Die Religionswissenschaft Joachim Wachs 3110072386, 9783110072389, 9783110864137

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Die Religionswissenschaft Joachim Wachs
 3110072386, 9783110072389, 9783110864137

Table of contents :
VORWORT
INHALTSÜBERSICHT
EINFÜHRUNG
JOACHIM WACH ALS LEHRER UND FORSCHER
ENTWICKLUNG, VERTIEFUNG UND UBERWINDUNG DER RELIGIONSWISSENSCHAFT BEI JOACHIM WACH
DIE MÖGLICHKEITEN EINER WEITERFÜHRUNG DER RELIGIONSWISSENSCHAFT JOACHIM WACHS
NACHWORT: VON DER SELBSTBESCHRÄNKUNG DER RELIGIONSWISSENSCHAFT
BIBLIOGRAPHIE
NAMENREGISTER

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RAINER

FLASCHE

D I E R E L I G I O N S W I S S E N S C H A F T J O A C H I M WACHS

w DE

G

DIE R E L I G I O N S W I S S E N S C H A F T JOACHIM WACHS

VON RAINER

FLASCHE

W A L T E R DE G R U Y T E R • B E R L I N • N E W Y O R K 1978

THEOLOGISCHE BIBLIOTHEK

TÖPELMANN

HERAUSGEGEBEN VON K. A L A N D , C. H . R A T S C H O W U N D E. S C H L I N K 35. B A N D Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des theologischen Fachbereichs der Philipps-Universität, Marburg, gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

CIP-Kurztitelaufnähme

der Deutschen

Bibliothek

Flasche, Rainer Die Religionswissenschaft Joachim Wachs. — 1. Aufl. — Berlin, N e w York : de G r u y t e r , 1978. (Theologische Bibliothek Töpelmann ; Bd. 35) ISBN 3-11-007238-6

© 1977 by Walter de Gruyter & C o . , Berlin 30 (Printed in Germany) Alle Rechte, insbesondere das der Ubersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. O h n e ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Walter de Gruyter, 1 Berlin 30 • Einband: Fuhrmann, 1 Berlin 36

Dem Andenken meines Vaters

VORWORT Diese Untersuchung ist unter dem Titel „Die Religionswissenschaft Joachim Wachs: Ihre Entwicklung, Vertiefung und Uberwindung — dargestellt an seinem Gesamtwerk — und die Möglichkeiten einer Weiterführung seiner religionssystematischen Ansätze." vom Fachbereich evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg im Dezember 1975 als Habilitationsschrift angenommen worden. Sie konnte deshalb auch nur bis Anfang 1975 erschienene Arbeiten zu unserem Problemkreis berücksichtigen und auswerten, trägt, wie wir hoffen, aber dennoch zur aktuellen Diskussion unserer Wissenschaft bei und führt vielleicht auch zu fruchtbaren Gesprächen mit den Nachbardisziplinen der Religionswissenschaft. An dieser Stelle seien noch einige Bemerkungen zur Gestaltung des Textes und Apparates erlaubt. Um den Anmerkungsteil zu entlasten, wird in Kurztiteln zitiert, und ich bitte den geneigten Leser, zum eventuellen Zwecke der Vergewisserung das Literaturverzeichnis heranzuziehen. Um Verwirrungen beim Zitieren zu vermeiden, sind in Zitaten vorkommende Anführungen ebenso vereinfacht wie Sperrungen oder Hervorhebungen im Druck. Danken möchte ich zum Schluß meinen Lehrern und Kollegen am hiesigen Fachbereich, mit denen ich manches anregende und klärende Gespräch habe führen dürfen, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, ohne deren großzügige Unterstützung die Drucklegung dieser Arbeit wohl kaum möglich gewesen wäre, und nicht zuletzt meiner lieben Frau, die wohl als einzige ermessen kann, wieviel auch „verlorene" Zeit in einem solchen Unternehmen von den ersten tastenden Versuchen bis zu seiner auch technischen Fertigstellung steckt. Marburg im Oktober 1977

Rainer Flasche

INHALTSÜBERSICHT Einführung Aufgabe und Ziel der Untersuchung Methodische Vorbemerkungen Joachim Wach als Lehrer und Forscher

3 5 8 13

Biographische Einführung Die deutsche Periode Die amerikanische Periode

18 18 23

Bibliographische Sichtung seines Gesamtwerkes Die Schriften philosophischen Charakters Die Schriften religionswissenschaftlichen Charakters Die Schriften „theologischen" Charakters

26 27 38 55

Das Verhältnis der drei Forschungsgebiete untereinander und ihr biographischer Bezug 65 Die äußere Geschlossenheit des Werkes 66 Der äußere Bruch des Werkes 69 Die biographische Lösung dieses Phänomens 72 Wachs wissenschaftsgeschichtliches Referenzsystem im Hinblick auf die sich daraus ergebenden Abhängigkeiten seines Gesamtwerkes 80 Wachs „theologischer" Referenzrahmen 83 Wachs philosophischer Referenzrahmen 95 Wachs religionswissenschaftlicher Referenzrahmen 113 Die Verschmelzung dieser drei Referenzrahmen in Wachs „Verstehenslehre" 130 Entwicklung, Vertiefung und Uberwindung der Religionswissenschaft bei Joachim Wach Die Selbständigkeit der Religionswissenschaft als Geisteswissenschaft Die Abgrenzung der Religionswissenschaft gegenüber ihren „Mutterwissenschaften" a) Die Abgrenzung gegenüber der Theologie b) Die Abgrenzung gegenüber der Philosophie Die Grundlegung der Religionswissenschaft aus der Geschichts- und Lebensphilosophie a) Grundlage und „Gegenstand" der Religionswissenschaft ist die religiöse Erfahrung

145 147 148 150 152 157 159

X

Inhaltsübersicht b) Religiöse Erfahrung bildet die Welt der Religion c) Religionswissenschaft fragt nach dem Wesen der Religion Die Einteilung der Religionswissenschaft a) Der historische Bereich der Religionswissenschaft b) Der systematische Bereich der Religionswissenschaft Die Durchführung der systematischen Religionswissenschaft Die Voraussetzungen der Religionswissenschaft a) Die Voraussetzungen sachlicher Art b) Die Voraussetzungen persönlicher Art Die Methode der Religionswissenschaft a) Der Ansatz der Religionswissenschaft: Die empirischen Religionen . . . b) Das Ziel der Religionswissenschaft: Theorie der religiösen Erfahrung und Typologie der religiösen Ausdrucksformen Die Durchführung der systematischen Religionswissenschaft als Theorie der religiösen Erfahrung a) Die Theorie der religiösen Erfahrung und ihrer Ausdrucksformen im Denken b) Die Theorie der religiösen Erfahrung und ihrer Ausdrucksformen im Handeln c) Die Theorie der religiösen Erfahrung und ihrer Ausdrucksformen in der Gemeinschaft Exkurs: Zu Wachs Typenbildung in seiner „Religionssoziologie" . . . . d) Die innere Bedingtheit des Triptychons Das Einmünden der Religionswissenschaft in eine Religionstheologie Das Gewinnen der N o r m aus der religiösen Erfahrung a) Das Wesen aller religiösen Erfahrung b) Die Hinordnung der religiösen Erfahrung auf die Letzte Wirklichkeit Aufgabe der Religionswissenschaft ist letztlich die Stützung der „natürlichen Theologie a) Der Mensch als Gegenüber der Letzten Wirklichkeit b) Allgemeine und spezielle Offenbarung Ziel aller Religionswissenschaft ist ein besseres Verstehen der Religion und dadurch Vertiefung der eigenen religiösen Erfahrung a) Das Wesen der Religion: Hingabe und Dienst b) Das Ziel aller Religionsforschung: Vertiefung des religiösen Eigenerlebens

163 173 177 180 185 191 192 193 195 199 199 202 209 211 214 217 219 228 229 233 234 236 239 240 242 245 246 247

Die Möglichkeiten einer Weiterführung der Religionswissenschaft Joachim Wachs 253 Zum Problem der Selbständigkeit der Religionswissenschaft Grundlegung und Ausgrenzung der Religionswissenschaft Gliederung der Religionswissenschaft Aufgaben und Ziele der Religionswissenschaft

257 258 260 263

Inhaltsübersicht

XI

Zum Problem des Religionsmodells 271 Die Geschlossenheit einer konkreten Religion 272 Die Geschlossenheit der Religion 274 Geschlossenheit und Offenheit der Religionen 279 Zum Problem des Begriffsapparates 283 Gewinnung des Begriffsapparates auf empirischer Basis 284 Normierung des Begriffsapparates auf dem Wege der Vergleichung 287 Rückführbarkeit des Begriffsapparates auf die Beobachtungsgegenstände als eigentliche Daten der Religionswissenschaft 292 Zum Problem der Erforschung und Beschreibung von Religionen Der Weg vom Äußeren zum Inneren Der Weg von der Intention zum Kontinuum Die Uberprüfung der Ergebnisse im „Dialog"

294 295 297 299

Nachwort: Von der Selbstbeschränkung der Religionswissenschaft

303

Bibliographie

308

Namensregister

319

„Es ist ja seltsam genug, daß über den rein empirischen Charakter der Religionswissenschaft überhaupt ein Zweifel herrschen kann. Daß jemand Religionswissenschaft treibt, um „die" wahre Religion kennen zu lernen, ist nur solange verständlich, als man überhaupt von dieser Wissenschaft eine Antwort auf die Frage nach der Geltung einer Religion verlangt." Joachim Wach*

Religionswissenschaft, S. 69.

EINFÜHRUNG Das Schicksal der Religionswissenschaft, worunter hier vorerst ganz formal die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem, was wir „Religion" zu nennen pflegen, verstanden werden soll, scheint es zu sein, daß sie sich stetig im Kreis ihrer eigenen Methodenprobleme dreht und diese schließlich so weit treibt, daß sie sich entweder außerstande sieht, wissenschaftliche Aussagen über Religion zu machen, oder meint, in einem einzigen und somit dogmatischen System alle „Religion" einfangen zu können und sich damit zur Richterin darüber aufwirft, was denn „Religion" sei und was nicht. Denn alle religiösen Erscheinungen, die nicht in ein solches System hineinpassen bzw. von ihm erfaßt werden können, fallen automatisch — in den meisten Fällen sogar unbemerkt, manchmal aber gar absichtlich übersehen — unter die Schwelle wissenschaftlichen Bewußtseins. Man treibt in solchen Systemen eine Art „wissenschaftlicher Tabuisierung" und richtet diese damit selbst. Mir scheint der Grund für die bisherige Fruchtlosigkeit aller Methodendiskussionen darin zu liegen, daß man fast niemals das eigene System in Frage stellt, sondern von ihm ausgehend — es verabsolutierend — meist nur die anderen. Dieser Dogmatismus unserer Wissenschaft scheint wiederum in engstem Zusammenhang mit ihrem eigentümlichen Entstehungsprozeß und dem damit verbundenen, in ihr wie in den meisten Geisteswissenschaften immer noch lebendigen Erbe der Romantik zu stehen. Es sind vor allem drei Stränge von Gestaltungsfaktoren unserer Wissenschaft, die direkt romantischen Vorstellungen und deren Selbstverständnis entstammen. Zuerst ist die Überzeugung zu nennen, der (Volks-)Geist „manifestiere", „offenbare" oder „äußere sich" in den Kulturerscheinungen, wo man ihn nur aufzusuchen brauche, um die verschiedenen Grade der Selbstverwirklichung des Menschengeistes festmachen zu können; zum anderen ist bereits dort die Auffassung zu finden, daß aller Ausdruck und alle Äußerung dieses Menschengeistes in inneren Erfahrungszusammenhängen wurzeln, womit das Prinzip des Nacherlebens, des Nachvollzugs, des Wiedererkennens zum Erkenntnisprinzip erhoben ist; und schließlich ist

4

Einführung

aus dieser Epoche das Vergleichen überkommen, das die Religionswissenschaft bestimmt, getragen von der Sehnsucht, von der Vielheit der Erscheinungen zu einer (ursprünglichen) Einheit vorzudringen. Damit findet sich das tragende Prinzip aller konstruktiven Religionswissenschaft vorgegeben, der Gedanke nämlich, der wohl besser als Glaubenssatz zu charakterisieren ist, von der irgendwie beschaffenen Einheit der Religion. So aber ist auf uns obendrein ein Wertgesichtspunkt überkommen, der die historischen Religionen entweder an der Religion mißt, die man in Vergangenheit oder Zukunft als den Höhepunkt der Entwicklung ansieht, auf die sich alle Religion(en) hinentwickeln bzw. hinentwickelt haben, oder der ihre Wertigkeit anhand dessen bestimmt, was man als das entscheidende, alle Religion tragende, treibende oder bewegende Element, Moment o. ä. erkannt zu haben glaubt. Dieses Erbe ist es, das in den religionswissenschaftlichen Theorien dem Dogmatismus Tür und Tor immer noch offen hält. Der Dogmatismus ist nicht nur der Grund für die Fruchtlosigkeit der Methodendiskussionen, sondern er ist viel früher schon die Fehlerquelle aller im Widerstreit liegender Theorien. Indem man von einem Wissen um das, was Religion ist oder zumindest zu sein hat, ausgeht, ersetzt man eine auch für unsere Wissenschaft sicherlich unentbehrliche Arbeitshypothese, die jedoch flexibel und immer wieder revidierbar zu sein hat, durch ein Credo. Darin liegt der Grund für die verhängnisvollen Fehlentwicklungen innerhalb der Religionswissenschaft. Gerade weil es in ihr oft darum geht, „Selbstverständlichkeiten" zu ergründen, zu verstehen und darzustellen, ist die Versuchung groß, an die Stelle einer Methode, die nichts weiter als ein bestimmter und begrenzter Weg durch das „Material" unserer Wissenschaft sein soll, von vornherein eine Theorie der „Religion" zu setzen, womit man die eigenen Hypothesen zu Ergebnissen erhebt. Unter solchen Voraussetzungen aber läßt sich keine Methodendiskussion mehr führen, da nicht eine Fragestellung und eine Hypothese das wissenschaftliche Wollen in Gang gesetzt haben, sondern eine „fixe Idee", die es zu bejahen oder zu verneinen gilt. Dieser Umstand hat dazu geführt, daß man sich in der Religionswissenschaft vor allem mit solchen „vorgegebenen Ergebnissen" auseinandersetzt und um das eigentliche methodische Vorgehen kaum Gedanken macht. Die angeblichen Methodendiskussionen sind Grundsatzdiskussionen um das, was man unter Religion zu verstehen habe; die religionswissenschaftlichen Einzeluntersuchungen werden entweder nach einer eigenen, oftmals aus

A u f g a b e u n d Ziel der U n t e r s u c h u n g

5

verschiedenen anderen zusammengesetzten, aber nicht weiter reflektierten Methode unternommen, oder man wendet in einer Art von methodologischer Sukzession diejenige seines akademischen Lehrers an. Dennoch kann man in weiten Bereichen der Religionswissenschaft ein leises Unbehagen und oftmals auch eine unbestimmt artikulierte Unzufriedenheit über die Methoden unserer Wissenschaft feststellen, und man findet häufig den Wunsch, an ihrer Stelle „etwas Besseres" zu setzen. Um so erstaunlicher ist, daß bisher kaum das vorhandene wissenschaftliche Material in Einzeldarstellungen oder vergleichenden Untersuchungen aufgearbeitet worden ist. Die vorliegende Untersuchung entwickelte sich aus einem solchen Unbehagen über den Stand der Methodologie unserer Wissenschaft. Einige eigene methodische Überlegungen, die in gewissen Ansätzen und Forderungen in die Schlußkapitel einfließen werden, führten jedoch zu der Erkenntnis, daß es zuvörderst notwendig ist, die methodischen Ansätze der Vergangenheit kritisch aufzuarbeiten und auf ihre Anwendbarkeit und die Möglichkeit ihrer Weiterführung hin zu untersuchen. Damit aber sind zwei für unsere Wissenschaft fundamentale Voraussetzungen von vornherein positiv entschieden, wobei die erstere die zweite einschließt, die auch im weiteren nicht mehr in Frage gestellt werden sollen: Daß man Religionswissenschaft betreiben kann, besagt, daß es so etwas wie „Religion" gibt. Ob man freilich von „der Religion" — im Singular gebraucht — in der heutigen Religionswissenschaft noch sprechen sollte, wird gegen Ende der Untersuchung entschieden werden können.

Aufgabe und Ziel der Untersuchung Als ein Beitrag einer Aufarbeitung der methodologischen Ansätze in der Vergangenheit ist diese Untersuchung gedacht. Sie hat sich zur Aufgabe gesetzt, Joachim Wachs Religionswissenschaft aus seinem Gesamtwerk heraus zu untersuchen und darzustellen, sie auf ihre Schlüssigkeit, Anwendbarkeit und mögliche Weiterführung hin zu befragen. Für die Entscheidung, eine solche wissenschaftsgeschichtliche und methodologische Auseinandersetzung speziell mit Wach zu führen, waren drei Gründe maßgebend, die in einem engen inneren Zusammenhang stehen. Der erste ist die Tatsache und zugleich Wachs Überzeugung, daß nach dem ersten Weltkrieg eine neue Epoche der Religionswissenschaft angebrochen ist. Das beweise, wie Wach sagt, die Emanzipation der Religionswissenschaft, denn sie sei 2

Flasche: Joachim Wach

6

Einführung

aus ihrer Unmündigkeit befreit worden 1 , was zu großen Fortschritten und einer völlig neuen Durcharbeitung des religionsgeschichtlichen Materials geführt habe 2 . Dazu hat auch Wach entscheidende Beiträge vor allem durch die Aufnahme Diltheyscher Konzeptionen 3 und einer damit verbundenen, neuen Grundlegung dieser Wissenschaft erbracht, wovon auch er selbst überzeugt ist 4 . Das ist der zweite Grund für eine nähere Beschäftigung mit der Wachschen Religionswissenschaft, zumal man nämlich in der moderneren religionswissenschaftlichen Literatur nicht nur immer wieder seinem Namen begegnet, sondern sich viele Darstellungen monographischer und systematischer Art ausgesprochen auf seine methodischen Ausführungen berufen, wobei man sich allerdings häufig des Eindrucks nicht erwehren kann, daß lediglich einzelne Wachsche Grundanschauungen in generalisierender Weise übernommen werden, manchmal als Autoritätsbeweis für die eigene Methode, man sich jedoch nicht mit seiner Gesamtkonzeption auseinandergesetzt hat. Besonders auffällig aber ist der Zwiespalt, der zwischen diesem Sich-auf-Wach-Berufen und einem Sich-mit-Wach-Auseinandersetzen besteht. Wissenschaftliche Auseinandersetzung und wissenschaftlicher Autoritätsbeweis scheinen in einer umgekehrten Proportion zueinander zu stehen. Von einer Sekundärliteratur5 zu Wach kann nämlich nicht gesprochen werden. Das zeugt von der bisher nicht durchgeführten Aufarbeitung seiner wissenschaftlichen Konzeptionen, womit für uns der

1

s. W a c h , „Religionswissenschaft", S. 20.

2

s. W a c h , „Geleitwort", S. 1.

3

s. W a c h ,

4

s. die zahlreichen Selbstbezüge, über die unten noch kurz zu handeln sein wird.

„Wilh. Dilthey über ,Das Problem der Religion'", S. 66,

70, 81.

5

Den umfangreichsten Teil der Titel über Wach bilden eigentümlicherweise die Nachrufe und nachrufähnlichen Veröffentlichungen. Fast die Hälfte aller anderen Literatur über W a c h stammt aus der Feder von J . M . Kitagawa, der sich als eine A r t Testamentsvollstrecker und Fortführer Wachs versteht und keine eigentliche Auseinandersetzung mit ihm führt. Den nächst größeren Teil der Literatur bilden umfangreichere Buchbesprechungen,

so die im Literaturverzeichnis

genannten

Titel von Benz, Bolle, Desroche, Seguy und Werblowsky. Eine nähere Auseinandersetzung mit Teilen des Wachschen

Werkes wird schließlich in einigen

wenigen Zeitschriftenaufsätzen oder in kurzen Kapiteln innerhalb von Gesamtdarstellungen unserer Wissenschaft geführt. Die einzige umfangreichere Arbeit über W a c h , eine maschinengeschriebene Dissertation (Universität von Chicago 1963) von R. Scheimann, „Wachs Theory of the Science of Religion", war mir trotz intensiver Bemühungen leider nicht zugänglich.

Aufgabe und Ziel der Untersuchung

7

dritte und schwerwiegendste Grund einer eingehenden Beschäftigung mit seinem Gesamtwerk gegeben war, zumal Wach und sein Werk trotz der eben skizzierten Bedeutung für unsere Wissenschaft in manchen Bereichen schon der Vergessenheit anheimzufallen droht 6 . Deshalb soll nicht nur die wissenschaftliche Bedeutung Wachs für die Religionswissenschaft seiner Zeit untersucht werden, auch wenn wir uns nach den Gründen seiner Popularität und der Intensität seines Einflusses werden abschließend fragen müssen, sondern auch nach der Schlüssigkeit seiner religionswissenschaftlichen Überlegungen in bezug auf die heute notwendig erscheinende Neugestaltung nicht nur der deutschen Religionswissenschaft. Unsere Aufgabe soll sein, die Religionswissenschaft Wachs innerhalb des Zusammenhangs seines Gesamtwerkes aufzuarbeiten, seine Bezugssysteme offenzulegen und seine Gesamtkonzeption aus dieser Zusammenschau zu entwickeln. In engem Zusammenhang mit dieser Aufgabenstellung steht deshalb unsere Zielvorstellung, die eine dreiteilige ist. Einmal soll die Frage beantwortet werden, ob Wach durchgehalten und erreicht hat, was er sich für unsere Wissenschaft vornahm, ob es ihm gelingt, sein Programm zu erfüllen, das er am Anfang seiner wissenschaftlichen Laufbahn so formulierte: „Den Gegenstand der Religionswissenschaft bildet die Mannigfaltigkeit der empirischen Religionen. Sie gilt es zu erforschen, zu verstehen und darzustellen. Und zwar wesentlich nach zwei Seiten hin: nach ihrer Entwicklung und nach ihrem Sein, ,längsschnittmäßig' und Querschnittmäßig'. Also eine historische und eine systematische Untersuchung der Religionen ist die Aufgabe der allgemeinen Religionswissenschaft 7 ." Unser erster Zielabschnitt soll eine Entscheidung darüber bringen, ob Wach dem Religionsforscher eine Methode an die Hand gegeben hat, die es ihm ermöglicht, eine vorfindliche Religion aufzuschlüsseln und zu verstehen, die Frage also nach seinem Beitrag zu einer Lehre von den homines religiosi, ihren religiösen Bezugssystemen und den Strukturen ihrer Gemeinschaften. Hier wird sich entscheiden, ob Wach vielleicht nicht doch in 6

So berichtet Bolle, „Wachs Legacy . . . " , S. 82, wie er nur einen einzigen Studenten an Wachs alter Universität fand, der seine Soziologie gelesen hatte, und wie wenig bekannt W a c h auch sonst allgemein in den U S A sei. Bei Lenski, „Religionssoziologie in Amerika", wird Wach beispielsweise überhaupt nicht mehr erwähnt. Bei P. Meinhold, „Entwicklung der Religionswissenschaft in der Neuzeit und in der Gegenwart", taucht Wach mit einem einzigen Satz unter dem Stichwort „Religionssoziologie" auf (S. 402)!

7



W a c h , „Religionswissenschaft", S. 21.

8

Einführung

einem Vorfeld dieser Aufgabe stehen bleibt, nämlich „vor allem eine Reihe von Fragen, die die Voraussetzung der religionswissenschaftlichen Arbeit betreffen" 8 , gelöst hat. Daraus ergibt sich der zweite Teil des angestrebten Zieles, der Versuch, die Ansätze der Wachschen Religionswissenschaft unter einem neuen Blickwinkel methodisch fruchtbar zu machen, womit der dritte und eigentliche Zielraum erreicht wäre, einen bescheidenen Beitrag zur Methodendiskussion geleistet zu haben. Diese Überlegungen werden sich vor allem auf den Bereich der systematischen Religionswissenschaft 'beziehen, da ohne eine Systematik eine wirkliche Forschung und Darstellung des Erforschten undenkbar ist, weil es eine voraussetzungslose Wissenschaft nicht geben kann. Nur sollte man sich diese Voraussetzungen ständig wieder bewußt machen, sich fragen, woher man sie entlehnt, und sie als Arbeitshypothesen betrachten und nicht als Ergebnisse ausgeben.

Methodische Vorbemerkungen Aus der Einsicht, daß Methoden Werkzeuge und nicht seherische Perspektive sein sollen, ist es das'Vorhaben dieser Untersuchung, nicht von zu Ergebnissen erhobenen Hypothesen auszugehen, sondern größtmögliche Zurückhaltung in bezug auf Vorverständnisse zu üben. Die beste Art und Weise, Voreingenommenheiten im Verstehensvorgang und der daraus folgenden Darstellung auszuschalten, ist ein methodisches Vorgehen ausschließlich von der Sache selbst her, wofür eine werkimmanente, zeitimmanente und personimmanente Deutung die Grundvoraussetzung ist. Das bedeutet für den zweiten und dritten Teil dieser Untersuchung, daß sie Wach möglichst ausschließlich aus Wach zu entwickeln suchen wird. Das heißt weiterhin, daß in diesen Teilen auch eine Beurteilung der Wachschen Ansätze und Ergebnisse nicht vom heutigen Stand der Wissenschaft aus vorgenommen werden kann — dies bleibt den Schlußkapiteln vorbehalten —, sondern man zu einer gerechten Würdigung seiner Leistungen nur aus seiner Zeit und dem damaligen Stand unserer Wissenschaft kommt. Dieses methodische Vorgehen schließt ein, daß das wissenschaftsgeschichtliche Herkommen Wachs und die während seines wissenschaftlichen Schaffens von ihm aufgenommenen Anregungen und Einsichten erhellt werden müssen. Dieser letzte Grundsatz durchbricht nicht die 8

ebda, S. III.

Methodische Vorbemerkungen

9

person- oder werkimmanente Deutung, wie man vielleicht glauben könnte, sondern bildet ihre notwendige Ergänzung. Denn nur auf dem Hintergrund in das geistige Eigentum übernommener fremder Denkkategorien und -einflüsse lassen sich häufig Unstimmigkeiten oder „Unerklärliches" des zu untersuchenden Gesamtzusammenhanges verdeutlichen und stimmig machen. D a s gilt in besonderem Maße für Wach, der sich vor allem der ihn prägenden geschichtsphilosophischen Einflüsse niemals hat entziehen können und der darüber hinaus aus einem seiner irenischen Grundhaltung entspringenden Wollen versucht hat, die verschiedensten religionswissenschaftlichen Denkansätze und Anschauungen zu vereinen. Es gilt also, die Ziele seiner Religionswissenschaft aus seinem Gesamtwerk heraus zu erarbeiten: darzustellen, aufweichen Wegen er sie verfolgt hat, inwieweit er sie erreichte, mit welchen Vorverständnissen 9 er „belastet" ist, ob und warum diese unter Umständen zu einem Verfehlen oder Überschreiten der gesetzten Ziele geführt haben. Anhand der so gewonnenen Ergebnisse wird dann die eventuelle Modifikation oder Verifizierung der Religionswissenschaft Wachs vorgenommen werden können. D a ein wissenschaftliches Werk niemals weder in seiner inhaltlichen noch in seiner zeitlichen Entwicklung ein homogenes Ganzes im Sinne eines folgerichtigen N a c h e i n a n d e r bildet, wird sich eine Uberschneidung von den durch das Gesamtwerk Wachs gelegten Längs- und Querschnitten nicht vermeiden lassen. Diese Uberschneidung ist eine Notwendigkeit, da Wachs Interesse und die daraus folgenden literarischen Arbeiten häufig die Religionswissenschaft in Richtung auf eine universale Geisteswissenschaft überschreiten.

9

Schon der Gebrauch einer bestimmten Terminologie, die nicht weiter reflektiert worden ist, kann ein solches belastendes Vorverständnis ausmachen und eine wissenschaftliche Untersuchung in eine nicht gewollte Richtung abdrängen.

„Die Verwirrung in unserer Wissenschaft ist, was ihre methodischen Grundfragen angeht, anerkanntermaßen groß. Wichtig war es darum, zunächst einmal in wissenschaftstheoretischer und logischer Hinsicht zu klaren Fragestellungen und Abgrenzungen zu kommen." J . Wach -'

J O A C H I M WACH ALS LEHRER UND FORSCHER In diesem Kapitel sollen Leben und Werk Joachim Wachs in Form seines persönlichen und wissenschaftlichen Werdegangs dargestellt und die Beziehung zwischen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit und den wichtigsten biographischen Tatsachen erhellt werden. Dabei wird uns vom Gesamtthema her weniger der akademische Lehrer als der Forscher zu interessieren haben, auch wenn von der Persönlichkeit Wachs und seiner Lehrtätigkeit her ganz entscheidende Akzente auf sein Gesamtwerk zu setzen sind. Neben der Sichtung des gesamten literarischen Werkes und der Zuordnung der einzelnen Veröffentlichungen zu einem seiner drei großen Interessen- und Forschungsgebiete wird uns in besonderem Maße sein wissenschaftliches Referenzsystem zu beschäftigen haben. Denn Aufgabenstellung, Entwicklung und Durchführung seines wissenschaftlichen Programms sind in entscheidenden Punkten nur aus diesem Koordinatensystem heraus zu erklären und zu verstehen. Erst nach einer solchen umfassenden Einführung scheint es uns sinnvoll, die werkimmanente Interpretation durchzuführen, zumal diese nur in Korrelation zu Person und Zeit Wachs letztlich schlüssig sein kann. Den Forscher Joachim Wach werden wir sein gesamtes wissenschafliches Werk über begleiten, der Lehrer hingegen tritt für uns heute nur noch an einigen Stellen wirklich greifbar hervor, so in wenigen Selbstzeugnissen 1 und in den Nachrufen 2 . Die wohl treffendste Beschreibung seines Selbstverständnisses als Lehrer gibt er in „Meister und Jünger" 3 , wo sich auf eigentümliche Weise religionshistorische Fakten mit eigenen Erlebnisdimensionen vebinden, der Jüngerkreis mit dem Georgekreis ver1

„ T h e Place of the History of Religion in the Study of Theology"; über das Lehren der Religionsgeschichte; W h y we Can't Minde Our O w n Business.

2

besonders die von Casey, Kitagawa, Loomer, Schoeps und Slotten & Partin &

3

besonders im ersten Teil, der unter dem Titel „Meister und Jünger, Lehrer und

Sullivan. Schüler" bereits 1922 in „Freideutsche Jugend" 1, Heft 8/9, erschien.

14

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

schmilzt, und sich über die Gestalten des Meisters und Lehrers, die Wach nicht einsichtig zu trennen vermag, das Bild Stefan Georges schiebt. So heißt es z . B . : „Den Blick auf die Geschichte des Bildes einer großen Menschengestalt oder auf die eines Werkes zu richten, und sie aus sich heraus zu verstehen und zu deuten, hat uns der Kreis derer um Stefan George wieder gelehrt. Unnötig, die einzelnen aus einer besonderen Gesinnung und in schönster innerer Verwandtschaft geschaffenen Werke im einzelnen hier aufzuführen 4 ." Zu diesem Kreis gehörte Wach und hielt an dessen Tradition in seinen Leipziger Jahren fest, indem er häufiger auch mit Schülern und Gleichgesinnten Lesungen hielt 5 . Ihm ist in diesem Kreis, wie das Zitat zeigt, nicht nur das Verstehen als Problem und Aufgabe nahegebracht worden, sondern er ist in seiner ganzen Persönlichkeit von hier geprägt. Das gilt sowohl für sein Äußeres und sein Auftreten 6 , als auch für sein Denken und in den frühen Jahren besonders für seine Religiosität. Die im George-Kreis vorwaltenden Anschauungen und Wertmaßstäbe bestimmen seinen persönlichen und wissenschaftlichen Gang. Der GeorgeKreis w a r gelebte Weltanschauungslehre, der Versuch, die Welt der Kunst, als Welt des Schönen und Reinen, durch Kunst und Schönheit in die Wirklichkeit, in ihre Lebendigkeit umzusetzen, mit dem Ziel, eine neue Kultur, ja eine neue Welt zu schaffen. Elitär und esoterisch aber ist der Kreis, der dazu berufen ist, diesen Prozeß einzuleiten und zu vollenden. Denn es geht um die Kunst um der Kunst willen und um die Schönheit um der Schönheit willen, Zugang zu ihrem inneren Bezirk kann nur der Initiierte haben, der sich ihr weiht, ähnlich dem religiösen Bereich, wo auch Initiation und Weihe mehr Anteil am Heiligen versprechen. Der Kreis ist getragen von einem Selbstverständnis des Auserwählt-Seins, dem ein tiefes „religiöses" Sendungsbewußtsein immanent ist 7 . So heißt es beispielsweise in den Blättern für Kunst über das junge Geschlecht: „Daß ein strahl von Hellas auf uns fiel: daß unsre jugend das leben nicht mehr niedrig sondern glühend anzusehen beginnt: daß sie im leiblichen und geistigen nach 4

Wach, „Meister und Jünger", S. 74 Anm. 52

s

mündliche Information eines der Teilnehmer

6

auch die Ehelosigkeit Wachs hängt vermutlich mit den Lebensprinzipien des

7

So trug z . B . George von Hoffmannsthal die Rolle des Heilandes in seinem Kreis

Georgekreises zusammen. an (s. Schonauer, „George", S. 35).

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

15

schönen maßen sucht: daß sie von der Schwärmerei für seichte allgemeine bildung und beglückung sich ebenso gelöst hat als von verjährter barbarei: daß sie die steife gradheit sowie das geduckte lasten tragende der umlebenden als häßlich vermeidet und freien hauptes schön durch das leben schreiten w i l l : d a ß sie schließlich auch ihr Volkstum g r o ß u n d nicht im

beschränkten sinne eines stammes auffaßt: darin finde man den umschwung des deutschen wesens bei der Jahrhundertwende." 8 In dieser Passage ist Georges ganzes Programm für die neue Welt mit ihrer neuen Weltanschauung umfassend ausgesprochen. Als Bewegung des Geistes, als elitäre Geistesgemeinschaft zur Erneuerung der Kunst, der Kultur und ihrer Welt um ihrer selbst willen, verstand sich dieser Kreis 9 . Ihm tief verwurzelt wußte sich Wach, denn auch ihm ging es um die Erneuerung nicht nur der Religionswissenschaft als Geisteswissenschaft, sondern um das Geistige überhaupt und um sein Verstehen, wie sein Werk zeigt. Auch er sammelte gleichsam einen Jüngerkreis um sich, dessen Verhältnis er religionssoziologisch folgendermaßen beschreibt: „Zwischen dem Meister und jedem einzelnen von ihnen besteht ganz abgesehen von dem Charakter des Kreises in dem der Meister den Mittelpunkt bildet, eine ganz bestimmte Beziehung, für deren Natur und Färbung die Individualität des Jüngers entscheidend ist; das Bild des Meisters ist für jeden von diesen notwendig ein anderes, es ist durch sein ,relatives Apriori': Individualität, Temperament, Gesinnung gefärbt 10 ." Den Meister charakterisiert er mit folgenden Worten: „Die magische und zwingende Erscheinung des Meisters ist für die Jünger immer zugleich der letzte Halt und die höchste Forderung." 1 1 Die schwärmerisch-schöngeistige Betrachtung des Verhältnisses von Meister und Lehrer kommt am charakteristischsten in folgender Passage zum Ausdruck: „Der Lehrer lobt den schnellen Fuß, die geschickte Hand, das scharfe Auge, den klaren Verstand des Schülers, vor dem meisterlichen Auge bestehen solche Trennungen nicht. Ihm bleiben Geist und Körper, Leib und Seele ungeschieden, für ihn gibt es keine entschuldbaren und unentschuldbaren Menschlichkeiten. Maß und Mitte sind dem Jünger gewiesen: existenziell zu sein, das heißt, aus einem Mittelpunkt 8 9

Blätter f ü r die Kunst 1899. Wie religiös George selbst seinen Kreis verstand, zeigt z. B., daß „Wolfskehl der Petrus Georges genannt, Gundolf aber . . . sein Johannes" wird (Schonauer, a . a . O . , S. 92).

10

Wach, „Meister und Jünger", S. 32.

11

ebda, S. 38.

16

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

sein, und diesen Mittelpunkt weist ihm der Meister in seinem, in des Jüngers Leibe. D a s heißt es, wenn der Meister von seinem Jünger fordert, daß er schön s e i . " 1 2 Wachs Selbstverständnis als Lehrer war vor allem ein meisterliches, getragen von einer Art „Berufung zum Wissen" 1 3 , das auch in Amerika wieder ausgesprochen kreisbildend wirkte, wo er von seinen Schülern als Guru verehrt, diese von ihm als Sangha angenommen wurden 1 4 . A u s diesem Zusammenhang ist zu verstehen, was K. Bolle bestätigt 1 5 , daß Wach keine eigentliche religionswissenschaftliche Schule begründete und im letzteren Sinne auch keine wirklichen Schüler bzw. Nachfolger fand, da seine Lehrergestalt in entscheidendem Maße von seiner persönlichen Wirkung abhängig war 1 6 . Von seinen Schülern und Kollegen wird er darüber hinaus als großer Ästhet, als „christlicher Platoniker" 1 7 und zugleich als ausgesprochen empfindlich gegenüber jeder Kritik beschrieben, die er nur ertragen konnte, wenn sie liebevoll vorgetragen w u r d e 1 8 . Daneben sei er hartnäckig, inflexibel und manchmal auch kurzsichtig gewesen, wenn es um seine ureigensten Gebiete gegangen sei 1 9 . Seine Lehre habe er am liebsten in Form von langen Selbstgesprächen oder anhand von zur Verfügung gestellter Schemata 2 0 , unter ständiger Betonung der Wichtigkeit aller Systematik, vorgetragen. Wach ist also ein Lehrer von großer persönlicher Wirkung gewesen, mit einem besonderen Interesse an systematischen Fragestellungen und an den Problemen eines „ Ü b e r b a u s " seiner Wissenschaft 2 1 . 12

ebda, S. 13.

13

ebda, S. 20.

14

Slotten & Partin & Sullivan im Nachruf (S. 33): „The appellation which Dr. Wach c o m m o n l y gave to his students was ,the Sangha'; in turn, his students affectionately called him 'the G u r u ' — S. a. Schoeps, a . a . O . , S. 368; Kitagawa, „ E i n f ü h r u n g " , S. 33.

15

Bolle, „Wachs Legacy . . . " , S. 81: „Nevertheless there is a certain community that o w e s a debt to Wach, although there are no membership lists. It is rather like a spiritual continuation of what we in Chicago called the samgha during Wach's lifetime".

16

ebda, S. 8 1 - 8 2 :

17

L o o m e r , a. a. O . , S. 27.

18

ebda, S. 26.

19

ebda, S. 26.

20

s. Kitagawa, „Verstehen und E r l ö s u n g " , S. 31.

21

Dies wird auch ganz deutlich an seiner Lehrtätigkeit in Leipzig, die unten noch ausführlicher dargestellt werden soll.

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

17

Diese Ausrichtung seines wissenschaftlichen Interesses wird uns im weiteren Verlauf dieser Untersuchung noch näher zu beschäftigen haben, denn sie bestimmt seine gesamte Forschungstätigkeit. Deshalb seien hier nur ein paar Akzente der Forscherpersönlichkeit Wachs skizzenhaft vorweggenommen. Er hat während seiner langjährigen wissenschaftlichen Tätigkeit keine Feldforschung auf dem Gebiet der Religionen durchgeführt und hatte die erste kurze Begegnung mit einer nichtchristlichen Religion überhaupt anläßlich einer Reise 1931 nach Tunesien, wobei er über ihre Fremdheit und Andersartigkeit in ihrer lebendigen Wirklichkeit sehr erstaunt gewesen sein soll 22 . Ebensowenig hat sich eine etwaige religionshistorische Forschungstätigkeit literarisch niedergeschlagen. Wenn Kitagawa schreibt, „während seiner ganzen dreißigjährigen akademischen Laufbahn lehrte Wach Religionsgeschichte, aber das einzige Buch, das er in diesem besonderen Bereich verfaßte, war ein kleiner Band über den Mahayana-Buddhismus" 2 3 , so ist fraglich, ob Wach diese Untersuchung so verstanden wissen wollte. Denn dieses Bändchen ist eine anhand von ausgewählter Sekundärliteratur — und dieser in weiten Teilen folgend — durchgeführte Deutung des Saddharma-Pundarika-Sutras, wobei Wach von christlichen Erlösungsvorstellungen herkommend, diese in anderem Kulturzusammenhang wiederfindet 2 3 3 . Religionshistorische Untersuchungen finden sich im literarischen Werk Wachs nicht. Es fällt sogar auf, daß er sich in seinen systematischen Werken nicht zu solchen Untersuchungen zurückwendet, die auf Feldforschungsarbeit oder primärer Interpretation literarischer Religionsquellen basieren, sondern in erheblichem Umfang Sekundärliteratur benutzt, die keine eigentlichen Quellen über einzelne Religionen bildet, sondern schon Zusammenfassungen unter bestimmten Fragestellungen bietet 2 3 0 . In seiner Forschungstätigkeit bleibt Wach Theoretiker und Systematiker, weshalb wir uns im weiteren Verlauf der Untersuchung besonders zwei außerordentlich wichtigen Gesichtspunkten werden zuwenden müssen, einmal nämlich, welche Bedeutung die konkreten Religionen für ihn haben, und zum anderen, ob und welche — vielleicht unterschwelligen — normativen Denkkategorien seine systematische Wissen22 23 233 23b

mündliche Information eines damaligen Schülers. Kitagawa, „Joachim Wach — Leben und Werk", S. 14. Wach, „Mahäyäna", bes. 43—55. Dies wird ganz deutlich an der der 5. Auflage seiner Religionssoziologie beigegebenen Bibliographie, die nur drei Primärtitel enthält.

18

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

schaft bestimmen. Dabei werden wir den drei Hauptgebieten seiner Forschungstätigkeit durchgängige Aufmerksamkeit schenken müssen, die Kitagawa folgendermaßen charakterisiert: „Wachs religionswissenschaftliches Studium war auf seine drei Hauptinteressengebiete begründet: 1. das Gebiet der Hermeneutik, 2. die Erforschung von Wesen und Ausdruck der religiösen Erfahrung und 3. die Religionssoziologie. Zwar stehen diese drei Gebiete im engem Zusammenhang und greifen ineinander über, doch war Wachs eigentliches und umfassendes Anliegen hermeneutischer Art." 23c Die Wurzel dieses hermeneutischen Interesses scheint in dem Wunsch und Bemühen zu liegen, zu einem ganzheitlichen Verständnis der Religion zu gelangen. Nach diesem kurzen Bild der Persönlichkeit Wachs und dem skizzenhaften Ausblick auf sein Werk als Forscher, wenden wir uns nun seinem Leben und Werk im einzelnen zu. Biographische

Einführung

Joachim Wach wurde am 25. Januar 1898 zu Chemnitz in Sachsen geboren. Er war der Sohn von Felix und Katharina Wach und stammte mütterlicher- wie väterlicherseits aus der Familie Mendelssohn(-)Bartholdy. Er wuchs wohlbehütet in Chemnitz und Dresden auf. Sowohl das elterliche als auch das großelterliche Haus (der Jurist Adolf Wach) standen den Wissenschaften und schönen Künsten offen, so daß er schon in Kindertagen einen weiten Kreis von Anregungen enpfing. 1916 machte er am Vitzthumschen Gymnasium in Dresden das Notabitur und ging als Offizier an die Ostfront. Schon in dieser Zeit beschäftigte er sich mit philosophischen und religiösen Fragen, die vor allem um das Todesproblem kreisten, das ihn Zeit seines Lebens nie ganz aus seinem Banne ließ. Mit dem Studium 1918 in Leipzig begann seine akademische Laufbahn 230 . Die deutsche Periode 1919 ging Wach für ein Semester nach München, wo er in erster Linie bei Heiler und Beumker studierte, von dort dann nach Freiburg, wo er E. 2 3 C Kitagawa, 23dZur

„ G i b t es ein Verständnis . . .", S. 38.

Biographie Wachs siehe vor allem die Aufsätze und entsprechenden Kapitel

von Rudolph, Kitagawa und die Nachrufe.

Die deutsche Periode

19

Husserl hörte. Über Berlin, dort nahm er vor allem an den Seminaren Troeltschs und von Harnacks teil, kehrte er zum Wintersemester 1920 an die Leipziger Universität zurück. Hier waren der Religionshistoriker Haas, die Orientalisten Fischer und Zimmern, sowie der Philosoph Volkelt seine bevorzugten Lehrer. Auf Grund seiner Arbeit „Grundzüge einer Phänomenologie des Erlösungsgedankens", die unter dem Titel „ D e r Erlösungsgedanke und seine D e u t u n g " noch im gleichen Jahr erschien, wurde er am 4. April 1922 zum Dr. phil. promoviert. Hieran schlössen sich zwei weitere Studienjahre in Heidelberg an, die geprägt waren durch intensive Kontakte mit seinen Lehrern Gundolf 2 4 , Rickert und A. Weber. Gleichzeitig bereitete er seine Habilitationsschrift — „Prolegomena zur Grundlegung der Religionswissenschaft" 2 5 vor, mit der er sich trotz nicht unerheblicher Widerstände 2 6 am 3. Juni 1924 an der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig für das Fach Religionswissenschaft habilitierte. „ W a c h hatte sich damit zugleich für Philosophie habilitieren wollen, was jedoch am Widerspruch einiger Mitglieder des Lehrkörpers scheitert" 2 7 , und wurde Privatdozent am „Institut für Kultur- und Universalgeschichte". Seine Antrittsvorlesung hielt er über das Thema „Meister und J ü n g e r " , eine überarbeitete Fassung des Aufsatzes aus dem Jahre 1922. Im Juni 1927 erhielt Wach einen unbesoldeten Lehrauftrag für Religionssoziologie, um den sich Haas für ihn bemüht hatte, womit dieses Fach zum ersten Mal offiziell an einer deutschen Universität gelehrt wurde. Im gleichen Jahr kam auch Tillich als Honorarprofessor für Religions- und Kulturphilosophie von der T H Dresden an die Leipziger Theologische Fakultät, mit dem Wach dann später wieder in Chicago zusammentrifft und der dort wesentlichen Einfluß auf ihn ausübt. 1929 2 8 schließlich wurde Wach zum a. o. 24

Auch hier also wieder eine enge Bindung an den George-Kreis, denn Gundolf war bis zum Bruch mit George dessen Lieblingsjünger (s. Schonauer, a. a. O . , S. 152/3).

25

1 924 erschienen unter dem Titel „Religionswissenschaft — Prolegomena zu ihrer

26

Die Habilitationsschrift erfuhr eine sehr unterschiedliche Beurteilung und zum

wissenschafts-theoretischen Grundlegung". Teil strikte Ablehnung. Siehe hierzu: Rudolph: „ D i e Religionsgeschichte . . . " , S. 138f., besonders A n m . 3; ders., „Joachim Wach", S. 231. 27

R u d o l p h , a. a. O . , S. 231.

28

im gleichen Jahr nimmt er als einziger Fachvertreter der Leipziger Universität am 5. Internationalen Kongreß für Religionsgeschichte in Lund teil und hält dort zwei Vorträge (siehe Literaturverzeichnis).

20

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

Professor für Religionswissenschaft ernannt und hielt seine Antrittsvorlesung über das T h e m a : „ D i e Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts und die Theologie der Geschichte" (am 15. 1. 1920). Nachdem er im Februar 1930 mit dem zweiten Band seines „Verstehens" in Heidelberg noch z u m Dr. theol. promoviert hatte, entfaltete er in Leipzig eine rege Lehrtätigkeit, bis ihn die sächsische Landesregierung aus rassenpolitischen Gründen am 10. April 1935 seines Amtes enthob und ihm am 29. April 1935 seine Lehrbefugnis entzog. Ihm als Nichtarier 2 9 war damit jede weitere Betätigung im Deutschland des Naziregimes unmöglich geworden 3 0 . Glücklicherweise aber bot sich ihm die Gelegenheit, seine Lehrtätigkeit in den Vereinigten Staaten fortsetzen zu können. Diese Leipziger Jahre von 1922 bis 1935 sind zweifelsohne für Wach die bedeutendsten und fruchtbarsten gewesen, wie auch an seinem literarischen Werk deutlich wird. In dieser Zeit verfaßte er die grundlegenden Werke, die seinen Ruf begründeten. Obwohl der frühe Wach ein leidenschaftlicher Kämpfer für die Selbstständigkeit der Religionswissenschaft war und dabei sowohl gegen bestimmte Richtungen der Theologie 3 1 als auch der Philosophie, speziell der Religionsphilosophie 3 2 , focht, blieb er selbst doch immer der Philosophie verhaftet, suchte nach Kombinationsmöglichkeiten von Religions- und Geistesgeschichte — ausgehend von Simmelschen und Diltheyschen Überlegungen — und betätigte sich in diesem Zusammenhang vor allem als Philosophiehistoriker. Was die später folgende Analyse seines literarischen Werkes 1 0 ausführlicher zeigen wird, dieses Hingezogensein zu (religions-)philosophischen und philosophiegeschichtlichen Themen, bestätigen bereits seine Lehrveranstaltungen, von denen Rudolph eine Aufstellung 3 3 gibt, allerdings ohne die Übungen zur Geistesgeschichte des 19. 29

Dieses Problem war schon im Jahr vorher aufgetaucht. Rudolph berichtet in seinem Buch „ D i e Religionsgeschichte . . . " S. 130: „ H a a s äußerte sich am 16. 7. 1934 hinsichtlich eines Nachfolgers gegenüber einem Vertreter des Ministeriums: , E s gäbe keinen Religionsphilosophen, der als Nachfolger auf seinen Lehrstuhl in Frage käme. Der einzige, der in Frage käme, sei Wach, und dieser sei Nichtarier; . . . " .

30

1 943 w u r d e ihm sogar noch der Doktorgrad der Leipziger Universität aus ebenso irrigen politischen Gründen entzogen.

31

s. seine Auseinandersetzung mit Althaus, „ U n d die Religionsgeschichte?".

32

s. seine Auseinandersetzungen mit Scheler, Körner und dem Psychologismus.

33

N e b e n später zu besprechenden eigenen Publikationen war er während der Leipziger Zeit noch Mitherausgeber der „Zeitschrift für Missionskunde und Reli-

Die deutsche Periode

21

Jahrhunderts, die Wach im Rahmen des kulturhistorischen Lehrplanes durchführte. Innerhalb der Religionswissenschaft hielt Wach folgende Veranstaltungen, die anhand der Rudolphschen Aufstellung 34 zur Verdeutlichung des eben Ausgeführten — thematisch jedoch ungeordnet — wiedergegeben werden 3 5 : 1. Religionsgeschichte und Religionswissenschaft: a) Einführung in die Religionsgeschichte (VL: WS 1924/25, 1927/28, SS 1933) b) Vergleichende Geschichte der großen Religionsstifter, ihrer Legenden und ihrer Verehrung (VL: WS 1925/26) c) Die heiligen Schriften der Völker (VL: WS 1926/27, SS 1930) d) Gott in den außerchristlichen Religionen (VL: WS 1929/30) e) Haupttypen außerchristlicher Frömmigkeit (VL: WS 1930/31) f) Die großen Religionsstifter (VL: WS 1932/33) h) Die christlichen Sekten (VL: WS 1932/33) i) Der Buddhismus (VL: SS 1933) k) Die großen Religionsstifter und die Entstehung ihres Kultes (VL: WS 1933/34) 1) Das Mönchtum im Abend- und Morgenland (VL: SS 1934) m) Geschichte der Mystik in den Weltreligionen (VL: WS 1934/35) n) Lektüre und religionswissenschaftliche Erklärung mystischer Schriften vornehmlich des Orients (S: WS 1925/26) o) Lektüre und Erklärung religionswissenschaftlicher Texte (S: SS 1927) p) Übungen zur Geschichte der außerchristlichen Mystik (S: WS 1929/30) q) Einführung in die Lektüre heiliger Schriften des Ostens (S: SS 1932) r) Mythos und Mythologie, ausgehend von Wundts Völkerpsychologie (S: SS 1933) 2. Religionssoziologie: a) Religionssoziologie (VL: SS 1927, SS 1929, SS 1931) gionswissenschaft" ( 1 9 3 4 - 1 9 3 8 ) und Herausgeber des 1935 in Stuttgart erschienenen Sammelbandes „Religion und Geschichte I " . 34

Rudolph, „Die Religionsgeschichte . . . " , S. 1 4 1 - 1 4 3 .

35

VL

=Vorlesung,

S =

Seminar, Übung oder Colloquium, WS =

mester, SS = Sommersemester. 3

Flasche: Joachim Wach

Winterse-

22

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

b) Religion und Staat in der außerchristlichen Religionsgeschichte (VL: SS 1928) c) Die Religionssoziologie Max Webers und Ernst Troeltschs (S: SS 1932) d) Verfassung und Organisation der katholischen Kirche (S: WS 1933/34) 3. Religionsphilosophie: a) Die religiösen und philosophischen Systeme des Orients (VL: SS 1925) b) Der Pantheismus im Abend- und Morgenland (VL: SS 1926) c) Grundprobleme der Religionsphilosophie (VL: WS 1926/27) d) Die Religionsphilosophie Feuerbachs (VL: WS 1927/28) e) Die Hauptrichtungen und Hauptprobleme der Religionsphilosophie ( V L : SS 1928) f) Geschichte der neueren Religionsphilosophie (VL: WS 1928/29) g) Vergleichende Ethik der Weltreligionen (VL: 1931/32) h) Die Philosophie des Orients in ihren Hauptrichtungen und Vertretern (VL: SS 1932) i) Religionspsychologie (VL: WS 1932/33) k) Das Todesproblem in der christlichen und außerchristlichen Religionsphilosophie (VL: WS 1933/34) 1) Das Christentum und das 19. Jahrhundert (VL: SS 1934) m) Religionswissenschaftliche Übungen zu den Religionstheorien Ottos und Schelers (S : WS 1924/25) n) S. Kierkegaard (S: SS 1925, SS 1930) o) Lektüre und Besprechung der Hermeneutik Schleiermachers (S: WS 1928/29) p) Nietzsches Stellung zur Religion, vornehmlich zum Christentum (S: SS 1934) q) Die Gottesidee in der außerchristlichen Welt (S: WS 1934/35 Die Themen (religions-)philosophischer und religionswissenschaftlicher Art halten sich in der Lehre Wachs in etwa die Waage, wenn man die Veranstaltungen am kulturwissenschaftlichen Institut nicht miteinbezieht. Interessanterweise taucht eine Vielzahl von diesen Veranstaltungen in teils abgewandelter Form, oder in einen größeren Rahmen hineingestellt, im literarischen Werk Wachs wieder auf. Manches wird von ihm später in Amerika literarisch nochmals aufgegriffen. Wach selbst sagt in einer kurzen

23

Die amerikanische Periode

autobiographischen Bemerkung über diesen ersten Lebensabschnitt: „I was born and brought up in Germany. I studied and taught at the University of Leipzig, a center of Indian studies. M y major interest was the history of religions with philosophy and Oriental studies as auxiliaries" 3 6 , und ein wenig weiter: „ I was a high school student, I met Professor Deussen, who was well known in this country as well as a scholar of Indian thought. After eleven years of teaching at the University of Leipzig I left Germany in 1935 to accept an invitation to come as a guest professor to the United States." 3 7

Die amerikanische Periode Als Wach in Deutschland seines Amtes enthoben wurde, konnte er glücklicherweise die ihm gerade vorliegende Einladung auf eine Gastprofessur an der Brown University in Providence, Rhode Island, annehmen, wodurch er in den U S A eine zweite Heimat fand, zumal eine Rückkehr für ihn lebensgefährlich gewesen wäre. An dieser Universität lehrte er von 1935 bis 1945 History of Religions und sammelte bald wieder einen kleinen, engen Schülerkreis

um sich. Unter dem Eindruck der zerstörerischen

Nazi-Herrschaft in Deutschland und der für ihn bis dahin völlig unbekannten religiösen Aktivitäten der amerikanischen Kirchen gewinnt für ihn das Christentum eine völlig neue Dimension, die Kitagawa so charakterisiert: „ C o n f r o n t e d by the emergence of such a colossal power of evil which ruthlessly

emasculated

and destroyed political,

social and

educational

institutions, Wach came to appreciate the hidden resources of the Christian Church as the most persistent force for the integration and preservation of culture and s o c i e t y . " 3 8 Aufgrund dieses neuen religiösen Selbstverständnisses schloß er sich, der ursprünglich der lutherischen Kirche angehörte, der American Episcopal Church an, von der er überzeugt war, daß sie „worship als das Herzstück aller R e l i g i o n " 3 9 am ehesten verwirkliche. In diesen Jahren an der Brown University vollzog sich in Wach ein eigentümlicher Wandel, der die eigene Religiosität auch in wissenschaftlichen

36

Wach,

37

ebda, S. 143.

„Relgious C o m m i t m e n t " ,

in: „Understanding and Believing", S. 142.

38

Kitagawas Einleitung zu: „Understanding and Believing", S. X I .

39

W a c h , „Eigenart und Bedeutung der American Episcopal C h u r c h " , S. 3 7 8 . Dieser Aufsatz mutet ein wenig wie eine Selbstrechtfertigung an.

3!>

24

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

Arbeiten immer mehr in den Vordergrund treten ließ, wie ein Großteil der amerikanischen Veröffentlichungen zeigt 4 0 . N o c h während er in Providence lehrte, knüpfte Wach durch Gastvorträge erste Kontakte zur Universität Chicago, wohin er 1945 einen Ruf als ordentlicher Professor erhielt. Er wurde dort Chairman of the History of Religions Field innerhalb der interkonfessionellen „Federated Theological Faculty". Dort kämpfte er jahrelang für die Aufnahme und Integrierung der Religionswissenschaft ins theologische Curriculum 4 1 , zumal er immer mehr zu der Uberzeugung gelangte, daß sie das eigentliche Bindeglied zwischen normativen und deskriptiven Wissenschaften bilde 4 2 . Kitagawa charakterisiert diese Einstellung folgendermaßen: „Wach's sense of commitment to Christian faith and his concern with the theological implications of Religionswissenschaft became more pronounced during the last ten years of his life spent in Chicago. Earlier he had tended to stress the independence of the descriptive task of Religionswissenschaft from the normative concerns of theology and philosophy, and he took it for granted that Religionswissenschaft was to be taught in the faculty of humanities. Gradually, however, he began to stress the importance of the systematic task, to be sure without minimizing the descriptive task, of Religionswissenschaft. Thus, he came to view Religionswissenschaft as a link between the normative disciplines and the purly descriptive disciplines. As such, he stressed the importance of not only "bridging the gulf between Religionswissenschaft and social sciences", as he started in the Preface to his Sociology of Religion, but also of close cooperation between Religionswissenschaft and t h e o l o g y . " 4 3 In Chicago wurde Wach 1947 auch zum Chairman der University Commission of the World Student Christian Federation gewählt, für die er einen kleinen autobiographischen Aufsatz „The Christian Professor" 4 4 schrieb, in dem es u. a. heißt: „ , F r e e d o m ' should be rightly understood

40

Eine autobiographische Schlüsselfunktion für diesen Wandel in seinem zweiten Lebensabschnitt

nimmt unserer

Meinung nach das kleine Essay

„Religious

C o m m i t m e n t and Tolerance" in „Understanding and Believing", S. 142—145, ein. 41 42

s. Kitagawa, Einleitung zu „Understanding and Believing", S. X I I I . s. auch den Nachruf Kitagawas, „ I n Memoriam Joachim Wach - Teacher and C o l l e a g u e " , ebda, S. 200.

43

Kitagawa, Einleitung zu „Understanding and Believing", S. XIII.

44

wiederabgedruckt in „Understanding and Believing", S. 155 — 161.

Die amerikanische Periode

25

and defined. It certainly cannot mean that anyone is 'free' to formulate his own logic. He is bound by the traditional categories of thinking in our culture. If Christianity is understood to be at least one of the basic forces which shaped our Western civilization, and if it is, as we believe, a 'live option', than we must strive to arrive at a clear articulation of its tenets." 4 5 Hieraus wird deutlich, daß ihn in den letzten Jahren seines Lebens in ganz besonderem Maße das Problem der Wahrheit in der Religion beschäftigen wird, das er als ein zwischen Philosophen und Theologen angesiedeltes Problem sieht, wozu aber die Religionswissenschaft entscheidende Beiträge liefern könne 4 6 . Damit bekommt seine wissenschaftliche Arbeit in den letzten Lebensjahren eine, wie ich meine, wesentlich Wendung, und ich kann Rudolph nicht folgen, wenn er sagt: „Eine irgendwie entscheidende Wandlung in seinen wissenschaftlichen Auffassungen hat sich bei ihm nach 1935 nicht v o l l z o g e n . " 4 7 Die letzten wichtigen Daten dieser zweiten Lebens- und Schaffensperiode Wachs sind schnell aufgezählt. 1952 erhielt er eine Einladung nach Indien, u m d o r r die Barrows Lectures zu übernehmen. Im akademischen Jahr 1954/55 hielt er an verschiedenen akademischen Institutionen unter dem Patronat des „Committee on the History of Religion of the American Council of Learned Societies" eine ähnliche Vorlesungsreihe 4 8 . Im Frühjahr 1955 nahm er am 7. Internationalen Kongreß der IHAR in Rom teil, wo es ihm beschieden war, noch einmal auch europäische Kollegen wiederzutreffen. Im gleichen Jahr hatte er den Ruf auf den Lehrstuhl für systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Marburg erhalten 4 9 , den er kurz vor seinem Tode ablehnte. Er verstarb unerwartet am 27. August 1955 an einem Herzinfarkt in Locarno, wo er sich bei Mutter und Schwester aufhielt. A m 5. Oktober fand in der Bond Chapel der Universität Chicago ein Gedächtnisgottesdienst statt, an dem viele internationale Vertreter der Religionswissenschaft und Theologie teilnah-

45

ebda, S. 161.

46

Wach, „ T h e Problem of Truth in Religion", in: „Understanding and Believing",

47

R u d o l p h , „Joachim Wach", S. 233.

48

A u s diesen beiden Vorlesungsreihen entstand das posthum erschienene Werk „ T h e

49

Das war, wie auch aus den Akten hervorgeht, als eine besondere Form der

S. 146 ff.

Comparative Study of Religions". Wiedergutmachung für das durch das Nazi-Regime erlittene Unrecht gedacht.

26

J o a c h i m Wach als Lehrer und Forscher

men50.

Im

Religious

Dezember

Experience"

1955

schließlich

posthum

„Types

of

der Buchpreis der Klopstock-Stiftung

wurde

seinem

Werk

in

H a m b u r g v e r l i e h e n , „ a l s E h r u n g u n d A n e r k e n n u n g f ü r seine b e d e u t e n d e n Beiträge z u r Religionswissenschaft und T h e o l o g i e " 5 1 .

Bibliographische

Sichtung

seines

Gesamtwerkes

D a s l i t e r a r i s c h e G e s a m t w e r k J o a c h i m W a c h s z e i c h n e t sich d u r c h eine e i g e n t ü m l i c h e B e s o n d e r h e i t a u s , die A n g e w o h n h e i t n ä m l i c h , die kleineren P u b l i k a t i o n e n m e h r f a c h an v e r s c h i e d e n e n Stellen e r s c h e i n e n 5 2 , sie in leicht veränderter F o r m 5 3

o d e r als Ü b e r s e t z u n g 5 4 w i e d e r a b d r u c k e n z u

lassen.

Berücksichtigt man die Mehrfachdrucke, Übersetzungen55 und Wiederabd r u c k e n i c h t , s o u m f a ß t das G e s a m t w e r k W a c h s 3 9 A u f s ä t z e u n d A r t i k e l , 12 m e h r

oder weniger umfangreiche,

selbständige P u b l i k a t i o n e n

— ein-

schließlich der p o s t h u m von K i t a g a w a edierten „ T h e C o m p a r a t i v e Study o f R e l i g i o n s " 5 6 u n d „ U n d e r s t a n d i n g and B e l i e v i n g " 5 7 — s o w i e 2 1 A r t i k e l in 50

s. hierzu die verschiedenen Nachrufe und Mitteilungen in: „ T h e Divinity School

51

Die Laudationes hielten E . B e n z und H . J . Schoeps.

52

D e r Mahäyäna-Buddhismus erschien beispielsweise fast gleichzeitig als Separat-

53

D e r erste Teil von „Meister und J ü n g e r " erschien Jahre vorher in „Freideutsche

N e w s " 2 2 N o . 4 v o m 1. 11. 1955.

d r u c k , in der „Zeitschrift für Buddhismus" und in der Zeitschrift „ D e r P f a d " . J u g e n d " ; „ M a x W e b e r als Religionssoziologe" erschien 1927 in der Festschrift für W . G o e t z und ist 1931 der „Einführung in die Religionssoziologie" als Anhang wieder beigegeben; „ D i e Hermeneutik heiliger Schriften" erscheint leicht verändert gleich viermal an verschiedenen Stellen zu verschiedenen Zeiten. 54

S o w o h l in dem 1951 erschienen „Types of Religious Experience, Christian and n o n - C h r i s t i a n " , und in dem posthum von Kitagawa edierten

„Understanding

and B e l i e v i n g " sind die größere Zahl der Einzeltitel Übersetzungen aus dem Deutschen o d e r Wiederabdrucke aus Zeitschriften. 55

V o n den selbständigen Publikationen wurde die „Sociology of Religion" ins F r a n z ö s i s c h e : Sociologie de la religion, Paris

1947; ins Deutsche:

Religions-

soziologie, Tübingen 1951 und ins Polnische: Socjologia religii, Warschau 1960, ü b e r s e t z t ; „ T h e Comparative Study of Religions" ins Deutsche: Vergleichende Religionsforschung, Stuttgart 1962; und ins Spanische: El Estudio Comparado de las Religiones,

B u e n o s Aires

1967. Eine Ubersetzung

der

s c h a f t " ins Englische soll in den U S A in Vorbereitung sein. 56

N e w Y o r k 1958.

57

N e w Y o r k 1968.

„Religionswissen-

D i e Schriften philosophischen Charakters

27

„Religion in Geschichte und Gegenwart" 5 8 und circa 30 Buchbesprechungen 5 9 . V o n den ersten beiden Gruppen entfallen trotz einiger Überschneidungen 14 Titel auf Schriften philosophischen Charakters, 22 Titel in das Gebiet der Religionswissenschaft und neun Publikationen sind am ehesten als theologische oder religionstheologische Arbeiten anzusehen. Sechs weitere Titel sind mehr oder weniger bedeutende Zufallsarbeiten 60 . N a c h d e m im folgenden die drei großen Gruppen einer näheren bibliographischen Sichtung unterzogen worden sind, wobei ich mich an die chronologische Erscheinungsweise halten werde, wird sodann die Frage nach den Beziehungen und Abhängigkeiten dieser drei Forschungsgebiete untereinander und nach ihrer biographischen und bibliographischen Gewichtung beantwortet werden müssen. Hier sollen nur kurze, „steckbriefartige" Charakteristiken der einzelnen Publikationen gegeben werden, zumal die für diese Untersuchung wesentlichen Auführungen Wachs später eingehend dargelegt werden.

Die Schriften philosophischen Charakters In dieser G r u p p e sollen Schriften zusammengefaßt werden, die sich entweder ausschließlich mit philosophischen und philosophiegeschichtlichen Fragen beschäftigen und solche, die, wie es scheint, auch religionswissenschaftliche Problematik aufnehmen, diese jedoch vor allem unter philosophischen Aspekten behandeln. Im einzelnen gehören der chronologischen Reihenfolge nach hierher: 1925: „Wilhelm Dilthey über ,Das Problem der Religion'" ist eine — beinahe wie ein Lobgesang anmutende — Untersuchung der in Diltheys Lebensphilosophie angelegten Voraussetzungen für eine moderne religionswissenschaftliche Arbeit im allgemeinen, für ihre Aufgaben, Ziele und Methoden. 6 1 Von 58

2. A u f l a g e , Tübingen 1927 bis 1931.

59

Eine nicht ganz vollständige Aufstellung gibt Kitagawa in „Understanding and Be-

60

„ G e l e i t w o r t " , „ H e n r i de Montherlant", „Johann Gustav Droysen", „Religiöse

lieving", S. 1 9 4 - 1 9 6 . E x i s t e n z " , „ I m Rückblick aus den Vereinigten Staaten", „ D a s Selbstverständnis des modernen Menschen". 61

s. Z M R 40, S. 66.

