Funkensuche: Soma Morgensterns Midrasch »Die Blutsäule« Und Der Jüdisch-Theologische Diskurs Über Die Shoah [Reprint 2012 ed.] 348465161X, 9783484651616

Das Werk des erst nach seinem Tod wiederentdeckten galizischen Schriftstellers Soma Morgenstern ist geprägt von der Iden

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Funkensuche: Soma Morgensterns Midrasch »Die Blutsäule« Und Der Jüdisch-Theologische Diskurs Über Die Shoah [Reprint 2012 ed.]
 348465161X, 9783484651616

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Conditio Judaica

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Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Hans Otto Horch in Verbindung mit Alfred Bodenheimer, Mark H. Gelber und Jakob Hessing

Ruth Oelze

Funkensuche Soma Morgensterns Midrasch »Die Blutsäule« und der jüdischtheologische Diskurs über die Shoah

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2006

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 13: 978-3-484-65161-6

ISBN 10: 3-484-65161-X

ISSN 0941-5866

(Ö M a x Niemeyer Verlag, Tübingen 2006 Ein Unternehmen der K. G. Saur Verlag G m b H , München http://mrw.memeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp & Goebel G m b H , Nehren Einband: Industriebuchbinderei Nädele, Nehren

Inhalt

1 1.1 1.2

»Funkensuche« nach der Shoah Soma Morgensterns Leben und Werk Morgenstern als deutsch-jüdischer Schriftsteller

1 8 19

2 2.1 2.2

Exilliteratur Flucht in Frankreich Morgenstern und der deutschsprachige Literaturmarkt

25 32 36

3 3.1 3.2

Shoahliteratur »Wo nur finden die Worte ...« Sprachlosigkeit und Sprachbewältigung

43 53 59

4 4.1 4.2 4.3

Zachor! Geschichtsbewußtsein im Judentum Theologie und Literatur nach Auschwitz Die chassidische Mystik bei Morgenstern Das Opferverständnis in Die Blutsäule

71 75 90 97

5 5.1 5.2 5.3 5.4

Die Gerichtsverhandlung Die Geschichte des Toraschreibers Mechzio Die Zöllner Der Schuldspruch gegen Europa

105 124 131 140 145

6

Exodus — Shoah — Erlösung

155

7

Schlußbemerkung

167

8

Literaturverzeichnis

171

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Danksagung

185

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Personenregister

187

1 »Funkensuche« nach der Shoah

Das ist unser letztes Blut, das ist unser letztes Gebet, das ist unser letztes Wort, das ist unser letztes Aufgebot. Mehr haben wir nicht. 1

Die Shoah als finales Martyrium, die Millionen Toten als Opfer für den Beginn der Erlösung: das ist Soma Morgensterns verzweifelte messianische Interpretation der Vernichtung der europäischen Juden. Die Blutsäule. Zeichen und Wunder am Sereth ist die Sinnsuche eines Gläubigen, ist Klage und Anklage und die feierliche Begrüßung des Staates Israel als Hoffnungsschimmer, als »Funke im Abgrund«2 des jüdischen Leids. Morgenstern wollte und mußte ein »Totenbuch« schreiben, er begann die Arbeit unmittelbar nach Kriegsende im amerikanischen Exil, quälte sich über Jahre mit seiner Sprach- und Schreiblähmung und vollendete das Werk schließlich 1953 nach einem Israel-Aufenthalt. Entstanden ist ein »Midrasch«,3 ein in Inhalt und Erzählstruktur zutiefst in der jüdischen Kultur verwurzeltes religiöses Bekenntnis - in deutscher Sprache. Zu Beginn seiner Laufbahn hatte sich der mehrsprachig aufgewachsene galizische Schriftsteller in seiner Kunst für die »Sprache der Gebildeten«4 entschieden und behielt sie bei. Zwar bemühte er sich hier um eine ganz eigene Konstruktion in Anlehnung an die Sprache der Bibel, doch blieb sie gleichzeitig die Sprache der »verhaßten« Täter.5 Fünfzig Jahre nach seiner Entstehung bereichert dieses Werk die deutsche Shoahliteratur nun um eine besondere Facette. Wie viele Exilanten ist Morgenstern nach der Vertreibung, dem Bruch in der Biographie, auf der Suche nach seiner Identität, dies zeigen sowohl der 1

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Soma Morgenstern: Die Blutsäule. Zeichen und Wunder am Sereth. Hg. von Ingolf Schulte. Lüneburg: Zu Klampen 1997 (Werke in Einzelbänden), S. 144. Dieser Ausdruck aus der chassidischen Mystik wird im folgenden erläutert. Das hebräische Wort »Midrasch« bedeutet soviel wie »Auslegung« in Form einer Geschichte. Abraham J. Heschel, amerikanischer Professor am Jewish Theological Seminary und Förderer Morgensterns, sah eine solche in »Die Blutsäule« (vgl. Alfred Hoelzel: Soma Morgenstern. In: Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Hg. von John M. Spalek und Josef Strelka. Bd 2, New York, Bern: Francke 1989 [Studien zur deutschen Exilliteratur], S. 675). Dies war die Meinung seines Vaters, der allen seinen Kindern Deutsch beibringen ließ (vgl. Soma Morgenstern: In einer anderen Zeit. Jugendjahre in Ostgalizien. Hg. von Ingolf Schulte. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 1999, S. 86). Vgl. Soma Morgenstern: Kritiken - Berichte - Tagebücher. Hg. von Ingolf Schulte. Lüneburg: Zu Klampen 2001 (Werke in Einzelbänden), S. 648.

