Der Mythos als Zeugnis des Fremden: Mythostheorie und englische Literatur im Zeichen mythologischer Alterität 9783110528213, 9783110523577

European cultural and literary history has long demonstrated a passion for myth. Among other things, myth is a sign of o

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Der Mythos als Zeugnis des Fremden: Mythostheorie und englische Literatur im Zeichen mythologischer Alterität
 9783110528213, 9783110523577

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Danksagung
1. Einführung: Der Mythos als Zeugnis des Fremden
2. Denkgewohnheit ‚Mythos‘: Vorüberlegungen zur Mythosforschung und Versuch einer Gegenstandsbestimmung
3. Formen und Funktionen mythologischer Alterität: Der Mythos als Zeugnis des Fremden im wissenschaftlich-theoretischen Mythosdiskurs
4. Mythologische Alterität und literarische Mythosrezeption: Der Mythos als Zeugnis des Fremden in der englischen Literatur vom 19. bis zum 21. Jahrhundert
5. Schlussbetrachtung: Das Interesse am Mythos im Zeichen mythologischer Alterität
Literaturverzeichnis
Index

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Uwe Mayer Der Mythos als Zeugnis des Fremden

spectrum Literaturwissenschaft/ spectrum Literature

Komparatistische Studien/Comparative Studies Herausgegeben von / Edited by Moritz Baßler, Werner Frick, Monika Schmitz-Emans Wissenschaftlicher Beirat / Editorial Board Sam-Huan Ahn, Peter-André Alt, Aleida Assmann, Francis Claudon, Marcus Deufert, Wolfgang Matzat, Fritz Paul, Terence James Reed, Herta Schmid, Simone Winko, Bernhard Zimmermann, Theodore Ziolkowski

Band 60

Uwe Mayer

Der Mythos als Zeugnis des Fremden Mythostheorie und englische Literatur im Zeichen mythologischer Alterität

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT. Dissertation, Fachbereich 05 – Sprache, Literatur, Kultur der Justus-Liebig-Universität Gießen

ISBN 978-3-11-052357-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-052821-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-052652-3 ISSN 1860-210X Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Konvertus, Haarlem Druck: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Danksagung 

 IX

1

Einführung: Der Mythos als Zeugnis des Fremden 

2

Denkgewohnheit ‚Mythos‘: Vorüberlegungen zur Mythosforschung und Versuch einer Gegenstandsbestimmung   13 Forschung ohne Gegenstand? Der Mythosbegriff als Problem der Mythosforschung   13 Denkgewohnheiten, mythologische ­Differenzen und Mythoskonzeptionen: Versuch einer Gegenstandsbestimmung   22 Die Produktivität der Mythosrezeption: Fragestellungen für die literaturwissenschaftliche Mythosforschung   29

2.1 2.2

2.3

3

3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5 3.2.6 3.3 3.3.1 3.3.2

 1

Formen und Funktionen mythologischer Alterität: Der Mythos als Zeugnis des Fremden im wissenschaftlich-theoretischen Mythosdiskurs   41 Differenzen von Eigenem und Fremdem: Vorbemerkungen zum Begriff der (mythologischen) Alterität   41 „Züge des Fremdartigen und von uns Entfernten“: Der Mythos als Zeugnis des kulturell Fremden   49 Der Mythos und das kulturell Fremde: Vorbemerkungen   49 Mythische oder nachmythische Zeit? Der Mythos als Zeugnis einer fremd gewordenen Vergangenheit (I)   53 Vormoderne oder Moderne? Der Mythos als Zeugnis einer fremd gewordenen Vergangenheit (II)   60 Primitive oder zivilisierte Gesellschaften? Der Mythos als Zeugnis fremder Kulturen der Gegenwart   70 Mythische oder wissenschaftlich-rationale Denkweisen? Der Mythos als Zeugnis eines fremden Denkens   82 Die diskriminatorische Funktion des Mythos: Ein Fazit   93 „Die dunklen Nachrichten“: Der Mythos als Zeugnis des radikal Fremden   98 Der Mythos und das radikal Fremde: Vorbemerkungen   98 Friedrich Nietzsches Geburt der Tragödie: Der Mythos als Zeugnis rauschhafter Triebe   100

VI  3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.3.6 3.3.7 3.4

3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.4.5 4

4.1 4.2

4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.3

 Inhaltsverzeichnis

Sigmund Freuds Ödipus-Deutung: Der Mythos als Zeugnis unmoralischer Wünsche   104 Carl Gustav Jungs „Wotan“-Aufsatz: Der Mythos als Zeugnis seelischer Gewalten   107 René Girards Sündenbock-Theorie: Der Mythos als Zeugnis kollektiver Gewalttätigkeit   113 Hans Blumenbergs Arbeit am Mythos: Der Mythos als Zeugnis eines anthropologischen Traumas   117 Die transgressive Funktion des Mythos: Ein Fazit   122 Die entzogenen Ursprünge und die Agonalität der „Arbeit am Mythos“: Der Mythos zwischen Fremdrepräsentation und fremder Repräsentation   125 Mythos als Fremdrepräsentation und fremde Repräsentation: Vorbemerkungen   125 „Daß die Ursprünge sich entziehen …“: Mythos als Fremdrepräsentation   127 „Stets schon im Rezeptionsverfahren befindlich …“: Mythos als fremde Repräsentation   129 „Ideology in narrative form“: Ideologische Differenzen bei der „Arbeit am Mythos“   132 Die agonale Funktion des Mythos: Ein Fazit   134 Mythologische Alterität und literarische Mythosrezeption: Der Mythos als Zeugnis des Fremden in der englischen Literatur vom 19. bis zum 21. Jahrhundert   139 Wordsworth, Keats und das literarische Interesse am Mythos: Vorbemerkungen   139 Das fremde Erbe der Antike: Mythologische Alterität in Walter Paters Dionysos-Texten „A Study of Dionysus“ (1876) und „Denys l’Auxerrois“ (1886)   143 The Othering of Antiquity: Vorbemerkungen zur Mythosrezeption Walter Paters   143 „A Study of Dionysus“: Einblicke in eine fremde Antike   145 „Denys l’Auxerrois“: Literarische Mythosrezeption als kulturgeschichtliches Gedankenexperiment I   152 „Denys l’Auxerrois“: Literarische Mythosrezeption als kulturgeschichtliches Gedankenexperiment II   160 Familiar strangeness: Ein Fazit   167 Orientalische Abgründe und die Fremdherrschaft des Begehrens: Mythologische Alterität in Oscar Wildes Salome (1893)   172

Inhaltsverzeichnis 

4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.5

4.5.1 4.5.2

4.5.3

4.6 4.6.1 4.6.2

4.6.3 4.6.4

 VII

Ein biblischer Mythos? Vorbemerkungen zu Oscar Wildes Tragödie   172 Exotisch und prekär: Die Darstellung der biblischen Welt in Salome   175 Fremdherrschaft des Begehrens: Eine Erfahrung radikaler Fremdheit als Thema der Wildeschen Mythosrezeption   181 Die Orientalisierung des biblischen Mythos: Ein Fazit   192 Zwischen mythischer Vergangenheit und alltäglicher Gegenwart: Mythologische Alterität in James Joyces Ulysses (1922)   199 Der Titel, der Text und ein Sehzwang: Eine Annäherung an die Joycesche Mythosrezeption   199 ‚Mythologische Identität‘? Zur These einer mythischen Parallele   202 Abweichungen und Relativierungen: Zur Unzuverlässigkeit der mythischen Parallele in Ulysses   210 Im Spannungsfeld zwischen archaisch-mythischer Vergangenheit und alltäglicher Gegenwart: Ein Fazit   220 Barbarisches Britannien: Mythologische Alterität in Tony Harrisons Phaedra Britannica (1975) und Sarah Kanes Phaedra’s Love (1996)   227 Aktualisierende Mythosrezeption und mythologische Alter Egos: Vorbemerkungen   227 Das eigene und das innere Ausland: Zu geschichtspolitischen und anthropologischen Erschütterungen in Tony Harrisons Phaedra Britannica   230 Eine archaische Konsumgesellschaft: Zur post-humanistischen Mythosrezeption und mythologischen Barbarei in Sarah Kanes Phaedra’s Love   239 Der Mythos (immer noch) als Stachel des Fremden: Mythologische Alterität in der Literatur des frühen 21. Jahrhunderts   248 Die Gegenwärtigkeit des Mythos als Gegenwart des Fremden: Vorbemerkungen   248 Mythologische Heimsuchungen: Ein keltischer Gott und die Macht der Träume in Alexander McCall Smiths Dream Angus: The Celtic God of Dreams (2006)   251 Thank God we’re modern? Mythosrezeption zwischen Zeitkritik und Utopie in Ali Smiths Girl Meets Boy (2007)   257 A story without sense? Literarische Mythosrezeption als Totengespräch und Kritik der Mythostheorie in Salley Vickers’ Where Three Roads Meet (2007)   262

VIII 

 Inhaltsverzeichnis

5

Schlussbetrachtung: Das Interesse am Mythos im Zeichen mythologischer Alterität   268

Literaturverzeichnis  Index 

 288

 275

Danksagung Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2016 vom Fachbereich Sprache, Literatur, Kultur der Justus-Liebig-Universität Gießen als Dissertation angenommen. Für die Veröffentlichung wurde sie nur geringfügig überarbeitet. Mein Dank gilt an dieser Stelle zunächst Ansgar Nünning, der die Entstehung der Arbeit geduldig und mit analytischem Scharfsinn begleitet hat. Bei der Vorbereitung des Manuskripts für den Druck konnte ich mich auf seine Hinweise und Anmerkungen stützen. Außerdem bedanke ich mich bei Gabriele Rippl für ermutigende Gespräche, für großzügige Einladungen zu Forschungskolloquien an der Universität Bern sowie für die Einführung in die literarische Antikenrezeption im Rahmen eines Hauptseminars an der Georg-August-Universität Göttingen. Mit dem Themenkomplex Mythos, Mythostheorie und literarische Mythosrezeption habe ich mich erstmals intensiv in einer Arbeitsgruppe des 1. Geisteswissenschaftlichen Kollegs der Studienstiftung beschäftigt. Den engagierten Leitern dieser Arbeitsgruppe, Christoph Jamme und Stefan Matuschek, bin ich daher zu großem Dank verpflichtet. Zudem danke ich den Mitgliedern der Arbeitsgruppe für den lebendigen interdisziplinären Austausch, der seine Fortsetzung in einer inspirierenden Zusammenarbeit mit Bent Gebert gefunden hat. Neben der fachlichen und persönlichen sei auch die finanzielle und praktische Unterstützung nicht vergessen, die ich durch die Studienstiftung des deutschen Volkes – in Form eines Promotionsstipendiums – sowie durch das Gießener Graduate Centre for the Study of Culture erfahren habe. Den Herausgebern danke ich für die Aufnahme der Studie in die Reihe spectrum Literaturwissenschaft und dem Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT für die Übernahme der Druckkosten. Schließlich möchte ich meiner Familie für ihren Zuspruch und ihre Unter­ stützung, aber auch für manch heilsame Kritik danken. Gießen, im August 2017

https://doi.org/10.1515/9783110528213-202

Uwe Mayer

1 Einführung: Der Mythos als Zeugnis des Fremden Der Mythos – oder genauer: das Interesse am Mythos – ist aus der abendländischen Geistes- und Kulturgeschichte nicht wegzudenken. Wer sich dem Mythos heute zuwendet, tut dies dann auch vor dem Hintergrund einer beinahe unüberschaubaren Vielzahl wissenschaftlicher Definitionsversuche und Mythostheorien sowie einer nicht minder vielgestaltigen literarischen und künstlerischen Mythosrezeption. Für die vorliegende Studie stellt das scheinbar unerschöpfliche und ausgesprochen produktive Interesse am Mythos allerdings nicht nur den geistes- und kulturgeschichtlichen Horizont dar. Vielmehr wird im Folgenden ein oft übersehener, gemeinhin unterschätzter und folglich noch nicht systematisch untersuchter Aspekt dieses Interesses – der Aspekt der mythologischen ­Alterität – in den Fokus gerückt. Dabei steht hinter dem hier neu eingeführten Begriff der mythologischen Alterität die These, dass der Mythos seit dem 18. Jahrhundert nicht zuletzt als Zeugnis des Fremden seine Spuren in der Geistes- und Kulturgeschichte hinterlassen hat.1 Wo vom Mythos die Rede ist, kommt mit beachtlicher Regelmäßigkeit das Fremde zur Sprache. Diese Beobachtung, die den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen darstellt und deren Tragweite im Folgenden auszumessen sein wird, ist eigentlich nicht besonders erstaunlich. Schließlich hat der neuzeitliche Mythosbegriff immer schon (oder besser: immer auch) altertumswissenschaftliche oder ethnologische Konnotationen. Nicht zufällig beginnt der einschlägige Eintrag in einem Lexikon der Literatur- und Kulturtheorie mit folgender Feststellung: „Mythentraditionen finden sich v. a. bei den antiken Hochkulturen und den sog. Naturvölkern.“ (Simonis 2008: 525) Und da sich sowohl die theoretischwissenschaftliche als auch die künstlerisch-literarische Arbeit am Mythos – um die populär gewordene Formel Hans Blumenbergs aufzugreifen (vgl. Blumenberg 1990) – nicht zuletzt an jenen Mythentraditionen abarbeitet, ist ihr Gegenstand häufig schon in einem ganz schlichten Sinne ein fremder Gegenstand. Nun

1 Der Mythos als ‚Zeugnis des Fremden‘ – diese Formulierung ist von einer Beobachtung Christoph Jammes zur jüngeren philosophischen Mythosforschung inspiriert: „Die heutige Mythenforschung betont denn auch gerade den Charakter unaufhebbarer Fremdheit der Mythen und macht sie zu Zeugnissen des ‚ganz Anderen‘, denen dann höchstens noch ein kompensatorischer Charakter zufällt.“ (Jamme 1999: 37) Die vorliegende Studie geht allerdings sowohl mit ihrer These als auch mit ihrem Gegenstandsbereich deutlich über das hinaus, was Jamme bei seiner Beobachtung im Blick hat. Vorüberlegungen bzw. Vorarbeiten zur vorliegenden Studie wurden bereits in Aufsatzform veröffentlicht: vgl. Mayer 2009, Mayer 2011 sowie Mayer 2013. https://doi.org/10.1515/9783110528213-001

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 1 Einführung: Der Mythos als Zeugnis des Fremden

soll aber mit dem Begriff der mythologischen Alterität nicht darauf abgehoben werden, dass fremde Völker und Kulturen (auch) Mythen hervorgebracht haben. Nicht der Mythos in der Fremde, sondern der Mythos als Zeugnis des Fremden ist Gegenstand der vorliegenden Studie.2 Dass und inwiefern der Mythos als Zeugnis des Fremden wahrgenommen und gedeutet wird, lässt sich – für den Anfang – wohl am einfachsten am Beispiel konventioneller Mythosdefinitionen wie der folgenden demonstrieren: Mit dem Begriff ‚Mythos‘ bezeichnet man in erster Linie Erzählungen von den Taten von Göttern und anderen übernatürlichen Wesen (Halbgöttern, Naturgeistern, Fabelwesen etc.), im weiteren Sinne auch von Helden mit übermenschlichen Kräften wie zum Beispiel Herkules oder Theseus. Als ursprünglich heilige Texte handeln Mythen bevorzugt von Ereignissen außerhalb des menschlichen Raum-Zeit-Kontinuums […]. Mythen dieser Art sind aus allen archaischen Kulturen überliefert (zum Beispiel den ägyptischen, hebräischen, griechischen, germanischen) und finden sich ebenso bei den sogenannten ‚Naturvölkern‘ der Gegenwart oder jüngsten Vergangenheit. Einer vorrationalen Denkweise entstammend, bieten sie weniger ‚Erklärungen‘ als vielmehr narrative Strukturen von hoher symbolischer Kraft. (Petzold 2001: 126)

In dieser Definition, die einer Einführung für Studienanfänger entnommenen ist und die auf explizite Bezüge zu konkreten Mythostheorien verzichtet (obwohl sich entsprechende Bezüge leicht herstellen ließen), werden verschiedene Perspektiven auf den Mythos gebündelt. Dabei stützt sich die Definition maßgeb­ lich auf Kategorien des Fremden, um ihrem Gegenstand eine Gestalt zu geben. So etabliert schon die Feststellung, Mythen seien „ursprünglich heilige Texte“ gewesen, eine Distanz zum Mythos. Denn diese Formulierung impliziert nicht nur, dass Mythen ihren ursprünglichen Status eingebüßt haben. Vielmehr wird mit dem Heiligen auch ein Konzept ins Spiel gebracht, das in der heute weitgehend säkularisierten abendländischen Zivilisation durchaus exotisch oder gar befremdlich anmuten mag. (Zudem kann das Heilige auch eine religiöse Fremdheitserfahrung markieren, z. B. als eine Erfahrung des Göttlichen, das nicht von dieser Welt ist.) Weiterhin wird in der als Beispiel gewählten Definition festgehalten, dass der Mythos „aus allen archaischen Kulturen überliefert“ sei. Im Kontext einer modernen Zivilisation erscheint der Mythos damit zwangsläufig als Zeugnis entweder des historisch Fremden (als Produkt einer archaischen Vergangenheit) 2 Mit der Aussage, der Mythos sei z. B. für die Kultur der alten Griechen zentral gewesen, wird der Mythos noch nicht zum Zeugnis des Fremden. Wenn man allerdings – anhand des griechischen Mythos – auf die polytheistische Religiosität der alten Griechen abhebt (und damit eine Differenz zur eigenen Kultur in den Blick nimmt), wird der Mythos sehr wohl zu einem entsprechenden Zeugnis.



1 Einführung: Der Mythos als Zeugnis des Fremden  

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oder des geographisch Fremden (als Produkt archaisch lebender Naturvölker). Eng mit dieser Vorstellung von den archaischen Wurzeln des Mythos verbunden ist auch die Annahme, der Mythos entspringe einer „vorrationalen Denkweise“. In einem kulturellen und zivilisatorischen Kontext, der sich – in der Folge der Aufklärung – der Rationalität verpflichtet sieht (was insbesondere für den akademischen Diskurs gilt, dem die hier ausgewählte Mythosdefinition zuzurechnen ist), wird der Mythos auch in dieser Hinsicht zum Zeugnis des Fremden. Schließlich kommt Fremdes bzw. Befremdliches noch im Hinblick auf den ausgemachten Inhalt bzw. den Gegenstand der Mythen ins Spiel: sie „handeln […] bevorzugt von Ereignissen außerhalb des menschlichen Raum-Zeit-Kontinuums“, also von Ereignissen, die Normalsterblichen unvertraut erscheinen müssen, die kaum Entsprechungen in der eigenen Lebenswirklichkeit haben dürften und die unter Umständen moralische Irritationen auslösen können. Wie unschwer zu erkennen ist, werden in der gerade vorgestellten Charakterisierung (oder genauer: Verortung) des Mythos mit dem Fremden (Unvertrauten, Unbekannten, Unzugehörigen etc.) gleichsam automatisch immer auch Differenzen von Eigenem und Fremdem thematisiert. Den Attributen des Fremden, mit denen der Mythos belegt wird, stehen nämlich jeweils (ungenannte, aber mitzudenkende) Attribute des Eigenen gegenüber: Das Heilige und das Profane bzw. das Säkulare, archaische Kultur und moderne Zivilisation, vorrationale Denkweise und aufgeklärtes Bewusstsein, übernatürliche Phänomene und alltägliche Lebenswirklichkeit – diese (und weitere) Differenzen sind in der Mythosdefinition angelegt und lassen sich letztendlich jeweils auf die Differenz von Fremdem und Eigenem zurückführen. Denn derjenige, der den Mythos definiert (oder mit der Mythosdefinition konfrontiert wird) steht eben nicht über diesen Differenzen. Seine Welt ist – ob er das nun begrüßen oder bedauern mag – die Welt der modernen Zivilisation, die im Zeichen der Aufklärung steht und dem Heiligen genauso wie dem Übernatürlichen nur wenig Platz einräumt. Genau darauf hebt nun die These der mythologischen Alterität ab: Der Mythos wird häufig im Rückgriff auf Differenzen von Eigenem und Fremdem verortet und gerät dabei als Zeugnis des Fremden – nicht des Eigenen – in den Blick. Nun könnte man einwenden, dass das hier gewählte Beispiel einer Mythosdefinition ‚lediglich‘ traditionelle (d. h. altertumswissenschaftlich und ethnologisch geprägte) Bedeutungen des Mythosbegriffs bündelt und dass folglich die Beobachtung, der Mythos trete nicht zuletzt als Zeugnis des Fremden in Erscheinung, doch wohl ‚nur‘ für solche Bedeutungen zutreffend sei. Diesem Einwand ist allerdings mit dem Hinweis zu begegnen, dass mythologische Alterität insbesondere auch dort augenfällig wird, wo man dezidiert moderne oder zeitgenössische Mythen zu identifizieren versucht. Denn diese Versuche erscheinen in der Regel gerade deshalb reizvoll, weil sie das Vergangene mit dem Gegenwärtigen,

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 1 Einführung: Der Mythos als Zeugnis des Fremden

das Entlegene mit dem Nahen oder das Überwundene mit dem Vorliegenden kurzschließen. Ein treffliches Beispiel liefern dafür Roland Barthesʼ Mythen des Alltags aus den 1950er Jahren (Barthes 2003). Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als würde Barthes versuchen, „den Mythos aus seinen distanzierenden (antiquarischen, exotischen, archaischen) Bezügen zu lösen und als konstitutives Element der eigenen Kultur sichtbar zu machen“ (Assmann/Assmann 1998: 185). Doch genau genommen geht es Barthes sehr wohl darum, mit dem Mythosbegriff auf Fremdes (oder Befremdliches) zu verweisen. Dies ist z. B. offenkundig der Fall, wenn er den Verzehr des französischen Nationalgerichts „Beefsteak und Pommes frites“ als rituelle Opferhandlung eines kulinarischen Patriotismus interpretiert und in den Kontext einer bis in die Antike zurückzuverfolgenden Blutmythologie rückt (vgl. Barthes 2003: 36–38). Denn damit stellt er diesen ‚modernen Alltagsmythos‘ gerade als archaisches Überbleibsel innerhalb der eigenen (sich selbst als modern und zivilisiert begreifenden) Kultur bloß. Und dieses Beispiel eines ‚modernen Alltagsmythos‘ ist keineswegs ein Einzelfall, wie man in Anlehnung an einen Befund des Religionswissenschaftlers Jürgen Mohn festhalten kann, der im Mythos nicht zuletzt einen Fremdheitstopos erkennt: Jedoch nicht nur die fernen fremden Kulturen, sondern auch gewisse ‚befremdliche‘ Phänomene der eigen [sic!] Kultur wurden mit der Bezeichnung Mythos bedacht: von den eigenen vergangenen Mythen über irrationale politische Bewegungen bis hin zu den Alltagsmythen der Werbung. Mythos ist also ein wissenschaftlicher, philosophischer oder auch kulturkritischer Fremdheitstopos par excellence. (Mohn 1998: 17)3

Weiterhin – und weil gerade Roland Barthes und dessen Kritik der Alltagsmythen zur Sprache gebracht wurde – ist vor der voreiligen Schlussfolgerung zu warnen, der Mythos würde ausschließlich (oder auch nur vorrangig) von seinen Kritikern und Verächtern als Zeugnis des Fremden (des Überlebten und Überkommenen) betrachtet. Wenn der Mythos etwa um 1800 als Ausdruck einer poetischen, aber im Zeitalter des materialistischen Rationalismus verloren gegangenen Weltsicht verklärt wird, dann handelt es sich nur um ein Beispiel dafür, wie der Mythos – als Zeugnis des Fremden – affirmativ aufgerufen und als Vehikel einer Kritik der eigenen Zeit bzw. der eigenen Kultur oder Zivilisation in

3 In diesem Sinne ist die Rede vom Mythos häufig auch dann ‚ethnologisch‘ (und bringt Fremdes zur Sprache), wenn sie auf zeitgenössische Phänomene bzw. auf Phänomene der eigenen Kultur abzielt – zumindest wenn man mit Hinrich Fink-Eitel unter ‚Ethnologie‘ das Folgende versteht: „Im weitesten Sinne verstehe ich unter ‚Ethnologie‘ im folgenden jede Art grundsätzlicher Reflexion über fremde Kulturen, zu denen auch die eigene gehört, gesetzt den Fall, der von ihr entfremdete Betrachter sieht sich mit ihr gleichsam von außen konfrontiert.“ (Fink-Eitel 1994: 11)



1 Einführung: Der Mythos als Zeugnis des Fremden  

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Anspruch genommen wird.4 Ein jüngeres Beispiel für eine in der Tendenz affirmative Inanspruchnahme des Mythos als Zeugnis des Fremden ist jene Variante der philosophischen Rationalitätskritik, die den Mythos zum Anderen der Vernunft erklärt und diesen gegen vermeintliche oder tatsächliche Defizite der (eigenen) technisch-wissenschaftlichen Rationalität ins Spiel bringt.5 Schließlich – und das dürfte vielleicht die überraschendste Beobachtung sein – entpuppt sich der Mythos häufig auch dort als Zeugnis des Fremden, wo man ihm eine universelle oder zeitlose Qualität bescheinigt. Er gerät dann vielleicht nicht als Produkt einer fremden Kultur in den Blick, wird aber als Zeugnis von Fremdheitserfahrungen gedeutet, die Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten gemacht haben. Bekannte Beispiele dafür wären Sigmund Freuds Deutung des Ödipus-Mythos (vgl. Freud 2000: 265–268), die dem Psychoanalytiker dazu dient, fremde Gefilde innerhalb der menschlichen Seele zu erkunden, oder Hans Blumenbergs Theorie der „Arbeit am Mythos“ (vgl. Blumenberg 1990), die auf die existentielle Fremdheitserfahrung der frühen Menschheit in einer feindlichen und geradezu überwältigenden Umwelt zurückgeführt wird. Das Universelle und Zeitlose, das man im Mythos zu finden glaubt, ist dementsprechend häufig das, was in jeder Kultur fremd anmutet. Der Begriff der mythologischen Alterität, soviel sollte bis hierher deutlich geworden sein, bezeichnet also ein Charakteristikum verschiedener Mythosauffassungen – und zwar ganz gleich, welche Gegenstände jeweils als Mythen oder als Mythisches in den Blick geraten, und unabhängig davon, ob man diesen Gegenständen kritisch oder affirmativ gegenübersteht. Dementsprechend leitet sich aus der These der mythologischen Alterität dann auch das folgende mythostheoretische Ziel der vorliegenden Studie ab: Es soll gezeigt werden, dass Theorien des Mythos (bzw. wissenschaftliche Mythoskonzeptionen) – von Giambattista Vico und David Hume über J. G. Frazer und Sigmund Freud bis zu Hans Blumenberg und Bruce Lincoln – ihre Gegenstände tatsächlich als Zeugnisse des Fremden beschreiben, analysieren, interpretieren und bisweilen auch instrumentalisieren. Statt aber nur zahlreiche Beispiele aneinanderzureihen, sollen in diesem Zusammenhang – und auf der Basis eines klar definierten Alteritätsbe­ griffs – verschiedene Formen und Funktionen mythologischer Alterität identifiziert werden, um zu zeigen, wie genau und zu welchem Zwecke Mythostheorien und wissenschaftliche Mythoskonzeptionen ihre Gegenstände als Zeugnisse des Fremden konturieren. 4 Dichterischen Ausdruck findet diese Art der Bezugnahme auf den Mythos z. B. in Friedrich Schillers „Die Götter Griechenlandes“ (Schiller 1992: 162–165) oder William Wordsworths „The world is too much with us“ (Löffler/Späth 1998: 154–155). 5 Vgl. dazu Jamme 1999 sowie in einer literaturwissenschaftlichen Anwendung Butter 2007: 81–129.

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 1 Einführung: Der Mythos als Zeugnis des Fremden

Angesichts der gerade umrissenen Zielstellung sollte nun allerdings nicht der Eindruck entstehen, mit dem Begriff der mythologischen Alterität wäre ‚nur‘ ein (mythos-) theoretisches Problem angesprochen. Vielmehr kann mit der These der vorliegenden Studie auch die praktische (d. h. in diesem Fall die literarische) Arbeit am Mythos in ein neues Licht gerückt werden. Auf der Grundlage der mythostheoretischen Reflexionen soll die vorliegende Studie dann auch einen Beitrag zu jener literaturwissenschaftlichen Forschungsdiskussion leisten, die im Kern um die Frage kreist, „was zeitgenössische Autoren dazu bewegt, auf die alten mythischen Geschichten zurückzugreifen und sie zu bearbeiten“ (Seidensticker/Vöhler 2002b: V). Nun mangelt es freilich nicht an Erklärungsansätzen für die anhaltende Konjunktur mythologischer Stoffe in der modernen Literatur. Drei dieser Ansätze seien hier zumindest erwähnt. Besonders trefflich lässt sich die literarische Popularität mythologischer Stoffe z. B. mit einem Verweis auf deren Universalität und Zeitlosigkeit begründen.6 Gerhart von Graevenitz paraphrasiert die entsprechenden Auffassungen, „die dem Mythos gesteigerte ‚Evidenz‘ zusprechen“, wie folgt: „Mythen sind der Natur oder dem Ursprung einer bestimmten Bevölkerung, zuletzt auch dem anthropologischen Menschsein näher als die Sprache der Zivilisation.“ (Graevenitz 1987: 1) Wem die Behauptung einer Universalität, Zeitlosigkeit oder ‚natürlichen‘ Evidenz mythologischer Stoffe zu geschichtsvergessen oder zu spekulativ erscheint, der kann das offenbar unerschöpfliche Interesse an eben jenen Stoffen alternativ als Ausdruck einer lebendigen Tradition betrachten. Einen Rahmen bieten dafür die Vorstellungen von einer in die griechisch-römische Antike zurückreichenden Classical Tradition (vgl. Highet 1959) oder von tief verwurzelten nationalen Überlieferungstraditionen.7 Freilich bedarf es gar nicht immer eines solchen Rahmens: Man kann sich, als Literatur- oder Kunstinteressierter, auch schlicht und ergreifend in der spannenden Rezeptionsgeschichte konkreter mythologischer Stoffe verlieren.8 Die Aktualität bzw. die Relevanz des Mythos erwächst in dieser Perspektive aus dem weitgespannten Netz intertextueller Bezüge und

6 „Myths are universal and timeless stories that reflect and shape our lives – they explore our desires, our fears, our longings and provide narratives that remind us what it means to be human.“ Mit dieser Charakterisierung von Mythen bewirbt der Canongate-Verlag aus dem schottischen Edinburgh eine Reihe von literarischen Neubearbeitungen mythologischer Stoffe (vgl. z. B. ­Atwood 2005). 7 Man denke an die durchaus nachhaltigen Versuche einer Rehabilitierung der keltischen ­Mythologie in Irland oder die Versuche, eine deutsche Nationalmythologie zu begründen. 8 Man vergleiche hierzu einschlägige Publikationen, die einen literarischen Bogen von der ­Antike bis in die Gegenwart schlagen, z. B. den von Lutz Walther herausgegebenen Band Mythos Elektra. Texte von Aischylos bis Elfriede Jelinek (Walther 2010).



1 Einführung: Der Mythos als Zeugnis des Fremden  

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einer kulturellen Normativität der Überlieferung (gewissermaßen als einer Sonderform der Normativität des Faktischen). Für diese Erklärung spricht immerhin, dass man sich der mythologischen Überlieferung – wenn man sich überhaupt für kulturelle Überlieferungen interessiert – kaum entziehen kann. Neben weitgespannten Überlieferungszusammenhängen scheint es schließlich auch noch ein jeweils zeit- und kontextspezifisches Interesse am Mythos bzw. an mythologischen Stoffen zu geben. So hat man beispielsweise dem Deutschen Kaiserreich ein besonderes Interesse am Germanenmythos bescheinigt (vgl. Kipper 2002) oder der Postmoderne eine generelle Mythophilie attestiert (vgl. Assmann/ Assmann 1998: 196–197). Universalität und Zeitlosigkeit, Kontinuität der Überlieferung oder Zeitgeistkompatibilität: Damit wären – ohne Anspruch auf Vollständigkeit und analytische Trennschärfe – zumindest drei Erklärungsansätze für die dauerhafte Konjunktur mythologischer Stoffe in der modernen Literatur benannt. Bei allen Unterschieden ähneln sich diese Erklärungsansätze darin, dass sie von einem besonderen Identifikationspotential des Mythos ausgehen. In mythologischen Stoffen – so könnte man diese Annahme in Bezug auf die Praxis der literarischen Mythosrezeption zusammenfassen – finde man sich selbst bzw. das Eigene schon vorgezeichnet. An diesem Punkt setzt nun die vorliegende Studie ein – und legt zwar keinen Widerspruch, aber doch zumindest einen Einspruch ein. Denn könnte es nicht sein, dass man vielleicht nicht trotz, sondern gerade wegen ihres Alters auf mythologische Stoffe zurückgreift, nicht obwohl, sondern gerade weil sie uns bisweilen archaisch, vormodern, barbarisch und somit fremd erscheinen? Steht also die literarische Konjunktur des Mythos vielleicht nicht (nur) im Zeichen der Identität, sondern vielmehr (auch) der Alterität? Aus diesen Überlegungen und Fragestellungen erwächst das literaturwissenschaftliche Ziel der vorliegenden Studie: Es soll gezeigt werden, dass auch die literarische Arbeit am Mythos im Zeichen der mythologischen Alterität steht. Zu diesem Zwecke wird anhand verschiedener literarischer Beispieltexte vom späten 19. bis zum frühen 21. Jahrhundert nachgewiesen, dass der literarische Rückgriff auf mythologische Stoffe nicht zuletzt das Fremde ins Spiel bringt. Vor allem erlaubt es dieser Rückgriff, Differenzen von Eigenem und Fremdem auszuloten und existentielle Grenz- und Fremdheitserfahrungen auszuleuchten – und zwar unabhängig davon, auf welche mythologischen Stoffe zurückgegriffen und welche Strategie der Mythosrezeption gewählt wird. Nachdem nun sowohl die These als auch die doppelte (mythostheoretische und literaturwissenschaftliche) Zielstellung der vorliegenden Studie vorgestellt wurden, bleibt noch anzukündigen, auf welchem Wege die These erhärtet und die Ziele erreicht werden sollen – also welchen Gang die Untersuchung nehmen

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 1 Einführung: Der Mythos als Zeugnis des Fremden

wird. Einschließlich dieser Einführung gliedert sich die Untersuchung in fünf Kapitel. Während das zweite Kapitel theoretisch-methodischen Vorüberlegungen gewidmet ist, wird im dritten Kapitel eine mythostheoretische und im vierten Kapitel eine literaturwissenschaftliche Perspektive auf den Mythos als Zeugnis des Fremden entwickelt. Ihren Abschluss findet die Studie im fünften Kapitel mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse sowie mit einem Ausblick. Bevor man dem Mythos als Zeugnis des Fremden nachspürt, ist zu erläutern, was man selbst in diesem Zusammenhang unter ‚Mythos‘ versteht. Diesen Erläu­terungen – und somit der Gegenstandsbestimmung – ist im Anschluss an diese Einführung Kapitel 2 gewidmet. Dass die Gegenstandsbestimmung etwas umfangreicher ausfällt, als man vielleicht erwarten würde, hängt damit zusammen, dass der Mythosbegriff – wenn man es zugespitzt formuliert – die vielleicht größte Herausforderung für die Mythosforschung darstellt. In Kapitel 2.1 wird dann auch erläutert, warum es so schwer (wenn nicht gar unmöglich) ist, verschiedene Mythosauffassungen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen bzw. einen Gegenstand der Mythosforschung auszumachen. Neben der disziplinären und historischen Bedeutungsvielfalt des Mythosbegriffs muss dabei auch dessen normative Aufladung Erwähnung finden, da mit den verschiedenen Bedeutungen des Mythosbegriffs nicht nur unterschiedliche Deutungen des Mythos, sondern auch unterschiedliche Gegenstände (als Mythen oder als Mythisches) in den Fokus geraten. Vor diesem Hintergrund wird in Kapitel 2.2 für einen Perspektivwechsel plädiert, der es erlaubt, Mythosforschung zu betreiben, ohne sich auf eine eng umrissene (und damit nur bedingt anschlussfähige) Bedeutung des Mythosbegriffs festzulegen oder den Mythosbegriff in einem vagen, entgrenzten und damit Missverständnisse riskierenden Sinne zu verwenden. Mit diesem Plädoyer greift die vorliegende Studie einen Vorschlag von Gerhart von Graevenitz auf, den Mythos doch einmal als abendländische Denkgewohnheit zu betrachten (vgl. Graevenitz 1987). Diesem Vorschlag folgend, wird in der vorliegenden Studie nicht irgendein ‚Mythos‘, sondern der Mythosdiskurs als Gegenstand der Mythosforschung betrachtet, womit Konzeptionen des Mythos als legitime (und aussa­ gekräftige) Untersuchungsobjekte in den Blick geraten. Mythologische Alterität bezeichnet dann auch nicht weniger als eine Gemeinsamkeit verschiedener ­Konzeptionen des Mythos und eine bedeutende Konstante im Mythosdiskurs. Was diese mythostheoretisch-methodische ‚Grundsatzentscheidung‘ für die literaturwissenschaftliche Arbeit am Mythos bedeutet, zu der die ­vorliegenden Studie ja auch einen Beitrag leisten soll, wird schließlich in Kapitel 2.3 erörtert. Eine literaturwissenschaftliche Mythosforschung – so die dort f­ormulierte ­Schluss­folgerung und (Selbst-)Festlegung – sollte sich sinnvoller Weise darauf konzentrieren, jene Mythoskonzeptionen bzw. jene Vorstellungen vom Mythischen



1 Einführung: Der Mythos als Zeugnis des Fremden  

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zu identifizieren, die in literarischen Texten ihren Niederschlag finden. Auf diese Weise kann die Literaturwissenschaft aufzeigen, welchen Beitrag die Literatur zur Denkgewohnheit ‚Mythos‘ leistet und inwiefern bestimmte Aspekte der Denkgewohnheit ‚Mythos‘ – etwa der Aspekt der mythologischen Alterität  – literarisch produktiv werden bzw. die beeindruckende Literaturgeschichte des Mythos prägen. Im Sinne der in Kapitel 2 formulierten Vorüberlegungen steht der Begriff der mythologischen Alterität weniger für eine neue Theorie des Mythos als vielmehr für eine Konstante im Mythosdiskurs (oder eben für einen bedeutenden Aspekt der Denkgewohnheit ‚Mythos‘). Diese Konstante ist am leichtesten dort zu identifizieren, wo man sich um explizite Definitionen des Mythos bemüht, also im mythostheoretischen Diskurs. Um verschiedene Formen und Funktionen mythologischer Alterität herauszuarbeiten, werden dementsprechend in Kapitel 3 verschiedene Theorien und wissenschaftliche Konzeptionen des Mythos zur Sprache gebracht, die sich – bei allen offenkundigen Unterschieden – darin ähneln, dass sie ihren jeweiligen Gegenstand als Zeugnis des Fremden konturieren. Zunächst wird freilich in Kapitel 3.1 noch offenzulegen sein, was in der vorliegenden Studie unter ‚Alterität‘ und ‚Fremdheit‘ verstanden wird, da es sich hierbei um Begriffe handelt, die – ähnlich wie der Mythosbegriff – explikationsbedürftig sind. Eine Beobachtung, die in diesem Zusammenhang bedeutsam ist, betrifft die Existenz verschiedener Formen des Fremden. In Anlehnung an eine entsprechende Unterscheidung, die auf Bernhard Waldenfels zurückgeht, sollen dann auch verschiedene Formen der mythologischen Alterität unterschieden werden. Damit wird zum einen einem wissenschaftlich-systematischen Anspruch Rechnung getragen, zum anderen können auf diesem Wege verschiedene kulturelle Funktionen der Denkgewohnheit ‚Mythos‘ herausgearbeitet werden, die sich jeweils aus einer der drei Formen mythologischer Alterität ergeben. Der grundlegenden Form mythologischer Alterität widmet sich Kapitel 3.2, das anhand zahlreicher Beispiele dokumentiert, wie der Mythos als Zeugnis des kulturell Fremden bzw. einer fremden kulturellen Ordnung (Kapitel 3.2.1) wahrgenommen und gedeutet wird. Zum Zeugnis des kulturell Fremden gerät der Mythos z. B. dann, wenn man ihn als Artefakt einer lange zurückliegenden (und längst fremd gewordenen) Epoche der Menschheitsgeschichte (Kapitel 3.2.2) oder einer vormodernen Welt (Kapitel 3.2.3) betrachtet. Er wird aber auch dann zum Zeugnis einer fremden kulturellen Ordnung, wenn man ihn als Schlüssel zur Lebensweise und Weltsicht der Naturvölker bzw. ‚primitiver‘ Kulturen heranzieht (Kapitel 3.2.4) oder ihn als Ausdruck und Inbegriff einer fremden Denkweise analysiert, die sich grundsätzlich vom wissenschaftlich-rationalen (für moderne Zivilisationen gewissermaßen charakteristischen) Denken unterscheidet (Kapitel 3.2.5). In all diesen Fällen erkennt man im Mythos aber nicht bloß ein Produkt, sondern

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vielmehr ein Signum des kulturell Fremden, womit der Denkgewohnheit ‚Mythos‘ eine diskriminatorische Funktion zukommt (Kapitel 3.2.6): Der Mythos fungiert als Kriterium, das eine Unterscheidung der eigenen von einer fremden kulturellen Ordnung erlaubt, wobei diese Unterscheidung sowohl der Selbstbestätigung (bzw. der Bestätigung der eigenen Kultur) als auch der Selbstkritik (bzw. der Kritik der eigenen Kultur) dienen kann. Mythologische Alterität erschöpft sich nun aber nicht in kultureller Alterität: Denn im mythostheoretischen Diskurs wird – wie Kapitel 3.3 zeigt – neben dem kulturell Fremden häufig auch das radikal Fremde thematisch, womit Phänomene und Erfahrungen gemeint sind, die in jeder kulturellen Ordnung als fremd oder befremdlich wahrgenommen werden (Kapitel 3.3.1). Eine typische Erfahrung radikaler Fremdheit stellt z. B. der (Grenz-)Zustand des Rausches dar, um den Friedrich Nietzsches einflussreicher Beitrag zum mythostheoretischen Diskurs der Moderne kreist (Kapitel 3.3.2). Auch bei jenen dunklen Trieben und seelischen Gewalten, die im Zentrum der psychoanalytischen Mythoskonzeptionen Sigmund Freuds (Kapitel 3.3.3) und Carl Gustav Jungs (Kapitel 3.3.4) stehen, handelt es sich um Phänomene, die man als Erfahrungen radikaler Fremdheit charakterisieren kann. Weiterhin sticht in diesem Zusammenhang die Sünden­ bocktheorie René Girards ins Auge, der Mythen in einem ganz engen Sinne als Dokumente von verdrängten Lynchaktionen betrachtet, auf die sich – so der Vertreter der Myth and Ritual Theory – jede Gesellschaft gründet (Kapitel 3.3.5). Zu guter Letzt präsentiert sich auch Hans Blumenbergs Beitrag zur Mythostheorie als Beispiel für jene Form der mythologischen Alterität, bei der der Mythos als Zeugnis des radikal Fremden wahrgenommen und gedeutet wird. Denn Blumenbergs Theorie der niemals endenden Arbeit am Mythos führt eben diese Arbeit auf die radikale Fremdheitserfahrung des frühen Menschen zurück, der sich vom Absolutismus der Wirklichkeit bedroht und überwältigt sieht (Kapitel 3.3.6). Wo der mythostheoretische Diskurs nun – wie bei Nietzsche, Freud, Jung, Girard oder Blumenberg – um das radikal Fremde kreist, treten kulturelle Differenzen zwischen Eigenem und Fremdem in den Hintergrund. Stattdessen scheint die Denkgewohnheit ‚Mythos‘ in diesen Fällen eine transgressive (d. h. wörtlich: Grenzen überschreitende) Funktion zu erfüllen, da in der Beschäftigung mit dem Mythos als Zeugnis des radikal Fremden die Grenzen des Kulturellen (also jeder kulturellen Ordnung) ausgelotet und in Frage gestellt werden (Kapitel 3.3.7). Schließlich – und damit wäre man bei Kapitel 3.4 und der dritten Form mythologischer Alterität – spielt mythologische Alterität im mythostheoretischen Diskurs auch dort eine Rolle, wo zum einen auf die unbekannten Ursprünge des Mythos (bzw. einzelner Mythen) hingewiesen und zum anderen der ausgesprochene Rezeptionscharakter des Mythos hervorgehoben wird (Kapitel 3.4.1). Der Mythos rückt mit diesen Zuschreibungen nämlich als Fremdrepräsentation



1 Einführung: Der Mythos als Zeugnis des Fremden  

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(Kapitel 3.4.2) sowie als fremde Repräsentation (Kapitel 3.4.3) in den Fokus, wobei Letzteres gerade dann bedeutsam wird, wenn der Mythos als Ausdruck einer (in aller Regel) fremden Ideologie betrachtet wird (Kapitel 3.4.4). Diese Form der mythologischen Alterität begründet dann auch eine agonale Funktion der Denkgewohnheit ‚Mythos‘, die sich darin zeigt, dass der Mythosdiskurs immer wieder einen Rahmen für ideologische und weltanschauliche Auseinandersetzungen geboten hat (Kapitel 3.4.5). Die Erkenntnisse zu Formen und Funktionen mythologischer Alterität, die in der Analyse des mythostheoretischen Diskurses gewonnen werden, bilden im Folgenden den heuristischen Rahmen für den literaturwissenschaftlichen Teil der vorliegenden Studie. Dabei gehen die in Kapitel 4 versammelten Literaturanalysen von folgender – in Kapitel 4.1 formulierten – Leithypothese aus: Das literarische Interesse am Mythos gilt auch und nicht zuletzt dem Mythos als Zeugnis des Fremden, weshalb durch den Rückgriff auf mythologische Stoffe gerade Fremdes in den Texten thematisch und formal virulent wird. Um zu zeigen, dass die literarische Mythosrezeption nicht nur in einem bestimmten literaturgeschichtlichen Kontext oder in Einzelfällen im Zeichen der mythologischen Alterität steht, wird mit der Textauswahl ein zeitlicher Bogen vom 19. bis ins frühe 21. Jahrhundert geschlagen. Außerdem repräsentieren die ausgewählten Texte verschiedene Spielarten der Mythosrezeption. Den Auftakt bildet in Kapitel 4.2 eine Analyse von Walter Paters literarischer Beschäftigung mit dem griechischen Gott Dionysos, die sowohl eine bemerkenswerte mythographische als auch eine kulturgeschichtliche Dimension aufweist. Neben dem Essay „A Study of Dionysus“ (1876) wird dabei Paters imaginary portrait „Denys lʼAuxerrois“ (1886) zur Sprache kommen, in dem sich der antike Gott im mittelalterlichen Exil und somit der Mythos in einer (ihm feindlich gesinnten) nachmythischen Zeit wiederfindet. Im Anschluss – also in Kapitel 4.3 – richtet sich das Augenmerk auf Oscar Wildes Tragödie Salome (1893), in der die biblische Welt orientalisiert und die (Fremd-)Herrschaft des Begehrens zum Thema der Mythosrezeption – in diesem Fall der Rezeption eines biblischen Mythos – gemacht wird. Nicht in den Orient, sondern nach Dublin führt James Joyce seine Leser in Ulysses (1922). Der moderne Alltag, der im Roman minutiös geschildert wird, steht dabei allerdings – wie in Kapitel 4.4 gezeigt wird – in einem Spannungsverhältnis zu jener mythisch-archaischen Vergangenheit, von der das (durch den Romantitel aufgerufene) homerische Epos berichtet. Bleibt der Mythos bei Joyce ‚nur‘ Anspielungshorizont, so wird er in den Phädra-Dramen von Tony ­Harrison (Phaedra Britannica, 1975) und Sarah Kane (Phaedraʼs Love, 1996) – die in Kapitel 4.5 untersucht werden – explizit in die eigene Kultur bzw. in die eigene Lebenswirklichkeit übertragen. Mit dieser ‚Aneignung‘ rückt freilich vorrangig das

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Fremde und das Befremdliche des Eigenen in den Blick, wird nämlich ein barbarisches Britannien sichtbar. Abgerundet werden die Analysen zur literarischen Mythosrezeption in Kapitel 4.6 durch die Vorstellung von drei Prosatexten (Alexander McCall Smiths Dream Angus, Ali Smiths Girl Meets Boy sowie Salley Vickersʼ Where Three Roads Meet) aus dem frühen 21. Jahrhundert. Diese Texte greifen zwar unterschiedliche mythologische Stoffe auf, erzählen aber allesamt von der Präsenz des Mythos – als Thema oder in Gestalt einzelner mythologischer Figuren – in der Gegenwart. Diese mythologische Gegenwärtigkeit stellt sich bei genauerer Betrachtung als Gegenwart des Fremden dar – und so gerät (auch) in diesen Beispieltexten der Mythos zum ‚Stachel des Fremden, der sich in das eigene Fleisch bohrt‘ (vgl. ­Waldenfels 1991). Genau wie die mythostheoretischen werden auch die literaturwissenschaftlichen Ergebnisse am Ende – d. h. in Kapitel 5 – der vorliegenden Studie noch einmal zusammengefasst und eingeordnet. Zudem soll in der Schlussbetrachtung der Versuch unternommen werden, eine Erklärung für die erstaunlich langlebige und höchst produktive Konjunktur des Mythos in der neuzeitlichen Geistesund Kulturgeschichte zu formulieren – eine Erklärung, die auf der k ­ ulturellen ­Funktion des Mythos als Zeugnis des Fremden fußt und somit die Bedeutung mythologischer Alterität abschließend noch einmal unterstreicht.

2 Denkgewohnheit ‚Mythos‘: Vorüberlegungen zur Mythosforschung und Versuch einer Gegenstandsbestimmung 2.1 Forschung ohne Gegenstand? Der Mythosbegriff als Problem der Mythosforschung Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass eine griffige und zugleich allseits akzeptierte Gegenstandsbestimmung das größte ungelöste Problem der Mythosforschung darstellt. Dies gilt zumindest für eine Mythosforschung, deren Interesse nicht an engen disziplinären, theoretischen oder sachlichen Grenzen haltmacht und die Aussagen zum Mythos treffen möchte, die über konkrete Untersuchungsobjekte hinausgehen. Monika Schmitz-Emans bringt dieses Problem wie folgt auf den Punkt: „Über die Bedeutung des Begriffs ‚Mythos‘ besteht ebenso wenig Konsens wie darüber, ob ‚der Mythos‘ und ‚das Mythische‘ Synonyme sind, und über die noch grundlegendere Frage, ob es ‚den Mythos‘ überhaupt gebe“ (Schmitz-Emans 2004: 9). Angesichts dieses Befundes verbietet sich bei einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Mythos die Annahme, „man wisse a priori schon, was ein Mythos sei und könne deshalb auf konzeptuelle Klärungen und theoretisch-methodologische Erörterungen getrost verzichten“ (Heuermann 1988: 8). Da eine Gegenstandsbestimmung, Begriffsklärungen sowie Auskünfte zu theoretischen und methodischen Festlegungen sowieso zu einer guten Praxis wissenschaftlichen Arbeitens gehören, kann und soll auch die vorliegende Studie nicht ohne die geforderten Klärungen und Erörterungen ­auskommen. Angesicht der gerade umrissenen Ausgangslage kann man (zunächst) darauf verzichten, einzelne Mythostheorien oder Mythosbegriffe zu referieren.1 Vielmehr soll schlaglichtartig beleuchtet werden, weshalb der Mythos bzw. der Mythosbegriff wissenschaftlich eine Herausforderung darstellt und wieso – wie ­Christoph Jamme angemerkt hat – schon „der Versuch einer Einigung auf eine Minimaldefinition [des Mythos, d. Verf.] mit Risiken behaftet“ ist (Jamme 1999: 21). Denn nur auf der Grundlage einer solchen Bestandsaufnahme lassen sich produktive und wissenschaftlich tragfähige Strategien für den Umgang mit dem ‚Mythos‘ als Vokabel, als Begriff und schließlich auch als Gegenstand entwickeln. Die folgenden Ausführungen zielen dementsprechend

1 Für einen entsprechenden Überblick vgl. Brisson 1996 und Jamme 1991. https://doi.org/10.1515/9783110528213-002

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darauf, zumindest eine Möglichkeit aufzuzeigen, wie man den Mythos – aller Schwierigkeiten zum Trotz  – als Untersuchungsgegenstand begreifen kann, ohne die Bedeutungsvielfalt (und auch die Bedeutungsvagheit) des Begriffes einzuebnen oder auszublenden. Mit dieser (Neu-)Bestimmung des Gegenstandes eröffnet sich dann auch ein neues Erkenntnispotential der Mythosforschung, das über eng gefasste ­sachliche, theoretische oder disziplinäre Erkenntnisinteressen hinausweist. Eine erste Antwort auf die Frage, warum selbst Minimaldefinitionen des Mythos problematisch erscheinen, liefert Robert Segal, wenn er betont, dass Mythostheorien nie ausschließlich Theorien des Mythos seien: „Theories of myth are never theories of myth alone. Myth always falls under a larger rubric such as mind, culture, knowledge, religion, ritual, symbolism, and narrative. The rubric reflects the discipline from which the theory is derived.“ (Segal 1996: vii) Segal stellt im Hinblick auf den Mythos ein ausdifferenziertes Erkenntnisinteresse fest und bringt dies mit der Zuständigkeit verschiedener akademischer Disziplinen in Zusammenhang. Jede Disziplin fragt auf ihre Weise nach dem Mythos. Ähnlich sieht das Christoph Jamme, der auf die Existenz verschiedener disziplinärer Mythosbegriffe verweist und die daraus resultierende Heterogenität der Mythosforschung betont: Mythos ist heute […] Gegenstand ganz heterogener Denktraditionen; wir müssen mindestens einen anthropologisch-ethnologischen, einen religionswissenschaftlich-­theologischen, einen literar- bzw. diskurstheoretischen und einen psychologischen Mythenbegriff unterscheiden. Jeder dieser Begriffe hat eine Einzelgeschichte; eine Gesamtgeschichte des Mythos gibt es nicht. (Jamme 1999: 15)

Der Mythosbegriff wird offenkundig von verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen ‚umworben‘,2 und seine Bedeutungsvielfalt ist nicht zuletzt Ausdruck einer historischen Entwicklung im Wissenschaftsbetrieb. Denn bis in das 19. Jahrhundert hinein war der Mythos fest in den Händen der Altertumswissenschaft. Erst mit der Ausdifferenzierung der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften wurde der Mythos zum Gegenstand verschiedener Disziplinen: Altertumswissenschaftler wie Christian Gottlob Heyne (1729–1812) oder Georg Friedrich Creuzer (1771–1858) waren Klassische Philologen und Archäologen in einer Person; Mythologie zählte zu ihren zentralen Forschungsgebieten. Mit der etwa seit 1830 fortschreitenden Aufspaltung der klassischen Altertumswissenschaft in Altphilologie, Archäologie,

2 So formulieren es Wilfried Barner, Anke Detken und Jörg Wesche: „Zugleich ist ‚Mythos‘ seit den großen Mythenforschern der Romantik ein umworbener Begriff fast aller Geistes- und Kulturwissenschaften.“ (Barner/Detken/Wesche 2003: 8)

2.1 Forschung ohne Gegenstand? Der Mythosbegriff als Problem der Mythosforschung 

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­ lthistorie und Religionsgeschichte war Mythologie indessen „institutionell ortlos“ geworA den. (Barner/Detken/Wesche 2003: 11)

Wenn hier die institutionelle Ortlosigkeit des Mythos konstatiert wird, dann bedeutet dies vor allem, dass in der heutigen Mythosdiskussion keine akademische Disziplin die Deutungshoheit für sich beanspruchen kann. Die Entwicklung, die im 19. Jahrhundert beginnt, setzt sich bis in die unmittelbare Gegenwart fort.3 Wenn sich heute Archäologen, Alt- und Neuphilologen, Ethnologen, Theologen, Religionswissenschaftler, Philosophen, Soziologen und andere dem Mythos widmen, dann folgt daraus nicht einfach nur eine beachtliche Perspektivenvielfalt, sondern eine Vielfalt der Gegenstände bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Mythos. Einem Literaturwissenschaftler präsentiert sich der Mythos meist als literarisches Narrativ, während der Ethnologe beim Mythos eher an die mündlichen Kommentare im Kontext von Ritualen denkt und ein Sozialwissenschaftler ideologisch aufgeladene Bilder in den Massenmedien als moderne Mythen identifiziert. (Man möge diese vereinfachenden Zuschreibungen an dieser Stelle entschuldigen, denn selbstverständlich gibt es neben der disziplinären auch jeweils eine innerdisziplinäre Vielfalt der Zugänge zum Mythos.4) In diesem Sinne muss man festhalten, dass es sich beim Mythos nicht nur um einen Gegenstand verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, sondern um verschiedene Gegenstände im wissenschaftlichen Diskurs handelt. Hinzu kommt, dass die Vorstellungen, die man sich vom Mythos macht, auch historisch in einem erheblichen Maße variabel sind. So kann man z. B. feststellen, dass sich im Laufe des 19. Jahrhunderts eine neue Sicht der griechischen Mythologie etabliert hat: Wo Friedrich Schlegel im Jahr 1800 das „bunte Gewimmel der alten Götter“ und eine „schöne Verwirrung der Fantasie“ erkennt (Schlegel 1967: 319), finden Mythosforscher Jahrzehnte später – auf der Grundlage neuer archäologischer Funde und ethnologischer Forschungsergebnisse – Spuren primitiver Rituale und in manchen Fällen sogar von Menschenopfern. Gerade die Erforschung der Naturvölker durch die Ethnologie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert hat dem Mythosverständnis eine neue Richtung gegeben und den Gegenstand ‚Mythos‘ deutlich überformt (vgl. Jamme 1991: 91–92). Aber nicht nur wissenschaftliche, sondern auch politische Entwicklungen bzw. die allgemeine historische Entwicklung schlagen auf die Wahrnehmung 3 Um ein jüngeres Beispiel anzuführen, sei an dieser Stelle auf das Interesse der Medienwissenschaften am Mythos verwiesen: vgl. Hoffmann/Hülk/Roloff 2006. 4 Zumindest ein ungefährer Eindruck von der Vielfalt der – teils komplementären, teils konkurrierenden und bisweilen sich auch gegenseitig ausschließenden – Mythoskonzepte innerhalb einer einzelnen Fachdisziplin wird in den noch folgenden Ausführungen zur literaturwissenschaftlichen Mythosforschung vermittelt.

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 2 Denkgewohnheit ‚Mythos‘: Vorüberlegungen

und Interpretation des Mythos durch. Besonders gut zu beobachten ist dies Mitte des 20. Jahrhunderts, wenn unter dem Eindruck des NS-Regimes und des 2. Weltkriegs das Interesse am Mythos nicht nur auflebt, sondern auch eine direkte Reaktion auf die geschichtlichen Vorgänge (bzw. auf die historische Katastrophe) darstellt.5 Im Falle Ernst Cassirers zeigen sich entsprechende Veränderungen des Mythosverständnisses sogar im Werk eines einzelnen Mythostheoretikers. Cassirer hatte im Rahmen seiner Philosophie der symbolischen Formen in den 1920er Jahren eine relativ wertfreie Theorie des mythischen Denkens entwickelt (vgl. Cassirer 2002). Zwei Jahrzehnte später im erzwungenen Exil warnt er dagegen nachdrücklich vor der Gefährlichkeit des politischen Mythos (vgl. Cassirer 1949). Das Beispiel Cassirers führt vor Augen, dass Theorien, Konzepte und Definitionen des Mythos immer auch Produkte ihrer Zeit sind, weshalb die Wahrnehmung des Mythos – aber auch die Wahrnehmung, was ein Mythos überhaupt ist – einem historischen Wandel unterliegt. Zugleich illustriert Cassirers Beispiel noch eine weitere Erschwernis, die jedem Versuch einer Minimaldefinition des Mythos im Wege steht: die nicht selten normative Prägung des Mythosbegriffs. Diese normative Prägung lässt sich relativ leicht in der Alltagssprache nachvollziehen. So verwendet man den Ausdruck ‚Mythos‘ alltags- und umgangssprachlich einerseits dann, wenn man eine Erzählung oder Behauptung als zweifelhaft, unwahr oder ideologisiert diskreditieren möchte. Andererseits bezeichnet man Personen oder Ereignisse, denen man eine überlebensgroße Statur, eine außergewöhnliche Qualität oder eine beeindruckende Aura attestieren möchte, gleichzeitig bewundernd als Mythos. Auch in der Geschichte der Mythoskonzepte und -theorien wird der Mythosbegriff immer wieder (explizit oder implizit) normativ verwendet. So findet man (beispielsweise in der Romantik) die Vorstellung, der Mythos sei Ausdruck einer beneidenswerten Lebensfülle oder einer bewunderungswürdigen Naturverbundenheit. Konträr zu dieser positiven Einschätzung wird der Mythos aber auch negativ als Zeugnis einer primitiven Weltsicht oder einer defizitären Vernunft angesehen. Offenkundig ist die normative Prägung des Mythosbegriffs schließlich bei Roland Barthes und all jenen, die den Mythos kritisch als

5 Vgl. dazu folgende Beobachtung: „Gerade nach dem Zweiten Weltkrieg manifestiert sich ein erneutes und vielfältiges Interesse an Mythentheorien. Die Jahre der Naziherrschaft und des Exils, dann die frühe Nachkriegszeit haben die Diskussion um den Missbrauch der Mythen etwa bei Alfred Rosenberg (Der Mythus des XX. Jahrhunderts), und um ihre Verteidigung als ‚Erbe der Menschheit‘, vor allem aber auch um die politische Dimension der Mythen neu angestoßen.“ (Barner/Detken/Wesche 2003: 15) Die wahrscheinlich bekannteste ‚mythostheoretische Reaktion‘ auf die historischen Ereignisse jener Zeit haben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno mit ihrer Dialektik der Aufklärung vorgelegt (Horkheimer/Adorno 1947).

2.1 Forschung ohne Gegenstand? Der Mythosbegriff als Problem der Mythosforschung 

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Instrument der Ideologisierung betrachten. Und gerade im Falle Roland Barthes’ und der von ihm in den 1950er Jahren identifizierten Mythen des Alltags (Barthes 2003) ist leicht ersichtlich, dass mit der normativen Prägung des Mythosbegriffs nicht nur neue Aspekte des Mythos, sondern auch neue Gegenstände als Mythen in den Blick geraten.6 Als Zwischenfazit kann man an dieser Stelle festhalten, dass ein disziplinär aufgefächertes Erkenntnisinteresse, die Historizität von Mythoskonzeptionen und schließlich die normative Prägung des Mythosbegriffs scheinbar jedem Versuch im Wege stehen, eine allseits akzeptierte Minimaldefinition des Mythos zu finden oder auch nur einen gemeinsamen Gegenstand der Mythosforschung auszumachen. Vor diesem Hintergrund ist die Frage wohl legitim, inwiefern ‚Mythos‘ eine gewinnbringende und wissenschaftlich tragbare Analysevokabel sein kann. Außerdem ist die Frage berechtigt, ob es überhaupt eine Mythosforschung gibt (oder auch nur geben kann). Denn es drängt sich doch der Eindruck auf, häufig würden historisch, disziplinär und sachlich disparate Forschungsdiskussionen und -beiträge lediglich mit dem irreführenden, weil eine Einheit suggerierenden Etikett ‚Mythos‘ zusammengefasst.7 Welche Optionen bleiben also vor diesem Hintergrund für den wissenschaftlichen Umgang mit dem Mythosbegriff? Zumindest im wissenschaftlichen Diskurs verbietet es sich unter den skizzierten Umständen, den Mythosbegriff ohne nähere Erklärungen und Bestimmungen zu verwenden. Es mag zwar bisweilen verlockend sein, auf der Klaviatur der vielfältigen (und nicht selten miteinander inkompatiblen) Bedeutungen des Mythosbegriffs zu improvisieren und dessen unbestreitbare Suggestivkraft als Echokammer der eigenen Argumentation zu nutzen. Aber damit verstößt man offenkundig gegen die Gebote guter wissenschaftlicher Arbeit, nimmt Unschärfen in Kauf und provoziert zwangsläufig Missverständnisse. Auch der konsequente Verzicht auf den Mythosbegriff ist keine tragfähige Option. Dabei ist es aus Gründen wissenschaftlicher Klarheit sicherlich begrüßenswert, wenn man tendenziell etwas sparsamer mit vieldeutigen und inflationär gebrauchten Begriffen, zu denen auch der Mythosbegriff gehört, umgeht. Und lässt sich nicht gerade der Mythosbegriff häufig – ohne analytischen oder argumentativen Verlust – durch konkretere und unmissverständlichere Begriffe ersetzen?

6 Da hilft es übrigens wenig, wenn man behauptet, die ‚Mythen des Alltags‘ wären gar keine richtigen Mythen, denn Barthes’ Mythosverständnis hat sich kulturell und wissenschaftlich ­etabliert, ist also ein Faktum, das man nicht ohne Weiteres ignorieren kann. 7 Dementsprechend kann selbst ein intimer Kenner der Mythostheorie von Aristoteles bis Assmann auf die pauschale Frage, welche Mythostheorie denn empfehlenswert und besonders aufschlussreich sei, nicht seriös antworten, solange nicht klar ist, in welchem Zusammenhang sich die Mythostheorie als nützlich erweisen soll.

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 2 Denkgewohnheit ‚Mythos‘: Vorüberlegungen

Zugleich aber würde mit einem generellen Verzicht auf den Mythosbegriff ausgeblendet, dass sowohl die Gegenstände der Mythosdiskussion als auch die über 2000 Jahre alte Mythosdiskussion selbst eine unbestreitbare Realität darstellen. Man muss sich bloß vor Augen führen, welche Spuren verschiedene Theorien und Konzepte des Mythos auch außerhalb akademischer Elfenbeintürme hinterlassen haben. Schließlich würde man mit einem Verzicht auf den Mythosbegriff dann auch auf die Beantwortung naheliegender und legitimer Fragen verzichten: Woher rührt die beachtliche und weitreichende Popularität der Vokabel ‚Mythos‘ und welche sprachlichen und kulturellen Funktionen erfüllt diese? Wissenschaftlicher als der Verzicht auf eine Begriffsklärung und konstruktiver als der Verzicht auf den Begriff selbst erscheint – zumindest auf den ersten Blick – die explizite Selbstbeschränkung auf eine konkrete Bedeutung des Mythosbegriffs bzw. auf einen eng umrissenen Mythosbegriff. Dabei kann man sich z. B. auf die analytische Vorarbeit Aleida und Jan Assmanns stützen, die von folgender Überzeugung getragen ist: „Fruchtbarer als die Definition eines notwendigerweise immer zu engen Mythos-Begriffs erscheint die Unterscheidung mehrerer Mythos-Begriffe.“ (Assmann/Assmann 1998: 179) Dementsprechend wartet der betreffende Handbucheintrag nicht mit einer Minimaldefinition des Mythos auf, sondern unterscheidet sieben Mythosbegriffe. Die Verfasser orientieren sich dabei sowohl an fachdisziplinären Diskursen als auch am alltagssprachlichen Gebrauch des Mythos-Vokabulars. Auch wenn eine solche Unterscheidung der Frage nach dem gemeinsamen Gegenstand der Mythosforschung ausweicht,8 ist sie analytisch zweifelsohne hilfreich und bietet Orientierungspunkte im Dschungel der zahlreichen Bedeutungen des Mythosbegriffs. Lässt sich aber das eingangs umrissene Problem der Mythosforschung dadurch lösen, dass man sich jeweils auf einen – klar definierten – Mythosbegriff stützt, etwa als Literaturwissenschaftler auf einen literarischen Mythosbegriff?9 Eine solche Selbstbeschränkung mag wissenschaftlich geboten erscheinen, hat aber durchaus ihren Preis.

8 „Mit der Differenzierung solcher oder ähnlicher Mythenbegriffe werden Minimaldefinitionen zwar umgangen, jedoch bleibt auch bei diesem Verfahren die Frage nach dem eingrenzbaren Objektbereich von Mythentheorien als ungelöstes Problem bestehen.“ (Barner/Detken/Wesche 2003: 14) 9 Aleida und Jan Assmann identifizieren „literarische Mythen“ als einen Mythosbegriff: Dieser „bezieht sich insbesondere auf die europäische Mythentradition und deren Bedeutung für die abendländische Schriftkultur. Im Gegensatz zum gelebten Mythos […] will dieser ständig neu aktualisiert, d. h. umgedeutet und umgeschrieben werden“ (Assmann/Assmann 1998: 180).

2.1 Forschung ohne Gegenstand? Der Mythosbegriff als Problem der Mythosforschung 

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Das Problem besteht darin, dass sich einzelne Mythosbegriffe oder Bedeutungen des Mythosbegriffs zwar analytisch unterscheiden lassen, aber in der ‚Praxis‘  – also auf der Ebene der konkreten Untersuchungsobjekte bzw. der Objekte, die als ‚Mythos‘ bezeichnet werden – häufig ineinandergreifen und eng miteinander verwoben sind. Die Festlegung auf eine Definition, auf ein Konzept, einen Begriff oder eine Theorie des Mythos birgt dementsprechend die Gefahr des Reduktionismus. Einige Beispiele mögen dies veranschaulichen. So ist es durchaus naheliegend, sich beim Studium der literarischen Tradierung mythologischer Stoffe auf einen ‚literarischen‘ Mythosbegriff zu stützen. Wenn allerdings ein Schriftsteller einen mythologischen Stoff neu bearbeitet, ist es keineswegs ausgemacht, dass er diesen primär als eine jener traditionellen Geschichten betrachtet, „die sich dadurch auszeichnen, daß sie immer wieder neu erzählt werden können“ (Vöhler/Seidensticker/Emmerich 2005: 2). Vielleicht sieht er im mythologischen Stoff eher das Dokument einer poetischen Weltanschauung, das Relikt einer patriarchalischen Kultur, den Ausdruck einer spezifischen Lebenswirklichkeit etc. Kurzum: Die literarische Mythosrezeption kann an verschiedene Mythosbegriffe anknüpfen und gerade in der Literatur lassen sich  immer wieder Übergänge und Zusammenhänge zwischen verschiedenen Mythosbegriffen feststellen.10 Für die Literatur der klassischen Moderne hat sich beispielsweise das an­thro­ pologische Mythosverständnis (man denke an Frazers The Golden Bough) bzw. das ethnologische Studium der Naturvölker als besonders einflussreich erwiesen. Dabei ist freilich davon auszugehen, dass die (in der Regel europäischen oder nordamerikanischen) Ethnologen ihrerseits bei ihren Studien (zumindest anfäng­ lich) von einem Mythosverständnis ausgegangen sind, das sich nicht zuletzt aus den europäischen Mythentraditionen und deren literarisch-künstlerischer Tradierung speist. Das psychologische Mythosverständnis Sigmund Freuds (man denke an die Ödipus-Interpretation in der Traumdeutung), auf das in Literatur und Kunst immer wieder rekurriert wird, geht seinerseits nicht zuletzt auf die Interpretation eines literarischen Textes – die sophokleische Ödipus-Tragödie – zurück. Und wenn schließlich Roland Barthes seine ideologiekritischen Beobachtungen unter der Überschrift Mythen des Alltags zusammenfasst, dann evoziert er damit bewusst eine Vielzahl von Bedeutungen. (Immerhin hätte Barthes auch den wesentlich eindeutigeren Titel Ideologie im Alltag wählen können.) Die zeitgenössischen Phänomene, die er kritisch in den Blick nimmt, rückt er mit der Vokabel ‚Mythos‘ 10 In diesem Zusammenhang kommt zum Tragen, dass Literatur nicht nur als Spezialdiskurs, sondern auch als Meta- und Interdiskurs fungiert. Vgl. zur inter- und metadiskursiven Dimension der literarischen Mythosrezeption Mayer 2014.

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 2 Denkgewohnheit ‚Mythos‘: Vorüberlegungen

in das Licht eines ‚sozialen‘ oder sogar eines ‚religiösen‘ Mythosverständnisses und nutzt zugleich die Konnotationen des Archaischen, des Primitiven und des Vormodernen, um ‚Mythos‘ zu einer polemischen Vokabel aufzurüsten. Diese Beispiele illustrieren, dass sich dort, wo vom Mythos die Rede ist, häufig Diskurse, Wissensformen und Semantiken überschneiden: das Literarische und das Religiöse, das Ethnologische und das Psychologische, das Politische und das Historische etc. Würde man diese Überschneidungen in der Mythosforschung aufgrund methodischer Selbstbeschränkungen ausblenden, wäre das ein bedauerlicher Erkenntnisverzicht. Damit an dieser Stelle aber kein Missverständnis aufkommt: Der analytischdifferenzierende Blick und die Unterscheidung verschiedener Mythosbegriffe sind grundsätzlich lohnenswert und gewissermaßen unverzichtbar, denn sonst könnte man die gerade beispielhaft genannten Bedeutungszusammenhänge gar nicht identifizieren. Insofern geht es hier auch nicht um eine Kritik der Assmannschen Begriffsdifferenzierung, sondern um den Hinweis auf eine weitere methodische Herausforderung der Mythosforschung. Denn bei einer konsequenten begrifflichen Selbstbeschränkung (also der Beschränkung auf einen von verschiedenen eng gefassten Mythosbegriffen oder auch nur eine konkrete Mythostheorie) läuft man Gefahr, eine Spezifik dessen aus dem Blick zu verlieren, was man ‚Mythos‘ oder ‚mythisch‘ nennt – ganz gleich, ob man sich literarischen Texten, psychologischen Phänomenen, religiösen Ritualen oder politischer ­Bildsprache widmet. Vor diesem Hintergrund stoßen übrigens auch Sprachempfehlungen an ihre Grenzen, wie sie Peter Tepe bei seinen Bemühungen um den Aufbau einer literaturwissenschaftlichen Mythosforschung (Tepe 2001) formuliert hat. Dabei braucht man über die erste Sprachempfehlung Tepes vermutlich nicht zu diskutieren, da sie gewissermaßen ‚nur‘ (aber mit gutem Grund) die Einhaltung wissenschaftlicher Standards anmahnt: „Verwende den Ausdruck ‚Mythos‘ nie ungeklärt! Lege stets explizit fest, welche der vielen möglichen Bedeutungen gemeint ist!“ (Tepe 2001: 69) Diskussionsbedarf kann man dagegen bezüglich der zweiten Sprachempfehlung Tepes anmelden: „Ersetze, wo dies möglich ist, den Ausdruck ‚Mythos‘ durch einen anderen, der genauer und weniger vieldeutig ist!“ (Tepe 2001: 71) Wie bereits ausgeführt, ist es mit Sicherheit ratsam, den Ausdruck ‚Mythos‘ aufgrund seiner Vieldeutigkeit mit Vorsicht zu verwenden und gegebenenfalls – wenn dies ohne inhaltliche und argumentative Verluste möglich ist – durch eindeutigere Alternativen zu ersetzen. Allerdings sollte das Bemühen um sprachliche Klarheit nicht zu einem gedanklichen Reduktionismus führen. Diese Gefahr lässt sich bei einem Beispiel Tepes zumindest erahnen: „Die Aussage ‚Chiles Rechte glaubt nicht länger an die Unantastbarkeit Pinochets‘ ist in kognitiver Hinsicht klarer

2.1 Forschung ohne Gegenstand? Der Mythosbegriff als Problem der Mythosforschung 

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und gehaltvoller als ‚Der Mythos Pinochet ist bei Chiles Rechten angekratzt‘. Man weiß dann besser, was eigentlich gemeint ist, und man kann sich mit der jeweiligen These viel besser auseinandersetzen.“ (Tepe 2001: 70) Die vorgeschlagene Ersatzformulierung ist zweifelsohne klarer und vielleicht allein schon deshalb zumindest in einem wissenschaftlichen Kontext vorzuziehen. (Allerdings ist sie auch nicht so klar, dass Missverständnisse ausgeschlossen sind. Bezieht sich die Aussage auf die historische Bewertung Pinochets, auf dessen Bedeutung für das politische Alltagsgeschäft oder auf die juristische Frage der Immunität?) Gehaltvoller ist die Ersatzformulierung aber nun mit Sicherheit nicht. Denn mit der Vokabel ‚Mythos‘ wird offenkundig auf den Heldenstatus und die quasi-religiöse Bedeutung Pinochets sowie auf dessen ‚fundierende‘ und integrative Funktion für die chilenische Rechte hingewiesen, die ihm bisher eine irrationale Heiligenverehrung hat zuteilwerden lassen etc. So wird mit dem Ausdruck ‚Mythos‘ ein weites semantisches Feld aktiviert (was man durchaus als unwissenschaftlich, weil nicht explizit und eindeutig genug, empfinden mag), das mythostheoretisch ‚abgesichert‘ ist. Denn die evozierten Bedeutungen des Mythosbegriffs sind Bedeutungen, die (auch) in ‚traditionellen‘ Mythostheorien geprägt wurden. Wenn man also die Vokabel ‚Mythos‘ in diesem Zusammenhang ersetzt, erhält man zwar eine eindeutigere Aussage und beugt Missverständnissen vor, büßt aber auch an Aussagekraft ein. Schließlich bleibt noch die dritte Sprachempfehlung Tepes, der nicht weniger als 68 Bedeutungen des Mythosbegriffs identifiziert hat: „Verwende die MythosTerminologie nur in ganz wenigen Fällen, und zwar ausschließlich dort, wo es sich um ‚traditionelle‘ Bedeutungen handelt.“ (Tepe 2001: 71) Für Tepe umfassen die traditionellen Bedeutungen zum einen Erzählungen „von Göttern, Heroen und anderen Gestalten und Geschehnissen aus vorgeschichtlicher Zeit“, zum anderen „Mythisches Denken“ und „mythische Weltauffassung“ (Tepe 2001: 71). Nach den bisherigen Ausführungen muss man freilich feststellen, dass sich das Problem einer Gegenstandsbestimmung (oder einer Minimaldefinition) für die Mythosforschung auch dann ergibt, wenn man lediglich die traditionellen Bedeutungen des Mythosbegriffs in den Blick nimmt. Sowohl Ethnologen als auch Literaturwissenschaftler beschäftigen sich mit Göttererzählungen, aber sie widmen sich deshalb noch nicht automatisch demselben Gegenstand und schon gar nicht denselben Untersuchungsobjekten – von der historischen und normativen Heterogenität der traditionellen Bedeutungen des Mythosbegriffs ganz zu schweigen. Ketzerisch könnte man zudem fragen, warum nicht auch bei diesen traditionellen Bedeutungen die zweite Sprachempfehlung greift, denn ‚Götter­ erzählung‘ ist vermutlich eindeutiger als ‚Mythos‘. Sprachempfehlungen – so kann man an dieser Stelle festhalten – mögen insofern hilfreich sein, als sie das Problembewusstsein bezüglich der Vieldeutigkeit des Mythosbegriffs schärfen

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 2 Denkgewohnheit ‚Mythos‘: Vorüberlegungen

und eine Lanze für die wissenschaftliche Tugend der Klarheit brechen. Das auf den letzten Seiten umrissene Problem der Mythosforschung löst sich allerdings nicht dadurch auf, dass man die Vokabel ‚Mythos‘ seltener oder in einer (jeweils) eng begrenzten Bedeutung benutzt. Man kann den ‚Mythos‘ als Gegenstand der Mythosforschung – wie ausführlich begründet wurde – nicht auf ein konkretes Objekt, auf einen Begriff oder eine Definition reduzieren. Aber gibt es nicht bei all den in Frage kommenden Objekten, Begriffen und Definitionen – trotz ihrer Heterogenität – auch Zu­ sammenhänge, Verbindungslinien, Kohärenzen und Kontinuitäten? Vielleicht sollte eine Mythosforschung, die das eingangs geschilderte Problem ernst nimmt (und dementsprechend auch nicht zu umgehen versucht), gerade in diesen ­Zu­­sammenhängen, Verbindungslinien, Kohärenzen und Kontinuitäten ihren Gegen­ stand finden.

2.2 Denkgewohnheiten, mythologische ­Differenzen und Mythoskonzeptionen: Versuch einer Gegenstandsbestimmung Wer trotz der im vorangehenden Kapitel skizzierten Probleme und Herausforderungen daran festhält, ‚den Mythos‘ als Gegenstand der Mythosforschung zu bestimmen, wer also auf Gemeinsamkeiten des Heterogenen oder auf eine Einheit in der Vielfalt der Mythosbegriffe setzt, muss die Perspektive wechseln. Eine entsprechende Anregung findet man bei Gerhart von Graevenitz und seiner 1987 erschienenen Studie Mythos: Zur Geschichte einer Denkgewohnheit (Graevenitz 1987). In einer emphatischen Distanzierung von anderen Mythostheorien plädiert von Graevenitz dafür, den Mythos zuallererst als das „Produkt von europäischen Wahrnehmungs- und Denktraditionen“ zu betrachten (Graevenitz 1987: VIII). Statt auf die „ontologischen und transzendentalen Realitäten des Mythos zu pochen“, sei es an der Zeit, das Augenmerk auf die „Mythos-­Auffassungen“ und deren „Argumentations- und Darstellungsmuster“ (Graevenitz 1987: X) – oder kürzer: auf den Mythos als Denkgewohnheit – zu richten. Ausgangspunkt ist für von Graevenitz die Überzeugung, man müsse die „Besitzstandsicherheit“ der Mythostheorien bzw. den Glauben „an die sich selbst verbürgende Realität des Mythos“ ins Wanken bringen. Zu diesem Zweck stellt von Graevenitz eine provokante These zur Diskussion: […] nicht als ‚Wesens‘- oder ‚Existenz-Aussage‘, sondern als heuristisch motivierte Reduktion ist die These dieses Buch aufzufassen, daß das, was wir für „Mythos“ halten, eine große kulturgeschichtliche Fiktion ist. Der zu fest gefügte Glauben an die sich selbst verbürgende Realität des Mythos, an die Substanzkraft seiner Überlieferungen und an das



2.2 Versuch einer Gegenstandsbestimmung 

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A priori eines mythischen Bewußtseins, solche Besitzstandsicherheit verlangt danach, daß wieder einmal die Blickrichtung gewechselt und gefragt wird, wodurch unsere Auffassungen von dieser Realität „Mythos“ geformt worden sind im Verlaufe der europäischen Kulturgeschichte. […] [O]b es mythische Überlieferungen, mythisches Bewußtsein gibt, steht gar nicht zur Debatte, sondern allein die Geschichte unseres Blicks auf diese ‚Tatsachen‘, dieses ‚Bewußtsein‘. (Graevenitz 1987: IX)

Man sei sich der Existenz und Bedeutung des Mythos zu sicher, man glaube sich irrtümlich auf festem und verbürgtem Grund, wenn man vom Mythos spricht. Die Kritik richtet sich demnach gegen die Vorstellung, man habe es beim Mythos mit einem Naturereignis zu tun, über dessen Deutung man zwar streiten mag, dessen Realität aber über jeden Zweifel erhaben scheint.11 Angesichts der disziplinären, historischen und normativen Bedeutungsvielfalt des Mythosbegriffs ist eine solche Vorstellung in der Tat ausgesprochen optimistisch. Allerdings beschränkt sich von Graevenitz nicht auf eine Kritik an der Mythostheorie, sondern weist – statt der Realität des Mythos – die Realität von Mythosauffassungen (bzw. „die Geschichte unseres Blicks“ auf den Mythos) als lohnenswerten Gegenstand der Mythosforschung aus. Nicht im ‚Mythos an sich‘, wohl aber in der abendländischen Denkgewohnheit ‚Mythos‘ findet die Mythosforschung einen greifbaren Gegenstand. Neben dem polemischen Potential ist das rationale Kalkül hinter dieser Gegenstandsneubestimmung evident: Man kann darüber streiten, ob es eine Realität des Mythos (im Singular und im Allgemeinen) gibt und wie sich diese Realität darstellt. Dass Mythosauffassun­ gen eine Realität sind, steht dagegen außer Frage. Sie offenbaren sich in konkreten Objekten und Phänomenen – explizit in Theorien und Definitionen des Mythos sowie in einschlägigen Lexikoneinträgen, implizit z. B. im literarischkünstlerischen Rückgriff auf mythologische Stoffe oder in der Verwendung des Ausdrucks ‚Mythos‘ in der Alltagssprache. Insofern zielt von Graevenitz’ Vorschlag nicht darauf ab, die Mythosforschung auf eine Metaebene zu hieven, sondern sie vielmehr in der beobachtbaren (oder besser: ‚belauschbaren‘) Rede vom Mythos zu erden.12

11 In seiner breit angelegten Sammlung mythostheoretischer Texte aus verschiedenen Fachdisziplinen nimmt Segal, bei den hier vorgestellten Überlegungen nicht überraschend, folgende Einschränkung vor: „Writings that merely describe or categorize myths fail to qualify as theories [of myth, d. Verf.], as do writings that are skeptical of any universal claims about myths.“ (Segal 1996: viii) Gerade die Vorstellung von der universellen Gegebenheit des Mythos scheint in der Mythosdiskussion sehr präsent zu sein. 12 Ein prominentes Beispiel für die wirkmächtige Realität von Mythosauffassungen ist die Ödipus-Deutung Sigmund Freuds. Denn selbst Kritiker der Psychoanalyse dürften sich schwer damit tun, an die mythologische Figur des Ödipus zu denken, ohne zumindest einen flüchtigen Gedanken an die Freudsche Interpretation zu verschwenden.

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 2 Denkgewohnheit ‚Mythos‘: Vorüberlegungen

Vom Mythos zum Mythosdiskurs: So könnte man den gerade umrissenen Perspektivwechsel auch auf den Punkt bringen, und von Graevenitz selbst weist darauf hin, dass sich sein Ansatz „leicht mit der Autorität Michel Foucaults ausstatten“ ließe (Graevenitz 1987: XX). Dementsprechend ist das Augenmerk darauf zu richten, wie Vorstellungen vom Mythos diskursiv ‚gebildet‘ oder ‚gemacht‘ werden und welchen Regeln die Rede vom Mythos folgt. Zugleich rücken damit auch die Bedürfnisse, die dem Interesse am Mythos zugrunde liegen, sowie die Ansprüche, die in der Rede vom Mythos artikuliert werden, in den Blick. Dabei ist ein Diskurs freilich nicht mit einer in sich widerspruchsfreien Theorie zu verwechseln, weshalb auch der Mythosdiskurs sich nicht nur durch bestimmte Regelmäßigkeiten, Kontinuitäten und Kohärenzen, sondern ebenso durch Brüche und Differenzen auszeichnet.13 Es überrascht nicht, dass der durch von Graevenitz vollzogene Perspektivwechsel auch kritische Nachfragen und Einwände herausfordert. Man mag sich z. B. darüber streiten, ob von Graevenitz mit einigen seiner – „vom Standpunkt postmoderner Skepsis“ (Gottwald 2007: 39) formulierten – Thesen bzw. in seinen Analysen und Schlussfolgerungen „zu weit“ geht (Gottwald 2007: 40). Aber eine berechtigte Skepsis gegenüber der postmodernen Skepsis sollte nicht den Blick auf das heuristische Potential des vorgeschlagenen Perspektivwechsels verstellen. Sicherlich erscheint z. B. die Aussage (zu?) radikal, „daß das, was wir für ‚Mythos‘ halten, eine große kulturgeschichtliche Fiktion ist“ (Graevenitz 1987: IX). Allerdings relativiert sich die Radikalität dieser Aussage dadurch, dass von Graevenitz sie gerade „nicht als ‚Wesens‘- oder ‚Existenz-Aussage‘, sondern als heuristisch motivierte Reduktion“ (Graevenitz 1987: IX) und somit gewissermaßen als Arbeitshypothese deklariert. Daher ist es auch unerheblich, dass z. B. Ernst Cassirer – wie Herwig Gottwald insistiert – den Mythos weder als kulturgeschichtliche Fiktion noch als reine Denkgewohnheit betrachtet hat (vgl. Gottwald 2007: 40). Die Frage wäre vielmehr, inwiefern Cassirer an der kulturgeschichtlichen Fiktion ‚mitgeschrieben‘ hat oder – in neutralerer Terminologie – welche „Mythos-Auffassungen“ (Graevenitz 1987: X) er mit seiner Rekonstruktion eines mythischen Denkens (re-)produziert und welcher „Argumentations- und

13 In diesem Sinne weist von Graevenitz darauf hin, dass man die Geschichte des Mythosdiskurses nicht auf eine Teleologie reduzieren kann: „Die hier geplante ‚Geschichte des Mythos‘ wird sich von beiden Schemata der einsinnigen Teleologie freizumachen versuchen, dem der Homogenität und dem der Totalität einer geschichtlichen Entwicklung, und zwar nicht aufgrund systematischer Vorentscheidungen, sondern weil die in die ‚Tiefe‘ und in die ‚Breite‘ geöffneten Überlieferungen des Mythos sich nur dann in ein erzählbares Bild fügen konnten, wenn der Zwang zur Ausrichtung auf ein Ideal von ‚Neuzeit‘ ebenso wie der Zwang zur Homologie, zum Echo- und Widerspiegelungsverhältnis der Teilgeschichten aufhörte.“ (Graevenitz 1987: XVI)



2.2 Versuch einer Gegenstandsbestimmung 

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Darstellungsmuster“ (Graevenitz 1987: X) aus dem Arsenal des Mythosdiskurses er sich dabei bedient hat. Im Folgenden soll dann auch gar nicht der Fiktionsvergleich im Vordergrund stehen, sondern die heuristische These, der Mythos sei auch und vor allem eine abendländische Denkgewohnheit, deren Vielfältigkeit, Produktivität und Wirkmächtigkeit sie als Untersuchungsgegenstand einer neu positionierten Mythosforschung prädestiniert. Im Mythos das Produkt eines vielstimmigen Mythosdiskurses zu erkennen, eröffnet nicht zuletzt die Möglichkeit, die unterschiedlichsten Beiträge einer unübersichtlichen Mythosdiskussion in ein (freilich weit gefasstes) Gesamtkonzept zu integrieren und im Zusammenhang darzustellen. Wie anschaulich eine solche Darstellung sein kann, demonstriert Andrew Von Hendy in The Modern Construction of Myth (Von Hendy 2002). Auch Von Hendy nimmt, ohne direkte Bezugnahme auf von Graevenitz, die diskursive Formierung des Mythos – oder eben in seinen eigenen Worten the construction of myth – in den Blick. Aus seinem integrativen Anspruch macht Von Hendy dabei keinen Hehl: „The essay that follows is an attempt to write a critical and interdisciplinary history of the concept of ‚myth‘ since its invention, or, perhaps more properly, reinvention, in the eighteenth century.“ (Von Hendy 2002: xi) Von Hendy schickt sich an, eine Gesamtgeschichte der modernen Mythosauffassungen zu schreiben, deren Ursprünge er in der deutschen und englischen Romantik verortet (vgl. Von Hendy 2002: xi–xii).14 Er weist darauf hin, dass der Ausdruck ‚Mythos‘ (bzw. der englische Ausdruck ‚myth‘) erst im ausgehenden 18. Jahrhundert zur Bezeichnung mythologischer Erzählungen gebräuchlich wurde und den Ausdruck ‚Fabel‘ im Sprachgebrauch ersetzte. Dabei handele es sich freilich nicht nur um eine rein sprachliche Entwicklung: […] new “myth” is not a mere synonym for old “fable”. It displaces the older term for at least three basic reasons, the first two of which are complementary, the opposite sides of a coin. On one side, the seriousness of allegorized “fable” becomes increasingly discredited in the course of the late seventeenth and early eighteenth centuries, while, on the other side, the seriousness of unmediated, unallegorized “fable,” that is, archaic and even “savage” story taken on its own terms, becomes increasingly recognized and accepted. “Myth” triumphs both negatively as an honorable name for the kind of story now discredited as “fable” and positively as a term that connotes the dignity of traditions of story previously regarded as below the threshold of canonical notice. If these first two reasons can be said to be literary, the third is religious. […] The word “myth” comes into use perhaps above all to connote a religious dimension to story, a dimension allegorized “fable” had forfeited and to which unallegorized “fable” had never aspired. (Von Hendy 2002: 2–3)

14 Diese Verortung schließt selbstverständlich nicht aus, dass der moderne Mythosdiskurs an ältere Diskurse anknüpft bzw. historische Vorläufer hat.

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 2 Denkgewohnheit ‚Mythos‘: Vorüberlegungen

Die begriffliche Verschiebung von der ‚Fabel‘ zum ‚Mythos‘ reflektiert eine radikale Neubeurteilung der so bezeichneten Stoffe oder Phänomene, da man diesen nun eine (quasi-)religiöse Bedeutung zuspricht. Es ist diese Neubeurteilung (oder eben ‚Neuerfindung‘ des Mythos), die letztendlich das moderne Mythosverständnis begründet: The concept of “myth” that emerges by the end of the subsequent fifty-year process generally known as the romantic movement is so radical a departure from the two-thousand-year tradition of Neoplatonizing allegory, and so plainly a major move in the self-­legitimation of modernity, that it seems appropriate to speak of the modern construction of myth as a fresh invention. (Von Hendy 2002: 3)

Nachdem Von Hendy die Ursprünge des modernen Mythosdiskurses in der Romantik lokalisiert hat, widmet er sich der Entwicklung dieses Diskurses. Er macht vier Hauptströmungen aus, die sich zwar in wesentlichen Punkten unterscheiden, allerdings stets auf ihre romantischen Ursprünge zurückverweisen und in diesem Sinne verbunden bleiben. Um Letzteres zu unterstreichen, wählt er im Titel seines Buches bewusst den Einheitlichkeit suggerierenden Singular construction: I speak of “construction” in the singular rather than employing the plural “constructions.” I do so because this expresses my ambition to show that the broadest distinguishable significations of “myth,” the types of theories that I call the ideological, the folkloristic, and the constitutive, all stem from and stand in relation to a fourth, a romantic or transcendental original. (Von Hendy 2002: xi)15

Andrew Von Hendy betont nachdrücklich, dass es zwischen verschiedenen Bedeutungen des Mythosbegriffs (significations of „myth“) einen historischen Zusammenhang gibt. Er argumentiert in dieser Hinsicht wesentlich forscher als Gerhart von Graevenitz, der gerade in seinem Vorwort die Heterogenität der Denkgewohnheit ‚Mythos‘ anmahnt. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass Von Hendy die Modernität der Denkgewohnheit ‚Mythos‘ betont, während von Graevenitz historische Entwicklungslinien der longue durée skizziert und z. B. auf der Bedeutung der Patristik für das moderne Mythosverständnis insistiert.

15 Es soll auf diese vier, nach wie vor lebendigen, Strömungen hier nicht näher eingegangen werden. Zur kurzen Charakterisierung daher nur so viel: „The romantic mode assumes the capacity for transcendental mythopoeia to be a permanent possession of humanity. The ideological agrees about the permanent possession but adopts a negative stance of suspicion toward its products. The constitutive […] accepts this mythopoeia, true or false, as a constant of consciousness. Only the folkloristic mode can be understood to imply that myth is solely or nearly always a thing of remote times or exotic cultures.“ (Von Hendy 2002: 303)



2.2 Versuch einer Gegenstandsbestimmung 

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Aber trotz dieser Differenzen sind die grundlegenden Gemeinsamkeiten beider Zugänge zum Mythos das wirklich Bemerkenswerte: Denn sowohl Gerhart von Graevenitz als auch Andrew Von Hendy begreifen den Mythos als Produkt eines Mythosdiskurses bzw. als Denkgewohnheit (auch wenn Von Hendy diesen Ausdruck nicht benutzt) und betrachten dementsprechend Mythosauffassungen als den legitimen Gegenstand ihrer Mythosforschung. An diese ‚neue‘ Perspektive der Mythosforschung und an die entsprechende Gegenstandsbestimmung wird in der vorliegenden Studie anzuknüpfen sein. Freilich mit einem Unterschied: Sowohl von Graevenitz als auch Von Hendy wählen eine dezidiert historische Perspektive, um wie von Graevenitz verschiedene Mythosüberlieferungen zu unterscheiden oder wie Von Hendy die historische Entwicklung des modernen Mythosverständnisses in seinen unterschiedlichen Strömungen zu rekonstruieren. In der vorliegenden Studie soll dagegen ein systematischer Aspekt der Denkgewohnheit ‚Mythos‘ in den Vordergrund rücken. Damit wird die historische Variabilität von Mythosauffassungen keineswegs in Frage gestellt. Wenn man allerdings von einem Mythosdiskurs und von einer Denkgewohnheit ‚Mythos‘ ausgeht, liegt es nahe, auch den Konstanten, Kontinuitäten und einer längerfristigen diskursiven Kohärenz nachzuspüren, die einen Diskurs erst von einer kurzlebigen Diskussion unterscheiden. Doch wie findet man einen ‚Zugang‘ zu entsprechenden Konstanten im Mythosdiskurs? Als hilfreich erweist sich in diesem Zusammenhang eine Heuristik der mythologischen Differenz, wie sie 2009 in einem interdisziplinären Sammelband vorgestellt wurde (Matuschek/Jamme 2009). Es handelt sich dabei nicht um eine neue Theorie des Mythos, sondern um einen Vorschlag zur „Suche nach Orientierungspunkten in dem unübersichtlichen Feld von Sach-, Bedeutungsund Theoriezusammenhängen, die mit dem Ausdruck Mythos verknüpft sind“ (Gebert et al. 2009: 9). Bei der entsprechenden Suche kann man sich nämlich auf die Beobachtung stützen, „dass Mythos häufig im Spannungsfeld spezifischer Oppositionen thematisch wird, von denen der Gegensatz Mythos/Logos nur die prominenteste ist“ (Gebert et al. 2009: 9). Mythosauffassungen – so die heuristische These – kreisen häufig um spezifische Differenzen wie Mythos/Logos, Irrationalität/Rationalität, Narration/Ritual, Oralität/Schrift, Polytheismus/Monotheismus, Präsenz/Repräsentation etc. Da diese Differenzen den Mythosdiskurs strukturieren und eine geradezu konstitutive Bedeutung für die Denkgewohnheit ‚Mythos‘ haben, kann man sie auch als mythologische Differenzen bezeichnen.16 Bezogen auf Mythostheorien lassen sie sich dann wie folgt definieren: 16 Als Anwendungs- und Anschauungsbeispiel für eine Mythosforschung, die sich an der Heuristik der mythologischen Differenz orientiert, kann auf einen 2014 erschienenen Tagungsband verwiesen werden, der sich der mythologischen Differenz von Präsenz und Repräsentation

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 2 Denkgewohnheit ‚Mythos‘: Vorüberlegungen

In der Beschreibung einer Theorie meint mythologische Differenz diejenige Grundentscheidung, die ein Mythosdiskurs trifft, wenn Mythos einem Begriff gegenübergestellt bzw. im Spannungsfeld von zwei Begriffen verortet wird. Die mythologische Differenz ist also in einem ersten Sinn die vorliegende oder konstruierte Leitdifferenz eines Mythosdiskurses, die für diesen konstitutiv ist. (Gebert et al. 2009: 10)

In Anlehnung an diese Definition soll in der vorliegenden Studie demonstriert werden, dass eine (oft unterschwellige) Leitdifferenz des Mythosdiskurses die Differenz von Eigenem und Fremdem ist. Denn wo vom Mythos die Rede ist, kommt mit erstaunlicher Regelmäßigkeit das Fremde zur Sprache. Es scheint geradezu eine Konstante der Denkgewohnheit ‚Mythos‘ (und somit auch eine Gemeinsamkeit der unterschiedlichsten Mythosauffassungen) zu sein, dass man im Mythos ein Zeugnis des Fremden erkennt. Um jedoch späteren Ausführungen nicht vorzugreifen, bleibt an dieser Stelle zunächst einmal festzuhalten, dass die vorliegende Studie einen Beitrag zur Mythosforschung leisten will, indem sie den Mythos als abendländische Denkgewohnheit zu ihrem Untersuchungsgegenstand erklärt. Den Mythos als Denkgewohnheit zu untersuchen, bedeutet zum einen, sich dem Denken über den Mythos zu widmen, also die Wahrnehmung, Beschreibung, Deutung und Funktionalisierung des Mythos auszuleuchten. Zum anderen ist den Gewohnheiten nachzugehen, die das Denken über den Mythos prägen, also wiederkehrenden Argumentations- und Darstellungsmustern bzw. den Regelmäßigkeiten im Mythosdiskurs. Kurzum: Der Fokus richtet sich auf Konzeptionen des Mythos und das Ziel ist die Identifizierung einer grundlegenden Gemeinsamkeit (oder Ähnlichkeit) verschiedener Konzeptionen. Es ist an dieser Stelle ganz bewusst von Konzeptionen (und nicht etwa von Konzepten oder Theorien) die Rede. Denn bei Konzeptionen handelt es sich um Anschauungen, Auffassungen, Vorstellungen, Leitideen oder geistige Entwürfe, die nicht notwendigerweise ausformuliert oder auch nur logisch stringent zu Ende gedacht sein müssen. Selbstverständlich können Konzeptionen auch in fixierte Konzepte münden, sich in Theorien und Definitionen niederschlagen, aber ihre Wirkung entfalten sie bereits in einer ‚fließenden‘ oder vagen Form. Wenn in einem literarischen Text ein alter mythologischer Stoff neu bearbeitet wird, kann man davon ausgehen, dass dieser Neubearbeitung eine Mythoskonzeption widmet. In der Kurzankündigung wird die Ausrichtung des Bandes wie folgt umrissen: „Konzeptionen des Mythos stehen oft im Zeichen der Präsenz und zielen auf Unmittelbarkeit und Überwältigung. Zugleich verweisen sie aber auch auf den Repräsentationscharakter des Mythos und betonen Aspekte der Vermittlung und Reflexion. Dieses Spannungsverhältnis – zwischen Präsenz und Repräsentation – bildet das Grundmotiv einer Theorie- und Literaturgeschichte des Mythos, die von der Antike bis in die Gegenwart reicht.“ (Gebert/Mayer 2014a)



2.3 Fragestellungen für die literaturwissenschaftliche Mythosforschung 

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zugrunde liegt – egal ob der Autor mythostheoretisch fundierte oder nur vage und vielleicht sogar widersprüchliche Vorstellungen vom Mythos hat. (Nur dass er keinerlei Vorstellungen vom Mythos hat, die direkt oder indirekt seine Arbeit prägen, ist mehr als unwahrscheinlich.) Man könnte dementsprechend sagen, dass mit der Denkgewohnheit ‚Mythos‘ als Gegenstand sowohl die Theorie als auch die (konzeptionelle) ‚Praxis‘ des Mythos (in Literatur und Kunst, Politik und Wissenschaft etc.) zu untersuchen ist. Im Folgenden wird konkret zu zeigen sein, inwiefern sich Konzeptionen des Mythos maßgeblich über die mythologische Differenz von Eigenem und Fremdem konstituieren bzw. inwiefern es eine weitverbreitete (und zugleich vielgestaltige) ‚Gewohnheit‘ ist, den Mythos als Zeugnis des Fremden zu ‚denken‘. Diese Beobachtungen werden in der vorliegenden Studie im Begriff der mythologischen Alterität zusammengefasst, der dementsprechend eine Konstante des Mythosdiskurses bezeichnet. Doch zuvor bleibt – zumindest aus literaturwissenschaftlicher Perspektive – noch zu klären, wie das Verhältnis zwischen der Denkgewohnheit ‚Mythos‘ und der Literatur bestimmt werden kann und welcher Auftrag sich aus diesem Verhältnis für eine literaturwissenschaftliche Mythosforschung ergibt. Da die Vorstellungen, die man sich vom Mythos macht oder gemacht hat, seit der griechischen Antike maßgeblich durch die Literatur geprägt werden, dürften die folgenden Überlegungen nicht nur für Literaturwissenschaftler von Interesse sein.

2.3 Die Produktivität der Mythosrezeption: Fragestellungen für die literaturwissenschaftliche Mythosforschung Zu den akademischen Disziplinen, die sich dem Mythos widmen, gehört auch die Literaturwissenschaft. Das vielleicht früheste Zeugnis dafür ist ein historischer Grundlagentext aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert (und damit zugegebenermaßen aus vor-literaturwissenschaftlicher Zeit): die Poetik des Aristoteles (vgl. Aristoteles 1994).17 Außerdem sollte eine Zuständigkeit der Literaturwissenschaft für den Mythos schon aus etymologischen Gründen nicht überraschen: ‚Mythos‘ bedeutete im Altgriechischen zwar zunächst lediglich ‚Wort‘ (als gesprochene Rede), doch schon seit Pindar steht der Ausdruck auch für eine ‚unwahre Geschichte‘ (vgl. Jamme 1999: 21–23), womit sich zumindest eine potentielle Nähe 17 In der von Manfred Fuhrmann übersetzten und herausgegebenen Reclam-Ausgabe wird der griechische Ausdruck ‚Mythos‘ freilich als ‚Fabel‘ wiedergegeben. Für literaturästhetische Überlegungen, die sich explizit mit der Mythostheorie des Aristoteles auseinandersetzen, vgl. z. B. Keiling 2014.

