Religionswissenschaft: Wegbereiter und Klassiker 9783825234928, 9783412207106, 3825234924

Die Religionswissenschaft ist ein vergleichsweise junges Fach, welches sich seit Beginn des letzten Jahrhunderts zunehme

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Religionswissenschaft: Wegbereiter und Klassiker
 9783825234928, 9783412207106, 3825234924

Table of contents :
Religionswissenschaft
Impressum
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Mein Weg zur ‚Praktischen Religionswissenschaft‘
Praktische Religionswissenschaft und die wechselseitige Wahrnehmungder Religionen
Interreligiöser Dialog und wechselseitiger Blick
Kriterien der Auswahl
1. Friedrich Max Müller (1823–1900)
1. Biographie
2. Inhaltsangabe
3. Ausgewählter Quellentext
4. Fragen zum Text
5. Würdigung
6. Weiterführende Arbeitsaufgaben
7. Auswahlbibliographie
2. William James (1842–1910)
1. Biographie
2. Inhaltsangabe
3. Ausgewählter Quellentext
4. Fragen zum Text
5. Würdigung
6. Weiterführende Arbeitsaufgaben
7. Auswahlbiographie
3. Edmund Hardy (1852–1904)32
1. Biographie
2. Inhaltsangabe des Buches
3. Ausgewählter Quellentext
4. Fragen zum Text
5. Würdigung
6. Weiterführende Arbeitsaufgaben
7. Auswahlbibliographie
4. James George Frazer (1854–1941)
1. Biographie
2. Inhaltsangabe des Buches
3. Ausgewählter Quellentext
4. Fragen zum Text
5. Würdigung
6. Weiterführende Arbeitsaufgaben
7. Auswahlbibliographie
5. Paul Drews (1858–1912)
1. Biographie
2. Inhaltsangabe des Buches
3. Ausgewählter Quellentext
4. Fragen zum Text
5. Würdigung
6. Weiterführende Arbeitsaufgaben
7. Bibliographie
6. Nathan Söderblom (1866–1931)
1. Biographie
2. Inhaltsangabe des Buches
3. Ausgewählter Quellentex
4. Fragen zum Text
5. Würdigung
6. Weiterführende Arbeitsaufgaben
7. Auswahlbibliographie
7. Rudolf Otto (1869–1937)
1. Biographie
2. Inhaltsangabe des Buches
3. Ausgewählter Quellentext
4. Fragen zum Text
5. Würdigung
6. Weiterführende Arbeitsaufgaben
7. Auswahlbibliographie
8. Raffaele Pettazzoni (1883–1959)
1. Biographie
2. Inhaltsangabe des Buches
3. Ausgewählter Quellentext
4. Fragen zum Text
5. Würdigung
6. Weiterführende Arbeitsaufgaben
7. Auswahlbibliographie
9. Walter Baetke (1884–1978)
1. Biographie
2. Inhaltsangabe
3. Ausgewählter Quellentext
4. Fragen zum Text
5. Würdigung
6. Weiterführende Arbeitsaufgaben
7. Auswahlbibliographie
10. Joachim Wach (1889–1955)
1. Biographie
2. Inhaltsangabe des Buches
3. Ausgewählter Quellentext
4. Fragen zum Text
5. Würdigung
6. Weiterführende Arbeitsaufgaben
7. Auswahlbibliographie
11. Gerardus van der Leeuw (1890–1950)
1. Biographie
2. Inhaltsangabe des Buches
3. Ausgewählter Quellentext
4. Fragen zum Text
5. Würdigung
6. Weiterführende Arbeitsaufgaben
7. Auswahlbibliographie
12. Friedrich Heiler (1892–1967)
1. Biographie
2. Inhaltsangabe
3. Ausgewählter Quellentext
4. Fragen zum Text
5. Würdigung
6. Weiterführende Fragen
7. Auswahlbibliographie
13. Gustav Mensching (1901–1978)
1. Biographie
2. Inhalt des Buches
3. Ausgewählter Quellentext
4. Fragen zum Text
5. Würdigung
6. Weiterführende Arbeitsaufgaben
7. Auswahlbibliographie
14. Ernst Benz (1907–1978)
1. Biographie
2. Inhaltsangabe des Buches
3. Ausgewählter Quellentext
4. Fragen zum Text
5. Würdigung
6. Weiterführende Arbeitsaufgaben
7. Auswahlbibliographie
15. Mircea Eliade (1907–1986)
1. Biografie
2. Inhaltsangabe des Buches
3. Ausgewählter Quellentext
4. Fragen zum Text
5. Würdigung
6. Weiterführende Arbeitsaufgabe
7. Auswahlbibliographie
16. Ulrich Mann (1915–1989)
1. Biographie
2. Inhaltsangabe des Buches
3. Ausgewählter Quellentext
4. Fragen zum Text
5. Würdigung
6. Weiterführende Arbeitsaufgaben
7. Auswahlbibliographie
17. Wilfred Cantwell Smith (1916–2000)
1. Biographie
2. Inhalt des Buches
3. Ausgewählter Quellentext
4. Fragen zum Text
5. Würdigung
6. Weiterführende Arbeitsaufgaben
7. Ausgewählte Literatur
18. Kurt Goldammer (1916–1997)
1. Biographie
2. Inhaltsangabe des Buches
3. Ausgewählter Quellentext
4. Fragen zum Text
5. Würdigung
6. Weiterführende Arbeitsaufgaben
7. Auswahlbibliographie
19. Clifford James Geertz (1926–2006)
1. Biographie
2. Inhaltsangabe des Buches
3. Ausgewählter Quellentext
4. Fragen zum Text
5. Würdigung
6. Weiterführende Arbeitsaufgaben
7. Auswahlbibliographie
20. Ninian Smart (1927–2001)
1. Biographie
2. Inhaltsangabe des Buches
3. Ausgewählter Quellentext
4. Fragen zum Text
5. Würdigung
6. Weiterführende Arbeitsaufgaben
7. Auswahlbibliographie
21. Hans-Joachim Klimkeit (1939–1999)
1. Biographie
2. Inhaltsangabe des Buches
3. Ausgewählter Quellentext
4. Fragen zum Text
5. Würdigung
6. Auswahlbibliographie
Quellenverzeichnis
Personenregister

Citation preview

Udo Tworuschka Religionswissenschaft Wegbereiter und Klassiker

Böhlau

UTB 3492

Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar Verlag Barbara Budrich · Opladen · Farmington Hills facultas.wuv · Wien Wilhelm Fink · München A. Francke Verlag · Tübingen und Basel Haupt Verlag · Bern · Stuttgart · Wien Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung · Bad Heilbrunn Mohr Siebeck · Tübingen Nomos Verlagsgesellschaft · Baden-Baden Orell Füssli Verlag · Zürich Ernst Reinhardt Verlag · München · Basel Ferdinand Schöningh · Paderborn · München · Wien · Zürich Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK/Lucius · München Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen · Oakville vdf Hochschulverlag AG an der ETH · Zürich

Udo Tworuschka

Religionswissenschaft Wegbereiter und Klassiker

BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN · 2011

Udo Tworuschka ist Professor für Religionswissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Vordenker der ,Praktischen Religionswissenschaft‘.

Michael Klöcker und Heinz-Jürgen Loth für jahrzehntelange freundschaftliche Zusammenarbeit

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-8252-3492-8 (UTB) ISBN 978-3-412-20710-6 (Böhlau)

Umschlagabbildung: Friedrich Max Müller, aus: Essays on the Science of Religion. New York: Scribner, 1869. © 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D–50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart Satz: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8252-3492-8

5

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

1 Friedrich Max Müller Introduction to the Science of Religion (1873) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

22

2 William James Varieties of Religious Experience (1901/2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

3 Edmund Hardy Was ist Religionswissenschaft? (1898). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49

4 James George Frazer Mensch, Gott und Unsterblichkeit (1932) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

5 Paul Drews ‚Religiöse Volkskunde, eine Aufgabe der praktischen Theologie (1901) . . . . . . . .

81

6 Nathan Söderblom Der lebendige Gott im Zeugnis der Religionsgeschichte (1933) . . . . . . . . . . . . . . .

97

7 Rudolf Otto Das Heilige. Über das Irrationale im Gottesbild und sein Verhältnis zum Rationalen (1917) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

111

8 Raffaele Pettazzoni Der allwissende Gott (1957) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 9 Walter Baetke Das Phänomen des Heiligen (1942) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146

6

Inhalt

10 Joachim Wach Religionswissenschaft. Prolegomena zu ihrer wissenschaftstheoretischen Grundlegung (1924) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 11 Gerardus van der Leeuw Phänomenologie der Religion (1933) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 12 Friedrich Heiler Das Gebet. Eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung (1918). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 13 Gustav Mensching Die Religion. Erscheinungsformen, Strukturtypen und Lebensgesetze (1959) . . 214 14 Ernst Benz Neue Religionen (1971) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 15 Mircea Eliade Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte (1954) . . . . . 255 16 Ulrich Mann Die Religion in den Religionen (1975) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 17 Wilfred Cantwell Smith The Faith of Other Men (1963) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 18 Kurt Goldammer Die Formenwelt des Religiösen. Grundriss der Systematischen Religionswissenschaft (1960) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 19 Clifford Geertz Dichte Beschreibung – Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme (1983) . . . . 318 20 Ninian Smart The Phenomenon of Religion (1973) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 21 Hans-Joachim Klimkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369

7

Vorwort Von dem französischen Reformsozialisten, Historiker und Politiker Jean Jaurès (1859– 1914), der unmittelbar vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges von einem französischen Nationalisten ermordet wurde, stammt ein bedenkenswerter Satz, den ich als Motto über dieses Buch stellen möchte: „Tradition pflegen heißt nicht, Asche aufbewahren, sondern Glut am Glühen halten.“ Die seit dem letzten Drittel des letzten Jahrhunderts einsetzende Kritik an der klassischen Religionsphänomenologie und der „Religionswissenschaft des Verstehens“ (Gustav Mensching), wie sie die deutschsprachige Religionswissenschaft über eine lange Strecke des 20. Jahrhunderts geprägt hatten, war nach meiner Einschätzung auf das Ganze gesehen maßlos und geschichtsblind. Wie bei radikalen Neuanfängen üblich, scherte man sich nicht mehr um vermeintliche Kleinigkeiten, sondern zielte auf das Ganze. Dabei blieben die zum Teil erheblichen Unterschiede in den theoretischen Ansätzen der rücksichtslos vom Sockel geholten Altvorderen auf der Strecke. Man brach Tradition/en rücksichtslos ab, um die Religionswissenschaft fundamental zu transformieren. Diese Wende hat etwas Ideologisches an sich: Bei Wissenschaftlern, denen man vorwarf, den falschen Weg gegangen zu sein (sog. Substantialisten, Religionsphänomenologen), war alles falsch. Umgekehrt galt das Entsprechende. Psychoanalytisch kann man diesen Vorgang als ,Verdrängung‘ bezeichnen: Tabuierte, beunruhigende Inhalte und Vorstellungen wurden von der bewussten Wahrnehmung ausgeschlossen. Verdrängungen treten bei jedem Menschen auf, doch in der Religionswissenschaft nahmen sie gesteigerte Züge an. Mein Buch möchte die Fäden wieder aufnehmen, wo sie abgeschnitten wurden, gekappte Verbindungen zur traditionellen Religionswissenschaft wieder herstellen, um die „Glut am Glühen zu halten“, wie wir sie bei vielen von der Bildfläche verdrängten Religionswissenschaftlern spüren. Neurowissenschaftler untersuchen zurzeit das sog. ,Extinktionslernen‘, also das ,Verlernen‘ – ein Vorgang, der wesentlich komplizierter als Neulernen ist. Ich stelle mir als Leser dieses Buches zum einen solche vor, die unvorbelastet Neues über die klassischen religionswissenschaftlichen Traditionsansätze lernen wollen. Ob es mir gelingt, den ,Anderen‘ Materialien zum Extinktionslernen zu liefern, erscheint mir zweifelhaft. Ich bin der festen Überzeugung, dass uns die verdrängten Religionswissenschaftler bei einer relecture heute noch viel zu sagen haben. Selbstverständlich behandelt das Buch auch andere Religionswissenschaftler, die weniger umstritten sind.

8

Vorwort

Ich danke Ines Becker/Jena herzlich für die Beschaffung der Fotos und Sophie Starke/Weimar für die akribische Arbeit am Register. Beiden danke ich auch für biographische Vorarbeiten. Bei Tony Pacyna/Jena bedanke ich mich für seine Zusammenfassung von Ulrich Mann und einem mir nicht mehr namentlich bekannten Studenten für seinen Biografie-Entwurf zu Paul Drews. Bad Münstereifel, im März 2011

9

Einleitung In den letzten Jahren haben sich das Gesicht der Religionen und der sie erforschenden Religionswissenschaft erheblich verändert. 1950 unterschied Joachim Wach in seinem Aufsatz ‚On Teaching History of Religions‘ [deutsch: „Über das Lehren der Religionsgeschichte“]1 zu Ehren des 60. Geburtstages von Gerardus van der Leeuw vier Epochen der Disziplingeschichte. Zur ersten zählte er Friedrich Max Müller. Der zweite Zeitabschnitt wurde durch dessen „unmittelbaren Schüler“ (Cornelis Petrus Tiele) vertreten. Die dritte Zeitspanne ist unter der Bezeichnung ‚Religionsgeschichtliche Schule‘ bekannt. Zur (für Wach) gegenwärtigen vierten Epoche gehören Gelehrte wie Nathan Söderblom, Rudolf Otto, Gerardus van der Leeuw. Diese vierte Phase ist durch theoretische und methodologische Neubesinnungen abgelöst worden, die grundlegende Voraussetzungen der ‚Klassiker‘ – zum Beispiel die Rede vom „Heiligen“ als gemeinsame Substanz der Religion/en – aufgegeben haben. Auch in Hinsicht auf den Forschungsbereich hat die Religionswissenschaft neue Konturen erhalten. So entstanden aufgrund der zunehmenden Methodenpluralität neue ‚Bindestrichdisziplinen‘ wie Religionsgeographie, -ökologie, -ästhetik, -ökonomie. Religionswissenschaftler haben registriert, dass die Religionsgeschichte weiter geht, dass man sich in Forschung und Lehre nicht auf die klassisch-formativen Epochen der Religionen beschränken kann. Religionswissenschaftler beschäftigen sich daher verstärkt mit ‚aktuellen Religionen, sog. ‚Neuen Religionen‘ und religiösen Phänomenen. Das Interesse an den Beziehungen von Religion/en zu Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur zwingt zur Aufnahme neuer, empirischer Methoden (Stichwort: ‚qualitative Religionsforschung‘). Der Blick von den schriftlichen ‚großen‘ Traditionen zum ‚Mann‘ bzw. zur ‚Frau‘ auf der Straße ist noch durch eine weitere Art von Alltagsorientierung ergänzt worden. Diese betrifft primär die vielfältigen Inhalte, Formen, Funktionen und Adressaten der Vermittlung, also den ‚öffentlichen‘ Gebrauch von Religion/en. Grob typisiert: Religion wird von den Gläubigen, den weniger Gläubigen, auch den ganz und gar Ungläubigen der jeweiligen Tradition/en erlebt, von ihren Spezialisten reflektiert, von Religionswissenschaftlern erforscht und an Hochschulen gelehrt. Religions-, Ethik-, Geschichtslehrende unterrichten in der Schule über Religion/en. Aber die Religionen gelangen noch auf vielfältigere Weise in die Öffentlichkeit: Sie sind dort latent oder manifest greifbar, werden 1

Joachim Wach: Über das Lehren der Religionsgeschichte. In: Günter Lanczkowski (Hg.): Selbstverständnis und Wesen der Religionswissenschaft, Darmstadt 1974, S. 114–123.

10

Einleitung

von einer Vielzahl von Institutionen vermittelt: Sprache, Hörfunk, Fernsehen, Film, Internet, Printmedien, Museen, Ausstellungen, schöngeistige Literatur. Auch Produkte der populären Unterhaltung und die Werbung instrumentalisieren2 Religion/en. Viele (durchaus nicht alle) Religionswissenschaftler verstehen Religionswissenschaft als ‚Kulturwissenschaft‘. Von einem ‚cultural turn‘ ist sogar die Rede. „Wenn man Religionen in einem kulturwissenschaftlichen Zugriff als einen besonderen Typ eines kulturwissenschaftlichen Deutungs- und Symbolsystems versteht, d.h. als Kommunikationssysteme mit einem bestimmten Zeichenvorrat und einer Reihe angebbarer Funktionen, verlagern sich die Anforderungen an die Darstellung religionshistorischer Sachverhalte von der ‚Erschließung‘ religiöser Wahrheiten hin zu einer Aufarbeitung der Elemente des Zeichensystems, ihrer Konstellationen und ihrer ‚Bedeutungen‘ für ‚Geber‘ und ‚Empfänger‘“.3 Wohl seit dem Aufsatz von Clifford Geertz ‚Religion als kulturelles System‘ (1966) macht sich eine Abkehr von der Ansicht bemerkbar, dass wesentlich für Religion/en und ihre Erforschung die persönliche Erfahrung sei. In der Religionswissenschaft wuchs dementsprechend das Interesse an äußeren bzw. äußerlichen Gegebenheiten: Weltbild, Gemeinschaft, Handeln in Ethik und Ritual, Mentalität. An die Stelle essentialistischer Religionsdefinitionen traten funktionalistische. Bei jüngeren Religionswissenschaftlern und deren Studierenden hat dies dazu geführt, dass früher hoch geachtete ‚Klassiker‘ und ‚Wegbereiter‘ des Faches entsprechend einsortiert (N.N. ist Essentialist) und selbstredend abgewertet werden – gleichgültig, was sie zur religionswissenschaftlichen Forschung beigetragen haben. Die Kombination (N.N. ist Essentialist und Religionsphänomenologe) ist die höchstmögliche Steigerung und kommt einer Art Todesurteil gleich – wohlgemerkt bei denen, die sich dem kulturwissenschaftlichen Zugang verschrieben haben und diesen als das allein selig machende ‚Paradigma‘ bezeichnen. Aber gerade dadurch hat die Religionswissenschaft paradoxerweise selbst religiöse Züge (extensiver Absolutheitsanspruch) angenommen. Das jahrzehntelang im deutschsprachigen Bereich dominierende Modell der ‚Religionswissenschaft des Verstehens‘ wird radikal abgelehnt, ihre einst gefeierten Vertreter vom Sockel gestoßen. Dadurch kehrte zugleich eine monotone Einseitigkeit in die (zumindest deutsche) Religionswissenschaft ein, die alles, was ihrem eigenen Ansatz widerspricht, für nicht ‚anschlussfähig‘ hält (ein in Universitäts- und Wissenschaftskreisen beliebter Ausdruck). Das machtvoll vorgetragene Alleinvertretungsrecht der ‚kulturwissenschaftlichen‘ Religionswissenschaft hat zu einem kaum für möglich ge2 3

Michael Klöcker/Udo Tworuschka (Hg.): Praktische Religionswissenschaft. Ein Handbuch für Studium und Beruf, Köln, Weimar, Wien 2008. Burkhard Gladigow: Mögliche Gegenstände und notwendige Quellen einer Religionsgeschichte. In: Ders.: Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft, hg. von Chr. Auffarth und Jörg Rüpke, Stuttgart 2005, S. 23–39, hier S. 35.

Einleitung

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haltenen Traditionsabbruch geführt. Dieser wird u.a. auch im Verhältnis von Religionswissenschaft und Theologie deutlich. Eine Zeit lang war es üblich, Religionswissenschaft ex negativo zu definieren (Religionswissenschaft ist nicht Theologie), dabei die alten Verbindungsfäden zwischen beiden Wissenschaften zu kappen. In den Empfehlungen des Wissenschaftsrates liest man erstaunt: „Es waren im Wesentlichen drei unterschiedliche Forschungsgebiete, die zur Entstehung der Religionswissenschaft am Ende des 19. Jahrhunderts beitrugen. Erstens sind die orientalischen und klassischen Philologien zu nennen, in denen man sich dem Studium schriftlicher Quellen nichtchristlicher Religionen zuwandte. Zweitens haben Kulturanthropologie und Ethnologie, die sich mit den Religionen schriftloser Völker befassten, die Entwicklung der Religionswissenschaft vorangetrieben. Und drittens hat die Soziologie, welche Religion als ein wesentliches Element des sozialen Lebens untersuchte, zur Herausbildung der Religionswissenschaft beigetragen.“4 Dass Religionswissenschaft wesentliche Wurzeln auch in der Theologie hat, wird mit keinem Wort erwähnt. Es ist keine neue Erkenntnis, wenn der Religionswissenschaftler Richard King aus Glasgow Theologie als „the ‚older sibling‘ [Geschwisterteil] of religious studies“5 bezeichnet. Nicht zuletzt diesen Traditionsverlust will das vorliegende Arbeitsbuch beheben, indem es dafür eintritt, einerseits solche Religionswissenschaftler wahrzunehmen, die das Gesicht dieser Wissenschaft über einen längeren Zeitraum geprägt haben, anderseits solche, die sehr eigenwillige, deshalb aber nicht zwangsläufig abzulehnende Ideen vertraten. So hat, um ein Beispiel zu nennen, Ulrich Mann die religionswissenschaftlich heute zurück gewiesene Frage nach dem ‚Wesen‘ der Religion (Stichwort: ‚Religion in den Religionen‘) wach gehalten und gegenüber empirischen Religionswissenschaftlern, die er als Leichtgewichte einstufte, verteidigt. Auch sind Praktische Theologen wie Paul Drews aufgenommen worden, der sich für eine empirische ‚religiöse Volkskunde‘ einsetzte und dabei moderne religionswissenschaftliche Ansichten vertrat, so dass er auch einen Platz in der Geschichte der Religionswissenschaft beanspruchen kann. Ein Lehr- und Arbeitsbuch mit der Absicht, ‚Wegbereiter und Klassiker der Religionswissenschaft‘ vorzustellen, steht angesichts einer kaum übersehbaren Zahl von Gelehrten (fast keine Gelehrtinnen) vor erheblichen Problemen. Unter dem Titel ‚Klassiker der Religionswissenschaft‘6 hat der Indologe Axel Michaels eine Sammlung 4

5 6

Wissenschaftsrat: „Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen (Januar 2010): http://www.akast. info/LinkClick.aspx?fileticket=PgVxIWqhdEg%3D&tabid=37&language=de-DE (Zugriff: 14.10.2010) Orientalism and Religion. Postcolonial Theory, India and ‚the Mystic East‘, London 1999, S. 53. Axel Michaels (Hg.): Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis

12

Einleitung

von 23 Gelehrten-Portraits herausgegeben. Seine Auswahl und meine decken sich nur bei etwas mehr als einem Drittel der Persönlichkeiten: Friedrich Max Müller, Nathan Söderblom, Rudolf Otto, Gerardus van der Leeuw, Friedrich Heiler, Joachim Wach und Mircea Eliade. In seiner FAZ-Rezension vom 20.11.1997 hat der evangelische Theologe Friedrich Wilhelm Graf moniert: „Die Auswahl bleibt dunkel. Kritische Religionshistoriker haben für die heiligen Textsammlungen der Schriftreligionen gezeigt, dass alle Kanonisierung dogmatischen Kriterien folgt. Auch ihrer akademischen Kanonbildung liegen dogmatische Prämissen zugrunde.“ Ich möchte daher meine Auswahl begründen, und ich tue dies unter Bezug auf meine keinesfalls gradlinig verlaufene religionswissenschaftliche Laufbahn.

Mein Weg zur ‚Praktischen Religionswissenschaft‘

In den Jahren vor dem Abitur reifte mein Entschluss, Theologie und Anglistik zu studieren. Die Beantwortung der ‚großen Fragen‘ und die Liebe zur englischen Sprache und Literatur waren dafür ausschlaggebend. Ich schrieb mich am 16.10.1967 an der Rheinischen Friedrich Wilhelms Universität Bonn für die Fächer Evangelische Theologie und Geisteswissenschaften ein, drei Wochen später dann wurde ich zusätzlich in der Philosophischen Fakultät aufgenommen. Von Anfang bis Ende meiner Laufbahn war und bin ich in zwei Fakultäten zu Hause („Zwei Seelen…“). Meine ersten theologischen Semester empfand ich als eng und wenig inspirierend. Theologie in ihrer Bonner Gestalt begegnete mir als eine ‚zänkische Wissenschaft‘ (‚rabies theologorum‘: „Theologengezänk“, noch dazu ‚ad hominem‘), nicht als reflektiertes Antwortpotential auf die ‚großen‘, mich bewegenden Fragen. Für die Theologie ‚gerettet‘ hat mich der Patristiker und Religionspädagoge Heinrich Karpp (1908–1997), dessen spätere studentische und wissenschaftliche Hilfskraft in der Abteilung für „Christliche Archäologie“ ich wurde. Karpps theologisch nicht auf eine bestimmte Schule festgelegtes, offenes Denken empfand ich als vorteilhaft gegenüber dem sonst in Bonn und in der damaligen evangelischen Theologie vorherrschenden ‚Barthianismus‘. Dieser theologischen Richtung – Mensching sprach von ‚Neoorthodoxie‘ – konnte man nicht gerade Sensibilität für die Welt der Religion/en nachsagen. Vom vierten Semester an belegte ich zusätzlich Vergleichende Religionswissenschaft. Ich erinnere mich noch genau an meine erste Vorlesung bei Gustav Mensching: „Prophetie und Mystik in der Religionsgeschichte“. Hatten es die Bonner Theologen verstanden, mir vor lauter Bäumen den Blick auf den Wald gründlich zu verstellen, so gelang es dieser Vorlesung mit einem Schlage, endlich den Wald wahrzunehmen, der Mircea Eliade, München 1997.

Einleitung

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aus vielen einzelnen Bäumen bestand, ähnlichen und unähnlichen, aber immerhin ‚Bäumen‘ (Stichwort: „Familienähnlichkeit“, Wittgenstein). Jesus und Zarathustra, Mani und Muhammad: Unter der Kategorie des ‚Prophetischen‘ rückten sie zusammen, gehörten einem bestimmten Typus von Religion an – so wie auf der anderen Seite Buddha, Hindu-Heilige wie Shankara und Meister Eckhart zum Typus der ‚Mystik‘ gerechnet wurden. Auch wenn ich nicht erst heute, vier Jahrzehnte später, methodologische Probleme mit der Art dieser Kategorienbildung habe, ohne sie jedoch völlig zu verwerfen, so hat es diese eine Vorlesung geschafft, religionsgeschichtliche Weite und Tiefe zu vermitteln, die Welt nach anderen Maßstäben zu vermessen als nur vom eigenen Kirchturm aus. Das Verhältnis von Religionswissenschaft und Theologie mag sich in Bonn besonders schwierig gestaltet haben. Was in der Religionswissenschaft geschah, galt theologisch als irrelevant. Zwischen der Ev.-theologischen Fakultät und dem Seminar für Religionswissenschaft herrschte Funkstille. Theologie zu studieren, ohne elementare Kenntnisse über Religion/en, war nicht nur möglich, sondern normal. Ein Erlebnis vom Anfang der 1970er Jahre hat mein Verhältnis zur Evangelischen Theologie bis heute nicht unberührt gelassen. Es bestand in der Begegnung mit dem Theologieprofessor und damaligen Rector Magnificus der Bonner Universität, HansJoachim Rothert. Ich hatte eine Hausarbeit über ‚Die Mystik bei Meister Eckhard‘ geschrieben – ein für evangelische Theologen randständiges Thema. Zu jener Zeit war ich aber derart von der erwähnten Mensching-Vorlesung beeindruckt, dass ich die Prophetie-Mystik-Typologie an einer konkreten Person ausprobieren wollte. Die Arbeit mit den in Bleistift geschriebenen seltsamen Anmerkungen des Systematischen Theologen besitze ich noch. Sie verraten das völlige Unverständnis für religionswissenschaftliches Denken. Zur Besprechung der Arbeit lud mich der Professor in das Rektoramt ein. Dort fragte er mich (paradoxerweise unter dem Porträt Karl Barths sitzend), was ich studiere und einmal werden wolle. Voller Begeisterung erwähnte ich die besagte Vorlesung. Bis in die Körpersprache hinein missbilligte der Rektor mein religionswissenschaftliches Studium. Er gab mir folgenden Rat: „Studieren Sie zuerst einmal gründlich Theologie. Wenn Sie dann pensioniert sind, können Sie sich ja dafür interessieren, was auf den Molukken passiert“. Das traf, das ‚sitzt‘ noch heute. Ich war angesichts der Enge dieser Theologie konsterniert, die selbst Anfang der 1970er Jahre die ‚Zeichen der Zeit‘ nicht wahrgenommen zu haben schien. Molukken: Chiffre für weit weg, theologisch unerheblich. Damit war die Entscheidung für das Studium der Religionswissenschaft gefallen. Mensching war seit 1969 emeritiert. Meine Dissertation7 über „Die Einsamkeit. Eine 7

Der in dem Wörterbuch der Religionen, Stuttgart 2006, S. 123 zitierte Untertitel „eine religiösphänomenologische Untersuchung“ ist sicher ein Lapsus Calami.

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religionsphänomenologische Untersuchung“ (1972) beschloss die von ihm herausgegebenen „Untersuchungen zur allgemeinen Religionsgeschichte. Neue Folge“. Zwanzig Jahre als Wiss. Assistent, später Dozent und schließlich apl. Professor am ‚Seminar für Theologie und ihre Didaktik‘ an der damaligen Pädagogischen Hochschule Rheinland, Abt. Köln, haben das Profil meiner religionswissenschaftlichen Arbeit entscheidend geprägt. Die evangelische Religionspädagogik befand sich in einer ihrer zahlreichen Umbruchphasen, und das Karussell der Theorien drehte sich relativ schnell. Endlich wurden Religion/en und Religionswissenschaft ernster genommen als vorher. Mein Spezialgebiet wurden die Weltreligionen im Unterricht bzw. die Weltreligionen-Didaktik. Eine Handvoll Kollegen in Deutschland arbeitete kontinuierlich auf dieser Strecke. Von 1973–1993 habe ich versucht, Religion/en und Religionswissenschaft in die evangelische Religionspädagogik so ‚einzubauen‘, dass sie unverzichtbar wurden. Diese Phase meines Lebens, Lehrens und Lernens von Religionswissenschaft im Kontext von Theologie und Erziehungswissenschaft ist aus meiner wissenschaftlichen Biographie nicht wegzudenken. Sie ist so bedeutsam, dass sich ohne sie die ‚Praktische Religionswissenschaft‘ wohl nicht entwickelt hätte. Darüber hinaus hat die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit dem modernen Sozialhistoriker Michael Klöcker das Design meiner Religionswissenschaft entscheidend mit geprägt. Wir haben gemeinsam Themen ‚erobert‘, die für viele Religionswissenschaftler und Theologen damals ungewöhnlich waren: „Essen und Trinken in den Religionen“, „Religionen in den 1950er Jahren“ – „Tiere in den Religionen“ (wir hatten auch das eine oder andere Tier in der Lehrveranstaltung). Ebenso folgenreich war meine Begegnung und Freundschaft mit dem iranischen Muslim und Kölner Islamwissenschaftler Prof. Abdoldjavad Falaturi (1926–1996). Ab Ende der 1980er Jahre entstanden zwei große Forschungsprojekte: „Der Islam in den Schulbüchern der Bundesrepublik Deutschland“ und das Europaprojekt „Islam in Textbooks“. Meine Beziehungen zum Islam und zu Muslimen wurden durch die 15jährige Freundschaft mit dem fachlich und menschlich herausragenden Gelehrten, dessen Festschrift ich 19918 herausgegeben habe, wesentlich geprägt. Ohne dass ich in meinen Kölner Jahren diesen Begriff gebraucht hätte, wurden durch meine Tätigkeit im Rahmen der Lehrerausbildung entscheidende Grundlagen für eine Praktische Religionswissenschaft gelegt. Einen wichtigen Bereich in meinem religionswissenschaftlichen Leben nimmt die publizistische Tätigkeit ein. Ich habe für Printmedien, für Fernsehen und seit ca. 30 Jahren vor allem für den Hörfunk gearbeitet. Immer ging es darum, ‚Laien‘ mit der Welt der Religion/en vertraut zu machen. Das erfordert Konzentration auf das Wesentliche, eine Sprache mit kurzen Sätzen sowie den unbedingten Willen, komplexe 8

Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident (KVRG, Bd. 21), Köln u.a.1991.

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Inhalte zu elementarisieren. Beim Hörfunk habe ich gelernt, verständlich zu schreiben – und das ist realiter in etwa das Gegenteil von professoral. Die letzte Wendung hat mein religionswissenschaftliches Leben durch die Berufung auf den Lehrstuhl für Religionswissenschaft an die Theologische Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena (1993) genommen. Hier war es mir vergönnt, für eine Reihe von Jahren einen Magisterstudiengang in der Philosophischen Fakultät zu etablieren. Das Ergebnis meines wissenschaftlichen Lebenslaufes lässt sich in meiner Definition von Religionswissenschaft ablesen: „Religionswissenschaft beschäftigt sich mit den konkreten Religionen der Vergangenheit und Gegenwart. Dabei tritt/treten dem Religionswissenschaftler Religion/ en immer als ein Ganzes mit verschiedenen Dimensionen entgegen: Erfahrungen, Gemeinschaft, Handlungen, Lehren. Die Erforschung der Religion/en erfordert die angemessene Berücksichtigung der Beziehungen der Religionen zueinander, ihrer Vorstellungen voneinander, der politisch-ökonomisch-sozialen Determinanten sowie ihrer vielfältigen Vermittlungen.“

Praktische Religionswissenschaft und die wechselseitige Wahrnehmung der Religionen

Der britische Schriftsteller, Dichter und Nobelpreisträger (1907) Rudyard Kipling (1865–1936) schrieb die folgenden bekannten Zeilen: „Oh, East is East, and West is West, and never the twain shall meet, Till Earth and Sky stand presently at Gods great Judgment Seat; But there is neither East nor West, Border, nor Breed, nor Birth, When two strong men stand face to face, though they come from the ends of the earth!“

„Oh, Ost ist Ost und West ist West – nie werden die beiden einander begegnen“ – so lautet die häufig zitierte Eröffnungszeile des Gedichts „The Ballad of East and West“ (1889). Dieselben vier Zeilen beschließen auch das Gedicht. Sind die Religionen auf allen Kontinenten nicht schon lange zu einer Herausforderung geworden? Haben nationale Minderheiten und unterdrückte Völker die Religion/en nicht als Bewahrerin ihrer Identität entdeckt? In der Spanne von Fundamentalismus und postmodernem Anything goes wird der Blick frei auf das sich in vielfältigen Formen abspielende Wiedererwachen der Religionen. Wohin man blickt: Religion scheint auf dem Vormarsch. Dass das 20. und 21. Jahrhundert religiös boomen, davon können Religionswissenschaftler viel berichten. In das öffentliche Bewusstsein sind solche Einsichten aber erst allmählich getreten, durch die ‚neuen

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Religionen‘, durch ‚New Age-, Esoterik- und Okkult-Welle‘, durch die Problematik der Arbeitsmigranten, durch Huntingtons Clash of Civilizations, den 11. September… Hat sich Kipling geirrt? Vielleicht muss man seinen Vierzeiler anders lesen; dann relativiert sich die steile Aussage, dann erscheint sie nicht mehr in einem rassistischimperialistischen Licht. Zusammengefasst mag sich Kiplings ‚Botschaft‘ eher so lesen: Auf der Grundlage gemeinsamen Menschseins – verkörpert durch die beiden Kämpfer an der Nord-West Grenze Indiens, dem „pure-bred Englishman“ and dem „pure-bred Afghan“ – zerbrechen die Grenzen zwischen Ost und West. Hermeneutisch gesprochen, haben wir es hier weder mit einer ‚Hermeneutik der Identität bzw. der totalen Differenz‘ (Ram Adhar Mall) zu tun, sondern mit einer „analogischen Hermeneutik“. Diese geht von „Überlappungen“ der Kulturen und Religionen aus, reicht vom Biologisch-Anthropologischen bis zum Politischen.9 Religionswissenschaft vermittelt Kompetenz im Umgang mit Religion/en, religiösen Strömungen, ihren Wertvorstellungen. Von einer ‚Praktischen Religionswissenschaft‘ erwarten viele heute Informationen und Analysen, die einer Neuschaffung von Feindbildern und gegenseitiger Polemisierung entgegenwirken. Die Religionswissenschaft liefert die von vielen erhofften Beiträge zur Toleranz in der Begegnung mit dem ‚Fremden‘. Dem Religionswissenschaftler tritt Religion immer als ein Ganzes mit verschiedenen Dimensionen entgegen: Gemeinschaft, Handlungen, Lehren, Erfahrungen. Bei der Suche nach Vordenkern der Praktischen Religionswissenschaft im 20. Jahrhundert stößt man auf Persönlichkeiten wie Rudolf Otto (1869–1937), Friedrich Heiler (1892–1967), Gustav Mensching (1901–1978), Mircea Eliade (1907–1986) und Wilfred Cantwell Smith (1916–2000). Diese Gelehrten sind die namhaftesten, wenngleich sicher nicht die einzigen in der noch ungeschriebenen Disziplingeschichte. Angesichts der zum Teil dramatischen gesellschaftlich-politischen Verwerfungen weltweit und ‚vor Ort‘ befindet sich die ‚Praktische Religionswissenschaft‘ in neuartigen Entdeckungszusammenhängen. Sie begreift sich als Teil des gesellschaftlichen Kommunikations- und Reflektionsprozesses und versucht, auf den durch die Religionen mit verursachten anschwellenden Problemdruck mit religionswissenschaftlichen Mitteln zu reagieren. Soweit sie die nötigen Grundlagenkenntnisse – zum Beispiel in der Aufarbeitung der wechselseitigen Wahrnehmungs- und Vorurteilsstruktur der Religionen – liefern kann, beteiligt sie sich an der Lösung dieser Probleme, vermittelt den in diesen Praxisfeldern tätigen Personen ihre Überlegungen. Manche Forschungsbereiche (Sozialpolitik, Mediation, Politologie, Konfliktforschung, Familienplanung, Bioethik, Migrationsfragen, Management, internationale Beziehungen, Religionsrecht, interkulturelle Ethik) demonstrieren ein wachsendes Interesse der Sozialwissenschaf9

Ram Adhar Mall: Zur Theorie und Praxis der Toleranz. Eine interkulturelle und interreligiöse Perspektive, Frankfurt/Main 2003 (Gustav-Mensching-Vorlesungen für religiöse Toleranz 2).

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ten an Religion, Religiosität, Frömmigkeit, Spiritualität. Dadurch wachsen der ‚Praktischen Religionswissenschaft‘ neue Anwendungsfelder zu. „In diesen aktuellen Kontexten wird sie zu einer Zubringerwissenschaft, zeigt historische Zusammenhänge auf, stellt kulturvergleichende Perspektiven heraus, durchleuchtet soziologische Prozesse“10.

Interreligiöser Dialog und wechselseitiger Blick

Einer der sich heraus kristallisierenden Schwerpunktbereiche der Praktischen Religionswissenschaft – neben Religionsvermittlung, Religionskritik, aktiv-sozialem Erfahrungslernen – ist der interreligiöse Dialog. Statt einander die Kompetenzen an diesem von Religionswissenschaftlern oft beargwöhnten Geschäft zu bestreiten, sollten Theologen, Religionswissenschaftler und ‚Betroffene‘ ihre unterschiedlichen Kompetenzen einbringen. Die Begegnungs- und Vergegnungsgeschichte (unter Bezug auf Schalom Ben Chorin) der Religionen hat sich in unserem Jahrhundert dramatisch beschleunigt, sodass die Religionskarte der Welt an verschiedenen Stellen neu gezeichnet werden muss. Mission ist nicht länger eine Einbahnstraße; denn lange schon sind die Religionen der Welt dabei, ihre Heilsangebote im Westen zu kommunizieren. Ein einschneidendes Datum war das ‚World Parliament of Religions‘ (1893) in Chicago. Dialog ist Signalwort für bestimmte Einstellungs- und Verhaltenstendenzen, emotional hoch besetzt, allerdings mit einem diffusen Bedeutungsfeld. In dem hier zu besprechenden Problemzusammenhang bezeichnet der Begriff wechselseitige kommunikative Prozesse auf mehreren Ebenen: interdisziplinäre Zusammenarbeit mit theologischen und nicht-theologischen Wissenschaften; die Relation von Religionswissenschaft und Religion/en; das Verhältnis der Religionen zueinander. Von bestimmten historischen Zeiten an ereigneten sich Wechselbeziehungen zwischen den Religionen „in Herausforderungen und Antworten, Konvergenzen und Abhängigkeiten, Missionen und Verschmelzungen, Rezeptionen und Metamorphosen“.11 Auf verschiedene Weise trägt die ‚Praktische Religionswissenschaft‘ dazu bei, das Verhältnis der Religionen zueinander zu analysieren, ggf. zu verbessern. Zum Beispiel in der von der Religionswissenschaft ausgeklammerten Schulbuchanalyse.12 Es ist wichtig, die gegenseitigen Einstellungen, 10 Für den Zusammenhang grundsätzlich Richard Friedli: Toleranz und Intoleranz als Thema der Religionswissenschaft. Von der Lebensmitte der Religionen zur Tiefenkultur der Konflikte (Gustav-Mensching-Vorlesungen für religiöse Toleranz 1), Frankfurt/Main 2003, S. 11. 11 Carsten Colpe: Artikel „Religion und Religionswissenschaft“. In: TRT (Taschenlexikon Religion und Theologie), Göttingen 19834, S. 238–243, hier S. 241. 12 Vgl. die nationalen und internationalen Kölner Schulbuchanalyseprojekte „Islam in deutschen

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Vorurteile und Stereotypen13 wahrzunehmen. Die Religionswissenschaft kann die Entstehung und Tradierung von oft verhängnisvollen Einstellungs- und Wahrnehmungsmustern analysieren, die durch die Religionen bewirkt oder begünstigt wurden. Sie kann Hilfestellungen für Dialoge auf unterschiedlichen Ebenen leisten, indem sie allen Beteiligten ein umfassendes, differenziertes Bild der Religionen zur Verfügung stellt. Dieses Bild muss das Selbstverständnis der Religionen ernst nehmen, sich bemühen, das in ihnen begegnende Fremde nach Kräften vorurteilsfrei wahrzunehmen. Die Auswahl der Gelehrten in diesem Studien- und Arbeitsbuch orientiert sich nicht nur an dem bisher Ausgeführten, sondern auch an der Bedürfnislage der Studierenden. In der jüngeren Generation macht sich die Tendenz bemerkbar, existentielle Fragen nicht länger auszuklammern, sondern mit Hilfe des Faches zu klären. Es kann unterstellt werden, dass eine kulturwissenschaftliche Religionswissenschaft hierfür nicht sehr hilfreich ist. Eine unter Bonner Studierenden veranstaltete Fragebogenaktion erbrachte Aussagen, die ein „allgemeines persönliches Interesse an Religion“, an der „Sinnfrage“ ausdrückten. Es wurde der Wunsch artikuliert, „auch persönlich von der Auseinandersetzung mit verschiedenen Religionen (zu) profitieren“.14 Michael A. Schmiedel bringt diese bestehende Spannung im Titel seines Aufsatzes zum Ausdruck: „Zwischen existenzieller Involvierung und methodischer Distanzierung“.15 Als weiteres Indiz sei eine empirische Studie an den Universitäten Hannover und Göttingen genannt. Sie hat ergeben, dass zu den von Studierenden genannten Erwartungen gehört: „ein mehr oder weniger diffuses Interesse an Religionen(en) aus gesellschaftlichen und politischen oder aus persönlichen Motiven, das im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit der eigenen (Nicht-)Religiosität steht. Die existentielle Orientierung hin zur Religionswissenschaft beruhte auch auf „persönlichen Schicksalsschlägen, wie dem Tod eines Angehörigen“.16

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Schulbüchern“ und „Islam in Textbooks“ in den 1980er und -90er Jahren sowie das von Johannes Lähnemann und Klaus Hock initiierte Projekt: Klaus Hock/Johannes Lähnemann (Hg.): Die Darstellung des Christentums in Schulbüchern islamisch geprägter Länder. Wolfram Reiss: Ägypten und Palästina. Patrick Bartsch: Türkei und Iran, Hamburg 2005. In meinem Buch „Methodische Zugänge zu den Weltreligionen“, Frankfurt/Main-München 1982, die – wenn ich recht sehe – erste religionswissenschaftliche Methodik im deutschsprachigen Raum (Zielgruppe: ReligionspädagogInnen), enthält ein ausführliches Kapitel von Monika Tworuschka über ‚Vorurteile‘, auf die schon im Vorfeld der Beschäftigung mit den Religionen unbedingt zu achten ist. www.uni-bonn.de/Religionswissenschaft/ss1a2.htm (Zugriff 14.10.2010) uni-bonn.de/Religionswissenschaft/ss2a9.htm (Zugriff 14.10.2010) Steffen Führding/AG Lehrforschungsprojekt: Warum Religionswissenschaft? Eine empirische Studie über die Gründe, Religionswissenschaft zu studieren, Marburg 2009, S. 146.

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Das vorliegende Lehr- und Arbeitsbuch möchte eine Lücke schließen, die nach dem Einbruch der kulturwissenschaftlichen Version dieses Faches dazu geführt hat, erhebliche Teile der Religionswissenschaft des 20. Jahrhunderts kategorisch auszuschließen. „Gegenwartsrelevante Forschungsperspektiven“, so heißt es unmissverständlich, „werden von der Religionsphänomenologie nicht mehr erwartet“.17 Dazu etwas Nachdenkliches: „Es ist ein großer Unterschied zwischen etwas noch glauben und es wieder glauben. Noch glauben, dass der Mond auf die Pflanzen würke, verrät Dummheit, aber es wieder glauben zeigt von Philosophie und Nachdenken.“ (Lichtenberg) Eine anthropologisch gewendete, am Menschen orientierte, kontextuelle Religionsphänomenologie interessiert sich dafür, inwieweit Religionen den von Routine und Mechanismus geprägten Alltag beeinflussen. Diese neue Form von Religionsphänomenologie, wie sie in Jena betrieben wird, untersucht, wie religiöse Traditionen die elementaren Vollzüge und Bereiche des menschlichen Lebens prägen: Sexualität, Gesundheit, Lehren und Lernen, Lebensphasen, Leben in der Familie, Essen und Trinken, Kleidung, Arbeit und Freizeit, Wohnverhältnisse, Gestik, Bewegungsweisen, die Einstellung zu Zeit und Raum, zu den Gefühlen, Bedürfnissen und Wahrnehmungen.

Kriterien der Auswahl18

Damit die Auswahl nicht nur nach rein subjektiven Kriterien verläuft, sollen ‚objektive‘ Gründe aufgeführt werden. Angesichts der Fülle von Personen und Werken kann die vorliegende Auswahl nur exemplarisch sein. Das Prinzip, nicht nur Autoren, sondern auch deren wichtigste Werke vorzustellen, stellt ein solches, noch dazu quantitativ begrenztes und didaktisch ausgerichtetes Unternehmen vor fast unlösbare Probleme. Vorgestellt werden erstens Bücher (auch Aufsätze), die zentrale Theorien enthalten und eine kontinuierliche Wirkung entfaltet haben. Daneben werden – zweitens – Werke behandelt, die „nicht unbedingt über eine solche Kontinuität der Wirkung verfügen müssen, aber exemplarisch den Geist einer bestimmten Epoche oder einen bestimmten Denkansatz verkörpern“.19 Ein drittes Auswahlprinzip bezieht das Exem-

17 Anne Koch (Hg.): Watchtower Religionswissenschaft. Standortbestimmungen im wissenschaftlichen Feld, Marburg 2007, S. 8. 18 Meine Argumente lehnen sich an die von Jürgen Court und Eckhard Meinberg in ihrem Vorwort zu dem gemeinsam herausgegebenen Werk Klassiker und Wegbereiter der Sportwissenschaft, Stuttgart 2006, S. 9–15 an. 19 Ebd., S. 10f.

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plarische auf „ein bestimmtes wissenschaftsgeschichtlich bedeutsames Problem“.20 Ein viertes Merkmal besteht darin, dass auch Werke und Autoren vorgestellt werden, die, wie im Falle von Paul Drews, gar nicht zur Religionswissenschaft gehören, aber Fragen gestellt und Methoden entwickelt haben, die sie für die Religionswissenschaft interessant machen. Autoren wie Ernst Benz und Wilfred Cantwell Smith werden in neu(er) en Einführungen des Faches allenfalls am Rand – oft aber auch gar nicht – erwähnt. Dabei sind sie für ein Verständnis von Religionswissenschaft, welche die interreligiösen Beziehungen zu ihrem Thema zählt und besonders für eine Praktische Religionswissenschaft von großer Bedeutung. Das fünfte Merkmal hängt damit zusammen, dass meine Auswahl an Religionswissenschaftlern zu einer Neubewertung einzelner Vertreter der klassischen ‚Religionsphänomenologie‘ führen soll. Sechstens wird man im vorliegenden religionswissenschaftlichen Lehr- und Arbeitsbuch weniger (französische) Soziologen und Ethnologen finden, dafür aber deutsche Religionswissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Die hermeneutisch-philologische Religionswissenschaft interessierte sich vorwiegend für historische Religionen, war also textorientiert. Der zu Beginn der 1970er Jahre begonnene, 20 Jahre später jedoch wieder abebbende Visual, Pictorial oder Iconic Turn machte auf Räume, Gewänder, Bilder, Rituale, Filme, Ausstellungen usw. aufmerksam. Eine Notwendigkeit, die nicht weniger wichtige hörbare Seite der Religion/en zu erforschen, wurde bislang noch nicht erkannt, jedenfalls nicht deutlich artikuliert. Die an einigen religionswissenschaftlichen Standorten betriebene Religionsästhetik dokumentiert nach wie vor die Randständigkeit des (Zu-)Hörens und Horchens, von Klängen, Tönen und Geräuschen.21 Sir James George Frazer und Ernst Benz haben auf dieses Desiderat aufmerksam gemacht. Siebtens sollten die Biographien so persönlich wie möglich ausfallen. Denn die Biographie (auch) eines Religionswissenschaftlers prägt sein Denken, seine Gefühle, seinen gesamten Habitus in unterschiedlicher Weise und unterschiedlich intensiv. Das Ziel benennen heißt gleichzeitig zu bekennen, dass es aufgrund vieler Hindernisse nicht möglich war, die Biographie der vorgestellten Autoren so heranzuziehen, dass sie sich mit Aussagen ihrer Werke in Beziehung bringen lassen. Wer Biographieforschung betreiben will, wie sie letztlich zwar schon sehr alt ist, aber einen enormen Aufschwung seit den 1980er Jahren erlebte, braucht sehr viel mehr Informationen, als 20 Ebd., S. 11. 21 Udo Tworuschka: Vom ‚Visible‘ zum ‚Auditive‘ Turn in der Praktischen Religionswissenschaft. In: Klöcker/Tworuschka, Praktische Religionswissenschaft, a.a.O., S. 76–83. – Ders.: Die ‚Taubheit‘ der Religionswissenschaft. Überlegungen zum ‚Auditive Turn‘. In: Manfred Hutter (Hg.): Religionswissenschaft im Kontext der Asienwissenschaften. 99 Jahre religionswissenschaftliche Lehre und Forschung in Bonn, Berlin 2009, 83–97.

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für die Forscher in der wissenschaftlichen Literatur vorhanden sind. Die Sammlung und Auswertung von Kindheitserinnerungen und Autobiographien, das Interesse an den Innenansichten von Autoren wäre ein bedeutendes Forschungsprojekt, das erst die gewünschten Informationen beschaffen könnte. Für die allesamt nicht mehr lebenden Religionsforscher wäre höchstens das in der empirischen Sozialforschung so genannte ‚nicht-reaktive Verfahren‘ möglich, das in der Auswertung schon existierender Quellen (Autobiographien, Tagebücher, Briefe, Audios, Videos usw.) bestände. Früh hat mein Bonner Kommilitone Sigurd Körber auf die „anthropologische Situation des Religionswissenschaftlers“ hingewiesen.22 Das achte Auswahlkriterium war, dass die ‚Wegbereiter und Klassiker‘ der Religionswissenschaft verstorben sind. Angesichts so vieler bedeutender lebender Autoren ist diese Entscheidung bedauerlich. Gern hätte ich Peter Antes, Hans-Jürgen Greschat, den Religionsphilosophen John Hick, Richard Friedli, Jacques Waardenburg, Karl Hoheisel (gest. Februar 2011) u.a. gewürdigt. Meine Auswahl an Religionswissenschaftlern möchte insbesondere zu einer Neubewertung einzelner Vertreter der klassischen ‚Religionsphänomenologie‘ führen. Alle Persönlichkeiten stelle ich in standardisierter Weise folgendermaßen vor: Am Anfang steht ihre ‚Biographie‘ (1). Dann folgt die ‚Inhaltsangabe‘ (2) des Buches bzw. Aufsatzes, das/den ich exemplarisch ausgesucht habe, weil es/r entweder das zentrale Werk des Autors ist oder seine Gedanken am besten bündelt. Es folgt ein ‚ausgewählter Quellentext‘, der gründlich bearbeitet werden sollte (3). Hilfen dazu bieten die ‚Fragen zum Text‘ (4). Danach versuche ich, den Autor und seine Lebensleistung zu würdigen (5) und danach zu fragen, was vielleicht an seinen Gedanken weiterführend sein könnte. ‚Weiterführende Arbeitsaufgaben‘ (6) stellen Verbindungen zwischen dem Gelehrten und allgemeinen religionswissenschaftlichen Frage- und Problemstellungen dar. Eine ‚Auswahlbibliographie‘ (7) will den Leser nicht mit unübersehbaren Titeln ‚erschlagen‘ und Gelehrsamkeit vortäuschen. Sie ist bewusst knapp gehalten und unterscheidet wichtige Primär- und Sekundärtitel – nach Möglichkeit deutsche.

22 Bedingtheit und Distanzbemühen. Zur anthropologischen Situation des Religionswissenschaftlers. In: Gunther Stephenson (Hg.): Der Religionswandel unserer Zeit im Spiegel der Religionswissenschaft, Darmstadt 1976, S. 293–308.

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1. Friedrich Max Müller (1823–1900) 1. Biographie

Am Anfang der Religionswissenschaft steht der mehr als fünf Jahrzehnte in Oxford wirkende Friedrich Max Müller. Er war ein Urenkel des aufgeklärten Theologen, Pädagogen, Schriftstellers und Philanthropen Johann Bernhard Basedow (1724–1790) und Sohn des romantischen Dichters, Literaturkritikers und Gymnasiallehrers Johann Ludwig Wilhelm Müller (1794–1827), bekannt als ‚Griechen-Müller‘. In seinen ‚Liedern der Griechen‘ begeisterte er sich für den Freiheitskampf des griechischen Volkes gegen die Türken. Auch wenn seine Person den meisten heute weitgehend unbekannt sein dürfte, kennen doch viele sein im Jahre 1818 verfasstes Volkslied ‚Das Wandern ist des Müllers Lust‘. Friedrich Max Müller wurde am 6. Dezember 1823 im Städtchen Dessau im heutigen Sachsen-Anhalt, umflossen von Elbe und Mulde, geboren. Mütterlicherseits erbte er seine große Liebe zur Musik, die auch von seinem Paten, dem Komponisten Carl Maria von Weber, unterstützt wurde. Als Friedrich Max drei Jahre alt wurde, starb sein Vater unerwartet im Alter von 32 Jahren. Müllers frühe Kindheit und Jugend wurde von seiner trauernden Mutter und ihren finanziellen Nöten überschattet. Friedrich Max Müller wuchs bei dem väterlichen Freund Professor Ernst August Carus auf. Dieser verschaffte ihm Eindrücke in die Welt liberaler Denker, machte ihn u.a. mit Persönlichkeiten wie Felix Mendelssohn-Bartholdy und Franz Liszt bekannt. Nachdem Friedrich Max Müller seine Schullaufbahn als Sechsjähriger in Dessau begonnen hatte, wechselte er mit 16 Jahren auf die bis in das 12. Jahrhundert zurück gehende ‚Alte(n) Nikolaischule‘ in Leipzig. Danach studierte er als 17jähriger ab 1841 klassische Philologie (Griechisch, Latein). In Leipzig lernte Müller Theodor Fontane kennen, mit dem er zeitlebens befreundet war. Vom zweiten Semester an bis zum WS 1843/44 belegte er Sanskrit sowie Themen altindischer Literatur und Religion bei Professor Hermann Brockhaus, gehörte somit zur ersten Generation von Indologiestudierenden. Außerdem besuchte Müller auch Philosophievorlesungen. 1843, nach einem nur

Introduction to the Science of Religion (1873)

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18monatigen Studium, wurde er mit einer Arbeit über Spinozas Ethik promoviert. Ein Jahr danach veröffentlichte er sein erstes Werk, eine Übersetzung der indischen Fabelsammlung Hitopadesha. 1844 begab sich Müller nach Berlin, wo er Vorlesungen von Franz Bopp, dem Autor der ersten vergleichenden Grammatik indoeuropäischer Sprachen, Friedrich Rückert, and Friedrich Wilhelm Joseph Schelling hörte. Müller reiste 1845 nach Paris und geriet unter den Einfluss des an der Sorbonne lehrenden Indologen Eugène Burnouf (1801–1852). Dessen Vorlesungen über die Hymnen des Rigveda beeindruckten ihn sehr. 1847 siedelte Müller nach England über, wo ihm die Ostindische Kompanie den Auftrag erteilte, den gesamten Rigveda zusammen mit dem Kommentar des indischen Philosophen Sayana aus dem 14. Jahrhundert herauszugeben. Die Ostindische Kompanie sicherte die Materialbeschaffung und den Unterhalt Müllers finanziell ab. Die Ausgabe erschien in sechs Quartbänden 1849–1874 (2. Aufl. in vier Bänden, Oxford 1890–1892), später auch der Rigveda ohne Kommentar (London 1873). 1851 wurde Müller Mitglied des Christ Church College in Oxford. 1854 erhielt er in Oxford eine Professur für moderne Europäische Sprachen, und 1868 wurde Müller auf den ersten Lehrstuhl für Comparative Theology (1868–1875) am All Souls College in Oxford berufen. Bei der von ihm eigentlich begehrten Professur für Sanskrit kam er 1860 gegen seinen Mitbewerber Sir Monier Monier-Williams nicht zum Zuge. Nach der Gründung der Universität Straßburg (1872) hielt er dort Vorlesungen, kehrte aber bald nach Oxford zurück. Seine Lehrverpflichtungen gab er 1876 auf, um sich fortan der Herausgabe der gigantischen 50-bändigen, darin einen Band „General Index“ einschließenden ‚Sacred Books of the East‘ (SBE) zu widmen. Diese konnten erst ein Jahrzehnt nach seinem Tod abgeschlossen werden (1879–1910), und wurden von der UNESCO als „part of the UNESCO Collection of Representative Works“ ausgezeichnet. SBE enthält Schlüsseltexte aus folgenden Religionen: Hinduismus, Buddhismus, Taoismus, Konfuzianismus, Zoroastrismus, Jainismus und Islam. Die erste Serie dieses Werkes, englische Übersetzungen orientalischer Religionsbücher des Altertums, erschien 1879–1885 in 24 Bänden; die zweite Serie mit 25 Bänden 1886–1895; die dritte wurde 1894 begonnen und sollte ausschließlich Übersetzungen buddhistischer Werke enthalten. Von Müller selbst stammen drei eigene Übersetzungsbände sowie drei Bände, an denen er mitgearbeitet hatte. Allein 31 Bände widmeten sich hinduistischen Texten. Die Aufnahme des Alten und Neuen Testamentes in dieser Reihe scheiterte am Widerstand der Kirche. Der Wahlengländer Müller war eine faszinierende Erscheinung und auf wissenschaftlichem Parkett ebenso zu Hause wie auf gesellschaftlich-politischem, obwohl er dies bestritt und sich gern als einsamer Stubengelehrter stilisierte. Ganz besonders am Herzen lag ihm die deutsch-englische Allianz. Müllers Ansehen in Indien ist bis auf

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Friedrich Max Müller

den heutigen Tag groß. Darauf weisen nicht zuletzt die in Indien ‚Max Mueller Bhavan‘ genannten Kulturinstitute hin, die seit den 1950er Jahren gegründet wurden. Zu Lebzeiten war Müllers Wohnsitz in Oxford eine Art Pilgerstätte für indische Europareisende. Öfter setzte Müller die ‚Sache‘ Indiens gegen britische Interessen durch. Als literarisch und musisch begabter Mann verfasste Müller zu Ehren der Queen Victoria eine indische Nationalhymne auf sanskrit. Wie sehr der Gelehrte religionswissenschaftliche Erkenntnisse populär zu machen wusste, zeigt die Resonanz auf seine Vorlesungen. Die Times nannte sie in ihrem Nachruf ein gesellschaftliches Ereignis. Selbst Queen Victoria wohnte einmal seiner Vorlesung bei. Müllers Lebenserinnerungen ‚Alte Zeiten, alte Freunde‘, die nach seinem Tode herausgegebenen Fragmente seiner Autobiographie (‚Aus meinem Leben‘, 1901) sowie die von seiner Witwe veröffentlichte zweibändige Biographie ‚The life and letters of the R. H‘.23 Friedrich Max Müller (1902) vermitteln Eindrücke seines Lebens. Friedrich Max Müller starb am 20. Oktober 1900 in Oxford.

2. Inhaltsangabe Im Februar und März (nach der Titelei des Nachdrucks: Mai) 1870 hielt Friedrich Max Müller, K.M. (Knight of her Majesty), an der Royal Institution of Great Britain in London vier Vorlesungen über die neue, wohl noch für modisch gehaltene Religionswissenschaft. Sie wurden unter dem Titel „Lectures on the Science of Religion“ 1872 publiziert. Die erweiterte Buchausgabe von 1873 erschien unter dem Titel ‚Introduction to the Science of Religion‘. Die Seitenangaben entsprechen dem ersten indischen Nachdruck von 1972. Müller widmete das Buch dem amerikanischen Transzendentalisten und Unitarier Ralph Waldo Emerson (1803–1882).

Die nur aus wissenschaftshistorischen Gründen interessanten Gedankengänge Müllers sollen hier nicht wiedergegeben werden, sondern der Schwerpunkt liegt auf dem, was aus heutiger Sicht weiterführend ist. Müllers ‚Introduction‘ ist keine systematische Darstellung nach Art eines Lehrbuches für Studierende der Religionswissenschaft. Gleich zu Beginn der ersten Vorlesung thematisiert der Verfasser grundlegende Fragen des neuen Faches, das er ‚Science of Religion‘ bzw. häufiger ‚Comparative Theology‘ nennt. Unter Berufung auf die ‚Declaration of Principles’ der Kirche des Inders Keshab Chunder Sen und der berühmten Felsenedikte des buddhistischen Großkönigs Ashoka fordert Müller den respektvollen Umgang mit dem Gegenstand Religion/en: „true reverence is shown in treating every subject, however sacred, however dear to us, 23 R. H. = Abkürzung für den ehrenvollen Namenszusatz ‚The Right Honorable‘.

Introduction to the Science of Religion (1873)

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with perfect confidence; without fear and without favour; with tenderness and love, by all means, but, before all, with an unflinching and uncompromising loyalty to truth“ (6).24 Sein waches Gespür für die praktische Seite der Religionswissenschaft hatte Müller bereits im ‚Preface‘ des Werkes zum Ausdruck gebracht: „All bear witness to a deep conviction that the study of the ancient religions of mankind will not remain without momentous practical results“ (IX, Kursivierung U.T.). Vor allem die frühe Religionsgeschichte war nach Müller voll von ‚errors‘ und ‚superstitions‘.25 „Im praktischen Leben wäre es falsch, eine neutrale Position zwischen widerstreitenden Ansichten einzunehmen. Wir müssen einen Standpunkt beziehen. Aber als Religionswissenschaftler bewegen wir uns in einer höheren und gelasseneren [„higher and serene“] Atmosphäre. Wir studieren den Irrtum so wie ein Arzt eine Krankheit studiert. Wir suchen nach ihren Ursachen, verfolgen ihren Einfluss, denken über mögliche Heilmittel nach […]. Aber wir überlassen die Anwendung der Arzneien anderen Berufsgruppen: dem Chirurgen oder dem praktischen Arzt.“ (7) Müller setzt sich anschließend mit der Frage nach dem Nutzen des religionsgeschichtlichen Vergleiches auseinander. Er diskutiert die insbesondere von der religiösen Orthodoxie stammenden Einwände, dass jeder Vergleich zur Relativierung der eigenen Religion führe. Hilfestellung gibt ihm die längst etablierte Sprachwissenschaft. Goethe aufnehmend, dass derjenige, der nur eine Sprache kennt, keine kenne (12), folgert Müller für die Religion/en: „He who knows one, knows none“ (13). Müller differenziert zwei Bedeutungen des Begriffes Religion: „When we speak of the Jewish, or the Christian, or the Hindu religion, we mean a body of doctrines handed down by tradition, or in canonical books, and containing all that constitutes the faith of the Jew, Christian, or Hindu“ (13). Religion steht aber auch für eine „faculty of faith in man, independent of all historical religions. […] Without that faculty, no religion, not even the lowest worship of idols and fetishes, would be possible. […] the faculty of the Infinite“ (13f.). Entsprechend dieser Gliederung werden der ‚Science of Religion‘ „two parts“ zugewiesen: ‚Comparative Theology‘, mit der er sich seine Vorlesungen ausschließlich befassen will, und ‚Theoretic Theology‘. Die erste Form beschäftigt sich mit den „historical forms of religion“ (16). Ihre vormals unbekannten Quellen sind in der Zwischenzeit übersetzt und editiert worden, außerdem haben die Informationen der Missionare viel zur empirischen Kenntnis der Religionen beigetragen. Nicht zuletzt die historisch-kritische Forschung hat unterscheiden gelehrt, ob es sich bei manchen Tex24 reverence: Ehrfurcht, Ehrerbietung; confidence: Vertrauen; favour: Gefälligkeit, Gunst; tenderness: Zärtlichkeit; unflinching: unbeirrbar. 25 superstition: Aberglaube.

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ten um solche handelt, die „really ancient“ sind, oder „comparatively modern“ (20). Die entstehende ‚Science of Religion‘ als „ true science“ (29) soll weder das Christentum auf Kosten der anderen Religionen höher bewerten, noch es umgekehrt im Vergleich mit anderen großen Religionstraditionen herabmindern. Gleichwohl: „I make no secret that true Christianity, I mean the religion of Christ, seems to me to become more and more exalted the more we know and the more we appreciate the treasures of truth hidden in the despised religions of the world“ (29).26 In seiner zweite Vorlesung vom 26. Februar 1870 setzte sich Müller mit unterschiedlichen Einteilungsprinzipien der Religionen auseinander, z.B. ‚offenbarte‘ und ‚natürliche‘ Religionen, ‚nationale‘ und ‚individuelle‘, schließlich ‚polytheistische‘, ‚dualistische‘ und ‚monotheistische‘ Religionen. Sein letzter Satz dieser Vorlesung weist auf das Thema der folgenden Vorlesung hin: „to show that the only scientific and truly genetic classification of religions is the same as the classification of languages“ (82). In der dritten Vorlesung vom 5. März klassifizierte Müller die Religionen auf der Grundlage der Erkenntnisse der zeitgenössischen Sprachwissenschaften in drei große Familiengruppen: die „arische“ (Brahmanismus, Zoroastrismus, Buddhismus), die „semitische“ (Judentum, Christentum, Islam) und die „turanische“ (chinesische und zentralasiatische Traditionen). Vor allem die frühen Religionen sind auf natürliche Weise mit der Sprache verbunden, so dass die Klassifikation der Sprachen auch für die Einteilung der Religionen nützlich ist (90). Bei den turanischen Religionen, insbesondere der „old popular religion of China“ beobachtet Müller „the double worship of human and of natural spirits“ (91). Semitische Religionen verehren dagegen den „God in History“ (93), arische den „God in Nature“ (ebd.). Müller will nachweisen, dass es ursprünglich sowohl eine „common Aryan religion“, eine „common Semitic religion“ und eine „common Turanic religion“ gab, bevor diese sich jeweils in verschiedene Untergruppen aufteilten. In seiner vierten Vorlesung vom 12. März wendet sich Müller der bisher ausgeklammerten ‚Theoretic Theology‘ zu, auch ‚philosophy of religion‘ genannt (146ff.). Er thematisiert die Frage nach dem „right spirit in which ancient religions ought to be studied or interpreted“ (147). Heftig kritisiert er dabei die Umgangsweise der Historiker und Theologen mit den Religionen. Er nennt sie ungerecht, herabwürdigend, voller Vorurteile, ignorant, gnadenlos aburteilend, lächerlich machend. Kein Richter würde den schlimmsten Kriminellen derart behandeln wie diese Wissenschaftler ihren Gegenstand. Und überhaupt: „This is not done by accident, but with a set purpose“(148). In dieser Vorlesung entwickelt Friedrich Max Müller Grundzüge seiner universalistischen Religionsauffassung. Sie nimmt Gedanken des späten Lessing auf („Die Erziehung des Menschengeschlechts“, 1780) und postuliert: „An honest and 26 exalted: erhaben; appreciate: schätzen; treasure: Schatz; despise: verachten, schmähen.

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independent study of the religions of the world will […] enable us to see in the history of the ancient religions, more clearly than anywhere else, the Divine education of the human race“ (151). Müller beschließt sein Werk mit sieben ‚Notes and Illustrations‘, die sich auf ausgewählte Inhalte seiner Vorlesungen beziehen: Akbar, die Sprachen Afrikas, vedische Literatur, polynesische Mythologie, Chinesischer Gottesname, Mythologie der Hottentotten. Müller beschließt den Band mit einem ausführlichen Hinweis auf die Reihe ‚The Sacred Books of the Earth‘. 3. Ausgewählter Quellentext 1882 wurde Müller gebeten, eine Vorlesungsreihe (‚Indien in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung, vom Verfasser autorisierte Übersetzung von Carl Cappeller/Jena, 1884) für etwa 1500 23–50jährige Kandidaten des Indian Civil Service in Cambridge zu halten, um sie im Rahmen einer zweijährigen Ausbildung auf den Verwaltungsdienst in Indien vorzubereiten. Zum Curriculum gehörten Geographie, Geschichte, Recht und Ökonomie Indiens sowie Kenntnisse derjenigen Regionalsprache, die für das jeweilige Tätigkeits- und Sprachgebiet nötig war, außerdem Sanskrit oder Arabisch. Diese Deputy Commissioners oder District Magistrates verwalteten jeweils ca. zwei Millionen Menschen. Müller wollte mit seinen Vorlesungen Vorurteile beseitigen und den Wert der indischen Kultur hervorheben. Abschnitte aus seiner ersten Vorlesung ‚India – what can it teach us? werden im Folgenden abgedruckt.

Wenn ich auf der ganzen Welt Umschau hielt, um dasjenige Land auszufinden, welches am üppigsten ausgestattet ist mit all dem Reichtum, all der Kraft und Schönheit, welche die Natur verleihen kann, – in einigen Teilen ein wahres Paradies auf Erden – ich würde auf Indien weisen. Wenn man mich fragte, unter welchem Himmel der menschliche Geist einige seiner auserwähltesten Gaben am vollsten entwickelt, über die größten Probleme des Lebens am tiefsten nachgedacht und zu manchen derselben Lösungen gefunden hat, welche die Beachtung selbst derjenigen, die Plato und Kant studiert haben, wohl verdienen – ich würde auf Indien weisen. Und wenn ich mich selbst fragte, aus welcher Litteratur wir hier in Europa, die wir beinahe ausschließlich von den Gedanken der Griechen und Römer, und einer semitischen Rasse, der jüdischen, gezehrt haben, dasjenige Korrektiv herleiten können, dessen wir am meisten bedürfen, um unser inneres Leben vollkommener, umfassender, universeller, in Wahrheit menschlicher zu machen, zu einem Leben nicht nur für diese Welt, nein zu einem verklärten und ewigen Leben zu gestalten – ich würde wiederum auf Indien weisen. Ich weiß, Sie werden überrascht sein, mich dies sagen zu hören. Ich weiß, dass ganz besonders diejenigen, welche viele Jahre eines thätigen Lebens in Calcutta, Bombay oder Madras zugebracht haben, bei der Vorstellung schaudern werden, dass die Menschheit,

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welche man dort trifft, sei es in den Bazaren oder in den Gerichtshöfen oder in der so genannten eingebornen Gesellschaft, imstande sein soll, uns etwas zu lehren. Deshalb möchte ich es meinen Freunden, welche vielleicht Jahre lang in Indien gelebt haben, als Civilbeamte oder Offiziere oder Missionäre oder Kaufleute, und welche ein gut Teil mehr von jenem Lande kennen müssen, als einer, der niemals seinen Fuß auf den Boden von Âryâvarta gesetzt hat, auf einmal klar machen, dass wir von zwei ganz verschiedenen Indien reden. Ich denke besonders an Indien, wie es vor tausend, zweitausend, mag sein dreitausend Jahren war; sie denken an das Indien von heute. Und wiederum, wenn sie an das Indien von heute denken, so erinnern sie sieh hauptsächlich an das Indien von Calcutta, Bombay oder Madras, an das Indien in der Stadt. Ich blicke auf das Indien der Dorfgemeinden, das wahre Indien der Inder. […] Und nehmen Sie das, was uns, ob wir es nun bekennen oder verleugnen, in diesem Leben mehr am Herzen liegt als alles andere, ja was oft denjenigen, die es verleugnen, weit mehr am Herzen liegt als denjenigen, die es bekennen, nehmen Sie das, was alle unsere Thaten und Gedanken und Hoffnungen trägt, durchdringt und leitet – ohne das es weder eine Dorfgemeinde noch ein Kaiserreich geben kann, weder Sitte noch Gesetz, weder Recht noch Unrecht – nehmen Sie das, was nächst der Sprache am schärfsten die specifische und beständige Grenze zwischen Mensch und Tier abgesteckt hat – was allein das Leben möglich und erträglich gemacht hat, und was, wie es die tiefste, wenn auch oft verborgene Triebfeder des individuellen Lebens, so auch die Grundlage alles nationalen Lebens ist – die Geschichte aller Geschichte und doch das Mysterium aller Mysterien – nehmen Sie die Religion: wo können Sie ihren wahren Ursprung, ihre natürliche Entwickelung und ihren unvermeidlichen Verfall besser studieren als in Indien, der Heimat des Brahmanismus, der Geburtsstätte des Buddhismus und des Zufluchtsortes des Zoroastrianismus, selbst jetzt noch die Mutter neuer abergläubischer Lehren – und warum nicht in Zukunft das wiedergeborene Kind des reinsten Glaubens, wenn es nur erst gereinigt ist von dem Staub von neunzehn Jahrhunderten? Überall werden Sie sich in Indien zwischen einer unermesslichen Vergangenheit und unermesslichen Zukunft finden mit Gelegenheiten, wie sie Ihnen die alte Welt nur selten, wenn überhaupt jemals, bieten kann. Nehmen Sie einige von den brennenden Fragen des Tages – die Fragen des Volksunterrichts, des höheren Unterrichts, der parlamentarischen Vertretung, der Gesetzescodification, die Finanz-, die Auswanderungs-, die Armengesetzfrage – und haben Sie nur irgend etwas zu lehren und zu versuchen, oder zu beobachten und zu lernen: Indien wird Ihnen ein Versuchsfeld liefern, wie es sonst nirgends existiert. Ja sogar jenes Sanskrit, dessen Studium auf den ersten Anblick so langweilig und unnütz erscheinen mag, wird Ihnen, wenn Sie es nur weiter treiben, wie Sie es hier zu Cambridge besser als sonst irgendwo thun können, große Litteraturschichten eröffnen, welche bis jetzt fast unbekannt und unerforscht geblie-

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ben sind, und Ihnen eine Einsicht gestatten in eine Schatzkammer von Gedanken, tiefer, als Sie solche zuvor gekannt, und reich an Lehren, welche die innigsten Sympathien des menschlichen Herzens wach rufen. Verlassen Sie sich darauf, wenn Sie sich nur Muße verschaffen können, wird Ihnen Indien für Ihre Mußestunden reichliche Arbeit liefern. Indien ist nicht, wie man denken könnte, ein fernes, seltsames, oder auch nur ein sonderbares Land. Indien gehört für die Zukunft zu Europa, es hat seine Stelle in der indo-europäischen Welt, es hat seine Stelle in unserer eigenen Geschichte und in dem, was das eigentliche Leben der Geschichte ausmacht, in der Geschichte des menschlichen Geistes. […] Und während ich mich so bemühe, denjenigen, welche ihr Schicksal bald in Indien versuchen werden, die wahre Stellung zu erklären, welche dies Land in der Weltgeschichte einnimmt oder einnehmen sollte, kann ich vielleicht zu gleicher Zeit an das Wohlwollen anderer Mitglieder dieser Universität appellieren, indem ich ihnen zeige, wie unvollkommen unsere Kenntnis der Weltgeschichte, unsere Einsicht in die Entwickelung des menschlichen Geistes immer bleiben muss, wenn wir unseren Horizont auf die Griechen und Römer, Sachsen und Kelten, mit einem verschwommenen Hintergrund von Palästina, Ägypten und Babylon beschränken, und dabei unsere nächsten geistigen Verwandten außer Acht lassen, die Arier Indiens, die Bildner der wunderbarsten Sprache, des Sanskrit, unsere Mitarbeiter im Aufbau unserer Grundvorstellungen, die Väter der natürlichsten der Naturreligionen, die Schöpfer der durchsichtigsten der Mythologien, die Erfinder der scharfsinnigsten Philosophie und die Geber der ausführlichsten Gesetze. Es giebt viele Dinge, welche wir in einer liberalen Erziehung für wesentlich halten, ganze Kapitel der Geschichte, welche wir auf unseren Schulen und Universitäten lehren, die sich nicht einen Augenblick mit dem auf Indien bezüglichen Kapitel vergleichen lassen, wenn es nur richtig verstanden und unbefangen erklärt wird. In unserer Zeit, wo das Studium der Geschichte beinahe eine Unmöglichkeit zu werden droht – so groß ist die Masse von Details, welche die Geschichtsschreiber in den Archiven sammeln und in Monographien vor uns ausgießen – scheint es mir mehr als je die Pflicht des wahren Geschichtsschreibers zu sein, das wirkliche Verhältnis der Dinge aufzufinden, seinen Stoff nach den strengsten Regeln der künstlerischen Perspektive anzuordnen, und alles dasjenige vollständig außer Acht zu lassen, was wir bei unserem eigenen Durchgang über die geschichtliche Bühne der Welt nicht zu wissen verpflichtet sind. Es ist diese Fähigkeit, das zu entdecken, was wirklich wichtig ist, die den wahren Geschichtsschreiber von dem bloßen Geschichtenschreiber unterscheidet, in dessen Augen alles wichtig ist, besonders wenn er es selbst entdeckt hat. Ich denke, es war Friedrich der Große, welcher nach einem wahren Geschichtsschreiber seiner Regierung seufzte und sich bitter darüber beklagte, dass diejenigen, welche

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die Geschichte Preußens schrieben, niemals vergaßen, die Knöpfe seiner Uniform zu beschreiben. Und vermutlich dachte Carlyle [1795–1881; schottischer Essayist und einflussreicher Historiker im viktorianischen England] an historische Werke dieser Art, als er sagte, er sei durch sie alle hindurchgewatet, aber nichts sollte ihn jemals dazu bewegen, auch nur ihre Namen und Titel der Nachwelt zu überliefern. Und doch, wie vieles ist selbst in Carlyles Geschichte, was man ohne Schaden der Vergessenheit überliefern könnte! […] Aber man könnte sagen: Dies mag nun genug sein. Wir wollen unter allen Umständen das wissen, was wissenswert ist von unseren wirklichen geistigen Vorfahren in den großen historischen Weltreichen; wir wollen dankbar sein für alles, was wir von den Ägyptern, Babyloniern, Phöniciern, Juden, Griechen, Römern und Sachsen ererbt haben. Aber warum sollen wir Indien dazu nehmen? Warum eine neue Last zu dem hinzufügen, was jedermann schon zu tragen hat, ehe er sich ordentlich gebildet nennen kann? Was haben wir von den dunkeln Menschen, die am Indus und am Ganges wohnen, geerbt, um ihre Königsnamen und Jahreszahlen und Thaten in die Tafeln unseres bereits überbürdeten Gedächtnisses einzureihen? In dieser Klage liegt etwas von Berechtigung. Die alten Bewohner Indiens sind nicht unsere geistigen Vorfahren auf demselben geraden Wege, wie es die Juden, Griechen, Römer und Sachsen sind; aber sie stellen nichtsdestoweniger einen Seitenzweig jener Familie vor, zu welcher wir unserer Sprache, d. i. unserem Denken nach, gehören, und ihre historischen Erinnerungen reichen in mancher Hinsicht so weit über alle anderen Erinnerungen hinaus und sind uns in so vollkommenen und so lesbaren Dokumenten erhalten, dass wir aus ihnen Lehren ziehen können, welche wir sonst nirgends finden, und durch sie in den Stand gesetzt werden, fehlende Glieder in der Kette unserer geistigen Ahnenreihe zu ergänzen, die viel wichtiger sind, als jenes – übrigens sehr entbehrliche – fehlende Mittelglied zwischen Affe und Mensch. […] Hier werden Sie sehen, weshalb ich eine gewisse Kenntnis von Indien als den wichtigen Theil einer liberalen oder historischen Erziehung betrachte. Der Vorstellungskreis der europäischen Menschen ist durch unsere Bekanntschaft mit Indien verändert und weit ausgedehnt worden, und wir wissen jetzt, dass wir etwas anderes sind, als wir dachten. Gesetzt die Amerikaner hätten infolge irgend einer Sintflut ihre englische Herkunft vergessen und fänden sich nach zwei oder dreitausend Jahren im Besitz einer Sprache und einer Reihe von Vorstellungen, welche sie bis zu einer bestimmten Zeit historisch zurückverfolgen könnten, welche aber zu jener Zeit gewissermaßen vom Himmel gefallen schienen, ohne dass es irgend eine Erklärung ihres Ursprunges und ihrer früheren Entwickelung gäbe: was würden sie sagen, wenn ihnen plötzlich die Existenz einer englischen Sprache und Litteratur geoffenbart würde, wie sie im siebzehnten Jahrhundert vorhanden waren, so dass alles, was früher beinahe wunderbar schien, seine Erklärung, und fast jede Frage, die gestellt werden könnte, ihre Beantwortung fände! Nun, das ist

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ungefähr dasselbe, was die Entdeckung des Sanskrit für uns bedeutete. Sie hat unserem historischen Bewusstsein eine neue Periode hinzugefügt, und den Erinnerungen unserer Kindheit, welche für immer verschwunden schienen, neues Leben eingehaucht. Was wir sonst auch immer gewesen sein mögen, es steht jetzt vollkommen fest, dass wir vor vielen tausend Jahren etwas gewesen sind, was sich noch nicht zu einem Engländer oder einem Sachsen oder einem Griechen oder einem Hindu entwickelt hatte, und doch die Keime des Charakters aller dieser Völker in sich enthielt. Ein seltsames Wesen, mögen Sie sagen. Ja, aber bei alledem ein sehr reales Wesen, und ein Vorfahr dazu, auf den wir lernen müssen stolz zu sein, und dies viel mehr, als wir es auf irgend einen unserer modernen Vorfahren, wie die Normannen, Sachsen, Kelten oder alle die anderen, sein dürfen. Und dies ist noch nicht alles, was ein Studium des Sanskrit und der übrigen indogermanischen Sprachen für uns gethan hat. Es hat nicht nur unsere Anschauung über den Menschen erweitert und uns gelehrt, Millionen von Fremdlingen und Barbaren als Mitglieder einer Familie zu umfassen, sondern es hat der ganzen alten Geschichte des Menschen eine Realität verliehen, die sie zuvor nie besaß. […] Aber ich darf mich nicht von meinem eigentlichen Gegenstande abziehen lassen. Ich möchte es Ihnen nur von vornherein nachdrücklich einprägen, dass die Resultate der Sprachwissenschaft, welche ohne die Hülfe des Sanskrit niemals erreicht worden wären, ein wesentliches Element von dem bilden, was wir eine liberale, d. i. eine historische Bildung nennen, eine Bildung, welche den Menschen fähig macht, sich zu orientieren, d.h. seinen Osten, seinen wahren Osten zu finden, und so seine wirkliche Stellung in der Welt zu bestimmen, den Hafen zu erkennen, aus dem der Mensch ausgefahren ist, den Kurs, welchen er genommen, und den Hafen, nach welchem er zu steuern hat. Wir alle kommen vom Osten; alles das, war wir am meisten schätzen, ist vom Osten zu uns gekommen, und bei einer Fahrt nach dem Osten sollten nicht nur diejenigen, welche eine orientalische Bildung empfangen haben, sondern jeder, der die Vorteile einer liberalen, d.h. historischen Erziehung genossen hat, fühlen, dass er nach seiner ‚alten Heimat‘ geht, die voll ist von Erinnerungen, wenn er sie nur zu lesen vermag.

4. Fragen zum Text 1. Warum ist Indien für Müller ein „Paradies auf Erden“? 2. Wieso ist Indien geeignet, „unser inneres Leben vollkommener, umfassender, universeller, in Wahrheit menschlicher zu machen“? 3. Müller ist „einer, der niemals seinen Fuß auf den Boden von Âryâvarta [‚Heimat der Arier‘]“ gesetzt hat. Warum kokettiert er mit einer solchen Aussage? Wie beurteilen Sie sie?

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4. Welche „zwei verschiedene Indien“ hat Müller im Blick? 5. Wie soll man es verstehen, wenn Müller als Vertreter eines ‚textlichen‘ Indiens der ‚großen Tradition‘ „das Indien der Dorfgemeinden, das wahre Indien der Inder“ nennt? 6. Indien ist für Müller ein Musterbeispiel für „wahren Ursprung […] natürliche Entwickelung […] unvermeidlichen Verfall“ und Wiedergeburt „des reinsten Glaubens von Religion.“ Wie begründet Müller diese geschichtsphilosophische Aussage? 7. Interpretieren Sie folgende Aussage: „Indien gehört für die Zukunft zu Europa, es hat seine Stelle in der indoeuropäischen Welt, es hat seine Stelle in unserer eigenen Geschichte und in dem, was das eigentliche Leben der Geschichte ausmacht, in der Geschichte des menschlichen Geistes.“ 8. Warum hält Müller „eine gewisse Kenntnis von Indien als den wichtigen Theil einer liberalen oder historischen Erziehung“ für notwendig?

5. Würdigung

Friedrich Max Müller zählt zu den Pionieren und Gründervätern der Religionswissenschaft. Zu Lebzeiten war er eine der berühmtesten Persönlichkeiten des Victorian Empire. Müller musste seine religionswissenschaftliche Herangehensweise an Mythologie und Religion/en gegen den an den Universitäten durchweg dominierenden konservativen anglikanischen Geist behaupten. Mit der Herausgabe seiner ‚Sacred Books of the East‘ ermöglichte er Lesern den eigenständigen Zugang zu einer faszinierenden nicht-europäischen Religionswelt. Vertreter einer ‚orthodoxen Lesart‘ des Christentums, Anglikaner wie Katholiken, kritisierten heftig Müllers Ansichten vom Wesen der Religion. Sie galten als pantheistisch bzw. irreligiös, stellten angeblich einen „Kreuzzug gegen die göttliche Offenbarung, gegen Jesus Christus und das Christentum“ dar – so der römisch-katholische Bischof Munro von der St. Andrews Cathedral in Glasgow. Gegen derartige Engherzigkeit und Kleingeisterei argumentierte Müller mit einer liberalen theologischen Argumentationsweise, dass ‚Gott‘ sich auf vielfältige Weise in Geschichte und Natur offenbart. Jede Religion der Menschheit besitze Körner der Wahrheit, keine ist völlig ohne Wahrheit. Dem imperialistischen Zeitgeist mit seiner Geringschätzung der vermeintlich unterentwickelten, rückständigen und abergläubischen Völker stellte Müller seine These entgegen, dass Europa vom Orient viel lernen kann (‚Indien in seiner Weltgeschichtlichen Bedeutung‘, Leipzig 1884; Original: ‚India – what can it teach us?‘, London 1883). Darin würdigte er die Beiträge indischer Denker und Dichter als philosophisches und literarisches Welterbe. Den Europäern riet er, sich diese Schätze anzueignen. Friedrich Max Müllers Auffassung von Religionswissenschaft nahm Gedanken vor-

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weg, die Mircea Eliade, Gustav Mensching u.a. später wieder aufgriffen: Religionen sind nicht nur reine Wissenschaftsobjekte, vielmehr bergen sie ein Bildungspotential, enthalten geistige Reichtümer, die es zu ‚heben‘ gilt. Schon zu Lebzeiten wurden Müllers Ansichten über Mythos und Mythologie angegriffen. Am Anfang von Religion stand für Müller das Staunen des Menschen, seine sinnliche Erfahrung der vielfältigen Naturerscheinungen. Der frühe Mensch bewunderte die ihm unerreichbaren und unkontrollierbaren Naturobjekte wie Sonne, Feuer, Wind, Donner. Er kann noch nicht abstrakt denken und bewegt sich im Konkreten. Dies führte dazu, dass er abstrakte Naturbegriffe in seinen Mythen anthropomorphisiert. Der Frühzeitmensch bediente sich einer ‚mytho-poetischen‘ Sprache. Die Mythen aus mytho-poetischem Zeitalter wurden fehlerhaft tradiert und entstellt: „Mythology is a disease [Krankheit] of language“ („Lectures on the Science of Language“, 1861) Die Rekonstruktion ursprünglicher Bedeutungsinhalte kann nur mit Hilfe der Philologie erfolgen. Außerdem glaubte Müller, mit der Sonne (Aufgang, Untergang, Tag, Nacht, Morgenröte) ein Naturphänomen benennen zu können, das am Ursprung aller Mythen gestanden habe. Im Grunde genommen, waren für ihn alle Legenden, Märchen und Mythen ‚korrumpierte Solarmythen. Müller zog die Sonne und ihren Lauf oft heran, um Mythen zu erklären. Seit den 1880er Jahren trug ihm dies den Spott seiner Zeitgenossen ein. Anthropologen wie Herbert Spencer, Edward Burnett Tylor und sein Schüler Andrew Lang kritisierten Müllers naturmythische Erklärungen. Die Auseinandersetzung des schottischen Schriftstellers und Journalisten Andrew Lang mit Müllers Thesen in seinem Artikel ‚Mythology‘ in der ‚Enyclopedia Britannica‘ (1884) deckte viele Schwächen der Müllerschen Erklärungen auf. Eine Begriffsschöpfung hat überlebt: ‚Henotheismus‘. Dieser Terminus erwies sich als einflussreich und wird bis heute in der Religionswissenschaft, wenngleich kritisch, verwendet. Auch die sowohl in Deutschland als auch in Amerika lange Zeit weit verbreitete Disziplinbezeichnung ‚Vergleichende Religionswissenschaft‘ geht auf Müllers Vorstellung von Religionswissenschaft zurück. Hervorzuheben ist Müllers außerordentliche Energie und Schaffenskraft als Schriftsteller und Übersetzer. Insbesondere seine Fähigkeit, ein allgemeines, gebildetes Publikum anzusprechen und für seine Themen buchstäblich zu begeistern, soll hervorgehoben werden. Im ‚Vorwort seiner „Lectures on the Science of Religion“ spricht Müller die praktische Seite der Religionswissenschaft an (s.o.). Religionswissenschaft weitet den religiösen Horizont, vergrößert unsere Sympathien gegenüber fremden Menschen und ihren Religionen und vermehrt angesichts seiner universalen Perspektive unser Bewusstsein über die ‚small controversies‘ (IX). Im Unterschied zu Müllers Engagement, religionswissenschaftliche Erkenntnisse populär zu machen und in die Breite zu wirken, versucht die deutsche Religionswis-

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senschaft – bis auf Ausnahmen mehr oder weniger erfolglos –, die Öffentlichkeit für ihr Fach zu interessieren.

6. Weiterführende Arbeitsaufgaben 1. Müllers Interesse richtete sich auf die Erforschung der reinen Frühzeitreligion und die Freilegung einer Urreligion. Er glaubte, dass „eine genealogische, mit den Sprachen parallel laufende Classifikation der Religion möglich ist“. Lesen Sie dazu H.G. Kippenberg: „Die Entdeckung der Religionsgeschichte“, München 1997, 70–76. 2. Von Müllers Begriffsschöpfungen hat nur eine überlebt: Henotheismus. Klären Sie anhand religionswissenschaftlicher Lexika diesen Begriff im Unterschied zum Begriff ‚Monotheismus‘. 3. Lohnt es sich überhaupt, mit Müller zu beschäftigen, wo sich die meisten seiner Thesen doch geschichtlich erledigt haben? 4. Sind Religionen bloße Systeme, denen man ‚objektiv‘ gegenüber steht, oder handelt es sich um menschliche Angelegenheiten, zu denen man in Beziehung treten kann? Kann Müller dabei eine Hilfe sein?

7. Auswahlbibliographie Primärliteratur

Einleitung in die Vergleichende Religionswissenschaft. Vier Vorlesungen, Straßburg, 1874. Sacred Books of the East, Oxford 1875. Indien in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung, Leipzig 1884. Chips from a German workshop, 4 Bände, London 1868–1875. Beiträge zur Kenntniss der indischen Philosophie, Leipzig 1852/53. Comparative Mythology, London 1856. Deutsche Liebe. Aus den Papieren eines Fremdlings, Leipzig 1857. Die Bedeutung von Nirvana, Leipzig 1857. Griechische Mythologie, Leipzig 1869. Vergleichende Mythologie, Leipzig 1869. Vorlesungen über den Ursprung und die Entwickelung der Religion, mit besonderer Rücksicht auf die Religionen des Alten Indiens, Straßburg 1880.

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Sekundärliteratur

Bosch, Lourens P. van den: Friedrich Max Müller. A life devoted to the humanities, Leiden u.a. 2002. Chaudhuri, Nirad C.: Friedrich Max Müller. Ein außergewöhnliches Gelehrtenleben im 19. Jahrhundert, Heidelberg 2008. Schlender, Friedemann: Traumflieger ohne Landeplatz. Max Müller – eine deutsche Legende in Indien, Berlin 2000. Klimkeit, Hans-Joachim: Friedrich Max Müller (1823–1900). In: Michaels, Axel (Hg.): Klassiker der Religionswissenschaft, München 2004. S. 29–40. Träger, Gloria: Interkulturelle Kompetenz am Beispiel Indiens. Von Max Müller bis heute, GRIN-Verlag 2009.

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2. William James (1842–1910) 1. Biographie

William James wurde am 11. Januar 1842 als erster Sohn von Henry James und Mary Walsh James in New York City geboren. Sein Vater war Philosoph, und seine Familie musste oft innerhalb von Europa und Amerika umziehen. Damit verbunden waren auch häufige Schulwechsel für James. Sein ein Jahr jüngerer Bruder Henry zählt zu den bedeutendsten amerikanischen Romanschriftstellern (u.a. „The Portrait of a Lady“, 1881; „The Turn of the Screw“, 1898; „The Wings of the Dove“, 1902). Aufgrund des Vermögens, das der Großvater seiner Familie hinterließ, wurden James und seine Geschwister frühzeitig durch Reisen gefördert und konnten ihren Neigungen, z. B. Malerei und Theaterspiel, nachgehen. 1855–1858 bereiste seine Familie Europa. William besuchte Schulen in Genf, Paris und Boulogne-sur-Mer. 1861 begann er in Harvard Chemie, Biologie und Medizin zu studieren. James beteiligte sich an einer Expedition am Amazonas, wobei er an einer milden Form von Masern erkrankte. Er erholte sich und fuhr den Amazonas hinauf. Dabei sammelte er Objekte für das von seinem Lehrer, dem schweizerisch-amerikanischen Naturforscher Louis Agassiz (1807–1873) geleitete Zoologische Museum in Harvard. Aufgrund der Erkrankung sah er sich zu wiederholten Kuraufenthalten gezwungen. Dabei wandte er sich dem Studium der Philosophie und Religion zu. Ab 1872 lehrte er Anatomie und Physiologie in Harvard und hielt 1875 seinen ersten Psychologie-Kurs ab. Als 18jähriger begann er eine Ausbildung zum Kunstmaler, die er schon bald aufgab, um in Harvard Chemie, vergleichende Anatomie und Medizin zu studieren. 1867 verließ er die Universität, um in Dresden und Berlin bei Herrmann von Helmholtz (1821–1894) zu studieren. Während dieser Zeit lernte er die Schriften des französischen Philosophen Charles Renouvier (1815–1903) kennen. Diese prägten James stark und lösten in ihm eine persönliche sowie intellektuelle Krise aus. 1868 schloss er sein Medizinstudium an der Harvard Medical School ab, war jedoch physisch und psychisch nicht in der Lage, diesen Beruf

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auszuüben. Ständig litt er unter Angstzuständen und lebte noch bis 1872 zu Hause. Von 1872–1876 besetzte James eine Professor für Physiologie und vergleichende Anatomie in Harvard. Seine Heirat mit Alice H. Gibbens 1878 lässt seine psychischen Leiden fast vollständig verschwinden und markiert einen entscheidenden Wendepunkt in seinem Leben. 1882 unternahm William James Reisen durch Europa, wo er u.a. mit dem österreichischen Physiker und Philosophen Ernst Mach, dem Völkerpsychologen Wilhelm Wundt, dem französischen Neurologen Jean Charcot, dem britischen Historiker, Schriftsteller und Bergsteiger, dem Vater von Virginia Woolf, zusammentraf. 1890 erschien James großes Werk über „The Principles of Psychology“ (1898). Er bekannte sich in seiner Vorlesung „Philosophical Conceptions and Practical Results“ (1898) als Pragmatiker. In seinen Abhandlungen „A Pluralistic Universe“ (1909) and „Essays in Radical Empiricism“ (1912) entwickelte James seine metaphysische Position: Es gibt keine feststehende äußere Welt, die der philosophische Geist zu durchdringen versucht, sondern eine „humming-buzzing confusion“, welche die Erfahrung organisiert. Das Universum und unser Wissen befinden sich in stetigem Fortschritt. Niemals vollständig, kann es nicht auf eine einzige zugrunde liegende Substanz reduziert werden. Der schon seit Jahren herzkranke William James starb am 26. August 1910 in Chocorua, New Hampshire.

2. Inhaltsangabe William James hielt die beiden Vorlesungszyklen mit jeweils zehn Vorlesungen unter dem nachträglich gewählten Titel „The Varieties of Religious Experience“ als Gifford-Lectures in Edinburgh zwischen 1900 und 1902. Sie wurden im selben Jahr noch in einer „revised edition“ veröffentlicht und sind seither in zahlreichen Auflagen und Übersetzungen erhältlich.

In seiner ersten Vorlesung („Religion und Neurologie“) gibt James den methodologischen Hinweis, dass seine Materialgrundlage „Erscheinungsformen reiferer Persönlichkeiten“ sind, wie sie „in religiösen Schriften und Autobiographien besonders sprachgewandter und selbsteinsichtiger Menschen überliefert worden sind“ (38). Es handelt sich um „Menschen […], die es im religiösen Leben zu besonderer Vollkommenheit gebracht haben und die am besten in der Lage waren, einen verständlichen Bericht über ihre Vorstellungen und Motive zu geben“ (39). Das Subjekt, seine Erfahrungen und Ansichten stehen im Fokus von James Überlegungen. Er erklärt die religiöse Erfahrung zu seinem zentralen Forschungsgegenstand. Dabei will er die religiöse Erfahrung von theologischen Systemen und religiösen Begrifflichkeiten freilegen und ihre Funktion sowie ihren Nutzen für das Individuum erforschen. James vertrat die Auffassung, dass kein Gegenstand an sich religiös ist, vielmehr werde er es erst durch

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die Zuschreibung eines Menschen. Demzufolge können keine religiösen Objekte an sich untersucht werden, sondern nur die Menschen und ihre religiösen Erfahrungen. Aus diesem Grund war James insbesondere an individuellen Berichten über Gefühle und Handlungen interessiert. Er glaubte, dass religiöse Erfahrungen sich von alltäglichen Erfahrungen nur darin unterschieden, dass sie Erfahrungen mit einer höheren Intensität und einer Referenz auf einen religiösen Inhalt sind. Aus dem Vorhandensein religiöser Erfahrung schlussfolgerte er, dass es religiöse Existenzen gibt. In Vorlesung II („Umschreibung des Gegenstandes“) erläutert er seinen Religionsbegriff. Angesichts der Fülle von Begriffsbestimmungen ist sich James sicher, „dass das Wort ‚Religion‘ nicht für ein bestimmtes Prinzip oder Wesen steht, sondern vielmehr eine Sammelbezeichnung ist […], dass wir sehr wahrscheinlich nicht ein Wesen von Religion finden werden, sondern viele Charakterzüge, die abwechselnd gleichermaßen wichtig für eine Religion sein könnten“ (59). Ein Kernsatz lautet: „So wie es offensichtlich kein einheitliches, elementares religiöses Gefühl gibt, sondern nur einen gemeinsamen Fundus von Emotionen, den religiöse Objekte auslösen können, so könnte es sich ebenso erweisen, dass es keine spezifisch und wesenhaft religiösen Objekte und keine spezifisch und wesenhaft religiösen Akte gibt“ (60f.). James unterscheidet zwei „Teile“ der Religion: die objektive, „institutionelle“ Seite mit Gottesdiensten, Opfer, Theologie, Organisation; auf der anderen Seite die „persönliche Religion“, mit der er sich ausschließlich beschäftigen will. Institutionelle Religion „lebt aus zweiter Hand“ (63), da die Tradition eine große Rolle spielt. Die persönliche Religion, insbesondere die der Religionsgründer, ist dem gegenüber das „Ursprüngliche“ (ebd.). James definiert Religion folgendermaßen: als „die Gefühle, Handlungen und Erfahrungen von einzelnen Menschen in ihrer Abgeschiedenheit, die von sich selbst glauben, dass sie in einer Beziehung zum Göttlichen stehen“ (kursiv, 63f.). Vorlesung III behandelt „Die Wirklichkeit des Unsichtbaren“ und wie Menschen diese wahrnehmen. Die beiden Vorlesungen IV und V einerseits sowie VI und VII anderseits sind so etwas wie das Herzstück der Edinburgher Vorlesungen. James behandelt zwei Grundtypen von Religion: „Die Religion des gesunden Geistes“ und „Die kranke Seele“. Glücklich, harmonisch, optimistisch zu sein, innere Spannungen zu beseitigen, Zufriedenheit, Gelassenheit und Lebensfreude zu schenken, gehört zum Wesen dieses ersten Typs, den James eher im katholischen als im protestantischen Raum antreffen zu können meint. Den Gefühlshaushalt des Protestantismus sieht er „von ausgeprägten Pessimisten bestimmt“ (113). Die Religion der kranken Seele anderseits fixiert ihre Anhänger auf das Empfinden von Scham und Schuld und treibt sie in Buße und Beichte. James thematisiert wohl als einer der ersten wissenschaftlichen Beobachter die von ihm so genannte „Mind-cure-Bewegung“ [Geist-Kur-Bewegung], die sich selbst die Bezeichnung „New Thought“ beilegte. In ihr verbinden sich der Glaube der vier Evangelien, Gedanken des Transzendentalisten Ralph Waldo Emerson, der Idealis-

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mus Berkeleys, Spiritismus, populärwissenschaftlicher optimistischer Evolutionismus und hinduistische Elemente. Der Mensch soll gesund, stark, glücklich, erfolgreich werden, positiv denken; denn positive Gedanken können enorme Kräfte entfalten. Die mind-cure-Bewegung ist inzwischen eine der größten, wenngleich ‚unsichtbaren‘ Religionen, die Dale Carnegies unübertroffenen Ratgeber „Sorge dich nicht, lebe!“ ebenso beeinflusst hat, wie sie auch in der gegenwärtigen Wellness-Bewegung ihre Fortsetzung findet. Es gehört u.a. zu den Verdiensten von William James, auf diese ‚Religion‘ aufmerksam gemacht und sie treffend beschrieben zu haben. James kritisiert den himmelhoch jauchzenden ersten Typus der Religion. Er teilt den Optimismus, der in einer Zeile des in der englischsprachigen Welt bekannten Liedes „Pippa Passes“ (1841) des schottischen Dichter Robert Burns zum Ausdruck kommt: „God’s in his Heaven – / All’s right with the world!“ James resümiert: „Wir können, scheint mir nicht umhin festzustellen, dass die kränkelnde Geisteshaltung über eine größere Erfahrungsbreite und einen größeren Überblick verfügt. […] Die vollständigsten Religionen würden deshalb die sein, in denen die pessimistischen Elemente am besten entwickelt sind. Am besten bekannt sind uns davon selbstverständlich der Buddhismus und das Christentum. Sie sind dem Wesen nach Erlösungsreligionen. Der Mensch muss dem unwirklichen Leben sterben, bevor er zum wirklichen Leben geboren werden kann.“ (186f.). Vorlesung VIII behandelt „Das gespaltene Selbst“. Vorlesung IX und X thematisieren das Phänomen der „Bekehrung“. Dies ist für James die „Bezeichnung des schrittweisen oder plötzlichen Prozesses, durch den ein bisher gespaltenes und sich schlecht, unterlegen und unglücklich fühlendes Selbst seine Ganzheit erlangt und sich jetzt, stärker gestützt auf religiöse Wirklichkeiten, gut, überlegen und glücklich fühlt“ (209). „Heiligkeit“ ist das Thema der Vorlesungen XI-XIII. „Der Sammelname für die reiferen Charakterfrüchte der Religion lautet: Heiligkeit. Heilig ist ein Charakter, für den spirituelle Gefühle das Zentrum seiner persönlichen Energie darstellen“ (283). Zu den Grundzügen der in allen Religionen anzutreffenden Heiligkeit zählen, „das Gefühl, in einem größeren Lebenszusammenhang zu existieren […], das Empfinden, dass die vollkommene Macht unserem Dasein freundschaftlich verbunden ist […] eine gewaltige Begeisterung und ein Gefühl von Freiheit […] die Verlagerung des Gefühlszentrums zu Empfindungen von Liebe und Harmonie“ (ebd.). Konsequenzen dieser Heiligkeit sind Askese, Seelenstärke, Reinheit und Nächstenliebe (283f.).