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1. Die »Funkensuche«

nach der Shoah

innere Kampf um die richtige Sprache und der letztlich gewählte Sprachstil als auch der Inhalt. Halt findet er schließlich in der chassidischen Mystik und im traditionellen Glauben, in dem er erzogen wurde. Nachdem er zuvor den Zionismus als eine Anpassung der Juden an den Nationalismus der Völker empfand, 6 wendet er sich in Die Blutsäule von Europa ab und sieht in Israel die alte und neue Heimat des jüdischen Volkes. Doch wirkt diese Sicht auf die Geschichte stark konstruiert, und sein weiteres Leben und Schaffen zeigen, daß ihm selbst ein solch radikaler Neuanfang nicht gelungen ist. Er beschäftigt sich in den verbleibenden dreißig Jahren seines Lebens mit den Aufzeichnungen seiner Erinnerungen an Europa und seine Freunde, und er schreibt weiter auf Deutsch, obwohl keines seiner Werke im eigenen Sprachraum angemessen gewürdigt oder publiziert wird. 7 Er wandert nicht nach Israel aus, sondern wird amerikanischer Staatsbürger und sieht die USA als neue Heimat an, doch gibt sie ihm offensichtlich kaum eigene künstlerische Impulse. Er bleibt, so scheint es, ein gebrochener Mensch und lernt, mit den Widersprüchen zu leben. Die Begriffe Religion, Sprache und Identität miteinander in Beziehung zu setzen, hilft bei der Annäherung an diesen befremdenden Roman. Denn nicht nur in Morgensterns Gesamtwerk nimmt Die Blutsäule eine Sonderstellung ein. 8 Bei einem ersten Blick auf die bekannte deutsche Shoahliteratur läßt sich kaum eine vergleichbare Deutung der Ermordung der europäischen Juden finden. Das große »Kaddisch« für die Opfer der Shoah wirkt isoliert in der Fülle der Literatur über den Judenmord, in einer Rezension heißt es sogar, daß es »als ein Roman [...] die Kategorien des Genres [sprengt] und [...] sich in seiner tiefen Religiosität der literarischen Kritik [entzieht]; es ist erhaben über jede Ästhetik, da es zu sehr im Religiösen verwurzelt ist.«9 Die Bewertungsmaßstäbe und ästhetischen Ansprüche an Shoahliteratur 10 sind von Anfang an diskutiert worden, und die »Darstellungsgebote« haben 6

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9 10

Vgl. Soma Morgenstern: Joseph Roths Flucht und Ende. Erinnerungen. Hg. von Ingolf Schulte. 2. Aufl., Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag, 1998, S. 35. Aus dem amerikanischen Exil bemühte sich Morgenstern immer wieder um einen deutschen Verleger fur seine Werke. 1963 wurde schließlich eine gekürzte und bearbeitete Version des letzten Teils der Trilogie unter dem Titel »Der verlorene Sohn« publiziert. »Die Blutsäule« wurde 1964 vom österreichischen Hans Deutsch Verlag veröffentlicht, jedoch, wie Ingolf Schulte feststellte, in einer »wenig sorgsamen Ausgabe« (vgl. Ingolf Schulte: Nachwort des Herausgebers. In: Morgenstern, Die Blutsäule (Anm. 1), S. 191. Auch weil sich der Verlag wenig einsetzte, blieb das Echo zurückhaltend. Vgl. ebd., S. 175. Schulte, Wiederentdecker und sorgfältiger Herausgeber der Schriften Soma Morgensterns, nennt »Die Blutsäule« das »wohl dichteste, das schwierigste und das fremdeste unter seinen Werken«. Sowohl die Romantrilogie, die zwischen 1930 und 1943 entstand, als auch die fragmentarischen Erinnerungsberichte werden im folgenden kurz vorgestellt. Ulrich Seiich: Totenbuch und Buch der Hoffnung. In: Handelsblatt, 30. Januar 1998. Den Begriff Shoahliteratur verwende ich hier und im folgenden allgemein fur Literatur, die die Shoah als zentrales Thema behandelt; als Oberbegriff umfaßt er also sowohl Zeugnisse von Überlebenden als auch fiktionale Texte von Zeitzeugen oder Nach-

1. Die »Funkensuche« nach der Shoah

3

sich in den letzten Jahrzehnten verändert, doch die zentralen Fragestellungen bleiben: Wie verarbeitet man literarisch ein Ereignis, das so viele unschuldige Opfer forderte, mit welchem Verständnis von Gott, vom Sinn des Lebens, vom Gang der Menschheit lebt man weiter? Auschwitz ist [...] nicht einfach ein Stück Geschichte [...], das in absehbarer Zeit in den Bereich des Vergangenen abgehen könnte ... Es hat vielmehr mythische Qualität. Wie die Sintflut, wie der Auszug aus Ägypten, wie Christi Tod - oder wie auch (in anderem Maßstab) die Französische Revolution, wie für unsere Eltern und auf kurze Zeit Verdun, wie auf hoffentlich lange Zeit Hiroshima. Und es überragt all diese anderen Monumentalereignisse von mythischer Qualität um einiges. 11

Nicht zufällig hat der Historiker Christian Meier biblische Ereignisse und Katastrophen aus der Geschichte des jüdischen Volkes zur Illustration zuerst angeführt. Diese Shoah unterscheidet sich deutlich von den anderen Diskriminierungen, Verfolgungen und Pogromen, denen Juden in den letzten Jahrhunderten immer wieder ausgesetzt waren. Die jüdische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bedrohte das »Volk der Geschichte« ganz existentiell - diesmal gab es nicht die Möglichkeit der Taufe, keine Wahl, die das Überleben ermöglicht hätte. In einer Kultur und Tradition, die sich hauptsächlich durch Erinnerung und Gedächtnis definieren, 12 wird die Frage nach dem Gedenken der Shoah und die Einordnung des Genozids seit über fünfzig Jahren ganz elementar diskutiert. Die Literatur kann sich freier als die Theologie mit der Frage nach der Deutung des Geschehens beschäftigen, und da im Judentum Wissen und Erkenntnis schon immer in Erzählungen, in der Schrift tradiert wurden, ist die besondere Bedeutung der Shoahliteratur, auch für das Gottesbild, nicht zu unterschätzen. So steht für Yerushalmi außer Zweifel, daß das Bild der Shoah »nicht am Amboß des Historikers, sondern im Schmelztiegel des Romanciers geformt wird«. 13 Doch was ist die angemessene Form des Schreibens über die Shoah? Die vielfach postulierte Unverstehbarkeit des Geschehens hat im nachhinein zu der von Meier angesprochenen Mythisierung geführt: Für das, was man nicht verstehen kann, kann man auch keine angemessenen Worte finden. So ist eine Art Konsens entstanden über die Unaussprechlichkeit 11 dessen, was geschah. So-

