Die Shoah erzählt: Zeugnis und Experiment in der Literatur [Reprint 2013 ed.] 3484651474, 9783484651470

Die Studie beschreibt die Entwicklung von der Autobiographie zum (postmodernen) Experiment in der literarischen Darstell

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Die Shoah erzählt: Zeugnis und Experiment in der Literatur [Reprint 2013 ed.]
 3484651474, 9783484651470

Table of contents :
Vorwort
Kapitel 1: Zeugnisse – Memoiren: Elie Wiesel, Primo Levi, Saul Friedlander, Jean Améry, Paul Steinberg, Gerhard L. Durlacher
Kapitel 2: Von der Autobiographie zur Fiktion: George Tabori, Imre Kertész
Kapitel 3: Der Weg zur Postmoderne-Diskussion
Sprache und Verstehen: Die Hermeneutik des Holocaust
Die Rhetorisierung der Geschichtsschreibung
Der Holocaust in der Diskussion
Postmodernes Schreiben / Postmoderne Literatur zur Shoah
Kapitel 4: Interpretationen postmoderner Darstellungen der Shoah: Martin Amis, D. M. Thomas, Christoph Ransmayr, Edgar Hilsenrath, Romain Gary, David Grossman
Das epistemologische Experiment: Martin Amis
Postmoderne Intertextualität: D. M. Thomas
Pictures at an Exhibition
Die Neuschreibung der Geschichte: Christoph Ransmayr
Zur Rezeption von Die letzte Welt und Morbus Kitahara
Identität im Experiment: Edgar Hilsenrath
Identität im Experiment II: Romain Gary
Schreibversuche – Selbstreflexivität in der Darstellung der Shoah: David Grossman
Zur Rezeption von Stichwort: Liebe in Deutschland
Kapitel 5: Deutschland und die literarische Arbeit an der Vergangenheit
Kindheit im Nationalsozialismus
Der Jude ist der Andere
Zutritt verboten
Die jüngere Generation: Bernhard Schlink, Thomas Lehr und W. G. Sebald
Kapitel 6 ›Für dich bin ich zuruckgekehrt‹ – Die zweite Generation jüdischer. Autoren in den Niederlanden
Einführung
Der autobiographische psychologische Realismus
Autoren der Nachkriegsgeneration
Der Weg zur Fiktion
Zum Abschluß
Schlußbemerkungen
Literaturverzeichnis
Personenregister

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Conditio Judaica 4 7 Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von HansBodenheimer, Otto Horch Mark H. Gelber und Jakob Hessing in Verbindung mit Alfred

Elrud Ibsch

Die Shoah erzählt: Zeugnis und Experiment in der Literatur

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2 0 0 4

Dem Andenken meines Vaters

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-65147-4

ISSN 0941-5866

© Max Niemeyer Verlag G m b H , Tübingen 2004 http://www. niemeyer. de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp & Göbel G m b H , Nehren Einband: Nädele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren

Inhalt

Vorwort

VII

Kapitel 1 Zeugnisse - Memoiren: Elie Wiesel, Primo Levi, Saul Friedlander, Jean Améry, Paul Steinberg, Gerhard L. Durlacher

1

Kapitel 2 Von der Autobiographie zur Fiktion: George Tabori, Imre Kertész

15

Kapitel 3 Der Weg zur Postmoderne-Diskussion Sprache und Verstehen: Die Hermeneutik des Holocaust Die Rhetorisierung der Geschichtsschreibung Der Holocaust in der Diskussion Postmodernes Schreiben / Postmoderne Literatur zur Shoah

29 32 36 37 43

Kapitel 4 Interpretationen postmoderner Darstellungen der Shoah: Martin Amis, D. M. Thomas, Christoph Ransmayr, Edgar Hilsenrath, Romain Gary, David Grossman Das epistemologische Experiment: Martin Amis Postmoderne Intertextualität: D. M. Thomas Pictures at an Exhibition Die Neuschreibung der Geschichte: Christoph Ransmayr Zur Rezeption von Die letzte Welt und Morbus Kitahara Identität im Experiment: Edgar Hilsenrath Identität im Experiment II: Romain Gary Schreibversuche - Selbstreflexivität in der Darstellung der Shoah: David Grossman Zur Rezeption von Stichwort: Liebe in Deutschland

97 109

Kapitel 5 Deutschland und die literarische Arbeit an der Vergangenheit Kindheit im Nationalsozialismus Der Jude ist der Andere

113 115 119

49 49 52 59 63 72 78 90

VI

Inhalt

Zutritt verboten Die jüngere Generation: Bernhard Schlink, Thomas Lehr und W. G. Sebald

123 126

Kapitel 6 >Für dich bin ich zurückgekehrt - Die zweite Generation jüdischer Autoren in den Niederlanden Einfuhrung Der autobiographische psychologische Realismus Autoren der Nachkriegsgeneration Der Weg zur Fiktion ZumAbschluß

141 141 147 154 161 172

Schlußbemerkungen

175

Literaturverzeichnis

181

Personenregister

193

Vorwort

Mit dem Titel Die Shoah erzählt, dessen Formulierung bewußt in der Ambivalenz belassen wird, ist die double ¿»«¿/-Situation mitgemeint: die Shoah ist einerseits ein historisches Ereignis, das unumstößlich und unumgänglich ist und alle Rechte der Faktizität für sich in Anspruch nimmt: sie erzählt sich selbst; zugleich aber kann die Shoah nur in der Erfahrung, Erinnerung und Erzählung von Menschen historische »Realität« werden: sie wird erzählt. Vieles Beachtenswerte über das Verhältnis von (historischer) Vergangenheit und späterer Überlieferung und über die vermittelnde Funktion, die der Erinnerung in diesem Verhältnis zukommt, ist inzwischen gesagt worden. So erklärt Jan Assmann mit Hans Blumenberg, daß es keine »reinen Fakten der Erinnerung« gebe und daß das Gedächtnis »rekonstruktiv« und in Abhängigkeit von den sich wandelnden Bezugsrahmen der fortschreitenden Gegenwart verfahre.1 Dominick LaCapra, für den die Erinnerung als Voraussetzung der Geschichtsschreibung gilt, unterscheidet zwar die »primary memory« der Augenzeugen von der »secondary memory« der Beobachter (spätere Generationen, Historiker, Interpreten), aber er gibt zu, daß keine Erinnerung im absoluten Sinne primär ist: It has always already been affected by elements not deriving from the experience itself [...] as it is experienced through the mediation of forms, types, archetypes, and stereotypes that have been assimilated or elaborated in the course of life. 2

Wie der Lebenslauf derer, die - der Todesgefahr entronnen - ihre Erinnerungen aufgeschrieben haben, mitbestimmend war für die Wahl der Personen und Ereignisse, über die sie berichten, über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Sinngebung, in die sie das Erlebte hineinstellen, wird im ersten Kapitel bei der Behandlung von Augenzeugenberichten verdeutlicht (es betrifft Elie Wiesel, Primo Levi, Saul Friedlander, Jean Améry, Paul Steinberg, Gerhard L. Durlacher). Das zweite Kapitel behandelt zwei Autoren (George Tabori, Imre Kertész), die bewußt Fiktionalisierungsverfahren einsetzen und damit einen größeren Abstand zum Erlebten schaffen: für beide ist die Strukturierung des Erzählten - die verschiedenen Ebenen von Erleben und Erzählen - ein Mittel der Distanznahme, ohne daß damit der Emotionalität ihrer Erfahrung Abbruch getan würde. 1

2

Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1999 (Beck'sche Reihe; 1307), S. 4 0 ^ 2 . Dominick LaCapra: History and Memory after Auschwitz. Ithaca and London: Cornell University Press 1998 (Cornell Paperbacks), S. 21.

Vili

Vorwort

In den Kapiteln 3 und 4 wird beschrieben, wie mit wachsendem historischen Abstand der vermittelte Charakter jeder Annäherung an die Shoah stets deutlicher ins Bewußtsein tritt. Hier wird der »Anspruch auf eine ästhetische und moralische Überlegenheit« des Dokumentarischen relativiert.3 Autoren, die selbst nicht Zeugen des Genozids gewesen sind (die zweite Generation jüdischer Schriftsteller und auch nichtjüdische Autoren), erkennen nicht länger das Alleinrecht der Augenzeugen auf das Thema der Shoah, ebenso wenig wie sie bereit sind, deren poetologische Grenzen zu respektieren. Die Postmoderne-Diskussion tat ein übriges: Wo im Bereich der Philosophie und der Literaturwissenschaft die Grenzen von Faktizität und Konstruktivität prinzipiell zur Debatte stehen, ist auch Raum für eine Diskussion über die Darstellbarkeit der Shoah. Auch machen jüngere Autoren gern von der Gelegenheit Gebrauch, ihre Repräsentation des Holocaust aus dem Schongebiet der Dokumentarliteratur, der zwar Respekt gezollt wird, aber der eine Aufnahme in den literarischen Kanon verwehrt bleibt, zu befreien und sie einzuschreiben in den mainstream der zeitgenössischen Literatur. Es werden einige Romane vorgestellt, die experimentellen - so nicht postmodernen - Charakter tragen. Hier finden neben jüdischen Autoren (Edgar Hilsenrath, Romain Gary, David Grossman) auch nichtjüdische Autoren (Martin Amis, D. M. Thomas, Christoph Ransmayr) Berücksichtigung. In den Kapiteln 5 und 6 werden nationale und sprachliche Grenzen beachtet. Das 5. Kapitel ist der deutschen Nachkriegsliteratur gewidmet. Nach einer kurzen Übersicht über die bekannte >klassische< Literatur, die mehr oder weniger explizit auf die Judenvernichtung Bezug nimmt (dieser Bereich wurde bereits mehrfach aufgearbeitet), wird insbesondere auf neuere Entwicklungen eingegangen (Bernhard Schlink, Thomas Lehr, W. G. Sebald). Im 6. Kapitel stehen die Erzählungen junger niederländischer jüdischer Autoren im Mittelpunkt. Die Werke dieser Gruppe haben in deutscher Übersetzung eine erstaunlich gute Aufnahme gefunden. Thema sind vorzugsweise die Folgen, die das Leiden der Eltern - auch der überlebenden Elternteile - für die Kinder gezeitigt haben. Dabei spannt sich der Bogen der Darstellung wiederum vom Autobiographischen zum Experimentellen.

3

Georg-Michael Schulz: Docu-dramas - oder: Die Sehnsucht nach der »Authentizität«. Rückblicke auf Holocaust von Marvin Chomsky und Schindlers Liste von Steven Spielberg. In: Geschichte im Film. Mediale Inszenierungen des Holocaust und kulturelles Gedächtnis. Dokumentation eines Symposiums, das am 29. und 30. November 2001 auf Einladung der Herausgeberin an der Rijksuniversiteit Groningen (NL) stattfand. Hg. von Waltraud >Wara< Wende. Stuttgart u. a.: Metzler 2002 (M-und-PSchriftenreihe), S. 159-180, hier S. 175. - Die Formulierung von Georg-Michael Schulz bezieht sich in dem zitierten Aufsatz auf die Konkurrenz zwischen Dokumentarfilm und Spielfilm.

Kapitel 1 Zeugnisse - Memoiren: Elie Wiesel, Primo Levi, Saul Friedlander, Jean Améry, Paul Steinberg, Gerhard L. Durlacher

Connaissance et souvenir sont une seule et même chose. Das Wissen und die Erinnerung, sie sind ein und dasselbe. Saul Friedlander, Quand vient le souvenir

Da ohne Erinnerung kein Wissen sein kann, sind die Texte der Erinnernden der Shoah für uns der einzige Zugang zum Wissen. Aber, so möchte ich Thomas Assheuer widersprechen, diese Texte führen uns nicht allein in die Archive (»Wenn die Überlebenden des Holocaust verstummen, können allein noch die Archive sprechen« 1 ), sondern auch zur Literatur. Die Kurzformel Adornos, daß es »barbarisch« sei, nach Auschwitz noch Gedichte zu schreiben, ist den Weg so vieler Kurzformeln gegangen, den Weg der Verselbständigung und leichten Einprägsamkeit und hat damit für längere Zeit den Zugang zu zwei denkbaren Korrektiven erschwert: das erste ist Adornos eigene Rücknahme des Diktums, das zweite der respektvolle Widerspruch, der sich unter Berufung auf die spezifischen kognitiven und emotionalen Möglichkeiten von Literatur im textuellen Universum der Shoah verteidigen läßt. Hinzukommt, daß Archive ja nicht sprechen. Es sprechen die Menschen, die den Archiven entnehmen, was für sie im Rahmen ihrer vorgegebenen Theorie wahrnehmbar und im Kontext ihrer Fragestellung als Faktum interpretierbar ist. Wissenschaftliche Kontroversen bis hin zum Historikerstreit (1987) und zu Daniel Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker (1996) zeigen, wie die zum großen Teil identischen Archive unter verschiedenen Perspektiven zu widersprüchlichen Wahrnehmungen führen, die ihrerseits als Elemente übergreifender Theorien den Weg in die wissenschaftlichen Veröffentlichungen finden. Wolfgang Wippermanns Wessen Schuld? (1997) listet die - wie er es nennt - »Diskurse« auf, die zur Relativierung der deutschen Schuld im Umlauf sind (die »Totalitarismustheorie«, die Theorie der »geographischen Mittellage«, die »Kriegsschulddiskussion« und der Diskurs der »guten Seiten der Modernisierung«). 2 Daß diesen Theorien teilweise dieselben archivarischen Vorgaben zugrundeliegen, von denen Goldhagen Gebrauch gemacht hat, möge ein Indiz sein für den eigentlichen Träger der Verantwortung. Es ist letztendlich der Mensch, der Forscher, und es sind nicht die Daten. 1 2

Thomas Assheuer, Die Zeit, 17. Januar 1997. Wolfgang Wippermann: Wessen Schuld? Vom Historikerstreit zur Goldhagen-Kontroverse. Berlin: Elefanten Press 1997 (Antifa-Edition), S. 10-122.

2

Kapitel 1

Nach diesen Überlegungen wird auch der Abstand zur literarischen Gestaltung der Vernichtung des europäischen Judentums geringer. Wo an die Stelle der Archive die persönliche Erinnerung derer tritt, denen die Aufgabe des Überlebens zuteil wurde, ist der Authentizitätsanspruch ihrer Augenzeugenberichte unbestritten. Dennoch ist auch ein Elie Wiesel sich der Selektivität seiner Erinnerungsarbeit bewußt. In Alle Flüsse fließen ins Meer (1994; deutsche Ausgabe 1995) schreibt er: Ich habe nicht vor zu wiederholen, was ich in Die Nacht zu begraben, Elischa berichtet habe. Aber ich möchte diesen Augenzeugenbericht aus meiner heutigen Sicht beleuchten. War ich deutlich genug? Ist mir etwas Wesentliches entgangen? Habe ich der Erinnerung einen guten oder schlechten Dienst erwiesen? Ich glaube, wenn ich noch einmal von vorn beginnen müßte, würde ich nichts an meinen Aussagen verändern. 3

Wiesel war dreißig Jahre alt, als er die Erfahrungen des Sechzehn/Siebzehnjährigen in Auschwitz in Die Nacht zu begraben, Elischa in Worte faßte. (Die deutschsprachige Fassung enthält auch die Bücher Morgengrauen und Tag, die in Frankreich jeweils als Einzelveröffentlichungen bei verschiedenen Verlagen erschienen sind. Dieser Eingriff bleibt nicht ganz ohne Folgen fur eine mögliche Interpretation.) Elie Wiesel ist inzwischen gute siebzig Jahre alt und es ist etwa sechzig Jahre her, daß in Ungarn die Deportationen nach Auschwitz-Birkenau in erhöhtem Tempo durchgeführt wurden, zu einem Zeitpunkt, zu dem die Rote Armee bereits näherrückte. Das anfanglich »gute« Verhältnis von Ungarn zu HitlerDeutschland hatte die »Endlösung« dort hinausgezögert. Obwohl gerade gegen Ende des Krieges, als die Niederlage Deutschlands für niemanden mehr ein Geheimnis sein konnte, die Insassen der Konzentrationslager im Osten besonders lebensbedrohenden Verhältnissen ausgesetzt waren, gab es fur jüngere Menschen, deren Inhaftierung noch nicht allzu lange gedauert und deren Gesundheitszustand bei Ankunft gut war, eine kleine Chance des Überlebens. Ältere und während langer Zeit inhaftierte Menschen hielten allein schon die Evakuierungsmärsche in den Wintermonaten des Jahres 1945 nicht durch, Märsche, deren Ziel es war, die Spuren der Vernichtungen zu verwischen und die die Verlegung der Lager in Richtung Westen zustandebringen sollten. Als Überlebender, der - älter geworden - auf seine einst niedergeschriebenen Erfahrungen zurückblickt, legt Wiesel sich in Alle Flüsse fließen ins Meer aufs neue Rechenschaft ab von seinem Verhältnis zu Gott, zu seinem Vater und zu der Aufgabe, die er sich als schreibender Augenzeuge gestellt hatte. Die Erfahrung, die Auschwitz, der Mittelpunkt seines Denkens und Schreibens, für ihn bedeutet hatte, bleibt in diesem Rückblick unverändert, sie bedarf keiner neuen Erklärungen, Erwägungen, Perspektivierungen. Der zeitliche Abstand zu den historischen Ereignissen ist für ihn kein Anlaß, Ton und Stil des Zeugenbe3

Elie Wiesel: Alle Flüsse fließen ins Meer. Autobiographie. Aus dem Französischen von Holger Fock, Brigitte Große und Sabine Müller. Hamburg: Hoffmann und Campe 1995, S. 111.