28

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

ihm haben wir nach Wach einmal zu lernen, daß wir für die letzten Fragen auf uns selbst gestellt sind, zum anderen, daß die Wissenschaft mit allgemeinen Begriffen arbeiten muß, die zum Teil einen vorwissenschaftlichen Charakter besitzen und aus der Erfahrung des Lebens stammen. 6 2 Deshalb müssen die allgemeinen lebensphilosophischen Kategorien „eine Voraussetzung der geisteswissenschaftlichen, auch der religionswissenschaftlichen Forschung sein" 6 3 . Wach macht in diesem Aufsatz seine philosophischen Voraussetzungen besonders deutlich, die in der DiltheySimmelschen Lebensphilosophie wurzeln: „ D a s Erlebnis bleibt immer subjektiv: erst das im Nacherleben begründende Verstehen der religiösen Schöpfungen ermöglicht ein objektives Wissen von der Religion" 6 4 , wozu die Religionen dem „vergleichenden Verfahren" zu unterwerfen sind, „ u m das ihnen gemeinsame Wesen der Religion zu erfassen" 6 5 . 1926: „ D i e Typenlehre Trendelburgs und ihr Einfluß auf Dilthey" ist als eine philosophie- und geistesgeschichtliche Studie gedacht, zugleich aber auch als Einführung in eine der wichtigsten Aufgaben der Philosophie, „die sie nur im Zusammenhang mit der Geschichte wird lösen können, die Erarbeitung einer Theorie der Weltanschauung" 6 6 . Eine der wichtigsten, wenn auch nicht die einzige Form, in der sich eine Weltanschauung zum Ausdruck bringen läßt, ist die Philosophie. Ziel einer Theorie der Weltanschauung, die „die breiteste Basis in einer Aufklärung über die geschichtlichen Gedankenzusammenhänge und Systeme haben" muß, „die im Laufe der Zeiten an den T a g getreten s i n d " 6 7 , ist eine Gruppenordnung anhand von Ähnlichkeiten und Analogien, die zu einer wesentlichen Reduzierung der großen Zahl der Systeme führen wird und die sie schließlich zu Typen zusammenfassen kann 6 8 . In Auseinandersetzung mit Trendelburg und in Anlehnung an Dilthey versucht Wach eine solche Typologie zu entwickeln, bleibt aber bei Vorüberlegungen stehen, indem als Ergebnis festgehalten

62

s. ebda, S. 78.

63

ebda, S. 79.

64

ebda.

65

ebda, S. 80.

66

Wach, „Typenlehre . . . " , S. 4.

67

ebda, S. 6.

68

s. ebda, S. 7.

Die Schriften philosophischen Charakters

29

wird, daß es „das letzte Prinzip für die Typisierung ist", ihre Struktur zu ergründen und zu beschreiben69. Insgesamt gesehen ist dieses Büchlein eine Wiedergabe Diltheyscher Gedanken in ihrer kritischen Anwendung70 auf Trendelburg. 1927: „Idee und Realität in der Religionsgeschichte". Auch dieser Aufsatz ist im Grunde eine geschichtsphilosophische Untersuchung. Wach geht von der Annahme aus, religiöse Erlebnisse ließen sich nicht im Sinne einer lückenlosen Kausalgesetzlichkeit erklären, weshalb der Ubergang einer Idee in die Realität als ein Einbrechen zu verstehen sei 71 . Am Beispiel des Islam sucht er zu exemplifizieren, daß „die Entwicklung der Weltreligionen" uns „im großen zeigt, was soviele geringere religiöse Bildungen im kleinen erkennen lassen: das Schicksal einer Idee in der historischen Realität" 72 . Das Schicksal einer religiösen Idee in ihrer historischen Entwicklung ist, daß sie, indem sie sich zu bestimmten Formen verfestigt, sich von ihrer Idealität entfernt73. Hier nimmt Wach die lebensphilosophische Erkenntnis vom Wesen der religiösen Idee auf, die qua Religiosität als Kategorie des Lebens die Welt der Religion bildet, bzw. in Gang setzt. 1927: Auch in „Jakob Burckhardt und die Religionsgeschichte" steht Wachs theoretisch-systematisches Interesse im Vordergrund. Dieses findet er bei Burckhardt wieder: „Ein systematisches Interesse war es, das den Forscher immer wieder nach dem Konstanten und Typischen fragen ließ" 7 4 , und besonders wichtig für ihn ist, daß „die systematische Fragestellung durchaus auf empirischen Boden" als möglich erachtet wird 75 . Die Religionstypen Burckhardts, die Religion der Bangigkeit, die Religion der Kontemplation, die des Weltlebens, die National- und die Weltreligion, werden auf dem Hintergrund des Burckhardtschen Glaubenssatzes diskutiert, daß „jede Religion eine Tendenz zur Beherrschung des Lebens in seiner 69

ebda, S. 32.

70

ebda, S. 18, S. 20.

71

ZThK N F 8, S. 335.

72

ZThK N F 8, S. 334.

73

ebda, S. 363 und 364.

74

2 M R 42, S. 98.

75

ebda.

30

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

Ganzheit" innewohnt, und daß sich „in den einzelnen Religionen diese Herrschaft mehr oder weniger ausgebildet findet" 7 6 . Wach glaubt, noch viele Gesichtspunkte Burckhardts für die Religionswissenschaft fruchtbar machen zu können 7 7 , verliert ihn in seinen späteren Werken aber aus dem Blick. 1929: „Die Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts und die Theologie der Geschichte" ist wahrscheinlich eine Vorarbeit zum zweiten Band des „Verstehens". Es handelt sich um eine philosophiegeschichtliche Studie, die sich bedingt mit E. Troeltschs Geschichtsphilosophie bzw. Geschichtstheologie innerhalb philosophiegeschichtlicher Zusammenhänge auseinandersetzt. Die Untersuchung zielt auf die Unterscheidung von historischer Forschung und Sinndeutung der Geschichte: „Wir sind . . . vielfältig bedingt in unserem Auffassen und Erkennen — prinzipiell erkenntnislogisch — und psychologisch, aber auch zeit-räumlich kulturell, ethnisch und soziologisch — aber das hebt das Ideal einer relativen Objektivität für die Wissenschaft nicht auf" 7 8 , „denn sinnvoll und legitimiert ist unter allen Umständen die Forschung, in der der Historiker strebt, mit treuester Hingabe an seine Quellen ihren Sinn zu erheben. Hier gibt es Verbindlichkeit, hier gibt es eine — relative — Objektivität" 7 9 . Hier geht es Wach also vor allem um das Verstehen als solches. 1929: „Zur Beurteilung Friedrich Schlegels" ist eine Auseinandersetzung mit J. Körner und dessen Schlegel-Interpretation. Als teilweise sehr polemisch geführte Selbstverteidigung Wachs 8 0 ist es zugleich der Versuch einer Ehrenrettung der Schlegelinterpretation Diltheys 8 1 . Im letzten geht es wiederum um die Verstehensproblematik und Wachs Deutung und An-

76

ebda, S. 112.

77

ebda, S. 1 1 5 : Wach scheint v o r allem in seiner Religionssoziologie, in den Uberlegungen über das Verhältnis von Religion und Staat von B. beeinflußt zu sein, (vgl. ebda, S. 1 1 0 f . ) .

78

Hist. Zeitschrift 142, S. 13.

79

ebda, S. 14.

80

Philos. Anzeiger 4, S. 2 0 f f .

81

ebda, S. 16 ff.

Die Schriften philosophischen Charakters

31

wendung derselben: Verstehen ist die kunstmäßig-systematische Grundlage aller Geisteswissenschaft als Inbezugnahme und intuitive Nachbildung. 1930: „Philosophische Strömungen der Gegenwart in Frankreich" ist, wie manch anderer vom Titel her selbständig anmutender Aufsatz Wachs, eine Buchbesprechung von J. Benrubis Buch gleichen Titels. Wach sucht darin vergeblich nach den Ansätzen einer Weltanschauungslehre 82 und bemängelt, daß Benrubi keine „Typologie des Philosophierens" zu geben versucht hat 83 . 1932: „Typen der Anthropologie" ist ein durch M. Schelers „Vom Ewigen im Menschen" 8 4 angeregter Beitrag für die Festschrift Ludwig Klages zum 60. Geburtstag 85 , in dem Wach die Anthropologie als (relgions-)philosophische Aufgabe charakterisiert: „. . ., daß das Thema der Philosophie die großen Existenzprobleme des immanenten und transzendenten Seins sind, das lernt die abendländische Moderne erst wieder." 8 6 Anhand des Menschenbildes der griechischen Antike (und ihrer Wirkung auf die Moderne), der Philosophie der drei Offenbarungsreligionen und des Kosmozentrismus der östlichen Religionen sucht Wach skizzenhaft Typen des Philosophierens zu entwickeln. Das geschieht unter der Voraussetzung, daß die Philosophie der Religion entstammt und nur von dort ihr Menschenbild erklärbar ist 87 . 1932: „Typen religiöser Anthropologie". Ziel dieses kleinen Buches, das aus dem eben besprochenen Aufsatz hervorgegangen ist, ist es, „die wichtigsten im Denken der Völker und Zeiten hervorgetretenen Typen zu vergleichen" 88 . Wach entwickelt eine Typologie theozentrischer und anthropozentrischer Weltbilder wiederum am Beispiel griechischen, östlichen und christlichjüdisch-islamischen Denkens. 82

Neue Jahrbücher f ü r Wissenschaft und Jugendbildung 6, S. 283.

83

ebda, S. 285.

84

Leipzig 1923.

85

„Die Wissenschaft am Scheidewege von Leben und Geist", Leipzig 1932.

86

ebda, S. 240.

87

s. ebda, S. 243, 245, 246.

88

Wach, „Typen religiöser Anthropologie", S. 7.

32

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

1934:

„ D a s Problem des Todes in der Philosophie unserer Zeit" ist eine kulturphilosophische und philosophiegeschichtliche Betrachtung verschiedener Auffassung vom T o d e . Dieses kleine Buch sucht die Reflexion des Todesproblems bei Schopenhauer 8 9 , Feuerbach 9 0 , Simmel 9 1 und Heidegger 9 2 auf die jeweilige Grundkonzeption zurückzuführen, um damit die „immer stärker fortschreitende Weltanschauungsdifferenzierung" 9 3 in diesem speziellen Rahmen zu verdeutlichen. 1935:

„Eine neue katholische Philosophie der Religionsgeschichte" 9 4 ist eine „ g r o ß e " Buchbesprechung. Wach setzt sich mit O . Karrers „ D a s Religiöse in der Menschheit und das Christentum" 9 5 auseinander und bemängelt besonders die nicht gelungene „Begrenzung der religionswissenschaftlichen Methode. N u r was geglaubt worden ist, nicht was geglaubt werden soll, kann sie uns erschließen." 9 6 Als Grundhaltung des Religionswissenschaftlers fordert er: „Zwischen dogmatischer Verhärtung und Selbstgerechtigkeit und charakterloser Verschwommenheit liegt unseres Erachtens die des eigenen Wertes froh bewußte, darum für Anerkennung fremden Wertes stets bereite Gesinnung, aus der sinnvoll und fruchtbar religionswissenschaftliche Arbeit w ä c h s t " 9 7 , was seinen erfahrungsphilosophischen Ansatz bereits mehr als deutlich werden läßt. 1946:

„ O n U n d e r s t a n d i n g " 9 8 ist eine englische Zusammenfassung seiner vor allem in Band 2 des „Verstehens" dargelegten Auffassungen, wobei er wieder speziellen Bezug auf Schleiermacher und Dilthey nimmt und A. 89

Wach, „ D a s Problem des T o d e s " , S. 8ff.

90

ebda, S. 14 ff.

91

ebda, S. 29ff.

92

ebda, S. 39 ff.

93

ebda, S. 6.

94

Z M R 50, S. 3 7 5 - 3 8 5 .

95

Freiburg 1934.

96

Z M R 50, S. 382.

97

ebda, S. 385.

98

in: A .

A . Roback (ed.), „ T h e Albert Schweitzer Jubilee B o o k " ,

(Mass.) 1946, S. 1 3 1 - 1 3 6 .

Cambridge

Die Schriften philosophischen Charakters

33

Schweitzer unter die „Meister des Verstehens" einordnet, zumal bei ihm das Verstehen das Resultat war, „not only of a great and inclusive mind but of an equally great and cultivated heart" 9 9 .

1947: „The Role of Religion in the Social Philosophy of Alexis de Tocqueville" 1 0 0 ist eine philosophiegeschichtliche Untersuchung, die den Versuch einer werkimmanenten Interpretation unternimmt. Wach geht es um die Herausarbeitung zweier Weltanschauungstypen 101 in ihren Auswirkungen auf soziale und politische Zustände, die sich auf den Grundgegensatz theozentrisch — anthropozentrisch reduzieren lassen, also um ein aus früheren Werken bereits bekanntes Problem.

1952: „Radhakrishnan and the Comparative Study of Religion" ist als religionswissenschaftlicher Beitrag zu einem Sammelwerk über die Philosophie Radhakrishnans 102 gedacht. Wach setzt sich darin vor allem mit religionsphilosophischen Denkmöglichkeiten des allgemeinen Offenbarungsbegriffes auseinander 103 und stellt den synkretistischen Bestrebungen Radhakrishnans den Gedanken entgegen, daß die jeweils unterschiedlichen (räumlich und zeitlich bedingten) Offenbarungen „universale Möglichkeiten" 1 0 4 sind. Dennoch betont er die geistige Verwandtschaft zwischen sich und Radhakrishnan 1 0 5 . Absichtlich aus der chronologischen Reihenfolge der Schriften philosophischen Charakters habe ich das umfangreichste und bedeutendste philosophie- und geistesgeschichtliche Werk Wachs „Das Verstehen" herausgenommen. Für diese Herausnahme sprechen vielerlei Gründe: zuerst äußerliche, denn einmal erschien es in drei Bänden, verteilt über einen

99 100

ebda, S. 133. in: Journal of the History of Ideas 2, S. 74 - 9 0 .

101

ebda, S. 82 ff.

102

in: Paul Arthur Schilpp (ed.), „The Philosophy of Sarvepalli Radhakrishnan", New Y o r k 1952, S. 4 4 5 - 4 5 8 .

103

ebda, S. 449f.

104

ebda, S. 452.

105

ebda, S. 457.

34

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

Zeitraum von sieben Jahren 1 0 6 und ist doch als bibliographische Einheit anzusehen, zum andern ist es bei weitem das umfangreichste Werk Wachs überhaupt 1 0 7 ; sodann inhaltliche, denn es ist unmöglich, einmal die Vielgestaltigkeit der dargestellten hermeneutischen Systeme in unserem Zusammenhang auch nur skizzenhaft wiedergeben zu wollen, zum anderen werden wir uns mit den genuin Wachschen Aussagen in anderem Zusammenhang zu beschäftigen haben 1 0 8 ; und schließlich wissenschaftsgeschichtliche und erkenntnistheoretische, denn einerseits ist die Hermeneutik das zentrale Anliegen der wissenschaftlichen Tätigkeit Wachs und damit von eminenter Wichtigkeit für sein wissenschaftliches Selbstverständnis, seine wissenschaftliche Aufgabenstellung und Entwicklung, andererseits scheint diese groß angelegte hermeneutische Besinnung und Selbstbesinnung keine literarisch greifbaren Ergebnisse für eine religionswissenschaftliche Methodenlehre auszutragen. Damit deuten wir an, was uns als eines der Hauptprobleme bei Wach beschäftigen wird, daß er nämlich keinen Ubergang von der Theorie zur Praxis zu finden vermag. Das Aufregende und Große an dieser Trilogie „Das Verstehen" aber ist, daß Wach als erster und einziger seiner Zeitgenossen das Verstehen als eigenständiges Problem in Angriff nimmt. Das wird schon deutlich, wenn er es mit dem Grundgedanken: Verstehen sei eine eindeutig philosophische Aufgabe 109 , eröffnet. Bevor wir jedoch die drei Bände gemeinsam einer kurzen, kritischen Würdigung unterziehen, sollen sie einzeln bibliographisch charakterisiert werden. 1926 erscheint der erste Band: „Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jahrhundert. I.: Die großen Systeme". Wach will seine Leser mit den wichtigsten Beiträgen zum Verstehensproblem und seiner Entwicklung vor allem von der Theologie her, aber in enger Verbindung mit der (Religions-)Philosophie bekannter machen. Nach einer 30-seitigen, vor allem wissenschaftsgeschichtlichen Einleitung folgt die Darstellung der hermeneutischen Lehren, der Vorläufer Schleiermachers, F. Asts 1 1 0 und A. Wolfs 1 1 1 . Daran schließen sich drei 106

I 1926, II 1929, III 1933.

107

mit insgesamt 1021 Seiten!

108

s. u. Kapitel „Die Verschmelzung dieser drei Referenzrahmen in Wachs ,Verstehenslehre'."

109

I, S. I I I .

110

I, S. 31 ff.

111

I, S. 62 ff.

Die Schriften philosophischen Charakters

35

umfangreiche Kapitel an, die die Hermeneutik Schleiermachers 112 , Boeckhs 1 1 3 und W. v. Humboldts 1 1 4 wiedergeben, denen Wach in systematischer Hinsicht entscheidende Bedeutung beimißt. Aus wissenschaftstheoretischem und systematischem Interesse also verfaßt er dieses Werk und gibt als Ziel aller drei Bände an: „So haben wir uns hier unser bescheidenes Ziel gesetzt: eine Anzahl solcher Gedanken geistesmächtiger Männer über das Verstehen zu sammeln und wiederzugeben. Nicht ihre Praxis wollen wir diesmal untersuchen, sondern die Theorie interessiert uns. Theorie nämlich, um das heute wieder einmal auszusprechen, ist nicht nur um der Praxis willen da, sondern trägt ihren Wert in sich. Davon wird man allerdings jemanden, der das nicht zugeben will, schwer überzeugen können. U m schließlich noch einmal ganz ausdrücklich zu sagen, was eine Theorie des Verstehens eigentlich soll und will, möchte ich im Sinne ihres unvergeßlichen Förderers und Vorkämpfers, des Philosophen Wilhelm Dilthey, darauf hinweisen, daß sie das gegebene Zwischenglied zwischen der Arbeit der einzelnen Geisteswissenschaften und der Philosophie ist, einer der Pfeiler für ihre Grundlegung" 1 1 5 . Wach geht es demnach mehr um die Begründung als um die Durchführung seiner Wissenschaft. 1929 erscheint der zweite Band: „Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jahrhundert. II.: Die theologische Hermeneutik von Schleiermacher bis Hofmann". Diesem Band stellt Wach eine 45 Seiten lange Einführung voran, in der er seine Aufgabe einzugrenzen und zu rechtfertigen sucht. In diesen Passagen finden sich die eigenen Überlegungen Wachs zum Verstehensproblem. Sie wollen freilich weder der Entwurf einer Verstehenslehre noch eine solche sein, obwohl ihm diese Aufgabe ursprünglich im Hinblick auf die Religionswissenschaft vorgeschwebt hatte 116 . Der fast weitere 50 Seiten umfassenden wissenschaftsgeschichtlichen „Einleitung" 1 1 7 folgt die Darstellung einer Vielzahl 1 1 8 theologischer Hermeneutiken bzw. hermeneutischer Überlegungen. 112

I, S. 83 ff.

113

I, S. 168 ff.

114

I, S. 227ff.

115

I, S. 11/12.

116

s. seine immer wiederkehrende diesbezügliche Forderung in allen bis zu dieser Zeit erschienen größeren Publikationen

117

II, S. 4 5 - 9 7 .

118

Insgesamt werden 26 „Hermeneutiken" dargestellt.

36

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

1933 erscheint der dritte Band: „Das Verstehen. Grundzüge der Geschichte einer hermeneutischen Theorie des 19. Jahrhunderts. III.: Das Verstehen in der Historik von Ranke bis zum Positivismus." Dieser dritte Band ist der sowohl innerlich als auch äußerlich heterogenste dieser Trilogie. Er beginnt mit einer fast 90-seitigen Einleitung, in der Wach die später näher beleuchteten hermeneutischen Systeme diskutiert und in Beziehung zu weniger bedeutenden Historikern setzt. Sodann werden — ähnlich wie im ersten Band Schleiermacher und Boeckh — Ranke 119 , Droysen 1 2 0 und interessanterweise Steinthal 121 ausführlich dargelegt, bevor dieser Band ziemlich abrupt mit der archäologischen Hermeneutik endet. Durchgehalten hat Wach seine grundlegende Ansicht, daß „die Geschichte der Hermeneutik einer Disziplin . . . immer auch . . . eine des jeweiligen Verhältnisses dieser zur Philosophie" 122 ist, obwohl er in diesem Band, der dem Verstehen in der Historik gewidmet ist, einschränkt: „Philosophisches und historisches Interesse gehen von Haus aus in verschiedener Richtung; wie immer man sein Wesen und seine Aufgabe jeweils fasse — der der Ergriindung des Werdens in der Erscheinung zugewandte Historiker und der letztlich nach dem Sinne des Seienden fragende Philosoph wollen Verschiedenes." 123 Wach hat mit seinem „Verstehen" einen Beitrag zu geben versucht zu dem, was er schon im Vorwort seiner Dissertation als programmatische Forderung und Aufgabe seiner Zeit formuliert hatte, nämlich „das wachsende Bedürfnis nach philosophischer Begründung und Vertiefung in den einzelnen Geisteswissenschaften" 124 durch hermeneutische Theorien zu befriedigen. Sein Versprechen, das er in seiner „Religionswissenschaft" gegeben hatte, „einen Beitrag zur Geschichte der hermeneutischen Theorie zu liefern" 1 2 5 , hat er mit diesem Werk eingelöst. Das Wachsche „Verstehen" ist die bedeutendste Monographie zur Geschichte der Hermeneutik überhaupt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ob noch ein vierter Band geplant war — wofür das abrupte Ende des dritten Bandes sprechen würde —, der aber infolge der politischen Umstände in Deutschland und der damit 119

III, S. 8 9 - 1 3 3 .

120

III, S. 1 3 4 - 1 8 8 .

121

III, S. 2 0 6 - 2 5 0 .

122

III, S. 4.

123

III, S. 5.

124

Wach, „ D e r Erlösungsgedanke", S. I.

125

Wach, „Religionswissenschaft", S. 139 A n m . 1.

Die Schriften philosophischen Charakters

37

verbundenen Ausbürgerung Wachs nicht mehr entstehen konnte, entzieht sich unserer Kenntnis. Wir halten ein solches oder ähnliches Vorhaben aber für sehr wahrscheinlich, da Wach außer in den Aufsätzen zur Hermeneutik heiliger Schriften 1 2 6 keinen eigentlichen Schluß aus diesem dreibändigen Werk zieht. Denn ursprünglich hatte er sich vorgenommen, aus dem inneren Sinn und dem Wesen des Verstehens überhaupt, unter Einbeziehung der Geschichte der Hermeneutik, den Geisteswissenschaften und speziell der Religionswissenschaft eine eigene methodische Grundlegung zu geben 1 2 7 . Wenn Wach auch keine in sich geschlossene Hermeneutik 1 2 8 der Religionswissenschaft gegeben hat, so beherrscht doch die Verstehensproblematik seine gesamte religionswissenschaftliche Arbeit, und er unternimmt immer neue Anläufe zu einem besseren und integraleren Verstehen von Religion. D i e im George-Kreis lebendige, dort vor allem von der Ästhetik getragene Frage des Menschen- und Geistverstehens hat Wach in wissenschaftliches Denken umzusetzen gesucht. Verstehen ist für ihn das eigentliche Problem des Philosophierens und zugleich der methodische Grundsatz aller Wissenschaft v o m Geist und seinen Äußerungen. Er hat damit die gesamte moderne hermeneutische Fragestellung in Gang gesetzt, ohne aber selbst je zu einer ausgeformten hermeneutischen Theorie zu gelangen. Wie in den meisten hier skizzierten Schriften philosophischen Charakters, die im Grunde philosophie- und geistesgeschichtliche Abhandlungen sind, wird der Einfluß Diltheys 1 2 9 und Simmeis auf Wach sich auch in den anderen Bereichen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit deutlich hervorheben, was ebenfalls die Untersuchung des wissenschaftstheoretischen Referenzrahmens und der Durchführung seiner Religionswissenschaft noch näher beweisen wird. Denn aus der (religiösen als) allgemein menschlichen Erfahrung erwächst für ihn das Verstehen als Nachbilden und intuitives Erfassen. Philosophie ist für Wach die Wissenschaft von den Erfahrungsund Lebenszusammenhängen des Menschengeistes, die die Selbständigkeit und Eigengesetzlichkeit der Welten des Geistes zu ergründen und unter Beweis zu stellen hat. 126

s. u.

127

Dieses Vorhaben spricht er mehrmals in der „Religionswissenschaft", besonders in der Einleitung, an.

128

Im Artikel „ V e r s t e h e n " in R G G 2 Bd. 5, Sp. 1570ff. verweist Wach ausdrücklich auf Dilthey und Simmel, die es fruchtbar zu machen gelte.

129

4

Dilthey ist z. B . auch der dritte Band des „Verstehens" gewidmet. Flasche: Joachim Wach

38

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

Die Schriften religionswissenschaftlichen Charakters In dieser Kategorie sollen diejenigen Schriften Wachs zusammengefaßt werden, die ein Beitrag zur Religionswissenschaft sein wollen. In seinem Sinne gehören hierher: religionshistorische und religionssystematische Publikationen, wobei Wach religionssoziologische und religionspsychologische Fragestellungen der Religionssystematik zurechnet 130 . Dieser Bereich des Wachschen Werkes ist vielfältiger, wenn auch nicht umfangreicher, als der eben vorgestellte. Ohne Übersetzungen und Wiederabdrucke können zu den Schriften religionswissenschaftlichen Charakters sieben eigenständige Publikationen, 14 Aufsätze und Artikel gezählt werden. Hinzuzurechnen sind 19 der 21 Artikel in der zweiten Auflage der R G G 1 3 1 , die zumeist als Kurzauszüge aus seinen verschiedenen anderen Schriften anzusehen sind und deshalb hier nicht gesondert besprochen werden sollen 1 3 2 . Auch hier halten wir uns an die chronologische Erscheinungsfolge, die bereits einen Eindruck von der äußeren Entwicklung des Gesamtwerkes Wachs vemittelt. 1922: „Der Erlösungsgedanke und seine Deutung" ist die gedruckte Fassung der Dissertation, deren ursprünglicher Titel „Grundzüge einer Phänomenologie des Erlösungsgedankens" war. Das Ziel Wachs ist es, „nicht neues Material" beizubringen, „sondern einige Zusammenhänge . . . in der wechselseitigen Beleuchtung von Philosophie und Religionswissenschaft" 133 aufzudecken. Das Buch umfaßt zwei Kapitel, die ohne eigentliche Verbindung wie zwei völlig selbständige Abhandlungen nebeneinanderstehen. In diesem ersten Werk deutet sich damit schon die ganze Problematik seines wissenschaftlichen Arbeitens an: Es gelingt ihm nicht, seine theoretischen Überlegungen am empirischen Material zu verdeutlichen, oder dieses anhand der gewonnenen methodischen Einsichten aufzuschlüsseln. So findet das erste Kapitel des „Erlösungsgedankens", „Über psychologische Deutung der 130

s. Kapitel „Die Einteilung der Religionswissenschaft".

131

Tübingen 1 9 2 7 - 3 1 .

132

Falls sie wesentlich neue Aspekte oder Variationen bringen sollten, werden sie

133

W a c h , „Erlösungsgedanke", Vorwort.

später Berücksichtigung finden.

Die Schriften religionswissenschaftlichen Charakters

39

Persönlichkeit und des Ausdrucks. Ichbejahung und Ichverneinung" 134 , keine Anwendung auf das zweite, „Der Erlösungsgedanke in der Religionsgeschichte" 1 3 5 . Die im ersten Kapitel herausgearbeiteten polaren Typen treten im zweiten unter der Fülle des ausgebreiteten religionshistorischen Materials völlig in den Hintergrund. Hier werden die psychologischen Kategorien, die zum Typus der Ichbejahung und Ichverneinung führten, zugunsten von sachlichen, religionsvergleichenden Kategorien (Gestalt des Erlösers, Erlösungsprozeß, Mittel und Wege, Ziel der Erlösung) aufgegeben und „typische Formen" des Erlösungsgedankens entwickelt, der „entsteht" und „sich nun seinerseits theoretisch und praktisch in der Stellungnahme zur Welt, zur Kultur und zum Leben" 1 3 6 auswirkt. Dabei wird in dieser Arbeit Wachs schon deutlich, daß er Religionswissenschaft auf lebensphilosophischer Basis zu treiben sucht: Die Psychologie bildet die empirische Vorstufe, wo aus der gemein menschlichen Erfahrung Typen des Lebensgefühls, der Weltanschauung oder des Lebensideals gewonnen werden, die als empirische Grundstruktur der Verstehensarbeit im Bereich der religiösen Ausdrucksformen dienen sollen. Diese Grundeinstellung, die Wach hier — wenig gelungen — am Material vorführt, wird auch seine weiteren, mehr theoretischen Ausführungen zur Religionswissenschaft prägen.

1923: „Zur Methodologie der allgemeinen Religionswissenschaft" 137 ist Wachs erster Entwurf zu einer „religionswissenschaftlichen Verstehenslehre": „Die Voraussetzung für alle religionswissenschaftliche Forschungsarbeit ist die Uberzeugung von der Möglichkeit, fremde Religiosität irgendwie zu verstehen. Jeder, der sich mit Problemen beschäftigen will, die die Erkenntnis religiöser Erscheinungen und Formen aufgibt, sieht sich vor die Alternative gestellt, entweder prinzipiell eine adäquate Erfassung des Sinnes andrer Religionen für erreichbar zu halten oder aber von vornherein auf solche adäquate Erfassung zu verzichten." 1 3 8 Dieser Artikel ist eine Vorarbeit, vielleicht auch ein zusammengefaßter Vorabdruck seiner Habilitationsschrift. Er setzt sich vor allem mit dem Verhältnis von Form und 134

ebda, S. 1 - 4 0 .

135

ebda, S. 4 1 - 1 0 1 .

136

ebda, S. 43.

137

Z M R 38, S. 3 3 - 5 5 .

138

ebda, S. 33.

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Joachim Wach als Lehrer und Forscher

Ausdruck auseinander, auf das Wach „lebensphilosophische Kategorien" anzuwenden sucht. Deshalb fordert er hier bereits für die Religionswissenschaft die Erarbeitung einer Typologie, die die Einzelerscheinung vom jeweiligen Zentrum der Gesamterscheinung her zu erfassen hat. 139 1923: „Bemerkungen zum Problem der ,externen' Würdigung der Religion" 140 ist ein weiterer Aufsatz, mit dem Wach versucht, Diltheysche Kategorien in die Religionswissenschaft einzuführen, und ist somit eine charakteristische Vorarbeit für seine Habilitationsschrift. Auch hier steht die Verstehensproblematik in historischer und systematischer Hinsicht im Mittelpunkt, begriffen als historische und ästhetische Würdigung der Religion. Ebenso wie der vorige wird uns auch dieser Aufsatz in der eigentlichen Darstellung der Wachschen Religionswissenschaft eingehender beschäftigen müssen. 1924: „Religionswissenschaft. Prolegomena zu ihrer wissenschaftstheoretischen Grundlegung" ist Wachs Habilitationsschrift, mit der wir uns später sehr ausführlich zu befassen haben. In ihr stellt er sich drei Aufgaben, die er im Vorwort wie folgt faßt: „Es lag mir am Herzen, zunächst den empirischen Charakter unserer Wissenschaft nachzuweisen, dadurch die unerläßliche Trennung religionsphilosophischer und religionswissenschaftlicher Aufgaben in die Wege zu leiten und der allgemeinen Religionswissenschaft ihre Gleichberechtigung neben den übrigen empirischen Geisteswissenschaften zu sichern. . . . Sodann eine Scheidung von Religionsgeschichte und systematischer Religionswissenschaft vorzubereiten, die vom methodischen Bewußtsein vollzogen und von der praktischen Forschung durchgeführt werden müßte. . . . Schließlich sollten die Grundlinien der systematischen Religionswissenschaft gezeichnet werden, wobei es sich allerdings nur um eine Vorarbeit handeln konnte, die möglichst bald durch neue Untersuchungen zu erweitern und zu vertiefen wäre." 1 4 1 Im eigentlichen geht es Wach um systematische Grundlegung, denn „die Religionswissenschaft ist heute noch systematisch durchaus ungenügend fundiert" 142 . Den von ihm 139 140 141 142

s. ebda, S. 52/53. ZMR 38, S. 1 6 1 - 1 8 3 . Wach, „Religionswissenschaft", S. IV. ebda, S. 2.

Die Schriften religionswissenschaftlichen Charakters

41

eingeschlagenen Weg skizziert er folgendermaßen: „Nicht allein von der Philosophie her, sondern aus den Einzelwissenschaften heraus wurde die Durchdenkung vorgenommen, die sich als historische oder als methodologische oder logische Arbeit darstellt" 1 4 3 . Als sinnvollste, „höchste und wichtigste — und daher letzte — Aufgabe" 1 4 4 der Religionssystematik fordert er, daß im Mittelpunkt stehen muß „die Frage nach der Bildung der Religionen, die voll beantwortet werden kann nur im Zusammenwirken von Religionsgeschichte und Religionssystematik, zu denen sich dann auch die religionsphilosophische Betrachtung gesellen m u ß " 1 4 5 . Soviel soll an dieser Stelle zur Charakteristik dieses Buches genügen, das eine der Grundlagen unserer Untersuchung bilden wird. 1924: ,,,Nur'. Gedanken über den Psychologismus." 1 4 6 Im Mittelpunkt dieser wenigen Seiten steht die Forderung nach einer „Kritik der psychologischen Erkenntnis" 1 4 7 , da im Verstehensvorgang „die genetische Ableitung einer objektiven geistigen Erscheinung . . . nicht die primäre, sondern eine sekundäre Aufgabe" 1 4 8 ist. Vielmehr ist der Mensch „ein organisches Ganzes, eine Totalität" 1 4 9 und nicht die Summe seiner Gefühle und sollte als solch ganzer erforscht und vom Verstehen angenommen werden, „das auf das Zentrum der Erscheinung zielt" 1 5 0 . 1925: „Meister und Jünger. Zwei religionssoziologische Betrachtungen." In diesem Buch sind zwei voneinander fast unabhängige Betrachtungen zusammengefaßt. Der erste Teil ist ein Aufsatz aus dem Jahre 1922, geschrieben für die „Freideutsche Jugend" 1 5 1 , der zweite ging aus der Antrittsvorlesung hervor. Das eine ist eine intuitive Betrachtung des Verhältnisses Meister — Jünger und Lehrer — Schüler, das andere eine 143

ebda, S. 3.

144

ebda, S. 189.

145

ebda, S. 1 9 1 - 2 .

146

Z M R 39, S. 2 0 9 - 2 1 5 .

147

ebda, S. 210.

148

ebda, S. 211.

149

ebda, S. 211.

150

ebda, S. 215.

151

I, Heft 8/9.

42

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

Meditation über den „Sinn des Meisterlebens" 152 , die nicht „von den Verkündigungen der Meister handeln, sondern vom Sinn und Wert des Meisterlebens" 153 zeugen will. Darin gibt Wach eine fast volkstümlich anmutende Darstellung der „Meister" Buddha, Jesus, Empedokles und Sokrates und stellt sie in ihrer persönlichen Wirkung auf ihre Jünger dar. Aus den Haltungen der Jünger werden anschließend Typen des Jüngerseins abstrahiert, wobei sich der George-Kreis immer wieder über das dargebotene religionsgeschichtliche Material schiebt. 1925: „Mahäyäna, besonders im Hinblick auf das Saddharma-Pundarika-Sutra". Diese zu fast gleicher Zeit an drei verschiedenen Stellen erschienene Arbeit 1 5 4 will „eine Untersuchung über die religionsgeschichtliche Bedeutung eines heiligen Textes der Buddhisten" 155 sein. Wach wählt sich dafür die „Gleichnisse" im Saddharma-Pundarika, weil sie „von höchstem religiös-erbaulichen, sittlichen und ästhetischen Werte" 1 5 6 sind. Die von ihm angewandte Methode ist die einer intuitiven Schau. Der Grund, sich mit diesem Gebiet zu befassen, ist, „dem Studium des Mahäyäna-Buddhismus Freunde zu werben" 1 5 7 besonders, weil Wach selbst eine Affinität zu diesem Gegenstand spürt: „Wohl aber darf der Religionsforscher, den ein Phänomen aus seinem weiten Gebiet gepackt hat, versuchen, dasselbe in seiner Fülle und in seinem Reichtum zu zeigen und so andere an die Schätze heranzuführen, die in der Ausdrucks weit der Religion vielfach verborgen liegen" 1 5 8 . Aus dieser Affinität entspringt nach ihm die Fähigkeit, „der Erscheinung ihrem inneren Wesen und der Mannigfaltigkeit ihrer Ausdrucksformen nach gerecht zu werden" 1 5 9 . Wach glaubt, aus den Mahäyäna-Schriften „ein großes Maß von objektiver Religion" zu „spüren", das sich auch in der „ästhetischen Form" äußert 160 . Er ist überzeugt, die Religiosität des Mahäyäna-Buddhismus anhand seiner hei152

Wach, „Meister und Jünger", S. 17ff.

153

ebda, S. 17/18.

154

s. o.

155

Untertitel der Buchausgabe.

156

Wach, „Mahäyäna", S. 23.

157

ebda, S. 5.

158

ebda, S. 5.

159

ebda, S. 6.

160

s. ebda, S. 13.

Die Schriften religionswissenschaftlichen Charakters

43

ligen Schriften 161 fassen zu können. Wach arbeitet jedoch nicht direkt am Saddharma-Pundarika-Sutra, sondern aus Sekundärliteratur 162 . Aus dieser gewinnt er eine neue intuitive Gesamtschau 163 , wobei er demonstriert, was ihm die Dinge zu sagen vermögen. Nur so ist es zu verstehen, daß sich in der Darstellung des MahäyänaBuddhismus 164 Selbstbezüge aus dem „Erlösungsgedanken" und aus „Meister und Jünger" finden 165 . Der Mahäyäna-Buddhismus wird auf den Erlösungsgedanken reduziert, den Wach als dessen „Geist", „Wesen", als „sein Ideal" 1 6 6 „erspürt" hat. Als das „Zentralerlebnis des Mahäyäna" wird „die Erfahrnis, daß (ein) Gott ist" 1 6 7 und als sein „einer entscheidender großer Gedanke", daß „die Mahäyäna-,Götter' alle eins sind: Gnadenhilfe" 1 6 8 ausgebreitet. Dem Erlösungsgedanken wird anschließend noch im Reich der Philosophie des Mahäyäna nachgegangen 169 . Wach scheint den Mahäyäna-Buddhismus mehr als philosophisch begründete Weltanschauungslehre darstellen zu wollen, weniger das religiöse (Selbst-) Verständnis des Mahäyäna-Buddhisten, das sich auf eine Grundhaltung des Menschen zurückführen läßt. Ersteres scheint sein Hauptanliegen bei der Durchführung praktischer Religionswissenschaft zu sein.

1927: „Max Weber als Religionssoziologe" 170 erschien zuerst in der Festschrift für W. Goetz, dann nochmals als Anhang zu Wachs „Einführung in die 161

ebda, S. 9 : „ N u n sind ja aber auch Philosophie und Kunst etwas Sekundäres gegenüber der Religiosität des Mahäyäna die seine nährende Flamme bildet. Von ihr werden wir . . ., am besten aus den heiligen Schriften dieser Richtung Kenntnis gewinnen".

162

N e b e n H . Oldenburg, „ B u d d h a " , Stuttgart 1881; Koeppen, „Die Religion des Buddha",

I,

Bouddhisme,

1 8 5 7 / 9 , II,

1906;

benutzt

er besonders

de la Vallée-Poussin,

Opinions sur l'histoire de la Dogmatique"

1909 und

Beckh,

„ B u d d h i s m u s " 1 / 2 , Berlin 1 9 1 6 / 1 7 . 163

Als Grundlage seiner Komposition dienen: de la Vallée-Poussins, „Essai sur la légende du B u d d h a " ; Kern, „ D e r Buddhismus und seine Geschichte in Indien", dt. I 1882, Ii 1 8 8 4 ; W . Wasiljew, „ D e r Buddhismus", dt. Petersburg 1860.

164

Bis Seite 18 ist darüber nichts ausgesagt!

165

ebda, bes. S. 2 8 - 3 1 , 4 0 - 4 5 .

166

ebda, S. 18.

168

ebda, S. 38.

170

ebda, S. 37. 169

ebda, S. 4 3 - 5 9 .

S. 6 5 - 9 8 . In: „Kultur- und Universalgeschichte", S. 3 7 6 - 3 9 4 , wieder abgedruckt in der ,,Einführung". Dieser Abdruck wurde für unsere Arbeit benutzt.

44

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

Religionssoziologie" und wurde hier durch eine Reihe von Anmerkungen erweitert. Wach will nach den Gründen suchen, weshalb eine Wirkung Webers auf die Religionswissenschaft unterblieb, obwohl bei ihm „zum ersten Mal die Linien einer religionssoziologischen Systematik gezogen" 171 worden sind. Nach dem „Versuch", Weber in einen geistesgeschichtlichen Zusammenhang einzuordnen, daß nämlich Weber „auf einer breiten empirischen Basis" 172 die Linie von Marx und dem westlichen Positivismus einerseits, die historische Schule andererseits aufnimmt, kommt er zur Beurteilung Webers. Ihm hält Wach vor, daß er die außerchristlichen Religionen nicht wirklich einbezogen hat. Schwerwiegender aber ist, daß es „auch Max Weber . . . nicht gelungen" ist, „die religionssoziologische Fragestellung in voller Reinheit und Klarheit herauszustellen und gegen verwandte und benachbarte abzugrenzen" 173 . Das liegt nicht nur daran, daß Weber „gelegentlich einigermaßen willkürlich in der Terminologie vorgegangen ist" 174 , sondern hat vor allem sachliche Gründe. Einmal hat er „das spezifische Objekt der religionssoziologischen Forschung nicht scharf genug in seiner Eigenart erkannt" 175 , zum anderen aber stand er „dem Phänomen ,Religion' selbst nicht durchaus frei gegenüber" 176 , weshalb „er nicht ganz von der Schuld an der Verwirrung freizusprechen" ist, „die in terminologischer und sachlicher Hinsicht seitdem auf diesem Gebiete herrscht" 1 7 7 . Der Hauptvorwurf Wachs aber lautet: „Verhängnisvoll . . . ist es vor allem gewesen, daß Max Weber ... es .. . abgelehnt hat, die religiösen Erscheinungen, die er in den Kreis seiner Betrachtung zog, nach ihrer „Innenseite" zu betrachten oder mindestens eine solche Fragestellung anderen offen zu lassen, trotzdem gerade der verstehende Forscher doch eine jede Erscheinung auch auf ihre Selbstaussage und -auffassung hin zu prüfen haben wird, . . . die Berücksichtigung dieser „inneren" Seite ist eine notwendige Ergänzung und Korrektur der soziologischen Betrachtungsweise . . ," 1 7 8 . 171

Wach, „Einführung in die Religionssoziologie", S. IX.

172

ebda, S. 67.

173

ebda, S. 74.

174

ebda, S. 74.

175

ebda, S. 74.

176

ebda, S. 74.

177

ebda, S. 74.

178

ebda, S. 75.Diesen Vorwurf wiederholt Wach auf S. 93: „Daß auch hierbei

-

. . . — die innere (immanente) Sinndeutung ausgeschlossen erscheint, beeinträch-

Die Schriften religionswissenschaftlichen Charakters

45

Denn für Wach ist Religionssoziologie nicht eine „allgemeine Darstellung religionsgeschichtlicher Sonderprobleme, die an typischen Beispielen illustriert w e r d e n " 1 7 9 , auch nicht die Untersuchung von Verhältnissen zwischen Religion und Wissenschaft 1 8 0 , Religion und Wirtschaft 1 8 1 , sondern „ d i e Beziehung zwischen Religion und Gesellschaft" ist „ d a s eigentliche T h e m a der Religionssoziologie" 1 8 2 . Mit diesem Verständnis der Religionssoziologie bei Wach und seiner Anwendung werden wir uns später noch eingehend auseinanderzusetzen haben. 1929: „ U n d die Religionsgeschichte?" 1 8 3 ist eine Auseinandersetzung mit P. Althaus, speziell mit dessen in der gleichen Zeitschrift erschienenen Aufsatz „Mission und Religionsgeschichte" 1 8 4 , in dem dieser eine Theologie der Religionsgeschichte fordert. Wach setzt dieser Forderung die völlig unterschiedliche Aufgabenstellung beider Wissenschaften 1 8 5 entgegen 1 8 6 und verweist auf den neuen Charakter der modernen Religionswissenschaft, die nicht im entferntesten daran denke, die Theologie ablösen zu wollen: „ D i e Religionswissenschaft aber ist ein Forschungszweig, den man nicht nach einem konstruierten und veralteten Bild, das man sich von ihm macht, beurteilen sollte, sondern in seiner heutigen Gestalt, Bedeutung und Auswirkung erkennen muß, um ihn zu würdigen und in seiner Notwendigkeit zu verstehen." 1 8 7 tigt allerdings den Wert der in sich gewiß aufschlußreichen Analyse.", und S. 97: „ D a ß Max Weber bei seiner Analyse der spezifisch religiösen Organisation der Gesellschaft nicht genügend an die Grenzen der (religions-)soziologischen Betrachtungsweise denkt und damit die — notwendige — Ergänzung durch eine immanente Betrachtung ausgeschaltet wird, 179

ebda, S. 88.

180

s. ebda, S. 89f.

181

s. ebda, S. 91.

182

ebda, S. 90.

183

Zeitschr. f. Syst. Theol. 6, S. 4 8 4 - 4 9 7 .

184

ebda, 5, S. 5 5 5 - 5 9 0 und 7 2 2 - 7 3 6 .

macht sich hier sehr

fühlbar."

185

s. Kapitel „ D i e Selbständigkeit der Religionswissenschaft als Geisteswissenschaft."

186

Zeitschr. f. Syst. Theol. 6, S. 485 Anm. 3: „Religionskunde und Apologetik b z w . Missionstheorie sind zweierlei, wie gar nicht deutlich genug betont werden kann."

187

ebda, S. 497.

46

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

1930: „Zur Hermeneutik heiliger Schriften" 188 ist ein Thema, mit dem Wach sich häufiger beschäftigt hat, ohne jedoch über die in diesem ersten Aufsatz geäußerten Grundzüge später hinauszugehen 189 . Die Hermeneutik heiliger Schriften gehört für ihn in den Bereich der Auslegung von Geistesäußerungen überhaupt, schließt aber eine Modifikation der allgemeinen hermeneutischen Normen ein, da sich das Objekt durch den normativen Charakter „eben dadurch, daß er einen Imperativ der Lebensgestaltung in irgendeinem Sinne enthält" 190 , von den anderen Geistesäußerungen unterscheidet. „So wird also die Hermeneutik des heiligen Schrifttums von dem Grundsatz einer relativen Perspikuität auszugehen haben . . . sie hat eine doppelte Aufgabe: die Verteidigung der Möglichkeit eines Verständnisses überhaupt gegenüber der radikalen Skepsis einerseits, der rein formalistischen Behandlung religiöser Quellen und der Verkennung ihrer spezifischen Natur andererseits." 191 Somit ist auch das Interesse des Auslegers ein anderes, denn ein religiöser Text ist erst verstanden, wenn seine Intention erfaßt und zur Geltung gebracht ist. Was für den Theologen heißt, daß er den normativen Aspekt zu berücksichtigen hat, der Religionswissenschaftler aber interessiert ist „an der Erhebung des Sinnes aller jener Texte, denen eine Glaubensgemeinschaft religiösen Wert oder religiöse Bedeutung beilegt" 1 9 2 und deren generelle Bedeutung er zu erheben hat 193 . Im Grunde geht es hier um ein Sonderproblem der Anwendung des Verstehens. 1931: Die „Einführung in die Religionssoziologie" ist das Buch, das Wachs Ruf als Religionssoziologe begründete und mit dem wir uns später ausführlich zu befassen haben. Deshalb sei es hier nur in aller Kürze vorgestellt. Wach will „weniger das Wie als das Was der Religionssoziologie" 194 erörtern und 188

in: „Theologische Studien und Kritiken" 102, Festschrift für v. Dobschütz, S. 280-290.

189

s. „ D i e Auslegung heiliger Schriften", in: Actes du V

Congrès International

d'Histoire des Religions à Lund, 2 7 - 2 9 A o û t 1929, Lund 1930, S.

76-78;

„Interprétations of Sacred Books", in: Journal of Biblical Literature 55, S. 5 9 63. 190

Wach, „Die Auslegung heiliger Schriften", S. 76.

191

Wach, „ Z u r Hermeneutik heiliger Schriften", S. 288.

192

ebda, S. 282.

194

Wach, „Einführung in die Religionssoziologie", S. X .

193

s. ebda, S. 287.

Die Schriften religionswissenschaftlichen Charakters

47

legt trotzdem das Schwergewicht auf wissenschaftstheoretische Überlegungen. E r weist jeden Absolutheitsanspruch der soziologischen Betrachtungsweise zurück und bestimmt den Standort der Religionssoziologie folgendermaßen: „Daß man die Religion auch soziologisch untersuchen kann, daß man es soll ist unsere These: daß das auch nur die wichtigste, aufschlußreichste, gar die entscheidende Betrachtungsart dieses großen Phänomens sei, kann uns niemals einfallen zu behaupten. Die religionssoziologische Fragestellung ist eine Unterabteilung der religionswissenschaftlichen, sie ist wie diese ergänzungsbedürftig durch eine ,normative', durch die theologische, von dem Selbstanspruch der Religion ausgehende A r b e i t . " 1 9 5 Als eigentliches Thema weist er ihr die Untersuchung des wechselseitigen Verhältnisses und der gegenseitigen Einflüsse von Religion und Gesellschaft zu, da die geschichtlichen Religionen „theoretisch und praktisch eine sehr verschiedene Stellung zur Gesellschaft" 196 einnehmen. Zum Thema seiner Untersuchung macht er ausschließlich dieses Verhältnis: „Die Wechselwirkung zwischen Religion und Gesellschaft besteht nun, des näheren und systematisch betrachtet, erstens als Einfluß der Religion auf die Gesellschaft, und zwar zunächst in einer ganz bestimmten Einwirkung auf Gestalt und Charakter der gesellschaftlichen Organisationen, Formen und Bewegungen," 1 9 7 und zweitens „in der Schaffung neuer, spezifisch religiöser Organisation der Gemeinsamkeit." 1 9 8 Eine kurze Zusammenfassung dieser Einführung in die Religionssoziologie gibt Wach im gleichen Jahr nochmals im Artikel „Religionssoziologie" im „Handwörterbuch der Soziologie" 1 9 9 . 1931: „Das religiöse Gefühl" 2 0 0 ist ein Vortrag, der sich mit Siegmund Freud, dessen Auffassungen „Vom Werden, Wesen und Sinn der Religion und ihrer Stellung im Dasein" 2 0 1 auseinandersetzt. Auf einen längeren geistes195

ebda, S. X .

196

ebda, S. X I I .

197

ebda, S. 16.

198

ebda, S. 26.

199

hgg. von A. Vierkandt, Berlin 1931, S. 4 7 9 - 9 4 .

200

In: Henry E. Sigerist (ed.), „Das Problem der Kultur und die ärztliche Psychologie". Vorträge des Instituts für Geschichte der Medizin an der Universität Leipzig N r . 4, S. 9 - 3 3 .

201

ebda, S. 9.

48

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

geschichtlichen Abriß, der nicht Abhängigkeiten aufzeigen will, weil „der Aufweis der Verwandschaft der Denkstruktur, der Einstellung zum Phän o m e n " 2 0 2 viel entscheidender ist, folgt die Darstellung der Religionsauffassung S. Freuds 2 0 3 und deren Kritik 2 0 3 3 , wobei Wach ihn in die Nähe A. Feuerbachs rückt. Für die Unhaltbarkeit der Freudschen Theorien macht er zwei entscheidende Einwände geltend: Freud hatte keine intimeren Kenntnisse der Religionsgeschichte 204 , aber noch „problematischer ist der aus allem sprechende Mangel an Sensorium für religiöse D i n g e " 2 0 4 3 . In dieser Auseinandersetzung wird deutlich, daß für Wachs Religionswissenschaft das religiöse Erleben bzw. die religiöse Erfahrung (persönlicher Art!) eine Schlüsselfunktion innehat, wie noch zu zeigen sein wird. 1931: Bei „Ein Meisterstück der vergleichenden Religionsforschung" 205 handelt es sich um eine große Buchbesprechung, wie schon aus dem Untertitel „zu Rudolf O t t o : Indiens Gnadenreligionen", hervorgeht. Ihm weiß sich Wach in vielem verwandt. Der Schrift Ottos wird höchste Anerkennung zuteil, „einmal weil sie ein sehr wichtiger Beitrag zu der Methodik der vergleichenden Religionsforschung" 2 0 6 ist, weiter, „weil sie ein überaus bedeutsames Phänomen der außerchristlichen Religionswelt erhellt", und schließlich, „weil sie theologisch ganz außerordentlich aufschlußreich ist" 2 0 7 . Angelpunkt für Wachs Gefühle der Wesensverwandtschaft scheint zu sein, daß er bei Otto bestätigt findet, „daß man stets von der Intention der Religion, die man erforschen will, ausgehen müsse" 2 0 8 . In dieser Buchbesprechung wird einmal mehr Wachs lebensphilosophischer Ansatz der Religionswissenschaft deutlich, der vom empirischen Vorfeld der Psychologie durchzustoßen sucht zu Sinn und Intention der Erscheinungen 209 .

202

ebda, S. 10.

203

ebda, S. 17ff.

2033

ebda, S. 24ff.

204

ebda, S. 23.

204a

e b d a , S. 23.

205

In: Die christliche Welt 45, Sp. 2 0 - 2 5 .

206

Wachs Interesse geht immer mehr in diese Richtung!

207

a. a. O . , Sp. 20.

208

ebda, Sp. 21.

Die Schriften religionswissenschaftlichen Charakters

49

1935: „Sinn und Aufgabe der Religionswissenschaft" 210 ist, wie der Untertitel „Vom Verstehen fremder Religionen" zeigt, eine kleine wissenschaftstheoretische Abhandlung, die aus einem Vortrag in Weimar hervorgegangen ist 2 1 1 . Wach sucht zu verdeutlichen, daß sein Zentralanliegen und das der Religionswissenschaft ünerhaupt, das Verstehen fremder Religionen ist. Sie hat nach der Zentralidee und der Grundintention einer jeden fremden Religion zu suchen, die es zu erfassen und zu entfalten gilt. 2 1 2 Religionswissenschaft ist dann „lebendig, positiv, praktisch" 2 1 3 . Lebendig, weil sie sich des „dynamischen Charakters der Religion" und allen geistigen Seins 2 1 4 bewußt ist; positiv, denn „ihrer eigentlichen Intention nach . . . ist die Religionswissenschaft nicht wertauflösend, sondern wertsuchend" 215 ; und praktisch, denn „sie entwickelt und vertieft den sensus numinis, das religiöse Gefühl und Verständnis, arbeitet damit der tieferen Auffassung des eignen Glaubens vor und läßt neu und umfassend erleben, was Religion ist und bedeutet" 2 1 6 . Hier steht also der lebensphilosophische Grundsatz, „für das Leben aus dem Leben", im Mittelpunkt der Überlegungen Wachs, was in bezug auf die Intensivierung der eigenen Religiosität bereits auf spätere Leitgedanken seines Werkes hinweist. 1937: „Der Begriff des Klassischen in der Religionswissenschaft" 217 ist ein Versuch, aus dem Begriff des Klassischen „Prinzipien der Ordnung, Gliederung und Bewertung zu finden, die es erlauben, die unendliche Fülle des Materials . . . der Religionskunde . . . zu bewältigen" 218 , zumal dies der Begriff des Charakteristischen nicht in genügender Weise zu leisten vermag 2 1 9 . Denn der Begriff des Klassischen, so meint Wach, drückt „nicht 210

Z M R 5 0 , S. 1 3 1 - 1 4 7 .

211

ebda, S. 131 A n m . 1.

212

ebda, S. 140f.

213

ebda, S. 133.

214

ebda.

21s

ebda.

216

ebda, S. 134.

217

In:

„Quantulacumque.

Studies

Colleagues and Friends", S. 87—97. 218

ebda, S. 87.

219

s. ebda, S. 89.

Presented

to

Kirsopp

Lake

by

Pupils,

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

50

nur das Repräsentative aus, sondern schließt etwas Normatives ein" 2 2 0 . Als Bezugspunkt dieser Norm gibt Wach letztlich das Gefühl 2 2 1 an. Denn Kriterien des Klassischen sind „Größe und Tiefe der religiösen Empfindung" und die „ F o r m " 2 2 2 , in der diese zum Ausdruck gebracht wird. Der Frage nach dem Vorverständnis, das bei einem solchen Vorgehen an die Dinge herangetragen wird, aber geht Wach nicht nach. 2 2 3 1944: Die „Sociology of Religion" 2 2 4 ist das umfangreichste religionswissenschaftliche Werk Wachs und die Durchführung dessen, was er in seiner „Einführung in die Religionssoziologie" programmatisch gefordert hatte: „Zusammenhänge von Religion und Gesellschaft — das nämlich und nichts anderes ist das Thema der Religionssoziologie — " 2 2 5 zu erforschen und darzustellen. Dazu war es nötig, „Brücken zu schlagen zwischen den Sozialwissenschaften einerseits und der Theologie und Religionswissenschaft andrerseits" 2 2 6 . Wach wollte „ein Handbuch schaffen, das bei Vorlesungen über unseren Gegenstand zugrunde gelegt werden kann" 2 2 7 . Da uns dieses Werk, das Schoeps „als eine große Synthese amerikanischer und deutscher wissenschaftlicher Tradition" 2 2 8 bezeichnet, mit seinen wissenschaftstheoretischen, aber auch teilweise inhaltlichen Aussagen noch näher zu beschäftigen hat, soll es hier nur vom methodischen Ansatz und vom Aufbau her vorgestellt werden. Wach selbst sagt: „Die in der vorliegenden Arbeit angewandte Methode, die typologische, ist der Mittelweg zwischen dem wahllosen Historismus, der auf das Recht der Auswahl verzichtet, und der Betonung wie engeren Beschränkung auf ein Bekenntnis, gewöhnlich das des Forschers" 2 2 9 . 220

ebda, S. 90.

221

s. ebda, S. 92; mit dem normativen Aspekt der Religionswissenschaft werden wir uns noch eingehend zu beschäftigen haben.

222

ebda, S. 93.

223

ebda, S. 94 schließt er dieses Problem ausdrücklich aus!

224

deutsch: „Religionssoziologie", Tübingen 1951. Der Einfachheit halber wird hier nach der deutschen Ausgabe zitiert, auch wenn diese an einigen Stellen die notwendige wissenschaftliche Genauigkeit bei der Ubersetzung vermissen läßt. Sie ist von Wach selbst ediert und mit einem neuen Vorwort versehen.

225

Wach, „Einführung in die Religionssoziologie", S. VI.

226

Wach, „Religionssoziologie", S. III.

228

Schoeps, „Joachim Wachs wissenschaftliche Bedeutung", in: Z R G G 9, S. 370.

229

Wach, „Religionssoziologie", S. 10.

227

ebda, S. III.

Die Schriften religionswissenschaftlichen Charakters

51

Mit diesem Begriff des Typologischen, den er mit der Forderung verbindet, der Religionssoziologe habe „durch die Linien des Religionshistorikers einen Schnitt zu legen" 2 3 0 , knüpft Wach an seinen Begriff des Klassischen 2 3 1 in der Religionsgeschichte an, was dazu führt, daß die literarischen, bzw. die sog. Weltreligionen ein erdrückendes Übergewicht 232 in dieser Untersuchung erhalten. Da auch dieses Werk von dem für Wach so typischen, später noch zu untersuchenden Evolutionsdenken bestimmt ist, soll „die Disposition des Ganzen . . . sowohl der Logik des Gegenstandes als auch der historischen Entwicklung der Religion (!) 2 3 3 gerecht werden" 2 3 4 . So schreitet das Buch über den ersten Teil, „Methodologische Vorerwägungen", in dem neben wenigen methodischen Erwägungen das „Triptychon" 2 3 5 im Mittelpunkt steht und dessen Abschluß einige Bemerkungen zur „soziologischen Funktion der Religion" bilden, fort zu Wachs eigentlichem Thema „Religion und Gesellschaft", das den umfangreichen zweiten Teil ausmacht. Es wird in drei systematische Grundprobleme aufgefächert: das Verhältnis von Religion zu soziologischer Differenzierung 2 3 6 , das Verhältnis von Religion und Staat 237 , Typen religiöser Autorität 2 3 8 . Im weiteren Verlauf verbinden sich zunehmend soziologische, typologische und phänomenologische Kategorien zu einer umfassenden Schau der behandelten religiösen Erscheinungen 239 . 230

ebda, S. 3.

231

s. o.

232

Leider ist es nicht der Fall, wie Schoeps meint, daß hier „alles vorhandene Material — auch das der sog. primitiven Religionen — typologisch und vergleichend gesichtet wurde", sondern Wach zieht fast ausschließlich traditionelle, dem abendländischen Denken verwurzelte „klassische" Kriterien heran und benutzt Material aus anderen Kultursystemen nur zur Stützung seiner Beweisführung.

233

Man beachte den Singular!

234

a . a . O . , V o r w o r t S . III.

235

s. Kap. „Die Durchführung der systematischen Religionswissenschaft als Theorie der religiösen Erfahrung."

236

Hierzu gehören „Religion und natürliche Gruppen" (IV, S. 60ff.), „spezifisch religiöse Organisation der Gesellschaft (V, S. 123ff.), „Religion und Differenzierung innerhalb der Gesellschaft" (VI, S. 233ff.).

237

a. a. O . , Kap. VII.

238

a. a. O . Kap. VIII.

239

Goldammer sagt zu diesem Buch: „Vielleicht muß man bei den gewaltigen Abläufen und bei der umsichtigen Behandlung von religionsgeschichtlichen und -phänomenologischen Grund- und Seitenproblemen hier schon von einer reli-

52

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

1945: „Sociology of Religion" 2 4 0 ist in Form eines Handbuchartikels eine Zusammenfassung seiner großen Religionssoziologie mit einem wissenschaftsgeschichtlichen Vorspann, der die wichtigsten Tendenzen auf diesem Gebiet in verschiedenen Ländern zu charakterisieren sucht. In der Absicht, noch mehr Systematik in die Religionssoziologie einzubringen, zentrieren sich hier bereits Ideal und Wert der zentralen religiösen Erfahrung 241 , aus der eine Gruppe entsteht, in der Gotteserfahrung: „. . . because the nature, intensity, duration, and organization of a religious group depends upon the way in which its members experience God, conceive of, and communicate with Him, and upon the way they experience fellowship, conceive of, and practice it." 2 4 2 1948: „Spiritual Teachings in Islam. A Study". 2 4 3 ist eine kleine Untersuchung zur islamischen Mystik des 11. Jahrhunderts. Es scheint eine Vorstudie für „Types of Religious Experience, Christian and Non-Christian" 244 zu sein, an der Wachs Anwendung der vergleichenden Methode auffällt. 1950: „Über das Lehren der Religionsgeschichte" 245 nimmt nach einem kurzen wissenschaftlichen Überblick die Wachsche Verstehensproblematik wieder auf und versucht, aus der Theorie der religiösen Erfahrung „gewisse Forderungen für das Lehren von Religionsgeschichte" 246 zu entwickeln. An gionswissenschaftlichen Sozio-Phänomenologie sprechen". („Religionen, Religion und christliche Offenbarung. Ein Forschungsbericht zur Religionswissenschaft", S. 92). 240

In: G . Gurvitch and W . E. M o o r e (eds.), „Twentieth Century Sociology", S.

241

ebda, S. 429 und 4 3 0 .

242

ebda, S. 428.

405-437.

243

In: The Journal of Religion 28, S. 2 6 3 - 2 8 0 .

244

s. u.

245

Zuerst in der Festschrift für van der Leeuw, „Pro Regno pro Sanctuario", S. 525—532: „ O n Teaching History of Religions". Deutsch: in: G. Lanczkowski (Hrsg.): „Selbstverständnis und Wesen der Religionswissenschaft", S. 114—123, wonach in dieser Arbeit zitiert wird.

246

a. a. O . , S. 118.

53

D i e Schriften religionswissenschaftlichen Charakters

die sechs thesenhaften Forderungen, daß die Lehre auf diesem erstens integrierend,

zweitens kompetent,

drittens einem

Gebiet

existenziellen

Bedürfnis entspringend, viertens selektiv, fünftens nach allen Richtungen hin offen, und sechstens einfallsreich sein soll 2 4 7 , schließen sich kurze Erörterungen über das Unterrichtsniveau und die Problematik von Lehrbüchern an.

1953: Bei „ R u d o l f O t t o und der Begriff des H e i l i g e n " 2 4 8 handelt es sich um eine Kurzdarstellung der zentralen Gedanken der Religionswissenschaft Ottos. Wach würzt diesen Abriß mit einigen biographischen und autobiographischen Details, zumal es ihm darauf ankommt, O t t o den Amerikanern ein wenig näher zu bringen und seine Berührungspunkte mit ihm zu verdeutlichen. E r trifft sich mit O t t o einmal in der Ursprungsfrage, die dananch sucht, „was es ist, was religiöse Erfahrung konstatiert" 2 4 9 ; zum anderen

in der Betonung der Ästhetik in der Religion:

„es ist sehr

bedeutsam, daß ästhetische Gesichtspunkte für den Religionsforscher, der alles daran setzt, das spezifisch Religiöse in seiner Eigenart zu erfassen und verstehen zu lehren, keine geringe Rolle gespielt h a b e n " 2 5 0 ; und beide berühren sich schließlich in ihrem idealistischen Evolutionsdenken: „aber darüber kann kein Zweifel sein, daß ,nur das, was ihr Innerstes ist, die Idee des Heiligen selber, und wie vollkommen eine gegebene Einzelreligion dieser gerecht werde oder nicht, der Maßstab sein kann für den Wert einer Religion

als

Religion'."251

Die zentrale geistige

Verwandtschaft

zwischen sich und O t t o sieht Wach darin, daß es auch O t t o immer um das Verstehen von Religion gegangen ist.

1958: „ T h e Comparative Study of R e l i g i o n s " 2 5 2 wurde posthum von J . M . Kitagawa herausgegeben. Ihm ist zuzustimmen, wenn er die Bedeutung dieses ebda, S. 1 1 8 - 1 2 0 .

247 248

I n : A . Bergsträsser, „ D e u t s c h e Beiträge 2 " , S. 2 0 0 - 2 1 7 .

249

ebda, S. 205.

250

ebda, S. 208.

251

ebda, S. 2 1 1 .

252

D e u t s c h (übertragen von Hans Holländer) 1962: „Vergleichende Religionsfors c h u n g " . O b w o h l auch dieser Ubersetzung nicht immer die notwendige wissenschaftliche Genauigkeit zu bescheinigen ist, wird wegen ihrer leichten Zugäng-

5

Flasche: Joachim Wach

54

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

letzten Werkes in der Tatsache sieht, „daß Wach hier versucht, die Einsichten und Methoden der Religionswissenschaft, der Religionsphilosophie und der Theologie zu vereinen" 253 . Da uns dieses Buch später bei der Analyse der Wachschen Religionswissenschaft ausführlich beschäftigen wird, sei es hier nur in Aufbau und Gliederung vorgestellt. Von dem Grundsatz ausgehend, daß es universale Themen im religiösen Denken gibt und das Allgemeine immer in das Besondere eingebettet ist, das Besondere sich aber nur vom Standpunkt des Allgemeinen aus betrachten läßt, rsucht Wach, ein allgemeines Gerüst der Religionsforschung zu entwerfen. Das Buch zeichnet sich durch eine Vielzahl von Zitaten aus, die in zustimmender oder distanzierender Art und Weise eingebracht werden und es außerordentlich schwer machen, die eigentliche Konzeption Wachs herauszulösen. An eine verhältnismäßig umfangreiche wissenschaftsgeschichtliche Einführung schließt sich eine kurze Methodendiskussion an. Im zweiten Kapitel versucht Wach das „Wesen religiöser Erfahrung" zu charakterisieren, doch handelt es sich bei den angesprochenen Merkmalen weniger um Charakteristika als um Definitionen 254 . Die drei folgenden Kapitel bringen eine Darstellung des Wachschen Triptychon 2 5 5 : Der Ausdruck religiöser Erfahrung im Denken (Kap. III), im Handeln (Kap. IV) und in der Gemeinschaft (Kap. V). Da das Buch als abschließende und zusammenfassende Ausführung aller programmatischen Forderungen Wachs anzusehen ist, in dem sich auf eigentümliche Art und Weise religionssystematische, -philosophische und -theologische Gedanken verbinden, nimmt es eine Schlüsselfunktion in seinem Gesamtwerk und unserer Untersuchung ein. Die bibliographische Sichtung der religionswissenschaftlichen Publikationen zeigt bereits, daß Wach sich weder religionsgeschichtlichen Fragen noch der Erforschung und Darstellung einzelner Religionen oder konkreter religiöser Erscheinungen zugewandt hat. Er bemüht sich fast ausschließlich um religionssytematische Probleme, und auch dabei geht es ihm weniger

253 254 255

lichkeit nach ihr zitiert. Allerdings wird an entscheidenden Stellen die Originalausgabe zum Vergleich oder zur Verdeutlichung herangezogen. a. a. O . , Einführung, S. 26. ebda, S. 55/56. s. Kap. „Die Durchführung der systematischen Religionswissenschaft als Theorie der religiösen Erfahrung."