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 2 Denkgewohnheit ‚Mythos‘: Vorüberlegungen

von Mythos und Literatur andeutet. Bei der Neuentdeckung des Mythos in der Moderne (vgl. Von Hendy 2002: 25–48), genauer in der deutschen Romantik, verschwimmt schließlich bisweilen jede Differenz zwischen Mythos und Literatur.18 Der Versuch, einen genauen Überblick über die Bedeutungen des literaturwissenschaftlichen Mythosbegriffs zu geben, würde an dieser Stelle nun freilich zu weit führen. Denn wie für den Mythosbegriff im Allgemeinen lässt sich auch für den Mythosbegriff in der Literaturwissenschaft eine bemerkenswerte Heterogenität der historischen, sachlichen und normativen Bedeutungen konstatieren. Um trotzdem einen ungefähren Eindruck vom literaturwissenschaftlichen Blick auf den Mythos zu vermitteln, sei zumindest auf zwei einschlägige Arbeitsfelder verwiesen – auf die Beschäftigung mit mythologischen Stoffen in der Literatur einerseits und auf die Erkundung des Mythischen (in) der Literatur andererseits. Vorrangig gerät der Mythos in der Literaturwissenschaft als ein alter, meist antiker Stoff mit einer produktiven Rezeptionsgeschichte in den Blick (vgl. Seidensticker/Vöhler 2002b: V). In dieser Perspektive erscheinen Mythen als „traditionelle Geschichten, die sich dadurch auszeichnen, daß sie immer wieder neu erzählt werden können“ (Vöhler/Seidensticker/Emmerich 2005: 2). Eine Be­ gründung für die scheinbar unverwüstliche Aktualisierbarkeit von Mythen hat z. B. Hans Blumenberg geliefert: „Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit. Diese beiden Eigenschaften machen Mythen traditionsgängig“ (Blumenberg 1990: 40). Die Traditionsgängigkeit, die Blumenberg erkennt, findet ihren Niederschlag in der Kanonizität vieler mythologischer Stoffe, die aufgrund ihrer langen Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte zum (hoch-)kulturellen Inventar zählen und sich dementsprechend immer wieder als Bezugs- oder Ausgangspunkte von Neubearbeitungen anbieten.19 Es muss an dieser Stelle wohl nicht ausführlich begründet werden, dass diese Perspektive auf den Mythos der Literaturwissenschaft sehr entgegenkommt. Denn als traditionsgängige,

18 Ein herausragendes Beispiel dafür ist Friedrich Schlegels „Rede über die Mythologie“ (als Teil des „Gespräch über die Poesie“, 1800), wo Mythos und Poesie überblendet werden (vgl. Schlegel 1967). 19 Annette Simonis bringt den Dreiklang von Beständigkeit, Variabilität und Traditionsgängigkeit in ihrer Einleitung zu einem einschlägigen Sammelband wie folgt auf den Punkt: „Neben einer gewissen, nicht zu leugnenden konservativen Beharrungskraft mythologischer Figuren verraten gerade die alteuropäischen mythologischen Traditionsstränge eine Tendenz, vielfältige Gelegenheiten zu produktiven Umdeutungen zu geben, die um so wirkungsvoller vor der Folie des allgemein Vertrauten, zum sozialen Bildungsgut Gehörenden, in Erscheinung treten und gerade vor dem Hintergrund kanonischer Interpretationen Profil gewinnen und sich absetzen können.“ (Simonis 2004: 13)



2.3 Fragestellungen für die literaturwissenschaftliche Mythosforschung 

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einerseits beständige, andererseits variable Geschichte hat der Mythos beinahe automatisch seinen Platz in der Sphäre des Literarischen. Freilich lässt selbst Blumenbergs griffige Definition erahnen, dass sich aus den hier zusammengefassten Bedeutungen des Mythosbegriffs ganz unterschiedliche Aufgaben- und Fragestellungen ableiten lassen. So kann sich der Fokus der literaturwissenschaftlichen Analysen z. B. auf die Beständigkeit konkreter mythologischer Motive oder Konstellationen richten, die man vielleicht sogar in Texten zu finden glaubt, die nicht offenkundig an die mythologische Überlieferung anknüpfen. Oder man vergleicht z. B. verschiedene Bearbeitungen ein und desselben mythologischen Stoffes und versucht, die dabei zutage tretende Variabilität seismographisch als Ausdruck historischer, weltanschaulicher, politischer oder ästhetischer Differenzen zu deuten. Neben der Beschäftigung mit den mythologischen Inhalten der Literatur – und damit wäre man beim zweiten Arbeitsfeld – widmen sich Literaturwissenschaftler auch der Frage nach dem Mythischen (in) der Literatur, also zum einen dem mythischen Charakter der Literatur und zum anderen den Darstellungen des Mythischen in der Literatur. Schon diese Differenzierung deutet an, dass hier ein weites Bedeutungsspektrum des literaturwissenschaftlichen Mythosbegriffs zusammengefasst wird. Am pragmatisch-handfesten Ende dieses Spektrums stehen jene Arbeiten, die Repräsentationen des Mythischen in konkreten Texten nachspüren und z. B. aufzeigen, inwiefern eine literarische Figur ‚mythisch denkt‘ (vgl. Schwennsen 2014). Am eher spekulativen und literaturanthropologischen Ende des hier umrissenen Spektrums stehen dagegen Versuche, die Literatur grundsätzlich als mythisch zu beschreiben bzw. das Literarische und das Mythische zu überblenden. So stellt beispielsweise András Horn gleich am Anfang seiner Studie über Mythisches Denken und Literatur nachdrücklich klar: „Die Erkenntnis, dass mythisches Denken und Literatur zusammenhängen, genauer: dass Literatur als ‚schöne Kunst‘ auch, und zwar konstitutiv, aus mythischem Denken entsteht und ans mythische Denken appelliert, diese Erkenntnis ist alles andere als neu.“ (Horn 1995: 9)20 Ebenfalls ein Versuch, den mythischen Charakter der Literatur herauszuarbeiten, ist Northrop Fryes Myth Criticism (bzw. Archetypal Criticism), bei dem die verschiedenen Gattungen der Literatur auf mythische Grundmuster zurückgeführt werden (vgl. Frye 1957). 20 Man vgl. hierzu z. B. auch die folgenden Überlegungen Hans-Georg Gadamers: „Daß der Welterfahrung der Kunst eine eigene Verbindlichkeit zukommt und daß diese Verbindlichkeit der künstlerischen Wahrheit derjenigen der mythischen Erfahrung gleicht, zeigt sich in ihrer strukturellen Gemeinsamkeit. […] Auch dort, wo keine festen religiösen Traditionen mehr binden, sieht die dichterische Welterfahrung mythisch, das heißt, das wahrhaft übermächtig Wirkliche stellt sie als lebend und handelnd dar.“ (Gadamer 1977: 53)

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 2 Denkgewohnheit ‚Mythos‘: Vorüberlegungen

Weiterhin mangelt es nicht an Versuchen, das Mythische nicht in der Literatur an sich, aber doch in bestimmten literarischen Formen oder Strömungen zu identifizieren. So beschreibt z. B. Michael Bell eine mythische Form der Weltsicht, die er als „mythopoeia“ bezeichnet und die seiner Meinung nach zahlreichen Werken der modernistischen Literatur zugrunde liegt: „my concern is not with myth as a traditional content or as a means of literary organisation. It is rather with the underlying outlook that creates myth; or, more precisely again, sees the world in mythic terms. Mythopoeia is the underlying metaphysic of much modernist literature“ (Bell 1997: 1–2). Auch der Versuch, die Mythizität einer historischen Gattung anhand formaler Kriterien zu belegen, lässt sich in diesem Zusammenhang einordnen: Laut Matias Martinez ergibt sich die Mythizität eines Textes nämlich mit dem Vorliegen gewisser struktureller Merkmale und lässt sich somit formal (also nicht primär stofflich) beschreiben (vgl. Martinez 1996). Schließlich ist selbst bei einer groben Bestandsaufnahme literaturwissenschaftlicher Perspektiven auf den Mythos noch ein Wort zu jenen Fällen angebracht, in denen Literaturwissenschaftler den Mythosbegriff nicht in seinen traditionellen Bedeutungen (vgl. Tepe 2001: 71), sondern in einem ‚allgemeinen‘ umgangssprachlichen Sinne oder mit einem ideologiekritischen Impetus verwenden. In diesen Fällen steht häufig eine politisch-soziale Bedeutung des Mythosbegriffs Pate, etwa wenn der Mythos als „eine für ein Gemeinwesen bestimmte [und bestimmende, d. Verf.] Meistererzählung“ betrachtet wird (Huber 2013: 345). Entsprechende Studien widmen sich dann z. B. dem „Petersburg-Mythos“ in der russischen Literatur und Kultur (vgl. eben Huber 2013). Nun könnte man in diesen Fällen eine Verwendung des Ausdrucks ‚Mythos‘ leicht vermeiden (etwa indem man neutraler vom ‚Petersburg-Bild‘ spricht). Und doch bleibt festzuhalten, dass die hiermit angesprochenen Verwendungen des Mythos-Vokabulars durchaus Berührungspunkte mit den bereits vorgestellten, traditionellen Perspektiven bzw. Arbeitsfeldern aufweisen: Denn bei einer Untersuchung des ‚Petersburg-­Mythos‘ in der russischen Literatur können die Beständigkeit, die Variabilität und die ­Tradierung bestimmter Motive ebenso in den Blick geraten wie eine scheinbar mythische (genauer: mythisierende) Funktion der Literatur. Angesichts des gerade präsentierten Überblicks mag sich nun die Frage aufdrängen, ob man überhaupt sinnvollerweise von einer literaturwissenschaftlichen Mythosforschung sprechen kann. (Und zumindest in der Überschrift des vorliegenden Kapitels wird eine entsprechende Forschungsrichtung ja postuliert.) Denn wo läge der gemeinsame Gegenstand, wo die verbindende Zielsetzung und Fragestellung einer solchen Mythosforschung? Dabei ist es nicht einmal nur die Koexistenz von stofflichem und nicht-stofflichem Mythosverständnis in der literaturwissenschaftlichen Praxis, die eine einfache Antwort auf die aufgeworfenen Fragen erschwert. Allein wenn man nur jene literaturwissenschaftlichen



2.3 Fragestellungen für die literaturwissenschaftliche Mythosforschung 

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Arbeiten betrachtet, in denen die Mythologie in der Literatur als Thema erscheint, verschwimmt das Profil einer literaturwissenschaftlichen Mythosforschung. Zumal sich die betreffenden Arbeiten – was das ihnen zugrunde liegende Erkenntnisinteresse betrifft – bisweilen gar nicht primär dem Mythos zu widmen scheinen, auch wenn sie die Vokabel ‚Mythos‘ in Anschlag bringen. Es sind oft Überlieferungszusammenhänge, stoffgeschichtliche Problemstellungen oder intertextuelle Konstellationen, die das Interesse von Literaturwissenschaftlern wecken. Daran ist freilich nichts auszusetzen. Aber hat man es in diesen Fällen tatsächlich mit Beiträgen zu einer literaturwissenschaftlichen Mythosforschung zu tun? Man kann nun die vorliegende Studie gewissermaßen als Antwort auf die gerade aufgeworfenen Fragen betrachten, da sie bewusst und nachdrücklich als Beitrag zu einer literaturwissenschaftlichen Mythosforschung in einem engeren Sinne angelegt ist. Als Ausgangspunkt dient ihr dabei der in den vorangehenden Kapiteln begründete Perspektivwechsel vom Mythos zur Denkgewohnheit ‚Mythos‘, mit dem der diffus anmutenden Heterogenität der Rede vom Mythos Rechnung getragen werden soll. Aus diesem Perspektivwechsel, durch den Mythosauffassungen bzw. Mythoskonzeptionen als Gegenstände der Mythosforschung in den Blick rücken, lassen sich nämlich auch methodische Leitplanken und eine grundsätzliche Fragestellung für die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Mythos ableiten. Eine entsprechende Anregung stammt von dem Komparatisten und Germanisten Stefan Matuschek: Aus Graevenitz’ kulturwissenschaftlicher Analyse kann die Komparatistik die Konsequenz ziehen, nach dem spezifisch literarischen Anteil an der „Denkgewohnheit“ Mythos zu fragen. Der literaturwissenschaftliche Beitrag zur Diskussion, was Mythos sei, besteht in der Auskunft, wie die Literatur den Mythos vergegenwärtigt und was ihre Formen der ­Vergegenwärtigung für das Mythos-Verständnis ausmachen. (Matuschek 2004: 97)

Eine literaturwissenschaftliche Mythosforschung, die vom Mythos als Denkgewohnheit ausgeht, muss sich in diesem Sinne der Aufgabe stellen, „jeden einzelnen Text auf dessen eigenes Mythos-Verständnis zu befragen“ (Matuschek 2004: 98). Dass Matuschek vom Befragen der Texte spricht, ist übrigens sehr treffend. Denn die durch von Graevenitz angeregte Perspektivverschiebung – vom Mythos zum Mythosdiskurs bzw. zum Mythos als Denkgewohnheit – wurde nicht zuletzt mit ihrem heuristischen Potential begründet. Dementsprechend sollte sich die literaturwissenschaftliche Mythosforschung ihrem Gegenstand nicht definitorisch (also mit einer feststehenden Definition des Mythos), sondern heuristisch nähern. Anders ausgedrückt: Man tritt nicht mit einer ‚fertigen‘ Mythosdefinition an die zu untersuchenden Texte heran. Vielmehr bemüht man sich darum, das in den Texten meist implizite Mythosverständnis zu rekonstruieren.

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 2 Denkgewohnheit ‚Mythos‘: Vorüberlegungen

Nun war gerade vom Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Mythosforschung die Rede, ohne dass dieser genauer bestimmt wurde. Dass es sich bei diesem Gegenstand bzw. bei den konkreten Untersuchungsobjekten um ­literarische Texte handelt, versteht sich. Außerdem muss es sich – nach den ­bisherigen Ausführungen – um Texte handeln, die das weite Feld der Mythosauffassungen tangieren bzw. in denen sich eine Mythosauffassung manifestiert. In der Regel wird es also um das gehen, was Peter Tepe als mythoshaltige Literatur ­bezeichnet – also um literarische Texte, die Mythen, Strukturen mythischen Denkens oder Mythostheorien verarbeiten (vgl. Tepe 2001: 79).21 Da mythoshaltige Texte offenkundig unter verschiedenen Blickwinkeln gelesen werden können (und sich der Blick nicht zwangsläufig auf die Dimension der Mythoshaltigkeit richten muss), erscheint es allerdings sinnvoller, den Untersuchungsgegenstand der literaturwissenschaftlichen Mythosforschung mit dem Begriff der literarischen Mythosrezeption zusammenzufassen. Mythoshaltige Texte werden also erst dadurch zum Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Mythosforschung, dass man sie als Beispiele einer Mythosrezeption betrachtet. Der Vorschlag, die Untersuchungsobjekte der literaturwissenschaftlichen Mythosforschung mit dem Begriff der literarischen Mythosrezeption zusammenzufassen, knüpft einerseits an bereits gängige Redeweisen an. So wird der literarische Rückgriff auf mythologische Stoffe nicht selten als Mythenrezeption bezeichnet (vgl. dazu die Titel einschlägiger Publikationen, z. B. Vöhler/ Seidensticker 2005). Andererseits ist zu beachten, dass Mythosrezeption (so wie sie in der vorliegenden Studie verstanden wird) etwas anderes bzw. mehr ist als die Rezeption konkreter mythologischer Stoffe – nämlich die Rezeption von 21 Bisweilen werden Mythosauffassungen freilich auch in literarischen Texten verhandelt, thematisiert und reflektiert, die man kaum und schon gar nicht auf den ersten Blick als mythoshaltige Texte wahrnehmen dürfte. So nutzt z. B. Evelyn Waugh in seiner Kriegssatire Put Out More Flags (1942) ein gängiges Mythoskonzept, um die Beziehung zweier Hauptfiguren zu charakterisieren: „Barbara herself pretended to no illusions about Basil. Years of disappointment and betrayal had convinced her, in the reasoning part of her, that he was no good. […] She apostatized from her faith in him almost with formality, and yet, as a cult will survive centuries after its myths have been exposed and its sources of faith tainted, there was still deep in her that early piety, scarcely discernible now in a little residue of superstition, so that this morning when her world seemed rocking about her, she turned back to Basil.“ (Waugh 2003: 386) Das Mythosverständnis, das hier aufgerufen wird, verortet den Mythos als fundierende Erzählung eines (religiösen) Kultes, wobei – wie der Katholik Waugh vielleicht nicht ganz ohne blasphemische Hintergedanken feststellt – die Entlarvung der Erzählungen noch nicht das Ende des Kultes bedeuten muss. Vielleicht darf man sogar in Rechnung stellen, dass dieses Mythosverständnis den Blick des Satirikers Waugh auf seinen Gegenstand prägt – eine Gesellschaft, die noch ihre Rituale pflegt (vgl. den im Romantitel evozierten Flaggen-Kult), aber deren Mythen (im Sinne von Gründungs- und Orientierungserzählungen) längst bloßgestellt wurden.



2.3 Fragestellungen für die literaturwissenschaftliche Mythosforschung 

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Mythosauffassungen, die sich freilich nicht zuletzt in der Rezeption konkreter mythologischer Stoffe manifestiert. Außerdem sollte man ‚Rezeption‘ in diesem Zusammenhang nicht als einen passiven Vorgang verstehen. Vielmehr darf man durchaus erwarten, dass man es in der Regel mit einer literarisch produktiven Rezeption (vgl. Frick 1998: 32)22 zu tun hat, die Mythosauffassungen nicht nur reproduziert, sondern auch modifiziert, hinterfragt oder konterkariert. Aller Produktivität (und Reflexivität) literarischer Mythosrezeption zum Trotz erscheint ‚Rezeption‘ freilich schon deshalb als der geeignete Ausdruck, weil Mythoskonzeptionen in der Literatur nicht aus dem Nichts auftauchen, sondern in der Regel auf bereits kursierende Mythosauffassungen rekurrieren oder diese voraussetzen. Wem der Begriff der Mythosrezeption in diesem Zusammenhang, trotz der gelieferten Begründung, nicht wirklich behagt, der kann freilich – in Analogie zum theoretisch-wissenschaftlichen Mythosdiskurs – auch vom literarischen Mythosdiskurs sprechen. Nun könnte man einwenden, dass der gerade ausgewiesene Gegenstandsbereich einer eng gefassten literaturwissenschaftlichen Mythosforschung sich im Wesentlichen mit dem jener Arbeitsfelder deckt, auf denen – wie zu Beginn des vorliegenden Kapitels ausgeführt – Literaturwissenschaftler schon bisher und sowieso mit dem Mythos in Berührung kommen. Dem wäre zu entgegnen, dass hier nicht der Versuch unternommen werden soll, den literaturwissenschaftlichen Zugang zum Mythos zu revolutionieren bzw. einen neuen Umgang mit mythoshaltigen Texten zu diktieren. Außerdem kreisen die hier unterbreiteten Vorschläge zur literaturwissenschaftlichen Mythosforschung um deren Fragestellung (und nicht um die – im Sinne irgendeiner Mythosdefinition r­ ichtigen – Untersuchungsobjekte). Letzteres begründet freilich konkrete Arbeitsaufträge und Fragestellungen für die eingangs unterschiedenen Arbeitsfelder. Wer literaturwissenschaftliche Mythosforschung in dem hier verstandenen engeren Sinne betreibt, kann sich also durchaus mit dem Mythischen (in) der Literatur beschäftigen. Das Resultat dieser Beschäftigung sollte freilich nicht die bloße Feststellung sein, die Literatur sei (zumindest in einigen ihrer Formen oder Funktionen) immer schon mythisch gewesen. Vielmehr wäre aufzudecken, wie das Mythische in die Literatur kommt, d. h. welche Auffassungen vom Mythischen wann, wie, warum und wozu in literarischen Texten virulent werden.23 22 Werner Frick reflektiert in seiner Studie zur Tragödie einschlägige Begrifflichkeiten und spricht selbst – statt von der Bearbeitung oder Adaption mythologischer Stoffe – von Transformationen, was die Produktivität des Rezeptionsprozesses unterstreichen soll (vgl. Frick 1998: 32–33). 23 Verallgemeinernden Aussagen z. B. zum mythischen Charakter der Literatur ist insofern mit Vorsicht zu begegnen, als diese jeweils an bestimmte Vorstellungen vom Mythischen (wie auch

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 2 Denkgewohnheit ‚Mythos‘: Vorüberlegungen

Allerdings erscheint es auch lohnenswert, die Blickrichtung umzukehren: So wie bestimmte Vorstellungen vom Mythischen die Literatur bzw. den Blick auf die Literatur geprägt haben, haben auch Formen und Funktionen der Literatur für bestimmte Auffassungen vom Mythischen oder vom Mythos Pate gestanden. (Dass Freud sein psychoanalytisches Mythosverständnis aus einer Lektüre der sophokleischen Ödipus-Tragödie ableitet, ist dafür ein prominentes Beispiel.) Der Schwerpunkt einer literaturwissenschaftlichen Mythosforschung im engeren Sinne wird freilich auf der Analyse jener literarischen Texte liegen, die mythologische Stoffe, Themen oder Motive aufgreifen. Schließlich ist davon auszugehen, dass in einem ‚mythologiehaltigen‘ Text in der Regel auch ein – über die Deutung des konkreten Stoffes hinausgehendes – Mythosverständnis ins Spiel kommt. Dies gilt übrigens sowohl für die Produktions- als auch für die Rezeptionsseite: Wie die meisten Schriftsteller dürften auch die meisten Leser eine (mehr oder weniger elaborierte) Vorstellung vom Mythos, zumindest aber ein ‚Gespür‘ dafür haben, dass sich mythologische Stoffe von anderen Stoffen unterscheiden. Dementsprechend gilt es bei den Analysen, von den konkreten stofflichen bzw. stoffgeschichtlichen Aspekten zu abstrahieren. Denn nicht die Identifizierung intertextueller Bezüge oder die Rekonstruktion der Rezeptionsgeschichte eines mythologischen Stoffes ist deren primäres Ziel, sondern die Offenlegung jener Mythoskonzeptionen, die sich im Rückgriff auf mythologisches Material konkretisieren. Damit ist freilich nicht gesagt, dass man auf den Vergleich verschiedener Bearbeitungen eines mythologischen Stoffes verzichten muss. Allein: Der Vergleich sollte in diesem Fall ‚nur‘ die Methode sein, um die Spezifik der jeweiligen Mythoskonzeptionen erfassen zu können.24 Es spricht in diesem Sinne allerdings auch nichts dagegen, Texte miteinander zu vergleichen, die auf unterschiedliche mythologische Stoffe oder gar auf unterschiedliche Mythentraditionen rekurrieren.25

an bestimmte Vorstellungen von Literatur) geknüpft sind. Da nun aber – wie bereits gezeigt wurde – ganz verschiedene Vorstellungen vom Mythischen im Umlauf waren und nach wie vor im Umlauf sind, können die betreffenden Aussagen immer nur unter Vorbehalt bzw. immer nur in konkreten theoretischen, konzeptionellen und sachlichen Bezügen gelten. Diese ‚Bedingtheit‘ zu reflektieren (bzw. reflektieren zu wollen), ergibt sich aus der Betrachtung des Mythos als Denkgewohnheit. 24 In diesem Zusammenhang erscheint Gabriele Rippls Anmerkung treffend, dass man das Wesentliche der Mythosrezeption (als Mythosrezeption) nicht erfasst, wenn man sie auf ein intertextuelles Verfahren reduziert: „I think that the theory of intertextuality fails to explain why specifically mythological materials have remained so extraordinarily influential in Western culture“ (Rippl 2004: 169). 25 Das Abstrahieren von Stofftraditionen und intertextuellen Bezügen lässt sich übrigens auch damit begründen, dass mythologische Stoffe, Themen oder Motive wohl schon immer ein Eigenleben – jenseits konkreter literarischer Bearbeitungen und Texttraditionen – im kollektiven



2.3 Fragestellungen für die literaturwissenschaftliche Mythosforschung 

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Nachdem nun dargestellt wurde, welche Vorstellungen von literaturwissenschaftlicher Mythosforschung – eine Mythosforschung im engeren Sinne, die den Mythos als Denkgewohnheit in den Blick nimmt – das theoretisch-­methodische Fundament der vorliegenden Studie bilden, sollte vielleicht noch einmal kurz zusammengefasst werden, welche Hoffnungen und Erwartungen mit den betreffenden Vorstellungen verbunden sind. Zunächst einmal geht es offenkundig darum, ein literaturwissenschaftliches Erkenntnisinteresse zu formulieren, das unzweifelhaft auf den Mythos gerichtet ist. Dies erscheint z. B. deshalb geboten, weil nicht jede literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit mythologischen Stoffen (selbst wenn dabei das Mythos-Vokabular gebraucht wird) schon per se einen Beitrag zur Mythosforschung darstellt. Vor diesem Hintergrund ist eine Abgrenzung (nicht Delegitimierung!) verschiedener Erkenntnisinteressen wünschenswert. Zugleich zielt der Vorschlag, Mythosforschung in einem engeren Sinne zu betreiben, darauf ab, dem literaturwissenschaftlichen Interesse am Mythos, das sich auf ganz unterschiedliche Texte und literarische Phänomene richtet, einen gemeinsamen Fokus, ja sogar einen gemeinsamen Gegenstand anzubieten. Ein gemeinsamer Fokus könnte nämlich den fachlichen Austausch anregen – gerade dort, wo die Heterogenität der Untersuchungsgegenstände eine zusammenführende Diskussion erschwert. Zudem sollte der Blick auf den Mythos als Denkgewohnheit, wie ihn die hier skizzierte Mythosforschung kultiviert, den interdisziplinären Austausch erleichtern. Denn auch wenn andere Disziplinen andere Untersuchungsobjekte und Phänomene als Mythos bzw. als Mythen betrachten, bleibt immer noch die Möglichkeit, sich über die jeweiligen Mythosauffassungen auszutauschen. Dabei können sich unter Umständen – und neben den zu erwartenden Differenzen – auch überraschende Ähnlichkeiten, Kontinuitäten oder Konstanten offenbaren. (Eine solche Konstante wird im Folgenden unter dem Begriff der mythologischen Alterität näher beleuchtet.) Schließlich begründen die vorliegenden Ausführungen – zum Mythos als Denkgewohnheit und zu einer literaturwissenschaftlichen Mythosforschung im engeren Sinne – auch einen aktiven Umgang mit Mythostheorien (ob nun aus der eigenen oder aus einer anderen Disziplin). Zumindest zwei Schlussfolgerungen sollen an dieser Stelle ausgeführt werden. Die erste Schlussfolgerung betrifft Gedächtnis geführt haben. Die Tatsache, dass man mit der Geschichte des Ödipus vertraut sein kann, ohne Sophokles gelesen zu haben, ist nur ein banales Indiz für dieses Eigenleben. Vielleicht hat sich auch der eine oder andere Autor bei seiner Neubearbeitung eines mythologischen Stoffes weniger an den großen Vorbildern der Classical Tradition (vgl. Highet 1959) als vielmehr an Kurzzusammenfassungen mythologischer Stoffe bzw. an den Einträgen in mythographischen Lexika orientiert?

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 2 Denkgewohnheit ‚Mythos‘: Vorüberlegungen

den Status von Mythostheorien. Wenn man den Mythos konsequent als Denkgewohnheit betrachtet und sich auf die Identifizierung von Mythosauffassungen konzentriert, stellen Mythostheorien keine Werkzeuge, sondern zunächst einmal Untersuchungsobjekte dar – und sind aus der Sicht des Literaturwissenschaftlers damit den literarischen Untersuchungsobjekten der literaturwissenschaftlichen Mythosforschung gleichgestellt. Wem diese Gleichstellung nicht behagt, der stelle sich folgende Frage: Welche Theorie des Mythos kann es – im Hinblick auf ihre Bedeutung für das abendländische Mythosverständnis – mit den Werken Homers oder Ovids aufnehmen? So betrachtet gibt es also keinen Grund, Mythostheorien gegenüber Werken der literarischen Mythosrezeption zu privilegieren. Auf jeden Fall – und das ist die zweite Schlussfolgerung – ist es für Literaturwissenschaftler stets ratsam, „die jeweils spezifischen Logiken, Voraussetzungen und Sachbindungen von […] Mythostheorien zu reflektieren“ (Gebert/Mayer 2014b: 4) und sich den Blick auf die literarischen Untersuchungsobjekte nicht von der Autorität einer Mythostheorie diktieren zu lassen. So kann z. B. selbst der Rückgriff auf eine ausgesprochen renommierte Mythostheorie wie die Hans Blumenbergs in die Irre führen, wenn man sich mit ihrer Hilfe die ‚falschen‘ literarischen Gegenstände zu erschließen versucht. Blumenberg, dessen Mythostheorie in späteren Kapiteln noch ausführlich zur Sprache kommen wird, geht – vereinfacht gesagt – davon aus, dass die Arbeit am Mythos (vgl. Blumenberg 1990) dazu dient, den Schrecken einer bedrohlichen, namenlosen und unverständlichen Wirklichkeit durch Namensgebung und Erzählung zu bannen. So plausibel diese Sichtweise erscheinen und so zutreffend sie in vielen Fällen sein mag, stößt sie z. B. dort an Grenzen, wo die literarische Mythosrezeption gerade nicht den Schrecken und das Namenlose zu bewältigen versucht, sondern vielleicht – in den Worten Antonin Artauds – eher darum bemüht ist, „um sagenhafte Figuren, um gräßliche Verbrechen und übermenschliche Aufopferungen ein Schauspiel zu gruppieren, das sich fähig erweist, die in den alten Mythen wirkenden Kräfte auszudestillieren“ (Artaud 1969: 90). Ein Beispiel dafür wären die Griechendramen Hugo von Hofmannsthals: „Zu Blumenbergs These der Überwindung des Numinosen (Präsenz, Wirklichkeit) durch Repräsentation (Mythos) entwirft Hofmannsthal eine radikale Gegenbewegung: der Bruch der sprachlichen Repräsentation (Mythosvariation) durch Präsenz (Namenloses, Numinoses).“ (Eder 2014: 187–188) Diese Gegenläufigkeit von Mythostheorie und dramatischer Ästhetik bedeutet nun freilich nicht, dass Blumenbergs Theorie falsch oder Hofmannsthals Ästhetik fehlgeleitet ist. Vielmehr veranschaulicht sie, warum man die Analyse der literarischen Mythosrezeption nicht vorschnell als Anwendung einer konkreten Mythostheorie betreiben sollte. Damit nun an dieser Stelle kein Missverständnis aufkommt: Natürlich sollte die literaturwissenschaftliche Mythosforschung auch Mythostheorien zur



2.3 Fragestellungen für die literaturwissenschaftliche Mythosforschung 

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Kenntnis nehmen und es erscheint sogar geboten, sich als Literaturwissenschaftler umfassend und intensiv mit Mythostheorien zu beschäftigen.26 Im­ merhin können sich aus einer solchen Beschäftigung wichtige Anhalts- und Referenzpunkte für die Identifizierung und Rekonstruktion von literarischen Mythoskonzeptionen ergeben. In der vorliegenden Studie ist dann auch der Lektüre der literarischen Primärtexte eine Analyse zahlreicher Mythostheorien ­vorgeschaltet – allerdings eben nicht als mythostheoretische Grundlegung, auf die dann eine literaturwissenschaftliche Anwendung folgt. Vielmehr haben die Befunde zur Mythostheorie einen heuristischen Wert, da sich aus ihnen ­Analysefragen für die Lektüre der literarischen Texte ableiten lassen. Die Reihenfolge – zuerst die Analyse der Mythostheorie, dann der literarischen Mythosrezeption – folgt dabei nur der pragmatischen Überlegung, dass Mythoskonzeptionen bzw. Mythosauffassungen in Mythostheorien gemeinhin leichter zu identifizieren sind als in literarischen Texten. Mit diesen Bemerkungen zum Verhältnis von Mythostheorie und literaturwissenschaftlicher Praxis sollen an dieser Stelle die Überlegungen (und Vorschläge) zu einer literaturwissenschaftlichen Mythosforschung im engeren Sinne enden, zumal mit ihnen eine Brücke zum nächsten Teil der vorliegenden Studie geschlagen wurde. Auf den nun folgenden Seiten richtet sich das Augenmerk nämlich auf das, was man als theoretisch-wissenschaftlichen Mythosdiskurs bezeichnen könnte – also auf das weite Feld der Mythostheorien. Zahlreiche und sich zum Teil stark voneinander unterscheidende Mythostheorien sollen darauf untersucht werden, wie sie ihren Gegenstand als Zeugnis des Fremden beschreiben und interpretieren. Dabei gilt es herauszufinden, in welchen Formen der Mythos als Zeugnis des Fremden – in den Mythostheorien – auftritt und welche Funktionen er als Zeugnis des Fremden – für seine Betrachter und Interpreten – erfüllt. Anschließend können die entsprechenden Befunde zu Formen und Funktionen mythologischer Alterität als Ausgangs- und Referenzpunkte dienen, wenn sich die Analyse verschiedenen Beispielen der literarischen Mythosrezeption widmet. Bezüglich der Auswahl der literarischen Untersuchungsobjekte sei an dieser Stelle noch erwähnt, dass ausschließlich Texte besprochen werden, die mythologische Stoffe aufgreifen. Texte ohne einen entsprechenden mythologischen

26 Zumal Mythostheorien schon deshalb interessante Untersuchungsgegenstände sein können, weil sie bisweilen auch Vorstellungen von Literatur entwickeln, wie Robert Segal an verschiedenen Beispielen – von E. B. Tylor bis Hans Blumenberg – aufgezeigt hat (vgl. Segal 2014). Man darf insofern davon ausgehen, dass die Geschichte der Mythostheorie (bzw. in einem weiteren Sinne die Geschichte des Mythosdiskurses) – mit ihren „expliziten wie impliziten Bestimmungen von Literatur“ – „auch eine bisher kaum beachtete Geschichte des Literarischen birgt“ (Gebert/ Mayer 2014b: 2).

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 2 Denkgewohnheit ‚Mythos‘: Vorüberlegungen

Gehalt, die man vielleicht trotzdem (oder unabhängig davon) als mythisch oder als Repräsentationen mythischen Denkens betrachten könnte, bleiben dagegen außen vor. Diese Selbstbeschränkung bei der Textauswahl ist der schlichten Tatsache geschuldet, dass die Betrachtung mythologischer bzw. mythologiehaltiger Texte als Beispiele einer literarischen Mythosrezeption tendenziell unstrittiger sein dürfte. Denn niemand kann ernsthaft in Zweifel ziehen, dass die literarische Rezeption eines konkreten mythologischen Stoffes unser Verständnis des Mythos im Allgemeinen – und damit den Mythos als Denkgewohnheit – t­ angiert. Ob man einem Text ohne mythologischen Gehalt dagegen eine irgendwie geartete mythische Qualität attestieren kann oder möchte, hängt stark von der jeweiligen Vorstellung des Mythischen sowie vom eigenen Literaturverständnis ab. Da nun die vorliegende Studie auf Grundsätzliches abzielt und große Linien in der Mythostheorie wie in der literarischen Mythosrezeption nachzuzeichnen versucht, erscheint es ratsam, bei der Wahl der Gegenstände vorerst auf sicherem Terrain zu bleiben und das Grundsätzliche im Offenkundigen sichtbar werden zu lassen. Das Grundsätzliche, dem die vorliegende Studie – als Beitrag zu einer literaturwissenschaftlichen Mythosforschung im engeren Sinne – auf die Spur zu kommen versucht, ist freilich nicht der literarische Anteil der Literatur an der Denkgewohnheit ‚Mythos‘ im Allgemeinen, denn das wäre die Aufgabe für ein Lebenswerk. Vielmehr sollen Antworten auf die Frage gefunden werden, inwiefern die Literatur jene Konstante im modernen Mythosverständnis aufgreift, prägt und sich zunutze macht, die hier mit dem Begriff der mythologischen ­Alterität bezeichnet wird.

3 Formen und Funktionen mythologischer Alterität: Der Mythos als Zeugnis des Fremden im wissenschaftlich-theoretischen Mythosdiskurs 3.1 Differenzen von Eigenem und Fremdem: Vorbemerkungen zum Begriff der (mythologischen) Alterität Mit dem Begriff der mythologischen Alterität soll ein verbindendes „Argumentations- und Darstellungsmuster“ von „Mythos-Auffassungen“ bezeichnet werden (Graevenitz 1987: X). Er steht also für ein kontinuitäts- und kohärenzstiftendes Moment in der an sich sehr heterogenen Rede vom Mythos bzw. für ein Gravitationszentrum des stark ausdifferenzierten und diffundierenden Mythosdiskurses. Kurzum: Mythologische Alterität bezeichnet eine Gemeinsamkeit zahlreicher (und sich bisweilen stark voneinander unterscheidender) Konzeptionen des Mythos. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass der Mythos in der Regel als Zeugnis des Fremden wahrgenommen, dargestellt, gedeutet und funktionalisiert wird. Bevor man dieses Muster der Denkgewohnheit ‚Mythos‘ jedoch anhand konkreter Beispiele aus der Mythostheorie dokumentiert, verlangen die Begriffe der Alterität und des Fremden selbst einige Erläuterungen, da sie – ähnlich wie der Mythosbegriff – alles andere als unmissverständlich und eindeutig sind. Der Ausdruck ‚Alterität‘ lässt sich ganz schlicht mit ‚Andersheit‘ übersetzen, wird aber „häufig auch synonym mit Fremdheit, Verschiedenheit, Differenz“ (Strohschneider 1997: 58) gebraucht. Zudem lässt sich eine „Vielzahl von Alteritätskonzepten in den kulturwissenschaftlichen Disziplinen“ ausmachen, mit denen man Probleme der Interkulturalität, der Interpersonalität, der Hermeneutik oder der Subjektdezentrierung (etwa durch das Unbewusste) zu erfassen versucht (Mecklenburg 1989: 266). Zwischen diesen Alteritätskonzepten und der These der mythologischen Alterität gibt es zahlreiche Anknüpfungspunkte.1 Hervorzuheben ist an dieser Stelle insbesondere jenes hermeneutische Verständnis von Alterität, das Hans Robert Jauß geprägt hat.

1 An dieser Stelle ist vielleicht ein Wort der Abgrenzung geboten: Denn in den Geistes- und Kulturwissenschaften ist die Rede vom Fremden, vom Anderen, von Differenz oder von Alterität in vielen Fällen eine Rede mit politischem oder ethischem Anspruch. In diesem Sinne beispielhaft ist Tzvetan Todorov, der in der Einleitung zu seiner 1982 erschienenen Studie Die Eroberung Amerikas: Das Problem des Anderen betont, dass sein „Hauptinteresse weniger das eines Historikers als das eines Moralisten ist; die Gegenwart ist mir wichtiger als die Vergangenheit. Auf die https://doi.org/10.1515/9783110528213-003

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 3 Formen und Funktionen mythologischer Alterität

Seines Zeichens Mediävist widmet sich Jauß der Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur (Jauß 1977). Ganz konkret geht es ihm dabei um „das hermeneutische Problem der mittelalterlichen Literatur“ (Jauß 1977: 14), also um die Frage, inwiefern ein Verstehen und eine Auslegung mittelalterlicher Literatur möglich ist. Die Herausforderung bestehe darin, dass sich die mittelalterliche Literatur dem modernen Leser oder Interpreten als ein Diskurs präsentiert, „der uns als Zeugnis einer fernen, historisch abgeschiedenen Vergangenheit in befremdender ‚Andersheit‘ erscheint“ (Jauß 1977: 14). Dabei könne die Fremdartigkeit der mittelalterlichen Literatur bei der Lektüre sowohl Vergnügen als auch Missvergnügen bereiten (vgl. Jauß 1977: 10). Um die mittelalterliche Literatur zu verstehen (und darauf kommt es dem Hermeneutiker Jauß an), müsse man sich auf jeden Fall „die erstaunliche oder befremdende Andersheit der vom Text eröffneten Welt“ (Jauß 1977: 10) bewusst machen und von der eigenen Welt bzw. vom eigenen (Erwartungs-)Horizont abheben, um dann schließlich – im Idealfall des Verstehens – zu einer Horizontverschmelzung im Gadamerschen Sinne zu gelangen. Es muss an dieser Stelle nicht über die Praktikabilität dieses hermeneutischen Modells im Zeichen der Alterität diskutiert werden. Wichtiger ist vielmehr, dass dieses Modell, das Jauß im Hinblick auf die mittelalterliche Literatur entwirft, eine recht treffende Charakterisierung der Rede vom Mythos darstellt. Denn auch bei Mythostheorien erweist sich der Gegenstand häufig „als Zeugnis einer fernen, historisch abgeschiedenen Vergangenheit“ (Jauß 1977: 14) oder gewährt einen Blick in eine Welt, die sich durch eine „erstaunliche oder befremdende Andersheit“ (Jauß 1977: 10) auszeichnet. Man denke in diesem Zusammenhang z. B. an altertumswissenschaftliche oder ethnologische Mythostheorien, die ihren Gegenstand in fremden Kulturen der Vergangenheit oder der Gegenwart finden, aber auch an die Tiefenpsychologie, die mittels Mythenanalyse in die befremdenden Areale der menschlichen Seele vorzudringen versucht. Des Weiteren heben Mythostheorien nicht selten ‚die erstaunliche oder befremdende Andersheit der vom Mythos eröffneten Welt‘ von der eigenen Welt ab, etwa wenn sie die Lebenswirklichkeit der Naturvölker und die Lebenswirklichkeit moderner Zivilisationen oder die Strukturen mythischen Denkens und die Strukturen wissenschaftlichen Denkens einander gegenüberstellen und miteinander vergleichen. Wenn also ‚Alterität‘ bei Jauß für eine hermeneutische Frage, wie man sich anderen gegenüber verhalten soll, kann ich nur antworten, indem ich eine exemplarische Geschichte erzähle“ (Todorov 1985: 12). In der vorliegenden Studie werden die einschlägigen Begriffe dagegen in einem vorpolitischen und außermoralischen Sinne gebraucht, und ihre Verwendung sollte deshalb weder als Symptom einer „Divinisierung des Anderen“ bzw. „alteristischer Obsession“ (Kersting 2000: 177) noch eines europäischen Schuldkomplexes (vgl. Bruckner 2008) missverstanden werden.



3.1 Vorbemerkungen zum Begriff der (mythologischen) Alterität 

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Rezeptionseinstellung bzw. eine Wahrnehmungshaltung steht, dann deckt sich dies mit einem wesentlichen Bedeutungsaspekt des Begriffs der mythologischen Alterität. Während der Begriff der Alterität mit dieser (vorläufigen) Festlegung an Kontur gewonnen hat, stellt sich nun freilich die Frage, was unter dem Fremden, dem Fremdartigen oder dem Befremdlichen zu verstehen ist. Wie im Fall der Alterität sieht man sich auch im Hinblick auf ‚Fremdheit‘ mit zahlreichen wissenschaftlichen Konzepten und Definition konfrontiert, denn „[i]rgendwie haben nahezu alle Forschungen im Bereich der Geisteswissenschaften mit Fremdheit zu tun“ (Jostes 2004: 102). Auf eine umfassende Theorie der Fremdheit kann man freilich nicht zurückgreifen: „Gescheitert ist der Versuch, der Vielfalt der Fragestellungen und Materialien die Einheit eines systematischen Gesamtentwurfes abzugewinnen.“ (Münkler/Ladwig 1998: 11) Vielmehr gibt es „einen Flickenteppich von Fremdheiten, der weit davon entfernt ist, der Erwartung an eine wohlgestaltete Theorie zu genügen, in seinem Mangel an Einheitlichkeit aber doch auch instruktiv ist“ (Münkler/Ladwig 1998: 11). Instruktiv ist freilich nicht nur der Flickenteppich von Fremdheiten, denen man sich in den Geisteswissenschaften gegenübersieht, sondern auch die alltagssprachliche Semantik. Der Blick in den Duden ist in diesem Falle durchaus lohnenswert, da in den einschlägigen Einträgen wesentliche Dimensionen von Fremdheit unterschieden werden. So bedeutet ‚fremd‘ laut Duden (Deutsches Universalwörterbuch) z. B. „einem anderen gehörend; einen anderen, nicht die eigene Person, den eigenen Besitz betreffend“ (Dudenredaktion 2003: 574). Fremdheit, so kann man daraus schlussfolgern, manifestiert sich also unter anderem als Nichtzugehörigkeit. In Anlehnung an einen Vorschlag Herfried Münklers kann man in diesem Zusammenhang vom sozialen Aspekt der Fremdheit sprechen.2 In der Rede vom Mythos spielt dieser eine wesentliche Rolle. Denn der Mythos, der zur Sprache kommt, gehört in der Regel zu einer anderen Zeit, einer anderen Lebenswelt, einer anderen Kultur und eben gerade nicht zur eigenen Gegenwart, zur eigenen Lebenswelt oder zur eigenen Kultur. Ein sehr konkretes Beispiel für die Auffassung, dass der Mythos einer anderen Kultur in einem durchaus emphatischen Sinne zugehörig ist, findet sich in Johann Gottfried Herders Reisejournal aus dem Jahr 1769. Dort beschreibt Herder, wie ihn die eigenen Erfahrungen auf stürmischer See zu der Erkenntnis führen, dass die Mythologie der Griechen die Mythologie einer Seefahrerkultur sein muss: 2 „Im alltäglichen Sprachgebrauch steht das Lexem ‚fremd‘ für sehr unterschiedliche Arten von Unzugänglichkeiten und Ausschlüssen. ‚Fremd‘ kann zum einen heißen, was als Nichtzugehöriges exkludiert ist, zum anderen, was unvertraut oder kaum bekannt ist. Wir bezeichnen die erste Bedeutungsdimension als soziale, die zweite als kulturelle oder lebensweltliche Fremdheit.“ (Münkler/Ladwig 1998: 12)

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 3 Formen und Funktionen mythologischer Alterität

Es gibt tausend neue und natürlichere Erklärungen der Mythologie […], wenn man einen Orpheus, Homer, Pindar, insonderheit den ersten zu Schiffe lieset. Seefahrer warens, die den Griechen ihre erste Religion brachten: ganz Griechenland war an der See Kolonie: es konnte also nicht eine Mythologie haben, wie Aegypter und Araber hinter ihren Sandwüsten […]. (Herder 1997: 23)3

In dieser Perspektive erscheint der Mythos nicht universell, sondern gehört zu einer konkreten historischen Kultur und ist charakteristischer Ausdruck ihrer Lebenswirklichkeit. Neben einem sozialen Aspekt lässt sich weiterhin ein kognitiver Aspekt der Fremdheit ausmachen, denn ‚fremd‘ bedeutet auch „unbekannt, nicht vertraut“ (Dudenredaktion 2003: 574).4 Dabei gehen der soziale und der kognitive Aspekt der Fremdheit oft Hand in Hand, auch mit Blick auf den Mythos. Denn als Gegenstand, der zu einer anderen Kultur gehört, bereitet jener gleichsam automatisch Verständnisschwierigkeiten. Wer sich mit dem Mythos vertraut machen will, der muss häufig sprachliche Barrieren überwinden (oder auf Übersetzungen zurück­ greifen), dem fehlen häufig Einblicke in das historische oder kulturelle Umfeld des Mythos etc. Außerdem führt die Beschäftigung mit dem Mythos nicht selten zur Konfrontation mit Phänomenen, die den Rahmen des Bekannten und Vertrauten auf radikale und uneinholbare Weise überschreiten. Des Weiteren beschwört die Rede vom Mythos immer dann das Unvertraute und Unbekannte, wenn betont wird, dass die Ursprünge des Mythos im Dunkeln (also jenseits der Dokumentationsmöglichkeiten einer Schriftkultur) liegen und sich somit unserer Kenntnis sowie unserem Verständnis entziehen. Des Weiteren gibt es neben dem sozialen und dem kognitiven auch noch einen normativen Aspekt der Fremdheit. Das normativ Fremde ist dabei „ungewohnt; nicht zu der Vorstellung, die jmd. von jmdm., etw. hat, passend; anders geartet“ (Dudenredaktion 2003: 574). Auch dieser Aspekt der Fremdheit spielt im Mythosdiskurs eine zentrale Rolle. Geradezu zum Definitionskriterium wird die normative Fremdheit, wenn der Mythos – in kritischer Absicht – als ideologische Repräsentation gebrandmarkt wird und man sich so von der fremden – im

3 „In jedem Fall sah Herder in seinem ‚Reisejournal‘ von 1769 in der Mythisierung von Naturphänomenen den Ursprung der griechischen Göttererzählungen. Auf der See erfährt er im Schauder des Sturms bei der Überfahrt nach Nantes unmittelbar die Urgewalt der Natur mit ihren schrecklichen wie tröstlichen Zeichen.“ (Jamme 1991: 23) Man beachte Christoph Jammes Wortwahl: ‚Schauder‘ bezeichnet hier eine unwillkürliche Erfahrung, die man auch als Fremdheitserfahrung beschreiben kann. 4 „Fremdheit in dieser Hinsicht ist ein Fall von Unvertrautheit und impliziert stets einen Fall von (theoretischem) Nicht-Wissen oder Nichtkennen: Daß x kognitiv fremd ist für y, heißt, daß y x nicht kennt.“ (Huntemann/Rühling 1997: 3)



3.1 Vorbemerkungen zum Begriff der (mythologischen) Alterität 

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Mythos ihren Ausdruck findenden – Ideologie distanziert. Aber auch wenn der Mythos allgemeiner als Ausdruck des Wertesystems oder der Weltanschauung einer anderen Kultur in den Blick gerät, sieht man sich unter Umständen mit dem normativ Fremden konfrontiert. Schließlich verdient an dieser Stelle noch ein Aspekt des Fremden Erwähnung, der von Jauß mit der Formulierung von der befremdenden Andersheit ins Spiel gebracht wurde. Etwas ‚befremdet‘ uns, wenn es uns „fremd, eigenartig u. zugleich unangenehm“ berührt oder wenn es bei uns „Erstaunen u. Missbilligung“ auslöst (Dudenredaktion 2003: 246). Insofern steht ‚befremdlich‘ oder ‚befremdend‘ für eine besondere Betroffenheit durch das Fremde. Wenn uns eine Sache einfach nur fremd – im Sinne von unvertraut oder nicht zugehörig – ist, kann sie uns durchaus kalt lassen. Wenn uns eine Sache dagegen befremdet, geht sie uns in ihrer Fremdheit auf eine häufig unangenehme Weise nahe. Solche Erfahrungen kann man durchaus auch bei der Beschäftigung mit dem Mythos machen. So dürfte manchen Bewunderer der Antike die Erkenntnis unangenehm berühren, dass sich bestimmte griechische Mythen auf blutige Rituale, ja sogar auf Menschenopfer zurückführen lassen. Auch Medeas Vergehen an ihren Kindern dürfte vielen Lesern oder Theatergängern nicht nur fremd im Sinne von unverständlich, sondern vielmehr ausgesprochen befremdlich erscheinen. Dieses wie auch die vorangehenden Beispiele deuten nun an dieser Stelle zumindest schon einmal an, dass man den Mythos nicht zuletzt als fremd oder besser: als Zeugnis des Fremden (einer fremden Kultur, Ideologie etc.) wahrnimmt. Doch wenn der Mythos in der vorliegenden Studie als Zeugnis des Fremden in den Blick genommen werden soll, stellt sich die Frage, warum der Titel dann nicht schlicht Mythologische Fremdheit lautet. Rechtfertigt der knappe Verweis auf Jauß die Bevorzugung des keineswegs unmissverständlichen Begriffs der Alterität, zumal dieser – im Unterschied zum Begriff der Fremdheit – nicht (oder nur bedingt) in der Alltagssprache verankert ist? Tatsächlich sprechen inhaltlich-argumentative Gründe für den Begriff der ‚mythologischen Alterität‘ als Leitbegriff. Denn mit dieser Begriffswahl wird dem Vorschlag Norbert Mecklenburgs gefolgt, „im Begriff ‚Alterität‘ zwei komplementäre kulturwissenschaftliche Betrachtungsweisen vereinigt zu denken: Was in empirisch-analytischer Sicht, aus der Beobachter-­Perspektive, Differenz heißt, das heißt in hermeneutischer Sicht, aus der Mitspieler-­ Perspektive, Fremdheit“ (Mecklenburg 1989: 265). In diesem Sinne sind Alterität und Fremdheit keine Synonyme. Vielmehr ist Fremdheit – genau wie ­Differenz – ein Aspekt der Alterität. Auf dem Unterschied zwischen Fremdheit und Differenz bzw. zwischen Fremdheit und ‚Andersheit‘ beharrt auch Bernhard Waldenfels, wenn er betont:

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 3 Formen und Funktionen mythologischer Alterität

Fremdes ist nicht einfach ein Anderes […]. Wenn wir zwischen Apfel und Birne oder zwischen Tisch und Bett unterscheiden, so werden wir schwerlich behaupten, daß all dies einander fremd ist; streng genommen gibt es hier gar kein wechselseitiges Einander. Das eine ist schlichtweg das andere des anderen, wenn wir es als dieses oder jenes bestimmen. […] Die Unterscheidung vollzieht sich im Medium eines Allgemeinen, das uns erlaubt, zwischen verschiedenen Früchten oder Möbelstücken zu unterscheiden. Dies gilt selbstverständlich auch für ‚Selbste‘ (selves) oder für Gruppen, sofern wir über sie reden, sie sortieren und klassifizieren. Eines ist in diesen Fällen von anderem verschieden, weil es von ihm unterschieden wird aufgrund einer ‚spezifischen Differenz‘ […]. (Waldenfels 1999: 20–21)

Waldenfels beschreibt hier das, was Mecklenburg als „Differenz“ bezeichnet, nämlich eine Unterscheidung zwischen dem Einen und dem Anderen, die nicht mit einer Unterscheidung von Eigenem und Fremdem gleichzusetzen ist. Die empirisch-analytische Beobachterperspektive bei Mecklenburg findet bei Waldenfels ihre Entsprechung in den von ihm hervorgehobenen Formulierungen „sofern wir über sie reden“ und „weil es […] unterschieden wird“. Im Falle der Fremdheit dagegen hat man es damit zu tun, dass etwas „sich selbst von anderem unterscheidet“ (Waldenfels 1999: 21). Das Fremde steht dementsprechend „nicht dem Selben, sondern dem Selbst (αὐτός, ipse) und dem ihm Eigenen“ entgegen und ist „ähnlich wie Schlafen vom Wachen, Gesundheit von der Krankheit, Alter von der Jugend durch eine Schwelle vom jeweils Eigenen getrennt. Dabei steht keiner von uns jemals auf beiden Seiten der Schwelle zugleich“ (Waldenfels 1999: 21). Wer freilich nur auf einer Seite der Schwelle steht, nimmt – um noch einmal auf Norbert Mecklenburg zurückzukommen – keine Beobachterperspektive, sondern eine Mitspielerperspektive ein. Genau genommen – und wenn man Bernhard Waldenfels folgt – ist Fremdheit freilich keine Sache der Perspektive (oder gar einer Perspektive, die man problemlos wechseln kann), sondern des Standortes: Fremdheit bestimmt sich, wie Husserl sagen würde, okkasionell, bezogen auf das jeweilige Hier und Jetzt, von dem aus jemand spricht, handelt und denkt. Ein standortloses ‚Fremdes überhaupt‘ gliche einem ‚Links überhaupt‘ – ein monströser Gedanke, der Ortsangaben mit begrifflichen Bestimmungen vermengt. Im Fall des Eigenen und Fremden handelt es sich also nicht um zwei bloße Terme, sondern um zwei Topoi. (Waldenfels 1999: 23)

Wenn Bernhard Waldenfels darauf insistiert, „daß das Fremde primär von Orten des Fremden her zu denken ist, als ein Anderswo und als ein Außer-ordentliches“ (Waldenfels 1999: 12), dann sollte man das nicht als anschauliche Metapher einordnen, sondern als einen Hinweis darauf, dass Fremdheit nur in einem engen Sinne des Wortes ‚relativ‘ ist. Sie ist insofern relativ, als sie sich in Beziehung auf den Ort des Eigenen bestimmt. Vom jeweils eigenen Standort aus ist sie dagegen nicht relativ. Ein Beispiel mag dies veranschaulichen: Eine Sprache ist – wenn man einmal von den ‚toten‘ Sprachen absieht – niemals per se eine Fremdsprache.



3.1 Vorbemerkungen zum Begriff der (mythologischen) Alterität 

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Aus dieser (Beobachter-)Perspektive ist die Fremdheit der Sprache relativ. Wenn ich aber eine Sprache nicht sprechen und verstehen kann, dann ist deren Fremdheit für mich bzw. von meinem Standort aus – also aus meiner Mitspielerperspektive – ganz und gar nicht ‚relativ‘. Und selbst wenn man Himmel und Erde in Bewegung setzen würde, blieben stets bestimmte Sprachen Fremdsprachen. Man sollte sich dementsprechend davor hüten, Fremdheit ‚nur‘ als ein „Interpretament von Differenz“ (Mecklenburg 1989: 265), als ‚bloßes‘ Konstrukt oder reine Projektion abzutun. (Im Umkehrschluss heißt dies freilich nicht, dass Darstellungen des Fremden über jeden Zweifel oder jede Kritik erhaben sind und sich jedem Versuch einer analytischen De-Konstruktion entziehen.) Bezogen auf den Begriff der Alterität, mit dem zwei komplementäre Perspektiven zusammengefasst werden sollen, bedeutet dies, dass man beide Perspektiven gleichermaßen ernst zu nehmen hat und die Perspektive der Fremdheit nicht (zumindest nicht grundsätzlich) als defizitär ausweisen sollte.5 Doch warum ist es im Hinblick auf die Denkgewohnheit ‚Mythos‘ überhaupt notwendig, von Alterität und damit von den zwei komplementären Perspektiven Differenz und Fremdheit auszugehen? Am Beispiel eines einschlägigen Sammelbandes zur literarischen Mythosrezeption lässt sich diese Frage leicht beantworten. Die Beiträge des betreffenden Bandes mit dem Titel Mythen in nachmythischer Zeit: Die Antike in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart widmen sich der Frage, „was zeitgenössische Autoren dazu bewegt, auf die alten mythischen Geschichten zurückzugreifen und sie zu bearbeiten“ (Seidensticker/Vöhler 2002b:  V). Schon der Titel thematisiert eine Differenz zwischen einer (explizit so genannten) nachmythischen Zeit und einer (implizit genannten bzw. mitzudenkenden) mythischen Zeit. Die Unterscheidung zwischen der einen und der anderen Zeit erfolgt im Medium eines Allgemeinen, nämlich der Zeit bzw. der historischen Zeit oder der Menschheitsgeschichte. Allerdings ist zugleich

5 An dieser Stelle wird vielleicht deutlich, warum die Begriffe des Eigenen, des Fremden und der Alterität in der vorliegenden Studie nicht in einem moralischen, sondern in einem existentiellen oder epistemologischen Sinne verwendet werden. Denn beim Eigenen wie beim Fremdem handelt es sich zunächst nicht um Wertungen, sondern um Orte bzw. um Standpunkte. Freilich zeichnen sich dabei unterschiedliche Wertkonstellationen im Hinblick darauf ab, wie man diese Orte oder Standpunkte zueinander in Beziehung setzt. An eine Überhöhung des Eigenen ist dabei ebenso zu denken wie an eine Verklärung des Fremden, an Xenophobie ebenso wie an ‚Oikophobie‘ oder auch und nicht zuletzt an eine wertneutrale Haltung. Welche Haltung angemessen (oder moralisch vertretbar) ist, lässt sich – so scheint es zumindest der gesunde Menschenverstand nahezulegen – freilich nur im konkreten Fall entscheiden. Ob z. B. Offenheit gegenüber dem Fremden eine Tugend (Weltoffenheit, Toleranz etc.) oder eine Form der moralischen Schwäche (Kollaboration, Selbstverleugnung etc.) ist, hängt vom Charakter des Fremden und vom Zustand des Eigenen ab.

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 3 Formen und Funktionen mythologischer Alterität

offenkundig, dass die Herausgeber und die Beiträger des Bandes nicht nur aus der Beobachterperspektive auf diese Differenz schauen, sondern auch eine Mitspielerperspektive haben. Da sie selbst in der nachmythischen Zeit leben, und nicht zugleich auf beiden Seiten der historischen Schwelle stehen (können), ist die mythische Zeit für sie immer schon eine fremde Zeit. Einerseits werden also durch die Herausgeber und die Beiträger zwei menschheitsgeschichtliche Epochen (Differenz) unterschieden, andererseits unterscheiden sich die Herausgeber und Beiträger mit dieser Differenz gewissermaßen selbst bzw. ihre eigene Gegenwart von einer anderen Epoche (Fremdheit). Insofern kommen in der Titelwahl und der Problemstellung des angesprochenen Bandes zwei komplementäre Perspektiven zum Tragen, die man mit dem Begriff der Alterität zusammenfassen kann. Dabei kann man diesen Befund guten Gewissens für den Mythosdiskurs verallgemeinern. Denn wenn – um weitere Exempel zumindest anzudeuten – in Theorien des Mythos Unterscheidungen getroffen werden (etwa Vergangenheit und Gegenwart, Vormoderne und Moderne, Naturvölker und zivilisierte Hochkulturen, wildes Denken und wissenschaftliches Denken), dann hat man es einerseits mit Differenzen zu tun, also Unterscheidungen im Medium eines Allgemeinen, aber andererseits immer auch mit einer Unterscheidung von Eigenem und Fremdem, da der Mythostheoretiker immer schon in der Gegenwart, in der Moderne, in einer zivilisierten Hochkultur und als Akademiker im wissenschaftlichen Denken ‚zu Hause‘ ist. Dementsprechend ist es geboten, im Hinblick auf den Mythosdiskurs von Alterität und damit von den zwei verwandten, aber eben nicht gleichzusetzenden Perspektiven auszugehen – zumal gerade die Spannung zwischen einem scheinbar neutralen Unterscheiden (Differenz) und einem ganz und gar nicht neutralen Sich-selbst-unterscheiden (Fremdheit) ein Merkmal des modernen Mythosdiskurses zu sein scheint. Berücksichtigt man bei einer Untersuchung des Mythosdiskurses nur die Differenzperspektive, übersieht man die Betroffenheit, die Eingebundenheit und die perspektivische Beschränkung desjenigen, der über den Mythos spricht (z. B. des Ethnologen, der scheinbar unparteiisch ein mythisches vom wissenschaftlichen Denken unterscheidet). Zugleich unterschlägt man das beachtliche Moment der Inkommensurabilität im Mythosdiskurs, das immer dann zum Tragen kommt, wenn man bei der Beschäftigung mit dem Mythos an Erkenntnisbarrieren stößt (z. B. wenn Ethnologen betonen, als moderner Europäer könne man das mythische Denken der Naturvölker gar nicht nachvollziehen) oder den Gegenstand nicht zu fassen bekommt (z. B. wenn betont wird, dass die Ursprünge des Mythos im Dunkel der prähistorischen Zeit liegen). Reduziert man dagegen die Rede vom Mythos auf den Aspekt der Fremdheit, unterschlägt man das Abstraktions- und



3.2 Der Mythos als Zeugnis des kulturell Fremden 

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Reflexionspotential im Mythosdiskurs, das sich z. B. in einer nachdrücklichen Distanzierung vom Eigenen niederschlagen kann, etwa wenn der Mythos zum Fluchtpunkt der Zeit- und Kulturkritik wird. An dieser Stelle kann somit festgehalten werden, dass mit dem Begriff der mythologischen Alterität bewusst zwei Perspektiven zusammengeführt werden, weshalb man statt von mythologischer Alterität auch von der mythologischen Differenz von Eigenem und Fremdem sprechen kann. Im Folgenden soll anhand zahlreicher Beispiele illustriert werden, inwiefern gerade Differenzen von Eigenem und Fremdem zum einen im theoretisch-wissenschaftlichen Mythosdiskurs thematisch werden und zum anderen die Rede vom Mythos (bisweilen auch unterschwellig) strukturieren. Dabei wird die Differenz von Eigenem und Fremdem durchaus auf unterschiedliche Weise konkretisiert oder inhaltlich gefüllt, was angesichts der bereits mehrfach betonten Heterogenität des Mythosdiskurses nicht verwunderlich ist. Trotzdem kann man eine Konstante des Mythosdiskurses bzw. eine Gemeinsamkeit verschiedener Mythoskonzeptionen darin erkennen, dass der Mythos meist als Zeugnis des Fremden wahrgenommen und gedeutet wird, wobei sowohl der soziale und der kognitive als auch der normative und der befremdende Aspekt der Fremdheit zum Tragen kommen. Um allerdings die Bandbreite dieser Konstante oder Gemeinsamkeit angemessen abzubilden, sollen drei Formen mythologischer Alterität unterschieden werden, denen sich Mythoskonzeptionen zuordnen lassen und die zugleich jeweils eine spezifische Funktion des Mythos bzw. der Denkgewohnheit ‚Mythos‘ begründen.

3.2 „Züge des Fremdartigen und von uns Entfernten“: Der Mythos als Zeugnis des kulturell Fremden 3.2.1 Der Mythos und das kulturell Fremde: Vorbemerkungen 1796 erörtert Johann Gottfried Herder in einem fiktionalen Dialog mit dem Titel „Iduna, oder der Apfel der Verjüngung“, der in Schillers Monatsschrift Die Horen erscheint, die Frage, welche Mythentradition am ehesten die Rolle einer deutschen Nationalmythologie auszufüllen vermag: „Vor einigen Jahren ertönte unten am Parnaß ein Ruf, daß oben auf dem Parnaß einige Deutsche Dichter für unsere Nation und Sprache den Gebrauch der griechischen Mythologie abschaffen, dagegen aber die Isländische einführen wollten.“ (Herder 1998: 155) Herder bricht eine Lanze für die isländische Mythologie und lässt deren Fürsprecher im Dialog konstatieren, „daß die Bilder, die in dieser Mythologie […] gegeben werden, unserm nordischen Gefühl angemessener sind als die morgenländischen Bilder“

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 3 Formen und Funktionen mythologischer Alterität

(Herder 1998: 169–170).6 Die Dialogform bietet zudem die Möglichkeit, erwartbare Einwände vorwegzunehmen und zu entkräften, z. B. die folgende Nachfrage: „wie und woher aber sind diese Szenen [gemeint sind die isländischen Mythen, d. Verf.] für uns Deutsche einheimisch? Ein Teil der Fabeln ist fürchterlich nordpolarisch“ (Herder 1998: 162). Der Fürsprecher der isländischen Mythologie weist diesen Einwand keineswegs zurück und räumt unumwunden ein, dass die isländische Mythologie zweifelsohne „Züge des Fremdartigen und von uns Entfernten“ (Herder 1998: 163) aufweist. Er beharrt allerdings darauf, dass gerade in der Ferne wertvolle Entdeckungen zu machen sind: „Suchst Du bei ihnen Sitten nach unsrer Weise? bedörfte es einer Reise ins Land der Helden und der Vorzeit, um Weichlichkeiten zu finden?“ (Herder 1998: 167) Ohne der Debatte über eine angemessene Nationalmythologie an dieser Stelle weiter nachzugehen, kann man festhalten, dass in Herders fiktionalem Dialog eine Spannung thematisiert wird, die für den Mythosdiskurs der Moderne charakteristisch ist: Diese Spannung erwächst daraus, dass sich das eigene Interesse am Mythos (ja nicht selten sogar die affirmative Zuwendung zum Mythos) auf einen Gegenstand richtet, der scheinbar immer schon ein Zeugnis des „Fremdartigen und von uns Entfernten“ darstellt. Dass man sich bei der Beschäftigung mit dem Mythos (auch) dem „von uns Entfernten“ widmet, lässt sich wohl nicht vermeiden, denn: „Mythentraditionen finden sich v. a. bei den antiken Hochkulturen und den sog. Naturvölkern.“ (Simonis 2008: 525) Diese schlichte Feststellung in einem einschlägigen Lexikonartikel kann man einerseits als Hinweis auf die Universalität des Mythos verstehen. Andererseits dokumentiert sie ein Paradigma der zeitlichen wie räumlichen Distanz und der kulturellen Ferne, das die moderne Denkgewohnheit ‚Mythos‘ prägt. Oder einfacher ausgedrückt: Mythoskonzeptionen ‚finden‘ ihren Gegenstand nicht zuletzt in fremden Kulturen der Vergangenheit und der Gegenwart.7 Dementsprechend wird die Rede vom Mythos häufig durch Differenzen von Eigenem und Fremdem strukturiert. Wenn in Herders fiktionalem Dialog die isländische Mythologie als „nordpolarisch“ bezeichnet und somit als kulturell fremd charakterisiert wird, dann ist das eine spezifische Zuschreibung, für die sich in der Rede vom Mythos zahlreiche Äquivalente finden lassen. So wird der Mythos wahlweise als archaisch, prähistorisch, primitiv, vormodern, vorwissenschaftlich, prälogisch, polytheistisch 6 Zugleich wird freilich betont, dass man „die griechische Mythologie nicht herabsetzen, nicht kränken“ wolle, sondern sie vielmehr als „die gebildetste der Welt“ erachte (Herder 1998: 171). 7 Andrew Von Hendy fasst die entsprechenden Mythoskonzeptionen pointiert wie folgt zusammen: „the conception of myth as a kind of narrative that others, ancient or ‚primitive,‘ remote in time or in space, have regarded as sacred“ (Von Hendy 2002: 77).



3.2 Der Mythos als Zeugnis des kulturell Fremden 

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oder animistisch bezeichnet. Diese Aufzählung, die sich leicht fortsetzen ließe, dokumentiert einerseits die Vielfalt der Perspektiven auf den Mythos und offenbart zugleich eine Einheit in der Vielfalt: Denn die aufgezählten Attribute sind allesamt – zumindest vom Standpunkt der modernen abendländischen Zivilisation und somit vom Standpunkt der (meisten) Mythosinterpreten – Attribute des Fremden und verweisen darauf, dass der Mythos (um die Formulierung Herders aufzugreifen) „für uns“ nicht „einheimisch“ ist. Jürgen Mohn bringt diese Wahrnehmung, die häufig nicht von Projektionen zu trennen ist, auf den Punkt, wenn er den Mythos als einen „Fremdheitstopos par excellence“ (Mohn 1998: 17) bezeichnet. Bei der in Rede stehenden Fremdheit handelt es sich freilich nicht um die „alltägliche und normale Fremdheit, die innerhalb der jeweiligen Ordnung verbleibt, so etwa die Fremdheit von Nachbarn oder Straßenpassantinnen, mit denen wir uns auf alltägliche Weise verständigen können“ (Waldenfels 1999: 35). Wie die aufgezählten Attribute illustrieren, verortet man den Mythos gerade nicht „innerhalb der jeweiligen Ordnung“ (d. h. der eigenen Ordnung), sondern erkennt in diesem vielmehr das Zeugnis einer fremden Ordnung. Insofern hat man es mit einer „strukturellen Fremdheit“ zu tun, „die all das betrifft, was außerhalb einer bestimmten Ordnung anzutreffen ist“ (Waldenfels 1999: 36).8 In diesem Sinne gehört der Mythos je nach Betrachtung z. B. zu einer archaischen, einer primitiven oder einer vormodernen Ordnung, wobei sich der Betrachter selbst in der Regel nicht in einer archaischen, primitiven oder vormodernen, sondern in einer zivilisierten und modernen Ordnung zu Hause wähnt. Die eigene Welt ist scheinbar immer schon von der fremden Welt durch eine Schwelle getrennt – durch einen historischen Bruch oder eine räumliche Distanz, durch zivilisatorischen Fortschritt oder eine intellektuelle Entwicklung.9 Mythologische Alterität manifestiert sich offenkundig nicht zuletzt darin, dass der Mythos als Zeugnis einer fremden kulturellen Ordnung – oder kürzer: des kulturell Fremden – betrachtet bzw. ‚gedacht‘ wird. Was in den bisherigen Ausführungen angedeutet wurde, soll im Folgenden anhand zahlreicher 8 Beispiele für das strukturell Fremde sind laut Waldenfels „etwa der fremde Festkalender, die fremde Sprache, die wir nicht verstehen, das fremde Ritual oder selbst nur der Ausdruck eines Lächelns, dessen Sinn und Funktion uns verschlossen bleibt, oder ein vergangener Zeitgeist, der uns nichts mehr sagt. Nicht nur in der Naturgeschichte, auch in der Kulturgeschichte gibt es Fossilien und Sedimentierungen, deren Sinn verschwunden ist.“ (Waldenfels 1999: 36) 9 Waldenfels unterscheidet in Anlehnung an Husserl Heim- und Fremdwelt: „Blicken wir auf Ordnungen, die das Leben im ganzen betreffen, indem sie eine bestimmte Lebenswelt oder Lebensform erzeugen, so stoßen wir auf eine Scheidung der Lebenswelt in ‚Heimwelt‘ und ‚Fremdwelt‘. Diese Unterscheidung, die Husserl eingeführt hat, entspricht der bekannten Zweiheit von Eigen- und Fremdgruppe.“ (Waldenfels 1999: 36)

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 3 Formen und Funktionen mythologischer Alterität

Beispiele aus dem wissenschaftlich-theoretischen Mythosdiskurs belegt werden. Dabei wird sich gleichsam automatisch die folgende Einschätzung Jürgen Mohns bestätigen: „Eine Theorie des Mythos ist insofern – und war dies auch schon immer – eine Theorie des fremden Mythos und nicht des eigenen.“ (Mohn 1998: 238) Allerdings wird bei der Vorstellung und Analyse der betreffenden Mythoskonzeptionen noch einmal zu differenzieren sein, da der Mythos in verschiedenen Hinsichten als Zeugnis des kulturell Fremden auftritt bzw. auf ­verschiedene Weisen zum Zeugnis des kulturell Fremden ‚gemacht‘ wird. Die Feststellung, Mythentraditionen fänden sich vor allem bei antiken Hochkulturen und den Naturvölkern, legt z. B. nahe, mindestens eine zeitlich-vertikale und eine räumlich-­ horizontale Ausprägung kultureller Differenz im Mythosdiskurs zu unterscheiden.10 Auf diese Differenzierung aufbauend, wird im Folgenden dokumentiert, inwiefern der Mythos zum einen als Zeugnis einer ‚fremden‘ Vergangenheit und fremder Kulturen der Gegenwart, zum anderen aber auch als Zeugnis einer vormodernen Lebenswelt und als Ausdruck einer fremden Weltsicht wahrgenommen, gedeutet und instrumentalisiert wird. Zuvor allerdings noch ein Hinweis, um Missverständnissen vorzubeugen: Man sollte es nicht als ein Zeichen moderner Traditionsvergessenheit und Gegenwartsfixierung interpretieren, wenn der Mythos als Zeugnis des kulturell Fremden in den Blick genommen wird. Zumindest sollte man die folgende Feststellung Hans-Thies Lehmanns bezüglich der antiken griechischen Tragödie zur Kenntnis nehmen: Der Mythos ist der Tragödie inhärent, aber zugleich dreifach fremd: als Stoff aus einer anderen Epoche, als Produkt einer nicht mehr unangefochtenen Denkweise und gegeben in einer Form, der epischen vor allem, gegen die sich der neue Diskurs des tragischen Theaters abhebt. Demnach sind ein stofflicher, ein „weltanschaulicher“ und ein ästhetischer Aspekt zu unterscheiden. Was die stoffliche Kontinuität betrifft, so hat der Umstand, daß die Tragiker fast ausschließlich ihre sujets aus Heldensage und Göttermythologie bezogen, meist das Problem der Distanz zwischen Tragödie und Mythos verdeckt. (Lehmann 1991: 15)

Die Geschichte des Mythos als Zeugnis des kulturell Fremden ist demnach wohl älter als der moderne Mythosdiskurs und vielleicht kann man in diesem Zusammenhang sogar von einer Denkgewohnheit der longue durée ausgehen. Auf jeden Fall werden im Folgenden zahlreiche Beispiele aus der Geschichte der Mythostheorie und der Mythosdeutung illustrieren, dass bei der Beschäftigung mit dem 10 Die vertikale Differenz ist die Differenz zwischen der fremden bzw. fremd gewordenen Vergangenheit und der eigenen Gegenwart, die horizontale Differenz ist dagegen die Differenz zwischen der eigenen und einer fremden gleichzeitigen Kultur (vgl. Strohschneider 1997: 58).



3.2 Der Mythos als Zeugnis des kulturell Fremden 

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Mythos zumindest seit dem Zeitalter der Aufklärung nicht zuletzt „Züge des Fremdartigen und von uns Entfernten“ in den Blick geraten und sich bisweilen gerade deshalb neue Perspektiven eröffnen.

3.2.2 Mythische oder nachmythische Zeit? Der Mythos als Zeugnis einer fremd gewordenen Vergangenheit (I) Der Mythosbegriff lässt sich bekanntlich bis in die griechische Antike zurück­ verfolgen – und genau wie der Begriff stammt auch ein großer Teil des Anschauungsmaterials, an dem sich Theorien und Konzeptionen des Mythos bis heute abarbeiten, aus einer fernen Vergangenheit. Wer sich ein Bild vom Mythos macht, orientiert sich nicht zuletzt an jenen ‚Mythen alter Kulturen‘, denen der ReclamVerlag eine Buchreihe mit Einführungen gewidmet hat, die von der ägyptischen über die aztekische und keltische bis zur römischen Mythologie reichen. Der Mythos, so suggeriert nicht nur der Titel der Reihe, ist vor allem eines: jahrtausendealt. Dementsprechend wirbt der Verlag auch mit folgendem Rückseitentext um potentielle Leser: „Die Reihe Mythen alter Kulturen verbindet in vorbildlicher Weise Text und Bild. Historischer Überblick, Mythenerzählung und bildliche Darstellung der mythischen Geschehnisse ergänzen sich zu einer lebendigen Einführung in jahrtausendealte Zeugnisse des menschlichen Geistes.“ (Page 1993) Diese Selbstauskunft betont die historische Distanz zum Mythos, die in Jahrtausenden gemessen wird, freilich nicht ohne rhetorisch eine Brücke „des menschlichen Geistes“ in die Gegenwart zu schlagen. Auf jeden Fall lässt das Versprechen einer „lebendigen Einführung“ das Bewusstsein (oder die Befürchtung?) der Herausgeber erahnen, dass die mythologischen Inhalte dem Leser von heute eben gerade nicht als lebendig, sondern vielleicht eher als fremd, historisch überlebt oder schlicht als tote Materie erscheinen könnten. Nun mag man einwenden, dass der Mythos als Zeugnis einer fernen Vergangenheit nicht gleichsam automatisch als Zeugnis des Fremden betrachtet werden muss. Erscheint nicht gerade im Hinblick auf den Mythos die Beobachtung zutreffend, „dass das räumlich Entfernte häufiger als Fremdes identifiziert wird, während das zeitlich Entfernte eher als Urform des Eigenen gelten kann“ (Jostes 2004: 108)? Ist es nicht angemessen, den Mythos in Gestalt der griechischrömischen Mythologie als Teil des eigenen europäischen Kulturerbes zu betrachten und dementsprechend als frühes Zeugnis einer nach wie vor verbindlichen und sogar vorbildlichen Classical Tradition (vgl. Highet 1959)? Man könnte schließlich sogar in den außereuropäischen Mythentraditionen der Vergangenheit die Wurzeln des Eigenen wiedererkennen, etwa im Sinne einer frühen Entwicklungsstufe der Menschheit. Immerhin verwendet selbst James George Frazer

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 3 Formen und Funktionen mythologischer Alterität

in seinem epochemachenden Werk The Golden Bough ein eigenes Kapitel darauf, uns an unsere Schuldigkeit gegenüber den frühen Menschen (und den Wilden) – „Our debt to the savage“ – zu erinnern (vgl. Frazer 1929: 262–264). Es wäre vor diesem Hintergrund töricht zu leugnen, dass der Mythos als Zeugnis der Vergangenheit auch dem kulturellen ‚Eigentum‘ zugeschlagen werden könnte, mit dem man vertraut ist und dessen Wert man anerkennt. Der Mythos würde sich in diesem Fall weder in einem kognitiven noch in einem sozialen oder normativen Sinne als fremd darstellen. Dessen ungeachtet darf man freilich nicht ignorieren, dass uns das Vergangene prinzipiell auch fremd sein kann und tatsächlich häufig fremd ist. Nicht ohne Grund hat Bernhard Waldenfels sein Konzept der strukturellen Fremdheit unter anderem wie folgt konkretisiert: „Die Fremdheit steigert sich mit dem Auftreten einer strukturellen Fremdheit, die all das betrifft, was außerhalb einer bestimmten Ordnung anzutreffen ist, so etwa […] ein vergangener Zeitgeist, der uns nichts mehr sagt.“ (Waldenfels 1999: 36) Ganz in diesem Sinne offenbart sich mythologische Alterität nicht selten gerade darin, dass der Mythos als Zeugnis fremder Kulturen der Vergangenheit wahrgenommen und interpretiert wird. Und es bedarf wohl keiner ausführlichen Erläuterung, dass sich z. B. der Mythos in Gestalt der griechischen Mythologie in dem Maße als Zeugnis des Fremden darstellt, in dem uns die antike Kultur der Griechen fremd (geworden) ist. Immerhin weist selbst ein ausgewiesener Fürsprecher des antiken griechischen Erbes wie Karl Kerényi auf die Züge des Fremdartigen in der antiken griechischen Kultur hin und wählt sein Beispiel dafür nicht zufällig aus einem Urtext der literarischen Mythosrezeption: Den ersten großen Eindruck von dem Charakteristischen und Andersartigen, dem von den uns geläufigen Weisen des Lebens Verschiedenen, erhielten wir alle beim Lesen Homers, als wir im ersten Gesang der Ilias zur Schilderung des Versöhnungsopfers an Apollon gelangten. Bis dahin war uns alles vertraut, sogar der Zorn des Gottes und seine allzumenschlichen Gründe. Aber diese Art der Sühne und der Gottgefälligkeit, die das Abschlachten und Verspeisen von hundert schönen Rindern fordert, sie ist uns fremdartig genug. (Kerényi 1995: 165)

Auch wenn einem vieles in der griechischen Mythologie – wie in anderen Mythentraditionen – bekannt, vertraut und auf eine vielleicht unbestimmte Weise nahe erscheint, stößt man doch unweigerlich immer wieder auf Fremdartiges und Befremdliches, das daran erinnert oder darauf zurückgeführt werden kann, dass der Mythos aus einer fernen und damit eben auch mehr oder weniger fremden Zeit stammt.11 Es scheint schon aus diesem Grund auch im Hinblick auf die 11 Man könnte an dieser Stelle auf Genauigkeit beharren und z. B. Christian Gottlob Heynes Vorlesung aus dem Jahr 1777 anführen, in welcher der Göttinger Altphilologe darauf insistiert, dass der Mythos selbst älter ist als die homerischen Epen (also streng genommen kein Zeugnis der



3.2 Der Mythos als Zeugnis des kulturell Fremden 

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Denkgewohnheit ‚Mythos‘ und die sie prägende mythologische Alterität ratsam, „das zeitlich Entfernte“ nicht voreilig und pauschal als „Urform des Eigenen“ (Jostes 2004: 108) zu betrachten, sondern vielmehr Norbert Mecklenburgs Vorschlag zu folgen und „kulturelle Alterität […] als die übergreifende Kategorie [aufzufassen, d. Verf.]: fremd ist uns das zeitlich oder räumlich Ferne gerade in dem Maße, wie es uns kulturell fremd ist“ (Mecklenburg 1989: 266).12 Man muss freilich noch einen Schritt weitergehen: Denn die vertikale bzw. diachrone Form der mythologischen Alterität (vgl. Strohschneider 1997: 58)13 lässt sich nicht auf die vielleicht etwas trivial anmutende Feststellung reduzieren, dass uns die Mythologie der alten Griechen deshalb in mancher Hinsicht fremd erscheint, weil wir selbst keine alten Griechen (mehr) sind. Vielmehr kann man feststellen, dass der Mythos nicht selten in einem weitreichenderen Sinne als Zeugnis einer fremden Zeit oder einer fremd gewordenen Vergangenheit wahrgenommen und interpretiert wird. Man kann diese Sicht des Mythos wohl kaum treffender auf den Punkt bringen als im Rückgriff auf einen einschlägigen Buchtitel: Mythen in nachmythischer Zeit (Seidensticker/Vöhler 2002a). Das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart stellt sich in dieser Formulierung unter dem Gesichtspunkt nicht der Kontinuität, sondern des Bruchs dar – in Gestalt einer historischen Schwelle, die Fremdes (mythische Zeit) von Eigenem (nachmythische homerischen Zeit darstellt): „Meiner Meinung nach also liegt Homers vorzüglichstes dichterisches Verdienst darinn, daß er Fabeln alter Kosmogonien und Theogonien, die ursprünglich zum Behuf physikalischer Erklärungen bestimmt waren, in die epische Erzählung aufnahm, und als wahre, aus der ältesten Menschengeschichte geschöpfte Begebenheiten darzustellen wußte.“ (Heyne 1779: 7) Für die hier verfolgte Argumentation ist dieser Punkt freilich insofern unerheblich, als dass der Mythos sich auch in Heynes Perspektive als Zeugnis einer fernen Epoche der Menschheitsgeschichte präsentiert, die uns gewissermaßen sogar noch fremder sein muss als die Zeit Homers. 12 Vgl. zum Begriff der kulturellen Alterität auch Raible 1998: Laut Raible folgt die Wahrnehmung kultureller Alterität aus der Prägung durch das eigene kulturelle Gedächtnis. Dass dem zeitgenössischen Menschen in einer globalisierten und zugleich synchronisierten Welt tendenziell nicht mehr das räumlich Ferne, sondern das Vergangene fremd ist und bleibt, hat Botho Strauß mit seiner Wortschöpfung des ‚Zeitfremden‘ auf einen literarischen und zugleich kulturkritischen Punkt gebracht: „Auf der Suche nach dem Fremden verschwimmen die Unterschiede im geographischen Raum, treten sie deutlicher hervor in der zeitlichen Unstimmigkeit. Der Zeitfremde und die Einsässigen ihrer Zeit, gleich aus welchem Haus oder Land.“ (Strauß 1997: 24–25) 13 Peter Strohschneider unterscheidet – mit Blick auf die germanistische Praxis – eine vertikale und eine horizontale Ausprägung kultureller Alterität: „In der Literaturwissenschaft ist ‚­Alterität‘ Leitbegriff (1) für den mediävistischen Diskurs über die kulturell-historische (vertikale) Distanz zwischen Mittelalter und Moderne sowie (2) für den kulturwissenschaftlichen Diskurs über die (horizontale) Differenz zwischen der deutschen/deutschsprachigen Kultur und anderen gleichzeitigen literarischen Kulturen, insbesondere im Fach Deutsch als Fremdsprache.“ (Strohschneider 1997: 58)

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Zeit) trennt.14 Diese Sicht des Mythos ist keineswegs ungewöhnlich und es lassen sich zahlreiche Konzeptionen und Theorien des Mythos anführen, die ihren Gegenstand als Produkt einer Vergangenheit betrachten, die – im Bezug auf die Gegenwart (gemeint ist damit natürlich jeweils die Gegenwart des Mythostheoretikers) – sich nicht nur graduell andersartig (und somit unter Umständen als Vorform des Eigenen), sondern kategorisch fremd darstellt. Das Postulat einer Differenz von mythischer und nachmythischer Zeit liegt beispielsweise der folgenden Unterscheidung von Mythos und Kunstmythos zugrunde: Nach und neben den ursprünglichen Mythen gibt es viele Formen der Kunstmythen in späteren Geschichtsphasen. Für Aischylos und Hesiod werden die Mythen, die sie dichterisch gestalten, noch lebenswirksam gewesen sein; wenn Apollonios Rhodios jedoch im dritten vorchristlichen Jahrhundert seine Argonautica schreibt, nimmt er dieselbe kritische Distanz ein wie Ovid in den Metamorphosen und Gustav Schwab in den Schönsten Sagen des klassischen Altertums. (Brandt 2004: 16)

Die Unterscheidung von ursprünglichem Mythos und späterem Kunstmythos deckt sich mit der Unterscheidung einer mythischen Zeit, in der der Mythos lebenswirksam war (also geglaubt oder als wahr betrachtet wurde), und einer nachmythischen Zeit, in der der Mythos seine Lebenswirksamkeit und Verbindlichkeit eingebüßt hat. Selbstredend lebt derjenige, der den Mythos in den Blick nimmt und die Unterscheidung von ursprünglichem Mythos und späteren Kunstmythen trifft, immer schon in jenen „späteren Geschichtsphasen“ der nachmythischen Zeit. Somit erweist sich auch die Differenz von ursprünglichem Mythos und späteren Kunstmythen letztendlich als eine Differenz von Fremdem und Eigenem. Das Muster, den Mythos als Zeugnis einer fremden Zeit zu betrachten, konkretisiert sich außerdem in der Annahme, der Mythos sei die typische Ausdrucksform einer Menschheit, die sich noch im Kindheitsstadium befindet. „Mythen sind Geschichten aus der Kindheit der Welt“ – mit diesem Slogan wirbt ein deutscher Verlag zu Beginn des 21. Jahrhunderts für eine Reihe von literarischen Neubearbeitungen mythologischer Stoffe.15 Ob bewusst oder unbewusst wird damit an ein jahrhundertealtes Mythosverständnis angeknüpft. Beispielhaft sei hier an Giambattista Vico und dessen Deutung des Mythos zu Beginn des 18. Jahrhunderts erinnert – „in many ways the most profound of his century“ (Feldman/Richardson 14 Freilich lassen sich beide Perspektiven – Kontinuität und Bruch – auch trefflich kombinieren, da die Behauptung von historischer Kontinuität gerade dann gewichtig wird, wenn damit historische Brüche überspannt werden. 15 Bei dem Verlag handelt es sich um den Deutschen Taschenbuch Verlag, und zu den Neubearbeitungen mythologischer Stoffe zählt unter anderen Margaret Atwoods Die Penelopiade: Der Mythos von Penelope und Odysseus aus dem Jahr 2007.



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1972: 50). Vico betrachtet Mythen als Erzählungen aus dem Kindheitsstadium der Menschheit und geht davon aus, „daß […] die ersten Menschen des Heidentums, da sie ganz einfach waren wie Kinder, die von Natur wahrhaft sind, in den Mythen nichts falsches erfinden konnten; weshalb diese notwendig so sind, wie wir sie oben erklärt haben: wahre Erzählungen“ (Vico 1924: 174). Es ist bemerkenswert, dass Vico – im Zeitalter der Aufklärung – die Wahrheit des Mythos betont. Zugleich verortet er die Mythen als „wahre Erzählungen“ freilich „vor den Zeiten der Reflexion“ (Vico 1924: 174)16 und identifiziert damit einen Bruch, der die Kindheit vom Erwachsenendasein des Menschengeschlechts trennt. Vico würdigt den Mythos zwar, anstatt ihn als Ausdruck eines primitiven Aberglaubens zu verwerfen, aber er würdigt ihn als Zeugnis einer anderen Zeit, in der der Mensch noch Kind war.17 Nun kann ein erwachsener Mensch die Tatsache, dass seine Kindheit unwie­ derbringlich hinter ihm liegt, auf sehr konträre Weise betrachten. Er kann  bei­spielsweise im Ende der Kindheit einen unvermeidlichen und letztlich begrü­ ßenswerten Entwicklungsschritt heraus aus der Unmündigkeit erkennen. Oder aber er verbucht das Ende der Kindheit bedauernd als Verlusterfahrung (z. B. als Verlust der kindlichen Unschuld). Auch in der Einschätzung des Mythos als Zeugnis eines fremden mythischen Zeitalters finden sich solche Positionen, selbst wenn man nicht von der Kindheit des Menschengeschlechts, sondern ‚bloß‘ von früheren Zeiten spricht. Um der Anschaulichkeit Willen kann man vereinfachend von folgender Konstellation ausgehen: Der aufklärerischen Haltung, die es tendenziell begrüßt (und – einer Fortschrittslogik folgend – meist auch unvermeidlich findet), dass man in einer nachmythischen Zeit lebt,18 steht die 16 Zur Verdeutlichung hier noch einmal das vollständige Zitat: „Die Ironie konnte jedenfalls nicht vor den Zeiten der Reflexion entstehen, denn sie wird aus Falschem gebildet, kraft einer Reflexion, die sich die Maske der Wahrheit vorhält. Hier tritt ein wichtiger Grundzug der menschlichen Dinge zu Tage, der den in diesem Werk entdeckten Ursprung der Dichtung bestätigt: daß nämlich die ersten Menschen des Heidentums, da sie ganz einfach waren wie Kinder, die von Natur wahrhaft sind, in den Mythen nichts falsches erfinden konnten; weshalb diese notwendig so sind, wie wir sie oben erklärt haben: wahre Erzählungen.“ (Vico 1924: 174) 17 Der Vollständigkeit wegen sei an dieser Stelle erwähnt, dass Vico nicht der Erste und auch in seinem Jahrhundert nicht der Einzige ist, der den Mythos als Zeugnis aus dem Kindheitsstadium der Menschheit betrachtet. Christoph Jamme weist in seiner Einführung in die Philosophie des Mythos darauf hin, dass sich die „These vom Mythos als Vorstellungs- und Ausdrucksform der Kindheit des Menschengeschlechts“ bis in die Antike zurückverfolgen lässt und im 18. Jahrhundert auch der Altphilologe Christian Gottlob Heyne an diese Tradition anknüpft (Jamme 1991: 24). 18 In diesem Zusammenhang ist an die Formel ‚Vom Mythos zum Logos‘ zu erinnern, die auf Wilhelm Nestle zurückgeht (Nestle 1940) und längst – losgelöst von Nestles Studie – zu einer festen (wenn auch oft kritisch hinterfragten) Redewendung geworden ist. Sie gilt als Inbegriff einer Sichtweise, die den Mythos als Chiffre einer – durch den Triumph der Rationalität – überwundenen Entwicklungsstufe menschlicher Kultur und Zivilisation betrachtet.

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Ansicht gegenüber, dass der Bruch zwischen mythischer und nachmythischer Zeit (auch) als Verlust zu begreifen und zu bedauern ist. Ein historisches Beispiel für eine aufklärerische Haltung, die den Mythos als Zeugnis einer überwundenen Vergangenheit betrachtet, bietet David Hume in seiner Natural History of Religion (1757). Hume betrachtet den Mythos als Ausdruck polytheistischer Religiosität, bei der es sich um die erste und älteste Form der menschlichen Religiosität handele: It appears to me, that, if we consider the improvement of human society, from rude beginnings to a state of greater perfection, polytheism or idolatry was, and necessarily must have been, the first and most ancient religion of mankind. […] Behold then the clear testimony of history. The farther we mount up into antiquity, the more do we find mankind plunged into polytheism. (Hume 1964: 310)

Den Mythos betrachtet Hume als Zeugnis aus den Anfängen der Menschheitsgeschichte (zumindest aber der von Hume verfolgten Naturgeschichte der Religion), die dem aufgeklärten Menschen des 18. Jahrhunderts – als „rude beginnings“ – befremdlich anmuten. Daran ändert auch Humes psychologische Erklärung des Ursprungs der Mythen nichts: We may conclude, therefore, that, in all nations, which have embraced polytheism, the first ideas of religion arose not from a contemplation of the works of nature, but from a concern with regard to the events of life, and from the incessant hopes and fears, which actuate the human mind. Accordingly, we find, that all idolaters, having separated the provinces of their deities, have recourse to that invisible agent, to whose authority they are immediately subjected, and whose province it is to superintend that course of actions, in which they are, at any time, engaged. JUNO is invoked at marriages; LUCINA at births; NEPTUNE receives the prayers of seaman […]. (Hume 1964: 315)

Laut Hume bringen die Mythen menschliche Hoffnungen und Ängste zum Ausdruck und offenbaren zugleich die intellektuellen Defizite der frühen Menschheit. Dies wird insbesondere dort deutlich, wo Hume darüber spekuliert, was den polytheistischen Menschen in seiner Anschauung der Welt bewegt: Not speculative curiosity surely, or the pure love of truth. That motive is too refined for such gross apprehensions; and would lead men into enquiries concerning the frame of nature, a subject too large and comprehensive for their narrow capacities. No passions, therefore, can be supposed to work upon such barbarians, but the ordinary affections of human life; the anxious concern for happiness, the dread of future misery, the terror of death, the thirst of revenge, the appetite for food and other necessaries. (Hume 1964: 315–316)

Wer den Mythos menschheitsgeschichtlich in einem Kontext verortet, der durch Ausdrücke wie „gross apprehensions“, „narrow capacities“ oder „barbarians“



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markiert wird, der dürfte einem mythischen Zeitalter bzw. einer Zeit, in der der Mythos ‚lebenswirksam‘ war, keine Träne nachweinen.19 Dagegen wird von anderer Seite ebenfalls im 18. Jahrhundert – unter dem Eindruck des Siegeszuges der Aufklärung – die Überwindung des mythischen Zeitalters und der ihm entsprechenden Weltsicht als Verlusterfahrung beklagt. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die Klage besonders eindrücklich von Dichtern vorgebracht wird, wie z. B. in den folgenden Zeilen aus Friedrich Schillers „Die Götter Griechenlandes“: „Wo jetzt nur, wie unsre Weisen sagen,/ Seelenlos ein Feuerball sich dreht,/ Lenkte damals seinen gold’nen Wagen/ Helios in stiller Majestät.“ (Schiller 1992: 162) Schillers elegisches Gedicht arbeitet sich an der Differenz von Damals und Jetzt, von mythischer Vergangenheit und nachmythischer Gegenwart, ab. Dabei bestimmt nicht Kontinuität, sondern ein menschheitsgeschichtlicher Bruch das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart: „Wie ganz anders, anders war es da!“ (Schiller 1992: 162) Und so werden vor der Folie der fremd gewordenen Vergangenheit die Defizite der eigenen, nachmythischen Zeit kritisch in den Blick gerückt. Wo die Natur in der mythischen Zeit im Zeichen einer animistischen Weltsicht voller lebendiger Würde und Schönheit erscheint, wird die seelische und ästhetische Verarmung der eigenen Zeit mit ihrer ­wissenschaftlich-rationalistischen Weltsicht bedauert: „Traurig such’ ich an dem Sternenbogen,/ Dich Selene find‘ ich dort nicht mehr,/ Durch die Wälder ruf‘ ich, durch die Wogen,/ Ach! sie widerhallen leer!“ (Schiller 1992: 165) Das Einzige, was bleibt, sind die Mythen als Zeugnisse einer verlorenen Zeit, gewissermaßen als ästhetischer Nachhall: „Schöne Welt, wo bist du? Kehre wieder/ Holdes Blüten­alter der Natur!/ Ach nur in dem Feenland der Lieder/ Lebt noch deine fabelhafte Spur.“ (Schiller 1992: 164)20

19 Dabei ist Hume allerdings konsequent und beschränkt seine Kritik nicht auf den polytheistischen Mythos, sondern weitet sie auch auf die monotheistischen Religionen bzw. die Offenbarungsreligionen und die deistischen Strömungen seiner Zeit aus. Man könnte sogar sagen, dass Hume einen skeptischen Blick auf die menschliche Rationalität im Allgemeinen wirft: „in Hume, for the first time in any significant way, myth becomes an embarrassment for free thought and atheism, and for rationality as well. But this is not because Hume found new intellectual power in myth. On the contrary, Hume maintains an enlightenment contempt for myth. Myth has no intellectual value or strength; it is only that reason now shows itself unexpectedly weak and limited.“ (Feldman/Richardson 1972: 157) 20 Nur wenige Jahre später gesteht auch der englische Romantiker William Wordsworth in einem Sonett: „I’d rather be/ A Pagan suckled in a creed outworn;/ So might I, standing on this pleasant lea,/ Have glimpses that would make me less forlorn;/ Have sight of Proteus rising from the sea;/ Or hear old Triton blow his wreathèd horn.“ (zitiert nach Löffler/Späth 1998: 154–155) Auch für Wordsworth bildet die Annahme eines unhintergehbaren historischen Bruchs („a creed outworn“) den Ausgangspunkt einer Kritik an der eigenen, nachmythischen Gegenwart und

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Es ist offenkundig, wie konträr die Positionen Humes und Schillers sind. Trotzdem lassen sie sich auf dieselbe Prämisse zurückführen. Denn sowohl für Hume als auch für Schiller ist der Mythos das Produkt und der Ausdruck einer Zeit, die nicht bloß in der Vergangenheit, sondern jenseits eines historischen Bruchs liegt. Dementsprechend gewährt der Mythos als menschheitsgeschichtliches Fossil einen Blick in eine fremde oder fremd gewordene Vergangenheit – ganz gleich, ob man mit einem Seufzer der Erleichterung oder voller Melancholie zurückblickt.

3.2.3 Vormoderne oder Moderne? Der Mythos als Zeugnis einer fremd gewordenen Vergangenheit (II) Konzeptionen und Theorien des Mythos, die in ihrem Gegenstand das Zeugnis einer fremden Vergangenheit erkennen, unterscheiden sich unter anderem darin, wo sie die Trennlinie zwischen der (fremden) mythischen und der (eigenen) nachmythischen Zeit ziehen. Im vorangehenden Unterkapitel wurde z. B. die These vorgestellt, der lebenswirksame Mythos sei schon während der Antike zum Kunstmythos, also von einem Objekt des Glaubens zu einem ästhetischen Objekt mutiert. (Man könnte die Schwelle freilich auch noch früher oder generell mit dem Übergang von einer oralen Kultur zu einer Schriftkultur ansetzen.) Eine prominente Untergruppe bilden in diesem Zusammenhang jene Konzeptionen des Mythos, bei denen die Unterscheidung von mythischer und nachmythischer Zeit deckungsgleich mit der Unterscheidung von vormoderner und moderner Welt ist. Offensichtlich ergeben sich auch in diesem Fall große Datierungsspielräume, abhängig davon, wann man den Beginn der Moderne ansetzt. Was aber die entsprechenden Theorien und Konzeptionen verbindet, ist die Verortung des Mythos als Zeugnis einer dezidiert vormodernen Welt, die noch nicht im Zeichen einer ­wissenschaftlich-technischen Rationalität, der Industrialisierung oder der Säkularisierung steht, um nur einige Stichworte zu nennen. „Mythology is usually thought to belong to pre-industrial society“, stellt z. B. Terry Eagleton in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der modernistischen Mythomanie fest (Eagleton 1998: 281). Und wenn Friedrich Schiller, wie im vorangehenden Unterkapitel ausgeführt, im melancholischen Rückblick auf ein mythisches Zeitalter die Seelenlosigkeit und Naturvergessenheit der eigenen Zeit beklagt, dann formuliert er damit eine Kritik an der Moderne und an deren wissenschaftlich-rationalistischem Weltbild. eines sehnsuchtsvollen Blicks zurück in eine Zeit, als der Mythos noch ‚lebenswirksam‘ war. Die Ähnlichkeit der Gedichte ist – was den Inhalt betrifft – frappierend.



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Dass eine Kultur- und Modernekritik, die den Mythos als vormodernen und damit unbelasteten Fluchtpunkt wählt, auch in späteren Jahrzehnten Konjunktur hat, sollte angesichts der dramatischen wissenschaftlich-technischen wie sozialen und kulturellen Entwicklungen im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts nicht überraschen. Zugleich aber dient jene vormoderne Welt im Zeichen des Mythos auch den Verteidigern der Moderne immer wieder als (negative) Folie für ihre Selbstverortung. Repräsentanten beider Positionen, und damit eine prominente Ausprägung mythologischer Alterität, sollen im Folgenden vor- und gegenüber­ gestellt werden. Dass die betreffenden Beiträge zum Mythosdiskurs aus der Mitte des 20. Jahrhunderts stammen, ist insofern kein Zufall, als zu dieser Zeit sowohl der Triumph als auch die Tragik der Moderne besonders offenkundig erscheinen mussten. Was Schiller im ausgehenden 18. Jahrhundert beklagt, ist auch im 20. Jahrhundert noch ein Grund für den melancholischen Blick zurück: „Die Mythe belehrt uns über manches, das die Wissenschaft vergessen hat.“ (Jünger 1947: 9) Diese Hoffnung äußert in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts Friedrich Georg Jünger.21 In der Einführung zu seinem mythographischen Werk Griechische Mythen entfaltet Jünger eine Mythoskonzeption, mit der er zugleich eine Kritik an der eigenen Zivilisation bzw. an der europäischen Moderne formuliert. Diese steht in Jüngers Augen einseitig im Zeichen von Wissenschaft, Technik und Rationalität. Man lebe gegenwärtig im „Zustand jener Ungewißheit, der mit dem Fortgang des wissenschaftlich exakten Wissens genau zusammenhängt, auf dem Höhepunkt der Organisation und der damit verbundenen Schutzlosigkeit des Menschen“ (Jünger 1947: 9) bzw. „in einer Zeit, die dem Technischen viel einräumt, in einer Zeit der rationalen Planung, die alles umfassen, alles in sich einbeziehen möchte“ (Jünger 1947: 12). Vor diesem Hintergrund erscheint der Mythos (oder die ‚Mythe‘, wie Jünger zu sagen pflegt) als Zeugnis einer nicht bloß fernen, sondern bedauerlicherweise auch fremd gewordenen Vergangenheit. Diese Sichtweise offenbart sich gleich am Anfang in Jüngers Hinweis auf ‚Verständnis- und Übersetzungsschwie­ rigkeiten‘, also auf Schwierigkeiten, die üblicherweise bei der Begegnung mit dem Fremden auftreten: „Indem wir uns mit der Mythe beschäftigen, werden

21 Friedrich Georg Jünger – „nach dem Krieg ein viel gelesener und mit Preisen ausgezeichneter Dichter, Essayist und Kulturkritiker, der als Vortragsredner insbesondere wegen seiner technikkritischen Position gefragt war“ (Voller 2014: 230) – hat streng genommen keinen mythostheoretischen Beitrag vorgelegt, aber vertritt und popularisiert als Mythograph eine (vom einzelnen Stoff abstrahierende) Mythoskonzeption. Erwähnung verdient er freilich auch deshalb, weil sich seine Mythoskonzeption – wie noch gezeigt wird – mythostheoretisch als anschlussfähig erweist.