Zeugnisse - Memoiren

3

richts anzupassen. Und doch wird er sich im Nachhinein dessen bewußt, daß auch sein Zeugenbericht nicht frei ist, nicht frei kann sein von subjektiven Fokussierungen, von Eingriffen und von Auslassungen: Ich erinnere mich, ich erinnere mich an alles. [...] Es stimmt nicht ganz. Ich erinnere mich nicht an die Henker. Ich könnte die Blockfiihrer der SS nicht beschreiben, die uns beim Appell zählten, und auch nicht den Lagerführer, der an den Erhängungen teilnahm. Seltsamerweise interessierten mich die Henker nicht. Die Opfer schon, nur die Opfer.4

Wiesel, dessen Erzählungen von Opfern handeln und im Gedenken an sie geschrieben sind, kann den Gedanken, daß Eichmann ein menschliches Wesen ist, kaum ertragen: »ich sähe ihn lieber mit dem Kopf eines Ungeheuers, mit drei Ohren und vier Augen wie bei Picasso.«5 Darum kann er der Theorie von der Banalität des Bösen, wie Hannah Ahrendt sie vertritt, kein Verständnis entgegenbringen und verläuft die Begegnung beider während des Eichmann-Prozesses in Jerusalem eher peinlich. Auf Wiesels Frage, wie es komme, daß sie eine Erklärung für das Ungeheuerliche habe, obgleich sie doch nicht »dort« gewesen sei, während es ihm nicht gelinge, eine Erklärung zu finden, lautete Ahrendts Antwort: Sie schreiben Romane. Sie können sich an den Fragen festhalten. Ich dagegen beschäftige mich mit den Wissenschaften vom Menschen und von der Politik, ich habe nicht das Recht, keine Antworten zu finden.6

Elie Wiesels Glaube hat Auschwitz überlebt. Zwar stellt er die Frage nach dem Warum von Gottes Schweigen während seines Aufenthaltes im Lager, doch hat diese Frage nicht zum Zweifel am Prinzip seiner Anwesenheit geführt: »[Ich] habe gegen Sein Schweigen, bisweilen auch gegen Seine Abwesenheit aufbegehrt, doch meine Wut tobte innerhalb meines Glaubens, niemals außerhalb.«7 In seinem Glauben unterscheidet er sich von Primo Levi, seinem Leidensgenossen und späteren Freund. Über diesen Unterschied zwischen Levi und sich selbst sagt Wiesel: Er hat zu viele Menschen leiden sehen und widersetzt sich der Religion, die vorgibt, ihren Leiden Sinn und Ordnung zu geben. Ich kann ihn verstehen. Und bitte ihn, mich auch zu verstehen: Ich habe dort - wie er - zu viele Menschen leiden sehen, um mit der Vergangenheit zu brechen und das Erbe derjenigen zurückzuweisen, die gelitten haben.8

Die Tradition des Glaubens bestimmt auch Wiesels Verhältnis zur Sprache und seine Poetik. Er bezeichnet das Schreiben als »im äußersten Falle« einen Akt inbrünstigen Glaubens.9 Um den Raum zwischen zwei Wörtern, der in Wiesels metaphorischer Sprechweise »größer ist als der zwischen Himmel und Erde« zu 4 5 6 7 8 9

Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 123. S. 490. S. 117f. S. 116. S. 445.

4

Kapitel 1

durchqueren, »schließt man die Augen und springt«.10 Eine solche Auffassung von Sprache erlaubt dem Schreibenden keinen eigenmächtigen Eingriff in das Verhältnis von Wort und Konzept, der sich ja nur dann rechtfertigen läßt, wenn man die Arbitrarität dieses Verhältnisses voraussetzt. Auch das Spiel mit dem Abstand zwischen Wort und Konzept, einem Spiel, dem unter anderem die Ironie ihre Existenz verdankt, hat demzufolge in seinem Sprachbegriff keinen Platz. Doch ist auch Wiesels Schreiben »mit geschlossenen Augen« perspektivisch gebunden. Eine Erinnerung, die ausschießlich auf die Opfer gerichtet ist, eine Sprache, die als ein Akt des Glaubens erfahren wird und ein Glaube, der Zweifel und Revolte zu umschließen vermag - sie bestimmen das Was und Wie seiner Repräsentation der Shoah. In der deutschen Ausgabe von Die Nacht zu begraben, Elischa, in die, wie gesagt, auch das Buch Morgengrauen Aufnahme gefunden hat, wird die perspektivische Modellierung der historischen Wirklichkeit verstärkt. Es tritt ein Struktureffekt auf, der in Nacht allein nicht vorhanden ist. Dem wehrlosen Jungen aus Nacht steht in Morgengrauen der inzwischen in den Freiheitsstreit gegen die Engländer in Palästina eingetretene junge Mann gegenüber, dessen Aufgabe es ist, einen englischen Offizier in einem Akt der Vergeltung zu töten: »Der Unterschied zwischen dem, der ich war, und dem, der ich sein würde, war dieser Revolver.«11 Für den Leser der Trilogie ist dieser Unterschied unmittelbarer präsent als für den Leser des Einzeltextes. Kurze Zeit vor der Tat sieht der junge Mann sich selbst als Kind und alle, die ihm etwas bedeuteten, in seiner Vorstellung vor sich auftauchen und dies ist für ihn in der Situation, in der er sich befindet, eine qualvolle Erfahrung. Aber es gelingt ihm, auch in die Tat des Tötens Gott einzubeziehen: »Vielleicht ist Gott dort, wo der Henker keinen Haß gegen sein Opfer und das Opfer keinen Haß gegen seinen Henker empfand.« 12 Doch meint er, diesen Gedanken verwerfen zu müssen, um anstelle dessen »die Kunst des Hassens zu lernen«. Die Begründung lautet: »Sonst, John Dawson, wird unsere Zukunft nur die Verlängerung der Vergangenheit sein und der Messias wird ewig auf seine Erlösung warten.«13 Wiesels heutige »Sicht« auf seinen Augenzeugenbericht von damals, eine Sicht, die um die Erfahrungen der Zeit nach der Niederschrift reicher geworden ist, hat sich nicht wesentlich gewandelt. Sein Zeugnis ist das gleiche geblieben, es gibt für ihn keine Ambivalenzen und seine Sprache ist nicht mehrdeutig und nicht ironisch. Wenn er die SS erwähnt, so geschieht das ohne den ironischen Abstand, der als Selbstschutz in unbeherrschbarer Situation vielfach als einzige Möglichkeit gilt, das Unerträgliche erträglich erscheinen zu lassen. Wiesels Worte zeichnen sich durch Direktheit aus, selbst da, wo er einen metaphorischen Ausdruck verwendet: 10 11

12 13

Ebd. Elie Wiesel: Die Nacht zu begraben, Elischa. Nacht, Morgengrauen, Tag. Mit Vorreden von Martin Walser und François Mauriac. München u. a.: Bechtle 1962, S. 236. Ebd., S. 242. Ebd., S. 258.

Zeugnisse - Memoiren

5

Die SS und nicht Gott regiert unsere Welt [...], Der SS-Mann will von seinem Opfer nicht als überlegener Mensch, sondern als Gott anerkannt werden. Er führt sich wie ein unantastbarer, allmächtiger Gott auf. 14

Stellen wir dem die Beschreibung eines SS-lers von Primo Levi gegenüber, so wird sichtbar, wie sehr auch Augenzeugenberichte einen subjektiv vermittelten Zugang zur Wirklichkeit der Ereignisse bieten. Levi, dessen Se questo è un uomo (bei Einaudi 1958 erschienen) 1961 in autorisierter Übersetzung unter dem Titel Ist das ein Mensch? verfugbar wurde, schreibt: Pannwitz ist hochgewachsen, mager und blond; er hat Augen, Haare und Nase, wie alle Deutschen sie haben müssen, und er thront fürchterlich hinter einem wuchtigen Schreibtisch. Ich, Häftling 174517, stehe in seinem Arbeitszimmer, klar, sauber und ordentlich, und mir ist, als müßte ich überall, wo ich hinkomme, Schmutzflecken hinterlassen [...]. Von Stund an habe ich oft und unter verschiedenen Umständen an diesen Doktor Pannwitz denken müssen. Ich habe mich gefragt, was wohl im Innern dieses Menschen vorgegangen sein mag und womit er neben der Polymerisation und dem germanischen Bewußtsein seine Zeit ausfüllte. 15

Die von Elie Wiesel den SS-lern zugeschriebene grenzenlose Macht wird in Levis Beschreibung relativiert, zunächst durch die Verallgemeinerung des Äußeren, die - gleichsam als Echo der von den Nationalsozialisten vertretenen Rassentheorie - als unabdingbar dargestellt wird (»wie alle Deutschen sie haben müssen«), dann aber auch vor allem durch die selbstironische Kontrastierung der Sauberkeit des Zimmers mit dem eigenen verschmutzten Zustand. Mit den imaginierten »Schmutzflecken« erreicht Levi ein Reflexionsniveau, das die Erniedrigung, die er in der evozierten Situation erfahrt, zu mildern imstande ist. Schließlich liegt in der Verwendung der rhetorischen Ironiefigur des Zeugmas (»Polymerisation und germanisches Bewußtsein«) ein weiteres Moment geistiger Überlegenheit bei faktischer Unterlegenheit beschlossen. Levi schrieb in dem Brief an seinen Übersetzer Heinz Riedt, der in die deutsche Ausgabe aufgenommen wurde, er habe ein bestimmtes Ziel mit der deutschen Ausgabe vor Augen, nämlich »Zeugnis abzulegen, das deutsche Volk meine Stimme hören zu lassen und dem Kapo, der sich die Hand an meiner Schulter säuberte, dem Doktor Pannwitz, denjenigen, die den Letzten erhängten, und ihren Erben zu >antwortenlieben Nachbarin< in die >Saujüdin< mit Neugier verfolgten«. 10 Die Rhetorik der Nazi-Ideologie bedarf offenbar noch einer inhaltlichen Bestätigung: diejenigen, die das Wort »Saujüdin« verwenden, suchen eine Korrespondenz des Zeichens in der außersprachlichen Wirklichkeit und sind sich über diese Entsprechung noch nicht ganz im Klaren; daher schauen sie immer wieder hin. Ihre Verhaftung mit dem Ziel der Deportation erstaunt die Mutter, aber Entsetzen oder Empörung kommen nicht auf. Die Hilfestellung der Schaffnerin, die ihr eine Fahrkarte bis zur Endstation aushändigt, während die Polizisten wegen Überfüllung der Straßenbahn und der schnellen Reaktion der Schaffnerin nicht haben einsteigen können, nimmt sie nicht an. Dem Befehl der Beamten, an der nächsten Station auszusteigen, kommt sie nach, da sie keine Möglichkeit zum Untertauchen sieht. Der Sohn schiebt eine Reflexion ein: Die Mutter stand da wie gelähmt, ihr Mann - sein Vater - würde das »die Inkompetenz des Guten« genannt haben: »Ein Abenteuer war durchzustehen, das List und Stärke erfordern würde, aber meine Mutter hatte noch nie ein Abenteuer gehabt.« 11 Am Westbahnhof wird sie der Masse der zur Deportation Bestimmten zugeführt. All diese Menschen, die man »aus irgendeiner gesegneten banalen Verrichtung gerissen hatte«, 12 können diese Banalität nicht unmittelbar abschütteln. Sie fragen, ob der Zug einen Speisewagen mitführe, wo man telephonieren könne, ob es Tee für die Thermosflasche gäbe, wie lange die Reise dauern werde. Die Erzählung des Sohnes von der Fahrt im Viehwagen beginnt die Mutter zu beunruhigen. Sie unterbricht ihn mit der Frage: »Kommt jetzt, was du die Liebesgeschichte nennst?« 13 Sie will nicht, daß ihr Sohn fortfährt und verläßt den Raum. In Abwesenheit seiner Mutter erzählt der Sohn, wie ein MitDeportierter im Waggon mit seiner Hand, die »mehr um Hilfe zu bitten als auf Eroberung aus zu sein schien« ihre Brust berührt hatte. 14 Auf einer Zwischenstation, als die Deportierten zusammengepfercht in einer Wartehalle stehen, um den ungarischen Zug gegen einen deutschen einzutauschen, nötigt ein Verehrer ihres Mannes, ein nicht ganz mehr ernst zu nehmender, heruntergekommener Bekannter, die Mutter, den Saal zu verlassen, über den Hof zu gehen und dem diensttuenden deutschen Offizier zu verstehen zu geben, ihre Deportation beruhe auf einem Irrtum, da sie Inhaberin eines Rot-Kreuz-Passes sei. Sie konnte die Augen der Viertausend auf sich fühlen, sie war ganz allein in der Sonne, sie hatte sich nie einsamer gefühlt, da ging sie los in ihrem guten Schwarzen und ihrem guten schwarzen Hut mit Wachsblumen an der Krempe, ihren weißen 10 11 12 13 14

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S.

289f. 293. 295. 299. 300.

Von der Autobiographie zur Fiktion

19

Handschuhen mit dem geflickten linken Daumen, und preßte ihre Handtasche mit dem Apfel an sich. 15

Bemerkenswert ist, daß der Sohn die Korrekturen der Mutter nicht übernommen hat (er beharrt auf der Krempe, dem Apfel). Seine Version der Geschichte hat ihn in ihrem Bann - es sind seine Reflexionen, die im folgenden auf der Bühne zu hören sind. In dem langen monologischen Teil der 4. Szene begründet er seine Auffassung vom Mute seiner Mutter: [...] doch muß ich meiner Mutter Courage preisen, als sie aus der Sicherheit der Nummern heraustrat, sich der Anonymität entzog, einer von viertausend, vier Millionen, vierzig Millionen warmer Körper zu sein, wir alle zählen die Toten nicht mehr, obwohl sie die Erde sprengen. 16

Die Tat des Mutes ist erfolgreich; der deutsche Offizier läßt sie entkommen, seine Motive lassen verschiedene Interpretationen zu, worunter nur eine die Anziehungskraft der blauen Augen ist; eine andere wäre ein Kompetenzstreit zwischen dem Offizier und einem Untergebenen; und schließlich gibt es noch die wohlwollende Interpretation, die dem Offizier eine wachsende Distanz zu den Maßnahmen der Endlösung attestiert. Eine Entscheidung für eine dieser potentiellen Interpretationen ist an dieser Stelle nicht notwendig. Am Ende des Theaterstücks trifft die Mutter am späten Abend im Hause ihrer Schwester ein, wo sie ein irritiert-unfreundlicher Empfang erwartet. Ihr Schwager, versessen aufs Romméspiel, ist über die Verspätung empört: »Wo warst du den ganzen Tag?« Die Mutter ist bereit, Auskunft zu geben: »Das werde ich dir erzählen ,..« 17 Aber soweit kommt es nicht. Onkel Julius verteilt die Spielkarten. In Mutters Courage wird - im Gegensatz zu Taboris Kannibalen oder Mein Kampf - nicht über die Grenzen von Tabus hinaus erzählt. Innerhalb der Holocaust-Literatur erscheint der Ehrbeweis an die Mutter, das Überleben trotz »Inkompetenz« und unpolitischer Sorge fürs Alltägliche, als eine Schreibweise der Intimität, die sich auch innerhalb ebendieser Grenzen des Intimen zu halten und zu beweisen hat. Aufgefaßt als Gewissensberuhigung für die Täter und als übertragbar auf andere Opfer, verliert das Stück seinen moralischen Anspruch. In dem schon erwähnten Monolog des Sohnes heißt es: Achttausendundsechzig Augen folgten ihrem Gang und verurteilten ihn, wie sie meinte; sie hatte sie verlassen, auch wenn Kelemen sie hinausgestoßen hatte, und war zur Verräterin geworden; jeder, der diese Toten überlebt, ist ein Verräter. 18

Ein Aufatmen über das »Noch einmal gut Davonkommen« wird durch diesen Satz zum Dementi, und der Beweis der »prinzipiellen Unvereinbarkeit von Holocaust und Alltagsbewußtsein, des Irrwitzigen, das sich hier als Normalität

15 16 17 18

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S.

306. 307. 316. 308.