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geborenen. In die nähere Betrachtung kommen in dieser Arbeit allerdings nur Beiträge jüdischer Autoren. Christian Meier: Zur deutschen Geschichtserinnerung nach Auschwitz. In: Modern Age - Modern Historian. In Memoriam György Ranki. Hg. von Ferenc Glatz. Budapest: Institute of History of the Hungarian Acad, of Sciences 1990, S. 367-380, hier S. 379. Abraham I. Heschel definierte: »Glauben bedeutet: sich erinnern«, hier zit. nach Christoph Münz: Der Welt ein Gedächtnis geben. Geschichtstheologisches Denken im Judentum nach Auschwitz. 2. Aufl., Gütersloh: Kaiser 1996, S. 24. Yosef Hayim Yerushalmi: Zachor: Erinnere Dich! Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis. Berlin: Wagenbach 1988, S. 104. Hier muß man zwischen Opfer- und Täterliteratur unterscheiden, denn das Schweigen auf der Täterseite hat eine ganz andere Bedeutung als in diesem Zusammenhang. Zur Täterliteratur vgl. auch die Untersuchung von Ernestine Schlant: Die Sprache des

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1. Die »Funkensuche«

nach der Shoah

ma Morgensterns Schreiblähmung, die er in dem vorangestellten Motivenbericht beschreibt, korrespondiert mit den uns bekannten Erfahrungen von Schriftstellern und Dichtern wie Elie Wiesel, Paul Celan, Nelly Sachs und anderen, die ebenfalls versuchten, das Unverstehbare in Worte fassen. Der fur den oben zitierten Rezensenten so irritierende religiöse Bezugsrahmen von Morgensterns Geschichte ist insofern direkte Folge der Konstanten von Unverstehbarkeit und Unaussprechlichkeit, Christoph Münz stellt fest: Die epistemologische und hermeneutische Problematik dieses Postulats [...] wird vornehmlich in ihrer Beziehung zum Problem der Sprache und des Schreibens über den Holocaust zu bedenken sein. Von hier aus ergeben sich dann teilweise überraschende Bezüge zwischen der Unverstehbarkeit des Holocaust und der religiösen Frage an ihn. 15

Bei näherer Betrachtung wird deutlich, daß die Beschwörung einer transzendenten Ebene geradezu typisch ist fur Shoahliteratur. Und da Beschreibung illustrieren muß, sind biblische Motive, Bilder aus der Zeit der Existenzgrö«dung, die sich anbietende Form des Gedenkens an ein existenzbedrohendes Ereignis wie die Shoah. Dabei muß es sich keineswegs gleichzeitig um solch starke Glaubensbekenntnisse handeln wie bei Morgenstern, so sei beispielsweise auf das verstärkte Auftreten des Hiob-Motivs in der Literatur über den Judenmord hingewiesen: Das Hadern mit Gott, das In-Frage-stellen der göttlichen Gerechtigkeit hat Tradition und ist im Judentum Teil des Gesprächs mit Gott. Denn, so Morgenstern, Juden sind immer Gläubige: »Even if he's an atheist, he believes in atheism.« 16 Läßt man also auch gebrochene Gottesbilder, biblische Metaphern und Anspielungen gelten, erscheint die im jüdischen Glauben wurzelnde Aussage von Die Blutsäule zwar besonders radikal, aber durchaus nicht einzigartig. Im Verlauf dieser Arbeit werden der religiöse wie zeitgeschichtliche und literarische Hintergrund von Morgensterns Werk aufgezeigt und in die bekannten Diskurse zum Thema eingeordnet. Zunächst werden Soma Morgensterns Leben und seine Werke vor und während seines lebenslänglichen Exils kurz vorgestellt; dies wird hauptsächlich anhand seiner Erinnerungsschriften geschehen. Da der Schwerpunkt dieser Untersuchung auf der spezifisch jüdischen Interpretation der Shoah und den Bedingungen für das Schreiben über den Judeozid liegt, folgt eine Betrachtung der Besonderheiten von Exilliteratur im jüdischen Kontext. 1964 gelang es Morgenstern, nach langer Suche einen Verleger für Die Blutsäule zu finden; warum das Werk damals kaum Beachtung fand und auf welchen Leserkreis es damals stieß, soll in einem kurzen Abriß über die Rezeption von Shoahliteratur in Deutschland illustriert werden.

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Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust. München: Beck 2001. Sie unterscheidet zwischen Be- und Verschweigen. Münz, Der Welt ein Gedächtnis geben (Anm. 12), S. 28. Israel Shenker: Morgenstern. In: Present Tense, 1 (1973/74) Nr 3, S. 6.

1. Die »Funkensuche« nach der Shoah

5

Noch heute denkt man bei den Stichworten Kunst und Shoah unweigerlich an Adornos Diktum, daß nach Auschwitz kein Gedicht mehr möglich sei - für andere sind die Texte über die Shoah »heilige Schriften«. Den Überlebenden aber ging es zunächst allein darum, Zeugnis abzulegen. Doch eine Sprache zu finden, um das Geschehene zu schildern, gelang vielen erst Jahre später. Heute haben sich sowohl die Tntentionen der Schriftsteller als auch die Ansprüche an die Literatur verändert. Nachdem in den sechziger Jahren das Studium von Dokumenten als einzig gültige Form des Lernens über die Shoah diskutiert wurde, leben wir heute in einer Zeit des »Shoah-Business«: »Holocaust-Produkte« werden für »Holocaust-Konsumenten« produziert. 17 Das dritte Kapitel wird sich mit den Bewertungsmaßstäben für Shoahliteratur, mit der »Sprachlosigkeit« und der »Sprachbewältigung« beschäftigen. Halt und Kraft zum Weiterleben und Weiterschreiben fand Morgenstern in seinem Glauben, vor allem im Chassidismus, einer mystischen Bewegung im Ostjudentum. Diese Ideenwelt, die bereits in der Romantrilogie Funken im Abgrund das geistige Fundament des Geschehens bildete, bestimmt auch in Die Blutsäule den religiösen Hintergrund. Mit Hilfe der sogenannten Responsenliteratur, also rabbinischer Schriften zur Deutung der Shoah, werden die verschiedenen Richtungen des Judentums und ihre Antworten auf die Fragen der Zeit verdeutlicht; zusammen mit der Kenntnis des jüdischen GeschichtsVerständnisses wird dann auch Morgensterns Interpretation der Shoah und sein Verständnis von »Opfer« erklärbar. Auszüge aus Nehemias Rede sind in ein amerikanisches Gebetbuch zum Jom Kippur aufgenommen worden; welche Bedeutung diese Texte in der jüdischen Liturgie haben oder haben können, welche Einflußnahme von Religion auf die Literatur und umgekehrt zu finden ist, kann hier genauer beleuchtet werden. Morgenstern hat an traditionellen jüdischen Motiven festgehalten, um das Geschehene zu verarbeiten; die Erzählstrategien und Bilder werden im folgenden untersucht. Die zentrale Handlung der Geschichte, der Gerichtsprozeß über die SS-Schergen, ist zugleich eines der wichtigsten Motive der jüdischen Literatur überhaupt. Von Zweig über Kafka und Wassermann - schon vor der Shoah waren Gerichtssituationen häufig Bestandteil jüdischer Geschichten, wobei »Gericht« immer auch göttliches Gericht bedeutete. Für die Shoahliteratur war sicherlich auch der Einfluß der tatsächlich stattfindenden Prozesse für die Motivwahl ausschlaggebend, schließlich erfolgte erst durch die Auschwitzprozesse der sechziger Jahre eine öffentliche Auseinandersetzung mit der Schuld, und die Einflüsse auf die Literatur sind zahlreich - Die Ermittlung von Peter Weiss ist sicher das bekannteste Werk in direkter Folge. Doch Anklage und Verteidigung, Schuldig- und Freisprechungen finden sich in jedem Text über die Shoah, in der Summe gehören sie eben auch zur religiösen Positionierung im Judentum: diese vielen Stimmen sind Zeugen in einem großen Prozeß über die Gerechtigkeit Gottes. In Morgensterns Prozeß wird das christliche Europa der Ermordung der sechs Millionen Juden schuldig gesprochen. 17

