Erzählen vom Genozid: Deutschsprachige Literatur über die Shoah und andere Völkermorde 9783839465547

Das 20. Jahrhundert war geprägt von Völkermorden. Die literarische Auseinandersetzung im deutschsprachigen Raum beschrän

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Erzählen vom Genozid: Deutschsprachige Literatur über die Shoah und andere Völkermorde
 9783839465547

Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung
2. Shoah-Literatur und vergleichende Genozidforschung – von 1945 bis heute
3. Morenga
4. Das Märchen vom letzten Gedanken
5. Jugoslawien in der deutschsprachigen Genozidliteratur
6. Afrika in der neueren deutschsprachigen Genozidliteratur
7. Die literarische Darstellung des Völkermords an den Armeniern und der Shoah in der dritten Generation
8. Schlussbetrachtung und Ausblick
9. Literaturverzeichnis

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Gerald Manstetten Erzählen vom Genozid

Lettre

Meinem Vater Otto Manstetten und meiner Frau Sarah

Gerald Manstetten, geb. 1991, studierte germanistische und allgemeine Literaturwissenschaft, politische Wissenschaft und Literatur- und Sprachwissenschaft an der RWTH Aachen, wo er von 2018 bis 2021 auch promovierte. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich des deutschen Postkolonialismus, der Kolonialliteratur der Weimarer Republik und des »Dritten Reichs« sowie der deutschsprachigen Genozidliteratur.

Gerald Manstetten

Erzählen vom Genozid Deutschsprachige Literatur über die Shoah und andere Völkermorde

D 82 (Diss. RWTH Aachen University, 2022) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Jan Gerbach, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839465547 Print-ISBN 978-3-8376-6554-3 PDF-ISBN 978-3-8394-6554-7 Buchreihen-ISSN: 2703-013X Buchreihen-eISSN: 2703-0148 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

1. Einleitung .......................................................................... 7 1.1 Aktuelle Entwicklungen ............................................................... 8 1.2 Auswahl des Textkorpus .............................................................. 15 1.2 Arbeitsthese und Methodik............................................................ 16

2. Shoah-Literatur und vergleichende Genozidforschung – von 1945 bis heute . 21 2.1 Definitionen von »Shoah-Literatur« ................................................... 21 2.2 Besonderheiten der deutschsprachigen Shoah-Literatur – Schreiben in der Sprache der Täter .................................................. 22 2.3 Die Shoah in der Literatur............................................................ 25 2.4 Vergleichende Genozidforschung ..................................................... 45 2.5 Die Frage des Vergleichs – Einzigartigkeit der Shoah?................................. 52 2.6 Genozide im Kontext der Shoah ...................................................... 59

3. Morenga ........................................................................... 75 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Einführung .......................................................................... 75 Die Darstellung der »historischen Wirklichkeit« ...................................... 80 Die Frage nach der kulturellen Identität .............................................. 92 Distanziertes Erzählen in Morenga.................................................... 97 Fazit ................................................................................102

4. Das Märchen vom letzten Gedanken ........................................... 105 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Einführung ......................................................................... 105 Der Armenozid im Kontext der Shoah und anderer Völkermorde ...................... 108 Von Armeniern, Juden und Türken....................................................127 Der Distanz verpflichtet – Wege zur Vermeidung einer Identifikation.................. 132 Fazit ................................................................................145

5. Jugoslawien in der deutschsprachigen Genozidliteratur .................... 149 5.1 Das Handwerk des Tötens............................................................149 5.2 Die Winter im Süden ................................................................ 168

5.3 Wie der Soldat das Grammofon repariert .............................................178 5.4 Fazit ................................................................................196

6. Afrika in der neueren deutschsprachigen Genozidliteratur .................. 201 6.1 100 Tage.............................................................................201 6.2 Der lange Schatten ................................................................. 236 6.3 Fazit ............................................................................... 245

7. Die literarische Darstellung des Völkermords an den Armeniern und der Shoah in der dritten Generation ........................................... 249 7.1 Winternähe ......................................................................... 250 7.2 Hier sind Löwen .................................................................... 267 7.3 Fazit ............................................................................... 279

8. Schlussbetrachtung und Ausblick ............................................. 281 9. Literaturverzeichnis ............................................................ 293 9.1 Primärliteratur ..................................................................... 293 9.2 Sekundärliteratur................................................................... 294

1. Einleitung

Im Zentrum der vorliegenden Studie stehen neun deutschsprachige Romane, in denen Genozide des 20. Jahrhunderts Gegenstand der literarischen Darstellung sind. Unter Genozid werden dabei, in Anlehnung an die Definition der Vereinten Nationen, Verbrechen verstanden, die sich gezielt gegen eine zuvor mittels Identitätszuschreibung – vornehmlich ethnisch bedingt und fremdbestimmt durch die Täter – definierte Gruppe richten, wobei Mitglieder der Gruppe getötet oder schwer geschädigt werden.1 Die Untersuchung der Texte dient der Beantwortung der Frage, inwieweit die literarischen Aufarbeitungen der verschiedenen Menschheitsverbrechen miteinander vergleichbar sind. Dabei gilt es die besondere deutsche Situation zu berücksichtigen, die den Vergleich der Shoah mit anderen Genoziden in doppelter Hinsicht unter Relativierungsverdacht stellt: Zum einen, da aufgrund der insbesondere in Deutschland nach wie vor stark vertretenen Singularitätsthese andere Genozide vielfach marginalisiert werden, und zum anderen, da in der Bundesrepublik die Fokussierung auf Genozide jenseits der Shoah stehts unter dem Verdacht steht, den nationalsozialistischen Judenmord zu relativieren. Der Vergleich zwischen der Shoah und anderen Genoziden ist jedoch keineswegs per se entweder auf eine Marginalisierung der Shoah oder alternativ die Verharmlosung aller anderen Völkermorde angelegt. Vielmehr ist der Blick auf Verbindungen zwischen verschiedenen Genoziden als ein wesentlicher Beitrag zur Erinnerung an verschiedene Menschheitsverbrechen zu verstehen, wobei es um ein gemeinsames Erinnern und nicht um den Kampf um die Dominanz einer Erinnerung geht. In dieser Hinsicht kann die vorliegende Arbeit als Erweiterung von Michael Rothbergs Theorie der multidirektionalen Erinnerung angesehen werden, plädiert doch der amerikanische Literaturwissenschaftler selbst vehement für eine opfergruppenübergreifende Form der gemeinsamen Erinnerung: Selbst wenn es wünschenswert wäre, zwischen unterschiedlichen Geschichten eine Mauer, einen Cordon sanitaire zu ziehen (wie das manchmal der Fall zu sein scheint): Es ist nicht möglich. Erinnerungen sind mobil, Geschichten ineinander verschränkt. Politische Konflikte zu verstehen erfordert es, die Verflechtung von 1

Vgl. dazu ausführlich Kapitel 2.4.1 dieser Arbeit.

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Erzählen vom Genozid

Erinnerungen im Kraftfeld des öffentlichen Raums zu verstehen. Der einzige Weg nach vorn ist der der Verstrickung von Erinnerungen.2 Für Rothberg ist evident, dass die Erinnerungen an vordergründig voneinander unabhängige Verbrechen – in seiner Studie bezieht er sich auf die Erinnerung an die Shoah und den Kolonialismus im frankophonen und anglophonen Raum – miteinander verflochten sind und sich stets gegenseitig beeinflussen. Mit diesem Ansatz grenzt sich Rothberg entschieden von dem nach wie vor den Diskurs bestimmenden Modell der Erinnerungskonkurrenz ab, demzufolge die verschiedenen Opfergruppen in einem erbitterten Kampf um die den Diskurs dominierende Erinnerung stehen. Wenngleich die vorliegende Arbeit einen Ansatz verfolgt, der vergleichbar mit Rothbergs Konzept der multidirektionalen Erinnerung ist, so ist der Fokus doch ein anderer. Während sich Rothberg auf den anglophonen und frankophonen Raum konzentriert, liegt der Fokus dieser Studie zum einen auf deutschsprachigen Werken, und zum anderen wird zwar wie bei Rothberg die Shoah als Ausgangspunkt für die Analyse gewählt, jedoch ist die literarische Aufarbeitung der kolonialen Verbrechen neben dem Völkermord an den Armeniern, den genozidalen Massakern des Jugoslawienkrieges und dem Völkermord in Ruanda nur ein Bezugspunkt in der Untersuchung.

1.1 Aktuelle Entwicklungen Die aktuellen Entwicklungen lassen befürchten, dass die in dieser Arbeit behandelten Genozide nicht das Ende einer langen Geschichte der Massengewalt darstellen. Womöglich wird in Zukunft nicht nur das 20. Jahrhundert in Anlehnung an den von den Historikern Olaf Glöckner und Roy Knocke herausgegebenen Band als »Das Zeitalter der Genozide«3 bezeichnet werden müssen. So wird auf der Homepage der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte etwa auf die fatale Lage der Rohingya in Myanmar hingewiesen, wobei explizit vor einem drohenden Genozid gewarnt wird.4 Die Warnung ist seit dem Militärputsch der Junta unter Führung von General Min Aung Hlaing Anfang Februar 2021 aktueller denn je. Seitdem wurden in

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Rothberg, Michael: Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung. Aus dem Englischen von Max Henninger. Berlin: Metropol 2021, S. 359. Im Folgenden zitiert als ›Rothberg 2021‹. Vgl. Glöckner, Olaf (Hg.); Knocke, Roy (Hg.): Das Zeitalter der Genozide. Ursprünge, Formen und Folgen politischer Gewalt im 20. Jahrhundert. Berlin: Duncker & Humboldt 2017 (= Gewaltpolitik und Menschenrechte 1). Vgl. O.V.: »Die meist verfolgte Minderheit der Welt«. Internet-Publikation in: Internationale Gesellschaft für Menschenrechte: https://www.igfm.de/myanmar-die-meist-verfolgte-mind erheit-der-welt-der-genozid-der-rohingya/. Eingesehen: 12.04.2021.

1. Einleitung

Myanmar mindestens 700 Zivilisten getötet und mehr als 3000 verschleppt.5 Auch bei den Vereinten Nationen spricht man mittlerweile von Völkermord.6 Die Verwendung des Völkermord-Begriffes verdeutlicht, wie ernst die Situation der bedrohten Minorität ist – im Falle des Völkermordes in Ruanda sowie der genozidalen Massaker während des Jugoslawienkrieges wurde der Begriff von den Vereinten Nationen lange vermieden. Die Rohingya sind jedoch nicht die einzige aktuell bedrohte Minderheit. Seit Jahren unterdrückt die Volksrepublik China die Minderheit der Uiguren. Das chinesische Vorgehen wird dabei zunehmend als Genozid oder Ethnozid bezeichnet.7 Martin Krauss vergleicht in der taz die Diskussion rund um die Olympischen Winterspiele in Peking 2022 mit jener um die Sommerspiele 1936 in Berlin, wobei er betont, das IOC könne »nicht verhindern, dass mittlerweile über Peking 2022 gesprochen wird wie über Berlin 1936.«8 Die bedrohliche Situation der Rohingya und der Uiguren steht exemplarisch für die große Gefahr, welcher Minoritäten in verschiedenen Teilen der Welt immer noch ausgesetzt sind. Vor diesem Hintergrund ist die Sicherung der Erinnerung an die Genozide des 20. Jahrhunderts von eminenter Bedeutung. Die Shoah ist sicherlich der bekannteste Genozid des 20. Jahrhunderts und im Hinblick auf die industrielle Durchführung des Massenmordes auch ein Verbrechen ohnegleichen. Neben dem Mord an den europäischen Juden sollten jedoch weitere Genozide in den Fokus genommen werden. Die aktuelle, auf die von Antisemitismus-Vorwürfen begleitete Ausladung des kamerunischen Philosophen Achille Mbembe von der Ruhrtriennale 20209 folgende, 5

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Vgl. Pfeifer, David: Das gesamte Volk ist der Feind. In: SZ.de: https://www.sueddeutsche.de /politik/myanmar-proteste-militaer-demonstranten-1.5260646. Erschienen: 11.04.2021. Eingesehen: 11.04.2021. Vgl. Gaus, Bettina: Ein Völkermord geschieht. In: taz, 06.03.2021, S. 2. Die Entwicklungen in Myanmar zeichnen sich bereits seit einiger Zeit ab: Bereits Ende 2019 wurde das Land vom Internationalen Gerichtshof in Den Haag dazu aufgefordert, einen Völkermord an der muslimischen Minderheit der Rohingya mit allen verfügbaren Mitteln zu verhindern, vgl. Stephanowitz, Johann: Myanmar muss Rohingya vor Völkermord schützen. Internet-Publikation in: ZEIT-online: https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-01/un-gericht-myanmar-muss-ro hingya-vor-voelkermord-schuetzen. Erschienen: 23.01.2020. Eingesehen: 12.04.2021. Vgl. etwa Zenz, Adrian; Zoll, Patrick: »Genozid ist das einzige Wort, das richtig ausdrückt, was die Uiguren durchmachen«. In: Neue Züricher Zeitung, 20.04.2021, S. 6. Krauss, Martin: Olympia steht vor Finale. Internet-Publikation in: taz: https://taz.de/Debatt e-um-Winterspiele-2022/!5759143/. Erschienen: 07.04.2021. Eingesehen: 10.04.2021. Zu den kontrovers diskutierten Hintergründen der Ausladung vgl. Dekel, Irit; Özyürek, Esra: Perfides Ablenkungsmanöver. Internet-Publikation in: ZEIT-online: https://www.zeit.de/k ultur/2020-07/antisemitismus-debatte-holocaust-deutschland-rassismus-kolonialismusdiskriminierung-10nach8. Erschienen: 10.07.2020. Eingesehen: 14.04.2021. sowie Kaube, Jürgen: Wer hat Achille Mbembe gelyncht? Internet-Publikation in: FAZ.net: https://www.fa z.net/aktuell/feuilleton/debatten/antisemitismus-debatte-um-den-philosoph-achille-mbe mbe-16761907.html. Erschienen: 10.05.2020. Eingesehen: 14.04.2021. Darüber hinaus nahm

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Erzählen vom Genozid

Debatte verweist auf einen weiteren, von Deutschen begangenen Genozid: jenen an den Herero und Nama (1904–1908). Der mit der Mbembe-Debatte begonnene »neue Historikerstreit« oder »Historikerstreit 2.0«10 ruft – so umstritten die gegensätzlichen Standpunkte auch sein mögen – die koloniale Vergangenheit der Bundesrepublik zurück ins Bewusstsein. Dies ist insbesondere von Bedeutung, da der Völkermord an den Herero und Nama in der ehemaligen deutschen Kolonie Deutsch-Südwestafrika (DSWA), dem heutigen Namibia, zu Beginn des 20. Jahrhunderts lange Zeit kaum eine Rolle innerhalb der deutschen Erinnerungskultur spielte. Im Gegensatz zur Shoah wurde die deutsche Kolonialzeit aufgrund ihrer scheinbaren Marginalität für die deutsche Geschichte nur unzureichend oder gar nicht aufgearbeitet. Der Historiker Sebastian Conrad fasst die Situation mit den Worten zusammen: »In Deutschland […] spielt die koloniale Erfahrung keine zentrale Rolle bei der Deutung der nationalen Geschichte und der Frage nach kultureller Identität.«11 In dieser Hinsicht unterscheidet sich Deutschland von Ländern wie Frankreich oder England, in

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auch Mbembe selbst Stellung zu den gegen ihn erhobenen Antisemitismus-Vorwürfen, vgl. Mbembe, Achille: Die Welt reparieren. In: Die ZEIT. 23.04.2020, S. 43f. Beide Begriffe verwendet unter anderem Rothberg in einem längeren online-Artikel zum Fall Mbembe, vgl. Rothberg, Michael: Vergleiche vergleichen: Vom Historikerstreit zur Causa Mbembe. Internet-Publikation in: geschichte der gegenwart: https://geschichtederg egenwart.ch/vergleiche-vergleichen-vom-historikerstreit-zur-causa-mbembe/. Erschienen: 23.09.2020. Eingesehen: 14.04.2021. Rothberg betont explizit, dass ein großer Unterschied zwischen dem sogenannten »Historikerstreit« und dem »Historikerstreit 2.0« bestehe, da das Ziel des Letztgenannten keinesfalls eine Relativierung der Shoah sei: »Heute hingegen lenkt die Forderung nach der Verantwortungsübernahme für den deutschen Kolonialismus in keiner Weise von der Verantwortung für den Holocaust ab – ich kenne niemanden, der das behauptet. Die gegenwärtigen Kämpfe von Schwarzen und Deutschen und anderen um Anerkennung des deutschen Kolonialismus bauen zwar auf dem Erbe des Holocaust auf, aber sie versuchen überhaupt nicht, die Verantwortung für diesen zu beseitigen.« Axster, Felix; König, Jana: Zur Einführung: Interview mit Michael Rothberg. In: Rothberg, Michael: Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung. Aus dem Englischen von Max Henninger. Berlin: Metropol 2021. S. 7–23, hier: S. 14. Im Folgenden zitiert als ›Axster; König: Interview mit Michael Rothberg‹. Conrad, Sebastian; Randeria, Shalini: Einleitung. Geteilte Geschichte – Europa in einer postkolonialen Welt. In: Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, hg. von Sebastian Conrad und Shalini Randeria. Frankfurt a.M.: Campus Verlag 2002, S. 9–49, hier S. 39f. Auch die Black Lives Matter Bewegung hat dazu beigetragen, dass in Deutschland eine Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit angestoßen wurde, vgl. dazu Vgl. o.V.: Kolonialismus-Debatte – auch NRW diskutiert seine Denkmäler. Internet-Publikation in: WELT ONLINE: https://www.welt.de/regionales /nrw/article212159861/Kolonialismus-Debatte-NRW-diskutiert-seine-Denkmaeler.html. Erschienen: 24.07.2020. Eingesehen: 30.07.2020. sowie Starzmann, Paul: Auf den Sockel Kulturpolitik in Zeiten von »Black Lives Matter«: Kommt das zentrale Denkmal für die Opfer des deutschen Kolonialismus? In: Der Tagesspiegel. 09.07.2020, S. 5.

1. Einleitung

denen die koloniale Vergangenheit – zwar oftmals unkritisch und heroisch verklärt – bis heute Teil der Erinnerungskultur ist. Mit der Rückgabe von 20 in der Kolonialzeit von deutschen Wissenschaftlern geraubten Herero-Schädeln an eine namibische Delegation im Jahr 2012 schien sich die Situation auch in Deutschland langsam zu ändern.12 Bis heute warten die Herero und Nama jedoch auf eine Entschädigungszahlung für den Genozid.13 Eine entsprechende Klage der Herero gegen die deutsche Bundesregierung vor einem New Yorker Gericht wurde zwar 2019 abgewiesen14 , allein das Klageverfahren zeigt dennoch, dass es nach wie vor noch vieles aufzuarbeiten gilt. Wenngleich die von der kaiserlichen Schutztruppe begangenen Verbrechen durch die Schädelübergabe sowie den New Yorker Prozess eine größere mediale Präsenz erlangten, fand die Aufarbeitung der deutschen Kolonialzeit auf literarischer Ebene lange Zeit kaum statt. Allenfalls Historiker wie Horst Drechsler machten sich zunächst in der Auseinandersetzung mit der Thematik verdient.15 Aus literaturwissenschaftlicher Sicht blieb Uwe Timms Morenga16 (1978) bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts eines der wenigen deutschsprachigen Werke, welches sich dezidiert mit dem Genozid in DSWA auseinandersetzte. Anknüpfend an die Verbindung zwischen der Shoah und dem Kolonialismus monieren der Historiker Jürgen Zimmerer und der Literaturwissenschaftler Micha-

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Vgl. Zimmerer, Jürgen: Kolonialismus und kollektive Identität: Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte. In: Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, hg. von Jürgen Zimmerer. Bonn: Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung 2013 (= Schriftenreihe der bpb 1405), S. 9–37. Im Mai 2021 wurde nach sechs Verhandlungsjahren zwischen namibischen Vertretern und der deutschen Bundesregierung eine Einigung in Bezug auf die Anerkennung des Völkermordes erzielt und eine Wiederaufbauhilfe in Höhe von 1,1 Milliarden Euro vereinbart. In dieser wird jedoch, anders als von den Nachfahren der Opfer explizit gefordert, nicht von Reparations- oder Entschädigungszahlen gesprochen. Dieser Umstand führte in Namibia zu teils massiven Protesten, vgl. Oer, Eva: Keine Versöhnung in Windhoek in Sicht; In Namibia debattiert das Parlament über das Aussöhnungsabkommen mit Deutschland. Der Deal ist hochumstritten und auch auf der Straße regt sich Widerstand. In: taz, 23.09.2021, S. 12. O.v.: US-Gericht weist Klage zu deutschen Kolonialverbrechen ab. Internet-Publikation in: Sz.de: https://www.sueddeutsche.de/politik/herero-nama-namibia-deutschland-voelker mord-1.4359508. Erschienen: 07.03.2019. Eingesehen: 15.03.2019. Drechsler setzte sich in seinem Werk Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft bereits zu einer Zeit mit dem Thema des Genozids in der ehemaligen deutschen Kolonie auseinander, als die Aufarbeitung des Holocausts noch in ihren Anfängen steckte, vgl. Drechsler, Horst: Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft. Der Kampf der Herero und Nama gegen den deutschen Imperialismus (1884–1915). 2., durchgesehene Auflage. Berlin/DDR: Akademie-Verlag 1984. Timm, Uwe: Morenga. Roman. 6. Auflage München: dtv 2005. Im Folgenden zitiert als »Timm Morenga«.

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Erzählen vom Genozid

el Rothberg in einem gemeinsamen, im Zusammenhang mit der Mbembe-Debatte erschienenen Artikel17 das Beharren auf der Singularitätsthese: Erstens blockiert das Pochen auf die Unvergleichbarkeit den Blick auf wichtige Wurzeln der nationalsozialistischen Verbrechen, insbesondere auf den deutschen Vernichtungskrieg »im Osten« zur Gewinnung von kolonialem »Lebensraum«. Zweitens vermindert es die moralische Schlagkraft des »Nie-wieder«, denn singuläre Ereignisse können sich nicht wiederholen.18 Zimmerer und Rothberg unterstreichen dabei, dass sie keinesfalls die »singulären Elemente des Holocausts«19 verneinen würden, jedoch in vergleichenden Perspektiven einen fruchtbaren Ansatz sähen, und fordern »eine Ethik des Vergleichs«20 . Thomas Schmid, ehemaliger Herausgeber der Welt, widerspricht Zimmerer und Rothberg in einem weiteren Artikel in der ZEIT entschieden: »Dieser Wille der Deutschen, ein ganzes Volk auszulöschen, ist einmalig in der Geschichte. So blutig und mörderisch der Kolonialismus auch war, Ziel war nicht die Vernichtung um der Vernichtung willen. Deswegen ist der Holocaust singulär. Er war ein antisemitischer Genozid.«21 In Bezug auf die kolonialen Gräueltaten ist die Aussage Schmids weitestgehend zutreffend, wenngleich sich dagegen anführen ließe, dass der deutsche General Lothar von Trotha bei der Niederschlagung des Aufstandes der Herero durchaus eine Vernichtungsabsicht verfolgte – diese hing jedoch anders

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Der Artikel von Zimmerer und Rothberg entstand als Reaktion auf drei Artikel aus der Welt, dem Spiegel sowie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in denen die Ansätze der beiden Historiker teils scharf kritisiert wurden. Vgl. dazu Rapp, Tobias: Macht uns das Gedenken an den Holocaust blind für andere deutsche Verbrechen? Internet-Publikation in: SPIEGEL Plus: https://www.spiegel.de/geschichte/holocaust-macht-uns-das-gedenken-blind-fu er-andere-deutsche-verbrechen-a-00000000-0002-0001-0000-000175304219. Erschienen: 12.02.2021. Eingesehen: 14.04.2021; Schmid, Thomas: Die Holocaust-Frage. In: Die Welt. 27.02.2021, S. 25. sowie Seidl, Claudius: War der Holocaust eine koloniale Tat? Internet-Publikation in: Frankfurter Allgemeine Zeitung: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton /streit-um-gedenkkultur-war-der-holocaust-eine-koloniale-tat-17217645.html. Erschienen: 01.03.2021. Eingesehen: 14.04.2021. Rothberg, Michael; Zimmerer, Jürgen: Enttabuisiert den Vergleich! In: Die ZEIT, 31.03.2021, S. 59. Im Folgenden zitiert als ›Rothberg; Zimmerer 2021‹. Ebd. In seiner Studie zur multidirektionalen Erinnerung spricht sich Rothberg ebenfalls gegen das Vergleichsverbot aus, wobei er sich deutlich von jeglicher Relativierung der Shoah distanziert: »Mein Projekt setzt Unähnlichkeit als gegeben voraus, gleicht doch kein Ereignis ganz dem anderen, und die intellektuelle Energie wird auf die Beantwortung der Frage gerichtet, was es bedeutet, dennoch auf Verbindungen abzuheben.«, Rothberg 2021, S. 45. Rothberg; Zimmerer 2021. Schmid, Thomas: Der Holocaust war kein Kolonialverbrechen. In: Die ZEIT, 08.04.2021, S. 50. Im Folgenden zitiert als ›Schmid 2021‹.

1. Einleitung

als die Ermordung der europäischen Juden direkt mit einer kriegerischen Auseinandersetzung zusammen. Schmids These wird im Falle der Armenier jedoch bereits problematisch, da die Jungtürken die Vernichtung der Armenier anstrebten ohne jegliche militärische Notwendigkeit. Keinesfalls hat Schmids Einschätzung Gültigkeit für den Genozid in Ruanda: Die Vernichtungsabsicht der führenden Hutus stand jener der Nationalsozialisten in nichts nach. Zwar ist hier nicht der Raum, die Debatte um die Singularitätsthese ausdifferenziert darzulegen, jedoch scheint der von Rothberg vertretene Ansatz der »multidirektionalen Erinnerung«22 vor dem oben skizzierten Hintergrund vielversprechend. So betont der amerikanische Literaturwissenschaftler in der Einführung zur deutschen Ausgabe seiner Studie zur multidirektionalen Erinnerung die Sonderrolle der Shoah bei der Auseinandersetzung mit anderen Verbrechen: Deutschland bietet sicherlich einen ganz besonderen Anlass, über Multidirektionalität nachzudenken. Ich verstehe gut, warum sich in Deutschland eine Erinnerungskultur entwickelt hat, die stark an der Singularität des Holocaust und der besonderen Verantwortung der Deutschen festhält. Dennoch glaube ich, dass eine stärkere multidirektionale Sensibilität auch im deutschen Kontext aus mehreren Gründen sinnvoll sein kann.23 Neben dem kolonialen Genozid geriet ein weiterer Völkermord Ende 2020 und Anfang 2021 wieder indirekt in den Fokus der Öffentlichkeit. Der Bergkarabach-Konflikt, der 2020 wieder aufflammte und der im November des Jahres mit dem militärischen Sieg Aserbaidschans endete, weckte aufgrund der direkten Unterstützung Aserbaidschans durch die Türkei bei vielen Armeniern Erinnerungen an den Völkermord an den Armeniern.24 Gleiches galt bereits für die türkische Invasion in Syrien.25 Für den während des Ersten Weltkrieges von dem jungtürkischen Regime organisierten Völkermord gilt das Gebot der Erinnerung umso mehr, da die Massaker und Vertreibungen, denen über eine Million Armenier zum Opfer fielen, aufgrund der konsequenten Leugnung der Verbrechen durch die Türken erst nach und nach von vielen Staaten als Genozid anerkannt wurden.26 Als erster amerikanischer Prä22 23 24

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Vgl. hierzu ausführlich Kapitel 2.5 dieser Arbeit. Axster; König: Interview mit Michael Rothberg, S. 22. Vgl. Hackensberger, Alfred: »Die Türkei will uns ausrotten«. Internet-Publikation in: WELT ONLINE: https://www.welt.de/politik/ausland/plus217582712/Bergkarabach-Die-Tuerkei-wi ll-uns-ausrotten.html. Erschienen: 11.10.2020. Eingesehen: 25.10.2020. Vgl. Hackensberger, Alfred: »Es geht um unsere Existenz«. In: Die Welt. 23.03.2021, S. 8. Die Bundesrepublik Deutschland erkannte den Völkermord erst 2016 im Zuge der sogenannten »Armenien Resolution« als solchen an, vgl. Abdi-Herrle, Sasan: Bundestag bezeichnet Gräuel an Armeniern als Völkermord. In: ZEIT ON-LINE. Internet-Publikation: https://w ww.zeit.de/politik/deutschland/2016-06/bundestag-verabschiedet-voelkermord-resolution -zu-armeniern. Erstellt: 02.06.2016. Eingesehen: 04.09.2017.

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Erzählen vom Genozid

sident bezeichnete Joe Biden in einer Rede am Jahrestag des Beginns der osmanischen Armenier-Massaker, dem 24.04.2021, diese offiziell mit den folgenden Worten als Völkermord: »Each year on this day, we remember the lives of all those who died in the Ottoman-era Armenian genocide and recommit ourselves to preventing such an atrocity from ever again occurring.«27 Biden verknüpfte auf diese Weise die Feststellung mit der Forderung, ein solches Verbrechen dürfe sich nicht wiederholen, wobei er die Bedeutung der gemeinsamen Erinnerung hervorhob. Ende 2019 geriet schließlich auch die literarische Auseinandersetzung mit den genozidalen Verbrechen des Jugoslawienkrieges wieder ins Zentrum des öffentlichen Interesses. Mit Peter Handke erhielt ein Autor den Literaturnobelpreis, dessen öffentlich vertretene Standpunkte zum Jugoslawienkrieg ausgesprochen fragwürdig, zumindest aber hochgradig umstritten sind. Der aus dem bosnischen Višegrad stammende und in Deutschland lebende Autor Saša Stanišić kritisierte die Preisvergabe an Handke in seiner Rede bei der Entgegennahme des Deutschen Buchpreises 2019 mit scharfen Worten. Er habe das Glück gehabt, »dem zu entkommen, was Peter Handke in seinen Texten nicht beschreibt.«28 Stanišić weiter: In seinem Text, der über meine Heimatstadt Višegrad verfasst worden ist, beschreibt Handke unter anderem Milizen, die barfuß nicht die Verbrechen begangen haben können, die sie begangen haben. Diese Milizen und ihren Milizenanführer, der Milan Lukic heißt und lebenslang hinter Gittern sitzt, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, erwähnt er nicht. Er erwähnt die Opfer nicht. Er sagt, dass es unmöglich ist, dass diese Verbrechen geschehen konnten. Sie sind aber geschehen. Mich erschüttert so was, dass so was prämiert wird.29 Tatsächlich fielen die öffentlichen Reaktionen auf die Vergabe der beiden Preise in Deutschland nahezu einhellig aus, wobei die Preisvergabe an Stanišić als Reaktion auf die Vergabe des Nobelpreises an Handke gedeutet wurde.30 Dabei wirft die Debatte um die Preisverleihung an Handke die generelle Frage auf, welche Rolle die Literatur bei der Darstellung von Genoziden spielt.

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Biden, Joe: Statement by President Joe Biden on Armenian Remembrance Day. Internet-Publikation in: The White House: https://www.whitehouse.gov/briefing-room/statements-re leases/2021/04/24/statement-by-president-joe-biden-on-armenian-remembrance-day/. Erschienen: 24.04.2021. Eingesehen: 26.04.2021. Stanišić, Saša: Dankesrede bei der Preisverleihung des Deutschen Buchpreises 2019. Internet-Publikation in: news ORF.at: https://orf.at/stories/3140837/?fbclid=IwAR1-EbGoIB7u5iG8 M8AFAbccyCosv87fc5vrgN0EMGqikWgHXgrrtJy3qW8. Erschienen: 14.10.2019. Eingesehen: 15.04.2021. Ebd. Vgl. Kiyak, Mely: Die Wahrheiten, die wir kennen. Internet-Publikation in: ZEIT-online: https://www.zeit.de/kultur/2019-10/deutscher-buchpreis-sasa-stanisic-peter-handke-l iteratur-debatte/komplettansicht. Erschienen: 16.10.2019. Eingesehen: 15.04.2021.

1. Einleitung

1.2 Auswahl des Textkorpus Zweifellos ist Literatur ein wichtiges Medium der Erinnerung. Vor diesem Hintergrund können die in dieser Studie untersuchten Werke als ein wichtiger Beitrag zur Erinnerungskultur betrachtet werden. Im Zentrum stehen neun deutschsprachige Werke, welche sich direkt oder indirekt mit der literarischen Darstellung eines Genozides des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen. Uwe Timms Morenga (1978)31 und Edgar Hilsenraths Das Märchen vom letzten Gedanken (1989)32 bilden dabei den Ausgangspunkt für die Untersuchung, da es sich bei den genannten Werken um die ersten deutschsprachigen Versuche nach 1945 handelt, mit dem Völkermord an den Herero und Nama sowie dem Völkermord an den Armeniern andere Genozide als die Shoah literarisch aufzuarbeiten. Zum Jugoslawienkrieg werden mit Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens (2003)33 und Die Winter im Süden (2008)34 sowie Saša Stanišićs Wie der Soldat das Grammofon repariert (2006)35 drei Romane behandelt. Der Österreicher Gstrein schreibt, wie Timm in Morenga über den kolonialen Völkermord, als Außenstehender über die genozidalen Verbrechen in Jugoslawien. Von besonderer Relevanz für diese Arbeit ist der Aspekt, dass Gstrein den Jugoslawienkrieg mit dem faschistischen Ustascha-Regime verknüpft. Auf diese Weise werden die Shoah – im faschistischen Kroatien befand sich das Vernichtungslager Jasenovac – und der Jugoslawienkrieg miteinander verbunden. Gänzlich anders ist Stanišićs Roman gestaltet. In diesen fließen zahlreiche biografische Erlebnisse des Autors ein, welcher zusammen mit seinen Eltern nach dem Ausbruch des Krieges aus seiner bosnischen Heimatstadt ins deutsche Heidelberg flüchtete. Neben Morenga werden zwei weitere Romane, die – größtenteils – auf dem afrikanischen Kontinent spielen, in die Untersuchung einbezogen: Lukas Bärfuss’ Hundert Tage (2008)36 und Bernhard Jaumanns Der lange Schatten (2015)37 . Während in dem Roman des Schweizers Bärfuss die Rolle der Schweizer Entwicklungshilfe in Ruanda genauer betrachtet wird, widmet sich Jaumann, welcher selbst einige Jahre in Namibia verbrachte, der Frage nach der deutschen Verantwortung im Zusammenhang mit dem kolonia-

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Timm, Uwe: Morenga. Roman. 6. Auflage München: dtv 2005. Im Fließtext zitiert als ›M‹. Hilsenrath, Edgar: Das Märchen vom letzten Gedanken. Berlin: Eule der Minerva 2014. Im Fließtext zitiert als ›MlG‹. Gstrein, Norbert: Das Handwerk des Tötens. München: dtv 2010. Im Fließtext zitiert als ›HT‹. Gstrein, Norbert: Die Winter im Süden. München: dtv 2010. Im Fließtext zitiert als ›WS‹. Stanišić, Saša: Wie der Soldat das Grammofon repariert. 6. Auflage. München: btb 2008. Im Fließtext zitiert als ›SG‹. Bärfuss, Lukas: Hundert Tage. München: btb 2010. Im Fließtext zitiert als ›HT‹. Jaumann, Bernhard: Der lange Schatten. Hamburg: Rohwohlt 2016. Im Fließtext zitiert als ›DlS‹.

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len Völkermord. Schließlich werden mit Mirna Funks Winternähe (2015)38 sowie Katerina Poladjans Hier sind Löwen (2019)39 zwei Romane der Gegenwartsliteratur von Autorinnen der dritten Generation nach der Shoah beziehungsweise der dritten Generation nach dem Völkermord an den Armeniern untersucht.

1.2 Arbeitsthese und Methodik Vor dem Hintergrund der bis hierhin referierten Entwicklungen im Zusammenhang mit den Genoziden des 20. Jahrhunderts soll nachfolgend die erkenntnisleitende These vertreten werden, dass die Romane von Uwe Timm und Edgar Hilsenrath einen Paradigmenwechsel in der deutschsprachigen literarischen Auseinandersetzung mit Genoziden einleiteten, indem sie auf literarischer Ebene die Vorstellung von der Singularität der Shoah implizit, oftmals aber auch explizit, in Frage stellen. Die beiden Romane öffneten auf diese Weise das literarische Feld und leisteten somit einen Beitrag dazu, dass weitere Werke, die unter dem Begriff der deutschsprachigen Genozidliteratur subsummiert werden können, entstehen konnten. Weiterhin gilt für die in dieser Arbeit behandelten Werke die These, dass die Shoah zwar nicht mehr als unvergleichbar angesehen, als der eine Genozid jedoch stets als Bezugspunkt in der literarischen Auseinandersetzung mit anderen Genoziden mitgedacht wird, ein Schreiben über Genozide ohne Einbeziehung der Shoah im deutschen Sprachraum also nicht denkbar ist. Folgender Verlauf der Untersuchung hat die Aufgabe, die These der vorliegenden Arbeit zu prüfen: Im Grundlagenteil der Arbeit stehen die Genozidforschung und die Shoah-Literatur im Fokus. Da die vergleichende Genozidforschung in Deutschland nach wie vor in den Anfängen steckt, wobei die Literaturwissenschaft bislang kaum eine Rolle spielte, existiert bis heute keine Definition, welche das literarische Feld einer Genozidliteratur begrenzt. Dies hängt zweifellos auch mit der vergleichsweise geringen Anzahl deutschsprachiger literarischer Werke zusammen, welche sich mit Genoziden jenseits der Shoah auseinandersetzen. Anders gestaltet sich die Situation im Falle der deutschsprachigen Shoah-Literatur. Nachdem die literarische Auseinandersetzung mit der Shoah in Deutschland zunächst nur schleppend begann und von zahlreichen Tabus geprägt war, existiert mittlerweile eine große Bandbreite an Werken, welche der deutschsprachigen Shoah-Literatur zugordnet werden können. Somit gilt es in diesem ersten Theorieteil zunächst eine Definition für diejenige Literatur zu finden, welche unter dem Begriff »Shoah-Literatur« zusammengefasst wird, um folgend auf die Besonderheiten der deutschsprachigen Shoah-Lite38 39

Funk, Mirna: Winternähe. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 2017, im Folgenden im Fließtext zitiert als ›Wn‹. Poladjan, Katerina: Hier sind Löwen. Frankfurt a.M.: S. Fischer 219. Im Fließtext zitiert als ›HL‹.

1. Einleitung

ratur einzugehen. Anknüpfend an die theoretische Basis wird ein Überblick über die Shoah-Literatur von 1945 bis 2000 präsentiert, um auf diese Weise die Entwicklung sichtbar zu machen, welche die literarische Auseinandersetzung mit dem Mord an den europäischen Juden im Laufe der Jahrzehnte durchlief. Zwar wird der Fokus in diesem Kapitel vor dem Hintergrund des Untersuchungsgegenstandes dieser Arbeit in erster Linie auf der deutschsprachigen Literatur liegen, dennoch werden auch nicht deutschsprachige Werke berücksichtigt, welche einen maßgeblichen Einfluss auf die gesamte Literatur zur Shoah hatten. Da für den deutschen Sprachraum bis dato literaturwissenschaftliche Ansätze zu einer vergleichenden Genozidforschung fehlen, werden im dritten Teil Ansätze aus anderen Disziplinen vorgestellt. Von besonderer Bedeutung werden hierbei neben Rothbergs Werk zur multidirektionalen Erinnerung Beiträge aus einem von Sybille Steinbacher herausgegebenen Band zur vergleichenden Genozidforschung sein.40 Als Grundvoraussetzung für eine vergleichende Genozidforschung erweist sich die Frage nach der Einzigartigkeit der Shoah. Diese in gebotenem Maße zu diskutieren, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, dennoch ist eine Auseinandersetzung mit der Singularitätsthese eine zentrale Voraussetzung für die vergleichende Betrachtung von deutschsprachigen Texten, die sich mit der Darstellung von Genoziden befassen, da eine solche Analyse schwerlich möglich erscheint, solange die Shoah als unvergleichlich angesehen wird. Abgeschlossen wird der Grundlagenteil dieser Arbeit mit einem Überblick über die Völkermorde des 20. Jahrhunderts, wobei die Verbindungen zur Shoah in den Blick genommen und Zusammenhänge und Kontinuitätslinien zwischen den verschiedenen Verbrechen hervorgehoben werden. Die literarische Einzelfalluntersuchung folgt in den fünf Hauptkapiteln der Studie. Im Zentrum soll dabei die Frage stehen, ob sich in den grundsätzlich stark divergierenden Texten eine Beeinflussung des literarischen Werkes durch die Shoah feststellen lässt, mit anderen Worten, ob es so etwas wie eine Herkunft der deutschsprachigen Genozidliteratur aus der Shoah-Literatur gibt. Die Analyse geht dabei über einen textimmanenten Ansatz hinaus und zielt darauf ab, dass die historische Bedingtheit der Ereignisse in die Analyse miteinfließt, da die verschiedenen Kollektivverbrechen, mit denen sich die untersuchte Literatur auseinandersetzt, alle mehr oder weniger direkt oder indirekt miteinander in Zusammenhang stehen. Eine Analyse, welche dem Anspruch eines weitestgehend vollständigen Vergleiches gerecht wird, würde aufgrund der neun in dieser Arbeit untersuchten Werke deutlich mehr Raum benötigen, als die vorliegende Studie bieten kann. Vor diesem Hintergrund wird der Fokus der Analyse auf drei zentrale Aspekte beschränkt: Zunächst werden die behandelten Romane in Hinblick auf Verbindungen 40

Vgl. Steinbacher, Sybille (Hg.): Holocaust und Völkermorde. Die Reichweite des Vergleichs. Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 2012.

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Erzählen vom Genozid

zur Shoah untersucht. Sowohl Verweise auf historische Zusammenhänge zwischen den Genoziden als auch literarische Verweise auf Romane der Shoah-Literatur werden hierbei berücksichtigt. Dieser Ansatz erscheint zum einen aufgrund der oben skizzierten besonderen deutschen Situation, zum anderen jedoch aufgrund der Relevanz der Shoah »für das Verhältnis von kollektiver Erinnerung, Gruppenidentität und Gewalt«41 fruchtbar. In einem nächsten Schritt wird eine Frage im Zentrum der Untersuchung stehen, welche bei der Auseinandersetzung mit Krieg und Genozid von eminenter Bedeutung ist: die Frage nach der Identität. Die beiden auf die jüdische Geschichte spezialisierten Historiker Marta AnsilewskaLehnstaedt und Stephan Lehnstaedt verweisen darauf, dass die »Identität« aktuell eine der populärsten Kategorien in der Geschichtswissenschaft ist.42 Konkreter wird Rothberg, der festhält, Erinnerung hänge »[s]owohl in ihrer individuellen als auch in ihrer kollektiven Variante […] eng mit Identität zusammen, einem der umstrittensten Begriffe zeitgenössischer Debatten.«43 Im Falle der meisten Genozide erlangte der kulturelle oder ethnische Hintergrund der Opfer erst im Zuge der beginnenden Verfolgung seine herausragende, oftmals über Leben und Tod entscheidende, Bedeutung. Armenier und Juden waren in vielen Fällen in ihren jeweiligen Ländern nahezu perfekt assimiliert. Zahlreiche Armenier im Osmanischen Reich nahmen sich selbst als Osmanen und viele Juden im Deutschen Reich als Deutsche wahr. Erst der zunehmende Verfolgungsdruck führte bei Angehörigen beider Minoritäten zu einer (erzwungenen) Auseinandersetzung mit der eigenen Identität – eine Erfahrung, welche die Nachfolgegenerationen bis heute prägt, wie sich insbesondere in den Werken Funks und Poladjans offenbart.44 Vergleichbar war die Situation in Jugoslawien vor dem Ausbruch des Jugoslawienkrieges und in Ruanda vor Beginn des Genozids. Sowohl in Jugoslawien als auch in Ruanda lebten die verschiedenen Ethnien zusammen, eine strikte Trennung existierte nicht, wenngleich es immer wieder Spannungen zwischen den Gruppen gab, welche etwa

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Rothberg 2021, S. 31. Rothberg geht noch einen Schritt weiter und betont, »dass der Holocaust die Artikulation anderer Opfergeschichten ermöglicht hat, und zwar zeitgleich zur Erklärung seiner »Einzigartigkeit« oder »Singularität« im Vergleich zu anderen von Menschen verübten Gräueltaten.« ebd. Vgl. Ansilewska-Lehnstaedt, Marta; Lehnstaedt, Stephan: Identität durch Krieg oder Krieg wegen Identität? Prolegomena zum Nutzen einer analytischen Kategorie. In: Zeitschrift für Genozidforschung 16/2018. S. 6–18, hier: S. 6. Rothberg 2021, S. 29. Der Philosoph und Soziologe Jean-Michel Chaumont verweist in seiner umfangreichen Auseinandersetzung mit der Singularitätsthese immer wieder auf die besondere Bedeutung der Identitätsfrage bei der Aufarbeitung eines Genozides, wobei er den Wandel der Selbstwahrnehmung am Beispiel der Opfer der Shoah verdeutlicht, vgl. Chaumont, Jean-Michel: Die Konkurrenz der Opfer. Genozid, Identität und Anerkennung. 1. Auflage. Lüneburg: Klampen 2001, S. 91. Im Folgenden zitiert als ›Chaumont 2001‹.

1. Einleitung

in Ruanda bereits in den Jahren vor dem Genozid immer wieder zu Massakern an den Tutsis führten. Auf eine gänzlich andere Art spielte die Frage nach der Identität auch im Falle des kolonialen Völkermordes an den Herero und Nama eine Rolle, war doch der Kolonialismus geprägt von der Frage nach der Abgrenzung zwischen Eigenem und Fremdem, eine Unterscheidung, welche Edward Said in seiner wohl bekanntesten Studie Orientalismus als konstitutives Element des kolonialen Diskurses identifiziert.45 Der dritte zentrale Analyseaspekt wird die Frage nach der Distanz zum Erzählgegenstand sein. Im Angesicht der schlimmsten Verbrechen, von Vergewaltigungen bis hin zu Massakern, scheint eine distanzierte Erzählweise naheliegend, sofern der Autor nicht Gefahr laufen will, dem Leser eine vorgefertigte Schwarz-Weiß Darstellung der Verbrechen zu präsentieren. Somit gilt es in diesem dritten Analyseschritt, die verschiedenen Strategien der Distanzerzeugung in den untersuchten Werken herauszuarbeiten. Die Auswahl der Texte ergibt sich notwendigerweise aus dem Umstand, dass es bislang vergleichsweise wenige deutschsprachige Werke gibt, deren zentrales Thema die Darstellung von Genoziden jenseits der Shoah ist, und die darüber hinaus vor dem Hintergrund der These dieser Arbeit eine größere Relevanz bei der Beantwortung der zentralen Fragen erwarten lassen. Die Untersuchung der einzelnen Romane ist teils thematisch und teils chronologisch angelegt, wobei mit Timms Morenga sowie Hilsenraths Das Märchen vom letzten Gedanken zunächst die beiden ältesten Werke der Auswahl analysiert werden, da diese, wie oben ausgeführt, als Ausgangspunkt für die Entwicklung einer deutschsprachigen Genozidliteratur angesehen werden können. Die Analyse wird mit den Romanen zum Jugoslawienkrieg, Gstreins Das Handwerk des Tötens und Die Winter im Süden sowie Stanišićs Wie der Soldat das Grammofon repariert fortgesetzt. Im Anschluss folgen mit Bärfuss’ Hundert Tage und Jaumanns Der lange Schatten zwei Romane, welche sich mit Genoziden auf dem afrikanischen Kontinent befassen. Schließlich wird die Studie mit Funks Winternähe und Poladjans Hier sind Löwen, zwei neueren Romanen, bei denen die Auseinandersetzung von Autorinnen der dritten Generation mit den beiden großen europäischen Genoziden des 20. Jahrhunderts im Zentrum steht, abgeschlossen. Wie sich aus den vorangegangenen Ausführungen bereits ergeben hat, wird für die Analyse ein werk- und kein autorzentrierter Ansatz gewählt. Dessen ungeachtet erfahren jedoch auch die Gesamtwerke der Autoren eine Berücksichtigung, insofern sie Aufschluss über für diese Dissertation relevante Aspekte geben.

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Said, Edward: Orientalismus. 5. Auflage. Frankfurt a.M.: Fischer 2017. Im Folgenden zitiert als ›Said: Orientalismus‹.

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2. Shoah-Literatur und vergleichende Genozidforschung – von 1945 bis heute

2.1 Definitionen von »Shoah-Literatur« Zunächst einmal stellt sich für diese Arbeit die Frage, was genau unter dem Terminus »Shoah-Literatur« zu verstehen ist. Claudia Brecheisen verweist darauf, dass es sich bei dieser Form der Literatur keinesfalls um eine Literaturepoche handeln könne, da die Literatur nicht zeitlich begrenzt entstanden sei, sondern nach wie vor entstehe und das Shoah-Literatur vielmehr die Verarbeitung eines neuen Bewusstseins in der Zeit nach Auschwitz sei, in welcher nichts mehr sei wie zuvor.1 Obschon sie für eine klare Trennlinie »zwischen den Worten ›Holocaust‹, ›Krieg‹, ›Drittes Reich‹ und ›Nationalsozialismus‹«2 plädiert und darauf verweist, dass in ihren Augen Romane wie Grass’ Hundejahre oder Johnsons Jahrestage nicht zur Shoah-Literatur gezählt werden sollten, fordert sie auch dazu auf, dass man »diese Grenzziehung nicht allzu streng betreiben«3 solle. Als weiteres Charakteristikum für die Shoah-Literatur widmet sich Brecheisen der Rolle des Autors: Das eigene Erleben ist nicht unbedingt Voraussetzung für das Schreiben von Holocaust-Literatur – d.h. ein Autor, der nicht im Konzentrationslager war, kann einen Roman darüber schreiben –, doch zeigt sich, daß die meisten Schriftsteller auf der Basis persönlicher Erfahrungen arbeiten.4 Ebenjene, von Brecheisen angesprochene exponierte Stellung des Autors in den Werken zur Shoah ist heute zwangsläufig im Wandel, da es immer weniger Zeitzeugen gibt, die von ihrem Erleben in autobiografisch geprägten Werken berichten könnten. Wenngleich eine klare Grenzziehung bei der Shoah-Literatur schwierig

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Vgl. Brecheisen, Claudia: Literatur des Holocaust: Identität und Judentum bei Jakov Lind, Edgar Hilsenrath und Jurek Becker. Augsburg: 1993, S. 6f. Im Folgenden zitiert als ›Brecheisen 1993‹. Ebd., S. 8. Ebd. Ebd.

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Erzählen vom Genozid

erscheint, benötigt man dennoch eine Eingrenzung dessen, was unter dem Begriff zu fassen ist. Der Germanist Norbert Otto Eke bietet hierfür eine vergleichsweise eindeutige und prägnante Definition, an welcher sich diese Arbeit orientieren wird: Unter dem Begriff ›Shoah-Literatur‹ werden […] pauschal alle diejenigen Texte subsummiert, in den die Verfolgungs- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten von den ersten Diskriminierungsmaßnahmen bis hin zum Lager- und Vernichtungssystem im engeren Sinn Gegenstand der Auseinandersetzung sind, aber auch solche Texte, in denen der Umgang mit dem Geschehen der Shoah und die Erinnerung daran einschließlich ihrer Spiegelung in den Traumata der Überlebenden und den kulturellen Einschreibungen der Shoah im Denken und Handeln der Nachgeborenen – Juden und Nicht-Juden in gleichem Maße – zur Diskussion stehen.5 Diese Definition von Eke zeigt die Bandbreite an Texten, welche zur Shoah-Literatur zu zählen sind – angefangen bei Niederschriften, die bereits während der Zeit des Nationalsozialismus entstanden, wie etwa das Tagebuch der Anne Frank, oder Victor Klemperers Tagebücher über Theaterstücke wie Rolf Hochhuths Stellvertreter, Peter Weiss’ Ermittlung und George Taboris Kannibalen bis hin zu Edgar Hilsenraths Romanen Nacht und Der Nazi und der Friseur. Insbesondere Ekes Verweis auf die »Einschreibungen der Shoah im Denken und Handeln der Nachgeborenen« ist für diese Arbeit von ausschlaggebender Bedeutung – bei dem in dieser Arbeit behandelten Werk zur Shoah – Mirna Funks Winternähe – handelt es sich um die literarische Darstellung einer Autorin der Generation der Nachgeborenen.

2.2 Besonderheiten der deutschsprachigen Shoah-Literatur – Schreiben in der Sprache der Täter Für die deutschsprachige Shoah-Literatur lassen sich einige exponierte, speziell »deutsche« Merkmale feststellen. Zunächst einmal bleibt festzuhalten, dass es sich bei der deutschsprachigen Shoah-Literatur lediglich um einen vergleichsweise kleinen Teil der weltweiten Shoah-Literatur handelt.6 Die wichtigste Besonderheit ist jedoch wohl der Umstand, dass im Falle der deutschsprachigen Aufarbeitung die 5

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Eke, Norbert Otto: Shoah in der deutschsprachigen Literatur – Zur Einführung. In: Shoah in der deutschsprachigen Literatur, hg. von Norbert Otto Eke und Hartmut Steinecke. Berlin: Erich Schmidt 2006. S. 7–18, hier: S. 14. Im Folgenden zitiert als ›Eke: Einführung‹. Für die Auseinandersetzung mit der internationalen Shoah-Literatur sind insbesondere die Werke von Lawrence L. Langer, Alvin H. Rosenfeld, Berel Lang und James E. Young von besonderer Bedeutung. Langer etwa veröffentlichte mit The Holocaust and the literary imagination bereits 1975, also zu einem Zeitpunkt, an dem in der BRD an eine dezidiert literaturwissenschaftliche Aufarbeitung der Shoah noch kaum zu denken war, ein komparatistisches Werk

2. Shoah-Literatur und vergleichende Genozidforschung – von 1945 bis heute

Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Nationalsozialisten in der Sprache der Täter stattfindet.7 So konstatiert Stephan Braese: Dort, wo Millionen Menschen aus allen Gegenden Europas zu Zwangsarbeit und Ermordung ›konzentriert‹ wurden, war die deutsche Sprache das Idiom der Vernichtung schlechthin, ein Idiom, das zu verstehen von einem Tag auf den anderen überlebenswichtig wurde und das bis heute in den Erinnerungsberichten Überlebender in Form kursivgedruckter O-Töne – »Marschmarsch!«, »Oberscharführer«, »Rampe« u.v.a.m. – fortlebt. Das Erlebnis solcher in den Lagern verwirklichten Nähe der Sprache der Deutschen zur Vernichtung, ja, einer augenscheinlich geradezu genuinen Symbiose des deutschen Idioms mit den Erfordernissen der Vernichtungspolitik, führte zu einer entschiedenen Reserve gegenüber jedem arglosen Gebrauch des Deutschen gerade auch von seiten jener Überlebender, die in ihr aufgewachsen waren ohne jeden Zweifel an ihren Qualitäten, ja, gar ihrer vermeintlich herausragenden Stellung in der Geschichte einer humanistisch verfaßten europäischen Zivilisation.8 Deutsche Juden, die vor der Machtübergabe an Hitler einen großen Teil der intellektuellen deutschen Elite stellten, mussten in besonderem Maße von dem angesprochenen Wandel der deutschen Sprache, der Sprache großer Dichter des 18. und 19. Jahrhunderts, zum Idiom der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik tief erschüttert werden – eine Erschütterung, die auch Jahrzehnte nach dem Ende des Krieges in dem literarischen Wirken Überlebender nachhallt. Klüger etwa beschreibt das noch Jahrzehnte nach dem Krieg präsente Ohnmachtsgefühl, welches sie während der Internierung in Theresienstadt überkam, als Opfer der Deutschen nur deren Sprache zu beherrschen und keiner anderen Sprache mächtig zu sein mit den Worten: »Keine Sprache zu beherrschen als die der Verächter dieses

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zur Shoah-Literatur, vgl. Langer, Lawrence L.: The Holocaust and the literary imagination. New Haven: Yale University Press 1975. Wie stark das Deutsche belastet ist, zeigen Dagmar von Hoff und Herta Müller. So wurden von den Nationalsozialisten auch heute noch gängige Redewendungen in pervertierter Form in den Konzentrationslagern verwendet, vgl. Hoff, Dagmar von; Müller, Herta: Erzählen, Erinnern und Moral. Ruth Klügers weiter leben. Eine Jugend (1992). In: Erinnerte Shoah. Die Literatur der Überlebenden, hg. von Walter Schmitz. Dresden: Thelem 2003. S. 203–222, hier: S. 218. Klüger verweist in diesem Zusammenhang auf jiddische Wörter, welche nach wie vor in der deutschen Sprache ihre Verwendung finden, und kritisiert dabei, dass es sich ausschließlich um Wörter mit negativer Konnotation handle. Positiv assoziierte Wörter aus dem Jiddischen, wie etwa Wörter für »Freude« oder »Mitleid«, suche man dagegen vergebens. (vgl. wl 208f.) Auf diese Weise ist Deutsch auch auf einer weiteren sprachlichen Ebene eine Sprache der Täter. Braese, Stephan: Einführung. In: In der Sprache der Täter. Neue Lektüren deutschsprachiger Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur, hg. von Stephan Braese. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998. S. 7–11, hier: S. 7.

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Volkes. Keine Gelegenheit haben, eine andere zu lernen.« (wl 103) Es ist ebenjenes Gefühl der Ohnmacht, in keiner anderen Sprache als jener der Täter kommunizieren zu können, welches immer wieder in der deutschsprachigen Shoah-Literatur anklingt. Deutsch als Sprache der Aufarbeitung für die nationalsozialistischen Verbrechen erscheint im Angesicht solcher Umstände zunächst schwer vorstellbar. Viele deutschsprachige Überlebende aber auch Exilierte sahen sich mit ebendieser Problematik konfrontiert. Zwei der bekanntesten Rückkehrer zur deutschen Sprache sind wohl zweifellos die in den USA lebende Klüger und der nach Schweden immigrierte Peter Weiss – beide »kehrten bewusst zu der zuvor gesprochenen Sprache zurück, obwohl sie sich inzwischen in der neuen Sprache problemlos ausdrücken konnten.«9 Auch unter solch einer bewussten Entscheidung für das Deutsche und gegen die neu erlernte englische respektive schwedische Sprache, kann man eine Aufarbeitung der Vergangenheit verstehen – Klüger wie Weiss hatten die Wahl, zwischen ihrer neuen Sprache und ihrer belasteten Muttersprache. Ihre Entscheidung für das Deutsche bedeutete zugleich eine Dialogaufforderung an die Deutschen. Erst das Schreiben Überlebender wie Weiss und später auch Klüger schien eine literarische Auseinandersetzung nicht-jüdischer Deutscher mit der Shoah zu ermöglichen. Michael Hofmann verweist auf die in den 50er Jahren virulente Diskussion um die Lyrik der Exilierten Nelly Sachs, welche diese Thematik öffentlichkeitswirksam zur Sprache brachte.10 Doch der begonnene Diskurs bedeutet noch lange nicht die Auflösung des Spannungsfeldes, in dem sich deutschsprachige Shoah-Literatur bis heute befindet. Irene Heidelberger-Leonard beschreibt dies treffend: Der tradierte Erzählgestus in der Literatur zur sogenannten Vergangenheitsbewältigung ist bekannt: Handelt es sich um einen nicht-jüdischen Autor, so nähert er sich seinem Thema ehrfürchtig, mit Betroffenheit bis Pathos, Mythisierung bis Tabuisierung. Die Zeit damals, das Geschehen abgeschlossen. Das Opfer wird sakralisiert, der Täter dämonisiert (Böll, Andersch). Auch der jüdische Autor ist vor Pathos und Tabuisierung nicht gefeit. Der Leser, an den sich der Überlebende richtet, wird in der Regel als unwürdiger Empfänger ausgeschlossen, denn nur derjenige, der Auschwitz am eigenen Körper erlitten hat, ist in der Lage das Beschrie-

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Kramer, Sven: Zur transnationalen Dimension fremdsprachiger Holocaust-Literatur im bundesrepublikanischen Diskurs. In: Shoah in der deutschsprachigen Literatur, hg. von Norbert Otto Eke und Hartmut Steinecke. Berlin: Erich Schmidt 2006. S. 154–168, hier: S. 155. Vgl. Hofmann, Michael: Die Shoah in der Literatur der Bundesrepublik. In: Shoah in der deutschsprachigen Literatur, hg. von Norbert Otto Eke und Hartmut Steinecke. Berlin: Erich Schmidt 2006. S. 63–84, hier: S. 67. Im Folgenden zitiert als ›Hofmann 2006‹.

2. Shoah-Literatur und vergleichende Genozidforschung – von 1945 bis heute

bene nachzuvollziehen. Jeden Vergleich wehrt der Autor ab. Die Möglichkeit zum konstruktiven Austausch mit der Täterseite ist von vornherein nicht gegeben.11 Heidelberger-Leonard verweist also auf den Umstand, dass es sich bei der ShoahLiteratur um einen durchaus nicht freien, sondern vielmehr um einen stark begrenzten Habitus handelt – in Deutschland aufgrund der Historie noch weitaus begrenzter als in anderen Ländern. Doch gehen die Einschränkungen keinesfalls nur von der Literatur selbst aus. Auch der öffentliche Diskurs bestimmt maßgeblich, was vermeintlich geschrieben werden darf und was ungesagt bleiben soll: In der Tat erhält man den Eindruck, daß der Holocaust-Diskurs nicht nur den konstruktiven Zweck verfolgt, die Entstehung einer neuen Literaturgattung zu untersuchen und ihre Entfaltung kritisch zu begleiten, sondern das dieses legitime Geschäft einen zweiten, weniger offensichtlichen Nebeneffekt hat, nämlich an den Grenzen dieses Genres so etwas wie Verbotsschilder moralischer, politischer und vielleicht sogar ethnischer Art aufzurichten. [kursiv G.M.]12

2.3 Die Shoah in der Literatur 2.3.1 Erste Werke Bereits mit den ersten Diskriminierungsmaßnahmen nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten begann in Deutschland eine literarische Auseinandersetzung mit den Geschehnissen, die heute unter dem Begriff der Shoah subsummiert werden.13 Die bekanntesten frühen Werke zur Shoah stammen jedoch zu großen Teilen von den Überlebenden der nationalsozialistischen Massenvernichtung. Walter Grünzweig verweist darauf, wie schwer den Opfern oftmals die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen fiel, da sie nachhaltig durch das Grauen der Shoah traumatisiert waren: »Die chronologische Abfolge des Lebens selbst wird durch diese Erfahrung außer Kraft gesetzt; die überwältigende Lagererfahrung bricht immer wieder ins Leben ein und zerstört die ordnend-logische Funktion

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Heidelberger-Leonard, Irene: Ruth Klüger weiter leben – ein Grundstein zu einem neuen Auschwitz-»Kanon«? In: Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust, hg. von Stephan Braese und Holger Gehle et al. Frankfurt, New York: Campus 1998 (= Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts 6). S. 157–169, hier: S. 159. Im Folgenden zitiert als ›HeidelbergerLeonard 1998‹. Söllner 1998, S. 102. Vgl. hierzu etwa Kesten, Hermann (Hg.): Deutsche Literatur im Exil. Briefe europäischer Autoren 1933 – 1949. Frankfurt a.M.: Fischer 1973.

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der Chronologie.«14 Wie stark diese Einbrüche des Grauens der Lagererfahrung das Leben der Überlebenden beeinflussen konnten, offenbart Grünzweig insbesondere am Beispiel des Shoah-Überlebenden Fred Wander. Immer wieder nahmen die Schrecken von Buchenwald Einfluss auf das künstlerische Schaffen Wanders, das Lager brach gewissermaßen regelmäßig in das Leben des Künstlers ein.15 Wander selbst beschreibt diese Einbrüche der Erinnerung an das KZ in seinem autobiografischen Werk Das gute Leben eindrucksvoll: Wo war ich? Immer wieder in all den Jahren erlebte ich, daß ich nachts schweißgebadet aufwachte und für eine schreckliche Minute nicht wußte, wo ich war … in Wien, in Paris, Marseille, Berlin – oder in Buchenwald? Die Baracke mit den zusammengewürfelten, stöhnenden, ächzenden Häftlingen, von denen in jeder Nacht einige starben, wurde ich nicht los, die stinkende, von Blut, Urin, Eiter und Tod erfüllte Baracke! Keiner, der dort war, wird je wieder aus dieser Baracke herauskommen. Und auch an diese Baracke erinnerte mich das Haus in Mecklenburg!16 Noch mehr als dreißig Jahre nach der Befreiung der Lager stellt für den Überlebenden das immer wiederkehrende Trauma des KZ eine Herausforderung dar und beeinflusst zweifelsohne auch sein schriftstellerisches Schaffen – alles andere als ein Einzelfall unter den überlebenden Schriftstellern. Klüger vergleicht diese, für sie nicht zu lösende Problematik der traumatischen Erinnerung mit einem »ungelöste[n] Knoten«, einem »unerlösten Gespenst« (wl 70) und betont neben der schwierigen eigenen Verarbeitung der Schrecken die ständige und innige Verbindung zwischen den Überlebenden und den Toten der Shoah. Insbesondere im Gedenken an ihren in Auschwitz vergasten Vater wird die Bedeutung dessen evident, wenn Klüger über ihn schreibt: »daß er nur ein unverrückbares Gerät in meinem Gedankenhaushalt ist, durchtränkt von Fluten späteren Geschehens, wie ein Möbelstück, das langsam verfault, sich aber nicht wegschieben und schon gar nicht hinauswerfen läßt.« (wl 32) In diese Aussage Klügers fließen die, teils negativen, Kindheitserinnerungen an ihren Vater zusammen mit dem retrospektiv erworbenen Wissen um dessen Tod in der Gaskammer und bilden auf diese Weise ein für die Überlebende belastendes Konglomerat aus Erinnerungen und Schuldgefühlen.17 Einerseits scheint der grauenvolle Tod des Vaters eine ehrfürchtige Art der Erinnerung zu gebieten, doch lässt sich dies nicht mit den negativen kindlichen Erinnerungen an einen oftmals aus der Sicht des Kindes ungerecht agierenden Vater vereinbaren.

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Grünzweig, Walter: »Kommen wir jemals aus dem KZ heraus?« Die ›Erinnerungsbücher‹ Fred Wanders. In: Erinnerte Shoah. Die Literatur der Überlebenden, hg. von Walter Schmitz. Dresden: Thelem 2003. S. 186–202, hier: S. 191. Im Folgenden zitiert als ›Grünzweig 2003‹. Vgl. ebd., S. 193. Wander, Fred: Das gute Leben. Erinnerungen. Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S. 287f. Vgl. ebd., S. 32f.

2. Shoah-Literatur und vergleichende Genozidforschung – von 1945 bis heute

Neben denjenigen, die die Lager überlebten, spielt auch für die rechtzeitig Geflüchteten die Auseinandersetzung mit der Shoah eine zentrale Rolle. Exemplarisch hierfür steht Peter Weiss, der Zeit seines Lebens damit zu kämpfen hatte, dass er anders als andere Juden rechtzeitig hatte fliehen können und sich daher schuldig gegenüber den Opfern der Nationalsozialisten fühlte.18 Ebenjenes Gefühl der Schuld veranlasste Weiss laut dem Politikwissenschaftler Alfons Söllner zu der selbstgesetzten »Aufgabe, den Opfern die Stimme zu leihen, ihr Schweigen zum Sprechen zu bringen und damit eine gleichgültige Nachwelt in die Schranken zu fordern«19 . Insbesondere in seinem autobiografischen Roman Fluchtpunkt (1962) offenbart Weiss zunächst seine Erschütterung im Angesicht der öffentlich gewordenen Vernichtung der europäischen Juden. Wie Adorno artikuliert auch Weiss ein Misstrauen gegenüber der Kultur, die Auschwitz nicht verhindert hatte, wenn er feststellt: »wo waren die großen Visionen der Kunst, die Bildwerke, die Skulpturen, die Tempel, die Gesänge und Epen. Es war alles zerstäubt, und nie mehr konnte daran gedacht werden, nach neuen Gleichnissen, nach Haltepunkten zu suchen, vor diesen endgültigen Bildern.«20 Doch verweilt Weiss nicht in diesem Zustand, sondern führt den Gedanken weiter, stellt die Beziehung zwischen sich und den Opfern her: Lange trug ich die Schuld, daß ich nicht zu denen gehörte, die die Nummer der Entwertung ins Fleisch eingebrannt bekommen hatten, daß ich entwichen und zum Zuschauer verurteilt worden war. Ich war aufgewachsen, um vernichtet zu werden, doch ich war der Vernichtung entgangen. Ich war geflohen und hatte mich verkrochen. Ich hätte umkommen müssen, ich hätte mich opfern müssen, und wenn ich nicht gefangen oder ermordet worden war, so musste ich doch zumindest meine Schuld tragen, das war das letzte, was von mir verlangt wurde.21 Weiss’ Schuldgefühle sind bei weitem kein Einzelfall unter den Überlebenden.22 Klüger etwa nimmt in weiter leben ebenfalls das Phänomen in den Blick, kommt jedoch zu einem gänzlich anderen Ergebnis: Die Schuldgefühle der Überlebenden sind ja nicht etwa so, daß wir uns einbilden, wir hätten kein Recht aufs Leben. Ich jedenfalls habe nie geglaubt, ich hätte ster18

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Vgl. Söllner, Alfons: Peter Weiss’ Die Ermittlung in zeitgeschichtlicher Perspektive. In: Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust, hg. von Stephan Braese und Holger Gehle et al. Frankfurt, New York: Campus 1998 (= Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts 6). S. 99–128, hier: S. 108. Im Folgenden zitiert als ›Söllner 1998‹. Ebd. Weiss, Peter: Fluchtpunkt. 7. u. 8. Tsd. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1965, S. 210f. Ebd., S. 212. Der Historiker Boris Barth verweist darauf, dass ein großer Teil der Generation der ShoahÜberlebenden unter einem »Überlebenssyndrom« oder »Opfertrauma« leide, vgl. Barth, Boris: Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte. Theorien. Kontroversen. München: C. H. Beck 2006, S. 55. Im Folgenden zitiert als ›Barth 2006‹.

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ben sollen, weil andere getötet worden waren. Ich hatte ja nichts angestellt, wofür sollte ich büßen? Ein »Schulden«-gefühl sollte man sagen können. Man bleibt verpflichtet auf eigentümliche Weise, man weiß nicht wem. Man möchte von den Tätern nehmen, um den Toten zu geben, und weiß nicht wie. Man ist gleichzeitig Schuldner und Gläubiger und begeht Ersatzhandlungen im Geben und Fordern, die sinnlos sind im Lichte der Vernunft. (wl 183) Wenngleich es sich vor dem Hintergrund von Klügers Einschätzung bei Weiss’ Schuldgefühlen um eine falsche Art des Verpflichtungsgefühls gegenüber den Toten handelt – Weiss vertritt ja die Ansicht, er habe es im Angesicht der Ermordeten nicht verdient weiterzuleben – so schuf er doch, angetrieben von der vermeintlichen Schuld, etwas Wertvolles für den beginnenden Shoah-Diskurs: Mit seinen Werken zur Aufarbeitung der Shoah leistete er einen essentiellen Beitrag zum beginnenden Diskurs in Deutschland. Zu den ersten Werken der deutschen Shoah-Literatur, welche größere Bekanntheit erlangten, gehören neben Nelly Sachs’ lyrischer Auseinandersetzung mit der Shoah, Paul Celans Gedichten, von denen die Todesfuge (1948) das wohl bekannteste ist, Erzählungen wie Grete Weils Ans Ende der Welt (1949) und Romane wie Bölls Wo warst du, Adam? (1951), insbesondere zwei Theaterstücke: Rolf Hochhuths Der Stellvertreter (1963) und Weiss’ Die Ermittlung (1965). Hochhuths 1963 uraufgeführtes dokumentarisches Theaterstück rückte die Shoah erstmals öffentlichkeitswirksam in den Mittelpunkt und löste in Deutschland wie im Ausland teils intensive Debatten aus.23 Von besonderer Bedeutung ist die Form von Hochhuths Stück, handelt es sich doch um ein Bühnenwerk »in der Form eines Schillerschen klassischen Dramas«24 . Rachel Perets stellt dahingehend fest: Das Stück selbst zeugt sowohl in seiner Struktur als auch in der Gestaltung der Personen deutlich davon. Es enthält fünf Akte, im Wechsel unterteilt in je drei Szenen bzw. eine Szene, und entspricht damit dem klassischen Aufbau von 3-13-1-3. Zudem ist die dramatische Handlung strukturiert wie die klassische Tragödie: Exposition, Peripetie und Katastrophe. Die Protagonisten des Stellvertreters sind Helden, die Verantwortung tragen […]; ihr Antagonist […] dagegen verkörpert eindeutig das absolut Böse.25 23

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Fritz Joachim Raddatz hat zahlreiche Diskussionsbeiträge – darunter Unterstützer wie Gegner Hochhuths – von 1963 aus dem In- und Ausland zusammengetragen, vgl. Raddatz, Fritz J. (Hg.): Summa iniuria oder Durfte der Papst schweigen? Hochhuths »Stellvertreter« in der öffentlichen Kritik. Reinbek: Rowohlt 1963. Perets, Rachel: Vom Erhabenen ins Groteske – George Taboris Die Kannibalen. In: In der Sprache der Täter. Neue Lektüren deutschsprachiger Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur, hg. von Stephan Braese. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1998. S. 117–136, hier: S. 119. Im Folgenden zitiert als ›Perets 1998‹. Ebd., S. 120.

2. Shoah-Literatur und vergleichende Genozidforschung – von 1945 bis heute

In der Form liegt die Problematik von Hochhuths Herangehensweise an die Shoah, reiht sich sein Werk doch mit dem Rückgriff auf das klassische »erhabene« Theater formbedingt beinahe nahtlos in die Kunst aus der Zeit vor dem Nationalsozialismus ein und lässt etwa Adornos berechtigte Vorbehalte gegen diese unberücksichtigt. Es erscheint kaum verwunderlich, dass Hochhuths Werk auf Kritik stieß, sich Adorno gar zu einem offenen Brief an Hochhuth veranlasst sah, in dem er in Bezug auf das klassische Drama konstatiert: Das von Ihnen geforderte realistische Theater und die Absurdität mögen tatsächlich, wie es bei Ihnen durchscheint, konvergieren. Daß das allerdings gelinge, dazu bedarf es wirklich schon des Guernicabildes oder des Schönbergschen »Überlebenden von Warschau«. Keine traditionalistische Dramaturgie von Haupakteuren leistet es mehr. Die Absurdität des Realen drängt auf eine Form, welche die realistische zerschlägt.26 Nicht nur Hochhuth musste feststellen, wie diffizil der Umgang mit der Shoah in einer künstlerischen Aufarbeitung war. Paul Celan mit seiner bereits in den vierziger Jahren geschriebenen Todesfuge machte die Erfahrung, dass sich sein Text durchaus »in einer Haltung des konventionellen ›Kunstgenusses‹ rezipieren ließ« und »gewissermaßen in der Kontinuität der Kultur gelesen [werden konnte], deren Legitimität Adorno so nachhaltig in Frage gestellt hatte.«27 Hochhuths Theaterstück stand dennoch am Anfang der in den sechziger Jahren in der Bunderepublik einsetzenden Etablierung einer künstlerischen Auseinandersetzung mit der Shoah – eine Entwicklung, welche insbesondere durch Peter Weiss’ Ermittlung, 1965 uraufgeführt, fortgesetzt wurde. Bei der Ermittlung handelte es sich um »das erste dieser großen, geradezu eruptiven Medienereignisse, an denen sich der Umgang mit und die Rede über Auschwitz in Deutschland untersuchen läßt«28 . Zunächst einmal wurde das gleichzeitig an fünfzehn deutschen Bühnen in BRD und DDR mitten im Kalten Krieg uraufgeführte Theaterstück politisch zu instrumentalisieren gesucht.29 Bei aller Kritik an Weiss’ Werk hebt Söllner die positiven Aspekte der Ermittlung hervor.30 Das Theaterstück lasse »ein gesellschaftliches Tabu auf26 27 28

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Adorno, Theodor W.: Offener Brief an Rolf Hochhuth. In: Noten zur Literatur IV, hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 137–146, hier: S. 143. Hofmann 2006, S. 67. Weiß, Christoph: »… eine gesamtdeutsche Angelegenheit im äußersten Sinne…« Zur Diskussion um Peter Weiss’ Ermittlung im Jahre 1965. In: Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust, hg. von Stephan Braese und Holger Gehle et al. Frankfurt, New York: Campus 1998 (= Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts 6). S. 53–70, hier: S. 53. Im Folgenden zitiert als ›Weiß 1998‹. Vgl. dazu Hofmann 2006, S. 70 sowie Weiß 1998, S. 60–65. Vgl. Söllner 1998, S. 99ff. Zu den schärfsten Kritikern der Ermittlung zählt James E. Young, der insbesondere in der Politisierung des Stückes ein Problem ausmacht. Weiss lege den Fo-

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brechen« und könne als »›politische Ästhetik wider die Verdrängung»›31 bezeichnet werden. Zudem habe Weiss mit seinem Werk Einspruch gegen die aus dem zeitlichen Abstand zu den Verbrechen und Relativierungen vonseiten der Täter resultierende »falsche Versöhnung«32 zwischen Opfern und Tätern des Nationalsozialismus im Zusammenhang mit dem Frankfurter Auschwitz-Prozess erhoben. Indem Weiss in seinem Werk den Auschwitz-Prozess dem Publikum präsentierte, wobei er die Masse von Fakten aus dem Prozess komprimierte und aufbereitete, stieß er einen öffentlichen Aufklärungsprozess an. Es verwundert somit kaum, wenn Söllner zu dem Schluss kommt: Die Ermittlung war der denkbar stärkste Einspruch gegen die Geschichtsverdrängung und hat in der frühen Bundesrepublik genau in diesem Sinne gewirkt. So steht Peter Weiss’ Bearbeitung des Frankfurter Auschwitz-Prozesses in der deutschen Nachkriegsgeschichte als ein erratischer, aus Sprache gefertigter Block der Erinnerung.33 Weiss legte mit seinem Werk den Grundstein für den Diskurs über die Shoah in beiden deutschen Staaten. Trotz einer deutlichen Marginalisierung seines Werkes nach der Wiedervereinigung wirkt dieses bis heute fort. Neben Celan, Hochhuth und Weiss beeinflusste auch Jean Amérys 1966 unter dem Titel Jenseits von Schuld und Sühne veröffentlichte Essaysammlung den sich herausbildenden Shoah-Diskurs in Deutschland. Améry, selbst Auschwitz-Überlebender, wählte für sein Werk nicht mehr, wie vor ihm etwa Primo Levi oder Elie Wiesel, eine rein autobiografische Herangehensweise für die Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen. So ist Amérys Werk durchsetzt von kritischen Reflexionen, mit dem Ziel »einer Einordnung des Erlebten in einen geschichtlichen und weltanschaulichen Rahmen, von den philosophischen Erörterungen (etwa Adornos oder des Franzosen Jean-François Lyotard) durch den konkreten und existentiellen Rückbezug auf das eigene Erleben.«34

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kus seines Werkes zu sehr auf den Kapitalismus als treibende Kraft hinter der Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten und blende dabei die Pluralität der Hintergründe aus, so Young. Auf diese Weise setze er »ein totalisierendes System an die Stelle einer Vielzahl von totalisierenden Systemen«, wodurch »man in seiner Methode […] ein Paradebeispiel für die Kunst der ideologischen Auslöschung« sehen könne, Young, James E.: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Frankfurt a.M.: Jüdischer Verlag 1992, S. 133f. Söllner 1998, S. 113. Ebd., S. 117. Ebd., S. 126. Hofmann 2006, S. 71.

2. Shoah-Literatur und vergleichende Genozidforschung – von 1945 bis heute

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts die bis heute fortdauernde Aufarbeitung der Shoah, maßgeblich beeinflusst durch literarische Zeugnisse, angestoßen wurde: Mit der Lyrik Sachs’ und Celans, dem Dokumentartheater Weiss’, der kritischen Essayistik Amérys und den philosophischen Erörterungen Adornos hat sich im Laufe der sechziger Jahre ein Diskurs entwickelt, der die Grundlagen für eine kritische Selbstverständigung der (west-)deutschen Öffentlichkeit im Hinblick auf das Geschehen der Shoah bildete. In diesem Diskurs spielte die Literatur eine durchaus prominente Rolle.35 Bezeichnend ist in diesem Kontext, dass trotz durchaus bekannten Werken, von Autoren wie Grass (Die Blechtrommel, 1960; Katz und Maus, 1961; Hundejahre, 1963) und Andersch (etwa Sansibar oder der letzte Grund, 1957; Efraim, 1967) die erste Auseinandersetzung mit der Shoah vor allem von jüdischen Autoren deutscher Sprache vorangetrieben wurde.36

2.3.2 Siebziger Jahre Am Übergang der sechziger in die siebziger Jahre folgte die Auseinandersetzung der 68er Protestgeneration mit ihren Vätern und deren Taten während des Nationalsozialismus mittels der sogenannten »Väterbücher«37 . Eine besonders exponierte Stellung in der Auseinandersetzung mit der Judenvernichtung in den frühen siebziger Jahren, gerade auch im deutschen Sprachraum, nimmt jedoch ein in den USA auf Englisch verfasstes Theaterstück ein. George Taboris groteskes Auschwitz-Stück Die Kannibalen hatte bereits 1968 in New York seine englischsprachige Uraufführung gefeiert und wurde Ende 1969 erstmals dem deutschen Publikum präsentiert. Das Skandalon bei Taboris Interpretation des Stoffes war die groteske Überzeichnung der Protagonisten. Die jüdischen Lagerinsassen, kurz vor dem Verhungern, entscheiden sich einen zuvor beim Kampf um eine Brotkruste verstorbenen Mitgefangenen zu verspeisen. Eine solche Deformierung der Häftlinge zu Kannibalen musste die Rezipienten des Stückes zwangsläufig verstören. Kaum überraschend veranlasste das Werk bereits unmittelbar nach der Premiere etwa die ZEIT in einem Artikel mit dem Titel Darf man denn das? 38 die Frage nach den Grenzen des Erlaubten 35 36 37

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Ebd., S. 72. Vgl. ebd., S. 69. Vgl. Vogt, Jochen: Er fehlt, er fehlte, er hat gefehlt… Ein Rückblick auf die sogenannten Väterbücher. In: Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust, hg. von Stephan Braese und Holger Gehle et al. Frankfurt, New York: Campus 1998 (= Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts 6). S. 385–399. Müller, Christoph: Darf man denn das? Internet-Publikation in: ZEIT ONLINE: https://www .zeit.de/1970/02/darf-man-denn-das/komplettansicht. Erstellt: 06.01.1970, aktualisiert am

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zu stellen – mit dem Ergebnis, das Taboris Herangehensweise durchaus ein gelungener Ansatz sei. In der breiten Öffentlichkeit wurde jedoch die in Taboris Stück vorgenommene Degradierung der Menschen in tierähnliche Wesen und der Bruch mit der Erwartungshaltung des Publikums durchaus kontrovers diskutiert. Taboris primäres Ziel war nicht mehr eine reine Dokumentation der während der Shoah begangenen Verbrechen, wie sie etwa bei Weiss und anderen noch in den frühen Sechzigern im Zentrum stand, es ging ihm vielmehr darum zu zeigen, auf welche Weise die Nationalsozialisten humanistische und moralische Ideale systematisch zerstörten.39 Perets hebt in Bezug auf Taboris Theaterstück den Wandel bei der Aufarbeitung der Shoah hervor: Tabori wendet sich hier direkt gegen das Verhalten der ›Frömmigkeit‹, die einem ›Verkleidungsspiel‹ zugehöre, das keine wahre Auseinandersetzung erlaube. […] Tabori zerstört damit den Konsens, demzufolge über die Shoah nur in der Kategorie des Erhabenen zu sprechen sei: Das Theater soll kein Ort des Erhabenen, keine heilige Stätte, sondern ein Ort der Diskussion sein.40 Das Theater Taboris soll nicht mehr dokumentieren, sondern zum Nachdenken und zur Diskussion animieren. Hier liegt ein Anknüpfungspunkt von Taboris Werk an Adorno, der Hochhuth für seine Auseinandersetzung mit der Shoah im Sinne des schillerschen Theaters kritisiert hatte – Tabori konnte man einen Rückgriff auf die Kultur vor Auschwitz kaum unterstellen.41 Vielmehr finden sich in Taboris Stück Provokationen, die dazu dienen, das Publikum aufzurütteln – sei es die Verknüpfung von Kultur und KZ42 , die Sinnentleerung der Religion im Kontext der Shoah43 oder die radikale Absage an das erhabene Theater – anders als in klassischen Dramen bleibt beispielsweise der Tod der Protagonisten, der Häftlinge, völlig sinnlos.44 Neben den bereits genannten Werken sind zwei Romane von Edgar Hilsenrath für den literarischen Shoah-Diskurs der siebziger Jahre von eminenter Bedeutung: Nacht 45 (1964) sowie Der Nazi und der Friseur 46 (1971). Hilsenraths Roman Nacht

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21.11.2012. Eingesehen:15.08.2018. Weniger provokant setzte sich der Spiegel in einem Artikel unter der Überschrift Mensch im Topf mit der Thematik auseinander. Vgl. o.V.: Mensch im Topf. In: Der Spiegel 52/1969, S. 120. Vgl. Hofmann 2006, S. 73f. Perets 1998, S. 127. Vgl. ebd., S. 127f. Vgl. ebd., S. 129. Vgl. ebd., S. 132. Vgl. ebd., S. 135f. Hilsenrath, Edgar: Nacht. München: Piper 1990. Im Fließtext zitiert als ›Na‹. Hilsenrath, Edgar: Der Nazi und der Friseur. 14. Auflage. München: dtv 2012. Im Fließtext zitiert als ›NF‹.

2. Shoah-Literatur und vergleichende Genozidforschung – von 1945 bis heute

erschien zwar erstmals bereits 1964 beim Kindler-Verlag, jedoch in einer verschwindend geringen Auflage von 1250 Exemplaren, von denen nicht einmal 700 ihren Weg in die Buchhandlungen fanden.47 Der Grund hierfür lag in der Figurenzeichnung des Romans. Hilsenrath, selbst Überlebender eines rumänischen Vernichtungsghettos48 , beschreibt in seinem Werk das Leben des Juden Ranek innerhalb des fiktiven Prokower Ghettos im von Rumänien verwalteten Transnistrien. Ranek und die anderen internierten Juden werden dem Leser als verwahrloste, heruntergekommene Gestalten präsentiert, deren einziges Ziel das Überleben ist – egal mit welchen Mitteln, zumeist auf Kosten anderer Ghettobewohner. Ranek bildet keine Ausnahme. Er stielt einem Sterbenden die Schuhe, um diese zu verkaufen (vgl. Na 49f.), beschließt, der neu im Ghetto angekommenen Sara alles wegzunehmen, wenn die Zeit dafür gekommen ist (vgl. Na 93), misshandelt Sara, da diese eine Nahrungsquelle gefunden hat, an der sie ihn nicht teilhaben lässt (vgl. Na 110), und zerschlägt das Gesicht seines toten Bruders mit einem Hammer, um an dessen Goldzahn zu gelangen. (Vgl. Na 295) Bei nahezu allen Handlungen hält Ranek sich dennoch lediglich an die unmenschlichen Regeln des Ghettos, deren Befolgung überlebenswichtig ist, wie er schon zu Beginn des Romans Sara erklärt: »Es muß ihnen immer ganz egal sein, was andere machen, ob sie essen oder huren oder verrecken… ganz Wurscht… jeder kümmert sich hier nur um sich selbst.« (Na 56) Dennoch hat sich auch Ranek noch einen Rest Mitgefühl erhalten, wie deutlich wird, wenn er sich über »diese verdammten Hemmungen« (Na 252) ärgert, die ihn auch nach langer Zeit im Ghetto noch plagen. Neben Ranek sind es vor allem die skrupellosen jüdischen Schwarzhändler Dvorski und Blum, der Kaffeehausbesitzer Itzig Lupo, der rücksichtslose Sigi und der nur »der Rote« genannte Mitbewohner Raneks sowie der jüdische Polizist Daniel, die dem Leser offenbaren, welch heruntergekommene, lediglich auf den eigenen Vorteil bedachte Individuen das faschistische Unrechtssystem aus den Juden im Ghetto macht. Einzig Raneks Schwägerin Debora und der Arzt Hofer bewahren sich bis zum Ende des Romans ihre Menschlichkeit. Dennoch werden insbesondere an der Figur Debora die verbrecherischen Mechanismen der innerhalbe des Ghettos fortschreitenden Entmenschlichung der Eingeschlossenen evident: Er lehnte am Herd und ließ Debora nicht aus den Augen. Ihr Gesicht war in diesem Augenblick vollkommen verändert; es drückte nichts anderes aus als tierischen 47

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Vgl. Hien, Ursula: Schreiben gegen den Philosemitismus. Edgar Hilsenrath und die Rezeption von Nacht in Westdeutschland. In: Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust, hg. von Stephan Braese und Holger Gehle et al. Frankfurt, New York: Campus 1998 (= Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts 6). S. 229–244, hier: S. 233. Im Folgenden zitiert als ›Hien 1998‹. Hilsenrath war von 1941 bis 1944 im rumänischen Vernichtungslager Moghilev-Podolsk interniert, vgl. Hien 1998, S. 233.

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Hunger, und es war plötzlich nicht mehr Deboras Gesicht; es war ein fremdes Gesicht, das er nicht mehr erkannte; aber es paßte jetzt in diese Umgebung. (Na 371) Ranek beobachtet, wie sich das Gesicht Deboras durch den unmenschlichen Hunger derart verändert, dass es mehr und mehr tierische Züge annimmt. Es bleibt jedoch nicht bei der bloßen Deformierung der Juden – exemplarisch zeigt sich an Ranek, dass auch Ghettobewohner die Denkmuster ihrer Feinde übernehmen. So konstatiert dieser in Bezug auf einige an Flecktyphus erkrankte Mitbewohner: »Wer krank war, sollte sterben. Kranke sind Ungeziefer.« (Na 402) Formulierungen wie diese stammen aus dem NS-Jargon und offenbaren dem Leser, wie reibungslos die Indoktrinierung der Juden durch ihre Bewacher funktionierte. Neben der Deformierung der jüdischen Opfer ist das Fehlen von Tätern, wie beispielsweise SS-Soldaten oder auch ihren rumänischen Verbündeten, auffällig: »So deutlich der alltägliche Überlebenskampf der Deportierten geschildert wird, so schemenhaft bleiben die Bewacher des Vernichtungsghettos.«49 Dessen ungeachtet ist trotz der Abwesenheit der Täter immer offensichtlich, wer die Verantwortung für die Deformierung der Juden, die Transformation der wahren Opfer zu Tätern trägt – beispielsweise wenn Raneks Mitbewohner Sigi konstatiert, die Installation einer jüdischen Polizei sei »nicht so ohne« (Na 79) und gebe den Razzien in dem Ghetto einen Schein von Legalität. Hierbei stehen zwar die Mitglieder der jüdischen Polizei und somit Juden als Täter im Vordergrund, dennoch liegt auf der Hand, dass diese Polizei nicht von Juden, sondern von den wahren Tätern, den Rumänen, nach dem Vorbild der jüdischen Polizei in den von den Deutschen errichteten Ghettos geschaffen wurde. Ansonsten tauchen die Täter allenfalls als Statisten auf, etwa als der »Milizmann um die Ecke« (Na 155), als rumänischer Soldat außer Dienst im jüdischen »Kaffeehaus« (vgl. Na 194f.) oder als Kunden im jüdischen Bordell (vgl. Na 316), sorgen so aber wie auch die als Marionetten der Täter fungierenden Mitglieder der jüdischen Polizei bei den Protagonisten des Romans für ein Gefühl ständiger Bedrohung. Nur einmal spielen die Täter im Zusammenhang mit den Protagonisten des Romans bei einer Razzia im Nachtasyl, in welchem Ranek lebt, eine Rolle – doch auch hier geht die Gewalt gegen die jüdischen Ghettobewohner von der jüdischen Polizei aus, die rumänischen Soldaten sind passive Statisten. (Vgl. Na 247ff.) Die von Hilsenrath dargestellte Skrupel- und Rücksichtslosigkeit der Juden in dem Ghetto sowie das Fehlen von, in der Literatur zur Shoah, erwarteten Tätern führten zu einer divergierenden Aufnahme von Hilsenraths Werk unter einigen, vom Kindler-Verlag beauftragten Gutachtern. Insbesondere philosemitische Tendenzen spielten dabei eine gewichtige Rolle – Hilsenraths Darstellung von Juden als

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Braese, Stephan: Die andere Erinnerung. Jüdische Autoren in der westdeutschen Nachkriegsliteratur. Unveränderter Nachdruck der Erstausgabe von 2001. München: et+k 2010, S. 183. Im Folgenden zitiert als ›Braese 2010‹.

2. Shoah-Literatur und vergleichende Genozidforschung – von 1945 bis heute

deformierte, auf niederste Instinkte beschränkte menschliche Wesen passte nicht in das Bild vom »reinen jüdischen Opfer«, welches den Philosemiten vorschwebte. Neben philosemitischen Tendenzen wurden die Einschätzungen von Nacht maßgeblich durch eine bereits seit Jahren schwelende Auseinandersetzung um »die grundsätzliche Frage […], inwieweit sich ›autonome‹ Erinnerung gegenüber der Disziplinierungsanstrengung in der institutionellen Struktur der deutsch-jüdischen Beziehungen zu behaupten mag«50 , beeinflusst. Es ging also nicht um weniger als um die Frage nach den Grenzen dessen, was und vor allem wie über die Shoah in Deutschland geschrieben werden durfte – wohlgemerkt aus Sicht einiger weniger führender jüdischer Funktionäre der Zeit. Auch wenn es durchaus mehr energische Befürworter als Gegner des Manuskriptes gab, so setzten sich letztendlich die skeptischen Stimmen durch, was wiederum in der geringen Erstauflage mündete.51 Erst nach dem großen Erfolg von Der Nazi und der Friseur, Hilsenraths literarischem Durchbruch in Westdeutschland, kam es zu einer Neuauflage von Nacht. Dieses Mal besprach die »westdeutsche Literaturkritik den Roman […] in nahezu allen überregionalen Tages- und Wochenzeitungen. Hinzu kam eine Vielzahl von Rezensionen in der regionalen Presse.«52 Die Verdrängung von Nacht wurde nun ebenfalls kritisch besprochen.53 Im Hinblick auf die Entwicklung der deutschen Shoah-Literatur war es gerade der am schärfsten an Hilsenraths Debütroman kritisierte Aspekt, das Fehlen »wahrhafter Täter«, der das Feld öffnen half für eine neue Art der Erinnerungsliteratur. Anders, als in den Berichten der Überlebenden oder auch im dokumentarischen Theater Hochhuths und Weiss’, standen nicht mehr die Deutschen als Täter im Zentrum. Dadurch wurden die Verbrechen jedoch keineswegs verharmlost, sie wurden nur nicht mehr ausschließlich und explizit mit den Deutschen verknüpft. In gewisser Weise universalisierte Hilsenrath somit die Shoah, indem er sie nicht als singuläres, untrennbar mit den Deutschen verbundenes Verbrechen darstellte, sondern vielmehr implizierte, dass Vergleichbares überall passieren könne. An dieser Stelle scheint ein Exkurs zu einem Werk außerhalb des deutschen Sprachraumes von Interesse. Mit Imre Kertész’ Roman eines Schicksallosen erschien 1975 ebenfalls ein Roman, in welchem nicht die deutschen Täter im Vordergrund stehen. Wie bei Hilsenrath sucht man auch bei Kertész den explizit deutschen Täter vergeblich. Allgemein spielen die Täter eine eher untergeordnete Rolle und werden zudem vom 50 51

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Ebd., S. 211f. Vgl. Hien 1998, S. 230f. Braese verweist in Bezug auf die Auflage auch auf den Umstand, dass es beinahe keine Werbemaßnahmen für das Buch gab, der ausbleibende Erfolg desselben jedoch nicht auf diesen Umstand, sondern vielmehr auf das deutsche Publikum geschoben wurde, welches dem Werbeleiter des Kindler-Verlages, Ernest Landau, zufolge nichts mehr von seiner Vergangenheit habe wissen wollen, vgl. Braese 2010, S. 226f. Hien 1998, S. 237. Vgl. Braese 2010, S. 464.

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Erzähler meist ausgesprochen positiv beschrieben. Ein Soldat wird etwa als »geduldig«54 gelobt, soldatische Organisation wird bewundert55 , Wachsoldaten werden als gänzlich normale Menschen beschrieben56 oder treten in den Augen des Erzählers streng, elegant und mit großer Gelassenheit auf.57 Frappierender noch als die Soldatenbeschreibungen scheint die Beschreibung des Oberscharführers, der die neu angekommenen Juden vor dem Desinfektionsbad instruiert und ihrer letzten Wertsachen beraubt. Der Erzähler beschreibt ihn ausgesprochen harmlos, als »von gemütlichem Äußeren und recht dick […], und mit zwei lustigen Augenschlitzen i[n] dem faltigen, bartlosen gelben Gesicht.«58 Neben den positiven Täterbeschreibungen ist auffällig, dass selten von »Deutschen« die Rede ist – gerade die neutralen, nicht an die Nationalität geknüpften Beschreibungen des Wachpersonals, machen die Szenerie universell, ermöglichen die Vorstellung, dass Auschwitz überall passieren könne und KZs kein rein deutsches Spezifikum seien. Auch Hilsenraths zweites Werk leistete einen großen Beitrag zur Öffnung der deutschen Shoah-Literatur. Dabei sah es zunächst nicht danach aus, dass Der Nazi und der Friseur ein großer Erfolg für Hilsenrath in Westdeutschland werden sollte. Aufgrund seiner negativen Erfahrungen in Deutschland im Zusammenhang mit der Publikation von Nacht wandte sich Hilsenrath mit seinem nächsten Roman an den New Yorker Verlag Doubleday, bei welchem der Roman unter dem Titel »The Nazi an the Barber« 1971 erschien. Der Roman wurde von den New Yorker Blättern hochgelobt und für den deutschen Markt empfohlen. Dennoch konnten die Rechte an dem Roman erst einmal nur nach Frankreich und Italien verkauft werden. Vermittlungsversuche einer von Hilsenrath beauftragten Agentur nach Deutschland blieben erfolglos. Nachdem sich Hilsenrath persönlich in Deutschland um eine Veröffentlichung seines Romans bemühte, erreichte er 1977 eine deutsche Erstveröffentlichung beim Kleinverleger Helmut Braun – zuvor hatte er sich 25 Absagen bei deutschen Verlagen eingeholt.59 In Deutschland wurde der Roman euphorisch aufgenommen.60 Mit seinem Werk eröffnete Hilsenrath einen neuen Diskursraum in Deutschland:

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Kertész, Imre: Roman eines Schicksallosen. 31. Auflage. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 2017, S. 102. Im Folgenden zitiert als ›Kertész: Roman eines Schicksallosen‹. Vgl. ebd., S. 136. Vgl. ebd., S. 137. Vgl. ebd., S. 150. Ebd., S. 103f. Vgl. Braese 2010, S. 460. Braese verweist in diesem Kontext auf die zu Beginn der siebziger Jahre aufkommende »Hitler-Welle« mit diversen Veröffentlichungen zu Hitler und einer damit einhergehenden Verklärung des Nationalsozialismus – Hilsenraths Werk wurde vom deutschen Feuilleton als Gegenpositionierung dazu wahrgenommen, vgl. ebd., S. 461ff.

2. Shoah-Literatur und vergleichende Genozidforschung – von 1945 bis heute

Die zahlreichen ausführlichen Rezensionen belegen, daß Hilsenraths Roman in der Tat einen Diskursraum öffnen half, in dem die immer wieder zu Protokoll gegebene Verwunderung über die ungewohnten stilistischen Mittel des Verfassers in eine neue Nachdenklichkeit über die Beschaffenheit des Verhältnisses zwischen Juden und Deutschen heute münden konnte.61 Die philosemitischen Tendenzen in Deutschland, die noch eine Veröffentlichung von Nacht erschwert hatten, schienen mit der Veröffentlichung von Hilsenraths zweitem Werk an Einfluss verloren zu haben. Auf satirische Weise widmet sich der Autor wiederholt philosemitischen Klischees. So stellt der Protagonist des Romans, Max Schulz/Itzig Finkelstein, einige Zeit nach dem Krieg fest: »Der neue Zeitgeist ist philosemitisch.« (NF 232) Belege für diesen Zeitgeist werden ebenfalls geliefert, etwa wenn Bilder aus der Zeitung »Reuiges Vaterland« erwähnt werden: »das Bild eines blonden jüdischen Hünen; daneben, das Bild eines kleinen, schwarzhaarigen, plattfüßigen, krummbeinigen Deutschen.« (NF 236) Doch nicht nur in diesem Bild nimmt Hilsenrath philosemitische Klischees aufs Korn. Insbesondere die Beschreibungen des Protagonisten Max Schulz und seines jüdischen Freundes Itzig Finkelstein sind voller Anspielungen auf jüdische und deutsche Stereotype – der Jude Itzig Finkelstein wird zum »beispielhaften Arier« und der sich immer wieder als »rein arischer Sohn der Minna Schulz« bezeichnende Ich-Erzähler entspricht geradezu einer nationalsozialistischen Karikatur eines Juden: Mein Freund Itzig war blond und blauäugig, hatte eine gerade Nase, feingeschwungene Lippen und gute Zähne. Ich dagegen, Max Schulz, unehelicher, wenn auch rein arischer Sohn der Minna Schulz, hatte schwarze Haare, Froschaugen, eine Hakennase, wulstige Lippen und schlechte Zähne. Daß wir beide oft verwechselt wurden, werden Sie sich ja leicht vorstellen können. (NF 31f.) Die Passage gleicht auffallend der Kurzbeschreibung in der Zeitung »Reuiges Vaterland« und offenbart in ihrer grotesk-hyperbolischen Beschreibung die Absurdität nationalsozialistischer Stereotype. Wie bereits die ablehnende Haltung zahlreicher deutscher Verlage gezeigt hatte, handelt es sich auch bei Hilsenraths zweitem Werk um eine Gratwanderung auf der Grenze dessen, was noch erlaubt schien und was nicht. Evident wird dies in besonderem Maße mit Blick auf einen Briefwechsel zur Lektüre von Hilsenraths Roman zwischen den jüdischen Schriftstellern Manès Sperber und Friedrich Torberg von 1978. Gegenstand des Briefwechsels war in erster Linie die Frage, inwieweit Satire und Gags innerhalb einer literarischen Aufarbeitung der Shoah Verwendung finden dürften. Insbesondere Torberg plädierte dafür, dass Hilsenrath die richtige Weise

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Ebd., S. 463f.

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des Umgangs gewählt habe.62 Wie der Austausch der beiden jüdischen Intellektuellen zeigt, wurde in Hilsenraths Roman also »indirekt die Frage nach dem Vermögen des jüdischen Witzes ›nach Auschwitz‹ mitverhandelt.«63 Von besonderem Interesse ist auch eine Rezension des Buches von Heinrich Böll, welcher ebenfalls auf die Schwierigkeit von Hilsenraths Bearbeitung des Stoffes verweist und zu der Erkenntnis gelangt, dass nach herkömmlichen Maßstäben nicht beurteilt werden könne, ob diese gelungen oder nicht gelungen sei.64 Die Einschätzungen von Hilsenraths Werken zeigen, wie stark sich der noch junge Autor gegen eine scharfe Grenzziehung bei der Literatur zur Shoah einsetzte – eine Tendenz, die er im Märchen vom letzten Gedanken, seinem Werk zum Völkermord an den Armeniern, konsequent weiterverfolgte.

2.3.3 Neunziger Jahre Das wohl wichtigste Werk zur Shoah aus den neunziger Jahren war zweifelsohne Klügers weiter leben. Heidelberger-Leonard fragt nicht ohne Grund, ob Klügers Werk nicht als Fundament für einen neuen »Auschwitz-Kanon« nach Peter Weiss und Anne Frank gesehen werden könne.65 Söllner bezeichnet Klügers Werk als den »wohl wichtigsten deutschsprachigen Beitrag zur Holocaust-Literatur seit der Ermittlung«66 . Was ist nun bei Klüger anders als bei ihren Vorgängern? Was macht ihren biografischen Text auch in besonderer Weise interessant für die gesamte, auch fiktional-literarische Auseinandersetzung mit der Shoah? Auf diese Fragen gibt es einige Antworten. Zunächst einmal ist Klügers weiter leben keine klassisch-autobiografische Auseinandersetzung mit der Shoah. Dies liegt in erster Linie daran, dass das für Autobiografien im Kontext der Shoah oftmals klassische Pathos, die geradezu ehrfürchtige Ergriffenheit beim Schreiben über die Toten, die der Leser erwartet, beinah gänzlich fehlt. Klüger reflektiert jedoch genau jene Leerstelle wiederholt kritisch in ihrem Schreibprozess, wenn sie über die Problematik der Erinnerung an ihren im KZ vergasten Vater schreibt: das von ihr beschriebene Dilemma liegt darin, dass sie die überwiegend negativen Kindheitserinnerungen an ihren Vater nicht mit seinem grauenvollen und sinnlosen Tod in Einklang bringen kann. So hält Klüger in Bezug auf die Erinnerung fest: Ich erzähle diese Kindereien, weil sie alles sind, was ich von ihm habe, und obwohl ich sie beim besten Willen nicht zusammenbringe mit seinem Ende; weil ich mich, ohne in ein falsches Pathos zu geraten, nicht umstellen kann, auf das, was ihm 62 63 64 65 66

Vgl. Braese 2010, S. 474f. Ebd., S. 475. Vgl. ebd., S. 483f. Vgl. Heidelberger-Leonard 1998, S. 157–169. Söllner 1998, S. 102.

2. Shoah-Literatur und vergleichende Genozidforschung – von 1945 bis heute

geschehen ist. Aber auch nicht loslösen kann. Für mich war mein Vater der und der. Daß er schließlich nackt im Giftgas krampfhaft nach einem Ausgang suchte, macht alle diese Erinnerungen belanglos bis zu Ungültigkeit. Bleibt das Problem, daß ich sie nicht durch andere ersetzen und auch nicht löschen kann. Ich bring’s nicht zusammen, da klafft etwas. (wl 26f.) Ebendiese Leerstelle füllt Klüger nicht durch eine Verklärung ihres Vaters zu einem »reinen Opfer«. Sie ist nicht bereit, ihren Vater zu idealisieren, weil dieser in der Gaskammer von den Nationalsozialisten ermordet wurde, und verzichtet bewusst auf jegliches Pathos bei der Schilderung ihrer spärlichen Kindheitserinnerungen an ihren Vater – auf diese Weise bricht sie mit der Erwartung des Lesers, die Erinnerung an die Opfer der Shoah müsse geprägt von Erhabenheit sein. Doch macht Klüger keineswegs bei ihren eigenen Erinnerungen halt. Provokativ fragt sie, ob man in zu Museen umgewandelten KZs nicht eher die »renovierten Überbleibsel alter Schrecken« (wl 76) sehen müsse, die vom eigentlichen Gegenstand der Aufmerksamkeit ablenkten – diese Auffassung steht in diametralem Gegensatz zum öffentlichen Konsens, demzufolge gerade die Gedenkstätten in Auschwitz und anderen ehemaligen KZs als Erinnerungsorte par excellence gelten. Ähnlich wie für Tabori und Hilsenrath gibt es für Klüger kaum Tabus im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Shoah, wenngleich sie dies auf gänzlich andere Weise artikuliert als die beiden erstgenannten. Immer wieder sucht sie den Dialog mit dem Leser und hinterfragt sich und ihren Schreibprozess in ihrem Werk beständig. Laut Heidelberger-Leonard breche Klüger auf diese Weise mit der Abgrenzung zwischen Überlebendem und Leser, die für viele autobiografische Werke zur Shoah typisch sei – unter ihrer Feder werde »Auschwitz plötzlich zugänglich.«67 Mit ihren Dialogaufforderungen an den Leser hinterfragt sie die Grenzen des Sprechens über die Shoah. Dabei scheut Klüger auch nicht davor zurück, Autoritäten wie Adorno oder Celan scharf anzugreifen und zu kritisieren. Ersterem etwa wirft sie vor, die Forderung, nach Auschwitz dürfe man keine Gedichte mehr schreiben, könne nur »von solchen stammen, die die gebundene Sprache entbehren können, weil sie diese nie gebraucht, verwendet haben, um sich seelisch über Wasser zu halten.« (wl 126) In Bezug auf die Gedichte des letzteren konstatiert sie, man dürfe zwar über »Gott und Goethe« (wl 127) lästern, doch Satire im Zusammenhang mit dem Autor der Todesfuge sei undenkbar. Indem Klüger als Überlebende der Shoah solchermaßen scheinbar Allgemeingültiges in Frage stellt, regt sie den Leser an, dies ebenso zu tun und neue Wege zu beschreiten. Dabei erhebt sie jedoch keinerlei Anspruch auf eine Allgemeingültigkeit ihrer Ausführungen, sondern möchte den Leser »reizen« (wl 141) und auffordern, nicht »nur innerhalb eines festgelegten«, vom Leser »im voraus mit Zirkel und Lineal säuberlich abgegrenzten Rahmen[…]« (wl 141) über

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Vgl. Heidelberger-Leonard 1998, S. 160.

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die Shoah zu reden. Klüger fordert: »Werdet streitsüchtig, sucht die Auseinandersetzung.« (wl 141) Somit wundert es nicht, dass Klüger keineswegs glücklich über die allzu glatte Rezeption ihres Werkes in Deutschland war.68 In besonderem Maße erscheint gerade diese Aufforderung an den Leser zum kritischen Hinterfragen von Bestehendem von großer Bedeutung. Insbesondere ein lange Zeit geltendes Tabu hinterfragt Klüger nachdrücklich. Anknüpfend an Peter Weiss spricht sie sich emphatisch dafür aus, die Shoah mit anderen Verbrechen zu vergleichen: Er [Weiss] endet mit der Bemerkung, daß »es« noch nicht vorbei sei, und so hat er mit der ihm eigenen Konsequenz die Judenverfolgung mit anderen Massenverbrechen verglichen, was ihm viele übel genommen haben. Aber ich weiß gar nicht, wie man anders an die Sache herankommen soll als durch Vergleiche. (wl 75f.) Der Vergleich stellt für Klüger also keine potentielle Abwertung des während der Shoah erlittenen Leides der Juden dar, sondern erscheint ihr vielmehr der einzig geeignete Weg einer Auseinandersetzung. An anderer Stelle äußert sie sich ähnlich, konstatiert, wenn man nicht vergleiche, komme »man auf gar keine Gedanken« (wl 110). Sie identifiziert das Prinzip des Vergleichens als elementaren Bestandteil menschlichen Denkens: »Ist denn das Nachdenken über menschliche Zustände jemals etwas anderes als ein Ableiten von dem, was man kennt, zu dem, was man erkennen, als verwandt erkennen kann. Ohne Vergleiche kommt man nicht aus.« (wl 110) Klüger fordert also den Leser nicht nur dazu auf, ihr zu widersprechen, mit ihr in einen Dialog einzutreten, sondern auch eine Annäherung an die Aufarbeitung der Shoah über den Vergleich zu suchen.

2.3.4 2000er – Die Shoah in der Literatur der Nachfolgegeneration Mit Beginn des neuen Jahrtausends veränderte sich einiges in Bezug auf die Shoah-Literatur – nicht zuletzt durch die immer weiter abnehmende Zahl der Zeitzeugen. So macht Hofmann für die neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts sowie das beginnende neue Jahrtausend vor allem zwei wichtige, gänzlich gegensätzliche Strömungen aus: zum einen die Anerkennung der literarischen Forschung über die Shoah und zum anderen die Forderung nach einem Ende der Erinnerung.69 In ebendiesem Spannungsfeld entstand und entsteht die Literatur der Nachgeborenen. Dieses Feld ist zudem geprägt durch weitere, wesentliche Faktoren: so können die »Angehörigen der nachfolgenden Generationen […] die Shoah auch kaum außerhalb ihrer Vermittlungen, d.h. unabhängig von einer solcherart ›empfangenen‹, 68 69

Vgl. ebd., S. 167f. Vgl. Hofmann 2006, S. 78.

2. Shoah-Literatur und vergleichende Genozidforschung – von 1945 bis heute

durch Fotografien, Filme, Bücher und Zeugenaussagen vermittelten ›Geschichte‹, erinnern.«70 Diese Abhängigkeit von der Erinnerung anderer hat einen maßgeblichen Einfluss auf die neuen Werke der Shoah-Literatur, führt sie doch zu einer weiteren Frage, jener nach der Unterscheidung zwischen Fiktion und Historiographie.71 Ein Frage, die sich durchaus auch schon bei der Untersuchung der Anfänge der Shoah-Literatur stellte. Bei diesen handelt es sich in der Mehrheit um autobiografische Berichte, zumeist über die Zeit der Inhaftierung in den Lagern und die Verfolgung durch die Nationalsozialisten, wodurch die Annahme einer Faktizität des Erzählten naheliegend scheint. Andreas Disselnkötter weist jedoch in seinem Aufsatz über die »Nachträglichkeit des Schreibens in der ›Post-Holocaust-Ära‹« darauf hin, dass diese Imagination zwar bis heute Bestand habe, doch bereits seit den 80er Jahren massiv angezweifelt werde.72 Anders als bei anderer Literatur, sei »jede Äußerung über die Shoah in einen ›Wahrheitsdiskurs‹ eingebettet«73 , so Disselnkötter.74 Neben der generellen Frage, ob Literatur überhaupt eine Faktizität für sich beanspruchen kann, erscheint diese Dokumentation der Wahrheit umso problematischer, als kaum ein Werk über die Shoah, mit Ausnahme von Tagebuchaufzeichnungen, unmittelbar während der Geschehnisse aufgeschrieben wurde.75 Selbst Autobiografien und autobiografisch geprägte Berichte von Überlebenden der Lager konnten oftmals erst retrospektiv ohne einen Rückgriff auf Aufzeichnungen aus den Lagern oder der Zeit der Verfolgung verfasst werden. Exemplarisch gilt dies auch für eines der kanonischen Werke zur Shoah schlechthin, Primo Levis Ist das ein Mensch? Levi machte sich zwar heimlich Notizen bereits während seiner Zeit im Lager, dies geschah jedoch erst gegen Ende seiner Inhaftierung, sodass er bei allem, was zuvor geschah, auf seine Erinnerungen zugreifen musste.76 Generell begegnet man der Annahme, alles in einer Biografie sei wahr, in der Literaturwissenschaft schon immer mit gehöriger Skepsis. So zweifelt etwa auch Su70 71 72

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Eke: Einführung, S. 9. Vgl. ebd. Vgl. Disselnkötter, Andreas: Nachträglichkeit des Schreibens in der »Post-Holocaust-Ära«. In: Erinnerte Shoah. Die Literatur der Überlebenden, hg. von Walter Schmitz. Dresden: Thelem 2003. S. 42–56, hier: S. 43. Im Folgenden zitiert als ›Disselnkötter 2003‹. Ebd., S. 45. In Hinblick auf die Darstellbarkeit der Shoah sei an dieser Stelle auf Saul Friedlander verwiesen, der in dem von ihm herausgegebenen Sammelband Probing the limits of representation zusammen mit renommierten Kollegen der Frage nachgeht, inwieweit die Beschreibung der Shoah mit konventionellen Mitteln überhaupt möglich ist, vgl. Friedlander, Saul (Ed.): Probing the limits of representation. Nazism and the »Final Solution«. 2nd Print. Cambridge, Massachusetts: Harvard University Press 1993. Eine Ausnahme in dieser Hinsicht stellen die von Michael Moll gesammelten Gedichte aus den Konzentrationslagern dar, vgl. Moll, Michael (Hg.): Lyrik gegen das Vergessen. Gedichte aus Konzentrationslagern. Marburg: Schüren 1991. Vgl. Levi, Primo: Ist das ein Mensch? 6. Auflage. München: dtv 2010, S. 135.