3. Ausgewählter Quellentext Der nachstehende Text stammt aus Vorlesung II (‚Umschreibung des Gegenstandes‘) des Werkes „Die Vielfalt religiöser Erfahrungen“ und ist an einigen gekennzeichneten Stellen vom Autor gekürzt worden.

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Die meisten religionsphilosophischen Bücher versuchen, mit einer präzisen Definition des Wesens der Religion zu beginnen. Einige dieser angeblichen Definitionen werden uns möglicherweise in späteren Teilen dieser Vorlesungsreihe begegnen, und ich werde nicht so pedantisch sein, sie jetzt alle aufzuzählen. Einstweilen soll uns allein die Tatsache, dass es so viele und dass sie voneinander verschieden sind, als Beweis dafür dienen, dass das Wort ‚Religion‘ nicht für ein bestimmtes Prinzip oder Wesen steht, sondern vielmehr eine Sammelbezeichnung ist. Der theoretisierende Verstand neigt immer dazu, sein Material übermäßig zu vereinfachen. Dies ist die Wurzel aller absolutistischen und einseitig dogmatischen Denkweisen, von der sowohl die Philosophie als auch die Religion heimgesucht worden sind. Wir wollen nicht sofort in eine einseitige Ansicht unseres Gegenstandes verfallen, sondern lieber gleich zu Anfang freimütig zugeben, dass wir sehr wahrscheinlich nicht ein Wesen von Religion finden werden, sondern viele Charakterzüge, die abwechselnd gleichermaßen wichtig für eine Religion sein könnten. Fragen wir zum Beispiel nach dem Wesen von ‚Regierung‘, könnte der eine sagen, es sei die Autorität, ein anderer die Unterwerfung, wieder ein anderer die Polizei, noch ein anderer die Armee, noch ein anderer die beratende Versammlung, noch ein anderer ein System von Gesetzen; aber durchgehend gilt, dass keine konkrete Regierung ohne all diese Dinge bestehen kann, von denen zu einer Zeit das eine, zu anderer Zeit ein anderes wichtig ist. Wer am meisten über eine Regierung weiß, wird sich am wenigsten damit plagen, ihr Wesen zu definieren. In seiner intimen Vertrautheit mit all ihren wechselnden Merkmalen würde er einen abstrakten, vereinheitlichenden Begriff naturgemäß eher für irreführend als für erhellend halten. Und warum sollte nicht Religion ein genauso komplexer Begriff sein. Dasselbe gilt für das „religiöse Empfinden“, auf das sich viele Bücher beziehen, als wäre es eine singuläre Erscheinungsform des Geistes. In der Religionspsychologie und in der Religionsphilosophie wird der Versuch gemacht, seine genaue Seinsform zu bestimmen. Während der eine es mit dem Abhängigkeitsgefühl in Verbindung bringt, erklärt ein anderer es zu einem Derivat der Furcht. Wieder andere stellen einen Zusammenhang mit dem Geschlechtsleben her; noch andere verbinden es mit dem Gefühl des Unendlichen und so weiter. Diese verschiedenen Weisen der Begriffsbildung sollten an sich schon Zweifel daran wecken, ob ihr Gegenstand überhaupt eine spezifische Einheit bildet; und sobald wir bereit sind, den Begriff ‚religiöses Empfinden‘ als Sammelbezeichnung für die vielen Gefühle zu gebrauchen, die wechselnde religiöse Objekte auslösen können, erkennen wir, dass er vermutlich auf nichts psychologisch Spezifisches verweist. Es gibt religiöse Furcht, religiöse Liebe, religiöse Ehrfurcht, religiöse Freude usw. Aber religiöse Liebe ist nur eine besondere Form des natürlichen menschlichen Gefühls der Liebe, das sich auf ein religiöses Objekt richtet; religiöse Furcht ist nichts anderes als die normale Furcht vor einer Begegnung, sozusagen das gewöhnliche Zittern des menschlichen Herzens,

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erweckt durch den Gedanken an göttliche Vergeltung; religiöse Ehrfurcht ist derselbe körperliche Schauer, den wir im Wald spüren, wenn es dämmert, oder in einer Gebirgsschlucht; nur überkommt er uns in diesem Fall beim Gedanken an unsere übernatürlichen Beziehungen; und ähnlich verhält es sich mit all den verschiedenen Empfindungen, die im Leben von religiösen Menschen ins Spiel kommen können. Als konkrete Geisteszustände, die durch ein Gefühl plus einer spezifischen Art von Objekten zustande kommen, sind religiöse Emotionen natürlich psychische Daseinsformen, die von anderen konkreten Emotionen unterschieden werden können; aber es gibt keinen Grund für die Annahme, es existiere eine einfache abstrakte „religiöse Emotion“ als eine eigenständige elementare Gemütsbewegung, die ausnahmslos in jeder religiösen Erfahrung gegenwärtig wäre. So wie es also offensichtlich kein einheitliches, elementares religiöses Gefühl gibt, sondern nur einen gemeinsamen Fundus von Emotionen, den religiöse Objekte auslösen können, so könnte es sich ebenso erweisen, dass es keine spezifisch und wesenhaft religiösen Objekte und keine spezifisch und wesenhaft religiösen Akte gibt. Ist nun aber das Feld der Religion derartig weit, kann ich mir unmöglich anmaßen, es vollständig abzudecken. Meine Vorlesungen müssen sich auf einen Bruchteil des Gegenstandes beschränken. Doch so lächerlich es auch wäre, eine abstrakte. Definition des Wesens von Religion aufzustellen und dann dazu überzugehen, diese Definition gegenüber allen Angreifern zu verteidigen, so sollte mich das nicht daran hindern, zum Zwecke dieser Vorlesungen mir, eine eigene beschränkte Ansicht zu bilden über das, was eine Religion ausmachen soll; bzw. aus den vielen Bedeutungen des Wortes die eine auszuwählen, auf die ich Ihr Interesse besonders lenken möchte, und Ihnen meine Entscheidung zu verkünden, was ich meine, wenn ich von ‚Religion‘ spreche. Darum komme ich nicht umhin, und ich werde nun zuerst den von mir gewählten Bereich zu umgrenzen versuchen. Eine einfache Möglichkeit der Abgrenzung bestände darin, die Aspekte des Themas zu nennen, die wir beiseite lassen. Gleich zu Anfang sind wir mit einer großen Unterscheidung konfrontiert, die das Gebiet der Religion in zwei Teile teilt. Auf der einen Seite steht die institutionelle, auf der anderen die persönliche Religion. Der eine Zweig der Religion hat, wie M. P. Sabatier [französischer Theologe und Historiker, 1858–1928] sagt, vor allem den Gott, der andere vor allem den Menschen im Blick. Gottesdienst und Opfer, Verfahren, sich die Gottheit geneigt zu machen, Theologie, Zeremonie und kirchliche Organisation sind die wesentlichen Merkmale der institutionellen Religion. Würden wir unsere Betrachtung auf sie beschränken, so müssten wir Religion als eine Kunstfertigkeit definieren, als die Kunst, die Gunst der Götter zu gewinnen. Im Gegensatz dazu stehen im persönlicheren Bereich der Religion die geistigen Dispositionen des Menschen im Zentrum des Interesses, sein Gewissen, seine Verdienste, seine Hilflosigkeit, seine Unvollkommenheit. Und obwohl die verlorene

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oder gewonnene Gunst des Gottes auch in der persönlichen Geschichte ein wesentliches Element darstellt, und die Theologie darin eine entscheidende Rolle spielt, so sind doch die Handlungen, zu denen diese Art Religion motiviert, persönliche und nicht rituelle Handlungen; das Individuum vollzieht seine Geschäfte selbständig und allein für sich selbst, und die kirchliche Organisation mit ihren Priestern, Sakramenten und anderen Vermittlungsinstanzen tritt vollkommen in den Hintergrund. Die Beziehung zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer verläuft direkt von Herz zu Herz, von Seele zu Seele. Ich schlage nun vor, dass wir in diesen Vorlesungen von dem institutionellen Bereich ganz absehen, kein Wort über die kirchliche Organisation verlieren, so wenig wie möglich auf die systematische Theologie und ihre Gottesbegriffe eingehen, und dass ich mich schlicht und einfach, soweit ich kann, auf die persönliche Religion beschränke. Einigen von Ihnen wird die persönliche Religion, so unverhüllt betrachtet, zweifellos als etwas Unvollständiges erscheinen, das den generellen Titel gar nicht verdient. „Dies ist ein Teil der Religion“, werden Sie sagen, „aber nur ihr ungeordneter Anfang; wenn wir ihm einen Namen geben, sollten wir statt von der Religion des Menschen lieber von seinem Gewissen oder seiner Moral sprechen. Der Name ‚Religion‘ sollte reserviert bleiben für das voll organisierte System von Gefühl, Begriff und Institution, kurz: für die Kirche, von der die so genannte persönliche Religion nur ein unwesentlicher Bestandteil ist.“ Aber ein solcher Einwand würde nur umso deutlicher zeigen, wie leicht die Definitionsfrage zu einem Streit über Begriffe wird. Um diesen Streit nicht unnötig zu verlängern, erkläre ich mich bereit, für die persönliche Religion, die ich hier behandeln möchte, so ziemlich jede Bezeichnung zu akzeptieren. Nennen Sie sie, wenn es Ihnen lieber ist, statt Religion Gewissen oder Moral – auch unter diesen Bezeichnungen bleibt sie gleichermaßen untersuchenswert. Ich denke, es wird sich zeigen, dass zu ihr einige Elemente gehören, die in bloßer Moral nicht enthalten sind, und ich werde gleich versuchen, diese Elemente herauszuarbeiten; so möchte ich persönlich mein Thema auch weiterhin mit dem Wort ‚Religion‘ belegen; in der allerletzten Vorlesung werde ich dann die theologischen und klerikalen Aspekte zur Sprache bringen und etwas über seine Beziehung zu diesen sagen. Zumindest in einer Hinsicht wird sich die persönliche Religion als grundlegender erweisen als die Theologie oder die Kirche. Hat sich eine Kirche erst einmal etabliert, so lebt sie aus zweiter Hand auf dem Boden ihrer Überlieferung; alle Gründer einer Kirche jedoch verdanken ihre Kraft ursprünglich der direkten persönlichen Gemeinschaft mit dem Göttlichen. Nicht nur die übermenschlichen Gründer, wie Christus, Buddha oder Mohammed, sondern alle Urheber christlicher Sekten sind in dieser Situation gewesen – daher sollte die persönliche Religion immer noch als das Ursprüngliche angesehen werden, selbst von denen, die dabei bleiben, sie für unvollständig zu halten.

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Es gibt, das ist wahr, andere Dinge im Bereich der Religion, die chronologisch ursprünglicher sind als die persönliche Frömmigkeit. Fetischismus und Magie sind der inneren Einkehr historisch gesehen offenbar vorausgegangen – wenigstens reichen unsere Berichte über persönliche Frömmigkeit nicht so weit zurück. Und wenn Fetischismus und Magie als Stufen der Religion anerkannt werden, kann man sagen, dass persönliche Religion im Sinne von Innerlichkeit und die von ihr begründete echte kirchliche Spiritualität Phänomene zweiter oder dritter Ordnung sind. Aber ganz abgesehen von der Tatsache, dass viele Anthropologen – z.B. Jevons27 und Frazer – ausdrücklich ‚Religion‘ und ‚Magie‘ einander entgegensetzen, kann man das ganze System des Denkens, das zu Magie, Fetischismus und den niedrigen Formen des Aberglaubens führt, sicher ebenso gut primitive Wissenschaft nennen wie primitive Religion. So wird das Ganze wiederum eine Frage der Bezeichnung; und überhaupt ist unser Wissen über alle diese frühen Stadien des Denkens und Fühlens so unvollständig und spekulativ, dass eine weitere Diskussion darüber sich nicht lohnt. Daher soll Religion in dem willkürlichen Sinne, in dem ich sie jetzt aufzufassen bitte, für uns bedeuten: die Gefühle, Handlungen und Erfahrungen von einzelnen Menschen in ihrer Abgeschiedenheit, die von sich selbst glauben, dass sie in Beziehung zum Göttlichen stehen. Weil diese Beziehung entweder geistig, körperlich oder institutionell sein kann, ist es evident, dass aus Religion in dem von uns verstandenen Sinne in einem zweiten Schritt Theologien, Philosophien und kirchliche Organisationen erwachsen können (Kursivierung von U.T.) In diesen Vorlesungen aber werden, wie ich schon sagte, die unmittelbaren persönlichen Erlebnisse einen breiten Raum einnehmen, und wir werden kaum dazu kommen, theologische oder kirchliche Aspekte zu betrachten. Mit dieser willkürlichen Definition unseres Themenbereiches gehen wir vielen kontroversen Fragestellungen aus dem Weg. Aber immerhin, eine Chance zur Kontroverse bietet uns noch das Wort ‚göttlich‘, wenn wir es zu eng definieren. Es gibt Gedankensysteme, die alle Wett religiös nennt, obwohl sie nicht ausdrücklich einen Gott annehmen. Dies ist beim Buddhismus der Fall. Natürlich nimmt im Volksglauben der Buddha selbst die Stelle eines Gottes ein; aber strenggenommen ist das buddhistische System atheistisch. Der moderne transzendentale Idealismus, der Emersonianismus zum Beispiel, scheint Gott ebenfalls in eine abstrakte Idealität aufzulösen. Gegenstand des transzendentalistischen Kultes ist weder eine konkrete Gottheit noch eine übermenschliche Person, sondern die allen Dingen immanente Göttlichkeit, die wesenhaft 27 Der englische Universalgelehrte Frank Byron Jevons (1858–1936) war Principal of Bishop Hatfields Hall Durham, University, Durham. Unter seinen zahlreichen Veröffentlichungen ist die neuerdings wieder nachgedruckte Vorlesungsreihe ‚An Introduction to the Study of Comparative Religion‘ (New York 1908 u.ö.) erwähnenswert. In seiner Einleitung begründet Jevons sein Konzept einer ‚applied science of religion‘.

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spirituelle Struktur des Universums. In jener Ansprache vor der Abschlussklasse des Divinity College im Jahre 1838, die Emerson berühmt machte, kam es wegen der offen bekundeten Verehrung rein abstrakter Gesetze zum Skandal.

4. Fragen zum Text 1. „Wer am meisten über eine Regierung weiß, wird sich am wenigsten damit plagen, ihr Wesen zu definieren“. Wie ist Ihre Meinung zu James Aussage, die er auf das Phänomen ‚Religion‘ überträgt? 2. Suchen Sie die Ihnen unbekannten Personen im Text heraus und informieren Sie sich über diese. 2. Klären Sie den Begriff ‚Emersonianismus‘. 3. Was versteht James unter ‚Religion‘ und ‚religiösem Empfinden‘? 4. Ist eine scharfe Trennung von Objektivem (institutionelle Religion) und Subjektivem (persönliche Religion) möglich? Ereignen sich subjektive Erfahrungen im sozial ‚luftleeren‘ Raum? 5. Was bedeutet ‚Systematische Theologie‘? Klären Sie dies mit Hilfe von Martin Leiner: Methodischer Leitfaden Systematische Theologie und Religionsphilosophie, Göttingen 2008 (UTB 3150) 6. „Hat sich eine Kirche erst einmal etabliert, so lebt sie aus zweiter Hand auf dem Boden ihrer Überlieferung; alle Gründer einer Kirche jedoch verdanken ihre Kraft ursprünglich der direkten persönlichen Gemeinschaft mit dem Göttlichen“ –Vergleichen Sie James Position von ‚Ursprünglichkeit‘ mit der von Söderblom, Heiler, Mensching. 7. Wie sieht James das Verhältnis von ‚persönlicher Religion‘ und (der seiner Ansicht nach offenbar ursprünglicheren) Magie? Zum Verhältnis von Religion und Magie (vgl. einschlägige Lexikonartikel). 8. Nehmen Sie Stellung zu James Religionsdefinition.

5. Würdigung

James gilt neben dem US-amerikanischen Mathematiker und Philosophen Charles Sanders Pierce (1839–1914) als Begründer des philosophischen Pragmatismus. Wahrheit bezeichnet hier nicht mehr das ‚Wesen‘ der Dinge, sondern die praktischen Konsequenzen und Wirkung einer Handlung, ihre Nützlichkeit und ihr Erfolg. Durch seinen Schüler John Broadus Watson (1878–1958) beeinflusste James mit seinen Gedanken auch maßgeblich den Behaviorismus.

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James ‚Varieties‘ vertritt die – auch von den Vertretern der klassischen Religionswissenschaft geteilte – These, dass man bei aller Pluralität der Ausdrucksformen der Religionen eine grundlegende Einheitlichkeit religiöser Erfahrung unterstellen kann. James originelle Gedanken befinden sich im Schnittfeld von Psychologie, Physiologie und Philosophie. James Gedanken beeinflussten den philosophischen Phänomenologen Edmund Husserl (1859–1938) sowie den größten Pädagogen der USA, John Dewey (1859– 1952). Der britische Philosoph und Mathematiker Sir Bertrand Russell (1872–1970) war von William James ebenso beeinflusst wie Ludwig Wittgenstein. Von bleibender Bedeutung sind James Ausführungen zur ‚Religion of HealthyMindedness‘ (Religion des gesunden Geistes), zur ‚Bekehrung‘, die der späteren Konversionsforschung wichtige Impulse vermittelt hat, und zur ‚Heiligkeit‘. James umfangreiches Meisterwerk ‚The Principles of Psychology‘ (1890) ist ein Meilenstein in der internationalen Geschichte der Psychologie. In der Geschichte der psychologischen Emotionsforschung spielt die so genannte James-Lange-Theorie eine Bedeutung. William James kehrte nämlich bei seiner Erklärung für das subjektive Empfinden die Reihenfolge von Emotion und Verhalten um. Normalerweise gilt: Menschen weinen, weil sie traurig sind. Nach James sind Menschen traurig, weil sie weinen. „Meine These lautet […] dass die körperlichen Veränderungen direkt auf die Wahrnehmung des erregenden Ereignisses folgen und dass unser Empfinden genau dieser Veränderungen, während sie auftreten, die Emotion ist.“28 Die James-Lange-Theorie der Emotionen wurde als Hypothese der „Rückkopplung durch den Gesichtsausdruck“ (facial feedback) wieder aufgenommen. „Lächeln Sie, und Sie fühlen sich froh; runzeln Sie die Stirn, und Sie fühlen sich verwirrt“.29 Insbesondere James Konzeption des ‚stream of thought‘ („Gedankenstrom“) bzw. ‚stream of consciousness‘ („Bewusstseinsstrom“) haben in der Literaturwissenschaft Eingang gefunden. Im modernen Roman ist dieses Konzept eine Erzähltechnik, um Gedanken und Bewusstseinsvorgänge der Hauptpersonen wiederzugeben. Meist laufen diese spontan-assoziativ, ungeordnet ab, haben keinen unmittelbaren Bezug zur äußeren Handlung. Gedanken, Vorstellungen und Gefühle geschehen simultan und lassen in die seelische Welt blicken. James jüngerer Bruder, der Romancier Henry James, war einer der Hauptvertreter des amerikanischen psychologischen Romans. Er wandte in manchen Romanen („The Portrait of a Lady, „The Spoils of Poynton“, „The Wings of the Dove“) die Technik des ‚stream of consciousness’ an. James Joyce („Ulysses“), Alfred Döblin („Berlin Alexanderplatz“), William Faulkner („The Sound and the

28 Zitiert nach Philip G. Zimbardo: Psychologie, Berlin u.a. 19925, S. 384. 29 Ebd.

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Fury“), Virginia Woolf („Mrs Dalloway“) zählen zu den führenden Vertretern dieser Erzähltechnik. Jenseits der Mainstream-Schulpsychologie sieht außerdem die Transpersonale Psychologie in James einen ihrer Vorläufer. Sie geht von der Transzendenz als Vorannahme ihrer Forschungen aus, setzt diese als Axiom. James Rezeptionsgeschichte in der europäischen Theologie und Religionswissenschaft beginnt mit der deutschen Ausgabe (1907) des liberalen evangelischen Theologen Georg Wobbermin (1869–1943). Sein theologischer Ansatz („Systematische Theologie nach religionspsychologischer Methode“, 3. Bde. 1913–25) beruht auf einer psychologisch orientierten Religionsdeutung. Stark prägt ihn William James, ‚Varieties‘. Er begegnete James im Herbst 1907 in den USA. Wobbermins Ausgabe war keine strenge Übersetzung, sondern eine Art Bearbeitung, mit der er das Interesse in Deutschland an Religionspsychologie zu wecken beabsichtigte. Religionswissenschaftler wie Heiler und Mensching verraten eine Beschäftigung mit James ‚Varieties‘: Heiler in seinem ‚Gebet‘ und Mensching im Abschnitt seiner ‚Religion‘ im Kontext von „Wesen der Begegnung [mit dem Heiligen] (237). Auf den ersten Blick scheint James für Eliade keine große Bedeutung zu haben. Es ist aber nicht auszuschließen, dass er ihn durch die Vermittlung von Nae Ionescu, dem James Werk geläufig war, kennen gelernt hat. Auch wenn sich in der deutschen Theologie eine heftige Auseinandersetzung mit dem Jamesschen Werk anschloss, so begann eine in die Tiefe gehende Auseinandersetzung mit James erst durch die Übersetzung des Tübinger evangelischen Systematischen Theologen Eilert Herms und Christian Stahlhut (1979). Seit nunmehr 30 Jahren ist William James in der deutschen Theologie, später auch in der Religionswissenschaft interessant geworden. James Schwerpunkt lag auf der gelebten Religion. Er zieht die religiösen Erfahrungen in „documents humains“, in persönlichen Bekenntnissen moderner und älterer Schriftsteller heran. „Deshalb werden uns diejenigen Dokumente am meisten beschäftigen, die von Menschen stammen, die es im religiösen Leben zu besonderer Vollkommenheit gebracht haben und die am besten in der Lage waren, einen verständlichen Bericht über ihre Vorstellungen und Motive zu geben“ (39). In James Tradition steht der klassische Versuch des Psychoanalytikers Erik H. Erikson („Der junge Mann Luther. Eine psychoanalytische und historische Studie“ [amerik. Original 1958]), der sich auch auf James bezieht. In Verbindung von psychologischer, psychologischer und historischer Methode untersuchte Erikson die Kindheits- und Jugendkonflike des ‚young man‘ Luther. James gehört zu den frühesten Erforschern des religiösen Pluralismus in modernen Gesellschaften. Ging nach Ansicht der evolutionistischen Religionsforschung des 19. Jahrhunderts die Geschichte der Religion/en einen Weg ‚per aspera ad astra‘ [Durch

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das Rauhe zu den Sternen], also von niedersten Anfängen hinauf zum (meist protestantischen) Monotheismus, so gab James, wenngleich eher beiläufig, dem längst überwunden geglaubten Polytheismus eine größere Bedeutung. Im Nachwort vertritt er die postmoderne These, dass der Polytheismus „die wahre Religion der gewöhnlichen Leute war und noch heute ist“ (502). „Ich denke in der Tat, dass eine zukünftige Religionsphilosophie die pluralistische Hypothese ernsthafter in Betracht ziehen muss, als sie bisher bereit war.“ (503). In der aktuellen europäischen und US-amerikanischen Religionsgeschichte ist ein Trend zum Polytheismus auszumachen. Einige Stichworte: feministische Spiritualität, Göttinnen-Bewegung, Hexenkult. Die Revitalisierung archaischer Religionen eigener wie fremder Vergangenheiten trägt polytheistische Züge. Die gegenwärtige Populärkultur, insbesondere im Fantasy-Bereich, lässt Polytheismus zur erfahrbaren Wirklichkeit werden. Ihm wird auch philosophische Wertschätzung zuteil. In seinem Aufsatz „Lob des Polytheismus“ trat Odo Marquard für eine Wiederbelebung der Mythen ein, die im Polytheismus wurzeln.30 Die im April 1999 vom Nachrichtenmagazin Focus veröffentlichte Studie „Woran die Deutschen glauben“ stellte u.a. fest: Jeder fünfte Gläubige schließt die Existenz mehrerer Götter nicht aus.31 An deutschen Universitäten wurden eine „William-James-Gastprofessur für Religionsforschung“ (Bayreuth, seit 2007) und ein „William James Center“ (Dortmund, seit 2010) gegründet. In den Leselisten religionswissenschaftlicher Institute ist James Klassiker fester Bestandteil.

6. Weiterführende Arbeitsaufgaben 1. Lesen Sie James Abschnitt über „Die Religion des gesunden Geistes“ mit seiner Unterscheidung „einmal“ und „zweimal Geborener“ (Vorlesung IV), Insel-Ausgabe Frankfurt/Main und Leipzig 1997, S.110–118. Versuchen Sie, Belege dafür zu finden, dass es im Protestantismus auch „einmal Geborene“ gibt und im Katholizismus „zweimal Geborene“. 2. Suchen Sie Beispiele zur Falsifizierung und Bestätigung von James These aus anderen Religionstraditionen.

30 Odo Marquard: Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie. In: Hans Poser (Hg.): Philosophie und Mythos, Berlin u.a. 1979, S. 40–58, hier S. 48. 31 Focus Nr. 14, 3. April 1999, S. 118–131.

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7. Auswahlbiographie Primärliteratur

Talks to Teachers on Psychology and to Students on Some of Lifes Ideals, New York 1899. The Varieties of Religious Experience, New York 1902. (deutsche Ausgabe, Frankfurt/ Main 1997) Pragmatism. A new name for some old ways of thinking. Popular lectures on philosophy, New York 1907. A Pluralistic Universe. Hibbert lectures at Manchester College on the present situation of philosophy, London 1909. The meaning of truth. A sequel to Pragmatism, London 1909. The Works of William James, Cambridge und London 1975. Essays in philosophy, Cambridge 1978. The Principles of Psychology, London 1980. William James: Writings 1878–1899, New York 1992. William James: Writings 1902–1910, New York 1987. Sekundärliteratur

Heine, Susanne: Grundlagen der Religionspsychologie. Modelle und Methoden, Göttingen 2005, S. 107–141. Henning, Christian/Murken, Sebastian / Nestler, Erich: Einführung in die Religionspsychologie, Paderborn 2003. Lämmermann, Godwin: Einführung in die Religionspsychologie. Grundfragen-Theorien-Themen, Neukirchen-Vluyn 2006. Religiöse Erfahrung in der Moderne. William James und die Folgen. Hg. von Christian Thies, Wiesbaden 2009. Seibert, Christoph: Religion im Denken von William James. Eine Interpretation seiner Philosophie, Tübingen 2009.

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3. Edmund Hardy (1852–1904)32 1. Biographie

Der Wissenschaftsrat, das wichtigste wissenschaftspolitische Beratungsgremium in Deutschland, das die Bundesregierung und die Länderregierungen in den Fragen der inhaltlichen und strukturellen Wissenschaftsentwicklung berät, hat in seiner Stellungnahme ‚Empfehlungen‘ zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen (29.01.2010) den zu Unrecht lange vergessenen katholischen Religionswissenschaftler Edmund Hardy ausdrücklich erwähnt: „Wie vielfach bei der Entstehung wissenschaftlicher Disziplinen, kann auch die Etablierung der Religionswissenschaft an der Gründung einer Zeitschrift, nämlich des Archivs für Religionswissenschaft aus dem Jahr 1898, festgemacht werden. Edmund Hardy stellte in dieser Zeitschrift die historische und komparative Forschung unter Berücksichtigung nichtchristlicher und außereuropäischer Religionen ins Zentrum der Religionswissenschaft. Damit lieferte er eine Bestimmung der Religionswissenschaft, die bis heute den Kern des Faches ausmacht.“ (43). Edmund Hardy wurde am 9. Juli 1852 als Sohn des Apothekers Edmund Hardy und seiner früh verstorbenen Mutter Ottilie in Mainz geboren. Der für die Karriere des Neffen wichtige Onkel mütterlicherseits war der katholische Theologe und Politiker Christoph Moufang. Nach dem Abitur trat Hardy in das Bischöfliche Seminar zu Mainz ein, um Theologie und Philosophie zu studieren. 1874 bearbeitete er als bester die Preisaufgabe: ‚Darstellung und Kritik des Platonischen Gottesbegriffs‘. Am 5. Januar 1875 wurde er zum Priester geweiht und war bis 1885 als Kaplan in Heppenheim an der Berstraße tätig. Hardys erste große Arbeit behandelte einen der großen Führer der katholischen Erneuerungsbewegung, den 1997 selig gesprochenen Friedrich Ozanam (1811–53). Hardys philosophische Neigungen kamen in seiner bei dem Neukantianer Kuno Fischer in Heidelberg 1879 vorgelegten, aber erst fünf Jahre 32 Ulrich Vollmer: Edmund Hardy (1852–1904) – Ein tragisches Leben zwischen Theologie, Religionswissenschaft und Indologie. In: Festschrift für Hans-Jürgen Findeis, 2011 (vor dem Erscheinen).

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später veröffentlichten Dissertation ‚Der Begriff der Physis in der griechischen Philosophie‘ zum Ausdruck. Seine Interessen entwickelten sich immer stärker in Richtung einer nicht-theologischen Religionswissenschaft. Um in der Theologischen Fakultät zu habilitieren – in der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg war dies nicht möglich – benötigte Hardy jedoch den theologischen Doktor. Dieser wurde ihm aufgrund der lateinisch verfassten Untersuchung ‚De Gregorio Nysseno‘ 1885 zuerkannt. Nach einigen Schwierigkeiten in der Fakultät wurde Hardy schließlich habilitiert. Sein Lehrgebiet lautete: ‚Philosophisch-historische Disziplinen der propädeutischen Theologie, insbesondere der Religionsphilosophie und der Geschichte der Religionen‘. 1887 ernannte die Fakultät Hardy zum außerordentlichen Professor. Aus diesem Anlasse hielt er seine Antrittsvorlesung ‚Die allgemeine vergleichende Religionswissenschaft im akademischen Studium unserer Zeit‘. Nach Hardy muss sich die Religionswissenschaft verselbständigen und empirische Wissenschaft werden. Ihre Aufgabe ist es nicht, der Apologetik oder Polemik zu dienen, sondern sich stattdessen zu kümmern „um das in die Erscheinung tretende geschichtliche Verhältnis der Religionen, demzufolge eine jede derselben eine relative Berechtigung hat“.33 Den Ruf auf einen Lehrstuhl an dem wieder eröffneten Priesterseminar in Mainz lehnte er ab (1887). In seinen wenigen Freiburger Jahren lehrte Hardy an der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität verschiedene Themenbereiche aus der Religionswissenschaft, öfter ‚Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft‘, ,Frühe Phasen der indischen und buddhistischen Religionsgeschichte‘. Hardy begründete in dem katholischen Traditionsverlag Aschendorff in Münster seine eigene Schriftenreihe ‚Darstellungen aus dem Gebiete der nichtchristlichen Religionsgeschichte‘, in der neben eigenen Arbeiten viele bedeutende Untersuchungen publiziert wurden. In der Zeit von 1890–1903 waren es nach Auskunft des Verlages wohl 15 Bände. Hardy begann, Sanskrit und Pali zu lernen. Von den Schriften dieser Periode sind ‚Der Buddhismus nach älteren Pāliwerken‘ (1890, 19192) und ‚Die vedisch-brahmanische Periode der Religion des alten Indiens‘ (1893, 19192) hervorzuheben. Nach Schwierigkeiten mit der Fakultät, die neben seiner politischen Einstellung zugunsten der Zentrumspartei vor allem die mangelnde philosophische (und die wohl zu intensive religionswissenschaftliche) Ausbildung der Studenten vorwarf, insbesondere die von Hardy eingeführten Vorlesungsprüfungen am Ende des Semesters missbilligte, schied Hardy am 18.09.1893 auf eigenen Wunsch aus dem Staatsdienst aus. Ulrich Vollmer bilanziert: „Hardy war in Freiburg mit seiner Forderung aus seiner Antrittsvorlesung […] gescheitert.“ 34 33 Hardy, Edmund Georg Nicolaus. In: Deutsche Biographie (http://www.deutsche-biographie. de/artikelNDB_n07–670-01.html. Zugriff: 10.09.2010) 34 Vollmer, a.a.O.

Was ist Religionswissenschaft? (1898)

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Einen Monat lang war Hardy Novize im Kloster Beuron, bis sich 1894 die Gelegenheit ergab, in der neu gegründeten schweizer Universität Fribourg zum ordentlichen Professor ernannt zu werden. Sein Lehrgebiet lautete ‚Vergleichende Religionswissenschaft und altindische Literatur‘. Damit war Hardy „der erste deutschsprachige Professor, der das Fach vergleichende Religionswissenschaft an einer Philosophischen Fakultät vertrat“.35 In Fribourg begann Hardy mehrere buddhistische Texte in Pali herauszugeben (1894–1902). Er geriet in hochschulpolitische Komplikationen, die mit dem Streit um die Verfassung der Universität und den Sonderrechten des Dominikanerordens zusammenhingen. Mit acht deutschen Professoren verließ Hardy 1898 schließlich Fribourg. Eine immer wieder versuchte Rückkehr in das akademische Leben gelang Hardy nicht mehr. Er verbrachte vereinsamt und gesundheitlich angeschlagen fünf Jahre in Würzburg, bis er 1903 nach Bonn zog, um sich dort weiter Pali-Studien zu widmen. Er starb am 10. Oktober 1904. In seiner kurzen Bonner Zeit setzte er sich noch in Rezensionen mit Positionen der aktuellen protestantischen Theologie auseinander. So begrüßte er die Ansätze zur religionsgeschichtlichen Einordnung des Neuen Testaments von Hermann Gunkel mit ihrer These vom synkretistischen Charakter des Christentums ebenso, wie er Wilhelm Boussets religionsvergleichende Studien würdigte. Hardys bleibende Bedeutung für die Religionswissenschaft liegt in seinem konsequenten Einsatz für die empirische Erforschung der Religion/en, die historisch-komparatistische Analyse von Religion/en und für die enge Verbindung philologischer und religionswissenschaftlicher Methoden insbesondere bei der Erforschung der indischen Religionen.

2. Inhaltsangabe des Buches Hardys größere Werke sind indologische Darstellungen, die sich für eine Präsentation seiner religionswissenschaftlichen Theoriebildung und Methodologie weniger eignen. Der Beitrag, mit dem Hardy in die Geschichte der Religionswissenschaft einging, ist ‚Was ist Religionswissenschaft? Ein Beitrag zur Methodik der historischen Religionsforschung‘. Er ist verhältnismäßig leicht zugänglich, weil ihn Günter Lanczkowski 1974 in seine Sammlung ‚Selbstverständnis der Religionswissenschaft‘ aufgenommen hat.36 Auf diesen heute kaum noch wahrgenommenen Band sei besonders hingewiesen, weil er manche Position enthält, die heute in Vergessenheit gerät.

35 Ebd. 36 Darmstadt 1974 (Wege der Forschung 263), S. 1–29.

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Edmund Hardy

Bereits ein Viertel Jahrhundert vor Wach vertrat Edmund Hardy eine vergleichbare Position. Das 1898 gegründete ‚Archiv für Religionswissenschaft‘ mit seiner historisch-philologischen Ausrichtung, enthielt neben einigen Beiträgen anderer Autoren den o.a. Aufsatz von Edmund Hardy. 1898 war das Jahr, in dem Hardy die Universität Fribourg verließ. Es handelt sich also um einen späten Beitrag, geschrieben nach den Auseinandersetzungen mit einer (katholischen) Theologie, die noch nicht reif für die Akzeptanz religionswissenschaftlicher Fragestellungen war. Hardys Beitrag ist sozusagen ein Vermächtnis der im Laufe seines akademischen Lebens gewonnenen abschließenden Überzeugung von der Trennung der beiden Wissenschaften Theologie und Religionswissenschaft, von denen jede jedoch auf die andere angewiesen ist.

Einem nicht nummerierten langen ersten Teil folgen zwei, als I und II bezeichnete Hauptkapitel. Die unterschiedliche Bezeichnung des Faches als ‚Religionswissenschaft‘ und ‚Religionsgeschichte‘ veranlasst Hardy zu einleitenden Reflexionen. Beide Begriffe waren damals im Umlauf und standen für unterschiedliche Akzentuierungen der Forschung. Vertreter der Religionsgeschichte traten dafür ein, „dass die Religion nur aus einer geschichtlichen Entwicklung […] erkannt werde“ (1), während der Religionswissenschaftler „im Gegenteil aus der Vergleichung möglichst vieler, auch unverwandter Religionen wichtige Aufschlüsse über das allgemeine Wesen der Religion und die Bedeutung einer jeden Erscheinungsform zu gewinnen hofft“ (ebd.). In einer Aufteilung der Arbeitsbereiche sieht Hardy „keinen Nachteil für das Ganze der Erkenntnis. Nur die Tendenz, Religionsgeschichte und Religionswissenschaft voneinander zu trennen, würde von „schlimmen Folgen für beide Teile sein“ (1f.). Für Hardy steht der ‚empirische‘ Charakter der Religionsforschung unverrückbar fest. „Alles, was nicht Erfahrungstatsache ist, und als solche nicht entweder überliefert oder aus überlieferten Tatsachen erschlossen ist, existiert nicht für uns“ (3). Hardy hebt ‚Religionsgeschichte‘ von einer damals vertretenen ‚deskriptiven Hierographie‘, einer bloßen ‚Religionsbeschreibung‘ ab, ohne ausdrücklich auf den belgischen Juristen, Religionswissenschaftler und zeitweiligen Rektor der Universität Brüssel, Goblet d’Alviella (1846–1925) hinzuweisen. Dieser Mitbegründer der religiösen Archäologie unterschied ‚Hierography‘ (Archäologie, Religionsgeschichte: deskriptiv), ‚Hierology‘ (Methodenfragen, Entwicklung der Religion/en: interpretativ) und ‚Hierosophy‘ (gegenwärtige Probleme: philosophisch). Religionsgeschichte im erstgenannten Sinn kommt für Hardy nicht in Frage; denn es geht nicht nur darum, „die Einzelheiten zu bestimmen, ohne Rücksicht auf ihre geschichtlichen Beziehungen zueinander“ (3). Zu einer vollständigen Erkenntnis reicht die Religionsbeschreibung nicht aus. Hardy formuliert als Ziel „eine möglichst vollständige Erkenntnis ihres Gegenstandes […] Dazu gehört eine treue Schilderung des ganzen Prozesses der geschichtlichen Entwicklung“, der „Ursachenzusammenhang“. Schließlich darf man nicht darauf verzichten, „die den äußeren Vorgängen

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korrespondierenden inneren aufzudecken“ (3). Hardy konstituiert Religionsforschung als „eine selbständige Wissenschaft neben der der Sprache, des Rechtes usw.“ (4). Bei aller Weitsicht tritt der Philologe Hardy für das „Spezialisieren“ ein, denn darin „ruht sonder Zweifel die Stärke dieser wie jener Erkenntnis“ (5). Religionen sind in Kulturen eingebunden, so dass eine Religion „vor allem mit der Gesamtkultur des betreffenden Volkes verbunden“ ist (6). Da Völker nicht isoliert voneinander leben, ist „wenigstens die Möglichkeit einer Beeinflussung nicht zu leugnen“ (6). Dies wirkt sich auch auf die Erforschung der Religion dieses Volkes aus. Hardy hielt den Religionsvergleich mit ferneren, „unverwandten“ Religionen (7) für Erkenntnis fördernd. „Wenn darum das Wesen der Religion durch die Vergleichung unverwandter Religionen unserm Verständnis nur ein wenig näher gebracht wird, so verschmähen wir diese Hilfe nicht“ (ebd.). Da Hardy auch psychologische Beobachtungen ergänzend heranziehen will, ihm dafür aber der Terminus Religionsgeschichte zu eng scheint, schlägt er den Begriff ‚Religionswissenschaft‘ vor „für die Gesamtheit der Studien […], welche es mit den Religionen und der Religion [Hervorhebung U.T.] zu tun haben“ (ebd.). Hardy charakterisiert Religionswissenschaft als „Kulturwissenschaft“ (8), die zu den „Erfahrungswissenschaften des Geistes“ (9) gehört. Geradezu modern erscheint der Text, wenn Hardy Religionen und Religion als „Ausdruck für eine Klasse von Erfahrungstatsachen“ (10) darstellt. „In der Erfahrung gibt es für uns nur Religionen, und zwar strenggenommen ebenso viele, als es religionsfähige Individuen gibt“ (10). Besitzt die Psychologie auch eine „grundlegende Bedeutung […] für die Religionswissenschaft“ (9), so setzt diese an den objektiven Erfahrungstatsachen an „im Sinne eines in die Außenwelt tretenden geistigen Faktums“ (10). Teil I reflektiert über Gegenstände der Religionsgeschichte. Hierzu gehören u.a. religiöse Bräuche sowie bedeutende religiöse Persönlichkeiten (12): „Oberster Grundsatz für den Religionsforscher ist, nicht an sämtlichen, sondern nur an den historisch bedeutenden Tatsachen Anteil zu nehmen“ (ebd.). Quellen der Religionsforschung sind schriftliche Dokumente, „religiöse Formeln, Lieder, Vorschriften“ (13). Hat man die geschichtlich wertvollsten Tatsachen entdeckt, so kommt es darauf an, „dieselben möglichst genauso, wie sie sich ursprünglich zueinander verhielten, zur Darstellung zu bringen“ (ebd.). Hardy unterstreicht die Bedeutung von „Schlussfolgerungen“ (15) im Bereich der historischen Forschung: „Von der einfachsten, sich wie unbewusst vollziehenden Konstruktion […] bis zu der komplizierten Aufgabe, einen solchen Vorgang, in das Ganze, dem er zugehört, einzuordnen […] beruht alles auf solchen Schlussfolgerungen“ (ebd.). Großen Wert legt Hardy auf die genaue Überprüfung der historischen Zusammenhänge. „Gleiche oder analoge Erscheinungen“ (16) können völlig unabhängig voneinander entstanden sein, ohne dass historische Beziehungen bestehen. Vorsicht hält er bei Vergleichen angebracht, die im Großen und Ganzen Übereinstimmungen feststellen, dabei aber „natürlich die zahlreichen Abweichungen im Kleinen“ (ebd.) außer Acht lassen.

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Teil II beschäftigt sich mit der Ordnung der Religionen, worin Hardy den ersten Schritt in der historischen Erkenntnis sieht. Die Religionen lassen sich räumlich und chronologisch einteilen. Für Hardy war die „grundlegende Klassifikation der Religionen […] die geographische“ (20). Dann geht es um den „Nachweis einer zeitlichen Aufeinanderfolge“. Hardy reflektiert über historische Hypothesenbildung, über das Kausalitätsgesetz. Ernüchtert stellte er fest: „Jeder Versuch aber, von den mannigfaltigen inneren und äußeren Bedingungen die eine oder die andere zur Erklärung der Besonderheiten in den Gebräuchen und Anschauungen der einzelnen Religionen heranzuziehen, sei es Klima und Bodenbeschaffenheit, sei es Berührungen und Mischungen verschiedener Kultus- und Glaubensformen, hat mit dem Ergebnis geendet, dass damit das Problem nicht gelöst sei“ (23). Ein weiteres Thema ist der Fortschrittsgedanke. Ihm stellt Hardy das Merkmal der „Beharrung“ entgegen (24) sowie den „Rückschritt“ (25). Ihm ist dabei das Problem der Wertung bewusst, die seiner Ansicht nach nicht in die Religionswissenschaft hinein gehört: „Aber dabei ist im einen wie im andern Fall nicht zu übersehen, dass wir, von Fortschritt oder Rückschritt redend, schon Werturteile fällen“ (25). Den großen „Persönlichkeiten“ (25) attestiert Hardy eine große Bedeutung (25f.). Abschließend beschäftigt er sich mit dem Religionsvergleich und sieht in den beiden Verfahren die „Zwillingsschwester“ (27) der jeweils anderen. Der Schwerpunkt liegt für ihn auf der „historisch-komparativen Methode“ (27), bei der es um die geschichtlich nachweisbaren Abhängigkeiten einer Religion von einer anderen geht. Die „anthropologisch-komparative“ Methode sieht dagegen „von den historischen Verhältnissen ganz ab“ und „beachtet alle diejenigen Übereinstimmungen, welche in der menschlichen Natur ihre Quelle haben“ (27).

3. Ausgewählter Quellentext

Nun sollte zunächst, was die Grundlagen angeht, auf denen sich der Bau unserer Wissenschaft erhebt, ihr empirischer Charakter unbedingt feststehen. Alles, was nicht Erfahrungstatsache ist, und als solche nicht entweder überliefert oder aus überlieferten Tatsachen erschlossen ist, existiert nicht für uns und kann folglich auch keine Farbe für das Gemälde abgeben, das wir vom Religionsleben im allgemeinen und besonderen zu entwerfen haben. Würde es aber nur einfach darauf ankommen, an der Hand der Quellen die Einzelheiten zu bestimmen, ohne Rücksicht auf ihre geschichtlichen Beziehungen zueinander, so wäre nicht sowohl ‚Religionsgeschichte‘, als vielmehr ‚Religionsbeschreibung‘ die richtige Bezeichnung. In der Tat wollen einige die wissenschaftliche Betrachtung der Religionen in deskriptive Hierographie aufgehen lassen. Wir halten dies für ein Ding der Unmöglichkeit. Und sollte auch der eine oder der andere Religionsforscher es über sich bringen, uns eine genaue Beschreibung des ein-

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zelnen zu geben, und von der erklärenden Verknüpfung desselben grundsätzlich (nicht etwa bloß der Arbeitsteilung wegen) Abstand nehmen, so wäre nach unserem Dafürhalten dies ein viel zu teurer Preis für das zu erstehende Gut einer ‚konstruktionsfreien‘ Darstellung der religiösen Tatsachen. Keine Wissenschaft darf sich so die Hände binden lassen, da das Ziel einer jeden eine möglichst vollständige Erkenntnis ihres Gegenstandes sein muss. Dazu gehört nun aber eine treue Schilderung des ganzen Prozesses der geschichtlichen Entwicklung, und zu dem Ende sind die zu konstatierenden Einzelheiten nicht nur in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge zu begreifen, sondern außerdem auch in einen Ursachenzusammenhang zu bringen. Ja, man wird sogar nicht einmal darauf verzichten dürfen, die den äußeren Vorgängen korrespondierenden inneren aufzudecken, von denen sich diejenigen, die sie unmittelbar erleben, selbst keine Rechenschaft geben, oder die sie in der nachherigen Reflexion darauf meistens unrichtig interpretieren. Bei allen diesen Aufgaben greifen wir über die Beschreibung hinaus und machen Gebrauch von einem Verfahren, welches in der Methodenlehre ‚konstruktive Synthese‘ heißt. Den Vertretern der soeben dargelegten Ansicht stimmen wir also zwar in dem Punkte unbedenklich bei, dass die Konstatierung der Tatsachen die erste Pflicht des Religionsforschers ist. Deswegen brauchen wir aber nicht auch darin mit ihnen einverstanden zu sein, dass mit dem historischen Aufbau und der Deutung der Tatsachen der Anfang erst zu machen sei, nachdem man alle Tatsachen ans Licht gezogen und jeden Zweifel über dieselben beseitigt habe. Ganz unwillkürlich verbindet sich mit der kritischen Feststellung des Tatsächlichen auch die Gliederung desselben. Die verschiedenen Tatsachengruppen nehmen weiterhin sofort die Gestalt von zum Teil parallellaufenden Reihen an, und es würde eine unnatürliche Selbstverleugnung erfordern, diese Reihen nicht untereinander oder doch wenigstens ihre einzelnen Glieder zueinander in jene Beziehung zu bringen, die wir Geschichte nennen. Was demnach in der Erfahrung zusammengehört, soll man auch in der Untersuchung nicht voneinander trennen. Je weniger Zugeständnisse freilich der aufstrebenden Religionsforschung gemacht werden, in umso weitere Ferne scheint ihre Anerkennung als eine selbständige Wissenschaft neben der der Sprache, des Rechtes usw. zu rücken. So hüllt sich in das angebliche Unvermögen, auf ihrem Gebiete analog das Nämliche zu leisten, was andere Wissenschaften bereits zustande gebracht haben, eigentlich das Verbot ein, die Religion zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Erkenntnis zu machen. Es soll mit Bezug auf sie nur eine Beschreibung, aber keine Erklärung geben. Was heißt dies anders, als die Religionsforschung vor einer Grenze haltmachen zu lassen, jenseits welcher sie gerade anfangen würde, einen höheren Reiz auszuüben? Man merkt also entweder den Widerspruch nicht, wenn man fordert, dass die religiösen Tatsachen einzig und allein beschrieben werden, oder man hat stillschweigend den Wunsch, die Religion vor Pro-

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fanierung zu schützen, als ob die Anwendung der sonst üblichen Forschungsmethoden auf die religiösen Tatsachen sie entweihen würde. Auch wir geben uns natürlich keinen Illusionen hin über den augenblicklichen Stand der Forschung. Wir können aber dennoch nicht einsehen, warum hier mit einem andern Maße gemessen werden soll als beispielsweise in der Sprachforschung, in welcher schon bei der Beschreibung der Tatsachen genug Momente von nicht rein beschreibender Art Berücksichtigung fanden, während sie noch lange nicht ihre gegenwärtige Vollkommenheit erreicht hatte. Andererseits vermögen wir auch jene Besorgnis vor einer Profanation nicht zu teilen und würden, selbst wenn besorgniserweckende Anzeichen vorhanden wären oder weil sie nach dem Urteil einzelner wirklich vorhanden sind, daraus keinen Einwand gegen die Pflege von Studien herleiten, die sich auf Tatsachen stützen und nur mit ihrer Hilfe die verborgenen Grundlagen derselben zu entdecken suchen. Als ungenügend und sich selbst widersprechend mussten wir eine Aufgabestellung erklären, bei welcher nur die Beschreibung der einzelnen Religionen zur Geltung kommt, hingegen die eigentliche Geschichte, der Entwicklungsprozess vernachlässigt wird. Immerhin hat die Spezialisierung, wie sie hier gefordert wird, ihre großen Vorzüge vor dem andern Extrem, wobei man sich anheischig macht, von allem etwas zu wissen, aber nirgends genügend Bescheid weiß. Scheinbar universalistisch, ist ein solches Verfahren in Wahrheit die größte Oberflächlichkeit, und verglichen mit ihm gewährt die auf einen engen Kreis von Tatsachen beschränkte Beobachtung weit eher einen Einblick in die treibenden Kräfte der Religion. Im Spezialisieren ruht sonder Zweifel die Stärke dieser wie jeder Erkenntnis. Allein es ist zu unterscheiden zwischen der dem einzelnen Forscher und der der Forschung zu stellenden Aufgabe. Für jenen kann das Platonische εϊς έν xατά φύσιν auch heute kaum durch eine bessere Maxime ersetzt werden, und es entspringen aus der Verteilung der Aufgaben innerhalb eines und desselben Arbeitsgebietes ganz unberechenbare Vorteile sowohl für die einzelnen Arbeiter als auch für die zu leistende Arbeit im kleinen wie im großen. Im Forschungsobjekt selbst aber, sofern wir darunter das Ziel verstehen, dem die Forschung zusteuert, ganz abgesehen von den Wegen, die dahin führen, geht es nicht an, zu trennen, was durch die Natur der Sache und vermöge der zu fördernden Erkenntnis zusammengehört. Keineswegs soll dies jedoch soviel heißen, als dass alles zumal die nämliche Bedeutung für die Erkenntnis habe, oder dass, was daran für uns am unentbehrlichsten ist, auch an sich das Wertvollste sei. Wir halten die geschichtliche Erkenntnis der Religion eines einzelnen Volkes, sei sie aus literarischen Quellen oder andern, mit oder ohne Anschauung ihrer in die Außenwelt tretenden Formen zu gewinnen, unstreitig für die Voraussetzung, unter der an eine Erweiterung derselben gedacht werden kann. Allein es kommt uns dabei durchaus nicht in den Sinn, das Unentbehrliche zum einzigen zu machen, über welches hinaus es für uns nichts weiter zu tun gibt.

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Nicht unvermittelt aber, sondern durch eine Reihe von Zwischengliedern erhebt sich der Forschungstrieb vom Nächsten zum Fernsten. Einmal und zunächst steht nirgends die Religion isoliert für sich da. Sie ist vor allem mit der Gesamtkultur des betreffenden Volkes verbunden. Die Religionsgeschichte (diesen Namen in seiner ursprünglichen Bedeutung genommen) sollte sich daher stets an die Bedingungen erinnern, unter denen sie ihren Stoff, das Religionsleben eines Volkes, vorfindet, zumal wo aus Zweckmäßigkeitsgründen eine Isolierung ratsam erscheint. Eine solche kann demnach schon in Hinsicht auf die übrigen kulturellen Faktoren Platz greifen, zu denen die Religion in einem koordinierten Verhältnis steht, und wird es immer auf den ausgedehnteren Religionsgebieten, wo selbstredend auch alle übrigen Gebiete des kulturellen Lebens eine größere Ausdehnung haben. Noch mehr Entschuldigungsgründe scheint die Isolierung für sich zu haben, ohne darum weniger schädlich in ihren Folgen zu sein, wenn sie sich darauf beschränkt, die Religion aus dem Charakter des Volkes allein zu begreifen, wie sich derselbe zugleich auch in seiner Sprache, seinem Recht usw. zu erkennen gibt. Nun können wir allerdings nicht a priori wissen, ob ein Volk in seiner Religion und überhaupt in seiner Kultur Einwirkungen von Seiten anderer Völker mit andersartiger Kultur und Religion an sich erfahren hat, und wenn sie auch für eine Seite des Kulturlebens erwiesen sind, so folgt daraus noch nicht die Abhängigkeit hinsichtlich der andern. Aber da wenigstens die Möglichkeit einer Beeinflussung nicht zu leugnen ist, so muss jeder einzelne Fall für sich untersucht werden. Der Historiker, welcher die Religion eines Volkes losgetrennt von der der benachbarten Völker betrachten will, läuft Gefahr, die geschichtlichen Züge selber zu verzerren, und somit wäre auch aus diesem Grunde der Spezialist schlimm beraten, der glaubte, sich auf seinen unmittelbaren Untersuchungsgegenstand beschränken zu dürfen. Die eine wie die andere der hier berührten Isolierungen bezieht sich auf die Erforschung der Religion eines Volkes als einer von andern Völkern abgesonderten Einheit. Wer verbürgt uns aber, dass diese Einheit eine ursprüngliche ist? Könnte sie nicht auch aus einer früheren umfassenderen Einheit durch Spaltung hervorgegangen sein? Hier würde es demnach dem Zwecke des Erkennens selbst zuwiderlaufen, wollte man künstlich das Licht abwehren, das von jenem ungesonderten Religionszustande aus, ob auch noch so spärlich, sich über die Religion des einzelnen Volkes verbreitet. Auch bei dieser Vergleichung bleiben, wie man sieht, die Verwandtschaftsgrenzen gewahrt. Warum dürfen nicht aber, natürlich immer unter Wahrung der Rechte einer jeden Religion, in ihren geschichtlichen und vorgeschichtlichen Zusammenhängen studiert und nie anders als im Hinblick auf diese aufgefasst und beurteilt zu werden, auch unverwandte Religionen untereinander verglichen werden? Denn dass wir uns damit auf ein uferloses Meer ohne Steuer und Kompass hinauswagen, leuchtet uns von vornherein nicht ein und soll das Gegenteil davon unten dargetan werden. Wir möchten hier nur Nachdruck darauf legen, dass es uns Pflicht der Forschung zu sein

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scheint, kein Mittel unversucht zu lassen, an dessen guten Gebrauch sich die Hoffnung auf eine gründliche Erkenntnis ihres Gegenstandes knüpft. Wenn darum das Wesen der Religion durch die Vergleichung unverwandter Religionen unserm Verständnis nur ein wenig näher gebracht wird, so verschmähen wir diese Hilfe nicht. Um dieser über den Rahmen der geschichtlichen Betrachtung hinausfallenden Vergleichung willen, deren Ergebnisse sich mit Heranziehung psychologischer Beobachtungen vielleicht noch ergänzen lassen, wird man Anstoß nehmen, die Bezeichnung „Religionsgeschichte“ in einem also veränderten Sinne zu gebrauchen, vielmehr sich lieber dazu verstehen, den eine spezielle Färbung nicht mit sich führenden Namen „Religionswissenschaft“ für die Gesamtheit der Studien zu adoptieren, welche es mit den Religionen und der Religion zu tun haben. Eine Wissenschaft ist zweifelsohne auch die Geschichte, wenn sie in wissenschaftlichem Geiste und nach wissenschaftlicher Methode betrieben wird, aber nicht alles an der Wissenschaft ist Geschichte. Eine Kulturwissenschaft würde die Religionsgeschichte sein, wofern sie dem Ideale entspricht, das wir uns von ihr bilden. Und während dieses Ideal den Spezialbetrieb fordert, zeigt es zu gleicher Zeit dem Forscher die allgemeinen Zusammenhänge und lehrt ihn so schon von der geschichtlichen Seite aus einen Standpunkt gewinnen, auf dem es ihm nicht mehr schwerfällt, an eine allgemeine Religionsgeschichte zu glauben, das treue Korrelat einer dieser selbst übergeordneten allgemeinen Kulturgeschichte. Zwischen dem Allgemeinen im historischen und dem Allgemeinen im komparativen Sinne liegt aber kein Abgrund. Schon methodologisch sind sie verbunden, sahen wir doch, dass auch in der Religionsgeschichte als solcher eine vergleichende Tätigkeit sich an der Lösung einzelner Aufgaben erfolgreich beteiligen kann. In der Sache selbst also ist es nicht ein Verschiedenes, sondern ein und dasselbe, das das eine Mal mehr in Hinsicht auf seine Entstehungsbedingungen und sein Verhältnis zu zeitlich und räumlich mitwirkenden Faktoren und das andere Mal mehr in Hinsicht auf seine Merkmale und Erscheinungsformen untersucht wird. Ob wir die letztere Art wissenschaftlicher Tätigkeit oder richtiger die Summe von Tätigkeiten, die mit den ersteren verbunden ein sich mehr und mehr vollendendes Ganzes wissenschaftlicher Religionskenntnisse bilden, einer allgemeinen Kulturwissenschaft zu subsumieren haben oder anders, wird hauptsächlich von zwei Erwägungen abhängen. Zunächst davon, welche Ausdehnung wir dem Begriffe Kultur verleihen. Die Anfänge der Kultur verlieren sich in unergründliches Dunkel, und nirgends sind wir imstande, eine scharfe Grenze zu ziehen zwischen Naturleben und Kulturleben, Naturgemeinschaft und Kulturgemeinschaft, da letztere nur ein höheres Maß von Lebensfürsorge und entsprechender Gesittung bedeutet. Dennoch ist der Unterschied ein tatsächlicher. Soll nun die Religionsforschung alles, was jenseits der Grenze liegt, die in kaum definierbarer Weise Kulturlosigkeit von Kultur scheidet, ignorieren? Oder würde sie nicht umgekehrt gerade infolge der Schwierigkeit, diese Grenze deutlich

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zu unterscheiden, leicht auch solches übersehen, was faktisch ein Kulturprodukt ist? Nachdem aber die Ethnologie uns mit Volksstämmen bekannt gemacht hat, die, relativ genommen, auf der Naturstufe stehen, wäre es da nicht einseitige Übertreibung, eine Überschätzung des Geschichtlichen um des Geschichtlichen willen, dem Religionsforscher daraus einen Vorwurf unwissenschaftlichen Tuns zu machen, wenn er den einem solchen Stamme eigentümlichen religiösen Anschauungen und Bräuchen Beachtung schenkt? Niemand kann beweisen, dass sie etwa ihrer Rohheit wegen eines ernsten Studiums unwert seien, oder wegen der Unmöglichkeit einer eigentlich geschichtlichen Behandlung sich auch der wissenschaftlichen entziehen. Bietet sich auf Grund dieser Erwägung uns noch nicht eine sachgemäße Anordnung dar, da es einer solchen offenbar widerstreben würde, die Religionswissenschaft der Ethnologie und mit dieser der Anthropologie unterzuordnen, so verhilft uns dazu eher eine weitere Erwägung. Diese geht davon aus, dass die Religionswissenschaft, mag sie rein historisch verfahren oder sich der entgegen gesetzten Seite, der Betrachtung von Eigenschaften und Zuständen zuwenden, mag sie in geschichtlichen oder ethnologischen Bahnen sich bewegen, auf die Dienstleistungen der Psychologie angewiesen ist. Zwar nicht schon beim Sammeln der Tatsachen, worin wir bloß eine vorbereitende Tätigkeit zu erblicken haben, tritt die Religionswissenschaft in dieses Abhängigkeitsverhältnis, wohl aber, sobald sie dazu übergeht, die Tatsachen zu interpretieren. Dass ihrerseits auch die Psychologie religionswissenschaftliche Tatsachen zur Erweiterung ihres Gebietes verwertet, dass also in Wahrheit beide Disziplinen in Wechselwirkung zueinander stehen, braucht uns hier nicht weiter zu bekümmern. Es genügt, an die grundlegende Bedeutung der Psychologie für die Religionswissenschaft zu erinnern, um damit zugleich für die letztere eine sachgemäße Subsumtion [sic!] zu finden. Verdient nämlich die Psychologie, weil ihr Gegenstand Geistesvorgänge sind, die sie ohne jede Rücksicht auf ihre Anwendung in den speziellen Gebieten des geistigen Lebens betrachtet, den Namen allgemeine Geisteswissenschaft, so ist die Religionswissenschaft aus dem eben angeführten Grunde eine der speziellen Geisteswissenschaften. Sie gehört zu den Erfahrungswissenschaften des Geistes und gesellt sich hier zu den historischen Disziplinen. Denn auch diejenigen Tatsachen, kraft deren man geneigt sein dürfte, sie zur Ethnologie in Beziehung zu setzen, sind mit den historischen Tatsachen verbunden und weisen zu deutlich auf eine Entwicklung hin, aus der sie selbst hervorgegangen oder in die sie als bestimmende Faktoren eingegangen sind, als dass es angezeigt erschiene, diese Verbindung zu lösen. Wie bei den übrigen Geisteswissenschaften, welche entweder die Geistesvorgänge als solche, oder die verschiedenen Geisteserzeugnisse zum Gegenstand haben, so bildet auch bei der Religionswissenschaft das erfahrungsmäßig Gegebene den Ausgangspunkt der Untersuchung. Sie betrachtet dasselbe aber nicht sowohl von seiner subjektiven als von seiner objektiven Seite. Nicht die Religion im Sinne einer proble-

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matischen Anlage, auch nicht als eine Summe rein psychischer und darum bloß individueller Erfahrungstatsachen, sondern die Religion im Sinne eines in die Außenwelt tretenden geistigen Faktums nimmt ihr Interesse in Anspruch. Unserer Auffassung zufolge, die durch die empirische Tendenz der Religionswissenschaft geboten erscheint, ist „Religion“ der Ausdruck für eine Klasse von Erfahrungstatsachen. Religion bezeichnet einen Allgemeinbegriff, der sich immer auf Erfahrungen bezieht. In der Erfahrung gibt es für uns nur Religionen, und zwar strenggenommen ebenso viele, als es religionsfähige Individuen gibt, obschon unsere wie jede Wissenschaft von dieser Tatsache nur einen beschränkten Gebrauch machen kann. Der Klassenbegriff Religion empfängt seinen Inhalt erst durch die Arbeit des Denkens das Wesen der Religion begrifflich zu bestimmen, was selbst wieder nicht ohne genaue Beobachtung des Tatsächlichen möglich ist. Nichts wäre daher schädlicher für das Erkennen, als die erste beste Abstraktion durch eine Definition festlegen zu wollen, zu der ein flüchtiger Blick auf die geschichtlich entstandenen Religionen und der eine oder andere psychologische Gemeinplatz ein Recht zu verleihen schiene. Die Gefahr aber, in den Tatsachen selber fehl zu greifen, Religionsmaterialien zu übersehen oder solche von nichtreligiöser Beschaffenheit für religiöse zu nehmen, ist eine bloß fingierte. Und falls sie wirklich vorhanden, könnte dann eine Definition, eine bloße Formel in der Praxis vor Schaden bewahren? Alles zur Inangriffnahme der Arbeit absolut Unentbehrliche besitzt derjenige, der überhaupt imstande ist, wissenschaftliche Beobachtungen anzustellen, teils in den allen zugänglichen Erfahrungen, von denen die religiösen auszunehmen wir keinen Grund haben, teils in den allgemeinen, überall gleichen Grundsätzen, nach denen Tatsachen zu konstatieren sind. Die religionswissenschaftlichen Aufgaben liegen also in einer und derselben Richtung mit denen der übrigen Geisteswissenschaften. Es kann daher das in der Religionswissenschaft einzuschlagende Verfahren von der sonst üblichen Methode nicht wesentlich verschieden sein. Wohl aber wird, den besonderen Aufgaben entsprechend, welche die Religionswissenschaft zu lösen hat, irgendein besonderes Hilfsverfahren, wie z.B. die Vergleichung, auf dem einen Gebiete mehr und auf dem anderen weniger zur Verwendung kommen. […] Die Religionsgeschichte kann nicht umhin, gleich der Kunstgeschichte, der Geschichte der Literatur, der Wissenschaft, Persönlichkeiten, deren Wirken oft weit über ihre nächste Umgebung hinausreichende Spuren zurückgelassen hat, in den Bereich ihrer Untersuchungen zu ziehen. Sie wird hierdurch Biographie in jenem höheren Sinn des Wortes, der unter dem Leben alle Ausstrahlungen geistiger Kraft und Wirksamkeit versteht, die Worte und Werke des Menschen. Sie schöpft ihre Kenntnis dieser Persönlichkeiten aus den eigenen Aufzeichnungen, wenn dieselben solche hinterlassen haben, oder aus den Aufzeichnungen oder mündlich überlieferten Angaben ihrer unmittelbaren Anhänger, doch können auch Nachrichten einer jünge-

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ren Generation noch als Quelle dienen, falls ihre Glaubwürdigkeit aus äußeren oder inneren Gründen zu beweisen ist. Zeugnisse, die von gegnerischer Seite herstammen, sind darum nicht wertlos für die Forschung, sondern geben häufig Eindrücke wieder, welche für die Freunde und Parteigänger des Gefeierten verlorengingen. Selbst da, wo sie übertreiben nach der ungünstigen Seite, enthalten sie unter Umständen einen historischen Kern, den man nur loszuschälen braucht, um einen reellen Gewinn zu erzielen. Aber auch auf den Zusammenhang ist nicht zu verzichten, in welchem Leben und Tätigkeit der betreffenden Persönlichkeit mit dem religiösen und überhaupt mit dem kulturellen Leben ihres Zeitalters steht, mitunter liefert sogar die politische Geschichte einen wertvollen Beitrag zum Verständnis oder doch zur besseren Würdigung der besonderen Richtung, die sie genommen hat. Alles, was uns in die Anschauungswelt zurückversetzt, die sie umgab, uns in die Werkstätte ihres Geistes oder in die Tiefen ihres Gemütes führt, bildet ein wesentliches Moment in der Rekonstruktion des Geschehenen. Auflösung in die Elemente, aus denen es besteht, ist auch hier das Mittel, um eine richtige Synthese, ein der Wirklichkeit entsprechendes Geschichtsbild zu gewinnen. Vornehmlich muss das Eigenartige gebührend zum Ausdruck gebracht werden. Zu dem Zwecke hat die Forschung vor allem aus der Masse von Einzelheiten, die ihr zugänglich sind, durch Vergleichung die übereinstimmenden auszulesen und danach zu gruppieren. Auf diese Weise scheidet sich das Wesentliche vom Unwesentlichen, und entdecken wir die Quelle, aus welcher alles fließt. In fremde Eigenheiten aber kann sich niemand vertiefen ohne ausgebildete seelische Erfahrung. Allein, um nichts vom eigenen in den fremden Charakter hineinzutragen, muss man sich auch darüber klar sein, dass ein jeder Charakter seine Geheimnisse hat, die niemand ergründet. Ober allem diesem darf nicht übersehen werden, dass an ein Nebeneinander des Religionslebens und der diesem ihr Gepräge aufdrückenden Persönlichkeiten zu denken sich von selbst verbietet. Alles Verstehen ist auch hier ein Verstandenwerden. In der Darstellung darf daher die eine Seite, wir wollen sie kurz die persönliche nennen, nicht isoliert wie eine Sache für sich, sondern stets nur im engsten Anschluss an die andere Seite behandelt werden. Die im bisherigen angewandte Vergleichung steht durchweg im Dienste der historischen Forschung. Sie hält sich, auch wo wir mit ihrer Hilfe die bei verschiedenen Völkern vorkommenden Übereinstimmungen konstatieren, an die geschichtlich nachweisbare oder rekonstruierbare Abhängigkeit, in der ein Volk zum andern oder mehrere zu einem Volkszentrum stehen, von welchem sie sich abgezweigt haben. Im Unterschied von dieser historisch-komparativen Methode sieht ein anderes vergleichendes Verfahren von den historischen Verhältnissen ganz ab. Es beachtet alle diejenigen Übereinstimmungen, welche in der menschlichen Natur ihre Quelle haben, und führt darum den Namen anthropologisch-komparative Methode.

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Diese beschränkt sich nicht mehr auf die Religionen der stamm -und sprachverwandten Völker, sondern zieht auch selbst die Vorstellungen und Bräuche der Naturvölker heran. Im Übrigen will sie ebenso der Beschreibung und Erklärung der Tatsachen dienen, wie ihre Zwillingsschwester, die historisch-komparative Methode. Während diese aber in der Erklärung bei empirischen Gesetzen von beschränkter Gültigkeit anlangt, falls es ihr gelingen sollte, die Religionsentwicklung eines (relativ) kleinen Gebietes als eine in der einen oder andern Hinsicht gesetzmäßige zu erweisen, sucht jene auch solche Erscheinungen und Veränderungen im religiösen Leben, die an keinen Ort und keine Zeit gebunden sind, auf Gesetze zurückzuführen. Dieses Ziel erscheint aber nicht schon dann erreicht, wenn sie dabei nur mit den allgemeinsten Allgemeinheiten operiert, die eigentlich, weil sie zu sehr auf der Hand liegen, keiner gesetzlichen Formulierung bedürfen. Vielmehr können allein Gesetze unsere Wissbegierde reizen wie auf der andern Seite zufriedenstellen, d. h. solche Allgemeinheiten, in denen uns das Wesen der Religion, ihre Entfaltung und Gestaltung ansichtig wird. Bei allen diesen auf Induktion beruhenden Generalisationen darf aber natürlich auch die Religionsforschung keine anderen Wege einschlagen, als die in den exakten Wissenschaften erprobten. Ihre Gesetze werden daher nur dann den Anforderungen entsprechen, welche an wissenschaftliche Gesetze zu stellen sind, wenn sie nicht dem Wunsch, sondern dem methodischen Forschen allein ihr Dasein verdanken.

4. Fragen zum Text 1. „Alles, was nicht Erfahrungstatsache ist, und als solche nicht entweder überliefert oder aus überlieferten Tatsachen erschlossen ist, existiert nicht für uns“. Nehmen Sie dazu Stellung. 2. Woran denkt Hardy, wenn er von Tendenzen spricht, die es verbieten, „die Religion zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Erkenntnis zu machen“. 3. Wie beurteilen Sie Hardys Gedankengang: „Immerhin hat die Spezialisierung, wie sie hier gefordert wird, ihre großen Vorzüge vor dem andern Extrem, wobei man sich anheischig macht, von allem etwas zu wissen, aber nirgends genügend Bescheid weiß.“ 4. Finden Sie Beispiele für die Richtigkeit des Hardyschen Satzes: „Einmal und zunächst steht nirgends die Religion isoliert für sich da. Sie ist vor allem mit der Gesamtkultur des betreffenden Volkes verbunden.“ 5. Was meint Hardy damit, wenn er die Religionsgeschichte als eine ‚Kulturwissenschaft‘ bezeichnet? 6. Worin liegt für Hardy „die grundlegende Bedeutung der Psychologie für die Religionswissenschaft“?

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7. Was ist der Unterschied zwischen der „historisch-komparativen“ und der „anthropologisch-komparativen Methode“?

5. Würdigung

Dem in der Geschichte der Religionswissenschaft weithin unbekannt gebliebenen und wohl auch verkannten Edmund Hardy kommt für die Etablierung der Religionswissenschaft in Deutschland eine wesentliche Bedeutung zu. Zitiert wird er sehr selten, und so ist es schon eine Ausnahme, wenn ihn Kurt Goldammer in seinem Aufsatz über „Faktum, Interpretation und Verstehen“ zustimmend erwähnt. 37 Es zeugte von solider fachgeschichtlicher Kenntnis und Weitsicht, dass ihn der Religionswissenschaftler Günter Lanczkowski im Band CCLXIII der renommierten Reihe „Wege der Forschung“ in seinem Sammelband „Selbstverständnis und Wesen der Religionswissenschaft“ (1974) aufnahm und mit seinem grundlegenden Artikel vorstellte. „Mit Bedacht ist an den Anfang dieses Bandes jener Aufsatz gestellt worden, den Edmund Hardy im Jahre 1898 auf den ersten Seiten des damals begründeten ‚Archivs für Religionswissenschaft‘ veröffentlichte. Denn die Darlegungen dieser Arbeit, die Problemstellungen von weiterwirkender Bedeutung aufzeigten, haben wesentlich zur Konsolidierung des Faches Religionswissenschaft beigetragen, und nicht zufällig knüpfen die Ausführungen von Raffaele Pettazzoni an sie an“.38 Die (evangelische) RGG1 (1909–1913) enthielt ebenso einen kurzen Artikel wie die RGG2 (1927–1931), die aber beide keinen Hinweis auf Hardys religionswissenschaftliche Bedeutung enthalten, sondern vor allem seine wechselvolle Vita und seine (universitäts)politischen Probleme kurz erwähnen. RGG3 (1957–1965) weist nirgendwo auf Edmund Hardy hin. Die achtbändige vierte Auflage (1998–2007) erwähnt im Artikel „Religionswissenschaft“ (H. Seiwert) kurz Hardys Bedeutung für die Theorie des Faches: „Die aus dem Gegenstand abgeleitete ‚sui-generis‘ These wird von Kritikern als auf latent theol. Prämisse beruhend abgelehnt. Danach sei Religion wiss. nur so weit zugänglich, wie es die üblichen Methoden hist. und empirischer Forschung gestatten. R. unterscheide sich zwar in ihrer Wahl des Forschungsgegenstandes von anderen geistes- und sozialwiss. Disziplinen, nicht jedoch in ihren Methoden. Diese Position wurde programmatisch bereits von Edmund Hardy (Was ist R.?) formuliert und wird heute v.a. in der hist. und sozialwiss. orientierten R. vertreten“. Höchst erstaunlich ist das Ergebnis 37 In: Religion und Religionen. Festschrift für Gustav Mensching zu seinem 65. Geburtstag, Bonn 1967, S.11–34. 38 Vorwort von Günter Lanczkowski. In: Ders.: Selbstverständnis und Wesen der Religionswissenschaft, Darmstadt 1974, S. VII-IX, hier S. VII.

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bei der 1977–2004 erschienen 36bändigen TRE (Theologische Realenzyklopädie), die Edmund Hardy an keiner Stelle erwähnt. Das katholische LThK („Lexikon für Theologie und Kirche“) enthält einen knappen Hardy-Artikel, der ausschließlich aus Daten besteht und seine Leistung in der Pali-Forschung hervorhebt. Jacques Waardenburg würdigt kurz Hardys Leistung in der Methodologie des Faches.39 Man darf Hardys Bedeutung nicht mit seiner Wirkung oder seinem Erfolg verwechseln; denn erfolgreich waren weder das Leben Edmund Hardys noch seine Wirkungs- bzw. Rezeptionsgeschichte. Auch gab es keine Hardy-Schüler, die sich auf den Meister beriefen, sein Werk weiter dachten. Dieser menschlich eher schwierige Wissenschaftler, den der Bonner Religionswissenschaftler Ulrich Vollmer als „überempfindlich und von steifer Zurückhaltung“ beschreibt, war eine tragische Gestalt. Sein programmatischer Artikel ‚Was ist Religionswissenschaft?‘ nimmt jedoch viele Erkenntnisse späterer Autoren wie zum Beispiel Joachim Wach vorweg, der Hardy nicht erwähnt. Ulrich Vollmer hat die Anfänge „einer spannungsvollen Beziehung zwischen Religionswissenschaft als akademischer Disziplin im Kontext katholischtheologischer Fakultäten“ aufgezeigt. „Diese Anfänge stehen allesamt im Schatten der Modernismus-Kontroverse: philologische Bescheidung am Ende bei Edmund Hardy, archivarische Bestandsaufnahme bei Franz Joseph Dölger, die Wendung nach innen bei Wunderle und Andres, zudem zur Religionsethnologie bei Andres, zur allgemeinen kulturwissenschaftlichen und philosophischen Fragen bei Steffes“.40

6. Weiterführende Arbeitsaufgaben 1. Vergleichen Sie Hardys Ansatz und den späteren, klassisch gewordenen von Joachim Wach. 2. Finden Sie mögliche Gründe dafür, warum katholische Religionswissenschaftler auf das Ganze gesehen in der frühen deutschen Religionswissenschaft so selten waren. 3. Woran mag es liegen, dass Hardy in der Religionswissenschaft so ein großer ‚Unbekannter‘ blieb und auch nach Erscheinen des Sammelbandes von Lanczkowski kaum bekannter wurde?

39 Jacques Waardenburg: Classical Approaches to the Study of Religion. Aims, Methods and Theories of Research, Bd. 1: Introduction and Anthology, The Gaue, Paris 1973, S. 43. – In Bd. 2 (1974) findet sich eine kurze Bibliographie, S. 97f. 40 Vollmer, Ulrich: Religionswissenschaft als akademische Disziplin im Kontext katholisch-theologischer Fakultäten. In: Jürgen Court/Michael Klöcker: Wege und Welten der Religionen. Forschungen und Vermittlungen, Frankfurt/Main 2008, S. 647–653, hier S. 653.

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7. Auswahlbibliographie Primärliteratur

Max Müller und die vergleichende Religionswissenschaft. In: Der Katholik 62, 1 (1882), S. 244–272; 355–389; 449–478; 561–585. Die allgemeine vergleichende Religionswissenschaft im akademischen Studium unserer Zeit. Eine Antrittsrede, Freiburg i. Br. 1887. Die vedisch-brahmanische Periode der Religion des alten Indien. Nach den Quellen dargestellt, Münster 1893. Indische Religionsgeschichte, Leipzig 1898. Zur Geschichte der vergleichenden Religionsforschung. In: Archiv für Religionswissenschaft 4 (1901), 45–66; 97–165; 193–228. Indiens Kultur in der Blütezeit des Buddhismus. König Asoka, (Bd. 1 von Weltgeschichte in Karakterbildern), Mainz 1902 Sekundärliteratur

Bechert, Heinz: Hardy, Edmund Georg Nicolaus. In: Neue Deutsche Biographie (http://www.deutsche-biographie.de/artikelNDB_n07–670-01.html (Zugriff: 10.09.2010) Kammer, C.: Edmund Hardy, der Nestor der katholischen Religionswissenschaftler. In: JBMz 3 (1948), S. 337–339. Streitberg, Wilhelm: Hardy, Nikolaus Georg Edmund. In: BJ X, S. 337–43 Ders.: Edmund Hardy. Ein Gelehrtenleben. In: Hochland 2,1 (1904–5), S. 427–45 Vollmer, Ulrich: Religionswissenschaft als akademische Disziplin im Kontext katholischtheologischer Fakultäten. In: Jürgen Court/Michael Klöcker: Wege und Welten der Religionen. Forschungen und Vermittlungen, Frankfurt/Main 2008, S. 647–653. Ders.: Edmund Hardy (1852–1904) – Ein tragisches Leben zwischen Theologie, Religionswissenschaft und Indologie. In: Festschrift für Hans-Jürgen Findeis (Lit.), vor dem Erscheinen.

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4. James George Frazer (1854–1941) 1. Biographie

James George Frazer wurde am 1. Januar 1854 in Glasgow als ältestes von vier Kindern geboren. Sein Vater Daniel Frazer (1821–1900) war Besitzer einer Apotheke in der schottischen Hauptstadt. Zusammen mit seiner Frau Katherine (gest. 1899) waren die Frazers Mitglieder der Free Church of Scotland. Aufgrund eines Schismas hatte sich diese Freikirche 1843 von der Church of Scotland abgespalten. Die Familie Frazer war sehr fromm, hielt zu Hause eigene Gottesdienste ab, trat für die strikte Befolgung der Sonntagsruhe ein. Selbst nach seiner Abkehr vom Christentum hob James George Frazer hervor, dass er diese streng-kirchliche Frömmigkeit nicht als beengend und belastend empfunden hatte. Seine schulische Ausbildung erhielt James George an der Springfield Academy sowie der Larchfield Academy in Helensburgh (Dumbarton, gelegen am Firth of Clyde). 1869 wurde Frazer an der University of Glasgow immatrikuliert. Er studierte klassische Philologie, auch Physik bei dem legendären Lord Kelvin und beendete sein Studium 1874. Anschließend studierte Frazer ‚Classics tripos‘ (B. A.-Grad) am Trinity College in Cambridge, wo der herausragende Student sein Abschlussexamen 1878 mit Auszeichnung bestand. Ein Jahr später erhielt er ein Stipendium aufgrund seiner Dissertation über ‚The Growth of Platon’s Ideal Theory‘ (veröffentlicht erst London 1930). Diese Dissertation brachte ihm den Titel ‚Alpha Fellowship‘ für das darauf folgende Jahr ein, eine Ehrung, die er auch die nächsten Jahre erhielt. Über 60 Jahre blieb Frazer Fellow des Trinity College, was zu einem gesicherten Einkommen führte. Auf Wunsch seines Vaters begann James George, 1878 Jura zu studieren. Vier Jahre später erhielt er seine Zulassung als Rechtsanwalt, wurde aber niemals als Jurist tätig. 1896 heiratete James Elizabeth (genannt Lilly) Grove, die ihn während der gesamten Ehe auf vielerlei Weise unterstützte. Sie setzte all ihre Kraft ein, um dem als scheu und weltfremd (‚suckling babe‘, William James) geltenden Frazer

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zur nötigen Anerkennung seines Werkes zu verhelfen. So übersetzte sie zum Beispiel viele seiner Werke ins Französische. Die umfangreiche Korrespondenz von Elizabeth Grove Frazer vermittelt einen Eindruck von der oft bedrückenden finanziellen Situation im Hause Frazer. Auch die Übernahme des Lehrstuhls für Social Anthropology in Liverpool für ein Jahr verbesserte die finanzielle Situation nicht grundsätzlich, weil sie ‚honorary‘, also ohne Vergütung war. 1921 wechselt Frazer nach Cambridge, wo er den neu errichteten Lehrstuhl für Sozialanthropologie übernahm. Als Gelehrter begann Frazer mit einer Übersetzung und einem Kommentar zu Pausanias, einem griechischen Reiseschriftsteller des 2. Jahrhunderts. 1898 wurde das sechsbändige Werk veröffentlicht. Pausanias erweckte Frazers Interesse an der Ethnographie. 1890 und 1895 reiste er nach Griechenland, um dort – auf Pferderücken – zu erforschen, was von den alten Bräuchen und Praktiken noch übrig geblieben war. Auf das Ganze gesehen, war Frazer jedoch kein Reisender und Feldforscher, was er selbst bedauerte. Robert Ackerman hat neues Licht auf Frazers Einstellung zu seinem Forschen und seinen wissenschaftlichen Arbeiten geworfen. Demnach soll Frazer es durchaus nicht für optimal gehalten haben, sich nur auf Sekundärquellen zu stützen. Doch aufgrund persönlicher Verhältnisse (Finanzen, Ehefrau, zwei Kinder aus ihrer früheren Ehe) war es ihm unmöglich, Forschung aus erster Hand zu betreiben. Frazers Interesse an sozialanthropologischen Fragen weckte und beförderte seine Freundschaft mit William Robertson Smith, einem von der Kirche beargwöhnten, schließlich exkommunizierten Alttestamentler und Semitisten in Cambridge. Robertson Smith ermutigte Frazer, sich mit religiösen Kulturen und ihren Ritualen zu beschäftigen. Als Herausgeber der wichtigen neunten Auflage der Encyclopaedia Britannica bat er Frazer, zwei Artikel zu übernehmen: ‚Taboo‘ und ‚Totemism‘ (aus dem 1890 das zweibändige Werk ‚The Golden Bough‘ wurde). Frazer hatte inzwischen Edward Burnett Tylors Abhandlung Primitive Culture (1871) gelesen und Vorträge über anthropologische Studien gehalten. 1885 hielt er am Anthropologischen Institut einen Vortrag ‚On Certain Burial Customs as Illustrative of the Primitive Theory of the Soul‘, unter dessen Zuhörern sich auch Tylor befand. Frazer interessierte sich zunehmend für den Zusammenhang von Mythos und Ritual. 1914 wurde Frazer geadelt und 1920 zum Fellow of the Royal Society (FRS) ernannt. 1924 wurde Frazer Mitglied des Order of Merit für seine herausragenden Beiträge zur Wissenschaft. Sein stetig zunehmendes Augenleiden bis zur fast völligen Erblindung führte dazu, dass Frazer auf die Unterstützung von Sekretären angewiesen war. Robert Angus Downie, ein Sekretär Frazers, war zugleich sein erster Biograph. Am 7. Mai 1941 verstarb James George Frazer in Cambridge. Seine Frau Lilly verschied nur wenige Stunden später. Beide wurden nebeneinander auf dem St. Giles Friedhof in Cambridge begraben.

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2. Inhaltsangabe des Buches Frazers Hauptwerk ist ‚The Golden Bough‘ (Der goldene Zweig) – eine „wahre Bibel der Völkerkunde“ (Werbung) – ein ursprünglich (1890) zweibändiges, dann nach mehrfacher Überarbeitung auf zwölf Bände angewachsenes Werk (1922). Im selben Jahr erschien seine Zusammenfassung in einem Band, Grundlage für deutsche Ausgaben. Sogar eine illustrierte Fassung ist auf dem Markt. Kaum jemanden dürfte es geben, der den in einem leicht lesbaren Englisch geschriebenen Zwölfbänder gelesen hat.

Um Frazers Hauptgedanken kennen zu lernen, empfiehlt es sich, das zusammenfassende Werk ‚Man, God and Immortality‘ (1927), auf Deutsch ‚Mensch, Gott und Unsterblichkeit‘ (Leipzig 1932) zu lesen, das einen „Querschnitt durch das Gesamtschaffen Frazers dar[stellt]“, wie es im Klappentext heißt. Wem anders konnte es gewidmet sein, als seiner Frau Elizabeth, „der Anregerin meines Schaffens, der alleinigen Urheberin dieses Bandes“. In seinem ‚Vorwort‘ erklärt Frazer die Entstehung dieses Werkes, das „unter meiner Leitung zusammengestellt worden ist. Ich habe einige Stellen hinzugefügt, einige wenige umgestellt und allen Titel vorangesetzt. Ferner habe ich hier und da einige Worte geändert, um die Stücke ihrer neuen Umgebung anzupassen“ (VII). Es handelt sich also um eine Zusammenstellung aus anderen Büchern und Aufsätzen Frazers, einen „Leitfaden, um Leser durch das Labyrinth meiner größeren Werke zu führen“ (IX). Jeder der 177 Paragraphen enthält die Angabe ihrer Originalquelle. Der Widmung zufolge hat sich ‚Lilly Grove Frazer‘ einen großen Verdienst bei der Erstellung dieses Frazer-Querschnittes erworben. Frazer hält seine Theorien für weniger wichtig als die Präsentation von Materialien, Fakten; denn „bei alledem werden sich, wenn ich nicht irre, letzten Endes meine Tatsachen als wertvoller und geschätzter erweisen als meine Theorien“ (VIII). Fast schon prophetisch stellt Frazer am Ende des Vorwortes fest: „und wenn wir Heutigen von unseren Nachfahren unter die Alten gerechnet werden, so werden vielleicht einige meiner Bücher immer noch als Berichte über einen Zustand der Wildheit und der Barbarei gelesen, der lang vergangen ist, und dessen Original-Dokumente untergegangen sind“ (VIIIf.) Die Kompilation – oder darf man sagen dieser Frazer-‚Sampler‘? – besteht aus vier großen Teilen, die jeweils in einzelne Paragraphen gegliedert sind. Teil I thematisiert „Die Erforschung des Menschen“ (§§1–33, S. 3–52), Teil II „Der Mensch in der Gesellschaft“ (§§ 34–81, S. 55–163), Teil III „Der Mensch und das Übernatürliche“ (§§ 82–141, S. 167–293), Teil IV „Der Mensch und die Unsterblichkeit“ (§§ 142–177, S. 297–360). Frazers Gedanken sind von der Vorstellung getragen, dass es in der Geschichte der Menschheit eine zunehmende Erkenntnis der Wahrheit gibt: „Es gibt einen langsamen

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aber merkbaren Fortschritt, der uns von einem unbekannten Anfang zu einem gleichfalls unbekannten Ziele trägt: die Menschheit klammert sich sozusagen an die Sprossen einer großen Leiter, die aus dunklen Abgründen zu Höhen führt, die immer mehr von einem strahlenden und himmlischen Licht erfüllt werden“ (52). Teil I zeichnet den Weg des Menschen vom Stadium des Wilden zur Zivilisation nach. Dem so genannten Wilden ist es gelungen, „sich über die Stufe des Tieres zu erheben“ (15). Frazer will mit dem Vorurteil aufräumen, dass der Wilde ganz anders als der zivilisierte Zeitgenosse beschaffen war: „Er hat die gleichen geistigen und moralischen Fähigkeiten, aber sie sind weniger voll entwickelt; seine Entwicklung ist stehengelieben oder vielmehr auf einer niedrigeren Stufe aufgehalten worden“ (23). Außerdem kann man von den heutigen Wilden nicht auf die Urmenschen schließen: „Die heutigen Wilden sind nur in einem relativen, nicht aber in einem absoluten Sinne primitiv. Sie sind primitiv im Vergleich mit uns, sie sind aber nicht primitiv im Vergleich mit dem wirklichen Urmenschen […] zweifellos ein hoch entwickeltes und kultiviertes Wesen“ (34). In Teil II („Der Mensch in der Gesellschaft“) geht es wesentlich um die beiden Phänomene Totemismus und Exogamie. Totemismus ist für Frazer „eine enge Beziehung […], die zwischen einer Gruppe verwandter Leute einerseits und einer Art von natürlichen oder künstlichen Gegenständen andererseits angenommen wird, wobei diese Gegenstände die Totems der Menschengruppe genannt werden“ (60f.). Bei Totemgruppen ist die so genannte Exogamie zu beobachten, „die Regel, dass ein Mann keine Frau von seinem eigenen Totem heiraten oder irgendeine Verbindung mit ihr haben darf“ (85). Frazer thematisiert unterschiedliche Ehe- und Verwandtschaftsformen (u.a. Levirat, Gruppenehe, Sororat). In einem Abschnitt über den ‚Aberglauben‘ geht er dessen Einfluss auf Staat, Privateigentum, Ehe und Achtung vor dem menschlichen Leben nach (158–163). Trotz falscher und abergläubischer Grundlagen sind Völker zu positiven Einstellungen in den genannten vier Bereichen gelangt. Sie haben zur gesellschaftlichen Ordnung beigetragen, die Achtung vor Privateigentum und Ehe sowie die Achtung vor dem menschlichen Leben gestärkt. Teil III behandelt das Verhältnis des Menschen zum Übernatürlichen. In den Paragraphen 118–120 interessiert sich Frazer als einer der wenigen Religionswissenschaftler überhaupt für den Klang in der Religion, betrachtet Religion als eine ‚Klangwelt‘. Weil die Religionswissenschaft bis heute Religion/en wie Stummfilme interpretiert und selbst in modernen Ritualtheorien das Akustische randständig bleibt, sei auf diesen Aspekt hier näher eingegangen. Man kann die Religionswelten von sehr verschiedenen Ansätzen her interpretieren, zum Beispiel als ‚Klangwelten‘. Die religionswissenschaftliche Beschäftigung mit hörund horchbaren Ausdrücken von Religion/en befindet sich in den Anfängen. Analog zur ‚visible religion‘ ist es an der Zeit, systematisch das Programm einer ‚auditive religion‘ zu entwickeln, eventuell einen ‚auditive turn‘ in der ziemlich ‚tauben‘ Religionswissenschaft

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in Gang zu bringen. Auch wenn wie nie zuvor Bilder so gegenwärtig waren wie heute – „ocular tyranny“ (Wolfgang Welsch) –, sind doch Töne, Geräusche usw. kaum weniger bedeutend. Seit Ende der 1980er, Anfang der 90er Jahre hat sich eine Konjunktur des Hörens bemerkbar gemacht, ist eine „neue Aufmerksamkeit“ gegenüber akustischer Wahrnehmung festzustellen. Religiös geprägte Phänomene ohne Töne, Geräusche usw. sind nicht vorstellbar, allenfalls ganz schweigend ausgeführte Riten. Ob ein Ritus aufgeführt, eine heilige Stätte besucht und erlebt, eine Landschaft genossen werden: Immer ist Sound dabei – ob natürlicher oder von Menschen erzeugter, für die Handlung wichtiger oder sie nur begleitender Art, ist dabei nicht von Belang. In Teil III spielen die Magie bzw. ‚Zauberei‘ eine tragende Rolle. Im Register findet sich zwar der Eintrag ‚Magie‘, doch wird auf Zauberei verwiesen. „Das Zeitalter der Zauberei“ (§ 85) findet sich im „rückständigsten Zustand der menschlichen Gesellschaft, der uns bekannt ist“ (184). Frazer mutmaßt, „dass die zivilisierten Rassen der Welt zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer Geschichte durch eine ähnliche geistige Stufe hindurchgegangen sind“ (ebd.). Trotz der „große(n) Verschiedenartigkeit der Religionen“ (ebd.) gibt es „eine feste Schicht geistiger Übereinstimmung unter den Dummen, den Schwachen, den Unwissenden und den Abergläubischen“ (185). Zauberei kennzeichnet nicht nur den frühesten Zustand der Menschheit, sondern ist auch heute noch in niederen sozialen Milieus anzutreffen, „die leider eine große Mehrheit der Menschheit ausmachen. Eine große Errungenschaft des neunzehnten Jahrhunderts war, in diese niedrige geistige Schicht in vielen Teilen der Welt Schächte zu graben und so ihre wesentliche Gleichheit überall zu entdecken. Sie ist unter unseren Füßen – und nicht einmal sehr tief unter ihnen – hier in Europa und heute“ (ebd.). Zwischen Zauberei und Wissenschaft besteht eine „Analogie“ (§ 96). Sie liegt darin, dass „dem ganzen System […] der unbewusste aber wirkliche und feste Glaube an die Ordnung und Gleichförmigkeit der Natur zugrunde [liegt]“ (206). „Der katastrophale Fehler der Zauberei liegt nicht in ihrer allgemeinen Annahme einer gesetzmäßig bestimmten Folge der Geschehnisse, sondern in ihrer vollkommen falschen Auffassung von der Natur der besonderen Gesetze, die diese Folge beherrschen“ (207) Die „sympathetische Magie“ beruht auf dem „Gesetz der Sympathie“ und teilt sich in die „homöopathische Magie“ („Gesetz der Ähnlichkeit“) und Ansteckungs-Magie („Gesetz der Berührung“) auf (§ 86, S.189). „Die falsche Verbindung ähnlicher Ideen ergibt die homöopathische oder nachahmende Magie; die falsche Verbindung sich berührender Ideen erzeugt die Berührungs-Magie. […] Rechtmäßig angewandt ergeben sie die Wissenschaft; unrechtmäßig angewandt ergeben sie die Zauberei; die Bastard-Schwester der Wissenschaft“. (207). „Verehrung der Natur“, im Sinne der Personifizierung von Naturerscheinungen, und „Verehrung der Toten“: Sie gelten Frazer als „Die beiden Formen der Naturreligion“ (§ 122). § 123 setzt sich kurz mit dem „Animismus“ auseinander, eine „primitive Philosophie“ und „kindliche Deutung des Weltalls nach menschlichen Verhältnissen“ (258).

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Obwohl Frazer in die Reihe der Forscher eingeordnet wird, welche die Vorstellung von einer evolutionären Entwicklung der Menschheitsgeschichte (Magie – Religion – Wissenschaft) vertreten, äußerte er leise Zweifel an der Richtigkeit der „Stufen der Religion“ (§ 124). „Kurz, wir können in Wirklichkeit die Geschichte der Menschheit nicht sozusagen mit einem Messer in eine Reihe sauberer Schnitte zerlegen, die durch eigene Struktur und eigene Färbung scharf von allen übrigen sich abheben; theoretisch können wir das allerdings tun im Interesse einer bequemeren Darstellung, aber praktisch greifen die Strukturen ineinander über, die Farben verschmelzen und laufen in unmerkbaren Abtönungen ineinander“ (260). Mit dem „Aufkommen der Götter“ ist zugleich der „Niedergang der Zauberei“ (§ 113) verknüpft. Der erste Teil des in Nr. 3 präsentierten Quellentextes ist der Frazerschen Religionsdefinition gewidmet (§ 121: „Die Natur der Religion“). In der Entwicklung der Religion/en sieht Frazer die „Vergänglichkeit der höheren Religionen“ (§ 136) voraus; er glaubt, „dass das einfache Volk immer noch die einfachen Glaubensvorstellungen ihrer namenlosen und zeitlosen Vorväter hegt, noch an Hexen und Feen, an Geister und Kobolde glaubt, noch die alten Zaubersprüche murmelt und die alten Zauberbräuche übt, wenn der Muezzin schon lange nicht mehr die Gläubigen von den Minaretts der Sophienmoschee zum Gebet ruft, und wenn die Betenden sich nicht mehr in den langgestreckten Chorräumen von Notre Dame und unter dem Dom der Peterskirche versammeln“. Teil IV stellt Texte aus dem Themenbereich „Der Mensch und die Unsterblichkeit“ zusammen. Primitive Ideen vom Tod, verschiedenartige Seelenvorstellungen, Verehrung von Toten werden dargestellt. Besonders behandelt Frazer das Konzept vom sterbenden Gott als Erlöser, vom Gottesmord und der Opferung Gottes. Ob es eine „Außenwelt“ (§ 174) gibt – diese Frage beantwortet Frazer mit dem Hinweis auf zwei grundsätzliche unterschiedliche philosophische Betrachtungsweisen. Während der Materialismus diese „Außenwelt“ negiert, bejaht sie der Spiritualismus. Sowohl Zwerge als auch Atome entziehen sich unserer Wahrnehmung: „Zwar haben wir viel bessere Gründe für den Glauben an das Vorhandensein von Atomen und Elektronen, als von Geistern und Kobolden; aber an sich sind Atome und Elektronen, Geister und Kobolde gleichermaßen hypothetische und daher im strengen Wortsinn imaginäre Wesen, die erfunden wurden, um sinnliche Erscheinungen zu erklären“ (357f.). Die Naturwissenschaft kommt niemals an ein Ende. Ein wenig pathetisch und grundsätzlich vom Fortschritt der wissenschaftlichen Entwicklung überzeugt, lauten Frazers letzte Sätze: „Für den Denker gibt es keine dauernde Ruhestatt. Er muss immer weiter, ein Pilger in der Nacht, der ewig vorwärts eilt, dem schwachen und glimmenden Leuchten entgegen, das ewig vor ihm zurückweicht“ (360).

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3. Ausgewählter Quellentext Die Natur der Religion (§ 121)

Es gibt wahrscheinlich keinen Gegenstand in der Welt, über den die Meinungen so stark auseinandergehen, wie über die Natur der Religion, und es ist offenbar unmöglich, eine Definition dafür zu geben, die jeden einzelnen befriedigen würde. Alles, was ein Schriftsteller tun kann, ist, zuerst klar zu sagen, was er unter Religion versteht, und das Wort dann in diesem Sinne konsequent in seiner ganzen Arbeit anzuwenden. Unter Religion verstehe ich also die Versöhnung oder das Werben um die Gunst von Mächten, die dem Menschen überlegen sind, und von denen er glaubt, dass sie den Lauf der Natur und des menschlichen Lebens lenken und bestimmen. Nach dieser Definition besteht die Religion also aus zwei Elementen, einem theoretischen und einem praktischen, nämlich dem Glauben an höhere Mächte als der Mensch und dem Versuch, sie zu versöhnen oder sie zu befriedigen. Es ist klar, dass von den beiden der Glaube vorangeht, da wir an die Existenz eines göttlichen Wesens glauben müssen, ehe wir versuchen können, es zu befriedigen. Aber wenn der Glaube nicht zu dem entsprechenden Handeln führt, so ist es keine Religion sondern nur Theologie; in der Sprache des heiligen Jakobus ‚Der Glaube ist tot‘, wenn er keine Werke hat, da er allein ist. Mit anderen Worten, kein Mensch ist religiös, der nicht sein Verhalten in einem gewissen Maße durch die Furcht vor oder die Liebe zu Gott bestimmen lässt. Andererseits ist bloßes Handeln, das allen religiösen Glaubens bar ist, auch keine Religion. Zwei Menschen können sich genau gleich verhalten, und doch kann der eine von ihnen religiös sein und der andere nicht. Wenn der eine aus Liebe zu Gott oder aus Furcht vor Gott handelt, so ist er religiös; wenn der andere aus Liebe zu den Menschen oder aus Furcht vor den Menschen handelt, so ist er moralisch oder unmoralisch, je nachdem ob sein Verhalten sich mit dem allgemeinen Wohl verträgt oder mit ihm in Widerspruch steht. Daher ist der Glaube und das Handeln, oder in der theologischen Sprache, der Glaube und die Werke gleichermaßen wesentlich für die Religion, die ohne beide nicht bestehen kann. Aber es ist nicht notwendig, dass religiöses Handeln immer die Form eines Rituals annehmen muss; d.h., es braucht nicht im Opferbringen, im Verrichten von Gebeten und anderen äußerlichen Zeremonien zu bestehen. Sein Ziel ist, der Gottheit zu gefallen, und wenn die Gottheit eine solche ist, die mehr Gefallen an Wohltun, Barmherzigkeit und Reinheit findet als an blutigen Opfern, Lobgesängen und Weihrauchdämpfen, so werden ihre Anbeter ihr am besten gefallen, nicht indem sie sich vor ihr niederwerfen, ihr Lob anstimmen und ihre Tempel mit kostbaren Gaben füllen, sondern indem sie rein, barmherzig und mildtätig gegen die Menschen sind, denn dadurch werden sie, soweit es die menschliche Schwäche zulässt, die Vollkommenheiten der göttlichen Natur nachahmen. Diese ethische Seite der Religion haben die hebräischen Propheten, begeistert von dem erhabenen Ideal

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von Gottes Güte und Heiligkeit, mit unermüdlicher Eindrücklichkeit gelehrt. So sagt Micha: ‚Er hat dir gezeigt, o Mensch, was gut ist; und was fordert der Herr von dir, als recht zu tun und die Barmherzigkeit zu lieben und ergeben mit deinem Gott zu wandeln?‘ Und in einer späteren Zeit war viel von der Kraft, mit der das Christentum die Welt eroberte, aus demselben erhabenen Begriff von Gottes moralischer Natur und der dem Menschen auferlegten Pflicht, ihr Genüge zu tun, geschöpft. „Reine Religion und unbefleckt vor Gott und dem Vater ist dies“, sagt der heilige Jakobus, „die Waisen und Witwen in ihrer Betrübnis aufzusuchen und sich unbefleckt von der Welt zu halten.“ Wenn aber die Religion in erster Linie den Glauben an übermenschliche Wesen, die die Welt beherrschen, enthält, und in zweiter Linie den Versuch, ihre Gunst zu gewinnen, so setzt das klärlich voraus, dass der Lauf der Natur in einem bestimmten Grade elastisch oder veränderlich ist, und dass wir die mächtigen Wesen, die ihn bestimmen, überreden oder veranlassen können, den Gang der Ereignisse zu unserem Vorteil aus der Bahn, in der sie sonst verlaufen würden, abzulenken. Nun widerspricht diese stillschweigend unterstellte Elastizität oder Veränderlichkeit der Natur direkt den Prinzipien der Zauberei sowohl als auch der Wissenschaft, die beide annehmen, dass die Naturvorgänge starr und unveränderlich in ihrem Wirken sind, und dass sie durch Überredung und Bitten so wenig aus ihrer Bahn gedrängt werden können wie durch Drohungen und Einschüchterung. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden widerstreitenden Auffassungen des Weltalls läuft in ihrer Beantwortung auf die entscheidende Frage hinaus: Sind die Kräfte, die die Welt lenken, bewusst und persönlich oder unbewusst und unpersönlich? Die Religion als eine Versöhnung der übermenschlichen Mächte nimmt das erstere an. Denn alle Versöhnung setzt voraus, dass das versöhnte Wesen eine bewusste oder persönliche Kraft ist, dass sein Verhalten bis zu einem gewissen Grade unbestimmt ist, und dass man es dazu bestimmen kann, es durch einen klugen Appell an seine Interessen, seine Begierden oder seine Gefühle in der gewünschten Richtung zu ändern. Versöhnung wird niemals gegenüber Dingen angewandt, die als unbeseelt gelten, noch gegenüber Personen, von denen feststeht, dass ihr Verhalten unter den besonderen Umständen mit absoluter Sicherheit bestimmt ist. Somit steht die Religion, insofern sie voraussetzt, dass die Welt von bewussten Kräften gelenkt wird, die durch Überredung von ihren Absichten abgebracht werden können, in grundsätzlichem Gegensatz sowohl zur Zauberei als auch zur Wissenschaft, die beide es für ausgemacht ansehen, dass der Lauf der Natur nicht durch die Leidenschaften oder Launen persönlicher Wesen sondern durch das Wirken unveränderlicher, mechanisch wirkender Gesetze bestimmt wird. […]

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Der Klang der Kirchenglocken (§119)

An einer berühmten Stelle des „Fegefeuers“ hat Dante die Vorstellung von der Totenglocke wunderschön mit dem Klang der Vesperglocke in Zusammenhang gebracht, die weithin von Reisenden zur See vernommen wird, als ob die Glocke zum Tode des Tages oder der Sonne läute, die dabei in den leuchtend roten Westen versinkt. Kaum weniger berühmt ist Byrons [1788–1824] Nachdichtung der Stelle: „Stille Stunde. Sie weckt den Wunsch und schmilzt das Herz Derer, die das Meer befahren am ersten Tag, Nachdem sie von ihren Liebsten fortgerissen wurden; Oder senkt Liebe ins Herz des fahrenden Pilgers, Wenn die fernen Vesperglocken zum Aufbruch mahnen, Als ob sie das Ende des sterbenden Tages beweinten.“ Nicht weniger schön ist der Gedanke von dem englischen Dichter Gray41 auf die Abendglocke angewandt worden, die abends in den feierlichen Eiben und Ulmen eines englischen Friedhofs ertönt: „Die Abendglocke läutet zum Tod des scheidenden Tags.“ Tatsächlich liegt etwas besonders Feierliches und Ergreifendes im Klang der Kirchenglocken, die zu solchen Zeiten und an solchen Plätzen ertönen; um mit den Worten Froudes42 zu sprechen, er trifft das Ohr wie das Echo aus einer entschwundenen Welt. Dieses Gefühl ist von dem amerikanischen Dichter Bret Harte [1836–1902] gut zum Ausdruck gebracht worden, als er gegen Abend an dem Ort, wo früher die längst aufgegebene spanische Mission in Dolores in Kalifornien lag, das Angelus-Läuten hörte, oder vielmehr zu hören glaubte: „Glocken der Vergangenheit, deren längst vergessene Musik Noch den weiten Raum erfüllt, Und das nüchtern-matte Licht der Gegenwart Mit Märchenfarben tönt. Ich höre euren Ruf und sehe die sinkende Sonne Auf Fels und Welle und Sand Und unten am Strand verklingen die Stimmen der Mission, Umziehn das Heidenland.