Vgl. Imre Kertesz: Wem gehört Auschwitz? In: Die Zeit 47 (1998).

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1. Die »Funkensuche«

nach der Shoah

Bei Anklägern, Zeugen und Richtern handelt es sich vielfach um Figuren und Konstellationen, die schon in der Romantrilogie auftauchen, wie Mechzio als einer der 36 Gerechten oder lluji-Kinder als Garanten der Zukunft des jüdischen Volkes. Die Beschreibung des Schicksals des Toraschreibers oder die Rolle des dritten Zöllners, der als eine Art Samariter die christliche Schuld zumindest relativiert, zeigen deutlich die verschiedenen literarischen und religiösen Anleihen, die Morgenstern für sein Werk in Anspruch genommen hat. Abschließend soll noch ein Blick auf den Umgang mit der Shoah in Israel geworfen werden, dessen Gründung in der Theologie nach Auschwitz - und auch für Morgenstern - zunächst die zentrale Rolle des Hoffnungsträgers einnahm, und auf die Gedächtniskultur der Gegenwart, die jetzt mit der Neuauflage von Die Blutsäule konfrontiert wird. Morgenstern bietet mit seinem Gesamtwerk und besonders mit Die Blutsäule einen Ausgangspunkt, die Literatur seit 1945 auf ihren religiösen Gehalt neu zu beleuchten und Texte aus den USA und Israel mit einzubinden. Die Neuauflage von Die Blutsäule trifft heute, mehr als fünfzig Jahre nach ihrer Entstehung, auf andere Leser als damals. Dank der verdienstvollen Herausgebertätigkeit Ingolf Schultes ist das Interesse an diesem Autor nicht nur in Deutschland und Österreich deutlich gewachsen, auch eine italienische und eine französische Ausgabe seiner Werke sind jetzt erschienen, außerdem finden seine Schriften nun auch in der Forschung verstärkt Beachtung und bereichern die deutsch-jüdische Literaturgeschichte durch ihre starke »jüdische Bindung«. 18 In den letzten Jahren erschienen bereits vereinzelt Aufsätze zu Morgensterns Schriften, und vom 22. bis 24. März 2001 fand an der Universität Auburn (Alabama) anläßlich des 25. Todestages eine Konferenz statt, die sich ausschließlich mit Morgenstern beschäftigte. Der Tagungsband 19 erschien 2002, die darin enthaltenen Beiträge zu den verschiedenen Arbeiten des Autors stellen einen ersten Schritt zur literaturwissenschaftlichen Einordnung dar, weitere Untersuchungen werden folgen. Die vorliegende Arbeit stützt sich vorwiegend auf eigene Recherchen im Nachlaß Soma Morgensterns im Deutschen Exilarchiv 1933-1945 in Frankfurt/Main und den verbliebenen Unterlagen im Leo Baeck Institut in New York. Die weitgehende Veröffentlichung der Tagebücher, Fragmente und Notizen Morgensterns, die parallel zu meiner Arbeit realisiert wurde, hat diese schließlich sehr erleichtert. Daß Die Blutsäule mit ihrer religiösen Sinngebung der Shoah die deutschen Leser nach wie vor irritiert, liegt sicher zu einem großen Teil daran, daß die vor allem in den USA und Israel entwickelte und viel diskutierte sogenannte Holo18

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Gershom Scholems Kommentar zu Morgenstern: »M. war ein enger Freund von Joseph Roth, hatte aber eine viel stärkere jüdische Bindung als dieser oder als die meisten der Schriftsteller, in deren Kreisen er in der Zeit vor Hitler verkehrte.« (Vgl. Walter Benjamin / Gershom Scholem: Briefwechsel 1933-1940. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985 [Suhrkamp Taschenbuch; 1211], S. 306, Anm. 2). Soma Morgensterns verlorene Welt. Kritische Beiträge zu seinem Werk. Hg. von Robert G. Weigel. Frankfurt a. M. u. a.: Lang 2002 (New Yorker Beiträge zur Literaturwissenschaft; 4).

1. Die »Funkensuche« nach der Shoah

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caust-Theologie 20 hierzulande kaum Beachtung gefunden hat. Die Kenntnis der verschiedenen Beiträge von Rabbinern und Theologen erleichtert das Verständnis der Geschichts- und Gottesvorstellung bei Morgenstern: Er wandte sich gegen das besonders unmittelbar nach der Katastrophe von orthodoxen Rabbinern zur Erklärung fur diesen neuen »Churban« angeführte SchuldSühne-Schema und interpretierte gleich liberaleren Theologen das neue Land Israel als Zeichen Gottes. In Deutschland erschien erstmals 1982 mit der Sammlung Wolkensäule und Feuerschein21 ein Beitrag zum Komplex Theologie nach Auschwitz, allerdings ohne größere Beachtung zu finden. Darin enthalten sind Übersetzungen der Texte bedeutender Rabbiner, die die Diskussion um die religiöse Interpretation in den USA und Israel bestimmten. Der bereits zitierte Historiker Christoph Münz, der 1995 mit seiner Dissertation Der Welt ein Gedächtnis geben den ersten deutschen Titel zu Geschichtstheologie im Judentum vorlegte, nennt es eine [...] skandalöse [...] Tatsache [...], daß die intensive, eine Unmenge an Material produzierende, nunmehr fast 30 Jahre währende [...] innerjüdische Debatte um die Deutung des Holocaust und dessen Relevanz für ein jüdisches Geschichtsverständnis im gesamten deutschsprachigen Raum bisher weder eine nennenswerte Resonanz fand noch auch nur in Ansätzen rezipiert worden ist. 22