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sanne Düwell die exponierte Stellung der Autobiografie als Medium der Wahrhaftigkeit an, wenn sie konstatiert: »Insofern als jede Autobiographie eine nachträgliche Konstruktion ist, wird zweifelhaft, ob ihr eine besondere Authentizität zugeschrieben werden sollte.«77 Insbesondere der Aspekt der »nachträglichen Konstruktion« scheint im Kontext der Shoah von besonderer Relevanz – die Mehrzahl der gesicherten Quellen stammt, sofern sie nicht vor Kriegsende als belastendes Beweismaterial vernichtet worden waren, aus der Feder der Täter. Somit erscheint auch die mit der Vorstellung, jedes Zeugnis über die Shoah müsse wahr im Sinne einer faktischen Tatsache sein, verbundene Tabuisierung bestimmter Sprechweisen über die Shoah ausgesprochen suspekt. Wie sollte über etwas nur auf eine bestimmte, die Wahrheit bezeugende Weise geschrieben werden, wenn es die eine Wahrheit schlicht nicht gab? Selbst Berichte von Erlebnissen sind zweifellos immer dem Filter des menschlichen Gedächtnisses unterworfen, werden bruchstückhaft durch Verdrängung und nachträgliche Verklärung. Ein Tatsachenbericht von einem Überlebenden scheint daher kaum wahrhaftiger zu sein, als eine gut recherchierte fiktionale Darstellung der Shoah. Klüger verweist in weiter leben auf die Problematik des Erinnerns in den Gesprächen mit ihrer Mutter, in denen sie sich wünscht, sich nehmen zu können, »woran sich eine andere [ihre Mutter] erinnert, ohne die Glättungen und die Beschönigungen, die das Körnige, das Sandige des wirklich Erlebten bis zur Widerstandslosigkeit in der Nacherzählung ausfiltrieren.«78 Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf, ob eine nicht-fiktionale Darstellung der Shoah in der Generation der Nachgeborenen überhaupt noch möglich ist. Bereits die tradierte Erinnerung der Generation der Nachgeborenen ist geprägt durch den Umstand, dass die Überlebenden aufgrund der erlittenen Traumata in vielen Fällen nicht oder nur sehr ungern bereit waren, sich ihren Kindern und Enkelkindern zu öffnen und über ihre schrecklichen Erlebnisse während der Verfolgung und Inhaftierung in den Lagern zu reden. Doch auch wenn die Bereitschaft der Überlebenden dazu partiell vorhanden war, bleibt die Problematik der Verdrängung bei der Weitergabe der Erinnerung – es ist wiederum Klüger die von »Wände[n] der frühen Erinnerungen« (wl 32) schreibt, mit welchen sie sich konfrontiert sehe, wenn sie ihre eigenen Erinnerungen durch jene ihrer Mutter ergänzen wolle. Ein Beispiel für einen Roman der Nachfolgegeneration, in welchem die Verdrängung der Shoah innerhalb einer jüdischen Familie thematisiert wird, ist Mirna Funks Roman Winternähe. Hier ist einerseits Hannah, die Großmutter der Protagonistin Lola, »die immer und überall Vorboten für das Sequel zum Holocaust« (Wn 19) sieht und die die

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Düwell, Susanne: »Fiktion aus dem Wirklichen«. Strategien autobiographischen Erzählens im Kontext der Shoah. Bielefeld: Aisthesis 2004, S. 33. Im Folgenden zitiert als ›Düwell 2004‹. Klüger, Ruth: weiter leben. Eine Jugend. Göttingen: Wallstein 1992, S. 32. Im Folgenden im Fließtext zitiert als ›wl‹.

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Shoah zu ihrem »Lebensthema« (Wn 29) gemacht hat, und andererseits Lolas Großvater Gershom, der den Raum verlässt, sobald seine Frau von der Shoah zu erzählen beginnt. (vgl. Wn 29f.) Es ist also evident, dass Literaten aus der Generation der Nachgeborenen die Shoah ausschließlich fiktional verarbeiten können, selbst wenn die Eltern oder Großeltern sich gegen die Verdrängung des Erlebten entschieden. Die Erinnerungen Überlebender sind geprägt durch deren Gedächtnisfilter – ein autobiografisches Werk über die Eltern wird zudem noch beeinflusst durch die subjektive Verarbeitung des Tradierten durch den Autor. Somit findet eine doppelte Transformation der Geschichte statt: Die durch den Überlebenden bereits gefilterte Version der Ereignisse wird vom Autor gedeutet und niedergeschrieben. Bereits zum Beginn des Jahrtausends reagierte der Schriftsteller Jorge Semprun, selbst von 1943 bis zur Befreiung des Lagers in Buchenwald interniert, auf diese Entwicklung mit einem Appell, in welchem er konstatierte, dass es in wenigen Jahren keine Zeugen mehr geben werde, die von ihren persönlichen Erfahrungen in den Lagern berichten könnten und dass zudem immer weniger Menschen von den Lagern wissen wollten.79 Er schloss damit, man brauche »jetzt junge Schriftsteller, die das Gedächtnis der Zeugen, das Autobiographische der Zeugnisse, mutig entweihen. Jetzt können und sollen Gedächtnis und Zeugnis Literatur werden.«80 Semprun forderte nicht weniger als den letzten radikalen Schritt weg von jener Literatur, die ihre Glaubwürdigkeit gerade dadurch erhielt, dass die Autoren selbst in den Lagern waren oder doch zumindest die Erfahrung der Verfolgung teilten, hin zu einer neuen, fiktionalen Bearbeitung der Verfolgungserfahrung. Auch Eke setzt sich mit der Problematik auseinander, kommt dabei aber zu einer deutlich pessimistischeren Einschätzung der Lage. Er betont, das Verschwinden der Zeitzeugen und mit ihnen das Ende der autobiografischen Texte zur Shoah gehe nicht ohne Schwierigkeiten und Widerstände vonstatten. Der Erinnerung an die Shoah drohe »eine zweite Verdrängung durch Zerredungsroutine«, ihre »mediale Omnipräsenz« werde »begleitet von Prozessen der Trivialisierung.«81 Schuld hieran sei die immer größer werdende Distanz zu den Geschehnissen, die durch das »Unhörbarwerden der Stimmen der Zeugen«82 noch weiter anwachse und die Ereignisse der Shoah für eine massentaugliche Verarbeitung öffne. Zweifellos ist Ekes Sorge nicht unberechtigt. Allein ein Blick auf die zahllosen Fernsehdokumentationen zum Nationalsozialismus, die

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Vgl. Semprun, Jorge: Wovon man nicht sprechen kann. In: Norbert Gstrein und Jorge Semprun: Was war und was ist. Reden zur Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung am 13. Mai 2001 in Weimar. 1. Auflage. Frankfurt a.M.: suhrkamp 2001. S. 9–17, hier: S. 14. Ebd. S. 15. Eke: Einführung, S. 10f. Ebd., S. 10.

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filmischen Darstellungen der Zeit, wie etwa die Serie Holocaust (1978), Filme wie Schindlers Liste (1993) und Defiance (2008) oder als wohl aktuellstes Beispiel die erfolgreiche dystopische Science-Fiction-Fernsehserie The Man in the High Castle (1. Staffel 2015) offenbaren die von Eke kritisierte Omnipräsenz der Shoah in den Medien. Insbesondere bei der letztgenannten Serie lässt sich die Gefahr einer »Kommerzialisierung der Shoah« beobachten. In einer Rezension von ntv wird im Hinblick auf die dritte Staffel (2018) der Serie die Frage gestellt, »ob die Macher vor lauter Nazis die moralische Orientierung verloren haben.«83 Bei aller Freiheit der Kunst und Sempruns berechtigter Aufforderung zur fiktionalen Auseinandersetzung mit der Shoah bleibt also eine Frage: Wie darf man im Angesicht der fehlenden Erfahrung der Vernichtung schreiben, ohne die Shoah zu kommerzialisieren oder zu banalisieren? Wie wichtig die Biografie des Autors für die Authentizität von Texten zur Shoah war und wohl auch heute noch ist, zeigt wie kaum ein anderer der »Fall Benjamin Wilkomirski«. Der Schweizer Bruno Dössekker hatte, mutmaßlich aufgrund traumatischer Erfahrungen und eines großen Interesses an der Shoah, unter dem Namen Benjamin Wilkomirski 1995 den Text Bruchstücke veröffentlicht. Der vorgeblich biografische Text berichtete von einem jüdischen Kleinkind, welches während der Shoah mehrere Lager überlebte. Das Buch wurde zu einem großen Erfolg, wurde »in mehrere Fremdsprachen übersetzt und sein Autor mit Preisen und Einladungen zu Tagungen geehrt.84 1998 wurde die falsche Identität des Autors publik. An dem Inhalt des Textes änderte dieser Umstand freilich nichts. Doch die Reaktionen offenbarten die Mechanismen, welche nach wie vor bei der Rezeption eines Werkes zur Shoah in Gang gesetzt wurden. Andrea Reiter verweist auf die spezifische Reaktion auf die Literatur zur Shoah: »Einem Buch, das die Holocaust-Thematik beinhaltet, begegnen die Rezipienten […] immer mit spezifischen, vorgefaßten Meinungen.«85 Es verwundert daher kaum, dass viele Getäuschte sich bereits nach den ersten Gerüchten über die Identität des Autors von dem Werk abwandten und eine ästhetisch-inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Text rasch durch moralische Angriffe auf den Autor abgelöst wurde.86 Zweifelsohne handelte es sich beim »Fall Benjamin Wilkomirski« um ein Skandalon, dennoch betont Reiter zu Recht, dass

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Jerzy, Nina: »The Man in the High Castle«. Hitler ist tot, auf ins Nazi-Multiversum! InternetPublikation in: ntv: https://www.n-tv.de/leute/Hitler-ist-tot-auf-ins-Nazi-Multiversum-arti cle20654828.html. Erstellt: 05.10.2018. Eingesehen: 03.12.2018. Die Kritik richtet sich insbesondere gegen die äußerst fragwürdige Implementierung realen Nazigrößen wie dem Folterarzt Josef Mengele in die Handlung der Serie. Reiter, Andrea: Erinnerung und Authentizität. Der Fall Benjamin Wilkomiriski. In: Erinnerte Shoah. Die Literatur der Überlebenden, hg. von Walter Schmitz. Dresden: Thelem 2003. S. 61–73, hier: S. 61. Ebd., S. 63. Vgl. ebd., S. 70f.

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der Text an sich durch die Vorfälle nichts von seiner Aussagekraft eingebüßt habe.87 Lediglich das Verhältnis der Rezipienten hatte sich gewandelt. Gerhard Lauer sieht denn auch in Bruchstücke ein »drastisches Beispiel für die Wirkungsmächtigkeit des Autors«, der ihm »die zentrale Instanz für die Authentifizierung eines Textes«88 zu sein scheint. In ebenjener exponierten Stellung des Autors sieht Lauer insbesondere bei der Rezeption von Texten zur Shoah ein charakteristisches Merkmal.89 Folgt man Lauer, so kann Bruchstücke aber auch als ein erster Schritt in die Richtung einer neuen Art der Auseinandersetzung mit der Shoah angesehen werden: »Die Geschichte des Buches Bruchstücke belegt einmal mehr, daß etablierte Verfahren der Fiktionsbildung für die Herstellung einer ›authentischen‹ Erinnerung an das Unvorstellbare durchaus genügen.«90 Weiter gedacht zeigt Bruchstücke demnach, dass eine fiktionale Auseinandersetzung mit der Shoah durchaus gelingen kann, auch wenn man die Art und Weise der Entstehung des Buches durchaus kritisieren kann. Was für Bruchstücke gilt, ist für die Auseinandersetzung mit den Werken der zweiten und dritten Generation von Autorinnen und Autoren, wie etwa Irene Dischereit, Barbara Honigmann, Maxim Biller, Robert Menasse, Robert Schindel, David Safier, Mirna Funk von besonderem Interesse.

2.4 Vergleichende Genozidforschung 2.4.1 Geschichte der Disziplin In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: (a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe: (b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe: (c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;

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Vgl. ebd., S. 71ff. Neben Reiter konstatiert auch Düwell, dass »Doessekkers Buch allein auf der Textebene nicht zu unterscheiden« sei von einer tatsächlichen Shoah Biografie, Düwell 2004, S. 14. Lauer, Gerhard: Tod und Überleben des Jossel Rakover. Zu Funktion und Bild des Autors in Texten über den Holocaust. In: Erinnerte Shoah. Die Literatur der Überlebenden, hg. von Walter Schmitz. Dresden: Thelem 2003. S. 74–90, hier: S. 76. Vgl. ebd. Ebd.

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(d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; (e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.91 Diese Definition des Terminus Völkermord stammt von den Vereinten Nationen und ist bis heute diejenige mit der weitesten Verbreitung.92 Sie geht zurück auf den polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin.93 Bereits 1933 hatte dieser sich für eine Änderung des internationalen Rechts eingesetzt, doch erst im Zuge der Nürnberger Prozesse wurde seine Idee in der Öffentlichkeit publik.94 Der endgültige Durchbruch erfolgte schließlich 1948 mit der Verabschiedung der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes durch die Vereinten Nationen – zu Lemkins Leidwesen gehörte seine neue Wahlheimat, die USA, nicht zu den Staaten, welche die Konvention ratifizierten.95 Lemkin selbst brachte sein Mitwirken an der Ausarbeitung der Konvention keine Anerkennung – er starb 1959 vollkommen verarmt in New York City.96 Sein Vermächtnis schien mit ihm gestorben, verschwand die weitestgehend wirkungslose Konvention doch zunächst für die Dauer des Kalten Krieges von der politischen Bühne. Erst der Jugoslawienkrieg und die grauenhaften Massaker in Ruanda in den Neunzigern des 20. Jahrhunderts führten zu einer Wiederentdeckung der Konvention.97

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Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 9. Dezember 1948 (BGBl. 1954 II S. 730). In: Völkermord – friedenswissenschaftliche Annäherungen, hg. von Hartwig Hummel. Baden-Baden: Nomos 2001 (= Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.V. (AFK) 28). S. 221–227, hier: S. 222. In der Genozidforschung herrscht diesbezüglich weitestgehend Einigkeit, vgl. etwa Zimmerer, Jürgen: Von Windhuk nach Auschwitz. Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust. Münster: LIT Verlag 2011 (= Periplus Studien 15), S. 145. Im Folgenden zitiert als ›Zimmerer 2011‹. Wenngleich Lemkin als der Vater der Konvention angesehen werden kann, so weicht diese doch in einigen Punkten deutlich von Lemkins Definition ab. Es blieben die für Lemkin wichtigen Opfergruppen der aus politischen und religiösen Motiven Verfolgten in der UN-Konvention aufgrund einer Intervention der Sowjetunion sowie Englands und Frankreichs außen vor, vgl. Rabinbach, Anson: Begriffe aus dem Kalten Krieg. Totalitarismus, Antifaschismus, Genozid. Göttingen: Wallstein 2009 (= Vorträge und Kolloquien 5), S. 45. Im Folgenden zitiert als ›Rabinbach 2009‹. Lemkin Begriff findet sich in der Anklageschrift gegen die Hauptkriegsverbrecher des »Dritten Reichs«, nicht jedoch im Strafurteil, vgl. Steinbacher, Sybille: Einleitung. In: Holocaust und Völkermorde. Die Reichweite des Vergleichs, hg. von Sybille Steinbacher. Frankfurt a.M./ New York: Campus Verlag 2012. S. 7–27, hier S. 10. Im Folgenden zitiert als ›Steinbacher 2012‹. Erst 1988 wurde die Konvention von den USA ratifiziert, vgl. ebd. Selbst das Begräbnis musste vom American Jewish Committee bezahlt werden, vgl. Rabinbach 2009, S. 43. Vgl. Steinbacher 2012, S. 11f.

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Doch auch wenn sich die Majorität der Definitionen des Terminus Genozid an die Konvention anlehnt, ist eine Definition keineswegs so klar und einfach, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Der Politologe Hartwig Hummel etwa verweist auf die oftmals unklare Verwendung des Begriffes und konstatiert, dass nicht alle Formen von Massentötungen von Menschen unter diesem subsummiert werden könnten.98 Bevor Vergleiche vorgenommen werden können, gilt es also zunächst eine Frage zu beantworten: Wie kann man Genozide sinnvoll miteinander vergleichen, wenn die Massenmedien den ohnehin schon unscharfen Genozidbegriff oftmals leichtfertig verwenden? Es scheint für einen Vergleich nicht zielführend, sich an dem zunehmend inflationären Gebrauch des Begriffes zu orientieren und Verbrechen mehr oder minder willkürlich zu inkludieren oder zu exkludieren.99 Die Problematik liegt wie so oft in der für die Bewertung – sowohl in moralischer als auch rechtlicher Sicht – nötigen Ziehung definitorischer Grenzen. Das eine solche Grenzziehung in der Mehrzahl der Fälle mit zahlreichen Problemen verbunden ist, konnte man insbesondere in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts bei der Bewertung der Massaker in Jugoslawien und Ruanda100 beobachten – die Begriffe reichten von »Verbrechen gegen die Menschlichkeit«, »ethnischer Säuberung«, »genozidalen Massakern« bis hin zu »Genozid«. Der Historiker Gerhard Hirschfeld spricht vor dem Hintergrund der zahlreichen Fachtermini gar von einem »ganzen Kaleidoskop von Begriffen«, es sei etwa »die Rede von ›genozidalen Massakern‹, von ›Ethnoziden‹, d.h. von ›kulturellen Genoziden‹, von ›Politiziden‹ und ›Demoziden‹«101 gewesen. Für ihn ist es gerade die moralische Komponente, welche bei der Bewertung von Massensterben in vielen Fällen eine Verwischung der definitorischen Grenzen verursache und somit eine Klärung der historischen Tatbestände erschwere.102 Neben den genannten Problemen wird eine Definition dadurch verkompliziert, dass tatsächlich die verschiedensten Massenverbrechen unter dem Genozidbegriff zusammengefasst werden können: 98

Hummel, Hartwig: Die Realität des Völkermords und die Rettung der Menschlichkeit – friedenswissenschaftliche Annäherungen. In: Völkermord – friedenswissenschaftliche Annäherungen, hg. von Hartwig Hummel. Baden-Baden: Nomos 2001 (= Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.V. (AFK) 28). S. 15–25, hier: S. 18. Im Folgenden zitiert als ›Hummel 2001‹. 99 Hummel weist darauf hin, dass die Medien dazu neigten, »nahe« Verbrechen wie den KosovoKrieg voreilig als Genozid zu deklarieren, weiter entfernte Verbrechen, insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent hingegen außer Acht zu lassen, vgl. Hummel 2001, S. 16. 100 Vgl. dazu ausführlich Kapitel 2.6.4 dieser Arbeit. 101 Hirschfeld, Gerhard: Der Völkermord im zwanzigsten Jahrhundert – Plädoyer für eine vergleichende Betrachtung. In: Völkermord – friedenswissenschaftliche Annäherungen, hg. von Hartwig Hummel. Baden-Baden: Nomos 2001 (= Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.V. (AFK) 28). S. 78–90, hier: S. 82. Im Folgenden zitiert als ›Hirschfeld 2001‹. 102 Vgl. ebd., S. 79.

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»Genozid« steht reichlich vage für die schlimmstmöglichen Verbrechen […]. Eine ganze Litanei an denkbar verschiedenen Konflikten wird in der öffentlichen, aber auch in der wissenschaftlichen Diskussion damit bezeichnet: die kolonialen Gewaltexzesse gegen die Herero in Südwestafrika um 1900, der Mord an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges in der Türkei, die Hungersnot in der Ukraine unter Stalin, verschiedene vom sowjetischen Diktator veranlasste Deportationen ganzer Bevölkerungsgruppen aus ihrer Heimat, der Massenmord an den Juden und sogenannten Zigeunern im »Dritten Reich«, der Bombenangriff der Alliierten auf Dresden im Zweiten Weltkrieg, die Atombombenabwürfe der Amerikaner auf Hiroshima und Nagasaki, Massenverbrechen, die im und nach dem Kalten Krieg in Kambodscha, Burundi, Ruanda, Guatemala, Kolumbien, dem Irak, in Bosnien, dem Sudan und in Tschetschenien stattfanden und in Syrien gegenwärtig noch geschehen.103 Zweifellos ist diese Aufzählung Steinbachers zu umfangreich und ließe sich, zumindest für den wissenschaftlichen Diskurs, deutlich verkürzen: Wohl kaum ein Wissenschaftler wird den Bombenangriff auf Dresden, die Abwürfe der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki, die in Südamerika, dem Irak, Tschetschenien, Afrika (Ruanda einmal ausgenommen) und in Syrien begangenen Massaker ernsthaft als Genozid bezeichnen. Dennoch bleiben neben klaren Fällen wie dem Mord an den Herero und Nama, dem Völkermord an den Armeniern, der Shoah und dem Genozid in Ruanda auch Fälle, bei denen eine Einordung erheblich diffiziler erscheint – dies ist insbesondere im Falle des Bosnienkrieges zu beobachten.104 Allein die schwierige Begriffsdefinition zeigt bereits, dass es sich bei der vergleichenden Genozidforschung um kein geschlossenes Forschungsfeld handeln kann. Es verwundert daher nicht, dass auch Steinbacher eine große Heterogenität der interdisziplinären Genozidforschung konstatiert – eine Heterogenität, die noch verstärkt wird durch die vielen unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit der Problemstellung auseinandersetzen. So arbeiten internationale Rechtswissenschaftler, Historiker, Soziologen, Politologen, Psychologen, Ethnologen und Anthropologen an Themen, die der vergleichenden Genozidforschung zugeordnet werden.105 Die große disziplinare Diversität verstärkt die Problematik der Begriffsdefinition – aufgrund der differierenden Ziele beim Vergleich der Genozide definiert beinahe jede Disziplin den Terminus auf andere Weise. Steinbacher konstatiert: Den Juristen unter den Genozidforschern geht es um Tatdefinitionen und Rechtsbegriffe, die inklusiv und verallgemeinernd genug sind, um Verbrechen zu erfas103 Steinbacher 2012, S. 13. 104 Vgl. dazu ausführlich Kapitel 2.7.3 dieser Arbeit. 105 Vgl. ebd., S. 12.

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sen. Die Soziologen und Politologen unter ihnen wollen hingegen typisieren, suchen nach Mustern und Gesetzmäßigkeiten. Sie führen zudem Vergleiche zur Ursachenforschung durch und verfolgen das hochgesteckte Ziel, präventive Maßnahmen zu treffen und ein internationales Frühwarnsystem zu schaffen, das Gewalteskalationen im Ansatz verhindern soll. […] Aber die hohen Ansprüche verweisen auf eine Überfrachtung des Genozidbegriffs, der schlichtweg nicht leisten kann, was von ihm erwartet wird.106 Für Juristen ist der Genozidbegriff ein Handlungsinstrument, um retrospektiv Gewalttaten ahnden zu können, Soziologen und Politologen hingegen benötigen eine Definition, um strukturelle Parallelen zwischen Verbrechen erkennen zu können mit dem Ziel, präemptiv einem Genozid vorzubeugen. Noch scheinen die Potentiale einer interdisziplinären Forschung nicht voll ausgeschöpft, da die Disziplinen oftmals eher nebeneinander als miteinander forschen. Das Forschungsfeld steckt demnach nach wie vor in den Anfängen, auch wenn Steinacher darauf verweist, dass mittlerweile einige Fachzeitschriften entstanden und Forschungsinstitute gegründet worden seien.107 Für die Zukunft der Disziplin erscheint ein intensiverer Austausch zwischen Holocaustforschung und Genozidforschung erstrebenswert – aktuell findet eine solche Interaktion jedoch noch kaum statt.108 An dieser Stelle könnte die Anzahl der von Steinbacher genannten Disziplinen noch um die Literaturwissenschaft, im deutschen Falle die Germanistik, erweitert werden, da gerade in dieser in den letzten Jahrzehnten in puncto Holocaustforschung durchaus einiges in Bewegung geraten ist. Eine Erweiterung auf die Perspektive von der Shoah auf die vergleichende Genozidforschung erscheint dabei durchaus vielversprechend.

2.4.2 Vergleichende Genozidforschung in Deutschland – ein Sonderfall Die vergleichende Genozidforschung in Deutschland muss man aufgrund der Shoah zweifellos als einen Sonderfall bezeichnen. Zunächst einmal galt es nach dem Mord an den europäischen Juden diesen aufzuarbeiten – für andere Genozide war aus nachvollziehbaren Gründen in der Forschung kaum Platz.109 Dies gilt umso mehr, da zunächst selbst von einer dezidierten Aufarbeitung der von den

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Vgl. ebd., S. 15f. Vgl. ebd., S. 13. Vgl. ebd., S. 7. Eine der ganz wenigen Ausnahmen bildet in dieser Hinsicht der Historiker Horst Drechsler, der sich bereits in den 1960er Jahren intensiv mit den von der deutschen »Schutztruppe« in Deutsch-Südwestafrika begangenen Verbrechen auseinandersetzte, vgl. Drechsler, Horst: Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft. Der Kampf der Herero und Nama gegen den deutschen Imperialismus (1884–1915). 2., durchgesehen Auflage. Berlin: Akademie-Verlag 1984.

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Nationalsozialisten begangenen Verbrechen kaum die Rede sein konnte.110 Genozidforschung in Deutschland war nach 1945 in erster Linie Holocaustforschung, wie der Soziologe Peter Imbusch betont: Aus der Schuld, an dem [sic!] vielleicht schlimmsten Genozid der modernen Geschichte verantwortlich zu sein, und angesichts der Monströsität [sic!] der nationalsozialistischen Verbrechen ergeben sich zahlreiche Besonderheiten der deutschen Genozidforschung, die darin bestehen, dass eine Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den europäischen Juden zunächst nicht stattfand, sodann die bundesrepublikanische Genozidforschung – wiederum aus spezifischen Gründen – auf eine Holocaustforschung verengt wird.111 Die von Imbusch festgestellte Verengung der Genozidforschung ist nach wie vor ein zentrales Problem für die Etablierung einer vergleichenden Forschung in Deutschland. Ein komparatistischer Ansatz bei der Betrachtung von Genoziden ist insbesondere in der Bundesrepublik mit einer großen Verantwortung verbunden, stoßen doch »vor allem in Deutschland […] vergleichende Genozid-Studien […] auf den Generalverdacht, damit das gesellschaftliche Paradigma von der historischen Einzigartigkeit des Mordes an den europäischen Juden anzuzweifeln oder sogar gänzlich verwerfen zu wollen.«112 Hirschfelds Lösungsvorschlag für diese Problematik ist interessant; der Historiker betont, dass die Shoah zwar in Hinblick auf die Totalität der Ereignisse aus historischer Sicht völlig zu Recht als einmalig angesehen werden müsse, jedoch die einzelnen Elemente der von den Nationalsozialisten begangenen Verbrechen durchaus mit Elementen anderer Genozide verglichen werden könnten und auch sollten.113 Ein solches Vorgehen ist in zweifacher Hinsicht für eine vergleichende Analyse von großem Interesse. Zum einen sichert die Prämisse von der Totalität der Ereignisse eine Analyse hinsichtlich des Verdachts der Relativierung

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Steinbacher verweist auf die nur schleppend und unkonkret anlaufende Aufarbeitung, vgl. Steinbacher 2012, S. 16f. Auch Peter Imbusch schreibt in diesem Kontext davon, dass es zunächst eher um ein »Beschweigen« als um eine Aufarbeitung ging, vgl. Imbusch, Peter: Deutsche Geschichte, der Holocaust an den Juden und die Besonderheit der bundesrepublikanischen Genozidforschung – Acht Thesen. In: Völkermord – friedenswissenschaftliche Annäherungen, hg. von Hartwig Hummel. Baden-Baden: Nomos 2001 (= Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.V. (AFK) 28). S. 123–134, hier: S. 123 sowie 126. Im Folgenden zitiert als ›Imbusch 2001‹. Ebd. Hirschfeld 2001, S. 83. Vgl. dazu auch Glöckner, Olaf; Klocke, Roy: Einleitung. In: Das Zeitalter der Genozide. Ursprünge, Formen und Folgen politischer Gewalt im 20. Jahrhundert, hg. von Olaf Glöckner und Roy Klocke. Berlin: Duncker & Humblot 2017 (= Gewaltpolitik und Menschenrechte 1). S. 7–14, hier: S. 9. Vgl. ebd., S. 83f.

2. Shoah-Literatur und vergleichende Genozidforschung – von 1945 bis heute

der Shoah ab und öffnet solchermaßen zum anderen das Feld für einen weitestgehend freien Diskurs. Vergleiche etwa zwischen Tätermotiven, historischen Vorbildern oder der Organisationstruktur der Verbrechen können auf diese Weise auch in Deutschland unbelastet vorgenommen werden. Wie stark die deutsche Genozidforschung dennoch nach wie vor beeinflusst ist durch die Shoah, offenbart ein Blick insbesondere in den angelsächsischen Raum: Die wichtigsten Pionierstudien zum Problemfeld Genozid stammen aus den angelsächsischen Ländern […], die nach wie vor die Maßstäbe setzen und mit deren Forschungslandschaft in Bezug auf Breite und Ausdifferenzierung der Diskussion es kein anderes Land aufnehmen kann. Hier wird jenseits des Holocaust an den Juden die bedeutendste Forschung betrieben, hier erscheinen die führenden Zeitschriften auf dem Gebiet – angefangen vom neueren ›Journal of Genocide Research‹ über das ›Internet on the Holocaust and Genocide‹ und ›Dimensions. A Journal of Holocaust Studies‹ bis hin zu ›Genocide Watch‹ und dem ›Journal of Genocide and Holocaust Studies‹ – und hier existieren die bedeutendsten Zentren der Genozidforschung.114 Impulse für die deutsche Genozidforschung jenseits der Shoah gehen beinahe ausschließlich vom Bochumer Institut für Diaspora- und Genozidforschung und dem Hamburger Institut für Sozialforschung aus.115 Im Vergleich zur Holocaustforschung ist die Genozidforschung somit nur eine Randerscheinung in der deutschen Universitätslandschaft. Das eine Beschäftigung an deutschen Universitäten mit Genoziden jenseits der Shoah mit Schwierigkeiten verbunden ist, sollte aufgrund der deutschen Geschichte evident sein. Imbusch führt zudem zwei weitere plausible Argumente für die Unterrepräsentation einer vergleichenden Genozidforschung im deutschen Universitätsbetrieb an: einerseits sei die Auseinandersetzung mit den »dunklen Seiten der Menschheit und die Beschäftigung mit dem Bösen schlechthin […] häufig karrierehemmend«116 und andererseits sei die Genozidforschung in allen ihren Ausprägungen »in der Vergangenheit finanziell stark unterfinanziert«117 gewesen. Jenseits des Wissenschaftsbetriebes gab es noch weitere Faktoren, die der Etablierung einer vergleichenden Genozidforschung im Wege standen. Insbesondere die in den 1960er Jahren verbissen geführte Debatte um die Einzigartigkeit der Shoah dürfte in dieser Hinsicht eine elementare Rolle gespielt haben: Da aus Israel an die Überlebenden der Shoah der Vorwurf der Passivität herangetragen wurde, re-

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Imbusch 2001, S. 128. Vgl. ebd., S. 129. Ebd., S. 128. Ebd.

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agierten Überlebende rund um Elie Wiesel indem sie auf die Einzigartigkeit der Shoah pochten.118

2.5 Die Frage des Vergleichs – Einzigartigkeit der Shoah? Die Wahrnehmung der Shoah als »Ereignis ohne Beispiel«119 hat zweifelsohne ihre Berechtigung, insofern es sich um den einzigen industriell organisierten Genozid in der Geschichte der Menschheit handelt. Doch reicht dies, um die Singularität der Shoah zu behaupten? Die Suche nach einer Antwort auf diese Frage beeinflusst keinesfalls lediglich die deutsche Genozidforschung, sondern ist vielmehr ein internationales Problem. Die Debatte um die Frage begann schon vor 1945. Bereits im Zeitraum von 1941 bis 1944 konstatierten Zeitgenossen, dass es sich bei der Ermordung der europäischen Juden um Verbrechen handle, die einzigartig in Grauen und Ausmaß seien, so die Historikerin Andrea Löw.120 Die für diese Einschätzung von Löw untersuchten Quellen »zeugen von der Wahrnehmung der Zeitgenossen, ihrer Verstörung und ihrem Entsetzen.«121 Vergleiche wurden aus nachvollziehbaren Gründen von den Zeitzeugen nur vereinzelt gezogen – immer mit dem Ergebnis, dass es sich bei der Shoah um ein unvergleichlich grauenvolles Verbrechen handle.122 Dennoch gilt es zu berücksichtigen, dass die Frage nach der Singularität der Shoah in erster Linie in der westlichen Welt, insbesondere aber in Europa, gestellt wird. Ebenjene eurozentrische Perspektive der Holocaustforschung kritisiert Michael Rothberg: Der Rückgriff auf Pragmatismus und Kosten-Nutzen-Kalküle als Maßstäbe historischer Unterscheidung setzt in diesem Fall europäische Bewertungsrahmen voraus: Der Holocaust ist einzigartig, wenn man von modernen europäischen Rationalitätskriterien ausgeht. Nimmt man eine andere Perspektive ein, etwa die der Opfer, dann ist es kaum relevant, ob der Holocaust auf einem Kosten-Nutzen-Kalkül beruhte oder nicht. Die Zuschreibung von Motiven wirkt sich auf die Ergebnisse genozidaler Vorgänge nicht aus. Schlimmer noch: Der Pragmatismusdiskurs bestätigt und reproduziert orientalische und kolonialistische Ideologien.123

118 Vgl. Steinbacher 2012, S. 19f. 119 Grünzweig 200, S. 191. 120 Vgl. Löw, Andrea: »Ein Verbrechen, dessen Grauen mit nichts zu vergleichen ist«. Die Ursprünge der Debatte über die Singularität des Holocaust. In: Holocaust und Völkermorde. Die Reichweite des Vergleichs, hg. von Sybille Steinbacher. Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 2012. S. 125–143, hier: S. 125. Im Folgenden zitiert als ›Löw 2012‹. 121 Ebd., S. 141. 122 Vgl. ebd., S. 142. 123 Rothberg 2021, S. 77.

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In Hinblick auf die Opferperspektive ist Rothberg vorbehaltlos zuzustimmen: Ob der Vernichtungsabsicht vermeintlich rationale Kriterien oder irrationaler Fanatismus zugrunde liegt, ist für die Opfer genozidaler Verbrechen irrelevant. Rothebergs Feststellung steht für eine vergleichsweise neue Entwicklung innerhalb der Debatte um die Singularität der Shoah. Dies sollte jedoch keinesfalls darüber hinwegtäuschen, dass in dem Beharren auf der Singularität der Shoah lange Zeit die größte Schwierigkeit einer Kombination von Holocaustforschung und Genozid Forschung lag – so standen Forschern, die einen besonders weiten Genozidbegriff befürworteten, Kollegen gegenüber, die »die Auffassung [vertraten], dass eine nachweisbare Vernichtungsabsicht ausschließlich im Fall des Judenmords vorliege.«124 Solchermaßen konnte aus Sicht der Letzteren der Genozidbegriff ausschließlich auf die Shoah angewandt werden – ein komplementärer und vergleichender Ansatz erschien auf dieser Basis mit großen Schwierigkeiten verbunden.125 Im sogenannten »Historikerstreit«126 offenbarte sich schließlich, wie stark ideologisch aufgeladen die Debatte um die Einzigartigkeit der Shoah in Deutschland war, ging es doch um nichts anderes als »um die Einordnung des Geschehens in ein identitätsstiftendes (west-)deutsches Geschichtsbild.«127 Holocaustforschung und Genozidforschung arbeiten auch heute eher nebeneinander als miteinander. So verwundert es kaum, dass Robert Stockhammer für die aktuelle Holocaustforschung konstatiert, diese tendiere nach wie vor dazu, andere Völkermorde auszuklammern: [D]ie Logik des Archetyps tendiert natürlich dazu, daß alle anderen Exemplare letztlich doch wieder auf das eine hin perspektiviert werden. Ohnehin öffnet sich vor allem das Schreiben über den einzigen Fall der ersten Gruppe, das Schreiben über den Holocaust, nur selten auf die allgemeine Genozidforschung, so daß deren Etablierung in Deutschland wohl nicht zufällig vor allem auf die Initiative eines Spezialisten für den Genozid an den Armeniern zurückgeht. Aus Sicht der Holocaust-Forschung erscheint die Existenz von anderen Genoziden so unerheblich, daß hier gelegentlich sogar die Kontrolle über den Unterschied zwischen Singular und Plural verlorengeht. […] Die meisten Vertreter der Holocaust-Forschung sind daran interessiert, daß der Holocaust der einzige Fall der 1. Gruppe bleibt.128

124 Steinbacher 2012, S. 18. 125 Chaumont spricht in diesem Zusammenhang von der Beanspruchung einer »einzigartigen Einzigartigkeit« für die Shoah in der Holocaustforschung, vgl. Chaumont 2001, S. 260. 126 Zum Historikerstreit vgl. etwa Schlant, Ernestine: Die Sprache des Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust. München: C. H. Beck 2001. S. 243–247. 127 Ebd., S. 21. 128 Stockhammer, Robert: Ruanda. Über einen anderen Genozid Schreiben. 2. Auflage. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2014 (= edition suhrkamp 2398), S. 61f. Im Folgenden zitiert als ›Stockhammer 2015‹.

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Eine vergleichende Genozidforschung erscheint vor diesem Hintergrund in Deutschland ausgesprochen schwierig, da eine Hierarchisierung der Genozide einem Vergleich zumindest nicht zuträglich ist. Doch gibt es auch positive Entwicklungen im Hinblick auf komparatistische Ansätze. Nach wie vor wird die Shoah zwar als ein »präzedenzloses Verbrechen«129 angesehen und doch zugleich auch als »Teil einer Reihe verbrecherischer Massengewalt, die sich durch die Geschichte zieht, insbesondere in der der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.«130 Auch Boris Barth verweist darauf, dass im 20. Jahrhundert noch weitere Genozide stattfanden, wenngleich er beim »Holocaust einige extreme Besonderheiten« ausmacht und konstatiert, er unterscheide sich »von anderen Völkermorden durch die Größenordnung und durch die angestrebte Vollständigkeit der Opfer sowie durch die angewendeten Mittel.«131 Barths Fazit: die Shoah stelle »den ultimativen Fall von Genozid dar und nicht ein einzigartiges Ereignis, das einem Vergleich wiedersteht.«132 Mit diesem Ansatz scheint ein Vergleich zwischen der Shoah und anderen Genoziden heute deutlich denkbarer als noch vor einigen Jahren. Steinbacher plädiert daher dafür, nicht weiter über den Einzigartigkeitsbegriff zu spekulieren, da dieser subjektiv geprägt sei, die Frage nach der Singularität sei »Sache des Bewusstseins, der Erfahrung und Erinnerung, weniger der Analyse.«133 Aus zeitgeschichtlicher Perspektive ist für Steinbacher der Vergleich ein logischer Schritt der Annäherung – nicht nur an andere Genozide, sondern auch an die Shoah: In der Zeitgeschichtsforschung bedarf der Vergleich keiner Rechtfertigung. Die Methode ist legitim, üblich und geht nicht mit Relativierung und Verharmlosung einher. Vergleichende Analyse zeigt Gemeinsamkeiten und Unterschiede, sie setzt nicht gleich, sondern bewirkt Klärung. Dass der nationalsozialistische Judenmord in der Gewalttradition des 20. Jahrhunderts stand, wird durch den Vergleich ebenso deutlich, wie manche Verflechtungen, Bezugnahmen und das Fortwirken von Gewalttraditionen, etwa von kolonialistisch geprägten Welteroberungsphantasien.134

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Pohl, Dieter: Massengewalt und der Mord an den Juden im »Dritten Reich«. In: Holocaust und Völkermorde. Die Reichweite des Vergleichs, hg. von Sybille Steinbacher. Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 2012. S. 107–123, hier: S. 107. Im Folgenden zitiert als ›Pohl 2012‹. 130 Ebd. 131 Barth 2006, S. 56. 132 Ebd. 133 Steinbacher 2012, S. 21. Chaumont vertritt einen mit Steinbacher vergleichbaren Ansatz. Für ihn ist die »absolute Einzigartigkeit des Gedenkens privater Natur.« Chaumont 2001, S. 262. Er gelangt zu dem Schluss, dass die Shoah durchaus für diejenigen, die sie erleben mussten, absolut einzigartig sei, diese Annahme jedoch nicht ohne weiteres allgemeingültig für alle Menschen gelten könne, vgl. ebd., S. 264f. 134 Steinbacher 2012, S. 22.

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Insbesondere Steinbachers Verweis auf eine möglicherweise angenommene Relativierung und Verharmlosung der nationalsozialistischen Verbrechen ist hier zu unterstreichen. Daneben nimmt Steinbacher auch Kontinuitätslinien zwischen Shoah und Kolonialismus in den Blick und impliziert auf diese Weise, dass die Shoah nicht ohne historische Vorbilder war. Mit ihrem Plädoyer für den Vergleich ist Steinbacher nicht allein. Hirschfeld etwa geht noch weiter, wenn er konstatiert: Bei der Klärung von Ursachen und Zusammenhängen wird die Forschung nur mit Hilfe vergleichender Studien Fortschritte erzielen. Erst verallgemeinerbare Einsichten hinsichtlich der Entstehung und des Verlaufs von Genoziden ermöglichen wissenschaftlich brauchbare Aussagen über mögliche Beziehungen zwischen genozidalen Ereignissen. Eine vergleichende Genozidforschung ist somit unumgänglich geworden. [kursiv G.M.]135 Ohne Vergleich keine neuen Ergebnisse. Von großem Interesse erscheint in diesem Kontext bereits Lemkins Einordung der Shoah in die Weltgeschichte. Der Historiker Anthony Dirk Moses hält diesbezüglich fest: »Lemkin wandte sich dagegen, den Holocaust wie überhaupt den Genozid zu einem metahistorisch-singulären Ereignis zu erheben.«136 Vielmehr entwarf er gewissermaßen einen »Leitfaden« um historische Fälle von Gewaltverbrechen zu vergleichen und wehrte sich entschieden dagegen, den »Holocaust zum Paradigma des Genozids zu machen.«137 Schon unmittelbar nach der Shoah versuchte Lemkin anhand einer Zusammenstellung von Fallstudien genozidale Verbrechen zu kategorisieren – zu diesen Verbrechen zählte er antike Massaker, mittelalterliche Verbrechen wie etwa die spanische Inquisition oder Judenpogrome aber auch neuzeitliche Massenmorde wie den Völkermord in der deutschen Kolonie DSWA oder den Völkermord an den Armeniern.138 In Anknüpfung an Lemkin spricht sich auch Moses für eine globalgeschichtliche Betrachtung von Genoziden aus.139 Es steht außer Frage, dass eine vergleichende Genozidforschung die Besonderheiten der jeweiligen Genozide keinesfalls außer Acht lassen darf – dies gilt in der deutschen Genozidforschung in besonderem Maße für den Vergleich der Shoah mit anderen Genoziden. Die zentralen Differenzen zwischen der Shoah und anderen Genoziden sieht der Historiker Eric Weitz weniger in den Verbrechen an sich, sondern vielmehr in der staatlichen Organisation dieser: 135 136

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Hirschfeld 2001, S. 84. Moses, A. Dirk: Weltgeschichte und Holocaust. Ein Blick in Raphael Lemkins unveröffentlichte Schriften. In: Holocaust und Völkermorde. Die Reichweite des Vergleichs, hg. von Sybille Steinbacher. Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 2012. S. 195–213, hier: S. 200. Im Folgenden zitiert als ›Moses 2012‹. Ebd., S. 203. Vgl. ebd., S. 203f. Auffällig ist die Akkumulation der Verbrechen in der Moderne – Lemkin zählt hier 41 genozidale Verbrechen. Vgl. ebd., S. 205.

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Der Holocaust war einer in einer Reihe von Völkermorden, die sich im zwanzigsten Jahrhundert ereignet haben. Er hatte seine bestimmten Merkmale, wie dies alle historischen Ereignisse an sich haben, wie dies jeder Genozid an sich hat. Diese Besonderheiten hingen mit Deutschlands hochentwickelter Bürokratie- und Militärkultur zusammen. Dies war natürlich nicht die einzige deutsche Tradition, aber eine sehr wirkmächtige, welche die Nazis, sobald sie an die Macht gekommen waren, dann in einer äußerst systematischen Manier zu Tötung von Juden eizusetzen vermochten. Die andere Besonderheit hing mit Deutschlands Status als Großmacht zusammen, was zu ausgeprägten territorialen Ambitionen in Europa beitrug. Indes gab es leider nichts Außergewöhnliches an dem utopischen Bestreben der Nazis, Homogenität zu schaffen, und an ihrer Instrumentalisierung der Rassenideologie, um bestimmte Menschengruppen zu klassifizieren und die Gesellschaft von ihnen zu »säubern«.140 Für Weitz ist die Shoah also nur insofern einzigartig, dass sie aufgrund des hohen Grades an Bürokratisierung in Deutschland wohl als einer der am »effizientesten« organisierten Völkermorde der Geschichte gelten kann.141 Die verbrecherische Absicht der Homogenisierung einer Gesellschaft stellt für Weitz jedoch zurecht keine Besonderheit der Judenvernichtung dar. Er kommt letztendlich zu dem drastischen Schluss, es sei »weder intellektuell noch moralisch und politisch vertretbar, den Holocaust als einzigen Zivilisationsbruch festzulegen.«142 Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass in der Forschung mittlerweile weitestgehend Einigkeit in Bezug auf die nicht mehr ohne Weiteres anzunehmende Singularität der Shoah besteht, wenngleich nach wie vor die besondere Rolle der nationalsozialistischen Judenvernichtung berücksichtigt werden sollte.143 Von besonderem Interesse im Hinblick auf eine vergleichende Analyse ist Michael Rothbergs Theorie der multidirektionalen Erinnerung. Dem zumeist insbe-

140 Weitz, Eric D.: Holocaust, Genozid und die Macht der Definition. In: Genozide und staatliche Gewaltverbrechen im 20. Jahrhundert, hg. von Verena Radkau, Eduard Fuchs und Thomas Lutz. Wien: Studien Verlag 2004 (= Konzepte und Kontroversen 3). S. 52–59, hier: S. 53. Im Folgenden zitiert als ›Weitz 2004‹. 141 Zweifellos war die industrielle Vernichtung der Juden einzigartig, die Organisation scheint jedoch vielmehr kein Alleinstellungsmerkmal der Shoah, insbesondere wenn man den Genozid in Ruanda betrachtet, vgl. dazu ausführlich Kapitel 2.7.4 dieser Arbeit. 142 Ebd. Weitz verweist insbesondere auf die Völkermorde in Armenien und Ruanda, aber auch auf die von Russland in Tschetschenien begangenen Verbrechen. 143 Vgl. Hummel 2001, S. 15. Eine Ausnahme in Hinblick auf die Singularitätsthese der Shoah bildet Norman Naimark, der die Shoah nach wie vor explizit als »paradigmatische[n] Völkermord des 20. Jahrhunderts« bezeichnet und auf diese Weise etwa von dem Völkermord an den Armeniern abzugrenzen sucht, Naimark, Norman M.: Flammender Haß. Ethnische Säuberung im 20. Jahrhundert. Aus dem Amerikanischen von Martin Richter. München: C. H. Beck 2004, S. 49. Im Folgenden zitiert als ›Naimark 2004‹.

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sondere im Zusammenhang mit der Shoah bemühten Modell der Erinnerungskonkurrenz, demzufolge sich konkurrierende Erzählungen über genozidale Verbrechen gegenseitig überlagern und verdrängen, stellt der Literaturwissenschaftler einen Ansatz entgegen, welcher von einer fruchtbaren Koexistenz der verschiedenen Erinnerungen ausgeht. Rothberg zufolge produziere der Konflikt um Erinnerungen weitere Erinnerungen und verdränge entgegen der dem Konkurrenzmodell zugrundeliegenden Annahme keinesfalls andere Erinnerungen.144 Aus dem Kampf um die vermeintlich knappe Ressource Erinnerung wird somit etwas Produktives: Im Gegensatz zu einer Konzeption, die kollektive Erinnerung als einen Fall von Erinnerungskonkurrenz – als Nullsummenspiel und Kampf um knappe Ressourcen – begreift, schlage ich vor, dass wir Erinnerung als multidirektional verstehen: als Erinnerung, die ständigen Aushandlungen, Quervergleichen und Anleihen unterworfen und dabei produktiv und nicht ablehnend ist.145 Anders als beim Konzept der Erinnerungskonkurrenz begreift Rothberg in seinem Ansatz die Öffentlichkeit darüber hinaus nicht als einen bereits festgelegten, begrenzten Raum, innerhalb dessen die verschiedenen Gruppen – vornehmlich Opfer genozidaler Verbrechen146 – einen erbitterten Kampf um die Dominanz der eigenen Erinnerung führen. Vielmehr trage die Multidirektionalität der Erinnerung dazu bei, die Öffentlichkeit »als gestaltbaren Diskursraum zu denken, in dem Gruppen nicht nur feststehende Positionen artikulieren, sondern durch ihre dialogische Verbindung mit anderen überhaupt erst entstehen.«147 Für die vergleichende Analyse von Genoziden scheint ein solches Konzept vielversprechend. Gleiches gilt für die von Rothberg angestrebte Erstellung eines Erinnerungsarchives: Weit davon entfernt, an einer einzelnen Institution oder an einem einzelnen Ort beherbergt zu sein – sei es materiell, sei es diskursiv –, ist das Archiv der multidirektionalen Erinnerung auf irreduzible Weise transversal: es überschreitet die Grenzen verschiedener Gattungen, nationaler Kontexte, Epochen und kultureller Traditionen. Weil sich dominierende Denkweisen (etwa jene, die von einer Erinnerungskonkurrenz ausgehen) geweigert haben, die die kollektive Erinnerung aktivierenden multidirektionalen Einflüsse und Artikulationen zur Kenntnis zu nehmen, müssen komparativ arbeitende Kritiker zunächst das Archiv

144 Vgl. Axster; König: Interview mit Michael Rothberg, S. 11. 145 Rothberg 2021, S. 27. 146 Als Beispiel für diesen Kampf führt Rothberg eine Rede des afroamerikanischen Rassisten Khalid Muhammad an, in welcher dieser die Erinnerung an die Sklaverei der Erinnerung an die Shoah entgegenstellt, wobei die beiden Erinnerungen als einander ausschließend verstanden werden, vgl. ebd., S. 25f. 147 Ebd., S. 29.

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einrichten, indem sie Verbindungen zwischen verstreuten Dokumenten herstellen. […] Das Beweismaterial ist vorhanden, doch das Archiv muss mithilfe jener veränderten Sichtweise aufgebaut werden, die eine neu [sic!] Art komparativen Denkens gewährt. Die größte Bedrohung für die Sichtbarkeit dieses marginalisierten Archivs des Holocaustgedenkens im Zeitalter der Dekolonialisierung ist das Nullsummen-Denken, das der Logik der Erinnerungskonkurrenz zugrunde liegt. Die größte Hoffnung für eine neue Komparatistik liegt in der Öffnung jener separaten Behälter von Erinnerung und Identität, die ein an Konkurrenzvorstellungen ausgerichtetes Denken befördern, sowie darin, sich die wechselseitige Konstituierung und anhaltende Transformation der Untersuchungsgegenstände bewusst zu machen.148 Zwar ist der Fokus bei Rothbergs Konzept auf die Verbindungen zwischen Kolonialismus und Shoah gerichtet, doch lässt sich der postkoloniale Ansatz problemlos auf weitere genozidale Verbrechen erweitern – eine solch weitere Fassung des Untersuchungsgegenstandes dürfte dabei auch im Interesse des US-Literaturwissenschaftlers liegen, da auf diese Weise das angestrebte Erinnerungsarchiv erweitert wird. Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Ausführungen scheint ein Vergleich verschiedener Genozide – insbesondere auch auf literarischer Ebene – möglich, wenngleich bei komparatistischen Ansätzen immer Vorsicht geboten ist. Dies gelte insbesondere, da ein Vergleich immer ein künstlicher Vorgang sei, so Steinbacher. Zugleich eröffneten sich jedoch immer neue Perspektiven und neue Zusammenhänge würden erschlossen.149 Bei Vergleichen stehe nach wie vor trotz aller Versuche die Shoah im Zentrum der Betrachtung und andere Genozide würden stets an ihr gemessen.150 Pohl plädiert dafür, davon abzusehen »komplizierte historische Großkomplexe« wie etwa die Shoah und den Völkermord an den Armeniern »einander gegenüberzustellen«151 , da die Verbrechen oftmals bedingt durch kulturellen Hintergrund und den jeweiligen Zeitgeist kaum in ihrer Totalität miteinander vergleichbar seien. Dies ist plausibel, wenngleich es in einigen Fällen durchaus sinnvoll erscheint auch komplexe Verbrechen mit gänzlich differierenden Hintergründen zueinander in Bezug zu setzen, da auf diese Weise mitunter Parallelen ins Auge fallen, die ansonsten im Verborgenen blieben. Aufgrund dieser komplexen Problematik präferiert Pohl wie auch Hirschfeld als Vorgehensweise den Teilvergleich.152 Ungeachtet aller kleinen Fortschritte auf dem Feld der vergleichenden Genozidforschung in Deutschland mag es kaum verwundern, dass Deutschland 148 149 150 151 152

Ebd., S. 44f. Vgl. Steinbacher 2012, S. 22f. Vgl. ebd., S. 23. Pohl 2012, S. 121. Vgl. ebd., S. 122. Interessanterweise gelangt Pohl am Ende seine Plädoyers für einen Vergleich wiederum zu der Erkenntnis, dass die Shoah ein derart epochales Ereignis im negativen Sinne

2. Shoah-Literatur und vergleichende Genozidforschung – von 1945 bis heute

noch immer zu den letzten Ländern gehört, in denen die Einzigartigkeit der Shoah angenommen wird.153

2.6 Genozide im Kontext der Shoah Bei allen Parallelen zwischen der Shoah und anderen Genoziden ist evident, dass eine Sicht der Shoah als Paradigma für andere Massenmorde eine Berechtigung hat – ohne den Mord an den europäischen Juden würde man heute wohl in einer gänzlich anderen Weise mit dem Terminus »Genozid« umgehen. Wenn also Eke schreibt, Auschwitz sei »der Spiegel, in dem sich der kulturelle Bruch reflektiert, der sich im 20. Jahrhundert ereignet hat«154 , so ist dies nicht in erster Linie als ein Plädoyer für die Singularität der Shoah anzusehen, sondern trägt vielmehr dem Umstand Rechnung, dass jeder andere Genozid – unabhängig ob er vor oder nach dem Judenmord stattfand – in Relation zur Shoah zu sehen ist. Eke verweist denn auch auf Hilsenraths Märchen vom letzten Gedanken, in welchem der Autor mittels des Erzählers eine Abkehr von der menschlichen Bestrebung nach klaren Kategorisierungen fordert, wenn es da heißt: Aber glaube mir mein Lämmchen. Egal, was da auf uns losstürzt: die Historiker werden sich ins Fäustchen lachen, besonders die Zuständigen für zeitgenössische Geschichte, denn sie brauchen zur Unterbrechung ihrer Langeweile neuen Stoff, einen Stoff, mit dem sich arbeiten läßt. In ihrer Phantasielosigkeit werden sie nach Zahlen suchen, um die Massen der Erschlagenen einzugrenzen – sie sozusagen: zu erfassen –, und sie werden nach Wörtern suchen, um das große Massaker zu bezeichnen und es pedantisch einzuordnen. Sie wissen nicht, daß jeder Mensch einmalig ist und daß auch der Dorftrottel im Heimatdorf deines Vaters das Recht auf einen Namen hat. Sie werden das große Massaker Völkermord nennen oder Massenmord, und die Gelehrten unter ihnen werden sagen, es heiße Genozid. Irgendein Klugscheißer wird sagen, es heiße Armenozid, und der allerletzte Fachidiot wird in Wörterbüchern nachschlagen und schließlich behaupten, es heiße Holocaust. (MlG 219f.)

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darstelle, welches sich nicht als Ganzes für den Vergleich eigne – auf diese Weise behauptet er, wenngleich auch indirekt, wieder den Singularitätsanspruch der Shoah., vgl. ebd., S. 123. Vgl. Blum, Volkmar: Tödliche Politik – Völkermord und Massenvertreibungen im 20. Jahrhundert in gesellschaftlicher Praxis und soziologischer Theorie. In: Völkermord – friedenswissenschaftliche Annäherungen, hg. von Hartwig Hummel. Baden-Baden: Nomos 2001 (= Schriftenreihe der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung e.V. (AFK) 28). S. S. 91–102, hier: S. 95. Im Folgenden zitiert als ›Blum 2001‹. Eke 2006, S. 11.

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Was Hilsenraths Erzähler an dieser Stelle macht, ist nichts anderes als das Einreißen der künstlich erzeugten vermeintlich trennscharfen Abgrenzung zwischen verschiedenen Genoziden – indem er den Völkermord an den Armenieren in zynischer Weise zum »Holocaust« deklariert, erteilt er der Singularitätsthese eine deutliche Absage. Hilsenrath war keinesfalls der einzige Überlebende der Shoah, der »Auschwitz als Globalmetapher«155 für alle anderen Katastrophen ablehnte.

2.6.1 Kolonialverbrechen und die Shoah Die Suche nach Kontinuitätslinien zwischen Shoah und kolonialem Völkermord in der deutschen Kolonie DSWA ist in den letzten Jahren mehr in den Fokus der Forschung gerückt. Hannah Arendt war die erste, die in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft von einer deutlichen Verbindung zwischen Kolonialverbrechen und der Shoah schrieb.156 Anknüpfend an Arendts vorrangig auf eine allgemeine Verbindung zwischen Imperialismus und nationalsozialistischen Genozid angelegtem Ansatz, steht in der aktuellen Diskussion die Suche nach Kontinuitäten zwischen deutschem kolonialem Völkermord und der Shoah im Vordergrund, wie Pohl betont.157 Er sieht dennoch kaum Verbindungen oder Parallelen zwischen den deutschen Kolonialverbrechen und der Shoah – einzig im medizinischen Bereich erkennt er direkte Bezugspunkte.158 Der Verweis auf die Kontinuitätslinien in medizinischer Hinsicht sind zweifellos richtig, doch ist es deutlich zu kurz gegriffen, hierin die einzigen Verbindungen zu sehen. Insbesondere der im Oktober 1904 herausgegebene Befehl zur Vernichtung der Herero durch Lothar von Trotha, Kommandeur der Kaiserlichen Schutztruppe in DSWA, offenbart deutliche Kontinuitäten zwischen kolonialem Völkermord und Shoah. Von Trotha ließ in dem Befehl verlauten: Ich kenne genug Stämme in Afrika. Sie gleichen sich alle in dem Gedankengang, dass sie nur der Gewalt weichen. Diese Gewalt mit krassem Terrorismus und selbst mit Grausamkeit auszuüben, war und ist meine Politik. Ich vernichte die aufständischen Stämme mit Strömen von Blut und Strömen von Geld. Nur auf dieser Aussaat kann etwas Neues entstehen, was Bestand hat.159

155 156 157 158 159

Disselnkötter 2003, S. 56. Vgl. Pohl 2012, S. 110. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Lothar von Trotha zitiert nach Eicker, Steffen: Der Deutsch-Herero-Krieg und das Völkerrecht. Die völkerrechtliche Haftung der Bundesrepublik Deutschland für das Vorgehen des Deutschen Reiches gegen die Herero in Deutsch-Südwestafrika im Jahre 1904 und ihre Durchsetzung vor einem nationalen Gericht. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2009 (= Schriften zum internationalen und zum öffentlichen Recht 80), S. 7.

2. Shoah-Literatur und vergleichende Genozidforschung – von 1945 bis heute

Allein in der Totalität der Vernichtungsabsicht zeigt sich eine deutliche Parallele zwischen Shoah und der angestrebten Vernichtung der Herero. So sieht auch Richard Albrecht direkte Bezüge zwischen dem Vorgehen in der deutschen Kolonie und der Vernichtungspraxis der Nationalsozialisten: [Es] führen von diesem Anfang Oktober 1904 in DSWA verkündeten Vernichtungsdokument mentalitäre Destruktionsfäden sowohl zur nationalsozialistischen Vernichtungsideologie […] als auch zur deutschen Besatzungsform in Belgien 1914 während des Ersten und der Vernichtungspraxis in Form des Holocaust an europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs andererseits.160 In dem Vernichtungsdokument sieht Albrecht zudem eine »praefaschistisch-koloniale Völkermordmentalität«161 . Obschon von Trothas befohlene Vernichtung der Herero direkte Bezüge zur Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten offenbart, scheuen sich nach wie vor viele Historiker, strukturelle Ähnlichkeiten und Bezüge zwischen Shoah und kolonialem Völkermord in den Fokus zu nehmen: Experten für die deutsche Kolonialgeschichte neigen einerseits dazu, die Shoah nicht in ihre Analysen zu inkludieren und Holocaustforscher exkludieren zumeist die Kolonialgeschichte.162 Das Spannungsfeld zwischen diesen beiden Polen verdeutlicht Zimmerer, wenn er konstatiert: Das Problem des Zusammenhangs zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus ist hochpolitisch und emotionalisiert, ist die Frage nach der Singularität des Holocaust, nach dem Zusammenhang der NS-Verbrechen mit früheren wie späteren, kollektiv verübten Massenmorden, doch längst von einer historisch-akademischen Frage zu einer geschichtsphilosophischen und identitätsstiftenden geworden. Sehen die Verfechter der Singularitätsthese im Vergleich eine blasphemische Verspottung der Opfer, so erblicken deren Gegner darin, in Analogie zum Vorwurf der Holocaustleugnung, die Leugnung aller anderen Genozide.163 Die große Diskrepanz zwischen den zwei Forschungsstandpunkten gilt es zu überbrücken, da trotz aller Vorbehalte deutliche Analogien zwischen beiden Verbrechen nicht zu leugnen sind. Insbesondere Zimmerer arbeitet zahlreiche Parallelen im

160 Albrecht, Richard: Völkermord(en). Genozidpolitik im 20. Jahrhundert. Aachen: Shaker Verlag 2006, S. 24f. Im Folgenden zitiert als ›Albrecht 2006‹. 161 Ebd. Wie Albrecht vertreten auch zahlreiche weitere Wissenschaftler in Anlehnung an Arendt deutliche Kontinuitätslinien zwischen kolonialem Völkermord und Shoah. Vgl. dazu etwa Weitz 2004, S. 56. Zimmerer etwa konstatiert in Bezug auf von Trotha: »So führte er auch seinen Feldzug gegen die Herero und später die Nama, der in vielerlei Hinsicht paradigmatisch für den nationalsozialistischen Vernichtungskrieg war.«, Zimmerer 2011, S. 274. 162 Vgl. Zimmerer 2011, S. 140ff. 163 Ebd., S. 143.

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Hinblick auf die Grundlage für beide Genozide heraus.164 Auch mit einem der Hauptargumente der Gegner eines Vergleiches, der vermeintlich großen Diskrepanz zwischen der staatlichen Organisation der Genozide, setzt sich Zimmerer dezidiert auseinander: Die staatliche Durchführung und die bürokratische Organisation scheinen auf den ersten Blick ein wichtiges Unterscheidungskriterium, mit denen sich die Verbrechen der Nationalsozialisten von den Völkermorden in den Kolonien abgrenzen lassen. Allerdings handelt es sich dabei, so die hier vertretene These, um einen graduellen, nicht jedoch um einen strukturell-essentiellen Unterschied, lassen sich bei genauerem Hinsehen doch viele Genozide als staatliche Verbrechen identifizieren, auch mit starken bürokratischen Elementen.165 Die Sichtweise, dass es sich lediglich um graduelle Unterschiede handle, untermauert Zimmerer indem er auf die historische Entwicklung des Staates verweist wobei er konstatiert, dass der Kolonialstaat schon zwangsläufig anders organisiert gewesen sei als der nationalsozialistische Zentralstaat.166 Zu Recht betont Zimmerer zudem die bei beiden Genoziden bestehende »Bereitschaft, vom ›Täter‹ definierte Gruppen von Menschen zu vernichten.«167 Zwar seien die Vernichtungsabsichten in den Kolonien weniger organisiert in die Tat umgesetzt worden, doch sei die Vernichtung der Juden nur denkbar gewesen, weil Vernichtung von Ethnien schon in Kolonien gedacht wurde.168 In diesen Kontext fallen auch die bereits von Pohl festgestellten Parallelen auf medizinischer Ebene. So wurde in den Kolonien der pseudowissenschaftliche Grundstein für die Rassenideologie gefestigt – mittels der Untersuchung der Schädel toter Gefangener versuchte etwa der deutsche Professor für Medizin, Anthropologie und Eugenik Eugen Fischer, »die Minderwertigkeit der schwarzen Bevölkerung in der deutschen Kolonie [DSWA] nachzuweisen«169 . Fischer wurde Leiter des »Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik« – er und seine Institutskollegen »[lieferten] eine wissenschaftliche Legitimationsgrundlage für Gesetze und Maßnahmen, die den Aus-

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Vgl. ebd., S. 147–156. Ebd., S. 159. Vgl. ebd., S. 193f. Ebd., S. 194. In diesem Kontext verwundert es durchaus, dass die Rezeption der Hereros im nationalsozialistischen Staat zunächst einmal eine positive war – auch wenn hier die Einschränkung galt, dass dies an eine vermeintliche »Reinheit der Rasse« der Herero geknüpft war und Kontakte mit den Siedlern ausschloss, vgl. Pohl 2012, S. 117f. 168 Vgl. Zimmerer 2011, S. 170f. 169 Castro Varela, María; Dhawan, Nikita: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. 2., komplett überarbeitete und erweiterte Auflage. Bielefeld: transcript 2015 (= Cultural Studies 36), S. 76. Im Folgenden zitiert als ›Castro Varela; Dhawan 2015‹.

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schluss und die Vernichtung ›rassisch Minderwertiger‹ [vorbereiteten].«170 Es verwundert daher nicht, dass Fischer nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten weiter Karriere machte und 1933 von Hitler zum Rektor der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität berufen wurde.171 Neben solchen personellen Kontinuitäten verweisen María Castro Varela und Nikita Dhawan auf die Etablierung von Konzentrationslagern, Zwangsarbeit und die in den Kolonien durchgeführten medizinischen Experimenten – Praktiken, die im Dritten Reich ihre Fortsetzung fanden.172 Insbesondere die Etablierung von Konzentrationslagern muss an dieser Stelle hervorgehoben werden, waren die in DSWA errichteten KZs den nationalsozialistischen Nachfolgern doch in vielerlei Hinsicht ähnlich und dürften daher durchaus mit Recht als deren Vorbilder gedient haben. Die Ähnlichkeit begann bei der Auswahl der Internierten – anders als in Kriegsgefangenenlagern wurden alle Mitglieder einer Volksgruppe inhaftiert, egal ob Frauen, Kinder oder Greise.173 Auch die Ausrichtung der Lager erinnerte stark an die nationalsozialistischen Lager. Die Internierten wurden täglich an Betriebe der Kolonisatoren »ausgeliehen«. Ziel war neben dem Erhalt billiger Arbeitskräfte eine »Erziehung zur Arbeit« – eine Absicht, die die Nationalsozialisten vorgeblich später ebenfalls bei ihren Opfern verfolgten.174 Nicht zuletzt lässt sich auch im Hinblick auf das Ergebnis der Internierung eine deutliche Parallele feststellen: Wie in den KZs im »Dritten Reich« waren die Lebensbedingungen in den kolonialen Lagern derart grauenvoll, dass die Mehrheit der Gefangenen starb. Zimmerer schreibt in diesem Zusammenhang von einer »bewussten Ermordung durch Vernachlässigung.«175 Des Weiteren ließ sich auch eine erste Bürokratisierung der Vernichtung in den Lagern beobachten: »wer im Camp war, war gezählt und überwacht«176 und auch der Tod der Häftlinge wurde akribisch in bereits vorgedruckten Totenscheinen festgehalten. Wenn also Zimmerer in dem Völkermord an den Herero und Nama ein »entscheidendes Bindeglied zwischen den Genoziden in den Kolonien und den Verbrechen der Nationalsozialisten«177 sieht, liegt er mit dieser Einschätzung durchaus richtig. Sein Fazit:

170 Strähle, Volker: »Rassenforschung« in Dahlem: Von der Kolonialwissenschaft zur Ausrottungspolitik – das »Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik« (1927–1945). Internet-Publikation in: Berlin Postkolonial: https://www.berlin-po stkolonial.de/cms/index.php/component/content/article?id=35:ihnestrasse-22. Eingesehen: 06.02.2018. 171 Vgl. ebd. 172 Vgl. Castro Varela; Dhawan, S. 75. 173 Vgl. Zimmerer 2011, S. 187f. 174 Vgl. ebd., S. 188. 175 Ebd., S. 190. 176 Ebd., S. 191. 177 Ebd., S. 167.

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Vor allem im Hinblick auf die Bereitschaft, ganze Völker zu vernichten, beginnt mit dem europäischen Kolonialismus eine sowohl an eine bestimmte Raumvorstellung als auch an ein Rassenkonzept gebundene Entwicklung, an deren vorläufigem Ende der ›Hungerplan‹ von 1941 und die genozidalen Massaker der Partisanenbekämpfung und die organisierte Erstickung im Gas stehen.178 Kontinuitätslinien, die vom Kolonialismus bis zur Shoah reichen, wie Zimmer sie herausarbeitet, bezeichnet Michael Rothberg in Anlehnung an Arendt und Césaire als »Bummerangeffekt« oder »Choc en Retour«: Wie die beiden Genannten verweist auch der Literaturwissenschaftler darauf, dass der nationalsozialistische Genozid gewissermaßen als die Rückkehr der kolonialen Gewalt nach Europa zu verstehen sei.179 Darüber hinaus sieht Rothberg auch Verbindungen im Hinblick auf die Aufarbeitung von Shoah und Kolonialismus: Meine Neubetrachtung der frühen Nachkriegszeit zeigt zudem, dass die kollektive Erinnerung an den nationalsozialistischen Genozid während der 1950er und 1960er-Jahre punktuell im Dialog mit Dekolonialisierungsprozessen und dem Kampf um Bürgerrechte entstand – einschließlich ihrer Formen der Bewältigung von Kolonialismus, Sklaverei und Rassismus.180 Ansätze wie diejenigen von Rothberg und Zimmerer, der nach wie vor zu den wenigen Kolonialismusexperten in Deutschland gehört, die sich an den schwierigen Vergleich zwischen kolonialem Genozid und Shoah heranwagen, leisten einen wichtigen Beitrag dazu, dass langsam Bewegung in die Diskussion über Zusammenhänge zwischen kolonialem Völkermord und Shoah kommt.

2.6.2 Armenien und die Shoah Die Entstehung des Genozidbegriffs ist neben der Shoah eng mit dem von den Jungtürken begangenen Völkermord an den Armeniern verbunden. Hirschfeld bezeichnet beide als klassische Exempel für einen Genozid: Der Völkermord an den Armeniern und der Mord an den europäischen Juden sind die klassischen Beispiele für einen Genozid in der Moderne. Beide Massenverbrechen gehen auf staatlich Anordnungen und Initiativen zurück, mit dem Ziel die armenische Gemeinschaft im Osmanischen Reich und die Juden in Deutschland, in Europa und wohin immer auch der deutsche politische und militärische Ein-

178 Zimmerer 2011, S. 170. 179 Vgl. Rothberg 2021, S. 100. 180 Ebd. S. 49.

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flussbereich sich nach Kriegsbeginn 1939 verschob, radikal und umfassend zu vernichten.181 Darüber hinaus beruhten beide Genozide auf modernen »Ausgrenzungs-Ideologien und Vernichtungsphantasien«182 , fanden während eines Krieges statt und spielten ideologisch eine maßgebliche Rolle für den Krieg.183 Eine konträre Position zur Hirschfeld vertritt Naimark. Sein Hauptargument für das Bestehen auf einer Differenz zwischen Shoah und Armenozid ist, dass die Armenier eine Chance hatten, den Massakern zu entgehen indem sie konvertierten.184 Naimarks Fazit: der armenische Fall lasse sich nicht ohne Weiteres eindeutig »der Kategorie des Völkermords zuordnen«.185 Insbesondere Naimarks Verweis auf die Uneinigkeit türkischer und Armenischer Forscher innerhalb seiner Argumentation186 erscheint jedoch fragwürdig, handelt es sich einerseits um Forscher aus dem Land der Täter, welches den Völkermord nach wie vor nicht anerkennt und andererseits um die Nachfahren der Überlebenden. Paradoxerweise widerruft Naimark am Ende seine erste Eischätzung, und stellt fest, auch bei den von den Jungtürken begangenen Verbrechen habe es sich um einen Genozid gehandelt.187 In einem direkten Vergleich ist schließlich keine Rede mehr von Zweifeln am Genozid. Vielmehr weist Naimark auf gravierende Parallelen zwischen dem nationalsozialistischen und dem osmanischen Genozid hin: Die völlige Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden der Opfer ist vielleicht die am schwersten zu erklärende Ähnlichkeit; je schlimmer die Lebensumstände der Juden oder Armenier wurden, desto mehr schien die Grausamkeit ihrer Verfolger zu wachsen. Daß diese Völkermorde unter dem Deckmantel des Krieges stattfanden, ist insofern von Bedeutung, als reguläre Soldaten und paramilitärische Einheiten daran gewöhnt waren, Befehle auszuführen, zu töten und Leiden hinzunehmen, sei es das ihrer Kameraden oder das ihrer Opfer. […] Bei beiden Völkermorden war aber die Macht der Staatsideologie, den »Anderen«, jenen verhaßten und verachteten inneren Feind, zu erschaffen, von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der Voraussetzungen für den Massenmord. In beiden Fällen wurden die Opfer ideologisch und körperlich entmenschlicht. Die Erniedrigung durch ihre Peiniger bewies ihr »Anderssein« und »Untermenschentum«. […] Das Einpferchen der jüdischen Bevölkerung in Ghettos und Konzentrationslager und ihre Er-

181 182 183 184 185 186 187

Hirschfeld 2001, S. 85. Ebd., S. 86. Vgl. ebd. Vgl. Naimark 2012, S. 50. Ebd., S. 51. Vgl. ebd., S. 52. Vgl. ebd., S. 52f.

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niedrigung zu passiven, hohläugigen, kranken Skeletten ließ den Nationalsozialisten die Gaskammern nur um so vernünftiger erscheinen. Auf ähnliche Weise trug der körperliche Verfall der Armenier, die hungernd, bettelnd und krank durch die Wüste marschieren mußten, zur türkischen Rechtfertigung des Massenmords bei.188 Es war vor allen Dingen die von Naimark konstatierte vollständige Entmenschlichung der »Anderen«, Armenieren wie Juden, die als die wohl evidenteste Parallele zwischen den beiden Genoziden angesehen werden kann. Dennoch betont Naimark eine deutliche Differenz zwischen beiden Völkermorden: Die Massaker im Osmanischen Reich wurden nicht von einer wahnhaften Rassenideologie begleitet.189 Neben den Parallelen hinsichtlich Planung und Durchführung offenbart die vergleichende Genozidforschung noch weitere Anknüpfungspunkte. Zur Zeit der Machtübergabe an Hitler herrschte ein breites Wissen um den Völkermord an den Armeniern in Deutschland.190 Die Massaker im Osmanischen Reich waren als »Armenier-Greuel« bekannt und mussten nicht explizit beschrieben werden.191 Lexika wie etwa Meyers Lexikon begannen zudem bereits in den 1930ern damit, die Armenier selbst für die Vernichtungspolitik der Jungtürken verantwortlich zu machen – ein Argument, welches während des Krieges von den Nationalsozialisten aufgegriffen und auf die Kolonisierungsmission im Osten übertragen wurde.192 Doch waren es keineswegs lediglich die Nationalsozialisten, die einen Bezug zu den Verbrechen der Jungtürken herstellten. Viele emigrierte Juden sahen Parallelen zwischen der eigenen Situation und derer der Armenier. Verantwortlich für diese Sichtweise war nicht zuletzt ein literarisches Werk: Franz Werfel Die vierzig Tage des Musa Dagh, in welchem der Autor zwar direkte Bezüge zwischen der Situation der Armenier und jener der Juden zu vermeiden suchte, diese aber dennoch und wohl nicht zu Unrecht von vielen hergestellt wurden.193 Der Roman wurde von vielen Juden dabei als eine Art Mutmacher gelesen.194 188 Ebd., S. 107f. Gerade die totale Entmenschlichung der Inhaftierten lässt sich auch bei den Konzentrationslagern in den Kolonien erkennen. 189 Vgl. ebd., S. 109f. 190 Gruner, Wolf: »Armenier-Greuel«. Was wussten jüdische und nichtjüdische Deutsche im NS-Staat über den Völkermord von 1915/16? In: Holocaust und Völkermorde. Die Reichweite des Vergleichs, hg. von Sybille Steinbacher. Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 2012. S. 31–54, hier: S. 43. Im Folgenden zitiert als ›Gruner 2012‹. 191 Gruner verweist darauf, dass in einschlägigen Lexika und Presseartikeln aus den 1930er Jahren die »Armenier Greul« nicht einmal einer ausführlichen Erklärung bedurften, da das Wissen um die Vorgänge als gegeben vorausgesetzt werden konnte, vgl. ebd., S. 53. 192 Vgl. ebd., S. 46. Hitler selbst stellte ebenfalls eine direkte Verbindung zwischen dem Völkermord an den Armeniern und dem Ostfeldzug her, vgl. ebd., S. 31. 193 Vgl. ebd., S. 43f. 194 Vgl. ebd., S. 51.

2. Shoah-Literatur und vergleichende Genozidforschung – von 1945 bis heute

Wenn auch das Interesse an dem Völkermord im Laufe der 1920er in Europa allmählich nachgelassen hatte, so rückte dieser mit Beginn der Judenverfolgung ab 1933 wieder verstärkt in den Fokus.195 Direkt nach Kriegsbeginn zog Richard Lichtheim, Repräsentant der Jewish Agency of Palestine, direkte Parallelen zwischen der Vernichtung der Armenier und der Situation der Juden im Deutschen Reich.196 Nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch wurde aus naheliegenden Gründen der Völkermord an den Armeniern von der Shoah gänzlich überschattet, der Terminus »Armenier Greuel« spätestens in den 1980ern durch »Holocaust« ersetzt. Auschwitz stand nun »als Symbol für den systematischen Massenmord eines Staates an einem Volk im 20. Jahrhundert.«197 In diesem Kontext erscheint es durchaus passend, dass in Edgar Hilsenrath Ende der 80er ein Jude die armenische Thematik wiederum aufgriff und in direkte Relation zur Shoah setzte, um auf diese Weise gewissermaßen auf literarischer Ebene den Anstoß für eine vergleichende Genozidforschung gab.

2.6.3 Jugoslawien und die Shoah Anders als die beiden großen Genozide und den Völkermord an den Herero und Nama in DSWA werden die Verbrechen im Jugoslawienkrieg innerhalb der Genozidforschung nicht ohne weiteres als Völkermord eingestuft. Vielfach werden die Vorgänge zu Beginn der 1990er in dem zerfallenden Staatengebilde als ethnische Säuberungen klassifiziert. Der Historiker Philipp Ther definiert eine solche folgendermaßen: Unter ethnischen Säuberungen wird hier in Anlehnung an die Definitionen der UNO und des internationalen Gerichtshofs in Den Haag eine systematisch organisierte, mit Gewalt verbundene und in der Regel dauerhafte Zwangsumsiedlung einer durch ihre Ethnizität oder Nationalität definierten Gruppe bezeichnet.198 Folgt man dieser Definition, so handelt es sich auf den ersten Blick bei den Verbrechen in Jugoslawien in der Tat um eine ethnische Säuberung. Dennoch ist eine Einordnung keinesfalls so eindeutig möglich, wie es zunächst scheinen mag. Auch die

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In diesem Kontext ist insbesondere die Ermordung des Chefs der NSDAP-Auslandsorganisation durch den Juden David Frankfurter im Jahr 1936 in der Schweiz zu nennen. Der Prozess gegen Frankfurter wurde in Bezug zum Prozess gegen den Mörder Taalat Paschas, einer der führenden Jungtürken bei der Verfolgung der Armenier, gesetzt, vgl. ebd., S. 46f. 196 Vgl. ebd., S. 49. 197 Vgl. ebd., S. 54. 198 Ther, Philipp: Differenzierung versus Universalisierung. »Ethnische Säuberungen« und die Genocide Studies. In: Holocaust und Völkermorde. Die Reichweite des Vergleichs, hg. von Sybille Steinbacher. Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 2012. S. 169–193, hier: 172f. Im Folgenden zitiert als ›Ther 2012‹.

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Armenier wurden von den Jungtürken organisiert und mit Gewalt dauerhaft umgesiedelt, doch die Umsiedlung wurde derart gestaltet, dass sie zu einem Massensterben führte. Die Übergänge zwischen Genozid und ethnischer Säuberung scheinen somit fließend, insbesondere für die Opfer, da sich eine klare Definition selten mit dem subjektiven Empfinden der Betroffenen deckt, wie man etwa bei Saša Stanišićs literarischer Auseinandersetzung mit dem Krieg erkennen kann. Erschwerend kommt hinzu, dass es während des Jugoslawienkrieges durchaus zu genozidalen Massakern kam. Ther und Naimark führen beide den »Genozid von Srebrenica«199 an, Naimark bezeichnet zudem das Massaker von Vukovar200 ebenfalls als Völkermord. Insbesondere in Bosnien war der Übergang zwischen ethnischen Säuberungen und genozidalen Verbrechen fließend. Mit Beginn der Kampfhandlungen dort steigerte sich die Brutalität um ein Vielfaches. Naimark spricht von »grauenhaften Kampagnen der ethnischen Säuberung«201 und kommt zu dem Fazit, das Vorgehen gegen die bosnischen Muslime habe einem geplanten Völkermord geähnelt.202 Das Vorgehen der Serben gegen die Muslime vor dem Beginn der Massaker offenbart Parallelen zu jenem der Türken gegen die Armenier und der Deutschen gegen die Juden am Vorabend der beiden Völkermorde: »Ebenso wie die Türken permanent die ›reichen‹ Armenier beraubten und die Deutschen die ›reichen‹ Juden, schienen die Serben zu meinen, die Muslime besäßen unbegrenzte Mittel, und beraubten sie, bis nichts mehr zu holen war.«203 Dabei gingen die Serben ebenso planvoll vor, wie vor ihnen die Nationalsozialisten.204 Naimark sieht jedoch nicht nur Parallelen zwischen den Verbrechen selbst, sondern auch für die Zukunft »Täter«: Armenier und Griechen sind für immer aus der Türkei verschwunden, wodurch das Land in jeder Hinsicht ärmer geworden ist. Obwohl einige Juden nach Deutschland zurückgekehrt sind – und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion es als Zuflucht empfinden –, ist das Deutschland, das einen Albert Einstein oder Walter Benjamin hervorbrachte, ein Gespenst der Vergangenheit. […] Auch die Völker Jugoslawiens werden einmal mit Bedauern und Schmerz auf die neunziger Jahre zurückblicken. Selbst wenn sie sich vom Verlust von Angehörigen und Freunden erholt und ihre Wirtschaft wiederaufgebaut haben, werden sie sich durch die Folgen der ethnischen Säuberung ärmer fühlen.205

199 200 201 202 203 204 205

Ther 2012, S. 190; Naimark 2004, S. 204ff. Vgl. Naimark 2004, S. 196. Ebd., S. 199. Vgl. ebd., S. 200. Ebd., S. 203. Vgl. ebd., S. 207. Ebd., S. 228f.

2. Shoah-Literatur und vergleichende Genozidforschung – von 1945 bis heute

Noch ist das, was Naimark 2004 für die Zukunft der Länder auf dem Balken prophezeite, nicht eingetreten. Vielmehr werden die tiefen Gräben zwischen den ehemaligen Kriegsparteien immer wieder aufs Neue geöffnet. Das aktuell prominenteste Beispiel hierfür ist die Feier des Vizeweltmeistertitels der kroatischen Fußballnationalmannschaft im Sommer 2018. Auf öffentlicher Bühne wurde mit dem als »Thompson« bekannten rechtsradikalen Sänger Marko Perković gefeiert – mit einem Mann, »der in seinen Liedern Konzentrationslager sowie das Abschlachten von Serben oder Juden und Hitlers kroatischem [sic!] Juniorpartner Ante Pavelić feierte«206 . Auf serbischer Seite verhielt man sich kaum besser – Personen des öffentlichen Lebens, unter ihnen ein prominenter Fernsehmoderator sowie der serbische Präsident Aleksandar Vučić, sprachen sich teils drastisch gegen eine Anfeuerung der kroatischen Mannschaft durch Serben aus.207 Ein Blick in die Geschichte Jugoslawiens offenbart den Ursprung vieler Feindseligkeiten zwischen den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens. Zudem wird evident, wie eng die genozidalen Massaker mit der Shoah verwoben waren, genauer mit dem faschistischen Ustascha-Regime. Dieses hatte zwar weniger Interesse an der Vernichtung der Juden, umso größer war aber die Bereitschaft, das neue Kroatien von Serben zu »säubern«.208 So kam es nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Jugoslawien 1941 in dem neu errichteten »Unabhängigen Staat Kroatien« unter dem Führer Ante Pavelić zu grauenvollen Gewaltexzessen gegen Juden, orthodoxe Serben, Roma und kroatische Oppositionelle, wie Albrecht konstatiert: Nach Schätzung des Simon Wiesenthal Center ist die Ustascha insgesamt für den Mord von 30.000 Juden (75 Prozent der Vorkriegsbevölkerung), 29.000 Roma (97

206 Martens, Michael: Fünf Jahre Kroatien in der EU: Feiern mit dem Barden des Hasses. Internet-Publikation in: Frankfurter Allgemeine: https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/kro atien-feiern-mit-dem-barden-des-hasses-15700926.html. Aktualisiert am 21.07.2018. Eingesehen: 05.12.2018. Der rechtsradikale Sänger war auch 2020 wieder Thema in den deutschen Medien, nachdem ein Urlaubsvideo im Internet aufgetaucht war, in welchem Manuel Neuer, Torhüter der deutschen Fußballnationalmannschaft, zusammen mit kroatischen Freuden ein einschlägiges Lied des kroatischen Barden singt, vgl. Latković, Marija: Warum auch Urlaub politisch ist. Internet-Publikation in: Süddeutsche Zeitung: https://sz-magazin.suedd eutsche.de/abschiedskolumne/manuel-neuer-lied-kroatien-88992. Erschienen: 16.07.2020. Eingesehen: 12.08.2020. 207 Vgl. Lazarević, Krsto: Dürfen Serben Kroatien anfeuern? Internet-Publikation in: ZEIT ONLINE: https://www.zeit.de/sport/2018-07/fussball-wm-finale-kroatien-serbien/komplettans icht. Erstellt: 15.07.2018. Eingesehen: 05.12.2018. 208 Vgl. Pohl 2012, S. 116. Dennoch bedeutete die Fokussierung auf die Serben nicht, dass die Juden bessere Überlebenschancen in Kroatien hatten. Da sie anders als die Serben nicht abgeschoben werden konnten, entschieden sich die Ustascha dafür, die Juden im Lager Jasenovac zu ermorden, vgl. ebd.

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Prozent) und 600.000 Serben (etwa ein Drittel) auf dem gesamten Territorium des ›unabhängigen‹ Kroatiens verantwortlich.209 Ther ordnet die von den Ustascha begangenen Massaker in Hinblick auf die Relation von Vertriebenen und Ermordeten als Genozid ein.210 Eine solche Sichtweise ist insofern berechtigt, da nach den Massakern während des Jugoslawienkrieges in den 1990ern der Genozidbegriff ebenfalls eine zentrale Rolle spielte, jedoch die Zahl aller Kriegsopfer zusammen »nur« etwa ein Drittel der serbischen Opfer des Ustascha-Regimes betrug.211 Diese Verbrechen sowie vorangegangene Diskriminierungen wurden in der nach Ende des Krieges gegründeten »Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien« nie aufgearbeitet. Noch während des Jugoslawienkrieges schrieb Tilman Zülch, Gründer und Vorsitzender der Gesellschaft für bedrohte Völker, zusammen mit seinem Kollegen Benedikt Stumpf in seiner Flugschrift: Eine Vergangenheitsbewältigung, die diesen Namen verdient hätte, konnte nicht stattfinden. Grund dafür ist vor allem die Geschichtsklitterung durch die Kommunisten in den Nachkriegsjahrzehnten, die damit eigene Untaten verschleiern wollten. Eine schwere Hypothek, die eine Versöhnung zwischen den Völkern Jugoslawiens verhinderte und wesentlich dazu beigetragen hat, daß das heutige Blutbad entstehen konnte.212 Die mit dem nationalsozialistischen Deutschland zusammenhängenden Verbrechen waren somit eine Ursache für die ethnischen Säuberungen während des Jugoslawienkrieges. Naimark geht noch weiter, verweist nicht nur auf das Ausbleiben einer Aufarbeitung, sondern vielmehr auf eine gefährliche Verherrlichung der Geschichte. Er konstatiert: »Die Art, wie Nationalisten in Ex-Jugoslawien sich an den Zweiten Weltkrieg erinnerten, verband die ethnischen Säuberungen in Bosnien und dem Kosovo mit den Problemen des ganzen 20. Jahrhunderts.«213 Alle Kriegsparteien achteten während des Konfliktes penibel darauf, Bezüge zum Zweiten Weltkrieg herzustellen, die physischen Auseinandersetzungen wurden auf diese Weise von einem »verbale[n] Bürgerkrieg«214 begleitet. Im Zentrum der Kriegserinnerung stand nicht zuletzt das Ustascha-Lager Jasenovac215 , in welchem 209 210 211 212

Albrecht 2006, S. 81. Vgl. Ther 2012, S. 182. Vgl. ebd., S. 188ff. Stumpf, Benedikt; Zülch, Tilman: »Ethnische Säuberung« – Hintergründe und Motive. In: »Ethnische Säuberung« – Völkermord für »Großserbien«. Hamburg, Zürich: Luchterhand 1993 (= Luchterhand Flugschrift 5). S. 13–18, hier: S. 15. 213 Naimark 2004, S. 176f. 214 Ebd., S. 197. 215 Bei dem Lager handelt es sich um das einzige Vernichtungslager, in welchem während des Zweiten Weltkrieges ohne deutsche Beteiligung gemordet wurde. Das Vorgehen der Kroaten in dem nahe der Ortschaft Jasenovac in Westsalwonien gelegenen Lager zeichnete sich durch

2. Shoah-Literatur und vergleichende Genozidforschung – von 1945 bis heute

Zehntausende Serben, Juden und Regimegegner getötet wurden. Die Serben nutzten die Erinnerung, um die Angst vor einem »neuen Jasenovac« zu beschwören, die Kroaten hingegen legten den Fokus der Erinnerung auf die von den Partisanen an Kroaten begangenen Massaker nach dem Kriegsende 1945.216 Auf diese Weise wurden die genozidalen Verbrechen aus der Zeit des Nationalsozialismus untrennbar mit jenen zu Beginn der 1990er verbunden.

2.6.4 Ruanda Neben dem Völkermord an den Armenieren und der Shoah ist der Völkermord in Ruanda, bei dem 1994 Schätzungen zufolge zwischen 800 000 und 1.000 0000 Tutsi und oppositionelle Hutu von Hutu ermordet wurden der dritte große Genozid des 20. Jahrhunderts.217 Wenngleich dies in der internationalen Forschung unumstritten ist, so läuft der Genozid in Ruanda in der deutschen Genozidforschung nach wie vor unter der Kategorie der »fernen Völkermorde« und wird als solcher weitestgehend ausgeklammert.218 Dies ist insofern besonders erstaunlich, da durchaus Verbindungen zwischen Deutschland und Ruanda bestehen: Zum einen waren es die deutschen »Entdecker«, die den Grundstein für die ethnischen Klassifizierungen in Hutu und Tutsi legten219 , welche die Belgier später als Kolonialmacht in den Pässen

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besondere Bestialität aus. Die Internierten Serben, Juden und Roma wurden meist zu Tode gefoltert – neben den Ustascha waren Franziskanermönche an den sadistischen Gewaltexzessen beteiligt, vgl. Albrecht 2006, S. 80f. Vgl. Naimark 2004, S. 197. Umso erstaunlicher scheint der Umstand, dass der sich bereits vor den Gewaltexzessen abzeichnende Genozid von internationalen Akteuren zunächst nicht als solcher bezeichnet wurde – dies alles trotz klar artikulierter Vernichtungsabsicht. Die Begründung für dieses Handeln: Es gebe nicht genügend Todesopfer für eine entsprechende Klassifikation. Ein Eigreifen hätte vermutlich Hundertausenden das Leben gerettet, doch genau ein solches Eingreifen wollte die Weltgemeinschaft verhindern, vgl. Blum 2001, S. 94. Vgl. Stockhammer 2015, S. 63. Vgl. ebd., S. 15f. Der Terminus »Entdecker«, den auch Stockhammer verwendet, ist äußerst kritisch zu betrachten, suggeriert er doch, dass Afrika erst habe »entdeckt« werden müssen – die autochthone Bevölkerung dürfte sich jedoch durchaus über ihre Umgebung im Klaren gewesen sein bevor die Europäer ihr Land »entdeckten«. Von »Entdeckern« im Kontext der Kolonialisierung zu schreiben, zeugt also von einer zutiefst eurozentrischen Sichtweise, vgl. dazu ausführlich Danielzik, Chandra-Milena; Bendix, Daniel: entdecken/Entdeckung/ Entdecker_in/Entdeckungsreise. In: Wie Rassismus aus Wörtern spricht. (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, hg. von Susan Arndt und Nadja Ofuatey-Alazard. 2. Auflage. Münster: Unrast 2015. S. 264–268.

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der Ruander festschreiben ließen220 und zum anderen unterhielt Deutschland vor dem Beginn der Massaker enge Beziehungen nach Ruanda. Damit erschöpfen sich die Bezüge jedoch keineswegs. In Hinblick auf die dem Genozid vorangehende Propaganda werden Parallelen etwa zur Shoah evident. So wurden in den Medien »Mischehen« zwischen Hutu und Tutsi diffamiert – gleiches geschah im »Dritten Reich« in Bezug auf Ehen zwischen Juden und Deutschen.221 Die Tutsi wurden, wie die Juden von den Nationalsozialisten, von den Hutu systematisch zum »inneren Feind« stilisiert. Indizien sprechen außerdem dafür, dass Täter sich explizit auf die Shoah beriefen.222 Deutlicher werden die Parallelen zur Shoah noch sobald man die Verbrechen selbst in den Blick nimmt. Obschon die Massaker aufgrund der vornehmlichen Tatwaffen, wie Macheten, Knüppeln und anderen Schlagwaffen sowie Handgranaten, zunächst keinerlei Ähnlichkeit mit der systematischen Tötung der Juden in Gaskammern zu haben scheinen, gingen die Hutu äußerst planvoll und organisiert vor: Der Genozid in Ruanda erreichte ein zeitlich und räumlich nie da gewesenes Ausmaß. Nur die präzise Planung und Ausführung des Massenmordes macht die Tötung so vieler Menschen in einem Zeitraum von nur 100 Tagen möglich. Ausgehend von 800.000 Toten sind das mehr als 333 Morde pro Stunde, über 5 pro Minute. […] Die Gründlichkeit der Tötungen erinnert an die Vernichtung der Juden durch die Nazis.223

220 Vgl. Bohnert, Marcel: Zum Umgang mit belasteter Vergangenheit im postgenozidalen Ruanda. Regensburg: S. Roderer 2008 (= Theorie und Forschung 867; Zeitgeschichte 12), S. 34f. Im Folgenden zitiert als ›Bohnert 2008‹ sowie Des Forges, Alison: Kein Zeuge darf überleben. Der Genozid in Ruanda. Hamburg: Hamburger Edition 2002, S. 59–64. Im Folgenden zitiert als ›Des Forges 2002‹. Stockhammer konstatiert diesbezüglich ebenfalls, dass der Rassismus in Ruanda durch die von den Belgiern eingeführte Festschreibung der Ethnie Einzug in Ruanda gehalten habe, vgl. Stockhammer 2015, S. 18. Problematisch war hierbei insbesondere der Umstand, dass mit der Ethnie auch der soziale Status der Ruander festgelegt wurde. Profitierten zunächst die Tutsi, die von den Europäern als höhere und ihnen näher verwandte »Rasse« angesehen wurden, von dieser Klassifizierung, so wandelte sich diese zu ihrem Nachteil, nachdem die Hutu sich in den 1960er Jahren von der Herrschaft der »internen Kolonisatoren«, die sie in den Tutsi sahen, »befreiten«. War es vorher ein Vorteil gewesen, der herrschenden Minderheit der Tutsi anzugehören, so bedeutet es fortan eine Gefahr nun zur unterdrückten Minderheit gezählt zu werden, vgl. ebd., S. 22. 221 Vgl. Bohnert 2008, S. 19. Die Hetze gegen die Frauen der Tutsi im Vorfeld des Genozids führte zu einer Sexualisierung der Verbrechen, vgl. ebd., S. 25. Damit war der Fall ähnlich gelagert wie bei den bosnischen Muslimen. Auch hier gab es, insbesondere von serbischer Seite, systematische, äußerst grausame und sadistische Übergriffe auf die muslimischen Frauen, vgl. Naimark 2004, S. 208–212. 222 Vgl. Stockhammer 2015, S. 67. 223 Bohnert 2008, S. 26.

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Damit lag die Mordrate fünfmal höher als jene der Shoah.224 Solch ein Massaker erforderte eine detaillierte Planung – von der Beschaffung hunderttausender Macheten bis hin zu der von langer Hand geplanten Medienkampagne gegen die Tutsi. Stockhammer sieht darin »eine bürokratische Meisterleistung im Vorfeld des Genozids.«225 Anders als oftmals von westlichen Medien suggeriert, handelte es sich in keiner Weise um »einen Stammeskrieg oder ein spontanes Pogrom, sondern um ein systematisches, sorgfältig vorbereitetes, zentral gesteuertes und bis ins Detail geplantes Verbrechen.«226 Der Genozid hatte noch eine weitere Parallele zur Shoah, aber auch zu dem Völkermord an den Armeniern. Wie Juden und Armenieren wurde den Tutsi systematisch ihr »Menschsein« abgesprochen, sie wurden gleichgesetzt mit »Kakerlaken, Schaben oder Schlangen, die es auszulöschen galt.«227 Bei der Aufarbeitung und den Folgen des Genozids werden weitere Parallelen zu anderen Völkermorden evident. Bohnert verweist auf die Schuldgefühle vieler Überlebender, die sich, ähnlich wie Überlebende der Shoah, schuldig fühlen, weil sie überlebten während andere starben. Überlebende sähen sich zudem wie Überlebende der Konzentrationslager dem Vorwurf der Passivität ausgesetzt, so Bohnert weiter.228 Ruanda steht heute an einem ähnlichen Punkt, wie Deutschland einige Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg und auch die Situation der Überlebenden gestaltet sich similär. Wie die überlebenden Juden leben auch die Tutsi als Minderheit mit den Tätern zusammen in einem Land, kommunizieren weiterhin in der Sprache der Täter. In diesem Kontext verwundert es kaum, dass sich beim Schreiben über den Genozid in Ruanda immer wieder Bezüge zum Schreiben über die Shoah finden, wie Stockhammer konstatiert.229 Wie beim Schreiben über die Shoah ist auch beim Schreiben über den Genozid in Ruanda die Sprache ein Problem – war die deutsche Sprache für viele Juden das Idiom der Vernichtung, so gilt dies auch für viele, die über den Genozid in Ruanda schreiben wollen.230 Wie soll man in der Sprache schreiben, in der Täter die Listen mit Namen der Tutsi verlesen hatten, die es noch zu ermorden galt, in der sie in den Medien zur »Arbeit«, der Ermordung der Tutsi,

224 Vgl. Stockhammer 2015, S. 65. 225 Ebd., S. 147. Eine sehr gründliche Beschreibung der Planung des Genozides findet sich bei Des Forges, vgl. Des Forges 2002, S. 269–315. 226 Bohnert 2008, S. 35. Alle Regierungsebenen Ruandas waren in die Planung und Durchführung des Genozids involviert, vgl. Ndangiza, Fatuma: »Wir sind alle Verlierer in diesem Spiel«. Wie die Rwander die jüngste Vergangenheit bewältigen. In: Genozide und staatliche Gewaltverbrechen im 20. Jahrhundert, hg. von Verena Radkau, Eduard Fuchs und Thomas Lutz. Wien: Studien Verlag 2004 (= Konzepte und Kontroversen 3). S. 70–78, hier: S. 72. 227 Bohnert 2008, S. 36. 228 Vgl. ebd., S. 43f. 229 Vgl. Stockhammer 2008, S. 71. 230 Vgl. ebd., S. 72.

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aufgerufen hatten? Doch gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Schreiben über die Shoah und den Völkermord in Ruanda: anders als im Falle der Shoah entstand in Ruanda kein Diskurs darüber, worüber und wie man schreiben durfte – ein Umstand, der wohl mit einem gänzlich anderen Verständnis von Literatur in den afrikanischen Ländern, in denen die Mehrheit der Werke über den Völkermord entstand, in direktem Zusammenhang steht.231

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So gibt es zum Völkermord in Ruanda etwa eine gleiche Anzahl an Augenzeugenberichten und Romanen. Dies steht im deutlichen Gegensatz zur literarischen Darstellung der Shoah, bei welcher zunächst vornehmlich die Zeugnisse der Überlebenden eine Aufarbeitung anstießen, vgl. ebd., S. 74.

3. Morenga

3.1 Einführung In diesem Kapitel wird argumentiert, dass Uwe Timms Morenga den Anfang einer Entwicklung markierte, die als Paradigmenwechsel innerhalb der deutschen Genozidliteratur angesehen werden kann. Wenngleich man in Timms dokumentarischer Erzählweise eine Anknüpfung an das Dokumentartheater Hochhuths und Weiss’ sehen kann, so unterscheidet Morenga sich doch in vielerlei Hinsicht von den Genannten. Zwar schreibt auch Timm über ein Verbrechen – den Völkermord an den Herero und Nama in DSWA –, doch anders als Hochhuths Stellvertreter oder Weiss’ Die Ermittlung entstand Timms Werk erst etwa 70 Jahre nach dem Verbrechen. Der Autor schreibt somit aus einer Position der Distanz zum Erzählgegenstand, welche noch durch den Umstand verstärkt wird, dass Timm anders als Hochhuth und Weiss kein Zeitzeuge des Völkermordes war – auf diese Weise stellt Timms Roman einen Vorgriff auf die kommende Generation von Erzähltexten zu Genoziden dar, in denen auf gänzlich unterschiedliche Art die Distanz zum Erzählten erzeugt wird. Der Roman nimmt innerhalb der deutschsprachigen Genozidliteratur eine besondere Rolle ein. In Ferdinand Mays Jugendroman Sturm über Südwest-Afrika1 gab es zwar zuvor bereits einen literarischen Versuch, mit dem Völkermord an den Herero und Nama einen anderen Genozid als die Shoah in den Blick zu nehmen, doch der Roman ist geprägt von einer für die Literatur der DDR nicht untypischen »marxistisch programmierten Kapitalismuskritik«2 , weshalb man nur schwerlich von einer unvoreingenommen Aufarbeitung sprechen kann. Mays Roman blieb vorerst das einzige Werk, welches den Genozid in der deutschen Kolonie in den Fokus nahm. Was also veranlasste Timm dazu, anders als andere Autoren der 68er Bewegung, nicht die Konfrontation oder Aussöhnung mit der Vätergeneration und ihren Taten

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May, Ferdinand: Sturm über Südwest-Afrika. 1. Auflage. Berlin (DDR): Neues Leben 1962 (= Spannend erzählt 45). Im Folgenden zitiert als ›May 1962‹. Brehl, Medardus: Vernichtung der Herero. Diskurse der Gewalt in der deutschen Kolonialliteratur. München: Wilhelm Fink 2007 (= Genozid und Gedächtnis), S. 139. Im Folgenden zitiert als ›Brehl 2007‹.

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im Nationalsozialismus zu suchen, sondern den ersten Völkermord des 21. Jahrhunderts in einem Roman zu verarbeiten? Schaut man sich Timms Aussagen zu seinem Roman an, so stellt man fest, dass auch Morenga in gewisser Weise eine Auseinandersetzung mit familiärer Vergangenheit ist. So konstatiert der Autor in Bezug auf sein Interesse an Afrika: Mein mich durchs Leben begleitendes Interesse für Afrika, speziell für Südwestafrika – das heutige Namibia – hat, vermute ich, seinen Grund in den abendlichen Erzählungen jener älteren Kameraden meines Vaters, die als Offiziere in Südwest gedient hatten. Sie erzählten Geschichten über die »Eingeborenen«, die nicht pünktlich waren, nicht arbeiten wollten, kräftig logen und ihre Kinder auch nicht ordentlich erzogen, also nicht prügelten. Paradiesische Zustände für mich, ein Kind, das nach preußischen Tugendmustern erzogen wurde, und ein guter Grund, sich fortan für Afrika und die Afrikaner zu interessieren, ein Interesse, das mich begleitet hat, durch die Schule, durch die Universität, wobei sich das Bild ausdifferenzierte, kritischer und vor allem selbstkritischer wurde, eine entschieden politische Richtung in der Studentenbewegung nahm und schließlich zum Engagement in der Antiapartheidbewegung führte.3 Gerade der Einfluss der Studentenbewegung auf Timms Arbeit an Morenga sollte nicht unterschätzt werden. In besonderem Maße gilt dies für den Sturz des Hamburger Wissmann-Denkmals4 – Timm verarbeitete den Vorfall schon in seinem Debütroman Heißer Sommer. Er selbst sieht in der Aktion »die Motivation für Recherchen, Reisen und für die Arbeit an dem Roman Morenga.«5 Auch die Wahl des Themas ist nicht ungewöhnlich für Timms Arbeit, sieht der Autor doch einen engen Zusammenhang zwischen Erzählen und katastrophischen Ereignissen, die in literarischen Werken dargestellt werden, wobei sich das Erzählen von den Ereignissen im Laufe der Jahre abnutze, wie er festhält.6 Eine literarische »Abnutzung« bei der Aufarbeitung des kolonialen Genozides lässt sich bis zur Erstveröffentlichung von Timms

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Timm, Uwe: Das Nahe, das Ferne. Schreiben über fremde Welten. In: Der postkoloniale Blick. Deutsche Schriftsteller berichten aus der Dritten Welt, hg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. S. 34–48, hier: S. 35. Im Folgenden zitiert als ›Timm 1997‹. Das 1922 errichtete Denkmal erinnerte an den Kolonialpolitiker Hermann von Wissmann und stand im Zeichen der kolonialen Symbolpolitik. 1968 wurde die Figur »von Studenten als bronzener Statthalter kolonialistischen Denkens gestürzt.«, Ruppenthal, Jens: Das Hamburgische Kolonialinstitut und die Kolonialwissenschaften. In: Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, hg. von Jürgen Zimmerer. Bonn: Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung 2013 (= Schriftenreihe der bpb 1405). S. 257–269, hier: S. 266. Timm 1997, S. 35. Vgl. Timm, Uwe: Erzählen und kein Ende. Versuche einer Ästhetik des Alltags. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1993, S. 98f. Im Folgenden zitiert als ›Timm 1993‹.

3. Morenga

Morenga nicht feststellen, da der Stoff bis dato mit Ausnahme der kolonialrevisionistischen Literatur der Weimarer Republik und der Zeit des Nationalsozialismus so gut wie keine Beachtung gefunden hatte. Daran, dass Erzählen für ihn immer auch eine politische Stellungnahme7 ist, lässt Timm keinen Zweifel – als Vorbilder für ein kritisches Erzählen, welches in Erinnerung bleibe, nennt Timm Autoren wir Böll, Grass, Andersch und Lenz.8 Renate Matthaei stellt in Bezug auf Timms Morenga und seinen Südamerikaroman Der Schlangenbaum (1986) fest, beide Werke seinen »didaktische Lehrstücke in der Nachfolge von Bert Brecht und Peter Weiß [sic!], geschrieben in der Hoffnung auf Veränderung.«9 Jener Idealismus, den Matthaei als Triebfeder beider Romane ausmacht, ist in der Tat für Timms frühe Werke wie Morenga ein maßgeblicher Antrieb, wie auch Aussagen des Autors verdeutlichen. So schreibt Timm, er sei früher davon überzeugt gewesen, »Literatur habe eine wichtige Bedeutung bei einer Veränderung der Gesellschaft zu mehr Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit.«10 Die Arbeit an Morenga ist somit zum einen beeinflusst von dem aus der Kindheit herrührenden Interesse des Autors an Afrika, welches sich im Zuge der Studentenproteste zu einem kritischen Blick wandelte, und zum anderen von dem idealistischen Wunsch, die Gesellschaft zu verändern. Neben der Motivation Timms ist die Art der Auseinandersetzung mit dem historischen Stoff bedeutsam für eine Analyse von Morenga. Von besonderer Relevanz ist in diesem Kontext die Frage, wie ein beinahe vergessener historischer Stoff aufgegriffen und kritisch aufgearbeitet werden sollte, wobei es gleichzeitig zu verhindern galt, dass der Roman lediglich von einer kleinen Leserschaft aus Interessierten und Experten wahrgenommen würde. Auch hierzu vertritt Timm einen klaren Standpunkt: Ich halte es für fürchterlich naiv, ein vergangenes Ereignis so zu erzählen, als hätte man unter dem Tisch oder unter dem Bett gelegen und mitstenographiert. Wer sich einem historischen Gegenstand annähert, muß eben immer auch diese Annäherung thematisieren und damit die Distanz zum Geschehenen festhalten.11 (kursiv GM) Zweifelsohne ist diese Feststellung Timms korrekt und gemahnt an die Gefahren einer Literatur, die dem Leser die vermeintlich richtige Interpretation der histori7 8 9

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Vgl. ebd., S. 103. Vgl. ebd., S. 99f. Matthaei, Renate: »Verrückte« Zeiten. Gedanken beim Lesen und Wiederlesen von Uwe Timms Büchern. In: Der schöne Überfluss. Texte zu Leben und Werk von Uwe Timm, hg. von Helge Malchow. 1. Auflage. Köln: Kiepenheuer und Witsch 2005. S. 106–118, hier: S. 108. Timm 1993, S. 111. Hamann, Christof; Timm, Uwe: »Einfühlungsästhetik wäre ein kolonialer Akt«. Ein Gespräch. In: Sprache im technischen Zeitalter 41 (2003). S. 450–462, hier: S. 452. Im Folgenden zitiert als ›Hamann/Timm 2003‹.

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schen Ereignisse mittels Erzählkommentaren oder Handlungen der Protagonisten präsentiert. Dass Literatur weit mehr als bloße Wissensvermittlung zu leisten im Stande ist, steht für Timm außer Frage: »Die Literatur kann eben im Unterschied zur Geschichtswissenschaft das Besondere, den Einzelnen mit all seinen Gefühlen oder auch seiner Gefühllosigkeit, seiner individuellen Sprache und seinen Verhaltensweisen zu ihrem Gegenstand machen.«12 Vor dem Hintergrund der skizzierten Entstehungsgeschichte des Romans verwundert es nicht, dass Morenga in erster Linie als postkolonialer Roman wahrgenommen wurde. Mehr noch, der Roman ist bis heute der wohl bedeutsamste literarische Beitrag zum postkolonialen Diskurs in Deutschland. Timm greift wiederholt Kolonialphantasien und koloniale Muster auf, die sich insbesondere in den Romanen der Weimarer Republik und im Dritten Reich finden lassen. Der Protagonist Gottschalk etwa sehnt sich seit seiner Kindheit nach dem afrikanischen Sommer (vgl. M 10), hängt, inspiriert vom »Zimtgeruch im Laden seines Vaters« (M 158), Tagträumen vom geheimnisvollen, fremden Afrika nach. Früh im Roman, noch während der Überfahrt nach Afrika, wird jedoch durch die Figur Wenstrup, seines Zeichens ebenfalls Veterinär bei der Schutztruppe, Gottschalks Vision von Afrika als bloße Träumerei entlarvt. (Vgl. M 20) Die auf die Überfahrt folgende, desillusionierende Ankunft am Ziel der Träume ist ebenfalls typisch für frühe Kolonialromane – Gottschalk ist enttäuscht, statt Palmen eine »graubraune Wüstenlandschaft« (M 17) vorzufinden. Bis hierhin knüpft Timm also an die »klassische« deutsche Kolonialliteratur der Zwischenkriegszeit und der Zeit des Nationalsozialismus an, doch anders als in dieser wird die Landschaft für den Protagonisten nicht nach einiger Zeit in der Kolonie wiederum zum idealisierten Land der unbegrenzten Freiheiten und Möglichkeiten. Vielmehr finden sich ironisierte Stellungnahmen zu ebendieser Thematik. Etwa von Gottschalk, der in seinem Tagebuch eine Hügellandschaft in Namibia mit den Worten »Die Landschaft: Der Harz, aber konsequent entlaubt und entwässert« (M 47) beschreibt. An anderer Stelle wird die, insbesondere in Hans Grimms Roman Volk ohne Raum in den 20er Jahren des 21. Jahrhunderts propagierte Idee vom »raumlosen Deutschland« aufgegriffen und auf groteske Weise als Mythos entlarvt, wenn der Bezirksamtmann Schmidt, Mitglied der »Internationale für Humifikation« (M 73), in einer Rede die Offiziere dazu auffordert, auf die Mannschaften einzuwirken: Die Soldaten sollten, »für den Fall, daß sie den Heldentod erleiden sollten, ihren Leib weder verbrennen, noch mit ungelöschtem Kalk bestreuen […] lassen«, um auf diese Weise durch die natürliche Verwesung »wesentlich zur Humusbildung« (M 73) beizutragen. So erhofft sich Schmidt einen positiven Effekt für die Kultivierung des Landes:

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Ebd., S. 455.