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wir oft gezwungen, sie geistiger und weniger sinnlich zu fassen, als sie ist. Es ist das kein Vorzug, den wir vor den Bildnern der Mythe voraushaben, sondern ein Mangel an Imagination, der unser abstrakt gewordenes Denken bezeichnet.“ (Jünger 1947: 7) Bereits in diesen ersten Zeilen hebt Jünger nachdrücklich auf eine Differenz von Gegenwart und Vergangenheit ab, die offenkundig nicht nur als graduelle Abweichung begriffen wird, sondern im Zeichen eines menschheitsgeschichtlichen Bruchs steht – durch „unser abstrakt gewordenes Denken“ haben wir uns von „den Bildnern der Mythe“ geradezu kategorisch entfernt und stehen nun auf der anderen Seite jener Schwelle, die das Eigene vom Fremdgewordenen trennt. Doch was kann einem ‚die Mythe‘ – angesichts dieses Befundes – in der Gegenwart noch bedeuten? Dürfen wir aber unser eigenes Anliegen in ihr suchen? Dürfen wir nicht nur auslegen, sondern auch etwas in sie hineinlegen? Aber wer auslegt, der legt hinein – das ist eine Formel alles Verstehens. Das Vergangene muß Gegenwart werden, um als ein Vergangenes betrachtet werden zu können. Es gilt aber, die Entsprechungen zu beachten, und das ist nicht immer leicht. Unser Denken ist nicht mythisches Denken, sondern Denken über die Mythe. Wir denken nicht, wie die Griechen dachten, sondern wir überdenken, was sie dachten. (Jünger 1947: 9)

Es gibt für Jünger offenbar kein Zurück in die uns fremd gewordene Vergangenheit, keinen Sprung über die Schwelle, aber vielleicht doch – so Jüngers ­Hoffnung  – die Möglichkeit jener Vergangenheit unter den Bedingungen der Gegenwart noch einmal Relevanz und Aktualität zu verschaffen. Gerade weil der Mythos ein Zeugnis des Fremden ist, empfiehlt er sich dem Gegenwarts- und Zivilisationskritiker als Remedium gegen die als eklatant wahrgenommenen Defizite der eigenen Epoche: Da die Anwendbarkeit, die Nutzbarmachung des Wissens den homo faber, der eine vernutzende Spezies Mensch ist, so sehr beschäftigt, ist es gut, wenn wir über die Muße der griechischen Götter, des grieschischen [sic!] Menschen nachdenken. Wenn wir das Ohr an die Erde legen, werden wir manches hören, vielleicht gar jene panische Stimme der Natur, die den meisten fremd und unverständlich klingt, denn wie weit, wie unermeßlich weit haben sich die phallischen Götter von uns zurückgezogen. […] Die ausschließliche Beschäftigung mit der Naturwissenschaft hat uns belehrt, doch muß man einsehen, daß sie uns in dem Maße, in dem sie uns belehrte, auch ein wenig verdummt hat; sie hat den Geschmack an den geistigeren Geschäften, die der Mensch treibt, abgestumpft. (Jünger 1947: 12)

Jünger warnt davor, einzig der eigenen Zeit mit ihrer naturwissenschaftlichen Weltsicht verhaftet zu bleiben, und rät, auch den fremden Stimmen aus der Vergangenheit – also dem Mythos – ein Ohr zu leihen. Die Relevanz des Mythos erwächst für Jünger demnach gerade daraus, dass dieser als Fremdkörper in der eigenen Zeit erscheint, somit von deren Makeln unberührt ist und daher als



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Fluchtpunkt einer nachdrücklichen Zeit- und Zivilisationskritik dienen kann. Der Mythos wird gewissermaßen kompensatorisch beschworen – gegen die Einseitigkeiten und Verkürzungen der eigenen, im Zeichen einer naturwissenschaftlichen Hegemonie stehenden Epoche.22 Dementsprechend hält Jünger es auch für fatal, den Mythos als Ausdruck einer historisch überwundenen Infantilität des Menschengeschlechts abzuwerten. Vielmehr wirft er den Kritikern, die dies tun, selbst kindliche Naivität vor: Wir wiederholen mythische Situationen, ohne daß uns die Wiederholung zum Bewußtsein kommt. Inmitten einer Zeit des Titanismus haben wir vergessen, wie oft er schon über­ wunden worden ist. Der Mensch, der die Mythen für Fabeln hält, wie sie Kindern hinter dem Ofen erzählt werden, ist unbelehrbar, und wie die Kinder muß er am Messer und Feuer immer von neuem lernen, was schneidet und brennt. (Jünger 1947: 8)23

Dass Friedrich Georg Jünger mit seiner Haltung zum Mythos in der Mitte des 20. Jahrhunderts keineswegs eine Außenseiterposition einnimmt, verrät ein Blick auf die Mythostheorie des Religionswissenschaftlers Mircea Eliade, die den Mythos ebenfalls als Zeugnis aus einer dem modernen Menschen bedauerlicherweise fremd gewordenen Vergangenheit profiliert. Zunächst einmal betrachtet Eliade den Mythos freilich als Zeugnis des Heiligen: „Der Mythos erzählt eine heilige Geschichte“ (Eliade 1957: 56). Doch was ist in diesem Zusammenhang unter dem Heiligen zu verstehen? „Die erste Definition des Heiligen ist: daß es den Gegensatz zum Profanen bildet.“ (Eliade 1957: 8) Dabei stehen das Heilige und das Profane bei Eliade für zwei konträre Formen des In-der-Welt-Seins: „Der Leser wird bald sehen, daß das Heilige und das Profane zwei Weisen des In-derWelt-Seins bilden, zwei existentielle Situationen, die der Mensch im Lauf seiner Geschichte ausgebildet hat.“ (Eliade 1957: 10) Das Heilige bezeichnet in diesem

22 Friedrich Georg Jünger selbst scheint ‚das Ohr an die Erde gelegt‘ zu haben – zumindest ­literarisch mit der titelgebenden Erzählung seines Bandes Dalmatinische Nacht: Erzählungen (Jünger 1950). Auch Jüngers älterer Bruder, Ernst, hat sich nach dem 2. Weltkrieg literarisch um das Mythische – im Sinne einer kompensatorischen metaphysischen Qualität bzw. getrieben von einer metaphysischen Sehnsucht – bemüht, wie dessen Biograph Paul Noack im Hinblick auf die Erzählung Besuch auf Godenholm feststellt: „Dort suchen die Beteiligten nach einem Orakelspruch, der den ‚Nihilismus‘ der Nachkriegszeit überwinden soll; es ist […] Gegenstück zur ‚Kahlschlag-Literatur‘ der frühen Nachkriegszeit, der Jünger eine mythenumrankte Innerlichkeit entgegensetzte.“ (Noack 1998: 243) 23 Vgl. Voller zur Einordnung der Jüngerschen Mythoskonzeption: „Jünger möchte […] gegen die vermeintlich rationalistischen Tendenzen seiner Zeit ein ursprüngliches, reines und irrationalistisches Verständnis des Mythos etablieren und bekennt sich somit zu jener Mode ‚heutiger Archaik‘, gegen die Adorno und Horkheimer 1944 ihren berühmten Odyssee-Exkurs ins Feld geführt hatten.“ (Voller 2014: 231)

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Sinne die Weltanschauung und Ontologie des religiösen Menschen, das Profane dagegen die Weltanschauung und Ontologie des nicht-religiösen Menschen. Dabei deutet sich freilich schon an, dass es sich bei der Unterscheidung von Heiligem und Profanem nicht nur um eine systematische Unterscheidung handelt, sondern genau genommen um eine systematisch anmutende, sich aber historisch konkretisierende Unterscheidung. Denn die Unterscheidung von Heiligem und Profanem deckt sich (zumindest zu einem guten Teil) mit der zeitlichen Unterscheidung von Vergangenheit und Gegenwart, von vormoderner und moderner Welt: Unsere Untersuchung soll vor allem zeigen, daß der religiöse Mensch immer bemüht ist, in einem heiligen Universum zu leben, und daß folglich sein ganzes Erleben anderer Art ist als das Erleben des Menschen ohne religiöses Gefühl, des Menschen, der in einer desakralisierten Welt lebt. Hier sei jedoch gleich gesagt: die in ihrer Totalität desakralisierte Welt, der gänzlich desakralisierte Kosmos, ist eine neue Entdeckung in der Geschichte des menschlichen Geistes. Es ist nicht unsere Aufgabe, zu zeigen, durch welche geschichtlichen Prozesse und infolge welcher Veränderungen in der geistigen Einstellung der moderne Mensch seine Welt desakralisiert und eine profane Existenz angenommen hat. Uns genügt die Feststellung, daß die Desakralisierung das Gesamterlebnis des nicht religiösen Menschen der modernen Gesellschaften kennzeichnet, und daß es für diesen infolgedessen immer schwieriger wird, die existentiellen Dimensionen des religiösen Menschen der archaischen Gesellschaften wiederzufinden. (Eliade 1957: 9)

Die Unterscheidung von Heiligem und Profanem wird durch die Personifizierung im „religiösen Menschen der archaischen Gesellschaften“ auf der einen und dem „nicht religiösen Menschen der modernen Gesellschaften“ auf der anderen Seite greifbar. Zwischen beiden Positionen steht der historische Bruch der Desakralisierung – und so muss sich das Heilige dem Menschen der Moderne (also des eigenen Zeitalters) als das Fremde darstellen.24 Dementsprechend gewinnen das Heilige und das Profane in Eliades Analyse vor allem in ihrer Gegensätzlichkeit bzw. als Differenz an Profil, wie das folgende Beispiel aus Kosmos und Geschichte (1949) unterstreicht, bei dem zugleich der Mythos ins Spiel kommt:

24 Bei der Vergangenheit, um die es hier geht (also einer Vergangenheit im Zeichen des Heiligen), handelt es sich nicht um eine historisch konkrete Epoche, sondern um Vergangenheit (besser noch: Vergangenheiten) in einem umfassenderen geschichtsphilosophischen Sinne: „Um zu zeigen, was die Existenz einer dem Sakralen zugewandten Welt auszeichnet, werden wir Beispiele anführen, die aus einer großen Anzahl von Religionen verschiedener Zeitalter und Kulturen ausgewählt sind. […] Babylonier, Inder und Chinesen, die Kwakiutl und andere primitive Völker werden uns Beispiele liefern.“ (Eliade 1957: 10–11)



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Das Kernproblem meiner Forschungen betrifft das Bild, das der Mensch der archaischen Gesellschaften sich von sich selbst und von der Stellung gemacht hat, die er im Kosmos einnimmt. Der Hauptunterschied zwischen dem Menschen der archaischen und traditionsbezogenen und dem Menschen der modernen Gesellschaften mit ihrer starken Prägung durch das Juden-Christentum liegt in der Tatsache, daß der erste sich untrennbar mit dem Kosmos und den kosmischen Rhythmen verbunden fühlt, während der andere darauf besteht, nur mit der Geschichte verbunden zu sein. Natürlich hat der Kosmos für den archaischen Menschen auch eine „Geschichte“, wenn auch vielleicht nur deshalb, weil er eine Schöpfung der Götter ist und als von übernatürlichen Wesen oder mythischen Helden geordnet betrachtet wird. Aber diese „Geschichte“ des Kosmos und der menschlichen Gesellschaft ist eine „heilige Geschichte“, bewahrt und weitergegeben durch Mythen. Mehr noch, es ist eine „Geschichte“, die unbegrenzt wiederholt werden kann insofern, als die Mythen als Vorbilder für Zeremonien dienen, die periodisch die ungeheuerlichen Ereignisse am Beginn der Zeiten wieder wirklich werden lassen. (Eliade 1994: 10–11)

Eliade verortet den Mythos in der Sphäre des Heiligen und macht ihn so zum Zeugnis einer archaischen und traditionsbezogenen Vergangenheit. Konkret sieht Eliade den Mythos dabei als das Medium heiliger Geschichten, in denen die Verbundenheit des religiösen Menschen mit seinem Kosmos begründet wird. Der  Mythos gibt als Schöpfungsbericht einerseits Auskunft über Ursprünge: „Jeder Mythos erzählt, wie eine Realität entstand, sei es nun die totale Realität, der Kosmos, oder nur ein Teil davon, eine Insel, eine Pflanzenart, eine menschliche Einrichtung.“ (Eliade 1957: 57) Andererseits fungiert er als ‚Gebrauchsanweisung‘ („die Mythen als Vorbilder“) dafür, wie die Verbundenheit mit den Ursprüngen gewahrt werden kann. Somit ermöglicht es der Mythos dem religiösen Menschen, seinen Kosmos als begründet, sinnhaft und bedeutsam wahrzunehmen. Am Beispiel des Ackerbaus – und im Kontrast zur profanen Landwirtschaft in modernen Gesellschaften – lässt sich diese Funktion des Mythos in Eliades Theorie gut ­verdeutlichen: So ist, wie wir sehen werden, der Ackerbau ein durch die Götter oder die kulturbringenden Heroen geoffenbartes Ritual und damit zugleich ein reales und bedeutsames Tun. Denken wir zum Vergleich an den Ackerbau in einer desakralisierten Gesellschaft, wo er zu einem profanen, einzig durch den Gewinn gerechtfertigten Tun geworden ist: man pflügt die Erde, um sie auszubeuten, um Gewinn und Nahrung aus ihr zu ziehen. (Eliade 1957: 56)

Indem Eliade den Ackerbau einerseits als geheiligtes Tun, mit dem man den Göttern und Heroen nachfolgt, andererseits als profane Überlebensstrategie darstellt, betont er einen grundsätzlichen Unterschied zwischen archaischer Vergangenheit und moderner Gegenwart. Man mag sich angesichts dieser Charakterisierungen an Schillers elegisches Gedicht erinnert fühlen. Schließlich hatte auch Schiller die Beseeltheit der Natur in der Weltanschauung des mythischen Zeitalters mit der Seelenlosigkeit der Natur in der wissenschaftlichen

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Weltanschauung des nachmythischen Zeitalters kontrastiert und seiner eigenen Zeit in diesem Punkt ein (ästhetisches) Armutszeugnis ausgestellt. Eliades Rückgriff auf den Mythos als Zeugnis des Heiligen geht offenkundig mit einer Kritik an der eigenen Gegenwart einher – einer Kritik an der säkularisierten (oder in Eliades Worten: desakralisierten) Moderne, die dem Profanen verhaftet ist und den Sinn für das Heilige verloren hat. Eine Pointe dieser Kritik ist dann freilich Eliades Feststellung, dass das Heilige auch in der profanen Gegenwart noch zu seinem Recht kommt – und dabei das Selbstverständnis des modernen, areligiösen Menschen unterläuft: Doch, wie wir schon gesagt haben, ist der gänzlich areligiöse Mensch, selbst in den am stärksten desakralisierten modernen Gesellschaften, ein seltenes Phänomen. Die meisten ‚religionslosen‘ Menschen verhalten sich immer noch religiös, wenn sie sich dessen auch nicht bewußt werden. […] Man könnte ein ganzes Buch schreiben über die Mythen des modernen Menschen, über die getarnten Mythologien in den Schauspielen, die er bevorzugt, und in den Büchern, die er liest. Das Kino, diese ‚Traumfabrik‘ macht sich zahllose mythische Motive zunutze […]. Selbst die Lektüre hat eine mythologische Funktion: sie ersetzt nicht nur die Mythenerzählung in der archaischen Gesellschaft und die mündlich überlieferte Dichtung, die heute noch in den ländlichen Gemeinschaften Europas lebt, sondern sie bietet vor allem dem modernen Menschen die Möglichkeit ‚aus der Zeit herauszutreten‘, ähnlich wie die Mythen es früher taten. (Eliade 1957: 121)

Die zuvor anschaulich aufgebaute mythologische Differenz zwischen den archaischen, traditionsbezogenen und dem Mythos verpflichteten Gesellschaften der Vergangenheit und den modernen Gesellschaften der Gegenwart beginnt mit dieser argumentativen Wendung oder Pointe zu oszillieren. Eliade konstatiert die Wiederkehr des vermeintlich Fremdgewordenen und hält dem areligiösen Menschen der modernen Gesellschaften damit den Spiegel vor. Eine provokative Absicht darf man dabei durchaus unterstellen, da Eliade dem modernen Menschen zuvor bereits ein schwieriges Verhältnis zum Heiligen bescheinigt hat: „Der moderne Abendländer empfindet ein gewisses Unbehagen gegenüber manchen Manifestationsweisen des Heiligen“ (Eliade 1957: 8). Es bleibt festzuhalten, dass auch Eliades Mythosverständnis im Zeichen der Alterität und im Brennpunkt einer zeitlich angelegten Differenz von Eigenem und Fremdem steht.25 Als heilige Geschichte ist der Mythos für Eliade zugleich 25 Genau genommen überschneiden sich bei Eliade verschiedene Zeugenschaften des Mythos – der Mythos ist zugleich Zeugnis der Vergangenheit, einer spezifischen Kultur bzw. Lebensweise sowie primitiver Kulturen: „Given his middle European origins and his years spent in India, Eliade felt that certain groups were particularly attuned to the sacrality of the cosmos, which they sensed in their relations to nature and expressed in their myths and rituals. In his writings, such groups constitute the (highly problematic) category of ‚the archaic,‘ whose chief representatives



3.2 Der Mythos als Zeugnis des kulturell Fremden 

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Zeugnis einer archaischen, traditionsbezogenen Vergangenheit und Zeugnis des Verdrängten in einer dem Profanen verhafteten Gegenwart. Im Zeichen der mythologischen Alterität wird die Beschäftigung mit dem Mythos so zur Kritik an der eigenen, in ihrer desakralisierten Ausrichtung als defizitär wahrgenommenen Zeit.26 Wie F. G. Jünger oder Mircea Eliade betrachtet auch der evangelische Theologe Rudolf Bultmann den Mythos als Zeugnis einer dem modernen Menschen fremden bzw. fremd gewordenen Vergangenheit – doch im Unterschied zu Jünger und Eliade sieht Bultmann darin kein Menetekel. Ganz im Gegenteil: Bultmann ist – wie er in Neues Testament und Mythologie: Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung (1941) ausführt – nicht an einer Würdigung, sondern an der endgültigen theologischen Überwindung des Mythos interessiert. Denn als Zeugnis einer fernen Vergangenheit ist der Mythos für ihn zugleich auch Zeugnis einer hoffnungslos überholten und daher intellektuell nicht mehr satisfaktionsfähigen Vergangenheit. Konkret sieht sich Bultmann als moderner Theologe mit dem folgenden Problem konfrontiert: „Das Weltbild des Neuen Testaments ist ein mythisches. […] Dem mythischen Weltbild entspricht die Darstellung des Heilsgeschehens, das den eigentlichen Inhalt der neutestamentlichen Verkündigung bildet.“ (Bultmann 1985: 12) Wenn aber das Neue Testament auf einem mythischen Weltbild aufbaut, stellt das die christliche Verkündigung in einer modernen Welt radikal in Frage: Kann die christliche Verkündigung dem Menschen heute zumuten, das mythische Weltbild als wahr anzuerkennen? Das ist sinnlos und unmöglich. Sinnlos; denn das mythische Weltbild ist als solches gar nichts spezifisch Christliches, sondern es ist einfach das Weltbild einer vergangenen Zeit, das noch nicht durch wissenschaftliches Denken geformt ist. Unmöglich; denn ein Weltbild kann man sich nicht durch einen Entschluß aneignen, sondern es ist dem Menschen mit seiner geschichtlichen Situation je schon gegeben. (­Bultmann 1985: 14)

are ancient India, the Romanian peasantry, and the ‚primitive‘ peoples known to German ethnography as Naturvölker.“ (Lincoln 1999: 142) 26 Der Mythos tritt bei Eliade auch als Zeugnis des radikal Fremden im Sinne des ‚ganz Anderen‘ auf: „Der heilige Stein, der heilige Baum werden nicht als Stein oder als Baum verehrt – sie werden verehrt, weil sie Hierophanien sind, weil sie etwas zeigen, was nicht mehr Stein oder Baum ist, sondern das Heilige, das ‚ganz andere‘. Man kann nie genug hervorheben, daß jede Hierophanie – auch die elementarste – ein Paradoxon darstellt. Indem er das Heilige offenbart, wird der Gegenstand zu etwas ‚ganz anderem‘ und bleibt doch weiterhin er selbst, denn er hat weiterhin teil an seiner kosmischen Umwelt.“ (Eliade 1957: 8–9) So betrachtet könnte man Eliades Mythostheorie auch im noch folgenden Kapitel zum Mythos als Zeugnis des radikal Fremden unterbringen. Doch wie bereits angedeutet, sind solche Überschneidungen im Mythosdiskurs keine Seltenheit, sondern Ausdruck einer komplexen Denkgewohnheit ‚Mythos‘.

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 3 Formen und Funktionen mythologischer Alterität

Bultmann konstatiert explizit eine vertikale Differenz zwischen Eigenem und Fremdem. Das Fremde ist in diesem Fall eine Vergangenheit, die durch ein mythisches Weltbild und „noch nicht durch wissenschaftliches Denken geformt ist“. Diese Zeit entzieht sich „dem Menschen heute“, der sich sein geschichtlich bestimmtes Weltbild schließlich „nicht durch einen Entschluß aneignen“ kann. Die eigene kulturelle Ordnung, die Welt des „Menschen heute“, ist somit durch eine Schwelle von der fremden kulturellen Ordnung einer mythischen Zeit unwiderruflich getrennt. Deshalb erscheinen schließlich auch die christlichen Glaubenssätze problematisch: Welterfahrung und Weltbemächtigung sind in Wissenschaft und Technik so weit entwickelt, daß kein Mensch im Ernst am neutestamentlichen Weltbild festhalten kann und festhält. Welchen Sinn hat es, heute zu bekennen: „niedergefahren zur Hölle“ oder „aufgefahren gen Himmel“, wenn der Bekennende das diesen Formulierungen zugrunde liegende mythische Weltbild von den drei Stockwerken nicht teilt? (Bultmann 1985: 15)

Ist also die christliche Verkündigung in einer durch Wissenschaft und Technik geprägten Moderne nicht mehr zu retten? Einen Ausweg sieht Bultmann in der Entmythologisierung der christlichen Botschaft und er wählt dafür folgenden Ansatzpunkt: „Der eigentliche Sinn des Mythos ist nicht der, ein objektives Weltbild zu geben; vielmehr spricht sich in ihm aus, wie sich der Mensch selbst in seiner Welt versteht; der Mythos will nicht kosmologisch, sondern anthropologisch – besser: existential interpretiert werden.“ (Bultmann 1985: 22) Bultmanns Projekt der Entmythologisierung ist demnach mit einer Umdeutung des Mythos verbunden, wie Robert Segal bemerkt: „Im demythologisierten Zustand handelt der Mythos nicht mehr von der Welt, sondern vom menschlichen Erleben der Welt. […] Mythen sind damit nicht mehr nur primitiv, sie werden universell.“ (Segal 2007: 69) Nun ist Bultmann nicht primär an einem universellen Mythosbegriff interessiert (‚überzeitlich‘ wäre wahrscheinlich ein ebenso angemessenes, vielleicht sogar treffenderes Adjektiv). Aber es geht ihm darum, das Mythische des Neuen Testaments so auszulegen, dass es auch „dem Menschen heute“ etwas zu sagen vermag und nicht länger im Widerspruch zum Weltbild einer durch Wissenschaft und Technik geprägten Gegenwart steht. Dabei ist sich der Theologe bewusst, dass manche Zeitgenossen sein Anliegen als vergebliche Liebesmüh betrachten werden: Wir haben versucht, die Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung durchzuführen. Blieb ein mythologischer Rest? Wer es schon Mythologie nennt, wenn von Gottes Tun, von seinem entscheidenden eschatologischen Tun, die Rede ist, für den gewiß. Aber jedenfalls ist dann solche Mythologie nicht mehr Mythologie im alten Sinne, die mit dem Untergang des mythischen Weltbildes versunken wäre. Denn das Heilsgeschehen, von dem wir reden, ist nicht ein mirakelhaftes, supranaturales Geschehen, sondern es ist geschichtliches Geschehen in Raum und Zeit. (Bultmann 1985: 63)



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Auf jeden Fall fungiert der Mythos – zumindest bevor er im Zuge einer Entmythologisierung umgedeutet wird – bei Bultmann als Fremdheitstopos, wie auch Christina Ernst herausstellt: Relevant wird der Begriff des Mythos, des Mythischen oder Mythologischen für ihn als Bezeichnung der Darstellungsform biblischer, vor allem neutestamentlicher Texte. Diese ist insofern mythisch, als sie einem früheren, uns heute nicht mehr verständlichen Deutesystem und damit verbundenen Weltbild angehört. Der Begriff des Mythos bezeichnet ein geschichtliches Phänomen der Vergangenheit und markiert dessen Fremdheit und Unzugänglichkeit für unser heutiges, modernes Denken. (Ernst 2009: 240)

Bultmann belässt es allerdings nicht dabei, eine kulturelle Differenz zwischen der fremden, durch eine mythische Weltsicht geprägten Vergangenheit und der eigenen Gegenwart zu betonen, sondern er betrachtet diese Differenz – ohne Sehnsucht oder Melancholie – als unhintergehbar und scheint sie mit seinem Projekt einer Entmythologisierung noch zu zementieren. Im Übrigen liefert Bultmann ein anschauliches Beispiel dafür, warum man Fremdheit nicht vorschnell auf eine bloße Zuschreibung, Projektion oder subjektive Interpretation von Differenz reduzieren sollte. Sein Ansatzpunkt ist immerhin der Befund, dass das Neue Testament „dem Menschen heute“ (d. h. dem Theologen wie dem einfachen Gläubigen oder Bibelleser) in vielerlei Hinsicht unverständlich und befremdlich erscheint (und zwar schon bevor sich dieser Gedanken über Mythisches oder über theologische Herausforderungen macht). Diese Fremdheitserfahrung führt Bultmann nun darauf zurück, dass das Neue Testament von einem mythischen Weltbild durchdrungen ist. Damit führt er eine polare Differenz ein – mythisches Weltbild vs. modernes Weltbild –, die der Erklärung der vorgängigen Fremdheitserfahrung dient. Die Denkgewohnheit ‚Mythos‘ erweist sich so als Differenzmaschine, die die ‚passende‘ Vogelperspektive (Differenz zwischen dem Einen und dem Anderen) zur Innensicht (Fremdheitserfahrung) bereitstellt. Abschließend bleibt zu vermerken, dass sowohl Jünger und Eliade als auch Bultmann den Mythos als Produkt und Ausdruck einer Zeit interpretieren, die dezidiert vormodern ist und daher dem modernen Menschen fremd anmutet. Während Jünger und Eliade diese Entfremdung kritisch sehen, betrachtet Bultmann sie als historische Selbstverständlichkeit. Wie unschwer zu erkennen ist, stellen die betreffenden Mythoskonzeptionen auch Konzeptionen der Moderne dar – ganz im Sinne der Feststellung Robert Segals: „Theories of myth are never theories of myth alone.“ (Segal 1996: vii) So entwirft Jünger das Bild einer Moderne, die durch Abstraktion und eine Dominanz der Technik gekennzeichnet ist, während Eliade die Moderne als Epoche der Säkularisierung bzw. der Desakralisierung im Blick hat und Bultmann sie vor allem mit einem (natur-)

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wissenschaftlichen Weltbild verbindet. Hier zeichnet sich deutlich eine Funktion der mythologischen Alterität ab: Die Beschäftigung mit dem Fremden – in diesem Falle mit einer vormodernen Welt im Zeichen des Mythos – ist zugleich Reflexion des Eigenen.

3.2.4 Primitive oder zivilisierte Gesellschaften? Der Mythos als Zeugnis fremder Kulturen der Gegenwart In seiner Einführung in die Philosophie des Mythos registriert Christoph Jamme für den Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert eine Neuausrichtung im Mythosdiskurs: Sucht man […] die um die Jahrhundertwende einsetzende Neubewertung des Mythos auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, dann ist dieser zuerst in der Erschütterung des Fortschritts- und Zivilisationsglaubens zu suchen, zu der die Religionsethnologie und die Tiefenpsychologie das Ihrige beitrugen: man begann sich ernsthaft mit dem Denken der Naturvölker zu beschäftigen. (Jamme 1991: 91)

Folgt man Jammes Diagnose, wird die allgemeine Vorstellung, die man sich vom Mythos macht, spätestens mit Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr nur durch die „Mythentraditionen“, die sich „bei den antiken Hochkulturen“ finden, geprägt, sondern auch durch die Mythentraditionen bei „den sog. Naturvölkern“ (Simonis 2008: 525). Neben den Mythos als Zeugnis einer fernen Vergangenheit (also des historisch oder zeitlich Fremden) tritt der Mythos als zeitgenössisches Zeugnis fremder Kulturen (also des räumlich oder geographisch, in jedem Fall aber zivilisatorisch Fremden). Die mythologische Alterität realisiert sich in letzterem Fall – und in Abgrenzung zur vertikalen Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart – als horizontale Differenz zwischen der eigenen und einer gleichzeitig existierenden fremden Kultur.27 Oder noch einmal anders ausgedrückt: Die diachrone, altertumswissenschaftliche Perspektive wird durch die synchrone, ethnologische Perspektive ergänzt.28

27 Zur Unterscheidung von vertikaler und horizontaler Alterität vgl. nochmals Strohschneider 1997: 58. 28 Dass beide Perspektiven nicht nur nebeneinander existieren, sondern sich ergänzen können, illustriert die folgende These Edward B. Tylors in seinem Werk Primitive Culture (1871): „The general thesis maintained is that Myth arose in the savage condition prevalent in remote ages among the whole human race, that it remains comparatively unchanged among the modern rude tribes who have departed least from these primitive conditions“ (Tylor 1871: 257).



3.2 Der Mythos als Zeugnis des kulturell Fremden 

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Eindrucksvoll illustriert diese Ergänzung James George Frazer mit The Golden Bough – laut Robert Segal „the most popular work of anthropology ever written“ (Segal 1998: 37) und auf jeden Fall ein zentraler Text der klassischen Moderne und des modernen Mythosdiskurses.29 Frazers umfangreicher Beitrag zum Mythosdiskurs der Moderne lässt sich dabei eigentlich auf eine sehr konkrete und eng gefasste Zielstellung zurückführen, wie er 1922 im Vorwort zu einer gekürzten zweibändigen Ausgabe seines sukzessive auf 12 Bände angewachsenen Werkes angibt: „The primary aim of this book is to explain the remarkable rule which regulated the succession to the priesthood of Diana at Aricia.“ (Frazer 1929: v) Den Ausgangspunkt bildet demnach ein altertumswissenschaftliches Problem, das jedoch von Frazer anthropologisch ausgeweitet wird. Diese Ausweitung der Problemstellung, über den ursprünglichen Gegenstand hinaus, stilisiert Frazer dabei selbst durchaus treffend als Forschungs- und Entdeckungsreise: „It will be long and laborious, but may possess something of the interest and charm of a voyage of discovery, in which we shall visit many strange foreign lands, with strange foreign peoples, and still stranger customs. The wind is in the shrouds: we shake out our sails to it, and leave the coast of Italy behind us for a time.“ (Frazer 1929: 8–9) Ferne Länder, fremde Völker sowie seltsame Sitten und Gebräuche – so markiert Frazer sein Untersuchungsfeld und vertraut offenbar darauf, dass seine Leser vom Reiz des Fremden gepackt werden. Die Fremde, die es zur erkunden gilt, erstreckt sich dabei einerseits zeitlich in die Vergangenheit, andererseits geographisch in die Ferne. Die beachtliche Breite seines Gegenstandsbereiches – „the practice of putting kings to death either at the end of a fixed period or when­ ever their health and strength began to fail“ (Frazer 1929: v) – deutet der Autor schon in seinem bereits zitierten Vorwort an: A striking instance of a limited monarchy of this sort is furnished by the powerful mediaeval kingdom of the Khazars in Southern Russia, where the kings were liable to be put to death either on the expiry of a set term or whenever some public calamity, such as drought, dearth, or defeat in war, seemed to indicate a failure of their natural powers. […] Africa, again, has supplied several fresh examples of a similar practice of regicide. (Frazer 1929: vi)

Bevor man sich jedoch Frazers Exkursionen in eine fremd anmutende Vergangenheit und zu den primitiven Völkern der Gegenwart widmet, bleibt noch zu erläutern, welche Rolle dem Mythos bei diesem Vorhaben zukommt.

29 T. S. Eliot würdigt das Werk in den Anmerkungen zu seinem Gedicht The Waste Land (1922) wie folgt: „To another work of anthropology I am indebted in general, one which has influenced our generation profoundly; I mean The Golden Bough“ (Eliot 1971: 44).

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Frazers Mythosverständnis lässt sich der Myth and Ritual Theory zuordnen, also jenem Zweig der Mythostheorie, der Mythen stets in Verbindung mit Ritualen betrachtet.30 Ganz in diesem Sinne deutet Frazer den Mythos u. a. als (nachträgliche) Erklärung eines Rituals. Konkret identifiziert er etwa eine spezielle Form von Mythen: „that large class of myths which are made up to explain the origin of a religious ritual and have no other foundation than the resemblance, real or imaginary, which may be traced between it and some foreign ritual“ (Frazer 1929: 5). Dabei diene die Erklärung durch den Mythos z. B. der Plausibilisierung alter Rituale und Glaubensüberzeugungen, wie Frazer am Beispiel einer mythologischen Verwandlungsgeschichte erläutert: „The original character of Attis as a tree-spirit is brought out plainly by the part which the pine-tree plays in his legend, his ritual, and his monuments. The story that he was a human being transformed into a pine-tree is only one of those transparent attempts at rationalising old beliefs which meet us so frequently in mythology.“ (Frazer 1929: 352) Schließlich zielen Erklärungen und Plausibilisierungen durch den Mythos auch auf eine Begründung und Rechtfertigung von Ritualen ab, die sonst fragwürdig oder beliebig erscheinen würden. So verweist Frazer etwa auf einen Mythos, der begründet, warum dem Weingott Dionysos Ziegen geopfert werden müssen: The sacred animal was habitually spared, and only exceptionally slain; and accordingly the myth might be devised to explain either why it was spared or why it was killed. Devised for the former purpose, the myth would tell of some service rendered to the deity by the animal; devised for the latter purpose, the myth would tell of some injury inflicted by the animal on the god. The reason given for sacrificing goats to Dionysus exemplifies a myth of the latter sort. They were sacrificed to him, it was said, because they injured the vine. (Frazer 1929: 391)

Der Mythos erweist sich somit bei Frazer – ganz im Sinne der Myth and Ritual Theory – als Zeugnis fremder (und bisweilen zutiefst befremdlicher) Rituale – und erscheint so gleichsam (genau wie die Rituale selbst) als Zeugnis des kulturell Fremden in Vergangenheit und Gegenwart.

30 Einen Überblick über diesen produktiven Zweig der Mythostheorie bietet Robert Segals kommentierte Anthologie The Myth and Ritual Theory (Segal 1998). Eine Beschäftigung mit den entsprechenden Theorien ist auch und gerade unter dem Gesichtspunkt der mythologischen Alterität lohnenswert. So betrachtet z. B. William Robertson Smith, „[t]he pioneering myth-ritualist“, den Mythos als Erklärung eines Rituals, nachdem dessen ursprünglicher Sinn in Vergessenheit geraten ist (Segal 1998: 17) – und bestimmt damit den Mythos in einem engen Sinne als Zeugnis des (kulturell) Fremden bzw. des Fremdgewordenen.



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Das Material seiner Studien findet Frazer offenkundig nicht nur in einer fernen und archaisch anmutenden Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart, wie die folgenden Ausführungen zu einem westafrikanischen Brauch demons­ trieren: When the Alake or king of Abeokuta in West Africa dies, the principal men decapitate his body, and placing the head in a large earthen vessel deliver it to the new sovereign; it becomes his fetish and he is bound to pay it honours. Sometimes, in order apparently that the new sovereign may inherit more surely the magical and other virtues of the royal line, he is required to eat a piece of his dead predecessor. Thus at Abeokuta not only was the head of the late king presented to his successor, but the tongue was cut out and given him to eat. Hence, when the natives wish to signify that the sovereign reigns, they say, “He has eaten the king.” (Frazer 1929: 295)

Wenn Frazer diesen befremdlichen Brauch im Präsenz referiert, ist dies kein rhetorischer Kniff, sondern bringt lediglich die Gegenwärtigkeit des Beschriebenen zum Ausdruck: A custom of the same sort is still practised at Ibadan, a large town in the interior of Lagos, West Africa. When the king dies his head is cut off and sent to his nominal suzerain, the Alafin of Oyo, the paramount king of Yoruba land; but his heart is eaten by his successor. This ceremony was performed not very many years ago at the accession of a new king of Ibadan. (Frazer 1929: 295)

Der Anthropologe blickt an dieser Stelle nicht in eine ferne und längst fremd gewordene Vergangenheit, sondern in die geographische, aber kaum weniger befremdliche Ferne. Frazer scheint sich bewusst zu sein, dass er bei seiner ‚Forschungsreise‘ auf Praktiken stößt, die seinen Lesern durch und durch befremdlich erscheinen müssen und auch Einwände herausfordern, gerade wenn sie scheinbar jeder vernünftigen Logik entbehren: „To the view that in early times, and among barbarous races, kings have frequently been put to death at the end of a short reign, it may be objected that such a custom would tend to the extinction of the royal family.“ (Frazer 1929: 293) Doch Frazer begegnet dem möglichen Einwand und verweist schließlich, mit einer argumentativen Trumpfkarte, auf eine grundlegende kulturelle Differenz, die man in diesem Zusammenhang nicht ignorieren könne: „and, third, that even if the custom did tend to the extinction of a dynasty, that is not a consideration which would prevent its observance among people less provident of the future and less heedful of human life than ourselves“ (Frazer 1929: 293). Die ‚Logik‘ bzw. die Gewohnheiten der fremden, primitiven Völker unterscheiden sich – so insistiert Frazer – dramatisch von der eigenen Logik und den

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eigenen Gewohnheiten. Es wäre demnach ein Fehler, die primitiven Völker bzw. die Wilden nach den eigenen Maßstäben zu beurteilen bzw. diese Maßstäbe als universell zu betrachten: With such examples before us we need not hesitate to believe that many tribes have felt no scruple or delicacy in observing a custom which tends to wipe out a single family. To attribute such scruples to them is to commit the common, the perpetually repeated mistake of judging the savage by the standard of European civilisation. If any of my readers set out with the notion that all races of men think and act much in the same way as educated Englishmen, the evidence of superstitious belief and custom collected in this work should suffice to disabuse him of so erroneous a prepossession. (Frazer 1929: 294)

Der Autor markiert an dieser Stelle explizit den eigenen Standpunkt bzw. den Standpunkt seiner Leser und benennt in bemerkenswerter Klarheit die mythologische Differenz von Eigenem und Fremdem, die seine Beschäftigung mit dem Mythos strukturiert: Das Eigene, das ist die zivilisierte, moderne und aufgeklärte Kultur des gebildeten Engländers, der den Mythos als Zeugnis einer fremden Kultur wahrnimmt und interpretiert – einer primitiv und rückständig anmutenden Kultur, die durch abergläubische Vorstellungen und Gebräuche geprägt ist. Dabei formuliert der Autor mit dieser Standortbestimmung auch ein weiteres Anliegen seiner Arbeit, das man als generelles Anliegen des Mythosdiskurses identifizieren kann – nämlich kulturelle Differenzen von Eigenem und Fremdem sichtbar und bewusst zu machen. Während an der eben zitierten Stelle die Differenz von Eigenem und Fremdem nicht nur klar benannt, sondern auch in die Argumentation eingebunden wird, erscheint sie an einigen anderen Stellen durchaus fragil. Es handelt sich dabei um Passagen, in denen sich Frazer zu europäischen Bräuchen äußert, die bis in die Gegenwart gepflegt werden: All over Europe the peasants have been accustomed from time immemorial to kindle bonfires on certain days of the year, and to dance round or leap over them. […] Not uncommonly effigies are burned in these fires, or a pretence is made of burning a living person in them; and there are grounds for believing that anciently human beings were actually burned on these occasions. A brief view of the customs in question will bring out the traces of human sacrifice, and will serve at the same time to throw light on their meaning. (Frazer 1929: 609)

Das Befremdliche (hier konkret: das Menschenopfer), das man eigentlich nur in längst vergangener Zeit oder bei den Barbaren fremder Kontinente („in early times, and among barbarous races“) vermutet, erscheint plötzlich gegenwärtig in der eigenen Kultur – wenn auch nur als Spur der eigenen barbarischen Vergangenheit. Trotzdem dürfte manch ein Leser die scheinbar harmlosen Oster- oder



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Sonnenwendfeuer nach der Frazer-Lektüre mit anderen Augen sehen.31 Dabei verfolgt der Autor keineswegs ein erzieherisches oder aufklärerisches Projekt. Es geht ihm nicht darum, die betreffenden Bräuche (bzw. deren barbarische Residuen) zu diskreditieren: The essentially pagan character of the Easter fire festival appears plainly both from the mode in which it is celebrated by the peasants and from the superstitious beliefs which they associate with it. All over Northern and Central Germany, from Altmark and Anhalt on the east, through Brunswick, Hanover, Oldenburg, the Harz district, and Hesse to Westphalia the Easter bonfires still blaze simultaneously on the hill-tops. […] It is a fine spectacle to watch from some eminence the bonfires flaring up one after another on the neighbouring heights. (Frazer 1929: 615)

Offenkundig lässt sich bei Frazer die mythologische Differenz von Eigenem und Fremdem nicht auf eine starre Opposition reduzieren, weshalb es nicht überrascht, dass man The Golden Bough – wie Andrew Von Hendy bemerkt – immer wieder im Zeichen der Universalität und der Zeitlosigkeit gelesen hat: „as a demonstration of the permanent and intimate structural relation between the ‚savage‘ mind and the civilized“ (Von Hendy 2002: 135). Und auch wenn man mit dieser Lesart und dem ihr inhärenten Mythosverständnis – „the inherited assumption that myth communicates permanent truth“ (Von Hendy 2002: 135) – dem Frazerschen Werk nur sehr bedingt gerecht wird, so scheint Frazer ihr doch selbst Vorschub geleistet zu haben. Immerhin betont er schon im Vorwort, dass das Ritual, das den Ausgangspunkt seiner Untersuchungen bildet, keineswegs exzeptionell sei, sondern lediglich eine Ausprägung eines weitverbreiteten Phänomens darstelle: With these and other instances of like customs before us it is no longer possible to regard the rule of succession to the priesthood of Diana at Aricia as exceptional; it clearly exemplifies a widespread institution, of which the most numerous and the most similar cases have thus far been found in Africa. (Frazer 1929: vi)

31 Für die meisten Leser von größerer Brisanz dürfte – zumindest zu Frazers Zeiten – freilich die folgende Spekulation gewesen sein, in der Eigenes und Fremdes überblendet werden: „Thus at the festival called Toxcatl, the greatest festival of the Mexican year, a young man was annually sacrificed in the character of Tezcatlipoca, ‚the god of gods,‘ after having been maintained and worshipped as that great deity in person for a whole year. According to the old Franciscan monk Sahagun, our best authority on the Aztec religion, the sacrifice of the human god fell at Easter or a few days later, so that, if he is right, it would correspond in date as well as in character to the Christian festival of the death and resurrection of the Redeemer.“ (Frazer 1929: 587) In der gekürzten, zweibändigen Fassung seines Werkes hat Frazer allerdings die ausführlichere ­Behandlung der Kreuzigung und Auferstehung Christi außen vor gelassen.

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Daran anknüpfend ergibt sich auch ein spezieller Effekt der Frazerschen „comparative method“: „the homogenizing of geographical and historical differences“ (Von Hendy 2002: 135). Außerdem findet man in The Golden Bough nicht nur Distanzierungen von primitiven Praktiken, Ritualen und Bräuchen, sondern auch deren Würdigung – man denke z. B. an die Schilderung der Osterfeuer, die einer Faszination (und nicht etwa einer Abscheu angesichts der Erinnerungen an frühere Menschenopfer) Ausdruck verleiht. Der Autor widmet der Würdigung des Archaischen und des Primitiven schließlich sogar ein Kapitel, das er mit einer vielsagenden Überschrift versieht: „Our debt to the savage“ (vgl. Frazer 1929: 262–264).32 Wer allerdings Frazers Mythosverständnis auf Universalität und Zeitlosigkeit verpflichtet, blendet eine wesentliche Dimension des Werks aus, die Andrew Von Hendy als „its Whiggish view of mankind’s evolution from magic and religion into the light of science“ (Von Hendy 2002: 135) identifiziert hat. Frazer selbst formuliert dieses Stufenmodell menschlicher Entwicklung, auch wenn – wie man angesichts der Frazerschen ‚Entdeckungen‘ ergänzen kann – diese Entwicklung wohl nicht überall auf dem Erdball gleichmäßig vonstatten geht oder vonstatten gegangen ist: If then we consider, on the one hand, the essential similarity of man’s chief wants every­ where and at all times, and on the other hand, the wide difference between the means he has adopted to satisfy them in different ages, we shall perhaps be disposed to conclude that the movement of the higher thought, so far as we can trace it, has on the whole been from magic through religion to science. (Frazer 1929: 711)

Dabei kann kein Zweifel daran bestehen, wie Frazer und mit ihm seine gebildeten englischen Leser diesen Entwicklungsprozess bewerten:

32 Es ist bemerkenswert, wie offen und nachdrücklich Frazer in diesem Kapitel auf Gemeinsamkeiten zwischen dem wilden und dem zivilisierten Menschen insistiert: „Contempt and ridicule or abhorrence and denunciation are too often the only recognition vouchsafed to the savage and his ways. Yet of the benefactors whom we are bound thankfully to commemorate, many, perhaps most, were savages. For when all is said and done our resemblances to the savage are still far more numerous than our differences from him; and what we have in common with him, and deliberately retain as true and useful, we owe to our savage forefathers who slowly acquired by experience and transmitted to us by inheritance those seemingly fundamental ideas which we are apt to regard as original and intuitive. […] Therefore in reviewing the opinions and practices of ruder ages and races we shall do well to look with leniency upon their errors as inevitable slips made in the search for truth, and to give them the benefit of that indulgence which we our­ selves may one day stand in need of: cum excusatione itaque veteres audiendi sunt.“ (Frazer 1929: 263–264) Freilich kann man in diesen Wendungen auch ein Plädoyer erkennen, das aus einem Gefühl der Überlegenheit heraus formuliert wird und an die Nachsicht der gebildeten und in einer modernen Zivilisation heimischen Leser appelliert.



3.2 Der Mythos als Zeugnis des kulturell Fremden 

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The abundance, the solidity, and the splendour of the results already achieved by science are well fitted to inspire us with a cheerful confidence in the soundness of its method. Here at last, after groping about in the dark for countless ages, man has hit upon a clue to the labyrinth, a golden key that opens many locks in the treasurey of nature. (Frazer 1929: 712)33

Die menschheitsgeschichtliche Entwicklung von der Magie über die Religion bis zur Wissenschaft will Frazer offenkundig als Aufstieg oder Fortschritt verstanden wissen. Die Formulierung, dass der Mensch mit Hilfe der Wissenschaft aus dem Dunkel ins Licht getreten sei, ist ein Aufklärungstopos par excellence – und zementiert zugleich die Schwelle zwischen dem Eigenen (der zivilisierten, wissenschaftlichen und nicht zuletzt europäischen Moderne) und dem Fremden (der archaischen Vergangenheit und den primitiven Kulturen der Gegenwart). Schließlich bleibt noch anzumerken, dass selbst die auf Universalität und Zeitlosigkeit abhebenden Lektüren Frazers, auf die in der vorliegenden Studie umrissene mythologische Alterität und insbesondere auf deren im vorliegenden Kapitel beschriebene Form angewiesen bleiben: Denn die Identifizierung oder Überblendung von Wildem und Zivilisiertem, von archaischem Gestern und modernem Heute, setzt die Alterität voraus: Wo wäre der Erkenntnisgewinn, wo blieben die Brisanz und der Reiz der Argumentation, wenn man nur das verknüpfen und überblenden würde, was offenkundig zusammengehört oder sich ähnelt? In diesem Sinne setzt die Beschwörung der Zeitlosigkeit, Universalität und Permanenz des Mythos – zumindest im Hinblick auf Frazers The Golden Bough – voraus, dass dieser zunächst als Zeugnis des kulturell Fremden wahrgenommen wird. Während man Frazers Mythoskonzeption – bei entsprechender Intention und selektiver Lektüre – durchaus im Zeichen der Universalität und der Überzeit­ lichkeit verorten könnte, erscheint eine solche Einordnung im Falle Lucien LévyBruhls kaum möglich. Denn Lévy-Bruhl widmet sich dem Denken der Naturvölker und insistiert dabei nachdrücklich auf deren Fremdartigkeit. Diese Fremdartigkeit 33 Freilich sollte an dieser Stelle nicht unterschlagen werden, dass Frazer nicht bedingungslos dem Aufklärungsversprechen erliegt. Zumindest räumt er die Möglichkeit ein, dass das wissenschaftliche Weltbild nicht der Weisheit letzter Schluss sein muss. Man mag darin eine vorsichtige Selbstrelativierung als Resultat der Beschäftigung mit dem Fremden sehen – und einen weiteren Grund dafür, warum The Golden Bough auch im Zeichen der Universalität und der Zeitlosigkeit gelesen wurde: „Yet the history of thought should warn us against concluding that because the scientific theory of the world is the best that has yet been formulated, it is necessarily complete and final. […] In the last analysis magic, religion, and science are nothing but theories of thought; and as science has supplanted its predecessors, so it may hereafter be itself superseded by some more perfect hypothesis, perhaps by some totally different way of looking at the phenomena – of registering the shadows on the screen – of which we in this generation can form no idea.“ (Frazer 1929: 712)

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 3 Formen und Funktionen mythologischer Alterität

macht er an den „Kollektivvorstellungen der Primitiven“ fest, die in Zeremonien oder Ritualen zum Ausdruck kommen und „die durch die Mythen und Erzählungen von Generation zu Generation überliefert worden sind“ (Lévy-Bruhl 1926: 23). Der Mythos ist somit Ausdruck und Zeugnis primitiver Kulturen, die – aus LévyBruhls Sicht – in ihren Kollektivvorstellungen einen Mangel an geistiger Differenzierung offenbaren: „Ihre geistige Tätigkeit ist viel zu wenig differenziert, als daß es möglich wäre, hier die Ideen oder Bilder der Gegenstände für sich zu betrachten, unabhängig von den Empfindungen, Erregungen, Leidenschaften, die diese Ideen oder Bilder hervorrufen oder die durch sie hervorgerufen sind.“ (Lévy-Bruhl 1926: 22) Dementsprechend dürfe man die „Kollektivvorstellungen der Primitiven“ nicht mit „unseren Ideen und Begriffen“ gleichsetzen: Die Kollektivvorstellungen der Primitiven weichen also gründlich von unseren Ideen und Begriffen ab; sie sind auch gar nicht deren Äquivalent. Einerseits besitzen sie, wie wir bald sehen werden, nicht deren logischen Charakter. Da sie andrerseits nicht reine Vorstellungen im eigentlichen Sinne des Wortes sind, so bedeuten sie oder richtiger bringen sie mit sich, daß der Primitive nicht bloß wirklich ein Bild des Gegenstandes hat und an dessen Realität glaubt, sondern auch etwas von ihm erhofft oder befürchtet, und daß er meint, eine bestimmte Wirkung müsse von diesem Gegenstand ausgehen oder auf ihn ausgeübt werden. […] Um diese allgemeine Eigentümlichkeit der Kollektivvorstellungen, die eine so wichtige Stelle in der geistigen Betätigung der niedrigen Gesellschaften innehaben, mit einem Wort zu bezeichnen, werde ich sagen, daß diese geistige Wirksamkeit mystisch ist. (Lévy-Bruhl 1926: 23)

Der „französische Philosoph und Lehnstuhlanthropologe“ (Segal 2007: 39) trifft eine klare Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremdem, wobei sich das Fremde für ihn im prä-logischen und mystischen Charakter der primitiven Kollektivvorstellungen manifestiert. Als Beispiel führt Lévy-Bruhl „die Kollektivvorstellung von gewissen Tieren“ an: „Die Tscherokesen glauben, daß die Fische in bürgerlicher Gesellschaft leben wie die Menschen, daß sie im Wasser ihre Dörfer, ihre Straßen haben“ (Lévy-Bruhl 1926: 24). Auch in diesem Zusammenhang findet Lévy-Bruhl im Mythos ein Zeugnis der betreffenden Kollektivvorstellungen und damit einer Spezifik primitiver Kulturen, denn „wenn wir uns auf die Mythen der beiden Weltteile beziehen, in denen die Tiere eine Hauptrolle spielen, so gibt es kein Säugetier, keinen Vogel, keinen Fisch, selbst kein Insekt, dem nicht die seltsamsten mystischen Eigenschaften zugeschrieben worden wären“ (Lévy-Bruhl 1926: 24). Wie die angeführten Zitate verdeutlichen, betrachtet Lévy-Bruhl die primitiven Kulturen bzw. die Naturvölker nicht einfach als andere, sondern als – in einem emphatischen Sinne – fremde Kulturen. Denn aus seiner Sicht kann man nur zu einem Schluss kommen: „die Primitiven nehmen nichts so wahr wie wir. Ebenso wie das soziale Milieu, in dem sie leben, von dem unseren verschieden



3.2 Der Mythos als Zeugnis des kulturell Fremden 

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ist, und gerade weil es verschieden ist, ist auch für sie die äußere Welt von der, die wir wahrnehmen, verschieden.“ (Lévy-Bruhl 1926: 28) Wenn der Interpret der Naturvölker an dieser (wie auch an anderer) Stelle von einem „wir“ oder von „uns“ spricht, dann folgt er nicht nur einer Konvention der französischen Wissenschaftssprache, sondern bestimmt damit den eigenen Standpunkt. Es ist der Standpunkt einer zivilisierten und der Logik verpflichteten (oder expliziter: einer nicht-primitiven) Kultur, aus deren Perspektive die primitive Kultur, deren Zeugnis und Ausdruck der Mythos ist, fremd erscheint. Dementsprechend bleiben die Primitiven und ihre Denkweise „für einen Menschen unserer Gesellschaft“ immer auch zu einem erheblichen Grade unzugänglich: Nichts ist für sie so gegeben wie für uns. Hier besteht für einen Menschen unserer Gesellschaft, der unsere Sprache spricht, eine unüberwindliche Schwierigkeit, sich in ihre Denkweise zu finden. Je länger man mit ihnen lebt, je mehr man ihrem geistigen Verhalten nahekommt, um so mehr wird man gewahr, daß es unmöglich ist, sich ihm völlig einzufühlen. (Lévy-Bruhl 1926: 29)

Die von Lévy-Bruhl ausgemachte „unüberwindliche Schwierigkeit“ ist der von ihm postulierten Unüberwindlichkeit der Schwelle geschuldet, die das Eigene vom Fremden trennt – ganz im Sinne der folgenden Feststellung Bernhard Waldenfels’: „Dabei steht keiner von uns jemals auf beiden Seiten der Schwelle zugleich. Dies gilt auch für […] die kulturellen Unterschiede.“ (Waldenfels 1999: 21) Lévy-Bruhl beschäftigt sich mit dem Denken der Naturvölker, das für ihn vor allem ein fremdes und primitives Denken ist. Dabei stützt er sich – unter anderem – auf den Mythos, in dem er ein Zeugnis, einen Ausdruck dieses fremden Denkens erkennt und der somit zugleich als Zeugnis des kulturell Fremden, hier konkret: als Zeugnis primitiver Kulturen fungiert. Damit trifft für Lévy-Bruhls Beschäftigung mit dem Mythos in besonderem Maße das zu, was Jürgen Mohn als generelle Tendenz der Mythostheorie ausgemacht hat: „Mythen kennzeichnen im Verständnis der meisten [seiner] Theoretiker fremde Kulturen und somit das Gegenteil zum ‚Eigenen‘, das als das ‚Vernünftige‘ dem ‚irrationalen‘ Weltverstehen der Mythen gegenübergestellt wird. Mythostheorien werden zu Theorien über das Weltverstehen fremder Kulturen.“ (Mohn 1998: 16) Spätestens seit dem Ende des 20. Jahrhunderts dürften den meisten Geistesund Kulturwissenschaftlern die Begrifflichkeiten Lévy-Bruhls (wie überhaupt Aussagen und Thesen zum Primitiven) ausgesprochen pikant bis hochproblematisch erscheinen. Wer heute von primitiven Kulturen spricht, sollte das Adjektiv mit Anführungszeichen versehen, um sich nicht dem Verdacht eines ­kolonialistischen, eurozentristischen oder gar rassistischen Weltbilds auszusetzen. Auch im Falle des Begriffs der Naturvölker spricht man sicherheitshalber lieber von ‚sogenannten Naturvölkern‘. Für diese sprachliche Sensibilität lassen sich selbstverständlich

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 3 Formen und Funktionen mythologischer Alterität

gewichtige Gründe anführen – wichtiger aber als ein entsprechendes sprachliches Bewusstsein ist ein Bewusstsein in der Sache. Denn auch heute werden – ob nun gerechtfertigt oder nicht – bestimmte kulturelle Phänomene, fremde Kulturen, Länder und Sitten als primitiv wahrgenommen (und häufig auch für diese Primitivität kritisiert). Die Terminologie hat sich freilich gewandelt. Je nach Sachverhalt richtet sich der (häufig abschätzige) Blick auf fundamentalistische, rückständige, autoritäre, undemokratische oder unaufgeklärte Zustände. Umgekehrt können diese Zustände freilich auch aufgrund ihrer vielleicht als besonders authentisch oder lebenstauglich empfundenen Primitivität verklärt werden. Um an dieser Stelle einem etwaigen Missverständnis zu begegnen: Es geht hier nicht darum, einem Kulturrelativismus das Wort zu reden, der Urteile über fremde Kulturen grundsätzlich fragwürdig erscheinen lässt, sondern vielmehr darum, dass die Wahrnehmung und Beurteilung des Fremden auch heute bisweilen noch dem Denk- und Wahrnehmungsmuster des Primitiven folgt. Auf jeden Fall ist die Vorstellung, der Mythos sei Zeugnis des Barbarisch-­ Primitiven auch heute nicht aus der Welt. Man denke an die nach wie vor populären Analysen moderner Mythen durch Roland Barthes (Barthes 2003). Unter anderem identifiziert der Strukturalist Barthes das französische Nationalgericht „Beefsteak und Pommes frites“ als einen Mythos des Alltags und interpretiert dessen Verzehr als rituelle Opferhandlung eines kulinarischen Patriotismus. Das ­Nationalgericht – und damit der Nationalismus des zeitgenössischen Frankreichs – wird so in den Kontext einer Blutmythologie gerückt, die in die Antike zurückreicht, und als barbarisches Überbleibsel innerhalb der eigenen (und doch eigentlich modernen und zivilisierten) Kultur bloßgestellt (vgl. Barthes 2003: 36–38). Ein jüngeres und politisch brisanteres Beispiel dafür, dass der Mythos nach wie vor als Zeugnis des Primitiven fungiert, bietet jene Mythosdebatte, die vor dem Hintergrund des jugoslawischen Bürgerkriegs geführt wurde. Unter dem Titel „Das Wüten der Mythen: Kritische Anmerkungen zur serbischen heroischen Dichtung“ veröffentlichte der Slawist Reinhard Lauer einen Aufsatz, in dem er einen Zusammenhang zwischen alten serbischen Heldenmythen und den von Serben begangenen Gräueltaten während des jugoslawischen Bürgerkrieges herstellt. Lauer charakterisiert den Mythos zum einen als eine Denkform und zum anderen als „die Tradierung von Inhalten, die dieser Denkform unterzogen werden“ (Lauer 1995: 109). Darüber hinaus – und hier verliert der Mythosbegriff seine ­Neutralität – gehe vom Mythos als archaischer Denkform und deren Tradierung auch eine nicht zu unterschätzende Gefahr aus. Deshalb, so Lauer, müsste der Mythos der Mythenkritik unterworfen werden: „Mythenkritik als ein zivilisatorischer Akt, um das Wilde, das Barbarische, das Bestialische, das die Mythen enthalten, zwar nicht als Denkform ‚mythisches Handeln‘, sondern als des­ truktive pragmatische Konsequenz des ‚mythischen Handelns‘ zu unterbinden“



3.2 Der Mythos als Zeugnis des kulturell Fremden 

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(Lauer 1995: 110). Der Mythos selbst wird zwar nicht verworfen, aber als Zeugnis des Barbarischen als potentiell gefährlich und deshalb als kritikbedürftig angesehen, womit Lauer sich in eine aufklärerische Tradition stellt.34 Da es in Serbien nie zu einer tiefgreifenden Kritik an den eigenen Mythen gekommen sei, könnten diese bis in die Gegenwart ihr barbarisches Potential entfalten und das politische Geschehen prägen: „Mit der Vorführung einiger wichtiger serbischer Mythen wurde versucht, solche Sinnpotentiale freizulegen, die offensichtlich motivierende Kraft für das politische Handeln der Serben auch und gerade im gegenwärtigen Zeitpunkt besitzen.“ (Lauer 1995: 146) Damit wird ein Zusammenhang zwischen der – durch fehlende Mythenkritik ungebrochenen – „mythischen Obsession“ (Lauer 1995: 147) der Serben und den durch Serben begangenen Kriegsverbrechen und Grausamkeiten im jugoslawischen Bürgerkrieg hergestellt. Unabhängig davon, wie man zu dieser Argumentation steht, ist offensichtlich, dass Lauer den nicht durch eine Aufklärung domestizierten Mythos als Zeugnis des barbarischen Fremden in den Blick nimmt und damit den Vorwurf der Primi­ tivität bzw. einer mangelnden Zivilisiertheit an die Serben richtet.‫‮‮‬‭‫‫‬‪ Einige Jahre später greift Slavoj Žižek, mit Blick auf die Intervention der Nato im Kosovo-Konflikt, das Mythosargument auf, wie es z. B. Lauer formuliert hat, und geht hart mit der Vorstellung ins Gericht, „daß die Bewohner des Balkans in der Vergangenheit leben, immer wieder aufs neue die alten Schlachten ausfechten und aktuelle Situationen aus der Perspektive alter Mythen wahrnehmen“ (Žižek 2000: 103). Vielmehr, so Žižek, könne man den Serben (wie auch der anderen Konfliktpartei) ein durchaus ‚aufgeklärtes‘ Verhältnis zum Mythos bescheinigen. Sie stünden keineswegs im Bann der alten Mythen, sondern würden diese für aktuelle Zwecke instrumentalisieren. Jenem westlichen Pazifisten, der die vermeintliche Macht der Mythen in dem Konflikt beschwört, wirft er eine problematische, ja prinzipiell rassistische Repräsentation des Fremden vor, da dieser das ganze Gerede über jahrhundertealte ethnische Mythen und Leidenschaften ernstnahm und nicht begriff, daß Serben und Albaner diese Mythen selbst manipulieren und keineswegs in ihnen „verstrickt“ sind. Falsch an dem Pazifisten war nicht sein Pazifismus als solcher, sondern die entpolitisierte und rassistische Auffassung, die eigentliche Ursache des Krieges im ehemaligen Jugoslawien seien die ethnische Intoleranz und die Rückkehr des alten ethnischen Hasses gewesen. (Žižek 2000: 106–107)

34 Dies kommt deutlich darin zum Ausdruck, dass Lauer die Mythoskritik als einen Akt der Zivilisierung begreift: „Goethes Diktum über die besondere Grausamkeit und Barbarei der serbischen Lieder hätte es nahegelegt, die in ihnen enthaltenen Mytheme einer entschiedenen demystifizierenden, entlarvenden Kritik auszusetzen, wie sie seit der Aufklärung bei allen zivilisierten Nationen auch geleistet wird“ (Lauer 1995: 147).

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 3 Formen und Funktionen mythologischer Alterität

Die noch nicht so weit zurückliegende Debatte, die hier mit den konträren Positionen von Reinhard Lauer und Slavoj Žižek umrissen wird, ist in doppelter Hinsicht aufschlussreich. Sie illustriert zum einen, dass der Mythos auch an der Schwelle vom 20. zum 21. Jahrhundert noch als Zeugnis herangezogen wird, um fremde Kulturen der Gegenwart zu charakterisieren und als archaisch oder primitiv zu markieren. Zum anderen dokumentiert die Debatte die moralischen, ethischen und sogar politischen Implikationen der Denkgewohnheit ‚Mythos‘ im Allgemeinen und mythologischer Alterität im Besonderen.35 Denn Lauers Beitrag zu den serbischen Mythen ergreift Partei und liefert (zumindest im historischen Rückblick) eine Legitimation der westlichen Intervention im jugoslawischen Bürgerkrieg und dessen Folgekonflikten. In diesem Zusammenhang könnte man freilich auch der Frage nachgehen, inwiefern historische Mythostheorien als Theorien primitiver Kulturen eine kolonialistische Agenda bedienen (etwa indem sie eine Zivilisierung der rückständigen Barbaren durch die Kolonialmächte vernünftig erscheinen lassen) oder auch anti-­kolonialistische Positionen stärken (etwa indem sie Verständnis für die fremden Kulturen fördern oder das Idealbild vom naturverbunden und edlen Wilden pflegen). Festgehalten werden kann an dieser Stelle auf jeden Fall, dass der Mythos bis in die Gegenwart als Schlüssel betrachtet wird, mit dem man Zugang zu fremden Kulturen erlangt – nicht nur fremden Kulturen der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart.

3.2.5 Mythische oder wissenschaftlich-rationale Denkweisen? Der Mythos als Zeugnis eines fremden Denkens Es ist keine abwegige Annahme, dass die Menschen früherer Zeiten oder räumlich weit entfernter Kulturen nicht nur anders lebten oder leben, sondern auch anders dachten oder denken. Dementsprechend gerät der Mythos, wo er als Zeugnis fremder Kulturen der Vergangenheit oder der Gegenwart betrachtet wird, nicht selten auch als Ausdruck einer fremd anmutenden Denkweise oder einer befremdlichen Weltsicht in den Blick. So beklagt etwa Friedrich Georg Jünger, dass uns – d. h. dem Menschen der Moderne – der Mythos aufgrund unseres

35 Diese Implikationen erwachsen selbstverständlich daraus, dass das Fremde, für das der Mythos in diesem Falle ein Zeugnis abgibt, nicht eine entrückte Vergangenheit ist, sondern durch leibhaftige Menschen und gelebte Kulturen ausgefüllt wird. Freilich könnte man in diesem Zusammenhang überlegen, inwiefern es ethische Verpflichtungen nicht auch gegenüber der Vergangenheit gibt, inwiefern man auch den Toten Gerechtigkeit widerfahren lassen sollte.



3.2 Der Mythos als Zeugnis des kulturell Fremden 

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abstrakt gewordenen Denkens fremd bleibt (vgl. Jünger 1947: 7). Jünger formuliert damit eine mythologische Differenz: Er stellt dem eigenen abstrakten Denken das – bedauerlicherweise fremd gewordene – sinnliche Denken gegenüber, das im Mythos seinen Ausdruck findet. Auch für Lucien Lévy-Bruhl offenbart sich im Mythos, den er als Zeugnis primitiver Kulturen analysiert, eine fremde Weltsicht, denn „die Primitiven nehmen nichts so wahr wie wir“ (Lévy-Bruhl 1926: 28). Wie diese beiden Beispiele andeuten, erweist sich der Mythos also auch deshalb als Zeugnis des kulturell Fremden, weil er als Ausdruck eines fremden Denkens wahrgenommen und gedeutet wird. Aber genügt es nicht, im Mythos als Zeugnis eines fremden Denkens einen Spezialfall des Mythos als Zeugnis fremder Kulturen der Vergangenheit oder der Gegenwart zu sehen? Es gibt durchaus gewichtige Gründe, diesen speziellen Aspekt mythologischer Alterität gesondert zu behandeln – nicht zuletzt weil er zentral, ja vielleicht sogar essentiell für das moderne Mythosverständnis ist, wie die folgende Beobachtung Stefan Matuscheks nahelegt: So wie wir heute vom Mythos als einer narrativen Welterklärung und damit als eigener Weltanschauungsform reden, geschieht dies erst seit etwa 200 Jahren. Der neuzeitliche Mythosbegriff, der die alten Geschichten nicht als Lügen oder allegorische Wahrheiten, sondern als ästhetisch-narrative Denk- und Erklärungsform auffasst, ist ein Produkt der Aufklärung. Es sind vor allem Giovanni Battista Vico und Johann Gottfried Herder, die dieses neue My­ thosverständnis formulieren, und es ist der Göttinger Altphilologe Christian Gottlob Heyne, der dafür als Erster den Singular ‚Mythos‘ verwendet. Bis dahin sprach man von Fabeln und Mythologie. (Matuschek 2012: 139)

Für Matuschek unterscheidet sich die moderne Denkgewohnheit ‚Mythos‘ von früheren Auffassungen dahingehend, dass man im Mythos nicht mehr nur „die alten Geschichten“ mit prekärem Wahrheitsanspruch, sondern vor allem eine „ästhetisch-narrative Denk- und Erklärungsform“ erkennt. Damit rückt der Mythos als Ausdruck eines spezifischen Denkens in den Fokus. Zugespitzt wird diese Betrachtungsweise in jenen Beiträgen zum Mythosdiskurs der Moderne, die sich ganz explizit der Rekonstruktion eines mythischen Denkens widmen. Bezeichnenderweise stammen die entsprechenden Beiträge nicht nur aus der Altertumswissenschaft oder der Ethnologie, sondern häufig aus der Philosophie. Diese (Neu-)Verteilung disziplinärer Zuständigkeiten ist zumindest ein Indiz dafür, dass sich das Verständnis des Mythos als Zeugnis eines fremden Denkens durchaus von der Auffassung emanzipiert hat, der Mythos sei das Zeugnis fremder Kulturen der Vergangenheit und der Gegenwart. Dass selbstverständlich auch die Ethnologie ein Interesse am fremden Denken hat, dokumentiert die strukturalistische Mythenanalyse des französischen Ethnologen Claude Lévi-Strauss, die sich für eine Annäherung an die Vorstellung

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 3 Formen und Funktionen mythologischer Alterität

eines ‚mythischen Denkens‘ empfiehlt.36 Zunächst beantwortet Lévi-Strauss die Frage, aus welchen Gründen man überhaupt die Existenz eines mythischen Denkens postuliert. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die Beobachtung, dass sich Mythen bzw. mythologische Geschichten – bei allen offensichtlichen Unterschieden – auf eine spezifische Art und Weise ähneln: Es „entstehen diese anscheinend so willkürlichen Mythen mit denselben Charakterzügen und oft denselben Einzelheiten in den verschiedensten Regionen der Welt“ (Lévi-Strauss 1978: 228). Und Lévi-Strauss geht in seinem Befund sogar noch einen Schritt weiter und ist sich sicher: „Unsere Unkenntnis der Sprache und der Kultur der Bevölkerung, bei der man einen Mythos entdeckte, mag noch so groß sein, er wird doch von allen Lesern in der ganzen Welt als Mythos erkannt.“ (Lévi-Strauss 1978: 231) Wenn man von diesem Befund ausgeht, liegt die Schlussfolgerung nahe, dass es eine Art Tiefenstruktur geben muss, die allen Mythen zugrunde liegt. Gerade aus strukturalistischer Sicht – aber nicht nur aus dieser – ist das eine verlockende These, und so nimmt sich Lévi-Strauss verschiedene Varianten eines mythologischen Stoffes vor, unterzieht diese einer strukturalistischen Analyse und identifiziert ihre konstitutiven Einheiten. Ziel der Analyse ist dabei nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, die Rekonstruktion einer Urfassung: „Es gibt keine ‚wahre‘ Fassung, im Verhältnis zu der alle anderen Kopien oder deformierte Echos wären. Alle Fassungen gehören zum Mythos.“ (Lévi-Strauss 1978: 241) Vielmehr soll statt einer Urfassung jene Struktur oder Logik rekonstruiert werden, die den verschiedenen Fassungen zugrunde liegt: eben eine spezifische Logik des mythischen Denkens. Die Mythen sind in dieser Perspektive gewissermaßen ‚nur‘ Oberflächenphänomene, in denen sich eine untergründige Logik oder Denkweise artikuliert. Oder strukturalistisch ausgedrückt: Aus der Tiefenstruktur (der Logik mythischen Denkens) wird eine Oberflächenstruktur (die zahllosen Varianten einer mythologischen Geschichte) generiert. Als Ethnologe ist sich Lévi-Strauss darüber im Klaren, dass das von ihm rekonstruierte mythische Denken im Verdacht steht, ein primitives oder überholtes Denken zu sein. Diesem Verdacht versucht er mit folgendem Hinweis zu begegnen: „Die Logik des mythischen Denkens erschien uns ebenso anspruchsvoll wie die, auf der das positive Denken beruht, und im Grunde kaum anders. […] Vielleicht werden wir eines Tages entdecken, daß im mythischen und im wissenschaftlichen Denken dieselbe Logik am Werke ist und daß der Mensch 36 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf das Kapitel „Die Struktur der Mythen“ in Claude Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie I. (Die französische Originalausgabe, Anthropologie structurale, erschien 1958.) Dieses Kapitel bietet sich für einen Einstieg in die Thematik an, da die von Lévi-Strauss vorgestellte strukturalistische Methode die Konzeption eines mythischen Denkens besonders transparent werden lässt.



3.2 Der Mythos als Zeugnis des kulturell Fremden 

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allezeit gleich gut gedacht hat.“ (Lévi-Strauss 1978: 253–254) Freilich scheint selbst dieses Plädoyer von dem Bewusstsein getragen, dass mythisches Denken zunächst und unabhängig von Werturteilen ein fremdes Denken ist. Schließlich wählt auch Lévi-Strauss den Vergleich bzw. die Gegenüberstellung mit dem positiven, wissenschaftlichen Denken, also einem Markenzeichen der eigenen (sich als modern, fortschrittlich und aufgeklärt verstehenden) Zivilisation. Wer sich weigert zu hierarchisieren und zu bewerten, entzieht sich folglich noch lange nicht der mythologischen Differenz von Eigenem und Fremdem. Auch die vermutlich einflussreichste philosophische Theorie mythischen Denkens, die Ernst Cassirer bereits in den 1920er Jahren im Rahmen seiner Philosophie der symbolischen Formen entwickelt hat, wird durch die mythologische Differenz von eigenem und fremdem Denken strukturiert. Bei seiner Rekonstruktion mythischen Denkens geht Cassirer von folgender Aufgabenstellung aus: den Mythos als einheitliche Energie des Geistes darzustellen […]: als eine in sich geschlossene Form der Auffassung, die in aller Verschiedenheit des objektiven Vorstellungsmaterials sich behauptet. […] Hinter der unabsehbaren Fülle der mythischen Gebilde sollte auf diese Weise eine einheitliche Kraft des Bildens und das Gesetz, nach welchem diese Kraft sich auswirkt, sichtbar werden. (Cassirer 2002: 275)

Was Cassirer hinter der „Fülle der mythischen Gebilde“ erkennt, soll im Folgenden nur mit wenigen Strichen skizziert werden, um anschließend aufzuzeigen, inwiefern das mythische Denken auch bei Cassirer ein fremdes Denken ist. Ein hervorstechendes Charakteristikum des mythischen Denkens identifi­ ziert Cassirer als „Gesetz der Konkreszenz oder Koinzidenz der Relationsglieder“ (Cassirer 2002: 78). Dieses Gesetz besagt, dass im mythischen Denken nicht scharf und kategorisch zwischen dem Ganzen und seinen Teilen, zwischen einem Ding und seinen Eigenschaften, zwischen einem Wort und seiner Bedeutung etc. unterschieden wird. Wenn nun – um nur ein Beispiel anzuführen – „das mythische Denken zwischen dem Ganzen und den Teilen nirgends eine scharfe Grenzscheide setzt“ (Cassirer 2002: 78), führt das z. B. zu folgender ‚mythischer‘ Überzeugung: „In den Haaren eines Menschen, in seinen abgeschnittenen Nägeln, in seinen Kleidern, in seinen Fußstapfen ist noch der ganze Mensch enthalten. Jede Spur, die der Mensch von sich hinterläßt, gilt als ein realer Teil von ihm, der auf ihn als Ganzes zurückwirken und ihn als Ganzes gefährden kann.“ (Cassirer 2002: 79) Analog dazu wird im mythischen Denken auch nicht generell zwischen einer Abbildung und dem Abgebildeten unterschieden: „Für das mythische Denken, dem sich alle Inhalte in einer einzigen Seinsebene zusammendrängen, dem alles Wahrgenommene als solches schon Realitätscharakter besitzt, gilt für das gesehene Bild das gleiche wie für das ausgesprochene und gehörte Wort – es ist mit

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 3 Formen und Funktionen mythologischer Alterität

realen Kräften ausgestattet.“ (Cassirer 2002: 52) Daraus ergeben sich dann für den mythisch denkenden Menschen praktische Möglichkeiten: „Wird das Bild des Feindes mit Nadeln durchstochen oder mit Pfeilen durchbohrt, so wirkt dies magisch unmittelbar auf den Feind zurück.“ (Cassirer 2002: 53) In Beispielen wie diesen zeigt sich laut Cassirer freilich auch das „Unvermögen des mythischen Denkens, ein bloß Bedeutungmäßiges, ein rein Ideelles und Signifikatives zu erfassen“ (Cassirer 2002: 49). Um zu unterstreichen, dass das mythische Denken für Cassirer eine spezifische Weltsicht darstellt, sei an dieser Stelle noch auf die ihm eigene Raum- und Zeitanschauung verwiesen. Wo mythisch gedacht wird, betrachtet man Raum und Zeit nicht quantitativ (also mit Zollstock und Stoppuhr), sondern qualitativ: Wie sich gezeigt hat, daß für das mythische Gefühl der Ort im Raume und die Richtung im Raume nicht der Ausdruck einer bloßen Beziehung, sondern ein eigenes Wesen, ein Gott oder Dämon, ist, so gilt das gleiche auch für die Zeit und ihre einzelnen Unterteile. […] Überhaupt ist die mythische Zeitanschauung, gleich der mythischen Raumanschauung, durchaus qualitativ und konkret, nicht quantitativ und abstrakt gefaßt. Für den Mythos gibt es keine Zeit […] „an sich“ […]. (Cassirer 2002: 127)

Dieser kurze Überblick soll an dieser Stelle genügen, zumal die entscheidenden Fragen noch zu beantworten sind: Inwiefern ist das mythische Denken bei Cassirer ein fremdes Denken und der Mythos damit auch in diesem Fall ein Zeugnis des kulturell Fremden? Kann man im mythischen Denken nicht einfach eine besondere Form des Denkens unter anderen ausmachen? Wenn man die mythostheoretische ‚Praxis‘ Cassirers und seiner Rezipienten nüchtern betrachtet, fallen die Antworten auf diese Fragen eindeutig aus. Mythisches Denken ist im Falle Cassirers gewissermaßen schon aus einem ‚produktionstechnischen‘ Grund ein fremdes Denken, da man es – so die Prä­ misse  – nicht primär oder typischerweise in der eigenen Kultur, sondern beim frühen Menschen oder bei den Naturvölkern findet. Das Material, auf das man bei der Rekonstruktion des mythischen Denkens zurückgreift, ist dementsprechend fremdes Material, ob man es nun aus der zeitlichen oder der räumlichen Ferne bezieht. Cassirer stützt sich z. B. wiederholt auf „das reiche Beispielmaterial, das Lucien Lévy-Bruhl […] zusammengestellt hat“ (Cassirer 2002: 56, Fußnote 23). Mit dem Beispielmaterial wird freilich auch eine Perspektive übernommen, und so kann man mit Robert Segal eine grundsätzliche Verwandtschaft der Positionen Lévy-Bruhls und Cassirers feststellen (sollte allerdings dabei die offenkundigen Unterschiede nicht unterschlagen): Sowohl für Cassirer als auch für Lévy-Bruhl ist der Mythos ein ausschließlich primitives, die Wissenschaft aber ein ausschließlich modernes Phänomen. Dennoch stellt Cassirers



3.2 Der Mythos als Zeugnis des kulturell Fremden 

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Charakterisierung des Mythos als eine Form des Wissens, als eine symbol- und welterschaffende menschliche Aktivität, ihn auf eine Stufe mit der Wissenschaft. Und an solch einer Stelle hätte Lévy-Bruhl ihn sicherlich nicht verortet. (Segal 2007: 57–58)

Inwiefern Cassirer das mythische Denken als ein primitives Phänomen betrachtet, soll nur an einem Beispiel verdeutlicht werden. Wie bereits ausgeführt wurde, sieht Cassirer im mythischen Denken ein Gesetz der Konkreszenz am Werk, dessen Wirkung sich auch in der Sprache beobachten lässt: Auch für die Sprache besteht zunächst kein scharfer Trennungsstrich, durch den das Wort und seine Bedeutung, der Sachgehalt der „Vorstellung“ und der Gehalt des bloßen Zeichens voneinander geschieden würden, sondern beides geht unmittelbar ineinander ein und ineinander über. […] Im Sprachbewußtsein der „Primitiven“ und im Sprachbewußtsein des Kindes läßt sich diese Stufe der vollen „Konkreszenz“ von Namen und Sache noch in höchst prägnanten Beispielen – man braucht hier nur an die verschiedenen Formen des Namentabus zu denken – aufweisen. Aber im Fortgang der geistigen Entwicklung der Sprache setzt sich freilich auch hier die immer schärfere und bewußtere Trennung durch. (Cassirer 2002: 31)

Wenn Cassirer feststellt, dass man die volle Konkreszenz (also ein Hauptcharakteristikum mythischen Denkens) vor allem bei den Primitiven und bei Kindern findet, dann knüpft er damit nahtlos an bereits vorgestellte Wahrnehmungs- und Argumentationsmuster der Denkgewohnheit ‚Mythos‘ an – nämlich an die Auffassungen, der Mythos sei das Zeugnis primitiver Kulturen oder/und ein Zeugnis aus der Kindheit des Menschengeschlechts – und gibt ein Beispiel für die im Mythosdiskurs nicht selten vollzogene Überblendung von Ontogenese, Phylogenese und geschichtlicher Entwicklung. Dass mythisches Denken ein fremdes Denken ist, zeigt sich des Weiteren darin, dass es insbesondere im Kontrast zum wissenschaftlich-rationalen Denken rekonstruiert wird: „Wie in zahlreichen neuzeitlichen Mythostheorien ist jedoch auch bei Cassirer die Wissenschaft die Vergleichsgröße, an welcher der Begriff des Mythos als mythisches Denken Kontur gewinnt.“ (Schwennsen 2014: 206) Nun ist das wissenschaftlich-rationale Denken zumindest insofern das eigene Denken, als es zweifelsohne ein Charakteristikum, ja gewissermaßen das charakteristische Novum der Lebenswelt des neuzeitlichen Mythostheoretikers darstellt. Dies gilt selbst dann, wenn man dem wissenschaftlich-rationalen Denken oder dessen (scheinbarer?) Dominanz kritisch gegenübersteht. Wenn sich nun mythisches Denken gerade in der Unterscheidung von diesem eigenen Denken auszeichnet, wird es gleichsam automatisch als fremdes Denken markiert. Hinzu kommt, dass Cassirer den Mythos nicht als gleichrangige symbolische Form unter anderen (Sprache, Kunst, Wissenschaft etc.) betrachtet, sondern auf der ersten Stufe eines Entwicklungsmodells der symbolischen Formen verortet. Dementsprechend sieht Cassirer z. B. den Ursprung der Sprache im Mythos,

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 3 Formen und Funktionen mythologischer Alterität

betont aber zugleich, dass die Sprache dem Mythos „Kraft des Logos“ entwächst (bzw. geradezu entwachsen muss): Wenn die Welt der Sprache, gleich der des Mythos, in die sie anfangs selbst noch gleichsam eingebettet, der sie unmittelbar anhaftend erscheint, zunächst durchaus an der Einerleiheit von Wort und Wesen, von „Bedeutendem“ und „Bedeutetem“ festhält – so ergibt sich doch in dem Maße, als ihre selbständige gedankliche Grundform, als die eigentliche Kraft des Logos in ihr hervortritt, die immer bestimmtere Ablösung. (Cassirer 2002: 31–32)

Die symbolische Form der Sprache findet erst dadurch zu sich, dass sie den Mythos überwindet und hinter sich lässt. Damit beschreibt Cassirer nicht nur eine Entwicklung, sondern postuliert einen geistigen Fortschritt: So stellt sich im Verhältnis des Mythos, der Sprache und der Kunst, sosehr ihre Gestaltungen in den konkreten geschichtlichen Erscheinungen unmittelbar ineinandergreifen, doch ein bestimmter systematischer Stufengang, ein ideeller Fortschritt dar, als dessen Ziel es sich bezeichnen läßt, daß der Geist in seinen eigenen Bildungen, in seinen selbstgeschaffenen Symbolen nicht nur ist und lebt, sondern daß er sie als das, was sie sind, begreift. (Cassirer 2002: 32)

Cassirer geht von einem Entwicklungs- und Fortschrittsmodell des menschlichen Geistes aus, dessen teleologisches Ziel der sich selbst reflektierende Geist ist. Das mythische Denken muss in dieser Perspektive als ein fremdes oder besser: fremd gewordenes Denken erscheinen. Schlussendlich offenbart auch die Cassirer-Rezeption, dass mythisches Denken als ein fremdes Denken konzipiert ist. Einerseits bemüht man sich zwar immer wieder darum, dessen Spuren in der Gegenwart nachzuweisen. Andererseits erzielen diese Bemühungen ihren Effekt gerade dadurch, dass sie unerwartete Residuen des Fremden aufspüren – Spuren des Vergangenen in der Gegenwart oder des Primitiven in der modernen Zivilisation etc. In diesem Sinne stellt etwa Herwig Gottwald fest, dass mythisches Denken in der Literatur der Moderne aufgegriffen wird und dabei auf den „Erwartungshorizont einer Gesellschaft“ trifft, „in der mythisches Denken seit langem in die kulturelle Nicht-Dominanz abgesunken ist“ (Gottwald 2013: 54). Die moderne Gesellschaft unterscheide sich schließlich grundlegend von „einer Gesellschaft, in der Phänomene wie Aberglauben, Magie, der Glaube an fließende Grenzen zwischen Leben und Tod ebenso zum Alltag gehören wie die prinzipielle Tendenz, den Kosmos anthropomorph zu überformen“ (Gottwald 2013: 54). Gottwald lässt also gar keinen Zweifel daran aufkommen, dass das mythische Denken in der Moderne als Fremdkörper wahrgenommen werden muss und beschreibt es als Zeugnis eines kulturell Fremden, das kaum fremder sein könnte (Aberglaube, Magie etc.). Allerdings – so Gottwald – liegt z. B. für die moderne Literatur gerade darin der besondere Reiz



3.2 Der Mythos als Zeugnis des kulturell Fremden 

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des mythischen Denkens: „Moderne Literatur, die sich auf Mythisches bezieht, nutzt vor diesem kulturellen Hintergrund den spezifischen Reiz des mental Fremden, des Exotischen mythischer Denkmuster, die in bestimmten kulturellen Residuen (wie grundsätzlich Kunst, Literatur, aber auch Politik) latent vorhanden und daher aktualisierbar sind.“ (Gottwald 2013: 55) Die Faszination, die das mythische Denken ausübt, ist offenbar kaum vom Reiz des Fremden zu trennen. Damit schließt sich der Kreis, insofern sich Cassirers Konzeption des mythischen Denkens nicht nur auf der ‚Produktionsseite‘, sondern auch auf der ‚Rezeptionsseite‘ als Konzeption eines fremden Denkens erweist. Ungefähr 60 Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen von Cassirers Philosophie der symbolischen Formen widmet sich Kurt Hübner aus philosophischer Perspektive noch einmal in einem grundlegenden Sinne dem mythischen Denken. Auch Hübner folgt dabei der Überzeugung, dass den verschiedenen Mythen gemeinsame Strukturen zugrunde liegen müssen: Aber gibt es denn überhaupt den Mythos? Sind nicht gerade die Mythen durch ihre beinahe unübersehbare Mannigfaltigkeit gekennzeichnet? Das Folgende wird jedoch zeigen, daß zumindest ein für den europäischen Kulturbereich als paradigmatisch geltender Mythos, nämlich der griechische, durch bestimmte allgemeine Strukturen gekennzeichnet werden kann, die, allen seinen inneren Wandlungen und Umformungen zum Trotz, seine bleibende Grundlage geblieben sind. (Hübner 1985: 16)

Wie Cassirer identifiziert Hübner im (griechischen) Mythos ein spezifisches Denkund Erfahrungssystem. Dieses zeichne sich unter anderem dadurch aus, dass von einer grundsätzlichen Einheit von Ideellem und Materiellem ausgegangen wird, was an das Cassirersche Gesetz der Konkreszenz erinnert. Auch darüber hinaus gibt es viele Anknüpfungspunkte, weshalb das mythische Denken nach Hübner an dieser Stelle keiner weiteren Beschreibung bedarf. Hübners übergeordnetes Ziel ist freilich weniger die Rekonstruktion eines mythischen Denkens als dessen wissenschafts- und erkenntnistheoretische „Rehabilitierung“ (Hübner 1985: 413). Dem Vorwurf der Irrationalität oder des Irrationalismus, den der Mythos (insbesondere nach seiner politischen Instrumentalisierung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) auf sich zieht, begegnet Hübner mit dem Versuch, „den Mythos mit dem Anspruch der Rationalität zu versöhnen“ (Hübner 1985: 414). Der Titel des Buches – Die Wahrheit des Mythos – ist in diesem Sinne programmatisch zu verstehen, da Hübner darauf abhebt, dass der Mythos nicht im Widerspruch zur Wahrheit steht und auch mehr als eine defizitäre Annäherung an selbige darstellt. Wenn damit die Zielstellung der Argumentation Hübners umrissen ist, lohnt es sich auch, deren grundlegende Prämisse genauer zu betrachten, in der die These der mythologischen Alterität einen hervorragenden Beleg findet.

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Hübner geht von der Beobachtung aus, dass der Mythos in der eigenen Gegenwart wie ein Fremdkörper, wie ein Relikt aus einer fremd gewordenen Zeit, wirkt: „Der Mythos ist unserer wissenschaftlich-technischen Welt weitgehend entrückt und scheint, aus ihrer Sicht, einer längst überwundenen Vergangenheit anzugehören.“ (Hübner 1985: 15) Das Bemerkenswerte ist nun, dass Hübner diesen Ausgangspunkt bei seinem Rekonstruktions- und Rehabilitierungsversuch nie aus den Augen verliert. (Man könnte ja durchaus erwarten, dass er die kulturelle Fremdheit des Mythos ‚herunterspielt‘, um seine Leser leichter von dessen Rationalität und Wahrheit überzeugen zu können.) Konsequenterweise orientiert sich Hübner bei seiner Annäherung an das mythische Denken an der Folie der wissenschaftlichen Ontologie (was für einen Wissenschafts- und Erkenntnistheoretiker auch naheliegend ist): Wie sich in den ersten beiden Kapiteln zeigte, ist unser Bewußtsein heute weitgehend von der wissenschaftlichen Ontologie geprägt. […] Sie ist der Bezugsrahmen, in den wir alles einzuordnen bemüht sind, und stellt ein Denk- und Erfahrungssystem dar, das wir mit Selbstverständlichkeit beständig zur Anwendung bringen. Es wird sich als zweckmäßig erweisen, mit diesem uns so vertrauten System zu beginnen, um dann in die Denk- und Erfahrungswelt des Mythischen schrittweise einzudringen und uns ihren Aufbau klar zu machen. (Hübner 1985: 95)

Hübner lässt keinen Zweifel daran, dass das wissenschaftliche Denk- und Erfahrungssystem das eigene, vertraute Denk- und Erfahrungssystem ist und dementsprechend der einzig mögliche Ausgangspunkt für eine Erkundung der fremden, unvertrauten Denk- und Erfahrungswelt des Mythos sein muss. Die wissenschaftliche Ontologie ist daher der Maßstab für die Analyse der mythischen Ontologie, allerdings nicht in einem normativen Sinne, sondern aus pragmatischen Gründen. Hübner charakterisiert seine eigene Analyse des Mythos als Versuch eines Fremdverstehens und beschreibt seine Darstellung des mythischen Denkens dann auch folgerichtig als Übersetzung: „Sie entspringt daher einer Überset­ zung der Sprache des Mythos in diejenige des heutigen Menschen, ja, sie wäre anders gar nicht möglich. Der Grieche, der im Mythos lebte und nicht, wie wir, außerhalb seiner, konnte ebenso wenig in dem hier gemeinten Sinne über ihn sprechen wie über ihn reflektieren.“ (Hübner 1985: 109) Die Beschäftigung mit dem Mythos steht für Hübner im Zeichen eines epochalen Bruchs, der eine ontologische Differenz von Eigenem und Fremdem begründet. Zwischen der Welt des Mythosinterpreten und jener kulturellen Ordnung, die im Mythos ihren Ausdruck findet, sieht Hübner eine Schwelle (man erinnere sich an Bernhard Waldenfels) – und weder der Grieche, der im Mythos lebte, noch der moderne Mythosinterpret können zugleich auf beiden Seiten der Schwelle stehen. Daraus erwächst



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dann auch die Herausforderung einer Darstellung des Mythos. Es gelte, diesen in der eigenen Sprache (mit den eigenen Begriffen, Kategorien etc.) darzustellen, „ohne ihm Gewalt anzutun und die ihn uns […] dennoch begreiflich werden läßt“ (Hübner 1985: 109). So verstanden, stößt die Mythosanalyse und -darstellung freilich zwangsläufig an Grenzen: „Die Schwierigkeiten, die einem solchen Unternehmen entgegenstehen und die Grenzen, die ihm gesetzt sind, können nicht aufgehoben werden, aber es sind doch im Grunde dieselben Schwierigkeiten und Grenzen, auf die jede Übersetzung in eine andere Sprache unvermeidlich stößt.“ (Hübner 1985: 109) Wer wie Hübner darauf insistiert, dass der Mythos ein Zeugnis des kulturell Fremden darstellt, kann kaum ernsthaft für eine unveränderte Wiederkehr des Mythos oder entsprechende Wiederbelebungsversuche plädieren: „Eine Wiederkehr des Mythos in gleicher Form wie früher ist also schon deswegen ausgeschlossen, weil wir nicht in eine Welt zurückschlüpfen können, der unsere Erfahrungen vollständig unbekannt waren.“ (Hübner 1985: 409) Um in dieser Hinsicht nicht missverstanden zu werden, hatte Hübner außerdem schon in seinem Vorwort betont: „Ich plädiere hier keineswegs, wie manche erwarten mögen, gegen unsere moderne Kultur und für den Mythos. Ich plädiere nur für eine sachliche Auseinandersetzung mit ihm.“ (Hübner 1985: 16) Die sachliche Auseinandersetzung, die Hübner selbst durchexerziert, beschränkt sich freilich nicht auf eine indifferente Analyse des Fremden, sondern ist explizit auf die eigene kulturelle Ordnung gemünzt. Wenn Hübner auf einer Wahrheit des Mythos, auf dessen grundsätzlicher Rationalität, beharrt, dann fordert er damit bewusst den – von ihm selbst konstatierten – ‚Herrschaftsanspruch‘ der wissenschaftlichen Rationalität heraus. Dass dieser Herrschaftsanspruch prekär ist, zumindest aber nicht total sein kann, illustriert er im 4. Teil seines Buches, das der „Gegenwart des Mythischen“ gewidmet ist – genauer: dem noch immer mächtigen „Wirken des Mythos“ und dem ständigen „Ringen zwischen mythischer und wissenschaftlicher Weltdeutung“ (Hübner 1985: 292). Beispiele für das (Nach-)Wirken einer mythischen Weltsicht erkennt Hübner unter anderem in der modernen Malerei, in der Religion und in der Politik. Die Rehabilitierung des mythischen Denkens geht demnach mit einer Relativierung des wissenschaftlich-technischen Denkens Hand in Hand, zumal Hübner davon überzeugt ist, „daß die Epoche einseitiger wissenschaftlich-technischer Prägung ihren Höhepunkt bereits überschritten hat“ und die „Fragwürdigkeit des wissenschaftlich-technischen Fortschrittes […] in zahlreichen sozialen Problemen, in der Umweltzerstörung und den Gefahren der Atomenergie“ sichtbar geworden ist (Hübner 1985: 410). Der Wissenschafts- und Erkenntnistheoretiker verweist zudem auf die „wissenschaftlich-theoretische Einsicht in die

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Unmöglichkeit, der Wissenschaft eine absolute Grundlage zu geben“ (Hübner 1985: 410). Das fremde Denk- und Erfahrungssystem des Mythos gemahnt – in Hübners Darstellung und Argumentation – somit an die Grenzen des eigenen Denk- und Erfahrungssystems. Hübners Studie zur Wahrheit des Mythos knüpft mit diesem Argumentatio­nsund Darstellungsmuster an historische Positionen im Mythosdiskurs an. Zum einen erinnert Hübners Gestus an jene Haltung, die im bereits zitierten Dialog Johann Gottfried Herders zur Frage einer geeigneten Nationalmythologie ihren Ausdruck gefunden hat. Denn wie Herder bemüht sich auch Hübner um eine grundsätzlich affirmative Zuwendung zum Mythos und reflektiert zugleich dessen „Züge des Fremdartigen und von uns Entfernten“ (Herder 1998: 163). Zum anderen reiht sich Hübner mit seinem Rehabilitierungsversuch in eine Traditionslinie im Mythosdiskurs ein, für die auch Friedrich Schillers Kritik an der leblosen Natur des wissenschaftlichen Weltbildes oder Mircea Eliades Kritik an der Verbannung des Heiligen in einer sich radikal desakralisierenden Moderne stehen. „Mythostheorien werden zu Theorien über das Weltverstehen fremder Kulturen.“ (Mohn 1998: 16) Dieses Verdikt Jürgen Mohns gilt mit Sicherheit für die im vorliegenden Kapitel angesprochenen Theorien von Claude Lévi-Strauss, Ernst Cassirer und Kurt Hübner sowie – vermutlich – generell für Theorien, die nicht primär am Mythos als traditioneller Geschichte, sondern als Denk- und Erfahrungssystem oder als Bewusstseinsform interessiert sind.37 Denn bei allen Unterschieden zwischen den entsprechenden Mythosauffassungen, auch und gerade in der Bewertung ihres Gegenstandes, erkennen sie im Mythos in der Regel den Ausdruck eines fremden Denkens – selbst wenn man es nicht ausschließlich in der räumlichen oder zeitlichen Ferne lokalisiert. In der Unterscheidung von nicht-mythischem und mythischem Denken konkretisiert sich dementsprechend die mythologische Differenz von Eigenem und Fremdem. Unvermeidlich erweisen sich Theorien des fremden mythischen Denkens freilich immer auch – explizit oder implizit – als Theorien des eigenen (wissenschaftlichen, modernen etc.) Denkens. Wenn Cassirer z. B. auf das Gesetz der Konkreszenz im mythischen Denken hinweist, stößt er seine Leser zugleich mit

37 Dieser mythostheoretische Ansatz, von konkreten mythologischen Stoffen oder Themen zu abstrahieren, erfreut sich auch in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Anwendung beachtlicher Beliebtheit. Vgl. in jüngerer Zeit z. B. Michael Bell, der sich nicht dem Mythos als traditioneller Geschichte, sondern „mythopoeia“ widmet: „the underlying outlook that creates myth; or, more precisely again, sees the world in mythic terms“ (Bell 1997: 2). Vgl. weiterhin Stephanie Wodiankas Fokussierung auf das Mythische (Wodianka 2006) sowie Stella Butter, die den Mythos als das Andere der Vernunft in den Blick nimmt und sich dabei unter anderem auf Kurt Hübner bezieht (Butter 2007).



3.2 Der Mythos als Zeugnis des kulturell Fremden 

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der Nase darauf, dass sie selbst grundsätzlich dazu tendieren, das Ganze von seinen Teilen, ein Ding von seinen Eigenschaften oder ein Wort von seiner Bedeutung zu unterscheiden. Die Beschäftigung mit dem Fremden schärft so den Blick für das Eigene. Das eigene Denken kann dabei vor der Folie des fremden mythischen Denkens als besonders fortschrittlich und leistungsfähig erscheinen. Es kann aber durchaus auch in seiner Selbstverständlichkeit (und seiner vermeintlichen Alternativlosigkeit) erschüttert werden.

3.2.6 Die diskriminatorische Funktion des Mythos: Ein Fazit Dass der Mythos ein Zeugnis des kulturell Fremden darstellt, ist eine grundlegende Prämisse zahlreicher Mythoskonzeptionen und dementsprechend eine der offensichtlichsten Konstanten der Denkgewohnheit ‚Mythos‘. Wie die vorangehenden Ausführungen dokumentiert haben, gerät der Mythos insbesondere als Produkt fremder Kulturen der Vergangenheit oder der Gegenwart sowie als Ausdruck einer vormodernen Lebenswirklichkeit oder einer fremd anmutenden Denkweise in den Blick. Es bedarf an dieser Stelle wohl keiner ausführlichen Erläuterung, dass sich die ‚Zeugenschaften‘ dabei durchaus überschneiden. Wer den Mythos als Relikt einer fernen Epoche der Menschheitsgeschichte betrachtet, erkennt in ihm häufig auch eine dezidiert vormoderne oder primitive Weltsicht, wie man sie (noch) bei den Naturvölkern der Gegenwart oder zumindest der jüngeren Vergangenheit zu finden glaubt. In diesem Sinne ist die Unterscheidung verschiedener Ausprägungen kultureller Alterität im Mythosdiskurs, die sich auch in der Kapiteleinteilung niederschlägt, keinesfalls als trennscharfe Systematik, sondern als heuristisches Modell zu verstehen. Denn in verschiedenen Mythoskonzeptionen stehen – bei allen Überschneidungen – tendenziell durchaus unterschiedliche Manifestationen des kulturell Fremden im Fokus. Ein einfaches Beispiel mag zur Veranschaulichung genügen: Wo man sich dem Denken der Naturvölker widmet, kann sich das Hauptinteresse einerseits ethnologisch auf die Naturvölker, andererseits philosophisch eher auf das Denken richten. Interessanter als eine potentielle Systematik dürften dann auch die Schlussfolgerungen sein, die man an dieser Stelle bezüglich der Funktion des Mythos bzw. der Denkgewohnheit ‚Mythos‘ ziehen kann. Als Zeugnis des kulturell Fremden fungiert der Mythos in einem grundlegenden Sinne als Unterscheidungskriterium. Alle Mythoskonzeptionen, die auf den vorangehenden Seiten vorgestellt wurden, treffen explizit oder implizit eine Unterscheidung: Sie unterscheiden die eigene von einer fremden kulturellen Ordnung – also die Gegenwart von der Vergangenheit, die Moderne von der Vormoderne, die zivilisierten Hochkulturen von den Naturvölkern, das

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wissenschaftliche Denken vom wilden Denken usw. Der Mythos schwebt dabei nicht über oder zwischen den Ordnungen, sondern ist stets ein Element der jeweils fremden und nicht (oder nicht in gleichem Maße) der eigenen Ordnung. In diesem Sinne ist er als Zeugnis des kulturell Fremden auch diskriminatorisch fremd.38 Er ist das Element, das die fremde Ordnung markiert und somit die Unterscheidung ‚begründet‘. Dieser Befund deckt sich mit der folgenden Beobachtung Jürgen Mohns: „Mythen kennzeichnen im Verständnis der meisten seiner Theoretiker fremde Kulturen und somit das Gegenteil zum ‚Eigenen‘“ (Mohn 1998: 16). Man kann in der Beschreibung der diskriminatorischen (d. h. ‚unterscheidenden‘) Funktion des Mythos freilich noch einen Schritt weitergehen. Denn der Mythos wird nicht bloß als beliebiges oder zufälliges, sondern häufig als charakteristisches und geradezu repräsentatives Zeugnis des kulturell Fremden in den Blick genommen. In dieser Perspektive steht er als Pars pro Toto für eine fremde kulturelle Ordnung und offenbart deren Eigenheiten (und damit zugleich auch deren Fremdartigkeit). Der Mythosbegriff erweist sich in diesem Sinne als ein ausgesprochen ökonomisches ‚Analysewerkzeug‘, das eine Markierung und Interpretation des kulturell Fremdem erlaubt – ganz gleich, ob es sich um eine spezifische Kultur, eine frühe Epoche der Menschheitsgeschichte, vormoderne Lebensumstände oder eine fremd anmutende Weltsicht handelt. Aus der diskriminatorischen Funktion des Mythos, bei der es sich im engeren Wortsinne ‚bloß‘ um die Unterscheidung von Eigenem und Fremdem handelt, leiten sich freilich weitere, konkretere Funktionen ab. Dass der Mythos als Unterscheidungskriterium Grenzziehungen ermöglicht und somit das Fremde greifbar macht, prädestiniert ihn z. B. als Instrument der kulturellen Selbstvergewisserung, denn: Europa benötigt Kategorien des Anderen als Bedingung der eigenen Selbstvergewisserung. Fremdheitsdarstellungen und -konstruktionen sind also mehr als nur oberflächlicher Exotismus; sie sind Bestandteil einer reziproken Beziehung, die weit über spezifische Fragen der kulturellen Andersartigkeit hinausweist und bis in die Sphäre der Subjektkonstitution hineinreicht. (Balme 2001: 7)

Bei einigen der vorgestellten Mythoskonzeptionen dient das kulturell Fremde, das durch das Unterscheidungskriterium ‚Mythos‘ markiert wird, offenkundig als

38 Vgl. dazu die folgende Erläuterung zur diskriminatorischen Fremdheit, bei der „es sich um eine negative Zuordnungsbeziehung […] zwischen einem Gegenstand und einer Klasse bzw. zwischen Gegenständen unterschiedlicher Klassen“ handelt: „Nun kann man auch unterschiedliche Kulturen, Länder, Naturräume etc. als Klassen von Gegenständen und/oder Merkmalen auffassen, die dann in bezug auf andere Kulturen, Länder, Naturräume oder deren Gegenstände und Merkmale diskriminatorisch fremd sein können, insofern es diese nur etwa in der einen Kultur gibt, nicht aber in der anderen.“ (Huntemann/Rühling 1997: 5)



3.2 Der Mythos als Zeugnis des kulturell Fremden 

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Folie für eine Affirmation des Eigenen (z. B. der wissenschaftlichen Rationalität oder der modernen Zivilisation) oder für eine Kritik des Eigenen (z. B. der Dominanz der Technik oder einer anthropologisch fragwürdigen Desakralisierung). In Anlehnung an Jan Assmanns Unterscheidung einer fundierenden und einer kontrapräsentischen Funktion des Erinnerns kann man in diesem Zusammenhang von einer fundierenden und einer kontrapräsentischen Funktion der mythologischen Alterität (bzw. des Mythos als Zeugnis des kulturell Fremden) sprechen. Laut Assmann stellt eine fundierende Erinnerung „Gegenwärtiges in das Licht einer Geschichte, die es sinnvoll, gottgewollt, notwendig und unabänderlich erscheinen läßt“ (Assmann 2000: 79). Dies beschreibt recht treffend jene Mythostheorien, die ihren Gegenstand auf einer frühen, intellektuell wie zivilisatorisch defizitär erscheinenden Stufe der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung verorten und ein Fortschrittsmodell vertreten (indem sie z. B. einen historischen Fortschritt vom magischen über das religiöse zum wissenschaftlichen Zeitalter postulieren). Denn solche Theorien tendieren dazu, die eigene Gegenwart als Endpunkt einer notwendigen und grundsätzlich begrüßenswerten (also ‚sinnvollen‘ und ‚gottgewollten‘) Entwicklung zu betrachten. Auch angesichts des möglicherweise befremdlichen Eindrucks, dass andere zeitgenössische Kulturen ein unkritisches Verhältnis zum Mythos pflegen und an einem entsprechend archaischen Weltbild festhalten, fühlt man sich unter Umständen in seiner eigenen Aufgeklärtheit und Rationalität bestätigt. Das kulturell Fremde affirmiert bzw. ‚fundiert‘ in diesen Fällen ex negativo die eigene kulturelle Ordnung. Daneben gibt es freilich auch einen kontrapräsentischen Bezug auf den Mythos als Zeugnis des kulturell Fremden, der – wie es Assmann im Hinblick auf die kontrapräsentische Funktion des Erinnerns formuliert hat – „von DefizienzErfahrungen der Gegenwart“ ausgeht. Dadurch „fällt ein ganz anderes Licht auf die Gegenwart: Es hebt das Fehlende, Verschwundene, Verlorene, an den Rand Gedrängte hervor […]. Hier wird die Gegenwart weniger fundiert als vielmehr im Gegenteil aus den Angeln gehoben oder zumindest gegenüber einer größeren und schöneren Vergangenheit relativiert“ (Assmann 2000: 79). Man könnte meinen, Assmann hätte bei diesen Formulierungen an Schillers Elegie „Die Götter Griechenlandes“ gedacht: „Wo jetzt nur, wie unsre Weisen sagen,/ Seelenlos ein Feuerball sich dreht,/ Lenkte damals seinen gold’nen Wagen/ Helios in stiller Majestät.“ (Schiller 1992: 162) Das wissenschaftliche Weltbild erscheint vor der Folie des mythologischen Weltbildes eines früheren, gleichsam poetischeren Zeitalters zumindest in ästhetischer und spiritueller Hinsicht keineswegs als Ergebnis eines Fortschritts zum Besseren. Und auch Friedrich Georg Jünger bringt den Mythos als Zeugnis einer vormodernen Welt in Anschlag, um die Einseitigkeit der eigenen Zeit und Zivilisation anzuprangern: „Die ausschließliche Beschäftigung mit der Naturwissenschaft hat uns belehrt, doch muß man einsehen, daß

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sie uns in dem Maße, in dem sie uns belehrte, auch ein wenig verdummt hat; sie hat den Geschmack an den geistigeren Geschäften, die der Mensch treibt, abgestumpft.“ (Jünger 1947: 12) Sowohl Schiller als auch Jünger berufen sich kontrapräsentisch auf den Mythos als Zeugnis des kulturell Fremden, um sich kritisch von der eigenen Gegenwart zu distanzieren. Abschließend bleibt an dieser Stelle vielleicht noch eine Frage zu beantworten, die sich durchaus aufdrängt, wenn der Mythos – wie im vorliegenden Kapitel – über viele Seiten hinweg als Zeugnis des kulturell Fremden in den Blick genommen wird: Gibt es nicht auch Versuche, die eigenen Mythen, d. h. die Mythen der eigenen kulturellen Ordnung, zu katalogisieren, zu beschreiben und zu analysieren? Versagt die These der mythologischen Alterität im Hinblick auf so publikumswirksame Beiträge zum Mythosdiskurs wie Herfried Münklers Die Deutschen und ihre Mythen? Was auf den ersten Blick tatsächlich wie eine Herausforderung der hier vertretenen These erscheint, entpuppt sich auf den zweiten Blick eher als deren subtile Bestätigung. Zumindest gilt dies im Falle Münklers, dem es vordergründig durchaus darum geht, die Gründungs- und Orientierungsnarrative der eigenen Nation zu identifizieren. Er geht dabei von folgendem Mythosverständnis aus: „Politische Mythen wirken […] in ihrer dreifachen Gliederung von narrativer Variation, ikonischer Verdichtung und ritueller Inszenierung“ (Münkler 2009: 14–15). Und weiter führt Münkler aus: „In politischen Mythen wird das Selbstbewusstsein eines politischen Verbandes zum Ausdruck gebracht, beziehungsweise dieses Selbstbewusstsein speist sich aus ihnen. Sie sind die narrative Grundlage der symbolischen Ordnung eines Gemeinwesens“ (Münkler 2009: 15). Münkler betont einerseits die gesellschaftliche Funktionalität des Mythos, dem insbesondere in Krisen- und Umbruchsituationen eine wichtige Bedeutung zukommt. Dementsprechend wirft Münkler auch die Frage auf, „ob Politik auf mythische Gründungserzählungen und Zukunftsverheißungen verzichten kann“ (Münkler 2009: 30). Andererseits aber scheint er selbst skeptisch, was die tatsächliche Aktualität politischer Mythen im eigenen Gemeinwesen angeht: „Solche Formen mythischer Selbstdeutungen gehören weitgehend der Vergangenheit an.“ (Münkler 2009: 30) Überhaupt drängt sich der Eindruck auf, dass es Münkler weniger um die eigenen Mythen, als vielmehr um die Mythen der Deutschen vor 1945 oder jenseits des Eisernen Vorhangs geht. Die Mythen, denen sich Münkler widmet, sind vor allem die Mythen einer fremden oder besser fremd gewordenen deutschen Nation. Die Schwelle zwischen Eigenem und Fremdem bildet dabei die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts mit den zwei Weltkriegen und der Zeit des Nationalsozialismus, die als historischer wie auch als politisch-kultureller Bruch empfunden wird. Ganz unter dem Eindruck diese Bruches beschließt der Autor das Kapitel zur „Wiederkehr des Kaisers“



3.2 Der Mythos als Zeugnis des kulturell Fremden 

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über „Barbarossa und die Erneuerung des Reichs“ mit folgendem Fazit: „Mit der Katastrophe des unter dem Namen Barbarossa geführten Russlandfeldzugs ist der Wunsch nach einer Wiederkehr des Kaisers, wie er die deutsche politische Kultur über eineinhalb Jahrhunderte geprägt hat, ein für alle Mal verschwunden. Politisch hat Barbarossa jede Relevanz verloren.“ (Münkler 2009:  68) Und im Kapitel über „Das Mirakel des Hauses Brandenburg: Fritz der König“ konstatiert Münkler: „Das russische Artilleriegeschoss zerstörte nicht nur das Gemälde [ein Porträt Friedrichs des Großen im Besitz Hitlers, d. Verf.], sondern auch den politischen Mythos des großen Königs. Für die Selbstverständigung der Deutschen hat er danach keine Rolle mehr gespielt. Friedrich ist Geschichte.“ (Münkler 2009: 255) Die Mythen der Deutschen, die Münkler bespricht, erscheinen in diesem Sinne zum großen Teil als Mythen einer fremden Zeit und einer fremden Weltanschauung. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch Münklers Behandlung der Mythen in der DDR und in der Bundesrepublik – also nach dem historischen ‚Bruch‘. Im Oberkapitel „Politische Mythen nach dem Zweiten Weltkrieg“ geht Münkler zunächst auf die „Gründungsmythen der DDR“ (antifaschistischer Widerstand, frühbürgerliche Revolution und die Befreiungskriege) ein, bevor er sich den „Politischen Mythen der Bundesrepublik“ zuwendet. Das DDR-Kapitel ist im Hinblick auf die Identifizierung politischer Mythen wesentlich ergiebiger und im Übrigen auch umfangreicher. Es fällt Münkler sichtlich leichter, die politischen Mythen des ‚zweiten‘ und ihm fremden deutschen Staates zu identifizieren. (Münkler selbst begründet dies mit den unterschiedlichen politischen Gegebenheiten und ideologischen Bedürfnissen.) Schließlich handelt es sich bei den politischen Mythen der DDR – zumindest aus Münklers Perspektive – ebenfalls um fremde Mythen, wobei man sich die sowohl ideologische als auch ganze reale Grenze des Eisernen Vorhangs als die in diesem Fall relevante Schwelle zwischen Eigenem und Fremdem vorstellen darf. Für die Bundesrepublik, also seine eigene Lebenswelt, und insbesondere für die Bundesrepublik in der Gegenwart konstatiert Münkler ein Fehlen von Mythen. Das Kapitel zu „Währungsreform und Wirtschaftswunder: Politische Mythen der Bundesrepublik“ beginnt mit dem Eingeständnis: „Was der eigentliche Gründungsmythos der alten Bundesrepublik war, lässt sich so leicht nicht sagen.“ (Münkler 2009: 455) Zuvor hatte der Autor bereits konstatiert: „Die dünne Staatssymbolik der Bonner Republik war das Pendant zu deren mythenpolitischer Unterausstattung.“ (Münkler 2009: 416) Und später schreibt er: „In diesem Sinne hat die Bundesrepublik keinen politischen Gründungsmythos hervorgebracht. […] Aber ohne Gründungsmythos können politische Großverbände auf Dauer nicht auskommen. So entstand ein vor allem wirtschaftlicher Gründungsmythos“ (Münkler 2009: 457). Wie die ausgewählten Zitate veranschaulichen, ist

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es wohl kein Zufall, dass schon der Titel des Buches eine Distanz des Autors zu seinem Gegenstand suggeriert. Die Deutschen und ihre Mythen – einen solchen Titel hätte auch ein britischer oder brasilianischer Autor wählen können. (Zugegeben: Man kann die Wahl des Titels auch als Ausdruck einer wissenschaftlichen Distanz zum Gegenstand interpretieren.) Letztendlich erfüllt der Mythos auch in Münklers Analysen der ‚eigenen‘ Mythen eine diskriminatorische Funktion. Denn obwohl der Mythos in diesem Fall nicht das Zeugnis einer fernen Kultur ist, wird er doch als Charakteristikum des Fremden – genauer: des Befremdlichen der eigenen Kultur – wahrgenommen. Jürgen Mohn hat solche Verwendungen des Mythosbegriffs wie folgt auf den Punkt gebracht: „Jedoch nicht nur die fernen fremden Kulturen, sondern auch gewisse ‚befremdliche‘ Phänomene der eigen [sic!] Kultur wurden mit der Bezeichnung Mythos bedacht: von den eigenen vergangenen Mythen über irrationale politische Bewegungen bis hin zu den Alltagsmythen der Werbung.“ (Mohn 1998: 17) Die Mythen der Deutschen, die Münkler identifiziert, stehen für die – aus Sicht des Mythosinterpreten – befremdlichen Seiten oder Aspekte der eigenen Nation, und ihre Darstellung ist dementsprechend in vielen Fällen mit einer Geste der Distanzierung verbunden. Freilich steht es jedem Leser frei, sich mit den von Münkler beschriebenen Mythen zu identifizieren – und die vom Autor wahrgenommene historische und weltanschauliche Distanz zu ignorieren. Aber an dieser Stelle soll es nicht darum gehen, wie man Münklers Werk lesen könnte, sondern was tatsächlich geschrieben wurde. Münklers Beschäftigung mit den Deutschen und ihren Mythen offenbart auf jeden Fall, dass man selbst dort der mythologischen Alterität gewahr werden kann, wo die eigenen Mythen in den Blick genommen werden – denn zumindest im Falle Münklers erkennt der Mythosinterpret selbst in diesen Mythen nicht (nur) das Vertraute und Naheliegende, sondern vor allem auch „Züge des Fremdartigen und von uns Entfernten“ (Herder 1998: 163).