41 Englischer Dichter, Prof. für klassische Philologie, Cambridge, 1716–1771. 42 Englischer Historiker und Romancier, Herausgeber von Fraser’s Magazine, 1818–1894.

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Im Reiche eures Sanges fällt Kein giftger Moderhauch; Nicht wilde Unrast, Lust noch niederer Ehrgeiz Durchbrechen euren luft’gen Kreis. Getragen vom Schwall eurer fliehenden Wellen Fühl ich die ferne Vergangenheit, – Sehe den sterbenden Glanz spanischer Herrlichkeit, Ewgen Traum von Sonnenuntergang. O heilge Glocken! Euer hehrer Klang Erweckt den Glauben alter Zeit, – O Glockenton! Du bringst mit zartem Läuten Der frommen Schar die Ruh!“

[…] Solche Zeugnisse von der Wirkung der Kirchenglocken auf das Gemüt der Hörer sind der Volkskunde auf diesem Gebiet nicht fremd; wir können die Vorstellungen der Leute nicht verstehen, wenn wir nicht die tiefe Färbung berücksichtigen, die sie von Gefühl und Gemüt erhalten, und am allerwenigsten können wir Denken und Fühlen im Bereich der Religion trennen. Es gibt keine unübersteiglichen Schranken zwischen den Begriffen der Vernunft, den Empfindungen des Körpers und den Gefühlen des Herzens; sie verschmelzen und zerfließen leicht ineinander in den Wogen der Erregung, und wenige Dinge können diese Wogen stärker erregen als die Macht der Musik. Es ist noch kaum ein Versuch gemacht worden, die gefühlsmäßige Grundlage der Volkskunde zu erforschen; die Forscher haben ihre Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf ihre logischen und vernunftmäßigen oder, wie manche es hinstellen möchten, auf ihre unlogischen und vernunftwidrigen Elemente beschränkt. Aber zweifellos kann man große Entdeckungen von der künftigen Erforschung des Einflusses erwarten, den die Leidenschaften bei der Gestaltung der Einrichtungen und des Schicksals der Menschheit ausgeübt haben. Religion und Musik (§ 120)

In unserer eigenen Zeit hat ein großer Religionsschriftsteller, der selbst tief empfänglich ist für den Zauber der Musik, gesagt, dass musikalische Töne mit all ihrer Macht, das Blut zu entflammen und das Herz zu rühren, nicht nur leere Geräusche sein können und sonst nichts; nein, sie sind Flüchtlinge einer höheren Sphäre, sie sind Ströme ewiger Harmonie, die Stimme der Engel, das Magnifikat der Heiligen. So werden

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die rohen Phantasien des primitiven Menschen verklärt, und sein schwaches Lispeln findet ein Echo in den brausenden Klängen von Newmans43 musikalischer Prosa. Tatsächlich ist der Einfluss der Musik auf die Entwicklung der Religion ein Gegenstand, der ein einfühlendes Erforschen lohnen würde. Denn wir können nicht daran zweifeln, dass diese vertrauteste und ergreifendste aller Künste ebensoviel zur Schaffung wie zum Ausdruck der religiösen Empfindungen beigetragen und so das Gebäude des Glaubens mehr oder weniger tiefgehend umgestaltet hat, dem es auf den ersten Blick nur zu dienen scheint. Der Musiker hat ebenso sein Teil zur Schaffung der Religion beigetragen wie der Prophet und der Denker. Jeder Glaube hat seine ihm angemessene Musik, und der Unterschied zwischen den Glaubensbekenntnissen könnte beinahe auch in musikalischen Zeichen ausgedrückt werden. Der Abstand, der z. B. die wilden Feste der Cybele von dem majestätischen Ritual der katholischen Kirche scheidet, lässt sich durch den Abgrund ermessen, der das misstönende Klirren der Zymbeln und Tamburine von den feierlichen Harmonien Palestrinas und Händels trennt. Ein anderer Geist atmet in der Verschiedenartigkeit der Musik.

4. Fragen zum Text 1. Frazer trifft einen Unterschied zwischen ‚Religion‘ und ‚nur Theologie‘. Nehmen Sie dazu Stellung. 2. Welche Bedeutung haben Ritus/Ritual für Frazers Religionsverständnis? 3. Was unterscheidet Religion grundsätzlich von ‚Zauberei‘ und ‚Wissenschaft‘? Nehmen Sie zu dieser Auffassung Stellung und suchen Sie Beispiele, die evtl. gegen Frazers Position sprechen. 4. Die beiden eher ungewöhnlichen Abschnitte über ‚Kirchenglocken‘ und ‚Musik‘ sollen Sie zum Nachdenken darüber veranlassen, welche Bedeutung dem Auditiven (Hör- und Horchbaren) in den Religionen zukommt. Sind Sie in Lehrveranstaltungen (Religionsästhetik) schon einmal auf die simple Tatsache aufmerksam gemacht worden, dass man Religion/en nicht nur sehen, anfassen, riechen, schmecken (falls man Ihnen als Religionswissenschaftler das ‚Schmecken‘ überhaupt erlaubt), sondern auch hören kann? Woran liegt es wohl, dass es zwar einen ‚visible‘ oder ‚iconic‘ turn gibt, aber noch keinen auditiven?

43 Kardinal John Henry Newman, 1801–90; Vordenker eines vor dem Wissen der Moderne verantworteten Katholizismus, 2010 von Papst Benedikt XVI. anlässlich des ersten offiziellen Besuch eines Papstes in England seit der Reformation Heinrichs VIII. selig gesprochen.

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5. Lesen Sie den Beitrag des Autors dieses Buches: Die ‚Taubheit‘ der Religionswissenschaft. Überlegungen zum ‚Auditive Turn‘ (http://www.uni-jena.de/ Auditive_Turn.html) vor dem Hintergrund der Frazerschen Überlegungen. 6. Gehirnforscher, Psychologen, Musikforscher erforschen in letzter Zeit intensiv/er die Wirkung von Musik. Von allen Faktoren, die Musik emotional wirken lassen, ist nur einer kulturunabhängig: der unmittelbare Effekt auf das Stammhirn. Wer sich mit dem Problem auditiver Wirkungen von Religion/en beschäftigen will, lese als ersten Einstieg den ZEIT-Artikel (Nr.35, 26.08.2010): ‚Der Gänsehaut-Effekt‘.

5. Würdigung

Frazer gilt als ‚armchair anthroplogist‘, als Schreibtischgelehrter, wie wir allerdings wissen, wider Willen. Sein Material stammte von anderen Ethnologen und Religionswissenschaftlern und Feldforschern. Gerade was die Erforschung autochthoner Religionen, zum Beispiel Afrikas betrifft, haben die ‚Missionarsberichte‘ trotz ihrer klaren theologischen Ausrichtung das Wissen um die von ihnen beschrieben Völker und Bräuche erheblich erweitert. Frazer schickte an die Missionare ‚vor Ort‘ Fragebögen. Er gliederte die Menschheitsgeschichte in drei Stadien: Magie, Religion und Wissenschaft. Diese Auffassung lehnte sich an Auguste Comtes soziale Evolutionstheorie an. In mühevoller Kleinarbeit wertete Frazer alle ihm weltweit erreichbaren literarischen Quellen aus, um seine These zu begründen: Der Glaube an transzendente Phänomene ist überholt, die Welt ist immanent erklärbar; durch ,Entmythologisierung‘ mythologischer und anthropologischer Verhaltensformen lassen sich die magischen und religiösen Praktiken auf den gleichen Ursprung zurückführen. Frazer Hauptwerk ‚The Golden Bough‘ machte ihn weltberühmt. Es ist eine monumentale Entwicklungsgeschichte der Mythen und Motive des Volksglaubens, zugleich eine Geschichte der Urreligionen. Der Einfluss des Universalwerkes ‚The Golden Bough‘ in Literatur, Psychologie, Anthropologie und Religionswissenschaft war gewaltig. In seinem Vorwort erwähnte Frazer ein berühmtes Gemälde des 19. Jahrhunderts, das von William Turner (1775–1851) stammte und den Titel „The Golden Bough“ (1834) trug. Der britische Künstler ist einer der größten englischen Maler überhaupt. Er war ein Vertreter der Romantik und entdeckte die ‚Stimmungslandschaft‘. Seine Bilder galten nicht den Gegenständen selbst, sondern dem Eindruck, den sie unter wechselnden Lichtverhältnissen machten. Daher werden seine Bilder als Vorläufer der französischen Impressionisten eingeordnet. Jonathan Jones schreibt in seinem Artikel „Modern Myths“ in The Guardian (10.12.2005): „Frazer begins with art because he is an artist. The Golden Bough may

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be disguised as a sombre work of science but in reality it is a vast prose poem, whose images were to shape 20th-century culture. Frazers images – of trees, fire, mannequins and slaughtered gods – hang above his pages.“44 Indem Frazer Turner zitiert, drückt er aus, um welche Art von Werk es sich bei ‚The Golden Bough‘ handelt. „Wer kennt nicht Turners Gemälde The Golden Bough? Eine Traumvision stellt es dar von dem kleinen Waldsee Nemi, Dianas Spiegel, wie ihn die Alten nannten. Die Szene ist vom goldenen Glanz der Phantasie umwoben, mit der Turners erhabene Kunst auch die anmutigste Landschaft noch zu verklären weiß. Niemand, der es einmal erblickt, wird jenes stille Wasser vergessen können, wie es in einer grünen Talmulde der Albaner Berge sanft eingebettet liegt“45. Frazer machte seiner Leser nicht nur mit fremden Religionen und Kulturen bekannt, er stieß sie darüber hinaus auf viele interessante Parallelen und Ähnlichkeiten zwischen den Religionen und Mythologien, insbesondere zum frühen Christentum. Sein Werk war für Gelehrte und Literaten vom Range eines C.G. Jung, Sigmund Freud (u.a. Totem und Tabu, 1913), James Joyce, Ezra Pound, William Butler Yeats, D.H. Lawrence, T.S. Eliot, William Carlos Williams, Ernest Hemingway eine wesentliche Quelle für ihre Theorien und Inspirationen. Der aus Amerika stammende, die englische Staatsbürgerschaft annehmende und zur Hochkirche übergetretene Dichter-Kritiker T.S. Eliot hat das Grundgerüst für sein Gedicht ‚The Waste Land‘ [Das wüste Land] (1922) aus Frazers ‚The Golden Bough‘ bezogen. Die engere Fachzunft verhielt sich unterschiedlich zu Frazers Theorien. Der polnisch-britische Anthropologe und Frazer-Schüler Bronislaw Malinowski (1884– 1942), Begründer des Funktionalismus in der Anthropologie, war inspiriert durch Frazers Schriften. Claude Lévi-Strauss (1908–2009) anderseits, der, obwohl die Gelegenheit dazu bestand, nicht einmal eine Vorlesung Frazers 1928 an der Sorbonne besucht hatte, kritisierte scharf Frazers Lehnstuhl-Anthropologie. Ironischerweise hielt er am 19. November 1970 im Rahmen der Frazer Lectures in Oxford einen Vortrag über ‚Myth and Ritual‘. In seinem Werk ‚The Savage Mind‘ vertrat Malinowski im Unterschied zu Frazer die Auffassung, dass der Ursprung von Nahrungstabus eine natürliche Grundlage besitzt. Auch lehnte er Frazers Totemismus-Theorien (insgesamt waren es drei) ab. Frazer beeinflusste Jane Ellen Harrison, Gilbert Murray und andere klassische Philologen, Mitglieder bei den ‚Cambridge Ritualists‘. Diese traten in ihren religionshistorischen Untersuchungen dafür ein, vom Subjektivismus als religionsprägender Faktor abzusehen.

44 sombre: düster; vast: gewaltig, überwältigend; 45 Vorwort aus der gekürzten Ausgabe von 1922.

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Der Ire William Butler Yeats (1865–1939), der wohl größte englischsprachige Dichter des 20. Jahrhunderts, bezieht sich in seinem Gedicht ‚Sailing to Byzantium‘ (1928) auf ‚The Golden Bough‘. Auch der amerikanische Phantasy-Autor H.P. Lovecraft (1890–1937) erwähnt das Werk in seiner Kurzgeschichte ‚The Call of Cthulhu‘. Der auf Mallorca begrabene britische Schriftsteller und Dichter Robert von RankeGraves (1895–1985) griff Frazers Konzept vom sterbenden König auf, der sein Leben für sein Königreich einsetzt, um das Leiden des Dichters um der Musen-Göttin willen zu erklären. ‚The White Goddess‘ (1948) übte einen nachhaltigen Einfluss auf neopagane Religionen aus, insbesondere Wicca (spätestens seit 1954). Für die Neuheiden ist ‚The Golden Bough‘ weiterhin eine gewichtige Materialsammlung weltweiter heidnischer Traditionen. Frazers Nachwirkung ist nicht zuletzt an der seit 1920 ins Leben gerufenen ‚Sir James George Frazer Memorial Lectureship in Social Anthropology‘ ablesbar, die rotierend an den Universitäten Oxford, Cambridge, Glasgow und Liverpool ausgerichtet wird.

6. Weiterführende Arbeitsaufgaben 1. Informieren Sie sich über wichtige Religionsentstehungspositionen: John Ferguson McLennan, Edward Burnett Tylor, William Robertson Smith, Robert Ranulph Marett, Andrew Lang. Welche Theorien verknüpfen sich mit diesen Namen? 2. Wenn die Gelegenheit besteht, blättern Sie einmal durch das 12bändige ‚The Golden Bough‘ und formulieren Sie Ihre Eindrücke. Welche Gattung präsentiert es? Ist es ein streng wissenschaftliches oder eventuell ein poetisches Werk? 3. Schauen Sie sich im Internet das Gemälde von William Turner ‚The Golden Bough‘ an. Wie wirkt es auf Sie? Was stellt das Gemälde dar?

7. Auswahlbibliographie Primärliteratur

Totemism, London 1987. The Golden Bough. A Study in Comparative Religion, London 1890. Adonis, Attis, Osiris. Studies in the History of Oriental Religion, London 1906. The Scope of Social Anthropology. A Lecture Delivered Before the University of Liverpool, London 1908. Psyches Task. A Discourse Concerning the Influence of Superstition on the Growth of Institutions, London 1909.

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Totemism and Exogamy. A Treatise on Certain Early Forms of Superstition and Society, London 1910 The Magic Art and the Evolution of Kings, London 1911. The Belief in Immortality and the Worship of the Dead, 2 Bde., London 1913 und 1926. Folk-lore in the Old Testament. Studies in Comparative Religion, Legend and Law, 1918. Garnered Sheaves. Essays, Addresses and Reviews, London 1931. Creation and Evolution in Primitive Cosmogonies and Other Pieces, London 1935. Aftermath: A Supplement to the ‚Golden Bough’, London 1936. Sekundärliteratur

Ackerman, Robert: J.G. Frazer, Cambridge 1990. Ders.: The Myth and Ritual School. J.G. Frazer and the Cambridge Ritualists, New York, London 2002. Ders.: Selected Letters of Sir James George Frazer, Oxford 2005. Downie, R. A.: J. G. Frazer and the golden bough. The portrait of a scholar, London 1970. Lexikon der soziologischen Werke, hg. von Georg W. Oesterdiekhoff, Wiesbaden 2001 (Totemism and Exogamy, S. 204f. [Günter Burkart]; The Golden Bough, S. 205f. [Georg W. Oesterdiekhoff]. Wißmann, Hans: James George Frazer (1854–1941). In: Michaels, a.a.O., S. 77–89.

Einleitung

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5. Paul Drews (1858–1912) 1. Biographie

Paul Gottfried Drews wurde am 8.3.1858 als Kaufmannssohn in der sächsischen Kleinstadt Eibenstock/ Erzgebirge geboren. Seine Mutter Alma (geb. 1835) war die Tochter eines Arztes im selben Ort. Der Vater August (geb. 1828), auch er Kaufmannssohn, kam aus Sternberg in Mecklenburg. 1870 zog die Familie nach Leipzig, und Paul Drews besuchte das Thomas-Gymnasium. Er gab ab der ‚Tertia‘ Privatunterricht, setzte dies auch während seiner Studienzeit fort. Dennoch erscheint seine Entscheidung Theologie zu studieren, nicht selbstverständlich vor dem Hintergrund der gewerblichen Tradition der Familie väterlicherseits. Auch der eher trockene Religionsunterricht in den oberen Klassenstufen des Gymnasiums wird diesen Schritt kaum veranlasst haben. Dennoch war für Drews Freunde die Entscheidung nur konsequent. Offenbar konnte er schon recht früh in der Schule eine eigene Weltanschauung auf christlicher Grundlage entwikkeln, die wohl wesentlich durch die Predigten von Prof. G.A. Fricke (1822–1908) inspiriert war. Dieser Theologe und Hochschullehrer war seit 1892 Ehrenbürger der Stadt Leipzig. Benannt ist nach ihm auch eine Straße. 1878–1883 studierte Drews Theologie in Leipzig und Göttingen. Er promovierte er mit der Arbeit ‚Petrus Canisius, der erste deutsche Jesuit‘ (1883). Dies sicherte ihm fortan den Status des Lizentiaten. In der Zwischenzeit waren in Leipzig Adolf v. Harnack (1851–1930) und in Göttingen Albrecht Ritschl (1822–1889) seine Lehrer. Währenddessen entstanden auch die Freundschaften mit Martin Rade (1857–1940), Wilhelm Bornemann (1858–1946), Friedrich Loofs (1858–1928), die den Werdegang Drews, über das Studium hinaus, maßgeblich mit beeinflussten. Dies betrifft zum einen Drews Rolle als Mitbegründer der Zeitschrift ‚Christliche Welt‘ (1887) und die Zusammenarbeit am und im ‚Evangelisch-Sozialen Kongress‘. Drews und seine Freunde engagierten sich für evangelisch-soziale Verantwortung, die sich besonders an privilegierte Schichten richtete. Drews Schrift „Mehr Herz fürs Volk“ (1891), einige Aufsätze in der ‚Christlichen Welt‘ sowie das Referat

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Paul Drews

„Die Kirche und der Arbeiterstand“ (1909) stehen in diesem Kontext. Drews war als Privatlehrer im Hause von Friedrich Ernst August Freiherr von Dungern (1839–1912) in Oberau bei Staffelstein (Franken) angestellt. Seine Frau Auguste war wohl eine sehr gläubige Frau; denn oft fanden Abendmahlfeiern in ihrem Hause statt. Soziale Fragen lagen ihr besonders am Herzen. Helene, die Tochter der beiden, wuchs in Oberau auf. Viel ist aus ihrer Kindheit und Jugend nicht bekannt. Von den Töchtern ist insbesondere Helene zu erwähnen, die auch von Drews unterrichtet wurde. Die äußerst Belesene besuchte ab 1892 regelmäßig die Eisenacher Jahresversammlung der „Freunde der Christlichen Welt“. Als diese 1903 in einen Verein umgewandelt wurden, wählte man sie zum ersten ‚Vertrauensmann‘ (sic!) für Bayern. Jahrelang nahm Helene an den jährlich stattfindenden Versammlungen des 1890 gegründeten „Evangelisch-sozialen Kongresses“ teil. Drews nutzte diese Hauslehrerstelle für reformationsgeschichtliche Studien in den Beständen Nürnbergs und Münchens. Nach seinem Studium nahm Drews sechs Jahre lang eine Anstellung als Pfarrer in Burkau/Oberlausitz wahr. Dort erlebte er unmittelbar die zeitgenössische ‚bäuerliche Frömmigkeit‘. 1889 bezog Drews als Archidiakon für weitere fünf Jahre die Pfarrei der Lukasgemeinde in Dresden. 1890 heiratete er Elisabeth Kühn, die Tochter des dortigen Kollegen und späteren Konsistorialrats Ernst Kühn. Seine Dresdener Gemeindearbeit verschaffte Drews weitere Einblicke in breitere Schichten der Gesellschaft, wo er sich das Vertrauen der Gebildeten wie der einfachen Menschen erwarb. In dieser Zeit publizierte er mehrere Artikel in der ‚Christlichen Welt‘. Außerdem veröffentlichte er eine dreibändige Predigtsammlung „Christus unser Leben“ (1901–10). Drews gibt darin Aufschluss über sein Dasein als Prediger und den herrschenden Zeitgeist in Dresden, Jena und Gießen. Die elfjährige praktische Arbeit in Burkau und Dresden schärften Drews Betrachtung gesellschaftlicher Realitäten, bestärkten ihn sicherlich in seinem Vorhaben, sein weiteres Leben im akademischen Bereich fortzusetzen, auch wenn er dadurch finanzielle Einschränkungen hinzunehmen hatte. Er tauschte nämlich seine angesehene und gut dotierte Stellung in Dresden vom Wintersemester 1894/95 an gegen eine außerordentliche Professur für Praktische Theologie in Jena ein. Dabei verzichtete er auf zwei Drittel seines Dresdner Einkommens. Zugleich lehnte er in der Folgezeit hohe Kirchenämter in Koburg und Meiningen zugunsten dieser Professur in Jena ab. Drews war Nachfolger des zuvor nach Kiel gewechselten Prof. Otto Baumgarten, „ein ‚moderner‘ Theologe im Kaiserreich und in der Weimarer Republik“ (Hasko von Bassi). Die zu jener Zeit überalterte Theologische Fakultät kämpfte mit den Auswirkungen der Theologie Albrecht Ritschls, die in der ‚liberalen‘ Schule Jenas nicht unkritisch betrachtet wurde. Außerdem litt die Fakultät unter sinkenden Studentenzahlen. Im Zeitraum 1885–1897 sank sie um 75%. Auch wenn die Fakultät mit Baumgarten einen hervorragenden Gelehrten verlor, so war dessen Nachfolger Drews rückblickend betrachtet nicht weniger bedeutsam. „Mit Drews wurde der Fakultät eine ganz vorzügliche Kraft geschenkt. […] Er war nicht nur ein

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ausgezeichneter, fesselnder Prediger, ein anregender, gedankenreicher Dozent, ein glänzender Kenner und Könner auf dem weiten Gebiet der praktischen Theologie, sondern geradezu der moderne Reorganisator dieser Disziplin.“46 1895/96 gab Drews die „Disputationen D. Martin Luthers in den Jahren 1535– 1545 an der Universität Wittenberg gehalten“ heraus. Mit Hilfe von Münchner und Wolfenbütteler Handschriften konnte er damit einen ansehnlichen Beitrag zur Lutherforschung leisten. Wenig später erschienen sein Aufsätze: „Bemerkungen zu den akademischen Disputationen Melanchthons“ (1896) sowie „Die Anschauungen reformatorischer Theologen über die Heidenmission“ (1897). Die Beschäftigung mit Themen der Reformation bildete einen zentralen Ansatz der von Drews initiierten ‚Kirchenkunde‘, den er bis an sein Lebensende verfolgte. Nach sieben Jahren Jena wechselte Drews 1901 in das hessische Gießen. Dort bot man ihm eine ordentliche Professur für Praktische Theologie an – für Jena sicher ein herber Verlust. Von nun stellte Drews die ‚Reorganisation‘ der Praktischen Theologie in den Mittelpunkt seines Interesses. Drews forderte eine deskriptiv-induktive Ausrichtung der Praktischen Theologie, engagierte sich dafür, die Praktische Theologie durch ‚Evangelische Kirchenkunde‘ und ‚Religiöse Psychologie‘ sowie durch eine ‚Religiöse Volkskunde‘ zu erweitern. Kurz vor dem Ende seiner erneut sieben Jahre dauernden Anstellung in Gießen, nahm Drews den 300. Jahrestag der Universität 1907 zum Anlass, die historischen Grundlagen seines Faches zu erforschen. Der in dieser Festschrift veröffentlichte Beitrag, („Der wissenschaftliche Betrieb der praktischen Theologie in der theologischen Fakultät zu Gießen“) diente Drews als Teil der historischen Apologie seines persönlichen Anliegens nach einer Studienreform. 1908 folgte Drews dem Ruf auf einen Lehrstuhl für Praktische Theologie in Halle. Drews Absicht, die Reform des theologischen Studiums zu beschleunigen, war mit ein Anlass zur Veröffentlichung seines bedeutenden Werkes: „Das Problem der Praktischen Theologie“ (1910). Es war Drews besonderes Anliegen, auf die Ausbildung der Pfarrer einzuwirken und sie auf ihre Vermittlerrolle zwischen Gemeinde und kirchlicher Lehre vorzubereiten. Drews setzte sich für eine konfessionsübergreifende „christlich-religiöse Integrationstendenz“ ein, die sich in ihrem kulturellen Umfeld zu orientieren und auf äußere Einflüsse zu reagieren wusste. Am 1.8.1912 starb Drews aufgrund einer Krebserkrankung.

46 Karl Heussi: Geschichte der Theologischen Fakultät zu Jena (Darstellungen zur Geschichte der Universität Jena, Bd.1), Weimar 1954, S. 368.

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2. Inhaltsangabe des Buches Statt eines Buches stelle ich Drews viel gerühmte Programmschrift „Religiöse Volkskunde, eine Aufgabe der praktischen Theologie“ vor. Sie erschien als Eröffnungsbeitrag im ersten Jahrgang der ‚Monatsschrift für die kirchliche Praxis. Der Zeitschrift für praktische Theologie‘, Neue Folge 1901, S.1–8.

Drews war Mitherausgeber der Neuen Folge der Monatsschrift für die kirchliche Praxis. Er zitiert eingangs die Worte des Verlagsprospektes der neuen Zeitschrift, die er vermutlich selbst (mit-)formuliert hatte. Der erste Satz ist Programm: „Nach unserer Auffassung muss die praktische Theologie mehr deskriptiv-induktiv als systematischdeduktiv betrieben werden“ (1). Unter einem induktiven Vorgehen versteht man das Schließen vom Besonderen auf das Allgemeine: Sokrates ist ein Mensch. 2. Sokrates ist sterblich. 3. Also sind Menschen sterblich. Insbesondere in der Ethnologie versteht man unter dem induktiven Verfahren, dass der Forschende zunächst ins Feld geht und anschließend auf der Basis seiner gesammelten Daten eine Theorie aufstellt. Heute spricht man auch von sog. „aufsteigenden Verstehensprozessen“, die „von Unten nach Oben“ (bottom up) verlaufen. Sie gehen von Daten aus, um zur Erkenntnis von Strukturen und Gesetzmäßigkeiten zu gelangen. Drews programmatische Ausführungen plädieren u.a. für die Einführung einer neuen Disziplin in der praktischen Theologie: die ‚religiöse Volkskunde‘ (1). Er greift Gedanken des Verlagsprospekts auf und führt sie näher aus. Wenn ein Pfarrer erfolgreich verkündigen will, muss er „genau unterrichtet sein über den Stand des religiösen Lebens der Kreise, auf die er wirken soll“ (2). Sowohl die einzelnen Menschen als auch die „gesonderten Gesellschaftsgruppen“ (2) sind „durchaus nicht in ein- und derselben Weise fromm“ (2). Drews differenziert zwischen Bauern, Fabrikarbeitern, Theologen und Medizinern, macht Unterschiede zwischen Phantasiebegabten und Rationalisten. „Fest steht, dass bestimmte Volkskreise auch ihre bestimmte religiöse Art haben“ (2). Drews plädiert dafür, im Theologiestudium die ‚religiöse Volkskunde‘ zu integrieren. Sie ist nötig, um den angehenden theologischen Praktiker in ein „i. A. dunkles Land“ (4) zu führen. Denn über den Fabrikarbeiter oder das „Empfinden, Denken und Streben unserer gebildeten Schichten“ (4) gibt es viel zu wenig empirische Erkenntnisse. Hier muss die religiöse Volkskunde deskriptiv, also aufnehmend, beschreibend, registrierend vorgehen, die „thatsächlichen religiösen Zustände in unserem Volk“ (4) erfassen, daraus induktive Schlüsse ziehen. Zwei Fragen stehen im Interesseschwerpunkt des neuen Faches: die Frage nach den empirischen „Thatsachen“ und die „nach den Ursachen“ (4). Drews registriert einzelne, in die vorgeschlagene Richtung gehende Versuche. Doch sind dies „nicht mehr als vereinzelte Versuche“ (4) mit nur regionalem Interesse. „Vor allem, sie bedarf unzwei-

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felhaft selbst für Mitteldeutschland der Ergänzung. Und wer hat uns denn auch ein Wort nur über die ganz anders geartete bäuerliche Frömmigkeit etwa Württembergs oder Schleswig-Holsteins gesagt?“ (4) Drews erwähnt einschlägige Untersuchungen über die „sozialdemokratische Arbeiterschaft“ von zwei Außenseitern: Paul Göhre und Max Rade. Göhre hatte „Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche“ (1891) geschrieben, und Rade befragte 48 Arbeiter über Moral und Religion. Auch arbeitete er erstmalig mit Kontrollgruppen. Die Befragten unterteilte er von vornherein grob in zwei Großgruppen: (atheistische) Sozialisten und „Gottesfürchtige“. Drews resümiert: „Sind auch sie [diese Arbeiten] nicht korrekturbedürftig? Kurzum: wie ein unentdecktes Land liegt z.T. die Religion unseres eigenen Volkes vor unseren Augen. Arbeiten wir, dass es Licht werde, damit gute Arbeit getan werden kann. Die praktische Theologie lechzt nach Thatsachen, Wirklichkeiten“ (4). Drews hat nicht nur innerkirchliche Individuen und Gesellschaftsgruppen vor Augen, sondern auch „das moderne Sektenwesen“ (4). Statt dieses gleich bekämpfen zu wollen (wie manche spätere sog. kirchliche Sektenbeauftragte) möchte er sie „einer gründlichen, unparteiischen und leidenschaftslosen Behandlung“ (4) unterziehen. Er steckt das Feld jedoch noch weiter: „Aberglauben“ und sein Verhältnis zur „kirchlichen Frömmigkeit“, moderner „Mystizismus, der gerade in gebildeten Kreisen verhältnismäßig viele Anhänger gewinnt“, schließlich „das ganze weite Gebiet der Surrogate für die christliche Religion“ (5). Bei der Ursachenerforschung „der religiösen Eigenart einer Volksschicht“ will Drews „die ethnographischen, die sozialen, die geschichtlichen Verhältnisse und Vorbedingungen energisch ins Auge fassen“ (5). Drews ruft die Leser der Zeitschrift dazu auf, eigene „Beobachtungen und Erfahrungen“ (6) zur Verfügung zu stellen. Diese ‚religiöse Volkskunde‘ möchte Drews ergänzt wissen durch zwei weitere Disziplinen: die „religiöse Psychologie“ (7) und die „Kirchenkunde“. Mit der religiösen Psychologie hatte er sich bereits 1898 in seinem Aufsatz „Dogmatik oder religiöse Psychologie?“ beschäftigt, der unter Nr. 3 als „ausgewählter Quellentext“ vorgestellt wird. „Pfarrer Förster hat den sehr geschickten Griff gethan, an einzelnen Persönlichkeiten die Typen besonders gearteter Frömmigkeit vorzuführen. Auch das ist ein Ansatz, der weiterer Ausgestaltung fähig und bedürftig ist.“ (7) Erich Förster (1865–1945) war evangelisch-reformierter Pfarrer und Theologe in Frankfurt/Main. Im Vorwort seiner Schrift „Das Christentum der Zeitgenossen. Eine Studie“ (1899) schrieb er: „Der folgende Aufsatz ist aus vier Vorträgen entstanden, die ich im Winter 1898 in den von der Evangelischen Vereinigung in Frankfurt am Main veranstalteten religionswissenschaftlichen Lehrkursen gehalten habe. Der Gegenstand der folgenden Ausführungen soll eine Skizze von der Wertschätzung und Auffassung des Christentums bei den Zeitgenossen sein. Dabei mache ich aber vorweg eine Einschränkung: Ich sehe vollständig ab von der Auffassung des Christentums, die in einer der bestehenden Kirchen oder Sekten die legitimierte ist, von den theologischen Arbeiten und von Schriften ausgeprägt polemi-

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scher Art gegen das Christentum. Vielmehr soll die Fragestellung gerade die sein: Als was sich das Christentum darstellt in den Köpfen derer, die nicht theologisch gebildet oder verbildet sind und nicht unter dem bestimmenden Einfluss einer kirchlichen oder antikirchlichen Tendenz stehen. Ich beschränke mich hier auf den Kreis von Menschen, deren geistiges Leben einen litterarischen Ausdruck gefunden hat, also auf die sog. gebildeten Stände.“ Förster behandelte so illustre Persönlichkeiten wie u.a. E. Curtius, v. Treitschke, Roscher, Paulsen, Eucken, Bismarck, Roon. Das Stichwort „Kirchenkunde“ im Sinne von Beschäftigung mit allen „Erscheinungen des kirchlichen Lebens innerhalb eines fest abgegrenzten Kirchengebiets“ (7) rezipierte Drews von Claus Harms, der in Kiel 1835 Vorträge über „Kirchenkunde und Schulkunde der drei Herzogtümer“ (8) gehalten hatte. Harms selbst hatte noch Vorlesungen bei Friedrich Schleiermacher gehört. Dieser hielt im Sommersemester 1827 (und 1833/34) in Berlin die Vorlesung „Kirchliche Statistik und Geographie“, in der er die morgenländische, griechische, abendländische Kirche faktengesättigt darstellte. Die römisch-katholische Kirche und die evangelische Kirche stellte er nach Ländern getrennt dar.47

3. Ausgewählter Quellentext Der folgende Textauszug aus Paul Drews Aufsatz „Dogmatik oder religiöse Psychologie?“ stellt eine Auseinandersetzung mit dem Beitrag „Der Einfluss der Individualität auf Glaubensgewinnung und Glaubensgestaltung“ des Pfarrers Lic. Dr. Martin Schian (1869– 1944) dar. Dieser war ein Jahrgang zuvor in derselben Zeitschrift erschienen. Schian machte sich in dem Aufsatz für die Ansicht stark, dass „die Dogmatik den Einfluss der Individualität bedeutend mehr als bisher zu seinem Rechte kommen lassen müsse“. Schian war 1908–1924 Nachfolger auf dem Lehrstuhl von Drews in Gießen. Schians homiletisches Konzept forderte von der Predigt, konkret, zeitgemäß und psychologisch zu sein.

Kann es um die Theologie – so darf ich wohl statt Dogmatik sagen – richtig bestellt sein, wenn sie das thatsächliche, empirische Leben ignoriert? Denn wo innerhalb der theologischen Disciplinen wird denn der künftige Pfarrer eingehend mit der Thatsache vertraut gemacht, dass sich das religiöse und sittliche Leben nach besonderen Gesetzen, unter verschiedenen Einflüssen auch verschiedenartig gestaltet? Das Bild, das Dogmatik und Ethik vom Christentum gezeichnet haben, findet sich in Wirklichkeit so nicht wieder. Dieser Thatsache kann sich der Pfarrer, der offenen Blick besitzt, 47 Friedrich Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe, Vorlesungen Bd.16: Vorlesungen über die kirchliche Geographie und Statistik, Berlin 2005, S. 181–460.

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nicht entziehen. Er steht einer von ihm fremden Welt gegenüber. Er gerät in die Gefahr, entweder die entdeckten Verhältnisse nach seiner Dogmatik zu beurteilen und beeinflussen zu wollen, oder jener Dogmatik überhaupt den Wert streitig zu machen. Damit aber wird er bald schlimme Erfahrung machen. Sein Lohn wird die Entfremdung der Gemeinde sein, und auf seiner Seite stellt sich Bitterkeit ein. Wer kennt nicht die Klagen der Laien über einseitig urteilende, dem Leben nicht wirklich gerecht werdende Geistliche? Wer kennt nicht die Klagen der Geistlichen über die Hartnäkkigkeit der Gemeinden, die sich nicht nach ihrer Auffassung richten wollen? […] Der Unwille von ihrer theologischen Vorbildung unbefriedigter Theologen sollte sich aber nicht gegen die Dogmatik, gegen die systematische Theologie überhaupt richten, denn sie ist unschuldig, sondern gegen – die praktische Theologie. Denn ihr fällt n. m. M. allerdings die Aufgabe zu, die hier kurz skizziert worden ist. Der praktischen Theologie! Darauf deutet schon die Tatsache, dass es ein praktischer Theologe ist, der seine Stimme erhebt und dem unter der Hand, wie wir oben sagten, die Dogmatik zu einer praktischen Disciplin wird, sowie dass Joh. Weiß eine ganz ähnliche Forderung aufgestellt hat, nur eben auch an die Dogmatik, in einer Schrift, die unmittelbar für die Praxis und die praktische Verkündigung gemeint ist und die bereits erwähnt wurde: „Die Nachfolge Christi und die Predigt der Gegenwart.“ Vor allem aber folgt dies aus der Aufgabe, die die praktische Theologie überhaupt zu lösen hat, mag man sie nun wie Krauß u.a. thun, als Theorie vom Kirchendienst bezeichnen, oder wie Achelis als Lehre von der Thätigkeit der Kirche zu ihrer Selbsterbauung, oder mag man ihr mit Bassermann als Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Bearbeitung „das Ganze des in der Gegenwart pulsirenden kirchlichen Lebens“48 zuschreiben. Gerade diese letztere Begriffsbestimmung heiße ich mit Freuden willkommen. Denn in der That, das muss eine der Hauptaufgaben der praktischen Theologie werden, das kirchliche Leben der Gegenwart in allen seinen Verzweigungen, seinen mannigfaltigen Ausgestaltungen und Erscheinungsformen wissenschaftlich zu erfassen und darzustellen, d.h. also, sie hat diesen ungeheuren Stoff zu sammeln, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu sondern und den Gesetzen nachzuspüren, die dem kirchlichen Leben in seinen Ausgestaltungen zu Grunde liegen. Erfasst die praktische Theologie dies als ihre erste und wesentliche Aufgabe, so wird sie den künftigen Prediger und Seelsorger nicht nur mit nützlichen und wertvollen Kunsttheorien in die Praxis schicken, sie wird ihn vor allem schon mit dem ganzen Lebensgebiet vertraut gemacht haben, in das er eintritt. Unter dieses Gebiet „kirchlichen Lebens in allen seinen Verzweigungen“ fällt aber natürlich auch das, was Schian am Herzen liegt: die Darstellung der verschiedenen re48 Die praktische Theologie als eine selbständige, wissenschaftliche theologische Disciplin. Akademische Rede (1896) S. 17 und S. 22: „Vor ihr liegt als ihr eigentlicher Gegenstand die ganze Fülle des kirchlichen Lebens der Gegenwart in allen seinen Verzweigungen.“

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ligiösen Individualitäten in ihrer Entwicklung und bleibenden Ausprägung. Was Schian fordert, ist berechtigt, vollkommen berechtigt und spricht nur aus, was auch ich längst empfunden habe. Was wir brauchen ist, um es kurz zu sagen, eine Psychologie des religiös-sittlichen Lebens als eine besondere Disziplin der praktischen Theologie. Ich gehe also über Schians Forderung noch hinaus: es helfen uns nicht Berücksichtigungen des Individuellen – wenn es sein kann – in der Dogmatik an diesem und jenem Punkte, sondern dem praktischen Bedürfnis des Geistlichen ist erst dann wirklich gedient, wenn ihm das religiös-sittliche Leben der Individuen in bestimmte Typen vorgeführt ist und die Bedingungen besonderen religiös-sittlichen Lebens zum klaren Bewusstsein gebracht sind. Es wird darauf ankommen festzustellen, von welcher Bedeutung sowohl bei der „Glaubensgewinnung“, als auch bei der „Glaubensausgestaltung“ persönliche Veranlagung wie umgebende Verhältnisse sind. Man muss auf Hinderungen und Förderungen achten, die sich auf verschiedenen Altersstufen einstellen, die sich aus den sozialen Verhältnissen, aus der dauernden Lebensbeschäftigung, aus der Macht der Sitte, aus dem Autoritätsbedürfnis u.s.w. ergeben. Man wird einzelne Erscheinungen des religiös-sittlichen Lebens gesonderter Untersuchung unterwerfen, z.B. den religiösen Zweifel in seinen verschiedenen Erscheinungsformen und Ursachen, oder den Wunderglauben u.a. Erst, wenn die praktische Theologie in dieser Weise dem künftigen Prediger und Seelsorger das dunkle Gebiet des empirischen religiösen und sittlichen Lebens aufgehellt hat, erst wenn ihm durch eine solche Darstellung das Auge für die wirklichen Lebenserscheinungen geöffnet ist, hat sie ihn, soweit sie es vermag, für seinen Beruf auf der Kanzel und in der Seelsorge wirklich vorbereitet. Man wende nicht ein, die Ausführung dieser gestellten Aufgabe sei von außerordentlicher Schwierigkeit. Das ist sie ohne Zweifel und keineswegs steht zu erwarten, dass die nächste Zeit etwa schon fix und fertig das produciren wird, was wir erwünschen. Mehr als Bausteine, Beiträge, Einzelstudien sind nicht zu erhoffen, aber diese werden bestimmt kommen, denn sie liegen bereits zerstreut vor. Und als solch einen sehr schätzenswerten Beitrag zu dieser neuen Disciplin der praktischen Theologie möchte ich gerade Schians Artikel mit seinen feinen psychologischen Beobachtungen bezeichnen und begrüßen. Verfolgt man diese eingeschlagene Bahn weiter, so wird man ganz von selbst auf das und in das hineingeführt, was mir vorschwebt. Und wer einmal Auge dafür gewonnen hat, worauf es hier ankommt, der findet ein reiches Material, freilich da und dort weit verstreut. Ich nenne einige Fundstätten. Vor allem kommen hier die Pastoraltheorien in Betracht; so enthalten Windels „Beitrage aus der Seelsorge für die Seelsorge“ manches Brauchbare. Eine wertvolle Skizze über das religiöse und sittliche Leben unter den Arbeiterklassen bietet uns Göhre in seinem bekannten Buch: „Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche“. Eine überaus feine Schilderung der verschiedenen Arten und Abstufungen der modernen

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Christlichkeit findet sich in dem viel zu wenig beachteten Schriftchen von Johannes Müller: „Die Evangelisation unter den Entkirchlichten“ (1895), S. 7 ff. Er führt uns die „Gefühlsschriften“,49 die „Bekenner der christlichen Moral und Weltanschauung“, die „Christen der Konvention“ und endlich die „Entkirchlichten“ vor. Jeder Leser wird die seine psychologische Beobachtungsgabe Müllers anerkennen müssen. Etwas ganz ähnliches, nur in andrem Zusammenhang, bietet uns Joh. Weiß in seiner oben genannten Schrift unter der Überschrift: „Stimmungen und Gedankengänge der Gegenwart“ (S. 104 ff.). Man sieht also, dass keiner, der sich mit der Frage nach der Verkündigung des Evangeliums in der Gegenwart beschäftigt, um die Frage nach dem empirisch-psychologischen Thatbestand herumkommt. Ich weiß auch nicht, wie man Pastoraltheorie oder Homiletik vortragen will, ohne diese Aufgabe, wenn auch nur skizzenhaft, in die Hand zu nehmen. Was aber bisher gelegentlich, ungeordnet, skizzenhaft geschehen ist, das soll n. m. M. in geordneter, möglichst vollständiger wirklich wissenschaftlicher Weise in selbständiger Behandlung geschehen. Endlich aber darf zum Beweis, dass die von mir erhobene Forderung nicht ein persönlicher Einfall ist, darauf hingewiesen werden, dass bereits vor einem Jahrzehnt 49 Ich hebe als Probe diese Charakteristik heraus. „Ihr religiöses Leben beruht auf Einbildung. Sie wissen aus Unterricht und Predigt, Bibel und häuslicher Tradition genau über das Christentum Bescheid und meinen, es zu besitzen, wozu sie oft ohne eigenes Verschulden eine falsche Auffassung der Taufe und noch mehr der Rechtfertigung aus dem Glauben verführt hat. Sie beschließen, zu glauben, alles zu glauben, oder thun es ohne weiteres, haben gehört, was dem Glauben folgt, wie Vergebung der Sünden u.s.f., sich mit Hilfe der Phantasie aus und erfüllen es mit der Wärme des durch religiöse Übungen gesteigerten Gefühls. Die uns verheißenen Erfahrungen Gottes werden scheinhaft auf natürlichem Wege durch Gemütsexzesse erzwungen. Diese Einbildung kann bei ausreichenden Mitteln und der nötigen Stetigkeit eine dauernde werden, oder sie tritt nur als eine intermittirende religiöse Versenkung und Berauschung auf. Auch hier giebt es eben die verschiedensten Stufen und Erscheinungen … Vor allem ist jene unwillkürliche, naive religiöse Einbildung, deren Entstehung so verständlich ist, ungeheuer verbreitet. Das ganze religiöse Leben besteht hier nur in Erregung und Befriedigung des Gefühls, mag man es nun zu dauerndem Traumleben oder nur zu zeitweiliger vorübergehender Narkose gebracht haben. Man sollte meinen, die harten Ecken und Kanten des Lebens müßten diese Phantasiegebilde immer wieder rau zerstören, aber diese Gemüter haben eine unglaubliche Gewandtheit sich alles egoistisch zurecht zu machen und sich immer wieder in ihr religiöses Traumland zu retten. Dieses eingebildete Christentum kann mit ernster aufrichtiger Frömmigkeit verbunden sein, mit begeisterter Kirchlichkeit und einer wahren Erbauungssucht. Bei andern ist es nur eine über das Dasein ausgebreitete sentimentale Stimmung, bei andern nur ein zeitweiliger Genuß wie andere Genüsse. Im gewöhnlichen Leben unterscheiden sie sich dann nur durch eine gewisse Pietät für religiöse Dinge, nur zum Teil durch dauernde Unterordnung unter kirchliche Sitte, sonst gleichen sie den Entkirchlichten aufs Haar, nur daß sie eben manchmal das Bedürfnis haben, in religiösen Gefühlen zu schwelgen.“

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Professor Schlatter dieselbe Forderung erhoben hat, wie aus dem „Bericht über die Verhandlungen der schweizerischen reformirten Predigergesellschaft im Jahre 1887“ (Schaffhausen 1887, S. 118 f.) zu ersehen ist. Und nach ihm hat mit vortrefflichen Worten die gleiche Anregung gegeben Professor Wrede am Schlusse eines Artikels: „Der Prediger und sein Zuhörer“ in der Zeitschr. f. prakt. Theol. XIV. Jahrg. 1892 S. 49. Ich kann nicht umhin, die Hauptsätze Wredes hier zu wiederholen: „Sollte es nicht wünschenswert sein, den Fächern der praktischen Theologie eine praktische Psychologie des religiös-sittlichen Lebens beizugesellen. Ihre Aufgabe müsste sein, das empirische religiös-sittliche Leben nach der Mannigfaltigkeit seiner Elemente, nach den wichtigsten gesetzmäßig wiederkehrenden Erscheinungen, nach seiner Relativität zur Anschauung zu bringen. Ihr Stoff würde aus dem Leben selbst, aus Geschichte und namentlich auch Litteratur zu schöpfen sein. … Sie könnte und müsste das Interesse wecken für „den Menschen“, die Richtung auf Kenntnis des Menschen, wie er ist, mitteilen, die Fähigkeit zu beobachten anregen. Dass hier in der Vorbildung für den geistlichen Beruf eine Lücke vorhanden ist, ist kaum zu bestreiten.50 Hunderte gehen durch die Universität hindurch, ohne nur eine Ahnung davon zu erhalten, welche Bedeutung das Studium der menschlichen Seele für den Prediger hat.51 Dass diese Aufgabe nicht von der üblichen philosophischen Psychologie auch nur annähernd gelöst wird und gelöst werden kann, zumal wie sie sich in der modernen Zeit entwickelt, braucht kaum ausgesprochen zu werden. – Aber das bisher Ausgeführte drängt ganz von selbst zu einem weiteren Schritt. Wenn es von Wert sein muss Werden und Sein der religiösen Individualität empirisch zu erfassen, muss es nicht ebenso von Wert sein, das religiöse Leben der Gemeinschaften zu erfassen, wie es sich in unsren Landeskirchen thatsächlich eine Lebensform, einen Rahmen geschaffen hat und wie es sich innerhalb derselben auslebt? Sollte es nicht zur praktischen Bildung des Theologen gehören, dass er die empirischen Zustände vor allem seiner eigenen Landeskirche gründlich kennt und die Hauptmomente ihres Lebens überblickt? Freilich bleibt die Erfahrung die beste Lehrmeisterin, aber kann nicht der persönlichen Erfahrung und Beobachtung durch die theoretische Orientierung wesentlich vorgearbeitet werden? Klagen nicht namentlich jüngere Geistliche, wie wenig ihr Auge durch die „unpraktische“ praktische Theologie für die konkreten Verhältnisse des Lebens geschult sei? Nur auf Andeutungen in dieser Beziehung möchte ich mich hier beschränken. Es ist zu hoffen, dass öfters Gelegenheit zu weiterer, gründlicherer Aussprache über diese Dinge geboten wird. Nur ein Punkt sei noch hervorgehoben. 50 Dieser Satz ist von mir gesperrt. 51 Ähnliche Gedanken vertritt auch Rade in dem Artikel: Zur Frage nach dem richtigen Betriebe der praktischen Theologie“ in der Zeitschr. f. prakt. Theol. 1895, S. 351.

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Würde sich die praktische Theologie in der angedeuteten Richtung weiter entwikkeln, so würde sie nicht allein an wissenschaftlichem Charakter gewinnen, indem sie einen neuen fassbaren Gegenstand für ihre Untersuchung erhält, sie würde auch ganz anders in den Organismus der theologischen Disciplinen einwurzeln. Stolz nennt sich die praktische Theologie die Krone des theologischen Studiums, und wir sind wahrlich nicht gewillt, ihr diesen Ruhm anzutasten. Aber die Frage darf man doch wohl aufwerfen, ob die praktische Theologie so organisch mit den andern theologischen Disciplinen zusammenhängt, wie es der Gedanke eines Organismus fordert. Dieser fordert doch eine stetige Wechselwirkung der einzelnen Organe unter einander. So kann die systematische Theologie nicht sein ohne die Kirchengeschichte, in Sonderheit die Dogmengeschichte oder ohne die biblischen Wissenschaften. Diese letzteren und nicht weniger die Kirchengeschichte empfangen fortgesetzt ihre Impulse von der systematischen Theologie. Wäre der Kirchenhistoriker Ritschl denkbar ohne den Dogmatiker Ritschl? Steht aber in so naturnotwendiger Eingliederung die praktische Theologie mitten drin in den theologischen Disciplinen? Sind diese so auf die praktische Theologie angewiesen, dass sie von ihr nicht nur „gekrönt“, abgeschlossen werden, sondern so, dass sie von ihr ihren eigenen Betrieb Stoff und Nahrung empfangen? Was macht es für den Kirchenhistoriker aus, ob die praktische Theologie da ist oder nicht? Man sage nicht, der Kirchenhistoriker nehme dankbar die historischen Studien des praktischen Theologen an. Gewiss. Aber es fragt sich nur, ob hier nicht der praktische Theologe vielmehr zum Historiker geworden ist. Bietet aber die praktische Theologie eine Darstellung des religiös-sittlichen Lebens wie es sich in den Individuen, und in den kirchlichen Gemeinschaften der Landeskirchen auslebt, so wird sie damit allen theologischen Disziplinen dienen. Der Vertreter der biblischen Wissenschaften wird ein größeres Verständnis religiöser Persönlichkeiten und religiösen Gemeinschaftslebens gewinnen; der Kirchenhistoriker desgleichen und der Systematiker wird jedenfalls aus solcher empirischen Darstellung eine Fülle von nützlichen Erkenntnissen schöpfen können. Es wäre eine Illusion zu meinen, dass die Erfüllung dieser Zukunftsgedanken ohne Schweiß und Arbeit und in absehbarer Zeit möglich und zu erwarten wäre. Aber macht die praktische Theologie Ernst mit ihrer Aufgabe: „die ganze Fülle des kirchlichen Lebens der Gegenwart in allen seinen Verzweigungen wissenschaftlich zu begreifen,52 so 52 Die vorgeführten Forderungen kann man auch in nachstehenden Worten Bassermanns (Die prakt. Theol. als eine selbständige, wissenschaftliche theol. Disciplin S. 22) ausgesprochen finden, doch hat Bassermann selbst sie wohl in diesem Sinne nicht gemeint. Aber vielleicht billigt er – und das wäre mit großer Freude zu begrüßen – diese Interpretation seiner Worte. Er sagt: „Vor ihr [der prakt. Theol.] liegt als ihr eigentlicher Gegenstand die ganze Fülle des kirchlichen Lebens der Gegenwart in allen seinen Verzweigungen. Und wie sie nun, um es wissenschaftlich zu begreifen auf de reinen Seite die ganzen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhält-

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darf sie sich nicht in Kleinmut der geschilderten Aufgaben entziehen, oder sie wird vergebens um ihren Ehrenplatz unter den theologischen Disciplinen ringen.

4. Fragen zum Text 1. Informieren Sie sich in Wikipedia oder in theologischen Lexika (RGG, TRE) über die im Text erwähnten Persönlichkeiten: Johannes Weiß, Ernst Christian Achelis, Alfred Krauß, Carl Windel, Paul Göhre, Johannes Müller, Adolf Schlatter, William Wrede. 2. Warum ist die Kenntnis des empirischen religiösen Lebens für Drews so wichtig? 3. Welches Bild zeichnen die beiden theologischen Disziplinen Dogmatik und Ethik vom Menschen? Schauen Sie in einschlägige protestantische, katholische, jüdische, islamische Glaubenslehren. 4. Wie will Drews „das Ganze der Gegenwart pulsierenden kirchlichen Lebens“ erforschen? Wie lassen sich nach Drews die empirischen Daten gewinnen? 5. Welche Aufgabe kommt nach Drews der neu zu schaffenden praktisch-theologischen Disziplin „Psychologie des religiös-sittlichen Lebens“ zu? 6. Drews nennt einige wesentliche Determinanten, die „das dunkle Gebiet des empirischen und sittlichen Lebens“ aufhellen können. Sind sie umfassend? Lassen sie sich noch um weitere ergänzen? 7. Informieren Sie sich über die frühe empirische Sozialforschung in Gestalt biographischer Ansätze, wie sie neben der Darstellung des Theologiestudenten Paul Göhre („Drei Monate Fabrikarbeiter und Handwerksbursche“, 1891) sowie einigen weiteren Arbeiterbiographien insbesondere auch von Eugen Rosenstock („Werkstattaussiedlung. Untersuchungen über den Lebensraum des Industriearbeiters“, 1922) vorgelegt wurden. Diese Untersuchungen können als Frühformen soziobiographischer bzw. biographischer Methode gelten. „Lebensraum“ bei Rosenstock hat in etwa die Bedeutung von Sozialmilieu. Eugen Moritz Friedrich Rosenstock-Huessy (6.7.1888 als E. M. F. Rosenstock; gest. 24.2.1973) war ein jüdischer Rechtshistoriker und Soziologe. Er ließ sich 1905 evangelisch taufen.

nisse nicht ignorieren darf, in denen sich jenes doch auch bewegt, so muß sie sich auf der anderen einen tiefen Einblick in die menschliche Seele überhaupt verschaffen und insbesondere ein feines Gefühl für die Seele des Volkes, an dem sie zu wirken gedenkt, gewinnen.“

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8. Was ist genau zu verstehen unter der empirischen Erfassung der „religiösen Individualität“ und „Leben der Gemeinschaft“? 9. Warum ist die Praktische Theologie für Drews die „Krone des theologischen Studiums“?

5. Würdigung

Praktische Theologen wie Friedrich Niebergall (1866–1932) und Paul Drews beschäftigten sich mit Anregungen Friedrich Schleiermachers, insbesondere mit der Frage, wie in einer zunehmend säkularisiert werdenden Moderne eine adäquate kirchliche Praxis möglich wäre. Die beiden Praktischen Theologen setzten sich dafür ein, die gegenwärtige Wirklichkeit innerhalb und außerhalb der Kirche bewusst/er wahrzunehmen. So fiel zum Beispiel Niebergall auf: „Die Menschen erlauben sich immer wieder, anders zu sein, als wir in unseren Theorien über sie träumen lassen“.53 Niebergall trat für eine „Religiöse Seelen- und Volkskunde“, eine „kirchliche Volkskunde“ ein. Auch Drews Interesse am religiösen Puls seiner Zeit war vorrangig praktisch-theologisch bestimmt. Es ging ihm um „die Ermittlung und Darstellung der tatsächlichen religiösen Zustände in unserem Volk, um die wirkliche Religion“ im Gegensatz zu theologischen Anschauungen.54 Paul Drews Ansatz ist trotz seiner klaren theologischen Zielsetzung religionswissenschaftlich bemerkenswert. Drews sollte darum nicht länger nur von der Praktischen Theologie oder der (kirchlichen) Religionssoziologie vereinnahmt werden; denn er hat auch aus der Perspektive Religionswissenschaft Bahnbrechendes geleistet. Drews zählt zu den Pionieren einer qualitativen Religionsforschung, der daran gelegen ist, empirisch wahrzunehmen, was wirklich an Glaubens- und Frömmigkeitsleben und -vorstellungen im Lande vorhanden ist. Drews Ausgangspunkt waren zwar seelsorgerliche Desiderate im ländlichen Bereich und in Arbeitermilieus. Sein Ansatz der Religiösen Volkskunde war alltagsorientiert. Drews wollte christlich-religiöse Aspekte in volkskundlichen Arbeiten berücksichtigt wissen. Sein wissenschaftliches Interesse richtete sich auf die unterschiedlichen Frömmigkeitsformen in den verschiedenen Schichten des Volkes. Religiöse Volkskunde sollte ihm zufolge von der Gegenwart ausgehen, und historische Forschungen sollten nur ergänzend herangezogen werden.

53 Zitiert bei Adrian Portmann: Kochen und Essen als implizite Religion. Lebenswelt, Sinnstiftung und alimentäre Praxis, Münster 2003, S. 20. 54 Ebd.

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Wesentliche Anregungen erhielt Drews durch die Arbeiten von Schian und Wobbermin. Das psychologische Moment griff Drews bereits in Jena auf und bearbeitete es in Gießen weiter. Gegenstand der Disziplin sollte das gesamte religiös-sittliche Verhalten sein, das empirisch beschrieben werden konnte. Um die Frömmigkeit angemessen wahrzunehmen und zu beschreiben, erschien der Blick auf die Surrogate der christlichen Religion notwendig. Dies umfasste auch Sektenwesen und Aberglauben in ihren konkreten Beziehungen zur christlichen Lehre. Die idealtypische Volksreligiosität galt es im Rahmen der religiösen Psychologie zu untersuchen. Dies führte Drews zur Einführung eines neuen Fachbereichs innerhalb der praktischen Theologie, der mit Hilfe von historischen, empirischen und theoretischen Verfahren seinen Gegenstand beschreibt. Schon früh war Drews für dieses Anliegen eingetreten, wovon gerade seine ‚christlichsozialen‘ Frühwerke zeugen. Drews griff auf Schleiermachers Kirchliche Statistik zurück, erweiterte und vertiefte sie. Statistiken, Umfragen, Biographien, Briefe und andere Arten von Lebenszeugnissen bildeten die der Forschung zugrunde gelegten empirischen Materialien. Sammeln und Darstellen von Fakten steht am Beginn der Forschung, die dann aber systematischen Charakter erhält, indem sie Zusammenhänge und Entwicklungen aufzeigen soll. „Wenn der theologische Praktiker, der Pfarrer, in fruchtbarer, zielbewusster und ihn selbst befriedigender Weise das Evangelium verkündigen will, so muss er genau unterrichtet sein über den Stand des religiösen Lebens der Kreise, auf die er wirken soll. Er muss wissen, was hier wirklich religiöser Besitz , was hier religiöses Bedürfnis ist; welche Art die Frömmigkeit ist von der in der That das Leben getragen und bestimmt wird; was man als Hemmnisse der Frömmigkeit empfindet, was man von überlieferter Frömmigkeit, nur äußerlich, gewohnheitsmäßig, aus Nachahmungstrieb festhält. Denn wir Menschen sind, sowohl was die einzelnen Individuen, als auch was die gesonderten Gesellschaftsgruppen anlangt, durchaus nicht in ein- und derselben Weise fromm. Der Bauer ist anders fromm als der Fabrikarbeiter, der Theologe anders als der Mediziner; der, der mehr Gemüt und Phantasie hat, anders als der mehr rational Gerichtete. Schalten wir jedoch zunächst den individuellen Gesichtspunkt aus. Fest steht, dass bestimmte Volkskreise auch ihre bestimmt ausgeprägte religiöse Art haben“ (Birgit Weyel: Praktische Bildung zum Pfarrberuf, Tübingen 2006, S. 206) Drews prägte 1901 den Begriff „religiöse Volkskunde“, die er als Dienstleisterin für die Seelsorge betrachtete. Daran mochte es liegen, dass sie von der etablierten Volkskunde nur wenig beachtet wurde.

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6. Weiterführende Arbeitsaufgaben 1. Machen Sie sich mit der empirischen Variante der Praktischen Theologie an Hand des Sammelbandes von Astrid Dinter/Hans-Günter Heimbrock/Kerstin Söderblom (Hg.): Einführung in die empirische Theologie. Gelebte Religion erforschen, Göttingen 2007, vertraut. Was wird dort unter „gelebter Religion“ verstanden? 2. Lesen Sie den Beitrag von Uta Pohl-Patalong: Wer – was – mit welchem Ziel – für wen? Beobachtungen und Perspektiven der Praktischen Theologie. In: Doris Nauer/Rainer Bucher/Franz Weber (Hg.): Praktische Theologie. Bestandsaufnahmen und Zukunftsperspektiven (FS: Ottmar Fuchs zum 60. Geburtstag), Stuttgart 2005, S. 190–197. An welchen Stellen halten Sie ihre Überlegungen für religionswissenschaftlich besonders relevant? 3. Sehen Sie aus der Sicht der Religionswissenschaft eine mögliche interdisziplinäre Zusammenarbeit? Formulieren Sie ein kleines Forschungsprojekt und beteiligen Sie nach Möglichkeiten Theologiestudierende daran. 4. Was ist das speziell Theologische und das speziell Religionswissenschaftliche an der Untersuchung „gelebter Religion“? 5. Welche Methoden verwendet die empirische Theologie?

7. Bibliographie Primärliteratur

Drews, Paul: Das Problem der Praktischen Theologie (Auszüge). In: Krause, Gerhard (Hg.): Praktische Theologie – Texte zum Werden und Selbstverständnis der praktischen Disziplin der evangelischen Theologie, Darmstadt 1972. Sekundärliteratur

Birnbaum, Walter: Theologische Wandlungen von Schleiermacher bis Karl Barth – Eine enzyklopädische Studie zur praktischen Theologie, Tübingen 1963. Drehsen, Volker: Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der praktischen Theologie – Aspekte der theologischen Wende zur soziokulturellen Lebenswelt christlicher Religion, Gütersloh 1988. Eger, Karl: Paul Drews theologische Arbeit. In: Theologische Studien und Kritiken – Eine Zeitschrift für das gesamte Gebiet der Theologie, Gotha 1917, S. 1–30. Grethlein, Christian: „Die praktische Theologie lechzt nach Tatsachen…“ Eine praktisch-theologische Erinnerung an Paul Drews. In: Schnelle, Udo (Hg.): Reformation und Neuzeit – 300 Jahre Theologie in Halle, Berlin/NewYork 1994, S. 377– 97.

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Rade, Martin: Erinnerungen an Paul Drews. In: Christliche Welt 26, Marburg 1912, Sp. 1257. Schilling, Johannes: Paul Drews und seine Konzeption einer Kirchenkunde – Eine Vorstellung. In: Mehlhausen, Joachim (Hg.): Pluralismus und Identität, Gütersloh 1995, S. 413–25. Weyel, Birgit: Praktische Bildung zum Pfarrberuf, Tübingen 2006, S. 200 ff.

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6. Nathan Söderblom (1866–1931) 1. Biographie

Geboren wurde Nathan Söderblom in einem pietistischen schwedischen Pfarrhaus am 15. Januar 1866 in Tröno bei Söderhamm (Provinz Hälsingland). Er war der älteste Sohn des lutherischen, „Barfußpfarrer“ genannten Jonas Söderblom und seiner Frau Sophia, geb. Blume, einer Arzttocher. Nathan Söderblom wurde zunächst von seinen Eltern unterrichtet. Jonas Söderblom wurde als Hauptpastor (‚Kyrkoherde‘) nach Buråker versetzt, ein Ort an den Dellarseen (Hälsingland). Nathan Söderblom, der von Kindheit an das Bauernleben kannte, konnte später als Erzbischof die Landverhältnisse gut einschätzen. Seit 1875 besuchte Nathan Söderblom die Lateinschule in Hudiksvall (Bottnischer Meerbusen). 1883 ‚baute‘ Söderblom sein Abitur und schrieb sich am 19. September 1883 an der Universität Uppsala ein, um Philosophie, Theologie und klassische Philologie zu studieren. Nachdem er das philosophische Kandidatenexamen bestanden hatte, erfolgte 1892 das theologische Kandidatenexamen. Bereits als Student hatte sich Söderblom einen Namen als einer der Führer in der christlichen Studentenbewegung, dem studentischen Missionsverein, gemacht. 1893 wurde er ordiniert, in der Terminologie der lutherischen Kirche Schwedens ,zum Priester geweiht‘. 1894 heiratete er Anna Forsell. Aus dieser Ehe gingen 12 Kinder hervor. Als sie 1955 mit 85 Jahren starb, hatte Anna Söderblom ihren Mann um 24 Jahre überlebt. In zwei religiösen Erlebnissen (1892, 1893) widerfährt Söderblom eine direkte Begegnung mit Jesus Christus und mit der Heiligkeit Gottes. „Wie mit dem ersten religiösen Erlebnis die Erfahrung, so wird mit dem zweiten religiösen Erlebnis die Heiligkeit Gottes zur zentralen religionswissenschaftlichen Kategorie Söderbloms“.55 55 Rainer Neu: Das Mediale. Die Suche nach der Einheit der Religionen in der Religionswissenschaft, Stuttgart 2010, S. 190.

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Ganz entscheidend beeinflusste Söderblom die liberale und kritische deutsche Theologie, vor allem Denker wie Albrecht Ritschl, Julius Wellhausen, Julius Kaftan, Georg Pfleiderer, vor allem Adolf Harnack. Seit 1894 lebte Söderblom als Gesandtschaftspfarrer in Paris. Dieses Amt war mit dem des Seemannspfarrers in Calais, Dünkirchen und Boulogne verbunden, wo Söderblom oft notleidende schwedische Seeleute betreute. Er lernte den Katholizismus und die in Schweden für Ketzer gehaltenen Hugenotten kennen. In seiner freien Zeit studierte er Orientalistik und Religionswissenschaft an der Ecole pratique des Hautes Études sowie evangelische Theologie an der Sorbonne. Auguste Sabatier, Albert und sein Sohn Jean Réville sowie Eugène Ménégoz waren herausragende Vertreter der so genannten Pariser Schule. Sie stellten den symbolischen Charakter der religiösen Bekenntnisse heraus. Sein theologisches Diplom erwarb Söderblom 1898 mit einer Arbeit zur altiranischen Religionsgeschichte („Die Fravashi. Studien über die Spuren einer alten Vorstellung über das Fortleben der Toten im Mazdaismus“; Original französisch). 1901 wurde er an der Sorbonne mit der Arbeit „Das künftige Leben nach den Lehren des Mazdaismus“ promoviert. Die Nachfolge des niederländischen Religionswissenschaftlers Cornelis Petrus Tiele (1830–1902) in Leiden schlug er aus. Noch im selben Jahr erhielt er an der Universität Uppsala einen Lehrstuhl für „Theologische Vorbegriffe und Enzyklopädie“. Mit dieser Position war zugleich die Übernahme einer Pfarrstelle an der Uppsalaer Bauernkirche verbunden. Söderblom wurde Kyrkoherde an der kleinen Dreifaltigkeitskirche. Die ihm angebotene Übernahme des 1909 neu eingerichteten Lehrstuhls für Religionsgeschichte in Berlin lehnte Söderblom ab. 1912 dagegen übernahm er den Lehrstuhl für Religionswissenschaft an der Theologischen Fakultät in Leipzig. Zwei Jahre lang, bis 1914, konnte Söderblom aufgrund verschobener Ferienzeiten gleichzeitig zwei Lehrstühle innehaben. Vom Sommersemester 1913 bis zum Sommersemester 1914 hielt Söderblom insgesamt acht Lehrveranstaltungen über ‚Heiligkeit‘, ‚Außerbiblische Offenbarungslehren‘ (zweimal), ‚Vergleichende Eschatologie‘ und ‚Gottesgemeinschaft‘. In diesen beiden religionswissenschaftlich fruchtbaren Jahren entstand der religionsgeschichtliche Klassiker „Das Werden des Gottesglaubens“ (1916; 19262). Am 8. November 1914 wurde Söderblom zum Erzbischof geweiht und führte als ‚Erster unter Gleichen‘ den schwedischen Gesamtepiskopat. Bahnbrechendes leistete der schwedische Kirchenführer für die Ökumene. Söderblom wurde zum Motor der ökumenischen christlichen Friedensbewegung. Uppsala wurde durch ihn zu einem internationalen Mittelpunkt der Ökumene. 1925 organisierte Söderblom die Stockholmer Weltkirchenkonferenz als ‚Weltkonferenz für praktisches Christentum‘ (‚Life and Work‘), zu der er Vertreter aller christlichen Kirchen einlud, um gemeinsame Verantwortung für eine friedliche Lösung der übernationalen und sozialen Probleme zu fördern. Söderbloms Einsatz für den Frieden in der Welt führte dazu, dass ihm 1930 der Friedensnobelpreis verliehen wurde. Söderblom starb am 12. Juli 1931 in Uppsala. Seine

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letzten Worten sind unterschiedlich überliefert: „Dies ist die Ewigkeit“ bzw. „Dies ist das Leben“. Seit den Tagen des großen Schwedenkönigs Gustav Adolf (1594–1632) hatte es in Schweden keine vergleichbare öffentliche Teilnahme an einem Begräbnis mehr gegeben. Gegenüber dem Grab des Visionärs Emanuel Swedenborg (1688–1722) wurde die sterbliche Hülle Nathan Söderbloms im Dom zu Uppsala beigesetzt. Viele Kirchen sind nach ihm benannt worden, auch in Deutschland. Ein lebensgroßes Denkmal Nathan Söderbloms steht auf dem Hainstein in Eisenach (Thüringen).

2. Inhaltsangabe des Buches ‚Der lebendige Gott im Zeugnis der Religionsgeschichte‘ ist eine ursprünglich auf zwei Jahre (1931/32) geplante Vorlesungsreihe im Rahmen der Gifford Lectureship in Natural Theology. Diese noch heute ausgerichtete renommierte Vortragsreihe begann 1888– 1892 mit Friedrich Max Müllers Vorlesungen über „Anthropological Religion“ in Glasgow. Zu den weiteren bedeutenden Vortragenden gehörten Edward Tylor, Cornelis Petrus Tiele, William James, Hans Driesch, James Frazer, Henri Bergson, John Dewey, Robert Ranulph Marett, Albert Schweitzer, Karl Barth, Niels Bohr, Arnold Toynbee, Paul Tillich, Robert Zaehner, Hannah Arendt, Ninian Smart, Iris Murdoch, Jürgen Moltmann, Paul Ricoeur, Walter Burkert, Annemarie Schimmel, Mohammed Arkoun, Stephen Toulmin, Diana Eck, Jonathan Sacks.

Nathan Söderblom hielt den ersten zehnteiligen Zyklus vom 19. Mai bis 8. Juni 1931 in Edinburgh. Zur zweiten Vortragsreihe kam es nicht mehr, weil Söderblom kurz nach seiner Rückkehr in seine schwedische Heimat starb. Er nannte The Living God (veröffentlicht 1933) sein „religionsgeschichtliches Vermächtnis“. Ursprünglich hießen die beiden Vorlesungszyklen ‚Grundformen persönlicher Religion‘. Eindeutiger als der spätere Titel drückt dieser die Interessen Söderbloms an der Entwicklung der individuellen Frömmigkeit aus. Trotz gegenteiliger Behauptungen Söderbloms war er dem Evolutionismus seiner Zeit verhaftet und ging daher von einer gestuften Struktur der allgemeinen Religionsgeschichte aus. Diese verlief von den Primitiven über die Hochreligion/en zum Monotheismus des Christentums. Damit lag er ganz auf der religionswissenschaftlichen Traditionslinie seiner Zeit und auf der Höhe des damaligen Forschungsstandes. Aufgrund seines theologischen Positivismus stellte Söderblom das Konzept einer Absolutheit des Christentums nicht in Frage. Söderblom beginnt seine Vorlesungen mit dem Vortrag „Training und Inspiration in primitiver Religion“ (1–35). Früher als andere betrachtet er die Angehörigen der autochthonen Religionen als Individuen, nicht als uniforme Glieder einer ununter-

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schiedenen Gemeinschaft, die keine persönlichen Differenzierungen zulässt. Diese Menschen unterscheiden sich „in Bezug auf verschiedenes Temperament und verschiedene Anlagen“, so dass man „verschiedene Typen persönlicher Religion“ (1) unterscheiden kann. Mit dem Einzelnen und seinen Erfahrungen beginnt die Religion, nicht umgekehrt: „Religion muss vorhanden sein und in der Seele des Menschen aufkeimen, ehe sie in seinen Worten und Taten, Gebräuchen und Institutionen Ausdruck findet. Sie muss, bevor sie Angelegenheit der Gemeinschaft wird, im Einzelmenschen vorhanden sein“ (ebd.). Söderblom beobachtet eine im Laufe der religionsgeschichtlichen Entwicklung zurück gehende Wichtigkeit des Trainings, der Übungen in den Religionen. Rausch und Askese in ihren vielfältigen Formen dienten dem Menschen dazu, übernatürliche Erfahrungen zu gewinnen. „Gemäß primitiver Ansicht kann Gemeinschaft mit den höheren Mächten und ein übernatürlicher Gemütszustand nicht durch irgendwelche menschliche Anstrengung oder Belehrung erlangt werden, sondern nur durch angeborene Fähigkeit oder durch die Einwirkung einer Gottheit“ (11). „Diese Regel gilt für die ganze Religionsgeschichte“ (16). Söderblom hebt für die primitive Religionsgeschichte insbesondere den Hochgottglauben hervor. Auch äußert er sich in seiner Einleitungsvorlesung schon zum Phänomen Mystik – für ihn eine der wesentlichen Formen personaler Religiosität. Durchgängig herrscht die lutherischer Theologie verpflichtete Auffassung, dass der noch so intensiv religiös übende, trainierende Mensch immer „Gott nötig hat“ (22). Je höher man in der Religionsgeschichte ‚hinauf steigt‘, desto weniger sind menschliche Kraftanstrengungen nötig. In der Sprache seiner Zeit formuliert Söderblom: „Die Heroen der Offenbarungsreligion haben keine Übungen nötig, um der Gottheit nahe zu kommen“ (29). Wenn Söderblom von Gott spricht, meint er den einen Gott, den er auch in der gesamten Religionsgeschichte am Werk sieht. Doch aufgrund der besonderen Offenbarung ist die biblische Offenbarung „Offenbarung im eigentlicheren und volleren Sinn […] als die übrige Religionsgeschichte“ (372). Söderblom stellt die Mystik dem Religionstypus der „Offenbarungsreligion“ (29) gegenüber, womit er den „Mosaismus“ (255–305) meint. Streng genommen handelt es sich nach Söderblom hierbei nicht um eine typische Entwicklungsstufe, sondern um „artverschiedene Erscheinung, eine Offenbarungsreligion in besonderem Sinne“ (305). Gleichwohl fügt er hinzu: „Wir werden vielmehr zu dem Schluss geführt, dass sowohl die Mystik im allgemeinen, als auch die besondere Offenbarung auf die Wirklichkeit und Wirksamkeit Gottes hinweisen“ (305). Vorlesung 2 („Religion als Methode. Yoga“, 36–78) ist einesteils ein sehr kenntnisreiches Kapitel über ein äußerst komplexes Phänomen der indischen Religionsgeschichte, wo menschliches Training seinen Höhepunkt erreichte. Anderseits ist es aber auch die Abrechnung eines lutherischen Theologen mit einer auf dieser Basis von Grund auf falschen Religionsauffassung. Söderblom sieht neben Positivem wie „Stille der Seele“, „Gefühl des Friedens“ (58) zwei schwer wiegende Nachteile: „Aber

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zwei Dinge können nicht durch irgendeine Methode erlangt werden. Sie kann nicht Glauben verleihen noch jene Vollendung des Glaubens, die Schauen genannt wird […] Der durch Selbstsuggestion erreichte Glaube hat keinen Wert. Der Glaube muss geschenkt werden […] Aber all dies kann der Mensch nicht selbst erreichen […] Der Glaube ist eine Gabe“ (58). Zum Schluss des Kapitels spielt Söderblom alle positiven Karten der Offenbarungsreligion gegen die Mystik aus und stellt Objektivität gegen Subjektivität: „In der Offenbarungsreligion, im Evangelium ist das Objektive die Hauptsache: das Kreuz, die Taten Gottes, die Worte des Heilands. Hier hat es die religiöse Übung nicht nötig, ein Objekt für die Aufmerksamkeit in der Waffenkammer der Psychologie zu suchen. Das Objekt ist durch die Geschichte gegeben“ (78). Vorlesung 3 bleibt thematisch weiter in Indien, konzentriert sich auf den Typus „Religion als Psychologie: Jainismus und Hinayana“ (79–101). Sie gelten Söderblom als „Erlösungs-“, nicht aber als „Offenbarungsreligion“ (97). „Der ursprüngliche Buddhismus stellt sich uns als eine rationale Religion ohne Glauben dar“ (99). Dennoch kann Söderblom nicht umhin und im ruhig-friedvollen Nirvana-Gedanken ein „religiöses Element“ (99) erkennen. Vorlesung 4 befasst sich mit „Religion als gläubige Hingabe. Bhakti“ (102–135). Söderblom rühmt die im Focus seiner Darstellung stehende Bhagavadgita als eine „bemerkenswerte religiöse Abhandlung“, weil sie „mit der Selbsterlösung [bricht]“ (102). Auch gegenüber der Bhakti-Idee äußert er positive Einschätzungen, doch am Ende überwiegen die negativen. Theologisch lobt er den Heilsweg, der „in Glaube, gläubiger Hingabe, Liebe zu einer lebendigen persönlichen Gottheit oder zu einem Heiland“ (103) besteht. Noch dazu ist die Bhakti-Frömmigkeit „mit allen Klassen und Ständen vereinbar“ (128). Den größten Mangel der indischen Religion/en ist seine für Söderblom allzu große Weitherzigkeit. Während ein Prophet wie der biblische Elia sein Nein gegenüber unhaltbare Entwicklungen seiner Zeit hinaus schleuderte, erkannte die hinduistische Avatara-Lehre das Göttliche an „wo und wie es auch erscheinen mag“ (131). Söderbloms Position ist theologisch klar und eindeutig: „Das Christentum kann die Lehre von den avatâra nicht anerkennen, sondern glaubt an den eingeborenen Sohn“ (131). Nach Söderblom gelangte der Bhakti-Gedanke zu seiner bemerkenswertesten Ausprägung erst im Mahâyâna-Buddhismus, womit sich Vorlesung 5 („Religion mit einer Heils-Tatsache Mahayana, Bhakti im Buddhismus“, 136–161) beschäftigt. Die buddhistische Trinitätsvorstellung, wie sie im Begriff triratna (dreifaches Kleinod der Zufluchtnahme zu Buddha, Dhamma, Sangha) ausgedrückt ist, dient Söderblom als Beispiel dafür, dass sie „notwendigerweise zur höheren Religion“ (136) gehört. Buddhistische und christliche Beispiele helfen ihm zur Unterstützung dieser Grundidee. Den großen Vorteil mahayanistischer Bhakti sieht er darin, dass sie sich an einer historischen Persönlichkeit und nicht an mythischen Vorbildern orientiert. Damit verbindet sich die Gewissheit, die Objektivität gegenüber allem bloß Psychologischem.

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In der sehr ausführlichen Vorlesung 6 („Religion als Kampf gegen das Böse. Zarathustra“, 162–224) behandelt Söderblom „das einzige wirkliche Gegenstück zu den alttestamentlichen Propheten und ihrem weniger originalen Nachfolger Mohammed“ (162). Die Sympathie zum altiranischen Priester-Propheten ist unverkennbar, zu ähnlich ist ja die altiranische Prophetie den alttestamentarischen Propheten. Dass Mohammed aus nicht näher angegeben Gründen abgewertet wird, ist angesichts der Einstellung vieler zeitgenössischer Religionshistoriker nicht weiter verwunderlich. Gleichwohl mussten auch Söderblom die gedruckt vorliegenden Vorlesungen von Thomas Carlyle (1795–1881) bekannt gewesen sein: „On Heroes and Hero-Worship and the Heroic in History“ (zuerst publiziert 1841), in dem Carlyle in seiner zweiten Vorlesung („The Hero as Prophet“) die weltgeschichtlichen Leistungen Mohammeds darlegt. Vorlesung 7 thematisiert „Sokrates. Die Religion des guten Gewissens“ (225–254), um anschließend in Vorlesung VIII „Religion als Offenbarung in der Geschichte des Mosaismus“ (255–305) darzustellen. Mit dem „Mosaismus“ beginnt die Geschichte der Offenbarungsreligionen, zu denen darüber hinaus die „Religion der Inkarnation“, das Christentum, zählt. Drei Kriterien legt Söderblom seinem Vergleich zwischen dem indischen Vedanta bzw. den Upanishaden und der prophetischen Religion des Alten Testaments zugrunde: Einheit, Geistigkeit, Allgenugsamkeit Gottes (261). Der Vergleich fällt stets zugunsten der alttestamentlichen Offenbarungsreligion aus. Das lässt schon eine relativ oberflächliche Betrachtung von Söderbloms Sprache erkennen: Der Mosaismus „bietet ein ganz anderes Bild“ (262). „In Israel können wir, wie sonst nirgends in der Religionsgeschichte…“ (265). Als grundlegend unterscheidendes Kriterium zwischen der Offenbarungsreligion des Mosaismus und den anderen antiken Religionen sind dessen Exklusivität und Intoleranz. Während heute tolerante Religionen im Allgemeinen höher im Kurs als intolerante stehen, vertritt Söderblom folgende Position: „Es konnte keinen schreienderen Gegensatz geben als den zwischen der Toleranz Indiens und diesem Fanatismus im Namen des Herrn“ (277). Indiens Toleranz umhüllte nach Söderblom alles „in ihren weiten Mantel“ (289). Sie besaß keine Kraft, Nein zu sagen. Dies liegt nach Söderblom daran, dass Indien nicht „eine so überwältigende Offenbarung von Gottes Macht und Heiligkeit empfangen“ hat (289). Der Mosaismus ist für Söderblom keine „typische Stufe in der Entwicklung der Religion […], sondern eine artverschiedene Erscheinung, eine Offenbarung in besonderem Sinne“ (305). Gleichwohl warnt Söderblom davor, „zu hastige Schlüsse hinsichtlich des Erkenntniswertes der Religion“ (305) zu ziehen. Davon wird im Schlusskapitel noch die Rede sein. Vorlesung 9 beschäftigt sich mit der „Religion der Inkarnation“ (306–337), also dem Christentum, in dem sich alles um eine geschichtliche Persönlichkeit dreht, nämlich den „jüdischen Rabbi aus Nazareth“ (306). Exklusiv ist der Anspruch des Evange-

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liums und der Kirche, die Wahrheit zu besitzen und „eine besondere, überweltliche, im Himmel und auf Erden einzigartige Schöpfung Gottes zu sein“ (307). Besonders hebt Söderblom den Gedanken hervor, dass im Christentum nicht (wie sonst überall?) nach Gott sucht, sondern „Gott verlangte nach der Menschheit, um sie in seine Vaterarme zu schließen“ (332). Aus zwei Gründen besitzt das Christentum „einen wesentlich einzigartigen Charakter“ (337) gegenüber den übrigen Religionen: Das ist zum einen die „Einzigartigkeit Christi als des historischen Offenbarers, als des fleischgewordenen Wortes, und das Mysterium auf Golgatha“ (337). Theologisch besonders bemerkenswert ist Vorlesung 10 („Die fortdauernde Offenbarung“, 338–374). Grundlage Söderblomscher Religionstheologie ist die Unterscheidung Luthers zwischen allgemeiner und besonderer Offenbarung. Drei Momente sind es nach Söderblom, die auf eine fortdauernde Offenbarung hinweisen: „der Genius, die Geschichte und die geistige Persönlichkeit“ (374). Der Genius Jesu steht für Söderblom in einer Genius-Tradition. Sowohl Jesus, Paulus, Mohammed lassen sich nicht nur von ihrer genialen Individualität erklären, sondern müssen vom Effekt ihres Wirkens aus betrachtet werden. Söderblom steht in einer Geniustradition, die im Genie den vollkommenen neuschaffenden Geist, den originellen Denker und Deuter der Schöpfung Gottes, den Wegweiser, der „das Gesicht der Dinge (verändert) (347), den heroischen Kämpfer, den Heiligen. „Wenn die großen Geister Gott mit ganzem Herzten und Bewusstsein dienen, werden sie Heilige sieht. Die Lehre von den Heiligen kam in der evangelischen Theologie zu kurz, als der Heiligenkult im Namen des Evangeliums abgeschafft wurde“ (354). Genien sind: Denker, Propheten, Märtyrer, Künstler, Dichter, Heilige… Söderbloms zweites Kriterium lautet: „Gottes fortdauernde Offenbarung ist die Geschichte“ (366) – nicht nur innerhalb der Kirche, sondern ebenso außerhalb. „Die Stimme Gottes kann sogar durch Lippen, die sein Dasein leugnen, zur Menschheit sprechen (368). Das dritte Kriterium ist das der „Wiedergeburt des Einzelnen“, der neue Mensch, „die Offenbarung eines aufwärts steigenden Schöpfungsvorganges“ (371).

3. Ausgewählter Quellentext

Der Unterschied zwischen der allgemeinen Religionsforschung und der christlichen Theologie besteht in der Tatsache, dass für letztere der Offenbarungsglaube wesentlich ist. Für die christliche Theologie ist die Religionsgeschichte eine göttliche Selbstmitteilung. Die allgemeine Religionsgeschichte lässt die Frage über die Offenbarung offen. Wer sie betreibt, kann von der Überzeugung beseelt sein, dass hinter den Erscheinungen der Religion eine übernatürliche Wirklichkeit liegt. Oder er kann den für die Religion grundlegenden Glauben an das Geistige leugnen. Oder er kann gegenüber

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der Offenbarung fragend und ungewiss bleiben, vielleicht gewiss nur hinsichtlich der Unmöglichkeit, darüber etwas zu wissen. Oder ihm kann das Interesse an der Frage nach der Wahrheit der Religion abgehen. Verschiedene Ansichten über den Offenbarungsgedanken dürfen natürlich die Forschungsmethode und die historischen und psychologischen Untersuchungen nicht derart beeinflussen, dass diese von einem Dogmatismus nach der einen oder anderen Seite hin verschoben werden. Das Heilmittel gegen solche Fehler kann nicht in einem Verbot für, den Forscher liegen, eine eigene Überzeugung zu haben, sondern einzig und allein in der richtigen Anlage der Untersuchung, in der Gewissenhaftigkeit und dem Ernst der Forschung und in der Bereitwilligkeit, der erkannten Wahrheit sich zu unterwerfen. Zum biblischen Offenbarungsglauben gehört die Überzeugung, dass ein Teil der Religionsgeschichte Offenbarung im eigentlicheren und volleren Sinn ist als die übrige Religionsgeschichte. Die Lehre von einer besonderen Offenbarung muss im Lichte der historischen Wirklichkeit erprobt werden. Eine genügend gründliche Orientierung erlaubt uns festzustellen, dass die besondere Offenbarung, die durch den biblischen Glauben innerhalb der allgemeinen Offenbarung abgegrenzt wird, annähernd einem besonderen Typ der Religion entspricht. Diesen nennen wir gemäß der Terminologie Useners56 Offenbarungsreligion, ohne mit diesem Namen eine Aussage über die metaphysische Frage hinsichtlich der göttlichen Selbstmitteilung zu machen. Wir stellen nur die historische und psychologische Eigentümlichkeit der in Frage stehenden prophetischen, persönlichen oder Berufungs-Religionen fest. Dieser Religionstypus der Offenbarungsreligion geht auf besondere psychologische Voraussetzungen zurück, ihm eignet eine eigentümliche Konstitution, deren charakteristische und wesentliche Verschiedenheit gegenüber der antiken Vorstellungsweise übrigens von der kulturhistorischen Analyse noch heute bei solchen Richtungen des modernen Denkens wieder erkannt werden kann, die bewusst oder unbewusst Ableger der Offenbarungsreligion sind. Wenn die Abgrenzung eines besonderen Umkreises der Offenbarung somit in gewissem Maße eine Analogie hat in der Aussonderung der Offenbarungsreligion als eines genügend bestimmten Typus innerhalb der Religionsgeschichte, so kann doch diese Abgrenzung keinen absoluten Unterschied weder im Raum noch in der Zeit bedeuten, ebenso wie die Religionsforschung unmöglich die Zusammengehörigkeit von allem, was Religion heißt, aufheben kann. In der Tat entspricht dem Zusammenhang, der alle Religionsformen zu einer einheitlichen Gruppe von Erscheinungen verbindet, der prophetische und christliche Glaube an eine göttliche Selbstmitteilung auch außerhalb des auserwählten Volkes und der Christenheit. An anderer Stelle habe ich, was die verschiedenen Völker und Kulturen betrifft, versucht, den christlichen Glauben 56 Hermann Usener 1834–1905; klassischer Philologe und Religionswissenschaftler in Bonn.

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an eine göttliche Einwirkung auch außerhalb des Umkreises für die besondere Offenbarung anzuwenden. Worin das Offenbarungsmoment einer bestimmten Religionsform nach christlichem Glauben besteht, das ist oft schwer zu bestimmen; es wird unmöglich, wenn man eine intellektualistische Betrachtungsweise anwendet. Aber dass ein Maß von Offenbarung, d.h. von göttlicher Selbstmitteilung, vorliegt, wo auch immer wir religiöse Aufrichtigkeit finden, das ist ausdrücklich vom Offenbarungsglauben innerhalb und außerhalb des Christentums ausgesprochen worden. Ich habe im Vorhergehenden einen Versuch gemacht, die universelle Anwendung des Offenbarungsglaubens hinsichtlich der Zeit anzudeuten. So gewiss nach der christlichen Überzeugung die göttliche Selbstmitteilung in der heiligen Geschichte, insonderheit in Christi Persönlichkeit, für alle Zeiten gültig und unerschöpflich vorliegt, ebenso unmöglich ist es, den Glauben an die Offenbarung festzuhalten, ohne ihn über die Zeit der Bibel hinaus auszudehnen. Natürlich können hier nur Grundlinien gezogen werden. Versuche, eine genauere Karte der fortdauernden Offenbarung zu zeichnen, können kaum ohne die Gefahr der Profanierung oder des Subjektivismus gemacht werden. Aber es ist wünschenswert und notwendig, die Gewissheit einer fortgesetzten Offenbarung mit einem konkreten Inhalt auszufüllen und zu deuten. Die drei Momente, die hier untersucht worden sind: der Genius, die Geschichte und die geistige Persönlichkeit sind meiner Meinung nach die wichtigsten Faktoren für die ganze Religionsgeschichte, also nicht der Monotheismus, der ebenso oft lediglich theoretisches oder politisches Einheitsstreben darstellt, noch auch die allgemeine Entwicklung der Moral, die gewiss unter gegenseitiger Einwirkung von der Religion und auf die Religion steht, aber sich durchaus nicht gleichförmig zur Entwicklung der Religion verhält. Diese Punkte betreffen 1. die Verbindung der Religion auf verschiedenen Stufen und in verschiedenem Sinne mit einem Helden, einem Heiland oder einem Propheten, insbesondere mit einer auf Erden wirkenden göttlichen Persönlichkeit, sei es ein vergotteter Mensch oder eine vermenschlichte Schöpfung des Mythus oder Christus; weiter 2. die Stellung der Religion zur Geschichte, und 3. den Platz der ethischen Werte in der Sphäre der Erlösung und des Kultes. Wenn Gottes Leitung Herz und Leben des Menschen durchdrungen hat, sodass die göttliche Liebe und Gerechtigkeit für sie bestimmend werden, sprechen wir von einem Heiligen. Aber die Idee des Heiligen ist so wichtig und im evangelischen Christentum so stark vernachlässigt, dass sie eine besondere Behandlung verlangt. Hier wiederhole ich nur meine Definition: Ein Heiliger ist ein Zeuge von Gottes Kraft. Heilige sind solche Menschen, die mit ihrem Wesen und mit ihrem Leben predigen, dass Gott lebt.

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4. Fragen zum Text 1. Söderblom spricht vom „Dogmatismus nach der einen oder anderen Seite“, wenn er die Voraussetzungen des Religionsgeschichtlers diskutiert. Spielen Sie in einem Rollenspiel die möglichen Positionen durch: Religionswissenschaftler als Atheist, Agnostiker, Gläubiger einer konkreten Religion usw. 2. Nehmen Sie Stellung zu Söderbloms Aussage, dass für den Religionshistoriker die Frage der Offenbarung „offen“ bleiben kann. 3. Lesen Sie von Gustav Mensching: Typologie der Offenbarung in der Religionsgeschichte. In: Ders.: Topos und Typos, hg. von Hans-Joachim Klimkeit, Bonn 1971, S.197–206. 4. Diskutieren Sie anhand des Materials die Aussagen des in Australien lehrenden englischen Religionswissenschaftlers Eric J. Sharpe [1933–2000], dass die religionswissenschaftliche Rede von der Offenbarung Söderblom als Religionswissenschaftler „disqualifiziert“.

5. Würdigung

Als Religionsforscher hat sich Söderblom durch seine Studien zur altiranischen Religionsgeschichte, durch die posthum erschienenen, an der Universität Edinburgh gehaltenen Gifford-Vorlesungen zur allgemeinen Religionsgeschichte („Der lebendige Gott im Zeugnis der Religionsgeschichte“, schwed. 1932; deutsch 1942) und eine Reihe anderer Werke einen Namen gemacht. Die Entdeckung des Heiligen lag damals wohl in der Luft. Nicht nur Émile Durkheim (1858–1917), sondern auch Nathan Söderblom und Rudolf Otto (1869–1937) erkannten ihre Bedeutung für die Religionsforschung. Schon vor Rudolf Otto hatte Söderblom in der Heiligkeit das Wesen der Religion gesehen: „Heiligkeit ist das bestimmende Wort in der Religion; es ist sogar noch wesentlicher als der Begriff Gott. Die wahre Religion kann ohne bestimmte Auffassung von der Gottheit bestehen, aber es gibt keine echte Religion ohne Unterscheidung zwischen heilig und profan. Dass man dem Begriff der Gottheit ungebührliche Bedeutung beilegte, hat oft dazu geführt, aus dem Reich der Religion auszuschließen: 1. Erscheinungen im ursprünglichen Entwicklungsstadium, da sie magische Merkmale trugen, obwohl sie in ihrem Kern religiöse Prägung aufwiesen; 2. den Buddhismus und andere höhere Formen der Erlösung und Frömmigkeit, die den Glauben an Gott nicht einschließen. Der einzig sichere Nachweis ist hier die Heiligkeit.“57 57 Artikel „Holiness“. In: Encyclopaedia of Religion and Ethics, 1913, S. 731–741. Deutsch in: Das Heilige (Allgemeines und Ursprüngliches). In: Carsten Colpe (Hg.): Die Diskussion um

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Eric J. Sharpe schreibt in seiner reichlich unseriösen Kritik an Söderblom: „In den Augen vieler, wenn nicht der meisten zeitgenössischen Religionshistoriker disqualifiziert sich Söderblom als Religionswissenschaftler dadurch, dass er von Offenbarung spricht. Die Tatsache, dass er fast 40 Jahre lang ein lutherischer Geistlicher und 17 Jahre lang ein Erzbischof war, macht die Sache nur noch schlimmer“.58 Der Begriff Offenbarung im Sinne göttlicher Selbstmitteilung ist von dem katholischen Dogmatiker Peter Eicher als „Prinzip neuzeitlicher Theologie“ bestimmt worden. Offenbarung gehört zum theologischen Grundvokabular (Metasprache), auch zur Objektsprache der Religion/en. So sind, um zwei Beispiele zu nennen, im Islam die arabischen Begriffe Wahy („Eingebung“) oder Tanzîl („Herabkunft“) und im Hinduismus Shruti („das Gehörte“) Ausdrücke für Offenbarung im objektsprachlichen Sinne. „Die Bezeichnung Offenbarung für bestimmte religiöse Vorgänge weist schon dem Sprachsinn nach darauf hin, dass irgendetwas für den religiösen Menschen entscheidend Wichtiges, das vorher in irgendeiner Weise verborgen war, aus dieser Verborgenheit heraustritt und nun irgendwie erfassbar wird“.59 Offenbarung wurde in der älteren Religionswissenschaft sowohl als ein metasprachlicher als auch objektsprachlicher Begriff benutzt. Söderblom benutzte den Begriff in einem theologisch-metasprachlichen Sinne. Da Söderblom als Theologe und Kirchenmann deutlich zu erkennen gibt, wie er den Begriff verwendet, nämlich theologisch, ist dagegen nichts einzuwenden. Teilen muss man seine Position selbstverständlich nicht. Söderblom sieht den Unterschied zwischen allgemeiner Religionsforschung und christlicher Theologie im Offenbarungsglauben. Für die Theologie ist die Religionsgeschichte das Feld göttlicher Selbstmitteilung. Trotz bedeutender religionsgeschichtlicher Untersuchungen liegen Söderbloms Verdienste mehr im Bereich der Theologie als der Religionswissenschaft. Söderblom ließ zu einer Zeit, als die Dialektische Theologie vorherrschend wurde, das Band zwischen der allgemeinen Religionsgeschichte und dem Christentum, und damit auch das Gespräch zwischen Religionswissenschaft und Theologie, nicht abreißen, obwohl es die evangelische Theologie einseitig aufgekündigt hatte. Dass Religion/en theologisch ernst zu nehmen sind – darauf hat nicht zuletzt Nathan Söderblom aufmerksam gemacht („fortschreitende Offenbarung“). Bahnbrechendes leistete Söderblom für die Ökumene. Seine die vielerlei Kirchen einigende Aktivität wurde vor allem während der Zeit des 1. Weltkrieges geweckt. Es gelang ihm, die „Weltkonferenz für Praktisches Christentum“ im August 1925 in Stockholm einzuberufen. Sein lang gehegter Gedanke, einen „Rat der christlichen Kirchen“ zu bildas ,Heilige‘, Darmstadt 1977, S. 76–116, hier S. 76. 58 Michaels, a.a.O., S. 157–169, hier S. 167. 59 Mensching, Die Religion, S.97.

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den, wurde erst nach seinem Tod (1938) 1948 auf der Amsterdamer Weltkirchenkonferenz Wirklichkeit. Söderbloms Einsatz für den Frieden in der Welt führte dazu, dass er 1930 den Friedensnobelpreis erhielt. Oft hat Söderblom zu Fragen der Einstellung der Kirchen zum Frieden eindeutige Stellung bezogen. Der schwedische Erzbischof ist daher mit großem Recht als „ökumenischen Kirchenvater“ bezeichnet worden. Söderblom war auch Motor des Dialoges der Religionen. Seine in der lutherischen Kreuzestheologie wurzelnde Auffassung vom Christentum als der Offenbarungsreligion schlechthin, die in jeder Hinsicht alle anderen Religionen übertrifft, hinderte ihn nicht an der vorurteilslosen Anerkennung außerchristlicher Gottesoffenbarung. Gerade heute sollte Söderbloms Vorstellung einer weitergehenden Offenbarung als eine wichtige Position in der theologischen Bewertung des religiösen Pluralismus aktualisiert werden. Was alle Religionsformen zu einer einheitlichen Gruppe von Erscheinungen verbindet, ist nach Söderblom der Glaube an die göttliche Selbstmitteilung. Den einheitlichen Kern in den verschiedenen Religionen und auf den verschiedenen Stufen bilde hierbei die universelle besondere Gottesoffenbarung. So kann seiner Meinung nach auch die Religionsforschung die Zusammengehörigkeit von allem, was Religion heißt, nicht aufheben.