3. Morenga

Wer also sein Leben in die Schanze schlage für diesen deutschen Boden, der müsse auch mit seinem Leib noch für eine fruchtbare Zukunft beitragen. Hunderttausende von Deutschen könnten aus der quetschenden Enge des Vaterlandes hier eine neue deutsche Heimat finden, wenn es gelänge, dieses Land zu kultivieren. (M 73) Indem Timm an dieser Stelle explizit die von Grimm und später den Nationalsozialisten propagierte Idee vom »raumlosen Deutschland« mit Worten aufgreift, die durchaus aus Grimms Roman stammen könnten13 , diese jedoch mit einer skurrilen »Theorie der Humusbildung« verknüpft, greift er den kolonialen Diskurs der Weimarer Zeit auf und führt ihn zugleich ad absurdum. Ungeachtet seiner Verdienste um einen postkolonialen Diskurs in Deutschland wird Timm immer wieder eine eurozentrische Perspektive vorgeworfen. Er zeichne etwa »die Kultur der Nama vor allem als funktionales Gegenstück zur europäischen«14 – die von Richter stammende Einschätzung scheint ausgesprochen hart. Tatsächlich versucht sich Timm eben nicht an einer »Einfühlungsästhetik«, sondern betont explizit, dass er aufgrund seiner Herkunft nur die deutsche Perspektive beleuchten wolle respektive könne – eine Hineinversetzung in die Schwarzen wäre in seinen Augen bereits ein kolonialer Akt.15 Denkt man Timms Ansatz konsequent zu Ende, so wird klar, dass ein Deutscher schwerlich die Kultur der Nama fassen kann, und somit erscheint es folgerichtig, dass Timm in seinem Roman bis zum Ende nur an der Perspektive des deutschen Veterinärs Gottschalk festhält. Zwar ist auch eine Fokussierung auf die deutsche Perspektive aufgrund des zeitlichen Abstands zum Erzählgegenstand zunächst ebenfalls problematisch zu bewerten, anders jedoch als die Herero und Nama hielten die Deutschen vieles aus der Kolonialzeit schriftlich fest, weshalb Timm für die deutsche Perspektive in Morenga auf umfangreiche schriftliche Zeugnisse zurückgreifen konnte. Insbesondere einige dieser Dokumente prägen den Roman, wenngleich sie einen deutlich kleineren Teil des Romans ausmachen, als es zunächst den Anschein hat. Zweifellos hängt dies mit Timms Vorgehensweise zusammen: historische Texte werden selektiv ausgewählt und dienen, mal als kurzer Bericht, mal kunstvoll dialogisch montiert, dazu, den Erzählstrang immer wieder zu durchbrechen. Nicht immer ist jedoch sofort klar, was Fiktion und was ein historisches Dokument ist. Exemplarisch wird etwa mehrfach auf Aussagen von Offizieren verwiesen, deren Namen

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In Grimms Roman ist immer wieder vom »menschengefüllten Vaterlande«, S. 19, oder einem Deutschland, welches »vor Menschen birst«, S. 1187 die Rede. Vgl. Grimm, Hans: Volk ohne Raum. Ungekürzte Ausgabe in einem Band. München: Albert Langen 1931. Im Folgenden zitiert als ›Grimm 1931‹. Richter 2003, S. 440. Vgl. hierzu Hamann/Timm 2003.

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jedoch durch ein Kürzel ersetzt sind. Somit entsteht der Eindruck historischer Korrektheit, ohne dass der Leser weiß, ob es sich nun um historische oder fiktionale Figuren handelt, da die Kürzel nicht aufgelöst werden. Auf diese Weise verschwimmt in vielen Passagen in Morenga die Grenze zwischen Fiktion und historischem Dokument. Für die Untersuchung des Romans ist Timms dokumentarische Erzählweise von zentraler Bedeutung. Zunächst liegt der Fokus bei der Untersuchung von Timms Roman auf der Darstellung der historischen Wirklichkeit in der deutschen Kolonie DSWA (3.2). Insbesondere drei Aspekte spielen hierbei eine zentrale Rolle: der Krieg als ein zentrales Element der Handlung (3.2.1), die Darstellung von alltäglichem kolonialem Rassismus (3.2.2) und die von Timm in seinem Werk aufgeworfene Frage, ob der deutsche Kolonialismus gewissermaßen als Nährboden der nationalsozialistischen Ideologie angesehen werden könne (3.2.4). Im weiteren Verlauf folgt ein Blick auf die Frage nach der kulturellen Identität (3.3), welche in Romanen zur deutschsprachigen Genozidliteratur oftmals von ausgesprochener Relevanz ist. Schließlich wird untersucht, wie Timm mittels seiner Erzählstruktur eine Distanz zum Erzählgegenstand aufzubauen versteht (3.4).

3.2 Die Darstellung der »historischen Wirklichkeit« 3.2.1 Alltäglicher kolonialer Rassismus Eine besondere Leistung Timms besteht darin, dass er in seinem Roman detailliert zeigt, dass die menschenverachtenden Mechanismen der Nationalsozialisten keineswegs unvergleichbar waren, sondern vielmehr eine Vorgeschichte hatten, eine Art »kolonialen Testlauf« durchliefen. Zurecht wird neuerdings von einigen deutschen Historikern auf die Kontinuitätslinien zwischen kolonialem Völkermord und der Shoah verwiesen.16 Auch innerhalb der deutschen postkolonialen Theorie rückt die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Kolonialverbrechen und der Vernichtung der europäischen Juden verstärkt in den Fokus.17 Der erste umfangreiche literarische Versuch, eine Verbindung zwischen beiden Ereignissen herzustellen, wurde jedoch bereits 1978 von Timm in Morenga unternommen. Rassismus und Diskriminierung der autochthonen Bevölkerung sind zwei ständig wiederkehrende Motive in dem Roman. Schon zu Beginn der Handlung, während der Überfahrt des Protagonisten Gottschalk, wird der Rassismus der deutschen Kolonialherren offensichtlich. Nachdem Schwarze in Monrovia an Bord genommen wurden, heißt es: 16 17

Insbesondere Jürgen Zimmerer ist in diesem Kontext zu nennen, vgl. Zimmerer 2011. Vgl. etwa. Castro Varela; Dhawan 2015, S. 75.

3. Morenga

Oberarzt Haring erhielt den Befehl, die Neger, die sich auf dem Vorschiff einrichten mußten, zu untersuchen. Genaugenommen eine Arbeit für unsere beiden Veterinäre, sagte Leutnant Schwanebach. Alle lachten, nur Wenstrup nicht. (Dr. Haring: Der Mann hat etwas Humorloses.) (M 16f.) Wenngleich der Kommentar des Leutnants als Scherz gedacht ist, wird in der Szene deutlich, dass die Schwarzen für die deutschen Soldaten nicht mehr als Tiere sind. Später im Roman gibt es noch weitere Passagen, in denen die Sichtweise der Deutschen unterstrichen wird – wiederum ist Leutnant Schwanebach beteiligt. Bei einem Gefecht werden zwei Nama gefangengenommen. Einer von ihnen wird brutal verhört und im Anschluss von einem Soldaten exekutiert. Anders als in der Szene bei der Überfahrt wird nun tatsächlich kein Humanmediziner hinzugezogen, sondern Schwanbebach befiehlt kurzerhand, der Oberveterinär »solle prüfen, ob der Pavian tot sei.« (M 53) Trotz innerem Widerstand wehrt sich Gottschalk nicht gegen den Befehl, da er spürt, dass sein Argument die Situation lediglich verschlimmern würde: »Er sei dafür nicht zuständig, hatte Gottschalk zunächst sagen wollen, er sei schließlich Tierarzt. Aber er blieb und schwieg, da er fürchtete, daß der Schwanebach hätte antworten können: Eben drum.« (M 54) Vor dem Hintergrund der Situation auf dem Schiff ist offensichtlich, dass Gottschalks Verdacht berechtigt ist und der Leutnant nicht etwa ihm die Untersuchung überträgt, da kein Humanmediziner anwesend ist, sondern vielmehr weil er es passend findet, wenn ein Tierarzt den als »Pavian« diffamierten toten Schwarzen untersucht.18 Dass es sich bei den geschilderten Szenen keinesfalls um vereinzelte rassistische Ausfälle deutscher Offiziere handelt, wird bereits auf den ersten Romanseiten ersichtlich, als Gottschalk am Zaun des Konzentrationslagers in Windhuk ein Schild wie in einem Zoo mit der Aufschrift »Bitte nicht füttern« (M 27) entdeckt. Der unverhohlene Rassismus wird nicht nur anhand von Äußerungen deutlich, sondern offenbart sich auch in der Behandlung der gefangenen Herero – neben Männern auch Frauen und Kinder. Das Hauptinteresse der Deutschen gilt nicht etwa der Versorgung der Gefangenen, sondern vielmehr den Tieren der Herero: Es sei nicht gelungen, den Herero das Vieh abzunehmen, bevor man sie in das Sandfeld trieb. Jetzt gelte es, den Viehbestand zu sichten und auf Infektionskrankheiten zu prüfen. […] Auf die Frage Gottschalks, was man mit dem Vieh zu tun gedenke, antwortete Moll, es sei dafür da, den Fleischbedarf der Truppe zu decken. Der Rest verrecke einfach. (M 25)

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Gegen Ende des Romans findet sich noch eine weitere Passage, in welcher ein Schwarzer mit einem Tier in Verbindung gebracht wird – ein Junge, dem die Füße mit einem Strick zusammengebunden wurden, kann sich nur hüpfend fortbewegen und wird daraufhin mit einem Frosch verglichen. (Vgl. M 259)

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Einige Tiere »verrecken« zwar schlussendlich, dennoch ist man um eine medizinische Versorgung bemüht. Die Schwarzen im KZ hingegen sterben aufgrund der schlechten Versorgung an »Ruhr, Typhus und Unterernährung.« (M 27) Nicht etwa das Sterben der Schwarzen führt zu einer Untersuchung, es wird nur nach den »Ursachen für das Rindersterben« (M 28) gesucht. Wie für Schwanebach sind die Schwarzen auch für den Stabsveterinär Moll nicht mehr als Tiere – der Offizier lässt sich in Gottschalks Gegenwart darüber aus, dass es immer wieder vorgekommen sei, »daß die [gefangenen Herero] am hellichten Tag koitiert hätten« (M 26) und begründet dies damit, dass bei den Schwarzen »ein hemmungsloser Drang zur Fortpflanzung« (ebd.) herrsche. Auch im Zusammenhang mit den von den Herero begangenen Kriegsgräueln nutzt, wiederum Schwanebach, das Adjektiv »viehisch« für die Taten der Herero.19 (Vgl. M 49) Auf Nachfrage Wenstrups liefert er auch den Kontext für das Verhalten der Herero, es sei »während des Vormarschs der deutschen Truppen zu Vergewaltigungen und Mißhandlungen von Hererofrauen gekommen« (ebd.). Wenstrup kommentiert dies zynisch, indem er die Kriegsverbrechen der Deutschen als »Furor teutonicus« (ebd.) bezeichnet. Bis auf diese letzte Passage bleiben die rassistischen Äußerungen der deutschen Kolonisatoren ohne direkten Kommentar – der Erzähler verweist zwar mehrfach auf Gottschalks Widerstreben, doch der Protagonist bezieht in keinem seiner Tagebucheinträge oder in einer Äußerung direkt Stellung zum alltäglichen kolonialen Rassismus. Vielmehr finden sich indirekte Stellungnahmen zum Thema, die nicht ohne Grund in direktem Zusammenhang mit Schwanebach und Moll stehen. Bereits zu einem frühen Zeitpunkt der Romanhandlung wird Molls Aussehen beschrieben: »Moll nagte beim Lesen an seiner Unterlippe, einer ziemlich schmalen Unterlippe in diesem dicken Bauernschädel, wie man ihn häufig in Norddeutschland finden kann: breite Kiefer, leicht abstehende Ohren.« (M 31) Auffällig ist hier zum einen der Umstand, dass sich ansonsten wenige detaillierte Beschreibungen der körperlichen Merkmale von Soldaten in Morenga finden lassen, und zum anderen, dass die körperlichen Merkmale mit einer Landschaft verknüpft werden. Es ist kaum davon auszugehen, dass Timm tatsächlich die Ansicht vertritt, solche »dicken Bauernschädel« seien typisch für eine bestimmte deutsche Landschaft – vielmehr entspricht diese Beschreibung einem weit verbreiteten bäuerlichen Stereotyp. Vor dem kolonialen Hintergrund des Romans erscheint diese Beschreibung schließlich in einem besonderen Licht. So wird gerade in den rassistisch motivierten Kolonialromanen

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Mit der Anspielung auf die von Schwarzen begangenen Gräueltaten greift Timm eine insbesondere rund um die sogenannten »Hottentotten-Wahlen« im Jahr 1907 im Kaiserreich verbreitete Propaganda auf, vgl. dazu Becker, Frank: Die Hottentotten-Wahlen (1907). In: Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, hg. von Jürgen Zimmerer. Bonn: Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung 2013 (= Schriftenreihe der bpb 1405). S. 177–189, hier: S. 182.

3. Morenga

der Weimarer Republik und des Dritten Reiches immer wieder das äußere Erscheinungsbild der Autochthonen in Relation zu der kolonialen Landschaft gesetzt.20 Indem Timm also die rassistisch motivierte Idee von der Beeinflussung der menschlichen Physiognomie durch die umgebende Landschaft aufgreift und kurzerhand auf die weißen Kolonisatoren überträgt, offenbart er die Beliebigkeit der rassistischen Vorstellung. Auffälliger noch als diese erste Stellungnahme zum kolonialen Rassismus ist eine zweite Passage, in welcher Bezug auf das Äußere eines Deutschen genommen wird. Da es an Weihnachten im Jahr 1904 nach langer Zeit erstmals wieder regnet, laufen die Soldaten nackt nach draußen in den Regen. Leutnant Schwanebach, von den Soldaten bezeichnenderweise »Schweinebauch« getauft, ist ebenfalls unter den Soldaten: »Man sah auch erstmals den Schweinebauch nackt. Alle starrten ihn überrascht an. Er war auf eine unvorstellbare Weise behaart, schwarz, affenartig.« (M 70) Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet der immer wieder durch rassistische Äußerungen auffallende Schwanebach, der einen Schwarzen explizit als Pavian bezeichnet, nun durch eine Beschreibung selbst mit einem Affen verglichen wird. Der Bezug zum Affen wird in der Folge nochmals verstärkt durch einen Verweis des Erzählers auf einen innerhalb der Truppe kursierenden Witz, dessen Ursprung Gottschalk oder Wenstrup zugeschrieben wird: Schwanebach, seit fünf Jahren mit einer Baronesse von Behr verheiratet, die sowenig wie er als geistige Leuchte glänzte, hatte drei Kinder, alles Töchter. Kurz vor seiner Ausreise nach Südwest kommt die Frau mit dem vierten Kind nieder, nicht dem erhofften Stammhalter, sondern wieder ein Mädchen. Das Kind soll im Haus getauft werden. Die glücklichen Eltern waren in das Entree gegangen, um dort den Pastor zu begrüßen. Als sie in das Taufzimmer zurückkommen, ist das Kind aus der Wiege verschwunden. Die Mutter sucht, der Vater sucht, die Taufzeugen suchen, sogar der Pastor kniet nieder und blickt unter den Tisch. Alles umsonst. Man steht verlegen herum. Da blickt jemand zufällig in die Höhe und zeigt entsetzt auf die Gardinenstange. Da sitzt das Kleine oben, schwarzbehaart wie ein Affe. Und es hat auch Kletterfüße. (M 71)

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Der Kürze halber sei an dieser Stelle auf drei Beispiele verwiesen: In Nathanael Jüngers Kolonialroman Rodenkampp Söhne von 1924 wird eine Verbindung zwischen Autochthonen und ihrem Land hergestellt, vgl. Jünger, Nathanael: Rodenkampp Söhne. Deutscher Kolonialroman aus Bremens Vergangenheit und Zukunft. Wismar: Hinstorffsche Verlagsbuchhandlung 1924, S. 271. Ähnlich sieht dies in Hans Grimms Volk ohne Raum aus. Anders als noch bei Jünger ist in diesem Roman die Verknüpfung von Landschaft und Mensch ausschließlich rassistisch motiviert, vgl. Grimm 1931, S. 423. Auch der nationalsozialistische Autor Fritz Spiesser greift die Vorstellung des von seiner Umwelt geformten Menschen auf, vgl. Spiesser, Fritz: Schicksal Afrika. Ein Kolonialroman. München: Zentralverlag der NSDAP 1939, S. 44.

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Der Witz muss, wie zuvor die Beschreibung, als eine Stellungnahme des Autors zum Thema Rassismus gewertet werden. Timm macht es dem Leser jedoch nicht leicht, indem er durch Erzählerkommentare Stellung bezieht, sondern er fordert vielmehr ein genaues Lesen, um die versteckten Kommentare zu den, ansonsten zumeist nüchtern gehaltenen, rassistisch motivierten Passagen herauszulesen. Neben den Tiervergleichen finden sich noch weitere Diffamierungen der Autochthonen. So wird beispielsweise wiederholt auf die vermeintliche Ehrlosigkeit der Nama verwiesen, Landeskundige Deutsche, mit denen Gottschalk spricht, konstatieren, »man müsse einem Hottentotten alles zutrauen« und ein »Ehrbegriff wie Treue sei ihnen unbekannt.« (M 50) Im weiteren Verlauf des Romans äußert sich auch Rittmeister von Tresckow in vergleichbarer Weise. (M 267) Darüber hinaus finden sich aber im Vergleich zu der klassischen Kolonialliteratur aus der Zwischenkriegszeit wenige Diffamierungen der Schwarzen durch Deutsche.21 Indem Timm seinen Romanfiguren zwar immer wieder rassistische Kommentare oder diffamierende Aussagen in den Mund legt, zeichnet er ein weitestgehend realistisches Bild der damaligen deutschen Gesellschaft in der Kolonie22 , grenzt sein Werk aber zugleich durch die im Vergleich zur älteren Kolonialliteratur sparsame Verwendung rassistischer Äußerungen von dieser entschieden ab. So handelt es sich denn auch bei der wohl radikalsten rassistischen Passage aus Morenga nicht um eine fiktionale Passage, sondern wiederum um eine Montage historischer Dokumente. Timm zitiert aus dem Aktenbestand des Gouvernements von Deutsch-Südwestafrika Dokumente, welche die »Erziehung« der Autochthonen mittels Prügelstrafe thematisieren, und montiert diese zu einem Dialog. Überschrieben ist das Kapitel mit dem Titel »Von der milderen, menschlicheren und doch pädagogisch nachhaltigeren Wirkung des Tauendes« (M 151). Im ersten Dokument, einem Brief des kaiserlichen Bezirksamtmannes aus Windhuk an das Kaiserliche Gouvernement, heißt es: Die Prügelstrafe ist die einzige Strafe, die der Eingeborene als solche empfindet. Sie entspricht seinem Anschauungs-, seinem Auffassungsvermögen und seinen Sitten. Sie allein wirkt abschreckend auf ihn. […] Es dürfte sich nach den hier gemachten Erfahrungen empfehlen, eine weitere Einschränkung der Prügelstrafe,

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Etwa als ein Leutnant sich über Gottschalks Umgang mit »dem braunen Gesindel« (M 253) auslässt. Christian Volkmann verweist ebenfalls auf die große Authentizität der zahlreichen fiktiven Stimmen in dem Roman, die einen Beitrag dazu leisteten, ein »kohärentes Bild des deutschen Kolonialismus« entstehen zu lassen, vgl. Volkmann, Christian: Geschichte oder Geschichten? Literarische Historiographie am Beispiel von Adam Scharrers Vaterlandslose Gesellen und Uwe Timms Morenga. Hamburg: Igel Verlag 2013 (= SchriftBilder 5), S. 110. Im Folgenden zitiert als ›Volkmann 2013‹.

3. Morenga

als sie die Verfügung des Herrn Staatssekretär vom 12. Juli 1907 erstrebt, zur Zeit noch nicht in Erwägung zu ziehen. (M 151f.) Im folgenden Brief wird die Anordnung, »bei Vollstreckung der Prügelstrafe gegen Eingeborene« auf den Schambock, eine Nilpferdpeitsche, zurückzugreifen, mit einem Plädoyer für die »Beibehaltung bzw. Wiedereinführung des Tauendes als Züchtigungsmittel« (M 152) gekontert. Am deutlichsten wird der Rassismus jedoch im längsten von Timm zitierten Brief: Wenn ich auch als Freund der Prügelstrafe mir wohl bewusst bin, daß ja gerade eine kräftige Züchtigung als abschreckende Strafe erwünscht erscheint, so bin ich in den vier Monaten, in denen nunmehr hier mit Flußpferdpeitschen gezüchtigt wird, doch zu der Überzeugung gekommen, daß diese Art der Züchtigung eine Grausamkeit darstellt, die wohl nicht beabsichtigt worden ist. […] Eine Wundpflege ist […] für den Geprügelten selber recht schwer, die Wunden sind schwer rein zu halten, der Verletzte bedarf des Gesäßes zum Sitzen, die Wunde wird schmutzig, eitert, und der Gezüchtigte bleibt wochenlang arbeitsunfähig. […] Wie so anders die Züchtigung mit dem Tauende. Der Missetäter fürchtet sie sicher ebenso wie die mit dem Kiboko. Aber die Folgen sind bei weitem nicht so schwer, sie sind milder, menschlicher und doch von pädagogisch nachhaltigerer Wirkung. […] Das Tauende erscheint mir das Ideal eines Züchtigungsmittels für Disziplinarvergehen, für Entlaufen oder Drücken vor der Arbeit, Beharren im Ungehorsam, gröbliche Verletzung des Pflichtverhältnisses und dergl. Die Züchtigung mit der Dickhäuterpeitsche erscheint mir für solche Vergehen als zu schwer, man hebt sie gern für nur schwere Verbrechen auf, und so verliert die Prügelstrafe an Wert: Sie büßt ihre Eigenschaft als Disziplinarmittel ein. (M 153f.) In vergleichbaren Tenor geht es in den folgenden Briefen weiter, mal wird das Tauende als »ein humaneres Züchtigungsinstrument« (M 154) bezeichnet, dann wiederum die Beschaffungsproblematik im Zusammenhang mit der Nilpferdpeitsche beklagt und ergänzt um den Hinweis, dass sich die unterschiedlichen scharfen Kanten der Peitsche »erst durch den Gebrauch verlieren« (M 155). Lediglich im abschließenden, mit einem »gez. Dr. Steudel« unterschriebenen Brief, tritt allem Anschein nach ein Humanmediziner für die Nutzung der Kiboko ein: Das Tauende verursache »leichter Verletzungen in der Tiefe« (M 155) und man solle daher, um die »plötzlichen Unglücksfälle nach körperlichen Züchtigungen« (M 156) zu vermeiden, doch besser auf die Peitsche zurückgreifen. Timms besondere Leistung in diesem Kapitel besteht nicht in der bloßen Zitation von Quellen, sondern in deren kunstvolldialogischer Montage. Der Leser erfährt durch diesen »Dialog«, wie die Autochthonen von für die Kolonialverwaltung verantwortlichen Persönlichkeiten des Kaiserreiches wahrgenommen wurden: als Arbeitskräfte ohne eigene Rechte. Verweise auf die Gesundheit der Schwarzen dienen nicht deren Wohl, sondern einzig dem Erhalt

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der Arbeitskraft. Der Ton der Briefe ist dazu ausgesprochen bürokratisch gehalten, Timm selbst konstatiert in Bezug auf die Passage: Auch fiel mir auf, wie sehr gerade in Deutschland Sprache zu bürokratischen Zwecken ge- oder mißbraucht wird. In allen Kolonien wurde geprügelt, und es wurden zum Teil fürchterliche Verbrechen verübt. Aber diese Form der Kodifizierung, der schriftlich geführten Debatten darüber, ob man mit der Nilpferdpeitsche oder mit dem Tauende prügeln sollte, diese bürokratische Systematisierung erscheint mir sehr deutsch und erinnert mich bereits an Auschwitz.23 Die von Timm explizit angesprochene bürokratische Kontinuität zwischen Kolonie und Nationalsozialismus lässt sich auch aus dem Kapitel selbst, genauer aus der Überschrift desselben, herauslesen, »Von der milderen, menschlicheren und doch pädagogisch nachhaltigeren Wirkung des Tauendes«. Der Titel kann als ein zynischer Kommentar des Autors zu dem im Folgenden montierten Material verstanden werden.24 Richter konstatiert in diesem Kontext: Im Vernichtungsfeldzug gegen die Herero und Nama entdeckt er [Timm] allenthalben Zeichen, die auf die Ermordung der europäischen Juden im Holocaust vorausweisen. […] Der bürokratisch organisierte Apparat verrichtet, gestützt auf preußischen Befehlsgehorsam und ohne jegliche Emotion, seine mörderische Tätigkeit. Wenn sich das Windhoeker Gouvernement und die Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes über ökonomisch sinnvollen – also ohne Todesfolge möglichen – Einsatz von grausamsten »Züchtigungsmitteln« austauschen, gemahnt das unweigerlich an die Praktiken in nationalsozialistischen Arbeitslagern.25 Rassismus und Diffamierungen werden in einem Erzählerkommentar zu einem Tagebucheintrag Gottschalks zusammengefasst, den dieser verfasst, nachdem er bereits eine längere Zeit in der Kolonie verbracht hat: »Gottschalk war langsam klargeworden, warum diese Menschen kämpften: um ihr Überleben als Menschen.« (M 256, kursiv G.M.)

3.2.2 Deutscher Kolonialismus als Nährboden der nationalsozialistischen Ideologie? Wie bereits das von Timm gezeichnete Bild des alltäglichen Rassismus in DSWA andeutet, werden in Morenga wiederholt Parallelen zwischen deutschem Imperialis-

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Hamann/Timm 2003, S. 459. Hielscher weist ebenfalls auf den »essayistisch-ironischen« Titel hin, vgl. Hielscher 2003, S. 466. Richter 2003, S. 439.

3. Morenga

mus und Nationalsozialismus gezogen. Timm selbst weist im Gespräch mit Manfred Durzak explizit auf diese Kontinuitäten hin: Wie entstand so etwas wie Faschismus, wie entstand so etwas wie Völkermord, Genozid, was waren die Voraussetzungen, daß man mit bestem Gewissen Menschen umbringen konnte, Untermenschen, Wilde, und dann den Tätern noch Denkmäler setzen konnte? Und ich erinnerte mich, während ich am Heißen Sommer schrieb, daß ich als Kind zu Hause viel gehört habe über den Herero- und den sogenannten Hottentotten-Aufstand. Ich hatte das in Erinnerung als spannende Geschichten, in denen die Deutschen den Afrikanern die Zivilisation brachten. Ich habe mich damit beschäftigt und habe gesehen, daß die Niederschlagung des Aufstandes eine Vorform des Holocaust gewesen ist. Dieser versuchte Völkermord an den Hereros hat dieselben Wurzeln und trägt ähnlich modellhafte Züge wie der spätere im Faschismus. Diese fraglose nationale Überheblichkeit. Der Sozialdarwinismus.26 Ebenjene Parallelisierungen finden sich im gesamten Romanverlauf in verschiedener Weise wieder. »Die Schienen waren vom Sand zugeweht. Ein Trupp gefangener Herero schaufelte sie frei. Jeweils zwei waren mit Ketten aneinandergefesselt. Daneben standen zwei Posten. Der eine rauchte eine Pfeife. Einer der gefangenen Herero trug – vermutlich als Schutz gegen das scheuernde Halseisen – einen abgerissenen Stehkragen.« (M 20) Mit diesen Worten wird die erste Begegnung Gottschalks mit den Kolonisierten in DSWA, in diesem Falle mit Herero, geschildert. Die von deutschen Soldaten bewachten Herero arbeiten an Bahnschienen – das Motiv von an Schienen arbeitenden KZ-Häftlingen gehört zu den bekanntesten aus Literatur und Geschichte.27 Dem aufmerksamen Leser wird die von Timm auf diese Weise dargestellte Kontinuität von kolonialer Zwangsarbeit und Zwangsarbeit zur Zeit des Nationalsozialismus kaum entgehen. Deutlicher sichtbar werden die Parallelen zwischen Nationalsozialismus und kolonialer Vernichtungspraxis beim Blick auf die in dem Roman geschilderten Konzentrationslager. Gottschalk wird unmittelbar nach seiner Ankunft mit der Praxis der Konzentrationslager konfrontiert:

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Durzak, Manfred: Die Position des Autors. Ein Werkstattgespräch mit Uwe Timm. In: Die Archäologie der Wünsche. Studien zum Werk von Uwe Timm, hg. von Manfred Durzak und Hartmut Steinecke. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1995. S. 311–354, hier: S. 321. Wenngleich die Mehrheit der Leser das Motiv vorrangig mit Zwangsarbeit während der Zeit des Nationalsozialismus verbinden dürfte, so war der Bahnbau in DSWA derjenige Bereich, in welchem die meisten in den Konzentrationslagern internierten Zwangsarbeiter eingesetzt wurden, vgl. Kreienbaum, Jonas: »Ein trauriges Fiasko«. Koloniale Konzentrationslager im südlichen Afrika 1900–1908. Hamburg: Hamburger Edition 2015, S. 138. Im Folgenden zitiert als ›Kreienbaum 2015‹.

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Unmittelbar neben dem Viehkraal war eine große freie Fläche mit Stacheldraht eingezäunt worden. Davor Posten mit aufgepflanzten Bajonetten. Hinter dem Zaun konnte Gottschalk Menschen hocken sehen, eher Skelette, nein, etwas in der Mitte zwischen Menschen und Skeletten. Zusammengedrängt saßen sie da, meist nackt, in der stechend heißen Sonne. (M 26) Diese Passage könnte auch aus einem Roman zur Shoah stammen – mehr noch als das Motiv der an Bahnschienen arbeitenden Häftlinge weckt das Bild von bis auf die Knochen abgemagerten KZ-Häftlingen Assoziationen zu nationalsozialistischen KZs. Gottschalk kann das, was er in den Lagern sieht, insbesondere aber den Umstand, dass sich dort nur Frauen und Kinder befinden, nicht einordnen28 und wendet sich daher an Moll, der ihm umgehend erklärt, es handle sich um ein »nach den neuesten Erkenntnissen der Engländer« (M 26) errichtetes Konzentrationslager. Bei aller Ablehnung der Praxis offenbart Gottschalks Einschätzung der KZs die große Naivität des Protagonisten, da er zunächst von einem »Versagen subalterner Dienststellen« (M 27) der Deutschen ausgeht und durch Wenstrup aufgeklärt werden muss, dass System hinter dem Vorgehen stecke, mit dem Ziel der »Ausrottung der Eingeborenen«. (ebd.) Explizit wird das deutsche Vorgehen gegen Ende des Romans noch einmal aufgegriffen, als Leutnant Elschner Möglichkeiten zu einer »radikalen Pazifizierung des Landes« (M 373) durchspielt, wobei der Schutztruppenoffizier zwei Vorschläge äußert: Einmal nach dem Motto General Trothas: Ein guter Hottentott ist ein toter Hottentott. Das wäre die radikale Lösung. Oder aber man sperrte alle Hottentotten in Lager, wobei es noch die Mischform gäbe: Gefangennahme und Dezimierung, die momentan praktiziert werde. Auf Dauer stelle sich dann aber doch ein neues Problem: Die in den Lagern Eingesperrten könnten sich nicht einmal selbst ernähren, man müsste also einen besonders resistenten Rest durchfüttern. […] Hier könnte in einem kleinen überschaubaren Maßstab erprobt werden, was später in einem weit gefährlicheren und größeren Fall anzuwenden wäre. (ebd.) Für Elschner ist die Kolonie somit Versuchsfeld für einen »weit gefährlicheren und größeren Fall«. Der Leutnant belässt es nicht bei Gedankenspielen bezüglich der gezielten Dezimierung der Schwarzen, sondern sinniert auch darüber, dass man mit »Statistiken über Verhörmethoden« die »erfolgreichste herausfinden« (M 374) könne – sein Favorit: die Kinder der Nama nacheinander erschießen, bis die Eltern die Verstecke ihrer Landsleute verraten. In der langen Passage, in der Elschners Ansichten und Ideen dargelegt werden, fällt ein Aspekt besonders ins Auge: die rationale 28

Gottschalks Irritationen werden besonders deutlich, wenn man den folgenden Abschnitt hinzuzieht, in welchem Gottschalks träumerische Kindheitserinnerungen an die Gewürzinseln und ferne Länder beschrieben werden. (vgl. M 26f.) Umso krasser muss der Protagonist die schreckliche Realität in der deutschen Kolonie wahrnehmen.

3. Morenga

Nüchternheit seiner analytischen Überlegungen. Diese reichen vom Vorwurf an die militärischen Befehlshaber, das revolutionär Neue der Guerillakriegsführung verkannt zu haben (vgl. M 372), über die bereits dargelegten Erörterungen zur Dezimierung der Bevölkerung und die vernachlässigte Erprobung neuer Kriegsgeräte – Elschner bedauert, man habe kein »neues Kriegsmaterial, vom MG einmal abgesehen […], hier entwickelt oder ausprobiert« (M 373) – bis hin zu den sadistischen Verhörmethoden. Sein schlichtes Fazit: »Wenn der Generalstab erst einmal das Modellhafte dieses Krieges erfasst hätte, dann würde sich der hohe finanzielle Aufwand allemal auszahlen, auch die Opfer auf deutscher Seite. Denn allein durch simulierte Aufstände komme man nie zu derart verbindlichen Ergebnissen.« (M 374) Die Ausführungen des Offiziers werden durch den Hinweis ergänzt, das Elschner keine Probleme mit den Nama habe, diese vielmehr »sogar recht amüsant und gewitzt« (ebd.) finde, der Leutnant konstatiert jedoch, persönliche Gefühle dürften in diesem Kontext keine Rolle spielen. Gottschalk wird denn auch im Nachgang seines Gespräches mit Elschner mit Erschrecken »die Sachlichkeit, diese scheinbare Abwesenheit jeglicher Emotionen in Elschners Überlegungen« (M 375) bewusst. Die fiktive Figur Elschner ist ein Vorgriff auf den Nationalsozialismus – an der Verbindung zwischen Elschner und dem NS-Staat lässt der Erzähler keine Zweifel. Seinen theoretischen Überlegungen wird ein Kommentar vorausgestellt, welcher jegliche Zweifel ausräumt: »Elschner hatte tatsächlich das Zeug zu einem großen Strategen und hätte wahrscheinlich fünfunddreißig Jahre später die Operationspläne für Walküre und Barbarossa mitentwickelt, wenn ihm nicht im Jahre 1906 eine Hottentottenkugel das rechte Knie zerschmettert hätte.« (M 372) Im Gespräch mit Hamann nimmt der Autor von Morenga indirekt Stellung zu Elschner. Auf Hamanns Frage, ob er »eine klare Verbindung zwischen deutscher Kolonialherrschaft und Shoah«29 sehe, antwortet Timm: Ja. Für mich enthält diese zweckrationale Argumentation, die auf Pflichterfüllung, Pünktlichkeit und ähnliches ausgerichtet ist, eine Ahnung von der deutschen Mordindustrie vierzig Jahre später. Wenn ich dies sage, verschließe ich nicht die Augen davor, daß etwa die Belgier im Kongo Millionen von Menschen umgebracht haben. Alle europäischen Länder haben in Afrika auf fürchterliche Weise gehaust. Dennoch beharre ich auf der Linie, die vom deutschen Kolonialismus zur Shoah führt. Sehr viele Offiziere und Unteroffiziere, die in den Schutztruppen gedient haben, sind später bei den Nazis aufgetaucht. Etwa Franz Xaver Ritter von Epp, um nur ein Beispiel zu nennen. Diese Linie läßt sich bis in Äußerlichkeiten hinein verfolgen. So stammt die braune Uniform von der Truppenuniform ab, das war ursprünglich das sogenannte Lettow-Vorbeck-Hemd.30

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Hamann/Timm 2003, S. 459. Ebd.

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In der Figur Elschner offenbart Timm diese, von ihm im Gespräch mit Hamann angesprochene, personelle Kontinuität zwischen deutschem Kolonialismus und Nationalsozialismus auf Figurenebene. Nun ist der Leutnant in Morenga das eindeutigste Beispiel für den von Timm aufgezeigten Zusammenhang von NS-Staat und Kolonialismus, doch macht der Autor noch mit zahlreichen weiteren Passagen die »Blutspuren an den Händen der Vätergeneration sichtbar«31 und zeigt dem Leser Kontinuitäten von kolonialem Völkermord und Shoah auf. Meist geht es dabei um die Darstellung von Gewalt in Kombination mit einer Abwertung der Schwarzen: Zwei Nama etwa werden nach einem Gefecht gefangengenommen. Einer der beiden wird brutal verhört, jedoch ohne Erfolg. Daraufhin heißt es: Hoffnungslos, sagte Oberleutnant Ahrens und befahl Leutnant von Schwanebach, den Mann erschießen zu lassen, ergänzte aber seinen Befehl, als er sah, daß Schwanebach sechs Mann abkommandierte: Der Aufwand ist zu groß. Lassen Sie ihn aus kurzer Distanz erschießen. Eine Patrone ist für den schon zuviel. (M 52) Ein Unteroffizier meldet sich umgehend freiwillig und erschießt den Gefangenen. (vgl. M 53) Der zweite Gefangene wird zunächst nicht erschossen, sondern muss mit den Soldaten noch für ein »Foto für zu Hause« (M 55) posieren und wird dann mit dem Befehl »Lauf!« (ebd.) von den Soldaten losgeschickt, welche ihn niederschießen. (vgl. ebd.) Diese Passage zeigt, wie die Nama von den Deutschen wahrgenommen werden: als niedere Lebewesen, die grundsätzlich nicht einmal eine Patrone wert sind, zum privaten Vergnügen jedoch – trotz Munitionsverbrauch – niedergeschossen werden können. Hier scheint jene perverse Effizienz bei der Vernichtung menschlichen Lebens, welche in den Gaskammern der Nationalsozialisten ihren Höhepunkt fand, bereits anzuklingen. So ist Hielscher zuzustimmen, wenn er nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser Schlüsselszene konstatiert: Morenga ist so gesehen nicht nur ein postkolonialistischer Roman, sondern auch und gerade ein Post-Holocaust-Roman, man könnte sagen, eine Reise ins Herz der Finsternis der geistigen Haltungen und unbewusst gebliebenen Einstellungen – jener Mentalität, die »ethnische Säuberungen« jeglicher Art erst ermöglicht.32

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Durzak, Manfred: Ein Autor der mittleren Generation. In: Die Archäologie der Wünsche. Studien zum Werk von Uwe Timm, hg. von Manfred Durzak und Hartmut Steinecke. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1995. S. 13–25, hier: S. 22. Im Folgenden zitiert als ›Durzak 1995‹. Hielscher, Martin: Sprechende Ochsen und die Beschreibung der Wolken. Formen der Subversion in Uwe Timms Roman Morenga. In: Sprache im technischen Zeitalter 41 (2003). S. 463–471, hier: S. 465. Im Folgenden zitiert als ›Hielscher 2003‹.

3. Morenga

Neben dieser Schlüsselszene finden sich zahlreiche weitere Passagen, in welchen eine oftmals subtilere Diskriminierung und Herabsetzung der Schwarzen in alltäglichen Szenen offensichtlich wird: Die autochthonen Helfer des Militärs dürfen Aufgrund eines Befehls keine Transportmittel der Truppe benutzen (vgl. M 60), ein Offizier konstatiert, das Erlernen der Sprache der Nama sei nutzlos, da man »in ein paar Jahren« mit ihr »ja auch nichts mehr anfangen könne« (ebd.) und Soldaten schenken den Offizieren einen »Aschenbecher aus der Schädeldecke eines Hottentotten« (M72). Meist geht die Diskriminierung mit Gewalt einher: Auf Gottschalks Frage, wie man denn das Land kolonisieren wolle, ohne die Sprache der Autochthonen zu erlernen, erwidert Leutnant Schwanebach, man könne das Land mit »Hilfe eines Dolmetschers und einer Nilpferdpeitsche« (M 110) kolonisieren, da es sich dabei um eine »international verständliche Sprache« (ebd.) handle – ergänzt wird die Passage um den Hinweis, dass es sich bei Schwanebachs Antwort um einen alten Schutztruppenwitz handle und keineswegs um eine exklusive Meinung. Die Nama werden zudem im Kapitel über den deutschen Händler Klügge in direkte Verbindung mit Juden gebracht: So meint der Händler, in den Nama »etwas Jüdisches« zu entdecken, was ihn wiederum nicht verwundert, »da die Hottentotten ja semitischer Abstammung waren, wie ihm ein schwedischer Professor in Kapstadt erklärte.« (M 191) Das vermeintlich »Jüdische« der Nama besteht für Klügge im händlerischen Geschick der Autochthonen, in der »charakterlichen Knausrigkeit und einer entsprechenden Gerissenheit« (M 190f.), also in klassischen antisemitischen Klischees. Auch einen historisch verbürgten Bezug zwischen Kolonialpolitik und Nationalsozialismus stellt Timm her, wenn er die Situation der Autochthonen nach dem Krieg beschreibt: Alle Afrikaner mußten ab dem Alter von acht Jahren eine Paßmarke tragen. Wer ohne eine solche Paßmarke angetroffen wurde, konnte von jedem Weißen verhaftet werden. Zusätzlich gab es ein sogenanntes Dienstbuch, in das die Dienstverhältnisse eingetragen sein mußten. Afrikaner ohne Arbeitsvertrag waren völlig rechtlos und konnten als Landstreicher bestraft werden. Dadurch wurde eine indirekte Form der Zwangsarbeit eingeführt. (M 408) Diese »Eingeborenen-Passmarken« waren wie die Judensterne an der Kleidung zu befestigen.33 Neben diesen direkten Verbindungen wird der Sozialdarwinismus ebenfalls von Timm ausführlich in dem Roman thematisiert. Im Gespräch mit Gottschalk macht Oberarzt Haring deutlich, was er in dem Krieg mit den Nama sieht: eine Art natürlichen Ausleseprozess: Dieses Gesetz, daß sich der Stärkere durchsetze, könne man doch allenthalben beobachten. Fressen und Gefressenwerden. […] Das Schwache sterbe ab, damit

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Vgl. Zimmerer 2011, S. 241.

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das Stärkere Platz und mehr Licht finde. Nur so gehe es voran und hinauf. Der Kampf ums Dasein sei das grundlegende Gesetz des Lebens. (M 257) Auf Gottschalks Einwand, es sei doch vielmehr die »gegenseitige Hilfe innerhalb der Arten« (ebd.) geboten, entgegnet Haring unmissverständlich, dass die Nama eben nicht zur gleichen Art wie die Deutschen gehörten. (vgl. ebd.) Deutlicher noch wird die Vorbereitung rassistischer Ideologien in den Schädelvermessungen, die Professor Brunkhorst an den Nama vornimmt. Zwar scheint das Ergebnis zunächst positiv für die Autochthonen auszufallen – Brunkhorst konstatiert, »daß man vom Schädel der Hottentotten nicht auf einen niedrigen Intelligenzgrad schließen könne, eher im Gegenteil« (M 349) – doch wenig später eröffnet er, dass die Autochthonen zivilisatorisch doch deutlich unter den Kolonisatoren anzusiedeln seien: Sehen Sie, sagte Brunkhorst einmal zu Gottschalk, einen Schädel in der Hand, gut erhalten, die Zähne vollständig in den Kiefern, lediglich in der Stirn war ein kleines rundes Loch, sehen Sie, solch unschöne Defekte müßten nicht sein, wenn man sich endlich zu einer vernünftigen Kolonialpolitik entschließen würde. Eine freundliche Behandlung, eine an der Arbeit Interesse weckende Menschenführung und weniger Gewehrkolben oder Saufkumpanei, so würde man aus diesen Menschen nützliche Mitglieder der Gesellschaft gewinnen. […] Man muß gerade bei dieser zivilisatorischen Arbeit unsere Vettern jenseits des Kanals im Auge behalten, von denen wir viel lernen können. (M 352) Allein der euphemistische Kommentar in Bezug auf die Todesursache des Schwarzen, dessen Schädel Brunkhorst in der Hand hält, offenbart, dass die Nama für den Professor nicht mehr als interessante Untersuchungsobjekte sind. Ungeachtet der vorangegangenen Feststellung, dass man von der Schädelform nicht auf eine geringere Intelligenz der Nama schließen könne, ist für den Wissenschaftler vollkommen klar, dass die Schwarzen die Entwicklungshilfe der Deutschen benötigen. In erster Linie versteht der Professor darunter jedoch nicht die Bildung der Autochthonen, sondern vielmehr die Erziehung zu nützlichen Arbeitskräften im Sinne der Kolonisatoren.

3.3 Die Frage nach der kulturellen Identität Neben den zahlreichen direkten Verbindungen zwischen deutschem Kolonialismus und Nationalsozialismus, die Timm in Morenga herausarbeitet, findet sich auf Figurenebene eine Verbindung zwischen Timms Roman und Werken der Shoah-Literatur sowie zu anderen Werken der deutschsprachigen Genozidliteratur. Gleichwohl ist diese weitaus weniger offensichtlich und hängt insbesondere mit der Figuren-

3. Morenga

zeichnung des Protagonisten Gottschalk als einer Figur zwischen den Kulturen zusammen. Anders als die Figuren in den anderen in dieser Arbeit behandelten Romanen – wie etwa die Protagonistinnen in Funks und Poladjans Romanen oder die weiblichen Hauptfiguren in Gstreins Romanen – ist Gottschalk nicht von Beginn an eine Figur, welche zwischen zwei Kulturen steht und anders als die Protagonisten in Romanen, welche unmittelbar die Verfolgung von Minderheiten thematisieren, wird er auch nicht gezwungen, sich durch plötzliche Verfolgung und Bedrohung mit der Frage nach seiner Identität auseinanderzusetzen. Gottschalk wird dem Leser bereits auf den ersten Seiten des Romans als ein unbestimmter, träumerischer Charakter vorgestellt, welcher noch kein klares Weltbild entwickelt hat. So ist etwa seine Motivation, in den Krieg zu ziehen, gänzlich unklar (vgl. M 15), einzig sein Traum von einem zukünftigen idyllischen Familienleben in der deutschen Kolonie scheint ihn anzutreiben. (vgl. M 21f.) Das Motiv des Träumers wird immer wieder aufgegriffen. (vgl. etwa M 20; 22f.) Ein patriotischer Deutscher ist der Oberveterinär somit keinesfalls. Sein Charakter ist zunächst noch derart unbestimmt, dass er unbewusst die Gesten anderer als seine eigenen übernimmt.34 (vgl. M 24) Es verwundert daher kaum, dass Morenga in der Sekundärliteratur vielfach als Entwicklungs- oder Bildungsroman gesehen wird.35 Gottschalks Entwicklung ist dabei in besonderem Maße vor dem Hintergrund der Frage nach seiner Identität von Interesse. Zunächst stößt Unterveterinär Wenstrup – ein Querdenker, in dem Gottschalk »wahrscheinlich den einzigen anarchistischen Veterinär des deutschen Heeres« (M 66) erkennt – einen Entwicklungsprozess des Protagonisten an.36 Er klärt Gottschalk in Bezug auf die systematische Vernachlässigung der Gefangenen in den Lagern auf (vgl. M 27) und verweist nüchtern auf die Tatenlosigkeit der Mitläufer bei der Vernichtung der Schwarzen durch die Deutschen. (vgl. M 57) Weitaus relevanter als diese Aufklärung des zunächst naiven Gottschalks ist für dessen Entwicklung 34

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Julienne Kamya sieht in diesem Verhalten Gottschalks eine Veranlagung zur Veränderung, vgl. Kamya, Julienne: Studentenbewegung, Literatur und die Neuentdeckung der Fremde. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2005 (= Beiträge zur deutschen Literatur 6), S. 116. Im Folgenden zitiert als ›Kamya 2005‹. Vgl. etwa. Hielscher 2003, S. 469 oder Neuhaus, Stefan: Zärtliche Nähe und unüberwindbare Ferne: Hybride Subjekte in Werk von Uwe Timm. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 11 (2012). Tübingen: Stauffenburg 2012. S. 55–76, hier: S. 66. Im Folgenden zitiert als ›Neuhaus 2012‹. Kamya bezeichnet Wenstrup als »Fremdenführer Gottschalks«, Kamya 2005, S. 118. Neuhaus geht in eine vergleichbare Richtung, vgl. Neuhaus 2012, S. 66, und Monika Albrecht betont neben Wenstrups Einfluss noch in besonderem Maße die Bedeutung von Kropotkins Schrift für die Entwicklung Gottschalks, vgl. Albrecht, Monika: Das Beispiel Kropotkin: Umsetzung von »68er Inhalten« bei Uwe Timm. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 11 (2012). Tübingen: Stauffenburg 2012. S. 77–102, hier: S. 84. Im Folgenden zitiert als ›Albrecht 2012‹.

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jedoch Wenstrups Umgang mit den Schwarzen. So hält sich der Unterveterinär einen »Bambusen« nicht etwa, damit dieser für ihn als Diener fungiert, sondern vielmehr, um von ihm die Sprache der Nama zu lernen.37 Wenstrups Ziel ist klar: er will zum »Feind«, zu den Nama, überlaufen und passt sich diesen immer weiter an, sodass der Erzähler konstatiert: »Er begann langsam denen zu ähneln, die zu bekämpfen er hergeschickt worden war. (M 70)38 Mit Kommentaren wie diesem führt Timm dem Leser vor Augen, dass die Unterschiede zwischen Schwarzen und Weißen keineswegs so groß sind, wie sie zunächst auch erscheinen – ein Weißer kann einem Schwarzen ähnlich werden. Wenstrups Geschichte endet in dem Roman folgerichtig mit seiner Desertion. Trotz des maßgeblichen Einflusses von Wenstrup auf seine eigene Entwicklung schlägt Gottschalk einen anderen – vor dem Hintergrund der Frage nach seiner Identität umso interessanteren – Weg ein. Neben dem Versuch, die Sprache der Nama zu erlernen, nähert sich der Protagonist den Autochthonen immer weiter an. In seinen Träumen von einer Zukunft in DSWA finden nach längerem Aufenthalt in der Kolonie auch die Kolonisierten einen Platz, wenngleich für ihn zunächst noch die Absicht der »Eingeborenenbildung« im Vordergrund zu stehen scheint.39 (M 158f.) Neben den von Wenstrup angestoßenen kritischen Beobachtungen der Kolonialpolitik ist es insbesondere die Erschießung eines Nama (vgl. M 164), die bei Gottschalk einen Moment der Selbstentfremdung auslöst.40 Der Veterinär sieht von diesem Moment an immer klarer, dass der Krieg Unrecht ist (vgl. M 255f.), und weigert sich schließlich, den Einsatz weiterhin aktiv zu unterstützen (vgl. M 333ff.) Dennoch wird er wiederholt unfreiwillig zum Helfer beim Vorgehen gegen die Nama, insbesondere indem er bei der Ausbildung von Kamelen für die Deutschen 37

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Beim Erlernen der Sprache offenbart sich wiederum die Gegensätzlichkeit der beiden Veterinäre: während Gottschalk sich träumerisch die »sonderbaren Laute genüßlich auf der Zunge zergehen« (M 58) lässt und in erster Linie schön klingende Sätze, »mit denen aber kaum eine Konversation zu führen war, wie: Die Mitternachtsmaus fliegt durch den Steppenwald der Teerosen« (M 59) übt, geht es Wenstrup keinesfalls um die Feinheiten der Nama-Sprache, sondern darum, sich möglichst schnell verständlich zu machen. (vgl. ebd.) Erst gegen Ende des Romans erkennt Gottschalk, dass er die Sprache nur um ihrer selbst Willen erlernt hat, seine Sprachkenntnisse »ihn aber nicht einmal zur englischen Grenze führen konnten.« (M 259) Wenngleich in dem Roman nie aufgeklärt wird, was mit Wenstrup nach seinem Verschwinden passiert, so ist doch recht eindeutig, dass er zumindest den Versuch unternimmt, überzulaufen. Gottschalk plant für die Kinder seiner zukünftigen Arbeiter den Bau einer Schule, in welcher jedoch auch seine eigenen Kinder unterrichtet werden sollen. Vgl. Horn, Peter: Über die Schwierigkeit, einen Standpunkt einzunehmen. Zu Uwe Timms Morenga. In: Die Archäologie der Wünsche. Studien zum Werk von Uwe Timm, hg. von Manfred Durzak und Hartmut Steinecke. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1995. S. 93–118, hier: S. 109f. Im Folgenden zitiert als ›Horn 1995‹.

3. Morenga

hilft.41 (vgl. M 337–346) Sein Mitwirken bei der Bekämpfung des Aufstandes der Nama trägt ihm von einem pazifistischen Priester auch den Vorwurf der Mittäterschaft ein. (vgl. M 385f.) Doch der Oberveterinär ist kein williger, unreflektierter Erfüllungsgehilfe – die Kamele möchte er eigentlich nicht untersuchen, da ihm bewusst ist, dass er so nicht nur dabei hilft, »die Maschinerie in Gang zu halten«, sondern sogar diese noch »zu beschleunigen.« (M 339) Noch deutlicher wird dies in einem Tagebucheintrag Gottschalks kurz vor dem Ende des Romans, in welchem der Protagonist sich mit Gewalt und Teilnahmslosigkeit auseinandersetzt: Wie kommt es zur Tötung? Wie können Menschen andere erschießen oder erhängen? Und wie können andere zusehen wie auf dem Jahrmarkt? Was erzeugt diese Teilnahmslosigkeit und darunter diesen fürchterlichen Haß? Vielleicht ist etwas in ihnen, was ihnen selbst hassenswert ist, ein Teil ungelebten Lebens. Was tötet das ab, das Mitfühlen? (M 388) Diese Passage offenbart, dass Gottschalk das Unrecht des Krieges mit allen seinen Schrecken erkannt hat und ihn die Frage nach dem »Warum?« nicht loslässt. So sieht denn Timm selbst in seinem Protagonisten eine tragische Figur, deren versuchte Entwicklungshilfe ins Gegenteil umschlage.42 Trotz aller Erkenntnisse in Bezug auf den Krieg wählt Gottschalk einen anderen letzten Schritt als Wenstrup: wenngleich er übers Desertieren nachdenkt (vgl. M 264f.), so entscheidet er sich dafür, ein Entlassungsgesuch zu schreiben (vgl. M 422) und die Kolonie zu verlassen. (vgl. M 432) Zuvor versucht er wiederholt, sich den Nama anzunähern. Er gibt gefangenen Nama einen Teil seiner Essensration, ein Umstand, welcher auch bei den Soldaten nicht unbemerkt bleibt. (vgl. M 169) Zur stärksten Annäherung kommt es schließlich, als Gottschalk sich in die Nama Katharina verliebt – immer wieder wird auf diese Beziehung Bezug genommen.43 (vgl. M 169f.; 253f.; 332) Gänzlich kann er bei seinen Annäherungsversuchen die deutsche Perspektive jedoch zu keinem Zeitpunkt verlassen, sodass die Beziehung folgerichtig zum Scheitern verurteilt ist. Doch nicht

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Gottschalk ist zunächst nur widerwillig bereit, die eingetroffenen Kamele zu untersuchen, mit der Erkenntnis, dass lediglich ein anderer Veterinär die Aufgabe übernehmen würde, geht Gottschalk diese jedoch voller Einsatz an, sodass letztendlich durch seinen Einsatz gute Reitkamele angeschafft werden, mit denen die letzten verbliebenen Aufständischen aufgespürt und besiegt werden. Uerlings sieht daher wohl zurecht auch zu diesem Zeitpunkt der Romanhandlung bei Gottschalk noch einen leicht auszubeutenden »naiven Idealismus«, Uerlings, Herbert: Die Erneuerung des historischen Romans durch interkulturelles Erzählen. Zur Entwicklung der Gattung bei Alfred Döblin, Uwe Timm, Hans Christoph Buch und anderen. In: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 51 (2001). Amsterdam, New York: Rodopi 2001. S. 129–154, hier: S. 134. Im Folgenden zitiert als ›Uerlings 2001‹. Vgl. Hamann/Timm 2003, S. 457. Die sexuelle Beziehung zwischen Kolonisator und Autochthoner ist ein klassischer Topos der Kolonialliteratur, vgl. Said: Orientalismus, S. 251.

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nur im Privaten sucht Gottschalk die Nähe der Nama: Im Disput mit Oberarzt Haring äußert er den Wunsch, in Warmbad eine tierärztliche Fakultät zu gründen und führt als Begründung für sein Vorhaben an: In solchen Vermittlungsaufgaben von technischem und kulturellem Wissen läge die wahre Funktion und Verantwortung der Kulturstaaten gegenüber einer Bevölkerung, die in ihrer Entwicklung zurückgeblieben sei. Man könne möglicherweise auch von diesen Menschen etwas lernen. Und als Doktor Haring fragte, was, sagte Gottschalk: Herzensbildung. (M 171) Zwar räumt Gottschalk ein, dass auch die Deutschen von den Autochthonen etwas lernen könnten, jedoch sind es auch in seiner Ausführung die Europäer, die den »zurückgebliebenen« Schwarzen die Kultur schenken. Gottschalks Dilemma wird zudem in seiner Antwort auf Harings Frage offenbar: so scheint auch der Veterinär noch einem Bild vom »edlen Wilden« zu folgen – später wird diese Form der Schwärmerei vom vermeintlich ursprünglichen und friedfertigen Leben der Nama nochmals aufgegriffen. (vgl. M 385) An anderer Stelle wird ihm ein »übersteigertes Mitgefühl am Schicksal dieses Stammes« (M 276) attestiert. Allen Annäherungsversuchen zum Trotz betrachtet Gottschalk sein Verhältnis zu den Nama zunehmend reflektiert, ja beinahe schon unbeteiligt von außen. In einem Erzählerkommentar heißt es: »Gottschalk hatte jetzt manchmal das Gefühl, in eine fremde Geschichte hineingeraten zu sein.« (M 261) Den Grund für den Aufstand der Nama erkennt er ebenfalls, wie ein weiterer Kommentar des Erzählers offenlegt: »Gottschalk war langsam klargeworden, warum diese Menschen kämpften: um ihr Überleben als Menschen.« (M 256) Neuhaus deutet diesen Kommentar zutreffend als Schlüsselmoment für die Entwicklung des Protagonisten: »Um Menschen ihr Überleben zu ermöglichen, ist zu akzeptieren, dass das kulturell Andere und Fremde anderen Regeln folgt«44 . Somit ist bereits ab diesem Punkt evident, dass Gottschalk trotz aller Identifikation mit den Nama – gegen Ende des Romans heißt es, er habe begonnen, »inzwischen sogar äußerlich und geruchsmäßig einem Hottentotten zu ähneln« (M 422) – nicht zu den ihm immer fremd bleibenden Nama überlaufen kann. Der Autor selbst konstatiert, dass sein Protagonist es trotz aller Versuche nicht schaffe, die »kulturelle Distanz«45 zu überbrücken. In Wenstrup und Gottschalk werden zwei Wege der Suche nach der eigenen Identität aufgezeigt. Dem Leser werden dabei keine fertigen Lösungen präsentiert, vielmehr hinterfragen sowohl Gottschalk als auch Wenstrup wiederholt die vorherrschenden Muster, jedoch ohne dabei eine feste Richtung vorzugeben. Anders gesagt: »Das Buch stellt mehr Fragen, als es beantwortet.«46 Der Leser wird aufgefordert 44 45 46

Neuhaus 2012, S. 67. Vgl. Hamann/Timm 2003, S. 456. Uerlings 2001, S. 133.

3. Morenga

selbst zu denken, sich mit der Frage nach »Eigenem« und »Fremden« und der Frage nach kultureller Identität auseinanderzusetzen.

3.4 Distanziertes Erzählen in Morenga 3.4.1 Timms distanzierte dokumentarische Erzählweise am Beispiel der Darstellung des Krieges Bereits in den ersten Passagen, in denen der Krieg thematisiert wird, lässt sich beobachten, was Timm darunter versteht, wenn er festhält, der Autor müsse bei der Darstellung historischer Gegebenheiten eine Distanz zum Geschehenen wahren und diese auch in dem Werk thematisieren.47 Es ist unter anderem Timms Fokussierung auf die Perspektive der deutschen Militärs, die eine Distanz zum Erzählten erzeugt. Der Autor wählt für Äußerungen der Soldaten die indirekte Rede und potenziert die auf diese Weise entstehende Distanz zum Erzählten noch, indem er auf Kommentare des Erzählers verzichtet und die Aussagen somit für sich sprechen lässt. Schon zu Beginn des Romans, bei der ersten Erwähnung des Krieges gegen die Nama, wird dies deutlich. Hier heißt es nüchtern: »Am 11. Oktober ankerte die ›Gertrud Woermann‹ in Monrovia. Ein Botschaftssekretär kam an Bord mit der Nachricht, in Südwest hätten sich auch die Hottentotten erhoben. Das ist dann gleich ein Abwasch, sagte ein Oberleutnant.« (M 16) Auf eine Einordnung oder einen Erzählerkommentar zu den Ursachen des Aufstandes wird gänzlich verzichtet. Stattdessen bleibt es bei dem kurzen, geradezu beiläufigen Absatz zum Krieg, und die lakonische Feststellung des Offiziers bleibt unwidersprochen. In vergleichbarer Weise wird der Krieg im ersten Teil des Romans wiederholt thematisiert: Der Stabsveterinär Moll etwa wird nach einem groben Fehler – der Futterhafer für die Pferde ist durch Regen verdorben – von seinem Vorgesetzten Major von Redern als »Dilettant« und »Stümper« (M 30) bezeichnet. Schwerer wiegt für Moll jedoch, dass der Vorgesetzte ihm Sabotage oder gar Kollaboration mit dem Feind vorwirft, um ihn zu demütigen. Der Erzähler konstatiert sachlich, »das Ungeheuerlichste, daß Redern Moll unterstellte«, sei der Vorwurf gewesen, »er könne mit diesen Kaffern unter einer Decke stecken.« (M 30) Wie schon in der ersten Erwähnung des Krieges, bei der die Niederschlagung des Aufstandes der Nama als

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Hiermit hebt Timm sich klar von anderen deutschen Kolonialromanen der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts ab, in welchem gerade eine Identifikation mit den Protagonisten und ein »Eintauchen« in die Handlung zu erreichen gesucht wird. Beispiele hierfür finden sich in Jugendromanen der DDR, etwa in Mays Sturm über Südwest-Afrika, vgl. May 1962 oder Dietmar Beetz Oberhäuptling der Herero, vgl. Beetz, Dietmar: Oberhäuptling der Herero. 2. Auflage. Berlin (DDR): Neues Leben 1985 (= Spannend erzählt 177).

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»ein Abwasch« zusammen mit dem, nicht explizit genannten und zum Zeitpunkt der Romanhandlung bereits niedergeschlagenen, Aufstand der Herero bezeichnet wird, werden in der Passage die Feinde der Deutschen beiläufig als »Kaffern« diffamiert. Bewusst wird hier an den Stil klassischer Kolonialromane angeknüpft, statt dem neutraleren »Feind« wird für die autochthone Bevölkerung die Bezeichnung »Kaffern« verwendet.48 In beiden Fällen bleibt es dem Leser überlassen, das Verhalten der Deutschen einzuordnen – es wird lediglich die zur Zeit der Romanhandlung vorherrschende Vorstellung deutscher Superiorität wiedergegeben. Hier zeichnet sich bereits Timms dokumentarische Annäherung an die Thematik ab, die in der Montage von einigen wenigen historischen Dokumenten gipfelt. Paradebeispiel für diese Herangehensweise sind zwei aufeinanderfolgende kurze Kapitel. Im ersten Kapitel, überschrieben mit »Zwei Positionen«, stellt Timm zwei gegensätzliche Standpunkte zum Umgang der Deutschen mit dem Kriegsgegner – vornehmlich sind hier die Herero gemeint49 – dialogisch einander gegenüber. Eingeleitet wird das Kapitel mit von Trothas berüchtigter Proklamation an die Herero vom 2. Oktober 1904, in welcher der General der deutschen Schutztruppe in DSWA die Vernichtung der Herero fordert. (vgl. M 32) Neben von Trotha wird der Generalstabschef, Generaloberst von Schlieffen, mit den Worten zitiert »Daß er [von Trotha] die ganze Nation vernichten oder aus dem Land treiben will, darin kann man ihm nur beistimmen.« (M 33) Diesen beiden radikalen Positionen stehen zwei gemäßigte Ansichten gegenüber: Zum einen wird auf den langjährigen Gouverneur von DSWA, Theodor Leutwein, verwiesen, der, die Bedeutung der autochthonen Arbeitskräfte betonend, um einen Frieden durch Verhandlung ringt (vgl. M 32), und zum anderen wird Reichskanzler von Bülow zitiert: »Die vollständige und planmäßige Ausrottung der Herero würde jedes zur Wiederherstellung des Friedens in SWA und zur Bestrafung gebotene Maß übersteigen. Die Eingeborenen sind sowohl für den Ackerbau und die Viehzucht als auch für den Bergbau unentbehrlich.« (M 32) Die

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Timm ist durchgängig bemüht, die Sprache aus der Zeit der Romanhandlung zu verwenden. So werden die Nama konsequent als »Hottentotten« bezeichnet, lediglich einmal zu Beginn des Romans macht der Autor deutlich, dass ihm die korrekte Bezeichnung der Ethnie durchaus geläufig ist. Einmalig heißt es hier »Aufstand der Hottentotten (richtig Nama)« (M 8). Der Umstand, dass die zitierten Positionen lediglich Bezug auf die Herero nehmen, lässt sich wohl mit der Wahrnehmung der Beiden Kolonialkriege begründen: Der Krieg gegen die Herero und ihren Anführer Samuel Maharero endete relativ schnell mit einem vollständigen Sieg der deutschen Schutztruppe, der Kampf gegen eine sehr kleine Anzahl Nama hingegen war verlustreich und wenig heldenhaft aus deutscher Sicht. So verwundert es denn auch kaum, wenn der Krieg gegen die Herero im Deutschen Reich ein vielbeachtetes Diskursereignis darstellte, wohingegen der ungleich länger andauernde Aufstand der Nama in der Öffentlichkeit des Kaiserreiches lediglich als eine Art Folgeerscheinung des Krieges gegen die Herero angesehen wurde, vgl. Brehl 2007, S. 102.

3. Morenga

von Timm dargestellten Positionen sind mit Quellenangaben versehen und gehören somit zu den wenigen, weitestgehend überprüfbaren montierten Dokumenten. Die Standpunkte stehen ohne einen besonderen Kontext für sich, es werden lediglich unterschiedliche Ansichten prominenter Persönlichkeiten zum Krieg vorgestellt. Die kritische Rezeption bleibt, wie schon in den vorangegangenen Passagen zum Krieg, dem Leser überlassen. Auf die kontroversen Positionen folgt ein Auszug aus Die Kämpfe der deutschen Truppen in Südwestafrika50 , in welchem das Ende des Krieges mit den Herero beschrieben wird: Ergebnisse: »Die mit eiserner Strenge monatelang durchgeführte Absperrung des Sandfeldes«, heißt es in dem Bericht eines anderen Mitkämpfers, »vollendete das Werk der Vernichtung. Die Kriegsberichte des Generals v. Trotha aus jener Zeit enthielten keine Aufsehen erregenden Meldungen. Das Drama spielte sich auf der dunklen Bühne des Sandfeldes ab. Aber als die Regenzeit kam, als sich die Bühne allmählich erhellte und unsere Patrouillen bis zur Grenze des Betschuanalandes vorstießen, da enthüllte sich ihrem Auge das grauenhafte Bild verdursteter Heereszüge. Das Röcheln der Sterbenden und das Wutgeschrei des Wahnsinns…, sie verhallten in der erhabenen Stille der Unendlichkeit!« (M 33) Timm leitet das Zitat geradezu zynisch ein, indem er es gewissermaßen mit »Ergebnisse« überschreibt. Der pathetische Bericht wird auf diese Weise als das entlarvt, was er eigentlich ist: eine Verherrlichung des brutalen Vernichtungsfeldzuges von Trothas. Die Bilanz des Erzählers: »Von ehemals etwa 80 000 Herero überlebten 15 130.« (M 33) Seinem distanzierten Stil in Bezug auf den Krieg bleibt Timm auch in dem auf das Kapitel »Zwei Positionen« folgenden Kapitel treu. Zunächst wird die politische Situation in DSWA im Oktober 1904 geschildert. (Vgl. M 34ff.) Die Passage liest sich in weiten Teilen wie ein Abschnitt aus einem Sachbuch, ist jedoch anders als die vorangegangenen nicht mit Quellenangaben versehen. Es folgt ein kurzer Gefechtsbericht, in welchem der Beginn des Guerillakrieges nach dem Sieg Oberst Deimlings über die aufständischen Witbooi erklärt wird: Am 4. Dezember kommt es zu einem Überraschungsangriff der Hauptabteilung bei Naris, gegen 3 Uhr nachmittags. Die Artillerie beschießt die Stellungen der Witboois, die sich in schwärzliche Felsgruppen eingenistet haben. In einem Bajonettangriff werden sie geworfen. Die Witboos fliehen. Die geplante Einkesselung mißlingt. Die Pontoks werden nach Brauchbarem untersucht. In Witboois Haus dampft noch der Kaffee. Man findet seine silberne Uhr, Lesebrillen, Briefschaften.

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Hierbei handelt es sich eine Sammlung von Berichten aus der deutschen Kolonie DSWA, welche von der Kriegsgeschichtlichen Abteilung des Großen Generalstabes in den Jahren 1906–1908 herausgegeben wurde.

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Aber Hendrik Witbooi ist mit fast allen Leuten entkommen. Die Pontoks werden angezündet, das Vieh wird, zusammen mit einigen gefangenen Weibern und Kindern, abgetrieben. Deimling hat mit seinem Sieg über Hendrik Witbooi die Voraussetzung für einen radikalen Kleinkrieg der Hottentotten geschaffen, die jetzt, ohne Rücksicht auf Ortschaften, Ländereien und Vieh, beweglicher operieren können. Ein Schuß in den Ofen, sagte der Hauptmann i.G. v. Ha. (M 37) Mit diesem kurzen, neutral gehaltenen Gefechtsbericht markiert Timm den Ausbruch des Krieges, in welchen Gottschalk hineingezogen wird. Erzählerische Kommentare sucht man in dem Bericht vergebens, einzig der abschließende Kommentar des lediglich mit einem Kürzel bezeichneten Hauptmannes ordnet den vermeintlichen Sieg der Deutschen als »Schuß in den Ofen« ein. Der nächste Abschnitt des Kapitels ist mit »Feindbild« überschrieben und dient in erster Linie einer Charakterisierung des Titelhelden Morenga beziehungsweise der Nama im Allgemeinen. Morenga wird als gewitzter Anführer beschrieben, der nach einem Viehdiebstahl die Deutschen in einem Brief bittet, die Tiere doch in Zukunft besser zu füttern, »damit man nicht wieder mit solchen Schindmähren vorliebnehmen müsse.« (M 38) Eine Quelle für diese Anekdote wird nicht angegeben. Anders sieht dies bei der folgenden, ausführlichsten Beschreibung Morengas aus – diese ist wiederum aus Die Kämpfe der deutschen Truppen in Südwestafrika entlehnt. Morengas »für einen Neger nicht geringe Bildung« (M 38) wird hier ebenso wie sein Großmut gegenüber gefangenen Weißen gelobt. (vgl. M 39) Timm verzichtet darauf, die Titelfigur mittels eigener, fiktiver Ergänzungen zu beschreiben und beschränkt sich auch bei der Beschreibung der autochthonen Titelfigur wiederum ausschließlich auf die deutsche Perspektive. Die Beschreibung Morengas wird gerahmt durch zwei, nun wiederum fiktive, Berichte von Soldaten der Schutztruppe. Der Schutztruppenreiter Karl Schmodginsky etwa hebt zwar Morenga als bedeutendsten Feldherrn der Nama hervor, hält jedoch fest, im Grunde seien alle Nama »Räuber und Viehdiebe« (M 39), wenngleich sie sich auf das Kriegshandwerk verstünden. (Vgl. M 39f.) Ein Hauptmann, abermals nur mit einem Kürzel genannt, verweist hingegen auf die neue Art der Kriegsführung der Nama, welche die Deutschen immer im Visier hätten, ohne dabei jedoch selbst gesehen zu werden. (Vgl. M 40) Indem Timm zwei unbekannten, fiktiven Soldaten der Schutztruppe die Einschätzung der Feinde überlässt, erzeugt er eine Distanz zum Erzählstoff – es gibt keinen auktorialen Erzähler, der alles über den Feind weiß, diesen glorifiziert oder verteufelt, sondern es sind einfache Soldaten. Dabei spielt es keine Rolle, ob die beiden kurzen Stellungnahmen nun tatsächlich gänzlich fiktiv sind, wie die fehlenden Quellenangaben vermuten lassen, oder ob sie in abgewandelter Form einem Dokument der Zeit entnommen sind. Wichtig ist lediglich, dass beide die Ansichten der deutschen Soldaten widerspiegeln.

3. Morenga

3.4.2 Die Erzählstruktur als Mittel der Distanzerzeugung Doch nicht nur in den Passagen über den Krieg bleibt Timm seiner distanzierten Erzählweise treu. So findet sich in seiner Art zu erzählen eine weitere Parallele zu vielen Romanen der Shoah- wie der deutschsprachigen Genozidliteratur: Timms Figurenzeichnung lässt keine Identifikation mit den Romanfiguren zu, indem durchgängig eine Distanz zum Erzählten gewahrt wird. Dies gilt für den Titelhelden Morenga, welcher keinerlei individuelle Züge erhält51 und weitestgehend im Hintergrund bleibt52 , in gleichem Maße wie für Wenstrup oder Gottschalk. Zwar erfährt der Leser durch Gottschalks Tagebucheinträge sowie Kommentare in Kropotkins Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt einiges über Wenstrups anarchistisches Weltbild, der Informationsgehalt offenbart dem Leser jedoch kaum mehr als den Umstand, dass der Unterveterinär ein ausgesprochener Zyniker ist. Mittels Tagebucheinträgen sowie einigen Erzählerkommentaren erfährt der Leser zwar mehr über Gottschalk als über Wenstrup, jedoch sind insbesondere die Kommentare nicht im Stile eines auktorialen Erzählers gehalten, sodass lediglich Deutungsmöglichkeiten von Gottschalks Handlungen präsentiert werden und ein Einblick in seine Gedanken und Gefühle verwehrt bleibt. Gerade in der gewahrten Distanz zum Protagonisten sieht Uerlings eine Stärke von Timms Roman.53 Timm selbst hat einen hohen Anspruch an das Erzählen: »Erzählen kann die sprachliche Wahrnehmung schärfen für das Geschichtliche der Wirklichkeit, es kann die Wirklichkeit als fluid zeigen, interpretierbar, Eingriffen zugänglich, aufsprengbar, damit so ein Moment der bewussten Veränderung ins Spiel kommt.«54 Die Vorstellung des Autors von gutem Erzählen ist in Morenga konstant präsent. Dies bedeutet, dass seine Erzählweise dem Leser einiges abverlangt, die Leser müssen synthetisieren können.55 Nicht nur zu den Figuren wird in dem Roman eine Distanz gewahrt, sondern auch zum Erzählstoff selbst. Ein »Eintauchen« in die Handlung ist kaum möglich. Das liegt zum einen daran, dass konsequent auf direkte Rede sowie die Präsentation des Innenlebens der Figuren durch den Erzähler verzichtet wird, weshalb eine Identifikation mit den Figuren oder ihren Handlungen weitestgehend verhindert wird. 51

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Vgl. Car, Milka: Uwe Timm Morenga: Ein historischer Dokumentarroman. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 11 (2012). Tübingen: Stauffenburg 2012. S. 103–126, hier: S. 113. Im Folgenden zitiert als ›Car 2012‹. Vgl. Kußler, Rainer: Interkulturelles Lernen in Uwe Timms Morenga. In: Die Archäologie der Wünsche. Studien zum Werk von Uwe Timm, hg. von Manfred Durzak und Hartmut Steinecke. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1995. S. 65–91, hier: S. 67. Im Folgenden zitiert als ›Kußler 1995‹. Vgl. Uerlings 2001, S. 137. Timm 1993, S. 86f. Vgl. Timm 1993, S. 72.

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Zum anderen wird die Romanhandlung wiederholt durch dokumentarische Passagen unterbrochen. Jost Hermand stellt dahingehend fest, der Roman erwecke »fast den Eindruck des Leidenschaftslosen, Reporterhaften, wenn nicht gar Chronikartigen.«56 Timm entwickelt dabei das dokumentarische Prinzip, auf welches schon Hochhuth und Weiss für ihr Dokumentartheater zugegriffen hatten, konsequent weiter. Das Besondere dabei: die Zitation eines, wohlgemerkt fiktiven, Tagebuchs eines Oberveterinärs wird ergänzt durch die Wiedergabe einiger weniger historischer Dokumente, insbesondere Gefechtsberichte, und durch lange fiktive Erzählungen, von denen vor allem die Kapitel zur Landeskunde einen mythischen Einschlag haben. Timms Morenga ist somit keinesfalls ein reiner Dokumentarroman. Manfred Durzak ist zuzustimmen, wenn er in dem Roman vielmehr eine Weiterentwicklung des Dokumentarromans sieht und dabei konstatiert, dieser »vielfarbige mäandernde Erzählstrom« lasse »eine neue Romanform entstehen«.57 Die kommentarlose Montage, wie man sie aus anderen Werken der Dokumentarliteratur kennt, wird durch die epischen Momente von Gottschalks Erzählung und die langen fiktionalen Passagen über die vorkoloniale Geschichte von DSWA ergänzt, ohne dass auf diese Weise eine kontinuierliche Erzählung entsteht.58 Dem Leser öffnet sich ein »breites zeitgeschichtliches Panorama«59 , allerdings konsequent ohne eine vorgegebene Deutung. Insbesondere die historischen Dokumente laden den »Rezipienten zur Hinterfragung seiner eigenen Positionen zur Problematik des Kolonialismus«60 ein. Am Ende »entsteht der Eindruck eines Mosaiks, eines komplex organisierten Puzzles aus heterogenen Teilen, das die Erwartungen des Lesers an einen historischen Roman konsequent unterläuft und zuweilen absichtsvoll düpiert.«61

3.5 Fazit Im Vorliegenden Kapitel sollte gezeigt werden, dass Timm seinen Roman zwar im Bewusstsein der Shoah schrieb, Morenga jedoch in Hinblick auf die deutschsprachi-

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Hermand, Jost: Afrika den Afrikanern! Timms Morenga. In: Die Archäologie der Wünsche. Studien zum Werk von Uwe Timm, hg. von Manfred Durzak und Hartmut Steinecke. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1995. S. 47–63, hier: S. 55. Im Folgenden zitiert als ›Hermand 1995‹. Durzak 1995, S. 22. Hielscher sieht in Timms Roman eine Verknüpfung dreier Formen: dem psychologischen Entwicklungsroman, dem Dokumentarroman und den phantastischen Erzählformen der oralen Erzähltradition und des lateinamerikanischen Romans, vgl. Hielscher 2003, S. 463. Volkmann 2013, S. 109. Car 2012, S. 106. Eintrag »Timm, Uwe« in Munzinger Online/KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Internet-Publikation in: https://www.munzinger.de/document/160000 00564 (abgerufen von RWTH Aachen Bibliothek am 28.01.2019), S. 5.

3. Morenga

ge Genozidliteratur etwas gänzlich Neues darstellt und somit gewissermaßen einem Paradigmenwechsel in der deutschsprachigen Genozidliteratur Vorschub leistete. Die Untersuchung von Timms Roman Morenga konnte in der Tat eine starke Beeinflussung des Autors durch die Shoah offenbaren. Zum einen legen dies zahlreiche Aussagen Timms nahe, der immer wieder Kontinuitätslinien vom Kolonialismus zum Nationalsozialismus betont. Zum anderen finden sich zahlreiche Verweise auf die Shoah im Text selbst. In der im Roman skizzierten, teils brutalen Sachlichkeit der deutschen Kolonisatoren in den Passagen zum Krieg schwingt etwa bereits eine Ahnung vom nationalsozialistischen Terror mit. Zudem wird dem Leser die Entmenschlichung der Schwarzen, die mit Affen verglichen und wie Tiere behandelt werden, dezidiert vor Augen geführt, wobei der Rezipient zumeist selbst synthetisieren muss, da die Verbindungen zur unmenschlichen Politik des Dritten Reiches zum Teil nur zwischen den Zeilen zu finden sind. Timm zieht jedoch auch direkte Parallelen zwischen Nationalsozialismus und kolonialen Verbrechen, exemplarisch indem in der Beschreibung der Konzentrationslager in DSWA eine Ahnung des Grauens der nationalsozialistischen KZs anklingt oder konkreter noch in der Figurenzeichnung Leutnant Elschners, der auch auf direkte Weise in Verbindung mit dem nationalsozialistischen Regime gebracht wird, wenn er vollkommen emotionslos den Krieg in der Kolonie als Testlauf für einen möglichen zukünftigen größeren Fall bezeichnet, in welchem mit brutalen Taktiken experimentiert werden könne. Insbesondere in den von Timm gezogenen Verbindungen zwischen kolonialem und nationalsozialistischem Völkermord liegt das Revolutionäre von Timms Roman – für den Autor ist die Shoah eben nicht ein einzigartiges Verbrechen ohne Vorgeschichte. Vielmehr wurde die Vorstellung von der deutschen Superiorität bereits in den Kolonien verfestigt. Ungeachtet der Frage, ob die in Morenga präsentierte Sichtweise historisch korrekt ist, so hat sie für die Literatur doch eine eminente Bedeutung: Indem ein renommierter deutscher Autor in deutscher Sprache erstmals über einen anderen Genozid als die Shoah schreibt, diesen gar noch mit dem nationalsozialistischen Völkermord in Verbindung bringt ohne dabei jedoch die Shoah in irgendeiner Weise zu relativieren, öffnet er zugleich das Feld für nachfolgende Werke, anders ausgedrückt, nach Morenga erscheint es denkbar, über Genozide jenseits der Shoah zu schreiben, ohne direkt dem Generalverdacht der Relativierung der Shoah ausgesetzt zu sein. Neben den direkten Verbindungen zur Shoah sind es auch zwei weniger offensichtliche Verbindungen zu neueren Werken der deutschsprachigen Genozidliteratur, die für die Fragestellung dieser Arbeit von besonderer Bedeutung sind. Der Protagonist in Morenga – in geringerem Maße auch der Unterveterinär Wenstrup – wird im Verlauf des Romans zu einer Figur, die auf der Suche nach der eignen kulturellen Identität ist, einer Identität zwischen der Kultur der Nama, denen er immer mehr zu ähneln beginnt und seiner deutschen Kultur. Er wird auf diese Weise zu einer innerlich zerrissenen Figur, da er einsehen muss, dass er nicht Teil der ihm

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immer fremd bleibenden Kultur der Nama werden kann, jedoch auch in der deutschen Kultur keinen Halt findet. Die Thematik der kulturellen Zerrissenheit spielt, neben Werken zur unmittelbaren Verfolgung während der Shoah, in besonderen Maße in vielen Romanen von Autoren der dritten Generation eine zentrale Rolle. In der Figurenzeichnung offenbart sich schließlich die zweite Verbindung zu zahlreichen, insbesondere neueren Romanen deutschsprachiger Genozidliteratur: eine Distanz zu den Figuren, die jedoch noch weit über die Figurenebene hinausreicht. Timm erzeugt diese Distanz in seinem Roman, indem er konsequent auf Erzählkommentare zum Innenleben der Figuren sowie auf Anteile direkter Rede verzichtet. Auf der Handlungsebene wird die Distanz insbesondere durch die dokumentarische Erzählstruktur erreicht. Wiederholt unterbrechen geschickt montierte historische Dokumente und fiktive Erzählungen aus der vorkolonialen Zeit der deutschen Kolonie DSWA die Handlung und unterbinden so ein »Eintauchen« des Lesers. Am Ende sind es Verbindungen sowohl auf inhaltlicher als auch auf erzählerischer Ebene zu Shoah und zur Shoah-Literatur, die Morenga zu einem Roman einer neuen deutschsprachigen Genozidliteratur machen.

4. Das Märchen vom letzten Gedanken

4.1 Einführung Auf den folgenden Seiten soll untersucht werden, inwieweit Edgar Hilsenraths Märchen vom letzten Gedanken den Weg für eine deutschsprachige Genozidliteratur bereitete, bei welcher nicht mehr vornehmlich die Shoah im Zentrum stand. Bereits 1978 hatte Timm mit Morenga 1978 den Anfang gemacht, dennoch stellt sich die Frage, ob nicht Hilsenraths Werk einen größeren Einfluss auf die Entwicklung einer deutschsprachigen Genozidliteratur hatte. Dies liegt zum einen in Hilsenraths Biografie begründet – er selbst war als Jude Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung – und zum anderen an der Art der Auseinandersetzung mit einem anderen Genozid als der Shoah. Wie schon Hilsenraths erste Romane Nacht und Der Nazi und der Friseur wurde auch sein sechster Roman zunächst durch die Verlage abgelehnt.1 Nach dem Erscheinen wurde das Werk jedoch von der Mehrheit der Rezensenten mit positiven Kritiken bedacht2 , wenngleich es auch durchaus kritische Stimmen gab.3 Kaum überraschend wurde der Text immer wieder mit dem zweiten großen Werk zum Völkermord an den Armeniern, Franz Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh, verglichen. Silke Hassler verweist bei allen berechtigen Vergleichen jedoch auf entscheidende Unterschiede zwischen den beiden Werken: Im Unterschied zu Werfels bekanntem Roman zum gleichen Thema, der streng durchkomponiert ist, sich auf die genaue Beschreibung weniger Charaktere beschränkt und an die historischen Fakten hält, gleicht Hilsenraths Erzählkosmos eher einem Erzählchaos. Aber auch seinem Roman gehen lange und intensive Recherchen voraus. Bereits in Sereth, dem Schtetl in Rumänien, wo er seit 1938 mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder lebte, lieh er sich Bücher über armenische Geschichte aus der städtischen Leihbibliothek. Mehr als diese Jugendlektüre und seine Recherchen in den 80er Jahren haben die Jahre in dem jüdischen Schtetl 1 2 3

Vahsen, Patricia: Lesarten – Die Rezeption des Werks von Edgar Hilsenrath. Tübingen: Niemeyer 2008 (= Conditio Judaica 71), S. 61f. Im Folgenden zitiert als ›Vahsen 2008‹. Vgl. ebd., S. 62. Vgl. ebd., S. 93–100.

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in der Bukowina, die Hilsenrath als die glücklichste Zeit seines Lebens bezeichnet, die Atmosphäre seines Romans beeinflusst. Hilsenrath jongliert in seinem Roman mit historischen Fakten, er hebt sie aus ihrem Kontext und stellt sie in neue erzählerische Zusammenhänge.4 Ergänzend kann hinzugefügt werden, dass Hilsenraths Roman wohl in vielerlei Hinsicht das authentischere der beiden Werke ist, wenngleich diese Einschätzung zunächst merkwürdig erscheinen mag, wenn man berücksichtigt, dass Werfels Roman auf einer historischen Begebenheit beruht, Hilsenraths Werk hingegen schon im Titel den Begriff »Märchen« führt: Authentischer ist Das Märchen vom letzten Gedanken denn auch nicht in Bezug auf die historische Wahrheit, sondern vielmehr auf die Wahrscheinlichkeit der Romanhandlung. Der von Werfel geschilderte Widerstand der Armenier am Musa Dagh und die Rettung der Verzweifelten durch französische Schiffe stellte eine der wenigen glücklichen Ausnahmen mit »Happy End« während des Genozids dar, wohingegen das brutale Schicksal der Armenier in Hilsenraths Roman historisch betrachtet die überwältigende Mehrheit der Westarmenier ereilte. Es ist gerade die Märchenform, in der eine der großen Stärken des Romans liegt, wie auch Bettina Hey’l konstatiert: Die zwischen Historie und Märchen pendelnde Erzählung in Das Märchen vom letzten Gedanken […] erinnert an die großen Lateinamerikaner, an Salman Rushdie, an Autoren, die Konstellationen tödlich verfeindeter religiöser, ethnischer, sozialer Gruppen nicht mehr »realistisch«, sondern nur noch mit Hilfe von Märchen, Legenden oder Phantastik in entlarvende, utopische, versöhnende Beweglichkeit versetzen können.5 Letztlich kommt Hey’l zu dem Schluss, Das Märchen vom letzten Gedanken sei »ein in hohem Maße informativer Roman«.6 Einen derart informativen und historisch korrekten Roman konnte Hilsenrath nur auf Basis seiner ausführlichen Recherchen zu Armenien und dem von den Jungtürken begangenen Völkermord verfassen. Wie intensiv er sich dabei mit der Welt der Armenier auseinandersetzte, offenbart ein in

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Hassler, Silke: Das Märchen vom letzten Gedanken. Zu Edgar Hilsenraths historischem Roman aus dem Kaukasus. In: Travellers ins Time and Space. The German Historical Novel, hg. von Osman Durrani und Julian Preece. Amsterdam/New York: Rodopi 2001 (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 51). S. 423–433, hier: S. 431. Im Folgenden zitiert als ›Hassler 2001‹. Hey’l, Bettina: Hilsenraths Zauberformeln. Narration und Geschichte in Das Märchen vom letzten Gedanken. In: Edgar Hilsenrath. Das Unerzählbare erzählen, hg. von Thomas Kraft. München/Zürich: Piper 1996. S. 150–163, hier: S. 153. Im Folgenden zitiert als ›Hey’l 1996‹. Ebd., S. 156.

4. Das Märchen vom letzten Gedanken

der Armenisch-Deutschen Korrespondenz erschienener Beitrag der Armenierin Susanna Amirkhanyan, die unter dem Eindruck der Lektüre des Romans schreibt: Ich hatte einen Autor entdeckt, der in seinem Meisterwerk dermaßen gezaubert hatte, dass ich die armenische Sprache hörte und armenische Gesichter sah. Alles war armenisch: armenisches Denken, armenische Liebe, armenisches Vermissen, armenische Trauer, aber am meisten armenischer Stolz. Ich mochte nicht glauben, dass der Autor kein Armenier war. Es entstand in mir der Eindruck, dass er lange Jahre in Armenien gelebt haben müsste oder zumindest enge Kontakte zu Armeniern haben müsste.7 Tatsächlich bleibt dem Leser nicht verborgen, wie tief der Autor in die Welt der Armenier eintauchen musste, um seinen Roman zu verfassen – dies gilt selbstverständlich in erster Linie für den Völkermord, jedoch offenbaren insbesondere seitenlange Passagen im zweiten Buch des Romans, in denen detailliert das Leben im armenischen Dorf Yedi Su sowie Bräuche und Mythen der Armenier geschildert werden, dass Hilsenraths Einarbeitung weit über die Auseinandersetzung mit dem Genozid hinausgeht. Auch die Aufarbeitung des Völkermordes umfasst mehr als eine bloße, trockene Schilderung des ersten großen Genozides im 20. Jahrhundert. Immer wieder werden Parallelen zur Shoah betont, oftmals explizit. Auf diese Weise öffnet Hilsenrath die deutsche Genozidliteratur für den Vergleich: Ein Überlebender der Shoah schreibt in deutscher Sprache über einen anderen Völkermord als die Shoah und weist konsequent darauf hin, dass diese eben kein unvergleichliches Verbrechen war. Wie schon in seinen Romanen Nacht und Der Nazi und der Friseur provoziert Hilsenrath in seinem Werk zum Armenozid wiederholt mit drastischen Aussagen. Die von ihm gezogenen Parallelen zwischen der Shoah und dem Völkermord an den Armeniern waren – wenig überraschend – auch der Hauptkritikpunkt in den Rezensionen.8 Dietrich Dopheide hält derartigen Argumenten gegen Hilsenraths Roman jedoch entgegen, man könne nach Auschwitz wohl kaum über einen Völkermord schreiben, ohne dabei die Shoah zu thematisieren: Die Frage ist auch, ob es unter dem Aspekt der historischen Erkenntnis vertretbar wäre, nach der Erfahrung von Auschwitz über den ersten Völkermord im 20. Jahrhundert zu schreiben, ohne dabei dessen Parallelen zur bis dato größten, systematischen Massenvernichtung von Menschen im Erzählvorgang zu thematisieren.9

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Amirkhanyan, Susanna: Edgar Hilsenrath und Armenien. In: Armenisch-Deutsche Korrespondenz 2001/4, S. 50f., hier: S. 50. Vgl. Vahsen 2006, S. 63. Dopheide, Dietrich: Das Groteske und der Schwarze Humor in den Romanen Edgar Hilsenraths. Berlin: Weißensee 2000, S. 282.

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Dopheides These sollte noch erweitert werden: unabhängig von dem literarisch verarbeiteten Verbrechen – vom Völkermord an den Herero und Nama bis hin zu den genozidalen Massakern im Jugoslawienkrieg sowie dem Genozid in Ruanda – ist ein Schreiben in deutscher Sprache über Genozide ohne zumindest eine implizite Thematisierung der Shoah kaum vorstellbar. Im ersten Kapitel der Analyse wird daher zunächst folgerichtig untersucht, inwieweit sich im Märchen vom letzten Gedanken Parallelen zur Shoah finden (4.2). Dabei gilt es herauszuarbeiten, welche Parallelen direkt und welche indirekt formuliert werden. Wie schon in Timms Morenga spielt auch in Hilsenraths Roman die Frage nach der Identität wiederholt eine bedeutende Rolle, wobei hier zu den Opfern und Tätern des Völkermordes noch als dritte Gruppe die Juden hinzukommen, die in stark differierender Weise in Bezug zu den Armeniern gesetzt werden (4.3). Schließlich stellt sich auch im Märchen vom letzten Gedanken die Frage, auf welche Weise der Autor eine Distanz zum Erzählgegenstand herstellt (4.4) Vor diesem Hintergrund wird das Werk zunächst auf sprachlicher Ebene untersucht. Alsdann folgt eine Analyse der Figurenzeichnung und abschließend wird die Erzählweise in den Fokus genommen.

4.2 Der Armenozid im Kontext der Shoah und anderer Völkermorde 4.2.1 Osmanische »Endlösung« – Parallelen zwischen der Shoah und dem Völkermord an den Armeniern Hilsenraths Märchen vom letzten Gedanken steckt voller Anspielungen auf die Situation der Verfolgten während der Zeit des Nationalsozialismus. Zu Beginn des Romans schildert der Meddah, der Märchenerzähler, verschiedene Möglichkeiten, wie Thovma Khatisian während eines Todesmarsches der Armenier zur Welt gekommen sein könnte. In einer der erzählten Varianten schneidet ein Saptieh10 das Kind mit einem Säbel aus dem Bauch der Mutter heraus.11 Am Ende der Szene heißt es: »Und der Saptieh guckte und lachte, steckte den Säbel wieder ein, weil er im Grunde nicht bösartiger war als die meisten, die dem Staat dienen und gehorsam ihre Pflicht erfüllen.« (MlG 17) Diesen Satz kann man als Anspielung auf die nationalsozialistischen Täter verstehen. Wie der Saptieh beriefen sich diese nach dem Ende des Nationalsozialismus oftmals darauf, sie hätten lediglich Befehle befolgt. Deutlicher noch als in der Täterbeschreibung offenbaren sich die Parallelen zur Judenverfolgung in den

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Türkischer Polizist. Hilsenrath übertreibt nicht mit dieser Darstellung. Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden bei einem Massaker an der armenischen Bevölkerung schwangeren Frauen die Bäuche aufgeschlitzt, vgl. Hofmann 1997, S. 84f.

4. Das Märchen vom letzten Gedanken

Anschuldigungen an die Armenier. Diese seien »eine besondere Rasse […], die seit Jahrtausenden Inzucht betreibt.« (MlG 44) Zudem hätten sie sich mit den Russen gegen die Türken verschworen, um den Türken in den Rücken zu fallen (MlG 44f.).12 Auf die Frage eines deutschen Majors, eines Ausbilders der osmanischen Armee, ob es Beweise für die Schuld der Armenier gebe, entgegnet der Wali: »Die brauchen wir gar nicht […]. Es genügt, daß wir es wissen.« (MlG 44) Wenn doch einmal Beweise benötigt werden, so werden diese auf absurde Weise erfunden. (vgl. MlG 45–48) Zu ihrem Verhängnis trägt jedoch in besonderem Maße der vermeintliche Reichtum und Einfluss der Armenier bei: Und diese Armenier schwimmen im Geld, glauben Sie’s mir. Ihre Frauen sind in Samt und Seide gehüllt und tragen den teuersten Schmuck. Wie heißt es doch: Jede Armenierin ist ein wandelnder Juwelierladen. […] Und alles ist in ihren Händen. Die Banken und Wechselstuben, das Handwerk und der Handel. Sie sind Ärzte und Rechtsanwälte, und ihre Söhne und Töchter schicken sie auf gute Schulen. (MlG 49) Der schwerwiegendste Vorwurf ist die Unterstellung des Müdirs, die Armenier würden das gesamte türkische Wirtschaftssystem von Banken bis zum Handwerk kontrollieren.13 Mit Vergleichbaren Unterstellungen sahen sich auch die Juden im Laufe der Geschichte, insbesondere während der Shoah, konfrontiert. Wie bei den Juden entsprachen die Behauptungen im Falle der Armenier nur sehr bedingt der Wahrheit, da der Großteil der Armenier, wie auch viele Juden, in Deutschland insbesondere die Ostjuden, zu den Armen der jeweiligen Landesbevölkerung gehörte: Die im 19. Jahrhundert aufkommende osmanische Industrie lag sowohl hinsichtlich der Kapitaleigner als auch der Arbeitskräfte überwiegend in armenischen Händen. Einer Wirtschaftsstatistik aus dem Jahr 1912 zufolge gehörten von insgesamt 153 Fabriken und Getreidemühlen in der Provinz Sivas 130 Armeniern, 20 Türken und drei ausländischen oder gemischten Gesellschaften. Das technische Personal bestand fast ausschließlich aus Armeniern, von den 17700 Arbeitern waren 14000 Armenier, 3500 Türken und 200 Griechen. Insgesamt sollen vor dem Ersten Weltkrieg 90 Prozent des osmanischen Binnenhandels, 60 Prozent des Imports und 40 Prozent des Exports von armenischen Unternehmern getätigt worden sein. Auf die Gesamtheit der im Osmanischen Sultanat lebenden Armenier

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Boris Barth sieht in der Angst vor einer kollektiven Verbrüderung aller Armenier mit den Russen eine »Zwangsneurose« der Türken, vgl. Barth 2006, S. 68. Die Situation der Armenier im Osmanischen Reich war durchaus vergleichbar mit jener der Juden in Europa. Wenngleich sie wie die Juden immer in Gefahr schwebten, waren Armenier oftmals angesehene »Münzmeister, Kaufleute, Hofarchitekten und Ärzte«, Hofmann 1997, S. 58.

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bezogen, bildeten Industrielle, Finanziers und Handelsherren jedoch eine verschwindend geringe Minderheit. Bis zum Ersten Weltkrieg bestand die armenische Bevölkerung noch zu 80 bis 90 Prozent aus Bauern und Handwerkern. Den Betätigungsmöglichkeiten armenischer Industrieller und Geschäftsleute wurden überdies seit 1880 mit der Entstehung eines durch flankierende politische und gesetzgeberische Maßnahmen geförderten türkischen Bürgertums immer engere Grenzen gesetzt.14 Ungeachtet der tatsächlichen Situation werden in dem Roman von den Türken immer wieder vergleichbare Vorwürfe erhoben, die Armenier seien etwa ein »Volk von Händlern und Betrügern« (MlG 100), sie verstünden es, »auch Kuhscheiße zu Geld zu machen« (MlG 103) und nähmen den Türken alles weg.15 (vgl. MlG 382) Wie schon in seinen Romanen in denen die Shoah explizit thematisiert wird, insbesondere in Der Nazi und der Friseur, benutzt Hilsenrath bei der Artikulation der Vorwürfe in gänzlich überzeichneter Weise Stereotype um so die Absurdität der Unterstellungen zu unterstreichen. Einen Höhepunkt in dieser Hinsicht stellt eine kurze Episode dar, in welcher der Meddah von drei Händlern, einem Armenier, einem Juden und einem Griechen berichtet, die auf den Basaren von Bakir ihre Geschäfte machen. Über den Armenier heißt es: Niemand wußte genau, was für Geschäfte der Händler machte. Es hieß, er stünde mit einem Griechen und einem Juden auf den Basaren von Bakir herum. Der Jude hatte ein graues Pferd bei sich, der Grieche einen grauen Esel. Wenn es nun dämmerte und die Leute das Grau des einen Tieres vom Grau des anderen nicht mehr unterscheiden konnten, vermittelte der Armenier in aller Eile einem gutgläubigen Türken das graue Reitpferd des Juden, tauschte es aber in der Dämmerung und dem trüben Licht geschickt gegen den Esel des Griechen aus, indem er den Türken ablenkte oder sonst was tat, um den Türken zu täuschen. Der Jude und der Grieche halfen bei dem Ablenkungsmanöver. Sobald das Geschäft abgeschlossen war und sie den Türken auf den Esel gesetzt hatten, machten die drei sich aus dem Staube, übernachteten im Haus der Griechen, kauften am nächsten Tag einen ähnlichen Esel, der weniger kostete als die Summe, die der Türke für das Pferd bezahlt hatte und teilten dann den Gewinn – sage und sprich: den Mehrwert – redlich miteinander. (MlG 346f.) Zu den beiden vermeintlichen inneren Feinden der Türken, den Armeniern und Griechen, fügt Hilsenrath bewusst noch einen Juden hinzu. Auf diese Weise betont

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Hofmann 1997, S. 58f. Da den Muslimen im Osmanischen Reich aufgrund des islamischen Rechtes die Arbeit in Handel und Bankenwesen verwehrt blieb, wurde die Wirtschaft von den Minderheiten wie Armeniern, Juden und Griechen dominiert, vgl. Naimark 2004, S. 32.

4. Das Märchen vom letzten Gedanken

er die Beliebigkeit bei der Verfolgung von Minderheiten – eine jede kann Opfer werden. Im Verlauf der Shoah mussten die Juden ihre Wertsachen immer wieder den Nationalsozialisten übergeben – sowohl im Zusammenhang mit Pogromen als auch bei der Deportation. Ähnlich ergeht es in Hilsenraths Roman den Armeniern, die unter Androhung des Todes ihre Wertsachen an die Türken abgeben müssen (vgl. MlG 522), wie auch einigen Juden während der Shoah wird vielen Armeniern zugesichert, sie erhielten ihr Hab und Gut später zurück (vgl. MlG 553), und wie bei der Enteignung der Juden kann der Besitz der Armenier käuflich – deutlich unter Wert – erworben werden. Im Zusammenhang mit den Enteignungen benutzt Hilsenrath in der für ihn typisch überspitzten Weise ein antisemitisches Stereotyp: Nicht alle Moslems hatten die Häuser geplündert. Die Vornehmen unter ihnen waren schon vorher dagewesen, als die Trommler durch die Stadt zogen und jeder wußte, wessen Stunde geschlagen hatte. Sie kauften noch auf, was sie kaufen konnten, für wenig Geld. Viele Armenier gaben den vornehmen Moslems so manches umsonst und baten sie, es aufzubewahren, bis sie zurück seien. Unter den vornehmen Moslems waren auch einige Ungläubige, die ich versehentlich zu den Moslems gezählt hatte, denn ihre Augen hinter dem geheuchelten Mitleid waren genauso gierig. Einige Griechen waren darunter und einige Juden. Ein Grieche kaufte ein Piano für sieben Piaster, einen lächerlichen Preis. Und ein Jude, der neben dem Griechen stand und den Kauf neidisch wahrnahm, fragte den früheren Besitzer des Pianos, ob er nicht noch eines hätte, und er würde sogar acht Piaster zahlen, aber der hatte kein zweites. Der Grieche klimperte auf dem Piano, was den Juden ärgerte, denn er verstand das Klimpern besser als der Grieche, weil er musikalischer war. Es war einmal eine Zeit, sagte der Jude zu dem Armenier, wo es uns Juden an den Kragen ging, aber diese Zeit ist Gott sei Dank vorbei. (MlG 554) Der geschilderte Jude ist gierig, neidisch und versucht skrupellos, sich auf Kosten der Armenier zu bereichern. Auf dem Höhepunkt der Szene verweist er schließlich geradezu höhnisch darauf, dass die Zeit der Judenverfolgung nunmehr endgültig beendet sei – ein direkter Verweis auf die Shoah. Neben den auf die vermeintliche Kontrolle der Wirtschaft bezogenen Vorwürfen greift Hilsenrath zahlreiche weitere, im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert präsente, Vorwürfe auf. Bereits zu Beginn des Romans heißt es, die Armenier unterwanderten die Türken. (vgl. MlG 129) Später wird dieser Vorwurf radikaler und mit deutlichen Parallelen zur Verfolgung der Juden ausformuliert: Der Armenier ist ein Fremdkörper in unserem Fleisch, ein zynischer Stachel, der nicht zu belehren, aufzusaugen oder umzumodeln ist, der dem türkischen Wesen ewig fremd und verständnislos gegenübersteht, oder sagen wir so: nicht gegen-

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übersteht, sondern hartnäckig in uns steckt und dessen einzige Absicht es ist, den Körper, der ihn nährt, zu vergiften. (MlG 523) Die Ähnlichkeit zu den von den Nationalsozialisten gegen die Juden erhobenen Vorwürfen ist frappierend – substituiert man »Armenier« durch »Jude« und das Adjektiv »türkisch« durch »deutsch«, so könnte die Passage aus nahezu jedem Roman zur Shoah stammen. Wie den Juden wird den Armeniern ein parasitärer Charakter unterstellt.16 Weitere Passagen reihen sich nahtlos ein und offenbaren deutlich, dass Hilsenrath in seinem Werk immer die Parallelen zwischen Juden- und Armenierverfolgung mitdenkt. Exemplarisch etwa, wenn es über einen türkischen Anwalt heißt, dass er »trotz des schlechten Blutes seiner armenischen Urgroßmutter das Vertrauen des Walis genoß.«17 (MlG 126) In dem Schauprozess gegen Wartan Khatisian spielt Hilsenrath eine Vielzahl der absurden Vorwürfe gegen die Armenier nochmals anhand eines Einzelschicksals durch. Zentrales Thema des Prozesses ist die vermeintliche armenische Weltverschwörung. Stellvertretend für alle Armenier wird Wartan für diese verantwortlich gemacht: Das Verhör verläuft zunächst allgemein, der Müdir verweist darauf, dass Wartan kurz vor Kriegsausbruch aus Amerika in die Türkei zurückkehrte und unterstellt dem Armenier, er handle im Auftrag. (vgl. MlG 112) Auch in Wartans Aufenthalt in Sarajevo während des Attentats am 28. Juni 1914 (vgl. MlG 113–116) sowie den Fotos von den Dardanellen und der Halbinsel Gallipoli, die Wartan bei seiner Rückreise ins Osmanische Reich machte (vgl. MlG 117f.), sieht der Müdir keinesfalls einen Zufall. Konkreter wird das Verhör, als es um Wartans verschwundenen und wegen Hochverrats angeklagten Schwager geht. (vgl. MlG 119f.) In der Folge offenbart sich die vollständige Absurdität der Befragung: 16

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An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es sich bei der von Hilsenrath gezogenen Parallele zwischen dem Vokabular der Jungtürken und jenem der Nationalsozialisten keineswegs um eine rein literarische handelt. Wie die Nationalsozialisten sahen auch die Jungtürken in ihren Opfern »Untermenschen«, verglichen sie mit Ungeziefer, Viren oder Bakterien und führten medizinische Experimente mit ihnen durch, vgl. Hofmann 1997, S. 100. Selbst das »vermutlich historisch früheste Vergasungsexperiment wurde 1915 in Trapesunt in einem als ›Dampfbad‹ getarnten Raum an armenischen Kindern unternommen«, ebd. Vanassche betont ebenfalls die besondere Art der gemeinsamen Erinnerung des Romans, bei welcher die Erinnerung an die beiden Genozide unmittelbar miteinander verknüpft werde. Hilsenraths Roman »simultaneously invites the reader to co-memorate two genocides – or rather, renders any co-memoration inevitable – yet this does more than suggest a sense of solidarity between Armenians and Jews.« Vanassche 2020, S. 62. Bei dem Hinweis auf das armenische Blut des Rechtswissenschaftlers handelt es sich wohl eher um eine literarische als um eine historisch bedingte Parallele zur Shoah, spielte doch bei dem Völkermord an den Armeniern die (christliche) Religion für die Verfolgung eine weitaus größere Rolle als das »armenische Blut«. So wurden in der Spätphase des Genozides zahlreiche armenische Kinder auf staatliche Anordnung dem Islam zugeführt und auf diese Weise von der Vernichtung ausgenommen, vgl. Koutcharian 2004, S. 63f.

4. Das Märchen vom letzten Gedanken

- Wir glaubten zuerst, daß Sie, Efendi, von der Ochrana18 geschickt worden sind. Aber dann haben wir uns gesagt: die Ochrana schickt ihre Leute über die türkischrussische Grenze. Ihre Leute sind leicht einzuschmuggeln. Warum sollte sie sich die Mühe machen, einen Mann aus Amerika zu holen? - Ja, Müdir Bey. - Um ihn ausgerechnet zum Bosporus zu schicken, zu den Dardanellen und zur Halbinsel Gallipoli? - Ja, Müdir Bey. - Oder gar nach Bosnien, einer ehemaligen türkischen Provinz, die die Österreicher annektiert haben, und deren Hauptstadt Sarajevo ist? - Ja, Müdir Bey. - Sehen Sie, Efendi. Deshalb nehmen wir an, daß Sie für die Amerikaner arbeiten, obwohl Amerika neutral ist und wir nicht verstanden, warum der amerikanische Präsident hier bei uns einen Aufstand der Armenier anzetteln will. - Ich weiß nichts von einem Aufstand, Müdir. - Deshalb sagten wir uns, Sie arbeiten vielleicht für die Engländer und Franzosen? (MlG 120f.) Der kurze Dialog verdeutlicht: Wartan hat keine Chance, die Vorwürfe gegen ihn zu entkräften. Als für den Müdir weder die Zusammenarbeit Wartans mit den Russen oder Amerikanern noch mit den Engländern und Franzosen plausibel erscheint, zieht er daraus keineswegs den Schluss, der Armenier könne unschuldig sein, sondern greift zu einem Argument, welches auch die Nationalsozialisten bei der Judenverfolgung verwendeten: Wartan wird wie die Juden während der Shoah zum Agenten einer Weltverschwörung erklärt, ist »nichts weiter als ein Agent der armenischen Weltverschwörung.« (MlG 122) Auch das Ziel der vorgeblichen Verschwörung ist für den türkischen Beamten vollkommen evident: - Es gibt eine armenische Weltverschwörung, sagte der Müdir. Sie sind die wirklichen Drahtzieher dieses Krieges. Ihr Endziel ist die Vernichtung der Menschheit. Aber zuerst wollen sie uns Türken schaden. Und deshalb haben sie diesen Krieg geplant. Und Sie, Efendi, sind ihr Agent. (MlG 123) Zunächst bestreitet Wartan alle Vorwürfe. Durch tagelange Folter bringen die Männer des Müdirs ihn jedoch dazu, auch die absurdesten Dinge zu »gestehen«. Als Zeugen für das Geständnis lädt der Müdir zahlreiche Türken sowie drei deutsche Offiziere und einen österreichischen Journalisten ein. (vgl. MlG 180) Bereits vor Wartans Aussage wird kein Zweifel daran gelassen, dass der Wahrheitsgehalt dieser für die Türken irrelevant ist. Auf die kritische Nachfrage des Österreichers, ob es denn für

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Russischer Geheimdienst.