3.3 „Die dunklen Nachrichten“: Der Mythos als Zeugnis des radikal Fremden 3.3.1 Der Mythos und das radikal Fremde: Vorbemerkungen Der Begriff der mythologischen Alterität lenkt das Augenmerk auf die ausgesprochen produktive ‚Gewohnheit‘, den Mythos (auch und nicht zuletzt) als Zeugnis des Fremden ‚zu denken‘. Dabei wird man freilich der Denkgewohnheit ‚Mythos‘ nicht gerecht, wenn man das Fremde auf das kulturell Fremde reduziert. Denn



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der Mythos fungiert auch noch in einem anderen Sinn als Zeugnis des Fremden, wie der folgende Auszug aus einem Reisebericht des neugriechischen Schriftstellers Nikos Kazantzakis illustriert: Am nächsten Tag gegen Mittag brachen wir nach Mykene auf. Es war die glühende, senkrechte Stunde, die zu diesen furchterregenden Felsen und Sagen paßt. Das morgendliche Licht verleiht ihnen eine Reinheit, die ihnen nicht zusteht, das Abendlicht eine romantische Schwermut, die sie nicht haben wollen. Hier in den berühmten wasserlosen Abhängen nisten weder morgendliche Lerchen noch liebestolle Nachtvögel, sondern furchtbare fleischfressende Raubvögel, Adler und Falken, die sich um die Mittagszeit in schwindelnden Höhen wiegen und ihre Nahrung unten auf der Ebene anvisieren. […] Man muß hier herauf, auf Agamemnons Burg steigen, das Herz voller Leidenschaft – Haß, Liebe, Krieg, Schrecken –, um die Argivische Ebene und die Berge und das Meer etwa so zu sehen, wie sie die Atriden sahen. So müßte man auch die Tragödien von Aischylos sehen und aufführen. Mit dem Auge eines wilden Tieres; alles andere, klassisches Gleichgewicht, rhythmische Chorschritte, stilisierte Gesten von antiken Vasen entliehen, sind Philologie und monologische Opfer an die „abwesende Aphrodite“. (Kazantzakis 1977: 24–25)

Für Kazantzakis steht die Begegnung mit Mykene und dem Mythenkreis, der sich um das Geschlecht der Atriden rankt, nicht primär im Zeichen kultureller Differenz. Es geht ihm nicht um die historische oder zivilisatorische Schwelle, welche die eigene Kultur von der anderen, mythischen Kultur trennt, sondern um das, was jenseits jeder kulturellen Ordnung liegt. Der Mythos wird von Kazantzakis in einer Landschaft angesiedelt, die nicht durch menschliche Gestaltungskraft kultiviert worden ist, sondern von „furchterregenden Felsen“ und durch „fleischfressende Raubvögel“ beherrscht wird. Dementsprechend könne man sich die Welt des Mythos nicht durch kulturelle Sensibilität und einen klaren Verstand, sondern nur mit einem „Herz voller Leidenschaft“, voller „Haß, Liebe, Krieg, Schrecken“ erschließen. Nicht dem kultivierten menschlichen Blick, sondern dem „Auge eines wilden Tieres“ offenbare sich das Wesen des Mythos. Offenkundig sieht der reisende Schriftsteller im Mythos nicht primär das Zeugnis einer archaischen, längst untergegangenen und uns fremd gewordenen Kultur, sondern – in Sigmund Freuds Formulierung – die „dunklen Nachrichten“ (Freud 2000: 261) einer radikalen Fremdheit. Es handelt sich dabei um die außer-ordentliche Fremdheit dessen, was nicht nur jenseits der eigenen kulturellen Ordnung, sondern jenseits jeder und damit auch der fremden kulturellen Ordnung liegt. Bernhard Waldenfels fasst diese „höchste Steigerung“ des Fremden in den folgenden Worten zusammen: Die Fremdheit findet schließlich ihre höchste Steigerung in einer radikalen Form. Diese betrifft all das, was außerhalb jeder Ordnung bleibt und uns mit Ereignissen konfrontiert, die nicht nur eine bestimmte Interpretation, sondern die bloße „Interpretationsmöglichkeit“ in Frage stellen […]. Hierher gehören Grenzphänomene wie Eros, Rausch, Schlaf oder

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Tod, die den Gang der Dinge, auch die Raum- und Zeitordnung durchbrechen, verdichtet zu einem Augenblick, der die Raum- und Zeitlosigkeit streift. Niemand wird je in seinen Träumen heimisch, selbst wenn sie ihn wiederholt heimsuchen. Hierher gehören ferner Umbruchphänomene wie Revolution, Sezession oder Konversion, wo Lebensformen aufeinanderprallen oder sich abspalten, ohne daß eine übergreifende Ordnung den Übergang regelt wie etwa dann, wenn eine Veränderung der politischen Verfassung gesetzlich abläuft. Wohlgemerkt, radikale Fremdheit ist nicht zu verwechseln mit absoluter und totaler Fremdheit; denn alles Außer-ordentliche bleibt bezogen auf bestimmte Ordnungen, über die es hinausgeht. In diesem Sinne kann man mit Karl-Heinz Kohl […] von einer „relationalen Fremdheit“ sprechen. Das radikal Fremde läßt sich nur fassen als Überschuß, als Exzeß, der einen bestehenden Sinnhorizont überschreitet. (Waldenfels 1999: 36–37)

Das radikal Fremde ist – aus der Beobachter- bzw. Differenzperspektive betrachtet  – nicht die andere Kultur, sondern das Andere der Kultur. Die Grenzen, die durch die von Waldenfels als Beispiele angeführten Grenz- und Umbruchphänomene berührt werden, sind dementsprechend die Grenzen der menschlichen Kultur, ja gewissermaßen sogar des Menschseins. Und so wird – wenn man der These vom Mythos als Zeugnis des radikal Fremden folgt – auch Kazantzakis merkwürdige Aufforderung nachvollziehbar, den Mythos mit dem „Auge des wilden Tieres“ zu betrachten. Außerdem blitzt an dieser Stelle die Möglichkeit einer Erklärung dafür auf, warum Mythen häufig als universelle und zeitlose Geschichten wahrgenommen werden. Diese Wahrnehmung scheint beinahe zwingend, wenn man Mythen einerseits als Zeugnisse des radikal Fremden betrachtet und andererseits das radikal Fremde in Phänomenen manifestiert sieht, die „den Gang der Dinge, auch die Raum- und Zeitordnung durchbrechen, verdichtet zu einem Augenblick, der die Raum- und Zeitlosigkeit streift“. Schließlich muss das radikal Fremde als das Außer-ordentliche jeder Kultur gewissermaßen automatisch auch als das universelle und zeitlose Fremde erscheinen. Auf jeden Fall erscheint es lohnenswert, der mit der Reflexion Kazantzakis aufgeworfenen Frage nachzugehen, inwieweit es einen Zusammenhang zwischen den Grenz- und Umbruchphänomenen des radikal Fremden und der Denkgewohnheit ‚Mythos‘ gibt.

3.3.2 Friedrich Nietzsches Geburt der Tragödie: Der Mythos als Zeugnis rauschhafter Triebe Schon eine flüchtige Beschäftigung mit der – nach Christoph Jammes Einschät­ zung  – „wohl folgenreichste[n] Mythentheorie des späten 19. Jahrhunderts“ (Jamme 1991: 84) offenbart, dass die Grenzphänomene, die von Bernhard Waldenfels als Manifestationen des radikal Fremden identifiziert werden, auch Gegenstand des Mythosdiskurses sind. Die Rede ist von der Mythostheorie



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Friedrich Nietzsches, der dem Grenzphänomen des Rausches in seiner frühen, 1872 erstmals veröffentlichten Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik eine zentrale kulturelle Bedeutung zuweist.39 In seiner Tragödien-Schrift widmet sich Nietzsche der „Frage nach dem Ursprung des Mythos bei den Griechen und seiner Vollendung in der Tragödie“ (Jamme 1991: 85). Seine Antwort auf diese Frage kreist um „die Duplizität des Apollinischen und Dionysischen“: Diese Namen entlehnen wir von den Griechen, welche die tiefsinnigen Geheimlehren ihrer Kunstanschauung zwar nicht in Begriffen, aber in eindringlich deutlichen Gestalten ihrer Götterwelt dem Einsichtigen vernehmbar machen. An ihre beiden Kunstgottheiten, Apollo und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntnis, daß in der griechischen Welt ein ungeheurer Gegensatz, nach Ursprung und Zielen, zwischen der Kunst des Bildners, der apollinischen, und der unbildlichen Kunst der Musik, als der des Dionysus, besteht: beide so verschiedne Triebe gehen nebeneinander her, zumeist im offnen Zwiespalt miteinander […]. (Nietzsche 1994: 21)

Beim Apollinischen und Dionysischen handelt es sich demnach um widerstreitende Kunsttriebe oder „künstlerische Mächte“ (Nietzsche 1994: 25) – genauer: um die Macht des Traumes auf der einen und die Macht des Rausches auf der anderen Seite: „Um uns jene beiden Triebe näherzubringen, denken wir sie uns zunächst als die getrennten Kunstwelten des Traumes und des Rausches; zwischen welchen physiologischen Erscheinungen ein entsprechender Gegensatz wie zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen zu bemerken ist.“ (Nietzsche 1994: 21) Dabei müsse man von einer Gegensätzlichkeit dieser Kunsttriebe ausgehen – „bis sie endlich, durch einen metaphysischen Wunderakt des hellenischen ‚Willens‘, miteinander gepaart erscheinen und in dieser Paarung zuletzt das ebenso dionysische als apollinische Kunstwerk der attischen Tragödie erzeugen“ (Nietzsche 1994: 21). Die Geburt der Tragödie – und damit die Geburt einer Leitgattung der europäischen Literatur (vgl. Frick 2003) – ist Nietzsche zufolge nicht ohne das Grenzphänomen des Rausches zu denken. Dies ist umso bemerkenswerter, als die „Analogie des Rausches“ (Nietzsche 1994: 24) – d. h. die Analogie zum „Wesen des Dionysischen“ – für Nietzsche keineswegs nur ein abstrakter ästhetischer Begriff bleibt: „Entweder durch den Einfluß des narkotischen Getränkes […] oder bei dem gewaltigen, die ganze Natur lustvoll durchdringenden Nahen des Frühlings erwachen jene dionysischen Regungen, in deren Steigerung das Subjektive zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet.“ (Nietzsche 1994: 24) 39 Eine spätere Ausgabe ließ Nietzsche unter dem Titel Die Geburt der Tragödie Oder: Griechenthum und Pessimismus erscheinen. Im Folgenden zitiert nach Nietzsche 1994.

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Wenn Nietzsche vom Rausch spricht, hat er offenkundig Erfahrungen radikaler Fremdheit im Blick, wie sie in der entsprechenden Definition von Bernhard Waldenfels skizziert werden. Und der Rausch gehört zweifelsohne zu den Phänomenen, „die den Gang der Dinge, auch die Raum- und Zeitordnung durchbrechen“ (Waldenfels 1999: 37). Zudem stellt er sich häufig – im ganz profanen Sinne – als „Exzeß“ dar, „der einen bestehenden Sinnhorizont überschreitet“ (Waldenfels 1999: 37). Außerdem erscheint es rein intuitiv und mit Blick auf die einschlägige Semantik plausibel, den Rausch als Fremdheitserfahrung zu beschreiben. Schließlich handelt es sich beim Rausch um einen Zustand der Ekstase, also des Außer-sich-Seins oder des Aus-sich-Heraustretens. Sogar die Rechtsordnung trägt dem Rechnung, wenn Angeklagten, die eine Tat im Rausch begangen haben, Unzurechnungsfähigkeit attestiert und ihnen damit bescheinigt wird, bei der jeweiligen Tat nicht ‚Herr im eigenen Hause‘ gewesen zu sein, sondern unter ‚fremdem‘ Einfluss (meist einer berauschenden Substanz) gestanden zu haben. Nietzsche freilich hat weniger die asozialen Konsequenzen des Rausches im Blick, sondern bemüht sich vielmehr, diesen nicht nur im Hinblick auf die griechische Tragödie, sondern auch darüber hinaus zu rehabilitieren: Auch im deutschen Mittelalter wälzten sich unter der gleichen dionysischen Gewalt immer wachsende Scharen, singend und tanzend, von Ort zu Ort: in diesen Sankt-Johann- und Sankt-Veittänzern erkennen wir die bacchischen Chöre der Griechen wieder, mit ihrer Vorgeschichte in Kleinasien, bis hin zu Babylon und den orgiastischen Sakäen. Es gibt Menschen, die, aus Mangel an Erfahrung oder aus Stumpfsinn, sich von solchen Erscheinungen wie von „Volkskrankheiten“, spöttisch oder bedauernd im Gefühl der eigenen Gesundheit abwenden: die Armen ahnen freilich nicht, wie leichenfarbig und gespenstisch eben diese ihre „Gesundheit“ sich ausnimmt, wenn an ihnen das glühende Leben dionysischer Schwärmer vorüberbraust. (Nietzsche 1994: 24)

In den Augen Nietzsches ist das Rauschhafte offenkundig zu Unrecht schlecht beleumundet, da sich gerade im Rausch das Leben, die Gemeinschaft, die Natur erschließt: „Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen.“ (Nietzsche 1994: 24) Das utopische Moment ist dabei in Nietzsches Apologie des Rausches nicht zu übersehen: „Freiwillig beut die Erde ihre Gaben, und friedfertig nahen die Raubtiere der Felsen und der Wüste. Mit Blumen und Kränzen ist der Wagen des Dionysus überschüttet: unter seinem Joche schreiten Panther und Tiger.“ (Nietzsche 1994: 24) Der Rausch wird als Erweckungserlebnis, als Erlösung oder Befreiung stilisiert.



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Es mag paradox anmuten, wenn in den zitierten Zeilen der Rausch als Remedium gegen die Entfremdung empfohlen wird, da es sich doch bei diesem – wie ausgeführt – um eine radikale Fremdheitserfahrung handelt. Doch wenn man es hier mit einem Paradox zu tun hat, dann mit einem ausgesprochen gängigen, das etwa auch der Behauptung zugrunde liegt, man vermöge das Leben erst dann wirklich zu schätzen, wenn man dem Tode (ebenfalls ein Grenzphänomen bzw. ein Beispiel für das radikal Fremde) ins Angesicht geblickt habe. Eine dichterische Formulierung findet diese Behauptung z.B. in Friedrich Schillers „Reiterlied“ aus dem ersten Teil der Wallenstein-Trilogie (Wallensteins Lager, 11): „Der dem Tod ins Angesicht schauen kann,/ der Soldat allein ist der freie Mann. […] Und setzet ihr nicht das Leben ein,/ nie wird euch das Leben gewonnen sein.“ (Schiller 1970: 49–50) Festzuhalten ist auf jeden Fall, dass sich Nietzsches Tragödien-Schrift der Erkundung und der Würdigung des radikal Fremden in Gestalt des Rausches widmet – „jenem Fundamente aller Existenz, […] dem dionysischen Untergrunde der Welt“ (Nietzsche 1994: 133) –, dessen kulturelle Relevanz sich in Nietzsches Augen nicht nur in einem konkreten historischen Kontext erweist. Man mag durchaus einwenden, dass Nietzsche keine „eigentliche Definition“ (Jamme 1991: 85)40 des Mythos anbietet und dementsprechend das Verhältnis von Mythos und Rausch vage bleibt. Doch allein durch die Engführung von Mythos (als Gegenstand der Tragödie) und Dionysischem – in den Worten Gero von ­Wilperts „das  ekstatisch-irrationale, rauschhaft-sinnenhafte, chthonische Welterlebnis“ (Wilpert 2001: 177) – prägt Nietzsche eine Vorstellung vom Mythos als Zeugnis des radikal Fremden.41 Interessanterweise stellt Nietzsche den dionysischen Rausch dem apollinischen Traum gegenüber – und damit einem Phänomen, in dem sich laut der von Bernhard Waldenfels übernommenen Definition ebenfalls das radikal Fremde manifestieren kann. In Nietzsches Betrachtung der „Duplizität des Apollinischen und Dionysischen“ steht der Traum freilich nicht im Zeichen einer radikalen Fremdheitserfahrung, zumindest nicht im Fall der alten Griechen:

40 Bei Jamme heißt es weiter: „unter ‚Mythus‘ versteht Nietzsche sowohl den eigentlichen griechischen Mythos (die Behandlung der außergriechischen Mythen interessiert ihn nicht) wie auch, allgemeiner, Ideologien“ (Jamme 1991: 85). 41 Diese Einschätzung deckt sich mit dem Urteil Eleazar M. Meletinskis, der den Beitrag der Geburt der Tragödie zum Mythosdiskurs wie folgt zusammenfasst: „[It] emphasizes the significance of rituals in mythology and in the origins of forms and artistic genres; it therefore anticipates a few modern interpretations of myth. No less significant is Nietzsche’s linking mythology to the principle of irrational and instinctive chaos, which, in his view, stands in opposition to measured and rational harmony.“ (Meletinski 2000: 14–15)

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[…] bei der unglaublich bestimmten und sicheren plastischen Befähigung ihres Auges, samt ihrer hellen und aufrichtigen Farbenlust, wird man sich nicht entbrechen können, zur Beschämung aller Spätergeborenen, auch für ihre Träume eine logische Kausalität der Linien und Umrisse, Farben und Gruppen, eine ihren besten Reliefs ähnelnde Folge der Szenen vorauszusetzen, deren Vollkommenheit uns, wenn eine Vergleichung möglich wäre, gewiß berechtigen würde, die träumenden Griechen als Homere und Homer als einen träumenden Griechen zu bezeichnen […]. (Nietzsche 1994: 26)

Der Traum, so wie ihn Nietzsche als Analogie zum apollinischen Kunsttrieb der Griechen evoziert, ist ein Hort der Helligkeit, der Logik und der vollkommenen Anschaulichkeit – kurzum: Er dürfte selbst den „Spätergeborenen“ nicht fremd oder befremdlich erscheinen. Dass man den Traum auch im Mythosdiskurs durchaus anders betrachten kann, nämlich im Zeichen radikaler Fremdheit, zeigt sich einige Jahrzehnte nach Nietzsches Tragödien-Schrift.

3.3.3 Sigmund Freuds Ödipus-Deutung: Der Mythos als Zeugnis unmoralischer Wünsche „Niemand wird je in seinen Träumen heimisch, selbst wenn sie ihn wiederholt heimsuchen.“ (Waldenfels 1999: 37) So begründet Bernhard Waldenfels, warum auch der Traum zu jenen Grenzphänomenen zählt, in denen sich das radikal Fremde manifestiert. Träume, die man als Heimsuchungen charakterisieren kann, spielen auch im Mythosdiskurs eine prominente Rolle – in der psychoanalytischen Mythoskonzeption Sigmund Freuds. Freud postuliert in seinem Aufsatz „Der Dichter und das Phantasieren“ (1908) sogar einen generischen Zusammenhang zwischen Mythos und Traum: „es ist z. B. von den Mythen durchaus wahrscheinlich, daß sie den entstellten Überresten von Wunschphantasien ganzer Nationen, den Säkularträumen der jungen Menschheit, entsprechen“ (Freud 1980: 178). Und auch bei seiner wirkmächtigen Deutung des Ödipus-Stoffes in der Traumdeutung (1900; vgl. Freud 2000: 265–268) geht Freud davon aus, dass „die Sage von Ödipus einem uralten Traumstoff entsprossen ist, welcher jene peinliche Störung des Verhältnisses zu den Eltern durch die ersten Regungen der Sexualität zum Inhalte hat“ (Freud 2000: 268).42 Somit lässt sich zumindest schon einmal festhalten, dass Freud den Mythos als Zeugnis des Fremden in Gestalt uralter Träume bzw. Traumstoffe begreift. 42 An einer anderen Stelle führt Freud folgende Parallele an, die den Zusammenhang von Traum und Mythos unterstreichen soll: „Von den Tieren, die in Mythologie und Folklore als Genitalsymbole verwendet werden, spielen mehrere auch im Traum diese Rolle: der Fisch, die Schnecke, die Katze, die Maus (der Genitalbehaarung wegen), vor allem aber das bedeutsamste Symbol des männlichen Gliedes, die Schlange.“ (Freud 2000: 351)



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Darüber hinaus aber ist der Mythos für Freud auch Zeugnis oder Ausdruck dessen, was radikal fremd anmuten muss – seelische Gewalten und Abgründe der menschlichen Natur, die das menschliche Selbstverständnis herausfordern und kulturelle Normen sprengen. Und so charakterisiert Freud, bevor er sich in seiner Traumdeutung der Interpretation des Ödipus-Stoffes widmet (und im Hinblick auf das Eltern-Kind-Verhältnis), den Mythos als Medium dunkler Nachrichten: Die dunklen Nachrichten, die in Mythologie und Sage aus der Urzeit der menschlichen Gesellschaft auf uns gekommen sind, geben von der Machtfülle des Vaters und von der Rücksichtslosigkeit, mit der sie gebraucht wurde, eine unerfreuliche Vorstellung. Kronos verschlingt seine Kinder, etwa wie der Eber den Wurf des Mutterschweins, und Zeus entmannt den Vater und setzt sich als Herrscher an seine Stelle. (Freud 2000: 261)

Die befremdlichen Botschaften, die der Mythos übermittelt, stammen freilich in Freuds Perspektive nicht nur aus einer historisch konkret zu bestimmenden „Urzeit der menschlichen Gesellschaft“, wie in der sich anschließenden ÖdipusDeutung offenkundig wird. Denn das, wofür der Ödipus-Mythos ein Zeugnis ablegt, betrifft nicht nur den Menschen einer weit zurückliegenden Vergangenheit. Vielmehr geht Freud davon aus, dass „der König Ödipus [des Sophokles, d. Verf.] den modernen Menschen nicht minder zu erschüttern weiß als den zeitgenössischen Griechen“ (Freud 2000: 266). Für diese Betroffenheit auch des modernen Menschen liefert Freud folgende Erklärung: „Es muß eine Stimme in unserem Innern geben, welche die zwingende Gewalt des Schicksals im Ödipus anzuerkennen bereit ist“ (Freud 2000:  267). Und weiter heißt es: Sein Schicksal ergreift uns nur darum, weil es auch das unsrige hätte werden können, weil das Orakel vor unserer Geburt denselben Fluch über uns verhängt hat wie über ihn. Uns allen vielleicht war es beschieden, die erste sexuelle Regung auf die Mutter, den ersten Haß und gewalttätigen Wunsch gegen den Vater zu richten; unsere Träume überzeugen uns davon. König Ödipus, der seinen Vater Laϊos erschlagen und seine Mutter Jokaste geheiratet hat, ist nur die Wunscherfüllung unserer Kindheit. Aber glücklicher als er, ist es uns seitdem, insofern wir nicht Psychoneurotiker geworden sind, gelungen, unsere sexuellen Regungen von unseren Müttern abzulösen, unsere Eifersucht gegen unsere Väter zu vergessen. Vor der Person, an welcher sich jener urzeitliche Kinderwunsch erfüllt hat, schaudern wir zurück mit dem ganzen Betrag der Verdrängung, welche diese Wünsche in unserem Inneren seither erlitten haben. Während der Dichter in jener Untersuchung die Schuld des Ödipus ans Licht bringt, nötigt er uns zur Erkenntnis unseres eigenen Innern, in dem jene Impulse, wenn auch unterdrückt, noch immer vorhanden sind. (Freud 2000: 267)

Der Mythos wird in dieser Passage – so explizit wie man es sich bei einer Untersuchung mythologischer Alterität nur wünschen kann – zum Zeugnis des Fremden, denn er konfrontiert uns mit den zweifelsohne befremdlichen Wünschen und

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Impulsen, die wir laut Freud in einen fremden, (dem Bewusstsein) unzugänglichen Bereich „unseres eigenen Inneren“ verdrängt haben. In dieser Sichtweise ähneln wir alle der mythologischen Figur des Ödipus: „Wie Ödipus leben wir in Unwissenheit der die Moral beleidigenden Wünsche, welche die Natur uns aufgenötigt hat, und nach deren Enthüllung möchten wir wohl alle den Blick abwenden von den Szenen unserer Kindheit.“ (Freud 2000: 267) Der Mensch erscheint in Freuds Ödipus-Deutung geschlagen durch seine Unwissenheit und gleichzeitig als das Opfer einer radikalen Form der Fremdbestimmung. Immerhin ist die Rede von einem „Fluch“, der über uns verhängt wurde – dem Fluch „der die Moral beleidigenden Wünsche, welche die Natur uns aufgenötigt hat“ (Freud 2000: 267). Zur Unkenntnis und zur Fremdbestimmtheit kommt also noch das moralische Befremden angesichts der eigenen Wünsche, die konträr zur Moral stehen – umfassender lässt sich eine Fremdheitserfahrung kaum beschreiben. Die Erkenntnis, die in der Beschäftigung mit dem Ödipus-­Stoff gewonnen werden kann, ist dementsprechend auch eine Erkenntnis über das verdrängte Fremde in uns selbst: „Während der Dichter in jener Untersuchung die Schuld des Ödipus ans Licht bringt, nötigt er uns zur Erkenntnis unseres eigenen Inneren, in dem jene Impulse, wenn auch unterdrückt, noch immer vorhanden sind.“ (Freud 2000: 267) Genau genommen ist der Mythos also nicht einfach nur Zeugnis des radikal Fremden, sondern auch schon eine erste Form der Bewältigung dieser Fremdheit: „Die Handlung des Stückes besteht nun in nichts anderem als in der schrittweise gesteigerten und kunstvoll verzögerten Enthüllung – der Arbeit einer Psychoanalyse vergleichbar –, daß Ödipus selbst der Mörder des Laϊos, aber auch der Sohn des Ermordeten und der Jokaste ist.“ (Freud 2000: 266) Mit seiner Deutung des Ödipus-Stoffes liefert Freud nicht bloß die Interpretation eines beliebigen mythologischen Stoffes (noch dazu in einer konkreten literarischen Fassung). Vielmehr kann man aus seiner Analyse ein umfassenderes Mythosverständnis extrapolieren, wie Gertrud Höhler unterstreicht: Demnach „hält Freud, was er für den Ödipusmythos konstatiert, für einen Grundzug des Mythischen überhaupt: es liefere Auskünfte über Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Natur und ihrer grundsätzlichen Situation, die in jüngerer Zeit durch Sitte und Kultur verschüttet und überformt worden seien“ (Höhler 1979: 327).43 Dem

43 Man sollte sich freilich bewusst sein, dass Freuds Beschäftigung mit dem Mythos nicht primär als Beitrag zur Mythostheorie angelegt ist: „Freuds Mythosbegriff […] zeugt vom Hauptinteresse des Betrachters an der psychologischen Substanz und Verwertbarkeit von Mythen; historische Fragen und quellenkundliche Studien sind deshalb für Freud nicht von Gewicht.“ (Höhler 1979: 321) Dessen ungeachtet darf man wohl vermuten, dass der Bekanntheitsgrad der Freudschen ÖdipusDeutung – die eben auch eine Mythosinterpretation bzw. eine spezifische Mythoskonzeption darstellt – den Bekanntheitsgrad selbst der prominentesten Mythostheorien übersteigt.



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Psychologen dient der Mythos demnach als Zeugnis aus der Fremde: „Der Psychologe also sichtet die seelischen Altertümer, wie der Literarhistoriker die literarischen.“ (Höhler 1979: 329) Dabei ist die Fremde hier nicht die fremde kulturelle Ordnung, sondern ein fremdes Areal der menschlichen Seele oder allgemeiner der menschlichen Natur. Der Traum und der Mythos bieten sich dabei als Fenster zum Fremden an – wobei der Mythos als menschheitsgeschichtlich weit zurückreichendes Zeugnis die anthropologische Tiefe der psychoanalytischen Erkenntnisse verbürgt. Das Fremde, für das der Mythos in Freuds Ödipus-Interpretation ein Zeugnis abgibt, ist das Fremde in jeder kulturellen Ordnung. Die verdrängten Wünsche, die im Ödipus-Stoff ihren Ausdruck finden, dürften – als das Außer-ordentliche – die moralischen Standards an jedem Ort und zu jeder Zeit beleidigen. So betrachtet – d. h. „als Illustration des […] Grundkonflikts der menschlichen Konstitution“ (Höhler 1979: 330) – erweist sich der Mythos als universell und zeitlos – die kulturelle Differenz zwischen dem „modernen Menschen“ und dem „zeitgenössischen Griechen“ erscheint unbedeutend angesichts der Erfahrung radikaler Fremdheit, die beide gleichermaßen „zu erschüttern weiß“ (Freud 2000: 266).

3.3.4 Carl Gustav Jungs „Wotan“-Aufsatz: Der Mythos als Zeugnis seelischer Gewalten Wie bei Sigmund Freud gerät die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Mythos auch bei dem etwas jüngeren Carl Gustav Jung zu einer Exkursion in die dunklen Bereiche der menschlichen Seele. Auch Jung interpretiert den Mythos dabei als Zeugnis des radikal Fremden, d. h. – der Perspektive und Logik des Psychologen entsprechend – als Zeugnis seelischer Gewalten. Ein Unterschied zum Mythosverständnis Freuds ergibt sich freilich daraus, dass Jung sein Mythosverständnis im Rahmen einer Theorie des kollektiven Unbewussten entwickelt: Das kollektive Unbewußte ist ein Teil der Psyche, der von einem persönlichen Unbewußten dadurch negativ unterschieden werden kann, daß er seine Existenz nicht persönlicher Erfahrung verdankt und daher keine persönliche Erwerbung ist. Während das persönliche Unbewußte wesentlich aus Inhalten besteht, die zu einer Zeit bewußt waren, aus dem Bewußtsein jedoch entschwunden sind, indem sie entweder vergessen oder verdrängt wurden, waren die Inhalte des kollektiven Unbewußten nie im Bewußtsein und wurden somit nie individuell erworben, sondern verdanken ihr Dasein ausschließlich der Vererbung. (Jung 1995a: 55)

Im Hinblick auf die Inhalte des kollektiven Unbewussten postuliert Jung die Existenz von Archetypen: „Der Begriff des Archetypus, der ein unumgängliches

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Korrelat zur Idee des kollektiven Unbewußten bildet, deutet das Vorhandensein bestimmter Formen in der Psyche an, die allgegenwärtig oder überall verbreitet sind.“ (Jung 1995a: 55)44 Oder noch deutlicher formuliert: Das ererbte kollektive Unbewusste besteht „aus präexistenten Formen, Archetypen, die erst sekundär bewußtwerden können und den Inhalten des Bewußtseins festumrissene Form verleihen“ (Jung 1995a: 56). Mit der Existenz eines kollektiven Unbewussten und der Archetypen erklärt Jung schließlich den Mythos, der ihm als „wohlbekannter Ausdruck der Archetypen“ erscheint (Jung 1995a: 15). Demnach bestimmt der Tiefenpsychologe Jung die Mythen als Repräsentationen des kollektiven Unbewussten und damit grundsätzlich als psychische Manifestationen: „Man hat sich in der Mythenforschung bisher immer mit solaren, lunaren, meteorologischen, Vegetations- und anderen Hilfsvorstellungen begnügt. Daß die Mythen aber in erster Linie psychische Manifestationen sind, welche das Wesen der Seele darstellen, darauf hat man sich bisher so gut wie gar nicht eingelassen.“ (Jung 1995a: 15–16) Inwiefern ist nun für Jung der Mythos als Ausdruck eines Archetypus oder als psychische Manifestation auch ein Zeugnis des Fremden, zumal des radikal Fremden? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage gibt Jungs Aufsatz „Wotan“, der 1936 erstmals veröffentlicht wurde. In diesem Aufsatz versucht sich Jung an einer Analyse des Aufstiegs der Nationalsozialisten in Deutschland. Der Aufsatz illustriert dabei zum einen – als praktische Anwendung – Jungs Theorie des kollektiven Unbewussten und der Archetypen. Zum anderen offenbart er ein Verständnis des Mythos nicht bloß als psychische Manifestation, sondern als Zeugnis seelischer Gewalten, in denen man zweifelsohne das radikal Fremde erkennen kann. Das kollektive Unbewusste, dessen Repräsentation der Mythos ist, entpuppt sich als unerschlossenes, fremdes Terrain – als „Urwald“ (Jung 1995b: 205) und als dunkles Gebiet (vgl. Jung 1995b: 210), wobei Letzteres wohl nicht zufällig an Freuds Vermutung erinnert, in den Mythen seien dunkle Nachrichten überliefert. Dabei erscheint es schon für sich genommen bemerkenswert, dass sich Jung in seinem „Wotan“-Aufsatz der Denkgewohnheit ‚Mythos‘ bedient, um ein gesellschaftliches Umbruchphänomen zu beleuchten. Der Aufsatz bietet in dieser Hinsicht ein Beispiel dafür, dass und wie das radikal Fremde im Mythosdiskurs thematisch wird. Schließlich gehören laut Bernhard Waldenfels zu den Erfahrungen radikaler Fremdheit auch „Umbruchphänomene wie Revolution, Sezession oder 44 In einer Fußnote trifft Jung in diesem Zusammenhang noch einmal eine Unterscheidung: „Man muß, um genau zu sein, zwischen ‚Archetypus‘ und ‚archetypischen Vorstellungen‘ unterscheiden. Der Archetypus stellt an sich eine hypothetische, unanschauliche Vorlage dar“ (Jung 1995a: 15).



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Konversion, wo Lebensformen aufeinanderprallen oder sich abspalten“ (Waldenfels 1999: 37). In Jungs Analyse freilich stellt sich die Situation im Deutschland der 1930er Jahre nicht nur als Umbruch dar, sondern auch als Ausbruch einer Urgewalt – die Urgewalt eines vermeintlich erstorbenen Vulkans, der zu neuer Tätigkeit erwacht (vgl. Jung 1995b: 204). Statt von Ausbruch könnte man aber ebenso von einem Einbruch sprechen – einem Einbruch des deutschen Archetypus Wotan in die geschichtliche Welt: Wotan dünkt mir eine treffliche Hypothese zu sein. Er scheint wirklich nur geschlafen zu haben im Kyffhäuser, bis die Raben ihm Morgenluft meldeten; Wotan, eine Grundeigenschaft der deutschen Seele, ein seelischer „Faktor“ irrationaler Natur, eine Zyklone, welche den kulturellen Hochdruck abbaut und wegreißt. […] Wotan ist – und das hat man offenbar völlig vergessen – eine germanische Urgegebenheit, ein wahrster Ausdruck und eine unübertroffene Personifikation einer grundlegenden Eigentümlichkeit insbesondere des deutschen Volkes. (Jung 1995b: 210)

Die nationalsozialistische Bewegung erscheint in dieser Perspektive als historische Manifestation des deutschen Archetypus Wotan: „Die HITLER-Bewegung brachte wörtlich ganz Deutschland auf die Beine und produzierte das Schauspiel einer Völkerwanderung an Ort. Wotan, der Wanderer, war erwacht.“ (Jung 1995b: 204) Dabei lässt Jung keinen Zweifel daran, dass Wotan als „Grundeigenschaft der deutschen Seele“ weniger ein abstraktes Ideal oder eine poetische Metapher darstellt, sondern vielmehr als reale Macht einer seelischen Gewalt begriffen werden muss, zumal für ihn „die Götter unzweifelhaft Personifikationen seelischer Gewalten sind“ (Jung 1995b: 209). Mythen wiederum – und hier wird Jungs Mythosverständnis ganz konkret – sind dann Charakterisierungen dieser Personifikationen: Früheste Intuition hat diese Gewalten [der Seele, d. Verf.] stets als Götter personifiziert und sie mit großer Sorgfalt und Umfänglichkeit ihrer Art entsprechend durch Mythen charakterisiert. Dies war um so eher möglich, als es sich dabei um feststehende ursprüngliche Typen oder Bilder handelt, welche dem Unbewußten zahlreicher Völkerstämme eingeboren sind und letztere wiederum in ihrem eigentümlichen Verhalten kennzeichnen. (Jung 1995b: 211–212)

Jung interpretiert Mythen demnach explizit als Zeugnisse seelischer Gewalten, die durch Götter personifiziert werden und sich in feststehenden ursprünglichen Typen oder Bildern – kurz: Archetypen – niederschlagen. Dass man es bei den seelischen Gewalten, für die der Mythos ein Zeugnis abgibt, mit dem radikal Fremden zu tun hat, zeigt sich in Jungs Charakterisierung des Archetypus Wotan als „alter Sturm- und Rauschgott“, dessen

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 3 Formen und Funktionen mythologischer Alterität

„Urverwandtschaft“ mit Dionysos nicht zu leugnen sei (Jung 1995b: 204). Prägnant zusammengefasst wird dieses Bild Wotans in Jungs zustimmender Bezugnahme auf eine einschlägige Monographie (Martin Ninck, Wodan und germanischer Schicksalsglaube): „NINCK entwirft ein großartiges Gemälde des deutschen Archetypus Wotan. In zehn Kapiteln beschreibt er ihn an Hand der Quellen als den Berserker, den Sturmgott und Wanderer, den Kämpfer, den Wunschund Minnegott, den Herrn der Toten, den Herrn der Einherjer, den um Geheimes Wissenden, den Zauberer und Gott der Dichter.“ (Jung 1995b: 213) Wotan verkörpert offenkundig für Jung – genau wie Dionysos für Nietzsche – das Außerordentliche, das die Grenzen jeder kulturellen Ordnung sprengt, und somit das radikal Fremde.45 Und was für Wotan gilt, gilt – laut Jung – für Archetypen im Allgemeinen. Diese seien als Naturgewalten in der Lage, die Grenzen des Lebens des Einzelnen sowie der menschlichen Gesellschaft sichtbar werden zu lassen und in Frage zu stellen: Archetypen sind eben wie Flußbetten, die das Wasser verlassen hat, die es aber nach unbestimmt langer Zeit wieder auffinden kann. Ein Archetypus ist etwas wie ein alter Stromlauf, in welchem die Wasser des Lebens lange flossen und sich tief eingegraben haben. Und je länger sie diese Richtung behielten, desto wahrscheinlicher ist es, daß sie früher oder später wieder dorthin zurückkehren. Wenn schon das Leben des einzelnen in der menschlichen Gesellschaft und besonders innerhalb des Staates reguliert ist wie ein Kanal, so ist doch das Leben der Völker wie der Lauf eines Wildwassers, über das keiner Herr ist, jedenfalls kein Mensch, sondern Einer, der immer stärker war als die Menschen. (Jung 1995b: 213–214)

Dementsprechend erscheint Jung die nationalsozialistische Machtergreifung in Deutschland als Aufstand von „Naturtatsachen“ gegen die „Weltherrscherin Vernunft“, als Aufstand des Außer-ordentlichen (als Naturgewalt) gegen die Ordnung (der Zivilisation, der Kultur, der aufgeklärten Rationalität):

45 Jung hat insbesondere das Rauschhaft-Irrationalistische als Markenzeichen des Dionysischen im Blick: „mit Dionysos verbindet ihn [Wotan, d. Verf.] die Raserei, namentlich deren mantische Form“ (Jung 1995b: 213). Hier zeigt sich ein direkter Zusammenhang zwischen zwei Mythoskonzeptionen, in dem die mythostheoretische Diskursformation ‚Mythos als Zeugnis des radikal Fremden‘ anschaulich wird. Vgl. zur Charakterisierung Wotans auch die folgende Passage: „Ich weiß nicht, ob diesen Leuten Wotans Urverwandtschaft mit der Christus- und Dionysosfigur bewußt ist; wahrscheinlich ist es nicht. Der rastlose Wanderer Wotan, der Unruhestifter, der bald hier, bald dort Streit erregt oder zauberische Wirkung übt, war zuerst durch das Christentum in einen Teufel verwandelt worden und flackerte nur noch wie ein Irrlicht durch stürmische Nacht, als ein gespenstischer Jäger mit seinem Jagdgefolge, und auch dies nur in lokalen, immer mehr erlöschenden Traditionen.“ (Jung 1995b: 204–205)



3.3 Der Mythos als Zeugnis des radikal Fremden 

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Deutschland ist ein geistiges Katastrophenland, wo gewisse Naturtatsachen immer nur einen Scheinfrieden mit der Weltherrscherin Vernunft eingehen. Der Widersacher ist ein Wind, […] ein elementarischer Dionysos, der apollinische Ordnung durchbricht. Der Unwettererzeuger ist Wotan genannt, zu dessen genauerer Charaktererforschung wir nicht nur der Kenntnis seiner historischen Wirkungen in geistigen und politischen Verwirrungen und Umstürzen bedürfen, sondern auch der mythologischen Aussagen jener Zeiten, welche noch nicht aus dem Menschen und seinen beschränkten Möglichkeiten heraus erklärten, sondern die tiefere Ursache im Seelischen und dessen autonomer Gewalt fanden. (Jung 1995b: 211)

Jung verweist auch an dieser Stelle auf den Mythos als Zeugnis der Gewalt des Seelischen. Und diese Gewalt ist als autonome zugleich eine fremde Gewalt  – also nicht die eigene Gewalt bzw. die Gewalt, die man ausübt, sondern eine Gewalt, die man erleidet. Jung wählt in diesen Zusammenhang die Metapher der Epilepsie: Man kann daher von einem Archetypus „Wotan“ sprechen, der als autonomer seelischer Faktor kollektive Wirkungen erzeugt und dadurch ein Bild seiner eigenen Natur entwirft. Wotan hat seine eigentümliche Biologie, gesondert vom Wesen des einzelnen Menschen, der nur zeitweise vom unwiderstehlichen Einfluß dieser unbewußten Bedingung erfaßt wird. In den Ruhezeiten dagegen ist einem die Existenz des Archetypus Wotan so unbewußt wie eine latente Epilepsie. Hätten jene Deutschen, die 1914 schon erwachsen waren, gedacht, was sie 1935 sein würden? Solches aber sind die erstaunlichen Wirkungen des Windgottes, der weht, wo er will, und von dem man nie weiß, woher er kommt und wohin er geht, der alles ergreift, was ihm in den Weg kommt, und alles umwirft, was keinen Stand hat. Wenn der Wind bläst, so wackelt alles, was äußerlich oder innerlich unsicher ist. (Jung 1995b: 212)

Die seelische Gewalt des Archetypus Wotan sei die meiste Zeit nur eine latente Gewalt – also „vorhanden, aber (noch) nicht [oder nicht mehr, d. Verf.] in Erscheinung tretend; nicht unmittelbar sichtbar od. zu erfassen“ (Dudenredaktion 2003: 994). Doch wie ein unvermeidlicher epileptischer Anfall bricht sie von Zeit zu Zeit als das radikal Fremde in das Leben nicht nur des Einzelnen, sondern ganzer Gesellschaften ein. Dann ist der Einzelne, ist die Gesellschaft nicht mehr Herr im eigenen Hause, sondern – wie Jung es formuliert – von einer fremden Macht ergriffen: „Vielleicht dürfen wir diese Allgemeinerscheinung als ‚Ergriffenheit‘ bezeichnen. Mit diesem Ausdruck ist zunächst ein ‚Ergriffener‘ gesetzt, sodann aber auch ein ‚Ergreifer‘. Wenn man HITLER nicht geradezu deifizieren will, was ihm zwar auch schon passiert ist, so bleibt nur noch Wotan übrig, der ein Ergreifer der Männer ist.“ (Jung 1995b: 209) Wer unter einem epileptischen Anfall leidet, wer sich im Zustand der Ergriffenheit befindet, der ist freilich für sein Tun nur bedingt verantwortlich zu machen – in dieser Hinsicht ist Jungs Einschätzung konsequent: „Wir Außenstehende beurteilen den gegenwärtigen Deutschen viel zu sehr als verantwortlich zu machenden Handelnden; es wäre vielleicht richtiger, ihn zum mindesten auch als Erleidenden zu betrachten.“ (Jung 1995b: 217)

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 3 Formen und Funktionen mythologischer Alterität

Jung erhebt in seinem Wotan-Aufsatz einen bemerkenswert vermessenen Anspruch: „Ich wage sogar die ketzerische Behauptung, daß der alte Wotan mit seinem abgründigen und niemals ausgeschöpften Charakter mehr vom Nationalsozialismus erklärt als alle drei vorgenannten vernünftigen Faktoren [d. h. der ökonomische, der politische und der psychologische Faktor – d. Verf.] zusammen.“ (Jung 1995b: 209) Jung impliziert an dieser Stelle, dass – im Gegensatz zu „vernünftigen“ Erklärungsansätzen – die den Archetypen zugeschriebene Erklärungskraft gerade mit dem „abgründigen und niemals ausgeschöpften Charakter“ des Wotan zusammenhängt. Es fällt nicht schwer, in dieser Wortwahl den „Überschuß“ zu erkennen, der „als Exzeß […] einen bestehenden Sinnhorizont“ überschreitet und von Bernhard Waldenfels als Ausweis des radikal Fremden benannt wird (Waldenfels 1999: 37). Auch scheint Wotan, in Jungs Vorstellung und ganz im Waldenfelschen Sinne des radikal Fremden, die Raum- und Zeitordnung zu durchbrechen (vgl. Waldenfels 1999: 37): „Wotan aber zeigt keine Alterserscheinungen; er verschwand ganz einfach, seiner Art entsprechend, als die Zeiten sich gegen ihn wandten, und blieb unsichtbar während mehr als tausend Jahren, das heißt er wirkte anonym und indirekt.“ (Jung 1995b: 213) Hier zeigt sich einmal mehr, dass die gerne postulierte Universalität und Zeitlosigkeit des Mythos (zumindest häufig) mit dessen Wahrnehmung als Zeugnis des radikal Fremden zusammenhängt. Nun mag man Jungs Analyse des nationalsozialistischen Deutschlands aus dem Jahr 193646 – gerade aus der zeitlichen Distanz und mit der historischen Einsicht des Zurückschauenden – für unangemessen halten, zumal Jung mit der Betonung des irrationalistisch-dionysischen Moments die dezidiert moderne Dimension sowie die ‚Rationalität‘ des Nationalsozialismus unterschlägt. Dabei können die im Gleichschritt marschierenden Uniformierten eines nationalsozialistischen Fackelumzugs nur schwerlich mit den dionysischen Schwärmern, die Nietzsche bei der Abfassung seiner Tragödien-Schrift vor Augen hatte, verwechselt werden.47 Aber diese Beurteilung sollte nicht den Blick darauf verstellen, dass Jungs Mythosverständnis einen wesentlichen Aspekt der modernen 46 Jungs Analyse erscheint im Übrigen wie eine Bestätigung jener prophetischen Wahrnehmung, die D. H. Lawrence bereits 1924 in einem Brief aus Deutschland geschildert hat: „As you travel up the Rhine valley, still the same latent sense of danger, of silence, of suspension. Not that the people are actually planning or plotting or preparing. I don’t believe it for a minute. But something has happened to the human soul, beyond all help. The human soul recoiling now from unison, and making itself strong elsewhere. The ancient spirit of pre-historic Germany com­ ing back, at the end of history.“ (Lawrence 2009: 151) 47 Während Jung das dionysische Moment der nationalsozialistischen Bewegung betont, formulierte Gottfried Benn kurz nach der Machtergreifung mit dem Aufsatz „Dorische Welt“ eine alternative Sichtweise. Nicht den Irrationalismus oder die Ergriffenheit des Rausches, sondern den Willen zur Form verspricht sich Benn (zumindest anfänglich) vom Nationalsozialismus und



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Denkgewohnheit ‚Mythos‘ illustriert, den man auch in der bereits erwähnten Diskussion um die Rolle der Mythen im jugoslawischen Bürgerkrieg ausmachen kann. Gemeint ist die Vorstellung vom Mythos als dezidiert kollektiver Repräsentation, die ein Zeugnis für die dunklen, meist verdrängten Antriebskräfte menschlicher Gemeinschaften abgibt. In jedem Fall sollte man die Breitenwirkung des Jungschen Beitrags zur Denkgewohnheit ‚Mythos‘ nicht unterschätzen. Spuren hat er z. B. in Karl Kerényis erfolgreicher zweibändiger Mythologie der Griechen hinterlassen, die mittlerweile in mehr als 20 Auflagen erschienen ist (vgl. Kerényi 2007; Kerényi 2008). In der Einleitung zu dieser populären Mythographie – „für Erwachsene mit jedwelchem Interesse, das klassische, religionsgeschichtliche und ethnologische inbegriffen, aber das rein Humane allem vorangestellt“ (Kerényi 2007: 7) – betont der Autor das Überindividuelle der Mythologie und beruft sich dabei explizit auf Jung und dessen Theorie der Archetypen (vgl. Kerényi 2007: 8).48

3.3.5 René Girards Sündenbock-Theorie: Der Mythos als Zeugnis kollektiver Gewalttätigkeit Genau wie Carl Gustav Jung, aber mit einem anderen theoretischen Hintergrund sowie mit einer anderen argumentativen Stoßrichtung betont der Literatur- und Kulturwissenschaftler René Girard die kollektive Dimension des Mythos, den er als Zeugnis der gewalttätigen und gemeinhin verdrängten Ursprünge kultureller Ordnungen oder menschlicher Gemeinschaften interpretiert. Girards Mythos­ verständnis lässt sich der Myth and Ritual Theory zuordnen und bringt den Mythos dementsprechend mit einem spezifischen Ritual in Verbindung, wie Robert Segal betont: „Girard is a full-fledged myth-ritualist: all myths arise from sacrificial rituals.“ (Segal 1998: 285) Für Girard ist der Mythos untrennbar mit einem Opferritual – genauer: mit der Opferung eines Sündenbockes – verknüpft, dem eine grundlegende gesellschaftliche Funktion zukommt.49 Herfried Münkler hat diesen Zusammenhang, und damit Girards Mythosverständnis, auf eingängige Weise zusammengefasst:

markiert damit ein apollinisches Moment des Faschismus als Antwort auf eine als krisenhaft und dekadent empfundene Moderne (vgl. Benn 1975). 48 Jung und Kerényi haben außerdem als Verfasser einer Einführung in das Wesen der Mythologie (Jung/ Kerényi 1951) direkt zusammengearbeitet. 49 Girards Sündenbock-Theorie und damit auch sein Mythosverständnis lassen sich auf eine – hier nicht ausführlicher zu beleuchtende – Theorie der Nachahmung bzw. der mimetischen ­Veranlagung des Menschen zurückführen: vgl. Girard 1983.

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 3 Formen und Funktionen mythologischer Alterität

In mehreren Büchern hat René Girard die Figur des Sündenbocks als Schlüssel zum Verständnis archaischer wie moderner Mythen herausgestellt. Nach Krisen und Unruhen geht es darum, ein Opfer zu identifizieren, das mit Schuld beladen, getötet oder aus der Gemeinschaft vertrieben werden kann, um ihr die Rückkehr zu Ruhe und Frieden zu ermöglichen. Damit dies funktioniert, muss der Gemeinde jedoch der Opfermechanismus verborgen bleiben; sie muss an die Schuld des Sündenbocks glauben, damit dessen Opfer wirkt. Dies stellen nach Girard die Mythen sicher, die von der Schuld des Sündenbocks erzählen […]. (Münkler 2009: 520–521)

Girard betont die Bedeutung eines Opfer- und Sündenbockmechanismus für die Stabilität der kulturellen Ordnung bzw. für den inneren Frieden menschlicher Gemeinschaften. Konkret geht Girard von der Annahme aus, „es könnte sich bei der Gewalt gegen das versöhnende Opfer um eine radikale Gründungsgewalt handeln, und zwar in dem Sinne, daß sie den Teufelskreis der Gewalt beendet“ (Girard 1987: 140). Und weiter führt Girard aus: „Das ist es, was alle Ursprungsmythen, die sich auf die Tötung eines mythischen Geschöpfs durch andere mythische Geschöpfe zurückführen lassen, behaupten, wenn auch in verschleierter und verklärter Form. Dieses Ereignis wird als Gründungsakt der kulturellen Ordnung wahrgenommen.“ (Girard 1987: 140) Es ist offenkundig, dass auch Girards Argumentation von einem Umbruch­ phänomen ausgeht, in dem sich – nach Bernhard Waldenfels – das radikal Fremde manifestiert. Münkler spricht in diesem Zusammenhang von „Krisen und Unruhen“ (Münkler 2009: 520) und Girard selbst von einem „Teufelskreis der Gewalt“ (Girard 1987: 140) – kurzum: es handelt sich um eine Situation, in der die Gemeinschaft und die kulturelle Ordnung versagen und ihre Grenzen sichtbar werden. Überwunden wird diese Situation schließlich durch ein „versöhnendes Opfer“. Die Verfolgung und Opferung eines Sündenbocks wird so zum Stabilisator der Gemeinschaft und zum (Neu-)Gründungsakt der kulturellen Ordnung.50

50 Girards Mythostheorie ist also offenkundig in eine Theorie der kulturellen Ordnung bzw. der menschlichen Gemeinschaft eingebettet, was auch ihren spezifischen Fokus erklärt, den Segal wie folgt bestimmt: „Der wahre Ursprung und die wahre Funktion des Rituals und des daraus entstehenden Mythos sind […] sozial motiviert“ (Segal 2007: 106). Wo man sich der sozialen Funktion des Mythos zuwendet, gerät übrigens nicht automatisch eine stabilisierende Funktion in den Blick. So ist z. B. für Georges Sorel der Mythos nicht das Fundament einer Gesellschaft, sondern vielmehr ein „Vehikel des sozialen Kampfes“ (Barth 1959: 130) bzw. zum Umsturz einer existierenden gesellschaftlichen Ordnung. Sorels Mythosverständnis geht dabei auf folgende Beobachtung zurück: „die Menschen, die an den großen sozialen Bewegungen teilnehmen, stellen sich ihre bevorstehende Handlung in Gestalt von Schlachtbildern vor, die den Triumph ihrer Sache sichern. Ich schlug vor, diese Bildungen […] als Mythen zu bezeichnen“ (Sorel 1928: 24). Einen entsprechenden Mythos glaubt Sorel im Generalstreik zu erkennen, denn der Generalstreik sei „der Mythos, in dem der Sozialismus ganz und gar beschlossen ist: das heißt eine Ord-



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Christoph Jamme kondensiert Girards Theorie zu einer ebenso pointierten wie provokanten Feststellung: „Jede kulturelle Ordnung jeder menschlichen Gemeinschaft verdankt sich einem solchen Gründungslynchmord.“ (Jamme 1991: 139) Ein Lynchmord als Gründungsakt der kulturellen Ordnung – das ist eigentlich ein eklatanter Widerspruch in sich, denn ein Lynchmord dokumentiert ‚im Normalfall‘ ja gerade das Versagen einer kulturellen Ordnung bzw. ein Scheitern der Gesellschaft. Wenn also die in einem Lynchmord gipfelnde Verfolgung eines Sündenbocks als Gründungsgewalt identifiziert wird, dann unterstellt man den betreffenden kulturellen Ordnungen, den menschlichen Gemein- oder Gesellschaften, dass sie das ihnen radikal Fremde – das was jenseits ihrer selbstgesetzten Grenzen liegt – immer schon in sich bergen. Der Mythos kann – folgt man Girards Interpretation – dafür ein Zeugnis ablegen. Mit dem Begriff der mythologischen Alterität wird der Blick auf den Mythos als Zeugnis des Fremden gelenkt, und die naheliegende Frage, warum man in diesem Zusammenhang gerade den Ausdruck ‚Zeugnis‘ wählt, lässt sich wohl kaum trefflicher als mit einem Hinweis auf René Girards Mythosverständnis beantworten. Denn für Girard ist der Mythos ein Zeugnis des Fremden im engsten Sinne des Wortes – es handele sich bei ihm nicht bloß um einen Text, der die Gründungsgewalt und die Opferung eines Sündenbockes thematisiert, sondern um ein handfestes Dokument der entsprechenden Verfolgung: Die Verfolgung ist vorhanden, aber wir nehmen sie nicht wahr, entweder weil wir nicht im Besitz der entsprechenden Dokumente sind oder weil wir die uns zugänglichen Dokumente nicht zu entschlüsseln vermögen. […] Diese Dokumente sind die Mythen. […] Ich beginne beim Einfacheren und wende mich dann dem Schwierigen zu, um zu zeigen, daß alle Mythen ihre Wurzeln in realen Gewalttätigkeiten haben, die gegen reale Opfer gerichtet sind. (Girard 1988: 39)

Darüber hinaus betrachtet Girard Mythen nicht nur als Dokumente einer Verfolgung, sondern als Dokumente aus der Hand der Verfolger bzw. als „den aus der Sicht von naiven Verfolgern verfaßten Bericht über eine Verfolgung“ (Girard 1988: 41). Dies gelte beispielsweise auch für den Ödipus-Mythos: „Der Ödipus-Mythos ist

nung von Bildern, die imstande sind, unwillkürlich alle die Gesinnungen heraufzurufen, die den verschiedenen Kundgebungen des Krieges entsprechen, den der Sozialismus gegen die moderne Gesellschaft aufgenommen hat“ (Sorel 1928: 143–144). Erst der Rückhalt in einem Mythos, der in seinen „Schlachtbildern“ die Rationalität des politischen Diskurses sprengt und „unwillkürlich“ die Massen mobilisieren kann, ermögliche die Revolution, womit auch in diesem Fall der Mythos mit einem jener Umbruchphänomene in Verbindung gebracht wird, in denen sich laut Waldenfels das radikal Fremde manifestiert.

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kein literarischer Text wie alle anderen, er ist auch kein psychoanalytischer Text, aber er ist mit Sicherheit ein Verfolgungstext; also ist er auch als Verfolgungstext zu behandeln.“ (Girard 1988: 44) Freilich müsse man die Mythen kritisch lesen, da sie die betreffende Ursprungs- und Gründungsgewalt „in verschleierter und verklärter Form“ (siehe oben) darstellen. In der Zusammenfassung Segals: „Myth disguises the sacrifice of the victim in various ways – by making the killing deserved, by making the death accidental, by turning the death into a tamer fate such as exile, and above all by turning the hated victim into a revered savior and indeed into a god.“ (Segal 1998: 285) Die Verschleierung oder Verklärung im Mythos macht diesen gleichsam zum Zeugnis des kognitiv Fremden (des Vergessenen oder Verdrängten) sowie des normativ Fremden (also dessen, was im Widerspruch zu den jeweiligen kulturellen Normen oder dem gemeinschaftlichen Selbstverständnis steht und die Verschleierung oder Verklärung erst notwendig macht). Girards Version der Myth and Ritual Theory beleuchtet nun freilich nicht nur – wie bereits ausgeführt – eine dunkle und befremdliche, sondern scheinbar auch eine universelle und zeitlose Dimension menschlichen Zusammenlebens: „Für René Girard gründen alle Institutionen der menschlichen Gemeinschaft, ja diese selbst wie alle Kultur auf der Gewalt, genauer: auf einem Opfer. Einer wird stellvertretend für alle anderen getötet. […] Jede kulturelle Ordnung jeder menschlichen Gemeinschaft verdankt sich einem solchen Gründungslynchmord.“ (Jamme 1991: 139) Die ‚Schuldzuweisung‘ geht – obwohl sie sich im Hinblick auf das kulturell Fremde der Vergangenheit wie der Gegenwart wohl leichter äußern lässt – mit einem universellen Anspruch einher, wie die Wortwahl Christoph Jammes illustriert: „alle Institutionen“, „alle Kultur“, „jede kulturelle Ordnung“ etc. Dementsprechend werden dann auch in einem Lexikon der Literatur- und Kulturtheorie sowohl „Judenpogrome zur Pestzeit“ als auch ein „moderner aggressiver Antisemitismus“ als Beispiele für Sündenbock-Mechanismen im Sinne Girards angeführt (Thomas 2008: 257). Ein anderes Beispiel, für das man nicht in die zeitliche oder räumliche Ferne schweifen muss, liefert der bereits zitierte Herfried Münkler, wenn er ein bis heute nachwirkendes Ereignis in der Geschichte des 20. Jahrhunderts beleuchtet, nämlich die Gründung der Bundesrepublik Deutschland, und in diesem Kontext einen Sündenbock-Mechanismus identifiziert. Konkret hat Münkler die Abwicklung bzw. Auflösung Preußens durch den Alliierten Kontrollrat 1947 im Blick: Preußen hatte zu bezahlen, was Deutschland ihm eingebrockt hatte. Es diente als der Sündenbock, den man brauchte, um Deutschland vom Nationalsozialismus zu reinigen



3.3 Der Mythos als Zeugnis des radikal Fremden 

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und die Deutschen von ihrer Schuld zu befreien. Ohne eine solche Reinigung konnten die Deutschen nicht wieder in die westliche Völkergemeinschaft aufgenommen werden. (Münkler 2009: 221)51

Schließlich warnt René Girard selbst seine Leser davor, den SündenbockMechanismus als überwundene Monstrosität vergangener oder primitiver Gesellschaften zu betrachten. Vielmehr solle man die Latenz des „verfolgungsspezifischen Unbewußten“ nicht unterschätzen: Beweis für dessen Existenz ist, daß sogar jene, die heutzutage sehr geschickt die Sünden­ bö­cke der anderen entdecken – und Gott weiß, daß wir es in dieser Angelegenheit zur Meisterschaft gebracht haben –, nie ihre eigenen Sündenböcke zu entdecken vermögen. Kaum jemand fühlt sich in dieser Hinsicht schuldig. Nur wer in sich geht, kann die ungeheure Tragweite des Geheimnisses erfassen. Jeder muß mit sich selbst abmachen, wo er in Sachen Sündenbock steht. Ich für meine Person wüßte nicht, daß ich welche hätte, und ich bin davon überzeugt, lieber Leser, daß es Ihnen ebenso geht. Wir alle haben [genau wie die ‚naiven Verfolger‘, die Girard in einem bereits angeführten Zitat nennt – d. Verf.] nur ganz legitime Feindschaften. Und trotzdem wimmelt es in der Welt von Sündenböcken. Die ­verfolgungsspezifische Illusion wütet mehr denn je […]. (Girard 1988: 64)

Es sei gerade Ausdruck eines funktionierenden Sündenbock-Mechanismus bzw. einer Verfolgungslogik, dass der Sündenbock nicht als solcher, sondern als legitimer Feind erscheine. Insofern sollte man sich seiner eigenen Aufgeklärtheit und Fortschrittlichkeit nicht zu sicher sein, sondern – so Girards Botschaft – vielmehr davon ausgehen, dass man auch selbst im Bann des radikal Fremden steht.

3.3.6 Hans Blumenbergs Arbeit am Mythos: Der Mythos als Zeugnis eines anthropologischen Traumas Während René Girard dem Mythos eine soziale Funktion bescheinigt, kreist Hans Blumenbergs Mythostheorie um eine grundlegende anthropologische Funktion. Diese liefert auch den Titel zu Blumenbergs einschlägiger, 1979 erstmals erschienenen und mittlerweile klassisch gewordenen, Monographie Arbeit am Mythos, denn die Funktion des Mythos und die „Arbeit am Mythos“ sind nach der

51 Wenn Münkler in seiner Untersuchung der Deutschen und ihrer Mythen vom Sündenbock spricht, dann tut er dies ganz bewusst im Rückgriff auf Girards Mythosverständnis, wie entsprechende Anmerkungen im Anhang verdeutlichen: „Man darf die Passförmigkeit der Girard’schen Sündenbocktheorie auf die Rolle Preußens im Westen nicht überzeichnen, zumal Girards Augenmerk religiösen und nicht politischen Mythen gilt. Aber einige der von Girard aufgedeckten Mechanismen lassen sich auch an der Rolle Preußens bei der politischen Reinigung ­Westdeutschlands [nach dem 2. Weltkrieg, d. Verf.] beobachten.“ (Münkler 2009: 521)

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Vorstellung Blumenbergs gewissermaßen deckungsgleich. „Arbeit am Mythos“: Man kann in dieser Formel einerseits den Hinweis auf ein spielerisches Moment, etwa in der Neubearbeitung bekannter mythologischer Stoffe, erkennen. Andererseits ist Arbeit bekanntlich nicht nur ein Spiel, sondern auch eine ernsthafte, weil existentielle Notwendigkeit.52 Für Blumenbergs Mythosverständnis sind beide (sich höchstens scheinbar widersprechende) Lesarten des Titels zutreffend. Im Folgenden ist freilich der Fokus darauf zu richten, dass die „Arbeit am Mythos“ – auch in ihrer spielerischen Dimension – der Bewältigung eines anthro­ pologischen Traumas dient und somit der Mythos bei Blumenberg als Zeugnis einer radikalen Fremdheitserfahrung auftritt.53 Wer nur oberflächlich mit Blumenbergs Mythostheorie vertraut ist, mag sich irritiert zeigen, wenn hier das Augenmerk auf ein Trauma oder eine radikale Fremdheitserfahrung gelenkt werden soll. Denn vielleicht verbindet man Blumenberg vorrangig mit folgender Definition: „Mythen sind Geschichten von hochgradiger Beständigkeit ihres narrativen Kerns und ebenso ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit.“ (Blumenberg 1990: 40) Diese Definition, die gerade Literatur- und Kulturwissenschaftler ansprechen muss, konstatiert eine Spannung zwischen Beständigkeit und Variabilität des Mythos, was – z. B. im Hinblick auf die Jahrtausende überspannende Rezeptionsgeschichte konkreter mythologischer Stoffe in Kunst und Literatur – intuitiv sofort plausibel erscheint. In diesem Zusammenhang erschließt sich auch der – mittlerweile in geistes- und kulturwissenschaftlichen Kreisen zur festen Redewendung gewordene – Titel des Buches dahingehend, dass Blumenberg genau genommen nicht den Mythos, sondern die „Arbeit am Mythos“, also einen Rezeptionsprozess, zum Gegenstand erhebt. Eine Begründung für diese Perspektivierung des Mythos liefert Blumenberg mit der Feststellung, dass der „Mythos uns in gar keiner anderen Verfassung als der, stets schon im Rezeptionsverfahren befindlich zu sein, überliefert und

52 Diese Spannung zwischen dem Spielerischen und dem Existentiellen wird auch im Titel eines Sammelbandes aufgegriffen, zu dem Blumenberg als Mitglied der Arbeitsgruppe „Poetik und Hermeneutik“ einen Aufsatz beigesteuert hat. Der Titel des Bandes lautet Terror und Spiel und wird in der Einführung des Herausgebers auf die Beobachtung zurückgeführt, „daß der Mythos ein immer schon vorhandenes Potential ausmacht, das sich in je verschiedener Weise aktualisiert; hierzu gehört ferner die Erfahrung, daß sich der Mythos der ‚großen Dimension‘ zu bemächtigen sucht, der Dimension also, die dem Menschen schlechthin oder jedenfalls dem Individuum entzogen ist, und daß er diese Dimension bald als Terror oder Zwang, bald als Spiel oder Freiheit erscheinen läßt“ (Fuhrmann 1971: 9). 53 Blumenbergs Arbeit am Mythos wird in Kapitel 3.4 noch einmal aufgriffen, wobei das Augenmerk dann dem von Blumenberg betonten Rezeptions- und Repräsentationscharakter des Mythos gilt, da der Mythos damit als Fremdrepräsentation sowie als fremde Repräsentation bestimmt wird.



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bekannt ist“ (Blumenberg 1990: 240). Schon allein durch dieses Insistieren auf dem Repräsentations- und Rezeptionscharakter des Mythos hätte Blumenberg in der akademischen Mythosdiskussion Aufmerksamkeit verdient. Doch Blumenbergs Mythostheorie ist wesentlich weitreichender, tiefgründiger und auch spekulativer. Dies zeigt sich dann, wenn man die Frage stellt, warum der Mythos als Rezeptionsphänomen auftritt – oder besser noch: auftreten muss. Die Antwort liefert Blumenberg auf den ersten Seiten seiner umfangreichen Monographie. Ausgangspunkt der Blumenbergschen Mythostheorie ist eine anthropologische These (bzw. Spekulation), die am Anfang der Menschheitsgeschichte ansetzt und – in der Formulierung von Annette Simonis – besagt, dass die „Mythengenese die Schlüsselaufgabe [übernimmt, d. Verf.], als Keimzelle der kulturellen Evolution zu fungieren“ (Simonis 2014: 275). Dies hängt mit der Situation zusammen, in der sich der Mensch in diesem Ausgangsstadium der Kultur befindet. Man habe sich einen Ausgangszustand vorzustellen, der die Erfordernisse jenes alten status naturalis philosophischer Kultur- und Staatstheorien erfüllt. Dieser Grenzbegriff der Extrapolation faßbarer geschichtlicher Merkmale ins Archaische läßt sich formal in einer einzigen Bestimmung festlegen: als Absolutismus der Wirklichkeit. Er bedeutet, daß der Mensch die Bedingungen seiner Existenz annähernd nicht in der Hand hatte und, was wichtiger ist, schlechthin nicht in seiner Hand glaubte. (Blumenberg 1990: 9)

Der Mensch steht demnach im Ausgangsstadium der Kultur ganz im Bann des „Absolutismus der Wirklichkeit“. Man mag sich darunter „Bedrohungen durch die empirische Lebenswelt“ (Simonis 2014: 276) vorstellen, allerdings nicht in dem Sinne, in dem grippale Infekte oder eine unangepasste Geschwindigkeit im Straßenverkehr zur Bedrohung werden können. „Absolutismus der Wirklichkeit“ steht vielmehr für eine menschheitsgeschichtlich ultimative Fremdheitserfahrung. Es lohnt sich, an dieser Stelle Blumenbergs Erläuterung noch einmal zu wiederholen: „Absolutismus der Wirklichkeit […] bedeutet, daß der Mensch die Bedingungen seiner Existenz annähernd nicht in der Hand hatte und, was wichtiger ist, schlechthin nicht in seiner Hand glaubte“. Ein Mensch, der die Bedingungen seiner Existenz nicht ansatzweise in der Hand hat, ist ein durchweg fremdbestimmter Mensch. Und ein Mensch, der die Bedingungen seiner Existenz schlechthin nicht in seiner Hand glaubt, ist ein Mensch, der sich in einem radikalen Sinne fremd in der Welt fühlt. Der Mensch erfährt den „Absolutismus der Wirklichkeit“ als das „Unberechenbare, Unheimliche“ (Simonis 2014:  276), als das Unstrukturierte, Unverständliche und Nicht-Handhabbare der ihn umgebenden Wirklichkeit. Diese radikale Fremdheitserfahrung lokalisiert Blumenberg anthropogenetisch ganz konkret und anschaulich „im Heraustreten aus der Geborgenheit des Urwalds auf die Savanne“ (Blumenberg 1990: 11). Er wählt

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damit ein Umbruchphänomen par excellence, „wo Lebensformen aufeinanderprallen oder sich abspalten, ohne daß eine übergreifende Ordnung den Übergang regelt“ (Waldenfels 1999: 37). Vor diesem Hintergrund kommt nun laut Blumenberg der Mythos ins Spiel.54 Die angesichts des „Absolutismus der Wirklichkeit“ erfahrene Fremdheit, die zugleich eine Erfahrung von hilfloser Angst ist, muss bewältigt werden. Schließlich sei zu beobachten, daß Angst immer wieder zur Furcht rationalisiert werden muß, sowohl in der Geschichte der Menschheit wie in der des Einzelnen. Das geschieht primär nicht durch Erfahrung und Erkenntnis, sondern durch Kunstgriffe, wie den der Supposition des Vertrauten für das Unvertraute, der Erklärungen für das Unerklärliche, der Benennungen für das Unnennbare. Es wird eine Sache vorgeschoben, um das Ungegenwärtige zum Gegenstand der abwehrenden, beschwörenden, erweichenden oder depotenzierenden Handlung zu machen. Durch Namen wird die Identität solcher Faktoren belegt und angehbar gemacht, ein Äquivalent des Umgangs erzeugt. Was durch den Namen identifizierbar geworden ist, wird aus seiner Unvertrautheit durch die Metapher herausgehoben, durch das Erzählen von Geschichten erschlossen in dem, was es mit ihm auf sich hat. (Blumenberg 1990: 11–12)

Durch Namensgebung und das Erzählen von Geschichten kann die ‚Fremdheit‘ des Unvertrauten, des Unerklärlichen, des Unbenennbaren usw. depotenziert werden. In diesem Sinne erweisen sich – so Simonis – „die Anfänge des Mythos und die Mythengenese selbst als wirkungsvolles Remedium gegen das Unberechenbare, Unheimliche“, denn laut Blumenberg „eröffnet das mythische Denken eine neue Sphäre der Bedeutsamkeit, die die Angst vor dem Überhandnehmen des Absolutismus der Wirklichkeit […] abzuwehren vermag“ (Simonis 2014: 276). Der Mythos dient demnach in seinen Ursprüngen primär der Bewältigung einer Erfahrung radikaler Fremdheit, denn er übernimmt es, „die numinose Unbestimmtheit in die nominale Bestimmtheit zu überführen und das Unheimliche vertraut und ansprechbar zu machen“ (Blumenberg 1990: 32) sowie „die fremdartigen und unheimlichen Erscheinungen zu besprechen und, wenn nicht zu erklären, so doch zu depotenzieren“ (Blumenberg 1990: 32–33).55 54 Diese Ausführungen stehen freilich unter dem Vorbehalt, dass der „Absolutismus der ­Wirklichkeit“ in Reinform nicht zu fassen ist: „Welchen Ausgangspunkt man auch wählen würde, die Arbeit am Abbau des Absolutismus der Wirklichkeit hätte immer schon begonnen.“ (Blumenberg 1990: 13) 55 Diese Argumentation erinnert an ein typisch aufklärerisches Argumentationsmuster. Vgl. z. B. das Mythosverständnis David Humes (Hume 1964), das in Kapitel 3.2.2 der vorliegenden Studie bereits zur Sprache kam. Im Unterschied zu jenem Muster erscheint der Mythos in ­Blumenbergs Argumentation allerdings bereits selbst als Form der Aufklärung und nicht als ­hilflose, ­abergläubische Reaktion des unwissenden und unmündigen Menschen.



3.3 Der Mythos als Zeugnis des radikal Fremden 

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Der Mythos – oder besser gesagt: die „Arbeit am Mythos“, denn es geht nicht um eine wirkungsvolle Geschichte, sondern um die Wirkung des Geschichten­ erzählens – wird von Blumenberg dann auch als eine elementare kulturelle Leistung gewürdigt: ‚Lebenskunst‘ – diese schon als Wort obsolet gewordene elementare Fertigkeit, mit sich selbst umzugehen und hauszuhalten – mußte erlernt werden als Organ dafür, daß der Mensch keine spezifisch sortierte, ausschließlich in ihren ‚Relevanzen‘ für ihn wahrzunehmende Umwelt hat. Welt zu haben, ist immer das Resultat einer Kunst […]. Davon eben ist unter dem Titel ‚Arbeit am Mythos‘ etwas zu beschreiben. (Blumenberg 1990: 13)

Auch im Falle Blumenbergs – so kann man festhalten – widmet sich die Mythostheorie dem radikal Fremden. Für dieses Andere der Kultur prägt Blumenberg den Begriff des „Absolutismus der Wirklichkeit“, mit dem er eine fundamentale Fremdheitserfahrung in der Geschichte der Menschheit bezeichnet. Als Antwort auf diese Fremdheitserfahrung sieht Blumenberg die „Arbeit am Mythos“. Sie dient dem Zweck, die bedrohliche Fremdheitserfahrung zu depotenzieren – ganz in dem Sinne, dass sich menschliche Arbeit als ein Prozess der Aneignung (etwa natürlicher Gegebenheiten oder Rohstoffe) darstellt. Zugleich aber ist in der unabschließbaren „Arbeit am Mythos“ eine Spur gelegt, die auf das zurückverweist, was im Arbeitsprozess eigentlich abgearbeitet werden sollte. Oder anders ausgedrückt: Der Mythos ist – folgt man Blumenbergs Theorie – gewissermaßen immer auch ein Zeugnis des „Absolutismus der Wirklichkeit“, zumal man jenen nicht leichtfertig in der sicheren Ferne einer längst überwundenen Vergangenheit wähnen sollte. Schließlich begründet Blumenberg die Existenz des Mythos (und weiterer kultureller Errungenschaften) damit, „daß Angst immer wieder zur Furcht rationalisiert werden muß, sowohl in der Geschichte der Menschheit wie in der des Einzelnen“ (Blumenberg 1990: 11). Das „immer wieder“ und der Bezug auf den „Einzelnen“ sind ernst zu nehmen. Denn der Absolutismus der Wirklichkeit mag immer schon hinter uns liegen, endgültig überwunden ist er deswegen nicht: Immer schon ist der Mensch diesseits des Absolutismus der Wirklichkeit, niemals aber erlangt er ganz die Gewißheit, daß er den Einschnitt seiner Geschichte erreicht hat, an dem die relative Übermacht der Realität über sein Bewußtsein und sein Geschick umgeschlagen ist in die Suprematie des Subjekts. Es gibt kein Kriterium für diese Wendung, für diesen point of no return. (Blumenberg 1990: 15–16)

Mit dieser Mahnung im Ohr, erscheint die „Arbeit am Mythos“ – gerade als Remedium gegen eine bedrückende Fremdheitserfahrung (und dabei zugleich immer auch als Zeugnis des radikal Fremden) – leicht als eine universelle und zeitlose Angelegenheit.

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 3 Formen und Funktionen mythologischer Alterität

Hans Blumenbergs Zugang zum Mythos hat sich in den letzten Jahrzehnten – gerade in der Literatur- und Kulturwissenschaft – als ausgesprochen einflussreich erwiesen. Ein konkretes Beispiel dafür liefert der 2005 erschienene Band Mythenkorrekturen: Zu einer paradoxalen Form der Mythenrezeption. Dieser widmet sich einer spezifischen Form der literarisch-künstlerischen Mythosrezeption, die im Rückgriff auf eine Definition Hans Blumenbergs bestimmt wird: Man könne dann von einer Mythenkorrektur sprechen, wenn der narrative Kern eines Mythos in der künstlerisch-literarischen Bearbeitung berührt oder „die traditionelle Bedeutung eines Mythos ins Gegenteil verkehrt“ (Vöhler/Seidensticker/Emmerich 2005: 6) wird. Darüber hinaus aber formulieren die Herausgeber des Bandes in ihrer Einleitung auch eine These zum anhaltenden Interesse am Mythos und stützen sich dabei auf Hans Blumenbergs Vorstellung vom „Absolutismus der Wirklichkeit“ als einer fundamentalen Erfahrung radikaler Fremdheit: „Das Bedürfnis, Mythen zu tradieren, ist ein Indiz dafür, daß in ihnen wichtige traumatische Konflikte aus der gewaltreichen Geschichte der menschlichen Gattung zur Sprache kommen“ (Vöhler/Seidensticker/Emmerich 2005: 12). Der Mythos wird zur Repräsentation einer verstörenden Erfahrung radikaler Fremdheit – die einschlägigen Stichworte sind Trauma und Gewalt – erklärt und das Interesse an ihm nicht nur einer harmlosen Lust am Geschichtenerzählen, sondern auch einem „Interesse am Schrecklichen und Unerklärlichen“ (Vöhler/Seidensticker/Emmerich 2005: 12) zugeschrieben.

3.3.7 Die transgressive Funktion des Mythos: Ein Fazit „Theories of myth are never theories of myth alone.“ (Segal 1996: vii) Dieses Postulat Robert Segals bestätigt sich auch dann, wenn man Mythostheorien unter dem Gesichtspunkt der mythologischen Alterität betrachtet. Und so lässt sich – ungeachtet aller offenkundigen Unterschiede – eine Gemeinsamkeit der durchweg prominenten und einflussreichen Mythostheorien von Nietzsche, Freud, Jung, Girard und Blumenberg feststellen. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass die besprochenen Theorien jeweils auch Theorien des radikal Fremden darstellen. Diese Feststellung deckt sich mit folgender Beobachtung Monika SchmitzEmans’: Mythische und mythopoetische Rede gehen einem erfolgreichen Ansatz zufolge auf ‚Thaumata‘ zurück – auf Erfahrungen des Befremdens. […] Einer wichtigen These über den Mythos und das Fremde zufolge bringen Mythen vor allem Aporetisches zum Ausdruck, indem sie ihm eine Organisationsform, eine Struktur verleihen. Sie stellen unbegreifliche und änigmatische Erfahrungen sowie gedanklich nicht auflösbare Rätsel und Paradoxa das […]. (Schmitz-Emans 2004: 16)



3.3 Der Mythos als Zeugnis des radikal Fremden 

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Die Beobachtung, dass Mythen als Ausdruck eines Befremdens oder als Repräsentationen des Aporetischen, des Unbegreiflichen, des Änigmatischen, des gedanklich nicht aufzulösenden Rätsels und des Paradoxalen gedeutet werden, steht im Einklang mit der Argumentation der vorliegenden Studie. Der Mythos erscheint als Zeugnis des radikal Fremden, das „einen bestehenden Sinnhorizont über­ schreitet“ (Waldenfels 1999: 37) und „nicht nur eine bestimmte Interpretation, sondern die bloße ‚Interpretationsmöglichkeit‘ in Frage“ stellt (Waldenfels 1999: 36–37). Die besprochenen Mythostheorien bezeugen dementsprechend, dass im Mythosdiskurs nicht nur Differenzen zwischen verschiedenen kulturellen Ordnungen beleuchtet (oder ‚produziert‘) und reflektiert werden, sondern auch das Außer-ordentliche jeder kulturellen Ordnung zum Gegenstand gemacht wird – oder mit etwas mehr Pathos formuliert: Mythostheorien beleuchten auch und gerade jene Phänomene oder Zonen menschlicher Existenz, die zu jeder Zeit und an jedem Ort fremd sind und fremd bleiben müssen. Das Eigene ist in diesem Zusammenhang nicht die eigene Kultur, sondern das Menschsein bzw. die Kultur im Allgemeinen. (Man hat es also mit einer ‚radikalisierten‘ Form kultureller Alterität zu tun.) Freilich ist zu bedenken, dass auch die Definition des Menschseins oder der Kultur perspektivischen Beschränkungen unterliegt. Wenn man z. B. mit Waldenfels den Traum als eine Grenzerfahrung wahrnimmt, folgt man damit vielleicht nur einer spezifisch abendländischen Vorstellung. Aber dieser Gedanke kann und muss an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Neben der im vorangehenden Kapitel identifizierten diskriminatorischen Funktion offenbart sich somit – im Zeichen des radikal Fremden – eine weitere kulturelle Funktion der Denkgewohnheit ‚Mythos‘. Man kann diese als transgressive Funktion bezeichnen. Denn die Mythostheorien, die dem hier ausgemachten Muster folgen, sind in dem Sinne transgressiv (nach dem Lateinischen für ‚überschreiten‘ oder ‚übertreten‘), dass sie thematisch nicht nur die Grenzen des Alltäglichen oder der eigenen Kultur, sondern der kulturellen Ordnung über­ schreiten. Sie widmen sich dem Unterdrückten, Verdrängten, dem Vergessenen, dem Tabuisierten, sie erkunden (oder weniger affirmativ: sie spekulieren über) die dunklen bzw. blinden Flecken der menschlichen Natur, die Grenzen der Kultur sowie gesellschaftliche Ur- und Abgründe. Allerdings setzt die Wahrnehmung und Interpretation des Mythos als Zeugnis des radikal Fremden in gewisser Weise die Vorstellung vom Mythos als Zeichen des kulturell Fremden voraus. Denn die Außer-ordentlichkeit des radikal Fremden erweist sich gerade dadurch, dass die betreffenden Phänomene über kulturelle Grenzen hinweg als fremd und befremdlich wahrgenommen werden. Für Freud und den universalistischen Anspruch seiner Thesen erscheint der Ödipus-Mythos wohl nicht zuletzt deshalb als ein hervorragendes Anschauungsobjekt, weil er

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 3 Formen und Funktionen mythologischer Alterität

„den modernen Menschen nicht minder zu erschüttern weiß als den zeitgenössischen Griechen“ (Freud 2000: 266), weil er also sowohl im Kontext der eigenen wie auch im Kontext der fremden Kultur Erschütterung (d. h. Befremden) auslöst. Die kulturelle Alterität – bei Freud die Differenz zwischen dem modernen Menschen und dem antiken Griechen – beglaubigt somit die radikale Alterität.56 Ein abschließendes Beispiel soll das Verhältnis von kulturell und radikal Fremdem im Mythosdiskurs noch einmal veranschaulichen. Zugleich illustriert es, dass man den Mythos gerade dann als universell und zeitlos wahrnimmt, wenn man der ‚Gewohnheit‘ folgt, ihn als Zeugnis des radikal Fremden ‚zu denken‘. Die folgende Passage bildet den Auftakt zu Joseph Campbells Studie The Hero with a Thousand Faces: WHETHER we listen with aloof amusement to the dreamlike mumbo jumbo of some redeyed witch doctor of the Congo, or read with cultivated rapture thin translations from the sonnets of the mystic Lao-tse; now and again crack the hard nutshell of an argument of Aquinas, or catch suddenly the shining meaning of a bizarre Eskimo fairy tale: it will be always the one, shape-shifting yet marvelously constant story that we find, together with a challengingly persistent suggestion of more remaining to be experienced than will ever be known or told. Throughout the inhabited world, in all times and under every circumstance, the myths of man have flourished; and they have been the living inspiration of whatever else may have appeared out of the activities of the human body and mind. It would not be too much to say that myth is the secret opening through which the inexhaustible energies of the cosmos pour into human cultural manifestation. (Campbell 1973: 3)

Campbells These besagt, dass in den Heldengeschichten verschiedener Zeiten und Kulturen stets dasselbe Muster angelegt ist, diese Mythen also allesamt einem universellen und zeitlosen Drehbuch folgen. Der Mythos wäre demnach nicht das Produkt einer spezifischen fremden Kultur, sondern in jeder Kultur – nur in je verschiedener Verkleidung – anzutreffen. Die Betonung kultureller Alterität am Anfang des Zitates (vom ‚Hexendoktor im Kongo‘ bis zum ‚Eskimo‘) fungiert dabei lediglich als Folie, um kulturelle Differenzen in einem zweiten Schritt aufzuheben und die Ähnlichkeit des vermeintlich Verschiedenen besonders spektakulär hervortreten zu lassen. Doch dies bedeutet nicht, dass mythologische Alterität bei Campbell auf ein lediglich rhetorisches Minimum reduziert wird. Vielmehr rückt Campbell eine andere Form der mythologischen Alterität, ein anderes Muster von Eigenem und Fremdem, in den Blick – und deutet den Mythos somit ebenfalls im Zeichen der Alterität. Der zweite Teil des Zitates, 56 Auch Jungs Annäherung an den Archetypus Wotan weist sich selbst als Annäherung im Zeichen der kulturellen Differenz aus. Denn bei dem untersuchten Phänomen handele es sich um eine „allgemeine Erscheinung, welcher der Nichtdeutsche auch nach gründlichster Überlegung, im Grunde genommen, fremd und verständnislos gegenüber steht“ (Jung 1995b: 209).



3.4 Der Mythos zwischen Fremdrepräsentation und fremder Repräsentation 

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diesmal in einer deutschen Übersetzung, erweist sich in dieser Hinsicht als aufschlussreich: „immer wird es ein und dieselbe, bei allem Wechsel merkwürdig konstante Geschichte sein, auf die wir treffen, und immer ist sie begleitet vom Bewußtsein eines Überschusses, dessen wir noch nicht habhaft geworden sind und der nie erschöpfend erkannt oder ausgesprochen werden wird“ (Campbell 1953: 11). Die Wortwahl folgt hier einer einschlägigen Semantik: Denn wenn man sich einer Sache gegenübersieht, der man nicht habhaft werden und die man nicht erschöpfend erkennen kann, dann darf man dies getrost als Fremdheitserfahrung verbuchen. Der Mythos verweigere sich einer vollständigen Aneignung und zwar sowohl kognitiv (im Sinne von Verstehen) als auch normativ-sozial (im Sinne von Zugehörigkeit). Dabei weist die Semantik dieser Beschreibung erstaunliche Schnittmengen mit der Definition radikaler Fremdheit auf, die Bernhard Waldenfels vorgelegt hat. Schlussendlich könnte man Campbells universalistische Mythosdeutung auch wie folgt lesen: Wenn die Argumentation vom ‚Hexendoktor im Kongo‘ (am Anfang des Buches) bis zum ‚modernen Menschen‘ (in der Schlussbetrachtung) wandert, dann besteht die Pointe vielleicht weniger in der Identifizierung einer Universalie, als vielmehr in der Entdeckung des Fremden im Eigenen bzw. des Eigenen im Fremden. Verallgemeinernd kann man somit festhalten: Theorien und Konzeptionen des Mythos, die ihren Gegenstand als Zeugnis des radikal Fremden betrachten, widmen sich durchaus dem Universellen und Zeitlosen. Aber sie widmen sich nicht dem, was allen Menschen zu allen Zeiten zu eigen war, sondern was dem Menschen stets fremd und befremdlich bleibt. Denn wer sehnt sich schon zurück nach dem Absolutismus der Wirklichkeit im status naturalis, wie ihn Blumenberg evoziert? Wer gründet sein Selbstverständnis auf Freuds verdrängte Wünsche, welche die Moral beleidigen? Wenn die betreffenden Mythostheorien also eine universelle und überzeitliche Identität des Menschen in den Blick rücken, dann handelt es sich in den meisten Fällen um eine Identität ex negativo.

3.4 Die entzogenen Ursprünge und die Agonalität der „Arbeit am Mythos“: Der Mythos zwischen Fremdrepräsentation und fremder Repräsentation 3.4.1 Mythos als Fremdrepräsentation und fremde Repräsentation: Vorbemerkungen Der Begriff der mythologischen Alterität lenkt das Augenmerk darauf, dass der Mythos nicht zuletzt als Zeugnis des Fremden wahrgenommen und gedeutet wird. Dabei fungiert der Mythos, wie in den beiden vorangehenden Kapiteln ausgeführt

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 3 Formen und Funktionen mythologischer Alterität

wurde, als Zeugnis sowohl des kulturell Fremden (z. B. einer weit zurückliegenden Epoche der Menschheitsgeschichte oder einer fremden Kultur der Gegenwart) als auch des radikal Fremden (z. B. anthropologischer Traumata oder seelischer Gewalten). Daneben lässt sich allerdings noch eine weitere Form der mythologischen Alterität ausmachen, die in den letzten Jahrzehnten verstärkt das Mythosverständnis geprägt hat. Sie kann auf die Feststellung zurückgeführt werden, dass sich die Ursprünge des Mythos unserem Zugriff bzw. unserer Kenntnis entziehen und der Mythos dementsprechend immer schon als ‚bearbeiteter‘ Mythos vorliegt. Wer sich mit dem Mythos beschäftigt, sieht sich – so eine weitverbreitete Auffassung – immer schon mit anderen Repräsentationen des Mythos (bzw. mit der Rezeption des Mythos durch Andere) konfrontiert, die zwar nicht zwangsläufig, aber doch häufig genug auch als fremde Repräsentationen wahrgenommen werden, etwa weil sie nicht mehr in die eigene Zeit zu passen scheinen oder der eigenen Weltanschauung widersprechen. Es ist demnach geboten, den Mythos nicht nur im Hinblick auf das kulturell oder das radikal Fremde, sondern auch noch in einem dritten und doppelten Sinne als Zeugnis des Fremden zu betrachten – zum einen als Fremdrepräsentation (d. h. als Re-Präsentation des sich entziehenden Ursprungs), zum anderen als fremde Repräsentation innerhalb einer scheinbar unhintergehbaren Tradierungs- und Rezeptionsgeschichte. Doch führt die Analyse mythologischer Alterität an dieser Stelle nicht zu einem Widerspruch? Wie ist die Vorstellung, beim Mythos handele es sich um ein ausgesprochenes Repräsentations- und Rezeptionsphänomen, mit der Auffas­ sung vom Mythos als Zeugnis des kulturell Fremden (etwa einer konkreten fremden Kultur der Vergangenheit oder der Gegenwart) vereinbar? Diese Fragen sind durchaus legitim, da sich die Mythoskonzeptionen, die im Folgenden zur Sprache kommen werden, in der Tat nicht primär für den Mythos als Produkt und Ausdruck des zeitlich oder räumlich Entfernten interessieren. Wenn man in diesem Zusammenhang nun aber einen Widerspruch konstatiert, dann erfasst man damit lediglich die Zustände auf der Gegenstandsebene, d. h. die Verfassung des Mythosdiskurses. Denn die Heterogenität der Denkgewohnheit ‚Mythos‘ bzw. der Auffassungen vom Mythos umfasst nicht nur Verschiedenes und Disparates, sondern auch Widersprüchliches und Inkompatibles. Dementsprechend stellt sich die mythologische Alterität in verschiedenen Formen und teilweise eben auch widersprüchlich dar. Ungeachtet dieses Warnhinweises in eigener Sache sollte man freilich auch berücksichtigen, dass der Mythos nicht zuletzt deshalb als Fremdrepräsentation und fremde Repräsentation in den Blick geraten kann, weil er ‚immer schon‘ aus der Ferne überliefert ist. Die zeitliche oder räumliche Distanz, die meistens auch eine kulturelle Differenz von Eigenem und Fremdem begründet, bietet erst den Raum (bzw. die ‚freie Strecke‘) in dem (bzw. auf der) sich der Mythos als Repräsentations- und Rezeptionsphänomen entfalten kann.



3.4 Der Mythos zwischen Fremdrepräsentation und fremder Repräsentation 

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3.4.2 „Daß die Ursprünge sich entziehen …“: Mythos als Fremdrepräsentation Zumindest in Europa darf die griechische Mythologie (mit ihrer römischen Fort­ setzung) nicht nur als die bekannteste, sondern – gemessen an der wissenschaftlichtheoretischen wie literarisch-künstlerischen Rezeption – auch als die produktivste Mythentradition gelten. Trotzdem steht jede Beschäftigung mit der griechischen Mythologie laut Christoph Jamme unter folgendem Vorbehalt: „Wir können die griechischen Mythen […] erst deuten, wo sie literarisch gestaltet wurden“ (Jamme 1999: 32). Und weiter heißt es bei Jamme: „Der griechische Mythos, wie wir ihn kennen, ist selbst schon das Zeugnis einer Brechung, ist schon Auslegung, Reflexion, schon Produkt einer ‚Arbeit am Mythos.‘“ (Jamme 1999: 32) Was man als Mythos deutet, ist demnach bereits eine Repräsentation des Mythos. Dieser Befund lässt sich über die griechische Mythologie hinaus verallgemeinern, und zwar aufgrund „der (oben an Griechenland exemplifizierten, jedoch für alle Mythen der verschiedenen Kulturkreise gleich gültigen) Erfahrung, daß die Ursprünge sich entziehen“ (Jamme 1999: 36). Die Ursprünge des Mythos werden damit jenseits des Verfügbaren und Bekannten verortet und die Möglichkeit, sich den ‚ursprünglichen‘ Mythos anzueignen oder sich mit ihm vertraut zu machen, ausgeschlossen. Oder prägnanter ausgedrückt: In seinen Ursprüngen war, ist und bleibt uns der Mythos fremd. Der Verweis auf die entzogenen Ursprünge des Mythos ist nicht zuletzt an die Vorstellung gekoppelt, dass man es bei diesem mit einer „zunächst mündl., oft in versch. anonymen Versionen überlieferte[n] Erzählung“ (Wilpert 2001: 541) zu tun hat. Auch in ethnologischer Perspektive und insbesondere in der Nachfolge der so vielgestaltigen wie einflussreichen Myth and Ritual Theory werden die Ursprünge des Mythos in der Oralität betont, etwa wenn der Mythos als „mündlicher Kommentar einer Kulthandlung“ (Jamme 1999: 21) definiert wird. Offenkundig erscheint der ‚ursprüngliche‘ Mythos in seiner – zumindest in historischer Perspektive – nicht konservierten (da damals noch nicht konservierbaren) Oralität immer schon verloren. Bei sämtlichen Repräsentationen des Mythos handelt es sich demnach genau genommen um Fremdrepräsentationen. Und man sollte nicht den Fehler begehen, diese Feststellung als Ausdruck einer mythostheoretischen Nabelschau abzutun. Immerhin werden auch konkrete Forschungspraktiken und die Wissensproduktion im Bereich der Mythographie von der Feststellung berührt, dass die Ursprünge des Mythos im Dunkeln liegen. So weist die Indologin Anne Kessler darauf hin, dass sich die Erforschung der altindischen Mythologie auf ‚sekundäre‘ Quellen stützt bzw. stützen muss: „Diese Texte enthalten also keine Mythen, sondern verweisen auf mythologische Vorstellungen, die zur Entstehungszeit der Vedas präsent waren und unabhängig von ihnen, in nicht-fixierter

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 3 Formen und Funktionen mythologischer Alterität

Form tradiert wurden.“ (Kessler 2009: 209) Dementsprechend basiert das Wissen über die altindische Mythologie auf Rekonstruktionen und Projektionen: „Das Studium altindischer Mythologie erfordert daher zunächst die (Re-)Konstruktion einzelner Mythen und setzt die grundlegende Annahme voraus, dass hinter den alten Texten ein kohärentes System solcher Vorstellungen aufgedeckt werden kann.“ (Kessler 2009: 209) Die indologische Mythosforschung räumt somit die Unverfügbarkeit (bzw. Abwesenheit) des ‚ursprünglichen Mythos‘ ein, betrachtet dessen Existenz aber zugleich als evident (und hilft dieser Evidenz – qua Rekonstruktion – auch ganz pragmatisch nach). Die Ursprünge des Mythos werden hier  – aber auch an anderer Stelle im Mythosdiskurs – zum Gegenstand einer Fremderfahrung, denn „Fremderfahrung ist und bleibt eine Form der Erfahrung, nur eben in der paradoxen Form einer originären Unzugänglichkeit, einer abwesenden Anwesenheit.“ (Waldenfels 1999: 30) Es ist an diesem Punkt durchaus verlockend, nach Gegenbeispielen zu suchen, bei denen sich die Ursprünge des Mythos nicht ‚entziehen‘. Fündig könnte man sich etwa mit der Geschichte der Loreley wähnen, denn: „Entgegen Heines berühmter Wendung vom ‚Märchen aus uralten Zeiten‘ ist die Geschichte von der schönen Loreley ein Produkt der Romantik, genauer eine Erfindung Brentanos.“ (Münkler 2009: 406) Freilich muss man bei der Heranziehung dieses Beispiels die Bedeutungsoffenheit des Mythosbegriffs deutlich strapazieren und zudem darüber hinwegsehen, dass die Geschichte der Loreley gerade deshalb (auch) als Mythos betrachtet wird, weil sie wie ein ‚Märchen aus uralten Zeiten‘ (also ein Märchen unbekannten und unverfügbaren Ursprungs) anmutet. Dass die entzogenen Ursprünge sogar als ein Definitionskriterium des Mythos gelten können, zeigt sich schließlich dort, wo eine grundsätzliche Skepsis gegenüber mythopoetischen Projekten zum Ausdruck gebracht wird. Mythopoetik bzw. Mythopoiesis bezeichnet in diesem Zusammenhang – und wie z. B. Christian Huck mit Blick auf entsprechende Bestrebungen in der irischen Dichtung erläutert – die bewusste Neuschöpfung oder Reaktivierung eines Mythos. ­Entsprechende mythopoetische Versuche stellen freilich in Hucks Augen ein paradoxes und letztendlich zum Scheitern verurteiltes Unterfangen dar: Das Problem der Mythopoetik liegt […] darin, dass der zu erschaffende Mythos eine unhintergehbare Gründung der Gemeinschaft darstellen soll. Wenn der Mythos aber unhintergehbar sein soll, dann darf er nicht auf einen vorausgehenden Erschaffer zurückzurechnen sein, der diesen absichtlich produziert hat. (Huck 2003: 17)

Dem neu erschaffenen oder reaktivierten ‚Mythos‘ – als datierbare und einem konkreten Urheber zurechenbare Schöpfung – fehlt zwangsläufig die „überindividuelle Verbindlichkeit“, weshalb er sich nicht als jene „unhintergehbare ‚Wahrheit‘“ zu qualifizieren vermag, „die als Grundlage für die Gemeinschaft



3.4 Der Mythos zwischen Fremdrepräsentation und fremder Repräsentation 

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dienen kann“ (Huck 2003: 20). Anders ausgedrückt: In dem Moment, in dem die Ursprünge eines Mythos nicht mehr im Dunkeln liegen, nicht mehr unbekannt und unverfügbar sind, hat man es – so Hucks Einwand zur Mythopoetik – nicht mehr mit einem Mythos zu tun, wie ihn die ‚Mythopoeten‘ doch gerade zu erschaffen hofften. Auf jeden Fall scheint es eine zentrale Prämisse der Denkgewohnheit ‚Mythos‘ zu sein, dass sich der Mythos in seiner ursprünglichen Verfasstheit einem direkten Zugriff entzieht. Eine logische Konsequenz dieser Prämisse ist dann auch die weitverbreitete Einschätzung, man habe es beim Mythos stets schon mit einem durch Andere bearbeiteten Mythos zu tun,57 womit dieser nicht nur als ­Fremdrepräsentation, sondern auch als fremde Repräsentation in den Blick rückt.

3.4.3 „Stets schon im Rezeptionsverfahren befindlich …“: Mythos als fremde Repräsentation Mythosdefinitionen betonen nicht selten die Offenheit oder Variabilität ihres Gegenstandes: „Mythen sind traditionelle Geschichten, die sich dadurch aus­ zeichnen, daß sie immer wieder neu erzählt werden können. Sie existieren nicht, wie heilige Texte, in einer geschützten, unveränderbaren Form, sondern grundsätzlich im Modus der Variation“ (Vöhler/Seidensticker/Emmerich 2005: 2).58 Nun würde wohl kaum jemand bestreiten, dass bestimmten Varianten oder Fassungen des Mythos de facto eine privilegierte Position zukommt. Man denke an die (zumindest in literarischer Hinsicht) kanonische Geltung der homerischen Epen oder der Metamorphosen Ovids. Doch dies steht nicht zwangsläufig im Widerspruch zu einer grundsätzlichen Sicht des Mythos als Rezeptions- und Reprä­ sentationsphänomen. Mythostheoretisch fundiert wird diese Sicht besonders nachdrücklich durch Hans Blumenberg und dessen sprichwörtlich gewordene

57 Bezogen auf die Literatur bzw. auf einen Schriftsteller, der sich einem mythologischen Stoff zuwendet, heißt es dann z. B.: „Zwischen die modernen Bearbeiter und den Mythos schieben sich die Jahrhunderte der Rezeptionstradition, die dem Stoff zugewachsen sind.“ (Wilhelmy 2004: 11) 58 Dabei wird diese Beschreibung des Mythos – Manfred Pfister zitierend – explizit auf die Ursprungsfrage zurückgeführt. Denn der Modus der Variation realisiere sich „als ein unabschließbares ‚Spiel von Versionen, Varianten, Neukombinationen, Überschreibungen, Überset­ zungen, Fortsetzungen, Versetzungen in andere Gattungen und Medien, von Exegesen, Kommentaren, Interpretationen‘ […]. ‚Soweit man zurückgehen mag, man erreicht nie die Quelle, nie den Ursprung, sondern immer nur vielfältig vermittelte Repräsentationen eines solchen.‘“ (Vöhler/Seidensticker/Emmerich 2005: 2–3)

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 3 Formen und Funktionen mythologischer Alterität

Theorie der „Arbeit am Mythos“. Blumenberg betont nämlich, dass der „Mythos uns in gar keiner anderen Verfassung als der, stets schon im Rezeptionsverfahren befindlich zu sein, überliefert und bekannt ist“ (Blumenberg 1990: 240).59 Man müsse davon ausgehen, dass „die Rezeption nicht zum Mythos dazukommt und ihn anreichert“ (Blumenberg 1990: 240), sondern gewissermaßen sein Wesen ausmacht. Blumenberg macht aus der mythostheoretischen Not eine Tugend: Denn dass sich die Ursprünge des Mythos entziehen bzw. eine ursprüngliche und verbindliche Fassung des Mythos nicht vorliegt, entspricht in Blumenbergs Theorie gerade der Funktion des Mythos. Dessen Leistung bestünde darin, den „Absolutismus der Wirklichkeit,“ den Schrecken einer übermächtigen, namenlosen und unbegreiflichen Umwelt (kurzum: das radikal Fremde), zu verarbeiten und zu depotenzieren.60 Indem der Mensch im Mythos das bedrohliche Fremde der Wirklichkeit benennbar, erzählbar, damit bekannt und schließlich bedeutsam macht, schwindet der Schrecken.61 Der Prozess der „Arbeit am Mythos“ ist aber nicht bloß einmal zu durchlaufen und dann für alle Zeiten abgeschlossen, wie Blumenberg anhand einer mythologischen Entstehungsgeschichte veranschaulicht: Aphrodite ersteht aus dem Schaum der schrecklichen Entmannung des Uranos – das ist wie eine Metapher auf die Leistung des Mythos. Dennoch ist seine Arbeit damit nicht zu Ende: in Botticellis Venus Anadyomene steigt sie wie aus dem Schaum des Meeres, nur noch für den Mythenkundigen aus dem des Sekrets der schrecklichen Wunde des Uranos, empor. Wenn schließlich am Anfang des 20. Jahrhunderts der ‚Lebensphilosoph‘ [gemeint ist Georg Simmel, d. Verf.] nach der mythischen Szene der Anadysis greift, um an ihr das Urverhältnis von Leben und Gestalt, von Lebensströmung und Eros aufgehen zu lassen, dann erhebt sich für ihn die zeitlose Schönheit der Aphrodite nur noch aus dem vergehenden verwehenden Schaum des bewegten Meeres. Der Hintergrund des Schreckens ist vergessen gemacht, die Ästhetisierung vollendet. (Blumenberg 1990: 45) 59 Die Mythostheorie Hans Blumenbergs war bereits Thema in Kapitel 3.3.6. Der Heuristik der mythologischen Alterität folgend, werden in der vorliegenden Studie zwei Aspekte in Blumenbergs Theorie analytisch unterschieden: Bei Blumenberg ist der Mythos zugleich Zeugnis des radikal Fremden, genauer: eines bedrohlichen Absolutismus der Wirklichkeit, und immer schon Fremd- bzw. fremde Repräsentation. Blumenbergs breit angelegte Mythostheorie belegt insofern, dass die analytisch zu unterscheidenden Formen mythologischer Alterität ‚in der Praxis‘ (d. h. in konkreten Mythoskonzeptionen) nicht selten in einem Zusammenhang stehen bzw. ­ineinandergreifen. 60 Vgl. dazu die Ausführungen zu Blumenberg in Kapitel 3.3.6 der vorliegenden Studie. 61 In dieser Hinsicht ergibt sich eine Gemeinsamkeit (zumindest aber Ähnlichkeit) von Mythos und Wissenschaft: „Was die Wissenschaft wiederholt, hatte der Mythos schon suggeriert: den ein für allemal errungenen Erfolg der Bekanntheit ringsum.“ (Blumenberg 1990: 45)



3.4 Der Mythos zwischen Fremdrepräsentation und fremder Repräsentation 

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In der Geschichte der Aphrodite (zu der auch die Rezeptions- und Deutungsgeschichte der eigentlichen mythologischen Geschichte zählt) erkennt Blumenberg eine Metapher für die Funktion des Mythos: die Bannung des Schreckens durch Ästhetisierung. Und mit dem „Hintergrund des Schreckens“ ist – als Resultat der „Arbeit am Mythos“ – auch der Ursprung des Mythos vergessen. „Welchen Ausgangspunkt man auch wählen würde, die Arbeit am Abbau des Absolutismus der Wirklichkeit hätte immer schon begonnen.“ (Blumenberg 1990: 13) Zusammenfassend bleibt somit festzuhalten, dass Blumenbergs Theorie eine funktionale Erklärung für die Wahrnehmung des Mythos als Repräsentations- und Rezeptionsphänomen anbietet, die Monika Schmitz-Emans wie folgt auf den Punkt bringt: „Daß der Mythos ein ­Rezeptionsphänomen ist, erscheint als konstitutiv für seine Distanzierungsfunktion.“ (Schmitz-Emans 2004: 24) Blumenbergs Theorie der „Arbeit am Mythos“ hat sich gerade im akademischen Diskurs als ausgesprochen erfolgreich erwiesen. Schmitz-Emans zählt sie zu den für die Literaturwissenschaft folgenreichsten mythostheoretischen Ansätzen und weist auch auf direkte Anschlussmöglichkeiten der Blumenbergschen Mythostheorie hin – etwa zu „narratologischen Thesen über die besänftigende und ordnende Funktion literarischen Erzählens“ (SchmitzEmans  2004:  21). Und auch der von Annette Simonis ausgemachte Fokus der neueren kulturwissenschaftlichen Mythosforschung baut auf der Autorität Blumenbergs auf: „Die neuere kulturwissenschaftliche Forschung sensibilisiert den Blick des Betrachters für einen signifikanten Zusammenhang zwischen mythischen Gehalten und kulturellen Adaptionsprozessen, einer medialen Bedingtheit von mythischen Vorstellungsinhalten, die der mythologischen Tradition eigentlich seit jeher eigen ist.“ (Simonis 2004: 10) Mit den „kulturellen Adaptionsprozessen“ und der „medialen Bedingtheit“ rückt freilich auch eine potentielle Fremdheit in den sensibilisierten Blick des Betrachters. Denn nicht nur das, was adaptiert wird, kann als Zeugnis des Fremden wahrgenommen werden, sondern auch das Resultat der jeweiligen Adaption. Intuitiv dürfte immerhin sofort plausibel sein, dass die mittelalterliche oder frühneuzeitliche Bearbeitung eines antiken mythologischen Stoffes für die „neuere kulturwissenschaftliche Forschung“ (bzw. für einen zeitgenössischen Leser oder Theaterbesucher) als Dokument einer mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Weltsicht fremdartig oder befremdlich erscheint. Der Mythos ist in diesem Sinne auch in seinem Repräsentations- und Rezeptionscharakter Zeugnis des Fremden oder um eine bereits zitierte Formulierung Hans Blumenbergs zu variieren: Der Mythos ist uns meist schon als fremde Rezeption überliefert und bekannt.