Die Schriften „theologischen" Charakters

55

um konkret Inhaltliches oder Methodisches als vielmehr um prinzipielle Fragen der Religionssystematik überhaupt. Wie von seinen philosophischen Schriften her schon deutlich, stehen auch in der Religionswissenschaft Wachs die Fragen der Hermeneutik im Mittelpunkt. Um das Verstehen fremder Religionen, ja eigentlich um das Verstehen von Religion (der Religion) geht es ihm. Wie aus den philosophischen Schriften ersichtlich, nimmt er die Religionswissenschaft von seinen lebensphilosophischen Grundüberzeugungen her in Angriff, worüber sein wissenschaftlicher Referenzrahmen und die Durchführung seiner Religionstheorie weiteren Aufschluß geben werden. Der zentrale Gedanke der Wachschen Religionswissenschaft ist demgemäß die religiöse Erfahrung als zu verstehendes und verstehbares Element der Welt der Religion, die in ihrem Formenreichtum von eben dieser Erfahrung erst freigesetzt ist, welche es wiederum durch die Formen hindurch als deren Intention intuitiv zu erfassen gilt. Damit deuten sich hier schon die Fragen an, die diese Untersuchung zu beantworten bestrebt ist: Wohin werden dieser Ansatz und die sich daraus ergebenden Fragen und Aufgaben die Religionswissenschaft Wachs führen? Wo liegt die Problematik einer sich in diesem Sinne als Metawissenschaft verstehenden Religionswissenschaft? Welchen Überfremdungen durch Religionsphilosophie und (Religions-)Theologie wird sie ausgesetzt sein?

Die Schriften „theologischen" Charakters Obwohl Wach kein Theologe im strengenSinne gewesen ist — der Ruf auf den Lehrstuhl für systematische Theologie an der Marburger Fakultät scheint zwar das Gegenteil anzudeuten, ist jedoch in erster Linie als wissenschaftspolitische Entscheidung anzusehen —, sind in dieser Gruppe einige Schriften vorzustellen, die am ehesten als theologisch charakterisiert werden können. Sieht man dabei vom zweiten Band des „Verstehens" ab, den man auch als theologiegeschichtliche Darstellung einstufen könnte, gehören alle hier zu behandelnden Publikationen der amerikanischen Periode an. Allen diesen Schriften, deren Spektrum von kirchengeschichtlicher und kirchensoziologischer Darstellung bis hin zu Predigt und Gebet reicht, ist ein gemeinsamer Grundzug eigen. Auf der Basis von religionsphilosophischen Überlegungen werden aus dem Urgrund der eigenen Religiosität 5:i

56

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

theologische Gedanken geformt 256 , was man wohl am ehesten als eine Art von „Religionstheologie" bezeichnen kann. Der Begriff „Religionentheologie" scheint mir deshalb für Wachs Denken innerhalb dieses Bereiches am charakteristischsten, weil Normen, die über Echtheit von Religion und Wahrheit des Glaubens entscheiden, nicht aus dem theologischen Selbstverständnis einer konkreten Religion, sondern aus dem Wesen religiöser Erfahrung, das sich bei Wach sehr stark personalisiert, entwickelt werden 257 . In manchen der im folgenden wiederum chronologisch vorgestellten Schriften klingen solche Gedanken nur an, in anderen jedoch sind sie das eigentliche Thema. Insgesamt gehören hierher: Eine kleine selbständige Schrift, die Originalbeiträge zweier Aufsatz- und Essay-Sammlungen, die zum größeren Teil aus Wiederabdrucken und Übersetzungen anderswo erschienener Arbeiten bestehen, sowie sechs Aufsätze. 1936: „Eigenart und Bedeutung der American Episcopal Church" 2 5 8 will von den persönlichen Eindrücken und Erfahrungen berichten, die Wach in der ersten Zeit seiner Zugehörigkeit zu dieser kirchlichen Gemeinschaft hat. Er hebt besonders das kultische Element hervor, den „Dienst an der heiligen Stätte" 259 , und findet hier — fast bekenntnismäßig gewendet — das Wesen aller Religion zu tiefem Ausdruck gebracht: „Worship . . . bezeichnet wirklich das Herzstück alles religiösen Lebens, und nur da, wo der Andacht der ihr gebührende Raum eingeräumt wird, wird es blühen und Frucht tragen können." 2 6 0 1946: „Church, Denomination, and Sect" 261 ist eine kleine selbständige Untersuchung, die man als kirchensoziologisch bezeichnen kann. Wach stellt die amerikanischen kirchlichen Verhältnisse in seiner aus der großen Religions256

Solche Gedanken fließen auch in immer stärkerem Maße in die religionswissenschaftlichen Werke dieser zweiten Periode ein.

257

s. hierzu „Die Durchführung der systematischen Religionswissenschaft als Theorie der religiösen Erfahrung." und „Die Möglichkeiten einer Weiterführung der Religionswissenschaft Joachim Wachs."

258

In: Z M R 5 1 , S. 3 7 3 - 3 7 8 .

259

ebda, S. 378.

260

ebda, S. 376.

261

erschienen am Seabury-Western Theological Seminary in Evanston.

Die Schriften „theologischen" Charakters

57

Soziologie bekannten typologisch-vergleichenden Arbeitsweise vor. Letztlich konzentriert sich auch hier alles auf den zentralen Punkt „religiöse E r f a h r u n g " , die nicht nur für die soziologischen Bildungen entscheidend ist, sondern auch über den Wahrheitsanspruch der jeweiligen religiösen Idee und den Näherungswert zu ihrer Vollkommenheit entscheidet. 1946: Bei „ C a s p a r Schwenckfeld, A Pupil and a Teacher in the School of C h r i s t " 2 6 2 handelt es sich um eine Darstellung kirchen- und theologiegeschichtlichen Charakters. A n dem Weggenossen und Gegner Luthers, an diesem schlesischen „Schwarmgeist", zu dem Wach eine besondere Verwandtschaft spürt, interessieren ihn die beiden Pole seiner eigenen Lehre: Verstehen und religiöse Erfahrung. Hermeneutisch fasziniert ihn der grundsätzliche Dualismus des Theologen Schwenckfeld zwischen den inneren Erkenntnissen der Religion und ihren äußeren Ausdrucksformen 2 6 3 und die damit verbundene Spiritualisierung aller religiösen Erfahrung und aller Gotteserkenntnis. Damit wird Schwenckfeld zugleich zum Vertreter eines bestimmten Typus von religiöser Erfahrung, zum „johanneischen Typus christlicher F r ö m m i g k e i t " 2 6 4 , zum klassischen Beispiel des religiösen Erlebens, das sich einzig und allein richtet auf die Erfahrung der „Letzten Wirklichkeit" als über den Menschen kommende Geistesmacht, die er nicht denken und fassen, aber fühlen und empfangen kann 2 6 5 . 1947: Für „ T h e Place of the History of Religion in the Study of T h e o l o g y " 2 6 6 ist bezeichnend, daß Wach dieses Thema erst in Chicago aufgreift, wo er zum ersten Mal an einer theologischen Fakultät lehrt 2 6 7 . Obwohl es, wie es scheint, u m Studienplanfragen geht, gehört dieser Beitrag dennoch in die hier besprochene Gruppe der Wachschen Schriften, weil darin sein Theologieverständnis deutlich zum Ausdruck kommt. Nachdem er die verschiedenen „ T y p e n " des Verhältnisses von Theologie und Religionswissenschaft 262

In: The Journal of Religion 26, S. 1 - 2 9 .

263

s. ebda, S. 4.

264

s. ebda, S. 29.

265

s. ebda, S. 22ff.

266

In: T h e Journal of Religion 27, S. 157-177.

267

Seit dieser Zeit hält er es für notwendig, der Religionswissenschaft einen festen Platz im theologischen Curriculum zu erstreiten.

58

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

kurz umrissen hat 2 6 8 , referiert er Söderblom 269 , Hocking 2 7 0 und Wenger 2 7 1 als Repräsentanten einer sinnvollen Verbindung dieser beiden Wissenschaften. Seine eigenen Ansichten faßt er zum Schluß in zwölf Thesen bzw. Forderungen zusammen. Diese gipfeln in der Meinung, daß Religionswissenschaft dazu dienen soll, die eigene religiöse Erfahrung zu vertiefen 2 7 2 . Denn integrales Verstehen und religiöse Erfahrung, speziell das Wesen religiöser Erfahrung, sind bei Wach die Leitgedanken sowohl der Theologie als auch der Religionswissenschaft. 1948: Bei „Redeemer of M a n " 2 7 3 handelt es sich um eine Ansprache, die Wach in der Bond Chapel der University of Chicago gehalten hat. Dabei geht es um das Verhältnis von Christus zu den Stifter- und Erlösergestalten der anderen großen Religionen, um deren Wirkung und Erfahrbarkeit. Sie sind zwar Möglichkeiten der Gotteserfahrung, nicht aber Wahlmöglichkeiten für den Menschen 2 7 4 . Vielmehr ist die höchste religiöse Erfahrung, die sich im Herzen des Menschen ereignet, nicht aber wissenschaftlich nachweisbar ist, die von der Gottessohnschaft Christi. Deshalb sei es eine der vornehmsten und dringlichsten Aufgaben für den Theologen, den jungen Kirchen zu helfen, diese im Zusammenhang ihres kulturellen und geistigen Erbes aussagbar zu machen. Das kann nur geschehen aus der eigenen religiösen Erfahrung, indem sie die der anderen aufnimmt und zu sich hinführt. 1949: „Hugo of St. Victor on Virtues and Vices" 2 7 5 ist eine Übersetzungsarbeit Wachs. Dieser Traktat scheint ihn als „Ausdruck gewordene" religiöse Erfahrung besonders interessiert zu haben. Wach selbst weist dieser Arbeit keinen Bezugspunkt in seinem Werk zu. 268

a.a. 0 . , S .

269

ebda, S. 166f.

158ff.

270

ebda, S. 168 ff.

271

ebda, S. 172 f.

272

ebda, S. 177.

273

In: T h e Divinity School News X V , N r . 4, wiederabgedruckt in „Understanding and Believing", S. 9 4 - 1 0 1 .

274 275

s. ebda, S. 101. In: Anglican Theological Review 31, S. 1 ff., wiederabgedruckt in „Understanding and Believing", S. 1 6 9 - 1 8 0 .

59

Die Schriften „theologischen" Charakters 1951:

Bei „ T y p e s of Religious Experience, Christian and Non-Christian' handelt es sich u m einen der beiden genannten Sammelbände. E r ist den Kollegen der Theologischen Fakultät der Universität Chicago gewidmet und gehört weniger v o m Inhaltlichen als von der Zielsetzung dieser Zusammenstellung in die hier zu besprechende G r u p p e der Schriften Wachs. Denn es geht ihm um ein „tieferes Verstehen des religiösen Erbes von West und O s t " 2 7 6 , wobei das Vergleichen helfen soll, „eine intimere Kenntnis vom Zeugnis und den Zeugen genuiner religiöser Erfahrung zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen O r t e n " 2 7 7 zu erlangen. D a s eigentliche Ziel aber ist die daraus erwachsende Reflexion „ ü b e r die Grundlagen, auf denen unser eigener G l a u b e errichtet werden k a n n " 2 7 8 . So glaubt Wach, die sinnvolle und tiefe Verbindung von Religionswissenschaft und Theologie gefunden b z w . hergestellt zu haben. D e n n letztlich geht es beiden darum,

„das

Wesen u n d den U m f a n g der offenbarenden Tätigkeit Gottes in der G e schichte z u b e s t i m m e n " 2 7 9 . D a ß es sich dabei immer um Erlösung des Menschen handelt, zieht sich unterschwellig durch sämtliche E s s a y s dieses Bandes u n d soll besonders an den großen Repräsentanten religiöser Grunderfahrungen (al-Hujwiri, Schwenckfeld, de Tocqueville und O t t o ) verdeutlicht w e r d e n . D e r G e d a n k e von der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen ist das B a n d , das die sonst sehr disparaten Beiträge dieser Aufsatzsammlung zusammenhält, zumal es sich fast ausschließlich um bzw. Übersetzungen

276 277 278 279 280

281

281

Wiederabdrucke 2 8 0

(zum Teil als Zusammenfassung bzw.

Auszug)

a. a. O . , S. XI. ebda, S. XI. ebda, S. XII. ebda, S. 230. I. The Place of the History of Religion in the Study of Theology (1947); V. Spiritual Teachings in Islam with Special Reference to Al-Hujwiri (1948); VII. Caspar Schwenckfeld: A Pupil and Teacher in the School of Christ (1946); VIII. The Role of Religion in the Social Philosophy of Alexis de Tocqueville (1946); IX. Church, Denomination and Sect (1945). III The Concept of the .Classical' in the Study of Religions (1937; IV. The Idea of Man in the Near Eastern Religions (Auszug! 1931); VI. The Study of Mahayana Buddhism (Zusammenfassung! 1925); X. Rudolf Otto and the Idea of the Holy (1953).

60

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

handelt. Der einzige Originalbeitrag, „Universals in Religion" 2 8 2 , gibt eine Zusammenfassung von Wachs Konzept des Wesens der religiösen Erfahrung und deren Ausdrucksformen in ihrer Universalität 2 8 3 . Dieser Beitrag ist eine wichtige Station in Wachs religionstheoretischer Entwicklung und wird uns später ausführlich zu beschäftigen haben, zumal sich hier die W e n d u n g zur Religionstheologie vollzieht. 1954: In „General Revelation and the Religions of the W o r l d " 2 8 4 greift Wach von seinem immer wiederkehrenden Ausgangspunkt, der religiösen Erfahrung, aus das Problem der allgemeinen bzw. natürlichen Offenbarung auf. Zum Teil sich absetzend, zum Teil ihnen folgend, setzt er sich vor allem mit Otto, Tillich und Kraemer auseinander und benutzt zur Beweis- und Gegenbeweisführung eine Vielzahl anderer theologischer Stimmen. Er will das Problem auf dem Hintergrund der religiösen Erfahrung — „ W e rather hold that genuine religious experience is the apprehension of the revelatum wherever it occurs, that is, within whatever ethnic, cultural, social or religious context" 2 8 5 — phänomenologisch 2 8 6 lösen. Da das Wesen der religiösen Erfahrung die Erfahrung der Letzten Wirklichkeit ist, findet sie sich in allen Religionen und gestaltet sich jeweils in der Lehre 2 8 7 , findet ihren Ausdruck im Dienst am Heiligen, in der Verehrung (worship) 2 8 8 , und führt zu Formen der Gemeinschaft (togetherness) 289 , womit jede Religion in ihrem Kern teil hat an der Offenbarung Gottes und zugleich Vorbereitung ist auf das Christentum.Denn „es hat Gott gefallen, sich selbst ganz und gar in Christus zu offenbaren" 2 9 0 . Von daher sollte das Verhältnis der 282

a. a. O . , S. 30—47. Diesen Beitrag nimmt er später in fast allen Teilen in seine

283

ebda, S. XIV.

„Vergleichende Religionsforschung" auf. 284

In: Journal of Bible and Religion 22, S. 8 4 f f . , wiederabgedruckt in „Understanding and Believing", S. 69—86.

285

a . a . O . , S. 75.

286

s. ebda, S. 78.

287

s. ebda, S. 78/80.

288

s. ebda, S. 80/1.

289

s. ebda, S. 81/2.

290

ebda, S. 76: Wach zitiert Kraemer: „It has pleased God to reveal himself fully and decisively in Christ; repent, believe, adore", und stimmt ihm zu: „This is exactly right".

61

Die Schriften „theologischen" Charakters

Christen zu den anderen Religionen bestimmt sein, das Wach so charakterisiert: „ T h e Christian answer to the non-Christian religions cannot be disregard o r contempt, it must be understanding. That is, as Christians, we are convinced that man is created by G o d and thus that man may seek and find him, the sam G o d who revealed himself in Christ and is Redeemer as well as Creator. Because in the Incarnation and in the Crucifixion the supreme love of G o d is reveald unambiguously, as nowhere else, we have to see in this particular disclosure God's final revelation." 2 9 1

1968: „Understanding and Believing" ist eine posthum von Kitagawa mit einer Einführung, einer Bibliographie Wachs und einem Nachruf versehene und herausgegebene Aufsatz- und Artikelsammlung, die, wie der Titel verdeutlichen soll, der inneren Verbundenheit von Wachs theologischem und religionswissenschaftlichem Denken Rechnung tragen w i l l 2 9 2 . Auch hier handelt es sich zum größeren Teil um Übersetzungen 2 8 3 oder Wiederabdrucke 2 9 4 früherer Aufsätze oder um Manuskripte, die in größerem Zusammenhang publiziert worden s i n d 2 9 5 . Von den 17 Essays sind nur 7 zum ersten Male hier veröffentlicht, denen aber nur geringe Bedeutung für das Gesamtwerk zukommt. Es sind mehr oder weniger Zufallsarbeiten, wie Ansprachen, Predigten u. ä. I m einzelnen sind zu nennen: „Stefan George: Poet and Priest o f Modern P a g a n i s m " 2 9 6 fand sich als deutsches Manuskript unter Wachs Nachlaß. Dieses Essay wird uns in der biographischen Zusammenfassung seines Werkes noch näher zu beschäftigen haben. Bei „ T h e Paradox of the G o s p e l " 2 9 7 — ein Streiflicht auf die Aufgaben der christlichen Verkündigung —, bei „Seeing and Believing" 2 9 8 — einer 291

ebda, S. 85.

292

s. Kitagawas „Introduction", S. X I I I .

293

„ 1 . T h e Self-Understanding of Modern M a n " (1955); 3. „The Problem of Death in Modern Philosophy"; (1934); 9. „The Meaning and Task of the History of Religion" (1935).

294

4. „General Revelation and the Religions of the W o r l d " (1954); 6. „Redeemer of M a n " (1948); 13. „The Crisis in the University" ( 1 9 4 9 ) ; 14. „ H u g o of St. Victor Virtues and Vices" (1949).

295

10. „Religious Commitment and Tolerance" und 11. „ T h e Problem of Truth in Religion" sind beides Vorträge von Wachs Indienreise, die zum größten Teil wörtlich in seine „Vergleichende Religionsforschung" eingegangen sind.

296

a. a. O . , S. 1 1 - 2 9 .

297

ebda, S. 8 7 - 93 .

298

ebda, S. 1 0 2 - 1 1 3 .

62

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

Meditation über J o h . 14 — und bei „Belief and Witness" 2 9 9 — wo Wach den Missionsbefehl (Matth. 28, 19. 20) dahin auslegt, daß Mission, Glaube und Verkündigung aufeinander angewiesen sind und nicht nur durch das Wort, sondern auch durch das Leben geschehen — handelt es sich um Ansprachen, die Wach in der Bond Chapel der Universität Chicago gehalten hat. „ T h e Christian P r o f e s s o r " 3 0 0 ist ein Selbstzeugnis und eine programmatisch-universitätspolitische Schrift, die für die World Student Christian Federation gedacht war, als deren Chairman Wach fungierte. „ T o a Rabbi F r i e n d " 3 0 1 ist eine kurze Ansprache, die Wach an der Brown University gehalten hat. Bei „ O n F e l i c i t y " 3 0 1 handelt es sich um eine kurze Ordinationsansprache, die Wach 1953 für einen ehemaligen Schüler hielt. „ A P r a y e r " 3 0 3 schließlich ist die Wiedergabe eines Gebetes, das Wach 1949 zur Eröffnung einer Konferenz über das Thema „The Meaning of H i s t o r y " im Kreis der World Student Christian Federation sprach. Dieses Gebet steht vermutlich mit Absicht am Ende dieses Sammelbandes, der so mit dem Wort „ A m e n " endet. Denn Kitagawa will Wach hier vor allem als Theologen und „christlichen Wissenschaftler" vorstellen. Die Originalbeiträge dieses Bandes runden für uns das Persönlichkeitsbild Wachs ab, tragen jedoch für sein wissenschaftliches Werk und unser Thema wenig aus. Auf G r u n d dieser abschließenden Aufsatzsammlung können wir vermuten, daß es kaum weitere, bisher unveröffentlichte Untersuchungen oder Darstellungen Wachs zur Religionswissenschaft gibt 3 0 4 . Wenn man die als vor allem theologisch charakterisierten Schriften Wachs in einer Zusammenschau überblickt, scheinen sie nicht unbedingt eine eigene Gruppe zu bilden, sondern könnten durchaus einmal denen philosophischen, ein andermal denen religionswissenschaftlichen Charak299

ebda, S. 1 1 4 - 1 2 1 .

300

ebda, S. 1 5 5 - 1 6 1 .

301

ebda, S. 1 8 1 - 1 8 3 .

302

ebda, S. 184/5.

303

ebda, S. 186/7.

304

Zwei sehr kurze Betrachtungen, die aber eher in den Rahmen der in „Understanding and Believing" veröffentlichten Originalbeiträge gehören, waren mir bisher

nicht zugänglich: „Christian Propaganda: A Genuin D i l e m m a "

(In:

Advance 64, Chicago 1951), und „Why We Can't Mind Our O w n Business" (In: Advance 65, Chicago 1952).

Die Schriften „theologischen" Charakters

63

ters zugeordnet werden. Und dennoch gehen sie an einem entscheidenden Punkt über die beiden anderen Gruppen hinaus: In ihnen werden aus der persönlichen Religiosität Wachs unter Zuhilfenahme christlich-dogmatischer Glaubenssätze und Vorstellungen Normen für ein religiöses Sich-Verhalten entwickelt. Nicht von ungefähr fallen alle diese Publikationen in die zweite Lebensepoche Wachs, ja in das letzte Lebensjahrzehnt, denn in dieser Zeit glaubt Wach in beinahe prophetischem Bewußtsein die wahre Religion in gewissen Formen christlicher Verehrung (worship) gefunden zu haben und meint, daß ein recht verstandenes Christentum das zu leisten vermag, was er sehr früh als notwendig und erstrebenswert für unsere Zeit erkannt hatte: „Unsere Gegenwart lebt nicht mehr — . . . — aus der Tiefe einer Einheit, die es ihr erlaubte; Natur, Zeit, Liebe, Dinge aus dem gleichen Apriori heraus zu erleben und zu bedenken, so, daß in ihr eine verbindliche Norm die praktische und die theoretische Einstellung zu den großen Daseinsphänomenen reguliert." 3 0 5 Deshalb scheint es gerechtfertigt, diese Schriften gesondert zu behandeln, zumal in ihnen Einflüsse, die auch innerhalb seiner Religionswissenschaft immer stärker zum Tragen kommen und über die er sich in den in dieser Gruppe genannten Publikationen Rechenschaft zu geben sucht, am deutlichsten zu Tage treten. Einige wenige Aufsätze Wachs sind bisher noch nicht zur Sprache gekommen, da sie keiner dieser drei Gruppen zuzuordnen sind. Dabei handelt es sich um Zufallsarbeiten, die entweder einem spezifischen Interesse oder biographischen Umständen entstammen. Der Vollständigkeit halber seien sie hier ohne nähere Besprechung genannt: 1926: 1931: 1934: 1934:

„Henri de Montherlant — ein Dichter des heroischen Lebens" 3 0 6 ; eigentlich eine Buchbesprechung. „Hochschule und Weltanschauung" 3 0 7 ; ein Essay zu den geistigen Strömungen an deutschen Universitäten. „Geleitwort" 3 0 8 zur Übernahme der Mitherausgeberschaft der Zeitschrift für Missionskunde und Religionswissenschaft. „Religiöse Existenz. Zu dem Dostojewskij-Buch Romano Guardinis" 3 0 9 ist ebenfalls eine große Buchbesprechung.

305

Wach, „Das Problem des Todes", S. 3.

306

In: Preußische Jahrbücher 209, S. 9 6 - 2 0 0 .

307

In: Das Akademische Deutschland III, S. 9 8 - 2 0 4 .

308

In: Z M R 49, S. 1 - 2 .

309

In: Z M R 49, S. 1 9 3 - 2 0 1 .

64

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

1942: 1949: 1950: 1955:

„Johann Gustav Droysen" 3 1 0 ist eine kleine Wissenschaftsbiographie. „The Crisis in the University" 3 1 1 ist eine hochschulpolitische Besinnung aus christlicher Sicht. „Im Blick aus den Vereinigten Staaten" 312 ist eine autobiographisch gewürzte Erinnerung an den Islamforscher C. H. Becker. „Das Selbstverständnis des modernen Menschen" 313 ist eine Besinnung über die Nachkriegszeit mit autobiographischen Zügen.

Überschaut man Wachs dreigliedriges Gesamtwerk, das wie jedes wissenschaftliche Werk eine Einheit bildet, bibliographisch, fallen einige bemerkenswerte Züge auf. Wach liebt es, hin und wieder sehr abseitige Dinge aufzugreifen. Er benutzt häufig im Ubermaß Belegstellen aus Sekundärund Tertiärliteratur zur Beweis- und Gegenbeweisführung, was manchmal bis an eine Art Ausschreiben grenzt 314 . Ebenso wie die Praxis des Wiederabdruckens 315 pflegt er die Übernahme ganzer Passagen aus älteren Veröffentlichungen in neue Zusammenhänge 316 . Ebenso sind viele seiner Aufsätze Vorarbeiten für oder Auszüge aus größeren Publikationen und manchmal auch „nur" große Buchbesprechungen 317 . Deshalb werden wir uns im Fortgang dieser Untersuchung auf eine im Verhältnis zur Gesamt-

310

In: Heimatklänge 19.

311

In: The Student W o r l d 42, wiederabgedruckt in „Understanding and Believing",

312

In: Schaeder, H. H. (ed.) „Carl Heinrich Becker: Ein Gedenkbuch", S. 136—

S. 1 6 2 - 1 6 8 . 144. 313

In: Universitas 10, S. 4 4 9 - 4 5 6 .

314

s.o.:

„Mahäyäna-Buddhismus"; oder „Meister und Jünger": A n m .

11: Der

Typus des exemplarischen Propheten bei Max Weber „berührt sich eng mit unserer Auffassung des ,Meisters' . . ."; und Anm. 3 1 : „In Hans Blüchers willkürlichem, aber gedankenreichen Buch: „Die Arestie des Jesus von Nazareth", 1 9 2 1 , ist das 1 1 . Kap. überschrieben: Die Jüngerlehre. Dort sind viele feine Bemerkungen zu finden, die sich mit manchem eng berühren, was in unserem ersten Abschnitt ausgeführt ist." 315 316

s. o. Z. B. aus „Meister und Jünger" in den „Erlösungsgedanken", aus dem „Erlösungsgedanken" in den „Mahäyäna-Buddhismus", aus der „Einführung" und aus „ M a x Weber" in die „Religionssoziologie" u. a.

3,7

Beispiele s. o.

Das Verhältnis der drei Forschungsgebiete untereinander

65

zahl geringe Anzahl von Publikationen beschränken können und werden vieles nur jeweils als weitere Belegstellen anführen. Bei den größeren selbständigen Publikationen fällt weiterhin auf, daß es sich fast ausschließlich um „Vorarbeiten", „Ansätze", „unvollendete Schriften" handelt. So ist der „Erlösungsgedanke" eine Skizze (Vorwort), die „Religionswissenschaft" nur „Prolegomena" (Untertitel), die „kleine Religionssoziologie" eine „Einführung" (Titel), die große „Ein Grundriß" (S. 2), „Typen der Anthropologie" eine „kleine Skizze" (Vorwort), die „Vergleichende Religionsforschung" ein „unvollendetes Manuskript" (Vorwort von Kitagawa) 318 . Diesen Zug der Vorläufigkeit hat Wach mit einem seiner geistigen Väter gemein, mit Dilthey, bei dessen Gesamtwerk es sich auch fast ausschließlich um „Vorarbeiten", „Ansätze", „Skizzen" und „unvollendete Werke" handelt 319 . So läßt sich bibliographisch schon feststellen, daß es sich bei Wachs Gesamtwerk im Grunde mehr um ein Programm als um eine durchgeführte wissenschaftliche Lehre handelt, daß seine Religionswissenschaft weniger ein System oder eine Methode als vielmehr vor allem Denkanstöße geben will. Das liegt daran, daß das hermeneutische sein eigentliches Problem bleibt und sich die verschiedenen teils disparaten Ansätze zu dessen Lösung deshalb in seinem gesamten philosophischen, religionswissenschaftlichen und religionstheologischen Schrifttum finden.

Das Verhältnis der drei Forschungsgebiete untereinander und ihr biographischer Bezug Wach sieht sein wissenschaftliches Arbeiten von drei Problemkreisen bestimmt 3 2 0 , die mit unserer Dreigliederung seines Gesamtwerkes korrespondieren. Als erstes nennt er „das Problem des Verstehens, oder mehr technisch, das der Interpretation", sein Prozeß, seine Voraussetzungen, seine Grade und Arten", was er als eindeutig philosophische Aufgabe ansieht. Den zweiten Problemkreis bildet „die Erforschung der religiösen Gemeinschaften", eine eindeutig religionswissenschaftliche, speziell religionssystematische bzw. -typologische Aufgabe. Den dritten Problem318

s. hierzu auch Kitagawa, „Verstehen und E r l ö s u n g " , S. 44 und 52.

319

s. hierzu Stenzel, „ D i l t h e y . . . " , S. 4 / 5 .

320

Diese Selbstdarstellung findet sich in „Understanding and Believing", S. 143.

66

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

kreis bildet die Erforschung und Wesensbestimmung der religiösen Erfahrung, die für ihn zum irenischen Schlüssel des gegenseitigen Verständnisses der Religionen und zum Ausgangspunkt aller religionswissenschaftlicher Forschung werden soll, womit sie auch (religions-) theologische N o n n e n liefert. Denn das Wesen der religiösen Erfahrung führt zur Wahrheitsfrage der Religion überhaupt 3 2 1 . Und um das Verstehen des Wesens der Religion, um die Erkenntnis der Idee als des Treibenden im Ganzen, geht es Wach letztlich. So stehen alle drei Problemkreise und Forschungsgebiete in einer engen Bezogenheit aufeinander, nur die Schwerpunkte verlagern sich im Laufe der wissenschaftlichen Tätigkeit Wachs. Diese Schwerpunktverlagerung ist sowohl im Stilistischen als auch im Inhaltlichen des Gesamtwerkes festzustellen und scheint aus Ereignissen in der Lebensgeschichte Wachs erklärbar zu sein..

Die äußere Geschlossenheit des Werkes Wach selbst sieht sein Werk als Einheit an, als eine konsequente Folge von aufeinander aufbauenden bzw. sich aneinander anschließenden Einzelschriften. Diesen Zusammenhang versucht er auch äußerlich bewußt zum Ausdruck zu bringen. Das geschieht einmal durch Verweisungen auf begonnene oder ins Auge gefaßte Publikationen, zum anderen durch Anknüpfung an bereits vorliegende Schriften. So verweist er im „Erlösungsgedanken" bereits auf seine „Religionswissenschaft": „Während bei den anderen Einzelwissenschaften des Geistes die Trennung zwischen systematischer und historischer Arbeit grundsätzlich längst vollzogen ist, herrscht auf dem Gebiet der allgemeinen Religionswissenschaft darüber noch nicht überall Klarheit. Religionsgeschichte und systematische Religionswissenschaft müssen ebenso streng abgegrenzt werden wie die entsprechenden Disziplinen in der christlichen Theologie." 3 1 2 Das nimmt er dort wieder auf: „Prinzipielle Erwägungen, wie sie in der vorliegenden Arbeit angestellt werden, kann die Philosophie den Einzelwissenschaften nicht abnehmen, sie müssen aus der Forschung herauswachsen. Ich darf anfügen, daß nahezu alle im folgenden erörterten Grundfragen mir bei meiner Arbeit über den Erlösungsgedanken und seine 321 322

ebda, S. 144. Wach, „Erlösungsgedanke", S. 13 Anm. 6.

Die äußere Geschlossenheit des Werkes

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Deutung, bei der ich weitgehend religionswissenschaftliches Material zu bearbeiten hatte, immer wieder aufgestoßen sind." 3 2 3 In der „Religionswissenschaft" kündigt er sein „Verstehen" an: „Das Problem des Verstehens gehört gegenwärtig zu den meist diskutierten Begriffen der Philosophie der Geisteswiss. Im allgemeinen knüpft die im Zusammenhang mit der historischen und sonstigen einzelwiss. Arbeit vorgehende Forschung an die Arbeiten W. Diltheys an, . . . Vgl. die bei Spranger, Der gegenwärtige Stand der Geisteswiss. (1922) und in meinem „Erlösungsgedanken" aufgeführte Literatur. Ich glaube in anderem Zusammenhang einen Beitrag zur Geschichte der hermeneutischen Theorie zu liefern." 3 2 4 Im Vorwort des „Verstehens" nimmt er diese Ankündigung bewußt auf und weist auf den noch größeren Gesamtzusammenhang hin: „Ich freue mich, mit diesem Buch, dessen zweiter Teil hoffentlich von manchen in der Sache liegenden Unvollkommenheiten wird frei sein können, ein Versprechen einzulösen, das ich in meiner „Religionswissenschaft" (Kap. IV, S. 139) gegeben habe. Der innere Zusammenhang, in dem das Werk mit meinen früheren Arbeiten steht, wird allen denen deutlich sein, die es kennen." 3 2 5 Auch die „Einführung in die Religionssoziologie" stellt Wach in diesen Gesamtzusammenhang: „Ich habe schon in meiner programmatischen Untersuchung „Religionswissenschaft" (1924) einige Andeutungen über meine Auffassung von dem Ort und der Bedeutung der religionssoziologischen Fragestellung gemacht. Diese Betrachtungen wurden fortgesetzt in einer, in der Festschrift für W. Goetz niedergelegten Abhandlung über „Max Weber als Religionssoziologe" (1927), die im folgenden (. . .) gleichsam als Anknüpfung meiner Darlegungen an meine Vorgängerschaft wieder abgedruckt wird. In den Skizzen „Meister und Jünger" (1925) wurde ein besonderes religionssoziologisches Phänomen zu beleuchten gesucht." 3 2 6 323

Wach, „Religionswissenschaft", S. V.

324

ebda, Anm. 1 S. 139.

325

Wach, „Verstehen" I, S. VI.

326

Wach, „Einführung in die Religionssoziologie", S. VI. Fast peinlich wird diese „Selbstbelobigung" an dieser Stelle weiter fortgesetzt: „. . . Schließlich bot sich bei der Abfassung der einschlägigen Artikel für das Sammelwerk „Die Religionen in Geschichte und Gegenwart" und für das „Handbuch der Soziologie" neue Gelegenheit und Einladung zur Beschäftigung mit den Fragen . . . " ; ebda, S. X I heißt es dann noch einmal: „ D a ß einerseits die Religionssoziologie als solche keine apologetische Aufgabe übernehmen kann, daß das den Rahmen reli-

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Joachim Wach als Lehrer und Forscher

Die „Einführung" wird in der Religionssoziologie aufgenommen: „Das vorliegende Werk . . . ist die Ausführung des Programmes, das die früher erschienene kleine Einführung in die Religionssoziologie (1931) umrissen hatte. Dem Autor wurde bei dieser Arbeit sehr deutlich,wie groß der Unterschied ist zwischen einem Entwurf und der eigentlichen Durchführung."327 Diese Vor- und Rückverweise auf das eigene Werk mögen als Beispiele genügen. Jedoch auch alle anderen selbständigen Publikationen werden durch Eigenverweise in das Gesamtwerk eingeordnet. So besteht das Vorwort der „Vergleichenden Religionsforschung" 3 2 8 fast ausschließlich aus solchen Selbstbezügen, auch in der „Typenlehre Trendelburgs" finden sich nicht weniger als 10 Selbstbezüge und Verweise 3 2 8 , ebenso wie sich Wach in „Typen religiöser Anthropologie" selbst aufnimmt: „Ich darf zur Ergänzung auf meine Prolegomena zur Religionswissenschaft und auf die jüngst erschienene Einleitung in die Religionssoziologie verweisen." 3 3 0 Freilich scheinen diese Selbstaufnahmen nicht nur der Uberzeugung zu entspringen, ein in sich geschlossenes wissenschaftliches Werk verwirklichen zu wollen, sondern haben ihren Grund auch in der Person Wachs. Dafür spricht einmal, daß viele der Selbstverweise keinen wirklichen inneren oder auch nur äußerlich-sachlichen Bezug zu dem Zusammenhang, in dem sie stehen, haben, zum anderen die Häufung der Selbstbezüge auch in kurzen Aufsätzen 3 3 1 , ja selbst in Buchbesprechungen 3 3 2 . Es gibt kaum eine Publikation Wachs, in der er nicht direkt oder indirekt auf eigene andere Schriften Bezug nimmt. Abgesehen von den persönlichen Gründen gionswissenschaftlicher Arbeit sprengen würde, geht aus der Darlegung der Grundsätze und Voraussetzungen der allgemeinen Religionswissenschaft hervor, die ich in meinen Prolegomena zu ihrer wissenschaftstheoretischen Grundlegung seinerzeit gegeben habe, und auf die ich hier einfach verweisen kann." 327

Wach, „Religionssoziologie", S. V .

328

Wach, „Religionsforschung", S. 5.

329

Wach, „Trendelburg", A n m . 1, 10, 18, 45, 55, 57, 66, 71, 80, 85.

330

Wach, „Typen religiöser Anthropologie", V o r w o r t ; darin weitere Selbstbezüge: A n m . 1, 2, 30, 32, 33.

331

So z. B. in „Wilhelm Ditlhey" und „Schlegel"; in „Bruckhardt" (dreimal), „Idee und Wirklichkeit" (dreimal), „ Z u r Hermeneutik" (dreimal) usw., bis hinein in verschiedene Artikel der R R G .

332

In der Buchbesprechung zu R. O t t o „Ein Meisterstück" finden sich ebenfalls drei Hinweise auf eigene Werke!

Der äußere Bruch des Werkes

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aber will er sein G e s a m t w e r k als Einheit und konsequente Entwicklung seiner wissenschaftlichen Fragestellungen schon rein äußerlich ausweisen. O b diese äußerliche Einheitlichkeit und angedeutete Folgerichtigkeit einem inneren Z u s a m m e n h a n g entsprechen, wird eine Frage im weiteren Verlauf dieser Untersuchung sein.

Der äußere Bruch des Werkes Wie m a n mit den eben skizzierten Äußerlichkeiten die Geschlossenheit des Wachschen Gesamtwerkes deutlich machen könnte, so läßt sich ebenso an äußeren Merkmalen ein Bruch innerhalb des Werkes nachweisen. Dieser Bruch

w i r d sowohl

stilistisch

als auch inhaltlich-thematisch

offenbar.

Zeitlich fällt dieser Bruch mit dem Erscheinen des dritten Bandes vom „ V e r s t e h e n " — einschließlich einiger kleinerer sich daran anschließender Publikationen — zusammen. In den Veröffentlichungen der 20er und frühen 30er Jahre fällt v o r allem Wachs Redestil auf, der sich o f t sogar ins Hymnische oder Emphatische steigert u n d sich einer Art Verkündigungssprache bedient. Dieser programmatisch fordernde und zugleich ex cathedra belehrende Redestil wird rein äußerlich deutlich an den vielen Parenthesen im Text, an der fast unendlichen Zahl v o n Doppelpunkten, die sich in einzelnen Sätzen geradezu häufen, an dem wiederholt eingeflochtenen „ J a " und anderen „ F ü l l s e l n " aus der Redesprache, sowie aus einem zerhackten Satzbau besonders in den nicht rein geistesgeschichtlichen Schriften 3 3 3 . Ebenso typisch ist f ü r diese Periode die Benutzung von Sekundärliteratur im „ U m b a u v e r f a h r e n " , also ohne sie direkt zu zitieren, das Aufgreifen einzelner interessanter Gedanken und deren Weiterbearbeitung zu kleinen Aufsätzen oder E x k u r s e n 3 3 4 , sowie die U m w a n d l u n g v o n Buchbesprechungen zu eigenen A u f s ä t z e n 3 3 S . Man könnte diesen Redestil natürlich ebenso wie die Selbstbezüge auch psychologisch deuten, was Rückschlüsse auf die Persönlichkeitsstruktur Wachs

333 Typisch hierfür sind „Erlösungsgedanke", „Meister und Jünger", „Religionswissenschaft", „Einführung in die Religionssoziologie". 334

335

6

Diese Praxis findet sich in fast allen größeren Werken Wachs, sowie in einer Reihe von Aufsätzen. Siehe hierzu die bibliographischen Besprechungen oben. Flasche: Joachim Wach

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

70

zuließe 3 3 6 . Sachlich aber handelt es sich um programmatische, bzw. um als solche verstandene Schriften und manchmal um kaum überarbeitete Vorträge, die einen solchen Stil zwar nicht als gegeben, wohl aber als verständlich erscheinen lassen. Im Gegensatz dazu steht die abgeklärte und sachbezogene Wissenschaftssprache der Veröffentlichungen etwa aus dem letzten Lebensjahrzehnt 3 3 7 . Hier finden sich lange Sätze, immer wieder neue Zitate aufnehmend, so daß sie leicht „verfilzen", und der Leser nicht recht weiß, ob ein Zitat nur bestätigend, als Absicherung, oder als direkte Ubernnahme in den Gedankenfluß eingegangen ist. Wach befleißigt sich eines ausgesprochen kompendienhaften Stils, der auf wenig Platz möglichst viel unterzubringen sucht, alle das Thema betreffenden Meinungen zu Wort kommen lassen möchte und so zu einer Argumentation vor allem mit Zitaten führt 3 3 8 . Im Satzbau entstehen dadurch besonders lange Reihungen, umfangreiche Einschübe, worunter Lesbarkeit, Verständigkeit und Flüssigkeit manchmal doch recht leiden 3 3 9 . Es handelt sich bei diesen Schriften nicht mehr um Programme, sondern um den Versuch ihrer Aus- bzw. Durchführung, was also auch stilistisch z u m Ausdruck kommt. Die Wiederaufnahme früherer Themen in anderem Zusammenhang oder in anderer Gestalt ist typisch für diese zweite Periode. Damit aber sind wir bereits bei den inhaltlich-thematischen Unterschieden angelangt, die parallel zu den stilistischen auftreten. In der ersten Periode wendet Wach sich insbesondere kultur- und geistesgeschichdichen, speziell philosophiegeschichtlichen Themen zu und sucht aus Philosophie und Geschichte eine geisteswissenschaftliche Grundlegung auch der Religionswissenschaft zu erreichen. Programmatisch fordert er die Eigenständigkeit der Religionswissenschaft gegenüber Theologie und Philosophie. Der Begriff der Erfahrung, vor allem der religiösen Erfahrung als intersub336

A m deutlichsten wird diese Selbstbezogenheit in „ I m Rückblick aus den Vereinigten Staaten", was mehr zu einer Selbstdarstellung als zu einem Aufsatz über C . H . Becker wird: Z . B . „ . . . Von seinem Interesse für meine Arbeit und mein Leben geschmeichelt und beglückt . . . " (S. 137) usw.

337

D e r Zeitraum zwischen 1935 und 1945 war im großen und ganzen eine Zeit der Umstellung auf die neuen Lebensverhältnisse und literarisch kaum fruchtbar!

338

Dieser zusammendrängende Stil führt zu einer Vielzahl von langen Anmerkungen.

339

Typisch für diese „Stilepoche" sind beispielsweise die „Religionssoziologie", „ D i e Vergleichende Religionsforschung" oder „General Revelation".

Der äußere Bruch des Werkes

71

jektiver Erscheinung, dient ihm als methodisches Element. In dieser Zeit steht das Problem des Verstehens überhaupt im Mittelpunkt aller seiner Untersuchungen. Auf der Suche nach methodischer Klarheit ringt er um die Möglichkeiten, Voraussetzungen und Bedingungen sinnvoller religionswissenschaftlicher Arbeit, sucht nach dem Ort, von dem aus ein wissenschaftliches Verstehen fremder Religionen und ihrer Erscheinungen möglich wird. Dieses Problem geht er immer wieder von den verschiedensten Seiten her an, was immer erneut zu programmatischen Forderungen und wissenschaftstheoretischen Grundsatzüberlegungen führt. In der zweiten Periode hingegen hat Wach den Punkt, von dem aus alle Religionswissenschaft betrieben werden kann, gefunden. Die religiöse Erfahrung wird zum normativen Element, das ihm die Ausführung seines Programmes ermöglicht. Diese Wendung deutet sich bereits im ersten Aufsatz aus den Vereinigten Staaten an, wenn Wach erkannt hat: „Worship . . . bezeichnet wirklich das Herzstück alles religiösen Lebens" 3 4 0 , und „Worship" ist „das Herzstück aller Religion" 3 4 1 . Nachdem sich ihm das Wesen aller religiösen Erfahrung in diesem Sinne „offenbart" hat, beginnt er in immer stärkerem Maße aus der eigenen Religiosität 342 das Wesen der Religion zu entwickeln. Unter dieser Voraussetzung nimmt er seine alte Thematik wieder auf und macht sich an die Ausführung seines Programms. Dabei gerät ihm die Religionswissenschaft immer mehr zu Religionsphilosophie, ja zur Religionstheologie: „I have rather chosen to present to you an analysis of religious experience which, if valid, would serve as a kind of natural theology, to allow a greater understanding between the religions of mankind." 3 4 3 Seine Arbeit verfolgt jetzt zwei Ziele: Er versucht einmal eine 340

W a c h , „Eigenart und Bedeutung", S. 376

341

ebda, S. 378.

342

s. z. B . Loomers Nachruf, S. 2 5 : „As a Christian he believe that the ultimate reality of the world was love and that this reality and this love had been uniquely, supremely, and decisively disclosed in the figure of Jesus Christ. In his heart of hearts there was no ultimately disturbing doubt about the truth testified and witnessed to in Christian faith. The contemporary crisis of faith was not existentially real for him. T h e decision between Christian and non-Christian faiths was not acutally an open question. The present struggle between world religions was in his mind a matter of determining how various religions pointed to dimensions of a final reality who had been most truly and fully revealed in Christ."

343

6=

Wach,

„Religious C o m m i t m e n t " , in: „Understanding and Believing", S. 145.

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Joachim Wach als Lehrer und Forscher

Theorie zu entwickeln und durchzuführen, die den universalen, der ganzen Welt und allen Zeiten gemeinsamen Zügen in den Ausdrucksweisen religiöser Erfahrung gerecht wird 3 4 4 und zugleich von deren Wesen her über die Echtheit oder Unechtheit der jeweiligen religiösen Erfahrung entscheidet, zum anderen will er zeigen, in welcher Richtung sich die künftigen Beziehungen der _ Religionen untereinander entwickeln sollen. In dieser Periode wird die religiöse Erfahrung zu dem, was menschliche Gemeinschaft überhaupt konstituiert: „Echte Kultur zu schaffen ist dem Menschen nur möglich, wo er aus der Verbindung mit dem Urgrund aller Dinge, mit dem Göttlichen, dauernd Nahrung ziehen kann für sein Schaffen." 345 Die Intention von Wachs wissenschaftlicher Arbeit ist jetzt auf eine Zusammenschau der großen Weltreligionen gerichtet, auf die Gemeinsamkeit dessen, was sie in Bewegung setzt und was ihre Entwicklung und Zielgerichtetheit bestimmt. Die angestrebte Allumfassendheit, die bereits stilistisch zum Ausdruck kommt, wiederholt sich auch inhaltlich-thematisch. Die Gründe für diesen „Bruch" in seinem wissenschaftlichen Denken und Schaffen sind in erster Linie persönlicher Natur.

Die biographische Lösung dieses Phänomens Wie schon aus dem bisher Gesagten deutlich wird, hängt dieser „Bruch", diese eindeutige Akzentverschiebung, im Wachschen Werk aufs engste mit der ihm aufgezwungenen Emigration zusammen, mit der sich daraus ergebenden völligen Veränderung seiner wissenschafdichen und persönlichen Lebensverhältnisse. U m nicht Gefahr zu laufen, schon abgehandelte biographische und bibliographische Details zu wiederholen, seien nur einige wesentliche Punkte genannt, die diese sich auch wissenschaftlich dokumentierende Änderung der Lebenshaltung und -einstellung Wachs verdeutlichen. Während für den deutschen Lebensabschnitt Wachs besonders außeruniversitäre Bindungen bestimmend waren, ist die Zeit in Amerika gekenn344

Rudolph irrt, wenn er meint („Die Religionsgeschichte an der Universität Leipzig", S. 148), Wach habe die „Grundkategorien religiöse Erfahrung, religiöses Erlebnis . . . erst in seinen letzten Arbeiten verwendet". Vielmehr gehören sie von Anfang an zu seinem methodisch-inhaltlichen Werkzeug, nur später bekommen sie normativen Charakter.

345

Wach, „Das Selbstverständnis", S. 456.

Die biographische Lösung dieses Phänomens

73

zeichnet durch seine enge Beziehung zur American Episcopal Church einerseits und eine bewußte Integration in die Universitätsgemeinde andererseits. Übte er hier, seinem weltoffenen Elternhaus entsprechend, einen regen Umgang mit Künstlern, Schauspielern und Wissenschaftlern anderer Fachgebiete, ganz entscheidend in jeder Beziehung ist seine Zugehörigkeit zum George-Kreis, beschränkte er sich dort auf Freundschaften mit Fakultätsmitgliedern und Männern aus kirchlichen Kreisen. Diesem Wandel der Beziehungen trägt die immer stärker werdende Hinwendung zu theologischen Fragestellungen Rechnung. Hatte Wach in Deutschland außer seiner Promotion in Heidelberg kaum Verbindungen zu theologischen Fakultäten gehabt, so war er in den Staaten selbst Mitglied einer solchen. Infolge des Emigrationserlebnisses und des Hineinwachsens in kirchliche Kreise vollzieht sich ein entscheidender Wandel seiner eigenen Religiosität, die sich auch wissenschaftlich niederschlägt. Waren seine Fragestellungen ursprünglich mehr philosophischer Art, vor allem unter dem Einfluß von Georg Simmel, der ebenfalls dem GeorgeKreis angehört hatte 3 4 6 , so war sein theologisches Denken von der liberalen Theologie bestimmt. Beides verlagerte sich später immer mehr auf religionsphilosophische und religionstheologische Überlegungen. Es scheint, als habe der späte Wach den Schritt vom Forscher zum Prediger getan, deren Aufgabe er im „Verstehen" einmal so charakterisiert: „Der Forscher, der verstehen will und soll, und der Prediger der wirken will, haben verschiedene Aufgaben. Die Forschung ist Aufgabe des einen, die Anwendung die des andern." 3 4 7 Wie sich zeigen wird, kommen die Ergebnisse der Forschung bei Wach in diesem Sinne zur „Anwendung". Er wird eine eigene Religionstheorie in Gestalt einer Religionstheologie verkünden, nicht aber seine theoretischen Erkenntnisse in der Praxis zu überprüfen suchen. Das auf der Philosophie liegende Schwergewicht in der ersten Periode, das schon bibliographisch deutlich wird, kommt auch inhaltlich zum Tragen. So fordert er in einer Buchbesprechung: „Es kann nicht oft genug betont werden, wie wichtig die Vertrautheit mit philosophischem Denken (das bedeutet nicht Überladung mit philosophiegeschichtlichem Wissen) für den Religionshistoriker ist." 3 4 8 Für ihn selbst aber geht es nicht nur um die 346

G . Simmel, „Die Probleme der Geschichtsphilosophie" „Stefan George, dem Dichter und dem Freunde"!

347

Wach, „Verstehen" II, S. 20.

348

Wach, „Besprechung von Schayer, . . . " , S. 160.

1907, ist gewidmet:

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Joachim Wach als Lehrer und Forscher

Vertrautheit mit philosophischem Denken, sondern um Philosophie, um die Lösung übergeordneter und grundsätzlicher Fragen, um Wissenschaftsbegründung überhaupt: „Manchem wird die Art, in der wir unsere Untersuchung führen, vielleicht zu formal, zu abstrakt erscheinen: er möge bedenken, daß es auch auf diese Weise möglich ist, die entscheidenden Fragen herauszuarbeiten, ja darüber hinaus Lösungen anzudeuten, Zusammenhänge aufzuzeigen und Wege zu weisen, die auch die konkrete Einzelforschung weiterführen werden." 3 4 9 Die Religionswissenschaft erscheint ihm dabei als geeignetes Mittel. Hier sieht er eine sinnvolle Möglichkeit, die „Lebensphilosophie" weiterzuführen, wie z. B. in der Besprechung von Guardinis Dostojewskij-Buch deutlich wird: „ E s handelt sich um eine sehr fruchtbare Verbindung von phänomenologischer Betrachtung, Deskription mit der Richtung auf Wesenserfassung und Tiefenpsychologie, um einen Versuch der Herausarbeitung von Typen des Lebensgefühls, der Lebenswürdigung und -gestaltung aus der tief individualisierten Einzelerscheinung heraus mit einem feinsten Gefühl für diese Individuation." 350 Im Letzten also geht es ihm um Wissenschaftsbegründung, um die „positive" Seite der Philosophie: „Die Philosophie wird eben ihren Beruf nicht endgültig in der in Permanenz erklärten „Infragestellung", die der geisteswissenschaftlichen Arbeit sozusagen dauernd in den Rücken fällt, erblicken, sondern bei aller Aufweisung der Fraglichkeit menschlichen Erkennens und Seins wird sie die positiven Aufgaben der Durchdenkung und Untergründung des in den Geisteswissenschaften arbeitenden Bemühens nicht vernachlässigen dürfen." 3 5 1 Deshalb steht die hermeneutische Problematik im Mittelpunkt seines Denkens und Forschens. Ganz besonders für ihn gilt, was er einmal über die Neukantianer sagt: „Charakteristisch ist dreierlei: der Wunsch, die Nachteile einer übersteigerten Spezialisierung und Auffächerung durch eine Gesamtschau zu überwinden, das Verlangen, tiefer in das Wesen der religiösen Erfahrung einzudringen, sowie die Untersuchung erkenntnistheoretischer Fragen von letztlich metaphysischem Charakter." 3 5 2 In der zweiten Periode tritt an die Stelle der Philosophie die Religiosität, das, was Wach als das Wesen der religiösen Erfahrung erkannt hat. 349 350 351 352

Wach, Wach, Wach, Wach,

„Religionswissenschaft", Vorwort, S. IV. „Religiöse Existenz", S. 196. „Verstehen" II, S. 7. „Religionsforschung", S. 37.

Die biographische Lösung dieses Phänomens

75

Hatte er sich selbst schon früher für einen der Oberwinder der sog. Religionsgeschichtlichen Schule gehalten, s o tritt jetzt immer stärker die Wahrheitsfrage in den Vordergrund: „ I t w a s the mistake of the school of " c o m p a r a t i v e r e l i g i o n " at the turn of the Century to advocate the elimination of value judgments in favor of a completely " o b j e c t i v e " approach. The result w a s an unsatisfactory relativism incapable of contributing to the eternal quest for " t r u t h " , this quest being actually the prime motive in all o u r desire for k n o w l e d g e . " 3 5 3

Unter dieser Voraussetzung vollzieht er

schließlich den Schritt vom Verstehen zum Deuten. Wenn er nun Verstehen sagt, meint er D e u t e n , und z w a r in dem Sinne, in dem er es früher vom Verstehen abgehoben hatte 3 5 4 , auch wenn er diese Trennung schon damals nicht g a n z durchhielt 3 5 5 . Während das Deuten bewußte Voraussetzungen macht: „ U n t e r D e u t u n g verstehen wir vielmehr die Betrachtung und Erklärung v o n einem gegebenen S y s t e m aus, in dem und nach dem das Gegebene zu fassen gesucht w i r d " 3 5 6 , soll das Verstehen diese einklammern: „Verstehen im Gegensatz zum Deuten ist dadurch charakterisiert, daß auf G r u n d des Wissens u m die Bedingtheit versucht wird, sie zu überwinden, z u neutralisieren j e d e n f a l l s . " 3 5 7 Dieser Hinwendung zur D e u t u n g liegt wohl die tiefe persönliche Erfahrung zugrunde, daß der Mensch letztlich angewiesen ist auf die Letzte Wirklichkeit, die Wach als das Movens aller Religion erkannt hat. Denn seine eigene Krisis, verursacht durch die ihm aufgezwungene Emigration, überwand er schließlich durch praktizierte Religiosität (worship), wie sein Leben in Amerika zeigt 3 5 8 . U n d dabei findet er im Wesen der religiösen Erfahrung das universale Deutungsprinzip, d a s ihm „ a l s goldener Schlüssel alle Schlösser öffnen w i r d " 3 5 9 .

355

Wach, „ T h e Place of the History . . . " , S. 160. D o c h auch dieser Schritt deutet sich bereits früher an, wenn Wach im Artikel „Verstehen" in der R G G V, Sp. 1571, sagt: „Sinnzusammenhänge sind nicht mehr — bündig — zu verstehen, sondern allenfalls zu deuten." So schreibt er in der „Religionswissenschaft", S. 100: Es sei das Prinzip der Religionswissenschaft, daß „ . . . eine jede geistige Erscheinung in erster Linie nach ihrem Sinn aus sich heraus aufzufassen, zu verstehen und zu deuten ist," als „individuelle Totalität, die durch eine atomisierende Analyse nicht in Elemente zerlegt, sondern nur aufgelöst und zerstört werden kann."

356

Wach, „Verstehen" II, S. 9.

358

s. hierzu die Nachrufe, sowie die schon aufgeführten Selbstzeugnisse, das Engagement in der Episcopal Church und in der World Student Christian Federation.

359

Wach, „Verstehen" II, S. 13.

353 354

357

ebda, S. 9/10.

76

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

Diese Akzentverschiebung in Wachs wissenschaftlichem Werk hat ihren eigentlichen Grund in biographischen Ereignissen, zumal ihm obendrein die nationalsozialistische Herrschaft in seiner Heimat in den krassesten Auswüchsen vor Augen führte, wohin eine Menschheit ohne einen religiösen Urgrund ihres Lebens sich entwickeln würde. Unter diesem Eindruck der unmenschlichen Barbarei wird für ihn die Zukunft der Menschheit nur noch möglich in einem Leben, das aus der Erfahrung der letzten Wirklichkeit gespeist wird. Parallel mit dieser Entwicklung vom Verstehen hin zum Deuten, der Anwendung eines normativen Systems, läuft eine andere, noch mehr persönlicher Art. Das in der Person Wachs schon immer angelegte Element des „Meisters", wie er ihn einst beschrieb, setzt sich mehr und mehr, vielleicht sogar bewußt infolge der nun angenommenen normativen Haltung, durch: Ist der Lehrer das Haupt einer Schule, so bildet der Meister um sich einen Kreis. Gibt der Lehrer sein Wissen, so gibt sich der Meister selbst 360 . Lebt der Lehrer in seinem Werk, so der Meister in seiner Wirkung fort 3 6 1 . Diese frühe Darstellung entstand unter dem Eindruck Stefan Georges und zeigt zugleich Wachs Selbstverständnis, wie es sich auch in seinem Weiterwirken niederschlägt. Denn es ist ihm weder gelungen, eine wissenschaftliche Schule zu begründen, noch Nachfolger zu finden, die sein Werk fortsetzen oder nach seinen Prinzipien arbeiten, und dennoch wirkt er bis heute in allen Bereichen der Religionswissenschaft fort. Ähnlich wie Wach in der Religionswissenschaft weiterwirkt, wirkt in ihm, in seinem Leben und Denken, die Gestalt seines „Meisters", Stefan George. Darüber soll uns der unter Wachs nachgelassenen Schriften gefundene Aufsatz „Stefan George 1868—1933" 362 näheren Aufschluß geben. O b diese Selbstbesinnung Wachs, in der er George von dessen literarischem Werk her zu fassen sucht, zur Veröffentlichung bestimmt war, wissen wir nicht. Sie gibt uns aber die Möglichkeit, tiefer in die Persönlichkeit Wachs einzudringen, weil sich in dieser Deutung Wachs Verhältnis zu George und damit bedeutsame Züge seiner persönlichen und wissenschaftlichen Entwicklung spiegeln. Diese ist nämlich zutiefst von der Gestalt Georges 363

360

s. Wach, „Meister und Jünger", S. 9. s. ebda, S. 11. 362 veröffentlicht in „Understanding and Believing", S. 11-29. 363 s. ebda, S. 11 Wachs Bemerkung schon über die erste literarische Begegnung. 361

77

D i e biographische Lösung dieses Phänomens

und den Gedanken seines Kreises 3 6 4 geprägt. In vielem ist Wach von hier bestimmt,

ohne daß es — „Meister und J ü n g e r " 3 6 5

und dieses Essay

ausgenommen — direkt fixierbar wird. George und seinen Kreis kann man als W a c h s „religiösen" Referenzrahmen bezeichnen. Hier ist sein religiöses Selbstverständnis, aber auch sein Verständnis von Religiosität überhaupt — zumindest in der ersten Periode seines L e b e n s 3 6 6 — verwurzelt. Dieses Essay beginnt wie ein Nachruf, scheint also noch in Deutschland oder in der ersten amerikanischen Zeit entstanden zu sein. Es kann sich aber auch um eine spätere Überarbeitung — seinem in Amerika gewandelten religiösen Selbstverständnis entsprechend — einer George-Interpretation aus dieser Zeit handeln. Für letzteres spricht Wachs angestrebte Distanz zu George, die schon im Untertitel deutlich wird, wenn er ihn als Dichter und Priester eines modernen Heidentums bezeichnet. Aus christlicher Sicht nämlich sucht er ihn zu deuten und offenbart dabei doch seine tiefe Sympathie und sein Hingezogensein, was zu einer gewissen Zwiespältigkeit dieser Zeilen führt. D i e zentrale Frage Wachs lautet nämlich: Was kann uns Christen dieser „ H e i d e " lehren? 3 6 7 W i e die Leitbegriffe — W o r t , Gestalt, Distanz, Weissagung des Lebens, Weissagung des G o t t e s , Gesetzgebung, Christentum und Heidentum —, in denen W a c h George zu fassen sucht, zeigen, geht es dabei nicht um „lehrerhafte" Belehrung, sondern um meisterliche Wirkung 3 6 8 , um Lebensgestaltung also, um religiöses Erfahren (-Können) und religiöses Sich-Verhalten. G e o r g e nämlich kämpfte für den „Zusammenbruch dieser fauligen, gottlosen K u l t u r " 3 6 9 , und siegte „über einen areligiösen Positivismus durch ein starkes, tief religiöses H e i d e n t u m " 3 7 0 . E r lehrte, daß Existenz nur dort 364

s. o. S. 15.

365

Dieses B u c h ist m e h r ein H y m n u s auf den Georgekreis denn eine religionssoziologische Untersuchung.

366 Vielleicht ist dieses Essay unter dem Eindruck des Nationalsozialismus entstanden, der G e o r g e als einen seiner „ K ü n d e r " propagandistisch zu vereinnahmen suchte, was nicht nur das von G e o r g e Abstand-Nehmen dieser Schrift erklären könnte, sondern auch Wachs Hinwendung zu konfessionell gebundener Religiosität in diesen Jahren (s. a. ebda, S. 23). 367

s. W a c h , „ G e o r g e " , S. 28.

368

s. W a c h , „Meister und J ü n g e r " und die Scheidung dort.

369

s. W a c h , „ G e o r g e " , S. 25.

370

s. ebda, S. 26.

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Joachim Wach als Lehrer und Forscher

ist, wo Gott präsent ist 371 , und Gott nur präsent ist, wenn der Mensch wahrhaft (Mensch) ist 3 7 2 . Er kündete diesen Gott und seine neue Inkarnation in gottloser Zeit 3 7 3 . Doch nicht er brachte ihn hervor, sondern rief zu ihm, wie Georges Satz „Schweig gedanke, Seele bete" Wach beweist 374 . George ruft uns in die Mitte des Lebens 375 . Das bedeutet Menschsein um des Menschseins willen, Erneuerung von Innen, Reinheit und Klarheit 376 der Gesinnung, Befreiung von den nackten, konkreten Tatsachen 377 und gestaltende Erneuerung 378 einer Kultur mit Gott 379 , die das Leben heiligt 380 , das zu einer transparenten Ganzheit wird 3 8 1 , und auch die Natur erst in der Kultur zu sich selbst (wieder) finden läßt 382 . So weist George die Einheit von Körper und Geist 383 , und kündet, daß die Schönheit die Göttlichkeit des Lebens ausmacht 384 . Er ruft also zur Menschwerdung des Menschen im Angesicht Gottes 385 . Er gibt nicht nur den Anstoß zu einer sogearteten Erneuerung der Kultur, sondern lehrt uns die Totalität der Erfahrung (experience) und der Hingabe (worship) 386 , daß es letztlich nicht auf Reflexion ankommt, sondern auf schauende Erfahrung 387 , die die Form der Begegnung im Ich-Du-Verhältnis ergreift 388 und Leben als Bewegtheit der Seele 389 erleben läßt. Das ist wahre Religiosität — als den Menschen 371

s. ebda, S. 27.

372

s. ebda, S. 27.

373

s. ebda, S. 20.

374

s. ebda, S. 26.

375

s. ebda, S. 26.

376

s. ebda, S. 12/3, wie es George mit dem W o « gelang, das das Ding schafft und

377

s. ebda, S. 28.

378

s. ebda, S. 13, wie es George mit der Form und der Kunst um der Kunst willen

v o n dem kündet, was ist.

gelang. 379

s. ebda, S. 12.

380

s. ebda, S. 18.

381

s. ebda, S. 17.

382

s. ebda, S. 18.

383

s. ebda, S. 20.

384

s. ebda, S. 15.

385

s. ebda, S. 25/6.

386

s. ebda, S. 26.

387

s. ebda, S. 13.

388

s. ebda, S. 15.

389

s. ebda, S. 15.

Die biographische Lösung dieses Phänomens

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erneuernde Hingabe. Auch wenn George ein heidnischer Rufer und Künder war 3 9 0 , aus dem uns eine machtvolle Religiosität anspricht 391 , so lehrt er uns Christen, nicht über Götter zu sprechen, sondern wie er sie ansprach — Gott anzusprechen 392 . Er lehrt uns Anbetung und Hingabe und die ganze Tiefe der Erfahrung: „wie übermächtig die Erwartung des kommenden Herrn sein kann" 3 9 3 . In diesem Aufsatz erweist sich Wach ganz als Jünger Georges, denn er hat das vollzogen, was der „Meister" einmal so gesagt hat: „Neuer Bildungsgrad (Kultur) entsteht indem ein oder mehrere urgeister ihren lebensrhythmus offenbaren der zuerst von der gemeinde dann von einer größeren Volksschicht angenommen wird. Der urgeist wirkt nicht durch seine lehre sondern durch seinen rhythmus: die lehre machen die jünger." 3 9 4 Wie sich zeigen wird, liegt hier Wachs Verständnis von Religion beschlossen, wie das von Religiosität, das er uns in seinem George-Essay selbst vorgeführt hat. Deshalb ist bei Wach alle Religion gestiftete Religion, offenbar geworden in Wort und Haltung der großen religiösen Persönlichkeiten 395 , die sie in der ganzen Reinheit, Klarheit und Schönheit ihrer Gedanken aussprechen. Deshalb ist die Religion — aber auch ihr Verstehen — etwas Elitäres und grundsätzlich Ästhetisches 396 . Wie sich bei George die Welt neu in Wort und Gestalt offenbart, offenbart sich bei Wach die Welt neu im religiösen Wort 3 9 7 und den Gestaltungen der Religion: den Ausdrucksformen religiöser Erfahrung. Vor allem aber im Wort herrscht die göttliche Kraft des Geistes, die die Welt zu erneuern vermag. Deshalb auch gilt es in der Religionswissenschaft danach zu fragen, wie eine Religion „aussehen würde, wenn sie nach ihrer letzten und tiefsten Idealität einmal wirklich 390 391 392 393 394

395 396

397

s. das oben über den Zwiespalt Gesagte. s. ebda, S. 28: ein machtvoll religiöses Heidentum spricht uns in George an. s. ebda, S. 26. s. ebda, S. 28. zitiert bei Schonauer, „George", S. 98; s. die Parallelen in Wachs „Meister und Jünger" zu diesem Selbstverständnis. s. z. B. Wach, „Idee und Realität", S. 338ff. z. B. „Mahäyäna", S. 13: „Aus den Mahäyäna-Schriften spüren wir ein großes Maß von objektiver Religion. Das äußert sich eben auch in der ästhetischen Form." s. u. das Schwergewicht, das Wach auf die literarischen Religionen, besonders auf die heiligen Schriften, legt.

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J o a c h i m Wach als Lehrer und Forscher

gelebt sein würde" 3 9 8 . Diese Idealität zu erschauen, ist ihr eigentliches Ziel, worin die ganze Problematik der Wachschen Religionswissenschaft liegt, weil sie so in „höheren Regionen" bleibt und darum einem Mißverhältnis von „Theorie und Praxis" ausgesetzt ist, wie sich im Verlauf der Untersuchung zeigen wird. Mit diesem Religionsverständnis korrespondiert Wachs (Selbst-Verständnis von Religiosität, das sich, wie deutlich geworden, zwischen den Polen Erfahrung (experience) — der Tiefe und Schönheit des menschlichen Lebens, was sich später zum Gefühl der Angewiesenheit weitet — und Hingabe (worship) — als Dienst und Anbetung — spannt. Diese korrespondierenden Glieder der Religiosität, Erfahrung und Hingabe, werden sich als die tragenden Elemente der Religionswissenschaft Wachs erweisen. Hier, bei George, findet sich also der eigentliche biographische Bezug der wissenschaftlichen Zentralbegriffe Wachs und seiner wissenschaftlichesoterischen Grundhaltung. Denn wie bei George nur der Initiierte Zugang zur Kunst des inneren Bezirkes hat, hat bei Wach auch nur der, der religiösen Erfahrung Geweihte, Zugang zur Welt der Religion: „Es ist notwendig etwas zu sein, wenn man ,verstehen' will: in je tieferem, umfassenderem Sinne man Mensch ist, um so tiefer und umfassender versteht man."399 Bevor wir uns den Einzelheiten der Religionswissenschaft Wachs im Bewußtsein dieser Tatsachen zuwenden, müssen wir uns zuvor seines wissenschaftlichen Referenzsystems vergewissern, weil aus ihm vieles verständlich wird, was sein wissenschaftliches Denken bestimmt und sein Gesamtwerk zu einer Einheit fügt.