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die armenische Verschwörung Beweise gebe, antwortet der Müdir, es gebe »Hinweise für den armenischen Verrat, die in Richtung eines Beweises führen.« (MlG 183) Als der Journalist weiter nachhakt, konstatiert der Müdir: »Wichtig allein ist der Glaube, der Glaube an den Beweis, der sich auf glaubhafte Hinweise stützt.« (MlG 183) Die folgende seitenlange Passage, in welcher Wartan ein vollständiges »Geständnis« ablegt, könnte wiederum aus einem Roman über die Shoah stammen: Als Tribut an die ausländischen Beobachter muss Wartan zunächst zugeben, dass es keine Verfolgung der Armenier gegeben habe – die Armenierverfolgung sei vielmehr »eine Lüge der armenischen Weltverschwörung«, »um dem Ruf der Türken in aller Welt zu schaden.« (MlG 185) Vergleichbar argumentierten auch die Nationalsozialisten in Bezug auf die Judenverfolgung. In gleicher Weise verläuft das Geständnis weiter: Wartan räumt die armenische Kontrolle der Finanzmärkte ein (vgl. MlG 188), berichtet von seinen Plänen, den österreichischen Thronfolger zu erschießen (vgl. MlG 189), um den von der armenischen Weltverschwörung geplanten Krieg auszulösen, an dessen Ende ein armenischer Staat auf türkischem Boden stehe. (vgl. MlG 201ff.) In dem Krieg schließlich beabsichtigten die Armenier, den Türken in den Rücken fallen, wie Wartan auf Drängen des Wali gesteht: »Es war vorgesehen, daß die Millionen Armenier im Grenzgebiet und auch in der Etappe hinter der Front den Türken in den Rücken fallen sollten, sobald sich die Kaukasusarmee des Zaren in Bewegung setzte.« (MlG 204) Mit einem vergleichbaren Vorwurf sahen sich auch die Juden nach dem Ersten Weltkrieg konfrontiert. Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten wurde die Anschuldigung vom Regime aufgegriffen und war fortan fester Bestandteil der nationalsozialistischen Propaganda. Am Ende des Geständnisses räumt Wartan schließlich ein, auch Fotos der osmanischen Küste gemacht zu haben, um diese dem Feind zuzuspielen. (vgl. 210ff.) Wiederholt wird die Aussage des Armeniers durch kritische Nachfragen des österreichischen Journalisten unterbrochen, der auf Widersprüche und Lügen verweist. (vgl. MlG 185, 187f., 198) Als es um die Ermordung des österreichischen Thronfolgers geht, interveniert schließlich auch ein deutscher Major und verweist darauf, dass erwiesen sei, dass Gavrilo Princip das Attentat begangen habe.19 (vgl. MlG 207f.) Die Qualität des Geständnisses wird schließlich in einem Dialog zwischen dem deutschen Major und dem Müdir zusammengefasst:

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Tom Vanassche ordnet die fingierte Ermordung des österreichischen Thronfolgers berechtigterweise als Anspielung auf das Vorgehen der Nationalsozialisten im Zusammenhang mit dem Reichstagsbrand, speziell jedoch auf die Ermordung des deutschen Diplomaten Ernst vom Rath durch den Juden Herschel Grynszpan ein, vgl. Vanassche, Tom: Probing the Litmits of Co-Memoration: Edgar Hilsenrath’s Rhetoric of Commemoration. In: Ko-Erinnerung: Grenzen, Herausforderungen und Perspektiven des neueren Shoah-Gedenkens, hg. von Daniela Henke und Tom Vanassche. Berlin/Boston: de Gruyter 2020. S. 59–82, hier: S. 68f. Im Folgenden zitiert als ›Vanassche 2020‹.

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- Es ist ungeheuerlich, sagte der Major. Aber es ist eine Anklage ohne Zeugen und ohne Beweise. - Dieser Mann ist der Zeuge, sagte der Müdir. - Es ist ungeheuerlich, sagte der Major. Aber diese Aussage wird keiner glauben. - Wir werden dafür sorgen, daß man sie glaubt, sagte der Müdir. (MlG 209) Am Ende ist es wiederum der Österreicher, der im Nachgang des Geständnisses im Gespräch mit den zwei deutschen Offizieren in Bezug auf Wartans Aussage konstatiert: »Sein Geständnis ist eine einzige Lüge von A bis Z. Es scheint ihm vorher diktiert worden zu sein.« (MlG 213) Mit dem erzwungenen Geständnis Wartans zeigt Hilsenrath in seinem Werk, wie es sich mit nahezu allen Vorwürfen gegen die Armenier verhielt: Es waren schwere Anschuldigungen mit geringem Wahrheitsgehalt mit dem Ziel, die Verbrechen vor dem Ausland zu rechtfertigen. Schließlich offenbart auch die im Märchen vom letzten Gedanken skizzierte Situation der Armenier während der Verfolgung und Vernichtung durch die Türken zahlreiche Parallelen zur Judenverfolgung. Wie im »Dritten Reich« wird auch im Osmanischen Reich die Vernichtungsabsicht mit Kriegsausbruch radikalisiert. (vgl. MlG 482) Die Armenier werden später für die Niederlagen verantwortlich gemacht (vgl. MlG 483), auch hierin liegt eine Parallele zu den Juden, die jedoch anders als die Armenier erst nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, insbesondere aber nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten, für die Niederlage verantwortlich gemacht wurden. Im Traum sieht Wartan Khatisian bereits zu Beginn der Verfolgungen das Schicksal der Armenier, wobei auch hier die Verbindung zur Shoah evident wird: Die Regierung wird noch viele aufhängen. Und man wird auch viele erschießen und hinrichten. Man wird viele einfach totschlagen. Und ich sage dir: Gott hat Glasaugen. Und ich sage dir: die Regierung wird ein großes Feuer anfachen. Und Millionen Leiber werden ins Feuer geworfen werden. Und alles wird vor Gottes Augen geschehen, die aus Glas sind. (MlG 151) Passt der erste Teil der Vision von der folgenden Vernichtung noch gut zu dem Vorgehen der Türken bei den Massakern, so scheint der Verweis auf die »Millionen Leiber«, die ins Feuer geworfen werden, ein deutlicher Hinweis auf die Verbrennung von Millionen ermordeter Juden während der Shoah zu sein. Zwar wurden auch Ar-

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menier verbrannt20 , doch die große Mehrheit der Armenier starb nicht im Feuer.21 Somit muss der Satz als Anspielung auf die Shoah verstanden werden, die auf diese Weise wiederum mit dem Armenozid in Verbindung gebracht wird. In vergleichbarer Weise geht es weiter. Die von Hilsenrath beschriebene Vernichtungsabsicht der Jungtürken ist gleichermaßen total wie die der Nationalsozialisten, auch »die Frauen und die Greise und die Kinder« (MlG 489) sollen nicht verschont werden. Eine längere Passage, in welcher der Meddah die Manifestation der Vernichtungsabsicht innerhalb des »Komitees für Einheit und Fortschritt« durchspielt, lässt unmittelbar an die Shoah denken: »Die Armenier wissen noch nicht, was wir mit ihnen vorhaben […] … ich meine: Sie wissen noch nichts von den endgültigen Maßnahmen und der endgültigen Lösung des Armenierproblems.« (MlG 500, kursiv GM) Der Hinweis auf die »endgültige Lösung des Armenierproblems« ist angelehnt an die »Endlösung der Judenfrage«. Was genau unter dieser »Lösung« zu verstehen sei, wird im Folgenden in einem Gedankengespräch zwischen dem Meddah und dem sinnbildlich zu einer Person, einem »Uniformierten«, vereinten »Komitee für Einheit und Fortschritt« dargelegt. Der Uniformierte spricht von Massenerschießungen (vgl. MlG 501) und davon, dass die Armenier – ähnlich wie die Juden während des Nationalsozialismus – nicht wahrhaben wollen, dass die Türken tatsächlich die Vernichtung aller Armenier planen: »und alle haben die Todeskolonnen gesehen. Und trotzdem wollen sie nichts begreifen.« (Ebd.) Der Märchenerzähler entgegnet darauf, die Armenier glaubten nicht, dass die Türken imstande seien, »ein ganzes Volk auszurotten« (ebd.) Kurz darauf wird nicht mehr von einer »endgültigen Lösung«, sondern direkt von der »Endlösung«, gesprochen: - Wie wird die Endlösung aussehen? - Wir wissen es selber noch nicht genau, sagt der Uniformierte. Aber es gibt Vorschläge. Wie gesagt: wir wissen noch nichts Genaues. - Nun, es ist alles unkompliziert, sagt der Uniformierte. Wir werden den sich ausbreitenden Aufstand, den es nicht gibt und auch gar nicht geben kann, weil die Armenier weder Waffen noch genügend Männer haben und weder organisiert sind noch geeinigt – also diesen Aufstand werden wir niederschlagen, ehe er ausbricht. Wir werden dann alle verdächtigen Männer erschießen lassen. Und da jeder, der

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Tatsächlich ermordeten die Jungtürken in einem Höhlenlabyrinth in der Nähe des syrischen Dorfes Schaddadeh etwa 80.000 Armenier, indem sie sie erstickten oder verbrannten, vgl. Koutcharian, Gerayer: Der Völkermord an den Armeniern (1915–1917). In: Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Christen im Osmanischen Reich 1912–1922, hg. von Tessa Hofmann. Münster: LIT Verlag 2004 (= Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte 32). S. 55–75, hier: S. 62. Im Folgenden zitiert als ›Koutcharian 2004‹. Der Großteil der Armenier starb entweder schon während der Deportation auf den Todesmärschen oder aber aufgrund der lebensfeindlichen Bedingungen in den von den Jungtürken eingerichteten Konzentrationslagern, vgl. ebd., 60ff.

4. Das Märchen vom letzten Gedanken

ein Gewehr tragen könnte, verdächtig ist, lassen wir vorsichtshalber alle erschießen. - Und was werdet ihr mit den Frauen, Kindern und Greisen machen? - Wir werden sie deportieren. - Wohin? - Nirgendwohin.22 (MlG 502f.) Der Uniformierte erläutert in der Folge bereitwillig, dass es sich bei der Deportation um einen Todesmarsch handle. Die Armenier sollen solange laufen »bis sie keine Füße mehr haben oder nur noch das, was von den Füßen übriggeblieben ist, und die berittenen Saptiehs werden sie mit ihren Peitschen vor sich herhetzen, bis sie tot umfallen.« (MlG 504) Die Überlebenden dieser Tortur werden schließlich in Auffanglagern in der Wüste verhungern, bis »keiner von diesem Gesindel mehr übrig [ist]«. (MlG 505) Verhaltene Kritik an der Totalität der Vernichtung der armenischen »Ratten« (MlG 510) durch den Müdir von Bakir wird vom Wali zurückgewiesen: - Ich verstehe nur nicht, sagte der Müdir, warum wir auch die alten Frauen deportieren sollen. Die alten Frauen machen doch keinen Aufstand. - Wenn man Ratten vernichtet, muß man sie alle vernichten, sagte der Wali. Die alten Frauen werden auf der Deportationsroute sterben. Und das ist gut so. (MlG 510) Die Armenier werden mit Ungeziefer gleichgesetzt, welches es zu vernichten gilt. Gegen Ende des Romans wird im Gespräch zwischen Wartan und dem amerikanischen Konsul von Bakir eine weitere Parallele zwischen Armenozid und Shoah deutlich. Der Konsul konstatiert: »Die Ausrottung der Armenier scheint beim Komitee absoluten Vorrang zu haben. Manchmal glaubt man, sie sei dort wichtiger als die Ereignisse an den Fronten, die Neutralität Amerikas und der Verlauf des Krieges.« (MlG 583) Hilsenrath legt bei der Schilderung der Planung der Vernichtung ein besonderes Augenmerk auf die Rolle der Deutschen und arbeitet in seinem Werk heraus, dass die Planung der Jungtürken durchaus mit der Planung des großen Judenmordes durch die Nationalsozialisten vergleichbar war. In dem Gedankengespräch zwischen Meddah und dem Komitee für Einheit und Fortschritt konstatiert der Meddah: »Ich, der Märchenerzähler, war erstaunt, als ich sah, daß die korrupte, schlecht geölte Maschinerie der türkischen Bürokratie alle vom Komitee für Einheit und Fortschritt gewünschten Maßnahmen mit fast preußischer Gründlichkeit und Präzision durchführte.« (MlG 506) Die preußische Gründlichkeit wird im

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Wie an anderer Stelle im Roman geschildert (vgl. MlG 498ff.; S. 514–520), lieferten die Jungtürken tatsächlich Waffen an Armenier, damit diese später bei Razzien von Saptiehs »gefunden« werden konnten, vgl. Koutcharian 2004, S. 58f.

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Folgenden ausführlich geschildert, angefangen von der akribischen Einhaltung der Befehlskette über das Auffinden nicht existenter Waffenlager, der organisierten »Erschießung aller wehrfähigen Männer« (MlG 507) und der Aufforderung an Kurden und freigelassene Verbrecher, die Armenier auf den Todesmärschen zu überfallen bis hin zur Bildung von Tötungskommandos, sogenannten Tschettes, aus rekrutierten Verbrechern (vgl. MlG 507f.), die die Aufgabe hatten, »die Frauen, Kinder und Greise niederzumetzeln, entweder mit Hacken und Schaufeln, Bajonetten, Messern oder sonstigen Tötungsinstrumenten, aber auch mit ihren Gewehren, sofern sie genügend Munition hatten.« (MlG 508) Allein der Umstand, dass Hilsenrath ausführlich die »preußische Gründlichkeit« der Türken schildert, offenbart wie wichtig dem Autor die Unterstreichung der Parallelen zwischen der Shoah und dem Genozid an den Armeniern ist. Wenig später im Roman wird nochmals ein Vergleich zwischen türkischem und deutschem Organisationstalent gezogen: Noch nie hatten die Behörden so schnell und gründlich gearbeitet wie in den letzten Tagen vor Ramadan. Es war, als hätte die Allgegenwart der Soldaten des deutschen Kaisers ein wenig vom preußischen Wind in die chaotischen Amtsstuben der verbündeten Türken geblasen. Und so trug es sich zu, daß bereits in der Woche vor den Feiertagen die Stadt Bakir armenierrein war. (MlG 548, kursiv GM) Wiederum fällt auf, dass Hilsenrath auf nationalsozialistisches Vokabular zurückgreift und dieses, passend zum Völkermord an den Armeniern, umformt – statt »judenrein« wird das Osmanische Reich »armenierrein«.23 Neben den, den gesamten Roman durchziehenden skizzierten Parallelen zwischen der Verfolgungssituation von Juden und Armeniern legt Hilsenrath einen starken Fokus auf die impliziten Parallelen beim Umgang der Weltöffentlichkeit mit den beiden Genoziden. Immer wieder wird, oftmals ausgesprochen zynisch, auf die durchsichtigen Vertuschungsversuche der Jungtürken hingewiesen, mit denen die Verbrechen gegenüber der Weltöffentlichkeit zu verschleiern gesucht werden. Exemplarisch hierfür wird ein mögliches Statement des türkischen Innenministers Talaat Bey, des Kopfes des Komitees für Einheit und Fortschritt, vor Vertretern der Weltpresse durchgespielt: Denn er [Talaat Bey] kann ihnen zu diesem Zeitpunkt bereits sagen: Meine Herren. Ich weiß gar nicht, was Sie von uns wollen. Es gibt weder ein armenisches Nationalitätenproblem in den umstrittenen anatolischen Provinzen der Türkei, noch gibt 23

Ulrich Dittmann verweist ebenfalls auf Hilsenraths anachronistische Verwendung zahlreicher Begriffe aus dem nationalsozialistischen Vokabular, vgl. Dittmann, Ulrich: Den Völkermord erzählen? Franz Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh und Edgar Hilsenraths Das Märchen vom letzten Gedanken. In: Edgar Hilsenrath. Das Unerzählbare erzählen, hg. von Thomas Kraft. München/Zürich: Piper 1996. S. 163–177, hier: S. 170. Im Folgenden zitiert als ›Dittmann 1996‹.

4. Das Märchen vom letzten Gedanken

es dort eine armenische Frage oder gar eine armenische Majorität. Denn sehen Sie, meine Herren… soweit ich informiert bin, gibt es ja dort gar keine Armenier mehr. (MlG 505) Es finden sich des Weiteren einige Verweise auf euphemistische Beschreibungen, mit welchen die Verbrechen gegen die Armenier beschönigt werden. Etwa ist von »kriegsbedingte[n] Umsiedlung[en] aus strategischen Gründen« (MlG 533) statt von Deportationen die Rede. Zudem werden die Erschießungen der armenischen Männer zur kriegsbedingten Maßnahme deklariert (vgl. MlG 532) und zugleich versucht, das »Gemetzel unter den Frauen, Kindern und Greisen« (ebd.) den Kurden zu überlassen, um diesen die Verantwortung zuschieben zu können. Die Mitwisserschaft der türkischen Bevölkerung wird gegen Ende des Romans ebenfalls thematisiert. Stellvertretend für das türkische Volk teilt ein versehrter türkischer Soldat nach dem Krieg der Hebamme Bülbül sowie Wartan mit: »Und glaubt mir, Freunde, ich habe alles gesehen, und doch habe ich nichts gewußt. Keiner von uns will irgend etwas gewuß haben.« (MlG 615) Wie zahlreiche andere, so könnte auch diese Aussage aus einem Roman zur Shoah stammen – auch nach der Befreiung der nationalsozialistischen KZs behauptete die Mehrheit der Deutschen, nichts von den Verbrechen gewusst zu haben. Hilsenrath arbeitet im Märchen vom letzten Gedanken ebenfalls heraus, dass neben den Türken selbst auch die Weltöffentlichkeit stets ums »Wegschauen« bemüht war. So wird in dem Roman kein Zweifel daran gelassen, dass die USA nicht protestiert hätten, wenn Wartan, immerhin amerikanischer Staatsbürger24 , hingerichtet worden wäre. (vgl. MlG 154) Später, nach dem Geständnis Wartans, werden der »Fall Khatisian« und seine Rezeption in den USA aufgegriffen. Der Meddah erzählt dem letzten Gedanken des sterbenden Thovma, dass der Fall in den USA zwar in den Medien gewesen sei, man diesen aber sehr schnell wieder vergessen habe.25 (vgl. MlG 577) Es wird jedoch keinesfalls lediglich die Reaktion der Weltöffentlichkeit im »Fall Khatisian« thematisiert. Wiederholt verweist Hilsenrath in seinem Werk darauf, dass die Deutschen über nahezu alle Vorgänge im Osmanischen Reich im Bilde waren. Der deutsche Konsul etwa verfügt bereits vor den Massakern über das Wissen, dass die Türken ein Massaker vorbereiten, »wie es die Weltgeschichte noch nicht gesehen hat.« (MlG 216) Der deutsche Kaiser habe jedoch kein Interesse an

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Wartan war bereits Jahre vor dem Krieg wegen Massakern an den Armeniern Ende des 19. Jahrhunderts in die Vereinigten Staaten ausgewandert, vgl. MlG 451. Ein ausgezeichneter Aufsatz, welcher das Wegsehen des Westens, insbesondere jedoch die Rolle der Briten in den Fokus nimmt, stammt von Tigran Sarukhanyan, vgl. Sarukhanyan, Tigran: Die Frage nach der materiellen Verantwortlichkeit für den Genozid an den Armeniern und Großbritannien (1915–1924). In: Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Christen im Osmanischen Reich 1912–1922, hg. von Tessa Hofmann. Münster: LIT Verlag 2004 (= Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte 32). S. 79–92.

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derartigen Informationen, konstatieren zwei deutsche Offiziere im Gespräch mit einem österreichischen Journalisten. (vgl. MlG 217) Gleiches gelte für den österreichischen Kaiser Franz Joseph26 (vgl. MlG 218f.), und so hält der Märchenerzähler fest, dass die deutschen Offiziere und der Österreicher verstanden hätten, »[d]aß die Ausrottung der Armenier in der Türkei – die Hinrichtung eines ganzen Volkes – letzten Endes nicht nur von den Ausrottern abhängt, sondern auch vom Schweigen ihrer Verbündeten.«27 (MlG 219) Dieses Schweigen setzt sich auch während der Deportationen und Massaker fort: »In den Straßen von Bakir standen türkische und deutsche Offiziere verlegen beisammen, und die Konsulate der neutralen Nationen schlossen peinlich berührt ihre Fenster.« (MlG 530) Die drastischste Passage zur Rolle der Deutschen findet sich kurz vor Ende des Romans. Der amerikanische Konsul in Bakir stellt im Gespräch mit Wartan fest: »Nur die Deutschen können euch Armeniern noch helfen […]. Sie sind die wichtigsten Verbündeten der Türken. Eine einzige ernstgemeinte Drohung von seiten des Kaisers an die Adresse des Komitees würde genügen, um die Massaker zu stoppen. Aber der Kaiser schweigt. Und auch die deutsche Presse schweigt. » (MlG 582) Kurz darauf folgt eine Aussage des Konsuls, welche als direkte Anspielung auf die Shoah verstanden werden muss: Diese Deutschen sind ein merkwürdiges Kulturvolk, sagte der Konsul. Manchmal hat es den Anschein, als hätte sich das Gewissen ihrer Dichter und Denker hinter die Monokel der Generäle geflüchtet, um irgendwann in den Stiefelschäften der Soldaten zu verschwinden. Dort wird es dann unbekümmert zertreten. (MlG 583) In der Verknüpfung des scheinbar Unvereinbaren, der Kulturnation der Dichter und Denker mit Stiefelschäften von Soldaten, hallt in Hilsenraths Werk noch jene Fassungslosigkeit im Angesicht von Verfolgung und Vernichtung nach, die zahlreiche Juden während der Shoah verspürten. In dem Roman bleibt die Rolle der Deutschen jedoch die der passiven Beobachter, die durch unterlassene Hilfeleistung sowie Aufbauhilfe beim Aufbau der türkischen Infrastruktur (vgl. MlG 457f.) eine große Mitschuld am grausamen Schicksal der Armenier tragen.28

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Eine dezidierte Aufarbeitung der Rolle Deutschlands und insbesondere Österreichs findet sich in Artem Ohandjanians Der verschwiegene Völkermord, vgl. Ohandjanian, Artem: Armenien. Der verschwiegene Völkermord. Wien et al.: Böhlau 1989. Im Folgenden zitiert als ›Ohandjanian 1989‹. An anderer Stelle verweist Hilsenrath darauf, dass die Weltpresse den Armeniern bereits bei den Massakern im ausklingenden 19. Jahrhundert nicht geholfen habe, vgl. MlG 449. Wie von Hilsenrath geschildert, waren die Deutschen tatsächlich über nahezu alles im Bilde, was im Zusammenhang mit dem Genozid an den Armeniern stand. Darüber hinaus machten sich auch einige Deutsche direkt mitschuldig, indem sie aktiv beim Vorgehen gegen die Armenier halfen, vgl. Hofmann 1997, S. 97ff. Vanassche verweist in seiner Untersuchung von Hilsenraths Roman ebenfalls auf den Umstand, dass Hilsenrath bereits 25 Jahre bevor Bundespräsident Joachim Gauck die Verwicklung der deutschen Waffenindustrie sowie deutscher

4. Das Märchen vom letzten Gedanken

Zwar legt Hilsenrath den Fokus bei den skizzierten Reaktionen der Weltöffentlichkeit besonders auf die USA und Deutschland, doch in einer kurzen Episode in der im Jahr 1988 spielenden Rahmenhandlung, vor dem Beginn des eigentlichen Märchens, zu Beginn des Romans, wird auch der Umgang der Vereinten Nationen – von Hilsenrath zynisch als »Vereintes Völkergewissen« bezeichnet – mit dem Völkermord an den Armeniern thematisiert. Thovma Khatisian schildert dem Meddah einen Traum, in welchem er den türkischen Ministerpräsidenten, der »Archivar beim Vereinten Völkerwissen« (MlG 23) ist, bei einer Vollversammlung der Institution trifft. Bereits die politische Funktion, welche Hilsenrath dem Türken zuweist, ist bedeutsam: der oberste Repräsentant des Staates, der konsequent den von ihm begangenen Genozid an den Armeniern leugnet, ist qua Amt zuständig für die internationale Erinnerungspolitik. Es verwundert daher kaum, dass der Türke auf Nachfrage von Thovma zunächst mit der Begründung, der zeitliche Abstand zwischen dem Völkermord von 1915 und dem Jahr 1988, dem Jahr der Rahmenhandlung des Romans, sei zu groß, abstreitet, etwas von dem Verbrechen zu wissen. (vgl. MlG 23) Die Passage wird in der Folge zunehmend skurriler – als der Türke die Existenz einer armenischen Akte nicht mehr bestreiten kann, erklärt er, diese sei »so sehr verstaubt, daß sie unauffindbar geworden ist.« (MlG 24) Ein von Thovma gefordertes Entstauben sei ebenfalls nicht möglich, da »die Putzfrauen des Vereinten Völkergewissens alle asthmatisch sind und keine alten Akten entstauben wollen« (ebd.) – der aufgewirbelte Staub reize schließlich zum Husten. Mit dem Hinweis, man solle das Vergessen nicht entstauben, da dies zu gefährlich sei, verschwindet der Türke. Der türkische Ministerpräsident als »Archivar des Vereinten Völkergewissens« steht stellvertretend für die bis heute andauernde Verdrängung eines der düstersten Kapitel der türkischen Geschichte.29 Hilsenrath belässt es jedoch nicht dabei, auf die türkische Verdrängung der Geschichte zu verweisen. Im Anschluss an das Gespräch mit dem Türken begibt sich Thovma in den Sitzungssaal des Vereinten Völkergewissens. Zunächst gelingt es ihm nicht, die türki-

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Offizieller in den Genozid eingestand, auf die deutsche Komplizenschaft beim Völkermord an den Armeniern hingewiesen habe, vgl. Vanassche S. 70f. Tessa Hofmann kommt in Bezug auf die türkische Haltung zum Umgang mit dem Völkermord an den Armeniern zu einem eindeutigen Urteil: »Im internationalen Vergleich stellt die türkische Weigerung, die eigene Geschichte zur Kenntnis zu nehmen, den hartnäckigsten Fall von Genozidleugnung dar. […] Es habe Bürgerkrieg geherrscht, und folglich hätten sowohl Türken, wie auch Armenier Verluste an Menschenleben zu beklagen; sie seien Opfer wechselseitiger Gewalt.« Hofmann, Tessa: Mit einer Stimme sprechen – gegen Völkermord. In: Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Christen im Osmanischen Reich 1912–1922, hg. von Tessa Hofmann. Münster: LIT Verlag 2004 (= Studien zur Orientalischen Kirchengeschichte 32). S. 9–51, hier: S. 40. Wie Hofmann verweist auch Koutcharian auf die bis heute andauernde konsequente Leugnung des Völkermordes durch alle türkischen Regierungen, vgl. Koutcharian 2004, S. 71f.

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schen Redner zu unterbrechen, da er von den Ordnungshütern daran gehindert und des Saales verwiesen wird. Entscheidend ist die anschließende Erzählung des IchErzählers: Einmal gelang es mir, wieder hineinzuschlüpfen. Ich stellte mich neben den Generalsekretär und hielt eine zündende Rede. Ich erzählte von meinem Volk, das die Türken ausgelöscht hatten, und die Vertreter aller Nationen hörten mir eine Zeitlang zu. Dann aber begannen sie, sich zu langweilen, und einer nach dem anderen verließ den Sitzungssaal, schließlich blieb ich ganz allein. (MlG 24) Die Reaktion der Vertreter der Nationen steht für den Umgang der Weltöffentlichkeit mit dem Völkermord an den Armeniern – kaum einer interessierte sich über einen langen Zeitraum für die Aufarbeitung der Verbrechen. Ein weiteres Mal hält Thovma eine Rede vor dem nunmehr leeren Saal: Ich erzählte dem Schweigen die Geschichte des Völkermords. Ich machte das Schweigen darauf aufmerksam, wie wichtig es sei, daß man offen darüber sprach. Ich sagte: jeder müsse es wissen! Denn wie sollte in Zukunft der Völkermord verhindert werden, wenn jeder behauptet, er habe nichts gewußt und habe auch nichts verhindert, weil er sich so etwas gar nicht vorstellen konnte. Ich sprach lange und ausführlich. Ich forderte nichts für mein Volk, und ich verlangte keine Bestrafung der Verfolger. Ich sagte: Nur das Schweigen möchte ich brechen. (MlG 25f.) In dieser zweiten, emphatischen Ansprache des Ich-Erzählers wird ein zentraler und somit für diese Arbeit bedeutsamer Aspekt für eine Auseinandersetzung mit Genoziden angesprochen: Die größtmögliche Katastrophe sind Verschweigen und Vergessen genozidaler Verbrechen, leisten doch beide Vorgänge einer Wiederholung Vorschub.

4.2.2 Ein armenischer Holocaust Bereits auf den ersten Seiten des Romans wird eine direkte Verbindung zwischen dem Völkermord an den Armeniern und der Shoah hergestellt. Im Traum führt der sterbende Thovma in der Rolle eines armenischen Psychiaters und als Ich-Erzähler ein Gespräch mit dem türkischen Ministerpräsidenten. Der Türke sucht den Armenier auf, da er, wie alle Türken laut Erzähler, Albträume aufgrund der Ausrottung der Armenier hat. Auf die Feststellung, die Türken hätten die Armenier ausgerottet, reagiert der türkische Ministerpräsident ablehnend, lässt sich aber von dem Armenier darüber aufklären, dass der Völkermord kein von den Feinden der Türken erfundenes Märchen, sondern ein systematisch geplantes Verbrechen auf Anordnung der türkischen Regierung war. Hier wird nun eine direkte Verbindung zur Shoah hergestellt:

4. Das Märchen vom letzten Gedanken

- Es kam von oben, sagte ich. Alles kam auf Anordnung der damaligen türkischen Regierung. Alles war wohlorganisiert. Denn es handelte sich damals um den ersten organisierten und geplanten Völkermord des 20. Jahrhunderts. - Ich dachte, den hätten die Deutschen erfunden. - Sie haben ihn nicht erfunden. - Dann waren wir Türken ihre Lehrmeister? - So ist es. (MlG 21) In diesem kurzen Dialogausschnitt verweist Hilsenrath direkt auf die Kontinuitätslinien zwischen Armenozid und Shoah – geradezu provokativ wirkt die Feststellung, die Türken seien die Lehrmeister der Deutschen gewesen. Wenngleich die Passage überspitzt erscheint, so erinnert sie einerseits an die Rolle, welche die Deutschen bei dem Völkermord im Osmanischen Reich spielten und andererseits an die Erprobung von Vernichtungs- und Verfolgungspraktiken, die später von den Nationalsozialisten übernommen und auf perverse Weise perfektioniert wurden. Zudem wird mit dem Verweis auf die Kontinuitätslinien – wie schon in Timms Morenga – die Vorstellung von der Shoah als singulärem Ereignis ohne Vorgeschichte unterminiert. In diesen Kontext fallen auch die zahlreichen Vergleiche zwischen den verschiedenen Opfergruppen, wobei Hilsenrath bewusst wiederholt Juden und Armenier miteinander vergleicht. Über die Armenier heißt es exemplarisch, sie seien »ja bekanntlich klüger als die Juden und die Griechen.« (MlG 12) In besonderem Maße aufschlussreich sind Romanpassagen, in welchen türkische Beamte mit deutschen Offizieren Gespräche über Armenier führen. Ein deutscher Major berichtet im Gespräch mit dem Müdir von Bakir von seinen in Galizien gewonnen Eindrücken: - Ich war vor einigen Wochen in Galizien, sagt der Major, an der österreichischen Front. Und wissen Sie, Müdir Bey, was mir dort aufgefallen ist? - Nein, sagt der Müdir. - Es gibt dort zu viele Juden. Und wissen Sie, wie sich die Juden beim Feilschen benehmen? - Nein, sagt der Müdir. - Wie Armenier, sagt der Major. Diese beiden Völker sind fast zum Verwechseln. Es ist unglaublich. (MlG 48) Bezeichnenderweise stellt nicht der Türke fest, dass Armenier und Juden zum Verwechseln seien, sondern der Deutsche. Zugleich verweist der Deutsche auf die vermeintliche Gerissenheit von Juden und Armeniern auf Geschäftsebene, also auf ein Merkmal, welches aus Sicht der Verfolger beiden Opfergruppen gemein war. Die Antwort des Müdirs fällt entsprechend zustimmend aus und offenbart einen klaren Bezug zwischen der Verfolgung von Juden und Armeniern: »Diese Armenier sind schlimmer als Ratten, sagt der Müdir. Wo immer sie leben, unterwandern sie die Völker, höhlen sie aus und vernichten sie schließlich.« (MlG 48) Wäre in der Aussage

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des Müdirs nicht explizit von den Armeniern die Rede, würde man aufgrund des nationalsozialistischen Vokabulars zweifellos annehmen, die Vorwürfe bezögen sich auf Juden.30 Radikaler formuliert der Wali von Bakir die vermeintlichen Gemeinsamkeiten zwischen Juden und Armeniern, wobei er mit den Griechen eine weitere verfolgte Minorität hinzunimmt: »Die Augen eines Armeniers sind geil, tückisch, gierig, hinterlistig, verschlagen, genauso wie bei den Juden und den Griechen. Diese drei Völker verkörpern das Böse der Welt!« (MlG 96) Neben den zahlreichen Vergleichen der Opfergruppen wird auch die vermeintliche armenische Weltverschwörung in direkte Relation zu den Juden gesetzt: Als ich noch im Ausland studierte, sagte der Müdir, da traf ich gewisse Leute, die mir etwas von den Protokollen der Weisen von Zion erzählten. Und sie sprachen über die jüdische Weltverschwörung. Und wissen Sie was, Efendi? Ich habe diese Herren ausgelacht. Ich habe zu ihnen gesagt: diese Juden sind harmlose Geschäftemacher. Ich kenne einige aus Smyrna, Stambul und Bakir. Da müßten Sie mal bei uns die Armenier und Griechen kennenlernen. – Und später, als ich wieder in die Türkei zurückkehrte, da habe ich oft über diese Herren nachgedacht und auch über ihre Reden. Und je mehr ich darüber nachdachte, um so konsequenter strich ich die Juden von der Schuldliste. Und merkwürdigerweise dann auch die Griechen. Es blieb nur noch ein Volk übrig, das schuld an allem Unglück ist. […] Die Armenier sitzen überall, sagte der Müdir, wo das Böse am Rad der Weltgeschichte dreht. Alle Hebel sind in ihren Händen. (MlG 122f.) Neben den Verweisen auf die Protokolle der Weisen von Zion sowie die jüdische Weltverschwörung erinnert wiederum das Vokabular an die Judenverfolgung.31 Die Passagen, in welchen Armenier mit Juden oder auch anderen verfolgten Minoritäten in Verbindung gebracht werden, dienen ausnahmslos einem Zweck: sie offenbaren die Austauschbarkeit von Opfergruppen – nahezu jede Minorität kann

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Der Vorwurf der Unterwanderung, verbunden mit dem Hinweis, mit den Juden sei es das gleiche, wird später wiederholt. (vgl. MlG 355) In diesen Kontext fügen sich auch der gegen Ende des Romans geäußerte Vorwurf, die Armenier würden im Ausland für Stimmung gegen Türken sorgen (vgl. MlG 523), sowie der Begriff »internationales Armeniertum« (MlG 524), welchen ein Herr der für den Völkermord verantwortlichen Sonderorganisation im Gespräch mit dem Wali verwendet. Vanassche verweist in Bezug auf das Gespräch zwischen den türkischen Beamten darauf, dass die Aussagen des Herrn von der Sonderorganisation eine Persiflage auf eine Drohung Hitlers an die Juden vom 30 Januar 1939 seien. In der Tat ist das Statement nahezu wortgleich und unterscheidet sich lediglich dahingehend, dass der Türke von Armeniern und nicht von Juden spricht, vgl. Vanassche 2020, S. 69. Auf Figurenebene wird ebenfalls ein direkter Bezug zwischen Juden und Armeniern hergestellt, wenn es über Henry Morgenthau, den amerikanischen Botschafter mit deutsch-jüdischen Wurzeln, heißt er sei »im Herzen ein Armenier« (MlG 158).

4. Das Märchen vom letzten Gedanken

zum Opfer staatlich organisierter Gewalt werden. Indem Hilsenrath auf die Beliebigkeit bei der Auswahl der Verfolgten hinweist, widerspricht er zugleich dem oftmals mit der Shoah verknüpften Anspruch auf Singularität und trägt auf diese Weise dazu bei, das literarische Feld für den Vergleich zu öffnen. Wie schon in den Romanen Nacht und Der Nazi und der Friseur breche Hilsenrath auf die Weise ein Tabu, in diesem Falle, indem er die Singularität der Shoah in Frage stelle und den Völkermord an den Armeniern und die Shoah direkt miteinander verbinde, wie Tom Vanassche betont.32 Doch Hilsenrath geht noch einen Schritt weiter: In der Erzählung des Märchenerzählers wird die Beliebigkeit bei der nachträglichen Auseinandersetzung mit den beiden großen Genoziden des 20. Jahrhunderts evident: Egal was da auf uns losstürzt: die Historiker werden sich ins Fäustchen lachen, besonders die Zuständigen für zeitgenössische Geschichte, denn sie brauchen zur Unterbrechung ihrer Langeweile neuen Stoff, einen Stoff, mit dem sich arbeiten läßt. In ihrer Phantasielosigkeit werden sie nach Zahlen suchen, um die Massen der Erschlagenen einzugrenzen –, und sie werden nach Wörtern suchen, um das große Massaker zu bezeichnen und es pedantisch einzuordnen. Sie wissen nicht, daß jeder Mensch einmalig ist und daß auch der Dorftrottel im Heimatdorf deines Vaters das Recht auf einen Namen hat. Sie werden das große Massaker Völkermord nennen oder Massenmord, und die Gelehrten unter ihnen werden sagen, es heiße Genozid. Irgendein Klugscheißer wird sagen, es heiße Armenozid, und der allerletzte Fachidiot wird in Wörterbüchern nachschlagen und schließlich behaupten, es heiße Holocaust. (MlG 219f.) Wie ernst es Hilsenrath mit dem Verweis auf die Beliebigkeit bei der Bezeichnung durch die Historiker und damit verbunden eine Hinterfragung der Singularitätsthese ist, zeigt der Umstand, dass die zitierte Passage die ausführlichste des Romans zu der Thematik ist und das Thema immer wieder aufgegriffen wird. Kurz vor dem Ende des Romans folgt eine weitere Passage, in welcher nun nicht mehr die Beliebigkeit bei der Einordnung der Genozide im Fokus steht, sondern das Augenmerk auf die beiden Weltkriege gerichtet wird: Und so sage ich, der sich Meddah nennt, zu meinem Schatten: »Bald, nachdem der Weltkrieg zu Ende war – also kurz darauf –, bereitete man schon einen neuen Krieg vor. Denn die Historiker wollten dem Großen Krieg, den sie nur Weltkrieg nannten, eine Nummer geben, damit er in der Schublade aller Kriege nicht verlorenginge. Aber um den Großen Krieg, der ein nummernloser Weltkrieg war, den Ersten nennen zu können, mußte es einen Zweiten geben. Und das war gar nicht schwierig. Man brauchte ihn nicht mal zu erfinden. Denn wie die meisten Erfindungen war auch er längst erfunden, und es brauchte nur einen Vorwand und ei-

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Vgl. Vanassche 2020, S. 70.

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nen Auslöser, um den Historikern klarzumachen, daß es diesen Zweiten Weltkrieg tatsächlich gab und daß sie mit ruhigem Gewissen nun das Wort Erster vor den einen und Zweiter vor den anderen setzen konnten. Möglich wäre auch die Nummer 1 und die Nummer 2, selbstverständlich mit einem Punkt. Denn alles mußte seine Ordnung haben, und auch die Rechtschreibung mußte stimmen. […]« (MlG 627f.) Wie zuvor klingt auch in dieser Erzählung des Meddahs auf zynische Weise die Ansicht des Autors durch, dass die Aussagekraft retrospektiv vergebener Bezeichnungen für Ereignisse gänzlich beliebig sei und nichts über das Ereignis selbst aussage, sondern vielmehr zur Simplifizierung komplexer Zusammenhänge führe. An anderer Stelle ist es in höchst ironischer Weise der Meddah selbst, der die Beliebigkeit von Begriffen verdeutlicht. Im Gespräch mit seinem Schatten spricht dieser über den Genozid an den Armeniern und nennt ihn »Holocaust«: »Wenige Wochen später war ja schon Krieg, und bald fing auch das große Massaker an«. »Von welchem Massaker sprichst du?« »Von dem bevorstehenden… das ich Holocaust nenne.« »Holocaust?« »Holocaust.« (MlG 468) Wie schon auf indirekte Weise in Form von Wartans Schauprozess wird mittels der Figur Wartan auch eine unmittelbare Verbindung zwischen Armenozid und Shoah geknüpft. Das Märchen vom letzten Gedanken endet mit einem Märchen, über welches der Meddah sagt, es fange »so an wie ein jüdisches Märchen« (MlG 632) Dieses »Märchen« erzählt vom Schicksal Wartans. Thovmas Vater hat den Genozid an den Armeniern überlebt und ist über Umwege in die Schweiz gelangt, wo ihn ein Jude zu einer Zeit aufsucht, als Juden bereits von den Nationalsozialisten verfolgt werden. Der Jude bittet Wartan darum, die Wertsachen seiner in Polen lebenden Familie zu retten – Wartans Schweizer Pass soll den Transfer ermöglichen. (vgl. MlG 632ff.) In Polen jedoch verliert der Armenier seine Papiere und weil während seines Aufenthaltes eine Razzia durchgeführt wird, wird er zusammen mit Juden verhaftet, »da er vom dunkelhaarigen Typus war und keine Papiere bei sich hatte.« (MlG 637) Schlussendlich wird er im KZ vergast und seine Seele steigt zusammen mit der eines Türken, dem ironischerweise die gleichen Umstände wie Wartan zum Verhängnis wurden, in den Himmel hinauf. (vgl. MlG 641) Die Passage verdeutlicht einmal mehr, dass jeder unter bestimmten Voraussetzungen zum Opfer werden kann. Auf Wartans letzten Schritten in den Himmel wird abermals eine Verbindung zwischen Juden und Armeniern geknüpft. Eine Stimme aus dem All spricht zum Armenier: »Ihr Armenier seid ein misstrauisches Volk, sagte die Stimme. Ihr seid wie die Juden. Kein Vertrauen in die Welt!« (MlG 645) Am Ende ist es irrelevant, welcher verfolgten

4. Das Märchen vom letzten Gedanken

Minorität Wartan nun angehört, ob er Armenier, Jude, Grieche oder Zigeuner ist.33 Brecheisen kommt in Hinblick auf Wartans Ende zu einem vergleichbaren Schluss: Wartan entkommt seinem Schicksal nicht. Bereits als Armenier für den Tod bestimmt, kann er zwar einmal fliehen, doch seine Bestimmung holt ihn ein. So stirbt er nicht als Armenier sondern als Jude, er fällt einem anderen Völkermord zum Opfer. Der Holocaust wird zur Metapher für das Leiden der Menschen. Dadurch wird das Judentum auf eine symbolische Ebene gehoben. Judesein ist nicht mehr allein eine Rassen- und Religionszugehörigkeit, es bedeutet vielmehr die Teilhabe an einer verfolgten Minderheit. In diesem Sinne ist Wartan Jude, ein ewiger Jude, der bereits vor der Judenverfolgung Pogromen ausgesetzt war.34 Die Schlussfolgerung erscheint nachvollziehbar, doch handelt es sich dabei keinesfalls um eine Einbahnstraße – nicht nur das »Judesein« bedeutet Teilhabe an einer verfolgten Minderheit, für alle anderen Minderheiten gilt dies in gleichem Maße.

4.3 Von Armeniern, Juden und Türken Die Frage nach der eigenen Identität ist ein zentrales Handlungselement in Hilsenraths Märchen vom letzten Gedanken. Die gesamte Romankonzeption ist darauf ausgerichtet, dass der sterbende Thovma, der Zeit seines Lebens auf der Suche nach seiner Herkunft und damit auf der Suche nach seiner Identität war, vom Meddah Informationen über seine – mögliche – Familie und deren Geschichte erhält. Eine der ersten komplexen Fragen, die Thovma Khatisian im Gedankengespräch dem Märchenerzähler stellt, ist die Frage nach der eigenen Herkunft schlechthin, die Frage nach der eigenen Mutter: »Sag mir, Meddah, wie ich auf diese Welt kam. Denn ich habe meine Mutter nie gekannt.« (MlG 13) Der Meddah erzählt Thovma daraufhin ausführlich von verschiedenen Möglichkeiten, wie er zur Welt gekommen sein könnte und wie er schließlich im Straßengraben von einem türkischen Ehepaar gefunden und gerettet wurde.35 (vgl. MlG 14–19) Wenig später wird das Thema erneut aufgegriffen, nun in einem Traumgespräch zwischen Thovma und dem Generalsekretär des Vereinten Völkergewissens, welches 33

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Bezeichnenderweise sind die Täter, die Wartan am Ende hinrichten, keine Türken, sondern Deutsche – der Kreis schließt sich somit. Dittmann sieht daher nicht zu Unrecht in Hilsenraths Werk auch eine Abrechnung mit der deutschen Geschichte, da die Deutschen im Verlaufe des Romans ständig präsent sind und am Ende gar das Werk der Türken »vollenden«, vgl. Dittmann 1996, S. 170. Brecheisen 1993, S. 81. Der Protagonist kennt nicht einmal seinen Familiennamen, hat mit Khatisian lediglich einen geläufigen armenischen Nachnamen gewählt (vgl. MlG 28), welchen der Meddah wenig später »bestätigt«. (vgl. MlG 36)

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die beiden nach der Rede Thovmas vor dem Sitzungssaal der Institution führen. Der Generalsekretär rekapituliert nochmals die Geschichte von Thovmas Geburt und der Rettung durch das türkische Ehepaar und ergänzt sie um die Information, dass die Türken das Kind in einem Waisenheim abgegeben hätten. (vgl. MlG 27) Der auf die kurze Passage folgende Dialog stellt schließlich die Frage nach der kulturellen Identität eines Menschen: - Kurz nach dem Großen Krieg kamen zwei Damen vom Roten Kreuz und brachten Sie in die Schweiz? Das haben Sie doch vorhin erzählt? - Richtig, Herr Generalsekretär. - Dort blieben Sie auch, und heute sind Sie Schweizer Staatsbürger? - Ja. - Ein Schweizer also? - Nein, Herr Generalsekretär. Ich bin Armenier. Ein Armenier mit Schweizer Paß. (MlG 27) Die Äußerungen Thovmas offenbaren eine klare Vorstellung von Identität: obwohl er als kleiner Junge in die Schweiz verbracht wird und somit nicht nur über einen Schweizer Pass verfügt, sondern auch als Schweizer aufwächst, fühlt er sich dennoch als Armenier. Umso schwerer wiegt vor diesem Hintergrund, dass er nichts über seine Herkunft weiß. »Sie wissen nicht einmal, woher Ihre Familie kommt, auch nicht den Namen der Stadt oder des Dorfes. Sie wissen nichts von ihnen. Nichts.« (MlG 28) Dieser Feststellung des Generalsekretärs scheint Thovma zunächst nicht widersprechen zu können, da er trotz sechzigjähriger Recherche konstatieren muss, zwar viele Spuren gefunden zu haben, »aber sie führten alle ins Nichts.« (Ebd.) Kurz darauf jedoch, in einer zentralen Passage des Romans, hält er fest, dass er nun, am Ende seines Lebens, wisse, wer er sei: Ich habe mir 60 Jahre lang von Überlebenden des Massakers Geschichten erzählen lassen, Geschichten aus Hayastan, das auch Türkisch-Armenien oder Anatolien genannt wird – wie Sie wollen –, und aus den vielen Geschichten habe ich mir dann meine eigene zurechtgebastelt. Und so hatte ich dann eines Tages eine echte Familiengeschichte. Ich kannte meine Wurzeln. Ich hatte wieder einen Vater und eine Mutter, und ich hatte viele Verwandte. Ich hatte einen Namen mit Tradition, einen den ich fortpflanzen konnte an meine Kinder und Enkel. Und sehen Sie, Herr Generalsekretär: diese Geschichte ist noch etwas wirr in meinem Kopf. Aber bald wird sie Gestalt annehmen, und sie wird so wirklich sein wie alle wirklichen Geschichten. (MlG 28) In dieser Passage wird klar, welche Vorstellung von Identität den Roman bestimmt: Identität ist festgelegt durch die Herkunft, durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und die Teilhabe an den Erlebnissen dieser Gruppe. Dabei ist irrelevant, dass die Geschichten im Kopf des Ich-Erzählers Thovma zu diesem Zeitpunkt noch ungeordnet

4. Das Märchen vom letzten Gedanken

sind. Eine Ordnung der zahlreichen wirren Geschichten wird mit fortlaufender Erzählung der Meddah übernehmen. Dabei ist evident, dass die Geschichte die letzte Klarheit erst am Ende von Thovmas Leben erhalten kann, wie der Generalsekretär feststellt: »Sie kommt erst mit dem letzten Gedanken.« (MlG 29) Für Thovma ein Zeitpunkt, der keineswegs zu spät ist: Das ist aber nicht zu spät, sagte ich. Ich sagte: Mit dem letzten Gedanken wird alles klar werden. Und ich sehe es schon: Der letzte Gedanke wird das Wirrwarr in meinem Kopf ordnen. Und die Ordnung in meinem Kopf wird mich sanft aus dem Leben wiegen. Die Leute werden von mir sagen: Siehe, dieser da ist wie ein Baum gestorben. Ein Baum kann seine Blätter verlieren, aber nie seine Wurzeln. Und warum sollte es bei den Menschen anders sein? (MlG 29) Wie zuvor wird hier, nun mittels einer Analogie, der Fokus auf die Bedeutung der Herkunft des Menschen gerichtet. Es ist das Wissen um seine Wurzeln, welches Thovma Khatisian die Angst vor dem Tod nimmt. Nicht in Angst zu sterben bedeutet nicht in Ungewissheit sterben. (vgl. MlG 30) Neben der Frage nach der persönlichen Identität des Protagonisten stellt Hilsenrath, oftmals in geradezu spielerischer Weise, in seinem Werk die Frage, wie Identität beziehungsweise die Zugehörigkeit zu einer Gruppe definiert wird. Zu Beginn der Märchenerzählung beobachtet Thovmas letzter Gedanke, wie die vermeintlich türkischen Händler auf dem Basar von Bakir ihre Stände abbrechen. (vgl. MlG 39) Der Meddah belehrt ihn jedoch umgehend: »Das sind keine Türken«, sagte der Meddah, »es sind armenische Händler, wenigstens die meisten von ihnen. Sie wohnen seit Jahrhunderten mit den Türken im selben Land, und oft kann man sie kaum von den Türken unterscheiden. Du siehst: die meisten Männer tragen den roten Fez, und ihre weiten Pluderhosen oder Tschalvars sind an den Knöcheln zugeschnürt. Ihre ärmellosen Jacken unter den Übergewändern sind dieselben, die auch die Türken tragen. Manche stolzieren auch in westlicher Kleidung herum, genau wie die neue Generation der Jungtürken, und sie tragen dazu eine Pelzmütze oder den Fez. Ihre struppigen Schnurrbärte flößen den Weibern Furcht ein und sie sind nicht weniger ansehnlich als die der Türken und Bergkurden. Sie rauchen dieselben Zigaretten oder Pfeifen, den Tschibuk zum Beispiel, den auch der Wali von Bakir raucht und der Mutessarif und der Müdir, oder sie rauchen die Nargileh, die Wasserpfeife mit dem großen gewundenen Schlauch, für die man allerdings Zeit und Muße braucht. Und wenn du einen Armenier fragst, mit welchem Tabak er denn seine Tschibuk stopfe, so wird er selbstverständlich sagen: mit dem persischen Tabak Abu Ri’ha, dem Vater des Wohlgeruchs, was auch ein Türke antworten würde, der etwas auf sich hält.« (MlG 40)

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Von besonderer Relevanz im Kontext der Frage nach der Zugehörigkeit zu einer Bevölkerungsgruppe ist nicht nur der allgemeine Verweis darauf, dass man die Armenier optisch kaum von den Türken unterscheiden könne, sondern auch die dezidierte Beschreibung der identischen Alltagsgewohnheiten von Türken und Armeniern – Armenier sind somit nicht nur in ihrem Erscheinungsbild nicht von Türken zu unterscheiden, sondern teilen auch kulturelle Gewohnheiten mit diesen. Insbesondere der letztgenannte Umstand wird wiederholt aufgegriffen, beispielsweise in Bezug auf wichtige Nahrungsmittel von Türken und Armeniern – traditionelle Lebensmittel und Gerichte der Türken und Armenier unterscheiden sich lediglich durch den Namen (vgl. MlG 101) –, die Gastfreundschaft, die sowohl für Türken als auch für die Armenier von großer Bedeutung ist (vgl. MlG 114) und ein nahezu identisches Ehrverständnis der beiden Bevölkerungsgruppen. (vgl. MlG 413) In Hinblick auf den Vergleich von Armenozid und Shoah ist zudem ein weiterer, bedeutsamer Aspekt zu betonen. So unterhalten sich der Oberschreiber des Müdirs und ein Dolmetscher über die Armenier. Der Dolmetscher betont zunächst, dass man mit den Minoritäten in der Türkei grundsätzlich wenig Probleme habe, wobei die Armenier noch weniger Ärger machten als etwa Griechen oder Zigeuner. (vgl. MlG 137) Der Grund hierfür ist für den Dolmetscher evident. Er konstatiert schlicht: »Sie können alle Türkisch. Einige von ihnen sprechen unsere Sprache sogar besser als wir.« (Ebd.)36 Kurz darauf erweitert er seine Einschätzung noch: Viele von diesen Armeniern sprechen tatsächlich besser Türkisch als wir, sagte der Dolmetscher, und wenn ich nicht wüßte, daß sie alle Verräter sind, Ungläubige, Schweinefleischfresser und Russenfreunde, dann würde ich glauben, sie wären die wahren Türken. (ebd.) Die Armenier werden zu Musterbürgern stilisiert – eine Einschätzung, die historisch gesehen berechtigt ist37 und zudem frappierende Parallelen zur Situation der deutschen Juden offenbart – nicht von ungefähr zählten viele Armenier zur gebildeten Oberschicht im Osmanischen Reich, wie auch viele Juden zum Bildungsbürgertum im Deutschen Reich gehörten.38 So wurden beispielsweise 22 der in Istanbul 36

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Die Aussage des Dolmetschers hat einen historischen Hintergrund. So war die Umgangssprache vieler Armenier etwa in der Metropole Istanbul nicht Armenisch, sondern Türkisch, vgl. Faroqhi, Suraiya: Kultur und Alltag im Osmanischen Reich. Vom Mittelalter bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. München: Beck 1995, S. 96. Im Folgenden zitiert als ›Faroqhi 1995‹. Der Historiker Naimark verweist etwa darauf, dass die Armenier als die loyalste Religionsgemeinschaft im türkischen Millet-System galten, vgl. Naimark 2004, S. 31. Bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts lag der Fokus der armenischen Gemeinden in der Diaspora auf der Bildung. Als herausragendes Beispiel hierfür sei auf die Aneignung des Buchdrucks verwiesen, welchen die Armenier sich bereits 52 Jahre nach dessen Erfindung zu eigen machten – sie waren somit in dieser Hinsicht schneller als alle Völker Asiens und auch als einige europäische Staaten, vgl. Hofmann 1997, S. 63f.

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erscheinenden Zeitungen im 19. Jahrhundert in armenischer Sprache herausgegeben39 , und der Autor des ersten osmanischen Romans war mit Hovsep Vartanian ein Armenier.40 Der Oberschreiber teilt die Einschätzung seines Landsmannes, sieht in den Armeniern gar »wahre Osmanen, auf die wir stolz sein können« (MlG 138), getraut sich jedoch in dem Wissen um die Gefährlichkeit einer solchen Einschätzung nicht, diese laut auszusprechen. Im Märchen vom letzten Gedanken wird jedoch darauf verwiesen, dass keineswegs nur einige wenige Türken in den Armeniern Bürger des Osmanischen Reiches sahen, sondern diese sich vielmehr selbst als vollwertige Bürger des Reiches fühlten. Der Märchenerzähler berichtet davon, dass selbst Armenier aus reichen Familien, die sich vom Militärdienst freikaufen konnten, mit Beginn des Krieges freiwillig in die Kasernen zogen (vgl. MlG 476) und die »große Mehrheit der jungen armenischen Männer […] zu den Fahnen und Waffen« (MlG 477) eilte. Gefördert wurde das patriotische Verhalten von den Daschnaken, der Partei der armenischen Minderheit, die ihre Leute aufgrund der vermeintlichen Aussicht auf Gleichberechtigung zum Kampf für die Jungtürken aufforderten.41 (vgl. ebd.) Von türkischen Offizieren als »die besten Soldaten« (MlG 141) bezeichnet, werden die armenischen Soldaten trotz ihrer Loyalität aus der Armee verstoßen und hingerichtet. (vgl. MlG 141 sowie MlG 598) Doch nicht nur in puncto Militär sind die Armenier vollständig assimiliert und werden von vielen türkischen Mitbürgern akzeptiert. In Wartans Dorf Yedi Su leben die Armenier zusammen mit einer türkischen Familie, mit welcher viele durch Freundschaft verbunden sind (vgl. MlG 334), sodass die Türken den Armeniern bereits während der Massaker im 19. Jahrhundert Hilfe versprechen. (vgl. MlG 448) Hilsenrath versäumt es auch nicht, darauf hinzuweisen, dass es auch Türken und Kurden gab, die im Verlaufe des Genozides Armeniern halfen und für ihre Hilfe oftmals mit dem Leben bezahlten. (vgl. MlG 572; 611; 614) Unter den Helfern ist auch der türkische Oberschreiber des Müdirs von Bakir, wie ein blinder Bettler aus der Stadt Bakir Wartan Khatisian mitteilt: - Viele Moslems helfen jetzt den Armeniern, sagte der Blinde. Man sieht sie nur nicht. - Man sieht sie an den Galgen. - Ja, dort, sagte der Blinde. - Werden es mehr werden? 39 40

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Vgl. Otto, Frank; Völker, Tobias: Der Genozid an den Armeniern: Ein verleugnetes Verbrechen. In: GEO Epoche 56/2012, S. 134–147, hier: S. 136. Vgl. Dufft, Catharina: Die moderne türkische Literatur. …oder der türkische Roman im Spiegel der Geschichte. Internet-Publikation in: bpb: https://www.bpb.de/internationales/europa/tu erkei/188246/literatur. Erstellt: 3.11.2014. Eingesehen: 17.02.2020 sowie Faroqhi 1995, S. 293f. Auch Hofmann verweist auf die Unterstützung des Osmanischen Reiches durch die Armenier, vgl. Hofmann 1997, S. 91.

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- Man hat viele verhaftet. Und man wird viele hängen. - Sind auch bekannte Moslems darunter? - Einige. Stell dir vor: sogar der Oberschreiber des Müdirs von Bakir. - Der Oberschreiber? – Hatte er Armenier bei sich versteckt? - Nein. Er hat nur einigen falsche Papiere verschafft. (MlG 575f.) Wie die türkischen Familien in den anderen armenischen Dörfern beteiligen sich auch der türkische Dorfpolizist und die Familie in Yedi Su nicht an den Massakern. (vgl. MlG 588–594) Vielmehr helfen sie der alten Bülbül dabei, den schwerverletzten Wartan zu pflegen (vgl. MlG 592), und der türkische Polizist betont, wie gut das Zusammenleben mit den Armeniern funktioniert habe. (vgl. MlG 595) Mit den Passagen über das Zusammenleben von Türken und Armeniern gelingt es Hilsenrath, einen Eindruck davon zu vermitteln, wie gut die armenische Minderheit in die türkische Mehrheitsgesellschaft integriert war – ähnlich wie im Falle der deutschen Juden ließ sich die Frage nach der kulturellen Identität aufgrund der oftmals nahezu vollständigen Assimilation der Armenier in vielen Fällen nur schwer beantworten, sahen sich doch insbesondere zahlreiche Armenier in den großen Städten des Osmanischen Reiches als osmanische Bürger.

4.4 Der Distanz verpflichtet – Wege zur Vermeidung einer Identifikation 4.4.1 Eine Erzählung von Brutalität und Grausamkeit Fraglos lässt sich Hilsenraths Märchen vom letzten Gedanken in Hinblick auf die Erzeugung einer Distanz zum Erzählgegenstand und zu den Protagonisten auf den ersten Blick schwerlich mit Werken wie etwa Timms Morenga vergleichen und auch ein Vergleich mit den anderen in dieser Arbeit behandelten Werken erscheint zunächst schwierig. Dennoch unterbindet auch Hilsenrath weitestgehend konsequent eine mögliche Einfühlung in die Protagonisten, wenngleich er hierfür einen gänzlich anderen Ansatz wählt als der Autor von Morenga. In seinem ersten Roman Nacht sind es noch die vom verbrecherischen nationalsozialistischen System korrumpierten und zerstörten Romanfiguren, die eine Einfühlung konsequent verhindern. In Der Nazi und der Friseur werden die Figuren oftmals in derber Sprache und gänzlich überspitzter Weise gezeichnet, sodass eine Identifikation ebenfalls unterbunden wird. Beide Ansätze finden sich auch in Hilsenraths Roman zum Völkermord an den Armeniern wieder. Bereits auf den ersten Seiten des Romans gedenkt Thovma Khatisian seiner ermordeten Vorfahren in einer Weise, die verdeutlicht, dass Hilsenrath nicht zu jenen Autoren zu zählen ist, deren Ziel bei der Opferbeschreibung die Konstruktion einer Erhabenheit im Angesicht des Leides ist. Nachdem der Meddah festgestellt hat, die

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Armenier seien aus Hayastan verschwunden, widerspricht Thovma, dies sei nicht richtig: »Weil ich weiß, daß sie noch dort sind. Ihre geschändeten Leiber faulen tief unter der heiligen Erde.« (MlG 8) Wie so oft bei Hilsenrath ist es nicht die Aussage, die inhaltlich historisch korrekt ist, sondern vielmehr die Wortwahl, die den Leser zunächst zurückschrecken lässt. Von einem – insbesondere im Kontext der Shoah oftmals geforderten – erhabenen Schreiben über die Opfer des Genozides kann keine Rede sein. Die Armenier werden keineswegs wie die klassischen Opfer beschrieben, etwa wenn der Meddah feststellt, »[d]iese Armenier aus Hayastan werden uralt vom vielen Ficken«. (MlG 11) Es folgt die, wiederum beiläufige, Einschränkung des Märchenerzählers, dies gelte lediglich nicht, »wenn die Türken oder die Kurden ihnen die Köpfe abschlagen. […] Oder sie irgendwie anders umbringen, zum Beispiel: mit dem krummen Schlachtmesser.« (Ebd.) In lakonischer Weise wird hier auf die zahlreichen, dem Genozid vorangegangenen Massaker und Pogrome verwiesen, die für die Armenier lange Zeit eine allgegenwärtige Bedrohung darstellten. Eine weitere Passage, in der sich der Meddah zu den Armeniern äußert, reiht sich nahtlos ein: [M]an braucht sich nicht zu wundern, daß die Türken und die Kurden die Armenier für das feigste Volk der Welt halten. Es ist, als wären sie nur geboren, um ihre Rücken für die Peitsche und ihre Schwänze für das Krummesser hinzuhalten, ebenso wie der Schlitz ihrer Frauen nur dafür dazusein scheint, damit die beschnittenen Schwänze der Rechtgläubigen ihren Spaß daran haben. (MlG 306f.) Im Laufe der Romanhandlung folgen zahlreiche weitere Passagen, in denen die Verbrechen gegen die Armenier in vergleichbarer Weise beschrieben werden. Die Geburt Thovmas wird mit einem Kaiserschnitt verglichen, bei welchen der türkische Saptieh den Bauch von Thovmas Mutter »eher verspielt als wütend« (MlG 17) mit dem Säbel aufschlitzt und das Kind so auf die Welt holt. Schließlich beginnt auch die eigentliche Märchenerzählung mit einer kurzen Passage, die das Schicksal der Armenier beschreibt: »Sag mir, wo ich bin, Meddah!« »Du sitzt auf dem Tor Bab-i-Se’adet, dem Tor der Glückseligkeit. Wenn du nach Südosten schaust, dann blickst du genau nach Mekka, dem Ort, nach dem alle gläubigen Muslims wenigstens einmal im Leben pilgern müssen, denn dort hat der Prophet gelebt und gewirkt. Dort ist auch die heilige Ka’aba.« »Die Ka’aba? Und Mekka? Das Tor der Glückseligkeit? Dann verstehe ich aber nicht…. warum gerade unter diesem Tor drei Armenier hängen? Ihre Münder sind weit aufgerissen, als stecke der letzte Angstschrei noch zwischen den Zähnen. Sie baumeln an einem langen Stock, bewegen sich leise im Abendwind und starren geradeaus.« (MlG 34)

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Wie zuvor fehlt auch hier jede Spur einer Erhabenheit, nicht einmal der Versuch, eine solche zu konstruieren, wird unternommen. Neben den Passagen, welche die Ermordung der Armenier beschreiben, finden sich auch einige Passagen, in denen die Folterungen beschrieben werden. Dabei wird die beiläufige Grausamkeit einiger türkischer Beamter beschrieben, wobei wiederholt der Müdir von Bakir im Zentrum steht. So weiß der Meddah zu erzählen, der Müdir brauche nur die Fenster seiner Amtsstube zu öffnen, »um die Schreie der Armenier in den Folterkammern des Gefängnisses deutlich zu hören.« (MlG 75) Auch diese Passage bleibt nicht ohne eine, für Hilsenrath typische, Ergänzung. Auf Nachfrage von Thovmas letztem Gedanken, ob dem Müdir die Schreie der Armenier Spaß bereiteten, entgegnet der Märchenerzähler: Das weiß ich nicht, mein Lämmchen. Aber es regt seine Verdauung an. Er hat ja auch unlängst zum Wali gesagt: Wissen Sie, Wali Bey, seitdem die Regierung beschlossen hat, die Armenier zu verhören, brauche ich kein Rizinusöl mehr, denn die Schreie dieser Ungläubigen bei den Folterungen sind das wirksamste Abführmittel. - Bei Allah, hatte der Wali gesagt. Es geht mir genauso. - Nehmen Sie auch kein Rizinusöl mehr? - Nein, Müdir Bey, ich habe in meinem langen Leben genug Öl geschluckt. - Glauben Sie, Wali Bey, daß Allah den Armeniern in seiner Weitsicht einen schreienden Mund geschenkt hat, um bei uns Türken die Verdauung zu regeln? - Allahs Gründe sind unergründlich, hatte der Wali gesagt. Aber Ihre Vermutung, Müdir Bey, liegt durchaus im Bereich der Möglichkeit. (MlG 75) Der kurze Dialog verdeutlicht, wie wenig das Leben der Armenier den türkischen Beamten bedeutet. Hyperbolisch wird dabei noch die grausame Gleichgültigkeit betont. Der Müdir wird im Roman wiederholt zu einem Antagonisten der Armenier, zu einem klischeehaften Vertreter des Jungtürkenregimes aufgebaut, der an seinen fanatischen Vernichtungsfantasien keine Zweifel aufkommen lässt. Im Gespräch mit seinem Oberschreiber berichtet er von einem Tagtraum: - Unlängst hatte ich so einen Tagtraum, sagte der Müdir. Ich sah einen großen Baum. Einen sehr großen Baum. Und er wuchs im Herzen der Türkei. Ein riesiger Baum. Und an diesem Baum hingen all unsere Ängste. - Wie sahen die Ängste aus, Müdir Bey? - Sie sahen wie Armenier aus. Wie Armenier. (MlG 146) Die Armenier sind für den osmanischen Beamten die personifizierten Ängste der Türken. Der Tagtraum muss als eine Anspielung auf die historische Situation im Osmanischen Reich verstanden werden: insbesondere osmanische Beamte betrachteten die wohlhabende und einflussreiche armenische Elite mit Neid – ein Umstand,

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der erstmals in den brutalen Pogromen Ende des 19. Jahrhunderts gipfelte.42 Die Besessenheit des Müdirs von der Vernichtung der Armenier wird auch bei der Schilderung der Verhaftung Wartans deutlich. An den Offizier, der den gefangenen Armenier in Bakir abliefert, gewandt, konstatiert der Müdir: Viele von diesem Verrätervolk werden schreien […]. Manche werden lauter schreien und manche leiser. Aber jedesmal, wenn sie schreien, werden die Gerechten im Paradis ihre Ohren verschließen. Und die Gebeine der Gläubigen, die nach Moschus und Lavendel duften, werden sanfter ruhen. Der Prophet hat diese Ungläubigen verflucht. Mögen ihre Mütter bei jedem Schrei ihrer Söhne zusammenzucken. (MlG 480f.) In den Kontext der geschilderten Grausamkeiten reiht sich auch eine lange Aneinanderreihung von Foltermethoden, die der Meddah beschreibt, als er von der Folterung Wartans berichtet: Man führte ihn im Gefängnis herum und zeigte ihm, wie ein Priester besohlt wurde. Man zeigte ihm auch andere Foltermethoden, über die ich jetzt gar nicht berichten will, denn was sind schon herausgerissene Fingernägel, ausgerissene Zähne oder Bäuche, die platzen, weil man zu viel Jauche in die Münder gegossen hatte. Was sind schon eiternde Füße, die tagelang von den türkischen Wächtern gepeitscht worden waren und die man schließlich absägen mußte, weil die Wächter den Gestank nicht mehr ertragen konnten. (MlG 162) Wenngleich die geschilderten Foltermethoden und das Verhalten der türkischen Beamten unvorstellbar grausam erscheinen, so handelt es sich bei den Beschreibungen um die Darstellung der historischen Wirklichkeit. Wie schon zuvor, belässt Hilsenrath es jedoch nicht bei vergleichsweise nüchternen Passagen zur Folter: Einige Wochen vor den Feiertagen konnten Passanten, denen es Spaß machte, entlang der Gefängnismauer in nächster Nähe des Hükümets spazierenzugehen, deutlich die Schreie der Gefolterten hören. Es war nicht das erste Mal, denn soweit die Erinnerung zurückreichte, wurde in türkischen Gefängnissen gefoltert. Aber diesmal klangen die Schreie anders als je zuvor. Es mochte sein, daß es ihnen nur so schien. Die Schreie drangen durch Mark und Bein. Manchmal hörte es sich an, als würde ein Sänger auf seiner Folterbank versuchen, zum Takt eines unmusikalischen Kerkermeisters zu singen, unmanierlich, ohne Kenntnis der Tonleiter. Es gab da verschiedene Schreie: die gurgelnden, langanhaltenden konnten nur von Gefangenen herrühren, denen man etwas in den Mund stopfte, ohne den Schrei zu ersticken, vielleicht hielt irgendein Saptieh nur die Zungenspitze des Gefangenen zwischen seinen Fingern und zerrte ein bißchen daran, aber nicht ernstlich, weil

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Vgl. Naimark 2004, S. 34ff.

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der Gefangene ja die Zunge noch brauchte, bis er die Geständnisse abgelegt hatte, die man von ihm erwartete. Andere Schreie kamen in gleichmäßigen Abständen, so wie Peitschenschläge, und so wußte man: hier wurde auf die nackte Haut geprügelt, wahrscheinlich auf die Fußsohlen. Die Füße der Armenier galten als besonders empfindlich, denn dieses Volk, das sich für ein Herrenvolk hielt und sein Wirtsvolk beherrschen wollte, ging nicht barfuß, wenigstens nicht in der Stadt. […] Diese Füße waren es gewohnt, gutes Schuhwerk zu tragen, sogar Seidenstrümpfe, die zu allem Überfluss auch noch gewaschen und gewechselt wurden. Zimperliche Füße waren das, und zimperlich waren die Schreier. Es gab da natürlich noch andere Schreie, und man brauchte nicht die Universität in Konstantinopel absolviert zu haben, um zu wissen, worum es sich handelte. Besonders Schreie, die durch spitze Gegenstände hervorgerufen wurden, waren leicht erkennbar. Es gab Schreie in allen Tonlagen einer perversen Tonleiter, die aus dem Jenseits zu kommen schien, vielleicht aus dem Fegefeuer der Hölle… dumpfe und spitze, schrille und andere, die aus der Tiefe des gepeinigten Körpers kamen, andere nur aus der fleischlosen, verdammten Seele. (MlG 525f.)43 Zum wiederholten Male unterläuft Hilsenrath in dieser langen Passage die Erwartung des Lesers: die Foltermethoden werden akribisch beschrieben, jedoch um zahlreiche makabre und zynische Details ergänzt – angefangen von der Assoziation der Schreie mit Musik bis hin zum Verweis auf die »zimperlichen« Füße der Armenier. Von radikalem Zynismus geprägt ist auch eine lange Passage, in welcher die Todesmärsche der Armenier geschildert werden. Bereits die Einleitung der beiden entsprechenden Absätze könnte zynischer kaum sein. Der erste Absatz, in welchem das Unverständnis der türkischen Saptiehs darüber beschrieben wird, dass man die Armenier nicht einfach an Ort und Stelle umbringe, beginnt mit den Worten: »Es ging alles menschlich zu.« (MlG 551) Nahezu identisch beginnt auch der darauffolgende Absatz: Alles ging menschlich zu. Und Allah war Zeuge, daß es nicht die Schuld der Saptiehs war, daß die Armenier so viel Gepäck besaßen, mehr, als sie tragen konnten. Das meiste blieb auf der Straße liegen, nachdem die Saptiehs angefangen hatten, die Leute unter Flüchen und Beschimpfungen weiterzutreiben, und sie auch ein bißchen kitzelten mit ihren Reitpeitschen. Da viele von diesen Armeniern, besonders die ganz Alten, nicht schnell genug gehen konnten, kam es auch vor, daß die Peitschen nicht nur kitzelten, sondern etwas härter zuschlugen. Aber das mußte sein, denn wie sonst sollte man dem Befehl des Weitermachens Ausdruck verleihen? Auch später, als die ganz Alten und Schwachen zusammenbrachen und man 43

Tatsächlich wurden die Armenier derart brutal gefoltert, dass die osmanischen Behörden Militärkapellen einsetzten, um die Schreie der gefolterten Armenier zu übertönen, vgl. Hofmann 1997, S. 94.

4. Das Märchen vom letzten Gedanken

sie erschießen mußte, weil ja keiner zurückbleiben durfte, wenigstens nicht lebendig, war den Saptiehs klar, daß sie im Grunde menschlich mit ihnen verfuhren. (MlG551f.) Radikalerer Zynismus im Angesicht der brutalen Vernichtung menschlichen Lebens scheint kaum möglich – Peitschen »kitzeln« nur und selbst die Ermordung der Alten und Schwachen wird als ein »im Grunde menschlicher Akt« beschrieben.

4.4.2 Absage an die Vorstellung von den »reinen Opfern« Ein weiteres Stilmittel zur Erzeugung von Distanz ist typisch für Hilsenrath: die teils groteske Figurenzeichnung in Kombination mit einer oftmals derben Sprache. Max Schulz, Protagonist in Hilsenraths Der Nazi und der Friseur, beschreibt sich selbst beispielsweise mit den Worten: »schwarze Haare, Froschaugen, eine Hakennase, wulstige Lippen und schlechte Zähne.« (NF 32) Seine zeitweilige Geliebte Frau Holle hat ein Holzbein und ist ebenso hässlich, mit ihren »großen, gelben, abstehenden Zähne[n]«. (NF 85) Eine vergleichbare Erzählweise prägt auch Hilsenraths Märchen vom letzten Gedanken. Bereits die Beschreibung des sterbenden Thovma Khatisian fällt entsprechend aus. Auf die Frage des Sterbenden, wie er denn aussehe, entgegnet der Meddah: Du siehst hässlich aus, Thovma Khatisian. Keine Frau würde sich in dich verlieben, außer deine Mutter. Deine Augen sind leicht verdreht und gucken auf den Fußboden. Aus deinem halbgeöffneten Mund rinnt stinkender Speichel. Bald wirst du ihn weit aufreißen, um den letzten Gedanken herauszulassen, der … wie ich’s dir gesagt hab – mit dem letzten Angstschrei in die Luft hinaussegelt. (MlG 10) In gleicher Weise geht es weiter. Wieder wendet sich der Meddah direkt an den Sterbenden: Du siehst so aus wie einer, den nur noch seine Mutter lieben kann. Denn für die Augen einer Mutter ist auch ein alter Sack wie du der süßeste kleine Engel. Deine Mutter sieht die Quallenaugen nicht, und sie riecht nicht deinen stinkenden Speichel. Spürst du es, Thovma Khatisian? Deine Mutter ist jetzt bei dir. Sie streicht dir über die Hände, die nicht mehr schwitzen können. Und sie streichelt deine erkalteten Füße. Sie streicht dir über die hässliche Glatze, und sie küßt dir deine halbtoten Augen. (MlG 12f.) Die Wiederholung der Beschreibung verstärkt die Wirkung – eine abstoßende, ausgesprochen bildliche Beschreibung des Protagonisten lädt keinesfalls zu einer Identifikation mit diesem ein und unterbindet jegliche Fokussierung auf eine Opferrolle. Eine Beschreibung von Thovmas Ahnen folgt dem gleichen Muster. Zunächst verweist der Meddah darauf, dass der Urgroßvater von Thovmas Großvater sich immer

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wieder an einer neunjährigen Kurdin vergangen habe. Die Kurdin habe eines Tages jedoch keine Lust gehabt: »Dein Ahne rannte wütend, mit steifem Glied, auf sie zu. Aber das kleine Biest sprang schnell weg. Und so rammte dein Ahne ein schwanzgroßes Loch in die Stallwand. So ein Kerl war der.« (MlG 12) Der Armenier wird somit zunächst als Kinderschänder und Ehebrecher, also als Täter und nicht als Opfer beschrieben. Unmittelbar im Anschluss wird die Figur in Lächerliche gezogen.44 Thovmas Mutter wird zwar anders beschrieben – sie ist nur eine Frau ohne Gesicht, über die der Meddah berichtet, sie habe »nur noch Augen« (MlG 15) gehabt – jedoch wird eine der Versionen, wie Thovma zur Welt gekommen sein könnte, mit derben Worten geschildert: Als deine Mutter zusammenbrach und sich schreiend hin- und herwälzte, als sie plötzlich kapiert hatte, daß sie gebären mußte, mitten auf der Landstraße, da riß sie sich mit letzter Kraft die Pluderhose vom Leibe, legte sich auf den Rücken, lag im Straßenstaub, spreizte die Beine und hob die Füße in Richtung Sonne und Himmel. (MlG 16) Die Wortwahl bei der Schilderung lässt kaum eine Möglichkeit der Identifikation mit den Armeniern zu, und wie zuvor belässt der Autor es nicht bei dieser einen Szene. In einer weiteren Version des Meddah heißt es: »Deine Mutter hat dich einfach ausgekackt. […] Plötzlich lagst du im Straßengraben, ein Stück krähender Scheiße«. (MlG 18) Die Wortwahl stößt ab, löst Befremden beim Leser aus. Es ist jedoch keinesfalls lediglich der Meddah, dem Hilsenrath in diesem ersten Teil des Romans derartige Worte in den Mund legt. Vorübergehend zum Ich-Erzähler geworden, hängt der sterbende Thovma seinen Gedanken nach: Nun wurde es ganz still in meinem Kopf, und ich glaubte, es sei nun soweit. Ich dachte an meinen letzten Gedanken, der bald zurückfliegen würde ins Land meiner Ahnen, um sie alle zu suchen, die ich nicht gekannt hatte. Aber ich hatte mich geirrt. Denn mir fiel noch etwas ein. Es war nur ein Gedanke, und ich mußte auflachen und ließ einen Furz. (MlG 19) Die kurze Passage ist in zweifacher Hinsicht bedeutend: zum einen wird deutlich, dass Hilsenrath eine konkrete Vorstellung von dem hat, was der Leser erwartet – Thovmas letzte Gedanken schweifen in beinahe pathetischer Weise »ins Land der Ahnen«, wo er wehmütig nach seiner Herkunft sucht. Das Erwartbare wird jedoch durch einen Furz des Erzählers unterbrochen – dies passt nicht in eine Erzählung über die Opfer eines Genozides. Indem Hilsenrath bewusst in der Rahmenhandlung

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Nicht nur Wartans Urahn wird mit derben Worten beschrieben – auch sein Bruder Sarkis hat skurrile Probleme sexueller Natur. Der Meddah weiß über das Eheleben des älteren Khatisian zu berichten, dass Sarkis »es aber jede Nacht mit ihr treiben [musste], um Ruhe und Frieden am häuslichen Tonir zu haben.« (MlG 358)

4. Das Märchen vom letzten Gedanken

seines Romans die Erwartungshaltung seiner Leser unterläuft und immer wieder provoziert, unterbindet er bereits zu Beginn eine mögliche Identifikation mit dem Protagonisten oder den Armeniern im Allgemeinen als einer klassischen Opfergruppe. Doch nicht nur im ersten Teil des Romans greift Hilsenrath auf abstoßende und skurrile Beschreibungen der Romanfiguren zurück. Wartans Großmutter ist »von zwergenhaftem Wuchs, mager wie die schwarzen Bergziegen der Kurden, ungestüm in ihren Bewegungen und so zäh wie die schwerverdauliche Pasderma, das getrocknete Fleisch in den Vorratskammern der Bauern.« (MlG 239) Zudem trägt sie stets Knoblauchzehen um den Hals, um die bösen Geister abzuwehren. In deutlichem Gegensatz dazu steht die Beschreibung von Wartans Mutter, über die der Meddah sagt: »Die Mutter roch nicht nur nach Milch. Sie sah auch wie eine Milchkuh aus. Und damit war sie das Gegenteil der Großmutter. Behäbig und fett, mit schwappenden Zitzen«. (ebd.) Die Großmutter wird wie eine merkwürdige Person beschrieben, wohingegen die Mutter unverhohlen in überspitzter Weise mit Attributen bedacht wird, die ihre Hässlichkeit unterstreichen. Beide Beschreibungen haben gemein, dass die skizzierten Figuren kaum realistisch wirken – eine Identifikation mit ihnen wird auf diese Weise unterbunden. Wie Thovmas Groß- und Urgroßmutter wird auch Thovmas Mutter Anahit vom Erzähler beschrieben – sie unterscheidet sich jedoch deutlich von den beiden Erstgenannten. Wartan findet die neugeborene Anahit in den Trümmern ihres Dorfes, nachdem dieses im Zuge eines Massakers an den Armeniern vollkommen niedergebrannt wurde, und nimmt sie mit nach Yedi Su. (vgl. MlG 446f.) Beim »Anblick des verbrannten Kindes, von dem nur noch die Augen zu leben schienen«, brechen »Angst und Entsetzen« (MlG 447) in Wartans Dorf aus. Anahit bleibt von den schweren Verbrennungen gezeichnet, hat »kein Gesicht mehr« (MlG 459) und wird vom Meddah »Anahit, die Gesichtslose« (MlG 465) genannt. Nicht nur ihr Gesicht ist entstellt, auch ihr Körper ist übersäht von Brandwunden und Narben, einzig ihre Augen fallen auch im Erwachsenenalter noch durch ihr besonderes Leuchten auf. (vgl. MlG 476) Somit ist Anahit, wie Thovmas andere Vorfahren, äußerlich abstoßend. Dennoch ist sie die einzige Frau in der Familie Khatisian, die paradoxerweise gerade aufgrund ihrer Entstellungen und ihres Schicksals die Möglichkeit einer Identifikation bieten könnte – doch die Figur erhält, anders als die anderen Frauen, über die der Meddah viele Geschichten zu erzählen weiß, nur wenig Tiefe. Sie ist Thovmas Mutter. Sie wird beim großen Genozid ermordet, wobei selbst hier die Hintergründe und Details des Todes unklar bleiben. Mehr erfährt der Leser nicht. Neben den Ahnen Thovmas befinden sich auch unter den Nebenfiguren einige skurrile oder abstoßende Figuren. Über Süleyman, Oberhaupt der in Yedi Su lebenden Türkenfamilie, berichtet der Erzähler, sein Hodensack hinge bis übers Knie, sodass er gehen müsse, »als hätte er die Eier eines ganzen Hühnerhofes zwischen den Pluderhosen versteckt.« (MlG 335) Der Türke wird auf diese Weise zur Karika-

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tur eines Mannes, zu einer comichaften Figur. Eine vergleichbare, jedoch weitaus ausführlichere Beschreibung wird der Hebamme Bülbül zuteil, über die es heißt: - Vielen läuft eine Gänsehaut über den Rücken – wie es so heißt –, sage ich zu deinem Vater, und viele bekreuzigen sich im Geiste, wenn der namenlose Esel mit der krummbeinigen Bülbül auftaucht. Aber du brauchst dich nicht vor ihr zu fürchten, auch wenn die Leute behaupten, sie sei von den Djins verzaubert worden, und zwar zu einem wandelnden Geheimnis auf zwei knorrigen Beinen, eines mit einer rauhen, männlichen Stimme und einem grauen Ziegenbärtchen am Kinn. (MlG 244) Sowohl auf ihr Äußeres (vgl. MlG 245) als auch auf ihre Stimme – »so häßlich wie die Stimme des Esels, von dem der Prophet gesagt hat, er habe die häßlichste Stimme aller Kreaturen Allahs.« (MlG 244) – geht der Meddah wiederholt ein. Hovhannes, der Wasserträger des Dorfes Yedi Su, wird ebenfalls abstoßend beschrieben: »Er ist der Ärmste im Dorf, hat weder Frau noch Kinder, ist in Lumpen gekleidet, stinkt wie der Furz eines Esels im fensterlosen Stall, stottert, schielt ein wenig, zuckt mit dem Gesicht und ist im Großen und Ganzen ein bedauernswerter Mensch.« (MlG 286) Wiederum belässt es Hilsenrath nicht bei einer Beschreibung des Äußeren, sondern lässt den Märchenerzähler davon berichten, dass der Wasserträger sowohl die Eselin des Priesters (vgl. MlG 287f.) als auch die der Khatisians bestiegen habe. (vgl. MlG 304) Indem Hilsenrath zahlreiche seiner Romanfiguren karikiert, verhindert er einerseits eine Identifikation mit diesen und bricht zudem wiederholt die Vorstellung von den Armeniern als einer reinen Opfergruppe. Andererseits stolpert der Leser über die Figurenbeschreibungen, die nicht in einen Roman über einen Genozid zu passen scheinen, wodurch der Lesefluss unterbrochen und ein »Eintauchen« in die Handlung unterbunden wird. Eine vergleichbare Funktion wie die Figurenbeschreibungen haben die Beschreibungen der Verbrechen gegen die Armenier. Auch hier lässt Hilsenrath seinen Erzähler gänzlich ohne Pathos berichten – oftmals zudem in derber, geradezu perverser und zynischer Weise. Exemplarisch hierfür steht die Folterung Wartans im Gefängnis von Bakir. Der Wali und der Müdir finden den kopfüber in einer dunklen Gefängniszelle hängenden Armenier bewusstlos in seiner Zelle vor, sodass sie in Sorge geraten, der Gefangene könne sich vergiftet haben, wodurch sie seine Aussage in Gefahr sehen. Zusammen mit einem Saptieh überlegen die beiden Beamten, wie sie Wartan zum Erbrechen bringen könnten, und da kein Löffel greifbar ist, welchen man dem Gefangenen in den Hals stecken könnte, schlägt der Saptieh vor, er könne »ihn in den Mund ficken« (MlG 82), was er schließlich auch tut. Allein die Folter ist pervers und abstoßend, doch Hilsenrath erweitert die Szene noch. Der Wali und der Müdir schauen der Vergewaltigung zu, wobei sie nur die Schatten in der vom Fackelschein beleuchteten Zelle beobachten.

4. Das Märchen vom letzten Gedanken

Der Saptieh versetzte dem Gefangenen jetzt einen leichten Stoß, mit der einen Hand, denn in der anderen hielt er die brennende Fackel. Der Gefangene wippte hin und her, und es sah gespenstisch aus, wenigstens fand das der Müdir, und auch der Wali fand es gespenstisch, vor allem deshalb, weil beide, der Wali und der Müdir, gar nicht mehr auf den Gefangenen blickten oder auf den Saptieh, der die Fackel in der einen Hand hielt, sondern auf die gegenüberliegende Wand. - Ein Schattenspiel, sagte der Wali. Sehen sie mal, Müdir Bey. Ein Strichmännchen auf der kahlen Wand, eines, das hin- und herschaukelt. - Ein türkisches Schattenspiel, sagte der Müdir. - Kargös, sagte der Wali. - Ja, Kargös, das klassische türkische Schattenspiel, das die Europäer immer bewundert haben. - Eine uralte Kunst, sagte der Wali. - Ja, sagte der Müdir. […] Und plötzlich waren es zwei Strichmännchen, denn der Saptieh stand jetzt vor der Fackel, die inzwischen in dem Loch steckte, dem Loch im Fußboden, wo der Hundekopf lag. - Sehen Sie mal, Wali Bey, sagte der Müdir. Es ist kaum zu glauben, was sich da auf der Wand abspielt. Und dabei ist es nur eine Wand. - Das ist Kunst, sagte der Wali. Echte Kunst. Kein Volk der Welt kann uns im Schattenspiel übertreffen. - Kargös, sagte der Müdir. - Kargös, sagte der Wali. (MlG 83f.) Die beiden osmanischen Beamten betrachten das Vorgehen fasziniert und sehen darin gar ein Beispiel für die türkische Kunst des Schattenspiels.45 Hilsenrath verbindet auf diese Weise Perversion und Kultur in absurder Weise miteinander. Wartans Folterung ist keinesfalls die einzige Passage, in welcher sexualisierte Gewalt im Kontext des Völkermordes an den Armeniern in dem Roman thematisiert wird. In einer langen Passage werden über Seiten hinweg die brutalen Vergewaltigungen der armenischen Frauen durch Tschettes, Saptiehs und Kurden beschrieben, wobei neben der – historisch korrekten – Brutalität wiederum die Wortwahl Hilsenraths schockiert und Distanz erzeugt. Von »Männerknorpel[n], die von roten Fleischwülsten gekrönt und gehäutet und beschnitten waren« (MlG 556), von »den Säften der Saptiehs und Teschettes« (MlG 557) und von den Kurden, die auf den Frauen herumritten »wie die Wellen des Meeres über den Sandbänken« (ebd.) berichtet der Märchenerzähler.

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Das als »Kargöz« bekannte Schattenspiel war insbesondere im 19. Jahrhundert in Istanbul sehr beliebt, vgl. Faroqhi 1995, S. 287.

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4.4.3 Ein Genozid im Märchenkostüm? Nicht zuletzt sind es die Erzählweise und die Wahl der Erzählform, die eine Distanz zum Erzählstoff schaffen. Nun ist die Erzählform »Märchen« keinesfalls per se auf die Schaffung einer Distanz zwischen Leser und Erzählung ausgelegt – im Gegenteil, die Mehrheit der oftmals jungen Leser fühlt mit den Protagonisten. Im Falle von Hilsenraths Roman ist es daher vielmehr die Wahl der Erzählform im Angesicht des behandelten Themas, die zunächst irritiert. Ein Genozid im »Märchenkostüm«? Es verwundert kaum, dass insbesondere die Märchenform bei der Rezeption des Romans im Zentrum stand. So verweist Hey’l auf den geäußerten Vorwurf, »die Märchenform gehe doch wohl am Ernst der Sache vorbei«46 . Demgegenüber standen jedoch zahlreiche positive Einschätzungen. Hassler etwa konstatiert, Das Märchen vom letzten Gedanken sei »im höchsten Maße eine Ausdenkung, eine Erfindung, eine erzählerische Annäherung an das Unerzählbare – dem Mord an einem ganzen Volk.«47 Dieser Einschätzung ist zuzustimmen, verweist Hassler doch indirekt auf einen zentralen Aspekt von Hilsenraths Werk: Hilsenrath selbst hatte zunächst – abgesehen von seiner eigenen Verfolgungserfahrung und seinen Recherchen – keinerlei Verbindung zu Armenien. Eine Annäherung über das Märchen mit den zahlreichen damit verbundenen Freiheiten – etwa dem freien Durchspielen von Möglichkeiten – scheint somit passend, insbesondere, da eine erwartbare Annäherung im Falle Hilsenraths in Hinblick auf sein Gesamtwerk auch eine Überraschung gewesen wäre. So kommt Vahsen zu einer klaren Einordnung von Hilsenraths Märchen: Letztlich bleibt festzuhalten, dass Hilsenraths Das Märchen vom letzten Gedanken erneut unkonventionell war, wobei berücksichtigt werden muss, dass nicht die Gestaltungsmittel an sich unkonventionell, sondern vielmehr konventionell waren, während die Wahl dieser Mittel für das zu gestaltende Thema die Unkonventionalität bedeutete. Die Art der Darstellung, ob nun positiv oder negativ bewertet, war imstande, immer eine Wirkung hervorzurufen, nämlich Verstörung und Irritation […]48 In Hilsenraths Werk finden sich zahlreiche Passagen, welche die von Vahsen angesprochene »Verstörung und Irritation« auslösen, insbesondere, da sich die märchenhaften Elemente wiederholt in düsteren oder brutalen Passagen finden lassen. Auf den ersten Seiten des Romans findet sich bereits ein Beispiel für das Durchspielen verschiedener Möglichkeiten – der Meddah nennt hier verschiedene Möglichkeiten, wie Thovma zur Welt gekommen sein könnte. (vgl. MlG 14–19) Innerhalb

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Hey’l 1996, S. 152. Hassler 2001, S. 426. Vahsen 2008, S. 100.

4. Das Märchen vom letzten Gedanken

dieser – weitestgehend nüchtern gehaltenen – längeren Passage gibt es ein märchenhaftes Element. Zunächst berichtet der Meddah noch sachlich von dem Todesmarsch der Armenier, nur um dann unvermittelt mit märchenhaften Worten vom Sonnenuntergang zu berichten: In jener Gegend […] wird es schnell dunkel, denn die Kurden hoch oben in den Bergen sind flink, und sie holen die Sonne allabendlich heim mit ihren Seilen aus schwarzem Ziegenhaar, denn sie haben Angst, daß die Teufelsanbeter, von denen es viele in jener Gegend gab, die Sonne stehlen könnten. Nachts verstecken die Kurden die Sonne in einem großen Zelt, das ebenfalls aus schwarzem Ziegenhaar ist, und lassen sie erst wieder los, wenn der Steinadler aus dem Schlaf erwacht. (MlG 17f.) Passagen, die wie diese die Handlung durchbrechen, finden sich immer wieder, unter anderem mitten in der Schilderung von Wartans Schicksal, die der Meddah durch Anspielungen auf Hänsel und Gretel (vgl. MlG 161) und das Märchen von einem, der auszog das Fürchten zu lernen (vgl. MlG 162 sowie 166) unterbricht. Von besonderer Evidenz ist jedoch ein Märchen, welches kurz vor dem Ende des Romans in einem speziellen Kontext erwähnt wird: das Märchen von Max und Moritz. Ebenjenes erzählt Wartan den Juden, mit denen er nach Auschwitz deportiert wird – zynischerweise um sie zu beruhigen: Und Wartan erzählte ihnen das Märchen von Max und Moritz. Als er geendet hatte, waren die Juden ruhig. Einige lachten sogar. Einer von ihnen sagte: Es ist wirklich nur ein Märchen. Denn so was gibt es doch nicht. - Aus Max und Moritz wurde Brot gemacht, sagte Wartan. Der Bäckermeister hat die beiden einfach zu Teig verarbeitet und dann in den Ofen gesteckt. - Ein Märchen, sagten die Juden. Nur ein Märchen. - Natürlich ist es nur ein Märchen, sagte Wartan. - Und wer hat es geschrieben? - Ein Deutscher namens Wilhelm Busch. - Ein deutsches Märchen, sagten die Juden. - Diesem Wilhelm Busch sollten wir eines Tages ein Denkmal setzen, sagte einer der Juden, denn er hat uns überzeugt, daß so was bei den Deutschen nur im Märchen vorkommt. - Wahrlich, sagte ein anderer, der wie ein Rabbi aussah. Dieser Wilhelm Busch sollte der Juden liebster deutscher Dichter sein, denn er hat uns die Angst vor den Deutschen genommen. (MlG 640) Die Passage ist in zweifacher Hinsicht zentral für Hilsenraths Roman. Zunächst legt sie den Fokus auf die moralische Funktion von Märchen – in kaum einem Märchen wird diese so unverschleiert präsentiert, wie in Buschs Max und Moritz. Indem Hilsenrath nun gerade dieses Märchen für die Schlusspassage auswählt, verdeutlicht

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er, in welcher Tradition sein Märchen vom letzten Gedanken steht. Wie in Max und Moritz erscheinen dem Leser auch in dem Werk zum Völkermord an den Armeniern viele Passagen gänzlich überspitzt, die Verbrechen geradezu unglaubwürdig. An dieser Stelle knüpft die zweite Funktion an: über das Märchen wird eine Verbindung zwischen dem Roman, dem Schicksal der Armenier und der Shoah hergestellt. In gleichem Maße, wie sich der Leser im Falle von Hilsenraths Märchen die Verbrechen gegen die Armenier nicht vorstellen kann, so können die Juden sich nicht vorstellen, dass Menschen außerhalb eines Märchens in einem Ofen verbrannt werden. Neben der Erzählung selbst ist auch die Figur des Märchenerzählers von großem Interesse für ein Verständnis der von Hilsenrath geschaffenen Distanz. Der Märchenerzähler schwebt – oftmals wie zu Beginn der Märchenerzählung zusammen mit Thovmas letztem Gedanken (vgl. MlG 33f.) – über der Erzählung, er wacht zusammen mit seinem Schatten über diese: »Wir existieren doch gar nicht, ich meine: du, der Märchenerzähler, und ich, dein Schatten?« »Da hast du eigentlich recht«, sagte ich. »Oder: du hast nicht recht. Vielleicht existieren wir doch. Nur existieren wir anders.« »Und was könnten wir da tun?« »Weiter Wache halten«, sagte ich. »Und für die Welt der Vorstellung weiter registrieren.« »Für Thovma Khatisian?« »So ist es.« (MlG 420f.) Der Märchenerzähler – hier der Ich-Erzähler – beschreibt in diesem Dialog mit seinem Schatten seine zentrale Aufgabe: er registriert alles für die Welt der Vorstellung, berichtet von dem, was gewesen sein könnte. Immer ist er präsent, erzählt, dass er schon Thovmas Urgroßvater auf dem Schoß hielt (vgl. MlG 30) und begleitet Wartan auf seinen Reisen, wobei auch hier wiederum das Motiv des über alles wachenden Erzählers bildlich aufgegriffen wird: Wartan wußte nicht, daß der Märchenerzähler neben ihm an der Reling stand. Und er merkte auch nicht, daß der Märchenerzähler wieder absprang, als die riesigen Schornsteine des Schiffes mit viel Dampf und Getute das Zeichen zum Auslaufen gaben. Als der Märchenerzähler absprang, fing das Schiff gerade an, in allen Fugen zu zittern, ungeduldig, angepeitscht von glühenden Öfen und den schwitzenden, kohleschippenden Heizern im Kesselraum. Als das Schiff endlich abfuhr, blieb der Märchenerzähler einfach zurück und verschwand in der Zeit. Irgendwann aber tauchte er wieder auf, so gegen Ende des Jahres 1899, um kurz darauf in ein neues Jahrhundert hineinzuhüpfen. (MlG 453) Wartans Aufenthalt in den USA ist für die Handlung weitestgehend unbedeutend, wie der Märchenerzähler weiß. Somit folgt ein weiterer Zeitsprung:

4. Das Märchen vom letzten Gedanken

Niemand weiß, warum Märchenerzähler es manchmal eilig haben, die Kalenderjahre wegpusten und nur festhalten, was ihnen wichtig scheint. Ich, der Märchenerzähler, bin keine Ausnahme. Und so brauche ich nicht zu erklären, warum ich gleichgültig über die ersten Jahre des neuen Jahrhunderts hinwegflog. […] Während der Balkankriege flog ich kurz nach Bulgarien, kehrte aber bald wieder zurück, um die deutschen Offiziere nach den Schüssen von Sarajevo bis Bakir zu begleiten. Dort kreiste ich eine Zeitlang suchend über der Stadt und ließ mich schließlich mit meinem Schatten auf dem Tor der Glückseligkeit nieder. (MlG 457f.) Wiederum wird klar, dass der Märchenerzähler entscheidet, was wichtig ist und eine Erzählung wert ist und was unwichtig erscheint, und wieder wird das Motiv des über allem schwebenden Erzählers aufgegriffen. Auf bildlicher Ebene wird auf diese Weise eine Distanz zum Erzählgegenstand geschaffen.

4.5 Fazit Die Analyse von Hilsenraths Märchen vom letzten Gedanken konnte zeigen, dass der Autor mit seiner Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Armeniern nicht nur durch die Wahl des Erzählgegenstandes das Feld für eine deutschsprachige Genozidliteratur bereitete. Besonders hervorzuheben ist die Art der Auseinandersetzung. Hilsenrath belässt es nicht dabei, die von den Türken begangenen Verbrechen zu thematisieren, sondern setzt diese konsequent in Bezug zur Shoah und offenbart auf diese Weise Parallelen und wiederkehrende Muster – die oftmals proklamierte Ansicht, die Shoah sei ein singuläres Verbrechen, wird auf diese Weise unterminiert. Die Verbindung zwischen Shoah und Armenozid wird in zahlreichen Passagen formuliert. Wiederholt werden den Türken im Kontext der Armenierverfolgung nationalsozialistische Begriffe in den Mund gelegt. Etwa wird von der »endgültigen Lösung des Armenierproblems« gesprochen, und auch der untrennbar mit der Shoah verknüpfte Begriff »Endlösung« wird genutzt. Zudem gleicht der in dem Roman geschilderte Ablauf der Verfolgung dem Ablauf der Judenverfolgung. Die Armenier in Hilsenraths Werk werden mit ähnlich haltlosen, teils absurden Vorwürfen konfrontiert, wie die Juden während der Zeit des Nationalsozialismus. Abseits der Verfolgungsszenarien finden sich weitere Parallelen: der im Märchen vom letzten Gedanken geschilderte Umgang der Weltöffentlichkeit mit der Verfolgung der Armenier erinnert stark an die Reaktionen des Westens im Zuge der Judenverfolgung. Wie im Falle der letztgenannten war auch beim Genozid im Osmanischen Reich die Weltöffentlichkeit – Verbündete wie Kriegsgegner – aufgrund ihrer Passivität maßgeblich verantwortlich für die an der armenischen Minorität begangenen Verbrechen. Den absurden Vorwürfen setzte man nichts entgegen, Strategien der Vertuschung

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Erzählen vom Genozid

und Rechtfertigung funktionierten nur, da die Weltöffentlichkeit mitspielte – die Deutschen und Österreicher, da sie das verbündete Osmanische Reich nicht verärgern wollten, und die Entente, da ihnen das Schicksal der Armenier weitestgehend gleichgültig war. Die Romanpassagen zur Auseinandersetzung der Weltöffentlichkeit sind geprägt von Zynismus und Ironie – die Vereinten Nationen werden zynisch etwa als »Vereintes Völkergewissen« bezeichnet. Parallelen werden jedoch nicht nur indirekt angedeutet, sondern auch direkt im Text formuliert. Die Türken werden explizit als die Lehrmeister der Deutschen bezeichnet, wodurch die Vorstellung von der Shoah als einem singulären Ereignis ohne Vorgeschichte direkt unterminiert wird – Hilsenrath trägt auf diese Weise dem Umstand Rechnung, dass einige Nationalsozialisten tatsächlich Bezug auf den Armenozid nahmen, in der deutschen Bevölkerung ein breites Wissen um die Massaker vorhanden war und zudem einige Vernichtungspraktiken bereits von den Türken erprobt wurden. In einem weiteren Schritt führt der Autor vor Augen, dass jede Minorität – Armenier, Griechen, Juden oder Zigeuner – zum Opfer einer Verfolgung werden kann. Indem er auf die Beliebigkeit bei der Wahl der Opfer hinweist, öffnet er das Feld für den Vergleich. Genozide sind miteinander vergleichbar und keine einzigartigen Verbrechen, welche nicht im Kontext anderer Völkermorde betrachtet werden dürfen. Insbesondere die radikale Kategorisierung von Verbrechen mittels Begriffen, die einen Vergleich oftmals erschwert, greift Hilsenrath massiv an, bezeichnet etwa den Armenozid als »Holocaust« und übt scharfe Kritik an Historikern und der retrospektiven Einordnung von Kriegen und Verbrechen. Am Ende schließt sich auch auf inhaltlicher Ebene des Romans der Kreis vom Völkermord an den Armeniern hin zur Shoah, wenn Wartan als vermeintlicher Jude zusammen mit anderen Juden und einem Türken – ebenfalls Opfer einer Verwechslung – in Auschwitz vergast wird. Die ständigen Verweise auf die Shoah regen zum Reflektieren an und leisten wie schon Timms Morenga einen eminenten Beitrag dazu, das Feld für den Vergleich zu öffnen. Dabei wird deutlich, dass Hilsenrath als Überlebender der Shoah weitaus mehr Freiheiten bei der Formulierung der Parallelen zwischen den Genoziden hat. Wenngleich auch ihm teils massive Ablehnung der Rezipienten entgegenschlug, war es einem Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung doch weitaus eher vonseiten der deutschen Öffentlichkeit gestattet, die Shoah in Bezug zu einem anderen Genozid zu setzen, ohne gleich mit dem Vorwurf der Relativierung konfrontiert zu werden. Hilsenrath muss daher, anders als Timm, nicht konsequent darauf bedacht sein, Parallelen nur implizit zwischen den Zeilen anzudeuten, sondern kann diese auch radikal und provokativ formulieren, wodurch Denkmuster hinterfragt und vermeintliche Tabus gebrochen werden. Neben den im Märchen vom letzten Gedanken aufgezeigten Parallelen zwischen Shoah und Armenozid findet sich in dem Roman auch eine weitere, für deutschsprachige Genozidliteratur typische Thematik: die Frage nach der eigenen Identität. Anders als in Timms Morenga ist die Auseinandersetzung des Protagonisten Thovma

4. Das Märchen vom letzten Gedanken

Khatisian mit seiner Herkunft in Hilsenraths Werk jedoch keine gänzlich freiwillige. Wenngleich er von einem Schweizer Ehepaar adoptiert wurde und Schweizer Staatsbürger ist, erinnert sich Thovma Zeit seines Lebens an seine armenische Herkunft, will mehr über diese erfahren und fühlt sich als Armenier. Die Suche nach seiner Herkunft, die Hilsenrath in dem Roman mit der Suche nach den Wurzeln gleichsetzt, ist seine Lebensaufgabe, erst wenn er mehr erfahren hat, kann er in Frieden sterben. Die Frage nach der Identität endet jedoch nicht beim Protagonisten des Romans – auch die kulturelle Identität gerät im Verlauf der Romanhandlung wiederholt in den Fokus. Der Meddah wird nicht müde zu betonen, wie perfekt die Armenier im Osmanischen Reich assimiliert waren – so perfekt, dass viele sich selbst als osmanische Bürger sahen und von ihren türkischen Mitbürgern als solche geschätzt wurden. Wenngleich auch keine direkten Parallelen in dieser Hinsicht gezogen werden, erinnert die beschriebene, historisch korrekt geschilderte Situation doch stark an die der Juden im Deutschen Reich. Nicht zuletzt fällt eine weitere Parallele zu anderen Werken der deutschsprachigen Genozidliteratur bei der Lektüre von Hilsenraths Roman ins Auge: die Kreation einer Distanz zum Erzählgegenstand. Distanz erzeugt der Autor mittels drei stark differierender Strategien: Zunächst sind zahlreiche Passagen im Märchen vom letzten Gedanken von starkem Zynismus und Grausamkeit geprägt, die oft untrennbar miteinander verbunden sind und den Leser auf diese Weise verstören und zurückschrecken lassen. An diese Strategie knüpfen auch die Figurenbeschreibungen an. Thovmas Ahnen, durch ihre Gruppenzugehörigkeit dazu prädestiniert zu »reinen« Opfern stilisiert zu werden, werden teils abstoßend beschrieben, werden zu regelrechten Karikaturen. Geradezu perverse Beschreibungen irritieren und schockieren den Rezipienten, verhindern eine Identifikation mit den Protagonisten sowie mit zahlreichen Nebenfiguren und unterbinden auf diese Weise ein distanzloses »Eintauchen« in die Handlung. Einen entscheidenden Beitrag zur Wahrung der Distanz leisten schließlich die märchenhaften Passagen sowie die Figur des ungreifbaren Meddahs. Die Märchenelemente unterbrechen gänzlich unerwartet die Handlung und irritieren den Lesefluss. Die Figur des Märchenerzählers wird zudem insbesondere auf bildlicher Ebene zum Wächter über die Wahrung der Distanz, indem wiederholt beschrieben wird, wie der Meddah über dem Geschehen schwebt, wobei nur er darüber entscheidet, was erzählenswert und was irrelevant ist. Trotz zahlreicher gravierender Unterschiede – insbesondere auf sprachlicher Ebene – leistet Edgar Hilsenrath mit seinem Märchen vom letzten Gedanken einen äußerst bedeutenden Beitrag zur Etablierung einer deutschsprachigen Genozidliteratur. Ungeachtet aller Differenzen zu Morenga werden auch in dem Roman zum Armenozid die Verbindungen zwischen der Shoah und einem anderen Völkermord verdeutlicht, die nationalsozialistischen Verbrechen werden auf diese Weise in einen Kontext gesetzt. Darüber hinaus gleichen sich die Erzählstrategien wiederum:

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in beiden Werken wird eine Distanz zum Erzählgegenstand hergestellt, ein »Eintauchen« in die Handlung wird verhindert.

5. Jugoslawien in der deutschsprachigen Genozidliteratur

5.1 Das Handwerk des Tötens 5.1.1 Einführung Die Analyse von Timms Morenga und Hilsenraths Das Märchen vom letzten Gedanken offenbarte verschiedene Erzählstrategien bei der Thematisierung von Genoziden in der deutschsprachigen Literatur. In diesem Kapitel wird daher untersucht, ob und inwieweit sich vergleichbare Strategien auch in Norbert Gstreins Das Handwerk des Tötens finden. Jenseits der Textebene wird eine Gemeinsamkeit mit Hilsenraths Werk zum Armenozid deutlich: auch Gstreins Roman war hochgradig umstritten. Im Zentrum der Romanhandlung steht die literarische Auseinandersetzung mit dem 1999 im Kosovo ermordeten österreichischen Kriegsberichterstatter Christian Allmayer. Die Figur des Journalisten Allmayer ist – wie bereits die Widmung im Roman1 verdeutlicht – inspiriert durch den 1999 im Kosovo ermordeten österreichischen Stern-Reporter Gabriel Grüner, einen Bekannten Gstreins. Dieser Umstand wurde dem Autor von einigen Literaturkritikern vorgeworfen. Waltraud Wende verweist auf ebenjenen medialen Diskurs: Das mediale Echo auf den im Kontext der Balkan-Kriege der neunziger Jahre angesiedelten Roman war enorm, wobei vor allem das den Roman charakterisierende prekäre Verhältnis von Fakten und Fiktionen, das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen mehr oder weniger versteckten Anspielungen auf die Biographie tatsächlicher Personen einerseits und freier literarischer Imagination andererseits, wiederholt im Visier der Rezensenten stand. […] Prominente und auch weniger prominente Literaturkritiker schlüpften in die Rolle von Staatsanwälten und stritten um die Frage, inwieweit der Roman als eine dokumentarische Lebensgeschichte zu lesen sei und inwieweit das für den Roman charakteristische kom-

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Hier heißt es: »zur Erinnerung an Gabriel Grüner (1963–1999) über dessen Leben und dessen Tod ich zu wenig weiß als daß ich davon erzählen könnte«. (HdT 8)

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plexe Vexierspiel aus einzelnen authentischen Lebensspuren des Stern-Reporters und zahlreichen Fiktionen zu einer posthumen Verunglimpfung der realen Person Gabriel Grüners geführt habe und deshalb moralisch zu verurteilen sei.2 Insbesondere Iris Radisch, Literaturkritikerin der ZEIT, verfasste eine vernichtende Rezension. Aufgrund ihres persönlichen Verhältnisses zu Gabriel Grüner, der ein »ungemein sympathischer Hamburger Kollege«3 gewesen sei, warf sie Gstrein unter anderem vor, sein Spiel mit den Erzählformen sei »banal und ausweichend«4 , die Sprache »ton- und spannungslos«5 . Radischs Rezension veranlasste Gstrein zu einer ausführlichen Stellungnahme, gewissermaßen einem Nachwort zum Roman, in welchem er betont, in dem Roman gehe es zwar um einen Kriegsberichterstatter, »der im Kosovo ums Leben kommt, der ansonsten aber, abgesehen von ein paar äußeren Daten, nichts mit Gabriel Grüner gemein hat.«6 Zu Recht verweist Wende in diesem Kontext darauf, dass man bei Gstreins Werk keinesfalls journalistische Maßstäbe anlegen dürfe – in diesem Falle wäre eine zu großen Teilen fiktionale Geschichte über eine reale Person in der Tat verfehlt –, sondern den Roman nach literarisch-ästhetischen Gesichtspunkten beurteilen müsse: Wenn professionelle Leser wie z.B. Barbara Rupp, Iris Radisch oder Roland Mischke die komplexe Gemengelage der Parallelen und Differenzen zwischen tatsächlicher und fiktionaler Wirklichkeit ausschlachten, um einen Romanautor zu verurteilen oder gar zu beschimpfen, dann übersehen sie die mediale Differenzqualität zwischen einem journalistisch-publizistischen Tatsachenbericht und einem literarisch-ästhetischen Werk. Von einem professionellen Leser – wie z.B. einem Rezensenten – sollte allerdings erwartet werden können, Mediendifferenzen nicht nur wahrzunehmen, sondern auch zu reflektieren, zumal, wenn der ins Visier genommene Gegenstand genau von eben diesen Mediendifferenzen handelt und wenn er darüber hinaus zudem auch noch der Besonderheit des schwierigen Zu-

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Wende, Waltraud: Zuerst stirbt immer die Wahrheit: Fakten, Fiktionen und Kitsch im intermedialen Diskurs – Norbert Gstreins Roman Das Handwerk des Tötens. In: Imaginäre Welten im Widerstreit: Krieg und Geschichte in der deutschsprachigen Literatur seit 1900, hg. von Lars Koch und Marianne Vogel. Würzburg: Königshausen und Neumann 2007. S. 169–184, hier: S. 169f. Im Folgenden zitiert als ›Wende 2007‹. Radisch, Iris: Tonlos und banal. Internet-Publikation in: ZEIT ONLINE: https://www.zeit.de/ 2004/01/L-Gstrein. Erstellt: 22.12.2003. Editiert: 13.08.2010. Eingesehen: 09.07.2020. Im Folgenden zitiert als ›Radisch 2003‹. Ebd. Ebd. Gstrein, Norbert: Wem gehört eine Geschichte? Fakten, Fiktionen und ein Beweismittel gegen alle Wahrscheinlichkeit des wirklichen Lebens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 20. Im Folgenden zitiert als ›Gstrein 2004‹.