Zeichen dafür ist auch, daß keines der Standardwerke bisher vollständig übersetzt erhältlich ist. Der Verdacht drängt sich auf, daß der Grund fur die Ausblendung dieses Bereichs immer noch in der Schuldabwehr liegt. Mit der Frage, wo Gott in Auschwitz war, hat man sich auf christlicher Seite bis auf einige zögerliche Ausnahmen kaum beschäftigt, wie es überhaupt noch keine umfangreiche und ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gegeben hat. Morgenstern hat in Die Blutsäule Jochanaan, den Zwilling, der zum Trost aller Völker geboren wurde, von den Nazis ermorden lassen - Nehemia, der Trost des jüdischen Volks dagegen überlebt.

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Ich folge der Argumentation Yehuda Bauers und favorisiere den Begriff »Shoah«, vgl. Yehuda Bauer: Die dunkle Seite der Geschichte. Die Shoah in historischer Sicht. Interpretationen und Re-Interpretationen. Frankfurt a. M.: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2001, S. 29. Die »Holocaust-Theologie« bleibt eine begründbare Ausnahme, da sich dieser Begriff in der amerikanischen Forschung entwickelt und etabliert hat. Mir liegt die Erstauflage der Taschenbuchausgabe vor: Wolkensäule und Feuerschein. Jüdische Theologie des Holocaust. Hg. von Michael Brocke und Herbert Jochum. Gütersloh: Kaiser 1993 (Kaiser-Taschenbücher; 131). Münz, Der Welt ein Gedächtnis geben (Anm. 12), S. 27. Ebenfalls 1995 erschien die Untersuchung Verena Lenzens: Jüdisches Leben und Sterben im Namen Gottes. Studien über die Heiligung des göttlichen Namens (Kiddusch HaSchem). München, Zürich: Piper 1995.

1. Die »Funkensuche« nach der Shoah

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1.1 Soma Morgensterns Leben und Werk [...] wenn ich zu erzählen anfange, tuhle ich, wie mir meine ganze Bildung den Nacken herunterrinnt wie einer Ente das Wasser im Fluß. 23

» I n e i n e r a n d e r e n Z e i t « . J u g e n d in G a l i z i e n Sorna M o r g e n s t e r n stammt aus Ostgalizien, und seine H e i m a t ist nicht nur S c h a u p l a t z der R o m a n e , sondern H i n t e r g r u n d seines g e s a m t e n schriftstelleris c h e n S c h a f f e n s . Er reiht sich so in eine Tradition v o n galizischer und damit vor allem » j ü d i s c h e r « Literatur ein. 2 4 Galizien w a r im 19. J a h r h u n d e r t Z e n t r u m der beiden großen geistigen B e w e g u n g e n des O s t j u d e n t u m s , der j ü d i schen A u f k l ä r u n g , H a s k a l a h , u n d des C h a s s i d i s m u s . D e r K u l t u r k a m p f zwischen diesen beiden R i c h t u n g e n ist auch in M o r g e n s t e r n s familiärem Hinterg r u n d n o c h spürbar. Salomon Morgenstern, der sich als Journalist und Schriftsteller den N a m e n Soma gab, wurde am 3. M a i 1890 in B u d a n o w bei Tarnopol geboren. Er wuchs in traditionell-orthodoxem Milieu auf, wurde ab dem dritten Lebensjahr von einem Hauslehrer unterrichtet, besuchte den Cheder. Sein strenggläubiger Vater hatte eine Leidenschaft für die deutsche Sprache und sorgte dafür, daß alle seine Kinder mit Privatlehrern deutsch lernten. Morgenstern erinnert sich: »Nur zu oft 23 24

Morgenstern, In einer anderen Zeit (Anm. 4), S. 304f. Vgl. Stefan H. Kaszynski: Der jüdische Anteil an der Literatur in und über Galizien. In: Von Franzos zu Canetti. Jüdische Autoren aus Österreich. Neue Studien. Hg. von Mark H. Gelber u. a. Tübingen: Niemeyer 1996 (Conditio Judaica. Studien zur deutschjüdischen Literatur- und Kulturgeschichte; 14), S. 130f. Aus westlicher Sicht wurde die galizische Literatur vor allem als »jüdische Literatur« angesehen, weil sie sich nicht in eine Nationalliteratur einordnen ließ, der »metaphysische« Wesenszug in der jüdischen Literatur unterschied diese zudem deutlich von der nichtjüdischen. In Galizien lebten zwei Drittel der gesamten Judenschaft der Österreich-Ungarischen Monarchie. Zu den großen Autoren zählen Leo Herzberg-Fränkel, Moritz Rappaport, Karl Emil Franzos, Joseph Roth, Bruno Schulz, Martin Buber, Manes Sperber und Schmuel Josef Agnon. An anderer Stelle stellt Kaszynski fest: »Noch ehe der Krieg zu Ende war, hatte man begriffen, was man an diesem ungeliebten Galizien verloren hatte. Im Bewußtsein der breiten Bevölkerungsmassen trat anstelle der Abneigung eine Nostalgie ein, die Vergangenheit wurde bald idealisiert, und die Idealisierung bildete den Grundstein tur eine neue Mythologie. Wenn Mythologien Religionen sind, an die man zu glauben aufgehört hat, dann trifft das für den Galizienmythos ganz besonders zu. Vergegenwärtigt wurde dieser Mythos vor allem von der Literatur, einem Medium, das wie kein anderes individuelle und kollektive Erfahrungen und Gefühlszustände festhalten kann.« (Vgl. Stefan H. Kaszynski: Die Götterdämmerung in Galizien. Zur geschichtsmythologisierenden Rolle der Romane von Joseph Roth, Jozef Wittlin und Julian Stryjkowski. In: Galizien. Eine literarische Heimat. Hg. von Stefan H. Kaszynski. Poznan: Wydawn. Naukowe UAM. 1987 [Seria filologia germanska; 27], S. 56.)