Wachs wissenschaftliches Referenzsystem im Hinblick auf die sich daraus ergebenden Abhängigkeiten seines Gesamtwerks Im Gegensatz zur Fruchtlosigkeit einer Bestimmung des Referenzsystems bei Kollektivindividuen — was hat man z. B. wirklich über den Islam ausgesagt, wenn man festzustellen versucht, welche Elemente in ihm aus dem Christentum stammen oder auch nur stammen könnten? — 398

W a c h , „ E i n M e i s t e r s t ü c k " , Sp. 2 1 .

399

W a c h , „Religionswissenschaft", S. 153.

Wachs wissenschaftliches Referenzsystem

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erscheint eine Untersuchung des Referenzsystems bei Einzelindividuen sinnvoll 400 . Denn wenn man auch die Wahrscheinlichkeit spontaner Entstehung gleich- oder ähnlichlautender Gedanken nicht völlig ausschließen sollte, so steht das Einzelindividuum doch unter dem Einfluß und in Abhängigkeit von fremden Denken und Entscheiden. Ein Wissenschaftler ist ohne ein theoretisches und wissenschaftsgeschichtliches Referenzsystem nicht denkbar. Das bedeutet freilich in den wenigsten Fällen Abhängigkeit im Sinne eines reinen Epigonentums, da ja auch durch eine andere Anwendung oder das Hineinstellen in einen anderen Zusammenhang durchaus „etwas Neues" entstehen kann. Dieses Neue aber wird auf dem Hintergrund des dazu bewußt oder unbewußt Absorbierten in vielen Fällen deutlicher und verständlicher. Bei einer solchen Untersuchung des wissenschaftlichen Referenzsystems wird sich selbstverständlich nicht jedweder Einfluß nachweisen lassen, was bei der Vielfältigkeit und Vielgestaltigkeit des bewußt oder unbewußt Angeeigneten ein nicht zu bewältigendes Unterfangen wäre. Es werden sich aber in jedem Fall Hauptlinien der Abhängigkeiten zeichnen lassen, aus denen sich wesentliche Gestalten mit ihrem speziellen Einfluß herausheben. Im Falle Wachs liegt das Referenzsystem ziemlich deutlich vor uns, da er in fast allen seinen Werken seine „Bezugspunkte" aufnimmt, sei es, um sich abzusetzen oder um sich bestätigen zu lassen. Als Glied der Generation, die ihre wissenschaftliche Arbeit unter dem Eindruck des ersten Weltkrieges an dessen Ende beginnt, nimmt er vor allem den Kampf auf mit Historismus und Positivismus, als dessen einen Auswuchs er den „Psychologismus" verschiedentlich besonders angeht. So macht er gegen die sog. religionsgeschichtliche Schule einerseits Front, gegen die aufkeimende dialektische Theologie mit ihrem Religionsverständnis andererseits. Letztlich aber geht es um die Erneuerung und Wiederbelebung der Geisteswissenschaften, um die Wiedergewinnung ihrer Eigenständigkeit gegenüber den in sie eingedrungenen naturwissenschaftlichen Denkstrukturen. Hierbei schließt er sich Dilthey an, der bekanntlich den Naturwissenschaften als „erklärenden" die Geisteswissenschaften als „verstehende" Wissenschaften gegenüberstellte. Einer der „geistigen Väter" Wachs ist also Dilthey, dessen Einfluß auch auf seine Religionswissenschaft von außerordentlicher Bedeutung ist, der aber vor allem das philosophische Denken Wachs geprägt 400

Wach freilich hält den Aufweis der Herkunft für wenig gewinnbringend (s. „ V e r s t e h e n " II, S. 8.)

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Joachim Wach als Lehrer und Forscher

hat. Dilthey scheint Wach ursprünglich von Simmel vermittelt worden zu sein, auf den sich — im Zusammenhang mit dem George-Kreis — Wachs religionswissenschaftliches Denken in ganz besonderem Maße gründet. Für die religionswissenschaftliche Arbeit ist darüber hinaus Troeltsch von entscheidender Bedeutung, aus dessen System sich Wachs „theologischer" Fundus speist. Von ihm aus sucht er auch die zu wenig aus dem Religiösen sich entwickelnde Religionssoziologie Webers zu überwinden. Durch diese drei für ihn bedeutendsten „Lehrer" sind ihm weitere für sein Denken und sein Werk wichtige Systeme und Denkansätze anderer Theologen, Philosophen und Historiker vermittelt worden. So ist er durch Dilthey zu Schleiermacher und Ranke geführt worden. Uber Simmel scheint er zu Droysen, zu Bergson — ganz in dessen Sinne verwendet er den Begriff der Intuition als dem Menschen allein gegebene Weise schauenden Erkennens — und zu Steinthal gekommen zu sein, dem er eine umfangreiche Besprechung im dritten Band seines „Verstehens" angedeihen läßt, die sich aus dessen Wirkung auf Dilthey und Simmel erklärt. Die Religionshistoriker des 19. Jahrhunderts, allen voran Tiele, scheint ihm Troeltsch nahegebracht zu haben. Daneben sind für sein wissenschaftliches Referenzsystem noch zu nennen: James, den er wohl in der Wobberminschen Ubersetzung kennengelernt hat und der seinen Begriff der religiösen Erfahrung stark beeinflußt; Otto, von dem er vor allem die Merkmale des Numinosen und den Spontaneitätscharakter der religiösen Erfahrung übernimmt; Tillich, aus dessen Religionsphilosophie der späte Wach Anregungen für die die religiöse Erfahrung konstituierende „Letzte Wirklichkeit" erhält; sowie bedingt noch Scheler und van der Leeuw. Diese Namensreihe läßt sich je nach der Gewichtung wahrscheinlich um einige Namen verlängern, doch ist es unmöglich, in unserem Zusammenhang allen Einflüssen und deren Querverbindungen nachzugehen. Deshalb werden wir uns auf die Darstellung der Einflüsse Troeltschs, Diltheys und Simmeis beschränken. Da auch zwischen diesen drei Denkern eine teilweise verwirrende Fülle von Querverbindungen besteht, worin sie sich gerade in Wach treffen, haben wir jedem von ihnen einen bestimmten Aspekt des Wachschen Referenzsystems zugewiesen, ohne natürlich den einen oder anderen ganz in diesem Bezugsrahmen aufgehen lassen zu wollen. So nämlich wird die Darstellung übersichtlicher, und die Abhängigkeiten der Wachschen Religionswissenschaft werden später in ihren einzelnen Aspekten deutlicher.

Wachs theologischer Referenzrahmen

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Wachs theologischer Referenzrahmen Die Entscheidung, ob man Wach einen theologischen Referenzrahmen zusprechen kann, wird davon abhängen, wie man Sinn, Aufgabe und Gegenstand der Theologie fassen zu müssen meint. Wach hat freilich niemals Theologie in irgendeinem konfessionellen Sinn betrieben, aber er hat besonders in seinen letzten Jahren aus den Grundideen des Christentums, die sich auf eigentümliche Weise mit dem Wesen der religiösen Erfahrung kreuzen, eine Art Religionstheologie, bzw. Theologie der Religion entworfen. Diese ist getragen von der Uberzeugung, daß das Christentum die höchste Stufe der religiösen Etwicklung ist, daß die vollkommenste Form der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus der Menschheit zuteil geworden ist. In weiten Denkbereichen vollzieht sich hier eine Verbindung von natürlicher Theologie und Geschichtsth.eologie, und es entsteht etwas, was man vielleicht auch im Schleiermacherschen Sinne als „philosophische Theologie" bezeichnen könnte 401 . In diesem Zusammenhang, besonders bei der Frage nach Stellung und Absolutheit des Christentums im Hinblick auf die anderen Religionen, scheint Troeltsch länger und nachhaltiger auf Wach gewirkt zu haben, als ursprünglich ersichtlich. Vor allem in seiner „Religionswissenschaft" nämlich sucht Wach sich verschiedentlich von Troeltsch abzusetzen 402 und hält ihm besonders vor, infolge seines durchaus theologischen Interesses an grundsätzlich wissenschaftstheoretischen Fragen trügen deren Lösungsversuche „verhältnismäßig so wenig" aus „für den Aufbau und die Fundierung der empirischen religionswissenschaftlichen Disziplin" 403 . Vor allem wendet er sich in dieser frühen Zeit gegen den normativen Charakter, den Troeltsch der Religionswissenschaft beimißt 404 , dagegen, daß ihre Aufgabe bestimmt wird als die „Frage nach dem Wesen der religiösen Phänomene, nach dem Wahrheits- und Erkenntnisgehalt dieser Phänomene, nach dem Wert und der Bedeutung der großen historischen Religionsbildungen" 405 , 401

s. bes. Kap. „Das Einmünden der Religionswissenschaft in eine Religionstheo-

402

s. W a c h , „Religionswissenschaft", S. 48 A n m . 1), S. 53, Anm. 1), S. 5 4 f f , S.

logie." 63 u. anderswo. 403

ebda, S. 120.

404

ebda, S. 123/4.

405

Troeltsch, „Wesen der Religion" (II), S. 462.

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J o a c h i m W a c h als Lehrer u n d F o r s c h e r

gegen eine Aufgabenstellung also, die er selbst in den späteren Jahren der Religionswissenschaft zuweist 406 . Wenn wir hier die Einflüsse Troeltschs auf Wach im theologischen Bereich hervorzuheben gedenken, so zielt das besonders auf die späten Jahre seiner wissenschaftlichen Arbeit. Dabei sollen nur einige wenige prägnante Gedanken und Ansätze Troeltschs vorgeführt werden, die sich später bei Wach wiederfinden. Wach selbst hat Troeltsch in Berlin gehört und scheint sich auch deshalb zu ihm hingezogen gefühlt zu haben, da dieser sowohl nach der historischen, als auch nach der geschichtsphilosophischen Seite hin entscheidend von Dilthey 407 beeinflußt ist. Hier soll aus dem theologischen Werk Troeltschs, in dem Philosophie und Geschichtstheorie mit der Theologie zu einer inneren Einheit verschmelzen, eine Leitlinie herausgearbeitet werden, die für Wach besonders wichtig geworden ist. Troeltschs Ziel ist es, der christlichen Theologie eine wissenschaftliche Grundlage zu gewinnen 408 . Indem er dabei den Faden „natürliche Religion" wiederaufnimmt, wird ihm der von der Religionsgeschichte bereitgestellte Stoff zum Ausgangspunkt seines Systems. Dabei ist für ihn die „Kantisch-Schleiermacherische Methode . . . die einzig mögliche" 4 0 9 in der Religionswissenschaft. Deshalb ist die psychologische die erste Stufe der Durcharbeitung des vorliegenden Materials: „Die Psychologie ist das Eingangstor zur Erkenntnistheorie" 410 . Denn damit ist die Erkenntnis auf die Wirklichkeit zurückgeführt: „Die heutige Religionswissenschaft hält sich an dasjenige, was ohne Zweifel tatsächlich vorliegt und ein Gegenstand wirklicher Erfahrung ist, an das subjektive religiöse Bewußtsein selbst . . . So ist es der Geist des Empirismus, der hier wie an anderen Punkten vollständig gesiegt hat. Der Empirismus auf diesem Gebiete bedeutet aber die psychologische Analyse." 4 1 1 Diese Analyse wird das religiöse Erleben, die religiöse Erfahrung offen legen und damit zum Besonderen des Religiösen überhaupt führen: „Es bleibt die Aufgabe einer reinen Empirie, einer wirklichen Psychologie der Religion, die religiöse 406

s. K a p . „ D a s E i n m ü n d e n der R e l i g i o n s w i s s e n s c h a f t in eine R e l i g i o n s t h e o l o g i e . "

407

T r o e l t s c h s S e l b s t b e z e u g u n g über sein Verhältnis zu Dilthey ist gut dargestellt

408

W a c h f o l g t einem ähnlichen Z i e l : der „geisteswissenschaftlichen

bei S p i e ß , „ D i e Religionstheorie v o n Ernst T r o e l t s c h " , S. 97—104. der Religionswissenschaft! 409

T r o e l t s c h , „ W e s e n d e r R e l i g i o n " (II), S. 488.

410

T r o e l t s c h , „ P s y c h o l o g i e und E r k e n n t n i s t h e o r i e " , S. 34.

411

e b d a , S . 6.

Grundlegung"

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Wachs theologischer Referenzrahmen

Erfahrung ohne Vorurteil für oder wider zu studieren, sie in ihrer charakteristischen Eigentümlichkeit zu erfassen, Zusammenhang und Analogie mit anderen psychischen Phänomenen festzustellen, die besondere Färbung zu bezeichnen, die den allgemeinen psychischen Funktionen zuteil wird, wenn sie unter die Wirkung der besonderen religiösen Zuständigkeit geraten. Gedankeninhalte,

Bilder, Kulte, Organisationen der Religion

wechseln

unbegrenzt; aber bei aller Verschiedenheit kommt ihnen eine spezifische Eigentümlichkeit zu, die eben um deswillen zunächst in einer gewissen Formbestimmtheit muß."412

dieser Zustände

und

Erfahrungen

Diese wesentlichen und charakteristischen

gesucht

werden

Eigentümlichkeiten

machen für Troeltsch „das Wesen der R e l i g i o n " 4 1 3 insofern aus, als an ihnen psychologische Erscheinungen als religiöse Phänomene erkannt werden können. „ E s ist das , Wesen der Religion', das in den verschiedenen Erscheinungen verschieden wirklich wird, aber nach der reinen Herausstellung seiner selbst drängt, . . . Dieses Wesen der Religion erscheint tatsächlich in fortwährender Veränderung und Bewegung seiner Erscheinung . . , " 4 1 4 .

Doch

„hinter den mancherlei Gestalten und Erscheinungsformen der Religion liegt ein gleichbleibender Kern, ein Bewußtseinserlebnis von eigentümlicher Art, ein letztes nicht mehr weiter analysierbares Urphänomen der menschlichen Seele. Dieses Erlebnis ist nur aus sich selbst heraus zu verstehen." 4 1 5 Denn dieses „Urphänomen aller Religion" ist „der Glaube an Präsenz und Wirkung übermenschlicher Mächte mit der Möglichkeit der inneren Verbindung mit i h n e n " 4 1 6 . N u r bis hierher allerdings kann die Psychologie die Untersuchung der Religionen „auf ihre religiösen Grundideen" 4 1 7 führen, denn sie vermag ausschließlich Tatsachen- bzw. Erfahrungsmaterial zu geben. H i e r schließt sich die zweite Stufe des Troeltsch'schen Systems an, das nach einigen methodischen Bemerkungen zu dieser ersten Stufe darzustellen sein wird.

412

ebda, S. 10/11.

413

Das „ W e s e n der Religion" läßt sich bei ihm in zweifacher Weise auffassen: In diesem Zusammenhang handelt es sich um einen Allgemein- bzw. Gattungsbegriff. Andererseits meint es auch den Wahrheitsgehalt der Religion im Gegensatz zur Erscheinung, (s.Troeltsch, „ W e s e n der Religion", S. 489).

414

T r o e l t s c h , „Empirismus und Piatonismus . . . " , (II), S. 371.

415

B o d e n s t e i n , „Neige des H i s t o r i s m u s " , S. 18.

416

T r o e l t s c h , „Wesen der R e l i g i o n " , (II), S. 493.

417

7

T r o e l t s c h , „Psychologie und Erkenntnistheorie", S. 7. Flasche: J o a c h i m Wach

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Joachim Wach als Lehrer und Forscher

Der methodisch wesentlichste Gesichtspunkt Troeltschs ist, daß „das Wesen der Sache . . . in einer Analyse der lebendigen Gegenwartsreligion" zu suchen ist, „die ihr zunächst lediglich eine Tatsache ist" 418 . Von hier erschließen sich die religiöse Erfahrung, die in je und je besonderen Bildern und Symbolen ihren Ausdruck findet, der Kultus, der eine geordnete Betätigung des Gottesverhältnisses und Kristallisationspunkt für die Bildung einer religiösen Gemeinschaft ist. Diesem Bereich nähert sich der Forscher durch Selbst- und Fremdbeobachtung: „Neben die Selbstbeobachtung tritt die Beobachtung anderer, besonders die Beobachtung extremer und charakteristischer Fälle, oder die Beobachtung von Angehörigen fremder Konfessionen und Religionen. Je weniger das beobachtete fremde religiöse Leben mit den eigenen gedanklichen Interessen zu tun hat, um so mehr darf man an Objektivität und Beobachtung glauben." 419 Letztlich aber erschließt es sich durch hypothetisches Nacherleben: „Die Analyse bleibt freilich daran gebunden, daß man selbst irgendwie religiöse Zustände an sich kenne oder wenigstens hypothetisch nachzuerzeugen vermöge." 420 Damit meint Troeltsch keine „unmittelbare Intuition" 421 , sondern das Nacherleben ist ein Erfassungsmittel, „vermöge dessen man fremdartig bedingtes religiöses Leben wirklich erleben und das eigene bisherige hypothetisch objektivieren und das heißt in seiner schlechthinnigen alleinigen Geltung in Frage stellen kann" 4 2 2 , wodurch man dahin gelangt, religiöses Erfahren und Erleben als Tatsache zu verstehen, als das Erfahrungsmaterial, als das es die psychologische Analyse darzubieten vermag 423 . Denn hinter 418

ebda, S. 9.

419

ebda, S. 10.

420

ebda, S. 10.

421

Troeltsch, „Gesammelte Schriften" III, S. 684: „Es gibt keine unmittelbare

422

Troeltsch, „Die Absolutheit", S. X V .

Intuition". 423

Genau an dieser Stelle setzt Troeltschs Kritik am James ein, weil dieser meint, die religiöse Erfahrung allein in diesem vordergründigen Bereich bereits erfaßt zu haben. Siehe „Empirismus" (II), S. 376: „So ist auch die Charakterisierung der Bewußtseinstatsachen oder Erfahrungen, die er als religiöse mit der gewöhnlichen Sprache bezeichnet, etwas ganz anderes als die Aufsuchung des ,Wesens' und typischen Gültigkeitscharakters der Religion. James nimmt die religiösen Erfahrungen rein empirisch auf und gibt eine rein empirische, ungefähre Charakteristik, die die Merkmale beliebig häuft und völlig offen läßt, ob die religiösen Erfahrungen überhaupt einheitliche und spezifische Erfahrungen darstellen."

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den psychischen Vorgängen, also hinter dem, was die Psychologie aufzudecken vermag, muß ein Movens stehen, das sie begründet und in Gang zu setzen vermag. Mit diesem Gedanken setzt die zweite Stufe des Troeltschschen Systems ein, die zur eigentlichen Wesensbestimmung der Religion führen soll. Hier geht es um „das wirkliche Wesen im Gegensatz zur bloßen Erscheinung oder dem Wahrheitsgehalt der Religion" 4 2 4 . Dafür bedarf es „einer eigenen, völlig anders zu führenden Untersuchung, die man im Gegensatz zur psychologischen als erkenntnistheoretische bezeichnen m u ß " 4 2 5 , die sich aber immer noch bezieht „auf die Gesamterscheinung der Religion, auf das in allen geschichtlichen Formen enthaltene Gemeinsame" 4 2 6 . Hierbei darf auf keinen Fall das Mittel der Definition angewandt werden 4 2 7 . Ebenso ist die Frage nach der Entstehung der Religion im Sinne der bisher fast ausschließlich gestellten Ursprungsfrage illegitim: „Alle Versuche der Phantasie, eine solche Entstehung zu konstruieren, verfahren nach Analogie der heutigen Entstehung, die aber ihrerseits immer schon die Hauptsache, das Vorhandensein religiöser Vorstellungen, voraussetzt. Will man dann aber die Frage der Entstehung nicht als Frage nach der Urzeugung der Religion, sondern als Frage nach den inneren Gründen und Notwendigkeiten ihrer Hervorbringung auffassen, so ist der Entstehungsgrad selbst immer schon in einer Anlage oder inneren Nötigung des Geistes vorausgesetzt, und es handelt sich nur um Wesen und Recht dieser Anlage; dann aber stehen wir vor der erkenntnistheoretischen Frage, die nicht eine Entstehungs-, sondern eine Gültigkeitsfrage ist." 4 2 8 Diese Untersuchung des Gültigkeits- bzw. Wahrheitswertes „auf dem besonderen Gebiet des religiösen Lebens . . . kann nicht mehr tun, als daß sie ein im Wesen der Vernunft liegendes apriorisches Gesetz der religiösen Ideenbildung aufweist, das seinerseits in einem organischen Zusammenhang mit den übrigen Apriori der Vernunft steht" 4 2 9 . Damit leistet die erkenntnistheoretische Untersuchung lediglich den Beweis der Vernunftnotwendigkeit der religiösen Ideenbildung, nicht aber den für eine Existenz des religiösen Objektes an sich 4 3 0 . Der Ausgangspunkt für die Analyse des 424

Troeltsch, „Wesen der Religion", II, S. 489.

425

ebda.

426

ebda.

427

ebda, S. 490.

428

ebda, S. 491.

429

ebda, S. 494.

430

s. ebda, S. 494/95.

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rationalen Apriori der Religion ist freilich die Tatsache, daß sich „die Religion als besondere Kategorie oder Form psychischer Zuständlichkeiten" aus „der mehr oder minder dunklen Präsenz des Göttlichen in der Seele ergibt" 4 3 1 . Die religiöse Ideenbildung als Ausdruck der religiösen Erfahrung geschieht deshalb auf Grund der „Einwirkungen des Göttlichen auf den menschlichen Geist" 432 . Die erkenntnistheoretische Untersuchung der Religion, aufbauend auf die psychologische, führt so zum Zentrum und schließlich zum Objekt der Religion: „Auf die Zusammenfassung von beiden kommt es von Haus aus und im allgemeinen für das Problem an, und in der Zusammenfassung von beiden, in der Vereinigung des Bewußtseins um eine notwendige Idee mit der Verlebendigung dieser Idee in bestimmten, sie erregenden Erlebnissen und Vorstellungen, liegt der eigentliche Kern und Höhepunkt des Problems. Denn in dieser Zusammenfassung entsteht das Grundphänomen der Religion, die Empfindung der Gegenwart des Göttlichen in konkreten endlichen Ereignissen und Wirklichkeiten. Keine Theorie kann dies Höchste und Letzte mehr erklären. Sie kann nur zeigen, daß in diesem Punkte die beiden Hauptbetrachtungsweisen, die psychologische und erkenntnistheoretische, zusammentreffen, und daß ihre gegenseitige Durchdringung die religiöse Gegenwartsempfindung sowohl vor der Verflüchtigung in bloße abstrakte Gedanken als vor der Auflösung in allerhand Zufälligkeiten und Menschlichkeiten bewahrt. Die lebendige Produktion des inneren Lebens ist entscheidend, aber wir sind nicht ihrem zufälligen Flusse und seinen Unklarheiten ausgeliefert, sondern wir können aus ihm immer zum Zentrum und zur geordneten Verknüpfung der ganzen Vernunft mit diesen Zentrum streben" 433 . Damit bleibt der grundlegende Glaube aller Religion bestehen, „Offenbarung und Erleuchtung durch die Gegenwart des göttlichen Lebens in der Seele zu sein und aus verborgenen Gründen des unbewußten Lebens hervorzuwachsen, wo es zusammenhängt mit der Weltvernunft, und aus denen heraus die Gottheit sich im aktuellen religiösen Vorgang offenbart" 434 . Nachdem Troeltsch in dieser Verbindung ein rationales Apriori der Religion erstellt hat, das im Grunde eine bewußtseinsnotwendige Beziehung aller Ideenbildungen auf das eine Zentrum hin 431

Troeltsch, „Psychologie und Erkenntnistheorie", S. 35.

432

ebda, S. 49.

433

ebda, S. 52.

434

ebda, S. 53.

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meint und damit allen anderen Aprioris metaphysischen Halt gibt, ergibt sich die Möglichkeit, alle Religionsbildungen von ihrem Kern her zu verstehen. Die Erkenntnistheorie hat den psychologischen Erscheinungen ihren Gültigkeitscharakter, ihre Vernunftsgemäßheit abgewonnen, hat das abgestoßen, was nur psychologisch ist, und so einen Bereich der Ideenwahrheit der Religion erstellt. Damit ist die Basis für den nächsten Schritt innerhalb des Systems von Troeltsch erreicht. Denn in der dritten Stufe geht es darum, der Besonderheit des Religiösen in der Geschichte nachzugehen. Dabei sind die beiden Grundvoraussetzungen, unter denen Geschichte überhaupt gedacht werden kann, von entscheidender Bedeutung. Einmal ist für Troeltsch Bewegung der Grundbegriff des Geschichtlichen überhaupt 4 3 5 , zum anderen ist die Grundvoraussetzung der historisch-kritischen Methode die Annahme der Gleichartigkeit allen historischen Geschehens. „Diese Gleichartigkeit ist keinesfalls als Gleichheit zu verstehen. Bestehen doch Unterschiede in der geschichtlichen Wirklichkeit, die ihrerseits nur dadurch als Unterschiede erkannt werden, daß jedesmal ein Kern gemeinsamer Gleichartigkeit vorhanden i s t . " 4 3 6 N u r diese Gleichartigkeit macht das Verstehen geschichtlicher Vorgänge möglich, insofern der Wissenschaftler in die Gleichartigkeit des menschlichen Geistes eingeschlossen ist 4 3 7 . Methodisch sind deshalb die Prinzipien der Kritik, der Analogie und der Korrelation anzuwenden. Denn die moderne Historie ist „die auf kritische Quellenanalyse und psychologische Analogieschlüsse aufgebaute Entwicklungsgeschichte von Völkern, Kulturkreisen und Kulturbestandteilen, die alle jene Dogmen in den Fluß des Geschehens auflöst und mit nachfühlender Gerechtigkeit alle Erscheinungen zunächst an ihrem eigenen Maße mißt, um sie dann in einem Gesamtgebilde des kontinuierlichen und in allen individuellen Erschei-

43s

Dabei will er weder das Hegeische System von Thesis-Antithesis und Synthesis, noch das organische Schema von Geborenwerden, Wachsen und Sterben als ausreichend verstanden wissen, da beide nicht das Wesen der Bewegung, sondern nur oberflächlich diese begründen, weshalb er eine metaphysische Realität für die historischen Subjekte zu gewinnen sucht, (s. Troeltsch, „Moderne Geschichtsphilosophie", (II), S. 724/25.

436

Alberca, „ D i e Gewinnung theologischer N o r m e n aus der Geschichte der Religion

437

Hier kommt wiederum das erkenntnistheoretische Prinzip des Nacherlebens

bei E . Troeltsch", S. 39. o. ä. z u m Tragen! (s. oben).

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nungen sich gegenseitig bedingenden Werdens der Menschheit zu vereinigen." 4 3 8 Ziel der historischen Untersuchung ist, einen Sinnzusammenhang aus dem Gesamtkomplex der geschichtlichen Erscheinungen herzustellen. Aus diesem Gesamtzusammenhang nämlich sollen Wert- und Würdigungsmaßstäbe gebildet werden. Damit aber wird aus der empirischen Geschichtsforschung Geschichtsphilosophie: „Die Beziehung der Geschichte auf ein Wertsystem ist ein geschichtsphilosophisches Problem" 439 . Denn nun kommt es auf „eine Urteils- und Begriffsbildung an, die auch hier die unendlichen Mannigfaltigkeiten durch Allgemeinbegriffe überwindet; aber diese Begriffe müssen hier ihr Wesen darin haben, daß sie das Charakteristische und Interessierende dieser Mannigfaltigkeit zum Organisationsprinzip haben" 4 4 0 . Das bedeutet, auf das Besondere der Religion angewendet, daß die Geschichtsphilosophie der Religion versuchen muß, die Mannigfaltigkeiten der konkreten Religion(en) zu begreifen als aus einer inneren Einheit hervorgehend, einem normativen Ziele zustrebend 441 . Das geschieht dadurch, daß „der Begriff des Wesens oder des Wahrheitsgehaltes kritisch auf die verschiedenen Bildungen angewendet" 442 wird. So stellt die Geschichtsphilosophie der Religion eine Stufenfolge der Religionen auf: „Es wird zu einer kritischen Wertabstufung der historischen Religionsbildungen" 4 4 3 kommen. Sie sucht zugleich deren theologischen Charakter festzumachen, da sie jetzt „die Frage nach dem Religionsideal und der Zukunftsreligion, wo nun das Besondere der einzelnen Religionen im Vordergrunde steht" 444 , zu beantworten hat. Dabei ist das Besondere nur im Hinblick auf die Idee, auf den Wahrheitsgehalt der Religion von Interesse, denn von hier aus wird rückschließend die Realisierung, bzw. das Maß der Realisierung eben dieser Idee in einer der historischen Religionen 438

Troeltsch, „Die Absolutheit", S. 3.

439

Troeltsch, „Moderne Geschichtsphilosophie", (II), S. 679.

440

ebda, S. 691.

"•"Troeltsch, „Wesen der Religion" (II), S. 495: „Dabei aber ist die Aufgabe jetzt, diese Mannigfaltigkeit als eine aus innerer Einheit hervorgehende und in ihrer A b f o l g e als einem normativen Ziele entgegenstrebende zu begreifen. Das ist die Aufgabe der Geschichtsphilosophie der Religion". 442

ebda, S. 489.

443

ebda.

444

ebda, s. auch „Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft" (II), S. 223 f f .

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bestätigt oder ausgemacht. Bei Troeltsch ist es die Idee, die ihrem eigenlichen Telos, ihrer Vollkommenheit in der Geschichte entgegenstrebt. Sie ist es, die als Norm aus der Geschichte wiedergewonnen wird, wie sie ihr von der Erkenntnistheorie vorgegeben war. Das führt dann zu der Forderung Troeltschs, nach einer Metaphysik der Religionen ebenso wie er anderswo schon eine Metalogik 445 und eine Metahistorik, bzw. „Metaphysik der Geschichte" 4 4 6 gefordert, bzw. zu entwerfen gesucht hatte. Damit ist die vierte und letzte Stufe seines Systems erreicht. Waren die ersten drei Stufen vor allem darauf angelegt, der Theologie eine wissenschaftliche Grundlegung zu geben, wird diese nun selbst angegangen. Dabei wird aus der Geschichtsphilosophie eine Geschichtstheologie, aus der Theologie schließlich Religionsphilosophie. Die wissenschaftliche Grundlegung war Troeltschs Meinung nach notwendig, da die Religion als Religion nicht fähig ist, wissenschaftliche Begriffe auszubilden. Das ist die Aufgabe der Religionsphilosophie: „Die Religionsphilosophie ist ja in Wahrheit nichts anderes als die Anwendung einer allgemeinen philosophischen Theorie auf das Verständnis und die Beurteilung der Religion. Die Religion an sich ist ohne eigene wissenschaftliche Begriffe und ohne wissenschaftliche Methodik. Daher kann aus ihr allein niemals eine völlig selbständige, nur durch die Indikationen der Religion selbst bestimmte Wissenschaft hervorgehen. Es handelt sich immer um Anwendung allgemeiner, vom Boden der Gesamtwissenschaft her bestimmter Prinzipien." 4 4 7 Deshalb kann nur die Religionsphilosophie wissenschaftliche Grundlegung leisten, da sie frei ist von „unwissenschaftlichen Autoritäten": „Wie der Ausgangspunkt, so ist aber auch weiterhin das Ziel durch keinerlei äußere Autorität oder Denominationslehre bestimmt, sondern Vergleichung und Wertung vollzieht sich völlig frei nach einem erst von dem Philosophen selbst zu gewinnenden und zu bestimmenden Maßstab." 4 4 8 Unter diesen Voraussetzungen ist die Theologie als Wissenschaft fähig, letztgültige Aussagen über die Religion zu machen, indem sie auf dieser Stufe den Bezug zum Gottesgedanken, zur Gottesidee, die schon als Movens aller religiösen Erfahrung angenommen wurden, herstellt. Denn absolut in einem vom Menschen nicht mehr faßbaren Sinne ist allein Gott, 445

s. Troeltsch, „Meine Bücher".

446

Troeltsch, „Moderne Geschichtsphilosophie" (II), S. 727.

447

Troeltsch, „Empirismus . . . " (II), S. 368.

448

ebda, S. 365.

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den zu erkennen, mit dem zu verkehren der Mensch trachtet. „Allein die Religion ist nie bloß die seelische Tätigkeit der Hervorbringung und Gestaltung des religiösen Glaubens; sie ist in alledem zugleich die Behauptung eines realen Objektes ihres Glaubens, der Gottesidee. Die Gottesidee ist nun freilich auf keinem anderen Wege als auf dem des religiösen Glaubens direkt zugänglich. Aber sie behauptet doch einen Sachverhalt, der mit den übrigen wissenschaftlichen Erkenntnissen in Einklang stehen und der von ihnen aus auch in irgendeiner Weise indiziert sein muß, wenn anders die menschliche Vernunft eine innere Einheit ist. So kommt es zu der philosophischen Behandlung der Gottesidee, die freilich nicht auf dem Wege einer deduktiven Metaphysik möglich ist, die aber irgendwie mit den metaphysischen Rückschlüssen sich ergibt, die aus der Bearbeitung und Vereinheitlichung der Erfahrung in letzten Begriffen entstehen; auch eine streng erkenntnistheoretisch angelegte Philosophie wird, wenn sie nicht in Psychologismus und Skepsis stecken bleiben will, in ihren Begriffen der Gültigkeit und der ,Vernunft überhaupt' immer die Ansätze zu einer solchen Metaphysik enthalten, bei der nur die Frage ist, wie weit sie führen k a n n " 4 4 9 . Damit gehen die Probleme der Religionswissenschaft und die der Theologie in die Religionsphilosophie über. Denn nun geht es darum, die Realisation der Gottesidee in den jeweiligen geschichtlichen Bildungen, worin sie zu erkennen ist, zu messen. „Alle Religion ist daher Wahrheit von G o t t , entsprechend der allgemeinen Stufe des geistigen Werdens. Aber es muß auch eine höchste und letzte Stufe geben, die als solche durch die Erfüllung der im gemeinsamen Begriffe liegenden Entwicklungsgesetze sich e r w e i s t . " 4 5 0 Der Kulminationspunkt aller Religion liegt somit in der Gotteslehre. Aus der Theologie erwächst daher das Weltverständnis. Das Gottesverständnis ist Ausgang und Endpunkt aller religiösen Anthropologie einschließlich der Soziologie und Sozialethik, der Soteriologie und der Eschatologie. Unter Einbeziehung des teleologischen Gesichtspunktes wird Geschichte zur Heilsgeschichte, wobei sich diese Geschichtstheologie auf die Realisation der Gottesidee konzentriert. Da die Gottesidee den Menschen zur Aktivität treibt, geht es in der Metaphysik der Religion auch um deren Weiterbildung als relativ schöpferische T a t 4 5 1 . Es entwickelt sich

449

Troeltsch, „Wesen der Religion" (II), S. 496.

450

Troeltsch, „Absolutheit", S. 12.

451

E b e n s o ist die Metaphysik der Geschichte deren Weiterbildung als schöpferische Tat (s. „ M o d e r n e Geschichtsphilosophie"(II), S. 727).

Wachs theologischer Referenzrahmen

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damit bei Troeltsch eine ausgesprochen persönlich bestimmte religiöse Lehre, die keine eigentliche Verbindung mehr zur dogmatischen Entwicklung des Christentums hat, die vom Gottesverständnis her ein religiöses Prinzip zu fixieren sucht, das über aller konfessionellen Bindung steht, auch wenn für ihn — und ebenso den abendländischen Kukturkreis — das Christentum die höchste Form des ethischen und religiösen Selbstverständnisses des Menschen ausmacht. Er sagt: „Die auf die Propheten und Jesus begründete, in der Bibel ihr klassisches Hauptzeugnis besitzende und in der Verschmelzung mit Antike und Germanentum einen unermeßlichen Reichtum entfaltende personalistische Erlösungsreligion des Christentums ist die höchste und folgerichtigst entfaltete religiöse Lebenswelt, die wir k e n n e n . " 4 5 2 Gemäß der Metatheologie aber wäre durchaus eine Entwicklung darüber hinaus denkbar, zumal das Absolute schließlich nur in Gott selbst, aber nirgends in dieser Welt ist. Das Ziel aller Religion und aller Theologie liegt nämlich jenseits aller Geschichte, und gerade alle Religionen bemühen sich, die naturhaft-vitale Grundlage menschlichen Seins zu durchbrechen und Verbindung zu erlangen mit der jenseits davon liegenden geistigen Wirklichkeit 4 5 3 . Die Gottesidee und ihre Realisation ist also immer das Treibende im Ganzen, sie stellt den Menschen in die Glaubensentscheidung und zwingt ihn zum ethischen Handeln. Ebenso wie die religiöse Erfahrung als psychologische Tatsache ganz im persönlichen Bereiche angesiedelt ist, handelt es sich auch bei dem über die Erkenntnistheorie und die Geschichtsphilosophie gewonnenen religiösen Prinzip als Fixierung des Gottesverständnisses letztlich um eine persönliche Entscheidungsnorm. Troeltsch ist überzeugt, daß „die Synthese dieser vier Untersuchungen" — Psychologie, Erkenntnistheorie, Geschichtsphilosophie und Metaphysik der Religion — „das erreichbare wissenschaftliche Verständnis der Religion" ergibt, und der Beitrag ist, „den dieWissenschaft zu dem praktischen Leben und der Fortentwicklung der Religion leisten kann" 4 5 4 . W i e die Analyse der Wachschen Religionswissenschaft zeigen wird, findet sich das gesamte viergliedrige System Troeltschs dort wieder. Es ist jedoch nicht von Anbeginn an in seiner Geschlossenheit da, sondern setzt sich schrittweise in der Entwicklung des religionswissenschaftlichen Denkens durch. 452

Troeltsch, „Absolutheit", S. 7 4 f .

453

s. ebda, S. 67.

454

Troeltsch, „Wesen der Religion" (II), S. 492.

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Wachs theologischer Referenzrahmen

Eine wissenschaftliche Grundlegung will Wach der Religionswissenschaft geben, ähnlich wie Troeltsch dieser und mit ihr der Theologie eine wissenschaftliche Grundlage zu schaffen sucht. Der Ansatz beider ist gleich. Sie gehen von der religiösen Erfahrung als psychologischer Tatsache aus. Als nächsten Schritt verknüpfen beide die Psychologie mit der Erkenntnistheorie, wobei vor allem der frühe Wach das Schwergewicht auf diesen zweiten Schritt legt und sich kaum bei der psychologischen Analyse aufhält. Geht es Troeltsch vor allem um das religiöse Apriori in seiner Vernunftgemäßheit, das sich dann als Gottesidee herausstellt, so versucht Wach, das Zentrum einer Religion im Verhältnis von Geist und Idee festzumachen. Beide aber halten die Religion(en) für (eine) entwicklungsfähige Idee(n). Dadurch verknüpfen sie die Erkenntnistheorie mit der Geschichtsphilosophie. Letztere ist durch einen Ideenevolutionismus gekennzeichnet. Was sich bei Troeltsch als Realisation der Idee in der Geschichte zeigt, erweist sich bei Wach als Verwirklichung der Idee im Geist. A n dieser Stelle trifft sich dann auch Wachs Religionssoziologie mit der Troeltschs. Dessen drei religionssoziologische Fragestellungen kehren bei Wach fast unverändert wieder, nur daß er deren Begrenzung auf das Christentum aufzuheben sucht. Einmal ist es die Frage nach der eigenen soziologischen Idee des Christentums (einer Religion), deren Aufbau und Organisation; zum anderen die Frage nach dem Verhältnis dieser soziologischen Bildung zum Sozialen (Vergesellschaftung: Staat — Familie — Arbeitsteilung); und drittens die Frage nach den Einwirkungen des sich ergebenden soziologischen Schemas auf den Staat und umgekehrt (Wechselwirkung). Dahinter steht die Überzeugung von einer irgendwie inneren Einheitlichkeit des Gesamtlebens von Religion und Gesellschaft. Religionssoziologie ist für beide das Verhältnis einer Religion zu den soziologischen Bedingungen in ihrer Wechselwirkung 4 5 5 . Diesem System ist ein Ideenevolutionismus immanent, der immer auf eine höchste Stufe hinzielen muß. So können beide schließlich aus der Geschichte Normen gewinnen, die Entscheidungsgrundlage sind für Wertigkeit und Gültigkeit einzelner religiöser Ideen, ja ganzer „Religionsbildungen". Bis zu diesem Punkt schwingt das System Troeltschs bei Wach vom Beginn seines wissenschaftlichen Schaffens an mit. Erst der späte Wach aber nimmt die theologisch entscheidende Frage Troeltschs wieder auf, wie sich Selbständigkeit und Absolutheit des christlichen

455

Religionsgeschichte ist damit eine Entwicklungsgeschichte des Geistes und der Ideen unter Einwirkung gesellschaftlicher Mächte.

Wachs philosophischer Referenzrahmen

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Glaubens zu ihrer religionsgeschichtlichen Bedingtheit verhalten, vor allem aber, wie das Verhältnis des Christentums zu den anderen Religionen zu denken ist. Die Aufnahme der letzten Frage Troeltschs, die dieser in der Metaphysik der Religion zu lösen sucht, durch Wach ist nicht verwunderlich, denn dahin mußte ihn sein Ansatz „religiöse Erfahrung" führen. War für Troeltsch die Gottesidee Ausgang und Endpunkt aller religiösen Weltverhältnisse, so findet Wach das Wesen der religiösen Erfahrung in der letzten Wirklichkeit. Das Wesen der religiösen Erfahrung aber ist für ihn Anfang und Ende aller Religionswissenschaft. Genau wie bei Troeltsch wird von Wach dann vor allem der imperative Charakter des Verhältnisses des Menschen zur letzten Wirklichkeit betont. Von hier aus sieht er das, was er in seiner Frühzeit besonders hart an Troeltsch bemängelte, nun als Aufgabe der Religionswissenschaft an: „Und ausdrücklich wird als der Zweck wissenschaftlicher Arbeit an der Religion bestimmt: auf die Religion selbst zu wirken. Das ist bereits nicht mehr Philosophie und Theologie, sondern schon ,Prophetie'." 4 5 6 Denn in seinen späten Werken entwickelt Wach aus dem Wesen der religiösen Erfahrung nicht nur eine Art Theologie, ähnlich wie Troeltsch, ohne eigentliche Verbindung mit der dogmatischen Entwicklung des Christentums, sondern er sieht auch eines der Hauptziele der Religionswissenschaft darin, die eigene Religiosität zu vertiefen, Entscheidungshilfe im Glauben zu leisten und auf die Religionen zu wirken, damit sie sich der Vollkommenheitsstufe nähern. Besonders die Werke des späten Wach also weisen auf Troeltsch als „theologischen Referenzrahmen" 4 5 7 .

Wachs philosophischer Referenzrahmen Während die theologischen Grundstrukturen des Wachschen Denksystems das Gesamtwerk mehr oder weniger unbewußt und unterschwellig durchziehen, liegen sein philosophisches Interesse und dessen Bezugspunkte in ihnen gewidmeten Untersuchungen, aber auch in den meisten anderen Veröffentlichungen offen zutage.

456 w a c h , „Religionswissenschaft", S. 124. 457

Übrigens

besteht zwischen

beiden auch ein Gleichklang im methodischen

Verstehensvorgang, der sich zwischen Nacherleben und Intuition spannt.

96

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

Wachs philosophisches Interesse ist erkenntnistheoretisch bestimmt, seine Religionswissenschaft ist auf „die Religion" angewandte Erkenntnistheorie. Dabei folgt er sowohl bei dem Bemühen, der Religionswissenschaft eine geisteswissenschaftliche Grundlegung zu geben, als auch bei der Durchführung seiner religionswissenschaftlichen Fragestellungen in weiten Bereichen Dilthey. Man könnte fast sagen, die Religionswissenschaft Wachs ist eine Anwendung der Diltheyschen Verstehenslehre und Lebensphilosophie auf das Forschungsgebiet der Religion, in ihren religionswissenschaftlichen Einzelheiten anhand von Simmel modifiziert, wie noch zu zeigen sein wird. Die enge Bindung Wachs an Dilthey fällt rein äußerlich dadurch auf, daß es kaum auch nur einen kleinen Aufsatz Wachs gibt, in dem er sich nicht in Text oder Anmerkungen expressis verbis auf Dilthey bezieht 458 . Die Rezeption Diltheys durch den frühen Wach geht sogar soweit, daß er nicht nur ganze Passagen aus dem Diltheyschen Werk sinngemäß übernimmt 4 5 9 , sondern bis in den Satzbau und die Diktion seiner frühen Schriften läßt sich der Einfluß Diltheys nachweisen 460 . Uber Dilthey fühlt sich Wach auch Schleiermacher 461 , Ranke 4 6 2 und Steinthal 463 verbunden. Die Bezogenheit Wachs auf Dilthey reicht bis in die religionswissenschaftliche Aufgabenstellung, denn auch er beschäftigt sich fast ausschließlich mit dem, w o f ü r er Dilthey einen besonderen Sinn bescheinigt: „Dilthey besaß einen Sinn für Religion. Freilich waren es weder die dunklen, abgründigen, die dämonischen Seiten an den Religionen, denen er seine Aufmerksamkeit schenkte, sondern seiner Natur gemäß hat er lieber die Hochreligionen geschildert, wie sie sich in den genialen Führern, den zweifelnden Grüblern oder in abgesonderten Gruppen darstellen." 464 458

459 460

461 462 463 464

Zwei seiner frühesten Aufsätze befassen sich fast ausschließlich mit Dilthey. Vom „Verstehen" ist der 3. Band Dilthey gewidmet. Durch „Das Verstehen" zieht sich wie ein roter Faden die Uberzeugung Wachs, Dilthey habe die Verstehensproblematik vollendet gelöst. Beispiele hier nur aus Bd. I: S. IV, 11, 12f., 25, 26, 190, 231, 243, 246, 248, 261, 263, 264, 266. Wach, „Religionswissenschaft", S. 15ff. hier ist bes. an den angewandten Redestil, den übermäßigen Gebrauch von Doppelpunkt und Parenthese zu denken. s. Wach, „Verstehen" I, S. 8 3 - 1 6 7 ; II, S. 47f. s. Wach, „Verstehen" II, S. l f f . u. 89ff. s. Wach, „Verstehen" III, S. 206ff. Wach, „Wilhelm Dilthey", S. 71.

Wachs philosophischer Referenzrahmen

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P'ür Wachs philosophisches Referenzsystem ist Diltheys Verstehensiehre und Erfahrungsphilosophie von eminenter Wichtigkeit, wie der Leitgedanke seiner hermeneutischen Überlegungen in bezug auf die Religionswissenschaft zeigt, den er im „Verstehen" einmal so formuliert: „Aus der geisteswissenschaftlichen Arbeit selbst müßten die erkenntnistheoretischen und logischen Grundsätze erarbeitet werden, aus ihr müssen sie hervorgehen, wenn anders ihr Gegenstand nicht vergewaltigt werden soll." 4 6 5 Aus diesem Grunde seien im folgenden vor allem Diltheys verstehensphilosophische Überlegungen skizziert, die sich bis in Einzelheiten bei Wach wiederfinden. Dilthey kam über die Theologie, besonders über seine Beschäftigung mit Schleiermacher zur Philosophie, die für ihn das „Fragen und Antworten überhaupt" 4 6 6 ist. Er will ganz im Sinne des 19. Jahrhunderts Philosophie nicht als eine Wissenschaft unter anderen verstanden wissen, sondern als Grundlage jeder Wissenschaft, ganz besonders aber von jenen, die es mit dem Geist des Menschen zu tun haben. Sein Ziel ist eine Grundlegung' der Geisteswissenschaften aus der Philosophie. Denn der Mensch ist Ausgang und Ziel aller Wissenschaft, sein Geist ist der fragende und antwortende zugleich, der sich als etwas Lebendiges äußert und als ein solches Werden und Vergehen unterworfen ist. Deshalb ist er eingeschlossen in die Totalität Mensch, also nur vom Menschen her faßbar, ebenso wie er als ein Lebendiges nur vom Leben her verstanden werden kann. Wie der Geist im Organismus des Menschen, der als Mikrokosmos gedacht ist, die entscheidende Position einnimmt, bildet er als Zeitgeist das konstitutive Element einer Gesellschaft. Deshalb ist die Philosophie „nur. definierbar durch die Funktion, welche sie innerhalb der Gesellschaft und ihrer Kultur übt. Der Begriff einer solchen Funktion setzt voraus, daß die eben beschriebenen psychischen Leistungen derselben, die vitale Energie, die sie im

465

Wach, „Verstehen" II, S. 255. Dazu merkt Wach an (Anm. 1) Das hat bekanntlich vor allem Dilthey immer wieder mit tiefem Recht betont und hat damit den über die Hegeische Spekulation hinausführenden Weg gezeigt, den eine Theorie der Geisteswissenschaften einschlagen muß. Mag Dilthey selbst, wie manche glauben, dem ,positivistischen' Empirismus zuviel Recht verstattet haben: eine Rückkehr zu der alten A r t der spekulativen Begründung wird nicht mehr möglich sein, wenn anders nicht wieder die Kluft aufgerissen werden soll zwischen einer in sich selbst versponnenen philosophischen Dialektik und der Erkenntnisarbeit der Geisteswissenschaften."

466

Dilthey, „Ges. Schriften", VIII, S. 210.

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

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Körper der Gesellschaft ausübt, in irgendeiner Art ein Wertfaktor im Haushalt dieses Körpers sei. Ein gesellschaftlicher Wert, ein Kulturwert wird von der Philosophie ausgesagt, wenn man ihr eine Funktion im Körper der Gesellschaft zuschreibt." 4 6 7 Stenzel charakterisiert die Grundhaltung Diltheys folgendermaßen: „Schon sehr früh hatte er in dem Bild des Keimes, der wächst, blüht und abstirbt, das notwendige Symbol (Schema) auch für alles geistige Lebendige gesehen, durch das es wie alles natürliche aufgefaßt werden müßte." 4 6 8 Deshalb entfaltet Dilthey seine Philosophie als Grundlegung der Geisteswissenschaften — für die er drei unterschiedliche Möglichkeiten festzustellen vermag, ihre Objekte zu betrachten: den historischen, den psychologisch-theoretischen und den normativen Standpunkt nämlich — im Spannungsfeld von Erfahrung 469 und Geschichte. Sein Ziel ist, eine grundlegende Verstehenslehre menschlicher Geistesäußerungen zu entwickeln. Von der Erfahrung ausgehend ist die Psychologie die Grundwissenschaft aller Geisteswissenschaften: „Die einzelnen Geisteswissenschaften heben durch einen Vorgang von Analysis und Abstraktion einzelne Zweckzusammenhänge aus der menschlich-geschichtlichen Wirklichkeit heraus. Die generellen Wahrheiten, zu welchen sie gelangen, gelten entweder einfach von dieser ganzen Wirklichkeit, oder sie müssen doch einmal als Folgewahrheiten solcher, die von ihr gelten, unter Hinzunahme konkreter Bedingungen, aufgezeigt werden können. Und zwar verhalt sich die Psychologie zu diesen einzelnen Geisteswissenschaften als deren Grundwissenschaft. Beschreibend, analysierend und vergleichend eröffnet und begründet sie die Erkenntnis der menschlich-geschichtlichen Welt. Sie kann diese ihre Funktion nur erfüllen, wenn sie die Erklärungsprinzipien für die in dieser Welt bestehende Individuation entwickelt." 470 Das ist die Psychologie um so mehr, als sie zu erklären hat, inwieweit die Identität der Menschennatur die Bedingungen durchwaltet, unter denen der Menschengeist die Dinge denkt, die er denkt. Da alles dem Schema des organischen Lebens unterworfen ist, und also das Geistige nie als Geistiges an sich, sondern nur als Erscheinung gegeben ist, ist letztlich auch „jedes metaphysische System 467

ebda V I I I , S. 210

468

Stenzel, „ D i l t h e y " , S. 9

469

D a „ E r f a h r u n g " bei ihm zum inneren psychischen Erleben wird, wie noch zu zeigen ist, und diese durch Intuition durch die Geschichte hindurch faßbar ist, wird nicht nur in diesem Ansatz die N ä h e Troeltschs zu Dilthey deutlich

470

Dilthey, „ G e s . Schriften" V, S. 273

Wachs philosophischer Referenzrahmen

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relativ", und es „verfällt der Dialektik gegenseitiger Ausschließung in der Geschichte" 4 7 1 Deshalb „muß der menschliche Geist versuchen, zurückzugehen auf die objektiv erkennbaren Verhältnisse, in welchen die philosophische Systematik in ihrer Entwicklung und ihren Formen zu der Menschennatur, den ihr gegebenen Objekten, ihren Idealen und Zwecken steht" 4 7 2 . Die Philosophie muß erneuert werden durch die Transzendentalphilosophie, die hinter die Begriffe geht, die über das Wirkliche gebildet werden, zurück auf die Bedingungen, unter denen der Mensch sie denkt. Damit wird die Philosophie zur Erfahrungswissenschaft der geistigen Erscheinungen. Ihre Aufgabe ist, philosophische Systeme, ja alle geistigen Systeme, als Weltverständnisse in ihrer Entstehung zu begreifen. „Einheit von Erkenntnis und Leben — in diesem lapidaren Satz findet man fast alles bei Dilthey beschlossen" 4 7 3 , sagt Diwald recht treffend. Denn „die letzte Wurzel der Weltanschauung ist das Leben, . . ., wie es sich nach seinen Äußerungen objektiviert hat nach seiner ganzen Tiefe in Verständnis und Interpretation vollständiger erfaßbar als in jedem Innewerden und Auffassen des eigenen Erlebnisses — ist das Leben in unserm Wissen in unzähligen Formen uns gegenwärtig und zeigt doch überall dieselben gemeinsamen Züge." 4 7 4 Der einzig mögliche Zugang zur Welt führt für Dilthey also über die Deutung des Lebens, das der Mensch nur über den Menschen erfassen kann. Dabei muß mit Hilfe der Psychologie die ganze Individualität mit allen ihren Ausdrücken erfaßt werden, weil es um die „ganze volle Menschennatur" geht. Philosophie muß als Philosophieren in das Leben zurückübersetzt werden, denn der einzig „unableitbare Grundzug in uns" ist, „uns denkend in der Welt einzurichten, unser Leben zum Bewußtsein zu erheben", so daß „Selbst und Welt korrekt sind", wie „Lebensideal und Weltansicht" 4 7 5 . Indem der Mensch sich das bewußt zu machen sucht, entsteht eine Lebens- und Weltanschauung als bezogenes Ganzes. Deren „Verhältnis zum Leben ist nicht das von Denken zu anderen geistigen Zuständen, sondern von Leben zum Bewußtsein von dem, was der Mensch erlebt, erfährt, erblickt, in seiner Ganzheit, in dem Bezug von Eigenleben und 471

ebda, V I I I , S. 13

472

ebda

473

Diwald, a . a . O . , S. 8

474

Dilthey, „Ges. Schriften", V I I I , S. 78

475

ebda V I I I , S. 17.

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Welt. Denn Welt als eine selbständige Größe ist eine bloße Abstraktion. Objekt ist nur in bezug auf das Subjekt, als dessen Korrelat." 4 7 5 3 Damit gründet sich alle Wissenschaft vom Geist auf die Realität: innere Erfahrung. So ist das Erleben nicht mehr nur möglicher Zugang zur Wirklichkeit, sondern schlechthin die einzige Basis, „in welcher Realität für mich da ist". Denn „die Realität Erlebnis ist für uns dadurch da, daß wir ihrer innewerden, daß ich sie zu mir in irgendeinem Sinn zugehörig unmittelbar habe" 4 7 6 . Alle Wirklichkeit also wird von innen her erlebt, jedes Erlebnis aber hat seinen bestimmten Anstoß. Der Erlebnisakt ist für Dilthey das Grundelement nicht nur des Sich-Verhaltens, sondern auch des Verstehens: Im Erleben ist die Totalität unseres Wesens. Eben dieselbe bilden wir im Verstehen nach." 4 7 7 Damit beruht, wie Diwald mit Recht sagt, bei Dilthey „die Kenntnis jedes geistigen Tatbestandes . . . auf dem persönlichen, ureigenen Erlebnis, weshalb auch das Grundverhältnis wechselseitiger Bedingtheit das Verhältnis zwischen Erleben und Verstehen ausmacht." 4 7 8 Diese Grundeinsicht, daß das Erlebnis allein die Kenntnis aller geistigen Tatsachen ermöglicht, im Vorgang des Erlebens nämlich, treibt Dilthey so weit, daß er schließlich feststellt: „Ein Gefühl, das wir nicht erlebt haben, können w i r in einem anderen nicht wiederfinden." 4 7 9 So fundiert das Erlebnis „und das Verständnis jeder Art für Erlebnisse . . . alle Urteile, Begriffe, Erkenntnisse," 4 8 0 die dem menschlichen Geist und damit den Geisteswissenschaften möglich sind. Dilthey scheidet im Grunde nicht „zwischen dem, was Objekt ist, was also vom Subjekt objiziert wird, und dem, was erst die Möglichkeit zur Objektion bietet." 4 8 1 Damit aber geht der Zusammenhang der geistigen Welt im Subjekt auf und w i r d so zur Schöpfung des erfahrenden Subjekts, das ihm Form und Ausdruck verleiht, womit für Dilthey die Empirie gegeben ist: „Unser ganzes inneres Leben gravitiert den Zusammenhängen entgegen, in die unser Eigenleben eingefügt ist: Dieses empirische Verhältnis äußert sich als

475aebda. 476

ebda, VI, S. 3 1 3

477

ebda, VII, S. 278

478

Diwald, a . a . O . , S. 178

479

Dilthey, „Ges. Schriften", VI, S. 304

480

ebda, VII, S. 71

481

Diwald, a . a . O . , S. 31

Wachs philosophischer Referenzrahmen

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Sympathie, Ehrgefühl, Sicherung unseres Gefühlslebens durch Zustimmung, kurz, in tausend Arten. Erklären läßt es sich nicht. Daß jedes Innen Ausdruck in einem Außen sucht, und so immer Symbole schafft, hat wohl eine Bedingung in unserem Reflexmechanismus, ist aber nicht daraus ableitbar."482 Letztlich aber bleibt im Bereich der Individualerfahrung und des subjektiven Erlebens die Frage nach der Gültigkeit der Erkenntnis durch Erleben ungelöst. Diese Gefahr eines reinen Subjektivismus überwindet Dilthey dadurch, daß er ausgehend von der Uberzeugung, daß die individuellen Unterschiede des psychischen Erlebens nur graduell verschiedene Seelenvorgänge sind, sich dem Kollektiverleben einerseits zuwendet, und andererseits Philosophie mit Geschichte verbindet. Die Frage, „wie ergibt sich aus Erfahrung allgemeingültiges Wissen?" 4 8 3 kann nur aus der Geschichte beantwortet werden, da der Mensch sich selber nur in der Geschichte erkennt, sich in der Geschichte als Objekt gegenübersteht. So versucht Dilthey die Einheit von Erkennen und Leben wiederzugewinnen: „Eine sehr wichtige Ergänzung . . . ist die Benutzung der gegenständlichen Produkte des psychischen Lebens. In der Sprache, dem Mythos, der Literatur und Kunst, überhaupt in allen geschichtlichen Leistungen haben wir gleichsam gegenständlich gewordenes psychisches Leben vor uns: Produkte der wirkenden Kräfte, welche psychischer Natur sind: feste Gestalten, welche sich aus psychischen Bestandteilen und nach deren Gesetzen aufbauten." 4 8 4 Die Möglichkeit der Allgemeingültigkeit der Erkenntnis aus der Geschichte ergibt sich auf Grund der Tatsache, daß das im Menschen und in den historischen Vorgängen Wirksame im Grunde ein Identisches ist 4 8 5 . Geschichte wird also wiederum ganz vom Leben und vom Menschen her verstanden. Das bedeutet einmal, weil Geschichte Leben ist, ist Geschichte nur vom Leben aus zugänglich 486 , zum anderen, weil der Mensch sich selbst nur in der Geschichte erkennt, hat es Geschichte mit dem Menschen als seelischer Ganzheit und mit deren Strukturen zu tun. Realität und Empirie sind demnach für Dilthey nur in der Geschichte 482

Dilthey, „ges. Schriften" VIII, S. 15

483

ebda, V I I , S. 119

484

ebda, V , S. 199/200

485

s. a. Wach, „Verstehen" I, S. 261

486

8

s. Diwald, a. a. O . , S. 40 Flasche: Joachim Wach

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gegeben. Nur hier kann die Erkenntnis zu relativer Objektivität finden. In der Geschichte findet sich das Erkenntnismaterial für das Verstehen der ganzen Menschennatur. „Empirismus ist also bei Dilthey identisch mit historischen Studien, mit der Wendung zur Geschichte, denn Empirie — das ist seine tiefe Uberzeugung —, Beschäftigung mit der Wirklichkeit, ist nur in der Geschichte, Erfahrung hat nur dort statt. Denn warum hat Dilthey in Ausbildung seiner beschreibenden Psychologie den , ganzen' Menschen in den Mittelpunkt gestellt? Weil ihm der Mensch immer nur als der geschichtliche Mensch existent sein konnte und weil demnach die so sehr betonte innere Erfahrung notwendigerweise nur dort gegeben war," 4 8 7 faßt Diwald zusammen. Die Geschichte ist somit Geschichte des menschlichen Geistes, das in ihr „Gegebene" ist „der von der Menschheit realisierte objektive Geist' 4 8 8 , der für uns aber immer nur einen Sinn aufgrund der in ihm liegenden Intention hat. Er ist zwar nur über seine Ausdrücke (Ausdrucksformen) zugänglich, diese sind jedoch immer mehr als sie selbst, denn erst die Intention, die es zu verstehen gilt, verleiht ihnen den Sinn. Das gilt sowohl für individuelle als auch für kollektive Geistesäußerungen. Denn neben den Hervorbringungen des subjektiven Menschengeistes entdeckt Dilthey in der Geschichte noch den kollektiven „Zeitgeist". „Der entscheidende konstitutive Zug dieser von Dilthey entdeckten Geschichtlichkeit alles geistigen Seins ist der: jede Zeitepoche hat einen allgemeinen ganz bestimmten Charakter; als dessen Ausdruck stehen die großen Individuen der Zeitepoche auf den verschiedenen Lebensgebieten nebeneinander, und wie sie selbst von ihrer Zeit geprägt sind, so prägen sie wiederum den verschiedenen objektiven Realitäten, der Religion, Philosophie, Dichtung und Musik, dem Rechte, der Wirtschaft usw. ihren Stempel a u f . " 4 8 9 Durch alle kleinen und großen Individuen einer Epoche hindurch waltet ein überall spürbarer Geist der Zeit als die letzte, nicht mehr hinterfragbare Gegebenheit, die in sich selbst zentriert ist als geistiggeschichtliche Lebenseinheit, als Strukturzusammenhang kollektiver Seelenvorgänge. Die Geschichte als Geschichte des menschlichen Geistes führt Dilthey so vom Erleben zum Erkennen, das sich als und im Verstehen vollzieht.

487

ebda, S. 18/9

488

Dilthey, „Ges. Schriften" VII, S. 377

489

Diwald, a . a . O . , S. 9

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Verstehen und Erlebnis ist der Grundvorgang, in dem „der anschaulich begriffliche Zusammenhang der menschlich-gesellschaftlich-geschichtlichen Welt sich bildet" 490 . Das Verstehen soll die Erlebnisse aus der subjektiven Gebundenheit erheben und ist zugleich auf sie angewiesen, denn es ist selbst eine Art des Erlebens, ein Nacherleben eines Fremden und Anderen nämlich, denn im Nacherleben wird die gesamte geschichtliche Wirklichkeit, wie sie sich äußerlich, in ihren Ausdrücken, darbietet, rückübersetzt in die geistige Lebendigkeit, aus der sie hervorgegangen ist491. Verstehen setzt mit Nacherleben ein und überschreitet es zugleich, „denn nur Verstehen umfaßt den ganzen Horizont des Seelenlebens und nur Erleben klärt seine Tiefen auf, und diese werden auch nur auf der Grundlage hiervon dem Verstehen zugänglich" 492 . Im Nachfühlen und Nacherleben können wir als Menschen ausschließlich das lebendige Dasein verstehen, das aus den Gedankenwelten und Geistesschöpfungen aller Zeiten (zu uns) spricht. Verstehen richtet sich auf den Ausdruck: „Wir nennen den Vorgang, in welchem wir aus Zeichen, die von aussen sinnlich gegeben sind, ein Inneres erkennen: Verstehen." 493 Im Verstehen geht es also immer um den Sinn sowohl des Einzelnen als auch des Ganzen. „Sinnvoll aber ist stets nur der Ausdruck von etwas, und sein Sinn wird verstanden, wenn man verstanden hat, was er ausdrückt," 494 charakterisiert Diwald das hermeneutische Prinzip Diltheys. Die Intention, die es zu verstehen gilt, ist ein Zusammenhang von Sinngehalt und Wirkung, nur so erlangt das zu Verstehende seine Bedeutsamkeit. Das Verstehen selbst nämlich „zeigt verschiedene Grade. Diese sind zunächst vom Interesse bedingt. Ist das Interesse eingeschränkt, so ist es auch das Verständnis." 495 In der Auslegung schließlich erreicht das Verstehen seine höchste Vollkommenheit, sie ist ein Verstehen aus dem Sinnganzen, ein fast künstlerischer Vorgang besonderer persönlicher Genialität: „Aber auch angestrengteste Aufmerksamkeit kann nur dann zu einem kunstmäßigen Vorgang werden, in welchem ein kontrollierbarer Grad von Objektivität erreicht wird, wenn die Lebensäußerung fixiert ist und wir 490

Dilthey, „Ges. Schriften" VII, S. 4

491

s. ebda, VII, S. 120

492

ebda, V I , S. 305

493

ebda, V , S. 318

494

Diwald, a. a. O . , S. 191

495

Dilthey, „Ges. Schriften" V, S. 3 1 9

8!'