5. Jugoslawien in der deutschsprachigen Genozidliteratur

sammenspiels von Sprache, Denken und Wirklichkeitskonstruktion nachzuspüren versucht.7 In dem Verhalten der genannten Rezensenten sieht Wende schließlich einen »fortgeschrittenen intellektuellen Sittenverfall.«8 Ihre scharfe Kritik ist berechtigt: In Gstreins Roman steht weniger die Figur des ermordeten Journalisten im Zentrum, sondern vielmehr die Suche nach der richtigen Art über diesen, beziehungsweise über den Krieg, zu berichten.9 An diese versucht sich der Autor heranzutasten, indem er seinen Erzähler, einen in Hamburg lebenden österreichischen Journalisten, davon erzählen lässt, wie er von seinem Kollegen Paul erfährt, dass dieser einen Roman über seinen Bekannten, den im Kosovo ermordeten Kriegsberichterstatter Christian Allmayer, schreiben möchte. Aus Erzählungen Pauls, dessen Freundin Helena sowie Allmayers Artikeln, die der Erzähler liest, ergibt sich schließlich ein Bild von Allmayer. Vor dem skizzierten Hintergrund nimmt die Analyse folgerichtig nicht die Frage nach dem journalistischen Wahrheitsgehalt des Romans und die damit verbundene Frage, inwieweit Gabriel Grüner mit Christian Allmayer gleichzusetzen ist, in den Fokus. Stattdessen wird Gstreins Werk im ersten Kapitel zunächst im Hinblick auf Bezüge zur Shoah untersucht. Im zweiten Kapitel steht die Frage nach der Thematisierung von Identität im Zentrum der Untersuchung. Das dritte Kapitel widmet sich schließlich der Analyse von Strategien der Distanzerzeugung zum Erzählgegenstand.

5.1.2 Die Shoah im faschistischen Kroatien – Jasenovac als Erinnerungsort Wenngleich eine Thematisierung der Shoah keinesfalls im Mittelpunkt des Romans steht, so ist eine Auseinandersetzung mit dem Jugoslawienkrieg nur schwerlich ohne die Einbeziehung der Zeit des Nationalsozialismus und des mit den Nationalsozialisten verbündeten Ustascha-Regimes vorstellbar. Diese Verbindung ist in dem Roman allgegenwärtig, auch wenn sich wenige explizite Erwähnungen finden lassen. Dies liegt wohl darin begründet, dass der Ich-Erzähler selbst einer inflationä-

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Wende 2007, S. 172. Wende 2007, S. 172. Zu dieser Einschätzung gelangt auch der Literaturwissenschaftler Goran Lovrić in seiner Auseinandersetzung mit Gstreins Roman, vgl. Lovrić, Goran: Erzählen aus dritter Hand. Norbert Gstreins Handwerk des Tötens. Zeichen der Unsicherheit oder geteilte Erzählerpersönlichkeit? In: Gedächtnis – Identität – Differenz. Zur kulturellen Konstruktion des südosteuropäischen Raumes und ihrem deutschsprachigen Kontext, hg. von Marijan Bobinac und Wolfgang Müller-Funk. Tübingen: A. Francke 2008 (= Kultur – Herrschaft – Differenz 12). S. 217–230, hier: S. 217.

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ren folkloristischen Verwendung von »Balkanklischees« ausgesprochen kritisch gegenübersteht. So konstatiert er etwa nach der Lektüre von Allmayers Berichten: Um so verwunderlicher war es, daß er selbst so oft danebengriff, daß er immer gleich die Ustascha herbeibeschwören mußte und genauso inflationär von den Tschetniks sprach, daß ein Gewehr nicht ein Gewehr sein konnte, es war selbstverständlich eine Kalaschnikow, zumal wenn eine Frau es in der Hand hatte und man zwischen den Zeilen merkte, wie sehr ihn das abstieß und erregte, oder daß er mit allen gleich Slibowitz trank, gezählte zwei Dutzend Mal in seinen Reportagen. (HdT 61) Es sind jene, in journalistischen Reportagen durchaus erwartbaren Klischees, die den Erzähler misstrauisch stimmen. Die Vorsicht des Erzählers ist angebracht, dennoch wird in weiteren Passagen kein Zweifel an der fortwirkenden Bedeutung der Vergangenheit in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens gelassen. So erinnert sich Paul in einem Gespräch mit dem Erzähler an ein Gespräch mit Allmayer über die Kriegstoten und berichtet, es sei angeblich »dabei nicht nur einmal vorgekommen, daß sie einfach denen des Weltkriegs zugeschlagen worden sind, als wären seither nicht fünfzig Jahre vergangen.« (HdT 106) Tatsächlich war für die Kriegsparteien der Krieg der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts untrennbar mit dem Zweiten Weltkrieg verbunden, für viele Nationalisten war er gar eine Fortsetzung desselben. Das bis in die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts vorherrschende sozialistische Geschichtsnarrativ hatte nationalistische Tendenzen vorübergehend erfolgreich unterdrückt. Dies änderte sich jedoch ab 1973, wie die Politikwissenschaftlerin Daniela Mehler betont: 1973 wurden auch Kriegsverbrecher im Ausland und 1977 politische Gefangene amnestiert. Der Straferlass ermöglichte die Rückkehr von antisozialistischen und nationalistisch orientierten Exilanten und ihrer Narrative nach Jugoslawien. Im Zuge der Nationalisierung des jugoslawischen politischen Diskurses nach Titos Tod 1980 wurde somit schließlich auch das hegemoniale sozialistische Narrativ des Zweiten Weltkriegs und des Nationalen Befreiungskampfes zunehmend aufgebrochen und national pluralisiert.10 Insbesondere zwei gänzlich gegensätzliche Erinnerungsorte – beide sind für Gstreins Roman von Bedeutung – wurden in diesem Kontext konstituiert: Auf serbi-

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Vgl. Mehler, Daniela: Serbische Vergangenheitsaufarbeitung. Normenwandel und Deutungskämpfe im Umgang mit Kriegsverbrechen, 1991–2012. Bielefeld: transcript 2015, S. 76. Im Folgenden zitiert als ›Mehler 2015‹. Naimark verweist ebenfalls auf die Bedeutung der Geschichtsnarrative und bezeichnet insbesondere das damit einhergehende gegeneinander Aufrechnen von Opfern aus dem Zweiten Weltkrieg als »verbale[n] Bürgerkrieg«, Naimark 2004, S. 197.

5. Jugoslawien in der deutschsprachigen Genozidliteratur

scher Seite geriet das Ustascha-Lager Jasenovac, in welchem neben Serben auch Juden sowie Sinti und Roma ermordet wurden, verstärkt in den öffentlichen Fokus. Problematisch hierbei: »Serben wurden […] ausnahmslos als Opfer dargestellt, die eigene Kollaborationsgeschichte oder die von der eigenen ethnischen Gruppe verübten Verbrechen blieben unthematisiert.«11 Doch auch die Kroaten hatten ihren Erinnerungsort: »Gegen Jasenovac als Ort serbischen Leidens führten die Kroaten Bleiburg als Ort des Massenmords der von Serben dominierten Partisanen an Kroaten an. Holocaustanalogien und sprachliche Anleihen waren in beiden nationalen Diskursen populär.«12 Im Handwerk des Tötens wird in erster Linie Jasenovac thematisiert. Der Erzähler erinnert sich, während er zusammen mit Paul und Helena auf den Spuren Allmayers durch Kroatien reist, an das Ustascha-KZ. (vgl. HdT 314) An dieser Stelle findet sich auch ein bildlicher Verweis auf die Shoah. Der nunmehr wieder auf einen Artikel Allmayers bezugnehmende Erzähler stellt sich, aufbauend auf dem Artikel, das Denkmal an dem ehemaligen Konzentrationslager vor, wobei seine Wortwahl den Leser unmittelbar an die KZs der Nationalsozialisten denken lässt: Auf einmal hatte ich seine Beschreibung der dortigen Flußau wieder im Kopf, die Trägheit der Sommerhitze mit dem schon von weitem sichtbaren Denkmal, der erschlagenden, einer riesigen Orchidee ähnelnden Betonskulptur, die sich wie klagend in den Himmel erhob, und dem Eisenbahnzug, der am Uferdamm verloren in der Wiese stand, der Lokomotive mit den fünf Viehwaggons und den im Nichts endenden Schienen. (HdT 315) Die Viehwaggons erinnern in Verbindung mit »den im Nichts endenden Schienen« an Gedenkstätten der nationalsozialistischen KZs. Mit der Erwähnung des Lagers wird zugleich der Bogen von den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs hin zu jenen des Jugoslawienkriegs geschlagen. Darüber hinaus erinnert sich der Erzähler im Zusammenhang mit dem KZ an eine weitere Geschichte Allmayers über den Serben Milan Kovačević, über den es heißt: in Jasenovac geboren, als Kind einer Gefangenen, und fünfzig Jahre danach, nicht weit von dort, selber Kommandant in Bosnien, in der Gegend von Prijedor, verantwortlich für die Lager Omarska, Keraterm und Trnopolje, die künftig auf keiner Karte menschlicher Grausamkeiten mehr fehlen würden, wie es allenthalben hieß. (HT 316) Kovačevićs Biografie, laut Erzähler eine »herzzerreißende und grauenerregende Geschichte« (HdT 315), wählt Gstrein kaum zufällig als Beispiel, steht diese doch exemplarisch für den Jugoslawienkrieg: der Sohn einer im Ustascha-KZ internierten Ser11 12

Mehler 2015, S. 77. Ebd., S. 78.

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bin ist ein halbes Jahrhundert später verantwortlich für eine Wiederholung der Geschichte, nun unter umgekehrten Vorzeichen. Tina Rosenberg betont in einem Artikel aus dem New York Times Magazine von 1998 ebenfalls den Zusammenhang zwischen den Verbrechen von Jasenovac und dem serbischen Lager Omarska, welches Anfang der 90er Jahre unter der Aufsicht von Kovačević stand: »Tens of thousands or hundreds of thousands of Serbs, depending on who does the counting, were murdered there [in Jasenovac]. Many were killed with a brutality later to be echoed in Omarska. This is not a coincidence.«13 Doch auch über die direkte Erwähnung des KZs hinaus sind die Verbindungen zwischen Shoah und Jugoslawienkrieg in dem Roman konstant präsent. So erzählt Paul von einem Franziskanerkloster, »aus dem sich im Zweiten Weltkrieg viele Ustascha-Führer rekrutiert hatten« (HdT 367) und erwähnt einen kroatischen General, gegen welchen ein Haftbefehl erlassen worden sei und der womöglich von den Mönchen versteckt werde: Angesichts der finsteren Tradition, die sie haben, wäre es nicht weiter verwunderlich, wenn er ausgerechnet bei ihnen Unterschlupf gefunden hätte […]. Er hat ihnen sicher kaum zwielichtig genug sein können, wenn man bedenkt, daß sie in der Vergangenheit am liebsten mit dem Kreuz in der einen Hand, einer Pistole in der anderen aufgetreten sind. (HdT 368) Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Gstrein Shoah und Zweiten Weltkrieg zwar nicht ins Zentrum der Romanhandlung stellt, dennoch immer wieder die Verbindungen zwischen den Verbrechen vor Augen führt – die Verbindungen sind dabei in erster Linie historischer Natur, auf literarischer Ebene finden sich keine direkten Anknüpfungen an die Shoah-Literatur.

5.1.3 Zwischen Deutschland und Jugoslawien Wie in den anderen Romanen der deutschsprachigen Genozidliteratur ist auch in Gstreins Handwerk des Tötens die Auseinandersetzung mit der Identität ein zentrales Thema. Dabei stehen insbesondere zwei Fragen im Fokus: In welchem Kontext gewinnt Identität an Bedeutung und wer definiert die Identität? Bei der Beantwortung beider Fragen steht Pauls Freundin Helena im Zentrum. Die Herkunft Helenas wird für Paul erst nach Allmayers Tod interessant. Der Erzähler konstatiert in Bezug auf Paul: 13

Rosenberg, Tina: Defending The Indefensible. Internet-Publikation in: The New York Times Magazine: https://www.nytimes.com/1998/04/19/magazine/defending-the-indefensible.ht ml. Erschienen: 19.04.1998. Eingesehen: 19.09.2020. Darüber hinaus offenbart die Journalistin in ihrem Artikel, dass auch die Bevölkerung jenseits der für die Lager Verantwortlichen konsequent die Verbrechen gegeneinander aufrechnete: »Almost every person I met in Prijedor replied to my questions about 1992 with references to 1942. This history made the propaganda believable to ordinary Serbs.« ebd.

5. Jugoslawien in der deutschsprachigen Genozidliteratur

Auf jeden Fall war er so besessen davon, etwas aus der Geschichte machen zu wollen, daß nun auch Helenas Familie eine Rolle spielte, und wenngleich ich nicht mehr weiß, wann er mir zum ersten Mal gesagt hat, ihre Eltern kämen aus Kroatien, erinnere ich mich genau, daß er es fortan bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit erwähnte. […] War er vorher gar nicht auf die Idee gekommen, damit etwas anzufangen, konnte er sie plötzlich allen Ernstes Jugo nennen, das Schimpfwort in eine Koseform verwandeln, […] konnte er sie als Einwandererkind bezeichnen oder von der zweiten Generation und deren Marotten sprechen […]. (HdT 38f.) Helena wird von Paul – wenngleich in Koseform – abwertend und klassifizierend als »Jugo« und somit gleichermaßen als nicht-deutsch, als »Einwandererkind« bezeichnet. Er definiert auf diese Weise gewaltsam ihre Identität. Paul scheut auch nicht vor einer rassistischen Einordnung seiner Freundin zurück, wenn er, nachdem er ihre Backenknochen zwischen Daumen und Zeigefinger genommen hat »slawisch, slawisch« (HdT 39) konstatiert. Helena wird von Paul zu seinem Objekt degradiert, wird aufgrund ihrer Herkunft zum »ersten Verbindungsoffizier zu seiner Romanwirklichkeit«. (HdT 39) Für den Erzähler scheint es dabei immer offensichtlicher, »wie sehr er sie am Anfang benutzte, wenn sie über ihre Herkunft sprach«. (HdT 39) Doch Helenas Identität wird nicht nur von Paul definiert. Auch für Allmayer wird sie zur Projektionsfläche für antikroatische Vorurteile, wie der Erzähler von Paul erfährt. Paul erzählt, Allmayer hatte sie gefragt, ob ihre Eltern das Schachbrett über dem Bett hängen hatten, das rotweiß karierte kroatische Wappen, kaum daß das Stichwort gefallen war und er damit wußte, woher sie stammten, offenbar ein Fressen für ihn, weil er sich sofort darüber ausließ, für welche Ungeheuerlichkeiten es im Zweiten Weltkrieg gestanden war […]. (HdT 41) Der Kriegsberichterstatter verwandelt das Gespräch mit Helena in eine inquisitorische Befragung (vgl. HdT 42) und greift sie vehement an, als er erfährt, dass sie verreist war, als er selbst die furchtbarsten Zustände während des Jugoslawienkrieges dokumentierte. (vgl. HdT 43f.) Auf diese Weise wird sie – obwohl ihre Familie bereits lange vor dem Krieg nach Deutschland auswanderte – für ihre Landsleute verantwortlich gemacht, wobei sie keine Chance erhält, ihre Identität selbst zu definieren. Später im Roman erinnert sich Helena im Gespräch mit dem Erzähler wiederum an ihre Begegnung mit Allmayer und offenbart, wie sehr die Angriffe sie getroffen haben. Mehr noch belastete sie jedoch der Umstand, dass Paul Allmayers Ansichten übernahm und von einem Tag auf den anderen begann, ihr Fragen zu stellen wie er, die gleichen unsinnigen Nachforschungen anzustrengen, wo sie gewesen war, zur Zeit der schlimmsten Kämpfe in Kroatien, und was sie damals getan hatte, sie wieder

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mit Vorwürfen zu bedrängen, sich ein schönes Leben gemacht zu haben, während ihre Leute, wie er sagte, vor die Hunde gingen. (HdT 176) Wie für Allmayer sind die Kroaten auch für Paul »Helenas Leute«. Des Weiteren erinnert sich der Erzähler daran, dass Paul Helena wegen ihres Urlaubs zu Beginn des Krieges »wegen nichts und wieder nichts wie eine Verräterin« (HdT 176) behandelt habe. Für Paul wird die Frage nach Helenas Aufenthaltsort zur Zeit des Krieges zu einer Obsession. (vgl. HdT 179) Bei einem Besuch des Erzählers ist sie es wiederum, die das Thema aufgreift, den Erzähler provokativ mit dem Satz »Vielleicht findest du ja eine Schachbrettfahne.« (HdT 194) auffordert, ihre Wohnung zu durchsuchen. Die Situation zeigt, dass noch Jahre nach dem Treffen mit Allmayer die gewaltvolle Identitätszuweisung durch einen Fremden nachwirkt. Eine Frage an den Erzähler unterstreicht dies: »Was habe ich ihm getan, daß er sich erlaubt, mich wie eine Kriminelle hinzustellen, nur weil ich keine anderen Eltern vorweisen kann?« (HdT 194) Der Ausbruch des Krieges führte jedoch auch bei Helena selbst zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen Identität, wie im Gespräch mit dem Erzähler deutlich wird, als sie ihre Angst davor artikuliert, dass sie und ihre Familie nunmehr als »Fremde« in Deutschland abgelehnt werden könnten, geradeso, als wären sie nicht schon ihr halbes Leben im Land, sondern erst vor kurzem gekommen, als würden sie die Sprache noch immer nicht sprechen und sich, zusammengepfercht in einem Arbeiterwohnheim, zu dritt oder viert ein winziges Zimmer ohne Dusche teilen und Angst haben, man könnte sie über Nacht auffordern, zu verschwinden, ihnen von Amts wegen mitteilen, es wäre kein Platz mehr für sie, wenn ihre Freunde auf dem Balkan nicht aufhörten, sich gegenseitig den Garaus zu machen. (HdT 182) Die eigene Herkunft wird für Helena zur Belastung, ja zur Bedrohung der Sicherheit und führt zu dem Wunsch, die Wurzeln zu negieren: »Es war entsetzlich, aber zum ersten Mal habe ich meine eigenen Eltern als Ausländer gesehen«. (HdT 182) Die Identität wird zunehmend bestimmt durch ein »Gefühl unentrinnbarer Zugehörigkeit« (HdT 183), bei Helena werden Erinnerungen an die Identitätskonflikte aus der Kindheit wach, sie berichtet dem Erzähler »daß sie mit vier oder fünf Jahren, aus dem Kindergarten kommend, unter keinen Umständen mehr kroatisch mit ihnen [ihren Eltern] sprechen wollte und sich gleichzeitig für das zusammengestammelte Deutsch zu genieren begann, mit dem sie sich recht und schlecht durchschlugen«. (HdT 183) Zugleich löst der Krieg in Helena jedoch ein gänzlich anderes Gefühl aus, das Gefühl, »etwas unwiederbringlich verschwinden zu sehen, selbst wenn es für sie ohnehin nie existiert hatte«. (HdT 185) Das bis dato ungeliebte und abgelehnte Jugoslawien gewinnt erst im Angesicht des Untergangs an Bedeutung. Gleiches gilt auch für die sozialen Bindungen zu ihren Verwandten aus Jugoslawien, die bei ihr zu einer Rückbesinnung auf ihre alte Heimat führen:

5. Jugoslawien in der deutschsprachigen Genozidliteratur

es wurde ihr ein weiteres Mal klar, egal, wohin sie sich auch aufmachte, und wäre es ans Ende der Welt, sie entkam ihnen nicht. Auf einmal war sie wieder auf eine Weise ihre Tochter wie schon seit einer Ewigkeit nicht mehr, und als sie gebeten wurde, ihre beiden Cousins aus der Lika eine Zeitlang bei sich aufzunehmen, Grünschnäbel noch, wie sie sagte, siebzehn und neunzehn, ohne ein Wort Deutsch, die von zu Hause geflohen waren, um der Einberufung zu entgehen, verbrachte sie ganze Abende mit ihnen, blieb beim Frühstück so lange sitzen, daß sie garantiert zu spät im Büro war, und konnte nicht genug von ihrer Gesellschaft kriegen, hörte ihnen zu und erzählte selbst mehr, als sie sonst jemals getan hatte, redete und redete, überrascht, wie leicht die Worte kamen und wie ruhig und selbstgewiß die Sprache sie machte. (HdT 186f.) Der Jugoslawienkrieg lässt die Familie zusammenrücken und führt dazu, dass Helena wieder freiwillig in ihrer Muttersprache kommuniziert. Zugleich sorgt die Rückbesinnung auf ihre Herkunft jedoch dafür, dass Helena sich zunehmend von ihrem damaligen Mann entfremdet. Die starke Differenz zwischen ihren mittellosen Verwandten und ihrem Mann, der »sündteure Anzüge und Krawatten trug und ein Auto hatte, von dem sie nicht einmal zu träumen wagten« (HdT 188), führt zu einer zunehmenden Distanzierung, die schließlich darin gipfelt, dass sie die Beziehung mit der Aussage »ich gehöre nicht hierher.« (HdT 189) beendet. Der Identitätskonflikt der weiblichen Protagonistin in Gstreins Roman ist jedoch nicht auf den Jugoslawienkrieg beschränkt. So eröffnet Helena dem Erzähler, »ihre Familie habe immer schon ein besonderes Verhältnis zu den Deutschen gehabt.« (HdT 199) Bereits ihr Urgroßvater hatte eine Verbindung nach Österreich, der Großvater arbeitete schließlich während des Krieges in Hamburg in einer Munitionsfabrik, und die Eltern siedelten nach Deutschland über. (vgl. HdT 199f.) Die Verbindung hatte zur Folge, daß sie bereits als Kind bei den Besuchen im Dorf ihrer Großmutter stets die Deutsche sein mußte, wenn sie mit den Nachbarskindern gespielt hatte, und sie seien natürlich Partisanen gewesen und švabo fašista, švabo fašista rufend in einem wilden Haufen über sie hergefallen. (HdT 200) Die Passage verweist auf ein verbreitetes Phänomen, mit welchem sich Menschen in der Diaspora oftmals konfrontiert sehen: im neuen Land werden sie – wie Helena – als »Fremde«, als »Ausländer« wahrgenommen, in der vermeintlichen Heimat sind sie jedoch ebenfalls fremd. In Helenas Fall wird dies noch verschärft durch den Umstand, dass sie in den Kinderspielen von den jugoslawischen Kindern als »švabo fašista«, als »deutsche Faschistin«, bezeichnet wird. Unter ebenjenem Trauma der Haltlosigkeit zwischen zwei Kulturen leiden Helenas Eltern ungleich stärker als ihre Tochter, die aufgrund ihrer Jugend einen besseren Zugang zur neuen deutschen Kultur findet. Helena berichtet davon, dass ihr Vater durch die vermeintliche Möglichkeit der Rückkehr in seine Heimat immer daran gehindert worden sei, »wirklich

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etwas anderes anzufangen.« (HdT 272) Doch auch eine Rückkehr erschien nach so langer Zeit in der Fremde nur schwer denkbar, da sich in der Heimat alles verändert hatte. (vgl. HdT 273) Der Vater beziehungsweise die Eltern leiden unter dem Verlust der alten Heimat, werden jedoch durch das Festhalten an dieser daran gehindert, in Deutschland ein neues Leben zu beginnen.14 Die von Gstrein anhand der Romanfigur Helena geschilderte Entwicklung ist nicht untypisch für eine literarische Auseinandersetzung mit der Identität in der deutschsprachigen Genozidliteratur. Die psychische Drucksituation – sei es Krieg oder Verfolgung – führt zu einer oftmals schmerzhaften Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft.

5.1.4 »Fortwährende Distanzierung« als notwendige Bedingung für ein Schreiben über Krieg und Gewalt Wie für die anderen in dieser Arbeit behandelten Autoren ist auch für Gstrein eine Distanzierung vom Erzählgegenstand von eminenter Bedeutung. Gstrein erzeugt jedoch nicht nur eine Distanz durch seine Erzählweise, sondern reflektiert darüber hinaus in seinem Roman auch kritisch, was passieren kann, wenn die Distanz beim Erzählen verlorengeht. Die Relevanz einer distanzierten Betrachtung des Jugoslawienkrieges unterstreicht der Autor selbst in Wem gehört eine Geschichte: Es ist der Blick, der dem Blick des Zuschauers vor dem Fernseher entspricht, äußerste Nähe bei gleichzeitig äußerster Distanz, der vielleicht verbotene Blick, der mich wie alle anderen automatisch involviert hat. Deshalb ist es zuallererst meine Geschichte, wenn ich eine Geschichte der jugoslawischen Kriege schreibe, wie die Medien sie vermitteln, und damit mein Unbehagen kundtue, den Wunsch, aus der aufgezwungenen Nähe auszubrechen, die bei diesen Ereignissen etwas Unanständiges hat, und zu einem anderen Umgang mit den Bildern zu gelangen, am Ende auch zu einer anderen Nähe, die aber nur durch fortwährende Distanzierung erreicht werden kann.15 Gstrein spielt hier auf die Problematik der medialen Berichterstattung an, die Kernthema des gesamten Romans ist. Sein Ziel ist eben nicht die Berichterstattung vermeintlich aus erster Hand und unmittelbarer Nähe aus dem Kriegsgebiet. Dabei beklagt der Autor, dass er massiver Kritik ausgesetzt gewesen sei, da seine Romanfigur Christian Allmayer teilweise auf dem realen Gabriel Grüner basiert, er hier also eine

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Mit dem gleichen Problem haben neben Helenas Vater auch seine beiden Brüder zu kämpfen. (vgl. HdT 196f.) Jenseits der Figur Helena wird die Frage nach der Identität in Gstreins Handwerk des Tötens nur in wenigen weiteren Passagen aus anderen Perspektiven in den Blick genommen. (vgl. HdT 67; 114) Gstrein 2004, S. 35f.

5. Jugoslawien in der deutschsprachigen Genozidliteratur

vermeintlich zu große Nähe zwischen Allmayer und dem ermordeten Journalisten hergestellt habe. In der medialen Öffentlichkeit werde jedoch etwa die radikale, literarisch unverhüllte Nähe in einem Roman von Bernard-Henri Lévy über den von Islamisten ermordeten Daniel Pearl keineswegs als kritikwürdig angesehen: »Der Skandal allzu großer Nähe wird nicht als Skandal empfunden, wenn alles nur wattiert genug daherkommt, skandalös scheinen Fiktionalisierung und Distanzierung mit ihrer notwendig anderen Temperaturskala, will sagen mit ihrer Kälte, zu sein.«16

Gebrochene Perspektiven Gstreins Ziel ist eine Distanzierung bei gleichzeitiger Nähe. Diese Vorgabe erscheint lediglich auf den ersten Blick paradox: Zwar erfährt der Leser einiges über das Gefühlsleben der Protagonisten Paul und Helena, jedoch enthält der Roman kaum Identifikationsangebote für den Rezipienten. In erster Instanz verantwortlich für die Distanzierung vom Erzählstoff ist der Ich-Erzähler, über den der Leser, abgesehen davon, dass er als Journalist für eine große Hamburger Zeitung arbeitet, so gut wie nichts erfährt, nicht einmal einen Namen, und der beständig hinterfragt, was die anderen Romanfiguren ihm über den Krieg in Jugoslawien mitteilen. Wende konstatiert in Bezug auf den Erzähler: Sein Unbehagen gegenüber der Vorstellung, über Töten und Tod, Gewalt und Krieg professionell, authentisch und realistisch schreiben zu können, Argwohn gegenüber routiniertem Sprachgebrauch und Skrupel gegenüber sprachlichen Klischees, Skepsis gegenüber Worthülsen und Vorbehalte gegenüber der Leistungskraft sprachlicher Benennung veranlassen den an Pauls Romanprojekt unfreiwillig Beteiligten stets aufs Neue zu kritischen Kommentaren.17 Doch es sind nicht nur die Kommentare des Erzählers, die oftmals scheinbar klare Sachverhalte in Frage stellen. Vielmehr sorgt die gesamte Romankonzeption für eine Distanzierung vom Erzählgegenstand. So wird an keiner Stelle des Romans aus erster Hand berichtet, die Perspektive ist immer zumindest durch den Ich-Erzähler, der die verschiedenen Geschichten vermittelt, gebrochen. Meist gibt es jedoch weit mehr als eine Brechung. Bereits die Romanhandlung verdeutlicht das Prinzip: Der in Hamburg lebende und als Journalist arbeitende Erzähler erfährt von Paul, einem Kollegen aus der Redaktion, dass dieser einen Roman über seinen Bekannten, den im Kosovo ermordeten Kriegsberichterstatter Christian Allmayer, schreiben möchte. Alle Informationen über Allmayer erhält der Erzähler von Paul, Helena, Allmayers Witwe Isabella und Lilly, der Exfrau des Ermordeten, sowie aus den Artikeln des Reporters. Diese Erzählweise dient dabei dem Zweck, eine konsequente Distanz zum

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Gstrein 2004, S. 66. Wende 2007, S. 176.

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Erzählgegenstand zu wahren, wobei immer wieder Zweifel am vermeintlich wahrheitsgetreuen Erzählen geäußert werden. So berichtet Paul dem Erzähler etwa davon, Allmayer habe in den Gesprächen über den Krieg bei ihm immer ein »Gefühl der Unwirklichkeit« (HdT 105) ausgelöst, und ihm sei der Krieg dadurch noch fremder erschienen als in den Zeitungsberichten. (vgl. HdT 105). Wenngleich Paul nicht zu sagen vermag, warum Allmayer das Gefühl bei ihm auslöste, so liegt die Vermutung nahe, dass sein Unbehagen daher rührte, dass Allmayer selbst Probleme damit hatte, seine Erlebnisse aus dem Krieg zu versprachlichen. Doch nicht nur von Allmayer erfährt der Leser nur über viele Instanzen hinweg. In dem Roman steht eine Auseinandersetzung mit der Auseinandersetzung statt einer direkten Beschäftigung mit den Verbrechen im Vordergrund. Besonders deutlich wird dies in einem Gespräch zwischen Paul und dem Erzähler. Paul schildert detailliert, wie er sich eine Episode seines Romanes vorstellt, in welcher junge Rekruten furchtbaren Strapazen ausgesetzt sind und verweist darauf, dass diese fiktionalisierte Geschichte auf einem Bericht Allmayers basiere. (vgl. HdT 129f.) Der Erzähler, dem bereits Pauls sensationslüsterne Schilderung missfällt, kritisiert im Anschluss, dass ihm diese Art, über den Krieg zu reden, missfalle, da sie etwas »Hyänenhaftes« (HdT 130) habe, wobei die Wirklichkeit das Aas sei. (vgl. HdT 131) Gstrein scheint es mit seinem Erzähler zu halten, schließlich finden sich in dem Roman kaum direkte Berichte über den Krieg oder gar Kriegsverbrechen. Selbst die unmittelbarsten Passagen – jene, in denen der Erzähler von seiner Rezeption der Reportagen Allmayers berichtet – enthalten kaum Informationen zum Krieg. Im Gegenteil, sie verwirren den Erzähler je angestrengter er versucht, »Klarheit in den Wirrwarr zu bringen« (HdT 49), wobei die Wirkung einiger Artikel auf den Erzähler den Leser erahnen lässt, wie es um die Kriegsberichte steht. So berichtet der Erzähler etwa »es war eine Fieberwelt, in die ich eintauchte, aber die schlimmsten Albträume meiner Kindheit waren harmlos dagegen.« (HdT 56) Einzig in einer längeren Passage fasst der Erzähler die grauenhaften Details der Kriegsverbrechen, von Folter über Vergewaltigungen bis hin zu Morden, zusammen. (vgl. HdT 57) Dennoch werden auch diese Berichte wiederum durch die Reflektion des Erzählers gebrochen, der nach der Lektüre feststellt: Kein Fluß, in dem nicht Tote getrieben wären, kein Platz, so schien es mir, an dem man sich in Zukunft nicht fragte, was sich darunter verbarg, aber das war es nicht, was mir von seinen Reportagen am genauesten in Erinnerung blieb, im Gegenteil, je mehr Details er ausbreitete, um so mehr schienen sie sich gegenseitig auszulöschen, schienen noch die größten Abscheulichkeiten im einmal vorgegebenen Rahmen am Ende normal zu sein. (HdT 58) Zwar nennt der Erzähler zuvor Details, die er aus Allmayers Artikeln entnommen hat, doch unmittelbar danach ist er wieder distanziert und reflektiert. Somit steht auch an dieser Stelle der Umgang mit der Darstellung des Krieges und nicht die un-

5. Jugoslawien in der deutschsprachigen Genozidliteratur

mittelbare Auseinandersetzung mit selbigem im Fokus. Doch nicht nur der Erzähler befasst sich kritisch mit der journalistischen Darstellung des Krieges. Von Paul erfährt er, Allmayer habe sich ebenfalls kritisch und distanziert mit seinen Kollegen und deren Berichterstattung auseinandergesetzt, sich gar aufgeregt über Kollegen, die sich ärgerten, statt sich zu freuen, sooft sie irgendwo hinkamen und alles ruhig war, dann aber stundenlang diskutierten, ob sie die größten Grausamkeiten zeigen sollten oder nicht, nur um zu guter Letzt zu dem schon vorher feststehenden Schluss zu gelangen, sie hätten gar keine andere Wahl, es wäre ihre Pflicht, es zu tun. Es war ihr Sportreportergehabe, das er nicht mochte, die Art, wie sie um Zeilen und Minuten feilschten, wie sie sich überlegten, welche Aspekte man dem Krieg noch abgewinnen könnte, als das Spektrum längst ausgereizt war und nicht einmal mehr ein in einem offenen Schädel herumpickendes Huhn, wie sie selbst sagten, ihnen den Aufmacher brachte, bis sie sogar so weit gegangen seien, als eine Art Kontrastprogramm die an den Rändern noch existierenden Idyllen auszugraben, auch wenn dabei nur der übliche folkloristische Schwachsinn herauskam. Das sei ihm um so lächerlicher erschienen, als er wußte, wie sie manche Schockbilder überhaupt erst zustande gebracht hatten, war er doch mit den Berichten vertraut, wonach sie im Zweifelsfall auch einen schönen Leichenhaufen arrangieren ließen, wenn ihnen die Wirklichkeit nicht schrecklich genug war, oder ihre Kameras einfach willfährigen Einheimischen aushändigten und sie für ein paar Mark mit dem Auftrag, ihnen etwas Brauchbares zu liefern, in die schlimmsten Gefechte hineinschickten. (HdT 110f.) Wiederum wird der Leser mit den Abgründen der Kriegsberichterstattung konfrontiert, wobei sich aufgrund der vom Erzähler geschilderten Grausamkeiten aus Allmayers Reportagen die Frage stellt, ob der Österreicher nicht lediglich wie seine Kollegen berichtet.18 Darüber hinaus vergegenwärtigt Pauls Bericht über Allmayers Ausführungen einen grundlegenden Aspekt der journalistischen Berichterstattung: Der Journalist ist immer auch Filterinstanz, er entscheidet, was der Leser erfährt und was nicht und hat zudem – etwa mittels der arrangierten Leichenhaufen, auf die Allmayer verweist – die Möglichkeit, die Wahrheit zu verfälschen oder zumindest zu modellieren. Im Gespräch zwischen Paul und dem Erzähler wird klar, dass sich Allmayer ebenfalls wenigstens einmal der Verfälschung der Wahrheit schuldig machte: Paul erinnert sich daran, Allmayer habe erzählt, wie er in Zagreb bei einer Witwe während der Bombardierung der Stadt ausgeharrt habe (vgl. HdT 119f.), woraufhin der Erzähler einwirft, Zagreb sei nie bombardiert, sondern lediglich mit Ra-

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Paul und der Erzähler gelangen in dem Roman zu dem Schluss, dass Allmayer tatsächlich wie seine Kollegen gewesen sein müsse. (vgl. HdT 113)

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keten beschossen worden.19 (vgl. HdT 120) Wiederum Paul entsinnt sich schließlich, es habe zwar einen Luftangriff auf den Präsidentenpalast gegeben, Allmayer sei zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht mehr in der Stadt gewesen.20 (vgl. HdT 120) Die offensichtlich verfälschte Geschichte Allmayers weckt grundsätzliche Zweifel an den Geschichten des Reporters, wobei ohnehin alle Informationen zu Allmayer hinterfragt werden müssen, da sie dem Leser nur über andere vermittelt werden. Marie Gunreben konstatiert folgerichtig: Die vielfache Vermittlung […] lässt ihren Gegenstand in ungreifbare Ferne rücken. Allmayers Erlebnisse im Jugoslawien-Krieg können nur erahnt werden. Nichts von dem Erzählten ist verbürgt, vielmehr erscheint die Kette der »stillen Post« des Erzählens mit jeder Station fehleranfälliger.21 Ist die angesprochene Fehleranfälligkeit bei zwei Instanzen noch halbwegs kalkulierbar, so finden sich Passagen, welche das Prinzip der vielfachen Vermittlung auf die Spitze treiben und den Erzählgegenstand tatsächlich in »ungreifbare Ferne rücken« lassen. Insbesondere eine längere Passage offenbart dies par excellence: Während seiner Zeit in Zagreb habe Allmayer sich bei einer Witwe eingemietet, berichtet Paul dem Erzähler. Diese Witwe wiederum sei »es gewesen, die ihm vieles erst verständlich gemacht habe« (HdT 113). Die Witwe erzählt Allmayer von Erlebnissen, von denen Freunde und Bekannte ihr berichteten. (vgl. HdT 114) Somit haben die Geschichten, beispielsweise die von einer Frau, »die mit ihrem serbischen Mann zu ihren Schwiegereltern nach Belgrad fliehen wollte und, von ihnen abgewiesen, sich jetzt in der eigenen Familie Tschetnikhure schimpfen lassen mußte« (HdT 114), fünf Instanzen durchlaufen, bis sie dem Leser präsentiert werden.22 Eine größere Distanz zum Erzählgegenstand erscheint kaum möglich. Doch die Erzählweise hat noch einen weiteren Effekt: »Die verschachtelte Form des Romans, das Erzählen auf bis zu fünf Ebenen inszeniert Zweifel – sowohl an der Wahrheit der Berichte über

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Am 2.5.1995 wurde Zagreb auf Befehl von Milan Martić mit Raketen beschossen, vgl. Vetter, Matthias: Vom Kosovo zum Kosovo: Chronik von Krise und Krieg 1986–1999. In: Der Jugoslawien-Krieg. Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen, hg. von Dunja Melčić. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999. S. 542–568, hier: S. 558. Tatsächlich gab es zu Beginn des Krieges am 7. Oktober 1991 einen gezielten Luftangriff auf den Präsidentenpalst in Zagreb, vgl. Rathfelder, Erich: Der Krieg an seinen Schauplätzen. In: Der Jugoslawien-Krieg. Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen, hg. von Dunja Melčić. Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1999. S. 345–363, hier: S. 350. Gunreben, Marie: »… der Literatur mit ihren eigenen Mitteln entkommen«. Norbert Gstreins Poetik der Skepsis. Bamberg: University of Bamberg Press 2011 (= Bamberger Studien zu Literatur, Kultur und Medien 2), S. 21. Im Folgenden zitiert als ›Gunreben 2011‹. Müller-Funk konstatiert, die Geschichten seien »ineinander verschachtelt wie jene Babuschka-Puppen, die man gerne als Tourist von der Russland-Reise mit nach Hause nimmt.«, Müller-Funk, S. 251.

5. Jugoslawien in der deutschsprachigen Genozidliteratur

Allmayer und den Krieg als auch am Erzählen selbst, an seiner Fähigkeit, Wirklichkeit abzubilden und zu vermitteln.«23 Mit anderen Worten: Der Leser wird aufgefordert, das Erzählte kritisch zu hinterfragen und mit der nötigen Distanziertheit zu bewerten. Die gebrochene Erzählweise hat auch jenseits des Erzählgegenstandes Folgen. Allmayer, die eigentliche Hauptfigur des Romans, wird aus verschiedenen Blickwinkeln gezeigt, wie bereits die obigen Ausführungen zum Wahrheitsgehalt journalistischer Berichte zeigen. Der gebrochene Blick auf Allmayer führt jedoch dazu, dass dieser auffällig konturlos bleibt, Beschreibungen seiner Persönlichkeit oftmals im Vagen verlaufen. Exemplarisch hierfür steht das von Lilly gezeichnete Bild ihres Exmannes, welches der Erzähler vermittelt: Was auch immer sie sonst noch in ihm sah, sie hielt ihn vor allem für einen Träumer, und genau das brachte sie in Schwierigkeiten, sobald es um den Krieg ging, weil es da unbeholfen klingen mußte, wenn sie von seiner Liebe zu den Balkanländern sprach, und ihm andichtete, daß er im Grunde genommen selbst etwas Slawisches gehabt hatte, so, wie er war, ein Intellektueller, in ihren Worten, und gleichzeitig unglaublich naiv, ein Klischee, das mehr über sie aussagte als über ihn, oder sein angeblicher Hang zur Tragödie. (HdT 323f.) Lillys Charakterisierung hat etwas Schablonenhaftes, wobei, wie immer in dem Roman, unklar bleibt, inwieweit der Erzähler seine eigenen Interpretationen einbringt.24 Wie schon Uwe Timm in Morenga hält sich Gstrein konsequent an eine Perspektive, zu welcher er einen direkten Zugang hat, und versucht nicht, sich in den Kriegsberichterstatter Allmayer hineinzuversetzen. Der Erzähler sowie Paul, beide wie Gstrein in Hamburg lebende Österreicher, der eine, Paul, wie Gstrein ein Bekannter eines ermordeten Kriegsberichterstatters, können dabei als Alter Egos des Autors gesehen werden.25 Die Perspektiven der beiden sind für Gstrein zulässig, über sie kann er sich dem Erzählgegenstand, dem Krieg und dem Schicksal Allmayers, annähern. »Gstreins Roman liefert keinen unmittelbaren Blick auf den Krieg, sondern stattdessen eine kritische Beobachtung der Beobachtung. Anstelle 23 24

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Gunreben 2011, S. 23. Gertrud Rösch kommt ebenfalls zu der Einschätzung, Allmayer bleibe seltsam konturlos und schwer zu fassen, lade keinesfalls zur Identifikation ein, habe teils gar unsympathische Züge, insbesondere aufgrund seiner Angriffe auf Helena, vgl. Rösch, Gertrud Maria: Wem gehört eine Geschichte? Über die Möglichkeiten und Grenzen der Fiktionalisierung von Realität. In: Justitiabilität und Rechtmäßigkeit. Verrechtlichungsprozesse von Literatur und Film in der Moderne, hg. von Claude D. Conter. Amsterdam; New York: Rodopi 2010 (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 73). S. 215–226, hier: S. 219f. Gstrein selbst weist in Wem gehört eine Geschichte? darauf hin, dass er seit einiger Zeit statt seines eigenen Namens den Namen Paul verwende, vgl. Gstrein 2004, S. 74.

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der scheinbar authentischen, selbst erfahrenen Kriegswirklichkeit gibt er eine mehrfach gebrochene Aufzeichnung«26 . Gstrein versucht eben nicht, wie der von ihm kritisierte Bernard-Henri Lévy in seinem Roman über Daniel Pearl, aus einer scheinbar authentischen Perspektive – jener des Kriegsberichterstatters – über den Krieg zu berichten und dem Leser eine vorgefertigte, vermeintlich gesicherte, Einschätzung der Kriegswirklichkeit zu präsentieren. Stattdessen werden dem Rezipienten über den Erzähler, Paul und Helena mögliche Wege der Annäherung angeboten. Diese Erzählweise verlangt von der Leserschaft, wie schon Timms Werk über den kolonialen Völkermord, dass diese synthetisieren kann. Wie für den Erzähler bleiben auch für den Leser die Geschehnisse nahezu durchgängig »wie hinter Glas« (HdT 282), die Geschichten unwirklich bis zweifelhaft. Friedhelm Marx konstatiert dahingehend, der Roman führe eine »komplexe Kritik des Erzählvorgangs mit«.27 Eben diese Kritik, die vielfach gebrochenen Perspektiven, die uneindeutigen, schablonenhaften Charaktere, » die Verweigerung unmittelbarer Identifikationsangebote, durch das Unterlaufen der gefälligen Ordnungsmuster von Gut und Böse, das Aufrauen der glatten Oberflächen, die Beobachtung oder die Kritik des Beobachtens«28 verhindern ein Eintauchen in die ohnehin nicht im Vordergrund stehende Handlung sowie eine Identifikation mit den Romanfiguren, wodurch immer wieder aufs Neue Distanz zum Erzählgegenstand geschaffen wird.

Das Scheitern der authentischen Erzählung – zu große Nähe als Problem Neben der Erzählweise wird in Gstreins Roman auch die grundsätzliche Frage gestellt, auf welche Weise eine literarische Auseinandersetzung mit dem Krieg möglich ist, wobei die Suche nach der nötigen Distanz zum Erzählgegenstand im Zentrum steht. Dabei wird der Fokus auf die Romanfiguren Paul und Allmayer gerichtet. Paul sucht zunächst noch nach Allmayers Beweggründen und versucht, dessen Schritte als Kriegsberichterstatter zu rekonstruieren. Im letzten Drittel des Romans nimmt die Spurensuche des angehenden Romanciers Paul jedoch zunehmend manische Züge an. Der Erzähler berichtet davon, dass er beinahe jeden Tag eine Karte von Paul und Helena erhalten habe, die auf »eine[r] Fahrt kreuz und quer durch das Land auf Allmayers Spuren« (HdT 255) im ehemaligen Jugoslawien unterwegs waren. Durch seine Reise erhofft sich Paul eine größere Authentizität seines Romans. Im Verlauf von Gstreins Roman wird jedoch in den Erzählerkommentaren klar, dass sein Versuch scheitern wird. In Bezug auf Pauls Aufenthalt in der kroatischen Stadt

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Marx, Friedhelm: Kriegsgeschichten in der Gegenwart. Norbert Gstreins Roman Das Handwerk des Tötens. In: Gegenwart. Literatur. Geschichte. Zur Literatur nach 1945, hg. von Wolfgang Braungart und Lothar van Laak. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2013. S. 111–118, hier: S. 115. Im Folgenden zitiert als ›Marx 2013‹. Vgl. ebd., S. 118 Ebd., S. 113.

5. Jugoslawien in der deutschsprachigen Genozidliteratur

Dubrovnik konstatiert der Erzähler: »Ich erinnerte mich daran, wie er eigens darauf hinwies, Allmayer habe in einem seiner Artikel einen Aufenthalt dort erwähnt, und war mir sicher, er spielte mit der Vorstellung, vielleicht sogar das gleiche Zimmer zu haben, den gleichen Blick hinaus auf das Meer« (HdT 256). Paul müsse »richtig aufgeregt gewesen sein, dort auf einen Kellner zu treffen, der schon während des Krieges hinter der Theke gestanden war« (HdT 257), so der Erzähler weiter. Ein Treffen mit einem deutschen Journalisten, der während des Krieges Kontakt zu Allmayer hatte, versucht Paul so zu organisieren, dass es am gleichen Ort stattfindet wie das Treffen zwischen dem Deutschen und Allmayer. (vgl. HdT 355) Doch Pauls Obsession treibt ihn noch weiter, er will in den Kosovo fahren, »um endlich die Stelle zu sehen, wo Allmayer umgebracht worden war, weil er mehr darüber wissen würde, wenn er die Landschaft kannte« (HdT 369). Auf groteske Weise scheitert Paul bei dem Versuch und gelangt stattdessen über Umwege an den Ort, »an dem in den Karl-MayVerfilmungen der sechziger Jahre die Sterbeszene von Winnetou gedreht worden war.« (HdT 369) Mit dieser letzten Reise verschwimmen für ihn endgültig die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit.29 Doch nicht nur Paul scheitert, weil er die Distanz zum Erzählgegenstand nicht wahren kann, auch anhand der Figur Allmayer wird exemplifiziert, wie sich die ständige Konfrontation mit dem Grauen des Krieges auf die berichtenden Journalisten auswirkt. Allmayers Witwe Isabella erzählt Paul und dem Erzähler von psychischen Problemen ihres Mannes. Er habe immer wieder ganze Nächte durchgemacht, wenn er aus dem Krieg zurückkehrte (vgl. HdT 216f.), sei am Ende gewesen. (vgl. HdT 231) Der Erzähler fasst den aus Isabellas Erzählung rekonstruierten Zustand des Kriegsberichterstatters zusammen: Es war ein völlig neues Bild, das ich dadurch bekam, so, als wäre der geradezu flotte Typ aus den ersten Kriegsmonaten keine fünf Jahre danach zu einem Abklatsch seiner selbst geworden, nichts von der fast schon schauspielerhaften Attitüde eines professionellen Katastrophenjournalisten übrig geblieben, im Gegenteil, nannte sie ihn doch einen gebrochenen Mann, mit genau diesen Worten, die mir nicht mehr aus dem Kopf gingen. (HdT 231f.) Zwar zweifelt der Erzähler die Einschätzung Isabellas zunächst an (vgl. HdT 232), stört sich an ihrer »Art der Darstellung« (HdT 233), doch später im Roman wird ihm Isabellas Version von Allmayer durch dessen Exfrau Lilly bestätigt, die berichtet, »wie fremd ihm das normale Leben durch den Krieg geworden war« (HdT 327f.). Allmayer habe sich zudem »ohne die Aufregung tot gefühlt«. (HdT 328) Der Verlust der Distanz hat für den Journalisten somit psychische Folgen. Wie schwer es ihm fiel

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Gunreben betont ebenfalls, dass mit dieser Reise der Ort des fiktiven Todes von Winnetou mit dem realen Allmayers verschwimme, vgl. Gunreben 2011, S. 50.

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Distanz zu wahren, geht aus einer Passage hervor, in welcher wieder Isabella dem Erzähler von ihrem Mann berichtet: Wenn es darum ging, wie man über die schlimmsten Katastrophen berichten sollte, habe ihm keiner mehr etwas recht machen können, aber statt sich möglichst fernzuhalten, hatte er auf alles ein Auge, sah sich wohlmeinende Ausstellungen mit Photos von halbverhungerten Häftlingen an und tobte, wie schick sie in Szene gesetzt waren (HdT 236). Nicht nur zum Kriegsgeschehen kann Allmayer keine Distanz wahren, auch seine Kollegen kann er nicht unbeobachtet lassen. Laut Isabella sei es für Allmayer zudem immer wichtig gewesen, »sowohl auf die banalsten als auch auf die scheußlichsten Details« (HdT 238) einzugehen. Allmayers Suche nach der absoluten Nähe zum Erzählgegenstand seiner Reportagen führt letztlich zu der bedeutsamsten Passage des Romans und offenbart die größte Gefahr bei der Kriegsberichterstattung: Von Isabella erhalten Paul und der Erzähler ein Tonband, auf welchem sich der Mitschnitt eines Gespräches zwischen Allmayer und dem kroatischen Offizier Slavko befindet. Zunächst verläuft das Interview unspektakulär (vgl. HdT 338ff.), doch dann erkundigt sich Allmayer danach, wie weit es bis zur serbischen Grenze sei. (vgl. HdT 341) Slavko führt Allmayer daraufhin zu einem serbischen Gefangenen, welcher die von Allmayer gestellte Frage beantworten soll. Der Kroate bedroht und misshandelt den Gefangenen in Gegenwart des Journalisten. (vgl. HdT 342–346) Statt auf Distanz zu dem Offizier zu gehen, stellt Allmayer noch eine weitere gefährliche Frage, fragt den Kroaten, wie es sei, jemanden umzubringen. (vgl. HdT 346) Anstelle einer Antwort nötigt Slavko den Kriegsberichterstatter, sein Gewehr zu nehmen. (vgl. HdT 347) Anschließend gibt er dem serbischen Gefangenen den Befehl, über das freie Feld von den kroatischen Stellungen in Richtung der Serben zu gehen (vgl. HdT 348) und sagt an Allmayer gewandt: »Jetzt können Sie es selbst versuchen.« (HdT 349) Mit dem Gewehr in der Hand, den Feind seines Interviewpartners auf freiem Feld vor sich, hat der Reporter jegliche Distanz zu seinem Erzählgegenstand verloren, hat sich von Slavko kompromittieren lassen.30 Doch die Situation ist damit noch nicht beendet:

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Im Roman findet sich eine weitere Passage, in welcher die Gefahr bei der Kriegsberichterstattung offenbar wird. Wiederum steht der kroatische Offizier Slavko dabei im Zentrum. Paul, der bereits, bevor er die Tonbandaufnahme des Interviews gehört hat, von diesem weiß, will unbedingt selbst mit dem Kroaten sprechen und vereinbart ein Treffen, bei dem Slavko über Allmayer sagt, er sei für ihn »wie einer von uns gewesen.« (HdT 306) Wiederum erhält der mutmaßliche Kriegsverbrecher die Möglichkeit zur Selbstinszenierung, darf unwidersprochen das Töten mit dem Löschen von Altarkerzen vergleichen (vgl. HdT 308), sich selbst im Kontext des Mordens als »specijalista« (HdT 309) bezeichnen und wird für das Gespräch gar von Paul bezahlt. (vgl. HdT 309) Wie Allmayer missachtet Paul das Gebot der Distanzeinhaltung, indem er die maximale Nähe zum Täter sucht.

5. Jugoslawien in der deutschsprachigen Genozidliteratur

Ich weiß noch, daß ich den Knall zuerst nicht für einen Schuß hielt und Paul anstarrte, der das Band reflexartig gestoppt und sofort wieder gestartet hatte. […] Dann meldete sich auch schon Slavko zu Wort. »Koja budala je pucala?« Er zögerte, als wollte er dem Dolmetscher Zeit geben, es zu übersetzen, aber der sagte nichts, und auf einmal überschlug sich seine Stimme, und er schrie. »Koja budala je pucala?« Das war das letzte, was zu hören war, die Frage, welcher Idiot geschossen hatte […]. Ich kann nicht einmal sagen, woher ich die Gewißheit nahm, daß der Schuß dem Gefangenen gegolten hatte, und noch weniger, weswegen ich keinen Zweifel hatte, daß er auch getroffen worden war, aber es muß etwas mit Allmayers Entsetzen zu tun gehabt haben und der Tatsache, daß auch Slavko die Ruhe verloren hatte. (HdT 350f.) Zwar bleibt unklar, wer geschossen hat und wenngleich es wahrscheinlicher erscheint, dass einer von Slavkos Männern den Abzug betätigte31 , so macht sich auch Allmayer schuldig: Die Situation entsteht nur durch sein Interview, schlimmer noch, durch seine fatalen Fragen. Für Pauls Romanprojekt ist das Interview der Anfang vom Ende: Ich hatte ihn noch nie so gesehen, zusammengesunken, wie er dasaß […]. Er wirkte müde, als er zu ihr [Helena] aufsah, und der Blick, den ich dabei auffing, hatte etwas Hoffnungsloses, die plötzliche Desillusioniertheit von jemandem, der merkte, daß seine Wiederbelebungsversuche gescheitert waren und er sich schon lange vergeblich an einem Toten abgemüht hatte. (HdT 351) Paul, der die ganze Zeit versucht, post mortem eine enge Beziehung zu dem ermordeten Journalisten herzustellen, muss einsehen, dass er kaum etwas über diesen weiß – eine Situation wie jene in dem Interview wäre ohne das Tonband für ihn nicht vorstellbar gewesen. (vgl. HdT 352f.) Er scheitert somit bei dem Versuch, sich in den Protagonisten seines Romanprojekts hineinzuversetzen, ein Scheitern, welches darauf zurückzuführen ist, dass eben das Hineindenken in Allmayer für ihn essenziell ist. Wohl kaum zufällig lässt Gstrein Paul auf diese Weise scheitern, kritisiert er doch in Wem gehört eine Geschichte? Bernard-Henri Lévy für dessen Versuch, sich in den ermordeten Daniel Pearl ohne die Wahrung jeglicher Distanz hineinzuversetzen. Wende kommt zu einem vergleichbaren Urteil: »Das Schreiben Pauls ist aber auch zum Scheitern verurteilt, weil er – jedweden inneren Sicherheitsabstand zur Biographie Allmayers aufgebend – sich in der literarischen Verarbeitung 31

Hierzu passt auch, dass Helena dem Erzähler von einem Gespräch zwischen Paul und einem Kriegsberichterstatter erzählt, in welchem letzterer berichtet, Allmayer sei von Kroaten unter Druck gesetzt worden, nicht über den Vorfall mit dem Gefangenen zu berichten. (vgl. HdT 357f.)

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der Geschichte des toten Kriegsreporters der eigenen Lebendigkeit zu vergewissern sucht.«32 Am Ende scheitern Paul und Allmayer beide an der Unmöglichkeit, den Krieg adäquat darzustellen – eben dies will Gstrein mit seinem Roman unmissverständlich zum Ausdruck bringen.

5.2 Die Winter im Süden 5.2.1 Einführung Gstreins zweiter Roman zum Jugoslawienkrieg war weitaus weniger umstritten als Das Handwerk des Tötens. Doch nicht nur in dieser Hinsicht unterscheidet er sich deutlich vom Werk über den Kriegsberichterstatter Christian Allmayer. Christoph Schröder konstatiert in seiner Rezension in der Frankfurter Rundschau, die Auseinandersetzung mit dem Balkankonflikt in Die Winter im Süden geschehe »auf technisch weniger verschachtelte, auf wesentlich unmittelbarere Weise.«33 Dennoch macht er einen Kritikpunkt aus, welcher eine Parallele zu Gstreins erstem Jugoslawienroman offenbart: Das alles lässt sich zu Beginn sehr süffig weglesen. »Die Winter im Süden« hat nicht wenige starke Szenen und doch, dieser Eindruck stellt sich nach spätestens 100 Seiten ein, ein großes Problem: Es geschieht nichts. So fabelhaft Gstrein sein Romanpersonal auch entworfen und eingeführt haben mag – er scheint nicht allzu viel mit seinen Figuren anfangen zu können, da er sie denn einmal in die Welt gesetzt hat. Im Grunde genommen ist »Die Winter im Süden« gar kein richtiger Roman, sondern eine Sammlung von drei, vier starken Charakterstudien. Bei aller vermeintlichen Dramatik der äußeren Ereignisse laufen diese Menschen wie in Watte gehüllt durch die Welt; Nomaden allesamt, die mit Scheuklappen durch die Kriegskulisse geistern.34 Tatsächlich passiert auf Handlungsebene, wie schon im Handwerk des Tötens, in Die Winter im Süden vergleichsweise wenig. Der Rezensent der Frankfurter Rundschau hebt jedoch in seiner Kritik hervor, was den Roman ausmacht: die »starken Charakterstudien«, anhand derer der Jugoslawienkonflikt exemplifiziert wird. Auf die Figuren geht auch Andreas Breitenstein in seiner Rezension in der Neuen Züricher

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Wende 2007, S. 176. Schröder, Christoph: Gewalt in der Luft. Wieder begibt Norbert Gstrein sich in den jugoslawischen Krieg: »Die Winter im Süden«. Internet-Publikation in: Frankfurter Rundschau: http s://www.fr.de/kultur/literatur/gewalt-luft-11567289.html. Erstellt: 23.08.2008. Aktualisiert: 29.01.2019. Eingesehen: 12.10.2008. Im Folgenden zitiert als ›Schröder 2008‹. Schröder 2008.

5. Jugoslawien in der deutschsprachigen Genozidliteratur

Zeitung ein. Den Romanfiguren lasse »die dialogisch aufgelockerte Konstruktion […] diesmal mehr Raum zum Atmen«35 , jedoch seien sie »in ein streng choreographiertes Seelenballett eingebunden.«36 Ähnlich wie Schröder kritisiert auch Breitenstein die »Unwirklichkeit der Figuren«, die sich »in der Warteschlaufe des Lebens«37 befänden. Zudem bleibe der Roman am Ende zu vage. Einzig Ijoma Mangold zieht in seiner Rezension für die Süddeutsche Zeitung ein vollumfänglich positives Fazit, in welchem er gerade die von den anderen Rezensenten als zu wattiert oder unwirklich kritisierte Verlorenheit der Figuren positiv hervorhebt: »Zwischen der Gewalt des Krieges und dem Pomp der Geschichtsbilder hat Norbert Gstrein einen großen Roman über die Verlorenheit geschrieben.«38 In der Analyse des Romans Die Winter im Süden sind es die von den Rezensenten in besonderem Maße hervorgehobenen Romanfiguren, welche eingehend untersucht werden. Zunächst wird insbesondere anhand der Figur eines ehemaligen Ustascha-Kämpfers, im Roman nur »der Alte« genannt, die Verbindung zwischen der Shoah und dem Jugoslawienkrieg betrachtet. Im zweiten Kapitel steht neben dem Alten auch seine Tochter Marija in Hinblick auf die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität im Fokus. Wenngleich der Roman, anders als noch Gstreins Handwerk des Tötens, deutlich weniger von einer distanzierten Erzählweise geprägt ist, gilt es im abschließenden Kapitel die Strategien zur Distanzerzeugung zu analysieren, wobei die Figur Ludwig im Fokus steht.

5.2.2 Ustascha und Franziskaner – Bezüge zur Shoah und Zweitem Weltkrieg Bereits in Das Handwerk des Tötens arbeitet Gstrein die Kontinuitätslinien heraus, die von der Shoah bis zum Jugoslawienkrieg reichen, die Thematik wird jedoch lediglich nebensächlich behandelt. In Die Winter im Süden steht die Verbindung zwischen den Kriegen ebenfalls nicht im Zentrum, jedoch bestimmt die Verbindung zwischen kroatischem Faschismus und Jugoslawienkrieg das gesamte Leben eines Protagonisten. Der Alte, ein im argentinischen Exil lebender ehemaliger Ustascha-Kämpfer, lässt keine Zweifel daran aufkommen, dass der Jugoslawienkrieg für ihn eine Fortsetzung des Zweiten Weltkrieges ist. (vgl. WS 72) Im Verlauf der Kriegsvorbe-

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Breitenstein, Andreas: Last Exil Zagreb. Norbert Gstreins Roman »Die Winter im Süden«. Internet-Publikation in: Neue Züricher Zeitung: https://www.nzz.ch/feuilleton/last-e xil-zagreb-ld.1357475#back-register. Erstellt: 26.08.2008. Editiert: 15.02.2018. Eingesehen: 12.10.2020. Im Folgenden zitiert als ›Breitenstein 2008‹. Ebd. Ebd. Mangold, Ijoma: Die Stunde der Revanchisten. Ein Wiedergänger der Geschichte im Kroatien der 1990er Jahre: Norbert Gstreins Roman »Die Winter im Süden«. In: Süddeutsche Zeitung, 11.09.2008, S. 14.

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reitungen wird er immer euphorischer. So konstatiert der Erzähler nach einer Reise des Alten: Er erweckte nach seiner Reise den Eindruck, als würden sich tatsächlich überall auf der Welt Leute auf den Weg nach Zagreb machen […], alte Waffengefährten, die genau wie er die Heimat seit fünfundvierzig Jahren nicht gesehen hatten und dabei sein wollten, wenn der Kampf wiederaufgenommen wurde, der damals nicht zu Ende geführt worden war. (WS 148) Die angekündigte Unabhängigkeitserklärung Kroatiens weckt bei dem Alt-Ustascha die Hoffnung, die letzten fünfundvierzig Jahre würden damit »auf einen Schlag ausgelöscht«. (WS 159) In Kroatien angekommen, sucht er darüber hinaus die Nähe zu den jungen kroatischen Soldaten und ist bestrebt, sich selbst zu einem Teil der Truppe zu machen, »als würden nach fünfzig Jahren immer noch die Schlachten von damals geschlagen.« (WS 199) Insbesondere Bleiburg ist für den gealterten Ustascha durchgehend als »Zentrum seiner Lebensgeschichte« (WS 70) präsent. Seinem Leibwächter Ludwig erzählt er schon früh die Lüge, seine Frau und seine Tochter Marija seien in Bleiburg von den Partisanen ermordet worden.39 (vgl. WS 48) Er selbst habe sich in Bleiburg gefühlt, »wie ein Tier, das zur Schlachtbank geführt wird.« (WS 69) Im Handwerk des Tötens legt Gstrein bei der Herausarbeitung der Verbindungen zwischen Jugoslawienkrieg und dem Nationalsozialismus sein Augenmerk auf Jasenovac als Ort des serbischen Leidens, in Die Winter im Süden hingegen steht Bleiburg als kroatischer Erinnerungsort im Fokus. Der Fanatismus des Alt-Ustascha wird maßgeblich von einem engen Vertrauten, dem ebenfalls im argentinischen Exil lebenden kroatischen Franziskanerpater Don Filip, gefördert.40 Über die Figur des Franziskaners wird auch eine direkte Verbindung zur Shoah hergestellt. Claudia, die Frau des Alten, erzählt von der düsteren Vergangenheit des Paters, »der ihren Mann gleich nach dem Krieg für einen der Stoßtrupps angeworben habe, die den Kampf in Jugoslawien fortführen sollten« (WS 77) und der gerüchteweise »im Krieg Wärter in einem Lager in Kroatien« (WS 78) war. Nach der Flucht nach Argentinien arbeitete er dort eigenen Aussagen zufolge als »Beichtvater« im Staatsgefängnis von Rawson in Patagonien (vgl. WS 79), wo er für die Verhöre zuständig war (vgl. WS 79), und half dem Alten dabei, dessen in Ungnade gefallene Frau mit Hilfe des faschistischen Regimes verschwinden zu lassen. (vgl. WS 80ff.) Zudem ist der Pater »pathologischer Antisemit« (WS 89). Kaum zufällig stellt Gstrein dem Alten einen Franziskaner an die Seite, welchen er zudem

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Die vermeintliche Ermordung von Frau und Tochter ist für den Alten somit nicht mehr als Propaganda. (vgl. WS 180f. sowie 206f.) Don Filip ist ein Kriegstreiber, der Gewehre für Kroatien organisieren lässt (vgl. WS 76) und überdies »den Rekord im Schießkeller« (WS 74) des Alten hält.

5. Jugoslawien in der deutschsprachigen Genozidliteratur

in eine direkte Verbindung – wenngleich nur gerüchteweise – zu der Lageraufsicht in einem Ustascha-Lager setzt. Die Andeutung der Tätigkeiten als Folterer in einem argentinischen Gefängnis fällt ebenfalls in diesen Kontext, waren doch Franziskaner während der Shoah in Kroatien direkt an den grauenvollen Gewaltexzessen in den Lagern beteiligt.41

5.2.3 Herkunft als Belastung »Es war in ihrem zweiten Monat in Zagreb, im Herbst, in dem der Krieg begonnen hatte, als Marija die Nachricht erreichte, die ihr das eigene Leben für immer fremd machte.« (WS 9) Bereits dieser erste Satz des Romans deutet an, wie wichtig die Frage nach der eigenen Identität in dem Werk ist. Bei der Botschaft, auf welche Bezug genommen wird, handelt es sich um die Nachricht, dass Marijas Vater, den sie seit fünfundvierzig Jahren nicht mehr gesehen und den sie für tot gehalten hat, noch lebt und nach ihr sucht. Dadurch gerät Marijas Leben gänzlich aus den Fugen, lässt sie regelrecht panisch werden: Als genügten die Fakten nicht, wartete sie darauf, daß etwas, das in der Vergangenheit angestoßen worden war, sie jeden Augenblick erreichte, etwas, das gravierender wäre als das schiere Wissen, und dagegen half auch nicht, daß sie später im Bett lag und sich totstellte, ein falscher Gedanke genügte, und ein Prozeß käme in Gang, der unaufhaltsam ihr Leben auslöschen müßte […]. (WS 184) Die Frage nach der eigenen Herkunft rückt mit der Nachricht vom Vater wieder unmittelbar in den Vordergrund für die Protagonistin, bringt vermeintlich unumstößliche Wahrheiten über ihr Leben ins Wanken.42 Ohnehin ist ihre Herkunft für Marija ein schwieriges Thema, wenngleich sie diese anders als Helena im Handwerk des Tötens nicht wiederholt zu negieren versucht. Ihrem Mann Albert etwa erzählt sie bereits in der ersten gemeinsamen Nacht, sie stamme aus Jugoslawien. (vgl. WS 11) Erst durch die Reaktion ihres Mannes wird ihre Herkunft für sie zur Belastung: Er hatte eine Trophäe in ihr gesehen, mit der er vor seinen Freunden renommieren konnte […], hatte ihr das Gefühl gegeben, ein Schmuckstück im doppelten Sinn zu sein, eine mediterrane Schönheit, wie das unter Kennern wohl hieß, und ein politisches Prachtexemplar, und vielleicht war der Anfang aller Missverständnisse

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Vgl. Albrecht 2006, S. 80f. Sven Kramer weist darauf hin, dass Marijas gesamtes Leben maßgeblich mit ihrem selbst konstruierten Vaterbild verbunden ist, welches nun in sich zusammenfällt, vgl. Kramer, Sven: Erzählen im Nachkrieg. Zu Norbert Gstreins Roman Die Winter im Süden. In: Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989, hg. von Carsten Gansel und Heinrich Kaulen. Göttingen: V&R unipress 2011 (= Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien 8). S. 137–163, hier: S. 144. Im Folgenden zitiert als ›Kramer 2011‹.

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in ihrer Angst gelegen, ihm zu sagen, daß das alles nicht so einfach war, ihrer Furcht, ihn sofort zu verlieren, wenn sie ihm mehr von sich und ihrer Herkunft anvertraute und ihn aus seinen Träumen riss. (WS 11f.) Albert macht aus ihrer Herkunft etwas Besonderes, definiert sie fortan in erster Linie durch ihre jugoslawische Identität und schreibt diese solchermaßen fest. Wie Paul im Handwerk des Tötens kann auch er nicht genug von den »jugoslawischen Geschichten« (WS 13) seiner Partnerin bekommen. Die Identität wird zur Projektionsfläche, Marija wird die Kontrolle über ihre Identität entzogen.43 In der Auseinandersetzung zwischen Marija und ihrem Mann spielt Marijas Vater eine zentrale Rolle, da Marija Albert nach einiger Zeit aufklärt, »ihr Vater sei kein Kommunist gewesen.« (WS 185) In der Folge wird ihre Herkunft unter umgekehrten Vorzeichen wiederum zur Projektionsfläche für Albert, der ihr nun wiederholt vorwirft, sie sei aufgrund ihres Hintergrundes eine »unsichere Zeitgenossin« (WS 187) und sie so lange traktiert, »bis sie sich am Ende aufgrund ihrer Herkunft für alles schuldig gefühlt habe.« (WS 187) Dennoch ist für Marija ihre Identität – ähnlich wie für Helena im Handwerk des Tötens – keinesfalls ausschließlich belastend. Kroatien ist für sie auch nach Jahrzehnten in Österreich noch immer »ihre Heimat« (WS 14). Bei ihrem Aufenthalt in Zagreb fühlt sie sich am richtigen Ort. (vgl. WS 101) Trotz einer »verrückte[n] Sehnsucht nach ihren Jugoslawen« (WS 280) bleibt für sie jedoch die Herkunft immer auch eine Hypothek. (vgl. WS 172). Wie die Figuren in anderen Romanen zur Darstellung von Genoziden in der deutschsprachigen Literatur ist Marija eine Romanfigur, welche zwischen den Kulturen steht und immer auf der Suche nach ihrer Herkunft ist. Car interpretiert dies ähnlich, wobei sie Gstreins Roman als einen postkolonialen Text liest, der nahtlos an die von Terror und Stereotypen kolonialisierte Geschichte des Balkans anknüpft und das Balkan-Narrativ als eine Situation präsenter Vergangenheit darstellt, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu fließenden, gleichwertigen Momenten einer präsenten Absenz geworden sind. In diesem Rahmen ist Marija als ein Gast zu sehen, als eine Figur, die immer wieder um Einlass bitten muss. Der Grundimpuls ihrer Suche ist tiefe Sehnsucht nach Geborgenheit in der Heimatlosigkeit. Sie wird zu einer Fremden in einer von

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Milka Car stellt darüber hinaus fest, in der Figur des Ehemannes äußere sich das »tief verwurzelte Narrativ der westlichen Überlegenheit«, Car, Milka: Zu Gast im eigenen Land. Gstreins Die Winter im Süden und Štiks’ Die Archive der Nacht. In: Der Gast als Fremder. Narrative Alterität in der Literatur, hg. von Evi Fountoulakis und Boris Previšić. Bielefeld: transcript 2011. S. 55–73, hier: S. 60. Im Folgenden zitiert als ›Car 2011‹.

5. Jugoslawien in der deutschsprachigen Genozidliteratur

Entfremdung geprägten Welt; sie wird zur Gastgeberin und zugleich zum Gast im eigenen Land.44 Gstrein stellt jedoch nicht nur anhand der Figur Marija die Frage nach der Identität. Auch Marijas Vater beschäftigt sich fortwährend mit seiner Herkunft. Bereits früh im Roman wird klar, dass der Alte kein Unschuldiger, sondern ein Kroate mit Ustascha-Vergangenheit ist, den seine Taten zumindest »lebenslänglich hinter Gitter gebracht [hätten].« (WS 36) Folglich muss er als gesuchter Täter zeitweise sogar im argentinischen Exil seine Identität verleugnen. (vgl. WS 67f.) Umso wichtiger ist es ihm, seine beiden in Argentinien aufgewachsenen Töchter an ihren kroatischen Hintergrund zu erinnern, indem er ihr Kroatisch prüft, und wenn sie ein Wort nicht kannten, mußte Ludwig einspringen und wurde ihnen als Vorbild hingestellt, und zum Spaß bekamen sie dann zu hören, was für eine Ungehörigkeit es sei, was für eine Schande für zwei Mädchen aus Dalmatien, wie er sie nannte, obwohl sie nie aus Argentinien hinausgekommen waren, für zwei Töchter der Adria, nicht zu wissen, was Mondschein hieß, was Honig und was Licht, wenn es selbst ein ehemaliger Polizist aus Österreich wußte. (WS 127) Auf diese Weise versucht der Alte, den beiden Mädchen eine kroatische Identität anzuerziehen. Was zunächst noch spielerisch geschieht, wird im Laufe des Romans zunehmend gewalttätiger. Im Gespräch mit seiner Frau Claudia fasst er seinen Anspruch an seine Kinder unmissverständlich zusammen: »Solange sie nicht vergessen, woher sie kommen, bin ich zufrieden.« (WS 152) Die Mädchen haben jedoch verständlicherweise keinerlei Verbindung zu Kroatien und spielen das Spiel ihres Vaters nicht mit: Dann wollte er wissen, welche die größten Städte in Slawonien, in Dalmatien und in Istrien waren, und als wieder nichts kam, forderte er sie auf, bis hundert zu zählen, selbstverständlich auf kroatisch, und am Abend war er so erbost über sie, daß er ihre Sparschweine mit einem Hammer zertrümmerte und sagte, wenn sie schon nicht kapierten, worum es ging, sollten sie wenigstens ihre paar lächerlichen Pesos für die Sache45 spenden wie alle anderen. (WS 152f.) Die aus seiner Heimatlosigkeit resultierende Verzweiflung gibt der Alte an seine Kinder weiter, wobei die Ablehnung der neuen Heimat nochmals vor dem Abflug nach Kroatien deutlich wird. (vgl. WS 160) Ludwig bemerkt im Flugzeug zudem, »daß der Alte auf die Weite der Pampa zurückblickte wie auf ein Stück verbrannte Erde, das er hinter sich ließ.« (WS 163) Nach 45 Jahren ist Argentinien für den Kroaten keine Heimat geworden. Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass Kroatien

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Car 2011, S. 59. Mit »die Sache« ist hier die Finanzierung der kroatischen Seite im Jugoslawienkrieg gemeint.

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wieder seine Heimat werden kann. Dessen ungeachtet versucht er seine kroatische Heimat wortwörtlich zurückzugewinnen, indem er das alte Haus seiner Familie zurückkauft, wobei selbst ihm »die Sinnlosigkeit und Leere der Szene« (WS 241) deutlich zu werden scheint. Wenn auch auf andere Weise ist der Alte am Ende wie seine Tochter Marija eine Figur zwischen den Kulturen.

5.2.4 Unbeteiligte Beobachter Anders als Das Handwerk des Tötens ist Gstreins zweiter Jugoslawienroman nicht durchgehend durch eine Distanz zu Handlung und Romanfiguren geprägt. Im Gegenteil, teilweise lädt der Text zum Eintauchen in die Handlung und zu einer Identifikation mit den Figuren ein. Breitenstein konstatiert dahingehend: Zwischen der Unwirklichkeit Argentiniens und der Unheimlichkeit Kroatiens hin und her blendend, erzeugt der Text einen grandiosen Sog, der allerdings abebbt, als deutlich wird, dass die Inserate nicht mehr als einer Laune entspringen und Ludwig die verstörte Marija ohne Zweck überwacht.46 Der erwartbare und bestens vorbereitete Showdown bleibt in doppelter Weise aus – weder begegnen sich am Ende Vater und Tochter, noch wird der Schleier über der düsteren Vergangenheit des Vaters je gelüftet (stattdessen kommt es zu einem anderen bösen Ende). Weder Marija noch Ludwig ist die Katharsis vergönnt, vielmehr erscheint die Geschichte als Episode einer existenziellen Verlorenheit, die weiter zurückreicht und beide bei ihrer flüchtigen Begegnung sympathetisch verbindet.47 Breitenstein verweist also auf den teils »grandiosen Sog« des Textes, wobei ein besonderes Augenmerk auf den ausbleibenden Showdown gerichtet werden sollte: Indem Gstrein vermeintlich die gesamte Romankonzeption auf ein Treffen zwischen Marija und dem Alten zulaufen lässt, nur um die Erwartung schließlich zu enttäuschen, wird der Leser aus der Handlung herausgerissen. Gstrein greift somit auf ein gänzlich anderes Mittel zur Distanzerzeugung zurück als noch im Handwerk des Tötens, in welchem die Distanz vornehmlich durch die mehrfach gebrochene Perspektive erzeugt wird. Der Autor selbst betont in einem Interview, wie wichtig für seine schriftstellerische Tätigkeit »Distanz und Distanzierung […] eine Distanz zum Stoff«, hergestellt »mit formalen Mitteln«48 , sei. Dass diese Mittel differieren, offenbart Die Winter im Süden. Kramer betont folgerichtig, dass Gstrein auch in seinem

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Der Alte inseriert in der Zeitung, dass er seine Tochter suche und lässt Marija, nachdem er sie gefunden hat, von Ludwig überwachen, ohne jedoch tatsächlich an einem Treffen interessiert zu sein. Breitenstein 2008. Gansel; Kaulen 2011, S. 405.

5. Jugoslawien in der deutschsprachigen Genozidliteratur

zweiten Jugoslawienroman konsequent auf die Wahrung einer Distanz zum Erzählgegenstand bedacht sei: Auch in den Wintern im Süden hält sich Gstrein an seine Poetik der Distanz und schildert den Krieg nur indirekt. Die Distanz schaffenden Vermittlungsinstanzen nehmen in diesem Roman unterschiedliche Formen an. Sie reichen von den massenmedial verbreiteten Trägern, wie dem Fernsehen, über technische Medien wie die Fotografie, über das klassische Erzählen von Person zu Person, bis hin zu anderen, nonverbalen Formen direkter Kommunikation.49 Anders als im Handwerk des Tötens wird der Blick weniger durch die Weitergabe von Informationen über den Krieg über mehrere Instanzen gebrochen, sondern durch die Medien, wobei der inszenierte Charakter der Berichte offenbar wird, etwa wenn von »den ewig gleichen Einstellungen […] oder dem fast schon klassischen Schwenk auf die leeren, schwarz glänzenden Fenster eines Hauses und das dichte Gesprenkel von Einschußlöchern in den Mauern« (WS 215) zu lesen ist. In Passagen wie dieser schwingt immer auch eine implizite Kritik an der Berichterstattung der Medien mit, wie man sie bereits aus dem Handwerk des Tötens von Gstrein kennt. Der Autor greift jedoch auch auf andere Weise auf die aus seinem ersten Jugoslawienroman bekannte Strategie der gebrochenen Perspektive zurück. Marija erlebt den Krieg zu großen Teilen zwar in Zagreb, bekommt dort jedoch nur wenig vom unmittelbaren Kriegsgeschehen mit und will zudem von den Schrecken des Krieges keine Details erfahren. Sie ist zwar neugierig auf die Erzählungen ihres jungen Geliebten Angelo, eines kroatischen Soldaten, über das eingeschlossene Vukovar, jedoch »gleichzeitig froh, daß sie ihr nichts erzählten und ihre Fragen, wie es dort sei, mit ironischen Schilderungen von einem vergessenen Idyll abtaten.« (WS 267) Was mit Angelo nach dem Fall Vukovars passiert, erfährt der Leser ebenso wenig wie die Protagonistin, die nach ihrer Rückkehr nach Österreich zwar noch mitbekommt, »unter welch entsetzlichen Umständen Vukovar gefallen war« (WS 281), jedoch von diesem Moment an keine Nachrichten aus Jugoslawien mehr verfolgt. Angelo ist Marijas einzige Verbindung zum Krieg, und so geht auch die einzige ausführliche Schilderung eines Kriegsverbrechens auf den jungen Kroaten, genauer auf die Schilderung seiner Kriegsverletzung zurück. Der Zwischenfall, bei dem Angelo sich das zugezogen hatte, war so furchtbar, daß Marija ihm zuerst nicht glauben wollte, als er ihr davon erzählte, und dann das Bild der Frau nicht mehr aus dem Kopf bekam, mit dem alles begonnen hatte, irgendwo in den umkämpften Gebieten in Slawonien. Sie war in Gefangenschaft geraten und von den feindlichen Linien auf die keine fünfzig Meter entfernte Stellung zugeschickt worden, in der er sich mit seinem Trupp verschanzt hatte, und genau das

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Kramer 2011, S. 141.

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war es, was Marija später vor sich sah, die einsame Gestalt, die unter dem riesigen Himmel einen Fuß vor den anderen setzte und sich, weithin sichtbar auf dem flachen Land, wie eine Schwangere zwischen den Fronten bewegte. Denn sie hatte einen Packen Sprengstoff um den Bauch geschnallt, von dem sich in ihrem Rücken ein Kabel abrollte, und Angelo hätte gar nicht mehr sagen müssen, es war Marija auch so klar, was das für die Frau bedeutete, egal, ob sie sich am Ende entschied, stehen zu bleiben oder einfach weiterzugehen. (WS 103f.) Wenngleich der von der Szene ausgehende Schrecken greifbar ist, so muss auch bei der Rezeption dieser ausführlichen Schilderung berücksichtigt werden, dass Angelo nicht unmittelbar in direkter Rede berichtet, sondern die Szene von Marija sowie dem Erzähler dem Leser doppelt gebrochen übermittelt wird. Wie in dieser Passage bleibt die Erzählinstanz in dem Roman oftmals im Hintergrund, einordnende oder wertende Kommentare sucht man vergeblich. Kramer hält fest: »Diese Erzählinstanz bleibt im Ungreifbaren, im Ursprungslosen, im Anonymen, im Diffusen; sie wird dauernd mitgesprochen aber nirgends identifiziert.«50 Eine Aussage Gstreins über seinen Erzähler aus Die Winter im Süden legt nahe, dass dies gewollt ist: »Auf einen Ich-Erzähler zu verzichten, war auch eine der Schwierigkeiten beim Arbeiten an meinem letzten Roman, ›Die Winter im Süden‹, aber genau das hatte ich mir zur Erprobung meiner Mittel selbst vorgeschrieben.«51 Anders als im Handwerk des Tötens findet sich in dem Roman kein Alter Ego des Autors, sondern stattdessen nur der ungreifbare, unnahbare Erzähler im Hintergrund, bei dem nicht einmal immer auf den ersten Blick klar ist, wann er erzählt und wann die Figuren sprechen.52 Auch an anderer Stelle erfährt der Leser nur indirekt vom Krieg, genauer von den ethnischen Säuberungen, etwa wenn berichtet wird, dass Marijas Wohnung, in welcher bis vor wenigen Wochen noch ein Arzt lebte, der nach Belgrad fliehen musste, mit Worten wie »Tschetniks« (WS 100) oder »Serbenhure« (WS 100) besprüht wird. Der Leser muss ständig synthetisieren, um eine Vorstellung vom Krieg zu erhalten, da sich in dem Roman kaum explizite Passagen finden lassen. Kramer kommt zu dem Schluss, in »der nichtexpliziten Bezugnahme« würden »die Erfahrungen aus Vukovar aufgerufen, weitergegeben und geteilt.«53 Die distanzierte, auf Andeutun50 51 52

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Kramer 2011, S. 157. Gansel; Kaulen 2011, S. 407f. Die vorsichtige Erzählweise stieß in der Rezeption des Romans durchaus auf Kritik. Gerrit Bartels kritisierte etwa in seiner Rezension für den Tagesspiegel: »Norbert Gstreins Vorsicht und Skepsis, seine noble Haltung, dass die Schrecken eines Krieges für Nachgeborene eigentlich unerzählbar sind, haben ihm dieses Mal doch etwas im Weg gestanden.« Bartels, Gerrit: Väter und Töchter. Norbert Gstrein erzählt in »Die Winter im Süden« vom Jugoslawienkrieg. Internet-Publikation in: Der Tagesspiegel: https://www.tagesspiegel.de/kultur/literatur/gst rein-roman-der-winter-im-sueden-vaeter-und-toechter/1335278.html. Erstellt: 28.09.2008. Eingesehen: 11.07.2020. Im Folgenden zitiert als ›Bartels 2008‹. Kramer 2011, S. 142.

5. Jugoslawien in der deutschsprachigen Genozidliteratur

gen beschränkte Erzählweise über den Krieg erfordert somit eine dezidierte Auseinandersetzung mit der Kriegsthematik. Wie schon in Gstreins erstem Roman wird auch in Die Winter im Süden deutlich, dass der Autor sich seiner Position als Außenstehender, der über einen ihm fremden Krieg berichtet, bewusst ist. Breitenstein subsummiert dies treffend als »Darstellungsskepsis des Nachgeborenen und Unbeteiligten«54 . Passenderweise haben die Protagonisten – wie Gstrein selbst – Abstand zu dem Konflikt. Marija und der Alte55 sind zwar Kroaten, leben jedoch im Ausland und haben sich auf unterschiedliche Weise auch innerlich von ihrer Heimat distanziert. Bei der Figur Ludwig wird die räumliche Entfernung noch um seine nicht-kroatische Identität erweitert: Mit ihm wählt Gstrein, wie schon im Handwerk des Tötens, einen gänzlich Außenstehenden, einen Österreicher, als maßgeblichen Beobachter des Konflikts. Die Rolle des distanzierten Zuschauers nimmt der Expolizist aus Wien während des gesamten Romans ein. Selbst Claudia – seine Geliebte – schützt er nicht vor dem Alten, der sie bei einem Streit schlägt. (vgl. WS 133ff.) Doch Ludwig ist auch selbstkritisch, etwa wenn er später im Roman feststellt, »daß er wieder nur der treue Diener seines Herrn gewesen war« (WS 242). Der Österreicher fungiert als Vermittler zwischen dem Alten und dem Leser, nahezu alle Informationen über den Alten erhält der Rezipient von Ludwig. Gerrit Bartels sieht hierin ein Problem: »›Den Alten‹ jedoch hat Gstrein sich selbst nicht zugetraut, ihm hat er einen beobachtenden Erzähler zur Seite gestellt, der gewissermaßen das Scharnier zwischen Vater und Tochter bildet.«56 Bartels Kritik reicht noch weiter, er attestiert Gstrein zwar, »ein Meister der scharf konturierten Charakterzeichnung« zu sein, welcher »facettenreich und mit sensibel-eleganten Sätzen […] seine Figuren psychologisch auszuleuchten und auszudeuten«57 wisse, bei Ludwig sei jedoch nicht klar, warum sich Gstrein diese Mühe mache, da die Figur den Eindruck vermittle, »dass Gstrein zwar über einen interessanten Stoff verfügt, ihm diese Interessantheit aber genügt und er nicht die letzte Notwendigkeit hat, den letzten Kick, diesen auch wirklich aufzubereiten.«58 Bartels unterläuft bei seiner durchweg negativen Einschätzung jedoch ein entscheidender Fehler: Er geht von der falschen Prämisse aus, Gstrein gehe es um den »letzten Kick«. Schon im Handwerk des Tötens steht jedoch nicht die Handlung, sondern vielmehr die Art der Auseinandersetzung mit Krieg und Verbrechen im Vordergrund. Dabei ist Ludwig nicht in erster Linie das von Bartels angesprochene »Scharnier zwischen

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Breitenstein 2008. Car weist darauf hin, dass bereits die konsequente Bezeichnung des Ustascha-Veteranen als namenlosen »Alten« eine deutliche Distanzierung von der Figur verdeutliche, vgl. Car 2011, S. 60. Bartels 2008. Ebd. Ebd.

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Vater und Tochter«. Der Österreicher Gstrein benötigt die Figur Ludwig vielmehr als »Prisma« zur Brechung der Perspektive: er selbst kann sich als Österreicher nicht herausnehmen, sich direkt in den in Argentinien lebenden Alten hineinzuversetzen. Gstreins Aussage zu Ludwig bestätigt diese Einschätzung: Die Entscheidung, auf einen Ich-Erzähler zu verzichten, hat aber auch etwas damit zu tun, dass es in diesem Roman sehr unangenehme, auch politisch unangenehme, Figuren gibt, denen man sich nur mit einigem Risiko bis zu einem gewissen Grad annähern sollte. Da erschien mir ein im äußersten Fall pädagogisierender Ich-Erzähler unbrauchbar. Es wäre zu einfach gewesen, zum Beispiel einen »Fahnder« zu gestalten, der die Geschichte dieses kroatischen Faschisten in Argentinien recherchiert und immer, wenn der etwas Unhaltbares sagt, sofort »Einspruch« ruft. Einer solchen Konstellation wollte ich ausweichen, indem ich ihm einen zwielichtigen Partner an die Seite gestellt habe, der sich die Dinge anhört, manchmal ein bisschen etwas dagegen sagt, aber in der Regel alles laufen lässt. Die Idee dabei war, dass sich die Figuren selbst demaskieren.59 Tatsächlich ist es immer wieder der Blick des passiven Ludwigs, welcher den Alten entlarvt, beispielsweise wenn dieser sich im Kontext des Massakers von Bleiburg ausschließlich in die Opferrolle begibt (vgl. WS 69f.), nur um wenig später vom Kampf gegen die »wahren Feinde« (WS 71), die Kommunisten, zu schwadronieren und sich darüber zu eschauffieren, dass die Alliierten sich doch tatsächlich darum gekümmert hätten, für wen der Alte und seine Leute noch wenige Tage zuvor gekämpft hätten. (vgl. WS 71)

5.3 Wie der Soldat das Grammofon repariert 5.3.1 Einführung Der Fokus in diesem Kapitel liegt auf der Frage, ob sich auch in Saša Stanišićs Romandebüt Muster und Strategien des Erzählens finden lassen, die Parallelen zu anderen Werken der deutschsprachigen Genozidliteratur offenbaren. Wie der Soldat das Grammofon repariert wurde von Kritikern weitestgehend positiv aufgenommen. Dies gilt insbesondere auch für die Veröffentlichung in den jugoslawischen Nachfolgestaaten.60 Der Autor Stanišić, geboren 1978 in Višegrad, war, anders als Gstrein, selbst unmittelbar von den Auswirkungen des Jugoslawienkrieges betroffen und erlebte den Ausbruch des Krieges als Vierzehnjähriger in seiner Heimatstadt, bevor er 59 60

Gansel; Kaulen, S. 408. Vgl. Grujičić, Milica: Autoren südosteuropäischer Herkunft im transkulturellen Kontext. Berlin: Peter Lang 2019 (= Symbolae Slavicae 35), S. 181f. Im Folgenden zitiert als ›Grujičić 2019‹.

5. Jugoslawien in der deutschsprachigen Genozidliteratur

zusammen mit seinen Eltern nach Deutschland floh. Vor diesem Hintergrund verwundert es kaum, dass in der Rezeption des Romans immer wieder der persönliche Hintergrund des Autors in den Fokus gerät. Svetlana Arnaudova betont, Stanišić erzähle in seinem Roman nicht nur eine bosnisch-jugoslawische Erinnerung, sondern eine moderne europäische Geschichte von Verwurzelung und Entwurzelung, von Entfremdung und Integration, von schmerzhaften Verlusten und von der Hoffnung auf einen glücklichen Neuanfang.61 Konsequenterweise ist daher die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität eines der zentralen Themen des Romans – hierbei spielen sowohl die Kriegserfahrungen als auch die Erfahrungen in der Diaspora eine Rolle. Richard Kämmerlings lobt in seiner Rezension die Verschmelzung autobiografischer Aspekte mit fiktionalen Elementen in Stanišićs Roman: Denn Stanišic, der am Leipziger Literaturinstitut studiert hat, ist es gelungen, für die Geschichte seines Lebens eine erzählerische Form zu finden, die weder die Perspektive des Kindes verrät, noch den unendlichen Abstand leugnet, der den erwachsenen Autor von jenem bosnischen Jungen trennt, der vieles ahnt, aber sich noch wenig von dem vorstellen kann, was Menschen Menschen antun können.62 Bei allen biografischen Parallelen zwischen dem Protagonisten Aleksandar und dem Autor Stanišić sollte jedoch immer bedacht werden, dass es sich bei Wie der Soldat das Grammofon repariert um einen fiktionalen Text handelt – dies offenbart spätestens der Vergleich zwischen dem Roman und Stanišićs 2019 erschienenem autobiografischen Roman Herkunft 63 . Im ersten Teil dieses Kapitels gilt es zu untersuchen, ob sich auch in Stanišićs Werk beobachten lässt, dass die Shoah seine Auseinandersetzung mit den genozidalen Verbrechen – im Roman wird kein Zweifel daran gelassen, dass es sich zumindest im Falle Višegrads um einen Genozid handelt (vgl. SG 227) – im Jugoslawienkrieg beeinflusst. In der Folge wird der Fokus der Analyse auf den Umgang mit der für den Jugoslawienkrieg elementaren Frage nach der ethnischen Zugehörigkeit 61

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Arnaudova, Svetlana: Vergangenheitsbewältigung und Identitätskonstruktion im Roman von Saša Stanišić Wie der Soldat das Grammofon repariert. In: Auswanderung und Identität Erfahrungen von Exil, Flucht und Migration in der deutschsprachigen Literatur, hg. von Christel Baltes-Löhr, Beate Petra Kory et al. Bielefeld: transcript 2019. S. 39–54, hier: S. 54. Im Folgenden zitiert als ›Arnaudova 2019‹. Kämmerlings, Richard: Als die Fische Schnurrbart trugen. Internet-Publikation in: Frankfurter Allgemeine: https://www.faz.net/aktuell/wie-der-soldat-das-grammofon-repariert-vonsa-a-stani-ic-als-die-fische-schnurrbart-trugen-1380564.html. Erschienen: 03.10.2006. Eingesehen: 09.07.2020. Im Folgenden zitiert als ›Kämmerlings 2006‹. Stanišić, Saša: Herkunft. 5. Auflage. München: Luchterhand 2019.

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gelegt. Das abschließende Kapitel gilt der Analyse der Strategien der Distanzerzeugung.

5.3.2 »der Tod ist ein Meister aus Deutschland, er ist gerade ein Weltmeister aus Bosnien.« Anders als in Gstreins Romanen zum Jugoslawienkrieg spielt die Shoah in Stanišićs Wie der Soldat das Grammofon repariert vordergründig kaum eine Rolle. Für die Familie des Protagonisten sind weder Shoah noch Zweiter Weltkrieg ähnlich bedeutsam, wie für die Protagonisten in den Romanen des Österreichers.64 Auch der Gegensatz zwischen Ustascha und Partisanen sowie die jeweiligen historischen Narrative sind keine zentralen Themen des Romans. Dennoch ist die mit der Geschichte verbundene Spannung zu Beginn des Romans offensichtlich, als bei einem Dorffest, noch vor Kriegsbeginn, ein Streit ausbricht und die familiäre Vergangenheit von Kamenko, einem Freund von Aleksandars Onkel Miki, thematisiert wird: Hat nicht mein Großvater auch gegen die Ustaschas gekämpft? Hat er, Frau Krsmanović, hat er! Ich lasse mir nicht länger von Zigeunern Ustaschalieder und Türkengeheule vorsetzen! Ich will für unseren Miki unsere Musik! Lieder aus der ruhmreichen Zeit, die war und die wieder kommen wird! (SG 49) Kamenko betont seine serbischen Wurzeln, die er entschieden von den kroatischen Ustascha und zudem von den Bosniaken, die er als Zigeuner bezeichnet, abgrenzt. Doch es finden sich auch direkte Verbindungen zur Shoah in dem Roman. Milenko Pavlović, der Vater von Aleksandars Freund Zoran, erzählt von einem alten Mann mit langem Bart, den er auf einer Reise durch das Land unmittelbar vor Kriegsbeginn in Bosnien in seinem Bus mitgenommen habe. Der Mann, ein Rabbiner, wird nur »Dreipunktemann« genannt. Der merkwürdige Name hat einen dramatischen Hintergrund. Aufgrund grauenhafter Erlebnisse ist der Rabbiner nicht mehr in der Lage, in ganzen Sätzen zu sprechen: dass es bei uns immer so mit Fäusten … dass wir immer … es zerreißt mich … Waffen … prügeln … sogar mit Worten … prügeln … schelten … fauchen … fluchen … wie damals … immer schon … und das ist nur … ihr werdet noch sehen … das ist erst … ein Land der Schläger … nie ruht es … nie ruht es sich aus … (SG 95) In der Rede des jüdischen Geistlichen wird das Grauen der Shoah in direkte Verbindung zu der sich weiter zuspitzenden Situation im zerfallenden Jugoslawien

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So wird zwar erwähnt, dass der Urgroßvater des Protagonisten Aleksandar im Ersten und Zweiten Weltkrieg kämpfte (vgl. SG 42), darüber hinaus spielen jedoch weder der Zweite Weltkrieg noch die im faschistischen Kroatien begangenen Verbrechen für die Familie Krsmanović in dem Roman eine Rolle.

5. Jugoslawien in der deutschsprachigen Genozidliteratur

gebracht. Die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen für den Juden. »Die traumatische Erschütterung« habe »dem Rabbi die Erinnerung und das Vermögen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu unterscheiden«65 geraubt, wodurch für ihn die Zeitebenen miteinander verschmölzen, so Arnaudova. Die Sprache des alten Mannes kann als deutlicher Verweis auf die mit der Shoah verknüpfte Sprachlosigkeit vor dem Hintergrund der Vernichtung der europäischen Juden gedeutet werden.66 Deutlicher noch steht die Sprachlosigkeit im folgenden Kapitel im Fokus. Nahezu alle Kapitel des Romans haben ausführliche Überschriften, nicht jedoch das kurze Kapitel, in welchem die Geschichte des Rabbiners geschildert wird. Dieses ist lediglich mit drei Punkten überschrieben und legt auf diese Weise den Fokus auf das Versagen der Sprache im Angesicht des Grauens, welches dem Juden im faschistischen Kroatien (1941–1945) widerfährt. Der Rabbi erhält in dem teils surrealen Kapitel eine eigene Stimme und berichtet – nun in vollständigen Sätzen – von seinem Martyrium: Zunächst weiden die Aggressoren, bei denen es sich wahrscheinlich um Ustascha handelt, die Synagoge des Rabbis aus. Da sie einige der religiösen Gegenstände nicht verbrennen können, stellen sie diese auf einen zugefrorenen See. Anschließend fesseln sie den jüdischen Geistlichen an die Gegenstände. Der Jude hält fest: »bevor die Heiligtümer und ich nicht versunken waren, wollten die Soldaten nicht weiter, der Krieg rannte ihnen nicht davon«. (SG 101) Doch die Soldaten warten nicht bis zum Ende. Als es Frühling wird, ziehen sie weiter, der Rabbi jedoch ist vollkommen abgemagert, da sich keiner mehr auf das Eis traute, um ihn zu versorgen.67 So kann er die Fesseln abstreifen und sich über das hinter ihm einbrechende Eis ans Ufer retten. Von nun an ist er ein gebrochener Mann, wie in seiner Rede deutlich wird: ich stand auf, die Seile längst locker, ich lief mit zittrigen Beinen über den See, meine Beine lenkte der Hunger, ich dachte nur an Essen, an Kauen, an Schmecken, es wird sich doch auch bei den Popen auf die Schnelle etwas Koscheres finden, dachte ich, an Fressen und nicht an die Torarolle dachte ich, nicht an den Talmud, nicht an die alten, ehrwürdigen Bücher, nichts habe ich mitgenommen, mit leeren Händen ging ich über den See und hinter mir brach das Eis in meinen Fußspuren durch, als würde sich mein Gewicht verspäten; ich kehrte nicht um, und als mich die Popen ans Ufer zogen, verbanden sich die Löcher meiner Schritte zu einem einzelnen, gewaltigen Riss im Eis, es krachte ohrenbetäubend, als sich nun von

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Vgl. Arnaudova 2019, S. 51. Vgl. hierzu ausführlich Kapitel 2.3 dieser Arbeit. Zwar wird davon berichtet, wie die orthodoxen Priester den Rabbi versorgen, dennoch wird die Surrealität der Passage allein anhand des Umstandes deutlich, dass der Jude den ganzen Winter angekettet auf dem See überlebt. Das Leiden ist somit als ein sinnbildliches Leiden zu verstehen.

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allen Seiten neue Risse ins Eis keilten und in der Mitte des Sees aufeinander trafen, unter dem Toraschrein, er ist als Erster verschwunden, nur Sekunden, bevor alles andere, nichts habe ich gerettet, in die Tiefe sank: mein Name, meine Würde, mein Atem für lange Sätze, meine Selbstachtung, mein Vertrauen (SG 101f.). In der Rede des Rabbis klingt Vieles an, was auch aus der literarischen Darstellung der traumatischen Erfahrungen der Shoah bekannt ist: Der Jude fühlt sich schuldig aufgrund seines Überlebens und der Preisgabe der heiligen Gegenstände. Solchermaßen gequält von Trauma und vermeintlicher Schuld verliert er seinen Namen – in dem Kapitel erfährt der Leser, dass der Rabbi Avram heißt –, seine Würde, seinen Atem für lange Sätze und seine Selbstachtung und sein Vertrauen in die Menschheit. Der Verlust des »langen Atems« wird durch die Form des Kapitels betont: Der Rabbi, der nach dem Trauma nur noch in unvollständigen, abgehackten Sätzen reden wird, schildert sein Martyrium auf zwei Seiten in einem einzigen, letzten atemlosen langen Satz. Lena Wetenkamp verweist darüber hinaus auf die aus dem Rahmen fallende Konzeption des Kapitels zur Shoah: Das thematisch vom Rest der Romanhandlung stark abweichende Kapitel, das in der bisherigen Forschung keinerlei Beachtung fand, greift damit die verdrängte oder im vorherrschenden Diskurs über den Balkan oftmals ausgeklammerte Geschichte der Zerstörung jüdischen Lebens und jüdischer Kultur auf und fügt so den Schilderungen des Gewaltgeschehens eine neue Facette hinzu. Saša Stanišićs Romanerzählung verknüpft die Bosnienkriege des 21. Jahrhunderts mit anderen europäischen Gewalttaten, die ebenfalls aufgrund ethnischer oder religiöser Unterschiede verübt wurden. Durch diese polyphone Anlage des Textes wird der Modus der Unentscheidbarkeit verstärkt.68 Insbesondere der Aspekt der Verknüpfung der Shoah mit »anderen europäischen Gewalttaten« ist vor dem Hintergrund der Fragestellung dieser Arbeit von besonderer Bedeutung, bedeutet dies doch, dass Stanišić die Verbrechen des Jugoslawienkrieges – deutlicher noch als Gstrein – in eine Reihe mit der Shoah stellt. Wie ernst es Stanišić damit ist, die Kontinuitäten zwischen Shoah und Jugoslawienkrieg zu betonen, offenbart eine weitere Passage des Romans, ein Brief, den Aleksandars Kindheitsfreund Zoran dem mittlerweile nach Deutschland geflüchteten Aleksandar schreibt. Dort heißt es: Ich hasse die Volksarmee. Ich hasse die Weißen Adler. Ich hasse die grünen Barette. Ich hasse den Tod. Ich lese, Aleksandar. Ich lese und liebe das Lesen, der Tod ist ein Meister aus Deutschland, er ist gerade ein Weltmeister aus Bosnien. 68

Wetenkamp, Lena: Kinder als Kriegsberichterstatter: Kriegserleben bei Saša Stanišić. In: Literarisierungen von Gewalt: Beiträge zur deutschsprachigen Literatur. Berlin: Peter Lang 2018. S. 249–266, hier: S. 263. Im Folgenden zitiert als ›Wetenkamp 2018‹.

5. Jugoslawien in der deutschsprachigen Genozidliteratur

Ich hasse die Brücke. Ich hasse die Schüsse in der Nacht und die Leichen im Fluss, und ich hasse es, dass man das Wasser nicht hört, wenn der Körper aufschlägt, ich hasse es, dass ich so weit weg bin von allem, von der Macht und von dem Mut; ich hasse mich, weil ich mich oben am alten Gymnasium verstecke, und ich hasse meine Augen, weil sie nicht genau erkennen können, wer die Leute sind, die in die Tiefe gestoßen werden und im Wasser erschossen werden, vielleicht sogar schon im Flug. Andere werden gleich auf der Brücke getötet, und am nächsten Morgen knien die Frauen dort und schrubben das Blut ab. Ich hasse den Typen vom Staudamm in Bajina Bašta, der sich beschwert, man solle nicht so viele Leute auf einmal in den Fluss werfen, weil die Abflüsse verstopften. Ich hasse die Hotels – Vilina Vlas und Bikavac, ich hasse die Feuerwehrstation, ich hasse die Polizeistation, ich hasse Lastwägen voller Mädchen und Frauen, die zum Vilina Vlas und zum Bikavac fahren, ich hasse brennende Häuser und brennende Fenster, durch die brennende Menschen vor die Gewehre springen. (SG 145) Stanišić verknüpft die ausführlichste Beschreibung der grauenhaften Verbrechen69 und genozidalen Massaker in Višegrad mit einem Verweis auf das bekannteste deutschsprachige Gedicht zur Shoah: Celans Todesfuge. Wenngleich Zoran den Tod als »Weltmeister aus Bosnien« bezeichnet und auf diese Weise eine vermeintliche Wertung in der Passage einbringt, so ist Stanišićs Ziel kein wertender Vergleich – vielmehr lässt sich auch diese Passage als Versuch des Autors lesen, die kindhafte Sprache des jungen Zoran zu betonen. Die in Višegrad von Serben begangenen Verbrechen werden auf diese Weise in eine Reihe mit den Verbrechen der Shoah gestellt. Arnaudova betont die besondere Bedeutung der Verknüpfung mit Celan: Durch den Verweis auf Celans Todesfuge wird nicht nur ein Vergleich zwischen der Shoah und dem Leid der Ermordeten und Vertriebenen in den jugoslawischen Kriegen gezogen, auch ist die Wirkung dieses intertextuellen Bezuges durch die Symbolkraft des Celanʼschen Gedichts viel breiter und assoziativer70 . Zwar finden sich, wie eingangs erwähnt, nur wenige Passagen in dem Roman, in welchen die Shoah thematisiert wird, diese zeigen jedoch deutlich, wie wichtig dem Autor die Betonung der Verbindungen zwischen den faschistischen Verbrechen und denen des Jugoslawienkrieges ist. Anders als etwa Gstrein beschränkt Stanišić sich dabei nicht darauf, die historischen Kontinuitätslinien herauszuarbeiten, die von der Shoah bis zum Jugoslawienkrieg reichen, sondern greift mit Celans Todesfuge auch eines der bedeutsamsten Zeugnisse deutscher Shoah-Literatur auf. Ebenso

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Zoran nennt die Hotels Vilina Vlas und Bikavac nicht etwa zufällig, in beiden fanden systematische Vergewaltigungen bosnischer Frauen während des Krieges statt, vgl. dazu ausführlicher Kapitel 5.3.4 dieser Arbeit. Arnaudova 2019, S. 51.

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Erzählen vom Genozid

hallt auch die oftmals in den Werken der Überlebenden anklingende Sprachlosigkeit im Angesicht der Vernichtung in dem Kapitel über den Rabbi nach.

5.3.3 »Es ist mir auch egal, ob du Serbe bist.« Für eine Auseinandersetzung mit dem Thema Identität in dem Roman lohnt zunächst ein Blick auf die multikulturelle Identität des Autors. Grujičić etwa beschäftigt sich in ihrer Untersuchung der Werke von Autoren südosteuropäischer Herkunft in der Analyse von Stanišićs Wie der Soldat das Grammofon repariert unter anderem mit der Rezeption des Romans in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens. Ihre Ausführungen zeigen, dass die Wahrnehmung der Identität des Autors durchaus deutlich differiert, er als deutscher, als bosnischer und in einigen Fällen allgemein als jugoslawischer Autor wahrgenommen werde, wobei sich »die Frage nach der literarisch nationalen Zuordnung des Autors als omnipräsent«71 erweise. Ähnlich uneindeutig wie die Identität des Autors ist auch die Identität der Romanfiguren. Die Ethnie der Figuren wird meist nur angedeutet, wie auch Daniela Finzi betont: »Ethnische Zugehörigkeit wird allenfalls über Namen oder über die Kategorisierung in ›Richtig-‹ bzw. ›Falsch-Heißen‹ signalisiert.«72 Dennoch spielt die Frage nach der Identität im Umfeld des Protagonisten, sowie auch in den Kapiteln, in denen andere Figuren zu Wort kommen, wie in anderen Romanen der deutschsprachigen Genozidliteratur eine eminente Rolle. Bereits früh im Roman, während des Dorffestes im nahe Višegrad gelegenen Veletovo, werden ethnische Spannungen in Jugoslawien offenbar. Der Serbe Kamenko unterbricht das »Lied von der schönen Emina«, ein heute noch populäres Lied des bosnisch-serbischen Dichters Aleksa Šantić, indem er die spielenden Musiker mit der Pistole bedroht. (vgl. SG 47) Er begründet sein Handeln kurz darauf mit einer Frage: »Hat unser Volk Schlachten gewonnen, damit Zigeuner auf unsere Lieder scheißen?« (SG 48) Die »Zigeuner« sind die anwesenden Bosniaken, »unser Volk« die Serben – dies wird jedoch nicht explizit erwähnt, sondern erschließt sich lediglich aus dem Kontext. An keiner Stelle in der Passage ist von Serben oder Bosniaken die Rede. Nicht nur Kamenko wird am Vorabend des Krieges zum Nationalisten: Aleksandars Onkel Miki, ein enger Freund Kamenkos, meldet sich freiwillig zum Dienst bei der serbisch dominierten Jugoslawischen Volksarmee (JNA), nicht ohne zuvor noch im Beisein des bosnischen Teils der Familie Krsmanović anzukündigen »den

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Grujičić 2019, S. 182. Finzi, Daniela: Wie der Krieg erzählt wird, wie der Krieg gelesen wird. Wie der Soldat das Grammofon repariert von Saša Stanišić. In: Gedächtnis – Identität – Differenz. Zur kulturellen Konstruktion des südosteuropäischen Raumes und ihrem deutschsprachigen Kontext, hg. von Marijan Bobinac und Wolfgang Müller-Funk. Tübingen: A. Francke 2008 (= Kultur – Herrschaft – Differenz 12). S. 245–254, hier: S. 252. Im Folgenden zitiert als ›Finzi 2008‹.

5. Jugoslawien in der deutschsprachigen Genozidliteratur

Ustaschas und den Mudschaheddin die Stirn bieten« (SG 52) zu wollen. Kroaten und Bosniaken werden verallgemeinernd als »Ustaschas« und »Mudschaheddin« diffamiert.73 Mikis Brüder, Aleksandars Vater sowie Aleksandars Onkel Bora brechen im Verlauf der Romanhandlung endgültig mit ihrem Bruder Miki (vgl. SG 305), die Familie wird zerrissen.74 Je näher der Krieg rückt, desto bedeutsamer wird in dem Roman die Frage nach der Identität. Milenko Pavlović, ethnischer Serbe, berichtet von einer Busfahrt kurz vor Kriegsausbruch. Der Busfahrer hört Lieder mit martialischen Texten, in denen von »scharfen Schwertern an der blutigen Drina« (SG 93) gesungen wird. Pavlović bezeichnet die Musik daraufhin als »großserbisches Eselsgeschrei« (SG 94), sagt dem Busfahrer, er sei zwar Serbe, schäme sich aber, wenn er »so einen Müll höre.« (SG 94), wirft den Busfahrer aus dem Bus und übernimmt selbst das Steuer. Indem Stanišić auch Romanfiguren, die eindeutig einer Ethnie zugeordnet werden können, die eigene Gruppe kritisieren und sich von dieser distanzieren lässt, äußert er Kritik an den Vorstellungen, die zum Krieg führten, und zeigt zugleich, dass eine oftmals aufgrund Ethnie vorgenommene Unterscheidung in »gut« und »böse« nicht ohne weiteres möglich ist. In den Passagen, die unmittelbar von Krieg handeln, rückt die ethnische Zugehörigkeit der Figuren immer stärker ins Zentrum. Höhepunkt ist ein Fußballspiel zwischen Serben und Bosniaken, welches in einer Gefechtspause zwischen den Stellungen stattfindet. Im Mittelpunkt der Passage stehen der Bosniake Damir Kičić, genannt Kiko, und der Serbe Milan Jervrić, genannt Mikimaus, zwei Schulkameraden aus Višegrad. Sie begrüßen sich vor dem Spiel wie alte Freunde. (vgl. SG 236) Die Szene verdeutlicht die Tragik des Jugoslawienkrieges, in dem aus Freunden und Nachbarn von einem Tag auf den anderen Feinde wurden. Insbesondere Mikimaus ist eine tragische Figur. Die Figurenbeschreibung offenbart, dass es sich bei ihm um einen jungen Mann mit schlichtem Gemüt handelt – neben der achten Klasse musste er »zweimal die erste Klasse wiederholen«, ebenso »die vierte und die sechste.« (SG 236) Darüber hinaus heißt es, Mikimaus habe unter Mitschülern »als stiller, gutmütiger Koloss« (SG 236) gegolten. Der junge Mann beschließt nach Kriegsbeginn, sich freiwillig zu melden: Mikimaus fragte: wo ist der Krieg?, seine Mutter antwortete: Gott sei Dank noch weit weg, er fragte: gut, für wen sind wir?, sein Vater gab zurück: du bist Serbe. Am nächsten Tag stand Mikimaus mit einem Rucksack in der Tür, der auf seinem weiten Rücken wie ein Kosmetiktäschchen aussah. Er sagte zu seinem Vater, zu den zehn Spiegeleiern vor seinem Vater, zur hellblau befliesten Küche, zur gekerbten 73 74

Auch an anderer Stelle werden Bosniaken als Mudschaheddin (vgl. etwa SG 232) und Serben als Tschetniks (vgl. SG 244) diffamiert. Während der Belagerung Višegrads stellt Aleksandars Vater die Frage, was sein Bruder wohl mache, wenn er unter den Belagerern sei, ob er gar auf Befehl schießen werde. (vgl. SG 293)

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Tischplatte aus Kirschholz, zum staubigen Hof, zum Mistgestank aus dem Stall, zum Pflug, der ihm den Rücken so endlos mit Muskeln durchzogen hatte, zu den zahllosen Maissäcken, in die er Nacht um Nacht mit voller Wucht trat, aus Wut über den Vater, über Vaters zehn Spiegeleier jeden Morgen, über die Tischplatte, in die er seinen Namen eingeritzt hatte, als er einmal zwei Wochen unter dem Tisch hatte schlafen müssen, über den Hof, wo ihn sein Vater in den Staub warf und mit Füßen nach ihm trat, über den Mist, in dem er sein ganzes Leben watete, über den Pflug, weil er kein Ochse war: Auf Wiedersehen, ich bin jetzt weit weg, ich bin im Krieg. (SG 236) Die Figur Mikimaus ist in mehrfacher Hinsicht von besonderer Bedeutung: Die ausführliche Erzählung seiner ebenso simplen wie nachvollziehbaren Motivation – der Krieg ist weit entfernt, er will weit weg von seinem Vater – sowie der Umstand, dass Mikimaus offenbar bis zum Kriegsbeginn nicht bewusst ist, zu welcher Ethnie er gehört, unterminiert die Vorstellung von Soldaten, die voller Patriotismus in den Krieg ziehen, und kann somit als Gegenerzählung zu der Erzählung von den nationalistischen Patrioten Miki und Kamenko gedeutet werden. Darüber hinaus erscheint im Kontext von Mikimaus’ Geschichte die folgende Passage umso grauenhafter. Kiko, der Mikimaus nach wie vor Milan nennt, berichtet dem Serben kurz vor Anpfiff des Spiels von einem gefallenen Bosniaken, den beide kannten: »Milan, sagte Kiko und legte Mikimaus die Hand auf den Oberarm, ihr habt heute Nacht Ćora weggefickt.« (SG 237) Mikimaus erzählt Kiko daraufhin nicht, dass er als einziger in der Nacht geschossen hat. (vgl. 237) Aus dem gutmütigen, einfältigen jungen Mann, der bis zum Krieg nicht einmal wusste, dass er Serbe ist, ist ein Mörder geworden. Bei dem Fußballspiel kommt Mikimaus eine besondere Rolle zu: Nach dem Ende der Gefechtspause – diese endet noch während des Spiels – sind die Serben schneller bei ihren Waffen und wollen die Bosniaken exekutieren. Deren Anführer erwirkt jedoch, dass das Spiel zu Ende gespielt wird und er und seine Männer im Falle eines Sieges verschont werden sollen. Mikimaus wird dabei zum Retter der Bosniaken, indem er, anders als sein Kommandant, den lebensrettenden Siegtreffer der Bosniaken anerkennt und seine Kameraden mit seinem Beispiel dazu animiert, es ihm gleichzutun. (vgl. SG 250ff.) Nicht nur in Form des Spiels ist der Fußball zentral für das Kapitel. Der Bosniake Meho ist auch im Krieg noch glühender Anhänger des serbischen Vereins Roter Stern Belgrad.75 Von einem Serben vor dem Spiel darauf angesprochen, entgegnet

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Ob vom Autor beabsichtigt oder nicht, so ist der Umstand, dass Meho Anhänger von Roter Stern Belgrad ist, durchaus doppeldeutig: Eine paramilitärische Einheit, genannt die »Tiger«, war in Bosnien, Kroatien und dem Kosovo für unfassbare Greueltaten berüchtigt. Die Einheit bestand zu großen Teilen aus einer Gruppe von Fußballhooligans des Klubs Roter Stern Belgrad, vgl. Naimark 2004, S. 201.