20

Kapitel 2

präsentiert« wird auf erschreckende Weise sichtbar. 19 Um die Bruchstelle zu markieren, um sie unübersehbar hervortreten zu lassen, setzt Tabori Ironie, Farce, Groteske - je nach Tonlage der Geschichte, die er erzählt - ein. Die unbegreifliche Fürsorge Schiomo Herzls fur den sich zu Zeiten wahnwitzig aufführenden Adolf Hitler (in Mein Kampf) und die über das menschliche Maß hinausgehende Ekelhaftigkeit des Kannibalismus innerhalb des l 'univers concentrationnaire (in Kannibalen) - es sind Bruchstellen, deren kein Leser/Zuschauer folgenlos ansichtig werden kann. Imre Kertész, wie Elie Wiesel zu den jüdischen Ungarn gehörend, deren Deportationen im Sommer 1944 stattfanden, hat 1975 sein Buch Sorstalansäg veröffentlicht, das 1996 unter dem Titel Roman eines Schicksallosen in deutscher Übersetzung erschien. Der Zeitraum von dreißig Jahren, der zwischen der Befreiung und der Veröffentlichung dieses Buches vergangen ist, kommt nur zum Teil zu Lasten einer jahrzehntelangen Arbeit und der sich möglicherweise dabei einstellenden psychischen Hemmungen, einer Leserschaft mitzuteilen, was individuellster und intimster Schmerzerfahrung zugehört. Vielmehr weigerten sich die Verleger anfangs, dieses Buch über das Leben während eines Jahres in verschiedenen Konzentrationslagern (Auschwitz, Buchenwald, Zeitz) zu veröffentlichen. Grund fur ihr Zögern, das in der ausbleibenden Reaktion der literarischen Kritik und der allgemeinen Leserreaktion nach dem Erscheinen des Romans sein Spiegelbild fand, dürfte die verfremdende Erzählweise sein, die Imre Kertész' dokumentarisch genaue Berichterstattung gleichzeitig zu einem Beispiel fur erzählerisches Experimentieren im Bereich der Shoah-Literatur werden läßt. Die Kombination von einerseits strikt Dokumentarischem und andererseits Verfremdendem dürfte zunächst als ein Widerspruch erscheinen, könnte aber bei dem einen oder anderen Leser auch wohl zu Lektüreerinnerungen, beispielsweise an Kafka, oder - unter anderen Voraussetzungen - auch wohl an Thomas Bernhard führen. Als Verfahren der Verfremdung bei Kertész lassen sich die folgenden thematischen und strukturellen Gestaltungsprinzipien wahrnehmen. Auffallig ist zunächst das Fehlen der bei Memoiren und Augenzeugenberichten üblichen Zwei-Ebenen-Zeitstruktur, das heißt der Erzählebene des späten, erinnernden Erzählens von früheren, vergangenen Geschehnissen, die in die Reflexion des Heute eingebunden sind und denen von daher Bedeutung und Bewertung zugesprochen wird. Die Perspektive des etwa Fünfzehnjährigen wird von Anfang bis Ende durchgehalten. Dieser junge Gymnasiast ist ausgerüstet mit einem Kognitionszwang, einem exzessiven Erklärungsbedürfnis, das sich auf den ersten Blick nicht nur jeder Emotionalität in den Weg zu stellen scheint, sondern das darüber hinaus zu einer, ohne Zweifel manchen Leser irritierenden Stufenfolge von Erklärungs19

Martin Kagel: Geschichte und Versöhnung. Anmerkungen zu George Taboris Erzählung »Mutters Courage« und seinem jüdischen Western »Weisman und Rotgesicht«. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 28 (1996), S. 40-55, hier S. 46.

Von der Autobiographie zur Fiktion

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suche, Erklärangsfindung, einsichtigem Verstehen und schließlich positiver Bewertung fuhrt. Hiervon ist auch die zustimmende Übernahme von Stereotypisierungen nicht ausgenommen. 2 0 Der Erklärungszwang richtet sich auf Ereignisse und Erfahrungen, auf die der Junge in keinerlei Weise vorbereitet war. Dies betrifft in erster Linie seine Zugehörigkeit zum Judentum als einer Differenzzuschreibung durch andere, die weder in ihrer religiösen noch in ihrer kulturellen, geschweige denn in ihrer rassistischen Variante Teil seiner Relevanzerfahrung war. Schließlich endet das Buch in einem scharfen Kontrast zu dem zustimmenden Verständnis, das der Junge der Welt der Konzentrationslager entgegengebracht hatte. Nach der Befreiung in die alte Umgebung zurückgekehrt und zum Vergessen gemahnt, 21 wandelt sich seine Haltung völlig und steht die Welt gleichsam auf dem Kopf. Dem Journalisten, der ihn fragt, was er nach seiner Rückkehr empfinde, antwortet er mit einem einzigen Wort: »Haß«. 2 2 Die Einsicht, daß man ihn nicht verstehen werde, ist zugleich die Grundlage für die einzig für ihn mögliche Schreibweise. So möchte ich denn auch vorschlagen, das Ende des Romans als das poetologische Manifest von Imre Kertész zu interpretieren. Im folgenden soll auf einige der genannten Verfahren der Verfremdung eingegangen werden. Für den Ich-Erzähler ist das Judentum nicht Teil seiner Selbstfindung, und er erfahrt es auch nur als Fremdzuschreibung. Es irritiert ihn einigermaßen, daß eine gleichaltrige Freundin die Ursache des Judenhasses aus einer jüdischen Eigenart heraus zu erklären versucht und sich nicht mit dem »Zufall«, daß andere eine »Idee Jude« entwickelt haben, zufrieden geben kann: »Schließlich muß man doch wissen, wofür man gehaßt wird«, meinte sie. 23 Nach seiner Ankunft in Auschwitz mit einer Vielzahl von jüdischen Mitgefangenen konfrontiert, übernimmt er wie selbstverständlich die herrschenden Stereotypen: »Tatsächlich, sie sahen aus wie Juden, in jeder Hinsicht. Ich fand sie verdächtig und insgesamt fremdartig.«24 Im Arbeitslager Zeitz wird er aus der Gemeinschaft der Jiddischsprechenden ausgeschlossen. Daß er ihre Sprache nicht versteht, fuhrt zu dem Urteil: »Di bist nischt ka jid.« 25 Später, als nach der Erhängung eines Mithäftlings, bei der die Gefangenen zuschauen mußten, ein Rabbi das jüdische Totengebet anstimmt, ändert sich seine Haltung für einen kurzen Augenblick: 20

21

22 23 24 25

Siehe auch Barbara Bauer: Drama - Märchen - Gleichnis - Parabel. Wie Kinder den Holocaust erlebten und wie sie ihre Erfahrungen als Erwachsene darstellten. In: Mit den Augen eines Kindes. Children in the Holocaust, Children in Exile, Children under Fascism. Hg. von von Viktoria Hertling. Amsterdam u. a.: Rodopi 1998 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur; 134), S. 51-85. Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen. Aus dem Ungarischen von Christina Viragh. Berlin: Rowohlt 1996, S. 280f. Ebd., S. 270. Ebd., S. 43. Ebd., S. 90. Ebd., S. 155.

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Kapitel 2 Und tatsächlich, jetzt zum erstenmal, warum, weiß ich nicht, hatte ich auf einmal das Gefühl, daß mir etwas fehlte, ja in gewisser Weise sogar das Gefühl von Neid, jetzt zum erstenmal bedauerte ich es ein wenig, daß ich nicht - wenigstens ein paar Sätze - in der Sprache der Juden zu beten verstand. 26

Die Wendung »die Sprache der Juden« indiziert wiederum seine Distanz. Das auffälligste bedeutungssteuernde Erzählverfahren des Romans ist, wie gesagt, die mit rationaler Argumentation umkleidete Zustimmung zu dem, was ihm im Konzentrationslager begegnet. Vom Anfang der Deportation an werden alle Verhaltensweisen, Befehle, Aussagen, Handlungen nach einer Beobachtungsphase einem nahezu obzessiven Erklärungsverfahren unterzogen und bei genügender Plausibilität für einsichtig und richtig befunden. Die Zustimmung erfolgt entweder in redundanter Explizitheit oder nach einigen Bedenken und kleinen Einschränkungen in der Form einer schließlich gewonnenen Einsicht. Als Beispiele für die erste Form seien die folgenden Textstellen angeführt: »ich selbst verstand das natürlich ohne weiteres, daß es sich um so etwas wie eine Musterung [...] handelte«; 27 »das war ja ganz natürlich, schließlich waren es Soldaten, versteht sich«; 28 »das läßt sich ja verstehen, natürlich«, 29 wobei bestimmte Hygienegebote angesprochen sind. Zahlreicher sind die Zustimmungen nach anfänglichen Bedenken, kurzfristiger Verwirrung oder vorübergehendem Erstaunen: 30 »Aber auch die Richtigkeit der anderen Gründe hätte ich nicht anfechten können, welche sich auf die engen Verhältnisse in der Ziegelei, ihre Folgen auf dem Gebiet der Gesundheit sowie die wachsenden Probleme in der Lebensmittelversorgung bezogen: es war so, das konnte auch ich bezeugen«; 31 »Die Erklärung schien mir glaubwürdig [...] und so fanden alle, auch ich selbst, den Fall doch verständlich, letzten Endes«; 3 2 »und das war j a natürlich auch verständlich, wenn ich es richtig bedachte«; 33 »das dürfte ja wohl natürlich sein«; 34 »ich habe es vernünftiger gefunden, keine Einwände zu machen, versteht sich«; 35 »und ich sah ein, daß das letztlich eine ganz andere Situation war«; 3 6 »ich habe es dann eingesehen, daß es lächerlich gewesen wäre [,..]«; 37 »doch auch das, sah ich ein, kann zuweilen im Bereich der Notwendigkeit liegen«. 38

26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38

Ebd., S. 180. Ebd., S. 94f. Ebd., S. 96. Ebd., S. 84. Ebd., S. 93, 116. Ebd., S. 68. Ebd., S. 86. Ebd., S. 99. Ebd., S. 103. Ebd., S. 72. Ebd., S. 108. Ebd., S. 109. Ebd., S. 117.

Von der A utobiographie zur Fiktion

23

Zu den Wissensbeständen des Ich-Erzählers, die es an der Lagerwirklichkeit zu überprüfen gilt, gehören die in seinem Umfeld in Budapest geläufigen Meinungen über die Deutschen. Nach eigener Beobachtung wird auch hier wieder zugestimmt: So bekannten sich zahlreiche, und zwar vor allem ältere Leute, die schon über Erfahrungen verfügten, zu der Ansicht, die Deutschen seien, was immer ihre Auffassung von den Juden sein möge, im Grunde genommen [...] saubere, anständige Menschen, die Ordnung, Pünktlichkeit und Arbeit liebten und es auch bei anderen zu ehren wüßten, wenn sie bei ihnen die gleichen Eigenschaften feststellten; im großen und ganzen entsprach das in der Tat ungefähr dem, was ich auch von ihnen wußte [...]. 39

Soweit die überkommene Meinung. Im Lager wird sie Erinnerung: [...] diese verächtliche Ruhe, diese Ungerührtheit [angesichts eines Flugzeuges, E. I.] ließen mich auf einmal jene Art von Respekt verstehen, mit der man zu Hause allgemein von den Deutschen gesprochen hatte. 40

Auf der Hälfte des Romans etwa tritt eine Verunsicherung der ansonsten stets direkten und eindeutigen Zuordnung der Wahrnehmungen beim Ich-Erzähler auf. Es ist dies der Moment, wo die in Auschwitz angekommene Jungengruppe die Gasöfen gewahr wird. Zunächst wird man auf einen unangenehmen Geruch aufmerksam, aber: »Es fiel uns nicht schwer festzustellen: ein Schornstein war der Sünder.« 41 Nach dem, was man »in Erfahrung gebracht hatte«, handelte es sich um den Schornstein einer Lederfabrik. Das Plausibilisierungsverfahren des Erzählers tut wiederum seine Wirkung: »Tatsächlich, da fiel mir wieder ein [...]« - erinnert wird der Geruch einer Lederfabrik in unmittelbarer Nähe von Budapest. Doch lassen sich diesmal die Beobachtungen nicht so schnell beruhigend in Kategorien unterbringen. Ein Witz, den sich jemand über die eintätowierten Nummern erlaubt (»die himmlische Telefonnummer« wird solch eine Nummer genannt), gab »allen ziemlich zu denken«. 42 Man zieht Erkundigungen ein und erfahrt, daß das Gebäude, das man für eine Lederfabrik gehalten hatte, ein Krematorium ist, »das heißt der Schornstein eines Einäscherungsofens, wie man mich über die Bedeutung des Wortes aufklärte«. 43 Daß man aus den Duschen Gas auf Menschen herunterließ, hat der Ich-Erzähler »nach und nach erfahren, durch immer neue Einzelheiten ergänzt«. 44 Seinem Rationalisierungsbedürfnis widerstrebt die Tatsache, daß diese Einrichtung schon seit Jahren funktioniert hat, Tag für Tag. Er fühlt sich für diese Erfahrung schlecht vorbereitet. Zwar hat man ihm in der Schule beigebracht, das Lernen sei nicht fur die Schule, sondern für das Leben, doch hat man ver39 40 41 42 43 44

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd.,

S. S. S. S.

73. 95. 120. 121.

S. 124.

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Kapitel 2

säumt, was man hätte tun sollen, nämlich »die ganze Zeit ausschließlich fur Auschwitz« zu lernen. 45 An dieser Stelle jedoch meint er zu weit gegangen zu sein und stimmt letztendlich wiederum zu: »Aber ich sah natürlich ein, daß die Sache peinlich gewesen wäre, ja und dann gehört es auch nicht zur Allgemeinbildung, ich mußte es zugeben.« 46 Während der drei Tage, die die Gruppe in Auschwitz zubringt, gibt es viel Arbeit fur sein »Vorstellungsvermögen«, sein Zeitbegriff gerät in Unordnung, es gibt Befremdendes und Überraschendes, zum Beispiel, daß man sich in Auschwitz langweilen kann. 47 Nach der Verlegung der Gruppe in das für sie im Vergleich zu Auschwitz relativ erträgliche Buchenwald nimmt die Unsicherheit in der rationalen Zuordnung des Wahrgenommenen zunächst wieder ab und steigern sich das Plausibilisierungsbedürfnis und die Anerkennung absurder Verhaltensweisen und Lebensverhältnisse auf beinahe pervertierte Weise. Das resultiert in einer Form dramatischer Ironie, das heißt der Leser weiß sehr viel mehr als der Protagonist: Auch in Buchenwald gibt es ein Krematorium, versteht sich ... aber das ist hier nicht der Zweck, nicht das Wesen der Sache, nicht Seele und Sinn des Ganzen - wenn ich so sagen darf - sondern es werden nur solche verbrannt, die im Lager verscheiden, unter den gewöhnlichen Umständen des Lagerlebens sozusagen. 48

Die Nähe von Weimar wirkt beruhigend, handelt es sich doch um »eine bildungsmäßig gesehen namhafte Stadt, deren Ruhm zu Hause schon Lernstoff gewesen war, versteht sich«. 49 Die Anpassung scheint zu gelingen: »Nach einigen Wiederholungen war alles klar, verständlich und ohne weiteres auszuführen, wie jeder fand« und: »fürs erste genügte es, ein guter Häftling zu werden.« 50 Doch muß der Ich-Erzähler inzwischen auch die Erfahrung machen, daß Zuordnungen mißlingen. Er meinte, bemerkt zu haben, daß Nicht-Häftlinge, Außenstehende ein schöneres Äußeres bekommen haben als zuvor. Dann aber ist er »aufgrund von ein paar Anzeichen dahintergekommen, daß wahrscheinlich wir uns verändert hatten« 51 und er konstatiert: »So hatte dieser - in seinem Ergebnis zwar durchaus faßbare - Prozeß auch meiner Aufmerksamkeit entgehen können.« 52 Das exzessive Erklärungsbedürfnis des Ich-Erzählers hält nicht allen Erlebnissen stand. An der gleichen Stelle, an der er so weit geht, das Konzentrationslager als einen Ort erhöhter kognitiver Möglichkeiten zu bewerten (»Ich möchte behaupten, daß wir bestimmte Begriffe erst in einem Konzentrationslager 45 46 47 48 49 50 51 52

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S. S. S. S.

127. 127f. 133f. 142. 143. 150. 169. 170.