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so immer wieder zu ihr zurückkehren können. Solches kunstmäßige Verstehen von dauernd fixierten Lebensäusserungen nennen wir Auslegung oder Interpretation." 4 9 6 Das hermeneutische Verfahren wird von Dilthey zur philosophischen Methode schlechthin erhoben, denn in ihr tritt „neben die Analyse der inneren Erfahrung . . . die des Verstehens, und beide zusammen geben für die Geisteswissenschaften den Nachweis von Möglichkeit und Grenzen allgemeingültiger Erkenntnis in ihnen, sofern diese durch die Art bedingt sind, in welcher uns psychische Tatsachen ursprünglich gegeben sind" 4 9 7 . Indem das Verstehen zum Verstehen der Strukturzusammenhänge führt, führt es sich selbst zu einer höheren Stufe des Begreifens. Hier ergeben sich verschiedene Haltungen des Menschen zur Welt und zum Dasein, die sich in bestimmten, ihnen zugeordneten Typen der Weltanschauung spiegeln. Eine Typologie ist die höchste Form der Erkenntnis, die höchste Stufe der Wissenschaft vom menschlichen Geist, ist eine aus seinen Strukturzusammenhängen gewonnene Weltanschauungslehre, die unterschiedliche Typen des Weltverständnisses zu fassen vermag. Auch diese „Typenunterscheidung" freilich „soll ja nur" dazu „dienen, tiefer in die Geschichte zu sehen, und zwar vom Leben aus" 4 9 8 . Denn letztes Ziel einer Typenlehre ist für Dilthey, daß die „Philosophie . . . zum Einverständnis mit dem geschichtlichen Bewußtsein" 4 9 9 gelangt. Nur so läßt sich die Antinomie auflösen, die er folgendermaßen skizziert: „Der Variabilität der menschlichen Daseinsformen entspricht die Mannigfaltigkeit der Denkweisen, Religionssysteme, sittlichen Ideale und metaphysischen Systeme. Dies ist eine geschichtliche Tatsache. Die philosophischen Systeme wechseln wie die Sitten, die Religionen und die Verfassungen. So erweisen sie sich als geschichtlich bedingte Erzeugnisse. Was bedingt ist durch geschichtliche Verhältnisse, ist auch in seinem Werte relativ. Der Gegenstand der Metaphysik ist aber die objektive Erkenntnis des Zusammenhangs der Wirklichkeit. Nur eine solche objektive Erkenntnis scheint dem Menschen eine feste Stellung in dieser Wirklichkeit, dem menschlichen Handeln ein objektives Ziel zu ermöglichen." 5 0 0 Es geht also 496

enda, V , S. 319

497

ebda, V , S. 320

498

ebda, V I I I , S. 100; s. a. VII, S. 204

499

ebda, V I I I , S. 7

500

ebda, V I I I , S. 6

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darum, „in der bunten Mannigfaltigkeit der Systeme durch analytisches Verfahren Struktur, Zusammenhang, Gliederung (zu) entdecken" 5 0 1 . Die Struktur ist für Dilthey dabei „jedesmal ein Zusammenhang, in welchem auf der Grundlage eines Weltbildes die Frage nach Bedeutung und Sinn der Welt entschieden und hieraus Ideal, höchstes Gut, oberste Grundsätze für die Lebensführung abgeleitet werden" 5 0 2 . Und das Typische ist das aus dem geistigen Strukturzusammenhang Erfaßbare: „Das Typische tritt neben das Gesetzliche. Gesetzlich ist, was ein Ausdruck eines allgemeinen Verhaltens in der Natur ist. Typisch ist, was in einem singulären Falle ein Allgemeines darstellt. Das Typische, wenn man es auf einen abstrakten Gedankenausdruck bringen wollte, setzt einen teleologischen Zusammenhang voraus. In seinem eigenen Gebiet ist es das für unser Gefühl des Lebens Bedeutungsvolle und Verbindende." 5 0 3 Das Typische und die Struktur bedingen sich also gegenseitig. So kann Dilthey die Struktur der Weltanschauung, die selbst immer „bildend, gestaltend und reformierend" 5 0 4 wirkt, folgendermaßen beschreiben: „Aus der Intention, dem Streben, der Tendenz entwickeln sich die dauernden Zwecksetzungen, die auf die Realisation einer Vorstellung gerichtet sind, das Verhältnis von Zwecken und Mitteln, die Wahl zwischen den Zwecken, die Auslese der Mittel und schließlich die Zusammenfassung der Zwecksetzungen in einer höchsten Ordnung unseres praktischen Verhaltens — einem umfassenden Lebensplan, einem höchsten Gut, obersten Normen des Handelns, einem Ideal der Gestaltung des persönlichen Lebens und der Gesellschaft." 5 0 5 Deshalb hat jede Weltanschauung eine Entwicklung „in gesetzmäßig von innen bestimmten Stufen", und empfängt „Dauer, Festigkeit und Macht, allmählich, im Verlauf der Zeit: sie ist ein Erzeugnis der Geschichte" 5 0 6 . Das bedeutet zugleich: „Die Weltanschauungen sind nicht Erzeugnisse des Denkens. Sie entstehen nicht aus dem bloßen Willen des Erkennens. Die Auffassung der Wirklichkeit ist ein wichtiges Moment in ihrer Gestaltung, aber doch nur eines. Aus dem Lebensverhalten, der Lebenser501

ebda, V I I I , S. 7

502

Dilthey, „Weltanschauung", S. 11

503

Dilthey, „Ges. Schriften" VIII, S. 177

504

ebda, V I I I , S. 84

505

ebda,

506

ebda

106

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

fahrung, der Struktur unserer psychischen Totalität gehen sie hervor. Die E r h e b u n g des Lebens zum Bewußtsein in Wirklichkeitserkenntnis, Lebenswürdigung

und Willensleistung

ist die langsame und schwere

Arbeit,

welche die Menschheit in der Entwicklung der Lebensanschauungen geleistet h a t . " 5 0 7 D a s führt schließlich auch zu den verschiedenen T y p e n von Weltansch auungen. D i e Weltanschauungen lösen sich also nicht gegenseitig ab, sondern „ d i e Geschichte vollzieht eine Auslese zwischen ihnen, aber ihre großen T y p e n stehen selbstmächtig, unbeweisbar und unzerstörbar nebeneinander aufrecht d a " 5 0 8 . Diese T y p e n erhält man, „wenn man diese Gebilde einem vergleichenden Verfahren unterwirft", wobei sich zeigt, „daß sie sich zu G r u p p e n ordnen, unter denen eine gewisse Verwandtschaft b e s t e h t " 5 0 9 . A l s höchste Stufe des Verstehens geschieht nach Dilthey also die Typenbildung mittels des vergleichenden geschichtlichen Verfahrens, das sich als einziges d e n Variationen, Entwicklungen und Kreuzungen der T y p e n und diesen selbst nähern kann. So steigt die Erkenntnis aus dem Erleben und der E r f a h r u n g über das Nacherleben und Nachbilden auf zum Verstehen und schließlich z u dessen höchster Stufe, dem Auslegen, und ist auf diese Weise i m m e r ein an das Leben gebundenes in sich Lebendiges. D i e Verstehenslehre Diltheys findet sich bis in Einzelheiten bei Wach wieder. I m philosophischen Bereich seiner Arbeit beispielsweise nimmt er Dilthey einmal folgendermaßen auf: „ E s muß denkbar erscheinen, die Reihe der Philosophen in ihrer geschichtlichen Kontinuität zu unterbrechen und nach sorgfältiger Prüfung und Vergleichung Bildungen, die untereinander Ähnlichkeiten und Analogien aufweisen, zusammenzustellen. Also eine G r u p p e n a n o r d n u n g z u treffen, die zunächst die große Zahl der philosophischen Systeme wesentlich zu reduzieren geeignet erscheinen muß. . . . D i e Forderung wird sein, innere, wesentliche Momente aufzufinden, die f ü r die G r u p p i e r u n g maßgebend sein sollen. E s muß sich also zeigen, daß in einer solchen G r u p p e zusammengefaßte Gedankenzusammenhänge, wenn anders die Auswahl sachgemäß war, einem einheitlichen

Typus

z u g e h ö r e n " , und „ e s erscheint durchaus denkbar, einen T y p u s von philosophischen Systemen an einem historischen Exemplar zu ,erschauen'. Aber der T y p u s wird in u n d an den geschichtlichen Bildungen sichtbar, sie zeigen ihn, gleichsam transparent w e r d e n d . " 5 1 0 507 509

ebda, VIII, S. 86 ebda, VIII, S. 85

508 510

ebda, VIII, S. 86/7 Wach, „Trendelburg", S. 7

Wachs philosophischer Referenzrahmen

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Wesentlicher aber für unseren Zusammenhang ist, daß Wach versucht, nicht nur die Weltanschauungslehre Diltheys für die Religionswissenschaft fruchtbar zu machen, sondern vieles von dem aufnimmt, was Dilthey über Religion und religiöse Weltanschauung direkt ausführt. Diesem besonderen Bereich der Diltheyschen Konzeption und ihrer Rezeption durch Wach sei deshalb noch besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Wach bescheinigt Dilthey einmal ausdrücklich „ein Organ für Religion" 5 1 1 , das er so charakterisiert: „Ihm war ein Sinn verliehen für die letzte Bedeutung der rätselhaftesten und bedeutsamsten Bildungen in der Geschichte der Menschheit: für die Religionen. Die tief wirkende Macht religiöser Vorstellungen, die Verflechtung der religiösen Formen in den Zusammenhang der Kulturen und ihre Konflikte mit diesen, die gewaltigen Impulse vom religiösen Genius her, all das hat Dilthey immer wieder aufgewiesen und dargestellt." 5 1 2 Diltheys Erkenntnisse über die Religion hält Wach für bahnbrechend und wegweisend für die zu erneuernde Religionswissenschaft 513 : „Wievielen wird seine Auffassung von den religiösen Objektivationsformen und -zusammenhängen, von den Aufgaben, Zielen und Methoden der.Religionswissenschaft heute noch neu und unerhört sein! Beginnt ja die von ihm eingeleitete Betrachtung der Religion und der Religionen erst in unseren Tagen sich durchzusetzen." 5 1 4 Bei Dilthey hat die Religionswissenschaft wie jede Geisteswissenschaft mit der Empirie, die in der Erfahrung gegeben ist, einzusetzen. „Religiös ist eine Weltanschauung, sofern sie ihren Ursprung in einer bestimmten Art von Erfahrung hat, die im religiösen Vorgang begründet i s t . " 5 1 5 Denn „eine Empirie, welche auf die Begründung dessen, was im Geiste geschieht, aus dem verstandenen Zusammenhang des geistigen Lebens, verzichtet, ist notwendig unfruchtbar. Dies kann an jeder einzelnen Geisteswissenschaft nachgewiesen werden. Jede von ihnen bedarf psychologischer Erkenntnisse. So kommt jede Analyse der Tatsache Religion auf Begriffe, wie Gefühl, Wille, Abhängigkeit, Freiheit, Motive, welche nur im psychologischen Zusammenhang aufgeklärt werden können." 5 1 6 511

W a c h , „Wilhelm D i l t h e y " , S. 68

512

ebda, S . 68

513

D e s h a l b wohl n i m m t er in seiner „Religionswissenschaft" bei der Erörterung der „ M e t h o d o l o g i e der allgemeinen Religionswissenschaft" (S. 4 3 f . ) ausdrücklich B e z u g auf Dilthey.

514

W a c h , „Wilhelm D i l t h e y " , S. 66

515

D i l t h e y , „ G e s . S c h r i f t e n " , V , S. 381

516

ebda, V , S. 147

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Wach formuliert diesen Gedanken Diltheys dann so: „ E s gibt ein religiöses Erlebnis, das legitim, selbständig, ursprünglich und unzerstörbar im Seelenleben wirksam ist, und dieses Erlebnis ist der Ursprung des allen D o g m a s , Zeremonien und Organisationen gemeinsamen religiösen Lebens. Das war die von Dilthey unterstrichene große Entdeckung Schleiermachers in den Reden über die R e l i g i o n . " 5 1 7 Wach folgt Dilthey weiter, wenn er bestätigend zitiert: „ U n d das ist nun vielleicht das Tiefste in Schleiermachers universaler Intuition: ein religiöses Erlebnis enthält in sich den Erklärungsgrund für die Mannigfaltigkeit der Religionen und den Rechtsgrund für ihre Legitimität." 5 1 8 Faßbar aber wird das religiöse Erleben nur in der Geschichte, in den historischen Ausdrucksformen, die es annimmt: „ D u r c h die verschiedene Art, welche der religiöse Verkehr, die religiöse Erfahrung und das Bewußtsein von ihr annehmen kann, sondern sich die geschichtlichen Stufen und Formen, in denen die religiöse Weltanschauung sich a u s b i l d e t . " 5 1 9 D e r Ausdruck ist gleichsam das Medium, durch das religiöse Erfahrung hindurch faßbar wird 5 2 0 . In diesem Bereich findet sich dann bei Dilthey, zwar nicht stringent durchgeführt, aber doch vom Ansatz her, auch das Wachsche Triptychon der religiösen Ausdrucksformen. Diese sind in der Lehre nur „unzulänglich" gegeben, da „begriffliches Denken nicht umfassend" ist 5 2 1 , sind am konzentriertesten in Symbolen, als A u s d r u c k der im Gefühl erfahrenen Werte des göttlichen Wesens 5 2 2 , doch schon „in der uns zugänglichen älteren Religiosität finden wir stets einen Glauben und eine Praxis miteinander verbunden" 5 2 3 , denn Kultus und Glauben bestimmen sich gegenseitig, „ d a das religiöse Handeln in ihm erst sein Ziel e r h ä l t " 5 2 4 . Das kultische Handeln wird vom Einzelnen oder 517

Wach, „Wilhelm Dilthey", S. 74. Wach zitiert hier Dilthey. Schleiermacher scheint Wach ausschließlich in der Vermittlung Diltheys in sein System einbezogen zu haben.

518

ebda, S. 69

519

Dilthey, „ G e s . Schriften" V, S. 382

520

Wach faßt dies s o : „ A b e r der Meister der hermeneutischen Theorie und Praxis war zu sehr überzeugt von dem immanenten, dem hinweisenden' und dem symbolischen Charakter alles .Ausdrucks', als daß dieser ihm jemals hätte verblassen können und zunichte werden vor der Innerlichkeit, der er entstammt." („Wilhelm Dilthey", S. 69)

521

s. Dilthey, „ G e s . Schriften", V, S. 388

522

s. ebda, V, S. 386

523

ebda, V , S. 3 8 2

524

ebda, V , S. 383

Wachs philosophischer Referenzrahmen

109

von dafür zuständigen Spezialisten vollzogen 525 , schließlich aber sind „alle, welche in dem religiösen Verhältnis zur Gottheit stehen, . . . dadurch zu einer Gemeinschaft verbunden, und diese ist jeder anderen in dem Grade überlegen, als der Wert der religiösen Beziehungen den von anderen Lebensordnungen überwiegt" 5 2 6 . Dilthey ist überzeugt vom Eigencharakter der Religion 527 , sie ist eine, wenn nicht sogar die Weltanschauung. Sie hat ein ebensolches Eigenleben wie Philosophie, Kunst, Recht oder Wirtschaft 528 : „Der Begriff der Religion gehört derselben Klasse an als der von Philosophie. Er bezeichnet zunächst einen Sachverhalt, der an gesellschaftlich aufeinander bezogenen Individuen als ein Teilinhalt ihres Lebens wiederkehrt. Und weil dieser Sachverhalt die Individuen, denen er gleichförmig angehört, in innere Beziehung zueinander setzt und zu einem Zusammenhang verbindet: so bezeichnet der Begriff Religion zugleich einen Zusammenhang, der die religiös bestimmten Individuen als Glieder zu einem ganzen verknüpft." 5 2 9 Die Struktur der religiösen Weltanschauung ist weiterhin bestimmt durch ein Dynamisches 530 , woraus sich Stufen und Typen ergeben, die jedoch alle hervorgehen aus „primitiven Ideen", „als Grundlage der religiösen Weltanschauung": „Aber das Wesentliche war doch, daß auf den ersten uns zugänglichen Kulturstufen nach der Natur des damaligen Menschen und seiner Lebensbedingungen der religiöse Glaube aus überall gleichen, wirksamen Erlebnissen von Geburt, Tod, Krankheit, Traum, Wahnsinn seine primitiven religiösen Ideen entwickelte, die daher allerorts gleichermaßen wiederkehren." 5 3 1 In ähnlichem Sinn, aber umfassender, beschreibt Dilthey an anderer Stelle die religiöse Weltanschauung und entwickelt daraus seine „Religionstheorie": „Die religiösen Weltanschauungen entspringen aus einem eigenen Lebensbezug des Menschen. Jenseits des Beherrschbaren, in welchem der Naturmensch als Krieger, Jäger, Bearbeiter und Benutzer des Bodens durch physische Einwirkungen in rationaler Zwecksetzung Veränderungen in der Außenwelt hervorbringt, erstreckt sich das Gebiet des solchem Wirken 525

s. ebda, V, S. 383

526

ebda, V, S. 387

527

s. a. Wach, „Wilhelm Dilthey", S. 71

528

Dilthey, „ G e s . Schriften", V S. 342

529

ebda, V , S. 381; s. a. ebda, V, S. 342

530

s. ebda, V, S. 385

531

ebda, V , S. 384

110

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

nicht Zugänglichen, der Erkenntnis nicht Erreichbaren. Und wie ihm nun doch von da Wirkungen auszugehen scheinen, die ihm Jagdglück, kriegerischen Erfolg, gute Ernte in die Hand geben, wie er sich in Krankheit, Wahnsinn, Alter, T o d , Hinsterben der Frau, der Kinder, der Herde von einem Unbekannten abhängig findet: entsteht die Technik, dies Unfaßliche, durch physische Tätigkeit nicht zu Beherrschende durch seine Gebete, seine Gaben, seine Unterordnung zu beeinflussen. Er möchte die Kräfte höherer Wesen in sich aufnehmen, ein gutes Verhältnis zu ihnen gewinnen, sich mit ihnen vereinigen. Die Handlungen, die hierauf gerichtet sind, machen den ursprünglichen Kultus aus. E s entsteht das Handwerk des Zauberers, Medizinmannes oder Priesters, und wie dieser Stand sich immer fester ordnet, sammeln sich in ihm Kunstgriffe, Erfahrungen, Wissen, und es bildet sich in ihm eine eigene Lebensweise, die ihn absondert von den anderen Gliedern der Gesellschaft. So entsteht in den kleinen abgeschlossenen Gemeinschaften der H o r d e und des Stammes eine Tradition der im Verkehr mit den höheren Wesen entwickelten religiösen Lebenserfahrungen und der geistlichen Lebensordnung, und von den magischen Kulthandlungen geht die Entwicklung dieser abergläubischen Religiosität allmählich zu dem religiösen Prozeß fort, in welchem Gemüt und Wille des Menschen durch seine innerliche Disziplin dem göttlichen Willen unterworfen werden. Das entscheidende Moment liegt darin, wie auf der Grundlage der immer und überall wiederkehrenden Erlebnisse von Geburt, Tod, Krankheit, Traum, Wahnsinn, von schlimmen und heilsamen Eingriffen des Dämonischen in den Lebensverlauf, von seltsamen Mischungen von Ordnung in der Natur, die immer ein teleologisches Verhältnis der Auffassenden zu ihr bedeutet, und von Zufall, Zerstörungskraft und Widerstreit die primitiven religiösen Ideen sich entwickeln. D a s zweite Ich im Menschen, die göttlichen Kräfte in Himmel, Sonne und Gestirnen, das Dämonische in Wald, Sumpf und Gewässer — diese durch Lebensbezüge bestimmten Grundvorstellungen sind die Ausgangspunkte eines affektiv bedingten Phantasielebens, das durch immer neue religiöse Erfahrungen genährt wird. Die Wirkungskraft des Unsichtbaren ist die Grundkategorie des elementaren religiösen Lebens. Das analogische Denken kombiniert die relgiösen Ideen zu Lehren vom Ursprung der Welt und des Menschen und von der Herkunft der Seele. A l s o die aus dem Übersinnlichen stammende Wirkungskraft in Dingen und Menschen gibt denselben ihre religiöse Bedeutung. Diese Dinge und Menschen sind sinnlich, sichtbar, zerstörbar, eingeschränkt, und doch sind

Wachs philosophischer Referenzrahmen

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sie ein Sitz göttlicher oder dämonischer Wirkungen. Die Welt ist erfüllt von einem religiösen Verhältnis einzelner, konkreter, endlicher Dinge und Personen zu dem Unsichtbaren, nach welchem deren religiöse Bedeutung in der in ihm geborgenen Wirkungskraft des Unsichtbaren enthalten ist. Heilige Stätten, heilige Personen, Götterbilder, Symbole, Sakramente sind einzelne Fälle dieses Verhältnisses: es bedeutet in der Religion, was das Symbolische in der Kunst und das Begriffliche in der Metaphysik bedeutet. Und die Tradition wird innerhalb des religiösen Verhältnisses gerade durch die Dunkelheit ihres Ursprungs zu einer Macht von ausnehmender Stärke. Dies ist die Grundlage der ganzen weiteren religiösen Entwicklung. Während der Gemeingeist in den frühen Stufen vorwiegend wirksam ist, vollzieht sich der Fortgang zu höheren Stufen durch das religiöse Genie, in den Mysterien, im Einsiedlerleben, im Prophetentum. Zu einzelnen Wirkungen zwischen den Menschen und den höheren Wesen tritt im religiösen Genie ein innerliches Verhältnis des ganzen Menschen zu denselben. Diese konzentrierte religiöse Erfahrung nimmt nun die elementaren religiösen Ideen zu religiösen Weltanschauungen zusammen, und dieselben haben ihr Wesen darin, daß hier aus dem Verhältnis zum Unsichtbaren die Deutung der Wirklichkeit, die Lebenswürdigung und das praktische Ideal hervorgehen. Sie sind in der bildlichen Rede und den Glaubenslehren enthalten. Sie beruhen auf einer Lebensverfassung. In Gebet und Meditation entwickeln sie sich. Alle typischen Gebilde dieser religiösen Weltanschauungen haben von ihrem ersten Ansatz her in sich den Gegensatz wohltätiger oder böser Wesen, des sinnlichen Daseins und der höheren Welt." 5 3 2 Soweit Diltheys Zusammenfassung seiner Religionstheorie. Aufgrund dieser Theorie lassen sich nach Dilthey aus „den gemeinsamen Zügen der Welt- und Lebensansicht", die „mit den religiösen Prozessen verknüpft" sind, „Haupttypen derselben aufstellen" 533 . In Anlehnung an diese Theorie spricht Wach von der W e l t der Religion, weil innerhalb der Provinzen menschlichen Geistes ein ganz bestimmter Aufbau, eine Ordnung, Schichtung und Gliederung (also Welten) festgestellt werden kann, zwischen denen sich wiederum tausend Fäden spannen: kleine Welten in der Gesamtwelt 534 . Die Bezeichnung Welt hält er 532

ebda, V I I I , S. 88 f.

533

ebda, V I I I , S. 169

534

s. Wach, „Bemerkungen zu", S. 162

112

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

insofern für treffend, weil sie das wesentliche auszusagen vermag, daß diese Provinzen nämlich einer bestimmten Strukturierung unterliegen. 535 Als „Konsequenz ihrer Statuierung der Eigengesetzlichkeit" ergibt sich dann „als Voraussetzung für jede Art von Würdigung dieser Welt die Forderung der Anwendung immanenter Kategorien" 536 . Jede Welt hat ihre Eigengesetzlichkeit. Auch die religiöse Welt also ist für Wach, gemäß der Diltheyschen Weltanschauungslehre, in sich selbst zentriert. Deshalb kann die Religionswissenschaft „ihr besonderes Problem nur im Zusammenhang mit der Philosophie lösen" 537 , die „Religionsgeschichte und vergleichende Religionswissenschaft finden sich auf Begriffe wie Leben, Lebenserfahrung, Phantasie usw. angewiesen", weshalb „die Klärung und Herausarbeitung dieser allgemeinen Kategorien zunächst eine philosophische Angelegenheit" 538 sind. Das bedingt auch die zur Anwendung zu bringende Methode: Die Religionen müssen als „historisch sich auslebende Gebilde . . . alle dem vergleichenden Verfahren unterworfen werden, um das ihnen gemeinsame Wesen der Religion zu erfassen" 5 3 9 . In Anlehnung an Dilthey setzt Wach die Religionswissenschaft nicht nur in engste Beziehung zur (Religions-)Philosophie, sondern strebt auch ihre Grundlegung aus der Lebensphilosophie an, die ebenso die Durchführung seiner Religionssystematik — als Religionstheorie — beherrscht, wie sich zeigen wird. Von Dilthey übernimmt er die Zielvorstellungen: Verstehen der Religion aus ihrem Strukturzusammenhang und Erarbeitung von Typen innerhalb der religiösen Welt. Die Diltheyschen Grundsätze modifiziert er unter dem Einfluß Simmeis, um sie modellhafter zu gestalten, wie das nächste Kapitel verdeutlichen wird.

535

ebda, S. 162: „ W e m die Bezeichnung ,Welt' zu prätentiös ist, darf getrost dafür Sphäre, Kreis oder System sagen, nur eignet sich die Bezeichnung Welt insofern gut, als sie eine bestimmte Strukturierung dieser Sphären andeutet. Und das ist wesentlich."

536

ebda, S. 165

537

Wach, „Wilhelm Dilthey", S. 75

538

ebda, S. 75

539

ebda, S. 80

Wachs religionswissenschaftlicher Referenzrahmen

113

Wachs religionswissenschaftlicher Referenzrahmen Wenn man Georg Simmel als den zentral bezogenen Denker für den religionswissenschaftlichen Referenzrahmen Wachs anfürt, erscheint das auf den ersten Blick als eine fast unglaublicher Kombination, zumal Simmel kein Religionswissenschaftler ist. Auch die direkten Bezüge auf Simmel sind in Wachs literarischem Werk nicht so ausnehmend häufig wie etwa die auf Dilthey, und doch stehen Einfluß Simmeis auf Wach und direkte Aufnahme Simmeis durch Wach in umgekehrten Verhältnis: Simmeis Name taucht nämlich an den zentralen Stellen der Gesamtkonzeption Wachs auf. Zum einen beeinflußt Simmel die hermeneutischen Überlegungen Wachs, der ihm vor allem in bezug auf das historische Verstehen folgt: „Georg Simmel wendet das Problem (Verstehen, der Verf.) im Sinne Diltheys nach der geschichtsphilosophischen Seite. Das historische Verstehen wird durch ihn analysiert." 540 Zum anderen stammen Wachs Geschichtsauffassung und sein sich daraus ergebendes Religionsmodell von Simmel, wie eine Skizze der Simmelschen Gedankengänge zeigen wird. Besonders Wachs Wunsch, die Religionswissenschaft vom Historismus zu befreien, geht auf Simmel zurück, der als Ziel seiner Geschichtsphilosophie ansieht: „ D e r Befreiung, die Kant vom Naturalismus vollbracht hat, bedarf es auch vom Historismus. Vielleicht gelingt sie der gleichen Erkenntniskritik: daß der Geist auch das Bild des geistigen Daseins, das wir Geschichte nennen, durch die nur ihm, dem erkennenden, eigenen Kategorien souverän formt." 5 4 1 Zum dritten wirkt Simmel nicht nur durch sein Religionsmodell bestimmend auf die Gesamtkonzeption der Religionswissenschaft Wachs, sondern auch seine soziologischen Konzeptionen finden sich in der Wachschen Religionssoziologie wieder. Welche Bedeutung Wach Simmel innerhalb der Religionswissenschaft beimißt, wird auch deutlich an einer 1933 bei ihm 5 4 2 gefertigten Dissertation von Gerhard Loose, „Die Religionssoziologie Georg Simmeis" 543 , die auf seine Anregung zurückgeht. Deren Ziel ist es, besonders in bezug auf den soziologischen Bereich, den Beweis anzutreten, daß bisher, obwohl Simmel „keine geschlossene 540 541 542 543

Wach, „Verstehen" I, S. 26/7 Simmel, „Probleme der Geschichtsphilosophie", S. VII Korreferent war Th. Litt Leipzig 1933

114

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

Logik, Ästhetik, Ethik oder Philosophie der Religion" gegeben hat, Bedeutung und „Umfang der diesbezüglichen Simmelschen Arbeit gar nicht erkannt worden" sind, sondern man sogar geglaubt hat, „ihm das genuine religiöse Erleben absprechen zu müssen" 544 . Um dem Einfluß Simmeis auf Wach gerecht zu werden, müssen wir also drei Aspekten seines Gesamtwerkes linear nachzugehen suchen: seinen geschichtsphilosophischen Überlegungen, der durch sie bedingten Religionstheorie, und den sich aus ihr ergebenden Erkenntnissen über die soziologischen Wirkungen der Religion. Unter diesen drei Fragestellungen versuchen wir, ordnend in die teilweise doch recht unsystematische Vielschichtigkeit des Simmelschen Werkes einzugreifen, weshalb wir ihn dann in weiten Passagen selbst sprechen lassen wollen. Die für unsere Zwecke geordnete Wiedergabe der Gedankengänge in den Worten Simmeis halten wir auch deshalb für angebracht, weil sie — zum Teil bis in die Diktion — bei Wach wiederkehren werden. Von Droysen herkommend 545 macht auch Simmel das Verstehen zum Zentralbegriff seiner historischen Überlegungen. Nach Droysen ist das Wesen der historischen Methode: forschend zu verstehen 546 . In Fortführung Diltheys basiert für Simmel das historische Verstehen, wie jedwedes Verstehen, auf der Erfahrung als genuin menschlicher Gemeinsamkeit. Es geschieht also auf Grund der Teilhabe am Mensch-Sein. Mittelbare oder unmittelbare Überlieferung kann der Historiker nur „akzeptieren", „wenn er die eine oder die andere psychologische Verfassung als eine mögliche kennt und sie vermöge eigner mitgebrachter Erfahrung nachkonstruieren kann" 5 4 7 . Der empirische Boden aller menschlichen Erkenntnis ist demnach die Erfahrung, durch die sich dem Erkennenden im Nachvollzug fremder Erfahrungen auch — und nur — das Historisch-Faktische erschließt. Historische Erfahrung vollzieht sich in einer Art Korrespondenz der Innerlichkeiten, ähnlich wie bei Droysen, auf Grund der Teilhabe am Mensch-Sein 548 . Die Begründung dieser Teilhabe am Mensch-Sein als Voraussetzug des Verstehens geschieht bei Simmel in biologisch-genetischem Zusammenhang: 544

Loose, „ D i e Religionssoziologie Simmeis", S. 6

545

s. Wach, „Verstehen" III, S. 188

546

s. Wach, „Verstehen" III, S. 167, w o er das als die klassische Definition des Wesens der historischen Methode bezeichnet.

547

Simmel, „Probleme der Geschichtsphilosophie", S. 11

548

s. hierzu a. Wach, „Verstehen" III, S. 165

Wachs religionswissenschaftlicher Referenzrahmen

115

„ W i e aber unser Körper die Errungenschaften vieltausendjähriger Entwicklung in sich schließt und in den rudimentären Organen noch unmittelbar die Spuren früherer Epochen bewahrt, so enthält unser Geist die Resultate

und die

Spuren vergangener

psychischer

Prozesse

von den

verschiedenen Stufen der Gattungsentwicklung her; nur daß die Rudimente, die psychischen Wert haben, gelegentlich noch zweckmäßig funktionieren. Das ganze Maß unseres Verständnisses auch für solche Mitlebende, die von unserer eigenen Sinnesart sehr abweichen, mag daher kommen, daß unsere Erbschaft von der Gattung außer unserem wesentlichen Charakter doch noch Spuren anderer Ahnencharaktere enthält und uns so das Verstehen — d. h. das Vollziehen der gleichen psychischen Prozesse wie jene — ermöglicht. A u c h die sinnlich wahrnehmbaren Personen bieten uns nur äußerliche Erscheinungen, nicht einmal vollständige, und auf die unmittelbare Empirie hin angesehen, ist jeder andere Mensch für uns ein Automat, jedes seiner Worte ein bloßer Schall, in den wir eine Seele erst aus unserem eigenen Ich hineinlegen müssen. N u r quantitativ ist von dem Prozeß des Verstehens, den wir an der Äußerlichkeit solcher Bilder vornehmen, der des historischen Erkennens verschieden; dieser findet nur ein viel unvollständigeres und zusammenhangloseres größeren

Spielraum

der

Material, Konjektur

noch und

unsicherere Hinweise, umfassendere

noch

Notwendigkeit

ihrer."549 So sind wir nach Simmel beispielsweise „alle . . . präexistente Maler und deshalb fähig, nachdem der wirkliche Maler uns den Weg gebahnt hat, ihm n a c h z u g e h e n " 5 5 0 . Diese Möglichkeit der Erfahrung ist zugleich N o t wendigkeit und Grundlage des Verstehensvorganges, in dem sie spontan weitergebildet wird, und ist damit „ein Apriori aller praktischen

Er-

kenntnisbeziehung zwischen einem Subjekt und anderen S u b j e k t e n " 5 5 1 . Alles Verstehen von Menschen ist letztlich „eine Hineinverlegung selbsterlebter Innenereignisse" 5 5 2 , und „das Verständnis der historischen Person setzt also, so verschieden sie sonst von mir sei, in den zu verstehenden Punkten eine wesentliche Gleichheit zwischen uns beiden v o r a u s " 5 5 3 . Den

549

Simmel, „ P r o b l e m e der Geschichtsphilosophie", S. 68/9

550

Simmel, „Lebensanschauung", S. 73

551

S i m m e l , „ P r o b l e m e der Geschichtsphilosophie", S. 8

552

Simmel, „ V o m W e s e n des historischen Verstehens", S. 61

553

ebda; s. a. „ P r o b l e m e der Geschichtsphilosophie", S. 6 0 / 1 . Hier schließt sich auch

der Kreis Wach-Simmel-Steinthal,

denn nach W a c h ,

„Verstehen"

III,

116

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

Vorgang des Verstehens charakterisiert Simmel folgendermaßen: „Die Struktur allen Verstehens ist innerliche Synthese zweier, von vornherein getrennter Elemente. Gegeben ist eine tatsächliche Erscheinung, die als solche noch nicht verstanden ist. Und dazu tritt aus dem Subjekt, dem diese Erscheinung gegeben ist, ein Zweites, entweder diesem Subjekt unmittelbar entsteigend oder von ihm aufgenommen und verarbeitet, eben der verstehende Gedanke, der jenen zuerst gegebenen gleichsam durchbringt, ihn zu einem verstandenen macht . . ," 5 5 4 . Damit wird im Verstehensvorgang aus dem Nacherleben ein Nachbilden: „Die innere Nachbildung des seelischen Geschehens ist die Interpretation der geschichtlichen Wahrnehmbarkeiten." 555 Darin besteht „der grundsätzliche Unterschied des historischen Verstehens gegen das Verstehen des Sachgehaltes als solchen" 556 . Da also „historisches Verständnis überhaupt nur eine Modifikation des zeitgleichen, ganz aktuellen Verstehens ist" 5 5 7 , „historisches Verstehen . . . seelisches Verstehen" 558 ist, „wird es damit auch zum zeitfreien Verstehen" 559 . Es ist letztlich „also nur in und aus dem Lebensstrom möglich" 560 , denn „das Urphänomen des Verstehens verwirklicht sich . . . an jener ganz überindividuell ausgedehnten Folge des stetig drängenden, auf jede Einzelheit hindrängenden Lebens" 5 6 1 . Vom Leben her führt das Verstehen mit Hilfe der Intuition, die „eine bestimmte Einstellung des Blickes" 562 ist, zu Kategorien, die „nicht singuläre typische Beschreibungen geben" 563 , sondern Objektivität ausstrahlen. Das Typische selbst hat für Simmel gleichsam schon kategorialen Wert: Eine andere der Katogerien, die von unseren Gefühlsreaktionen her dem S. 2 3 8 , ist für Steinthal Sympathie die Grundlage allen Verstehens, und „Verstehen heißt: reproduzieren, nachmachen". 554

Simmel, „Vom Wesen des historischen Verstehens", S. 60

555

Simmel, „Probleme der Geschichtsphilosophie", S. 60; s. ebda, S. 28, 30, 33

556

Simmel, „Vom Wesen des historischen Verstehens", S. 76

557

ebda, S. 64

558

ebda, S. 76

559

ebda, S. 77

560

ebda, S. 71

561

ebda, S. 72; s. a. Wach, „Wilhelm Dilthey", S. 77, w o er meint, Simmel habe dadurch den Relativismus Diltheys in der Geschichte überwunden.

562

Simmel, „Soziologie", S. 15

563

ebda, S. 23/4

Wachs religionswissenschaftlicher Referenzrahmen

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objektiven Verlauf des .Geschichtlichen' eine Gliederung nach Reizverschiedenheiten läßt, ist das Extreme und sein Korrelat, das Typische." 5 6 4 Sie bilden das Ziel aller historischen Verstehensarbeit, denn „sowohl das Extreme wie der Typus ist in höherem Maße objektiv, in geringerem eine bloße Projektion unserer Gefühle, wie das Wertvolle oder das Bedeutende oder einfach das Interessante" 5 6 5 . Verstehen richtet sich also vom Leben auf das Leben. Was es zu verstehen gilt und das, was versteht, ist der menschliche Geist, der den zu verstehenden Erfahrungen Ausdruck und Form verliehen hat. Der Satz Sombarts, „will man das Hilfswerk des Geistes in einem Wort zusammenfassen, so kann man sagen: er hat die Formen geschaffen, in denen sich unser Leben . . . bewegen kann" 5 6 6 , könnte durchaus von Simmel stammen, der diesen Zusammenhang wiederum biologisch begründet. Denn für ihn gilt, daß Leben nur als geprägte Form dasein und sich behaupten kann. Zugleich aber wird ihm diese Form immer wieder zur Schranke und zur Ursache des Unterganges. Alles Lebendige weist nämlich über sich selbst hinaus. Was schon auf der Ebene des biologischen Daseins gilt, ist ebenso im Bereich des gesamten Kulturlebens gültig 567 . Simmel sagt: „Das Leben ist wirklich Vergangenheit und Zukunft; diese werden nicht nur, wie zu der unorganischen, bloß punktuellen Wirklichkeit, ihm hinzugedacht. Und man wird, auch diesseits der Stufe des Geistes, an der Zeugung und am Wachstum die gleiche Form anerkennen müssen: daß das jeweilige Leben sich selbst überschreitet, seine Gegenwart mit dem Noch-Nicht der Zukunft eine Einheit bildet." 5 6 8 Die Formen selbst werden so zu etwas Organischem, das sich aus sich und in sich und schließlich über sich hinaus entwickelt und dennoch identisch ist mit seinem keimhaften Ursprung. Alles Leben drängt nicht nur nach Form, sondern alles Lebendige ist Form und als solches nur in seiner Geformtheit zu erkennen und zu erfassen. Damit sind die Formen des Lebens die eigentlichen Erkenntnismittel: Weil Leben Leben ist, „braucht es die Form, und indem es Leben ist, braucht es mehr als die F o r m " 5 6 9 . In aller Erfahrung also ist Form mitgegeben, weshalb auch Erfahrung mehr ist 564

Simmel, „Probleme der Geschichtsphilosophie", S. 134

565

ebda, S. 135

566

Sombart, „Vom Menschen", S. 55

567

s. Simmel, „Lebensanschauung", S. 7ff.

568

ebda, S. 11

569

9

ebda, S. 22 Flasche: Joachim Wach

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Joachim Wach als Lehrer und Forscher

„als Erfahrung — d. h. sie enthält außer den Sinneselementen, die ihr den spezifischen Charakter geben, die apriorischen Formen, die zwar von ihr unabhängig sind, sie aber nicht von ihnen", woraus Simmel den Schluß zieht: „So darf man sagen: Geschichte ist mehr als Geschichte" S70 . Deshalb hat das Leben als Geschichte die Form der Wirklichkeit 571 , wird als solche vom Verstehenden aufgenommen, der nach den Inhalten und den Intentionen der einzelnen Formen zu fragen hat 5 7 2 , wobei sich aber das Erkannte immer wieder der Dynamik des teleologischen Lebensstromes zu unterwerfen hat 5 7 3 , also den Charakter der Bewegtheit besitzt, weil Leben Dynamik und damit Fortentwicklung 574 ist. Von diesen erkenntnistheoretischen Überlegungen ist die Geschichtsauffassung Simmeis bestimmt. Geschichte wird ihm zur Evolution und zum Fortschritt menschlichen Geistes, denn im Grunde ist, ähnlich wie bei Droysen, alles Tun des Menschen durch gewisse Ideen bestimmt, die sich mit ihm wandeln 5 7 5 , weil sie die Form des Lebens haben. Sie sind gleichsam die Inhalte der apriorischen Formen 5 7 6 , die sich in der Geschichte des menschlichen Geistes verwirklichen. Denn „die Idee muß dieselbe Bewegtheitsform wie das Leben haben" 5 7 7 , da sie aus dem Leben stammt. Die einzelnen Reiche der Ideen sind mit dem Leben vorgegeben, sie treten mit ihm „in embryonaler Form" 5 7 8 auf. „Es sind zunächst Erzeugnisse des Lebens, wie alle seine anderen Erscheinungen, seinem kontinuierlichen Lauf eingeordnet und dienend. Und nun geschieht die große Wendung, mit der uns die Reiche der Ideen entstehen: die Formen oder Funktionen, die das Leben um seiner selbst willen, aus seiner eigenen Dynamik hervorgetrieben hat, werden derart selbständig und definitiv, daß umgekehrt das Leben ihnen dient, seine Inhalte in sie einordnet, und daß das Gelingen dieser 570

571

572

573 574 575 576 577 578

Simmel, „Probleme der Geschichtsphilosophie", s. 107; s. a. „Lebensanschauung", S. 58/9 Darauf ist das zweite Interesse des historischen Erkennens gerichtet (Simmel, „Probleme der Geschichtsphilosophie", S. 146 u. 147). Das bezeichnet Simmel (ebda, S. 138/9) als das erste Interesse des historischen Erkennens; s. a. „Lebensanschauung", S. 58/9 s. Simmel, „Lebensanschauung", S. 58 s. ebda, S. 161 s. a. Wach, „Verstehen" III, S. 177 s. Simmel, „Probleme der Geschichtsphilosophie", S. 107 Simmel, „Lebensanschauung", S. 192 ebda, S. 38

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Einordnung als eine ebenso letzte Wert- und Sinnerfüllung gilt, wie zuvor die Einfügung dieser Formen in die Ö k o n o m i e des Lebens. Die großen geistigen Kategorien bauen zwar am Leben, auch wenn sie noch ganz in ihm befangen sind, noch ganz in seiner Ebene liegen. Allein so lange haben sie dennoch etwas ihm gegenüber Passives, mittelhaft Nachgiebiges, ihm Untertanes, weil sie sich seiner Gesamtforderung fügen und ihr gemäß das, was sie ihm leisten, modifizieren müssen. Erst wenn jene große Achsendrehung des Lebens um sie herum geschehen ist, werden sie eigentlich produktiv; ihre sachlich eigenen Formen sind jetzt die Dominanten, sie nehmen den Lebensstoff in sich auf und er muß ihnen nachgeben." 5 7 9 Die Ideen als Kategorien des Lebens bilden ihre eigenen Welten und haben je in dieser W e l t ihre eigene Entwicklung. N i c h t nur der sich hierin aussprechende Evolutionsgedanke, sondern auch das „Weltenmodell" Simmeis, die bei Wach beide wiederkehren, und sich im gesamten Simmelschen Werk als dominierende Gedanken finden 5 8 0 , sind „biologistisch" gedacht. Geschichtliche und damit geistige Entwicklung „ist Entwicklung durch die niedersten Formen hindurch zu den h ö h e r e n " 5 8 1 , sie geschieht durch Wandel und Veränderung: „ D i e Veränderung ist vielleicht deshalb ohne weiteres ein Fortschritt, weil am Ende aller D i n g e , oder auch pro rata durch alles Werden hin verteilt, ein absolut wertvolles, definitives Ziel steht. Erkennbar ist dies für uns nicht, nicht sein Was, sondern nur sein Daß ist s i c h e r . " 5 8 2 Denn „es ist zunächst klar, daß der Begriff des Fortschritts einen Endzustand voraussetzt, der in seiner Absolutheit ideell vorhanden sein muß, damit die Annäherung an ihn oder sein höheres Verwirklichungsmaß den späteren Zustand als den relativ fortgeschrittenen charakterisiere." 5 8 3 So schreitet der menschliche Geist in der Geschichte fort von den rohesten Zuständen des Denkens hin zu den höchsten

Verallgemeinerungen

und zur vollkommenen

Verwirklichung

seiner s e l b s t 5 8 4 . Diese Selbstverwirklichung geschieht nach Simmel beson579

ebda, S. 38

580

der Evolutionsgedanke findet sich z . B . in: „ U b e r sociale Differenzierung", S. 2 5 , 3 6 , 6 7 , 72; in: „Lebensanschauung", S. 161; in: „Geschichtsphilosophie", S. 17. D a s Organismusmodell taucht beispielsweise auf in: „ V o m Heil der Seele", S. 123; in: „ Ü b e r sociale Differenzierung", S. 13, 23, 48, 61, 130, 133; in: „ L e b e n s a n s c h a u u n g " , S. 4 1 , 2 1 2 .

581

Simmel, „ U b e r sociale Differenzierung", S. 72

582

Simmel, „ P r o b l e m e der Geschichtsphilosophie", S. 157

583

ebda, S. 155

»

9

584

s. Simmel, „ Ü b e r sociale Differenzierung", S. 6 7 f f .

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ders in einzelnen Persönlichkeiten, den Genies, nicht aber in den breiten Massen585. E b e n s o wie dieser Gedanke bei Wach wiederkehrt, wenn er davon spricht, daß die großen religiösen Genies, die Stifter, Propheten und Lehrer, den Geist einer Religion auf deren Idee hin vorantreiben, so findet sich auch das Simmelsche Organismusmodell, die Vorstellung vom organischen Fortschreiten des menschlichen Geistes in und aus den (apriorischen) Formen. D a es verschiedene Bezirke der Ausformung des menschlichen Geistes gibt, bilden sich Welten, die jeweils einem Gesamtprinzip Untertan sind 5 8 6 . Diese Welten sind als Organismen zu denken; denn ein Organismus ist „immer ein Ganzheitliches vom Keim bis zum B a u m " 5 8 7 . Diese Welten formen nach Simmel ihren „Weltstoff": „Welt in vollem Sinne ist also eine Summe von Inhalten, die vom Geist aus dem isolierten Bestände jedes Stückes erlöst und in einen einheitlichen Zusammenhang gebracht ist, in eine F o r m , die Bekanntes und Unbekanntes zu umschließen imstande i s t . " 5 8 8 Demnach gibt es neben anderen die Welt der Kunst 5 8 9 und die Welt der Religion. Diese Welten sind „gegenseitig keines Ubergreifens, keiner Kreuzung, keiner Mischung f ä h i g " 5 9 0 , vielmehr muß z. B . „die Welt in der F o r m der Religion" . . . „auch religiös ausgewertet werden" 5 9 1 . Denn „ i n jedem dieser Bezirke" gibt es „eine innere, sachliche Logik, die zwar Spielraum für große Mannigfaltigkeit und Gegensätze gibt, aber doch auch den schöpferischen Geist an ihre objektive Gültigkeit bindet" 5 9 2 . Eine solche Welt hat also ihr eigenes Zentrum, ihre eigene Logik, ihre eigene Wertigkeit und ihre eigene Entwicklung. 585

s, ebda, S. 74; s. a. „Lebensanschauung", S. 233: Bei der Individualität handelt es sich um deren „Eigenheit, in deren Form jedes organische Leben und zuhöchst das seelische verläuft, . . . um das Wachsen aus eigener Wurzel".

586

s. Simmel, „Lebensanschauung", S. 30; s. a. „Probleme der Geschichtsphilosop h i e " , S. 160/1

587

Simmel, „Lebensanschauung", S. 212

588

ebda, S. 28/9

589

Die Welt der Kunst taucht bei Simmel meist in enger Verbindung mit der Welt der Religion auf. Dieses Nebeneinander findet sich in auffallender Weise auch bei Wach.

590

ebda, S. 30; ähnlich, wie biologische Gattungskreuzungen unmöglich sind!

591

ebda, S. 30

592

ebda, S. 31

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Im Grunde versucht Simmel in seiner Erkenntnistheorie und Geschichtsphilosophie „die Naturwissenschaften" mit ihren damaligen Erkenntnissen einzufangen. Das zeigt sich am deutlichsten in der Hinordnung alles Geistigen auf das Leben, das in seiner Dynamik als Organismus gedacht und vom Evolutionsdenken bestimmt ist, wie auch weiterhin an Simmeis Formbegriff. Aus diesen Elementen erwachsen ihm seine Weltenmodelle, für die die eben skizzierten Grundsätze generell gelten, und von denen wir uns nun speziell seinem Religionsmodell zuwenden wollen. Aus der Voraussetzung der nicht kreuzungsfähigen Welten ergibt sich für Simmel: „Die Wirklichkeit ist keineswegs die Welt schlechthin, sondern nur eine, neben der die Welt der Kunst wie die der Religion stehen, aus dem gleichen Material nach anderen Formen, von anderen Voraussetzungen aus zusammengebracht."593 Dieses „Welt-Sein" der Religion wird „einerseits von der Einheit des Inhalts verbürgt, der sich in all diesen differenzierten Formen gestaltet, andererseits von dem einseitigen Verlauf des seelischen Lebens" 594 . Denn „erst indem die Religion den entscheidenden Grund ton für das Leben gab, gewannen dessen einzelne Elemente wieder das rechte Verhältnis zueinander oder zum Ganzen" 595 . Die Welt der Religion ist also ein in sich geschlossener Organismus, der aus einer Eigengesetzlichkeit lebt und sich entwickelt. Die Religion ist eine „Totalität des Weltbildes" von ungestörtem inneren Zusammenhang: „Man könnte von einer besonderen Logik, von einem besonderen Wahrheitsbegriff der Kunst sprechen, von einer besonderen Gesetzlichkeit, mit der sie neben die Welt der Wirklichkeit eine neue, aus demselben Material gestaltete und ihr äquivalente setzt. Nicht anders dürfte es sich mit der Religion verhalten. Aus dem anschaulichen und begrifflichen Stoff, den wir auch in der Schicht der Wirklichkeit erleben, erwächst in neuen Spannungen, neuen Synthesen die religiöse Welt. Die Begriffe von Seele und Dasein, von Schicksal und Schuld, von Glück und Opfer . . . bilden zwar auch ihren Inhalt, — aber nun werden sie von den Wertungen und Gefühlstönen begleitet, die sie in andere Dimensionen einordnen, ihnen ganz andere perspektivische Verschiebungen zuteil werden lassen, als wenn eben dasselbe Material die empirische oder die philosophische oder die künstlerische Ordnung bildet. Das religiöse Leben schafft 593

Simmel, „Die Religion", S. 9

594

ebda, S. 8

595

ebda, S. 8

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Joachim Wach als Lehrer und Forscher

die Welt noch einmal, es bedeutet das ganze Dasein in einer besonderen Tonart, so daß es seiner reinen Idee nach mit den nach anderen Kategorien erbauten Weltbildern sich überhaupt nicht kreuzen, ihnen nicht widersprechen kann. . , " 5 9 6 Die Bedingung für dieses Welt-Sein der Religion ist nach Simmel: „daß die Religion . . . ihr, dem Leben mit seinen täglichen Begehrungen und Interessen gegenüber, ganz reines Fürsich-Sein gewonnen h a t . " 5 9 7 Erst „nachdem freilich das letztere geschehen ist, ihr schlechthin eigener und autonomer Sinn gewonnen ist, flieht sie sich wieder in das Leben z u r ü c k " 5 9 8 . Wie aber nun äußert sich diese „Welt der Religion", und wie finden wir (wissenschaftlichen) Zugang zu ihr? „Religion" ist nach Simmel „als solche ein Vorgang im menschlichen Bewußtsein und weiter nichts" 5 9 9 . Denn es gilt zu unterscheiden zwischen Begründung und Sein der Religion. Wenn z . B . Religion als ein Verhältnis zwischen Gott und der einzelnen Seele anzusehen ist, „ s o ist dies eine einheitliche, aus zwei Beziehungsrichtungen zusammengesetzte Tatsache, ein metaphysisches Geschehen, das wohl Religion begründet oder einschließt, aber doch nicht die Religion ist — . . . Religion ist vielmehr nur das subjektive Verhalten des Menschen, durch welches er eine Seite jenes Beziehungsganzen bildet, oder vielleicht die subjektive Reaktion auf die Wirklichkeit desselben; sie ist durchaus ein menschliches Fühlen, Glauben, Handeln. . . " 6 0 ° . An anderer Stelle heißt es etwa ähnlich, es müsse feststehen, „daß Religion ein Verhalten des Menschen ist — gleichviel welchem metaphysischen Zusammenhang es angehöre und wie es auf Transzendentes gerichtet und von ihm bestimmt sei" 6 0 1 . So ist die Religion als Religiosität „ein bestimmtes Sein", eine „funktionelle Qualität des Menschen" 6 0 2 . Diese qualitative „Einheit des religiösen Zustandes geht nach zwei Seiten auseinander: nach der intellektuellen in die theoretische Vorstellung von der Existenz der Heilstatsachen, nach der Gemütsseite in G e f ü h l " 6 0 3 . Aber nicht Empfindungen wie Schauer oder Angst sind bereits Religion, sondern ein solcher Vorgang wird erst zur 596

ebda, S. 10/11

597

Simmel, „Lebensanschauung", S. 87

598

ebda

599

Simmel, „Beiträge zur Erkenntnistheorie", S. 105

600

ebda; s. a. ebda, S. 113

601

Simmel, „Lebensanschauung", S. 85/6

602

Simmel, „Religiöse Grundgedanken", S. 119

603

Simmel, „Beiträge zur Erkenntnistheorie", S. 115

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Religion, „indem er sich ins Transzendente fortsetzt, sein eigenes Wesen zu seinem Objekt werden läßt und von diesem sich selbst zurückzuempfangen s c h e i n t " 6 0 4 . Dies bedeutet nach Simmel, daß nicht jedes religiöse Gefühl schon Religion ist. Er faßt diesen Grundsatz so: „Frömmigkeit ist die Stimmung der Seele, die zur Religion wird, sobald sie sich in besondere Gebilde projiziert: für unseren Zusammenhang ist es bezeichnend, daß pietas gleichmäßig das fromme Verhalten gegen Menschen wie gegen Götter bezeichnet. D i e Frömmigkeit, die die Religiosität gleichsam noch im fließenden Zustand ist, braucht zu der festen Form des Verhaltens zu Göttern, zu der Religion, nicht vorzuschreiten." 6 0 5 D a s wirkliche religiöse Gefühl, die echte religiöse Erfahrung und das daraus folgende Selbstverständnis bedürfen also einer bestimmten „ L a d u n g " , und sie werden zur Religion erst in bestimmten und sich festigenden Formen: „ E s kommt hier darauf an, daß die religiöse Färbung nicht von einer geglaubten transzendenten Macht auf das Erleben ausstrahlt, sondern eine besondere Qualität des Gefühls selber ist, eine Konzentration oder ein Schwung, eine Weihe oder eine Zerknirschung, die in sich religiös ist; jenen Gegenstand der Religion erzeugt sie als ihre Objektivation oder ihr Gegenbild, wie die Sinnesempfindung ihr Objekt, das ihr doch gegenübersteht, aus sich entläßt. Auch in den Dingen des Schicksals, das seinem Begriff nach das von uns Unabhängige ist, wird das Erleben, das in dem Sondergebiet der Religion verläuft, durch die produktiven, in uns zum Grunde liegenden religiösen Kräfte geformt; es stimmt mit den Kategorien der religiösen Gegenständlichkeit deshalb überein, weil diese es von sich aus gestaltet haben."606 Der religiöse Mensch erlebt nach Simmel die Dinge von vornherein religiös. So schafft also „nicht die Religion die Religiosität, sondern die Religiosität die Religion" 6 0 7 . Somit ist Religiosität als Ausdrucksform des Religiösen eine Kategorie, die den Weltstoff formen muß, damit Religion entstehen kann. 6 0 8 Denn es gibt in den eigengesetzlichen Welten keine (religiösen) Inhalte ohne Form und keine (religiösen) Formen ohne Inhalte. 604

Simmel, „ D i e Religion", S. 14/5

605

ebda, S. 29/30

606

ebda, S. 16; s. a. „Lebensanschauung", S. 86

607

ebda, S. 17: ebenso „ w i e nicht die Erkenntnis die Kausalität schafft, sondern die Kausalität die Erkenntnis". Das darf also nicht im Sinne Feuerbachs verstanden werden.

608

s. L o o s e , a . a . O . , S. 15

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Joachim Wach als Lehrer und Forscher

Die Religiosität ist eine Kategorie des Lebens, das sie als Weltstoff in seiner Ganzheit ergreift. Die Möglichkeit, die Religiosität in die großen Kategorien unseres Lebens einzureihen, sieht Simmel in folgender Unterscheidung: „Wie wir die objektive Welt, die den Inhalt des Denkprozesses bildet, von diesem Prozesse selbst zu unterscheiden haben, so den religiösen Inhalt, in seinem objektiven Bestände und Gültigkeit, von der Religion als subjektivmenschlichem Prozesse." 6 0 9 Damit wird nach ihm die Religiosität erstens „als eine einheitliche und fundamentale Verfassung der Seele erkannt, so daß die Bedeutsamkeit und Geltungsart, welche sie den von ihr ergriffenen Inhalten mitteilt, in derselben Reihe steht wie die Kategorie des Seins, des Sollens, des Wollens usw. von Inhalten: dadurch bekommt die von ihr geschaffene Welt eine Selbständigkeit, die nun nicht mehr immer auf die Legitimation seitens der Welten jener Kategorien zu warten braucht, sondern diesen koordiniert ist" 6 1 0 . Das bedeutet zweitens: „Wenn die Religiosität eine Vergegenwärtigungsart bestimmter begrifflicher Inhalte ist, so wird begreiflich, daß bei allem Wechsel oder Entwicklung der letzteren die Innigkeit und subjektive Bedeutung der religiösen Stimmung selbst ganz die gleiche bleiben kann, . . , " 6 1 1 . So schließt sich also der Kreis wieder, indem die Welt der Religion eine in sich geschlossene Einheit bildet, freigesetzt von einer das Leben bestimmenden Kategorie, die wie jede von ihnen ihre Entwicklung in der Geschichte des menschlichen Geistes nimmt. Deshalb ist z. B. auch „für den einzelnen Menschen . . . seine Religion in der Regel die Religion, eine andere kommt für ihn überhaupt nicht in Betracht" 6 1 2 , denn Religiosität ist eine „eigene Erkenntniswelt und als solche unwiderle gbar" 6 1 3 . Für die Religionswissenschaft bedeutet das nach Simmel, daß sie die Welt der Religion nur empirisch am Verhalten des Menschen, in den religiösen Ausdrucksformen erfassen kann, wie diese sich organisch in der Geschichte entwickeln, und wie sich dieser Entwicklungsprozeß als solcher der ihm innewohnenden Ideen in verschiedenen Stufen der Vollkommenheit nähert. Dabei sind es „vielleicht drei Segmente des Lebenskreises, an denen die Transponierung in die religiöse Tonart vor allem hervortritt: am 609

Simmel, „Beiträge zur Erkenntnistheorie", S. 106

610

ebda, S. 108

611

ebda, S. 108

612

Simmel, „ S o z i o l o g i e " , S. 447

613

Simmel, „Religiöse Grundgedanken", S, 120

Wachs religionswissenschaftlicher Referenzrahmen

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Verhalten des Menschen zur äußeren Natur, zum Schicksal, zur umgebenden Menschenwelt" 614 . Die Religionsgeschichte sieht Simmel als eine Stufenfolge innerer Kontinuität 615 . Auch „die Taten einzelner Genies" sind „in die Einheit der Substanz hineingezogen, die sich in der Geschichte der Religion entwickelt" 6 1 6 , denn in ihrem Material lebt ein „objektives Kontinuum" 617 . So gibt es für die Religionsgeschichte auch nicht die Frage nach dem Ursprung der Religion, sondern „nur" nach einem Ursprung: „Es ist schon tief begründet, daß jeder Punkt im ganzen Kreise seelischer Impulse als ,Ursprung' der Religion gegolten hat: die Furcht wie die Liebe, die Ahnenverehrung und die Selbstvergötterung, die moralischen Triebe und das Abhängigkeitsgefühl — ganz irrig ist jede dieser Theorien sicher nur dann, wenn sie den Ursprung, berechtigt aber, wenn sie einen Ursprung der Religion anzugeben behauptet. Zur Einsicht in das Entstehen und den Bestand der Religion kann es nur verhelfen, daß wir in allerhand Beziehungen und Interessen, die jenseits oder vielmehr diesseits von ihr stehen, gewisse religiöse Momente entdecken, die Ansatzpunkte zu demjenigen, was als ,Religion' Selbständigkeit und Geschlossenheit erlangt hat." 6 1 8 Denn letztlich ist sie als „ein bestimmtes Sein" und „eine funktionelle Qualität" 6 1 9 im Menschen als ganzem Menschen angelegt. Die Religionssystematik hat somit auszugehen von den verschiedenen Verhaltensweisen des Menschen im religiösen Bereich. Dabei muß sie sich der „Sprache der Zeitlichkeit" und der „Zufälligkeiten der geschichtlichen Realität" 6 2 0 bewußt sein, und muß deshalb versuchen, das Typische festzuhalten. Ausgangspunkt hat ihr das menschliche Fühlen (Wachs Erfahrung) zu sein, von daher hat sie den Glauben (Theorie) und das Handeln (Kultus) 6 2 1 des religiösen Menschen, sowie die Beziehungen der Religiösen

614 615

Simmel, „ D i e R e l i g i o n " , S. 12 Simmel, „ P r o b l e m e der Geschichtsphilosophie", S. 54; s. a. bes. „ S o z i o l o g i e " , S. 751 f.

616

ebda, S. 55

617

d. i. „ d i e Religiosität als Kategorie, also die ,Idee der R e l i g i o n ' " ; s. a. Simmel,

618

Simmel, „ D i e R e l i g i o n " , S. 77

„ D i e R e l i g i o n " , S. 4 8 f f . 619

Simmel, „Religiöse Grundgedanken", S. 119

620

Simmel, „ D i e R e l i g i o n " , S. 76

621

Simmel, „Beiträge zur Erkenntnistheorie", S. 105

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Joachim Wach als Lehrer und Forscher

untereinander (Gemeinschaft) zu untersuchen und darzustellen 6 2 2 . Bezugspunkt aller Religionssystematik ist die Religiosität (als Kategorie!), deren Zentrum die Hingabe bildet: „Unmittelbar aber fühlen wir, daß, wenn der Religiöse sagt: ich glaube an G o t t , damit noch etwas anderes gemeint ist als ein gewisses Fürwahrhalten seiner Existenz. Es sagt nicht nur, daß diese Existenz, obgleich nicht streng beweisbar, dennoch angenommen wird; sondern es bedeutet ein bestimmtes innerliches Verhältnis zu ihm, eine Hingebung des Gefühls an ihn, eine Dirigierung des Lebens auf ihn zu. Daß man von seinem Dasein überzeugt ist wie von irgendeiner sonstigen Realität, ist nur eine Seite oder ein theoretischer Ausdruck für jenes seelische subjektive Sein, das unmittelbar mit dem Satze, daß man an Gott glaube, gemeint i s t . " 6 2 3 Die Wahrheitsfrage freilich kann weder die Religionsgeschichte noch die Religionssystematik beantworten 6 2 4 , denn es geht ihnen darum, „das Zustandekommen der Religion als eines Ereignisses im Leben der Menschen aus den inneren Bedingungen eben dieses Lebens zu begreifen" 6 2 5 , nicht aber darum, spekulative Urteile zu fällen. Deshalb hat sich die wissenschaftliche Analyse der Religion an die Formen eben dieses Lebens zu halten, womit ihre empirische Basis gewährleistet ist, und sie die Entwicklung der Religion als gestaltete und geformte Religiosität zu verfolgen vermag. Darüber hinaus hat sich Simmel in seinen soziologischen Untersuchungen, die dem Problem der Entwicklung der „gesellschaftlichen Welt" unter dem A s p e k t ihrer Differenzierung in deren dynamisch-organistischen Charakter nachgehen und gesellschaftliches Werden als Wechselwirkung fassen, auch den soziologischen Wirkungen (in und) der Welt der Religion zugewandt. Mit seinen Erkenntnissen über diesen speziellen Bereich innerhalb der Welt der Religion und deren Wechselbeziehungen hat er nachhaltig sowohl die Religionssoziologie Webers 6 2 6 , als auch besonders die Wachs beeinflußt.

622

Simmel, „ D i e Religion", S. 12

623

ebda, S. 34

624

ebda, S. 78

625

ebda; hier geht der späte Wach über Simmel (mit Troeltsch) hinaus.

626

D a s Verhältnis Simmel-Weber-Wach bedarf einer eigenen genauen Untersuchung, die sowohl für die Soziologie wie für die Religionswissenschaft von größter Bedeutung wäre.

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Simmel will die Soziologie als empirische Gesellschaftslehre neu begründen: „Die Einsicht, der Mensch sei in seinem ganzen Wesen und allen Äußerungen dadurch bestimmt, daß er in Wechselwirkung mit anderen Menschen lebt, muß allerdings zu einer neuen Betrachtungsweise in allen sogenannten Geisteswissenschaften führen" 6 2 7 . Grundlegendes Modell für die Gesellschaft, bzw. die Verhaftung des Menschen in der Vergesellschaftung, ist ihm der Organismus, da auch die Gesellschaft ein Einheitliches bildet: „Einheit im empirischen Sinne ist nichts anderes als Wechselwirkung von Elementen: ein organischer Körper ist eine Einheit, weil seine Organe in engerem Wechseltausch ihrer Energien stehen, als mit irgendeinem äußeren Sein." 6 2 8 Damit „bringt die Tatsache der Vergesellschaftung das Individuum in die Doppelstellung . . .: daß es von ihr befaßt ist und zugleich ihr gegenübersteht, ein Glied ihres Organismus und zugleich selbst ein geschlossenes organisches Ganzes, ein Sein für sie und ein Sein für sich" 6 2 9 . Da aber in der Welt der Gesellschaft auch die von anderen Kategorien gebildeten Welten wirksam sind, ist zwar die Vergesellschaftung dieser Welten von hier aus bestimmt, d. h. die Formen, in denen sie sich vollzieht, sind die gleichen, nur „ihren Zwecken und ihrer ganzen Bedeutung nach" sind sie „die denkbar verschiedensten" 630 . Doch „so offenbart sich die gleiche Gestaltung in den religiösen wie in den soziologischen Existenzformen des Individuums. Diese letzteren brauchen nur von der religiösen Stimmung begleitet oder aufgenommen zu werden, um die wesentliche Form der Religion als eines selbständigen Gebildes und Verhaltens zu ergeben." 6 3 1 627

Simmel, „ S o z i o l o g i e " , S. 3; die Soziologie soll eine Methode sein, die eine neue Linie durch die Tatsachen legt und ist damit eine Methode der historischen und der Geisteswissenschaften überhaupt (s. „ U b e r sociale Differenzierung", S. 2).

628

ebda, S. 5/6; s. a. S. 6: „ D i e Vergesellschaftung ist also die, in unzähligen verschiedenen Arten sich verwirklichende F o r m , in der die Individuen auf Grund jener — sinnlichen oder idealen, momentanen oder dauernden, bewußten oder unbewußten, kausal treibenden oder teleologisch ziehenden — Interessen zu einer Einheit zusammenwachsen und innerhalb derer diese Interessen sich verwirklichen. In jeder vorliegenden sozialen Erscheinung bilden Inhalt und gesellschaftliche F o r m eine einheitliche Realität . . . " ; s. a. „ Ü b e r sociale Differenzierung", S. 4 8 f f . , S. 133ff.; s. a. „ D i e Religion", S. 57

629

Simmel, „ S o z i o l o g i e " S. 40

630

Simmel, „ D a s Gebiet der Soziologie", S. 224

631

Simmel, „ D i e Religion", S. 24; s. a. „ D a s Gebiet der Soziologie", S. 218/9

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Joachim Wach als Lehrer und Forscher

Die Welt der Religion hat zu sozialen Ausformungen geführt, die an Quantität und Intensität kaum mit anderen Welten zu vergleichen sind. Die religiöse Vergesellschaftung ist eine Folge der Religion, die ihren Weltstoff formt. Als objektives Gebilde realisiert sich Religion erst dann vollkommen, wenn dem Individuum ein Gott (als Idee) gegenübersteht 6 3 2 . Bei Simmel heißt es: „ U n d im Grunde beruht die unermeßliche socialisierende Wirkung der Religion überhaupt wesentlich auf der Gemeinsamkeit des Verhältnisses zum höchsten Prinzip; gerade das spezifische Gefühl . . . ist ganz besonders geeignet . . . Verbindungen zu stiften." 6 3 3 Das ist der Grund, warum es nach Simmel eine eigenständige Religionssoziologie geben muß. Sie hat die religiöse Vergesellschaftung, die Wechselwirkung zwischen Religion und Gesellschaft, sowie die Wechselwirkung zwischen Individuen und religiöser Gruppe zu untersuchen und eine Typologie der religionssoziologischen Erscheinungsformen zu entwickeln 6 3 4 . Vor allem der praktische Glaube ist im Gegensatz zum theoretischen Bereich der Religion soziologischer Art. In Anbindung an die Theorie ist er konstitutiv für die religiöse Gesellschaft 6 3 5 , weshalb sie auch immer mehr als die Summe ihrer Mitglieder ist 6 3 6 . Denn der Einzelne wird vom Geist der Gruppe erfaßt 6 3 7 , der am geschlossensten im Symbol zum Ausdruck gebracht wird 6 3 8 , und von dem dann wiederum eine „zentralisierende W i r k u n g " 6 3 9 ausgeht. Dieser Zentralisierungscharakter korrespondiert mit einem „weiteren Typus der sozialen Selbsterhaltung", der „Hingabe" 6 4 0 . Aus diesem korrespondierenden Verhältnis ergibt sich der organische Aufbau einer religiösen Gruppe 6 4 1 , womit deren innere Dynamik und Beweglichkeit gegeben sind 6 4 2 . 632 633

s. Loose, a. a. O . , S. 19 Simmel, „Uber sociale Differenzierung", S. 33; s. a. „Grundfragen der Soziologie", S. 31; „Die Religion", S. 95

634

s. das dritte Kapitel der Soziologie Simmeis, w o er bes. Kirche, Sekte und

635

s. Simmel, „Die Religion", S. 48

636

s. ebda, S. 94

638

s. ebda, S. 526

Priester zu typisieren sucht. 637

s. Simmel, „Soziologie", s. 506

639

ebda, S. 526

640

ebda, S. 532; man denke an Wachs „worship"!

641

s. ebda, S. 564/5

642

s. ebda, S. 568

Wachs religionswissenschaftlicher Referenzrahmen

129

Aus dem hier eingebrachten Evolutionsgedanken erklärt sich auch die fortschreitende Differenzierung der religiösen Gruppe, die eine Steigerung der Wechselwirkung bewirkt und so die Gruppe immer mehr zur Gesellschaft werden läßt 6 4 3 . Simmel zieht diesen Gedanken so weit aus, daß nach ihm Gruppentyp und Gottestypus einander entsprechen: „Darum hat der Gott den Charakter, der in die jeweilige Form der Gesellschaft einbeziehbar ist." 6 4 4 Die fortschreitende Differenzierung mit dem aus ihr folgenden arbeitsteiligen Prinzip wirkt sich auf die religiöse Zielsetzung und die damit verbundenen Einheitsbestrebungen 6 4 5 in zweierlei Richtungen aus: In der weiterhin geschlossen bleibenden Gesellschaft 646 führt sie zu einer Intensivierung durch gleichartiges Tun und zugleich zu einer Spezialisierung, die neue Sozialformen hervorbringt, u. a. die religiösen Spezialisten 6 4 7 . Daneben führt sie zu einer Verinnerlichung der religiösen Erfahrung. Damit aber wird den Gläubigen intellektuelle und kollektive religiöse Erfahrung z u m eigentlichen Problem 6 4 8 . Von hier entwickelt sich nun aus der natürlichen die spezielle religiöse Gruppe, gleichsam einem Evolutionszwang unterworfen: „Das bedeutendste u n d zugleich charakteristischste Beispiel dürfte die Religionszugehörigkeit bieten, seit die für die Weltgeschichte unermeßliche Lösung der Religion von der stammesmäßigen, nationalen oder lokalen Bindung geschehen ist. In beiden soziologischen Formen: daß entweder die religiöse Gemeinschaft zugleich die Gemeinschaft in anderen wesentlichen oder umfassendsten Interessen bedeutet — oder daß sie gerade von aller Solidarität in dem, was nicht Religion ist, völlig befreit sei — in beiden spricht sich das Wesen der Religion gleich vollständig aus, nur jedesmal in einer andern Sprache oder auf einer andern Entwicklungsstufe." 6 4 9 Soziologisch ist die spezielle religiöse Gruppe der geheimen Gesellschaft ähnlich, denn „theoretisches, mystisches, religiöses Wissen wird hier zum soziologischen

643

s. hierzu a. Loose, a. a. O . , S. 4 4 f f .

644

Simmel, „Die Religion", S. 6 1 ; Wach scheint dieses Verhältnis später umkehren zu wollen.

645

Dieses Verhältnis ist ebenfalls als Wechselwirkung zu denken.