5. Jugoslawien in der deutschsprachigen Genozidliteratur

er »es ist mir egal, woher meine Mannschaft kommt, die Jungs spielen doch nur Fußball. […] Es ist mir auch egal, ob du Serbe bist. Solang du nicht auf mich schießt oder mit meiner Frau schläfst, ist mir alles egal.« (SG 242) In Mehos Aussage spiegelt sich das Unverständnis für die nunmehr alles bestimmende Differenzierung aufgrund der Ethnie. Dabei ist Meho neben Mikimaus die tragischste Figur des Kapitels: Der Mann, der sich nicht für ethnische Zugehörigkeit interessiert, wird kurz vor Ende des Spiels vom Torwart der Serben erschossen – noch im Augenblick seines Todes berichtet der Erzähler davon, wie sich Meho an das Finale des Europapokals der Landesmeister erinnert, in welchem Roter Stern am 29. Mai 1991 Olympique Marseille besiegte. (vgl. SG 249) Die Bedeutung des Verweises auf das Finale geht weit über das Fußballspiel hinaus, markiert das Spiel doch den letzten Moment der Rückbesinnung auf die Zusammengehörigkeit im bereits von Spannungen gezeichneten Jugoslawien – im Juni des Jahres brach der Krieg aus. Neben den ausführlichen Auseinandersetzungen mit der Frage nach der ethnischen Zugehörigkeit – die in dem Roman nicht zwingend identisch mit der Frage nach der selbstdefinierten eigenen Identität ist – finden sich immer wieder Passagen, die auf die Bedeutung der Thematik verweisen. Insbesondere im Kontext der Eroberung Višegrads finden sich Hinweise auf die ethnischen Säuberungen während des Krieges (vgl. SG 111), das bosnische Mädchen Asija fragt beispielsweise Aleksandar, ob die Soldaten ihre Eltern wieder mitgebracht hätten und ergänzt: »Die haben sie mitgenommen, weil sie einen falschen Namen haben.« (SG 112f.) Nicht zuletzt wird die Frage nach der Identität oder ethnischen Zugehörigkeit der Figuren anhand des Protagonisten Aleksandar gestellt. Dabei stehen sowohl der Blick Aleksandars auf die Zugehörigkeit anderer zu den verschiedenen ethnischen Gruppen als auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität im Fokus. Bereits vor dem Krieg wird Aleksandar von einem Mitschüler mit der Frage »was bist du eigentlich?« (SG 52) konfrontiert. Die Frage verunsichert den Jungen und lässt ihn erstmals darüber nachdenken, zu welcher Gruppe er gehört, wobei er sich zunächst an den Familienstreit mit seinem Onkel Miki erinnert. (vgl. SG 52f.) Kurz darauf versucht er das Wissen aus den Schulbüchern zur Hilfe zu nehmen: Es gibt die Ustaschas, es gibt das Geschichtsbuch, in dem steht, dass die Partisanen diese Ustaschas genauso niedergemacht haben wie auch die Nazis und die Tschetniks und die Mussolinis und überhaupt alle, die etwas gegen Jugoslawien und die Freiheit hatten. Es gibt auch die Mudschaheddin, sie reiten durch die Wüste und ziehen sich Bettlaken an. (SG 53) Doch der kleine Aleksandar kann sich in keiner der Gruppen wiedererkennen, konstatiert vielmehr: »Ich bin ein Halbhalb. Ich bin Jugoslawe – ich zerfalle also.« (SG 53) Im Krieg wird Aleksandars uneindeutige Identität für ihn zunehmend zum Problem, wobei der Junge die latente Bedrohung immer stärker wahrnimmt, etwa wenn er mitbekommt, dass es Probleme mit den Nachbarn gibt, »weil wir in ihrer Nähe

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sind und sie diese Nähe nicht möchten.« (SG 133) Aus der Frage nach der ethnischen Zughörigkeit wird eine Feststellung: »Ein Junge aus der Straße nannte mich einen Bastard. Meine Mutter habe mein serbisches Blut vergiftet. Ich wusste nicht, ob ich ihn dafür zusammenschlagen sollte oder trotzig und stolz sein.« (SG 133) Im unter serbischer Kontrolle stehenden Višegrad ist die Identität Aleksandars unwiderruflich festgeschrieben76 – die Familie flüchtet in der Folge nach Deutschland. Wie in den anderen in dieser Arbeit behandelten Romanen zum Jugoslawienkrieg ist die Migrationserfahrung mit einer Auseinandersetzung mit der eigenen Identität verbunden. Der Zerfall Jugoslawiens erweist sich dabei vor dem Hintergrund der Frage nach der Zugehörigkeit auch in Deutschland als Problem, jedoch unter umgekehrten Vorzeichen. Die Zahl der Flüchtlinge führt dazu, dass die in Višegrad über Leben und Tod entscheidende Differenzierung rückgängig gemacht wird: Wenn man mich fragt, woher ich komme, sage ich, das sei eine schwierige Frage, weil ich aus einem Land komme, das es dort, wo ich gelebt habe, nicht mehr gibt. Hier nennt man uns Jugos, auch die Albaner und die Bulgaren nennt man Jugos, das ist einfacher für alle. (SG 139) Unter diesen Vorzeichen erscheint es kaum verwunderlich, dass sich Aleksandar in Deutschland zunächst nicht wohlfühlt, insbesondere, da ein Teil von ihm in Bosnien zurückgeblieben ist, wie er in einem Brief an Asija schreibt: »In Višegrad, bei seinen unfertigen Bildern, gibt es einen angefangenen und nicht zu Ende gebrachten Aleksandar.« (SG 140) Seinen Platz in Deutschland findet er über die deutsche Sprache – wohl die auffälligste Parallele zum Autor Stanišić. In Deutschland wird Aleksandar in doppelter Hinsicht mit dem Verlust seiner Sprache konfrontiert. Die offizielle jugoslawische Sprache Serbokroatisch gibt es de facto mit Ausbruch des Krieges nicht mehr. (vgl. SG 135) Darüber hinaus merkt der Junge, wie ihm mit der Zeit Wörter auf Bosnisch nicht mehr einfallen. (vgl. SG 140) Doch wie Stanišić selbst begreift auch sein Protagonist den Verlust nicht nur als solchen, sondern sieht darin auch die Chance für einen Neuanfang. Aleksandar beginnt damit, die für ihn neue deutsche Sprache zu sammeln. An Asija schreibt er: »Birke und Drachenmaul und Wechselblütiges Tausendblatt und Enzian und die Ruhr. Ich merke mir das alles, Asija. Ich sammle die deutsche Sprache.« (SG 140) So verwundert es kaum, dass sich der Junge manchmal wünscht, sein Name werde »Alexander« statt des serbischen »Aleksandar« geschrieben. (vgl. SG 152) Allein dieser Wunsch kann als Wunsch der Annahme einer neuen, deutschen Identität gedeutet werden. Dennoch wehrt sich Aleksandar dagegen, als ein gelungenes Beispiel für Integration bezeichnet zu werden. (vgl. SG 154) Mit der Annahme der neuen geht ein, zumindest partieller, Verlust 76

Noch Jahre nach dem Krieg schämt Aleksandar sich wegen seiner uneindeutigen Herkunft – bei seiner Rückkehr nach Višegrad verleugnet er seine muslimische Mutter. (vgl. GS 281)

5. Jugoslawien in der deutschsprachigen Genozidliteratur

der alten Identität einher – Aleksandar stellt im Gedankengespräch mit seinem verstorbenen Großvater fest, dass ihm alles fehle, um seine Geschichte »als einer von uns« (SG 311) zu erzählen.77 Seine Eltern haben, anders als er, große Probleme, in Deutschland anzukommen. Doch für die Familie Krsmanović ist trotz aller Probleme klar, dass sie keinesfalls nach Višegrad zurückkehren wird. Umso größer ist die Angst vor einer erzwungenen Rückkehr nach dem Frieden von Dayton. Aleksandar will »nicht in die Stadt zurück, aus der man alle vertrieben hat.« (SG 148) Višegrad ist für ihn keine Heimat mehr, ein Ort, »dem die Hälfte der Bewohner fehlt« (SG 151) ist für ihn ein Ort, an den man nicht zurückkehrt, sondern einer an den man zum ersten Mal fährt. Dennoch zieht es ihn, anders als seine Eltern, noch einmal nach Višegrad. Im Gespräch mit seinem Jugendfreund Zoran wird dem nunmehr Erwachsenen klar, dass er in der Stadt seiner Kindheit nun ein Fremder ist. (vgl. SG 277) Die Reise und die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sind jedoch für Aleksandars Identität von eminenter Bedeutung, wie Kämmerlings betont: »So ist dieser Roman Abschied und Ankunft zugleich: Indem sich Aleksandar/Saša seiner Vergangenheit versichert, kann er sie hinter sich lassen.«78 Berechtigterweise verweist Kämmerlings auf die autobiografischen Aspekte des Romans: Aleksandars Reise scheint auch Stanišićs Reise in die Vergangenheit zu sein. Zwar ist Aleksandar bei seiner Rückkehr erwachsen, hat spätestens in Deutschland gelernt, zwischen den Ethnien zu differenzieren79 , dennoch offenbart sich auch Jahre nach dem Krieg noch der Unwille des Protagonisten, in klaren ethnischen Kategorien zu denken – kaum zufällig fragt sich Aleksandar bei seiner Ankunft am Višegrader Busbahnhof, ob der Stationsvorsteher Armin Muslim war.80 (vgl. SG 259) Zwar distanziert sich Aleksandar im Verlaufe des Romans zunehmend von seiner Herkunft, dennoch ist dies keineswegs mit der Verdrängung der Vergangenheit verbunden: Diese scheint vielmehr als elementarer Bestandteil seiner neuen Identität, wie in einem seiner Briefe an Asija deutlich wird, in welchem er sie auffordert, sich gemeinsam an das Erlebte zu erinnern. (vgl. SG 221) »Die Figuren weisen durchaus hybride Identitäten auf: Aleksandar, seine Eltern, Marija, die Soldaten Meho, Kiko und Miki Maus verhandeln zwischen unterschied77

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Auf andere Weise durchleben auch Aleksandars Onkel Bora und seine Frau, die schon vor Kriegsbeginn als Gastarbeiter nach Deutschland übersiedeln, einen Entfremdungsprozess: Beim Besuch in der alten Heimat werden sie als Fremde betrachtet. (vgl. SG 36) Kämmerlings 2006. Vgl. Wetenkamp 2018, S. 259. Anders als in vielen vergleichbaren Fällen lässt sich hier nicht unmittelbar anhand des Namens erkennen, welcher Ethnie der Vorsteher des Busbahnhofes angehörte, da Armin sowohl in Bosnien als auch in Kroatien und Serbien ein geläufiger Name ist. Ein Kommentar des Busfahrers – »einen Armin hat es hier nie gegeben.« (SG 259) – legt jedoch die Vermutung nahe, dass Armin Muslim war und entweder tot oder geflohen ist.

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lichen Identitätsmodellen und dekonstruieren somit jede nationale Identität im ex-jugoslawischen Raum.«81 Ebendieser Versuch der Dekonstruktion jedweder nationalen Identität durchzieht den gesamten Roman Stanišićs.

5.3.4 Irritation als Stilmittel zur Erzeugung einer Distanz Stanišić schreibt nicht in seiner Muttersprache über den Krieg in seinem Geburtsland, sondern wählt die deutsche Sprache. Hier offenbart sich eine deutliche Parallele zwischen Autor und Protagonisten des Romans Wie der Soldat das Grammofon repariert. Arnaudova konstatiert in Bezug auf den Protagonisten Aleksandar: Das Ankommen in der deutschen Sprache symbolisiert das Ankommen im anderen Land. Indem Aleksandar die deutsche Sprache lernt und ›sammelt‹, versucht er auch, die schmerzliche Erfahrung zu artikulieren. In der fremden Sprache gelingt ihm das besser, weil dadurch eine Distanz zum Erlebten entsteht.82 Was Arnaudova richtigerweise für Aleksandar feststellt, gilt mit Einschränkungen auch für den Autor Stanišić: Das Schreiben in einer vormals »fremden« Sprache – welche der Autor zweifelsohne besser als die meisten Muttersprachler beherrscht – sorgt für eine größere Distanz zum Erzählgegenstand.83 Neben dieser außertextlichen Distanz ist es jedoch die kindliche Perspektive, aus der große Teile des Romangeschehens geschildert werden, die oftmals eine Distanz erzeugt.84 Die kindliche Naivität führt zu einer Brechung der Perspektive und erinnert dabei an Klügers weiter leben, mehr noch aber an Kertész’ Roman eines Schicksallosen.85 Die Erzählung aus Sicht des Kindes irritiert an vielen Stellen des Romans und löst auf diese Weise eine kritische Reflektion beim Leser aus, etwa wenn der junge Aleksandar von der Flucht der – vornehmlich muslimischen – Bewohner von Višegrad berichtet: Die ersten warmen Wochen des Jahres sind die Zeit der Auszüge. Ein großer Aufbruch ist ausgebrochen, ansteckend wie eine Frühlingsgrippe. Ganze Familien

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Grujičić 2019, S. 229. Arnaudova 2019, S. 53. Die Tatsache, dass Stanišić auf Deutsch schreibt, kann auch als Ausdruck seiner eigenen Hybridität gelesen werden, vgl. Scheifinger, Laura: Kriegstexte: Kindertexte. Eine Lektüre der Romane von Saša Stanišić, Nenad Veličković und Bora Ćosić. Internet-Publikation in: Textfeld Südost: https://www.textfeldsuedost.com/kulturwissenschaft/kriegstexte-kindertexte/ . o.J. Eingesehen: 03.11.2020. im Folgenden zitiert als ›Scheifinger: Kriegstexte‹. Für Grujičić scheint die »kindliche Fokalisierungsinstanz« gar »die einzige Möglichkeit zu sein, das Thema des Kriegsschreckens und seine Absurdität zu behandeln.«, Grujičić 2019, S. 187. Wetenkamp verweist ebenfalls auf diese Parallelen, vgl. Wetenkamp 2018, 257.

5. Jugoslawien in der deutschsprachigen Genozidliteratur

sind befallen, man erkennt kaum die Autos unter so viel Gepäck. Die Leute verlassen die Stadt so übereilt, so beharrlich verreisen sie, dass sie keine Zeit finden, den Zurückbleibenden »Auf Wiedersehen« zu sagen. So hektisch brechen sie auf, als würden sie ihre Teppiche und ihre Sofas vor einem Hochwasser retten wollen. Die Idee, Sofas aufzuladen, finde ich gut. […] Wo sie alle hinwollen, wissen Edin und Zoran nicht, meine Eltern auch nicht, und als ich gestern nach der Schule Kostina, den Schulhausmeister, fragte, wohin es in den Urlaub gehe, lachte er nervös, als hätte er Angst vor mir. (SG 82) Die panische Flucht der Menschen – ausgelöst durch den Kriegsbeginn in Bosnien 1992 – wird von Aleksandar mit kindlicher Verwunderung wahrgenommen.86 Der Junge kann sich die Flucht, die die Erwachsenen in Gegenwart des Kindes nicht als solche bezeichnen wollen, nur damit erklären, dass die Stadtbewohner urplötzlich alle in den Urlaub reisen. Erst Edin lässt seinen Freund Aleksandar erkennen, dass die Menschen nicht in den Urlaub fahren, sondern fliehen. (vgl. SG 84) Es finden sich weitere Beispiele, in welchen die Irritation des kindlichen Erzählers auch den Leser irritiert und die Erwartung unterminiert. In besonderem Maße gilt dies für den von Aleksandar geschilderten Einmarsch der siegreichen serbischen Truppen nach Višegrad. Der Junge nimmt die Eroberer als »hupende Hochzeitsgesellschaft« (SG 108) wahr und stellt kurz darauf fest: »Eine Armee von bärtigen Bräutigamen fuhr vorbei, sie schossen den Himmel an und feierten, die Stadt zur Braut genommen zu haben.« (SG 108) Die Irritation, die Aleksandars Beschreibung auslöst, reicht weiter als die kindliche Naivität – zwar erscheint es durchaus denkbar, dass dem Jungen klischeehafte »Balkanhochzeiten« bekannt sind und er daher die in den Himmel feuernden Soldaten mit Bräutigamen assoziiert, jedoch passt die Vorstellung von Bräutigamen, die eine Stadt zur Frau nehmen, kaum in die Vorstellungswelt eines Kindes. Vielmehr offenbart sich hier eine Doppeldeutigkeit, die sich an vielen Stellen des Romans findet: Die Beschreibung der Soldaten, welche die Stadt zur Braut nehmen, ist als Verweis auf die systematischen Vergewaltigungen87 in der Stadt während des Krieges zu deuten, für die Višegrad berüchtigt war. Weiß der Leser einmal um die Doppeldeutigkeit, so lässt sich der gesamte Roman nicht mehr als bloße kindliche Erzählung voller Balkanklischees lesen. Somit erscheint der Vorwurf Radischs, Stanišić tappe »mit seiner Kindererzählung vom Balkankrieg […] in

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Vergleichbar mit der Schilderung der Flucht ist die Beschreibung der Belagerung von Višegrad, bei welcher Aleksandar verwundert ist, dass im Radio über eine belagerte Stadt berichtet wird, »die genauso hieß wie unsere Stadt«. (SG 107) Vgl. Funke, Hajo; Rhotert, Alexander: Unter unseren Augen. Ethnische Reinheit: Die Politik des Regimes Milosevic und die Rolle des Westens. Berlin: Das Arabische Buch 1999 (= Schriftenreihe Politik und Kultur 2), S. 148f. Im Folgenden zitiert als ›Funke; Rhotert 1999‹.

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die Kitschfalle«88 gänzlich unbegründet. Vielmehr ist das, von Radisch als Kitsch gedeutete, Spiel Stanišićs mit einer überzeichneten Balkanfolklore ein Stilmittel des Autors zur Distanzerzeugung. Gleiches gilt für die vermeintliche Kindererzählung – Grujičić etwa sieht in dem »kindliche[n] Blick« und der »scheinbare[n] Naivität«89 einen Verfremdungseffekt. Auch der Autor selbst nimmt im Interview mit Raffaella Mare Stellung zu seinem kindlichen Erzähler und beschreibt seine Intention: Ich habe nach einem Weg gesucht, wie ich die Geschichte erzählen kann, ohne dass ich mich selbst erzähle. Dann habe ich mir den Jungen erschaffen und ich wollte über seine Kindheit erzählen. Die Kindheit gibt mir die Möglichkeit, ein bisschen naiv, aber nicht dumm, sondern einfach nur lernend, auf die Entwicklungen zu blicken und sie im Krieg zu zeigen.90 Der junge Erzähler dient als Vermittlungsinstanz, jedoch nicht als eine, welcher der Leser ohne Weiteres folgen kann. Vielmehr verlangt Stanišićs Behandlung des Erzählgegenstandes, dass der Leser die Hinweise im Text erkennt und deutet – oftmals setzt dies neben einer aufmerksamen Lektüre auch Recherchearbeit voraus.91 Verfügt der Leser erst über ein entsprechendes Wissen, ist eine arglose Lektüre des Romans schwerlich möglich, stolpert man doch immer wieder über Verweise auf Kriegsgeschehen und Verbrechen. Allein Aleksandars Sprache irritiert dabei immer wieder. Laura Scheifinger weist dabei auf eine Besonderheit hin: »Auch Aleksandars oft exzessive Verwendung politischer Termini scheint kaum zur Sprache eines Kindes zu passen. Durch diese Störung, über die der Leser praktisch stolpert, ergibt sich aber […] ein humoristischer Effekt«92 . Dieser »humoristische Effekt« hat die gleiche Wirkung wie die zahlreichen Anspielungen. Im zweiten Teil des Romans berichtet statt des kindlichen Aleksandars der nunmehr erwachsene Erzähler. Auch hier lässt sich wieder eine distanzierte Auseinandersetzung mit dem Krieg beobachten, wobei die Erzählstrategie teilweise deutlich von jener des ersten Teils abweicht.

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Radisch, Iris: Der Krieg trägt Kittelschürze. Internet-Publikation in: ZEIT ONLINE: https://ww w.zeit.de/2006/41/L-Stanisic. Erstell: 05.10.2006. Eingesehen: 09.07.2020. Grujičić 2019, S. 186. Mare, Raffaella; Stanišić, Saša: »Stärker als Schuld und Verantwortung ist für mich das Fremdsein.« Interview mit Saša Stanišić 25.05.2012. In: Mare, Raffaella: »Ich bin Jugoslawe – ich zerfalle also«. Chronotopoi der Angst. Kriegstraumata in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Marburg: Tectum 2015 (= Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag 37). S. 376–382, hier: S. 377. Finzi kritisiert in diesem Zusammenhang die oftmals überschaubare Bereitschaft der Rezensenten, den Kontext von Anspielungen in dem Roman zu recherchieren, vgl. Finzi 2008, S. 254. Scheifinger: Kriegstexte.

5. Jugoslawien in der deutschsprachigen Genozidliteratur

Da der Leser einen großen Teil der Kriegsgeschichte schon aus dem ersten Teil des Romans kennt, ermöglicht die wiederholte Erzählung verschiedener Kriegsbilder den kritischen Blick aus einer ganz anderen, distanzierten Perspektive. Erst im Nachhinein werden Sachverhalte und Verhaltensweisen eindeutiger und verständlicher für den Leser.93 Tatsächlich ergänzt der erwachsene Aleksandar immer wieder Informationen, darüber hinaus werden Geschichten aus dem ersten Teil des Romans weitererzählt. Zwar finden sich auch in den Erzählungen des Kindes im ersten Teil versteckte Hinweise auf Verbrechen, der zweite Teil ist jedoch deutlich expliziter. Insbesondere von seinem Jugendfreund Zoran erfährt Aleksandar von dem Grauen. Bereits der junge Zoran hatte Aleksandar in einem Brief von den Massakern an der Drina berichtet. (vgl. SG 145) Nunmehr erwachsen, erzählt Zoran Aleksandar bei einem Treffen in einem Café detailliert von den Verbrechen: Aleksandar, ich weiß, wie Haut aussieht, wenn man ihren Mensch hinter einen Wagen bindet und stundenlang durch die Stadt zieht. Hin und zurück. Zoran schreit gegen die Musik an. Erinnerst du dich an Čika Sead? Man sagt, sie haben ihn aufgespießt und wie ein Lamm gegrillt, irgendwo neben der Straße nach Sarajevo. Und wenn du dich an Čika Sead erinnerst, dann erinnerst du dich auch an Čika Hasan. Zweiundachtzig Liter Blut hat er vor dem Krieg gespendet, damit hat er immer geprahlt. Čika Hasan haben sie Tag für Tag auf die Brücke gebracht, damit er die Leichen der Hingerichteten in die Drina wirft. Hasan hat den Toten die Arme ausgebreitet, er hat ihre Körper an seinen gelehnt, er hat sie auf sich ausruhen lassen, bevor er sie losließ. Zweiundachtzig Tote hat er so in der Drina bestattet. Und als sie ihm den dreiundachtzigsten befohlen haben, ist er auf das Geländer geklettert und hat selbst die Arme ausgebreitet. Das ist alles, soll er gesagt haben, ich will nicht mehr. (SG 279f.) Zwar scheint dies zunächst ein unmittelbarer Bericht94 , jedoch muss auch hier berücksichtigt werden, dass Zoran seinem Freund Aleksandar berichtet und zudem in Teilen seines Berichtes weitergibt, was er gehört hat. Auf diese Weise entsteht – trotz realistischer Schilderung – eine Distanz zum Erzählgegenstand.95 93 94

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Arnaudova 2019, S. 44. Das Grauen aus Zorans Bericht ist historisch verbürgt. Naimark berichtet ebenfalls davon, dass die »Tiger«, eine berüchtigte paramilitärische Einheit der Serben, einen Mann stundenlang hinter einem Auto herzogen, vgl. Naimark. S. 202. Ebenso ist bekannt, dass die Serben zahlreiche Bosniaken in Višegrad in die Drina warfen, vgl. Zick, Tobias: Ort der Schönheit, Ort des Mordens. Internet-Publikation in: Süddeutsche: https://www.sueddeutsche.de/polit ik/visegrad-in-bosnien-ort-der-schoenheit-ort-des-mordens-1.4707110. Erstellt: 06.12.2019. Eingesehen: 12.11.2020. Die überwiegende Mehrheit der in dem Roman geschilderten Verbrechen wird von Serben begangen, doch Stanišić verschweigt in seinem Werk nicht, dass auch von Bosniaken Mas-

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Erzählen vom Genozid

Neben dem Gespräch mit Zoran wird ein Erzählstrang aus dem ersten Teil des Romans wieder aufgegriffen: Aleksandar trifft in Višegrad auf seinen Onkel Miki, den er nicht mehr gesehen hat, seitdem Miki der JNA beitrat. Vordergründig liest sich Aleksandars Erzählung wie die Geschichte eines gewöhnlichen Zusammentreffens zweier Familienmitglieder, welche sich lange nicht gesehen haben: Aleksandar wird von seinem Onkel abgeholt, sie fahren durch Višegrad, treffen alte Bekannte und reden über die Familie. Sobald man jedoch die Ortsnamen der Orte recherchiert, zu denen Miki seinen Neffen mitnimmt, verliert die Erzählung ihre vermeintliche Unschuld: Die beiden fahren zunächst durch die Pionirska Straße, vorbei am Hotel Bikavac und am Hotel Vilina Vlas und schließlich über die Polizeiwache zur Feuerwehrstation. In der Pionirska Straße wurden im Juni 1992 65 Bosniaken, Frauen, Kinder und alte Männer, von den »Weißen Adlern«, einer paramilitärischen serbischen Einheit, in einem Haus eingeschlossen und anschließend verbrannt.96 Die beiden genannten Hotels waren während des Krieges Orte des Grauens, in beiden fanden systematische Vergewaltigungen statt.97 Über das Hotel Vilina Vlas, »eines der berüchtigtsten Vergewaltigungslager, das die Serben in Bosnien errichteten«98 , schreiben Hajo Funke und Alexander Rhotert: Ende April 1992 wurde das Hotel und seine Anlagen in ein Vergewaltigungslager umfunktioniert. In dieses Zwangsbordell wurden mehrere hundert Mädchen und junge Frauen verschleppt. […] Von den 200 bis 300 Mädchen und jungen Frauen, die im Vergewaltigungslager Vilina Vlas waren, überlebten nur sechs durch Flucht. Fünf begingen Selbstmord, indem sie vom Balkon sprangen. Die restlichen wurden nach unzähligen Vergewaltigungen und anderen Torturen ermordet.99 Miki hält mit Aleksandar vor beiden Hotels, fragt seinen Neffen vor dem Hotel Bikavac, ob er eine Freundin habe und wann er Kinder zeugen wolle. (vgl. SG 304) Die Fragen Mikis scheinen vor dem skizzierten grauenhaften Hintergrund geradezu pervers, war doch die Schwängerung muslimischer Frauen oftmals ein Ziel der Vergewaltigung, »damit sie ›kleine Chetniks‹ gebären sollten.«100 Auch die weiteren Stationen der »Stadtrundfahrt« sind alles andere als unschuldig: Die Feuerwache war während des Krieges eines der Hauptlager von Višegrad. Frauen und Mädchen saker verübt wurden. So trifft Aleksandar in Višegrad auf Radovan Bunda, einen Freund der Familie Krsmanović, der von der Auslöschung seines Heimatdorfes durch Bosniaken berichtet. (vgl. SG 271f.) 96 The International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia. Case No. IT-98-32-I. InternetPublikation: https://www.icty.org/x/cases/vasiljevic/ind/en/vas-ii000125e.pdf., S. 4f. Eingesehen: 12.11.2020. 97 Funke; Rhotert 1999, S. 148f. 98 Ebd., S. 149. 99 Ebd. 100 Naimark 2004, S. 209.

5. Jugoslawien in der deutschsprachigen Genozidliteratur

wurden von hier auf die Vergewaltigungslager verteilt.101 Letzte Zweifel an der Verstrickung Mikis in die Verbrechen der genozidalen Verbrechen in Višegrad werden in der Polizeiwache ausgeräumt. Der Polizist Pokor hat großen Respekt vor dem eintretenden Miki, nimmt augenblicklich Haltung an und übereicht auf Aufforderung Miki umgehend die Schlüssel für die Zellen. (vgl. SG 304) Dies ist insbesondere beachtlich, da Finzi in der Figur Pokor den verurteilten Višegrader Kriegsverbrecher Sredoje Lukic erkennt.102 Die Angst des Kriegsverbrechers Pokor legt eine Beteiligung Mikis – wohl in leitender Funktion – an den Verbrechen nahe. Diese Annahme wird dadurch gestützt, dass auch der Busfahrer Boris, mit dessen Bus Aleksandar in Višegrad ankommt, auf Aleksandars Frage, ob er seinen Onkel Miki kenne, entgegnet: »Nein, […] Gott sei Dank nicht.« (SG 260) Auch er hat anscheinend Angst vor Miki.103 Stanišić wahrt in mehrfacher Hinsicht die Distanz zum Erzählgegenstand: Im Angesicht der grauenhaften Exzesse und Massaker in Višegrad beschränkt er sich nicht nur auf eine gebrochene Perspektive, wie etwa bei Zorans Schilderungen der Verbrechen, sondern verweist lediglich auf Ortsnamen, die für das unsagbare Grauen in Višegrad stehen. Sobald der Leser einmal über einen dieser Namen »gestolpert« ist, lässt sich der Roman nicht mehr ohne ein Gefühl der Irritation bei jedem weiteren Namen lesen. Zu einem vergleichbaren Schluss gelangt auch Finzi: Stanišić bzw. der Narrator Aleks erklärt nicht, wofür diese Straßen-, Orts- und Hotelangaben stehen. Nichtsdestotrotz – oder vielleicht auch gerade deshalb – wird vermutlich auch jenem Leser, dem die verschiedenen Anspielungen nicht geläufig sind, bewusst, dass die erratischen Eigennamen auf konkrete Geschehnisse des Krieges in Bosnien verweisen […].104 Neben der durch die Erzählweise bedingten Distanz zum Erzählgegenstand ist ein weiterer Aspekt von Bedeutung für die Distanz in Stanišićs Roman. So wird nicht nur die Ethnie der Romanfiguren kaum in den Vordergrund gestellt, wie im Kapitel zum Thema Identität gezeigt werden konnte, sondern auch Wertungen, Schuldzuweisungen und Urteile zu Krieg und genozidalen Verbrechen lassen sich kaum in dem Roman finden. Der Leser selbst ist gefordert, eigene Schlussfolgerungen zu ziehen. Der Bruch mit einer im Kontext des Jugoslawienkrieges erwartbaren 101 Vgl. Funke; Rhotert 1999, S. 149. 102 Finzi bezieht sich auf eine zufällige Begegnung zwischen Aleksandar und Pokor kurz nach Aleksandars Ankunft in Višegrad, bei welcher Aleksandar sich daran erinnert, dass Pokor während des Krieges »vom gemütlichen Polizisten zum Anführer gewalttätiger Freischärler« (SG 280) aufgestiegen sei, vgl. Finzi 2008, S. 251. 103 Bereits früher im Roman, als die Familie Krsmanović in Deutschland erfährt, dass Miki noch lebt, wird angedeutet, dass Miki während des Krieges in Višegrad war. Dabei wird direkt angesprochen, dass Miki im Zusammenhang mit dem Hotel Bikavac stand. (vgl. SG 147) 104 Finzi 2008, S. 253.

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Erzählen vom Genozid

Schwarz-Weiß Darstellung, wie sie etwa Peter Handke in seinen pro-serbischen Reiseberichten propagiert105 , kann als Versuch gedeutet werden, den komplexen Zusammenhängen und Verantwortlichkeiten im Jugoslawienkrieg gerecht zu werden. Arnaudova sieht hierin eine große Stärke des Romans: Eine der großen Leistungen des Romans besteht darin, dass keine der erzählenden Instanzen direkte politische Urteile über das Geschehene fällt. Durch das multiperspektivische Erzählen kommen Opfer und Täter gleichzeitig zur Sprache, das menschliche Handeln im Krieg, das Leiden der Opfer, der Mangel an Schuldgefühlen der Täter finden eine angemessene ästhetische Repräsentation – alles wird von verschiedenen Erzählern aus verschiedenen Perspektiven erzählt, die sich ständig ergänzen, widersprechen oder verschieben.106 Kurz vor Ende des Romans wird nochmals unterstrichen, dass Stanišić nicht an absoluten Erklärungen gelegen ist. Aleksandar selbst stellt seine eigene Glaubwürdigkeit als Erzähler in Frage: Er fragt sich, gute zehn Jahre nach Kriegsausbruch, ob Asija, die junge Bosniakin, von der er im ersten Teil des Romans erzählt und der er im zweiten Teil zahlreiche Briefe schreibt, aus denen der Leser Informationen über den Krieg entnehmen kann, tatsächlich existiert oder ob er sie nur erfunden hat. (vgl. 211) Als Konsequenz aus dieser Frage können nahezu alle Berichte Aleksandars – insbesondere aber jene aus der Kinderperspektive – angezweifelt werden. Der Leser wird somit wiederum implizit aufgefordert, alles Erzählte kritisch zu reflektieren und nicht ohne weiteres alles anzunehmen, was Aleksandar zu berichten weiß.

5.4 Fazit Bei allen Unterschieden zwischen den drei in dieser Arbeit behandelten Romanen zum Jugoslawienkrieg offenbart der Vergleich auch deutliche Gemeinsamkeiten. Wie in den anderen Werken der deutschsprachigen Genozidliteratur spielen auch in den Werken Gstreins und Stanišićs die Shoah sowie der Zweite Weltkrieg eine

105 Handke wird im Roman einmal namentlich erwähnt, wobei der Kontext offenbart, dass Stanišić Handkes Standpunkt zum Jugoslawienkrieg klar ablehnt – Aleksandar googelt Handkes Namen im Zusammenhang mit den Wörtern »višegrad genozid […] scham verantwortung«. (SG 215) Darüber hinaus äußerte Stanišić deutliche Kritik an der Vergabe des Literaturnobelpreises 2019 an Handke, vgl. dazu etwa Müller, Lothar: Misstrauen dringend erwünscht. Internet-Publikation in: Süddeutsche: https://www.sueddeutsche.de/kultur/sasa-stanisic-p eter-handke-buchmesse-1.4641313. Erstellt: 15.10.2019. Eingesehen 15.11.2020. 106 Arnaudova 2019, S. 44. Finzis Einschätzung geht in eine vergleichbare Richtung, auch sie verweist darauf, dass Stanišić auf verbindliche Aussagen über Verantwortung und Schuldzuweisungen verzichte und stattdessen den Fokus auf die einzelnen Individuen richte, vgl. Finzi 2008, S. 252.

5. Jugoslawien in der deutschsprachigen Genozidliteratur

Rolle. In Gstreins Handwerk des Tötens ist die Erinnerung an die Shoah insbesondere in Form des Ustascha-Konzentrationslagers Jasenovac, in welchem neben Juden, Sinti und Roma vor allem zehntausende Serben ermordet wurden, präsent. Darüber hinaus finden sich in Gstreins erstem Jugoslawienroman einige weitere Verweise auf die Zusammenhänge zwischen Zweitem Weltkrieg und Jugoslawienkrieg. Im zweiten Jugoslawienroman des Autors wird – gewissermaßen als Ergänzung zu Jasenovac – das von Partisanen an Ustascha-Kämpfern und deren Familien verübte Massaker von Bleiburg und damit der bedeutsamste kroatische Erinnerungsort an den Zweiten Weltkrieg in den Fokus genommen. Für den Alten ist Bleiburg der Lebensmittelpunkt und der Jugoslawienkrieg eine Fortsetzung des Zweiten Weltkrieges. Die Figur des Franziskanerpaters Don Filip, über den es heißt, er habe während des Krieges die Aufsicht über ein Lager gehabt, kann darüber hinaus als direkte Erinnerung an die Shoah gedeutet werden. In beiden Romanen finden sich über den gesamten Romanverlauf immer wieder kleinere oder größere Hinweise auf die Shoah oder den Zweiten Weltkrieg. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Stanišićs Wie der Soldat das Grammofon repariert von Gstreins Romanen: Hier sind Shoah und Zweiter Weltkrieg nicht offensichtlich durchgängig präsent. Dennoch geht Stanišić in seinem Werk explizit auf die Shoah ein, lässt gar eine Romanfigur einen Vers aus Celans Todesfuge umwandeln und auf die Verbrechen des Jugoslawienkrieges übertragen. Doch Stanišić zieht noch deutlichere Vergleiche zwischen Shoah und den genozidalen Verbrechen des Jugoslawienkrieges, indem er in einem Kapitel seines Romans einen Rabbi von seinem Martyrium im faschistischen Kroatien während der Shoah erzählen lässt. Ähnlich wie Hilsenrath in seinem Märchen vom letzten Gedanken führt Stanišić dem Leser auf diese Weise vor Augen, dass die Shoah durchaus mit anderen Verbrechen vergleichbar ist – somit geht Stanišić deutlich weiter als Gstrein, der es in seinen Romanen bei vorsichtigen Andeutungen belässt. Wie schon in Timms und Hilsenraths Romanen ist in den drei Romanen über den Jugoslawienkrieg die Auseinandersetzung mit den Themen Identität und Herkunft ein zentrales Element der Handlung. Gstrein wählt in beiden Romanen Figuren, anhand derer die Thematik im Kontext des Jugoslawienkrieges exemplifiziert wird. Im Handwerk des Tötens ist es die gebürtige Kroatin Helena, die für ihren Lebensgefährten Paul und dessen Bekannten Allmayer zur Projektionsfläche für Balkanklischees und antikroatische Vorurteile wird. In Die Winter im Süden wird Marija auf vergleichbare Weise von ihrem Mann Albert behandelt, der sie zunächst, nachdem er von ihren kroatischen Wurzeln erfahren hat, wie eine Trophäe als vermeintliches Partisanenmädchen präsentiert. Schließlich, als er erfährt, dass ihr Vater ein Ustascha war, hält er ihr immer wieder ihre Herkunft vor und verknüpft diese mit Schuld und Verantwortung. Beide Frauen werden also wiederholt gewaltsam von den Männern aus ihrem Umfeld an ihre Herkunft erinnert, mehr noch, ihre vermeintliche Identität wird von außen festgeschrieben, wobei es beiden schwerfällt,

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sich dagegen zu wehren. Dennoch lassen beide Frauen nicht ausschließlich andere über ihre Identität bestimmen. Im Kontext des Jugoslawienkrieges beginnen sie eine selbstbestimmte Auseinandersetzung mit ihrer kroatischen Herkunft und entdecken auf diese Weise, dass sie sich nach wie vor mit ihrem Geburtsland verbunden fühlen, gleichzeitig jedoch auch nach Deutschland beziehungsweise in Marijas Fall nach Österreich gehören. Interessanterweise scheitern die Eltern beider Frauen – bei Marija vornehmlich der Vater – daran, sich mit dem neuen Land zu arrangieren. Sie hängen zu sehr an der alten Heimat, die ihnen immer fremder wird und in der sie selbst zunehmend als Fremde wahrgenommen werden. Ein vergleichbares Schicksal teilen auch die Eltern Aleksandars in Wie der Soldat das Grammofon repariert, wobei für sie trotz aller Probleme in Deutschland aufgrund der in ihrer Heimatstadt Višegrad begangenen Verbrechen eine Rückkehr nicht in Frage kommt. Grundsätzlich ist die Frage nach der Identität oder ethnischen Zugehörigkeit in Stanišićs Roman immer präsent, wobei es dem Autor – anders als Gstrein – um die Dekonstruktion nationaler Identitäten geht. Aleksandar, aber auch andere Romanfiguren, hinterfragen konsequent die Festlegung und Zuschreibung ethnischer Zugehörigkeit und offenbaren immer wieder die Absurdität ethnisch bedingter Vorstellungsmuster. Aleksandar bestimmt dabei selbst über seine Identität und nimmt die deutsche Sprache, in der er Trost und Zuflucht findet, als seine neue Sprache an – in dieser Hinsicht lässt sich Aleksandar mit Helena vergleichen, für die ebenfalls das Erlernen der deutschen Sprache nach der Auswanderung nach Deutschland elementar ist. Neben den beiden Themen Shoah und Identität spielen in den in diesem Kapitel behandelten Romanen Erzählstrategien und die damit einhergehende Behandlung des oftmals grausamen Erzählgegenstandes mit einer hierfür nötigen Distanz eine hervorgehobene Rolle. Gstreins Romane lassen sich daher durchaus mit Uwe Timms Morenga vergleichen. Wie Timm wählt auch Gstrein in erster Linie Figuren, zu deren Perspektive er einen direkten Zugang hat. In besonderem Maße fällt dies im Handwerk des Tötens auf, da hier sowohl der Erzähler als auch Paul – beide wie Gstrein in Hamburg lebende Österreicher – als Alter Egos des Autors betrachtet werden können. In Die Winter im Süden findet sich ebenfalls in der Figur Ludwig ein Österreicher, der mit konsequenter Distanziertheit – oftmals ohne einordnende Bewertung – die Geschichte und das Verhalten des Alten betrachtet. Allein Ludwigs distanzierte Beobachtungen demaskieren den Alten. Mit der Wahl der Figuren ist unmittelbar eine weitere Strategie der Distanzerzeugung verbunden: Von Krieg und Verbrechen erfährt der Leser kaum unmittelbar, immer sind es Figuren oder die Medien, die dem Erzähler oder anderen Figuren berichten. Insbesondere in Gstreins erstem Jugoslawienroman werden Geschichten über mehrere Instanzen vermittelt – Informationen durchlaufen teils bis zu fünf Instanzen, bevor sie dem Leser präsentiert werden. Auf diese Weise wird die Perspektive mehrfach gebrochen, der Leser kann sich des Wahrheitsgehaltes der übermittelten Informationen niemals gewiss sein und wird somit immer wieder aufgefordert, die Erzählungen zu hinterfragen. Doch Gstrein

5. Jugoslawien in der deutschsprachigen Genozidliteratur

geht im Handwerk des Tötens noch einen Schritt weiter, indem er anhand des Schicksals der Figuren Paul und Allmayer verdeutlicht, was passiert, wenn man im Angesicht des Krieges die gebotene nötige Distanz zum Erzählgegenstand verliert – Paul wie Allmayer verlieren ebendiese Distanz, für beide sind die Konsequenzen furchtbar: Allmayer wird auf der Suche nach einer Story zum Komplizen eines Kriegsverbrechers, Paul wird über den Versuch einer Einfühlung in Allmayer wahnsinnig und begeht daraufhin Suizid. Direkte Passagen zu Krieg und Verbrechen finden sich in Gstreins Romanen kaum, doch immer wieder gibt es Andeutungen, welche jedoch eine aufmerksame Lektüre der Romane sowie eine Recherchearbeit des Lesers voraussetzen. Auch Stanišić nutzt eine gebrochene Erzählweise, lässt etwa Aleksandars Jugendfreund Zoran im Gespräch mit dem Erzähler von den grauenhaften Verbrechen berichten. Wie schon Gstrein hält sich Stanišić an eine Perspektive, zu welcher er direkten Zugang hat – dies bedeutet zwangsläufig, dass auch sein Alter Ego Aleksandar nicht direkt und unmittelbar vom Krieg berichten kann, da er wie Stanišić lediglich den Ausbruch des Krieges in Višegrad erlebt. Von eminenter Bedeutung für Stanišićs distanzierte Betrachtung des Krieges sind jedoch die im Text versteckten Andeutungen, welche insbesondere auf die in seiner Heimatstadt Višegrad von Serben begangenen genozidalen Verbrechen hinweisen. So finden sich immer wieder zunächst unverfänglich wirkende Straßen- und Ortsnamen in dem Roman – dadurch, dass diese immer wieder auftauchen, wird eine Irritation beim Leser ausgelöst. Eine Recherche der Namen offenbart das Grauen der Verbrechen. Ein simples »Eintauchen in die Handlung« ist in der Folge nicht mehr möglich, vielmehr fallen immer weitere Namen ins Auge. Mehr noch als Gstrein fordert Stanišić somit vom Leser, dass dieser in der Lage ist zu synthetisieren. Ein Aspekt unterscheidet das Werk Stanišićs in puncto Distanzerzeugung darüber hinaus deutlich von den beiden Romanen des Österreichers: Stanišić lässt in der ersten Romanhälfte einen kindlichen Erzähler berichten, wodurch sich Parallelen zu Kertész’ Roman eines Schicksallosen oder Klügers weiter leben aufdrängen. Die kindliche Perspektive unterminiert dabei – ähnlich wie bei Kertész – die Erwartung des Lesers, irritiert in besonderem Maße bei der kindlich-naiven Beschreibung von Krieg und Verbrechen.

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6. Afrika in der neueren deutschsprachigen Genozidliteratur

6.1 100 Tage 6.1.1 Einführung Das folgende Kapitel ist der Frage gewidmet, auf welche Weise sich Lukas Bärfuss’ Roman über den Genozid in Ruanda in die Reihe der in dieser Arbeit behandelten Romane der deutschsprachigen Genozidliteratur einfügt. Der Roman Hundert Tage des Schweizer Schriftstellers Lukas Bärfuss ist nach Hans Christoph Buchs Kain und Abel in Afrika1 und Rainer Wocheles Der General und der Clown2 der dritte deutschsprachige Roman zum Genozid in Ruanda. Um den Rahmen der vorliegenden Studie nicht zu sprengen, ergibt sich die Notwendigkeit, aus den drei genannten Werken eine Vorauswahl zu treffen. Wocheles von Literaturkritikern wenig beachteter Text befasst sich in erster Linie mit der posttraumatischen Belastung des fiktiven kanadisch-deutschen Generals John F. Geisreiter, der während des Völkermordes Kommandeur der in Ruanda stationierten UN-Blauhelmtruppe war und der das Morden tatenlos mitansehen musste. Der Roman ist somit insbesondere in Hinblick auf die innerfigürliche Aufarbeitung des Traumas von besonderem Interesse, wohingegen die für diese Arbeit zentralen Aspekte der Auseinandersetzung mit dem Genozid in dem Werk weniger im Vordergrund stehen. Von Buchs Roman unterscheidet sich Bärfuss’ Werk schließlich insofern, als in dem Werk des Schweizers ausschließlich der Genozid im Zentrum steht. In Buchs Roman hingegen findet sich eine Parallelhandlung: Neben einem Journalisten, der von den Gräueltaten Mitte der Neunziger des 20. Jahrhunderts berichtet, wird von der Ruanda-Expedition des Afrikaforschers Richard Kandt Ende des 19. Jahrhunderts mittels fingierter Notizen erzählt. Zudem steht in Buchs Text nicht unmittelbar der Genozid im Zentrum, da der Erzähler, ein Alter Ego des Autors, Ruanda erst nach 1995 und somit nach den 1 2

Buch, Hans Christioph: Kain und Abel in Afrika. Berlin: Verlag Volk und Welt 2001. Im Fließtext zitiert als ›KAA‹. Wochele, Rainer: Der General und der Clown. Tübingen: Klöpfer und Meyer 2008.

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Erzählen vom Genozid

schlimmsten Gewaltexzessen bereist.3 Aus diesem Grunde wird in diesem Kapitel zwar immer wieder auf Buchs Roman verwiesen, jedoch steht ausschließlich Bärfuss’ Roman im Fokus der Analyse. Bärfuss’ Roman wurde von den Rezensenten nahezu einhellig positiv aufgenommen. So schreibt etwa Gerrit Bartels in seiner Rezension für den Tagesspiegel von »ein[em] analytisch starken, zupackenden Buch«.4 Helmut Böttiger betont in seiner Rezension in der Süddeutschen Zeitung die schonungslose Direktheit des Romans in Hinblick auf die europäischen Vorstellungen von Afrika5 , äußert jedoch auch vorsichtige Kritik an dem Werk, da die »Figuren oft wie bloße Typen erscheinen« und dem »Roman ein letzter Feinschliff gutgetan hätte«6 – am Ende sei es jedoch ein hochinteressantes Buch. Auf den Umstand, dass Bärfuss, anders als Buch, selbst nicht während beziehungsweise unmittelbar nach dem Genozid in Ruanda war, verweist Uwe Wittstock in der Welt, wobei er hierin keine Schwäche des Romans sieht: Bärfuss ist während des Völkermordes nicht in Ruanda gewesen, als Autor kann er sich folglich nicht auf authentische Erlebnisse berufen, sondern muss sich auf sein Talent zur Erfindung der Wahrheit entlang verbürgter Fakten verlassen. Das schmälert die literarische Überzeugungskraft seines Buchs keineswegs, im Gegenteil, gerade weil er sich frei im recherchierten historischen Material bewegen kann und nicht an wenigen erlebten Episoden klebt, gewinnt der Roman als Kunstwerk eine höhere Glaubwürdigkeit. Ein Leser, der nur auf zuverlässig beglaubigte Tatsachen vertrauen will, darf sich ohnehin nicht an Romane, sondern muss sich an Sachbücher halten.7

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Jan Süselbeck weist darüber hinaus darauf hin, dass Bärfuss’ Roman im Gegensatz zu Buchs Text ein rein fiktionales Werk sei, vgl. Süselbeck, Jan: Der erfrischende Machetenhieb: zur literarischen Darstellung des Genozids in Ruanda, am Beispiel des Romans »Hundert Tage« von Lukas Bärfuss und seiner intertextuellen Bezüge zu Heinrich von Kleists Verlobung in St. Domingo (1811). In: Kriegsdiskurse in Literatur und Medien nach 1989, hg. von Carsten Gansel und Heinrich Kaulen. Göttingen: V&R unipress 2011 (= Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien 8). S. 183–201, hier: S. 199. Im Folgenden zitiert als ›Süselbeck 2011‹. Bartels, Gerrit: Organisierte Hölle; Als das Menschenschlachten kein Ende nahm: Lukas Bärfuss’ Ruanda-Roman »Hundert Tage«. In: Der Tagespiegel, 05.05.2008, S. 26. Im Folgenden zitiert als ›Bartels: Hundert Tage‹. Vgl. Böttiger, Helmut: Afrika, der tierhafte Abgrund. »Hundert Tage«: Lukas Bärfuss’ Roman über den Bürgerkrieg in Ruanda. In: Süddeutsche Zeitung, 30.04.2008, S. 14. Im Folgenden zitiert als ›Böttiger 2008‹. Ebd. Wittstock, Uwe: Macht, Gewalt und Sex; Lukas Bärfuss erzählt in einem erschütternden PolitRoman vom Töten in Ruanda. In: Die Welt, 08.03.2008, S. 4. Im Folgenden zitiert als ›Wittstock 2008‹.

6. Afrika in der neueren deutschsprachigen Genozidliteratur

Insbesondere den Blick auf die koloniale Vergangenheit sowie den europäischen Fokus auf Afrika im Kontext der Entwicklungshilfe thematisiert auch Laura Beck in ihrer Analyse von Bärfuss’ Roman: Bärfuss’ Text entwirft ein zutiefst pessimistisches Bild von europäischer Entwicklungshilfe, deren Akteure so fundamental in einer ambivalenten Mischung aus postkolonialem schlechten Gewissen und gleichzeitig (neo-)kolonialem Exotismus und zivilisatorischer Anmaßung befangen sind, dass sie das, was sich vor ihren Augen abspielt, erst dann in seiner Tragweite erkennen, als es bereits zu spät ist. Dabei geraten die Figuren sowohl in ihrem Wunsch nach Abgrenzung und distanzierter Pflichterfüllung als auch in der Sehnsucht nach einem Eintauchen in eine fremde Welt geradezu zwangsläufig in die Fußstapfen ihrer Vorgänger in der Kolonialzeit.8 Berechtigterweise betont Beck die kolonialen Verflechtungen, die in dem Roman neben dem Genozid immer wieder hervorgehoben werden. Vor diesem Hintergrund ist Paul Michael Lützeler zuzustimmen, wenn er Hundert Tage »als AntiEntwicklungsroman« bezeichnet, in welchem »die Vorstellung von ›Entwicklung‹ in der westlichen Welt, d.h. von der Modernisierung von sogenannten ›unterentwickelten‹ Ländern, thematisiert werden.«9 So ist denn der Roman – kaum überraschend – vielfach insbesondere als ein postkolonialer Text gelesen worden.10 Ein Aspekt der kolonialen Vergangenheit ist dabei für die Analyse des Schreibens über den Genozid von besonderer Bedeutung: Die problematische Differenzierung zwischen »Hutus« und »Tutsis«. Da keine zufriedenstellende alternative Bezeichnung zu den vorbelasteten Begriffen existiert, wird in dieser Arbeit auf die belasteten Begriffe zurückgegriffen.11 Zunächst gilt es, in der Analyse die in Bärfuss’ Roman angeschnittenen Bezugnahmen auf die Shoah herauszuarbeiten. Im zweiten Kapitel steht die – keineswegs nur im Kontext der Kolonialgeschichte relevante – Auseinandersetzung mit der Identität der Protagonisten im Kontext des Genozides im Fokus. Abgeschlossen

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Beck, Laura: »Weißnasen mit Rückflugticket«? Entwicklungshilfe als Egotrip bei Lukas Bärfuss und Milo Rau. In: (Off) the beaten track? Normierungen und Kanonisierungen des Reisens, hg. von Uta Schaffers, Stefan Neuhaus et al. Würzburg: Königshausen & Neumann 2018 (= Film – Medium – Diskurs 78). S. 371–390, hier: S. 379. Im Folgenden zitiert als ›Beck 2018‹. Lützeler, Paul Michael: Bürgerkrieg global. Menschenrechtsethos und deutschsprachiger Gegenwartsroman. München: Wilhelm Fink 2009, S. 121. Im Folgenden zitiert als ›Lützeler 2009‹. Vgl. hierzu etwa ausführlich das entsprechende Kapitel in Laura Becks »Niemand hier kann eine Stimme haben«. Postkoloniale Perspektiven auf Mündlichkeit und Schriftlichkeit in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bielefeld: Aisthesis 2017. (= Postkoloniale Studien in der Germanistik 9). Vgl. hierzu ausführlich Kpt. 2.6.4. dieser Arbeit.

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Erzählen vom Genozid

wird das Kapitel zu Bärfuss’ Hundert Tage mit einer Untersuchung der Erzählstrategien, mittels derer der Schweizer Autor versucht, die für eine Auseinandersetzung mit dem Völkermord nötige Distanz zum Erzählgegenstand zu wahren.

6.1.2 »das größte Blutbad seit 1945« – Bezüge zur Shoah und anderen Genoziden Wir alle hatten Conrads Heart of Darkness gelesen, aber die Welt, die dort beschrieben war, hatte nichts mit dieser hier zu tun. Wir identifizierten uns nicht mit Kurtz und auch nicht mit Marlow, obwohl wir die bewundernden Blicke unserer Verwandten mochten, wenn sie erfuhren, wie nahe wir dem Dschungel waren. Aber tatsächlich waren wir weiter von ihm entfernt als die Menschen in den Städten Europas. (HT 52) Mit diesen Worten zieht der Erzähler David Hohl nach einiger Zeit als Entwicklungshelfer für die Schweizer Direktion in Ruanda Bilanz. Der Bezug zu Conrads Roman Heart of Darkness in der zitierten Passage ist vordergründig als Anspielung auf die als Hölle bezeichneten endlosen Wälder im Kongobecken – in Sichtweite der ruandischen Hauptstadt Kigali – zu verstehen. (vgl. HT 52) Eine genaue Lektüre ermöglicht jedoch eine zweite Leseart: Bringt man das von David angesprochene »Herz der Finsternis« in einen Zusammenhang mit Europa, so kann es auf die europäische Dunkelheit im Kontext von Kolonialisierung und Massenmord bezogen und somit indirekt als Anspielung auf die Shoah gedeutet werden. Dass dies an dieser Stelle so zu verstehen ist, legt die gesamte Romankonzeption nahe, da immer wieder auf die Verbindung zwischen europäischem Massenmord und ruandischem Genozid verwiesen wird.12 Niklas Gaupp und Robert Neiser weisen ebenfalls auf ebenjene Verbindung hin: Bärfuss will den Genozid als Ausläufer europäischer Gewalt entlarven und hat dabei immer den anderen, den europäischen, deutschen Genozid, die Shoa, im Hinterkopf. […] Bärfuss’ Protagonist, David Hohl, steht an der Schnittstelle zweier europäischer Gewaltgeschichten. Die eine ist die kontinentaleuropäische Gewaltgeschichte vom Europäer, der in zwei durch den innereuropäischen Hass angefeuerten Weltkriegen die Erde in Brand gesetzt und (in den Konzentrationslagern Nazideutschlands) Millionen Menschen ausgelöscht hat. Dieser Europäer sei nun geläutert, friedlich geworden, er habe seine Lektion gelernt und die Mordwerkzeuge beiseite gelegt. Die nun alles durchziehende Gerechtigkeit verkörpert sich in dem das Weltgewissen verteidigenden Hohl. Schon der Schulfreund berichtet von 12

Zwar gehörte die Schweiz nicht zu den europäischen Kolonialmächten, dennoch wird deutlich, dass sich die Schweizer Entwicklungshelfer in dem Roman als Nachfolger der Kolonialherrn begreifen: scherzhaft bezeichnen sie Ruanda etwa als ihre »Kronkolonie« (HT 53).

6. Afrika in der neueren deutschsprachigen Genozidliteratur

dem ausgeprägten Gerechtigkeitsempfinden dieses Mustereuropäers, der sich moralisch aufgeladen hat. Er hat sich über eine Art Gerechtigkeitslektüre (»Césaire und Senghor und wie sie alle heißen«) seine Gerechtigkeit erlesen, und nun will er auch der zweiten, der kolonialeuropäischen Gewaltgeschichte ein neues Kapitel mit dem Titel ›Läuterung, Gerechtigkeit‹ hinzu schreiben.«13 Bereits auf den ersten Seiten des Romans wird auf eine Parallele zwischen dem Genozid in Ruanda und der Shoah verwiesen. David erzählt von dem Chaos zu Beginn der Massaker, »das nebenbei gesagt nur aussah wie ein Chaos, aussehen sollte wie eines, in Wahrheit aber eine perfekt organisierte Hölle war, ausgedacht, vorbereitet, durchgeführt«. (HT 8) Diese retrospektive Einordnung der Ereignisse zu einem frühen Zeitpunkt der Romanerzählung offenbart, dass der Genozid in Davids Erzählung keineswegs, wie oftmals in westlichen Medien, als chaotischer »Stammeskrieg oder ein spontanes Pogrom«14 , sondern vielmehr als ein mit dem größten Massenmord des 20. Jahrhunderts vergleichbares Verbrechen eingestuft wird. Wie schon in Hilsenraths Märchen vom letzten Gedanken wird auch in Bärfuss’ Roman betont, dass eine strukturierte Gesellschaft, klare Hierarchien sowie ein funktionierendes Staatswesen Voraussetzungen für einen Genozid sind. Ironischerweise wird dies zunächst nicht vom Erzähler selbst oder einem respektablen Mitglied der Schweizer Direktion erkannt, sondern von Missland, einem ehemaligen Mitarbeiter der Direktion, bei welchem sich der Erzähler fragt, »ob er selbst gekündigt oder man ihn rausgeschmissen hatte« (HT 47) und dessen Verhalten von »Liederlichkeit« (HT 48) geprägt ist. Da David den Kontakt zu Missland sucht, erfährt er von dessen Ansichten und präsentiert diese dem Leser: Der wichtigste Grund für unsere Liebe zu diesem Land war nach Misslands Ansicht die Tatsache, dass es hier keine Neger gab. Die Menschen sahen zwar aus wie Neger, hatten schwarze Haut und krause Haare, aber in Wirklichkeit waren es afrikanische Preußen, pünktlich, die Ordnung liebend, von ausgesuchter Höflichkeit. Sie spuckten niemals auf den Boden, hassten Musik und waren ganz miserable Tänzer. Und vor allem funktionierte ihr Staatswesen, sie taten, was immer die Abagetsi, die großen Tiere, ihnen auftrugen, und sie verrichteten die Arbeit zuverlässig und ohne zu murren. (HT 53) Schreibt Hilsenrath in seinem Roman noch von der »preußischen Gründlichkeit« der Türken bei der Organisation des Armenozids, so sind in Hundert Tage die Ruander »afrikanische Preußen« – keine zufällige Bezeichnung, sondern ein direkter

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Gaupp, Niklas; Neiser, Robert: Der Schatten Europas. ›Hundert Tage‹ im ›Herz der Finsternis‹. In: Kritische Ausgabe – Zeitschrift für Germanistik & Literatur. 17/2009. S. 43–46, hier: S. 44. Im Folgenden zitiert als ›Gaupp; Neiser 2009‹. Bohnert 2008, S. 35.

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Hinweis auf die Shoah. In die gleiche Richtung zielt der Verweis auf das »funktionierende Staatswesen« und die funktionierenden Hierarchien. Gaupp und Neiser sehen hierin einen Versuch Bärfuss’, den afrikanischen Genozid als einen aus Europa importierten zu entlarven: Bärfuss geht aber über die Technik und die Verwerfungen durch die Kolonialgeschichte hinaus, wenn er den Völkermord als europäischen Export-Genozid beschreibt. Das heißt, der Völkermord kann nur stattfinden, wenn bestimmte Produkte von außerhalb eingekauft, ergo von anderen Ländern exportiert werden. Es geht Bärfuss darin auch um die europäische Idee von ›Ordnung‹ und ›Zivilisation‹, die er als Teil einer aktuellen Gewaltgeschichte begreift, von der die Entwicklungshilfe eine Facette darstellt.15 Tatsächlich ist eine solche Leseart des Romans naheliegend, da nahezu konstant im gesamten Roman die Verantwortung der Europäer für den Genozid betont wird. Dies impliziert auch die mediale Berichterstattung in Europa, die in deutlichem Gegensatz zur genozidalen Wirklichkeit in Ruanda stand, wie der Erzähler betont: In den europäischen Zeitungen konnte man später viel lesen von Stammesgewalt, archaischer Brutalität, aber tatsächlich war der Völkermord nur möglich, weil dieser Staat jeden einzelnen Bürger organisierte und ihm einen festen Platz in der Gesellschaft gab. Niemand konnte sich entziehen, es gab keine Möglichkeit, unterhalb des Radars zu fliegen. Jeder musste mitmachen, egal wie die Aufgabe lautete. Und jeder wusste alles, niemand konnte sich verstecken, überall waren Spitzel am Werk. (HT 104f.) Neben der Rolle der Medien wird in dieser Passage wiederum die perfekte Organisation der Ruander respektive des ruandischen Staates betont. In seinem Fazit zum Genozid unterstreicht David nochmals diesen Zusammenhang, wobei er wieder implizit auf die Shoah anspielt: ich weiß jetzt, dass jeder Völkermord nur in einem geregelten Staatswesen möglich ist, in dem jeder seinen Platz kennt […] Und manchmal, wenn ich das Räderwerk dieser Gesellschaft reibungslos ineinandergreifen sehe, […] dann frage ich mich, ob wir im Gegenzug auch das Ruanda Europas werden könnten, und ich weiß, wenn uns etwas davor bewahren wird, dann bestimmt nicht die Wohlbestalltheit unserer Gesellschaft, unsere Disziplin oder auch nur der Respekt vor den Institutionen, den Obrigkeiten, unsere Liebe zur Ordnung und zur Routine, ganz im Gegenteil. All das ist kein Hindernis, sondern die Voraussetzung für einen Massenmord. Nichts liebt das Böse mehr als den korrekten Vollzug einer Maßnahme, und darin, das muss man doch zugeben, gehören wir zu den Weltmeistern. Das

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Gaupp; Neiser 2009, S. 45.

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ist unser Stolz, die Voraussetzung für alles, was uns auszeichnet und was wir als so verbreitungswürdig betrachten, dass wir es ins Herz des schwarzen Kontinents trugen. (HT 178f.) Die detaillierte Schilderung der Voraussetzungen für einen Genozid kann nur als Verweis auf die Shoah interpretiert werden. Wenngleich David die Frage stellt, ob die Schweiz nicht auch »das Ruanda Europas« werden könnte, ist mit dem von David angesprochenen »wir« wohl keinesfalls lediglich die Schweiz gemeint. Das Pronomen bezieht sich vielmehr auf Europa im Ganzen, wobei offensichtlich ist, dass der Erzähler darauf hinweist, dass die Geschichte gezeigt habe, dass eine solcher Massenmord in Europa bereits stattgefunden habe und auch in Zukunft nicht nur auf einem fernen Kontinent vorstellbar sei.16 Honold kommt in seiner Analyse von Bärfuss’ Roman zu einer vergleichbaren Einschätzung: Wir – das ist, aus der Perspektive des Protagonisten David Hohl gesprochen, diejenige kulturelle Adressatengemeinschaft, welcher er sich selbst beim Gespräch nach der Rückkehr zurechnet: zunächst die deutschsprachige Schweiz und darin die Diskussionskultur der Medien und das »Meinungsklima« der größeren Städte; weiterhin das gutbürgerlich etablierte linksliberale Milieu, dem der Protagonist lebensweltlich verbunden scheint; letztlich aber die gesamte europäische Gemeinschaft der hilflosen Zaungäste, in die der Mitarbeiter nach der Rückkehr aus Ruanda wieder eingeht.17 Die Bezüge zur Shoah enden jedoch nicht an dieser Stelle. Die in dem Roman geschilderte Diffamierung der Tutsi als »Kakerlaken«, »Verbündete[n] des Feindes« und »Meuchelmörder[n] der Republik« (HT 105) ist vergleichbar mit jener der Juden und der Armenier.18 Die Einhaltung der Befehlsketten wird ebenfalls anhand eines konkreten Beispiels verdeutlicht: Davids ruandischer Gärtner Théoneste, ein Hutu, erklärt den Mord an Davids Haushälterin Erneste, einer Tutsi, mit den Worten, »ich habe nur getan, was man uns aufgetragen hat.« (HT 191) Aussagen wie diese – die auch von einem nationalsozialistischen Täter, einem für den Armenozid verantwortlichen Jungtürken oder einem an den Verbrechen beteiligten Soldaten 16

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Dies wird etwa dann deutlich, wenn die Ruander von den Schweizer Romanfiguren als »afrikanische Preußen« (HT 53) bezeichnet werden und wenige Sätze später die Ähnlichkeit zwischen Schweizern und Ruandern hervorgehoben wird. (vgl. ebd.) Ruander wie Schweizer werden somit indirekt mit den preußischen »Tugenden« in Verbindung gebracht, welche die Shoah erst ermöglichten. Zwar sind alle europäischen Protagonisten des Romans Schweizer, dennoch zeigt allein diese Verknüpfung exemplarisch, dass der Autor die Schweizer immer auch als Europäer und somit als untrennbar verbunden mit derjenigen Kultur begreift, welche die Shoah erst ermöglichte. Honold 2013, S. 153. Vergleichbare Diffamierungen sowie die Gräuelpropaganda der Hutu werden in dem Roman immer wieder aufgegriffen. (vgl. etwa HT 124f; 126; 130f.)

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aus dem Jugoslawienkrieg stammen könnten – betonen, dass Gehorsam und eine hierarchisch organisierte Gesellschaft eine Grundvoraussetzung für einen Genozid sind. In der kurzen Passage liegt neben dem historischen ein literarischer Bezug zur Shoah: So scheint es unwahrscheinlich, dass Bärfuss dem Täter in seinem Roman die Worte in den Mund legt, ohne dabei an die Literatur zur Shoah respektive an jene über andere Genozide zu denken. In Hundert Tage findet sich auch eine direkte Bezugnahme zur Shoah, in welcher der Genozid als »das größte Blutbad seit 1945« (HT 195) bezeichnet wird. Zwar ist dies nur ein kurzer Verweis, doch unterstreicht dieser die Unmöglichkeit für einen westlichen, insbesondere aber für einen deutschsprachigen Autor, einen Text über einen Genozid zu schreiben, ohne dabei die Shoah mitzudenken. Indirekt thematisiert Bärfuss auch die Rolle der Schweiz im Zusammenhang mit der Shoah und anderen Genoziden: Unser Glück war immer, dass bei jedem Verbrechen, an dem je ein Schweizer beteiligt war, ein noch größerer Schurke seine Finger im Spiel hatte, der alle Aufmerksamkeit auf sich zog und hinter dem wir uns verstecken konnten. Nein, wir gehören nicht zu denen, die Blutbäder anrichten. Das tun andere. Wir schwimmen darin. Und wir wissen genau, wie man sich bewegen muss, um obenauf zu bleiben und nicht in der roten Soße unterzugehen. (HT 208) Tatsächlich war die Schweiz weder an dem Genozid in Ruanda noch an der Shoah19 oder an anderen Genoziden direkt beteiligt, jedoch gab es immer wieder Schweizer, die von der vorgeblichen Neutralität ihres Landes profitierten oder gar, wie die in dem Roman geschilderte Schweizer Entwicklungshilfe, in Ruanda indirekt den Boden für die Verbrechen zu bereiten halfen.20 Indem Bärfuss wiederholt verdeutlicht, dass sein Roman literarisch wie historisch durch die Shoah geprägt ist, er jedoch zugleich Wertungen und Klassifizierungen vermeidet, gelingt es ihm, Relativierungen zu vermeiden. Zu einem vergleichbaren Fazit gelangt Süselbeck, der betont, Bärfuss

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Die Debatte um die Verstrickung der Schweiz in die Verbrechen der Nationalsozialisten ist auch heute in der Schweizer Gesellschaft noch virulent, wie unter anderem neuere Untersuchungen zeigen. Vgl. dazu etwa: Burgermeister, Nicole; Peter, Nicole: Intergenerationelle Erinnerung in der Schweiz. Zweiter Weltkrieg, Holocaust und Nationalsozialismus im Gespräch. Wiesbaden: Springer 2014 (= Soziales Gedächtnis, Erinnern und Vergessen – Memory Studies 2). Die Rolle der Schweizer Entwicklungshilfe beim Genozid ist von offizieller Seite bis heute nur unzureichend aufgearbeitet worden, vgl. Achermann, Barbara: Blind gegenüber der Gewalt. Internet-Publikation in: ZEIT ONLINE: https://www.zeit.de/2019/26/voelkermord-ruanda-ve rantwortung-aufklaerung-entwicklungshilfe/komplettansicht. Erschienen: 24.06.2019. Eingesehen: 15.06.2021.

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sei es gelungen, »einem expliziten Vergleich des Genozids von Ruanda mit der Shoah aus dem Weg zu gehen.«21 Neben den Verweisen auf die Shoah wird im Kontext der in dem Roman formulierten Medienkritik eine Verbindung zu anderen genozidalen Verbrechen gezogen: jenen des Jugoslawienkrieges. So rechnet der Erzähler David mit der medialen Berichterstattung im Westen ab: In der europäischen Presse entrüsten sie sich darüber, weil es offensichtlich keinen plausiblen Grund für die Morde gibt. Ja, braucht es denn das? Ich meine, würde ein guter Grund die Sache besser machen? Ein Blutbad, na, wenn es denn unbedingt sein muss, aber bitte liefert uns eine Erklärung dafür. Den Kerlen auf dem Balkan sehen sie die Vertreibungen, Vergewaltigungen irgendwie nach, schließlich steckt eine Idee dahinter, großserbischer Nationalismus, ethnische Säuberungen und so weiter, alles schlimm, alles schrecklich, aber immerhin gibt es eine Absicht, und die Opfer sterben zwar aus einem verbrecherischen Grund, aber zumindest sterben sie nicht grundlos, sondern für eine Idee. Und vor allem jagt man ihnen eine Kugel durch den Kopf. So denken doch die intellektuellen Schreiberlinge in ihren wohlgeheizten Redaktionsstuben. Sie halten die Mörder hier im Bugesera für Tiere, weil sie Macheten benutzen. Hat man Karl den Großen einen Barbaren genannt, weil er seine Feinde mit Äxten und Speeren tötete? (HT 151f.) In der Tat sind die annähernd zur gleichen Zeit stattfindenden Verbrechen in Europa und Afrika miteinander vergleichbar, wenngleich die zugrundeliegende Motivation der Täter einige Gegensätze offenbart. In beiden Fällen entschied die Ethnie über Leben und Tod, in beiden Fällen waren Täter und Opfer Nachbarn, teils gar durch Heirat miteinander verbunden, und nicht zuletzt sprachen in beiden Fällen Täter und Opfer eine gemeinsame Sprache. Darüber hinaus gab es auch in Ruanda eine »Begründung« für die Morde: Ruanda war hoffnungslos überbevölkert.22 Ungeachtet der Tatsache, dass es nicht nur in Jugoslawien einen »Grund« gab, ist der Hinweis auf den Balkankrieg bedeutsam: Den Opfern des ruandischen Genozids wurde unter anderem die Gleichzeitigkeit der Ereignisse zum Verhängnis, da westliche Medien wie Politik deutlich eher dazu bereit waren, sich mit europäischen Verbrechen als mit einem »fernen Völkermord« auseinanderzusetzen.23 21

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Süselbeck 2011, S. 199. Darüber hinaus betont Süselbeck, »dass Bärfuss’ Genozid-Roman nicht nur nach den Ereignissen in Ruanda, sondern insbesondere nach Auschwitz geschrieben wurde und mit der Reflexion umzugehen hat, die seit 1945 über die Darstellbarkeit oder Undarstellbarkeit eines Massenmordes, der nach ›rationalen‹ logistischen Vorgaben organisiert werden muss, um zu funktionieren, geleistet worden ist.« Ebd. S. 189. Lützeler verweist zudem darauf, dass Ruanda alle Kriterien eines Failed State erfüllte, angefangen von der katastrophalen demografischen Situation über Flucht bis hin zu Menschrechtsverletzungen, vgl. Lützeler 2009, S. 105. Vgl. hierzu auch Lützeler 2009, S. 108.

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Bärfuss gelingt es in Hundert Tage, den Leser immer wieder daran zu erinnern, dass der Genozid in Ruanda kein Verbrechen ohnegleichen war, sondern sich vielmehr einreiht in die Liste der Genozide des 20. Jahrhunderts. Dabei vermeidet der Autor konsequent wertende Vergleiche.

6.1.3 Die »Langen« und die »Kurzen« Zwangsläufig steht auch in Bärfuss’ Roman die Frage nach der Identität beziehungsweise die Frage nach der ethnischen Zugehörigkeit der Romanfiguren im Fokus der Erzählung. Bereits auf den ersten Seiten des Romans wird dabei ein Aspekt thematisiert, welcher den Genozid erst ermöglichte: Die Klärung der Identität mit der Hilfe von Pässen. Der Erzähler erläutert zu Beginn seiner Erzählung das Vorgehen der Mörder, »die jeden umbrachten, der in seiner Identitätskarte unter Ubwoko die falschen drei Einträge gestrichen hatte«. (HT 14) Was hier mit wenigen Worten erklärt wird, wird an anderer Stelle des Romans ausführlich, inklusive der Entstehungsgeschichte der strikten Differenzierung, erörtert. In dieser längeren Erzählung der Geschichte der beiden Bevölkerungsgruppen führt David auch die im gesamten Roman genutzten Bezeichnungen ein: die Tutsi werden die »Langen« und die Hutu die »Kurzen« genannt.24 Die Differenz bestimmt das gesamte Leben der Ruander: Die Menschen waren nicht einfach Menschen, nicht nur Schuster, Bäuerin, Arzt, Fahrer, Sohn, Mutter, Tochter, was auch immer. Zuallererst gehörte jeder Mensch entweder zu der Gruppe der Langen oder zu den Kurzen. Und niemals fragten wir einen Menschen nach seiner Zugehörigkeit, wie wir es nannten, weil wir nicht wussten, was diese Gruppen streng genommen waren, Stämme, Ethnien oder Kasten. (HT 84) Von David erfährt der Leser ebenfalls, dass die Unterscheidung in Hutus und Tutsis zwar seit Jahrhunderten existiere, es jedoch immer möglich gewesen sei, aus der Gruppe der Hutus in die Gruppe der herrschenden Tutsis »aufzusteigen«. Beide Gruppen waren somit eher als soziale Schichten denn als Ethnien zu verstehen. Ebenso war ein Abstieg aus der Gruppe der Tutsis zu den Hutus möglich. Die Möglichkeit des sozialen Auf- beziehungsweise Abstieges – in dem Roman mit einem durchlässigen Netz verglichen – endete mit der Kolonialherrschaft der Belgier: Die Belgier, die nach dem Ersten Weltkrieg das Land übernahmen, beließen die alte Ordnung, aber sie entfernten das Netz und zogen an dessen Stelle eine Wand 24

Die beiden Bezeichnungen sind keine Erfindung von Bärfuss. Beispielsweise sprechen in Burundi lebende Deutsche ebenfalls von »Langen« und »Kurzen« statt von Hutu und Tutsi, vgl. Knemeyer, Thomas: Blutfehde ohne Ende. Internet-Publikation in: DIE WELT: https://www.w elt.de/print-welt/article648128/Blutfehde-ohne-Ende.html. Erschienen: 09.05.1996. Eingesehen: 17.07.2021.

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ein. Sie teilten Identitätskarten aus, in denen unabänderlich festgeschrieben wurde, wer ein Langer und wer ein Kurzer zu sein hatte. […] die durchlässige Membran wurde versiegelt. (HT 88) Von nun an war die Identität unwiderruflich festgeschrieben, womit die strukturelle Voraussetzung geschaffen war, welche den Genozid erst ermöglichte.25 Eben diese Festschreibung hinterfragt Bärfuss in seinem Roman, wobei er insbesondere auf die Problematik der Ununterscheidbarkeit dezidiert eingeht: Ob Kurze oder Lange: Sie sprachen alle dieselbe Sprache, und wir hatten keine Ahnung, wie wir sie zweifelsfrei unterscheiden sollten. Es gab natürlich lange Lange, solche, die hoch gewachsen waren, eine vergleichsweise helle Haut und eine schlanke Nase hatten; und daneben gab es kurze Kurze, dunkler als die Langen, gedrungener, mit breiten Nasen und üppigen Lippen, und wenn es nur solche Typen gegeben hätte, wäre die Sache einfach gewesen. Aber es gab leider auch kurze Lange und lange Kurze; Lange, die groß gewachsen waren und eine dunkle Haut besaßen, helle Kurze mit feinen Nasen, dunkle Lange mit dicken Lippen – jede mögliche Kombination, und in neun von zehn Fällen war nicht auszumachen, wer ein Kurzer und wer ein Langer war. (HT 84f.) Wenngleich in dieser Passage vom Erzähler nicht explizit angesprochen, so wird indirekt die fatale Auswirkung der festgeschriebenen Identität unterstrichen.26 Vor dem Hintergrund der geschilderten stark differierenden Physiognomie von Hutus und Tutsis wird zudem klar, dass nicht hunderttausende Tutsis gezielt hätten ermordet werden können, wenn es die Identitätskarten nicht gegeben hätte – die Hutus wären schlicht nicht in der Lage gewesen zu erkennen, ob ihr Gegenüber ein Tutsi oder ein Hutu war.27 Davids Feststellung, ein Hutu könne im Gegensatz zu einem Europäer sofort erkennen, »wer ein Kurzer war und dazugehörte« (HT 85), ist als Naivität des Erzählers zu deuten – Bärfuss dürfte durchaus bekannt gewesen sein, dass auch ein Ruander kaum sicher sagen konnte, wer Hutu und wer Tutsi war, ohne

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Ebendies betont auch Stockhammer, vgl. Stockhammer 2010, S. 55. Die Vermeidung der Bezeichnungen Hutu und Tutsi im Zusammenhang mit dem Genozid sieht James Ikobwa als Versuch, »die Täter-Opfer-Dichotomie zu umgehen.« Ikobwa, James Meja: David Hohl als Zeuge des Genozids in Ruanda in Lukas Bärfuss’ Hundert Tage. In: Magie und Sprache, hg. von Carlotta von Maltzan. Bern: Peter Lang 2012 (= Kongressberichte 108). S. 107–117, hier: S. 111. Im Folgenden zitiert als ›Ikobwa 2012' Ikobwa weist treffend darauf hin, dass insbesondere die Beschreibungen der Romanfiguren Agathe und Erneste zeigen, wie wenig man Hutu und Tutsi anhand körperlicher Merkmale auseinanderhalten könne, vgl. Ikobwa, James Meja: Gedächtnis und Genozid im zeitgenössischen historischen Afrika-Roman. Stellenbosch: Stellenbosch University 2013, S. 297f. Im Folgenden zitiert als ›Ikobwa 2013‹.

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den Pass zu studieren.28 Stockhammer betont die Bedeutung der Reduzierung von Identität auf die Identitätskarten: Man kann […] eine Identitätskarte nicht dekonstruieren. Selbstverständlich funktioniert sie nicht isoliert. Vielmehr ist sie mit einem ganzen Diskursuniversum verschaltet, dass von einer einzigen binären Opposition regiert wird: Hutu vs. Tutsi. (Die Kategorien ›Twa‹ und ›Naturalisé‹, für eingebürgerte Ruander, hatten nicht die Macht, die Binarität dieser Klassifikation entscheidend aufzuweichen).29 Eben diese Binarität versucht Bärfuss in seinem Roman auf literarischer Ebene zu unterminieren, indem er zwar die Geschichte der Hutu und Tutsi erzählt, diese jedoch als »Lange« und »Kurze« bezeichnet, die Ununterscheidbarkeit der Gruppen betont und in einem weiteren Schritt – ähnlich wie Stanišić – konsequent auf konkrete ethnische Zuschreibungen verzichtet, die Figuren »nicht ethnisch markiert«30 . Darüber hinaus werden europäische Überlegenheitsfantasien, die auf der Abgrenzung vor dem – ethnisch – Anderen basieren, in dem Roman dekonstruiert. Bereits bei der ersten Begegnung zwischen David und seiner späteren ruandischen Geliebten Agathe am Brüsseler Flughafen wird klar, dass sich der junge Schweizer der Ruanderin überlegen fühlt. Zudem wird in der Passage auf verschiedene Weise Alltagsrassismus offenbar. Zunächst hat es noch den Anschein, dass David sich klar von jeglicher Form des Rassismus distanziert, kritisiert er doch vehement, dass die belgischen Zöllner am Flughafen im Umgang mit der Ruanderin ein Schimpfwort verwenden, »das Identität durch Pigmentierung herstellt.« (HT 16) Bereits an dieser Stelle wird es jedoch problematisch, hat David die Bedeutung doch erst »weniger als einen Monat zuvor im Ausreisekurs, im Modul zur interkulturellen Kommunikation« (HT 16) gelernt. Tatsächlich ist es weniger eine unvorbelastete humanistische Regung der er folgt, sondern vielmehr Lehrbuchwissen. So erscheinen vor seinem inneren Auge »die drei Totenköpfe, mit denen dieser Begriff auf dem Arbeitsblatt gekennzeichnet gewesen war, zum Zeichen der vollständigen Tilgung aus dem Wortschatz eines Mitarbeiters der Direktion für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe.« (HT 16) David ergreift in der Situation am Flughafen die Initiative: Ich wollte ihr mit einem Augenaufschlag zu verstehen geben, dass sie sich keine Sorgen machen musste; selbst wenn sie mich dem Henker zuführten, sei die Verteidigung der Menschenwürde dieses Opfer zehn Mal wert. (HT 17)

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Stockhammer entlarvt die Annahme, die Hutu und Tutsi hätten einen »unfehlbaren Instinkt« für die Unterscheidung zwischen den Bevölkerungsgruppen, als eine naive Vorstellung der Europäer, vgl. Stockhammer 2015, S. 122. Stockhammer 2010, S. 58. Stockhammer 2010, S. 62.

6. Afrika in der neueren deutschsprachigen Genozidliteratur

Die unterschwellige Ironie dieser Passage legt nahe, dass dem Erzähler mittlerweile – einige Jahre nach dem Vorfall in Brüssel – klargeworden ist, dass sein vorgeblich selbstloser Einsatz vielmehr Ausdruck vermeintlicher westlicher Superiorität war: Die hilflose Afrikanerin muss durch den Europäer gerettet werden. David greift die Zöllner verbal an und wird daraufhin von Sicherheitsbeamten festgenommen. (vgl. HT 17) Agathes Reaktion auf Davids Verhalten dekonstruiert die Vorstellung von hilfloser Afrikanerin und selbstlosem Europäer: Sie macht sich über David lustig, mehr noch, zeigt ihm ihre Verachtung. (vgl. HT 17f.) David, dessen gesamtes Wissen über den Kolonialismus aus Büchern stammt, der glaubt, »die Leiden der Verschleppten miterlitten« (HT 19) zu haben und das »Weltgewissen« (HT 17) auf seiner Seite zu wissen meint, ist brüskiert. Seine Reaktion – er verpasst den Flug nach Kigali und muss einige zusätzliche Tage in Brüssel verbringen – offenbart neben Überlegenheitsfantasien zutiefst rassistische Denkmuster. Der Erzähler berichtet, wie sein jüngeres Selbst sich in der Situation gefragt habe, was seine Ideale wert seien »wenn die Schwachen sich nicht helfen lassen wollten und die Hand zurückwiesen, die ich ihnen reichte«. (HT 19) Sein Fazit fällt rassistisch aus: »Es würde wohl das Beste sein, diese Afrikaner in ihrer Scheiße sitzen zu lassen, stattdessen Menschen zu suchen, die meinen Einsatz zu schätzen wussten.« (HT 19f.) Davids Wut richtet sich gegen Agathe, der er ihre afrikanische Identität abspricht: »Ich tröstete mich, indem ich mir einredete, dass sie überhaupt keine Afrikanerin sei. Keine richtige. Bestimmt war sie von irgendwelchen Innenarchitekten adoptiert worden, die sich ein schokoladenbraunes Baby ins Interieur stellen wollten.« (HT 20) Eine Schwarze, die sich nicht von einem Weißen helfen lassen will und ihre vermeintliche Unterlegenheit nicht anerkennt, ist für ihn keine richtige Afrikanerin. Wie schon in Gstreins Romanen zum Jugoslawienkrieg ist es auch hier wieder ein Mann, der über die Identität der Frau zu bestimmen sucht. Darüber hinaus bildet David sich ein, genug über Agathe zu wissen, um festzustellen, dass sie ihre Herkunft verleugnete (vgl. HT 20), schimpft sie in Gedanken aber dennoch eine »Negerin«31 (HT 20) und schreibt auf diese Weise ihre Herkunft mittels des rassistischen Begriffes erneut fest. Letztlich bricht David mit einer kolonisatorischen Einstellung nach Ruanda auf: »[D]ort, in Afrika, war noch ein Tausendstel meines bescheidenen Wissens ein Reichtum, und diesen wollte ich teilen.«32 (HT 22) 31

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Interessanterweise ist es am Ende auch für Davids Vorgesetzten in der Direktion, den »kleinen Paul«, die »ganze verdammte Negermentalität« (HT 160), welche die Katastrophe auslöst und die Arbeit der Schweizer Direktion zunichtemacht. Auch hier werden somit rassistische Vorurteile artikuliert, da die Aussage Pauls impliziert, lediglich die vermeintliche »Negermentalität« habe die hehren Bemühungen der Weißen scheitern lassen. Eine aus der Kolonialliteratur bekannte Einschätzung. Mit seiner Vorstellung von der Überlegenheit der Europäer ist David keineswegs allein in der Schweizer Direktion für Entwicklungshilfe. Sein Vorgesetzter Paul bezeichnet die von der Direktion ausgebildeten Ruander beispielsweise als »Frontschweine« (HT 34), welche allen

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Der Vorfall am Flughafen führt bei dem jungen Schweizer nicht zu einer kritischen Reflektion seines Verhaltens, wie seine Erzählung von der ersten Zeit in Ruanda offenbart: Nachdem David in Ruanda angekommen ist und seine Arbeit als Entwicklungshelfer aufgenommen hat, verfällt er weiterhin in koloniale Denkmuster. Hatte er bereits in Brüssel eine Projektionsfläche für seine Afrikabegeisterung in der kamerunischen Nationalmannschaft, Teilnehmer der Fußball-Weltmeisterschaft 1990, gefunden (vgl. HT 21), so flammt bei einem Spaziergang im Umland von Kigali bei ihm der Wunsch auf, zu werden wie die Ruander. Von einem jener Spaziergänge, bei welchem er plötzlich von zahlreichen ruandischen Kindern umringt wird, berichtet der Erzähler: Der Lärm zog noch mehr Kinder an, sie tauchten im Dutzend aus den Feldern auf, und ich sah plötzlich nicht mehr Kinder, sondern Gnome oder Berggeister, und es war nicht sicher, ob sie mir wohlgesinnt waren oder mich zerreißen wollten, was ihnen ein Leichtes gewesen wäre. Die Bälger rochen nach einem Leben zwischen Kuhdung und saurer Milch, und ich dachte, es wäre so übel nicht, zu werden wie diese Kinder, wenn meine Haut schwarz würde und das Haar kraus, wenn ich gerade noch meinen Namen kennte, aber nicht mehr wüsste, wie man ihn schreibt, dafür aber den geheimen Namen einer jeden Pflanze hersagen könnte, Imhati, Amateshe, Bicatsi und Amatunda, und dieser herbe Geruch nicht mehr in meiner Nase stechen würde, einfach weil ich selbst so röche, nach Acker, nach Milch und nach Vieh. (HT 29) Die kurze Passage könnte ebenso gut aus einem Kolonialroman des späten 19. oder frühen 20. Jahrhunderts stammen.33 Ähnlich wie Gottschalk in Timms Morenga zunächst seine Vorstellungen auf die Nama projiziert, projiziert David das Bild des »Edlen Wilden« auf die ruandischen Kinder: Er will wie sie vermeintlich der Natur näher sein, sich ihre Identität aneignen. Darüber hinaus zeigt Bärfuss in seinem Roman, dass es keinesfalls nur die Ruander, respektive die Hutus sind, die andere Ethnien klassifizieren. Bei einer Reise von David und seinem Vorgesetzten Paul äußert sich letzterer in Bezug auf die Bevölkerungsgruppe der Twa nach einem Treffen mit einer alten Frau:

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Grund dazu hätten, den Europäern dankbar zu sein für die Weitergabe des Wissens. (vgl. HT 34) Bereits Sigmund Freud verweist auf die Sehnsucht der Europäer, zu sein wie die vermeintlich dem Ursprungszustand näheren Schwarzen: »Veranlassung [dafür] ergab sich, als man im Fortschritt der Entdeckungsreisen in Berührung mit primitiven Völkern und Stämmen kam. Bei ungenügender Beobachtung und mißverständlicher Auffassung ihrer Sitten und Gebräuche schienen sie den Europäern ein einfaches, bedürfnisarmes, glückliches Leben zu führen, wie es den kulturell überlegenen Besuchern unerreichbar war.« Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. In: Sigmund Freud. Gesammelte Werke. Köln: Anaconda Verlag 2014. S. 873–941, hier: 894.

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Die Twa sind hervorragende Töpfer und gerissene Jäger, meinte er, obwohl diese Frau vermutlich in ihrem Leben nie einen Bogen oder eine Töpferscheibe angefasst hatte, aber er wollte damit andeuten, dass sich gewisse ursprüngliche Fertigkeiten nicht mit zivilisierten Tätigkeiten wie Krankenpflege vertrugen. (HT 38) Wie zuvor David im Falle der Kinder reduziert auch Paul die Twa-Frau auf urtümliche Fähigkeiten, die nicht mit »zivilisierten Tätigkeiten« vereinbar seien. Indirekt verweist die Passage auf diese Weise darauf, dass die strikte Unterscheidung zwischen den Bevölkerungsgruppen nicht afrikanischen, sondern vielmehr europäischen Ursprungs war. Das zentrale Handlungselement, anhand dessen die Frage nach der Identität erörtert wird, ist jedoch die sexuelle Beziehung34 zwischen David und Agathe. Wiederum zeigt sich, dass Ruanda für David eine Projektionsfläche ist. Er trifft Agathe erstmals in Ruanda wieder, als er nach einem Zwischenfall beim Papstbesuch in Kigali in ein Krankenlager gebracht wird, in welchem die Ruanderin die Verletzten pflegt. In der Schilderung eines Treffens nach Davids Genesung erhält der Leser Informationen über Agathes Einstellung zu ihrer Heimat sowie über Davids Begeisterung für den kulturellen Hintergrund der Ruanderin. Der Schweizer findet Agathes Muttersprache, »ein für Ausländer kaum erlernbares Bantuidiom« (HT 71), faszinierend, sie hingegen lehnt nahezu alles ab, was mit ihrem Land und ihrer kulturellen Herkunft zusammenhängt (vgl. HT 71f.), bemüht sich »um ein reines, von allen Akzenten gesäubertes Französisch« (HT 73) und betont David gegenüber, »sie hasse dieses Land«. (HT 74) David ist für sie, die »sich nach ihrem Leben in Brüssel« (HT 71) sehnt, die Brücke nach Europa. Bei einem gemeinsamen Ausflug unmittelbar vor Ausbruch des Bürgerkrieges betont Agathe wiederum, »sie interessiere sich nicht für ihre Heimat.« (HT 82) Ihren Hass relativiert sie hier jedoch erstmals: »ich hasse es doch nicht, nein, ich hasse es nicht. Es interessiert mich einfach nicht. Die Leute interessieren mich nicht, die Politik interessiert mich nicht, die Probleme interessieren mich nicht.« (HT 82) Ihre Herkunft ist für sie belanglos, sie will nur nach Europa – zu diesem Zeitpunkt geht sie noch davon aus, dass sie am nächsten Tag zurück nach Brüssel fliegen wird. (vgl. HT 79f.) Ikobwa fasst Agathes Situation entsprechend zusammen: Agathe, Davids Geliebte und Protagonistin im Roman, ist zunächst unbeteiligt, was ihr Land, ihre Hutu-Identität und ihre Familienverhältnisse angeht. Agathe verachtet alles Einheimische und sehnt sich nach Europa, nach Belgien. Sie ist völ-

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Wie schon in Timms Morenga findet sich auch in Bärfuss’ Roman die oftmals für die Kolonialliteratur typische sexuelle Beziehung zwischen einem europäischen Mann und einer autochthonen Frau.

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lig europäisiert und selbstbestimmt, keine scheinbar prädestinierte Kandidatin für die schließlich doch einsetzende Radikalisierung.35 Das vollständige Desinteresse an ihrem Land, ihrer Herkunft und ihrer kulturellen Identität endet unmittelbar nach dem gemeinsamen Ausflug mit David: Während des Ausfluges beginnt der Angriff der ugandischen Exiltutsis, der Front patriotique rwandais (FPR). Der Erzähler konstatiert retrospektiv, Agathe habe sich bereits in diesen Tagen »mit dem Bazillus infiziert, mit dem Hass, der sie schließlich vergiftete«36 (HT 93). Ihre »Metamorphose« (HT 131) verläuft zunächst jedoch so schleichend, dass David sie erst spät bemerkt. Kleine Veränderungen deuten Agathes zunehmendes Interesse an der eigenen Herkunft und Identität zunächst nur an: [D]ie Caprihose und die schulterfreien Oberteile hatte sie weggeschmissen, auch die Schuhe mit den hohen Absätzen. Sie wollte nicht, dass man sie mit einer femme libre verwechselte, mit einer Langen, einer Feindin der Republik. Es war an der Zeit, sich zu seiner Herkunft zu bekennen, zu seinem Erbe, für das man mit allen erlaubten Mitteln kämpfte. (HT 132) War Agathe zuvor bestrebt, sich zu »europäisieren« und ihre Herkunft zu negieren, so kehrt sich dies nun ins Gegenteil. Auch das Liebesspiel mit David setzt sie in den Kontext des Kolonialismus: »Ihr habt vielleicht unser Land kolonialisiert, meinte sie einmal, aber ich werde nicht zulassen, dass du meinen Körper kolonisierst.«37 (HT 133) Ist David zunächst noch irritiert von der Verwandlung seiner Geliebten, so versteht er später, dass sie sich an ihre zunehmend radikalere Umwelt anpassen muss, um nicht abgestoßen zu werden und womöglich am Ende selbst zum Opfer zu werden.38 (vgl. HT 175f.) Dennoch ordnet er ihre Rückbesinnung auf ihre ruandische Identität in einen kolonialistisch-verklärten Kontext ein: Da saß wieder die andere Frau, nicht die Agathe, die Brüssel studierte, dieselbe Musik mochte wie ich und abgesehen von ihrer Hautfarbe mir ziemlich ähnlich war. Jetzt gehörte sie einer anderen Kultur an, ich sah die Nachfahrin von afrikanischen Bauern, die in einem ewigen Kampf mit der Natur stehen, unfähig, weiter als bis zur nächsten Mahlzeit zu denken. (HT 140) 35 36 37

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Ikobwa 2013, S. 296. Später im Roman wird der Hass auf die Tutsi nochmals mit einem Virus verglichen. (vgl. HT 132) Die Verbindung zwischen Sexualität und Kolonisation ist im (post-)kolonialen Kontext durchaus nicht unüblich. Edward Said verweist in seinem wichtigsten Werk zum Orientalismus auf diese oftmals virulente Verknüpfung. Die Schwäche der kolonisierten Völker sei aufgefasst worden als »Einladung zur Penetration und Besamung – kurz Kolonisation«, Said: Orientalismus, S. 251. Die Angst ist nicht unberechtigt. Stockhammer verweist darauf, dass laut Statistik 10 Prozent der Opfer des Genozids oppositionelle Hutus waren, vgl. Stockhammer 2015, S. 44.

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David erkennt zwar richtigerweise, dass Agathe ihre ruandische Identität nun annimmt, bewertet diesen Vorgang jedoch als Rückbesinnung auf das Primitive und offenbart auf diese Weise seinen neokolonialistischen Standpunkt. Die Beziehung zwischen der Ruanderin und dem Schweizer ist somit untrennbar mit der Frage nach der eigenen Identität im Kontext des Kolonialismus verbunden. Beck sieht in der Beziehung zu Recht »neben simpler Trieberfüllung« auch »exotische Interkulturalitätsphantasien«39 . Demzufolge ist Davids Beziehung zu Agathe als Versuch zu werten, die durch die Herkunft vorgegebenen Grenzen zu überschreiten.40 In dieser Hinsicht ist Bärfuss’ Roman vergleichbar mit den anderen in dieser Arbeit behandelten Afrikaromanen Morenga und Der Lange Schatten – auch in diesen beiden ist der weiße Protagonist zumindest zeitweise bestrebt, kulturelle Grenzen zu überschreiten, indem er eine (sexuelle) Beziehung zu einer afrikanischen Frau sucht. Problematisch daran ist der Umstand, dass die vermeintliche Interkulturalität nur über männlich dominierte Beziehungen zu schwarzen Frauen gesucht wird – aus der Kolonialliteratur bekannte Muster werden auf diese Weise fortgeschrieben. Beck ist daher zuzustimmen, wenn sie feststellt, der Text von Bärfuss gehe im Falle von Agathe »der kolonialen Logik, die er ausstellt, durch die Erfüllung exotischer Lesererwartungen partiell selbst auf den Leim«41 . Diese Problematik wird insbesondere in den Passagen evident, in denen die sexuellen Aspekte der Beziehung durch den Erzähler thematisiert werden – hier fließen Afrikaprojektionen mit der Illusion von der Überschreitung kultureller Grenzen ineinander: Ich war stolz auf mich und meinen Schwanz. Wir hatten das Kaff unserer Herkunft verlassen, waren ausgezogen, um alle Hindernisse der Herkunft und der kulturellen Unterschiede zu überwinden. Keine Vorurteile hatten uns aufgehalten, wir waren geradewegs unserer wahren Bestimmung gefolgt, der Jagd nach der weiblichen Möse. Das war es, was die Natur für uns vorgesehen hatte. Ich sollte dieses Geheimnis ergründen, aber bis jetzt war ich kaum dazu gekommen, mir Agathes Scham in Ruhe anzusehen. (HT 115) Gaupp und Neiser weisen im Zusammenhang mit dieser und weiteren vergleichbaren Passagen darauf hin, dass unter der sexuellen Vereinigung keineswegs, wie von David angedeutet, eine »Völkerverständigung« zu verstehen sei. Der Protagonist versuche vielmehr mittels »orgiastischem Geschlechtsverkehr« die »kulturelle

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Beck 2018, S. 378. In die gleiche Kategorie fallen auch die sexuellen Beziehungen zu Ruanderinnen, die die beiden Direktionsmitarbeiter Missland und Paul eingehen, vgl. Beck 2018, S. 379. Beck 2018, S. 380. Lützeler argumentiert ähnlich wie Beck und verweist berechtigterweise darauf, dass in der Beziehung zwischen Agathe und David die »Kraft der literarischen Tradition, die will, dass der weiße westliche/europäische Mann überlebt, die Frau aus dem (ehemaligen) Kolonialland jedoch zugrunde geht«, sichtbar werde, Lützeler 2009, S. 120.

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Hegemonie«42 wiederherzustellen, die durch die Begegnung mit Agathe am Brüsseler Flughafen in Frage gestellt worden sei. Dies mag für die unmittelbare Situation der sexuellen Eskapaden zutreffen, dennoch sollte berücksichtigt werden, dass der Erzähler Jahre später von diesen berichtet und mittels überspitzer Formulierungen unterstreicht, dass ihm nunmehr durchaus bewusst ist, dass seine sexuelle Beziehung zu Agathe keineswegs eine Form der »Völkerverständigung« war. Grundsätzlich ist David, ähnlich wie Timms Protagonist Gottschalk, bestrebt, sich dem »Fremden« anzunähern, ohne diesem jedoch wie der Veterinär in Morenga ähnlicher zu werden. Da er darüber hinaus immer an der Vorstellung der europäischen Superiorität festhält, führen seine Annäherungsversuche dazu, dass die Unterschiede nur noch stärker unterstrichen werden.43 Geradezu ironisch erscheint in diesem Kontext eine kurze Passage am Ende des Romans: David, der zusammen mit den Hutu-Tätern aus Kigali geflohen ist, de facto also selbst Flüchtling ist, wird im Flüchtlingslager bei der Essensausgabe augenblicklich als Flüchtlingshelfer erkannt. (vgl. HT 200) Er kann seine europäische Identität somit nicht verleugnen. Letztendlich sind es die Passagen, die die vermeintlich – in den Augen des Erzählers David vor seiner Weiterentwicklung als erwiesen angesehene – europäische Superiorität propagieren, die offenbaren, dass Vorstellungen von Überlegenheit keineswegs ein vermeintlich primitives afrikanisches Problem sind, sondern die vielmehr die Frage aufwerfen, ob es nicht die Europäer waren, welche entsprechende Überlegenheitsvorstellungen durch Entwicklungshilfe und Parteinahme verstärkten oder mit Blick auf die Kolonialzeit erst etablierten.

6.1.4 Distanziertes Erzählen aus unmittelbarer Nähe Wie erzählt man mit der nötigen gebotenen Distanz von dem hunderttägigen Grauen des ruandischen Genozids? Bärfuss liefert mit seiner Erzählstrategie in Hundert Tage Ansätze, die teils bereits aus den anderen in dieser Arbeit analysierten Romanen bekannt sind. Bereits auf den ersten Seiten des Romans wird die Distanz zum Erzählgegenstand offensichtlich: Der Binnenerzähler David wird von einem Schulfreund in den Schweizer Jurahöhen einige Jahre nach seiner Rückkehr aus Ruanda aufgesucht. Er legt dem namenlosen Freund Zeugnis ab und wird auf diese Weise zum Zeugen der Ereignisse in Ruanda, wie Ikobwa konstatiert: David Hohl tritt zunächst als Augenzeuge des Völkermords auf, d.h. als Primärzeuge der Ereignisse. Aber dann trägt er auch die Erinnerungen der anderen Figuren weiter und wird so zum sekundären Zeugen. Weil er jedoch weder Täter noch Opfer des Genozids ist, kann er nur als ›Zuschauer‹ bezeichnet werden. Als Zuschauer 42 43

Gaupp; Neiser 2009, S. 45. Zu einem vergleichbaren Ergebnis gelangen auch Gaupp und Neiser, vgl. Gaupp; Neiser 2009, S. 45.

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darf oder will er die Gräuel nicht genauer betrachten. So tut er, als hätte er nichts von der Gewalt aus erster Hand erfahren. Von der Textebene aus gesehen ist David als fiktive Figur und als Fremder in Ruanda in diesem Kontext also [sic!] Vertreter der literarischen und sekundären Zeugenschaft anzusehen.44 Richtigerweise unterstreicht Ikobwa Davids Rolle als Zuschauer, wobei einschränkend eingewandt werden muss, dass David keineswegs konstant Zuschauer ist, sondern an einer Stelle des Romans auch – wenngleich nicht aktiv – zum Mittäter wird. Die Rahmenerzählung von Bärfuss’ Roman wurde in der Rezeption des Werkes teils scharf kritisiert.45 Lützeler attestiert dem Roman eine schlichte Erzählstruktur und sieht darüber hinaus auch einen Formfehler in der Erzählung.46 Eben dieser Formfehler liege in der Rahmenhandlung: »Als Rahmenhandlung hätte das Gespräch eine sinnvolle Funktion haben können, doch wirkt es erzähltechnisch gesehen nicht überzeugend, wenn Hohl nun ohne Unterbrechung einen stundenlangen Monolog von sich gibt, womit die anfängliche Dialogstruktur aufgelöst wird.«47 Im Gegensatz zu Lützeler sieht Ikobwa einen Sinn in der Rahmenhandlung und betont, die Übernahme der Erzählung durch David unterstreiche die Bedeutung der Augenzeugenschaft in der westlichen Welt.48 Darüber hinaus attestiert er dem Rahmenerzähler noch weitere Funktionen: Der wenig beteiligte Rahmenerzähler hat also eine doppelte Funktion: zum einen ist er ein Zuhörer, ein ›sekundärer‹ Zeuge, und zum anderen vermittelt er das Nicht-Sagbare, Nicht-Darstellbare, nämlich das Trauma. Im Gegensatz zu David scheint der Rahmenerzähler gut auf seine Rolle als Zuhörer vorbereitet zu sein. Er weiß genau, wann zu reden, eine Frage zu stellen, wann zu unterbrechen und zu schweigen ist. Er verfügt nicht über Vorkenntnisse, die dem Zeugnis widersprechen oder es gefährden könnten. Er wirkt wie ein Therapeut, der David endlich aus dem Schweigen herausholt und ihn ermächtigt, seine Erlebnisse in Ruanda zu rekonstruieren. Er zeichnet sich als kompetenter Zeuge aus, gewissermaßen als trainierter Zeuge, der keinerlei Fehler macht. Darüber hinaus werden durch seine Beschreibung von Davids Bewegungen und körperlichen Ausdrucksformen,

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Ikobwa 2012, S. 111. Insbesondere Ikobwa verweist auf die kritische Rezeption der Rahmenerzählung in einigen literaturwissenschaftlichen Aufsätzen, vgl. Ikobwa 2012, S. 108. In einigen Zeitungsrezensionen wurde das Verschwinden des Rahmenerzählers ebenfalls stark kritisiert, vgl. etwa Zeyringer, Klaus: Ordnungsliebe und Völkermord. In: Der Standard, 20.06.2008, S. 6 sowie Freuler, Regula: Ein Ambivalenzhaufen geht nach Afrika. In: Neue Züricher Zeitung, 24.02.2008, S. 67. Gerrit Bartels sieht in seiner Rezension des Romans im Tagesspiegel als einer der wenigen Rezensenten kein Problem im Verschwinden des Erzählers, vgl. Bartels: Hundert Tage. Vgl. Lützeler 2009, S. 115. Lützeler 2009, S. 116. Vgl. Ikobwa 2012, S. 112.

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die Idee von einem Trauma und seine Auswirkungen auf die Überlebenden wahrnehmbar. Davids Körper wird zum Zeugnis des Traumas und die Beschreibung des Rahmenerzählers veranschaulicht dies.49 Der Rahmenerzähler ermöglicht demzufolge erst die gesamte Erzählung. Wie Ikobwa betont auch Wittstock den Sinn der Rahmenerzählung: David erinnert sich Jahre nach seiner Rückkehr in die Schweiz in einem langen Gespräch mit einem Freund an das Desaster Ruandas. Das nimmt der Geschichte etwas von ihrer Spannung, da der Leser von Beginn an sicher sein kann, dass David alle Gefahren überleben wird. Es gibt Bärfuss andererseits aber die Möglichkeit, eine Unmenge politischer Fakten wie aus historischer Vogelperspektive gedrängt und doch übersichtlich in Davids Bericht einfließen zu lassen.50 Mit anderen Worten: Der Erzähler kann aus der räumlich-zeitlichen Distanz heraus reflektiert erzählen und die Situation sowie sein Verhalten kritisch bewerten und einordnen – ein Aspekt, welcher insbesondere in teils sarkastisch-zynischen Passagen, in denen David direkt oder indirekt über sein naives jüngeres Ich urteilt, offensichtlich wird. Darüber hinaus wird durch die Rahmenhandlung markiert, dass David, der nach wenigen Seiten die Erzählung vollständig übernimmt, zeitlich und räumlich vom Erzählgegenstand getrennt ist. Diese Distanz wird explizit betont, exemplarisch berichtet der Rahmenerzähler, David »sei einige Jahre durch das Land vagabundiert«. (HT 9) Daneben wird die räumliche Distanz unterstrichen, indem immer wieder auf fallende Flocken oder auf Schnee hingewiesen wird. (vgl. HT 5; 7; 9) Das Bild der verschneiten Jurahöhen steht zudem in deutlichem Gegensatz zu dem heißen Sommer des Genozides, von dem David in der Folge berichtet. Auf diese Weise wird ein klarer Bruch markiert, wie Roth ebenfalls betont: »Die zweite Funktion, die die Rahmenerzählung erfüllt, ist die Erzeugung eines Bruchs zwischen Figuren- und Erzählebene, da durch den Rahmen eine Distanz zur Erzählung geschaffen wird.«51 Noch deutlicher wird Ikobwa bei der Betonung der Bedeutung des Ortes der Rahmenerzählung: Der Ort bietet Ruhe und Entfernung von der ›normalen‹ Schweizer Gesellschaft, und schafft damit notwendige Voraussetzungen für seine Konfrontation mit der 49 50 51

Ikobwa 2012, S. 113. Ikobwa macht dies anknüpfend an Fuchs anhand einiger Verhaltensmuster fest, die der Rahmenerzähler an seinem Freund David bemerkt, vgl. ebd., S. 113ff. Wittstock 2008. Roth, Daniela: Das Othering des Genozids. Erzählerische Darstellung des Völkermords in Lukas Bärfuss’ Hundert Tage und Reiner Wocheles Der General und der Clown. In: Transitkunst. Studien zur Literatur 1890–2010, hg. von Andrea Bartl und Annika Klinge. Bamberg: University of Bamberg Press 2012 (= Bamberger Studien zu Literatur, Kultur und Medien 5). S. 543–571, hier: S. 548. Im Folgenden zitiert als ›Roth 2012‹.