1.1 Sorna Morgensterns Leben und Werk

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habe ich ihn sagen hören: Du kannst lernen was immer - wenn du Deutsch nicht kannst, bist du kein gebildeter Mensch.« 25 So sprach Morgenstern, als er auf das Gymnasium kam, jiddisch, hebräisch, deutsch, polnisch und ukrainisch, in der Schule lernte er griechisch, lateinisch, englisch und französisch. 26 In seinen Erinnerungen und Tagebuchaufzeichnungen unterstreicht Morgenstern immer wieder das harmonische Familienleben: Es ist also höchst wahrscheinlich, daß meine Erinnerungen nicht wenig sentimental erscheinen. Dennoch möchte ich behaupten, daß es selbst unter Ostjuden - wo die Brutwärme der Familien um viele Grade höher ist als selbst unter Italienern - in wenigen Häusern ein so harmonisches, liebevolles, würdiges Zusammenleben gegeben haben wird 2 7

Den Grund fur diese »Brutwärme« sieht er in der tiefen Religiosität seines Elternhauses: »Gläubigkeit allein würde nicht genügen. Frömmigkeit, traditionelle Frömmigkeit schließt auch Konflikte zwischen Vater und Sohn, Mutter und Tochter im >modernen< Leben aus.« 28 Der Vater war die dominante Figur seines Lebens, er war Gelehrter, besaß die Rabbiner-Autorisation und war Chassid, »von jener Frömmigkeit, die das gesamte Leben bis hin zu den alltäglichsten Verrichtungen als einen freudigen Dienst an Gott ansieht«. 29 Die erste Auseinandersetzung mit dem Vater - eine der vielen Parallelen zu der Geschichte Josefs in seiner Romantrilogie - rief Morgensterns Wunsch hervor, das Gymnasium zu besuchen. Er setzte sich durch und ging in Tarnopol zur Schule, doch mußte er seinem Vater versprechen, regelmäßig in die Synagoge zu gehen und zu den Feiertagen heimzukehren. Dieser Kontakt mit säkularer Bildung führte bei Morgenstern zwar nicht zum »Schmad«, 30 wie der Czortkower Rabbi befurchtet hatte, 31 aber er erzeugte eine Distanz zu den frommen Orthodoxen. Während seiner Gymnasialzeit setzte er sich mit seinem Verhältnis zum Judentum das erste Mal bewußt auseinander. Er trat einer zionistischen Gruppe bei, 32

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Morgenstern, In einer anderen Zeit (Anm. 4), S. 86. Vgl. Ingolf Schulte: Exil und Erinnerung. Über den vergessenen Autor Soma Morgenstern. In: Kulturtransfer im Exil. Hg. von Claus-Dieter Krohn u. a. München: Edition Text + Kritik 1995 (Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch; 13), S. 222. Soma Morgenstern: Amerikanisches Tagebuch. Eintrag vom 17. April 1949. In: Morgenstern, Kritiken - Berichte - Tagebücher (Anm. 5), S. 638. Ebd. Ingolf Schulte: Nachwort des Herausgebers. In: Morgenstern, In einer anderen Zeit (Anm. 4), S. 410. »Schmad« ist das jiddische Wort für Taufe und den Abfall vom jüdischen Glauben. Vgl. Morgenstern, In einer anderen Zeit (Anm. 4), S. 189. Galizien wurde in dieser Zeit zu einem »mit Wien wetteifernden Zentrum des Zionismus [...]. Eine wichtige Ursache der anwachsenden Nationalbesinnung der Juden in Galizien und der Habsburgermonarchie schlechthin war der seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts rapide anwachsende Antisemitismus im Staate.« (Vgl. Maria Klanslca: Aus dem Schtetl in die Welt 1772-1938. Ostjüdische Autobiographien in deutscher Sprache. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1994 [Literatur und Leben; 45],

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1. Die »Funkensuche«

nach der Shoah

interessierte sich f ü r jiddische Literatur und besuchte unter anderem einen Vortragsabend m i t den Schriftstellern Isaak Leib Perez, A b r a h a m R e i s e n und Schalom Asch, der ihn nachhaltig beeindruckte. 3 3 Die erste große Glaubenskrise folgte nach der Lektüre der Einleitung in die Philosophie von Wilhelm Wundt, Friedrich Albert Langes Geschichte des Materialismus und Kraft und Stoff von Büchner: Es war nicht leicht, im Hause meines Vaters in diesem Zustand so zu tun, als ob nichts gewesen wäre. Ich ging mit ihm zum Sabbatgebet. Ich legte jeden Morgen meine Philakterien an und tat so, als ob ich betete. Und haßte mich für dieses Als-ob-Tun. [...] Da die Lektüre der drei erwähnten Bücher traumatische Folgen hatte für mich, kann ich die erste Zeit nachher noch heute in aller Deutlichkeit erinnern. Vor allem, daß ich aufgehört habe, morgens und abends zu beten, und daß mir diese zwei Lebensgewohnheiten eine schmerzliche Leere hinterließen. [...] Es war eine wirkliche Krise 3 4 D o c h ein s c h w e r e r U n f a l l des Vaters brachte ihn z u m G l a u b e n z u r ü c k : An jenem Nachmittag vergaß ich mein arges Erlebnis mit der gottlosen Literatur. Ich betete, als wäre nichts geschehen, im Herzen nur ein Gefühl: daß ich meinem Bruder helfe, für unsern Vater ein gesundes Jahr zu erbeten. 35 A b e r den Z w i e s p a l t z w i s c h e n seinem B i l d u n g s h u n g e r , dem L e b e n in der säkularisierten westlichen W e l t und der eigenen, o r t h o d o x e n Fradition k o n n t e er sein L e b e n lang nicht gänzlich ü b e r w i n d e n , 3 6 und erst im R o m a n f a n d er die M ö g l i c h k e i t zur V e r a r b e i t u n g . Ingolf Schulte hat die a u t o b i o g r a p h i s c h e n A u f z e i c h n u n g e n M o r g e n s t e r n s aus d e m N a c h l a ß t h e m a t i s c h g e o r d n e t u n d die K i n d h e i t s e r i n n e r u n g e n in d e m B a n d In einer anderen Zeit v e r ö f f e n t l i c h t . K l a u s W e i s s e n b e r g e r stellt in seiner A n a l y s e dieser L e x t e einige auch f ü r diese U n t e r s u c h u n g interessante K o m p o s i t i o n s m e r k m a l e fest: Beim Verfassen der Autobiographie stellt Morgenstern fest, daß er als Jüngster der einzige noch Lebende seiner Familie war, er also wider Erwarten der Auserwählte zu sein schien [...]. Eine derartige Verkehrung der Erbfolge ist charakteristisch für das Alte Festament. Morgensterns Bewerbung zur Aufnahme im Gymnasium, die gegen den Willen des Vaters und auf Anraten der Mutter erfolgt ist, erinnert an die Erzählung von Jakobs Fäuschung von Isaak unter Mithilfe Rebekkas, und das Bestehen der Aufnahmeprüfung trotz Morgensterns verspäteten Erscheinens in einer ihm nicht wohl-