646

Hiermit korrespondiert Wachs „natürliche religiöse Gruppe".

647

s. „Priester" im dritten Kapitel von Simmeis „Soziologie"

648

s. a. hier den Einfluß auf Wach, z. B. „Einführung in die Religionssoziologie",

649

Simmel, „Soziologie", S. 425

S. 34 u. 36.

130

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

Selbstzweck" 6 5 0 . Ihr soziologischer Sinn ist ein innerer, das religiöse Wissen bestimmt „die Wechselbeziehungen derer, die das Geheimnis gemeinsam besitzen" 6 5 1 . Das führt dazu, daß die Mitglieder nur mit einem Teil ihrer Persönlichkeit der jeweiligen sozialen Formation angehören 652 . Damit ist letztlich ein organisches Wachstum unmöglich geworden, was zu Stagnation führt, die sich in Schematismus, Formelwesen und Fixierung des Benehmens Ausdruck verleiht 653 . Erst wenn eine solche spezielle Gruppe von ihren Inhalten her das Leben wirklich wieder als ganzes ergreift, ist erneut eine organische Entwicklung in der Welt der Religion möglich, bzw. gewährleistet. Es geht Simmel also immer um die Eigenständigkeit der Welten, die sich aus den sie ins Leben setzenden Kategorien entfalten. Der Welt der Religion hat er dabei, vor allem ihrem soziologischen Aspekt, besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Für uns wird von besonderem Interesse sein, welche Wirkungen die Konzeptionen Simmeis auf das Religionsmodell und die religionssoziologischen Überlegungen Wachs haben, und wohin diese dadurch geführt werden.

Die Verschmelzung dieser drei Referenzrahmen in Wachs „Verstehenslehre" Wenn von einer Verstehenslehre Wachs die Rede sein soll, dann mit der Einschränkung, daß er keine in sich geschlossene Hermeneutik entwickelt hat, sich die Verstehensproblematik aber wie ein roter Faden durch sein Gesamtwerk zieht. Bereits in seinem ersten Werk geht es um das Verstehen und „die Deutung, die sich mit dem Menschen, seinen Äußerungen und Leistungen beschäftigt" 6 5 4 , und im letzten Werk geht es ihm um ein besseres, „ein wirkliches Verstehen des Wesens der Religionen" 6 5 5 . Sein dreibändiges „Verstehen" steht also nicht „zufällig" nur zeitlich etwa in der Mitte des Gesamtwerkes, sondern bildet gleichsam dessen inneres Zentrum,

650

ebda, S. 383

651

ebda, S. 372

652

s. ebda, S. 117

653

s. ebda, S. 387

654

Wach, „Erlösungsgedanke", S. 1; s. a. S. 6

655

Wach, „Religionsforschung", S. 53

Die Verschmelzung dieser drei Referenzrahmen in Wachs „Verstehenslehre"

131

den Versuch einer breit angelegten Besinnung auf das, was sein wissenschaftliches Fragen und Antworten durchwaltet. Damit spricht Wach zugleich eines der dringlichsten und tiefgreifendsten Probleme des Wissenschaft-Treibens überhaupt an und weist seiner Zeit den Weg zur hermeneutischen Frage in ihrer Eigenständigkeit. Denn wenn er „ D a s Verstehen" mit dem Satz beginnt, „Verstehen ist eine eindeutig philosophische A u f g a b e " 6 5 6 , und es als ein „fundamental wichtiges wissenschaftstheoretisches und methodologisches P r o b l e m " 6 5 7 bezeichnet, wird deutlich, daß es ihm nicht um die hermeneutischen Probleme der Einzelwissenschaften geht, sondern daß er das Verstehen schlechthin zum Problem erhoben wissen will. D a s verdeutlicht auch seine Charakterisierung Schleiermachers, an den er über Dilthey anzuknüpfen sucht: „ I n Schleiermacher geriet zum erstenmal ein wirklicher, systematischer Denker, ein philosophischer Kopf über die Hermeneutik. D a s ist die unermeßliche Bedeutung des großen Theologen für die Auslegungswissenschaft. Ausgelegt hat man längst vor ihm, die Regeln für diese Auslegung fand man vor ihm, aber er war der erste, der aus dem Haufen von Regeln ein System baute, der aus einem inneren Zusammenhang eine umfassende Lehre vom Verstehen entwickelt h a t . " 6 5 8 Mit der Erkenntnis von der Eigenständigkeit des Verstehensproblems gibt Wach zu einer Zeit, da die sog. „Real-Wissenschaften" noch in höchster Blüte stehen, den entscheidenden Anstoß für die Aufnahme der hermeneutischen Frage als ein selbständiges wissenschaftliches Problem. Zugleich macht er deutlich, daß das „kunstmäßige Verstehen" unabdingbar „ z u m besonderen Anliegen in den Wissenschaften werden muß, die es primär mit der Auslegung von geistigem Ausdruck zu t u n " 6 5 9 haben. Einer Lehre vom Verstehen will er sich selbst dadurch nähern, daß er im „Verstehen" die Geschichte der hermeneutischen Theorie des 19. Jahrhunderts aufarbeitet. Leider aber zieht er aus dem mühevoll zusammengetragenen, umfangreichen Material keine wirklich systematischen Schlüsse, die dieses Werk zu einer eigenen Verstehenslehre führen könnten. Was in den jeweiligen Einleitungen 6 6 0 ausgeführt wird, ist, wie das gesamte Werk, fast ausschließlich Wissenschaftsgeschichte. Wachs eigene 656

Wach, „Verstehen" I, S. I

657

ebda II, S. 83

658

ebda I, S. 85/6

659

Wach, Artikel „Verstehen" in R G G 2 Bd. V, Sp. 1570

660

Wach,

„Verstehen"

I,

S.

1-30;

II,

S.

1-44

u.

45-97;

III,

S.

1-23

132

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

Ausführungen zum Verstehensproblem lehnen sich vor allem an Dilthey und Simmel, in geschichtsphilosophischer Hinsicht auch an Troeltsch an. In der Darstellung selbst werden die einzelnen Hermeneutiker auf diesem Hintergrund abgehandelt, um zu zeigen, daß ihre Überlegungen in Dilthey und Simmel ihre Vollendung erfahren haben. Wach hebt das hervor, was zu diesen Systemen hinführt und beurteilt von hier aus die abweichenden oder gegensätzlichen Positionen. So wird Schleiermacher als der Begründer der modernen Hermeneutik dargestellt, da er den Begriff des Verstehens zum Grundbegriff der Hermeneutik gemacht hat und sich in der hermeneutischen Theorie auf die „eigene, persönliche Erfahrung beruft" 6 6 1 . Noch entscheidender aber ist für Wach die Forderung Schleiermachers, „daß man die leitenden Ideen aufsucht, aus denen man dann auch das Einzelne versteht. Das Skelett, den Grundriß", zitiert Wach zustimmend weiter, „müssen wir, zunächst mit Übergehung des Einzelnen, fassen" 6 6 2 . Bei Boeckh werden der Gedanke des Zentrums einer Kultur und die Idee, die das Gegebene durchwaltet und durch Induktion aufgewiesen werden muß, damit das Einzelne in Zusammenhang gesetzt werden kann, hervorgehoben 663 , ebenso wie die Verstehenskraft des Gefühls 6 6 4 und das daraus folgende Prinzip der Kongenialität 665 . Vor allem in Nachfolge von Simmel und Troeltsch hebt Wach in der Verstehenslehre Humboldts den Gedanken des Ähnlich-Machens und der Affinität 6 6 6 , die „Assimilation der forschenden Kraft und des zu erforschenden Gegenstandes" 6 6 7 , die Erfahrung als Grundlage des Verstehens 6 6 8 und den kategorischen Wert der Ideen, die aus dem Leben selbst stammen 6 6 9 , hervor. Als letzte Beispiele seien genannt die Betonung, die Wach auf den Gedanken der Affinität 6 7 0 , auf die zentrale Stellung des Dynamischen 671 661

ebda I, S. 92

662

ebda I, S. 128

663

ebda I, S. 187/8; das gleiche geschieht bei Lutz, ebda II, S. 325f.

664

ebda I, S. 203 u. 223

665

ebda I, S. 203 u. 224

666

ebda I, S. 231

667

ebda I, S. 251

668

ebda I, S. 240/1

669

ebda I, S. 260; daß aus dem Leben heraus verstanden werden müsse, betont er

670

ebda I I I , S. 111

auch bei Schleiermacher (I, S. 93/4) 671

ebda I I I , S. 92, 108 u. a.

Die Verschmelzung dieser drei Referenzrahmen in Wachs „Verstehenslehre"

133

und der sich daraus ergebenden Entwicklung des Geistes in den jeweils zentralen Ideen des Lebens 672 in der Darstellung der Verstehenslehre Rankes legt, Gedanken, die er besonders unter dem geschichts- und lebensphilosophischen Blickwinkel auch bei Droysen 673 und Steinthal 674 weiterhin verfolgt, wo er besonders noch die Stufenfolge der Entwicklung des menschlichen Geistes 675 in den Mittelpunkt stellt. Die Darstellung der Geschichte des Verstehens ist durchdrungen von einem Affinitätsprinzip, das sich besonders durch Sympathie äußert und dem wissenschaftsgeschichtlichen Referenzrahmen Wachs entstammt. In seinen erkenntnistheoretischen Grundauffassungen treffen Troeltsch, Dilthey und Simmel zusammen, in deren wissenschaftlichem Werk die Verstehensproblematik eines der zentralen Probleme bildet. Mit ihnen geht Wach, wie die Darstellung seiner hermeneutischen Grundauffassungen zeigen wird, von der Überzeugung aus, die er in aller Kürze einmal so formuliert: „Jede Hermeneutik, die über den Rahmen einer methodischen Kunstlehre hinausgeht, wird in bestimmten metaphysischen Überzeugungen gründen, etwa in einer Lebens- oder Geistesphilosophie, die den Gedanken der Teilhabe auf Grund der Wesensgemeinschaft als Voraussetzung alles Verstehens festhält." 676 Die Aufgabe der Hermeneutik ist nach Wach „eine ebenso schwierige wie vielgestaltige" 677 . Denn da ist einmal „die Frage nach dem ,Was', . . . die Frage nach Sinn und Bedeutung", und „da ist die Frage nach dem ,Wie', die über das Werden und Wirken des Gebildes ins klare kommen will" 6 7 8 . Zuvor aber bedarf es einer Erörterung des Begriffes „Verstehen", muß das Wesen des Verstehens geklärt sein. Die Voraussetzung allen Verstehens ist das Vorhandensein menschlicher Vergesellschaftung: „Ohne Zusammenleben von Menschen kann kein Verstehen sein." 679 Das Verstehen ist gleichsam ein Urphänomen, denn es gibt Verstehen vor aller Verständigung

672

ebda III, S. 118

673

bes. ebda III, S. 1 4 9 f „ 1 5 3 f f „ 1 6 5 f f .

674

ebda III, S. 2 3 9 f f . ; bes. ebda, S. 215/6

675

ebda III, S. 2 1 5 f f .

676

Wach, Artikel „Verstehen" in R G G 2 Bd. V , Sp. 1571

677

Wach, „Verstehen" II, S. 23

678

ebda

679

ebda I, S. 1

10 Flasche: Joachim Wach

134

Joachim W a c h als Lehrer und Forscher

oder Mitteilung 6 8 0 . Das Verstehen ist eine mit dem Mensch-Sein gegebene Tatsache. Verstehen ist demnach nur in und aus dem menschlichen Kontinuum möglich, das genetisch gedacht ist, aus der Natur des Menschen schlechthin. Diesen Gedanken stellt Wach in seiner Droysen-Darstellung heraus: „Daß wir uns der menschlichen Äußerung gegenüber anders verhalten können, daß wir sie zu verstehen vermögen, ist in der Gleichartigkeit und in dem Aufeinanderbezogensein aller Menschen begründet."681 Die Teilhabe am Leben ist letztlich der Grund allen Verstehen-Könnens: „Weil wir am fremden Leben teilhaben, vermögen wir es — das geschieht in dem psychologischen, auf die seelischen Motivationen gerichteten Verstehen — samt seinen Äußerungen bis zu einem noch aufzuklärenden Grade zu verstehen." 6 8 2 Es gilt, „den Menschen als Erscheinung aus dem Menschen als Idee zu verstehen" 6 8 3 , wie Wach in seiner Schleiermacher-Darstellung betont. Hier wurzelt die „natürliche Genialität des Verstehens" 6 8 4 , die auf der „Identität der Menschennatur" 685 beruht, die sich zumindest als „ein Zusammenhang des inneren Standpunktes von Mitteilendem und Aufnehmendem" 6 8 6 fassen läßt, dessen Garantie die Teilhabe am Mensch-Sein ist. Diese „Identität" ist nach Wach „am größten in bezug auf die Gefühls- und Willens-(Gemüts-)seite, die doch allem Wandel weiter entrückt ist als die Seite des Verstandes und die Sphäre des praktischen Handelns" 6 8 7 . Auch wenn die Identität der Menschennatur nicht zu weit gefaßt werden darf, so erklärt sie doch „das Gefühl der Verwandtschaft, die Affinität einer Zeit oder Generation zu einer anderen" 6 8 8 , ebenso wie zwischen einzelnen Menschen, kurz, sie bildet das „relative Apriori" im Verstehensvorgang 689 . Objektiv ist sie freilich nicht nachweisbar, begründet aber die Gleichgesetzigkeit 690 innerhalb der historischen Unterschiedlich680

s. ebda

681

ebda III, S. 164

682

W a c h , Artikel „Verstehen" in R G G 2 Bd. V, Sp. 1571

683

W a c h , „Verstehen", I, S. 166/7

684

ebda I, S. 7

685

W a c h , „Religionswissenschaft", S. 145

686

W a c h , „Verstehen" II, S. 177

687

W a c h , „Religionswissenschaft", S. 147

688

ebda, S. 144

689

s. ebda, S. 146

690

s. ebda, S. 146

Die Verschmelzung dieser drei Referenzrahmen in Wachs „Verstehenslehre"

135

keiten, die eine Folge der Verschiedenartigkeit der Ausdrucksformen geistiger Äußerungen sind 691 . Diese aber liegen wiederum in der Menschennatur und ihrer Gleichgesetzigkeit beschlossen. Durch die Verankerung der Hermeneutik in der Anthropologie wird jedes Verstehen zu einem Prozeß des Wiedererkennens692. Das Wiedererkennen ist aufs engste an die Erfahrung gekoppelt, die ersteres erst möglich macht. Die Erfahrung bildet das Fundament der hermeneutischen Leitgedanken und Prinzipien 693 . Verstehen ist damit freilich nicht völlig „gleich Nachfühlen oder Nacherleben", sondern ein „spontaner selbständiger produktiver Akt" 6 9 4 , ein Nachbilden, denn „zu dem äußeren Erleben tritt die innere Kraft der Phantasie" 695 , weil die „Möglichkeit des Erlebens für den Menschen" nicht „mit der Summe seiner äußeren Lebenserfahrung . . . erschöpft" ist, sondern es „ein inneres Erleben, in dem Erfahmisse gleichsam antezipiert werden können" 696 gibt. Damit nimmt Wach seiner geistigen Tradition gemäß den Ausgang alles Verstehens und aller Geisteswissenschaften bei der Psychologie als Grundwissenschaft. Als Regulativ, das „besonders bei der Ergänzung und Verarbeitung der persönlichen Erfahrung in Wirkung tritt" 6 9 7 , kommt zunächst die Phantasie hinzu, die sich jedoch „eine methodische Zucht . . . gefallen lassen muß" 6 9 8 . Denn es geht nicht um rein subjektives Verstehen, sondern auch immer um relative Objektivität aus dem Lebenszusammenhang heraus. Deshalb lassen sich die hermeneutischen Prinzipien nicht ausschließlich aus der Erfahrung ableiten*99: „Wenn es gelegentlich so scheint, als solle überhaupt eine möglichst vollkommene Ableitung dieser Prinzipien aus der 691

s. ebda, S. 147

692

s. W a c h ,

„Verstehen" II, S. 16: Verstehen ist Wiedererkennen und Wieder-

erkennen schon Verstehen. 693

ebda II, S. 353; s. z. B. a. W a c h , „The Interpretation of Sacred B o o k s " , S. 60

694

W a c h , „Religionswissenschaft", S. 154

695

ebda, S. 155

696

ebda

697

W a c h , „Verstehen" II, S. 76/7

698

ebda II, S. 77

699

F ü r W a c h gilt ebenso die Schleiermachersche Grundhaltung, die Wobbermin (Schleiermachers Hermeneutik", S. 145) so charakterisiert: „Alles Subjektive ist ihm nur Mittel z u m Zweck, um an das dahinterliegende Objektive heranzuk o m m e n . Seine psychologische Betrachtung ist, in moderner Terminologie gesprochen, durch und durch intentional."

io,!

136

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

Erfahrung, eine reine Abstraktion aus ihr erstrebt werden, so zeigt es sich dann doch immer wieder, daß die Lehre vom Verstehen allein aus den auf empirisch-induktivem Wege gewonnenen Regulativen nicht aufgebaut werden kann, sondern daß deduktive, daß apriorische Wesensbestimmungen sich schlechthin gar nicht vermeiden lassen, wenn anders man über abstrakte Verallgemeinerung im einzelnen und systematische Agglomeration im ganzen hinauskommen w i l l . " 7 0 0 D e r Lebenszusammenhang, aus dem es zu verstehen gilt, ist die Welt des Geistes. Denn im wissenschaftlichen Verstehen geht es darum, die vielfältig gearteten Äußerungen des Geistes zu verstehen, was bedeutet: „ N u r aus dem Geist heraus, in dem es geschaffen ist, ist ja ein Werk zu verstehen." 7 0 1 Damit ist freilich keine „Allgeistlehre" gemeint, wie Schoeps sie Wach, fälschlicherweise unterstellt, wenn er sagt: „,Alles Verstehen', hat Wach programmatisch formuliert, .gründet in der inneren Beziehung, in der alles Geistige steht, und nur was aus dem Geist ist, verstehen wir, wie wir ja im Geist verstehen'." 7 0 2 Denn hier handelt es sich weder um eine programmatische Forderung Wachs, noch um ein Wachzitat, sondern dieser Satz wird von Wach in seiner Zusammenfassung der Ast'schen Hermeneutik zitiert, 7 0 3 deren Bedeutung für Schleiermacher er herausstellt, der er für seine eigenen Überlegungen aber keine entscheidende Bedeutung beimißt, zumal sein hermeneutischer Begründungszusammenhang in der „Verstehenslehre" Diltheys und der „Weltenlehre" Simmeis wurzelt, 7 0 4 also psychologisch-biologistisch fundiert ist. Sein Verstehen bleibt an die Erfahrung und an das damit gekoppelte Wiedererkennen gebunden, das sich zu orientieren hat an den Lebenskategorien als aus dem Leben gewonnenen Ideen. D e m Wiedererkennen korrespondiert ursprünglich eine „Affinität zum O b j e k t " , denn „Interesse ist . . . die Grundbedingung des Verstehens" 7 0 5 . „ E s ist die Voraussetzung für die Herstellung eines inneren Verhältnisses 700

ebda II, S. 353/4

701

ebda II, S. 22

702

Schoeps, „Joachim Wachs wiss. Bedeutung", S. 369

703

Wach, „Verstehen" I, S. 37. Dieses Zitat stammt aus F . Ast, „Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik" (1808), § 70, S. 167

704

s. z. B . Wach, „ I d e e und Realität", S. 355: „ D a s Leben ist andauernder, unaufhaltsamer Wechsel: die ,Erscheinungswelt' spieglt diesen Wechsel in dem Auf und A b der geschichtlichen Entwicklung wieder."

705

Wach, „Religionswissenschaft", S. 153

Die Verschmelzung dieser drei Referenzrahmen in Wachs „Verstehenslehre"

137

zwischen dem Forschenden und seinem Objekt." 7 0 6 Diesen Vorgang schildert Wach an anderer Stelle: „Aus dem, was ich aufnehme, forme ich mein Bild. Das baut sich so aus vielen allgemeinen und einigen besonderen Momenten auf: die Basis bilden Uberzeugungen, die eine breite Gültigkeit besitzen, darüber lagern Schichten, die noch für typische Anschauungen gelten können. Aber wie eine Pyramide läuft dieser Bau spitz zu; die Spitze bilden die individuellen Momente." 7 0 7 Dieser letzte, der subjektive Faktor ist an jedem Verstehensvorgang beteiligt, „aber man sollte ihn in das kritische und methodische Bewußtsein heben, damit einbauen und legitimieren" 7 0 8 . Problematischer wird die Rolle dieses subjektiven Faktors als „Gesetz der Affinität", wenn Wach fortschreitet zu der Forderung nach einem „persönlichen Verhältnis", nach „innerer Verwandtschaft" zu bzw. mit dem Objekt des Verstehens 709 , und für ein wirklich „integrales Verstehen" die „Kongenialität" als unabdingbare Voraussetzung erachtet 710 . Was hier in den frühen Jahren teilweise nur anklingt, bestimmt die zweite Periode seines hermeneutischen Wollens 711 . Wie das Verstehen ein Vorgang im Menschen ist, so ist es auch auf den Menschen gerichtet, auf die Äußerungen des Menschen nämlich, und ist somit Ausdrucksverstehen. Wach formuliert einmal in Anlehnung an Droysen: „Seiner sinnlich-geistigen Organisation entsprechend hat der Mensch das Bedürfnis, seine inneren Vorgänge sich in Äußerungen spiegeln zu lassen, die dem wahrzunehmenden Andern einen Teil seines Innern erschließen." 712 Damit ist auch das Ausdrucksverstehen mit der Natur des Menschen gegeben. „Weil Menschen sich verstehen können, können sie auch ihre gegenseitigen Äußerungen verstehen: das Spiel von Miene und Geberde, die Sprache und alle Art von fixiertem Ausdruck." 7 1 3 Das wichtigste Ausdrucksmittel ist die Sprache, durch welche ein Verstehen über Raum und Zeit hinweg möglich ist, besonders durch deren Fixierung in der Schrift. Neben diesen Medien bedarf jeder Ausdruck der Form, von 706

ebda, S. 153; s. a. ebda, S. 145

707

Wach, „ Z u r Methodologie", S. 46/7

708

ebda, S. 4 7

709

Wach, „Religionswissenschaft", S. 158: „So kann man sagen: Du begreifst —

710

Wach, Artikel „Verstehen" in R G G 2 Bd. V , Sp. 1573

nur das, dem du .gleichst', nicht mehr." 711

s. hierzu a. Klimkeit, „Das Prinzip", S. 222 ff.

712

Wach, „Verstehen" III, S. 164

713

ebda I, S. 2

138

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

der es „eine unübersehbare Skala von Möglichkeiten" 7 1 4 gibt. Gerade das macht die Dynamik des Lebens aus, in dem es keine Inhalte ohne Form und keine Formen ohne Inhalte gibt, wie Wach von Dilthey und Simmel gelernt hat. So kann er in bezug auf das Ausdrucks verstehen formulieren: „Wir blicken hier in ganz große und allgemeine Strukturgesetze des Lebens: seine Dynamik, seine Mannigfaltigkeit, sein Reichtum erschöpfen sich niemals in den F o r m e n , die es gestaltet. Jede Form scheint individuell und absolut zu sein und so betrachtet werden zu können. U n d doch ist jede Form nur ein Ausdruck des Lebens, also ein A u s d r u c k . " 7 1 5 Deshalb fordert er „eine Phänomenologie des menschlichen A u s d r u c k s " 7 1 6 , die als eine der Grundlagen des Ausdrucksverstehens zu gelten habe, womit einerseits „die Grenzen des Verstehens", die „ d i e Grenzen endlichen Seins s i n d " 7 1 7 , und andererseits die relative Objektivität dieses Ausdrucksverstehens deutlich würden. Schon deshalb, weil sich Verstehen auf menschliche Äußerungen in einem Lebenszusammenhang aus dem Lebenszusammenhang des Verstehenden 7 1 8 richtet, gibt es kein voraussetzungsloses Verstehen: „ G e w i ß gibt es kein ,voraussetzungsloses' Verstehen. Ja, sogar das ist . . . zuzugeben, daß eine gewisse philosophische Grundauffassung, eine ,Metaphysik' dem Verstehen zugrunde liegt — . . . — aber: das Entscheidende für die Erkenntnis des Wesens des hermeneutischen Prozesses ist eben die Einsicht, daß methodisch für den Vorgang des Verstehens selbst die größtmögliche Abstraktion von dem subjektiven Meinen, Glauben und Wollen notwendig ist. A l s o : nicht Verzicht auf persönliche Entscheidung und subjektives Interesse, aber methodische Einklammerung, größtmögliche Sicherung der Objektivität des Verstehens s e l b s t . " 7 1 9 D i e Bewußtmachung dieses in jedem Verstehensvorgang eingeschlossenen „relativen A p r i o r i " , das vor allem Simmel immer wieder zu durchdenken gesucht hat, ist nach Wach unabdingbare Voraussetzung allen Ausdrucksverstehens, zumal Ausdrucksverstehen zugleich immer auch Sinnverstehen ist, da jede Äußerung des Menschen intentionalen Charakter be714

ebda I, S. 2

715

Wach, „ Z u r Methodologie", S. 43

716

Wach, „ Z u r Hermeneutik heiliger Schriften", S. 283

717

Wach, „Verstehen" II, S. 15

718

s. Wach, „Religionswissenschaft", S. 143f.

719

Wach, „ U n d die Religionsgeschichte?", S. 491; s. a. „Verstehen" II, S. 12

Die Verschmelzung dieser drei Referenzrahmen in Wachs „Verstehenslehre" 139

sitzt, weshalb es ihren eigentlichen Sinn zu ergründen gilt. Denn für das Verstehen ist letztlich „die Tendenz auf Erfassung des eigentlichen Sinnes geistigen Ausdrucks charakteristisch" 720 . Deshalb ist es nach Wach ein müßiges Unterfangen, nur „die Dinge selbst sprechen zu lassen" denn „keinerlei Pragmatismus ist der Wissenschaft bisher auf die Dauer gut bekommen" 7 2 1 . In diesem Zusammenhang findet sich bei Schoeps eine zweite gefährliche Mißdeutung Wachs, wenn er ausführt: „Was Wach mit ,Verstehen' eigentlich meinte, hat er in seiner Rankedarstellung mit großartigen Worten ausgesprochen: ,Den Gegenstand im Auge haben, die Dinge selbst sprechen lassen, ihnen kein konstruktives Netz allgemeiner Begriffe überwerfen, sie nicht in ein apriorisches Schema pressen. Die vielumstrittene Unparteilichkeit besagt vor allem: keine Meinung über die Dinge, keine Tendenz, keine Wertung an sie heranbringen, kein Vor-Urteil; sich von ihnen selbst erzählen lassen'." 7 2 2 Denn das ist wiederum nicht die Wachsche Verstehenskonzeption, die hier angesprochen wird, sondern die von Ranke. Das Zitat beginnt nämlich im Original mit den Worten: „Verstehen heißt für Ranke: . . . " , und wird dann von Wach kommentiert: „Das ist nichts weniger als platte Empirie: besteht doch die große Kunst des Verstehens darin, das Wesen der individuellen Erscheinung zu erfassen, das ihre einzelnen Züge, die wir als Material vor uns haben, erst verständlich werden läßt." 7 2 3 Wirkliches Verstehen ist für Wach immer Sinnverstehen, das er auch als „integrales Verstehen" 7 2 4 bezeichnet. Verstehen darf nicht „in der Deskription stecken bleiben", sondern muß „auf die Deutung der Erscheinung gerichtet sein" 7 2 5 . Das meint das integrale Verstehen, „das höhere Verstehen", „das die Erscheinung in den Zusammenhang hineinstellen will, in den sie gehört" 7 2 6 . Im höheren Verstehen erweitert sich das Verstehen zum Deuten, denn „Sinnzusammenhänge sind nicht mehr — bündig — zu verstehen, sondern allenfalls zu deuten" 7 2 7 . Im Sinnverstehen geht es also 720 721 722 723 724 725 726 727

Wach, „Verstehen" II, S. 16 ebda, S. 12 Schoeps, a.a. O . , S. 367 Wath, „Verstehen" III, S. 96/7 Wach, Artikel „Verstehen" in R G G 2 Bd. V, Sp. 1573 Wach, „Religionswissenschaft", S. 130 ebda, S. 131 Wach, Artikel „Verstehen" in R G G 2 Bd. V, Sp. 1571

140

Joachim Wach als Lehrer und Forscher

um Bedeutungsverstehen und damit um Deuten 728 . Die Scheidung zwischen Verstehen und Deuten, die Wach ursprünglich vorzunehmen versuchte 729 , wird im „integralen Verstehen" wieder aufgehoben 730 . Diese Entwicklung der hermeneutischen Grundgedanken Wachs hängt eng mit seinem wissenschaftsgeschichtlichen Referenzrahmen zusammen, vor allem mit der durch ihn vollzogenen Verbindung der „Verstehenslehre" Diltheys und der „Weltenlehre" Simmeis. Daß es Wach im Grunde immer um Deutung geht, die ihren Ausgang von der Psychologie zu nehmen hat und ihre relative Objektivität 731 im Ausdrucksverstehen erlangt, wird schon in seinem ersten Werk deutlich, wenn er in der Einführung sagt: „. . .: die Erkenntnis der Notwendigkeit einer strengen Scheidung zwischen psychologischer' und sachlicher' Deutung, d. h. zwischen der Deutung menschlichen Seins und Sichbefindens, menschlichen Wollens, Denkens und Handelns und der Deutung der Gebilde und Formen, die, losgelöst von dem Einzel- oder Kollektivsubjekt, das sie erzeugte, ihre eigene Struktur, ihr eigenes Wesen und ihre eigene Gesetzlichkeit haben — diese Erkenntnis soll den Ausgangspunkt unserer Ausführungen bezeichnen." 732 Diese Scheidung zwischen Person- und Sach-Verstehen, bzw. zwischen diesen beiden Deutungsweisen wird jedoch wieder eingeschränkt — oder gar aufgehoben? —, wenn Wach ein wenig weiter fortfährt:" . . ., daß eine Trennung der beiden Deutungsweisen, wie oben verlangt wurde, natürlich cum grano salis zu verstehen ist. Wie sachlich eine der beiden Methoden immer auf die andere angewiesen sein wird, so wird bei den Virtuosen des Verstehens auch immer beides vereinigt sein: erstens Sinn für das .Menschliche' und Interesse an dem ,Menschlichen', wo dieses am unmittelbarsten faßbar wird: in der Persönlichkeit. Beides kommt zu seinem Rechte: das Interesse am individuellen einmaligen So-sein dieser einen Seele, ihrer Bewegungen und Strebungen und das andere an den typischen, hier und dort gleichen Erscheinungen: am Aufbau und an der Struktur der psychophysischen Lebenseinheit, den immer wiederkehrenden typischen Formen ihrer Be728

Hier bindet Wach den hermeneutischen Zirkel an, daß das Einzelne nur aus dem Gesamtzusammenhang, dieser aber aus dem Einzelmaterial zu verstehen ist (s. z. B. Wach, „Erlösungsgedanke", S. 7; „Religionswissenschaft", S. 46).

729

s. Wach, „Verstehen" II, S. 6 f . u. S. 10

730

Es bleibt nur die Forderung nach völliger Klarheit über den Zweck der ver-

731

s. ebda II, S. 11

732

Wach, „Erlösungsgedanke", S. 1/2

stehenden Auslegung bestehen (s. ebda, S. 62)

Die Verschmelzung dieser drei Referenzrahmen in Wachs „Verstehenslehre" 141

schaffenheit. Zweitens aber: Sinn und Verständnis für die Eigengesetzlichkeit, die Struktur und den Wandel der objektiven Gebilde, ihres Sinnes und ihrer F o r m . Diese Personalunion ist aber eine rein empirische Frage, die zunächst nichts zu tun hat mit unserer Forderung, die prinzipielle Verschiedenheit beider Erfahrungsweisen und ihrer Objekte zu methodischem Bewußtsein zu erheben." 7 3 3 So bleiben letztlich bei Wach Verstehen und Deuten eng aufeinander bezogen und aneinander gebunden. Die in diesem „verstehenden Verfahren" anzuwendende Methode ist die vergleichende 734 , die durch intuitives Erfassen 7 3 5 und den produktiven Prozeß des Nachbildens 736 das einzelne Gebilde in einen Gesamt- und Sinnzusammenhang zu stellen hat. Denn „individuelles Verstehen heißt . . . auch typologisch denken können, das Besondere auf das Typische beziehen" 7 3 7 , oder wie Wach schon in seiner Dissertation sagt: „So ist die Voraussetzung für die Erfassung von Ausdruck und Innerlichkeit in ihrem typischen Zusammenhang methodisch einerseits die Analyse typischer Formen des Ausdrucks, die ihrerseits auf der Deskription der Mannigfaltigkeit der Einzelausformungen beruht, andererseits die Analyse typischer seelischer Verfassungen." 738 Das Ziel aller Verstehensarbeit ist also die Herausbildung einer Typologie anhand der den jeweiligen Welten innewohnenden Eigengesetzlichkeit 739 , basierend auf der psychologischen Voraussetzung des „Allgemein-Menschlichen", die zum intuitiven Erfassen des Sinnes der Äußerungen des Menschen, seiner geistigen Ausdrucksformen, führt. Diese einzelnen, über das Gesamtwerk sich verstreut findenden — in mancher Beziehung heterogen anmutenden — Anschauungen bilden die „Verstehenslehre" Wachs. Wenn er daraus auch keine geschlossene Lehre, 733 734 735

736 737 738 739

ebda, S. 3 Wach, „Verstehen" II. S. 27; s. a. an vielen anderen Stellen s. z. B. ebda III, S. 180; oder z. B. im „Erlösungsgedanken" S. 13: „ U n d noch eins: der Typus ist ja kein starres, abstraktes Schema, in das das Einzelphänomen gepreßt wird: er ist gewonnen aus der lebendigen Anschauung. Das viel mißbrauchte Wort ist hier am Platze: intuitiv wird der Typus erfaßt." s. o. S. 135 Wach, Artikel „Verstehen" in R G G 2 Bd. V, Sp. 1572 Wach, „Erlösungsgedanke", S. 39; s. a. ebda, S. 7 Wach, „ N u r " , S. 211: „. . . jedes Stück objektiver Wirklichkeit besitzt eine Eigengesetzlichkeit, jede geistige und seelische Erscheinung ist mehr, als was wir addieren können" (das ist fast wörtlich Simmei, s. o. S. 117f.)

142

Joachim W a c h als Lehrer und Forscher

kein System gemacht hat, hat er damit doch die entscheidenden Anstöße für die moderne hermeneutische Frage gegeben. Seine Verstehenskonzeption aber ist auch die entscheidende Komponente seiner religionswissenschaftlichen Arbeit. Sie ist ein Programm, das er in dieser Einzelwissenschaft methodisch und inhaltlich durchzuführen sucht. Deshalb kann Klimkeit die Intention des religionswissenschaftlichen Werkes Wachs mit Recht folgendermaßen charakterisieren: „In seiner Suche nach methodischer Klarheit um die Möglichkeiten, Voraussetzungen und Bedingungen sinvoller religionswissenschaftlicher Arbeit wird er immer wieder auf das Problem der Hermeneutik zurückgeworfen. Seine gesamte Lebensarbeit ist gleichsam eine Suche nach dem rechten wissenschaftlichen Ort, der ein Verstehen fremder Religionen und ihrer Erscheinungen begründet und ermöglicht." 7 4 0 Von der Verstehensproblematik herkommend ist Wachs Ziel die Entwicklung eines ganzheitlichen theoretischen Systems für das Studium der „Welt der Religion" 7 4 1 , weil er nur durch eine so geartete geisteswissenschaftliche Grundlegung die Eigenständigkeit der Entwicklung der Religionswissenschaft gewährleistet sieht 742 .

740

Klimkeit, a . a . O . , S. 216

741

s. z . B . Wach, „Verstehen" II, S. 6 5 : „ D e r Zusammenhang der Entwicklung von Hermeneutik und Religionswissenschaft (Wissenschaft von den nichtchristlichen Religionen) wird gewöhnlich verkannt, man sollte ihn aber nicht übersehen."

742

s. z. B . ebda II, S. 6 7 Anm. 3

„ G e w i ß es wird immer zu begrüßen sein, wenn eine Wissenschaft einmal in die Lage gesetzt wird, unmittelbar dem — praktischen — Leben zu dienen, aber es muß ihren Charakter als reine Wissenschaft gefährden, wenn aus dieser freien Hilfsleistung ein Dienstverhältnis wird. Wer wird es dem Theologen verwehren wollen, sich in das Studium der Religionswissenschaft zu vertiefen, um sich durch die Erwerbung religionswissenschaftlicher Kenntnisse für die Verteidigung und Ausbreitung der eigenen Religion tüchtig zu machen? N u r soll man ja nicht etwa meinen, der Zweck der Religionswissenschaft bestehe darin, ein Bilderbuch, eine Fibel für die Jünger einer bestimmten Lehre zu sein, in deren Dienst sie damit gestellt s e i . " Joachim Wach*

Religionswissenschaft, S. III.

ENTWICKLUNG, VERTIEFUNG UND UBERWINDUNG DER RELIGIONSWISSENSCHAFT BEI JOACHIM WACH Nach dem Uberblick über Wachs Forschungstätigkeit, soweit diese sich literarisch niedergeschlagen hat, und über seine wissenschaftsgeschichtliche Tradition, die paradigmatisch an den drei einflußreichsten „geistigen Vätern" festgemacht wurde, wenden wir uns nun seiner Religionswissenschaft zu. Bei der angestrebten werkimmanenten Interpretation werden wir vor allem fragen müssen, welches das eigentliche Ziel der Wachschen Religionswissenschaft war, welches Programm er zu dessen Erreichung aufstellte, welche Aufgaben dieses Programm umfaßte, von welchem Ansatz her und auf welchem Weg er sein Ziel zu erreichen suchte. Bei einem solchen Vorgehen wird sichergestellt sein, daß möglichst wenig fremde Entscheidungskriterien von außen an das Material herangetragen werden, und die Kritik aus Wachs Werk selbst gewonnen wird. Die alles entscheidende Frage wird sein, ob er durchgehalten, was er sich vorgenommen, ob er erreicht, was er gewollt hat. Das hermeneutische Problem, und zugleich das der Darstellung, liegt bei diesem Vorgehen darin, daß man die einzelnen Schritte Wachs aus der Kenntnis des Ganzen darstellen muß, wobei es sich zu hüten gilt, spätere Entwicklungen oder Verschiebungen der Konzeption in davorliegende Ausführungen hineinzudeuten und so die Frage nach der Erreichung des Zieles zu verschieben. Über aller Religionswissenschaft steht bei Wach hinter seinem Wollen, die Religion besser zu verstehen, der Wunsch, zu einem besseren Verständnis des Mensch-Seins überhaupt zu gelangen, wozu ihm die Religion als das geeignetste Mittel erscheint. Kitagawa charakterisiert dieses Vorhaben treffend, wenn er in der Einleitung zu „Understanding and Believing" sagt: „At any rate, Wach feit that religion provides one of man's most significant ways for selfunderstanding and for understanding the history of humanity" 1 , und als eigentliches Ziel Wachs im weiteren „das Verstehen des Verstehens"2 angibt. 1

Wach, „Understanding and Believing", S. IX

2

ebda, S. IX

146

Entwicklung, Vertiefung und Uberwindung der Religionswissenschaft J . Wachs

Das zunächst angestrebte Ziel Wachs ist die Selbständigkeit der Religionswissenschaft, die er unter Beweis zu stellen sucht, bzw. zu der er dieser verhelfen möchte. Die Unselbständigkeit und die sich daraus ergebende Unklarheit und Uneingegrenztheit der Religionswissenschaft führt er vor allem darauf zurück, daß sich die von Herder und Schleiermacher vollzogene Verbindung der Lehre vom Verstehen mit der Religionswissenschaft zu bald wieder gelöst hat 3 . Der Grund dafür liegt für ihn „vor allem darin, daß die Beschäftigung mit den fremden Religionen sich alsbald unter verschiedenen Gesichtspunkten relativ selbständig und ohne Zusammenhang der Einzelbemühungen zu entwickeln begann: so nahm die ReligionsPhilosophie unter spekulativem Interesse die Konstruktion der ReligionsGeschichte vor, analysierte das Wesen der Religion und der religiösen Erfahrung, untersuchte die Evidenz der Glaubenserkenntnisse — die Philologie, Sprachwissenschaft und Völkerkunde widmete sich mit wachsender Intensität der Erschließung der Quellen und Erarbeitung des Materials für eine Religionskunde, aber das alte Herder-Schleiermacherische Interesse an dem Verstehen der religiösen Äußerungen in ihrem Wesen und in ihrer Mannigfaltigkeit erhielt sich nicht." 4 Aus dieser Verbindung erhofft Wach sich nicht nur die Geburt einer „neuen" Religionswissenschaft, sondern auch deren Anspruch auf Eigenständigkeit ergibt sich damit für ihn. In der Nichtbeachtung der Verstehensfrage sieht er eine Mißentwicklung und den eigentlichen Grund für die fehlende wissenschaftstheoretische Begründung der Religionswissenschaft: „Diese Disziplin hat, so jung sie ist, die bewunderungswertesten Resultate zu verzeichnen, ihr Forschungsbereich wächst unaufhörlich, aber es machen sich bereits die Folgen davon bemerkbar, daß man bisher über gelegentliche Grenzregulierungen und -Streitigkeiten kaum hinausgegangen ist . . ., das Studium des strukturellen Aufbaus und die logische und wissenschaftstheoretische Begründung der Wissenschaft kaum ernstlich in Angriff genommen hat." 5 Erst wenn eine solche theoretische und methodische Grundlegung dieser jungen Disziplin erfolgt ist, wird sie auch ihren sachlich und organisatorisch rechten Ort finden: „Es ist ein Irrtum, zu glauben, die Verwirrung der Begriffe, die Willkür im Gebrauch der Bezeichnungen, die wir in der Geschichte unserer Forschung bis an die jüngste Gegenwart hinab 3 4 5

s. Wach, „Verstehen" II, S. 66/7 ebda, A n m . 4 Wach, „ Z u r Methodologie", S. 37

Die Selbständigkeit der Religionswissenschaft als Geisteswissenschaft

147

verfolgen können, allein erwecke den Anschein, als ob auch sachliche Unklarheiten und Unvollkommenheiten vorhanden seien: daß man promiscue von Religionswissenschaft, Religionsgeschichte und Religionsphilosophie spricht, ist nicht etwa nur eine gleichgültige Namensfrage, sondern dokumentiert schon für sich die ungenügende Scheidung der Sachen. Die geradezu beschämende Unklarheit über Stellung, Aufgabe und Bedeutung der Religionswissenschaft kennzeichnet nach außen ihre Stellung zwischen den Fakultäten der universitas litterarum, wie ihre Ausbeutung durch dilettantische Freibeuter und dunkle Spekulationsunternehmer." 6 Eine solche wissenschaftstheoretische Grundlegung, die Wach in seiner Habilitationsschrift „Religionswissenschaft" zu geben versucht, soll zu einem in sich geschlossenen theoretischen System zur Erforschung der Welt der Religion führen. In einem solchen System sind vor allem nötig „eine Theorie des Verständnisses ,fremder Religionen' von ,uns' aus " 7 — in den Grenzen der allgemeinen Theorie —, „eine Untersuchung der Logik der religiösen Ausdrucksformen" 8 , „eine Theorie der religiösen Sprache" 9 , „eine Theorie der religiösen Erfahrung" 1 0 , denen allen eine Abgrenzung gegenüber den anderen mit Religion befaßten Wissenschaften, besonders gegenüber den „Mutterwissenschaften" der Religionswissenschaft vorauszugehen hat. Wie Wach ein solches geschlossenes theoretisches System zur Erforschung der Religion(en) zu entwickeln und durchzuführen sucht, soll im Folgenden untersucht und schrittweise nach vollzogen werden.

Die Selbständigkeit der Religionswissenschaft als Geisteswissenschaft Gemäß seines wissenschaftlichen Referenzsystems sah Wach für eine wirkliche Eigenständigkeit der Religionswissenschaft als einzige Möglichkeit ihre Grundlegung als Geisteswissenschaft, da es sich bei ihr um eine verstehende, nicht aber um eine erklärende Wissenschaft handelt, weil sie es 6 7 8 9 10

Wach, „Religionswissenschaft", S. 12/3 Wach, „Verstehen" II, S. 69/70 ebda, S. 70 ebda, S. 70 Wach, „Religionswissenschaft", S. 188f.

148

Entwicklung, Vertiefung und Überwindung der Religionswissenschaft J . Wachs

ausschließlich mit Äußerungen des menschlichen Geistes zu tun hat. Wie in allen Geisteswissenschaften handelt es sich in ihr also um das Verstehen des sich äußernden Menschengeistes. Wach sagt: Neben den subjektiven erschließen die Geisteswissenschaften die objektiven Gegebenheiten im Verstehen. D i e Religionswissenschaft z. B. will die fremden Religionen verstehen: subjektiv die Frömmigkeit, objektiv ihren Ausdruck. Ihr höchstes Ziel ist, den Geist der Religion, der in dem Gesamt ihrer Äußerungen wirksam ist, zu erfassen und das Ganze aus dem Einzelnen, das Einzelne aber dann wieder aus dem Ganzen zu verstehen." 1 1 Schon allein durch ihr wissenschaftsgeschichtliches Herkommen ist die Religionswissenschaft als eine solche ausgewiesen, denn „der Prozeß der Emanzipation der Religionswissenschaft von anderen, sie bevormundenden Geisteswissenschaften zieht sich in Deutschland durch das gesamte 19. Jahrhundert hin und ist auch heute noch nicht abgeschlossen" 1 2 . Gerade aber wegen dieser „Gefangenschaft" der Religionswissenschaft ist es notwendig, v o r ihrer eigentlichen Grundlegung und der daraus sich ergebenden Einteilung eine Abgrenzung gegenüber ihren „Mutterwissenschaften" vorzunehmen. Diese Abgrenzung ist die Voraussetzung für ihre Eigenständigkeit und ihre Grundlegung.

Die Abgrenzung der Religionswissenschaft gegenüber ihren „Mutterwissenschaften" In der sachlichen und persönlichen Anbindung an die „Mutterwissenschaften" sieht Wach den Hauptgrund für die Unselbständigkeit der Religionswissenschaft, ja sogar eine absichtliche Behinderung ihres Emanzipationsstrebens: „ D a ß aber aus dem eigentlichen Wissenschaftsbetrieb selbst heraus solche Bestrebungen nur in ganz geringem Maße sich regten, liegt wohl daran, daß religionswissenschaftlich eben doch in der Hauptsache von Theologen, Philosophen, Philologen und Historikern gearbeitet wurde, diese aber weder Neigung noch Beruf verspürten, die Loslösung dieses Forschungszweiges zu begünstigen, sei es, daß ihnen die Tradition maßgebend für die Aufrechterhaltung des bisherigen Zustandes war, oder

11

Wach, Artikel „Verstehen" in R G G 2 Bd. V, Sp. 1572

12

Wach, „Religionswissenschaft", S. 1

Die Abgrenzung der Religionswissenschaft

149

daß sie in der Sache selbst eine Nötigung erblickten, den Loslösungs- und Verselbständigungsbestrebungen entgegenzuwirken." 1 3 W ä h r e n d W a c h sich mit der Geschichtswissenschaft über Abgrenzungsfragen

kaum

auseinandersetzt,

und

den

Philologien

nur

entgegenhält:

„ N i c h t der Sprachforscher hat, wenn es sich um das Verständnis religiöser Urkunden handelt, das letzte W o r t — er mag das erste haben —, sondern der Religionsforscher" 1 4 , setzt er sich mit der Philosophie und vor allem der Theologie

intensiv auseinander.

Das geschieht besonders in den ersten

Jahren, zumal er später beide in seine Religionswissenschaft zu integrieren sucht. In der frühen Zeit aber fällt auf, daß er sich in seinen Abgrenzungsbemühungen, man könnte fast sagen, zweierlei Sprachen bedient. Setzt er die Religionswissenschaft gegenüber der Philosophie vor allem als empirische 1 5 Wissenschaft a b , 1 6 und räumt jener letztlich doch ganz entscheidende Positionen in der Religionssystematik e i n , 1 7 so ist seine Auseinandersetzung mit der Theologie intensiver 1 8 und polemischer 1 9 , wobei es

13 14

Wach, „Religionswissenschaft", S. 6/7 Wach, „Verstehen" II, S. 68; s. a. „Religionswissenschaft" S. 8/9: „Man besinnt sich darauf, daß Religionswissenschaft, weit entfernt eine tragfähige Basis für eine Theologie abzugeben, unter vollkommen anderen Voraussetzungen arbeitet und arbeiten muß, und wenn man die Theologie sich auch heute noch gegen die Loslösung, Verselbständigung und Emanzipation der Religionswissenschaft sträuben sieht, so ist das nur eine Inkonsequenz oder höchstens aus praktischen Motiven zu verstehen."

15

Empirie ist freilich, wie sich zeigen wird, durch den Empiriebegriff der Lebensphilosophie geprägt.

16

Wach, „Religionswissenschaft", S. 113: „Die Religionswissenschaft ist eine empirische Wissenschaft. Sie ist Verne philosophische Disziplin." s. z. B. ebda, S. 165ff. und an vielen anderen Stellen seines Werkes. ebda, S. 12 Anm. 4: „Noch immer sind die Vertreter der Religionswissenschaft an den Universitäten mit wenig Ausnahmen der theologischen Fakultät eingegliedert. So wenig dagegen zu sagen ist, daß innerhalb der theologischen Fakultät die Religionsgeschichte gelehrt wird (. . .) so nachdrücklich muß andrerseits darauf gedrungen werden, daß die Religionswissenschaft eine Vertretung in der Fakultät erhält, in die sie hineingehört so gut wie Kunst- und Literaturwissenschaft: in die philosophische Fakultät."

17 18

19

Dabei mag er immer noch unter dem Eindruck der berühmten Antrittsrede von Harnacks, „Die Aufgabe der theologischen Fakultäten und die allgemeine Religionsgeschichte" (Gießen 1901), gestanden haben.

11

Flasche: Joachim Wach

150

Entwicklung, Vertiefung und Uberwindung der Religionswissenschaft]. Wachs

ihm in erster Linie um den grundsätzlichen Unterschied von theologischer und religionswissenschaftlicher Aufgaben- und Fragestellung geht.

a) Die Abgrenzung

gegenüber der Theologie

Ursprünglich strebt Wach eine konsequente Trennung von Theologie und Religionswissenschaft an. Dieser Abgrenzung und der aus ihr folgenden Trennung ist das gesamte zweite Kapitel 2 0 seiner Habilitationsschrift gewidmet, aber auch in den meisten anderen frühen Schriften nimmt er dieses Thema wieder auf 2 1 . Anlaß für eine notwendige Auseinandersetzung ist der gleichlautende Anspruch beider Wissenschaften „auf die Ergründung und Erforschung der Welt der Religionen" 2 2 , weshalb es nicht verwundern darf, „wenn wir vernehmen, daß die — christliche — Theologie sich als die Religionswissenschaft erklärt und das weitere Recht auf Bearbeitung auch der fremden Religionen für sich beansprucht. Die Möglichkeit und Berechtigung einer nicht theologischen Wissenschaft von der Religion wird dann entweder überhaupt bestritten oder aber ihre Kompetenz stark eingegrenzt." 2 3 Darin aber sieht Wach nicht nur eine Einengung und Bevormundung der Religionswissenschaft, sondern auch eine Fehlleitung der Theologie. Es ist nämlich nicht die Aufgabe der Theologie, die fremden Religionen aus ihrem Blickwinkel zu erforschen; sie kann jedoch „die Resultate der religionswissenschaftlichen Forschung zur eigenen Verwendung" 2 4 sich herrichten. Religionswissenschaft und Theologie sind zwei durchaus selbständige und deshalb klar zu scheidende Wissenschaften, und keine ist der anderen unterzuordnen oder einzugliedern. 25 „ D a s entspricht nicht nur der historischen Entwicklung und einem praktischen Bedürfnis, sondern die 20

Wach, „Religionswissenschaft", S. 21 — 71: „ D i e Aufgabe der Religionswissen-

21

s. bes. seine Auseinandersetzung mit Althaus: „ U n d die Religionsgeschichte?"; s.

schaft (Religionswissenschaft und Theologie)". a. „ S i n n und A u f g a b e " , „Zur Methodologie", „ Z u r Hermeneutik", „Einführung in die Religionssoziologie" u. a. 22

Wach,

„Religionswissenschaft", S. 60; wobei die Theologie ihren

durch ihren Vorsprung an Alter und Tradition unterstützt. 23

ebda, S. 60

24

ebda, S. 61

25

s. ebda, S. 65

Anspruch

Die Abgrenzung der Religionswissenschaft

151

Trennung ist in den Sachen begründet." 26 Sie unterscheiden sich nicht nur in dem zu bearbeitenden Material, sondern auch Aufgabenstellung und Zielsetzung beider sind verschieden. Während die Theologie (bzw. die Theologien) vor allem die Wahrheit einer bestimmten Religion zu zeigen hat, hat die Religionswissenschaft das Wesen einer bestimmten Religion und danach im vergleichenden Verfahren letztlich das Wesen der Religion zu zeigen. Der Grundsatz der Theologie „ist der Satz von der Wahrheit der (ihrer) Religion" 2 7 : „Die Theologie hat ihre ihr von niemandem abzunehmende, eigene Aufgabe in der Herausarbeitung der eigenen Glaubensnormen, sie widmet sich der Ergründung und Befestigung des Wissens um den eigenen Glauben." 2 8 Damit hat die Theologie eine von der Religionswissenschaft grundlegend unterschiedene Aufgabenstellung: „Quantitativ und qualitativ hat so die Religionswissenschaft ein von der Theologie verschiedenes Arbeitsfeld: nicht die eigene, sondern die fremden Religionen in ihrer Mannigfaltigkeit sind ihr Gegenstand; sie fragt nicht: was soll ich glauben, sondern: was wird alles geglaubt?" 2 9 Ist die Aufgabe der Theologie eine normierende, zu sagen nämlich, was sein soll, so ist die der Religionswissenschaft eine rein erkennende 30 . Demgemäß sind Sinn und Zweck des Verstehens von religiösen Äußerungen in beiden Wissenschaften verschiedener Natur. Der Theologe hat normative Tradition und subjektive Glaubensüberzeugungen einzubringen und in normierender Weise auszulegen, der Religionsforscher hingegen hat zu beschreiben, was solche Äußerungen sagen, „allenfalls: was wollen sie sagen" 3 1 . So sind sowohl Aufgabe und Ziel als auch die Methode der Theologie und der Religionswissenschaft von einander fast ausschließender Art, weshalb für Wach eine Abgrenzung gegen und die Lösung aus der Theologie für die Selbständigkeit der Religionswissenschaft als unumstößliche Notwendigkeit erscheint. Das schließt freilich nicht aus, daß sich beide Wissenschaften gegenseitig etwas zu geben haben. So erhält die Religionswissenschaft von der 26

ebda, S. 66

27

ebda, S. 62

28

Wach, „Sinn und Aufgabe", S. 131; s. a. Wach, „Religionssoziologie", S. 1

29

ebda, S. 132

30

s. Wach, „Religionswissenschaft", S. 63

31

Wach, „Zur Hermeneutik", S. 283; s. a. Wach, „The Place of the History", S. 162

ll»

152

Entwicklung, Vertiefung und Uberwindung der Religionswissenschaft]. Wachs

Theologie „einzigartiges Material, was die systematischen, historischen und exegetischen Disziplinen erarbeitet haben" 3 2 , und „erwartet von der Theologie (von den Theologien der verschiedenen Religionen und Bekenntnisse) die Glaubensaussagen, die Auseinandersetzungen, die ihr . . . recht klar das Wesen und die Art der betreffenden Religion zu erkennen erlauben" 33 . Die Theologie hingegen erfährt durch die Religionswissenschaft eine Vielzahl von Anregungen und eine „Weitung des Gesichtskreises" 34 , doch sie kann niemals erwarten, „aus der Religionsgeschichte den absoluten Wert und die Wahrheit" der eigenen Religion zu entnehmen, denn „das höchste, was sie zeigen . . . kann, ist die ,Eminenz'", die „Einzigartigkeit im Sinne einer Besonderheit" 3 5 . Der späte Wach jedoch sieht das Verhältnis Theologie — Religionswissenschaft anders, wenn er sagt: „Wenn es die Aufgabe der Theologie ist, den Glauben einer religiösen Gemeinschaft zu erforschen, zu stützen und zu lehren, . . ., so liegt die Verantwortung der vergleichenden Forschung darin, den Glauben zu läutern." 36 Damit scheint aber der Religionswissenschaft auch eine normierende Aufgabe zugewiesen zu sein, und sie läuft Gefahr, ihren von Wach ursprünglich geforderten deskriptiven Charakter zu verlieren, wie auch die Grenzen zur Theologie erneut verwischen könnten. Denn wer von Läuterung des Glaubens spricht und diese zur Aufgabe erhebt, strebt theoretische Normen an und will praktische Wege zeigen, letztlich also Verkündigung und nicht empirisch-deskriptive Wissenschaft treiben. Dieses Problem wird uns besonders bei der „Überwindung" der Religionswissenschaft durch Wach selbst zu beschäftigen haben. 37

b) Die Abgrenzung

gegenüber der Philosophie

Der Abgrenzung gegenüber der Philosophie, besonders gegenüber der Religionsphilosophie, ist das vierte Kapitel von Wachs „Religionswissen32

Wach, „Religionswissenschaft", S. 67

33

Wach, „ U n d die Religionsgeschichte?", S. 485

34

Wach, „Religionswissenschaft", S. 67

35

ebda, S. 67

36

Wach, „Religionsforschung", S. 39

37

s. dazu Kap. Das Gewinnen der Norm aus der religiösen Erfahrung

Die Abgrenzung der Religionswissenschaft

153

schaft" 3 8 gewidmet. Später jedoch nimmt er dieses Thema im Gegensatz zur Abgrenzung gegenüber der Theologie kaum wieder auf, 39 weil ihm wahrscheinlich bewußt ist, daß seine Religionswissenschaft jederzeit der Religionsphilosophie verpflichtet bleibt. Eine strenge gegenseitige Abgrenzung dieser beiden Wissenschaften aber strebt er von Beginn an nicht wirklich an. Das liegt in seinem Ansatz beschlossen, der religiösen Erfahrung als Grundlage aller Religion und Ausgang aller Wissenschaft von ihr, und in seinem Ziel, denn wer nach dem Wesen der Religion(en) fragt, treibt cum grano salis Religionsphilosophie. 40 Es wird sich deshalb zeigen, daß Wach immer in einer gewissen Abhängigkeit zur Philosophie steht, was sich sowohl aus seiner Person — seinem hyperrationalen Selbstverständnis — als auch seinem wissenschaftlichen Referenzsystem — das zutiefst in der Lebensphilosophie wurzelt — erklären läßt. Da Wach die Religionsphilosophie als die die Religionswissenschaft eigentlich hervorbringende Disziplin ansieht 41 , geht es ihm auch in seiner „Religionswissenschaft" wohl mehr um eine Ausgrenzung als um eine .Abgrenzung. Dazu kommt, daß er, weil die Philosophie aus der Welt der Religion stammt, sie dieser auch weiterhin — irgendwie — als zugehörig betrachtet. So gilt, daß „in allen Kulturzusammenhängen, die eine Philosophie haben entstehen lassen, diese sich aus der Theologie entwickelt hat, ursprünglich also überall Religionsphilosophie, Philosophie aus der Religion heraus war. Die religiösen Normen sind die ursprünglichen; die Philosophie expliziert und — später — kritisiert sie" 4 2 . Die Ausgrenzung der Religionswissenschaft aus der Philosophie erscheint Wach vor allem als methodisches Problem: „Die Religionswissenschaft ist eine empirische Wissenschaft. Sie ist keine philosophische Disziplin. Damit ist gesagt, daß die Religionswissenschaft niemals ein Teil der Religionsphilosophie sein kann, geschweige denn daß sie gar mit dieser 38

W a c h , „Religionswissenschaft", S. 113—164

39

Die einzige Aufnahme geschieht in: Wach, „Radhakrishnan and the Comparative Study of Religion", wo er Kritik an Radhakrishnans Religionswissenschaft übt, die auf ihn selbst aber ebenso anwendbar wäre.

40

s. a. o. S. 19 das Urteil von Haas über Wach

41

s. W a c h , „Religionswissenschaft", S. 9

42

Wach,

„ D a s Problem des T o d e s " , S. 4 ; S. 5: „. . . philosophische

Lebens-

auffassung, Werthaltung und Zwecksetzung" emanzipiert sich „von den Normen der religiösen L e h r e " .

154 Entwicklung, Vertiefung und Uberwindung der Religionswissenschaft J. Wachs identisch w ä r e . " 4 3 D e n n „ d i e Religionswissenschaft ist keine Normwissens c h a f t " 4 4 , noch eine spekulative D i s z i p l i n 4 5 , sondern sie hat sich einer verstehenden und vergleichenden Methode zu befleißigen 4 6 . Ob sachlich

Wach eine wirkliche Ausgrenzung

— sei es methodisch oder

— vornehmen will, bleibt fraglich, besonders, wenn man die

Wesensbestimmung

beider Disziplinen nebeneinanderstellt:

„Allgemeine

Religionswissenschaft meint den Inbegriff der wissenschaftlichen Erforschung der R e l i g i o n " 4 7 , während die Religionsphilosophie „die Religion als objektive Gestaltung nach Wesen und F o r m e n zu betrachten und zu durchd e n k e n " 4 8 hat. In diesem Zusammenhang sei noch Wachs Auseinandersetzung mit den großen Vertretern der vorangegangenen Periode der Religionswissenschaft — v o r allem mit Tiele — gestreift, zumal Wach dessen Ausführungen teilweise verkürzt wiedergibt, wobei er das uns wesentlich erscheinende wegläßt. D e n n wenn Tiele von der „Philosophie der Religion" spricht, meint er damit nicht Religionsphilosophie im spekulativen Sinne, sondern im G r u n d e das, w a s Wach unter systematischer Religionswissenschaft in ihrer Abhängigkeit v o n der Philosophie versteht 4 9 , daß nämlich der Begriffsapparat der Religionswissenschaft letztlich nur deduktiv gewonnen, b z w . systematisiert werden kann und zugleich normierende Wirkung hat 5 0 . D a s wird z. B . deutlich in der bei Wach 5 1 als Beispiel f ü r Tieles Verhaftung in der Philosophie zitierten Passage: „ I c h meine daher, daß wir nicht z ö g e r n dürfen, den philosophischen Charakter unserer Wissenschaft anzuerkennen und auf sie diejenige Methode anzuwenden, welche für alle philosophischen Fächer der Wissenschaft gilt: die deduktive. N i c h t die einseitig empirische, welche ihren Gipfelpunkt im Positivismus erreicht und die Tatsachen nur feststellt und ordnet, während sie unfähig ist, dieselben zu erklären. A u c h nicht die sogenannte genetisch-spekulative, dies Gemisch von Geschichte und Philosophie, welches aller Einheit entbehrt. A b e r auch 43 44 45 46 47 48 49 50 51

Wach, „Religionswissenschaft", S. 113 Wach, Artikel „Religionswissenschaft" in R G G 2 Bd. IV, Sp. 1954 Wach, „Religionswissenschaft", S. 171 s. u. S. 287ff. Wach, Artikel „Religionswissenschaft" in R G G 2 Bd. IV, Sp. 1954 Wach, Artikel „Religionsphilosophie" ebda, Sp. 1919 s. u. S. 217ff. s. a. Hirschmann, „Phänomenologie der Religion", S. 21 f. Wach. „Religionswissenschaft", S. 118

Die Abgrenzung der Religionswissenschaft

155

nicht — und ich beeile mich das hinzuzufügen — die einseitig spekulative, welche keinen festen Boden unter den Füßen hat, sondern in der Luft schwebt. Denn wenn ich von der deduktiven Methode spreche, dann meine ich diese am allerwenigsten. Im Gegenteil, unsere deduktive Schlußfolgerung muß von dem ausgehen, was durch Induktion, durch die empirische, historische und vergleichende Methode konstatiert ist.", die aber so fortfährt: „Was Religion ist und woraus sie entsteht, können wir nur aus den religiösen Phänomenen erschließen. Alles Innerliche kennen wir nur aus seinen Offenbarungen." 5 2 Genau wie für Wach 5 3 sind für Tiele die empirischen Religionen Material und Ausgangspunkt der Religionswissenschaft, 54 und an der Verbindung zur Philosophie hält er fest, weil er „die exakte Methode der Naturwissenschaft für die Religionswissenschaft" nicht „als geeignet anzuerkennen vermag" 5 5 , denn „die Religionswissenschaft ist keine Naturwissenschaft, sondern eine Geisteswissenschaft" 56 . Hier findet sich also bei Tiele bereits die Wachsche Konzeption, und der Einfluß Tieles auf Wach ist unserer Meinung nach 5 7 größer, als Wach selbst einräumt, wie sich an diesem Beispiel bereits zeigt. Die Nähe zu Tiele wird ebenfalls deutlich, wenn Wach wenige Jahre später sagt: „Noch weitere Aufgaben erwachsen" der Religionswissenschaft, „etwa die der Ergründung des Wesens der Religion, die Herausarbeitung typischer Regelhaftigkeit, eine Beurteilung und Wertung der verschiedenen religiösen Erscheinungen usw. Es ist einleuchtend, daß solche Fragestellungen mehr oder weniger unmittelbar in die Philosophie hinüberführen: die Religionswissenschaft mündet in die Religionsphilosophie." 58 Wach sucht im Grunde immer nach einem Verbindungsglied zwischen Religionswissenschaft und Religionsphilosophie, das er später in Schelers „konkreter Religionsphänomenologie der Religionsgegenstände und Akte" 5 9

52

Tiele, „Einleitung in die Religionswissenschaft", S. 16/7

53

s. u. S.

54

Tiele, a. a. O . , S. 15

55

ebda, S. 16

56

Davon wird breiter in Wachs Konzeption der Religionswissenschaft die Rede sein

57

Tiele, a. a. O . , S. 185

58

Wach, Artikel „Religionswissenschaft" in R G G 2 Bd. IV, Sp. 1954

59

s. Wach, „Bemerkungen zum Problem", S. 178ff.

müssen.

156

Entwicklung, Vertiefung und Uberwindung der Religionswissenschaft J. Wachs

gefunden zu haben glaubt 6 0 , da sich von hier aus die Möglichkeit bietet, auf dem Wege des Verstehens die wahren Hintergründe (die Intention) der religiösen Ausdrucksformen zu erschließen. In diesem System scheint ihm zumindest der empirische Ausgangspunkt der Religionswissenschaft gewährleistet 6 1 , denn „auch die Religionswissenschaft wird nicht ohne Deduktionen auskommen, aber sie darf keinesfalls mit solchen beginnen" 6 2 , räumt er schon in seiner „Religionswissenschaft" ein. Daneben ist es für Wach selbstverständlich, „daß auch die einfachste Bemühung des Einzelwissenschaftlers von gewissen philosophischen Grundüberzeugungen, Methoden und Gesichtspunkten bestimmt wird" 6 3 , die es nur in das methodische Bewußtsein zu heben gilt. Das meint sein programmatischer Satz, „wir treten ein für die bewußte Scheidung von empirischer (historisch-systematischer) Wissenschaft und Philosophie" 6 4 . Denn w e n n man sich ansieht, in welch umfassendem Maße die Religionswissenschaft auf die (Religions-)Philosophie angewiesen ist, 6 5 dann scheint eher eine Abhängigkeit denn eine Selbständigkeit ihr gegenüber zu bestehen. Wach faßt diesen Komplex so zusammen: „In einer dreifachen Hinsicht darf also die Religionswissenschaft die wichtige Unterstützung der Religionsphilosophie erwarten. Diese leistet für sie: die Durchdenkung und Bereitstellung der Methoden (Logik der Religionswissenschaft), die wesensmäßige Durchforschung und philosophische Bestimmung ihres Gegenstandes (Philosophie der Religion), die philosophische Einordnung des Phänomens in das Ganze der Erkenntnis (Geschichtsphilosophie und Metaphysik der Religion)." 6 6 Hat der frühe Wach eine scharfe Abgrenzung der Religionswissenschaft gegenüber der Theologie gefordert und vollzogen, die er später modifiziert, wird in seinen Ausgrenzungsversuchen der Religionswissenschaft aus der (Religions-)Philosophie schon von Beginn an deutlich, daß er eine philosophische Religionswissenschaft zu treiben bestrebt ist. Denn für ihn mündet nicht nur die Religionswissenschaft in die Religionsphilosophie, sondern 60

s. Wach, „Religionswissenschaft", S. 128/9

61

ebda, S. 129

62

ebda, S. 129/30

63

ebda, S. 1 1 4 u. 1 6 7

64

ebda, S. 136

65

s. ebda, S. 134/5 u. 1 3 7

66

ebda, S. 136; hier wird wieder die Nähe zu Dilthey und besonders zu Troeltsch deutlich.

Die Grundlegung der Religionswissenschaft

157

Geschichts- und Religionsphilosophie helfen auch die Grundlagen, Aufgaben u n d Fragestellungen der Religionswissenschaft klären, wie schon sein Versuch einer Grundlegung der Religionswissenschaft als Geisteswissenschaft aus der Lebensphilosophie zeigt.