6. Weiterführende Arbeitsaufgaben 1. Informieren Sie sich über die in Kap. 2 genannten Referenten der Gifford Lectures. Aus welchen Fachbereichen stammen sie? Was ist Ihnen gemeinsam, was trennt sie? 2. Söderbloms Charakterisierung des primitiven Menschen als Individuum („verschiedenes Temperament und verschiedene Anlagen“ (1) steht im Gegensatz zur Auffassung von Gerardus van der Leeuw, Gustav Mensching u.a. Vgl. Sie Söderbloms Einsicht mit der des Anthropologen Paul Radin (Primitive Man as a Philosopher, 1927) bzw. Th.P. van Baaren: Menschen wie wir. Religion und Kult der schriftlosen Völker, 1964, S.14–33. 3. Halten Sie den Begriff Offenbarungsreligion für angemessen oder für problematisch? Ist er eindeutig? 4. Ist der Begriff „Erlösungsreligion“ ein weiter führender Terminus? Ist er eindeutig? 5. Söderblom spricht im Stil seiner Zeit von den „Heroen der Offenbarungsreligion“ (29). Nicht nur er sah in der Religionsgeschichte Heroen, Genies, außergewöhnliche Männer (sic!) am Werk. In religionswissenschaftlichen und theologischen Darstellungen wurden damals die großen Religionsstifter und biblischen Propheten als große Einsame, ja „granitne Titanen“ (Paul Volz) beschrieben. Machen Sie sich mit einigen ausgewählten Positionen des Genie-Gedankens in der europäi-

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schen Literatur, Philosophie, Politik, Theologie und Religionswissenschaft vertraut (z.B. Klopstock, Lessing, Hamann, Herder, Goethe Kant, Fichte, Schelling, Hölderlin, Schopenhauer, Nietzsche, Thomas Mann, Robert Musil) bis hin zum Führer als Genie (Ernst Jünger, Carl Schmitt). Welche Probleme ergeben sich durch die Konzeption einer Religionsgeschichte als Produkt von Genies? Welchen Anteil hat der normale Mensch an seiner Religion? Was ist mit dem gelebten Glauben? Wie steht es mit Frauen? Hilfreich: Jochen Schmidt: Die Geschichte des GenieGedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, 2 Bde., Darmstadt 1985. 6. „Die Trinität ist keineswegs etwas Unwesentliches, sie gehört notwendigerweise zur höheren Religion. Denn in deren Heilslehre gibt es immer drei Elemente: Wer oder was rettet den Menschen aus seinem Elend? […] Wer offenbarte die Erlösung? […] Was wird durch die Offenbarung […] bewirkt“ (136f.). Was sind für Söderblom höhere Religionen? Sammeln Sie positive und kritische Beispiele und versuchen Sie eine Antwort auf Söderblom. 7. „Fanatismus im Namen des Herrn“ (277) ist bei Söderblom positiv besetzt. Vergleichen Sie Victor Klemperers Ausführungen zu fanatisch in seiner LTI (Lingua Tertii Imperii), 1947, in dem der Romanist Klemperer die Sprache des Dritten Reiches analysiert.

7. Auswahlbibliographie Primärliteratur

Natürliche Theologie und allgemeine Religionsgeschichte, Stockholm 1913. Einführung in die Religionsgeschichte, 2. verm. Auflage, Leipzig 1928 (1920). Das Werden des Gottesglaubens, Hildesheim 1979 ( Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1926). Kompendium der Religionsgeschichte, zusammen mit Cornelis Pieter Tiele, Berlin 1931. Der lebendige Gott im Zeugnis der Religionsgeschichte: Nachgelassene Gifford-Vorlesungen, München und Basel 1966. Sekundärliteratur

Adams, Charles J.: Söderblom, Nathan. In: The Encyclopedia of Religion, vol. 13. New York, London 1987, S. 403f. Andrae, Tor: Nathan Söderblom. 2. erw. Aufl., Berlin 1957. Benz, Ernst: Nathan Söderblom zum 100jährigen Geburtstag am 15. Januar 1966. In: ZRGG 18 (1966), S. 97–107.

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Heiler, Friedrich: Vorwort des Herausgebers. In: Nathan Söderblom: Der lebendige Gott im Zeugnis der Religionsgeschichte. 2., durch eine biogr. Einleitung verm. Aufl., München; Basel 1966, S. V − IX. Kloeden, Wolfdietrich von: Söderblom, Nathan. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 10, Herzberg 1995, Sp. 729–741. Neu, Rainer: Das Mediale. Die Suche nach der Einheit der Religionen in der Religionswissenschaft, Stuttgart 2010, S. 189–196. Nystedt, Olle: Nathan Söderblom. Ein Lebensbild, Berlin 1932. Schwede, Alfred Otto: Nathan Söderblom. Ein Lebensbild, Berlin 1967. Sharpe, Eric J.: Nathan Söderblom and the study of religion, Chapel Hill 1990. Ders. (Ed.): Nathan Söderblom and his contribution to the study of religion. Essays in honour of the 50th anniversary of his death, Uppsala 1984. Siegmund-Schultze, D.F. (Hg.): Nathan Söderblom. Briefe und Botschaften an einen deutschen Mitarbeiter − Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag des schwedischen Erzbischofs, Marburg 1966.

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7. Rudolf Otto (1869–1937) 1. Biographie

„Der Glanz des Numinosen war um ihn“. Mit diesen Worten charakterisierte Gustav Mensching 1937 in einem Nachruf die Gestalt seines Lehrers, des evangelischen Systematischen Theologen Rudolf Otto. Der ehemalige Marburger Theologiestudent und spätere Frankfurter Religionswissenschaftler Heinz Röhr (1931–2005) wusste über die äußere Erscheinung Rudolf Ottos zu berichten: „Er ging nicht einfach, er schritt wie das gestaltgewordene Heilige durch die Gassen der Lahnstadt – eine ganz und gar priesterliche Gestalt.“ Rudolf Otto wurde am 25. September 1869 im niedersächsischen Peine als zwölftes von 13 Kindern geboren. Sein Vater, der früh verstorbene Wilhelm Otto, war Besitzer einer Malzfabrik. Von 1881 bis zur Reifeprüfung Ostern 1888 erhielt Rudolf Otto eine humanistische Ausbildung im Andreanum in Hildesheim. Erzogen wurde Rudolf Otto in einem streng lutherischen Geist. Er bekannte einmal, dass er als Heranwachsender keine Erzählung lesen und sich mit ihr befassen konnte, bevor er nicht genau geprüft hatte, dass diese weder katholischen, jüdischen oder „heidnischen“ Ursprungs war. „Als Kinder“, so schrieb er später, „fochten wir leidenschaftlich und erbittert über das Problem der Gottessohnschaft und über die Geschichte der Schöpfung, über den Darwinismus und den Ursprung der Arten.“ Im Sommersemester 1888 bis zum Wintersemester 1888/89 nahm er sein Theologiestudium an der als theologisch konservativ geltenden Universität Erlangen auf mit dem Berufsziel Pfarrer. Der nach Glaubenshalt suchende Rudolf Otto musste sich aber bald eingestehen, das sichere Glaubensfundament unter den Füßen verloren zu haben. Nach dem Militärdienst ging er auf Anraten von Freunden für ein Semester nach Göttingen, wo er vom Sommersemester 1889 bis zum Wintersemester 1891/92 evangelische Theologie studierte. Zusammen mit seinem Freund, dem Sinologen Heinrich Hackmann, besuchte Otto 1891 Griechenland. Seine erste theologische Prüfung legt er 1892 ab. Danach wurde er Vikar in der deutschen Gemeinde in Cannes unter der Leitung des

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sozial engagierten protestantischen Pfarrers Hermann Schmidt. Bis Ostern 1893 besucht er das zur Hannoverschen Landeskirche gehörende Predigerseminar auf der Erichsburg im niedersächsischen Dassel. Nachdem Otto die zweite theologische Prüfung bestanden hatte, wurde er 1895/7 Stiftsinspektor des Theologischen Stiftes in Göttingen. 1898 promovierte er mit einer Arbeit über Geist und Wort bei Luther. Otto hielt seine Probevorlesung über Kants Religionsbegriff und erhielt eine auf zwei Jahre befristete Lehrerlaubnis. 1906 wurde Rudolf Otto eine nicht-etatmäßige außerordentliche Professur für Religionsphilosophie verliehen, um „insbesondere die Religionsphilosophie in Vorlesungen und soweit in Übungen zu vertreten“. Ottos Hörergeldpauschale betrug 2400 Mark jährlich. Erst von 1915 an erhielt Rudolf Otto eine ordentliche Professur für Systematische Theologie in Breslau. Hier verfasste er sein berühmtestes Werk „Das Heilige (1917). Otto war ein politischer Mensch. Von Beginn an (1896)–1903 war er Mitglied in der von dem evangelischen Theologen und liberalen Politiker Friedrich Naumann (1860– 1919) gegründeten Nationalsozialen Verein, der liberale und sozialreformerische Gedanken mit einem großen Interesse an einer starken deutschen Außenpolitik verband. Otto war weder ein Anhänger der linken Sozialdemokratie, noch ein Vertreter einer absoluten Monarchie. 1907 trat er als Kandidat für die Nationalliberalen bei der Wahl für das Preußische Abgeordnetenhaus auf. Die Nationalliberale Partei trat für nationale Einigung ein, für einen parlamentarischen Rechtsstaat, vertrat vor allem die Interessen des protestantischen Bildungsbürgertums sowie des industriellen Großbürgertums. Von 1913 bis zum Ende des Krieges war Otto nationalliberaler Abgeordneter für Göttingen. 1918/19 war er nicht Mitglied der Nachfolgepartei, Deutsche Volkspartei (DVP), sondern Mitglied der DDP, der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei. Seit etwa 1903 engagierte sich Otto bei den Freunden der Christliche(n) Welt, der wichtigsten Zeitschrift des Kulturprotestantismus, maßgeblich geprägt von Martin Rade (1857–1940). Nach einer depressiven Phase (1904–1907), die Otto fast das Theologiestudium aufgeben ließ, engagierte er sich im Akademische(n) Freibund. Diese sich seit 1907 von Berlin aus ausbreitende Bewegung war eine linksliberale Abspaltung der Freistudentschaft. Diese wollten alle nichtkorporierten Studenten vereinigen, um ihr Anliegen gegenüber Hochschule und Öffentlichkeit zu vertreten. In diesem politischen Verein engagierten sich Rudolf Otto, der Neutestamentler Wilhelm Bousset (1865–1920) und der freigeistige, links stehende Philosoph Leonard Nelson (1882–1927). Im weiteren Sinne politisch wirkte Otto nicht zuletzt auch dadurch, dass er wissenschaftliche Erkenntnisse einer breiten, interessierten Bevölkerung zugänglich machen wollte. Was der damalige Kurator der Universität Göttingen 1905 an das damalige Kultusministerium kritisch bemerkt hat, sehen viele von uns heute in einem anderen Licht: Prof. Heitmüller „hat sich bis jetzt ausschließlich der streng wissenschaftlichen Arbeit gewidmet, im Gegensatz zu Professor Bousset und Privatdocent Lic.theol. Rudolf Otto, welche sich bekanntlich an-

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gelegen sein ließen, die Ergebnisse der kritischen Theologie in populären Darstellungen weiteren Kreisen zu übermitteln“.60 In einem kulturpolitischen, kultur-kolonialistischen Sinne wirkte Rudolf Otto dadurch, dass er sich im Anschluss an seine erste Weltreise (1911/12) stark für die deutsche Kulturpolitik im Ausland interessierte. Dahinter verbarg sich durchaus eine weltmachorientierte Einstellung. Otto lag daran, die deutsche Kolonialpolitik durch geistige Mittel zu fördern, damit Deutschland mit den Engländern und Franzosen schritt halten konnte. Es war wohl erst die Weltreise von 1911/12, die aus dem liberalen systematischen Theologen, dem an der religiös-weltanschaulichen Auseinandersetzung mit Materialismus und biologischem Evolutionismus gelegen war, einen Religionswissenschaftler formte. 25 Jahre seines Lebens (1912–1937) bestand Ottos Aktivität darin, „importing religious materials from elsewhere, especially from south Asia – mostly texts but also material artefacts“.61 Zu denken ist einerseits an die als Gegenstück zu den Sacred Books of the East konzipierte Reihe ‚Quellen der Religionsgeschichte‘, für die er als preußischer Landtagsabgeordneter Gelder beschaffte. Ottos ausgedehnte Forschungsreisen demonstrieren sein lebhaftes Interesse an den Äußerungen ‚gelebter‘ Religion. Die erste größere Reise führt den fertigen Theologen nach Ägypten und Jerusalem, nach Galiläa und Nazareth, schließlich zum Berg Athos. In Kairo hinterließen die koptische Liturgie und die Meditationen islamischer Mystiker auf ihn einen nachhaltigen Einfluss. Von der Stiftung für Auslandsreisen von deutschen Gelehrten und Lehrern erhielt Otto 1911 ein Stipendium in Höhe von 10000 Mark nebst Urlaub für eine Reise. Diese führte ihn zu den kanarischen Inseln, nach Marokko, Südspanien, Algier, Italien. Von den verschiedenen Stationen schreibt er Briefe, die zum Teil erst später in der Christliche(n) Welt publiziert wurden. Otto stieß auf seinen Reisen auch in den asiatischen Kultur- und Religionsraum vor. 10 Monate war er unterwegs, gelangte nach Indien, Birma, später Japan und China. In Karachi diskutierte er mit einem jungen Hindu über Kants Philosophie. Über Lahore und Kalkutta gelangte er nach Orissa, wo ihn ein Maharaja empfing. In Rangun beeindruckte ihn die Reinheit und Kraft des Buddhismus. In Japan besuchte er verschiedene Universitäten, Tempel und Klöster, hielt Vorlesungen und Ansprachen. Höhepunkt seines Japanaufenthaltes war die Begegnung mit zwei buddhistischen Zen-Meistern, die ihn in diese spezifische Form des Buddhismus einführten. Von Japan ging Otto zwei Monate nach China, wo er ein daoistisches Kloster besuchte und sich auch in Peking aufhielt. Mit der transsibirischen Eisenbahn kehrte er über Moskau nach Berlin zurück. Im Gepäck: wertvolle Bilder

60 Zitiert bei Gregory D. Alles: Rudolf Otto. In: Axel Michaels: Klassiker der Religionswissenschaft, a.a.O., S.386, Anm. 15. 61 Ders.: The Rebirth of Cultural Colonialism as Religionswissenschaft: Rudolf Ottos Import House. In: Temenos 43, no.1 (2007), S.139–161, hier S. 139.

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und Kultobjekte aus verschiedenen Religionstraditionen. Sie bilden den Kernbestand der Religionsgeschichtlichen Sammlung an der Universität Marburg. 1923 reiste Otto in die USA, um im Oberlin College die Haskell Lectures zu halten. Unter dem Titel West-Östliche Mystik wurden sie 1926 veröffentlicht. In dieser beeindruckenden Schrift wird der größte christliche Mystiker des Mittelalters, Meister Eckhart, mit dem größten Hinduphilosophen, Shankara, verglichen. Vom Oktober 1927 bis zum Mai des darauf folgenden Jahres reiste Otto nach Sri Lanka, wo er buddhistische Tempel studierte. Er traf mit Vertretern des Reformbuddhismus zusammen, diskutierte mit Anhängern der hinduistischen Advaita-Lehre, der Philosophie der Nicht-Zweiheit. Sein Aufenthalt beim Maharaja von Mysore gab Otto Gelegenheit, die glühend-emotionale Bhakti-Frömmigkeit kennen zu lernen und sich in sie einzufühlen. In Bombay bot sich ihm die Chance, mit intellektuellen Parsen, den Anhängern der altehrwürdigen Religion des iranischen „Priester-Propheten“ (K. Rudolph) Zarathustra, zusammenzukommen. Er sah die berühmt-berüchtigten Türme des Schweigens, auf denen die Zoroastrier ihre Toten aussetzen. Am 4. Januar 1928 schrieb Otto aus dem damaligen Bombay (Mumbai): „Wir sind fast eine Woche hier in Bombay gewesen und haben hauptsächlich mit gelehrten Parsen verkehrt. Ein Schüler und treuer Verehrer von Geldner62 hat sich unser angenommen, uns geholfen, Götterbilder einzukaufen. Morgen will er uns noch zu den Gärten und Bestattungsplätzen der Parsen hinausführen, von wo man den schönsten Blick über Stadt und Bucht hat. Morgen Abend wollen wir weiterfahren nach Mount Abu, dem Hauptheiligtum der Jainas“. Seine Rückreise unterbrach er, um in Jerusalem an der 2. Weltmissionskonferenz teilzunehmen. 1917 wurde Otto als Nachfolger von Wilhelm Herrmann (1846–1922) nach Marburg berufen. Herrmann war der wohl prominenteste und eigenständigste Schüler Albrecht Ritschls. Hermanns ethische Begründung der Theologie unter Bezug auf Kant und im Gespräch mit dem Marburger Neukantianismus (Hermann Cohen, Paul Natorp) wollte die Selbständigkeit der Religion ebenso deutlich machen wie die Unerlässlichkeit des Glaubens an Jesus. Rudolf Bultmann und Karl Barth verdankten ihm entscheidende Anregungen. Otto wirkte überaus erfolgreich in Marburg und zog Scharen von Studierenden an. Mit einem Schlage wurde sein Name weltberühmt. 1921 gründete Rudolf Otto den Religiösen Menschheitsbund, dessen Ziel darin bestand, ein „Menschheits-Gewissen“ zu schaffen. Über einen Zusammenschluss der christlichen Kirchen hinaus schwebte Otto ein „Weltbund“ vor Augen; denn wie Otto vor 80 Jahren realistisch erkannte, gehört der größte Teil der Menschheit nicht den 62 Karl Friedrich Geldner (1852–1929) war Professor für Indologie in Berlin und ab 1907 in Marburg. Er widmete sich Avesta-Studien und gab eine kritische Textausgabe der alten iranischen Quellen heraus.

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christlichen Religionstraditionen an. Otto ging es nicht darum, die vielen Religionen zu einer Einheitsreligion zu verschmelzen. Im Gegenteil: Er wollte die Religionen der Welt aufrütteln, damit diese ein religiöses Gewissen der Welt entwickeln. Auch wenn dem Religiösen Menschheitsbund, bedingt durch die Kriegs- und Nachkriegsjahre kein langes Leben beschert war, so hat Otto einiges vor-gedacht und vor-exerziert, was uns heute angesichts der vielen (über-)lebenswichtigen Probleme auf den Nägeln brennt. Chronische Krankheit einerseits und nationalsozialistischer Druck anderseits haben Ottos Werk nach hoffnungsvollen Anfängen gelähmt. 1956 konstituierte sich der Bund neu. 1929 wurde der viele Jahre kränkelnde Otto emeritiert. Er starb am 6. März 1937 in Marburg.

2. Inhaltsangabe des Buches Zwei Motive für die Entstehung von Rudolf Ottos Hauptwerk „Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen“ (1917) – im Folgenden DH – lassen sich erkennen. Im Vorwort zur vierten Auflage seiner „Aufsätze das Numinose betreffend“ (1929) blickt Otto 12 Jahre zurück: „Meine Untersuchung über DAS HEILIGE entsprang mir einst aus dem Bedürfnisse, mir selber und meinen Schülern die Frage zu beantworten, was Sünde, Schuld und Urschuld sei, und was im Zusammenhange damit Sühne und Entsühnung im Christentums bedeute.“ In DH bringt Otto gegen die evangelischen Theologen Schleiermacher und Albrecht Ritschl die Lehre vom Zorn Gottes wieder zu Geltung. „Es ist ganz zweifellos, dass auch das Christentum vom Zorne Gottes zu lehren habe“ (21). An zweiter Stelle ist auf ein Erlebnis Ottos hinzuweisen, das die Idee des Heiligen förderte: der persönliche Eindruck jüdischer Frömmigkeit in einer kleinen Synagoge in Marokko. „Durch labyrinthische Gänge des Ghetto, über zwei enge finstere Treppen hat Chajjim el Malek mich hierher geführt. Eine Synagoge nach der alten Art vom Westen noch unberührt. Vierzig solcher sind etwa hier, die meisten von ihnen Stiftungen Privater und in Privathäusern, wie Hauskapellen gehalten, durch Rabbinen und Vertreter alten Schlages bedient, Gebetsstätte und Talmudschule zugleich. Es ist Sabbat, und schon im dunkeln, unbegreiflich schmutzigen Hausflur hören wir das Bemschen der Gebete und Schriftverlesungen, jenes halbsingende halbsprechende nasale Cantillieren, das die Synagoge an die Kirche wie an die Moschee vererbt hat. Der Klang ist wohllautend und bald unterscheidet man bestimmte regelmäßige Modulationen und Tonfälle, die wie Leitmotive sich abwechseln und folgen. Die Worte zu trennen und zu fassen bemüht sich das Ohr zunächst vergeblich und will die Mühe schon aufgeben, da plötzlich löst sich die Stim-

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menverwirrung und – ein feierlicher Schreck fährt durch die Glieder – einheitlich, klar und unmissverständlich hebt es an: Kadosch Kadosch Kadosch Elohim Adonai Zebaoth Maleu haschamajim wahaarez kebodo! Ich habe das Sanctus, Sanctus, Sanctus von den Kardinälen in Sankt Peter, und das Swiat, Swiat, Swiat in der Kathedrale des Kreml und das Hagios, Hagios, Hagios vom Patriarchen in Jerusalem gehört. In welcher Sprache immer sie erklingen, diese erhabensten Worte, die je von Menschenlippen gekommen sind, immer greifen sie in die tiefsten Gründe der Seele, aufregend und rührend mit mächtigem Schauer des Geheimnis des Überweltlichen, das dort unten schläft“. Dieses Erlebnis der hebräischen Liturgie am 14. Mai 1911 in der Synagoge von Mogador (heute Essaouria) in Marokko beeindruckte Otto tief. Es war für ihn eine Offenbarung des Heiligen und Numinosen.

Meiner Darstellung zugrunde liegt die Sonderausgabe von 1963 (31.–35.Auflage). DH ist eine verhältnismäßig kurze Abhandlung von gerade einmal 229 Seiten, aufgeteilt in 23 Kapitel nebst Beilagen (1. Numinose Dichtungen, 2. Kleinere Zusätze, 3. Liste übertragener Fremdworte, 4. Übertragung altsprachlicher Zitate). Ottos Orthographie und Zeichensetzung sind bewusst eigentümlich. Dass Ottos Abhandlung ein theologisches Werk ist, fiel mir bei meiner Erstbegegnung mit dem Werk nicht auf. So anders als die üblichen Theologenformulierungen war Ottos Sprache. Eine Analyse für Studierende hat Harold W. Turner vorgelegt: Rudolf Otto: The Idea of the Holy. Commentary on a Shortened Version. A Guide for Students, o.J. [ca.1975]). Zu Beginn des dritten Kapitels („Das Kreaturgefühl“) schreibt Otto einen Satz, der von heutigen Studierenden belächelt wird und über den man sich echauffieren kann: „Wir fordern auf, sich auf einen Moment starker und möglichst einseitiger religiöser Erregtheit zu besinnen. Wer das nicht kann oder wer solche Momente überhaupt nicht hat, ist gebeten nicht weiter zu lesen. Denn wer sich zwar auf seine Pubertäts-gefühle Verdauungs-stockungen oder auch Sozial-gefühle besinnen kann, auf eigentümlich religiöse Gefühle aber nicht, mit dem ist es schwierig Religionskunde zu treiben. Er ist entschuldigt, wenn er für sich versucht mit den Erklärungs-prinzipien die er kennt soweit zu kommen wie er kann, und sich etwa Ästhetik als sinnliche Lust und Religion als eine Funktion geselliger Triebe oder noch primitiver zu deuten“ (8). Das erinnert an die Verfluchungsformel des römisch-katholischen Anathema sit (Er sei verflucht), wenn es um die kirchliche Reaktion auf Häresien und den Ausschluss aus der Kirche geht. Das Motto aus Goethes Faust (Faust 2, I, Finstere Galerie) stimmt den Leser auf die Lektüre ein: „Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil. Wie auch die Welt ihm das Gefühl verteuere,/ Ergriffen fühlt er tief das Ungeheuere“.

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In seinem ersten Kapitel „Rational und Irrational“ (1–4) steigt Otto mit der Betrachtung der theistischen Gottesidee, „ausnehmend und überragend aber für die christliche“, ein. Für jede Gottesidee ist charakteristisch, dass ihr Wesen erfasst wird „mit Prädikaten wie Geist Vernunft Wille guter Wille Allmacht Wesenseinheit Bewusstheit und ähnlichen“ (1). Damit wird die Gottesidee in Entsprechung zu dem „Persönlich-Vernünftigen“ des Menschen gedacht, nur ist sie im Unterschied zu dessen „beschränkter und gehemmter Form“ (1) absolut und vollendet. Ein solcher Gegenstand ist rational, das Wesen der Gottheit ebenso und die darauf aufbauende Religion eine rationale. Solche Prädikate jedoch erschöpfen das Wesen der Gottheit in keiner Weise, sondern sie gelten „nur von und an einem Irrationalen“ (2). Otto bedient sich der Unterscheidung Kants von analytischem und synthetischem Urteil, wobei er die Prädikate der Gottheit als zwar wesentliche, aber als „synthetische wesentliche Prädikate“ (2) definiert. Synthetische Urteile sind nach Kant solche, in denen die Verknüpfung von Subjekt und Prädikat ohne Identität gedacht wird, sozusagen als Erweiterungsurteile (gegenüber den analytischen Erläuterungsurteilen). Sie werden also einem Gegenstand als Träger zugeschrieben, „der selber in ihnen noch nicht mit erkannt ist, auch nicht in ihnen erkannt werden kann, sondern der auf eine eigene andere Weise erkannt werden muss“ (2). Otto argumentiert gegen die Identifikation des Zentralobjektes der Religion mit der Vernunft und dem höchsten Gut (Summum bonum). Religion geht nicht in ihren rationalen Aussagen auf (4). Im Zentrum steht für Otto das in Kapitel zwei thematisierte Numinose. „Da unser Sprachgefühl heute zweifellos immer das Sittliche unter Heilig einbezieht so wird es dienlich sein bei Aufsuchung jenes eigentümlichen Sonder-Bestandteiles, wenigstens für den vorübergehenden Gebrauch unserer Untersuchung selbst, einen besonderen Namen dafür zu erfinden der dann bezeichnen soll das Heilige minus seines sittlichen Momentes und, wie wir nun gleich hinzufügen, minus seines rationalen Momentes überhaupt.“ (6) Otto bestimmt das Heilige als ein Apriori (Erkenntnis, die keine Sinneserfahrung voraussetzt, insofern früher, vorher ist als der Sinneskontakt mit der Wirklichkeit) das aller religiösen Erfahrung zugrunde liegt. Er geht vom so genannten Kreaturgefühl aus, „das Gefühl der Kreatur die in ihrem eigenen Nichts versinkt und vergeht gegenüber dem was über aller Kreatur ist“ (10). Für das Objekt der Religion/en schuf Otto eine Begrifflichkeit, die ihre Anziehungskraft weit hinaus über die Religionswissenschaft entfaltete. Erinnern wir uns an das Motto von DH, so nimmt es nicht wunder, dass als erstes Element das Mysterium tremendum behandelt wird. Ottos Grundthese: Religion fängt mit sich selber an. Sie ist eine eigenständige Größe, nicht von anderen psychischen oder sozialen Gegebenheiten ableitbar. Bereits auf der primitivsten Anfangsstufe tritt das numinose Gefühl auf. Solche Transzendenzerfahrungen nennt Otto numinos. Das Heilige lässt sich als solches nicht beschreiben. Nur auf dem

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Umweg über die menschlichen Erfahrungen dieses Heiligen, können Einsichten in sein Wesen gewonnen werden. Otto unterscheidet, systematisch nicht unbedingt überzeugend, sechs „Momente des Numinosen“. Das bereits erwähnte Kreaturgefühl war das Moment I. Menschen aller Zeiten, Räume und Religionen erleben dieses Heilige oder Numinose als „Mysterium tremendum“, das heißt als „schauervolles Geheimnis“ (Moment II). Erfahrungen des Tremendum äußern sich im Moment des Übermächtigen (majestas), des Energischen, schließlich als das ganz Andere. Otto führt noch weitere lateinische Begriffe ein. So ist das Ganz Andere „minus des Momentes des tremendum […] das Mirum oder das Mirabile“ (31), also das Wunderbare, Erstaunliche, Außergewöhnliche, „Unerfassliche und Unfassliche“ (36). Als Moment III erscheint merkwürdiger Weise kein neuer, weiter führender systematischer Abschnitt, sondern Otto präsentiert „Numinose Hymnen“ mit wenigen Textbeispielen. Darüber hinaus wird das Heilige als „Mysterium fascinans“ (Moment IV) erfahren: bestrickend, faszinierend, hinreißend, entzückend. Die Gnadenvorstellungen in Christentum, Buddhismus und Hinduismus sind Beispiele für diese Erfahrung: „Das Aufbrechen der Heil bringenden Bodhi, das Aufschlagen des himmlischen Auges, das die Dunkelheit des Nichtwissens besiegende inkommensurable [nicht messbar, U.T.] Erlebnis aufleuchtende Jnāna oder Jśvaras prasāda sind solche Entsprachen“ (51). Moment V behandelt numinose Erfahrungen im Umfeld von „Ungeheuer“, „eigentlich und zuerst das wobei uns nicht geheuer ist, das Unheimliche“ (54). Schließlich erleben Menschen das Heilige und Numinose als das „Augustum“: das Erhabene, vor dem alle menschliche Kreatur „in den Staub versinkt“ (Moment VI). Es ist das Gefühl „schlechthinniger Profanität“. Das tremendum und fascinans sind Gefühlsreaktionen auf das Heilige und Numinose. Sie machen mit ihrem irrationalen Inhalt nur eine Seite des Heiligen aus. Die andere Seite ist das Rationale, so dass das Heilige eine aus zwei Hälften zusammen gesetzte Kategorie ist – und zwar „eine Kategorie rein a priori“ (137), nicht erst aus der Erfahrung gewonnen. Nach Otto haben sich die irrationalen und rationalen Elemente zusammen entwickelt – und so schematisieren dies jene. Das tremendum wird durch Ideen ethischen Charakters schematisiert. Darunter versteht Otto unter Rückgriff auf Kant „einen Begriff durch Analogie mit etwas Sinnlichem fassbar zu machen“. Das fascinans wird durch Begriffe wie Liebe, Erbarmen, Güte schematisiert. Das Heilige an sich kann für Otto reflexiv nicht begriffen, sondern nur durch Intuition erlebt werden. (Kapitel 8: „Entsprechungen“). In Kapitel 10 blickt Otto auf das vorher Gesagte zurück und versucht, noch einmal zu bestimmen, was unter dem damaligen Modewort irrational zu verstehen ist. „Wir meinen mit Irrational nicht das Dumpfe Dumme, das noch nicht der Ratio unterworfene, das im eigenen Triebleben oder im Getriebe des Weltlaufes gegen die Rationalisierung Störrische. […] Wir meinen mit rational in der Idee des Göttlichen dasjenige was von ihr eingeht in die klare Fassbarkeit unseres begreifendes Vermögens, in den Bereich vertrauter und

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definibler Begriffe. Wir behaupten sodann, dass um diesen Bereich begrifflicher Klarheit her eine geheimnisvoll-dunkle Sfäre liege, die nicht unserem Gefühl wohl aber unserem begrifflichen Denken sich entziehe und die wir insofern das Irrationale nennen“ (75f.) Die weiteren Abschnitte von DM befassen sich mit Ausdrucksmittel des Numinosen, wobei Otto zwischen direkten und indirekten unterscheidet sowie den Ausdrucksmitteln im Bereich der Kunst nachgeht (Kapitel11). Die Abschnitte 12–14 setzen sich mit dem Heiligen im Alten und Neuen Testament sowie bei Luther auseinander. Hatte Otto noch im 2. Kapitel das Numinose definiert als „das Heilige minus seines sittlichen Momentes und […] minus seines rationalen Momentes überhaupt“ (6), so spricht er in Kapitel 16 davon, dass das Heilige seinen vollen Klang erst durch die Texte des Neuen Testaments erhalten hat. Nach heutigem religiösen Sprachempfinden „ist das Heilige ja nie mehr das bloß Numinose überhaupt [wie auf älteren Stufen der Religionsentwicklung], auch nicht auf dessen höchster Stufe, sondern immer das vollkommen mit rationalen zwecksetzenden persönlichen und sittlichen Momenten Durchdrungene und Gesättigte“ (134). Eine wichtige Gelenkfunktion erfüllen die Kapitel 16 und 17. Hier entwickelt Otto seine Theorie einer „verborgene[n] Anlage des menschlichen Geistes“ (140) für Religion. Sie wird „durch Reize geweckt, wach“ (ebd.), gilt als Religionstrieb: „Die Anlage, die der menschliche Geist beim Eintritt der Gattung Mensch in die Geschichte mitbrachte, ward als Veranlagung auch ihr teils durch Reize von außen teils durch eigenen Druck von innen her zum Triebe nämlich zum religiösen Triebe…“ (141). Hinsichtlich ihres geschichtlichen Auftretens (Kapitel 18) unterscheidet Otto Vorstufen von Religion: „Sie gehen ihr wie ein Vorhof voran…“ (142). Zauber, Totendienste, Seelen-Vorstellungen Machtvorstellungen, Märchen, Dämonenglaube sowie die Unterscheidung von rein/unrein gelten ihm als Merkmale sog. „Vorreligion“ (150): „Sie sind selber erst möglich und erklärlich aus einem religiösen Grundelemente, nämlich aus ersten Regungen des Gefühles des Numinosen“ (150f.). Vom Heiligen als Kategorie a priori unterscheidet Otto das Heilige in der Erscheinung durch Zeichen. „Als Zeichen hat von der Zeit der primitiven Religion an immer alles das gegolten, was imstande war das Gefühl des Heiligen im Menschen zu reizen, es zu erregen und zum Ausbruch zu bringen“ (172). Unter Anamnesis versteht Otto das Wiedererkennen des Heiligen in seinen Erscheinungen. Der Mensch besitzt dazu „das Vermögen der Divination“ (173). Den speziellen Erscheinungsformen der Divination geht Otto in seinen Kapiteln 20–22 nach, indem er über grundsätzliche Wesensbestimmungen hinaus die Divination im Urchristentume (Kapitel 21) und im „heutigen Christentume“ (Kapitel 22) darstellt. Otto beendet DH mit einem konfessorischen Statement. Die normalen Menschen, die eine „Anlage […] als Erregbarkeit für Religion“ (204) mitbringen, also ein „Vermögen der Empfänglichkeit“ (204),

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werden übertroffen vom „Profet, das heißt der der den Geist als das Vermögen der Stimme von innen und als das der Divination und, durch beide, als religiöse Produktionskraft besitzt“ (205). Jenseits dieser beiden Stufen und nicht aus ihnen ableitbar ist derjenige, „der einerseits den Geist in der Fülle hat und der anderseits zugleich selber in Person und Leistung zum Objekte der Divination des erscheinenden Heiligen wird. Ein solcher ist mehr denn Profet. – Er ist der Sohn“ (205).

3. Ausgewählter Quellentext

Ein Bund der guten Willen in der Welt. 1. Zweck und Sinn des Religiösen Menschheitsbundes sind, ganz knapp gesagt, ein Menschheits-Gewissen zu schaffen, diesem Gewissen Geltung zu verschaffen und die Gewissenhaften in aller Welt zu vereinen, um dem Verhältnisse der Völker, Schichten und Klassen zueinander das Gesetz der Gerechtigkeit und das Gefühl wechselseitiger Verantwortlichkeit aufzuzwingen und neue große sittliche Kollektivaufgaben der Kulturmenschheit durch verbundenes Wirken zu lösen. 2. Wir halten keinen für hinreichend gewissenhaft, der sich nur für die Forderungen der Privatmoral interessiert, aber der Durchsetzung der moralischen Forderung im öffentlichen Leben, in sozialen Verhältnissen, im Wechselverkehr der Völker und der Gesellschaftsschichten glaubt sich entziehen zu dürfen. 3. Wir hegen entschlossen die „Utopie“, dass durch Weckung und Verbindung der Gewissen es möglich ist, das allgemeine Geschehen und den Weltlauf selber weithin dem dunklen Walten blinder „sozialer Gesetze“ und den dämonischen Mächten der Gruppen Egoismen zu entziehen, ihn zu rationalisieren, ihn der Idee des gemeinsamen Interesses und der Gerechtigkeit zu unterwerfen. Wir sind des Glaubens, dass das in dem Masse gelingen wird, als es gelingt, ein Weltgewissen zu erzeugen, und dieses in dem Masse, als Gewissenhafte in aller Welt zu dieser Aufgabe sich verbinden. 4. Wir heißen jeden „guten Willen“, woher er komme, willkommen. Aber wir glauben, dass die starken Wurzeln rechten Wollens im Religiösen liegen, suchen deswegen vornehmlich die Leute von religiösem Enthusiasmus und die Inwendig Brennenden, wie sie nur Religion (bewusste oder unbewusste) erzeugt. Zur Erreichung unserer Aufgabe bedarf es in der Tat eines „Weltbundes“ und damit mehr als einer Zusammenarbeit „der christlichen Kirchen“ oder der unseren westlichen Religionen angehörigen oder entstammenden sittlich Wollenden. Denn der größere Bruchteil der Kulturmenschheit gehört diesem Kreise nicht an. Aber Religion haben die Moslem, die Hindu, die Buddhisten, die Taoisten und wie sie alle heißen

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mögen, auch. Liegt in dieser Tatsache, oder liegt in dem gemeinsamen Wesen der Religion Möglichkeit und Antrieb zu gemeinsamem sittlichen Handeln? Manche sagen n e i n: gerade in der Tatsache der „Religionen“ liege die Unmöglichkeit gemeinsamen Wirkens. Nichts zerreiße die Menschheit so sehr, als die Zugehörigkeit zu „Religionen“, nichts widerstreite einander mehr, als Religionen unter sich. Zum Wesen der Religionen gehöre notwendig ihre Ausschließlichkeit und ihr Wettbewerb, ihr Anspruch auf Absolutheit und Endgültigkeit. Zwar jede Religion habe ein Ethos, aber selbst, soweit es äußerlich dem anderer gleicht, so sei es inwendig so anders motiviert, dass eine innere Gemeinsamkeit nicht besteht. Schon unter Konfessionen sei das nicht der Fall. Viel weniger unter Religionen. Besonders in missionarischen Kreisen werden diese Einwürfe laut. – Manche wieder sagen ja: was ihr Religion nennt, ist im Grunde überall ein und dasselbe. Versteht euch nur recht; im Wesen seid ihr einig. So viele Religionen, so viele Masken, hinter denen sich doch dasselbe Gesicht verbirgt. Demaskiert euch. Lasst uns das nur scheinbar Getrennte verbinden, die Trennungen aufheben und eins sein in Glauben und Handeln. Sie sind Kosmopoliten in der Religion und nicht selten dann auch Kosmopoliten im Völkischen. Sie glauben, darauf hinweisen zu können, dass sich jetzt schon die „Religionen“ gegeneinander ausgleichen und dass die Zeit nicht mehr fern sei, wo sie alle in einem Generalnenner sich auflösen werden. Sie haben kolossal Unrecht. Und die Tatsachen widersprechen ihnen. Im Gegenteile: in gewaltigen inneren Reformen und Neugestaltungen äußert sich doch zugleich allenthalben aufs neue der Drang, die eigenen Grundlagen neu zu festigen, das eigene Wesen in bestimmter Sonderheit festzulegen, sich aufs neue auf sich selbst zu besinnen. Und nicht der allgemeine Ausgleich, sondern ein so noch gar nicht da gewesenes Ringen der Religionen miteinander als großer erneuerter Geistesmächte wird sich erheben und wird die Leute des Generalnenners schon in einem Jahrzehnt verwunderte Augen machen lassen. Aber damit haben die Neinsager doch nicht recht mit ihrer Ablehnung einer Zusammenarbeit auch zwischen verschiedenen Religionen. So tiefgehend der Unterschied ist, so unzweifelhaft ist dass eine jede der großen Religionen, auch die östlichen, und gerade in dem Masse, wie sie sich jetzt innerlich reformieren und neu gestalten, stärkste Mächte sind zur Gewissensbildung, dass sie alle starke Antriebe setzen Unrecht und Gewalt und Lüge und Eigennutz und Sinnlichkeit und dumpfe Naturgebundenheit zu bekämpfen, und dass es in der Welt bis heute keine Mächte, keine Organisationen gibt, die in dieser Hinsicht so stark wirken wie sie. Wohl ist die buddhistische Maitri (Mitleid) etwas anderes als der tiefe Inbegriff der christlichen „Adelphotes“, der aus christlichem Gottes- und Gnaden-Erlebnis aufquellenden Bruderliebe. Wohl ist der Dharma der indischen Religion bedeutend anders als die „lex Christi“. Und doch ist es gerade christliche Urüberzeugung, dass, wie der Apostel sagt, „das Gesetz geschrieben sei auch in der Heiden Herzen“. Keiner, der dem Gesetze und Sinne einer der großen Religionen mit

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Ernst anhängt, kann das ohne einzutreten in den Kampf gegen große gemeinschaftliche Laster und Gebrechen, er mag es begründen, wie er wolle. Kein ernsthafter Jünger Buddhas kann die leibliche und geistige Verwahrlosung, die Knechtung und Ausbeutung der unteren durch die oberen Schichten, die Egoismen der Schichten und der Völker gegeneinander, die Rohheiten und Gewaltsamkeiten der Einzelnen und der Gruppen gegeneinander tragen, wenn er seinem Lehrer treu sein will. Unsitte und Unzucht, Ungerechtigkeit und Vertragsbruch, Übervorteilung und Gewinnsucht, Ungeistlichkeit und Weltgebundenheit bekämpft eine jede dieser Religionen. Und in dem Masse, als die Einsicht wächst, dass solche und andere Sünden, und dass anderseits ihre positiven Gegenteile fest verwurzelt sind in den Zuständen des allgemeinen öffentlichen Lebens, im Gesamt-Ethos der Gruppen, Schichten, Völker, muss jede religiöse Moral, die zunächst wesentlich Einzel- und Privatmoral ist, weitertreiben zu den Idealen der Versittlichung und Formung des Gesellschafts-, Völker- und Menschheitslebens überhaupt. Hier aber liegen Missstände, die schlechterdings nicht sein sollen, ganz abgesehen, wie man ihr Nicht-sein-Sollen im Einzelnen begründe, liegen Aufgaben, die schlechterdings verwirklicht werden wollen, ganz einerlei, wie man sie in seine „Güter- und Pflichtenlehre“ einordne. Und zugleich liegen hier Aufgaben, die weder der Einzelne in seinem privaten Kreise, noch die einzelne Gruppe, noch eine einzelne religiöse Gemeinschaft, noch ein einzelnes Volk für sich zu lösen vermag, die nur im allgemeinen Zusammenwirken lösbar werden. Und so muss und wird ein Zusammenschluss guter Willen erstehen, aus mannigfachsten Motivierungen heraus, aber auf gewisse große übereinstimmende Güter und Ziele gerichtet und zu ihrer Verwirklichung tätig. In den Zielsetzungen und Bestrebungen gemeinsamer weltweiter sozialer Reformen wirken längst Christen, Hindus, Buddhisten, Moslem miteinander. Die Ideen eines Schiedsgerichts zwischen Völkern und der Unterwerfung des Völkerverkehrs unter Recht und Gerechtigkeit und unter den Gedanken des gemeinschaftlichen Interesses aller mit allen haben ihre Anhänger und Verfechter aus allen Religionsgemeinschaften und mit ihren entsprechenden religiösen Begründungen. Hier gilt es, weiter zu trachten und über lose Berührungen hinaus zu fester Gemeinschaft und über Gleichheit des Wollens hinaus zur Organisation der Willen zu streben. Bei aller tiefen Verschiedenheit der Religionen und der Religiösen untereinander, eins verbindet sie doch: der religiöse Charakter und Antrieb als solcher und der gemeinsame Gegensatz gegen „Weltlichkeit“ und „Unglaube“ überhaupt. Wer davon nichts weiß, wer den stillen Zug nicht kennt, der im Geheimen die Religiösen auch der verschiedensten Gruppen stark zueinander zieht, hat selber keine Religion, sondern ein wunderliches Unding an ihrer Stelle. Das erlebt man, wenn man einmal in entfernte Religionskreise versetzt wird. Die Herzen der verschlossensten Moslem, der orthodoxen Juden Marokkos, der strenggläubigen Hindus taten sich auf gegen den Fremdling, wenn sie fühlten: „auch er g l a u b t “. Und umgekehrt nicht unter den

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„Kosmopoliten“ der Länder und Religionen, den Erweichten und Abgescheuerten, den Kompromisslern, den Halb-Parisern, Voltairianern und „Aufgeklärten“ wird’s einem wohl, sondern gerade bei denen, denen man noch wirklich Giaur, Mleccha, Ketzer ist nicht um eigenen Unglaubens, sondern um eigenen Glaubens willen. Eine stille, starke Sympathie zieht den Religiösen zum Religiösen. Und sie erkennen sich untereinander wie durch eine Art gegenseitiges Wittern gegenüber von Glaubenslosigkeit, Profanität und Weltsinn, und gleiche Ablehnungen und ähnliche Strebungen begegnen sich. (Wer davon nichts weiß oder nachfühlen kann, ist ein Narr, wenn er Religion vorwendet). Und solche „Wahlverwandtschaften“ wollen wir aufrufen, dass sie tätig werden, um Weltübel zu. wenden, die alle gemeinsam als solche ablehnen, und Aufgaben zu verwirklichen, in denen sich die Ethiken der einzelnen Religionen keineswegs erschöpfen, aber die sie alle im Wesentlichen gleichartig anerkennen und voraussetzen als Rahmen und Grundlage ihrer eigenen Sonderideale. Kommt der Bund wirklich zustande, können sich starkwollende Gewissenhafte entschließen, große Einsätze zu wagen, hundert Wenn und Aber zu überwinden und unter dem furchtbaren Fordern der heutigen Weltlage […] Er wird in ungeheuren Anstrengungen die Gesinnungsbildung zu leiten und zu leisten haben, ohne welche die Schiedsgerichte zwischen den Klassen und den Völkern, ohne welche die zwischenstaatlichen Bindungen und „Völkerbünde“ ohnmächtig und unmöglich sind. Er wird die öffentliche Meinung der Welt erziehen, die zum moralischen und unter Umständen zum sehr physischen Drucke werden kann auf die jeweils Mächtigen. Er wird die Weltgesinnung erzielen müssen, die nötig ist, um sozialen Ausgleich und soziale Gerechtigkeit zu schaffen; Aufgaben, die nur im großen ganzen lösbar sind, und nur lösbar sind bei tiefgehendem Gesamt-Gesinnungswandel. Er wird den Kampf führen gegen Schmutz und Unsittlichkeit in der Literatur und im öffentlichen Leben; auch dieses eine Aufgabe, die, wenn sie an einem Orte zeitweilig leidlich gelöst ist, auch an diesem Orte bei wachsender Verbindung der Welt und ihres geistigen Austausches sofort wieder neu in Frage gestellt ist, wenn sie nicht allgemein gelöst ist. Er wird, wie an diesen Beispielen allein schon zu ersehen ist, notwendig die Interessen a l l e r Religiösen der ganzen Welt besitzen und zugleich schlechterdings jede sittliche Mitwirkung brauchen, wo immer sie sich findet. Um noch ein anderes konkretes Beispiel zu nennen: Er wird den Alkoholismus, die Mutter vieler und die Amme der meisten sozial-ethischen Missstände, überwinden müssen, und hier die Mithilfe der östlichen Religionen, des Islam und des Buddhismus, höchst willkommen heißen, die uns Westlichen in dieser Hinsicht geradezu voraus sind. (Denn auch die „Trockenlegung“, die ganze oder die „genügende“, gelingt auf die Dauer auch nicht am einzelnen Orte, sondern nur, wenn sie im Ganzen gelingt.) Er wird die Kulturaufgaben der Kulturmenschheit gegenüber den Unkultivierten betreiben. Er wird die internationalen „Frauen- und Arbeiterfragen“ ins Weltgewissen schreiben. Er wird die Lösung der Ras-

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senfrage betreiben müssen. Er wird der Anwalt werden gegen den Druck der jeweils Mächtigen, der Anwalt der religiösen, völkischen, sozialen Minderheiten, der Anwalt gegen Siegerwillkür und Rachgier, gegen Vergewaltigung und wirtschaftliche Versklavung, gegen Weltverfehmung und Weltverleumdung. Er wird den zwischenvölkischen Kulturaustausch zu leiten versuchen und hier eine Art missionarische Aufgabe haben von höchster Wichtigkeit, von der etwas Näheres zu sagen ist. Im Zusammenprall des Westens mit dem Osten vollzog sich längst schon ein Überwandern westlicher „Kultur“ nach dem Osten. Leider war es zu großem Teile ein Überwandern westlicher Technik, begleitet von einem Überwandern westlicher Unkultur, ein Überwandern unserer Materialismen und Skeptizismen, unseres geistigen Schundes und oft unserer geistigen Gifte. Der R.M.B. wird das Interesse aller Religiösen haben, wenn er hier eine wirkliche Kulturmission aufnimmt, an der sich alle Konfessionen, Religionen und Idealismen des Westens willig beteiligen werden: nämlich dem Osten mit Plan und Wahl statt durch Zufall und Willkür das Edelste, Reichste, Weiseste, Reinste, Gesündeste seiner Kunst, seiner Wissenschaft und seines gesamten Geisteslebens darzubieten, wo es gewünscht wird, und andererseits dem Osten die Möglichkeiten schaffen und mehren, uns die Schätze seiner Bildung, ihre Meister und Weisen und Künste zu reiner Anschauung zu bringen. Man frage die Weisesten und Besten aller großen Religionen, ob sie vom Standpunkte ihrer Religion aus ein solches Programm verbundener Weltarbeit billigen, ob sie ihre eigene Mitwirkung versagen, und ob sie bezweifeln würden, dass solche Arbeit nur zu leisten ist, wenn die Religiösen selber dazu die Hände verbinden, und ob sie befürchten würden, ihre eigene Religionsgemeinschaft zu schädigen, wenn sie diese selber für solche Dienste gewönnen. Durch das Zusammentreten Gleichwollender wird sich die Stärke des Willens selber verhundertfachen. Vereinte Kohlen ergeben die Glut, die Eisen schmilzt. Die erste Weise der Wirkung ist sodann zunächst die von Person zu Person. Danach ein SichVerlautbaren in der Öffentlichkeit so weit, dass möglichst jeder für die Sache Ergreifbare von der Sache weiß und sich zur Mithilfe stellen kann. Sodann ein Arbeiten in der Weise eines „apostolischen“ Vereins, durch Schrift und Verkündung. Später dann ein Arbeiten in der Weise eines Weltvereins, der zugleich seinen bloß privaten Charakter in dem Masse verlieren wird, als sich in ihm die Vertreter großer religiöser Gemeinschaften, ethischer Verbände, religiös sittlicher „Richtungen“ und Kreise zusammenfinden werden. Und er wird dann in der Form von Länder- und Weltkongressen ein Forum zu bilden trachten, von dem vor den Ohren der Kulturmenschheit die brennenden Anliegen und Fragen erörtert werden, die wir zum Teil genannt haben. Nach innen wird er in jeder Form geistiger Beeinflussung wirken müssen, indem seine Mitglieder in ihren eigenen Gemeinschaften und in ihren Einflusskreisen öffentlich oder privatim Gesamtgeist, Erziehung und Überzeugungsbildung zu beeinflussen trachten.

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Er wird vor allem rechnen auf die, die noch nicht müde und schlaff geworden sind, auf die Jungen, und auf diejenigen, die es um Glaubens und Gewissenswillen nicht aushalten, stillezusitzen und die Welt dem Teufel zu überlassen. Er wird suchen müssen, die Erfahrensten und Sachkundigsten unter sich zu haben und kühler und klarer zu urteilen und zu handeln als die Gescheiten dieser Welt: aber er wird seinem Wesen nach ein Verein von Enthusiasten sein müssen.

4. Fragen zum Text 1. Welche Rolle könnte ein Religionswissenschaftler in einem solchen Weltbund spielen? Darf er sich überhaupt engagieren? Oder sollte er dies geradezu tun? Überschreitet er damit nicht die Grenzen seines Faches? Vertreten Sie die einzelnen Positionen in einem Rollenspiel. 2. Man kann in Rudolf Otto einen Vordenker der Praktischen Religionswissenschaft sehen. Informieren Sie sich über das Anliegen dieser neuen Richtung anhand: Michael Klöcker/Udo Tworuschka (Hg.): Praktische Religionswissenschaft. Ein Handbuch für Studium und Beruf, Köln u.a. 2008 (UTB). 3. Ottos Religiöser Menschheitsbund hat vieles vorgedacht, was heute zum Beispiel in der Idee des Weltethos zum Tragen kommt, wofür der Name des katholischen Theologen Hans Küng steht. Vergleichen Sie Ottos und Küngs Ziele. Lesen Sie Hans Küng: Projekt Weltethos, München 200811(1990). 4. Machen Sie sich mit den Gedanken Immanuel Kants „Zum Ewigen Frieden“ vertraut und stellen Sie Ottos Religiösen Menschheitsbund in die Tradition verschiedener Institutionen des Weltgewissens (z.B. Völkerbund) 5. „Eine stille, starke Sympathie zieht den Religiösen zum Religiösen“ – wie beurteilen Sie diesen Kernsatz Ottos vor dem Hintergrund des Fundamentalismus der jeweiligen Religionen?

5. Würdigung

DH ist ein systematisch-theologisches Werk, kein religionswissenschaftliches. Es erschien knapp vor Karl Barths erster Auflage des Römerbrief (1918) und gehört zu den bahnbrechenden theologischen Publikationen seiner Zeit. Wie Barths Werk bricht es mit dem Säkularismus und Rationalismus des 19. Jahrhunderts, der liberalen Theologie, dem Kulturprotestantismus. Anfangs sah Barth in Otto einen Bündnisgenossen gegen die Schule der Ritschlianer mit ihrem Ahnvater, dem von manchen Vater des Kulturprotestantismus bezeichneten Albrecht Ritschl (1822–1889). Ottos DH erlebte in den

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1920er Jahren einen großen Erfolg bei europäischen Lesern. So gab es englische (1923, 19502), schwedische (1924), spanische (1925), italienische (1926), französische Ausgaben. Der Einfluss von Ottos ganz anderem Gott war sehr einflussreich. Gegenüber Barths Rede vom Ganz Anderen gebührt Otto der Primat. Otto leitete den Terminus jedoch nicht aus dem Griechischen bzw. Lateinischen ab, sondern aus dem Sanskrit: „das Anyad evā“.63 DH fand leidenschaftliche Zustimmung, zum Beispiel bei dem evangelischen Theologen Paul Tillich in seiner Marburger und auch amerikanischen Zeit. Ernst Benz, einer der originellsten evangelischen Kirchen- und Religionshistoriker seiner Zeit, schrieb als Student 1935, zwei Jahre vor Ottos Tod: „Neben der kleinen Zahl Schüler [Ottos] stand eine Gruppe von Studenten, die lautstark einen jugendlich vereinfachten Barthianismus vertraten, die von der Bultmannschen Theologie und dem Existentialismus begeistert waren und die es nicht daran fehlen ließen, die Gedanken Rudolf Ottos […] zu ridikulisieren und Witze über die von ihm gegründete Religionskundliche Sammlung als Götzentempel zu reißen“.64 Paul Tillich flankiert diese Aussage in seinen Autobiographischen Betrachtungen, die u.a. seine Erfahrungen von drei Semestern Marburg wiedergeben. Er beschreibt die „ersten radikalen Auswirkungen der neuen Orthodoxie auf die Theologiestudenten: das theologische Denken befasste sich nicht mehr mit kulturellen Problemen. Theologen wie Schleiermacher, Harnack, Troeltsch, Otto wurden verachtet und verworfen, soziale und politische Gedanken aus der theologischen Diskussion verband“.65 Dabei schien zunächst eine große Nähe zwischen Barths Römerbrief und Ottos DH zu bestehen; denn in beiden Werk stand Gott als das Ganz Andere im Zentrum. Ottos Ansatz an der Erfahrung als Grundlage für Religion/en teilten die dialektischen Theologen nicht – Karl Barth (1886–1968) ebenso wenig wie Emil Brunner (1889–1966). Auch der Neutestamentler Rudolf Bultmann (1884–1976) in Marburg ging theologisch andere Wege. Ottos Gedanken haben eher geringen Eingang in die evangelische Theologie gefunden. Der gottesdienstreformerische Kreis um Rudolf Otto, die so genannte „Marburger Richtung“, zu dem im wesentlichen der Systematische Theologe und Religionswissenschaftler Heinrich Frick (1893–1952) und Gustav Mensching zählten, gehörte neben dem 1922 entstandenen Berneuchener Kreis und der ihm zuzuordnenden Evangelischen Michaelsbruderschaft zu den jüngeren liturgischen Reformbewegungen nach dem Ersten Weltkrieg. Man strebte die Reform des evangelischen Gottesdiens63 Rudolf Otto; Das ‚Ganz andere und das Absolute. In: Ders.: Aufsätze das Numinose betreffend, Stuttgart/Gotha 1923, S.29–33, hier S.29. 64 Ernst Benz: Rudolf Otto als Theologe und Persönlichkeit. In: Ders.: (Hg.): Rudolf Ottos Bedeutung für die Religionswissenschaft und die Theologie heute, S.32f. 65 In: Paul Tillich: Begegnungen. Gesammelte Werke, Bd. XII, 19802, S. 69.

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tes sowie eine Vertiefung der seelsorgerlichen und geistlichen Begleitung an. Rudolf Otto hielt in der bis dahin unbenutzten St. Jost Kapelle/Marburg Abendgottesdienste, zusammen mit seinen Schülern Gustav Mensching und Heinrich Frick, denen dabei die praktische Arbeit zufiel.66 Zusammen mit Rudolf Otto gab Mensching 1925 die „Chorgebete für Kirche, Schule und Hausandacht“ heraus. An Ottos Neubearbeitung von Johannes Emanuel Linderholms (1872–1937) Bändchen „Das Jahr der Kirche in Lesungen und Gebeten“67 wurden „wesentliche Teile von Wilhelm Knevels und Gustav Mensching erarbeitet“.68 Linderholm zählte zu den herausragenden schwedischen Kirchenhistorikern und trat gegenüber der herrschenden, seiner Meinung nach dem modernen Menschen ziemlich unverständlichen paulinischen Theologie sowie der sich darauf aufbauenden Dogmatik für eine Konzentration auf die Evangelien ein. Kritisiert wurde Ottos Ansatz vor allem von dem Leipziger Professor für Religionsgeschichte Walter Baetke (1942) und Friedrich Karl Feigel (1929, 19482). Ottos Einfluss auf Theologie, Religionsphilosophie und Religionswissenschaft, nicht zuletzt auch auf die Literaturwissenschaften im 20. Jahrhundert war erheblich. Paul Tillich sah 1923 in DH „das Buch des Durchbruchs auf religionsphilosophischem Gebiet“.69 Für ihn war die Lektüre des Buches70 „ein unvergessliches Ereignis […] ein Staunen, ein inneres Gepacktsein, eine leidenschaftliche Zustimmung, wie man sie bei theologischen Büchern nicht mehr gewohnt war“. Ein Blick auch auf die katholische Denkwelt71: Eine frühe grundlegende Auseinandersetzung stellt Wilhelm Schmidts Schrift „Menschheitswege zum Gotterkennen. Rationale, irrationale, superrationale“ (München 1923) dar. Hier finden sich alle Argumente, die von einer traditionellen katholischen Position grundsätzlich gegen Otto vorgebracht werden können. Der Kölner Religionsphilosoph Johannes Hessen (1869–1971) hat in seinen Schriften Otto rezipiert. Die beiden Gelehrten standen auch in persönlichem Kontakt. In seinem Beitrag zur Heiler-Festschrift „In Deo omnia unum“ (1942) berichtet Hessen über einen Besuch Ottos in Köln.72 Aus späterer 66 Katharina Wiefel-Jenner: Rudolf Ottos Liturgik, Göttingen 1997, S. 35. 67 Deutscher Titel des 1924 erschienenen „Neues Evangelienbuch“, Übersetzung aus dem schwedischen Original von 1920. 68 Wiefel-Jenner, a.a.O., S. 144. 69 Die Kategorie des ‚Heiligen bei Rudolf Otto (1923). In: Paul Tillich: Begegnungen, Gesammelte Werke Bd. XII, S. 184–186. 70 Der Religionsphilosoph Rudolf Otto (1925). In: Ebd., S.179–183, hier S. 179. 71 Ich danke Ulrich Vollmer, Kustos des Instituts für Orient- und Asienwissenschaften/Universität Bonn, für seine wertvollen Hinweise. 72 Gut dokumentiert ist dieses Umfeld in folgendem umfangreichen Sammelwerk: Hubert Wolf/ Claus Arnold (Hg.): Der Rheinische Reformkreis. Dokumente zu Modernismus und Reformkatholizismus, 2 Bde., Paderborn u.a. 2001.

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Zeit zu erwähnen ist der Benediktinerpater und spätere Professor in Salzburg, Ansgar Paus, mit seiner in Rom angefertigten Dissertation.73 Religionswissenschaftlich beeinflusst von Otto sind die Religionswissenschaftler Mircea Eliade, Gustav Mensching, Gerardus van der Leeuw, Joachim Wach, Kurt Goldammer, Wolfgang Gantke u.a. Zu den philosophischen Denkern des Heiligen zählen ganz besonders Max Scheler (1874–1928), der das Heilige als höchsten Wert betrachtete. Der phänomenologisch arbeitende Philosoph Hermann Schmitz erweiterte Ottos Ansatz zu einer Theorie der numinosen Gefühle. Eine besondere Bedeutung hat Otto auch im Rahmen der (Religions-)Psychologie gefunden. Hervorzuheben ist vor allem die Rezeption des Begriff des Numinosen durch die Tiefenpsychologie Carl Gustav Jungs (1865–1961) sowie dessen Rezeption durch die Transpersonale Psychologie in ihren verschiedensten Ausprägungen u.a. bei Karlfried Graf Dürckheim (1896–1988). In den USA wird Rudolf Otto, im Gegensatz zur deutschen Religionspsychologie, noch heute in seiner Wirkung als zentral erachtet. Am Schluss sollen visionäre Worte Rudolf Ottos stehen, die eine erstaunliche Ahnung von der heute eingetreten Weltsituation verraten. „Ein Riesenringen bereitet sich vor (…) Das wird der feierlichste Moment in der Geschichte der Menschheit werden, wenn nicht mehr politische Systeme, nicht wirtschaftliche Gruppen, nicht soziale Interessen, wenn die Religionen der Menschheit gegeneinander aufstehen, und wenn (…) zuletzt der Kampf den hohen Stil erreichen wird, wo endlich Geist auf Geist, Ideal auf Ideal, Erlebnis auf Erlebnis trifft, wo jeder ohne Hülle sagen muss, was er Tiefstes, was er Echtes hat und ob er etwas hat“.74

6. Weiterführende Arbeitsaufgaben 1. Klären Sie den Begriff der Hierophanie von Eliade und vergleichen Sie Eliades Auffassung vom Heiligen mit derjenigen Ottos. Was interessiert Otto, was Eliade? 2. Seitdem Otto den Begriff des Heiligen in die Religionswissenschaft eingeführt hat, gilt dieser als umstritten. Tragen Sie die Namen der Hauptkritiker zusammen und listen Sie ihre Argumente auf. Bilden Sie sich selbst eine Meinung. 3. In dem auf einer funktionalistischen Religionstheorie gründenden Hauptwerk „Die elementaren Formen des religiösen Lebens“ (1912) des französischen Ethnologen und Soziologen Émile Durkheim (1858–1917) spielt die Unterscheidung von hei73 Religiöser Erkenntnisgrund. Herkunft und Wesen der Aprioritheorie Rudolf Ottos, Leiden 1966. 74 Zitiert bei Gustav Mensching: Der offene Tempel. Die Weltreligionen im Gespräch miteinander, Stuttgart 1974, S. 11.

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lig/profan eine zentrale Rolle. Vergleichen Sie Durkheims soziologische Einstellung mit der psychologischen Position Rudolf Ottos. 4. Lassen sich die religiösen Erfahrungen in der heutigen Religionswelt mit Ottos drei Mysteria angemessen beschreiben? Hat sich die religiöse Erfahrungswelt hundert Jahre nach Otto verändert? Wenn ja, wie? 5. Bilden Sie sich eine Meinung zu Ottos „Riesenringen“. Trifft heute wirklich „Geist auf Geist, Ideal auf Ideal, Erlebnis auf Erlebnis“? Oder geht es vom Hintergrund diverser Fundamentalismen aus betrachtet um Gewalt und Gegengewalt?

7. Auswahlbibliographie Primärliteratur

Naturalistische und religiöse Weltansicht, Tübingen 19293 (1904). Kantisch-Friessche Religionsphilosophie, Tübingen 19212 (1909). Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917. Vischnu-Nârâyana. Texte zur indischen Gottesmystik, I, Jena 1917. Siddhânta des Râmânuja, Texte zur indische Gottesmystik, II, Jena 1917. Die Gnadenreligion Indiens und das Christentum. Vergleich und Unterscheidung, Gotha 1930. Aufsätze, das Numinose betreffend, Stuttgart 1923, Gotha 19294 (5. u. 6. Aufl. unter dem Titel: Das Gefühl des Überweltlichen. Sensus Numinis, München 1932. West-Östliche Mystik. Vergleich und Unterscheidung zur Wesensdeutung, überarbeitet von Gustav Mensching, München 19713 (1926). Sünde und Urschuld, München 1932. Reich Gottes und Menschensohn, München 19543 (1934). Sekundärliteratur

Alles, Gregory D.: The rebirth of cultural colonialism as Religionswissenschaft: Rudolf Ottos import house. In: Temenos 43 (2007), S. 139–161. Almond, Philip C.: Rudolf Otto. An Introduction to his Philosophical Theology, Chapel Hill 1984. Gooch, Todd A.: The Numinous and Modernity. An Interpretation of Rudolf Otto’s Philosophy of Religion, Berlin, New York 2000. Haubold, Wilhelm: Die Bedeutung der Religionsgeschichte für die Theologie Rudolf Ottos (Diss. Marburg) 1940.

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Jaczyk, Dominika (Hg.): Die Quellen der Philosophie und Phänomenologie der Religion. Überlegungen zu Rudolf Ottos „Das Heilige“, Frankfurt/Main 2010. Machoń, Henryk: Religiöse Erfahrung zwischen Emotion und Kognition. William James, Karl Girgensohns, Rudolf Ottos und Carl Gustav Jungs Psychologie des religiösen Erlebens, München 2005. Murphy, Tim: Religionswissenschaft as Colonialists Discourse. The case of Rudolf Otto. In: Temenos 43, No.1 (2007), S. 7–27. Siegfried, Theodor: Grundfragen der Theologie bei Rudolf Otto, Gotha 1931.

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8. Raffaele Pettazzoni (1883–1959) 1. Biographie

Raffaele Pettazzoni wurde am 3. Februar 1883 in San Giovanni in Persiceto, zwischen Modena und Bologna in der Provinz Bologna, geboren. In Bologna besuchte er das Gymnasium und die Universität. Dort kam er unter den Einfluss des Literaturhistorikers, Dichters und Redners, des Republikaners Giosuè Carducci (1835–1907). Dessen Bewerbung auf eine Professur in Arezzo war aufgrund seiner atheistischen Ansichten abgelehnt worden. Nachdem er 1860 Professor für Griechisch in Pistoia geworden war, ernannte man ihn ein Jahr später zum Professor für italienische Literatur in Bologna (bis 1903). Carducci war seit 1862 Mitglied der Freimaurerloge Galvani und Mitbegründer der Loge Felsinea in Bologna. 1890 wurde der als politischer Dichter und überragender Redner angesehene Carducci zum Senator berufen. 1906 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Carducci feierte den verneinenden Geist, die rebellione, die forza vindice della ragione (Macht der Vernunf ), als treibende Kraft des Menschenlebens und der Weltgeschichte, als Genius geistiger Unabhängigkeit und Schrankenlosigkeit, als Prinzip alles Fortschrittes. In Thomas Manns „Zauberberg“ spielt Carducci eine gewisse Rolle. Unter dem Einfluss Carduccis verlor Pettazzoni seinen katholischen Glauben. Sein Studium der Literaturwissenschaft schloss er 1905 mit einem Diplom ab. 1909 veröffentlichte Pettazzoni seine Dissertation „Le origini dei Kabiri nelle isole del Mar Tracio“ (Der Ursprung der Kabiren in den thrakischen Seen). Bei den Kabiren (griech. Κάβειροι/ Kabeiroi) handelt es sich um die großen [Götter], die Mächtigen, chthonische Gottheiten, die vor allem auf den nordägäischen Inseln Samothrake und Lemnos verehrt wurden. Drei Jahre lang studierte Pettazzoni in Rom und erwarb ein Diplom an der Scuola italiana di archeologia. 1909–1914 war Pettazzoni als Inspektor im Museo preistorico ed etnografico di Roma tätig. In diesem Jahrfünft beschäftigte er sich intensiv mit dem Studium autochthoner Religionen (studio delle civiltà primitive), Paläontologie

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und allgemeiner Religionsgeschichte (delle religioni di tutti i popoli). Als Fachmann nahm er November/Dezember 1909 an einer archäologischen Forschung (missione archeologica) auf Sardinien teil. 1913 habilitierte sich Pettazzoni in Religionsgeschichte (Storia delle religioni). Seine ersten Lehrveranstaltungen fanden im akademischen Jahr 1913/14 statt. Seit 1914 lehrte Pettazzoni Religionsgeschichte an der Universität Bologna. Nur während des akademischen Jahres 1919/20 erhielt Pettazzoni für eine Vergütung für seine Lehrangebote. Der Militärdienst (1916–1919) in Griechenland unterbrach seine akademische Tätigkeit. 1920 entschied der damalige Wissenschaftsminister Benedetto Croce (1866– 1952), dass Pettazzoni unvergütet tätig sein musste. 1923 wurde auf Initiative des einflussreichen Philosophen, Politikers und Kulturmanagers Giovanni Gentile (1875– 1944), der seit 31. Oktober 1922 (bis 1924) Bildungsminister im Kabinett Mussolini war, der erste italienische Lehrstuhl für Religionswissenschaft an der Universität Rom gegründet und mit Raffaele Pettazzoni besetzt, der ihn 30 Jahre lang, bis nach dem akademischen Jahr 1952/53, innehatte. Er hielt am 17. Januar 1924 seine Antrittsvorlesung über Entwicklung und Charakter der Religionsgeschichte, in der er seine positivistischen Grundlagen in der Methodologie aufgibt. Theoretisches Fundament der Religionswissenschaft ist, im Gegensatz zu Croce, die Autonomie der Religion, die wiederum eingebettet in eine bestimmte Entwicklungslinie der betreffenden Religion und der einen Religion in ihren verschiedenen Formen, erklärbar ist. Religion ist für Pettazzoni ein „gegenüber anderen Kulturprodukten eigenwertiges (aber nicht losgelöstes) kulturelles Wertsystem“.75 Gemeinsam mit Croce war Gentile ein Vorreiter der Neuorientierung des italienischen Kulturlebens. In seinen Ansichten mischten sich ein konservativ-bürgerliches Elitebewusstsein, Nationalismus und die leidenschaftliche Ablehnung herkömmlicher Religion. Seine anfänglich eher unpolitisch scheinende Philosophie änderte sich mit Beginn des 1. Weltkriegs. Nation und Staat bildeten das Zentrum seiner Überlegungen und Veröffentlichungen. Für Gentile entwickelten sich der Nationalstaat und der faschistische Staat zu einer Einheit, in welcher der Duce als Führer dieses Staates alles weiß, im Griff hat und handelt. Stückweise werden die Verstrickungen Pettazzonis in den italienischen Faschismus, dem er u.a. seinen Lehrstuhl verdankte, sichtbarer. Das in Italien weit verbreitete Bild vom Anti-Faschisten Pettazzoni lässt sich angesichts u.a. der Tatsache, dass Pettazzoni am 31. Juli 1933 Mitglied der Nationalen Faschistischen Partei wurde und von ihm gelegentliche Ehrbezeugungen gegenüber Mussolini bekannt geworden sind, wohl nicht länger aufrecht erhalten. 1942 gründete Pettazzoni das Institut für primitive Gesellschaften (Istituto per le civiltà primitive) und 1947 die Scuola di perfezionamento in scienze etnologiche. Pet75 Michael Stausberg: Pettazzoni, Raffaele. In: TRE 26, 2000, S. 318–323, hier S. 320.

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tazzoni gehörte zu den Gründern der internationalen religionswissenschaftlichen Zeitschrift Numen (1954), und er begründete die Schriftenreihe Studies in the History of Religions, die er bis zum Lebensende leitete. 1950–1959 war er Präsident der International Association for the History of Religions (IAHR). Im Zentrum seiner Forschung stand die Gottesvorstellung in prähistorischen und ethnischen Religionen sowie das Heilige. Mit Hilfe der von ihm entwickelten vergleichend-historischen Methode (metodo storico-comparativo) zeigte er, wie sehr beides in den jeweils historisch-kulturellen Kontext eingebunden ist vor vorschnellen Verallgemeinerungen gewarnt werden muss. Pettazzoni starb am 8. Dezember 1959 in Rom. Seine Schüler führten sein Werk zum Teil „sehr eigenwillig“76 weiter.

2. Inhaltsangabe des Buches Eines der auch einer breiteren Öffentlichkeit bekanntesten Werke von Pettazzoni ist „Der allwissende Gott. Zur Geschichte der Gottesidee“. Mit dieser Thematik hatte sich Pettazzoni bereits in seiner 1922 erschienen, ursprünglich auf mehrere Bände angelegten Schrift „Gott. Bildung und Entwicklung des Monotheismus in der Religionsgeschichte, Bd. 1 Das Himmelswesen im Glauben der primitiven Völker“ auseinander gesetzt. „Der allwissende Gott“ ist eine Neubearbeitung dieses alten Projektes.

In seiner Einführung blickt Pettazzoni auf ältere Forschungsansätze zurück, wie z.B. auf Edward Burnett Tylors „Primitive Culture“ (1871). Dieser vertrat in klassischer Form die evolutionistische These, dass die Religionsgeschichte eine Abfolge aus drei Stadien darstellte: Animismus – Polytheismus – Monotheismus. Die zweite Theorie geht auf die so genannte Wiener Schule des Paters Wilhelm Schmidt, S.V.D. (1868–1954) zurück, den Gründer des Anthropos-Instituts. Er lehrte, dass am Anfang der Religionsgeschichte der Urmonotheismus gestanden habe.77 Dieser Urmonotheismus galt ihm als älteste Form von Religion. Schmidt seinerseits griff auf das Werk des schottischen Dichters Andrew Lang (1844–1912) zurück. Dieser behauptete in seinem Buch „ The making of religion“ (1898), der bei einigen Primitiven vorhandene Glaube an einen Urheber aller Dinge sei die wahre Quelle aller Religion. Am Ende des Vorworts zu seiner zweiten Auflage (1900) gab er jedoch zu: „With these explanations I trust that my rhetorical use of such phrases as eternal, creative, omniscient, omnipotent, omnipresent, and

76 Ebd., S. 323. 77 Der Ursprung der Gottesidee. Eine historisch-kritische und positive Studie, Bde. 1–12, Münster 1912–1955.

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moral, may not be found to mislead, or covertly to import modern or Christian ideas into my account of the religious conceptions of savages.“78 Die Urmonotheismus-Theorie wurde insbesondere in der katholischen Welt begrüßt und stieg gewissermaßen in den Rang eines historischen bzw. ethnologischen Gottesbeweises auf79: Aus der Tatsache, dass Menschen in fast allen Völkern, in völlig von einander getrennten Kulturen an Gott glauben, wird abgeleitet, dass es einen Gott geben muss. Im zweiten Teil seiner Einführung unterscheidet Pettazzoni zwischen magischer und göttlicher Allwissenheit. „Wir haben es hier mit Allwissenheit zu tun, die in den Bereich der Magie und Mantik gehört, einer Allwissenheit, die dazu bestimmt ist, zu handeln, zu weissagen und vorzusorgen, und deshalb der Weisheit des Schöpfergottes verwandt ist, verwandt auch der Sehergabe der Geister, der schöpferischen Weisheit des Gottkönigs, der thaumaturgischen80 Fähigkeit des Schamanen und der inspirierten Hellsicht des Dichterpropheten. Jedoch außer dieser Allwissenheit magischen und orakelhaften Typs gibt es noch eine andere, der nicht so sehr das Tun, „als vielmehr das Sehen, Beobachten, Überwachen obliegt, und die sich nicht so sehr der Vorhersage von Ereignissen widmet als vielmehr der Beurteilung solcher, die stattgefunden haben“ (13). Das zweite, sehr umfangreiche Kapitel (18–76) ist Morphologie überschrieben und gliedert sich in drei Teile: „Das Subjekt der göttlichen Allwissenheit“ (18–24), „Objekt und Modus der göttlichen Allwissenheit“ sowie „Die religiöse und ideologische Struktur der göttlichen Allwissenheit“ (69–76). Beim Subjekt unterscheidet Pettazzoni verschiedene atmosphärische Bereiche, mit denen göttliche Allwissenheit in Verbindung gebracht wird: Himmel, Sonne, Mond, Sterne, Wind. Im zweiten Teil breitet er eine eindrucksvolle Fülle von Belegen aus unterschiedlichsten Religionen und Völkern aus. „Die Vorstellung von einem allsehenden und allwissenden höchsten Himmelswesen, welches die menschlichen Handlungen durch gutes oder schlechtes Wetter bestraft, ist […] unter verschiedenen Formen den alten Völkern der indoeuropäischen Sprache gemeinsam eigen und findet sich ebenso, mit dem gleichen durchsichtigen Zusammenhang zwischen Gottgestalt und Himmelsnatur bei zahlreichen Völkern Nord-Eurasiens, von den Ugro-Finnen und Ural-Altaiischen Stämmen im allgemeinen bis zu den Sibiriern und Turko-Mongolen“ (38). Weitere, von Pettazzoni stets kommentierte Belege stammen aus China, Assam, Pygmäenvölker, Indonesien, Australien sowie bei den „unzivilisierten [sic!] Völker(n) Afrikas und Amerikas“ (48). Dabei geht es Pettaz78 covert (‚verborgen, heimlich); account (‚Bericht, Darstellung) 79 Die klassischen Gottesbeweise sind: ontologisch, kosmologisch, teleologisch, moralisch. 80 Von thauma (‚Wunder) und ergon (‚Arbeit). Gemeint ist das Vermögen, Wunder tun zu können.

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zoni primär um die zweite Form von Allwissenheit, die darin besteht, dass die allwissenden Götter „das Betragen der Menschen“ beobachten. Zwar dominiert das visuelle Element (die Götter sehen alles), doch auch der auditive Bereich spielt bei einigen Göttern eine wichtige Rolle. Die Beispiele „können jedoch als ausreichend betrachtet werden, um die Gleichartigkeit des Begriffs einer göttlichen Allwissenheit zu beweisen, soweit sie sich auf das Objekt, also auf das Verhalten der Menschen, wie auch auf die Art und Weise der mit ihr verbundenen strafenden Vergeltung, die meist eine atmosphärische ist, bezieht. Wenn man nun diese Ergebnisse mit jenen im Bezug auf das Subjekt der Allwissenheit, d.h. mit der Lichtnatur allwissender Gottheiten verbindet, so erscheint die Eigenschaft der Allwissenheit in ihren wesentlichen Zügen und in ihrer Gesamtstruktur nunmehr klar umrissen […]: Das Subjekt der göttlichen Allwissenheit ist ursprünglich nicht die Gottheit im allgemeinen, sondern eine ganz bestimmte Kategorie von göttlichen Wesen. Und ihr Objekt ist nicht einfach alles Wissbare, sondern der Mensch und seine Taten. Die Art und Weise ist nicht gleichgültig, da die göttliche Allwissenheit sich auf die Fähigkeit gründet, alles zu sehen (eventuell verbunden mit der Gabe, alles zu hören, allgegenwärtig zu sein usw.) Außerdem ist die göttliche Allwissenheit nicht rein passiv und beschaulich, sondern sie veranlasst eine strafende Vergeltung, die ihrerseits auch nichts Unbestimmtes ist, da sie mittels des Wetters durchgeführt wird“ (69). Im dritten Teil des zweiten Kapitels behandelt Pettazzoni das Selbstverständnis der Ursprungsmythen als Wahrheit. „Der eigentliche Charakter der Ursprungsmythen ist es nicht etwa, eine intellektualistische Erklärung des Universums, seiner Bildung und seiner Gestaltung zu liefern, sondern die ideelle Begründung für das Bestehen der Welt, ihrer Dauer und Beständigkeit zu geben“ (71). Die Wahrheit des Mythos ist „nicht eine Wahrheit logischer oder abstrakt-spekulativer Art, sondern eine konkrete, existentielle Wahrheit; nicht eine Vernunftwahrheit, sondern eine Glaubenswahrheit, eine Lebenswahrheit“ (72). Im Anschluss an seine analytischen, morphologischen und phänomenologischen Analysen untersucht Pettazzoni in Kapitel 3 („Kulturhistorische Entwicklung“) die „kulturellen Bedingungen […] unter denen der historisch in seiner Bildung und Entwicklung bestimmte Komplex der visuellen Allwissenheit […] hervortritt“. Pettazzoni unterscheidet drei religionsgeschichtliche Konstrukte: Das Modell himmlischer Vater tritt in nomadisch-patriarchalischen Kulturen auf, während die Auffassung von Mutter Erde „in den Kulturen sesshafter Ackerbauern“ (83) beheimatet ist. Die dritte Vorstellung geht nach Pettazzoni den beiden genannten Komplexen voraus und ist gegeben in „jener frühesten Epoche des Menschen, als er weder vom Ackerbau noch von der Viehzucht wusste, sondern vom Einfangen wilder Tiere und vom Sammeln der wild wachsenden Früchte lebte, wobei die erstere Tätigkeit den Männern, die letztere den Frauen oblag“. In einigen autochthonen Religionen (u.a. westliche Pygmäen des Gabun) ist die Vor-

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stellung eines Höchsten Wesens mit der eines Herrn der Tiere verknüpft. „Bei einigen Stämmen an der Nordküste von Neuguinea ist Wunekau ein allwissendes Sonnen- und Himmelswesen, das mit Unwettern straft. Wunekau ist aber auch Herr aller Tiere und somit Herr über die menschliche Existenz“ (90). Anderseits gibt es Vorstellungen, nach denen der Herr der Tiere nicht zugleich mit den Zügen eines Himmelsgottes erscheint. „In dieses Schema passt die Morphologie des Herrn der Tiere, die zwei entsprechende Typen aufweist: einen sehr frühen, den Herrn der Tiere, der im Walde wohnt und über seine Tiere herrscht; und den „weiterentwickelten und erhabeneren Herrn der Tiere, der in den Himmel erhoben ist“ (97). Pettazzoni gelangt zu dem Resultat: „Die göttliche Allwissenheit in ihrer typischen Struktur, die Allwissenheit, die visuell ist und die, um zu wissen – um zu sehen – , das Licht braucht, die sich auf das Tun der Menschen richtet und ergänzend Vergeltung meteorologischer Natur übt, diese Allwissenheit ist das spezifische Attribut des Himmelswesens, wie wir es in den Nomaden- und Hirtenkulturen finden. Diese Vorstellung von der göttlichen Allwissenheit kann zwar bis zur Jägerkultur zurückreichen, aber nur als Attribut eines Herrn der Tiere in jener mehr oder weniger in den Himmel erhobenen Form, die wahrscheinlich einer fortgeschrittenen Phase der Jagdkultur angehört“ (98). Kapitel 4 („Ikonographie“) sucht die Vorstellung göttlicher Allwissenheit in dieser ältesten Kulturperiode auf und bildet 27 figürliche Darstellungen ab, u.a. Gottheiten mit zwei Gesichtern, drei bzw. vielen Köpfen und Augen als ikonographische Ausdrucksweisen für „göttliche visuelle Allwissenheit“ (103). Anhangsweise behandelt Pettazzoni „Die Entstehung des Monotheismus“ (109–118). Pettazzoni stellt die philosophischen Positionen von David Hume (1711–1776) und Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) vor, die – im Gegensatz zu dem Rationalisten Voltaire (1794–1778) – den Polytheismus an den Anfang der Religionsgeschichte stellten. Dann zeichnet Pettazzoni wichtige Etappen in der Geschichte der ethnologischen Forschung nach (Joseph François Lafitau, Ch. de Brosses, Auguste Comte, Edward Burnett Tylor, Andrew Lang, Pater Wilhelm Schmidt). Pettazzoni kritisiert, dass das Problem des Monotheismus stets „im Zusammenhang mit den Religionen unzivilisierter Völker behandelt worden ist“ (112) und nicht als „Problem in sich“ (ebd.). Pettazzoni sieht nur eine einzige Möglichkeit, sich dem Monotheismus zu nähern: Auszugehen ist nicht vom polytheistischen Hintergrund, sondern von den großen monotheistischen Religionen selbst, also vom „Jahvismus“ (114) Christentum, Islam und Zoroastrismus. Grundsätzlich gilt: Monotheismus setzt Polytheismus voraus, ist „kein Gebilde der Evolution, sondern der Revolution“ (117), eng verbunden mit „einer religiösen Reform und mit dem Werke eines Reformators“ (114).

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3. Ausgewählter Quellentext

Das erste, 1898 erschienene Heft des ‚Archivs für Religionswissenschaft‘ brachte als Einleitung einen programmatischen Artikel von Edmund Hardy mit dem Titel ‚Was ist Religionswissenschaft?‘ Wenn heute diese neue Zeitschrift vorgestellt wird, ist man versucht, ebenso zu verfahren und in ähnlicher Weise zu beginnen, indem man in limine [wörtlich: an der Schranke) die gleiche Frage stellt: Was ist Religionswissenschaft? Das Problem hat in der Tat seine Aktualität nicht eingebüßt. Welche Fortschritte unsere Wissenschaft in mehr als einem halben Jahrhundert auch gemacht haben mag, man muss zugeben, dass bei ihren Vertretern immer noch beträchtliche Meinungsverschiedenheiten bestehen, und zwar sowohl im Hinblick auf das allgemeine Verständnis dieser Wissenschaft, wie auch auf die anzuwendende Methode und schließlich noch auf den Namen, den man ihr zu geben habe. Von den beiden gewissermaßen traditionellen Benennungen, „Religionswissenschaft“ und „Religionsgeschichte“, scheint letztere schließlich den Sieg davongetragen zu haben, da sie von den Internationalen Kongressen für „Religionsgeschichte“ übernommen wurde und gleichfalls in den Titeln verschiedener gegenwärtig erscheinender Zeitschriften (das ‚Archiv für Religionswissenschaft‘ erscheint seit 1943 nicht mehr) wie der ‚Revue de l’histoire des religions‘ (seit 1880), den ‚Studie materiali di storia delle religioni‘ (seit 1925), der ‚Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte‘ (seit 1945) und sogar im Titel der 1950 konstituierten ‚International Association for the Study of the History of Religions‘ wiederkehrt. Man ginge jedoch fehl, wollte man diese mehr oder weniger offizielle Terminologie allzu wörtlich nehmen und in ihr den Ausdruck prinzipiellen Denkens sehen. Man stellt in der Tat fest, dass beide Termini in der Umgangssprache unterschiedslos zur Kennzeichnung der gleichen Sache verwendet werden. Wenn man jedoch tiefer schürft und sich bemüht, den Worten, entsprechend den Ideen, die sie ausdrücken, eine reale Bedeutung beizumessen, kann man feststellen, dass der Unterschied zwischen „Religionswissenschaft“ und „Religionsgeschichte“ (oder „Geschichte der Religionen“) heute noch schärfer ausgeprägt ist als zur Zeit, da Hardy noch eine wechselseitige Integration der beiden Begriffe versuchen konnte, indem er seinem Artikel ‚Was ist Religionswissenschaft?‘ den komplementären Untertitel: ‚Ein Beitrag zur Methodik der historischen Religionsforschung‘ gab. Tatsache ist, dass es heute mehrere unterschiedliche Betrachtungsweisen gibt, wenn man an das Studium der Religionen herangeht. Die eine besteht darin, die einzelnen religiösen Tatbestände aus einer völlig von außen herkommenden Blickrichtung zu untersuchen. Der Philologe, der an einer möglichst genauen Interpretation eines Textes über ein religiöses Thema arbeitet; der Archäologe, der sich darum bemüht, den

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Plan eines antiken Heiligtums zu rekonstruieren oder den Gegenstand einer mythologischen oder sonstigen Szene zu erklären; der Ethnologe, der Einzelheiten gewisser ritueller Praktiken eines nichtzivilisierten Stammes darlegt; der Soziologe, der bestrebt ist, sich über Organisation und Struktur einer religiösen Gemeinschaft und über ihre Beziehungen zur profanen Umwelt klarzuwerden; der Psychologe, der die religiösen Erfahrungen dieses oder jenes Individuums analysiert: alle diese verschiedenen Wissenschaftler untersuchen religiöse Tatbestände, ohne den Bereich ihrer speziellen Wissenschaften zu verlassen. Sie untersuchen also die religiösen Tatbestände in eben dem Geiste der jeweiligen Einzelwissenschaft, so als ob es sich in erster Linie um philologische, archäologische, ethnologische oder andere Fakten handele, und dabei klammern sie die wesentliche, spezifische, nämlich religiöse Natur dieser Tatbestände aus. Diese Forschungen haben für unsere Studien einen sehr beachtlichen Wert, und manchmal sind ihre Ergebnisse wegen ihrer Bedeutung achtunggebietend. Gerade diesen Forschungen verdanken wir die dauernde Erweiterung und Vertiefung unserer Kenntnisse. Andererseits ist es evident, dass sie den Postulaten des wissenschaftlichen Geistes nicht voll gerecht werden können. Das besondere Wesen und gerade der Charakter der religiösen Tatbestände als solchen gibt ihnen die Berechtigung, den Gegenstand einer eigenen Wissenschaft zu bilden. Diese Wissenschaft ist die Religionswissenschaft im eigentlichen Sinne. Aus dem wesenhaften Charakter religiöser Tatbestände leitet sie die notwendige und hinreichende Begründung für ihre Existenz ab. Diese Wissenschaft könnte weder eine philologische, noch archäologische, noch eine irgendwie anders geartete Wissenschaft sein. Sie könnte ebenso wenig die Summe der einzelnen von Philologie, Archäologie, Ethnologie etc. untersuchten religiösen Tatbestände sein. Von diesen Wissenschaften ist die Religionswissenschaft durch die spezifische Art der Fakten, die ihr Studienobjekt darstellen, nicht quantitativ, sondern qualitativ unterschieden. Die Religionswissenschaft ist konstruktiv. Sie beschränkt sich nicht auf die Überprüfung und analytische Erklärung von Einzelfakten nach der Art wie diese, voneinander losgelöst, in den verschiedenen Spezialwissenschaften untersucht werden. Sie möchte die religiösen Tatbestände einander zuordnen, Beziehungen herstellen und die Tatbestände entsprechend diesen Beziehungen gruppieren. Wenn es sich um formelle Beziehungen handelt, dann ordnet sie die religiösen Tatbestände nach Typen, handelt es sich um chronologische, nach Serien. Im ersten Fall ist die Religionswissenschaft rein deskriptiv. Im zweiten, wenn also die in Betracht kommenden Beziehungen nicht einfach nur chronologischer Natur sind, wenn also, mit anderen Worten, der chronologischen Abfolge eine innere Entwicklung entspricht, wird die Religionswissenschaft zu einer historischen Wissenschaft; sie ist Geschichte der Religionen. Die Religionsgeschichte verfolgt in erster Linie das Ziel, die Geschichte der verschiedenen Einzelreligionen zu erarbeiten. Jede einzelne Religion wird vom Religions-

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wissenschaftler in dem ihr eigenen Milieu untersucht, in ihrer Entwicklung inmitten dieses Milieus und in ihren Beziehungen zu anderen, demselben Milieu angehörenden kulturellen Ausdrucksformen wie zum Beispiel Dichtung, Kunst, spekulatives Denken, Sozialstruktur etc. Die Religionsgeschichte erforscht also die religiösen Tatbestände in ihren geschichtlichen Beziehungen nicht nur mit anderen religiösen, sondern auch nichtreligiösen Tatbeständen, seien diese nun literarischer, künstlerischer oder anderer Natur. Hier erhebt sich selbstverständlich eine Frage. Läuft diese Auffassung der Religionsgeschichte mit ihrer Einbeziehung heterogener Gebiete und Öffnung gegenüber anderen Welten als denen der Religion nicht Gefahr, die Geschichte der Religion von ihrem eigentlichen Gegenstand, nämlich der Religion, in irgendeiner Weise abzulenken? Gibt es nicht ein mit systematischer Unerbittlichkeit sich einstellendes Minus bei dieser Art, die religiösen Tatbestände im Zusammenhang mit anderen, nichtreligiösen Tatbeständen zu studieren? Ist es nicht wahrscheinlich, dass eine Untersuchung, die sich in stärkerem Maße auf religiöse Tatbestände in ihren Beziehungen zu anderen homogenen Tatbeständen, außerhalb jeder Interferenz mit der nichtreligiösen Welt, konzentrierte, größere Aussichten hätte, zu einer uneingeschränkten Kenntnis der Religion vorzustoßen? Auf dieses theoretische Postulat hat die Praxis eine konkrete Antwort gegeben. Man hat sich gesagt, es genüge nicht, genau zu wissen, was sich ereignet hat und wie die Fakten entstanden sind; vor allem müsse man den Sinn des Geschehens kennen lernen. Diese tiefere Erkenntnis können wir nicht von der Religionsgeschichte verlangen; sie fällt in den Bereich einer anderen Wissenschaft von der Religion: der Religionsphänomenologie. Die Religionsphänomenologie ignoriert die historische Entwicklung der Religion („von einer historischen ,Entwicklung der Religion weiß die Phänomenologie nichts“: van der Leeuw). Ihr Ziel ist vor allem, aus der Vielfalt der religiösen Phänomene die verschiedenen Strukturen herauszulösen. Nur die Struktur kann uns helfen, den Sinn religiöser Phänomene unabhängig von ihrer Stellung in Raum und Zeit und ihrer Zugehörigkeit zu einem gegebenen kulturellen Milieu zu erhellen. Dadurch erlangt die Religionsphänomenologie eine Allgemeingültigkeit, die einer Religionsgeschichte, die sich dem Studium der Einzelreligionen widmet und aus diesem Grund der unausbleiblichen Zersplitterung der Spezialisierung ausgesetzt ist, fehlt. Ohne Zögern gibt sich die Phänomenologie als Wissenschaft sui generis, als wesensmäßig verschieden von der Religionsgeschichte („die Religionsphänomenologie ist nicht Religionsgeschichte“: van der Leeuw). Ist dies das letzte Wort? Zweifellos verkörpert die Phänomenologie auf dem Gebiet unserer Forschungen die wichtigste Neuerung des letzten halben Jahrhunderts (wenn man von einigen Vorläufern absieht). Aber man stellt sich nicht ohne Verlegenheit

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darauf ein, die Aufteilung der Religionswissenschaft in zwei verschiedene Wissenschaften, eine historische und eine phänomenologische, als endgültige Gliederung zu akzeptieren, und man ist versucht, zu fragen, ob es denn unbedingt notwendig sei, diesem dualistischen System die auf die Einheit ihres Gegenstandes gegründete Einheit unserer Wissenschaft zu opfern. Sicherlich stellt die Phänomenologie angesichts einer Religionsgeschichte, die sich ausschließlich der spezialisierten „philologischen“ Forschung (die Bezeichnung „philologisch“ ist hier im weitesten Sinne zu verstehen) widmet, die den „kulturellen“ Manifestationen der Religion zu viel und den wesentlichen Werten des religiösen Lebens und der religiösen Erfahrung zu wenig Interesse entgegenbringt, eine ebenso legitime wie verdienstvolle Reaktion dar. Dennoch ist es angebracht, die Frage zu erheben, ob das der am besten begründete Standpunkt ist und ob man nicht der Religionsgeschichte etwas von ihrer Bedeutung nimmt, wenn man hie auf die Erforschung der Einzelreligion und deren Geschichte beschränkt. Von einem generellen Standpunkt aus betrachtet, steht der Begriff der Geschichte selbst auf dem Spiel. Die Auffassung von der Geschichte als einfacher Kenntnis der Vergangenheit, einer Vergangenheit, die vollständig von der Gegenwart losgelöst wäre, diese Idee einer vom Leben getrennten Geschichte wird von Historikern abgelehnt, die sich von philosophischen Systemen anregen lassen, welche sich von demjenigen unterscheiden, das die Grundlage der Phänomenologie abgibt. Und ist insbesondere im Hinblick auf die Religionsgeschichte die Behauptung berechtigt, diese habe uns über den Sinn der religiösen Phänomene nichts zu sagen und die geschichtliche Entwicklung sei für die phänomenologische Interpretation durchaus gleichgültig und könne völlig außer Acht gelassen werden? Die Tatsache, dass sich religiöse Phänomene unter diesen oder jenen Strukturen einordnen lassen, besagt nicht, dass sie aufhören, geschichtlich bedingte Realitäten zu sein. Läuft das phänomenologische Urteil (das „Verstehen“) nicht gegebenenfalls Gefahr, bestimmten Phänomenen, deren Ähnlichkeit nur in der täuschenden Spiegelung einer Konvergenz wesensmäßig unterschiedener Entwicklungen besteht, einen ähnlichen Sinn beizumessen — oder aber umgekehrt den univoken Sinn bestimmter Phänomene nicht zu erfassen, deren wirkliche Homogenität sich unter einer scheinbaren oder rein äußerlichen Unähnlichkeit verbergen könnte? Diese Gefahren lassen sich nur durch stete Bezugnahme auf die Geschichte umgehen. Die Phänomenologie ist sich dessen bewusst und gibt das zu. Sie erklärt, sie sei von der Geschichte abhängig und ihre eigenen Schlüsse bedürften angesichts des Fortschritts der historischen Forschung immer wieder der Überprüfung. Wie stellt sich also das wirkliche systematische Verhältnis zwischen diesen beiden den gleichen Gegenstand umgreifenden und so eng zusammenarbeitenden Wissenschaften dar? Handelt es sich in der Tat um zwei verschiedene Wissenschaften? Oder sind sie in Wirklichkeit nicht nur zwei voneinander abhängige Instrumente der gleichen Wissenschaft,

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zwei Formen der Religionswissenschaft, deren aus vielen Teilen zusammengesetzte Einheit derjenigen ihres Gegenstandes entspricht, der Religion nämlich, die zwei verschiedene Elemente umfasst: die innere Erfahrung und die äußeren Manifestationen? Die Zweiteilung der Religionswissenschaft in Phänomenologie und Geschichte würde demnach keine endgültige Aufgliederung unserer Forschungsbereiche bedeuten, sondern wäre lediglich eine Etappe auf dem Weg zum Aufbau einer einzigen Religionswissenschaft auf deren wesentlichen Grundlagen und in ihrer integralen Form. Man sollte sich sogar die Frage stellen, ob das dualistische System im Grunde nicht gewissermaßen mit einem anderen, weit älteren Dualismus zusammenhängt, der sogar bis zu den Anfängen der Religionswissenschaft zurückreicht und auf unser Forschungsgebiet einen dauernden – negativen – Einfluss ausgeübt hat. Ich meine den genetischen Dualismus, die beiden Quellen, deren eine der Theologie entspringt, während die andere aus den humanistischen Studien kommt. Man kann wohl kaum sagen, dass ihre Wasser die verschiedenen Hindernisse vollständig überwunden hätten, die schuld daran sind, dass sie in dem großen Strom der Religionsgeschichte nicht vollständig ineinander aufgehen konnten. Zwei Bedingungen werden in der Zukunft der Religionswissenschaft eine wichtige Rolle zu spielen haben: einmal die Verwirklichung der empirische Einheit über alle herkömmliche Trennung zwischen biblischen und profanen Religionen hinweg und zum anderen die Verwirklichung der systematischen Einheit über alle dualistischen oder pluralistischen Tendenzen hinweg. […] ‚Numen‘ kann weder Ausdruck einer Schule, noch einer Gruppe, noch einer bestimmten Tendenz sein. Es ist das Organ einer internationalen Vereinigung. Als solches hat es keine Theorie zu propagieren, keinem System den Vorrang zu geben. Es wäre völlig verfehlt, in dieser oder jener Richtung eine bestimmte Position zu beziehen. Die verschiedenen Tendenzen werden in ‚Numen‘ ver treten sein; die verschiedenen Ausrichtungen werden das gleiche Recht auf Diskussion haben. Dies besagt, dass jeder Mitarbeiter für seine eigenen Ideen verantwortlich sein wird. Die Verantwortlichkeit der Zeitschrift wird lediglich technischer Natur sein. Noch einmal kommt uns der alte Gedanke des Symposions in den Sinn, nicht des Symposions eines Clans, bei dem jedes Mitglied aus dem gemeinsamen Becher trinkt, manchmal bis es betrunken ist, sondern vielmehr das einer freien Gemeinschaft, in der jeder sein Glas hebt und seinen Gästen im Geiste der sympatheia, wenn nicht der agape, in die Augen blickt: allen Gästen, auch denen, die am anderen Ende des Tisches Platz genommen haben – und es ist um so besser, wenn die Tafel rund ist, so rund wie möglich.

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4. Fragen zum Text 1. Was meint Pettazzoni, wenn er die Religionswissenschaft als „konstruktiv“ bezeichnet? 2. Warum greifen Wissenschaften, die von außen an den Gegenstand Religion herangehen nach Pettazzoni zu kurz? 3. Wie beurteilt Pettazzoni die Erforschung der Religionen unter „Einbeziehung heterogener Gebiete und Öffnung gegenüber anderen Welten“? 4. Würde eine Konzentration auf das Religiöse selbst nicht zu größeren Erkenntnissen führen? 5. Wie charakterisiert Pettazzoni die Religionsphänomenologie? Nimmt er die Fülle verschiedener Ansätze in diesem Bereich hinreichend wahr? 6. Welche Argumente führt Pettazzoni ins Feld, um die Einheit der Religionswissenschaft zu wahren? 7. Warum hält Pettazzoni die Religionsphänomenologie für „eine ebenso legitime wie verdienstvolle Reaktion“ gegenüber Positionen, „die den kulturellen Manifestationen der Religion zu viel und der religiösen Erfahrung zu wenig Interesse entgegen bringt? 8. Welche Gefahren sieht Pettazzoni in einer Religionsphänomenologie, für welche die geschichtliche Entwicklung „gleichgültig [ist] und […] völlig außer Acht gelassen werden (kann)“. 9. Pettazzoni hält die Zweiteilung der Religionswissenschaft in Geschichte/Religionsphänomenologie „lediglich“ für eine Übergangsphase. Welche Form von Religionswissenschaft schwebt ihm vor, wenn er von „ihrer integrativen Form“ spricht? 10. Welchen Zusammenhang meint Pettazzoni, wenn er den älteren Dualismus (Theologie/humanistische Studien) mit dem neuen Dualismus (Religionsgeschichte/Religionsphänomenologie) in Beziehung setzt? 11. Welche doppelte Einheit hat Pettazzoni im Sinn? Wie ist Ihre Meinung dazu? 12. Der letzte Absatz von Pettazzonis Aperçu introductif angesichts des Erscheinens der internationalen Zeitschrift Numen, deren Mitbegründer und jahrelanger Herausgeber er war, ist angesichts der derzeit vorherrschenden kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der Religionswissenschaft fast schon so etwas wie ein Vermächtnis. Haben heute jenseits von Numen hinaus wirklich „verschiedene Ausrichtungen das gleiche Recht“?