Von der Autobiographie

zur Fiktion

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wirklich verstehen«53), tritt der Umschlag ein, und stellt sich nunmehr die Emotionalität der Rationalität in den Weg. Ein Aufseher hatte ihm eine qualvolle Behandlung und Schläge zugefugt, und noch immer läßt der Junge nicht ab, die daraufhin entstehende zwischenmenschliche Beziehung zu analysieren und zu plausibilisieren: [...] so hielt ich doch durch, ich kam und ging, ich trug und schleppte, und zwar ohne einen einzigen weiteren Sack fallen zu lassen, und das war ja - das mußte ich einsehen - alles in allem die Bestätigung für ihn. 54

Nach diesem Balanceakt rationaler Anstrengung jedoch lautet das Ende des Kapitels: Andererseits fühlte ich am Ende dieses Tages, daß etwas in mir unwiederbringlich kaputtgegangen war, von da an dachte ich jeden Morgen, es sei der letzte, an dem ich noch aufstehen würde [...]. 55

Der Junge läßt sich von nun an gehen; er liegt zwischen Leben und Tod auf der Krankenstation, »ohne Neugier, voller Geduld«;56 er scheint zu keiner Erklärung und Plausibilisierung mehr imstande zu sein (Bauer spricht von der »Dissoziation von Körper und Geist«57). Und dennoch verläßt ihn diese seine Überlebensstrategie nicht ganz. Sprachlich interferiert bei der Beschreibung von Krankheit und Halbschlaf die Semantik der Rationalität mit der Semantik des Gefühls: Ich kann behaupten: es gibt keine noch so große Erfahrung, keine noch so vollkommene Ergebenheit, keine noch so tiefe Einsicht, daß man seinem Glück nicht doch noch eine letzte Chance gäbe - vorausgesetzt, man hat die Möglichkeit dazu, versteht sich. 58

Oder auch die folgende Stelle: Und alles Abwägen, alle Vernunft, alle Einsicht, alle Verstandesnüchternheit half da nichts - in mir war die verstohlene, sich ihrer Unsinnigkeit gewissermaßen selbst schämende und doch immer hartnäckiger werdende Stimme einer leisen Sehnsucht nicht zu überhören: ein bißchen möchte ich noch leben in diesem schönen Konzentrationslager. 59

Mit dem »schönen« Konzentrationslager wird auf der Handlungsebene des Romans zunächst konkret die Verlegung in ein viel angenehmeres Krankenzimmer angesprochen; es ist jedoch auch möglich, in dieser Bewertung eine Vorausdeutung auf das Gefühl, das sich nach der Rückkehr in die Welt der »Normalität« einstellt, zu lesen. Heißt es doch am Schluß des Buches, als der 53 54 55 56 57 58 59

Ebd., S. 182. Ebd., S. 188. Ebd. Ebd., S. 205. Bauer, Drama - Märchen - Gleichnis - Parabel (oben, Anm. 20), S. 72. Kertész, Roman eines Schicksallosen (oben, Anm. 21), S. 203. Ebd., S. 209.

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Kapitel 2

Protagonist die zur Ruhe kommende Heimatstadt am Abend erlebt: »Es war die gewisse Stunde, [...] die mir liebste Stunde im Lager, und ein schneidendes, schmerzliches, vergebliches Gefühl ergriff mich: Heimweh.« 60 Vorangegangen waren die Begegnungen mit dem Journalisten und den früheren Nachbarn, wobei der eine ihn auffordert, so schnell wie möglich dem Publikum »die Hölle« zu beschreiben und die anderen ihn dringend ermahnen, doch ja zu vergessen. Aus der barschen Ablehnung beider Alternativen und der dabei vorgebrachten Argumente läßt sich die Poetik des Autors Imre Kertész konstruieren. Mit der Bemerkung, er könne sich das Konzentrationslager vorstellen, nicht aber die Hölle,61 weist der Erzähler/Autor eine Poetik der Metapher von der Hand. Auf die Frage: »warum sagst du bei allem, es sei natürlich, und immer bei Dingen, die es überhaupt nicht sind!« antwortet er, daß im Konzentrationslager so etwas natürlich sei.62 Er bekennt sich damit zu der - scheinbaren - Akzeptanz einer pervertierten Welt, die als in sich geschlossen dargestellt und nicht zu etwas anderem metaphorisch - in Beziehung gesetzt wird. Die Beschreibung des Pervertierten als »natürlich« kann verfremdend wirken und den Leser zu besonderer Aufmerksamkeit zwingen, zumal die Akzeptanz des Widernatürlichen im Werk durchgehend thematisiert wird. Der Erklärungszwang des Protagonisten erhält vom Schluß her seine Funktion. Die Frage, ob die explizite Zustimmung zu Vorgegebenem, das »Echo« einer Meinung oder Verhaltensweise auch hier, wie üblich, als Ironiesignal zu verstehen ist, dürfte nicht ganz leicht zu beantworten sein. So man will, handelt es sich um die Ironie als Überlebensstrategie in einer Situation, die keine andere Verteidigung zuläßt. Andererseits setzt der Ironiker im allgemeinen die Einverständnis-Reaktion des Gesprächspartners/Lesers voraus. Es geht also um eine Kommunikationssituation, in der Sender und Empfanger Menschen, Situationen, Verhaltensweisen zu überschauen imstande sind. Eine solche Fähigkeit kann im Falle des Ich-Erzählers jedoch kaum vorausgesetzt werden. Er ist in seinem Alter erst im Begriff, die Welt kennenzulernen, Erkenntnisse zu sammeln, sie in Beziehung zu setzen zu bereits vorhandenem Wissen und seine eigenen Reaktionen zu erfahren (das wird am Anfang des Romans in seiner Einschätzung seiner Gefühle zu seinem Vater deutlich). Im Konzentrationslager bleibt seine Vorgehensweise formal die gleiche, auch wenn die Wissensinhalte sich entscheidend geändert haben. Diesem Vorgehen liegt auch seine Auffassung über die Zeit zugrunde, die er als eine Stufenfolge (der Erfahrung) konzipiert: »[...] daß man nie ein neues Leben beginnen, sondern immer nur das alte fortsetzen kann. Ich und kein anderer hat meine Schritte gemacht.« 63 Wesentlich dabei ist die Abfolge in der Zeit: »in der Abfolge der Zeit, Stufe um Stufe wird alles klar.« 64 Nur über den 60 61 62 63 64

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S.

286. 272. 270. 284. 272.

Von der Autobiographie zur Fiktion

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langsamen Lernprozeß und das Nacheinander in der Zeit ist die Aneignung des Unerträglichen erträglich: »Gäbe es jedoch diese Abfolge in der Zeit nicht und würde sich das ganze Wissen gleich dort auf der Stelle über uns ergießen, so hielte es unser Kopf vielleicht gar nicht aus, und auch unser Herz nicht.« 65 Ob als Ironie gelesen oder nicht, die Art, in der Kertész' Protagonist seine Erfahrungen verarbeitet, ist in beiden Fällen eine Überlebensstrategie, sowohl in der konkreten Situation des Lagers als auch in der des überlebenden Schriftstellers. Den Prozeß der Bestätigung und Akzeptanz der Wirklichkeit des Terrors dargestellt zu haben, ist das Verdienst von Kertész, das dann auch mit der von der Kritik eilfertig behaupteten Beleidigung der Opfer nichts zu tun hat. Dem Leser vermittelt das Verfahren der hinausgezögerten Einsicht in das Geschehen womöglich das Widersinnige auf besonders eindringliche Weise. 66

65 66

Ebd., S. 272f. Bauer, Drama - Märchen - Gleichnis - Parabel (oben, Anm. 20), S. 76.

Kapitel 3 Der Weg zur Postmoderne-Diskussion

Der hohe Gehalt des Autobiographischen und Dokumentarischen in der Literatur zum Holocaust führte zunächst zu einer großen Produktivität der Gattungen Memoiren, Augenzeugenberichten, Dokumentartheater und nur geringfügig zu »literarisierten« Erzählungen. Die Nähe zu dem Erlebnisbereich der betroffenen Autoren sorgte für eine große Intensität dieser Literatur, für die »essential historicity«, die Alvin Rosenfeld für die Schriften der Erinnerung einklagte.1 Andererseits bedeutete es für diese Gattungen jedoch einen Nachteil, daß sie, was die literaturkritische Resonanz betrifft, aus dem Hauptstrom der zur Diskussion stehenden Werke ausgegliedert und in eine Schonzone hineingestellt wurden. Ein relativ kleiner Kreis von Lesern und Kritikern (nicht selten aus der InGroup) nahm sich ihrer an, einigte sich auf einen »Subkanon« der Holocaustliteratur und verhinderte damit eine mögliche Breitenwirkung und vor allem einen Einfluß dieser Literatur auf die Poetik und Ästhetik der Nachkriegsjahre.2 Für die beiden deutschen Literaturen - die der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik - kam noch ein weiterer, ihre Wirkung verhindernder Umstand hinzu. Es war bekannt, daß die DDR sich von Anfang an auf ihr antifaschistisches - sprich: kommunistisches - Erbe berufen hatte, und in der dort entstandenen Literatur zum Holocaust war die jüdische Opferrolle zugunsten des kommunistischen Heroismus in der Form des Widerstands (auch im Ghetto und im Vernichtungslager) zurückgedrängt worden. Die thematische Perspektive der bundesrepublikanischen Autoren war weniger festgelegt, aber unterschied sich in einem Punkt auf alle Fälle von der Perspektive der DDR-Autoren: Wo die letzteren mit ihrem Nachdruck auf die antifaschistische Haltung zahlreicher Roman- und Dramengestalten staatskonforme Literatur 1

2

Alvin H. Rosenfeld: A Double Dying. Reflections on Holocaust Literature. Bloomington u. a.: Indiana University Press 1988. Die Poetik dieses Subkanons wird deutlich sichtbar in den Beiträgen zu zwei Sammelbänden, die anläßlich zweier Konferenzen zum Thema stattgefunden haben. Es geht um folgende Sammelbände: Comprehending the Holocaust: Historical and Literary Research. Ed. by Asher Cohen, Joav Gelder and Charlotte Wardi. Frankfurt a. M. u. a.: Lang 1988 und: Writing and the Holocaust. Ed. by Berel Lang. New York u. a.: Holmes & Meier 1988. Von einem Metastandpunkt aus wird zu diesem Subkanon Stellung genommen in: Douwe Fokkema / Elrud Ibsch: Knowledge and Commitment. A Problem-Oriented Approach to Literary Studies. Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins Publishing Company 2000 (Utrecht Publications in General and Comparative Literature; 33), Kapitel 7.

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Kapitel 3

produzierten, waren die Schriftsteller der Bundesrepublik durchgehend kritisch dem Staate und der Politik gegenüber. Auch das wirkte sich nachteilig auf ihre Rezeption aus. Ein Beispiel hierfür ist das dokumentarische Drama Die Ermittlung (1965) von Peter Weiss. Die Verarbeitung von Dokumenten des Auschwitz-Prozesses, der Ende 1963 in Frankfurt stattgefunden hatte, und ihre dramatische Aufbereitung wurde allgemein als extrem links orientierte Abrechnung mit der Vergangenheit betrachtet und als Verletzung geltender poetologischer Prinzipien gewertet. Die Verfahren der Rhythmisierung der Prosa (Oratorium in »Gesängen«) und der strengen thematischen Strukturierung sind die wenigen künstlerischen Eingriffe, die Weiss vornimmt, ein Umstand, der den Gesetzen einer der Zeit und der Gesellschaft enthobenen Kunst aufs ernsthafteste widersprach. Die namenlosen jüdischen Figuren werden als Zeugen im Prozeß den Angeklagten gegenübergestellt, die mit Namen und Bezeichnung ihrer jeweiligen Funktion auf die Bühne gebracht werden. Peter Weiss zeigt schonungslos, wie manche der Auschwitz-Funktionäre, die unmenschliche Greueltaten entweder selbst verübt oder aber veranlaßt haben, nach dem Kriege verantwortungsvolle leitende Positionen in Industrie und Politik besetzt haben. Das war ein politisch brisantes Thema in den sechziger Jahren und blieb keineswegs folgenlos, wie die Entwicklung der Studentengeneration Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre zeigen sollte. Die Ermittlung thematisiert auf eindringliche Weise, wie sehr der Genozid angesichts des Leidens, das die Deutschen selbst im Kriege erfahren hatten, als Fremdkörper empfunden wurde. Die Gefallenen, über die man trauerte, ließen keinen Raum für die Besinnung auf eigene Schuld. Auf eine kritische Formel gebracht: Man pflegte diese Trauer, um nicht bereuen zu müssen. Ein paar Beispiele aus dem Drama mögen diese Feststellung erhärten. So sagt ein Angeklagter: Tausende unserer eigenen Soldaten verbluteten an der Front und in den zerbombten Städten litten die Menschen. 3

Ein Verteidiger: Vorwürfe allgemeiner Art bleiben belanglos vor allem Vorwürfe die sich gegen eine ganze Nation richten die während der hier zu erörternden Zeit in einem schweren und aufopfernden Kampf stand. 4 3

4

Peter Weiss: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1989, S. 136. Ebd., S. 182.

Der Weg zur

Postmoderne-Diskussion

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Wiederum ein Angeklagter: Mein eigener Sohn kam um Herr Präsident man soll in diesem Prozeß auch nicht die Millionen vergessen die für unser Land ihr Leben ließen. 5

Und schließlich der Ankläger, der eine beschuldigende Erklärung dafür ausspricht, daß so wenige der hohen SS-Funktionäre sich geweigert haben, an den Verbrechen vor Ort teilzunehmen: Wir wiederholen daß ein jeder der den verbrecherischen Zweck des Befehls erkannte die Möglichkeit hatte sich versetzen zu lassen Wir kennen die Gründe weswegen sie sich nicht versetzen ließen An der Front wäre ihr eigenes Leben gefährdet gewesen so blieben sie dort wo sie nur wehrlose Gegner hatten.6

Die Schonzone der Holocaustliteratur - und gerade dies hat zu ihrem langen Fortbestehen beigetragen - wurde sowohl von der Literaturwissenschaft und -kritik als auch von den Autoren dieser Literatur respektiert. Die Ambivalenz der Autoren ihrem eigenen Schreiben gegenüber ist vielfaltig dokumentiert. Elie Wiesel und Art Spiegelman haben sich mehrfach zu diesem Thema geäußert. Sara Horowitz, die der Ambivalenz in der Schreibweise einiger Schriftsteller nachspürt, erklärt sie aus der »double bind«-Situation: Former victims of the Nazi genocide frequently express a deep ambivalence about their own Holocaust-centred writing - an ambivalence inscribed in the very unfolding of their narratives?

Der Grand ist: »an impossibility to express the experience coupled with a psychological and moral obligation to do so«. 8 Immer wieder stellt sich die Frage, ob eine Ästhetik der Gewalt und Grausamkeit möglich ist. 9 Diese Fragestellung geht zurück auf eine bestimmte, von Baumgarten, Kant, Shaftesbury und 5 6 7

8 9

Ebd., S. 185. Ebd., S. 135. Sara R. Horowitz: Voicing the Void. Muteness and Memory in Holocaust Fiction. Albany: State University of New York Press 1997 (SUNY Series on Modern Jewish Literature and Culture), S. 16, Hervorhebung von mir, E. I. Ebd. Ebd., S. 15.

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Kapitel 3

vielen anderen entwickelte Ästhetik-Konzeption, deren historische Autorität sich trotz aller künstlerischen Revolutionen erhalten hatte. Versucht man, von dieser Konzeption abzusehen und Kunst als Möglichkeit der Darstellung von Grenzsituationen zu fassen, so verliert die Fragestellung ihr Gewicht. Seit der literarischen Moderne thematisiert Literatur ihre eigene Sprachlichkeit. Künstlerische Sprache ist nicht als transparentes Medium verfugbar, sondern »entsteht« im Abtasten der Möglichkeit, Klang/Form mit Bedeutung aufzuladen. Sobald das Schreiben über die Erfahrung des Holocaust über die Rapportage von Ort, Zeit und Quantitäten hinausgeht, stellt sich das gleiche Abtasten ein. Je mehr die Versprachlichung der Shoah zum Problem wird, desto näher kommt die Repräsentation der »Wahrheit« des Unerträglichen.10 Das Idiom der Gewalt ist ein Readymade - fur das Leiden gibt es kein verfugbares Idiom. Die Wehrlosigkeit des sprachlichen Zeichens, sowohl dort, wo es als Readymade als auch dort, wo es als Träger einer noch nicht in Sprache festgelegten Grenzerfahrung versuchsweise eingesetzt wird, kommt der Wehrlosigkeit der Opfer nahe. Horowitz zitiert aus Jorge Sempruns Roman The Long Voyage, worin der Erzähler, ein Überlebender, wenige Tage nach der Befreiung nach Buchenwald zurückkehrt, um Vertretern der französischen Mission das Lager zu zeigen: I had never seen it empty before, I must admit, I hadn't ever really seen it before, not what you call >seeing< ... I saw this scenery, which for two years had been the setting of my life, and I was seeing it for the first time. I was seeing it from the outside [...]. u

Die Kursivierungen des Autors, die das Zentrum der Erfahrung - das Ich und das Sehen - in den verschiedenen Bedeutungsnuancen betreffen, vermitteln einen Eindruck von der Arbeit am Zeichen, die zu leisten ist, wenn die Shoah erzählt wird.