D i e G r u n d l e g u n g der Religionswissenschaft aus der Geschichtsund Lebensphilosophie U n t e r der Voraussetzung, daß eine Abgrenzung und die Eigenentwicklung eines autonomen Bereichs

„ R e l i g i o n " in seiner Zeit nicht mehr

verteidigt und zur Geltung gebracht werden muß, faßt Wach die grundlegende A u f g a b e des Religionsforschers folgendermaßen: „ E r deutet diese Ä n d e r u n g e n (der Welt der Religion, der Verf.) und setzt sie in Zusammenhang mit dem L e b e n , dem sie entstammen, an dem er wiederum selbst in einem g a n z bestimmten Sinne teilhat." 6 7 Im Simmelschen Sinne also bildet die Religiosität als Kategorie des Lebens die Welt der Religion, die es aus diesem L e b e n , gemäß ihrer Eigengesetzlichkeit — also ausschließlich religiös — z u verstehen gilt. D a s „integrale Verstehen" Wachs ist eingebettet in, b z w .

abgeleitet aus dieser lebensphilosophischen

Grundanschauung:

„ O n the surface hermeneutic is a matter of external rules and principles, but fundamentally it involves the whole understanding and inner grasp of the religion i t s e l f . " 6 8 Es

geht in der Religionswissenschaft letztlich u m die Einheit von

Erkennen und L e b e n , um das Verstehen eines organisch sich entwickelnden G a n z e n , u m dessen inneres Movens, u m sein eigentliches Wesen. Deshalb ist die Religionswissenschaft, wie von Chantepie de la Saussaye schon gefordert, „eine selbständige, keinen anderen als ihren eigenen Gesetzen unterworfene, dynamische W i s s e n s c h a f t " 6 9 . Ihr Gegenstand „ m u ß also als ein vorgegebener betrachtet w e r d e n " 7 0 , der „unter einer besonderen G e s e t z l i c h k e i t " 7 1 steht. Z u g a n g zum Sein und Werden der Welt der Religion ist deshalb nur vom L e b e n aus möglich. V o n hier aus erschließt sich die Erkenntnis der 67 68 69 70 71

Wach, „Religionswissenschaft", S. 23 Wach, „The Interpretation of Sacred Books", S. 59 s. Hirschmann, a. a. O., S. 4 Wach, „Religionswissenschaft", S. 57 Wach, Artikel „Religionswissenschaft" in R G G 2 Bd. IV, Sp. 1955

158

Entwicklung, Vertiefung und Uberwindung der Religionswissenschaft J. Wachs

Idee einer Religion als des Treibenden im Ganzen. Diese ergibt sich aus der historischen Entwicklung einer Religion, die nachvollzogen werden muß, da sich darin ihr Geist als Ausdrucksgesamtheit äußert, den es in Verbindung mit der Innerlichkeit als dessen subjektivem Korrelat zu verstehen gilt. Hier aber liegt nach Wach die besondere Schwierigkeit aller Religionswissenschaft: „Von der religiösen Form auf die Innerlichkeit zurückzuschließen — und ein gutes Teil der religionswissenschaftlichen Arbeit hat doch in solcher Rückführung zu bestehen — ist besonders schwierig infolge der letzten Unaussprechbarkeit des religiösen Erlebens und der daraus folgenden Inadäquatheit allen Ausdrucks. Wenn es sich nämlich im Bereich des übrigen geistigen Erlebens um Erfahrungen im Bereich des Relativen handelt, so gibt sich das religiöse Erleben als eine — wie immer im einzelnen geartete und bestimmte — Beziehung zum Absoluten." 7 2 Die Grundlage aller Religionswissenschaft ist — in Berührung mit den Dilthey-Simmelschen Anschauungen — die Psychologie: „Es kann keine Frage sein, daß eine Religionsgeschichte ohne psychologische Fragestellungen ebensowenig denkbar ist wie eine Religionssystematik ohne solche. Dabei handelt es sich in erster Linie um die Anwendung praktisch psychologischer Erkenntnisse und Einsichten, . . . wie sie auf keinem Gebiet der Geisteswissenschaften entbehrlich sind. . , " 7 3 Die Psychologie ermöglicht erst ein Eindringen in den Erlebnisbereich und konstituiert so das Verstehen von hinter den Ausdrucksformen des Geistes liegenden Erfahrungen: „Psychologische Fragestellung führt immer in die Tiefe, sie ist daher auch eine Erlösung von der bloßen Sammlung, Aufhäufung und Anordnung des Materials. Sie ebnet dem Verstehen die Bahn, sie öffnet den Weg zur Aufdeckung der Zusammenhänge, die wieder die Einzelerscheinungen erst voll begreifen lassen. Wo in der Religionsgeschichte die Persönlichkeiten hervortreten, da wird die psychologische Befragung nie erfolglos bleiben, w o es sich in der Systematik um die Charakteristik religiöser Typen handelt, muß sie zur Anwendung gebracht werden." 7 4 Letztlich hat die Religionswissenschaft das dem Gedanken „zugrunde liegende Erlebnis mit seinem intentionalen Gehalt" 7 5 als ihren Gegenstand, 72

ebda; hier kündigt sich bereits die spätere Hinordnung aller religiösen Erfahrung auf die letzte Wirklichkeit an. Außerdem rückt Wach damit auch in die Nähe von James (s. „Die religiöse Erfahrung", S. 27)

73

Wach, „Religionswissenschaft", S. 109

74

ebda, S. 109/10

75

Wach, „ D a s religiöse Gefühl", S. 19

Die Grundlegung der Religionswissenschaft

159

weil die Religionen „zu den großen Ausdruckszusammenhängen oder Systemen, in denen der Geist zu seinem Bewußtsein kommt", gehören und sich in ihnen „die religiöse Subjektivität objektiviert hat und objektiviert" 7 6 .

a) Grundlage und „Gegenstand" der Religionswissenschaft ist die religiöse Erfahrung Da „die Möglichkeit des Erlebens für einen Menschen" nicht „mit der Summe seiner äußeren Lebenserfahrung . . . erschöpft ist" 7 7 , gibt es „ein inneres Erleben, in dem Erfahrnisse gleichsam antizipiert werden können" 7 8 . Das ist für Wach im Sinne seines oben skizzierten wissenschaftlichen Referenzsystems die Grundvoraussetzung allen Verstehens. Da es in der Religionswissenschaft um das Verstehen von Religion(en) geht, ist ihre Grundlage, ihr Ausgang und ihr Gegenstand die religiöse Erfahrung, wobei sich bei Wach im Begriff „religiöse Erfahrung" der lebensphilosophische Erfahrungsbegriff mit dem religiösen Apriori der theologia naturalis zu einer Einheit verbindet. Denn „Der Mensch" ist „seinem Wesen nach angelegt . . . auf Religion. Mag das religiöse Bedürfnis verkümmern oder unterdrückt werden, es ist überall vorhanden, so sehr der Schein oft dagegen zu sprechen scheint. Darum wird auch jeder Mensch verstehen können, was Religion ist." 7 9 So speisen sich Wachs, wie wir sie ab jetzt nennen wollen, erfahrungsphilosophische Grundanschauungen innerhalb der Religionswissenschaft aus zwei Quellen; einmal aus der Dilthey-Simmelschen Lebensphilosophie und Weltenlehre, zum anderen aus einer natürlichen Theologie. Diese Erfahrungsphilosophie begründet letztlich nicht nur, wie oben gezeigt, seine hermeneutischen Grundauffassungen, sondern auch sein religionswissenschaftliches Denken und Wollen. Wenn auch in seiner „Religionswissenschaft" der Begriff „religiöse Erfahrung" nicht auftaucht, hat Rudolph dennoch unrecht, wenn er meint, Wach habe diesen Begriff erst in Amerika aus der positivistischen Psycholo76

Wach, „Religionswissenschaft", S. 2/3 Anm. 4

77

ebda, S. 155

78

ebda, S. 155

79

s. ebda, S. 158

160

Entwicklung, Vertiefung und Uberwindung der Religionswissenschaft J. Wachs

gie aufgenommen80. Im gleichen Sinne benutzt er hier nämlich Religiosität" oder „religiöses Leben", während vorher schon im „Erlösungsgedanken" neben „Lebensgefühl" und „Lebensideal" die (religiöse) Erfahrung des Lebens81 als zentraler Gedanke auftaucht, die auf Ausdruck(sform) hin angelegt ist, deren Zusammenhang es zu erforschen gilt 82 . Auch wenn der Begriff „Erfahrung" nicht immer benutzt wird, geht es Wach jedoch stets um diese. Seine Religionswissenschaft geht von der lebensphilosophischen Uberzeugung aus, daß eine der Arten, die Welt zu erleben, die religiöse ist83, die sich dann mit der Annahme des religiösen Apriori verbindet. Das, worauf sich religionswissenschaftliches Erkennen und Verstehen richtet, ist die religiöse Erfahrung, die hinter allem religiösen Ausdruck steht. Nur so ist der für Wach „schlechterdings entscheidende" „Ausgang vom Empirischen"84 gewährleistet. Darin aber liegt, wie er 1923 schon sagt, gerade die Schwierigkeit der religionswissenschaftlichen Aufgabe: „Vergegenwärtigen wir uns nur einmal, bis in welche Tiefen des Gemüts die Erscheinungen ihre Wurzeln strecken, deren Analyse die Aufgabe einer Religionswissenschaft sein muß." 85 Denn jede Form ist letztlich nur „ein Ausdruck des Lebens" 86 , also nur eine realisierte Möglichkeit. So ist also „nicht vom Bedürfnis, sondern vom religiösen Erleben in seiner gegenständlichen Ausrichtung, seiner Intention . . . auszugehen", denn nur so kann man „der religiösen Erfahrung überhaupt wirklich gerecht werden" 87 . Sie ist der einzig legitime Zugang zur Welt der Religion88. Deshalb gibt es für Wach — vielleicht in Anlehnung an James 89 — auch keinesfalls mehr die Ursprungsfrage in der- Religionswissenschaft90, weder im konstruktiven noch im historischen Sinne, da religiöse Erleben als eine Möglichkeit, Welt 80

Rudolph,

„Joachim

Wach",

S.

235,

wo

er diesen Begriff sogar

posthumen „Religionsforschung" (fälschlicherweise!) zuordnet. 81

Wach, „Erlösungsgedanke", S. 1 7 f f .

82

ebda, bes. S. 7 2 f f .

83

s. Wach, „Religionswissenschaft", S. 23, S. 2 5 f f .

84

ebda, S. 176

85

Wach, „ Z u r Methodologie", S. 39

86

ebda, S. 43

87

Sagt Wach gegen Freud; „Das religiöse Gefühl", S. 24

88

s. Wach, „Religionsforschung", S. 50

89

James. „Die religiöse Erfahrung", S. 1

90

Wach, „Religionswissenschaft", S. 78

erst der

Die Grundlegung der Religionswissenschaft

161

zu bilden, mit dem Leben und der Natur des Menschen gegeben sind. Es ist eine „ e w i g e Disposition des Menschen" 9 1 . Deshalb ist religiöse Erfahrung universal 9 2 in einer endlosen Variationsbreite von Formen 9 3 , in denen jedoch immer auch gemeinsame und damit universale Elemente eingeschlossen sind 9 4 . „ W i e alle Arten von Erfahrung strebt die religiöse Erfahrung nach A u s d r u c k " 9 s , womit ein weiteres ihrer universalen Kennzeichen 9 6 gegeben ist. Freilich, „religiöses Erleben gibt sich nicht leicht für öffentlichen und unzweideutigen Ausdruck her. Auf der anderen Seite jedoch, wird es nur über die Formen, die dieses Erleben sich selbst gibt, möglich sein, sein Wesen adäquat aufzuspüren und zu verstehen." 9 7 So ist „der Ausdruck des religiösen Lebens" die eigentliche „Brücke zum Veständnis" 9 8 und damit Zugang und zugleich Gegenstand religionswissenschaftlicher Arbeit 9 9 . Bei dieser Arbeit ist vor allem darauf zu achten, „daß ja das religiöse Erleben wie alle geistigen Akte einen ganz bestimmten intentionalen Sinn besitzt. Sein Selbstanspruch muß gehört, das in ihm Gewollte, Gemeinte, auf das gezielt wird, muß berücksichtigt werden." 1 0 0 Der Charakter der religiösen Erfahrung ist vom Leben überhaupt bestimmt. Dabei ergibt sich „ein außergewöhnlich verwickeltes Wechselspiel zwischen individuellem Erleben in der Religion und den verschiedenen Formen traditionellen A u s d r u c k s " 1 0 1 , weil gerade daraus „ein wesentlicher 91

Wach, „Einführung in die Religionssoziologie", S. 48

92

s. z. B . Wach, „ T y p e s " , S. 33

93

s. ebda, S. 34

94

s. ebda,

95

Wach, „Religionsforschung", S. 79

S. 34; s. a. Wach, „ T h e Interpretation of Sacred B o o k s " , S. 60

96

s. ebda, S. 82

97

Wach, „Religionssoziologie", S. 18

98

Wach, „Religionswissenschaft", S. 35

99

Hat Wach damit wirklich einen neuen wissenschaftlichen Zugang zur „Welt der Religion" gefunden? Oder folgt er nicht doch Tiele? s. Tiele, „Einleitung", S. 22: „ U m die Religion selbst, welche eine auf das Verhältnis zwischen dem Menschen und seinem G o t t bezogene Gemütsstimmung ist und so zu einer bestimmten Gesinnung gegen diesen Gott wird : um die Religion selbst kennenzulernen, müssen wir auf alles achten, worin diese Stimmung sich offenbart, diese Gesinnung sich äußert, Worte wie Thaten, die beide zusammen die Sprache der Religion bilden."

100

Wach, „ D a s religiöse G e f ü h l " , S. 26

101

Wach, „Religionssoziologie", S. 19; auch hier klingt wieder James an, s. „ D i e religiöse Erfahrung", S. 25/6 u. S. 317

162

Entwicklung, Vertiefung und Überwindung der Religionswissenschaft J. Wachs

Teil der Dynamik der Religion" 1 0 2 besteht. Religiöse Erfahrung ist weiterhin durch ihren Zusammenhang bestimmt, denn sie „geschieht zweifellos in einer konkreten Situation, d. h. in einem zeitlichen, räumlichen, historischen, soziologischen, kulturellen, psychologischen und — nicht zuletzt — religiösen Zusammenhang" 103 , und trotz dieser Einbindung, in der „sie sichtbar wird", ist sie „spontan, schöpferisch, frei" 1 0 4 . Auch hier wird wieder Wachs lebensphilosophische Tradition deutlich, nach der jede Form immer mehr als die Form, und jede Erfahrung mehr als Erfahrung ist, da nur so denkbar ist, daß der schöpferische (Menschen-)Geist Welten mit eigener Entwicklung und Gesetzlichkeit schafft 105 . Die Begründung der Religionswissenschaft in der religiösen Erfahrung ist, wie sich auch im weiteren zeigen wird, vor allem eine Akzentverschiebung. An die Stelle der Vernunft in der rationalistischen Religionswissenschaft tritt das Gefühl, das Gemüt, das Erlebnis, an die Stelle der religio naturalis im Sinne einer religio rationalis tritt das religiöse Urerlebnis, das Religion als Lebenskategorie ins Leben setzt. Uber das religiöse Subjekt sucht Wach mit Hilfe von dessen religiösen Objektivationen das religiöse Objekt zu erreichen, als das eigentliche Woher des Erlebnisses 106 . Die von der religiösen Erfahrung gebildete Welt der Religion ist also die empirisch festzumachende Gestalt eines Vorganges, der hinter den Dingen liegt. Zugleich aber ermöglicht die religiöse Erfahrung als für den Menschen konstitutives Element überhaupt den Zugang — auch den wissenschaftlichen — zur Welt der Religion. Verstehen von religiöser Erfahrung wird so zum Verstehen aus religiöser Erfahrung. In der religiösen Erfahrung liegt das Gemeinsame aller Religion(en) — als natürliche Religiosität — beschlossen,

102

ebda, S. 26

103

Wach, „Religionsforschung", S. 75

104

ebda, S. 77

105

A u c h hier treffen sich Wachs lebensphilosophische Tradition, zu seiner Erfahrungsphilosophie geweitet, und die positivistische Psychologie von James, der einmal sagt: „. . . indes eben dieser Maßstab (für die Abschätzung fremder Religionserscheinungen, der Verf.) wird durch die treibende Gewalt des Lebens selbst erzeugt. Es ist die Stimme der menschlichen Erfahrung in uns,. . ." („Die religiöse Erfahrung", S. 314), auch wenn er daraus dann andere Schlüsse zieht.

106

Das f ü h r t ihn später zur letzten Wirklichkeit.

Die Grundlegung der Religionswissenschaft

163

das es zu erkennen und zu verstehen gilt, und das diesen Vorgang zugleich erst ermöglicht und in G a n g setzt. W o h i n aber wird Wach dieser erfahrungsphilosophische Begründungszusammenhang führen? Liegt diesem Denken nicht obendrein ein (idealistischer) Evolutionismus zugrunde? Denn wenn ein allen Religionen zugrundeliegendes Gemeinsames angenommen wird, bei Wach ein universaler Erlebnisgrund, dann muß zwischen dem Wesen und den verschiedenen Erscheinungen der Religion unterschieden werden, was zu einem, eine N o r m einschließenden, Ergebnis führen muß, daß nämlich das Wesen der Religion in den verschiedenen Erscheinungen in verschiedenen Stufen (Graden o. ä.) der Vollkommenheit zum Ausdruck kommt.

b) Religiöse Erfahrung bildet die Welt der Religion „ F ü r das Leben und aus dem Leben, so lautet die -. . .- Devise wie jeder, so auch der Religionswissenschaft." 1 0 7 Mit dieser These eignet sich Wach den vitalistischen Grundsatz Diltheys an und führt ihn zu seiner Erfahrungsphilosophie weiter. Die Religionswissenschaft ist deshalb eine lebendige Wissenschaft, zumal, wenn „sie sich bewußt ist und bleibt, daß sie es mit dem Tiefsten und Edelsten zu tun hat, was es im Bereich des geistigen Seins gibt: mit der Religion" 1 0 8 . Aus diesem Grunde wird es immer ihr Anliegen sein, „die einzelnen Vorstellungen und Ideen, die Bräuche u n d Gemeinschaftsformen, die sie erschließt und erforscht, in den Zusammenhang zu setzen, in dem sie allein Leben haben: in Verbindung zu setzen und zu zeigen mit dem Geist der betreffenden Religion, mit der Grundintention, die sie beseelt, der schöpferischen, religiösen Intuition, aus der sie stammen" 1 0 9 . Das religiöse Erleben, die religiöse Erfahrung schafft sich in der Religiosität ihren Ausdruck, die Religiosität als Kategorie des Lebens aber bildet die Welt der Religion. Deshalb ist die Religion eine generelle Erscheinung, 1 1 0 die Religionen aber historische Erscheinungen 1 1 1 . Sie legen gleichsam Zeugnis ab von der Welt der Religion: „Bestimmte 107 108

Wach, „Sinn und Aufgabe", S. 135 ebda, S. 133

109

ebda, S. 135

110

Wach, „Ein Meisterstück", Sp. 20: „Wenn man heute vielfach überhaupt nicht mehr von Religion als einer generellen Erscheinung sprechen will, . . ., so mag das schematisch diskutabel sein, obgleich ich diese Betrachtungsweise ablehnen

164

Entwicklung, Vertiefung und Uberwindung der Religionswissenschaft J . Wachs

Erscheinungen, denen wir innerhalb der Geschichte immer wieder begegnen, sind als Ausdruck einer primär-religiösen Verfassung anzusprechen", weshalb eine „Abgrenzung einer eigentümlichen Provinz oder Sphäre im Bereich des subjektiven und des objektiven Geistes als ,Welt der Religion' auf empirischer B a s i s " 1 1 2 möglich ist. D a s ist für Wach die große Tat der Lebensphilosophie, „die Gesamtentwicklung des Geistes" nicht mehr „als eine große, stetig sich aufwärtsbewegende Evolutionslinie zu begreifen", sondern „anstelle der ,Eingleisigkeit' eine Kontinuität in mehreren Strängen treten" zu lassen, „die untereinander wohl Berührungen und Überschneidungen aufweisen" können, „ d i e aber ohne Ausnahme ihren Ansatz unmittelbar in der Tiefe der Menschennatur besitzen" 1 1 3 . Damit sind die verschiedenen, im Grunde nicht kreuzungsfähigen Welten des Geistes mit dem Mensch-Sein des Menschen gegeben, haben dort ihren Ursprung und nehmen von da ihre Entwicklung. Ähnlich wie van der Leeuw, der gleichfalls alle religionswissenschaftlichen Theorien, die nach dem Ursprung der Religion fragen, ablehnt 1 1 4 , verlegt auch Wach diese Frage nur auf eine andere Ebene und sucht sie aus der Psychologie zu beantworten. Der religiösen Urdisposition des Menschen nämlich entspricht ein religiöses Urerlebnis, ähnlich wiederum wie bei van der L e e u w 1 1 5 . Die Mannigfaltigkeit seiner Ausgestaltungen bildet dann die Welt der Religion, in dem Sinn, daß diese durch die, dem religiösen Erleben entspringende, Religiosität gestaltet wird. So kann Wach sagen, daß die Welt der Religion „als eigentümliche Gestaltung des Lebens zu begreifen — in seiner Besonderung als religiöses L e b e n " 1 1 6 zu erfassen würde. . . " In „ T y p e s " , S. 31, spricht sich Wach später für das Sein der Religion als „ D i n g sui generis" aus. 111

In ihnen äußert sich ein bestimmtes Lebensgefühl (S. Wach Artikel „Religionsp h i l o s o p h i e " in R G G 2 Bd. IV, Sp. 1915)

112

Wach, „Bemerkungen z u " , S. 167

113

Wach, „ D i e Typenlehre", S. 10

114

van der Leeuw, „Phänomenologie", S. VI

115

ebda, S. 759 heißt es: „ E i n großes System ist schließlich einem Urerlebnis entsprungen und stellt den Versuch dar, von diesem Erlebnis heraus die Welt zu beherrschen, sie sozusagen urbar zu machen, und es ist nicht die technische oder künstlerische Vollendung des Systembaus, die wirkt, sondern die Kraft dieses Erlebnisses."

116

Wach, „Religionswissenschaft", S. 23

Die Grundlegung der Religionswissenschaft

ist 1 1 7 . W i e

165

es eine Welt des Rechts, der Wirtschaft, der Kunst usw. gibt,

gibt es auch die W e l t der Religion 1 1 8 , als eines der großen Systeme der K u l t u r 1 1 9 . J a , die Religion ist „die gewaltigste und einflußreichste Kraft", die zur Sinndeutung der Geschichte 1 2 0 „ermuntert und — befähigt" 1 2 1 . Das Sein des Menschen schließt sein Angelegtsein auf Religion ein. Aber „Religion als ein innerlicher Zustand oder als ein subjektives Erlebnis kann solange keine Wirkung auf die Wirklichkeit haben, bis sie sich nicht in eine konkrete Stimmung, Atmosphäre, Haltung oder Form objektiviert h a t " 1 2 2 . S o konstituiert die religiöse Erfahrung, die Wach später als „die Erfahrung der Letzten W i r k l i c h k e i t " 1 2 3 bestimmt 1 2 4 , die Welt der Religion, indem sie sich in Haltungen, Gedanken und Handlungen konkretisiert. Deshalb ist eine der wesentlichsten Fragen der Religionsforschung: „Was wird, wenn eine Religion in die Welt tritt? Wie wirkt sich ihr Zentralgedanke in der ,Realität' aus, wie entsteht allmählich ihre historisch-gesellschaftliche Gestalt, in der sie und mit der sie auf das Leben w i r k t ? " 1 2 4 Denn in allen Äußerungen und Bezügen, „in die die Religion eingeht", kann „ v o n ihrem eigentlichen Wesen, ihrer Idee und Intention jeweils nur ein bestimmtes M a ß wirksam w e r d e n " 1 2 5 . V o n daher stellt sich die Frage, nach welchem Modell die Religion und jede konkrete Religion in ihrem historischen Sein zu denken ist. Auch hier folgt W a c h der Lebensphilosophie, die die von den jeweiligen 117

Deshalb

fordert er eine „von

der Religionsphilosophie

Lebens-

mit vorzubereitende

Theorie des religiösen Objektivationsprozesses" (ebda, S. 113) 1,8

W a c h , „Bemerkungen z u " , S. 162

119

W a c h , „Religionswissenschaft", S. 102

120

Deshalb gibt es z. B . als Religionstypen die Religion des Kriegers, des Kaufmanns, des Bauern (s. Wach, „Religionssoziologie", S. 2 8 9 , 293, 297).

121

W a c h , „ D i e Geschichtsphilosophie", S. 15

122

W a c h , „Religionssoziologie", S. 49

123

s. Kap. Das Gewinnen der N o r m aus der religiösen Erfahrung; Kitagawa kann dann im Wachschen Sinne sagen, daß „Religion allen Religionen zugrunde liegt" und als „eine bestimmte Äußerung des allgemeinen Modus der menschlichen Reaktion auf die Grundwirklichkeit angesehen" wird („Die Religionsgeschichte in Amerika", S. 2 1 9 u. 220). Damit verwirklicht er „das für alle Auffassungen der Religionsgeschichte grundlegende Prinzip von der Geschlossenheit und Autonomie der religiösen Erfahrung und ihres Gegenstandes", wie es Scheler fordert ( „ V o m Ewigen", S. 350).

124

W a c h , „ M a x W e b e r " , S. 77

125

W a c h , „Einführung in die Religionssoziologie", S. 2

12

Flasche: Joachim Wach

166

Entwicklung, Vertiefung und Uberwindung der Religionswissenschaft J. Wachs

kategorien gebildeten Welten als Organismen denkt. Freilich ist es nicht mehr der Universalorganismus „Menschheit", wie bei Hardy 126 , hinter dem noch eine mechanistische Vorstellung steht, indem der Organismus als eine Addition einer Menge von Zellen verstanden wird 127 , sondern der vor allem von Simmel für die Geisteswissenschaften fruchtbar gemachte biologisch gedachte Organismus, der das Leben (auch der einzelnen Welten des Geistes) als organisches Ganzes faßt, dem Wach Modellcharakter abgewinnt. Das Organismusmodell ist in Wachs Ausgangspunkt angelegt: der Erfahrung, die als Erleben aus dem Leben stammt und Lebenskategorien bildet, die sich als „Lebewesen" organisch fortentwickeln. Damit ist zugleich der unabdingbar mit einem Organismusmodell verbundene Evolutionsgedanke vorgegeben, der, wie wir meinen, Wachs gesamte Religionswissenschaft bestimmt 128 . Während das Organismusmodell für die Welt der Religion in ihrer Ganzheit den zentralen Gedanken bildet, sich also die Religion organisch entwickelt, ist für die konkrete einzelne Religion der Evolutionsgedanke der bestimmendere. Denn jede Religion entwickelt sich als historische Erscheinung, in der die Religion wirksam ist, hin zu ihrem Ideal, als Glied des Gesamtorganismus Religion, und ist also anteilig angelegt auf deren höchste Vollkommenheit. Auf dem Hintergrund des lebensphilosophischen Organismusmodells, das er mit seinen erfahrungsphilosophischen Grundanschauungen verbindet, kann Wach das religionswissenschaftliche Erkenntnisverfahren folgendermaßen beschreiben: „Bei dieser Arbeit wird immer zweierlei im Auge behalten werden müssen: in der Auffassung und Deutung einer Einzelerscheinung wird man niemals absolut verfahren dürfen, auch im geistigen Organismus ist jeder Teil auf den anderen bezogen, kann jeder seinem Wesen, Sinn, Zweck und Gewicht nach nur aus der Stellung im Gesamtzusammenhang verstanden und gewertet werden, so wird hier der Blick des Forschers auch bei der Einzeldeutung nicht nur dauernd auf das Zentrum gerichtet sein müssen, sondern er wird auch dem 126

s. z. B. Hardy, „ W a s ist Religionswissenschaft?", S. 20

127

s. ebda

128

Beispielhaft deutlich wird dieser Zusammenhang in einer kurzen Passage aus Wachs „Religionssoziologie" (S. 133): „Die Pflege eines echten Erlebnisses des Heiligen, die Begünstigung der Scheu und der Ehrfurcht, der Nachdruck auf zulängliche Vorbereitung, die Disziplin von Geist und Körper durch Askese, Meditation und Einsamkeit sind von großem Wert für die Entwicklung aus den rohen Anfängen zu den höheren Formen religiösen Lebens."

Die Grundlegung der Religionswissenschaft

167

Zusammenhang und den vielleicht hypothetisch angewendeten Verbindungen der einzelnen Teile seine Aufmerksamkeit schenken müssen. Zum zweiten aber muß gefordert werden, und gegen diesen richtigen methodischen Grundsatz w i r d heute vielleicht stark gesündigt, daß der Eigengesetzlichkeit einer jeden geistigen Erscheinung Rechnung getragen w i r d . " 1 2 9 Nach W a c h besitzt die Religion als organisches Gebilde „eine deutlich autonome Entwicklung" 1 3 0 , wobei das M e h r jeder Entwicklungsstufe immer auch das W e n i g e r aller vorherigen umfaßt, diese also auch in der höchsten weiterexistieren 1 3 1 . V o n den „frühesten Regungen der Empfindung in der primitiven Welt" führen demnach „Linien hin zu der tiefen und universalen Auffassung, die uns auf den höchsten Stufen der Kultur begegnet" 1 3 2 . Dieses Modell vom organischen Wachstum der Religion — in den Religionen —, in dem sich Wach mit Tiele 1 3 3 , besonders aber mit F r i c k 1 3 4 und O t t o 1 3 5 berührt, wobei 129 130 131 132 133

134

12*

Wach, „Zur Methodologie", S. 51 Wach, „Religionssoziologie", S. 124 s. Wach, „Religionsforschung", S. 45 Wach, Artikel „Erlösung" in RGG 2 Bd. II, Sp. 280 Für Tiele („Einleitung in die Religionswissenschaft") ist „Entwicklung" „Wachstum"(S. 26), Voraussetzung dafür ist, „daß das sich Entwickelnde eine Einheit bildet" (S. 27): „Kurzum, die Hypothese der Entwicklung der Religion ruht auf der Uberzeugung von der Einheit und Selbständigkeit des religiösen Lebens in allen seinen wechselnden Gestalten" (S. 28/9). Bei Tiele liegt jedoch vordergründiger als bei Wach ein eingleisiges Entwicklungsschema zugrunde, wenn er sagt: „Mit Entwicklung der Religion ist daher nicht gemeint, daß die Religion sich hier und da in der einen oder anderen Form zeitweilig entwickelt, sondern daß die Religion im Unterschied von den Gestalten, in denen sie sich offenbart, sich in der Menschheit fortwährend entwickelt." (S. 30) Frick, „Vergleichende Religionswissenschaft", S. 14: „Religionen sind lebendige Organismen, als solche haben sie einen bestimmten Habitus, eine Physiognomie, die bis in die letzten Lebensäußerungen hineinreicht. In jedem Gliedteil offenbart sich der Charakter des Ganzen, in demselben Stück also liegen ineinander das mit anderen Gemeinsame und das Besondere. Das Besondere ist hier soviel wie das Typische eines organischen Gebildes." Und noch stärker biologisch gewendet, S. 61: „Unsere Stadien . . . Sie sind nicht geschichtliche Perioden in einer feststehenden Reihenfolge. Sie verhalten sich vielmehr dazu so wie die morphologischen Stadien im Wachstum einer Pflanze zu den Jahreszeiten. Saftbildung, Blattbildung, Blütenbildung, Fruchtbildung treten bei Hunderten von Pflanzen auf. Ihre Reihenfolge, Dauer und Eigenart gehören jedoch zu den Besonder-

168

Entwicklung, Vertiefung und Uberwindung der Religionswissenschaft J. Wachs

er sich auf letzteren häufig beruft, soll das kausalmechanistische Evolutionsschema überwinden helfen, da es sich in der Welt der Religion nicht um eine bloß kausal bedingte Folge verschiedener Zustände handelt, sondern um eine stetige Veränderung der Zustände eines Lebendigen. Die Religionswissenschaft darf den Gesamtverlauf „nicht mehr in einfachem, eingleisigem Entwicklungszug" denken, „in kontinuierlicher Evolution, aufwärts v o m Niedersten zum Höchsten, sondern sie rechnet mit Sprüngen und Schüben, mit Rückentwicklungen und Stillstand" 1 3 6 , und auch die „genaueste Beobachtung und Untersuchung der Anfänge, Wurzeln oder K e i m e einer Erscheinung" brauchen „keineswegs den Schlüssel für das Verständnis ihrer weiteren Entwicklung,

ihrer höheren Formen zu lie-

f e r n " 1 3 7 . Vielmehr gilt es, das Treibende im Ganzen aufzuspüren, denn jeder organische Entwicklungsprozeß ist letztlich auf ein Endziel angelegt. W e n n Wach ursprünglich jedes organische Entwicklungsschema abl e h n t 1 3 8 , so nicht wegen seines evolutionistischen, sondern wegen seines konstruktiven Charakters. Denn er ist — wie Simmel — der Überzeugung, daß sich in der W e l t der Religion die Idee als Lebenskategorie, die ja dieselbe Bewegtheitsform wie das Leben haben muß, organisch entwickelt.

135

136 137 138

heiten der einzelnen Art. Etwas Allgemeingültiges läßt sich für Exemplare nur derselben Art sagen, aber nicht für die Pflanzen überhaupt." Otto, „Das Gesetz", findet die „Konvergenz der Typen" z. B. „in der Entwicklungsgeschichte der Lebewesen. Typen sehr verschiedener Gattung und Klassen von Pflanzen oder Tieren können gelegentlich Abwandlungsprozesse durchmachen, infolge deren sie nicht nur die Ähnlichkeiten und Analogien überhaupt zeigen, die sie als Äußerungen des innerlich einheitlichen Lebensprinzipes so schon an sich tragen, sondern auch sich einander an sich steigender Homologie an Gestalt und Funktion immer mehr nähern und schließlich in Endformen ausgehen von überraschenden Ubereinstimmungen." (S. 150) So kann er weiter sagen (S. 151): „.Religion' gestaltet sich geschichtlich in .Religionen', die untereinander so einheitlich aber auch so individuell besondert sind wie dort. Ihre generische Einheitlichkeit schließt aber, wie bei allen anderen Anlagen des menschlichen Geistes auch, die spezifische Sondergestaltung nicht aus sondern ein.", und etwas weiter: „Denn wie auf dem Gebiete organischer Entwicklung Konvergenzen der Typen niemals zu einer wirklichen Identität im Sinne wirklicher systematischer Einheit führen, so auch nicht auf dem Gebiet der Religionsentwicklung. " Wach, „Und die Religionsgeschichte?", S. 487 Wach, „Jakob Burckhardt", S. 99 s. Wach, „Religionswissenschaft", S. 73ff.

\

Die Grundlegung der Religionswissenschaft

169

Ihre unterschiedlichen Vollkommenheitsstufen lassen sich gerade deshalb in der Geschichte aufsuchen, womit gegenüber dem Konstruktionsprinzip die empirische Basis einer solchen Stufentheorie gegeben sein soll. Das ist gemeint, wenn Wach sagt: „Mittelpunkt und Einheit der Entwicklungslinien und -kreise sind der Forschung in den einzelnen Religionen und Religionskreisen gegeben und sonst nirgends." 1 3 9 Dieser „idealistische" Evolutionismus zieht sich durch sein gesamtes Werk und läßt sich auch rein sprachlich festmachen 1 4 0 . Weil die religiöse Erfahrung nur, indem sie sich äußert, auf das Leben wirkt, sie sich also als Idee Ausdruck verschaffen muß, spielt für die Entwicklung der Religion die religiöse Persönlichkeit die entscheidende R o l l e 1 4 1 : „ S o sind die Religionen Schöpfungen einzelner Menschen und einzelner Augenblicke. Von einem schöpferischen Zentrum breiten sie sich strahlenweise a u s . " 1 4 2 Die Geschichte der Religion und die der einzelnen Religionen ist bei Wach letztlich die fortschreitende Entwicklung der Idee. Indem sich Idee und Wirklichkeit in einem je und je bestimmten Maße decken, haben die Tatsachen teil an der Gültigkeit der Idee. Mit dieser Art Panlogismus werden auf empirischer Basis Normen aus der Geschichte gewonnen, was — wie wir meinen, später zwangsläufig — zu einer idealistischen Wertung der Religionen führt 1 4 3 . Aufgrund dieses Verhältnisses von Idee und Wirklichkeit stehen alle historischen Religionen in der Spannung von dem, was sie sind, um dem, was sie sein sollen. Die religiösen Gemeinschaften sind deshalb bemüht, „ihr religiöses Erlebnis in immer besseren und vollkommeneren Formen auszudrücken" 1 4 4 . D e r mit der Erfahrungsphilosophie gekoppelte lebens139

ebda, S. 83/4

140

So z. B . in fast allen RGG-Artikeln, wenn er von „ S t u f e n " , „höherer und höchster

Religiosität",

„Vorstufe",

„Entwicklung",

„Vervollkommnung",

„ V o l l k o m m e n h e i t " usw. spricht. Bes. a. die „Religionssoziologie" und die „ R e ligionsforschung" sind von diesen sprachlichen Evolutionismen 141

durchzogen.

A u c h hier ist Wach wieder in der Nähe Tieles, der in der „Einleitung" (S. 218) sagt: „ I n der Religion nicht nur, sondern auch auf anderen geistigen Gebieten mehr, als man denkt, aber in der Religion vor allem ist die Macht der Persönlichkeit der kräftigste Faktor der Entwicklung."

142

Wach, „ J a k o b Burckhardt", S. 102

143

Hier liegt vermutlich der letztlich „heilsgeschichtliche A n s a t z " Wachs beschlossen.

144

s. Wach, „ T h e Comparative S t u d y " , S. 121 (in der „Religionsforschung" sehr unklar übersetzt)

170

Entwicklung, Vertiefung und Uberwindung der Religionswissenschaft]. Wachs

philosophische Ansatz von der fortschreitenden Idee in der ihr zugehörigen Welt, die sie erst freigesetzt hat, ermöglicht Wach seine Scheidung von Idee und Geist auch der einzelnen Religion, die in sich ein geschlossenes organisches System bildet und sich nach ihrer aus der Idee herleitbaren Eigengesetzlichkeit entwickelt. 1 4 5 Deshalb ist Wesensbestimmung einer konkreten Religion die Feststellung ihres Lebensmittelpunktes, und „es ist nicht zu billigen, wenn dieser Ausdruck auch auf die Herausarbeitung der wichtigsten historischen Entwicklungslinien oder einzelner charakteristischer Merkmale angewendet wird. Auch, um diese Mißverständnisse völlig auszuschließen, wäre vielleicht zu empfehlen, statt vom Wesen lieber getrennt v o m ,Geist' und von der ,Idee' der Erscheinung zu sprechen." 1 4 6 Während der Geist einer Religion 1 4 7 gleichsam den Verwirklichungsgrad ihrer Idee angibt, ist die Idee das eigentlich Lebendige, Organische, mit Eigengesetzlichkeit Behaftete 1 4 8 , das nicht nur den „Schlüssel zum Verständnis aller Einzelzüge" in sich trägt 1 4 9 , sondern auf das sich die betreffende Religion auch hinentwickelt. D i e Idee ist somit zugleich etwas Vorgegebenes 1 5 0 , als auch ideale Zielvorstellung: „ D i e religiöse Idee nimmt von H a u s e aus noch weniger Bezug auf die ,reale' Verfassung, sie ist — ideale — Forderung. Die Ausbildung und Weiterführung der in einer religiösen Ur-Konzeption angedeuteten Ideen, die relativ unbekümmert um die realiter vorhandene Verfassung vor sich gehen kann, läßt darum sehr viel Möglichkeiten offen; die Weiterbildung, Ausführung und Systemati145

Diese Scheidung ist in Wachs hermeneutischem Ansatz angelegt: Das Einzelne kann nur aus der Kenntnis des Ganzen verstanden werden, das wiederum nur über das Einzelne zugänglich ist. (s. z. B . „ Z u r Methodologie", S. 52; „Sinn und A u f g a b e " , S. 140)

146 147

Wach, „Religionswissenschaft", S. 49 Diese Begriffsscheidung gelingt Wach (nicht nur später) nicht immer, vor allem dann nicht, wenn er sich an O t t o anlehnt, der unter „dem eigenen inneren Lebensprinzip" einer Religion „ihren besonderen G e i s t " versteht ( O t t o , „ D a s G e s e t z " , S. 154); s. z. B . Wach, „Erlösungsgedanke", S. 41; „ Z u r Methodolog i e " , S. 47; „Sinn und A u f g a b e " , S. 140; „ E i n Meisterstück", Sp. 22; selbst in der „Religionswissenschaft" (S. 90/1) findet sich einmal die Vermengung beider Begriffe.

148

s. Wach, „Religionswissenschaft", S. 49/50

149

Klimkeit, a. a. O . , S. 225

150

Wach, „ I d e e und Realität", S. 337: „ . . . Ubergang der Idee in die historische Realität . . . "

Die Grundlegung der Religionswissenschaft

171

sierung solcher Ideen pflegt das Werk zahlreicher Individuen, vieler Generationen zu sein." 151 Die Idee also ist das zu erkennen gesuchte „Treibende im Ganzen" 152 , das mit dem von Wach im „Erlösungsgedanken" geprägten „Lebensideal" 153 korrespondiert, und das „jede Zeit . . ., jede Kultur und jede Gemeinschaft einmal mit dem höchsten ihr möglichen Aufwand an Wahrhaftigkeit, Treue, Leidenschaft und Bewußtsein . . . auszusprechen"154 imstande sein muß. Bei der Erfassung dieser eine konkrete Religion treibenden Idee geht es „ohne hypothetische Konstruktion"155 nicht ab, wodurch, wie Wach selbst sagt, „streng genommen, die empirische Forschung überschritten" 156 wird. Erfaßt werden kann diese Idee, wie schon angedeutet, nur aus dem Geist der betreffenden Religion — besser, durch ihn hindurch. Denn durch die Scheidung von Geist und „der als Norm fungierenden Idee" 157 tritt für den Forscher „die Idee einer Religion und ihre Geschichte" auseinander 158 . Es ist nach Wach die „Haltung, worin wir den ,Geist' der Religion finden, der die Anwendung von Prinzipien, Vorstellungen, Normen und Regeln auf aktuelles Verhalten bewirkt, bestimmt und reguliert"159. Unter „Haltung" versteht er die Konkretisierung der Idee in der Geschichte: „Der ,Geist' einer Erscheinung . . . muß als der Inbegriff ihres (der Idee, der Verf.) objektiven Seins mit Hilfe der gegenständlichen Deutungsweise aufgefaßt werden" 160 , wobei zu beachten ist, daß die historische Entwicklung immer nur einzelne der in der Idee angelegten Möglichkeiten reali151

ebda, S. 350; s. a. Wach, „Mahäyäna", S. 36: „Es gilt auseinanderzuhalten die Grundauffassung, die hier überall meist sehr alt ist, und die jeweilige dogmatische Ausgestaltung in Schulen, Sekten und Zweigen, die die einzelnen Lehren entwickelt und mit der Zeit ausgestaltet, verfeinert oder vergröbert. Es handelt sich dabei oft nur um die letzte Konsequenz, die gezogen wird, an der wir dann das erkennen, was der Anlage nach alles bereits in den Ursprüngen vorhanden war."

152

Wach, „Religionswissenschaft", S. 53

153

Wach, „Erlösungsgedanke", S. 10; s. a. „Religionswissenschaft", S. 49

154

Wach, „Zur Methodologie", S. 47

155

Wie weit dieses Vorgehen führen kann, zeigt sich in Wachs „Mahäyäna", wo er (S. 37) das „Zentralerlebnis des M . " als „Erfahrnis, daß (ein) Gott ist" faßt.

156

Wach, „Religionswissenschaft", S. 56

157

ebda, S. 50

158

enda, S. 50

159

Wach, „Religionssoziologie", S. 50

160

Wach, „Religionswissenschaft", S. 51

172

E n t w i c k l u n g , Vertiefung und Überwindung der Religionswissenschaft J . Wachs

sieren kann, also auch nur diese sich im Geist einer Religion als wirksam erweisen. 161 In den lebendigen Ausdrucksformen einer Religion äußert sich demnach ihr Geist, „daraus muß man ihn zu fassen suchen" 1 6 2 . Dabei wird der Maßstab „nicht der Selbstanspruch sein können, sondern für den immanenten Standpunkt werden es die sich selbst beglaubigenden Instanzen und Garanten der Rechtgläubigkeit sein, für den externen wird der historischkritische Sinn diesen Maßstab abgeben müssen" 153 . Der Geist einer Religion ist deshalb nicht erfaßbar „auf dem Wege der einfachen Induktion . . ., sondern hier müssen sich wieder einmal die vorausgreifende intuitive 164 Erfassung des Ganzen und das Verstehen des Einzelnen, der Teile, wechselseitig ergänzen" 165 . Jede Erscheinungsform trägt mit ihrem Hindeutungswert so nicht nur zum Erweis des Geistes der Ausdrucksgesamtheit einer Religion bei, sondern steht auch immer in einem besonderen Verhältnis zu deren „Zentral-Idee". Freilich dürfen Endlichkeit und Relativität der Form(en) und des in ihnen sich gestaltenden Geistes nicht übersehen, aber zugleich nicht „für ein Letztes" genommen werden, denn sie wollen „ja nur etwas aussprechen", „das sich dieser Bannung durch den Ausdruck immer wieder entzieht" 1 6 6 . Im Grunde wirkt in all den endlichen Äußerungen des von der Idee als treibenden Prinzip gestalteten Geistes einer Religion die Religion, die als lebensgestaltende Kategorie der Religiosität entspringt, die wiederum auf einer Ur-Disposition des Menschen beruht und deshalb ihre eigengesetzliche Welt bilden kann, wodurch religiöses Apriori und geschichtliche Entwicklung in Einklang gebracht sind, und zugleich ein empirischer Ausgangspunkt der Religionswissenschaft gewährleistet erscheint. Hinter diesem Versuch, die Religionswissenschaft so an der Empirie festzumachen, steht bei Wach als ihre eigentliche und letzte Aufgabe: Das Wesen der Religion zu bestimmen. Freilich meint Wach, wie sich zeigen wird, mit „Wesen" nicht wirklich „Essentia", sondern das „Treibende im Ganzen (der Religion)", das religiöse Erfahrung eigentlich Begründende und Bestimmende, und damit auch einen eigentümlichen Bewußtseinszu-

161

s. W a c h , „Idee und Realität", S. 3 4 9 ; s. a. „Mahayana", S. 18

162

W a c h , „Religionswissenschaft", S. 161

163

W a c h , „Idee und Realität", S. 363

164

auch das ist typisch für seinen erfahrungsphilosophischen Ansatz.

165

W a c h , „Religionswissenschaft", S. 51

166

W a c h , „ D a s religiöse Gefühl", S. 26

Die Grundlegung der Religionswissenschaft

173

stand, den es in seiner Eigenart gegenüber anderen Zuständen zu kennzeichnen und zu verstehen gilt, eben „the inner grasp of the religion itself" 1 6 7 , 1 6 8 .

c) Religionswissenschaft

fragt nach dem Wesen der

Religion

Ursprünglich weist Wach die Frage nach dem Wesen der Religion als für die Religionswissenschaft illegitim zurück, zumindest darf sie keinesfalls am Anfang ihrer Arbeit stehen. Er sagt: „Wir sind der Überzeugung, daß die unglückliche, in dieser Form von Schleiermacher stammende Frage nach dem Wesen der Religion bis jetzt ein Hindernis für die Ausbildung einer freien, unvoreingenommenen, streng empirischen Religionswissenschaft gewesen ist. Sie wurde nämlich nicht nur als das, was sie ist, ein religionsphilosophisches Problem, aufgeworfen, sondern ist auch in die eigentliche Religionswissenschaft eingedrungen und hat dort mehr Verwirrung als Nutzen gestiftet. Sie gehört aber in die Religionswissenschaft nicht hinein, sondern ist ausschließlich von normativen und philosophischen Gesichtspunkten aus zu untersuchen. Die Frage nach dem Wesen der Religion ist weder am Anfang noch am Ende der religionswissenschaftlichen Arbeit von ihr zu beantworten. Das Resultat der Arbeit der Religionswissenschaft kann die religionsphilosophische Lösung bestätigen oder desavouieren, von sich aus vermag diese Forschungsrichtung niemals zu dem besagten Problem Stellung zu nehmen." 1 6 9 Wach wendet sich vor allem gegen die beiden bis zu seiner Zeit hauptsächlich geübten Verfahren der Wesenbestimmung der Religion, einmal gegen das vergleichende Subtraktionsverfahren170, in dem alle Verschiedenheiten weggelassen werden und auf diesem Wege das allen Religionen Gemeinsame zum Wesen der Religion erhoben wird 1 7 1 , weil es „niemals zu dem gewünschten ,Apriori' führen kann" 1 7 2 . Zum anderen wendet er sich 167 168

W a c h , „ T h e Interpretation of Sacred B o o k s " , S. 59 In diesem Wachschen Sinne wird in der weiteren Darstellung seiner Religionswissenschaft der Begriff „ W e s e n " benutzt.

169 170

W a c h , „Religionswissenschaft", S. 37/8 Das für ihn andererseits „im Rahmen der Religionswissenschaft als ,Systematik' nicht nur zulässig, sondern sogar notwendig ist" (ebda, S. 40).

171

was bes. die religionsgeschichtliche Schule versucht hat

172

W a c h , „Religionswissenschaft", S. 40

174

Entwicklung, Vertiefung und Uberwindung der Religionswissenschaft J . Wachs

gegen jede Art, das Wesen der Religion erfassen zu wollen durch einen „ A u s g a n g von einem auf unmittelbare, jedenfalls nicht erfahrungsmäßigaposteriorische Weise gefundenen Begriff der Religion" 1 7 3 . Den hierfür typischen Methoden, der deduktiven, apriorischen und normativen 1 7 4 , hält er vor: „ N i c h t die empirischen Religionen bilden das Induktions-Material, aus dem der Religionsbegriff abstrahiert wird, sondern an diesem wird, umgekehrt, gemessen, was Religion ist und was nicht." 1 7 5 Wach scheint jedoch auch hier schon die Wesensfrage nicht grundsätzlich ablehnen zu wollen, sondern möchte sie nur in anderem Zusammenhang und von einer anderen Basis aus gestellt wissen. Das zeigt sich, wenn er sagt, daß „das Bedürfnis nach einer mehr oder weniger einheitlichen Gesamtauffassung der Welt der Religion sich immer wieder r e g e n " 1 7 6 wird. Deshalb hält er bereits in der „Religionswissenschaft", von der Scheidung Geist — Idee herkommend und wahrscheinlich in Anlehnung an Troeltsch, dem er allerdings in dessen Synthese die Vermengung von dogmatischnormativen mit historischen Gesichtspunkten vorwirft 1 7 7 , „die Frage nach dem Wesen einer bestimmten Religion" 1 7 8 für durchaus angebracht. Denn „sie ist von eminent praktischer Bedeutung für die religionswissenschaftliche Forschungsarbeit. In der durch sie bezeichneten Charakterisierung wird die Arbeit des Religionsforschers stets zu gipfeln haben." 1 7 9 Grundsätzlich aber ist Wach in der „Religionswissenschaft" der Meinung, daß „die Frage nach dem Wesen, Ursprung und Zweck der Religion 1 8 0 . . . die Religionswissenschaft als solche nichts" 1 8 1 angeht. Doch in der Forderung nach einer Typologie als höchstem Ziel der Religionswissenschaft 1 8 2 , wobei es „sich nicht um philosophische Wesensbe173 174

ebda, S. 41 s. ebda, S. 42; hier wendet er sich noch gegen die Möglichkeit einer Verbindung v o n normativer und induktiver Methode.

175

ebda, S. 42

176

Wach, Artikel „Religionsphilosophie" in R G G 2 Bd. IV, Sp. 1921

177

Wach, „Religionswissenschaft", S. 48

178

ebda, S. 45; s. a. „ Z u r Methodologie", S. 50; „ U n d die Religionsgeschichte?",

179

ebda, S. 45

180

selbst hier gebraucht er den Singular!

S. 490

181

182

ebda, S. 59; ebenso wie die Ursprungsfrage, s. ebda: „ D i e Religionswissenschaft fragt auch nicht nach dem Wesen der Religion im Sinne einer Ursprungsfrage." s. ebda, S. 176ff. u. 186

Die Grundlegung der Religionswissenschaft

175

Stimmung auf apriorischem oder deduktivem Wege" handeln soll, „sondern um eine Art der Abstraktion" 1 8 3 , ist die spätere Änderung dieser Einstellung bereits angelegt. Besonders unter dem Einfluß Ottos, aber auch Fricks, der die „Religionstypologie" als „Wissenschaft vom empirischen Wesen der Religion" 1 8 4 bezeichnet, wendet Wach sich später immer mehr der Wesensfrage zu. Das liegt einmal in seinem lebensphilosophisch geprägten, erfahrungsphilosophischen Ansatz und dem von hier bestimmten Empirie-Begriff, 185 zum anderen in dem daraus folgenden hermeneutischen Selbstverständnis, das das religiöse Apriori als das nicht deduktiv ableitbare Prinzip der religiösen Erfahrung voraussetzt, wodurch die Religionswissenschaft erst zu einem prinzipiell religiös begründeten Unternehmen wird. In diesen Zusammenhang gehört weiterhin, daß, herkommend von der Annahme einer Welt der Religion, die Religion als ein Wirkungsprinzip in den Religionen gedacht ist, weshalb auch das Wesen dieses Wirkungsprinzips bestimmbar sein muß. Sehr bald also tritt bei Wach die Frage nach dem Wesen der Religion, meistens in Verbindung mit der Frage nach dem Wesen der religiösen Erfahrung, in den Mittelpunkt seiner religionswissenschaftlichen Überlegungen. Das ereignet sich unter dem Gesichtspunkt, daß er die Beantwortung dieser Fragen als Voraussetzung aller religionswissenschaftlichen Arbeit ansieht. Daß Wach Religion für etwas Seiendes und damit Bestimmbares ansieht, geht etwa aus folgender Bemerkung hervor: „Nein, wir glauben nicht, daß die Religion durch etwas anderes ersetzbar ist." 1 8 6 Bereits 1929 folgert er aus dem Vorhandensein von Grundformen des religiösen Erlebens 1 8 7 : „Die Religionswissenschaft wird ihren Begriff von Religion und religiösen Formen so reich wie möglich gestalten und deshalb die historischen Erscheinungen heranzuziehen haben, soweit sie irgend erreichbar sind, um ihr Wesen so rein und klar als möglich aufzufassen." 1 8 8 Und 183 184 185

186 187 188

ebda, S. 178 Frick, „Vergleichende Religionswissenschaft", S. 10 Der auf der Gleichartigkeit, bzw. „Gleichgesetzigkeit" der Menschennatur und Geistesentwicklung beruht, (s. z. B. a. Wach, „Religionswissenschaft", S. 146/7) Wach, „Das religiöse Gefühl", S. 33 Wach, „ U n d die Religionsgeschichte?", S. 488 ebda, S. 489

176

Entwicklung, Vertiefung und Uberwindung der Religionswissenschaft]. Wachs

schon in der „Einführung in die Religionssoziologie" 189 ist nur von der Religion die Rede. Die Religionssoziologie hat „ihre ganz eigentümliche aus dem Wesen ihres Gegenstandes, der Religion, folgende Problematik" 190 . Sie hat es mit „vergesellschafteter Religion" zu tun, was „gewiß in mancher Hinsicht in erhöhtem Maß ein Kompromiß, eine Unvollkommenheit ist" 1 9 1 . Wenig später geht es Wach darum, die Religion aus, „ihrem geschichtlichen Leben" 1 9 2 herauszulösen, um durch die Mannigfaltigkeiten ihrer Formen hindurch nicht nur das Beständige, sondern auch ihr Wesen zu fassen. In der „Religionssoziologie" schließlich hält er es für „außerordentlich wünschenswert und notwendig, immer wieder über das Wesen der Religion . . . nachzudenken" 193 , nachdem er sich zu Beginn gefragt hatte, „worin finden wir das Wesen der Religion?" 1 9 4 . Dort „ d e f i n i e r t " er „Religion als solche . . . als Verehrung" 1 9 5 . Bereits 1936 hatte Wach ja „worship als das Herzstück aller Religion" 1 9 6 erkannt. Diese Linie setzt sich folgerichtig in der „Vergleichenden Religionsforschung" fort, wenn er sagt: „Im Gegensatz zu der verbreiteten Vorliebe für die Frage nach der Funktion der Religion, ist es notwendig, die Frage nach dem Wesen der Religion zu betonen." 1 9 7 Er will sie lösen „im Zusammenhang mit der gesamten religiösen Erfahrung der Menschheit" 198 , wobei er Otto und dessen religionsphilosophischen Ausführungen im „Heiligen" 1 9 9 in weiten Teilen folgt. Das Wesen der Religion korrespondiert auch hier mit dem Wesen der religiösen Erfahrung 200 und erhält dadurch dann seine theozentrische Bestimmung 201 .

189 1 9 3 1 190

Wach, „Einführung in die Religionssoziologie", S. X V

191

ebda, S. 2

192

Wach, „ D e r Begriff des Klassischen", S. 92

193

Wach, „Religionssoziologie", S. 429

194

ebda, S. 20

195

ebda, S. 28; religiöses Erleben wird als „Erleben des Heiligen definiert" (S. 20/1).

196

Wach, „Eigenart und Bedeutung", S. 378

197

Wach, „Religionsforschung", S. 53

198

ebda, S. 54

199

O t t o , „ D a s Heilige", M917

200

s. a. Wach, „ Ü b e r das Lehren", S. 118

201

s. u. K a p . D a s Gewinnen der N o r m aus der religiösen Erfahrung

Die Einteilung der Religionswissenschaft

177

So mündet in diesem Bereich die Religionswissenschaft Wachs, wie von ihrem Ansatz her zu erwarten, in der Religionsphilosophie. Die Wesensbestimmungen der religiösen Erfahrung wie die der Religion aber werden im Grunde aus der eigenen Erfahrung und der eigenen Religion gewonnen, und ihnen wird durch Abstraktion ein gewisser Gültigkeitscharakter verliehen. Das ist im letzten bei jeder religionsphilosphischen Arbeit der Fall, denn sie wird ihren, mit der Religionswissenschaft gemeinsamen, Inhalt letztlich immer auf „angestammte" Vorstellungen reduzieren und von dorther ihre Kategorien gewinnen. O b sie dann wirklich der Religionswissenschaft die, auch von Wach geforderten, „Maßstäbe" 2 0 2 an die Hand zu geben vermag, soll an dieser Stelle nur als Frage stehen gelassen werden.

Die Einteilung der Religionswissenschaft Da es Wachs Ziel war, der Religionswissenschaft ihre Grundlegung als Geisteswissenschaft zu geben, wird auch die Einteilung der Religionswissenschaft von seinen hermeneu tischen Überlegungen bestimmt. Dabei ist er in seinen späteren Werken eigentlich niemals über die in seiner „Religionswissenschaft" erörterten Grundfragen der „allgemeinen Religionswissenschaft", die für ihn eine Art Oberbegriff bildet, hinausgegangen, weshalb wir uns in weiten Bereichen an das dort Ausgeführte halten können. Als Geisteswissenschaft ist die Religionswissenschaft eine völlig selbständige Wissenschaft, da sie es mit der Welt der Religion in ihrer Eigengesetzlichkeit zu tun hat, dergemäß sie zu bearbeiten und zu verstehen ist 203 . Deshalb ist sie im lebensphilosophischen, aber auch in Wachs erfahrungsphilosophischen Sinne als rein empirische Wissenschaft zu begreifen. „Die ,Welt der Religion' ist das Feld" ihrer Forschung, und sie „begreift diese ,Welt' als eine eigentümliche Gestaltung des Lebens mit eigenen Gesetzen und Prinzipien der Bildung" 204 . Dementsprechend formuliert Wach sein Programm: „Den Gegenstand der Religionswissenschaft 202

s. z. B. Wach, „Sinn und Aufgabe", S. 145 203 Deshalb auch seine wiederholten Forderungen nach Eingliederung in die philosophische Fakultät (s. Wach, „Religionswissenschaft", S. 12 Anm. 4; S. 13; S. 60). 204 Wach, „Religionswissenschaft", S. 21/2

178

Entwicklung, Vertiefung und Überwindung der Religionswissenschaft J. Wachs

bildet die Mannigfaltigkeit der empirischen Religionen. Sie gilt es zu erforschen, z u verstehen und darzustellen. U n d zwar wesentlich nach zwei Seiten hin: nach ihrer Entwicklung und nach ihrem Sein, ,längsschnittmäßig' u n d ,querschnittmäßig'. A l s o eine historische und eine systematische U n t e r s u c h u n g der Religionen ist Aufgabe der allgemeinen Religionswissenschaft."205 D a s Verhältnis dieser beiden Teilaufgaben präzisiert er später s o : „ D i e A u f f a s s u n g , Bearbeitung und Deutung der .historischen' Daten ist die A u f g a b e der Religionswissenschaft. Diesem Geschäft dienen alle Methoden und Verfahrensweisen, die in ihr ausgebildet worden sind und zur Verwendung

gelangen.

Historische

und systematische Bemühungen

gehen

z u s a m m e n , um dem Ziel der Religionswissenschaft näher zu k o m m e n : die Religionen zu v e r s t e h e n . " 2 0 6 Bei ihrer Arbeit ist die Religionswissenschaft auf die Zusammenarbeit mit Nachbardisziplinen und das von diesen bereitgestellte Material zum großen Teil angewiesen 2 0 7 . D i e Religionswissenschaft ist damit f ü r Wach „eine Wissenschaft zweiter P o t e n z " , wie es für Simmel die Soziologie ist. Simmel faßt diesen U m s t a n d einmal s o : „ E i n besonderes Moment kommt noch f ü r die Sociologie hinzu. Sie ist eine ekklektische Wissenschaft, insofern die P r o d u k t e anderer Wissenschaften ihr Material bilden. Sie verfährt mit den Ergebnissen der Geschichtsforschung der Anthropologie, der Statistik, der P s y c h o l o g i e 2 0 8 wie mit Halbprodukten; sie wendet sich nicht unmittelbar an das primitive Material, das andere Wissenschaften bearbeiten, sondern, als Wissenschaft sozusagen zweiter Potenz, schafft sie neue Synthesen aus d e m , was f ü r jene schon Synthese i s t . " 2 0 9 D e s h a l b hat die Religionswissenschaft der Vielfältigkeit der religiösen Welt R e c h n u n g zu tragen und alle Einseitigkeiten z u vermeiden: „Religionswissenschaft ist weder mit Religionsgeschichte noch mit Religionsp s y c h o l o g i e identisch. Sie ist keine rein historische Wissenschaft, denn ihr sind in hohem G r a d e systematische Interessen eigen; sie ist keineswegs einseitig auf die Untersuchung der religiösen Subjektivität, wie sie in den 205 206 207 208

209

ebda, S. 21 ebda, S. 132 s. ebda, S. 9 - 1 2 u. S. l l l f . Hier wären für die Religionswissenschaft zu ergänzen: Theologie, Philologie, Geographie, Philosophie. Simmel, „Uber sociale Differenzierung", S. 2; s. hierzu a. Wach, „Religionswissenschaft", S. l l l f .

Die Einteilung der Religionswissenschaft

179

einzelnen Religionen lebendig ist, noch einzig und allein auf die Bearbeitung der ,objektiven Religion' eingestellt. Sie bevorzugt weder die Kollektiv^ Völker-, Stamm-) und Gemeinschaftsreligiosität noch die individuelle Frömmigkeit als Gegenstand ihrer Untersuchung grundsätzlich." 210 Denn ihr Ziel ist, das Wesen der, bzw. einer Religion zu ergründen, was methodisch und inhaltlich bedeutet, „daß bei unbefangener, auf empirisches Material gegründeter und dieses verwertender synthetischer' Arbeit auf drei Bestimmungen hinzuarbeiten ist: erstens auf die Herausarbeitung der historischen Entwicklung, zweitens auf das Verstehen des Geistes der Ausdrucksgesamtheit in Verbindung mit der psychologischen Ergründung der Innerlichkeit als ihres subjektiven Korrelats und drittens auf die Erkenntnis der Idee als des Treibenden im Ganzen." 2 1 1 Daraus folgt die Notwendigkeit einer Methodentrennung, die besonders aus wissenschaftsgeschichtlichen 212 und praktischen Gründen geboten scheint. Wie in jeder Geisteswissenschaft muß auch in der Religionswissenschaft nach Wach „die säuberliche methodische Trennung von religionsgeschichtlicher und systematischer Arbeit" 2 1 3 vollzogen werden: „Die allgemeine Religionswissenschaft zerfällt also in Religionsgeschichte und systematische Religionswissenschaft. Das sind die beiden Hauptdisziplinen unserer Wissenschaft." 2 1 4 Alle anderen Disziplinen, die sich mit der Welt der Religion befassen, sind diesen beiden Hauptgliedern zuzuordnen 215 . Denn die „Einteilung der allgemeinen Religionswissenschaft in Religionsgeschichte und systematische Religionswissenschaft ist erschöpfend, außer diesen beiden gibt es keine anderen religionswissenschaftlichen Disziplinen."216 Welche Aufgaben und Ziele Wach diesen beiden, wie sich zeigen wird, aufeinander angewiesenen und sich ergänzenden'Hauptdisziplinen der „allgemeinen Religionswissenschaft" zuweist, soll im Folgenden näher untersucht werden, wobei im weiteren Verlauf zu bedenken ist, daß Wach nach 210

Wach, „Religionswissenschaft", S. 22

211

ebda, S. 53

212

s. ebda, S. 165

213

ebda, S. 72

214

ebda, S. 72

215

s, ebda, S. l l l f . ; s. a. Wach, „Einführung in die Religionssoziologie", S. XIII;

„Religionssoziologie",

S.

150/1

(wo

eine ähnliche

mung vorgenommen wird wie in der „Religionswissenschaft"). 216

ebda, S. 107

Aufgabenbestim-

180

Entwicklung, Vertiefung und Uberwindung der Religionswissenschaft]. Wachs

eigener Aussage keine Methode der Religionswissenschaft geben möchte, sondern nur einige wichtige Grundprobleme systematisch erörtern will 217 .

a) Der historische Bereich der

Religionswissenschaft

Die hermeneutischen Voraussetzungen, unter denen die Religionsgeschichte als historische Disziplin steht, formuliert Wach einmal so: „Wir verstehen niemals die Geschichte, aber wir verstehen die Äußerungen, die uns als historisches Material vorliegen." 218 Deshalb wird die Religionsgeschichte „immer im engsten Zusammenhang mit der allgemeinen Kulturgeschichte stehen müssen, wenn sie nicht aus dem Zusammenhang der Wissenschaften scheiden will. Auch der spezifisch religiös Interessierte wird der empirischen historischen Wirklichkeit nicht gleichgültig gegenüberstehen dürfen: sein Schicksal läuft in ihr ab, und an ihr und in ihr wird er sich zu bewähren haben." 2 1 9 Historische Erkenntnis ist also Verstehen des Lebens aus dem Leben. Historisches Verstehen ist somit auf die Wirklichkeit gerichtet, das empirische Material der Religionsgeschichte sind die historischen Religionen, sind die empirisch in der Geschichte sich darbietenden Äußerungen der Welt der Religion. Die Aufgabe der Religionsgeschichte ist die historische Erschließung der konkreten Religionen: „Ihr Thema ist, das Werden 220 der Religionen, ihre Entwicklung zu erforschen und darzustellen." 221 Also „nicht die Entwicklung der Religion interessiert den Religionsforscher in erster Linie, sondern das Werden der Religionen" 2 2 2 . Wie die Welt der Religion ist auch die einzelne Religion, wie oben gezeigt, als Organismus gedacht. Denn der Religionsgeschichte ist, wie Wach sagt, „das Werden und Vergehen, die Blüte und der Verfall dieser vergänglichen, empirischen Erscheinungen . . . das Wichtigste" 223 . Diesem 217

s. ebda, S. 113

218

Wach, „Verstehen" II, S. 15

219

Wach, „Max Weber", S. 77/8

220

Schon im „Verstehen" III, S. 7, sagt Wach in Anlehnung an Boeckh, daß „die Bemühungen des Historikers . . . auf die Erkenntnis des Werdens gerichtet sei, er also mit Längsschnitten arbeiten werde".