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S. 65.) Morgensterns zionistische Phase entsprang wohl eher der Opposition zum Vater als echter Überzeugung. Vgl. Morgenstern, In einer anderen Zeit (Anm. 4); S. 222. Im Zuge des sich entwickelnden jüdischen Nationalbewußtseins als Folge der Haskala kam es auch zu einem Aufblühen der jiddischen Literatur, die drei genannten Dichter gehören zu den berühmtesten dieser Richtung, vgl. auch Heiko Haumann: Geschichte der Ostjuden. 5. Aufl. der aktualisierten und erweiterten Neuausg., München: Deutscher Faschenbuch-Verlag 1999 (dtv; 30663), S. 112. Morgenstern, In einer anderen Zeit (Anm. 4), S. 255f. Ebd., S. 262. Vgl. Ingolf Schulte: Nachwort des Herausgebers. In: Morgenstern, In einer anderen Zeit (Anm. 4), S. 411.

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gesonnenen Umgebung scheint eine humoristische Version der Begegnung von David und Goliath zu sein. Im Gegensatz zu vielen Autobiographien des Exils, die auf der Darstellung des Spannungsfeldes zwischen Individuation und Sozialisation beruhen und diese Spannung künstlerisch sublimieren oder zumindest dies intendieren, erfahrt Morgensterns Autobiographie ihre künstlerische Dimension durch die Einbettung in den Traditionsstrom biblischer oder talmudischer Erzählweisen und durch deren ästhetisches Prinzip der Schönheit in der Vollendung. Vor allem in der mündlichen Tradierung des Talmuds, der mündlichen Torah, sah Morgenstern die Ursache für das Überleben von Juden und Judentum im Verlauf der Jahrtausende. [...] 37 Dieses Ergebnis beweist erneut zweierlei: zum einen Morgensterns ungebrochene V e r b i n d u n g zur Kultur seiner Jugend, die es de facto seit Hitlers Feldzug nicht m e h r gibt, und zum zweiten sein in der jüdischen Religion wurzelndes Erzählerverständnis, das alle seine Schriften durchzieht.

Wien. »Ein Leben mit Freunden« A b 1912 studierte S o m a Morgenstern, w i e noch mit seinem Vater besprochen, 3 8 Jura in Wien. Tatsächlich besuchte er aber überwiegend Vorlesungen zur Literaturwissenschaft und Philosophie, und hier lernte er auch den Germanistikstudenten Joseph Roth kennen. 3 9 In Joseph Roths Flucht und Ende berichtet er von antisemitischen Ausschreitungen an der Universität; als Ostjuden hatten es die beiden Freunde doppelt schwer: »In W i e n hat man Galizien so abscheulich und so lächerlich gemacht, daß es m a n c h e n Galizianern in W i e n furchtbar schwerfällt, offen zuzugeben, daß sie aus Tarnopol sind.« 4 0 Dann wurden seine Studien durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen, vier Jahre diente Morgenstern als Soldat. 4 1 Die folgenden Jahre verbrachte er wieder in Wien und Schloß als Doktor der Rechte 1921 sein Studium ab. Er schreibt im Nachhinein: Das »mörderische« Tempo im Studium hatte ja darin seinen Grund: mir lag es am meisten daran, möglichst bald mit der Juristerei fertig zu werden, um endlich und ausschließlich wenigstens eine Probezeit das zu tun, was ich zeit meines Lebens zu tun gedachte: schreiben, schreiben, schreiben! 42

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Klaus Weissenberger: Soma Morgensterns »In einer anderen Zeit« im Kontext paradigmatischer Kindheitsautobiographien des Exils. In: Weigel, Soma Morgensterns verlorenen Welt (Anm. 19), S. 149. Morgenstern mußte seinem Vater versprechen, nie Rechtsanwalt, sondern Richter zu werden, vgl. Ingolf Schulte: Soma Morgenstern - Der Autor als Überlebender. In: Morgenstern, Joseph Roths Flucht und Ende (Anm. 6), S. 303. Vgl. Schulte, Exil und Erinnerung (Anm. 26), S. 222. Morgenstern, Joseph Roths Flucht und Ende (Anm. 6), S. 61. Vgl. Hoelzel, Soma Morgenstern (Anm. 3), S. 666. Soma Morgenstern: Alban Berg und seine Idole. Erinnerungen und Briefe. Hg. von Ingolf Schulte. Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag 1999, S. 44.

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N u n b e g a n n seine schriftstellerische Tätigkeit; er übersetzte z u n ä c h s t ein Versdrama des polnischen Dramatikers Stanislaw Wyspianski ins Deutsche, es w u r d e allerdings, w i e auch später seine beiden eigenen Theaterstücke, w e d e r a u f g e f ü h r t n o c h g e d r u c k t . 4 3 N a c h diesen ersten V e r s u c h e n als Schriftsteller arbeitete er als Journalist, schrieb f ü r die Vossische Zeitung u n d dann, w i e R o t h , im Feuilletonteil der Frankfurter Zeitung. Morgenstern erhielt vermutlich 1928 die österreichische Staatsbürgerschaft und heiratete Ingeborg von Klenau, die Tochter des dänischen K o m p o n i s t e n Paul von Klenau. Ihr Bekannten- und Freundeskreis in diesen W i e n e r Jahren liest sich w i e die Auflistung der Intellektuellenszene der Zeit, Ingolf Schulte zählt auf: Zu seinem ältesten Freundeskreis gehörten, neben einigen anderen osteuropäischen Juden, der Komponist Karol Rathaus, der Dirigent Jascha Horenstein und der Pianist Eduard Steuermann. Auch mit dem Wiener Architekten Josef Frank, dem damals gefeierten Rezitator Ludwig Hardt und dem Journalisten Karl Tschuppik war Morgenstern befreundet. Gut bekannt war er mit dem Komponisten Hanns Eisler, mit Abraham Sonne, dem am Wiener Jüdischen Pädagogium lehrenden hebräischen Lyriker, mit Robert Musil, mit Alma Mahler und Franz Werfel, dann auch mit dem Dirigenten Otto Klemperer und dessen Tochter Lotte, mit denen er bis zuletzt freundschaftlich verbunden war. Ferner war er bekannt mit Berthold Viertel, Rudolf Kolisch, Anton Webern. Ein zwischen Nähe und Distanz wechselndes Verhältnis entwickelte sich zu dem jungen Fheodor Wiesengrund-Adorno, nachdem dieser 1925 nach Wien gekommen war, um bei Berg Komposition zu studieren. In den dreißiger Jahren schließlich verkehrte Morgenstern auch in einem Freundeskreis, der sich im Wohnatelier Anna Mahlers, der Tochter Gustav Mahlers, vis-ä-vis der Wiener Staatsoper traf; zu ihm zählten der Bildhauer Fritz Wotruba, dessen Schülerin Anna Mahler war, Hermann Broch, Ernst Krenek, Elias Canetti, und während ihres kurzen Wiener Exils auch Ernst Bloch, den Morgenstern seit längerem kannte, und Karola Piotrkowska. 44 D i e politische Situation in Deutschland beschäftigte selbstverständlich die G e s p r ä c h e z w i s c h e n den F r e u n d e n . A u f die F r a g e A l b a n B e r g s , o b M o r g e n s t e r n j e v e r g ä ß e , daß er J u d e sei, antwortet dieser 1931: Wenn ich so recht bedenke, habe ich hie und da nicht nur einen Tag, sondern eine Reihe von Tagen, da ich in den Bergen herumwandere, ohne daran zu denken, daß ich ein Jude bin und eigentlich im Kaffeehaus sitzen sollte. Aber hier in Wien, unter Christen, gelingt mir das nicht. 45