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5. Würdigung

Wie bedeutend Raffaele Pettazzoni ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod ist, demonstriert eine im September 2009 veranstaltete, hochrangig besetzte Tagung im Geburtsort Pettazzonis San Giovanni in Persiceto: Pettazzoni e la Storia delle Religioni. Drei Monate später fand in Hannover ein Symposium zum 50. Todestag des italienischen Religionswissenschaftlers statt. Pettazzoni war Gründer und Oberhaupt der „Römischen Schule“ (Scuola di Roma) der italienischen Religionswissenschaft (Storia delle religioni) und gab den Ton bis in die 1950er Jahre an. Vor allem gegen zwei Fronten profilierte sich diese Richtung: gegen den einflussreichen storicismo (Historismus) des Philosophen und Politikers Benedetto Croce, der als Neubegründer des stark von deutscher Philosophie beeinflussten italienischen Neoidealismus gilt. Croce entwickelte eine von Hegel inspirierte Philosophie des Absoluten Historismus (storicismo assoluto), die auf die italienischen Geschichtswissenschaft wirkte. Croces Geschichtskonzeption richtete sich gegen materialistische und positivistische Ansätze. In seiner Estetica (1902) wandte er sich gegen Versuche, Literatur auf der Basis geschichtlicher, soziologischer und biographischer Fakten zu erklären. In seiner Ästhetik vertrat er die Autonomie des Kunstwerks. Der Forscher stützt sich auf seine Intuition, nicht aber auf anderweitige äußere Informationen soziologischer, biographischer u.a. Natur. Croces Philosophie war eurozentrisch und zeigte geringes Interesse an Religion/ en. Doch wurde gerade Croces Meinung in Mussolinis Diktatur geduldet. Geschichte war für Croce idealistisch der Ort der Entfaltung des schöpferischen Geistes. Demgegenüber ist für Pettazzoni Geschichte der Ort kultureller Prozesse, Interdependenzen und struktureller Veränderungen. Wesentlich war für ihn der religionsgeschichtliche Vergleich (metodo storico-comparativo). Die zweite Front war der in Italien allüberall und immer anzutreffende Katholizismus, dem gegenüber Pettazzoni die (konfessionslose) Eigenständigkeit der Religionswissenschaft erfolgreich verteidigte. Er verwarf die von der Kirche gern aufgenommene These vom Urmonotheismus der Wiener Schule Pater Wilhelm Schmidts. Seit Anfang der 1940er Jahre bildeten Pettazzoni und seine Schüler Ugo Bianchi (1922–1995), Angelo Brelich (1913–1977), Ernesto De Martino (1908–1965), Vittorio Lanternari (1918–2010), Dario Sabbatucci (1923–2003) die Scuola romana di studi storico-religiosi oder di Storia delle religioni. Insbesondere die Rezeption ethnologischer Fragestellungen prägte diese Schule, zu der auch der Iranist Uberto Pestalozza (1872–1966) gehörte, der über den Zoroastrismus und Manichäismus publizierte. Das zentrales Thema Raffaele Pettazzonis, das ihn bis zu seinem Lebensende beschäftigte, war die Erforschung der höchsten Himmelswesen im Glauben fälschlich sog. primitiver Völker. Dabei trat er entschieden der sog. Urmonotheismus-These entgegen, die den Hochgottglauben als Zeugnis einer Uroffenbarung Gottes deutete und

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in Beziehung mit dem biblischen Monotheismus setzte. Dagegen setzte Pettazzoni seine These, dass der Begriff des allwissenden höchsten Wesens einen besonderen gedanklichen Komplex darstellte, der bei Hirten- und Nomadenvölkern entstand. Die monotheistische Gottesidee des Alten Testaments, bestimmend für Judentum, Christentum und Islam, stellte eine bewusste Revolution gegen einen vorherigen Polytheismus dar. Pettazzonis bleibendes Interesse galt den autochthonen Religionen. Pettazzoni arbeitete auf verschiedenen Gebieten der Religionsgeschichte und leistete beachtliche Beiträge zur Phänomenologie der Religion. Dabei sprach er sich zu Recht gegen eine einseitige Verabsolutierung der (unhistorischen) phänomenologischen Methode aus, welche den Sinn der religiösen Phänomene in ihren Strukturen finden wollte, ohne ihr geschichtliches Werden zu berücksichtigen. Pettazzoni trat für ein enges Zusammenwirken von Phänomenologie und philologisch-historischer Forschung ein. Religionen können nicht ohne den kulturell-geschichtlichen Kontext und ihre Entwicklung verstanden werden, andererseits müssen bei der komparatistischen Betrachtung von Kulturen unbedingt auch ihre Religionen mit einbezogen werden. Diese Position formulierte er kritisch gegen die italienische laizistische Geschichtswissenschaft (Croce, Adolfo Omodeo), die Pettazzonis Methoden und Zielsetzung nicht sehr nützlich für die Erforschung der eigentlichen Probleme der Geschichte bezeichnet hatten. Bei aller Würdigung der wissenschaftlichen und wissenschaftsorganisatorischen Leistungen Pettazzonis darf nicht vergessen werden, dass der Gelehrte offene Ohren und Augen für die kulturellen und sozialen Probleme seiner Zeit hatte, dass er für die Verteidigung der sozialen und und laizistischen Werte eintrat und das öffentliche Bildungssystem förderte. Sein Einsatz für die religiöse Freiheit und die Freiheit der Kultur sollte nicht unterschätzt werden.

6. Weiterführende Arbeitsaufgaben 1. Pettazzoni zeigt mit Hilfe der von ihm entwickelten vergleichend-historischen Methode, wie sehr die Gottesvorstellungen und das Heilige in den jeweils historisch-kulturellen Kontext eingebunden sind. Was meinte er damit, wenn er vor „vorschnellen Verallgemeinerungen“ warnte? 2. Informieren Sie sich anhand von Johann Figl (Hg.): Handbuch der Religionswissenschaft, Innsbruck 2003 über den neuesten Stand in der Gott und Götter-Forschung (Birgit Heller: Götter/Göttinnen, a.a.O., S. 530–544; Johann Figl: Gott – monotheistisch, S. 545–558) und stellen Sie fest, ob neuere Erkenntnisse gegenüber Pettazzoni vorliegen.

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3. Setzen Sie sich mit Pettazzonis Konzeption des Mythos („wahre Geschichte“) auseinander. Welche anderen Auffassungen von Mythos gibt es in der Religionswissenschaft? Lektürevorschlag: Hans Gerald Hödl: Mythos. In: Figl: a.a.O., S.570–587. 4. Religion war für Pettazzoni nicht identisch mit Kultur, sondern besitzt einen autonomen Charakter. Vergleichen Sie Pettazzonis Ansicht mit der bedeutender Religionsphänomenologen (z.B. van der Leeuw, Eliade).

7. Auswahlbibliographie Primärliteraratur

Primitive religion in Sardinia, 1912. The religion of Zarathustra in the religious history of Iran, 1920. Religion in ancient Greece until Alexander, 1921. God: training and development of monotheism (Vol. I: The heavenly beings in the beliefs of primitive peoples, 1922). Mysteries, 1924. The confession of sins (3 vols., 1929–1935). Essays on the history of religion and mythology, 1946. Myths and legends (4 vols., 1948 –1963). Essays on History of Religion, 1954. The omniscience of God, 1955. The supreme being in primitive religions, 1957. Religion and Society (posthum 1966). Sekundärliteratur

Bleeker, C.J./Brelich, Angelo/Widengren, Geo: In memoriam Raffaele Pettazzoni. In: Numen VI, 2 (Dezember 1959), S. 47f. Dörr, Georg/Mohr, Hubert: Religionswissenschaft und Kulturwissenschaft. Die Schule von Rom und die deutsche Religionswissenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts. In: Christoph Auffarth/Rüpke, Jörn (Hg.): Epitome tes oikumenes, Stuttgart 2002, S. 263–284. Stausberg, Michael: Art. Pettazzoni, Raffaele. In: TRE 26 (2000), S. 319–323. Ders.: Raffaele Pettazzoni and the History of Religions in Fascist Italy (1928–1938). In: Horst Junginger (Hg.): The Study of Religion under the Impact of Fascism, Leiden 2008, S. 365–395. Terrin, Aldo Natale: The Study of Religions in Italy. In: Johannes G. Platvoed und Gerald A. Wiegers (Hg.): Modern Societies & the Science of Religions, Leiden 2002, S. 373–387.

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9. Walter Baetke (1884–1978) 1. Biographie

Walter Hugo Hermann Baetke wurde am 28. März 1884 im heute polnischen Torzym, dem früheren Sternberg in der Neumark, östlich von Frankfurt/Oder, geboren. Er wuchs in Stettin auf und begann sein Studium 1902 in Halle an der Saale. Er setzte es in Berlin fort, wo er 1907 sein Staatsexamen für das höhere Lehramt bestand. Seine Hauptfächer waren Germanistik und Anglistik, hinzu kamen Pädagogik und Philosophie. Von 1910–1913 war Baetke Studienrat am Stadtgymnasium in Stettin. Seit 1913 leitete er das Realgymnasium in Bergen auf Rügen. Bereits 1908 wurde er mit seiner anglistischen Arbeit „Kindergestalten bei den Zeitgenossen und Nachfolgern Shakespeares“ zum Dr. phil. promoviert. Danach war er an einigen Schulen tätig, zunächst in Mitteldeutschland, dann in Stettin, schließlich ab 1913 als Studiendirektor an der Ernst-Moritz-Arndt-Schule in Bergen auf Rügen. In dieser Zeit erarbeitete er sich im Selbststudium die Grundlagen seiner späteren wissenschaftlichen Karriere. Er beschäftigte sich mit der niederdeutschen Sprache und mit altnordischer (altisländischer) Literatur. Baetke übersetzte viele Werke der nordischen Sagaliteratur. Seinen ersten Lehrauftrag für Germanische Religionsgeschichte nahm er an der Universität Greifswald 1934 wahr. Ihm folgte ein Lehrauftrag (13.6.1934) für Germanische Religionsgeschichte an der Universität Leipzig. Dort wurde Baetke zwei Jahre später (5. Februar 1936) – nach dem plötzlichen Tod des aus Jena gekommenen Leipziger Ordinarius Hans Haas – 1934 zum Professor für Religionsgeschichte berufen. 1946 ernannte ihn die Theologische Fakultät zu Leipzig zum Ehrendoktor. Im selben Jahr berief man ihn auf den Lehrstuhl für Nordische Philologie an der Philologischen Fakultät der Universität Leipzig, wo er von 1948–1950 Dekan der Philosophischen Fakultät war. 1934 wurde Baetke zum ordentlichen Mitglied in die Sächsische Akademie der Wissenschaften in Leipzig gewählt. Während der NS-Zeit trat Walter Baetke mit seinen Forschungsergebnissen in öffentlichen Vorträgen und Aufsätzen dem politisch instrumentalisierten nationalsozialistischen Germanen-

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bild entgegen. Er wollte den Menschen Kenntnisse vermitteln, die sie befähigen, der häufig religiös akzentuierten NS-Propaganda fundiertes Wissen entgegenzusetzen. Da staatliche Räume hierfür nicht bereitgestellt wurden, hielt er diese Vorträge oft in Kirchen. Ein Zeitzeuge erinnert sich: „Es war ergreifend, miterleben zu dürfen wie Tausende von Menschen – Akademiker bis zum Arbeiter, ja bis zum soeben erst entlassenen KZ-Häftling – in den großen Stadtkirchen zusammenkamen, nur um die objektive Wahrheit zu erfahren, nur um Tatsachen zu hören.“81 Die Staatsmacht reagierte barsch. Walter Baetke bekam dies bis hin zur Androhung von KZ-Haft zu spüren. Nach dem Kriegsende widmete sich Walter Baetke der demokratischen Neueröffnung der Universität Leipzig und insbesondere dem geistigen Wiederaufbau von Gesellschaft und Universität. Bemerkenswert war Baetkes Engagement in der evangelischen Kirche. 1945 wurde er Mitglied der Sächsischen Bekenntnissynode. 1946 trat er in die SPD ein, die dann mit der KPD zwangsvereint zur SED wurde. Dort übernahm Baetke keine besonderen Funktionen. 1947 gehört er der ersten Sächsischen Landessynode an. 1948 nahm er als deren Vertreter an der Weltkirchenkonferenz in Amsterdam teil. Zeichen von Baetkes internationaler Anerkennung waren Gastvorlesungen über altnordische Literatur- und Religionsgeschichte an den schwedischen Universitäten in Uppsala und Lund im Wintersemester 1949/50. Im April 1955 nahm er als Mitglied der DDRDelegation am 8. Internationalen Kongress für Religionsgeschichte in Rom teil. Bis 1955 wirkte Walter Baetke in der Leipziger Philosophischen Fakultät gleichzeitig als ordentlicher Professor für Religionsgeschichte, als ordentlicher Professor für Nordische Philologie und als Direktor des Religionsgeschichtlichen Institutes. Auch nach seiner Emeritierung im Jahr 1955 leitete er noch bis 1959 die Nordistik und Religionsgeschichte kommissarisch. 1959 wurde Baetke der Vaterländische Verdienstorden in der Stufe Silber verliehen. Dieser Orden zeichnete Persönlichkeiten aus „für besondere Verdienste a) im Kampf der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung und im Kampf gegen den Faschismus, b) beim Aufbau, bei der Festigung und Stärkung sowie beim Schutz der Deutschen Demokratischen Republik, c) im Kampf um die Sicherung des Friedens sowie bei der Erhöhung des internationalen Wirkens der Deutschen Demokratischen Republik“. Die Verleihungen des Ehrentitels fanden alljährlich am 7. Oktober, dem Tag der Republik, statt. Sie erfolgte ab 1960 durch den Ministerrat. 1964 erhielt Baetke einen weiteren nationalen Preis. Er wurde als „Hervorragender Wissenschaftler des Volkes“ ausgezeichnet. Der Preis konnte „verdienstvollen Persönlichkeiten in Anerkennung ihrer in Forschung und Lehre erbrachten hervorragenden Gesamtleistungen auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, der Technik, der Medizin 81 Christoph Bock: Prof. Dr. Dr. h.c. Walter Baetke. In: Broschüre Marienbrunner Lebensläufe, o.J. S. 17f., hier S. 17 (http://www.gartenvorstadt-leipzig-marienbrunn.de/persoenlichkeit/persoenlichkeiten.pdf; Zugriff: 24.10.2010)

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sowie der Gesellschaftswissenschaften im Dienste der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der DDR und der Sicherung des Friedens verliehen werden.“ Walter Baetke war federführend bei der Erarbeitung des Wörterbuches zur altnordischen Prosaliteratur als Projekt der Sächsischen Akademie der Wissenschaften (dieses Werk liegt heute in der 7. Auflage vor und ist als „der Baetke“ das deutschsprachige Standardwerk unter den altnordischen Wörterbüchern). Bis zu seinem Tode am 15. Februar 1978 lebte Baetke im Leipziger Stadtteil Marienbrunn. Auf ausdrücklichen Wunsch wurde er auf dem Leipziger Südfriedhof kirchlich bestattet.82

2. Inhaltsangabe Von seinen zahlreichen Büchern und Aufsätzen soll Baetkes Aufsatz „Das Phänomen des Heiligen in den Religionen“ (abgedruckt in: Kleine Schriften, Weimar 1973, S. 56–84) ausgewählt werden, der ursprünglich unter dem Titel „Das Phänomen des Heiligen“ in Baetkes Schrift „Das Heilige im Germanischen“, Tübingen 1942, S.1–46 erschienen war.

Baetke stellt Nathan Söderbloms klassische Definition an den Anfang: „Holiness is the great word in religion. It is even more essential than the notion of God“.83 Ohne auf das Problem der Notwendigkeit Gottes für die Existenz von Religion einzugehen, hält er fest, dass Religion überall da ist, wo zwischen Heiligem und Profanem unterschieden wird. In Fußnote 3 weist er auf die zweite Konzeption vom Heiligen hin, wie es Durkheim definiert hat. Bei den beiden Autoren liegen jedoch völlig unterschiedliche Theorieansätze vor, und holiness bzw. Le sacré sind keineswegs miteinander identisch. Baetke referiert die verschiedenen etymologischen Ableitungen von heilig, wobei vor allem „machterfüllt, kraftgeladen“ eine herausragende Rolle spielen. Aus dieser Bedeutung habe sich allmählich die Bedeutung von sanctus entwickelt. „Mit anderen Worten: Die Bedeutungsentwicklung des Wortes heilig wird mit der Annahme eines religiösen bzw. geistigen Entwicklungsprozesses erklärt“ (57). Es sind hauptsächlich Theorien einer „heterogenen Entwicklung“ (58) der Religion/en, welche die theoretischen Grundlagen für solche Ableitungen darstellen. Baetke referiert bekannte Religionstheorien aus dem 19. Jahrhundert, die alle davon ausgingen, dass Religion auf etwas Vorreligiöses zurückging, ableitbar war aus Geisterglauben, Seelenvorstellungen, 82 Kurt Rudolph: Walter Baetke (1884–1978). In: Ders.: Geschichte und Probleme der Religionswissenschaft, Leiden 1992, S. 368–378. 83 Söderblom schreibt nicht „heilig“ (holy), wie Baetke übersetzt, sondern spricht von „holiness“ (Heiligkeit).

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Natureindrücken, Magie u.a. „Es ändert nichts wesentliches, wenn man auch noch ein prämagisches oder ein präanimistisches Stadium ansetzte. Immer kam es doch darauf hinaus, dass Religion sich aus einem vorreligiösen, nichtreligiösen Zustand entwickelt habe“ (58). In der neueren Religionswissenschaft spielt nach Baetke der Macht-Gedanke eine wichtige Rolle, und verschiedene Religionswissenschaftler haben ihre Auffassung von Religion darauf zurückgeführt, zum Beispiel Söderblom und Gerardus van der Leeuw (vgl. § 1 seiner Phänomenologie der Religion). Der Hauptteil von Baetkes Beitrag setzt sich kritisch mit gängigen Religionstheorien auseinander: „Die Theorie der heterogenen Entwicklung. – 2. Die Mana- oder MachtTheorie. – 3. Das religiöse Erlebnis und das numinose Gefühl. – 4. Die Frage nach dem Ursprung der Religion. – 5. Der Gemeinschaftscharakter der Religion. – 6. Die religiöse Überlieferung und der Glaube. – 7. Die normative (ethische) Seite des Heiligen“ (60). Unter Hinweis auf die von Rudolf Otto gegenüber Wilhelm Wundts Religionstheorie vorgetragenen Argumente weist Baetke die Theorie von der heterogenen Entwicklung ab; „denn nichts kann sich aus etwas anderm [sic] entwickeln, es sei denn, dass es in diesem irgendwie, wenn auch nur keimhaft, schon enthalten war […] So kann sich auch Religion, sofern sie ein eigenes, von andern unterschiedenes Phänomen ist, nicht aus nicht-religiösen Elementen entwickelt haben; sie muss – auch schon in ihren primitiven Anfängen – schon Religion gewesen sein.“ (61) Dieselbe Argumentation gilt auch für die Magie. Bei der Thematisierung der „Mana- oder Macht-Vorstellung“ referiert Baetke die klassischen Positionen (Codrington, Marett, Frazer), um dann das Fazit zu ziehen. Mit dem Heiligen ist stets auch der Machtgedanke verbunden. „Aber heilig ist darum nicht ein von der Macht abgeleiteter oder aus ihr entwickelter Begriff. Vielmehr erscheint Macht als ein Attribut des Heiligen. […] Macht (mana) ist kein Urphänomen im religiösen Sinne, sondern ist abhängig von dem religiösen Phänomen des Heiligen. Nur auf dieser Grundlage lässt es sich überhaupt sinnvoll bestimmen“ (65). Sehr ausführlich setzt sich Baetke mit der Erlebnistheorie des Theologen Rudolf Otto auseinander, wie sie u.a. W. Hauer und Gustav Mensching vertreten, auf die er sich ausdrücklich bezieht. Es geht im Kern darum, dass Otto u.a. die Auffassung vertraten, „ dass dem religiösen Erlebnis eine sinnliche Wahrnehmung bestimmter Art zugrunde liege, entsprechend dem von Müller geprägten Satz: Nihil est in fide, quod non ante fuerit in sensu [„Nichts ist im Glauben, was nicht vorher in den Sinnen war“].“ (66). Baetke kritisiert grundsätzlich den Gedankengang, etwas Übernatürliches sinnlich wahrnehmen zu können. „Entweder ist die Macht etwas Natürliches, eine physikalische oder biologische Energie, dann ist sie spürbar und erlebbar und geht die Religionswissenschaft nichts an, oder aber sie ist übernatürlich, dann können wir sie weder spüren, noch wittern.“ (66f.) Ottos Gedanken eines besonderen, numinosen Gefühls hält Baetke für einen Irrweg. „Er [Otto] legt dem numinosen Gefühl den Charakter eines Realitätsgefühls bei, d.h. eines

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solchen, das zuerst und unmittelbar auf ein Objekt außer mir geht [im Original gesperrt]. Diese primär objekt-bezogene Gefühlsbestimmtheit ist es, die er zu ergründen sucht, aber nur, um auf diese Weise doch wieder – bloß eben auf indirektem Wege – zu einer Bestimmung des objektiv Heiligen selbst zu gelangen. Ja, Otto geht eigentlich über v.d. Leeuw noch hinaus. Während dieser von der Macht nur aussagt, dass sie auf ungewöhnliche Weise wirkt, untersucht Otto diese Wirkung – und zwar im menschlichen Gemüt – und bestimmt daraus Art und Wesen der bewirkenden Ursache.“ (67) Baetke hält Ottos Ansicht, mit dem Gefühl das numinose Objekt, das Heilige, zu erfassen, für einen fundamentalen erkenntnistheoretischen Fehler: „Mit dem Gefühl allein kann man keine objektive Realität perzipieren; es ist kein Organ der Objektauffassung, sondern ganz und gar subjektiv. […] Otto glaubte sich auf den Ätherwellen des numinosen Gefühls sozusagen unmittelbar ins Transzendente schwingen zu können. Aber ein Organ für die Erfassung der unsinnlichen Wirklichkeit hat die Natur dem Menschen versagt. Über Dasein und Wesen des objektiv Heiligen, der Macht oder des Göttlichen, geben uns die religiösen Gefühle keinen Aufschluss“ (69). Baetke kritisiert Ottos Auslegung von Gen 28,17, die dieser als Beleg für ein religiöses Urerlebnis deutet (wie im Übrigen auch Mircea Eliade). Jakob hat nach Baetke nicht zum ersten Mal Gott oder das Heilige erfahren; denn im war bereits vorher der Gott bekannt. „Indem Otto davon ausgeht, interpretiert er den Vorgang religionswissenschaftlich unrichtig. Jakob wird die Heiligkeit des Gottes weder durch den Traum offenbar noch haftet er an dem Ort des Traumes; sondern es ist genau umgekehrt: der Gott, den Jakob als heiligen erkennt, erscheint ihm im Traum und macht für Jakob eben dadurch den Platz, wo er geruht hat, heilig“ (70). Bei seiner Diskussion um den „Ursprung oder Anfang der Religion“ (71) bezieht sich Baetke ebenfalls auf die von ihm so genannten Erlebnistheoretiker im Gefolge Rudolf Ottos. Diese unterscheiden nicht deutlich genug zwischen dem Beginn der religionsgeschichtlichen Entwicklung und dem Anfang der Religion im Individuum. Baetke resümiert: „Sie [die Religionsgeschichte] findet aber am Anfang nicht ein religiöses Urerlebnis; sie stößt – mag sie an Hand der ihr zur Verfügung stehenden Quellen noch soweit in der Zeit zurückgehen – niemals auf ein erstes religiöses Erlebnis, eine numinose Regung oder den Durchbruch eines numinosen Urgefühls, sondern immer und überall auf voll ausgebildete Religionen und Menschen, die in einer solchen geschichtlichen Religion stehen“ (73). Ein für Baetke wesentlicher Abschnitt diskutiert das Problem von Gemeinschaft, Individuum und Religion (die Reihenfolge ist bewusst so gewählt). Im Unterschied zu den Erlebnistheoretikern, die das religiöse Erleben des Individuums in den Mittelpunkt stellen, ist für Baetke die Gemeinschaft das Primäre. Ohne Mensching ausdrücklich zu nennen, konstatiert Baetke dessen Grundeinsicht bei seiner Unterscheidung zwischen Volks- und Universalreligionen. In den Volks- und Stammesreligionen fällt die politische

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und religiöse Gemeinschaft „in eins zusammen“ (74). „Religion ist ihrem Wesen [im Original gesperrt] nach Gemeinschaftssache. Der einzelne Mensch wächst in die Religionsgemeinschaft hinein wie in die Sprachgemeinschaft; er übernimmt von ihr die Religion, wie er die Sprache von der Gemeinschaft des Volkes übernimmt“ (76). Unter Rückgriff auf Durkheim formuliert Baetke „Religion ist darum nicht eine individuelle oder private, sondern eine soziale Angelegenheit wie die Sprache“ (ebd.). Anschließend beschäftigt sich Baetke mit dem Verhältnis von „Überlieferung und Glaube“. Religion wird dem Einzelnen durch seine Gemeinschaft übermittelt, und er übernimmt sie, zum Beispiel bei den in zahlreichen Religionen bekannten Initiationsriten. Bloßes traditionelles Wissen macht aber noch nicht Religion aus; denn „Religion ist weder Wissen, noch Technik, sondern Glaube [im Original gesperrt]“ (79). Durch die Begehung des Ritus und die Anerkennung des religiösen Gesetzes „wird er zur verantwortlichen Persönlichkeit und dadurch befähigt, Pflichten und Rechte in der Gemeinschaft wahrzunehmen. Diese im mystischen Akt der Personwerdung eingeschlossene Annahme nennen wir Glauben [im Original gesperrt]“ (ebd.). Für Baetke sind Überlieferung und Glauben die beiden tragenden „Pfeiler jeder Religion“ (80). Baetke gelangt zu dem Schluss: „Der Glaube ist in religionswissenschaftlicher Betrachtung nicht Urschöpfung, sondern Zeugung; er lebt aus dem von der religiösen Gemeinschaft behüteten Besitz an religiösen Vorstellungen, Mythen, Riten und Kulten“ (ebd.). Zuletzt thematisiert Baetke „die ethische Seite des Heiligen“, wobei er seine Position wieder antithetisch zu den Erlebnistheoretikern entwickelt. Er hält es für das wichtigste Anliegen Ottos, „einen Begriff des Heiligen (Numinosen) zu konstruieren, dem das Moment des Sittlichen, überhaupt des Normativen fehlt“ (80). Bekanntlich definierte Otto das Numinose als das „Heilige minus seines sittlichen Moments“. Für Baetke steht fest: Das Heilige ist stets verknüpft „mit dem Gedanken sittlicher Verpflichtung“ (81). Das Heilige erstreckt sich nicht nur „auf Menschen, Sachen und Tatsachen, sondern auch auf Normen und Werte“ (81). „Echte Religion wird an dem heiligen Sollen erkannt, dass sie verkündet und dem sich der Gläubige unterwirft“ (83). Der Autor fasst abschließend seine Ansichten thesenartig zusammen.

3. Ausgewählter Quellentext

Die systematische Theologie konnte sich vor den Folgerungen der Religionsgeschichtlichen Schule, sofern sie diese anerkannte, nur retten durch den Rückgriff auf die „natürliche Theologie“ der älteren Dogmatik, die auch die nichtchristlichen Religionen auf göttliche Offenbarung (die sog. „allgemeine“ im Gegensatz zu der „besonderen“ Offenbarung in Christo) zurückführt; so schien es möglich, das Christentum, ohne ihm seinen Vorrang zu nehmen, doch in den Kreis der übrigen einzureihen. Der

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schwedische Theologe N. Söderblom erklärte es 1913 als das Gebot der Stunde, an die Stelle der „natürlichen Theologie“ die allgemeine Religionswissenschaft zu setzen und diese so gleichsam zum Unterbau der christlichen Theologie zu machen. Ähnlich wird das Verhältnis noch heute von manchen Vertretern der Religionsgeschichtlichen Schule gesehen. Auch dieser Auffassung liegt die Meinung zugrunde, dass alle Religionen auf göttlicher Selbstmitteilung beruhen. Söderblom sprach es als seine Überzeugung aus, dass in aller Religion, wie primitiv oder verkommen sie auch sei, doch etwas von Wahrheit und demnach von göttlichem Ursprung stecke. Man sieht, wie in den beiden Richtungen schließlich alles auf die Offenbarungsfrage hinauskommt. Der junge Theologe, der heute seinen Standpunkt zwischen diesen verschiedenen Lehrmeinungen wählen will, wird sich über folgendes klar sein müssen: Offenbarung ist kein wissenschaftlicher, sondern ein Glaubensbegriff; er stammt aus der christlichen Theologie und hätte nie in die Religionswissenschaft, auch nicht in die Religionsphilosophie übernommen werden sollen. Ob Gott sich in dem Menschen Jesus von Nazareth, ob er sich darüber hinaus in der Geschichte oder Natur offenbart hat bzw. noch offenbart, sind Fragen, die keine Wissenschaft und keine Philosophie beantworten kann, über sie urteilt einzig und allein der Glaube. Darum kann es auch keine wissenschaftliche Feststellung darüber geben, ob die Religionen auf Offenbarung beruhen, ob in ihnen eine unmittelbare Gottesbeziehung steckt und welcher Art diese ist. Ebenso wenig – was hiermit zusammenhängt – unterliegt die Wahrheit oder Gültigkeit einer Religion dem Urteil der Religionswissenschaft. Alle diese Fragen kann der Theologe (ebenso wie der Nicht-Theologe) nur von seinem Glauben aus entscheiden (auch was Paulus im Römerbrief über die Gottesoffenbarung sagt, ist eine theologische Aussage und setzt den Christusglauben voraus). Einer Verschmelzung von Theologie und Religionswissenschaft, die mit der Annahme einer Uroffenbarung in den Religionen begründet wird, kann daher die Religionswissenschaft nicht zustimmen; die Offenbarung als verbindendes Glied zwischen Christentum und den übrigen Religionen scheidet für sie aus. Sie hat es ausschließlich mit den geschichtlichen Tatsachen als solchen, nicht mit dem, was sie theologisch bedeuten, zu tun. Andererseits kommt es der Religionswissenschaft auch nicht zu, die Aufgabe der Theologie von sich aus zu bestimmen. Versteht sich diese, wie es in dem vorliegenden Buche der Fall ist, als die Selbstbesinnung des christlichen Glaubens und beruht dieser eben nach ihrem Verständnis auf der Offenbarung Gottes in Christus, so hat die Religionswissenschaft das gelten zu lassen. Und sie wird daraus die Folgerung ziehen, dass zwischen ihrem Aufgabenbereich und dem der Theologie eine klare Grenzlinie zu ziehen ist. Damit soll und kann aber nicht gesagt sein, dass die Religionswissenschaft den Theologen nichts angehe. Er kann aus ihr den mannigfaltigsten Nutzen ziehen. Schon

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die Klärung der religionswissenschaftlichen Begriffe (z.B. Opfer, Sühne, Sakrament, Mysterium, Mythus), wie die systematische Religionswissenschaft und die Phänomenologie der Religion sie vornehmen, kommt ihm zugute; denn mit ihnen muss auch die Theologie arbeiten. Und wenn gewisse Worte wie σωτήρ [soter: Retter, Heiland], λόγος [logos: Wort, Rede], sanctus, Heil, Sünde im Christentum einen eigenartigen Inhalt gewonnen haben, so erschließt sich ihre Bedeutung doch erst voll aus dem Grundsinn, den sie in den heidnischen Religionen, aus denen sie stammen, gehabt haben. Wichtiger aber noch sind die geschichtlichen Zusammenhänge. Abgesehen von gewissen dogmatischen und religionsphilosophischen Folgerungen, die man aus ihnen zog, war das Anliegen und die Arbeit der Religionsgeschichtlichen Schule berechtigt. Das Christentum steht als geschichtliche Erscheinung von seinem Ursprung an in mannigfachen geschichtlichen Zusammenhängen mit andern Religionen; diese zu erforschen muss der Theologie nicht weniger als der Religionswissenschaft am Herzen liegen. […] Allerdings liegen auf dem Wege der religionsgeschichtlichen Methode auch große Gefahren, und die Forschung ist ihrer nicht immer Herr geworden. Man hat auf Grund äußerer Ähnlichkeiten Abhängigkeiten festgestellt, wo keine vorliegen; und für manche löste sich schließlich die ganze Bibel in ein Geflecht von babylonischen, semitischen und hellenistischen Elementen auf; auch die Einflüsse aus den Religionen der später bekehrten Völker sind z.T. stark überschätzt worden. Aber diese Fehlgriffe und Übertreibungen sind doch von den meisten heute als solche erkannt, besonders die moderne phänomenologische Methode hat hier korrigierend und wegweisend eingewirkt. Man hat gelernt, mit dem Begriff der Entlehnung, den man anfangs sehr leichtfertig handhabte, vorsichtiger umzugehen, dafür aber umso schärfer auf das Individuelle einer jeden Religion zu achten. So kann ein richtig betriebenes Studium der Religionsgeschichte für den Theologen ein wertvolles Mittel sein, sich gerade der Eigenart des Christentums tiefer bewusst zu werden. Endlich weist auch die missionarische Aufgabe der Kirche sie auf die Beschäftigung mit der Religionsgeschichte hin. […] So wird auch der Theologe – abgesehen davon, dass er sich mit den Ergebnissen der allgemeinen vergleichenden Religionswissenschaft vertraut macht – gut tun, eine zweckmäßige Auswahl des Stoffes zu treffen. […] Liegt keine entschiedene Neigung für das eine oder andere Gebiet vor und möchte man auch in der Religionsgeschichte sich aus allen Feldern das Wichtigste aneignen, so wäre folgender Plan zu empfehlen: die babylonische Religion, die hellenistischen Mysterienreligionen, die germanische Religion, Buddhismus oder Islam und die eine oder andere der sog. primitiven Religionen. Nicht in den Aufgabenbereich der Religionswissenschaft – das sei hier vorweg bemerkt – gehört die Religionsphilosophie; vielmehr ist zwischen ihr und der Religionswissenschaft genauso klar zu scheiden wie zwischen dieser und der Theologie. Die Religionsphilosophie ist eine Disziplin der Philosophie, nicht der Religions-

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wissenschaft. Dies zu betonen besteht begründeter Anlass, da es gerade in Deutschland oft verkannt worden ist und auch heute sich immer wieder die Neigung bemerkbar macht, die Grenze zu verwischen. Die deutsche Religionswissenschaft ist von Anfang an mit einer philosophischen Hypothek belastet gewesen. Ihre Pioniere, Theologen sowohl wie Philologen und Philosophen, wollten vor allem das „Wesen“ und den „Ursprung“ der Religion ergründen – dieser Gedanke beherrschte von vornherein die Richtung und die Methode ihrer Arbeit, noch ehe eine eigentlich empirische Religionswissenschaft sich entwickelt hatte. Sie suchten ihr Ziel entweder, wie Schleiermacher, durch bloße Besinnung auf innere religiöse Zustände zu erreichen, oder sie deuteten die ihnen bekannten religionsgeschichtlichen Daten mit Hilfe von Theorien, die aus philosophischen oder philologischen Voraussetzungen gewonnen waren. Sogar die Ethnologie, die die noch lebenden Religionen der exotischen Völker zum Gegenstand ihrer Forschung machte, lenkte in die gleiche Bahn ein und suchte mit ihren Mitteln zum Ursprung der Religion vorzudringen. Kein Wunder, dass so schließlich die beiden Strömungen – die theologisch-philosophische und die ethnologische – in einem Bette zusammenflossen. Bücher wie ‚Das Werden des Gottesglaubens‘ von dem lutherischen Bischof Nathan Söderblom und ‚Der Ursprung der Gottesidee‘ von dem katholischen Pater Wilhelm Schmidt legen von dieser grundsätzlichen Gemeinschaft Zeugnis ab. Sie zeigen aber auch, wie verhängnisvoll diese Zielsetzung sich auf die Deutung des religionsgeschichtlichen Materials auswirkt. Von diesem Wege ist eine grundsätzliche Abkehr nötig; dazu gilt es, sich auf folgendes zu besinnen: Die Frage nach dem Ursprung der Religion ist keine wissenschaftliche, sondern eine philosophische oder eine theologische Frage. […] Anders steht es mit der Wesensfrage, sie geht auch den Religionswissenschaftler an; ja, er muss schon einen Begriff von der Religion haben, wenn er sich mit ihr beschäftigen will. Aber es ist falsch, die Wesensfrage – wie es bisher meist geschehen ist – mit der Ursprungsfrage zu verbinden; auch lässt sie sich nicht auf deduktivem Wege lösen. Was Religion ist, kann die Wissenschaft nur empirisch, d.h. durch das Studium der Religionen feststellen. […] Die Religionswissenschaft gliedert sich in einen geschichtlichen und einen systematischen Teil: Religionsgeschichte und Vergleichende Religionswissenschaft oder Phänomenologie der Religion. Von beiden kommt der Religionsgeschichte die bei weitem größere Bedeutung zu; sie bildet die unentbehrliche Grundlage aller wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Religion. […] Also nicht die Geschichte der Religion, sondern die Geschichte der Religionen bildet die Aufgabe und den Gegenstand der Religionsgeschichte. Religionen sind selbst geschichtliche Erscheinungen; das heißt zunächst: jede Religion gehört ursprünglich zu einem politischen Gebilde, Stamm, Stammverband, Volk, Gau, Staat (Stadtstaat)

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oder Reich, und ihre Geschichte ist mit der Geschichte dieser Gemeinwesen unlösbar verbunden. Auch die sog. Weltreligionen wurzeln in einem bestimmten Volkstum (das Christentum im jüdischen, der Islam im arabischen, der Buddhismus im indischen) und sind in ihrer weiteren Entwicklung nur im Zusammenhange mit der Völkergeschichte zu verstehen. […] Aus der Einsicht in diesen Zusammenhang ergeben sich weitere wichtige Erkenntnisse: 1. Die Religion ist prinzipiell, d.h. anfänglich und wesentlich, eine Sache der Gemeinschaft; diese hütet den ihr in der heiligen Tradition überkommenen Besitz an religiösen Vorstellungen (Lehren, Mythen, Kulten und Gesetzen) und teilt ihn dem einzelnen mit. Auch die religiösen Heroen und Religionsstifter stehen inmitten einer geschichtlich gewordenen Religion, mit der sie sich auseinandersetzen und die ihre religiöse Gedankenwelt bestimmend beeinflusst. Die Religions- und Kultgemeinschaften fallen, wie uns die Religionsgeschichte lehrt, ursprünglich mit den politischen Gemeinschaften zusammen; „der primitive Mensch kennt nur eine Gemeinschaft“ (v.d. Leeuw); auch gewisse Geheimbünde (Jünglings-, Männerbünde) bleiben in diese Organisation eingegliedert; erst in späteren Stadien ihrer Geschichte pflegt sich die Religion aus dem Zusammenhang der soziologischen Bindungen zu lösen und eigene Gemeinschaften (Bünde, Orden, Kirchen) zu bilden, die entweder auf einen Teil der politischen Gemeinschaft, in der sie erwachsen sind, beschränkt bleiben oder sie ganz erfassen; dies hat dann meist die Profanisierung (Säkularisierung) des anfänglich religiös gebundenen politischen, sozialen und kulturellen Lebens und damit den Untergang der Volksreligion zur Folge. 2. Die Religion eines Volkes erfährt wie die übrigen Kulturgebiete im Laufe seiner Geschichte von innen und außen die mannigfaltigsten Einflüsse und wandelt sich durch diese ab. In der Geschichte jeder Religion lassen sich so mehrere Abschnitte oder Perioden unterscheiden (so z.B. in Indien die vedische, die brahmanische, die hinduistische), die zugleich bestimmte religiöse Stadien repräsentieren. Jedes solcher Stadien steht in organischem Zusammenhang mit den voraufgehenden und den nachfolgenden; es ist auch in seiner Struktur durch das vorhergehende bestimmt, jedoch nicht ausschließlich, da sich fast immer auch äußere Einflüsse geltend machen.84 84 Das Wort „Stadium“ ist also hier nicht in dem von Frick, Vergleichende Religionsgeschichte, S. 14 f., und Mensching, Vergleichende Religionswissenschaft, S. 129 ff., gebrauchten Sinne gemeint. Beide denken an typische, aus dem Wesen der Religion notwendig folgende und daher allen Religionen gemeinsame Stufen und halten daher das Gemeinsame für das Wesentliche des Stadiums. Aber solche allgemeingültigen oder gar notwendigen Stadien gibt es nicht; man glaubt sie zu finden, indem man den Blick einseitig auf die großen Weltreligionen richtet; in die Religionen der alten Kulturvölker lassen sie sich nur mit Gewalt hineindeuten.

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3. Jeder Religion haftet ein bestimmter Charakter oder Habitus an, der sich durch alle verschiedenen Stadien hindurch zieht. Es ist jene charakteristische Physiognomie, die eine jede positive Religion zu einer mit sich identischen geschichtlichen Größe macht, das Kontinuum, das alle Teile ihrer Geschichte zur Einheit zusammenfügt. In diesem Sinne bildet jede Religion von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende eine Ganzheit; das bedeutet, dass der Habitus sich in allen ihren Lebensäußerungen offenbart; von ihm erhalten sie ihre spezifische Farbe und ihren Ton, der sie von denen anderer Religionen unterscheidet. Ihn erfasst zu haben bedeutet daher auch imstande zu sein, ein einer bestimmten Religion zugehöriges Phänomen als solches zu erkennen. Erfassen aber lässt sich der Habitus wiederum nur an den Phänomenen selbst. Das Studium einer Religion erschöpft sich also nicht darin, ihre Urkunden (Schriften, Funde) zu erklären, ihre Lehren und Gesetze darzustellen, ihre Riten zu beschreiben, die Abhängigkeiten von andern Religionen und ihre eigenen Wirkungen zu ermitteln – kurz das rein Tatsächliche, die geschichtlichen Daten festzustellen und erscheinungsgesetzlich-kausal zu erklären, sondern es gilt vielmehr, die empirischen Einzelheiten der historischen Wirklichkeit, die uns die Religionsgeschichte darbietet, jeweils als Ausdrucksform einer bestimmten Religion von eigentümlicher Struktur zu deuten, um auf diese Weise zugleich den Charakter dieser Religion immer besser zu ergründen. Systematische Religionswissenschaft ist vergleichende Religionswissenschaft. Neuerdings spricht man lieber von Phänomenologie der Religion und stellt neben das Vergleichen als gleichberechtigte methodische Forderung das Verstehen. Wohl ist es richtig, dass ein religiöses Phänomen als solches, d.h. in seinem spezifischen religiösen Sinngehalt, verstanden werden muss. Aber dieses Verstehen ist selbstverständliche Voraussetzung auch für das Vergleichen; ja, verstehen muss, wie wir schon sahen, auch der Religionsgeschichtler die religiösen Phänomene; er kann sonst so wenig Religionsgeschichte schreiben wie der Historiker, der die Geschichtsquellen nicht zu interpretieren vermag. Religionsvergleichung kann wieder in doppeltem Sinne betrieben und verstanden werden: Vergleichung der Religionen als Ganzheiten und Vergleichung der einander entsprechenden religiösen Phänomene in den verschiedenen Religionen. Eine Typologie der Religionen ist ohne Frage eine der wichtigsten Aufgaben der Religionswissenschaft, allerdings auch eine der schwierigsten, denn sie setzt zuverlässige Charakteristiken der einzelnen Religionen voraus. Natürlich sind schon immer Versuche gemacht worden, die Religionen zu gruppieren, und sofern dies nach sachlichen, im Wesen der Religion liegenden Gesichtspunkten geschah, hat man dabei auch Wesensbestimmungen vornehmen müssen. Aber das geschah meist in oberflächlicher und einseitiger Weise; man griff irgendein Teilmoment heraus, das vielleicht für die betreffende Religion gar nicht von zentraler Bedeu-

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tung war, und man stellte zwischen verschiedenen Religionen Gemeinsamkeiten fest, wo nur äußere Ähnlichkeiten, aber nicht wirklich analoge Erscheinungen vorlagen. Dazu kam, dass man sich, statt von empirischen Untersuchungen, meist von Theorien über das Wesen der Religion leiten ließ und so die Religionen in fertige, von der Religionsphilosophie oder der Theologie gelieferte Fächer ordnete, die ihrem Wesen nicht entsprachen.85 Man hat neuerdings mit Recht betont, dass es vor allem darauf ankomme, die innere Einheit, die Lebensmitte der einzelnen Religionen zu bestimmen, und G. Mensching hat in seiner ‚Vergleichenden Religionswissenschaft‘ auch bereits den Versuch gemacht, sie nach dem ihnen eigentümlichen Sondercharakter zu klassifizieren. Das Ergebnis zeigt jedoch, dass ein solches Unternehmen heute verfrüht ist, da eine zureichende Charakteristik auch nur der wichtigsten Religionen noch nicht vorliegt. Menschings eigene Bestimmungen erweisen sich z.T. als unzulänglich. 86 Es 85 Dies war z.B. der Fall, wenn man zwischen Natur- oder natürlichen und geoffenbarten Religionen unterscheiden wollte; hierbei war der Begriff der „Offenbarung“ ebenso unklar und mehrdeutig wie der der „Naturreligion“. Der christliche Offenbarungsbegriff ist hier nicht anwendbar (vgl. S. 134 f.). Legt man, wie es religionswissenschaftlich geboten ist, das Selbstzeugnis der Religionen zugrunde, so gibt es viele Offenbarungsreligionen, d.h. solche, die ihren Ursprung auf übernatürliche Mitteilung zurückführen; unter ihnen sind primitive (Urheberglauben), Volksreligionen (die indische) und Stifterreligionen (der Islam) vertreten. Und was sind „Naturreligionen“? Wo man das Wort gebraucht, liegt ihm meist die Vorstellung zugrunde, dass das Wesen primitiver, aber auch höherer heidnischer Religionen, wie z.B. der griechischen, vornehmlich in der Verehrung von Naturobjekten bestehe bzw. dass in ihnen die Natur und ihre Phänomene die wichtigsten „Divinationsobjekte“ seien. Aber diese Vorstellung ist falsch; die Religion ist in keinem Volke, auch bei dem primitiven nicht, so ausschließlich auf die Natur bezogen (der Begriff „Natur“ ist diesen Völkern überhaupt fremd), dass sich jene Bezeichnung rechtfertigte; meist sind die sozialen, politischen und ethischen Beziehungen, also die kulturellen Verhältnisse, für das religiöse Leben wichtiger als die Beziehungen zur Natur. Unterscheidet man – wie es auch geschieht – zwischen Natur-, Volks- und Weltreligionen, so kommt zu diesem sachlichen Einwand noch ein logischer, da hier zwei verschiedene Einteilungsprinzipien (der Gegenstand der Religion und der Ausdehnungsbereich) verwendet werden. Überhaupt aber ist mit der Bildung so umfassender Kategorien, in denen eine Menge ungleichartiger Religionen zusammengefasst werden, wenig gewonnen. Sie machen deutlich, dass es verfeinerter Methoden bedarf, um eine sachlich befriedigende Typisierung zu erreichen. 86 So ist z.B. nichts damit getan, die römische Religion als „Religion der Zweckerfüllung“ zu bezeichnen, weil alle Religionen irgendwie zweckbestimmt sind und es für die Charakteristik gerade auf die nähere Bestimmung des Zweckes ankommt. Falsche Auffassungen vom Wesen der germanischen und der japanischen Religion liegen zugrunde, wenn jene als Religion der Sippe (oder des „numinosen Gemeinschaftslebens“), diese als „Religion der Familie“ charakterisiert wird. Beide sind politische oder Staatsreligionen. Ahnenkult gibt es in fast allen Religionen (die römische und erst recht die chinesische stehen darin der japanischen nicht nach). Bei den Ger-

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wird noch vieler sorgfältiger Arbeit an den einzelnen Religionen bedürfen, um ihr innerstes Wesen mit einiger Sicherheit festzustellen. Bis dahin wird man besser tun, von einer Einteilung nach phänomenologischen Merkmalen abzusehen und lieber nach geographischen oder geschichtlichen Gesichtspunkten zu gruppieren, wie das bisher in den religionsgeschichtlichen Lehrbüchern meist auch geschehen ist. Zum mindesten empfiehlt sich dies für die geschichtlichen Darstellungen, schon aus dem Grunde, weil Religionen als geschichtliche Erscheinungen nur aus den historischen Zusammenhängen, in denen sie gelebt und sich entwickelt haben, voll verständlich sind. Leichter als bei den Religionen als Ganzheiten scheint das Verfahren des Vergleichens und Typisierens bei den einzelnen Phänomenen zu sein; aber es wurde schon angedeutet, dass auch hier die Gefahr besteht, dass man sich durch äußere Ähnlichkeiten verleiten lässt, wesentlich voneinander verschiedene Phänomene miteinander gleichzusetzen — also Homologes mit Analogem zu verwechseln. Das kann für die Religionsgeschichte verhängnisvoll werden, wenn sie nämlich dadurch verführt wird, aus scheinbaren Ähnlichkeiten auf Verwandtschaften und Zusammenhänge zu schließen, die in Wirklichkeit nicht bestehen. […] Um solche oberflächlichen Gleichsetzungen zu vermeiden, ist es notwendig, das einzelne Phänomen immer im Zusammenhang mit der Ganzheit der Religion, zu der es gehört, zu betrachten und aus ihm zu verstehen; d.h. aber, es immer auch als geschichtliches Phänomen zu verstehen […]. Dazu gehört, dass nicht nur die formale, sondern auch die materiale Seite des Phänomens berücksichtigt wird. Es ist jeder Form wesentlich, an einem bestimmten Inhalt zu haften, daher darf von den religiösen Geistesinhalten nicht abgesehen werden. So genügt es z.B. nicht, in verschiedenen Religionen das Phänomen des Bittopfers zu konstatieren; es kommt wesentlich darauf an, wem (Gott, Ahn), wofür (Sieg, Ernte) und unter welchen Umständen (periodisch, in außerordentlichen Fällen wie Teuerung, Krieg usw.) geopfert wird. Nur so kann man zu echten Analogien gelangen. Allerdings darf, wenn man sich vor der Überschätzung des Homologen hütet, auch der Begriff des Analogen nicht überspannt werden. Wenn man z.B. sagt, im Buddhismus sei das den Göttern in anderen Religionen Analoge das Nirwana, so wird hier – wieder zwecks einer rein formalen Systematik – einerseits Unvergleichbares miteinander verglichen, andrerseits dem Nirwana unter Verkennung seiner Einmaligkeit eine falsche Stelle innerhalb der Ganzheit des Buddhismus zugewiesen.

manen ist Träger des Kultes die politische Einheit, nicht die blutmäßig gebundene Sippe; eine direkte Beziehung der Sippen zur institutionellen Religion ist überhaupt nicht nachweisbar; vgl. mein Buch: Das Heilige im Germanischen, 1942.

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Für eine Systematik der religiösen Phänomene empfiehlt sich folgende Einteilung: a) Das religiöse Subjekt; b) das religiöse Objekt; c) Die Beziehungen beider zueinander; d) Die Auswirkung der Religion auf das Gemeinschaftsleben.

4. Fragen zum Text 1. Was versteht man unter der Religionsgeschichtlichen Schule? Welche Vertreter gehören zu ihr? Einen guten Überblick bietet die Dokumentation von Gerd Lüdemann/Martin Schröder: Die Religionsgeschichtliche Schule in Göttingen, Göttingen 1987, 148 S. 2. Was versteht man unter natürlicher Theologie? Inwiefern kann die allgemeine Religionsgeschichte an ihre Stelle gesetzt werden und zum „Unterbau der christlichen Theologie“ werden? 3. Diskutieren Sie mit anderen über den Satz: Die Religionswissenschaft „hat es ausschließlich mit den geschichtlichen Tatsachen als solchen, nicht mit dem, was sie theologisch bedeuten, zu tun.“ 4. Informieren Sie sich über einen wichtigen altorientalistisch-theologischen Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts, den sog. Bibel-Babel-Streit. 5. Baetke empfiehlt den Theologen, sich mit folgenden Religionstraditionen zu beschäftigen: babylonische Religion, hellenistische Mysterienreligionen, germanische Religion, Buddhismus oder Islam und die eine oder andere der sog. Primitiven Religionen. Welche Auswahl würden Sie heute, fast 60 Jahre später, für sinnvoll halten. Begründen Sie Ihre Meinung. 6. Baetke formuliert prägnant: „Nicht in den Aufgabenbereich der Religionswissenschaft […] gehört die Religionsphilosophie“. Diese Ansicht ist auch heute die Überzeugung der religionswissenschaftlichen Zunft. Besteht Ihrer Meinung nach Grund, philosophischen Fragen in der Religionswissenschaft Raum zu geben? Lesen Sie den Beitrag von Ulrich Berner: Religionswissenschaft und Religionsphilosophie, in: ZfR 5, 1997, S. 149–178. Der Autor plädiert für die Relevanz der analytischen Religionsphilosophie, die sich mit der religiösen Sprache beschäftigt. 7. Was versteht Baetke unter dem Habitus einer Religion? Es ist nicht erkennbar, dass Baetke sich mit Norbert Elias (Die feinen Unterschiede – Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft; Die Gesellschaft der Individuen) oder mit Pierre Bourdieu (Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt/Main 1974) und ihrer Vorstellung von Habitus auseinander gesetzt hat. Gehen Sie der Herkunft des Begriffes Habitus nach (lat. habere bzw. se habere: in einem transitiven Sinn verstanden als Anlage; in einem intransitiven Sinn verstanden als Benehmen). Wichtige Vertreter:

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Aristoteles, Wiederentdeckung bei Durkheim und Max Weber, Norbert Elias, Pierre Bourdieu. 8. Prüfen Sie die kritischen Argumente, die Baetke gegenüber der Religionsphänomenologie und Religionstypologie vorbringt. 9. Was versteht Baetke unter den von Mensching eingeführten Begriffen des Homologen und Analogen? Worin besteht die Problematik im Umgang mit diesen Begriffen?

5. Würdigung

Walter Baetkes Leistung für die Religionswissenschaft – die Altgermanistik und Altnordistik wird hier ausgeklammert – liegt im konsequenten Eintreten für die religionshistorische Erforschung der Religionen. Auch die zu Baetkes Zeit den Ton angebenden Religionsphänomenologen, insbesondere Gustav Mensching (bei dem Religionsphänomenologie jedoch nur ein Teilbereich seiner Forschung war), Kurt Goldammer und Mircea Eliade, unterstrichen die Wichtigkeit historischen Arbeitens. Eine der wichtigsten Veröffentlichungen Eliades gibt im Titel sogar vor, ein religionsgeschichtliches Lehrbuch zu bieten (Traité d’Histoire des Religions). Historiker, Philologen, Ethnologen haben Eliade immer wieder vorgeworfen dass er seine an religionsgeschichtlichen Details gewonnenen Erkenntnisse unzulässig verallgemeinert und auf vielerlei, ja alle Religionen überträgt und nach Universalisierungen strebt. Auch hat man Eliade einen Mangel an religionshistorischer Empirie vorgeworfen. Dagegen schreibt Gerardus van der Leeuw in den Epilegomena seines religionsphänomenologischen Hauptwerkes einen zugespitzten Satz, der den fast abgrundtiefen Abstand zwischen Religionsgeschichte und Religionsphänomenologie hervorhebt: „Von einer historischen Entwicklung der Religion weiß die Phänomenologie nichts“.87 Solche und vergleichbare Vorstellungen prägten den religionswissenschaftlichen Zeitgeist, dem gegenüber Baetke für eine streng empirische historisch-philologische Forschung eintrat. Auf der Basis seiner umfassenden Quellenkenntnis germanischer und nordischer Religionsgeschichte baute er die Religionswissenschaft als Disziplin auf, die vor allem die Grenzen zur Theologie hin deutlich markierte. „Drang er einerseits als strenger Philologe auf das Studium der Quellen als Grundlage jeder religionshistorischen Arbeit, um damit dem Zugang zum Verständnis der Religionen von der Geschichte und Gesellschaft her zu begreifen, so suchte er andererseits eben von dieser Basis aus jede theologisch-dogmatische und subjektivistisch87 Gerardus van der Leeuw: Phänomenologie der Religion, 4. Aufl. (unveränderter Nachdruck der 2. Auflage) Tübingen 1977, S. 787.

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irrationale, vom Erlebnis her diktierte Betrachtung der Religionsgeschichte als für die Religionswissenschaft nicht legitim zu erweisen. Er stellte sich damit weit außerhalb der gängigen Tradition in der deutschen Religionswissenschaft und machte Leipzig mit seinem alten Erbe religionshistorischer Forschung zu einem neuen Zentrum dieser Arbeit“.88

6. Weiterführende Arbeitsaufgaben 1. Wie lässt sich aus der unfruchtbaren Gegenüberstellung von objektiv und subjektiv (erlebnisorientiert) herauskommen? Lässt sich zwischen beiden Ansätzen vermitteln? Was ist der jeweilige Vorteil der beiden Vorgehensweisen? 2. Die Religionswissenschaft hat nach Baetke und seinem religionshistorischen Ansatz weitere Entwicklungen durchgemacht. Lesen Sie den TRE-Artikel Religionswissenschaft (Hans-Joachim Klimkeit) oder/und meinen gleichnamigen Artikel in Lexikon neureligiöser Bewegungen und Weltanschauungen, hg. von Baer/Gasper/Sinabell/Müller, dreibändige Taschenbuchausgabe (=Lexikon nichtchristlicher Religionsgemeinschaften), Freiburg/Br. 2009, S. 191–195. 3. Welche Möglichkeiten sehen Sie in einer Verhältnisbestimmung von Religionswissenschaft und Theologie. Rollenspiel: Spielen Sie mit verteilten Rollen einen Alt- und/oder Neutestamentler, Kirchenhistoriker, Religionswissenschaftler, indem Sie das Baetkesche Prinzip der streng empirischen, historisch-philologischen Forschung diskutieren.

7. Auswahlbibliographie Primärliteratur

Arteigene germanische Religion und Christentum, Berlin und Leipzig 19362. Art und Glaube der Germanen, Hamburg 19383. Aufgabe und Struktur der Religionswissenschaft. In: Grundriss des Theologiestudiums, hg. von Martin Doerne, Teil 3, Gütersloh 1952, S. 206–228. Kleine Schriften. Geschichte, Recht und Religion in germanischem Schrifttum, hg. Von Kurt Rudolph und Ernst Walter, Weimar 1973.

88 Kurt Rudolph, a.a.O., S. 372f.

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Sekundärliteratur

Kurt Rudolph/Rolf Heller/Ernst Walter: Festschrift Walter Baetke, dargebracht zu seinem 80. Geburtstag am 28. März 1964, Weimar 1966. Ders.,/Heinrich, Fritz: Walter Baetke (1884–1978). In: ZfR 9 (2001), S. 169–184. Heinrich, Fritz: Empirische Religionsforschung und religionswissenschaftliche Reflexion. Walter Baetke als religionswissenschaftlicher Lehrer Kurt Rudolphs. In: Rainer Flasche/Fritz Heinrich/Carsten Koch (Hg.): Religionswissenschaft in Konsequenz, Münster 2000, S. 149–162. Walter, Ernst/ Mittelstädt, Hartmut (Hg.): Altnordistik. Vielfalt und Einheit − Erinnerungsband für Walter Baetke (1884–1978), Weimar 1989.

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10. Joachim Wach (1889–1955) 1. Biographie

Ernst Adolph Felix Joachim Wach wurde am 25. Januar 1889 in Chemnitz (Sachsen) als Sohn des sächsischen Geheimen Rates Dr. jur. Felix Wach (gest. 1926) und der Katharina, geb. von Mendelssohn-Bartholdy geboren. Aufgrund seines wohlhabenden und hoch gebildeten Elternhauses evangelisch-lutherischer Prägung wurde Wach von seiner Kindheit an mit Musik, Literatur und Poesie, den klassischen und modernen Fremdsprachen bekannt gemacht. Das kultivierte Elternhaus (Wohnsitz war das Herrenhaus Villa Wach im Stadtteil Oberlößnitz der Stadt Radebeul) war allem Künstlerischen gegenüber aufgeschlossen und bot dem begabten Sohn hervorragende Voraussetzungen für eine spätere Karriere. Im Gegensatz zu seinen Vorfahren wuchs Wach in einem christlich geprägten Haushalt auf. Seine katholische Erzieherin weckte Joachim Wachs Interesse für Religion. Nach seinem Notabitur am Vitzthumschen Gymnasium in Dresden diente er 1916–1918 als Leutnant des traditionsreichen königlich-sächsischen Garderegiments an der Ostfront. Die allgemeine nationalistische Euphorie und die patriotische Gesinnung der Familie beförderten diese Entscheidung. Der Selbstmord eines ihm untergebenen Soldaten beschäftige Wach sein Leben lang in philosophischer und existenzieller Hinsicht. Noch während des Krieges schrieb sich Joachim Wach am 12. Mai 1917 in der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig ein. Januar bis Dezember 1919 studierte er in München Religionswissenschaft bei dem gerade habilitierten Friedrich Heiler und Philosophie bei dem katholischen Mittelalterexperten Clemens Beumker. In Berlin nahm er an Lehrveranstaltungen des evangelischen Theologen und Kulturphilosophen Ernst Troeltsch (1865–1923), des Orientalisten Eduard Sachau (1845–1930) und Adolf Harnacks (1851–1930) teil. Dieser gilt als bedeutendster evangelischer Kirchenhistoriker des späten 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts. Harnack war darüber hinaus ein talentierter Wissenschaftsorganisator. Im Sommersemester 1920 studierte Wach in Freiburg bei dem Philosophen Edmund Husserl (1859–

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1938). Nach Leipzig im Oktober 1920 zurückgekehrt, nahm Wach an Lehrveranstaltungen des aus Jena gekommenen Religionswissenschaftlers Hans Haas (1868–1934), der Altorientalisten Heinrich Zimmern und August Fischer sowie des Philosophen Johannes Volkelt teil. Nach seiner Dissertation (1922) lehrte Wach ab Wintersemester 1924/25 als Religionswissenschaftler und Religionssoziologe sehr erfolgreich in Leipzig. Mit einer religionswissenschaftlichen Dissertation über den „Der Erlösungsgedanke und seine Deutung“ (so der Titel der gedruckten Arbeit) wurde er im April 1922 in Leipzig zum Dr. phil. promoviert. Nach weiteren Studien in Heidelberg bei dem Literaturwissenschaftler, Dichter und Historiker Friedrich Gundolf (1880–1931) wurde Joachim Wach im Juni 1924 mit der Schrift: „Prolegomena zur Grundlegung der Religionswissenschaft“ in Religionswissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Universität Leipzig habilitiert. Er war damit der erste Privatdozent für dieses Fach in der Geschichte der Leipziger Philosophischen Fakultät. Seine Probevorlesung hielt er am 3. Juli 1924 über das Thema „Meister und Jünger“. Dies lässt eine Nähe zum George-Kreis vermuten. Wach bewunderte Stefan George (1868–1933) und seinen Kreis, mit dem ihn Friedrich Gundolf bekannt gemacht hatte. Zum George-Kreis aber hat Wach wohl nicht gehört. Nur George selbst wusste, wer Mitglied seines Kreises war. Wach nahm die universitäre Lehre sehr ernst und bemühte sich um ein persönliches Verhältnis zu seinen Studierenden. Es ging ihm nicht um bloße Wissensvermittlung, sondern auch um Persönlichkeitsbildung. Über die universitäre Lehre hinaus wirkte der wohlhabende und unabhängige Privatdozent Wach durch Vorträge und Volkshochschulkurse. Der Jugendbewegte engagierte sich bei der Freideutschen Jugend und der Freischar. Seit 1924 trat er als Leiter eines Diskussionszirkels im Rahmen des Leipziger Leuchtenburgkreises auf, ein dem Sozialismus zugewandter Bund der politischen Jugendbewegung. Der Kreis benutzte das von Hans Freyer (1887–1969) geleitete Soziologische Institut als täglichen Treffpunkt. Von 1926–1929 wirkte an diesem Institut auch Paul Tillich (1886–1965). Zwischen Freyer, Tillich und Wach bestand ein reger geistiger Austausch. 1927 erhielt Joachim Wach in Leipzig einen unvergüteten Lehrauftrag für Religionssoziologie, 1929 wurde er zum außerordentlichen Professor für Religionswissenschaft ernannt. Ein Kernanliegen der Religionswissenschaft war für Wach das Verstehen, wobei es sowohl um das Verstehen der eigenen, religiösen Herkunft als auch um das Verstehen des Fremden geht. In den Jahren 1926–33 erschien sein dreibändiges Werk „Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jahrhundert“. Mit dem zweiten Band dieser hermeneutischen und hermeneutikgeschichtlichen Untersuchung („Die theologische Hermeneutik von Schleiermacher bis Hofmann“) wurde er 1930 in Heidelberg zum Dr. theol. promoviert. In seiner Habilitationsschrift („Religionswissenschaft“, 1924) begründete er die Religionswissenschaft als eine gegenüber Theologie und Philosophie selbständige empirische Geisteswissenschaft mit den beiden Teilgebieten Religionsgeschichte und Religionssystematik.

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Am 10.4.1935 wurde Wach von der Sächsischen Landesregierung als Nichtarier seines Amtes enthoben. Eine Anfang April ausgesprochene Einladung an die Brown University (USA) in Providence/Rhode Island für eine Gastprofessur im Wintersemester 1935/36 nutzte er zur (geplanten?) Emigration. Damit begann die zweite, die amerikanische Phase in Wachs Biographie. Sie führte zu einem Persönlichkeitswechsel und zu einer veränderten Einstellung der Religionswissenschaft gegenüber. Bereits im Spätsommer 1935 wandte sich der evangelisch-lutherische Wach einer Gemeinde der zu den anglikanischen Kirchen zählenden Episcopal Church zu. An der Brown University lehrte er als Visiting Professor (1935–39), dann als Associate Professor of Biblical literature (1939–46). Schließlich folgte er dem Ruf an die Federated Theological Faculty der Universität Chicago, wo er bis zu seinem Tode wirkte. Wach hielt Gastvorlesungen an verschiedenen akademischen Einrichtungen in den USA. Ein besonderes Ereignis waren für ihn die Barrows-Lectures on Comparative Religion 1952 in Indien. 1954 lud der Ausschuss für Religionsgeschichte des American Council of Learned Societies Wach zu einer Reihe von Vorlesungen ein. 1955 lehnte Joachim Wach einen Ruf auf den ehemaligen Lehrstuhl für Systematische Theologie und Religionsphilosophie von Rudolf Otto in Marburg ab. Nach seiner Teilnahme am 7. Kongress der Internationalen Vereinigung für Religionsgeschichte in Rom wollte er den Rest des Frühlings und den Sommer in Orselina/Tessin bei seiner Mutter und Schwester verbringen. Eine bei ihm seit 1950 festgestellte Herzkrankheit führte überraschend zu einem Herzinfarkt (27.8.1955), den er nicht überlebte.

2. Inhaltsangabe des Buches Vorgestellt werden soll Wachs für die religionswissenschaftliche Theoriebildung wichtiges Frühwerk, nämlich seine 1924 erschienene Habilitationsschrift „Religionswissenschaft. Prolegomena zu ihrer wissenschaftstheoretischen Grundlegung“. Wachs Schrift entfaltete zu seinen Lebzeiten in seinem Heimatland Deutschland kaum nennenswerte Wirkung. Erst als im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts Kritik an der bisher betriebenen Religionswissenschaft aufbrach, erhielt Wachs Frühschrift die ihr zukommende Würdigung. In den USA war es anders: Hier wurde Wachs „Religionswissenschaft“ erst in den späten 1980er Jahren übersetzt. Interessanterweise hatte ihr Autor zu Lebzeiten offensichtlich kein gesteigertes Interesse an einer Übersetzung. In den USA wurde Wach als Repräsentant einer verstehenden Religionswissenschaft rezipiert. Er wurde nicht als Vertreter einer empirischen Religionswissenschaft wahrgenommen, sondern als Teil der Rudolf-Otto-Tradition mit ihrer Betonung der religiösen Erfahrung. Diese Rezeptionsgeschichte liegt vor allem darin begründet, dass der amerikanische Wach religionswissenschaftlich anders als der deutsche Wach dachte. Diese erfahrungsorientierte, sich stärker

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der Theologie nähernde Wendung im Spätwerk Wachs lässt sich bereits in Schriften aus den Leipziger Jahren („Einführung in die Religionssoziologie“, 1931) oder den von Joseph M. Kitagawa unter dem Titel „Understanding and Believing“ herausgegebenen nachgelassenen Aufsätzen (1968) ersehen. Heute steht gerade der frühe Wach heute im Mittelpunkt des wissenschaftstheoretischen und methodologischen Interesses.

Wachs „Religionswissenschaft“ gliedert sich in fünf Kapitel: „Die Emanzipation der Religionswissenschaft“ (I, S. 1–20); „Die Aufgabe der Religionswissenschaft (Religionswissenschaft und Theologie) (II, 21–71); Die Einteilung der Religionswissenschaft (Die Religionsgeschichte) (III, 72–112); Die Methode der Religionswissenschaft (Religionswissenschaft und Philosophie) (IV, 113–164); Systematische Religionswissenschaft (V, 165–192). Beigefügt ist der Anhang „Über den Psychologismus in der Religionswissenschaft“ (193–205). Wachs Habilitationsschrift entspricht bereits formal typisch deutscher Gelehrsamkeit: Oft ist der Fußnotenanteil höher als der Text, im Extremfall 1 Zeile Text, der Rest der Seite Fußnoten (u.a. 4). Gleich auf der ersten Seite grenzt Wach die noch junge Religionswissenschaft von anderen, „sie bevormundenden Geisteswissenschaften“ (Theologie, Philosophie, Geschichtswissenschaft, klassische und orientalische Philologien, Völkerkunde) ab. Auch wenn diese „Mutterwissenschaften“ anerkennenswerte Beiträge für die neu zu gründende Disziplin geleistet hätten, so seien ihre Ergebnisse nur eingeschränkt für die religionswissenschaftliche Arbeit brauchbar. Wach will Religionswissenschaft als eine „reine Wissenschaft“ (14) begründen. Er schließt ihre praktische Dimension nicht grundsätzlich aus: „Gewiss, es wird immer zu begrüßen sein, wenn eine Wissenschaft einmal in die Lage gesetzt wird, unmittelbar dem – praktischen – Leben zu dienen, aber es muss ihren Charakter als reine Wissenschaft gefährden, wenn aus dieser freien Hilfsleistung ein Dienstverhältnis wird“ (ebd.). Später äußert er sich kritisch zur praktischen Frage „Was sollen wir tun?“ (54). Die Emanzipation der Religionswissenschaft beschreibt er als einen Abnabelungsprozess: „Es ist gut, dass die Jugend einer Wissenschaft von den Mutterwissenschaften behütet wird, aber einmal muss der Augenblick kommen, in dem sie sich mündig, frei erklärt“ (20). Objekt der Religionswissenschaft ist „die Mannigfaltigkeit der empirischen Religionen. Sie gilt es zu erforschen, zu verstehen und darzustellen (erforschen, verstehen, deuten, 192). Und zwar wesentlich nach zwei Seiten hin: nach ihrer Entwicklung und nach ihrem Sein, längsschnittartig und querschnittmäßig. Also eine historische und eine systematische Untersuchung der Religionen ist die Aufgabe der allgemeinen Religionswissenschaft“ (21). Wach bedient sich des in der zeitgenössischen Philosophie beliebten Lebensbegriffes, betrachtet die „Welt der Religion“ als „eine eigentümliche Gestaltung des Lebens mit eigenen

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Gesetzen und Prinzipien der Bildung“ (22f.). Religiöses Leben stellt eine „Besonderung“ von Leben dar (23). Dieses „Urphänomen des Lebens“ (ebd.) entfaltet „in seiner lebendigen Fülle eine rastlose Produktivität“, drängt „in unendlichen Formen zur Äußerung“ (ebd.), erlebt „Geschichte“. Der Religionswissenschaftler „deutet diese Äußerungen in Zusammenhang mit dem Leben, dem sie entstammen, an dem er wiederum selbst in einem ganz bestimmten Sinne teil hat“. Wach deutet den Vorgang des Verstehens als „Kreislauf“: „denn wie sich dem forschenden Geiste das Wesen dieser Lebensgestaltungen eben aus der Erfahrung des Lebens heraus erschließt, so bereichert und vertieft sich auch diese wieder durch die Erkenntnis seiner Formen, ihrer Natur und ihres Reichtums, ihrer Mannigfaltigkeit und ihrer Gesetze“ (ebd.). Die Wahrheitsfrage will Wach ausdrücklich durch „Ausschaltung“ bzw. „Einklammerung“ (26) und „Aussetzung“ (27) behandeln. „Erst durch diese Klammer entsteht recht eigentlich das Objekt der Religionswissenschaft“ (29). Wach sieht in Religionswissenschaftlern „in gewissem Sinn allerdings n u r R e g i s t r a t o r e n“ (Sperrung J.W.). „Die Frage, ob es wahr ist, stellen wir dabei nicht“ (30). Auch hält sie sich von Werturteilen fern (32). Religion hat für Wach wesentlich mit „Leben“ zu tun, ist „etwas Lebendiges […], etwas, das mehr oder minder ursprünglich, mehr oder minder rein tatsächlich in uns allen lebt, dass die letzten seelischen Stellungnahmen, Erlebnisse und Entscheidungen, als die wir die Religionen verstehen müssen, ewig-menschlich sind“ (36). Wach diskutiert die für die Religionswissenschaft problematische Frage nach dem „Wesen der Religion“ sehr ausführlich und unter Rückgriff auf die philosophische, theologische, religionswissenschaftliche Diskussion (37–45) und unterscheidet sie von der etwas anderen „F r a g e n a c h d e m W e s e n einer b e s t i m m t e n R e l i g i o n“ (45). Rudolf Otto zustimmend, hält Wach die Bestimmung des individuellen Sondergeistes einer Religion für eine wichtige Aufgabe (46). Wach thematisiert das Verhältnis von Theologie und Religionswissenschaft. Die dogmatische Theologie (Systematik) geht als normative Disziplin von der Wahrheit ihrer eigenen Religion aus und führt zu deren Erweis. „Damit ist der entscheidende Gegensatz gegen die religionswissenschaftliche Aufgabe bezeichnet, die eine rein erkennende ist“ (63). Zu den praktischen Disziplinen der Theologie sieht Wach überhaupt keine Beziehung, da deren Aufgaben „niemals in den Kompetenzbereich der Religionswissenschaft würde fallen können“ (64). Angesichts der Veränderungen innerhalb heutiger Praktischer Theologie und ihrer Erforschung der Gegenwartsreligion müsste sich Wach heute wohl anders positionieren. Die historisch-exegetischen Fächer (Altes und Neues Testament, Kirchengeschichte) könnten für Wach durchaus Bestandteile von Religionswissenschaft sein. Zum Schluss bündelt er die Haupterkenntnisse des zweiten Kapitels: Gegenstand des Forschens und Lehrens der Religionswissenschaft sind die empirischen Religionen. Die Religionswissenschaft geht beschreibend-verste-

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hend vor, nicht normativ. Praktische Absichten verfolgt sie nicht. Sie geschieht voraussetzungs-, nicht aber standpunktlos (68f.). Wach betrachtet die Religion/en als Sprache und sieht es als eine Aufgabe der Religionswissenschaft an, „durch Einzelforschung und Vergleich eine Art religiöser Grammatik zusammenzustellen“ (70). Manches von dem, was Wach erwähnt, erinnert an spätere strukturalistische Vorgehensweisen (LéviStrauss): „Eine jede Religion entwickelt entsprechend dem Geiste, der sie beseelt, eine mehr oder minder große Zahl von Bildern, begrifflichen und symbolischen Ausdrücken“ (71). Vor Augen schwebt Wach eine „Ausdruckskunde“ (71), wobei Ausdruck im weiteren Sinne von Form steht (vgl. Goldammers Formenwelt). In Teil III behandelt Wach „Die Einteilung der Religionswissenschaft“ (72–112), wobei er methodisch grundsätzlich „Religionsgeschichte und systematische Religionswissenschaft“ (72) voneinander trennt; „außer diesen beiden gibt es keine anderen religionswissenschaftlichen Disziplinen“ (107). Die Religionsgeschichte befasst sich mit dem „Werden der Religionen“ (78). Wach erläutert verschiedene Gesichtspunkte religionshistorischer Arbeit: formale, historisch-systematische. Hierunter versteht er die Beschäftigung mit der Geschichte einzelner Religionen, objektiver Formen (Dogma, Kultus), Persönlichkeiten. Neben einer lokalen und temporalen Einteilung erwähnt er die Einteilung nach „Wertgesichtspunkten“ und schließlich die „charakterisierende Einteilung“. Wach gibt keinem Gesichtspunkt den Vorzug, sondern rät, „nach dem jeweiligen Zweck [zu] fragen, zu dem die Einteilung unternommen werden soll, und sie dann daran orientieren. Jedenfalls aber wird gefordert werden müssen, dass die Einteilungsschemen i n s i c h k o n s e q u e n t sind.“ Eine Auseinandersetzung mit der Religionspsychologie (107ff.) beschließt Kapitel III. Kapitel IV behandelt „Die Methode der Religionswissenschaft“ (113–164). Wach grenzt Religionswissenschaft von der Religionsphilosophie ab, indem er ausgiebig drei maßgebende Entwürfe (Ernst Troeltsch, Heinrich Scholz, Max Scheler) vorstellt. Zusammenfassend hebt er hervor, dass die Ausgangspunkte von Religionswissenschaft und Religionsphilosophie anders geartet sind. Religionswissenschaft geht aus von den „geschichtlich gegebenen Religionen“ (129), ihre Methode ist im Unterschied zur religionsphilosophischen empirisch und nicht apriorisch-deduktiv (129). Wach unterstreicht noch einmal, dass jeder Mensch „seinem Wesen nach angelegt sei auf Religion“ (158). Religiös unmusikalische Menschen gibt es daher nicht: „Es wäre schön, wenn die Religionswissenschaft zu der Erkenntnis käme, dass fehlende Ausbildung des religiösen Sinnes niemals sein Nichtvorhandensein bedeuten kann“ (159). Gleichwohl sind „Stärke, Lebendigkeit und Ausbildung“ (159) des religiösen Sinnes bei den Menschen unterschiedlich. In Kapitel V („Systematische Religionswissenschaft“) entwirft Wach Grundzüge dieser zweiten Säule der Religionswissenschaft. Systematische Religionswissenschaft

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ist eine empirische Disziplin, wie die Religionsgeschichte. Sie hat „keinen normativen Charakter“ (173). Wach unterscheidet „materiale“ und „formale Religionssystematik“ (177). Am wichtigsten für die Religionswissenschaft ist die materiale Systematik. Zusammen mit der „formalen“ ist das Ziel systematischer Arbeit erreicht. Die systematischen Disziplinen sind ohne die Religionsgeschichte nicht denkbar (188). Der Systematiker ist nicht an der Genese einer Religion bzw. religiösen Erscheinung interessiert, „der Systematiker dagegen will Querschnitte legen, ihn interessiert nicht das Werden, sondern das Gewordene“ (177). „Materiale Religionssystematik“ stellt z.B. das System einer konkreten Religion dar bzw. deren Teilgebiete: „System der koranischen Theologie, die muslimische Pflichtenlehre aus ihrem Kern systematisch zu entwickeln“ (177). Darüber hinaus schwebt Wach eine „formale Religionssystematik“ vor, der es möglich sein soll, „vom Individuellen, von aller Konkretisation zu abstrahieren“ (178). Dann interessiert nicht mehr die „islamische Theologie und der Begriff der bida, sondern die Struktur der Theologien und der Begriff der Ketzerei […] Ich suche das Gemeinsame aus den mir bekannten Theologien, suche das Prinzip, nachdem sie alle gebildet und organisiert sind, suche das Identische in den Formen und im Charakter, das Gerüst herauszuarbeiten. Ich vergleiche und suche so eine oberste abstrakteste Klasse von religionswissenschaftlichen Begriffen zu nennen“ (178). Wach reflektiert über die religionswissenschaftliche Begriffsbildung (178f ) und über die Methode der „Vergleichung“ (179). Formale Systematisierungen können erst vorgenommen werden, nachdem „die individuellen Erscheinungen voll erfasst worden sind“ (188). Systematische Begriffe sind aus der Erfahrung gewonnen (z.B. abendländisches Mönchtum) „Wir vergleichen nun das abendländische mit dem orientalischen Mönchtum, lassen die Züge fallen, die nur individuell sind, und gewinnen so, indem sich die gemeinsamen Züge zu einem Gesamtbilde schließen, eine Vorstellung davon, was Mönchtum ist“ (187). In einem Anhang reflektiert Wach „Über den Psychologismus in der Religionswissenschaft“ (193–205) und beklagt die insbesondere in der evangelischen Theologie und Religionsphilosophie vorhandene „Überbewertung des Psychologischen“ (193) mit seinem damit einher gehenden Individualismus, der „den Blick notwendig stark eingrenzt“ (193) und das Interesse an der Gemeinschaft , „dem Volk, der Masse, kurz, den Kollektivträgern der religiösen Bewegung“ (201) zu kurz geraten lässt. Wach unterstreicht die Wichtigkeit des Objektiven („Mythus, Kultus, Ritus“).

3. Ausgewählter Quellentext

Wir wenden uns nach diesen Erörterungen der Betrachtung des Verfahrens der Religionswissenschaft zu, vor allem, um seine Voraussetzungen zu prüfen. Es ergeben sich

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nämlich hier für das Verstehen eine Anzahl Schwierigkeiten. Zunächst erhebt sich die Frage: Ist es überhaupt möglich, von einem Standpunkt außerhalb ihrer eine Religion zu erforschen und zu bearbeiten? Kann sich ihr Wesen überhaupt dem erschließen, der ihr nicht selbst angehört?89 Kann und darf ein islamischer Gelehrter es wagen, die christliche Religion zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung zu machen, hat ein christlicher Forscher die Berechtigung, mit Zuversicht an die Erforschung der indischen Religionen heranzutreten?2 Und wenn überhaupt, wie weit darf er hoffen, diesen fremden Erscheinungen gerecht zu werden? Die Bedeutungsschwere der ganzen Frage tut sich erst recht auf, wenn man sich erinnert, dass ohne die rechte Ausweisung und Begründung ihres Optimismus in Bezug auf die Lösung dieser Probleme die Religionswissenschaft sich niemals die Anerkennung würde erringen können, die sie zu ihrer Konsolidierung und Fundamentierung als Wissenschaft bedarf. Die Frage spitzt sich noch weiter zu. Gesetzt nämlich, wir kämen mit guten Gründen dazu, anzunehmen, dass eine solche Erforschung vom „externen“ Standpunkt sehr wohl statthaben könnte, läge es nicht nahe, den Spieß umzudrehen und zu fragen, ob nicht vielleicht dieser, der externe, nicht bloß ein möglicher, sondern der einzig mögliche Standpunkt sei, d.h. dass nur, wer von „außen“ an sie herantrete, die Voraussetzungen zur Erforschung einer Religion mitbringe, die das Forschungsunternehmen rechtfertigen können. Dass also nur eine gewisse „Distanz“90 vom Objekt seine „objektive“ und wahrheitsgetreue und unvoreingenommene Auffassung und .Erfassung ermögliche, oder dass die Abwesenheit festgelegter Grundüberzeugungen zu den Bedingungen einer erfolgreichen Erkenntnisarbeit gehöre. Das würde dann etwa heißen, dass ein überzeugter Anhänger oder Vertreter einer bestimmten Religion oder Konfession gerade infolge dieser seiner Mitgliedschaft von der religionswissenschaftlichen Arbeit im eigentlichen Sinne mindestens auf dem Gebiete der eigenen Religion ausgeschlossen sei, so sehr ihn diese vielleicht zu der theologischen prädestinieren möge. […] Die Technik dieses Verstehens haben die Historiker und Philologen sehr fein ausgebildet. Die religionswissenschaftliche Forschung wird sich an diesen von der allgemeinen Geschichte erarbeiteten Grundsätzen und Methoden zu orientieren haben. Die prinzipielleren Fragen hingegen bedürfen einer besonderen Erwägung. Die Grenzen des historischen Verstehens sind bekanntlich außerordentlich umstritten. Über die Grenzen dieses Verstehens und seinen Umfang wird daher mit ausdrücklicher Bezie-

89 Vgl. meine Aufsätze „Zur Methodol. d. allg. R.W.“ und „Bemerk. zum Problem der „externen“ Würdigung der Rel.“ Z.M.R., J. 1922, 2 u. 6, dazu oben S. 99, A. 1, u. etwa Söderbloms Werden d. Gottesglaubens Kap. I. 90 „Eine gewisse Distanz ist allerdings erforderlich; denn ohne sie gibt es keine Beurteilung, am wenigsten bei einem so komplizierten Ding wie der Religion.“ (Scholz, a.a.O., S. 9.)

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hung auf die Besonderheit des Objektes der Religionswissenschaft zunächst ein Wort zu sagen sein. Es handelt sich also in erster Linie um das Problem, ob und wie weit von einem externen Standpunkt aus, zunächst aus historischer Entfernung, verstanden werden kann. Wir wollen fürs erste, so bedenklich diese Trennung an sich ist, eine Scheidung zwischen lebenden und toten Religionen als Objekt der Forschung vornehmen. Als Beispiel der letzteren seien die assyrisch-babylonische, die griechische, die manichäische Religion genannt. Von diesen toten Religionen und ihrer Erkenntnis soll zuerst die Rede sein. Dass das Unternehmen, sie „extern“, von der Warte des Historikers aus begreifen zu wollen, nicht zu kühn, dass es nicht ein Wagnis allein unserer Wissenschaft ist, zeigen erstens die Parallelen in den verwandten Geisteswissenschaften. […] Aber wozu so weit gehen? Weist die religionsgeschichtliche Arbeit, wo und in welchem Rahmen und Zusammenhang sie auch geleistet worden sein mag, nicht selbst solche gelungenen Versuche, fremde, tote Religionen zu erforschen, die Fülle auf?91 Also: dass überhaupt eine Möglichkeit besteht, von einem externen Standpunkt her zu verstehen, scheint für die toten Religionen durch die entsprechenden Versuche gesichert.92 Wer aber sagt uns, dass wir es hier nicht mit Missdeutungen, mit falsch verstandenen und verzeichneten Vorstellungen zu tun haben, dass wir nur, weil uns die Möglichkeit der Kontrolle fehlt, auf die Fehler und Willkürlichkeiten nicht aufmerksam werden? Garantiert die Schlüssigkeit der Bilder, die man uns von den fremden Religionen gezeichnet hat, die Harmonie, in der alles das, was man uns über sie gelehrt hat, mit einander steht, die „Wahrheit“? Kann nicht auch Falsches einleuchtend und richtig wirken? […] Natürlich ist dem Einwurf gegenüber, jede Zeit müsse von sich aus sehen, könne sich doch nicht von sich lösen,93 zuzugeben, dass jede Generation, jede Epoche ihre charakteristische Art haben wird, die Welt anzuschauen und – dementsprechend – Geschichte zu treiben (– daher die oft betonte Notwendigkeit, dass nach bestimmten Zeiträumen die Geschichte der Vergangenheit von neuem geschrieben werden muss –), aber das Entscheidende ist, ob sie um diese Tatsache im allgemeinen und zweitens um ihren eigenen Charakter weiß. Uns hat das historische Zeitalter dieses Wissen ge91 Foucart will sogar die Erforschung der toten Religionen (speziell die der ägyptischen) zum Maßstab und methodischen Vorbild für die Rel.Wiss. nehmen. (Hist. des rel. Intr. XXXIV). 92 Vgl. auch, wie sich Usener mit der Frage nach der Möglichkeit, ältere Religionsgebilde zu verstehen, auseinandersetzt (Mythologie; Arch. f. Rel.Wiss. VII 1904, bes. S. 292. 93 „Wir kennen in Wahrheit nur uns selbst und verstehen nur unser eigenes Sein und deshalb auch nur unsere eigene Entwicklung.“ So Troeltsch, (Über den Aufbau der europ. Kulturgesch., Ges. Schr. III, S. 709) überspitzt.

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bracht, wir haben es und werden es auch trotz aller romantisierenden Versuche nicht wieder los werden. Wir sind damit keineswegs zum hoffnungslosen Historismus im üblen Sinne, der Standpunktlosigkeit, verurteilt. Es erwächst uns nur die Pflicht, uns über uns selber klar zu sein, die Maßstäbe kennen zu lernen, die wir gleichsam unbewusst als Kinder unserer Zeit, als Glieder unserer Generation an die Welt und also auch an die Geschichte heranbringen, durch klare Selbstbesinnung und Selbstprüfung, wie durch den Vergleich mit den andern auf Grund des gewissenhaftesten historischen Studiums.94 […] Worin soll die Objektivität des Forschers positiv bestehen, wie sein Verhältnis zum Objekt, wie die Distanz beschaffen sein, die man von ihm verlangen darf?95 Es würde von wenig Lebenserfahrung, Menschenkenntnis und Sachverständnis zeugen, wollte man wirklich als Ideal den vollständigen Verzicht auf persönliche Stellung und Anteilnahme, auf Auslöschung des persönlichen Eigenwesens aufstellen.96 Im Gegenteil: ohne persönliches Verhältnis zum Objekt wird kein Religionsforscher Großes im Verstehen und Deuten leisten. Wir sind berechtigt, mit dem stärksten Misstrauen an eine Arbeit heranzugehen, von der wir Grund haben, anzunehmen, dass ihr Urheber dieses Verhältnis zum Objekt nie besessen habe. Ein solches Verhältnis wiederum wird aber nur da statthaben können, wo eine gewisse „Affinität“ zwischen dem Forscher und seinem Objekt besteht, eine innere Verwandtschaft, wie wir vielleicht sagen dürfen.97 Alles wirkliche Verstehen setzt ein

94 An dieser Erkenntnisarbeit mitzuarbeiten war eine der vornehmsten wissenschaftlichen Aufgaben E. Troeltschs, die er sich von früh an gesetzt hat. (Vgl. dazu Bornhausen, E. Troeltsch und das Problem d. wiss. Theol.: Ztschr. f. Theol. u. K., neue F. 4, Heft 8, 1928). Seinen Gedanken der „Kultursynthese“, der die inneren Ziele, denen wir zuarbeiten, aus der hinter. Besinnung entnehmen will, müssen wir ablehnen. Was wir tun sollen, erfahren wir niemals aus der Geschichte, sondern allein aus uns selbst. Die allzu enge Verquickung von Ethik und Gesch.Phil. ist immer bedenklich (Troeltschs „materiale Gesch. Philosophie“). Aber: in Wenigen ist unsere Zeit mit all ihrer Problematik und in all ihrer Bedingtheit so zum Bewusstsein gelangt, Wenigen war die ganze Kompliziertheit der Kulturfragen und der Lösungsversuche auf Grund eben dieses Bewusstseins so präsent wie ihm. Heute sind wir schon wieder weiter. Aber immer wieder wird von einem dazu gerüsteten und befähigten Geist der Versuch gemacht werden müssen, über die Fragen: was sind wir? wo stehen wir? eine zugleich tiefe und umfassende Antwort zu geben. Alle Kleinarbeit hat nur Sinn im Hinblick auf dieses Ziel. 95 „Jede Wissenschaft“, sagt Bernheim sehr richtig, „trägt das Maß der ihr erreichbaren Objektivität in sich; denn dieselbe hängt ab, außer von der allgemeinen menschlichen Anlage, von der Art der Objekte und der auf dieselben anwendbaren Hilfsmittel der Erkenntnis oder, mit anderen Worten, vom Stoff und von der Methode der betreffenden Wissenschaft.“ (a.a.O., S.752.) 96 So auch sehr richtig Bernheim, a.a.O., S. 749ff. 97 Das Schönste, was bisher über diese Bezüge gesagt worden ist, findet man bei W. v. Humboldt,

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Interessenehmen voraus. Für die Religionsforschung ist dieses „Interesse“ eine conditio sine qua non. Wo innere Gleichgültigkeit gegenüber einem zu betrachtenden Gegenstand herrscht, kann sich erstens der Auftrieb und Antrieb nicht entwickeln, der – als Eifer, Fleiß, Zähigkeit, Beharrlichkeit – ein Eindringen in den Gegenstand allererst möglich macht. Zweitens aber ist das innere Interesse eine notwendige Voraussetzung, um die „Ferne“ aller fremden religiösen Erscheinungen zu überwinden, die erst die Arbeit an ihnen rechtfertigen kann.98 Es muss ein „Beflügelndes“ vorhanden sein, das den Konnex herstellt und die Bemühungen vorwärts und in die Tiefe treibt. Damit ist zugleich die Begründung dafür gegeben, dass ein Mensch nicht „alles“ verstehen kann; wirklich verstehen wird einer immer nur einen gewissen Kreis von Erscheinungen und Menschen, eben die, zu denen er Affinität besitzt, mit denen er sich in Kommunikation setzen kann. Mag sein Ahnen auch weiter hinausreichen, sein Bestes wird er immer innerhalb dieser Grenzen leisten.99 Dieses Interessiertsein an einer Erscheinung oder einem Problem kann nun ein positives oder ein negatives Vorzeichen tragen, im extremen Fall Liebe oder Hass sein. Sehr oft aber, und das ist das Entscheidende und in der gesamten Literatur über diese Dinge nicht genügend Beachtete, lässt sich die spezifische Färbung dieses Interesses gar nicht angeben, es ist „neutral“. Nicht in dem Sinne, dass es jeder Bestimmung entbehre, sondern in dem, dass es beide oder eine Mischung von beiden darstellt, dass die positive und die negative Richtung in diesem „Interesse“ sich neutralisieren. Die eigentümliche, oft beachtete Erscheinung, dass das Auge des Gegners so scharf sieht, dass der Feind so oft den Feind so viel besser durchschaut als der Unbeteiligte, ihm

in seiner Abhandlung über die Aufgaben des Geschichtsschreibers. Er spricht von „Assimilation der forschenden Kraft und des zu erforschenden Gegenstandes“. 98 Spranger fasst in seiner Theorie des Verstehens den Fall ins Auge, dass, wo eine „lebhaft sich aufdrängende Verwandtschaft des Verstehenden mit der früheren Epoche oder Person“ vorliegt, leicht das Verwandte in der früheren Geistesstruktur überbetont und dadurch die Objektivität gefährdet wird. Spranger hat dabei bereits den eigentlichen Vorgang der Deutung im Auge, während wir ja zunächst von seinen Voraussetzungen handeln. Ich glaube im übrigen, dass die Gefahr, die hier angedeutet wird, gering wiegt gegenüber dem Positiven, was aus einer Affinität des Forschers zu seinem Objekt – auch für die eigene Verstehens- und Deutungsarbeit – hervorgeht. 99 Es ist selbstverständlich, dass hier nicht von der historischen oder systematischen Klein- und Detailarbeit die Rede ist, sondern wir handeln von den Voraussetzungen des rel: wiss. Verstehens im tieferen Sinne.

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scheinbar also „näher“ Stehende100, ist so zu erklären, dass hier das Interesse – in diesem Falle mit „negativem Vorzeichen“ – vorhanden ist.101 Um aber in dieser Weise anteilnehmen, sich durch die Phänomene und Probleme überhaupt tiefer anrühren lassen zu können, ist menschliche und geistige Eigenart notwendig, Charakter.102 Also das Gegenteil jener radikalen Auslöschung der Individualität, einer Forderung, die auf einem psychologischen Missverständnis beruht und deshalb auch endlich einmal aus der wissenschaftlichen Literatur verschwinden sollte, wo sie noch immer umherspukt.103 Charakter heißt nicht ohne weiteres „Standpunkt“, festgelegte Position, wie viele glauben. Praktisch: es muss, wo „Charakter“ in diesem Sinne vorhanden ist, möglich sein, ein Verhältnis herzustellen zwischen dem Betrachtenden, also dem Religionsforscher, und seinem Objekt, das ihm ein Verstehen und Deuten erlaubt, auch wo von einem, womöglich äußerlich zu kennzeichnenden, Standpunkt innerhalb einer Gruppe, Gemeinschaft, Ordnung usw. nicht die Rede sein kann. […] Aber es ist notwendig etwas zu sein, wenn man „verstehen“ will: in je tieferem, umfassenderem Sinne man Mensch ist, umso tiefer und umfassender versteht man. Es ist fast unglaublich, wie groß die Spannungen in einem Individuum sein können, das in diesem höchsten Sinne des Wortes Mensch ist: da geschehen scheinbar Rückgriffe auf uralte Zeiten, in denen der Mensch seinem Gotte in seltsamer Weise diente, da werden Zusammenhänge einsichtig gemacht, die die scheinbar isoliertesten, rätsel-

100 Die Erklärung für die Tatsache, dass aus dem Saulus ein Paulus werden konnte, ist damit gegeben: das tiefe innere Interesse an der Person Jesu, das erst Hass, dann Liebe war, befähigte ihn, den Meister zu „verstehen“, auch als er ihn noch nicht wählte. Nietzsches Kritik am Christentum wird, um noch ein bekanntes Beispiel für das im Text Ausgeführte beizubringen, eigentlich erst so aufgefasst verständlich. Solche Verhältnisse können durchaus nicht nur zu Personen, sondern sehr wohl zu geistigen Erscheinungen – in ihrer Ganzheit oder zu einzelnen Zügen – bestehen. Sie sind für die Methodik aller Geisteswissenschaften wichtig. 101 Praktisch wird eben sehr häufig die innere Anteilnahme zu Subjektivismen verführen. Aber das ist nicht notwendig. Ebenso wie man sich bewusst sein kann, Werturteile zu fällen und es nun, ausdrücklich tun und unterlassen kann: so wird der Forscher sich Rechenschaft darüber zu geben haben, wieweit er sich wissenschaftliche Objektivität zutrauen darf, wird er zur Rechenschaft darüber zu ziehen sein. 102 „Der persönliche Charakter des Schriftstellers bringt seine Bedeutung beim Publikum hervor, nicht die Kunst seines Talents“, sagt Goethe. Dazu kommt die durch Erfahrung, Bildung und Erziehung in jedem Sinne geformte geistige Eigenart, in die wieder der Charakter typisch hineinwirken wird. Ist das alles für die Natur der Religiosität wichtig, so ebenfalls für das Verstehen dieser Natur. 103 In diesem Sinne auch Simmel, a.a.O. bes. S. 18ff. usw. Simmel arbeitet dieses charakterologische Apriori besonders fein heraus.

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haftesten Fakten untereinander verbinden. Damit rühren wir an ein Problem, das der Theorie der Hermeneutik von jeher Schwierigkeiten gemacht hat, das oft besprochen, aber selten richtig erklärt wird. Es handelt sich um die den Historiker, aber auch den Psychologen und Menschenkenner beschäftigende und schließlich alle Wissenschaften interessierende Frage, ob und inwieweit eigenes Erleben, eigene Erfahrung notwendig sei, um einen Menschen, ein seelisches oder geistiges Phänomen zu begreifen, ob man, wie dieses Problem wohl auch zugespitzt formuliert worden ist, Caesar sein müsse, um Caesar zu verstehen.104 „Wer nie geliebt hat, wird den Liebenden nie verstehen, der Schwächling nie den Helden, der Choleriker nie den Phlegmatiker“, meint Simmel.105 Ist das wahr? Wir fühlen alle, dass diese Behauptung nicht stimmt. Kann wirklich der Schwächling den Helden nicht verstehen? Hat nicht mancher, dem die große Leidenschaft versagt blieb, die Seligkeit der Liebenden besungen? Sind die Heroen der Geschichte immer von Menschen geschildert worden, die ihnen glichen? Es ist die bekannte Theorie von der „Kongenialität“, der wir immer wieder begegnen. Aber was heißt „kongenial“? und hat nicht vielleicht auch das „kongeniale“ Verstehen Grenzen? und welche sind sie? „Interesse“ ist, so sahen wir, die Grundbedingung des Verstehens. Es ist die Voraussetzung für die Herstellung eines inneren Verhältnisses zwischen dem Forschenden und seinem Objekt. Bleibt zu erklären, wie es denn möglich sei, dass ein kleiner, elender, schwacher Mensch dieses Verhältnis zu der Erscheinung eines Helden gewinne, dessen ganzes Wesen, Denken, Fühlen und Handeln ihm doch so unendlich fremd sein muss. Setzt er sich wirklich, wie die bedeutendsten Theoretiker glauben, „gleichsam an die Stelle seines Heroen, denkt er sich an seinen Platz, „fühlt“ er sich in seine Handlungsweise „ein“? Verstehen ist zunächst keineswegs, wie man so oft hören kann, gleich Nachfühlen oder Nacherleben106, es ist ein durchaus spontaner selbständiger produktiver Akt; jene psychologisierende Definition versagt auch völlig bei dem Verstehen, das auf die Erfassung objektiver Gebilde hingerichtet ist. Was wird da nach erlebt? Etwa der Prozess des Schaffens? Mit nichten. Die sachliche Deutung ist von der psychologischen streng

104 Dies Beispiel bei Max Weber, Wissenschaftslehre, 5.100, nach Simmel. Auch Freyer will fragen, „mit welchem Recht und auf welche Weise wir Äußerungen deuten, dergleichen wir selbst niemals getan, seelische Regungen verstehen, dergleichen wir selbst nie erlebt haben.“ (a.a.O. S. 7 u. 68.) 105 Simmel, Gesch.Phil., S. 15. 106 So auch jetzt Spranger: „Verstehen“ ist mehr als ein „Sichhineinversetzen“ (Lebensformen S. 865). Das eigene Erleben spielt nach ihm eigentl. nur die Rolle der anschaulichen, nie ganz adäquaten ,Illustration“. Manche Formulierungen in seinen Grundlagen der Gesch.Wiss. stehen der andern Auffassung nahe.

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zu scheiden und braucht nicht auf diese zu rekurrieren. Wenn ich den Sinngehalt einer Religion, eines Kunstwerks verstehen will, so brauche ich bekanntlich nicht auf den Seelenzustand ihrer Erzeuger zurückzugehen, also ihn auch nicht nachzuerleben. Das haben uns Dilthey und seine Schüler gelehrt. Das Nacherleben spielt aber auch beim subjektiven Verstehen keineswegs die Rolle, die ihm manche zuschreiben. Der ganze wichtige Bereich des Unterbewussten müsste ja für diese Auffassungsweise ausfallen, denn wie wollte sie die wichtigen im Unterbewusstsein des Helden verlaufenden Prozesse „nacherleben“ können. Ja, wie ist denn das Nachfühlen überhaupt möglich? Das ist doch erst die Frage! Ist das innere Verhältnis erst einmal hergestellt, so ist das übrige nicht mehr so problematisch. Wie lässt sich das Interessenehmen verstehen, das den scheinbar so Fremden so nahe an sein Objekt heranbringt? Erinnern wir uns der Tragweite dieser Frage für eine Wissenschaft von den Religionen! Ist sie denkbar, ohne dass man mit der Möglichkeit solchen Fremdverständnisses rechnet? Wie können wir Buddha, Muhammed verstehen? […] Etwas Ähnliches hat statt bei dem Forscher107, dessen innerstes Interesse von der Erscheinung einer großen Persönlichkeit, von bedeutsamen Vorgängen, von einem folgeschweren Ereignis angeregt wird.108 Vorausgesetzt, dass jene innere Affinität vorhanden ist, von der wir oben sprachen, so setzt sich der Verstehende in die geheimnisvolle Kommunikation mit seinem Objekt, die ihm gestattet, in sein Inneres vorzudringen.109 Eine Seite seines Wesens ist angerührt. Die Ahnung verwandten Lebens treibt 107 „Aber schon indem der Historiker die Tatsachen so deutet, formt, anordnet, dass sie das zusammenhängende Bild eines psychologischen Verlaufs ergeben, nähert sich seine Tätigkeit der dichterischen, ohne durch die Freiheit, die diese in der Gestaltung des Erzählten hat, anders als graduell von ihr unterschieden zu sein.“ Simmel, Gesch.Phil., S. 19. 108 Bernheim, a.a.O., s. S. 625ff., 649, der ausführlich auf die Unterschiede der dichterischen und der wissenschaftl. Phantasie und die Rolle der letzteren bei der Kombination und Deutung der geschichtlichen Tatsachen zu sprechen kommt. – Im übrigen soll noch einmal betont werden, dass der Vorgang, der hier beschrieben wird, keineswegs nur statthat, wenn es sich um „große“ Persönlichkeiten, schwierig zu deutende Gegenstände und Vor gänge, um besondere Phänomene in der seelischen und gegenständlichen Welt handelt, sondern jedes Verstehen und Deuten, auch der kleinsten Einzelheit, jedes Einzelzuges einer Erscheinung der geistig-seelischen Welt, muss so fundiert sein. 109 Unsere Phantasie trägt eine Mannigfaltigkeit von Situationen in sich bereit, mit denen wir unser künftiges Vorhaben vorbilden. Dieser „Vorrat“ an individuellen Lebenslagen dient uns dazu, auch in andere mit unserer deutenden Einbildungskraft hineinzukommen. Die Grundlagen dieser Fähigkeit sind künstlerisch und können bis zur Genialität gesteigert werden. Die feinere Ausarbeitung des Gesamtbildes nach seinen einzelnen Seiten und Zügen, nach seinen charakteristischen Abweichungen von uns und seiner individuellen gesetzlichen Struktur

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weiter. Das Verlangen, mehr zu erfahren, tiefer zu dringen, was dort sprechen will, genauer zu verstehen, regt sich mächtig und beflügelt die Phantasie. Die Sehnsucht, die in der Wirklichkeit nicht realisierten Anlagen der Seele zur Entfaltung zu bringen, wirkt weiter. So erweitern sich die Grenzen der empirischen Persönlichkeit. Verborgene, niemals zur Ausbildung gelangte Möglichkeiten schlummern in jedem Menschen: auf den Anstoß, den die Begegnung mit dem verwandten Leben gibt, erwachen sie. Auch jetzt gewinnen sie nicht etwa Realität: der Forscher wird nicht Caesar, wenn er sich auch mit dem größten Erfolg in das Studium seines Wesens und Werkes vertieft, aber sie geben den Boden her, auf dem eine willfährige, geschickte und fruchtbare Phantasie arbeiten kann. So sind die Voraussetzungen des Verstehens geschaffen. Es besitzt die nötige Kraft, in die Tiefe zu dringen, denn es wird von innen her gespeist. Nicht mir das Handeln, Fühlen und Denken von Menschen, der Charakter und das Wollen der großen Persönlichkeiten, der religiösen Heroen werden so verständlich, sondern die gesamte Welt des „Ausdrucks“, der geringste Satz, die kleinste Äußerung, das scheinbar unbedeutendste Faktum. Denn alles Seelische so gut wie alles Geistige ist Ausdruck einer bestimmten, oft gewiss sehr komplizierten, schwer zu deutenden oder zu fassenden seelischen Haltung oder eines bestimmten Geistes. Ihn gilt es aber zu „verstehen“, zu ihm müssen die Äußerungen, auch die objektivsten und scheinbar isolierten, in Beziehung gesetzt werden, aus ihm sind sie zu deuten.110 Dieser Geist aber kann nur erfasst werden, wenn jenes innere Interesse vorhanden ist, das wir als Ausdruck einer geheimnisvollen inneren Metexis [Teilnahme, Teilhabe] auffassen können, deren Gesetze vielleicht nur ahnbar sind.