221

Wach, „Religionswissenschaft", S. 72

222

ebda, S. 78

223

ebda, S. 80

D i e Einteilung der Religionswissenschaft

181

Modell gemäß sucht sie „dem Ursprung und Wachstum religiöser Ideen und Institutionen durch bestimmte Perioden geschichtlicher Entwicklung nachzuspüren und die Rolle der Kräfte abzuschätzen, mit denen die Religion gerungen hat" 2 2 4 . Mit dieser Forderung erweitert, bzw. präzisiert der späte Wach die Aufgabe der Religionsgeschichte, ähnlich wie er schon früher einmal dem historischen Bereich der Religionswissenschaft als Aufgabe zugewiesen hatte: „Das Studium der Entfaltung der religiösen Idee in die Mannigfaltigkeit ihrer empirischen Formen, der Verflechtung und Wechselwirkung dieser Formen mit den übrigen Erscheinungen der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt." 2 2 5 Religionsgeschichtliche Untersuchungen sind demnach „genetische Untersuchungen" 226 , die nur zeigen können, „was geglaubt worden ist, geglaubt wird und geglaubt werden kann, nicht, was geglaubt werden soll" 2 2 7 . Aber auch in der Religionsgeschichte geht es um Verstehen, und zwar anhand der Eigengesetzlichkeit der Welt der Religion, weil geschichtlich und „für uns intelligibel" erst das wird, was „unter Prinzipien zu bringen ist" 2 2 8 . So ist eine Religion „aus dem ihr eigenen Prinzip" 2 2 9 zu verstehen, und „es muß daher die wichtigste Aufgabe der Religionsgeschichte sein, das Werden der einzelnen Religionen zu ergründen, ihre Entwicklung als die Entfaltung des in ihnen liegenden Prinzips zu verstehen" 230 . Unter diesen Voraussetzungen unternimmt Wach eine Zweiteilung der Religionsgeschichte in „allgemeine" und „spezielle" Religionsgeschichte. 231 Die allgemeine Religionsgeschichte unterscheidet sich methodisch nicht von der speziellen. Sie hat als Aufgabe und Ziel, was eben über die Religionsgeschichte generell dargelegt wurde. Sie hat nicht die Aufgabe einer universalen Konstruktion, da diese „niemals auf empirischer Basis möglich" 2 3 2 ist, sondern soll die Entwicklung der Religionen darstellen. 224

Wach, „Religionsforschung", S. 49

225

Wach, Artikel „Religionswissenschaft", R G G 2 Bd. IV, Sp. 1957

226

Wach, „Religionswissenschaft", S. 89

227

Wach, Artikel „ E r l ö s e r " in R G G 2 Bd. II,Sp. 261

228

Wach, „Verstehen" III, S. 9

229

Wach, „Religionswissenschaft", S. 89

230

ebda, S. 85

231

Bei Frick, „Vergleichende Religionswissenschaft", S. 10, findet sich ebenfalls diese Unterscheidung, und auch hier hat die R G die „Wirklichkeit der Religion" z u m Thema.

232

13

Wach, „Religionswissenschaft", S. 76 Flasche: Joachim Wach

182

Entwicklung, Vertiefung und Überwindung der Religionswissenschaft J . Wachs

Dabei hat sie sich immer auf das jeweils „organisierende Prinzip" zu beziehen 233 und, obwohl sie selbstverständlich auch die jeweilige Vorgeschichte zu erforschen hat, 234 nicht nach dem „vermeintlichen Herkommen" zu fragen, denn jede Religion ist in gewissem Sinne ein Synkretismus, gehorcht jedoch (von einem gewissen Punkte an) ihrem eigenen Gesetz 235 . Von diesem „organisierenden Prinzip" aus hat sie „den Sinn jeder Einzelerscheinung zu ergründen" 236 , weil „die historische Würdigung (einer Religion, der Verf.) . . . auf dem Bestreben, den historischen Religionsindividualitäten gerecht zu werden" 2 3 7 , basiert. Dazu gehört als Grundlage zuerst einmal, die Sachen selbst sprechen zu lassen 238 , bevor man sie auf ihre Intention befragt. Die allgemeine Religionsgeschichte hat also die Entwicklung und Entfaltung des in den einzelnen Religionen selbst liegenden Prinzips zu betrachten239, sie hat sich nicht zu beschäftigen „mit den Anfängen der Religion im Sinne der religionsphilosophischen Ursprungsfrage", sondern mit der „Rekonstruktion des historischen Entwicklungsganges der Religionen" 240 . Dabei wird sich der Religionshistoriker — und das ist ein, zwar nur an einer Stelle expressis verbis auftauchendes, jedoch sehr zweifelhaftes Unterfangen in historischer Hinsicht — „durchaus das Recht vorbehalten" 241 , nicht „den gleichen Weg zurückzugehen, den die Entwicklung genommen (und dann selbst teilweise kanonisiert) hat", sondern „diese Entwicklung überspringend, zum Ausgang selbst zurückzugehen" 242 . In der s p e z i e l l e n Religionsgeschichte soll „eine Teilung und Zerlegung der Gesamtarbeit vorgenommen" 243 werden. Es handelt sich also um eine Untergliederung der Gesamtgeschichte nach bestimmten Gesichtspunkten, die vor allem praktischen Zwecken dienen soll 244 . 233

Wach wendet sich dabei ausdrücklich gegen alle Theorien der „Kulturwande-

234

s.'ebda, S. 79f.

r u n g " (s. ebda, S. 85). 235

s. ebda, S. 85f.

236

Wach, „Bemerkungen z u " , S. 170

237

ebda, S. 169

238

Wach, „ U n d die Religionsgeschichte?", S. 494

239

s. Wach, „Religionswissenschaft", S. 84

240

ebda, S, 78

241

„ u n d von ihm ausgiebig Gebrauch machen"

242

Wach, „ I d e e und Realität", S. 362

243

Wach, „Religionswissenschaft", S. 87

244

s. ebda, S. 88

Die Einteilung der Religionswissenschaft

183

Wach nennt fünf solcher Möglichkeiten: die formale (historisch-systematische), die lokale und temporale Einteilung, die nach Wertgesichtspunkten und die charakterisierende Einteilung, 245 eine allgemein gültige aber gibt es für ihn nicht 246 , obwohl er der letztgenannten selbst den Vorzug gibt. Die Religionsgeschichte, die nach formalen, historisch-systematischen Gesichtspunkten verfährt, verweist er in die Religionssystematik 247 , weil sie im Grunde bestrebt ist, „durch fortgesetztes Aufspüren immer neuer Z e n tren' den konkreten Fluß aufzulösen in eine Reihe von individuellen Sinneinheiten" 248 , die letztlich aber nur aus dem sie je organisierenden Prinzip zu verstehen sind. Als die einfachste und üblichste 249 bezeichnet er die lokale Einteilung nach geographischen Gesichtspunkten, die freilich jeder irgendwie gearteten Gesamtschau nicht entgegenzukommen vermag. Die temporale Einteilung hält er f ü r unfruchtbar, weil die untergliedernden Prinzipien willkürlich von außen an den Stoff herangetragen werden 250 . Die nächstfolgende Einteilung nach Wertgesichtspunkten, die „Klassifikation" 251 , pflegt nach Wach meist eine bestimmte philosophische Theorie vorauszusetzen 252 , weshalb er es für unmöglich hält 253 , „sich ihrer für die religionswissenschaftliche Arbeit zu bedienen" 254 . Für die wichtigste und für ihn einzig akzeptable hält Wach die „charakterisierende Einteilung", da sie „ihre Unterteilungen nach einem tiefer begründeten Prinzip vornimmt" 2 5 5 als alle anderen. Er unterscheidet vier Arten dieser Einteilungsweise: „ 1. eine formal-objektiv 2. eine formal-subjektiv 3. eine inhaltlich-objektiv und 4. eine inhaltlich-subjektiv charakterisierende Einteilung" 256 . 245 246 247 248 249 250 251 253

254 255

s. ebda, s. ebda, s. ebda, ebda, S. ebda, S. s. ebda,

S. 88 S. 96 ff. S. 91/2 91 93 S. 94

252 ebda, S. 94 s. ebda, S. 95 Hier scheint Wach tatsächlich der „voraussetzungslosen Wissenschaft" das Wort zu reden. Wach, „Religionswissenschaft", S. 95 256 ebda. ebda.

13»

184

Entwicklung, Vertiefung und Uberwindung der Religionswissenschaft J . Wachs

Die erste entnimmt ihr Einteilungsprinzip „der Sphäre des objektiven Ausdrucks" 2 5 7 , die zweite bezieht sich auf das „Vorwalten einer psychischen Funktion" 2 5 8 , die dritte geht „auf den Geist der Lehre, des Kultus und der Institutionen" 2 5 9 zurück, während die letzte „nach Arten der Frömmigkeit"gliedert 2 6 0 . Wach will keiner dieser vier Möglichkeiten der charakterisierenden Einteilung den Vorzug geben 261 , sondern fordert nur, daß sie dem jeweiligen Zweck angemessen und „in sich konsequent sind" 2 6 2 . Er hält jedoch die Zeit für eine wirklich sinnvolle Einteilungsarbeit der speziellen Religionsgeschichte für noch nicht gekommen 263 , vielmehr soll sich die Religionsgeschichte allgemein zuerst einmal auf Zusammenhangsforschung einstellen 264 , die historische und kulturelle Bedingtheit der Religionen ergründen, weil sie so der von ihm konzipierten systematischen Religionswissenschaft, die diese Zusammenhänge theoretisch zu erörtern hat, am besten an die Hand gehen kann 2 6 5 . Außerdem würde sie Gefahr laufen, ihre Kompetenzen zu überschreiten, denn „im Rahmen der Religionsgeschichte können jedenfalls die Aufgaben der — formalen — Systematik nicht gelöst werden" 2 6 6 . Im Grunde aber ist für Wach die Religionsgeschichte die Geschichte der Entwicklung des sensus numinis im Menschen (des Menschen), deren Äußerungen sie als empirisches Material der systematischen Religionswissenschaft vorzubereiten hat. Denn es geht letztlich immer um die Entwicklung der religiösen Idee als Movens aller religiösen Erfahrung in der Realität, die es zu erforschen und zu verstehen gilt. Die strikte methodische Trennung von historischer und systematischer Religionswissenschaft soll vor allem dazu dienen, das „Verhältnis gegenseitigen Aufeinanderweisens und Aufeinanderangewiesenseins" 267 deutlicher 257

ebda, S. 96

258 ebda. 259

ebda.

260

ebda. obwohl er (ebda, S. 89) die inhaltlich-subjektive als wünschenswert hervorhebt

261 262

ebda, S. 96

263

s. ebda, S. 97ff.

264

s. ebda, S. 100 ff.

265

s. ebda, S. 101

266

ebda, S. 166

267

ebda, S. 168

D i e Einteilung der Religionswissenschaft

185

zu machen, nicht etwa die Arbeit auseinanderzureißen, weil „theoretisch die engsten Beziehungen zwischen der historischen und systematischen Disziplin dieser wie aller Wissenschaften" 268 bestehen. Hiermit ist angedeutet, was Wach an anderer Stelle klar ausspricht: „Darüberhinaus wird die Einzelentwicklung (einer Religion, der Verf.) in einen höhren Zug hineinzustellen sein, bis mit der Frage nach der Entwicklung der Religion die religionswissenschaftliche Arbeit in die religionsphilosophische übergeht." 2 6 9

b) Der systematische Bereich der

Religionswissenschaft

In der Darstellung der Konzeption Wachs für den historischen Bereich der Religionswissenschaft wurde bereits dessen enge Verbindung zu, bzw. Angewiesenheit auf die Religionssystematik angesprochen. Während die Religionsgeschichte Längsschnitte durch die Welt der Reiigion(en) legt, arbeitet die systematische Religionswissenschaft mit Querschnitten 270 , denn den Systematiker „interessiert nicht das Werden, sondern das Gewordene" 2 7 1 , weshalb in seiner Arbeit „die Unterschiede in der Zeit aufgehoben sind" 2 7 2 . Als in jeder Beziehung verstehende Wissenschaft ist die Religionssystematik in ganz besonderem Maße auf die Hermeneutik angewiesen, wobei eine, die Identität der Menschennatur 273 umfassende, systematische Untersuchung des „,relativen Apriori' von der größten Bedeutung" sein würde 2 7 4 . Wach spürt nämlich, daß sein erfahrungsphilosophischer Ansatz seine Grenzen an, wie wir heute sagen würden, der kumulativen Tradition der je und je unterschiedlichen Kulturkreise o. ä. findet. Von daher versteht sich seine — freilich auch vor allem Diltheyschen Konzeptionen entstammende — Forderung nach einer Typologie. Denn, so sagt er, „ein 268

ebda.

269

Wach, Artikel „Religionswissenschaft" in R G G 2 Bd. IV, Sp. 1957

270

Deshalb gehören nach Wach die phänomenologischen, vergleichenden, soziologischen und psychologischen Religionsforschungen in den systematischen Bereich (s. „Religionsforschung", S. 50f.).

271

Wach, „Religionswissenschaft", S-. 177

272

ebda, S. 177

273

s. ebda, S. 145

274

ebda, S. 143

186

Entwicklung, Vertiefung und Uberwindung der Religionswissenschaft J . Wachs

wichtiges Zwischenglied zwischen der ewiggleichen Natur und den historischen Unterschieden würden die Typen zu bilden haben.", und fährt fort: „Alle Geisteswissenschaften arbeiten mit der Konstruktion solcher Typen." 2 7 5 Nur so hält Wach es für möglich, daß der „streng empirische Charakter" 2 7 6 der Religionswissenschaft gewahrt bleibt. Erst unter dieser Voraussetzung läßt sich verstehen, welche Bedeutung den Begriffen „systematisch", „Systematik" und „System" im Sinne Wachs zukommt. Systematisch heißt nämlich nicht einfach „in ein System bringen", nicht Einteilung nach Gesichtspunkten 277 , das geschieht ja bereits im historischen Bereich jeder Geisteswissenschaft, z. B. in der speziellen Religionsgeschichte 278 . Die Systematik wird vielmehr aus der Erfahrung gewonnen, letztlich intuitiv erfaßt. 2 7 9 Systematisch heißt nämlich, daß man „auf die individuelle Erscheinung in ihrem Sein resp. auf das Typische in ihr", auf „ihr Wesen" 2 8 0 reflektiert. Die systematische Religionswissenschaft geht also isolierend 281 vor, aus dem Geist und der Idee einer Religion erfaßt sie gleichsam die „spezielle Ladung" einer religiösen Erscheinung, sei sie nun subjektiver oder objektiver Art. Hat man so das Besondere der Erscheinung festgemacht, tritt ein Vergleich 282 mit ähnlichen Erscheinungen anderer Religionen hinzu, und unter Weglassung des jeweils Individuellen, wobei es „von aller Konkretisation zu abstrahieren" 283 gilt, erhält man das Gemeinsame. Erst dies Gemeinsame zeigt uns, was diese religiöse Bildung wirklich ist. Das Ziel aller Religionssystematik ist die Herausarbeitung des Typischen, ohne das das Individuelle letztlich gar nicht verstehbar ist. So hat es Wach von Simmel und Dilthey gelernt, dessen Satz er immer wieder gern zitiert 2 8 4 , daß die „Typen ja nur dazu dienen, tiefer in die Geschichte zu sehen, und zwar vom Leben aus" 2 8 5 . 275

ebda, S. 147

277

s. ebda, S. 165

276

ebda, s. 176; s. a. S. 172

278

s. o . S. 182f.

279

s. W a c h , „Religionswissenschaft", S. 156/7

280

ebda, S. 165

281

ähnlich wie die „ästhetische Würdigung der Religion" (s. Wach, „Bemerkungen z u " , S. 173)

282

s. W a c h , „Religionswissenschaft", S. 179

283

ebda, S. 178

284

s. z. B . Wach, Artikel „Typenlehre" in R G G 2 Bd. V, Sp. 1332

285

Dilthey, a. a. O . VII, S. 2 0 4 ; VIII, S. 100

Die Einteilung der Religionswissenschaft

187

Ähnlich der Religionsgeschichte unterteilt Wach die systematische Religionswissenschaft aus „arbeitstechnischen" Gründen in zwei Bereiche, die „materiale" und „formale" Systematik, „die erst die Religionswissenschaft über die rein historische Arbeit erhebt und ihr die große systematische Aufgabe zuweist, die sie, wie eine jede der Schwestergeisteswissenschaften, zu lösen hat" 2 8 6 . Diese Unterteilung und ihre Bezeichnungen übernimmt Wach wahrscheinlich von Troeltsch 287 , wie er auch später im „Verstehen" andeutet: „Man hat mit viel Recht eine Scheidung von formaler und materialer Geschichtstheorie288 vorgeschlagen." 289 Seine Religionssystematik soll ja eine Religionstheorie liefern, weshalb er diese Scheidung in der ihr angemessenen Weise auf die Welt der Religion angewendet wissen will. Denn „beide zusammen werden dem doppelten Anspruch gerecht, den wir der lebendigen und der historischen Wirklichkeit gegenüber erheben. Das Einzelne zu erfassen als das, was es ist, und das Mannigfaltige zu ordnen, ,zusammenzuschauen'." 290 Die materiale Systematik zeichnet sich dadurch aus, daß der genetische Gesichtspunkt ausgeschaltet ist 291 . Sie arbeitet unter Ausschaltung der Zeit rein querschnittmäßig, sucht also z. B. „die islamische Religion" darzustellen, was jedoch schon eine ihrer höchsten Aufgaben wäre, denn zunächst wird sie „sich damit begnügen, eine solche systematische Bearbeitung für ein Teilgebiet vorzunehmen" und dieses aus seinem „Kern 2 9 2 systematisch zu entwickeln" 293 suchen. Hierbei berührt sich die materiale Systematik eng mit der speziellen Religionsgeschichte294. Denn es geht darum, historische Erscheinungen durch die Geschichte hindurch in ihrem Sein zu erfassen. Die materiale Religionssystematik erarbeitet historische Typen 295 in ihrer jeweiligen Bedingtheit durch die Fragestellung. Sie soll empirischinduktiv verfahren und sich höchstens zur verdeutlichenden Hervorhebung 286

Wach, „Religionswissenschaft", S. 177

287

s. Troeltsch, „ H i s t o r i s m u s " , S. 26

288

Dabei ist die eine an die Geschichtsphilosophie, die andere an die Historik gewiesen.

289

Wach, „Verstehen" II, S. 85 (s. ebda, Anm. 2)

290

Wach, „Religionswissenschaft", S. 187

291

s. ebda, S. 177

292

Kern scheint identisch zu sein mit „ W e s e n " , bzw. „ I d e e "

293

ebda, S. 177

294

unter deren Gesichtspunkten (s. o . ) sie ihre Arbeit unterteilt.

295

diese liefert sie dann der formalen Systematik aus.

188

Entwicklung, Vertiefung und Uberwindung der Religionswissenschaft J. Wachs

der Vergleichung bedienen. Sie soll jede „Religionsbildung" — und „der Erforschung der Bildung der Religionen muß alles untergeordnet werden" 2 9 6 — von den jeweils „entscheidenden zentralen Punkten" 2 9 7 aus systematisch erforschen, deuten und darstellen. So ist für Wach die materiale Systematik „die Zentralaufgabe der Religionswissenschaft, . . denn sie arbeitet tiefer im Empirisch-Konkreten, dem Wurzelgrund der gesamten Wissenschaft" 2 9 8 als die ihr verschwisterte formale Systematik. Die formale Systematik baut auf der materialen auf. Sie löst deren historische Typen aus dem geschichtlichen Zusammenhang. Sie hat „von aller Konkretisation zu abstrahieren" 2 9 9 , ihr Ziel sind Strukturen und Begriffe. Dabei muß sie sich vor jeder Deduktion hüten 300 , weil sie von oben her die individuell charakterisierenden Elemente niemals erfassen kann. Sie muß vielmehr induktiv-vergleichend vorgehen. Indem sie die individuellen Züge fallen läßt, schließen sich die gemeinsamen Züge zu einem Gesamtbild 3 0 1 . Wach schildert diesen Vorgang so: „Ich suche das Gemeinsame aus den mir bekannten Theologien, suche das Prinzip, nach dem sie alle gebildet und organisiert sind, suche das Identische in den Formen und im Charakter, das ,Gerüst' herauszuarbeiten. Ich vergleiche und suche so eine oberste abstrakteste Klasse von religionswissenschaftlichen Begriffen zu gewinnen." 3 0 2 Das Gemeinsame ist es also, was Strukturen und Begriffe in die Sphäre des Typischen erhebt. So erhält der Religionssystematiker „idealtypische Begriffe" 3 0 3 und Strukturtypen als immer wiederkehrende Formen im religiösen Ausdruck und immer wiederkehrende Grundrichtungen menschlichen — religiösen — Denkens und Empfindens 3 0 4 . Diese Aufgabe der formalen Systematik faßt Wach an anderer Stelle folgendermaßen zusammen: „Zwei Aufgaben werden es wohl vor allem sein, die die formale Religionssystematik zu lösen hat: abstrakte, ideal-

296

Wach, „Religionswissenschaft", S. 191

297

ebda, S. 192

298

ebda, S. 187

299

ebda, S. 178

300

s. ebda, S. 178/9

301

Handelt es sich im letzten nicht also doch um eine

302

ebda, S. 178

303

ebda, S. 186; s. a. Artikel „Religionswissenschaft" in R G G 2 Bd. IV, Sp. 1955

304

s. ebda, S. 176

Subtraktionsmethode?

Die Einteilung der Religionswissenschaft

189

typische Begriffe zu bilden und Regelmäßigkeiten, Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung aufzuweisen." 305 Denn „eine der höchsten und wichtigsten — und daher letzten — Aufgaben der Systematik wird es sein, uns die Bildung, den Aufbau der Religionen kennen zu lehren. Wir werden erfahren, welche Faktoren bei der Bildung einer Religion zusammenwirken, wir werden das Verhältnis der Kräfte kennenlernen, in dem sie tätig sind, wir werden sehen, welches die ,Momente' sind, die — strukturell — die Religionen konstituieren, wir werden den Zusammenhang und die Modifikationen ihrer Formen ergründen." 306 Auch hier ist Wach also seinem Ansatz treu geblieben, wenn er als höchstes Ziel der Religionswissenschaft die Ergründung der Prinzipien ansieht, die bei der inneren Bildung der Religion(en) wirksam sind. Auf diesem Wege soll die Religionssystematik das empirische Wesen der Religion in vollem Umfang erschließen können 307 . So bildet die formale Systematik, wie später die Religionsphänomenologie 308 , den Übergang von Religionswissenschaft zu Religionsphiloso-

305

ebda, S. 186; was Wach hier als Aufgabe der formalen Religionssystematik faßt, weist er später im großen und ganzen der Religionsphänomenologie zu (s. „Religionsforschung", S. 51). Allerdings obliegen dieser dort, wie aus der noch zu zeigenden Entwicklung Wachs verständlich, noch weitere Aufgaben: „Die Religionsphänomenologie hat drei Aufgaben zu übernehmen: sie muß die Wesensontik des Göttlichen untersuchen; sie muß für eine Theorie der Offenbarung sorgen; und sie muß das religiöse Handeln erforschen." (ebda, S. 51)

306

ebda, S. 189/90 Diese Anschauung findet sich beispielsweise auch bei Frick, der in seiner „Vergleichenden Religionswissenschaft" (S. 9) schreibt: „Unter der Voraussetzung, daß sowohl das historische als auch das psychologische Auftreten der Religion untersucht ist, läßt sich zum zweiten das Wesen der Religion kritisch herausarbeiten. Einmal muß man fragen nach den gesetzmäßigen Erscheinungsformen, unter denen Religion auftritt. Eine Antwort darauf ist nur möglich durch eine vergleichende Betrachtung der verschiedenen geschichtlichen und psychologischen Tatsachen. Diese Arbeit leistet die vergleichende Religionswissenschaft oder Typologie. W a s sie als Wesen der Religionen herausarbeiten kann, ist empirisch. Davon unterscheidet sich das metaphysische Wesen. Mit ihm befaßt sich die Religionsphilosophie, die nach Wesen und Wahrheit der Religion im normativen Sinne f r a g t . "

307

308

s. o. A n m . 305

190

Entwicklung, Vertiefung und Uberwindung der Religionswissenschaft J. Wachs

phie 3 0 9 , ja erstere geht in letztere über 310 . Denn die Religionsphilosophie liefert der formalen Systematik nicht nur eine erkenntnistheoretische Analyse des Typenbegriffs 3 1 1 , sondern sie ergänzt sie notwendigerweise „durch religionsphilosophisch gewonnene Kategorien" 312 . Erst dann nämlich sind die Begriffe mit zwingender Notwendigkeit ausgestattet. Die Religionssystematik vermag letztlich nur zu sagen, was Dogma, Askese, Mönchtum usw. universell ist, die Religionsphilosophie aber, was es generell („schlechthin" 3 1 3 ) ist. Auch hier mündet die Wachsche Religionswissenschaft in der Religionsphilosophie. Doch dieses „späte" Einmünden ist im Grunde nur äußerlich, denn wenn man Wachs Durchführung sowohl der materialen als auch der formalen Religionssystematik einer genaueren Prüfung unterzieht, wird deutlich, daß sein Vorgehen dort schon religionsphilosophisch bestimmt ist. Im Grunde ist sein gesamtes religionswissenschaftliches Arbeiten religionsphilosophisch bestimmt. Will man das Verhältnis der Wissenschaften, die als ihr Material „die Welt der Religion" haben, im Sinne Wachs schematisch darstellen, so sieht das Schema folgendermaßen aus: B. normativ:

A. empirisch Allgemeine Religionswissenschaft historische RW allgemeine R G speziel e R G ergänzt

309 310 311 312 313

systematische RW , materiale RW It formale RS ergänzt

bearbeitet auch

• Theologie(n)

i, rt N

C ^ CI: o pr Religionsphilosophie

ähnlich wie bei Chantepie de la Saussaye (s. Hirschmann, a. a. O . , S. 5ff.) s. Wach, Artikel „Religionswissenschaft" in R G G 2 Bd. IV, Sp. 1957 Wach, Artikel „Religionsphilosophie" in R G G 2 Bd. IV, Sp. 1920 Wach, „Religionswissenschaft", S. 179 ebda, S. 187

Die Durchführung der systematischen Religionswissenschaft

191

Die Religionsphilosophie, und hier muß man sagen, eine christlichabendländische Religionsphilosophie, determiniert letzten Endes die Religionswissenschaft Wachs. Denn eigentlich geht es ihm immer um eine tiefere Erkenntnis der Stuktur und um die Zusammenhänge der „objektiven R e l i g i o n " , 3 1 4 um die Prinzipien ihrer „Bildung" 3 1 5 , um das Problem, daß sich die religiöse Idee „in der Berührung mit der Realität, in die sie einzuströmen beginnt", kontrahiert 3 1 6 . Wie die materiale auf die formale Religionssystematik angewiesen ist, weil letztere für erstere die Begriffe bereitstellt, die diese zugleich aus jener zu gewinnen hat, so ist „der tragende Grund für beide . . . die Religionsgeschichte" 3 1 7 . Hier liegt also der gleiche hermeneutische Zirkel vor wie bei der Gewinnung des Wesens aus dem Geist einer Religion, der wiederum nur aus deren Idee verstanden werden kann. Letztlich wird also, ganz in Wachs erfahrungsphilosophischem Sinne, das eigentlich Seiende „intuit i v " 3 1 8 aus der eigenen Erfahrung — die freilich niemals unabhängig von der eigenen kumulativen Tradition gedacht werden kann — erfaßt. So leistet die Religionsphilosophie für die Religionswissenschaft nicht nur, wie Wach sagt, „die Durchdenkung und Bereitstellung der Methoden (Logik der Religionswissenschaft), die wesensmäßige Durchforschung und philosophische Bestimmung ihres Gegenstandes (Philosophie der Religion), die philosophische Einordnung des Phänomens in das Ganze der Erkenntnis (Geschichtsphilosophie und Metaphysik der Religion) - " 3 1 9 , sondern sie ist Ausgangs- und zugleich Endpunkt aller religionswissenschaftlicher Arbeit bei Wach.

Die Durchführung

der systematischen

Religionswissenschaft

Was Wach in der „Religionswissenschaft" und einigen programmatischen Aufsätzen der frühen Leipziger Zeit über Religionsgeschichte und Religionswissenschaft ausführt, sind fast ausschließlich „prinzipielle Er-

314

ebda, S. 97

315

s. ebda, S. 191/2

316

W a c h , „Idee und Realität", S. 3 8 8

317

W a c h , „Religionswissenschaft", S. 188

318

ebda, S. 3 1 : „ . . . mit der .Totalität des Gemüts' nimmt der Verstehende auf."

319

ebda, S. 136

192

Entwicklung, Vertiefung und Überwindung der Religionswissenschaft J . Wachs

wägungen" 3 2 0 und Forderungen. Die Frage nach dem konkreten Bezug und der Anwendbarkeit des Geforderten stellt er sich dabei nicht. Deshalb finden sich in dieser Zeit auch kaum Hinweise praktisch-methodischer Art. Es gilt also jetzt zu fragen, ob und wie Wach sein Programm durchgeführt hat und ob er dabei seinen Grundsätzen treu geblieben ist. Wie schon angedeutet, hat er religionshistorische Forschung im Sinne seiner allgemeinen und speziellen Religionsgeschichte nicht betrieben. 321 Er hat sich vielmehr ausschließlich der systematischen Religionswissenschaft zugewandt. Nach mehreren Anläufen 322 und einer umfangreichen Darstellung eines Spezialproblems der Religionssystematik 323 hat er dann in der „Vergleichenden Religionsforschung" 3 2 4 eine Religionstheorie, als Theorie der religiösen Erfahrung, zu geben versucht. Bevor wir uns seiner Durchführung der Religionssystematik zuwenden, wobei wir in einem Exkurs auch seine typisierende Arbeitsweise näher betrachten wollen, soll noch einiges zu den Voraussetzungen der Religionswissenschaft, unter deren Anspruch und Geltung Wach sich persönlich weiß, sowie über methodologische Konkretisierungen und Entwicklungen vorweggenommen werden. Denn das Wachsche Triptychon und die später darzustellende Überschreitung der Religionswissenschaft sind vor allem aus diesem Zusammenhang zu verstehen.

Die Voraussetzungen der Religionswissenschaft Die sachlichen und persönlichen Voraussetzungen der Religionswissenschaft sind bedingt durch ihren Charakter als verstehende Wissenschaft. Ihr entstehen nämlich Schwierigkeiten „quantitativer Art" (räumliche, zeitliche Ferne; Quellenstand, Umfang), „qualitativer Art" („Eigenart fremden Seelentums" 3 2 5 ) und „religiös bedingter Art" (Geheimhaltung religiösen

320

ebda, S. V

321

s. o. S. 17

322

Wach, „Sinn und Aufgabe der Religionswissenschaft" (1935); „ D e r Begriff des Klassischen in der Religionswissenschaft" (1936); „ U b e r das Lehren der Religionsgeschichte" (1950); „Universals in Religion"(in „ T y p e s " 1951)

323

Wach, „ S o c i o l o g y of Religion" (1944)

324

p o s t h u m 1958

325

Wobei

Wach interessanterweise das eigene Selbstverständnis nicht

erwähnt.

Die Voraussetzungen der Religionswissenschaft

193

Erlebens; Fremdartigkeit gegenüber eigenen religiösen Vorstellungen) 326 . Es sind also die in jeder Geisteswissenschaft mit der ihr je zuzuordnenden Welt auftretenden Probleme, die durch die spezielle Anwendung der Verstehenslehre zu lösen sind. Voraussetzungen und Durchführung besonders der systematischen Religionswissenschaft sind demnach in besonderem Maße von den hermeneutischen Grundüberzeugungen Wachs bedingt. Die Voraussetzungen des Verstehens von Religion sind weniger sachlicher, mehr psychologischer Art, wie Wach ausdrücklich betont: „Gerade der Religionsforscher wird immer wieder aufs sorgsamste zu prüfen haben, ob und wie weit die Voraussetzungen erfüllt sind, die sein schwieriges Werk allererst möglich machen. Mehr wohl als bei irgend einer anderen Verstehensarbeit werden es psychologische Bedingungen sein, die entscheidend sind, neben diesen treten die technisch-methodischen Fragen beinahe in den Hintergrund. Auf diese psychologischen Voraussetzungen muß die Methodologie der Religionswissenschaft daher ihr besonderes Augenmerk richten. Sind sie geklärt, dann werden auch die Wege zu der schwierigsten Aufgabe geebnet sein: zu einer Theorie der Sinndeutung des religiösen Ausdrucks." 3 2 7 Wie aber sehen diese Voraussetzungen konkret aus, was vermögen sie für die Religionswissenschaft zu leisten und wo werden sie diese hinführen?

a) Die Voraussetzungen sachlicher Art Die Voraussetzungen sachlicher Art sind bedingt durch den Umfang des Stoffes, den Charakter des Materials und durch die Wahrheitsfrage. Deshalb muß die Grundlage einer sinnvollen Religionsforschung „immer historisch und philologisch, mit anderen Worten, kritisch sein" 3 2 8 . Eine Religion kann nur sinnvoll betrachtet werden in engem Zusammenhang mit der Kultur und den gesellschaftlichen Zuständen, in die sie eingebunden ist 3 2 9 . Deshalb muß der Religionsforscher ein breitgefächertes Material zusammentragen, um einer Religion oder einem Teil von ihr als historischer Erscheinung gerecht zu werden. Die Verschiedenartigkeit des 326

s. Wach, „Sinn und Aufgabe", S. 138f.

327

Wach, „Religionswissenschaft", S. 160

328

Wach, „Religionsforschung", S. 37

329

s. Wach, „Religionswissenschaft", S. 34

194

Entwicklung, Vertiefung und Uberwindung der Religionswissenschaft J. Wachs

Quellenmaterials heißt es kritisch zu durchleuchten, wofür „ein gründliches Wissen", vor allem Sprachkenntnisse Bedingung sind 3 3 0 . Außerdem besteht eine sachliche Angewiesenheit auf eine Reihe von „Schwesterwissenschaften", weil sie mit dem gleichen Material umzugehen haben 3 3 1 . Ähnliches gilt für die Schwierigkeiten, die der Charakter des Materials bietet. Denn es geht ja gerade darum, nicht „an Äußerem haften zu bleiben" 3 3 2 , sondern in die Tiefe einzudringen. Da reicht ein sachbezogenes, historisch-kritisches Vorgehen letztlich nicht mehr aus, weil es sich um aus dem Leben stammende Äußerungen — um „geformtes Leben" handelt. Deshalb müssen hier schon neben die sachlichen auch persönliche Voraussetzungen 3 3 3 treten. Eine entsprechende Gemütsverfassung zum Beispiel, „Einsatz des Gefühls, Metexis oder Teilnahme verlangt unser Gegenstand" 3 3 4 , sagt Wach. Die Wahrheitsfrage in sachlicher Hinsicht hat sich die Religionswissenschaft, so meint der frühe Wach 3 5 5 , überhaupt nicht zu stellen. Sie gilt es einzuklammern, allerdings nicht im Sinne „ ,der' psychologischen Methode" 3 3 6 . Wach präzisiert: „Unsere .Einklammerung' erfolgt im Gegensatz zu allen psychologischen Verfahrensweisen in vollem Bewußtsein und auf Grund ausdrücklicher Betonung des intentionalen Charakters der Religiosität. Die Einklammerung bezieht sich überhaupt nicht nur oder auch nur in erster Linie auf religiöse Akte, sondern auf das Gesamtphänomen. Akt plus ,Inhalt': die Lehre mit ihrem Sinn, der Kultus in seiner Bedeutung, die Frömmigkeit in ihrer Gerichtetheit werden in die Klammer eingeschlossen." 3 3 7 Erst durch die ausdrückliche Ausschaltung der Gültige keits- b z w . Wahrheitsfrage 3 3 8 entsteht die selbständige Disziplin Religionswissenschaft 3 3 9 , was freilich niemanden hindern soll, zu deren Resultaten Stellung zu nehmen 3 4 0 . 330

s. W a c h , „Religionsforschung", S. 41

331

s. z. B. Wach, „Religionswissenschaft", S. 34

332

ebda, S. 35

334

Wach, „Religionsforschung", S. 42

335

333

s. u. S. 198

Später ist sie für ihn eine Aufgabe der Religionswissenschaft; s. Kap. Das Gewinnen der N o r m aus der religiösen Erfahrung, und: Aufgabe der Religionswissenschaft ist letztlich die Stützung der „natürlichen Theologie".

336

Wach, „Religionswissenschaft", S. 32

337

ebda, S. 33; s. a. „Bemerkungen zu", S. 172

338

ebda, S. 26

339

s. o. S. 1 5 0 f f .

340

s. Wach, „Religionswissenschaft", S. 69

Die Voraussetzungen der Religionswissenschaft

195

Später jedoch hält Wach ein Einbringen der Wahrheitsfrage in die Religionswissenschaft sowohl in sachlicher, als auch persönlicher Hinsicht für durchaus gerechtfertigt, zumindest lassen sich wahre und unwahre religiöse Erfahrung unterscheiden und festmachen 3 4 1 . Diese Entwicklung deutet sich bereits in der „Religionswissenschaft" an, wenn er sagt: „Als Religionsforscher sind wir in gewissem Sinne allerdings nur ,Registratoren', aber wir sind ja nicht nur Wissenschaftler." 3 4 2 Als sachliche Voraussetzungen sind bei Wach im Grunde „ n u r " historisch-kritische Methode und philologische Kenntnisse gefordert. Alle anderen gehören mehr in den Bereich persönlicher Anforderungen, auch wenn sie als sachliche Gegebenheiten angesehen werden könnten, wie etwa das Charisma des Forschers. Wach sagt z. B . : „ D a ß die Gaben des Geistes verschiedene sind, daß es so etwas wie Charisma, Stufung usw. gibt, sollte eine elementare Erkenntnis s e i n . " 3 4 3 In ähnlichem Sinne fordert Wach später das Auswahlen-Können als Voraussetzung für die religionswissenschaftliche Arbeit, das jedoch letztlich in der Person des Forschers beschlossen liegt: „Der Einfluß der fremden Religionen auf unser eigenes Leben . . . muß durch ein Filter gehen. Nicht alles, was wir an Erscheinungen, Bildungen und Einrichtungen fremder Religionen kennenlernen, kann — und soll — für uns wesentlich und darum bedeutungsvoll s e i n . " 3 4 4 In sachlicher Hinsicht werden also die für jede Wissenschaft notwendigen Voraussetzungen gefordert: Sachwissen, kritische Einstellung, historisches Verständnis und Interesse am Gegenstand. Für die Religionswissenschaft als Wissenschaft aus dem Leben — und für das Leben — aber sind die entscheidenden Voraussetzungen die persönlichen, da sie der alles begründenden Erfahrung entspringen.

b) Die Voraussetzungen

persönlicher

Art

Die Voraussetzungen persönlicher Art für die religionswissenschaftliche Arbeit entstammen Wachs, von seiner Erfahrungsphilosophie geprägten, Menschenbild. Mit seinen Worten sei nochmals daran erinnert: „Unser 341

s. K a p . Das Einmünden der Religionswissenschaft in eine Religionstheologie

342

W a c h , „Religionswissenschaft", S. 29

343

W a c h , „ D a s religiöse G e f ü h l " , S. 22

344

W a c h , „ D e r Begriff des Klassischen", S. 92

196

Entwicklung, Vertiefung und Uberwindung der Religionswissenschaft J . Wachs

Ausgangspunkt war die Annahme, daß der Mensch seinem Wesen nach angelegt sei auf Religion. Mag das religiöse Bedürfnis verkümmern oder unterdrückt werden, es ist überall vorhanden, so sehr der Schein oft dagegen zu sprechen scheint. Darum wird auch jeder Mensch, wofern er sich nicht mit seinem Willen dagegen sperrt, verstehen können, was Religion ist." 3 4 5 Und ein wenig weiter heißt es: „Von Hause aus ist also jeder religiöse Mensch befähigt, Religion zu verstehen, Religionswissenschaft zu treiben; es ist aber natürlich, daß die Stärke und der Grad dieser Befähigung recht sehr verschieden ist, eben je nach der Stärke, Lebendigkeit und Ausbildung des ,religiösen Sinnes'." 3 4 6 Es gibt also eine Voraussetzung, „ohne die keiner Religion verstehen kann: das ist der religiöse Sinn" 3 4 7 „eine psychologisch und erkenntnistheoretisch ungemein schwer faßbare Kategorie, von der aber jedenfalls ausgesagt werden kann, daß sie eine Art Struktur-Apriori darstellt" 348 . An anderer Stelle charakterisiert Wach diese „Anlage" noch näher, indem er sagt, „daß prinzipiell in einem jeden von uns etwas anklingen könnte von dem Ekstatischen, Gespenstischen, Fremden, was uns Kindern anderer Zeit, anderen Blutes und anderer Gesittung zunächst an religiösen Äußerungen aus der Ferne so merkwürdig erscheinen wird" 3 4 9 . Dies ist die natürliche und weiterbildbare Grundvoraussetzung der Religionswissenschaft; denn „wo diese Anlage von Natur und durch Ausbildung besonders entwickelt ist, da wird die Voraussetzung für ein wirkliches Verstehen fremder Religiosität in starkem Maße gegeben sein" 3 5 0 . Diese anthropologische Grundanschauung führt an anderer Stelle sogar zum Ausschluß gewisser Personen von der Religionsforschung überhaupt, wenn Wach sagt: „Wer nicht imstande ist, den in allen Religionen liegenden Anspruch, Sinn und Wert zu erfühlen und zu erfassen, wer, mit einem Wort, kein Organ für die Religion hat, der sollte sich lieber gar nicht mit ihr beschäftigen, er kann ihr auch in ihren Auswirkungen und Bedingungen nicht gerecht werden." 3 5 1 345

Wach, „Religionswissenschaft", S. 158

346

ebda, S. 159; s. a. Artikel „Religionswissenschaft" in R G G 2 Bd. IV, Sp. 1956

347

ebda, S. 36

348

Wach, „Bemerkungen z u " , S. 166

349

Wach, „Sinn und A u f g a b e " , S. 141

350

ebda, S. 141; s. a. Kitagawa, „Introduction" in „Understanding and Believing", S. I X

351

Wach, „Einführung in die Religionssoziologie", S. X / X I

Die Voraussetzungen der Religionswissenschaft

197

In diese anthropologische Grundvoraussetzung sind alle anderen persönlichen Eigenschaften des Religionsforschers, die Wach des weiteren fordert, eingeschlossen. Es ist zunächst die Teilhabe 352 , Teilnahme 353 am Objekt der Forschung. Das ist die eigentliche „relative Objektivität": „Es würde von wenig Lebenserfahrung, Menschenkenntnis und Sachverständnis zeugen, wollte man wirklich als Ideal den vollständigen Verzicht auf persönliche Stellung und Anteilnahme, auf Auslöschung des persönlichen Eigenwesens aufstellen. Im Gegenteil: ohne persönliches Verhältnis zum Objekt wird kein Religionsforscher Großes im Verstehen und Deuten leisten." 3 5 4 Sodann ist es die richtige Einstellung des Wollens. „Der Wille muß auf einen konstruktiven Zweck hin gerichtet und daran orientiert sein." 3 5 5 Das meint den „Charakter", den Wach schon früher vom Religionsforscher fordert 356 . Denn „es ist notwendig, etwas zu sein, wenn man ,verstehen' will: in je tieferem, umfassenderem Sinne man Mensch ist, umso tiefer und umfassender versteht man" 3 5 7 , verdeutlicht Wach diesen Aspekt. Es ist also die „Erfahrung im weitesten Sinne", die Religionswissenschaft und ein wirkliches Verstehen der Religion(en) möglich macht 358 . Je gleichartiger die Erfahrungen sind, desto größer die Möglichkeit des Verstehens. Ihre erste Stufe ist die Affinität zwischen dem Forscher und dem zu Erforschenden 359 , die zweite und höhere die Kongenialität 360 , die für ein umfassendes Verstehen unerläßlich ist. Auch das ist bei Wach von Beginn an angelegt, wenn er schon in der „Religionswissenschaft" sagt: Wie also einerseits gefordert werden muß, daß der Religionsforscher völlig unbefangen seinem Gegenstand gegenüberstehe, so muß er andererseits doch vermöge einer gewissen Kongenialität mit den verschiedensten religiösen Studien sich in diese hineinversetzen können. Niemand kann sich 352

Wach, „Bemerkungen zu", S. 166

353

Wach, „Religionsforschung", S. 42

354

Wach, „Religionswissenschaft", S. 150

355

Wach, „Religionsforschung", S. 42

356

s. W a c h , „Religionswissenschaft", S. 152

357

ebda, S. 153

358

s. Wach, „Religionsforschung", S. 43

359

s. z . B . Wach, „Religionswissenschaft", S. 150/1; „The Place of the History",

360

Wach, „Religionsforschung", S. 4 1 ; „Religionssoziologie", S. 1 1 : Der Forscher

S. 175: „ . . . on the basis of an affinity of spirit . . ."; u. a. „muß geübt sein, sein Material mit einem kongenialen Verständnis auszulegen". 14 Flasche: Joachim Wach

198

Entwicklung, Vertiefung und Uberwindung der Religionswissenschaft J . Wachs

über Kunst mit Erfolg äußern, der nicht ein gewisses Kunstverständnis besitzt. Ganz ebenso muß man eine gewisse Kongenialität mit dem religiösen Leben von dem fordern, der sich mit diesem Gebiet befaßt. Andererseits aber schließt diese Kongenialität durchaus nicht aus, daß man trotzdem das religiöse Leben objektiv analysiert und in seine Fundamente zerlegt, um seine Gesetze kennen zu lernen." 361 Im Grunde aber muß sich der Religionsforscher in eine Religion „einfühlen" 362 können, er „fühlt" gleichsam schon vorher, ob er sie verstehen kann 363 ; denn der Verstehende setzt sich in eine „geheimnisvolle Kommunikation mit seinem Objekt, die ihm gestattet, in sein Inneres vorzudringen" 364 . „Intuitiv" wird „verwandtes Leben" 365 erfaßt, „intuitiv" schließlich werden die Typen, wird das Wesen „geschaut" 366 . Seine religiöse Erfahrung also hat der Religionsforscher in seine wissenschaftliche Arbeit in vollem Umfang einzubringen367, nicht als Vorurteil, weil er verstehend und nicht beurteilend eingestellt ist368, sondern als Schlüssel allen Verstehens369. Religionswissenschaft in ihrer ganzen Fülle und Tiefe treiben zu können, liegt also letztlich in der Person des Forschers beschlossen. Die gleichen sachlichen und persönlichen Voraussetzungen fordert Wach auch für das Lehren der Religionswissenschaft. Der Studierende soll zu den Quellen geführt werden, er muß bekannt werden mit dem Wesen der religiösen Erfahrung als unentbehrlicher Voraussetzung aller religionswissenschaftlicher Arbeit, ihm muß das gültige hermeneutische Gesetz von der Geistesverwandtschaft besonders in diesem Bereich deutlich gemacht werden, und ihm müssen Sinn- und Zweckgebundenheit dieser integral verstehenden Wissenschaft gelehrt werden 370 . Hinter diesen Vorbedin361

Wach, „Religionswissenschaft", S. 36 A n m . 1

362

Wach, „Bemerkungen zu", S. 166

363

s. Wach, „Religionswissenschaft", S. 159

364

ebda, S. 156

365

ebda, S. 157

366

s. z. B. ebda, S. 1 8 7 f . ; s. a. „Religionsforschung", S. 5 3 f f .

367

Wach,

„Religionsforschung",

S. 53: „den potentiellen Bereich

persönlicher

Erfahrung" 368

s. Wach, „Und die Religionsgeschichte?", S. 492

369

Bereits Jeremias („Allgemeine Religionsgeschichte", S. 2) sagt: „Der christliche Religionsforscher darf nur seine Religion mit auf den Weg nehmen, wenn er die Welt der Religionen forschend durchwandert, nicht aber seine Theologie."

370

s. Wach, „Über das Lehren", S. 1 1 9

D i e Methode der Religionswissenschaft

199

gungen der Religionswissenschaft treten alle methodisch-praktischen Probleme zurück. Muß diese Einstellung aber nicht doch zu einem unüberprüfbaren Subjektivismus in der Religionswissenschaft führen? Und in dessen Folge zu einer Verabsolutierung der Inhalte und Formen der eigenen, ganz persönlichen religiösen Erfahrung, die durch Abstraktion vom Konkreten gelöst und zur Allgemeingültigkeit erhoben wird?

Die Methode der Religionswissenschaft Um nicht das zu wiederholen, was in den Kapiteln über die Grundlegung und die Einteilung der Religionswissenschaft ausgeführt wurde, sollen hier nur einige methodologische Grundsätze Wachs und ihre Modifikationen schematisch zusammengefaßt werden, damit später, bei der Darstellung der Theorie der religiösen Erfahrung, methodische Erwägungen nicht zu breiten Raum einnehmen.

a) Der Ansatz der Religionswissenschaft: Die empirischen Religionen Die Aussagen Wachs zur Methode der Religionswissenschaft sind leider verhältnismäßig spärlich und — meist versteckt — über das gesamte Werk verteilt, zumal es ihm immer mehr um grundlegende Fragen auf diesem Gebiet geht, letztlich also um Wissenschafts-, bzw. Erkenntnistheorie. Alle methodischen Aussagen sind in seiner „Verstehenslehre" angelegt, bzw. dort verankert. Jede Geisteswissenschaft umfaßt den je ihr zugehörenden historischen und systematischen Bereich, der, wie oben gezeigt, mit bestimmten Fragestellungen verbunden ist. „Forschend zu verstehen" ist für Wach in Anlehnung an Droysen „die Methode der geschichtlichen Forschung" 3 7 1 . Diese Methode modifiziert sich in jeder Einzeldisziplin, denn sie erhält ihren „besonderen Charakter durch die Natur des Gegenstandes, die jeweils vorliegende Ausdrucksform des menschlichen Geistes" 3 7 2 . Das ist gemeint, wenn Wach später der 371

W a c h , „ V e r s t e h e n " I , S. 4

372

ebda, S. 4

14*

200

Entwicklung, Vertiefung und Uberwindung der Religionswissenschaft J. Wachs

ersten Forderung, „auf eine Vereinheitlichung der Methode" 373 , die zweite hinzufügt, „daß die Methode dem zu behandelnden Gegenstand angemessen" 3 7 4 sein muß. „Den Gegenstand der Religionswissenschaft" bildet „die Mannigfaltigkeit der empirischen Religionen" 375 . Sie gilt es forschend zu verstehen und darzustellen, und zwar längs- und querschnittmäßig. Ihre Erscheinungsfülle läßt sich nicht deduzierend begreifen 376 , sondern der Religionsforscher hat zunächst darstellend, beschreibend, vergleichend, kurz: historisch-kritisch vorzugehen, muß dabei aber sein ganzes Vorgehen auf das hinzutretende Verstehen ausrichten 377 . So sagt Wach einmal zusammenfassend: „Ihre Methode ist die Forschung, die mit der Auslegung beginnt und im Verstehen gipfelt." 3 7 8 Auf die Beschreibung der historischen Phänomene, einer zwar wichtigen, aber wenig austragenden Aufgabe 379 , folgen zwei Stufen der Deutung. Die erste bezeichnet Wach als Interpretation. Sie will die Bedeutung eines einzelnen, bestimmten religiösen Ausdrucks feststellen: „Diese Erhellung wird sich . . . als ein Ineinander von rein historisch-deskriptiver Arbeit, psychologischer Erschließung und dauernder ,Inbeziehungsetzung' darstellen." 3 8 0 Als zweite Stufe folgt das Verstehen, das die jeweilige Erscheinung in den inneren Zusammenhang stellt, in den sie hineingehört, und so zur Erkenntnis des Gesamtcharakters einer Religionsbildung führt. Vergleichung 381 und Deutung 382 sind also die Methoden der Religionswissenschaft überhaupt, beide müssen ihre Anwendung in jeder Religionsforschung finden, sind aber unabdingbar und konstitutiv für ihren systema373

Wach, „Religionsforschung", S. 43

374

ebda, S. 44

375

Wach, Artikel „Religionswissenschaft" in R G G 2 Bd. IV, Sp. 1955

376

s. Wach, „Zur Methodologie", S. 44

377

s. Wach, Artikel „Religionswissenschaft" in R G G 2 Bd. IV, Sp. 1956

378

Wach, „Religionswissenschaft", S. 130

379

ebda: „ D i e Religionswissenschaft hat keine spekulative Aufgabe. Freilich wird sie nicht in der reinen Deskription stecken bleiben, obwohl gewiß die Beschreibung eine bedeutsame, grundlegende Leistung der religionswissenschaftlichen Arbeit ist, aber über sie hinaus wird stets das Bestreben des Religionsforschers auf die ,Deutung' der Erscheinungen gerichtet sein müssen."

380

Wach, „Bemerkungen zu", S. 168

381

Das ist bereits der Grundsatz von Hardy (s. z. B., a. a. O . , S. 6)

382

s. z . B . a. Kitagawa, „J. Wach and Sociology", S. 175

Die Methode der Religionswissenschaft

201

tischen Teil. Sie gilt es angemessen auf das sich zur Bearbeitung darbietende Material anzuwenden: die empirischen Religionen. Diese sind für Wach jedoch keine objektiven Erscheinungen, sondern Ausdruckszusammenhänge der religiösen Erfahrungswelt. Als eigentliches Objekt gilt es deshalb „die Welt der religiösen Innerlichkeit und ihren Ausdruck" 3 8 3 zu erforschen, weil nur hier die Möglichkeit des nachvollziehenden, intuitiven Verstehens gegeben ist. Damit aber gründet sich, wie schon die Darstellung der Voraussetzungen der Religionswissenschaft gezeigt hat, alles methodische Vorgehen in die persönlichen Fähigkeiten des Forschers. Die Deutung wird zur subjektiven Inbezugnahme, es geht nicht nur darum, was denn die „Sachen" sagen, auch nicht darum, was sie den Gläubigen der jeweiligen Religion sagen, sondern darum, daß der Forscher spürt, was sie ihm sagen. Ihre Intention gilt es intuitiv zu erfassen 384 . Deshalb ist bei Wach von den Gläubigen einer konkreten Religionsgemeinschaft eigentlich niemals die Rede. Es geht, wie auch die Durchführung seiner Religionstheorie zeigen wird, bei der Frage nach der Intention einer religiösen Ausdrucksform immer nur um ein (ideales) Es, nicht also um das, was die Gläubigen intendieren, sondern um die religiöse Intention schlechthin. Das wird beispielhaft deutlich an Wachs programmatischer Zusammenfassung seiner integralen Verstehensmethode, die eine Religionstheorie des Typischen, das mit einem normativen Charakter behaftet ist, liefern soll, wenn er diese mit folgenden Worten schließt: „The result may be a comprehension of the various religions deeper and more adaequate than their own understanding of themselves." 385 Wohin ihn dieses methodische Vorgehen und das damit verbundene Ziel der Religionswissenschaft letztlich führen wird, deutet sich damit schon an, zu einer Religionstheorie nämlich, die sich als Religionstheologie herausstellen wird.

383 384

Wach, „Zur Methodologie", S. 41 Er sagt in der „Religionswissenschaft": „Die von uns entwickelte Lehre von der Affinität, dem Interesse usw. als Grundlage des Verstehens steht in nahestem Konnex mit der Typenlehre." (S. 148)

385

Wach, „The Place of the History", S. 177

202

Entwicklung, Vertiefung und Uberwindung der Religionswissenschaft J . Wachs

b) Das Z.iel der Religionswissenschaft: Theorie der religiösen Erfahrung und der religiösen Ausdrucksformen

Typologie

Wach hat mehrere Anläufe unternommen, eine solche Religionstheorie aus der Kategorie „religiöse Erfahrung" zu entwickeln. Dabei ist für ihn die Religionswissenschaft, im gleichen Sinne wie für Simmel die Soziologie, eine Wissenschaft zweiter Potenz: „Und in Wirklichkeit beginnt ja für den Religionsforscher die Arbeit erst, wenn Philologie, Geschichte, Experimentalpsychologie und Soziologie ihre Hilfsdienste bereits geleistet haben. Es ist nicht weiter erstaunlich — sondern das Gegenteil würde wundernehmen —, daß der Mensch als religiöses Subjekt sich auch eine eigene religiöse Sprache, eine religiöse Formen- und Ausdruckswelt geschaffen hat." 3 8 6 In dieser, der besonderen Lebenskategorie des Religiösen entstammenden Welt 3 8 7 , gilt es, Zusammenhänge im Nachvollzug aus der eigenen Erfahrung herzustellen. Damit steht das Formproblem 388 im Mittelpunkt, denn Ausdrucksfähigkeit und Ausdrucksbedeutung der Religion gehen in unterschiedlicher Weise in die Form ein, die zugleich auch immer teil hat an der Dynamik der sie freisetzenden Welt. Gerade deshalb gilt es zu scheiden „zwischen Dauerndem, Konstantem, Ewigem und dem geschichtlichen Wechsel und Wandel Unterworfenen" 3 8 9 . Jede Religionstheorie muß sich also auf die verstehende Durchdringung der religiösen Formen gründen, weil „ein ganz wesentliches Moment aller Religion, also aller Religionen darin liegt, sich Ausdruck zu schaffen, daß also auch die Gestaltung des Ausdrucks, die Bildung der Formen, die sie erzeugt und trägt, charakteristisch für eine Religion und damit von höchster Bedeutung für ihre Erkenntnis sein muß. Weiter ist zuzugeben, daß ganz gewiß der Ausdruckswert der einzelnen Formen und Formkategorien oder -kreise (Momente) ein verschiedener, abgestufter ist, daß z. B. die Sozialethik einer Religion und ihr Ritus dem 386 387

Wach, „ Z u r Methodology", S. 4 0 ebda, S. 4 1 : „ W i r wissen nur, daß sich die religiöse Subjektivität in immer neuen Formen

objektiviert,

daß sie

Gestalt wird

auch durch

das Medium

ihrer

F o r m u n g e n auf das Leben der Menschen wirkt, ihr Fühlen und Wollen, Tun und Denken beeinflußt und wandelt." 388

s. ebda, S. 42

389

ebda, S. 4 2 ; deshalb fordert er in der „Religionswissenschaft" eine „Kunde der Ausdrucksarten" (S. 71) und ihrer Formen von der Religionsphilosophie (S. 70).

Die Methode der Religionswissenschaft

203

Zentrum nicht gleich nah sein werden, infolgedessen auch für das Verstehen verschieden großen Hindeutungswert besitzen." 3 9 0 Die Formen sind einer Sinndeutung aus der ihnen eigentümlichen Struktur zu unterziehen. Dabei ist für das methodische Vorgehen das vergleichende Verfahren „substantiell" 3 9 1 , weil es nur so gelingt, „sich die Gesetzlichkeiten zu veranschaulichen, die sich in der Parallelentwicklung aufzeigen" 3 9 2 lassen. Der Forscher muß sich allerdings vor einer übertriebenen Anwendung dieses Verfahrens hüten 3 9 3 , um nicht mißzudeuten 394 , und er kann erst wirklich systematisch vergleichen, „wenn die individuellen Erscheinungen voll erfaßt worden sind" 3 9 5 , wenn sich ihr eigentümliches Wesen in seiner Ganzheit erschlossen hat, was letztlich aber nur auf intuitivem Wege möglich ist. Sehen wir uns nun die einzelnen Lösungsversuche dieses Problems in ihrer zeitlichen Abfolge an. Zuerst versucht Wach das systematische Problem mit dem Begriff der ,rAnalogie" zu lösen. Er gibt folgendes Unterscheidungsschema, wobei auffällt, daß bereits hier sein Triptychon verankert ist: „ 1 . Formale Analogien: A . Ubereinstimmung des Verlaufs der Entwicklung B. Ubereinstimmung der Struktur: 1. im sozialen Aufbau (soziale Gliederung, Organisation usw.) 2. in der theoretischen Ausformung (Mythus, Lehre) 3. im praktischen Handeln (Kultus). 2. Inhaltliche Analogien: C . Ubereinstimmung des ,Inhalts'." 3 9 6 Als Beispiele nennt Wach für die formalen Analogien u. a.: (A) „Verhältnis des Stifters zu seinen Jüngern", „freie Predigt — Evangelium — Lehre — K a n o n " 3 9 7 ;

390

Wach, „Religionswissenschaft", S. 160/1; letztlich aber besitzen sie alle nur

391

s. ebda, S. 182

„Interims-Charakter" (S. 163). 392

Wach, „ D i e Gestalten", S. 78

393

s. Wach, „Religionswissenschaft", S. 182

394

s. ebda, S. 183

395

ebda, S. 186

396

Wach, „ Z u r Methodologie", S. 53

397

ebda, S. 53

204

Entwicklung, Vertiefung und Überwindung der Religionswissenschaft J. Wachs

(B) „Orthodoxie", „Mystik", „Rationalismus", „Liturgie", „Sakrament", „Prophetie", „Priestertum", „Gebet" 398 ; (C) „asketischer Geist", „Polytheismus", „Menschenopfer"399. Aus dieser inhaltlichen Füllung wird ersichtlich, daß dieser Lösungsversuch ihm nicht genügen kann, zumal dieses Schema empirisch nicht genügend begründet ist, da es Kunstbegriffe und Verallgemeinerungen neben intentional geladene Begriffe stellt. 400 Außerdem läuft es Gefahr, einer Verengung Vorschub zu leisten, da alle Ordnungsbegriffe und -kriterien ausschließlich einer bestimmten religiösen Tradition entnommen sind. Der schon in der „Religionswissenschaft" geforderten Typologie, die dort auf ein Zusammengehen von systematischer Religionswissenschaft und religionsphilosophischen Kategorien angewiesen ist, 401 versucht Wach dann zwischenzeitlich über den Begriff der „Idee" näher zu kommen. Ansätze dazu finden sich vor allem in einer Reihe der für die zweite Auflage der RGG 402 verfaßten Artikel. Von der Idee in ihrem jeweiligen Strukturzusammenhang sollen sich „einzelne Gestaltungen zu form- und wesensähnlichen Gruppen zusammenfassen lassen und sich damit zu einem Typus, zu Typen . . . ordnen" 403 .Dieser Ansatz aber erfährt in der Folgezeit keine weitere Durchführung. Um die Mitte der dreißiger Jahre nimmt Wach einen neuen Anlauf zur Erstellung einer Religionstheorie, indem er in Anlehnung an W. Jaeger 404 den Begriff des „Klassischen" für die Religionssystematik fruchtbar zu machen sucht. Dieser hat nach ihm seinen eigentlichen Bezugspunkt im Gefühl des Forschers: „Wir, die wir die Fülle der Gestalten der außerchristlichen Religionswelt kennengelernt haben, haben jetzt wieder ein neues Gefühl für die spezifische Qualität, den Wert und die Bedeutung der 398 399

ebda, S. 52 ebda, S. 53

400

Dieser erste Versuch findet sich wieder in der „Einführung in die Religions* Soziologie", z. B. S. XI u. XIIf.

401

s. Wach, „Religionswissenschaft", S. 190f. Hier will er „historische" und „psychologische" Typen und „Regelmässigkeiten und Gesetze der Entwicklung der Religion (!) aufgestellt" wissen.

402 403

s. Literaturverzeichnis Wach, Artikel „Erlösung" in R G G 2 Bd. II, Sp. 267

404

Jaeger,

W . (edd.),

„Das Problem des Klassischen und die Antike",

1931

Die Methode der Religionswissenschaft

205

klassischen Erscheinungen in der Religionsgeschichte." 405 Dieses Gefühl führt Wach zu der Einsicht, daß „das Phänomen oft an einem einzelnen ,Exemplar' aufleuchten und deutlicher hervortreten" wird, „als wenn wir suchen, es durch Prüfung vieler anderer ausfindig zu machen" 4 0 6 . Das soll jedoch nicht heißen, es sei ausgeschlossen 407 , daß die Erfassung der Einzelerscheinung durch Vergleichen geprüft und berichtigt werden kann. Der Begriff des Klassischen soll sowohl typologisch als auch normativ das Entscheidende für die Religionswissenschaft in der Religionstheorie und der Religionssystematik leisten. Denn „in ihm ist gegenüber dem Charakteristischen, das deskriptiv gemeint ist, eine Norm gegeben, aber diese ist relativ und bedeutet keine Vergewaltigung andersartiger Erscheinungen von einem heterogenen Standpunkt aus" 4 0 8 . Er soll ein „Ordnungsbegriff heuristischer N a t u r " 4 0 9 sein, der sich mit der Zeit erweitert und berichtigt 4 1 0 . Das Klassische wird dort gefunden, wo der Forscher meint, daß es ursprünglich sei 4 1 1 . Wach nennt als Beispiele: „klassische Stifterpersönlichkeiten", „klassische Vegetationsgottheiten (Vorderasien)", „klassische Formen" von Opfer oder Gebet 4 1 2 , vom Klassischen zu „typologischen Kategorien erhobene" Erscheinungen, wie etwa Mana, Tabu, Totem 4 1 3 . Indem Erscheinungen dort klassisch sind, wo sie „ursprünglich" sind, verbindet Wach die Ursprungsfrage plötzlich mit der Typologie, obwohl er diese Verbindung früher immer für ausgeschlossen gehalten hat. Darüber hinaus aber befreit sich hier auch das normative Element aus seiner Klammer, wenn Wach sagt: „,Klassisch' meint zunächst repräsentativ. Die betreffenden Gestaltungen und Formen des religiösen Lebens repräsentieren etwas Typisches, etwas, das mehr aussagt und ausdrückt als ein Individuelles, ,mehr' hinsichtlich des religiösen Lebens, für das es zeugt. . . . Der Begriff des Klassischen drückt aber nicht nur das Repräsentative aus, sondern schließt etwas Normatives ein. Aus der Fülle des 405

Wach, „ D e r Begriff des Klassischen", S. 92

406

ebda, S. 93

407

ebda, S. 94

408

ebda, S. 90

409

ebda, S. 96

410

s. ebda, S. 96

411

s. ebda, S. 94/5

412

s. ebda, S. 90

413

s. ebda, S. 95

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Entwicklung, Vertiefung und Uberwindung der Religionswissenschaft J. Wachs

geschichtlich Hervorgetretenen werden einzelne Erscheinungen und Gestaltungen herausgehoben, die einleuchtend, erhebend, erzieherisch wirken und so, wenn auch indirekt, unser eigenes religiöses Leben zu beeinflussen imstande sind." 4 1 4 Damit aber schreitet Wach fort in Richtung einer Uberwindung der Religionswissenschaft, indem er ihr eine erzieherische Aufgabe zuweist und sie für fähig hält, Kategorien für das eigene religiöse Leben abzugeben. Auf diesen Versuch, die Religionssystematik, besonders die Religionstypologie, an den Begriff des Klassischen zu binden 415 , folgt ein weiterer und letzter, der die Erscheinungen auf das ihnen innewohnende Universale zu reduzieren sucht. Dieser Ansatz gelangt später in der „Vergleichenden Religionsforschung" zur inhaltlichen Durchführung. Er trägt der sich immer stärker artikulierenden Überzeugung Wachs Rechnung, daß die Religionswissenschaft mit ihren Ergebnissen auf das eigene (religiöse) Leben zurückwirken müsse 416 . Bereits 1947 formuliert Wach in einer thesenhaften Zusammenstellung der Aufgaben und Ziele des Religionsforschers Folgendes: „Interpretation of expressions of religious experience means an integral understanding, that is full linguistic, historical, psychological, technological, an sociological inquiry, in which full justice is done to the intention of the expression and to the context in which it occurs, and in which this expression is related to the experience of which it testifies. Comparison, an important means to ascertain analogies and differences between various forms of expression of religious experience and between experiences themselves, is not an end in itself. Neither is the construction of types of religions such an end, valuable as they will be . . . Objective study, comparison, and typology are the indispensable preparation for evaluation. Evaluation presupposes standards . . ," 4 1 7 Darin macht sich zugleich Wachs sich in dieser Zeit vollziehendes näher an die Theologie Heranrücken bemerkbar. Mit dem Begriff des Universalen, mit den „Universalien der Religion", glaubt Wach ein Ordnungsprinzip gefunden zu haben, das sowohl eine sinnvolle Systematik für die Religionswissenschaft, als auch einen Maßstab 414

ebda, S. 90

415

Nach diesem Prinzip ist die „Religionssoziologie" gearbeitet.

416

eine Grundüberzeugung der Lebensphilosophie, wie wir von Dilthey und Simmel wissen.

417

Wach, „The Place of the History", S. 176/7

Die Methode der Religionswissenschaft

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zur Beurteilung der einzelnen Religionsbildungen zu liefern vermag. Damit sei methodisch und inhaltlich erreicht, daß die Typologie „die „Brücke zwischen empirischer und normativer Forschung" 4 1 8 bildet 419 . Auch hierbei nimmt die die Welt der Religion konstituierende religiöse Erfahrung 4 2 0 die Schlüsselfunktion ein. Von ihr aus soll die Religionssystematik als „Reflexion auf das Typische" 4 2 1 geschehen, wie vorher an anderer Stelle schon angedeutet: „There is no hope of grasping the spirit and of understanding the life, symbolism, and behavior of religious group so long as no serious attempt is made to correlate the isolated traits (concepts, rites, customs) observed with a notion of the central experience which produces them." 4 2 2 Die zentrale religiöse Erfahrung scheint nun freilich nicht mehr einen wirklich empirischen Begründungszusammenhang für die Welt der Religion zu bilden, sondern einen kausal-logischen, aus dem sich auch ihr normativer Aspekt ergibt. Ein umfassender Entwurf der in diesem Sinne in der „Vergleichenden Religionsforschung" zur Durchführung gelangten Theorie der religiösen Erfahrung findet sich bereits in dem Sammelband „Types of Religious Experience" 4 2 3 im zweiten Kapitel unter dem Titel: „Universals in Religion" 4 2 4 . Aus den allgemein menschlichen Erlebens- und Verhaltensweisen wird die religiöse Erfahrung hergeleitet und als die, die Welt der Religion konstituierende herausgehoben 425 . Sodann definiert Wach sie anhand von „vier formalen Kriterien" folgendermaßen: 1. „Religiöse Erfahrung ist eine Antwort auf das, was als letzte Wirklichkeit erfahren wird" 4 2 6 ; 2. Religiöse Erfahrung ist eine totale Antwort des totalen Seins auf das, was als letzte Wirklichkeit begriffen wird" 4 2 6 3 ; 416 419 420

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Wach, „Religionsforschung", S. 52 s. o. S. 189f. Diese setzt er jetzt besonders mit Schelers „Phänomenologie des religiösen Aktes" in Verbindung (s. z . B . „Sociology of Religion" in Gurvitch, S. 424; „Types", S. 41) s. o. S. 188 Wach, „Sociology of Religion" in Gurvitch, S. 424/5 1951

Wach, „Types", S. 3 0 - 4 7 s. ebda, S. 31 s. ebda, S. 32

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