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 3 Formen und Funktionen mythologischer Alterität

3.4.4 „Ideology in narrative form“: Ideologische Differenzen bei der „Arbeit am Mythos“ Es kann verschiedene Gründe dafür geben, dass eine andere Repräsentation des Mythos als fremd oder befremdlich wahrgenommen wird. Nicht selten entzündet sich das Befremden allerdings an der Weltanschauung, die man in der anderen Repräsentation des Mythos manifestiert sieht und die den eigenen Überzeugun­ gen oder Anschauungen widerspricht. Die Beschäftigung mit dem Mythos steht in diesem Fall im Zeichen einer ideologischen Alterität und der Mythos wird zum Zeugnis des normativ Fremden. Eine mythostheoretische Fundierung findet diese Perspektive in jenen Mythostheorien, die ihren Gegenstand unter Ideologieverdacht stellen bzw. als Ideologieträger ausweisen. Die sicherlich populärste Engführung von Mythos- und Ideologieverständnis hat Roland Barthes in den 1950er Jahren mit seiner Analyse verschiedener Mythen des Alltags (Barthes 2003) vollzogen, wobei diese Analyse zugleich eine Kritik des linken Intellektuellen an der – ihm ideologisch offenkundig befremdlichen – bürgerlichen Gesellschaft darstellt.62 Barthes identifiziert Alltagsphänomene – etwa die Titelseite einer Illustrierten oder eine französische Nationalspeise – als Mythen des Alltags und beschreibt sie strukturalistisch als ein doppeltes semiologisches System, bei dem es so scheint, „als ob das Bedeutende das Bedeutete stiftete“ (Barthes 2003: 113). Einfacher ausgedrückt: Der Mythos „verwandelt Geschichte in Natur“ (Barthes 2003: 113). Die Funktion des Mythos ist demnach für Barthes eine ideologische, denn Ideologie bezeichnet – zumindest bei Marx und Engels – „Mechanismen, durch die veränderliche, gesellschafts- und interessenspezifische Fakten als naturgegebene, unveränderliche Daten missverstanden werden“ (Strasen 2008: 308). Roland Barthes hatte seine Kritik der Mythen des Alltags in den 1950er Jahren verfasst, doch seine ideologiekritische Perspektive erweist sich auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts als einflussreich. So wird etwa in dem 2006 erschienenen Band Mythosaktualisierungen: Tradierungs- und Generierungspotentiale einer alten Erinnerungsform das Mythische als spezifische Qualität eines Erinnerungsmodus wie folgt bestimmt: Es „tilgt für den teilhabenden Adressaten unmerklich die zeitlich-historischen Kontexte des Erzählten, wirkt aber als präsentische Evidenzerfahrung merklich auf Gegenwart und Zukunft“ (Wodianka 2006: 4). Laut dieser begrifflichen Festlegung werden historische und kulturelle Inhalte durch 62 Die mythologische Differenz von Eigenem und Fremdem entspricht in diesem Fall der politischen Unterscheidung von Freund und Feind (vgl. Schmitt 1963). Der Mythos ist nicht einfach Zeugnis des normativ Fremden, sondern eine Waffe des politischen Gegners: „Statistisch gesehen, ist der Mythos rechts.“ (Barthes 2003: 138)



3.4 Der Mythos zwischen Fremdrepräsentation und fremder Repräsentation 

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mythisches Erinnern – ganz im Sinne des Ideologiebegriffs – als scheinbar evidente, nicht hinterfragbare Fakten aufbereitet. Ebenfalls um eine Engführung oder besser gesagt Überblendung von Mythos und Ideologie bemüht sich der amerikanische Religionswissenschaftler Bruce Lincoln in seiner Monographie Theorizing Myth. Er kondensiert diese Engführung in einer Arbeitsdefinition des Mythos als Ideologie in narrativer Form – „ideology in narrative form“ (Lincoln 1999: xii; vgl. auch 147–149). Dabei ist es bemerkenswert, dass diese Definition mythostheoretisch bzw. aus der Geschichte der Mythostheorie hergeleitet wird. Den Ausgangspunkt bildet für Lincoln eine Annahme, die sich bei Klassikern der ethnologischen Mythostheorie findet – konkret: „one extraordinary sentence in Durkheim and Mauss, which I take to have been particularly influential on both Dumézil and Lévi-Strauss. This appears toward the end of their essay, Primitive Classification, where they introduced, but failed to develop, the idea that myth may be understood as taxonomy in narrative form“ (Lincoln 1999: 146–147). Die ethnologische Beobachtung, dass Mythen Taxonomien (also Klassifikationen, Ordnungen, Schemata) in narrativer Form darstellen, wird von Lincoln mit einer dezidiert politischen Stoßrichtung weitergedacht: To give it a sharper critical edge, I would introduce an orientation more associated with cultural theorists from Antonio Gramsci to Roland Barthes and Pierre Bourdieu. Toward that end, I would begin by noting that taxonomy is hardly a neutral process, since the order estab­ lished among all that is classified […] is hierarchic as well as categoric. (Lincoln 1999: 147)

Wenn nun einerseits prominente Mythostheorien ihren Gegenstand als Taxonomie in narrativer Form begreifen und man andererseits in Taxonomien nicht nur horizontale Ordnungsschemata, sondern auch Hierarchisierungen und Bewertungssysteme erkennt, drängt sich die folgende Schlussfolgerung auf: Pursuing these lines of thought, I am thus inclined to argue that when a taxonomy is encoded in mythic form, the narrative packages a specific, contingent system of discrimination in a particularly attractive and memorable form. What is more, it naturalizes and legitimates it. Myth, then, is not just taxonomy, but ideology in narrative form. (Lincoln 1999: 147)63

Genau wie Barthes sieht Lincoln in der Naturalisierung des Sozialen und Kulturellen die ideologische Funktion, ja gewissermaßen das ideologische Wesen des Mythos.

63 Und was ist mit der Wissenschaft, die sich ja auch um Ordnungen, Strukturen und Schematisierungen bemüht? Lincolns Antwort: „If myth is ideology in narrative form, then scholarship is myth with footnotes.“ (Lincoln 1999: 209)

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 3 Formen und Funktionen mythologischer Alterität

Darüber hinaus erweist sich Lincolns Mythosverständnis als besonders aussagekräftig im Hinblick auf jene Form der mythologischen Alterität, die in der Vorstellung vom Mythos als Rezeptions- und Repräsentationsphänomen zum Tragen kommt. Denn für Lincoln ist die ideologische Dimension des Mythos nicht einfach und ein für alle Mal gegeben, sondern stellt ein innovatives Moment der Mythosrezeption dar. Was Blumenberg als „Arbeit am Mythos“ beschreibt, erscheint in dieser Perspektive als ein unabschließbarer Prozess der ideologischen Auseinandersetzung – oder etwas martialischer: als ein Schlachtfeld, auf dem eigene und fremde Ideologien aufeinanderprallen. Dabei ist laut Lincoln schon das, was man als Mythos zu fassen bekommt, das Resultat eines Aushandlungsprozesses: „Ultimately, what come to be accepted as standard, proper, or hegemonic versions of myths are collective products that have been negotiated between narrators and audiences over time. These form the background against which future narrators craft their interventions and future audiences judge them.“ (Lincoln 1999: 150)64 Mit jeder neuen Repräsentation des Mythos wird dann dessen ideologischer Gehalt aktualisiert, modifiziert, hinterfragt oder auch revidiert. Denn jede neue Version oder Darstellung des Mythos ist potentiell auch eine neue Variante der Taxonomie und damit der Hierarchien und Wertungen: „The enunciation of any mythic variant opens up an arena of struggle and maneuver that can be pursued by those who produce other variants of the myth and other interpretations of the variant.“ (Lincoln 1999: 151) In dieser Perspektive ist die mythologische Alterität (als ideologische Alterität) nicht nur eine Ausgangsbedingung, sondern schlussendlich auch ein unvermeidliches Resultat der „Arbeit am Mythos“.

3.4.5 Die agonale Funktion des Mythos: Ein Fazit Die Beobachtung, dass der Mythos ein Repräsentations- und Rezeptionsphänomen darstellt, muss nicht zwangsläufig zum Befund der mythologischen Alterität führen. Immerhin kann man eine Repräsentations- und Rezeptionsgeschichte des Mythos auch unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität oder einer durch die Tradition gestifteten kulturellen Identität betrachten. Doch man sollte die

64 In diesem Aushandlungsprozess spielen die Rezipienten (d. h. in diesem Fall das Publikum) eine nicht zu unterschätzende Rolle: „Narrators are not the sole agents in such projects of recalibration: One must also take account of reception. Audiences (and fractions of same) can resist narrative and classificatory innovations; moreover, they are perfectly capable of introducing innovations of their own by selective hearing and reinterpretation. Anticipation of hostile audience responses can also work as a preemptive brake on narrators’ willingness to introduce modifications.“ (Lincoln 1999: 150)



3.4 Der Mythos zwischen Fremdrepräsentation und fremder Repräsentation 

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Bedeutung der komplementären Sichtweise nicht unterschätzen. Denn die Arbeit am Mythos lässt sich schwerlich ohne ein Moment der Agonalität denken – das heißt der Opposition, des Widerstreits, der Differenz zwischen der eigenen und der fremden Arbeit am Mythos. Einen entsprechenden Zusammenhang hat Werner Frick im Hinblick auf die Aufführungspraxis der griechischen Tragödie festgestellt und als Innovationstreiber ausgewiesen: Man kann sich dieses inhärente, eminent schöpferische Unruhepotential des Immer-auchanders-Darstellbaren und einer gleichsam ‚implizierten Alterität‘ – alle Texte sind konkurrierende ‚Versionen‘, es gibt keinen verbindlichen ‚Urtext‘ – an zwei miteinander verbundenen Aspekten verdeutlichen: der tragischen ‚Arbeit am Mythos‘ und der Institution des dramatischen Agons. (Frick 1998: 8)

Im dramatischen Agon der griechischen Antike, also im Wettstreit der Tragiker und ihrer Mythosadaptionen, wird die der Arbeit am Mythos inhärente Alterität institutionalisiert. Den unverzichtbaren Hintergrund bilden dabei, wie Frick ausführt, die entzogenen Ursprünge des Mythos (das Fehlen eines verbindlichen Urtextes) und dessen Repräsentationscharakter (alle Texte sind lediglich Versionen). Frick geht in seinen Beobachtungen freilich noch einen Schritt weiter, wenn „der vor der Polis-Öffentlichkeit ausgetragene und in kompliziertem Modus durch ein Schiedsgericht öffentlich bestellter ‚Kritai‘ entschiedene dramatische Agon dreier Tragiker“ von ihm zum „Urbild einer Literatur als Wettkampf“ erklärt wird (Frick 1998: 11). Mit Blick auf die Literatur- und Kunstgeschichte erscheint diese Generalisierung auf jeden Fall plausibel. Denn es ist alles andere als ungewöhnlich, dass sich die literarisch-künstlerische Arbeit am Mythos explizit in Abgrenzung zu – oder im Bruch mit – anderen, fremden Variationen, Adaptionen oder Bearbeitungen der jeweiligen mythologischen Stoffe profiliert.65 Um hier nur ein jüngeres und besonders anschauliches Beispiel anzuführen, sei auf Margaret Atwoods Roman The Penelopiad aus dem Jahr 2005 und insbesondere auf das aufschlussreiche Vorwort der Autorin hingewiesen. In ihrem Roman schildert Atwood die Heimkehr des griechischen Helden Odysseus nach seiner langen Irrfahrt aus der Perspektive Penelopes, der Ehefrau des listenreichen Helden. Der seit Homer bekannte mythologische Stoff wird umgeschrieben und der männliche Held dabei (wie zu erwarten) in ein kritisches Licht gerückt. Dabei kreist Atwoods rewriting insbesondere um die 12 Mägde, die von Odysseus zum Tode verurteilt werden, weil sie sich während seiner Abwesenheit – in 65 Eine psychologisierende Begründung für ein grundsätzliches Moment der Agonalität in der (Welt-)Literatur liefert Harold Bloom mit seinem Konzept der Einflussangst (Anxiety of influence): vgl. Bloom 1973.

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 3 Formen und Funktionen mythologischer Alterität

Atwoods Fassung freilich nur zum Wohle Penelopes – mit den aufdringlichen Freiern eingelassen haben. In ihrem Vorwort begründet die Autorin diese Neuperspektivierung wie folgt: „The story as told in The Odyssey doesn’t hold water: there are too many inconsistencies. I’ve always been haunted by the hanged maids“ (Atwood 2005: xv). Diese Selbstauskunft der Autorin ist in dreierlei Hinsicht bemerkenswert. Erstens bildet für Atwood offenkundig nicht der Mythos an sich, sondern eine konkrete Darstellung des Mythos – nämlich Homers Odyssee – den Ausgangs- und Anknüpfungspunkt. Auch wenn es sich dabei um die weltliterarisch maßgebliche Version handelt, betrachtet Atwood das homerische Epos offenbar nur als eine mögliche Repräsentation des mythologischen Stoffes: „The Story as told in The Odyssey“. Die betreffende Geschichte, so suggeriert diese Formulierung, lässt sich auch anders und zudem, so die Kritik, stichhaltiger und glaubhafter erzählen. Schließlich gäbe es bei Homer „too many inconsistencies“. Atwoods Mythosrezeption arbeitet sich demnach am Mythos als einer fremden Repräsentation ab. Zweitens ist die Einschätzung, dass Homers Odyssee nur eine Version der mythologischen Geschichte erzählt, implizit an die Vorstellung geknüpft, dass es eine vorgängige, ursprüngliche (zumindest aber ursprünglichere) Version gibt. Da diese freilich im Dunkeln liegt bzw. sich der Kenntnis und dem Zugriff entzieht, ist sie im wahrsten Sinne des Wortes fremd – und jede Repräsentation des Mythos (auch die homerische) demnach eine Fremdrepräsentation. Drittens erklärt Atwood ein verstörendes und hartnäckiges Gefühl der Befremdung zum Auslöser ihrer Neubearbeitung des bekannten mythologischen Stoffes. Ihre Wortwahl ist auffällig: „I’ve always been haunted by the hanged maids“ (Atwood 2005: xv). Es ist ein befremdlicher Aspekt der überlieferten Geschichte, der die Leserin Atwood verfolgt und der – als „Stachel des Fremden“ (Waldenfels 1991) – Atwoods Versuch einer „Mythenkorrektur“ (Vöhler/Seidensticker/Emmerich 2005)66 stimuliert. (Das lateinische Wort stimulus bedeutet unter anderem auch ‚Stachel‘!) Somit dokumentiert Atwoods Selbstauskunft explizit einen Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung des Mythos als Fremd­ repräsentation bzw. fremder Repräsentation und dem agonalen Moment der Arbeit am Mythos. Das Moment der Agonalität prägt aber nicht nur die literarisch-künstlerische, sondern auch die theoretisch-wissenschaftliche Arbeit am Mythos, bei der häufig 66 Da der mythologische Stoff unter umgekehrten Vorzeichen erscheint (d. h. aus einer anderen, der bekannten Fassung widersprechenden Perspektive erzählt wird), kann man Atwoods Mythosrezeption – mit Martin Vöhler, Bernd Seidensticker und Wolfgang Emmerich – als einen Akt der Mythenkorrektur bezeichnen (vgl. Vöhler/Seidensticker/Emmerich 2005: 6).



3.4 Der Mythos zwischen Fremdrepräsentation und fremder Repräsentation 

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Differenzen zutage treten, die sich nicht auf wissenschaftliche Meinungsverschiedenheiten oder die übliche Theoriekonkurrenz zurückführen lassen. Ein Beispiel dafür bietet der Mythosdiskurs in Deutschland in den ersten Jahren und Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg, in dem sich – wie Christian Voller in einem Aufsatz (vgl. Voller 2014) dargelegt hat – ‚Aufklärer‘ (u. a. Hans Blumenberg) und ‚Archaiker‘ (u. a. Friedrich Georg Jünger) gegenüberstehen. Während Erstere dem Mythos ein aufklärerisches Potential bescheinigen und ihn somit für die Moderne rehabilitieren, setzen Letztere auf den vor- und gegenaufklärerischen Charakter des Mythos als Gegenmittel gegen die Zumutungen der modernen Zivilisation. So treffen im Mythosdiskurs nicht nur verschiedene Konzeptionen des Mythos aufeinander, sondern mit diesen Konzeptionen auch divergierende Weltanschauungen und konträre Zeitdiagnosen. Der Mythos wird in diesem Sinne zum Kristallisationspunkt einer Debatte über die Errungenschaften der Aufklärung, über Fluch und Segen der Technik etc. Abschließend kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass der Denkgewohnheit ‚Mythos‘ nicht nur ein Moment der Agonalität zu eigen ist, sondern dass sie geradezu eine agonale Funktion erfüllt. Diese besteht darin, dass der Mythos als diskursiver Aufhänger und als Gravitationszentrum für intellektuelle Debatten, ideologische Auseinandersetzungen oder ästhetischen Wettstreit dient. Die mythologische Alterität – in Form der Wahrnehmung des Mythos zwischen Fremdrepräsentation und fremder Repräsentation – spielt dabei eine entscheidende Rolle, denn die entsprechende Mythosauffassung besagt, dass jede Beschäftigung mit dem Mythos an andere (und häufig fremde) Repräsentationen des Mythos anknüpfen muss und insofern in einen Dialog tritt. In der Regel bleibt es freilich nur bei einer Replik, wobei auch die Replik ihrerseits wiederum zum Anknüpfungspunkt der weiteren Arbeit am Mythos werden kann. (Die anhaltende Konjunktur des Mythos ist wohl auch dieser Selbstverstetigung geschuldet, die den Mythos zu einem diskursiven Perpetuum mobile macht.) Dass die Herausforderung durch fremde Mythosrepräsentationen gerne angenommen wird, hängt freilich mit dessen Wahrnehmung als Fremdrepräsentation zusammen, deren Ursprünge im Dunkeln liegen. Denn wenn sich die Ursprünge des Mythos entziehen, wenn keine erste und verbindliche Fassung eines Mythos vorliegt, dann tut sich eine Leerstelle auf, die immer wieder neu besetzt werden kann und eine hervorragende Projektionsfläche bietet.67 Dass Margaret Atwood sich in ihrer Mythosrezeption auf das Schicksal der 12 Mägde konzentriert und so 67 Die weitverbreitete Vorstellung, dass der Mythos die Grenzen der menschlichen Natur absteckt oder auslotet, dass es also anthropologisch um Grundsätzliches geht, wie die Ausführungen zum Mythos als Zeugnis des radikal Fremden in Kapitel 3.3 illustriert haben, dürfte dabei in vielen Fällen den agonalen Impuls verstärken.

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 3 Formen und Funktionen mythologischer Alterität

patriarchalische Strukturen und soziale Hierarchien zum Thema macht, verrät mehr über ihre eigenen Präferenzen und ideologischen Prämissen als über die homerische Vorlage. Und auch die deutsche Mythosdebatte nach dem 2. Weltkrieg verrät, wenn man es zuspitzen möchte, mehr über den damaligen Zeitgeist als über den Mythos. In diesem Sinne begründet die agonale Funktion des Mythos auch die Anschlussfähigkeit des Mythosdiskurses an andere Diskurse und Debatten, die Robert Segal in seiner Feststellung auf den Punkt gebracht hat, ­Mythostheorien seien nie bloß Theorien des Mythos (vgl. Segal 1996: vii).

4 Mythologische Alterität und literarische Mythosrezeption: Der Mythos als Zeugnis des Fremden in der englischen Literatur vom 19. bis zum 21. Jahrhundert 4.1 Wordsworth, Keats und das literarische Interesse am Mythos: Vorbemerkungen Mythostheorien beschreiben und deuten ihren Gegenstand – so haben es die vorangehenden Ausführungen gezeigt – in der Regel als ein Zeugnis des Fremden. Nun stellt sich die Frage, inwiefern dieser Befund auch auf die literarische Mythosrezeption übertragbar ist. Intuitiv mag man der entsprechenden These, der Mythos werde auch in der Literatur als Zeugnis des Fremden rezipiert, durchaus mit Skepsis gegenüberstehen. Schließlich haben zahlreiche mythologische Stoffe (gerade aus der griechisch-römischen Mythologie) aufgrund ihrer langen und produktiven Rezeptionsgeschichte einen geradezu kanonischen Status erlangt, wirken deshalb vertraut und werden wie selbstverständlich zum eigenen (hoch) kulturellen Inventar gerechnet. Doch wie die folgenden Lektüren zeigen sollen, wird eine solche Sichtweise der besonderen Produktivität literarischer Mythosrezeption und den betreffenden Texten nur bedingt gerecht. Zunächst sollen an dieser Stelle aber noch zwei prominente Kronzeugen für die literarische (und damit auch für die literaturwissenschaftliche) Relevanz dessen aufgerufen werden, was in der vorliegenden Studie mit dem Begriff der mythologischen Alterität erfasst wird. Dass der Mythos in der Literatur keineswegs automatisch als vertrauter und zum eigenen kulturellen Erbe zählender Stoff rezipiert wird, bezeugt der englische Romantiker William Wordsworth mit seinem Sonett „The world is too much with us“ (geschrieben zwischen 1802 und 1804): The world is too much with us; late and soon, Getting and spending, we lay waste our powers: Little we see in Nature that is ours; We have given our hearts away, a sordid boon! This Sea that bares her bosom to the moon; The winds that will be howling at all hours, And are up-gathered now like sleeping flowers; For this, for everything, we are out of tune; It moves us not. – Great God! I’d rather be

https://doi.org/10.1515/9783110528213-004

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 4 Der Mythos als Zeugnis des Fremden in der englischen Literatur

A Pagan suckled in a creed outworn; So might I, standing on this pleasant lea, Have glimpses that would make me less forlorn; Have sight of Proteus rising from the sea; Or hear old Triton blow his wreathèd horn. (zitiert nach Löffler/Späth 1998: 154–155)

Das Gedicht beginnt mit einer Klage über die Entfremdung der zeitgenössischen Zivilisation von ihrer natürlichen Umgebung („Little we see in Nature that is ours“, „we are out of tune“), um dann im Anschluss den antiken Mythos („Proteus rising from the sea“) als Zeugnis einer fremden, d. h. in diesem Fall einer naturverbundenen und zugleich überlebten Weltanschauung ins Spiel zu bringen. Der Mythos erscheint in dieser Konstellation als Ausdruck einer poetischen Naturempfindung, die im deutlichen Kontrast zur materialistisch-rationalistischen Haltung der zeitgenössischen Zivilisation („Getting and spending“) steht. Und so kulminiert die romantische Zivilisationskritik in einem sehnsüchtigen Wunsch des lyrischen Ichs: „I’d rather be a Pagan suckled in a creed outworn“. In dieser Formulierung vermischt sich ein Sehnsuchtstopos (die Beschwörung eines poetischen und unverdorbenen Zeitalters) mit dem Mythos als Fremdheitstopos, da sich die Welt des Mythos – wie der Romantiker ohne Illusionen einräumt – längst überlebt hat. Demnach gewinnt der Mythos für Wordsworth – wenn auch nur in der Phantasie („So might I, …“) – gerade aufgrund seiner Fremdartigkeit und Fremdgewordenheit noch einmal an Aktualität.1 Während Wordsworths Sonett illustriert, dass der Mythos auch in der Literatur – in einem fast schon altertumswissenschaftlichen oder ethnologischen Sinne – als Zeugnis des Fremden aufgerufen wird, bezeugt das Sonett eines jüngeren englischen Romantikers, dass selbst die Beschäftigung mit dem Mythos im weltliterarischen Gewand als eine (geistige) Expedition in fremde Gefilde erlebt werden kann. Es war die erstmalige Lektüre der homerischen Epen in der elisabethanischen Übersetzung George Chapmans, die John Keats zu einem seiner bekanntesten Gedichte – „On First Looking into Chapman’s Homer“ (1816) – inspirierte:

1 Bei Wordsworths Sonett drängt sich ein Vergleich mit Schillers Gedicht „Die Götter Griechenlandes“ auf, das in Kapitel 3.2.2 der vorliegenden Studie bereits zur Sprache kam. Zur Erinnerung: Auch Schiller stellt seiner Gegenwart ein Armutszeugnis aus, wenn er sie mit der majestätischen Vergangenheit der Antike und deren Mythologie vergleicht. Umgekehrt – und auch dafür wurden bereits Beispiele angeführt – kann der Mythos freilich auch als Zeugnis einer überkommenen Weltanschauung betrachtet werden, die nicht sehnsüchtig, sondern abwertend in Kontrast zur eigenen Weltanschauung gesetzt wird.

4.1 Das literarische Interesse am Mythos: Vorbemerkungen 

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Much have I travelled in the realms of gold, And many goodly states and kingdoms seen; Round many western islands have I been Which bards in fealty to Apollo hold. Oft of one wide expanse had I been told That deep-browed Homer ruled as his demesne: Yet did I never breathe its pure serene Till I heard Chapman speak out loud and bold: Then felt I like some watcher of the skies When a new planet swims into his ken; Or like stout Cortez, when with eagle eyes He stared at the Pacific – and all his men Looked at each other with a wild surmise – Silent, upon a peak in Darien. (zitiert nach Löffler/Späth 1998: 182)

Keats stilisiert die Begegnung mit Homer in der Übersetzung aus dem 16. Jahrhundert als astronomische Entdeckung und als Eroberung eines unbekannten Kontinents. Zuvor lediglich mit „Pope’s polished translation“ (Sühnel 1998: 36), einer neoklassizistischen Übersetzung, vertraut, wird die erneute Homer-Lektüre zum „shock of recognition, a revelation of the old heroic song“ (Sühnel 1998: 36). Es geht also für den jungen Romantiker nicht nur um eine Geschmacksfrage: Vielmehr erscheint das mythologische Material in seiner ­vorklassizistischen Form (vgl. Turley 1999: 204–207) als Verheißung des Fremden bzw. als die Verheißung, die eigene Wirklichkeit durch Dichtung erweitern oder transzendieren zu können. Im Keatsschen Sonett werden somit zwei Aspekte der Denkgewohnheit ‚Mythos‘ thematisch, die für die These der mythologischen Alterität zentral sind. Da ist zunächst die (oft übersehene) Historizität der (literarischen) Rezeption mythologischer Stoffe. Denn das Gedicht dokumentiert einen Einschnitt im Mythosdiskurs und damit eine Veränderung in der ‚Gewohnheit‘, den Mythos ‚zu denken‘. Offenkundig fügt sich die Keatssche Neuentdeckung und Neubewertung der homerischen Epen in jene geistes- und kulturgeschichtliche Entwicklung ein, die – wie bereits ausgeführt – Andrew Von Hendy als „the modern construction of myth“ bezeichnet hat (vgl. Von Hendy 2002). Die ‚Fabeln der Alten‘ werden nämlich erst im späten 18. Jahrhundert zu dem, was wir heute mit Selbstverständlichkeit ‚Mythos‘ nennen. Des Weiteren bestätigt der Vergleich der Homer-Lektüre mit einer Entdeckungs- und Eroberungsfahrt, dass die Neuentdeckung des Mythos auch dessen Entdeckung als Zeugnis des Fremden war und der Mythos gerade deshalb zum Faszinosum wurde. (Zumindest aus heutiger Sicht erscheint das Fremde dabei freilich nicht nur als harmlose Exotik, sondern geht einher – und

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 4 Der Mythos als Zeugnis des Fremden in der englischen Literatur

hier ist Name des Eroberers Cortez ein Signal – mit einer beunruhigenden Ahnung des Gewalttätigen und der Transgression.) Dagegen spielte das Fremde oder das Befremdliche der mythologischen Stoffe noch in der neoklassizistischen ­Dichtung kaum eine Rolle, wie man z. B. an Alexander Popes Version der homerischen Epen erkennen kann: „Homer’s epic personae in Pope’s reeducational domestication tend to behave and move and speak with the clockwork precision of figures in a puppet show presenting an ideal rococo aristocracy in strict conformity with the rules of Newton’s mechanical universe.“ (Sühnel 1998: 37) Dem neoklassizistischen Übersetzer war nicht daran gelegen, die Fremdartigkeit und Befremdlichkeit seines Ausgangsmaterials zu bewahren. Vielmehr war er darum bemüht, es zu domestizieren, also dem Eigenen (dem eigenen Geschmack, der eigenen literarischen Kultur etc.) weitestgehend ­anzupassen. Im Folgenden wird nun an verschiedenen Prosa- und Dramentexten zu zeigen sein, dass Wordsworth und Keats mit ihrem Interesse am Mythos (als Zeugnis des Fremden) keine singulären Positionen in der englischen (d. h. in diesem Fall genauer: in der britischen und irischen) Literatur besetzen. Dementsprechend orientieren sich die Lektüren an der Leitfrage, inwiefern der Mythos in den einzelnen Texten als Zeugnis des Fremden rezipiert wird. Konkretisieren lässt sich diese Leitfrage im Rückgriff auf die mythostheoretischen Befunde zu den Formen und Funktionen mythologischer Alterität, die im vorangehenden Teil der vorliegenden Studie herausgearbeitet wurden. Dabei soll es wohlgemerkt nicht darum gehen, in den ausgewählten literarischen Texten eine Bestätigung für einzelne, bereits besprochene Mythostheorien zu entdecken oder die Texte auf den Status einer praktischen ‚Anwendung‘ mythostheoretischer Überlegungen zu reduzieren. Die Befunde zur mythologischen Alterität im theoretisch-­ wissenschaftlichen Mythosdiskurs bilden vielmehr ein heuristisches Arsenal, aus dem sich Fragen für die Lektüre und Analyse der literarischen Texte ableiten lassen. Ein heuristischer Ausgangspunkt ist in diesem Sinne die Feststellung, dass der Mythos – in verschiedenen Mythostheorien und wissenschaftlichen Definitionen – als Zeugnis des kulturell Fremden behandelt wird und als Unterscheidungskriterium eine diskriminatorische Funktion erfüllt. Bei der Analyse der literarischen Texte wird dementsprechend darauf zu achten sein, ob und inwiefern kulturelle Differenzen in der Mythosrezeption virulent werden. Dies ist z. B. offenkundig der Fall, wenn mythologische Figuren als Fremde in einer nicht-­ mythologischen Umgebung auftreten oder wenn in einem Text unterschiedliche kulturelle Ordnungen (auch durch verschiedene Zeitebenen) ‚aufeinanderprallen‘. Weiterhin ist in diesem Zusammenhang an eine offenkundige Differenz zwischen der Textwelt und der Welt des Autors bzw. des Lesers zu denken, etwa



4.2 Das fremde Erbe der Antike 

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wenn der Leser im Text mit einer betont exotischen, archaischen oder orientalisierten Welt konfrontiert wird. Ein anderer Ausgangspunkt für die folgenden Lektüren ist der Befund, dass der Mythos als Zeugnis des radikal Fremden rezipiert wird und somit eine transgressive Funktion erfüllt, also die Beschäftigung mit dem Mythos dazu dient, die Grenzen nicht nur der eigenen, sondern jeder kulturellen Ordnung auszuloten. Dementsprechend sollte man es dann auch nicht als Zufall bewerten, wenn in Werken der Mythosrezeption z. B. die Erfahrungen des Rauschs, des Traums oder eines übermächtigen Begehrens – also Erfahrungen radikaler Fremdheit – zum Thema werden. Es gilt also, entsprechende thematische Schwerpunkte in den ausgewählten Texten herauszuarbeiten und diese, wenn möglich, mit sprachlichen und formalen Charakteristika der betreffenden Texte in einen Zusammenhang zu bringen (wo es um das radikal Fremde geht, kann man z. B. eine Ästhetik des Exzesses oder des Irrationalen erwarten). Schließlich soll bei den folgenden Lektüren nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Mythos oft als Fremdrepräsentation bzw. als fremde Repräsentation in den Blick gerät und die Arbeit am Mythos dementsprechend ein agonales Moment aufweist. Es kann daher sinnvoll sein, die ausgewählten Texte vor dem Hintergrund der Überlieferungstradition zu verorten, wobei nicht nur Kontinuitätslinien gezogen werden sollten, sondern vor allem auch Differenzen und bewusst inszenierte Brüche mit der Überlieferung zu beleuchten sind. In diesem Punkt gilt freilich, was ganz grundsätzlich gilt: Der Fokus der Analysen ist stets auf die Mythoskonzeptionen zu richten, die sich in den Texten manifestieren, also auf den jeweils konkreten literarischen Beitrag zur Denkgewohnheit ‚Mythos‘.

4.2 Das fremde Erbe der Antike: Mythologische Alterität in Walter Paters Dionysos-Texten „A Study of Dionysus“ (1876) und „Denys l’Auxerrois“ (1886) 4.2.1 The Othering of Antiquity: Vorbemerkungen zur Mythosrezeption Walter Paters Wer der Bedeutung mythologischer Alterität in der britischen und irischen Literatur nachspürt, sollte das Werk Walter Paters (1839–1894) nicht übergehen. Mindestens zwei Gründe sprechen dafür, sich eingehender mit der Mythosrezeption des viktorianischen „Scholar-Artist“ (vgl. Cecil 1955), Oxford-Dons und Ästhetizis­ ten zu beschäftigen. Da wäre erstens die Tatsache, dass sich Pater dem Mythos zum einen als Altphilologe, zum anderen als Literat zuwendet, dass sich also in seiner Person der theoretisch-akademische und der literarisch-künstlerische Mythos-

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 4 Der Mythos als Zeugnis des Fremden in der englischen Literatur

diskurs überschneiden.2 Zweitens repräsentieren Paters einschlägige Arbeiten eine neue Richtung in der Antiken- und Mythosrezeption des 19. Jahrhunderts, die nicht zuletzt im Zeichen der Alterität steht. Folgt man Denis Donoghue, dann lassen sich in der modernen Antikenrezeption zwei Traditionslinien ausmachen (vgl. Donoghue 1995: 160). Die erste und ältere Tradition pflegt ein Idealbild der griechischen Antike, dem gerade im viktorianischen England eine identitätsstiftende Funktion zuerkannt wurde, wie Donoghue darlegt: The first tradition, mainly drawn from Winckelmann, Lessing, Hegel, Herder, Humboldt, and Goethe, culminates for English society in Arnold. According to this interpretation, the culture of Greece between the sixth and fifth centuries B.C. featured childlike innocence, ideal beauty, nobility, equanimity, and reserve. Victorian public schools maintained Greek and Latin at the center of the curriculum, despite the positivist claim of science, so that those values might be inculcated. They were supposed to form a moral empire, and to thrive in just relation to the values of the Empire without. (Donoghue 1995: 161)

Doch spätestens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert bekommt diese Tradition Konkurrenz, da z. B. aufgrund neuer Ausgrabungsfunde immer häufiger Aspekte der antiken Kultur in den Blick geraten, die nicht oder nur bedingt zum gerne gepflegten Idealbild zu passen scheinen: The second tradition of interpretation is a revision of the first. Nobility and equanimity are acknowledged as supreme qualities of Greek culture, but revisionists also point to the forces which constantly threaten this stability. […] Burckhardt, Pater, Nietzsche, Frazer, Gilbert Murray, E. R. Dodds: these revisionist writers, differing as they do in tone and emphasis, interpret Greece as the site of turbulence, ferocity, and sorrow, not merely of wisdom. (Donoghue 1995: 163)

Diese Entwicklung in der Antikenrezeption geht offenkundig mit jenem Prozess einher, den Andrew Von Hendy als „othering of Antiquity“ (Von Hendy 2002: 106) bezeichnet hat. Denn die gängigen Idealvorstellungen – man denke an Winckelmanns Diktum von der ‚edlen Einfalt und stillen Größe‘ – werden nicht zuletzt in dem Maße korrekturbedürftig, in dem sich ein Bewusstsein für die Andersund Fremdartigkeit der griechisch-römischen Antike entwickelt: „the growing 2 Diese Tatsache ist deshalb bemerkenswert, weil Pater keine randständige Figur im Geistesleben seiner Zeit war. Er wurde nicht nur von seinem Schüler Oscar Wilde, sondern auch von der ersten Riege der literarischen Moderne rezipiert (z. B. von Hugo von Hofmannsthal, Virginia Woolf und T. S. Eliot). Außerdem ist nicht zu übersehen (und wird im Folgenden auch gezeigt), dass er bei seiner Beschäftigung mit dem Mythos Perspektiven entwickelt, die Jahre später in der Myth and Ritual Theory virulent werden. Zu den Exponenten dieses Zweiges der Mythostheorie zählen auch J. G. Frazer und René Girard, die in den Kapiteln 3.2.4 und 3.3.5 bereits vorgestellt wurden.



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awareness throughout the nineteenth century of the continuity of so called ‚classical‘ civilizations with their prehistoric past and thus with cultural institutions very different from those fondly imagined during the early modern period to be more or less like our own“ (Von Hendy 2002: 106). Da man die klassische Antike unter anderem verstärkt auf ihre prähistorischen Wurzeln zurückführt, rückt man sie freilich nicht nur in die menschheitsgeschichtliche Ferne, sondern stellt auch die kulturelle Kontinuität (oder gar Identität) zwischen der Antike und der eigenen Zivilisation zwar nicht unbedingt in Abrede, aber doch zumindest in Frage. Man kann „othering of Antiquity“ demnach als ‚Ethnologisierung der Antike‘ übersetzen, da sich in diesem Prozess der Neubewertung gerade das antike Griechenland zunehmend als eine fremde Kultur darstellt. Walter Paters Beitrag zur Revision des Antikenbildes im 19. Jahrhundert manifestiert sich unter anderem in seinem Essay „A Study of Dionysus“, der erstmals 1876 im Fortnightly Review und dann 1895 im Band Greek Studies veröffentlicht wurde.3 Dieser Essay illustriert, dass die neuen Perspektiven auf die Antike ein Mythosverständnis im Zeichen der Alterität bedingen und der Mythos in diesem Zusammenhang gleich in mehrfacher Hinsicht als Zeugnis des Fremden fungiert. Doch Pater belässt es nicht dabei, die Fremdartigkeit bzw. eine „befremdende Andersheit“ (Jauß 1977: 10)4 der Antike zu konstatieren, sondern bemüht sich auch darum, dem nun fremd anmutenden kulturellen Erbe der Antike in der Gegenwart zu neuer Relevanz zu verhelfen. Eindrücklich geschieht dies in der Erzählung „Denys l’Auxerrois“, die erstmals 1886 in Macmillan’s Magazine und dann 1887 im Band Imaginary Portraits veröffentlicht wurde.5 Diese schließt zum einen an den Dionysos-Essay an und weist dementsprechend mythographische Züge auf. Zum anderen schlägt sie einen Bogen von der heidnischen Antike über das christliche Mittelalter und die Renaissance bis in die Gegenwart. Bevor jedoch die kulturhistorischen Implikationen der Paterschen Fiktion ausgeleuchtet werden, lohnt sich eine genauere Lektüre des Dionysos-Essays.

4.2.2 „A Study of Dionysus“: Einblicke in eine fremde Antike Schon mit die Wahl des Gegenstandes leistet Walter Paters Dionysos-Essay einen Beitrag zur ‚Ethnologisierung der Antike‘. Denn Pater widmet sich nicht einem 3 Im Folgenden zitiert als ‚A Study of Dionysus‘ nach Pater 1910b. Vgl. zu Jahreszahlen und biographischen Angaben u. a. Buckler 1986: 63–66. 4 Jauß charakterisiert mit dieser Formulierung die Alterität der mittelalterlichen Welt, mit der moderne Leser mittelalterlicher Literatur konfrontiert werden. 5 Im Folgenden zitiert als ‚Denys l’Auxerrois‘ nach Pater 1914.

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der wohlbekannten olympischen Götter, sondern mit Dionysos einer zentralen Figur verschiedener Mysterienkulte. Diese Unterscheidung ist zumindest in der Mythographie des 19. Jahrhunderts signifikant, da im Zuge einer eingehenderen Beschäftigung mit den Göttern der Mysterienkulte auch eine ‚andere‘ Antike in den Blick rückt. Margot K. Louis identifiziert in diesem Zusammenhang einen „anti-Olympian topos“ (Louis 2005: 342): Schon seit dem 18. Jahrhundert hielt man den olympischen Göttern ihre fixierte Form sowie ihre charakterliche Eindimensionalität und die daraus resultierende Erhabenheit über die menschliche Lebenswirklichkeit vor. Dagegen sah man die tendenziell rätselhafteren Götter der Mysterienkulte, insbesondere Persephone und Dionysos, fest in der menschlichen Lebenswirklichkeit verwurzelt und schrieb ihnen eine größere religiöse Bedeutung zu. Damit gewann freilich auch eine kultische Praxis Aufmerksamkeit, die aufgrund bestimmter Opferrituale fremd und bedrohlich anmuten musste. Mögen die olympischen Götter der menschlichen Lebenswirklichkeit entrückt sein, so sind sie intellektuell und ästhetisch leicht zu fassen. Die Götter der Mysterienkulte erscheinen dagegen komplexer und zudem mit den dunkleren Seiten der menschlichen Existenz – oder kürzer: mit dem radikal Fremden – eng verknüpft. Wie die folgenden Ausführungen zum Dionysos-Essay zeigen werden, erscheinen auch in Paters einschlägiger Essay-Sammlung Greek Studies die Götter der Mysterienkulte zugleich lebensverbunden, naturnah und befremdlich. Wie bereits erwähnt, war Pater nicht nur Literat, sondern als Altphilologe sowohl mit der Forschung zur antiken Mythologie als auch mit der Archäologie seiner Zeit vertraut.6 Es überrascht daher nicht, dass er – z. B. in seinem Essay „The Myth of Demeter and Persephone“, der ebenfalls in den Band Greek Studies aufgenommen wurde7 – die Komplexität der griechischen Mythologie betont und nachdrücklich deren religiöse Bedeutung für die altgriechische Zivilisation unterstreicht: The gods of Greek mythology overlap each other; they are confused or connected with each other, lightly or deeply, as the case may be […]. It is only in a limited sense that it is possible to lift, and examine by itself, one thread of the network of story and imagery, which, in a certain age of civilisation, wove itself over every detail of life and thought, over every name in the past, and almost every place in Greece. (The Myth of Demeter and Persephone 100–101)

Der Mythos stellt sich in dieser Perspektive nicht bloß als traditionelle Erzählung dar, sondern als ein Netzwerk aus Geschichten und Bildern, das die Kultur der 6 Vgl. z. B. zu Paters Umgang mit den Ausgrabungsergebnissen Charles Newtons in Knidos: Dowling 1988 sowie Malley 2002. 7 Im Folgenden zitiert als ‚The Myth of Demeter and Persephone‘ nach Pater 1910c.



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griechischen Antike überspannt und durchwirkt. Er ist also mit einer konkreten historischen Situation und kulturellen Ordnung verbunden. Dies gilt in spezifischer Weise auch für den Dionysos-Mythos, den Pater in einer vom Wein dominierten Lebenswirklichkeit verortet: „The religion of Dionysus is the religion of people who pass their lives among the vines.“ (A Study of Dionysus 9) In seiner angestammten Umgebung vermag der Dionysos-Mythos seine religiöse Funktion zu erfüllen: „a sacred representation or interpretation of the whole human experience, modified by the special limitations, the special privileges of insight or suggestion, incident to their peculiar mode of existence“ (A Study of Dionysus 10). In dieser Verortung des Mythos zeigt sich ein quasi-ethnologisches Mythosverständnis – zumindest in dem Sinne, dass der Mythos nicht als universelle und zeitlose Geschichte, sondern als Zeugnis einer konkreten und noch dazu fremden Kultur interpretiert wird. Dass die betreffende Kultur tatsächlich eine fremde Kultur ist, wird deutlich, wenn Pater im Dionysos-Mythos – als heiliger Darstellung und Deutung menschlicher Erfahrungen – den Ausdruck einer primitiven Welt- und Naturanschauung erkennt: „The student of the comparative science of religions finds in the religion of Dionysus one of many modes of that primitive tree-worship which, growing out of some universal instinctive belief that trees and flowers are indeed habitations of living spirits, is found almost everywhere in the earlier stages of civilisation“ (A Study of Dionysus 11). Pater erwähnt in diesen Zeilen zwar auch einen universellen und instinktiven Glauben an die Belebtheit der Natur, lokalisiert diesen aber letztendlich – mit anthropologisch-distanzierender Geste – in einer frühen Phase der Menschheitsentwicklung.8 In diesem Sinne ist der DionysosMythos das Zeugnis einer früheren Lebensweise und Weltsicht, die sich von der eigenen Lebensweise und Weltsicht unterscheiden: The religion of Dionysus takes us back, then, into that old Greek life of the vineyards, as we see it on many painted vases […]. For differences, we detect in that primitive life, and under that Greek sky, a nimbler play of fancy, lightly and unsuspiciously investing all things with

8 Grundsätzlich beschreibt Pater die Entstehung und Entwicklung des Mythos mit Hilfe eines Phasenmodells, wonach im Mythos zunächst primitive Natureindrücke in mündlich tradierte Legenden übersetzt werden, welche dann von Dichtern aus rein literarischem Interesse aufgegriffen und fixiert werden und schließlich in eine ethische Phase eintreten, in der die Götter moralische oder spirituelle Zustände repräsentieren (vgl. The Myth of Demeter and Persephone 91). Auch wenn das Phasenmodell eine Entwicklung abbildet, sollte man es nicht pauschal als Fortschrittsmodell interpretieren (vgl. Louis 2005: 348–349). Steven Connor hat in diesem Zusammenhang angemerkt, „that Pater moved progressively away from this clear and orderly view of myth as he became more interested in the anomalous interrelations between the three stages“ (Connor 1983: 29).

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personal aspect and incident, and a certain mystical apprehension, now almost departed, of unseen powers beyond the material veil of things […]. (A Study of Dionysus 20)

Es ist bemerkenswert, dass Pater im Mythos eine primitive Weltsicht identifiziert, die sich durch „mystical apprehension“ auszeichnet. Denn Jahrzehnte später wird der Anthropologe Lucien Lévy-Bruhl, der das Denken der Naturvölker untersucht, die Kollektivvorstellungen der Primitiven als mystisch charakterisieren (vgl. Lévy-Bruhl 1926).9 Der Dionysos-Mythos erweist sich in Paters Perspektive jedoch nicht nur als Zeugnis einer fremden, historisch und geographisch lokalisierbaren Kultur, sondern auch als Zeugnis des radikal Fremden. Denn im Dionysos-Mythos offenbaren sich für Pater gerade die dunklen, wilden und destruktiven Seiten menschlicher Existenz, was nicht zuletzt mit der religiösen Funktion des Mythos zusammenhängt. Damit der Dionysos-Mythos nämlich als heilige Darstellung und Deutung die menschliche Existenz in ihrer Totalität erfassen kann, muss Dionysos als Gottheit selbst umfassend sein, also gewissermaßen einen kompletten Olymp verkörpern: „a little Olympus outside the greater, covered the whole of life, and was a complete religion“ (A Study of Dionysus 10). Dionysos steht somit nicht nur für einzelne Aspekte menschlicher Erfahrung, wie man das von der polytheistischen Arbeitsteilung der olympischen Göttern kennt, sondern vereinigt alle Natur- und Lebenserfahrungen in sich. Da diese Erfahrungen extrem gegensätzlich und widersprüchlich sein können, muss notwendigerweise auch Dionysos das Gegensätzliche und Widersprüchliche in sich vereinen. Pater lässt dies bereits mit dem Untertitel seines Essays, „The Spiritual Form of Fire and Dew“, anklingen und arbeitet den Doppelcharakter des Gottes Dionysos eindrücklich heraus.10 Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die wechselnden Gemütslagen des Gottes, durch die er sich von den olympischen Göttern unterscheidet: „The other Olympians are above sorrow. Dionysus […] has his alternations of joy and sorrow“ (A Study of Dionysus 40). Damit rückt Pater eine Dimension des griechischen Mythos in den Blick, die frühere Mythographen aus seiner Sicht zu Unrecht ausgeblendet haben, wie er in seinem Essay „The Myth of Demeter and Persephone“ deutlich macht:

9 Vgl. zu Lévy-Bruhl die Ausführungen in Kapitel 3.2.4 der vorliegenden Studie. 10 Da der Dionysos-Kult eine allumfassende Religion darstellt, bildet er auch den Ausgangspunkt für die Künste, weshalb Dionysos für seine Anhänger den Platz des Apollon einnimmt: „[Dionysus] fills for them the place of Apollo; he is the inherent cause of music and poetry; he inspires; he explains the phenomena of enthusiasm, […] the gift of self-relevation, of passing out of oneself through words, tones, gestures“ (A Study of Dionysus 18). Anders als bei Friedrich Nietzsche bilden bei Pater demnach das Dionysische und das Apollinische keine Opposition.



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Their [the Greeks’, d. Verf.] religion has been represented as a religion of mere cheerfulness, the worship by an untroubled, unreflecting humanity, conscious of no deeper needs […]. But this familiar view of Greek religion is based on a consideration of a part only of what is known concerning it, and really involves a misconception […] as if Greek art had dealt exclusively with human nature in its sanity, suppressing all motives of strangeness […]. (The Myth of Demeter and Persephone 110–111)

Pater wendet sich hier ganz explizit gegen die Idealisierung einer lebensfrohen und erhabenen Antike, bei der das Befremdliche („motives of strangeness“) ausgeblendet wird. In diesem Lichte betrachtet, tritt auch die diskursive Stoßrichtung des Dionysos-Essays noch einmal deutlicher hervor. Denn Pater interessieren am Dionysos-Mythos insbesondere jene Aspekte, die den für einseitig befundenen Idealvorstellungen zuwiderlaufen. Der weitgehende Verzicht auf Wertungen oder moralisierende Einwürfe und die (für Pater typische) schwelgerische Diktion erwecken zudem den Eindruck, dass Paters Interesse am Mythos gerade dem Reiz des Fremden geschuldet ist. So skizziert Pater z. B. ein Bild der griechischen Natur, das sich deutlich vom Topos einer pastoralen Idylle, in der man sich sofort heimisch fühlen würde, abhebt. Wenn er ausführt, dass Dionysos als „dual god of both summer and winter“ (A Study of Dionysus 43) den jahreszeitlichen Wandel verkörpert, dann erhebt er den griechischen Gott damit nicht zum Zeichen eines harmonischen Lebens im Einklang mit der Natur. Vielmehr steht Dionysos bei Pater auch für die (durchaus faszinierende) Lebensfeindlichkeit der natürlichen Umwelt: „the departure of the year at its richest, and the death of all sweet things in the longcontinued cold, when the sick and the old and little children, gazing out morning after morning on the dun sky, can hardly believe in the return any more of a bright day“ (A Study of Dionysus 47). Auch in seinem Essay zu Demeter und Persephone verwendet Pater für die Naturbeschreibung ein Vokabular, das weniger eine idealisierende Verklärung als vielmehr ein wohliges Befremden zum Ausdruck bringt. Da ist von „brooding fertility“, „sinister caprices“ und „sadness“ die Rede (The Myth of Demeter and Persephone 98), weshalb man sich Margot K. Louis’ Einschätzung anschließen kann: „This nature is far from the benign power celebrated by earlier Romantics.“ (Louis 2005: 347) Und mit diesem Naturverständnis sind weitere „motives of strangeness“ verknüpft, die Pater in seiner DionysosStudie herausstellt. Ein zentrales Motiv des Dionysos-Mythos ist die rauschhafte Gewalt, die nur wenig mit der kalkulierten Grausamkeit der olympischen Götter zu tun hat. Denn Dionysos vereinigt in seiner Existenz nicht nur Leben und Tod – „like Persephone, he belongs to two worlds“ (A Study of Dionysus 44). Er ist zugleich Jäger – „the image of Dionysus Zagreus, the Hunter – of Dionysus in winter – storming wildly on the dark Thracian hills“ (A Study of Dionysus 46) – und Gejagter: „Or

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he is connected with the fears, the dangers and hardships of the hunter himself, lost or slain sometimes, far from home, in the dense woods of the mountains, as he seeks his meat so ardently; becoming, in his chase, almost akin to the wild beasts“ (A Study of Dionysus 47).11 Mit dem animalisch-karnivoren Charakter des Gottes ist schließlich jene kultisch-rituelle Dimension des Dionysos-Mythos verbunden, in der das radikal Fremde am deutlichsten Gestalt gewinnt: And now we see why the tradition of human sacrifice lingered on in Greece, in connexion with Dionysus, as a thing of actual detail […]. That the sacred women of Dionysus ate, in mystical ceremony, raw flesh, and drank blood, is a fact often mentioned, and commemorates, as it seems, the actual sacrifice of a fair boy deliberately torn to pieces, fading at last into a symbolical offering. (A Study of Dionysus 47–48)

Pater bietet hier eine Perspektive auf den Mythos, die später in der Myth and Ritual Theory ihren theoretischen Ausdruck findet.12 Auf jeden Fall dürfte sich die Identifizierung einer Tradition des Menschenopfers in der Antike nicht nur für die Anhänger eines idealisierten Antikenbildes als ‚Herausforderung‘ erweisen. Denn an diesem Punkt wird der Mythos zum Zeugnis dessen, „was außerhalb jeder [kulturellen, d. Verf.] Ordnung bleibt“ (Waldenfels 1999: 36), des Fremden in seiner radikalen Steigerung, das stets befremdlich anmuten muss. Auch der Schluss des Essays unterstreicht noch einmal diese zugleich faszinierende und verstörende Dimension des Mythos, wenn Pater darauf eingeht, 11 Vgl. dazu Ulrike Stamms verallgemeinernde, aber treffende Deutung: „entweder in einer Person oder in einer Kultur ist jeweils ihr dunkles und zerstörerisches Gegenteil mitenthalten“ (Stamm 1997: 263). 12 Vgl. dazu die Ausführungen zu Frazer in Kapitel 3.2.4 der vorliegenden Studie. Auch Gerald Cornelius Monsman erkennt in Paters Fiktionen eine Vorwegnahme späterer Entwicklungen in der Mythosdiskussion: „We recall the great interest of the Cambridge anthropologists in the Dionysiac side of Greek civilization, an interest which revised the idea that the Greeks had dismissed the dark and irrational qualities of existence in their dedication to reason and their commitment to life on this earth. This concern with the mystery cults and their relation to primitive religious ritual and myth, best exemplified by Sir James Frazer’s influential The Golden Bough, is anticipated several years by Pater.“ (Monsman 1967: xiii) Monsman selbst räumt in einer Fußnote freilich ein: „Pater himself was anticipated by the syncretic or comparative mythographers of an earlier generation.“ (Monsman 1967: xiii) Deshalb, aber auch weil die einschlägigen Diskurse zu Mythologie, Antike, Archäologie etc. im 19. Jahrhundert so produktiv und vielfältig sind, sollte man sich davor hüten, Vorwegnahme als direkten Einfluss zu interpretieren (man denke nur daran, dass Pater und Nietzsche – bei allen Unterschieden – ganz unabhängig voneinander durchaus ähnliche Perspektiven entwickelt haben). In diesem Sinne wird Pater in der vorliegenden Studie auch nicht als treibende Kraft, sondern als ein zugleich typischer und idiosynkratischer Repräsentant des Mythosdiskurses im 19. Jahrhundert vorgestellt.



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dass Dionysos, im Gegensatz zu den olympischen Göttern, ein sterblicher Gott ist. Denn der Tod des Gottes bietet ein grausiges Schauspiel: Then it came to pass that the jealous Here sent out the Titans against him. They approached the crowned child, and with many sorts of playthings enticed him away, to have him in their power, and then miserably slew him – hacking his body to pieces, as the wind tears the vine, with the axe Pelekus, which, like the swords of Roland and Arthur, has its proper name. The fragments of the body they boiled in a great cauldron, and made an impious banquet upon them […]. (A Study of Dionysus 51–52)

Aufgrund dieser Beschreibungen mag man zu der Schlussfolgerung gelangen, dass die griechische Antike auch deshalb kulturell fremd anmutet, weil sie ein sehr explizites oder offenes Verhältnis zum radikal Fremden pflegt. Man könnte in diesem Zusammenhang der Frage nachgehen, inwiefern die gerade in diesem Zitat sehr eindringliche Betonung des Gewalttätigen und Befremdlichen in der griechischen Mythologie vom Mythographen Pater auch als ein Kommentar zur eigenen Zeit und Kultur angelegt ist. Wird mit dem Blick in die Vergangenheit an den Grundfesten der viktorianischen Gesellschaft gerüttelt, am Fortschrittsoptimismus und am Glauben an die menschliche Vernunft gekratzt? Auf jeden Fall – und das bleibt für die folgenden Ausführungen festzuhalten – offenbart Paters Dionysos-Essay, dass die Revision des Antikenbildes im 19. Jahrhundert an eine Revision des Mythosverständnisses gekoppelt ist. Bei der antiken Mythologie, wie sie sich in Paters Dionysos-Essays darstellt, handelt es sich offenkundig nicht mehr um das von Friedrich Schlegel verklärte „bunte Gewimmel der alten Götter“, in dem eine „schöne Verwirrung der Fantasie“ ihren Ausdruck findet (Schlegel 1967: 319). Es wurde bereits angedeutet, dass mit der Revision des Antikenbildes auch der Status des antiken Kulturerbes (einschließlich der Mythologie) zur Debatte gestellt wird. So drängt sich z. B. die Frage nach der Relevanz der griechisch-römischen Mythologie in der Gegenwart auf, wenn der Mythos mit quasi-­ethnologischem Blick als Zeugnis einer historisch, geographisch und zivilisatorisch fremden, längst untergegangenen Kultur interpretiert wird. Kann eine Mythologie, die auf eine primitive Weltsicht zurückgeht und deren Verbindung zu barbarischen Ritualen nachgewiesen wurde, noch als Teil des eigenen kulturellen Erbes betrachtet werden? Steht eine solche Mythologie nicht im eklatanten Widerspruch zum Selbstverständnis einer neuzeitlichen Zivilisation, die sich auf Rationalität, Wissenschaft und Humanität beruft? Pater selbst deutet – durch ein häufiges Ausgreifen in die Kultur-und Kunstgeschichte – in seinem ­Dionysos-Essay an, dass Antike und Mythos auch nach ihrer Neubeurteilung nicht für die Neuzeit ‚verloren‘ sind. So legt er z. B. nahe, dass ein scheinbar primitives, mystisches Naturverständnis auch in der Neuzeit seinen Platz hat – und zwar in der Sphäre der

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Poesie: „Shelley’s Sensitive Plant shows in what mists of poetical reverie such feeling may still float about a mind full of modern lights, the feeling we too have of a life in the green world, always ready to assert its claim over our sympathetic fancies.“ (A Study of Dionysus 11)

4.2.3 „Denys l’Auxerrois“: Literarische Mythosrezeption als kulturgeschichtliches Gedankenexperiment I Was sich im Dionysos-Essay andeutet – eine Vermittlung zwischen antik-mythologi­ schem Erbe und der eigenen Gegenwart – wird einige Jahre später zum Thema in Paters literarischer Fiktion „Denys l’Auxerrois“, mit der Pater zugleich eine Illustration seines Dionysos-Verständnisses vorlegt. Im Mittelpunkt des Textes steht die Wiedergeburt des antiken Gottes im mittelalterlichen Auxerre: „What follows is a quaint legend, with detail enough, of such a return of a golden or poetically-gilded age (a denizen of old Greece itself actually finding his way back again among men) as it happened in an ancient town of medieval France.“ (Denys l’Auxerrois 47)13 Dem ersten Auftritt der Dionysos-Figur namens Denys im Rahmen eines mittelalterlich-heidnischen Spiels am Ostertag geht die Entdeckung eines antiken Sarkophags und eines darin befindlichen, grünen Weinflakons voraus: „from that time a sort of golden age seemed indeed to be reigning there for a while“ (Denys l’Auxerrois 57). Denys wird zur zentralen Gestalt dieses „goldenen Zeitalters“, und die Stadt Auxerre erscheint vom dionysischen Geist der Antike beseelt. Doch schon nach zwei Jahren endet dieses Intermezzo, und die Menschen kehren voller Eifer zur christlichen Ordnung zurück. Denys, der nun angefeindet und bedroht wird, muss sich in ein Kloster zurückziehen, wo er – von der Öffent­ lichkeit weitgehend unbemerkt – einen nachhaltigen Einfluss auf die künstle­ rischen und handwerklichen Entwicklungen in der Stadt nimmt. Allerdings kann auch der Gang ins klösterliche Exil nicht verhindern, dass Denys schließlich von einem rasenden Mob getötet wird. Bei der Gestaltung der Hauptfigur greift Pater offenkundig auf das Bild des griechischen Gottes Dionysos zurück, das er 10 Jahre zuvor in seinem Essay entworfen hat. Dementsprechend ist es – um nur ein Beispiel zu geben – kein Zufall, dass Pater eine Weinanbauregion als Schauplatz seiner Legende wählt. Insgesamt sind die Bezüge zum Dionysos-Essay so 13 Eine Anregung zu dieser Geschichte eines antiken Gottes im mittelalterlichen Exil fand Pater bei Heinrich Heine und dessen Erzählung „Die Götter im Exil“ (vgl. Heine 1987). Vgl. zu Paters Heine-Rezeption: Harrison 1924. John Smith Harrison weist in seinem Aufsatz außerdem auf die Beschäftigung Paters mit der Arbeit des Altphilologen Karl Otfried Müller hin.



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zahlreich, dass man mit Wolfgang Iser an dieser Stelle schlicht und ergreifend festhalten kann: „Denys vereinigt in sich nahezu alle Aspekte des Dionysos“ (Iser 1960: 214). Paters Geschichte eines antiken heidnischen Gottes im christlich-­mittel­ alterlichen Exil zeichnet sich nun aber nicht nur durch ihre mythographische Dimension aus, sondern stellt auch ein kulturgeschichtliches Gedankenexperiment im Medium der Fiktion dar.14 Mit seiner Versuchsanordnung geht Pater der Frage nach, welches Schicksal der antiken Kultur nach dem Ende der Antike – als Epoche, als Zivilisation und als Lebenswirklichkeit – widerfährt. Ganz konkret beleuchtet er das Verhältnis von griechisch-römischer Antike und christlichem Mittelalter – und damit das Verhältnis der beiden wesentlichen historischen Bezugsgrößen für das Selbstverständnis der europäischen Neuzeit.15 Das Verhältnis der beiden Zeitalter steht in Paters Erzählung einerseits im Zeichen eines scheinbar unhintergehbaren historischen Bruchs,16 birgt aber zum anderen auch eine versteckte Kontinuität und überraschende kulturelle Synthesen.17 Der historische und kulturelle Bruch, der nicht nur das christliche Mittelalter, sondern alle späteren Epochen von der Antike trennt, findet in der Erzählung seinen Ausdruck im Schicksal der Hauptfigur. Als Reinkarnation des Dionysos steht Denys im Mittelpunkt eines Versuches, die antike Religion im mittelalterlichen Auxerre wiederzubeleben. Doch dieser Versuch ist zum Scheitern verurteilt und endet für Denys tödlich, obwohl das dionysische Moment, das mit Denys in die mittelalterliche Welt kommt, zunächst eine positive Entwicklung einzuleiten 14 An Paters historischem und kulturhistorischem Interesse kann kein Zweifel bestehen. Vgl. dazu z. B. Williams 1989. Auch Jules Lubbock betont die kulturgeschichtliche Dimension in den fiktionalen Werken Paters, wenn er eine Interpretation des Paterschen Romans Marius als „the most extended of Pater’s essays in cultural history“ vorlegt (Lubbock 1983: 166). 15 Zur Differenz von christlichem und antikem Erbe im viktorianischen Selbstverständnis (und mit Bezug zu Walter Pater) vgl. DeLaura 1969 sowie – kurz und pointiert – Keefe/Keefe 1988: 136–137. 16 Eine gewisse Eigenständigkeit und Geschlossenheit historischer Epochen steht für Pater nicht in Frage: „Daß Pater in der Nachfolge Hegels sowie des deutschen Historismus an die Manifestation des ‚Zeit-geistes‘ in allen geistigen Produkten einer bestimmten historischen Epoche glaubt, geht aus vielen Stellen seiner theoretischen und kritischen Schriften hervor, die ergänzend zu dieser Überzeugung auch noch die Kultivierung des ‚historic sense‘ von seiten des Philosophen oder scholar-artist fordern.“ (Uhlig 1974: 221) 17 Neben Paters Interesse am Zeitgeist einer historischen Epoche tritt ein besonderer historiographischer Impuls: „Pater’s historical narrative is organized around two axes. On a synchronic level, his effort is to connect the various expressions of a particular phase of civilization or Zeitgeist, moving from the world of art to that of politics and society. On a diachronic level, he tries to detect those elements which periodically reappear as ingredients in ever-diverging recipes“ (Ascari 1999: 110).

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scheint: „‚Denys l’Auxerrois‘ depicts the lad Denys, as a reincarnation of the old Greek god Dionysus, triumphantly revitalizing life in the thirteenth-century city of Auxerre.“ (Monsman 1977: 111) Das erste Jahr nach Erscheinen des Denys steht ganz im Zeichen des Sommergottes Dionysos. Es ist geprägt durch ausgelassene Fröhlichkeit und eine atmosphärische Verjüngung der Stadt (vgl. Denys l’Auxer­rois 60–62). Allerdings wird schon diese klimatische Veränderung von manch ängstlichem Beobachter als bedrohlich empfunden: „The hot nights were noisy with swarming troops of dishevelled women and youths with red-stained limbs and faces, carrying their lighted torches over the vine-clad hills, or rushing down the streets, to the horror of timid watchers, towards the cool spaces by the river.“ (Denys l’Auxerrois 61) Im zweiten Jahr offenbart sich dann eine dunklere, animalische Seite des ­dionysisch-ekstatischen Lebensgefühls, begleitet von verstörenden Gerüchten und Todesfällen: A kind of degeneration, of coarseness – the coarseness of satiety, and shapeless, batteredout appetite – with an almost savage taste for carnivorous diet, had come over the company. A rumour went abroad of certain women who had drowned, in mere wantonness, their newborn babes. A girl with child was found hanged by her own act in a dark cellar. (Denys l’Auxerrois 66)

Denys wirkt nicht mehr als Sommergott, der Heiterkeit und Lebensfreude verbreitet, sondern erinnert an Dionysos den Jäger – „the image of Dionysus Zagreus, the Hunter – of Dionysus in winter – storming wildly on the dark Thracian hills“ (A Study of Dionysus 46). Die Einwohner des mittelalterlichen Auxerres wenden sich auf jeden Fall von Denys ab: „People turned against their favourite, whose former charms must now be counted only as the fascination of witchcraft. It was as if the wine poured out for them had soured in the cup.“ (Denys l’Auxerrois 67) Der Zauber, der von Denys ausging, ist verflogen und damit der Versuch gescheitert, die heidnische Religion des Dionysos im mittelalterlichen Exil wiederzubeleben: „Der mythische Dionysos umspannt alle Gegensätze, wie es Pater auch in seiner Studie über den alten Gott herausgearbeitet hat; der geschichtliche Denys aber vermag die Gegensätze nur in ihrem Nacheinander zu aktivieren. Die mythische Einheit ist zerfallen.“ (Iser 1960: 215)18 Es war laut Pater gerade die Leistung des antiken Gottes Dionysos, Gegensätzliches zu verkörpern bzw. 18 Gemeint ist das Auseinanderdriften emotionaler und triebhafter Zustände, die nicht mental oder kultisch vereint werden können: „Denys-Dionysus is an embodiment of the primitive, immature pleasure principle, benign beyond measure in a world all green and gold with fertility and abundance, but stealthy, malignant, and ferocious at the first frost-bite of pain.“ (Buckler 1986: 45–46)



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Gegensätze (etwa „joy and sorrow“) in sich zu vereinen und so eine umfassende Repräsentation menschlicher Erfahrungen und Lebenswirklichkeit darzustellen. Denys kann diesem Anspruch nicht gerecht werden: Der antike Mythos hat im mittelalterlichen Exil offenkundig seine religiöse Kraft eingebüßt, die Hoffnung auf ein neues goldenes Zeitalter sich schnell verflüchtigt: „The golden age had indeed come back for a while: – golden was it, or gilded only, after all? and they were too sick, or at least too serious, to carry through their parts in it.“ (Denys l’Auxerrois 67) Dass das dionysische Intermezzo im mittelalterlichen Auxerre letztendlich an einer unüberbrückbaren kulturellen und zivilisatorischen Differenz scheitern muss, wird bereits früh in Paters Erzählung angedeutet: „It was as if one of those fair, triumphant beings had cast in his lot with the creatures of an age later than his own, people of larger spiritual capacity and assuredly of a larger capacity for melancholy.“ (Denys l’Auxerrois 54) Der Erzähler beschreibt Denys als einen Gott aus der Vergangenheit, dessen Kult nicht mehr in die spätere Zeit mit ihrer spezifischen Spiritualität und Neigung zur Melancholie passt. Die Menschen im mittelalterlichen Auxerre erweisen sich unter anderem als zu ernsthaft, um ihre Rolle im Kult des Dionysos voll auszufüllen – „too serious, to carry through their parts in it“ (Denys l’Auxerrois 67). Trotz anfänglicher Begeisterung ist die antike Religion des Dionysos den Menschen äußerlich und fremd geblieben. Damit bestätigt die Fiktion jene Ausführungen in Paters Dionysos-Essay, die sich der spezifischen historischen, kulturellen und lebenspraktischen Verwurzelung des Dionysos-­Mythos widmen. Aus seinem ursprünglichen Umfeld herausgerissen, so eine naheliegende Schlussfolgerung aus Essay und Erzählung, muss dessen religiöse Bindungskraft zwangsläufig versiegen. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass die Abwendung von Denys nicht nur in dem Versuch kulminiert, diesen als ‚bösen Zauberer‘ zu ermorden, sondern auch von einer Rückbesinnung auf die christliche Ordnung begleitet wird: „And at last the clergy bethought themselves of a remedy for this evil time.“ (Denys l’Auxerrois 68) Angesichts der verstörenden Entwicklungen in der Stadt versucht man, mit der Exhumierung und feierlichen Bestattung eines nahezu vergessenen Heiligen Abhilfe zu schaffen: Many bishops arrived, with King Lewis the Saint himself accompanied by his mother, to assist at the search for and disinterment of the sacred relics. […] The pavement of the choir, removed amid a surging sea of lugubrious chants, all persons fasting, discovered as if it had been a battlefield of mouldering human remains. Their odour rose plainly above the plentiful clouds of incense, such as was used in the king’s private chapel. […] At last from a little narrow chest, into which the remains had been almost crushed together, the bishop’s redgloved hands drew the dwindled body, shrunken inconceivably, but still with every feature of the face traceable in a sudden oblique ray of ghastly dawn. (Denys l’Auxerrois 68–69)

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Die christlich-mittelalterliche Ordnung behauptet sich auf eine makabere Weise und man kann angesichts dieser wie auch anderer Passagen festhalten, dass sich das mittelalterliche Christentum in Paters Erzählung nicht weniger befremdlich präsentiert als der antike Mythos, zumal es selbst deutlich heidnische Züge aufweist. So wie sich die heidnische Antike als eine fremde Epoche bzw. kulturelle Ordnung darstellt, muss auch das christliche Mittelalter aus der Perspektive der Neuzeit (und selbst aus der Perspektive eines neuzeitlichen Christen) als eine Epoche von „befremdender ‚Andersheit‘“ (Jauß 1977: 14) erscheinen. Insofern widmet sich Paters „Denys l’Auxerrois“ nicht nur dem fremden Erbe der Antike, sondern auch dem fremdem Erbe des Mittelalters. Die heidnischen Züge der neu gefestigten christlichen Ordnung bekommt auch Denys zu spüren, der dem ersten Anschlag auf sein Leben gerade noch entkommen konnte. Denn er fällt schließlich einer rasenden Menschenmenge zum Opfer – und zwar bei einem rüden Spiel, in dem symbolisch der Winter verjagt werden soll: And it happened that a point of the haircloth scratched his lip deeply, with a long trickling of blood upon the chin. It was as if the sight of blood transported the spectators with a kind of mad rage, and suddenly revealed to them the truth. The pretended hunting of the unholy creature became a real one, which brought out, in rapid increase, men’s evil passions. The soul of Denys was already at rest, as his body, now borne along in front of the crowd, was tossed hither and thither, torn at last limb from limb. The men stuck little shreds of his flesh, or, failing that, of his torn raiment, into their caps; the women lending their long hairpins for the purpose. (Denys l’Auxerrois 76)

In diesem kollektiven Gewaltrausch offenbaren sich einerseits der unwiderrufliche Bruch der mittelalterlichen Welt mit der Antike und insbesondere die ultimative Absage an die religiösen Ansprüche des antiken Mythos in der Gestalt des Denys. Anderseits aber kann man in diesem blutigen Spektakel auch einen versteckten Triumph des Dionysischen in einer ihm feindlich gesonnenen Umwelt erkennen. Denn die Menschenmenge, der Denys zum Opfer fällt, vollzieht unbewusst etwas, das im antiken Mythos bereits angelegt ist: Pater selbst hatte in seinem Dionysos-Essay auf die Sterblichkeit des Gottes hingewiesen, und in der Tötung des Denys spiegelt sich die grausige Tötung des Dionysos durch die Titanen, wie sie Pater in seinem Essay geschildert hat.19 Insofern bricht sich

19 Zugleich übernimmt Denys die Rolle des Sündenbocks im Sinne René Girards. Gabriele Rippl deutet dementsprechend die Tötung des Denys wie folgt: „As the feeling of unity had been disturbed by former Dionysian outbursts of many of Auxerre’s inhabitants, the killing of Denys at the end of Pater’s story may be interpreted as a reconciliatory sacrifice ending quarrels and restoring order.“ (Rippl 2011: 347) Auch darin kann man einen unterschwelligen Triumph des Mythos



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das radikal Fremde, von dem der antike Mythos Zeugnis ablegt, noch in der Überwindung des Mythos Bahn. Bleibt also doch etwas von der mittelalterlichen Reinkarnation des Dionysos? Die rasende Menschenmenge hatte sich nicht darauf beschränkt, Denys zu töten, sondern in ihrem Rausch versucht, jede Spur von ihm zu tilgen, wie ein mit Denys befreundeter Mönch feststellen muss: „The monk Hermes sought in vain next day for any remains of the body of his friend. Only, at nightfall, the heart of Denys was brought to him by a stranger, still entire. It must long since have mouldered into dust under the stone, marked with a cross, where he buried it in a dark corner of the cathedral aisle.“ (Denys l’Auxerrois 76) Immerhin konnte also das Herz des Denys-Dionysos geborgen und an einem unbekannten Ort bestattet werden – und das Herz ist lediglich ein Sinnbild für das, was in Paters Erzählung von der nur scheinbar völlig gescheiterten Wiederkehr des antiken Gottes bleibt. Vor seinem Tod fand der verfolgte Denys Zuflucht in einem Kloster: „and in a little while found his way to the monks of Saint Germain, who gladly received him into their workshop, though secretly, in fear of his foes“ (Denys l’Auxer­ rois 69–70). Das Kloster erweist sich in Paters Erzählung freilich weniger als Ort der Religion, sondern vielmehr als ein Refugium der Künste und des antiken Erbes. Personifiziert ist dies in der Figur des gelehrten Mönchs Hermes, der nicht zufällig den Namen des Götterboten in der griechischen Mythologie trägt. So wie Denys findet im Kloster unter anderem auch die antike Literatur Asyl und wird dort nicht nur aufbewahrt, sondern – durch neue Illustrationen – ‚gepflegt‘. Und dabei erweist sich schon die bloße Anwesenheit des Denys für die Illustratoren als Inspiration: It was as if the gay old pagan world had been blessed in some way; with effects to be seen most clearly in the rich miniature work of the manuscripts of the capitular library, – a marvellous Ovid especially, upon the pages of which those old loves and sorrows seemed to come to life again in medieval costume, as Denys, in cowl now and with tonsured head, leaned over the painter, and led his work, by kind of visible sympathy, often unspoken, rather than by any formal comment. (Denys l’Auxerrois 71)

Das literarische Erbe der Antike erfährt eine Aktualisierung, indem sich der Geist der Antike mit dem Geist des Mittelalters verbindet – „as if the gay old pagan world had been blessed in some way“. Das neue äußere Erscheinungsbild des Denys und die Verbindung des antiken Textes mit zeitgenössischen Illustrationen

e­ rkennen, denn für Girard ist der Mythos in einem ganz expliziten Sinne Zeugnis und Dokument eines solchen Opfers. Vgl. dazu in der vorliegenden Studie Kapitel 3.3.5 zum Mythos als Zeugnis des radikal Fremden in René Girards Sündenbock-Theorie.

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künden in diesem Sinne von einer Synthese des scheinbar so Disparaten und einander Fremden.20 Seine Spuren hinterlässt Denys darüber hinaus beim Bau der gotischen Kathedrale von Auxerre: „And yet, again by mere visible presence, he made him­ self felt […]. Unconsciously he defined a peculiar manner, alike of feeling and expression, to those skilful hands at work day by day with the chisel, the pencil, or the needle, in many an enduring form of exquisite fancy.“ (Denys l’Auxerrois 70) So fließt der antike Geist des Dionysischen auch in das Prestigeprojekt jener christlichen Ordnung ein, der Denys letztendlich zum Opfer fällt: In three successive phases or fashions might be traced, especially in the carved work, the humours, he had determined. There was first wild gaiety, exuberant in a wreathing of lifelike imageries, from which nothing really present in nature was excluded. That, as the soul of Denys darkened, had passed into obscure regions of the satiric, the grotesque and coarse. But from this time there was manifest, with no loss of power or effect, a well-assured seriousness […]. (Denys l’Auxerrois 70)

Die Wiederbelebung der antiken Religion war nicht zuletzt daran gescheitert, dass Denys es nicht (mehr) vermochte, die starken Gegensätze menschlicher Existenz für seine Anhänger zu vereinen. Doch was in der Lebenswelt nicht funktioniert, gelingt zumindest bei der Gestaltung der Kathedrale, in der die verschiedenen Gemütslagen des Denys architektonisch vereint werden. Schließlich wird in Paters Erzählung auch die beeindruckende Orgel der Kathedrale zu einem Sinnbild versteckter kultureller Kontinuität: „It was Denys, at last, to whom the thought occurred of combining in a fuller tide of music all the instruments then in use.“ (Denys l’Auxerrois 71) Pater lässt somit in seiner Fiktion die Orgel – als zentrales Instrument christlicher Musiktradition – aus dem Geiste des Denys-Dionysos entstehen: „and the building of the first organ became like the book of his life: it expanded to the full compass of his nature, in its sorrow and delight“ (Denys l’Auxerrois 72). Die dionysischen Gegensätze und damit die Vielfalt menschlicher Lebenserfahrungen finden ihren versöhnlichen Eingang in

20 Gewissermaßen ist das Prinzip der Synthese auch in der Hauptfigur verwirklicht, der Monsman bescheinigt: „Indeed, throughout the story Denys is a type of Christ-Dionysus.“ (Monsman 1967: 110) Dementsprechend erkennt Monsman auch im Opfer des Denys „eucharistic over­ tones“ (Monsman 1967: 115). Eine Affinität zwischen dem antiken Gott Dionysos und Jesus Christus lässt sich freilich bereits im Johannes-Evangelium feststellen: „Johannes mobilisiert seine ganze erhebliche Darstellungs- und Allusionskunst, um Christus als den zu charakterisieren, der die Versprechungen der antiken Götter und die des Dionysos zumal erfüllt. Dichtern und Philologen, die wie Hölderlin und Nietzsche im Zeichen des Wahnsinns standen, blieb es vorbehalten, an diese ursprüngliche Verbindung von Antike und Christentum zu erinnern.“ (Hörisch 1992: 70)



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das neue Instrument. Und während man das leibhaftige Dionysische im öffentli­ chen Leben Auxerres als bedrohlichen Fremdkörper wahrnimmt und schließlich ausmerzt, wird seine Erfindung zu einem populären Erfolg: „It was then that the people heard the music of the organ, rolling over them for the first time, with various feelings of delight.“ (Denys l’Auxerrois 75) Freilich bezeugt die Orgel als Sinnbild zugleich auch den bereits beschriebenen kulturellen Bruch, da ihre Entstehung und ihre dionysischen Wurzeln den Kirchgängern verborgen bleiben: „But the performer on and author of the instrument was forgotten in his work, and there was no re-instatement of the former favourite.“ (Denys l’Auxerrois 75) Die klösterlichen Ovid-Illustrationen, die Gestaltung der gotischen Kathe­ drale und schließlich die Orgel bezeugen eine versteckte Kontinuität oder besser: Wiederbelebung antiker Traditionen nach dem Ende der Antike und noch vor dem Beginn der Neuzeit.21 Dahinter steckt die kulturgeschichtliche These einer mittelalterlichen Renaissance im Frankreich des 13. Jahrhunderts, die Pater in seinen Renaissance-Studien vorgestellt hat: „This outbreak of the human spirit may be traced far into the middle age itself“ (Pater 1910a: xii).22 Zugleich illus­triert die Denys-Legende eine Perspektive auf kulturhistorische Entwicklungsprozesse, die den Einfluss Hegels erkennen lässt, den Pater im deutschen Original gelesen hat: „[Hegel’s] frequent imagery of rebirth embodies his conviction that to apprehend the process of development we must think in contradictions – of a refutation that affirms what it refutes and a negation that conserves what it annuls. For Pater this mode of thought provided an ‚instrument of criticism‘ and a ‚point of view‘“ (Shuter 1971: 412). Schließlich mag man in den angeführten Beispielen des dionysischen Erbes die hoffnungsvolle Überzeugung des Autors erkennen, „that nothing which has ever interested living men and women can wholly lose its vitality“ (Pater 1910a: 49). Denys verkörpert an diesem Punkt der Erzählung dann auch nicht mehr den antiken Gott Dionysos und damit eine fremd gewordene kulturelle Ordnung, sondern wird zum Symbol künstlerischer Inspiration, wie Gerald Cornelius Monsman bemerkt hat: „in the third [year], he is no longer merely Dionysus, but a symbol of the rebirth of higher culture – renaissance“ (Monsman 1977: 112). Mit dem Ende der Antike mag der Mythos seine religiöse Bedeutung eingebüßt haben –

21 Eine interessante Beschreibung der hier umrissenen literarisch-kulturhistoriographischen Strategie bietet Maurizio Ascari: „Reversing the premises of fifteenth-century allegories, which interpreted antiquity as the anticipation of the Christian message, Pater traces a pagan history of the Christian world.“ (Ascari 1999: 104) 22 Spuren dieser frühen Renaissance hat Pater u. a. in der spätgotischen Architektur ausgemacht (vgl. Pater 1910a: 2) – ein Befund, der sich mit der Darstellung der Kathedrale von Auxerre in „Denys l’Auxerrois“ in Verbindung bringen lässt.

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doch so wie in Paters Fiktion die Reinkarnation des antiken Gottes im Kloster Asyl findet, so findet der antike Mythos Asyl in der Kunst und im Kunsthandwerk eines späteren Zeitalters.

4.2.4 „Denys l’Auxerrois“: Literarische Mythosrezeption als kulturgeschichtliches Gedankenexperiment II Wer Paters Erzählung gerecht werden möchte, sollte diese nun allerdings nicht auf die Legende vom antiken Gott im mittelalterlichen Exil reduzieren, sondern auch auf einen Aspekt eingehen, der bei den bisherigen Ausführungen – aus Gründen der Anschaulichkeit – ausgeblendet wurde: die bemerkenswerte Form der Erzählung bzw. der erzählerischen Vermittlung. Die Geschichte des Denys wird von einem Reisenden erzählt, der im 19. Jahrhundert Auxerre besucht (also ein Zeitgenosse des Autors ist), dort auf Spuren einer vergessenen Legende stößt und diese schließlich aus verschiedenen Bruchstücken rekonstruiert. Die hier in einem Satz zusammengefasste (Selbst-)Einführung des Erzählers beansprucht fast ein Drittel des gesamten Textes und dürfte schon aufgrund ihres Umfangs nachdrücklich die Haltung des Leser gegenüber der Denys-Legende prägen. Doch welche konkrete Funktion erfüllt diese Rahmenerzählung? Es ist nicht abwegig, wenn man die Rahmenerzählung als Schutzmechanismus betrachtet. Denn der Autor distanziert sich mit ihr von den stellenweise befremdlichen Inhalten und Implikationen der Denys-Legende. Diese Vermutung würde sich mit dem Eindruck Wolfgang Isers decken: „Pater scheint sich […] durch die Erzählgebärde von der Darstellung bisweilen zu distanzieren.“ (Iser 1960:  213)23 Da in der Legende Verstöße gegen die Moral und die guten Sitten ebenso geschildert werden wie exzessive Grausamkeit, ist eine Distanzierung durchaus nachvollziehbar. Zumal das dionysische Intermezzo im mittelalterlichen Auxerre den Geist der Revolte atmet, dem man gerade im viktorianischen England (auch in Erinnerung an die Exzesse der französischen Revolution) mehr als reserviert gegenübersteht: „At the height of his popularity this latter day incarnation of Dionysus personifies the spirit of revolt, not to say revolution; in decline, he occasions the release of suppressed violence.“ (Sarbu 2002: 66) Da die kollektive und potentiell umstürzlerische Gewalttätigkeit, die in „Denys l’Auxerrois“ beschrieben wird, laut Pater zum Dionysos-Mythos dazugehört, wäre 23 Weiter heißt es bei Iser: „Damit ist die Beziehung des Autors zu seiner Erzählung aufgedeckt. Er besitzt nicht mehr das kindhafte vorbewußte Erleben und muß deshalb durch die Verschachtelung des Erzählvorgangs auf die Legende hinführen, deren wunderbare Absonderlichkeit eine ungewöhnliche Haltung des Menschen verlangt, wenn sie von Bedeutung sein soll.“ (Iser 1960: 213)



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die Distanzierung des Autors von der Denys-Legende zumindest teilweise auch ein Distanzierung vom Mythos, insofern dieser Zeugnis nicht nur des Fremden, sondern auch des moralisch und politisch Befremdlichen ist. Neben (oder anstelle) dieser defensiven Funktion kann man der Rahm­en­ erzählung aber auch eine wesentliche inhaltliche Funktion zuerkennen, denn sie reflektiert Paters kulturgeschichtlichen Ansatz und hebt die historiographische Dimension der Dionysos- Legende hervor.24 Es wurde bereits ausführlich dargelegt, dass Pater die Antike und das Mittelalter (auch) mit einem ethnologisierenden Blick betrachtet, der die spezifische Eigenständigkeit der Epochen hervortreten lässt und deren Fremdartigkeit nicht ausblendet. In „Denys l’Auxerrois“ findet dieser Blick, der kulturelle Differenzen und historische Distanzen registriert, seinen angemessenen Ausdruck in einer erzählerischen Vermittlung, die eine Distanz zum Erzählten wahrt. Denn das antike oder das mittelalterliche Erbe ernst zu nehmen, heißt – wenn man Pater folgt – eben auch, sich einer entsprechenden historisch-kulturellen Alterität bewusst zu sein. Weiterhin dokumentiert die Rahmenerzählung in „Denys l’Auxerrois“ den Perspektivismus der Paterschen Kulturgeschichtsschreibung: „This sort of perspectivism concentrates on the present moment not as the ideal ‚now,‘ but as the end point of a long history, the retrospective position from which the past may be totalized, its continuity may be constructed, and its differences may be gathered up into an identity.“ (Williams 1989: 284)25 Ganz in diesem Sinne wird in Paters Fiktion die versteckte Kontinuität (oder Synthese) zwischen antiker und mittelalterlicher Kultur erst in der Retrospektive des Erzählers, also mit zeitlichem und kulturellem Abstand sichtbar.26 Schließlich erfüllt die Rahmenerzählung in „Denys l’Auxerrois“ aber noch eine viel gewichtigere Funktion, indem sie den Bogen aus einer fernen und fremd anmutenden Vergangenheit in die eigene Gegenwart schlägt und so die kulturgeschichtliche Versuchsanordnung komplettiert. Denn mit der ausführlichen Rahmenerzählung wird – neben der Antike und dem Mittelalter – auch Paters eigene Gegenwart (vereinfachend: die Neuzeit, insbesondere in ihrer historistischen 24 Gero von Wilpert bringt diese Funktion von Rahmenerzählungen in seinem Sachwörterbuch der Literatur wie folgt auf den Punkt: „Der Wechsel zwischen Gegenwart der Rahmenhandlung und Vergangenheit der Binnenerzählung erhöht die Distanz zum Stoff und schafft die Atmosphäre des Historischen“ (Wilpert 2001: 659). 25 Carolyn Williams betont neben dem historischen Interesse Paters auch dessen Interesse an den Herausforderungen der Historiographie: „In all of his works, Pater attempts to represent historical objects and developments while simultaneously reflecting on the principles and difficulties of historical representation.“ (Williams 1989: 48) 26 Diese Art des Perspektivismus (nicht zu verwechseln mit Beliebigkeit) prägt nicht nur Paters kulturgeschichtlichen, sondern auch seinen ästhetischen Standpunkt: vgl. Rippl 2011: 334.

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und ästhetizistischen ‚Ausprägung‘ im 19. Jahrhundert) zum Gegenstand der ­kulturgeschichtlichen Exploration. Wenn Pater mit dem Gott-im-Exil-Thema das Verhältnis von Antike und Mittelalter bestimmen kann, so gibt ihm die Rahmenerzählung Gelegenheit, das Verhältnis zwischen Antike und Mittelalter auf der einen Seite und der Neuzeit auf der anderen Seite literarisch auszuleuchten. Dabei verpflichtet Pater seine eigene Zeit durch die Rahmenerzählung auf ein zentrales Projekt der Renaissance: „the reconciliation of the religion of antiquity with the religion of Christ“ (Pater 1910a: 33). Die Rekonstruktion der Denys-­Legende durch den Erzähler ist dafür beispielhaft. Zugleich findet in dieser ­Rekonstruktion  (und personifiziert in der Figur des Erzählers) eine ­kulturelle Ordnung ihren Ausdruck, die nicht (mehr) im antiken Mythos oder in der christlichen Religion, sondern in der Kunst und in der Kulturgeschichte ihre Orientierung findet. Pater beschreibt die griechische Mythologie, wie bereits erwähnt wurde, als Netzwerk aus Geschichten und Bildern, das jedes Detail der Lebenswirklichkeit im antiken Griechenland abdeckt und durchwirkt: „the network of story and imagery, which, in a certain age of civilisation, wove itself over every detail of life and thought, over every name in the past, and almost every place in Greece„ (The Myth of Demeter and Persephone 100–101). Und im Dionysos-Mythos erkennt Pater „a complete sacred representation and interpretation of the whole of life“ (A Study of Dionysus 18). Liest man die Rahmenerzählung in „Denys l’Auxer­ rois“ noch einmal vor dem Hintergrund dieser Definitionen, dann ergibt sich fast zwangsläufig das folgende Bild: Für Paters Erzähler erfüllen die Kunst und die Kulturgeschichte genau jene Funktionen, die der Autor dem Mythos bzw. der Mythologie im antiken Griechenland zuschreibt. Diese Analogie kann zugleich als kulturgeschichtliche Hypothese Paters betrachtet werden, da in seiner literarischen Versuchsanordnung der Erzähler nicht nur eine beliebige Figur, sondern auch Repräsentant der Neuzeit bzw. Paters eigener Gegenwart ist. Die umfangreiche Hinführung zur Denys-Legende ist geprägt durch Landschaftsschilderungen, durch Beschreibungen visueller und atmosphärischer Eindrücke sowie durch kunst- und architekturgeschichtliche Reflexionen. Statt sich auf eine nüchterne und realistische Darstellung zu beschränken, vermittelt der Erzähler eine künstlerische und kunstgeschichtliche Sicht der Welt.27 So bescheinigt er der alten Stadt Auxerre eine spezifische Schönheit, die ihn an Arbeiten Turners erinnert: „a beauty cisalpine and northern, yet at the same time quite distinct from the massive German picturesque of Ulm, or Freiburg, or

27 Vgl. in diesem Zusammenhang Gabriele Rippls Aufsatz, in dem Pater als „intermedial and ekphrastic writer and historian of culture“ profiliert wird (Rippl 2011: 335).



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Augsburg, and of which Turner has found the ideal in certain of his studies of the rivers of France, a perfectly happy conjunction of river and town being of the essence of its physiognomy“ (Denys l’Auxerrois 48). Doch es ist mehr künstle­ rische Sensibilität als bloße Kunstbeflissenheit, die der Erzähler in Passagen wie dieser offenbart. Dementsprechend stellt er nicht nur Verbindungen zwischen seinen Eindrücken und konkreten Werken der bildenden Kunst her, sondern entdeckt auch neue Motive: „Here, that rare artist, the susceptible painter of architecture, if he understands the value alike of line and mass of broad masses and of delicate lines, has a ‚subject made to his hand.‘“ (Denys l’Auxerrois 51) Zur künstlerischen Sensibilität gesellt sich in der Figur des Erzählers noch ein ausgeprägtes historisches Bewusstsein. Dementsprechend präsentiert sich ihm die imposante Kathedrale von Troyes als ‚leibhaftige‘ Architekturgeschichte: The cathedral, visible far and wide over the fields seemingly of loose wild-flowers, itself a rich mixture of all the varieties of the Pointed style down to the latest Flamboyant, may be noticed among the greater French churches for breadth of proportions internally, and is famous for its almost unrivalled treasure of stained glass, chiefly of a florid, elaborate, later type, with much highly conscious artistic contrivance in design as well as in colour. (Denys l’Auxerrois 48–49)

Das kunst- und kulturhistorische Bewusstsein des Erzählers erweist sich in Paters kulturhistorischer Versuchsanordnung als Charakteristikum seiner eigenen Epoche und steht im scharfen Kontrast zur Geschichtsvergessenheit im mittelalterlichen Auxerre der Denys-Legende, wo man eine baufällige Brücke aus römischen Zeiten ohne Bedauern abreißt und das kulturelle Erbe der Antike – etwa die bereits erwähnten dionysischen Ursprünge der großen Orgel – nicht zu erkennen oder gar zu würdigen vermag. Dagegen schätzt der Erzähler an der Stadt Auxerre gerade deren historische Vielschichtigkeit: „the French town […] in which the products of successive ages, not without lively touches of the present, are blended together harmoniously“ (Denys l’Auxerrois 48). Schließlich kulminiert das historische Interesse des Erzählers in der Denys-Legende, mit der er nicht nur eine Geschichte, sondern die Vergangenheit neu entdeckt – und damit schließlich auch die eigene Gegenwart in ein neues Licht rückt. Denn das Wirken des antiken Gottes im mittelalterlichen Exil prägt in den Augen des Erzählers nach wie vor die Stadt und ihre Atmosphäre. Die Rahmenerzählung entwirft somit das Bild einer Welt, die von einem Netz aus Bildern und Geschichten überzogen und durchwirkt ist – nur dass es sich nicht mehr um mythologische oder religiöse Bilder und Geschichten handelt. Stattdessen findet der Erzähler in der Kunst und in der Kulturgeschichte die angemessenen Repräsentationen und Interpretationen für seine Erfahrungen und Eindrücke. Oder noch einmal anders formuliert: So wie der antike Grieche

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seine Lebenswelt (vermutlich) im Zeichen des Mythos wahrgenommen und in ihren Erscheinungen das Walten der Götter erkannt hat, so nimmt Paters Erzähler seine Umgebung im Zeichen der Kunst und der Kulturgeschichte wahr und stößt überall auf Kunstwerke sowie auf Zeugnisse der Vergangenheit. In diesem Zusammenhang ist es dann vielleicht auch kein Zufall, dass Paters Erzähler die Denys-Legende nicht einfach vorfindet, sondern sie aus verschiedenen Fragmenten und Hinweisen erst ‚zusammenbasteln‘ muss. Denn damit liefert Pater ein Bild von praktischer Kulturgeschichtsforschung als bricolage – also jener Aktivität, mit der Claude Lévi-Strauss in La pensée sauvage (im frz. Original erstmals 1962 erschienen) das mythische Denken vergleicht (vgl. LéviStrauss 1968: 29–48): Die Eigenart des mythischen Denkens besteht nun aber darin, sich mit Hilfe von Mitteln auszudrücken, deren Zusammensetzung merkwürdig ist und die, obwohl vielumfassend, begrenzt bleiben; dennoch muß es sich ihrer bedienen, an welches Problem es auch immer herangeht, denn es hat nichts anderes zur Hand. Es erscheint somit als eine Art intellektueller Bastelei […]. (Lévi-Strauss 1968: 29)

Die Ausgangslage, die Lévi-Strauss für das mythische Denken wie für die Bastelei konstatiert, ähnelt der Situation, in der sich Paters Erzähler wiederfindet, als er in einem Antiquariat zum ersten Mal auf eine Spur der Denys-Legende stößt: a large and brilliant fragment of stained glass which might have come from the cathedral itself. Of the very finest quality in colour and design, it presented a figure not exactly confo­rm­ able to any recognised ecclesiastical type; and it was clearly part of a series. On my eager inquiry for the remainder, the old man replied that no more of it was known, but added that the priest of a neighbouring village was the possessor of an entire set of tapestries, apparently intended for suspension in church, and designed to portray the whole subject of which the figure in the stained glass was a portion. Next afternoon accordingly I repaired to the priest’s house, in reality a little Gothic building, part perhaps of an ancient manorhouse, close to the village church. […] The courteous owner readily showed me his tapestries, some of which hung on the walls of his parlour and staircase by way of a background for the display of the other curiosities of which he was a collector. Certainly, those tapestries and the stained glass dealt with the same theme. (Denys l’Auxerrois 52–53)

Pater hätte seinen Erzähler offenkundig auch ganz anders auf die Denys-Legende stoßen lassen können – ausformuliert in einem verstaubten Manuskript oder aus dem Munde eines Einheimischen. Doch stattdessen muss sich der Erzähler seinen Reim auf verschiedene odds and ends machen, was laut Lévi-Strauss charakteristisch für die Bastelei wie für das mythische Denken ist: Die Eigenart des mythischen Denkens besteht, wie die der Bastelei auf praktischem Gebiet, darin, strukturierte Gesamtheiten zu erarbeiten, nicht unmittelbar mit Hilfe anderer



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strukturierter Gesamtheiten, sondern durch Verwendung der Überreste von Ereignissen: „odds and ends“, würde das Englische sagen, Abfälle und Bruchstücke, fossile Zeugen der Geschichte eines Individuums oder einer Gesellschaft. (Lévi-Strauss 1968: 35)

Eine durch Neugierde angetriebene und auf Improvisation angewiesene geistige Bastelarbeit (nicht systematische Forschung) ermöglicht es dem Erzähler schließ­ lich, aus den begrenzten Spuren, Hinweisen und Quellen die Denys-­Legende zu rekonstruieren – und Lévi-Strauss’ Überzeugung zu belegen, die Bastelei (bzw. das mythische Denken) könne „glänzende und unvorhergesehene Ergebnisse z­ eitigen“ (Lévi-Strauss 1968: 30): „With this fancy in my mind, by the help of certain notes, which lay in the priest’s curious library, upon the history of the works at the cathedral during the period of its finishing, and in repeated examination of the old tapestried designs, the story shaped itself at last.“ (Denys l’Auxerrois 54) An dieser Stelle bedarf es vielleicht einer Klarstellung: Selbstverständlich geht es hier nicht darum, bei Pater eine Vorwegnahme des Konzepts der bricolage (wie es Lévi-Strauss formuliert hat) zu erkennen. Es geht auch nicht darum, in der Figur des Erzählers eine Illustration mythischen Denkens zu entdecken. Vielmehr gilt es, Paters Fokus zu erkennen. Wenn ausführlich geschildert wird, wie sich der Erzähler die Denys-Legende erst erarbeitet (oder ‚erbastelt‘), dann sollte klar sein, dass Pater in „Denys l’Auxerrois“ die Aufmerksamkeit sowohl auf eine ferne und fremd anmutende Vergangenheit als auch auf die Hinwendung zu dieser Vergangenheit lenkt. (Dem akademischen Lehrer und Essayisten Pater darf man dabei durchaus einen erzieherischen Anspruch unterstellen.) Paters Text bietet aber nicht nur auf inhaltlicher Ebene eine Illustration des Begriffs der bricolage, sondern auch durch seine Form. Pater betrachtet „Denys l’Auxerrois“ als ein imaginäres Porträt und schlägt es damit einer von ihm selbst geschaffenen Gattung zu. Ob es sich dabei wirklich um eine eigenständige Gattung handelt, kann man freilich debattieren: „The ‚imaginary portrait‘ is hardly a genre in itself, it is a mixture of genres.“ (Donoghue 1995: 196) Unstrittig ist aber, dass das Patersche Gattungsexperiment einen hybriden Charakter aufweist und sich in ihm neben verschiedenen Gattungen auch verschiedene Diskurse überschneiden: „the imaginary portrait lies at the intersection of autobiography, biography, the short-story, myth, the history of art, of ideas, of manners, of events“ (Ascari 1999: 98). Interdiskursivität, die man der Literatur im Allgemeinen gern bescheinigt (vgl. Link/Link-Heer 1990), ist in Paters imaginärem Porträt quasi gattungsimmanent. Außerdem finden in ihm verschiedene, scheinbar widersprüchliche künstlerische Impulse ihren Ausdruck, wie Ascari angemerkt hat: „The imaginary portrait is the result of an interaction between the arts: not only writing and painting, but also music […]. In accordance with Pater’s anti-mimetic tendency,

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the imaginary portrait combines two words that seem at first sight discordant.“ (Ascari 1999: 97) Im Rekurs auf Lévi-Strauss und dessen Begriff der bricolage kann man auf jeden Fall festhalten, dass sich der Autor offenbar seine eigene Gattung ‚bastelt‘ bzw. sich ‚mit Hilfe von Mitteln auszudrücken versucht, deren Zusammensetzung auf den ersten Blick merkwürdig ist‘. So findet Pater mit dem imaginären Porträt eine Ausdrucksmöglichkeit, die seinen weitreichenden und vielfältigen Interessen sowie seiner ‚doppelten Natur‘ als Gelehrtenkünstler gerecht wird. In diesem Sinne erschließt sich auch Bucklers Feststellung, Paters imaginäre Porträts seien zugleich „non-fictional fictions and critical non-criticisms“ (Buckler 1986: 39). Wenn auf den vorangehenden Seiten „Denys l’Auxerrois“ als kulturhistorisches Gedankenexperiment im Medium der Fiktion gelesen wurde, dann hängt das nicht zuletzt mit diesem paradox anmutenden Charakter der Gattung zusammen. Und zumindest ein Vorteil, den das imaginäre Porträt seinem zugleich gelehrten und künstlerisch-literarisch veranlagten Autor bietet, ist unschwer zu erkennen: „The major difference between the critical essays and these critical fictions is that in the latter Pater is freed from the necessity of working under the restrictions of the facts of a particular individual’s life and works and known relations to his times.“ (Buckler 1986: 39) Doch neben den ‚praktischen‘ Vorzügen sollte man auf keinen Fall den programmatischen Charakter der Paterschen Gattungsneuschöpfung unterschätzen. (Und von einem programmatischen Charakter darf man schon deshalb ausgehen, weil Pater diese Gattungsbezeichnung als Titels seines 1887 erschienenen Bandes Imaginary Portraits wählt, in dem auch „Denys l’Auxerrois“ aufgenommen ist.) Der programmatische Charakter des imaginären Porträts liegt in der Hybridisierung (oder Synthese) von künstlerischen und historiographischen Ausdrucksformen: „Pater’s interest in artistic hybridation has not only an aesthetic value, but also the status of a historiographic model.“ (Ascari 1999: 109)28 Der hybride Charakter der Gattung reflektiert das starke Moment der Hybridität in jener etwas anderen Kulturgeschichte, die Pater in „Denys l’Auxerrois“ in Szene setzt. 28 Wohl auch vor diesem Hintergrund hat Gabriele Rippl angeregt, Paters Werke als „prime examples of historical transcultural narratives“ zu lesen: „While cultural hybridization is a central feature of today’s version of transculturality, Pater already ascribed this quality to earlier periods, for instance in his discussions of artistic and architectural styles which developed ‚across countries and nations‘.“ (Rippl 2011: 336) In diesem Zusammenhang ist freilich zu berücksichtigen, dass Hybridisierung bei Pater ein kultureller Prozess der longue durée ist. Man ginge daher vermutlich zu weit, würde man Pater zum Kronzeugen hybrider kultureller Identität in einer globalisierten und synchronisierten Welt erklären. Zumal Pater in seinen Werken eher die Vision (oder gar Utopie) eines kulturell und historisch vielschichtigen Abendlandes entwirft, etwa in „Denys l’Auxerrois“, wo es – ganz abendländisch – um die Verschmelzung von heidnischer Antike und christlichem Mittelalter geht.



4.2 Das fremde Erbe der Antike 

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4.2.5 Familiar strangeness: Ein Fazit Sowohl Paters essayistische als auch seine fiktionale Arbeit am Dionysos-­Mythos stehen im Zeichen der mythologischen Alterität. Pater wurde als Repräsentant einer Revision in der Antikenrezeption des 19. Jahrhunderts vorgestellt, die man – bei aller Heterogenität jener Entwicklung – mit dem Etikett the othering of antiquity versehen kann. In den besprochenen Texten beschreibt und deutet Pater den Mythos dementsprechend eindrücklich und in mehrfacher Hinsicht als Zeugnis des Fremden. In seinem Dionysos-Essay hebt Pater nicht (oder zumindest nicht vorrangig) auf die Zeitlosigkeit oder Universalität des Mythos ab, sondern verortet dessen Ursprung in einer konkreten, historisch und zivilisatorisch fernen Lebenswelt und als Ausdruck einer uns heute zumindest teilweise fremd gewordenen Weltsicht. Kurzum: Der Mythos gewinnt in Paters Texten nicht zuletzt als Zeugnis des kulturell Fremden an Profil. Außerdem wird der Mythos in Paters Deutung zum Zeugnis des radikal Fremden, wenn die dunkle, verstörende und makabere Seite des Gottes Dionysos zur Sprache gebracht wird, die nichts mit heiterer Weinseligkeit zu tun hat. (Das Stichwort ‚Menschenopfer‘ mag an dieser Stelle als Erinnerung genügen.) Angesichts dieses Befundes mag der Vorwurf einiger Zeitgenossen an Paters Adresse überraschen, er würde die Antike verklären. So beklagt Andrew Lang in einer Rezension zu Paters Essay-Sammlung Greek Studies, in der auch „A Study of Dionysus“ aufgenommen wurde und die 1895 (also kurz nach dem Tod des Autors) erschien: „We get a prettified picture of Greek faith and custom from Mr Pater.“ (zitiert nach Seiler 1980: 332)29 Und in einer weiteren Rezension werden die Leser ausdrücklich auf andere Autoritäten – den gerade zitierten Andrew Lang sowie James George Frazer – verwiesen, um auch des Barbarischen und ­Primitiven in der antiken Religion gewahr zu werden: The picture presented to us by Mr Pater of the myths of Dionysos and of Demeter is not, in the historical point of view, complete. It has to be supplemented from other methods of study; and especially we must call in Mr Lang and Mr Fraser [sic!] to help us to under­ stand the primitive and barbaric elements that cling to and clog the religious thought of the Greeks. (zitiert nach Seiler 1980: 336–337)30

Man darf diese zeitgenössischen Reaktionen nicht leichtfertig beiseite wischen, nur weil sie – zumindest bei oberflächlicher Betrachtung – der eigenen Lektüre zu widersprechen scheinen. 29 Andrew Langs Rezension erschien ursprünglich an folgendem Ort: Illustrated London News, 9 March 1895, 299. 30 W. M. Ramsays Rezension erschien ursprünglich an folgendem Ort: Bookman, April 1895, viii, 18.