4. Fragen zum Text 1. Kann sich das Wesen der Religion dem erschließen, der ihr nicht selbst angehört? Finden Sie Argumente und notieren Sie sie auf einer Liste mit Ja- bzw. NeinAntworten. 2. Distanz zum Objekt und eine Betrachtung von Außen: Genügen diese Merkmale, um ein angemessenes Verstehen der Religion/en zu ermöglichen? 3. Wach konstatiert, dass „jede Generation, jede Epoche ihre charakteristische Art haben wird, die Welt anzuschauen“. Interpretieren Sie dies. ist Sache eines wiss. Nachdenkens, das mit neuen schärfer ausgebildeten Begriffen arbeitet. Spranger, Lebensformen S. 377. 110 Sowohl die psychologische wie die sachliche Deutung ist natürlich in gewisse Grenzen gebannt. „Individuum est ineffabile“, und auch für das Verstehen der Objektivationen sind solche Grenzen gesetzt. (Vgl. dazu etwa Freyer, Theorie des objekt. Geistes, bes. S. 60ff.).

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4. Was gehört für Wach zu den Grundbedingungen des Verstehens? 5. Was meint Wach mit dem Satz: „In je tieferem, umfassenderem Sinne man Mensch ist, umso tiefer und umfassender versteht man“? 6. Setzen Sie sich mit Wachs Satz auseinander, dass „eigenes Erleben, eigene Erfahrung notwendig sei, um einen Menschen, ein seelisches oder geistiges Phänomen zu begreifen, ob man, wie dieses Problem wohl auch zugespitzt formuliert worden ist, Caesar sein müsse, um Caesar zu verstehen“. 7. „Verstehen ist zunächst keineswegs, wie man so oft hören kann, gleich Nachfühlen oder Nacherleben“. Diese anti-emotionale Position Wachs ist in der heutigen Religionswissenschaft sehr verbreitet. Das für antiquiert gehaltene Konzept der Einfühlung tritt jedoch neuerdings in den Literaturwissenschaften auf den Prüfstand. Seit den 1980er Jahren hat in der Psychologie eine emotionale Wende stattgefunden. Gefühle gelten nicht länger als Störfaktoren der menschlichen Rationalität, die es auszublenden, notfalls zu bezwingen gilt. Die Vielfalt der Gefühle ist Teil einer umfänglicheren, evolutionär fundierten Vernunft. Einfühlung gilt nicht länger als unprofessioneller Zugang zu Literatur (resp. Religion). Lesen Sie den Beitrag des Literaturwissenschaftlers Thomas Anz: www.literaturkritik.de/public/ rezension.php?rez_id=10267 und nehmen Sie Stellung.

5. Würdigung

Der junge Wach forderte die Einteilung der Religionswissenschaft in einen religionsgeschichtlichen und einen religionssystematischen Teil. Dies hat sich in der Religionswissenschaft durchgesetzt und diese maßgeblich bis heute geprägt. In seinem amerikanischen Exil wurde die religiöse Erfahrung für Wach zum hermeneutischen Schlüssel und zum Kriterium für das Verständnis religiöser Phänomene. Sein posthum veröffentlichtes Spätwerk The Comparative Study of Religions (deutsch: Vergleichende Religionsforschung, 1962) verbindet Einsichten und Methoden der Religionswissenschaft, Religionsphilosophie und christlichen Theologie. Während der frühe Wach die Aufgabe der Religionswissenschaft in der Erforschung und Darstellung der empirischen Religionen sah – also als eine nicht-normative, beschreibendverstehende Wissenschaft, deren Aufgaben in der historischen und systematischen Bearbeitung der konkreten Religionserscheinungen lagen –, so verzichtete der späte Wach auf den einst für so wichtig gehaltenen empirischen Anspruch. In The Comparative Study of Religions überführte er die Religionswissenschaft in eine Art Religionstheologie. Seine verstehende Religionswissenschaft wurde zu einer Glaubenswissenschaft mit eher geringem Bezug zu den historischen und konkreten Religionen. Der Marburger Religionswissenschaftler Rainer Flasche (1942–2010) sieht hierin einen

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Grund dafür, warum sich Wach in seinem Werk so wenig mit konkreten Religionen beschäftigte und sogar eine Mehrzahl von ihnen nicht einmal in den Blick nahm. So beachtete er keine autochthonen Religionen, nicht die asiatische Religionswelt und auch keine Religionstraditionen der Vergangenheit. Joachim Wachs Religionswissenschaft wurde nach seiner Analyse zur historischen Theologie mit normativem Anspruch. In den USA wird Joachim Wach als einer der Väter der Religionswissenschaft hoch verehrt. Zusammen mit Gustav Mensching wird Joachim Wach zu den „Klassikern der Religionssoziologie“ gezählt.

6. Weiterführende Arbeitsaufgaben 1. Der frühe Wach von 1924 unterscheidet sich vom späten in seiner Auffassung von Religionswissenschaft. Lesen Sie von Wachs posthum erschienene Vergleichende Religionsforschung (1958; deutsch 1962) und stellen Sie die wesentlichen Unterschiede im religionswissenschaftlichen Ansatz heraus. 2. Lesen Sie Wachs „Meister und Jünger“ (1925) und klären Sie Wachs Auffassung der Unterschiede von Meister-Jünger und Lehrer-Schüler-Verhältnis. Stimmen Sie mit seinen Unterscheidungen überein? Sammeln Sie Argumente gegen das Wachsche Schema. Hilfreich wäre ein Blick auf die sog. neuen Religionen und ihre Gurus. Sind sie mit dem Wachschen Schema angemessen zu beschreiben? 3. Informieren Sie sich über den Kreis um Stefan George, dessen Umfeld der geistige Hintergrund von Wachs Modell war. 4. Lesen Sie Lexikonartikel zum Stichwort Religionssoziologie und stellen Sie fest, ob und ggf. welche Rolle Joachim Wach spielt.

7. Auswahlbibliographie Primärliteratur

Der Erlösungsgedanke und seine Deutung, Leipzig 1922. Religionswissenschaft. Prolegomena zu ihrer wissenschaftstheoretischen Grundlegung, Leipzig 1924. Meister und Jünger. Zwei religionssoziologische Betrachtungen, Leipzig 1925. Das Verstehen: 1. Die großen Systeme. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jh., Tübingen 1926. Das Verstehen: 2. Die theologische Hermeneutik von Schleiermacher bis Hofmann. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jh., Tübingen 1929.

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Einführung in die Religionssoziologie, Tübingen 1931. Das Verstehen: 3. Das Verstehen in der Historik von Ranke bis zum Positivismus. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jh., Tübingen 1933. Das Problem des Todes in der Philosophie unserer Zeit, Tübingen 1934. Sociology of Religion, Chicago 1944. Religionssoziologie, Tübingen 1951. Vergleichende Religionsforschung, Stuttgart 1962. The Comparative Study of Religion, New York 1966. The history of religions: essays on the problem of understanding, Chicago u.a. 1967. Understanding and Believing. Essays, Westport 1975. Sekundärliteratur

Flasche, Rainer: Die Religionswissenschaft Joachim Wachs, Berlin, New York 1978. Graul, Johannes: Jüdisches Erbe und christliche Religiosität. Die Familiengeschichte als prägendes Moment in der Biographie des Religionswissenschaftlers Joachim Wach (1898–1955). In: Stephan Wendehorst (Hg.): Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, Leipzig 2006, 287–304. Ders.: „Mit jedem einzelnen Studenten persönliche Fühlung aufnehmen“. Joachim Wach als Hochschullehrer in Leipzig (1924–1935). In: Thomas Hase (Hg.): Mauss, Buddhismus, Devianz. Festschrift für Heinz Mürmel zum 65. Geburtstag, Marburg 2009, S. 375 f. Guting, Eberhard: Zum hermeneutischen Ansatz Joachim Wachs. In: ZRGG 30 (1978), S. 68–71. Kitagawa, Joseph: Johannes Wach: Leben, Forschung und Lehre. In: Joseph Kitagawa: Gibt es ein Verstehen fremder Religionen? Leiden, 1963, S. 1–36. (Beihefte der ZRGG; 6) [Vollständige Bibliographie der Werke Wachs] Klimkeit, Hans-Joachim: Das Prinzip des Verstehens bei Joachim Wach. In: Numen 19 (1972), S. 216–228. Rudolph, Kurt: Joachim Wach (1898–1955). In: Kurt Rudolph: Geschichte und Probleme der Religionswissenschaft, Leiden, New York, Köln 1992, S. 357–367. Schäufele, Wolf-Dietrich: Wach, Joachim. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Bd. 16. Herzberg 1999, Sp. 1507–1512.

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11. Gerardus van der Leeuw (1890–1950) 1. Biographie

Gerardus van der Leeuw wurde am 18. März 1890 in Den Haag als Sohn von Gerardus van der Leeuw Senior und Elisabeth Antoinette Nelck geboren. Nachdem er die Schulzeit in einer christlichen Grundschule und einem städtischen Gymnasium abgeschlossen hatte, studierte er an der Universität Leiden Theologie (1908–1913) und Ägyptologie. Er wohnte weiterhin im elterlichen Hause und fuhr fünf Jahre lang mit der Bahn von Den Haag nach Leiden. Religionsgeschichte war seit 1876 anerkannte, staatliche Wissenschaftsdisziplin, die mit der Kirche grundsätzlich nichts zu tun hatte. Das Niederländische Hochschulgesetz von 1876 unterschied streng zwischen den vom Staat anerkannten nicht- bzw. überkonfessionellen Disziplinen und den kirchlichen Fächern anderseits. An den niederländischen theologischen Fakultäten existierte also seit jener Zeit die formal von den Kirchen unabhängige Religionswissenschaft. Sie wurde in Leiden zunächst von Cornelis Petrus Tiele (1830–1902), anschließend von dem in Norwegen geborenen William Brede Kristensen (1867–1953), und ihm dann folgend Hendrik Kraemer (1888–1965), vertreten. Leiden stand für die historisch-philologische Tradition der Religionswissenschaft. 1913/14 studierte Van der Leeuw in Deutschland: in Berlin, wo er Ägyptologie bei Adolf Erman (1854–1937) und Kurt Sethe studierte, sowie in Göttingen, wo er Religionsgeschichte bei Wilhelm Bousset (1865–1920) hörte, einem Vertreter der so genannten Religionsgeschichtlichen Schule. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges kehrte er in die Niederlande zurück und promovierte mit einer Arbeit über „Godsvorstellingen in de oud-Aegyptische pyramidentexten“ (Gottesvorstellungen in den altägyptischen Pyramidentexten). Am 27. April 1916 heiratete er Anna Catharina Snoeck Henkemans (1890–1946) und war von 1916–1918 reformierter Prediger der größten protestantischen Kirchenorganisation der Niederlande: der Nederlandse Hervormde Kerk (Holländische Reformierte Kirche) in s-Heerenberg. Zugleich unterrichtete er Hebräisch an einem

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Gymnasium in Doetinchem. Groß war Van der Leeuws Engagement für die liturgische Bewegung der Kirche. 1938 veröffentlichte er ein kirchliches Gesangbuch. Im Juni 1918 wurde Van der Leeuw Nachfolger von Isaac van Dijk an der Theologischen Fakultät der Rijksuniversiteit Groningen für de Geschiedenis van de godsdiensten in’t algemeen en de Geschiedenis van de leer aangaande God (Lehrstuhl für Religionsgeschichte, die Geschichte der Lehre Gottes und theologische Enzyklopädie). Dieser Lehrstuhl wurde nach dem Zweiten Weltkrieg in einen Lehrstuhl für Phänomenologie der Religion umbenannt. In der Philosophischen Fakultät vertrat Van der Leeuw das Fachgebiet Ägyptologie. Van der Leeuw schrieb über so verschiedenartige Themen wie altägyptische Pyramidentexte, griechische Mythologie, die Beziehung zwischen Religion und Kunst, Liturgik, Anthropologie, über Bachs Johannes- und Matthäus-Passion sowie über die niederländische zeitgenössische Kultur. Die 1920er und 30er Jahre waren eine besonders fruchtbare Periode im Schaffen Van der Leeuws. Über seine religionsphänomenologischen Untersuchungen hinaus zeigt sich Van der Leeuw nach Ansicht des Theologen, Religionspsychologen und Tibetologen Fokke Sierksma (1917–1977) als hartstochtelijk estheet („leidenschaftlicher Ästhet“). In seinem Werk „Wegen en Grenzen“ thematisierte Van der Leeuw die Entwicklung der Kunst, einschließlich Literatur, Tanz, Musik, Drama und Theater, bildende Kunst, Architektur, Film. 1934/35 war er Rektor der Groninger Universität. Bemerkenswert war, dass Van der Leeuw sehr viele Werke, u.a. seine Phänomenologie der Religion, auf Deutsch schrieb. Während des Dritten Reiches wurde Van der Leeuw 1943 vom Reichssicherheitsdienst, eine Abteilung der SS, verhört, bald aber wieder frei gelassen. Er teilte die Kulturkritik von Karl Jaspers und dessen existentielle Analyse der Gesellschaft. In Alfred Rosenbergs „Der Mythos des 20. Jahrhunderts“ sah er den Niedergang an Werten und der Moral. Van der Leeuw schloss sich jedoch nicht der 1936 gegründeten niederländischen Widerstandsgruppe Committee of Vigilance, an, weil unter ihren Mitgliedern auch Kommunisten waren. „Ich ziehe Franco vor“, schreibt Van der Leeuw in einem Brief, um deutlich zu machen, dass er den Kommunismus als anti-religiöse Macht sah. Dagegen verteidigte Franco die Kirche immerhin gegen die heidnischen Bolschewisten…111 1945/46 war Van der Leeuw der erste Minister für Bildung, Künste und Wissenschaften in den Nachkriegsniederlanden für die Arbeitspartei. Vor dem Krieg gehörte er der Christelijk Historische Unie (Christlich Historische Union) an. Van der Leeuw war Mitbegründer der Niederländischen Gesellschaft für Religionsgeschichte und Vor111 Zu Van der Leeuws Einstellung gegenüber dem Dritten Reich: Willem Hofstee: The Essence of Concrete Individuality. Gerardus van der Leeuw, Jan de Vries, and National Socialism. In: Horst Junginger (ed.): The Study of Religion under the Impact of Fascism, Leiden 2008, S. 543–553.

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sitzender der in Amsterdam neu gegründeten International Association for the Study of Religions. 1950 konnte er den Internationalen Kongress für Religionsgeschichte in Amsterdam ausrichten. Van der Leeuw starb am 18. November 1950 aufgrund eines Nierenleidens in Utrecht.

2. Inhaltsangabe des Buches Die „Phänomenologie der Religion“ ist mit ihren über 800 Seiten das Dokument der Religionsphänomenologie. Bereits 1925 hatte der Autor eine erheblich kleinere „Einführung in die Phänomenologie der Religion“ (166 S.) veröffentlicht. Diese „Vorarbeit zu einer wirklichen Phänomenologie“ erschien in der theologischen Schriftenreihe „Christentum und Fremdreligionen“ (Bd.1), herausgegeben von Friedrich Heiler. Dieser lobt den „festen Standort seiner christlich-theologischen Anschauung“ und sein „entschiedenes Bekenntnis zum Christentum“. Auch die „Phänomenologie“ erschien als Auftaktband einer theologischen Reihe: „Neue theologische Grundrisse“, herausgegeben von Rudolf Bultmann. Auf S. 737 formuliert Van der Leeuw deutlich die hinter seinem Werk stehende Intention: „Vom Christentum aus unsern Blick auf die Welt der historischen Religionen richtend, meinen wir zu sehen, dass das Evangelium sich zeigt als die Erfüllung der Religion überhaupt“.

Das Buch ist zumindest in seiner Grobstruktur klar gegliedert. Behandelt der erste Teil das „Objekt der Religion“ und der zweite das „Subjekt in der Religion“, so folgt konsequent im dritten Teil „Objekt und Subjekt in ihrer Wirkung aufeinander“. Daran schließen sich zwei weitere Teile an: 4. Teil „Die Welt“ und 5. Teil „Gestalten“. Van der Leeuw beendet sein Werk mit so genannten Epilegomena („Nachlese“). Das Werk ist in insgesamt 112 Paragraphen eingeteilt. Grundsätzlich benutzt Van der Leeuw den Begriff Religion im Singular. Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, dass er in §89 Friedrich Schleiermacher (1768–1834) und Heinrich Frick (1893–1952) zustimmt, dass „Religion […] wirklich nur in Religionen [ist]“, dass sie immer nur als „jeweilige historische Gestalt“ in Erscheinung tritt (669). Eineinhalb Jahrzehnte nach Ottos Klassiker „Das Heilige“ gibt Van der Leeuw in § 1 als Objekt der Religion nicht Gott oder das Heilige, sondern die an Dingen oder Personen haftende „Macht“ an: „Die von der Macht erfüllten Gegenstände und Personen haben ein Wesen für sich, das wir heilig nennen.“ (9) Das Objekt der Religion ist ein „auffallend Anderes“, eine an Rudolf Otto, auch an Karl Barth (1886–1968), erinnernde Formulierung von Gott als dem „ganz Anderen“. Zwar behauptet Van der Leeuw im „Vorwort zur ersten Auflage“: „Weder evolutionistische noch sog. anti-evolutionistische noch andere Theorien, welche des Ursprungs der Religion habhaft zu werden versuchen, sei es diesen in einen Ur-Dynamismus, in einem Ur-Animismus oder in ei-

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nem Ur-Monotheismus zu finden meinen, sind in diesem Buche a limine [kurzerhand, U.T.] abgelehnt worden“ (VI). Doch verrät seine am Anfang stehende Machtkonzeption, dass er evolutionistisches Denken noch nicht völlig abgestreift hat. In §§ 1–21 differenziert Van der Leeuw sehr genau die verschiedenen Ausprägungen und Entwicklungen der Macht. Eine wichtige Etappe stellt § 9 dar: „Wille und Gestalt“. Dieser Paragraph behandelt die Theorie und das Phänomen Animismus. Auch wenn die Theorie für Van der Leeuw veraltet ist, so nicht der Ausdruck für einen Phänomenbereich. „[…] in den drei Worten Macht, Wille, Gestalt liegt so ziemlich der ganze Begriff des Gegenstandes der Religion“ (83). Erst danach nimmt das Objekt der Religion anthropomorphe Züge an, wird zunächst zur „Gestalt der Mutter“ (§ 10), zum „Heiland“ (§ 12) und erst in Paragraph 20 zum „Vater“. Er ist die „Vollgestalt“ der Macht, „Gott, der Schöpfer“. „Wir haben das Wort jetzt ausgesprochen: Gestalt und Wille haben ihr wirkliches und göttliches Leben in Gott, dem Schöpfer. Natürlich meinen wir nicht den Schöpfer, den wir im Hintergrund der Welt ruhend fanden; wir denken vielmehr an den Gott, der sich in seiner Schöpfung mitteilt, ja sich hingibt“ (196). Van der Leeuws letztliche Höherbewertung des Vaters gegenüber der Mutter basiert auf einer heute als veraltet geltenden Anthropologie, nach der Väter aktiv sind, zeugen und geben, während Mütter passiv sind, empfangen und gebären. „Die Vollgestalt wäre somit nicht die der Mutter (der „Möglichkeit“), sondern diejenige des wollenden, zeugenden Vaters“ (198). Und diese „allumfassende Aktivität des Willens, die volle Vatergestalt aber lehrt das Christentum in der Inkarnation.“ Da stört Van der Leeuw als Theologe auch der Vorwurf des Anthropomorphismus nicht. „Unbekümmert schaut es [das Christentum] die Gestalt desjenigen, der gekommen ist, dass er den Willen tue des, der ihn gesandt hat“ (201). Nicht ganz so umfangreich wie der erste Teil ist der zweite: „Das Subjekt der Religion“ (§ 22–47), unterteilt in drei Unterkapitel: A „Der Heilige Mensch“; B. „Die Heilige Gemeinschaft“; C. „Das Heilige am Menschen. Die Seele“. Auch wenn Van der Leeuw den einzelnen Menschen an die Spitze stellt, so unterstreicht er doch zugleich, wie wichtig der soziale Gedanke in der Religion ist: „Das menschliche Leben in seinem Verhältnis zur Macht ist zunächst nicht das Einzelleben, sondern dasjenige der Gemeinschaft“ (209). In Teil A differenziert Van der Leeuw verschiedene Typen religiöser Autorität: König, Medizinmann und Priester, Sprecher, Prediger, Geweihter, Heiliger, dämonischer Mensch. Im Abschnitt B stellt Van der Leeuw die „Gemeinschaft“ (§ 32) an den Anfang seiner Betrachtungen dialektisch in Zusammenhang mit der Erfahrung der „Einsamkeit“ – ein Existential, das er, gut protestantisch, so formuliert: „Einsam sein, ist vor dem Letzten, vor Gott stehen. Aber man kommt in die Einsamkeit nur aus der Gemeinschaft“ (270). Van der Leeuw unterscheidet zwei Grundformen menschlichen Zusammenlebens: Gemeinschaft und Bund. „Der primitive Mensch denkt und handelt kollektiv. Der Einzelne ist nichts ohne die Andern. In ihm handelt sein Geschlecht, sein Stamm […] Der primitive Mensch kennt nur eine Gemeinschaft. Die Unterscheidung zwischen weltlicher

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und geistlicher Gemeinschaft ist ihm völlig fremd“ (271f.). Bei seiner Bund-Konzeption greift Van der Leeuw auf den Stefan Georges Weltsicht nahe stehenden deutschen Soziologen und Männerbund-Theoretiker Hermann Schmalenbach zurück.112 Dieser war von dem Gedankengut der bündischen Jugend im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und von Max Weber (Charisma) beeinflusst. Schmalenbach ergänzte die auf den Soziologen und Nationalökonomen Ferdinand Tönnies (1855–1936) zurückgehende Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft durch eine dritte grundlegende Sozialform: den Bund. Dabei stand ihm der George-Kreis vor Augen, an dessen Rand er sich auch einige Zeit bewegt hatte. Van der Leeuw übernimmt zwar die Kategorie Bund, aber nicht dessen emotionale Füllung im Sinne Schmalenbachs. Die soziologischen Kategorien „Ehe, Familie, Geschlecht, Stamm“ (§33) sind Gemeinschaftsformen. „Zur Gemeinschaft gehört man, ob man will oder nicht. Dem Bunde tritt man zu“ (283). Bei Van der Leeuw wird nicht auf „schlechthinnige Hingabe, Opferbereitschaft, rest- und rückhaltloses Sichschenken, nicht zunächst von Sachen, sondern des Selbst“113 abgehoben. § 35 thematisiert die „Sekte“: „nicht ein religiöser Bund, der aus einer anderen religiösen Gemeinschaft (der Kirche) ausscheidet; sie scheidet aus der Gemeinschaft überhaupt aus“ (S. 294). Die Sekte ist „eine Rückkehr zur primitiven Gemeinschaft“ (296). Wenn Van der Leeuw auf die Kirche zu sprechen kommt, dann werden Wertungen umso deutlicher spürbar. Kirche ist so etwas Besonderes, dass keine andere Gemeinschaft ihren Namen verdient. „Damit ist schon gesagt, dass die Kirche, wie sie im Bewusstsein der Gläubigen lebt, ihrem Wesen nach aus der Phänomenologie herausfällt. Sie ist der Leib Christi und entzieht sich als solcher jedem Verstehen“ (300). Kirche ist mehr als Gemeinschaft und Bund, „vielmehr ein Anderes, in der Summe der Mitglieder nicht Gegebenes, das ein neues Organ schafft. Und dieses Andere ist das Erste und Letzte, das Wesen und der Urgrund der Dinge“ (301). Van der Leeuw beschließt seinen religionssoziologischen Teil mit einem knappen Abschnitt über die „Communio Sanctorum“ (§ 38), ein Begriff für die geistliche Gemeinschaft aller lebenden und verstorbenen, auf der Erde und im Himmel befindlichen Christen. Teil C (§§ 39–47) thematisiert „Das Heilige am Menschen: Die Seele“ und stellt eine Vielzahl von religionsgeschichtlichen Seelenkonzeptionen vor. Der dritte Teil „Objekt und Subjekt in ihrer Wirkung aufeinander“ ist folgerichtig gegliedert in Teil A „Die äußere Handlung“ (§§ 48–66) und Teil B „Die innere Handlung“ (§§ 67–82). Zunächst thematisiert Van der Leeuw religiöses Handeln in Opfer, Sakrament, behandelt klassische Themen wie heilige Zeit und heiliger Ort, den Mythus, heilige Schriften usw. Teil B fällt durch eine Fülle neuer Wortprägungen auf, mit denen 112 Die soziologische Kategorie des Bundes. In: Die Dioskuren. Jahrbuch für Geisteswissenschaften, München 1922, S. 35–105. 113 Ebd., S.73.

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Van der Leeuw die inneren Beziehungen zwischen Gott und Mensch auf den Begriff bringen will. Statt wie eingangs von Macht zu sprechen, enthalten alle Begriffe Gott als ersten Bestandteil, gleichwohl ist in der Darstellung selbst dann von Macht die Rede. Bei „Gottesmeidung“ (§ 68) geht es um das Phänomen Tabu wie auch um die zur Meidung führende „Angst“ vor Gott. „Gottesknechtschaft“ (§ 69) meint die Haltung ehrfürchtigen Gehorsams. „Gottesbundschaft“ (§ 70) orientiert sich primär am alttestamentlichen Bundesgedanken. „Gottesfreundschaft“ (§ 71) findet sich im Christentum und im Sufismus. „Gotteswissenschaft“ (§ 72) ist nicht einfach identisch mit Theologie, sondern umfasst magisches, mystisches, theosophisches, gnostisches Wissen. Unter „Gottesnachfolge“ (§ 73) werden verschiedene Möglichkeiten des Nachfolgens behandelt: in Mysterienkulten, bei Jesus, in der Mystik. „Folgen bedeutet immer Einigung des Lebens des Folgenden mit dem Leben dessen, dem man folgt“ (550). Nach der „Gottesfülle“ (§ 74) , bei der es Rausch, Ekstase, Mittel zur Rauscherzeugung geht, folgt der umfangreiche § 75 über die „Mystik“. Im Anschluss daran behandelt Van der Leeuw die in vielen Religionen anzutreffende „Gottesliebe“ (§ 76). Gleichwohl gilt: „Dem christlichen Glauben ist nicht die Liebe ein Gott, sondern Gott ist die Liebe“ (583). „Gottesfeindschaft“ (§ 78) steht bei Van der Leeuw für die Haltung der „Sünde“, womit nicht sittliche Verfehlungen gemeint sind, sondern eine grundsätzlich fehlerhafte Gottesbeziehung. Mensching, den Van der Leeuw hier zitiert, spricht von „genereller und existentieller Unheilssituation“. Nach dem „inneren Leben“ (§ 79) sowie „Bekehrung. Wiedergeburt“ (§ 80) folgt der entscheidende, wiederum am Ende einer Gedankeneinheit stehende „Glaube“ (§ 81), verstanden im reformatorischen Sinne: „Der Glaube ist immer ein Geschenk“ (609). Daher ist er wie die Kirche kein Phänomen unter anderen, sondern es gilt: „Mit dem Glauben tritt ein ganz neues Element in das religiöse Leben. Genau genommen tritt er nicht in dieses Leben. Denn in diesem Fall wäre er ein Phänomen.“ (610) Aber auch wenn der Glaube kein Phänomen ist, so seine Folge: die „Anbetung“ (§ 82). Der vierte Teil der „Phänomenologie der Religion“ thematisiert „Die Welt“ und ihre Phänomene. Von besonderem Interesse ist der mit „Gestalten“ genannte fünfte Teil, der in zwei Unterteile zerfällt: „A. Religionen“ (§§ 89–102) und „B. Stifter (§§ 103–108). Der erste Teil präsentiert Van der Leeuws Konzeption einer Typologie der Religionen. Er unterscheidet zehn Religionstypen (u.a. „Religionen der Entfernung und der Flucht“: Konfuzianismus; „Religion des Kampfes“: Zoroastrismus; „Religion der Ruhe“: ohne historische Gestalt; „Religion der Unruhe“: Judentum, Christentum, Islam u.a.; „Religion des Dranges und der Gestalt“: griechische Religion/en; „Religion der Unendlichkeit und der Askese“: Religionen Indiens; „Religion des Nichts und des Mitleids“: Buddhismus; „Religion des Willens und des Gehorsams“: Religion Israels; „Religion der Majestät und der Demut“: Islam). Am Ende steht dann die „Religion der Liebe“, das Christentum (§101), „die zentrale Gestalt der Religionen“ (737). Das Christentum hebt Van der Leeuw aus der Welt der Religionen heraus, indem er es als „Erfüllung der Religion“

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(738) betrachtet und das „Neue und Einzigartige“ (739) hervorhebt. Bemerkenswert sind die §§ 94 und 95 über die „Dynamik der Religionen“. Sie zeigen, dass Religionen keine statischen Gebilde sind, sondern sich auf vielfältige Weise verändern. Bevor Van der Leeuw in Teil B. auf das Thema „Stifter“ zu sprechen kommt, differenziert er „die christlichen Konfessionen“ (§102). Er versteht unter einem „Stifter“ nicht den „Gründer einer Religion, wie er in den Handbüchern lebt, neben den Gründern des GustavAdolf-Vereins u. dgl. Oder den Begründern des Sozialismus o.ä. oder endlich neben den großen Erfindern. Religionen werden nicht begründet oder gegründet; sie erscheinen aber als gestiftet“ (750). Eine Stiftung ist erst dann Gegenstand der Forschung, „wenn ihre historischen Wirkungen weithin sichtbar sind […], wenn geschichtliche Wellen“ vorhanden sind (751). Van der Leeuw unterscheidet folgende Stiftertypen: Reformator (§ 104), Lehrer (§ 105), Philosoph und Theologe“ (§ 106) Etwas quer zu den genannten Typen steht „Das Beispiel“ (§ 107), das auf „Leben und Tat“ (764) der Stifter abhebt. Erwartungsgemäß endet auch dieser zweite Teil mit der Sonderstellung des Stifters im Christentum: „Der Mittler“ (§ 108). Auch er ist wie Kirche, Schuld, Glaube kein Phänomen. „Der Offenbarungsmittler ist zur Offenbarung selbst geworden […] Hier zieht sich der schauende und verstehende Diener der Wissenschaft ehrfürchtig zurück; sein Wort weicht dem Worte der Verkündigung, sein Dienst dem Dienste im Heiligtum“ (767). Mit diesen Worten endet die eigentliche „Phänomenologie der Religion“, an die jedoch nachträglich so genannte „Epilegomena“ (§ 109) angefügt worden sind, in denen Van der Leeuw die Methode seiner religionsphänomenologischen Arbeitsweise darlegt, sein Verständnis von „Religion“ (§ 110) präzisiert, die Religionsphänomenologie von anderen Disziplinen abgrenzt (§ 111) und eine kurz gefasste „Geschichte der Disziplin“ vorstellt.

3. Ausgewählter Quellentext

Die Symbole sind die Grenzen, an denen die beiden Wirklichkeiten [religiöse Erfahrung / alltägliches Leben, U.T.] zusammenfallen. Der Mensch denkt sie sich nicht aus, sondern sie sind ihm gegeben. Nur in einer Zeit wie der unseren, in der der Mensch sich sehr weit entfernt hat von der Grundlage seines Lebens, so weit, dass er sich durch die Psychoanalyse zurückrufen lassen muss, vergisst er die Symbole über seinem selbstgebastelten Spielzeug. Der Drang zur symbolischen Annäherung an die Wirklichkeit ist aber zu stark, und so schafft er sich, wo die Realität der gegebenen Sakramente nicht länger evident ist, eine neue. […] Zweifellos ist das die psychologische Grundlage eines Sakramentes. Man beschließt, dass, wenn man etwas tut, etwas anderes geschehen muss: die Hörner wurden geblasen, und die Mauern vor Jericho fielen. Wir kennen dies aus unserer Jugend, der Zeit der sogenannten Kindermagie: wenn ich dies

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oder jenes tue, werde ich meine französische Arbeit mit „eins“ schreiben usw. […] Frei von feststehenden theologischen Begriffen wird diese Definition lauten müssen: ein Sakrament, gesehen als menschliches Phänomen, verursacht durch menschliche Absicht, ist eine elementare Handlung, die der Mensch in dem Bewusstsein verrichtet, dass er damit etwas in einer andern Sphäre bewirkt. Von hier aus finden wir folgende Möglichkeiten der Sakramentsstruktur: A Die magische Struktur: ein kosmisch-faktisch bewegender Ritus (bewegen transitiv), eine Feier mit schöpferischer Kraft. B Die mystisch-pantheistische Struktur: ein kosmisch-faktisch bewegender Ritus (bewegen intransitiv). C Die psychologische Struktur: ein innerlich bewegender oder bewegter Ritus. C und A Die mystisch-ekstatische Struktur. D Die Glaubensstruktur: ein kosmisch-faktisch veranlasster Ritus (durch Gott veranlasst, wann immer er will), eschatologisch bezogen auf Schöpfung und Erlösung. Ein angenommenes Beispiel: Jeden Morgen ziehe ich mich an. Nach Struktur A erreiche ich damit nicht nur und sogar nicht allein, dass ich angekleidet bin, sondern dass ich, wenn ich alles rite [auf rechte, herkömmliche Weise, U.T.] vollbracht, die richtige Reihenfolge beachtet habe (z.B. nicht meinen Schlips umgebunden habe, bevor ich meine Pyjamahose ausgezogen habe), im Laufe des Tages etwas erreichen werde, etwa mein Examen, das ich gerade ablegen muss, gut bestehe. Ich „feiere“ die tägliche elementare Handlung des Anziehens, und diese Feier schafft wieder etwas in einer andern Sphäre. Nach Struktur B aber verrichte ich während meines Ankleidens eine Handlung, in der sich der ganze Kosmos von allein bewegt. Während ich mich anziehe, bekleide ich mich nicht, sondern Gott oder die göttliche Welt oder eine Macht kleiden sich selbst an. Ich ziehe meinen Rock an, in Wirklichkeit aber schlüpfe ich in „der Gottheit lebendiges Kleid“. In mir wirkt eine Weltkraft. Wähle ich nun Struktur C, so wird die ganze Handlung nach innen verlegt. Äußerlich ist nichts wahrnehmbar, aber in meinem Innern fühle ich mich warm und angenehm bekleidet. Ich kann auch C und A kombinieren. Dann kommt auch in mein Inneres etwas Schöpferisches wie unter einem Zwang, das sich auf ekstatische Weise offenbart. Ich gerate außer mir selbst, und in meiner Verzückung tanze ich krampfartig taumelnd mit visionären Schleiern. Schließlich kann ich auch Struktur D folgen. Oder besser: ich kann das nicht, sondern ich muss warten, bis mir befohlen wird, mich anzuziehen. Gott bewegt mich, und die Handlung wird ein Teil seines Schöpfungswerkes.

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Mit Absicht wählten wir dieses fiktive Beispiel. Umso besser können wir sine ira et studio [lat. wörtlich „ohne Zorn und Eifer“, d.h. sachlich, objektiv, U.T.] die verschiedenen Möglichkeiten verfolgen, so wie wir sie in der Geschichte verwirklicht sehen. […] Das Sakrament von der Geschlechtsgemeinschaft Die geschlechtliche Handlung Auch dieses Sakrament hat seinen Ausgangspunkt in einer elementaren Lebensverrichtung. Vielleicht ist es sogar bei dieser Lebensverrichtung am einfachsten zu begreifen, dass sich an sie sakramentale Gedanken anheften konnten. Bei der Ausführung des Geschlechtsverkehrs wird man mehr als bei irgendeiner anderen Lebenshandlung die Einsicht gewinnen, dass man mehr tut, als man tut, dass man nicht selbstherrlich handelt, sondern durch seine Handlung teilhat an etwas Großem, das nicht in unserer Macht steht. Die moderne Regelung des Geschlechtsverkehrs ist gerade deshalb so gefährlich, weil die Möglichkeit gegeben ist, dass das Ganze technisiert wird, dass jede Achtung vor dem Leben dadurch verschwindet. Das wird hier nicht gesagt als ein Argument gegen die Geburtenbeschränkung, denn ich glaube, dass diese völlig unvermeidlich ist, wohl aber, um die große Gefahr, die das ganze moderne Leben bedroht, auch an dieser Stelle deutlich zu machen. Die ursprüngliche Herrlichkeit der Speise ist uns schon genommen, seitdem wir im Laden Standardprodukte kaufen. Wenn auch die ursprüngliche Herrlichkeit des Lebens selbst für uns verlorengeht, bleibt nicht viel übrig. Wie wenig, das kann man nachlesen in Huxleys Brave New World. Eine „standardisierte“ Geschlechtshandlung, ohne Ehrerbietung vor dem Leben, ohne Erkenntnis des Wunders, ohne Risiko, hat selbst als pure Lust wenig zu bedeuten. Das Tierische steht hier voran. Das Sakramentale ist der Gegenpol zu dem Technischen; die Einsicht, dass in dem Leben mehr ist als das Leben selbst, das man das Leben nur scheinbar beherrscht. Bei der Geschlechtshandlung, bei dem Geschlechtsleben in seiner Ganzheit, weiß der Mensch instinktiv, dass er sich bewegt oder bewegt wird im Sinne unserer Struktureinteilung. Er kommt hier der ursprünglichen Schöpfungstat am nächsten, und die Macht, auf die er stößt, ist, um mit R u d o l f O t t o zu sprechen, tremendum und fascinans, heilig im ursprünglichen Sinn des Worts. Der Mensch kommt an die Grenzen des Lebens. Daher kommt es, dass die geschlechtliche Handlung, die Leben weckt, gepaart geht mit dem Verlangen nach dem Tod und dass alles, was auf das sexuelle Leben Bezug hat, Pubertät, Geburt ganz eng damit verwandt ist. Der normale Mensch steht diesen Dingen daher auch mit einem Erschauern gegenüber, das sich entweder in Ehrerbietung oder in Roheit [sic, U.T.] äußert. Das, was jeden Tag geschieht, was eine Gewohnheit ist, ist aber niemals „gewöhnlich“. Die Gefahr unserer Zeit liegt aber gerade darin, dass es zu etwas Gewöhnlichem gemacht wird.

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Die Übermacht des Lebens wird auf dreifache Weise entdeckt: Zuerst findet man Leben, neues Leben in sich selbst, die in der Pubertät erwachende Geschlechtsmacht, ein neues Leben, das das unsere ist und doch ein fremdes, beinahe unabhängig von unserem Willen. An zweiter Stelle finden wir neues, andersartiges Leben in dem anderen, in dem Mann oder der Frau, und drittens läuft schließlich der Geschlechtsverkehr aus auf neues Leben im Kind. Beinahe jede primitive oder antike Religion erlebt in diesem dreifachen Wunder das Sakramentale. In beinahe allen primitiven oder antiken Religionen nimmt das sexuelle Moment einen sehr großen Raum ein, nicht größer jedoch, als es ihn im Leben selbst einnimmt. Menschen, die durch moderne Technisierung einerseits, andererseits durch die zur Prüderie erstarrte platonisch-christliche Auffassung von der Geschlechtshandlung als der Sünde beeinflusst sind, sind naiv erstaunt über diesen großen Raum. Zum Glück wird in der modernen Welt das Sexuelle wieder mit größerer Unbefangenheit betrachtet, und gerade das gibt eine Hoffnung, dass unsere Zeit das Sakramentale hier wieder entdecken wird. Sie hat es leichter als die Zeit der Königin Viktoria, in der es, nach Punch, eine ungelöste Frage war, ob die Frauen Beine hatten, und in der das Sexuelle eine Angelegenheit war, über die man entweder schwieg oder schmunzelnd lächelte. Die geschlechtliche Handlung als Sakrament Die primitiv-antike Welt kennt die geschlechtliche Handlung als Sakrament im buchstäblichen Sinn. Das bedeutet also, dass diese in bestimmten Fällen nicht Lust oder Fortpflanzung zum Zweck hat, sondern ein davon ausgehendes „Heil“. Um dieses Heil zu erlangen, ist das Geschlechtliche selbst eines der allerwichtigsten Symbole, „archetypisch“ im Vollsinn des Wortes. A l b r e c h t D i e t r i c h hat schon vor langer Zeit darauf hingewiesen, dass es sehr wenig solche Symbole gibt. Bei seiner Aufzählung folgen auf die Mahlzeit drei geschlechtliche Symbole: das Liebesband, die Kindschaft und die Wiedergeburt. Die beiden letztgenannten fanden wir bei unserer Besprechung des Reinigungssakramentes. Um das erste geht es uns jetzt. Das am deutlichsten redende Beispiel eines Geschlechtssakramentes ist das, was W i l h e l m M a n n h a r d t „Beilager auf dem Acker“ nennt. Der Reisbauer auf Java vollzieht mit seiner Frau den Koitus auf der sawah, damit die Reisernte gelingt. Das ist also eine Machtentwicklung zum Vorteil der Frucht. Weder Lust noch Fortpflanzung sind hier das Ziel der Gemeinschaft, obwohl sie natürlich damit verbunden sein können. Das Ziel liegt wo anders als in der Handlung selbst. M a n n h a r d t hat viele dieser Gebräuche aufgezählt. In den Volksbräuchen leben noch unverständliche Reste fort. Das Gebiet der Mysterienreligion, das wir bei der Betrachtung der Sakramente von der Mahlzeit und der Reinigung mit soviel Erfolg durchschreiten konnten, liefert uns auch hier wieder das Material. In Griechenland war der hieros gamos ein uraltes my-

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thisches Motiv, das, wie so viele Mythen, in einer rituellen Wirklichkeit wurzelte. Von dem Vatergott und der Muttergöttin wird erzählt, dass sie sich vereinigten. Aus ihrer Umarmung stammt alles Leben. Bei H o m e r tritt deutlich heraus, dass die Ehe von Zeus und Hera das Vorbild der Fruchtbarkeit in der Natur ist. Zugrunde liegt hier das „Beilager auf dem Acker“, das mythisiert worden ist. Der regnende Himmel und der empfängliche Schoß der Erde sind die ewigen Vorbilder der menschlichen Vereinigung, während umgekehrt diese die ewige Vereinigung ermöglicht. In den Eleusinischen Mysterien, die rein griechisch sind, war die Ehe des Hierophanten, des Erzpriesters, mit der Priesterin ein Höhepunkt. In einem letzten christlichen, vielleicht etwas gefärbten Bericht heißt es: „Ist da nicht der dunkle Abstieg und die feierliche Begegnung des Hierophanten mit der Priesterin, er allein mit ihr allein? Werden die Lampen nicht gelöscht? Und glaubt die große unzählbare Menge nicht, dass, was die zwei da im Dunkeln tun, ihre Rettung ist?“ – Nach H i p p o l y t, dessen Werk zur Zeit als Quelle stark gewertet wird, tritt der Hierophant nach diesem Ritus unter Fackelschein vor die Menge und verkündet feierlich: Die mächtige Brimo (die Göttin) hat ein heiliges Kind geboren, Brimos. Das Kind ist der neue Gott, der Heiland. Das erste Zitat zeigt klar den sakramentalen Charakter dieses Eheritus, so konkret wir uns diesen auch vorstellen dürfen: Nicht die Ehe selbst ist der Zweck, sondern das Heil der Menschen. Vermutlich im Zusammenhang damit wird uns eine Geschichte berichtet: Nymphie chaire, chaire neon phos, d.h.: Sei gegrüßt, Bräutigam, willkommen, neues Licht – wobei der christliche Autor anmerkt: Es gibt nur ein Licht, es gibt nur einen Bräutigam. In anderen Mysterien, nämlich denen des semitisch-griechischen Gottes Sabazios, bestand ein Ritus, bei dem eine Schlange (das phallische Symbol) durch den Schoß desjenigen, der eingeweiht werden soll, gezogen wird: Diejenigen, die Sabazios verehren, ziehen, wenn sie eingeweiht werden, Zeus in Schlangenform durch den Schoß. Der Gott heißt „der Gott durch den Schoß“. Die umgekehrte Figur wird durch das Zitat angedeutet: Despoinas dhypo kolpon edyn chthonias basileias, d.h.: Ich bin gekrochen in den Schoß der unterirdischen Königin. Eine sakramentale Vereinigung mit dem göttlichen Männlichen als Schlange und eine Wiedergeburt aus der weiblichen Göttin bilden den Hintergrund dieser Texte. In der indischen Yogapraxis kannte man die Vereinigung mit dem All durch Vermittlung des Coitus. Der Ritus, oft durch Eheleute ausgeführt, heißt maithuna. Die Liebenden repräsentieren während ihrer Umarmung den Gott Siva und seine Sakti.

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Der gewöhnliche eheliche Verkehr erhält auf diese Weise sakramentale Bedeutung. Eine ganze Erotik beruht darauf, in der jeder Ausdruck doppeldeutig ist: sexuell und mystisch zugleich: „Le maithuna … transforme 1acte sexuel … en un ceremonial. Ce nest plus un acte biologique, obscur, instinctif – qui relie celui qui le pratique ä 1infinie sehe dexistences terrestres – mais un acte par lequel le couple humain devient un couple divin.“ Im Christentum kommt die Geschlechtsgemeinschaft als aktuelles Sakrament nicht vor. Wir haben gesehen, dass auch in dem Text Epheser 5 der Gedanke, dass die Gemeinschaft Träger sei der Gemeinschaft mit Gott und so ihren Zweck nicht in sich selbst habe, abwegig ist. Nur die gnostischen Sekten kennen sexuelle Riten. Die Valentinianer feiern die Erlösung, indem sie einen Brautzug veranstalten und eine Mystagogie vollziehen, welche sie „geistliche Hochzeit“, Pneumatikon gamon, nennen. Viel weiter geht die agape der sogenannten Barbelognostiker, die sakramentale Vereinigung nach der Mahlzeit vollzogen, wobei der Same als Körper und das menstruale Blut als Blut Christi geopfert wurden. Aber abgesehen von diesen Verirrungen kommt im Christentum kein Sakrament der Geschlechtsvereinigung vor in dem Sinn, dass diese zur Gemeinschaft mit Gott führe.

4. Fragen zum Text 1. „Die Symbole sind die Grenzen, an denen die beiden Wirklichkeiten [religiöse Erfahrung/alltägliches Leben] zusammenfallen. Der Mensch denkt sie sich nicht aus, sondern sie sind ihm gegeben.“ Klären Sie die Bedeutung von Symbol im Unterschied zu Zeichen. 2. Für van der Leeuw sind Symbole keine menschlichen Erfindungen, sondern gegeben, gewissermaßen ewig. Vergleichen Sie diese Auffassung mit derjenigen von Mensching, für den Symbole von Menschen gestiftet wurden: „Nichts ist an sich schon Symbol“ (Die Religion, S. 260). 3. Was bedeuten die Begriffe Sakrament sakramental, Sakramentale/Sakramentalien? Beachten Sie die konfessionellen Unterschiede – Literaturvorschläge: Michael Meyer-Blanck/Walter Fürst (Hg.): Typisch katholisch – typisch evangelisch. Ein Leitfaden für die Ökumene im Alltag, Freiburg/Br. 20032. – Evangelischer Erwachsenenkatechismus (EEK), hg. von Martin Rothgangel, Manfred Kießig und Andreas Brummer im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD, Gütersloh 2010. – Georg Gänswein/ Martin Lohmann (Hg.): Katholisch. Wissen aus erster Hand, Freiburg i. Br. 2010. 4. Finden Sie z.B. über Wikipedia heraus, wer Robert Ranulph Marett war. Informieren Sie sich über seine Religionstheorie. 5. Informieren Sie sich über Albrecht Dietrich und Wilhelm Mannhardt.

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6. Was versteht man unter Mysterienreligion/en, hieros gamos, Hierophant, Gnostizismus, Mystagogie? 7. Was mag der Grund dafür sein, dass das Christentum kein Sakrament der Sexualität kennt?

5. Würdigung

Wie sehr Gerardus van der Leeuw heute noch an der Universität Groningen lebt, beweist allein schon die gleichnamige Bezeichnung der Studentenvereinigung der Faculty of Theology and Religious Studies. Man betrachtet Van der Leeuw als den „most famous professor who ever lectured here“ (Schreiben vom Secretary der Studievereniging vom 29.04.2010). Ob das zu hoch gegriffen ist angesichts der Tatsache, dass die Geschichte der Fakultät auf das Jahr 1614 zurückgeht, sei dahingestellt. Seit 2008 gibt es eine zu Beginn und Abschluss des Semesters gesungene Hymne „De leeuw die brult“ (Der Löwe, der brüllt).114 Nach Van der Leeuw benannt wurden u.a. das Volkenkundig museum Gerardus van der Leeuw in Groningen und das ebenfalls dort von 1978–2003 existierende Museum Gerardus van der Leeuw. Erwähnenswert ist die Stichting Van der Leeuw-Lezing. Diese Stiftung organisiert seit 1983 jährliche Vorlesungen zu gesellschaftlich relevanten Fragen. In der Theologie spielen die Gedanken Van der Leeuws heute immer noch eine Rolle. Seine Religionsphänomenologie gehört zu den regelmäßig zitierten Werken, wenn es um religionswissenschaftliche Belege geht. Völlig anders sieht es in der Religionswissenschaft aus. Infolge der Kritik an der Religionsphänomenologie und der von Teilen des Faches propagierten Neuausrichtung als kulturwissenschaftliche Disziplin hat der Name Gerardus van der Leeuw viel von seinem einstigen guten Klang eingebüßt. An seiner eigenen Universität übte bereits der Nachfolger auf dem Lehrstuhl, Theo van Baaren (1952–1981), grundlegende Kritik am Werk seines Vorgängers. Er monierte die Interpretation ethnologischer Quellen durch Van der Leeuw und kritisierte die Vermischung von Theologie und von der Theologie unabhängiger Religionswissenschaft. Van Baaren trat für eine empirische, den Kriterien der allgemeinen Wissenschaftstheorie folgenden Religionswissenschaft ein und stellte die Systematische Religionswissenschaft“ der Systematischen Theologie gegenüber. In der deutschen Religionswissenschaft wurde Van der Leeuws Phänomenologie der Religion zustimmend aufgenommen. Heiler, Mensching, Goldammer modifizierten Van der Leeuws Ansatz. Trotz des von Van der Leeuw so hoch gehaltenen Prinzipes der epoché finden sich in seiner Phänomenologie viele ausgesprochene bzw. verdeckte Wert- und Wahrheits114 Anzuhören auf YouTube: youtube.com/watch?v=Uo8KTQettxk (Zugriff am 04.05.2010)

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urteile. Die gegen die Religionsphänomenologie vorgetragene Kritik am Prinzip der epoché richtet sich weniger gegen das Prinzip als solches, als gegen die faktische Unmöglichkeit, Phänomene überhaupt wertneutral beschreiben zu können. Die Praktische Religionswissenschaft würde an Stelle von können sogar ein wollen setzen. Das Ideal Van der Leeuws kann also nur annäherungsweise erreicht werden. Nicht nur, dass Van der Leeuw häufig selbst Werturteile aussprach, verstößt gegen das Prinzip; bereits die Anordnung seines Materials verrät deutlich inhaltliche Vorentscheidungen. Mit seinem Interesse am Wesen religionsgeschichtlicher Erscheinungen hängt die Neigung Van der Leeuws zu einer a-historischen Betrachtungsweise zusammen. Als systematische Wissenschaft vergleicht die Religionsphänomenologie religiöse Einzeltatsachen miteinander, wobei sie den historischen Ort außer Betracht lässt. So werden die Berge Sinai und Fujisan als heilige Berge auf ihre gemeinsamen Strukturen hin verglichen, oder man vergleicht die christliche mit der buddhistischen Askese. Der a-historische Charakter des Religionsvergleiches ist einerseits deswegen kritisiert worden, weil der historische Kontext unter Umständen von besonderer Bedeutung für die Interpretation sein kann.115 „Der individuelle Aspekt des Phänomens kann bisweilen so ausgeprägt sein, dass Einzelheiten nicht aus der gemeinsamen Struktur herausgenommen werden können, um als typisch behandelt und mit anderen typischen Erscheinungen verglichen und klassifiziert zu werden“. Außerdem lassen Momentaufnahmen religiöser Phänomene die historische Entwicklung eines Phänomens unberücksichtigt. Dieser Wandel ist aber sehr wichtig, wenn man beispielsweise daran denkt, dass z.B. Religionsstifter zuweilen als Sozialreformer oder Konservative vereinnahmt werden. Jacques Waardenburg hat verschiedentlich auf das Merkmal der „Innerlichkeit“ aufmerksam gemacht, die aus der niederländischen bürgerlichen Kultur stammt und in Van der Leeuws Werken anzutreffen ist. Im Anschluss an den Berliner Philosophen Paul Hofmann sieht der von Waardenburg als „hypersensitiv“ charakterisierte Van der Leeuw es als Aufgabe des Religionswissenschaftlers an, Nacherleben der religiösen Phänomene zu praktizieren. Der tötenden Analyse stellte Van der Leeuw die „Einfühlung“ gegenüber. Verstehen bedeutete für ihn, nicht zu messen und zu zählen, sondern von Innen heraus wahrzunehmen. Van der Leeuws Materialauswahl ist einseitig an den autochthonen Religionen sowie an Volks-, ja sogar Aberglauben orientiert. Zahlreiche Beispiele stammen gar nicht aus der Religionsgeschichte, sondern aus der allgemeinen Kulturgeschichte. Wenige Beispiele finden sich aus den so genannten Weltreligionen bzw. dem gelebten Glauben. Theologische Werturteile wirken sich bis in die Anordnung des Materials hinein 115 G. Widengren: Die Methoden der Phänomenologie der Religion [1968]. In: G. Lanczkowski (Hg.): Selbstverständnis und Wesen der Religionswissenschaft (= Wege der Forschung CCLXIII), Darmstadt 1974, S. 268.

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aus: Die höchste religiöse Gemeinschaft ist die Kirche (communio sanctorum); Glaube als „unverdientes Geschenk“ und Gnadengabe gilt als wertvollste innere Handlung; der „Mittler“ als höchste Form des Stifters; „Religion der Liebe“ (Christentum) ist die höchste Form von Religion. Die Terminologie ist an die herkömmliche christliche Dogmatik angelehnt (u.a. Sakrament, Heilsgeschichte, Wiedergeburt, Wort Gottes, Nachfolge). Manche Passagen sind philosophisch getönt und spekulativ, teilweise sogar unverständlich. Van der Leeuws Auffassung von der primitiven Mentalität war abhängig von LévyBruhls Vorstellungen.116 Dieser stellte der rationalistischen Tradition die Idee fundamental unterschiedlicher Arten von Wissen entgegen. Seine Theorien zur primitiven Mentalität haben in der frühen Ethnologie zu verschiedenen Kontroversen geführt. Lévy-Bruhl lehnte den Gedanken einer universellen menschlichen Natur ab. Sein größtes Interesse richtete sich auf die strukturellen Unterschiede der Weltbilder zwischen den als Einheit aufgefassten autochthonen (primitiven) Kulturen und der modernen westlichen Zivilisation. Lévy-Bruhls Theorie, die sich von der britischen Anthropologie (Edward Tylor, James George Frazer u.a.) deutlich abgrenzt, geht von den grundsätzlichen kognitiven Unterschieden aus. Lévy-Bruhl beschrieb das primitive Denken als mystisch-prälogisch, nicht mit den Gesetzen der formalen Logik übereinstimmend. Van der Leeuw griff diese Gedankengänge zustimmend auf und fasste die autochthonen Religionen, ungeachtet der vorhandenen, nicht unbeträchtlichen Differenzierungen, als Einheit auf. Nach einer längeren Phase der Ablehnung der Thesen Lévy-Bruhls, erhielt sie insbesondere durch das Stufenmodell der kognitiven Entwicklung des schweizerischen Psychologen Jean Piaget wieder neue Beachtung.

6. Weiterführende Arbeitsaufgaben 1. Van der Leeuw wendet sich in dem Vorwort zu ersten Auflage gegen evolutionistische wie anti-evolutionistische Religionstheorien. Schauen Sie sich die Inhaltsangabe an und machen Sie Beobachtungen zur Aufteilung des Stoffes. Werden hier Religionstraditionen bevorzugt? Lässt sich eine bestimmte Sicht der Entwicklung von Religion erkennen? 2. Schreiben Sie wichtige Begriffe Van der Leeuw heraus und klären Sie ihre Herkunft.

116 Das Denken der Naturvölker 1910; Die geistige Welt der Primitiven 1922; Die primitive Mythologie 1935.

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3. Die „Phänomenologie der Religion“ genießt bei christlichen Theologen einen hohen Stellenwert – bis heute. Woran mag dies liegen?

7. Auswahlbibliographie Primärliteratur

Über einige neuere Ergebnisse der psychologischen Forschung und ihre Anwendung auf die Geschichte, insbesondere der Religionsgeschichte. In: Studi e Materiali di Storia delle Religioni, II, 1 (1926), S. 1–43. Phänomenologie der Religion, Tübingen 1977 (1. Aufl. 1933; 4. Aufl. = unveränderter Nachdruck der 2. Auflage von 1956). Der Mensch und die Religion. Anthropologischer Versuch, Basel 1941. Vom Heiligen in der Kunst, Gütersloh 1957 (niederländisches Original: Wegen en Grenzen. Studie over de verhouding van religie en kunst, Amsterdam 1932; deutsche Übersetzung nach der 3. niederländischen Auflage 1955). Die Bilanz des Christentums, Zürich 1947. Gottesbild und Menschenbild, Stuttgart 1948. Sakramentales Denken, Erscheinungsformen und Wesen der außerchristlichen und christlichen Sakramente, Kassel 1959 (niederländisches Original: Sacramentstheologie, Nijkerk 1949). Sekundärliteratur

Hermelink, Jan: Verstehen und Bezeugen. Der theologische Ertrag der Phänomenologie der Religion des G. van der Leeuw, München 1960. Hirschmann, Eva: Phänomenologie der Religion. Eine historisch-systematische Untersuchung von Religionsphänomenologie und religionsphänomenologischer Methode in der Religionswissenschaft, Diss. Groningen, Würzburg 1940. Hubbeling, H.G.: Der Symbolbegriff bei Gerardus van der Leeuw. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 27 (1985), S. 100–110. Kehnscherper, Jürgen: Theologisch-philosophische Aspekte der religionsphänomenologischen Methode des Gerardus van der Leeuw, Frankfurt/Main 1998. Waardenburg, Jacques: Gerardus van der Leeuw (1890–1950) und die holländische Religionswissenschaft. In: Jahrbuch 1 (1990), Zentrum für Niederlande-Studien, Münster 1990, S. 133–152. Ders.: The Problem of Representing Religions and Religion. Phenomenology of Religion in the Netherlands 1918–1939. In: Hans G. Kippenberg/Brigitte Luchesi (Hg.): Religionswissenschaft und Kulturkritik, Marburg 1991, 31–56.

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12. Friedrich Heiler (1892–1967) 1. Biographie

Friedrich Heiler wurde am 30.Januar 1892 in München als Sohn einer römisch-katholischen Lehrerfamilie geboren. Sein Vater, der Hauptlehrer Johann Heiler, war mit Anna, geborene Schilling, verheiratet. Schon früh nahm der musikalisch talentierte Friedrich Heiler aktiv am kirchlichen Leben teil: „Mit 13 Jahren war ich schon Organist. Und zwar sang ich bei Ämtern in Kirchen, wo es keinen Chor gab, ganz allein alle Messstücke und spielte zugleich auf der Orgel. Dann war ich auch in Kirchenchören tätig. Einmal habe ich auch bei der Orchesterbegleitung bei einem Amt in einer Dorfkirche in der Nähe von Landsberg am Lech die zweite Violine gespielt, während mein Vater die erste spielte.“117 Heiler legte 1911 sein Abitur am humanistisch ausgerichteten Wilhelmsgymnasium in München ab, studierte anschließend zwei Semester katholische Theologie (bei Johannes Gottsberger und Karl Adam). Er nahm an Lehrveranstaltungen der Philosophie und Psychologie (bei Aloys Fischer, Clemens Baeumker, Hans Meyer) teil, studierte Religionsgeschichte (Joseph Schnitzer) und orientalische Sprachen (Fritz Hommel, Ernest Lindl, Ernst Kuhn, Lucian Scherman, Ernst Kieckers). 1918 wurde Heiler zum Privatdozenten für Religionswissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Universität München ernannt. Verschiedene geistige Traditionen wirkten auf ihn ein: katholische Reformtheologie, Modernismus (Alfred Loisy), liberale religionsgeschichtliche Theologie (Adolf von Harnack, Adolf Deißmann, Ernst Troeltsch, Paul Wernle, Rudolf Otto), Kirchenmänner wie der französische Reformierte Wilfred Monod und der Lutheraner Nathan Söderblom. Auch das ostkirchliche Denken beschäftigte Heiler aufgrund seines ökumenischen Anliegens sehr. Außerdem interessierte er sich sehr für die gottesdienstliche 117 Friedrich Heiler: Rundbriefe seiner Ostasien- und Indienreise, hg. von Udo Tworuschka, Frankfurt/Main 2004, S. 8.

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Reformbewegung. Ähnlich wie Söderblom beeindruckte Heiler alles Hochkirchliche. Diese Bewegung war eine theologische und geistliche Strömung innerhalb der evangelischen, insbesondere lutherischen Kirchen. Ihre Ursprünge liegen im Neuluthertum des 19. Jahrhunderts, der die Schwedische Kirche und auch die liturgische Bewegung des 20. Jahrhunderts beeinflusste. Hochkirche ist abgeleitet von der anglikanischen Richtung der High Church im Unterschied zur Low Church. Ganz wesentlich war die Mystik ein wesentliches Element von Heilers geistig-geistlicher Persönlichkeit. „Heiler fühlte sich der Welt der Mystik geistesverwandt und schließlich zugehörig, vor allem der späte Heiler. […]Wahrscheinlich hat er selbst mystische Erfahrungen gehabt, die bis in die Nähe des Visionären reichten“.118 Heiler war ein Denker ganz eigener Prägung: ein Grenzgänger zwischen den Konfessionen und Religionen, ein Grenzgänger auch zwischen Theologie und einer in den Anfängen stehenden Religionswissenschaft. 1919 kam Heiler auf einer Vortragstour durch Schweden in das südschwedische Vadstena. Dort empfing er am 7. August das lutherische Abendmahl in beiderlei Gestalt (als Brot und Wein) mit Einverständnis und aus der Hand des schwedischen Erzbischofs Nathan Söderblom. Für den Katholiken Heiler besaß dieser Akt „immer die Bedeutung eines unmissverständlichen Zeichens“. De facto war Heiler nun Lutheraner geworden: „Meine Teilnahme am lutherischen Abendmahl in Schweden hatte nicht nur die kirchenrechtliche Zugehörigkeit zur lutherischen Kirche, sondern auch die staatsrechtliche zur Folge“.119 Ab 1920 entrichtete Heiler Kirchensteuer bei der für Marburg zuständigen Evangelischen Kirche Kurhessen-Kassel. Später ließ er sich evangelisch trauen, seine Kinder evangelisch taufen und erziehen. Seit Beginn seiner Marburger Tätigkeit engagierte sich Heiler an den von Studierenden eingerichteten liturgischen Morgenandachten und Wochenschlussgottesdiensten in der Michaelskapelle (Michelchen) auf dem alten Pilgerfriedhof gegenüber der Grabeskirche der Hl. Elisabeth. Sehr einflussreich war Heilers Wirken auf liturgischem Gebiet. Zeitlebens besaß die Liturgie auf ihn eine große Anziehungskraft. Dieser „priesterliche Mensch“ (Kurt Goldammer) war einer der großen Anreger auf liturgischem Gebiet. Heiler arbeitete in der Evangelisch-ökumenischen Vereinigung (früher „Hochkirchliche Vereinigung“ genannt), wurde ab 1919 ihr Vorsitzender. Unter seinem Einfluss entstanden Bruderschaften, zum Beispiel 1929 die Evangelisch-katholische eucharistische Gemeinschaft. Sie wurde von den Nationalsozialisten verboten, entstand aber 1947 unter der Bezeichnung Hochkirchliche St. Johannisbruderschaft neu. Heiler gab ab 1930 die Zeit118 Kurt Goldammer: Friedrich Heiler, S. 157f. 119 Ders.: Wider die gröbliche Verkennung unseres evangelischen Denkens. Berichtigung der Kritik Erich Försters ‚Kirche wider Kirche. In: Evangelium und Hochkirchentum. Sonderheft der ‚Hochkirche, 10./11. Heft (1932), S. 343f.

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schrift Die Hochkirche heraus, die ab 1934 „Eine heilige Kirche“ hieß. In Marburg hielt er evangelisch-katholische Eucharistiefeiern, unter anderem in seiner eigenen Hauskapelle. Sein Haus am Marbacher Weg 18 heißt heute „Friedrich-Heiler-Haus“ und beherbergt die Sprachschule des Lessing-Kollegs. Bevor der Katholik Heiler auf Anregung Söderbloms und auf Vorschlag Rudolf Ottos als 28jähriger die speziell für ihn geschaffene außerplanmäßige außerordentliche Professur für Religionsgeschichte in der evangelischen Theologischen Fakultät der Universität Marburg erhielt (1920), lehnte er einen Ruf auf eine Professur für Systematische Theologie an der evangelischen Theologischen Fakultät in Breslau ab, wo Rudolf Otto bis 1917 gelehrt hatte. Mit seiner Arbeit über „Die buddhistische Versenkung“ wurde Heiler 1922 habilitiert. Im selben Jahr wurde seine Marburger Stelle in ein planmäßiges Extraordinariat mit dem Rang des persönlichen Ordinarius für den Inhaber umgewandelt. Heiler hatte die Stelle bis zu seiner Emeritierung 1960 inne. Wegen seiner Beteiligung an dem Protest der Fakultät gegen den Arierparagraphen wurde er 1934 von den Nazis in die Philosophische Fakultät in Greifswald und 1935 in die Philosophische Fakultät in Marburg strafversetzt. 1945 war Heiler Dekan der Philosophischen Fakultät. 1947 wurde er wieder in die Theologische Fakultät zurückversetzt, deren Dekan er 1948/49 war. Heiler behielt in der Philosophischen Fakultät einen Lehrauftrag und Promotionsrechte. 1953 wurde er als Nachfolger von Heinrich Frick (1893–1952) Direktor der von Rudolf Otto gegründeten Religionskundlichen Sammlung der Universität. Friedrich Heiler, dieser „priesterliche Mensch“ (Kurt Goldammer), wirkte im Zweiten Weltkrieg und danach sehr aktiv im kirchlichen Dienst, betätigte sich stellvertretend für Gemeindepfarrer in der Kranken-, Lazarett- und Kriegsgefangenenseelsorge. Seine geistliche Heimat fand Heiler in einer franziskanischen Frauengemeinschaft Italiens, wo ihn Sorella Maria (Maria Valeria Pignetti) faszinierte, „die Schöpferin einer freien urfranziskanischen Schwesternschaft im umbrischen Eremo Francescano, die mich das Innerste des franziskanischen Lebensideals verstehen lehrte“.120 Heiler machte 1925 im Anschluss an die Stockholmer Weltkirchenkonferenz in Magdeburg den Vorschlag, einen evangelischen Franziskanertertiarenorden zu gründen. Dabei sagte er u.a.: „Wir Hochkirchlichen sollten Monods großes Ordensprogramm übernehmen und in noch engerem Anschluss an die Regel des heiligen Franz und seine kirchliche Frömmigkeit weiterführen.“ So entstand 1927 die Evangelische Franziskanerbruderschaft der Nachfolge Christi (Evangelische Franziskaner-Tertiaren). Eine Rundreise durch Ostasien und Indien (24.08.58 – 24.05.59 ), kurz vor seiner Emeritierung, führte Heiler durch zahlreiche Länder. Zuvor hatte er am 15. Internationalen Kongress der IARF (International Association for Religious Freedom) teilgenom120 Goldammer, a.a.O., S. 161

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men. Diese am 25. Mai 1900 in Boston/Massachusetts gegründete Organisation ist die älteste internationale interfaith group. Sie wurde zunächst unter der Bezeichnung International Council of Unitarian and Other Liberal Religious Thinkers and Workers gegen religiöse Intoleranz gegründet. Ihr erster Präsident war der am Manchester College in Oxford lehrende britische Theologe und Religionswissenschaftler Joseph Estlin Carpenter (1844–1927). Zwei Jahrzehnte lang Sekretär war Charles Wendte, ein amerikanischer unitarischer Geistlicher, der wesentlich bei der Ausrichtung des World Parliament of Religions (1893) in Chicago beteiligt war. Als Heiler am 16. Kongress mit dem Rahmenthema Todays Religions Can meet Worlds Needs Today teilnahm, waren 25 nationale Mitgliedsgruppen in der IARF organisiert. Heiler gehörte mit einer Gruppe anderer namhafter Gelehrter (u.a. Walter Bülck, Gustav Mensching, Kurt Leese, Emil Balla, Theodor Siegfried, Georg Wünsch) zur Gründungsgeneration des Bundes. Im Anschluss an den IARF-Kongress nahm Heiler am 9. IAHR (International Association for the History of Religions)-Kongress in Tokyo und Kyoto teil. In seiner Eröffnungsvorlesung sprach Heiler über Die Religionsgeschichte als Weg zur Einheit der Religionen. Nach 14 gemeinsamen Tagen im Kreise von Religionsforschern aus aller Welt, die nach dem Kongress an einer Research Tour teilnahmen, blieb Heiler weitere drei Monate in Japan. Nach seiner Emeritierung ging Heiler in seine Heimatstadt München zurück, wirkte an der dortigen Universität weitere fünf Jahre lang als Gastprofessor. Am 28. April 1967, nach langer und schwerer Krankheit, starb Friedrich Heiler. Sein Marburger Kollege, der liberale Theologe und Religionsphilosoph Theodor Siegfried (1894–1971), nannte ihn einmal scherzhaft „eine Mischung von Franziskus und bayerischem Dickschädel“.

2. Inhaltsangabe Das Gebet (DG) ist Heilers erste Qualifikationsschrift. Bereits in dieser Dissertation zeigten sich sein Hang zur Breite, ein ungeheurer Fleiß und seine eindrucksvolle Gelehrsamkeit. Man hat DG einen universalen Zettelkasten genannt. In der Tat findet sich bis zum kleinsten Detail alles minutiös nachgewiesen. Umfangreiche Personen-, Autoren und Sachverzeichnisse sowie über 50 Seiten Nachträge belegen diese Genauigkeit nachdrücklich. Die Erstauflage von DG erschien 1918, eine 1919 veröffentliche Zweitauflage erweiterte er zwar erheblich. Da jedoch aus wirtschaftlichen Gründen keine überarbeitete 3. und 4. Auflage erscheinen konnten, ist die letzte lieferbare Auflage von 1969 nur ein unveränderter Nachdruck nach der 5. Auflage von 1923. Aufschlussreich sind Heilers Vorworte zur ersten und 5. Auflage sowie das Vorwort seiner Frau Anne-Marie (1889– 1979) zum Erscheinen der letzten Ausgabe. Ein Wort zu Frau Heiler: Sie war eine engagierte Kommunalpolitikerin und Abgeordnete des ersten Bundestages für die CDU. Diese emanzipierte Frau unterstützte ihren Mann kräftig bei seiner Arbeit. So transkribierte sie,

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u.a. zusammen mit Heilers privater Sekretärin, die von ihrem Mann in der Kurzschrift von Gabelsberger versandten Rundbriefe von seiner Ostasien- und Indienreise (1958/59).121

DG scheint auf den ersten Blick klar gegliedert, doch beim zweiten Hinsehen werden einige Merkwürdigkeiten erkennbar. In seiner umfangreichen Einleitung referiert Heiler den Forschungsstand und die Quellen für eine Untersuchung des Gebets. Außerdem reflektiert er über „Aufgabe und Methode der Religionswissenschaft“ (16–26). Während das Objekt der speziellen und allgemeinen Religionsgeschichte „stets ein individuelles, örtlich und zeitlich scharf umgrenztes Gebilde“ (16) ist, hat es die (systematische) Religionswissenschaft „mit der Religion überhaupt“ (17) zu tun. Sie will ergründen, „was Religion ist, wie sie im Seelenleben des Menschen entsteht und im Gemeinschaftsleben der Menschen sich fortbildet, was sie für unser Geistes- und Kulturleben bedeutet“ (17). Empirische, religionspsychologische Untersuchungen (s. Untertitel) hält Heiler zwar für sinnvoll, doch „nur eine Untersuchung aller Erscheinungsformen und Typen des Religiösen vermag das Fundament einer Religionsphilosophie, einer Wesensbestimmung und Wertung der Religion abzugeben“ (17). Ein wenig später erwähnt Heiler die „moderne Religionspsychologie“ mit ihren Analysen der „Selbstzeugnisse von allen möglichen anonymen Durchschnittsmenschen und exaltierten Psychopathen […] Sie hat dabei ohne weiteres Methoden, die der Erforschung des generellen Psychischen (20) äußerst fruchtbar sind, auf die Untersuchung von Phänomenen angewandt, die der allgemeinen Psychologie nicht mehr zugänglich sind (20). Das „religiöse Erleben“ werde aber „erstlich und letztlich an den schöpferischen Persönlichkeiten“ studiert (20). Heiler erwähnt den „bahnbrechende(n) Religionspsychologen“ (1) William James, auch lässt er in seiner Forschungsgeschichte die wichtigsten religionspsychologischen Untersuchungen und „ihre verwirrende Mannigfaltigkeit der Methoden“ (13) nicht unerwähnt. Neben Wundts völkerpsychologischem Ansatz resümiert Heiler mehrere individualpsychologische Untersuchungen zum Gebet auf der Grundlage empirischer Erhebungsmethoden (Fragebogen, Umfrage). Die empirischen Untersuchungen (Fragebogen, Umfragen) beurteilt er skeptisch, hält sie für nützlich allenfalls mit Blick auf das „religiöse Leben des Wilden, des Kindes und des Bauern; in diesem Fall regt der Fragebogen die Fremdbeobachtung an. Die moderne Religionspsychologie verwendet jedoch den Fragebogen fast ausschließlich zur Gewinnung von Selbstzeugnissen über das individuelle religiöse Erleben moderner Menschen“ (22). Heiler schrieb bereits 1914 einen Aufsatz zur „Entwicklung der Religionspsychologie“.122 Dies alles dokumentiert sein beträchtliches In121 Friedrich Heiler: Rundbriefe der Ostasien- und Indienreise, hg. von Udo Tworuschka, Frankfurt/Main 2004. 122 In: Das Neue Jahrhundert. Wochenschrift für religiöse Kultur, VI (1914), S. 318–21; 326– 330; 341f.; 352–355.

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teresse an religionspsychologischen Fragen. Dennoch verrät Heilers Erstlingswerk trotz ihres Untertitels, wie auch seine späteren Untersuchungen, keine nähere Beschäftigung mit den zeitgenössischen psychologischen Theorien. Heiler erwähnt seinen Münchner Lehrer Aloys Fischer, der seine Dissertation anregte und betreute. Heiler hörte bei dem Nichtpsychologen Fischer – eigentlich ein Klassiker der Berufspädagogik – “Vorlesungen über die allgemeine und spezielle Psychologie“ (VII). Religion/en erforscht man nach Heiler am besten, indem man sich auf die „reine, naive Religion“ und an ihren „Quellen und Höhepunkten“ orientiert. Naive Religion ist wirksam „im Kult der heutigen primitiven Völker“ (17) sowie in der „Volksfrömmigkeit aller Jahrhunderte und Kulturen“ (17). Naive, ungebrochen kräftige Religion entfalten die großen Persönlichkeiten, die Virtuosen der Religion (Max Weber): „Die großen, produktiven Persönlichkeiten schaffen die klassischen Muster religiöser Erfahrung, die dann für die vielen Durchschnittsformen zur Gestaltung ihres Frömmigkeitslebens wie zum Ausdruck ihrer Erlebnisse dienen“ (21). Das Wort naiv ist dem französischen naïf (kindlich, ursprünglich, einfältig, harmlos) angelehnt, meint also bei Heiler nichts Negatives, sondern – im Gegenteil – etwas Ursprüngliches, noch Unentfaltetes. Zwar beschäftigt sich Heiler in erster Linie mit den religiösen Genien (17), jedoch zumindest theoretisch sollen auch die religiösen Durchschnittsmenschen (17) Gegenstand der Religionswissenschaft sein. Dieser heute so wichtig gewordenen Forderung wird Heiler allerdings kaum gerecht. Nachdem er die „Quellen für eine Untersuchung des Gebets“ (26–37) dargelegt hat, folgt der Hauptteil des Werkes „Die Typen (Hauptformen) des Gebets (38–485) sowie ein kurzer Abschlussteil über „Das Wesen des Gebets“ (486–495). Der Hauptteil gliedert sich in zehn große Kapitel, die wiederum sehr differenziert unterteilt sind. Auf das „Naive Beten des primitiven Menschen“ (38–132) folgt ein knappes Kapitel über „Die rituelle Gebetsformel“ (150–156), an die sich „Der Hymnus“ (157–190) anschließt. Seltsamerweise folgt dann sozusagen als Exkurs ein Abschnitt über „Das Gebet in der hellenischen Kulturreligion“ (191–201). Ob der Abschnitt „Gebetskritik und Gebetsideale des philosophischen Denkens“ (202–219) in das Buch hinein gehört, mag strittig bleiben. Es handelt sich dabei nicht um innerreligiöse Kritik am Gebet, sondern um Zeugnisse der Philosophiegeschichte. Kapitel F präsentiert wohl das Herzstück von DG „Das Gebet in der individuellen Frömmigkeit der großen religiösen Persönlichkeiten“ (220–409), in dem die Haupttypen der Mystik und der prophetischen Frömmigkeit (248–283) unterschieden werden. Diese auf Nathan Söderblom zurück gehende Unterscheidung hatte in der Religionswissenschaft großen Einfluss, zum Beispiel in den Werken Gustav Menschings, dort als „Prophetie und Mystik“ (vgl. Die Religion). Söderblom stellte bei seiner Typologie den Begriff Mystik in das Zentrum, um anschließend „persönlichkeitsverneinende“ und „persönlichkeitsbejahende“ Formen zu differenzieren. Er sprach auch von „Unendlichkeits- und Persönlichkeitsmystik“, „Ge-

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fühlsmystik und Willens- oder Berufungsmystik“. Insbesondere der letzte Begriff deutet auf eine religiöse Erscheinungsform hin, wie sie weniger bei den Mystikern, als bei den prophetischen Naturen vorzufinden ist. Heiler erkennt das Problem und tritt für eine deutlich(er) abgrenzende Terminologie ein, sieht in der Prophetie keine „Sonderform der Mystik, sondern [eine] völlig selbständige Größe (249). Für diese verwendete auch schon Söderblom die Termini prophetische Religion und Offenbarungsreligion, wobei Heiler den letzteren Begriff als eine „historisch-psychologische Charakteristik“ (248) bezeichnet und nicht als „metaphysisch-religiöse Wertung“ (ebd.). Dieser zweite Frömmigkeitstyp wird „vor allem durch das Alte und Neue Testament repräsentiert“ und besitzt „im Evangelium Jesu und von Jesus seine klassische Form“. Daher „kann er auch schlechthin als biblische oder evangelische Religion benannt werden.“ Diese religionsgeschichtliche Engführung auf die biblische Religionswelt wird von Mensching aufgebrochen, indem dieser das Begriffspaar Mystik und Prophetie als zwei Typen universaler Religion/en betrachtet, also den Rahmen prophetischer Frömmigkeit erheblich weiter ausdehnt. Mystik ist für Heiler ein Idealtypus, der in der religionsgeschichtlichen Wirklichkeit „nur selten in ihrer vollen Konsequenz“ (249) vorkommt. Reine, konsequente, radikale Mystik ist für Heiler impersonal: Die Vorstellung vom ganz Anderen, von der Gottheit, dem Göttlichen usw. ist unpersönlich: das Brahman, das Nirvana, das Dao, das absolutum usw. Diese reine Mystik findet Heiler in den Upanishaden, dem Vedanta, im ursprünglichen Buddhismus, bei Meister Eckhart und Tauler, Angelus Silesius. Echte, konsequente Mystik tendiert zur „Nüchternheit, Kühle und Monotonie“ (249). Erst unter dem Einfluss der Religionen prophetischer Erfahrung oder der Volksreligionen wird diese reine Mystik persönlicher und wärmer. Hinsichtlich ihrer Entstehung stellt die Mystik „eine negative Reaktion gegen die entwickelte Kulturreligion dar“ (250), während die prophetische Religion „unmittelbar aus der wenig entwickelten p r i m i t i v e n Religion nomadisierender Stämme heraus [wuchs]“ (250). Mystik steht für Weltflucht, Erschlaffung, Inneneinkehr, Ertötung der Sinne – mit dem Ziel der Gottessehnsucht und anschließenden Vereinigung mit dem Absoluten. Wiederum trennt Heiler die konsequente und radikale Mystik von der persönlichen. Bei der persönlichen Mystik spielt der Gedanke der Liebe zu Gott eine wesentliche Rolle, so dass das Gotteserlebnis „unaussprechliche Seligkeit und Wonne“, Gottesgenuss (ebd.) ist. Die eigentliche impersonale Mystik dagegen „stellt über den affektiven Drang nach dem Unendlichen die affektlose Unberührtheit, Stille und Einheit der Seele“ (ebd.) in das Zentrum. Heiler bringt diese beiden Erfahrungen auf zwei religiöse Begriffe: Ekstase und Nirvana, „die Ekstase ist ein Siedepunkt, das Nirvana ein Gefrierpunkt, die Ekstase ein positives Höchstes, das Nirvana ein negatives Höchstes,

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(aber als Höchstes doch etwas Positives), die Ekstase unendliche Fülle, das Nirvana unendliche Leere“ (253). Das psychische Grunderlebnis der Prophetie ist „ein unbändiger Wille zum Leben, ein steter Drang nach Behauptung, Kräftigung und Erhöhung des Lebensgefühls, ein Überwältigt- und Ergriffensein von Werten und Aufgaben“ (255), die Mystik ist das genaue Gegenteil: „passiv, quietistisch, resigniert, kontemplativ“ (255). Für die Prophetie ist das Hauptstichwort „der Glaube“, „die unerschütterliche Zuversicht, das felsenfest Bauen und Vertrauen, die kühne, wagende Hoffnung […] der Mystiker ist ein Verzichtender, Entsagender, Ruhender, der Prophet ein Kämpfer“ (ebd.). „Der Gegensatz dieses prophetischen Lebensgefühls zum mystischen ist so schneidend wie möglich“ (257) Diese Gegensätze der beiden grundsätzlichen Frömmigkeitsformen individueller Religion bestimmt Heiler sodann anhand folgender Bereiche: psychologische Charakteristika (257–259), Gottesvorstellung (259–262), Wertung der Geschichte (262–265), Stellung zur Autorität (265–267), Sünde und Heil (267–269), Stellung zur Ethik (269–272), Stellung zur sozialen [sic] Gemeinschaft (272–276), Stellung zu Kultur und Welt (276–279), Jenseitshoffnung (279–281), Monismus der Mystik – Dualismus der prophetischen Religion (281–282). Zusammenfassend stellt Heiler fest, dass die Mystik „die höchste religiöse Schöpfung […] in der außerchristlichen Religion“ (282) ist. Obwohl Heiler sich schon früh für das Thema der Frau in den Religionen interessierte, geht es im nächsten Kapitel (410–420) noch um „Das individuelle Gebet großer Männer (Dichter und Künstler)“. Großen Raum nimmt „Das gottesdienstliche Gemeindegebet“ (421–477) ein. Das vorletzte Kapitel thematisiert „Das individuelle Gebet als religiöse Pflicht und gutes Werk in den Gesetzesreligionen“ (478–485). Beschlossen wir das Werk mit Reflexionen über „Das Wesen des Gebets“ (586–495).

3. Ausgewählter Quellentext

Nara, 6. September 58. (abends) Um ½ 9 Uhr fuhr von dem an der Küste des Stillen Ozeans gelegenen Hotel der Bus weg und brachte uns zu den berühmten Schreinen von Ise, wo Priester und Priesterinnen fungierten. Die letzteren bringen Opfer dar und führen den Tanz aus. Wir wurden in beiden Schreinen bewirtet. Im Übrigen ist der recht primitive Shintoismus nicht so sehr nach meinem Geschmack. Man muss nicht nur die Schuhe ausziehen, wenn man den heiligen Schrein betritt, sondern auch die Hände mit Wasser bespülen (eigentlich auch den Mund ausspülen), um rituell rein zu sein. Priester in weißen Gewändern passen auf, dass man dies nicht versäumt. Die allermeisten Teilnehmer

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des Kongresses machten die Verbeugungen und das Händeklatschen des Shintokultes mit. Ich selber habe bei aller Weitherzigkeit darin doch Hemmungen wegen des sehr primitiven Charakters dieser Religion … So primitiv wie der ganze Kult ist auch die Musik (schrille Flöten und tiefe Trommeln). Nachmittags waren wir dann in einem buddhistischen Kloster einer nur noch ganz sporadisch vertretenen Sekte (Hosse). Der Abt hielt eine sehr schöne Ansprache über die Harmonie der ganzen Menschheit. Die Tempelhalle barg sehr wertvolle alte Buddha-Bilder und Darstellungen aus dem Leben Buddhas. Ich wurde als Museumsdirektor recht neidisch. Ich war aber froh, einmal wieder in ein buddhistisches Kloster zu kommen, da bisher auf unserer Studienfahrt der Shintoismus den Vorzug hatte, was auch damit zusammenhängt, dass der Shintoismus in einer Renaissance begriffen ist oder, richtiger gesagt, in einer modernen Anpassung an die westliche Welt. Ich finde dieses buddhistische Kloster, seine ganze Anlage, unbeschreiblich schön. Nachdem wir mit Tee bewirtet waren, fuhren wir weiter zum Zentrum der Tenrikyo-Sekte, die von einer prophetischen Frau im vorigen Jahrhundert gegründet wurde und die wegen ihrer Offenbarungen wiederholt ins Gefängnis geworfen wurde. Diese Sekte ist offenbar sehr reich; sie hat prachtvolle Gebäude, insbesondere eine wunderschöne Tempelhalle mit merkwürdigen Symbolen, darunter einem an der Stelle, wo Gott angeblich alle Menschen geschaffen hat und noch schafft. Ein besonderes Heiligtum ist der Stifterin gewidmet, die als fortlebend gedacht ist und der täglich Speisen vorgesetzt werden. Die Sekte hat etwas Schwärmerisches, jedes dritte Wort ist the Foundress [„Stifterin“], aber sie scheint sich mit großer Schnelligkeit ausgedehnt zu haben. Dieser Tempel ist, wie mir gesagt wurde, ein richtiges Mekka geworden. Ich konnte mich nicht entschließen, in dem dortigen Pilgerhause zu schlafen … (S. 25f.) […] Calcutta, 13. Februar 1959 Gestern war wieder einer der vielen Feiertage, an denen alle Arbeit in den Büros und großen Geschäften ruht: das Fest der Sarasvathi, der Göttin der Weisheit, Gelehrsamkeit und Kunst. – Dass sie die Gattin des Schöpfergottes Brahma ist, spielt bei diesem Fest keine Rolle. Die Göttin Kali hat während dieses Festes die Pforten ihres Tempels geschlossen, um ihrer Kollegin keine Konkurrenz zu machen. Überall an den Straßen und in den Hauseingängen sind provisorische Tempel errichtet, in welchen ihre Statue, von Girlanden umrankt, steht. Speiseopfer und Weihrauch werden ihr dargebracht, aber auch Bücher. Die Menschen kommen, einige falten anbetend die Hände; immer wieder wird vor ihr Musik gemacht, Trommeln dröhnen und Schellen klingen. In einem Hauseingang verrichtet ein brahmanischer Priester die puja (Verehrung). In einzelnen Kapellen ist ein Lautsprecher angebracht, aus dem brahmanische Lieder ertönen. Aber noch merkwürdiger als das gestrige Fest ist der heutige feierliche Abschluss desselben. Seit vier Uhr nachmittags bis zur Stunde, da

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ich diese Zeilen schreibe (11 Uhr), ziehen durch die Stadt Tausende von Fahrzeugen, große Lastautos, zweirädrige Rikshas und primitive Karren. Auf allen befindet sich eine Statue der Weisheitsgöttin, die meist in ihren Händen eine Laute trägt. In den Abendstunden sind einzelne Wagen von einem Kranz elektrischer Lichter beleuchtet. Unablässig ertönt gewaltiger Lärm, Trommelschlagen, Schellenklingen, Geschrei der auf den Fahrzeugen sitzenden Menschen, meist Jugendliche beiderlei Geschlechts. Alle diese Gefährte haben ein Ziel: das Ufer des Ganges. Dort werden alle diese Tausende von Statuen den Fluten des heiligen Stromes übergeben. Es ist nicht ein heiliges Bad, welches das Bild der Göttin von Zeit zu Zeit nehmen muss, sondern das Ende des Kultes bis zum Fest der Göttin im nächsten Jahr. Den Sinn dieser Versenkung kann ich auch als Religionshistoriker und Religionspsychologe nicht begreifen. Wohl aber durchschaue ich die psychologischen Hintergründe des Lärms, unter dem die Wagen mit dem Bild der Göttin zum Ganges gefahren werden. Es ist derselbe Erregungszustand, in den sich die Menschen durch Lärm, insbesondere den dumpfen Klang der Trommeln, versetzen, wie ich ihn in den religiösen Volksfesten Japans beobachtet hatte, in Minobu wie in Tokyo. Es ist geistiger Massenrausch. Man fragt sich, wozu diese Verschwendung von Material, Arbeit und Brennstoff für ein Götterbild, das doch der Vernichtung preisgegeben werden soll! Mit diesem Geld könnten viele von den Obdachlosen und Bettlern, die in den Straßen der Stadt ihr kümmerliches Leben fristen, gespeist und beherbergt werden. Wozu dieser Gottesdienst für die Weisheitsgöttin, wenn der Gottesdienst der Liebe an den Ärmsten vernachlässigt wird? Der Anblick dieser Armen, die kein Dach über dem Kopf haben und vom Bettel leben, erschüttert mich immer wieder. Er tat das besonders gestern und heute, als ein Gewitterregen niederging. Die Obdachlosen mussten sich unter die vorspringenden Balkone der Häuser flüchten. Dort kauerten sie, in ihre schmutzigen Decken gehüllt. „Das ist ein Bild Indiens“, sagte gestern ein junger Geschäftsmann, mit dem ich ins Gespräch kam. Er übte scharfe Kritik an der Regierung, welche ihre technischen Projekte, die Errichtung von Staudämmen und Elektrizitätswerken durchführt, statt die Landwirtschaft zu fördern, durch welche für die Bettler Nahrung geschaffen werden könnte. (Der Mann sieht nicht, dass die Staudämme auch der Bewässerung oder der Verhinderung von Überschwemmungen des Landes dienen sollen, um es für die Landwirtschaft überhaupt erst nutzbar zu machen. Nehru ist, wurde mir gesagt, um jeden Tag der Verzögerung bei der Errichtung von Staudämmen besorgt, weil er Hunger und Arbeitslosigkeit für viele bedeutet). (S. 163–164) Madras, 4. Mai 1959 […] Auch das hinduistische Tempelleben konnten wir in Madras beobachten. Wir waren in drei Tempeln: in einen konnten wir nur von außen einen Blick tun, einen zweiten durften wir mit Ausnahme des „Allerheiligsten“ ganz besichtigen, in einem

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dritten wurde ich durch alle Räume geführt und durfte alle die höchst primitiven und uns Abendländern grausig erscheinenden Götterbilder besehen. Was mir beim ersten Tempel auffiel, war die Verehrung, welche ihm die lediglich auf der Straße an ihm Vorüberkommenden durch Falten der Hände erwiesen nur ganz wenige (vermutlich Kommunisten) unterließen dies. Viele Gläubige falteten die Hände über dem Kopf oder warfen sich platt zur Erde nieder. Eine Form der Verehrung des Götterbildes ist das Hin- und Herschwenken eines Lichtes. Eine andere Form der Anbetung der Götterbilder ist das wiederholte Umkreisen, auch ein uralter Adorationsritus. Wie schon in anderen Städten war der gemeinsame Gottesdienst von einem ohrenbetäubenden Lärm gekennzeichnet: in die eintönige Musik der dumpfen Trommeln und schrillen Pfeifen mischte sich das stete Läuten der Glocken. In den Tempeln sahen wir viele Sannyasis und Yogis – ein solcher behauptete, 140 Jahre alt zu sein, was derartige Asketen in Indien häufig behaupten. Beim Besuch des dritten Tempels wurde ich förmlich vergewaltigt; mir wurde ein farbiges Zeichen auf die Stirn gemalt, außerdem, wie schon früher, heiliges Wasser gereicht, was ich aber schon aus hygienischen Gründen nicht trank. Das Unerfreulichste bei diesem letzten Tempelbesuch waren die ständigen Geldforderungen; ich hatte den Eindruck, dass man entgegen der sonstigen orthodoxen Regel in diesen Tempel die Fremden hereinlässt, weil man von ihnen Geld bekommen will. Diese Verbindung des Heiligen mit dem Gelde gehört in allen Religionen zu dem Abstoßendsten; sie liefert ein wichtiges Argument allen jenen Religionsfeinden, welche die Wurzel der Religion im Priesterbetrug sehen. Diese Art von Priestern sind keine Seelsorger, sondern Geldsorger. Glücklicherweise sind die Laien besser als die Priester. Unter den einfachen Menschen trifft man immer wieder tief Fromme, auch unter den Gebildeten. Was diese immer wieder in ihren Gesprächen betonen, auch heute (4.5.) wieder ein Beamter, mit dem ich wegen eines Passvermerks zu tun hatte, ist die Einheit der Religionen. In einem Gleichnis, das an ein Wort Ramakrishnas erinnert, sagte er: „Es ist wie bei einem Teich, zu dem von allen Seiten Stufen herunterführen; das Wasser ist nur eines. Ebenso ist auch Gott nur einer“. Er wandte sich gegen den Vorwurf des Götzendienstes, den die Abendländer gegen den Hinduismus zu erheben pflegen. Das Götterbild sei lediglich eine Hilfe für die Meditation; sobald die Einigung mit Gott erreicht ist, sei das Götterbild vergessen. (S. 255) Pilgerfahrt rund um die Erde Das Hauptergebnis meiner Reise war die Bestätigung der geistigen und religiösen Einheit der ganzen Menschheit. Ich musste oft an das deutsche Dichterwort denken: Menschen sind die Menschenkinder aller Zeiten, aller Zonen. Ich fand überall Zugang zu den Herzen der Bekenner anderer Religionen: Hindu, Jaina, Buddhisten der verschiedenen Richtungen, Muslimen, Sikh und Parsen. In allen Religionen fand ich tieffromme Menschen. Auch Nichtchristen beten mit einer Hingabe und Innigkeit, die hinter der

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christlicher Beter nicht zurücksteht. Im Hinblick auf diese Gebetsfrömmigkeit konnte ich nur den Ruf Tertullians wiederholen: O testimonium animae naturaliter christianae. Und alle Menschen beten zum einen Gott – ich konnte keine Polytheisten finden, weder unter Hindu, noch unter Buddhisten und Shintoisten. Wenn ich Hindu fragte, ob sei einer Vishnu- oder Shiva-Sekte angehörten, erhielt ich zur Antwort: Es gibt nur einen Gott. Aber sie fügten hinzu: Es gibt viele Wege zu ihm, so wie es viele Zugangstreppen zu dem einen Wasser gibt.“ Man darf ja nicht glauben, dass die Religionen des Ostens im Absterben seien – trotz aller durch den Einbruch der westlichen Technik hervorgerufenen säkularistischen Tendenzen. Wenn ein europäischer Theologe während seines Aufenthaltes in Japan sagte: „Der Buddhismus ist tot“ so hat er nicht die Tausende von Pilgern gesehen, die täglich zu den großen Wallfahrtsplätzen strömen, und vieles andere mehr. Die Religionen des Ostens sind im Gegenteil in einer Renaissance begriffen, und zwar in der Abwehr gegen die christliche Mission, von der sie viel gelernt haben. Immer neue religiöse Zweige sprießen aus den alten Bäumen, gerade in Japan, z.B. die sehr lebendige Risskokosheikai [Risshokoseikai, U.T.], die man als die buddhistische Parallele zur Oxford-Gruppen-Bewegung bezeichnen könnte. Dabei besteht weithin eine große Aufgeschlossenheit gegenüber dem neutestamentlichen Evangelium, ganz besonders gegenüber der Person Jesu. Als ich einen indischen Professor der Geschichte wegen seiner großen Bibelkenntnis bewunderte, sagte er: „Ich bin ja ein Jünger Jesu, aber ich bin auch ein Jünger Krishnas“. Diese Antwort ist kennzeichnend für viele gebildete Asiaten. Sie sind vertraut mit den Problemen der Leben-Jesu-Forschung und fühlen sich stark hingezogen zu Jesus und seinem Evangelium, zumal zum JohannesEvangelium, aber sie können und wollen nicht den großen und heiligen Traditionen ihrer Heimat untreu werden. […] Unter den vielen Gegenständen, die ich auf meiner Reise für die Religionskundliche Sammlung der Marburger Universität erworben habe, befindet sich ein jetzt am Eingang des Buddhismussaales angebrachter Abklatsch des Toleranzediktes des Königs Ashoka, aus dem ich ähnlich wie der Vizepräsident der Indischen Republik, Radhakrishnan, immer wieder als Mahnung an die in einem Absolutheitswahn befangenen abendländischen Christen die Worte zitierte: „Wer immer seine eigene Religion preist und die anderen Religionen tadelt, und zwar alles aus Hinneigung der eigenen Religion und um die eigene Sache zu verherrlichen, der schädigt, wenn er so handelt, seine eigene Religion umso mehr. Einigkeit allein frommt, dass nämlich ein jeder die andere Religion höre und gern höre“.

4. Fragen zum Text 1. Informieren Sie sich über den Shintoismus. Was stört den sonst so religiös weit eingestellten Friedrich Heiler an dieser autochthonen Religion Japans?

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2. Welche Merkmale am Hinduismus kritisiert Heiler? Versucht Heiler gründlich genug, die fremden Phänomene zu verstehen? Oder bestätigt das faktische Bild des Hinduismus nur seine Vorurteile? 3. Was sollte ein Religionswissenschaftler tun, wenn ihm Religionsphänomene wie Heiler „merkwürdig“ vorkommen? 4. „Diese Verbindung des Heiligen mit dem Gelde gehört in allen Religionen zu dem Abstoßendsten“. Nehmen Sie zu diesem Satz Stellung. Die von G. Kehrer angedachte religionswissenschaftliche Disziplin Religionsökonomie stellt Beziehungen zwischen Geld und Religion/en her. Müssen religiöse Dienstleistungen nicht finanziert werden? 4. Wie beurteilen Sie aus religionswissenschaftlicher Sicht den Titel von Heilers Aufsatz „Pilgerfahrt rund um die Erde“? 5. Heiler schreibt: „Das Hauptergebnis meiner Reise war die Bestätigung der geistigen und religiösen Einheit der ganzen Menschheit“. Diskutieren Sie diesen Gedanken und lesen Sie dazu folgenden Beitrag: Glauben alle an denselben Gott? Religionswissenschaftliche Anfragen: https://cms.rz.uni-jena.de/index.php?id=39021&suffix=pdf&nonactive=1&lang= de&site=unijenamedia

5. Würdigung

Heilers weltweite Wirkung ist mit seinem Erstlingswerk „Das Gebet“ verbunden. Es wurde in mehrere Sprachen übersetzt: schwedisch (1922), französisch (1931), englisch (1932; 1958). Ein Blick auf den englischsprachigen Wikipedia-Artikel über Friedrich Heiler zeigt die überdimensionale Bedeutung von DG in der englischsprachigen Welt. Dem Religionswissenschaftler Michael Pye ist zuzustimmen, dass Heiler zwischen Theologie und Religionswissenschaft „eigentlich nie eine Wahl getroffen [hat]“.123 „Spielt er [der Religionswissenschaftler] immer wieder auch den Theologen, wie Heiler es tat, dann verliert er den Anspruch auf Neutralität gegenüber den sehr unterschiedlichen religiösen Systemen, die es zu erforschen gilt“ (ebd.). Heilers Schüler Kurt Goldammer setze Akzente, die bei der Gesamtbeurteilung Heilers von Bedeutung sind: „So lernte ich Heiler Jahre vor dem persönlichen Zusammentreffen und vor der näheren Beschäftigung mit seinem Werk als einen Mann der Ökumene kennen, d.h. vorwiegend als einen Theologen, Konfessionskundler und Liturgiewissenschaftler, weniger als einen Religionshistoriker“.124 123 Michael Pye: Friedrich Heiler. In: Michaels, a.a.O., S.277–289, hier S. 287. 124 Goldammer, a.a.O., S. 153.

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Übersehen wird oft, dass Heiler sich schon früh mit Genderforschung, insbesondere der Rolle der Frau in den Religionen, beschäftigt hat. Was die Bedeutung der Frau in den Religionen und insbesondere im geistlichen Amt betrifft, hat Heiler schon früh Positionen vertreten, die Jahrzehnte später zum Teil noch immer brennende Fragen darstellten und erst heute, zumindest im protestantischen Raum, endgültig erledigt sind. Die Heiler-Tochter Birgitta Hartog äußerte sich in einem Hörfunkinterview mit dem Autor des vorliegenden Buches folgendermaßen: „Die Frau in der Kirche hat Friedrich Heiler schon immer beschäftigt. Als er nach Marburg kam, als junger Professor 1920, hielt er seine erste Vorlesung über den Madonnenkult. Aber erst später hat er sich mit der aktiven der Frau in der Kirche befasst. Vielleicht ist entscheidend dafür auch die Entwicklung seiner eigenen Frau, die nach dem Krieg sich politisch engagierte und 1949 als Abgeordnete in den Bundestag ging. Das lenkte die Blicke meines Vaters vielleicht etwas stärker auf die Stellung der Frau im öffentlichen Leben. Und damals fing er mit den ersten Vorlesungen an, über die Stellung der Frau in der Kirche. Und er stellte fest, welche sehr viel stärkere Rolle die Frauen in der frühen Christenheit gespielt haben und wie das allmählich nach und nach abgebaut wurde. Und versuchte nun dafür zu kämpfen, dass in unseren Kirchen die Frauen wieder eine größere Rolle spielen könnten, ja bis hin zur Pfarrerin und zur Priesterin. Und er hat in seinen letzten Lebensjahren in München eine große Vorlesungsreihe über die Stellung der Frau in den Religionen – und speziell der größte Teil war die Stellung der Frau im Christentum – gehalten und hat in den Abschlusskapiteln sich ungemein stark dafür eingesetzt, dass es überhaupt keinen anderen Weg für uns gibt, als dass die Frauen die Recht, die sie schon einmal in der frühen Christenheit besaßen, wiederbekommen könnten. Also, dass sie ordiniert werden sollten.“ Dass es in der Nachkriegszeit in allen EKD-Kirchen zu einer grundlegenden Agendenreform125 gekommen ist, wäre ohne die Vorarbeiten Friedrich Heilers kaum möglich gewesen. Trotz aller Wehmut über die katholische Vergangenheit mit all ihren Schönheiten in der Liturgie: Der Gedanke der evangelischen Freiheit ließ Friedrich Heiler zeitlebens den Schritt in die evangelische Kirche nicht bereuen. Dieser Gedanke war es auch, der ihn in den 1948 gegründeten Bund für freies Christentum eintreten und über viele Jahre hinweg Mitglied des Vorstandes werden ließ. Heilers großes Ideal war die evangelische Katholizität, ein „christlicher Universalismus, der die traditionellen Konfessionsgrenzen zwischen Katholizismus und Protestantismus entschlossen ignoriert“. Heiler war nicht nur Motor der innerchristlichen Ökumene, vielmehr strebte er eine Ökumene der großen Religionen an. Dabei stellt er Erkenntnisse der allgemeinen 125 Agende [lateinisch agere: ‚das, was zu tun ist]. In den evangelischen Kirchen das Buch, in dem die feststehenden und wechselnden Stücke des regulären Gottesdienstes und die Amtshandlungen aufgeführt sind.