Sprache und Verstehen: Die Hermeneutik des Holocaust Der Mensch, der über die Sprache verfügt, ist in einem dauerhaften hermeneutischen Prozeß an der Konstruktion von Wirklichkeit mitbeteiligt, ohne daß damit eine Auffassung von Wirklichkeit als eines exklusiven sprachlichen Phänomens impliziert wäre. Es gibt anderes als Sprache. Die Shoah ist der ausschlaggebende Beweis hierfür. Wenn wir jedoch die nicht-verbalen Aspekte der menschlichen Realität einer näheren Analyse unterziehen, fallt auf, wie sehr die Sprache zu einem unerläßlichen Bestandteil auch dieser eben nichtsprachlichen Handlungen und Sachverhalte wird. Einmal, indem wir Handlungen und Sachverhalte konzeptuell erfassen und benennen, sobald sie zu Erfahrungen verarbeitet werden. Zum andern aber auch, weil historische Ereignisse 10 11

Siehe zu dieser Diskussion auch Klein, Literatur und Genozid (oben, Kap.l, Anm. 17). Horowitz, Voicing the Void (oben, Anm. 7), S. 34.

Sprache und Verstehen

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nicht-sprachlicher Art, wie zum Beispiel die Vernichtung des europäischen Judentums, sprachlich in Diskurse eingebettet und vorbereitet und im nachhinein in Erklärungsversuchen wiederum sprachlich artikuliert werden. Ohne die sprachliche Konstruktion dessen, was zu Beginn des 20. Jahrhunderts als »Judenfrage« immer brisantere Formen annehmen sollte, wäre es schwerlich zu Auschwitz gekommen. In ihrem Vorwort zu dem Band Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom Ersten Weltkrieg bis 1933/1938 stellen die Herausgeber Hans-Otto Horch und Horst Denkler fest, daß »alle wesentlichen allgemein kulturellen und speziell literarischen Entwicklungen in bezug auf das deutsch-jüdische Verhältnis bereits vor dem Ende des Ersten Weltkriegs abgeschlossen waren« und damit die »Argumentationsmuster« bereitstanden.12 Reinhart Koselleck fuhrt das Beispiel von Hitlers Mein Kampf an, um zur Klärung des Verhältnisses von Sprache und nicht-sprachlichem Ereignis beizutragen. Auschwitz, so Koselleck, läßt sich nicht zwangsläufig aus Hitlers Schrift ableiten. Schließlich hätte alles noch anders kommen können. Was dann eingetreten ist und wie es gekommen ist, ist keine Frage des Textes und der Textexegese mehr. Nach Auschwitz ändert sich damit auch der Status von Mein Kampf. Was Hitler geschrieben hat, ist durch Taten unermeßlich überboten worden, und damit gewinnt seine Rede einen neuen Sinn, einen Sinn, der so zuvor noch gar nicht wahrgenommen werden konnte. 13

Die Wirklichkeit, die Geschichte ist »stärker als alle textuelle Ableitung oder textuelle Dokumentation ex post«.14 In seiner Erwiderung geht Hans-Georg Gadamer nicht auf Kosellecks Beispiel ein. In seinem Beitrag geht es ihm eher darum, noch einmal auf die Bedeutsamkeit von Sprache und die »Auszeichnung« des Menschen durch Sprache hinzuweisen. Man darf jedoch annehmen, daß Gadamer im Prinzip Koselleck zustimmen kann, da auch er in Wahrheit und Methode den Fortgang des Geschehens (sowohl im Falle geschichtlicher Überlieferung als auch bei dichterischen Texten) dafür verantwortlich macht, daß »das Überlieferte in neuen Bedeutungsaspekten herauskommt«.15 Deshalb hält er die hermeneutische Reduktion auf die Meinung des Urhebers für ebenso

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Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom Ersten Weltkrieg bis 1933/1938. Dritter Teil. Hg. von Hans Otto Horch und Horst Denkler. Tübingen: Niemeyer 1993, S. VII. Reinhart Koselleck / Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik und Historik. Heidelberg: Carl Winter Universitätsverlag 1987 (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse; 1987,1), S. 26f. Ebd., S. 27. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 4. Aufl., unveränd. Nachdruck der 3., erw. Aufl., Tübingen: Mohr 1975 ['I960], 355)

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Kapitel 3

unangemessen wie bei geschichtlichen Ereignissen die Reduktion auf die Absicht der Handelnden. 16 In Gadamers imposantem Werk - einer hermeneutischen Grundlagenlehre nach 1945 - fehlt erstaunlicherweise jeder Hinweis auf das geschichtliche Ereignis des Holocaust. Dies hat sowohl ethische wie kognitiv-epistemologische Implikationen. Die Leistungsfähigkeit der Hermeneutik, ihre Abgrenzungsprobleme, ihr Verhältnis zur Tradition und zur Wirklichkeit, ihre Weiterentwicklung hin zur kritischen Hermeneutik, ihr Beitrag zum Fremdverstehen auf all diese Aspekte fällt durch den Holocaust ein schärferes Licht, wodurch die Neuüberdenkung der Traditionslinie Schleiermacher, Dilthey, Collingwood nicht mehr genügen kann. Gadamer jedoch argumentiert ausschließlich von ebendieser Tradition her. Sein Anliegen ist es, die Hermeneutik in ihrem Widerstand gegen das Dogma des sensus literalis zu würdigen, das heißt vor allem gegen die biblische Sinnfestlegung, die ohne die Tradition der verschiedenen Auslegungen meint, Autorität beanspruchen zu können. »Orthodoxie und Dogmatismus sind Kinder der Literalität«, so formuliert S. J. Schmidt, der damit W. J. Ong in seiner Auffassung von Schriftkultur folgt. 17 Eine Schriftkultur, so können wir den Gedanken weiterfuhren, kennt aber auch die kommunikative Differenz zwischen Produktion und Rezeption, und jener Differenz haben wir die Herausbildung dessen zu danken, was wir seit der Querelle des anciens et des modernes das historische Bewußtsein nennen. Damals ging es um den Vorbildcharakter der Literatur und Kunst des Klassischen Altertums. Die Diskussion reichte jedoch viel tiefer in die Problematik des Verstehens von Ausdrucksformen, die durch chronologische oder topologische Entfernung gekennzeichnet waren. Die Nachfolge der Querelle bedeutete den Sieg der Hermeneutik über das Dogma in Sachen der Kunst. Nach Gadamer war »jene quereile [...] gleichsam die letzte Form einer ungeschichtlichen Auseinandersetzung zwischen der Tradition und dem Zeitalter der Moderae«. 18 Die Hermeneutik Schleiermachers bezog sich auf Texte, deren Autorität feststand (die Bibel und die Literatur des Klassischen Altertums). Die hermeneutische Loslösung vom Dogma bestand darin, daß die Frage nach der »Wahrheit« dieser autoritativen Texte offen blieb. Schleiermachers Interesse war das des Theologen. Dilthey überträgt die Hermeneutik auf die Historik. Seine idealistische Identitätsphilosophie, derzufolge der verstehende Historiker seinem Gegenstand nicht gegenübersteht, sondern »von der gleichen Bewegung geschichtlichen Lebens getragen wird«, 19 ist nach Gadamer ein ästhetisches Moment:

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Ebd., S. 355. Siegfried J. Schmidt: Die Zähmung des Blicks. Konstruktivismus, Empirie, Wissenschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998 (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 1372), S. 97. Gadamer, Wahrheit und Methode (oben, Anm. 15), S. 503. Ebd., S. 478.

Sprache und Verstehen

35

Die Grundlegung der Historik in einer Psychologie des Verstehens, wie sie Dilthey vorschwebte, versetzt den Historiker in eben jene ideelle Gleichzeitigkeit mit seinem Gegenstand, den wir ästhetisch nennen [...]. 20

Dilthey konnte seine identitätsphilosophische Position nur um den Preis der Annahme einer kontinuierlichen Gleichartigkeit der menschlichen Natur durchhalten. Im Grunde genommen fiel er damit zurück hinter das geschichtliche Bewußtsein der Querelle, die diese Annahme bezweifelt hatte. Eine andere Konsequenz seiner »ästhetischen« Psychologie des Verstehens war, daß er die geschichtliche Welt »wie einen zu entziffernden Text dachte«. 21 Später sprach Hans Blumenberg von der Lesbarkeit der Welt. In seinem Buch geht er der Geschichte der Lesbarkeitsmetapher von der Erschaffung der Welt bis zum »Lesen« des genetischen Code nach. Im Falle von Schriftreligionen (wie zum Beispiel der jüdischen) wird die Welt aus Schrift erschaffen (»Becalél verstand die Buchstaben zusammenzusetzen, mit denen Himmel und Erde erschaffen wurden.« 22 ). (Harry Mulischs De procedure [1998] ist ein fiktionales Beispiel dieser Art der Lesbarkeit der Welt.) In der Weiterentwicklung der Hermeneutik läßt sich die Verabsolutierung der Lesbarkeit beobachten, die mit Derrida ihren Höhepunkt erreicht. Allgemein wird hierfür das Erbe der rabbinischen, insbesondere der kabbalistischen Tradition verantwortlich gemacht, dem Derrida verpflichtet ist. Jürgen Habermas charakterisiert die Schriftlichkeit sensu Derrida folgendermaßen: Die Schrift macht das Gesagte vom Geist des Autors und vom Atem des Adressaten ebenso wie von der Präsenz der besprochenen Gegenstände unabhängig. Das Medium der Schrift verleiht dem Text eine steinerne Autonomie gegenüber allen lebendigen Kontexten. Sie löscht die konkreten Bezüge zu einzelnen Subjekten und bestimmten Situationen und erhält dem Text gleichwohl seine Lesbarkeit. Die Schrift garantiert, daß ein Text in beliebig wechselnden Kontexten immer wieder gelesen werden kann. 23

Auch dies läuft auf eine Ästhetisierung alles Schriftlichen hinaus, wurde doch - beispielsweise von Paul Ricoeur, aber auch von anderen - die Dekontextualisierung mit nachfolgender Neukontextualisierung gerade als merkmalhaft für Literatur angesehen. Ein Abgrenzungsmerkmal jedoch war in keiner Weise Derridas Ziel. Im Gegenteil kam es ihm darauf an, die Demarkationslinien soweit wie möglich einzuebnen und vor allem den Vorrang der Rhetorik vor der Logik immer wieder zu betonen. Ob es um Texte aus Wissenschaft, Philosophie, Literatur, literarischer Kritik oder aus der Alltagssprache geht, Derrida analysiert oder besser: hinterfragt sie ohne Unterschied nach Gattung, Wahr20 21 22

23

Ebd., S. 218. Ebd., S. 227. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. 2., durchges. Aufl., Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1983 [ 1 1980], S. 28. Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985, S. 196.

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Kapitel 3

heitsanspruch oder überkommenen Gebrauch als poetische Texte - als »Schrift« - in ihrer différence, ihrer Bedeutungsdissemination durch stets wechselnde Kontexte. Noch einmal Habermas: Die Asthetisierung der Sprache, die mit der doppelten Verleugnung des Eigensinns von normaler und poetischer Rede erkauft wird, erklärt auch Derridas Unempfindlichkeit gegenüber der spannungsreichen Polarität zwischen der poetischwelterschließenden Funktion der Sprache und den prosaischen innerweltlichen Sprachfunktionen [...]. 24

Bei diesen Formulierungen muß man bedenken, daß Habermas ohne Zweifel zu den kritischen Lesern von Derrida gehört, da fur sein kommunikatives Handlungskonzept intersubjektiv identische Bedeutungszuschreibungen in prosaischer Rede die Voraussetzung bilden.

Die Rhetorisierung der Geschichtsschreibung Die Welt konzeptualisiert als Schrift und die Asthetisierung des Schriftlichen erhalten im hermeneutischen Diskurs einen weiteren Impuls im Beitrag von Hayden White. Die geschichtliche Erzählung, so White, ist nicht von den Fakten, über die sie berichtet, abhängig, sondern von dem kognitiven, emotionalen oder ideologischen Interesse dessen, der diese Fakten in seiner Geschichtsschreibung zu Ereignissen konstruiert. Die Existenz von Fakten ist nach White zwar Voraussetzung der Geschichtsschreibung, in ihrer Gewichtung jedoch bleiben die Fakten als solche weit zurück hinter der Bedeutung, die ihnen aus einem bestimmten Interesse heraus zugeschrieben wird: [...] a specifically historical inquiry is born less of the necessity to establish that certain events occurred than of the desire to determine what certain events might mean to a given group, society, or culture's conception of its present task and future prospects. 25

Modelle fur die Bedeutungskonstruktion historischer Fakten stehen nach White dem Historiker im Repertoire der literarischen Gattungen zur Verfugung. Im Prinzip, so formuliert White einigermaßen relativierend in Critical Inquiry, kann der Historiker in aller Freiheit eine bestimmte Gattung (Erzählstruktur) wählen. Es besteht keine Vorschrift für die Wahl der Tragödien- oder der Komödienstruktur, obwohl - und darin erscheint die Relativierung seines früher eingenommenen Standpunktes - sich bestimmte Fakten besser für eine Behandlung in der Gattung der Tragödie als in der der Komödie eignen.

24 25

Ebd., S. 240f. Hayden White: Historical Pluralism. In: Critical Inquiry 12 (1986), No. 3, S. 4 8 0 493, hier S. 487.

Der Holocaust in der Diskussion

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Der Holocaust in der Diskussion Die Rhetorisierung und Ästhetisierung der Geschichtsschreibung fand zu einem Zeitpunkt statt, an dem sich die Diskussion über den Holocaust - sowohl in historischer als auch literarischer Darstellung - auf einem Höhepunkt befand. Es konnte daher nicht ausbleiben, daß es irgendwann zu einem Zusammentreffen der Diskussionslinien kommen würde. Diese Erwartung wurde erfüllt, und zwar beschleunigt durch den bereits erwähnten »Historikerstreit« 26 einerseits und den Reputationsverlust, den die neuere Hermeneutik zu verzeichnen hatte, andererseits. Gemeint ist mit letzterem die Aufdeckung unrühmlicher schriftlicher Betätigung Paul de Mans in seinen jungen Jahren 27 und auch das Verschweigen seiner jugendlichen SS-Zugehörigkeit von Hans Robert Jauss. Sollte es denn so sein können, daß eine »Welt als Text« und die Veränderlichkeit der Bedeutungen vor allem dann postuliert werden, wenn es eine Welt der Taten und Tätlichkeiten zu verhüllen gilt? Zunächst der Historikerstreit, der umfangreiche Reaktionen ausgelöst hat. 28 Einer der Hauptakteure in der Debatte ist Ernst Nolte, der die Geschichte des Dritten Reiches unter einer neuen Perspektive zur Darstellung bringen wollte. Seine Motivation bezog er aus dem seiner Ansicht nach in Deutschland vorherrschenden »negativen Nationalismus« und dem Schwarz-Weiß-Denken, das die Geschichtsschreibung über das Dritte Reich kennzeichnete. In »vergleichender« Perspektive ging es ihm darum, Hitler erstens als »Anti-Lenin« darzustellen, und zweitens die Vernichtung des europäischen Judentums im Zusammenhang mit anderen Massenvernichtungen zu beurteilen. 29 Marxismus und Nationalsozialismus sind nach Ansicht Noltes miteinander verbunden: die Furcht vor der bolschewistischen Revolution (wobei die Juden als Bolschewisten par excellence eingestuft wurden) brachte Hitler auf den Gedanken der Judenvernichtung, gleichsam als Verteidigungsstrategie. Unabhängig von Nolte legte Andreas Hillgruber seine Interpretation vor, die neben der jüdischen Katastrophe auch eine »deutsche Katastrophe« meinte berücksichtigen zu müssen, nämlich die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten und die schweren Kämpfe der deutschen Wehrmacht gegen die Rote Armee. Nolte und Hillgruber legitimieren ihre jeweilige Perspektive unter

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Die Dokumentation der Kontroverse erschien 1987 unter dem Titel Historikerstreit in München und Zürich im Piper-Verlag. Ortwin de Graef: Silence to be Observed. A Trial for Paul de Man's Inexcusable Confessions. In: (Dis)continuities. Essays on Paul de Man. Ed. by Luc Herman, Kris Humbeeck and Geert Lernout. Amsterdam: Rodopi 1989 (Postmodern Studies; 2), S. 51-73. Siehe für einen Überblick u. a. Chris Lorenz: Historical Knowledge and Historical Reality. A Plea for »Internal Realism«. In: History and Theory. Studies in the Philosophy of History 33 (1994), No. 3, S. 297-327. Ebd., S. 300.