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traumatischen Vergangenheit, nämlich seinen Erlebnissen in Ruanda. Die Isolation des Ortes erinnert auch an Davids Isolation im Haus Amsar in Kigali während des Genozids und ermöglicht m.E. seine psychologische Rückkehr in die traumatische Vergangenheit.52 Roth wie Ikobwa unterstreichen die Bedeutung der Rahmenhandlung von Hundert Tage, welche keinesfalls als »Formfehler« oder als unvollständig bezeichnet werden sollte. Dies gilt insbesondere, da der Rahmenerzähler dem Leser auf den wenigen Seiten, auf denen er zu Wort kommt, eine Information von eminenter Bedeutung vermittelt, welche die Distanz zum Erzählgegenstand verstärkt und den Leser implizit dazu auffordert, die folgende Erzählung beständig kritisch zu hinterfragen und auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen. So warnt Davids Schulfreund davor, Davids Erzählung ohne weiteres zu trauen, indem er auf die – von Ikobwa angesprochene – psychische Verfassung des Binnenerzählers hinweist: »Ich weiß, ich müsste nicht mutmaßen, denn er ist ein gebrochener Mann, muss einer sein, nach allem, was er erzählt und – was noch wichtiger ist – nach allem, was er mir verschweigt.« (HT 5) Davids Freund unterminiert mittels dieser Feststellung die Glaubwürdigkeit des ehemaligen Entwicklungshelfers. Dem Leser wird verdeutlicht, dass im Folgenden ausschließlich David darüber entscheiden wird, was er erzählt und was er auslässt. Dieses Vorgehen lässt unwillkürlich an Gstreins Erzähler in Das Handwerk des Tötens denken – auch im Werk des Österreichers wird dem Leser vor Augen geführt, dass der Erzähler als Filterinstanz zwischen Leser und Erzählgegenstand fungiert. Des Weiteren ist auch Davids persönlicher Hintergrund im Kontext der Frage nach der Distanz zum Erzählgegenstand von großer Relevanz. Wie schon Gstrein und Timm wählt auch Bärfuss mit einem Schweizer als Erzähler und Protagonisten eine Erzählperspektive, zu welcher er über seine eigene Herkunft einen direkten Zugang hat. Insbesondere im (post-)kolonialen Kontext erscheint ein solches Vorgehen unabdingbar, sofern man die Distanz zum Erzählgegenstand wahren will: Wählt man die Sicht eines Außenstehenden, distanziert man sich von dem Geschehenen und unterscheidet zwischen dem Eigenen und dem Fremden/ Anderen. Wählt man die Perspektive einer Figur aus den ehemaligen Kolonien, kolonialisiert man diese, indem man sich anmaßt, deren Sichtweise zu kennen.53 Die hier von Roth angeführte Unterscheidung zwischen dem »Eigenen und dem Fremden/Anderen« ist für die Auseinandersetzung mit einem Genozid, welcher im Kontext des Kolonialismus geschah, eine zwingende Voraussetzung. In vergleichbarer Weise argumentiert Alexander Honold. Bärfuss nutze »die Chance, als Schweizer den vordergründigen Blick auf ein ›Stammesgemetzel‹ zu erweitern und auf dessen

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Ikobwa 2013, S. 289. Roth 2012, S. 543.

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koloniale Hintergründe zu lenken und damit die Frage nach unserer europäischen Komplizenschaft mit dem Völkermord (und allem, was ihm vorausging) aufzuwerfen.«54 Konsequent wahrt Bärfuss in seinem Roman somit die Distanz zu seinem Erzählgegenstand. Nahezu zwangsläufig verlieren aufgrund der Beibehaltung der Perspektive die ruandischen Figuren gegenüber jenen mit Schweizer Hintergrund an Schärfe – ein Aspekt, der Bärfuss’ Roman auch Kritik einbrachte: Bärfuss ergeht es da wie der von ihm an den Pranger gestellten Entwicklungspolitik: Den Charakter der Menschen in diesem Land vermag er nicht zu ergründen. Da ist der kanadische Journalist und Autor Gil Courtemanche näher herangekommen mit seinem vor vier Jahren auch ins Deutsche übersetzten Roman »Ein Sonntag am Pool in Kigali«. Dieser hat mehr Facetten als »Hundert Tage«, viele der Ruander, denen Courtemanches Held Valcourt begegnet, die er liebt oder bestattet, haben Gesicht, Charakter und Seele. Trotzdem fügt sich »Hundert Tage« gut ein in die Reihe weniger Bücher, die über den Genozid in Ruanda erschienen sind, neben Courtemanche Hans Christoph Buchs Roman »Kain und Abel« sowie die Augenzeugen- und Erfahrungsberichte des französischen Journalisten Jean Hatzfeld (»Nur das nackte Leben«) und des kanadischen UNO-Generals Roméo Dallaire (»Ich gab dem Teufel die Hand«).55 Zwar attestiert Bartels hier dem Roman, dass dieser sich gut in die Reihe der Romane über den ruandischen Genozid einfüge, doch die offensichtlich fehlende Einfühlung Bärfuss’ in die ruandischen Figuren hält er für kritikwürdig. Eine solche Einfühlung würde jedoch zwangsläufig die Einhaltung der Distanz unterminieren, weshalb es konsequent erscheint, dass eine solche unterbleibt. Ein weiterer Aspekt, der unterstreicht, wie wichtig dem Autor die Wahrung der Erzähldistanz ist, findet sich in der Beschreibung des Genozids selbst. Von den Massakern wird kaum direkt erzählt.56 Süselbeck subsummiert die Darstellung des Ge54

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Honold, Alexander: Ruanda, Trinidad und Co.: Koloniale Verstrickungen und postkoloniale Aufbrüche in der Schweizer Gegenwartsliteratur. In: Postkoloniale Schweiz: Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien. 2., unveränderte Auflage, hg. von Patricia Purtschert, Francesca Falk et al. Bielefeld: transcript 2013. S. 133–155, hier: S. 134. Im Folgenden zitiert als ›Honold 2013‹. Bartels: Hundert Tage. Des Weiteren irritiert der Beginn der Erzählung vom Genozid. Die gesamte Erzählung ist, bis auf die Seiten, auf denen der Beginn des Genozids beschrieben wird, im Präteritum gehalten. Mit Beginn der Massaker wechselt der Erzähler plötzlich zum Präsens. (vgl. HT 167–174) Der plötzliche Wechsel des Tempus lässt zwar das Geschehen plötzlich und unmittelbar hereinbrechen – die typischen sarkastischen und zynischen Kommentare des Erzählers fehlen vollständig –, die plötzlich ungefilterte Präsentation der genozidalen Wirklichkeit irritiert jedoch. Es ist somit gerade die vermeintliche Distanzlosigkeit aufgrund der fehlenden, einordnenden Erzählinstanz, welche mittels Irritation wiederum eine Distanz zum Erzählgegenstand unterstreicht.

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nozids in Hundert Tage in seinem Vergleich zwischen dem Werk des Schweizers und Kleists Verlobung in St. Domingo dementsprechend: Ähnlich wie schon Kleist in der Verlobung in St. Domingo stellt Bärfuss das große Gemetzel selbst nur in Andeutungen dar und spiegelt es stattdessen in einem prekären Arrangement wiederstreitender [sic!] Gefühle zwischen einem europäischen Mann und einer einheimischen Frau, deren ethnische ›Zugehörigkeit‹ zunächst rätselhaft erscheint. Der tabuisierte Konnex von Lust und Gewalt wird dabei zu einem literarischen Vexierbild ausgestaltet, dem sich der Leser emotional kaum entziehen kann, während der tatsächliche Genozid in der Darstellung abwesend bleibt und eher als Hintergrund der Geschichte fungiert.57 Tatsächlich wirkt der Genozid selbst teilweise, wie von Süselbeck angesprochen, wie der Hintergrund für die Beziehung zwischen Agathe und David. Auch Stockhammer betont das Fehlen ausführlicher Berichte vom Genozid: Die ›Hundert Tage‹ behalten noch im Roman den Charakter eines Schwarzen Loches der Globalgeschichte, dessen Ereignisse zwar in mühevollen Prozessen nachträglich rekonstruiert werden können, aber der Weltöffentlichkeit zum Zeitpunkt des Geschehens weitgehend verborgen blieb – obwohl jedenfalls das Fernsehen um 1994 bereits nahezu den heutigen Verbreitungsgrad erreicht hatte.58 Diese Einschätzung scheint berechtigt, wenngleich berücksichtigt werden muss, dass der Genozid in dem Roman zwar nicht detailliert geschildert wird, dennoch keinesfalls ausschließlich mit einem »Schwarzen Loch« verglichen werden kann.59 Davids Wissen über den Genozid stammt in großen Teilen von zwei Tätern, seinem Gärtner Théoneste, sowie dem jungen Hutu Vince. Wie in Gstreins Handwerk des Tötens erfährt der Leser somit auch in Bärfuss’ Roman vieles durch eine gebrochene Perspektive – David erzählt die Dinge, die er selbst von anderen erfahren hat, dem Rahmenerzähler – hierin liegt wiederum eine Parallele zwischen Autor und Erzähler. Bärfuss recherchierte zwar gründlich, war jedoch kein Zeuge des Genozides. Somit scheint der Verzicht auf, beziehungsweise eine gewisse Vorsicht bei direkten Beschreibungen angebracht. Die Brechung der Perspektive hängt darüber hinaus auch mit der Figur des Rahmenerzählers zusammen. Wenngleich dieser nach wenigen Seiten zurücktritt, so muss doch immer seine Vermittlung vorausgesetzt 57 58

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Süselbeck 2011, S. 189. Stockhammer, Robert: ›ִLiteratur‹, nach einem Genozid. Äußerungsakte, Äußerungsformen, Äußerungsdelikte. Aachen: Shaker Verlag 2010, S. 39. Im Folgenden zitiert als ›Stockhammer 2010‹. In eine vergleichbare Richtung geht die Interpretation Süselbecks, der jedoch anders als Stockhammer nicht von einem »Schwarzen Loch« schreibt, sondern insbesondere die Schneeszene am Ende des Romans als Metapher für »whitness« beziehungsweise für die Unsagbarkeit des Grauens interpretiert, vgl. Süselbeck 2011, S. 191.

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werden, da die gesamte Erzählung seine Erzählung ist, wie auf den ersten Seiten des Romans deutlich wird. Julian Kanning betont denn auch Davids vermittelnde Funktion. Der Binnenerzähler erscheint ihm »als eine Brückenfigur, die sich zwischen Opfer, Täter und dem unbeteiligten Dritten und somit in einer ›Grauzone‹ bewegt. Als Brückenfigur der ›Grauzone‹ vermittelt Hohl zwischen der Perspektive der ruandischen Augenzeugen und derjenigen der westlichen sekundären Zeugen.«60 Wie schon in Gstreins Handwerk des Tötens gibt es daher auch in Hundert Tage eine mehrfach gebrochene Erzählung: David erzählt dem Rahmenerzähler eigene Erlebnisse sowie Dinge, die er von Anderen erfahren hat, und der »unsichtbare« Rahmenerzähler gibt diese dem Leser weiter. Eine andere Einschätzung in Bezug auf Davids Erzählung vertritt Roth, die in ihrer Analyse feststellt, David spare die Informationen über den Genozid bewusst aus.61 Roth bezieht sich auf eine Äußerung Davids gegenüber Théoneste. Der Gärtner warnt den Schweizer kurz nach dem Beginn des Genozids mit den Worten: »Es geschehen schlimme Dinge. Sollten Sie besser nicht sehen.« (HT 173) woraufhin David entgegnet »Ich hab’s schon gesehen, Théoneste, ich hab’s schon gesehen.« (HT 173) Eben dies deutet Roth dahingehend, David wisse über den Genozid Bescheid, sei jedoch nicht dazu bereit, ausführlich zu berichten. Diese Interpretation ist ausgesprochen problematisch, da David unmittelbar vor dem Gespräch einen Versuch unternimmt, doch noch aus Kigali zu fliehen. Bei seinem gescheiterten Fluchtversuch sieht er im Straßengraben liegende Leichen und muss einer Gruppe mit Macheten bewaffneten Ruandern sein Auto überlassen. (vgl. HT 171f.) Davids Bemerkung ist somit wohl als Anspielung auf das unmittelbar zuvor Geschehene zu verstehen und nicht auf den gesamten Genozid, wie Roth annimmt. Dies erscheint umso wahrscheinlicher, als sich in dem Roman keine weiteren Hinweise zu Ausflügen des Schweizers in die Stadt finden – im Gegenteil, fortan ist es Théoneste, der den im Haus der Schweizer Direktion festsitzenden David mit allem Überlebensnotwendigen versorgt. Zweifel an Davids Darstellung haben zwar allein schon aufgrund der einleitenden Warnung des Schulfreundes eine Berechtigung, jedoch muss die Annahme der bewussten Auslassung rein spekulativ bleiben, da sich keine Passagen finden lassen, welche sie bestätigen.62

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Kanning, Julian: Fingierte Zeugenschaft und die Figur des »Dritten«. Das Gedächtnis des Genozids in Lukas Bärfuss’ Hundert Tage und Wolfgang Koeppens Jakob Littners Aufzeichnungen aus dem Erdloch. In: Handlungsmuster der Gegenwart: Beiträge zum Werk von Lukas Bärfuss, hg. von Marie Gunreben und Friedhelm Marx. Würzburg: Königshausen und Neumann 2017 (= Literatur und Gegenwart 1). S. 83–97, hier: S. 89. Vgl. Roth 2012, S. 561. Ikobwa vertritt ebenfalls die Ansicht, dass David mehr gesehen haben müsse als er zugebe, vgl. Ikobwa 2012, S. 112. David berichtet auch davon, dass er auf der Fahrt von der Schweizer Botschaft zu seinem Haus in Kigali unmittelbar vor der Evakuierung der Europäer einen großen Haufen Leichen

6. Afrika in der neueren deutschsprachigen Genozidliteratur

Auch wenn David nicht bewusst Erlebnisse ausspart, findet die Auseinandersetzung mit dem Genozid in Bärfuss’ Hundert Tage kaum direkt statt. Dies zeigt sich auch in einer Episode des Romans, in welcher David auf Théoneste trifft, der zusammen mit seinem Neffen im Garten seines Hauses einen am Boden liegenden Bussard mit einem Bambusstock zu erschlagen sucht. David hält die beiden Ruander im letzten Moment davon ab, den Vogel zu töten. (vgl. HT 136) Seine unmittelbar auf die Rettung folgenden Gedanken verknüpfen die Tat mit dem wenig später beginnenden Genozid. In den Augen von Théonestes Neffen meint der Schweizer »eine Mordlust zu erkennen, eine Freude am Elend dieser Kreatur« (HT 138), einen Blick, den er von Agathe kennt. Eben dieser Blick veranlasst ihn, alles in die Wege zu leiten, um das Tier zu schützen: Sie sollten sehen, was sie mit ein paar Streichen angerichtet hatten. Und wenn Théoneste auch zu alt war, um diese Lektion zu begreifen, so gab es immer noch den Jungen, dem ich ein Vorbild sein konnte. Ich weiß natürlich, wie vermessen es war, aber indem ich dieses Kind Respekt vor der Kreatur lehrte, würde ich meinen Teil dazu beitragen, der Gewalt ein Ende zu bereiten. (HT 138) In der Folgezeit pflegt er das Tier, sammelt zunächst überfahrene Amphibien sowie getötete Ratten (vgl. HT 154f.) und kauft später einem Ruander Hunde – die der Hundefänger eigens für ihn tötet – als Futter für den Vogel ab. (vgl. HT 156ff.) In seinem Vorgehen erkennt David eine Parallele zu seiner Arbeit als Entwicklungshelfer: Ich zerhackte Hunde, die man meinetwegen totschlug, gesunde, starke Hunde, zerhackte sie, um sie einem verkrüppelten Vogel zu verfüttern, und das Verrückte daran war, dass meine ganze Arbeit, mein ganzes Leben hier, nach einem ähnlichen Prinzip funktionierte und ich nichts Falsches darin erkennen konnte. (HT 158) Die entscheidende Verbindung zwischen Davids Umgang mit dem Bussard und dem Genozid liegt jedoch nicht im Aufpäppeln des verletzten Tieres, sondern offenbart sich erst mit dem Tod des Vogels. In den Tagen des Genozids – der Vogel ist mittlerweile wieder in der Lage zu fliegen – nimmt der Bussard kein Fleisch mehr von David an. Nachdem er einen menschlichen Daumen im Schnabel des Vogels entdeckt, holt er die Machete, dasjenige Mordinstrument, welches wie kein anderes für den Genozid steht, aus dem Schuppen und köpft den Vogel. (vgl. HT 187f.) Nach der Tat stellt er fest: »Ich fühlte mich erfrischt, eine tiefe Befriedigung erfüllte mich, wie nach einem Arbeitstag, an dem man jede Minute genutzt hat.« (HT 188) Neben der Verknüpfung über das Mordwerkzeug wird hier auch mittels des Vergleiches der Tat mit einem »Arbeitstag« eine direkte Verbindung zum Genozid hergestellt gesehen habe. (vgl. HAT 169) Da er diesen Umstand nicht verschweigt, erscheint es fraglich, dass er grundsätzlich absichtsvoll Informationen über den Genozid verschweigt.

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– das Morden wird in dem Roman immer wieder mit Arbeit (etwa HT 124f.; 191f.), »Handwerk« (HT 14) oder gar »Gemeindearbeit« (HT 177) verglichen.63 Spätestens mit der »Hinrichtung« des Bussards kann David nicht mehr als passiver Zeuge bezeichnet werden.64 Noch deutlicher wird seine Verstrickung in das Geschehen kurz vor dem Ende des Genozids. David trifft Théoneste, welcher das Fahrrad der Haushälterin Erneste schiebt, am Haus Amsar. Nach anfänglichem Unglauben schließt er richtigerweise, dass der Gärtner die Tutsi ermordet hat. (vgl. HT 189ff.) David, der wohl vermutet, dass eine Gruppe junger Hutus, welche er kennt, ihn mit Lebensmitteln versorgen kommt, lädt den Gärtner zu einem Whisky ein.65 Als dieser sich zu David setzt, fällt ihm seine Identitätskarte aus der Jacke. Die jungen Männer kommen tatsächlich und fordern Théoneste dazu auf, sich auszuweisen. Der Gärtner kann seine Karte jedoch nicht finden. David, der die am Boden liegende Karte gesehen hat, hilft ihm nicht, woraufhin die jungen Männer den Gärtner mitnehmen und wenig später ohne ihn zurückkehren. (vgl. HT 193f.) Im Anschluss konstatiert David: warum hätte ich ihn retten sollen, einen Mörder, der Mördern zum Opfer fällt, wilde Tiere, die sich gegenseitig zerfleischen. Schuld. Es war mir egal, dass ich Schuld auf mich lud, das hatte ich ohnehin längst getan, doch bisher hatte ich nicht genau bestimmen können, worin sie gelegen hatte, in einer Komplizenschaft, in einem Stillschweigen, in einem Stehen auf der falschen Seite, mehr aber auch nicht, mehr war darüber kaum zu sagen, und irgendetwas brannte drauf, mir eine messbare Schuld zu geben, etwas, das ich tatsächlich bereuen konnte. (HT 194) Die Motivation Davids, Théoneste durch sein passives Verhalten für den Mord an Erneste zu richten, macht ihn endgültig zum Mittäter, zu einer Romanfigur, welche die Mörder für sich arbeiten lässt. Er wird direkt in die Geschehnisse des Genozids hineingezogen. Eine Identifikation des Lesers mit dem jüngeren Ich des Erzählers scheint, basierend auf Davids Verhalten, kaum mehr möglich.

Der Erzähler: egoistisch, zynisch und opportunistisch Neben der grundsätzlichen Distanz, welche sich insbesondere in der indirekten Auseinandersetzung mit dem Genozid offenbart, trägt auch die Art der Erzählung

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Süselbeck weist darüber hinaus noch auf einen weiteren Aspekt der Geschichte mit dem Bussard hin. Die Geschichte mit dem Bussard sei nicht die einzige Tiergeschichte mit einer Verbindung zum Genozid, vgl. Süselbeck 2011, S. 195. Vgl. Roth 2012, S. 563. Die Passage ist nicht konsistent schlüssig, da Davids Motivation den Mörder zu einem Whisky einzuladen nicht gänzlich klar wird, da er nicht wissen kann, dass Théoneste seine Identitätskarte verlieren wird. Einzig, um den Gärtner wegen des Mordes an Erneste zur Rede zu stellen, erscheint die Einladung nicht notwendig.

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dazu bei, dass eine Distanz zum Erzähler und auf diesem Wege auch zum Erzählgegenstand entsteht. Die sarkastischen und zynischen Kommentare, mit welchen die Erzählung durchsetzt ist, zeigen zunächst, dass der Erzähler sich von seinem jüngeren Ich distanziert. Richtigerweise beobachtet auch Roth eine Distanzierung Davids von seinem »früheren Selbst und dessen Handlungen«66 . Diese Distanz werde jedoch »durch seinen Egozentrismus unterwandert«67 . Insbesondere dieser Einwand Roths ist entscheidend: Zweifellos ist David keine Figur, welche zur Identifikation einlädt. Dies liegt neben seinem Egozentrismus in erster Linie an seinen sarkastisch-zynischen und teils empathielosen Schilderungen. Wenn David von den Opfern des Genozids berichtet, so geschieht dies auf teilnahmslose Weise. Die Leichen werden mit einem »Sack alter Kleider« im »Straßengraben« (HAT 169) assoziiert oder einfach beiläufig als Leichen im Straßengraben (vgl. HT 172) beschrieben. Die toten Hutus, welche David bei seiner gemeinsamen Flucht mit den Mördern nach dem Sieg der FPR sieht, werden lediglich in einem Nebensatz erwähnt. (vgl. HT 197) Darüber hinaus ist der Protagonist ein Opportunist. Exemplarisch hierfür steht eine Episode im Zusammenhang mit Davids Haushälterin Erneste, einer Tutsi. Nachdem er erfahren hat, dass sich herumgesprochen hat, dass er ihr gestattet hat, in seinem Garten eine kleine Pflanzung aufzubauen und dieser Umstand der Schweizer Direktion zum Nachteil bei der Zusammenarbeit mit den Hutus gereicht, zerstört er die Pflanzung umgehend: Ich aber ging gleich nach den Festlichkeiten nach Hause, holte im Schuppen Machete und Haue und rodete Ernestes Pflanzung, ohne Wut, ohne Hass, ich tat einfach, was nötig war. Ich grub den Maniok aus, schnitt die Tomaten, grub die Erde um, ich wusste, dass ich nun ein richtiger Kooperant geworden war, einer, der die Zusammenhänge begriff und sich nicht Sentimentalitäten hingab. Vielleicht half dieses Gemüsebeet einer achtköpfigen Familie, aber gleichzeitig hätte es beinahe ein Waisenhaus verhindert. Als Erneste am nächsten Samstag mit einem Erntekorb erschien, rettete sie aus dem Haufen das Gemüse, das nicht verfault war, und ich ließ sie wissen, dass ich die Wiederherstellung der Rabatten erwarte. (HT 111f.) Die Schilderung der opportunistischen Handlung ist nicht die einzige, welche den Leser veranlasst, eine Distanz zum Erzähler aufzubauen. Die Konzeption der sexuellen Beziehung zwischen David und Agathe ist ebenfalls nicht auf Einfühlung und Identifikation mit den Protagonisten angelegt. So berichtet der Erzähler von dem Sex nach Parteiveranstaltungen der radikalen Hutus, auf denen gegen die Tutsis gehetzt wurde: 66 67

Roth 2012, S. 549. Ebd.

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Niemals war der Sex besser, verdorbener, ausschweifender, niemals schweinischer gewesen als in jener Nacht nach dieser Veranstaltung, und das lag nicht an Agathe, sondern allein an mir. […] Ich dachte den ganzen Tag nur an Agathe, jedenfalls glaubte ich das, bis ich entdeckte, an was ich tatsächlich dachte, nicht alleine an ihren Körper, sondern an ihren wunderschönen Mund, dem unsagbar herzlose Worte entsprungen waren, an ihren wohlgeformten Kopf, der gefüllt war mit paranoiden, kriegerischen, mörderischen Gedanken. (HT 134) Hass und Hetze führen bei David zur sexuellen Erregung. Gleichermaßen geht es weiter, als Agathe am Folgetag die Tutsi Erneste in Davids Küche erniedrigt, wobei David feststellt, dass sich in seiner »Hose etwas rührte« (135), er also durch die gewaltsame Demütigung der Tutsi in sexuelle Erregung gerät.68 Stockhammer sieht in der sexuellen Beziehung zwischen David und Agathe ebenfalls ein Mittel zur Distanzerzeugung, wobei er die Ausführungen zu den Sexpraktiken kritisiert: Wenn dies alles wirklich unbedingt sein muss (was mir persönlich nicht plausibel ist), so ist immer die Anlage dieser Beschreibung analytischer als bei Courtemanche. Dies gilt für die dargestellte Konstellation, in der die Frau im Gegensatz zum üblichen cliché nicht als potentielles Opfer, sondern eben als potentielle Täterin begehrt wird, ebenso wie für die Erzählanordnung, durch die eine hinreichende Distanz zu Hohls Triebschicksalen gewährleistet ist. Das obszöne Vokabular, das er gelegentlich verwendet, sorgt für eine fast regelmäßige Erinnerung an diese Distanz.69 Zwar ist Stockhammer zuzustimmen, dass die Passagen zu den Sexualpraktiken kaum angenehm zu lesen sind, doch genau hierin liegt – wie auch Stockhammer am Ende betont – der Sinn der entsprechenden Passagen. Eine romantische Liebesgeschichte, bei welcher sich der Leser mit dem Paar identifiziert, würde zu einer Verringerung der Erzähldistanz führen. Das »obszöne Vokabular« ist somit Grundvoraussetzung für die Distanz, da der Leser immer wieder über entsprechend drastische Passagen »stolpert« und so aus dem Lesefluss herausgerissen wird. Neben den sexuellen Eskapaden lösen auch Davids Beschreibung sowie sein Umgang mit den Tätern des Genozids Irritationen beim Leser aus. So erscheinen David die jungen Mörder, welche sich während der Massaker im Garten seines Hauses in Kigali aufhalten, »wie Kinder, die sich von einer Geburtstagsfeier ausruhen, bemalt und kostümiert.« (HT 182) Zwangsläufig stolpert der Leser über den Vergleich der jungen ruandischen Mörder mit einem Kindergeburtstag – insbesondere, da der Erzähler kurz zuvor bei der Beschreibung der Jungen erzählt, dass 68

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In Buchs Kain und Abel findet sich eine Passage, in welcher eine mit dem Genozid verknüpfte Gewalterzählung, in welcher ein Opfer von ihrer Vergewaltigung und von Massakern berichtet, den Erzähler erregt. (vgl. KAA 111f.) Stockhammer 2010, S. 38.

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diese mit Macheten, nagelbewehrten Knüppeln und einer Handgranate bewaffnet sind. (vgl. HT 181) Die Jungen ziehen wenig später weiter, kommen jedoch nach einigen Tagen zurück. David, der kein Wasser mehr hat und bereits zu dehydrieren beginnt, gibt sich zu erkennen, da er Vince, den Anführer der jungen Männer, aus der Zeit vor dem Genozid kennt. (vgl. HT 183ff.) Die Schilderung des Erzählers irritiert hier wiederum, nun jedoch aufgrund des Verhaltens seines jüngeren Ichs. David bittet den Jungen um Wasser: Als ich getrunken hatte, als ich fühlte, wie das Wasser in meine dehydrierten, übersalzten Zellen strömte, fühlte ich Dankbarkeit, reine, tiefe Dankbarkeit und eine Verbundenheit mit diesen Jungen, die mir nicht mehr garstig erschienen, die mir keine Angst mehr einflößten, es war, als hätte ich mich mit meinen Feinden verbrüdert, und das Gefühl, von diesen Mördern anerkannt zu werden als jemand, dem man in der Not zu trinken gibt, erfüllte mich mit Liebe, mit Selbstwert. So viele schlagen sie tot, dachte ich, und für mich haben sie Wasser und freundliche Worte übrig. (HT 185) Die Beschreibung lässt den Leser unwillkürlich auf Distanz zu David gehen, da dieser sich mit den Männern in dem Wissen verbrüdert, welch grausame Taten sie begehen. Neben der Passage mit den Mördern trägt die Beschreibung der gemeinsamen Flucht mit den Hutu-Tätern nach dem Genozid zu einer Distanzierung des Lesers vom Erzähler bei: Um nicht für einen der in Ruanda verhassten Belgier gehalten zu werden, versucht David sich bei der Flucht eindeutig als Schweizer zu kennzeichnen: Ich zog deshalb ein rotes Hemd mit einem großen weißen Kreuz an, und das rettete mir zwar das Leben, brachte mir aber auf der Reise auch viele Unannehmlichkeiten. Kranke und Verzweifelte baten mich um Hilfe, darunter eine alte Frau ohne Zähne, die unerträglich nach Kot stank. Sie verlangte Essen und Medikamente, und es kostete mich einige Mühe, diese lästige Person abzuschütteln. Sie war nicht die Einzige, immer wieder musste ich erklären, dass dies ein weißes Kreuz auf rotem Grund und kein rotes Kreuz auf weißem Grund war, und ich also kein Helfer war, nicht verpflichtet, irgendjemandes Haut zu retten außer meiner eigenen. (HT 196) Das Verhalten scheint nicht mit Davids ursprünglicher Tätigkeit als Entwicklungshelfer vereinbar und unterstreicht seinen Egozentrismus – die hilflosen, verzweifelten Flüchtlinge sind ihm lästig und stoßen ihn ab. Besondere Relevanz erhält die Passage, da David zu Beginn des Romans noch darauf hoffte »täglich mit dem größten menschlichen Elend fertig werden zu müssen«. (HT 24) Im Angesicht tatsächlichen Elends wird evident, wie wenig Substanz Davids anfängliche Überzeugung hatte.

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Darüber hinaus wird auch am Ende des Romans die grundsätzliche Identifikation des Schweizers mit den Mördern deutlich. So konstatiert David kurz vor dem Ende des Romans in Bezug auf seine Arbeit als Flüchtlingshelfer in einem Lager: »Ich fütterte die Mörder, und dies schien mir nur gerecht, denn schließlich hatten sie mich auch gefüttert, hatte ich nur dank Vince und seiner Truppe überlebt.« (HT 201) Auch für Agathe setzt er sich weiterhin ein, wenngleich er zu diesem Zeitpunkt bereits erfahren hat, wie tief sie in den Genozid verstrickt war. (vgl. HT 203) Im Flüchtlingslager wird er zudem korrupt und arbeitet mit den »hohen Tieren« unter den Flüchtlingen, die zumeist schon während des Genozids eine führende Rolle spielten, zusammen: Ich wollte zu Kräften kommen, mich ordentlich satt essen, und früh zu Bett zu [sic!] gehen, und vor allem brauchte ich Geld, obwohl ich keine Ahnung hatte, wie ich dazu kommen sollte. Nach einigen Tagen kam mir das Glück zur Hilfe. Ich musste leere Kanister an die Flüchtlinge verteilen und darauf achten, dass jene Familien einen erhielten, die noch keinen besaßen. Es gab kaum etwas, das im Lager begehrter war. Für einen neuen Kanister wurden dreißig Dollar bezahlt, und ich begriff bald, dass ich dieses Geschäft den Abagetsi überlassen sollte. Ich suchte mir eine Handvoll hoher Tiere aus, und mit ihnen zog ich ein gut gehendes Geschäft auf. Ich versorgte sie mit Kanistern, sie verkauften sie an die armen Familien, und wir machten halbe-halbe. (HT 203f.) Eine Einfühlung in einen Protagonisten, welcher zwecks Selbstbereicherung mit Kriegsverbrechern und Kriminellen zusammenarbeitet und Hilflose ausbeutet, erscheint kaum möglich.70 Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass die Distanz zum Erzählgegenstand im Roman eng mit den Romanfiguren zusammenhängt. Neben David sind auch die Schweizer Entwicklungshelfer Missland, Paul und Marianne nicht als Figuren angelegt, welche zur Identifikation einladen: Misslands Verhalten wird wiederholt als »liederlich« (vgl. HT 48) und »korrupt« (HT 153) beschrieben, vom Erzähler wird er als ein »ewig geile[r] Bock« (HT 153) bezeichnet. Die Direktionsmitarbeiter Paul und Marianne entsprechen dem negativen Stereotyp des Beamten schlechthin. Ruanda ist für sie nur so lange interessant, wie es geordnet und strukturiert zugeht. Auch die afrikanischen Figuren bieten kaum Identifikationsangebote, sind entweder zu blass, wie etwa die Tutsi Erneste, oder grundsätzlich unsympathisch wie Agathe.

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Süselbeck betont in seiner Analyse des Romans ebenfalls, dass der Protagonist wenig Anlass zur Identifikation biete, doch sein Bericht, »der etwas von einer kompromisslos ehrlichen Beichte« habe, ziehe »den Leser immer wieder auf seine Seite.« Süselbeck 2011, S. 195.

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Die Versteigerung der Toten Neben den Romanfiguren sind es insbesondere die Beschreibungen im Kontext des Genozides, welche irritieren und auf diese Weise die Distanz zum Erzählgegenstand schaffen. Bereits zu Beginn seiner Erzählung wählt David Worte, welche an die oftmals derbe Erzählweise in Hilsenraths im Märchen vom letzten Gedanken erinnern. Über den Genozid heißt es: »Mir kam es manchmal vor, als läge ich im Innern der Erde, als säße ich in einem stinkenden Ungeheuer, das dann und wann einen Rülpser von sich gab, mit lautem Furz Verdauungsgase abließ, die all den verschlungenen Leichen entstiegen.« (HT 13) Die Wortwahl im Angesicht der Opfer eines Genozids unterminiert schon zu Beginn des Romans die Erwartung des Lesers, auf den folgenden Seiten einen sachlichen oder vermeintlich objektiven Bericht zu erhalten. Auf den ersten Seiten des Romans finden sich noch weitere vergleichbare Passagen. So vergleicht David an den Rahmenerzähler gewandt den Leichengeruch in Kigali während des Genozids mit dem einer Kadaversammelstelle in der Schweiz: Es roch wie bei der Kadaversammelstelle im Lerchenfeld, erinnerst du dich, wo man die tote Katze hinbringen musste, oder das Rind, das die Geburt seines ersten Kalbes nicht überlebt hatte. So roch es, nur unvergleichlich stärker, es war, als säße man selbst in einer der Wannen, in die sie damals die Kadaver legten. Anfangs hielt ich es keine Minute aus, ohne mich zu übergeben. Selbst im Haus war es zu riechen, und ich musste mich zwingen, das Regenwasser zu trinken. Ich hatte von den Leichen gehört, die den Nyabarango hinunter trieben, und ich wurde die Vorstellung nicht los, das Wasser, aus dem wir Menschen zu einem Großteil bestehen, könnte mitverdunsten. Der Regen bestand aus Leichenwasser, und ich hätte viel dafür gegeben, es wenigstens abkochen zu können.71 (HT 11) Der irritierende Vergleich zwischen dem Leichengeruch der Tierkadaver und jenem der ermordeten Tutsis ist der Versuch, dem außenstehenden Schulfreund das Grauen des Genozids näherzubringen. Dennoch zeigt sich in der Verknüpfung zwischen der Kadaversammelstelle und dem Genozid im fernen Ruanda, dass Sprache kaum ausreicht, um das Grauen in Worte zu fassen und einem Menschen im fernen Europa begreiflich zu machen. In vergleichbar irritierender Weise geht es weiter, wenn der Rahmenerzähler die Massaker des Genozids mit dem Fleischkonsum Davids verknüpft, da er sich wundert, »dass ihn die ganze Sache, so schrecklich sie auch gewesen sein mag, nicht daran hindert, Eingeweide an einer roten Soße zu essen.« (HT 14) Die irritierenden Passagen zu Beginn des Romans sorgen dafür, dass das Folgende mit der nötigen Distanziertheit rezipiert wird.

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Der Erzähler in Kain und Abel in Afrika verweist in vergleichbarer Weise auf den alles überlagernden Leichengeruch, welchen man nicht mehr loswerde, sobald man ihn einmal eingeatmet habe. (vgl. KAA 211) Parallelen wie diese legen nahe, dass Bärfuss Buchs Roman oder Zeitungsartikel des Autors durchaus gut bekannt waren.

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Nahezu Davids gesamter Bericht ist darüber hinaus durch sarkastische Kommentare und Zynismus geprägt. Die makabre Wortwahl irritiert dabei beständig. Sarkastisch konstatiert David in Bezug auf die Wahrnehmung des Genozids in der westlichen Welt: »Und trotzdem hieß es wenig später, das Land versinke im Chaos, aber das ist Unsinn, es war kein Chaos. Bloß weil ein paar Leichen auf den Straßen lagen, heißt das noch lange nicht, dass Unordnung herrschte.« (HT 58) Ähnlich irritierend erscheint auch eine Passage zu Beginn des Romans über die Rolle der Schweizer, in welcher David in Bezug auf seinen Gärtner Théoneste berichtet: Er habe ihnen gesagt, dass ich Schweizer und also auf ihrer Seite sei. Wäre ich Belgier gewesen, sie hätten mich ohne viel Federlesen totgeschlagen, aber diese Mörder, die jeden umbrachten, der in seiner Identitätskarte unter Ubwoko die falschen drei Einträge gestrichen hatte, hielten mich für einen Verbündeten ihrer Sache, einen Mitarbeiter wie alle Schweizer in den dreißig Jahren zuvor, seit wir in dieses Land gekommen waren. Warum sollte sich daran etwas geändert haben, nur weil sie jetzt Frauen die Brüste abhackten und Schwangeren die ungeborenen Kinder aus dem Leib schnitten? Schließlich waren wir es gewesen, die ihnen die Verwaltung beigebracht hatten, das Wissen, wie man eine Sache von dieser Größe angeht, und es spielt keine wesentliche Rolle, ob man Ziegelsteine oder Leichen abtransportiert. (HT 15) Beiläufig wird von unvorstellbaren Grausamkeiten berichtet, wobei zugleich bereits zu diesem frühen Zeitpunkt der Erzählung die Verstrickung der Schweizer in den Genozid betont wird. Die geschilderten Grausamkeiten reißen den Leser aus der Erzählung heraus – in der Folge ist es unmöglich, den Roman zu lesen, ohne weitere vergleichbare Passagen zu erwarten. Davids Zynismus in Bezug auf die Arbeit der Schweizer wird im Laufe der Erzählung immer radikaler. In Zusammenhang mit der Unterdrückung der Tutsis durch die Hutu-Mehrheit beschreibt er etwa den schweizer Standpunkt: Natürlich fanden wir die Unterdrückung der Langen ungerecht, aber wir entschuldigten sie, weil dieses Problem eine Büchse der Pandora war und jeder, der es im Namen der Gleichheit und der Brüderlichkeit lösen wollte, Mord und Totschlag riskierte. Sicherheit war wichtiger als Gerechtigkeit, jedenfalls war sie ihre Voraussetzung – und natürlich auch die Bedingung für unsere Entwicklungsarbeit.72 (HT 85f.)

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Vor diesem Hintergrund bezeichnet David die dem Genozid vorangegangenen Massaker an den Tutsi als die »notwendigen Geburtswehen einer Republik«. (HT 89) Erst der steigende Druck auf die Tutsi im Vorfeld des Genozides lässt diese in den Fokus der Schweizer Entwicklungsarbeit rücken, woraufhin ein »Projekt zur Entwicklung der Menschenrechte, etwas, das uns dreißig Jahre nicht einen Tag beschäftigt hatte« (HT 102) angestoßen wird.

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Der Zynismus ist kaum zu übersehen: die Angst vor Mord und Totschlag hält die Schweizer davon ab, aktiv zu werden. Die Tatenlosigkeit des Westens – für den die Schweizer stellvertretend stehen – war eine der Grundvorrausetzungen für den Genozid. Solchermaßen kritische Passagen voller Sarkasmus fordern eine kritische Reflektion des Lesers ein. Die indirekte Verstrickung der Schweizer in die Organisation des Genozids wird ebenfalls auf sarkastische Weise beschrieben: Das Land wollte die Demokratie, und wer war berufener als die Direktion für Entwicklungszusammenarbeit der Schweizerischen Eidgenossenschaft, diesem Land die Spielregeln der Demokratie beizubringen? Der kleine Paul besann sich darauf, dass wir Dienstleister waren und es nicht an uns war, zu entscheiden, wessen ein Land bedurfte. Wir hatten diese wilden Leidenschaften, die Passionen, die Bedürfnisse, diesen Hunger nach Streit lediglich in geordnete Bahnen zu lenken, und welche Möglichkeit war besser als den Leuten zu zeigen, wie man eine ordentliche Radiostation betreibt, ihnen hilft, dem Wachhund der Demokratie Zähne zu verleihen? (HT 121) Mit dem Wissen, dass der Genozid ohne die Mordaufrufe des ruandischen Radiosenders »Radio-Télévision Libre des Mille Collines« unmöglich gewesen wäre, wird die Bedeutung dieser Passage evident. In gleicher ironisch-sarkastischer Weise wird auch der weitere Aufbau des Radiosenders beschrieben. (vgl. HT 123f.) Ironie im Zusammenhang mit der brutalen Hetze des Radiosenders scheint deplatziert und irritiert. Sarkastisch gerät auch Davids Fazit in Bezug auf den Aufbau des Radiosenders: Gut, es war nicht unsere Absicht gewesen, die Völkermörder das Handwerk zu lehren, es war gewiss nicht unsere Schuld, wenn sie das Radio zu einem Mordinstrument machten, aber irgendwie wurde ich trotzdem nie das Gefühl los, einem sehr erfolgreichen Projekt der Direktion zu lauschen.73 (HT 125) Neben dem Sarkasmus fordert auch der immer wieder deutlich hervorscheinende Eurozentrismus des Erzählers den Leser dazu auf, die Arbeit der Schweizer Direktion kritisch zu hinterfragen, etwa wenn David die Ansicht der Direktion vermittelt, bei den Tutsi-Rebellen handle es sich um Kerle ohne Idee und Moral (vgl. HT 126), nur um im Anschluss eine Verhaltensempfehlung für die Tutsis der FPR auszusprechen: Es reichte nicht, auf einem Heimatland zu bestehen, es reichte nicht, ein vergangenes Unrecht sühnen zu wollen, es reichte nicht, die Ehre der Väter wiederher73

In seiner Erzählung geht David noch einen Schritt weiter und betont, dass nahezu alle strukturellen Voraussetzungen für den Genozid, von der Etablierung der Bürokratie bis hin zur Errichtung einer funktionierenden Infrastruktur, auf die Arbeit der Entwicklungshilfe zurückzuführen seien. (vgl. HT 142 sowie 179f.)

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stellen zu wollen. Es reichte nicht und war verbrecherisch, wenn dadurch die Arbeit auf den Feldern, die Bildung in der Schule, der Friede des Landes gefährdet wurden. Wir waren Europäer, wir wussten, wer die Verlierer des Krieges waren, und wir wussten, dass sie ihre historische Niederlage akzeptieren mussten, auch wenn ihre Vertreibung ein Verbrechen gewesen war. Aber die Sühne hätte ein neues Verbrechen bedingt, einen neuen Krieg, und es ging darum, aus diesem ewigen Kreislauf von Rache und Vergeltung auszubrechen, den bitteren Brocken zu schlucken, nicht für sich selbst, nicht für das eigene Leben dieser landlosen Soldaten. Ihr Leben war verpfuscht, ihre Zukunft nur der Tod in der Fremde, es gab nichts, mit dem sie sich trösten konnten, und sie hatten das zu akzeptieren. Wenn sie die Hoffnung brauchten, dann blieb ihnen nur der Glaube an eine bessere Zukunft für die Kinder ihrer Brüder, die noch in diesem Land lebten und für die wir kämpften, jeden Tag, mit immer größeren Mühen, in immer längeren Diskussionen, Sitzungen. (HT 127) Die in dieser Passage artikulierten, sarkastisch überspitzt formulierten eurozentrischen Anmaßungen des Erzählers fordern zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit Ruandas auf – wie auch an anderen Stellen des Romans wird die Geschichte des Landes zwar angerissen, darüber hinaus verlangt die Lektüre jedoch immer wieder eine kritische Recherche, da diese Grundvoraussetzung für ein Verständnis vieler, der zunächst irritierenden, Anspielungen ist. Dies gilt insbesondere für den kolonialen Hintergrund Ruandas. So knüpft der Erzähler in Bezug auf die dem Genozid vorangehenden Massaker pädagogisierend an den kolonialen Diskurs an: Es gehörte sich nicht, selbst wenn es Gründe dafür geben mochte. Auch wenn es ihre Sitte war, immer gewesen war, auch wenn Totschlagen ihre Kultur war. […] so wenig sich die internationale Presse für dieses kleine, ruhige, friedliche Land im Herzen Afrikas interessiert hatte, so sehr interessierte sie sich für Bilder von Massakern, von Gräueltaten an der Zivilbevölkerung, für die Geschichte von Mord und Totschlag. Die physische Auslöschung des politischen Gegners war nicht nur unmoralisch, sondern inopportun und der eigentlichen Sache, der Entwicklung, abträglich. Das sagten wir ihnen, und sie machten lange Gesichter und nickten betroffen, und dann gingen sie nach Hause, schrieben Mordaufrufe und bestellten hunderttausend geschliffene Macheten chinesischer Produktion. (HT 128) Zwar scheint der Aufruf zum Gewaltverzicht legitim, doch auch hier irritiert die Art der Botschaft: auf der einen Seite die Europäer, gänzlich verhaftet in der Vorstellung der eigenen Superiorität, auf der anderen Seite die »primitiven« Ruander, bei denen »Totschlagen« vermeintlich Teil der Kultur ist. Insbesondere die eurozentrische Perspektive wird wiederholt hinterfragt, wobei eine Passage von besonderer Bedeutung ist: Unmittelbar vor dem Beginn des Genozids entscheidet sich David,

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die in den Virungas lebenden Berggorillas zu besuchen. Bereits die Diskrepanz zwischen dem sich zu diesem Zeitpunkt anbahnenden Genozid und der touristischen Aktivität irritiert und ist als Aufforderung zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung Afrikas zu verstehen. Kommentare des Erzählers unterstreichen dies, konstatiert er doch in Bezug auf die Begegnung mit den Gorillas: »ich vermute, die meisten der Eingeweihten hätten jeden einzelnen Gorilla ohne zu zögern gegen zehn, hundert, sogar tausend Menschenleben eingetauscht. Arme, zerlumpte Analphabeten gab es überall auf der Welt, aber Berggorillas lebten nur hier in den Virungas.« (HT 146) Der Vergleich gewinnt wenig später an Virulenz, als der Erzähler davon berichtet, dass zeitgleich mit seiner mystisch beschriebenen Begegnung mit den Gorillas (vgl. HAT 147ff.) einige ruandische Kinder vergewaltigt und brutal ermordet werden74 : »und während wir abstiegen, brachten die Männer die Kinder um, sechs Mädchen und den kleinen Jungen, während ich beseelt war von der Begegnung mit den Weisen [Gorillas] vom Berg, machten die Männer mit den Mädchen, was Männer immer mit Mädchen gemacht haben«. (HT 150) Wie an anderen Stellen des Romans spielt Bärfuss in dieser Passage mit unvereinbaren Gegensätzen, verstört und irritiert den Leser und unterbindet auf diese Weise den Lesefluss. Am Ende des Romans folgt die finale Abrechnung des Erzählers mit einem zweiten, für die europäische Wahrnehmung des afrikanischen Kontinents entscheidenden, Aspekt: der Entwicklungshilfe. Zunächst kritisiert David das Verhalten der Hilfsorganisationen, welche sich nur vor die Kameras drängten, um Spendengelder zu erhalten (vgl. HT 204) und die jeden Morgen eine »Versteigerung der Toten« (HT 206) veranstalteten, bei welcher sie den Pressevertretern eine möglichst hohe Opferzahl präsentierten. In diesen Kontext fällt die wohl zynischste Passage des Romans, in der David die Situation der geflüchteten Hutus in einem Flüchtlingslager in der Nähe des Nyiragongo beschreibt: diese beinahe perfekte Hölle, der Vulkan, die Leichen, war nicht die Strafe für die Mörder, sie war die Voraussetzung, damit die Mörder aufgepäppelt wurden. Und es war ein guter Preis, denn alles in allem starben doch nicht mehr als einige Zehntausend von denen, die einige Hunderttausend umgebracht hatten. Doch ihr Glück war, vor den Augen der betroffenen Welt zu krepieren, und ein Tod vor laufender Kamera ist mehr wert als hundert ungesehene Tode. Und wenn man auch wusste, wer hier starb, und man um das Lager einen Stacheldrahtzaun hätte ziehen müssen, die Mörder einsperren und vor Gericht hätte stellen müssen, so brachte man dies im Namen der Menschenliebe natürlich nicht übers Herz. (HT 205) Der Umgang mit Nähe und Distanz wird hier direkt verhandelt: erst die Kamera macht das Grauen greifbar, bringt es aus der Ferne in die heimischen Wohnzimmer. 74

In Buchs Roman findet sich eine sehr ähnliche Passage. (vgl. KAA 93)

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Zugleich wird die damit einhergehende Problematik kritisiert: der oftmals beliebige Fokus der Kameras, welcher für die geflohenen Hutu-Täter – abgesehen von einigen Zehntausenden, die an Unterernährung und Krankheiten starben – die Rettung bedeutete. Für die Tutsis hingegen hatten sich die Medien während des Genozids kaum interessiert.75

6.2 Der lange Schatten 6.2.1 Einführung Kann Jaumanns Kriminalroman der Komplexität des ersten Genozids des 20. Jahrhunderts gerecht werden und diesen mit der nötigen Differenziertheit in die vorrangig auf Spannung ausgelegte Handlung einarbeiten? Wie in den vergangenen Kapiteln wird auch in diesem Kapitel die Frage gestellt, ob sich in dem Roman Erzählstrategien und Muster finden lassen, welche die zuvor analysierten Romane der deutschsprachigen Genozidliteratur prägen. Anders als Bärfuss’ Roman über den Genozid in Ruanda wurde Bernhard Jaumanns Der lange Schatten in der deutschsprachigen Öffentlichkeit kaum besprochen. Dies liegt neben dem eher unbekannten Autor auch an der Wahl des Themas und des Ortes der Handlung: Ein Kriminalroman, welcher zu großen Teilen in Namibia spielt und der darüber hinaus einen zeitlich fernen Völkermord thematisiert, hat ein deutlich geringeres Bestsellerpotential als ein Roman über den Genozid in Ruanda. Dennoch ist der Roman für diese Arbeit von Interesse, da er zum einen eine aktuelle literarische deutschsprachige Perspektive auf den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts darstellt und zum anderen, da er auf Gerhard Seyfrieds Roman Herero76 , welcher den Genozid ebenfalls behandelt, als Quelle zurückgreift.77 Jaumanns Roman zählt zu den wenigen postkolonialen Romanen der deutschsprachigen Literatur. Es verwundert daher nicht, dass in

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Wiederum findet sich eine vergleichbare Passage in Buchs Roman über den Genozid in Ruanda, in welcher Kritik an der Rettung der Täter und der Missachtung der Opfer geübt wird. (vgl. KAA 94) Darüber hinaus scheint es, dass Bärfuss bei der Formulierung der oben zitierten Passage womöglich unter direktem Einfluss der Lektüre von Buchs Roman stand. Dort heißt es in Bezug auf ein Flüchtlingslager: »Nach zweistündiger Fahrt im Schritttempo habt ihr Mugunga erreicht: keine Vorhölle und kein Eingang zur Unterwelt, sondern der tiefste Kreis der Hölle, ein afrikanisches Hiroshima.« (KAA 107) Seyfried, Gerhard: Herero. 1. Auflage. Berlin: Aufbau 2004. Im Fließtext zitiert als ›He‹. Jaumann gibt Seyfrieds Roman explizit als Quelle für seinen Roman an. (vgl. DlS 312) Eine besondere Berücksichtigung von Seyfrieds Roman erscheint für diese Arbeit nicht zielführend, da der Völkermord in dem genannten Werk lediglich eine untergeordnete Rolle spielt, die Analyse von Der lange Schatten bietet jedoch die Möglichkeit, Seyfrieds Roman teils miteinzubeziehen.

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der Auseinandersetzung mit seinem Werk – der Roman ist der dritte und letzte Teil einer Reihe Namibia-Krimis mit der namibischen Ermittlerin Clemencia Garises – der Fokus auf der postkolonialen Thematik liegt. So attestiert Michaela Holdenried Jaumanns Romanen: »Seine Garises-Krimis sind realistische Romane; sie funktionieren als Porträt einer postkolonialen Gesellschaft und ihrer Konflikte (die nicht nur, aber überwiegend historisch bedingt sind).«78 Bei seiner Arbeit an dem Roman kam dem Autor zugute, dass er sechs Jahre in Namibia lebte.79 Hans-Volker Gretschel verweist im Interview mit Marianne Zappen-Thomson darauf, dass Jaumann aufgrund der Lehrtätigkeit seiner Frau an der DHPS (Deutsche Höhere Privatschule Windhoek) tiefe Einblicke in das Leben in Namibia und insbesondere in das Leben in Katutura, einer Vorstadt Windhoeks, in welcher auch ein Teil der Handlung von Der lange Schatten spielt, erhalten habe.80 Gretschel gibt in dem Interview, welches vor dem Erscheinen von Jaumanns drittem Namibia-Roman geführt wurde, jedoch zu bedenken, dass Jaumanns Rückkehr nach Deutschland die Qualität des zu der Zeit in Arbeit befindlichen Projekts beinträchtigen könne, insbesondere, da die Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit »ein sehr ambitiöses Thema«81 sei. Wie bei Timms Morenga ist aufgrund der deutschen Herkunft des Autors auch im Falle von Jaumanns Roman die Frage nach den Bezügen zur Shoah naheliegend. In Timms Roman ist die Shoah immer präsent, der Autor zieht historische Parallelen und betont seine Sichtweise, der zufolge die Kolonialverbrechen der Deutschen eine Art Testlauf für die Verbrechen der Nationalsozialisten waren. Darüber hinaus finden sich in Timms Roman auch immer wieder literarische Verknüpfungen zwischen der Darstellung der Shoah und den kolonialen Exzessen. Von dieser Herangehensweise unterscheidet sich Jaumanns Roman elementar, weshalb in diesem Fall eine Analyse der Bezüge zur Shoah nicht zielführend erscheint. Dirk Göttsche weist in seiner Betrachtung des Romans dennoch auf die in Der lange Schatten thematisierte Verknüpfung von Kolonialverbrechen und Shoah hin.82 Zwar finden sich in

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Holdenried, Michaela: Weiße Flecken kollektiver Erinnerung. Afrika als weiter Raum für die Kriminalliteratur (Mankell, Jaumann, Herrndorf)? In: Kulturbegegnung und Kulturkonflikt im (post-)kolonialen Kriminalroman, hg. von Michaela Holdenried, Barbara Korte et al. Bern: Peter Lang 2017. S. 67–85, hier: S. 75. Vgl. Gretschel, Hans-Volker; Zappen-Thomson, Marianne: Anschreiben gegen das Vergessen. Hans-Volker Gretschel und Marianne Zappen-Thomson im Gespräch über Bernhard Jaumann, Namibia und die SWAPO. In: Bernhard Jaumann: Tatorte und Schreibräume – Spurensicherungen, hg. von Andreas Erb. Bielefeld: Aisthesis 2015. S. 101–115, hier: S. 103. Im Folgenden zitiert als ›Gretschel; Zappen-Thomson 2015‹. Vgl. ebd. Ebd., S. 110. Vgl. Göttsche, Dirk: »Die Schatten der Vergangenheit«. Kolonialzeit und Geschichtspolitik in Bernhard Jaumanns Namibia-Krimis. In: Literatur als Interdiskurs: Realismus und Normalismus, Interkulturalität und Intermedialität von der Moderne bis zur Gegenwart: eine Fest-

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Person des Eugenikers Eugen Fischer83 (vgl. DlS 85f. sowie 206), wie Göttsche richtigerweise anmerkt, tatsächlich auch in Der lange Schatten Hinweise auf Kontinuitätslinien ausgehend vom kolonialen Rassismus hin zum Rassenwahn der Nationalsozialisten, diese werden jedoch anders als in Timms Roman kaum ausgeführt. Abseits davon finden sich weder literarische noch historische Anknüpfungen an die Shoah oder die Shoah-Literatur. Vor diesem Hintergrund werden in diesem Kapitel lediglich zwei Aspekte untersucht, welche in den anderen in dieser Arbeit behandelten Romanen eine besondere Rolle spielen: Die Auseinandersetzung der Protagonisten mit ihrer eigenen Identität sowie im Anschluss die Frage nach der für das Schreiben über einen Genozid notwendigen Distanz zum Erzählgegenstand.

6.2.2 Amulette und böse Geister – Kolonialklischees in Der lange Schatten Bei einem Roman der postkolonialen deutschsprachigen Literatur stellt sich zwangsläufig die Frage nach der Identität der Romanfiguren. Göttsche lobt in seiner Betrachtung von Jaumanns Werk die Gestaltung der Romanfiguren, Jaumann gelinge es, die Modellierung politisch-historischer Zusammenhänge und gesellschaftlicher Konflikte mit einer entschiedenen Individualisierung seiner Figuren zu verbinden, sodass auch Nebenfiguren nicht als Allegorien ihrer Herkunft oder ›Rasse‹ agieren, sondern als Menschen mit spezifischen Erfahrungen, Gefühlen, Erwartungen und Ängsten. Der lakonische, gelegentlich ins Grotesk-Komische streifende Ton des Erzählens verhindert dabei, dass diese Individualisierung ins Pathetische abgleitet.84 Vor dem Hintergrund von Göttsches beinahe euphorischer Einschätzung gilt es, insbesondere die wichtigste Nebenfigur des Romans einer eingehenden Analyse zu unterziehen. Zuvor ist jedoch ein Blick auf den Autor Jaumann von Interesse. Wie Timm, Gstrein und Bärfuss hat auch Jaumann – mit Ausnahme seiner Zeit in Namibia sowie seiner Recherchen – keine Verbindung zu seinem Erzählgegenstand. Anders jedoch als die Erstgenannten, die für ihre Erzählungen konsequent eine europäische Perspektive, zu der sie aufgrund ihres kulturellen Hintergrundes einen direkten Zugang haben, in ihren Werken wählen, versucht sich Jaumann an der im postkolonialen Kontext problematischen Hineinversetzung in seine namibischen Figuren. Bereits dieser Aspekt verdeutlicht die Nähe zu Seyfrieds Herero, der für

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schrift für Rolf Parr zum 60. Geburtstag. München: Wilhelm Fink 2016. S. 497–510, hier: S. 509. Im Folgenden zitiert als ›Göttsche 2016‹. Zur Person Eugen Fischers vgl. auch Kapitel 2.6.1 dieser Arbeit. Göttsche 2016, S. 500.

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seinen Roman zwar, wie Timm, einen deutschen Protagonisten, den Kartographen Carl Ettmann, wählt, jedoch, anders als Timm, kapitelweise aus der Sicht des Hereros Petrus berichtet. Ein zentrales Element in diesen Kapiteln sind die immer wieder genannten Ahnen, die das Denken und Handeln von Petrus bestimmen. (vgl. etwa He 21; 42) Nahezu identisch verhält es sich mit der Romanfigur Kaiphas, einem jungen Herero, in Jaumanns Der lange Schatten. Wie Seyfrieds Petrus ist die Figur gezeichnet wie die Autochthonen in den Kolonialromanen. In nahezu jeder Passage, in welcher aus seiner Perspektive berichtet wird, ist vom »Gegenzauber« (DlS 8), einem »Talisman« (DlS 8; 69; 162), von Geistern (vgl. DlS 9), seinem »Amulett« (DlS 54; 221) oder dem geradezu ikonischen Lederbeutel (vgl. DlS 70), in dem er seinen Talisman oder sein Amulett bei sich trägt, die Rede. Wenn Kaiphas sich fürchtet, greift er nach dem Gegenstand. Die Skizzierung des Schwarzen, der immer ein Amulett als Schutz gegen die bösen Geister bei sich trägt, wirkt wie die Reminiszenz an deutschsprachige Kolonialromane aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Vor diesem Hintergrund erscheint Göttsches Einschätzung, die Nebenfiguren des Romans seien »keine Allegorien ihrer Herkunft oder ›Rasse‹«, durchaus fraglich. Doch Jaumann geht in seinem Roman in Bezug auf den Herero noch weiter. So beschreibt er, wie Kaiphas, der sich in Berlin in der Nähe des Zoos befindet, die Großstadtluft einatmet: »Er sog die feuchte Luft ein, glaubte für einen Moment die Ausdünstungen von Zebras und Springböcken aus ihr herauszuschnuppern.« (DlS 70) In diesem Satz wird das Klischee vom naturverbundenen Schwarzen bedient, der scheinbar mühelos die Ausdünstungen diverser Wildtiere erkennen und zuordnen kann.85 Geradezu absurd wird dies, wenn man Kaiphas’ Herkunft berücksichtigt: der junge Herero stammt aus der Windhoeker Vorstadt Katutura. Zwar scheint es möglich, dass ein junger, in städtischen Verhältnissen aufgewachsener Herero die namibische Wildnis so gut kennt, dass er die Gerüche der verschiedenen Tierarten voneinander unterscheiden kann, dennoch wirkt die Passage klischeehaft. Wie Seyfrieds Petrus hört Kaiphas darüber hinaus immer wieder die »Stimmen der Ahnen« (DlS 112; 115; 235), welche ihm vorgeben, wie er zu handeln habe. Wie eine spezifische und eigenständige Figur im Sinne von Göttsches Eischätzung wirkt der schablonenhaft gezeichnete, zahlreichen Klischees der Kolonialliteratur entsprechende Kaiphas nicht. Offensichtlich groteske Elemente, die offenbaren würden, dass Jaumann bewusst mit den Klischees spielt, sucht man in den Passagen, die dem jungen Herero gewidmet sind, ebenfalls vergebens. Im Gegenteil, Jaumann greift im Zusammenhang mit Kaiphas auch in weiteren Romanpassagen Klischees auf: So wird die insbesondere mit dem Maji-Maji-Aufstand in der ehemaligen deutschen Kolonie Deutsch-Ostafrika verbundene schama85

Auch das Klischee des vermeintlich primitiven Afrikaners wird – wohl unbeabsichtigt – in dem Roman bedient, wirkt der Berliner Bahnhof für Kaiphas doch wie »ein toter Riese aus der Zeit, in der es noch Riesen gegeben hatte, die Menschen fraßen.« (DlS 54)

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nisch bedingte Vorstellung von der eigenen Unverwundbarkeit in dem Roman von Kaiphas vor seiner finalen Konfrontation mit deutschen Sicherheitskräften übernommen: »Kaiphas hatte keine Angst. Sie würden nicht schießen, und wenn doch, würden die Kugeln von seiner Haut abprallen. Wirkungslos würden sie zu Boden fallen« (DlS 238). Anhand der Romanfigur werden die Probleme offensichtlich, die mit der Übernahme einer dem Autor fremden Perspektive einhergehen. So wird mittels der Figur Kaiphas weniger die tatsächliche namibische Identität des Hereros verhandelt, sondern vielmehr die durch die Kolonialliteratur festgeschriebene Vorstellung von dieser übernommen. Ähnlich problematisch ist die beinahe mystische Passage, welche auf den Tod Kaiphas folgt und die wohl den Versuch darstellen soll, die letzten Momente des Hereros aus dessen Sicht zu schildern: In deinem Rücken versperren die steilen Felsen des Waterbergs den Fluchtweg. Nach Norden hin, wo Karunga wohnt, der rote Mann, der Gott der Unterwelt. Doch dahin müssen die Hereros nicht mehr ziehen, denn Tod und Untergang kommen von sich aus zu ihnen. Sie sind schon da in Gestalt der Deutschen mit ihren Groot Rohrs, deren Geschoße durch die Luft heulen und kreischen bevor sie explodieren. Leute wie Rinder zerreißen sie in blutige Fleischlappen, und der Staub wirbelt hoch, als wolle er die Sonne verfinstern. Du hörst das Pfeifen und Knallen, das Ächzen der sterbenden Krieger, das Jammern der verwundeten Frauen und das Brüllen der im Busch verfangenen Rinder, aber du siehst nicht, wohin du fliehen könntest. Es gibt keinen sicheren Ort, denn die Groot Rohrs reichen überall hin. So wie dir geht es auch Michael mit seinen Kriegern aus Omaruru und dem Otjimbingwe-Volk und denen aus Okakarara. Und so wie du fragen sie sich vielleicht, ob es die Ahnen sind, die ihre Nachkommen durch die Deutschen bestrafen. Aber die Ahnen schweigen, und um dich wird es dunkel. Es ist Ondorera jondiro, die Dunkelheit des Todes, die sich herabsenkt. Du klammerst dich an den Gedanken, dass du dich täuschen kannst. Vielleicht wird es in Wahrheit hell, wenn es dunkel wird. Dann stürmst du voran, in die Richtung, aus der die Groot Rohrs schießen. Dein Körper ist von den Dornen verkratzt. Warmes Blut läuft an den Armen und Beinen hinab. Jetzt siehst du die Deutschen mit ihren Uniformen und ihren Schusswaffen. Ganz nah sind sie, und du sammelst ihre Kugeln mit deinem Körper ein. Dein Atem pfeift. Du wirst jetzt zu deinen Ahnen gehen.86 (DlS 244f.)

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Kaiphas’ Auftrag wird konsequent mit dem Krieg zwischen den Deutschen und den Hereros von 1904 verbunden, wobei der Herero sich selbst immer im Krieg sieht (vgl. DlS 57), den Kriegsschrei seiner Ahnen ausstößt (vgl. DlS 58) und den Tod seiner deutschen Feinde – in dem Fall eines Polizisten – mystisch verklärt. (vgl. DlS 59)

6. Afrika in der neueren deutschsprachigen Genozidliteratur

Die Passage soll zeigen, wie der junge Herero in dem Moment, indem er von den Kugeln deutscher Polizisten getroffen wird, eins mit seinen Ahnen wird und im Sinne einer kollektiven Leidenserfahrung der Hereros den Höhepunkt des Genozides erlebt. Jaumann, selbst Nachfahre der Täter, versucht sich hier an einer Übernahme der Opferperspektive, wobei er auf Seyfrieds Herero zurückgreift und aus der Kolonialliteratur bekannte Muster einfließen lässt, um die Gedanken des sterbenden Hereros zu beschreiben.87 Möglicherweise greift Jaumann bei den Passagen über Kaiphas auf Erfahrungen und Erlebnisse aus seiner Zeit in Namibia zurück, jedoch sind die Parallelen zu Seyfrieds Herero an vielen Stellen unverkennbar. Darüber hinaus scheint eine derartige Anhäufung von bekannten Stereotypen und Klischees aus der Kolonialliteratur ausgesprochen problematisch, unabhängig davon, ob einigen ein wahrer Kern zugrunde liegt. Dies gilt umso mehr, da Kaiphas keineswegs der einzige »Klischeeafrikaner« des Romans ist. Die namibischen Sicherheitsleute, die die Frau des deutschen Botschafters schützen sollen, werden undifferenziert als faul, unfähig oder machohaft beschrieben (vgl. DlS 28f.), die geringe Zahlungsmoral der Namibier wird kritisiert (vgl. DlS 33), amtliche Willkür der namibischen Behörden im Umgang mit deutschen Touristen angeprangert.88 In eine ähnliche Kategorie fällt auch die Äußerung eines hohen namibischen Beamten, der im Gespräch mit Clemencia Garises das »Baby-Shopping« (DlS 78) der Europäer und Nordamerikaner in seinem Land kritisiert. Die problematisch verklärte Beschreibung der Namibier ist nicht nur auf die Figur Kaiphas beschränkt. Vielmehr finden sich weitere, geradezu kitschige Verklärungen in dem Roman. So meint Clemencia Garises, die Protagonistin des Romans, in den Augen eines Herero-Jungen »die heiligen Feuer der Hereros brennen zu sehen, manchmal die Dürre zu spüren, die das Vieh verrecken ließ und die Männer unter den Ahnenbäumen zusammenführte. […] Das ganze alte Afrika mit seiner Glut

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Die Passage erinnert stark an die Schilderung der Vernichtungsschlacht am Waterberg in Seyfrieds Herero. (vgl. He 565f.; 578f.) Garises bezeichnet den Umgang zwischen der Frau des Botschafters mit dem Herero-Jungen an anderer Stelle ähnlich klischeehaft als »Hoffnung stiftend« (DlS 37). Auch auf Seiten der deutschen Figuren arbeitet Jaumann mit Klischees. Der deutsche Botschafter in Namibia sieht in Namibia einen »unbedeutenden Staat eines halb aufgegebenen Kontinents« (DlS 50), deutsche Busfahrer reden davon, die Polizei gehe wohl »Neger klatschen« (DlS 247).

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und seiner Not schien da auf«.89 (DlS 37f.) Mehr klischeebehaftetes Pathos in einem Satz scheint schwer vorstellbar. Neben den schwarzen namibischen Figuren findet sich mit dem Journalisten Claus Tiedke ein weißer namibischer Protagonist. Die Frage nach seiner Identität wird im Kontext der Kolonialgeschichte ebenfalls verhandelt, wobei deutlich wird, dass Jaumann die Hineinversetzung in den weißen Journalisten besser gelingt als jene in die Schwarzen. Tiedke lässt keinen Zweifel daran, dass er »ein weißer, deutschstämmiger Namibier« (DlS 83) ist. Dabei ist ihm die Unterscheidung zwischen »Deutschen« und »deutschstämmigem Namibier« wichtig. (vgl. DlS 110) Ethnische Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen in Namibia sind jedoch für den Journalisten zweitrangig, wie der Erzähler bereits zu Beginn des Romans festhält: Dass seine Muttersprache zufällig Deutsch war, hinderte ihn nicht daran, Namibia als sein Heimatland anzusehen. Dort war er geboren und aufgewachsen, es war genauso sein Land wie das seiner Mitbürger, egal, welche Hautfarbe sie besaßen und in welcher Sprache sie ihre ersten Worte gestammelt hatten.90 (DlS 11) Tiedke ist eine Figur »zwischen zwei Welten« (DlS 226), fühlt sich Deutschen und Namibiern verpflichtet (vgl. DlS 66) und will zwischen ihnen vermitteln. (vgl. DlS 243) In gewisser Weise erinnert er damit an Gottschalk aus Timms Morenga. Wie dieser fühlt sich auch der deutschstämmige Namibier zu einer schwarzen Namibierin, der Ermittlerin Garises, hingezogen (mit der er in den beiden ersten Teilen von Jaumanns Garises-Reihe eine Beziehung führt), wie Timm im Falle Gottschalks lässt auch Jaumann die Beziehung an der Herkunft scheitern.91 (vgl. DlS 67; 171; 185f.) Vor dem Hintergrund der oberflächlichen und klischeehaften Verhandlung der Identität der Romanfiguren mutet Göttsches nahezu vollumfänglich positives Fazit

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Im Kontext derartiger Passagen sowie der sämtlichen Afrika-Klischees entsprechenden Figur Kaiphas erscheint Göttsches Fazit zu Jaumanns Namibia-Krimis gewagt. So attestiert Göttsche Jaumanns Werk, dass Namibia »hier nicht mehr Gegenstand exotischer Projektionen oder interkultureller Identitätsverhandlungen in dem so deutschen Paradigma der Kontrastierung von Eigenem und Fremden, sondern ein Land wie viele anderen [sic!] mit eigenem politisch-historischen und gesellschaftlichen Profil« sei, Göttsche 2016, S. 501. Dennoch wird deutlich, dass auch Tiedke von der eigenen Superiorität ausgeht, wenn der Erzähler in Bezug auf die Delegation der Hereros und Namas, die zur Schädelrückführung nach Deutschland reisen, festhält, dass der Journalist »fast so etwas wie Mitleid mit diesen Hereros und Namas [empfand], die sich einbildeten, irgendwen in Europa würde es interessieren, was ihren Vorfahren angetan worden war.« (DlS 14) Eine unfreiwillige Komik vor dem Hintergrund der stereotypischen Romanfiguren Jaumanns erhält die Figur, da Tiedke denkt, er könne als Afrikakorrespondent »Reportagen schreiben, die das klischeebeladene Bild von Afrika zurechtrückten.« (DlS 103)

6. Afrika in der neueren deutschsprachigen Genozidliteratur

zu Jaumanns Werk merkwürdig an.92 Insgesamt wirkt Jaumann in vielen Passagen seines Romans zwar sehr darum bemüht, ein differenziertes Bild der verschiedenen namibischen Identitäten zu präsentieren, verliert sich dabei jedoch immer wieder in Klischees aus der Kolonialliteratur.

6.2.3 Namibia und Deutschland – Tiedkes neutrale Berichterstattung Die zeitliche Distanz zum Erzählgegenstand wird bereits auf den ersten Seiten des Romans reflektiert. Angekommen am Frankfurter Flughafen, konstatiert der mit der Herero und Nama-Delegation für die Schädelrückführung nach Deutschland gereiste Tiedke: Hier hatte man schon alles gesehen, hier interessierte sich niemand für afrikanische Folklore und schon gar nicht dafür, warum sie getragen wurde und was die ganze Delegation nach Deutschland führte und ob vor mehr als hundert Jahren eine kaiserliche Schutztruppe einen Kolonialaufstand blutig niedergeschlagen hatte. (DlS 12) Zum einen wird an dieser Stelle auf die vergangene Zeit verwiesen, zum anderen auf die gegensätzliche Wahrnehmung der Verbrechen. Kurz darauf wird diese Differenz nochmals explizit betont, wobei gezeigt wird, dass die zeitliche Distanz nicht zwingend zu einem Abschluss mit den Geschehnissen führt: In Deutschland war erheblich mehr Zeit vergangen als in Namibia. Zwei Weltkriege lagen zwischen damals und heute, eine kurze Republik, ein Tausendjähriges Reich, ein geteiltes Land und wiedervereinigtes neues, das sich mit seinem Geld gerade ganz Europa kaufte. Wer wollte da noch an die ehemaligen Kolonien denken? Wen juckte es, wenn in irgendwelchen Universitätskellern ein paar alte Schädel herumlagen? In Namibia hatte es gejuckt, es hatte gebrannt und geschmerzt. Der Schmerz hatte die Schatten der Vergangenheit lang und länger werden lassen, er hatte die Zeit zusammengestaucht, fast so, als wären die Schädel erst gestern aus ihren Gräbern geraubt worden. (DlS 13) In dieser Passage wird deutlich, dass in beiden Ländern objektiv betrachtet zwar eine identische Zeit vergangen ist, der Genozid für die Hereros und Namas im Gegensatz zu den Deutschen keineswegs ein Ereignis aus ferner Vergangenheit ist. Mit

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Tatsächlich übt Göttsche kaum Kritik an Jaumanns Krimis, sondern lobt vielmehr, dass diese »jene oft idealisierenden interkulturellen und exotischen Narrative [vermeiden], die einen guten Teil der Unterhaltungsromane beherrschen.« Göttsche 2016, S. 510. Darüber hinaus ist Göttsche überrascht, dass Jaumann Seyfrieds Herero als Quelle für seinen Roman nennt, obwohl der Vergleich beider Romane zahlreiche Parallelen offenbart.

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diesem Ansatz knüpft Jaumann an die nach wie vor virulente Diskussion um die Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland für die vom Rechtsvorgänger, dem Deutschen Kaiserreich, begangenen Verbrechen im heutigen Namibia an: Den Hereros waren sie [die geraubten Schädel] ein Beleg dafür, dass die alten Rechnungen auch nach einem Jahrhundert offenstanden. Ihrer Meinung nach sollten die Deutschen endlich ihre Schuld abtragen, mit Worten, mit Taten und mit Euros. Für viele von Claus’ deutschstämmigen Landsleuten stand dagegen ihr Ursprungsmythos auf dem Spiel. Ihre Vorfahren durften keine unmenschlichen Verbrecher gewesen sein. (DlS 13) Die Problematik wird später im Roman wieder aufgegriffen, wobei Tiedke die unterschiedlichen Standpunkte mit der angemessenen Distanziertheit vorstellt. Auf der einen Seite die deutsche Bundesregierung, die nicht an einem öffentlichen Schuldeingeständnis interessiert sein kann, da unmittelbar auf ein solches weitere Staaten Restitutionsansprüche geltend machen könnten, und auf der anderen Seite die Hereros und Namas, die neben einer offiziellen Entschuldigung finanzielle Entschädigungen fordern. (vgl. DlS 60f.) Darüber hinaus verweist Tiedke darauf, dass innerhalb Namibias keineswegs Einigkeit in Bezug auf mögliche Entschädigungen herrsche: Seit der Unabhängigkeit 1990 sah es die Regierung als vordringlich an, eine geeinte namibische Nation zu formen. Tribalismus galt dabei als größtes Hindernis, und wenn Stämme wie die Hereros oder die Namas direkte Verhandlungen mit einem auswärtigen Staat suchten, stieß das in namibischen Regierungskreisen verständlicherweise auf erhebliche Widerstände. (DlS 61) Indem Jaumann seinen Protagonisten Tiedke ohne eigene Wertung die Situation im Zusammenhang mit der Schädelrückgabe schildern lässt, gibt er dem Leser die Möglichkeit, diese mit der nötigen Distanz zu beurteilen. Immer wieder wird darüber hinaus in dem Roman die zeitliche Distanz zu Ereignissen im Zusammenhang mit der Frage nach der Verantwortung für die Taten verhandelt.93 Doch Jaumann greift noch auf ein weiters Stilmittel zurück, um die Distanz zum Erzählgegenstand zu wahren, welches entfernt an die dokumentarische Erzählweise von Timms Morenga erinnert. In nüchternen Worten schildert Kaiphas’ Auftraggeber die Situation im Gefangenenlager in der Lüderitzbucht (vgl. DlS 17f.), die Präparierung der Herero und Nama-Schädel vor dem Abtransport nach Deutschland (vgl. DlS 54) und die Vernichtung der Hereros in der Omaheke. (vgl. DlS 114) Wie in

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Die Frau des deutschen Botschafters, in dem Roman die Urenkelin des Eugenikers Eugen Fischer, stellt etwa die Frage, inwieweit sie verantwortlich für die (Un-)Taten ihres Urgroßvaters ist. (vgl. DlS 87)

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Timms Morenga darf auch in Der lange Schatten nicht von Trothas berüchtigte Proklamation fehlen, welche ebenfalls von Kaiphas’ Auftraggeber verlesen wird. (vgl. DlS 165) Des Weiteren montiert Jaumann weitere Dokumente respektive Artikel in seinen Roman, beispielsweise eine Pressemeldung der Berliner Charité zur Schädelrückgabe (vgl. DlS 223f.) sowie Teile eines Wikipedia-Artikels zu Eugen Fischer. (vgl. DlS 85) Von einer kunstvollen Anordnung historischer Dokumente in Verbindung mit einer dokumentarisch-neutral gehaltenen fiktiven Erzählung wie in Timms Morenga ist Jaumann dennoch weit entfernt.

6.3 Fazit Die beiden Romane zu den Genoziden auf dem afrikanischen Kontinent unterscheiden sich deutlich voneinander. So ist die Shoah in Bärfuss’ Hundert Tage durchgängig präsent. Mit der Romankonzeption lässt der Autor keine Zweifel daran, dass ein Schreiben in deutscher Sprache über einen Genozid ohne ein »Mitdenken« der Shoah nicht möglich ist. Dabei zieht Bärfuss in erster Linie Parallelen zwischen der Organisation der beiden – nur vermeintlich vollkommen gegensätzlichen – Genozide und unterstreicht dabei, dass ein funktionierendes Staatswesen, eine entwickelte Infrastruktur sowie funktionierende Hierarchien einen Genozid nicht verhindern, sondern vielmehr Grundvoraussetzung für die Durchführung des Massenmords sind. In Jaumanns Der lange Schatten ist die Shoah hingegen kaum präsent, einzig über den Eugeniker Eugen Fischer, der sowohl eine entscheidende Rolle bei der kolonialen Rassenforschung als auch bei der Etablierung der auf dieser aufbauenden Rassenideologie der Nationalsozialisten spielte, wird eine historische Verbindung zwischen den beiden Genoziden hergestellt. Die Frage nach der Identität der Romanfiguren prägt beide Romane. Bärfuss thematisiert zunächst insbesondere die Funktion und den kolonialgeschichtlichen Hintergrund der Identitätskarten. Diese Form des Ausweises war die strukturelle Grundvoraussetzung schlechthin für die Durchführung des Massenmords. Indem Bärfuss in seinem Roman die Bedeutung der Identitätskarten betont, dekonstruiert er zugleich die Illusion, die Ruander seien auch ohne die Passdokumente in der Lage gewesen, zweifelsfrei zwischen Hutus und Tutsis zu unterscheiden. Darüber hinaus wird durch die Vermittlung der Geschichte der Hutus und Tutsis deutlich, dass die vermeintlich differenten Ethnien vielmehr soziale Kasten mit Auf- und Abstiegsmöglichkeiten waren – die Identität war also keineswegs immer schon festgeschrieben. In dem Roman werden die Bezeichnungen Hutu und Tutsi vermieden, die Hutus sind die »Kurzen« und die Tutsis die »Langen«. Auf diese Weise wird der Versuch unternommen, die belasteten Begriffe zu ersetzen – die Reduzierung der beiden Gruppen auf körperliche Merkmale ist dabei jedoch ebenfalls nicht unproblematisch. Neben der vornehmlich historischen Auseinandersetzung mit der

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Frage nach der Identität stehen insbesondere die Protagonisten David und Agathe im Fokus. Anhand des jüngeren Selbst des Erzählers wird die Vorstellung von einer überlegenen, aus der Kolonialzeit stammenden »westlichen Identität« dekonstruiert. Immer wieder urteilt der schweizer Entwicklungshelfer über die vermeintlich unterentwickelten, dem Naturzustand näheren Ruander. Seine Geliebte Agathe hingegen lehnt ihre ruandische Identität zunächst entschieden ab, möchte sich so gut es geht europäisieren. Mit Zuspitzung des Konfliktes wendet sie sich schließlich immer stärker ihrer Herkunft zu und entwickelt sich zu einer radikalen Hutu – dabei wird jedoch deutlich gemacht, dass diese Entwicklung überlebenswichtig ist, damit sie nicht Gefahr läuft, selbst zum Opfer zu werden. David nimmt die Entwicklung seiner Geliebten zum Anlass, über die ruandische Identität Agathes zu urteilen und diese wie bei den vermeintlich dem Naturzustand näheren Ruandern festzuschreiben – hierin liegt eine Parallele zu den Männern in Gstreins Romanen, die ebenfalls über die Identität ihrer Frauen zu bestimmen suchen. In Jaumanns Roman gestaltet sich die Auseinandersetzung mit der Identität der Figuren deutlich weniger differenziert. Die wichtigste Nebenfigur des Romans, der Herero Kaiphas, erscheint als eine aus einem Kolonialroman entsprungene Figur. Wiederholt werden der Aberglaube sowie die Naturverbundenheit der aus der Windhoeker Vorstadt Katatura stammenden Figur betont. Dabei lässt Jaumann kaum ein Klischee aus. In diesem Kontext wird deutlich, warum der Versuch der Hineinversetzung in den »Fremden« insbesondere im postkolonialen Kontext problematisch ist. Passenderweise wird die deutsch-namibische Identität des deutschstämmigen namibischen Journalisten Claus Tiedke deutlich glaubhafter dargestellt – die Hineinversetzung in Tiedke, der einen dem Autor näheren kulturellen Hintergrund hat, fällt Jaumann sichtlich leichter. Anders als Jaumann hält Bärfuss sich, wie Timm in Morenga, konsequent an die Perspektive, zu welcher er einen direkten Zugang hat: derjenigen des Schweizers, der mit einem entsprechenden Abstand über die Ereignisse berichtet. Grundsätzlich ist die Wahrung der Erzähldistanz elementar für Bärfuss’ Roman. Schon die Rahmenhandlung ist auf Distanzerzeugung ausgelegt – in der verschneiten Schweiz erzählt der Erzähler einem Schulfreund Jahre nach seiner Rückkehr aus Ruanda von dem heißen Sommer des Genozids 1994. Doch die Rahmenhandlung erzeugt noch auf andere Weise Distanz, da der Leser von Davids Freund bereits auf den ersten Seiten des Romans den Rat erhält, das Erzählte aufgrund des unzuverlässigen Binnenerzählers David kritisch zu hinterfragen. Ähnlich wie bei Gstreins beiden Romanen handelt es sich darüber hinaus auch bei Bärfuss’ Romanerzählung um eine mehrfach gebrochene Vermittlung. Der Erzähler berichtet von den Erlebnissen seines jüngeren Selbst, wobei immer der nach wenigen Seiten zurücktretende Rahmenerzähler als weitere Vermittlungsinstanz vorausgesetzt werden muss. Darüber hinaus werden – vergleichbar mit der Erzählweise in Gstreins Handwerk des Tötens – Geschichten weitergegeben, welche auch David von Anderen

6. Afrika in der neueren deutschsprachigen Genozidliteratur

erfahren hat. Doch auch jenseits der Erzählstruktur ist der Roman auf die Wahrung einer Distanz zum Erzählgegenstand ausgerichtet. Der Erzähler David ist eine weitestgehend unsympathische Figur. Seine Berichte von den Opfern des Genozids sind gleichgültig und kalt, er handelt ausnahmslos opportunistisch und verbrüdert sich mit den Tätern des Genozids. Auch die Beziehung zu der Ruanderin Agathe, welche in erster Linie sexueller Natur ist, verstärkt die Distanz zwischen Leser und Protagonist, da Davids Erregung mit der zunehmenden Hetze seiner Geliebten gegen die Tutsis steigt. Das oftmals obszöne Vokabular tut dabei sein Übriges. Ähnlich derb sind auch Passagen zum Genozid selbst gehalten, wobei die Sprache teils an Hilsenraths Märchen vom letzten Gedanken erinnert. Die zahlreichen zynischen und sarkastischen Kommentare des Erzählers regen des Weiteren zur Hinterfragung des europäischen Standpunktes sowie der Rolle der Weltgemeinschaft im Kontext des Genozides an. Jaumann hingegen beschränkt sich weitestgehend darauf, die zeitliche Distanz sowie deren unterschiedliche Wahrnehmung in Deutschland und Namibia in den Vordergrund zu stellen.

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7. Die literarische Darstellung des Völkermords an den Armeniern und der Shoah in der dritten Generation

Im abschließenden Kapitel dieser Arbeit gilt es einen analytischen Blick auf zwei neuere Werke der deutschsprachigen Genozidliteratur zu werfen. Von besonderem Interesse für die Analyse ist der Umstand, dass die Autorinnen beide der dritten Generation nach einem der beiden großen europäischen Genozide angehören und somit auch ein Stück ihrer eigenen Geschichte verarbeiten. Darüber hinaus schließt sich mit den beiden Werken gewissermaßen der Kreis der in der Studie analysierten Romane, wird doch in beiden die Bedeutung der Erinnerung an den jeweiligen Genozid für die jüdische beziehungsweise für die armenische Kultur in den Nachfolgegenerationen behandelt. Beide Romane haben des Weiteren einige Gemeinsamkeiten. Zunächst einmal verarbeiten sowohl Mirna Funk als auch Katerina Poladjan in ihren Werken eigene Erfahrungen. Funks Protagonistin Lola kann durchaus als ein Alter Ego der Autorin angesehen werden. Ebenso verhält es sich mit Helen in Poladjans Hier sind Löwen. Dies bedeutet selbstredend nicht, dass es sich um autobiografische Werke handelt – beide Autorinnen nutzen eigene Erfahrungen lediglich als Grundlage für Passagen ihrer Werke. Auch die Romankonzeption der beiden Texte ist miteinander vergleichbar: In Winternähe zieht es Lola, nachdem sie sich in Deutschland zunehmend mit antisemitischen Einstellungen konfrontiert sieht, nach Israel, wo sie sich intensiv mit ihrer jüdischen Identität auseinanderzusetzen beginnt. Vergleichbar verhält es sich mit Poladjans Protagonistin Helen. Als Buchrestauratorin reist sie nach Armenien, um dort die spezielle armenische Buchbindekunst zu erlernen. Während ihres Aufenthaltes im Land ihrer Vorfahren beginnt sie damit, sich mit der armenischen Geschichte sowie ihrer Familiengeschichte zu befassen. Zwar wird die Handlung, anders als in Funks Winternähe, durch Rückblendenkapitel, in denen die Geschichte eines armenischen Geschwisterpaares während des Völkermordes an den Armeniern erzählt wird, unterbrochen, doch hängen auch diese mit Helens Identitätssuche zusammen: Helen restauriert die Familienbibel, welche die beiden Kinder bei der Flucht vor den Osmanen bei sich trugen. Die für die Analyse entscheidendste Parallele zwischen beiden Protagonistinnen ist jedoch

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Erzählen vom Genozid

ihre Identität: Lola hat jüdische und deutsche Vorfahren, sieht sich selbst als Deutsche und als Jüdin. Ebenso verhält es sich mit Helen: Sie hat einen deutschen Vater und eine armenische Mutter, betrachtet Armenien und Deutschland als ihre Heimat.

7.1 Winternähe 7.1.1

Einführung

Finden sich Erzählmuster und Erzählstrategien, welche die bisher in dieser Arbeit betrachteten Romane der deutschsprachigen Genozidliteratur prägen, auch in einem vergleichsweise neueren Roman zur Darstellung der Shoah? Diese Frage soll in diesem Kapitel im Zentrum stehen. Bei Funks Romandebüt Winternähe (2015) handelt es sich um den einzigen in dieser Studie behandelten Roman, welcher sich mit der Shoah, genauer mit der literarischen Auseinandersetzung mit dem Mord an den europäischen Juden in der dritten Generation auseinandersetzt. Die Kritiken zu Funks Erstlingswerk fielen weitestgehend positiv aus. Meike Fressmann konstatiert in ihrer Buchkritik in der Süddeutschen zwar, der Roman sei »gewiss nicht frei von Schwächen«, die Sprache »eher schlicht, die Dramaturgie nicht besonders einfallsreich«1 , dennoch findet sie lobende Worte für Funks Werk. Spannend sei »vor allem der Zusammenprall von Lolas Suche nach ihrer jüdischen Identität, der Lage in Israel und den Bedingungen des digitalen Zeitalters.«2 Insbesondere die von Fressmann betonte Suche der Protagonistin Lola nach ihrer Identität wird auch in weiteren Rezensionen hervorgehoben. So schreibt etwa Björn Hayer in seiner Rezension für die ZEIT in Bezug auf die deutsch-jüdische Identität der Protagonistin, Funk zeichne »in der Entwicklung ihrer selbstbewussten Heldin die Gespaltenheit einer deutsch-jüdischen Seele«3 . Neben der Frage nach der Identität stellt Hayer auch die Aufarbeitung der Geschichte in dem Roman heraus: Mit Radikalität und unverstellter Klarheit formuliert die 1981 in Berlin geborene Schriftstellerin und Journalistin eine Anklage der Nachkriegsgesellschaft, deren

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Fressmann, Meike: Ich-Suche unter dem Iron Dome. In: Süddeutsche Zeitung, 18.12.2015, S. 11. Ebd. Hayer, Björn: Spagat zwischen Geschichte und Zukunft. Internet-Publikation in: Zeit online: https://www.zeit.de/kultur/literatur/2015-10/judentum-antisemitismus-neue-juedisch e-generation-kat-kaufmann-mirna-funk. Erschienen: 07.10.2015. Eingesehen: 17.03.2021. Im Folgenden zitiert als ›Hayer 2015‹. Die von Hayer verwendete Formulierung »Gespaltenheit einer deutsch-jüdischen Seele« ist kritisch zu sehen, da diese – vermutlich unbeabsichtigt – ein antisemitisches Stereotyp bedient: Geht man von einer »Gespaltenheit« aus, so setzt dies die Annahme voraus, dass eine deutsch-jüdische Identität – wie etwa im Falle der Autorin Funk – nicht möglich ist.

7. Die literarische Darstellung des Völkermords an den Armeniern

Härte seit der Jahrtausendwende ihresgleichen sucht. Der Antisemitismus war nie weg, sondern hat sich lediglich in neuen Sprachformeln […] verkleidet.4 Vor diesem Hintergrund erscheint evident, dass die für die deutschsprachige Genozidliteratur zentralen Themen in Funks Winternähe von besonderer Bedeutung sind. Zunächst bleibt festzuhalten, dass sich bei einem Werk, welches der ShoahLiteratur der dritten Generation zugerechnet werden kann, die für die anderen behandelten Romane zentrale Frage nach Parallelen zur Shoah-Literatur respektive nach historischen Anspielungen auf den Judenmord erübrigt. Da in Funks Roman keine anderen Genozide thematisiert werden, scheint die Suche nach womöglich thematisierten historischen oder literarischen Verbindungen für diese Studie wenig zielführend. Somit wird in diesem Kapitel zunächst untersucht, in welcher Weise die Auseinandersetzung der Protagonistin mit ihrer eignen Identität den Roman prägt, wobei im ersten Teil die Frage nach der Bedeutung der Shoah für die jüdische Identität im Fokus steht. Im zweiten Teil steht die deutsch-jüdische Identität der Protagonistin Lola im Zentrum der Analyse. In einem abschließenden Schritt wird die Frage in den Blick genommen, ob sich auch in Hinblick auf die Einhaltung einer Distanz zum Erzählgegenstand Muster finden, die eine Beeinflussung durch die deutschsprachige Genozidliteratur seit Timms Morenga annehmen lassen.

7.1.2 Zwischen Israel und Deutschland – jüdische Identität der dritten Generation Die Erinnerung an die Shoah als ein zentrales Element jüdischer Identität Wie bereits in den Kritiken zu dem Roman anklingt, ist die Handlung von Funks Winternähe geprägt von der Auseinandersetzung der Protagonistin Lola mit ihrer eigenen Identität im Kontext der Shoah-Erfahrung des jüdischen Teils ihrer Familie. Bereits der Beginn der Romanhandlung verdeutlicht dies. Auf einer Feier, bei welcher Lola nicht anwesend ist, versieht ein Kollege aus der Medienbranche ein Selfie von ihr, welches man »im Rahmen der Feierlichkeiten mit einigen anderen Selfies von einigen anderen Instagram-Größen aufgehängt hatte« (Wn 15), mit einem Hitlerbart. Lola erfährt von dem Vorfall am Folgetag, da eine Facebook-Freundin, die bei der Feier anwesend war, ein Foto des entstellten Selfies taggt. (vgl. Wn 15) Dieser Vorfall – Lola nennt ihn fortan »Hitlerbartvorfall« – stößt bei der Protagonistin die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität an. Lola lerne »von einem auf den anderen Tag, ihre jüdischen Wurzeln als Kern ihrer Identität wahrzunehmen«5 , so der Germanist Hayer. In der Sache ist Hayer zuzustimmen, dennoch bleibt unklar,

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Ebd. Hayer 2015.

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warum der Germanist die problematische Vorstellung von einer Verwurzelung bemüht, statt beispielsweise von Lolas »jüdischer Herkunft« zu schreiben. Tatsächlich sind Leben und Identität des jüdischen Teils von Lolas Familie geprägt von ihrer jüdischen Herkunft und von der Auseinandersetzung mit der Shoah. Dies wirkt sich auch unmittelbar auf die Protagonistin aus, da sie aufgrund der frühen Scheidung ihrer Eltern große Teile ihrer Kindheit bei ihren jüdischen Großeltern in Ostberlin verbringt. So wird sie früh mit der Shoah, dem Lebensthema ihrer zum Zeitpunkt der Romanhandlung bereits verstorbenen Großmutter Hannah, einer Überlebenden aus Dachau, vertraut gemacht. (vgl. Wn 29) Hannah sah überall Vorboten »für das Sequel zum Holocaust« (Wn 19), sprach Zeit ihres Lebens »über nichts anders als den Holocaust«6 (Wn 29). Der konsequent zur Shoah schweigende Gegenpart zu seiner Frau ist Lolas Großvater Gershom, der 1939 nach Palästina floh, nach Kriegsende jedoch nach Deutschland zurückkehrte. Lolas Vater Simon hingegen übernahm die Ansichten seiner Mutter, versuchte, seine Tochter von einer drohenden Wiederholung der Shoah zu überzeugen und sogar während eines Israelaufenthaltes darauf vorzubereiten, wie der Erzähler konstatiert: Schließlich war Simon vom Holocaust besessen. Er redete, genauso wie Hannah es immer getan hatte, ununterbrochen vom Holocaust. Auch für Simon stand der nächste Holocaust kurz bevor, und so waren seine Lebensthemen die Flucht und das Überleben. Dieser vierwöchige Israelaufenthalt war für ihn eine Mischung aus Zurück-zu-deinen-Wurzeln und einem Training für die Flucht. Man könnte sagen, Lola wurde Holocaust-fit gemacht. (Wn 120) Die kurze Passage führt dem Leser Simons schweres Trauma vor Augen: Die ShoahVergangenheit seiner Familie bestimmt sein gesamtes Handeln. Seine junge Tochter stiftet er zu diesem Zweck sogar zum Diebstahl eines Bechers Saft in Tel Aviv an. Auf diese Weise hofft er, sie in die Lage zu versetzen, im Falle einer Wiederholung der Shoah, mit Nahrung in ihren Händen um ihr Leben zu laufen: Lola brauchte einunddreißig Sekunden auf hundert Metern. Das wusste Simon eigentlich. Aber darum ging es nicht. Das würde Lola im Falle eines Holocausts nicht helfen. Sie könnte sich im Ghetto, das irgendwann in naher Zukunft in Berlin stünde, schließlich nicht damit entschuldigen, dass sie mit keinerlei Rennkünsten ausgestattet worden war. Es ging ums nackte Überleben. Darum, am Ende den anderen hungernden Juden die Kartoffeln aus der Hand zu reißen und um sein Leben zu rennen. (Wn 122)

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Selbst nach ihrem Tod geht die Erzählung weiter. Nachdem auch Lolas Großvater Gershom verstorben ist, erhält Lola aus dessen Nachlass einen für sie bestimmten Brief Hannahs, in welchem die Großmutter die Befreiung aus Dachau schildert und ihrer Enkelin darüber hinaus eröffnet, dass Gershom nicht ihr leiblicher Großvater sei. (vgl. Wn 226ff.)

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Simons Experiment scheitert, Lola verschüttet den gesamten Saft und ihr Vater ist daraufhin derart außer sich, dass er vierundzwanzig Stunden nicht mehr mit seiner Tochter redet. (vgl. Wn 122f.) Traumatische Erfahrungen wie diese prägen zunächst Lolas Verbindungen zu ihrer jüdischen Identität. Doch Funk zeigt in Winternähe, dass sich nicht nur die innerfamiliäre Auseinandersetzung mit der Shoah auf Lolas Verhältnis zu ihrem jüdischen Hintergrund auswirkt. Entwicklungen innerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft haben ebenfalls großen Einfluss auf die Selbstwahrnehmung der Protagonistin als Deutsche und als Jüdin. Die Gesellschaft wird dabei in dem Roman in eine »Der-Holocaust-is-so-over-Seite« und eine »Wirdürfen-nicht-vergessen-was-geschehen-ist-Seite« (Wn 21) unterteilt.7 Diese Unterscheidung spricht die Autorin auch in einem Interview an, in welchem sie zudem den nach wie vor großen Einfluss der Shoah auf das Leben der dritten Generation unterstreicht: For me, it is about showing what it feels like being in the third generation and in this way showing that the story isn’t over. The fact that the Holocaust happened seventy-five years ago does not mean it no longer has any influence on the third generation. That is what I wanted to show the people who claim, ›The Holocaust is so over.‹8 Insbesondere die Konfrontation zwischen Lola und der »Der-Holocaust-is-so-overSeite« prägt den Roman. So werden etwa diverse antisemitische Stereotype während eines Teammeetings von der Sekretärin von Lolas Arbeitgeber verwendet, um einen vermeintlich gierigen Vermieter zu diskreditieren. Von einem »typisch jüdischen Problem«, »jüdischer Mischpoke« und »orientalische[r] Profitgier« (Wn 23) ist in dem Kontext die Rede. Eine Kollegin Lolas führt darüber hinaus die Familie Rothschild als Synonym für jüdische Gier an, was schließlich dazu führt, dass Lola »mit sofortiger Wirkung kündigte, weil sie nicht bereit sei, als Jüdin weiterhin unter einem Haufen Antisemiten zu arbeiten.« (Wn 23) Im privatem Umfeld der Protagonistin kommt es ebenfalls zu antisemitischen Vorfällen. Toni, ein Bekannter Lolas, äußert sich bei einem gemeinsamen Abendessen direkt zur Shoah und relativiert die nationalsozialistischen Verbrechen: Ich glaube auch, dass sechs Millionen tote Juden vielleicht doch ein bisschen übertrieben sind. Aber ganz im Ernst. Das ist doch alles ewig her. Irgendwann muss doch auch mal gut sein. Immer wieder diese Leier. Die arme [sic!] Juden und die bösen Deutschen. Kommt ihr euch nicht selbst ein bisschen bescheuert dabei vor, 7 8

In diesen Kontext fallen auch die Reaktionen in den sozialen Netzwerken auf die Aktion mit dem Hitlerbart auf Lolas Bild. (vgl. Wn 16) Funk, Mirna; Garloff, Katja; Mueller, Agnes C.: Interview with Mirna Funk. In: German Jewish literature after 1990. Rochester; New York: Camden House 2018. S. 229–234, hier: S. 230. Im Folgenden zitiert als ›Funk; Garloff; Mueller 2018‹.

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immer diese Opferrolle einzunehmen? Mir wäre das unangenehm. Mir wäre das peinlich, einem ganzen Volk siebzig Jahre lang Theater zu machen. (Wn 35f.) Die Äußerung Tonis ist eindeutig antisemitisch. Doch Lola trifft auch auf weitaus radikalere Antisemiten, etwa den ehemaligen Schlagersänger Dominik Dreher, der die Protagonistin, nachdem sie ablehnt ihm, »einen zu blasen« (Wn 100), »als dreckige, hässliche Jüdin, die die Gaskammer so wie alle anderen Juden verdient hätte« (Wn 100), beschimpft. Der drastischste antisemitische Vorfall ereignet sich jedoch in Lolas engstem Umfeld. Ihre Freundin Judith Hahn, die stolz darauf ist, die Enkelin eines hochrangigen Nazifunktionärs zu sein und die darüber hinaus gefeierte Filmregisseurin ist, hält bei einem Abendessen einen Monolog darüber, »was sie aus Lola gemacht hätte, wenn Lola und sie sich im Dritten Reich gekannt hätten«. (Wn 105) Wie dies gemeint ist, erfährt der Leser vom Erzähler unmittelbar im Anschluss. Hahn beginnt in eindeutiger NS-Manier darüber zu philosophieren, dass Lolas Beine ideal dazu geeignet seien, um daraus zwei Stehlampen zu basteln, und ihre Schädeldecke doch zu einer Suppenschale umfunktioniert werden müsse. Lolas Körperteile hatten von Judith Hahn alle eine Funktion erhalten, und der Tisch schwieg. Judith lachte. Sie lachte aus vollem Herzen, und als Lola einfach aufgestanden war, hatte Judith ihr laut, sehr laut, hinterhergerufen: »Aber, du wirst doch noch einen Scherz verstehen, Lola! Oder besitzt du etwa keinen Humor?« (Wn 106f.) Die Gäste, die zu Hahns verbaler Entgleisung schweigen, können als Sinnbild für die deutsche Mehrheitsgesellschaft angesehen werden, welche es versäumt, antisemitischen Tendenzen entschiedener entgegenzutreten. Symptomatisch für die »DerHolocaust-is-so-over-Seite«, denjenigen Teil der deutschen Gesellschaft also, welcher immer lauter ein Ende der Erinnerung an die Shoah fordert, monieren Romanfiguren wie Toni, Dominik Dreher und Judith Hahn eine angebliche Einschränkung der Meinungsfreiheit im Zusammenhang mit Israel und Juden.9 Doch Lolas Auseinandersetzung mit ihrer Identität respektive mit ihrer Herkunft wird nicht nur beeinflusst durch ihre zunehmenden Erfahrungen mit Antisemitismus in Deutschland, sondern ist auch untrennbar mit Israel verbunden. Insbesondere der Israel-Palästina-Konflikt nimmt dabei eine zentrale Rolle ein. Bereits Toni verbindet den Konflikt direkt mit der Shoah und konstatiert beim Abendessen mit Lola in Bezug auf Israel: »Das ist ein Apartheidstaat […] was da in Gaza und hinter der Mauer der Westbank passiert, ist nicht besser als Auschwitz.« (Wn 33) In der Folge kommt es zum Streit zwischen ihm und der Protagonistin. (vgl. Wn 34–40) 9

Auf ebenjene Entwicklung wird in dem Roman explizit verwiesen. (vgl. Wn 37f.) Alle in dem Roman geschilderten antisemitischen Vorfälle sind darüber hinaus keine Erfindungen der Autorin, sondern Dinge, die sie selbst erleben musste, wie Funk im Interview betont. Vgl. Jane 2015.

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Wie Toni verknüpft auch Lolas israelischer Freund Shlomo die Vorgänge in Israel mit der Shoah, doch anders als dem Deutschen Toni gesteht sie dem Israeli das Recht des Vergleiches zu, wenngleich sie seine Ansichten offensichtlich nicht teilt. (vgl. Wn 71ff.) Indem Funk in Bezug auf die Israelkritik differenziert, verweist sie darauf, dass die Herkunft des Kritikers im Falle Deutschlands und Israels aufgrund der Geschichte einen direkten Einfluss auf Aussagen zum Nahostkonflikt hat, es also einen deutlichen Unterschied macht, ob ein Israeli sein eigenes Land kritisiert, oder ob ein Deutscher die Kritik formuliert. Vor diesem Hintergrund werden vom Erzähler auch die Reaktionen der deutschen Öffentlichkeit kritisiert: Seit die Bodentruppen in Gaza einmarschiert waren, schrie der Durchschnittsdeutsche laut: Genozid. Das Wort Genozid fand sich fast in jedem Post. Der Genozid an den Gazans müsse gestoppt werden. Israel begehe Völkermord. Kindermörder Israel. Die Juden seien längst wie Hitler. Haben die denn nichts aus ihrer eigenen Vergangenheit gelernt, wurde gefragt. Siebzig Jahre hatten die Deutschen darauf gewartet, den Juden endlich auch einmal Völkermord vorwerfen zu können. (Wn 201) Zynisch wird in der Passage auf die vermeintlichen Parallelen zwischen dem Vorgehen Israels und den Verbrechen der Nationalsozialisten verwiesen10 , wobei Lola feststellt, dass der Konflikt als Ventil für den angestauten Antisemitismus des »gemeinen Antisemiten in Europa« (Wn 203) diene. Zwangsläufig führen diese Entwicklungen bei Lola dazu, dass sie sich intensiv mit dem jüdischen Teil ihrer Identität zu befassen beginnt. Immer wieder wird in dem Roman verdeutlicht, dass die Erinnerung – insbesondere an die Shoah – elementarer Teil der jüdischen Identität ist, wodurch sich diese von der deutschen Identität unterscheidet. Im Streit mit Toni betont Lola die differente Bedeutung der Erinnerung: »Warum seid ihr so groß geworden, als hätte es den zweiten Weltkrieg nicht einmal gegeben? […] Weil eure Großeltern nicht reden! Weil sie euch nichts erzählt haben. Zum Beispiel, wie es so war als SS-Offizier oder warum sie Hitler gewählt haben. Wie sie dabei zuschauten, als ihre Nachbarn abgeholt wurden, oder wie sie die verdammten Leichen aufeinandergestapelt haben. Ihr seid alle mit Großeltern aufgewachsen, die geschwiegen haben, und deshalb glaubt ihr, dass alles Schnee von gestern ist.« (Wn 36f.) Selbst Shlomo, der nahezu alles in Israel ablehnt, kann die Prägung seiner Identität durch die Shoah nicht bestreiten. (vgl. Wn 72) Im Zentrum der jüdischen Erinnerung

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Vergleichbar ist auch eine Passage, in welcher Lola eine Parallele zwischen den Juden, die in der deutschen Öffentlichkeit Israel kritisieren, und den Juden, die während des Nationalsozialismus mit den Deutschen kooperierten, zieht. (vgl. Wn 217)

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stehen der Protagonistin zufolge dabei keineswegs Begriffe wie »Schuld« oder »Verzeihung«. So unterstreicht Lola, dass es ihr nicht um ein »Verzeihen« von Schuld gehe, sondern darum, die Erinnerung anzunehmen: »Annehmen. Akzeptieren. Damit leben. Nicht vergessen. Sich erinnern. Es muss in jeder Handlung sichtbar sein, dass man begreift, was man da getan hat. Verantwortung übernehmen ist das. Verzeihen ist Verantwortung abgeben. […] Die Erlösung ist nicht das Verzeihen, die Erlösung ist, der Wahrheit ins Auge zu schauen.« (Wn 183) Es gehe nicht darum, »Schuldgefühle auszulösen oder den gemeinen Deutschen auf alle Zeit zu verdammen« (Wn 218), sondern darum, der Toten zu gedenken.11 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum Funks Protagonistin ein Problem mit der Ukrainerin Dasha hat, die zusammen mit ihr den Judaistik-Kurs zur Vorbereitung auf ihren Übertritt zum Judentum besucht, zu dem Lola sich angemeldet hatte, da sie als »Vaterjüdin« die formale Anerkennung des Reformjudentums erhalten möchte. Dasha will Jüdin werden, da ihr Großvater Leiter eines KZs in der Ukraine war, wofür Dasha sich schuldig fühlt. Der Erzähler konstatiert: »Und dieses Schuldigsein, so erklärte Dasha, werde erst aufhören, wenn sie Jüdin würde und wenn sie an die Stelle des Opfers trete und die Ahnenfolge durchbreche.« (Wn 64) Für die Ukrainerin steht somit nicht die von Lola angestrebte gemeinsame Erinnerung im Vordergrund, sondern sie möchte vielmehr mit dem düsteren Kapitel ihrer Familie abschließen, indem sie »an die Stelle des Opfers« tritt.

Im deutsch-jüdischen Kontext – Lolas »Oxymoron-Dasein« Die Frage nach der Identität der Protagonistin kreist in Winternähe jedoch keinesfalls ausschließlich um die Shoah. Der »Hitlerbartvorfall« zu Beginn der Romanhandlung führt bei Lola nicht nur zu einer Rückbesinnung auf ihren jüdischen Hintergrund, sondern löst auch eine Auseinandersetzung mit ihrer Identität im deutschjüdischen Kontext aus. Erst mit der Verunstaltung des Selfies beginnt Lola sich eindeutig als Jüdin zu definieren.12 (vgl. Wn 18) Bis zu dem Vorfall hatte sie sich immer 11

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In dem Roman wird wiederholt auf die verschiedenen Formen der Erinnerung verwiesen, etwa bei der Bildung der israelischen Kinder, die sich, anders als die Kinder in Deutschland, in der Schule dezidiert mit der Vergangenheit ihrer Familie auseinandersetzen müssen. (vgl. Wn 315) Wie die anderen antisemitischen Vorfälle in dem Roman ist auch der »Hitlerbartvorfall« autobiografisch, wie Funk im Interview betont: »Auf einem Plakat von mir wurde mal ein Hitlerbart über meine Oberlippe gemalt. Die Täter haben sich dabei fotografiert, das Foto auf Social Media hochgeladen und mich getaggt. Die wussten, dass ich einen jüdischen Background habe. Ich habe sie angezeigt. Solidaritätsbekundungen gab es dazu nicht. Ich galt als die nervige, stressige Tante, die wegen eines Hitlerbarts einen Aufstand machte. Mein Anwalt riet mir davon ab, vor Gericht zu gehen, denn der Hitlerbart ist eine Grauzone. Hätten

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als Deutsche gesehen und sich über ihren Vater, der »Deutschland hasste« (Wn 20) und dessen Abscheu für »Holocaust Deutschland« (Wn 272) während Lolas Kindheit stetig zunahm, geärgert.13 Für Simon war der Kampf gegen Deutschland eine Art Lebensaufgabe, wie ein Erzählerkommentar in Bezug auf Simons Flucht aus der DDR unterstreicht: Er war deutscher Staatsbürger, ohne deutscher Staatsbürger sein zu wollen, aber die israelische Staatsbürgerschaft, für die er 1987 die DDR verlassen hatte, hatte er niemals beantragt. Das Leben im gelobten Land, die große Erlösung wäre erreichbar gewesen. Nie wieder Deutschland, hätte er jubeln können, wäre er als Oleh in Tel Aviv aus dem Flieger gestiegen. Aber so konnte er weiterkämpfen: gegen Deutschland, gegen sein »aufgezwungenes« Leben in Deutschland und gegen die Deutschen als solche. (Wn 273) Der Kampf des Vaters prägt Lolas Leben und wird nach dem »Hitlerbartvorfall« auch zu ihrem Kampf. Dabei wird sie, wie die Protagonistinnen in Gstreins Romanen oder wie Agathe in Hundert Tage, mit dem Problem konfrontiert, dass andere über ihre Identität zu bestimmen suchen. Ist dies innerhalb der Familie – ihr Großvater Gershom bezeichnet sie als »Mischung« (Wn 31) – noch weitestgehend unproblematisch, so gewinnt die Thematik in dem Moment an Bedeutung, in dem die Identitätszuweisung durch Außenstehende geschieht. Für Toni etwa ist Lola keine Jüdin, da nur ihr Vater Jude ist. (vgl. Wn 34) Der Tiefpunkt ist für die Protagonistin jedoch mit dem »Hitlerbartvorfall« verknüpft. Nachdem Lola Olaf Henninger, den Mann, der ihr Selfie verunstaltet hatte, und Manuela Müller, die Frau, die ihr Bild im Netz verbreitete, angezeigt hat, kommt es zum Gerichtsprozess, den Lola verliert. Ihr Anwalt erläutert ihr die Urteilsbegründung: Der Anwalt der Angeklagten habe die Gesetze der Halacha herangezogen. Diesen zufolge sei Lola keine Jüdin, da ihre Mutter keine Jüdin sei. Es könne sich somit nicht um eine Tat mit antisemitischem Hintergrund handeln, insbesondere, da die beiden Angeklagten behaupteten, sie hätten von der nicht-jüdischen Mutter und dem jüdischen Vater gewusst. (vgl. Wn 56) Der Freispruch erfolgt somit, da die beiden Angeklagten erklären, dass Lola keine Jüdin sei. Der Erzähler fasst im Anschluss zusammen, was die Urteilsbegründung für Lola bedeutet: »Damit, dass ihr fehlendes ›Jüdischsein‹ Manuela und Olaf auf freien Fuß

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die mir ein Hakenkreuz auf die Stirn gemalt, hätte ich vermutlich gewonnen.«, Xin Ku, Marwin: Wir haben Juden gefragt, wie sie es finden, wenn Nicht-Juden die Kippa tragen. Internet-Publikation in: VICE: https://www.vice.com/de/article/a3xnej/wir-haben-juden-gefragtwie-sie-es-finden-wenn-nicht-juden-die-kippa-tragen. Erschienen: 29.05.2019. Eingesehen: 31.08.2020. Israeli will Simon jedoch auch nicht werden, er nutzt seinen jüdischen Hintergrund lediglich dafür, in einem Antrag auf Ausreise aus der DDR auf die »Tränendrüse« (Wn 25) zu drücken.