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Die beiden Theaterstücke sind heute im Rahmen der Werkausgabe publiziert: Soma Morgenstern: Dramen - Feuilletons - Fragmente. Hg. von Ingolf Schulte. Lüneburg: Zu Klampen 2000 (Werke in Einzelbänden). Hoelzel faßt zusammen: »In dem einen gegen die akademische Psychologie gerichteten Schauspiel >Er und Er< handelt es sich um einen Casanova-Don Juan-Stoff; das andere, >Im Dunstkreis< betitelt, handelt von zwei rivalisierenden Freunden, beide aufkeimende Dichter, von denen der jüngere, begabtere, doch weniger anerkannte, schließlich Selbstmord begeht.« (Hoelzel, Soma Morgenstern [Anm. 3], S. 666.) Schulte, Exil und Erinnerung (Anm. 26), S. 223. Morgenstern, Alban Berg und seine Idole (Anm. 42), S. 100.

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In seinen Erinnerungen zitiert Morgenstern Jascha Horenstein, der ihm in einem Brief schrieb: »Du warst niemals wirklich ein Teil der W i e n e r literarischen Clique«. 4 6 Ingolf Schulte zieht den Schluß: Die Feststellung weist auf einen bestimmenden Zug in Morgensterns Leben: von Beginn an war er exterritorial. Er war ein tiefgläubiger Mensch, ohne orthodox zu leben, er kam zum Journalismus, ohne Journalist zu werden, zur Literatur, ohne je ein »Literat« zu sein. Er hat nie »dazugehört«. 47 Sein journalistisches Arbeiten befriedigte ihn bald nicht mehr: »Das Zeitunglesen ist im Grunde nichts als ein Laster, ein Gewohnheitslaster, wie Tabak, Alkohol, u. andere Volksseuchen.« 4 8 1 93 0 begann er mit seiner Arbeit a m ersten R o m a n der Trilogie. Die Verlegersuche gestaltete sich j e d o c h schwierig, mehrfach wurde das Werk abgelehnt, weil es zu »jüdisch« sei. Morgenstern erzählt: Eines Tages bot sich Robert Musil, dem mein Roman nicht zu jüdisch war und der nicht wußte, daß der Erich Reiss Verlag in Berlin seine Bücher nur noch an Juden verkaufen durfte, an, eine Empfehlung an Reiss zu schreiben. Ich beriet mich mit Stefan Zweig, und dieser zur Zeit erfolgreichste Schriftsteller Europas, der mehr von den Geheimnissen des Büchermarktes verstand als alle Verleger, fand diesen Einfall Musils durchaus nicht abwegig. Und, tätig wie er war, schrieb er sogleich auch eine Empfehlung für das Buch an Reiss. 49 D e r Berliner Erich Reiss Verlag nahm das B u c h an. 5 0 In einem Brief an B e n n o R e i f e n b e r g schreibt Morgenstern später über Reiss: »Er w a r wahrscheinlich 46

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Hier zit. nach: Ingolf Schulte: Der Autor als Überlebender. In: Morgenstern, Joseph Roths Flucht und Ende (Anm. 6), S. 310. Ebd. Soma Morgenstern: Amerikanisches Tagebuch, Eintrag vom 13. Juli 1949. In: Morgenstern, Kritiken - Berichte - Tagebücher (Anm. 5), S. 661. Morgenstern, Joseph Roths Flucht und Ende (Anm. 6), S. 131. Volker Dahm schreibt über die Politik der jüdischen Verlage zur NS-Zeit: »Wie der Schocken Verlag durch Expansion und Popularisierung seiner Produktion auf das Jahr 1933 reagierte, versuchten auch die anderen Verlage den neuen Verhältnissen gerecht zu werden, so daß es ab 1933 zu einer deutlichen Erweiterung der jüdischen Buchproduktion im ganzen kam. Dabei standen Werke im Vordergrund, die den deutschen Juden helfen sollten, sich in geistig-seelischer Hinsicht, aber auch in durchaus praktischen Fragen in den neuen Verhältnissen zurechtzufinden. Aber auch neue deutschjüdische Belletristik kam auf den Markt. Die bekanntesten Romane waren >Weg ohne Ende< (1934) von Gerson Stern und >Der Sohn des verlorenen Sohnes< (1935) von Soma Morgenstern (engl. Übers. 1946), beide bei Erich Reiss erschienen, sowie >Eine Zeit stirbt< von Georg Hermann (Jüdische Buchvereinigung, 1934). Der literarische und pädagogische Wert eines großen Teils dieser die Züge einer Konjunktur annehmenden Buchproduktion wurde allerdings schon in einer 1936 und 1937 in der jüdischen Presse geführten Diskussion über das >jüdische Buch< in Frage gestellt. So wies Alfred Hirschberg in der >CV-Zeitung< auf die pure Selbstverständlichkeit hin, >daß wir die >Konjunkturamis de la FranceJude