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Kapitel 3

Berufung auf die historische Wirklichkeit. 30 Letzteres nun ist der Grund, weshalb die Kontroverse im Zusammenhang mit der Hermeneutik des Holocaust ihren Stellenwert hat. Auf beiden Seiten der Debatte erkennt man die von der Gegenseite als historische Fakten eingebrachten Elemente nämlich nicht als Fakten an, sondern schreibt ihnen den Charakter politischer Werturteile zu. 31 Lorenz geht anhand des Beispiels »Historikerstreit« auf die epistemologischen Konsequenzen dieser Situation ein. Im allgemeinen gibt es da zwei extreme Reaktionen. Entweder man argumentiert, daß Historiographie (wissenschaftlich) objektiv und auf Tatsachen basierend sein müsse oder aber man nimmt den entgegengesetzten Standpunkt ein und erklärt, Geschichtsschreibung sei eher Kunst, eine Angelegenheit individueller Überzeugung, eine »expression of culture«, 32 in der auf Fakten beruhende Argumentation ein Trugschluß ist. Im Falle des Objektivitätspostulats ist es schwierig, Verständnis dafür aufzubringen, daß Historiker über Tatsachen und Tatsachenverbindungen verschiedener Meinung sein können. Im Falle der relativistischen - postmodernen - Stellungnahme ist es unverständlich, daß Historiker sich überhaupt auf Fakten berufen. Wenn, wie Hayden White in seiner »narrativistischen« Auffassung voraussetzt, Geschichtsschreibung ausschließlich von der individuellen Wahl der »Plotstruktur« abhängig ist, verflüchtigt sich jede Korrespondenz und Referenz zwischen den Tatsachen und ihrer historischen Beschreibung und Erklärung. Lorenz optiert für den »Internal Realism« sensu Hilary Putnam. Dieser beinhaltet, daß Korrespondenz und Referenz von Fakten innerhalb eines bestimmten Beschreibungsrahmens (»frame of description«) vorhanden sein müssen. Geschichtsschreibung wird in diesem Sinne nicht als reine Konstruktion, sondern als Rekonstruktion gesehen, wobei dem traditionellen Empirismus jedoch durch das Konzept des Beschreibungsrahmens gegengesteuert wird. Normative Annahmen bei der Wahl des Beschreibungsrahmens werden anerkannt und als fruchtbar für Pluralismus und Diskussionswürdigkeit akzeptiert. Die Kritisierbarkeit der historischen Beschreibung macht gerade ihren wissenschaftlichen Status aus. Lorenz beabsichtigte mit seinem Aufsatz vor allem, Noltes und Hillgrubers Berufung auf Tatsachen und Wissenschaftlichkeit als Quasi-Wissenschaft zu kritisieren. Er geht nicht auf die Möglichkeiten ein, wie man »frames of description« und ihre moralischen Voraussetzungen gegeneinander abzuwägen vermag. Obgleich er Epistemolo30

31 32

Ein interessanter Fall von Perspektivierung wird von Dan Diner angeführt. Unter Hinweis auf Gordon Craigs Geschichte Europas 1815-1980 stellt er eine eher geringe Beteiligung des britischen Kollektivgedächtnisses am Ereignis des Holocaust fest und begründet das mit dem Preußenbild Englands, das machtpolitisch orientiert und festgeschrieben war (vgl. Dan Diner: Der Holocaust im Geschichtsnarrativ. Über Variationen historischen Gedächtnisses. In: In der Sprache der Täter. Neue Lektüren deutschsprachiger Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur. Hg. von Stephan Braese. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998, S. 13-30, hier S. 13ff). Lorenz, Historical Knowledge and Historical Reality (oben, Anm. 28), S. 302. Ebd., S. 305.

Der Holocaust in der

Diskussion

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gie und Ethik nicht im Weberschen Sinne trennen will, geht es ihm in »Historical Knowledge and Historical Reality« in erster Linie um die Epistemologie. Die Entdeckung von Paul de Mans antisemitischen journalistischen Beiträgen in seiner Jugend und sein Stillschweigen darüber auf dem Höhepunkt seines Ruhmes als Vertreter des Dekonstruktivismus und Lehrer und Freund zahlreicher jüdischer Kollegen und Studenten hat Gegner dieser hermeneutischen Richtung Anlaß zu schärfster Kritik gegeben, die Ortwin de Graef folgendermaßen zusammenfaßt (ohne sie in dieser globalen Form zu teilen): [...] he [Paul de Man] in fact devoted the whole of his brilliant career to the construction of a vast theoretical apparatus which was obviously intended to function as a strategic defense shield in the event of disclosure, or, alternately, as a screen, consciously or unconsciously developed, with which he could shelter himself from his own »shameful past«. 33

Wiederum war in der Diskussion die mögliche oder unmögliche Unterscheidung von einer außersprachlichen referentiellen Realität und einer performativen Rhetorik der Konfession im autobiographischen Diskurs ein entscheidender Punkt. Es soll hier nicht auf Ortwin de Graefs nuancenreiche und faire Interpretation des letzten Kapitels aus de Mans Allegories of Reading (1979) eingegangen werden. Worum es an dieser Stelle geht, ist die Unvermeidlichkeit der Konfrontation der neuen Hermeneutik, die einen stets größeren Nachdruck auf die Rhetorik als »Logik der Unentscheidbarkeit« legt, 34 wie Werner Hamacher in seiner Einleitung zu den Allegorien des Lesens formuliert, mit der Realität des Holocaust und seinen Folgen. Hamacher faßt die Beiträge Paul de Mans als Endpunkt hermeneutischer Verstehenslehre folgendermaßen zusammen: Sie [die Beiträge] setzen die Arbeit der neuzeitlichen Hermeneutiken fort, indem sie sich weiter als jede bisher von ihren subjektivitäts- und sprachontologischen Restriktionen befreien. Sie zeigen, daß alles, was von der Sprache berührt wird, aus ihrer Unverläßlichkeit lebt und daß es an ihr den beunruhigenden Garanten seiner Andersheit und seiner Veränderlichkeit hat. 35

Für Saul Friedlander war die von der postmodernen und dekonstruktivistischen Philosophie, Historiographie und Literaturwissenschaft - kurz: der neuen Hermeneutik - betriebene Auflösung des Faktischen in Sprache Anlaß, im Jahre 1990 an der University of California, Los Angeles, eine Konferenz abzuhalten zum Thema »Nazism and the >Final Solutionc Probing the Limits of Representation«. Die Akten der Konferenz erschienen 1992 unter dem Titel Probing the Limits of Representation: Nazism and the >Final Solutiom. Als unmittelbaren 33 34

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De Graef, Silence to be Observed (oben, Anm. 27), S. 51. Paul de Man: Allegorien des Lesens. Aus dem Amerikanischen von Werner Hamacher und Peter Krumme. Mit einer Einleitung von Werner Hamacher. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988 (Edition Suhrkamp; N. F. 357), S. 16. Ebd., S. 25.

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Kapitel 3

Anlaß zur Konferenz nennt Friedlander eine Debatte zwischen Hayden White und Carlo Ginzburg über »The Nature of Historical Truth«, die im Jahre 1989 stattgefunden hatte. Was sich für die Vertreter einer relativistischen Wahrheitsauffassung in abstracto recht mühelos diskutieren ließ, wurde angesichts der Vernichtung des europäischen Judentums zu einem Problem. Als Grenzfall des Denkbaren fordert der Genozid zum Nachdenken über die Grenzen des Darstellbaren heraus. So könnte man den Standpunkt vertreten, daß gerade im Falle von Ereignissen, die sich jeder normalen Repräsentationsweise entziehen, die postmoderne Ambiguität und das ästhetische Experiment einen Ausweg bieten. Andererseits aber, so Friedlander, erfordert die Polysemie und Selbstreferentialität der linguistischen Konstrukte, so wie sie im postmodernen Gedankengut vertreten werden, »the need to establish the realities and the truth of the Holocaust«.36 François Lyotards Verzicht auf jede »metanarrative« läßt sich angesichts des Holocaust kaum aufrechterhalten: »in the face of these events we feel the need of some stable narration.«37 Ein solches Bedürfnis jedoch kann Hayden White von seiner Ausgangsposition her nicht anerkennen, da es ja bedeuten würde, eine Prädominanz des historischen Ereignisses zu vertreten. Damit wäre das Ereignis verantwortlich für die Erzählweise, während der Relativist die Verantwortung für die Wahl einer narratio dem Historiker überläßt. Als der ausgesprochenste Opponent des White-Standpunktes erscheint in Friedlanders Sammelband Carlo Ginzburg. Er meint, in White den Einfluß Giovanni Gentiles zu erkennen, des Philosophen, der in den Kontext des italienischen Faschismus hineingehört. Für Ginzburg ist der Historiker der Wirklichkeit und der Wahrheit verpflichtet. Das geht sehr weit: Ein einziger Augenzeuge kann den Zugang zur historischen Wirklichkeit verschaffen, kann uns der historischen Wahrheit näher bringen.38 Hayden White ist schließlich bereit, seinen Standpunkt zu relativieren. Der Gedanke, daß die willkürliche und individuelle Wahl einer historischen Erzählstruktur auch zur revisionistischen Leugnung des Holocaust führen könne, läßt ihn die Gefahr seiner Position erkennen. Sein Ausweg, den Diskurs des Holocaust nach der Semantik des Modernismus, aus dem er letztendlich hervorgegangen ist, zu modellieren, erscheint jedoch unbefriedigend. Berel Lang, in seinem Bemühen, die Grenzen des Darstellbaren - und insbesondere der Darstellbarkeit des Holocaust - abzutasten, nimmt als Grundlage der Historiographie die historische Chronik an.39 Obwohl er sich der Problematik der Datenselektion bewußt ist, will er die Ebene der Chronik (um ein Beispiel zu nennen: 20. Januar 1942, Wannseekonferenz) von einer zweiten 36

37 38

39

Probing the Limits of Representation. Nazism and the »Final Solution«. Ed. by Saul Friedlander. Cambridge u. a.: Harvard University Press 1992, S. 4f. Ebd., S. 5. Carlo Ginzburg: Just One Witness. In: Probing the Limits of Representation (wie vorletzte Anm.), S. 82-96. Berel Lang: The Representation of Limits. In: ebd., S. 300-317, hier S. 307.

Der Holocaust in der Diskussion

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Ebene unterscheiden, die geprägt ist von »the historian's moral risk«.40 Das moralische Risiko ist kontextabhängig, insofern hier Fragen wie die folgenden eine Rolle spielen: Wie nahe ist mir, dem Historiker, das Geschehen? Gehöre ich zur »moral community« des Geschehens (als Opfer, als Täter, so könnte man hinzufügen). Hiermit versucht Berel Lang eine Antwort auf die Frage zu geben, die Chris Lorenz aufwirft, aber nicht beantwortet: Wie kann ein Beschreibungsrahmen (»frame of description«) legitimiert werden? Auch Dominick LaCapra sieht sich in der Auseinandersetzung mit Martin Broszat, der der Meinung ist, aus den vielen verfügbaren Daten des zweiten Weltkrieges sei möglicherweise der Holocaust überrepräsentiert, zu einer Stellungnahme herausgefordert. Mit der präzisen Rekonstruktion der Vergangenheit sei im Fall von Auschwitz untrennbar eine engagierte Auseinandersetzung mit ebendieser Vergangenheit verbunden.41 Es ist unübersehbar, daß die Reflexion über die Shoah extrem relativistischen Tendenzen in der Geschichtsschreibung einen Halt zugerufen hat.42 Das bedeutet jedoch keine Wiederherstellung einer positivistischen Epistemologie mit entsprechender Wertungsabstinenz. Es bedeutet auch nicht, daß die Sprache in der Herausbildung von Wirklichkeit an Belang eingebüßt hätte. Es bedeutet jedoch die Anerkennung einer vorsprachlichen »Realität«, so schwierig es auch ist, diese von ihrer Diskursivität zu trennen. Friedlander zitiert Pierre Vidal-Naquet, um sich dessen Standpunkt anzuschließen: I was convinced that [...] everything should necessarily go through a discourse [...] but beyond this, or before this, there was something irreducible which, for better or worse, I would still call reality. Without this reality, how could we make a difference between fiction and history? 43

Mit diesem Zitat ist der Übergang von der Historiographie zur Literatur angedeutet, wobei jedoch sofort wieder eine Problematisierung angezeigt ist: Literatur über Auschwitz ist nicht dem Schema entsprechend bei der »Fiktion« einzuordnen. Eher dürfte hier die Formulierung von LaCapra greifen: »Auschwitz as 40 41

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43

Ebd., S. 309. Dominick LaCapra: Representing the Holocaust. Reflections on the Historians' Debate. In: ebd., S. 108-127, hier S. 125. - Zum »Historisierungsanspruch« Broszats, der den Versuch beinhaltet, den Nationalsozialismus in die Kontinuität deutscher Geschichte einzuordnen, und seine Auseinandersetzung mit Friedlander siehe: Nicolas Berg: »Auschwitz« und die Geschichtswissenschaft. Überlegungen zu Kontroversen der letzten Jahre. In: Shoah. Formen der Erinnerung: Geschichte, Philosophie, Literatur, Kunst. Hg. von Nicolas Berg, Jess Jochimsen und Bernd Stiegler. München: Fink 1996, S. 31-52. Siehe hierzu auch die »Einleitung« in Sigrid Langes Authentisches Medium. Faschismus und Holocaust in ästhetischen Darstellungen der Gegenwart, Bielefeld: Aisthesis 1999, wo es heißt: »Die Kontroversen entstehen insbesondere da, wo sich postmoderne Philosophie explizit dem > Sprechen nach Auschwitz< stellt und dabei auf ihre eigenen Aporien zurückverwiesen wird.« (S. 11) Probing the Limits of Representation (oben, Anm. 36), S. 20.

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Kapitel 3

reality and as metonym is the extreme limiting case that threatens classifications, categories, and comparisons.« 44 Auschwitz ist Realität und Metapher zugleich (die »Übersetzung« des Terminus »Metonym« in »Metapher« sei erlaubt, da ein Metonym zur übergreifenden Kategorie der metaphorischen Ausdrücke gerechnet werden kann). Dieses »double bind«, die gleichzeitige Verpflichtung der dokumentierten Realität und der literarischen Suspendierung dieser Realität gegenüber zeichnet Holocaust-Literatur aus und hat zur Folge, daß sie als Exemplum in der Diskussion über die epistemologischen und ethischen Voraussetzungen des hermeneutischen Verstehens eine hervorragende Rolle spielt. Wo im allgemeinen gilt: j e »realistischer« die eingenommene Position, desto mehr Nachdruck fallt auf eine Grenzziehung zwischen Geschichte und Literatur; je »relativistischer« die Position, desto deutlicher ist die Bewegung hin zur Literarisierung des Historischen, widerspricht die Literatur zum Holocaust dieser Einteilung. Saul Friedlander hält sich an das »double bind«: It appears [...] that literary works which use allegoric elements to present the Shoah have to keep enough direct references to the >real< events to avoid the possibility of total disjunction, of too much allegoric distance 4 5

Friedlander macht diese Bemerkung im Zusammenhang mit seinem Hinweis auf David Grossmans Romane (zum Beispiel: Stichwort: Liebe), die als postmoderne literarische Repräsentation der Shoah gelten können. Diese Romane gehören einer »hybriden« Kategorie an, die sowohl »realistische« als auch »allegorische« Elemente enthält. Friedlander fugt nach dieser Feststellung hinzu: »I am aware of the self-contradictory aspect of this formulation.« 46 Für die »hybride« Kategorie ist die geschichtliche Vorkenntnis des Lesers unverzichtbare Voraussetzung. Leon Yudkin formuliert es folgendermaßen: »In this instance, the reader is presumed to know what has happened. The Hebrew reader, certainly, bears it on his skin.« 47 Es wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, daß Sprache ein wesentlicher Faktor für Wirklichkeitsmodellierung ist. Für das »Selbstgespräch« wie für die Kommunikation mit anderen werden Erfahrungen vor- und außersprachlicher Art nahezu unverzüglich in Sprache konzeptualisiert und tragen als versprachlichte Erfahrungen zur Konstruktion von Wirklichkeit bei. Da eine »natürliche« (oder metaphysisch bestimmte) Beziehung zwischen Wort und Konzept nicht vorhanden ist, trägt die Sprachgemeinschaft oder der einzelne Sprecher die volle Verantwortung für den Prozeß der Versprachlichung. Unter diesen Voraussetzungen kommt es sehr darauf an, wer der Sprecher ist. Während einer Ansprache

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LaCapra, Representing the Holocaust (oben, Anm. 41), S. 126. Probing the Limits of Representation (oben, Anm. 36), S. 17. Ebd. Leon I. Yudkin: Public Crisis and Literary Response. The Adjustment of Modern Jewish Literature. Paris, London: Suger Press, The European Jewish Publication Society 2001, S. 105.