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Nun relativiert sich das Urteil der zitierten Rezensionen vielleicht schon dadurch, dass sie beinahe 20 Jahre nach der Erstveröffentlichung des Dionysos-­ Essays verfasst wurden, was angesichts des lebhaften Mythosdiskurses jener Zeit ein beträchtlicher Abstand ist. Außerdem ist zu bedenken, dass die Einschätzung einer Position im Mythos- oder Antikendiskurs selbstverständlich (und damals wie heute) eine Frage der Perspektive ist. Andrew Lang etwa, der sich selbst mit den primitiven Ursprüngen des Mythos beschäftigt hat und bei Pater eine ‚verschönerte‘ Antike beklagt, räumt in seiner Rezension selbst ein, dass er als ‚Mann vom Fach‘ gewisse Erwartungen und Vorurteile mitbringt: „As to matter, having given a good deal of time on Greek mythology, religion, and early art, I may have become pedantic.“ (zitiert nach Seiler 1980: 332) Dementsprechend erscheint ihm Paters Annäherung an die Antike und an den Mythos nicht konsequent und wissenschaftlich genug. Zum Vergleich – und zur besseren Einordnung – lohnt da der Blick in eine weitere Rezension, die Paters Anliegen anders – nämlich durchaus im Zeichen der Alterität – wahrnimmt: „He presses gently, yet without feebleness or a wandering touch, towards the dark root of the primitive myth, and then he endeavours to follow its development from stem to branch, and from branch to leaf and flower and coiling tendril.“ (zitiert nach Seiler 1980: 325)31 In dieser Einschätzung wird Paters Fokus auf das Fremde und Befremdliche („dark root“, „primitive“) gerade hervorgehoben. Die unterschiedlichen Deutungen und Bewertungen sind freilich nicht ausschließlich auf die Perspektive des jeweiligen Betrachters zurückzuführen, sondern reflektieren letztendlich Paters Strategie der Antiken- und Mythosrezeption, einerseits das Fremdartige und Befremdliche auf der Gegenstandsseite in den Blick zu nehmen, aber andererseits diesem Fremdartigen und Befremdlichen auch eine ästhetische Aktualität und eine kulturhistorische Relevanz nachzuweisen, die bis in die eigene Gegenwart und die eigene Lebenswelt reicht. Anschaulich wird dies in den Beobachtungen Linda Dowlings zu Paters Umgang mit einer archäologischen Quelle in dem bereits zitierten Essay „The Myth of Demeter and Persephone“. So stellt Dowling fest, dass Pater zwar auf die Ausgrabungsdokumentation Charles Newtons zurückgreift, diese aber nicht faktentreu wiedergibt: For example, we cannot detect from Pater’s description of the site […] the uncouth landscape that Newton actually saw and had recorded by R. P. Pullan […], though Pater surely had the elephantine folio with Pullan’s plans and drawings before him as he wrote. Nor does Pater give us any sense of the jumbled and almost disturbingly chaotic abundance of Newton’s find. (Dowling 1988: 223)

31 Diese unsignierte Rezension erschien ursprünglich an folgendem Ort: Saturday Review, 9 ­February 1895, lxxix, 191.



4.2 Das fremde Erbe der Antike 

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Und genauso wie Pater das Bild einer ‚aufgeräumten‘ Ausgrabungsstätte skizziert, blendet er auch einige irritierende Ausgrabungsfunde aus oder versucht die Funde seinem Leser vertraut zu machen: Instead, Pater seeks in “Demeter and Persephone” to cleanse these sepulchral precincts of any horror or corruption, […]. Hence his effort to associate the statues of Demeter with familiar works of modem art […]. Hence, too, his stress on the individual personalities who built and worshipped at Cnidus […]. […] Pater even concocts life stories for some of these vanished people; he translates the scattered dirae, spells inscribed on thin lead scrolls, into tiny histories […]. Even Persephone, the goddess of death herself, is made agreeably familiar, almost human. (Dowling 1988: 229)

Den von Dowling beschriebenen Strategien Paters, seinen Lesern das Fremde nahezubringen (durch den Vergleich mit bekannten Kunstwerken etc.), begegnet man auch in „A Study of Dionysus“. In „Denys l’Auxerrois“ werden diese Strategien sogar in einer Rahmenerzählung gebündelt, die den Weg des Erzählers nachzeichnet und so auch den Leser an die durchaus befremdliche Denys/ Dionysos-Legende heranführt. In diesem Sinne gilt das, was Dowling mit Blick auf die Todesgöttin Persephone feststellt, auch für Paters Dionysos-Darstellung: „Pater thus renders Persephone’s strangeness familiar“ (Dowling 1988: 230). In den Dionysos-Texten bringt Pater seinen Lesern den Mythos aber eben nicht dadurch nahe, dass er dessen Fremdartigkeit und Befremdlichkeit ausblendet oder übergeht, sondern indem er die Fremdartigkeit und Befremdlichkeit zu vermitteln versucht (und sie dabei zwangsläufig auch bis zu einem Grade domestizieren muss). Paters ‚Aneignung‘ archäologischer Funde und altertumswissenschaftlicher Erkenntnisse legitimiert sich schließlich dadurch, dass es dem Gelehrtenkünstler offenkundig nicht um eine möglichst faktentreue und wissenschaftlich distanzierte Dokumentation geht. Vielmehr sind seine Zuwendung zur Antike und seine Mythosrezeption Teil eines ästhetizistischen Projektes. Denn auch und gerade in den Dionysos-Texten Paters kann man die Einübung einer ästhetizistischen Weltsicht erkennen – oder etwas emphatischer gesprochen: den Versuch einer ästhetizistischen Neuverzauberung32 der Welt. (In „Denys l’Auxerrois“ bringt Pater ja recht deutlich zum Ausdruck, dass die heidnische Weltsicht des antiken Mythos ebenso unwiederbringlich seine Verbindlichkeit verloren hat wie das christlich-mittelalterliche Weltbild, und bestätigt damit implizit den Befund einer

32 Das Patersche Verlangen nach einer verzauberten Welt hat offenbar auch T. S. Eliot im Blick, wenn er bei Pater das ‚Heimweh‘ der Moderne diagnostiziert: „Pater represents more positively than Coleridge of whom he wrote the words, ‚that inexhaustible discontent, languor, and homesickness … the chords of which ring all through our modern literature.‘“ (Eliot 1932: 357)

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neuzeitlichen Entzauberung der Welt.) Selbst wenn man den Begriff der Neuverzauberung in diesem Kontext unpassend finden sollte, kann man auf jeden Fall schwerlich leugnen, dass Paters Texte als Modelle für die Kultivierung eines ästhetisierenden Blicks angelegt sind, der in den scheinbar unbedeutendsten Alltagsgegenständen ebenso wie in historischen Bauwerken, Stadtbildern und ganzen Landschaftsräumen ein künstlerisches Moment, ja sogar (im engen wie im weiten Sinne des Wortes) Kunstwerke entdeckt.33 (Man denke an die Landschafts- und Stadtbeschreibungen des Erzählers in „Denys l’Auxerrois“.) Im Fall des Gelehrtenkünstlers Pater kommt zum ästhetisierenden noch ein kulturhistorischer (oder besser ‚kulturhistorisierender‘) Blick hinzu, der die beobachtbaren Dinge und Phänomene kulturhistorisch einzuordnen versucht und sie damit zu Bestandteilen des vielleicht größten Kunstwerkes überhaupt erhebt – der Kulturgeschichte des Menschen (bzw. etwas vorsichtiger formuliert: der abendländischen Kulturgeschichte). Da der ästhetisierende und kulturhistorische Blick nie an den Dingen haften bleibt, sondern diese immer schon in einem weiteren ästhetischen oder historischen Horizont wahrnimmt, sollte man Paters Faszination für die materiellen Dinge nicht als Ausdruck einer materialistischen Weltsicht interpretieren. Denn es ist die metaphysische Qualität des Materiellen, nicht die bloße Materialität, die Pater interessiert.34 Das Interesse, das der Erzähler in „Denys l’Auxerrois“ für die Relikte einer vergangenen Zeit aufbringt, orientiert sich nicht an deren materiellem Wert, sondern an ihrem Zeugnis- und Verweischarakter, durch den sie eine Bedeutung erlangen, die über ihren materiellen Charakter hinausgeht. In seinem Dionysos-Essay hatte Pater von einer mystischen Weltsicht des antiken Menschen gesprochen: „a certain mystical apprehension, now almost departed, of unseen powers beyond the material veil of things“ (A Study of Dionysus 20). Man kann diese Zuschreibung sowohl auf den Erzähler als auch auf den Ästhetizisten Pater (in diesem Fall darf man die Differenz von Autor und Erzähler vernachlässigen) übertragen, wobei man bei ihnen freilich eher von „aesthetic and historical 33 Die Begriffe der Ästhetik und des Ästhetizismus leiten sich bekanntlich vom griechischen aisthesis ab, was soviel wie Wahrnehmung bedeutet. In diesem Sinne richtet sich der Fokus des Ästhetizismus – bei aller Heterogenität jener kulturellen Strömung – nicht zuletzt auf die Kultivierung der sinnlichen und intellektuellen Wahrnehmung. Paters „Conclusion“ zu seinen Renaissance-Studien (Pater 1910a) ist in dieser Hinsicht programmatisch. 34 Vgl. dazu etwa Linda Dowling: „Pater returns to ancient Greece not simply out of a joyous reflex of the disinterested historical imagination, but because he believes that the return to G ­ reece, considered both as an artistic theme and as a concrete archaeological exercise, requires acknowledging the primacy of the material or physical dimension of human life, and this – what I have called ‚the reconciliation with earth‘ – is Pater’s central and lifelong enterprise.“ (Dowling 1988: 210–211)



4.2 Das fremde Erbe der Antike 

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apprehension“ sprechen müsste. Auf jeden Fall kann man dem ästhetisch und kulturgeschichtlich sensibilisierten Blick, den Pater in und mit seinen Texten kultiviert, eine mystische Dimension nicht absprechen. Greifbar wird diese Dimension in den letzten Zeilen von Paters imaginärem Porträt „Denys l’Auxerrois“, in denen sich der Erzähler abschließend einen persönlichen Kommentar gestattet: „To me, Denys seemed to have been a real resident at Auxerre. On days of a certain atmosphere, when the trace of the Middle Age comes out, like old marks in the stones in rainy weather, I seemed actually to have seen the tortured figure there – to have met Denys l’Auxer­ rois in the streets.“ (Denys l’Auxerrois 77) Mit diesen Zeilen treten noch einmal zwei Vektoren in Paters Dionysos-Texten hervor – zum einen das Bemühen um die Schaffung „einer suggestiven intellektuellen Atmosphäre“ und zum anderen der Versuch einer „Sichtbarmachung des Bezuges der Vergangenheit zur Gegenwart“ (Uhlig 1974: 226). Zugleich hat man es hier mit der Vision einer zumindest temporär (neu)verzauberten Welt zu tun, in der mythologische Figuren bzw. der Geist der Vergangenheit für einen Augenblick wieder lebendig erscheinen. In diesem Zusammenhang wird der Mythos gerade als Zeugnis einer fremden Antike und des Befremdlichen in der menschlichen Natur zum Impulsgeber – zum Ausgangs- und Kristallisationspunkt – der ästhetizistischen ‚Neuverzauberung‘ oder zumindest einer ästhetisch und kulturhistorisch intensivierten Wahrnehmung der Welt. Denn einerseits sind die Antike und deren Mythologie in einer grundsätz­ lich humanistisch geprägten Kultur akzeptierte Bezugsgrößen und Maßstab für die eigene kulturelle Ordnung. Andererseits stellt ihre neu entdeckte Fremdartigkeit und Befremdlichkeit eine Herausforderung dar – nicht zuletzt für die Wahrnehmung der eigenen Kultur, ihrer Vorgeschichte und ihrer Traditionsbestände. Und so wie sich dem Erzähler in „Denys l’Auxerrois“ an verregneten Tagen die Vision einer geschundenen Dionysos-Figur offenbart, eröffnen sich auch für die Leser Paters neue Perspektiven: Vielleicht wird man ja beim nächsten Besuch einer gotischen Kathedrale nach Spuren heidnisch-christlicher Synthesen Ausschau halten oder sich beim Klang der Orgel an die dionysischen Wurzeln der Musik erinnern? Hier zeigt sich der intellektuelle Reiz des Fremden, der vom Mythos auszugehen vermag und sich in der Frage konkretisiert, wie man das Gegenwärtige und das Vergangene, das Vertraute und das Irritierende zusammenführen kann. Pater beantwortet diese Frage in seinen Dionysos-Texten (und insbesondere – die Freiheiten der Fiktion nutzend – in „Denys l’Auxerrois“) mit einer assoziativen, zwischen dem Eigenen und dem Fremden vermittelnden Kulturgeschichte. Zugleich beschwören Paters Texte freilich auch den sinnlich-atmosphärischen Reiz des Fremden, der vom Mythos ausgeht. Die Schlussworte des Erzählers in

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„Denys l’Auxerrois“ skizzieren immerhin die ausgesprochen befremdliche Vision eines Geschundenen („the tortured figure“). Aber das Befremden des Erzählers ist offenkundig ein wohliges Befremden, ein Befremden also, das man genießen kann. (Paters Dionysos-Texte scheinen in dieser Hinsicht den Gemeinplatz zu bestätigen, dass der Ästhetizismus eine besondere Affinität zum Ungehörigen, Devianten und Hässlichen pflegt.) In jedem Fall bleibt – zumindest mit Blick auf Pater – festzuhalten: Wer den Mythos als Zeugnis des Fremden und Befremdlichen betrachtet, muss zu ihm nicht zwangsläufig auf Distanz gehen, sondern kann den Mythos auch und gerade als fremdes Erbe neu für sich reklamieren.

4.3 Orientalische Abgründe und die Fremdherrschaft des Begehrens: Mythologische Alterität in Oscar Wildes Salome (1893) 4.3.1 Ein biblischer Mythos? Vorbemerkungen zu Oscar Wildes Tragödie Einige der prominentesten Theorien des Mythos leuchten jene Zonen menschlicher Existenz aus, die für gewöhnlich im Dunkeln liegen. Man denke an die psychologischen Mythosdeutungen Sigmund Freuds und C. G. Jungs, die im Mythos ein Zeugnis des Unbewussten erkennen und irritierende Befunde zur seelischen Disposition des Menschen präsentieren. Für René Girard als Repräsentanten der Myth and Ritual Theory legt der Mythos dagegen Zeugnis für eine inhärente und konstitutive Gewalttätigkeit menschlicher Gesellschaften ab. Und schließlich riskiert Hans Blumenberg mit seiner Theorie des Mythos einen Blick in den anthropologischen Abgrund jenes status naturalis, in dem der Mensch dem Absolutismus der Wirklichkeit ausgesetzt ist. Der Mythos, so könnte man diese – auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen – Theorien auf einen gemeinsamen Nenner bringen, führt uns an die Bruchlinien und Abgründe menschlicher Existenz. Er erweist sich als Zeugnis des radikal Fremden.35 Nun sind gesellschaftliche und menschliche Abgründe auch bevorzugte Themen in der Literatur oder auf der Theaterbühne – und die betreffenden Werke provozieren nicht selten Skandale oder Zensurmaßnahmen. Oscar Wildes Salome: A Tragedy in One Act ist dafür ein exzellentes Beispiel.36 Wildes Einakter 35 Vgl. zu den genannten Theoretikern des Mythos die Ausführungen in Kapitel 3.3 der vorliegenden Studie. 36 Veröffentlicht wurde das Drama, das Wilde in französischer Sprache geschrieben hatte, 1893. Eine englische Übersetzung erschien 1894. Der britischen Zensur geschuldet, konnte das Stück erst 1931 in Großbritannien öffentlich aufgeführt werden. Auf dem europäischen Festland stand



4.3 Orientalische Abgründe und die Fremdherrschaft des Begehrens 

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basiert im Unterschied zu den anderen Texten, die in der vorliegenden Studie besprochen werden, auf einem ‚biblischen Mythos‘, genauer: auf einer kurzen Passage im Neuen Testament, die sich sowohl bei Matthäus (14:1–12) als auch bei Markus (6:14–31) findet. Hier zur Erinnerung die Version aus dem Matthäus-­ Evangelium nach der Übersetzung Martin Luthers: Zu der Zeit kam die Kunde von Jesus vor den Landesfürsten Herodes. Und er sprach zu seinen Leuten: Das ist Johannes der Täufer; er ist von den Toten auferstanden, darum tut er solche Taten. Denn Herodes hatte Johannes ergriffen, gefesselt und in das Gefängnis geworfen wegen der Herodias, der Frau seines Bruders Philippus. Denn Johannes hatte zu ihm gesagt: Es ist nicht recht, daß du sie hast. Und er hätte ihn gern getötet, fürchtete sich aber vor dem Volk; denn sie hielten ihn für einen Propheten. Als aber Herodes seinen Geburtstag beging, da tanzte die Tochter der Herodias vor ihnen. Das gefiel dem Herodes gut. Darum versprach er ihr mit einem Eid, er wolle ihr geben, was sie fordern würde. Und wie sie zuvor von ihrer Mutter angestiftet war, sprach sie: Gib mir hier auf einer Schale das Haupt Johannes des Täufers! Und der König wurde traurig; doch wegen des Eides und derer, die mit ihm zu Tisch saßen, befahl er, es ihr zu geben, und schickte hin und ließ Johannes im Gefängnis enthaupten. Und sein Haupt wurde hereingetragen auf einer Schale und dem Mädchen gegeben; und sie brachte es ihrer Mutter. Da kamen seine Jünger und nahmen seinen Leichnam und begruben ihn; und sie kamen und verkündeten das Jesus. (Matthäus 14:1–12)

Die offenkundigste Abweichung der Wildeschen Tragödie von der neutestamentlichen Vorlage besteht darin, dass die Tochter der Herodias, die im Neuen Testament namenlos bleibt und lediglich den Willen ihrer Mutter exekutiert, zur Titelheldin und zur selbstständigen (wenn auch von einem maßlosen Begehren ‚fremdbestimmten‘) Akteurin avanciert.37 Freilich sollte in diesem Zusammenhang nicht der Eindruck erweckt werden, die betreffenden Passagen aus den Evangelien seien die unmittelbare, maßgebliche oder gar einzige Folie für Wildes Tragödie. Vielmehr reiht sich das Drama in eine ausgesprochen produktive Rezeptionsgeschichte des Salome-Stoffes ein und ragt zugleich aus dieser heraus, wie Sandra Walz in ihrer Studie über Salome in der Literatur und der Kunst des Fin de siècle hervorhebt: Mit Wildes Einakter Salomé entstand schließlich im Jahr 1893 die wohl bekannteste und zumindest in Deutschland einflussreichste Adaption dieses biblischen Mythos, die den Höhepunkt der bisherigen Salomé-Rezeption in Europa markierte, aber auch gleichzeitig eine Überwindung der so genannten ‚Salomanie‘ des Fin de siècle einleitete. Denn alle Autoren, die sich nach Wilde dem Salomé-Motiv literarisch annahmen, mussten sich an

Salome dagegen bereits seit den 1890er Jahren wiederholt auf den Spielplänen. Einen Einblick in die Aufführungsgeschichte gewährt z. B. Kaplan 1998. Als Textgrundlage – im Folgenden zitiert als Salome – dient Wilde 2013. 37 Vgl. zu weiteren Abweichungen z. B. bezüglich der Figur des Herodes: Donohue 1998: 125.

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dieser Vorlage messen. Die Möglichkeiten des Stoffs schienen mit der exzessiven Zusammenschau und Intensivierung sämtlicher Motivelemente durch Wilde an die Grenzen geraten zu sein. (Walz 2008: 396)

Im Folgenden wird auf eine stoffgeschichtliche Betrachtung allerdings ebenso verzichtet wie auf eine literatur- oder theatergeschichtliche Einordnung.38 Vielmehr soll Wildes Tragödie in einer auf den Dramentext konzentrierten Lektüre als ein Beispiel literarisch-dramatischer Mythosrezeption im Zeichen der mythologischen Alterität beleuchtet werden. Doch inwiefern ist es überhaupt legitim oder sinnvoll, die auf das Neue Testament zurückgehende Geschichte der Salome als Mythos zu betrachten? Wenn man den Mythosbegriff – einer Empfehlung des Literaturwissenschaft­ lers Peter Tepe folgend – für dessen ‚traditionelle‘ Bedeutungen reservieren möchte (vgl. Tepe 2001: 71), qualifiziert sich die Geschichte der Salome schwerlich als Mythos, da es sich bei ihr nicht um eine „Erzählung von Göttern, Heroen und anderen Gestalten und Geschehnissen aus vorgeschichtlicher Zeit“ handelt (Tepe 2001: 16). Freilich könnte man diesem Einwand mit einem Verweis auf die theologische Autorität Rudolf Bultmanns begegnen, der das Weltbild des Neuen Testaments als mythisch bezeichnet hat (vgl. Bultmann 1941: 12).39 Da das SalomeNarrativ auf eine Episode im Neuen Testament zurückgeht, so eine denkbare Schlussfolgerung, dürfe man es dann auch guten Gewissens als Mythos betrachten. Unabhängig von solchen Argumentationsketten kann man sich allerdings auch schlicht und ergreifend darauf stützen, dass die Geschichte der Salome seit geraumer Zeit als Mythos bezeichnet und rezipiert wird: Während Sandra Walz ganz explizit vom „biblischen Mythos“ Salome spricht (Walz 2008: 378), identifiziert Katharine Worth eine dionysische Vision in Wildes Drama (vgl. Worth 1983: 69), das Richard Ellmann wiederum an Aischylos (vgl. Ellmann 1987: 326) und damit an die griechische Tragödie erinnert, also an jene historische Gattung, die dem Mythos nachhaltig eine literarisch-dramatische Gestalt gegeben hat. Im Hinblick auf Wildes Salome wird demnach entweder ganz explizit vom Mythos gesprochen oder man bescheinigt dem Drama zumindest implizit eine mythische 38 Schon die zeitgenössische Kritik hat sich sogleich um eine entsprechende Einordnung bemüht. Ein Rezensent beklagt dann auch in der Pall Mall Gazette vom 27. Februar 1893: „She [Wilde’s Salome, d. Verf.] is the daughter of too many fathers. […] There is no freshness in Mr. Wilde’s ideas; there is no freshness in his method of presenting those ideas.“ (zitiert nach: Beckson 1970: 136) Ein naheliegender Ansatzpunkt für eine literatur- und theatergeschichtliche Einordnung wäre z. B. der symbolistische Charakter des Dramas: „Salomé, which owes a great deal to Maeterlinck’s first play, La Princess Maleine, is the only completely successful symbolist drama to come out of the English theatre“ (Worth 1983: 7). 39 Vgl. auch die Ausführungen zu Bultmann in Kapitel 3.2.3 der vorliegenden Studie.



4.3 Orientalische Abgründe und die Fremdherrschaft des Begehrens 

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Aura oder Qualität – und rückt es somit in jedem Fall in den Gegenstandsbereich der Denkgewohnheit ‚Mythos‘ bzw. eines literarischen (und literaturwissenschaftlichen) Mythosdiskurses.40 Dies sollte Grund genug sein, die biblische Tragödie (auch) als ein Beispiel literarisch-dramatischer Mythosrezeption zu betrachten, zumindest wenn man dem heuristischen Ansatz der vorliegenden Studie folgt, der nicht auf einer rigorosen Mythosdefinition aufbaut. Es soll in der vorliegenden Studie schließlich nicht geklärt werden, ob man etwas als Mythos bezeichnen darf oder nicht, sondern aus welchen Gründen, mit welchem Impetus und mit welchen Implikationen etwas als Mythos bezeichnet wird.41 Die im Folgenden dokumentierte Lektüre des Dramas wird sich in diesem Sinne als äußerst aufschlussreich erweisen. Denn Wilde verortet die biblische Geschichte in einer Welt, die nicht nur exotisch und fremd anmutet, sondern in der Fremdheitserfahrungen und kulturelle Bruchlinien virulent sind. Da in dieser Welt die alten Ordnungen ihre Bindungs- und Orientierungskraft verloren haben, tun sich entlang der Bruchlinien schließlich gesellschaftliche und menschliche Abgründe auf: Das kulturell Fremde bereitet die Bühne für das radikal Fremde. So bietet Wilde mit seiner Tragödie eine Dramatisierung mythologischer Alterität – und zwar im doppelten Sinne als Umsetzung in einem Drama sowie als Zuspitzung. Da mythologische Alterität aber nichts anderes bezeichnet als einen wesentlichen Aspekt des modernen Mythosverständnisses, erschließt sich zumin­ dest in einer Hinsicht, warum man Wildes Salome immer wieder das Etikett des Mythischen angeheftet hat.

4.3.2 Exotisch und prekär: Die Darstellung der biblischen Welt in Salome Mit dem in der vorliegenden Studie geprägten Begriff der mythologischen Alterität soll das Augenmerk unter anderem darauf gelenkt werden, dass der Mythos 40 Die Einordnung der biblischen und neutestamentlichen Geschichte in einen mythologischen Kontext entspricht durchaus dem Geist der Zeit des ausgehenden 19. Jahrhundert, wofür z. B. Max Klingers Gemälde Christus im Olymp (Leipzig, Museum der bildenden Künste) ein Beispiel abgibt. 41 Neben der Frage, ob Wildes Drama als ein Beispiel literarisch-dramatischer Mythosrezeption gelten kann, könnte man auch ketzerisch anzweifeln, dass man es bei Salome mit einem Werk der britischen (oder irischen) Literatur zu tun hat. Schließlich hat Wilde sein Drama in französischer Sprache geschrieben. Katharine Worth hat solchen Zweifeln aber eine deutliche Absage erteilt: „Yet the Frenchness of Salomé is only skin deep. […] The English translation has no less status than the French text: Wilde let Alfred Douglas put his name to it, but the common assumption that he revised the Douglas translation to the point where it became his own is certainly right.“ (Worth 1983: 52)

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meist als Zeugnis des kulturell Fremden wahrgenommen, gedeutet und instrumentalisiert wird. Dies gilt in auffälliger Weise auch für Oscar Wildes Mythosrezeption, obwohl der betreffende mythologische Stoff dem Neuen Testament entstammt und damit gewissermaßen einem ‚Gründungsdokument‘ jener christlichen (oder doch zumindest christlich geprägten) Welt, in der Wilde zu Hause ist. Trotzdem führt Wildes Dramatisierung des neutestamentlichen Stoffes das lesende oder schauende Publikum in eine ferne und fremd anmutende Welt. Dass dies keineswegs eine Selbstverständlichkeit ist, wird dann ersichtlich, wenn man sich andere denkbare Optionen für die Darstellung biblischer Geschichten vor Augen führt. Zum einen könnte man sich leicht eine Neuerzählung oder Dramatisierung vorstellen, bei der das neutestamentliche Geschehen aus seinem geographischen, historischen und zivilisatorischen Kontext ins Universelle und Zeitlose entrückt wird. Zum anderen wäre auch eine Strategie der konsequenten Aneignung denkbar. Anschauliche Beispiele für diese Strategie bieten jene Werke der bildenden Kunst, in denen Figuren aus der Heilsgeschichte im mittelalterlichen oder neuzeitlichen Gewand und in mitteleuropäischer Landschaft auftreten.42 Doch in seinem Drama verzichtet Wilde offenkundig darauf, die Geschichte der Salome zu entkontextualisieren oder zu domestizieren.43 Vielmehr gestaltet der Dramatiker den Schauplatz der Tragödie – „‪‫‫‬A great terrace in the Palace of Herod, set above the banqueting-hall.“ (Salome 707) – als Schaufenster einer exotischen, zugleich faszinierenden und befremdlichen Welt. Denn er versammelt am Hofes des Herodes Figuren, die verschiedene Eth­ nien, Religionen und Kulturen repräsentieren. Joseph Donohue erkennt in dieser ‚Völker­schau‘ – „a microcosm of the known world“ (Donohue 1998: 125) – einen originären Einfall Wildes: „An additional aspect of Wilde’s fresh approach was his making Herod’s court comprehensively representative of the ancient world at the time of Christ.“ (Donohue 1998: 125) Der Exotismus der Szenerie manifestiert sich aber nicht nur im Personal, sondern wird auch in den Dialogen immer wieder evoziert. Wenn Salome – um nur ein Beispiel anzuführen – ihr Begehren für den Propheten in Worte zu fassen 42 Auf die Spitze getrieben wird diese Art der Domestizierung auf einem bemerkenswerten Kirchenfenster im westfälischen Soest, das Jesus und seine Jünger beim Westfälischen Abendmahl mit Schinken und Bier zeigt. Offenkundig sollen Darstellungen wie diese dem lokalen Betrachter die Identifikation mit der biblischen Geschichte erleichtern. 43 Die Adaptionsstrategien der Entkontextualisierung bzw. Universalisierung und der Domestizierung finden selbstverständlich nicht nur beim Umgang mit biblischen Mythen Anwendung. So kann man etwa die Bemühungen eines Gustav Schwabs, die griechische Mythologie (bzw. Homers Epen) zu popularisieren und für jugendliche Leser aufzubereiten, als Domestizierung der homerischen Vorlagen betrachten, die neben den dichterischen auch mythologische Verständnishürden reduziert.



4.3 Orientalische Abgründe und die Fremdherrschaft des Begehrens 

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versucht, spricht sie von „pomegranate flowers that blossom in the gardens of Tyre“, „gilded tigers“, „the vermilion that the Moabites find in the mines of Moab“, „the King of the Persians“ etc. (Salome 714). Damit wird eine dem Leser historisch und räumlich ferne Welt beschworen. Dabei liegen das Attraktive und das Befremdliche, das Anziehende und das Abstoßende dieser exotisch fremden Welt, die sich am Hofe des Herodes wie in einem Brennglas zeigt, eng beieinander. Wo gerade noch von der exquisiten Weinauswahl geschwärmt wird, kommen – durch eine irritierende, wenn auch keineswegs unkonventionelle Assoziation – plötzlich Menschenopfer zur Sprache: SECOND SOLDIER The Tetrarch is very fond of wine. He has wine of three sorts. One which is brought from the Island of Samothrace, and is purple like the cloak of Cæsar. […] SECOND SOLDIER Another that comes from a town called Cyprus, and is as yellow as gold. […] SECOND SOLDIER And the third is a wine of Sicily. That wine is as red as blood. THE NUBIAN The gods of my country are very fond of blood. Twice in the year we sacrifice to them young men and maidens: fifty young men and a hundred maidens. But I am afraid that we never give them quite enough, for they are very harsh to us. (Salome 708)

Das Fremdartige der biblischen Welt beschränkt sich nicht auf ein buntes Figurengewimmel oder exotische Kostümierung, ist also nicht bloß oberflächlichharmloses Dekor. Vielmehr haftet ihm etwas Sinisteres an. Und während der Leser noch angesichts der barbarischen religiösen Praktiken der Nubier erschaudert oder zumindest den Kopf schüttelt, drängt es sich ihm vielleicht plötzlich ins Bewusstsein, dass auch das Christentum auf einer Art Menschenopfer gründet und damit, wenn auch auf sublimierte Weise, an barbarisch anmutende Praktiken eben jener fremden Welt anknüpft. In jedem Fall dürften die meisten Leser die fremde Welt, die Wilde in seinem Drama entwirft, auch als eine befremdliche Welt wahrnehmen. Hinzu kommt in derselben Szene die Andeutung, dass diese exotische Welt auch den Figuren selbst befremdlich erscheint bzw. dass die Figuren von einem Gefühl der Entfremdung beherrscht werden. Es ist eine Welt, in der die alten religiösen Gewissheiten erschüttert sind. Während der Nubier darüber klagt, dass sich die Götter seines Volkes nicht mehr durch die althergebrachten Rituale

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besänftigen lassen, berichtet ein Kappadokier sogar vom Verschwinden der alten Götter seiner Heimat: In my country there are no gods left. The Romans have driven them out. There are some who say that they have hidden themselves in the mountains, but I do not believe it. Three nights I have been on the mountains seeking them everywhere. I did not find them, and at last I called them by their names, and they did not come. I think they are dead. (Salome 708)

Das Bedürfnis, die alten Götter zu erfahren, scheint noch groß – allein, sie zeigen sich nicht mehr und so bleibt ein Gefühl der Verlassenheit zurück. Zum Verlust der angestammten religiösen Ordnung kommt im Falle des Kappadokiers noch das Unverständnis angesichts anderer Vorstellungen des Göttlichen hinzu: FIRST SOLDIER The Jews worship a God that you cannot see. THE CAPPADOCIAN I cannot understand that. (Salome 708)

So wird die Orientierungslosigkeit komplett, und die Aussicht auf neue religiöse Orientierung erscheint grundsätzlich getrübt. Doch es sind nicht nur die Nebenfiguren und Repräsentanten einzelner Völker am Hofe des Herodes, deren angestammte religiöse Identität in Frage ge­ stellt ist. Auch der Herrscher selbst erscheint spirituell verunsichert. Dass er offenkundig nicht in einem gefestigten Glauben ruht, zeigt sich vor allem in seinen abergläubischen Anwandlungen: „Ah! I have slipped! I have slipped in blood! It is an ill omen. It is a very ill omen. Wherefore is there blood here?“ (Salome 716) Auch seine Haltung gegenüber dem Propheten Iokanaan verrät religiöse Unsicherheit. Er hat den Propheten einsperren lassen und fürchtet ihn, wie verschiedene Figuren anmerken: „The Tetrarch will not come to this place. He never comes on the terrace. He is too much afraid of the prophet.“ (Salome 716) Dabei ist die Furcht vor dem Propheten an einen unbestimmten Respekt gebunden, so dass Herodes sich weigert, Iokanaan an die Juden auszuliefern: „Enough on this subject. I have already given you my answer. I will not deliver him into your hands. He is a holy man. He is a man who has seen God.“ (Salome 718) Neben die religiöse Orientierungslosigkeit tritt in der fremdartigen biblischen Welt, die Wilde skizziert, noch eine frappierende Fragilität der politischen Ordnung. Dementsprechend erscheinen nicht nur die religiösen Überzeugungen des Herodes, sondern auch dessen Macht prekär. So stilisiert sich Herodes – als Tetrarch einer von vier Herrschern der Provinz – einerseits als allmächtiger Herrscher, der über Leben und Tod gebietet und als Feldherr bereits Könige



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unterworfen hat: „His father was a king. I drave him from his kingdom. And of his mother, who was a queen, you made a slave, Herodias. So he was here as my guest, as it were, and for that reason I made him my captain.“ (Salome 717) Andererseits ist Herodes aber offenkundig selbst vom Wohlwollen und der Unterstützung des römischen Kaisers abhängig: Wherefore should I not be happy? Cæsar, who is lord of the world, Cæsar, who is lord of all things, loves me well. He has just sent me most precious gifts. Also he has promised me to summon to Rome the King of Cappadocia, who is mine enemy. It may be that at Rome he will crucify him, for he is able to do all things that he has a mind to do. Verily, Cæsar is lord. (Salome 722)

Das Herrschergebahren gegenüber Untergebenen und Unterworfenen wird konterkariert durch die eigene Unterwürfigkeit gegenüber dem Kaiser (genau genommen nicht einmal gegenüber dem Kaiser persönlich, sondern nur gegenüber dessen Gesandten). Die Souveränität des Herrschers Herodes ist offenkundig beschränkt, zumal seine Legitimation fragwürdig erscheint. Herodias verrät nämlich, dass ihr Gatte nicht von königlichem Blute ist: „My daughter and I come of a royal race. As for thee, thy father was a camel driver! He was a thief and a robber to boot!“ (Salome 718) Zudem wird mehrfach angedeutet, dass Herodes ein Usurpator ist, der seinen älteren Bruder um die Herrschaft gebracht und sogar dessen Tod zu verantworten hat: „Oh no! For instance, the Tetrarch’s brother, his elder brother, the first husband of Herodias the Queen, was imprisoned there for twelve years. It did not kill him. At the end of the twelve years he had to be strangled.“ (Salome 709) Dementsprechend muss man nicht nur die Herrschaft des Herodes, sondern auch dessen Ehe mit Herodias als illegitim betrachten. HERODIAS It was thou didst snatch me from his arms. HEROD Of a truth I was stronger than he was. … But let us not talk of that matter. I do not desire to talk of it (Salome 721)

Dass Herodes sowohl ein fragwürdiger Ehemann als auch ein fragwürdiger Herrscher ist, und sich dessen bewusst zu sein scheint, zeigt sich, wenn er auf einen Bericht über die Wiedererweckung eines Toten durch Jesus geradezu panisch reagiert: No matter! But let them find Him, and tell Him, thus saith Herod the King, ‘I will not suffer Thee to raise the dead.’ To change water into wine, to heal the lepers and the blind. … He

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may do these things if He will. I say nothing against these things. In truth I hold it a kindly deed to heal a leper. But no man shall raise the dead. … It would be terrible if the dead came back. (Salome 720)

Offenkundig wird Herodes von Gewissensbissen geplagt oder fürchtet zumindest mögliche Strafen für seine Vergehen. Bei Herodes handelt es sich demnach um eine Figur, in der gesellschaftliche und persönliche Bruchlinien zusammenfallen. Als von religiösen Zweifeln geplagter Herrscher mit zweifelhafter Legitimation, der zudem noch ein zweifelhafter Ehemann ist, stellt er eine gebrochene Figur dar und verkörpert damit zugleich die prekäre Welt, die ihn umgibt. Im Drama selbst wird dieser Zustand auf den Begriff der Sterilität gebracht. Herodes richtet den entsprechenden Vorwurf an seine Frau Herodias, die den Vorwurf freilich zurückgibt: HEROD […] Never has he spoken word against me, this prophet, save that I sinned in taking to wife the wife of my brother. It may be he is right. For, of a truth, you are sterile. HERODIAS I am sterile, I? You say that, you that are ever looking at my daughter, you that would have her dance for your pleasure? You speak as a fool. I have borne a child. You have gotten no child, no, not on one of your slaves. It is you who are sterile, not I. HEROD Peace, woman! I say that you are sterile. You have borne me no child, and the prophet says that our marriage is not a true marriage. He says that it is a marriage of incest, a marriage that will bring evils. … I fear he is right […]. (Salome 722–723)

Angesichts der Zustände am Hofe des Herodes steht der Begriff der Sterilität offenkundig nicht nur für physiologische Unfruchtbarkeit, sondern in einem übertragenen Sinne auch für die Unfruchtbarkeit der alten religiösen Ordnungen und der gesellschaftlichen Verhältnisse. Zugleich wirft der Begriff ein Schlaglicht auf die prekäre Natur der exotischen Vielfalt und der exzessiven, sich besonders in sprachlichen Bildern entfaltenden Sinnlichkeit, die in der Tragödie ostentativ in Szene gesetzt wird. Wildes Adaption des Salome-Stoffes – so kann man an dieser Stelle als Zwischenfazit festhalten – konfrontiert das Publikum mit einer Szenerie der forcierten kulturellen Alterität. Denn er lokalisiert die neutestamentliche Geschichte bzw. den biblischen Mythos in einer exotisch und irritierend fremdartigen Welt. (Dabei ist nicht zu vergessen, dass es sich um jene Welt handelt, von der in den sonntäglichen Predigten die Rede ist und in der sich das für die eigene Erlösung Entscheidende – die Menschwerdung Gottes etc. – abgespielt hat.) Zugleich ist



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diese fremdartige Welt auch eine sich selbst entfremdete, von zahlreichen Bruchlinien durchzogene und dysfunktionale Welt, in der die alten Ordnungen (sei es die Religion oder das Herrschaftssystem) ihre Autorität eingebüßt haben, ohne dass sich neue verbindliche Ordnungen abzeichneten. Die christliche Botschaft bzw. das Wirken Jesu ist am Hofe des Herodes nicht mehr als ein fantastisches Gerücht. Wildes Tragödie entwirft in diesem Sinne das Bild einer Umbruchsituation, „wo Lebensformen aufeinanderprallen oder sich abspalten, ohne daß eine übergreifende Ordnung den Übergang regelt“ (Waldenfels 1999: 37). Dies gilt nicht nur für die Gesellschaft, die sich am Hofe des Herodes versammelt (oder die zerrissene, von Zweifeln geplagte Figur des Herrschers). Gleichfalls betroffen ist die titelgebende Hauptfigur des Dramas, die sich in einer Situation der Unbestimmtheit und Unsicherheit wiederfindet: gewissermaßen in einer biographischen Umbruchsituation – zwischen Mädchen und Frau, Tochter und Lustobjekt, „a young woman, hardly more than a girl, who falls precipitously in love with a man who rigidly spurns her advances“ (Donohue 1998: 120). In dieser Situation werden Salome und die anderen Figuren (und mit ihnen das Publikum) „mit Ereignissen konfrontiert, die nicht nur eine bestimmte Interpretation, sondern die bloße ‚Interpretationsmöglichkeit‘ in Frage stellen“ (Waldenfels 1999: 36–37). Somit erweist sich der Salome-Mythos in Wildes Bearbeitung nicht nur als ein Zeugnis des kulturell Fremden (also einer anderen Kultur), sondern gerät auch zum Zeugnis des radikal Fremden, des Anderen der Kultur bzw. dessen, „was außerhalb jeder Ordnung bleibt“ (Waldenfels 1999: 36).

4.3.3 Fremdherrschaft des Begehrens: Eine Erfahrung radikaler Fremdheit als Thema der Wildeschen Mythosrezeption Wilde entwirft in seinem Drama Salome das Bild einer exotischen und befremdlichen Welt mit einem ungeheuren politischen wie religiösen Konfliktpotential. Und doch geht es ihm nicht primär um die Darstellung gesellschaftlicher Prozesse oder um die Rekonstruktion eines welthistorisch bedeutsamen Moments.44

44 Zweifelsohne, und wie in den vorangehenden Abschnitten dargestellt, hat das Stück eine historiographische Dimension, aber die Geschichte (oder das Aufkommen einer neuen Religion) ist offenkundig nicht das zentrale Thema des Stückes. So bemerkt z. B. Lawrence Danson: „Salomé is, as Wilde conceived it, an archaeologist’s nightmare of historical inaccuracy. […] Salomé is faithful to archaeology’s ideal of unity and harmony, but the historical road to the ideal has been abandoned.“ (Danson 1997: 80) Vgl. dazu auch Helen Grace Zagonas Einschätzung: „Not

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Vielmehr bildet die in Szene gesetzte Umbruch- und Ausnahmesituation, in der die alten Ordnungen versagen und mangels neuer Ordnungen eine generelle Orientierungslosigkeit herrscht, den suggestiven Hintergrund und den geeigneten Nährboden für die Entfaltung des eigentlichen, die Handlung bestimmenden Themas: die Macht des Begehrens, die zugleich die Ohnmacht des Begehrenden ist. Oder in den Worten Donohues: „Desire does indeed lie at the very centre of the play, multivalent, chaotic and ungovernable.“ (Donohue 1998: 131) Dass das Begehren tatsächlich das zentrale Thema des Stückes ist, zeigt sich darin, dass die drei Hauptfiguren Herodes, Salome und Iokanaan in ihren Äußerungen und Handlungen jeweils von einem starken Begehren angetrieben werden und sich die Handlung des Stückes aus den resultierenden Konfrontationen – quasi einem clash of desires – entwickelt. Am Anfang steht das Begehren des Herodes für Salome, die vor den lüsternen Blicken ihres Stiefvaters aus dem Festsaal auf die Terrasse des Palastes flieht (und somit bei einer Aufführung des Stückes die Bühne betritt): „I will not stay. I cannot stay. Why does the Tetrarch look at me all the while with his mole’s eyes under his shaking eyelids? It is strange that the husband of my mother looks at me like that.“ (Salome 709–710) Auf der Terrasse vernimmt Salome dann die Stimme des eingekerkerten Propheten Iokanaan und lässt sich diesen vom jungen Syrer Narraboth – der damit gegen einen Befehl des Herodes handelt, aber Salome verfallen ist – vorführen. Obwohl die junge Prinzessin von der Gestalt des Propheten irritiert ist, fühlt sie sich zugleich von diesem angezogen: „How wasted he is! He is like a thin ivory statue. He is like an image of silver. I am sure he is chaste, as the moon is. He is like a moonbeam, like a shaft of silver. His flesh must be very cold, cold as ivory. … I would look closer at him.„ (Salome 713) Doch das Begehren Salomes stößt auf die schroffe Zurückweisung des Propheten. Schließlich folgt Herodes seiner Stieftochter auf die Terrasse und fleht sie an, für ihn zu tanzen. Für einen Tanz, so verspricht er der sich zunächst widersetzenden Salome, würde er ihr jeden Wunsch erfüllen. Die so Begehrte geht schlussendlich auf diesen Handel ein und fordert nach ihrem Tanz den Kopf des Propheten. In der hier knapp umrissenen Konstellation werden wohlgemerkt nicht nur Herodes und Salome (bzw. die Nebenfigur des jungen Syrers) von einem starken Begehren getrieben, sondern auch der Prophet Iokanaan, wie sich gerade in seiner schroffen Zurückweisung Salomes zeigt:

concerned (as Flaubert was) with building up a contrast between the Roman and Judean cul­ tures, the Irish dramatist focuses attention as soon as possible on the character and destiny of the enigmatic heroine.“ (Zagona 1960: 124)



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Who is this woman who is looking at me? I will not have her look at me. Wherefore doth she look at me, with her golden eyes, under her gilded eyelids? I know not who she is. I do not desire to know who she is. Bid her begone. It is not to her that I would speak. […] Back! daughter of Babylon! Come not near the chosen of the Lord. Thy mother hath filled the earth with the wine of her iniquities, and the cry of her sinning hath come up even to the ears of God. (Salome 713)

Iokanaan tritt in Wildes Tragödie offenkundig nicht als Vorbote einer neuen, auf Liebe und Vergebung basierenden religiösen Ordnung auf. Er präsentiert sich zwar als radikaler Gegenentwurf zur Welt am Hofe des Herodes, bleibt aber gerade dadurch doch Repräsentant jener prekär gewordenen, zum Exzess neigenden Welt. Getrieben wird er dabei von einem religiösen Begehren, das zwar dem (erotischen) Begehren eines Herodes oder einer Salome diametral gegenüb­er­ steht, aber doch in gleichem Maße ein Begehren ist. Mittels Askese und Weltabwendung strebt Iokanaan, der sich als Ausgewählter Gottes wähnt, nach gottgefälliger Reinheit von Körper und Geist: Back! daughter of Babylon! By woman came evil into the world. Speak not to me. I will not listen to thee. I listen but to the voice of the Lord God. […] Back, daughter of Sodom! Touch me not. Profane not the temple of the Lord God. (Salome 714)

In seinen Anwürfen an die Adresse Salomes offenbart sich der Prophet als „religious fanatic“ (Kohl 1989: 183), der sich selbst als unantastbarer Tempel Gottes stilisiert. Das Begehren Salomes kollidiert mit dem Begehren des Propheten, was eine fatale Entwicklung in Gang setzt. Das Begehren, von dem hier die Rede ist und um das Wildes Tragödie kreist, ist – dies sollte bereits klar geworden sein – keine ‚normale‘ Leidenschaft, Neigung, Emotion oder Erfahrung. Es übersteigt in seiner Intensität die bloße Zuneigung (etwa Salomes ‚Zuneigung‘ zu Iokanaan), den begründeten Wunsch (den ‚Wunsch‘ des Herodes, Salome tanzen zu sehen) oder das nachvollziehbare Streben eines Menschen (z. B. das religiöse ‚Streben‘ des Iokanaan). Zudem ist es verbunden mit einer eklatanten Rücksichtslosigkeit: im Falle des Propheten gegenüber den Gefühlen Salomes, im Falle Salomes gegenüber dem erklärten Willen des Propheten und im Falle des Herodes gegenüber den sittlichen Geboten (und den Gefühlen der Herodias). Insgesamt zeichnet sich das Begehren der Figuren vor allem durch seine Maßlosigkeit aus und ist somit ein ‚Produkt‘ jener

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prekären und orientierungslosen Welt, in der es durch keine religiöse, politische oder moralische Ordnung eingehegt oder kanalisiert wird. Nichts und niemand stoppt das Begehren des Herodes für seine Stieftochter (weder entsprechende Gesetze noch das eigene Gewissen), nichts und niemand (und mit Sicherheit nicht der moralisch kompromittierte Herodes als Vertreter der politischen [Un-] Ordnung) gebietet dem letztendlich mörderischen Begehren Salomes Einhalt. Außer­ dem bleibt das Begehren in jedem Fall unerwidert oder wird sogar zurück­ gewiesen, was die Entfremdung, die am Hofe des Herodes herrscht, unterstreicht. Als „illicit but overwhelming“ (Donohue 1998: 121) sowie als „multivalent, chaotic and ungovernable“ (Donohue 1998: 131) charakterisiert Donohue dann auch treffend das Begehren der Figuren, das zum Motor der Handlung wird. Wenn einem freilich, wie den Figuren im Drama, etwas ‚widerfährt‘, das überwältigend, mehrdeutig, chaotisch und nicht steuerbar ist, dann handelt es sich dabei um eine Erfahrung radikaler Fremdheit. In diesem Sinne macht Wilde mit dem maßlosen Begehren seiner Figuren das radikal Fremde zum Thema seiner Mythosrezeption. Als Erfahrung radikaler Fremdheit ist das Begehren im Drama nicht nur für das Publikum schwer nachzuvollziehen. Es entzieht sich auch dem Verständnis der Figuren. Es besticht gerade durch seine Irrationalität (es ist – in Donohues Worten – „multivalent“ und „chaotic“). Dementsprechend erscheint dann auch das Denken, Fühlen und Handeln der Figuren, die von ihrem Begehren getrieben sind, irrational.45 So gesteht sich z. B. Herodes einerseits ein, dass es eine Sünde war, die Frau seines Bruder zu ehelichen. Andererseits hindert ihn diese Einsicht aber nicht daran, der Tochter seiner Frau (bzw. seiner Stieftochter) nachzustellen, was er sich selbst – würde der Herrscher rational denken und dementsprechend handeln – eigentlich als nicht weniger sündhaft verbieten müsste. Die Irrationalität des Begehrens zeigt sich also nicht zuletzt darin, dass die Figuren selbst nicht in der Lage sind, ihr Begehren rational zu deuten, geschweige denn es verständlich und überzeugend zu artikulieren.46 Besonders deutlich wird dies bei Salomes missglückendem Versuch, dem Propheten ihre Zuneigung auszudrücken: SALOME I am amorous of thy body, Iokanaan! Thy body is white, like the lilies of a field that the mower hath never mowed. […] 45 Diesen Befund bestätigt auch Walz. Laut ihr sind für Wilde besonders jene Figuren von Interesse, „die scheinbar jenseits aller Rationalität wandeln, insbesondere Hérode, Salome und auch Iokanaan“ (Walz 2008: 409). 46 Am Hofe des Herodes erscheint neben der religiösen und der politischen auch die sprachliche Ordnung prekär. Jürgen Meyer hat in diesem Sinne ein Kommunikationsversagen und damit eine misslingende menschliche Interaktion als Thema der Tragödie ausgemacht (vgl. Meyer 2002).



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IOKANAAN Back! daughter of Babylon! […] SALOME Thy body is hideous. It is like the body of a leper. […] It is of thy hair that I am enamoured, Iokanaan. Thy hair is like clusters of grapes, like the clusters of black grapes that hang from the vine-trees of Edom in the land of the Edomites. […] IOKANAAN Back, daughter of Sodom! […] SALOME Thy hair is horrible. It is covered with mire and dust. It is like a crown of thorns placed on thy head. It is like a knot of serpents coiled round thy neck. I love not thy hair. … It is thy mouth that I desire, Iokanaan. Thy mouth is like a band of scarlet on a tower of ivory. It is like a pomegranate cut in twain with a knife of ivory. […] (Salome 713–714)

Salomes ‚Liebeserklärung‘ ist offenkundig an die jahrhundertealte petrarkistische Tradition der lyrischen Anrede angelehnt. Der Angebetete (bzw. dessen Körper) wird sprachlich durch den Vergleich mit schönen Dingen oder kostbaren Gegenständen verklärt und das eigene Werben um den Angebeteten auf diese Weise begründet. Doch im Falle Salomes versagt eine entsprechende Begründung (und damit die petrarkistische Logik). Und so verfällt Salome, auch provoziert durch die Repliken des Propheten, von der petrarkistischen in eine anti-­petrarkistische Rhetorik und wählt ‚unvorteilhafte‘ Vergleiche. Bei diesen handelt es sich allerdings nicht – wie im Fall des berühmten 130. Sonetts von Shakespeare47 – um eine ironische, bewusst mit den Konventionen brechende Liebes­ erklärung, sondern tatsächlich um den Ausdruck einer tiefempfundenen Abneigung. Dadurch gerät die ursprüngliche Liebeserklärung zu einer inkohärenten und widerspruchsvollen Wort- und Bildkaskade, die jede Logik (petrarkistisch oder anti-petrarkistisch, Liebeserklärung oder Hassbotschaft) sprengt. Salome – so muss man schlussfolgern – begreift offenkundig selbst nicht, warum sie sich von dem Propheten angezogen fühlt. In der widersprüchlichen Anrede an den Propheten kommt zudem ein weiterer Aspekt des Begehrens zum Tragen, der dieses als Erfahrung radikaler Fremdheit ausweist. Denn Salome hat offenkundig ihre Selbst-Beherrschung verloren bzw. wird nur noch von ihrem Begehren beherrscht, das wie eine fremde Gewalt ihr Denken, Fühlen und Sprechen okkupiert. Diese Deutung deckt sich mit der Einschätzung Donohues, der das Begehren nicht nur als vieldeutig und 47 „My mistress’ eyes are nothing like the sun,/ Coral is far more red than her lips’ red; […] And yet, by heaven, I think my love as rare/ As any she belied with false compare.“ (Shakespeare 2002: 641)

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chaotisch, sondern auch als „overwhelming“ (Donohue 1998: 121) und „ungovernable“ (Donohue 1998: 131) charakterisiert. In diesem Sinne ist es nicht Salome, die Gefühle für den Propheten entwickelt, sondern es sind gewaltige Gefühle, die sich ihrer bemächtigen. Und wie Salome sind auch andere Figuren des Stückes Getriebene, die von ihrem Begehren fremdgesteuert werden. Oder in den Worten Norbert Kohls: „puppet-like characters each with their one fixation – whether sexual or religious –“ (Kohl 1989: 193). Diese Erfahrung des radikal Fremden, die einer seelischen Fremdherrschaft gleich kommt, tritt dann besonders deutlich zutage, wenn sich die Figuren gezwungen sehen, gegen ihre ursprünglichen Überzeugungen zu handeln: Da ist der junge Syrier, der Salome – trotz seiner Bedenken und gegen den Befehl des Herodes – den Propheten vorführt. Da ist Herodes, der seiner Stieftochter den Kopf des Täufers ‚schenken‘ muss.48 Dass die Figuren des Stückes nicht rational und selbstbestimmt handeln, sondern Getriebene und Beherrschte sind, resultiert dann auch in einer spezifischen Atmosphäre, die das Stück prägt: „an atmosphere of fatality, […] an aura of inevitability“ (Kohl 1989: 186). Kohl macht für diese Atmosphäre nicht zuletzt die zahlreichen und auch in den bereits zitierten Passagen anzutreffenden Wiederholungen verantwortlich. Außerdem spielt in diesem Zusammenhang die Makrostruktur des Dramas eine gewichtige Rolle. Denn die Verdichtung des dramatischen Geschehens in einem Akt und unter Wahrung der Einheit von Zeit, Ort und Handlung ist in diesem Fall kein Ordnungsprinzip, das für strukturelle Klarheit sorgt. Vielmehr handelt es sich um eine Beschränkung, die Spannung erzeugt und eine reflektierende Distanzierung vom Geschehen (z. B. während einer ‚Pause‘ beim Wechsel zwischen verschiedenen Schauplätzen) unterbindet. Die Form des Dramas wirkt also gewissermaßen wie ein Druckkessel: „The unity of time, place and action effects an impression of compression and intensity“ (Kohl 1989: 181). Ein naheliegender Einwand wäre an dieser Stelle der Hinweis, dass Salome im Verlauf des Stückes durchaus die Kontrolle über das Geschehen zu übernehmen scheint. Immerhin tanzt sie – entgegen ihres ursprünglichen Vorsatzes und doch wohl aus kaltblütiger Berechnung – nur für Herodes, um sich von ihm im Anschluss den Kopf des Propheten präsentieren zu lassen. Manche Interpreten haben in Salomes Kalkül dann auch einen Akt weiblicher Emanzipation oder einen Durchbruch zur Selbstbestimmung dieser anfangs noch kindlich 48 „Was wissen wir denn, was in unseren Seelen ist. Etwas Fremdes kommt, herrscht.“ (Keyserling 1999: 58) Zu dieser Einschätzung kommt ausgerechnet ein Pastor, der doch eigentlich für das Seelenheil seiner Gemeinde verantwortlich ist, in Eduard Graf von Keyserlings Roman Dumala aus dem Jahr 1908. Die ‚innere Fremdherrschaft‘ scheint um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein populärer Topos zu sein, zumal dieser zu jener Zeit in der Arbeit Sigmund Freuds eine theoretische Begründung erfährt.



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wirkenden Figur erkannt. So wertet z. B. Matthew Lewsadder Salomes Verhalten als Ausdruck einer neugewonnenen „female sexual agency“ (Lewsadder 2002: 537). Doch muss man wohl selbst bei solch einer Lesart einräumen, dass Salome sich hier höchstens zu einer pervertierten und letztendlich (selbst-)destruktiven Form der Selbstbestimmung aufschwingt. Dass in der prekären Welt am Hofe des Herodes kaum mehr möglich oder erwartbar ist, kann man dabei durchaus zugestehen. Schließlich muss man aber Salomes Berechnung vielleicht auch ganz anders betrachten, nämlich als ultimativen Triumph der Fremdbestimmung. Denn reduziert Salome sich selbst bzw. ihren Körper, indem sie für Herodes tanzt, nicht auf das bloße Instrument ihres Begehrens? Da die Figuren in Wildes Tragödie – in ihrem Denken, Fühlen und Handeln – offenkundig nicht Herren ihrer selbst sind, überrascht es nicht, dass man die Figurencharakterisierung mit psychiatrischen Diskursen des 19. Jahrhunderts in Verbindung gebracht hat. Jürgen Meyer geht z. B. in seiner Lektüre der These nach, dass „die Figuren des Stücks in einer Weise reden, die typische Charakteristika und Symptome der Schizophrenie aufweist“ (Meyer 2002: 289). Unabhängig davon, wie belastbar solche Bezüge im Detail sind, sprechen sie für eine Fremdbestimmtheit, zumal die Figurencharakterisierung in einen noch einschlägigeren Kontext eingeordnet werden kann. Denn die pathologisch anmutenden Gemütsund Seelenzustände der Figuren stehen in einer mythologischen Tradition: Der Zorn des Achill oder die Rachsucht Medeas sind nur zwei prominente Beispiele für jene seelischen Zustände, die in mythologischen Narrativen zum Handlungstreiber werden und die sich dahingehend ähneln, dass jeweils das radikal Fremde die Oberhand gewinnt und der Mensch (bzw. die jeweilige mythologische Figur) in seinen Emotionen wie auch in seinem Verhalten die Grenzen jeder rationalen und sittlichen Ordnung verletzt. Auch in Wildes Tragödie hat das radikal Fremde – in Form eines übermächtigen Begehrens – die Oberhand über die verschiedenen Figuren, ihr Handeln, ihre Sprache und ihre Wünsche gewonnen. Dieser Zusammenhang mag erklären, warum man Wildes Salome – wie eingangs erwähnt – verschiedentlich in die Nähe griechischer Tragödien gerückt hat. Die Fremdherrschaft des Begehrens kulminiert bei Wilde schließlich, wie im Falle des Achill oder der Medea, in Akten der Zerstörung bzw. der Selbstzerstörung. Darin zeigt sich noch einmal, dass man es nicht bloß mit Bedürfnissen und Wünschen zu tun hat, deren Befriedigung nachvollziehbar ist, sondern mit einer Macht, die den Selbsterhaltungstrieb der Figuren untergräbt. Allesamt werden sie schlussendlich zu Opfern eines (selbst-)destruktiven Begehrens. Das erste Opfer ist der junger Syrer, der Selbstmord begeht, weil seine Liebe zu Salome unerwidert bleibt und zudem noch ausgenutzt wird. Auch Herodes wird zum Opfer seines Begehrens, indem er gegen seinen ausgesprochenen Willen dazu gezwungen ist, Salomes Wunsch zu erfüllen. Damit ruiniert er – so könnte man seinen

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Abgang von der Bühne am Ende des Stückes deuten – endgültig seine Reputation und Souveränität als Herrscher (vgl. Donohue 1998: 134). Der Prophet bezahlt seine barsche Zurückweisung der Salome – in der sich ein maßloses religiöses Begehren ausdrückt – mit dem Leben, wobei ihm die begehrte Reinheit verwehrt bleibt und sein toter Körper von Salome ‚entehrt‘ wird. Und auch Salome findet am Ende des Stückes den Tod, als sie im Moment ihres vermeintlichen Triumphs das ­abgeschlagene Haupt des Täufers küsst und daraufhin auf Geheiß des so verstörten wie empörten Herodes von den Wachen ‚hingerichtet‘ wird. „Die gesamte Architektonik des Stücks ist auf das unabwendbare Ende hin ausgelegt.“ (Walz 2008: 422) Dies ist insofern signifikant, da Wilde dadurch (im Unterschied z. B. zur neutestamentlichen Vorlage) „nicht Iokanaans Tod zum Fixpunkt des dramatischen Geschehens macht, sondern den Tod der weiblichen Protagonistin als großes Finale inszeniert“ (Walz 2008: 422). Es drängt sich damit nachdrücklich die Frage auf, wie der Tod Salomes bzw. das Ende des Dramas zu deuten ist: (The SLAVES put out the torches. The stars disappear. A great black cloud crosses the moon and conceals it completely. The stage becomes quite dark. The TETRARCH begins to climb the staircase) THE VOICE OF SALOME Ah! I have kissed thy mouth, Iokanaan, I have kissed thy mouth. There was a bitter taste on thy lips. Was it the taste of blood? … Nay; but perchance it was the taste of love. … They say that love hath a bitter taste. … But what matter? what matter? I have kissed thy mouth, Iokanaan, I have kissed they mouth. (A ray of moonlight falls on SALOME and illumines her) HEROD (Turning round and seeing SALOME) Kill that woman! (The SOLDIERS rush forward and crush beneath their shields SALOME, daughter of Herodias, Princess of Judæa) (Salome 730–731)

Nachdem die Bühne zunächst im Dunkel versunken ist, fällt plötzlich das Mondlicht auf Salome, die den abgeschlagenen Kopf des Iokanaan gerade geküsst hat und noch in den Händen hält. Dieses Bild wird für Herodes zur Offenbarung und er reagiert auf diesen Moment der Erkenntnis umgehend mit einem Tötungsbefehl.49

49 Dieser vom Mondlicht ausgeleuchtete Moment der Erkenntnis erinnert an eine andere eindrucksvolle Szene im Werk Wildes: der Moment, in dem das grausig veränderte Bildnis des Dorian Gray enthüllt wird. Salome und Dorian ähneln sich dann auch darin, dass sie beide von verführten Opfern zu Tätern und Verführern geworden sind.



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Aus der Perspektive einer feministisch orientierten Literaturwissenschaft würde man vielleicht schlussfolgern, dass Herodes hier den Triumph einer ungezü­ gelten weiblichen Sexualität – „subversive female sexual desire“ in den Worten Lewsadders (Lewsadder 2002: 538) – mit Gewalt zu unterdrücken und die patriarchalische Ordnung wiederherzustellen versucht. Allerdings kann man diese Szene auch wesentlich allgemeiner deuten. In dem vom Mondlicht hervorgehobenen Tableau findet die fatale Konsequenz eines ungezügelten und die Grenzen der Menschlichkeit sprengenden Begehrens ihren bildlichen Ausdruck. Der Befehl, Salome zu töten, wäre dementsprechend der (zu) späte Versuch, dem Begehren eine Grenze zu setzen. Herodes nimmt also schlussendlich seine Funktion als Herrscher und Garant der gesellschaftlichen Ordnung doch noch war. Freilich muss dem Herodes das Bild Salomes mit dem Kopf des Propheten zugleich als ein fatales Monument des eigenen Begehrens erscheinen und die Erkenntnis in diesem Sinne auch als eine Selbsterkenntnis verstanden werden. Denn erst sein unbändiges und unverantwortliches Begehren hat dieses Finale ermöglicht. Der Tötungsbefehl wäre dementsprechend entweder als ein Versuch zu werten, die Spuren des eigenen ‚Versagens‘ auszulöschen bzw. unter den Schildern der Soldaten verschwinden zu lassen: „The SOLDIERS rush forward and crush beneath their shields SALOME“ (Salome 731).50 Oder er ist – wie es Richard Ellmann in seiner Wilde-Biographie darstellt – Ausdruck einer spirituellen und moralischen Läuterung: „In Salome Wilde allows the tetrarch Herod to pass from sensual delectation as he watches Salome dance the dance of the seven veils, to spiritual revulsion as he watches her kiss the dead lips of Iokanaan, and finally to outraged conscience as he orders the guards to kill her.“ (Ellmann 1987: 95) Zu guter Letzt soll an dieser Stelle noch eine markante Szene des Stückes zur Sprache kommen, die bisher nur beiläufig erwähnt wurde. Erwähnung verdient die betreffende Szene vor allem deshalb, weil sie einerseits ein Gravitationszentrum des Stückes darstellt und andererseits eine Leerstelle bleibt: Die Rede ist vom Tanz der Salome für Herodes. Dieser gibt zumindest dem Leser des Dramas ein Rätsel auf, da die Regieanweisung so knapp wie nüchtern ausfällt (und damit

50 Da Herodes die Hinrichtung Salomes befiehlt, ergibt sich eine interessante Parallele zu Walter Paters Dionysos-Erzählung, die in Kapitel 4.2 besprochen wurde. Denn auch dort steht eine Figur im Mittelpunkt, die vom Angebeteten zum Ausgestoßenen und zum Opfer wird: „slain at last […] by those who had loved him“ (zitiert nach Seiler 1980: 164). So fasst zumindest Oscar Wilde den Paterschen Text in einer Rezension der Imaginary Portraits für die Pall Mall Gazette 1887 zusammen. Wilde hat in seiner Zusammenfassung also nicht die kulturhistorischen Implikationen der Paterschen Dionysos-Legende im Blick, sondern Liebe, die in tödliche Ablehnung umschlägt – und nimmt damit die dionysische Qualität seiner Tragödie vorweg, die Worth bemerkt hat.

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in schroffem Gegensatz zum sonst so elaborierten Stil des Textes steht, der das Schwülstige streift): „SALOME dances the dance of the seven veils.“ (Salome 725) Über die Frage, wie man sich diesen Tanz vorzustellen hat, gehen die Meinungen doch erheblich auseinander.51 So schlussfolgert Donohue, man müsse von einer unmittelbaren und körperlichen Sinnlichkeit des Tanzes, ja letztendlich von einem Striptease ausgehen: „The unavoidable conclusion is that what she does is, however tasteful and however much within the limits of theatrical and social decorum, a strip-tease. No matter how ethereal its style, there must be something directly sensual and erotic on view“ (Donohue 1998: 131). Dagegen betont Katharine Worth die Innerlichkeit des Tanzes, also eine tendenziell spirituelle Sinnlichkeit: „Wilde had in mind a more inward meaning, as is implied in his inscription in the edition he presented to Aubrey Beardsley: ‚For Aubrey: for the only artist who, besides myself, knows what the dance of the seven veils is, and can see that invisible dance.‘“ (Worth 1983: 66) Es mag sicherlich gute Gründe dafür geben, dass sich der eine den Tanz der Salome eher als körperlich-sinnliches, der andere dagegen eher als ein spirituell-geistiges Ereignis vorstellt.52 Doch warum nimmt man die Regieanweisung in ihrer – im Kontext des Stückes auffällig – knappen Unbestimmtheit nicht beim Wort und begreift sie dementsprechend als bewusst gesetzte Leerstelle? Im Rahmen der auf den vorangehenden Seiten vorgestellten Deutung des Dramas erscheint es jedenfalls nur konsequent, dass der Charakter des Tanzes offen gelassen wird. Denn es kommt auf diesen schlicht und ergreifend nicht an. Mit Blick 51 Dass der Tanz zum Objekt von Spekulationen (und Projektionen) geworden ist, ist laut Theodore Ziolkowski nicht zuletzt der Vertonung des Dramas durch Richard Strauss geschuldet, der den Tanz ins Zentrum der Handlung rückt: „But it was Richard Strauss’s opera Salome (1905) ten years after the Paris premiere of Wilde’s play that focused attention on the dance, making it not an afterthought but the climax of the action. In Wilde’s text the dance is indicated only by a simple stage direction […] and aroused no particular note in the reviews. In the opera, in contrast, the occasion is expanded musically to a dance accompanied by an increasingly frenzied music and lasting almost ten minutes.“ (Ziolkowski 2008: 68) 52 Alternativ kann man auch zwischen jenen drei Bedeutungsoptionen wählen, die sich laut Austin E. Quigley aus dem dramatischen Kontext ergeben: „Is this a dance fully defined by Herod’s readiness to see in it the physical reality of a saucy striptease? Is it a theatrical event designed to activate our own sexual fantasies and moral sensibilities? Or is it in its physical and aesthetic appeal an event of such striking beauty that it challenges the biblical Fall and enables the human form in motion to reveal something of the existence of its creator and thereby of the nature of creation? That Wilde is setting up these options of sexual crudity, erotic fantasy, and aesthetic transcendence is evident both in the complex contextualization that precedes the dance and in some explicit signals we have been given about the range of relationships between visible and invisible realities that have been a subject of concern throughout the action.“ (Quigley 1994: 114)



4.3 Orientalische Abgründe und die Fremdherrschaft des Begehrens 

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auf den Handlungsverlauf ist er offenkundig irrelevant, da Herodes bereits vor dem Tanz sein Versprechen abgegeben hat, Salome einen Wunsch zu erfüllen. Die Abweichung vom neutestamentlichen Text ist in diesem Fall signifikant. Bei Matthäus heißt es: „Als aber Herodes seinen Geburtstag beging, da tanzte die Tochter der Herodias vor ihnen. Das gefiel dem Herodes gut. Darum versprach er ihr mit einem Eid, er wolle ihr geben, was sie fordern würde.“ (Matthäus 14:6–7) Der neutestamentliche Herodes reagiert auf den Tanz mit seinem Versprechen, bei Wilde dagegen ist das Versprechen bereits gegeben. Aufschlussreich ist dann auch, dass Wildes Herodes nach dem Tanz nicht auf dessen ‚Qualität‘ oder Charakter eingeht, sondern – gegenüber seiner Gattin – allein mit der Feststellung triumphiert, nun habe die Tochter der Herodias doch noch für ihn getanzt: „Ah! wonderful! wonderful! You see that she has danced for me, your daughter.“ (Salome 725) Offenkundig ist es nicht die Erotik des Tanzes, die zählt, sondern allein dessen Funktion als Objekt des Begehrens. Man kann sogar noch eine weitergehende Begründung für die auffällige Unbestimmtheit des Tanzes formulieren: Es wurde ausführlich dargelegt, dass Wilde in seiner Tragödie gesellschaftliche und menschliche Abgründe ausleuchtet, dass er menschliche Leidenschaften und menschliches Begehren gerade in ihren befremdlichen Dimensionen, die das Verständnis wie auch gängige Normen herausfordern, auf die Bühne bringt. Dieses Begehren kulminiert zumindest teilweise im Tanz der Salome, in dem sich das Begehren des Herodes und das Begehren der Salome treffen. Und es erscheint folgerichtig, dass der Tanz selbst unbestimmt bleibt, denn er ist nicht der Grund für das Geschehen, das sich auf der Bühne abspielt. Sonst würde er als Erklärung des eigentlich Unerklärlichen, als Begründung des eigentlich Grundlosen fungieren. Ein besonders erotischer oder geschmackvoller Tanz würde das Begehren des Herodes für seine Stieftochter nachvollziehbar erscheinen lassen. Aber Wildes Tragödie – und hier kommt Salome einer traditionellen Gattungsbestimmung ganz nahe – ist keine psychologische Abhandlung, die Plausibilität produziert, sondern macht das existentielle Ausgeliefertsein des Menschen – jenseits aller Rationalität und psychologischen Plausibilität – zum Thema. Im Hinblick auf den Tanz der Salome gilt demnach im wahrsten Sinne des Wortes das, was Bernhard Waldenfels zu Erfahrungen radikaler Fremdheit angemerkt hat: Sie stellen nicht nur eine Interpretation, sondern die grundsätzliche Interpretationsmöglichkeit in Frage (vgl. Waldenfels 1999: 36–37). Der Leser der Wildeschen Tragödie mag über den Charakter des Tanzes spekulieren oder seine eigenen Fantasien auf diesen projizieren – interpretieren (in einem engeren Sinne) kann er den Tanz nicht, da dieser unsichtbar bleibt. Wenn der Dramatiker selbst den Tanz in der von Worth zitierten Widmung als „invisible dance“ bezeichnet, dann sollte man das einerseits wörtlich verstehen, andererseits aber

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auch als Hinweis auf den programmatischen Charakter der Regieanweisung, die eine genauere Auskunft verweigert. Man kann sich also auf die Autorität des Dramatikers stützen, wenn man Donohue entgegnet, es müsse nichts Erotisches im Tanz zu sehen sein, wie dieser geschlussfolgert hat, denn genau genommen muss überhaupt nichts zu sehen sein.53

4.3.4 Die Orientalisierung des biblischen Mythos: Ein Fazit Sensualität und Irrationalität, Dekadenz und Femininität sowie Korruption und Brutalität – all dies findet man zweifelsohne in Oscar Wildes Dramatisierung des Salome-Stoffes. Allerdings wurden diese Begriffe nicht mit Blick auf Wildes Tragödie aneinandergereiht, sondern sind einem Lexikoneintrag entnommen. Dieser widmet sich Edward Saids Versuch, mit dem Begriff Orientalism „einen vom Okzident entwickelten Diskurs über den Orient“ offenzulegen. Dieser Diskurs produziere – so die lexikalische Zusammenfassung – „ein quasi-­ mythisches Bild vom Osten, das diesem eine Disposition zur Sensualität, Irrationalität, Dekadenz, Femininität, Korruption und Brutalität unterstellt“ (Kreutzer 2008: 551). Unabhängig davon, ob man Saids Theorie mit all ihren Implikationen und Wertungen zustimmt,54 kann man auf jeden Fall festhalten, dass Wilde seine Salome-Tragödie – und damit unvermeidlich auch die Ursprünge des für den Okzident identitätsstiftenden Christentums – in einem orientalischen bzw. orientalisierten Umfeld ansiedelt.55 Wilde folgt in dieser Hinsicht dem Vorbild Gustave Flauberts (Hérodias): „No writer before or after Flaubert has conjured up the oriental atmosphere of Herod’s 53 In diese Richtung weist übrigens Steven Berkoffs Inszenierung der Tragödie (1988/1989): „The elimination of stage properties […] extended to Iokanaan’s head, and, above all, Salome’s dance, a pantomime undressing in which Salome (Katherine Schlesinger) removed nothing at all. The point, Berkoff noted, was to insist upon the power of the converting imagination.“ (Kaplan 1998: 267) In diesem Sinne kann man den ‚unsichtbaren Tanz‘ oder Salome durchaus mit dem Mond vergleichen, der im Drama von verschiedenen Figuren unterschiedlich wahrgenommen wird und dabei als Projektionsfläche dient. Die Frage, welche Wahrnehmung korrekt ist, stellt sich dementsprechend gar nicht. 54 Said betrachtet und kritisiert den Orientalismus als Manifestation eines westlichen Kolonialismus: „Orientalism can be discussed and analyzed as the corporate institution for dealing with the Orient – dealing with it by making statements about it, authorizing views of it, describing it, by teaching it, settling it, ruling over it: in short, Orientalism as a Western style for dominating, restructuring, and having authority over the Orient.“ (Said 1995: 3) 55 Was von einem ‚postkolonial geschulten‘ Publikum als orientalisierend wahrgenommen wird, erschien dem Dramatiker selbst als „byzantinisch“: „He described his play as Byzantine“ (Worth 1983: 64).



4.3 Orientalische Abgründe und die Fremdherrschaft des Begehrens 

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court with such narrative power“ (Kohl 1989: 191). Laut Norbert Kohl hat Wilde insbesondere bei der Darstellung des Schauplatzes bzw. des historischen Hintergrunds entsprechende Anleihen genommen (vgl. Kohl 1989: 191). Darüber hinaus lässt sich Wildes Orientalisierung der biblischen Geschichte in einen größeren geistes- und kulturgeschichtlichen Zusammenhang stellen, wie Andreas Anglet in seiner Salome-Interpretation – und mit Verweis auf einen blinden Fleck des postkolonialen Orientalismus-Begriffs bei Said – herausstellt: Im Anschluss an die religionskritischen Debatten der Aufklärung und durch die Nachrichten aus einem sich zunehmend für den europäischen Blick ausdifferenzierenden Orient wird diese Quelle eigener Religiosität [gemeint ist die Bibel, d. Verf.] seit Beginn des 19. Jahrhunderts geopolitisch, der geschilderten Mentalität und dem narrativen Kontext nach zunehmend als nicht-europäisch, als ein Fremdes bewusst. Und unübersehbar sind Wildes und Strauss’ Salome mit allem Dekor des zeitgenössischen ‚Orientalismus‘ in der Dichtung, den bildenden Künsten und der Musik ausgestattet. (Anglet 2006: 60)56

Wenn Wilde in diesen Zeilen einer Entwicklung zugerechnet wird, durch die eine maßgebliche Quelle des Eigenen zunehmend als Fremdes bewusst wird, dann erinnert das an einen anderen geistes- und kulturgeschichtlichen Prozess jener Zeit, der im vorangehenden Kapitel und mit Blick auf Walter Paters Mythosrezeption zur Sprache kam: the othering of antiquity. Mit dieser Formel wird eine neue, ethnologisierende Sicht auf die griechisch-römische Antike zusammengefasst, die sich im 19. Jahrhundert etabliert und bei der das Fremdartige und das Befremdliche der Antike in den Fokus rückt. Analog dazu handelt es sich bei der Orientalisierung des Christentums, wie man sie in Wildes Tragödie beobachten kann, um the othering of Christianty. Denn so wie Pater im griechisch-römi­ schen Mythos ein Zeugnis des kulturell und radikal Fremden erkennt, so wird in Wildes Bearbeitung auch der biblische Mythos zum Zeugnis des Fremden. In beiden Fällen werden wesentliche Referenzpunkte des abendländischen Selbstverständnisses auch und nicht zuletzt als ein fremdes Erbe ausgewiesen.

56 Andreas Anglet widmet sich in seinem Aufsatz zu den orientalischen Schleiern der Modernität nicht nur der Wildeschen Tragödie, sondern auch deren erfolgreicher Vertonung durch Richard Strauss. Im „Orientalismus der Musik“ fände das geheime „Begehren der Gesellschaft, für die die Oper geschrieben wurde“, ihren Ausdruck (Anglet 2006: 71). Insbesondere im Tanz der sieben Schleier – bei Wilde, wie bereits ausgeführt, unbestimmt und geradezu unsichtbar – offenbare Strauss das Fremde endgültig als das Eigene: „Der orientalische Tanz und der Walzer, der Erfolgstanz der bürgerlichen europäischen Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts, spielen bruchlos ineinander, verweisen aufeinander.“ (Anglet 2006: 71) Insofern wäre auch Richard Strauss’ Oper ein hervorragendes Beispiel für die künstlerische Produktivität der mythologischen Differenz von Eigenem und Fremdem.

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 4 Der Mythos als Zeugnis des Fremden in der englischen Literatur

Dabei beschränkt sich Wildes Orientalisierung der biblischen Geschichte nicht darauf, die fremden Ursprünge der eigenen Religiosität offenzulegen, also biblische Figuren in orientalischen Gewändern auftreten zu lassen. Vielmehr präsentiert Wildes Tragödie auch eine ‚andere‘ Lesart des Neuen Testaments. Denn die kurze neutestamentliche Episode, die die Quelle des SalomeNarrativs darstellt, wird nicht (oder zumindest nicht offenkundig und primär) in den größeren Rahmen der christlichen Heilsgeschichte eingeordnet, sondern aus diesem herausgelöst und zu einem dramatischen Anschauungsbeispiel für gesellschaftliche und menschliche Abgründe umgearbeitet. Gerade indem Wilde die fatale Macht des menschlichen Begehrens (und die Ohnmacht des Begehrenden) als thematisches Zentrum seines Stückes wählt, realisiert (oder imaginiert) er ein Bedeutungspotential der neutestamentlichen Erzählung, das nicht recht zur konventionellen christlichen Lesart passen will und das Neue Testament – zumindest nach viktorianischen Maßstäben – als ein potentiell anrüchiges Dokument erscheinen lässt. Fest steht immerhin, dass Wildes Dramatisierung des Salome-Stoffes von einigen Zeitgenossen als „audacious raid upon the Bible“ (Powell 1990: 40) aufgenommen wurde und dementsprechend auch Befremden auslöste. Als „half Biblical, half pornographic“ (Donohue 1998: 118) bezeichnete etwa der Theaterzensor das Drama und belegte es aufgrund dieser blasphemischen Grenzverwischung mit einem Aufführungsverbot.57 Bei dieser Entscheidung konnte der Zensor die öffentliche Meinung58 hinter sich vermuten, wie Worth unterstreicht: „But of course the Lord Chamberlain had the backing of the Establishment – The Times criticised the play when it was published as ‚an arrangement in blood and ferocity, morbid, bizarre, repulsive, and very offensive in its adaptation of scriptural phraseology to situations the reverse of sacred‘.“ (Worth 1983: 52)59 Man muss dieser zeitgenössischen Kritik – selbst wenn man dem Werturteil nicht zustimmen mag – zugutehalten, dass sie durchaus den Charakter des Stückes trifft. Und man würde den Kritiker zugleich gerne daran erinnern, dass auch in 57 Vgl. zur Zensur-Geschichte des Dramas: Powell 1990: 33–40. 58 Interessant ist in diesem Zusammenhang – und unter dem Gesichtspunkt der Alterität – auch die Feststellung Donohues bezüglich der unterschiedlichen Reaktionen in England und Frankreich. Denn Donohue sieht diese Unterschiede darin begründet, dass dem englischen Publikum oder der englischen Kritik Wildes Tragödie in mehrfacher Hinsicht zu fremdartig und befremdlich erschien: „The responses of English reviewers were diametrically opposed to the positive French reception. Salome must have seemed to them almost a betrayal; the idiom was too un­ familiar, too threatening, and Wilde’s models, dramaturgical and characterological, were too far afield from the West End repertoire“ (Donohue 1998: 123). 59 Die entsprechende Notiz aus der Times vom 23. Februar 1893 findet man auch an folgender Stelle: Beckson 1970: 133.



4.3 Orientalische Abgründe und die Fremdherrschaft des Begehrens 

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den griechischen und römischen Tragödien „blood and ferocity“ und so manche Morbidität ins Auge stechen. Spätere Kritiker (und Apologeten) Wildes nehmen dann auch ganz ähnliche Aspekte des Stückes in den Blick und offenbaren wie der viktorianische Theaterzensor dabei eine besondere Fokussierung auf das Sexuelle: „Sex is the motivating force“, stellt z. B. Kohl fest (Kohl 1989: 182).60 Auch der Fokus der späteren Kritiker liegt also auf Grenzüberschreitungen (Transgression) oder dem Unterlaufen von Grenzen (Subversion) in Wildes Tragödie. Insofern kann man in der Rezeptionsgeschichte zu Salome – bei der Zensur wie in der Apologie, in der zeitgenössischen wie in der späteren Rezeption – eine interessante Konstante ausmachen: die Wahrnehmung, dass Wilde in seiner Tragödie Grenzen verletzt – sei es die Grenze zur Blasphemie, die Grenzen des guten Geschmacks, der Konventionen des englischen Theaterbetriebs oder einer patriarchalischen Geschlechterordnung. Während der Zensor und die zeitgenössische britische Öffentli­ch­ keit diese Grenzverletzung aber nicht goutieren können oder wollen, erkennen andere und vor allem spätere Kritiker darin den Ausdruck einer notwendigen, weil befreienden Entgrenzung. Nun braucht man sicherlich nicht den Begriff der mythologischen Alterität heranzuziehen, um über künstlerische Grenzüberschreitungen sprechen oder die Reaktionen auf Wildes Tragödie erklären zu können. Dessen ungeachtet, gibt es einen entsprechenden Zusammenhang, den z. B. auch eine Interpretin wie Worth registriert, obwohl sie in ihrer Besprechung der Tragödie das Mythologische nicht näher beleuchtet. Denn Worth macht gerade eine ‚mythische‘ Dimension des Werkes als dessen provokatives Zentrum bzw. als Stein des Anstoßes aus: „Perhaps even the clumsy English censorship was an obscure recognition, a shrinking from the dionysiac experience.“ (Worth 1983: 71) Was Worth als dionysische Erfahrung bezeichnet, ist das radikal Fremde, das die Grenzen jeder sittlichen Ordnung, des guten Geschmacks und der Rationalität sprengt. Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass die auf das Neue Testament zurückgehende Geschichte der Salome in Wildes Dramatisierung in zweifacher Hinsicht zu einem Zeugnis des Fremden wird. Sie wird zum einem in einem Kontext verortet, der exotisch und geradezu orientalisch anmutet – und erweist sich so als Zeugnis des kulturell Fremden. Zum anderen rückt Wilde 60 Vgl. dazu auch Ian Smalls Beobachtung zur Wilde-Forschung aus dem Jahr 1993: „Indeed, Salomé is becoming an increasingly important text for many critics with a general interest in Wilde. Because it ran foul of the constraints imposed by the Lord Chamberlain’s Examiner of Plays, particularly because of its representation of sexual topics, Salomé is coming to be seen as a document which allows contemporary issues in the politics of gender to be glimpsed.“ (Small 1993: 197)

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das übermächtige und fatale Begehren als Erfahrung radikaler Fremdheit ins Zentrum seiner Version der Geschichte. In diesem Sinne bedient sich Wilde sowohl der diskriminatorischen (also kulturelle Differenzen markierenden) als auch der transgressiven (die Grenzen des Menschlichen auslotenden) Funktion der Denkgewohnheit Mythos. Er konfrontiert sein christliches (oder doch zumindest christlich geprägtes) Publikum mit der Fremdartigkeit der biblischen Welt und der Befremdlichkeit jener Geschichte, die er aus dem Neuen Testament – in Anglets Worten die „Quelle eigener Religiosität“ (Anglet 2006: 60) – heraus präpariert.61 Es käme nun freilich einem interpretatorischen Kurzschluss gleich, würde man Wildes Orientalisierung der biblischen Geschichte pauschal als eine Abkehr vom Christentum werten oder auf eine antireligiöse Stoßrichtung reduzieren. Denn obwohl der Dramatiker die biblische Geschichte ins Fremde und Befremdliche entrückt und damit offenbar religiöse Befindlichkeiten verletzt hat, kann man in Wildes Tragödie – neben der dionysischen Dimension – durchaus eine, wenn auch unkonventionelle christliche Bedeutungsebene identifizieren. Als Kronzeuge sei an dieser Stelle James Joyce aufgerufen (der zugegebenermaßen selbst im Ruch der Blasphemie steht). Dieser hat bei seinem Versuch, den zeitweiligen Liebling der Londoner Bühne für die irische Literatur zu reklamieren, einen katholischen Kern im Schaffen des vermeintlichen Neu-Heiden Wildes ausgemacht: Here we touch the pulse of Wilde’s art – sin. He deceived himself into believing that he was the bearer of good news of neo-paganism to an enslaved people. His own distinctive qualities, the qualities, perhaps, of his race – keenness, generosity, and a sexless intellect – he placed at the service of a theory of beauty which, according to him, was to bring back the Golden Age and the joy of the world’s youth. But if some truth adheres to his subjective interpretations of Aristotle, to his restless thought that proceeds by sophisms rather than syllogisms, to his assimilations of natures as foreign to his as the delinquent is to the humble, at its very base is the truth inherent in the soul of Catholicism: that man cannot reach the divine heart except through that sense of separation and loss called sin. (Joyce 1969: 59–60)

Tatsächlich entwirft Wilde, wie bereits ausgeführt wurde, in seiner Tragödie eine Welt, die von einem Gefühl der ‚Trennung‘ und des ‚Verlusts‘ beherrscht wird, in der die Entfremdung vom Mitmenschen sowie von Gott (bzw. den alten Göttern) 61 Wildes Rückgriff auf den biblischen Stoff spricht damit freilich zugleich ein spezifisch modernes Interesse am Christentum bzw. an der Religion an. Denn auch wenn kirchliche Institutionen sich immer wieder um ihre eigene Modernisierung bemüht haben und heute mehr denn je bemühen, kann man zugleich eine anhaltende Faszination für dezidiert unmoderne und irrationale, also unzeitgemäße Aspekte der (christlichen) Religion ausmachen.



4.3 Orientalische Abgründe und die Fremdherrschaft des Begehrens 

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nicht zu übersehen ist und in der die Figuren Schuld auf sich laden, zumindest aber gegen elementare moralische Gebote verstoßen. Kurzum: Die Welt, die Wilde am Hofe des Herodes vorführt, ist eine ‚gefallene‘ Welt im Zustand der Sünde –„depraved, unredeemed and seemingly irredeemable“ (Donohue 1998: 126). Was diese Erlösungsbedürftigkeit angeht, fügt sich Wildes Tragödie durchaus in den heilsgeschichtlichen Rahmen des Neuen Testaments. Allerdings lässt Wildes Version kaum erahnen, dass Jesus Christus bzw. das Christentum die Erlösung in jene gefallene Welt bringt. Der geradezu menschenfeindliche Prophet Iokanaan, also Wildes Version des Johannes, der im Neuen Testament als Täufer Jesus ankündigt, scheint in diesem Sinne nicht als der Vorbote einer (Er-)Lö­ sung, sondern vielmehr noch als Teil des Problems – nämlich als ein Produkt jener Gesellschaft, die mangels Orientierung zum Exzess tendiert, in seinem Fall zum religiös-asketischen Exzess. Dass sich Wilde außerdem – ganz im Geiste der Dekadenz – einer Ästhetik verpflichtet, die sich am Befremdlichen delektiert, indem sie selbst noch das Abstoßende und moralisch Verwerfliche ästhetisiert (das Tableau, in dem Salome den Kopf des Propheten in ihren Händen hält, mag hier als Beispiel genügen), überspannt dann freilich – bei aller gebotenen Empathie für den Sünder – den christlichen Bogen. Genauso wenig wie man die Orientalisierung der biblischen Geschichte pauschal als unchristlich charakterisieren darf, sollte man freilich Wildes Strategie der Mythosrezeption als Ausdruck eines ästhetizistischen Eskapismus missverstehen. (Auch wenn dem Interesse am Orient durchaus eine eskapistische Dimension bescheinigt werden kann.) Dagegen sprechen auf jeden Fall die offenkundigen Parallelen, die sich zwischen der biblischen Welt des Dramas und der Welt, in der Wilde und sein Publikum heimisch sind, ziehen lassen. So mag z. B. das bunte Völkergemisch, das sich am Hofe des Herodes versammelt und sich an Delikatessen aus fernen Ländern erfreut, exotisch anmuten. Zugleich lassen sich aber ohne Weiteres Verbindungen zwischen dieser biblisch-orientalischen Szenerie und jenem weltumspannenden Empire herstellen, in dessen Metropole der Dramatiker zu Ruhm gekommen ist – und das schon im 18. Jahrhunderts als Nachfolger des römischen Reichs stilisiert wurde, in dessen Machtbereich das Herrschaftsgebiet des Herodes fällt. Außerdem lässt sich auch das ausgehende 19. Jahrhunderts als eine Zeit des Umbruchs, der rasanten Veränderungen und der mit diesen einhergehenden Unsicherheiten beschreiben. So mag man in der religiösen Verunsicherung der Wilde­ schen Figuren die religiöse Verunsicherung einer Epoche gespiegelt sehen, in der materialistische Philosophie, Darwinismus und der Siegeszug der Naturwissenschaften religiöse (Selbst-)Gewissheiten in Frage stellen. Wenn ein Kappadokier am Hofes des Herodes die Vermutung äußert, die alten Götter seien tot, dann ist das – zumindest im Rückblick – ein interessantes Echo auf das berüchtigte Diktum

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 4 Der Mythos als Zeugnis des Fremden in der englischen Literatur

Nietzsches. Insofern kann man Anglet zustimmen, der in der Wildeschen Adaption des Salome-Stoffes weniger eine „Reflexion über den Orient“ als vielmehr eine „kritische Reflexion der eigenen, europäischen Kultur am Ende des 19. Jahrhunderts“ (Anglet 2006: 60) erkennt: „Wilde’s Salomé ist ein Stück der Dekadenz. In einer biblisch-orientalischen Konstellation zeigt es eine Gesellschaft und ihre Unfähigkeit, sich in die Grenzen des eigenen Begehrens und der eigenen Macht zu finden. Es zeichnet das Psychogramm einer Epoche“ (Anglet 2006: 60).62 Wildes Drama stellt also keineswegs (bzw. nicht ausschließlich) eine eskapistische Fantasie dar, sondern hat durchaus ein zeitdiagnostisches Potential. Wobei die Frage, ob das Stück eher Seismograph oder Symptom der europäischen Dekadenz am Ende des 19. Jahrhunderts ist, durchaus gestellt werden sollte. In jedem Fall kann und darf man die auf den ersten Blick so fremde und befremdliche Welt der Tragödie auch als Kommentar zum Eigenen begreifen – ob es sich nun um die eigene Religion, die eigene Zeit oder die eigene Gesellschaft und ihre Rolle in der Welt handelt. Trotzdem muss man den Begriff stark strapazieren, um Wildes Mythosrezeption primär als Gesellschaftskritik zu reklamieren.63 Denn insgesamt geht es in dem Stück weniger um gesellschaftliche Macht oder politische Zustände, als vielmehr um grundlegende anthropologische Fragen, die freilich auch und gerade in der spätviktorianischen Gesellschaft virulent sind. Wilde nutzt die Neubearbeitung des biblischen Mythos, um die Fragilität menschlicher Zivilisation und menschlicher Rationalität in Szene zu setzen. Salome illustriert in diesem Sinne die Feststellung des englischen Staatsmannes Lord Robert Cecil (1830–1903), dem späteren 3. Marquess of Salisbury: „thin is the crust which the 62 Man kann Salome übrigens auch in einer anderen Hinsicht als Psychogramm, nämlich als Wildes „own psychodrama“ (Ellmann 1969: 90) lesen. Zumindest erkennt Richard Ellmann im Schwanken des Herodes zwischen dem Respekt vor dem Propheten Iokanaan auf der einen und dem Begehren für Salome auf der anderen Seite eine autobiographische ‚Bruchlinie‘. Ellmann hat dabei den Einfluss von Wildes wichtigsten akademischen Lehrern in Oxford im Blick. Da wäre zum einen John Ruskin: „Behind the figure of Iokanaan lurks the image of that perversely untouching, untouchable prophet John whom Wilde knew at Oxford.“ (Ellmann 1969: 89) Zum anderen Walter Pater: „It is Salome, and not Pater, who dances the dance of the seven veils, but her virginal yet perverse sensuality is related to Paterism.“ (Ellmann 1969: 90). Die (selbst-therapeutische?) Auflösung des vermeintlichen Psychodramas (bzw. des Wildeschen Zwei-Väter-Komplexes) erscheint dann freilich ziemlich radikal: „Both Iokanaan and Salome are executed“ (Ellmann 1969: 90). 63 Ein Beispiel dafür wäre Jürgen Meyers Interpretation des Dramas: „Es handelt sich um die Warnung vor den Folgen einer umfassenden (Kommunikations-)Störung und veranschaulicht den Kompetenzverlust der Menschen in der Interaktion, wie er im Zeitalter der Hochindustrialisierung (und des wirtschaftlichen und politischen Imperialismus) durch die Verschiebung von Werten – fort von ethisch-ideellen hin zu ökonomisch-materiellen – verursacht wurde. Der Verlust des freiwilligen (und damit individualistischen), liebevollen Umgangs miteinander führt über die Verdinglichung des a/Anderen zu dessen ‚Verbrauch‘ (Konsum).“ (Meyer 2002: 310)



4.4 Zwischen mythischer Vergangenheit und alltäglicher Gegenwart 

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habits of civilisation, however ancient and unbroken, draw over the boiling lava of human passion“ (zitiert nach Rödder 2002: 109). Wildes Mythosrezeption beleuchtet nicht nur die fremden Ursprünge der eigenen Religiosität, sondern gewährt auch einen Blick in die exotischen Abgründe einer brüchigen Zivilisation und in die sich dabei öffnenden, nicht minder befremd­lichen Abgründe der menschlichen Seele. Damit wäre abschlie­ßend der Bogen zu den eingangs erwähnten Mythostheorien Freuds, Jungs, Girards und Blumenbergs geschlagen, die ebenfalls im Mythos ein Zeugnis des Abgründigen64 erkennen. Es ist dann wohl auch kein Zufall, wenn die Terminologie psycho­ analytischer Mythoskonzeptionen eine treffende Beschreibung des dramatischen Geschehens erlaubt: Denn die Figuren in Wildes Tragödie werden von seelischen Gewalten (Jung) beherrscht, und ihre Wünsche beleidigen zweifelsohne die Moral (Freud).65

4.4 Zwischen mythischer Vergangenheit und alltäglicher Gegenwart: Mythologische Alterität in James Joyces Ulysses (1922)66 4.4.1 Der Titel, der Text und ein Sehzwang: Eine Annäherung an die Joycesche Mythosrezeption Nicht jedes Werk der literarischen Mythosrezeption konfrontiert sein Publikum so offensichtlich mit dem Fremden (und dem Befremdlichen) wie Oscar Wildes orientalisierende Salome-Tragödie, die schon allein mit der Wahl des

64 In Wildes Tragödie eine dramatische Dokumentation des Abgründigen zu erkennen, offenbart vielleicht eine spezifisch deutsche Sichtweise. Zumindest haben Thea Dorn und Richard Wagner in ihrer Annäherung an Die deutsche Seele der Faszination des Abgrunds ein eigenes Kapitel gewidmet. Mit Blick auf Heideggers „Anrufung“ des „Ab-grunds“ heißt es dort: „Er appelliert an die tief sitzende Lebensangst, die sich der Mensch mit seinen täglichen Routinen und Versicherungssystemen sorgsam zugestellt hat: das Grauen, dass seine scheinbar stabile Welt einschließlich der eigenen Existenz jederzeit einstürzen kann. Und, noch trostloser: dass der Mensch auf die Frage, warum es ihm den Boden unter den Füßen weggerissen hat, keine sinnvolle Antwort erwarten darf.“ (Dorn/Wagner 2011: 15) Diese Zeilen passen durchaus auch auf Wildes Tragödie, in der eine vormals stabile Welt einstürzt und den Figuren der Boden unter den Füßen weggerissen wird. 65 Vgl. zum Mythos als Zeugnis des radikal Fremden bei C. G. Jung und Sigmund Freud die entsprechenden Kapitel 3.3.3 und 3.3.4 in der vorliegenden Studie. 66 Vorarbeiten zum vorliegenden Kapitel wurden bereits in Aufsatzform veröffentlicht: vgl. Mayer 2009 sowie Mayer 2010.

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Schauplatzes ihr Publikum in fremde Gefilde entführt. Weniger offensichtlich ist die mythologische Alterität z. B. in jenen Texten, die – vereinfacht gesagt – einen mythologischen Stoff lediglich „als Anspielungshorizont einer in der Gegenwart angesiedelten Handlung verwenden, als Folie, welche es dem späteren Text gestattet, einen Analogiezauber zu entfalten“ (Wilhelmy 2004: 15). Dass sich freilich auch diese Spielart der Mythosrezeption an einer Differenz von Eigenem und Fremdem abarbeitet, lässt sich besonders trefflich an ihrem vielleicht prominentesten Beispiel erläutern: James Joyces Ulysses. Eine Besonderheit bzw. eine Auffälligkeit des 1922 erstmals vollständig erschienenen Romans ist die Diskrepanz zwischen Romantitel und Romanhandlung, die Wolfgang Iser folgendermaßen auf den Punkt bringt: Joyce hat seinen Roman Ulysses nach einem homerischen Helden benannt, ohne diesen je auftreten zu lassen. Statt dessen gibt er 18 verschiedene Ausschnitte aus einem genau datierbaren Tag in Dublin, der im wesentlichen von den Verstrickungen der beiden Hauptfiguren – Leopold Bloom und Stephen Dedalus – in Ereignisse handelt, die vom frühen Morgen bis zur späten Nacht spielen. Was aber hat die Odyssee mit dem 16. Juni 1904 in Dublin zu tun? (Iser 1972: 300)

Mit der Diskrepanz zwischen Titel und Handlung rückt demnach auch bei der Joyceschen Mythosrezeption eine Differenz in den Fokus, die sich nicht auf die Differenz von Prätext (antikem Epos) und Adaption (modernem Roman) reduzieren lässt. Iser selbst spricht an anderer Stelle von einer Differenz der „Welten“, von mythischer bzw. „archaischer Vergangenheit“ (für die Homers Odyssee ein Zeugnis abgibt) auf der einen und „alltäglicher Gegenwart“ (wie sie im Joyceschen Roman minutiös geschildert wird) auf der anderen Seite (Iser 1972: 281). Isers Frage – „Was aber hat die Odyssee mit dem 16. Juni 1904 in Dublin zu tun?“ – verweist nun auf die ‚Aufgabe‘ des Lesers, das Verhältnis von Titel und Textwelt, mythologischem Stoff und Romanhandlung oder allgemeiner von mythischer Vergangenheit und alltäglicher Gegenwart zu bestimmen. Diese ‚Aufgabe‘ stellt sich genau genommen für alle literarischen Texte, bei denen ein mythologischer Stoff als Vorlage bzw. als Anspielungshorizont fungiert. Denn stets muss sich der Leser fragen, was die dargestellte und unter Umständen dezidiert moderne Wirklichkeit (bzw. die Textwelt) mit jener Welt zu tun hat, von der die alten Mythen berichten. Im Fall des Ulysses wird der Leser freilich durch die Diskrepanz von mythologischem Titel und nicht-mythologischer Textwelt geradezu mit der Nase auf seine ‚Interpretationsaufgabe‘ gestoßen.67

67 In diesem Zusammenhang kommt die ausgeprägte Selbstreflexivität und Selbstreferentialität des Romans zum Tragen, von dem man behaupten darf, dass er nicht nur ein literarischer Text,



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Die gerade umrissene Lektüresituation, in der sich der Leser des Ulysses wiederfindet, kann man durchaus als Fremderfahrung beschreiben: „Fremderfahrung ist und bleibt eine Form der Erfahrung, nur eben in der paradoxen Form einer originären Unzugänglichkeit, einer abwesenden Anwesenheit.“ (Waldenfels 1999: 30) In literarischen Texten, die einen mythologischen Stoff ‚nur‘ als Anspielungshorizont verwenden, ist der Mythos zugleich anwesend (z. B. als Strukturmuster sowie als spezifische Erwartung des Lesers) und abwesend (z. B. durch das Fehlen mythologischer Namen). Der Leser sieht sich dementsprechend mit einer „abwesenden Anwesenheit“ konfrontiert, und die Lektüre nimmt Züge einer Fremderfahrung an. Dabei kann man sich dieser Fremderfahrung bei der Lektüre nur schwer entziehen, gerade wenn – wie im Falle des Joyceschen Romans – durch die Titelwahl ein entsprechender „Sehzwang“ (Iser 1972: 302) geschürt wird. Hinzu kommt, dass der Autor diesen Sehzwang auch durch entsprechende Äußerungen und Hinweise forciert hat. So berichtete er schon 1920 in einem Brief von seinem Anliegen, den Mythos in die eigene Zeit zu übersetzen: „to transpose the myth sub specie temporis nostri“ (Joyce 1966: 146–147). Zudem autorisierte Joyce wenige Jahre nach der Erstveröffentlichung Stuart Gilberts Schema, in dem jede Romanepisode mit einem einschlägigen mythologischen Titel (Calypso, Circe etc.) versehen ist.68 Diese Episoden-Titel finden sich im Roman nicht, werden aber ganz selbstverständlich zur Bezeichnung der Episoden verwendet. Es überrascht dann auch nicht, dass manche Leser dem Sehzwang nachgegeben und „die im Titel des Joyceschen Romans angedeutete Parallelität“ (Iser 1972: 302) zwischen der Romanhandlung und dem mythologischen Stoff des homerischem Epos zum Leitfaden ihrer Lektüre und Textdeutung gemacht haben. Im Folgenden soll nun erörtert werden, ob man sich dem Sehzwang tatsächlich unterwerfen sollte bzw. ob eine entsprechende Lektüre des Ulysses im Zeichen einer mythologischen ‚Identifizierung‘ (von Mythos und Roman, sondern auch ein Text über Literatur ist. So lenkt er beispielsweise die Aufmerksamkeit des Lesers auf die erzählerische Vermittlung (also das ‚Wie‘ des Erzählens), da „die 18 Romankapitel das erzählte Geschehen aus 18 unterschiedlichen Perspektiven entwerfen. Sind wir gewöhnlich bei der Lektüre von Romanen nur einmal genötigt, die vom Autor gewählte Einstellung zu übernehmen, um seine Absichten nachzuvollziehen, so wird uns hier diese Bereitschaft 17 weitere Male abgefordert, da jedes Kapitel in einem anderen Stil geschrieben ist.“ (Iser 1972: 307) Und so wie sich der Leser wiederholt auf einen neuen Repräsentationsmodus einstellen muss und sich dadurch immer der literarischen Gestalt(ung) des Textes bewusst bleibt, thematisiert sich der Roman beginnend mit dem Titel und durch das Andeuten und Unterlaufen einer vermeintlichen mythischen Parallele als ein Werk der literarischen Mythosrezeption. 68 Zur Forcierung des homerisch-mythischen Sehzwangs in der frühen Joyce-Forschung, gerade durch Stuart Gilbert, vgl. Kenner 1987: 4.

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mythischer Vergangenheit und alltäglicher Gegenwart etc.) dem Text tatsächlich gerecht wird. Dabei wird sich zeigen, dass die vermeintlichen mythischen Pa­ral­ lelitäten alles andere als einen zuverlässigen Leitfaden darstellen und folglich nur ein bedingt geeignetes Modell der Joycesche Mythosrezeption abgeben. Statt von einer mythischen Parallele ist – gewissermaßen als Gegenmodell – vielmehr von einem mythologischen Spannungsfeld zwischen Eigenem und Fremdem auszugehen. Auch wenn dem Leser bei der Ulysses-Lektüre das Fremde oder das Befremdliche nicht sofort ins Auge springt, erweist sich der Joycesche Jahrhundertroman bei eingehenderer Betrachtung somit schließlich doch als ein eindrucksvolles Beispiel für literarische Mythosrezeption im Zeichen der mythologischen Alterität.

4.4.2 ‚Mythologische Identität‘? Zur These einer mythischen Parallele Ulysses ist, so das gängige Urteil, kein einfacher Roman.69 Und dementsprechend mangelt es nicht an Ratschlägen, wie der Roman sinnvollerweise zu erschließen sei. So rät z. B. der Altphilologe Dieter Lohmann eindringlich dazu, sich vor der Lektüre des Ulysses gründlich mit der homerischen Odyssee vertraut zu machen. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die Ergebnisse seiner eigenen Untersuchung der Calypso-Episode im Joyceschen Roman: „Es ergab sich, daß dieser Teil des Romans, was Komposition und thematische Struktur betrifft, in hohem Maße dem homerischen Vorbild verpflichtet ist. Die Aufdeckung der Homerparallelen führte dabei zu einer Reihe neuer Beobachtungen und Einsichten, die weit über den homerischen Kontext hinausgehen.“ (Lohmann 1998: 165) Die Diskrepanz zwischen mythologischem Titel und nicht-mythologischer (moderner und alltäglicher) Textwelt löst sich in dieser Perspektive auf. Man müsse bloß in der Lage sein, die Romanhandlung mit der Handlung des homerischen Epos in Verbindung zu bringen, die Homer-Parallelen aufzudecken oder anders ausgedrückt: sich bei der Lektüre auf eine ‚Identifizierung‘ von Mythos und Roman zu konzentrieren. Statt von Homer-Parallelen kann man

69 Der Joycesche Roman ist geradezu berüchtigt für den Aufwand, den der Autor betrieben hat und den er seinen Lesern (zumal den professionellen) bis heute abverlangt. Hans Blumenberg hat in diesem Zusammenhang von einer „Produktionsindustrie für eine Rezeptionsindustrie“ gesprochen und zudem süffisant angemerkt, dass es sich bei Homers Odyssee um Literatur für den „althellenischen Adel“ gehandelt habe, während Ulysses „an den Schreibtischadel des 20. Jahrhunderts adressiert“ sei (Blumenberg 1990: 93). Ein im wörtlichen Sinne schwerwiegender Beleg für diese Einschätzung ist Don Giffords Ulysses Annotated, eine über 600 Seiten umfassende „specialized encyclopedia that will inform a reading of Ulysses“ (Gifford 1989: xv).



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verallgemeinernd auch von einer mythischen Parallele sprechen. Dadurch trägt man zum einen der Tatsache Rechnung, dass sich andere literarische Texte in ähnlicher Weise auf mythologische Vorbilder beziehen lassen. Zum anderen kann man die Verbindungen und Korrespondenzen zwischen antikem Epos und modernem Roman – zumindest wenn man die Sache nicht rein philologisch angeht – zugleich als Verbindungen und Korrespondenzen zwischen archaischer Vergangenheit und alltäglicher Gegenwart, zwischen mythischer und moderner Weltsicht usw. betrachten. Nun erweisen sich, soviel sei an dieser Stelle vorweggenommen, die Homer-Parallelen bei genauerer Betrachtung nur bedingt als verlässlicher Lektüreleitfaden oder Interpretationsschlüssel. Nichtsdestotrotz mutet die These einer mythischen Parallele auf den ersten Blick durchaus praktisch an. Wer Ulysses als moderne Odyssee beschreibt, hat nämlich eine Möglich­ keit gefunden, den vielschichtigen Roman mit seinen verwickelten Handlungssträngen, dem unüberschaubaren Figurenarsenal und den noch verwirrenderen Figurenkonstellationen auf einen prägnanten Nenner zu bringen. Wie Hugh Kenner nicht ohne Süffisanz bemerkt, hatte sich dies schon der Autor vor der Fertigstellung seines Romans zunutze gemacht: „to turn an unwritten book into something that could be talked about“ (Kenner 1987: 23). Die Handlung des umfangreichen Romans mutet – zumindest in einer abstrahierenden Zusammenfassung – kohärenter an, wenn man in der Hauptfigur Leopold Bloom einen modernen Wiedergänger des Odysseus erkennt, der zwar nicht eine zehnjährige Irrfahrt durch das Mittelmeer bestehen muss, aber immerhin einen ganzen Tag lang durch Dublin wandert, bevor er schließlich zu Penelope (bzw. seiner Ehefrau Molly) zurückkehren kann. Darüber hinaus kann die These der mythischen Parallele eine heuristische Funktion erfüllen. Wenn man einzelne Kapitel und Passagen auf ihre mythologischen Korrespondenzen (also jeweils auf eine mythologische Vorgabe) zurück­ zuführen vermag, sollte dies doch die Deutung einzelner Ereignisse im Roman erleichtern oder einzelne Figuren plastischer hervortreten lassen. Man betrachte beispielsweise das 12. Kapitel des Romans, dem man in Anlehnung an die homerische Odyssee den Titel „Cyclops“ zugewiesen hat und das nicht zuletzt als ein satirischer Seitenhieb auf nationalistische Engstirnigkeit interpretiert wird.70 Schauplatz der Episode ist ein Wirtshaus, in dem Leopold Bloom unter anderem auf einen irischen Nationalisten trifft, der nur citizen genannt wird und offenbar eine Abneigung gegen den Juden Bloom hegt: Der moderne Odysseus trifft auf 70 Declan Kiberd betrachtet dieses Kapitel als „Joyce’s most trenchant exposure of the psych­ol­ ogy of narrow-gauge nationalism“ (Kiberd 1996: 350). Für eine etwas andere Lesart des Kapitels vgl. Nolan 1995: 96–119.

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einen modernen Kyklopen, in der Mythologie ein einäugiger und ungehobelter Riese, dessen Einäugigkeit in seiner einseitigen und vereinfachenden Weltsicht liegt. Als die Meinungen bei einer Diskussion über patriotische Märtyrer ausein­ andergehen, verhöhnt der Nationalist seinen Kontrahenten Bloom, woraufhin dieser verbal zurückschlägt und die Situation schließlich eskaliert: [Citizen:] – Three cheers for Israel! […] [Bloom:] – […] Your God was a jew. Christ was a jew like me. Gob, the citizen made a plunge back into the shop. – By Jesus, says he, I’ll brain that bloody jewman for using the holy name. By Jesus, I’ll crucify him so I will. Give us that biscuitbox here. (Ulysses 444–445)71

Die Bezüge zu Homers Odyssee sind offensichtlich: Dem modernen Odysseus gelingt die Flucht aus der Höhle des Riesen (dem Wirtshaus), und wo bei Homer der Kyklop Polyphem dem fliehenden Odysseus einen Felsen hinterher schleudert, greift der wutentbrannte Wirtshausbesucher zu einer Keksdose. Doch wie der Kyklop ist er (sowohl wegen seines übermäßigen Alkoholkonsums als auch durch die Sonne) geblendet und verfehlt sein Ziel. Die gerade aufgezeigten mythologischen Korrespondenzen sollten freilich nicht auf ihren komischen Effekt reduziert werden. Vielmehr kann man sie als ein wesentliches und bei aller Komik durchaus ernsthaftes Mittel der Figurencharakterisierung betrachten. Dies gilt für den modernen Kyklopen ebenso wie für den modernen Odysseus. Denn diese Episode erinnert daran, dass Odysseus unfreiwillig in der Fremde umherirrte und zahlreiche Gefahren überstehen musste. Ähnliches lässt sich offenbar auch über den Juden Leopold Bloom sagen, der zwar in Dublin zu Hause ist, aber doch in mancher Hinsicht als ein Fremder durch die Stadt wandelt. Für weitergehende Interpretationen bildet diese Analogie einen ergiebigen Ausgangspunkt – ob man nun Ulysses als Kritik am Antisemitismus lesen möchte oder in der Hauptfigur die Verkörperung einer grundsätzlichen Disposition des modernen, metaphysisch heimatlos gewordenen Menschen erkennt. Scheinbar wird die Lektüre durch die These der mythischen Parallele nicht bloß erleichtert, sondern substantiell bereichert. Schließlich – und das sollte man gerade mit Blick auf die professionellen Leser des Ulysses nicht unterschätzen – bietet die ‚identifizierende‘ Perspektive auf die Joycesche Mythosrezeption, die Mythos und Roman überblendet, auch eine hervorragende Gelegenheit, um detektivischen Neigungen nachzugeben.