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Religionsgeschichte in einen dialogischen Horizont. Im Unterschied zu Gustav Mensching, der als Otto- und Heiler-Schüler oft in eine Linie mit Heiler gestellt wird, war und blieb Heiler primär ein evangelischer Theologe und kirchlicher Mensch – allerdings einer mit einem großen religionsgeschichtlichen Interesse. Heilers Grabinschrift auf dem Münchner Ostfriedhof bündelt sein Lebenswerk: „Ein Erforscher der Religionen und ihres Geheimnisses Ein Lehrer und Priester der Kirche Christi Ein Künder der Einheit der Christenheit und Menschheit Ut omnes unum.“126

6. Weiterführende Fragen 1. Heilers Verwendung der Begriffe naiv und primitiv ist missverständlich. Schlagen Sie in einem etymologischen Wörterbuch (z.B. Kluge/Mitzka: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin u.a. 200224) oder im Internet die unterschiedlichen Synonyme der beiden Begriffe nach. Welche Bedeutungen kommen Heilers Wortgebrauch am nächsten? 2. Heiler schrieb eine der letzten umfassenden Religionsphänomenologien: „Erscheinungsformen und Wesen der Religion“ (1961). Dort präsentiert er auf S.20 ein Diagramm mit konzentrischen Kreisen. Sie versinnbildlichen „die Religion [Singular!] der Menschheit als ein Ganzes. Heiler schlägt den Weg von den äußeren Erscheinungen bis zur Nabe (dem Deus Absconditus[„verborgener Gott“] vor. Beurteilen Sie das Diagramm und zeigen Sie die Probleme dieser Art Umgang mit Religion/en auf. 3. Heiler schreibt auf S. 17: „Alle Religionswissenschaft ist letztlich Theologie“. Nehmen Sie dazu Stellung. Rollenspiel: Übernehmen Sie in einer Gruppe die Rolle des Religionswissenschaftlers, der mit einem Theologie-Kommilitonen über das Verhältnis beider Fächer diskutiert. 4. Reflektieren Sie darüber, wie Sie sich die Einstellung eines Theologen gegenüber Ihrem Fach wünschen. Was wünscht sich mutmaßlich ein Theologe umgekehrt von der Religionswissenschaft?

126 Ut omnes unum = lateinisch: „Dass alle eins seien“ (Johannesevangelium 17,21)

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7. Auswahlbibliographie Primärliteratur

Die buddhistische Versenkung. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung, München (1918) 19222. Das Gebet. Eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung, München 1918. Der Katholizismus, seine Idee und seine Erscheinung, München 1923. Christlicher Glaube und indisches Geistsleben. Rabindranath Tagore, Mahatma Gandhi, Brahmabandhav Upadhyaya, Sadu Sundar Singh, München 1926. Die Wahrheit Sundar Singhs. Neue Dokumente zum Sadhustreit, München 1927. Die Madonna als religiöses Symbol. In: Eranos-Jahrbuch 1934, S. 277–317. Der Vater des katholischen Modernismus. Alfred Loisy (1857–1940), München 1947. Erscheinungsformen und Wesen der Religion, Stuttgart 1961. Das Christentum und die Religionen. In: Einheit des Geistes. Jahrbuch der Evangelischen Akademie der Pfalz 1964, S. 1–40. Die Frau in den außerchristlichen Religionen und im Christentum, Berlin-New York u.a. 1977 (urspr. 1950). Rundbriefe der Ostasien- und Indienreise, hg. von Udo Tworuschka, Frankfurt/Main 2004. Sekundärliteratur

Dienst, Karl: Beten und Verstehen. Eine religionswissenschaftliche Annäherung an Friedrich Heiler (1892–1967). In: Journal of Religious Culture. Journal für Religionskultur, hg. von Edmund Weber, Nr. 17 (1998). Goldammer, Kurt: Ein Leben für die Erforschung der Religion. Friedrich Heiler und sein Beitrag zur Aufgabenstellung und Methodik der Religionswissenschaft. In: Inter Confessiones. Beitrage zur Forderung des interkonfessionellen und interreligiösen Gesprächs. Friedrich Heiler zum Gedächtnis aus Anlass seines 80. Geburtstages am 30. 1. 1972, hg. von Anne Marie Heiler, S.1–16. Ders.: Friedrich Heiler (1892–1967). Theologe und Religionshistoriker. In: Marburger Gelehrte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hg. von Ingeborg Schnack, Marburg 1977, S. 153–168. Hartog, Hans: Evangelische Katholizität. Weg und Vision Friedrich Heilers, Mainz 19962. Jungclaussen, Emmanuel (Hg.): Die größere Ökumene. Gespräch um Friedrich Heiler, Regensburg 1970.

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Inter confessiones. Beitrage zur Forderung des interkonfessionellen und interreligiösen Gesprächs. Friedrich Heiler zum Gedächtnis aus Anlass seines 80. Geburtstages am 30. 1. 1972, hg. von Anne Marie Heiler. Misner, Paul: The Two Ecumenisms of Friedrich Heiler. In: Andover Newton Quarterly NS 15 (1975), no. 4, S. 238–249. Röhr, Heinz: Friedrich Heiler – ein Bahnbrecher der Ökumene. Zur Erinnerung an seinen 100. Geburtstag am 30.1.1992 (Hessischer Rundfunk 2, vom 26.1.1992, 11–11:30 Uhr) Ders.: Friedrich Heiler und Indien. In: Journal of Religious Culture, 8/1997. Schimmel, Annemarie: Friedrich Heiler zum 75. Geburtstag. In: Numen Oktober 1966, S. 161–163. Tworuschka, Udo: Brückenbauer zwischen den Religionen. Friedrich Heiler zum 100. Geburtstag (Bayerischer Rundfunk 2, 26.1.1992, „Evangelische Perspektiven“) mit O-Tönen Heilers.

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13. Gustav Mensching (1901–1978) 1. Biographie

Gustav Hermann Heinrich Friedrich Mensching wurde am 6. Mai 1901 als Sohn von Gustav Mensching (1869–1906) und seiner Frau Johanna, geborene Schubart (1874–1956), in Hannover geboren. Nach dem frühen Tod seines Vaters wuchs Gustav Mensching im Alter von fünf Jahren im Haus des Großvaters auf, das liberal-protestantisch geprägt war. Auf dem Gymnasium war Mensching sehr beeindruckt von den freiheitlichen und unkonventionellen Gedanken des deutsch-jüdischen Publizisten und Kulturphilosophen Theodor Lessing (1872–1933), der als Aushilfslehrer am Goethe-Gymnasium einen unkonventionellen Deutsch- und Geschichtsunterricht gab. Lessing regte die Schüler dazu an, über ihre eigenen Lebensverhältnisse kritisch nachzudenken und sah den Krieg „als beispiellosen Einbruch von Barbarei“.127 Lessing war ein Vertreter der so genannten Lebensphilosophie, die mit „Kulturpessimismus“ und einer „Kritik an europäischer Zivilisation und Wissenschaft“ gepaart war.128 Sein Unterricht unterstützte den von Mensching früh gefassten Entschluss, Theologie zu studieren – allerdings nicht in konfessioneller Verengung. Lessing hatte ursprünglich Medizin studiert, entwickelte aber zunehmend philosophische, literarische und psychologische Interessen. 1907 wurde er Privatdozent für Philosophie an der Technischen Hochschule Hannover. Lessing machte Mensching auf das Moment des Erlebnisses für die Bestimmung von Religion aufmerksam. „Theodor Lessing, dessen Gustav Mensching stets respektvoll und ehrend gedachte, hat mit seiner kritischen Distanz gegenüber den ver127 Günther Mensching: Die zeitgenössische Philosophie im Werk Gustav Menschings. In: Wolfgang Gantke/ Karl Hoheisel/Wilhelm-Peter Schneemelcher (Hg.): Religionswissenschaft im historischen Kontext. Beiträge zum 100. Geburtstag von Gustav Mensching, Marburg 2003, S.9–22, hier S. 10. 128 Ebd., S. 11.

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meintlichen nationalen Heiligtümern des deutschen Bürgertums der Jahrhundertwende ohne Frage auch die politische Haltung seines Schülers geprägt, der die nationale Enge und Verbohrtheit ebenso verabscheute wie die religiöse“.129 An Lessing kritisierte er jedoch den „unsystematischen Charakter“130 seiner Argumentation. Auch war er nicht der Meinung, dass der „kulturrevolutionäre Irrationalismus, der dem Geist der traditionellen europäischen Wissenschaft die Schuld an allen Übeln der Zivilisation zuweist, wohl produktive Provokation, kaum aber eine konsistente geistige Position ermöglicht“.131 1925 erregte Lessing mit seinem Bericht über den Prozess gegen den Serienmörder Fritz Haarmann Aufmerksamkeit, dem er als Augenzeuge beiwohnte. Dabei machte er die verdächtige Rolle der hannoverschen Polizei (Haarmann war ein Polizeispitzel) öffentlich, woraufhin man ihn vom Prozess ausschloss. Seine (negative) Charakterstudie des Paul von Hindenburg, vor dessen Wahl zum Reichspräsidenten Lessing warnte, führte zu Protesten deutschnationaler und völkischer Kreise, welche – nicht zuletzt aus antisemitischen Motiven –in der Entziehung seiner venia legendi und im Boykott seiner Lehrveranstaltungen gipfelte. Am 18. Juni 1926 stellte Lessing seine Lehrtätigkeit ein. Nachdem die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 die Macht übernommen hatten, bereitete Lessing zusammen mit seiner Frau Ada seine Flucht aus Deutschland vor. Am 1. März flüchteten beide nach Marienbad in der Tschechoslowakei, von wo aus er seine publizistische Tätigkeit in deutschsprachigen Auslandszeitungen fortsetzte. Am 30. August 1933 schossen nationalsozialistische Attentäter durch das Fenster seines Arbeitszimmers auf ihn und trafen ihn lebensgefährlich. Am folgenden Tag starb der 61jährige Lessing an den Folgen der Verletzung. Nachdem 2005 die Umbenennung der Universität Hannover in „Theodor Lessing Universität“ gescheitert war, erhielt die Volkshochschule Hannover den Namen „Ada-und-Theodor-LessingVolkshochschule Hannover“. Nach dem Abitur wandte sich Mensching dem Studium der Philosophie und evangelischen Theologie an der Georg-August-Universität in Göttingen zu (1920/21). Hier hörte er Vorlesungen bei dem pädagogisch und politisch engagierten Philosophen Leonard Nelson (1882–1927), dessen Arbeitsschwerpunkte in Logik und Ethik lagen. Mensching beeindruckte bei Nelson „die Einheit von theoretischer Reflexion, moralischem Anspruch und praktischem Handeln“.132 Bereits nach zwei Semestern wechselte Mensching nach Marburg, um Religionswissenschaft zu studieren, die hier im Rahmen der evangelischen Theologie angeboten wurde. Mensching wurde Schü129 130 131 132

Ebd., S.12. Ebd. Ebd. Ebd., S.13.

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ler des systematischen Theologen Rudolf Otto (1869–1937) und des gerade einmal vier Jahre älteren Friedrich Heiler. Philosophie hörte er bei Paul Natorp (1854–1924), Kollege und Freund des Begründers der durch Mathematik und Naturwissenschaft geprägten Spielart des Marburger Neukantianismus, Hermann Cohen (1842–1918). „Gustav Mensching hat bei ihm [Natorp] intensiv gehört, wodurch ihm vor allem die Notwendigkeit einer systematischen Grundlegung der Einzelwissenschaften vermittelt wurde […] Natorps Altersphilosophie wandte sich zudem der Religion in einer eigentümlichen Weise zu, die für Mensching eine Bestätigung des in Marburg eingeschlagenen Weges sein mochte. Natorp hält nun den letzten Grund, der die Welt der wissenschaftlich bestimmbaren Erscheinungen hervorbringt, für das Göttliche. Es offenbart sich in den Erscheinungen des johanneischen Logos. Freilich baut Natorp aus dem Gedanken des Ur-Einen ein neuplatonisch anmutendes System, aber die Betonung der subjektiven Komponente des Erlebens, in dem sich das Transzendente jenseits der Welt der Begriffe erschließen soll, weist in die Richtung des Heiligen, dem das Hauptwerk Rudolf Ottos gewidmet ist.“133 Seit 1925 war Mensching Rudolf Ottos Privatassistent und engster Mitarbeiter.134 Beide engagierten sich in den 1920er Jahren in der liturgischen Reformbewegung. Zusammen mit René Wallau, dem evangelischen Pfarrer, Kirchenmusiker und Gründer des ersten Amtes für Kirchenmusik in Deutschland (1929), war Mensching an der Herausgabe der „Liturgischen Blätter für Prediger und Helfer“ (1926–1934) beteiligt. Man schickte ihm die Beitragsentwürfe für dieses Periodikum an seine wechselnden Adressen: zunächst Marburg, 1927 Hannover, 1928 Riga. Trotz der offiziellen Herausgeberschaft Rudolf Ottos lag die tatsächliche Redaktionsarbeit in erster Linie bei Mensching. Ab 1934 gab dieser dann das erste Heft der dritten Reihe als Herausgeber heraus.135 Kurz darauf schon war die Zeitschrift gezwungen, ihr Erscheinen einzustellen. Gemeinsam gab man die Chorgebete für Kirche, Schule und Haus (1924) heraus, seit 1926 die Liturgischen Blätter für Prediger und Helfer. Mensching arbeitete über „Die liturgische Bewegung in der evangelischen Kirche“ (1925), analysierte „Katholische Kultprobleme“ (1927), verhandelte zentrale Themen lutherischer Theologie („Glaube und Werk bei Luther“, 1926). Auch veröffentlichte er Predigt- bzw. Redenbände („Die Welt des Glaubens“, 1925; „Glaube und Gedanke“, 1929). Mensching erwarb den Titel Lic. theol. mit seiner von Friedrich Heiler angeregten und betreuten Schrift „Das Heilige Schweigen“ (1923/24), veröffentlicht 1926. Aufgrund ihrer überragenden Qualität konnte sich Mensching 1927 mit derselben Arbeit an der Technischen Hochschule Braunschweig habilitieren. Im selben Jahr folgte er 133 Günther Mensching, a.a.O., S. 14. 134 Katharina Wiefel-Jenner: Rudolf Ottos Liturgik, Göttingen 1997, S. 277. 135 „Begründet von Rudolf Otto, hg. von Gustav Mensching“. Ebd., S. 268.

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dem Ruf an die Staatsuniversität von Riga/Lettland. Als sog. Reichsdeutscher wurde er dort apl. Professor und Verwalter des Lehrstuhls für Allgemeine Religionsgeschichte. Die Rigaer Theologische Fakultät war im Gegensatz zur Kirchenleitung dem theologischen Liberalismus verpflichtet und stellte ein Bollwerk gegen die immer mächtiger werdende dialektische Theologie dar. Der lutherische Pfarrer Dr. Wolf Goegginger (zuletzt St. Georges Lutheran Church, Toronto, verstorben 1999) kannte Mensching noch aus gemeinsamen Rigaer Jahren und bezeichnete dessen Predigten für das damalige Baltikum als „eine Sensation“. Sie zeigten einen kritischen Theologen, dem es um die Überwindung der traditionellen Kanzelsprache ging, der den „eigentlichen religiösen Sinn der alten heiligen Begriffe wie Glaube, Gnade und Gerechtigkeit“ zu vermitteln trachtete. Nicht zuletzt beeindruckte Mensching deswegen, weil er ein ungewöhnlich breites „Wissen über andere Religionen“ hatte (briefliche Mitteilung an den Verfasser vom 18.9.88). Bereits Menschings Arbeiten aus den 1920er Jahren dokumentierten sein Bemühen um das Erkennen und Anerkennen der „Werte(n) und Wahrheiten des Fremden“. Seine Antrittsvorlesung bestritt Mensching über das Thema „Das Christentum im Kreise der Weltreligionen“ (3.10.1927). Schon hier ging es implizit um sein Lebensthema Toleranz (damals sprach er noch von Duldsamkeit). In Riga veröffentlichte Mensching u.a. einen Band mit Predigten („Glaube und Gedanke“, 1929), einen Sammelband („Religion und Leben“, 1931) mit drei eigenen Beiträgen sowie Aufsätzen anderer Autoren, zum Beispiel von Rudolf Otto, der Gedanken über einen „Bund der guten Willen in der Welt“) vortrug. 1935 kehrte Mensching nach Deutschland zurück. Während der Zeit des Nationalsozialismus entstanden u.a. folgende Werke: „Die Idee der Sünde“ (1931), „Zur Metaphysik des Ich (1934), „Das Heilige Wort“ (1937), „Volksreligion und Weltreligion“ (1938), „Vergleichende Religionswissenschaft“ (1938), „Allgemeine Religionsgeschichte“ (1940), „Gut und Böse im Glauben der Völker“ (1941). 1937 gab Mensching anstelle seines im selben Jahr verstorbenen Lehrers Rudolf Otto die bedeutendste Schrift anonym bleibender Reformkatholiken heraus: „Der Katholizismus. Sein Stirb und Werde. Von katholischen Theologen und Laien“. Das Vorwort unterstreicht Menschings ökumenisches Wollen: „Eine Begegnung der Konfessionen dürfte nur möglich sein […] auf dem Boden des religiösen Lebens, nicht aber in der isolierten Sphäre theoretischer und dogmatischer Lehrformulierungen. Intellekt und Dogma trennen, wenn sie nicht mehr im Dienste des Lebensausdrucks stehen sondern Eigenwert gewonnen haben. Solange man Dogmen als verpflichtende Lehrmeinungen ansieht, sind sie notwendig lebenshemmend und stehen als unerschütterliche Trennungsmauer zwischen den Konfessionen. Wenn man aber, wie es die Verfasser des Buches tun, die Rückwendung wagt, die nicht Reaktion, sondern ein Wiederfinden der Quelle bedeutet, dann werden Dogmen zu Symbolen einer vielleicht verschiedenen Schau des Ewigen, aber sie sind nicht in sich selbst ruhende starre und trennende Formen, sondern das große gemeinsame Leben leuchtet durch sie hindurch.“ (12)

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Menschings Einstellung zum und sein Verhalten im Nationalsozialismus ist durch neuere, im Ganzen widersprüchliche Forschungen keineswegs hinreichend beleuchtet worden. Wenig plausibel sind Untersuchungen, die Mensching eine völkische bzw. nationalsozialistische Gesinnung attestieren.136 Wer Menschings Gesamtwerk gründlich kennt, den überzeugen eher die folgenden Einschätzungen: „Ein Vergleich zwischen Menschings grundlegenden Positionen seiner Vergleichenden Religionswissenschaft und der nationalsozialistischen Religionsauffassung zeigt eine grundsätzliche Verschiedenheit und Unvereinbarkeit. […] Mensching ist daher von keiner Gutachterkommission vorgeworfen worden, dass er jemals inhaltlich nationalsozialistische Positionen bezüglich der Religionsauffassung vertreten hätte. Die Kommissionen haben ihm aber verübelt, dass er ihrer Meinung nach den Anschein erweckt habe, er sei ein überzeugter Nationalsozialist gewesen…“.137 1935/36 übernahm Mensching eine Vertretungsprofessur an der Universität Kiel. Seit dem 1.4.1936 wurde er als Nachfolger Carl Clemens (1865–1940) mit der Leitung des Religionswissenschaftlichen Seminars in der Philosophischen Fakultät der Rheinischen-Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn beauftragt. Am 9.6.1942 wurde Mensching auf den wieder errichteten Lehrstuhl berufen. Das Thema seiner Antrittsvorlesung lautete: „Der Schicksalsgedanke in der Religionsgeschichte“. In Bonn wirkte Mensching noch Jahre über seine Emeritierung (1969) hinaus an der Universität. 1951 verlieh ihm die Universität Marburg die seltene Würde eines Ehrendoktors für Religionswissenschaft. Mensching publizierte eine außergewöhnlich hohe Anzahl an Monographien und Aufsätzen, so dass sein Schrifttum etwa 650 Titel umfasst. Er gehörte zu den Gründervätern des „Bund(es) für freies Christentum“, der sich für eine persönlich verantwortete, undogmatische, weltoffene Form des christlichen Glaubens einsetzte. Jahrelang gehörte Mensching dem Vorstand an. Sein Eintreten für inhaltliche Toleranz ließ ihn 1961 Mitglied in der Humanistischen Union werden. Diese von Gerhard Szczesny als Bürgerrechtsbewegung gegen die restaurative Haltung in der Adenauer-Ära gegründete Vereinigung setzte sich für die Wahrung der Grundrechte der Bürger in der BRD, für weltanschauliche Neutralität, für Toleranz und gegen religiöse Intoleranz ein. Zum Programm gehörte seit Anfang die Trennung von Kirche und Staat. Mensching gehörte zum Beirat und trat hauptsächlich durch Vorträge über

136 Fritz Heinrich: Die deutsche Religionswissenschaft und der Nationalsozialismus. Eine ideologiekritische und wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung, Petersberg 2002. – Horst Junginger: Von der philologischen zur völkischen Religionswissenschaft. Das Fach Religionswissenschaft an der Universität Tübingen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Dritten Reiches, Stuttgart 1999. 137 Peter Parusel: Gustav Mensching in der Zeit des Nationalsozialismus. In: Religionswissenschaft im historischen Kontext, a.a.O., S.113–142, hier S. 141f.

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Toleranz-und Intoleranzthemen in Erscheinung. Bis zu seiner Emeritierung 1969 hatte er den Lehrstuhl für Vergleichende Religionswissenschaft an der Universität Bonn inne. Menschings Nationen- und Kulturen verbindendes Engagement für Toleranz wird deutlich an seinem Einsatz bei der „Gesellschaft zur Gründung einer Welt-Universität“ (1960). Zahlreiche Nobelpreisträger und Gelehrte von Weltruf waren vor einem halben Jahrhundert von der Idee beseelt, diese Welt-Universität zum Mittelpunkt der Völkerverständigung zu machen,138 einen neuen, die Erde umspannenden Humanismus zu begründen. In seiner Ansprache zur Eröffnung des Inauguralkurses sagte Mensching: „Die Welt-Universität soll weltumspannend und weltbestimmend werden. Weltumspannend soll sie in doppeltem Sinne sein: Hinsichtlich der Beteiligung aller Völker einerseits und hinsichtlich der Problematik und der Forschungsaufgaben andererseits. […] Gegenstand der Forschung sollen nicht Spezialfragen einzelner Disziplinen sein, sondern Probleme, an deren Lösung oder doch Förderung die Welt interessiert ist. […] Um solche Ziele anzustreben, bedarf es besonderer Persönlichkeiten als Lehrende und Lernende, akademische Lehrer und erprobte Praktiker aus allen Ländern sollen berufen werden, die nicht nur in ihren Fächern Wertvolles leisten, sondern sowohl den Blick über die Grenzen ihres Faches hinaus auf große Synthesen zu richten gewillt und fähig sind, sondern auch gesinnungsmäßig sich verpflichtet fühlen, für eine verständnisvolle und friedliche Zusammenarbeit aller, die guten Willens sind, zu wirken“.139 Mensching betrieb keine Religionswissenschaft im Elfenbeinturm. Er sah in ihr auch eine praktische Disziplin, wichtig zur Lösung von Gegenwartsproblemen. Immer wieder griff er in aktuelle Diskussionen ein, zum Beispiel in den Streit um die Bekenntnisschule und den konfessionellen Religionsunterricht. So gab er 1964 in seiner Antwort auf eine Frage von Gerhard Szczesny Antworten, die in der Diskussion um das interreligiöse Lernen heute bedenkenswert erscheinen: „Nicht konfessionelle Unterscheidungslehren, sondern eine Verlebendigung urchristlicher, allen christlichen Konfessionen gemeinsamen Glaubenshaltung sollte am Anfang stehen und schon hier das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit der christlichen Konfessionen wecken. Ich halte dagegen nichts von einer […] allgemeinen religiösen Erziehung ohne Beziehung zu einer der konkreten geschichtlichen Religionen, weil sie farblos und inhaltslos bleibt. Religion ist nur wirklich und wirksam in Religionen. Religion an sich existiert nicht […] Hat man aber den Ausgang von der konkreten Religion des Christentums in der angegebenen Weise genommen, dann gilt es, den Blick in die Weite zu richten

138 Vgl. den Bericht in der Illustrierten ,Revue‘ Nr.32, vom 6. August 1960, S.8f. 139 Zitiert aus einem Bericht der monatlich erscheinenden Illustrierten ,Das Schönste‘ (September 1960), S.26.

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und Verständnis zu gewinnen für die nun kennen zu lernenden fremden Religionen und sie als andere Möglichkeiten religiösen Lebens erfassen zu lernen“.140 Eine persönliche Reminiszenz: Bereits eine Viertelstunde vor Beginn jeder Vorlesung stand Mensching an einer Ecke des Ganges und blickte aus dem Fenster – die Arme auf dem Rücken verschränkt. Jeder wusste: Jetzt war er unansprechbar. Vollkommen konzentriert auf die Vorlesung, für die er keinen ausgearbeiteten Text besaß. Nur Stichwörter. Von seiner äußeren Erscheinung verkörperte Gustav Mensching den deutschen Universitätsprofessor herkömmlichen Stils: würdevoll-distanziert, unnahbar. Seine Studenten beriet er gern, so ausführlich wie nötig. Zeit stehlen konnte man ihm nicht. Gustav Mensching schloss 1927 die Ehe mit Erika Dombrowski, aus der zwei Kinder hervorgingen: In Riga wurde sein erster Sohn geboren, der Germanist, Schriftsteller und Puppenspieler Dr. Gerhard Mensching (1932–1992) und der 2007 emeritierte Hannoveraner Philosoph Prof. Günther Mensching (geb. 1942). Gustav Mensching starb am 20. September 1978 im St. Augustinus Krankenhaus in Düren-Lendersdorf – ein halbes Jahr nachdem seine Frau gestorben war.

2. Inhalt des Buches Das systematische Hauptwerk Menschings „Die Religion. Erscheinungsformen, Strukturtypen und Lebensgesetze, Stuttgart 1959“ bündelt seine religionsstrukturellen, -typologischen und -phänomenologischen Erkenntnisse, empfiehlt sich daher zur Einführung in Menschings Werk besonders gut.

Bereits in der Einleitung grenzt Mensching sein religionswissenschaftliches Erkenntnisinteresse von theologischen oder irgendwie glaubensmäßig bestimmten Zielrichtungen ab. Auch wenn der eigene Glaube nicht Erkenntnisgrundlage sein darf, so arbeitet die an der „lebendigen Wirklichkeit der Religion“ (11) interessierte Religionswissenschaft nicht voraussetzungslos: „Jede sachgemäße Beschäftigung mit Religion, ihrem Wesen und ihren Erscheinungsformen setzt eine innere Beteiligung und die Fähigkeit der Einfühlung voraus.“ Die Einleitung beschäftigt sich mit den beiden grundlegenden Momenten von Menschings Religionswissenschaft: Vergleichen und Verstehen. Mensching unterscheidet zwischen Analogien und Homologien (s. 3 „Ausgewählter Quellentext). „Die Religion“ gliedert sich in folgende Hauptkapitel: 140 Zum Problem konfessioneller Erziehung in der Schule. In: Vorgänge. Eine kulturpolitische Korrespondenz, 1964, Heft 10, S.350f., hier S. 351.

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I.

Die Lebensmitte der Religionen und ihre Gemeinschaftsformen. 1. Der Sondergeist der Volksreligionen 2. Der Sondergeist der Universalreligionen II. Strukturtypen der Religion 1. Abschnitt: Die Grundstrukturen der Religion 1a. Volksreligion 1b. Universalreligion 2. Abschnitt: Typologie der Religion III. Die Wirklichkeit des Heiligen 1. Abschnitt: Heilige Macht 2. Abschnitt: Erscheinungsformen heiliger Macht 3. Abschnitt: Geister und Dämonen 4. Abschnitt: Die Götter – ihr Wesen und Werden 5. Abschnitt: Der eine Gott und das eine Göttliche IV. Die Wirklichkeit der Welt 1. Abschnitt: Die Welt außerhalb des Menschen 2. Abschnitt: Der Mensch V. Die Begegnung des Menschen mit der Welt des Heiligen 1. Abschnitt: Die Medien der Begegnung 2. Abschnitt: Die Weisen der Begegnung 3. Abschnitt: Die Inhalte der Begegnung VI. Das antwortende Handeln 1. Abschnitt: Antwort als Tun 2. Abschnitt: Antwort als Gemeinschaftsbildung und -bindung VII. Lebensgesetze der Religion 1. Abschnitt: Das Problem der Entwicklung in der Religionsgeschichte 2. Abschnitt: Die typischen Stadien der Religion 3. Abschnitt: Typische Spannungen in der Religion Schluss: Die Einheit der Religionen Menschings Religionsdefinition: „Religion ist erlebnishafte Begegnung mit dem Heiligen und antwortendes Handeln des vom Heiligen bestimmten Menschen“ enthält nur „formale Strukturbezeichnungen“ (18f.), die in der empirischen Realität „mit sehr verschiedenen Gehalten gefüllt sein können“ (19). Religion an sich gibt es für den Religionswissenschaftler nicht. Religion ist „nur geschichtlich wirklich […] in einer Vielzahl von Religionen, in denen sowohl die Art der Begegnung mit dem Heiligen als auch die Antwort des Menschen auf diese Begegnung sehr verschieden sein kann. Jede Religion hat daher ihre eigene Lebensmitte […], die jeweilige Besonderheit sowohl der Begegnung mit dem Heiligen als auch der Antwort auf sie“ (20). Die Begriffe Lebensmitte

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und der auf Otto zurück gehende Sondergeist sind weitgehend austauschbar, wenngleich im Lebensbegriff Menschings andere Töne als bei Otto mitschwingen. „Wir verstehen daher unter Lebensmitte die jeweilige Besonderheit sowohl der Begegnung mit dem Heiligen als auch der Antwort auf sie. Zugleich aber soll mit dem Begriff der Lebensmitte ausgedrückt werden, dass Religionen Lebensformen sind und nicht konstruierte Systeme intellektuell erfassbarer, lehr- und lernbarer Wahrheiten“ (20). Grundlegend für Menschings Religionsverständnis ist die strukturelle Differenzierung der Religionsgeschichte in Volks- und Universalreligionen (erstmals wohl in „Volksreligion und Weltreligion“, 1938). Der Unterschied zwischen beiden liegt nicht primär darin begründet, dass Volksreligionen nur jeweils von einem bestimmten Volk getragen werden und je spezifische Götter von national beschränkter Reichweite und Mächtigkeit haben, während Universalreligionen übernationale, transkulturelle Ausbreitung erlangten und eine universal mächtige Gottheit bzw. ein impersonal Heiliges (Brahman, Nirvana, Dao, deitas) kennen. Menschings Ausgangspunkt ist die Frage nach Heil. Bereits in den beiden Zwillingsschriften „Die Idee der Sünde“ (1931) und „Zur Metaphysik des Ich“ (1934) finden sich vorbereitende religionsstrukturelle Gedanken. Mensching definiert seinen Strukturbegriff nicht näher, so dass man wohl von einem allgemeinen Verständnis von Struktur (lat.: structura: ordentliche Zusammenfügung, Schichtung, Bau, Zusammenhang) auszugehen hat und darunter das Muster von Systemelementen und ihren Relationen untereinander zu verstehen hat. Mensching meint also die Art und Weise, wie die Elemente eines Systems durch Beziehungen miteinander verknüpft sind, so dass es als ein organisches Ganzes funktioniert. Mit der Unterscheidung von „aktueller und konkretisierter“ sowie „genereller und essentieller Sünde“ gelang es Mensching, zwei fundamentale Unheilsstrukturen herauszuarbeiten, die ihrerseits wiederum Indikatoren für voraus gehende Strukturverschiedenheiten sind. In der Volksreligion ist eine das Heil garantierende Gemeinschaft (Familie, Sippe, Clan, Stamm u.a.) Träger der Religion. Die Universalreligion stellt dagegen den isolierten, sich in einer Unheilssituation befindlichen Einzelnen in den Mittelpunkt, der als Individuum Träger der Religion ist. Volksreligionen kennen ein kollektives Heil, in das der Einzelne hinein geboren wird. Kultisch-rituelle Vollzüge erhalten die Funktionsfähigkeit volksreligiöser Systeme. Universalreligion anderseits gehen umgekehrt von einer existentiellen Unheilssituation aus, in welcher sich der Einzelne vorfindet. Der Universalreligion geht es um die Aufhebung unheilvoller Existenz durch Gewinnung des angebotenen Heils. „Auf der einen Seite gibt es Religionen, die die Isolierung in der körperhaften Existenz des einzelnen sehen. […] Auf der anderen Seite wird die existentielle Isolierung darin gesehen, dass der einzelne sich von der persönlichen Gottheit abgewandt hat“ (246). Mensching prägt die treffenden Begriffe „ichhafte Existenz“ (hier ist das Ich als solches heilshinderlich) und „ichsüchtige Existenz“ (hier ist die Existenz des Ich nicht das Problem, sondern die Tatsache, dass der Mensch alle seine Kräfte darauf richtet (248).

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Im Anschluss an diese Strukturanalyse entwickelt Mensching in Abgrenzung von u.a. Gerardus van der Leeuw, Nathan Söderblom seine speziellen Gedanken zur Typologie der Religion bzw. Religionen: „Die Typologie der Religion soll im Unterschiede von der Typologie der Religionen zeigen, welche typischen Gemeinsamkeiten in der Ganzheit der Einzelreligionen vorliegen. […] Während die bisher vorgelegten Typologien eigentlich nichts sein wollten als eine brauchbare Einteilung der Religionen, und daher alle Religionen entweder unter die eine oder unter die andere der angewandten Kategorien brachten, wird unsere Idee der Typologie es mit sich bringen, dass dieselbe Religion bisweilen unter mehrere Typen zu subsumieren ist, und zwar keineswegs immer zusammen mit denselben Religionen; denn unsere Typenbilder berücksichtigen sehr verschiedene Wesensseiten am Phänomen als Ganzheit“ (78). So gibt es u.a. „fordernde und schenkende Religion“ (89–97), „Offenbarungs- und Buchreligion“ (97–108), „Gewachsene und gestiftete Religion“ (108–115), „Mystische und prophetische Religion“ (115–120), „Nichtmissionierende, missionierende und wandernde Religion“ (120–126). Die Kapitel III-VI stellen eine Religionsphänomenologie mit ihren grundlegenden Inhalten vor. Religionsphänomenologie beschäftigt sich auf kompakte Weise mit der „Wirklichkeit des Heiligen“: Erscheinungsformen heiliger Macht, Geister und Dämonen, Götter, Der eine Gott und das eine Göttliche (Kapitel III) und der „Wirklichkeit der Welt“: Kosmologien, Anthropologien (Kapitel IV). Kapitel V und VI entfalten die Religionsdefinition Menschings mit ihren Koordinaten Begegnung/Antwort. Kapitel V („Die Begegnung des Menschen mit der Welt des Heiligen“) thematisiert Medien, Weisen und Inhalte der Begegnung. Im Kontext der „Medien der Begegnung“ werden Phänomene wie Wunder, herausragende Menschen („Söhne Gottes“, 224), das „heilige Wort“, u.a. Mythos, heilige Schriften, Schicksalsgedanke thematisiert. Zu den „Weisen der Begegnung“ zählt Mensching Erlebnis, Vision, Audition, Erleuchtung, Ekstase, Glaube. Unter die „Inhalte der Begegnung“ subsumiert er Heils- und Unheilsstrukturen. Kapitel VI („Das antwortende Handeln“) unterscheidet zwei Formen: Antwort als Tun und Gemeinschaftsbildung. Im ersten Bereich behandelt Mensching das Phänomen der „Symbolstiftung“. Von seinen frühesten Untersuchungen an stand für Mensching das Symbol im Mittelpunkt seines Interesses. In „Die Religion“ charakterisiert er die Hauptaufgabe der Religionswissenschaft als „Symbolverstehen“ (14). Der Grund für Menschings frühe Untersuchungen zum Symbolverständnis war sein liturgiereformerisches Interesse. Schon Menschings frühe Arbeiten zum Symbol141 belegen sein Interesse an der Erfahrungsdimension. Jedes religionsgeschichtliche Faktum ist für Mensching mehrdimensional, 141 Analyse des Symbolbegriffs. In: Christliche Welt 44 (1930), Sp. 1070–1077. Erneut abgedruckt in: G. Mensching: Topos und Typos. Motive und Strukturen religiösen Lebens, hg. von Hans-Joachim Klimkeit, Bonn 1971, S. 197–206.

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enthält eine über das konkret Empirische hinausgehende, transempirische Dimension. Symbole gehören für Mensching sowohl auf die Seite der „Begegnung mit dem Heiligen“, als auch auf die Seite des „antwortenden Handelns“. Unter Hinweis auf 1 Mos 28 (Jakobs Traum von der Himmelsleiter) ist „die erste Form antwortenden Handelns […] eine Symbolstiftung“ (259). Mensching definiert Symbol folgendermaßen. „Symbol kann alles werden, was für ein Subjekt zu einer von sich selbst verschiedenen im Symbol gemeinten Sinnwirklichkeit in ein Verhältnis der Repräsentation gesetzt wird“ (260). Jedes Symbol besteht aus zwei Elementen: dem „vordergründigen Gegenstand und dem Gemeinten“ (ebd.). Beide Ebenen stehen zueinander im Verhältnis der Repräsentation, „weil das Gemeinte durch den Gegenstand repräsentiert wird, und zwar für ein Subjekt. Damit ist ausgesprochen, dass Symbole stets ein Subjekt voraussetzen, in dem sich jene Beziehung der Repräsentation vollziehen kann. Symbole an sich gibt es im strengen Sinne nicht. Damit ist aber zugleich gesagt, dass die Gültigkeit von Symbolen innerhalb der Subjektwelt auf die jeweils zum Symbolvollzug befähigten Subjekte beschränkt ist“ (260f.). Grundsätzlich besteht „keine Einschränkung der Symbolfähigkeit vom Gegenstand aus“ (260); denn alles kann zum Symbol „werden“, d.h. „Symbole werden gestiftet“ (ebd.). Symbole verdanken sich der Begegnung mit dem Heiligen, repräsentieren, vergegenwärtigen es. Wenn dieser Repräsentationscharakter jedoch nicht beachtet wird, fallen Symbolgegenstand und gemeinte Wirklichkeit zusammen. Dann geht der Symbolcharakter zugrunde, und es liegt ein magisches Verhältnis vor. Mensching unterscheidet verschiedene Symbolgattungen. Zu den Sprachsymbolen zählt er u.a. Mythos und Bekenntnisformeln, zu den Handlungssymbole gehören neben künstlerisch hergestellten Symbolen Kult, Opfer, Mysterienfeier, Gebet und Schweigen, Tanz und Lied, Meditation und ethisches Handeln, heiliger Raum und heilige Zeit. Das letzte Kapitel VII geht dem Problem der Entwicklung der allgemeinen Religionsgeschichte nach und stellt die wesentlichen Entwicklungstheorien vor. Mensching entwickelt eigene typische Religionsstadien („Stadium der Anfangsverbundenheit“, „Stadium der Dogmatisierung und Konfessionalisierung“, „Stadium der Organisierung“, „Stadium der Reformation“, schließlich „Stadium des Unterganges“). „Wir verstehen unter einem Stadium einen aus dem Wesen der Religion notwendig folgenden Zustand, der wiederum in sachlicher Beziehung zu anderen vorausgehenden und folgenden Zuständen steht und mit ihnen ein ganzheitliches Geschehen bildet. Zeitliche Aufeinanderfolge ist dabei nicht notwendig, verschiedene Stadien können sogar gleichzeitig auftreten und ein Stadium kann sich im Folgenden erhalten. Wenn z.B. die Konfessionalisierung einer Religion ein Stadium ist, dann ist klar, dass es sich erhält, auch wenn die Religion etwa in das Stadium der Reformation eintritt. Der Begriff Stadium setzt also die Identität des Religionsorganismus voraus, an dem sich die Stadien vollziehen. Die zu unterscheidenden Stadien müssen prinzipiell an jedem

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Religionsorganismus vorkommen können unabhängig von der Art und Höhe der jeweiligen Frömmigkeit“ (307). Darüber hinaus unterscheidet Mensching „typische Spannungen in der Religion“ (321): Grundsätzliches führt er im Abschnitt „Tradition und Neuschöpfung“ (321–334) aus. Dann unterscheidet er mythische, Schrift-, Lehr-, Kulttradition (335–343), verhandelt die Grundprobleme von „Form und Geist“ (343–345), „Autorität und Freiheit“ (345–347), unterscheidet „Religion der Mittel und Religion der Unmittelbarkeit“ (347f.) sowie die Spannweite der Begegnung von Religionen zwischen „Toleranz und Intoleranz“ (348–367). Im Schlussabschnitt legt Mensching sein religionswissenschaftliches Credo ab: „Die Einheit der Religionen“ (369–379): „Einheit nicht statt der Vielheit, nicht aus der Vielheit, sondern Einheit in der Vielheit der bestehenden Religionen“ (373f.). Aus der Erkenntnis der in gleichen religiösen Erfahrungen wurzelnden, sich in grundlegenden Strukturformen ausdrückenden Einheit ergibt sich für Mensching konsequenterweise die Haltung „inhaltlicher Toleranz“: „die Anerkennung fremder Religion als echter Möglichkeit der Begegnung mit dem Heiligen“ (379).

3. Ausgewählter Quellentext Vergleichen und Verstehen

Wir nähern uns der Welt der Religion in diesem Buche nicht von einem vorgefassten theologischen oder glaubensmäßig bestimmten Standort aus, sondern in der Erkenntnisabsicht des Religionswissenschaftlers. Wir bringen daher zu dieser Arbeit keine Maßstäbe mit, an denen wir Wert und Unwert, Wahrheit und Irrtum der Religionen bzw. religiöser Anschauungen und Praktiken ablesen könnten. Solche Maßstäbe gibt es für die Religionswissenschaft nicht. Woher sollten sie auch genommen und womit sollten sie begründet werden, wenn man nicht die eigene Glaubenswelt als Norm voraussetzen will? Gleichwohl ist unser Erkenntnisbemühen nicht „voraussetzungslos“; denn jede sachgemäße Beschäftigung mit Religion, ihrem Wesen und ihren Erscheinungsformen setzt eine innere Beteiligung und die Fähigkeit der Einfühlung voraus. Wem diese Voraussetzungen fehlen und wer die vielfach höchst seltsam anmutende Erscheinungswelt der Religion rein rational betrachtet, der wird verständnislos und wahrscheinlich sehr oft kopfschüttelnd an ihr vorüber gehen. Auch die Religionswissenschaft, die ein Kind der Aufklärung ist, hat lange Zeit hindurch diese Einstellung gehabt und daher oft ein Zerrbild dessen produziert, was Religion wirklich ist. Wir sind heute bestrebt, diese Fehler zu vermeiden und der lebendigen Wirklichkeit der Religion gerecht zu werden. Zwei Momente sind für diese Art religionswissenschaftlicher Arbeit von entscheidender Bedeutung: Vergleichen und Verstehen.

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Vor zwei Gefahren muss der religionswissenschaftliche Vergleich, wie er den in diesem Buche dargestellten Erkenntnissen zugrunde liegt, sich hüten: vor voreiliger Identifizierung und ebenso auch vor dem Gegenteil, der vorliegenden Unterscheidung. Der ersten dieser beiden Gefahren erlag die ältere religionswissenschaftliche Forschung häufig dadurch, dass sie die zum Erstaunen der Zeit entdeckten zahlreichen Parallelen zu den aus dem Christentum bekannten Anschauungen und Kultpraktiken in fremden Religionen ohne Bedenken für identisch hielt, ohne darauf zu achten, ob nicht vielleicht nur eine äußere Ähnlichkeit und keine innerliche Verwandtschaft besteht. Man kann die Gefahr, der man hier zu erliegen droht, auch so ausdrücken: es besteht die Gefahr, Homologes im Erscheinungsbild einer Religion mit Analogem zu verwechseln. Homolog sind Erscheinungsformen, die einander zwar ähnlich sind und vielleicht sogar mit gleichem Namen benannt werden und die dennoch in den zum Vergleich stehenden Religionen etwas Verschiedenes bedeuten. Das lässt sich an folgendem Beispiel gut illustrieren: wenn man sich die Aufgabe stellt, die Gottesidee im Buddhismus und im Christentum zu vergleichen, dann wird der jener Gefahr der Verwechslung von Homologem mit Analogem nicht Ansichtige geneigt sein, die als Götter bezeichneten Gestalten mit dem christlichen Gott zu vergleichen. Dabei würde ein völlig schiefes Ergebnis herausbekommen, weil die buddhistischen Götter dem christlichen Gott nur homolog, aber nicht wahrhaft analog sind. Das Analoge zur christlichen Gottesidee ist das buddhistische Nirvâna, die impersonale numinose Wirklichkeit schlechthin. Die Götter aber sind nur erlösungsbedürftige Wesen, die, wie Menschen und Tiere und hungrige Geister, eine Wiedergeburtsform darstellen. Nicht was gleich lautet, ohne wesenhaft einander analog zu sein, soll verglichen werden, sondern diejenigen Größen, die vielleicht ganz verschieden benannt werden, die aber im Lebensbereich der betreffenden Religion eine wesenhaft analoge Bedeutung haben. Es gilt also vor allem, nach dem Leben zu fragen, das hinter und in den beobachteten Phänomenen der Religionsgeschichte wirksam ist. Dem wahrhaft Analogen kommt innerhalb des Religionsorganismus dieselbe Lebensfunktion zu, dem Homologen dagegen, das ein nur äußerlich Entsprechendes ist, nicht. Vor einer voreiligen Identifizierung schützt das sorgfältige Studium der Eigenart und des Einmaligen der Phänomene einer Religion. Jede Religion hat ihre unverwechselbare Lebensmitte […]. Diese Eigenart liegt für den Religionsforscher sowohl in der Ebene der Erscheinungsformen als auch in dem, was religiös jeweils gemeint wird. Sie liegt aber nicht in dogmatischen Absolutsetzungen, durch die orthodoxe Theologien die Besonderheit und Unvergleichbarkeit der eigenen Religion gegenüber allen anderen begründen. Die Eigenart einer Religion bedeutet nicht ihre Absolutheit, durch die dann überhaupt jeder Vergleich sinnlos würde. Aber es gibt beim Vergleich auch die entgegengesetzte Gefahr der voreiligen Unterscheidung der Religionen oder religiöser Anschauungen. Eine unsachliche Unterschei-

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dung kommt z.B. zustande, wenn man, wie es in apologetischen Darstellungen oft geschieht, die eigenen Ideale mit der fremdreligiösen Praxis vergleicht. Selbstverständlich muss auch hier wieder das genau Entsprechende verglichen werden. Die moderne Religionswissenschaft fragt nach dem Gemeinten in allen religiösen Erscheinungsformen. Stellt man diese methodische Frage nicht, wie es in der älteren Forschung geschah, dann gerät man leicht in die Gefahr, grundlegende Unterschiede festzustellen, wo nur im Phänomenalen, nicht aber in der religiösen Intention, Unterschiede bestehen. Wenn man z.B. die geistige Gottesverehrung etwa im Christentum mit der vielfach in der Religionswelt üblichen Steinverehrung vergleicht, dann wird man das Fehlurteil, bei der Steinverehrung würden tote Steine angebetet, vermeiden, wenn man zunächst nach der religiösen Intention der Steinverehrung gefragt und daraufhin erkannt hat, dass auch hier das eigentlich gemeinte Objekt nicht der tote Stein, sondern ein Undingliches, Übernatürliches, Heiliges ist. Natürlich gibt es im vorliegenden Beispiel erhebliche Unterschiede, aber sie liegen nicht da, wo eine nur das Äußere berücksichtigende Vergleichung sie suchte und sah. Wir haben schon mehrfach den Begriff des Verstehens gebraucht. Die vergleichende Religionswissenschaft hat die Aufgabe, die in der religionsgeschichtlichen Forschung zutage geförderten Phänomene zu verstehen als Möglichkeiten der Manifestation religiöser Inhalte, indem durch Vergleich und Unterscheidung versucht wird, zum organischen Lebenssinn der Phänomene vorzudringen und so jene zunächst völlig isolierten Einzeltatsachen, die die Geschichte darbietet, als „Möglichkeiten“ der Verwirklichung einer religiösen Intuition oder Intention zu erkennen. Werden diese historischen Fakta in diesem Sinne als Möglichkeiten vom Lebenssinn aus verstanden, dann wird damit zugleich ihre innere Notwendigkeit eingesehen. Das aber heißt verstehen: die historischen Fakta einschalten in das eigene Leben, um ihr inneres Leben zu erfassen und durch Vermittlung des Begriffs zu Gefühl und Bewusstsein zu bringen. Die bloße Tatsachenforschung zeigt nur die disparaten Wirklichkeitselemente, nicht aber ihr geheimes Bezogensein auf ein sinngebendes Leben. Religionswissenschaft des Verstehens wird daher weithin zum Symbolverstehen; denn jedes Symbol besteht, wie wir später noch genauer sehen werden, aus einer vordergründigen Realschicht und einer Sinnschicht, die auf eine bestimmte Weise miteinander verbunden sind. Den Symbolsinn durch die Realschicht, das konkrete Symbol, hindurch erfassen, heißt das Symbol verstehen.

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4. Fragen zum Text 1. Teilen Sie Menschings Ansicht, dass es für die Religionswissenschaft „keine Maßstäbe“ gibt, „an denen wir Wert und Unwert, Wahrheit und Irrtum der Religionen“ messen können? Wie verhalten Sie sich als Religionswissenschaftler zu „kriminellen Religionen“, zum Beispiel zur AUM-Religion in Japan, die Giftgasanschläge ausübte? Und wie urteilen sie über die Genitalverstümmelung von Mädchen? Halten Sie Urteile grundsätzlich für religionswissenschaftlich illegitim? 2. Sollte sich ein Religionswissenschaftler deutlich von seinem Gegenstand distanzieren? 3. Halten Sie die „innere Beteiligung und die Fähigkeit der Einfühlung“ grundsätzlich für sinnvoll, oder für abwegig und religionswissenschaftlich nicht erlaubt? 4. Was versteht Mensching unter homolog und analog? Warum sind die „buddhistischen Götter dem christlichen Gott nur homolog, aber nicht wahrhaft analog“? 4. Was meint Mensching mit Leben, „das hinter und in den beobachteten Phänomenen der Religionsgeschichte wirksam ist“? 5. Wen meint Mensching mit den „orthodoxen Theologen“, die Homologes und Analoges verwechseln? 6. „Stellt man diese methodische Frage nicht […], dann gerät man leicht in die Gefahr, grundlegende Unterschiede festzustellen, wo nur im Phänomenalen, nicht aber in der religiösen Intention, Unterschiede bestehe.“ Suchen Sie eigene Beispiele, die verdeutlichen, was Mensching unter dem Gemeinten und den religiösen Intentionen versteht. 7. Was versteht Mensching unter „Möglichkeit“ und „Notwendigkeit“? 8. Was stellt Mensching der von ihm abgelehnten bloßen Tatsachenforschung gegenüber? 9. Interpretieren Sie den Satz „Religionswissenschaft des Verstehens wird […] weithin zum Symbolverstehen“.

5. Würdigung

Mensching hat im deutschsprachigen Raum viel dazu beigetragen, die Selbständigkeit der Religionswissenschaft gegenüber drei Fronten zu behaupten: den Theologien, den orientalistischen Fächern und „einem aufklärerischen Positivismus“.142 Dieses Verdienst kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sein Gesamtwerk zeigt eine 142 Oliver Krüger: Die Rezeption von Gustav Menschings Religionssoziologie. In: Wolfgang Gantke, a.a.O., Religionswissenschaft im historischen Kontext, a.a.O., S. 87–112, hier S. 94.

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Entwicklung (1920er Jahre) von (praktisch-)theologischen Interessen zu religionswissenschaftlichen (ab 1930er Jahre). Die an der theologischen Praxis orientierte Ausrichtung des frühen Mensching wird oft übersehen. War es anfangs die Vorliebe für gottesdienstliche Fragen (Liturgie, Predigt), so fand er schon recht früh sein Lebensthema, engagierte sich seit Ende der 1940er Jahre für Toleranz. Bereits frühe Arbeiten zeigen Menschings methodologisches Interesse, u.a. seine Lizenziatsarbeit „Das heilige Schweigen“ (1926): Die Arbeit des Religionswissenschaftlers ist vom Objekt einerseits und vom erkennenden und nacherlebenden Subjekt anderseits zu begreifen. Religionswissenschaft sah Mensching als die „methodische und erkenntnismäßige Aneignung religiöser Tatbestände“. Diese religionsgeschichtlichen Objekte in ihrer empirischen Vorfindlichkeit sind transparent gegenüber einem inneren Leben. Um dieses „religiöse Leben in seiner Mannigfaltigkeit der Gestaltungen“ (11) kreiste Menschings Religionswissenschaft. Um das innere Leben zu erfassen, näherte sich ihm Mensching von den empirischen Objekten („das Gegebene“) her. Neben dem „Gegenständlichen und sinnlich Gegebenen“, dem „Denkbaren und Gedachten“ gibt es die Sphäre des „Erkennbaren“, welche die „Inhalte des Lebens“ enthält“ (12). Der Religionswissenschaftler untersucht zuerst die „logische Struktur“ des Gegebenen. Dann fragt er nach dem „Dahinter“ der für sich „toten Wissensstücke“ (11). Sein Ziel besteht darin: hinter dem „bloß Erscheinungsmäßigen in der religiösen Welt das Leben zu finden und zu Bewusstsein zu bringen in möglichster Annäherung an systematische Klarheit“ (12). Bei diesem Schritt handelt es sich nicht mehr nur um streng wissenschaftliche Arbeit, weil das hinter den Phänomenen liegende Leben, „das Heilige und Absolute“, irrational ist. Das Verstehen der Religion/en geschieht durch „lebenweckende […] schöpferische Synthese“ (11). Mensching postulierte ein „Vermögen a priori“, das der Forscher als „Voraussetzungen zu solcher Verlebendigung“ mitbringt. Zeitgenössische Philosophen demonstrierten, dass der Lebensbegriff eines der zentralen Paradigmen akademischer wie außerakademischer Philosophie war. Die Begriffe Leben und Erlebnis gehörten zum damaligen Zeitgeist. Mit dem Kulturwissenschaftler Allan Janik und dem Philosophen Stephen Toulmin lässt sich dieses Phänomen auf dem Hintergrund einer Matrixbildung deuten: „Grundlage der Einheit des Zeitgeistes ist die gemeinsame ideologische Matrix, das heißt das System der gemeinsamen Schemata, die jenseits des Scheins von unendlicher Verschiedenheit die loci communi [soviel wie Gemeinplatz, U.T.] erzeugen, jenes Gesamt an grob äquivalenten fundamentalen Gegensätzen, die das Denken strukturieren und die Weltsicht organisieren.“143 Der protestantische Hintergrund und die von Mensching verwendete Terminologie, die ebenfalls aus der protestantischen Theologie stammt, ist bislang nicht angemessen berücksichtigt worden. Wenn der junge Liturgiereformer Mensching vom lebendigen 143 Janik Allan/Toulmin Stephen: Wittgensteins Wien, München, 1978, S. 33.

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Gott spricht, so dürfte er sich mit diesem Ausdruck primär auf die biblische Sprache bezogen haben. In der Bibel lassen sich zahlreiche Beispiele vom lebendigen Gott oder lebendigen Geist anführen bis zur (im katholischen Gottesdienst der von Lektoren gesprochenen) liturgischen Abschlussformel: „Wort des lebendigen Gottes“. Bei der Verwendung dieser Begriffe unterscheidet sich Mensching deutlich von seinem Lehrer Rudolf Otto, der sich der Lebens-Terminologie selbst in „Das Heilige“ kaum bedient. In der religionswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Werk Menschings erhalten seine Frühwerke ein zu geringes Gewicht. So dürfte eine Untersuchung des vielschichtigem Lebens-Konzeptes aufschlussreich sein. Die seit den 1970er Jahren üblich gewordene Beanstandung seines Gedankengebäudes auf dem Hintergrund einer Fundamentalkritik an Lebensphilosophie, Hermeneutik und Phänomenologie hat zu einer verzerrten Sicht der Religionswissenschaft geführt. In der heutigen fachphilosophischen Debatte um „Kultur und Leben“ (so der Titel eines laufenden Basler Forschungsprojektes, geleitet von Emil Angehrn und Hans Bernhard Schmid) rückt der vieldeutige Begriff wieder ins Zentrum. „Das Forschungsprojekt geht von der Beobachtung aus, dass wichtige, weit in die Philosophiegeschichte zurückreichende und nach wie vor vitale Stränge der Reflexion auf die Verflechtung von Natur und Kultur bislang keinen oder zu geringen Eingang in die laufende Debatte gefunden haben. Dabei geht es insbesondere um die phänomenologisch-hermeneutische, existentialphilosophische und lebensphilosophische Theorietradition, zu der gerade im deutschen Sprachraum bis in die Gegenwart hinein substantielle Beiträge geleistet werden“.144 Dabei wird nicht nur der Lebensbegriff einer relecture [nochmaliges Lesen] unterzogen, auch das von kulturwissenschaftlichen Religionswissenschaftlern für veraltet gehaltene Konzept der Einfühlung tritt wieder auf den Prüfstand: neuerdings in den Literaturwissenschaften, seit den 1980er Jahren in der Psychologie, wo eine Revision, eine emotionale Wende stattgefunden hat und Gefühle nicht länger als Störfaktoren menschlicher Rationalität gelten, die man unbedingt ausblenden, notfalls bezwingen muss. Die Vielfalt der Gefühle gilt als Teil einer umfänglicheren, evolutionär fundierten Vernunft. Der Marburger Professor für Neuere deutsche Literatur, Thomas Anz, schreibt145: „Die professionelle Art zu lesen, die sich Literaturwissenschaftler zu eigen gemacht haben, verweigert sich tendenziell identifikatorischer und empathetischer Lektüre. Und diese Verweigerung hat dazu geführt, dass Identifikation und Empathie als Bestandteile literarischer Kommunikation von ihnen auch als Untersuchungsgegenstand wenig beachtet wurden. Dazu hat die in der Literaturwissenschaft jahr144 http://philsem.unibas.ch/fileadmin/philsem/user_upload/redaktion/PDFs/Pro_Doc/Leben_ und_Kultur.pdf 145 „Emotional Turn? Beobachtungen zur Gefühlsforschung“. In: http://www.literaturkritik.de/ public/rezension.php?rez_id=10267 (Zugriff: 16.10.10)

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zehntelange Diskreditierung des deutschen Wortes Einfühlung beigetragen. Während Einfühlung in der Literaturwissenschaft danach allenfalls als Phänomen eines unprofessionellen Umgangs mit Kunst akzeptiert, doch als bloß intuitive und methodisch unkontrollierbare Erkenntnisleistung aus dem Terrain wissenschaftlicher Rationalität ausgeschlossen wurde, war jener Neologismus, mit dem der amerikanische Psychologe E. B. Titchener das deutsche Wort 1909 ins Englische übertrug (empathy), in der Psychologie und in den Sozialwissenschaften fest etabliert.“ Mensching war Vordenker einer Globalen Ethik. Er untersuchte bereits zu einer Zeit, als in Deutschland der Nationalsozialismus mit seinen völkisch geprägten Wertvorstellungen vorherrschte, die großen Weltreligionen und erkannte eine Universalethik mit menschheitsverbindenden Werten. Seine Ethik war gegen die rassistischen Ideologien geschrieben. Vor allem war es in der damaligen Zeit erstaunlich, dass er aus einem religionsvergleichenden Ansatz heraus die ethische Verantwortung bei einem entscheidungsautonomen Individuum suchte und nicht in das Kollektiv einer Volksgemeinschaft verlegte. Damit stand Mensching im Widerspruch zu den Auffassungen seiner Zeit, nahm moderne Überlegungen vorweg wie etwa des Tübinger Theologen Hans Küng. Auch wenn Mensching betonte, dass Religionswissenschaft keine Wahrheitsund Wertfragen beantworten kann, so bestätigt eine relecture seiner Werke, dass sie eine starke ethische Ausrichtung besitzen. Die grundlegenden Wertvorstellungen findet man in allen großen Weltreligionen gleichermaßen und nur in leicht unterschiedlichen Nuancen formuliert. So entspricht etwa dem christlichen Gebot „Du sollst nicht töten“ der buddhistische Glaubenssatz „Ich will nicht töten“. Auch der Koran bestätigt für die islamische Welt, dass, wenn jemand einen Menschen tötet, diese Tat genauso verwerflich sei wie ein Mord an der ganzen Menschheit. Dahinter steckt die ethische Überzeugung, dass das Leben eines jeden Menschen an sich wertvoll und nicht aufrechenbar ist. Ähnlich verhält es sich mit anderen ethischen Werten, etwa der Toleranz oder der Menschenwürde. Die großen Religionen sind die Hüter des menschheitlichen Ethos. Von besonderer Relevanz ist Menschings Konzeption der Lebensmitte. Damit insistierte Mensching darauf, dass das Verstehen einer Religion nicht nur darin besteht, vielerlei Details über Lehre, moralische Handlungsanweisungen, einzelne Riten deskriptiv zu vermessen und zu katalogisieren, sondern Religionen als systemische Gestaltungen mit einer inneren Logik wahrzunehmen. Mensching verstand unter Lebensmitte „die jeweilige Besonderheit“, den „Sondergeist“ der einzelnen Religionen, die für ihn „Lebensformen sind und nicht konstruierte Systeme intellektuell erfassbarer, lehr- und lernbarer Wahrheiten“.146

146 Gustav Mensching: Die Religion. Erscheinungsformen, Strukturtypen und Lebensgesetze, Stuttgart 1959, S.20.

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Richard Friedli hielt 2001 im Rahmen der Jenaer Gustav-Mensching-Vorlesungen für religiöse Toleranz ein viel beachtetes Referat über „Toleranz und Intoleranz als Thema der Religionswissenschaft“. Dabei griff er auf Menschings Begriff Lebensmitte zurück, um ihn als analytisches Instrument bei seiner wissenschaftlichen Erfassung von Gewalt- und Konfliktphänomenen auszuprobieren. In der Konfliktverarbeitung bzw. Friedensgestaltung erwies sich diese Kategorie als sinnvoller praxisbezogener Einstieg. Friedli entwickelte die Perspektive Lebensmitte im aktuellen gesellschaftlichen und religiösen Umfeld weiter zum Gedanken der Tiefenkultur. „Gustav Mensching hat mit seiner Kategorie Lebensmitte eine äußerst wichtige Intuition festgehalten: die partikulären religionsgeschichtlichen Aussagen, Riten, Hierarchieformen, ethische Normen, Gebote und Verbote, Gemeinschaftsformen und Handlungsanweisungen sind nicht folkloristische oder zufällige Informationen und Fakten, sondern ebenso viele Konkretisierungen einer fundamentalen Weltanschauung. Von der Lebensmitte her lassen sich die einzelnen dogmatischen, moralischen, liturgischen, organisatorischen und politischen Tatsachen einer religiösen und kulturellen Überlieferung verstehen.“147 Friedli sieht also in den vielfältigen religiösen Traditionsstücken Resultate einer kulturellen Gesamtdynamik. Dafür schlägt er den Begriff und das Konzept Tiefenkultur vor. Diese versteht er als Schnittmenge aus mindestens drei Bereichen: die fundamentale Kosmologie einer jeden Religion, ihr verborgenes omnipräsentes Wertesystem sowie ihr kollektiv-kulturelles Gedächtnis. Eine weitere Anschlussmöglichkeit des Konzeptes Lebensmitte besteht zu Bourdieus Habitus-Konzeption. Hinter dem Begriff Habitus steht der Gedanke, dass soziale Akteure mit „systematisch strukturierten Anlagen ausgestattet“ sind, „die für ihre Praxis – und ihr Denken über die Praxis – konstitutiv sind.“148 Bourdieu sieht im Habitus ein wichtiges Instrument, um die Entstehung von Praxisformen zu erklären. Habitus ist ein Einstellungs-System, eine Disposition der Menschen, die keineswegs das Ergebnis einer gehorsamen Erfüllung von Regeln ist. Man kann auch von einem „System zur Einstellungsformatierung“ bzw. von „sozialem Organ“ sprechen.149 Bourdieu beschreibt den Habitus als „dauerhaft“, womit jedoch das System an sich, nicht aber seine konkrete Realisation gemeint ist. Die Ausgestaltung des Habitus geschieht durch Erfahrung. Diese macht das Individuum im sozialen Raum. Ein zentrales Merkmal des Habitus besteht darin, dass frühere, längst vergessene Erfahrungen weiterhin in der Form des Habitus präsent sind. Bourdieus Konzeption ist wesentlich differen147 Richard Friedli: Toleranz und Intoleranz als Thema der Religionswissenschaft, Frankfurt/ Main 2003, S. 52 f. 148 Markus Schwingel: Bourdieu zur Einführung, Hamburg 1995, S. 55. 149 Ebd., S. 56.

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zierter ausgearbeitet als Menschings Gedanke der Lebensmitte, steht aber in keinem grundsätzlichen Gegensatz dazu. Menschings frühe Arbeiten aus den 1920er Jahren dokumentieren sein Bemühen um das Erkennen und Anerkennen der „Werte und Wahrheiten des Fremden“. Toleranz und Intoleranz in ihren verschiedenen Formen und Typen waren für Mensching einerseits Phänomene der Religionsgeschichte, die es mit den Methoden und dem Instrumentarium der Religionswissenschaft zu erforschen galt. Darüber hinaus bedeutete Toleranz für Mensching noch mehr. Sie galt ihm als „eine der großen Aufgaben […], die unserer Gegenwartswelt mit besonderer Dringlichkeit gestellt sind“.150 Offensein für die spirituellen und ethischen Werte fremder Völker und Religionen: Diese Haltung musste Mensching zu seiner Zeit noch kämpferisch verteidigen. 1954 beriet die Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern über eine künftige Kirchliche Lehrordnung. Sie kam zu dem aus heutiger Sicht erstaunlichen Urteil: Schon derjenige gibt die „reine Lehre seiner Kirche“ preis, der „sich einer andern christlichen Kirche oder Gemeinschaft anschließt“. Vor dem Hintergrund noch geschlossener religiöser Milieus war Menschings Eintreten für inhaltliche Toleranz gegenüber anderen Religionen seiner Zeit weit voraus. Im Unterschied zur bloß formalen Toleranz weicht die inhaltliche den Wahrheits- und Absolutheitsansprüchen anderer Religionen nicht aus oder vereinnahmt sie. Inhaltliche Toleranz nimmt im Gegenteil fremde Wahrheitsbehauptungen produktiv auf, rechnet mit Möglichkeit einer Begegnung mit dem Heiligen auch in anderen Religionen. „Inhaltliche Toleranz bedeutet […] nicht die Preisgabe der eigenen religiösen Überzeugung“. Mensching ist einer der Väter der Praktischen Religionswissenschaft.151 Seine Praxisorientierung kommt auch in seinem Einsatz bei der „Gesellschaft zur Gründung einer Welt-Universität“ zum Ausdruck. Diese wurde 1960 in einem kleinen Schloss vor den Toren Strasbourgs aus der Taufe gehoben. Zahlreiche Nobelpreisträger und Gelehrte von Weltruf waren von der Idee einer Welt-Universität als Mittelpunkt der Völkerverständigung beseelt. Sie wollten einen neuen, die Erde umspannenden Humanismus begründen. In seiner Eröffnungsansprache betonte Mensching: „Die Welt-Universität soll weltumspannend und weltbestimmend werden. Weltumspannend soll sie in doppeltem Sinne sein: Hinsichtlich der Beteiligung aller Völker einerseits und hinsichtlich der Problematik und der Forschungsaufgaben andererseits. […] Gegenstand der Forschung sollen nicht Spezialfragen einzelner Disziplinen sein, sondern Probleme, an deren Lösung oder doch Förderung die Welt interessiert ist. […] Um solche Ziele 150 Toleranz und Wahrheit in der Religion, Weimar 19963 (1955), S. 41. 151 Michael Klöcker/Udo Tworuschka (Hg.): Praktische Religionswissenschaft, Köln-WeimarWien 2008.

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anzustreben, bedarf es besonderer Persönlichkeiten als Lehrende und Lernende. Akademische Lehrer und erprobte Praktiker aus allen Ländern sollen berufen werden, die nicht nur in ihren Fächern Wertvolles leisten, sondern sowohl den Blick über die Grenzen ihres Faches hinaus auf große Synthesen zu richten gewillt und fähig sind, sondern auch gesinnungsmäßig sich verpflichtet fühlen, für eine verständnisvolle und friedliche Zusammenarbeit aller, die guten Willens sind, zu wirken. Ohne diesen Begriff zu verwenden, beschrieb Mensching die Aufgaben einer Praktischen Religionswissenschaft folgendermaßen: „Hier an der Welt-Universität wäre in einmaliger Weise die Möglichkeit gegeben, nicht nur aus den Textquellen der Religionen, sondern durch lebendige Anschauung im täglichen Umgang mit Anhängern der verschiedenen Religionen und durch das sachliche Gespräch jenes Erkennen der letzten Einheit und ein Verstehen der verschiedenen Religionen, ihrer Anhänger und damit der von diesen Religionen vorzugsweise bestimmten Völker zu führen. Wenn also das erklärte Ziel der Weltuniversität darin bestehen soll, den Frieden der Welt durch eine Mobilisierung der Seelen und Geister zu gründen und zu sichern, dann dürfte (…) ein Studium der vergleichenden Religionswissenschaft geeignet sein, die Vertreter der verschiedenen Religionen auf der Basis erkannter letzter Einheit einerseits und des Rechtes der religiösen Eigenart anderseits zu echter inhaltlicher Toleranz zu führen.“152 Von der Fachzunft kaum bemerkt, hat Mensching sich mehrfach für die praktische Ausrichtung seines Faches eingesetzt. Schon in der zweiten Auflage seiner Abhandlung über „Gut und Böse im Glauben der Völker“ aus dem Jahre 1950 bemerkte er: „Es kann kein Zweifel bestehen, dass in unserer zerfallenden Welt dringender denn je das Postulat des Weltgewissens erhoben werden sollte gegenüber aller Unmenschlichkeit in unseren Tagen. Die Religionen sind die berufenen Hüter dieses kollektiven Gewissens. Dass aber solch Weltgewissen möglich wäre, beruht auf der Tatsache, dass die Religionen der Welt in vielen zentralen Fragen des ethischen Handelns und der Gesinnung völlig einig sind. Unsere Untersuchung liefert dafür die religionsgeschichtliche Erkenntnisgrundlage.“ (VIII) Angesichts einer dramatisch veränderten Weltlage formulierte Mensching 20 Jahre später in den „Blättern zur Berufskunde“ (1970), dass die Religionswissenschaft „auch praktischen Zwecken dienen kann und soll“ (12). Zwar betonte er immer wieder: Religionswissenschaft soll verstehen, nicht aber Urteile fällen. Doch solchen theoretischen Gedanken stand anderseits sein jahrzehntelanges Engagement für religiöse Toleranz entgegen. Im 20. Jahrhundert war der Bonner Gelehrte einer der Bahnbrecher für religiöse Toleranz und damit weit dem herrschenden Zeitgeist voraus. Seine in viele Sprachen – u.a. ins Persische und Japanische – übersetzte Toleranzschrift ist ein frühes Beispiel Praktischer Religionswissenschaft. Ihr Ziel: aktiv daran mitzuwirken, die Menschen und Systeme zu pazifieren, sie aus ihrer fun152 Wesen und Bedeutung der Religionswissenschaft an der Welt-Universität (1957).

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damentalistischen Gehäusefrömmigkeit zu befreien und andere Religionstraditionen zu tolerieren. Im „Postulat der Toleranz“ sah Mensching eine „zu lösende Aufgabe für die religiöse Menschheit“: Toleranz und Offenheit gegenüber dem Fremden: Sie waren bei Gustav Mensching mit einer aufklärerischen Grundeinstellung gepaart. Die zehn Abschnitte seines Buches „Der Irrtum in der Religion“ (1969) lesen sich wie ein Dekalog gegen die wohl unausrottbare Tendenz zur religiösen Verdummung der Menschen. Mensching weist der Religionswissenschaft die Aufgabe zu, die Gläubigen über ihre jeweiligen Traditionen aufzuklären, sie selbstreflexiver zu machen. Um ein zeitgemäßes Verständnis der Religionen zu fördern, sollen naive Selbstgewissheiten erschüttert, Mythen und Legenden destruiert werden. Einleitend hebt Mensching zwar hervor. Mensching hat seine Religionswissenschaft zugleich auf die Folgen inhumaner, intoleranter, fundamentalistischer Formen von Religion gerichtet. Vor 60 Jahren waren seine Gedanken unzeitgemäß. Heute liefern sie einer entstehenden Praktischen Religionswissenschaft beachtliche Impulse. Aus seiner Untersuchung über den Irrtum spricht ein religions- und kirchenkritischer Geist. Der letzte Satz des Buches bündelt gewissermaßen Menschings Anliegen: „Auch der Irrtum […] gehört zum Erscheinungsbilde der Religion, da sie in ihrer konkreten Gestaltung menschlicher Irrtumsfähigkeit unterliegt; denn die geschichtlichen Erscheinungsformen der Religion sind menschlichen Ursprungs […] Die hier nachgewiesenen Irrtumsmöglichkeiten zu erkennen und zu berücksichtigen, mag auch dem Läuterungsprozess der Religionen dienen (174).“ Auf Probleme mit der Terminologie wurde bereits weiter oben hingewiesen. Insbesondere seine Auffassung von den Stammesreligionen (autochthone Religionen), ihrer Naturbezogenheit und ihrem magischen Denken ist von der Ethnologie heftig und wohl zu Recht kritisiert worden.153 Aber man muss auch beachten, dass dieser Bereich der allgemeinen Religionsgeschichte nicht zu den bevorzugten Themen Menschings zählte. Kritisch zu bewerten ist auch sein Umgang mit dem Islam.154

153 Rüdiger Schott: Gustav Mensching und die Stammesreligionen in heutiger ethnologischer Sicht. In: Wolfgang Gantke, u.a.: Religionswissenschaft im historischen Kontext, a.a.O., S.35–59. 154 Udo Tworuschka: Das Islambild Gustav Menschings. In: Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident. Festschrift für Abdoldjavad Falaturi, Köln-Wien 1991, S.344–362.

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6. Weiterführende Arbeitsaufgaben 1. Mensching ist in letzter Zeit als Vordenker der Praktischen Religionswissenschaft bezeichnet worden. Lesen Sie „Toleranz und Wahrheit in der Religion“, neu hg. von Udo Tworuschka, Weimar 1996, S.43–45. Stellen Sie tabellarisch dar, welche Differenzierungen Mensching im Zusammenhang von inhaltlicher und formaler Toleranz trifft. 2. Was unterscheidet den religionswissenschaftlichen Ansatz Menschings vom theologischen Friedrich Heilers? 3. Mensching hat Religionen nach ihrer jeweiligen Lebensmitte unterschieden. Beschäftigen Sie sich anhand von Die Religion mit einer konkreten Religionstradition und ihrer Lebensmitte und nehmen Sie kritisch dazu Stellung. 4. Das Heilige spielt in Menschings Religionswissenschaft eine zentrale Rolle. „Die Frage, ob das Heilige jenseits all der Aussagen und Reaktionen im Handeln als an sich subsistierendes Sein existiert, wird bei Mensching nicht berührt“. 155 Diese Aussage bietet Möglichkeiten für ein Rollenspiel mit folgenden Rollen: (kulturwissenschaftlicher) Religionswissenschaftler, Religionsphänomenologe, Theologe, Glaubender einer anderen Religion. Wo liegen die neuralgischen Punkte? 5. Die japanische Mensching-Schülerin Haruko Okano sieht Mensching als „Wegbereiter für das interreligiöse Gespräch“.156 Suchen Sie nach Argumenten, die dafür bzw. dagegen sprechen.

7. Auswahlbibliographie Primärliteratur

Das heilige Schweigen. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung, Giessen 1926. Die Idee der Sünde. Ihre Entwicklung in den Hochreligionen des Orients und Occidents, Leipzig 1931. Das Heilige Wort. Eine religionsphänomenologische Untersuchung, Bonn 1937. Vergleichende Religionswissenschaft, Leipzig 1938. Volksreligion und Weltreligion, Leipzig 1938. Geschichte der Religionswissenschaft, Bonn 1948.

155 Günther Mensching, a.a.O., S. 22. 156 Haruko Okano: Gustav Mensching als Wegbereiter für das interreligiöse Gespräch, ebd., S. 225–235.

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Toleranz und Wahrheit in der Religion, Heidelberg 1955 (Neuausgabe hg. von U. Tworuschka, Weimar 19963). Die Religion. Erscheinungsformen, Strukturtypen und Lebensgesetze, Stuttgart 1959. Soziologie der Religion, 2. neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Bonn 1968 (urspr. 1947) Soziologie der großen Religionen, Bonn 1966. Topos und Typos. Motive und Strukturen religiösen Lebens. Gesammelte Beiträge zur Vergleichenden Religionswissenschaft, Bonn 1971. Die Weltreligionen, Darmstadt 1972. Der offene Tempel, Stuttgart 1974. Buddha und Christus, Stuttgart 1978 (als Herder-TB 2001). Sekundärliteratur

Gantke, Wolfgang: Der umstrittene Begriff des Heiligen. Eine problemorientierte religionswissenschaftliche Untersuchung, Marburg 1998. Gantke, Wolfgang/Hoheisel, Karl/ Schneemelcher, Wilhelm-Peter (Hg.): Religionswissenschaft im historischen Kontext. Beiträge zum 100. Geburtstag von Gustav Mensching, Marburg 2003. Klimkeit, Hans-Joachim: Prof. Dr. Dr. h.c. Gustav Mensching †. In: ZRGG 31 (1979), S. 203–205. Loth, Heinz-Jürgen: Gustav Menschings Religionsbegriff. In: Gantke u. a. (Hg.), S. 143–162. Religion und Religionen. Festschrift für Gustav Mensching zu seinem 65. Geburtstag, dargebracht von Freunden und Kollegen, Bonn 1967. Yousefi, Hamid Reza: Angewandte Toleranz. Gustav Mensching – interkulturell gelesen, Nordhausen 2008. Yousefi, Hamid Reza/Braun, Ina: Gustav Mensching. Leben und Werk. Ein Forschungsbericht zur Toleranzkonzeption (Bausteine zur Mensching-Forschung, Bd.1), Würzburg 2002.

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14. Ernst Benz (1907–1978) 1. Biographie

Ernst Benz wurde am 17.11.1907 in Friedrichshafen als Sohn des Reichsbahn-Ingenieurs Ernst und seiner Frau Line (geb. Bofinger) geboren. Der Sohn besuchte die Lateinschule in Friedrichshafen, anschließend Gymnasien in Ravensburg und Stuttgart. Er studierte in Tübingen klassische Philologie, Deutsch, Geschichte, Religionswissenschaft und Archäologie, u.a. bei Otto Weinreich (1896–1972). Sein Studium schloss er mit der Promotion zum Dr. phil ab. Ab 1926 folgte ein Aufenthalt in Berlin zum Studium von klassischer Philologie, Philosophie und Religionsgeschichte. Hier studierte er bei Werner Jaeger (1888–1961) und bei dem baltischen Kirchenhistoriker Erich Seeberg (1888– 1945). Jaeger war einer der herausragenden klassischen Philologen des 20. Jahrhunderts. Er hatte traditionsreiche Lehrstühle seines Faches in Basel, Kiel und Berlin inne. Als Hauptvertreter des so genannten Dritten Humanismus emigrierte er wegen seiner distanzierten Haltung zum Nationalsozialismus freiwillig in die USA. Benz studierte anschließend Theologie und Archäologie in Rom, u.a. bei Ernesto Buonaiuti (1881–1946) und Raffaele Pettazzoni (1883–1959). Vor allem war es der katholische Theologe und bedeutendste Vertreter des italienischen Modernismus, Ernesto Buonaiuti, der das Interesse des jungen Benz auf die Theologie, insbesondere die Kirchengeschichte lenkte. Buonaiuti hatte sein Theologiestudium zusammen mit dem jungen Angelo Roncalli, dem späteren Papst Johannes XXIII, absolviert, dessen späteres Programm des Aggiornamento („auf den Tag bringen“, also: Anpassung [an heutige Verhältnisse]) von Buonaiuti beeinflusst gewesen sein soll. Buonaiuti wurde wegen seines Eintretens im Modernistenstreit 1925 exkommuniziert. Durch Buonaiuti angeregt, beschäftigte sich Benz mit dem umstrittenen mittelalterlichen Theologen Joachim von Fiore (1130/35–1202) und mit den Fransziskanerspiritualen. Joachim von Fiores, in Verbindung mit der Trinitätslehre entfaltete Drei-Zeiten-Lehre (Altes Testament: Zeit des Vaters, Zeit des Sohnes bis 1260; ein drittes zukünftiges

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glückliches Zeitalter) hatte großen Einfluss auf die abendländische Geschichtsphilosophie. Benz verstand sich primär als Seeberg-Schüler, ließ sich von ihm zu mehreren Beiträgen über die Geschichte der Mystik anregen. Arbeiten über Marius Victorinus, Augustin, Joachim von Fiore, Meister Eckhart, Jacob Böhme, Gottfried Wilhelm Leibniz, Zar Peter der Große, Emanuel Swedenborg, Friedrich Christoph Oetinger, Heinrich Jung Stilling, Franz Anton Mesmer, Franz von Baader, Friedrich Wilhelm Schelling, Friedrich Nietzsche, Teilhard de Chardin u. a. gehörten zu diesen Veröffentlichungen. In Berlin erwarb Benz den Lic.theol. Im November 1931 habilitierte er sich für das Fach Kirchen- und Dogmengeschichte an der Universität Halle. Kirchenkritische Schriften über den Mystiker Jakob Böhme und eine eigenwillige NietzscheInterpretation trugen zu seinem Erfolg als Hochschullehrer bei. 1934/35 ging Benz als Dozent an die Luther-Akademie im heute estländischen Tartu (früher Dorpat). Die Universität Marburg berief ihn 1935 zum außerordentlichen, 1937 zum ordentlichen Professor für Kirchen- und Dogmengeschichte sowie Geschichte der deutschen Mystik. Benz lehrte bis 1973 in Marburg. Schon früh trat er in die SA ein (1. 11.1933), 1937 in die NSDAP als einer der ganz wenigen Theologen, die in diesem Jahr noch aufgenommen wurden. Im Rahmen des Nationalsozialistischen Lehrerbundes (NSLB) hielt er Vorträge und Schulungskurse in Danzig und Frankfurt. Im Zweiten Weltkrieg diente Benz als Divisionspfarrer an der Ostfront. Nach der Kriegsgefangenschaft kehrte er nach Marburg zurück, wurde 1946 Direktor des Ökumenischen Seminars der Universität. 1950 heiratete er Brigitte von Boxberger, mit der er drei Kinder hatte. Viele Jahre wirkte Benz als Mitherausgeber der Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte (ZRGG), und seine vielseitigen Forschungen wurden durch die Verleihung mehrerer Ehrendoktorate gewürdigt. So erhielt er u.a. als erster evangelischer Theologe 1962 den D. theol. h.c. der orth.-theologischen Fakultät in Paris. Benz letzter wissenschaftlicher Assistent, der inzwischen auch emeritierte Konfessionskundler Erich Geldbach (Bochum), schreibt über die Vortragsweise seines Lehrers: „Hier dozierte ein Meister des Faches, der den Stoff nicht nur aus Büchern kannte, die er indes mit einigen Sätzen treffsicher zu charakterisieren verstand, sondern der durch Begegnungen und Reisen persönliche Erfahrungen vielfältigster Art mit dem Gegenstand seiner Vorlesungen gemacht hatte, ja die Vorlesung begann etwas später, weil er gerade von einer längeren Studien- und Forschungsreise zurückgekehrt war.“157 Am 29.12.1978 starb Ernst Benz in Meersburg. 157 Erich Geldbach: Ökumene und Religionswissenschaft: Ernst Benz, sein Werk und sein Vermächtnis. In: Udo Tworuschka (Hg.): Religion und Bildung als historische Forschungsfelder. FS für Michael Klöcker zum 60. Geburtstag, Köln, Weimar, Wien 2003, S.97–100, hier S. 97.

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2. Inhaltsangabe des Buches Aus dem großen Oeuvre von Ernst Benz greife ich eine ziemlich späte Publikation heraus, nämlich Neue Religionen(1971). Benz zählt zu den Pionieren im deutschsprachigen Raum, die sich mit dem Phänomen der Religionsneustiftungen überall in der Welt beschäftigt haben. Die Thematik fesselte ihn so sehr, dass er sogar eine groß angelegte neunbändige Reihe im Ernst-Klett-Verlag erscheinen lassen wollte. Doch dieses Vorhaben konnte Benz nicht mehr realisieren. Die Grundlage von Neue Religionen war eine 1969 ausgestrahlte zwölfteilige Hörfunkreihe im Bayerischen Rundfunk. Die einzelnen Kapitel des Buches sind jedoch nicht völlig identisch mit den Radiofolgen, sondern Erweiterungen und Optimierungen durch zwischenzeitlich neu gewonnene Erkenntnisse.

Mit Blick auf die groß angelegte Reihe meinte Benz, sich berechtigt zu fühlen, „im vorliegenden Einführungsband auf Anmerkungen verzichten zu können“ (13). Er kritisiert in seiner Einleitung die traditionelle text- und vergangenheitsorientierte Religionswissenschaft, die „zumeist nur an den Ursprungs- und Hochformen dieser Religionen interessiert [war]: an ihren kanonischen Texten und der Entwicklung ihrer Lehrsysteme, ihrer Liturgie, ihrer religiösen Kunst bis zur Erreichung ihres klassischen Höhepunktes, während die modernen Entwicklungen im Bereich der einzelnen Religionen eine weniger aufmerksame Beachtung finden und gegenüber den klassischen Ursprungsformen häufig als Verfallserscheinungen bewertet werden“ (7). Angesichts der Dynamik der neuen Religionen muss diese traditionelle Einstellung revidiert werden. Benz weist darauf hin, dass Europa schon immer religiös unproduktiv war und neue religiöse Impulse stets aus dem Osten bezog, insbesondere aus Asien. Den hinduistisch-islamischen Subkontinent Indien und seinen beträchtlichen Anteil an neuen Religionen unterschätzt Benz allerdings sehr: „Heute ist Indien, das ganz durch seine politischen und sozialen Probleme in Anspruch genommen ist, auf religiösem Gebiet weniger aktiv, wenngleich sich dort im 19. Jahrhundert mancherlei neue religiöse Lebensformen und Gemeinschaften gebildet haben“ (10f.). Dass es vor allem Religionen aus dem indischen Kontext waren, die als fälschlich so bezeichnete Jugendreligionen (TM, ISKCON u.a.) lange Zeit für gewaltige Aufregung sorgten, scheint Benz in dieser sehr frühen Phase der Beschäftigung mit den neuen Religionen noch nicht wahrgenommen zu haben. In Günter Lanczkowskis Die neuen Religionen(1974) werden einige dieser aus Indien herrührenden Religionen bereits thematisiert. In der geplanten und nicht realisierten Reihe übrigens wird im Band Indien nur Sri Aurobindo und sein Ashram in Pondicherry erwähnt. Dass sich Benz als Kirchen- und Dogmenhistoriker berechtigt fühlt, sich mit einem zunächst außerhalb seiner Venia liegenden Thema wie neue Religionen zu befassen, begründet er mit zwei Argumenten. Er weist auf seine Forschungsreisen in Japan und

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den USA hin, wo er „den stärksten Eindruck von dem Vorhandensein eines echten geistlichen Lebens und einer echten religiös fundierten sittlichen Verantwortung gerade von Persönlichkeiten und Gemeinschaften aus dem Bereich der Neuen Religionen erhalten [hatte].“ Benz stellte fest, dass zwischen den Neuen Religionen und den Kirchen ein Zusammenhang besteht, dass die neuen Religionen „häufig gerade dort sich ausbreiten, wo sich in der Mission und Aktivität der christlichen Kirchen und Aktivität der christlichen Kirchen charakteristische Lücken und blinde Flecken feststellen lassen. Die Gegenwartsgeschichte der christlichen Kirchen und die Geschichte der Entstehung und Ausbreitung der neuen Religionen hängen aufs engste miteinander zusammen“ (15). Das zweite Argumente greift einen Gedanken seines Lehrers Ernesto Buonaiuti auf, der über das Verhältnis der christlichen Kirche zu anderen Religionen gesagt hat: „So kann es heute wohl ein Erfordernis der christlichen Frömmigkeit sein, die Kirche zu verlassen und das Bewusstsein der Exterritorialität des Gottesreiches jeweils dort zu suchen, wo es sich gerade bildhaft darstellte“ (16). Benz stellt folgende Regionen mit ihren neuen Religionen dar: Japan, die vietnamesische Cao-Dai, den Aurobindo-Ashram im südostindischen Pondicherry, die BahaiReligion, den Peyote-Kult der nordamerikanischen Indianer, die Black Muslims. Benz greift auch eher Abseitiges auf, schreibt zum Beispiel ein eigenes Kapitel über Ufologie, „die Religion von den Planetariern und fliegenden Untertassen“ (113). Die letzten beiden Kapitel sind den Kargo-Kulten Neuguineas und Melanesiens sowie den messianischen Religionen in Afrika gewidmet. Benz’ Fähigkeit, sich nicht von den Materialmassen erdrücken zu lassen, sondern systematisch-stringent den Gegenstandsbereich zu erfassen, wird besonders am Kapitel über die japanischen Neureligionen deutlich. Hier arbeitet er folgende strukturellen Gemeinsamkeiten heraus: Berufung auf neue göttliche Offenbarung; Frauen als Offenbarungsträgerinnen; Zusammenhang von religiöser und leiblicher Heilung; sozialethische Orientierung; Mittelpunktstellung des religiöser Führers; volkstümlich-praktischer Grundzug; Fehlen einer komplizierten Theologie; laizistischer Charakter. Benz beschließt sein Buch mit Überlegungen zu zwei zentralen Fragen: „Sind die neuen Religionen überhaupt neu?“ (158) und „Sind die neuen Religionen überhaupt Religionen?“ (162). Die erste Frage bejaht er aus verschiedenen Gründen. Obgleich er weiß, dass es „völlig neue Religionen mit bisher unbekannten Formen religiöser Erfahrung, religiöser Anschauung und kultisch-liturgischer Darstellung nicht gibt“ (158), so stehen „neue Offenbarungen“ (159) im Zentrum der neuen Religionen. Charakteristisch ist ihr Anspruch auf universale Geltung und die Ambition, „in einem besonderen Sinn Antwort auf die religiösen Fragen zu geben“ (159). Neuartig sind auch die Bemühungen um „eine Art von Ökumene der Weltreligionen“ (160). Insbesondere für eine Gruppe von Religionen, „deren Konstitution mit dem Auftreten von messianischen Persönlichkeiten verknüpft ist“ (161) kommt der Charakter des Neuen zu.

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Die zweite Frage nach dem Religionscharakter der neuen Religionen, die besonders von Seiten der christlichen Mission bestritten wurde, bejaht Benz, weil er in den neuen Religionen nicht primär kommerzielle Bestrebungen wahrnimmt (wie vor allem in der erhitzten Debatte um die zu Unrecht sog. Jugendreligionen oder Jugendsekten geschehen), sondern „dass es ihnen um ein volkstümliches, neues religiöses Bewusstsein mit neuen religiösen Symbolen, mit eigenem Kultus und mit eigenen Sakramenten geht und dass sie mit einer neuen lebendigen, religiös fundierten Ethik ihr religiöses Leben in höchst aktiven neuen Gemeinschaftsformen realisieren, die zum großen Teil zur Errichtung neuer Städte, neuer Kultzentren und neuen Siedlungen führen“ (162).

3. Ausgewählter Quellentext Die Bedeutung der Religionswissenschaft

Einzelne Persönlichkeiten, die sich durch umfassende Kenntnisse mehrerer Weltreligionen auszeichnen, und die von dem guten Willen erfüllt sind, eine Überwindung der Gegensätze zwischen den Weltreligionen herbeizuführen, haben auch hier bereits im Sinne einer besseren gegenseitigen Verständigung innerhalb ihrer eigenen Religionsinstitutionen gewirkt und haben sich mit Persönlichkeiten aus anderen Religionen, die eine entsprechende Bereitwilligkeit zur Zusammenarbeit mitbringen und eine ähnlich weit reichende Kenntnis der Religionen aufzuweisen haben, zu einzelnen Tagungen versammelt und auch zu ständigen Institutionen zusammengeschlossen, um eine tiefer greifende geistige Annäherung zwischen den Religionen herbeizuführen und die Phase der blutigen Rivalitäten und der gegenseitigen Unterdrückung zu beenden. Es gibt eine ganze Reihe von Weltorganisationen, die aus solchen Bemühungen hervorgegangen sind: das World Parliament of Religions, die Community of Faith, die World Brotherhood usw. Allerdings ergibt sich hier auf dem Gebiet der Weltreligionen dieselbe Schwierigkeit, die zu Beginn der ökumenischen Bewegung auftrat. Es ist verhältnismäßig leicht, eine Begegnung und Verständigung zwischen einzelnen Vertretern der verschiedenen Weltreligionen herbeizuführen, von denen jeder für sich auf Grund seiner geistigen Voraussetzungen bereits zu einer Zusammenarbeit geneigt ist, und von denen jeder einzelne bereits den guten Willen und die innere Bereitschaft mitbringt, die verschiedenen streitenden Gruppen miteinander zu versöhnen. Selbstverständlich ist dies ein wichtiger und notwendiger Anfang. Aber hinter jeder einzelnen dieser Persönlichkeiten, die die Versöhnung und Zusammenarbeit der verschiedenen Religionen anstreben, steht ja jeweils eine bestimmte Institution mit ihren traditionellen Glaubenslehren, mit ihren überkommenen politischen und sozialen Rechten, mit ihrem institutionellen und wirtschaftlichen

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Schwergewicht, mit ihrem Macht- und Herrschaftsanspruch, mit ihren typischen Sozialstrukturen, mit ihrer traditionellen Lebensform, mit den amtlichen Vertretern der Religionsinstitutionen, mit ihren Massen von Gläubigen und mit ihren überkommenen Lebens- und Denkformen. Hier beginnt nun die besondere Aufgabe der Sachverständigen, eine Aufgabe, die ein hohes Maß von Geduld, Ausdauer und Mut erfordert, nämlich die Aufgabe, die überkommenen Urteile und Vorurteile zu überprüfen, in deren Licht die einzelnen Religionen ihre jeweiligen Nachbarreligionen betrachten, und denen sie die Maßstäbe ihres praktischen Verhaltens gegenüber diesen Nachbarreligionen entnehmen, die Aufgabe, eine bessere Kenntnis der Nachbarreligionen unter den Gläubigen ihrer eigenen Religion zu verbreiten, die Aufgabe, ihre eigenen Glaubensgenossen zu einer neuen Geistes-, Willens- und Gesinnungshaltung gegenüber den Nachbarreligionen zu ermutigen, einer Haltung, die den anderen ihr eigenes Recht auf ein religiöses Verständnis der transzendenten Grundlagen ihres Seins zubilligt und ihnen ihr Recht auf ihre eigene Form des religiösen Lebens, Denkens und Kultes zuerkennt. In unserer gegenwärtigen Epoche kommt dem Beitrag der vergleichenden Religionswissenschaft zu dieser Aufgabe eine besondere Bedeutung zu auf Grund der Tatsache, dass in den letzten Jahrzehnten wegen der politischen, ökumenischen und geistigen Entwicklung auf unserem Globus eine vollkommene Veränderung der religiösen Weltlage und der Beziehung der Weltreligionen untereinander eingetreten ist. 1. Es gibt heute auf der ganzen Welt kein einziges Land oder Gebiet mehr, in dem nur eine einzige Religion vorherrschend ist. Als Ergebnis der Ausbreitung der christlichen Mission und der Fluktuation der Weltbevölkerung in Verbindung mit den vor allem durch die beiden letzten Weltkriege herbeigeführten ökonomischen und politischen Veränderungen der Erdoberfläche gibt es heute kein Land oder Gebiet mehr, in dem nicht Menschen verschiedener Religionen zusammenleben und darauf angewiesen sind, miteinander zu leben und zu arbeiten, und in denen die friedliche Koexistenz verschiedener Religionen nicht von unmittelbarer Wichtigkeit sowohl für das öffentliche wie für das private Leben wäre. 2. Alle Mitglieder der in demselben Land oder Territorium zusammenlebenden Angehörigen der verschiedenen Religionsgruppen sind genötigt, an der Lösung derselben politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und pädagogischen Aufgaben ihres Landes mitzuarbeiten. Die meisten in den letzten Jahrzehnten gegründeten unabhängigen Staaten Afrikas und Asiens haben in ihrer Verfassung die Garantie der Religionsfreiheit und den Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat aufgenommen, so dass den Angehörigen der verschiedenen Religionen die gleichen bürgerlichen Rechte und Pflichten zugeteilt sind. Die Angehörigen der verschiedenen Religionen können sich nicht ihren öffentlichen Verpflichtungen entziehen und sind auf Zusammenarbeit mit Angehörigen anderer Religionen sowohl in ihrem täglichen Berufsleben wie auch im Bereich der po-

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litischen und Verwaltungstätigkeit ihres Landes angewiesen. Selbst in den wenigen Ländern, in denen eine einzelne Religion ausdrücklich als Staatsreligion anerkannt und mit bestimmten Vorrechten ausgestattet ist, ist es heute unmöglich, die neben der Staatsreligion überall existierenden religiösen Minoritäten von der verantwortlichen Teilnahme am politischen, sozialen und kulturellen Leben ihres Landes auszuschließen. Diese Zusammenarbeit im beruflichen Leben und diese gemeinsame Teilnahme an den öffentlichen Aufgaben und Institutionen schafft unter den Mitgliedern der verschiedenen Religionen eine neue Art täglicher Begegnung und veranlasst sie immer aufs neue, die traditionellen Schranken ihrer Religion zu überschreiten. Man braucht hier zum Beispiel nur an den täglichen Schulbesuch von Kindern verschiedener religiöser Herkunft zu denken, wie er in den meisten asiatischen Ländern heute üblich ist, da die meisten Erziehungseinrichtungen staatlich sind, und auch die Privatschulen der einzelnen Religionsgemeinschaften die Schüler anderer Religionsgemeinschaften zulassen müssen und die Ausübung eines Konfessionszwanges verboten ist. Dieses Zusammenleben von Angehörigen verschiedener Religionen reicht von der Volksschule bis zur Universität. Ebenso schafft das tägliche Zusammenleben von Mitgliedern verschiedener Religionen in der Industrie, in der Verwaltung, in der Armee, im diplomatischen Dienst eine neue Situation im Verhältnis der Religionen zueinander. Dieses tägliche Zusammenleben führt auch immer häufiger zu Eheschließungen zwischen Angehörigen verschiedener Religionen. So ergibt sich in allen Sphären des öffentlichen und privaten Lebens ein immer stärker um sich greifender bedeutsamer Wandel in der allgemeinen Haltung der Religionen zueinander. Ein neues Klima der Koexistenz macht sich bemerkbar. 3. Die Mitglieder der verschiedenen Religionen sind infolge ihres Eingespanntseins in die Wirtschafts- und Arbeitsmethoden der modernen westlichen Zivilisation demselben Einfluss der westlichen Zivilisation und Technik ausgesetzt. So verschieden auch die einzelnen Religionen auf die Erfordernisse der modernen technischen und wirtschaftlichen Zivilisation reagieren mögen, so stellt doch die Notwendigkeit, sich in diesen neuen Lebensverhältnissen zurecht zu finden, eine gemeinsame Anforderung ihres täglichen Lebens dar und nötigt sie, gemeinsam dieselben Lebensprobleme zu lösen und ihre religiösen Anschauungen mit dieser neuen Lebensform in Einklang zu bringen und sie von ihren religiösen Ideen her zu formen. Angesichts dieser neuen Beziehungen zwischen den Weltreligionen ergeben sich einige neue Aufgaben des Studiums der vergleichenden Religionswissenschaft. Diese Aufgaben sind allerdings nicht „neu“ in dem Sinn, dass man sie bisher noch nicht beachtet hätte, und es wäre nur ein Zeichen von Ignoranz, wenn man alle die Forschungsarbeiten übersehen wollte, die in dieser Richtung bereits unternommen und vorgelegt wurden. Es seien hier nur einige besondere Forschungsaufgaben hervorgehoben, die im Hinblick auf die oben geschilderte Situation besonders dringend erscheinen:

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1. Die Forschung auf dem Gebiet der Religionsgeschichte hat sich bisher in einer durchaus verständlichen Weise vor allem auf das Studium der klassischen Urformen der großen Weltreligionen gerichtet. Die Forscher der Religionswissenschaft in ihrem bisherigen traditionellen Verständnis und auch die Erforscher der orientalischen Sprache und Geschichte, soweit sie sich mit Problemen der Religionsgeschichte befassten, denken meistens in einem festen Schema der Religionsgeschichte. Dieses Schema geht davon aus, dass es einige klassische Formen und Urtypen der großen Weltreligionen gibt, deren Wesen man am besten erfasst, wenn man sie in ihrer ursprünglichen Form, in ihren ältesten Texten, in ihren frühesten Monumenten, in ihren frühesten Repräsentanten ihrer Frömmigkeit und in den ältesten Typen ihres Gottesdienstes erfasst. Diese Begrenzung auf die klassischen Haupttypen der Religionen und ihrer Urkunden verkennt jedoch das unbestreitbare Faktum, dass die Religionsgeschichte weitergeht und fortfährt, sich in einer großen Mannigfaltigkeit weiterzuentwickeln. Die Religionsgeschichte ist nicht mit der Schaffung der alten Haupttypen von Weltreligionen abgeschlossen, und die großen Weltreligionen haben sich ebenso wenig wie das Christentum damit abgefunden, in ihrer ursprünglichen Form unverändert zu verharren. Sie alle haben eine erstaunliche Vielgestaltigkeit ihrer Entwicklung durchgemacht, innerhalb derer die mannigfachsten Formen der religiösen Erfahrung und des religiösen Bewusstseins ihren Ausdruck gefunden haben. Alle asiatischen Hochreligionen haben in ähnlicher Weise wie das Christentum selbst immer neue Sekten und Schulen im Verlauf ihrer historischen Entwicklung hervorgebracht und haben sich in den mannigfachsten Arten an die nationalen und politischen Strukturen angepasst, die im Verlauf ihrer Geschichte in ihrem Lebensbereich hervorgetreten sind. Diese neuen Schulen und Sekten stellen neue Formen des religiösen Bewusstseins und der religiösen Ethik dar, die zum Teil selbst die Form einer neuen Religion angenommen haben. 2. Alle großen Religionen haben sich in einem bisher noch kaum erfassten Maße gegenseitig beeinflusst und verändert, wo immer und wann immer sie miteinander in geschichtliche Berührung kamen. Die verschiedenen Schulen und Sekten der einzelnen Religionen sind häufig aus einer solchen neuen gegenseitigen Berührung und Durchdringung der älteren Religionen hervorgetreten. Nachdem der Islam seinerseits ein beträchtliches Erbe des Christentums in seine Lehre, seine Frömmigkeit und seine Kultformen aufgenommen hat, hat er den Herrschaftsbereich des Hinduismus auf dem indischen Subkontinent betreten und hat dort unter dem Einfluss des Hinduismus neue Religionsausdrucksformen, Andachtsformen und Gemeinschaftsformen geschaffen. Aber auch im Hinduismus sind neue Religionsgestaltungen hervorgetreten. Sie geben sich teilweise als Reformbewegungen aus, nehmen aber auch teilweise den Charakter einer selbständigen Religion an, wie dies im Jainismus der Fall ist. Die Sikh-Religion hat sich in Indien als eine Mischreligion zwischen Hinduismus und islamischer Tradition gebildet. Der Buddhismus, der zuerst im 5. vorchristlichen Jh. vom indischen Bo-

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den aus als eine Reformbewegung des Hinduismus hervortrat und der später aus Indien durch die brahmanische Reaktion und das Vordringen des Islams vertrieben wurde, hat selbst eine große Vielgestaltigkeit an Schulen hervorgebracht und hat bis zum heutigen Tage immer neue Formen der religiösen Erfahrung, des religiösen Bewusstseins und religiöser Sozialformen ins Leben gerufen, die sich teils als buddhistische Schulen und Sekten bezeichnen, teils aber auch als „Neue Religionen“ ins Leben traten. 3. Das Christentum selbst hat nicht wenig zu der weiteren Entwicklung der nichtchristlichen Religionen beigetragen. Der missionarische Angriff des Christentums hat zu einer Intensivierung der Tätigkeit dieser Religionen beigetragen, ein Phänomen, das sich sowohl auf asiatischem wie auf afrikanischem Boden beobachten lässt. Gerade die asiatischen Hochreligionen haben einige Methoden der Erneuerung ihres geistigen und sozialen Lebens von der christlichen Mission übernommen. Der Buddhismus wie der Hinduismus haben zum Teil die christliche Praxis der Sonntagsgottesdienste und Sonntagsschulen eingeführt, obwohl für sie der Sonntag keinerlei religiöse Bedeutung in ihrem Festkalender hat, und haben von der christlichen Mission entwickelte Methoden der religiösen Erziehung auf ihre eigenen Religionen angewandt. Ebenso sind moderne buddhistische und hinduistische Laien- und Jugendorganisationen und zahlreiche soziale Institutionen nach dem Modell christlicher Organisationen und Institute geschaffen worden, die im Zusammenhang mit der christlichen Mission in die betreffenden Länder eingeführt wurden. Der Buddhismus hat unter dem Einfluss der angelsächsischen christlichen Mission auf asiatischem Boden seinerseits gelernt, die sozialen Ideen des Buddhismus wiederzuentdecken, stärker zu betonen und die entsprechenden sozialen Einrichtungen zu schaffen. Aber dieser Wandel unter dem Einfluss des Christentums ist nicht auf die institutionelle Seite der alten Religionen beschränkt. So kann man etwa im Neo-Hinduismus feststellen, dass sich dort in der Auseinandersetzung mit den christlichen Missionen und unter dem Einfluss der christlichen Theologie ein monotheistisches Verständnis der Religion, eine personalistische Auffassung von Gott, eine neue Bewertung der Wirklichkeit dieser Welt und eine neue Auslegung des „tat tvam asi“ im Sinn einer sozialen Verantwortung gegenüber unserem Nächsten durchgesetzt hat. Die Geschichte dieser gegenseitigen Beeinflussung der koexistierenden Religionen untereinander ist bis jetzt noch kaum studiert worden. Selbstverständlich sind in der bisherigen Forschung bereits viele Formen der gegenseitigen Durchdringung der Religionsideen, Frömmigkeitsformen und Kultformen auf den verschiedenen Gebieten der Weltreligionen bemerkt und dargestellt worden, aber das Phänomen selbst, sein kontinuierliches Auftreten und seine Bedeutung als ein Element der Orientierung für eine bessere gegenseitige Verständigung und für eine bessere Form der Zusammenarbeit sollte in einem breiteren Zusammenhang und in seiner allgemeinen Bedeutung geschaut und kritisch dargestellt werden.