Postmodernes Schreiben

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in Auschwitz im Jahre 1978 wurde die Gedenkstätte zum »shared monument of Jewish-Polish martyrdom« erklärt. James E. Young bemerkt hierzu: That the death camps were located on Polish soil is viewed by the Poles not as evidence of local antisemitism or collaboration but as a sign of the German's ultimate plans for the Polish people. 48

Die Interpretation von Aussagen ist stark verbunden mit dem Bild, das der Leser/Hörer vom Sprecher hat. Um der historischen Wahrheit von traumatischen Erfahrungen nahe zu kommen, sind daher - worauf Carlo Ginzburg in seinem Beitrag nachdrücklich hingewiesen hat - die Augenzeugenberichte der Opfer von außerordentlicher Bedeutung - damals zu Zeiten des Holocaust (dessen Opfer zu sprechen aufhören) und heute in zahlreichen anderen Konflikten (deren Opfer zu sprechen beginnen).

P o s t m o d e r n e s S c h r e i b e n / P o s t m o d e r n e Literatur zur S h o a h In zahlreichen Veröffentlichungen wurde über Poetik und literarische Praxis des postmodernen Schreibens manches systematisch Bemerkenswerte gesagt. Das soll hier nicht wiederholt werden. Es soll aber die Frage aufgeworfen werden, welche der semantischen und formalen Möglichkeiten postmodernen Schreibens sich die Literatur zur Shoah zu eigen gemacht hat, und in Einzelanalysen soll gezeigt werden, daß die postmoderne Erzählung der Shoah ein unverzichtbares Segment postmoderner Literatur geworden ist. Wo der Sprache, dem individuellen Bewußtsein und der Zeit ihre verweisenden und ordnenden Funktionen aberkannt werden, ist der Weg frei fur das literarische Experiment. Dies ist nicht neu: schließlich gab es die Sprachkritik seit Nietzsche und der Wiener Moderne, hat Marcel Proust die Differenz zwischen der chronologischen und der erlebten Zeit am Anfang des 20. Jahrhunderts erzählerisch gestaltet, und hat die individuelle Wahrnehmung der Realität seit längerem den Multiperspektivismus als Erzähltechnik gefördert. Die Reflexion über Sprache und Schreiben ist, wie gesagt, ebensowenig neu. Doch hat sich in der postmodernen Schreibweise Entscheidendes geändert. Zunächst wurden die Verfahren, die in der literarischen Moderne zur Anwendung kamen, auf folgende Weise radikalisiert. Der literarische Zweifel an Fixpunkten von Sprache, Zeit und Identität, den die Moderne gestaltet hat, wurde zur literarischen Gewißheit des Nicht-Vorhandenseins solcher Fixpunkte in der Postmoderne. Dieser Übergang ist fur das Erzählen von großer Bedeutung: Die Artikulierung des Zweifels in einem individuellen Bewußtsein erübrigt sich nunmehr, und an ihre Stelle tritt das Erzählen, das den Zweifel 48

James E. Young: Writing and Rewriting the Holocaust: Narrative and the Consequences of Interpretation. Bloomington and Indianapolis: Indiana University Press 1988, S. 176.

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Kapitel 3

hinter sich gelassen hat, ohne ihn als Fundierung aufzugeben. Als unvereinbar betrachtete Diskurse vermischen sich in einem postmodernen Text; Intertexte verschiedenster Herkunft werden dem Leser zur Kommunikation und potentiellen Integration angetragen, und es wird ihm zu verstehen gegeben, daß Sprache nur als bereits gebrauchte, als »Abfall«, verfügbar ist; erzählte Anachronismen radikalisieren die Proustsche Differenz zwischen dem »Kalender der Fakten und dem der Gefühle«; mögliche und unmögliche Welten gehen vorübergehend Verbindungen ein; Figuren und Leser befinden sich auf dauernder Zeichen- und Spurensuche. Dies alles wird umrahmt von Reflexionen über die Unsagbarkeit und Nicht-Mitteilbarkeit bestimmter Erfahrungen. Ist es unter diesen Voraussetzungen möglich, dem Anspruch der Faktizität, die die Vernichtungslager auch an Literatur in aller Schärfe stellen, noch zu genügen? Kann von einem moralischen Risiko gesprochen werden, wo alles möglich zu sein scheint, wo »anything goes« und wo Werthaltungen auf Beliebigkeit reduziert sind? »Absoluter« Relativismus, in der Formulierung bereits ein Paradoxon, hebt sich letztendlich selbst auf, schon im logisch-philosophischen Sinne. Bevor aber die Logik ihr Veto aussprechen mußte, hatte sich das postmoderne Schreiben im Laufe der achtziger Jahre aus der Beliebigkeit der Werthaltungen wie auch aus der Gefahr der extremen Annahme, Wirklichkeit sei nichts anderes als Sprache und Text, gelöst. Einer der politisch-gesellschaftlichen Gründe dieses auch wohl als »ethische Wende« bezeichneten Wandels ist eben die erneut und in Schärfe geführte Diskussion über den zweiten Weltkrieg und den Genozid. Das Informations- und Diskussionsbedürfnis beschränkt sich nicht auf Deutschland, selbst nicht auf die veränderte Situation nach der Vereinigung (wobei die Zweiteilung der deutschen Kultursysteme - vor allem auch in der Haltung gegenüber dem Faschismus - ihrerseits allerdings eher das Schweigen als die Diskussionsbereitschaft gefördert hat). In Österreich haben die achtziger Jahre eine kritische Neubesinnung auf die nach dem Krieg bereitwillig akzeptierte Opferrolle gebracht, an der Schriftsteller großen Anteil hatten. 49 In Israel wurde in den achtziger Jahren das Paradigma des heroischen Zionismus von Schriftstellern (ζ. B. den Dramatikern Levin und Sobol und den Prosaisten Appelfeld, Grossman und Yehoshua) dementiert. 50 Nach langen Jahren konnte die »Pathologie der Überlebenden« auf Kosten der vom Zionismus festgeschriebenen psychologischen Normalität arti-

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Siehe dazu Andrea Kunne: Feit en fictie. De verwerking van de Holocaust in de Oostenrijkse literatuur. In: De lange schaduw van vijftig jaar.Voorstellingen van de Tweede Wereldoorlog in literatuur en geschiedenis. Hg. von Elrud Ibsch, Anja de Feijter und Dick Schräm. Leuven u. a.: Garant 1996, S. 90-109. Für die Romangattung bietet der Sammelband von Alan Mintz (The Boom in Contemporary Israeli Fiction, 1997) eine ausgezeichnete Übersicht. Siehe hierin auch den Beitrag von Gilead Morahg über Holocaust-Literatur. Auch Leon Yudkin geht in seinem Buch (Public Crisis and Literary Response, 2001) auf die Entwicklungen in Israel ein.

Postmodernes Schreiben

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kuliert werden. 51 Feldman fuhrt David Grossmans Stichwort: Liebe, im Jahre 1986 erschienen (1991 auf Deutsch), an als »a sprawling postmodernist text, unique in Hebrew literature at large«. 52 In den Vereinigten Staaten traf man auf der Suche nach der eigenen Identität (eine verständliche, wenn auch nicht ungefährliche Gegenbewegung gegen Globalisierungsvorgänge unterschiedlichster Art) auf die nicht artikulierte Vergangenheit von Eltern und Großeltern in Nazi-Deutschland. Diese gesellschaftlichen Tendenzen wurden zum Hintergrund der literarisch produktiven jüngeren Generation.53 Es ist dies die Generation, die der postmodernen Schreibweise verpflichtet ist. Augenzeugenberichte können sie aus genealogischen Gründen nicht verfassen, eine realistische Schreibweise kommt aus poetologischen Gründen nicht in Frage. In Europa, Israel und Amerika entstand eine Debatte, deren Ergebnis es war, daß die Repräsentation des Holocaust aus dem Reservat der dokumentarischen Literatur »befreit« wurde, damit aber gleichzeitig ihre moralisch übergeordnete Position im Vergleich zur fiktionalen Repräsentation verlor. Die Generation der unmittelbar Betroffenen tritt als Wortführer zurück, wenn sie nicht gar verstummt. Kinder und Enkel ergreifen das Wort und tun dies unter Berufung auf ihre geistige Unabhängigkeit. Der niederländische Autor Marcel Möring klagte wiederholt im Namen der jüngeren Generation die Freiheit in der Gestaltung der Shoah ein. Am 2. Mai 1997 veröffentlichte er in der Kulturbeilage von NRC Handelsblad einen Beitrag anläßlich der Gesamtausgabe der Werke von Gerhard L. Durlacher. 54 Möring erinnert seine Leser an ein Symposium, das meine Mitarbeiter und ich zwei Jahre zuvor organisiert hatten (aus Anlaß der fünfzigsten Wiederkehr der Befreiung im Mai 194 5 55 ) und spricht wiederum seine Verwunderung darüber aus, daß die dort versammelten Wissenschaftler Bedenken hinsichtlich der unbegrenzten Freiheit bei der literarischen Verarbeitung des Themas geäußert hatten, zumal wenn die Autoren nichtjüdischer Herkunft sind. Als Gast bei dem Symposium hatte Möring sich für die unbedingte Freiheit des Schriftstellers ausgesprochen und ihm - metaphorisch - das Recht zugestanden, das Uhrwerk (der Geschichte des Holocaust) völlig auseinanderzunehmen und nach eigenem Gutdünken aufs neue zusammenzusetzen. Als Beispiel führte er Time's Arrow (1991) von Martin Amis an, einen Roman, den er als »schamlose Verzeichnung der Wirklichkeit« einerseits 51

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Siehe Yael S. Feldman: Whose Story Is It, Anyway? Ideology and Psychology in the Representation of the Shoah in Israeli Literature. In: Probing the Limits of Representation (oben, Anm. 36), S. 223-239. Ebd., S. 236. Jüdische Literatur und Kultur in Großbritannien und den USA nach 1945. Hg. von Beate Neumeier. Wiesbaden: Harrassowitz 1998 (Jüdische Kultur; 3). Siehe Kapitel 1. Die Beiträge zu diesem Symposium wurden publiziert in: De lange schaduw van vijftig jaar.Voorstellingen van de Tweede Wereldoorlog in literatuur en geschiedenis. Hg. von Elrud Ibsch, Anja de Feijter und Dick Schräm. Leuven u. a.: Garant 1996.

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Kapitel 3

schätzt, aber andererseits aus künstlerischen Gründen ablehnt. Time 's Arrow fügt der Behandlung des Themas etwas Wesentliches hinzu, indem er Schlechtes in Gutes, Mord in Heilung, Leiden in Freude pervertiert. Da es Amis jedoch nicht gelingt, die Gestalten zum Leben und den Leser zur Identifikation zu bringen, spricht Möring dem Roman künstlerischen Wert ab. Hier müßte die Diskussion nun weitergeführt und auf den Punkt gebracht werden, ob eventuell ein Zusammenhang besteht zwischen der Zeit-Behandlung im Roman Time 's Arrow und der Unmöglichkeit, die Romanfiguren als lebendige Menschen zu gestalten. Die Diskussion soll an dieser Stelle nicht geführt werden. Mein eigener Vorbehalt, den ich während des Symposiums ausgesprochen hatte, bezog sich auf Edgar Hilsenraths Der Nazi und der Friseur (1977), eine groteske Gestaltung des Themas, deren Verdienste groß sind, die meines Erachtens jedoch für einen nichtjüdischen Schriftsteller prekärer wäre als für einen jüdischen. 56 Im Zusammenhang mit dem zweiten Teil dieser Studie wird das Problem wieder aufgegriffen. An dieser Stelle geht es um die Auffassung der jungen Generation, die jedwede Tabuisierung bei der literarischen Darstellung der Shoah ablehnt. Der Generationswechsel hat allerdings auch eine andere Position als die Marcel Mörings gezeitigt. Nicht unerwähnt bleiben soll die ablehnend-kritische Haltung des kulturpessimistischen Philosophen Alain Finkielkraut, der in seinem Buch Le Juif imaginaire (1980) 57 die intensive Beschäftigung der nachfolgenden Generationen mit dem Leiden der Eltern und Großeltern und die transgenerationale Identifikation und Traumatisierung moralisch verurteilt. Inmitten ihres komfortablen und nicht bedrohten Lebens meinen die Jüngeren, sich ein Leiden vorstellen zu können, an dem sie keinerlei Anteil haben und zu dem sie nicht berechtigt sind: Trouillards [Feiglinge, E. I.] dans la vie, martyrisés en songe - ils aiment se tromper d'époque et confondre le monde ouaté où ils évoluent avec le cataclysme qu'on subi leurs parents ... Ils ont choisi de séjourner dans un espace romanesque plein de bruit et de fureur et qui leur fait part belle ... Ces jeunes gens hypnotisés procèdent par identification: ils ont pris pension dans la fable. 58

Finkielkraut bezeichnet diese jüdischen Nachfahren, zu denen auch er gehört, als »imaginäre« Juden, eben weil sie ihre Identität herleiten von ihren in der Wirklichkeit verfolgten Eltern; sie »borgen« ihre Identität und leben daher ein fiktionales, unauthentisches Leben. 59 In seiner - übrigens üblichen - Schärfe scheut Finkielkraut sich nicht, von »schamloser Aneignung« zu sprechen.

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Siehe ebd. Alain Finkielkraut: Le Juif imaginaire. Paris: Editions du Seuil 1980 (Fiction et Cie; 42). Ebd., S. 23. Karein Goertz: Transgenerational Representations of the Holocaust. From Memory to »Post-Memory«. In: World Literature Today 72 (1998), No. 1, S. 33-38, hier S. 33.

Postmodernes Schreiben

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Das postmoderne Schreiben übt auf Schriftsteller, die das Thema der Shoah behandeln, eine große Anziehungskraft aus. Sowohl kognitiv als auch emotional läßt sich die Faktizität der Judenvernichtung in den Denkrahmen des Postmodernismus einfügen, da sie in aller Schärfe das Problem der Beziehung von Wirklichkeit und Fiktion stellt. Sie stößt an die Grenzen dessen, was in Sprache ausdrückbar und kommunizierbar ist. Sie kann nicht umhin, die Frage nach der zeitlichen Entwicklung des Geschehens zu stellen: Wie konnte im 20. Jahrhundert die deutsche Nation den Entscheid zur »Lösung der Judenfrage« treffen? Der Anachronismus als Erzählstruktur hat seinen Ort in einer politisch-gesellschaftlichen Entwicklung, die vielerseits als anachronistisch eingeschätzt wird. Der Verlust der Identität, in erster Linie auf der Seite der Opfer, aber auch auf der Täterseite, ist ein Thema, dem kein Autor ausweichen kann. Das Aufeinandertreffen - oder besser: prallen - von Diskursen, wobei der biologisch-rassische Determinismus alle anderen Diskurse, auch zum Beispiel den des evangelischen und katholischen Christentums, zu durchdringen vermag, drängt sich dem Schriftsteller geradezu auf. Wie die Kommunikation verschiedenster Intertexte verläuft, hat zum Beispiel Paul Celan in seiner viel berufenen und zitierten Todesfuge auf bewundernswerte Weise in Worte gefaßt. Die Formel »Der Tod ist ein Meister aus Deutschland« wird aus einer Reihe von Intertexten aufgebaut, die deutsche »Meisterschaft« kulturell beglaubigen (darunter als Autoritäten Bach, Goethe und Wagner). Die Kommunikation der verschiedenen Intertexte miteinander und als Angebot an den Leser verläuft bei anderen Schriftstellern aber auch über die Zitate von Dokumenten, die sich in einen fiktionalen Kontext einschreiben. Und schließlich kann der Text der Geschichte durch den der »ungeschehenen« Geschichte ersetzt werden. Theoretisch wird diese Position von Alexander Demandt (21986) vertreten, während Christoph Ransmayr mit seinem Roman Morbus Kitahara (1995) die ungeschehene Geschichte literarisch gestaltet. Die skizzenhafte Einzelanalyse postmoderner Varianten zur HolocaustLiteratur, die sich an diese Überlegungen anschließt, geschieht nach folgendem Einteilungsprinzip : (1) (2) (3) (4)

Das epistemologische Experiment (Beispiel: Amis) Identität im Experiment (Beispiele: Hilsenrath, Gary) Umschreibung der Geschichte (Beispiel: Ransmayr) Auf der Suche nach einer Sprache: Interferenzen von Intertexten (Beispiele: Thomas, Grossman).