71 Die hier verwendete Textgrundlage (Joyce 2000) folgt der Bodley Head Ausgabe aus dem Jahr 1960. Im Folgenden zitiert als Ulysses.



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Denn wer sich bei der Lektüre oder Interpretation auf eine mythische Parallele kapriziert, der liest Ulysses gewissermaßen als einen Schlüsselroman. Bei einem solchen kommt es bekanntlich auf die „Dekodierung des Realitätsbezugs“ an, also darauf, „die verkleideten Gestalten und Handlungen“ zu durchschauen und realen Personen und Geschehnissen zuzuordnen (Wilpert 2001: 733). Im Falle des Ulysses geht es dem Interpreten, der sich an der Parallele abarbeitet, analog dazu darum, die mythologischen Figuren und Geschehnisse offenzulegen, die hinter den Romanfiguren bzw. der Romanhandlung vermutet werden. Das Aufdecken von Korrespondenzen oder Ähnlichkeiten zwischen dem literarischen Text und seiner mythologischen Vorlage in philologischer Detektivarbeit darf dann auch als Teil des Lektüre- und Interpretationsvergnügens betrachtet werden, zumal sich der nachforschende Leser dabei der eigenen Intelligenz und Distinktion (Stichwort: humanistische Bildung) vergewissern kann. Unabhängig von diesen rezeptionsästhetischen Überlegungen, bleibt außer­ dem festzuhalten, dass die These der mythischen Parallele kein spätes Produkt einer jahrzehntelangen Ulysses-Rezeption darstellt, sondern schon kurz nach dem erstmaligen Erscheinen des Romans von keinem Geringeren als T. S. Eliot in einer Rezension formuliert wurde. Es lohnt sich, Eliots Sicht der Joyceschen Mythosrezeption an dieser Stelle näher zu beleuchten, um die durchaus wirkmächtige und über Ulysses hinausweisende These der mythischen Parallele mythostheoretisch, geistesgeschichtlich und literaturhistorisch einordnen zu können – auch wenn sie sich letztendlich als problematisch erweisen wird. In seiner 1923 erschienenen Rezension „Ulysses, Order, and Myth“ formuliert Eliot die These, Joyce habe in Ulysses eine durchgehende mythische Parallele zwischen antiker Vergangenheit und moderner Gegenwart gezogen: „a continuous parallel between contemporaneity and antiquity“ (Eliot 1975: 177). Damit habe der irische Romancier eine überzeugende Methode gefunden, die unübersichtliche Gegenwart im Rückgriff auf den Mythos literarisch darstellbar zu machen: In using the myth, in manipulating a continuous parallel between contemporaneity and antiquity, Mr. Joyce is pursuing a method which others must pursue after him. They will not be imitators, any more than the scientist who uses the discoveries of an Einstein in pursuing his own, independent, further investigations. It is simply a way of controlling, of ordering, of giving a shape and a significance to the immense panorama of futility and anarchy which is contemporary history. (Eliot 1975: 177)

Eliot liefert in diesen Zeilen eine grundsätzliche Begründung der literarischen Mythosrezeption, in der man eine Aktualisierung des Herderschen Plädoyers für eine „poetische Heuristik“ (Herder 1985: 449), also den Rückgriff auf die Mythologie als Quelle literarischer Inspiration, erkennen mag. Denn die Anlehnung an einen mythischen Referenzrahmen eröffnet in Eliots Augen neue und dringend

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benötigte Darstellungsmöglichkeiten: „Instead of narrative method, we may now use the mythical method. It is, I seriously believe, a step toward making the modern world possible for art“ (Eliot 1975: 178). Dabei folgt das ästhetische Plädoyer bei Eliot offenkundig einem kulturkritischen Impuls, gelte es doch, die Sinnlosigkeit und das Chaos der modernen Welt („the immense panorama of futility and anarchy which is contemporary history“) literarisch in den Griff zu bekommen. Dass Eliot in diesem Zusammenhang im Mythos den Schlüssel erkennt, ist seinem Mythosverständnis geschuldet. Es ist historisch nicht überraschend, aber doch bedenkenswert, auf welche Mythostheorien bzw. auf welche theoretisch-wissenschaftlichen Mythoskonzeptionen sich Eliot in seiner Rezension explizit bezieht: „Psychology […], ethnology, and The Golden Bough“ (Eliot 1975: 178). In vorangehenden Kapiteln der vorliegenden Studie wurden sowohl psychologische (Freud und Jung) und ethnologische (LévyBruhl und Lévi-Strauss) Mythostheorien als auch das Mythosverständnis Frazers (The Golden Bough) im Zeichen der mythologischen Alterität verortet, da sie im Mythos nicht zuletzt ein Zeugnis des Fremden erkennen. Eliot betrachtet dagegen die Fremdheit in diesem Zusammenhang nur als Oberflächlichkeit und gewissermaßen als Beleg für die tiefgründigere Universalität und Zeitlosigkeit des Mythos. Zumindest zu dem Zeitpunkt, als er „Ulysses, Order, and Myth“ verfasst, sieht Eliot den Mythos gerade nicht als Zeugnis des Fremden, sondern als das, was Fremdes und Eigenes, Vergangenheit und Gegenwart, primitive Kulturen und moderne Zivilisationen zu verbinden vermag.72 Und Eliots Sicht ist in jener Zeit keineswegs singulär, wie Andrew Von Hendy feststellt: Eliot asserts as boldly as Yeats and Lawrence the buried connections between modern humanity and “primitive” myth and ritual. He differs from the others, however, in confining his embrace of “myth” to only a certain, quite sharply defined segment of his career. This is the cultural moment in which he thinks he recognizes a great exemplar in James Joyce’s Ulysses. (Von Hendy 2002: 146)

Von Hendy bescheinigt dem Modernisten Eliot dann auch nicht zu Unrecht ein zwar aktualisiertes, aber in seinen Prämissen letztendlich romantisches

72 Anlässlich eines anstehenden Wiederabdrucks distanziert sich Eliot im Januar 1964 von seiner Rezension (wenn auch nicht explizit von dem zugrundeliegenden Mythosverständnis). In einem kurzen, der neu abgedruckten Rezension nachgestellten Kommentar stellt er fest: „In re-reading, for the first time after many years, this expression of my critical opinion, I am unfavourably impressed by the overconfidence in my own views and the intemperance with which I expressed them. […] To say that the novel ended with Flaubert and James was possibly an echo of Ezra Pound and is certainly absurd. To say that other writers must follow the procedure of Ulysses is equally absurd.“ (Ellmann/Feidelson 1965: 681)



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Mythosverständnis: „He understands myth as produced by a permanent stratum of the human mind, essentially one and the same thing whether given utterance by a preliterate shaman, by Homer or by Joyce when he pays tribute to its contrast with the sordidness of modernity.“ (Von Hendy 2002: 146) Bei genauerer Betrachtung bestätigt Eliots Mythosverständnis dann aber doch die These der mythologischen Alterität (und illustriert, inwiefern die mytho­ logische Differenz von Eigenem und Fremdem selbst dort den diskursiven und gedanklichen Nährboden bildet, wo die Universalität und Zeitlosigkeit des Mythos beschworen wird). Denn Eliots Glaube an die Permanenz bzw. an die Universalität und Zeitlosigkeit („permanent stratum of the human mind“) des Mythos kontrastiert („contrast“) diesen – wie Von Hendy treffend darstellt – mit den Unzulänglichkeiten der eigenen Gegenwart („the sordidness of modernity“). Ein Unbehagen an der eigenen Welt führt zum Blick in die Fremde (die primitive, archaische, vormoderne Welt oder auch die fremde Welt des Unbewussten), wo man das Bleibende und Ewiggültige zu finden hofft, das in der eigenen Lebenswelt nicht mehr zu erkennen ist. So kann der Mythos gerade als Zeugnis des Fremden zum Fluchtpunkt der Kultur- und Zeitkritik und zugleich zum unbelasteten Hoffnungsträger für eine Neubegründung der Moderne werden. Eliot ist mit seinem kulturkritischen Mythosverständnis keineswegs ein Außen­ seiter im modernen Mythosdiskurs. In der vorliegenden Studie kamen bereits mehrere Beispiele für kulturkritische Mythoskonzeptionen zur Sprache. Vorgestellt wurde etwa Mircea Eliade, der den Mythos gegen die entsakralisierte und nur noch im Profanen verharrende Moderne ins Feld führt (vgl. Kapitel 3.2.3 der vorliegenden Studie). Erwähnung fand auch Friedrich Georg Jünger, der – lange bevor sich die Ökologie zu einer einflussreichen Zivilreligion entwickelt hat – im Mythos den Ausdruck eines Verhältnisses zur Welt entdeckte, das sich vorteilhaft von der technischen Ausbeutung der Welt in der Moderne abhebt (vgl. Kapitel 3.2.3 der vorliegenden Studie). Schließlich haben kulturkritische Mythoskonzeptionen auch in der Literatur eindrucksvolle Spuren hinterlassen. An dieser Stelle sei nur auf Eliots Zeitgenossen D. H. Lawrence und dessen Roman The Plumed Serpent aus dem Jahr 1926 verwiesen (Lawrence 1987).73 Schauplatz der Romanhandlung ist das zeitgenössische, von Revolutionen erschütterte Mexiko, wo die Hauptfigur – eine irische Touristin – Zeugin und letztendlich Beteiligte eines Versuches wird, durch die Neubelebung eines indigenen Mythos eine gesellschaftliche, kulturelle und politische Umwälzung in Gang zu setzen. Die Hauptfigur überwindet im Verlauf des Romans

73 Eine ausführliche Interpretation des Romans unter dem Gesichtspunkt der Alterität hat Annegreth Horatschek vorgelegt: vgl. Horatschek 1998.

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allmählich ihr anfängliches Befremden (angesichts eines ihr so unverständlich wie barbarisch erscheinenden Mexikos) und findet schließlich in der bewussten ‚Rückkehr‘ zum Mythos – oder wie es an einer Stelle im Roman heißt: „Con­ sciously reverting to the savage.“ (Lawrence 1987: 138) – eine Antwort auf ihr Unbehagen an der materialistischen Moderne. Diese äußerst knappe Zusammenhang sollte genügen, um eine Verbindung zu Eliots Mythosverständnis erkennbar werden zu lassen. Vereinfacht gesagt, gilt für die europäische Hauptfigur in The Plumed Serpent genauso wie für Eliot: Gerade als Zeugnis des (unberührten oder sich der Berührung entziehenden) Fremden erscheint der Mythos in der als chaotisch und sinnentleert empfundenen Moderne als Orientierungspunkt für eine grundsätzliche Kulturkritik. (Der Kulturkritiker ähnelt in dieser Hinsicht dem Wanderer, der seinen Blick nicht nur auf den unmittelbar vor ihm liegenden Weg richtet, sondern sich immer wieder an einer fernen Landmarke orientiert.) Freilich muss die mythologische Differenz von Eigenem und Fremdem schließlich abgeblendet, relativiert oder in einer postulierten Universalität und Zeitlosigkeit aufgehoben werden, um im fremden Mythos auch die Lösung für die eigenen Probleme finden zu können.74 Damit wäre man wieder bei Eliots Deutung der Joyceschen Mythosrezeption: Ausgehend von seinem Mythosverständnis, das Alterität zwar voraussetzt, aber letztendlich relativiert, erscheint es nur folgerichtig, dass Eliot eine Lesart des Ulysses propagiert, die sich auf eine mythische Parallele konzentriert. Die These der mythischen Parallele steht in diesem Sinne nicht nur für eine spezifische Sicht bzw. ein Modell der Mythosrezeption, sondern ist die logische Schlussfolgerung aus einem allgemeineren Mythosverständnis. Nun setzt natürlich auch

74 Die Wiederbelebung der alten Mythen war freilich nicht nur ein exotisches Thema der Fiktion, sondern durchaus ein reales Anliegen. Man kann in diesem Zusammenhang an W. B. Yeats denken, der sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als Advokat der keltischen Mythologie engagiert hat. Im Vorwort zu einer Sammlung von Erzählungen aus der keltischen Mythologie beschreibt Yeats die Zielstellung seines Engagements wie folgt: „We Irish should keep these personages much in our hearts, for they lived in the places where we ride and go marketing, and sometimes they have met one another on the hills that cast their shadows upon our doors at evening. If we will but tell these stories to our children the Land will begin again to be a Holy Land, as it was before men gave their hearts to Greece and Rome and Judae.“ (Gregory 1970: 17) Yeats ermahnt hier seine irischen Landsleute, auch vor dem Hintergrund einer über Jahrhunderte andauernden englischen Fremdherrschaft, das mythologische Erbe nicht dem Vergessen anheim fallen zu lassen. Die keltische Mythologie, und damit stellt sich der Dichter und Dramatiker in eine romantische Tradition, könnte gar als das kulturelle Fundament für ein neues, heiliges Irland dienen und dessen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verquicken. Zumindest für den jungen Yeats gilt: „[He] saw Ireland’s myths and legends both as an imaginative resource and as the potential locus of national identity.“ (Pethica 2006: 140)



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Parallelität eine Differenz, ja genaugenommen sogar eine starre Differenz voraus, wenn man die geometrische Bedeutung des Begriffs ernst nimmt: Zwei Geraden sind dann Parallelen, wenn zwischen ihnen durchgängig ein konstanter Abstand besteht, sie sich also nicht schneiden können. Freilich spielt dieser Aspekt in der Regel keine Rolle, sobald von Parallelen in einem nicht-geometrischen bzw. im übertragenen Sinne die Rede ist. Dann wird Parallelität nämlich zum Synonym für Ähnlichkeit, Gleichartigkeit oder Analogie. Wenn Eliot die Bedeutung einer durchgängigen Parallele in Ulysses beschwört, dann offenbart das eine Perspektive auf die Mythosrezeption, die der Perspektive der mythologischen Alterität entgegengesetzt ist und statt auf Distanz auf Nähe, statt auf Differenz auf Identität, statt auf Abweichung auf Ähnlichkeit fokussiert. Nun mag Eliots Rezension ein anschauliches Dokument des kulturkritischen Mythosdiskurses sein und die These einer mythischen Parallele intuitiv plausibel und noch dazu höchst praktisch erscheinen – der Joyceschen Mythosrezeption werden weder Eliots Rezension noch der Begriff der Parallele wirklich gerecht. So erkennt z. B. Von Hendy in Eliots Rezension ein Missverständnis: „He [Eliot, d. Verf.] appears to misread Joyce, but reveals in the process, as usual, a good deal about his own crucial assumptions.“ (Von Hendy 2002: 146) Eliots Deutung verrate mehr über die Poetik des Rezensenten, und insbesondere über dessen eigenen Beitrag zur modernistischen Mythosrezeption, als über den Gegenstand der Rezension: „The Waste Land, not Joyce’s Ulysses, is the true subject of Eliot’s review“ (Von Hendy 2002: 148). Dass Eliots Rezension auf den vorangehenden Seiten trotzdem ausführlicher beleuchtet und nicht kurzerhand unter der Rubrik ‚falsche Interpretationsansätze‘ verbucht wurde, hat mehrere Gründen. Zum einen verdichtet sich in ihr ein historischer Mythosdiskurs, der zum literatur- und geistesgeschichtlichen Kontext des Joyceschen Romans gehört – und auf den der Joycesche Roman reagiert. Zum anderen ist das Postulat der Universalität und Zeitlosigkeit des Mythos, das Eliots Deutung zugrunde liegt, im Gegensatz zum kulturkritischen Impetus des konservativen Modernisten nie aus der Mode gekommen und stellt nach wie vor ein verlockendes Interpretationsangebot für Ulysses wie auch für andere Werke der literarischen Mythosrezeption dar. So spricht beispielsweise Bernard McKenna zwar nicht mehr explizit von einer mythischen Parallele, sondern vom Kontext des antiken Mythos, in den Joyce seinen Roman stelle. Aber allein durch diese Kontextualisierung würden Romanhandlung und Romanfiguren ins Zeitlose entrückt: „In choosing to place his work in the context of ancient myth, Joyce makes a gesture at timelessness, to say that something about his characters, living in 1904 Dublin, connects them to all people throughout time.“ (McKenna 2002: 142) Etwaige historische, kulturelle oder weltanschauliche Differenzen zwischen der Welt des Romans (die in

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diesem Fall ja auch die Welt des Romanciers ist) und der Welt des Mythos, zwischen Antike und Moderne, zwischen archaischer Vergangenheit und alltäglicher Gegenwart treten bei dieser Betrachtungsweise in den Hintergrund. Dies gilt auch für Declan Kiberds Einschätzung der zwei Hauptfiguren im Joyceschen Roman: „in re-enacting the roles of Telemachus and Odysseus, these characters [Stephen Dedalus, Leopold Bloom – d. Verf.] remind us of what peoples have in common across the ages“ (Kiberd 2000: xxix). Die Romanfiguren werden von Kiberd als Wiedergänger (oder Reinkarnationen) mythologischer Vorbilder wahrgenommen und dabei das Verbindende, nicht das Trennende, die Ähnlich­ keit, nicht die Abweichung, hervorgehoben. Die Attraktivität einer solchen Interpretation erschließt sich sofort: Denn wer wüsste nicht gerne, was die Menschen aller Zeiten und Kulturen verbindet? Wer wäre nicht darüber erfreut, den eigenen Alltag – inspiriert von der Ulysses-Lektüre – im Lichte des Zeitlosen und Universellen glänzen zu sehen? ‚Mythologische Identität‘ (und nicht Alterität) wäre der passende Leitbegriff für diese Deutung der Joyceschen Mythosrezeption, die eine wesentliche These der vorliegenden Studie – der Mythos fungiere auch in der Literatur nicht zuletzt als ein Zeugnis des Fremden – herausfordert. Daher soll nun im Folgenden gezeigt werden, dass die Kritik an Eliot und seiner These einer durchgehenden mythischen Parallele einerseits berechtigt ist und sich andererseits auch auf alle Versuche ausweiten lässt, im Fall des Ulysses eine ‚mythologische Identität‘  – „what peoples have in common across the ages“ (Kiberd 2000: xxix) – in den Vordergrund zu rücken. Dabei gilt es freilich, Augenmaß zu bewahren: Denn wer im Joyceschen Roman vor allem eine mythische Parallele oder das Moment des Überzeitlichen und Universellen erkennt, wer also die eingangs erläuterte Diskrepanz zwischen Titel und Text mittels einer Identifizierung von Mythos und Roman aufzuheben versucht, der liest den Roman nicht ‚falsch‘, sondern muss sich den Vorwurf der Einseitigkeit gefallen lassen. Bei genauerer Betrachtung, ja eigentlich schon bei einer naiven Lektüre, fällt nämlich auf, dass der Text die Diskrepanz in verschiedener Hinsicht sogar zu forcieren scheint und somit die mythologische Differenz von Eigenem und Fremdem eben gerade nicht in einer durchgängigen Parallele oder im Zeitlosen aufgehoben wird.

4.4.3 Abweichungen und Relativierungen: Zur Unzuverlässigkeit der mythischen Parallele in Ulysses Wenn man mit Blick auf Ulysses die These der mythischen Parallele zu belegen versucht, bieten sich zwei Vorgehensweisen an. Man kann zum einen den Roman auf eine verallgemeinernde Weise zusammenfassen, also den umfangreichen,



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vielschichtigen und komplexen Roman auf das mythologische Muster der Odyssee zurückführen. Zum anderen kann man anhand einzelner Passagen des Romans konkrete Korrespondenzen zur mythologischen Vorlage nachweisen, wie im vorangehenden Abschnitt am Beispiel der Cyclops-Episode angedeutet wurde. In beiden Fällen wählt man ein abstrahierendes Verfahren, das die Vielschichtigkeit des Romans deutlich reduziert, und das zudem mit der normalen Lektüre­ erfahrung der allermeisten (ja selbst der professionellen) Leser nur wenig zu tun haben dürfte. Es geht an dieser Stelle wohlgemerkt nicht um die triviale Erkenntnis, dass Interpretationen eines literarischen Textes stets von ihrem Gegenstand abstrahieren, sondern um ein Charakteristikum der Joyceschen Mythosrezeption. Dieses besteht darin, dass in Ulysses die tatsächlichen oder potentiellen Bezüge zur mythologischen Vorlage häufig nicht ohne Weiteres zu identifizieren sind, dass sie meist mehrdeutig, oft rätselhaft und in vielen Fällen ironisch gebrochen sind. Gut veranschaulichen lässt sich dieser Charakter der Joyceschen Mythos­ rezeption anhand der ersten Seiten des Romans. Für diesen Zweck bietet sich – statt eines close reading – die Simulation bzw. Dokumentation einer ‚naiven‘ Lektüre an, wobei von den folgenden Prämissen ausgegangen wird: Der hypothetische Leser hat den Roman gerade zum ersten Mal aufgeschlagen, beginnt mit dessen Lektüre und erwartet – den Titel ernst nehmend – eine moderne Adaption des homerischen Epos bzw. eine Neubearbeitung der mythologischen Geschichten über Odysseus. Auf welche Signale und Korrespondenzen kann er dabei stoßen? „Introibo ad altare Dei“ (Ulysses 1) – so lauten die ersten Worte, die im Roman gesprochen (bzw. deklamiert) werden. Sie stammen aus der katholischen Messe, aber wer mit Homer vertraut ist, wird sie unter Umständen mit dem Musenanruf am Anfang des Epos in Verbindung bringen: „Sage mir Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes“ (Homer 1977: 3, I:1). Dass der Roman mit einem katholischen Musenanruf beginnt, ließe sich recht einfach damit erklären, dass der Schauplatz der Romanhandlung das katholische Irland ist. Allerdings wäre damit auch die Frage aufgeworfen, ob man es mit einem katholischen bzw. katholisierten Epos zu tun hat. Zugleich ist nicht zu übersehen, dass es sich bei dem vermeintlichen Musenanruf um den Scherz einer Romanfigur handelt: „Stately, plumb Buck Mulligan came from the stairhead, bearing a bowl of lather on which mirror and a razor lay crossed. A yellow dressing gown, ungirdled, was sustained gently behind him by the mild morning air. He held the bowl aloft and intoned: – Introibo ad altare Dei.“ (Ulysses 1) Eine Schüssel mit Rasierschaum, Spiegel und Rasierer als liturgische Gegenstände (oder Opfergaben für die Muse) und ein Morgenmantel als rituelles Gewand: Kann oder soll man diesen Musenanruf als Leser überhaupt ernst nehmen?

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Fühlt man sich als Leser noch unschlüssig, wie man den merkwürdigen Musenanruf einordnen soll, so wird man einige Zeilen später mit dem nächsten Rätsel in Gestalt einer Figur griechischen Namens konfrontiert: „Stephen Deda­ lus“ (Ulysses 1). Der Nachname ist nicht nur griechisch, sondern zugleich der Name einer bekannten mythologischen Figur, die allerdings in Homers Odyssee doch eigentlich gar keine Rolle spielt. Manch ein Leser wird an dieser Stelle wohl an seinen mythologischen Kenntnissen zu zweifeln beginnen. Erleichterung findet man dann unter Umständen auf der zweiten Seite: „The mockery of it, he said gaily. Your absurd name, an ancient greek.“ (Ulysses 2) Ist der Nachname des Stephen Dedalus nur ein Scherz? Freilich könnte man auch noch weiter gehen und den Ausruf Buck Mulligans auf den gesamten Roman und dessen Titel beziehen. Ist Ulysses als mockery zu lesen? Wer mit der Literaturgeschichte vertraut ist, dürfte sich an dieser Stelle an die literarische Tradition des mock-epics erinnert fühlen, zumal der ironische Grundton der ersten Seiten des Ulysses eine Affinität des modernen Romans zu dieser historischen literarischen Form andeutet. Sollte man den Roman deshalb analog etwa zu Alexander Popes The Rape of the Lock (1714; Pope 1993) oder in Erinnerung an Henry Fieldings frühe Romandefinition – aus dem „Preface“ zu Joseph Andrews (1742) – als „comic Epic-Poem in Prose“ (Fielding 1967: 4) lesen? Die mythische Parallele, die Eliot beschwört, wäre dann primär ein Garant komischer Effekte, aber kaum ein Ordnungsprinzip, um dem Chaos und der Anarchie der modernen Welterfahrung literarisch beizukommen. An der ausgeprägten Selbstreferentialität des Ulysses mag man auf jeden Fall nicht mehr zweifeln, wenn nur einige Zeilen später von Buck Mulligan der folgende Vorschlag geäußert wird: „We must go to Athens. Will you come if I can get the aunt to fork out twenty quid?“ (Ulysses 2) Aufforderung und Frage verweisen zum einen auf die kulturelle Verortung der mythologischen Vorlage und insistieren zum anderen darauf, dass man eben gerade nicht in Athen oder Griechenland sei. Nach dem selbstreferentiellen Witz zurück zu den homerischen Bezügen: „How long is Haines going to stay in this tower? Buck Mulligan showed a shaven cheek over his right shoulder. – God, isn’t he dreadful? he said frankly. A pond­er­ ous Saxon. […] Bursting with money and indigestion.“ (Ulysses 2) Mit der Figur Haines, einem Engländer, tritt im Roman offenkundig ein ungebetener Gast auf, was an die aufdringlichen Freier am Hofe des abwesenden Odysseus erinnert, die um Penelope werben und es sich dabei unverschämt gut gehen lassen. Haines’ Verdauungsbeschwerden dürfen demnach – homerisch abgesichert – durchaus mit einem Schmunzeln quittiert werden. Nun ist es unwahrscheinlich, dass man als Leser den Ulysses völlig unvorbereitet zur Hand nimmt. Vermutlich hat man bereits etwas von der vermeintlichen



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mythischen Parallele gehört und meint sich zu erinnern, dass die Romanfigur Stephen Dedalus an die mythologische Figur Telemachus, den Sohn des Odysseus und der Penelope, angelehnt ist. Doch was hat es dann mit der folgenden Passage auf sich? „You could have knelt down, damn it, Kinch, when your dying mother asked you, Buck Mulligan said. I’m hyperborean as much as you. But to think of your mother begging you with her last breath to kneel down and pray for her. And you refused. There is something sinister in you …“ (Ulysses 4) Stephens Mutter ist offensichtlich verstorben, doch in der mythologischen Vorlage ist die Mutter des Telemachos nicht nur am Leben, sondern eine zentrale Figur. Ist es demnach ein Irrtum, von einer Korrespondenz zwischen Stephen und Telemachos auszugehen, oder hat man es hier mit einer signifikanten und ganz bewussten Abwandlung der mythologischen Vorlage zu tun? Gerade an der Einführung der Figur des Stephen Dedalus zeigt sich, wie prekär der Status der mythologischen Bezüge ist: Einerseits ist Stephen offenkundig ein junger Mann mit geringem Einfluss und (zunächst) zur Passivität verdammt. Kurzum: Es gibt Anzeichen, die dafür sprechen, dass man es bei der Figur des Stephen Dedalus mit einer irischen Reinkarnation des Telemachos zu tun hat. Andererseits gibt es aber auch deutliche Signale, die eine solche Identifizierung oder Überblendung eigentlich verbieten. Während der Leser nun nach den ersten Seiten noch rätselt, ob und inwiefern in der Figur des Stephen Dedalus eine mythologische Figur aus Homers Epos aktualisiert wird, legt der Text bereits eine neue Spur: „What is your idea of Hamlet? Haines asked Stephen.“ (Ulysses 20) Der ungebetene Gast bringt mit Hamlet eine weltliterarische Figur ins Spiel, die ebenfalls als Vorbild für Stephen Dedalus taugen könnte. Und wie zur Bekräftigung unterstreicht Haines die Möglichkeit einer shakespearschen Parallele mit Blick auf den Schauplatz der Handlung: „I mean to say, Haines explained to Stephen as they followed, this tower and these cliffs here remind me somehow of Elsinore.“ (Ulysses 21) Wie soll und kann der Leser auf dieses Interpretationsangebot reagieren? Sollte das shakespearsche Drama einen Schlüssel zum Verständnis des Romans bieten? Und falls ja: Ersetzt, ergänzt oder konterkariert es als Prätext den im Titel evozierten homerischen Prätext? Ohne diese Spur weiterzuverfolgen, kann festgehalten werden, dass es sich hier nicht um eine vollkommen abwegige Spur handelt. Und doch mag man selbst an dieser Stelle ein Moment der Ironie erkennen. Liegt nicht Dänemark – einem gerne kultivierten Philhellenismus zum Trotz – nüchtern betrachtet näher als Ithaka? Oder erlaubt sich der Autor hier einen Scherz auf Kosten einer Figur, die als Engländer die britische Kolonialmacht vertritt? Schließlich ist es Haines, der ungebetene Gast, den die Küstenszenerie an Helsingör erinnert. Offenbart hier die Kolonialmacht ihre Unkenntnis und ihr Unverständnis der Kolonie, wenn sich ihr Vertreter im falschen Land bzw. im falschen weltliterarischen Text wähnt?

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Dass Haines ausgerechnet ein englisches Werk der Weltliteratur ins Spiel bringt, könnte in diesem Sinne als Spitze gegen den Kulturchauvinismus der Kolonialmacht zu verstehen sein.75 Schließlich stellt sich bei der Lektüre des ersten Kapitels noch die Frage, wo eigentlich der titelgebende Held bleibt? Auch wenn Odysseus im homerischen Epos nicht gleich zu Beginn als handelnde Figur auftritt, ist er bzw. sein Name doch von Anfang an präsent. Es ist gut möglich, dass manch ein Leser zunächst sogar in der Figur des Buck Mulligan den Wiedergänger des Odysseus vermutet. Schließlich beginnt der Roman – wie bereits erwähnt – mit einem einprägsamen Auftritt Mulligans, der zudem eine sehr markante Figur ist. Nun wird selbstverständlich jeder Leser die ersten Seiten des Ulysses – und die angeführten Stellen – je nach Vorwissen und Gründlichkeit der Lektüre auf seine Weise lesen und verstehen. Allerdings kann man Eliots Einschätzung, Joyce hätte mit der mythischen Parallele ein Ordnungsprinzip gefunden, um die unübersichtliche Gegenwart darstellbar zu machen, zumindest nach der Lektüre der ersten Seiten schwerlich teilen. Ganz im Gegenteil: Die vermeintliche Parallele gibt permanent Rätsel auf und lenkt zudem, wenn man ihr nachgeht, vom eigentlichen Geschehen im Roman ab. Und selbst wenn man den Fokus auf die potentielle Parallele bis zum Ende des Romans durchhält, dürften Zweifel an der ordnenden Kraft der Parallele bei den meisten Lesern bestehen bleiben. Denn auch im Hinblick auf den Roman in seiner Gesamtheit erweist sich die vermeintliche Parallele zur mythologischen Vorlage als unzuverlässiges Ordnungsprinzip und wenig vertrauenswürdige Orientierungshilfe. So ist es offenkundig unmöglich, den Gang der Entwicklungen im Roman im Rückgriff auf das homerische Epos vorherzusagen, denn Joyce hält sich nicht an die Chronologie des Epos: „‚Hades‘ comes before ‚Circe‘, though it was Homer’s Circe who directed Odysseus to Hades.“ (Kenner 1987: 26) Außerdem schlüpfen einige Figuren des Romans in unterschiedliche mythologische Rollen: „In passing, as it were, from one playlet to another characters can change Homeric roles. Molly Bloom plays Calypso, also Penelope.“ (Kenner 1987: 27) In der 4. Episode, die unter dem Titel „Calypso“ firmiert, wird Molly Bloom als Figur eingeführt. Sie scheint die Rolle der Nymphe Kalypso zu verkörpern, die Odysseus jahrelang auf ihrer Insel festgehalten hat. Da sie aber die Ehefrau des Protagonisten Leopold Bloom – des mit dem Romantitel gemeinten modernen Ulysses – ist, füllt sie ebenso die Rolle der Penelope aus und hat in dieser Rolle im letzten Kapitel des Romans („Penelope“) – mit dem berühmt gewordenen, sich über viele Seiten hinziehenden 75 Wenn die hier nachvollzogene Lektüre der ersten Seiten des Ulysses immer wieder in den Konjunktiv verfällt, dann ist das keine sprachliche Manieriertheit, sondern soll der im Text forcierten Uneindeutigkeit gerecht werden.



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Bewusstseinsstrom – sogar das letzte Wort im Roman. Da dieser Rollenwechsel bzw. die Rollenüberlagerung für den Leser nicht vorhersehbar ist, stellen sich auch in diesem Fall die mythologischen Korrespondenzen letztendlich als willkürlich oder kontingent dar. Hinzu kommt, dass sich die Joyceschen Figuren (ganz abgesehen von etwaigen ‚Rollenwechseln‘) in wesentlichen Punkten von ihren mythologischen Vorbildern unterscheiden. Wie gerade ausgeführt, ist man z. B. als Leser – dem durch den Romantitel geschürten Sehzwang folgend – geneigt, die Figur der Molly Bloom als eine moderne Wiedergängerin der mythologischen Penelope zu identifizieren. Diese Rolle überzeugend auszufüllen, ist freilich keine leichte Aufgabe, denn Penelope verkörpert nicht weniger als ein Ideal des Weiblichen bzw. das Ideal einer treuen Ehefrau, wie die folgenden Verse aus dem homerischen Epos (in der Übertrag von Johann Heinrich Voss) bezeugen: Glücklicher Sohn Laertes’, erfindungsreicher Odysseus, Wahrlich dir ward ein Weib von großer Tugend beschieden! Welche treffliche Seele hat doch Ikarios’ Tochter Penelopeia! Wie treu die Edle dem Manne der Jugend, Ihrem Odysseus, blieb! Oh, nimmer verschwindet der Nachruhm Ihrer Tugend; die Götter verewigen unter den Menschen Durch den schönsten Gesang die keusche Penelopeia! (Homer 1977: 344, XXIV:191–197)

Wie die homerische Penelope vor allem in ihrer Rolle als Gemahlin des epischen Helden hervortritt, tritt auch Molly Bloom vor allem als Ehefrau des modernen Alltagshelden Leopold Bloom im Roman hervor. Im Unterschied zu ihrer mythologischen Vorgängerin kann man ihr freilich weder eheliche Treue noch weibliche Keuschheit attestieren. Penelope hatte sich, während der jahrelangen Abwesenheit ihres Gemahls, den Avancen aufdringlicher Freier hartnäckig widersetzt. Odysseus kehrt dementsprechend von seiner Irrfahrt zu einer ihm treu gebliebenen Gemahlin zurück. Dagegen stößt Leopold Bloom bei seiner nächtlichen Rückkehr nach Hause und ins Ehebett auf die Spuren von Mollys Ehebruch. Die betreffende Szene wird im Roman in Form eines Katechismus geschildert: „What did his limbs, when gradually extended, encounter? New clean bedlinen, additional odours, the presence of a human form, female, hers, the imprint of a human form, male, not his, some crumbs, some flakes of potted meat, recooked, which he removed.“ (Ulysses 862–863) Dabei ist Molly Bloom keineswegs das unschuldige Opfer einer gewieften Verführung geworden, wie ihre alles andere als keuschen Erinnerungen an den Seitensprung dokumentieren: „because he must have come 3 or 4 times with that tremendous big red brute of a thing he has I thought the vein or whatever the dickens they call it was going to burst though his nose is not so

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big after I took off all my things with the blinds down after my hours dressing and perfuming and combing“ (Ulysses 876–877). Der Charakter der Figur Molly Bloom erschließt sich demnach nicht, wenn man lediglich nach der Ähnlichkeit mit der mythologischen Vorlage fahndet. Vielmehr muss man das Verhältnis der Romanfigur zu ihrer mythologischen Vorlage auch als ein Kontrast- und Abgrenzungsverhältnis betrachten, das man mit dem Begriff der Parallele oder einer emphatischen Betonung von überzeit­ lichen Gemeinsamkeiten schwerlich erfasst. In diesem Sinne lenkt der Text das Augenmerk des Lesers eben nicht (nur) darauf, „what peoples have in common across the ages“ (Kiberd 2000: XXIX), sondern sensibilisiert (zugleich) dafür, ‚what peoples do not have in common across the ages‘. Genauer gesagt, richtet der Roman eigentlich die entsprechende Frage an den Leser. Der muss bei seiner Lektüre entscheiden, was an den Romanfiguren zeitlos und was zeitspezifisch ist, was diese Figuren mit den mythologischen Gestalten, denen man im homerischen Epos begegnet, gemein haben und worin sie sich von jenen unterscheiden. Man darf also Wolfgang Isers Feststellung zustimmen, die mythische Pa­ral­ lele könne keine verlässliche Grundlage für die Lektüre bilden: „Ziehen die Homeranspielungen ein bekanntes Repertoire der literarischen Tradition in den Text hinein, so schnellen die angedeuteten Parallelen eher auseinander, statt zu konvergieren.“ (Iser 1972: 280) Da sich die vermeintlichen Parallelen im Roman verlieren, stellen sie für den Leser keine Orientierung dar und können von diesem höchstens retrospektiv rekonstruiert werden: „the parallel is a dangerous guide to what is actually happening. We need to observe what the characters are up to before we can ask what to make of the Homeric presence.“ (Kenner 1987: 19) Von einer durchgängige Parallele („a continuous parallel“) zwischen archaischer Vergangenheit bzw. mythischer Antike und alltäglicher Gegenwart kann insofern keine Rede sein, da die unbestreitbar zahlreichen Korrespondenzen, zumal die kleineren, zwischen Ulysses und der Odyssee nicht in einem umfassenden und stringenten mythischen Plan aufgehen, wie Hugh Kenner bemerkt hat: „As for the lesser correspondences, many of them are trivial. Some, if we chance to know them, lend definition, some contrast. Joyce listed many, did not list many, and some that we see he may not have thought of at all. Their dubious immanence adds fun to our endless exploration of his book.“ (Kenner 1987: 30) Folglich erfüllen die Korrespondenzen im Roman keine vorhersehbaren oder gleichbleibenden Funktionen – und können zudem Verwirrung stiften, wenn man sich bei der Lektüre an ihnen festklammert. Außerdem bleibt festzuhalten, dass die Korrespondenzen häufig keine Analogien oder Parallelen begründen, sondern Kontraste, was Joyce ausführlich für komische Effekte nutzt. Man kann daher leicht zu der Überzeugung gelangen, dass die Korrespondenzen in ihrer Gesamtheit nicht eine besondere Nähe zwischen archaischer Vergangenheit und



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alltäglicher Gegenwart beschwören, sondern – ganz im Gegenteil – dem Roman eine ironische Distanz zum Mythos verleihen.76 Schließlich erscheint nicht nur die Durchgängigkeit und Zuverlässigkeit, sondern auch die Maßgeblichkeit der vermeintlichen mythischen Parallele fraglich, wenn man gewahr wird, dass das homerische Epos keineswegs den einzigen Bezugsrahmen des Romans darstellt. Verbindungslinien lassen sich beispielsweise auch zu Shakespeares Hamlet ziehen, zumal der Roman selbst – wie bereits gezeigt – schon im ersten Kapitel einen entsprechenden Fingerzeig gibt: „a keen eye for pattern can conflate many books. Usurpers, an absent hero, a young man in trouble: that describes Hamlet, too, and Stephen’s discussion of the play (‘Scylla and Charybdis’) in equating a ghost by death with a ghost by absence (9.174) in effect equates the Hamlet pattern with the Odyssey pattern“ (Kenner 1987: 28). Weiterhin kann man in der ebenfalls bereits erwähnten Namensgebung der Figur Stephen Dedalus einen Hinweis auf einen weiteren mythologischen Bezugsrahmen erkennen.77 Schließlich gibt es Quellen, aus denen sich der Joycesche Roman speist und zu denen Korrespondenzen bestehen, die nicht der Weltliteratur oder der Classical Tradition zuzuordnen sind: „Decades later a cardinal insight, elaborated by several researchers, concerned the unexpected extent to which Joyce based it on the Dublin section of Thom’s Official Directory of the United Kingdom of Great Britain and Ireland, all stray copies of the 1904 edition of which have consequently vanished into research libraries.“ (Kenner 1987: 2) Erkenntnisse wie diese relativieren die Bedeutung der mythologischen Vorlage und der mythischen Pa­ral­ lele für den Joyceschen Roman. (Dessen ungeachtet ist es selbstverständlich im Zweifelsfall erhebender, die Lektüre des Ulysses mit einer Lektüre der Odyssee und nicht mit dem Studium eines Einwohnerverzeichnisses zu verbinden.) Diese Relativierung hat freilich Joyce selbst schon vor der Fertigstellung des Romans vorgenommen. In dem bereits zitierten Brief ist seine Ankündigung, den Mythos sub specie temporis nostri darstellen zu wollen, nämlich nur einer unter zahlreichen Hinweisen auf Bezugspunkte und Stoßrichtung des Romans.78 Auch 76 Damit stellt sich die grundsätzliche Frage nach dem Charakter des mythologischen Anspielungshorizonts, wie z. B. Ulrich Blumenbach anmerkt: „If it is not analogies, parallels, and correspondences which are at stake then, but rather contrasts, reductions, and doubtful distorting mirrors which let the novel appear as ‚Parodyssey‘ and establish ironical distance, then how, exactly, does Homer serve as a foil?“ (Blumenbach 1993: 335) Im letzten Abschnitt des vorliegenden Kapitels wird mit dem Begriff des Spannungsfeldes eine Antwort auf diese Frage gegeben. 77 Zu weiteren mythologischen Spuren – der Geschichte des Daidalos und dem Mythos von Er – in Ulysses vgl. Gifford 2002. 78 Zur Veranschaulichung hier ein ausführlicher Auszug: „Concerning Mr Dessy’s suggestion I think that in view of the enormous bulk and the more than enormous complexity of my three

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in Gilberts Schema des Ulysses, das von Joyce autorisiert wurde, ist die mythische Parallele nur als eines von verschiedenen Ordnungsprinzipien aufgeführt, da jedem Kapitel nicht nur ein an die Odyssee angelehnter Titel zugeordnet ist, sondern jeweils auch ein Organ des Körpers, eine Wissenschaft oder Kunstfertigkeit, eine Farbe, ein Symbol und schließlich eine Technik (vgl. Kiberd 2000: xxiii). Vor diesem Hintergrund – und wenn man sich nicht vom herausragenden Renommee des homerischen Epos blenden lässt – kann man also durchaus zu der Schlussfolgerung gelangen, dass die homerischen Bezüge im Text keine Sonderstellung einnehmen: The Odyssean parallels are not different in kind from the other sets of correspondences in the way they stiffen for the writer the texture of his episodes and disseminate for the reader the networks of symbol and allusion. As the other sets are local structural rules, arbitrary in the sense that they might well have been arranged otherwise, so is the set of Odyssean parallels. (Von Hendy 2002: 149)

Demnach kommt die Fokussierung auf die mythische Parallele bzw. einen home­ risch-mythologischen Ordnungsrahmen – zugespitzt formuliert – dem Einsatz einer interpretatorischen Zwangsjacke gleich, nämlich dem Versuch, „to straitjacket the whole text in Homeric correspondences“ (Blumenbach 1993: 334), womit nicht nur dem Sehzwang nachgegeben, sondern auch dem Text Zwang angetan wird. Sicherlich mag man mit Hilfe der mythologischen Vorlage einzelne Episoden oder Aspekte des Romans aufschlüsseln, aber die Vorstellung, das homerische Epos oder der Mythos wäre der Generalschlüssel zum Roman, ist letzten Endes eine humanistische oder mythophile Wunschvorstellung. Da sich die vermeintliche mythische Parallele, die Eliot beschworen hat, als unzuverlässige Orientierungshilfe erweist und eher Verwirrung als Ordnung stiftet, mag es folgerichtig erscheinen, wenn man sich dem von Iser identifizierten Sehzwang schlicht und ergreifend entzieht. Und immerhin fände eine solche times blasted novel it would be better to send you a sort of summary – key – skeleton – scheme (for your personal use only). […] I have given only catchwords in my scheme but I think you will understand it all the same. It is an epic of two races (Israelite – Irish) and at the same time the cycle of the human body as well as a little story of a day (life). The character of Ulysses always fascinated me – even when a boy. Imagine, fifteen years ago I started writing it as a short story for Dubliners! For seven years I have been working at this book – blast it! It is also a sort of encyclopaedia. My intention is to transpose the myth sub specie temporis nostri. Each adventure (that is, every hour, every organ, every art being interconnected and interrelated in the structural scheme of the whole) should not only condition but even create its own technique. Each adventure is so to say one person although it is composed of persons – as Aquinas relates of the angelic hosts.“ (Joyce 1966: 146–147)



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Verweigerungshaltung schon in der frühen Ulysses-Rezeption einen prominenten Gewährsmann: Ezra Pound. Pound hatte noch im Erscheinungsjahr des Romans in seiner Rezension die homerisch-epischen Bezüge lediglich als ein Gerüst identifiziert, das dem Autor dienlich sei, dem Leser aber weitgehend egal sein könne: In this super-novel our author has also poached on the epic […]. Telemachus, Circe, the rest of the Odyssean company, the noisy cave of Aeolus gradually place themselves in the mind of the reader, rapidly or less rapidly according as he is familiar or unfamiliar with Homer. These correspondences are part of Joyce’s mediaevalism and are chiefly his own affair, a scaffold, a means of construction, justified by the result, and justifiable by it only. The result is a triumph in form, in balance, a main schema, with continuous inweaving and arabesque. (Pound 1922: 406)

Es ist bemerkenswert, wie Pound die homerisch-mythische Dimension scheinbar ohne Skrupel als technisches Hilfsmittel abhandelt. Aber angesichts des Charakters der mythologischen Bezüge im Roman ist Pounds Befund – „cont­inu­ ous inweaving and arabesque“ – treffender als Eliots These einer „continuous ­parallel“.79 Mit der These, in Ulysses käme eine mythische Parallele zum Tragen, wird die mythologische Differenz von Eigenem und Fremdem (bzw. von modernem Roman und antikem Epos, von alltäglicher Gegenwart und archaischer Vergangenheit etc.) auf ein Verhältnis der Identität, zumindest aber der Ähnlichkeit und der Nähe zurückgeführt. Der besondere Reiz dieser These besteht dementsprechend in der mit ihr auf den Punkt gebrachten ‚Entdeckung‘, dass die Differenz zwischen Leopold Bloom und Odysseus, Vertrautem und Unvertrautem, Nahem und Fernem nur eine vermeintliche oder oberflächliche Differenz ist. Allerdings entpuppt sich diese ‚Entdeckung‘ im Hinblick auf Ulysses vor allem als eine Projektion, denn deskriptiv stößt die These einer mythischen Parallele schnell an ihre Grenzen – oder anders formuliert: Die vermeintliche Parallele führt Leser wie Interpreten in die Irre. Dementsprechend und im geistes- und kulturgeschichtlichen Kontext seiner Entstehungszeit lässt sich der Roman somit durchaus als eine ironische Replik auf jene kulturkritische Mythophilie lesen, die im Mythos ein Remedium gegen die Zumutungen der Moderne erkannt und in Eliots These von der mythischen Parallele ihren Ausdruck gefunden hat. Der Rückgriff auf den Mythos – so scheint Joyce mit seiner Mythosrezeption zu bedeuten – erweist sich schwerlich als geeignete Strategie, um die nicht nur von Eliot konstatierten Defizite der Moderne – „futility and anarchy“ (Eliot 1975: 177) – zumindest literarisch in den Griff zu bekommen. Vielmehr erfüllt der Mythos für den Roman nur bei stark abstrahierender 79 Vgl. zu den Positionen Pounds und Eliots als Pole der Ulysses-Forschung: Litz 1972.

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Betrachtung eine stabilisierende und ordnende Funktion: Joyce „undercuts the signifying reliability of myth just as he does the stability of all other forms of verbal and narrative construction“ (Von Hendy 2002: 136). Der moderne Rückgriff auf den prä-, a- oder antimodernen Mythos scheint in diesem Sinne das Problem sogar noch zu verschärfen. Schließlich wird zumindest im Joyceschen Roman die dargestellte Welt nicht verständlicher, zugänglicher oder übersichtlicher, wenn man den Text konsequent vor der Folie des homerischen Epos liest. Im Gegenteil: Die Textwelt erscheint durch ihre mythische Dimension mehrdeutiger, komplexer und tiefgründiger. Dessen ungeachtet mutet freilich auch Ezra Pounds Verdikt zu extrem (zu­ mindest aber zu einseitig) an. Denn selbst wenn man, wie auf den vorangehenden Seiten illustriert, die Verlässlichkeit, Kohärenz oder Autorität der mythologischen Korrespondenzen in Zweifel ziehen kann, lässt sich deren Existenz schwerlich ausblenden. Die Bezüge (auch in ihrer Vermeintlichkeit) und die angedeuteten Parallelen gehören zum Roman dazu. Der von Iser konstatierte Sehzwang prägt zwangsläufig die Leseerfahrung, denn selbst der unbedarfteste Leser (falls es solch einen Leser des Ulysses gibt) dürfte sich fragen, was der Titel mit der Romanhandlung zu tun hat. Wer die vermeintliche Parallele und den von Joyce selbst geschürten Sehzwang abblendet, ignoriert eine wesentliche Dimension des Textes. Wenn also das Modell der Parallele versagt, erscheint es geboten, nach einem besseren Modell Ausschau zu halten, das der Eigentümlichkeit der Joyceschen Mythosrezeption eher gerecht zu werden verspricht, indem es neben den mythologischen Korrespondenzen auch die Abweichungen von der hypothetischen Parallele bzw. deren Relativierung abbildet.

4.4.4 Im Spannungsfeld zwischen archaisch-mythischer Vergangenheit und alltäglicher Gegenwart: Ein Fazit Schon Wolfgang Iser hat darauf hingewiesen, dass die Joycesche Mythosrezeption nicht um einen mythischen Kern kreist oder einer mythischen Parallele folgt, sondern im Zeichen eines Spannungsverhältnisses steht: „Denn in Ulysses wird die Spannung zwischen den beiden Welten selbst thematisch, die sich dadurch entwickelt, daß die angedeutete Beziehung zwischen archaischer Vergangenheit und alltäglicher Gegenwart nicht formuliert ist.“ (Iser 1972: 281) Die Spannung, die Iser registriert, erwächst offenkundig aus einer mythologischen Differenz von Eigenem (die alltägliche Gegenwart) und Fremdem (die archaische Vergangenheit). Diese Differenz wird von Joyce nicht aufgelöst, sondern literarisch unter Spannung gesetzt: Denn einerseits evoziert der Autor (am auffälligsten in der Wahl des Romantitels) eine Ähnlichkeit oder Parallelität seines Romans mit dem



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homerischen Epos bzw. des modernen Alltags mit den heroischen Abenteuern der antiken Mythologie. Andererseits scheint sich der Text von seiner mythologischen Vorlage permanent zu distanzieren bzw. deren Vorbildcharakter zu relativieren. Die Mythosrezeption changiert dementsprechend zwischen Bezugnahme, Annäherung und Identifizierung auf der einen Seite und Abgrenzung, Abweichung und Kontrastierung auf der anderen Seite. Wer versucht, die Joycesche Mythosrezeption auf einen Begriff zu bringen oder in einem Modell abzubilden, sollte angesichts des gerade skizzierten Befundes eher ein Spannungsfeld als eine Parallele ins Auge fassen. Denn während mit dem (von T. S. Eliot ins Spiel gebrachten) Begriff der Parallele (einseitig) auf Ähnlich­ keiten, Widerspiegelungsverhältnisse, Gleichschrittigkeit und Bedeutungstransfer „zwischen den beiden Welten“ (Iser 1972: 281) abgehoben wird, bezeichnet der Ausdruck ‚Spannungsfeld‘ ein komplexeres und widersprüchlicheres Verhältnis. Denn ein Spannungsfeld zeichnet sich dadurch aus, dass in ihm verschiedene, ja sogar einander entgegengesetzte Kräfte wirken. Im Joyceschen Roman ist es das Nebeneinander von Anziehungs- und Abstoßungskräften (zwischen Vergangenheit und Gegenwart, epischem Heroismus und banalem Alltag etc.), das für einen spannungsreichen Zustand sorgt. Dabei bezeichnet Spannung hier zum einen – produktionsseitig – das Nebeneinander widersprüchlicher Textsignale und -strategien und zum anderen – rezeptionsseitig – die daraus für den Leser resultierende Spannung. Inwiefern gerade jene Spannungen den Roman prägen, die aus der Bezugnahme auf die mythologische Vorlage bei einer gleichzeitigen Distanzierung von selbiger resultieren, lässt sich besonders anschaulich an der Figurencharakterisierung zeigen. Am Beispiel der Figur Molly Blooms wurde bereits deutlich gemacht, dass die Joyceschen Figuren gerade in der Abgrenzung bzw. in der Abweichung von ihren mythologischen Vorbildern an Kontur gewinnen. Diese Einschätzung deckt sich – zumindest teilweise – mit folgender Feststellung Wolfgang Isers: Nun treten jene Züge an den Figuren stärker hervor, die nicht mit den angespielten Schemata des homerischen Epos übereinstimmen. Doch erst dadurch ist die Möglichkeit gegeben, Individualität zu konturieren und begreifbar zu machen. Sie vermag sich daher nur als die Negativform zu jenem Standpunkt zu konstituieren, von dem aus sie gesehen werden soll. So bedingt die mangelnde Einlösung aufgerufener Erwartungen die Individualität der Joyceschen Figuren, die in dem Maße zum Leben erwachen, in dem wir auf sie zu reagieren beginnen. (Iser 1972: 281)

Bezüglich seiner Betonung der Differenz (zwischen den Romanfiguren und ihren mythologischen Vorbildern) kann man Iser guten Gewissens zustimmen. Freilich liegt die Individualität der Figuren genau genommen – und wenn

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man Individualität nicht auf Abweichung vom Typischen reduzieren möchte – nicht allein in der „Negativform“ bzw. im Kontrast zu ihren mythologischen Vorgängern. Vielmehr resultiert sie aus einer Charakterisierung, die Ähnlichkeit andeutet und gleichzeitig Unähnlichkeit offenkundig werden lässt, die eine Identifizierung mit den mythologischen Vorgängern nahelegt und durch Kontrastierung sogleich unterläuft.80 Festzuhalten bleibt demnach, dass das Bild, das sich der Leser – wenn er denn die mythologischen Korrespondenzen ernst nimmt – von einer Romanfigur macht, weder mit dem Bild identisch ist, das er von der jeweiligen mythologischen Vorlage hat, noch von diesem losgelöst ist. Einerseits ist der Charakter der Romanfiguren nicht mythologisch (oder archetypisch) determiniert. Andererseits bestimmt (oder lenkt) der mythologische Hintergrund bzw. die jeweilige mythologische Korrespondenz den Blick des Lesers auf bestimmte Charakterzüge, Eigenheiten und Handlungen einer Romanfigur. Molly Blooms Ehebruch erscheint dem Leser gerade dann als besonders signifikant (oder auch nur pikant), wenn er die Romanfigur mit der betont keuschen und treuen mythologischen Figur der Penelope in einen Zusammenhang bringt und abgleicht. Und zumindest ein gewissenhafter Leser dürfte sich durch dieses Spannungsverhältnis – zwischen Identifizierung und Kontrastierung, Ähnlichkeiten und Unterschieden – dazu herausgefordert fühlen, die Dissonanzen interpretatorisch zu bewältigen. Er wird also für sich zu klären versuchen, inwiefern und wieso eine Romanfigur von ihrem mythologischen Vorbild abweicht. Ist die Untreue der Molly Bloom einem Werteverfall in der Moderne geschuldet oder – positiv gewendet – Ausdruck weiblicher Emanzipation? Muss man vielleicht nach mildernden Umständen im Text fahnden, aufgrund derer man der untreuen Gattin

80 Isers Interpretation richtet sich vor allem gegen das Modell der Parallele und insistiert darauf, dass „man das Verhältnis von homerischer Welt und modernem Alltag weniger als Parallele, sondern eher als Horizont und Thema versteht, wobei der Horizont als virtueller Standpunkt für die Erfassungsakte des Themas gedacht ist“ (Iser 1972: 281). Wo das Modell der Parallele die Ähnlichkeit und Identifizierungsmöglichkeiten zwischen dem Roman und seiner mythologischen Vorlage (über-)betont, unterstreicht das Isersche Horizont-Modell die Rolle der Abhebung bzw. Abweichung. Letzteres ist selbstverständlich nicht falsch, aber auch dem Horizont-Modell ist eine Tendenz zur Einseitigkeit zu attestieren. So kann man durchaus anzweifeln, dass Leser primär oder gar ausschließlich auf die Abweichungen von der mythologischen Vorlage (auf die Abhebung vom Horizont) „zu reagieren beginnen“ (Iser 1972: 281). Vielmehr bietet der Roman seinen Lesern eben zwei Arten von Aha-Erlebnissen: zum einen das Erkennen von Korrespondenzen über den Graben der mythologischen Differenz hinweg (die Romanfigur Molly Bloom entspricht der mythologischen Figur der Penelope), zum anderen die Einsicht in den prekären Status der mythologischen Korrespondenzen (die Romanfigur Molly Bloom entpuppt sich als untreue und unkeusche Penelope).



4.4 Zwischen mythischer Vergangenheit und alltäglicher Gegenwart 

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des modernen Odysseus Verständnis entgegenbringen darf? Schließlich kann man auch die Blickrichtung ändern und sich die Frage stellen, ob die Joycesche Penelope nicht menschlicher und psychologisch glaubhafter ist als das homerische Idealbild der treuen und keuschen Ehegattin. Ist Penelope, wie sie Homer zeichnet, nur eine Männerphantasie oder zumindest ein recht optimistisches Weiblichkeitsideal?81 Und beweist Molly am Ende dann nicht doch noch ihre Treue, wenn sie im Schlussmonolog wesentlich liebevoller von ihrem gehörnten Ehemann als von ihrem forschen Liebhaber spricht? Wie diese Fragen verdeutlichen sollen, kann man die hier vorgelegte Beschreibung der Joyceschen Mythosrezeption nicht auf die Feststellung reduzieren, dass die Romanfiguren in mancher Hinsicht den mythologischen Figuren des homerischen Epos ähneln und sich in anderer Hinsicht von diesen unterscheiden. Vielmehr verweist der Begriff des Spannungsfeldes darauf, dass die Romanfiguren – in Bezug auf ihre mythologischen Vorbilder – zwischen Ähnlichkeit und Abweichung, Nähe und Distanz zu oszillieren scheinen und gerade dadurch – um die Formulierung Isers aufzugreifen – „zum Leben erwachen“ (Iser 1972: 281). Denn es ist die Spannung, die sie vielschichtig, komplex und widersprüchlich, oder kürzer: menschlich erscheinen lässt. Insofern ist es auch zu verschmerzen, dass das Modell des Spannungsfeldes weniger griffig als die Vorstellung von einer mythischen Parallele ist. Letzterer hat Hugh Kenner augenzwinkernd einen großen Vorteil bescheinigt: „years of concentration on the large-scale patterns, commencing with Gilbert’s Homeric emphasis of 1930, have fostered an expositor’s Ulysses in which characters sleepwalk through a grand design laid down by the Ionian Homeriade […]. Such a design has the advantage of being easy to diagram.“ (Kenner 1987: 22) Zwar lassen sich auch Spannungsfelder graphisch darstellen, aber die Verhältnisse in einem Spannungsfeld sind eben selten so eindeutig wie das Verhältnis zweier Parallelen. Allerdings steckt – angesichts der Eigenheiten der Joyceschen Mythosrezeption – gerade in diesem Verlust an Eindeutigkeit auch ein Erkenntnisgewinn. Mehrdeutig ist dann auch nicht zuletzt die Hauptfigur des Romans. Zunächst einmal liegt es nahe, Leopold Bloom mit dem im Romantitel genannten Ulysses zu

81 Im Falle der Figur Molly Blooms kommt noch hinzu, dass sie – wie bereits im vorangehenden Abschnitt erwähnt – nicht nur als Wiedergängerin Penelopes, sondern auch als moderne Calypso betrachtet werden kann. Diese Doppelkorrespondenz stellt insofern eine Abweichung von der mythologischen Vorlage dar, als Penelope (die treusorgende Gemahlin) und Calypso (die mythologische Femme fatale, die Männer sexuell in ihrer Gewalt hat) ganz unterschiedliche Rollenmuster verkörpern, die von Joyce nun (scheinbar) in einer Figur zusammengefasst werden. Auch in dieser Hinsicht eröffnet das Spannungsfeld der Mythosrezeption offenkundig interessante Interpretationsspielräume, die an dieser Stelle allerdings nicht weiter ausgeführt werden sollen.

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identifizieren, also in ihm einen modernen, irisch-jüdischen Odysseus zu erkennen. Allerdings ist schwerlich zu übersehen, dass der designierte Held des modernen Alltags in vielerlei Hinsicht keine besonders heroische Figur abgibt bzw. nicht zum klassischen Helden taugt. Als Anzeigenhändler, gehörnter Ehemann, Pazifist und gesellschaftlicher Außenseiter erscheint der irische Jude Leopold Bloom wohl manchem Leser dann auch eher als eine Odysseus-Karikatur. Bezeugt demnach die Figur Leopold Blooms die unheroische Banalität der Moderne? Genauso wie mit einer voreiligen Identifizierung, wird man Leopold Bloom auch mit einer bloß ‚negativen‘ Identifizierung (also Kontrastierung) von Romanfigur und mythologischer Vorlage nicht gerecht. Denn der kauzige Jedermann Leopold Bloom gibt zwar eine komische, aber keine lächerliche Figur ab. Ein Beleg mag an dieser Stelle genügen. So wie Odysseus unter dem göttlichen Fluch leiden muss, leidet der Joycesche Held unter einem Schicksalsschlag, der die Beziehung zu seiner Ehefrau belastet, sein Verhalten gegenüber der Figur des Stephen Dedalus erklärt und den man schwerlich als komische Banalität beiseite wischen kann: dem Tod seines Sohns. Dass ihn dieser Schicksalsschlag, der beim Einsetzen der Romanhandlung schon geraume Zeit zurückliegt, nach wie vor verfolgt, zeigt Blooms Halluzination am Ende der Circe-Episode, bei der ihm sein verstorbener Sohn Rudy erscheint: BLOOM: (Wonderstruck, calls inaudibly) Rudy! RUDY: (Gazes unseeing into Bloom’s eyes and goes on […]) (Ulysses 703)

Die Alltagserlebnisse Leopold Blooms (z. B. ein Friedhofsbesuch) mögen auf den ersten Blick und im Vergleich mit den Abenteuern des Odysseus (z. B. dessen Hadesfahrt) banal erscheinen. Und doch stehen diese Banalitäten zumindest teilweise im Zeichen existentieller Erfahrungen, die sich mit denen des mythologischen Helden messen lassen können. Dass sich die Romanhandlung und die Joyceschen Figuren in diesem Sinne einer einfachen Typisierung oder Einordnung entziehen, hängt schließlich auch damit zusammen, dass ihre Wahrnehmung und Beurteilung nicht zuletzt von dem Bild abhängt, das sich der Leser von den mythologischen Vorbildern gemacht hat. Und genau dieses Bild kann durch die Romanlektüre ins Wanken geraten. Bildet nämlich der homerische Odysseus einerseits die Folie, vor der sich das Profil Leopold Blooms abzeichnet (dasselbe gilt auch für Penelope und Molly Bloom), kann andererseits – und gewissermaßen in einem zweiten Schritt – auch die Joycesche Figur selbst zur Folie für eine Neubewertung der altbekannten mythologischen Figur werden: „Odyssee und Ulysses werden sich wechselseitig zu Figur und Grund“ (Iser 1972: 301). Die Spannung der Mythosrezeption resultiert



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also auch daraus, dass das Verhältnis von mythologischer Vorlage und deren literarischer Bearbeitung im Roman, von archaischer Vergangenheit und alltäglicher Gegenwart keine semantische Einbahnstraße darstellt, bei der die Bedeutung nur in eine Richtung übertragen wird. Neben der Frage, wie viel vom listenreichen Helden Odysseus in Leopold Bloom steckt, liegt auch die Frage nahe, was uns Leopold Bloom über sein mythologisches Vorbild verrät. Dementsprechend hat z. B. Declan Kiberd darauf hingewiesen, dass die Ironie des Romans keineswegs nur auf die vermeintliche Banalität des modernen Alltags gerichtet ist, sondern auch auf den epischen Heroismus der mythologischen Vorlagen zielt: If the irony of Ulysses cuts both ways, Joyce was probably even more anxious to rebuke ancient heroism than to mock the concerns of a modern anti-hero. Odysseus may have been a reluctant warrior, but The Odyssee is nonetheless a celebration of militarism, which Joyce found suspect, whether he encountered it in ancient legend or in the exploits of the British army. (Kiberd 2000: xxv)82

Wenn man bedenkt, dass Ulysses unter dem Eindruck des 1. Weltkrieges entstanden ist und nur wenige Jahre nach dessen Ende veröffentlicht wurde, erscheint es sicherlich nicht abwegig, in der harmlos wirkenden Gestalt des Leopold Blooms weniger eine Karikatur, als vielmehr einen Gegenentwurf zum Heroismus des epischen Helden Odysseus zu erkennen. Der Hinweis, dass Odysseus selbst nur widerwillig in den Krieg zog (und zudem die List der heroischen Geste vorgezogen hat), ist in diesem Zusammenhang sicherlich bedenkenswert. Das ändert freilich nichts an seinem Status als unbeugsamer Held, wofür es in der englischen Literatur kaum einen besseren Beleg geben dürfte als Tennysons 1842 erstmals veröffentlichtes Gedicht über den in die Jahre gekommenen Odysseus, der das geruhsame Leben aufgibt, um mit seinen alten Gefährten noch einmal auf große Fahrt zu gehen: Death closes all: but something ere the end, Some work of noble note, may yet be done, […] One equal temper of heroic hearts, Made weak by time and fate, but strong in will To strive, to seek, to find, and not to yield. (Tennyson 1908: 28–29) 82 Darüber hinaus erkennt Kiberd in der Joyceschen Romanästhetik eine grundlegende Kritik an der mythologischen Ordnung, wie sie sich im antiken Epos präsentiert: „The randomness of its details, and the sheer number of threads left hanging, are Joyce’s wry critique of the neatness of a resolved ancient tale.“ (Kiberd 2000: xxxiv)

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Das Pathos dieser Zeilen steht in einem starken Kontrast zur allzu menschlichen Figur Leopold Bloom, die der Leser sogar auf den Abort begleitet. Steht also der Joycesche Roman(anti)held nicht nur im Kontrast zu seiner mythologischen Vorlage, sondern hebt er sich auch von deren üblicher Rezeption radikal ab? Auch hier muss die Antwort differenziert ausfallen und gewissermaßen mit einem ‚Ja, aber …‘ einsetzen. Denn bei genauerer Betrachtung lässt sich in Tennysons Versen durchaus so etwas wie eine Beschreibung Leopold Blooms erkennen. So wie Tennysons in die Jahre gekommener Odysseus ist nämlich auch Bloom eine Figur, die vor allem durch ihre Unbeugsamkeit (und weniger durch ihre Stärke) besticht. Bloom bietet nicht nur einem angetrunkenen Provokateur im Wirtshaus Paroli, sondern behauptet schließlich doch noch seinen Platz als Ehemann. Bei allen Unterschieden verkörpert Bloom somit eine Eigenschaft des mythologischen Helden, die wiederum schon in der homerischen Odyssee betont wird. Denn dort erhält Odysseus den Beinamen ‚der Dulder‘. Auch in dieser Hinsicht erwacht die Joycesche Romanfigur also gerade dadurch zum Leben, dass sie zugleich an mythologische Vorgaben anschließt und diese doch nicht voll erfüllt. Diese Beobachtungen zur Figurencharakterisierung im Ulysses runden die auf den vorangehenden Seiten dokumentierte Analyse der Joyceschen Mythosrezeption auf anschauliche Weise ab und legen das Fazit nahe, dass die eingangs zur Sprache gebrachte Diskrepanz von mythologischem Titel und nicht-­ mythologischer Textwelt einen geradezu programmatischen Charakter hat. Denn die Joycesche Mythosrezeption lebt maßgeblich von einer – in besagter Diskrepanz offenkundig werdenden – mythologischen Alterität bzw. von der Nicht-Identität von mythischer Vergangenheit und alltäglicher Gegenwart. Mit dem Rückgriff auf einen mythischen Anspielungshorizont (der – wie ausführlich erläutert wurde – zugleich als Kontrastfolie dient) wird kein zeitloses Ordnungsschema oder universelles Narrationsmuster aktualisiert, sondern bewusst die mythologische Differenz von Eigenem und Fremdem aktiviert – ob man darunter nun die Differenz von Antike und Moderne, archaischer Vergangenheit und zivilisierter Gegenwart oder epischem Heroismus und banalen Alltagserfahrungen versteht. Der Reiz dieser Spielart der Mythosrezeption besteht nicht darin, dass die Vorgaben eines mythologischen Prätextes übernommen und lediglich in ein neues Gewand gekleidet werden, sondern dass sich mit der mythologischen Differenz ein spannungsgeladener Resonanzraum für die – aus Autorensicht betrachtet – eigene literarische Repräsentation entfalten lässt. Mit diesem Resonanzraum (in der mythologischen Differenz; zwischen Eigenem und Fremdem) weiten sich die literarischen Darstellungsmöglichkeiten aus, eröffnen sich neue Bedeutungsebenen der literarischen Repräsentation. Gemeint sind in diesem Zusammenhang freilich nicht nur die Strategien der Kontrastierung, der ironischen Brechung und der gezielten Abweichung von der mythologischen Vorlage,



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von denen Joyce in Ulysses reichlich Gebrauch macht und die auf den vorangehenden Seiten beschrieben wurden. Denn bei genauerer Betrachtung erlaubt es erst diese Differenz, Bezüge herzustellen oder Parallelitäten anzudeuten, die überraschend (und nicht offenkundig), die intellektuell und ästhetisch reizvoll sind. Schließlich ist schon die Identifizierung des modernen Jedermanns Leopold Bloom mit dem homerischen Helden, der Troja zu Fall brachte, gerade deshalb ein literarischer Coup, weil man eigentlich von einer grundsätzlichen Differenz zwischen der fremden Welt des Mythos und der eigenen, von der Banalität des modernen Alltags beherrschten Welt ausgeht.

4.5 Barbarisches Britannien: Mythologische Alterität in Tony Harrisons Phaedra Britannica (1975) und Sarah Kanes Phaedra’s Love (1996) 4.5.1 Aktualisierende Mythosrezeption und mythologische Alter Egos: Vorbemerkungen „Eine Theorie des Mythos ist […] – und war dies auch schon immer – eine Theorie des fremden Mythos und nicht des eigenen.“ (Mohn 1998: 238) Diese Feststellung des Religionswissenschaftlers Jürgen Mohn, für die in der vorliegenden Studie zahlreiche Beispiele angeführt wurden, verweist auf einen wesentlichen Aspekt mythologischer Alterität. Und sie lässt sich auf das weite Feld der literarischen Mythosrezeption übertragen. Denn der Rückgriff auf einen mythologischen Stoff ist in der modernen Literatur immer schon der Rückgriff auf einen fremden mythologischen Stoff, genau genommen meist auf eine fremde Bearbeitung eines fremden mythologischen Stoffes.83 Mit Blick auf die bereits besprochenen literarischen Texte von Walter Pater, Oscar Wilde und James Joyce erscheint diese Prämisse sofort plausibel. Walter Pater lässt in seiner DionysosErzählung die mythologische Gestalt als Gott-im-Exil, also als Fremden auftreten. Oscar Wildes Bearbeitung des biblischen Salome-Mythos entführt das Publikum in eine zugleich orientalisch fremde und befremdliche Welt. Und in Ulysses von James Joyce tritt der mythologische Stoff des homerischen Epos als archaisch-mythischer Anspielungshorizont in ein spannungsreiches Differenzverhältnis zum modernen Alltagsgeschehen, das im Roman minutiös geschildert 83 Thorsten Wilhelmy spricht in diesem Zusammenhang von einem „Grundproblem derjenigen, die den Mythos erneut zur Aufführung bringen wollen: im Hinblick auf den Mythos sind sie allesamt zu spät Gekommene“ (Wilhelmy 2004: 11). In seiner Studie geht Wilhelmy daher den Legitimitätsstrategien der Mythosrezeption nach.

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wird. Bei allen drei Texten ist also eine Fremdheit des Mythos fassbar, und sie stehen dementsprechend im Zeichen der mythologischen Differenz von Eigenem und Fremdem. Doch wie verhält es sich in dieser Hinsicht mit jener Spielart der Mythosrezeption, bei der ein mythologischer Stoff in die eigene Gegenwart und/ oder Lebenswirklichkeit übertragen wird, bei der die mythologischen Figuren zu Zeitgenossen und Landsleuten des Autors und der Leser werden? Stehen solche Aktualisierungen und Aneignungen nicht in einem Widerspruch zur These vom Mythos als Zeugnis des Fremden? Diese Fragen sollen im Folgenden mittels einer Analyse von zwei englischen Dramen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beantwortet werden. Bei den ausgewählten Beispieltexten handelt sich zum einen um Tony Harrisons Phaedra Britannica (1975), zum anderen um Sarah Kanes Phaedra’s Love (1996). Wie schon die Titel verraten, stellen beide Dramen Neubearbeitungen der mythologischen Geschichte von Phädra und Hippolytos dar, die in den Bearbeitungen von Euripides, Seneca und Racine Eingang in die Weltliteratur gefunden hat. Im Falle Harrisons deutet der Titel zudem an, dass man es mit einer aneignenden, weil anglisierenden Adaption zu tun hat, bei der die mythologischen Figuren zu Landsleuten des Autors und seines Publikums werden. Und auch Kane lässt – betrachtet man bloß die erste Szene von Phaedra’s Love – keine Zweifel daran aufkommen, dass ihre Geschichte von Phädra und Hippolytos auch unsere Geschichte ist, da die mythologischen Figuren in einer modernen Konsum- und Mediengesellschaft zu Hause, also Zeitgenossen der Dramatikerin und ihres Publikums sind. Doch wieso verpflanzen (post-)moderne Autoren eine mythologische Geschichte in die eigene Kultur oder in die eigene Zeit – eine Geschichte, die doch eigentlich einer längst fremd gewordenen Epoche und Lebenswirklichkeit entsprungen ist und qua Herkunft – und je nach Sichtweise – Züge des Vormodernen, Primitiven oder Archaischen trägt? Da die zwei hier vorzustellenden Dramen offenkundig den Zustand der eigenen Nation bzw. der eigenen Kultur in den Fokus nehmen, erscheint die Schlussfolgerung wohl naheliegend (wenn auch, wie sich noch zeigen wird, zu einfach), dass der Mythos als Spiegel fungiert, dass man das Eigene, die eigenen Zustände, Probleme und Befindlichkeiten, in alten mythologischen Geschichten gleichsam vorgezeichnet findet. In diese Richtung scheint dann – zumindest auf den ersten Blick – auch jene Erklärung für die anhaltende Popularität klassischer Mythen zu verweisen, die Gabriele Rippl in ihrem Aufsatz zu Harrisons und Kanes Phädra-Adaptionen anbietet: „the fact that mythological tales a) belong to our Western canon and subsequently figure prominently in our cultural memory and b) that they present fundamental human conflicts and transgressions of all kinds without offering simple solutions and morals, makes them useful in the most diverse cultural and historical contexts“ (Rippl 2004: 169). Mythen erwiesen sich



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aufgrund ihrer Themen in den meisten kulturellen und historischen Kontexten als anschlussfähig bzw. aktualisierbar, so Rippl. Dabei ist es allerdings interessant, welche Themen die Anglistin hier im Blick hat. Denn mit Grenzüberschreitungen und fundamentalen Konflikten, die keine einfachen Lösungen oder moralischen Bewertungen zulassen, spricht sie Phänomene an, die in der vorliegenden Studie bereits mehrfach als Erfahrungen radikaler Fremdheit beschrieben wurden. Es wäre demnach voreilig, die These der mythologischen Alterität an dieser Stelle über Bord zu werfen. Vielmehr ist zu fragen, ob nicht auch die aneignende und aktualisierende Spielart der Mythosrezeption, bei der ein mythologischer Stoff in die eigene Gegenwart bzw. in die eigene Lebenswirklichkeit übertragen wird, sich vor allem am Fremden und Befremdlichen abarbeitet. Die mythologischen Figuren mögen bei dieser Mythosrezeption als Landsleute und Zeitgenossen auftreten – bloße Spiegelbilder müssen sie deshalb noch lange nicht sein. An dieser Stelle sei ein kurzer Ausblick auf ein anderes, im Folgenden nicht näher zu beleuchtendes Drama Tony Harrisons gestattet: The Trackers of Oxyrhynchus. Dieses Stück, das 1988 an historischer Stätte im griechischen Delphi uraufgeführt wurde, präsentiert die Geschichte einer archäologischen Entdeckung – der Entdeckung eines Satyrspiels des Sophokles durch die Papyrologen Bernard Grenfell und Arthur Hunt. Statt sich allerdings auf eine realistische Schilderung der historischen Ausgrabung zu beschränken, inszeniert Harrison eine fantastisch anmutende Metamorphose der Ausgräber, die sich in die mythologischen Figuren des von ihnen entdeckten Satyrspiels verwandeln. Es wäre sicherlich lohnenswert, diese Konstellation unter dem Gesichtspunkt der mythologischen Differenz von Eigenem und Fremdem genauer zu betrachten. Doch an dieser Stelle soll der Hinweis auf eine Regieanweisung des Dramatikers genügen, in der die mythologischen Figuren als Alter Egos der modernen Figuren bezeichnet werden (vgl. Harrison 1990: 18). Denn mit dieser Bezeichnung benennt Harrison beiläufig (und vermutlich ohne die Worte auf die Goldwaage gelegt zu haben) eine wesentliche Funktion, die mythologische Figuren erfüllen können. Welche Funktion erfüllt etwa, um nur ein prominentes und bereits mehrfach angesprochenes Beispiel zu wählen, Ödipus in der Theorie Freuds? Er ist – nach Freud – weniger unser Spiegelbild, in dem wir uns sofort wiedererkennen, sondern vielmehr unser Alter Ego, da er einen Aspekt der menschlichen Natur verkörpert, der gemeinhin verdrängt wird und folglich unsichtbar bleibt. Diese Instrumentalisierung mythologischer Figuren (oder mythologischer Stoffe im Allgemeinen) – zur Identifizierung des Fremden im Eigenen – ist freilich nicht nur der Psychoanalyse vorbehalten. Der eingangs zitierte Jürgen Mohn hat zurecht darauf hingewiesen, dass mit dem Ausdruck ‚Mythos‘ nicht ausschließlich Zeugnisse fremder Kulturen

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bezeichnet werden, sondern auch befremdliche Phänomene der eigenen Kultur (vgl. Mohn 1998: 17). Diese Verwendung des Ausdrucks ‚Mythos‘ – zur Markierung des Fremden und Befremdlichen in der eigenen Kultur84 – findet in der im Folgenden an zwei dramatischen Beispielen vorzustellenden Spielart der Mythosrezeption ihr Pendant. Denn mit der Aneignung und Aktualisierung der mythologischen Geschichte wird nicht zuletzt das Fremde und das Befremdliche in der Sphäre des Eigenen sichtbar gemacht. Die mythologischen Figuren erweisen sich dann zwar vielleicht als unsere Zeitgenossen und Landsleute, aber vor allem auch als unsere Alter Egos. Insofern besteht also kein Widerspruch zwischen der These der vorliegenden Studie, der Mythos fungiere als Zeugnis des Fremden, und der literarischen Praxis, mythologische Stoffe in die eigene Zeit und in die eigene Kultur zu übertragen. Zuspitzend könnte man nämlich festhalten, dass die Mythosrezeption in diesem Fall nicht primär auf eine Aneignung des fremden Mythos abzielt. Vielmehr rückt sie das Eigene in das fremde Licht des Mythos. Bei Tony Harrison und Sarah Kane entsteht so, wie nun zu zeigen sein wird, das dramatische (Selbst-)Porträt eines barbarischen Britanniens.

4.5.2 Das eigene und das innere Ausland: Zu geschichtspolitischen und anthropologischen Erschütterungen in Tony Harrisons Phaedra Britannica Tony Harrisons Tragödie Phaedra Britannica,85 die 1975 ihre Uraufführung in London erlebte, verdient in der vorliegenden Studie schon allein wegen der Einführung, die der Dramatiker zu seinem Stück verfasst hat, unbedingt Erwähnung. Denn diese Einführung dokumentiert, dass mythologische Alterität nicht nur ein theoretisches Problem, sondern bisweilen auch eine praktische Herausforderung für denjenigen darstellt, der sich anschickt, Mythen neu zu erzählen. „Mythen sind traditionelle Geschichten, die sich dadurch auszeichnen, daß sie immer wieder neu erzählt werden können.“ (Vöhler/Seidensticker/Emmerich 2005: 2) Der Blick in die Literaturgeschichte, die stets auch eine Geschichte der Neubearbeitung mythologischer Stoffe war, scheint diese Definition zu bestätigen, denn offenkundig wurden (und werden) Mythen immer wieder neu erzählt. Dass sich Mythen stets besonders leicht oder problemlos neu erzählen lassen, sollte man daraus freilich nicht schlussfolgern. 84 Vgl. dazu die Ausführungen zu Roland Barthes’ Mythen des Alltags (Barthes 2003) in der Einführung sowie zu Herfried Münklers Die Mythen der Deutschen (Münkler 2009) in Kapitel 3.2.6 der vorliegenden Studie. 85 Im Folgenden zitiert als Phaedra Britannica nach Harrison 2002a.



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In der Einführung zu Phaedra Britannica (vgl. Phaedra Britannica 113–137) berichtet Tony Harrison – laut Richard Rowland „the most significant dramatic poet England has produced since John Dryden“ (Rowland 2006: 519) – von seinen Schwierigkeiten bei der Neudramatisierung der Geschichte von Phädra und Hippolytos: „desperately seeking access to the play for […] irreverent English audi­ ences“ (Phaedra Britannica 128). Aus Sicht des Dramatikers besticht das mythologische Ausgangsmaterial nämlich weniger durch seine universelle und zeitlose Evidenz, sondern vielmehr als Produkt eines fremden sozialen und kulturellen Umfelds. Deshalb gelte es bei der Neudramatisierung der Geschichte für ein zeitgenössisches Publikum, grundlegende Verständnisschwierigkeiten, ja sogar ein grundsätzliches Desinteresse einzukalkulieren und durch eine geschickte Adaption zu überwinden. Ein Problem stellt laut Harrison z. B. das – für die Dramatik des Stoffes zen­ trale – Inzest-Motiv dar, dem (nicht erst) ein zeitgenössisches Publikum wohl tendenziell mit Unverständnis begegnen muss: From as early as classical times there has been a healthily vulgar if slightly overdone satiric scorn for Phaedra’s problems. The taboo of incest between stepmother and stepson seems irrelevant in societies with different kinship restraints. It is easy for us to feel self-satisfied at what we think of as our own permissiveness and to sneer at sexual problems which were at the time agonisingly real. (Phaedra Britannica 126)

Nun könnte man vorbringen, dass ein sexuelles Verhältnis von Stiefmutter und Stiefsohn in permissiven Gesellschaften zwar nicht mehr unter das Inzesttabu fallen mag, aber selbst dort als ein Bruch der sozialen Spielregeln empfunden wird (von den familiären Spielregeln ganz zu schweigen). Trotzdem kann man Harrisons Feststellung schwerlich widersprechen, dass sich dem zeitgenössischen Publikum die besondere Brisanz von Phädras Zuneigung zu ihrem Stiefsohn Hippolytos nur bedingt erschließt. In dieser Hinsicht präsentiert sich der mythologische Stoff als Zeugnis fremder Moralvorstellungen, was dessen Aktualisierung erschwert und dessen Relevanz für ein zeitgenössisches Publikum (zumindest in einer, allerdings auch zentralen Hinsicht) fragwürdig erscheinen lässt. Ein weiteres Problem ergibt sich für Harrison dadurch, dass er nicht irgendeine Fassung der Geschichte von Phädra und Hippolytos als Vorlage verwendet, sondern die klassizistische Phädra-Tragödie von Jean Racine, die (nicht nur) in der französischen Literatur einen kanonischen Status genießt. Für den britischen Dramatiker stellt sich damit die Frage, wie er der – aus seiner Vorlage sprechenden, aber gerade einem modernen britischen Publikum fremd anmutenden – Kultur und Ästhetik des französischen Klassizismus (sowie dessen politischer Dimension) Rechnung tragen kann: „The politics of the play are […] obscured

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by genealogical complications, with which we no longer have any spontaneous rapport, and distanced by our distaste for the absolute monarchy of the court of Louis XIV.“ (Phaedra Britannica 129) Der Neuerzählung (bzw. in diesem Fall der Neudramatisierung) der Ge­ schichte von Phädra und Hippolytos steht also eine doppelte Fremdheit des mythologischen Ausgangsmaterials im Wege. Denn sowohl als Zeugnis einer fremden Werteordnung (siehe das Inzest-Motiv) als auch in seiner ästhetisch und weltanschaulich fremd anmutenden Überlieferung erschließt es sich einem zeitgenössischen britischen Publikum nicht unmittelbar als relevant oder aktuell. Dass diese Einsicht von einem Dichter und Dramatiker wie Harrison formuliert wird, der mit der Classical Tradition und der mythologischen Überlieferung bestens vertraut ist, gibt ihr ein besonderes Gewicht.86 Doch wie glaubt Harrison nun, eine Relevanz oder Aktualität des mythologischen Stoff für sein Publikum herausarbeiten zu können? Bemerkenswerterweise versucht Harrison nicht, die eben erwähnten Pro­ bleme durch eine konsequente Modernisierung seines mythologischen Ausgangsmaterials zu überwinden. Vielmehr entscheidet er sich für dessen wohlabgewogene Transformation: „Harrison went further than mere updating, transposing Racine’s own transposition of Euripides’ Greek drama to British India under the Raj“ (Kelleher 1996: 29). Der Dramatiker zeigt sich nämlich in seiner Einführung davon überzeugt, dass die dramatische Handlung in einer viktorianisch-­kolonialen Umgebung – „a particular society, early Victorian Britain, with a rigid code made even more formally defensive by being placed in the alien environs of sensual India“ (Phaedra Britannica 129) – einen geeigneten Resonanzraum findet. Es handele sich dabei schließlich um einen gesellschaftlichen Kontext, in dem moralische Ansprüche noch vehement vertreten (wenn auch nicht zwangsläufig erfüllt) wurden bzw. „where the sense of transgression was once more an agonising burden“ (Phaedra Britannica 129).87 86 Phaedra Britannica ist nur ein Beispiel (noch dazu ein eher wenig beachtetes) für Harrisons Arbeit an der Classical Tradition. Erinnert sei an dieser Stelle nur an seine Version der Orestie (Harrison 2002b), die 1981 ihre Uraufführung erlebte. Vgl. dazu z. B. Rowland 2006. Zugleich darf man dem Dramatiker wohl eine besondere, biographisch begründete Sensibilität für die Fremdheit seines literarischen Ausgangsmaterials und die potentiellen Verständnisschwierigkeiten des Publikums bescheinigen. Denn aufgrund seiner Herkunft aus der nordenglischen Arbeiterklasse sind für Harrison die ‚Zugangsbeschränkungen‘ der Hochkultur, deren Repräsentant er selbst geworden ist, ein ständiges Thema. Vgl. dazu z. B. Bruce Woodcocks Aufsatz „Classical vandalism: Tony Harrison’s invective“ (Woodcock 1990). 87 Durch die Übertragung der mythologischen Geschichte in das britische Indien des 19. Jahrhunderts – „The scene is the Durbar Hall of the Governor’s Residency in British India, a few years before the Indian Mutiny.“ (Phaedra Britannica 141) – schlüpfen die mythologischen Figuren in



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Mit der Verlegung der Geschichte von Phädra und Hippolytos in das britische Indien des 19. Jahrhunderts bringt Harrison zudem das mythologische Material seinem britischen Publikum historisch und kulturell näher, ohne das Moment der Fremdheit oder zumindest der Distanz dabei vollständig einzuebnen. Der Charakter der Mythosrezeption – man könnte von einer ‚bedingten Aneignung‘ oder von einer ‚Aktualisierung unter Fremdheitsvorbehalt‘ sprechen – zeigt sich selbst in der sprachlichen Gestaltung der Tragödie, genauer: in Harrisons Entscheidung für rhyming couplets – also für eine Versform mit einer großen Tradition in der englischen Literatur, die allerdings in einem zeitgenössischen Drama manchem durchaus anachronistisch erscheinen mag. Letzteres ist wohl auch der Grund dafür, dass der Dramatiker die Wahl der Versform in seiner Einführung begründet: „Couplets keep the cat on the hot tin roof. […] I wanted to return the iamb back to its sources in breath and blood.“ (Phaedra Britannica 136) Diese Rückbindung der Versform an leibliche Empfindungen lässt sich – laut Harrison – wiederum mit einer einschlägigen Fremdheitserfahrung in Verbindung bringen: „The heart as ‚tam-tam obsédant‘ leads us straight back to British India, where, another woman writes in her memoir, ‚the throbbing tom-toms became almost like our heartbeats‘“ (Phaedra Britannica 137). So präsentiert sich der Einsatz von rhyming couplets zugleich als Hommage an die eigene literarische Tradition und als Versuch, auch auf sprachlicher Ebene ein Moment der Befremdung ins Spiel zu bringen. Unterstrichen durch die sprachliche Gestaltung des Dramas, hat die Wahl eines britisch-indischen Schauplatzes offenkundig zur Folge, dass der mythologische Stoff zum Vehikel für die Deutung der eigenen Geschichte umfunktioniert wird und damit für ein britisches Publikum an Relevanz gewinnt. Allerdings rückt auch in diesem Zusammenhang gleichsam automatisch ein Moment des Fremden in den Blick – das Fremde (in) der eigenen Geschichte. Denn obwohl die Kolonie

zeitspezifische Rollen, wobei die Handlung insgesamt den bekannten Linien folgt. So tritt Theseus in Harrisons Bearbeitung als britischer Gouverneur auf und Phädra, seine zweite Frau, als Memsahib. Letztere verliebt sich in ihren Stiefsohn Thomas Theophilus, der aus der ersten Ehe des Gouverneurs mit einer einheimischen Prinzessin stammt und so die mythologische Rolle des Hippolytos ausfüllt. Als der Gouverneur nicht von einer Expedition zurückkehrt und allgemein für tot gehalten wird, offenbart sich die Phädra-Figur ihrem Stiefsohn. Dieser weist ihre Liebeserklärung freilich schroff zurück. Nach der überraschenden Rückkehr des Gouverneurs befindet sich dessen Gemahlin nun in einer verzweifelten Lage und aus wütender Scham, sowie einer Einflüsterung ihrer Dienerin Ayah folgend, bezichtigt sie ihren Stiefsohn schließlich der Vergewaltigung. Darauf reagiert der Gouverneur mit der Verbannung seines Sohnes, den er zudem noch verflucht und der daraufhin im Dschungel von einem nicht näher spezifizierten Ungeheuer getötet wird. Als die Wahrheit schließlich ans Licht kommt, zeigt sich der Gouverneur untröstlich, während seine Frau den Freitod wählt.

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aus Sicht der britischen Kolonialmacht zur Sphäre des Eigenen (des eigenen Machtbereichs, des eigenen Zivilisationsanspruchs etc.) gehörte, blieb sie bis zu einem gewissen Grad stets auch ein – zumindest kulturell – fremdes Territorium. In jedem Fall werden in einer kolonialen Situation beinahe unvermeidlich Differenzen von Eigenem und Fremdem virulent. Harrison unterstreicht dann in seiner Tragödie auch den prekären Charakter des britischen Indiens als ‚eigenes Ausland‘, indem er die Dramenhandlung vor dem Hintergrund von Rebellion und Aufständen entfaltet. Als historische Referenz dient ihm dabei die sogenannte Indian mutiny, die in der ersten Regieanweisung ausdrücklich erwähnt wird (vgl. Phaedra Britannica 141).88 Vor dem aufgerufenen historischen Hintergrund skizziert Harrisons Tragödie eine spannungsgeladene, bis zur Widersprüchlichkeit gesteigerte Ambivalenz des kolonialen Projekts. Dieses Projekt ist, ungeachtet aller ökonomischen und geopolitischen Beweggründe, in Harrisons Darstellung mit einem Zivilisierungsanspruch verbunden, der durch die Theseus-Figur des Gouverneurs verkörpert wird. Der Dramatiker greift in diesem Zusammenhang, wie er in seiner Einführung betont, eine viktorianische Interpretation der mythologischen Figur auf, genauer: John Ruskins Charakterisierung des Theseus als „great settler or law-giver of the Athenian state“ und „exterminator of every bestial and savage element“ (Phaedra Britannica 123). Dementsprechend hat sich der Gouverneur, also die Theseus-­ Figur, in Phaedra Britannica einen Ruf als Verteidiger der Zivilisation erworben, wie die folgende Anrede seines Sohnes (Thomas Theophilus, die Hippolytos-­Figur in Harrisons Tragödie) dokumentiert: By my age, single-handed and alone, you’d toppled a cruel Sultan from his throne, shot scores of grim maneaters dead, and quelled

88 Auch wenn das britische Empire mit seinen Kolonien zum Zeitpunkt der Uraufführung des Dramas bereits der Vergangenheit angehörte, hat die koloniale Welt, die auf der Bühne in Szene gesetzt wird, durchaus einen Bezug zur Lebenswirklichkeit des britischen Publikums, ist also nicht ‚reine‘ Historie: Immerhin ist das Empire bis heute – medial und kulturell vermittelt – ein wichtiger Bezugspunkt der britischen Identität. 1975 dürfte es zudem nicht wenigen Briten noch in lebendiger Erinnerung gewesen sein. Die Unabhängigkeit Indiens und Pakistans lag damals schließlich erst einige Jahrzehnte zurück. Darüber hinaus hat das Empire, auch über seine Abwicklung hinaus, zweifelsohne Spuren in der DNA Großbritanniens hinterlassen – vom kulinarischen Erbe bis hin zu einer seit der Mitte des 20. Jahrhunderts anhaltenden Masseneinwanderung aus den ehemaligen Kolonien. Gabriele Rippl erkennt in Phaedra Britannica dann auch einen impliziten Kommentar Harrisons zu einem zeitgenössischen Problem: „Instead of speaking directly about the racial conflicts in Leeds and its neighboring town Bradford […] Harrison talks about 19th-century India in order to make British people think about their prejudices today.“ (Rippl 2004: 177)



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banditry in savage districts, held the passes against unpacified Afghans and made the highroads safe for caravans. How many villagers you went to save from dacoits or maneaters came to wave and shout: Jai! Sirkar ki jai! around your tent Glory and victory to the Government! […] Old heroes could retire because they knew the rule of reason was secure with you. (Phaedra Britannica 180–181)

In dieser Darstellung wird die britische Herrschaft über Indien zu einem Feldzug gegen Grausamkeit, Verbrechen und Barbarei und somit als friedensstiftendes, dem Recht und der Vernunft zum Durchbruch verhelfendes Projekt stilisiert. Freilich – und daran wird im Drama nachdrücklich erinnert – ist dieses Bild vor allem ein gerne gezeichnetes Selbstbild der britischen Kolonialherren. Denn aus der Sicht der Kolonisierten macht sich der Gouverneur selbst der Barbarei schuldig, als er eine Rebellion blutig niederschlägt. Die Angehörigen der Opfer sehen in der Theseus-Figur des Gouverneurs dementsprechend nur „[t]he brute who loosed the redcoat canonade“ (Phaedra Britannica 159). Was barbarische (illegitime) und was friedensstiftende (legitime) Gewalt ist, so könnte man die betreffenden Passagen im Drama zusammenfassen, bleibt in der aufgeheizten kolonialen Situation offenbar eine Frage der Perspektive.89 Ambivalent ist die Theseus-Figur bei Harrison freilich nicht nur aufgrund ihrer rücksichtslosen Maßnahmen zur Sicherung der Kolonialherrschaft, sondern auch weil sich im so exotischen wie gefährlichen Umfeld Indiens ihr „other (‘lower’) self“ (Phaedra Britannica 124) bzw. ihr barbarisches Alter Ego offenbart. Entsprechende Auskunft erhält das Publikum vom Gouverneur selbst, der sein Fehlverhalten beichtet:

89 In dieser Hinsicht hat sich Harrisons Neubearbeitung des mythologischen Stoffes eine beachtliche Aktualität bewahrt. Denn Großbritannien rechtfertigt seine militärischen Interventionen in fremden Ländern (Afghanistan, Irak, Libyen) auch im 21. Jahrhundert – sich darin nicht von zahlreichen anderen Staaten unterscheidend – als Feldzüge zur Bewahrung der Zivilisation und zum Schutz der Humanität. Allerdings haben sich die grausamen Sultane von einst in Diktatoren verwandelt, die nach dem Besitz von Massenvernichtungswaffen streben, den weltweiten Terror unterstützen und die Menschenrechte mit Füßen treten. Freilich gehen auch die neuen Feldzüge gegen die Barbarei – wie die Expeditionen und Maßnahmen zur Herrschaftssicherung in Harrisons Tragödie – mit Gewaltexzessen und Rechtsbrüchen einher und haben zudem unvorhergesehene und ungewollte Konsequenzen.

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O India got into us somehow! Absolute madness when I look back now, part imbecility, part foolish prank and probably the simpkin that we drank, well anyhow, the upshot of it all was a midnight entry, via the palace wall, into a harem. My colleague, ADC in charge of suppression of Thuggee (he’s more hot-blooded than you’d think, that man), forced the favourite of the local Khan. And, put it down to India, I’m afraid that I ‘assisted’ in his escapade. (Phaedra Britannica 181–182)

Der Friedensbringer und Vertreter des Rechts gesteht in diesen Zeilen nicht weniger als die Vergewaltigung einheimischer Frauen. Als Erklärung und zur Entschuldigung führt er dabei den fatalen Einfluss Indiens an, dessen barbarischprimitive Fremdheit ihn gewissermaßen angesteckt habe. Die Befremdlichkeit der eigenen Taten bzw. jene Aspekte des eigenen Handelns, die nicht dem Selbstbild entsprechen, werden auf das kulturell Fremde abgewälzt. Indem Harrison diesen Zusammenhang herausarbeitet, beleuchtet er nicht nur einen durchaus gängigen Modus der Selbstentschuldigung, sondern lenkt zugleich den Fokus auf die Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität des britischen Imperialismus, die er bereits in seiner Einführung zur Sprache bringt: „I sought to re-energise critically the political content by aligning it with the British ‚Imperial dream‘, which like Goya’s dream of reason, ‚produces monsters‘.“ (Phaedra Britannica 130)90 Nun sollte man Phaedra Britannica nicht auf ein Historiendrama reduzieren. Schließlich spielen sich vor dem historischen Hintergrund und auf dem kolonialen Schauplatz auch (individuelle) Dramen ab – vorrangig das Drama der 90 Veranschaulicht wird die Tragik des imperialen Traums vielleicht am eindrücklichsten durch das Schicksal der Hippolytos-Figur Thomas Theophilus. Nach der falschen Beschuldigung durch seine Stiefmutter wird er von seinem Vater, dem Gouverneur, verbannt. Letzterer stilisiert die Verbannung zum Schlag gegen die Bestialität, indem er nicht nur das vermeintliche Verbrechen seines Sohnes als unmenschlich, sondern diesen selbst als Un-Mensch brandmarkt: „Animal!“ (Phaedra Britannica 188) Dass Thomas Theophilus als Sohn einer einheimischen Prinzessin ein Halbblut ist, was im Drama auch wiederholt thematisiert wird, gibt dem Ganzen noch einmal eine besondere Note. Die bittere Ironie dabei: Im Dschungel findet der zu Unrecht Verbannte schließlich im Kampf gegen ein Ungeheuer – in den Worten des Dramatikers „a vision of the monstrous, the non-human other“ (Phaedra Britannica 125) – den Tod. Der Versuch des Gouverneurs, die eigenen zivilisatorischen und moralischen Standards durch den Ausschluss des vermeintlich Bestialischen zu verteidigen, hat so dem wahrhaft Bestialischen unwillentlich Nahrung gegeben.



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Titelheldin –, die über geschichtspolitische Fragen hinausweisen. Gabriele Rippl gelangt deshalb nicht zu Unrecht zu folgender Einschätzung: „for Tony Harrison myths seem to carry a transhistorical, anthropological truth“ (Rippl 2004: 180). Die Wahrheit oder besser: Erkenntnis, die der Mythos für Harrison bzw. in Harrisons Neudramatisierung transportiert, ist freilich die Erkenntnis einer existentiellen Fremdheitserfahrung – nämlich der leidvollen Erfahrung, dass man sich auch selbst ein Fremder sein kann. Diese Erfahrung muss zumindest die Titelheldin der Tragödie machen, die zunächst von ihrem Begehren überwältigt und dann – nach ihrem Liebesgeständnis – von ihrem Stiefsohn barsch abgewiesen wird, was sie beschämt und voller Verzweiflung zurücklässt: Hide me from the world’s what they should do, conceal my raw desire from public view. Such thoughts which never ought to even reach the conscious mind I’ve put into plain speech. (Phaedra Britannica 173)

Die Klage der Memsahib richtet sich in diesen Zeilen nicht gegen die vermeintliche Ungerechtigkeit gesellschaftlicher Normen, sondern gegen das Befremdliche, das sich in ihrem Denken, Fühlen und Handeln Bahn gebrochen hat, das sich – in ihren eigenen Worten – aus dem Unterbewussten ins Bewusstsein gedrängt hat. Vielsagend ist dabei die Charakterisierung des eigenen Begehrens als „raw desire“, wodurch es als ein vor-kultureller, kreatürlicher Impuls markiert wird, der einen zivilisierten, sich als Kulturwesen verstehenden Menschen befremden muss.91 Die Phädra-Figur nimmt sich also selbst als Opfer einer Fremdherrschaft – ausgeübt durch ihr eigenes Begehren – wahr. Ihr Begehren drängt die Memsahib in eine ‚fremde Rolle‘, die im Widerspruch zu ihrem Selbstbild steht und die – im Selbstbild internalisierten – gesellschaftlichen Erwartungen verletzt. Aussagekräftig ist in dieser Hinsicht der Rat der Dienerin Ayah, die sich auf den Vater der Titelheldin beruft: He’d say: ‘Find peace in duty, daughter, find some public service to assuage your mind. Duties a Governor’s widow can perform to help the Sahibs ride the coming storm.’ (Phaedra Britannica 174)

91 Claude Lévi-Strauss hat die anthropologische Bedeutung der Differenz von Rohem (le cru) und Gekochtem (le cuit) – als Konkretisierung des Gegensatzes von Natur und Kultur – unterstrichen und auf entsprechende Spuren in der Sprache verwiesen (vgl. Lévi-Strauss 1971: 429).

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In diesen Zeilen wird der (gerade an sich selbst) verzweifelnden Phädra-Figur eine bewusste Distanzierung von ihrem begehrenden Alter Ego und eine forcierte Anpassung an die gesellschaftlichen Erwartungen empfohlen. Allein, dieser Ratschlag kommt für die Betroffene zu spät: „It’s too late now. […] I’ve crossed/ the frontier of virtue and I’m lost.“ (Phaedra Britannica 174) Die Phädra-Figur selbst bewertet also ihr Begehren als illegitime Grenzüberschreitung, wobei mit dem Ausdruck frontier ein Zusammenhang zur Zivilisierungsmission des britischen Empire geschlagen wird. Denn der Ausdruck wurde in der Tragödie zuvor bereits im Hinblick auf die Expeditionen des Gouverneurs in unbekannte und unzivilisierte Regionen gebraucht (vgl. Phaedra Britannica 159). In diesem sprachlichen Detail zeigt sich, wie in einem Brennglas, das thematische Epizentrum der Tragödie, in der geographische, zivilisatorisch-kulturelle, moralische und psychologische Grenzüberschreitungen (oder besser: Grenzkonflikte) verdichtet und überblendet werden. In seiner Einführung begründet Harrison diese thematische Ausrichtung des Stückes übrigens mythologisch, genauer gesagt: mit dem mythologischen Charakter der Phädra, die als Tochter des Minos und der Pasiphae eine brisante Dualität verkörpere: Minos and Pasiphaë, an emblematical marriage, are the opposite poles of the human consciousness. Minos […] is one of the three judge figures in Greek mythology. He is the judge who punishes crime […]. Interiorised psychologically, as he is in Phèdre, he is that part of our selves which is judgement, prescription, that part that creates moral codes, imposes laws, fixes limits, the ‘frontiers’ of experience, defines the acceptable, and punishes transgression. Pasiphaë is the transgressor of the codes created by Minos, that part of our selves that hungers for every experience, burns to go beyond the frontiers of current acceptability, specifically, in her case, to gratify her sexuality […]. (Phaedra Britannica 117)

Mit ihrer genealogischen Vorbelastung verkörpert Phädra – folgt man Harrisons Deutung – jene Erfahrung radikaler Fremdheit, die Freud auf die Formel „civilisation and its discontents“ (Phaedra Britannica 118) – bzw. im deutschen Original: das Unbehagen in der Kultur – gebracht hat. Wie u. a. in der gerade zitierten Passage aus der Einführung deutlich wird, gilt das Interesse des Dramatikers am mythologischen Ausgangsmaterial also offenkundig vor allem einer Geschichte, in der das Eigene (das Maßvolle, Vernünftige, gesellschaftlich Akzeptierte etc.) prekär bzw. durch die Erfahrung des (radikal) Fremden erschüttert wird. Diese Geschichte elaboriert der Dramatiker zu einer zugleich geschichtspolitischen und (individual-)psychologischanthropologischen Tragödie, bei der sich freilich die beiden Ebenen spiegeln: So wie die britische Kolonialherrschaft mit ihrem Zivilisierungsanspruch durch die Realitäten des ‚eigenen Auslands‘, durch Rebellionen und monströse



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Bedrohungen, erschüttert wird, so wird das Selbstverständnis der Protagonisten durch die befremdliche Realität des ‚inneren Auslands‘92 erschüttert. Der Mythos als Zeugnis des Fremden stellt somit nicht nur – wie eingangs erläutert – eine Herausforderung für die literarisch-dramatische Aktualisierung bzw. Aneignung der Geschichte von Phädra und Hippolytos dar. Vielmehr erweist er sich schlussendlich – auch weil die Fremdheit im Prozess der Neubearbeitung nicht komplett abgeschliffen wird – als Ausgangspunkt für eine Exploration des Befremdlichen in der eigenen Geschichte, der eigenen Zivilisation und nicht zuletzt der eigenen Psyche.

4.5.3 Eine archaische Konsumgesellschaft: Zur post-humanistischen Mythosrezeption und mythologischen Barbarei in Sarah Kanes Phaedra’s Love93 1996 und damit zwei Jahrzehnte nach der Uraufführung von Tony Harrisons Phaedra Britannica legt die junge Dramatikerin Sarah Kane ihre dramatische Version der Geschichte von Phädra und Hippolytos vor: Phaedra’s Love.94 Dabei sind die Unterschiede zu Harrisons Bearbeitung des Stoffes, gerade bei einem oberflächlichen Vergleich, eklatant und lassen sich sogar bis zur Entstehungsgeschichte der beiden Dramen zurückverfolgen: Denn während Harrison offenkundig nach Wegen gesucht hat, um die Distanz seines Publikums zum mythologischen Material und dessen klassizistischer Aufbereitung bei Racine zu überbrücken, stand Kane dem alten mythologischen Stoff zumindest anfangs selbst distanziert gegenüber und zeigte ursprünglich kein gesteigertes Interesse an einer entsprechenden Neubearbeitung bzw. generell „no natural inclination to reinterpret a play from the ancient classics“ (Saunders 2002: 71). Dass sie schließlich mit Phaedra’s Love doch eine entsprechende Neuinterpretation vorgelegt hat, war dem Auftrag eines Londoner Theaters geschuldet, dem sie zuvor bereits erfolglos andere Vorschläge unterbreitet hatte (vgl. Sierz 2005: 108). Diese Hintergründe zur Genese des Dramas werden an dieser Stelle nun deshalb referiert, weil man Kanes ursprüngliche Zurückhaltung vielleicht als Sym­­ptom, zumindest aber als Sinnbild einer kulturellen Verschiebung betrachten

92 Der Begriff des ‚inneren Auslands‘ wird hier in Anlehnung an Sigmund Freud verwendet: „das Verdrängte ist aber für das Ich Ausland, inneres Ausland“ (Freud 1961: 62). 93 Eine Vorarbeit zum vorliegenden Kapitel wurde bereits in Aufsatzform veröffentlicht: vgl. Mayer 2011. 94 Im Folgenden zitiert als Phaedra’s Love nach Kane 2001.