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setzen würde, hatte sie nicht gerechnet. Zu keinem Zeitpunkt war ihr diese Idee gekommen. Sah sie sich selbst doch als Jüdin, wenn auch als deutsche Jüdin.« (Wn 57) Für sie kommt auf diese Weise zum Schmerz der Verletzung durch die Entstellung ihres Selfies der Schmerz der fehlenden Anerkennung ihrer jüdischen Identität hinzu. (vgl. Wn 58) Doch die Probleme mit ihrer Identität sind nicht allein auf Deutschland beschränkt – auch in Israel wird ihre Identität auf unterschiedliche Weise wahrgenommen. Ein Israeli, mit dem sich Lola während der ersten Raketenangriffe aus Gaza zu Beginn des Gaza-Krieges 2014 in Tel Aviv unterhält, erklärt sie selbstverständlich zur Jüdin. (vgl. Wn 205) Anders gestaltet sich die Situation im Gespräch zwischen Lola und dem orthodoxen Juden Adam, neben dem sie im Flugzeug nach Bangkok sitzt. Während des Gespräches gehen ihr verschiedene Fragen durch den Kopf, unter anderem in Bezug auf die Anerkennung ihrer jüdischen Identität durch die Orthodoxen: Warum wurde die Weitergabe der jüdischen Identität um 70 nach Christus vom Vater auf die Mutter übertragen? Warum würde er sie nicht als Jüdin anerkennen, die Reformjuden aber schon? Warum wäre sie, wenn sie 69 nach Christus geboren wäre, eine Jüdin, jetzt war sie aber plötzlich keine? (Wn 253) Eben dieses Unverständnis äußert Lola auch direkt im Gespräch, wobei sie ihren Gesprächspartner dezidiert auf ihren jüdischen Hintergrund hinweist: Ich bin bei einer jüdischen Familie groß geworden, ich habe ihr Leid erfahren, ihr Trauma aufgenommen, ich habe Israel seit meinem elften Lebensjahr jedes Jahr besucht, ich darf Alija machen und israelische Staatsbürgerin werden, aber ich darf nicht heiraten, und meine Kinder würden diskriminiert und benachteiligt, genau wie ich diskriminiert und benachteiligt werde. (Wn 259f.) In Passagen wie dieser verarbeitet Funk die eigenen problematischen Erfahrungen. So betont die Autorin im Interview mit der Welt-Redakteurin Clara Ott, sie habe wie ihre Protagonistin Lola damit kämpfen müssen, dass andere versuchten, über ihre jüdische Identität zu bestimmen. Angesprochen auf Lolas Ringen um ihre jüdische Identität stellt die Autorin die Parallelen zwischen ihr und ihrer Protagonistin heraus: Für mich war das lange Zeit eine wahnsinnig nervige Situation. Die eigene Identität wird ständig durch andere definiert. Mein Verlobter hat mich immer als Jüdin gesehen, das war gar keine Diskussion, ob es halachisch, also nach dem Regel-

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und Gesetzbuch richtig ist. Deutsche sagen oft, dass ich nach der Halacha gar keine Jüdin bin.14 Der Umgang mit der problematischen Fremdbestimmung ist bei Lola jedoch ein anderer als bei Funk. Die Protagonistin von Winternähe fühlt sich durch die unerwünschten Identitätszuschreibungen dazu veranlasst, offiziell zum Judentum überzutreten. Hierfür sucht sie einen Rabbi auf, welcher dem Reformjudentum angehört, und erklärt ihm, sie wolle zum Judentum übertreten, da sie »diese Zerrissenheit nicht aushalte« (Wn 59). Ihren Plan gibt sie jedoch rasch wieder auf. (vgl. Wn 65) Stattdessen bemüht sie sich, ihre deutsche und ihre jüdische Identität miteinander zu vereinbaren, zu lernen, mit der Zerrissenheit zu leben. So ändert sie nach dem »Hitlerbartvorfall« ihren Instagram-Namen in Amon Hirsch und verbindet auf diese Weise den Nachnamen ihrer Großmutter mit dem Vornamen des sadistischen Kommandanten des Konzentrationslagers Płaszów, Amon Göth. (vgl. Wn 85) Ihre widersprüchlichen Identitäten – als Tochter einer nicht-jüdischen Deutschen und eines deutschen Juden und somit Nachfahrin von Tätern15 und Opfern der Shoah – werden somit in dem Kunstnamen miteinander verknüpft. Gegen Ende des Romans betont der Erzähler nochmals Lolas doppelte Identität: Sie habe »sich immer als eine Mischung aus KZ-Häftling und KZ-Aufseher gesehen« (Wn 313), sich »wie ein Oxymoron« (Wn 313) gefühlt. Ihr »Oxymoron-Dasein« führt dazu, dass das jüdische Erinnern und der deutsche Hang zum Vergessen und Verdrängen gleichermaßen Teil ihrer Identität sind – die damit einhergehende Spannung prägt ihr Leben16 (vgl. Wn 313f.), beide Seiten sind für sie immerzu präsent: Sie war Täter und Opfer in einem, und daher war es ihr unmöglich, nur eine Seite zu sehen, es war ihr unmöglich, nicht an den Schmerz aller Juden zu denken und gleichzeitig die sadistische Macht eines KZ-Aufsehers zu spüren. (Wn 313) 14

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Funk, Mirna; Ott, Clara: »Eine queere Rabbinerin soll mich trauen«. Auf der Suche nach jüdischer Identität zwischen Tel Aviv und Berlin: Ein Gespräch mit Mirna Funk über ihr Debüt »Winternähe«. In: Die Welt, 18.07.2015, S. 3. Da Lolas Mutter Petra als Waise aufwächst, ist nicht klar, ob die Protagonistin tatsächlich die Nachfahrin eines Täters der Shoah ist. Das »Oxymoron-Dasein« Lolas sieht Funk untrennbar verbunden mit der deutsch-jüdischen Identität: »Mit diesem Gefühl, ein Widerspruch zu sein, leben wir. Manchmal besser, manchmal schlechter. Aber immer bewusst.« Funk, Mirna: Wir lebenden Juden. Internet-Publikation in: Zeit online: https://www.zeit.de/kultur/2016-07/juden-dritte-generation-kultur-i ntellektuelle-deutschland. Erschienen: 31.07.2016. Eingesehen: 17.03.2021. Ausführlich äußert sich Funk zur Identitätsthematik im Interview mit Lisa Trautmann, wobei sie auch auf die Wut darüber eingeht, dass die eigene, jüdische Familie alles verloren habe, vgl. Trautmann, Lisa: Mirna Funk im Interview: Die Balance finden zwischen einer jüdischen und einer deutschen Identität. Internet-Publikation in: BEIGE: https://beige.de/artikel/menschen-int erview-mirna-funk-juden-deutschland-judischsein-vogue. Erschienen: 23.10.2019. Eingesehen: 31.08.2020. Im Folgenden zitiert als ›Trautmann 2019‹.

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Die Identität der Opfer und der Täter der Shoah ist in Lola vereint.17 Wiederum wird deutlich, dass die Protagonistin – bei allen biografischen Unterschieden zwischen ihr und der Autorin – als Alter Ego Funks angesehen werden muss.18 Wie für Lola ist die zerrissene Identität auch für Funk von eminenter Bedeutung, wobei die Berlinerin im Interview explizit die für sie besondere Bedeutung dieser Identität hervorhebt: Ich finde es voll schrecklich, dass hier in Deutschland die doppelte Staatsbürgerschaft abgeschafft wurde. Es gibt nur wenige Ausnahmen. Ich kann z.B. die israelische und die deutsche Staatsbürgerschaft haben. Glücklicherweise. Es gibt ein Sprichwort unter Juden: Die wichtigsten Dinge, die du deinem Kind mitgeben kannst, sind so viele Pässe und so viele Sprachen wie möglich. Genau so sehe ich es auch. Wie schön wäre es, wenn Türken oder Spanier oder Japaner ihren und den deutschen Pass haben könnten. What’s the problem? Meistens leben ja noch große Teile der Familien im Ursprungsland. Man kehrt gerne zurück, man fühlt sich eben auch dort zu Hause. Ich finde es auch gerade für eine so globalisierte Welt, in der wir leben, unglaublich zurückgewandt, zu sagen, man muss sich auf ein Land berufen. Sowas von outdated, ehrlich gesagt.19 Vor dem Hintergrund dieses Statements kann die Konzeption der Protagonistin als Plädoyer für eine Identität im Spannungsfeld zweier Kulturen angesehen werden. Im Umgang mit der Vergangenheit, den die Protagonistin Lola als Teil ihrer Identität begreift, sieht sie einen elementaren Unterschied zum deutschen Umgang mit der Geschichte: in Deutschland habe man versucht, die Geschichte zu glätten. Dabei sei es gerade wichtig, sich auch an Dingen reiben zu können, teilt sie ihrem Freund Shlomo im Gespräch mit: Das Raue bietet Halt, das Glatte ist haltlos. Deutschland ist glatt, weißt du das? Deutschland hat man abgehobelt, und danach ist man noch mal mit Schmirgelpapier rübergegangen, bis nichts mehr zu sehen war: vom Bösen. Wenn man das Böse vollständig weghobelt, erwischt man auch lebenswichtige Eigenschaften, die gar nicht böse sind. Das Eckige, das Kantige oder das Schräge zum Beispiel. Eben das andere. Siebzig Jahre haben sie versucht, den Krieg und das alles wegzuhobeln und Sicherheit zu schaffen. (Wn 214)

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Da Lolas nicht-jüdische Mutter eine Waise ist, geht aus der Romanhandlung nicht hervor, ob sie tatsächlich auch direkt von Tätern der Shoah abstammt. Für die Protagonistin reicht jedoch ihre teilweise deutsche Abstammung aus, um sich als Nachfahrin der Täter zu sehen. Funk betont vollkommen zu Recht, dass sie selbst, die Autorin Mirna Funk, und Lola trotz aller Schnittmengen unterschiedlich und Winternähe somit eindeutig ein Roman sei, vgl. Jane 2015. Dennoch werden in zahlreichen Passagen die Parallelen zwischen der Autorin und ihrer Protagonistin deutlich. Trautmann 2019.

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Dieser Umgang mit der Vergangenheit habe dazu geführt, dass aus Deutschland ein »Land voller Zombies« (Wn 214) geworden sei. Aus diesem Grund fühle sie sich in Israel trotz des permanenten Raketenbeschusses durch die palästinensischen Extremisten wohler: »Lieber Raketen als Zombies, Shlomo. Ehrlich. Lieber Raketen als Zombies. Hier ist noch Leben, hier hört man noch Herzschlag, hier gibt es noch Zerrissenheit und das Raue. Nicht alles ist glatt. Alles uneben. Hier kann man Halt finden und sich weh tun an den Unebenheiten. Wo keine Verletzung mehr geschieht, da hat man das Leben abgesaugt.« (Wn 214f.) Trotz dieser deutlichen Kritik bleibt Lola Deutschland immer verbunden. Nicht einmal die antisemitischen Vorfälle können sie dazu bewegen, das Land endgültig hinter sich zu lassen. (vgl. Wn 310) Dessen ungeachtet reist Lola für einen längeren Zeitraum nach Israel, da sie »des Alltagsantisemitismus und der von der Umgebung vorgenommenen Identitätszuschreibungen überdrüssig [ist]«20 . Tatsächlich scheint Israel der Protagonistin näher zu sein als Deutschland, konstatiert der Erzähler doch in Bezug auf Lolas Ankunft in Tel Aviv, »dass sie alles kannte, was sie vor sich sah, gab ihr ein Gefühl von Heimat. Ein Gefühl angenehmer Distanz trotz tiefer Verankerung. Lola gehörte dazu.« (Wn 115) In Israel setzt sie sich auch kritisch mit dem Thema ihrer Identität auseinander. Mit ihrem Großvater Gershom, der nach dem Tod seiner Frau nach Tel Aviv emigrierte, streitet sie beispielsweise über radikale israelische Maßnahmen gegen die Palästinenser. Gershom vertritt dabei einen klaren Standpunkt, dessen Hinterfragung durch Lola er ebenso strikt ablehnt, wie die grundsätzliche Meinung seiner Enkelin. Diese erinnert ihn daraufhin an seine jüdische Identität und deren dialogische Elemente: »Wo ist deine jüdische Identität, wenn es um Palästinenser geht? Wo bleibt denn der Dialog? Ich muss doch anderer Meinung sein dürfen.« (Wn 162) Wie wichtig ihr Großvater für Lolas Selbstverständnis ist, wird nach dessen Tod deutlich. Der Erzähler konstatiert in Bezug auf die Protagonistin, die mittlerweile von Tel Aviv nach Bangkok weitergezogen ist: »Lola fühlte sich, als flögen die Stücke ihres Lebens seit Gershoms Tod schwerelos durch die Gegend. Manchmal trafen sie Lola am Kopf, sie schrammten an ihrer Schläfe entlang oder erwischten sie an der Stirn.« (Wn 287) Gershoms Tod löst bei ihr also eine beinahe physische Zerrissenheit aus.

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Dubrowska, Malgorzata: (Kein) ›Doppeltes Grab‹? Zur Metaphorik des deutsch-jüdischen Dialogs im Werk von Barbara Honigmann, Monika Maron, Katja Petrowskaja und Mirna Funk. In: Identitätsdiskurs im deutsch-jüdischen Dialog, hg. von Norbert Honsza und Przemyslaw Sznurkowski. Frankfurt a.M.: Peter Lang 2017. S. 47–65, hier: S. 60.

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7.1.3 Neutralität im Kontext des Israel-Palästina-Konfliktes Die Frage nach der Distanz zum Erzählgegenstand stellt sich Funks Roman auf andere Weise als in den anderen in dieser Arbeit behandelten Romanen. Dies liegt vorrangig daran, dass in dem Roman kein Genozid direkt behandelt wird. Es ist vielmehr die Erinnerung an die Shoah, die Teile des Romans prägt – dabei steht der Umgang mit dieser Erinnerung und nicht die direkte Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen im Zentrum. Somit wird bereits notwendigerweise die zeitliche Distanz betont, da die Protagonistin Lola der dritten Generation nach der Shoah angehört und, anders als Protagonisten in anderen Romanen der Shoah-Literatur – wie etwa in Hilsenraths Roman Der Nazi und der Friseur oder Nacht –, nicht von dem berichten kann, was sie während der Zeit des Nationalsozialismus erlebt hat. Sie kann nur weitergeben, was andere ihr erzählen. Von dem Genozid wird daher, ähnlich wie etwa in Gstreins Romanen, mittels einer mehrfach gebrochenen Perspektive erzählt, etwa über Rückblenden aus Lolas Vergangenheit, in denen berichtet wird, dass ihre Großmutter von der Shoah erzählte, sowie einem langen Brief der Großmutter, welchen diese kurz vor ihrem Tod verfasste und in dem sie ihre Befreiung aus dem KZ Dachau schildert. (vgl. Wn 225–229) Der Brief ist zugleich auch der einzige unmittelbare Bericht über die Shoah, die darüber hinaus nur als Gegenstand der Erinnerung in großen Teilen des Romans präsent ist. Ein weiterer Aspekt, welcher die Erzähldistanz in den anderen behandelten Romanen der deutschsprachigen Genozidliteratur prägt, gilt ebenfalls für Funks Winternähe. Wie die Mehrheit der Autoren der in dieser Studie analysierten Werke wählt Funk in ihrem Roman diejenige Perspektive, zu der sie aufgrund ihrer Herkunft einen direkten Zugang hat: Wie die Autorin hat Lola einen jüdischen und einen deutschen Teil der Familie, wie die Autorin wächst sie in Ostberlin auf. Die Nähe zwischen Autorin und Protagonistin und die damit einhergehende offensichtliche Einfühlung der Autorin in ihre Romanfigur führen jedoch nicht dazu, dass aus Lola eine Protagonistin wird, zu welcher der Leser einen einfachen und direkten Zugang findet. Ihre Entscheidungen sowie ihr Verhalten irritieren immer wieder und fordern den Leser zur kritischen Reflektion auf. Funk begründet ihre bewusste Entscheidung für eine schwierige Protagonistin im Interview mit Ulrich Gutmair: Es war mir wichtig, eine Protagonistin zu schaffen, die nicht so ist wie in anderen deutsch-jüdischen Romanen. Die zurückgehen zu den Wurzeln ihrer Familien, und alles ist wahnsinnig weichgespült und aufbereitet für den Deutschen, damit der sich nicht schämen muss. Das sollte eine durchgeknallte Jüdin sein, die sagt

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und denkt, was sie will. Sie sollte das Kantige repräsentieren, das in Deutschland nicht besonders beliebt ist.21 Tatsächlich sind viele Handlungen Lolas für den Leser schwer nachvollziehbar und irrational, provozieren und irritieren gleichermaßen. Immer wieder wird in dem Roman deutlich, dass Funk auf eine distanzierte Perspektive bedacht ist – insbesondere dann, wenn der Israel-Palästina-Konflikt behandelt wird. Mit diesem ist die Autorin zwar besser vertraut als die Mehrheit der Deutschen, dennoch gehört der Konflikt nicht zu ihrer unmittelbaren Lebenswirklichkeit, Funk ist hier also selbst gewissermaßen eine Außenstehende22 , die von dem Konflikt aus der Distanz erzählt. In den Israel-Episoden des Romans wird keinesfalls nur Lolas Identität verhandelt. Vielmehr steht der Israel-Palästina-Konflikt im Zentrum. Wie bei der Auseinandersetzung mit der Shoah werden sowohl die Täter als auch die Opferperspektive gleichermaßen berücksichtigt. Funk selbst betont ihr Ziel einen Roman zu schreiben, in dem die Vielfalt der israelischen Gesellschaft zu erkennen ist. Es wäre wichtig, wenn jeder bei diesem Thema eines versteht: Dass es sooo komplex ist, dass man sich von Verallgemeinerungen verabschieden muss. Man kann sich zu diesem Thema äußern, aber dieses Pseudowissen muss aufhören.23 Dem angesprochenen »Pseudowissen« stellt Funk die Perspektiven beider Konfliktparteien entgegen. Die palästinensische Perspektive wird von Lolas Freund Shlomo präsentiert, der als Anwalt der Palästinenser auftritt. Shlomos Kritik an Israelis und Juden fällt radikal aus, wie der Erzähler vermittelt: »Der Holocaust werde funktionalisiert, seit Jahrzehnten, und auf dem Rücken dieses Themas würden Entscheidungen getroffen, die völkerrechtlich absolut fragwürdig seien.« (Wn 72) Die Juden täten den Palästinensern dasselbe an »wie vor siebzig Jahren die Nazis den Juden.« (Wn 77) Israelis bezeichnet er darüber hinaus als »Hitler-Juden« (Wn 77) und verurteilt das Vorgehen Israels gegen die Palästinenser in der Westbank in Folge der Entführung von drei jungen Israelis im Jahr 2014.24 (vgl. Wn 139) Anhand der Figur 21

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Funk, Mirna; Gutmair, Ulrich: Warum hat jeder Hanswurst eine Meinung zu Israel? Mirna Funk hat einen Roman über eine junge jüdische Frau geschrieben, die es in Deutschland nicht mehr aushält. Ein Gespräch über die deutsche Obsession Israel und Sex unterm Restauranttisch. In: taz, 15.10.2015, S. 24f. Selbstredend steht außer Zweifel, dass Funk aufgrund ihrer zahlreichen Israel-Aufenthalte gut mit dem Konflikt und seinen Hintergründen vertraut ist, jedoch bestimmte dieser, anders als etwa die innerfamiliäre Auseinandersetzung mit der Shoah, nicht bereits seit der Kindheit Teile ihres Lebens. Jane 2015 Im Juni 2014 wurden drei junge israelische Religionsstudenten von Mitgliedern der islamistischen Hamas entführt und anschließend ermordet, vgl. Bischoff, Jürg: Die drei entführten jungen Israeli sind tot. In: Neue Züricher Zeitung, 01.07.2014, S. 1.

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Shlomo wird des Weiteren das Leid des Konfliktes exemplifiziert: Shlomo war als junger Soldat bei der Golani-Brigade und wollte sich nach dem Militärdienst verpflichten. Während der zweiten Intifada (2000–2005), kurz vor Ende seines Militärdienstes, traf er einen palästinensischen Jungen mit einem Gummigeschoss am Kehlkopf, sodass dieser erstickte. (vgl. Wn 149) Einige Tage nach dem Zwischenfall erlitt er einen schweren psychischen Zusammenbruch, kehrte der Armee endgültig den Rücken und wurde zum Pazifisten und radikalen Gegner der israelischen Politik.25 (vgl. Wn 149f.) Die Beziehung zu Lola zerbricht letztlich auch daran, dass Shlomo nicht in der Lage ist, mit ihr über das Trauma, von dem Lola nur durch einen Freund Shlomos erfahren hat, zu sprechen – erst in einer nach der Trennung an Lola gesendeten Mail erzählt er ihr selbst, wie schwer ihn der Tod des Jungen auch Jahre später noch belastet. (vgl. Wn 294f.) Indem der Hintergrund von Shlomos Einstellung zum Israel-Palästina-Konflikt in dem Roman ausführlich erläutert wird, wird sein Standpunkt für den Leser nachvollziehbar und glaubhaft. Die Einstellung der Protagonistin stimmt nicht mit Shlomos überein. (vgl. Wn 73) Beide sind für eine Zweistaatenlösung, dennoch sind sie sich nicht einig, wie eine solche aussehen könnte. (vgl. Wn 140) Doch Lola nimmt dabei auch keine Gegenposition ein, sie hinterfragt lediglich die radikalen Ansichten ihres Freundes. Neben dem von Shlomo vertretenen pro-palästinensischen Standpunkt wird eine israelische Sichtweise im Dialog zwischen Lola und ihrem Großvater Gershom ausführlich thematisiert. Bei einem Besuch Lolas reden beide über die drei entführten jungen Israelis. Zum Zeitpunkt des Gespräches ist noch nicht klar, dass diese bereits ermordet wurden. In der Diskussion wird deutlich, dass Lola auch nicht Gershoms israelischen Standpunkt teilt, diesen jedoch ebenso wie zuvor den palästinensischen hinterfragt: »Glaubst du, sie leben noch?« »Ich glaube, ja. Ja, ich glaube, sie leben noch, und wir müssen alles dafür tun, um sie zurückzuholen. Alles.« »Das bedeutet, auch die halbe Westbank auf den Kopf zu stellen?« »Was soll das, Lolale, wirst du jetzt ein Lefty?«

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Stellvertretend für die Beerdigung des von ihm getöteten Jungen besucht Shlomo 2014 zusammen mit Lola die Beerdigung des palästinensischen Jungen, welcher von israelischen Extremisten, als Racheakt für die Ermordung dreier israelischer Jugendlicher durch radikale Palästinenser, brutal ermordet worden war. Seine Begründung: »Die sollen sehen, dass es auch andere Israelis gibt, dass Israel nicht dieser Verrückte ist, der Jugendliche anzündet, nicht die Armee, die sie täglich schikaniert, nicht Bibi, nicht die Orthodoxen, die sie bespucken und schlecht behandeln. Ich zeige ihnen, dass ich nicht einverstanden bin, dass ich mich schäme für das, was hier letztlich in meinem Namen geschieht. Ich zeige ihnen, dass ich die Ungerechtigkeit sehe, die ihnen widerfährt, und dass ich diese Ungerechtigkeit genauso ablehne wie sie.« (Wn 178)

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»Ich bin gar nichts. Ich will nur wissen, was du denkst!« »Ich denke, wer solche schrecklichen Dinge tut, wie drei junge Menschen zu entführen, der muss mit allem rechnen, auch mit einer Antwort, wie wir sie im Moment geben.« »Sie haben fast vierhundert Menschen in der Umgebung von Hebron verhaftet. Einfach so!« »Das sind keine Zivilsten, Lola, das sind Terroristen.« (Wn 158) Die radikalen Maßnahmen der israelischen Streitkräfte sind für Gershom verständlich, die Palästinenser seien selbst verantwortlich für ihre Situation (vgl. Wn 159), der ständige Raketenbeschuss aus den palästinensischen Gebieten rechtfertige auch die Aktionen in der Westbank. (vgl. Wn 160) Sein Fazit fällt entsprechend simpel aus: »Nein, es ist nicht kompliziert. Wenn sie Frieden wollen, dann kriegen sie ihr Land. Wenn sie Raketen abfeuern, Anschläge planen und Kinder entführen, dann bleibt alles so, wie es jetzt ist.« (Wn 161) Wiederum ist es Lola, die einwendet, das Verhalten der Palästinenser rechtfertige weder willkürliche Verhaftungen noch das Aufsprengen von Häusern. (vgl. Wn 162) Indem Funk die Standpunkte beider Konfliktparteien dezidiert schildert und beide gleichermaßen von ihrer Protagonistin hinterfragen lässt, führt sie dem Leser die Komplexität des Konfliktes vor Augen und verdeutlicht, dass es den einen richtigen Standpunkt nicht gibt. Dies spiegelt sich auch in den in dem Roman geschilderten Reaktionen auf den Krieg wider: Lolas jüdische Freunde in Deutschland äußern sich nahezu einhellig pro-israelisch in den sozialen Netzwerken, ihre jüdischen Freunde in Israel posten hingegen überwiegend kritische Kommentare zum Gaza-Einsatz. (vgl. Wn 202) Der Erzähler fasst die Problematik der konträren Standpunkte für Lola in einem Kommentar zusammen: »Mit jedem Post, den Lola sah, und jedem Artikel, den sie las, veränderte sich ihre Position zum Konflikt. Es war unmöglich, eine gültige Aussage zu tätigen oder eine Wahrheit zu finden, weil in diesem Konflikt Fakten und Wahrheiten fehlten.« (Wn 202) Wie Lola ergeht es auch dem unvoreingenommenen Leser. Vor dem Hintergrund der nicht existenten Wahrheiten bleibt Lola ihrem kritisch-neutralen Standpunkt treu. Verdeutlicht wird dies in einem Spiel, welches Shlomo und Lola in den Kriegswochen immer wieder spielen: Shlomo und Lola riefen gleichzeitig: »From the river to the sea«, und schlugen die Handflächen zusammen und überkreuz aufeinander, und Shlomo sagte: »Palestine will be free«, und Lola: »Israel will be free«. Dann fingen sie wieder von vorne an, und Shlomo sagte: »Israel will be free«, und Lola: »Palestine will be free.« (Wn 222f.), Die Parole »From the river to the sea« geht auf die Zeit nach der Gründung Israels (1948) zurück und ist nach wie vor hochgradig umstritten. In ihr wurde der Wunsch nach einem freien Staat, in welchem Palästinenser und Juden gleichberechtigt leben

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würden, artikuliert.26 Zugleich wurde sie jedoch auch von radikalen Palästinensern sowie einigen arabischen Staaten als Aufruf zur Vernichtung Israels verstanden.27 Bewusst wählt Funk diese zweideutige Parole und verarbeitet diese in einem Spiel zweier Romanfiguren. Da die Figuren sich nicht auf das meist verwendete Ende der Parole – »Palestine will be free« – fixieren sondern Israel und Palästina in ihr Spiel einschließen, wird der ausgleichende Charakter des Spiels unterstrichen. Sinnbildlich wird auf diese Weise das Streben nach Freiheit von Palästinensern und Israelis in dem Roman legitimiert. Darüber hinaus offenbart sich in Bezug auf die Distanz zum Erzählgegenstand eine weitere Parallele zu einigen in dieser Arbeit behandelten Romanen: Auch in Funks Winternähe wird kaum direkt von Gewalt und Verbrechen erzählt. Die einzige Passage, in welcher unmittelbar das Verbrechen, welches den Gaza-Krieg 2014 auslöste, geschildert wird, ist darüber hinaus in einem nüchtern-distanzierten Stil gehalten. So heißt es in Bezug auf die Entführung und Ermordung der drei jungen Israelis und dem grausamen Racheakt israelischer Extremisten: Nur drei Tage später wurden die Yeshiva-Schüler tot aufgefunden. Ein Racheakt im Anschluss führte zur Ermordung eines palästinensischen Teenagers in Ostjerusalem. Rechtsradikale Juden hatten ihn entführt, in ein abgelegenes Waldstück verschleppt und gezwungen, Spiritus zu trinken. Daraufhin wurde er bei lebendigem Leib verbrannt. Der Raketenhagel auf den Süden Israels begann. (Wn 164) Diese Passage ist die einzige des Romans, in welcher die Verbrechen, die den GazaKrieg auslösten, explizit geschildert werden. Indem Funk explizite Aussagen vermeidet und lediglich diesen einen Kommentar in ihrem Roman anbringt, umgeht sie die Gefahr, eine direkte Stellungnahme oder Bewertung zu dem komplexen Konflikt abzugeben. Der Leser wird, wie bereits in den anderen behandelten Romanen, aufgefordert, die Hintergründe selbst zu recherchieren, um sich auf diese Weise – gewissermaßen wie die Protagonistin Lola – mit der nötigen Distanz ein eigenes Bild zu machen.

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Vgl. Nassar, Maha: ›From The River To The Sea‹ Doesn’t Mean What You Think It Means. Internet-Publikation in: Forward: https://forward.com/opinion/415250/from-the-river-to-the-sea -doesnt-mean-what-you-think-it-means/. Erschienen: 03.12.2018. Eingesehen: 31.03.2021. Vgl. Danzig, Micha: ›Palestine From the River to the Sea‹ Has Always Been a Call for Annihilation Not Liberation. Internet-Publikation in: Jewish Journal: https://jewishjournal.com/ commentary/blogs/242943/palestine-river-sea-always-call-annihilation-not-liberation/. Erschienen: 03.12.2018. Eingesehen: 31.03.2021.

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7.2 Hier sind Löwen 7.2.1 Einleitung Katerina Poladjans Roman Hier sind Löwen ist für diese Studie von besonderem Interesse, da es sich bei dem Werk zum einen um eine hochaktuelle Auseinandersetzung mit einem Völkermord handelt und zum anderen, da es nach Franz Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh und Hilsenraths Märchen vom letzten Gedanken einer der wenigen deutschsprachigen literarischen Versuche einer Aufarbeitung des Völkermords an den Armeniern ist. Da Poladjans Hier sind Löwen ebenso wie Funks Winternähe der Roman einer Autorin der dritten Generation nach dem Genozid ist, wird in dem folgenden Kapitel die Frage im Zentrum stehen, inwieweit es Parallelen zwischen Poladjans 2019 erschienenem Roman und den anderen in dieser Arbeit behandelten Romanen der deutschsprachigen Genozidliteratur gibt, wobei insbesondere der Vergleich mit Funks Roman bemüht wird. Von den deutschen Kritikern wurde Poladjans dritter Roman weitestgehend positiv aufgenommen. Der einzige Verriss des Werkes stammt von Thomas Steinfeld. In seiner Rezension in der Süddeutschen bezeichnet er Hier sind Löwen als einen »empfindsamen Roman«28 und konstatiert hernach: »Wenn die Glut des frommen Empfindens dennoch nicht auf den Leser überspringen will, liegt das nicht daran, dass sich Spiritualität nicht in Worte fassen ließe. Es liegt daran, dass Katerina Poladjan über zu viele Wörter verfügt und vor allem: über die falschen.«29 Auf diese Weise entstehe in dem Roman ein »Totalitarismus des Gefühls«30 . Die Rückblendengeschichte, in welcher das Schicksal zweier armenischer Kinder während des Völkermords an den Armeniern beschrieben wird, sei eine »Hänsel-und-Gretel-Geschichte«, deren Zusammenhang Poladjan »in ein wenig poetischen Nebel« hülle, vielleicht weil sie bemerke, »dass er, offen ausgesprochen, von in Schmalz gemeißelter Subtilität wäre.«31 Steinfelds polemischer Verriss des Romans stieß bei den anderen Rezensenten teils auf direkten Widerspruch. So geht etwa Cosima Lutz in ihrer Rezension für die Berliner Morgenpost auf Steinfeld ein: Die Gewalt sickert zunächst so leise durch das Erzählte, dass ein Rezensent ihr Buch tatsächlich mit Empfindsamkeits-Getue verwechselt hat. Vor allem zu Beginn muss man schon genau hinsehen, um nicht auf gewohnte Gefühlsprosa-Trig28

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Steinfeld, Thomas: Die Bibel und das Gewehr. Internet-Publikation in: Süddeutsche Zeitung: https://www.sueddeutsche.de/kultur/longlist-deutscher-buchpreis-die-bibel-und-da s-gewehr-1.4580128. Erschienen: 29.08.2019. Eingesehen: 01.04.2021. Im Folgenden zitiert als ›Steinfeld 2019‹. Ebd. Ebd. Ebd.

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ger hereinzufallen. Doch die Kargheit der Sätze hat hier nichts von jener parfümierten Schwermut, die sonst so oft für gediegene Ungekünsteltheit gehalten wird.32 Lutz hält Steinfeld somit vor, er habe den Roman nicht genau gelesen – angesichts der fehlenden Sachlichkeit in der Rezension von Steinfeld ein berechtigter Verdacht. Vor dem Hintergrund der Fragestellung dieser Arbeit ist insbesondere die von Lutz angesprochene indirekte Thematisierung der Gewalt in dem Roman von besonderem Interesse. Ähnlich positiv wie Lutz urteilt Richard Kämmerlings in der Welt über Poladjans Text, wobei er insbesondere die von Steinfeld kritisierte Rückblendengeschichte positiv hervorhebt: Während ihr Berufsethos es verbietet, selbst Dinge hinzuzufügen, lässt sie der Imagination in der Hänsel-und-Gretel-Geschichte von Anahid und Hrant freien Lauf. Doch damit folgt sie einem magischen Denken, das sich traditionell auf das Artefakt der Bibel richtete. »Hrant will nicht aufwachen. Mach, dass er aufwacht.« Das über Generationen weitergegebene Buch kann Wunder wirken, von denen wiederum andere Geschichten erzählen. Am Ende dieses sehr klugen und bewegenden Romans gibt es beides: ein tragisches und ein glückliches Ende, gerecht verteilt auf die Realität und auf die Fiktion.33 Paul Jandl unterstreicht in seiner Buchkritik in der Neuen Züricher Zeitung die interkulturellen Aspekte des Buches, welches sich »zwischen den Kulturen, Religionen und Zeitaltern«34 bewege, und auf diese Weise die deutsche Literatur bereichere. Darüber hinaus lobt er die Konzeption des Romans: Wenn Helen bei ihrer Arbeit im Archiv die alten Bücher restauriert, dann ist das ein Vorgang von höchst symbolischer Präzision. Die armenische Art, Bücher zu binden, ist kompliziert. Man lernt sie nicht von einem Tag auf den anderen. Und das kann man auch über den Roman von Katerina Poladjan sagen: Dass er die

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Lutz, Cosima: Eine Reise zu den weißen Flecken auf der Landkarte. Internet-Publikation in: Berliner Morgenpost: https://www.morgenpost.de/kultur/article227181693/Eine-Re ise-zu-den-weissen-Flecken-auf-der-Landkarte.html. Erschienen: 24.09.2019. Eingesehen: 01.04.2021. Im Folgenden zitiert als ›Lutz 2019‹. Kämmerlings, Richard: »Hrant will nicht aufwachen. Mach, dass er aufwacht«. InternetPublikation in: Welt online: https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article196488363 /Wunderbuch-Katerina-Poladjans-Roman-ueber-den-Armenier-Genozid.html. Erschienen: 08.07.2019. Eingesehen: 01.04.2021. Im Folgenden zitiert als ›Kämmerlings 2019‹. Jandl, Paul: Der Genozid an den Armeniern bewegt die Menschen bis heute. Internet-Publikation in: Neue Züricher Zeitung: https://www.nzz.ch/feuilleton/der-voelkermord-an-denarmeniern-bleibt-ein-trauma-ld.1499548. Erschienen: 05.08.2019. Eingesehen: 01.04.2021. Im Folgenden zitiert als ›Jandl 2019‹.

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Fäden auf trickreiche Art in der Hand behält. Dass er sie durch die Zeiten laufen lässt, um diese lesbar zu machen.35 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Roman von den Rezensenten nahezu einhellig positiv aufgenommen wurde – Steinfelds Verriss scheint vor diesem Hintergrund eine auf die persönlichen Vorlieben des Rezensenten zurückzuführende Ausnahme darzustellen. In der folgenden Analyse werden insbesondere die interkulturellen Aspekte des Romans im Fokus stehen, da diese untrennbar mit der Frage nach der armenischen Identität im Kontext des Völkermordes an den Armeniern verbunden sind. Dabei wird zunächst untersucht, inwieweit der Armenozid in Poladjans Roman als Teil der armenischen Identität begriffen wird und ob sich in dieser Hinsicht Parallelen zu einer durch die Shoah geprägten jüdischen Identität offenbaren, wie sie etwa in Funks Winternähe vorgestellt wird. Im nächsten Schritt wird die Identität der Protagonistin, der Buchrestauratorin Helen Mazavian, im deutsch-armenischen Kontext analysiert, wobei auch hier wiederum die Frage gestellt wird, wie sich die Auseinandersetzung mit der Herkunft der Romanfigur in die deutschsprachige Genozidliteratur einfügt. Im Anschluss an die Frage nach der Identität der Protagonistin gilt es schließlich zu untersuchen, auf welche Weise Poladjan eine produktive Distanz zu ihrem Erzählgegenstand wahrt.

7.2.2 Deutsch-armenische Identität – Genozid und Diaspora im armenischen Selbstverständnis Der Völkermord an den Armeniern als Teil der Identität In Hier sind Löwen werden keine direkten historischen Bezüge zur Shoah hergestellt. Auf literarischer Ebene finden sich jedoch Aspekte, welche unmittelbar an Funks Winternähe und somit an die literarische Darstellung der Shoah in der dritten Generation erinnern. Ist es in Funks Roman Lolas Vater Simon, der das Trauma seiner Mutter an Lola weitergibt, so ist es in Poladjans Werk Helens Mutter Sara, eine Künstlerin, die ihrer Tochter das Familientrauma vermittelt. Die Ich-Erzählerin Helen berichtet schon zu Beginn des Romans davon, wie ihre Mutter ihr Spielzeug zusammen mit den Bildern von während des Genozids getöteten Kindern in ihren Kunstwerken verarbeitet. (vgl. HL 12f.) Bei alldem besteht kein Zweifel daran, dass Sara das Trauma ihrer eigenen Mutter – einer Überlebenden –, die aufgrund des erlittenen Traumas bereits Jahre vor der Romanhandlung Suizid begeht (vgl. HL 267), zu verarbeiten sucht. Wie Simon in Winternähe versucht auch Sara ihrer Tochter das Familientrauma näherzubringen. So konstatiert die Erzählerin: »Ich bin mit Bildern von toten armenischen Kindern aufgewachsen. Eine Zeitlang war Sara wie besessen

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davon. Wir saßen beim Frühstück, und sie las mir aus den Erinnerungen von überlebenden Armeniern vor.« (HL 139) Der Völkermord an den Armeniern ist in Poladjans Roman in der Familie der Protagonistin somit in gleicher Weise präsent wie die Shoah in Lolas jüdischer Familie in Winternähe. Helens Familie ist kein Einzelfall, wie der Aufenthalt der Protagonistin in Armenien zeigt: Die Buchrestauratorin, die im Zentralarchiv Jerewans die besondere armenische Buchbindekunst kennenlernen soll, wird nach ihrer Ankunft in der Stadt von Evelina Stepanowna Petrosian, der Leiterin der Restaurationswerkstatt des Archivs, freundlich, beinahe wie ein Familienmitglied, aufgenommen. Während der privaten Besuche bei den Petrosians erfährt die Erzählerin viel über den Umgang der Familie mit der armenischen Geschichte, insbesondere jedoch mit dem Genozid. Die Eltern von Evelinas Mann Araik waren beide Überlebende des Völkermordes an den Armeniern. Wie bei Lolas Großeltern war es auch bei Araiks Eltern: der Vater schwieg zum Genozid, während die Mutter erzählte, wie Araik Helen berichtet36 : Meine Eltern haben beide den Völkermord überlebt. Meine Mutter hat nicht geschwiegen. Sie hat uns gequält mit ihren Geschichten. Sie wurde steinalt. Bei Tisch saßen wir zusammen, und meine Mutter erzählte von den Grausamkeiten, die ihr, den Angehörigen, den Bekannten, den Nachbarn widerfahren sind. Das war unsere Abendunterhaltung, mit diesen Geschichten sind wir ins Bett geschickt worden, mit diesen Geschichten schliefen wir ein. Am Ende sagte sie immer den einen Satz: Die anderen sind umgekommen, und ich bin übrig geblieben. Was soll man als Kind dazu sagen? Mein Bruder und ich, wir wollten das nicht hören, wir wollten ins Kino gehen, wir wollten uns mit Mädchen treffen. Mein Vater hat stumm gelitten und ist aus dem Zimmer gegangen. Ich weiß nicht, warum er nichts erzählt hat. Vielleicht hat er sich geschämt. Schämt man sich für erlittenes Leid? (HL 82f.) Das von Araik geschilderte Trauma der »Überlebensschuld« seiner Mutter erinnert unmittelbar an die Verarbeitung der Shoah in jüdischen Familien – sowohl auf literarischer als auch auf historischer Ebene: Shoah-Überlebende wie Peter Weiss hatten teils zeitlebens mit dem Wissen zu kämpfen, dass sie überlebt hatten, während Familie und Freunde von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass diese Form des Traumas in vielen literarischen Werken der Überlebenden eine wichtige Rolle spielt.37 Das Verhalten von Araiks Vaters erinnert darüber hinaus an das Verhalten von Lolas Großvater Gershom. Später im Roman nimmt Araik nochmals Bezug auf das Schweigen seines

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Vergleichbar hiermit ist auch die Erinnerung zweier armenischer Schwestern Seda und Melek, die Helen auf ihrer Reise in die Türkei trifft. Während Seda um eine möglichst genaue Erinnerung an ihre Geschichte bemüht ist, versucht ihre Schwester Melek, ihre Vergangenheit zu verdrängen. (vgl. HL 233–240) Vgl. dazu ausführlich Kapitel 2.3 dieser Arbeit.

7. Die literarische Darstellung des Völkermords an den Armeniern

Vaters und erklärt, er habe nie nach dessen Erlebnissen gefragt, da er Angst vor dem hatte, was er zu hören bekommen hätte.38 (vgl. HL 131) Sowohl in Winternähe als auch in Hier sind Löwen sind es die Großeltern der Protagonistinnen, die das Trauma eines Völkermordes erlebt haben – somit wird in beiden Werken der Umgang der Enkelgeneration mit dem von den Großeltern erlebten Völkermord thematisiert. In Hier sind Löwen wird der Umgang mit der traumatischen armenischen Geschichte nicht nur mittels der beiden Familiengeschichten thematisiert, sondern vielmehr als grundsätzlicher Teil der armenischen Identität begriffen. Der Autorin gelingt es, dies mittels kurzer Bemerkungen und Dialoge der Romanfiguren dem Leser immer wieder vor Augen zu führen. Evelina betont beispielsweise die Bedeutung der Geschichte für die Armenier, indem sie Helen beiläufig erzählt, in Armenien mache man sich »mehr Sorgen um die Vergangenheit als um die Zukunft.« (HL 39) Evelinas Sohn Levon, mit dem Helen eine Affäre eingeht, unterstreicht später im Roman ebenfalls indirekt die Allgegenwart der Erinnerung an den Genozid, wenn er konstatiert: »Alle Armenier sind traurig. Immer.«39 (HL 85) Die Vergangenheit – in welcher der Genozid immer mitgedacht wird – bestimmt in Hier sind Löwen den Alltag vieler Armenier.40 Dies offenbart sich exemplarisch in der lakonischen Feststellung von Helens armenischem Kollegen Vardan, der im türkischen Ostanatolien41 gelegene Berg Ararat, das Nationalsymbol der Armenier, gehöre nach wie vor zu Armenien und stehe lediglich auf türkischem Boden (vgl. HL 57) oder in Evelinas Verweis auf die Bedeutung der armenischen Familienbibeln, die ihren Stellenwert den zahlreichen Vertreibungen der Armenier verdankten und die so etwas wie eine »tragbare Heimat« (HL 62) für die Armenier seien.42 In den direkten Kontext

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Nicht nur Araiks Kindheit war geprägt von der Auseinandersetzung mit dem Genozid. Evelina erzählt davon, dass die nunmehr fünfundneunzigjährige Schwiegermutter ihr gesagt habe, ihr Sohn sei »ein gottloser Türkenfreund« (HL 31), als sie das Heilevangeliar der Familie für ihren kranken Mann holen wollte. Es sind wohl Aussagen wie diese, die Steinfeld dazu veranlassten, dem Roman Substanzlosigkeit zu attestieren. Dieser Vorwurf erscheint jedoch unberechtigt, da die Autorin mittels Äußerungen wie jener von Levon vielmehr die fortwährende Bedeutung der Vergangenheit bis hin in die armenische Gegenwart betont, es sich also keinesfalls um bedeutungsleere Phrasen handelt. Die negative Seite der Auseinandersetzung wird in Poladjans Roman ebenfalls angesprochen. Auf der Suche nach Verwandten gerät Helen an einen armenischen Fernsehmoderator, der unverhohlen das kommerzielle Potential des erlittenen Leides der Armenier betont, wobei er bedauernd feststellt, die »Nummer mit den Überlebenden« (HL 107) ziehe im Fernsehen nicht mehr. Das heutige Ostanatolien wurde vor dem Völkermord vornehmlich von Armeniern bewohnt. In Poladjans Roman wird jedoch auch eine andere Seite der armenischen Identität behandelt: der mit dem Bergkarabach-Konflikt verbundene Nationalismus. Evelinas Sohn Levon entgegnet im Gespräch über seine Motivation, zur armenischen Armee zu gehen, auf Helens Frage, was es schöneres als Bücher gebe, schlicht: »Ein blankgeputztes Gewehr.« (HL 170) In

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der Frage nach der armenischen Identität fällt auch eine kurze Passage, die – beabsichtigt oder nicht – eine direkte Verbindung zwischen Poladjans Roman und Hilsenraths Märchen vom letzten Gedanken herstellt. Ist es in Hilsenraths Werk der zur Romanfigur gewordene letzte Gedanke des sterbenden Thovma der feststellt, alle Türken hätten Albträume wegen der ermordeten Armenier, so ist es in Poladjans Werk der armenische Taxifahrer Grigor, der an Helen gewandt feststellt: »Sie werden kaum einen Armenier finden, der nicht heimgesucht wird von Albträumen.« (HL 110) Die Feststellung des Taxifahrers kann durchaus als Antwort oder Reaktion auf den zentralen Satz aus Hilsenraths Roman verstanden werden.43 Steht in der Aussage im Märchen vom letzten Gedanken noch die Verantwortung beziehungsweise die Schuld der Türken im Vordergrund, so wird in dem Satz Grigors unterstrichen, wie sehr die Armenier noch heute von den, von Generation zu Generation weitergebenen, Erinnerungen an die größte Tragödie ihrer Geschichte verfolgt werden, die auf diese Weise Bestandteil der armenischen Identität sind. Darüber hinaus verweist Poladjan in ihrem Roman auch auf die divergente Bedeutung des Genozides für die in der Diaspora lebenden Armenier. In Jerewan lernt Helen die syrische Armenierin Ano kennen, die im Zuge des Syrienkrieges nach Armenien fliehen musste und die nun mit einem Identitätsproblem zu kämpfen hat: Ich hatte auch keine Vorstellung von Armenien. In Syrien hat man uns gesagt, die Armenier in Armenien seien keine richtigen Armenier, weil sie nicht vor Verfolgung und Ermordung fliehen mussten. Sie täten, als teilten sie ein gemeinsames Schicksal, aber eigentlich hätten sie keine Ahnung, und trotzdem verachteten sie die Disaspora-Armenier. Und jetzt bin ich hier, man nimmt mich auf, und ja, man verachtet mich ein wenig. Wo immer du Armenier triffst, hier oder irgendwo in der Diaspora – alle werfen sich vor, keine richtigen Armenier zu sein. (HL 163) Die Situation hat sich für die junge syrische Armenierin somit ins Gegenteil verkehrt: in Syrien war sie aufgrund des Selbstverständnisses der Diaspora-Armenier eine »richtige« Armenierin, da ihre Vorfahren vor der Verfolgung der Türken – anders als die vielen in Armenien lebenden Armenier – fliehen mussten. Vor diesem Hintergrund ist für Ano die von ihr angesprochene Verachtung der Armenier in Jerewan ein besonders großes Problem – hier ist sie eben keine richtige Armenierin mehr, sondern nur noch eine geflüchtete Syrerin. So ist es nachvollziehbar, dass sie wütend reagiert, als Helen sie als »Ano aus Syrien« (HL 166) vorstellt und auf diese

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dem kurzen Dialog werden somit zwei Vorstellungen von armenischer Identität einander gegenübergestellt. Hilsenraths Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Armeniern gilt in Armenien mehr noch als Werfels Die vierzig Tage des Musa Dagh als Klassiker, vgl. Amirkhanyan 2001. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass Poladjan das Werk ebenfalls kennt.

7. Die literarische Darstellung des Völkermords an den Armeniern

Weise über ihre Identität bestimmt und ihr unbeabsichtigt die armenische Identität abspricht. Levon übernimmt im Nachgang an das Gespräch Helens Bezeichnung und nennt Ano »dieses syrische Mädchen« (HL 167), wobei er sich grundsätzlich über die syrischen Flüchtlinge ereifert. (vgl. HL 168)

Zwischen Deutschland und Armenien – armenische Identität der Diaspora-Armenier Die Frage nach der Identität ist in Poladjans Roman jedoch nicht auf die Erinnerung an den Völkermord beschränkt. Helens Vorfahren mütterlicherseits stammen aus Armenien, ihren deutschen Vater kennt sie nicht. (vgl. HL 95) Auch wenn sie sich als Deutsche sieht, stellt sie nach ihrer Ankunft in Jerewan erfreut fest, dass ihr Nachname Mazavian, der ihr bis dato immer auffällig und unpassend erschienen war, hier ein gewöhnlicher Name ist. So konstatiert sie unmittelbar nach der Ankunft: »Abovyan. Petrosian. Mazavian. Mein Nachname war plötzlich in phonetischer Gesellschaft. Bisher hatte ich ihn getragen wie ein unpassendes Kleidungsstück, wie einen verbeulten Hut, den ich auch zum Essen nicht abnahm.«44 (HL 11) Zwar fühlt sich die Protagonistin aufgrund der »phonetischen Gesellschaft« ihres Nachnamens direkt heimisch, doch sie hat ein Problem: Sie beherrscht die armenische Sprache nicht. (vgl. HL 25) Da sie sich problemlos auf Russisch verständigen kann, wird ihr die Problematik jedoch erst bewusst, als sie feststellt, dass sie die Sprache des Buches – einer alten armenischen Familienbibel – welches sie restaurieren soll, nicht versteht: Bisher hatte es mich nicht gestört, an Büchern zu arbeiten, die ich nicht lesen konnte. Ich habe Handschriften restauriert, geschrieben in hebräischer, lateinischer oder arabischer Schrift, und alle haben mir Geschichten erzählt, ohne dass ich die Worte entziffern konnte. Jetzt störte es mich. (HL 48) Helen stellt hier also fest, dass es für sie einen bedeutenden Unterschied macht, ob das zu restaurierende Werk in einer für sie beliebigen Sprache oder in der Sprache ihrer Vorfahren verfasst ist. Auf diese Weise entdeckt sie eine Verbindung zu ihrer bis dato für sie problematischen armenischen Herkunft. Ihr grundsätzlich schwieriges Verhältnis zu Armenien wird insbesondere in der Auseinandersetzung mit ihrer Mutter Sara deutlich. Während eines Telefonats darauf angesprochen, wie die Heimat sei, reagiert die Erzählerin mit einem irritierten »Unsere Heimat?« (HL 41) Fragend reagiert sie auch auf Evelinas Feststellung, sie sei Armenierin. (vgl. HL 49) Wie Lola in Winternähe wehrt sich auch Helen darüber hinaus dagegen, auf eine Identität reduziert zu werden. Im Gespräch von Araik nach ihrer armenischen Mutter und ihren Wurzeln gefragt entgegnet Helen bestimmt: »Ich bin kein Baum.« (HL 44

Wenig später wird das Spiel mit den armenischen Nachnamen nochmals aufgegriffen. (vgl. HL 15)

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81) Helens berechtigte Feststellung kann wiederum als eine Anknüpfung an Hilsenraths Märchen vom letzten Gedanken interpretiert werden, wobei auch hier ein zentraler Gedanke aus dessen Werk aufgegriffen wird. So vergleicht Thovmas letzter Gedanke die Vorstellung von Identität explizit mit einem Baum, welcher zwar seine Blätter, niemals jedoch seine Wurzeln verlieren könne. (vgl. MlG 29) Für Hilsenraths Romanfigur ist somit die feste Verankerung in einer Heimat zentral. Gänzlich anders gestaltet sich die Situation für Helen: Sowohl ein Leben in Armenien als auch ein Leben in Deutschland sind für sie vorstellbar. (vgl. HL 158) Dies kann als Plädoyer für eine Identität verstanden werden, die zwei Kulturen miteinander vereint. Wie wichtig für Helen ihre in Armenien beginnende Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Identität ist, wird auch im Gespräch mit Ano deutlich. Auf Helens Frage, ob Ano eine richtige Armenierin sei, antwortet diese mit der Gegenfrage, ob Helen eine richte Deutsche sei (vgl. HL 163), woraufhin Helen entgegnet: »Ich habe keine Ahnung, was ich bin.«45 (HL 163) Beide jungen Frauen sind somit geeint durch ihre Identität, die ein Entweder-Oder ausschließt.

7.2.3 Der Völkermord an den Armeniern – oftmals unausgesprochen und doch allgegenwärtig Der Völkermord an den Armeniern ist in Poladjans Hier sind Löwen durchgängig präsent. Dennoch geschieht die Auseinandersetzung mit den Verbrechen jenseits der Rückblendenkapitel distanziert und indirekt. Bereits auf den ersten Romanseiten berichtet die Erzählerin vom Umgang ihrer Mutter mit dem Genozid. Als Kind erlebt Helen, wie Sara ihre Spielsachen in einem Kunstwerk, das den Armenozid thematisiert, verarbeitet: Zuerst erkannt ich den Bären, der Kopf war nicht mehr dran, dann sah ich Teile meiner Puppen und das Schwein und einige meiner Kinderzeichnungen und Fotos auf dem Fußboden vor der Staffelei verstreut. Hier ein Arm, da ein Kopf, der Rest war auf ein großes Holzbrett geklebt und mit Farbe beschmiert, dazwischen Fotos von toten Kindern, die kannte ich schon. Tote armenische Kinder in Schwarzweiß und Sepia waren nichts Besonderes mehr, seit Jahren klebte Sara sie in ihre Bilder. […] Die gelockte Puppe hing neben dem Foto eines ausgemergelten Mädchenkörpers. Der Körper lag im Staub, und zum ersten Mal erkannt ich, dass die Fotos echte Menschen zeigten. So tot kann ein Kind nicht sein, habe ich gedacht. (HL 12f.)

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Helen ist mit ihrem zwiespältigen Verhältnis zu Armenien kein Einzelfall, wie sie von einer Armenierin erfährt: »Es gibt ein armenisches Paradox. Jeder Armenier der Welt könnte nach Armenien zurückkehren, aber sie denken nicht daran, es zu tun. Sie schicken Geld und sehen aus der Ferne zu, wie das Land vor die Hunde geht.« (HL 152)

7. Die literarische Darstellung des Völkermords an den Armeniern

Die Protagonistin wird auf diese Weise durch die Kunst der Mutter mit dem Völkermord konfrontiert, wobei sie erstmals feststellt, dass die von Sara verarbeiteten Fotos echte Menschen zeigen. Die Zerstückelung der Spielsachen steht in der Passage sinnbildlich für die Massaker während des Genozides. Helen belässt es bei der nüchternen Beschreibung, lediglich im letzten Satz der zitierten Passage hallt etwas von dem Entsetzen des Kindes nach, das nicht fassen kann, dass die Fotos echte tote Kinder zeigen. Vor dem Hintergrund einer solch traumatischen Kindheitserfahrung scheint es kaum überraschend, dass Helens Verhältnis zur größten Tragödie der armenischen Geschichte kompliziert und distanziert ist. Vor ihrem Aufbruch nach Armenien ist es wiederum ihre Mutter Sara, die versucht, ihre Tochter dazu zu bewegen, sich mit der Herkunft ihrer Familie auseinanderzusetzen. Sie gibt Helen ein Foto mit auf die Reise, auf welchem Verwandte Saras abgebildet sind und auf dessen Rückseite die Jahreszahl 1957 sowie Artaschat, der Name einer Stadt südlich von Jerewan, stehen. (vgl. HL 43) Die Übergabe der Fotografie wird mit der Aufforderung verbunden, die Verwandten in Armenien zu suchen.46 Helen soll auf diese Weise die »Lücke« oder »Leerstelle« (HL 69) im Leben ihrer Mutter füllen, die mit den verschollenen Verwandten verbunden ist. (vgl. HL 109) Der Aufforderung will Helen aufgrund des problematischen Verhältnisses zu ihrer Familiengeschichte nicht ohne Weiteres nachkommen, dennoch macht sie sich nach einiger Zeit in Armenien erstmals auf die Suche, wobei sie zunächst irrtümlich in Aschtarak und nicht in Artaschat landet. (vgl. HL 96–101) Auch in der richtigen Stadt findet sie jedoch keine Verwandten. (vgl. HL105.110) In der Folge gibt sie die Suche auf. Ano, die von dem Auftrag der Verwandtensuche und Helens Desinteresse an der Suche weiß, erzählt zunächst von ihrer Vertreibung und Flucht aus Syrien und konfrontiert ihre Freundin im Anschluss mit deren Desinteresse an der Familiengeschichte: »Überall werden Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Hast du nicht erzählt, deine Vorfahren kämen aus Kars? Auch sie sind Opfer dieses Hasses. Und du liegst da und tust, als ginge dich das alles nichts an.« (HL 216) Helen reagiert zunächst nicht auf Anos Vorwurf, sondern redet lieber von den Büchern, die sie restauriert, und betont, dass sie auf diese Weise Geschichte bewahre, das »Wühlen im Persönlichen« (HL 217) ihr jedoch zuwider sei. Somit macht die Protagonistin deutlich, dass sie sich zwar für die armenische Geschichte interessiert und diese auch zu bewahren gedenkt, der Umgang mit ihrer eigenen Herkunft für sie hingegen deutlich problematischer ist. Doch Ano drängt weiter darauf, dass Helen sich mit ihrer eigenen Geschichte auseinandersetzt, sodass diese schließlich erzählt, dass sie beabsichtige, ins türkische

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Die Geschichte geht auf ein Erlebnis Poladjans zurück, die vor einer Armenienreise von ihrem Vater eine Fotografie erhielt, auf welcher Angehörige abgebildet waren. Wie in Helens Fall war auch hier der Name einer Stadt auf die Rückseite geschrieben. Vgl. Küchemann, Fridtjof: Und, sollte ich jetzt gerührt sein? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 18.07.2019, S. 10.

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Kars – die Region, aus der die Familie Ihrer Großmutter stammte – zu reisen. (vgl. HL 217f.) Tatsächlich begibt sich die Erzählerin nach Kars, in die vermutete Geburtsstadt ihrer Großmutter. Von dort aus ruft sie ihre Mutter an und greift bei dem Gespräch das mit ihren zerstückelten Spielsachen verbundene Trauma wieder auf. In dem folgenden Streit mit Sara wird deutlich, dass die Auseinandersetzung mit dem Genozid in Form des Kunstwerkes eine Form der Verdrängung darstellt. Zunächst reagiert Helen wütend auf die Aussage Saras, sie wisse nicht, woher die Familie ihrer Mutter stamme, und wirft ihr vor: »Du klebst Fotos von toten armenischen Kindern und meine zerfetzten Spielsachen in deine Kunst und willst dich nicht einmal erinnern, woher die Familie deiner Mutter eigentlich kam?« (HL 242) Sara reagiert kühl auf den Vorwurf ihrer Tochter und wechselt abrupt das Thema – der Genozid wird auf diese Weise als Leerstelle in der Familiengeschichte markiert, als etwas, über das nicht geredet wird. Deutlicher noch wird dies, als Helen ihre Mutter wenig später bei einem weiteren Telefongespräch mit dem Fund eines möglichen Massengrabes in den Bergen bei Kars konfrontiert: Zurück in Jerewan rief ich Sara an und erzählte ihr von den Knochen in den Bergen bei Kars, und sie sagte, das seien bestimmt Tierknochen gewesen. Ziegen, Schafe, Kaninchen. Dann schwieg sie ziemlich lange und sagte, »am Ende ist es egal.« (HL 266) Sara will sich nicht direkt mit dem Völkermord auseinandersetzen. Dies wird auch in der Beschreibung ihres Verhaltens gegenüber Helens Großeltern deutlich. Von der Ich-Erzählerin erfährt der Leser, dass das Leid der Großeltern in der Familie Mazavian nie thematisiert wurde, Sara ihrer Tochter vor den Besuchen bei den Großeltern in Moskau immer nur mitgegeben habe, sie solle nett zu den Großeltern sein, da diese immer viel gelitten hätten. (vgl. HL 267) Worin das Leid bestand, blieb unausgesprochen. Dennoch ist aufgrund des Kontextes evident, dass Sara damit auf die Verfolgungen und das Leid während des Genozides anspielt, welcher jedoch lediglich als Leerstelle präsent ist. Vergleichbar gestaltet sich der in dem Roman geschilderte Umgang der Familie Petrosian mit dem Völkermord. Während Helens Besuchen ist der Völkermord ebenfalls präsent, ohne jedoch direkt thematisiert zu werden. Evelina erzählt lediglich in einem Nebensatz, ihrer Schwiegermutter hätten zwei Finger gefehlt, »abgeschnitten für zwei wertlose Ringe.« (HL 31) Der Kontext wird nicht erläutert, dennoch ist auch hier offensichtlich, dass die alte Frau die Finger während des Genozids verloren hat. Indem die Verbrechen gegen die Armenier wie schon im Falle der Familie Mazavian nicht explizit thematisiert werden, wird

7. Die literarische Darstellung des Völkermords an den Armeniern

die Distanz zum Erzählgegenstand gewahrt.47 Der Leser wird dazu aufgefordert, die zahlreichen Andeutungen richtig zu lesen und einzuordnen. Doch in Hier sind Löwen findet jedoch auch eine direktere Auseinandersetzung mit dem Völkermord statt. Hierzu entscheidet sich die Autorin dafür, in Rückblenden die Geschichte eines armenischen Geschwisterpaares während des Genozids zu erzählen. Der Erzähler erfährt aber nicht, ob die Rückblenden Helens Fantasie entspringen oder ob diese auf Recherchen ihrerseits beruhen.48 Eben diesen Aspekt betont auch Lutz: Es ist nun interessanterweise so, dass Helen nicht gerade darauf zu brennen scheint, zu erfahren, wer diese beiden waren. Stattdessen jubelt Poladjan uns die mögliche Geschichte der beiden einfach so unter. Stapelt sie, locker angeordnet, als Rückblende zwischen die Gegenwarts-Seiten. Und überlässt es uns zu entscheiden, ob der nach außen so nüchternen Helen hier die Fantasie durchgeht, ob es also eine Lüge ist oder eine Rekonstruktion.49 In der Tat besteht die einzige Verbindung zwischen Helen und der Geschichte des armenischen Mädchens Anahid und ihres Bruder Hrant in handschriftlichen Einträgen in der Familienbibel, welche Helen restauriert.50 (vgl. HL 58f.) Obgleich die Rückblenden von der Zeit des Genozids erzählen, wird nur in wenigen, kurzen Passagen Bezug auf die Verbrechen gegen die Armenier genommen. So erzählt beispielsweise ein türkischer Mann, den die Kinder auf der Flucht treffen, nachdem er den beiden zunächst droht »er könne, wenn er wolle, ihre Bäuche aufschlitzen«, dann gebe es »zwei Parasiten weniger« (HL 193), von seiner Beteiligung an den Massakern: Der Mann […] erzählte von anderen Armenierkindern und was mit denen geschehen sei. Er erzählte, wie er mit eigener Hand, mit dem eigenen Messer, auch mit seinem stumpfen Messer, mit dem eigenen Beil – ein Menschenkörper sei ganz

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Hierzu trägt auch das Verhalten von Araiks Vater bei, welcher konsequent zu seinen Erlebnissen schweigt. (vgl. HL 131) Gegen Ende des Romans erzählen die beiden armenischen Schwestern Seda und Melek von ihrem Vater, einem armenischen Flüchtlingskind. (vgl. HL 232–240) Die Geschichte scheint die Fortsetzung der Geschichte von Anahid und Hrant zu sein, jedoch bleibt sowohl unklar, ob die in den Rückblenden erzählte Geschichte ebenfalls auf Erzählungen beruht als auch, wer der Erzähler in den Rückblenden ist. Lutz 2019. Auf einer Seite steht etwa dreimal der Name Anahid (vgl. HL 58), auf einer weiteren Seite »Hrant will nicht aufwachen, mach, dass er aufwacht.« (HL 59) Die handschriftlichen Einträge lässt sich Helen von einer armenischen Kollegin übersetzen. Grundsätzlich bleibt in dem Roman jedoch unklar, wer die Geschichte in den Rückblendenkapiteln, welche die Romanhandlung immer wieder unterbrechen, erzählt.

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weich, habe weniger Knochen, als man denke. Und Kinderköpfe, aneinandergeschlagen, hielten kaum etwas aus. (HL 193) Zwar besteht kein Zweifel an den grausamen Verbrechen des Türken, jedoch werden diese nur in Andeutungen beschrieben, wobei die Sätze teils nicht vollständig ausgeführt werden. Die Passage ist zugleich die einzige direkte Schilderung des Grauens. Wie in Helens Erzählung sind es ansonsten zumeist Andeutungen, welche die Verbrechen erahnen lassen, etwa wenn die Kinder wenig später eine abgetrennte, vertrocknete Hand auf ihrem Weg finden. (vgl. HL 211) Abgesehen hiervon wird in Bezug auf den Genozid nur die Abholung der Familie der beiden Kinder unmittelbar vor der Flucht beschrieben, das weitere Schicksal der Eltern und Geschwister bleibt jedoch unbekannt. (vgl. HL 89f.) Folglich konstatiert Jandl zu Recht, Poladjan vermeide es, »ihren Roman zur Vorlesung über eines der grausamsten Kapitel des 20. Jahrhunderts zu machen.«51 Auch Kämmerlings lobt die Verschränkung von Helens Erzählung mit der aus wenigen Hinweisen entwickelten Familiengeschichte aus der Zeit des Genozids während des Ersten Weltkrieges: Dieser Kunstgriff erlaubt es Poladjan, das historische Schicksal des armenischen Volkes in ihren Roman zu integrieren. Wie um ein schwarzes Loch kreist er um den Genozid, eine der Urkatastrophen des vergangenen Jahrhunderts und ein bis in die Gegenwart kaum bearbeitetes Trauma – der Nachkommen der Opfer wie der Täter gleichermaßen.52 Diese Beobachtung gilt auch für die einzige ausführliche Perspektive eines Nachfahren der Täter des Genozids. Der Kurde Ilay, Helens Fahrer in Kars, spricht im Zusammenhang mit Armenien lediglich von einer »[s]chlimme[n] Sache.« (HL 246) und führt die Protagonistin an verschiedene Orte, die mit dem Genozid in Zusammenhang stehen, etwa einem Denkmal für die angeblich von Armeniern massakrierten Türken (vgl. 246f.), einer zum Lager für landwirtschaftliche Güter umfunktionierten armenischen Kirche (vgl. HL 247) sowie zu einem vermutlichen Massengrab in den Bergen bei Kars. (vgl. HL 249) Auch hier werden also insbesondere ikonische Orte genannt, die mit dem Genozid in Verbindung stehen. Wie in dem gesamten Roman werden dem Leser somit auch am Ende keine Erzählungen vom Völkermord an den Armeniern präsentiert. Indem Poladjan in Hier sind Löwen das Fortwirken des armenischen Traumas deutlich macht, ohne dieses ausführlich zu beschreiben und den Völkermord selbst in den Rückblendenkapiteln nicht direkt thematisiert, sondern das Grauen lediglich andeutet, fordert die Autorin den Leser dazu auf, die Hintergründe zum Völkermord an den Armeniern selbst zu recherchieren und sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

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Jandl 2019. Kämmerlings 2019.

7. Die literarische Darstellung des Völkermords an den Armeniern

7.3 Fazit Mit Funks Winternähe und Poladjans Hier sind Löwen standen in diesem Kapitel zwei vergleichsweise neue Werke der deutschsprachigen Genozidliteratur im Fokus. Ein zentrales Thema beider Romane ist die Auseinandersetzung der Protagonistinnen mit ihrer Identität zwischen zwei Kulturen. Funks Protagonistin Lola wächst in einer jüdischen Familie auf, in der die Shoah immer präsent ist, da sie sowohl Lebensthema ihrer Großmutter Hannah als auch ihres Vaters Simon ist. Beide sehen überall Vorboten für ein Sequel der Shoah. Insbesondere Simon ist bestrebt, seine Tochter für diese drohende Gefahr zu sensibilisieren, wobei er das Trauma seiner Mutter an Lola weitergibt. Darüber hinaus ist in dem gesamten Roman die Erinnerung an die Shoah als zentraler Bestandteil jüdischer Identität präsent. Der zunehmende Antisemitismus in Deutschland, teils getarnt als vermeintlich sachliche Kritik an Israel, bewegt die Protagonistin dazu, sich intensiv mit ihrer jüdischen Identität auseinanderzusetzen. Dabei hat Lola, wie viele der Romanfiguren in den in dieser Arbeit behandelten Werken, damit zu kämpfen, dass Außenstehende über ihre Identität zu bestimmen suchen, sie entweder als Jüdin oder als Deutsche sehen. Der Tiefpunkt ist für sie in dieser Hinsicht das Gerichtsurteil nach dem »Hitlerbartvorfall«, da der Freispruch der beiden Angeklagten damit begründet wird, dass Lola nach den Gesetzen der Halacha aufgrund ihres jüdischen Vaters und ihrer deutschen Mutter keine richtige Jüdin sei. Dies ist zugleich auch der Schlüsselmoment, der bei der Protagonistin zu einer klaren Rückbesinnung auf ihre jüdische Identität führt. Trotz alledem ist für Lola immer klar, dass sie Deutsche und Jüdin und somit gleichermaßen Nachfahrin von Tätern und Opfern der Shoah ist – wie die Autorin Funk entscheidet sich die Protagonistin also für eine Identität, die beide Kulturen miteinander zu vereinen sucht. Die Art der Auseinandersetzung des mit dem Armenozid verbundenen Traumas der Armenier in Poladjans Hier sind Löwen offenbart deutliche Parallelen zu dem in Winternähe geschilderten jüdischen Trauma. Dabei zeigt Poladjan, dass die armenische Identität ebenso geprägt durch die Erinnerung an den Völkermord an den Armeniern ist, wie die jüdische durch die Erinnerung an die Shoah. In Poladjans Roman ist es die Mutter der Protagonistin, die das armenische Trauma an ihre Tochter weitergibt. Während ihres Aufenthaltes in Armenien erkennt Helen, dass auch Selbstverständnis und Identität der in Armenien lebenden Armenier durch die allgegenwärtige Erinnerung an den Genozid geprägt sind. In Jerewan beginnt Helen schließlich auch damit, sich mit der Vergangenheit ihrer Familie zu befassen. Dabei wird deutlich, dass Helen sich nicht auf eine Identität festlegen lassen möchte und die Vorstellung von einer festen »Verwurzelung« in einer Kultur ablehnt. Deutschland und Armenien sind für sie Heimat, ohne dass sie ein Land dem anderen vorzieht. Wie Lola wählt somit auch Helen eine Identität zwischen den Kulturen.

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In Bezug auf die Distanz zum Erzählgegenstand gleichen sich die beiden in diesem Kapitel analysierten Romane ebenfalls, wobei die Strategien der Distanzerzeugung teils an andere in dieser Arbeit behandelte Werke erinnern. In Funks Winternähe erfährt der Leser, wie etwa auch in Gstreins Romanen, durch eine gebrochene Perspektive von der Shoah. Dabei wird zwar deutlich, dass die Shoah in Lolas Familie allgegenwärtig ist, jedoch wird kaum direkt vom Mord an den europäischen Juden erzählt. Ein weiteres Thema, welches die Romanhandlung maßgeblich prägt, ist der Israel-Palästina-Konflikt. Dem Leser werden sowohl eine palästinensische als auch eine israelische Sichtweise vorgestellt – Lola hinterfragt beide Standpunkte, ohne jedoch selbst klar Stellung zu beziehen. Indem Funk die komplexe Situation weitestgehend ohne Wertung vorstellt, fordert sie den Leser zur kritischen Reflexion seines eigenen Standpunktes sowie zu einer vertiefenden Recherche der Hintergründe auf. Deutlicher noch als in Winternähe ist der Genozid in Poladjans Roman als Leerstelle präsent. Zwar ist auch bei den Armeniern in Hier sind Löwen die Erinnerung allgegenwärtig, jedoch wird kaum direkt vom Völkermord an den Armeniern erzählt. Die Annäherung an den Erzählgegenstand geschieht vielmehr über die Kunst von Helens Mutter Sara, die zerstückelte Spielsachen ihrer Tochter mit Bildern von toten armenischen Kindern zu Kunstwerken verarbeitet und sich auf diese Weise dem Thema annähert, sowie Andeutungen der Armenier in Armenien. Zwar gibt es im Gegensatz zu Funks Roman in Hier sind Löwen Rückblendenkapitel, in denen die Geschichte der armenischen Kinder Hrant und Anahid während des Völkermordes erzählt wird, doch auch hier findet sich lediglich eine kurze Passage, in welcher die Verbrechen der Türken vergleichsweise detailliert geschildert werden.

8. Schlussbetrachtung und Ausblick

Im Zentrum der vorliegenden Untersuchung stand die These, dass mit Uwe Timms Morenga sowie Edgar Hilsenraths Märchen vom letzten Gedanken ein Paradigmenwechsel in der deutschsprachigen literarischen Auseinandersetzung mit Genoziden eingeleitet wurde, dies jedoch keineswegs eine Marginalisierung der Shoah bedeutete, wenngleich die Singularität des Völkermordes an den europäischen Juden nicht mehr als unumstößliche Tatsache akzeptiert wurde. In der Studie konnte gezeigt werden, dass die Shoah als Bezugspunkt dennoch nach wie vor eine eminente Rolle bei der deutschsprachigen literarischen Auseinandersetzung mit Genoziden spielt; mit anderen Worten, ein Schreiben über einen anderen Genozid als die Shoah in deutscher Sprache ist nicht möglich, ohne den Mord an den europäischen Juden mitzudenken. Mit Ausnahme von Katerina Poladjans Hier sind Löwen sowie Bernhard Jaumanns Der lange Schatten spielt die Shoah in allen in dieser Studie behandelten Romanen eine wichtige Rolle, wobei sich dies auf stark differierende Weise in den Texten äußert. So knüpft Timm zwar mit dem dokumentarischen Stil, welchen er für Morenga (1978) wählt, an Elemente an, die an das Dokumentartheater und die ersten literarischen Aufarbeitungsversuche der Shoah erinnern, doch in erster Linie arbeitet er in seinem Roman die historischen Kontinuitätslinien heraus, die vom deutschen Kolonialismus bis zur Shoah reichen. Immer wieder führt Timm in Morenga die rassistischen Praktiken der deutschen Kolonialherrn vor Augen, wobei er keinen Zweifel daran lässt, dass die diesen zugrundeliegenden menschenverachtenden Ansichten eine strukturelle Voraussetzung für den nationalsozialistischen Rassenwahn waren. Wenngleich Timm die Verbindungen zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus offenlegt, so tut er dies vorsichtig, oftmals indirekt und immer im Bewusstsein der möglichen politischen und gesellschaftlichen Sprengkraft, die ein direkter Vergleich in einem deutschsprachigen Werk 1978 beim Erscheinen des Romans barg. Der Autor arbeitet mit Anspielungen, indem er etwa die afrikanischen KZ-Häftlinge in den Konzentrationslagern der Deutschen Schutztruppe derart beschreibt, dass der Leser unwillkürlich an die nationalsozialistischen Lager denkt. Einzig eine direkte und offensichtliche Verbindung zwischen kolonialem Völkermord und Shoah stellt Timm heraus, wenn er einen Schutztruppenoffizier unverkennbar als geistigen

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Vorläufer der Nationalsozialisten beschreibt. Bei aller Vorsicht in Hinblick auf eine vergleichende Betrachtung zweier Genozide ist Timms Morenga zweifellos von herausragender Bedeutung für die deutschsprachige literarische Auseinandersetzung mit Genoziden jenseits der Shoah, da der Roman den ersten wirkmächtigen literarischen Versuch im deutschen Sprachraum darstellt, die Shoah nicht mehr als gänzlich unvergleichbar anzusehen, ohne dabei jedoch die nationalsozialistischen Verbrechen zu relativieren. Wie Timm, so hinterfragt auch der Shoah-Überlebende Edgar Hilsenrath in seinem Roman Das Märchen vom letzten Gedanken (1989) implizit und explizit die Singularität der Shoah. Anders jedoch als noch bei Timm handelt es sich bei den von Hilsenrath gezogenen Verbindungen zwischen dem Völkermord an den Armeniern und der Shoah keinesfalls um vorsichtig formulierte implizite Andeutungen. Vielmehr ist der gesamte Roman auf die Verbindungen zwischen der Shoah und dem Völkermord an den Armeniern ausgerichtet. Hilsenrath übernimmt in seinem Text das nationalsozialistische Vokabular für den Völkermord an den Armeniern – die Türken im Märchen vom letzten Gedanken wollen beispielsweise das Osmanische Reich »armenierrein« machen und streben eine »Endlösung der Armenierfrage« an. Der Autor hebt darüber hinaus wiederholt – bereits Jahrzehnte vor offiziellen deutschen Institutionen – die Rolle der Deutschen bei dem Völkermord an den Armeniern hervor, bezeichnet die Türken als Lehrmeister der Deutschen und unterstreicht die Beliebigkeit bei der Wahl der Opfer, indem er die Austauschbarkeit der Opfergruppen verdeutlicht. Hilsenraths Herangehensweise an den Vergleich ist dabei, typisch für den Autor, ausgesprochen provokativ. Dies kulminiert schließlich darin, dass er den Völkermord an den Armeniern mehrfach als »Holocaust« bezeichnet und somit einen Begriff wählt, der in der öffentlichen Wahrnehmung für den Mord an den europäischen Juden »reserviert« schien. Die vorliegende Studie legt nahe, dass die Werke Timms und Hilsenraths rückwirkend betrachtet als eine Voraussetzung für die Entstehung einer deutschsprachigen Genozidliteratur betrachtet werden können: In beiden Romanen steht ein anderer Genozid als die Shoah im Zentrum, dennoch ist diese in beiden präsent. Beide Werke deuten daher darauf hin, dass die Verknüpfung mit der Shoah ein wichtiger Aspekt bei der literarischen Darstellung von Genoziden ist. Die für Rothbergs Studie zur multidirektionalen Erinnerung zentrale These, dass die Aufarbeitung der Shoah oftmals einen Ausgangspunkt für die literarische Entfaltung anderer Genozide bildete, erwies sich somit auch für diese Studie als zentral. Bei der Bezugnahme auf die Shoah handelte es sich keinesfalls lediglich um einen temporären Reflex, der mit größerem zeitlichem Abstand zur Shoah bei der deutschsprachigen literarischen Darstellung von Genoziden zunehmend in den Hintergrund tritt. In Das Handwerk des Tötens (2003) und Die Winter im Süden (2008), den beiden Jugoslawienromanen des Österreichers Norbert Gstrein, ist die Shoah ebenfalls stets präsent, wenngleich die vornehmlich historischen Verbindungen

8. Schlussbetrachtung und Ausblick

zwischen Shoah und Jugoslawienkrieg in beiden Texten wiederum ähnlich vorsichtig herausgearbeitet werden wie in Timms Morenga. Gstrein betont in beiden Romanen die bis in den Zweiten Weltkrieg und in die Zeit des faschistischen Unabhängigen Staates Kroatien zurückreichenden Ursachen des Jugoslawienkrieges. Die Analyse zeigte zudem, dass der Österreicher sowohl die serbische (in Das Handwerk des Tötens) als auch die kroatische Seite (in Die Winter im Süden) berücksichtigt, indem er mit dem Ustascha-Konzentrationslager Jasenovac und dem Massaker von Bleiburg zwei zentrale Erinnerungsorte serbischen und kroatischen Gedenkens in den Fokus nimmt. Wie schon Timm stellt auch Gstrein eine personelle Verbindung zwischen der Shoah und dem von ihm behandelten Erzählgegenstand her – ein Franziskanerpater, der in die Verbrechen der kroatischen Faschisten verstrickt war, ist in Die Winter im Süden einer der bedeutsamsten Kriegstreiber. Anders als Gstrein verbindet Saša Stanišić in Wie der Soldat das Grammofon repariert (2006) die Shoah nicht nur mittels historischer Verbindungen, die in dem Roman durchaus thematisiert werden, mit dem Jugoslawienkrieg und den damit verbundenen genozidalen Verbrechen. In der Analyse erwies sich vielmehr die Anknüpfung an die literarische Darstellung der Shoah als ein zentraler Bezugspunkt. So greift eine Romanfigur den wohl bekanntesten Vers aus Celans Todesfuge auf und passt diesen an die Verbrechen des Bosnienkrieges an. Doch auch das jüdische Leid wird in Stanišićs Roman reflektiert, indem einem jüdischen Rabbiner ein ganzes Kapitel gewidmet wird, in welchem der Jude von seinem Martyrium während der faschistischen Herrschaft erzählt. Mit Lukas Bärfuss’ Hundert Tage (2008) spielt die Shoah nur in einem der beiden neueren in dieser Studie analysierten Afrikaromane eine Rolle. Zwar konnte die Analyse keine direkten Vergleiche zwischen der Shoah und dem ruandischen Genozid offenlegen, jedoch wurde deutlich, dass der Schweizer immer wieder die Organisation der beiden Genozide zueinander in Bezug setzt und in seinem Text betont, dass ein geordnetes Staatswesen, klare Hierarchien sowie die Einhaltung von Befehlsketten strukturelle Voraussetzungen für einen Genozid sind. Ergänzt werden diese Feststellungen wiederholt durch implizite, teils aber auch explizite Verweise auf die Shoah, sodass ersichtlich wird, dass die beiden Genozide trotz aller Unterschiede viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Interessanterweise spielt die Shoah in Der lange Schatten (2015), dem Roman des deutschen Autors Bernhard Jaumann, nahezu keine Rolle. Der koloniale Völkermord, der immerhin große Teile der Romanhandlung prägt, wird an keiner Stelle in Bezug zu den nationalsozialistischen Verbrechen gesetzt. Grundsätzlich zeigte die Analyse der Romane, dass die Shoah insbesondere in Hinblick auf historische Verbindungen zwischen den verschiedenen in den Werken behandelten Genozide eine besondere Rolle als Bezugspunkt einnimmt. Die Untersuchung der neun Romane verdeutlichte jedoch ebenfalls, dass es auch jenseits der Bezugnahme auf die Shoah Gemeinsamkeiten zwischen den analysier-

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ten Werken gibt. So sind alle neun Texte von der Auseinandersetzung einzelner Figuren mit ihrer eigenen Identität oder Herkunft geprägt – dies gilt explizit auch für diejenigen Romane, in denen nicht primär die Opfer der behandelten Genozide im Zentrum des Textes stehen. So ist die Zeit in DSWA für Timms Protagonisten Gottschalk – einer Figur, die den Tätern des kolonialen Völkermordes zugerechnet werden muss – untrennbar mit der Suche des Schutztruppenveterinärs nach der eigenen Identität verknüpft. Der Leser kann anhand der Tagebucheinträge Gottschalks nachvollziehen, wie diesem seine deutsche Herkunft immer fremder wird, wie er beginnt, sich den Nama – dem erklärten Feind – anzunähern, wobei er ihnen zunehmend ähnlicher wird. Timm greift dabei auf einen klassischen Topos der Kolonialliteratur zurück, indem er seinen Protagonisten die Beziehung zu einer Nama suchen und diesen Versuch scheitern lässt. Die Analyse konnte zeigen, dass der Autor auf diese Weise betont, dass die Übernahme einer fremden kulturellen Identität problematisch ist. Dieser klassische Topos findet sich ebenfalls in den anderen beiden in dieser Studie behandelten Romanen, in denen der afrikanische Kontinent im Zentrum der Romanhandlung steht. Der schweizer Entwicklungshelfer David in Bärfuss’ Hundert Tage ist regelrecht besessen von der sexuellen Beziehung zu Agathe, einer Hutu, deren Fremdheit ihn anzieht. Wie bei Timm scheitert auch in Bärfuss’ Text die Beziehung. Zuletzt gilt die gleiche Beobachtung auch für Jaumanns Der lange Schatten – hier scheitert die Beziehung zwischen dem weißen Deutsch-Namibier Claus Tiedke und der schwarzen Namibierin Clemencia Garises ebenfalls an den kulturellen Unterschieden der beiden Figuren. Dennoch unterscheidet sich Jaumanns Roman deutlich von den beiden anderen Texten, wie die Analyse zeigte: Anders als Timm und Bärfuss versucht sich Jaumann an der – insbesondere im postkolonialen Kontext – hochproblematischen Hineinversetzung in den »Fremden« und bedient dabei zahlreiche aus der Kolonialliteratur bekannte Stereotype und Klischees, wodurch in dem Roman ein Zerrbild der Herero-Identität entsteht. Bärfuss greift zwar ebenfalls auf aus der Kolonialliteratur bekannte Muster zurück und lässt seinen Protagonisten und Erzähler David wiederholt die eigene imaginierte europäische Superiorität betonen und den Versuch unternehmen, sich den vermeintlichen »Edlen Wilden« in Ruanda anzunähern, jedoch nur, um auf diese Weise die Vorstellung von einer überlegenen europäischen Identität zu dekonstruieren. Darüber hinaus wird ein unmittelbar mit der Frage nach der Identität verbundener Aspekt in Bärfuss’ Hundert Tage dezidiert thematisiert, welcher die strukturelle Grundvoraussetzung für den Genozid war: die Festlegung der Identität mittels Identitätskarten. In diesem Kontext stellt Bärfuss klar, dass eine Unterscheidung zwischen Hutus und Tutsis ohne die Identitätskarten unmöglich gewesen wäre. Ebendieser Aspekt der Ununterscheidbarkeit zwischen Tätern und Opfern ist auch zentral für Hilsenraths Märchen vom letzten Gedanken und Stanišićs Wie der Soldat das Grammofon repariert. Hilsenrath wie Stanišić betonen in ihren Romanen beständig, dass keine offensichtlichen Unterschiede zwischen den Tätern und

8. Schlussbetrachtung und Ausblick

den Opfern der Verbrechen bestanden. In Hilsenrahts Roman zum Völkermord an den Armeniern wird die perfekte Assimilation der Armenier im Osmanischen Reich – ein Armenier war nicht von einem Türken zu unterscheiden – auf differierende Weise betont. Ähnlich gestaltet sich die Situation in Stanišićs Roman: Die ethnische Zugehörigkeit der Romanfiguren spielt nur eine untergeordnete Rolle, sodass oftmals erst durch den Kontext der Erzählsituation klar wird, welcher Ethnie die Figuren angehören. Erwartbare Zuschreibungen wie »Serbe«, »Kroate« oder »Bosnier« werden kaum verwendet. Der Versuch der Dekonstruktion jedweder nationalen Identität durchzieht den gesamten Roman Stanišićs. So wissen einige Romanfiguren oftmals selbst nicht genau, welcher der drei Ethnien sie sich zuordnen sollen. Die Frage nach der eigenen Identität wird in der Mehrheit der in dieser Studie analysierten Werke in erster Linie wie schon in Timms Morenga anhand der Hauptfiguren erörtert. So ist etwa das gesamte Leben des sterbenden Thovma im Märchen vom letzten Gedanken von der Suche des Armeniers nach seiner eigenen Identität geprägt. Thovma sieht sich dabei selbst immer als Armenier, obwohl er bereits als Kleinkind von Schweizern adoptiert wurde. Die eigene Identität ist für ihn mit der Verwurzelung eines Baumes vergleichbar. Dem von Hilsenrath in seinem Roman vertretenen Verständnis von Identität steht jenes aus dem zweiten in dieser Studie behandelten Armenienroman konträr gegenüber: Poladjans Protagonistin Helen entscheidet sich bewusst für eine Identität zwischen Deutschland und Armenien, fühlt sich in beiden Ländern beheimatet. Dabei wehrt sie sich entschieden gegen jedwede Vorstellung einer Identität, welche mit der Verwurzelung eines Baumes vergleichbar wäre. In der Analyse zeigte sich, dass Poladjans Figur kein Einzelfall ist. Stanišićs Erzähler Aleksandar sieht sich selbst aufgrund seiner bosnischen Mutter und seines serbischen Vaters bereits vor dem Zerfall Jugoslawiens als »halbhalb«. Zu dieser für den Jungen uneindeutigen Identität kommt nach der Flucht nach Deutschland mit der deutschen Identität noch eine weitere hinzu. Vergleichbar verhält es sich in Gstreins Jugoslawienromanen mit den aus Kroatien stammenden Figuren. Sowohl Helena in Das Handwerk des Tötens als auch Marija in Die Winter im Süden leben seit ihrer Kindheit in Deutschland beziehungsweise in Österreich, haben aber dennoch auch im Erwachsenenalter noch Verbindungen zu ihrer kroatischen Herkunft und somit eine Identität, die zwei Kulturen beinhaltet. Die Analyse konnte des Weiteren zeigen, dass beide Frauen mit einem gemeinsamen Problem zu kämpfen haben: Die Männer in ihrem Umfeld sehen ihre kroatische Herkunft auf unterschiedliche Weise als Projektionsfläche und legen die Identität der Frauen fest, indem sie sie in erster Linie als Kroatinnen sehen und somit auf einen Teil der Identität beschränken. Die Untersuchung von Funks Winternähe offenbarte, dass für die Protagonistin Lola Vergleichbares gilt, wobei die von außen vorgenommenen Identitätszuschreibungen die Auseinandersetzung der Protagonistin mit ihrer Identität maßgeblich beeinflussen. Aufgrund ihres deutsch-jüdischen Vaters und ihrer nicht-jüdischen

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deutschen Mutter fühlt sie sich als Jüdin und als Deutsche – Lola beschreibt sich selbst als Mischung aus KZ-Häftling und KZ-Aufseher. Der Umstand, dass ihr von einigen Deutschen ihr Jüdisch-Sein abgesprochen wird, bewegt sie zwar zu einer Fokussierung auf ihren jüdischen Hintergrund, dennoch hält sie trotz zahlreicher antisemitischer Vorfälle in Deutschland an ihrer deutsch-jüdischen Identität fest. Dabei unterscheidet sich die Auseinandersetzung mit der Identität, wie sie Funks Roman prägt, bei allen Gemeinsamkeiten in einer Hinsicht maßgeblich von jener in den drei in dieser Studie behandelten Jugoslawienromanen, wie die Analyse des Romans zeigte. So steht im Zentrum des in dem Roman vorgestellten jüdischen Identitätsverständnisses die Erinnerung an die Shoah – die Erinnerung ist im jüdischen Teil von Lolas Familie immer präsent. Dieser Form der Erinnerung stellt Funk in ihrem Text den deutschen Umgang mit der Vergangenheit gegenüber, welcher in dem Roman von Verdrängung und Vergessen geprägt ist. In der Herausstellung der Erinnerung liegt wiederum eine Parallele zu Poladjans Roman – in diesem wird die Erinnerung an den Völkermord an den Armeniern als elementarer Bestandteil armenischer Identität vorgestellt. In beiden Romanen wird darüber hinaus die Erinnerung aus naheliegenden Gründen auch als Trauma begriffen: Lolas Vater ist durch die Shoah-Erfahrung seiner Mutter gleichsam traumatisiert wie Helens Mutter durch die Leidenserfahrung ihrer Eltern. Beide geben ihr Trauma an ihre Töchter weiter. Grundsätzlich konnte die Analyse der Romane zeigen, dass die Frage nach der Identität ein zentraler Aspekt in der deutschsprachigen literarischen Auseinandersetzung mit Genoziden ist. Dennoch ist evident, dass es nicht die eine Form der Auseinandersetzung mit der Identitätsfrage geben kann, sondern diese vielmehr zwangsläufig von dem behandelten Genozid sowie dem Hintergrund der Autorinnen und Autoren abhängt. Neben der Frage nach den Bezügen zur Shoah und der Auseinandersetzung mit dem Thema Identität prägt die Frage nach der Distanz zu dem, oftmals mit Grauen verbundenen, Erzählgegenstand die Romane der deutschsprachigen Genozidliteratur. Eine grundsätzliche Feststellung gilt in dieser Hinsicht für nahezu alle in dieser Arbeit behandelten Romane: Mit Ausnahme von Bernhard Jaumann wählen alle Autorinnen und Autoren der in dieser Studie untersuchten neun Romane eine Perspektive bei der Auseinandersetzung mit ihrem genozidalen Thema, zu welcher sie aufgrund ihres kulturellen Umfeldes einen Zugang haben, wobei Jaumanns Versuch der Übernahme einer ihm fremden Perspektive konsequenterweise als gescheitert angesehen werden muss, wie die Analyse seines Romans offenlegte. Gänzlich anders verhält es sich mit Timms Morenga. Timm vermeidet konsequent jegliche Einfühlungsversuche in die Nama und wählt mit seinem Protagonisten Gottschalk einen deutschen Kolonialsoldaten und somit eine Perspektive, zu welcher er aufgrund der eigenen europäischen Kultur sowie der Schutztruppenvergangenheit der Freunde seines Vaters einen Zugang hat. Distanziert werden die Verbrechen gegen die Nama insofern beschrieben, als Timms dokumentarischer

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Stil bereits grundsätzlich auf eine distanzierte Behandlung des Erzählgegenstandes ausgelegt ist. Tagebucheinträge des Veterinärs Gottschalk werden in Morenga im Wechsel mit historischen Dokumenten und fantastischen Geschichten kunstvoll zu einer Erzählung montiert, wobei der Leser immer wieder nicht sicher sagen kann, was fiktiv und was historisch verbürgt ist. Auf diese Weise unterbindet Timm ein Eintauchen des Lesers in die Handlung des Romans, verlangt von diesem, dass er in der Lage ist zu synthetisieren, wie der Autor Timm es selbst formuliert. In Timms Afrika-Roman werden darüber hinaus auch keine Urteile durch den Erzähler präsentiert, es ist vielmehr der in den Tagebucheinträgen sichtbar werdende Entwicklungsprozess des Protagonisten, der den Leser das Vorgehen der Deutschen in der Kolonie kritisch hinterfragen lässt. Einen ähnlichen Ansatz wählt Gstrein in seinen beiden Jugoslawienromanen. Er selbst hat als Österreicher, der anders als etwa Handke keine verwandtschaftlichen Beziehungen zum ehemaligen Jugoslawien hat, keine unmittelbare Verbindung zum Jugoslawienkrieg und wählt daher im Handwerk des Tötens mit einem österreichischen in Hamburg lebenden Journalisten einen Erzähler, welcher ein Alter Ego des Autors ist. Indem Gstrein diesen nun davon erzählen lässt, wie er seinen Redaktionskollegen Paul – ebenfalls Österreicher – bei dessen Recherchen für einen Roman über den im Kosovo ermordeten österreichischen Kriegsberichterstatter Christian Allmayer begleitet, erzeugt er eine maximale Distanz zum Erzählgegenstand. Die Informationen über den Krieg werden teils über fünf Instanzen weitergegeben. Auf diese Weise entsteht ein mehrfach gebrochener Blick auf das Kriegsgeschehen und die Verbrechen, wobei der Wahrheitsgehalt des Erzählten allein aufgrund der mehrfachen Weitergabe beständig hinterfragt werden muss. Darüber hinaus bleibt die Hauptfigur des Romans – der Journalist Allmayer – eine kaum greifbare, schemenhafte Figur. Die Analyse von Gstreins erstem Jugoslawienroman zeigte ebenfalls, dass es in dem Roman weniger um den Erzählgegenstand, sondern vielmehr über die Art des Erzählens geht. Dieser Aspekt wird insbesondere betont, indem Gstrein in seinem Text ausführlich das mit dem Verlust der Distanz zum Erzählgegenstand verbundene Scheitern Pauls durchspielt. Dieser sucht die maximale Nähe zu seinem Erzählgegenstand, versucht auf den Spuren Allmayers zu wandeln, um so die Authentizität seines geplanten Romans zu steigern. Im Verlauf des Romans verschwimmen dabei für Paul zunehmend die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion – sinnbildlich wird sein Scheitern verdeutlicht, wenn er statt Allmayers Todesort den Ort findet, an dem die Sterbeszene von Winnetou gedreht wurde. Am Ende steht für Paul der Suizid. Neben Paul scheitert auch Allmayer, da er die Distanz zu seinem Erzählgegenstand nicht einzuhalten vermag. Auf der Suche nach einer guten Story lässt er sich auf einen kroatischen Kriegsverbrecher ein, wobei während des Interviews ein gefangener Serbe erschossen wird. Der Kriegsberichterstatter wird somit zum Mittäter, indem er versucht, aus nächster Nähe vom Krieg zu berichten.

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In seinem zweiten Jugoslawienroman knüpft Gstrein an die im Handwerk des Tötens erprobten Strategien zur Distanzwahrung an, wobei eine mehrfach gebrochene Perspektive in Die Winter im Süden eine deutlich kleinere Rolle spielt. Wiederum wählt er jedoch bewusst nicht den direkten Blick auf den Krieg. Zwei der Hauptfiguren – die aus Kroatien stammende Österreicherin Marija und der österreichische Expolizist Ludwig – erleben den Krieg nicht direkt. Marija reist zwar nach Zagreb und verbringt einen Teil des Krieges in der kroatischen Hauptstadt, ihre Informationen über Krieg und Verbrechen erhält sie jedoch nahezu ausschließlich von einem jungen kroatischen Soldaten, mit dem sie eine Affäre hat. Über Ludwig nähert sich Gstrein schließlich der dritten Hauptfigur, einem Alt-Ustascha und mutmaßlichen Kriegsverbrecher aus der Zeit des faschistischen Kroatiens, an. Diese Herangehensweise führt ähnlich wie im Handwerk des Tötens dazu, dass der Leser keine unmittelbar präsentierten Wahrheiten in dem Text findet, sondern vielmehr wie schon in Timms Morenga synthetisieren muss. Einen grundsätzlich anderen Ansatz wählt Hilsenrath in seinem Märchen vom letzten Gedanken, wobei der Autor auf bereits aus seinen ersten beiden Romanen Nacht und Der Nazi und der Friseur bekannte Strategien zurückgreift. So zeigte die Analyse, dass der Shoah-Überlebende den Leser in seinem Werk wiederholt mittels derber Beschreibungen der Opfer des Genozids irritiert und auf diese Weise konsequent eine Sakralisierung der Opfer unterbindet, wie sie lange Zeit insbesondere im Falle der Shoah erwartet wurde. Verstärkt wird dieser Effekt mittels einer zynisch-makabren Sprache in den Berichten über die Verbrechen der Jungtürken gegen die Armenier. Diese Form der Sprache irritiert beständig und unterbricht in zahlreichen Passagen den Lesefluss, wodurch ein Eintauchen in die Handlung verhindert wird. Darüber hinaus ist eine Identifikation mit den Romanfiguren beinahe unmöglich, da diese zumeist stark überzeichnet sind und wie abstoßende Karikaturen wirken. Nicht zuletzt ist es jedoch die Märchenform des Romans, die irritiert und die Erwartungshaltung des Lesers unterminiert. Dabei trägt allein die mit der Form verbundene Rolle des Meddah zu einer distanzierten Auseinandersetzung mit dem Erzählgegenstand bei: Der Märchenerzähler schwebt über der Erzählung und betont immer wieder selbst, dass er selektiv erzählt. In Bärfuss’ Hundert Tage finden sich sowohl Strategien der Distanzerzeugung, die mit Hilsenraths Herangehensweise vergleichbar sind, als auch solche, die eher an Gstrein erinnern. Zu letzteren zählt insbesondere die zunächst merkwürdig erscheinende Rahmenhandlung des Romans, in welcher der namenlose Rahmenerzähler den Binnenerzähler David als Erzählinstanz einführt. Zwar verschwindet der Rahmenerzähler nach wenigen Seiten, dennoch ist seine Rolle elementar für die Distanzeinhaltung: Er gibt dem Leser den wichtigen Hinweis, dass David ein unzuverlässiger, psychisch schwer belasteter Erzähler ist, das Folgende also beständig hinterfragt werden sollte. Des Weiteren ist der Rahmenerzähler zwar ab dem Moment, in dem David die Erzählung übernimmt, für den Leser nicht mehr sichtbar, den-

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noch muss er als vermittelnde Instanz immer vorausgesetzt werden, da der Leser nur durch ihn Davids Geschichte übermittelt bekommt. Somit handelt es sich bei der Erzählung, wie schon bei Gstrein, um eine Vermittlung über mindestens zwei, meist jedoch drei Instanzen, wobei David als »Brückenfigur« fungiert, da er selbst in Kigali nur wenig von dem Genozid mitbekommt und vielmehr auf das zurückgreifen muss, was ihm bekannte Täter erzählen. Folglich werden die Verbrechen – wie schon bei Gstrein – kaum direkt beschrieben. Entscheidend zu einer Distanz trägt zudem eine an Hilsenraths Erzählung im Märchen vom letzten Gedanken erinnernde Strategie bei: So ist auch in Bärfuss’ Roman die Wortwahl im Zusammenhang mit dem Genozid oftmals derb, die gesamte Erzählung des Binnenerzählers David zudem geprägt von tiefem Zynismus, teils an der Grenze des Erträglichen. Wie schon in Hilsenraths Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Armeniern ist auch in Hundert Tage eine Identifikation mit den Figuren kaum möglich – da Bärfuss konsequent auf den Versuch der Einfühlung in ruandische Figuren verzichtet und bei der ihm zugänglichen Perspektive des schweizer Entwicklungshelfers bleibt, bleiben die Ruander in dem Roman zu blass, um dem Leser Identifikationsangebote zu machen. Der Protagonist David erhält zwar deutlich mehr Tiefe, wird in dem Roman jedoch derart unsympathisch beschrieben, dass eine Hineinversetzung in ihn nahezu unmöglich wird. Die Analyse von Stanišićs Wie der Soldat das Grammofon repariert offenbarte zunächst einen grundsätzlichen Schritt der Distanzierung vom Erzählgegenstand: Die Wahl einer kindlichen Erzählperspektive, die irritiert und zur genauen Lektüre auffordert – die genozidalen Verbrechen in Višegrad werden meist nicht direkt beschrieben und lassen sich nur in den kindlich naiven Beschreibungen des Erzählers Aleksandar erahnen. Auch im zweiten Teil des Romans, in welchem der nunmehr erwachsene Aleksandar die Rolle des Erzählers übernimmt, wird nicht direkt von Verbrechen erzählt. Die wenigen direkten Berichte stammen von einem Kindheitsfreund des Erzählers, wobei auch dieser einiges nur von anderen gehört hat. Somit ist der Blick auf den Erzählgegenstand wie bei Gstrein und Bärfuss geprägt von einer Brechung. Im zweiten Teil des Romans arbeitet der Autor außerdem mit Anspielungen, etwa wenn Aleksandar Jahre nach dem Krieg mit seinem mutmaßlich in die Massaker verstrickten Onkel einige ikonische Orte des Grauens in Višegrad aufsucht. Sobald der Leser erst einmal eine der vielen Anspielungen verstanden hat, ist eine unbelastete Lektüre nicht mehr möglich, da man in der Folge zwangsläufig über weitere stolpert. Deutlicher noch als die anderen in dieser Studie analysierten Romane fordert Stanišićs Text somit eine Hintergrundrecherche vom Leser ein, da vieles ohne eine solche nicht verständlich ist. Die Anspielungen sowie die Vermeidung klarer Verurteilungen sind darüber hinaus als der Versuch einer angemessenen Beschreibung der Verbrechen zu deuten. Die Täter demaskieren sich zumeist selbst und werden nicht mittels der Romanfiguren durch den Autor verurteilt.

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Einen vergleichbaren Ansatz wählt Funk in Winternähe. Zwar steht hier kein Genozid unmittelbar im Zentrum der Handlung, jedoch lässt sich auch in Funks Roman eine distanzierte Auseinandersetzung mit dem Erzählgegenstand beobachten. So ist die Shoah zwar durchgängig als Teil der jüdischen Erinnerung in dem Roman präsent, wird jedoch nicht direkt, sondern lediglich mittels einer gebrochenen Perspektive behandelt. Der Leser erfährt, dass die Großmutter der Protagonistin in Dachau interniert war und das sie Zeit ihres Lebens immer über die Shoah redete. Abgesehen von einem Brief, welchen Lola kurz vor dem Ende des Romans liest, erhält der Leser jedoch keine direkten Informationen über die traumatischen Erlebnisse der Großmutter. Direkt und ausführlich wird in dem Roman jedoch der Israel-Palästina-Konflikt behandelt. Hierbei offenbarte die Romananalyse Parallelen zu Wie der Soldat das Grammofon repariert. Wie Stanišić präsentiert auch Funk dem Leser keine vermeintlich richtige oder falsche Interpretation des Konfliktes, sondern ist vielmehr darum bemüht, beide Seiten gleichermaßen zu Wort kommen zu lassen. Zudem verzichtet sie, wie die anderen Autoren, deren Werke in dieser Studie behandelt wurden, auf den Versuch einer Einfühlung in die »Anderen«: Sowohl der palästinensische Standpunkt als auch derjenige Israels werden von Juden vorgestellt. In der Analyse von Poladjans Hier sind Löwen konnte gezeigt werden, dass die Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Armeniern in dem Werk mit Funks Auseinandersetzung mit der Shoah vergleichbar ist. Wie in Funks Roman ist der Völkermord auch in Poladjans Roman durchgängig präsent. Die Protagonistin Helen wird zunächst über ihre Mutter Sara mit dem Völkermord an ihren Vorfahren auf traumatische Weise konfrontiert, da ihre Mutter zerstückelte Spielsachen Helens in einem Kunstwerk zusammen mit Fotos von getöteten armenischen Kindern verarbeitet. Dabei verarbeitet Sara das Trauma ihrer Eltern, die den Völkermord überlebten. Direkt ausgesprochen werden die Erlebnisse während des Völkermords jedoch nicht. Ähnlich ergeht es Helen in Jerewan. Auch hier ist der Genozid bei nahezu allen Armeniern, denen Helen begegnet, ständig präsent, wobei kaum direkt über das Grauen geredet wird. Auch die in die Romanhandlung eingebettete Rückblendengeschichte, in welcher das Schicksal zweier armenischer Kinder während des Völkermordes erzählt wird, beinhaltet kaum direkte Informationen über die von den Türken begangenen Verbrechen. Wie die anderen Autorinnen und Autoren verlangt Poladjan somit vom Leser, dass dieser die Anspielungen in dem Roman aufnimmt und versucht, sich selbst über das Geschehen zu informieren. Die Analyse der neun Romane der deutschsprachigen Genozidliteratur konnte zeigen, dass es einige auffällige Gemeinsamkeiten zwischen den grundsätzlich stark differierenden Werken gibt. So ist es kaum möglich, ein deutschsprachiges Werk über einen anderen Genozid als die Shoah zu verfassen, ohne diese literarisch oder als historisches Ereignis zu berücksichtigen. Dennoch konnte gezeigt werden, dass die Unvergleichbarkeit der Shoah mit Timms Morenga, spätestens jedoch mit Hilsenraths Märchen vom letzten Gedanken nicht mehr als allgemeingültig anerkannt

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wurde. Wenngleich die Shoah, wie anzunehmen ist, auch in Zukunft eine zentrale Rolle bei der deutschsprachigen literarischen Auseinandersetzung mit Genoziden spielen wird, gilt es zu beobachten, ob der immer größere zeitliche Abstand zu den nationalsozialistischen Verbrechen dazu führen wird, dass die Shoah als Ausgangspunkt beim Schreiben über einen anderen Genozid eine zunehmend geringere Rolle spielen wird. Eine solche Entwicklung sollte jedoch keinesfalls darüber hinwegtäuschen, dass die Shoah für die deutschsprachige Genozidliteratur der dominierende Bezugspunkt war. Wie die vorliegende Arbeit zeigen konnte, war es erst die Shoah, die das Schreiben über andere Genozide in Deutschland ermöglichte. Geht Michael Rothberg in seiner Studie zur multidirektionalen Erinnerung davon aus, dass im anglophonen und frankophonen Raum die literarische Aufarbeitung von Shoah und Kolonialismus untrennbar miteinander verwoben war, so gilt dies in Bezug auf die literarische Auseinandersetzung mit der Shoah und anderen Genoziden spätestens seit Timms Morenga in gleichem Maße für den deutschsprachigen Raum. Die wohl wichtigste Erkenntnis, die aus diesen Beobachtungen resultiert, besteht darin, dass die literarische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Genoziden in den in dieser Arbeit analysierten Romanen nicht von einer Erinnerungskonkurrenz geprägt ist, sondern vielmehr die gemeinsame Erinnerung an die verschiedenen Genozide im Zentrum steht, wobei immer wieder auf die gegenseitige Bedingtheit der Ereignisse verwiesen wird. Mit anderen Worten: die Genoziddarstellungen in den Werken entstehen im Horizont der Shoah, die Autorinnen und Autoren ermöglichen einen – öffentlichen – Diskurs über die verschiedenen Genozide. Wie in Bezug auf die Shoah ist in Bezug auf die beiden anderen Themen, die sich als zentral für die deutschsprachige Genozidliteratur erwiesen haben, davon auszugehen, dass auch sie in der Zukunft bei der literarischen Darstellung von Genoziden weiterhin von großer Relevanz sein werden. So ist zwangsläufig anzunehmen, dass die Frage nach der Identität im Angesicht von Genoziden in künftigen Werken eine eminente Rolle spielen wird. Im Angesicht von Tod und Verfolgung gewinnt die Frage nach der eigenen Identität zwangsläufig an Bedeutung, wie alle behandelten Romane zeigen. Dabei werden in Timms Morenga, Bärfuss’ Hundert Tage und Jaumanns Der lange Schatten die kulturellen Differenzen zwischen Europäern und Afrikanern als letztlich unüberwindbar herausgestellt, wobei die Analyse zeigen konnte, dass sich in dieser Hinsicht durchaus Anknüpfungen an aus der Kolonialliteratur bekannte Muster finden. Dennoch steht in den meisten untersuchten Texten weniger die Differenzierung als vielmehr die Kritik an einer solchen im Fokus. So wird in der Mehrzahl der Werke die Absurdität der Unterscheidung vermeintlich unterschiedlicher Ethnien wie Hutu und Tutsi, Türken und Armenier oder Serben, Bosnier und Kroaten entlarvt. Dabei ist offensichtlich, dass es nicht die eine Art der Auseinandersetzung geben kann, wie die in der vorliegenden Studie behandelten Texte offenbaren. Gleiches gilt für die Behandlung des Erzählgegenstandes. Es scheint aufgrund der meist grausamen zentralen Themen in den Werken kaum denkbar,

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gänzlich auf die Wahrung einer produktiven Distanz zu verzichten. Selbstredend gibt es nicht das eine Stilmittel, mittels dessen die Autorinnen und Autoren eine Distanz zu ihrem Erzählgegenstand aufbauen. Die Mittel reichen von der Verwendung einer derben Sprache über eine lediglich indirekte Behandlung der Verbrechen bis hin zu weitestgehend neutral gehaltenen Berichten von genozidalen Massakern. Am Ende bleibt im Hinblick auf den Erkenntnisgewinn der vorliegenden Studie festzuhalten, dass Ansätze aus der vergleichenden Genozidforschung für die Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht werden konnten. Dennoch ist das Potential mit der Analyse der neun Romane bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Vielmehr kann und soll diese Arbeit als Einladung verstanden werden, weitere Werke der Gegenwartsliteratur, die sich mit Genoziden oder genozidalen Verbrechen auseinandersetzen, mittels vergleichender Betrachtungen zu erschließen. Besonders vielversprechend erscheinen dabei interkulturelle Ansätze, wie etwa jener von Rothberg, wobei sich etwa Vergleiche zwischen der Aufarbeitung von Menschheitsverbrechen – auch jenseits der Shoah – im deutschen, anglophonen und frankophonen Sprachraum geradezu aufdrängen.

9. Literaturverzeichnis

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Szenen des Lesens Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung 2021, 128 S., Klappbroschur 15,00 € (DE), 978-3-8376-5879-8 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5879-2

Klaus Benesch

Mythos Lesen Buchkultur und Geisteswissenschaften im Informationszeitalter 2021, 96 S., Klappbroschur 15,00 € (DE), 978-3-8376-5655-8 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5655-2

Werner Sollors

Schrift in bildender Kunst Von ägyptischen Schreibern zu lesenden Madonnen 2020, 150 S., kart., 14 Farbabbildungen, 5 SW-Abbildungen 16,50 € (DE), 978-3-8376-5298-7 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5298-1

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Literaturwissenschaft Renate Lachmann

Rhetorik und Wissenspoetik Studien zu Texten von Athanasius Kircher bis Miljenko Jergovic Februar 2022, 478 S., kart., 36 SW-Abbildungen, 5 Farbabbildungen 45,00 € (DE), 978-3-8376-6118-7 E-Book: PDF: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6118-1

Achim Geisenhanslüke

Der feste Buchstabe Studien zur Hermeneutik, Psychoanalyse und Literatur 2021, 238 S., kart. 38,00 € (DE), 978-3-8376-5506-3 E-Book: PDF: 37,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5506-7

Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 12. Jahrgang, 2021, Heft 2: Zeit(en) des Anderen Januar 2022, 218 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-5396-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5396-4

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