hinter den Kulissen, und besonders mit dem Antritt von R I C H A R D S T Ü C K L E N als Bundestagspräsident am 31. Mai 1979, begannen sich die Dinge zu bewegen. Zunächst wurde S T Ü C K L E N von seinem Fraktionskollegen und zukünftigen Bundesbauminister O S K A R S C H N E I D E R unterstützt. 83

«4

In: PKTER CONRADI A r c h i t e k t u r u n d Politik a m Beispiel d e r P a r l a m e n t s b a u t e n D e u t s c h e s A r c h i t e k t e n b l a t t 5 / 8 7 , S. 610. B a u w e l t 1964, H e f t 9, S . 2 4 7 f .

in B o n n ,

§69

Parlamentsbauten (CULLEN)

1871

Am 5. Juni 1981 konnte STÜCKLEN dem Plenum berichten: „Die Pläne für den Deutschen Bundestag gingen zuletzt davon aus, daß für Abgeordnete und Fraktionen sowie für den Wissenschaftlichen Dienst südlich des N e u e n Hochhauses ein großer Neubaukomplex entstehen und auf dem Gelände des Wasserwerkes ein neuer Plenarsaal gebaut werden sollte. Einige Altbauten mit Ausnahme der Pädagogischen Akademie, dieses Saales also, sollten abgerissen und der alte Plenarsaal einer neuen Verwendung zugeführt werden."

52 Zielkonflikt

Doch die derzeitige Haushaltslage mache ein Umdenken erforderlich. „So werden unser heutiger Plenarsaal und die Altbauten des Bundeshauses weiterhin benutzt, freilich wissend, daß ein Teil der Altbauten einer gründlichen Sanierung unterzogen werden muß. Ich selbst habe nie einen Hehl daraus gemacht, daß der jetzige Plenarsaal eine Tradition hat, der wir uns verpflichtet fühlen."

Offenbar war Respekt für den Plenarsaal entstanden, er sollte, so wie er war, erhalten bleiben. STÜCKLEN blies gleichzeitig in die entgegengesetzte Marschrichtung, wenn auch nur mit geringer Zustimmung: „Unsere parlamentarische Demokratie . . . bedarf . . . auch der architektonischen Selbstdarstellung . . . Jede Staatsform hat dies getan. Dies gilt für die Antike, das Klassische Altertum, für die H o h e Zeit des Mittelalters und bis in unsere Epoche. Ich frage: Soll unsere Demokratie kein Recht auf Selbstdarstellung haben? Ich frage auch: Genügt es, wenn sich diese Demokratie in Bauten für die Exekutive, in Verwaltungsbauten, in Bauten für Banken und Versicherungen, in Produktionsstätten darstellt? Sollte nicht auch das oberste Verfassungsorgan, der Deutsche Bundestag, in unserer freiheitlichen demokratischen Staatsform einen würdigen, repräsentativen Platz haben? Ich rede nicht einem Gigantismus das W o r t , sondern lediglich einer angemessenen Repräsentation 8 5 ."

Zum ersten Mal ergriff der SPD-Abgeordnete PETER CONRADI, selbst Architekt 53 aus Stuttgart und Mitglied der Bundestagsbaukommission, das Wort. Er sagte u. a.: „Dürftigkeit" der „So wie sich jede kommunale Selbstverwaltung im Rathaus darstellt und von den Bürgern auch im Rathaus als Institution begriffen wird, so muß auch der Bundestag in seinen Bauten und Räumen erkennbar sein. D a kommen jedes Jahr Tausende von Besuchern, Besuchergruppen, die hier ihren Bundestag suchen. D a n n stolpern sie zwischen der Β 9 und dem Rhein durch ein gesichtsloses Viertel, sie finden nichts, keinen erkennbaren Parlamentsbau, und was baulich nicht anschaulich ist, sehen sie dann an ein paar armseligen Schautafeln am Eingang I V . . . Dieser unwirtliche Plenarsaal, diese unglückliche Sitzordnung hier, die m e h r zur Vorlesung als zur Debatte verführt, . . . die bauliche Dürftigkeit dieses Parlaments, das alles hat auch etwas mit der politischen Kultur oder U n k u l t u r unserer Parlamentsdebatten, mit dem Reichtum oder der A r m u t dieses Hauses zu t u n 8 6 . "

OSKAR SCHNEIDER w u ß t e , w a s für ihn w i c h t i g w a r : „Wer das Erbe der deutschen Nation bewahren will, m u ß sich auch kulturell legitimieren. V o n dieser Verpflichtung kann sich das oberste deutsche Parlament am wenigsten a u s n e h m e n . . . D e r Deutsche Bundestag ist bisher baulich unterrepräsentiert... Im Gegensatz zu Diktaturen, in denen die staatliche Architektur der Vergötzung von Personen dienen soll oder den Eindruck zu vermitteln hat, daß der einzelne Staatsbürger nichts, das V o l k aber alles sei, ist der Bau- und Gestaltungswille in der Demokratie Ausdruck für die politische Mündigkeit der einzelnen B ü r g e r . . . Das Bundeshaus . . . ist ein Bürgerhaus der gesamten Nation, und wir als Repräsentanten der gesamten deutschen Nation haben das Recht, unser nationales Bürgerhaus — sprich: Bundeshaus — auch architektonisch in repräsentativer Weise zu gestalten . . . Eine repräsentative Architektur für Bundestag und Bundesrat ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit, der sich die frei gewählten Vertreter des Volkes auf Dauer nicht werden versagen dürfen 8 7 ." S5 8