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kann, die mit dem Begriff des Post-Humanismus treffend bezeichnet wird. Der Begriff verweist in diesem Zusammenhang auf eine schwindende „Institutionalisierung der Antike im Bildungssystem“ und den damit verbundenen „Statusschwund“ des antiken Erbes (Merten 2004: 15).95 Einfacher ausgedrückt: Die alten Sprachen sind von den Lehrplänen der weiterführenden Schulen verschwunden und mit ihnen die antike Literatur, wodurch unvermeidlich auch die antike Mythologie, die über Jahrhunderte für die kulturelle Selbstverständigung Europas zentral war, zunehmend aus dem Blick gerät. Vielleicht kann man vor diesem Hintergrund von einem zweiten othering of antiquity sprechen. Eigentlich bezeichnet diese Formel eine im 19. Jahrhundert einsetzende Neubewertung der Antike, bei der aufgrund neuer Erkenntnisse (und nicht zuletzt durch archäologische Funde) das Fremdartige der antiken Kultur in den Fokus geriet und liebgewonnene Idealisierungen in Frage gestellt wurden. Das zweite othering of antiquity ist dagegen nicht das Resultat eines Erkenntnisgewinns, sondern vielmehr einer zunehmenden Unkenntnis der antiken Kultur infolge einer Abkehr von humanistischen Bildungstraditionen. Folgerichtig darf man also von einer zusätzlichen, bisher noch nicht erwähnten Dimension mythologischer Alterität ausgehen: Der Mythos bzw. die meisten Stoffe der griechischrömischen Mythologie erscheinen heute oft auf eine triviale Art und Weise fremd, da sie selbst den ‚Gebildeten‘ unbekannt sind. Wendet man sich nun Kanes Phädra-Adaption unter diesem Gesichtspunkt zu, kann sich schnell der Eindruck verfestigen, man habe es hier mit einer dezidiert post-humanistischen Form der Mythosrezeption zu tun. Auf den ersten Blick hat es nämlich den Anschein, als würde Kane mit ihrer Adaption des Phädra-Stoffes vor allem einen radikalen Bruch vollziehen – mit den Vorgaben der antiken Mythologie ebenso wie mit dem hochkulturellen und humanistischen Nimbus, den man gemeinhin mit der Überlieferung mythologischer Stoffe im Rahmen der Classical Tradition verbindet. Gabriele Rippl ko­ns­ tatiert dementsprechend: „Kane’s playful and random juggling with bits and pieces of this tradition seems to bring about a cooling of antiquity“ (Rippl 2004: 181). Und man kann sich in der Tat nur schwer des Eindrucks erwehren, dass die Dramatikerin zum einen den „Statusschwund“ (Merten 2004: 15) des antiken Erbes nachdrücklich illustrieren und zum anderen die mythologische Differenz von Eigenem und Fremdem (der fremden Kultur der griechisch-römischen Antike sowie die zahlreichen ‚fremden‘ Adaptionen des Stoffes) als drastische 95 Der hier gebrauchte Begriff des Post-Humanismus ist nicht mit jenem Begriff des Posthumanismus zu verwechseln, der für eine technisch, kulturell oder ethisch begründete Neubewertung des Menschlichen steht. Vgl. zu dieser umfassenderen und spekulativeren Bedeutung des Begriffs: Wolfe 2010 und Herbrechter 2009.



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Dichotomie verstanden wissen will. Denn was sie ihrem Publikum in der ersten Szene des Stückes präsentiert (oder besser: zumutet), hat auf den ersten Blick wenig bis gar nichts mit dem zu tun, was man aus der mythologischen Überlieferung kennt und erwarten dürfte:96 A royal palace Hippolytus sits in a darkened room watching television. He is sprawled on a sofa surrounded by expensive electronic toys, empty crisp and sweet packets, and a scattering of used socks and underwear. He is eating a hamburger, his eyes fixed on the flickering light of a Hollywood film. He sniffs. He feels a sneeze coming on and rubs his nose to stop it. It still irritates him. He looks around the room and picks up a sock. He examines the sock carefully then blows his nose on it. He throws the sock back on the floor and continues to eat the hamburger. The film becomes particularly violent. Hippolytus watches impassively. He picks up another sock, examines it and discards it. He picks up another, examines it and decides it’s fine. He puts his penis into the sock and masturbates until he comes without a flicker of pleasure. He takes off the sock and throws it on the floor. He begins another hamburger. (Phaedra’s Love 65)97

Angesichts dieser Szene dürfte sofort plausibel erscheinen, warum man Kanes Dramen einer Strömung des britischen Theaters zurechnet, die in den 1990er Jahren als In-Yer-Face-Theatre für viel Furore und ein gutes Maß an Empörung gesorgt hat. Auf jeden Fall hat der Protagonist von Phaedra’s Love auf den ersten Blick wenig mit dem Prinzen Hippolytos aus anderen Bearbeitungen des Stoffes gemein (bei Euripides betet dieser am Anfang der Tragödie zu Artemis, während er sich bei Seneca zur Jagd rüstet) – dies allein schon deshalb, weil er offensichtlich in einer drastisch skizzierten Konsum- und Mediengesellschaft lebt. Hippolytos erscheint als kulturkritischer Inbegriff eines postmodernen Konsumenten:

96 Wer das Drama trotzdem vor allem als re-writing betrachten und in der Rezeptionsgeschichte des Phädra-Stoffes verorten möchte, dem bieten sich die folgenden Bezugspunkte an: „For the text […], Kane’s Phaedra’s Love (1996), this means that re-writing on different levels must be taken into account. Kane’s Phaeadra’s Love can be described as (1) a post-modern re-write (2) in an Elizabethan light (3) of a Roman re-write (4) of a Greek play.“ (Brusberg-Kiermeier 2001: 165) 97 Die Regieanweisungen zu Beginn der 4. Szene zeigen Hippolytos in einer ähnlichen Situation. Auch die eingepackten Geburtstagsgeschenke, die ihm seine Stiefmutter Phädra über­ reicht, können sein Interesse nicht wecken (vgl. Phaedra’s Love 74).

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„This postmodern Hippolytus is characterized by a consumer mentality; his actions are reduced to watching TV, eating junk food, and having sex.“ (Rippl 2004: 178) Fernseher, Fast Food und elektronisches Spielzeug – mit wenigen, aber deutlichen Zeichen setzt Kane die Welt ihres Stückes in der ersten Szene von einer mythischen Welt ab, egal ob man sich diese nun eher archaisch-fremd oder zeitlos-klassisch vorzustellen beliebt. Der (selbst-)kritische Gestus ist in dieser Repräsentation der eigenen, zeitgenössischen Wirklichkeit auf jeden Fall mehr als offenkundig. Kanes scheinbar radikale Aktualisierung beschränkt sich zudem nicht auf das Dekor oder auf Äußerlichkeiten des Schauplatzes, sondern beinhaltet auch eine Neuinterpretation der Figur des Hippolytos, auf die das Drama ausgerichtet ist. Graham Saunders fühlt sich z. B. von Kanes Hauptfigur eher an Elvis Presley als den Hippolytos des Seneca erinnert: „Kane seems to base her Hippolytus on the physical deterioration and slothful boredom drawn from accounts of the reclusive Elvis Presley of the 1970s. In Phaedra’s Love the palace of Theseus has become a kitsch Graceland“ (Saunders 2002: 74). Unabhängig davon, ob man diesen Bezug zur Populärkultur als angemessen betrachtet, kann wohl festgehalten werden, dass die Dramatikerin den Königssohn als Antihelden konzipiert, der – im Gegensatz zu seinen keuschen Pendants in früheren Adaptionen – gerade sexuell alles andere als unschuldig ist: „Instead of having the puritanical attitude of the classical original, Kane’s Hippolytus is sexually experienced, even if he gets no ple­as­ ure from sex.“ (Sierz 2005: 108) Damit fügt sich Phädras Stiefsohn freilich nur in seine Umgebung ein, in der alle Figuren moralisch kompromittiert sind, Promiskuität zum Modus Vivendi gehört und sich selbst ein Priester, dem sich Hippolytos anvertrauen soll, zu sexuellen Handlungen hinreißen lässt. Freilich wird ungeachtet dieser drastischen Veränderungen das Grundgerüst der mythologischen Geschichte beibehalten, wie die folgende Kurzzusammenfassung verdeutlicht: Prinz Hippolytos, der durch seine gesellschaftliche Rolle zugleich privilegiert und isoliert ist, führt ein sinnentleertes, durch soziale Entfremdung und moralische Verwahrlosung gekennzeichnetes Leben. Trotz seines Wohlstands und der Bewunderung, die man ihm als Königssohn entgegenbringt, plagt ihn eine grundsätzliche Unzufriedenheit, die sich sowohl in Lethargie als auch in brutalem Zynismus gegenüber seiner Umwelt äußert. Die krankhafte Liebe seiner Stiefmutter Phädra weist er zurück, allerdings nicht ohne diese dabei auch noch zu demütigen. In der Folge wird er durch die verzweifelt-gekränkte Phädra der Vergewaltigung bezichtigt, damit zum Angeklagten und schließlich zum Opfer eines rasenden Mobs. Neben dem Grundgerüst der Handlung und den mythologischen Namen der Figuren lassen sich des Weiteren verschiedene mehr oder weniger subtile Bezüge der drastischen Neubearbeitung zu früheren Bearbeitungen des mythologischen



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Stoffes ausmachen. So hat man z. B. in Kanes Hippolytus nicht nur einen radikalen Gegenentwurf, sondern auch eine zuspitzende Interpretation der tradierten Figur erkannt: „Using the figure of Hippolytus, Kane goes against the traditional depiction of the young prince, recognising that like the Senecan model he is ‚less the product of a noble vision than of a deranged psychology, as its connection with a ferocious misogynism reveals‘.“ (Saunders 2002: 73) In Kanes Mythosrezeption kommt es somit zu Bedeutungszuschreibungen bzw. Bedeutungstransfers zwischen Eigenem und Fremdem – und zwar in beide Richtungen. Kanes Hippolytos gewinnt sein Profil vor dem Hintergrund der mythologisch-tradierten Figur und liefert gleichzeitig einen Kommentar zu dieser. Gerade die Rücksichtslosigkeit, die Kanes Hippolytos an den Tag legt, ist schon bei Euripides angelegt und gehört gewissermaßen zum puritanischen Charakter der Figur, den Kane dann gnadenlos zuspitzt: „Kane described her conception of Hippolytus as a puritan who desires brutal truth over flattery and empty rhetoric, even when that truth can be harmful to others“ (Saunders 2002: 76). Dass die Wahrheit aus dem Munde Hippolytos’ brutal sein kann, muss besonders Phädra erfahren. Nicht nur offenbart der Schwiegersohn und widerwillige Liebhaber ihr en passant sein sexuelles Verhältnis mit Strophe, Phädras leiblicher Tochter, sondern vergleicht ungefragt die sexuellen Qualitäten von Mutter und Tochter: „She’s less passionate but more practised. I go for technique every time.“ (Phaedra’s Love 84) Dabei richtet der Königssohn diese puritanische Ehrlichkeit auch gegen sich selbst, wie man am Ende des Stückes erkennen kann. Denn Hippolytos unternimmt nicht einmal den Versuch, sich gegen die falschen Anschuldigungen zur Wehr zu setzen – vielleicht, weil sie angesichts der allgemeinen Schuld, die alle Figuren im Drama auf sich geladen haben, nur im Konkreten, nicht aber grundsätzlich falsch sind. Dies würde auch erklären, weshalb für Hippolytos gerade der Moment seines Untergangs der einzige authentische Moment individueller Erfüllung ist: „If there could have been more moments like this.“ (Phaedra’s Love 103) Auffälliger als potentielle und subtile Anknüpfungspunkte an die mythologische Tradition (und auch für ein Publikum ohne einschlägige Vorkenntnisse offensichtlich) sind freilich die Relikte einer fremden, archaischen Welt, wie z. B. ein Scheiterhaufen, die neben die Insignien der Konsum- und Mediengesellschaft treten. So werden der Tod und die Bestattung Phädras nicht als Medienspektakel inszeniert, wie man vielleicht mit Blick auf die Eingangsszene des Stückes erwarten könnte, sondern als unmittelbares und ganz und gar unzeitgenössisches Ereignis, wie die folgende Regieanweisung verdeutlicht: „Phaedra’s body lies on a funeral pyre, covered. […] Phaedra goes up in flames“ (Phaedra’s Love 97). Wurde eingangs eine degenerierte Konsum- und Mediengesellschaft als Schauplatz des Stückes aufgerufen, so scheint der Schauplatz (nicht nur) in dieser Szene zugleich

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archaisch-fremd. Es sind demnach zwei Welten, die in Kanes Mythosrezeption aufeinanderprallen und ineinandergreifen. Durch eine solchermaßen inszenierte Kopräsenz verschiedener Ordnungen bzw. Welten entsteht ein Spannungsfeld, in dem Werte, Konzepte und Bedeutungen zu oszillieren beginnen. Am einfachsten zu greifen ist dieses Spannungsfeld in seinem satirisch-kritischen Potential, das sich z. B. in Kanes Entscheidung manifestiert, den königlich-aristokratischen Status ihrer mythologischen Pro­ tagonisten beizubehalten. Einerseits verzichtet die Dramatikerin mit dieser Entscheidung darauf, ihrem Stück einen (noch) zeitgenössischeren Gegenstand zu geben, etwa indem die Protagonisten zu Popstars oder Politikern umgedeutet werden. Andererseits liegt gerade in dem Verzicht auf eine aktualisierende Übersetzung ein hintersinniger Kommentar zu einer zeitgenössischen Institution: „[Kane’s] repeated reference to the dismal image of the British Royal Family after a series of sex scandals“ (Brusberg-Kiermeier 2001: 168). Gerade ein britisches Publikum kann und wird Kanes Darstellung auch auf das britische Königshaus beziehen.98 Die Entscheidung, den königlich-aristokratischen Status der Pro­ tagonisten beizubehalten, erwächst demnach nicht allein aus der Autorität des überlieferten mythologischen Materials. Sie lässt sich vielmehr als Fingerzeig auf Befremdliches in der eigenen kulturellen Wirklichkeit – sei es die vielleicht als anachronistisch betrachtete Institution der Monarchie oder deren mediale Verwertung – interpretieren. Die satirische Dimension des Stückes scheint auf jeden Fall auch der Dramatikerin am Herzen gelegen zu haben: „Sarah Kane described Phaedra’s Love as ‚my comedy‘, and of all her works it is perhaps the most overtly and darkly humorous.“ (Saunders 2002: 78) Freilich ist Kanes Humor nicht von der abstoßenden Obszönität und Gewalttätigkeit des Bühnengeschehens zu trennen. Ihren Höhepunkt erreicht die Barbarei auf der Bühne schließlich mit dem Finale des Stückes. Nach der falschen Anschuldigung, Phädra vergewaltigt und dadurch in den Selbstmord getrieben zu haben, wird Hippolytos am Ende des Dramas zum Opfer eines öffentlichen, die vagen Rachegelüste der Masse befriedigenden Spektakels. Die archaische Gesellschaft mit ihren öffentlichen Hinrichtungen trifft – wenn man sich der ersten Szene erinnert und die naheliegende Verbindung herstellt – auf die Zelebrierung des Öffentlichen in postmodernen Medien- und Konsumgesellschaften. Hippolytos findet dabei auf eine grausamsurreale Weise den Tod, wenn er von seinem Vater Theseus und der rasenden Menge regelrecht ‚zerlegt‘ wird: „Theseus takes the knife. He cuts Hippolytus from

98 Ken Urban liest das Stück auf jeden Fall als „scathing and comedic take on the Royal Family“ (Urban 2001: 42).



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groin to chest. Hippolytus’ bowels are torn out and thrown onto the barbecue.“ (Phaedra’s Love 101) Einerseits könnte man Kanes Darstellung als betont exzessiv und als forcierten Bruch mit der Tradition der Tragödie betrachten: „Finally, Kane inverts classical conventions by showing rather than just describing violence.“ (Sierz 2005: 108)99 Andererseits scheint Kane aber auch den mythologischen Vorgaben (und ganz konkret der Version Senecas) zu folgen. Denn bei Seneca wird vom grausamen Tod des Hippolytos zwar lediglich berichtet, anschließend aber der zerfleischte und zerrissene Körper auf die Bühne getragen, wo der verzweifelte Theseus ihn zusammenzusetzen versucht. Und so lässt sich mit Blick auf die eigentlich unmöglichen Regieanweisungen Kanes doch feststellen: „The stage directions are worthy of Seneca’s most gruesome descriptive passages.“ (Mayer 2002: 86)100 Wenn in Kanes Stück die Gedärme des Königssohns auf einem Grill landen, so kann man das als parodistisch-konsequente Weiterführung der Senecaschen Bilder und der befremdlichen Gewalttätigkeit des Mythos verstehen. Mit diesem Finale wird zugleich die kritische Stoßrichtung des Dramas noch einmal unterstrichen: Eine sittlich verwahrloste Medien- und Konsumgesellschaft zelebriert das kollektive Opfer und delektiert sich an rauschhafter Gewalt. Von Fortschrittlichkeit, die über technische Spielereien und materielle Rundumversorgung hinausgeht, kann angesichts der geifernden Lust am Skandal, einer verstörenden Infantilisierung und einer Fixierung auf das Sexuelle nicht die Rede sein. Letzteres dokumentiert sich bildlich in der Entmannung des Hippolytus. Man 1 pulls down Hippolytus’ trousers. Woman 2 cuts off his genitals. They are thrown onto the barbecue. The children cheer. A child takes them off the barbecue and throws them at another child, who screams and runs away. Much laughter. Someone retrieves them and they are thrown to a dog. (Phaedra’s Love 101)

99 „Kane’s production at the intimate Gate Theatre in May 1996 was a mess of stage blood and fake intestines.“ (Urban 2004: 368) Ken Urban versucht sich an einer kulturgeschichtlichen Einordnung der Gewaltdarstellung im Rahmen einer Theory of Cruel Britannia (vgl. Urban 2004). Eine theatergeschichtliche Einordnung mit europäischer Perspektive offeriert: Nikcevic 2005. 100 Laut Brusberg-Kiermeier ist die Darstellung außerdem durch eine populäre britische Fernsehserie inspiriert: „From reading Kane’s play, I gathered that Kane intentionally alluded to ‚Monty Python’s Flying Circus‘ and the tradition of black British humour with its gruesome and grotesque aspects.“ (Brusberg-Kiermeier 2001: 169)

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Diese Gewalttat mag manchem Leser oder Zuschauer nur als eine weitere posthumanistische Geschmacklosigkeit und Brutalität erscheinen, die einen fehlenden Respekt vor dem mythologischen Stoff und der Classical Tradition offenbart. Allerdings hat diese Szene durchaus auch eine mythologische Dimension, da der Akt der Entmannung in der antiken Mythologie eine gewichtige Rolle spielt. Man erinnere sich in diesem Zusammenhang an die folgende Passage aus Hesiods Theogonie: Doch da reckte der Sohn [Kronos, d. Verf.] die linke Hand aus der Höhle, packte mit seiner Rechten die ungeheuere Sichel, starrend von spitzen Zähnen, und mähte, ohne zu zögern, seinem eigenen Vater [Uranos, d. Verf.] die Scham ab und warf sie nach hinten durch die Luft. Doch nicht umsonst entflog sie den Händen. […] Doch des Uranos Scham, getrennt vom Leib durch das Eisen, abwärts geworfen vom Land in die laut aufbrandende Meerflut, trieb übers Wasser lange dahin, bis schließlich eine weißer Ring von Schaum sich hob um das göttliche Fleisch: Da entwuchs ihm alsbald die Jungfrau. Zunächst zur heiligen Insel Kythera wandte sie sich und kam dann zum meerumflossenen Kypros. Hier wo der Flut entstiegen die ehrfurchtgebietende, schöne Himmlische, bettete Gras ihren leichten Tritt. Aphrodite, schaumentsprossene Göttin, bekränzt mit den Blüten Kytheras, heißt sie bei Göttern und Menschen, sie, die aus Aphros, dem Schaume, wuchs. […] (Hesiod 1991: 19–21, V. 178–198)

Hesiod beschreibt durchaus eindrücklich, wie Kronos seinen Vater entmannt. Doch in der Theogonie ist die Entmannung keine sinnlose Gewalttat, sondern erweist sich als schöpferischer Akt – und keine Geringere als Aphrodite, die Göttin der Liebe, geht aus diesem Akt hervor. In Phaedra’s Love wird das Destruktive dagegen nicht ins Produktive umgemünzt. Die Gewalttat bleibt dementsprechend ein durch und durch sinnloser Akt, der höchstens kurzfristig für infantiles Amüsement sorgt.101 Es ist vielleicht gerade diese Szene des Dramas, die Kanes (implizite) Mythoskonzeption am deutlichsten hervortreten lässt. Denn die Dramatikerin übernimmt das Rohe, Gewalttätige und Destruktive aus der Mythologie und ignoriert das Moment der mythologischen Bändigung und Sublimierung. Zum 101 Wer will, kann an dieser Stelle eine besonders subtile mythologische Pointe ausmachen, denn der klassische Hippolytos (bei Euripides) verweigert Aphrodite die Ehrerbietung und wird bei Kane nun mit jener Gewalttat bestraft, aus der die Göttin der Liebe hervorgegangen ist.



4.5 Barbarisches Britannien 

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Vergleich bietet sich an dieser Stelle Hans Blumenbergs Sicht auf die Entmannung des Uranos an. In einer bereits zitierten Passage in seiner Arbeit am Mythos betrachtet er gerade diese mythologische Episode als Metapher für die kulturelle Leistung des Mythos: Aphrodite ersteht aus dem Schaum der schrecklichen Entmannung des Uranos – das ist wie eine Metapher auf die Leistung des Mythos. Dennoch ist seine Arbeit damit nicht zu Ende: in Botticellis Venus Anadyomene steigt sie wie aus dem Schaum des Meeres, nur noch für den Mythenkundigen aus dem des Sekrets der schrecklichen Wunde des Uranos, empor. Wenn schließlich am Anfang des 20. Jahrhunderts der ‚Lebensphilosoph‘ [gemeint ist Georg Simmel, d. Verf.] nach der mythischen Szene der Anadysis greift, um an ihr das Urverhältnis von Leben und Gestalt, von Lebensströmung und Eros aufgehen zu lassen, dann erhebt sich für ihn die zeitlose Schönheit der Aphrodite nur noch aus dem vergehenden verwehenden Schaum des bewegten Meeres. Der Hintergrund des Schreckens ist vergessen gemacht, die Ästhetisierung vollendet. (Blumenberg 1990: 45)

Laut Blumenberg wird in der Arbeit am Mythos der ursprüngliche Schrecken ästhetisiert und somit bewältigt. Der Mythos ist demnach bei Blumenberg zu­ gleich Zeugnis des Schreckens und das Medium für dessen Überwindung. In Phaedra’s Love hat die Vorstellung, dass der Mythos Ausdruck und Werkzeug einer positiv verstandenen Rationalität oder Ordnung sein könnte, allerdings keine Spuren hinterlassen. In diesem Sinne ist es durchaus signifikant, dass Kane auf eine traditionelle, ordnungsstiftende Strukturierung des Dramas in Akten verzichtet und Phaedra’s Love in acht Szenen entfaltet. Und so wie Kane von der klassischen Form abweicht, verwirft sie auch die klassischen Konzepte, mit denen man dem schrecklichen Bühnengeschehen doch noch einen Sinn abringen könnte. Sie verweigert ihrem Publikum eine kathartische Auflösung, und im Lächeln des sterbenden Hippolytos erscheint das Konzept der Ataraxia höchstens in zynischer Verzerrung.102 So präsentiert sich der Mythos in Kanes desillusionierter Kultur- und Zeitkritik schließlich nicht nur als Zeugnis des Archaischen, sondern geradezu als Zeugnis des Barbarischen. Man kann abschließend somit zwei Dimensionen der Kaneschen Mythosrezeption ausmachen. Da ist zunächst die scheinbar konsequente Übertragung der mythologischen Geschichte in die eigene Lebenswelt, d. h. in jene Medienund Konsumgesellschaft, in der die Dramatikerin und ihr Publikum zu Hause sind. Das Bild, das Kane dabei vom Eigenen entwirft, ist zunächst so platt wie provokant. Komplexer wird dieses Bild freilich dadurch, dass archaische Relikte

102 „The traditional discourses in Phaedra’s Love serve for some grim comic relief, but not for moral, theological or political guidelines.“ (Pankratz 2001: 155) Vgl. dazu auch Rippl 2004: 179.

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aus einer fremden, mythischen Welt auf der Bühne ihren Platz behaupten: Die postmoderne, kapitalistische Medien- und Konsumgesellschaft wird so mit der vormodernen, archaischen und barbarischen Welt des Mythos kurzgeschlossen – und ihre moralische Verfassung und unterschwellige Brutalität werden in drastischen Bildern auf den Punkt gebracht.103 So wird die zugleich radikale und unvollständige Aktualisierung des mythologischen Stoffes zwar zum Spiegel, den Kane ihrer eigenen Gegenwart vorhält, doch in diesem erkennt man nur eine barbarische Fratze. In diesem Sinne begründet bei Kanes post-humanistischer Mythosrezeption gerade die Fremdheit des Mythos und die Distanz zur Classical Tradition der mythologischen Überlieferung die Möglichkeit und die Brisanz einer dramatischen Aktualisierung.

4.6 Der Mythos (immer noch) als Stachel des Fremden: Mythologische Alterität in der Literatur des frühen 21. Jahrhunderts 4.6.1 Die Gegenwärtigkeit des Mythos als Gegenwart des Fremden: Vorbemerkungen Die vorangehenden Kapitel haben dokumentiert, dass und wie mythologische Alterität in den verschiedenen Spielarten der literarischen Mythosrezeption ihren Niederschlag findet. Doch gilt dies auch für die jüngere und jüngste Mythosrezeption seit dem Ende des 20. Jahrhunderts? Immerhin berichten z. B. Aleida und Jan Assmann bereits 1998 von einer grundsätzlichen Tendenz im Mythosdiskurs, „den Mythos aus seinen distanzierenden (antiquarischen, exotischen, archaischen) Bezügen zu lösen und als konstitutives Element der eigenen Kultur sichtbar zu machen“ (Assmann/Assmann 1998: 185). Wenn Birgit zur Niedens Feststellung, „Theorien literaturwissenschaftlicher Mythendeutung“ würden „ins­ gesamt sowohl von der Rationalität wie auch von der Gegenwärtigkeit des Mythos“ ausgehen (Nieden 1993: 201), korrekt ist, dann hat wohl auch die Literaturwissenschaft an einer entsprechenden Tendenz ihren Anteil. Stößt also die These der mythologischen Alterität – und ihre heuristische Funktion für die 103 Es ließe sich nun trefflich darüber streiten, inwiefern Kanes dramatische Ästhetik – die explizite und ausufernde Darstellung von Obszönität und Gewalt – nicht selbst ein Symptom jener verrohten Zustände ist, die mit dem Drama diagnostiziert werden. Bedient nicht auch Kanes Drama letztendlich den im Stück vorgeführten Voyeurismus, auch wenn es sich nur um den sub­ limierten Voyeurismus eines gebildeten Theaterpublikums handelt, das sehen möchte, wie die Gewalttätigkeiten auf der Bühne umgesetzt werden?



4.6 Der Stachel des Fremden 

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literaturwissenschaftliche Praxis – spätestens mit dem Ende des 20. Jahrhunderts an eine kultur- und geistesgeschichtliche Grenze? Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf Monika SchmitzEmans’ Aufzählung ausgewählter Mythostheorien, die für „den literarästhetischen Diskurs der Moderne […] folgenreich gewesen“ sind (Schmitz-Emans 2004: 19). Auch diese Aufzählung scheint zu illustrieren, dass man in der literaturwissenschaftlichen Praxis den Mythos längst aus seinen „distanzierenden Bezügen“ (Assmann/Assmann 1998: 185) gelöst hat. Konkret genannt und kurz vorgestellt werden die Theorien Ernst Cassirers, Hans Blumenbergs, Odo Marquards und Roland Barthes’ (Schmitz-Emans 2004: 19–24). Nun erhebt diese Aufzählung offenkundig keinen Anspruch auf Vollständigkeit und bildet dementsprechend auch nicht die ganze Bandbreite des literaturwissenschaftlichen Rückgriffs auf Mythostheorien ab. Allerdings ist die Ausrichtung der theoretischen Bezüge bemerkenswert und vielleicht sogar repräsentativ. Mit Cassirer, Blumenberg und Marquard werden immerhin drei Philosophen genannt, deren Mythosverständnis – schon aufgrund der fachlichen Prädisposition – nicht vorrangig in eine ferne Vergangenheit oder zu fremden Völkern der Gegenwart verweist. Hinzu kommt mit Roland Barthes noch ein Mythosverständnis, das ausdrücklich gegenwartsorientiert ist, da das Interesse des französischen Strukturalisten den zeitgenössischen Mythen des Alltags gilt. Nur zum Vergleich: T. S. Eliot hatte 1923 bei seinem Plädoyer für eine mythische Methode in der modernen Literatur noch auf eine ganz andere Richtung der Mythostheorie als Ideengeber verwiesen: „Psychology […], ethnology, and The Golden Bough have concurred to make possible what was impossible even a few years ago. Instead of narrative method, we may now use the mythical method. It is, I seriously believe, a step toward making the modern world possible for art“ (Eliot 1975: 178). Psychologie, Ethnologie und Altertumswissenschaft (Frazer) – der von Eliot propagierte Zugang zum Mythos folgt jenen Schneisen, die von Wissenschaften des Fremden (des ‚inneren Auslands‘, fremder Völker und einer fremd gewordenen Vergangenheit) geschlagen wurden. Der Unterschied zur Auflistung Schmitz-Emans’ ist also durchaus bemerkenswert und zugleich symptomatisch: Denn es ist wohl unstrittig, dass Ethnologen und Altertumswissenschaftler (also die Experten für das räumlich und historisch Fremde), aber auch die Psychologie im Stile Freuds oder Jungs schon lange die Deutungshoheit über den Mythos abgegeben haben bzw. diese seit Längerem mit anderen, stärker auf das Eigene fixierten Disziplinen teilen. Ist also auf dem Holzweg oder zumindest mythostheoretisch nicht mehr auf dem aktuellen Stand, wer dem Mythos in der Literatur immer noch als Zeugnis des Fremden nachspürt? Zunächst soll an dieser Stelle daran erinnert werden, dass auch die Mythostheorien Cassirers, Blumenbergs und Barthes’ – wie in der vorliegenden Studie

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bereits ausführlich dargelegt wurde – den Mythos durchaus als Zeugnis des Fremden in den Blick nehmen.104 So basiert etwa Cassirers Verständnis des Mythos als symbolische Form auf dem Material, das ihm seine ethnologischen Gewährsmänner wie Lévy-Bruhl liefern. Freilich fällt diese ethnologische Dimension bei der literaturwissenschaftlichen Anwendung der Cassirerschen Theorie leicht unter den Tisch. Im Falle des Cassirerschen Mythosverständnisses (aber nicht nur dort) kommen die „distanzierenden (antiquarischen, exotischen, archai­ schen)“ Bezüge (Assmann/Assmann 1998: 185) demnach zumindest durch die theoretische Hintertür (oder im Fußnotenapparat) doch wieder ins Spiel. Gewichtiger als jede mythostheoretische Argumentation ist freilich die Rea­ lität der literarischen Praxis. Und diese Praxis liefert auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts zahlreiche Beispiele dafür, dass der Mythos nach wie vor und nicht zuletzt als Zeugnis des Fremden literarisch rezipiert wird. In diesem Sinne illustriert das vorliegende Kapitel die bereits vorgebrachte Warnung, man dürfe nicht automatisch bzw. deterministisch von den Moden der Mythostheorie auf den Charakter der literarischen Mythosrezeption schließen. Am Beispiel von drei Prosatexten – Ali Smiths Girl Meets Boy, Alexander McCall Smiths Dream Angus sowie Salley Vickers Where Three Roads Meet – soll im Folgenden dann auch demonstriert werden, dass sich die „Gegenwärtigkeit“ (Nieden 1993: 201) des Mythos in „der eigenen Kultur“ (Assmann/Assmann 1998: 185) bei genauerer Betrachtung als Gegenwart des Fremden erweisen kann. Die ausgewählten Texte stehen beispielhaft für eine in der vorliegenden Studie noch nicht beleuchtete Spielart der literarischen Mythosrezeption. Auch wenn sie mythologische Geschichten oder mythologische Stoffkreise aufgreifen und für ihre Leser rekapitulieren, sind sie als Neuerzählungen alter mythologischer Geschichten nur unzureichend beschrieben. Denn die Rekapitulation der alten mythologischen Geschichten ist nur Teil einer größeren Inszenierung. Inszeniert wird jeweils das überraschende Auftreten des Mythos in einer scheinbar nicht-mythischen Textwelt. Konkret bedeutet dies, dass Gestalten aus der Mythologie die eigentlich realistisch gezeichnete Textwelt heimsuchen oder/ und dass Mythen zu einem (existentiellen) Thema für die Figuren in den Texten werden – ohne dass die Figuren selbst zwangsläufig mythologische Wiedergänger oder Teil einer mythologischen Konstellation sind. Der Mythos ist bei dieser Form der Mythosrezeption weder zu aktualisierende Vorlage noch Kontrastfolie oder Anspielungshorizont der literarischen Texte, sondern wird vielmehr als Gegenstand oder als Ereignis in den Textwelten präsent. Zeit und Ort der Handlung ist 104 Odo Marquard, dessen Mythosverständnis eine große Affinität zu Hans Blumenbergs Mythostheorie aufweist, hat die Mythosdiskussion vor allem durch seine Unterscheidung von Monomythie und Polymythie bereichert (vgl. Marquard 2003a).



4.6 Der Stachel des Fremden 

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dabei jeweils die Gegenwart (freilich in einem weiteren, einige Jahrzehnte umfassenden Sinne), wodurch der Mythos sowohl für die Figuren als auch für die Leser gegenwärtig wird. Allerdings wird durch die in Szene gesetzte „Gegenwärtigkeit“ (Nieden 1993: 201) der Mythos gerade nicht als „konstitutives Element der eigenen Kultur“ (Assmann/Assmann 1998: 185) in den Fokus gerückt, wie man vielleicht erwarten könnte. Vielmehr gerät der ‚Auftritt‘ des Mythos in der Gegenwart zu einer Erfahrung des Fremden oder besser noch und wie bereits formuliert: zu einer Heimsuchung durch das Fremde. Denn der Mythos dringt jeweils mehr oder weniger überraschend wie ein Stachel in die nicht-mythische Textwelt ein: „Der Stachel des Fremden setzt nicht nur in Bewegung, er dringt auch ins eigene Fleisch gleich dem Stachel der Stechfliege, jenem Sinnbild des sokratischen Fragens.“ (Waldenfels 1991: 8) In diesem Sinne steht der Mythos in den drei ausgewählten Texten für das Fremde, das sich als Frage, als Aufforderung und als Herausforderung in die Sphäre des Eigenen bohrt.105

4.6.2 Mythologische Heimsuchungen: Ein keltischer Gott und die Macht der Träume in Alexander McCall Smiths Dream Angus: The Celtic God of Dreams (2006)106 Alexander McCall Smiths Dream Angus: The Celtic God of Dreams aus dem Jahr 2006107 unterscheidet sich von den bisher besprochenen Beispielen literarischer Mythosrezeption durch einen ausgesprochen anekdotischen Charakter. Auf die Nacherzählung kurzer Episoden aus dem Leben des keltischen Traum- und Liebesgottes Angus folgen jeweils Kurzgeschichten, die vorwiegend im Schottland

105 Über mögliche Gründe für diese Entwicklung der literarischen Mythosrezeption kann an dieser Stelle nur spekuliert werden. Der im vorangehenden Kapitel mit Blick auf Sarah Kanes Mythosrezeption ins Spiel gebrachte Befund einer post-humanistischen Kultur mag in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen. Wo die alten Mythen ihren kanonischen Status – durch die Vernachlässigung der humanistischen Überlieferung – eingebüßt haben, rückt ihre Fremdheit vielleicht eher in den Blick, da es an Vertrautheit mit den Stoffen und ihren mythologischen Bezügen mangelt. Weiterhin wäre zu überlegen, ob sich nicht in den zurückliegenden Jahrzehnten ein gesteigertes Bewusstsein für Fremdheit und für Momente von Alterität entwickelt hat. Schließlich sind Fremdheit und Alterität längst Kulturthemen, die sowohl in akademischen als auch in künstlerischen, literarischen und (gesellschafts-)politischen Diskursen eine große Aufmerksamkeit erfahren. 106 Vorarbeiten zum vorliegenden Kapitel wurden in zwei Aufsätzen veröffentlicht: vgl. Mayer 2013 und Mayer 2014. 107 Im Folgenden zitiert als Dream Angus nach McCall Smith 2006.

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der Moderne spielen und in denen inhaltlich zwar an die vorangehenden mythologischen Episoden angeknüpft wird, jene aber nicht in einem engeren Sinne aktualisiert bzw. neu erzählt werden. So schließt sich an die mythologische Episode „Angus is kind to pigs“, in der von der Tierliebe des keltischen Traumgottes die Rede ist, eine Geschichte aus einem modernen Forschungslabor an, in dem Experimente an Schweinen durchgeführt werden. Auf die mythologische Episode „The childhood of Angus“ folgt eine Geschichte („My brother“) über zwei Brüder, deren Wege sich gezwungenermaßen trennen usw. Wie sich schon bei diesen zwei Beispielen andeutet, bleiben die Kurzgeschichten untereinander zwar nicht völlig, aber doch weitgehend unverbunden. Die einzige offenkundige Gemeinsamkeit besteht darin, dass in jeder der Kurzgeschichten ein Traum zur einschneidenden Erfahrung für eine der Figuren wird. Da die Träume dabei stets im Zusammenhang mit dem Auftreten einer Angus-Gestalt stehen, also einer Figur, die Züge des keltischen Traumgottes trägt, kann man sie als Einbruch des Mythischen in die Gegenwart der Textwelt deuten.108 „Niemand wird je in seinen Träumen heimisch, selbst wenn sie ihn wiederholt heimsuchen.“ (Waldenfels 1999: 37) Mit dieser Erklärung begründet Bernhard Waldenfels in seiner Topographie des Fremden, warum man Träume als Fremdheitserfahrungen, genauer: als Erfahrungen des radikal Fremden betrachten kann.109 Waldenfels’ Begründung ist an dieser Stelle nun deshalb interessant, weil auch in Alexander McCall Smiths Dream Angus Träume als Heimsuchungen in Szene gesetzt werden. Besonders anschaulich lässt sich dies am Beispiel der ersten Kurzgeschichte illustrieren, die von einem frisch verheirateten Ehepaar auf Hochzeitsreise – „on the very edge of Scotland“ (Dream Angus 30) – handelt: „She looked at him. One of the surprising things in all this, she thought, is the sheer otherness. He is another person; he is not me. And there is a bit of him, of what makes him himself, which I shall never know, never touch.“ (Dream Angus 27) Von solchen Gedanken und der Seeluft ermüdet, begibt sich die junge Ehefrau zu Bett, während ihr Gatte noch einen abendlichen Spaziergang unternimmt: „She drifted off to sleep and then back, half awake, half asleep, into drowsy con­ sc­iousness. He had come back into the room. […] He whispered something into her ear, something she did not hear properly, but which she felt she understood,

108 In seiner Einführung kündigt der Autor selbst eine entsprechende ‚Wiederkehr‘ des keltischen Traumgottes in den einzelnen Kurzgeschichten an: „The part played by Angus, or the Angus figure, in each of these, may be elusive, but such a figure is present in each of them.“ (Dream Angus xv) 109 Dass diese Sichtweise auch mythostheoretisch relevant ist, wurde in der vorliegenden Studie bereits mit Blick auf Sigmund Freuds Engführung von Mythos und Traum festgestellt (vgl. Kapitel 3.3.3).



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had taken in.“ (Dream Angus 31) Kurze Zeit nach dieser Einflüsterung im Halbschlaf 110 stellt sich mit der tatsächlichen Rückkehr des Ehemanns jedoch heraus, dass es ein Fremder gewesen sein muss, den die junge Frau im Zimmer mehr gespürt als bewusst wahrgenommen hat. Verunsichert wenden sich die Eheleute an die Hotelbesitzer, die zu beruhigen versuchen und deshalb ihre Vermutung lieber für sich behalten: „She saw Angus.“ (Dream Angus 33) Einigermaßen beruhigt, begibt sich das Ehepaar schließlich zu Bett: „She lay awake for some time. He dropped off to sleep, but she lay there, aware of the attenuated light outside, the faint glow that seemed to come from the hills. Then drowsiness overcame her and she drifted off to sleep. To dreams. She dreamed of his secrets.“ (Dream Angus 34) Der frisch gebackenen Ehefrau offenbaren sich – nach der Einflüsterung durch Angus – im Traum die Geheimnisse ihres Mannes. Dessen „sheer otherness“ (Dream Angus 27) löst sich in einer Woge der Vertrautheit auf. Eine rationale oder psychologische Erklärung für diese unerwartete Offenbarung wird dabei im Text nicht einmal angedeutet. Denn diese Erfahrung im Grenzzustand des Traumes stellt – so kann man es im Rückgriff auf die Definition von Waldenfels deuten – als Erfahrung radikaler Fremdheit „nicht nur eine bestimmte Interpretation, sondern die bloße ‚Interpretationsmöglichkeit‘ in Frage“ (Waldenfels 1999: 36–37). Wie in der gerade beleuchteten Geschichte erweisen sich die Heimsuchungen durch eine Angus-Gestalt bzw. durch die jeweiligen Träume auch in den anderen Geschichten als tiefgreifende Erfahrungen, die in je spezifischer Weise einen Wendepunkt im Leben der Figuren markieren. Der Einbruch des bzw. die Heimsuchung durch den Mythos bleibt in den Geschichten also kein isoliertes und folgenloses Ereignis, sondern hat stets einen unwiderstehlichen Effekt auf die Figuren. Dabei handelt es sich freilich – der Verschiedenheit der Geschichten entsprechend – um ganz unterschiedliche Effekte: Durch die Träume werden – wie gerade gezeigt – intime Geheimnisse enthüllt, aber auch Trennungsschmerz gelindert, persönlichem Verrat mittels einer eingeflüsterten Drohung vorgebeugt oder eine Versöhnung mit dem untreu gewordenen Ehegatten in die Wege geleitet. Ein weiteres und besonders aufschlussreiches Beispiel für jene Folgen, welche die Träume in McCall Smiths Dream Angus zeitigen, ist die sich völlig unerwartet einstellende Zuneigung zu einem anderen Menschen, von der in der bereits erwähnten Geschichte aus einem Forschungslabor erzählt wird: „That of all people, it should be him; that took her aback. That the heart should settle on somebody like him; that surprised her. But she was so certain about it, so 110 „[H]alf awake, half asleep“ (Dream Angus 31); „on the very edge of Scotland“ (Dream Angus 30) – in Dream Angus werden verschiedene Grenzzustände und -räume aufgerufen und so die Evokation des Traums als Grenzphänomen auch atmosphärisch unterstützt.

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certain.“ (Dream Angus 126) Die Sicherheit des Gefühls resultiert nicht aus einer rationalen Abwägung, sondern überrascht und überwältigt die betroffene Figur. Und auch in diesem Fall war ein irritierender Traum im Spiel: „she had experienced an unsettling dream“ (Dream Angus 113). Der Einfluss des keltischen Traumgottes mag flüchtig erscheinen, den Figuren selbst gar nicht bewusst sein und doch bohrt er sich wie ein Stachel in deren Existenz. Mit seinen – jeweils durch mythologische Episoden inspirierten – Kurzgeschichten entwirft McCall Smith gewissermaßen ein Miniaturpanorama menschlicher Biographien, wobei sich der Fokus auf jene Momente oder (An-)Wandlungen richtet, die sich einer rationalen oder stringenten psychologischen Erklärung entziehen. Diese Lesart deckt sich mit dem Grundtenor der Einführung, in der McCall Smith sein Interesse am Mythos bzw. an der Figur des keltischen Traumgottes begründet: Unlike some mythical figures, Angus does no particular moral or didactic work: he is really about dreams and about love – two things that have always had their mysteries for people. […] Age and experience might make us sombre and cautious, but there is always an Angus within us – Angus the dreamer. (Dream Angus xv)

Laut McCall Smith steht die mythologische Figur Angus für existentielle ‚Geheimnisse‘ („mysteries“) des menschlichen Lebens, die sich einer einfachen Erklärung ebenso entziehen wie einer rationalen Beherrschung, die also dem Menschen stets zu einem gewissen Grade fremd (und befremdlich) bleiben. Wenn der Autor zudem betont, dass auch das Alter und die Erfahrung nicht gegen die Ergriffenheit durch jene ‚Geheimnisse‘ zu immunisieren vermögen, dann evoziert er damit das Bild einer (auch positiv verstandenen) Fremdherrschaft. Auf jeden Fall werden die Figuren in seinen Geschichten von ihren Träumen ergriffen und geraten – ohne eigenes Zutun – unter den Einfluss einer Angus-Gestalt, die als deus ex machina in ihr Leben tritt. Wenn also die Kurzgeschichten von einschneidenden Träumen handeln, so handeln sie zugleich von der Kontingenz oder – um einen Begriff Odo Marquards aufzugreifen – dem „Schicksalszufälligen“ (Marquard 2003b: 157), ohne die das menschliche Leben nicht zu denken ist. Marquards Beschreibung entsprechender Zufälle trifft dann auch in bestechender Weise auf die Erfahrungen der Figuren in McCall Smiths Kurzgeschichten zu: „Es widerfährt uns etwas, was wir nicht gewollt und gewählt haben. Denn wir Menschen sind nicht nur unsere – absichtsgeleiteten – Handlungen, sondern auch unsere Zufälle.“ (Marquard 2003b: 148)111

111 In diesem Zusammenhang kann man McCall Smiths Mythosrezeption durchaus (und ganz neutral) als unmodern bezeichnen, insofern das alte „Programm der Absolutmachung des Men-



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Im Kontext der hier vorgestellten Lesart erschließt sich dann auch die ein­ gangs skizzierte und durchaus ungewöhnliche anekdotische Form der Mythosrezeption in Dream Angus. Der Textstruktur zum Trotz wird in Dream Angus keine Parallele zwischen der mythologischen Welt der Angus-Episoden und der modernen Welt der Kurzgeschichten gezogen. Eine solche Parallele käme etwa dann zustande, wenn eine moderne Figur das Leben des keltischen Traumgottes nachvollzöge, wodurch die Mythosrezeption eine eigene Logik entwickeln oder einer selbstgeschaffenen Notwendigkeit folgen würde. Die mythologische Vorlage würde dabei mit ihrer Chronologie als syntagmatisches Ordnungsprinzip (bzw. als ‚Fahrplan‘) fungieren. In Dream Angus ist der Leser jedoch nicht dazu aufgefordert (oder in der Lage), eine entsprechende Logik (oder eine mythologische Parallelität) zu entdecken. Dass sich aus der Lektüre der mythologischen Episoden keine belastbaren Leseerwartungen im Hinblick auf die jeweils folgenden Kurzgeschichten ableiten lassen, liegt u. a. daran, dass der keltische Traumgott in den verschiedenen Geschichten in immer wieder neuer Gestalt auftritt. In der bereits zitierten Geschichte eines jungen Ehepaares erscheint die Angus-Gestalt als ein unbekannter Eindringling (oder eine im Halbschlaf imaginierte Traumfigur). In einer anderen Geschichte wird die Angus-Rolle von einem Onkel ausgefüllt, der seinem schlafenden Neffen eine Warnung einflüstert, oder von einem Psychotherapeuten, der sich insbesondere für die Träume seiner Patienten interessiert. Diese Vielgestaltigkeit mag die Vielfältigkeit menschlicher Träume veranschaulichen. Sie ist zugleich ein Ausdruck davon, dass sich die Vielfalt der Situationen und Ereignisse, der Figuren und Figurenkonstellationen in den verschiedenen Kurzgeschichten nicht zu einem Ganzen zusammenfügt, sondern assoziativ, offen und unabgeschlossen bleibt. Der Leser sieht sich also in Dream Angus mit kontingenten ‚Aktualisierungen‘ einer mythologischen Vorlage konfrontiert, da zwar jeweils – mit Blick auf jede einzelne mythologische Episode und die sich anschließende Kurzgeschichte – konkrete Bezüge zwischen den Textebenen offenkundig sind, diese aber weder besonders naheliegend noch zwingend oder gar evident erscheinen.112 Da mit jeder Kurzgeschichte immer wieder neu angesetzt wird, kann man Dream

schen“ in der Moderne seine Zuspitzung erfahren hat: „Der Mensch ist – oder soll sein – ausschließlich das Resultat seiner Absichten. Er ist dann das handelnde Wesen, dem nichts mehr widerfährt. Nichts Menschliches darf unbeabsichtigt, nichts Menschliches darf ungewählt geschehen; nichts mehr darf dem Menschen zustoßen.“ (Marquard 2003b: 148) 112 Hier wird folgende Definition von Kontingenz zugrunde gelegt: Kontingent ist „das Nichtnotwendige: das, was auch hätte nicht sein können oder auch hätte anders sein können“ (Graevenitz/Marquard 1998: XI).

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Angus auch als eine Mythosrezeption im Paradigma bezeichnen, die ihre eigene (schöpferische) Selektivität offen ausstellt.113 Diese Form der Mythosrezeption ist freilich nicht nur eine eindrückliche Erinnerung daran, dass jede Mythosrezeption zu einem gewissen Grade selektiv und kontingent ist. Sie reflektiert auch die Angus-Deutung im Text. Denn so wie die Angus-Gestalt stets überra­ schend (und ohne eine rationale Erklärung) in das Leben der Figuren tritt, muss bzw. darf sich der Leser immer wieder neu davon überraschen lassen, wie in den Kurzgeschichten an die jeweils vorangehende mythologische Episode angeknüpft wird und wohin diese Anknüpfung letztendlich führt (oder treffender: diffundiert). Die Kontingenz in der Form reflektiert die Kontingenz als Thema der Kurzgeschichten. Abschließend bleibt somit Folgendes festzuhalten: Alexander McCall Smith nimmt mythologische Episoden aus dem Leben des keltischen Traumgottes Angus zum Anlass, neue Geschichten zu erzählen, die von der (un-)heimlichen Macht menschlicher Träume handeln. Damit greift der Autor den Mythos als Zeugnis des Fremden auf, wenn auch nicht im Sinne einer kulturellen Differenz von Eigenem und Fremdem. (Obwohl eine entsprechende Differenz durch die zwei distinkten Ebenen im Text – hier die Episoden aus der Welt der keltischen Mythologie, dort die in einer scheinbar un-mythischen Gegenwart spielenden Kurzgeschichten – durchaus in den Blick des Lesers gerückt wird.) Vielmehr lenkt die Mythosrezeption in diesem Fall das Augenmerk auf eines jener Phänomene, „die den Gang der Dinge, auch die Raum- und Zeitordnung durchbrechen“ (Waldenfels 1999: 37) und die einem dementsprechend als das radikal Fremde erscheinen oder widerfahren. Die Mythosrezeption gerät zur Hommage an das Überraschende, Überwältigende und Unerklärliche, das jeder menschlichen Biographie zu eigen ist (und dabei doch ein Moment des Fremden bleibt). Denn wo logische Erklärungen versagen, die Grenzen der herkömmlichen Rationalität und der subjektiven Handlungsmächtigkeit sichtbar werden, bietet sich – zumindest für Alexander McCall Smith – ein Rückgriff auf den Mythos an, der für die Fremdheitserfahrung immerhin ein anschauliches Bild bietet bzw. ihr eine Gestalt gibt.

113 Die Inszenierung einer durchgängigen mythologischen Parallele wäre dagegen eine syntagmatische Mythosrezeption. Für die hier getroffene Unterscheidung – auch im Zusammenhang mit der literarischen Darstellung von Kontingenz – haben Überlegungen Rainer Warnings zum „Erzählen im Paradigma: Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition“ Pate gestanden (vgl. Warning 2001).



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4.6.3 Thank God we’re modern? Mythosrezeption zwischen Zeitkritik und Utopie in Ali Smiths Girl Meets Boy (2007)114 Ali Smiths Roman Girl Meets Boy aus dem Jahr 2007115 lässt sich vielleicht am treffendsten als eine zeitgenössische Variation jenes mythologischen Narrativs beschreiben, das Ovid in seiner Metamorphose der Iphis entwickelt hat (der Einband des Buches verspricht – ebenfalls mit musikalischen Konnotationen – einen mythologischen re-mix): Bei Ovid (vgl. Ovidius Naso 1990: IX, 666–797) wird das junge Mädchen Iphis von seiner Mutter als Junge ausgegeben und entsprechend erzogen. Der Grund dafür war die vorgeburtliche Ankündigung des Vaters, auf Grund der finanziellen Situation der Familie nur einen Sohn akzeptieren zu können, ein Mädchen dagegen sofort nach der Geburt zu töten. Der Schwindel gelingt, auch dank göttlicher Unterstützung. Schließlich aber droht doch noch die Enttarnung, nachdem sich Iphis in das Mädchen Ianthe verliebt hat und der Tag der Hochzeit näher rückt – und damit auch die Hochzeitsnacht, in der die Verstellung scheitern muss. Iphis fleht zu den Göttern und wird erhört: Die junge Frau verwandelt sich in einen Mann, wodurch einer glücklichen Ehe der Liebenden nichts mehr im Wege steht. Ali Smith greift Ovids mythologische Geschichte in Girl Meets Boy auf, ohne sie in einem engeren Sinne neu zu erzählen. Schauplatz des Romans ist das schottische Inverness, wo die junge Schottin Anthea für einen international agierenden Konzern arbeitet, der ein neues (und ausdrücklich als ‚schottisch‘ beworbenes) Mineralwasser auf den Markt bringen will. Die schwelende Aversion Antheas gegen ihren Arbeitgeber entlädt sich, als ein globalisierungskritischer Aktivist die Firma attackiert und der unzufriedenen Angestellten dabei den Kopf verdreht. Dass sich der Aktivist mit dem mythologischen ‚Kampfnamen‘ Iphis – womit der Auftritt der Figur zugleich zum Einbruch des Mythos in die Gegenwart gerät – bald als Aktivistin entpuppt, tut der angebahnten Liebesgeschichte keinen Abbruch. Statt nun den Bezugspunkten oder angedeuteten Parallelen zwischen Smiths Roman und seinem ovidischen Prätext nachzugehen, soll an dieser Stelle das Augenmerk auf die ‚Mythosrezeption in der Mythosrezeption‘ gelenkt werden, die sich nicht in der mythologischen Namenswahl einer Figur erschöpft. Vielmehr wird diese Namenswahl im Roman zum Aufhänger eines ausführlichen Dialogs

114 Eine Vorarbeit zum vorliegenden Kapitel wurde bereits im Rahmen eines Aufsatzes veröffentlicht: vgl. Mayer 2013. 115 Im Folgenden zitiert als Girl Meets Boy nach Smith 2007.

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der beiden Hauptfiguren über Ovids Verwandlungsgeschichte. Smiths Roman ist damit ein Beispiel für jene spezielle Spielart der literarischen Mythosrezeption, die sich laut Thorsten Wilhelmy durch „eine doppelte Rezeptionssituation“ auszeichnet, da „Mythen bereits textimmanent, auf den jeweiligen Handlungsebenen ins Spiel gebracht und von den Akteuren rezipiert“ werden (Wilhelmy 2004: 16). Unter dem Gesichtspunkt der mythologischen Alterität ist eine solche doppelte Rezeptionssituation auf jeden Fall untersuchungswürdig, denn sie unterläuft die Vorstellung einer mythologischen Identität (zwischen literarischen Figuren und ihren potentiellen mythologischen Vorbildern). Wo literarische Figuren nicht als, sondern über mythologische Figuren sprechen, wird eine mythologische Differenz – von Textwelt und mythischer Welt, von literarischen und mythologischen Figuren – fassbar, selbst wenn diese dann wiederum in Frage gestellt oder gar negiert wird.116 In Girl Meets Boy spielt die Thematisierung des Mythos durch die Hauptfiguren auf jeden Fall eine zentrale Rolle, da sie einen Ausgangspunkt der zeit- und gesellschaftskritischen Stoßrichtung des Romans darstellt. Am frühen Morgen nach einer gemeinsam verbrachten Nacht erzählt die Politaktivistin Robin (ein Name, der – genau wie Iphis – das Geschlecht des Namensträgers nicht verrät) ihrer neuen Geliebten Anthea die ovidische Geschichte von Iphis: „A long time ago on the island of Crete […].“ (Girl Meets Boy 86). Bemerkenswerterweise bleibt es nun nicht bei der traditionell gehaltenen Nacherzählung bzw. Zusammenfassung. Dieser ist nämlich die folgende Korrektur nachgeschoben: „Though actually, the telling of it went much more like this“ (Girl Meets Boy 88). Nach der konventionellen Wiedergabe der Geschichte folgt nun eine zweite, realistischere Darstellung des Erzählaktes, bei der Abschweifungen, Kommentare und Zwischenfragen nicht ausgeblendet werden. Diese gebrochene und reflektierende Rezeption der Geschichte durch die Romanfiguren unterstreicht deren Distanz zum Mythos und konterkariert die Vorstellung einer universell und zeitlos evidenten Vorbildlichkeit (oder Verbindlichkeit) des mythologischen Stoffes. Zumal Smiths Romanfiguren die ihnen anachronistisch erscheinenden Aspekte der ovidischen Metamorphose ironisch kommentieren: „[Ovid]’s really good. He honours all sorts of love. He honours all sorts of story. But with this story, well, he can’t help being the Roman he is, he can’t help fixating on what it is that girls don’t have under their togas“ (Girl Meets Boy 97). 116 Man könnte diese doppelte Rezeptionssituation als einen Sonderfall der Metafiktion beschreiben, der die Illusion (bzw. die Lesererwartung) ins Wanken bringt, der betreffende Text würde ‚lediglich‘ oder primär eine alte mythologische Geschichte in einem neuen Gewand präsentieren. Vgl. dazu z. B. Werner Wolfs Einträge zu Illusionsdurchbrechung (Wolf 2008a) und Metafiktion (Wolf 2008b) im Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie.



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Der Dialog der Hauptfiguren dient offenkundig nicht (nur) dazu, den Leser mit der eher unbekannten mythologischen Geschichte vertraut zu machen. Er fungiert vielmehr auch als literarische Illustration der Fremdreferentialität bzw. der Distanzierungsfunktion, die für die Rede vom Mythos charakteristisch ist. Die Art und Weise, in der die Figuren über den Mythos sprechen, scheint nämlich eine Grundannahme zu bestätigen, von der laut Christoph Jamme (auch) neuere philosophische Mythostheorien ausgehen: „In dem Augenblick, wo wir über den Mythos zu reden beginnen, sind wir schon von ihm abgeschnitten“ (Jamme 1999: 37). Die Rede vom Mythos bzw. die Rede über den Mythos – so könnte man Jammes Befund paraphrasieren – referiert in der Regel auf einen fremden Gegenstand bzw. auf ein Zeugnis des Fremden. Wie in der vorliegenden Studie bereits dargelegt wurde, gilt dies selbst für Versuche, die eigenen Mythen zu identifizieren, seien es die Mythen des Alltags (Roland Barthes) oder Die Mythen der Deutschen (Herfried Münkler).117 Denn die Bezeichnung der bei diesen Versuchen in den Blick genommenen Phänomene als ‚Mythen‘ soll häufig gerade eine reflektierende, kritische oder weltanschauliche Distanz zu den betreffenden Phänomenen signalisieren. Eine Distanz zum Mythos bzw. zu jener kulturellen Ordnung, die der Mythos repräsentiert, bringen zumindest Ali Smiths Hauptfiguren zum Ausdruck, die in Ovids Metamorphose nicht zuletzt das Zeugnis einer rückständigen und barbarischen Zivilisation zu erkennen glauben. Mit Blick auf die angekündigte Tötung eines neugeborenen Mädchens stellt dann auch Anthea erleichtert fest: „Thank God we’re modern.“ (Girl Meets Boy 91) Diese Reaktion auf die mythologische Geschichte knüpft an die weitverbreitete Vorstellung an, der Mythos sei das Produkt vormoderner Kulturen und somit Zeugnis von Lebensweisen und Weltanschauungen, die mit dem Anbruch der Moderne als überholt gelten müssen (oder neutraler ausgedrückt: die dem modernen Menschen fremd geworden sind).118 Die Romanfigur reklamiert dementsprechend mit ihrem Seufzer der Erleichterung einen historischen Bruch mit der befremdlich anmutenden, vormodernen Welt, deren Produkt der Mythos ist, und artikuliert zugleich ein Gefühl der moralischsittlichen Überlegenheit. Diese (Selbst-)Einschätzung wird im Roman bzw. in dem gerade dokumentierten Dialog der Hauptfiguren freilich umgehend problematisiert. Denn spricht aus diesem Seufzer der Erleichterung nicht vielleicht eine allzu bequeme Selbstzufriedenheit und moralische Selbstüberschätzung? In Girl Meets Boy weist die Politaktivistin Robin ihre Freundin sofort darauf hin, dass man sich nicht nur in der vormodernen Vergangenheit bisweilen des 117 Vgl. zu Barthes die Einführung und zu Münkler Kapitel 3.2.6 der vorliegenden Studie. 118 Vgl. dazu das Kapitel 3.2.3 über den Mythos als Zeugnis vormoderner Kulturen in der vorliegenden Studie, in dem mythostheoretische Beispiele für die entsprechende Sichtweise vorgestellt werden.

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weiblichen Nachwuchses entledigt hat: „Still the way of the world in lots of places all over the world, Robin said, red ink for a girl, blue for a boy, on the bottom of doctor’s certificates, letting parents know, in the places it’s not legal to allow people just to abort girls, what to abort and what to keep.“ (Girl Meets Boy 91–92) Dieser Hinweis stellt die allzu pauschale Unterscheidung von barbarischer Vormoderne und humaner Moderne bloß und wirft sogar die unbequeme Frage auf, ob nicht gerade die (technischen) Errungenschaften der Moderne einer inhumanen vormodernen Praxis zu größerer Effektivität verhelfen. Neben Frauenrechtlern, wie in Smiths Roman, dürften insbesondere Abtreibungsgegner bzw. Lebensschützer für solche Fragen sensibilisiert sein. Der moralische Supe­ rioritätsanspruch, der in der Selbstbeglückwünschung zur eigenen Modernität zum Ausdruck kommt, wird auf jeden Fall dadurch erschüttert, dass die Kritik an jener fremden Welt, deren Zeugnis oder Produkt der ovidische Mythos ist, auf die eigene Welt bzw. auf die eigene Zeit zurückfällt. Ob Modernität, die sich auch und gerade in der Distanzierung vom Mythos bestimmt, ausschließlich ein Segen ist, erscheint in Smiths Roman dann auch nicht nur im Hinblick auf aktuelle medizin-ethische Probleme zweifelhaft: Denn der Roman präsentiert sich insgesamt zeit- und zivilisationskritisch, wobei insbesondere die Naturferne des modernen Menschen sowie die Pervertierungen der Konsumgesellschaft zum Ziel der literarischen Kritik werden. Einerseits werden da die Massen beschrieben, die mit traurigem Gesicht durch Einkaufszentren strömen. Andererseits beklagt die Hauptfigur das eklatante Desinteresse an der (ehemaligen?) Lebensader der Stadt: I went outside expecting rain but it was sunny, it was so suddenly so openly sunny, with so sharp a spring light coming off the river, that I went down the side of the riverbank and sat in among the daffodils. People went past on the pavement above. They looked down at me like I was mad. […] Clearly nobody ever went down the riverbank. Clearly nobody was supposed to. (Girl Meets Boy 26)

Angesichts dieses Befunds der Entfremdung wirkt das unternehmerische Projekt, schottisches Trinkwasser als Luxuskonsumgut zu vermarkten, geradezu grotesk. In Smiths Roman erscheint dieses Projekt der Kommodifizierung als eine pervertierte Form der Metamorphose. Eine natürliche Ressource und ein (mehr oder weniger) öffentliches Gut werden in eine Ware verwandelt: „water is the perfect commodity“ (Girl Meets Boy 37).119 Die eigentliche Ware soll dabei freilich mehr 119 An dieser Stelle erscheint die Bemerkung angebracht, dass sauberes Trinkwasser zumindest in historischer und globaler Perspektive keine natürliche Gegebenheit darstellt und seine Verfügbarkeit häufig erst das Resultat zivilisatorischer Anstrengungen ist. Gerade in Schottland, wo Wasser bereits im 19. Jahrhundert im großen Stil bewirtschaftet wurde (Stauseen und Kanäle



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sein als eine trinkbare Flüssigkeit: „If we suggest our bottled water takes and makes a stand, it’ll become bottled idealism, Paul said. Bottled identity, Midge said. Bottled politics, Paul said.“ (Girl Meets Boy 41) Allein schon ihre unvermittelte Aneinanderreihung bezeugt die Banalisierung der Begriffe. Zudem will sich das ambitionierte Unternehmen nicht auf das Trinkwasser- und Identitätsgeschäft beschränken und strebt mit seiner Produktpalette eine totale Durchdringung des Konsumentenalltags an: „What I want, he says, is to make it not just possible but natural for someone, from the point of rising in the morning to the point of going to sleep again at night, to spend his whole day, obliviously, in Pure hands.“ (Girl Meets Boy 116) Was danach folgt, ist die Zusammenfassung eines Tagesablaufs, der durch Produkte des Pure-Konzerns strukturiert wird. Reinheit (wie im sprechenden Konzernnamen) und Natürlichkeit („not just possible but natural“) bezeichnen hier offenkundig nicht mehr als gedankenlose Markentreue und eine Homogenisierung individueller Geschmäcker. Der Gestaltungs- und Verwandlungswille, der hinter diesem fragwürdigen kommerziellen Projekt steckt, vermag indes durchaus an die göttlichen Interventionen in Ovids Metamorphosen zu erinnern, in denen schließlich auch durch Um- und Verwandlungen natürliche Gegebenheiten neu geschaffen werden. Auch bezogen auf die konkrete mythologische Vorlage kann in diesem Zusammenhang eine gewisse Parallele konstatiert werden: Wenn Ovids Metamorphose der Iphis eine spezifische Form der Identitätsnormierung dokumentiert, so dokumentiert Smiths Roman eine Identitätsnormierung in und durch die moderne Konsumgesellschaft. Der moderne Mensch, so könnte man die Kritik des Textes zuspitzen, mag sich aus dem Würgegriff der Natur, der Armut und der Götter befreit haben, befindet sich aber dafür nun im Würgegriff einer konsumistischen Kultur und eines Identitätsmarktes. In diesem Sinne verstärkt oder kanalisiert das Befremden, das die Begegnung mit dem Mythos auslöst, das zunächst untergründige und unartikulierte Befremden angesichts der Unzulänglichkeiten der eigenen Zeit. Smiths literarische Arbeit am vormodernen Mythos erschöpft sich allerdings nicht in der Kritik der eigenen Gesellschaft, sondern bekommt noch ein utopisches Moment. Der kommerziellen Metamorphose eines Naturprodukts in ein Luxuskonsumgut setzt der Text am Ende eine alternative Form der (Ver-)Wandlung entgegen, wenn die Beziehung der beiden Hauptfiguren in einer überbor­ dend beschriebenen, ganz und gar phantastischen Hochzeit kulminiert: „Which is your family? I asked Robin. She pointed them out. They were by the drinks

sind dafür nur die sichtbarsten Zeichen), erscheint die Vorstellung einer natürlichen Wasserversorgung ausgesprochen idealistisch.

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table with Venus, Artemis and Dionysos; her father and mother were cuddling the baby Cupid, which was problematic because of the arrows“ (Girl Meets Boy 153–154). Hier verschmelzen die Welt des Mythos und die moderne Welt in einer Utopie. „Reader, I married him/her. It’s the happy ending. Lo and behold.“ (Girl Meets Boy 149) Wo bei Ovid die Verwandlung der Iphis durch göttliche Macht eine Hochzeit ermöglicht, wird in Girl Meets Boy die Situation in einem Spiel mit der Sprache („him/her“) und durch die literarische Phantasie aufgelöst.120 Der ovidische Mythos, der bereits als Zeugnis einer vormodernen Gesellschaft samt ihrer inhumanen Spielregeln thematisiert wurde, entpuppt sich somit noch in einem zweiten, positiveren Sinne als Zeugnis des Fremden. Denn mit dem Prinzip der Metamorphose schafft er eine Vorstellung von Fluidität und Durchlässigkeit, die sich zumindest in Form einer literarischen Utopie aufgreifen und gegen Praktiken der Identitätstrivialisierung und Identitätszurichtung ins Feld führen lässt.121 Zusammenfassend kann man dementsprechend festhalten, dass der Mythos für und in Smiths Roman Girl Meets Boy gerade als Zeugnis des Fremden seine Funktion erfüllt – als Katalysator einer kritischen Bestandsaufnahme und schließlich einer utopischen Transzendierung der eigenen Zeit und der eigenen Lebenswirklichkeit.

4.6.4 A story without sense? Literarische Mythosrezeption als Totengespräch und Kritik der Mythostheorie in Salley Vickers’ Where Three Roads Meet (2007)122 Literarische Texte – so eine Grundannahme der vorliegenden Studie – (re-)produzieren, modifizieren, hinterfragen oder konterkarieren Vorstellungen vom

120 Zugleich bringt die Autorin einen weiteren Prätext – neben Ovids Metamorphosen – ins Spiel. Zumindest verweist sie an dieser Stelle mit einem beinahe wörtlichen Zitat auf Charlotte Brontës Roman Jane Eyre aus dem Jahr 1847, dessen letztes Kapitel mit den folgenden Worten beginnt: „Reader, I married him.“ (Brontë 2014: 486) 121 Vgl. zum Moment der Fluidität Wolfram Ettes Deutung der ovidischen Metamorphosen als kulturtherapeutisches Unternehmen: „Die Metamorphosen geben eine ‚Psychoanalyse‘ ihrer, d. h. der durch den Wertekanon der augusteischen Gesellschaft geprägten Welt. Diese Welt ist voller Verhärtungen und erstarrter neurotischer Symptome, die zwanghaft wieder und wieder reinszeniert werden.“ (Ette 2014: 85) Die Metamorphosen würden nun daran erinnern, dass man diese Verhärtungen „mithilfe ihrer anteilnahmsvollen erzählenden Durcharbeitung wieder verflüssigen […] kann“ (Ette 2014: 86). 122 Eine Vorarbeit zum vorliegenden Kapitel wurde bereits im Rahmen eines Aufsatzes veröffentlicht: vgl. Mayer 2014.



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Mythos. Dies wird in keinem der bereits besprochenen Texte so deutlich wie in Salley Vickers’ kurzem Roman Where Three Roads Meet aus dem Jahr 2007.123 Man kann dieses Werk zwar auch als Neubearbeitung der altbekannten Ödipus-­ Geschichte betrachten, aber es besticht vor allem dadurch, dass die Autorin Sigmund Freud zum Protagonisten und damit die wohl prominenteste Deutung des betreffenden mythologischen Stoffes zum Thema ihrer Mythosrezeption macht. Wenn man sich die Bedeutung der Freudschen Mythosinterpretation  – im Text heißt es treffend: „No one hears the same story since your retelling, Dr Freud.“ (Where Three Roads Meet 169) – vor Augen führt, erscheint diese Themenwahl durchaus naheliegend. Doch Freuds einflussreiche Mythosdeutung wird in Vickers’ Where Three Roads Meet durch einen Besucher aus der Fremde herausgefordert. Es ist kein Geringerer als Teiresias, der blinde Seher aus der sophokleischen Ödipus-­ Tragödie, der dem schwerkranken Freud in dessen letzten Lebensmonaten (im englischen Exil) wiederholt Besuche abstattet. Bei diesen Besuchen wird die Geschichte des Ödipus – in einem den ganzen Text durchziehenden Dialog – noch einmal aufgerollt. Die Neuerzählung der alten mythologischen Geschichte, die Vickers’ Text seinen Lesern also durchaus bietet, findet so ihren Rahmen in einem Totengespräch, womit an ein Genre angeknüpft wird, das seine (satirischen) Wurzeln in der Antike, u. a. bei Lukian, hat. Bei Vickers steht das Totengespräch freilich unverkennbar im Zeichen der mythologischen Alterität. Es plauschen nämlich nicht zwei mythologische Figuren miteinander. Vielmehr treffen der antike Mythos und seine moderne Interpretation aufeinander, wird also der moderne Mythosdiskurs (verkörpert durch die Figur Sigmund Freuds) durch seinen Gegenstand (in der mythologischen Gestalt des Teiresias) heimgesucht. Spannend und spannungsreich wird diese Konstellation nun dadurch, dass der Bericht des Teiresias die Freudsche Ödipus-Interpretation – einige einschlä­ gige Zitate aus der Traumdeutung (vgl. Freud 2000) sind dem Text vorangestellt – zwar nicht rundheraus verwirft, aber doch in Frage stellt: „Don’t get me wrong, Doctor. You got the size of the drama right, if not the entire point of it. Because, if I may say so, here in all the world was the one person you could safely say didn’t have the complex you dreamed up for him.“ (Where Three Roads Meet 169) Man hat es hier also mit einer Mythosrezeption zu tun, die mit der Neuerzählung eines mythologischen Stoffes auch und nicht zuletzt dessen Deutung problematisiert. Da ist es nur passend, wenn der schwerkranke Freud auf der Couch platziert und ihm – dem Mythostheoretiker – so die Rolle eines zu untersuchenden Patienten

123 Im Folgenden zitiert als Where Three Roads Meet nach Vickers 2007.

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zugewiesen wird (vgl. z. B. Where Three Roads Meet 190).124 Dabei bohren sich die Ausführungen des unerwarteten Besuchers aus der Fremde immer wieder wie ein Stachel ins Fleisch der psychoanalytischen Mythosdeutung. So nimmt Teiresias z. B. deren Schlagseite aufs Korn: „Sex has a place but take it from me it is only part of the story.“ (Where Three Roads Meet 104) Zudem rüttelt der alte Grieche am Selbstbild des modernen Psychoanalytikers, wenn er dessen Berufsstand mit den Priestern im Heiligtum von Delphi vergleicht – ein Vergleich, den Freud vehement zurückweist: „An entirely different matter. Psychoanalysis is an exact science evolved from close and systematic observation of the complexities of the human psyche, not a series of superstitious rituals designed to hoodwink the credulous.“ (Where Three Roads Meet 48) Gerade vor dem Hintergrund des von Freud formulierten Anspruchs der Wissenschaftlichkeit kristallisiert sich die kritische Stoßrichtung des von Vickers in Szene gesetzten Dialogs heraus. Dieser mündet zwar nicht in einem Gegenentwurf zur psychoanalytischen Mythosdeutung, stellt allerdings deren Reduktion bzw. deren Vereindeutigung einer viel- und mehrdeutigen Geschichte in Frage. Das kritische Moment dieser Infragestellung resultiert daraus, dass Freud im Text gerade die Beseitigung von Ambiguität und die Herstellung von Eindeutigkeit als Ziele seiner Arbeit ausgibt: „My aim is to disinter and unravel the ambiguous and bring it into the light of reason.“ (Where Three Roads Meet 49) Teiresias, der die Geschichte des Ödipus miterlebt hat, steht dieser Zielstellung skeptisch gegenüber und hält seinem Gesprächspartner dessen Tendenz vor, alle Facetten des mythologischen Stoffes bzw. alle Informationen und Hinweise im Sinne der eigenen psychoanalytischen Theorie auszudeuten und sie sich somit ‚gewaltsam‘ anzueignen: „Isn’t everything grist to your mill?“ (Where Three Roads Meet 103) Mit dieser rhetorischen Frage rückt freilich nicht weniger als der „auffällige projektive Charakter von Mythostheorien“ (Schmidthorst 2004: 17) in den Blick, der zumindest im Falle Freuds zugleich auch ein instrumenteller Charakter ist, da der Psychoanalytiker den Mythos ‚nur‘ als Baustein für sein psychoanalytisches Theoriegebäude betrachtet.125

124 Indem sie Freuds Ödipus-Deutung auf den Prüfstand stellt, regt die Autorin ihre Leser dazu an, eine Haltung der reflektierenden Distanz gegenüber dieser (den meisten wohl doch vertrauten) Deutung einzunehmen. Damit kommt eine weitere Dimension der mythologischen Alterität ins Spiel, nämlich die Differenz zwischen der eigenen und der fremden Rezeption (oder Deutung) des Mythos. Mag der Leser den Ödipus-Stoff bisher immer (auch) durch die Brille der Freudschen Interpretation gesehen haben, so wird er durch Vickers’ Totengespräch dazu animiert, die ‚fremde‘ Brille als solche zu erkennen und vielleicht sogar abzunehmen. 125 Vickers stellt den Befund, dass der Mythos nicht zuletzt als Projektionsfläche dient, einerseits nachdrücklich heraus, betrachtet ihn aber andererseits nicht ausschließlich kritisch, wie



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Dagegen weist Teiresias, welcher in der Geschichte des Ödipus eine nicht unwesentliche Rolle gespielt hat, schon zu Beginn darauf hin, dass jene Ge­ schichte nicht unbedingt aufgehen, sich nicht als sinnhaft erweisen muss: „It is of the senseless I would like to speak. A story without sense. No sense. Or maybe all sense.“ (Where Three Roads Meet 18) Selbst mit Blick auf den Ausgang der Geschichte betont der blinde Augenzeuge noch einmal die irreduzible Vielschichtigkeit des mythologischen Stoffes, wenn er die Erwartung seines Zuhörers, nun endlich aus erster Hand den wahren Gang der Ereignisse zu erfahren, dämpft: „I want to hear the end of the story. – I promised you an end. – Tell me, then, if you will be so kind, my particular Theban colleague, how the story ended for you.“ (Where Three Roads Meet 175) Immerhin scheint Freud an diesem Punkt bereits von seinem ursprünglichen Wahrheits- und Wissenschaftlichkeitsanspruch abge­ rückt zu sein und gesteht zu, dass die Geschichte verschiedene Versionen (und damit auch verschiedene Bedeutungen) haben könnte. Da Vickers’ Text sich nicht nur an einem mythologischen Stoff, sondern auch an dessen wohl prominentester Deutung abarbeitet, nimmt die Mythosrezeption in diesem Fall deutlich metadiskursive Züge an. Gerade mit dem Insistieren auf der Ambiguität und der Vieldeutigkeit der Ödipus-Geschichte – bzw. auf dem Mythos als uneinholbarem Bedeutungspotential (vgl. Fuhrmann 1971: 9) – übernimmt die literarische Mythosrezeption in Where Three Roads Meet die Funktion eines kulturkritischen Metadiskurses. Sie widmet sich – so kann man in Anlehnung an Hubert Zapfs Funktionsmodell der Literatur festhalten – der „Repräsentation typischer Defizite, Einseitigkeiten und Widersprüche dominanter Systeme zivilisatorischer Macht“ (Zapf 2005: 67), zu denen man auch einflussreiche wissenschaftliche Paradigmen oder Theorien zählen darf. Und sie bemüht sich um die „Wiederherstellung von Komplexität gegen vereindeutigende Reduktionsformen von Bewusstsein und Erfahrung“ (Zapf 2005: 66–67).126 Zugespitzt – und mit Bezug auf den Begriff der mythologischen Alterität – formuliert: In Vickers’ Mythosrezeption verbittet sich das Fremde eine reduktionistische Aneignung durch den theoretisch-akademischen Mythosdiskurs und stellt dessen Prämissen und Zielstellungen vielleicht nicht in Abrede, aber doch in Frage.

die folgende Dialogpassage zeigt, in der sich der sterbenskranke Freud noch einmal der Identität (und Realität) seines Besuchers versichern möchte: „Who are you? Really? – I am Tiresisas. – Not a figment of my imagination? – The two are not incompatible. […] Is a dream real? – A dream is an unconscious reality. A reflection … – … A reflection of a reflection of a reflection. Where does re­al­ ity start? And end?“ (Where Three Roads Meet 192) Auch Projektionen und Einbildungen sind – so könnte man diese Passage zusammenfassen – Teil der Realität und haben ihre Berechtigung. 126 Vgl. auch Zapf 2002 für eine ausführliche Darstellung seines triadischen Funktionsmodells der Literatur.

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An dieser Stelle erscheint nun ein kurzer Einwurf angebracht, um die im Roman entwickelte und in den vorangehenden Zeilen referierte Theorie- und Wissenschaftskritik etwas zu relativieren: Gegen den Vorwurf der reduktionistischen Vereindeutigung und Instrumentalisierung des Mythos bzw. des mythologischen Materials ist auch die Literatur nicht gefeit. Heinz-Peter Preußer spricht etwa mit Blick auf die Antiken- und Mythosrezeption deutscher Autoren des 20. Jahrhunderts von einer „Zurichtung des Tradierten auf (neue) Sinngehalte“ (Preußer 2000: 2) und kritisiert: „Die Komplexität der Alten wird geradezu mythisch reduziert.“ (Preußer 2000: 3) Folgerichtig versucht Preußer deshalb in seiner Studie, „der Logik der Texte [d. h. den Beispielen der Antiken- und Mythosrezeption, d. Verf.] zu folgen, bis der einlinige Gedanke an sich selbst scheitert oder an dem, was ausgeschlossen wurde“ (Preußer 2000: 3). Vielleicht, so mag man zu bedenken geben, sind eine Zurichtung des Tradierten und eine Vereindeutigung des Vieldeutigen aber gewissermaßen unvermeidlich, gerade wenn man bedenkt, dass das Tradierte auch als das Fremde und somit als das Auslegungsbedürftige auf uns kommt, und jede Auslegung das Ausgelegte – entsprechend der eigenen Vorurteile oder Vorkenntnisse, der eigenen Interessen und Ziele – ‚zurichtet‘. Dass manche Auslegungen bzw. Zurichtungen dabei subtiler, geistreicher, intelligenter oder angemessener sind als andere, soll mit dieser Bemerkung freilich nicht bestritten werden. Auch Vickers’ Mythosrezeption belässt es schließlich nicht dabei, eine vorliegende Deutung des Ödipus-Stoffes in Frage zu stellen, sondern bietet selbst eine Deutung und damit eine Zurichtung des mythologischen Materials an. Diese Zurichtung läuft darauf hinaus, dass sich am Ende des Textes eine frappierende Ähnlichkeit zwischen der Figur des Ödipus und der Figur Sigmund Freuds offenbart. Diese Ähnlichkeit hat freilich nichts mit dem vermeintlich universellen Ödipus-Komplex zu tun, den Freud in seiner Traumdeutung beschrieben hat. Vielmehr ist es die Ähnlichkeit zweier Figuren, die ihre letzten Lebenstage (körperlich schwer gezeichnet und voller Sorge um ihre Kinder) im Exil verbringen müssen – und die beide zu guter Letzt eine Form von Unsterblichkeit erlangen. Im Text wird diese Ähnlichkeit mit einem Zitat aus der Sophokles-Tragödie Ödipus auf Kolonos unterstrichen, das den Schlusspunkt des Romans bildet und gleichermaßen auf Ödipus und Freud zutrifft: „He died, as willed, in a foreign land, his eternal resting place in quiet shade, his passing not unmourned.“ (Where Three Roads Meet 195) Abschließend bleibt festzuhalten, dass Salley Vickers’ Roman offenkundig zu jener Spielart der Mythosrezeption gehört, die den Mythos in die Gegenwart holt und diese plötzliche Gegenwärtigkeit des Mythos zugleich als Einbruch des Fremden in Szene setzt. Nicht als Geschichte von universeller und zeitloser Evidenz, sondern als Reibungs- und Projektionsfläche gewinnt der Mythos in diesem Zusammenhang seine Aktualität. Vickers’ Entscheidung für die Form



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eines Totengesprächs eröffnet zudem noch einmal eine frische Perspektive auf die beachtliche und vermutlich auch in Zukunft anhaltende Konjunktur des Mythos. Indem Vickers den Mythos mit seiner Deutung, eine mythologische Gestalt mit einem Mythostheoretiker konfrontiert, unterstreicht sie, dass der Mythos nicht zuletzt ein Auslegungs- und Interpretationsphänomen darstellt, das beinahe unver­ meidlich Ergänzungen, Korrekturen oder Revisionen herausfordert. Dies gilt offenkundig selbst für eine prominente Mythosauslegung wie die Ödipus-Interpretation Sigmund Freuds. Gerade als Zeugnis des Fremden, das sich einer endgültigen Aneignung entzieht, lädt der Mythos zu einem unaufhörlichen Spiel des Auslegens, der Projektion sowie der Fremd- und Selbstbefragung ein. Außerdem dokumentiert Vickers’ literarische Mythosrezeption, dass Deutungen, Konzepte und Theorien des Mythos (d. h. die Rede vom Mythos) durchaus als eigenständige kulturelle Phänomene betrachtet werden können, denen man sich mit Interesse widmet. Damit scheint Where Three Roads Meet die mythostheoretische und methodische Grundsatzentscheidung der vorliegenden Studie zu bestätigen, den Mythos als Denkgewohnheit in den Blick zu nehmen und Konzeptionen des Mythos zum Gegenstand zu machen. Zumal Freud nur ein Beispiel für jene Mythostheoretiker ist, die längst zu Klassikern der Geistes- und Kulturgeschichte geworden sind und deren Theorien nicht nur als Theorien des Mythos, sondern auch als Manifestationen eines je spezifischen Zeitgeistes, also selbst als Zeugnisse einer zunehmend fremd werdenden (oder bereits fremd gewordenen) Kultur rezipiert werden.

5 Schlussbetrachtung: Das Interesse am Mythos im Zeichen mythologischer Alterität Das Interesse am Mythos, das aus der abendländischen Geistes- und Kulturgeschichte nicht wegzudenken ist, lässt sich kaum auf einen gemeinsamen Nenner bringen – was ihm allerdings bisher keinen Abbruch getan hat. Monika SchmitzEmans bemerkt dazu: „Konsensfähiger als jede spezifische Begriffsbestimmung des Mythischen ist die Diagnose seiner Aktualität.“ (Schmitz-Emans 2004: 11) In der vorliegenden Studie wurde nun der Versuch unternommen, eine neue Perspektive sowohl auf die bemerkenswert heterogene Begriffsbestimmung des Mythischen als auch auf die scheinbar unverwüstliche Aktualität des Mythos zu eröffnen. Eine solche Perspektive lässt sich freilich nur gewinnen, wenn man den Mythos als Denkgewohnheit betrachtet (vgl. Graevenitz 1987) und Mythoskonzeptionen als Untersuchungsobjekte in den Blick nimmt. Wie nicht anders zu erwarten war, ist auch mit dem hier neu eingeführten Begriff der mythologischen Alterität keine Bestimmung oder Definition des Mythischen verbunden, die auf allgemeine Zustimmung hoffen darf. Dies spricht aber nicht gegen den Begriff, mit dem schließlich gar nicht gesagt werden soll, was der Mythos ist, sondern vielmehr, was der Mythos bedeutet (nämlich für diejenigen, die sich mit ihm z. B. wissenschaftlich-theoretisch oder literarisch-künstlerisch beschäftigen). Und so hat man mit der mythologischen Alterität vielleicht keinen gemeinsamen Nenner gefunden, auf den sich verschiedene Bestimmungen des Mythosbegriffs reduzieren lassen, aber doch zumindest ein gemeinsames ‚Strukturmerkmal‘ zahlreicher Mythosauffassungen. Die vielstimmige Rede vom Mythos erscheint auf jeden Fall weniger diffus und willkürlich, wenn man sich bewusst macht, dass sie nicht zuletzt dem Fremden bzw. Differenzen von Eigenem und Fremdem gilt. Die Beobachtung, die den Ausgangspunkt der vorliegenden Studie darstellte, trügt nicht: Wo vom Mythos die Rede ist, kommt dieser mit großer Regelmäßigkeit als Zeugnis des Fremden zur Sprache. Wie sich zeigte, wird der Mythos dabei vor allem als Zeugnis des kulturell Fremden wahrgenommen und gedeutet – etwa als Produkt einer länger zurückliegenden Epoche der Menschheitsgeschichte, als Ausdruck der Lebensweise und Weltsicht sogenannter Naturvölker oder als Inbegriff einer fremden bzw. fremd gewordenen Denkweise. Außerdem erkennt man im Mythos  – besonders wenn man seiner universellen und zeitlosen Relevanz nachspürt – immer wieder auch ein Zeugnis des radikal Fremden und interpretiert Mythen dementsprechend als Repräsentationen existentieller Fremdheitserfahrungen. https://doi.org/10.1515/9783110528213-005



5 Schlussbetrachtung 

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Mit diesem Befund zur Begriffsbestimmung des Mythischen bzw. zu einer Konstante im Mythosdiskurs zeichnet sich zugleich ein neuer Erklärungsansatz für die häufig diagnostizierte Aktualität des Mythos ab. An dieser Stelle gilt es allerdings, auf Genauigkeit zu beharren: Denn ob der Mythos tatsächlich von besonderer Aktualität ist oder zu einem bestimmten Zeitpunkt war, konnte und sollte in der vorliegenden Studie nicht erörtert werden. Dagegen wurde auf den vorangehenden Seiten sehr wohl gezeigt, dass man dem Interesse am Mythos eine sich scheinbar immer wieder regenerierende Aktualität bescheinigen kann. Doch woher rührt das unerschöpfliche Interesse am Mythos? Um diese Frage zu beantworten, muss man erklären können, welchem Bedürfnis das Interesse am Mythos entspringt, worauf es sich richtet und welchen ‚kulturellen Zweck‘ es erfüllt. In der vorliegenden Studie wurden im Zusammenhang mit den verschiedenen Formen mythologischer Alterität drei Funktionen – eine diskriminatorische, eine transgressive sowie eine agonale Funktion – der Denkgewohnheit ‚Mythos‘ identifiziert und erörtert. Ohne an dieser Stelle noch einmal im Einzelnen auf diese Funktionen einzugehen, kann man zusammenfassend festhalten, dass der Mythos offenkundig als ein Fremdheitstopos (vgl. Mohn 1998: 17) in Anspruch genommen wird. Man beschäftigt sich also (auch) mit dem Mythos, um Fremdes auszuweisen, zu kartographieren, zu charakterisieren und zu verhandeln.1 Das Interesse am Mythos wird – so darf man schlussfolgern – durch den Reiz des Fremden angefacht. Wohlgemerkt ist hier nicht (nur) von einer eskapistischen Motivation des Mythosdiskurses die Rede. Schließlich liegt der Reiz des Fremden auch darin, dass die Erfahrung des Fremden dazu anregt (ja bisweilen sogar dazu zwingt), sich des Eigenen oder des eigenen Selbst zu vergewissern. Die Arbeit am Mythos – als Beschäftigung mit dem Fremden – ist in diesem Sinne vielleicht nicht zuletzt als Arbeit am eigenen Bewusstsein zu bewerten: „Ich kann nur dann im eigentlichen Sinn Bewußtsein von mir haben, wenn ich dabei etwas anderes als mich selbst in mein Bewußtsein aufnehme. Das Bewußtsein des ego setzt die Wahrnehmung des Anderen – alter – voraus.“ (Raible 1998: 7)2 In der abendländischen Geistes- und Kulturgeschichte der letzten 300 Jahre hat man immer wieder auf den Mythos als Schlüssel zu diesem Anderen zurückgegriffen.

1 Die Denkgewohnheit ‚Mythos‘ spielt in dieser Hinsicht eine ähnliche Rolle wie das „Deutungsmuster“ des Fetischismus, das laut Hartmut Böhme die Moderne auf beachtliche Weise geprägt hat: „Als Deutungsmuster der europäischen Gesellschaft ist der Fetischismus eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Als religiöse, ökonomische, konsumistische und sexuelle Verhaltensdeterminante steigt der Fetischismus auf zu einem Modell für sämtliche Entfremdungen moderner Gesellschaft.“ (Böhme 2006: 20) 2 Es handelt sich bei diesem Zitat um Wolfgang Raibles Übersetzung von Jean-Paul Sartres ­Definition des Bewusstseins in Das Sein und das Nichts.

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 5 Schlussbetrachtung

So lässt sich – um an dieser Stelle zumindest noch einmal ein Beispiel zu geben – die eigene, moderne, im Zeichen der Wissenschaft und der Rationalität stehende Weltsicht kaum treffender darstellen als in Abgrenzung zu jener Weltsicht, die man aus den Mythen der fernen Vergangenheit oder der archaisch lebenden Naturvölker rekonstruiert hat. Auch die eigene Vorstellung vom Menschsein wird plastischer und differenzierter, wenn man jene befremdlichen Aspekte der menschlichen Natur berücksichtigt, die man in verschiedenen Mythen (oder in der bloßen Existenz von Mythen) dokumentiert sieht. Man darf demnach das anhaltende Interesse am Mythos darauf zurück­ führen, dass der Mythos als Fremdheitstopos zugleich ein Selbstvergewisserungstopos ist. Und sind nicht gerade der moderne Mensch und die moderne Kultur von einem starken Bedürfnis nach Selbstvergewisserung bzw. nach einer Vergewisserung des Eigenen geprägt? Die diagnostizierte Aktualität des Mythos – so kann man diese Ausführungen zur mythologischen Alterität als ‚Funktionsmerkmal‘ von Mythosauffassungen auf den Punkt bringen – steht folglich auch und nicht zuletzt im Zeichen der Alterität. Dies gilt in besonderer Weise für die literarische Mythosrezeption bzw. für die literarische Arbeit am Mythos. In der Einführung zur vorliegenden Studie wurde die Frage aufgegriffen, „was zeitgenössische Autoren dazu bewegt, auf die alten mythischen Geschichten zurückzugreifen und sie zu bearbeiten“ (Seidensticker/Vöhler 2002b: V). Eine Antwort auf diese Frage lässt sich aus den vorangehenden Analysen verschiedener Werke der literarischen Mythosrezeption ableiten. Dabei sind zwei Befunde zu berücksichtigen, die wohlgemerkt für alle besprochenen Werke gelten – und das obwohl mit deren Auswahl nicht nur ein literaturgeschichtlicher Bogen vom 19. bis ins 21. Jahrhundert geschlagen wurde, sondern auch ‚Neubearbeitungen‘ verschiedener mythologischer Stoffe sowie verschiedene Spielarten der ‚Neubearbeitung‘ abgedeckt werden konnten. Erstens ist zu konstatieren, dass in allen Fällen mit dem Rückgriff auf mythologisches Material ein Moment des Fremden in den Texten virulent wird. Man erinnere sich an Walter Paters antiken Gott im Exil in „Denys l’Auxerrois“, an Oscar Wildes Orientalisierung der biblischen Welt in Salome, an den archaischheroischen Anspielungshorizont in James Joyces Ulysses, an das Bild eines barbarischen Britanniens in den Phädra-Dramen Tony Harrisons und Sarah Kanes oder an die mythologischen Stachel des Fremden in den Erzähltexten von Alexander McCall Smith, Ali Smith und Salley Vickers. Die mythologische Differenz von Eigenem und Fremdem ist also für alle besprochenen Texte thematisch oder/ und im Hinblick auf ihre ästhetische Wirkung von zentraler Bedeutung. Zweitens bleibt festzuhalten, dass in den Texten zwar ein Moment des Fremden virulent wird, diese aber keineswegs in einem ‚ethnographischen‘ oder ‚ethnologischen‘ Modus verharren. Vielmehr sprechen sie jeweils ganz



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offenkundig ihre eigene Zeit bzw. ihren eigenen kulturellen und historischen Kontext an: bei Pater geht es um das eigene kulturgeschichtliche Erbe, bei Wilde um die Quelle der eigenen Religiosität, bei Joyce um den modernen Alltag etc. Nur wählen die Texte gewissermaßen einen mythologischen Umweg. Der mit den zwei Befunden grob umrissene Charakter der literarischen Mythosrezeption, wie er sich zumindest in den besprochenen Texten zeigt, lässt sich treffend mit einer Geschichte (bzw. mit der Idee zu einer ungeschriebenen Geschichte) verdeutlichen, die von G. K. Chesterton stammt: I have often had a fancy for writing a romance about an English yachtsman who slightly miscalculated his course and discovered England under the impression that it was a new island in the South Seas. […] His mistake was really a most enviable mistake; and he knew it, if he was the man I take him for. What could be more delightful than to have in the same few minutes all the fascinating terrors of going abroad combined with all the humane security of coming home again? (Chesterton 1924: 14–15)

Der Vergleich der literarischen Mythosrezeption mit einer glücklich-missglü­ ckenden Entdeckungsfahrt erscheint schon deshalb treffend, weil Entdeckungsreisen in der vorliegenden Studie bereits zur Sprache kamen. J. G. Frazer – ein Zeitgenosse Chestertons – hatte seinen Lesern in The Golden Bough eine Expedition in ferne Länder und zu fremden Völkern mit befremdlichen Sitten versprochen (vgl. Frazer 1929: 8–9). Und schon ungefähr ein Jahrhundert zuvor hatte der junge Romantiker John Keats seine Homer-Lektüre mit der Eroberung eines unbekannten Kontinents verglichen (vgl. Löffler/Späth 1998: 182). Im Unterschied zu Frazers oder Keats’ Vergleich gilt es an dieser Stelle freilich zu unterstreichen, dass die fremden Gefilde, in die der Leser durch die literarische Mythosrezeption entführt wird, in der Sphäre des Eigenen liegen (oder sich als die eigenen Gefilde entpuppen). Der Mehrwert des mythologischen Umwegs ergibt sich in diesem Sinne nicht (nur) daraus, dass mit den mythologischen Stoffen universelle und zeitlose Botschaften ins Spiel gebracht, die Autorität der Überlieferung reklamiert oder zeitgeistkompatible Bedeutungen aktiviert werden können. Vielmehr ist zumindest bei den besprochenen Texten zu beobachten, dass sie das jeweils Eigene in das fremde Licht des Mythos rücken, es durch die Konfrontation mit dem Fremden herausfordern oder einen ‚Kurzschluss‘ zwischen Eigenem und Fremdem herbeiführen.3 Auf diesem Weg präsentiert die literarische

3 In diesem Zusammenhang kann man – zumindest in der Tendenz – einen Unterschied zwischen dem mythostheoretischen Diskurs und der literarischen Mythosrezeption ausmachen.

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Mythosrezeption dem Leser eine neue, oft überraschende und manchmal irritierende Sicht des Eigenen.4 Nachdem nun die Ergebnisse der vorliegenden Studie noch einmal in aller Kürze zusammengefasst wurden, bleibt noch anzuzeigen, welche Ergebnisse nicht geliefert werden konnten bzw. welche Forschungsfragen zum Thema der mythologischen Alterität offen gelassen werden mussten. Und da die vorliegende Studie weder einem mythostheoretischen Spezialproblem noch einem eng umrissenen Phänomen der literarischen Mythosrezeption gewidmet war, sondern sich eines wesentlichen Aspekts der Denkgewohnheit ‚Mythos‘ angenommen hat, gibt es durchaus einige Desiderate. So wurde in der vorliegenden Studie – zugunsten einer systematischen Aufschlüsselung von Formen und Funktionen mythologischer Alterität – darauf verzichtet, eine Genealogie des Mythos als Zeugnis des Fremden zu rekonstruieren. Stattdessen wurde mythologische Alterität durch die Auswahl der untersuchten Mythoskonzeptionen in den Kontext jener (Neu-)Entdeckung des Mythos im 18. Jahrhundert gerückt, die Andrew Von Hendy als „the modern construction of myth as a fresh invention“ charakterisiert hat (Von Hendy 2002: 3). Die Frage, ob sich mythologische Alterität auf ältere (antike, mittelalterliche oder frühneuzeitliche) Diskurse zurückverfolgen lässt, wurde ebenso wenig erörtert wie der historische Wandel, den dieser Aspekt der Denkgewohnheit ‚Mythos‘ erfahren hat. Es wurde lediglich hin und wieder auf markante Entwicklungsschritte des

Während die mythologische Differenz von Eigenem und Fremdem in Definitionen und Theorien des Mythos gemeinhin statisch bleibt, weil sie ‚lediglich‘ konstatiert, beschrieben und gedeutet wird, erweist sie sich in der literarischen Mythosrezeption als Motor der narrativen oder dramatischen Dynamik. Deshalb war z. B. im Fall des Ulysses von einem Spannungsfeld zwischen archaisch-mythischer Vergangenheit und dem modernen Alltag die Rede, in dem Bedeutungen (z. B. das Profil der Figuren) zu oszillieren beginnen. 4 Spätestens mit dieser Funktionszuschreibung an die Adresse der literarischen Mythosrezeption sollte sich auch eine anfänglich vielleicht noch notwendig erscheinende Klarstellung erübrigen: Die These der mythologischen Alterität zu vertreten, bedeutet nicht, auf kritische Distanz zur mythologischen Überlieferung zu gehen oder die Bedeutung der Classical Tradition (vgl. Highet 1959) bzw. nationaler Überlieferungstraditionen in Frage zu stellen. Zu einem entsprechenden Missverständnis kann es durchaus kommen, da mit dem Begriff der mythologischen Alterität der Fokus nicht auf Kontinuität (der Überlieferung) und Identität (durch die und in der Überlieferung), sondern auf Differenzen und Brüchen gerichtet wird. Allerdings ist Alterität nicht (nur) das Gegenteil von Identität, sondern auch deren Voraussetzung. Wo es keine Differenz gibt, braucht man auch keine Ähnlichkeit oder gar Identität festzustellen. Wo eine Entwicklung völlig bruchlos verläuft, wird Kontinuität – und damit z. B. das Beharren auf einer Tradition, die Vergangenheit, Gegenwart und vielleicht auch die Zukunft verbinden kann – zu einer Trivialität. Mythologische Alterität verleiht – so könnte man es vielleicht formulieren – der mythologischen Überlieferung erst ein besonderes Gewicht.



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Mythosdiskurses, wie z. B. auf dessen ‚Ethnologisierung‘ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert, hingewiesen.5 In diesem Zusammenhang ergeben sich also für eine historisch fokussierte Anschlussforschung zahlreiche Möglichkeiten, die gerade aufgrund der verschiedentlich angedeuteten zeit- und kulturdiagnostischen Funktion des Mythosdiskurses reizvoll erscheinen. Wer einen größeren historischen Rahmen bevorzugt, der könnte sich schließ­ lich der Frage stellen, was die hier vorgelegten Ausführungen zum Mythos als Zeugnis des (häufig vor-, a- oder anti-modernen) Fremden für das Verständnis bzw. für eine Theorie der Moderne bedeuten. Z. B. lässt sich der Mythosdiskurs leicht als ein zwiespältiges Produkt der Aufklärung begreifen, da er einerseits Fremdheitszonen ausleuchtet (und das Fremde, Unbekannte und Unverfügbare in aufklärerischem Geiste zurückdrängt bzw. dem Eigenen verfügbar macht), andererseits aber immer wieder auch auf der Realität des (kulturell wie radikal) Fremden zu insistieren scheint und damit Grenzen des aufklärerischen Projektes in den Fokus rückt. In seiner Gesamtheit steht der Mythosdiskurs dann – so könnte man eine neue Hypothese formulieren – weder für die Vollendung noch für die Überwindung der Aufklärung, als vielmehr für „deren reflexive, aber auch kulturell praktische Erweiterung“ (Böhme 2006: 488), wie Hartmut Böhme es im Hinblick auf den Fetischismus als Deutungsmuster der Moderne formuliert hat. Neben den gerade genannten und tendenziell mythostheoretischen sind in der vorliegenden Studie auch dezidiert literaturwissenschaftliche Fragen offen geblieben, die durch die These der mythologischen Alterität aufgeworfen werden. So wurden auf den vorangehenden Seiten z. B. nur literarische Texte besprochen, die die Alterität bzw. das Alteritätspotential ihres mythologischen Materials forcieren. Dabei ist durchaus anzunehmen, dass sich manche Werke der literarischen Mythosrezeption eher um einen Abbau von Alterität bemühen. Zu denken wäre in diesem Zusammenhang an Versuche, mythologische Geschichten zu domestizieren (aus Gründen der Schicklichkeit, um junge Leser nicht zu überfordern etc.) oder zu universalisieren (also allgemeingültige Aussagen aus ihnen zu destillieren). Entsprechende Beispiele stünden allerdings nicht automatisch im Widerspruch zur These der vorliegenden Studie. Denn gerade dort, wo man den Drang verspürt, den Mythos zu domestizieren oder ins Universelle zu entrücken, ist vielleicht das Bewusstsein für den Mythos als Zeugnis des Fremden und Befremdlichen besonders ausgeprägt. 5 Wer will, kann freilich auch aus der vorliegenden Studie eine Geschichte des Mythos als Zeugnis des Fremden rekonstruieren: vom Ausdruck einer fernen Vergangenheit zum Charakteristikum geographisch und zivilisatorisch fremder Kulturen; analog dazu dann als Schlüssel zu den fremden Arealen der menschlichen Natur oder Seele sowie schließlich – postmodern – zu einer fremden Form der Vernunft bzw. der Rationalität.

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Aus literaturwissenschaftlicher Sicht wäre es zudem wünschenswert, die ästhetisch-formale Dimension der Mythosrezeption noch intensiver zu berück­ sichtigen, als dies in der vorliegenden Studie der Fall war. Kann man vielleicht sogar eine übergreifende Ästhetik der Differenz oder des Fremden in der langen und produktiven Geschichte der literarischen Mythosrezeption identifizieren? Zumindest wäre es interessant, die Bedeutung mythologischer Alterität für eine literarische Mythosrezeption jenseits der Rezeption alter mythologischer Stoffe zu erkunden – also auch solche (in der vorliegenden Studie bewusst außen vor ­ ttestiert gelassenen) Texte zu untersuchen, denen man eine mythische Qualität a hat, obwohl sie nicht ‚mythologiehaltig‘ sind. Schließlich könnte man noch der Beobachtung nachgehen, dass das Streben nach literarischer Innovation häufig mit einem Rückgriff auf den Mythos bzw. auf die mythologische Überlieferung verbunden ist. (In der vorliegenden Studie wurde mit Ulysses ein prominentes Beispiel für diese literaturgeschichtliche Auffälligkeit besprochen.) Sollte diese Beobachtung belastbar sein, würde sich die Frage nach dem Zusammenhang bzw. nach dem Warum stellen. Greift man auf altbekannte mythologische Stoffe zurück, weil man das Innovative (und vielleicht für nicht wenige Leser Irritierende) durch das Vertraute der mythologischen Überlieferung kompensieren möchte? Oder kommt es dem Anspruch, literarisch etwas Neuartiges zu schaffen, gerade entgegen, dass mit dem Bezug zum Mythos auch ein Moment des Fremden (des Unvertrauten, Unbekannten etc.) im eigenen Text virulent wird? Gerade die Literatur der klassischen Moderne bietet jede Menge Beispiele, an denen man diese Fragen erörtern könnte. Abschließend und unvermeidlich bleibt noch einzugestehen, dass die vorliegende Studie nur einen Bruchteil jener Spuren untersuchen konnte, die das Interesse am Mythos als Zeugnis des Fremden in der Geistes- und Kulturgeschichte der letzten 300 Jahre hinterlassen hat. Dabei ist nicht nur an Mythostheorien oder literarische Werke (insbesondere die hier sträflich vernachlässigte Lyrik) zu denken, die keine Erwähnung fanden. Das weite Feld der Mythographie (Wörterbücher der Mythologie etc.) wurde nur gestreift, die Mythosrezeption in der bildenden Kunst, in der Musik und im Film komplett ignoriert. Vielleicht kann man der vorliegenden Studie aber zugute halten, dass sie immerhin den Versuch unternommen hat, einen bisher unterschätzten Aspekt des offenkundig kaum zu überblickenden und jede monographische Darstellung überfordernden Interesses am Mythos herauszuarbeiten.

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Index Adorno, Theodor W. 16, 63 Aristoteles 17, 29 Artaud, Antonin 38 Assmann, Jan 4, 7, 17f., 20, 95, 248–251 Barthes, Roland 4, 16f., 19, 80, 132f., 230, 249, 259 Blumenberg, Hans 1, 5, 10, 30f., 38f., 117–122, 125, 129–131, 134, 137, 172, 199, 202, 247, 249f. Bultmann, Rudolf 67–70, 174 Campbell, Joseph 124f. Cassirer, Ernst 16, 24, 85–89, 92, 249f. Eagleton, Terry 60 Eliade, Mircea 63–67, 69, 92, 207 Eliot, T. S. 71, 144, 169, 205–210, 212, 214, 218f., 221, 249 Frazer, James George 5, 19, 53f., 71–77, 144, 150, 167, 206, 249, 271 Freud, Sigmund 5, 10, 19, 23, 36, 99, 104–108, 122–125, 172, 186, 199, 206, 229, 238f., 249, 252, 263–267 Frye, Northrop 31 Fuhrmann, Manfred 29, 118, 265 Gadamer, Hans-Georg 31, 42 Girard, René 10, 113–117, 122, 144, 156f., 172, 199 Graevenitz, Gerhart von 6, 8, 22–27, 33, 41, 268 Herder, Johann Gottfried 43f., 49–51, 83, 92, 98, 144, 205 Hesiod 56, 246 Heyne, Christian Gottlob 14, 54f., 57, 83 Highet, Gilbert 6, 37, 53, 272 Homer 11, 38, 44, 54f., 104, 129, 135f., 138, 140–142, 176, 199–227, 271

Horkheimer, Max 16, 63 Hübner, Kurt 89–92 Hume, David 5, 58–60, 120 Jung, Carl G. 10, 107–113, 122, 124, 172, 199, 206, 249 Jünger, Friedrich Georg 61–63, 67, 69, 82f., 95f., 137, 207 Kerényi, Karl 54, 113 Lévi-Strauss, Claude 83–85, 92, 133, 164–166, 206, 237 Lévy-Bruhl, Lucien 77–79, 83, 86f., 148, 206, 250 Lincoln, Bruce 5, 67, 133f. Marquard, Odo 249f., 254f. Münkler, Herfried 96–98, 113f., 116f., 128, 230, 259 Nestle, Wilhelm 57 Nietzsche, Friedrich 10, 100–104, 110, 112, 122, 144, 148, 150, 158, 198 Ovid 38, 56, 129, 257–262 Schiller, Friedrich 5, 49, 59–61, 65, 92, 95f., 103, 140 Schlegel, Friedrich 15, 30, 151 Sorel, Georges 114f. Tylor, Edward B. 39, 70 Vico, Giambattista 5, 56f., 83 Von Hendy, Andrew 25–27, 30, 50, 75f., 141, 144f., 206f., 209, 218, 220, 272 Žižek, Slavoj 81f.