Und damit schließt sich der Kreis. Die Poetologie und Epistemologie des Postmodernismus bietet Raum für die Artikulation des Unsagbaren, des Unbegreiflichen, der Suche nach einer Sprache. Sie ist auch imstande, die Verantwortung zu tragen für Ambivalenzen, die als Problem im Raum stehenbleiben und nicht aufgelöst werden, so wie sie in Michel Tourniers Erlkönig und in vielen Bildern von Anselm Kiefer anzutreffen sind. Sie übernimmt schließlich die ethische und politische Motivation, den Stimmen derer Gehör zu verschaffen, die im offiziel-

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Kapitel 3

len Diskurs in der Regel nicht gehört werden. In dem diffizilen Verhältnis von Faktischem und Fiktionalem in der Holocaust-Literatur hat das Experiment eine Chance, ohne daß jedoch die Frage nach den Grenzen des Experimentierens ausgeklammert werden könnte. Ein jedes literarisches »Holocaust-Experiment« wird von der Frage nach den »Limits of Representation« begleitet, sowohl von Seiten des Autors als von seiten des Lesers. So dürfen wir Edgar Hilsenraths Der Nazi und der Friseur ohne Zweifel als ein literarisches Experiment bezeichnen (der Autor selbst nennt es eine »satirische Groteske« 60 ). Bedenkenswert ist, daß Hilsenrath das Problem der Grenze artikuliert. Auf die Holocaust-Serie im Femsehen bezogen sagt er folgendes: Auch in der Holocaust-Serie gab es Abschnitte und Abteilungen, wo ich geraten hätte: »Sucht einen anderen Weg, aber nicht den direkt in die Gaskammer«. Das geht einfach nicht. Das ist nicht die Aufgabe des Films. Aufgabe des Films ist, dahin zu gehen, w o die Ereignisse stattgefunden haben zu einer Zeit, als man sie noch beeinflussen konnte. 61

Betrachten wir unter diesem Aspekt seinen grotesken Roman, so fallt auf, daß er in der Tat vor dem Weg in die Gaskammer halt macht. Nicht jeder Schriftsteller wird die gleichen Grenzziehungen vornehmen. Es sei an die Grenze, die Elie Wiesel für seine Schriften in Acht genommen hat, erinnert: kein Wort über die Täter! Ähnliches gilt für die Lyrik von Nelly Sachs. Hans Magnus Enzensberger beschreibt ihre Haltung so: Den Henkern und allem, was uns zu ihren Mitwissern und Helfershelfern macht, wird nicht verziehen und nicht gedroht. Ihnen gilt kein Fluch und keine Rache. Es gibt keine Sprache für sie. 6 2

Den Leerstellen des Schweigens in der erzählten Shoah kommt eine je eigene Bedeutung zu. Aber diese Momente der Stille in der Rede bedeuten kein Verstummen. Adorno mußte widersprochen werden: Das Verstummen der Poesie wäre der Triumph der NS-Barbarei noch über ihr politisches Ende hinaus. 63

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Manuel Koppen: Holocaust und Unterhaltung. Eine Diskussion mit: Edgar Hilsenrath, Michal Komar, Ursula Link-Heer, Egon Monk und Marcel Ophüls. In: Kunst und Literatur nach Auschwitz. Hg. von M. Koppen. Berlin: Schmidt 1993, S. 107— 112, hier S. 108. Ebd., S. 111. Zitiert nach: Kunst und Literatur nach Auschwitz (wie vorletzte Anm.), S. 47. Ebd.

Kapitel 4 Interpretationen postmoderner Darstellungen der Shoah: Martin Amis, D. M. Thomas, Christoph Ransmayr, Edgar Hilsenrath, Romain Gary, David Grossman

Das epistemologische Experiment: Martin A m i s Der bereits von Marcel Möring zur Sprache gebrachte Roman Time's Arrow (1991) von Martin Amis (Deutsch: Pfeil der Zeit, 1995) ist ein Versuch, den »anderen Planeten« der Vernichtungslager experimentell zur Darstellung zu bringen. Amis greift in zwei der fundamentalsten Gesetzmäßigkeiten menschlicher Kenntnis, Weltmodellierung und Erfahrung ein: die Irreversibilität der Zeit und die Einheit der Persönlichkeit. Was den Zeitaspekt betrifft, so unterscheidet Amis sich grundsätzlich von Henri Bergson, Marcel Proust, Thomas Mann und anderen Autoren, die über die Zeit reflektiert und mit ihr literarisch experimentiert haben, und auch im Bereich postmodernen Erzählens gibt es meines Wissens keinen anderen Autor, der auf vergleichbare Weise und mit vergleichbarer Konsequenz Zeit gestaltet hat. Amis erzählt das Leben eines Nazi-Arztes in Auschwitz in umgekehrter Reihenfolge (vom Tod zur Kindheit/Geburt). Odilo Unverdorben, alias Todd Friendly, befindet sich in einem Universum, in dem der Pfeil der Zeit in die umgekehrte Richtung fliegt. So wird zu Beginn des Romans gefragt: »Nach dem 2. Oktober erhält man den 1. Oktober. Nach dem 1. Oktober erhält man den 30. September. Wie können Sie sich das erklären?« 1 Der Anfang des 4. Kapitels lautet: »Im Sommer des Jahres 1948 laufen wir aus nach Europa - nach Europa und in den Krieg« 2 (Todd lebte nach dem Krieg in den Vereinigten Staaten) und beginnt Kapitel 5: »Ich, Odilo Unverdorben, traf ein wenig überhastet am Bahnhof Auschwitz ein [...], kurz nachdem die Bolschewiken ihren unrühmlichen Rückzug angetreten hatten.« 3 Die Persönlichkeit Todds/Odilos ist gespalten: einen Teil seines Selbst seine Gefühle - vertritt der Ich-Erzähler, während ein anderer Teil, zum Beispiel seine Gedanken, der Person angehören, über die erzählt wird. Der IchErzähler nimmt die Abgrenzung vor: »Ich habe keinen Zugriff auf seine Gedanken - aber ich bin überflutet von seinen Gefühlen. Ich bin ein Krokodil im dichten Fluß seines Gefühlslebens.« 4 Oftmals spricht der Erzähler in der WirForm: »Wir werden jünger. Tatsache. Wir werden stärker.« 5 1

2 3 4 5

Martin Amis: Pfeil der Zeit. Roman. Aus dem Englischen von Alfons Winkelmann. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1995 (rororo; 13415), S. 15. Ebd., S. 125. Ebd., S. 145. Ebd., S. 14. Ebd.

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Kapitel 4

In diesem Universum, in dem Chronologie und Persönlichkeit pervertiert in Erscheinung treten, zeitigt das Vergehen (Verfall, Abfall, Tod) das Entstehen. So wird ein Auto vom Autofriedhof geholt, wo es der Verschrottung anheimgefallen war, und transformiert in ein neues, fahrbares; verdautes Essen wird in einem rückläufigen Prozeß aus dem Zustand der Fäkalien in den der noch zu verkaufenden Ware in die Regale eines Supermarktes überführt. Die fur die Erzählung wesentlichste Umkehrung ist der Prozeß, in dem die ermordeten Juden ins Leben (zurück)gefuhrt werden: »Die überwältigende Mehrzahl der Frauen, der Kinder und der Alten stellen wir aus Gas und Feuer her.« 6 Die zahnärztlichen Arbeiten »[wurden] gewöhnlich erledigt, während die Patienten noch nicht am Leben waren [...]. Der größte Teil des Goldes, das wir benutzten, kam direkt von der Reichsbank [...]. Haare für die Juden kamen liebenswürdiger Weise von der Filzfabrik A.G. in Roth, in der Nähe von Nürnberg.« 7 In dieser pervertierten Welt setzt der Arzt einen Tumor ein statt ihn zu entfernen, 8 und die Geburt eines Kindes bedeutet für die Mutter, daß sie Abschied von ihrem Kinde nimmt und nicht, daß sie mit ihrem Baby nach Hause geht. 9 Diese jedem akzeptierten Weltmodell zuwiderlaufenden Motive lassen sich als eine ikonische Darstellung der medizinischen Wissenschaft im Dritten Reich, und insbesondere in den Konzentrationslagern deuten, eine Medizin, die ihrerseits als Wissenschaft völlig pervertiert ist. Fäkalien, Abfallstoffe, spielen eine große Rolle in der Welt, die Amis beschreibt. So ist der zentrale Begriff, mit dem er das Lager Auschwitz charakterisiert >ScheißeKcütstsimMiststück«. Oder ein Gespräch wird so wiedergegeben, daß es nur sinnvoll wird, wenn man von unten nach oben liest, zum Beispiel: »1914-1918« »Von wann bis wann dauerte der Erste Weltkrieg?« 11 6 7 8 9 10 11

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S. S.

153. 152. 117. 46. 155. 39.

Interpretationen

postmoderner

Darstellungen

der Shoah: Martin Amis

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An diesen vereinzelten Stellen wird der Pfeil der Zeit spielerisch konsequent auf den sprachlichen Bereich ausgedehnt, aber ein solches Spiel läßt sich für die Länge eines ganzen Romans selbstredend nicht durchhalten. Marcel Möring, so wurde bereits gesagt, lastet dem Roman von Amis an, er bringe die Romanfiguren nicht zum Leben. Lies Wesseling argumentiert anders, wobei der ethische Aspekt deutlich in den Blick kommt. Sie meint, Amis habe eine unüberbrückbare Kluft angebracht zwischen der Welt des Romans und unserer eigenen Welt mit der Konsequenz, daß der Holocaust eigentlich aus dem Rahmen unserer Welt herausfällt. Dies wiederum hätte zur Folge, daß es weder einen Unterschied zwischen Tätern und Opfern noch eine Verantwortungspflicht für die Täter gäbe. In dem fremden Universum, das der Autor kreiere, herrschen Determinismus und damit Unschuld. 12 Auf dem Wege einer etwas anderen Überlegung gelange ich zu einem ähnlichen Urteil. Ich knüpfe dabei an die bereits erwähnten Autoren Marcel Proust und Thomas Mann an. Nach Bergsons Unterscheidung zwischen der chronometrischen Zeit und der erlebten Zeit (durée) haben Schriftsteller immer wieder den Versuch unternommen, die unausweichliche Linearität, die Irreversibilität der Zeit im Experiment zu unterlaufen. Zu diesem Zweck arbeiteten sie die Spannung heraus, die zwischen der unerbittlichen Chronometrie und dem Zeiterleben besteht, und damit wurde diese Spannung eine Angelegenheit der kognitiv-emotionalen Ausrüstung des Menschen. Bekannt sind Hans Castorps Zeiterleben im Zauberberg und Prousts Unterscheidung zwischen dem Gefühls-Kalender und dem Tatsachen-Kalender (»le calendrier des faits et le calendrier des sentiments«). In postmoderner Erzählung ist die im Modernismus vorausgesetzte Einheit des Subjekts, das die Spannung fühlt und artikuliert, jedoch nicht gewährleistet, und so stellt Amis konsequent seine Hauptfigur in die Rückläufigkeit der Zeit hinein, ohne ihr Reflexionsmöglichkeiten mitzugeben. Das aber, und hier kommt mein Argument dem von Wesseling entgegen, löst die Person aus jeder Verantwortung und Schuld - mit dem fehlenden Bewußtsein geht ein fehlendes Gewissen Hand in Hand - der gespaltenen Persönlichkeit Todds entsprechend, wobei lediglich der Erzählerteil über Gefühlsreaktionen verfügt. Aber eben dies ist trotz der intelligenten und literarisch innovativen Schreibweise, mit der Amis uns überrascht, für die Erzählung der Shoah eine schwer zu rechtfertigende Wahl. Auffallend ist denn auch das Nachwort, das Amis seinem Roman mitgibt. Er nennt darin als Quellen der Inspiration für sein Buch nicht nur Jay Liftons The Nazi Doctors, ein Buch, das einen der wichtigsten Intertexte darstellt, sondern auch Primo Levis Ist das ein Mensch; er bezieht sich auf noch andere Werke von Levi, auf Simon Wiesenthal, Isaac Bashevis Singer, Kurt Vonnegut und andere, deren Denken und Schreiben mit der Shoah engstens verbunden ist und die in diesem Zusammen-

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Lies Wesseling: De holocaust herschijven. Over Time's Arrow en Zie: liefde. In: De lezer als burger. Over literatuur en ethiek. Onder redactie van Thijs Jansen, Frans Ruiter en Jèmeljan Hakemulder. Kampen: Kok Agora 1994, S. 257-268, hier S. 262.

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Kapitel 4

hang als authentische Wortführer allgemein akzeptiert sind. Dadurch, daß der Autor sich in diese »gute Gesellschaft« begibt, möchte er sich möglicherweise vor Mißverständnissen schützen, Mißverständnisse, die aus der motivlichen und erzähltechnischen Wahl, die er getroffen hat, entstehen könnten. Die Perversion der Mediziner (und vieler anderer), die an leitender Stelle in den Vernichtungslagern tätig waren, erzählerisch darzustellen, ist sicher eine begreifliche Intention. Die »split-personality«, die nach Lifton eines der Merkmale dieser Ärzte ist, wird mit der von Odilo abgetrennten Erzähler-Seele technischliterarisch eingelöst. Sue Vice geht auf Lifton ein: [Lifton] describes [...] how a process of acclimatization invariably led to the split subjectivity which allowed these men to take part in the reversed morality of the death camps. As Lifton puts it, »Their adaptation involved the process I call >doublingFreud< as a character in the novel underlies the male inscription of subjectivity by psychoanalysis.« (Ebd., S. 83) Times Literary Supplement, 2. April 1982. Ebd., 16. Januar 1981.

Interpretationen postmoderner

Darstellungen der Shoah: D. M. Thomas

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Roman The White Hotel in die Nähe der Trivialisierung mancher filmischer Repräsentationen der Shoah; bekannterweise wurde auf die Schlußszene in Schindlers Liste vergleichbar reagiert.

Pictures at an

Exhibition

D. M. Thomas hat der Darstellung der Shoah einen zweiten Roman gewidmet. Hierin verzichtet er in entscheidenden Punkten auf die in The White Hotel betrachtete Zurückhaltung. Er »betritt« (als Erzähler) das »univers concentrationnaire« und er bringt Täter und Opfer in eine intime Beziehung zueinander, die Beziehung von Patient und Psychiater. Mit diesen beiden Enttabuisierungen hebt er die Trennung zwischen persönlicher Erfahrung und Überlieferung der Shoah endgültig auf und überschreitet die Grenzen der Repräsentation, die für den Nicht-Zeugen implizite oder explizite bestanden. Der Ich-Erzähler des Romans, der Psychiater Chaim Galewski, ist tschechischer Jude. Sein Patient, Dr. Lorenz, ist ein Kollege von Dr. Mengele. Der Schauplatz ist Auschwitz. Dr. Lorenz hat die Aufgabe, an der Rampe die Entscheidung darüber zu treffen, wer von den Ankommenden zur Arbeit und wer in die Gaskammer geschickt wird. Damit sind die Hauptfiguren und der geographische Rahmen für den ersten Teil der Erzählung angegeben. Der zweite Teil ist zeitlich (er spielt in den neunziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts) und räumlich (der Schauplatz ist London) anders gestaltet. Die Romangestalten dieses Teils leben ihre »post-Holocaust«-Existenz, das heißt, sie fühlen sich unter schwerem Druck, können sich nicht konzentrieren, die Erinnerung an die Shoah und die Mitglieder ihrer Familien, die nicht überleben konnten, lassen sie nicht in Ruhe und sie begeben sich in die Behandlung des Psychiaters Oscar Jacobson. Kehren wir zum ersten Teil zurück. Die auch in diesem Roman thematisierte Inadäquatheit der Psychoanalyse in einer Situation kollektiver Vernichtung wird so stark angesetzt, daß nahezu der Effekt einer Karikatur entsteht. Dieser Teil zeichnet sich durch eine realistische Erzählweise aus. Thomas beschreibt die medizinischen, teilweise sexuellen Experimente Dr. Mengeies und seiner Mitarbeiter. Die Trennungslinie zwischen Opfern und Tätern wird aufgehoben: täglich muß der internierte Arzt-Psychiater Galewski den SS-Offizier Lorenz aufsuchen, um auf dem Wege der Psychoanalyse die Genesung der unerträglichen Kopfschmerzen, an denen Lorenz leidet, zu erzielen. Galewski erwachsen viele Vorteile aus dieser Aufgabe. Er erhält gutes Essen (Frau Lorenz versorgt ihn mit Gebäck), erfahrt während der Sitzungen die angenehme Wärme eines gut geheizten Zimmers, darf Musik von Wagner hören, aber vor allem wird ihm nach einigen vergeblichen Versuchen die Erfüllung eines großen Wunsches zuteil: er darf einen Augenblick und aus einer sicheren Entfernung seine Tochter sehen, die von einem SS-Arzt und seiner Frau, die kinderlos geblieben sind, adoptiert wurde, nachdem sie wie durch ein Wunder als Baby der Gaskammer entkommen war und aufgrund einer erfundenen Geschichte einen

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Kapitel 4

Arier-Nachweis erhalten hatte. Die Analyse, der Dr. Lorenz sich unterzieht, ist irreführend und unwahrhaftig, da es im Grunde genommen keiner Analyse, die das Ziel hat, einem Kindertrauma auf die Spur zu kommen, bedarf, um eine Erklärung für seine Kopfschmerzen und Alpträume bereitzustellen. Die tägliche Arbeit von Dr. Lorenz und seine Position in Auschwitz reichen zur Erklärung völlig aus. Sowohl Galewski als auch Lorenz ist jedoch an der Fortsetzung ihrer Beziehung gelegen: »>Why do I always dream of death