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Auf diesem Feld zeichnen sich schon hervorragende moderne Forschungen ab, so etwa die Arbeit von Prof. Annemarie Schimmel über die Geschichte der Religionsbeziehungen zwischen Islam und Hinduismus auf indischem Boden.158 Derartige Studien sollten fortgesetzt und auf andere Gruppen und Gebiete der Koexistenz der Weltreligionen ausgedehnt werden, wobei nicht nur neue methodische Wege beschritten, sondern auch neue Gesichtspunkte und Fragestellungen ermittelt werden müssten. Derartige Studien könnten eine bessere Vorstellung davon ermöglichen, welche Möglichkeiten einer Koexistenz von Religionen schon bisher praktisch realisiert wurden, wo die kritischen Punkte in dem gegenseitigen Verständnis oder Missverständnis der koexistierenden Religionen liegen, warum derartige Versuche einer Koexistenz zusammen-brachen und versagten, wo in früheren Epochen bestimmte Formen der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Religionen schon mit Erfolg erprobt wurden, welche Typen der Koexistenz sich als mögliches Modell für die Zukunft erweisen könnten, welche Voraussetzungen ihnen zugrunde liegen, wo und mit welchen Mitteln unsere Bemühungen heute wieder ansetzen müssten, und welche Fehler heute vermieden werden sollten. Bei einer solchen Erforschung der Geschichte der Koexistenz der Religionen würde sich vermutlich herausstellen, dass die bisher erprobten historischen Formen von Koexistenz der Weltreligionen sehr viel zahlreicher und verbreiteter waren und die verschiedenen Schichten des religiösen Lebens sehr viel tiefer durchdrangen als die Apologeten der einzelnen religiösen Institutionen bereit sind zuzugeben. 4. Ebenso wäre es empfehlenswert, neben den klassischen Urformen der großen Weltreligionen intensiver die späteren Entwicklungsstufen, vor allem die modernen Formen und Ableger dieser Religionen zu studieren, die von der traditionellen Religionswissenschaft mehr oder weniger als Produkte einer Entartung der ursprünglichen klassischen Typen beurteilt werden. Dieses Urteil ist in keiner Weise zutreffend. Es ist dringend erforderlich, gerade die modernen Reformbewegungen, Schul- und Sektenbildungen der klassischen Religionen sorgfältiger zu studieren. In den meisten Fällen sind diese modernen Reformbewegungen ihrerseits das Ergebnis einer Begegnung oder Koexistenz mit anderen Religionen. Sie setzen auch, was die neuen und neuesten Schulen und Sekten betrifft, bereits den Einfluss der modernen westlichen Welt und die Konfrontation mit ähnlichen Aufgaben sowohl auf dem Gebiet der Lehre als auch auf dem Gebiet der persönlichen und sozialen Ethik voraus. 158 Sie referierte hierüber auf dem Kongress in Claremont (und zwar ebenso wie der Verfasser im Rahmen des Symposions „Historical Scholarship as a Factor in Relations among Religions today“); vgl. auch ihre Artikel ‚Shah Abdul Latif von Bhit‘ und ‚Die Gestalt Satans in Muhammad Iqbals Werk‘ in Kairos 1961, S. 207–216, bzw. 1963, S. 124–137; ebenso auch die beiden Rezensionen in Kairos 1966, S. 272 f. und 299.

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5. Die Tatsache, dass die Religionsgeschichte weitergeht, wird vor allem daran deutlich, dass sich gerade in den Gebieten, in denen die am besten organisierten Institutionen der alten Religionen sich am Leben erhalten haben, neue Religionen bilden, selbst vor den Augen und auf dem Gebiet der christlichen Mission. Dies ist vor allem in Japan der Fall, wo eine Reihe höchst bedeutsamer neuer Religionen seit Beginn des vorigen Jahrhunderts, vor allem aber seit den beiden letzten Weltkriegen, hervorgetreten sind und einen großen Einfluss auf das private und öffentliche Leben des Landes ausüben. Das gleiche Phänomen findet sich aber auch in Südamerika, Indonesien und Afrika. Diese neuen Religionen sind deswegen bemerkenswert, weil sie sich zum Teil ihrem eigenen Anspruch nach auf neue Offenbarungen begründen – einige von ihnen auf Offenbarungen in Gestalt einer neuen Inkarnation Gottes in der Person ihres Gründers oder ihrer Gründerin – und weil sie eine Reihe von sittlichen Lehren der alten Religionen, die von diesen vernachlässigt wurden, in ihrer Sozialethik mit neuem Nachdruck verwirklichen. Neben solchen neuen Religionen, die sich auf eine neue Offenbarung begründen, ist eine Reihe von anderen neuen Religionen hervorgetreten, die wie die Caodai-Religion in Vietnam und die Bahai-Religion bewusst die Lehre und die Sittenvorschriften verschiedener alter Religionen übernehmen und von sich behaupten, die Integration aller früheren historischen Religionen darzustellen. Diese neuen Religionen sind gleichfalls das Produkt der Koexistenz verschiedener Ideen und Forderungen der früheren Religionstypen, deren Erfüllung von den alten Institutionen praktisch nicht eingelöst wurde, und die nunmehr nach ihrer Realisierung innerhalb dieser neuen Typen religiöser Gemeinschaften drängen. Gerade diese neuen Religionen und ihr Zustandekommen auf Grund der Koexistenz und des Aufeinanderwirkens der alten Religionen, ihrer Verwurzelung in den alten Religionen und die Motive ihrer Loslösung von ihnen sollten einen besonderen Gegenstand vergleichender religionsgeschichtlicher Studien bilden, dessen Behandlung zu einem besseren gegenseitigen Verständnis der Religionen heute beitragen würde. 6. Schließlich aber genügt es nicht, die genannten besonderen Probleme, die mit der Koexistenz der Weltreligionen verknüpft sind, zu studieren und in gelehrten Spezialuntersuchungen vorzulegen. Die Ergebnisse solcher Studien sollten nicht den wenigen Forschern der vergleichenden Religionsgeschichte oder der orientalischen Studien vorbehalten bleiben, sondern sollten in das allgemeine Bewusstsein der verschiedenen religiösen Korporationen hineingetragen werden. Dies ist wohl die schwierigste Aufgabe. Auch im Bereich der ökumenischen Bewegung hat es sich erwiesen, wie schwierig es ist, die Ergebnisse der ökumenischen Studienkommissionen dem Bewusstsein der Angehörigen der einzelnen Konfessionen zugänglich zu machen und in den einzelnen Kirchen eine praktische Neuorientierung in der Beurteilung der koexistierenden

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christlichen Nachbarkonfessionen herbeizuführen. Hier muss eine riesige Aufklärungs- und Erziehungsarbeit innerhalb der religiösen Institutionen einsetzen. In der gegenwärtigen Situation brauchen die Spezialforscher der vergleichenden Religionswissenschaft nicht mehr nur mit einem verhältnismäßig kleinen Publikum von interessierten Lesern zu rechnen. Die Verbreitung der heiligen Texte der nichtchristlichen Hochreligionen und ihrer Darstellung durch hervorragende Fachgelehrte in Form von billigen Taschenbuch-Ausgaben in Massenauflagen hat bereits zu einer spürbaren Wendung in der gegenseitigen Kenntnis und Beurteilung der Religionen beigetragen. Die große und bisher noch kaum gelöste Aufgabe ist, das Ergebnis der Forschungs- und Studienarbeit der Forscher der Religionswissenschaft noch intensiver in das Bewusstsein der verschiedenen religiösen Gruppen einzuführen, eine Umwandlung der emotionalen und intellektuellen Haltung der einzelnen Religionsgemeinschaften und des einzelnen Gläubigen gegenüber ihren koexistierenden Nachbarreligionen und Nachbarn herbeizuführen, ein neues Klima eines kooperativen Denkens und Fühlens zu schaffen und so von den kühlen und manchmal vergletscherten Gipfelkonferenzen der Gelehrten herabzusteigen in die von Menschen bewohnten Täler einer wirklichen Gemeinschaft des Geistes.

4. Fragen zum Text 1. Informieren Sie sich über das World Parliament of Religions, Community of Faith, World Brotherhood. Für welche Ziele stehen die einzelnen Weltvereinigungen? 2. Hat die Religionswissenschaft überhaupt die Aufgabe, zur „Koexistenz der Weltreligionen heute“ beizutragen? Oder liegt diese Aufgabe außerhalb ihres Bereiches und sollte von den Theologen der jeweiligen Religionen wahrgenommen werden? 3. Was halten Sie von der Rolle des „Sachverständigen“, die Benz dem Religionswissenschaftler zubilligt? Welchen Problemen ist er eventuell ausgesetzt? Spielen Sie ein Spiel mit verteilten Rollen: Vertreter einzelner Religionen, Religionswissenschaftler. 4. Informieren Sie sich über Prof. Annemarie Schimmel, ihre Veröffentlichungen und Ehrungen.

5. Würdigung

Der langjährige Professor für Kirchen- und Dogmengeschichte an der Philipps-Universität in Marburg war ein herausragender Kenner der gesamten Christentumsgeschichte.

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Zu nennen sind hier seine auf Anregung von Ernesto Buonaiuti entstandenen Studien über die franziskanische Reformation („Ecclesia spiritualis“), einige grundlegende Werke über die Orthodoxie, Schriften über die christliche Kabbala und die Studie über „Die protestantische Thebais. Zur Nachwirkung Makarios des Ägypters im Protestantismus des 17. und 18. Jahrhunderts in Europa und Amerika“(1963). Benz schrieb über das Bischofsamt im deutschen Protestantismus, nahm Stellung zu Paul Lafargues Schrift Das Recht auf Faulheit (1848) und entwickelte eine eigene Theologie der Faulheit. Über die Pfingstbewegung in Amerika schrieb er: „Die Pfingstbewegung, die es tatsächlich in einem unmittelbaren Zusammenhang und in einer auffälligen Gleichzeitigkeit mit den charismatischen Bewegungen in Nordamerika und England a u c h in Deutschland gab, (hat) bei uns eine doppelte, fast totale Verdrängung erfahren. Einmal ist diese Bewegung aus dem Bewusstsein des deutschen Landeskirchentums sofort mit allen Mitteln dadurch verdrängt worden, dass man sie als ein sektiererisches Randphänomen erklärt und seine Bedeutung von den ersten Anfängen an bewusst propagandistisch abgewertet hat. Damit hat man bereits die faktische Kenntnisnahme von dem Auftreten dieser Bewegung, geschweige denn die geistliche Anerkennung der Bewegung verhindert“.159 Häufiger griff Benz Themen im Überschneidungsfeld von Theologie und Naturwissenschaft auf, zum Beispiel in „Theologie der Elektrizität. Zur Begegnung und Auseinandersetzung von Naturwissenschaft und Theologie im 17. und 18. Jahrhundert“ (1970). Benz schrieb über den „Philosophen von Sanssouci im Urteil von Theologen und Philosophen seiner Zeit. (Oetinger, Tersteegen, Mendelssohn)“, den „Übermenschen“, die Endzeiterwartung sowie ein imposantes, außerordentlich materialreiches Werk über „Die Vision“ (1969). Dies war der erste Band einer Reihe über die christlichen Charismen (Gnadengaben), die nicht mehr vollendet werden konnte. Darüber arbeitete sich Benz immer stärker in das Gebiet der allgemeinen Religionsgeschichte ein, wobei sein Schwerpunkt auf den gelebten Gegenwartsreligionen lag. Er wusste sich der Tradition des Marburger Theologen Rudolf Otto verbunden, hob das immer wieder hervor. Eine seiner bedeutendsten Schriften im Grenzbereich von Theologie/Religionswissenschaft waren die in der Mainzer Akademie der Wissenschaften erschienenen „Ideen zu einer Theologie der Religionsgeschichte“ (1960). Sein besonderes Interesse unter den Religionen galt den ostasiatischen und indischen Religionen, vor allem dem (Zen-)Buddhismus und Hinduismus. In seiner kleinen Schrift „Zen in westlicher Sicht“ (1962) führte er den Begriff des „religiösen Snobismus“ ein für ein Phänomen, das nach seiner Einschätzung in allen Jahrhunderten auftrat, „in denen die christliche Kultur des Abendlandes mit nichtchristlichen Religionen in Verbindung kam“ (69). Benz zeichnete die Linie des christlichen Snobismus nach, um am Ende dieser Linie den „Zen-Snobismus“ zu platzieren. 159 Ernst Benz: Der heilige Geist in den USA, Düsseldorf 1970, S. 244–46.

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„Er ist ein Kind einer Zeit, in der das Christentum in den Kreisen, die der Zen-Mode huldigen, schon fast keine Rolle mehr spielt, in der der religiöse Snobismus völlig risikolos geworden ist. Der Zen-Snobismus ist fast ausschließlich in unkirchlichen Kreisen zu Hause, ja man kann sagen, er hat nicht mehr eine wirkliche Religion abgelöst, sondern die ihrerseits bereits zum Religionsersatz gewordene Psychotherapie. Nachdem die Psychoanalyse ihrerseits zu einer Art Volksreligion geworden ist und alle Welt zum Psychoanalytiker läuft, legt der Snob Wert darauf, nicht mehr zu sagen: Mein Psychoanalytiker sagt… sondern: Mein Yogi sagt… oder: Mein Zen-Meister sagt… Außerdem ist Zen auch in seiner äußeren Form – auf die es ja vor allem ankommt – ungewöhnlich fesch“ (74). Benz lernte diese Religionen anlässlich einer Gastprofessur in Japan, die mit einer längeren Studienreise durch südostasiatische Länder verknüpft war, intensiver kennen. Frucht dieser Studienreise waren zwei auch heute noch sehr lesenswerte Bücher: „Buddhas Wiederkehr und die Zukunft Asiens“ (1963) gehörte zu den ersten Abhandlungen über die buddhistische Renaissance, die Entwicklung des politischen, sozialen und kulturellen Selbstbewusstseins der Länder Südostasiens. Benz ging dieser Wiederbelebung des Buddhismus in Indien, Ceylon (Sri Lanka) und Burma (Myanmar) nach, charakterisierte die buddhistische Ökumene, vermittelte wertvolle Einblicke in die Sozial- und politische Ethik, thematisierte den höheren Bildungsbereich und interessierte sich für Fragen von Buddhismus und moderner Wirtschaft. Ein großes Kapitel behandelte die Lage des Buddhismus in der damaligen Sowjetunion und China. Seine zweite Veröffentlichung „Asiatische Begegnungen“ aus demselben Jahr ist ein faszinierender Reisebericht vor allem durch Japan, aber auch Indien. Benz war ein guter Beobachter, ein neugieriger Wissenschaftler und ein glänzender Stilist, der Menschen, Tempel und Natur bildhaft und einprägsam beschrieb. Religionswissenschaftlich aufschlussreich waren seine Beobachtungen des Reis-Gottes vom Inari-Schrein (51–73), seine Beobachtungen zum japanischen religiösen Film (73–85), seine längere Beschreibung des esoterischen Tendai-Buddhismus (86–126) und seine einfühlsame Beschreibung des japanischen No-Theaters (127–169). Im Kapitel über Indien sind vor allem die „Gespräche im Aurobindo-Ashram“ (262–301) lesenswert, auch sein Abschnitt über „Kalakshetra – getanzte Theosophie“ (248–261). Eingangs beschäftigte sich Benz mit Fragen des religionsgeschichtlichen Verstehens. Überaus wertvoll sind Benz’ Eindrücke von der auditiven Dimension japanischer Religionen. Damit gehört Benz zu den ersten Religionswissenschaftlern, die Religion/en nicht bloß visuell, durch das Auge, wahrnahmen, sondern dem Hören und Horchen große Bedeutung beimaß. Sehr lesenswert ist heute noch seine „Beschreibung des Christentums“ (1975), im Untertitel als „eine historische Phänomenologie“ bezeichnet. Unter Verzicht auf theologischen und religionswissenschaftlichen Jargon präsentiert Benz einen umfassenden systematischen und historischen Einblick in das Christentum. Die kompakte Darstel-

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lung gliedert sich in vier Hauptkapitel: Teil 1: „Das Selbstverständnis des Christentums“. Hier geht es um Geschichtsanschauung, Verhältnis zum Judentum, zu hellenistischen Kultur, zur Welt, um die missionarische Aktivität, um das Christentum als „Lebensform“ und um Probleme des christlichen Selbstverständnisses nach der Aufklärung. Kapitel 2 stellt die „Grundgedanken des christlichen Glaubens“ dar, Teil 3 „Die Kirche“ und Teil 4 „Die christlichen Kirchen und ihre Umwelt“. Mit dem Gespür für Wesentliches diskutiert Benz Fragen von Erziehung, Seelsorge, Kultur, das Verhältnis des Christentums zu „Ehe, Familie und Sexualität“, zur Natur. Es wäre kein Buch von Benz, wenn nicht auch das esoterische Christentum und die Beziehungen zu den, wie man damals theologisch sagte, nicht-christlichen Religionen behandelt würden. Benz’ Sicht auf Christentum und Religion/en war von Anfang an ökumenisch ausgerichtet. In seinen Schriften ging es ihm um vergessene, verschollene, verketzerte Gestalten, Bewegungen, um die „nebenkirchlichen Verwirklichungen des Christentums“.160 Diese Sicht führte ihn dazu, für eine offene, nach Kräften vorurteilsfreie Begegnung des Christentums mit anderen, auch neuen Religionen einzutreten. „Die innerchristliche ökumenische Bewegung hatte für Benz Modellcharakter für die Koexistenz und Konvivenz der Religionen im Allgemeinen. Das in der christlichen Ökumene Erreichte lässt sich zwar nicht einfach auf die Weltreligionen übertragen; denn vordergründig scheinen die Religionsgegensätze zum Wesen der Selbstbehauptung der Religionen zu gehören, weshalb es bis in unsere Tage immer wieder zu Ausbrüchen von Hass und Terror im religiösen Gewande kommt. […] Benz wollte sich aber diesem Pessimismus nicht beugen. Vielleicht, so war seine Hoffnung, könnte es ja gelingen, durch eine vergleichende Religionswissenschaft den Rivalitätskampf zwischen den Weltreligionen zu einer friedlichen Koexistenz der Religionen umzusteuern, so wie es der Ökumenik gelungen war, innerhalb weniger Jahre ein Miteinander der Kirchen zu gestalten. Benz sprach die Hoffnung aus, dass historische Studien über das Zusammenleben der Religionen mehr gelungene Modelle an den Tag bringen würden als die Apologeten der einzelnen religiösen Institutionen zugeben möchten. In Analogie der Ökumene der Kirchen strebte er daher eine Ökumene der Religionen an. Sowie die Ökumene der Kirchen Vorurteile und Urteile der Vergangenheit hinter sich gelassen und zu einer Annäherung beigetragen hatte, so erhoffte sich Benz, dass die Ökumene der Religionen ein ähnliches Ergebnis zeigen würde, so dass sich der Kampf der Zivilisationen gegeneinander erübrigen würde. Hier liegt wohl die eigentliche Triebfeder des großen und imposanten Werkes des Marburger Gelehrten, und zugleich hat er damit ein noch längst nicht eingelöstes Vermächtnis für die Religionswissenschaft hinterlassen.“161 160 Geldbach, a.a.O., S. 98. 161 Ebd., S. 100.

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6. Weiterführende Arbeitsaufgaben 1. Man kann Ernst Benz als Vertreter einer Praktischen Religionswissenschaft betrachten. Wie sieht es mit der Realisierung der in Nr. 3 (Ausgewählter Quellentext) genannten Forschungsaufgaben aus? 2. Informieren Sie sich über die Probleme der christlichen Ökumene und reflektieren Sie über den Gedanken, ob die christliche (kleine) Ökumene Vorbildcharakter für die große Ökumene, die Koexistenz der Religionen, haben kann. 3. Benz war ein weit gereister Wissenschaftler. Wie verhält sich dies bei namhaften deutschen Religionswissenschaftlern des 20. Jahrhunderts? 4. Informieren Sie sich über die Disziplin Interreligiöse Theologie und ihre Schnittstellen zur Praktischen Religionswissenschaft.

7. Auswahlbibliographie Primärliteratur

Marius Victorinus und die Entwicklung der abendländischen Willensmetaphysik, Stuttgart 1932. Ecclesia spiritualis, Stuttgart 1934. Der vollkommene Mensch nach Jakob Böhme, Stuttgart 1937. Nietzsches Ideen zur Geschichte des Christentums, Stuttgart 1938. Swedenborg als geistiger Wegbereiter der deutschen Romantik und des deutschen Idealismus, Leipzig 1940. Bischofsamt und apostolische Sukzession im deutschen Protestantismus, Stuttgart 1953. Geist und Leben der Ostkirche, Hamburg 1957 (3. durchges. u. verb. Auflage 1988 München). Zen in westlicher Sicht. Zen-Buddhismus – Zen-Snobismus, Weilheim/Obb. 1962. Asiatische Begegnungen, Düsseldorf, Köln 1963. Buddhas Wiederkehr und die Zukunft Asiens, München 1963. Die Vision. Erfahrungsformen und Bilderwelt, Stuttgart 1969. Der Heilige Geist in Amerika, Düsseldorf 1970. Neue Religionen, Stuttgart 1971. Der Philosoph von Sans-Souci im Urteil der Theologie und Philosophie seiner Zeit Wiesbaden, Mainz 1971. Geist und Landschaft, Stuttgart 1972 Das Recht auf Faulheit oder das friedliche Ende des Klassenkampfes, Stuttgart 1974. Beschreibung des Christentums. Eine historische Phänomenologie, München 1975. Außerirdische Welten. Von Kopernikus zu den Ufos, Freiburg i. Br. 1978 (19902).

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Sekundärliteratur

Geldbach, Erich: Ökumene und Religionswissenschaft: Ernst Benz, sein Werk und sein Vermächtnis. In: Udo Tworuschka (Hg.): Religion und Bildung als historische Forschungsfelder. FS für Michael Klöcker zum 60. Geburtstag, Köln, Weimar, Wien 2003, S. 97–100. Glaube – Geist – Geschichte. Festschrift für Ernst Benz zum 60. Geburtstag am 17. November 1967, hg. von Gerhard Müller und Winfried Zeller, Leiden 1967 (dort Bibliographie, S. 545–572). Religionen, Geschichte, Ökumene. In memoriam Ernst Benz, hg. von Rainer Flasche und Erich Geldbach, Leiden 1981. Schoeps, Julius H.: Ernst Benz (1907–1978). Zum 100. Geburtstag des Marburger Religionshistorikers. In: ZRGG 60 (2008), S. 83 f.

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15. Mircea Eliade (1907–1986) 1. Biografie

Mircea Eliade wurde am 13. März 1907 in Bukarest geboren. Der eher mäßige Schüler interessierte sich für Entomologie (= Biologie, Lebensweise und Faunistik von Schmetterlingen, Käfern, Bienen, Wespen und Wanzen), Zoologie, Botanik, Chemie, auch Alchemie und hatte große Lust an der Schriftstellerei. Durch seine regelmäßigen Veröffentlichungen in einer populärwissenschaftlichen Zeitschrift machte sich der „kurzsichtige Jüngling“ (so der Titel seines ersten, autobiographischen Romans, posthum veröffentlicht) und Bücherwurm einen Namen. Eliade charakterisierte sich selbst als narzisstisch und schwermütig. Der 16jährige Schüler begann sich zunehmend weniger für Naturwissenschaften zu interessieren. Stattdessen standen Esoterik und antike Geheimlehren im Fokus, und er empfand eine „fast mythische Bewunderung für den alten Orient“ („Erinnerungen“). Eliades antipositivistische Einstellung wird deutlich an seinem existentiellen Interesse für Theosophie, Okkultismus, Telepathie, Levitation sowie für Anthroposophie. Seine Neigung, Träume zu deuten und an Vorzeichen zu glauben, ging bis in seine Schulzeit zurück. In Bukarest studierte er 1925–1928 vor allem bei dem unkonventionellen Philosophen Nae Ionescu (1890–1940). Dieser Charismatiker begeisterte mit der Idee einer Erneuerung auf religiös-orthodoxem Boden eine Generation von Studierenden. Diese scharten sich um die nationalistische Zeitschrift Cuvântul („Das Wort“), wo Eliade nach einem Jahr Bekanntschaft mit Ionescu als Redakteur arbeitete. Ihn faszinierte als Ionescu-Jünger dessen erfahrungs- und erlebnisorientierter Ansatz sowie seine antipositivistische und antiszientistische Ausrichtung. 1927 begründete Eliade die so genannte Generation, einen Kreis junger Schriftsteller, Musiker, Maler und Bildhauer. Er inspirierte sie vor allem durch seine 12-teilige Zeitungsserie Geistiges Itinerarium (Itinerarium spiritual). In diesen Artikeln engagierte sich Eliade für die Erneuerung des rumänischen Kulturlebens, trat für den Gedanken der sein späteres

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Werk beherrschenden Synthese ein, pries Mystik und orthodoxe Spiritualität als das authentische Christentum und Heilsweg, setzte sich für die Schaffung geistiger Werte ein und sprach der Kultur Rumäniens welthistorische Bedeutung zu. Eliade schloss seine akademische Ausbildung mit einer Magisterarbeit über „Beiträge zur Erforschung der Renaissancephilosophie“ (1928) ab. Zu Italien hatte er eine besondere Beziehung, und bis zu seinem Lebensende besuchte er dieses Land immer wieder gern. Er lernte den Schriftsteller Giovanni Papini (1861–1956) kennen, den Religionshistoriker Raffaele Pettazzoni (allerdings erst 1949) und den modernistischen katholischen Theologen Ernesto Buonaiuti (1881–1946). Anlässlich seiner zweiten Italienreise beschäftigt er sich mit indischer Alchemie und traditioneller tibetischer Medizin. Die Auseinandersetzung mit dem Tantrismus ließ ihn mit dem indischen Philosophen Surendranath Dasgupta (1887–1952), Autor einer fünfbändigen History of Indian Philosophy (1922–1955), Kontakt aufnehmen. Finanziell unterstützt von einem Maharadscha, begann Eliade am 22. November 1928 nach Indien zu reisen, um bei Dasgupta bis 1931 indische Philosophie zu studieren. Dieser Indienaufenthalt bildete die Grundlage seiner Promotion (1933) über Yoga – mit der ursprünglich englisch verfassten, dann in das Rumänische übersetzten und schließlich auf Französisch erschienenen Dissertation „Yoga. Essai sur les origines de la mystique indienne“. Das Indienabenteuer inspirierte auch seinen autobiographischen Roman „Das Mädchen Maitreyi“ (1933). Im Anschluss an seine Indienreise, Ende 1931, beschäftigte sich Eliade intensiv mit rumänischer Ethnologie (Folkloristik) und folgte damit dem damals großen Interesse rumänischer Intellektueller an diesem Thema. Erst 1949 („Kosmos und Geschichte“), das den archaischen Menschen thematisierte, und 1970 („Von Zalmoxis zu DschingisKhan) griff er die volkskundlichen Themen wieder auf. Die 1930er Jahre waren in Rumänien durch gewaltsame politische Auseinandersetzungen zwischen der Regierung und der christlich-faschistischen Eisernen Garde gekennzeichnet. Eliade gründete in dieser hektischen Phase die Gruppe Criterion. Diese nahm in öffentlichen Veranstaltungen Stellung zu Gegenwartsfragen, indem sie möglichst entgegengesetzte politische Lager zur Teilnahme einlud. Von 1934–1938 war Eliade wissenschaftlicher Assistent Nae Ionescus an dessen Lehrstuhl für Logik im Philosophischen Seminar der Bukarester Universität, übernahm zum Teil dessen Lehrveranstaltungen. Das enge Lehrer-Schüler-Verhältnis führte zu einer tiefen Verbundenheit. Sie äußerte sich im Engagement Eliades für antisemitische, rechtsextreme politische Bewegungen bis zum Publizieren in rechten Zeitschriften. Zwischen 1935 und 1945 sympathisierte Eliade mit der faschistischen Eisernen Garde, unterstützte sie aktiv in Wahlkämpfen. Da Eliade eigentlich ein unpolitischer Mensch war, war dieses späte Zugeständnis der politischen Sympathie der

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engen Freundschaft mit Nae Ionescu geschuldet. Eliades religiöses Weltbild erhielt wesentliche Konturen durch Nae Ionescus Prämissen: Für Ionescu bedeutete die Renaissance die entscheidende Trennlinie zwischen dem einst theozentrischen und dem anthropozentrischen Weltbild. Die Menschheit (Christenheit) stürzte dadurch in eine Krise. Nur durch eine Rückkehr zum vor der Renaissance herrschenden Weltbild wäre Heilung möglich. Eliade übernahm die Grundstruktur dieses Denkens, weitete sie aber universalistisch aus. Ihm ging es um den religiösen Kern der Religion/en; er wollte das Sein des Menschen im Kosmos wiederherstellen. Die Gruppe Generation wuchs an, sogar Eliades alter Freund, der Schriftsteller Emil Cioran (1911–1995), wurde Mitglied. Aufgrund seiner politischen Tätigkeit wurde Eliade 1938 wie sein Meister Ionescu interniert, konnte sich jedoch 1940 nach London absetzen. Anschließend ging er nach Paris. Dort unterstützte ihn der Sprachund Religionswissenschaftler Georges Dumézil (1898–1986), so dass Eliade zahlreiche Vorträge halten konnte. Gerüchte über Eliades Vergangenheit verhinderten jedoch seine Berufung auf einen Lehrstuhl an der École pratique des hautes études. In dieser Zeit entstanden zahlreiche wichtige Bücher. Auf den seit 1933 stattfindenden EranosTagungen (ein Begriff von Rudolf Otto) in Ascona, an denen Eliade auf Betreiben des Philosophen, Theologen und Islamwissenschaftlers Henry Corbin (1903–1978) von 1950–1961 teilnahm, bahnte sich ein Ausweg für seine Situation an. Die Bekanntschaften mit C.G. Jung und verschiedenen Religionswissenschaftlern hatten positive Folgen. Durch den Tod Nae Ionescus 1940 emanzipierte sich Eliade von seinem Lehrer und distanzierte sich seither von seiner rechtsextremen Vergangenheit. Auf dem Höhepunkt seines Ruhmes holte Eliade seine Vergangenheit ein. Die Publikation von Teilen des Tagebuchs von Mihail Sebastian (1907–1945), einem jüdischen Mitglied der Generation und Schüler Ionescus, enthüllte Eliades Denken als gardistisch, faschistisch und antisemitisch.162 Eliade fiel es schwer, sich zu diesen Vorwürfen zu verhalten. Nachhaltig zerstörte diese Enthüllung Eliades Reputation als Wissenschaftler und Schriftsteller. Davon scheinbar unberührt, nahm Eliade sein Hauptwerk, die Geschichte der religiösen Ideen, in Angriff, das seine Stellung als einer der führenden Religionswissenschaftler des 20. Jahrhunderts noch einmal unterstrich. Auf Betreiben von Joachim Wach wurde Eliade Gastdozent der Haskell-Lectures 1956 und blieb in Chicago als Visiting Professor. Am 20.05.1957 wurde er Professor of the History of Religions an der School of Divinity (Federated Theological Faculty, University of Chicago). Zusammen mit seinen Schülern Joseph Kitagawa (1915– 1992) und Charles H. Long gründete er 1961 die Zeitschrift History of Religions. 162 Mihail Sebastian: Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt – Tagebücher 1935–44, Berlin 2005.

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Diese vier Gelehrtennamen stehen für die später als Chicagoer Schule der Religionswissenschaft bezeichnete Richtung. Im Manifest „History of Religions and a new Humanism“ im Eröffnungsheft der Zeitschrift (1961) entwickelte Eliade eine dialogische Ausrichtung der Religionswissenschaft, engagierte sich für eine „Pflicht zum Humanismus“. Damit stellte er sich in Gegensatz zu den auf dem IAHR-Kongress in Marburg 1960 von Raphael Jehuda Zwi Werblowski vorgelegten „fünf Punkten“, den „minimalen Vorbedingungen“ religionsgeschichtlicher Forschung. Eliade gehörte übrigens mit zu den Unterzeichnern von Marburg. Das 1959 begonnene Zeitschriftenprojekt Antaios (zusammen mit Ernst Jünger) endete 1971. Ein bemerkenswertes Ereignis theologisch-religionswissenschaftlicher Zusammenarbeit war das mit Paul Tillich veranstaltete Seminar 1964/5 in Swift Hall, Sitz der Divinity School. In dieser Phase entstanden große Projekte: die Geschichte der Religiösen Ideen und die 16-bändige Encyclopedia of Religion. Am 22. April 1986 verstarb der inzwischen halb erblindete, seit vielen Jahren an einer Arthritis der Fingergelenke leidende und lungenkrebskranke Mircea Eliade an einem Gehirnschlag in Chicago.

2. Inhaltsangabe des Buches Eliade publizierte sein „Traité d’Histoire des Religions“ 1949 (und 1953) mit einem Vorwort von Georges Dumézil. Das Dreigestirn Dumézil, Eliade und Lévi-Strauss lehrte zur selben Zeit an der École pratique des hautes études in Paris (1946–49). Dumézil, dem Eliade seine Stellung dort verdankte, übte einen großen Einfluss auf ihn aus. „Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte“ lautet der deutsche Titel (1954; ohne dieses Vorwort). Die erste englischsprachige Ausgabe hieß „Patterns in Comparative Religion“ (1958). Die Vorarbeiten an der aus rumänischen und französischen Teilen zusammenwachsenden französischen Fassung gehen auf Eliades Vorlesungen an der Universität Bukarest zurück. Sie waren 1946–1948 Themen zweier Vorlesungsreihen an der École pratique des hautes études. Das Werk wurde während der „fruchtbarsten Jahre meines Lebens“ in Paris veröffentlicht, genauso wie „Der Mythos der ewigen Wiederkehr“ (frz. 1949; deutsch „Kosmos und Geschichte“), „Le Chamanisme et les techniques archaiques de l’extase“ (1951), seine Dissertation über „Le Yoga. Immortalité et Liberté“ (1954). Den deutschen Leser mag der Titel „Lehrbuch der Religionsgeschichte“ verwirren; denn er dürfte unter einem „Lehrbuch“ ein didaktisch konzipiertes Werk zur spezifischen Behandlung einer bestimmten Thematik verstehen, in diesem Falle also der überblicksartigen Darstellung der Geschichte der Religionen. Doch sollte man bei dem französischen Titel weniger an ein Unterrichtswerk denken, sondern an eine gut nachvollziehbare Darstellung einer Sachthematik.

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Eliade thematisierte keine konkreten (gegenwärtigen, vergangenen) Religionen, sondern religiöse Phänomene: „Elemente der Religionsgeschichte“, wie der deutsche Untertitel richtig bemerkt. Eliade verwendet in seinem „Lehrbuch“ bekannte Begriffe aus der Religionswissenschaft der Linie Ottos und Söderbloms, spricht also von heilig und profan. Doch sollte man bedenken, dass der Begriff sacré („heilig“) und die Gegenüberstellung sacré/profane im französischen Sprachbereich an erster Stelle nicht Assoziationen zu Rudolf Otto erweckt, sondern an die Religionssoziologen Émile Durkheim (1858–1917) und Marcel Mauss (1872–1950) erinnert. Darauf hat Roger Caillois (1913–1978) hingewiesen, der französische Soziologe und Philosoph, dessen kleine sozialpsychologische Abhandlung „Der Mensch und das Heilige“ (1939), das direkt aus seinen Vorträgen am Collège de Sociologie hervorgegangen ist, Eliade in seinem Vorwort erwähnt. Caillois gründet im März 1937 zusammen mit dem Schriftsteller Georges Bataille (1897–1962) und dem Schriftsteller und Ethnologen Michel Leiris (1901–1990) das Collège de Sociologie, das stark von Marcel Mauss beeinflusst war. Die vom Collège beförderte Sakralsoziologie (sociologie sacrée), die nicht identisch mit Religionssoziologie sein will, hat vor, die schrumpfenden vitalen Elemente moderner Gesellschaften wie zum Beispiel „kollektive Erfahrungen initiiert durch Rituale, Feste oder Spiele, zu analysieren, hervorzuheben und zu erneuern“.163

Eliade geht in seinem „Vorwort“ von der folgenden Voraussetzung aus: „Genau so wird ein religiöses Phänomen sich nur dann als solches offenbaren, wenn es in seiner eigenen Modalität erfasst, wenn es also unter religiösen Maßstäben betrachtet wird. Ein solches Phänomen mittels der Physiologie, der Psychologie, der Soziologie, der Wirtschaftswissenschaft, der Sprachwissenschaft, der Kunst usw. einzukreisen, heißt, es leugnen“. (11) Da Religion eine menschliche Angelegenheit ist, ist sie auch (Kursivierung U.T.) eine soziale, sprachliche usw. Angelegenheit: „Trotzdem wäre es vergeblich, die Religion aus einer dieser – zuletzt nur menschlichen – Funktionen zu erklären. Für die Erklärung von Religion sind sie somit wie der Literatur „belanglos“ (12). Zwei Fragen stellt Eliade in den Mittelpunkt seines Buches: „1. Was ist Religion? 2. Inwiefern kann man von einer Geschichte der Religion sprechen?“ (13) Im Mittelpunkt von Religion stehen „Hierophanien im weitesten Verstande des Wortes“. Darunter versteht Eliade „jedes Beliebige, in dem sich Sakrales manifestiert“ (13). Hinsichtlich der Geschichte der Religion hält Eliade die Evolutionslehre für überwunden. Daher schreitet er nicht den Weg „vom Einfachen zum Zusammengesetzten“ (13) ab, sondern den Weg der Hierophanien „auf verschiedenen kosmischen Ebenen“ (ebd.): kosmische Hierophanien, biologische Hierophanien, Hierophanien des Ortes und der 163 Stephan Moebius: Die sozialen Funktionen des Sakralen. Marcel Mauss und das College de Sociologie. (In: http://www.journaldumauss.net/spip.php?article301) (Zugriff: 31.10.2010)

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Zeit. Zum Schluss seiner Untersuchung behandelt Eliade „Morphologie und Funktion der Mythen“ (Kapitel XII) sowie die „Struktur der Symbole“. Zu den kosmischen Hierophanien zählen Himmel, Himmelsgötter, -symbole und -riten (61–146), die in Kapitel III dargestellte „Sonne und Sonnenkulte“ (147–179), der Mond und die mit ihm verbundene „Mondmystik“ (Kapitel IV: 180–216), in Kapitel V „Wasser und Wassersymbole“ (217–246), schließlich in Kapitel VI „Heilige Steine als Epiphanien, Zeichen und Formen“ (247–270), Kapitel VII „Die Erde, die Frau und die Fruchtbarkeit“ (271–298), damit zusammenhängend Kapitel VIII „Die Vegetation, Symbole und Riten der Erneuerung“ (299–376), schließlich „Ackerbau und Fruchtbarkeitskulte“ (377–414). Eine Zusammenfassung schließt jedes Kapitel ab. Sie fasst noch einmal das Wesentliche des Kapitelinhalts bündig zusammen, weil es droht, angesichts der schier überquellenden Beispiele des Autors verloren zu gehen. Zwei zentrale Kapitel behandeln Eliades favorisierte, daher auch in zahlreichen anderen Büchern wiederkehrende Themen: „Heiliger Raum“ (Kapitel X) und „Heilige Zeit“ (Kapitel XI). Eliade hat die Bedeutung des heiligen Raumes und den besonderen Symbolismus der „Mitte der Welt“, wie er beim Bau von Häusern, Tempeln, Städten usw. sichtbar wird, analysiert. Heilige Räume werden vom Menschen gleichsam „entdeckt“, dienen ihm als „fester Punkt“ zur „Orientierung“ in der umgebenden „chaotischen Homogenität“. Heilige Räume sind geweihte Räume. Dadurch erst werden sie bewohnbar. Eliade deutet die Weihe eines Ortes als Wiederholung der Schöpfung; denn heilige Räume liegen für die Gläubigen stets im Mittelpunkt des Kosmos, im „Zentrum der Welt“. Viele Bilder drücken die Verbindung mit dem Himmel aus: Säule, Leiter, Berg und Baum sind solche Symbole für die axis mundi, die „Weltenachse“, um die sich unsere Welt anordnet. Wenn Städte gegründet, heilige Stätten errichtet, Wohnhäuser gebaut wurden, so wiederholten solche „Gründungen“ die Schöpfung. Nach Eliade verläuft die heilige Zeit „parallel“ zur normalen, chronologischen. Sie ist aufgrund ihrer Kontinuität, d. h. der Verbindung zur vorherigen bzw. nachfolgenden Sakralzeit, nur scheinbar von profanen Intervallen unterbrochen. Ein Beispiel dafür ist die christliche Liturgie, „die mit der Liturgie des vorhergehenden und des nachfolgenden Sonntags verbunden (ist)… Sie ist mit der Zeit der vergangenen und der folgenden Liturgien verbunden“. Die profanen Zeitabschnitte berühren die heilige Zeit überhaupt nicht. Diese bildet „im Lauf der langen Jahre und Jahrhunderte eine einzige Zeit“ (442). Zu den aufregendsten Kapiteln des Buches zählen die letzten beiden, nämlich Kapitel XII „Morphologie und Funktion der Mythen“ (463–493) und „Struktur der Symbole“ (Kapitel XIII: 494–517). Nach Eliade hat es keine Zeit ohne Mythen gegeben. Auch heute noch haben Mythen eine große Bedeutung. Klassische Mythenmotive sind

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im Laufe der Zeit „abgesunken“, leben als Balladen, Legenden und Romane fort. Alte Mythen leben zum Teil weiter in modernen Ideologien, in den Produkten der Massenkommunikation. Das archaische Motiv der „Sehnsucht nach dem Ursprung“ bricht in neuzeitlichen Reformbewegungen ebenso auf wie im Stolz auf die eigene Nation oder im Rassenwahn der Nationalsozialisten. Das Motiv der „Erlöserrolle des Gerechten“ kommt zum Beispiel im Marxismus zum Ausdruck. Die Helden von Comic-Serien, die Verbrecherjagd der Kriminalkommissare – sie alle spiegeln den Ur-Kampf zwischen Gut und Böse, Licht und Finsternis. Die Populärkultur liefert in ihren unterschiedlichen Genres vielerlei Beispiele für moderne Mythen.

3. Ausgewählter Quellentext „Heilig“ und „profan“

Alle bisher gegebenen Definitionen des Phänomens Religion weisen ein Gemeinsames auf: jede von ihnen setzt in irgendeiner Weise das Heilige und das religiöse Leben dem Profanen und dem weltlichen Leben entgegen. Die Schwierigkeiten beginnen, wenn die Sphäre des Begriffs „heilig“ abgegrenzt werden soll. Schwierigkeiten theoretischer, aber auch praktischer Art. Denn bevor man eine Definition des Phänomens Religion unternimmt, muss man wissen, von wo aus die religiösen Tatsachen aufzusuchen sein werden – besonders diejenigen von ihnen, welche sich in „reiner Form“ der Beobachtung bieten, welche also „einfach“ und soweit als möglich ursprungsnahe sind. Leider sind uns solche Tatsachen nirgends zugänglich: weder in den Gemeinwesen, deren Geschichte man verfolgen kann, noch bei „Primitiven“, das heißt weniger Zivilisierten. Wir sehen uns fast immer komplexen religiösen Phänomenen gegenüber, deren Zustand eine lange historische Entwicklung voraussetzt. […] Jedes Zeugnis ist uns hier in dem Maße wertvoll, in dem es Aufschluss über ein Doppeltes zu geben vermag: 1. Als Hierophanie offenbart es eine Modalität des Sakralen. 2. Als historischer Moment offenbart es eine Situation des Menschen in Bezug auf das Sakrale. […] Kehren wir aber zu der großen, sachlichen Schwierigkeit zurück, von der schon die Rede war: die große Verschiedenartigkeit religiöser Zeugnisse. Diese Verschiedenartigkeit wird nicht geringer dadurch, dass Hunderttausende von Zeugnissen aus einem schier unbegrenzten Sammelgebiet vorliegen. Einerseits hat sich, wie bei allen historischen Zeugnissen, das, was uns zur Verfügung steht, mehr oder minder durch Zufall erhalten (es handelt sich nicht nur um Texte, sondern auch um Monumente, Inschriften, mündliche Überlieferung und Brauchtum). Andererseits stammen diese zufällig erhaltenen Zeugnisse aus sehr verschiedener Umgebung. […] Versetzen wir uns in die Lage eines Buddhisten, der – um das Christentum zu verstehen – über nichts anderes verfügt als

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über Fragmente der Evangelien, über ein katholisches Brevier, krauses ikonographisches Material (byzantinische Ikonen, barocke Heiligenstatuen, orthodoxe Priestergewänder), zum Ausgleich aber die Möglichkeit hätte, das religiöse Leben eines europäischen Dorfes zu studieren. Zweifellos würde dieser buddhistische Beobachter einen deutlichen Unterschied bemerken zwischen dem religiösen Leben der Bauern und den theologischen, moralischen und mystischen Vorstellungen des Dorfpfarrers. Aber wenn auch die Feststellung des Unterschiedes richtig ist, so wäre es doch falsch, wenn er das Christentum nicht nach den Traditionen beurteilen würde, die das Individuum, der Priester, bewahrt hat, und nur das für „richtig“ halten würde, was die Dorfgemeinde als Ganzes aufweist. Die Züge des vom Christentum offenbarten Heiligen sind in den Traditionen des Priesters (und seien diese noch so sehr durch Geschichte und Theologie beeinflusst) im Ganzen besser bewahrt als im Glauben des Dorfes. Das, was den Beobachter interessiert, ist ja nicht ein bestimmtet Moment der Geschichte des Christentums, in einer bestimmten Gruppe der Christenheit, sondern die christliche Religion an sich. Dass in dem ganzen Dorf nur ein einziges Individuum christliches Ritual, Dogma und die Mystik kennt, der Rest der Gemeinde sie nicht kennt und einen einfachen, mit Aberglauben (das heißt mit Resten einer untergegangenen Hierophanie) durchsetzten Kult praktiziert – das ist, in diesem Zusammenhang, von keiner Bedeutung. Wesentlich ist, sich Rechenschaft darüber zu geben, dass dieses einzelne Individuum eine umfassendere Form, wenn nicht das ursprüngliche Erlebnis des Christentums bewahrt, zumindest dessen Grundelemente und ihre mystische, theologische und rituelle Bedeutung […]. Die theoretischen Konsequenzen dieser Feststellungen sollen am Ende des vorliegenden Werkes erörtert werden, wenn eine genügende Masse von Tatsachen untersucht worden ist. Für den Augenblick beschränken wir uns darauf hinzuweisen, dass weder die historische Verschiedenartigkeit der Zeugnisse (teils einer religiösen Elite, teils unzivilisierten Massen, verfeinerten Kulturen oder primitiven Gemeinwesen entstammend) noch ihre strukturelle Verschiedenartigkeit (Mythen, Riten, göttliche Gestalten, Aberglauben usw.) die Einsicht in das Wesen einer Hierophanie verhindert. Allen Schwierigkeiten praktischer Art zum Trotz, ist es gerade diese Verschiedenartigkeit, die allein uns alle Modalitäten des Sakralen zu erhellen vermag. […] Vorläufig fassen wir jede Überlieferung – Ritus, Mythos, Kosmogonie oder Gott – als Hierophanie auf; das heißt, wir versuchen sie zu verstehen als eine Manifestation des Heiligen in der geistigen Welt derer, die sie empfangen haben.[…] Aber das ist gewiss, dass alles, was der Mensch tut, erlebt oder liebt, zu einer Hierophanie werden konnte. Man weiß etwa, dass Gebärden, Tänze, Kinderspiele, Spielzeuge usw., im ganzen gesehen, einen religiösen Ursprung haben: es waren in anderen Zeiten Kulthandlungen oder -gegenstände. […] Wir haben zu Anfang dieses Kapitels daran erinnert, dass alle bisherigen Definitionen des Phänomens Religion das Sakrale dem Profanen entgegengesetzt haben. Widerspricht nicht das eben Gesagte, dass nämlich gegebenenfalls jedes Beliebige

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Hierophanie sein kann, dieser üblichen Definition des Phänomens Religion? Wenn jedes Beliebige das Sakrale in sich enthalten kann, inwiefern bleibt die Zweiteilung sakral-profan sinnvoll? Dieser Widerspruch ist nur scheinbar, denn wenn es auch wahr ist, dass jedes Beliebige Hierophanie werden kann und dass wahrscheinlich kein Objekt, kein Wesen, keine Pflanze usw. existiert, das nicht in einem bestimmten Moment der Geschichte, an einem bestimmten Ort im Raum die Würde des Sakralen angenommen hätte, so bleibt doch die Tatsache bestehen, dass wir keine Religion oder Rasse kennen, die im Laufe ihrer Geschichte alle diese Hierophanien aufgehäuft hätte. Anders ausgedrückt: es hat immer, im Rahmen jeder Religion, neben profanen Objekten oder Wesen sakrale Objekte oder Wesen gegeben. […] Man kann noch weiter gehen: obschon eine bestimmte Art von Objekten den Rang einer Hierophanie annehmen kann, gibt es doch immer auch Objekte derselben Art, die dieses Ranges nicht teilhaftig sind. Dort, wo man etwa vom sogenannten „Steinkult“ spricht, werden nicht alle Steine als heilig angesehen. Wir begegnen immer bestimmten, wegen ihrer Form, ihrer Größe oder ihrer kultischen Bedeutung verehrten Steinen. Wir werden übrigens sehen, dass es sich nicht um einen Steinkult handelt, dass diese heiligen Steine nur insofern verehrt werden, als sie nicht bloße Steine, sondern Hierophanien sind, das heißt etwas anderes sind als gewöhnliche „Gegenstände“. Die Dialektik der Hierophanie setzt eine mehr oder minder deutliche Auswahl, eine Besonderung voraus. Ein Gegenstand wird sakral in dem Maß, in dem er etwas „anderes“ als sich selbst verkörpert (das heißt offenbart). Es ist, zunächst einmal, nicht wichtig, ob dieses „Andere“ der besonderen Form, der Wirkung oder einfach der „Macht“ (force) verdankt wird – oder ob es mit dem Anteil des Gegenstandes an irgendeinem Symbolismus zusammenhängt, ob es durch einen Weiheritus verliehen wird oder durch die absichtliche oder unabsichtliche Einfügung des Gegenstandes in eine Region, in der sich das Sakrale verdichtet (ein heiliger Bezirk, eine heilige Zeit, irgendein „Unglück“ – Blitz, Verbrechen, Sakrileg usw.). Was wir deutlich machen wollen, ist, dass eine Hierophanie eine „Erwählung“ (choix) voraussetzt, eine klare Abscheidung des hierophanen Objekts in Bezug auf den es umgebenden Rest. Dieser Rest ist immer vorhanden, auch wenn ein unermesslicher Bereich hierophan geworden ist: zum Beispiel der Himmel, das Ganze der heimatlichen Landschaft, oder „das Vaterland“. Diese Abscheidung des hierophanen Objekts vollzieht sich zumindest in Bezug auf sich selbst, denn es wird erst Hierophanie, wenn es aufhört, ein gewöhnlicher, profaner Gegenstand zu sein, wenn es eine neue „Dimension“ annimmt: die des Sakralen.

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4. Fragen zum Text 1. Was versteht Eliade unter Hierophanie? 2. Was bedeutet nach Eliade die Dialektik der Hierophanie? 3. Wie beurteilen Sie Eliades Beispiel des Buddhisten, der das Christentum verstehen will? Kann man die Religion des Priesters und die des Dorfes derart einander gegenüber stellen? 4. Nehmen Sie Stellung zu Eliades Behauptung, nach der „dieses einzelne Individuum eine umfassendere Form, wenn nicht das ursprüngliche Erlebnis des Christentums bewahrt“. 5. Zur Hierophanie gehört die Verschiedenartigkeit. Was meint Eliade damit? 6. Was bedeutet für Eliade heilig und was profan? Definiert er das Heilige? 7. Was meine Eliade mit dem religiösen Terminus Erwählung (choix)? Wer ist der Erwählende?

5. Würdigung

In den 1960/70er Jahren gehörte Comparative Study of Religions zum Inventar vieler Colleges und Universitäten. Eliade drückte seine eigene Bedeutsamkeit sinngemäß so aus: Als er nach Chicago kam, gab es in den USA drei bedeutende Lehrstühle; 20 Jahre später waren es 30, von denen die Hälfte der Lehrstuhlinhaber seine Schüler gewesen waren. Eliade hat zweifellos der Religionswissenschaft weltweit zu größerer Popularität verholfen. Vor allem Historiker, Philologen, Ethnologen werfen Eliade vor, dass er in seinen Arbeiten sehr stark verallgemeinert. Je konkreter die Beispiele gewählt werden, desto problematischer erscheinen Eliades Generalisierungen, gar Universalisierungen. Ethnologen beanstanden seinen Mangel an Empirie. Dem Schamanismus-Werk wird vorgeworfen, dass sein Autor keine Feldstudien vor Ort betrieben hat, sondern ausschließlich aus zweiter Hand, von der Sekundärliteratur lebt. Der „Schamanismus“ wird als synthetisches Produkt ohne Kontakt mit echten Schamanen beschrieben. Eliade war Künstler und Wissenschaftler zugleich. Der Religionshistoriker und Gnosis-Forscher Jacques Duchesne-Guillemin berichtet davon, dass Eliade das Verhältnis von Schriftsteller und Wissenschaftler folgendermaßen bestimmte: Er sei kein Religionshistoriker, der Romane schreibe, sondern ein Romancier, den die Umstände gezwungen hatten, Religionsgeschichte zu lehren“.164 Eliades Ziel war nie die reine 164 Jacques Duchesne-Guillemin: Mircea Eliade: An impromptu. In : Holger Preißler/Hubert Seiwert (Hg.): Gnosisforschung und Religionsgeschichte, Marburg 1994, S. 409–411, hier S. 410.

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Forschung im Sinne einer l’art pour l’art. In allen Abschnitten seines Lebens drängte es ihn danach, eine Botschaft zu verkünden und in die Praxis umzusetzen. Nach seiner Berufung an die Universität Chicago publizierte Eliade 1961 sein bedeutendes Manifest „Religionsgeschichte und ein neuer Humanismus“. Hier entwickelte er eine dialogische Ausrichtung der Religionswissenschaft, engagierte sich für die „Pflicht zum Humanismus“. Mit kolossalem Sendungsbewusstsein wies er dem Religionshistoriker eine Schlüsselrolle beim Verstehen der gegenwärtigen geistigen Situation zu. Sein kühnes Programm der „totalen Hermeneutik“ (oder wie er in seinen rumänischen Jahren formulierte, die „revolutionäre Methode“) besteht darin, „jede Art des Zusammentreffens des Menschen mit dem Heiligen – eine so genannte „Hierophanie“ – von den prähistorischen Zeiten bis zur Gegenwart zu entziffern und zu erklären“. Die im alltäglichen Wissenschaftsbetrieb vorherrschende Selbstbeschränkung auf „fragmentarische, analytische Forschung“ hielt Eliade für einen erbärmlichen Verlust an Kreativität. Zu einem Vordenker der Praktischen Religionswissenschaft wird Eliade auch deshalb, weil er dem Dialog einen hohen Stellenwert einräumt. Schon 1952 notierte Eliade in sein Arbeitstagebuch: „Ich muss einmal irgendwo sagen, dass nicht die Revolution des Proletariats das wichtigste Phänomen des 20. Jahrhunderts gewesen ist […], sondern die Entdeckung des nichteuropäischen Menschen und seiner geistigen Welt […] Heute fangen wir nämlich an, uns der Noblesse und geistigen Eigenständigkeit dieser Kulturen bewusst zu werden. Der Dialog mit ihnen erscheint mir viel bedeutsamer für die Zukunft des europäischen Denkens als die geistige Erneuerung, welche die radikale Emanzipation des Proletariats bringen könnte.“ Dialog mit den Anderen, Unbekannten, den bisherigen Outsidern der Geschichte: Dies war für Eliade eine „historische Unvermeidlichkeit“. Es ging ihm darum, die Werte der Anderen, der Nichteuropäer, anzuerkennen. Keineswegs empfahl Eliade, die spirituellen Werte der anderen Religionen einfach frivol und leichtfertig zu übernehmen. Mit Hilfe der spirituellen Werte nichteuropäischer Kulturen wollte er „unsere eigene Situation erhellen“.165 Eliade war von der Vision beseelt, die nichteuropäischen, insbesondere indischen, auch archaischen Religionsinhalte in „geistige Botschaften“ für heute zu verwandeln. „Kreative Hermeneutik“ sollte einen „neuen, weltweiten Humanismus“ befördern. Aufgrund ihrer „pädagogischen Dimension“ hielt Eliade die Religionsgeschichte für fähig, den Forscher und seine Rezipienten zu verändern und neue, bisher unbekannte kulturelle Werte zu schaffen. Eliades zahlreiche, von mythischen Stoffen nur so überquellenden Romane können als Ergänzung dieser Absicht verstanden werden. Und noch etwas sehr Wichtiges, von der Fachzunft zu wenig geschätztes Motiv prägte Eliades Praktische Religionswissenschaft. Er hatte als Zielgruppe Vertreter 165 Im Mittelpunkt. Bruchstücke eines Tagebuches, Wien – München – Zürich 1977, S. 87.

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fremder Disziplinen vor Augen, sowie Nichtfachleute und ein an religiösen Fragen interessiertes Publikum. Er pflegte eine bei heutigen (zumal deutschen) Religionswissenschaftlern nicht mehr vorhandene Tugend: Wie Benz, Goldammer, Mensching u.v.a.m so schrieb auch Eliade verständlich, ohne seine Erkenntnisse durch eine kulturwissenschaftliche Geheimsprache nur noch einem ausgewählten Expertenkreis zumuten zu können. Eliades vielfältige Interessen und sein Leben sowohl als Autor als auch als Wissenschaftler lassen eine klare Einteilung seiner Werke scheitern. Eliade untersuchte mit besonderer Aufmerksamkeit die Vorstellung von Raum und Zeit in archaischen und modernen Religionen, die sich genau darin unterscheiden würden. Als Aufgabe der Religionswissenschaft sieht Eliade die Untersuchung kultureller Phasen und Epochen auf die darin verborgenen religiösen Motive. Allerdings könne man erst die Geschichte eines Sachverhalts verstehen, wenn man das Ding an sich verstanden hat. Durch diesen Ansatz löste Eliade religiöse Phänomene immer mehr aus ihrem historischen und kulturellen Kontext heraus. Diese Tendenz war aber der Sorge geschuldet, dass eine rein historische Vorgehensweise die übergeschichtliche Bedeutung der Phänomene aus dem Blick verlieren würde.

6. Weiterführende Arbeitsaufgabe 1. Informieren Sie sich über den Eranos-Kreis und seine wichtigsten Mitglieder, insbesondere Henry Corbin, C.G. Jung, Karl Kerenyi. Welche Geisteshaltung vertritt der Kreis? Was vereint die Mitglieder? 2. Wichtige Themen des Eranos-Kreises waren orientalische Religionen, Psychologie, Mystik, Gnosis, Esoterik – als Gegenentwürfe zu Judentum, Christentum, Islam. Wie ist Eliade in diesem Kreis einzuordnen? 3. Informieren Sie sich über das Verhältnis von C.G. Jung und Eliade. (Literatur: Florin Ţurcanu: Mircea Eliade, 2005). 4. Eliade hat sehr großen Einfluss über die Religionswissenschaft hinaus ausgeübt. Stellen Sie fest, in welchen anderen Wissenschaften Eliades Werk von Bedeutung ist. 5. Gewinnen Sie einen Überblick über Eliades (unvollendet gebliebenes) fünfbändiges Spätwerk „Geschichte der religiösen Ideen“. Welche Religionstraditionen behandelt er? Welche davon besonders intensiv? Was fällt Ihnen an Eliades Behandlung des Christentums auf? 6. Tragen Sie die Hauptkritikpunkte an Eliades Werk zusammen und versuchen Sie sich selbst dabei zu positionieren.

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7. Auswahlbibliographie Primärliteratur

Der Mythos der ewigen Wiederkehr, Düsseldorf 1953. Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Hamburg 1957. Grundfragen der Religionswissenschaft, Salzburg 1959. Yoga. Unsterblichkeit und Freiheit, Zürich 1960. Das Mysterium der Wiedergeburt. Initiationsriten, ihre kulturelle und religiöse Bedeutung, Zürich 1961. Mythen, Träume und Mysterien, Salzburg 1961. Ewige Bilder und Sinnbilder. Vom unvergänglichen menschlichen Seelenraum, Olten 1963. Die Schöpfungsmythen. Ägypter, Sumerer, Hurriter, Hethiter, Kanaaniter und Israeliten, Einsiedeln 1964. Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte, Darmstadt 1966. Das Okkulte und die moderne Welt. Zeitströmungen in der Sicht der Religionsgeschichte, Salzburg 1978. Geschichte der religiösen Ideen, vier Bände, Freiburg 1978ff. (2002). Sekundärliteratur

Barié, Paul: Mircea Eliade. Das Heilige im Profanen. Oder: Wie real ist die Realität? Annweiler am Trifels 2002. Berner, Ulrich: Mircea Eliade. In: Michaels, Axel: Klassiker der Religionswissenschaft, München 2004, S. 343–353. Douglas, Allan: Myth and religion in Mircea Eliade, New York 1998. Duerr, Hans Peter: Die Mitte der Welt. Aufsätze zu Mircea Eliade, Frankfurt. a.M.1984. Müller, Hannelore: Der frühe Mircea Eliade. Sein rumänischer Hintergrund und die Anfänge seiner universalistischen Religionsphilosophie, Münster 2004 (Diss. Marburg 2002). Neu, Rainer: Eliade, Mircea. In: Lexikon der soziologischen Werke, hg. von Georg W. Oesterdiekhoff, Wiesbaden 2001, S. 171f. (Kosmos und Geschichte, Die Religionen und das Heilige). Reschika, Richard: Mircea Eliade zur Einführung, Hamburg 1997. Ţurcanu, Florin: Mircea Eliade. Der Philosoph des Heiligen oder Im Gefängnis der Geschichte. Eine Biographie, Schnellroda 2006. Wachtmann, Christian: Der Religionsbegriff bei Mircea Eliade. Frankfurt/Main 1996. Wedemeyer, Christian/Doniger, Wendy: Hermeneutics, Politics, and the History of Religions: The Contested Legacies of Joachim Wach and Mircea Eliade, Oxford 2010.

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16. Ulrich Mann (1915–1989) 1. Biographie

Am 11. August 1915 wurde Ulrich Albert Mann als einziges Kind des Kaufmanns Albert Mann und seiner Ehefrau Euphrosyne (deutsch Frohsinn) geboren. Auf das Abitur folgten 1934 der Arbeits- und Wehrdienst. 1935–1944 war Mann Offizier der deutschen Wehrmacht beim Flakregiment 25 in Ludwigsburg. Er nahm mit dieser Truppe am Westfeldzug 1940 teil. 1941 heiratete er seine aus Nürtingen stammende Frau Elise, geb. Schmid. Aus dieser Ehe ging 1942 eine Tochter hervor. „1942 kam ich als Kommandeur einer Panzerjägerabteilung an die Ostfront, 1944 führte ich die Fallschirm-Panzer-Jäger Abteilung in der Invasionsschlacht im Westen. Mit den Resten dieser Truppe geriet ich im Herbst 1944 in englische Gefangenschaft“. Ulrich Mann kam in das Norton Camp in Cockney in der Nähe von Nottingham. Norton Camp war ein Ausbildungslager für Lehrer und evangelische Pfarrer für das Nachkriegsdeutschland. Im Camp 174 gab es eine Theologische Schule hinter Stacheldraht. Dort konnte Mann ab 1945 (bis 22.6.1948) seine Ergänzungsreifeprüfung ablegen, Hebräisch lernen, Pädagogik und Theologie studieren. Gegründet wurde das Norton Camp von Birger Forell und John Barwick vom YMCA. Die Dozenten waren rar, auch mussten sie wie die Studierenden auf ihre Eignung und politische Zuverlässigkeit geprüft werden. Norton Camp wurde am 16. August 1945 gegründet. Das Motto des Studienlagers lautete: Fide non armis („Durch Glaube und nicht durch Waffen“). Die Lehrer waren deutsche Universitätsdozenten (u.a. Jürgen Moltmann, Fritz Blanke), auch Pfarrer mit wissenschaftlicher Erfahrung. Zu den so genannten Nortonen gehörte neben dem Marburger Afrikanisten und Religionshistoriker Ernst Dammann (1904–2003) auch der Bonner Kirchengeschichtler Johann F. Gerhard Goeters (1926–1996) sowie der evangelische Systematische Theologe Jürgen Moltmann in Tübingen. 1946 setzte Ulrich Mann sein Theologiestudium in Tübingen fort und schloss es 1949 bzw. 1950 mit der zweiten Dienstprüfung ab. Bei dem evangelischen Theologen

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Adolf Köberle (1898–1990), einem Vertreter und feinfühligen Interpreten des schwäbischen Pietismus, promovierte er 1953 mit der Dissertation über „Spiritualismus und Realismus im christlichen Offenbarungsverständnis“ (1957), die ihn insbesondere an Luther, Hamann und Oetinger heranführte. Von 1951 bis 1958 unterrichtete Ulrich Mann als Religionslehrer am Mädchengymnasium in Ulm, wo er auch gelegentlich predigte. Er habilitierte sich mit der Schrift „Gesetz und Evangelium als dogmatisches Prinzip“. Daraus entstand die Veröffentlichung „Gottes Nein und Ja. Von Grundriss und Richtmaß theologischen Denkens“ (1959). Nach seiner Habilitation für das Fachgebiet Systematische Theologie wirkte Ulrich Mann seit 1957 als Dozent in Tübingen, hielt Vorlesungen über Religionsphilosophie, Dogmatik und Ethik, veranstaltete Seminare über Kant, Fichte, Schleiermacher. 1962 wurde er zum außerplanmäßigen Professor ernannt. Ein Jahr später erhielt er das neu errichtete Ordinariat für Systematische Theologie, Religionsphilosophie, Religionspsychologie und Religionsgeschichte an der 1948 gegründeten Universität des Saarlandes in Saarbrücken. Der Studentenpfarrer Dr. Egon Franz hielt dort seit Ende 1956 religionswissenschaftliche Lehrveranstaltungen. Nachdem seit Sommersemester 1957 Mainzer Dozenten theologische Gastvorlesungen angeboten hatten, wurden schließlich ein neues Institut für Evangelische Theologie und ein 1969 endgültig in die Philosophische Fakultät eingegliederter „fakultätsfreier Lehrstuhl“ eingerichtet. Anfang Januar 1963 folgte Ulrich Mann dem Ruf nach Saarbrücken. Manns Publikationen bewegten sich in seinen Saarbrückener Jahren immer stärker in Grenzbereichen: Religionsphilosophie, Religionswissenschaft, Religionspsychologie. Sein aus Gastvorlesungen in München erwachsenes Buch „Das Christentum als absolute Religion“ (1970) öffnet sich – ungewöhnlich für einen Theologen jener Zeit – dem Bereich von Religionsgeschichte und Religionswissenschaft. Zur selben Zeit entstand seine „Einführung in die Religionsphilosophie“ (1970). Manns Kenntnisse der (insbesondere antiken) Religionen sind nicht zuletzt seinen Weltreisen geschuldet. Zusammen mit einer sich inzwischen weit von der von ihm anfänglich vertretenen dialektischen Theologie entfernten Religionsdeutung führte dies zu einer dialogisch offenen Theologie, die insbesondere auch an den lebenden Religionen interessiert war. An seinen damaligen Dekan schrieb Mann anlässlich einer geplanten Reise nach Nordindien: „Hierbei darf ich erwähnen, dass ich seit einiger Zeit mit Schwerpunkt an der theologischen Problematik einer Verständigungsmöglichkeit zwischen den großen lebenden Religionen arbeite. Es ist dies ein Problem, das ins Religionswissenschaftliche und Religionspsychologische reicht, ebenso aber auch eine unmittelbare Begegnung und Aussprache mit führenden Repräsentanten der Hochreligionen erforderlich macht. Von daher erhellt, dass ich die genannte Gelegenheit unbedingt benützen sollte. Ich hoffe auch, durch Tonband und Bild einiges interes-

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sante Material mitbringen zu können, das ich den Studierenden an unserem Institut dann zugänglich machen kann.“166 Mann veröffentlichte eine „Einführung in die Religionspsychologie“ (1973) und gab im selben Jahr den Sammelband „Theologie und Religionswissenschaft“ heraus. Der Untertitel dieses Buches ist Programm: „Der gegenwärtige Stand ihrer Forschungsergebnisse und Aufgaben im Hinblick auf ihr gegenseitiges Verhältnis“. Bedeutende Religionshistoriker und Religionswissenschaftler auf der einen Seite sowie Theologen auf der anderen waren in diesem Werk vertreten. In seinem Vorwort arbeitete Mann die Beziehungen beider Fächer heraus sowie die Notwendigkeit eines für beide Teile unerlässlichen partnerschaftlichen Gesprächs. Theologie definierte Mann als „wissenschaftliche Selbstdarstellung einer (jeder!) Religion“ (237), und Theologie ist „mit ihren einschlägigen Disziplinen selbst ein Teil der Religionswissenschaft“ (XII). „Beide wohnen nämlich im selben Haus“ (ebd.). Ulrich Mann beschäftigte sich intensiv mit der Religionspsychologie insbesondere C.G. Jungscher Prägung. Von dorther sind seine im engeren Sinne religionswissenschaftlichen Arbeiten zu verstehen wie „Schöpfungsmythen“ (1982) sowie sein letztes Werk über das Phänomen der heiligen Berge der Menschheit („Überall ist Sinai“, 1988). Manns ausgeprägte Leidenschaft für die Berge wird nicht zuletzt daran deutlich, dass er langjähriger Präsident des „Deutschen Alpenvereins“ (1967–1974) war. Religionswissenschaftlich gehaltvolle Eindrücke seiner zahlreichen großen Reisen spiegeln sich in den Vierteljahresheften der Gesellschaft für Länder- und Völkerkunde „Die Karawane“ wider, zum Beispiel die Gustav Mensching zum 75. Geburtstag gewidmete Schrift über die altiranischen Religionen („Paradies und Feuertempel“, 1977) sowie „Der große Jaguar“, eine Darstellung alter Kulturen in Süd- und Mittelamerika (1979). Zu Manns bedeutendsten Schriften zählt das programmatische Werk „Die Religion in den Religionen“ (1975). 1980 wurde Ulrich Mann emeritiert, engagierte sich aber weiterhin als Präsident im „Bund für freies Christentum“ (1970–1987). Dieser 1948 gegründete Bund sieht sich als Hort christlicher Liberalität und ist ein Zusammenschluss vorwiegend protestantischer Christen, die sich für eine persönlich verantwortete, undogmatische, weltoffene Form des christlichen Glaubens einsetzen und dabei ein breites Spektrum von Auffassungen zu integrieren suchen. Der Bund tritt u.a. für einen Dialog mit den Religionen ein. Zu seinen herausragenden Denkern zählen Albert Schweitzer (Ehrenpräsident), Paul Tillich, Friedrich Heiler, Gustav Mensching, Paul Schwarzenau. Im Alter von 73 Jahren starb Ulrich Mann am 13. März 1989 in Tutzing.

166 Zitiert bei: Wolfgang Müller: Bilanz eines Forscherlebens. Eine Biographie im Archiv. In: evangelische aspekte 3/2008.

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2. Inhaltsangabe des Buches Im Folgenden wird nicht das ganze Werk „ Die Religion in den Religionen“ vorgestellt, sondern nur die entscheidenden methodischen Weichenstellungen.

Religionswissenschaft hat es nach allgemeiner Ansicht mit konkreten Religionen zu tun. Ulrich Mann dagegen interessiert sich in seinem Buch „Die Religion in den Religionen“ für „die Religion“, für „das Ganze der Religion im Heute“ (10), für den gemeinsamen Kern, an dem alle Religionen teilhaben. Das Werk knüpft nach eigenem Bekunden an Manns „Theogonische Tage. Die Entwicklungsphasen des Gottesbewusstseins in der altorientalischen und biblischen Religion“ (1970) an, in dem er diachronisch, also durch die Zeiten hindurch, in einem klar umgrenzten Raum (altmittelmeerisch, altorientalisch), die Entwicklungsphasen der Religion vorgelegt hat. Zwischen diesen Religionen bestand ein empirisch feststellbares „Abhängigkeitsgeflecht“ (9). In dem nicht diachron angelegten Folgewerk greift er weit hinaus in die empirische Religionswelt, indem er die süd- und ostasiatischen Religionen mit in sein Blickfeld nimmt, in erster Linie Buddhismus und Hinduismus. Diese beiden hält Mann für „jene zwei Grundtypen […], die es uns gestatten, nunmehr einen Gesamtüberblick anzustellen“ (10). In allen von ihm so genannten Hochreligionen zeigt sich bei eingehender Untersuchung, dass die Religionen im Laufe ihrer Existenz nie statisch in einem Zustand verharrten. Vielmehr entwickeln sie sich bis heute. Die Suche nach der Mitte und Ganzheit der Religion (Singular!) wird aus zwei Gründen beflügelt. „Der eine ist der: unsere Welt wird mehr und mehr als Einheit erlebt, der Begriff des Exotischen verliert daher in unserer Zeit merklich an Bedeutung. Der andere Grund ist der: auch das Religiöse kann heute nur noch als Einheit begriffen werden, denn für das allgemeine Bewusstsein verläuft, anders als einst, die religiös bedeutsame Trennungslinie nicht mehr zwischen der Religion hier, der – möglicherweise freilich nur scheinbaren – Religionslosigkeit da. Religion gegen Säkularität, so jedenfalls sieht für das allgemeine Bewusstsein die gegenwärtige Antithese aus.“ (10f.) Somit ergibt sich, dass der Gegenstand religionswissenschaftlicher Forschung ein einheitlicher sein muss. Mann will ein Modell entwerfen, das eine Orientierung in den religiösen Einzelerscheinungen schafft und bei der Suche nach der Einheit hilft. Diese Einheit ist die Suche nach einer „neuen Dimension, in der die gemeinsame Mitte aller Religionen erkennbar sein müsste […]: die Religion in den Religionen.“ (11) Die großen Religionen zielen auf den Menschen wie er sein soll. Sie wollen den Menschen zu sich selbst bringen, um die Liebe zum Menschen durch die Einheit mit dem göttlichen Grund zu erkennen. Dort, wo der Mensch so handelt, haben alle Religionen einen gemeinsamen Sinn. Die Begegnung des evangelischen Christen Ulrich Mann mit dem Dalai Lama XIV. führt den Theologieprofessor zu einem eindrucksvollen Erlebnis: „Und doch, die

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Wirkung! Ich weiß es nicht anders zu sagen: Es war die Wirkung einer dem äußeren Auge völlig verborgenen und dennoch nicht minder wirklichen Heiligkeit. Darf man als Christ so reden? Ich wüsste niemanden, der das zu verbieten hätte; doch man kann vielleicht behutsamer fragen. Lässt die christliche Religion, an die zwei Jahrtausende nunmehr, und immer noch auf lange Zeit hinaus der lebendige Quell aller abendländischen Geistigkeit, eine solche ins Tiefste reichende Begegnung mit der religiösen Erkenntnis des Ostens zu – ohne innerlich Schaden zu nehmen?“ (14f.) Für Ulrich Mann ist die Antwort völlig eindeutig: „Wohin muss dieser Weg den Abendländer schließlich führen? Ins Abendland, wohin denn sonst, ins Eigene. Nichts anderes hat ja der Dalai Lama gemeint“ (14). Ähnlich wie Joachim Wach argumentiert Mann: „Ich halte so wenig wie Gopi Krishna etwas von der heutigen Mode der Verinderung. Da kann nur selten etwas Gutes herauskommen. Besonders deutlich sagt dies Carl Gustav Jung. Am Ende seiner großen Indienfahrt hatte er einen Traum, der ihn deutlich auf sein abendländisches Erbe verwies“ (16). Nebenbei bemerkt: Diese Zeilen entstanden wenige Jahre, nachdem die Beatles Mitte Februar 1968 mit ihren Frauen nach Rishikesh (Indien) gereist waren, wo ein mehrwöchiger Meditationskurs des Maharishi stattfand. Manns warnende Kommentare richten sich kulturkritisch gegen eine damals unter den Heranwachsenden weit verbreitete Einstellung und Stimmung. Um sein Ziel zu erreichen, benötigt Ulrich Mann nicht eine einzige Methode. Er führt den Begriff der Synopse (‚Zusammenschau‘) ein. Dieser Begriff wird insbesondere in der Bibelexegese (vor allem des Neuen Testaments) benutzt. Die drei Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas haben erhebliches gemeinsames Material, so dass sich eine synoptische Gegenüberstellung zum Vergleich ihrer Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und Unterschiede anbietet. Synoptische Forschung ist grenzüberschreitende, inter- bzw. transdisziplinäre Forschung. „Man kann von jeder Wissenschaft her bis zum Religiösen vorstoßen, von der Naturwissenschaft und Medizin aus nicht weniger als von der Geisteswissenschaft. Im engeren Sinn aber bündeln sich vor allem vier Disziplinen zum synoptischen Aspekt von Religion: Die Religionsphilosophie, die Religionswissenschaft, die Religionspsychologie, die Theologie“ (16). Untersucht man die Religion hinsichtlich ihrer Formen und Inhalte, so ergeben sich vier grundsätzliche Möglichkeiten: „Erstens: Der Bereich der Religionen zeigt eine verwirrende Fülle verschiedenster Formen und ebenso verschiedener Inhalte. Zweitens: In den verschiedenen Formen verbirgt sich ein einheitlicher Inhalt. Drittens: Die Verschiedenheit der Formen ist nur äußerlich, es handelt sich im Grund um eine einheitliche Formenwelt, und auch der Inhalt ist einer. Viertens: Trotz einheitlicher Formenwelt handelt es sich um verschiedene Inhalte“ (17). Mann ordnet die vier Sichtweisen den jeweiligen synoptischen Wissenschaften zu. „Zur ersten Kategorisierung neigt jene rein empirisch orientierte Religionswissenschaft, deren Arbeit des Faktensammelns und Ordnens bei grundsätzlicher Zurückhaltung im Werten und Verstehen

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immerhin als Grundlagenarbeit nicht entbehrt werden kann, vorausgesetzt, sie macht aus ihrer Epoché, ihrem Enthalten von Urteilen, kein Dogma“ (17f.). Zur Kategorisierung zwei neigen Religionsphilosophie und -psychologie. Kategorie drei vereint Forscher der religionsphänomenologischen Richtung der Religionswissenschaft. Mann nennt hier Gerardus van der Leeuw, Joachim Wach, Friedrich Heiler. Modell vier ist die Domäne der Theologie, insbesondere der protestantischen Missionstheologie. Ein synoptisches Verstehen von Religion muss als Wissenschaft die verschiedenen Aspekte berücksichtigen, denn alle Aspekte haben ihre bestimmte Wirklichkeitserfassung. Zwei Auffassungen sprechen für eine Einheit der religiösen Formenwelt, zwei dagegen gegen für eine inhaltliche Einheit. „Wir sind also damit auf ein glattes Ja und Nein gestoßen, eine Paradoxie also. Diesem paradoxen Charakter werden wir Raum geben müssen. Aber wir dürfen die Paradoxie auch nicht zur Antinomie ausweiten und damit einfach abtun“ (18). Der Gedanke der Einheit in der Vielheit, der Religion in den Religionen, lag nicht von Anfang an zu Tage, sondern „ist historisch gewachsen […] Erst von einer ganz bestimmten Entwicklungsstufe der Geistesgeschichte an kann die Frage nach der Religion in den Religionen überhaupt aufbrechen. Die erste Voraussetzung dazu ist die Begegnung verschiedener Religionen miteinander“ (18). Dies geschah bereits in früheren Kulturphasen, bspw. in den polytheistischen Göttersystemen der Ägypter. Korrelationen und Wechselwirkungen sind das Prinzip der Religion, die somit auf ein Ganzes als Prinzip der Religion verweisen. Indem die Geschichte der Religion erforscht und auf Korrelationen mit anderen Religionen hin untersucht wird, vereinigen sich Geschichte und Gegenwart. Diese Vereinigung ist ursprünglich, weil dadurch das Ganze ins Blickfeld rückt. Das Ganze ist auch bei Ulrich Mann sowohl Raum als auch Zeit, wobei das Ganze als Verbindung von Raum und Zeit nie ganz erreicht werden kann. Daher kann man nur mythisch vom Ganzen reden. Das Mythische wiederum drückt sich immer in objektivistisch gefassten Formulierungen aus und wird zur Mythologie. Die Mythologie ist aber unentbehrlich, wo vom Grund des Seins die Rede ist, ist also ursprünglich. Das Ganze als Mythos muss aber verständig interpretiert werden, damit es sich nicht verfestigt und statisch wird. Diese Entwicklung fasst Mann als ganzheitsgemäße auf. Die mythischen Anfänge einer Religion gelten als ursprünglich, weil Teile des Wissens neben Änderungen, die im Laufe der Jahre hinzukamen, bis heute tradiert wurden. Dieses Konglomerat aus ursprünglichem, mythischem Wissen und entwickeltem, transformiertem Wissen ist für Mann lebendige Religion. Dieser Glaube ist nun aber religiöses und wissenschaftliches Prinzip, das einer kritischen Rezeption bedarf, um religiösen Wahrheiten gegenüber offen zu sein. Die Religionswissenschaft erfasst allerdings nur einen Teil der Wahrheiten. In Religionen geht es aber um das Ganze. Mann entwirft ein Modell der kritischen Rezeption, um das Ganze der Religionen erkennen und erfassen zu können. Vier Voraussetzungen müssen gegeben sein: (1) der

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Forscher muss seinen eigenen Standpunkt klar und deutlich umreißen und vertreten können. Ferner müssen (2) ebenso eigene Mängel als solche erkannt werden. Im Gespräch der Religionen findet der Forscher dann (3), was man aus anderen Religionen übernehmen möchte, aber der Forscher muss ebenso (4) bereits sein, etwas zu geben. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, steht einer Erforschung der unsichtbaren, aber dennoch nicht irrealen Religion in den Religionen nichts mehr im Wege. Mann stellt die Frage, wer denn eigentlich eine so steile These aufstellen könne wie die, „dass alle großen Religionen im Wesen – in the essence – eins seien?“ (30). Wesen der Religion meint für Mann mehr als nur „etwas theoretisch Erfassbares. Ist es aber mehr, so kann es nur erlebt werden, Wer aber brächte die Fähigkeit auf, mehr als eine Religion voll, also in ihrem Wesenskern, zu erleben?“ (ebd.). Religionen kann man nicht einfach der Reihe nach durchprobieren; denn dann nimmt man ihren tiefsten Kern nicht wahr. Wenn Religion „ganzheitliche Beziehung zum Ganzen“ (so Manns Religionsdefinition) ist, dann schließt sie „auch die Ganzheitlichkeit der Zeit, also je meiner Lebenszeit, mit ein. Ich kann mir daher nicht vornehmen, etwa auf ein Jahr Hinduist (sic! U.T.) zu werden, verschlösse ich mir doch durch solche Determinierung eben das Wesentliche!“ (31) Mann übt verschiedentlich harte Kritik an einer sich empirisch verstehenden Religionswissenschaft. Stattdessen ist für ihn die grundlegende Neuentdeckung die Religionsphänomenologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zwar ist die Diskussion über die Bedeutung und Anwendbarkeit des einheitlichen Religionsbegriffs erst nach Manns Werk in Gang gekommen, doch hat er davon eine gewisse Vorahnung: „Es gibt ja heutzutage Leute, die sich Religionswissenschaftler nennen, aber dennoch aus bloßer Freude an Problemtüftelei den einheitlichen Begriff der Religion in Frage stellen; sie sollten damit dann auch die damit gebotenen Konsequenzen ziehen“ (266, Anm.14) Es geht der Religionswissenschaft in Mannscher Perspektive nicht um die Religionen im Plural, sondern um die in diesen Religionen sich ausdrückende Religion (Singular). Mann bekennt sich als evangelischer Christ. Für ihn schärft der eigene Glaube die Kontraste des Wesens der anderen Religionen. Für Mann bedeutet dies, offen zuzugeben, eben auch im wissenschaftlichen Diskurs, dass die Theologie für ihn als Theologen Vorarbeit leistet, als bewusste Erläuterung der eigenen Religion notwendiger Bestandteil seines synoptischen Arbeitens ist. Mann nähert sich dem Weg zur Einheit der Religion durch Typenbildung. Aus dem Vergleich von Realtypen will er herausfinden, „auf welches Gemeinsame sie angelegt sind“ (73). Dadurch gelangt er zu Idealtypen. Mann konstruiert vier religionsphilosophische „Klassen“, die sich an den Sphären des Bewusstseins und des Unbewussten sowie – die Welt betreffend – am objektiven Bereich von Natur und Geschichte sowie an der subjektiven Bedeutung von Sinn-Erfahrung orientieren. Er nennt sie Geisthöhe, Seelentiefe, Weltbreite und Sinnmitte. Zur Geisthöhe rechnet Mann Reli-

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gionen „die sich erstlich und letztlich nach der Gottperson ausrichten“ (75), also nach einem persönlichen Gottesbild. Weltbreite ist nicht für alle Religionen gleich wichtig, vor allem aber für die Griechen. Um Weltbreite verständlich zu machen, greift der Bergsteiger Ulrich Mann auf Erfahrungen im Gebirge zurück. „Wenn sich Weltbreite in ihrer wirklichen Breite eröffnet, so geschieht etwas Eigenartiges. Wer im Hochgebirge bei klarer Morgenluft und in dem ungeheuren Dröhnen der Höhenstille einen überragenden Gipfel erreicht hat, und zwar einen, was es auch noch gibt, ohne Rummel und Gegröhl, der erlebt es. […] Und hierin, genau hierin findet die Transzendenzüberschreitung statt. Hier fängt die ganzheitliche Beziehung zum Ganzen an, ob der Bergsteiger sich dessen bewusst ist oder nicht, hier beginnt das religiöse Erlebnis, vermittelt durch das Zeichensymbol Weltbreite. […] Man kann dasselbe auch am Meer erleben. Man suche weiter nach Weltbreite, im Wald, in der Wüste, im Kornfeld, am Weiher, aber warum nicht auch über den Dächern von Paris, es ist strukturell das gleiche“ (84). Die beiden Erfahrungen der Weltbreite (Detailerkenntnis von Einzelfakten; Ganzheitserfahrung) führen „nie und nimmer […] zur Erkenntnis des Sinns“ (90). Dem kommt man durch das Suchen nach Sinnmitte näher, die Mann in erster Linie mit der Religion der „arischen Inder“ (95) zusammen bringt. Die vierte Klasse Seelentiefe verweist auf den Bereich des Unbewussten, des Chthonischen (Erdhaften), wie er durch Goethe, die Romantik, durch Empiriker wie Freud, vor allem aber C. G. Jung und den Indologen Heinrich Zimmer entdeckt wurde. Nach der Vorstellung dieser vier Klassen beginnt Mann mit verschiedenen Spielen („Windrosenspiel“, „ Hochzeitsspiel“). Beim „Sphärenspiel“ geht es um „Raumzeitsphäre“, „Farbsphäre“ und „Klangsphäre“. Die wissenschaftliche Darstellung der Religionswissenschaft hilft, ein vertieftes, gegenseitiges Verständnis der Religionen zu erreichen. Allein die religionswissenschaftliche Forschung ist eine unvoreingenommene Forschung, die ihre Vermutungen als Theorien in Form einer Prototheorie anerkennen muss. Als synoptische Formel als Wesensmerkmal von Religionen gelten die religiösen Phänomene, die den empirischexperimentellen Forschungen nicht zugänglich sind. Daher kann allein die Einheit der Religionen als Ergebnis der Arbeit des synoptischen Quartetts, bestehend aus Religionswissenschaft, Religionsphilosophie, Religionspsychologie und Theologie angesehen werden. Allerdings setzt die synoptische Deutung immer auch schon empirische Forschung voraus und schließt sie damit aber auch ein. Denn synoptische Deutung interpretiert das faktisch Gegebene, konstruiert es aber nicht. Über den Erfolg einer synoptischen Interpretation entscheidet dann wieder die Empirie.

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3. Ausgewählter Quellentext

Schon im frühen neunzehnten Jahrhundert hatte sich eine rege und intensive Zusammenarbeit zwischen Religionswissenschaft und Theologie entwickelt, die sich durch viele Jahrzehnte hindurch ungestört weiter entfalten konnte. Diese Zusammenarbeit hat jedoch, wenigstens im deutsch-sprachigen Bereich, in den zwanziger und dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts eine erhebliche Einbuße erlitten durch den gewaltigen Einfluss der dialektischen Theologie, welche den Begriff und die Sache Religion unters theologische Verdikt stellte. Doch abgerissene Fäden müssen wieder aufgenommen werden, und zwar da, wo sie liegengeblieben sind; das scheint überhaupt ein allgemeines Gesetz der Geistesgeschichte zu sein. Natürlich kann das nicht im Sinn einer einfachen Repristination gemeint sein; denn Geschehenes lässt sich nicht ungeschehen machen, Entwicklungsphasen lassen sich nicht nach rückwärts überspringen. Aber Unaufgearbeitetes lässt sich auch nicht beiseite schieben; Verdrängungen wirken sich nicht nur in der Psyche unheilvoll aus, sondern auch in der Wissenschaft. Das Bedürfnis nach Wiederaufnahme der einstigen engen Zusammenarbeit wie nach weiterer Pflege derselben hat sich freilich, und zwar bei beiden Wissenschaften, nie ganz unterdrücken lassen; und so ist die Verbindung denn auch niemals gänzlich abgerissen. Von der Theologie aus konnte das ja auch gar nicht geschehen, wenigstens soweit es ihre historischen Disziplinen betrifft; auf religionswissenschaftliche Arbeit zu verzichten, hätte hier ja bedeutet, dem Anspruch moderner Forschung nicht mehr Genüge zu tun. Anders verhielt es sich freilich im Bereich der Systematischen Theologie, wo noch reichlich Nachholbedarf vorhanden ist. Auf der anderen Seite hat auch die Religionswissenschaft die Fäden nie völlig abreißen lassen, ja, sie ist es sogar gewesen, die, unüberhörbar vor allem seit Gerardus van der Leeuw, Friedrich Heiler und Joachim Wach, neue Gedanken über die religiöse Einstellung des Religionswissenschaftlers laut werden ließ, welche einfach das Gehör der Theologie forderten. So konnte es denn nicht ausbleiben, dass die Zusammenarbeit seit mehr als zwei Jahrzehnten im deutschsprachigen Gebiet an Intensität wieder zugenommen hat; dass sie im skandinavischen, niederländischen, angelsächsischen und französischen Bereich ohnehin nie so stark unterbrochen war wie hier, geht aus manchen der in diesem Sammelband vorgelegten Beiträge hervor. Im deutschsprachigen Bereich nun ist die Wiederbelebung der Zusammenarbeit ein auf jeden Fall bemerkenswertes Phänomen. Es sei nur kurz erinnert: Als Ernst Troeltsch, Adolf von Harnack und Rudolf Otto starben (1923, 1930, 1937), galten sie schon weithin als Zeugen einer vergangenen Epoche – um nicht zu sagen: waren sie vergessen! Das hat sich inzwischen glücklicherweise gründlich geändert. Dieser Änderung Ausdruck zu geben, ist auch der Sinn dieses Sammelbands. Worin gründet das Bedürfnis nach der Zusammenarbeit zwischen Theologie und Religionswissenschaft?

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Von der Theologie her gesehen ergibt sich folgendes Bild: Seit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts hat sich ein radikaler Wandel des Geschichtsverständnisses vollzogen. War bis dahin die Historie nichts anderes als die Chronologie der rein kontingenten, im offenbarten Heilsplan vorgezeichneten „Großen Taten Gottes“ (Apg 2, 11) gewesen, so rückte nun das theologische Geschichtsbild in eine ganz neue Perspektive, welche die Kontinuität der Humangenese mehr und mehr in den Blick nahm. Damit verschoben sich die theologischen Sachverhalte und rückten in den Aspekt des rein Historischen, die Heilsgeschichte wandelte sich zur Profangeschichte. Welche dogmatischen Implikationen diese Verschiebungen mit sich bringen, das ist seither ein noch lange nicht erschöpftes Thema, ja vielleicht das Grundthema aller Theologie geblieben, insbesondere aber ihrer dogmatischen Disziplin; es sei in diesem Zusammenhang auf die Darstellung des systematischen Sachverhalts im entsprechenden Beitrag des zweiten Teils verwiesen. Wie immer auch die theologische Antwort auf diese Frage im einzelnen lauten mag, daran kommt kein wissenschaftlicher Theologe mehr vorbei, dass das Christentum nun Religion unter Religionen geworden ist. Die Zeit, da man sich mit dem einfachen Schema „Vera religio – falsae religiones“ begnügte und unter den letzteren im Wesentlichen das „abgefallene“ Israel und den „antichristlichen“ Islam verstand, ist schon mit der Aufklärung zu Ende gegangen – man denke an Lessings Ringparabel. Mit zunehmender Kenntnis Indiens und des Fernen Ostens wurde die Welt der Religionen unerwartet weit; durch die Erschließung der religionsgeschichtlichen Quellen erwies sich diese Welt als unerwartet alt: „Fern im Osten wird es helle, / Graue Zeiten werden jung“ (Novalis). Große, bislang kaum bekannte Religionen, vor allem die ägyptische und die altmesopotamische, Jahrtausende älter die biblische! Und die biblische Religion mit tausend Fäden in die altorientalische Religionsgeschichte verwoben! Diese Erkenntnis hätte eigentlich der traditionellen Theologie einen Schock bereiten müssen, wie er stärker nicht gedacht werden kann, und das nicht erst in den Tagen des Babel-Bibel-Streits, sondern spätestens ein gutes Jahrhundert vorher. War der Schock etwa ausgeblieben? Keineswegs, aber er wurde von Anfang an, wie aus einer Art von Selbstschutzinstinkt, in weiten Kreisen der Fachtheologie verdeckt, und wo es irgend ging, verdrängt. Man sollte das nicht billig tadeln, so reagiert nun einmal die Seele, die individuelle wie die kollektive, auf schockartige Erlebnisse. Das wichtigste bei dieser Entwicklung ist jedoch, dass es von Anfang an an bedeutenden Theologen nicht gefehlt hat, die auf eine echte Verarbeitung der neuen Situation drängten und selbst die Wege dazu wiesen. Diese neue Wegsuche aber bedeutete nichts anderes, als dass die Theologie sich intensiv in das Gespräch mit der Religionswissenschaft einließ, ja selbst in eine Forschungsarbeit eintrat, welcher die Religionswissenschaft wiederum Erhebliches verdankt.

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Aber weit mehr. Man hatte in diesen theologischen Richtungen erkannt, dass nur der Speer, der die Wunde schlug, zur Heilung dienen könne; war es doch, im tiefsten Grund, eine religionswissenschaftliche Entdeckung gewesen, welche diesen Schock verursachte! Die Theologie muss das intensive Gespräch mit der Religionswissenschaft einfach deshalb führen, weil ihre eigenste Sache nunmehr zugleich als eine Sache der Religionswissenschaft erkennbar geworden ist. Seither ist die Theologie, ohne dass sie damit ihr eigenstes Thema preisgeben dürfte, auf religionswissenschaftliche Arbeit angewiesen und wird es bleiben. Von der Religionswissenschaft her gesehen ergibt sich folgendes Bild: Die Religionswissenschaft hat es, so scheint es zunächst, erheblich leichter. Sie war zwar ursprünglich durchaus nicht frei von weltanschaulichen, ja ideologischen oder gar theologischen Präokkupationen gewesen – man denke an den sogenannten deutschen Idealismus wie an die Romantik –, doch schien das in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts als Kinderkrankheit abgetan: Religionswissenschaft galt nun weithin als empirische und also grundsätzlich wertfreie Forschungsrichtung. Wertfreiheit und reine Empirie werden nun freilich dem Religionswissenschaftler immer als Ideale wenigstens in einem Teilbereich seines Forschens vorschweben, daran ändert sich grundsätzlich nichts. Es fragt sich jedoch, wieweit sich sein Gegenstand, die Religion, diesem Ideal gefügig zeigt und wieweit er sich ihm, und zwar aus in seinem Wesen liegenden Gründen, entzieht. Mit dieser Frage stößt die Religionswissenschaft zur Grundfrage ihres Forschens vor, zur „Basis“, wie man heute, meist recht ungeschützt, zu sagen pflegt. Der Vorstoß dieser Frage trifft vor allem in die religionsphilosophische Problematik hinein, von der sich die Religionswissenschaft niemals völlig frei machen kann, und, zuletzt freilich, auch in die theologische. Eine Definition der Religion, die der philosophischen Begriffsbestimmung einigermaßen genügen kann, muss aus einsichtigen Gründen immer formal bleiben. Religion ist auf jeden Fall ein Ganzheitsverhältnis, und über dem Begriff der Ganzheit gibt es nichts noch „Gänzeres“, ein genus proximum fehlt also. Religion ist „ganzheitliche Beziehung zum Ganzen“, mehr lässt sich definitorisch nicht sagen.167 Der Religionswissenschaftler entkommt auf keinem Weg der Zwangslage, die ihm von seinem Gegenstand her auferlegt ist: er muss empirisch einen Gegenstand erforschen, der seinem Wesen nach sich der empirischen Erhellung doch nur zum Teil gefügig zeigt. Er hat es, man darf sogar sagen: per definitionem, mit einem Gegenstand zu tun, der sich einem wirklichen Verstehen nur zugänglich zeigt, wenn zugleich seine transzendentale Wirklichkeit berücksichtigt wird. Dieser Sachverhalt hat schließlich dazu geführt, dass sich in der Religionswissenschaft selbst das Bedürfnis nach einer Ergänzung der 167 Ich verweise in diesem Zusammenhang auf meine diesbezüglichen Ausführungen in dem Buch ‚Einführung in die Religionsphilosophie, Darmstadt 1970.

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rein empirischen Forschung unabweisbar anmeldete. Dieser Augenblick war endgültig gekommen, als Edmund Husserl seine Lehre von der Wesensschau in und aus den Erscheinungen (Phänomenen) entfaltete. Dies wirkte in der Religionswissenschaft als Impuls zu einer ganzheitlichen Erfassung des Forschungsgegenstands. So ergiebig die ältere, rein empirisch vorgehende Religionsforschung auch gearbeitet hatte, gegenüber dem energischen Postulat der Phänomenologie machte sich nunmehr doch ein Mangel bemerkbar: Was nützen noch so viele Einzelerkenntnisse, wenn sie nicht zu einem vertieften Gesamtverständnis führen? Es war gerade umgekehrt als in der Aufbruchsphase der vergleichenden Religionswissenschaft: Strebte diese schon seit Max Müller von der Idee zu den Fakten, so begann man nun, die Fakten nach dem Gültigen zu befragen. So entdeckte die Religionsphänomenologie, angeregt hierin besonders von Wilhelm Dilthey, den „Hermeneutischen Zirkel“. Wie das gemeint ist und was das zu bedeuten hat, geht am deutlichsten aus einem Wort von Siegfried Morenz hervor, der sagt: „In der Arbeit wurde mir deutlich, dass man selbst erfahren haben muss, was Religion sei und dass Gott sei, wenn einem das Gott-Mensch-Verhältnis ferner Zeiten aus den Quellen sichtbar werden soll.“168 Der Religionswissenschaftler muss selbst Religion haben, anders bleibt sein Forschungsgegenstand ihm zutiefst fremd. Damit kann natürlich auf keinen Fall dies gemeint sein, dass nun ein unwissenschaftliches Element in die Forschung eingeführt werden solle und sich dort unkontrolliert auswirken dürfe. Der Religionswissenschaftler wird auch seine eigene Religion wissenschaftlich erhellen, wenn er sie für seine Forschung in anderen religiösen Bereichen nutzbar zu machen versucht. Damit aber treibt er Theologie; und damit haben wir auch schon den eigentlichen Grund gefunden, der die Religionswissenschaft veranlasst, ihrerseits das Gespräch mit der Theologie zu suchen. Dies bedarf freilich noch einer bestimmten Erläuterung, und zwar im Hinblick auf die Frage, was Theologie eigentlich sei. Nicht jedes theologische Selbstverständnis eignet sich als Basis für das partnerschaftliche Gespräch mit der Religionswissenschaft. Es gibt bekanntlich eine schier unübersehbare Fülle von theologischen Selbstprädikationen; wir können es uns hier ersparen, uns in diese Auseinandersetzung einzulassen, und wir brauchen es auch nicht. Denn wie immer heute der Theologe den Standort und Sinn seiner Wissenschaft bestimmen mag, er wird jedenfalls nicht bestreiten können, dass auf sie, und sei es nur unter anderem, eine Definition zutrifft, die wir im Anschluss an Karl Girgensohn so formulieren können: Theologie ist die wissenschaftliche Selbstdarstellung der christlichen Religion. Wir könnten sogar daran denken, das Adjektiv christlich in unserer Definition wegzulassen, um damit auszudrücken, dass wir von jeder Hochreligion in unserer Zeit die Entwicklung einer im Vollsinn wissenschaftlichen Theologie erwarten und erhoffen. 168 Siegfried Morenz, Ägyptische Religion, Stuttgart 1960, S. IX.

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Wir dürfen dahingestellt sein lassen, wie weit die Ansätze zur Entwicklung von wissenschaftlicher Selbstdarstellung in außerchristlichen Religionen heutzutage gediehen sind; wir können auch die Frage unerörtert lassen, ob sich ein Terminus wie Theologie für Religionen ohne einen zentralen Hochgottglauben eigne; es steht jedenfalls fest, dass die christliche Theologie wissenschaftliche Selbstdarstellung der Religion ist und dass sie als solche sowohl das Gespräch mit der Religionswissenschaft suchen muss als auch ihrerseits sich für dieses Gespräch bereithält. Das Gespräch ist für beide Teile unerlässlich. Die Theologie könnte gar nicht sein, was sie sein soll, nämlich wissenschaftliche Selbstdarstellung der Religion, wenn sie nicht unablässig in lernbereitem Austausch mit der Religionswissenschaft stünde. Aber auch die Religionswissenschaft könnte nicht sein, was sie sein soll, wenn sie nicht auf die wissenschaftliche Selbstdarstellung mindestens der christlichen Religion hörte. Neben dieser theoretischen Begründung für das religionswissenschaftlich-theologische Gespräch gibt es noch zahllose ganz praktische Anlässe, und die sind es nun vor allem gewesen, die das Gespräch trotz des Einflusses der dialektischen Theologie nie wirklich abreißen ließen, und sie werden auch künftig beide Wissenschaften immer wieder zueinander führen. Die Theologie forscht selbst, vor allem in den biblischen Disziplinen und in der Missionswissenschaft, religionsgeschichtlich, im Fach Sozialethik religionssoziologisch, in der Praktischen Theologie religionspsychologisch; dass in der Systematischen Theologie, von Ausnahmen abgesehen, noch ein Nachholbedarf besteht, besonders in der theologischen Verarbeitung religionswissenschaftlicher Erkenntnisse, wurde schon erwähnt. Die Religionswissenschaft erhält von der Theologie also bedeutende konkrete Beiträge auf ihrem eigensten Forschungsfeld; ja, die Theologie ist, so gesehen, mit ihren einschlägigen Disziplinen überhaupt selbst ein Teil der Religionswissenschaft. Andererseits zehrt die Theologie, wie ebenfalls schon erwähnt wurde, von der religionswissenschaftlichen Arbeit ganz unmittelbar; in erster Linie von deren Forschung in den Bereichen Antike Religion und Alter Orient, aber durchaus nicht nur: die ganze Breite der religionswissenschaftlichen Arbeit hat für die Theologie fundamentale Bedeutung erhalten; denn die Theologie hat schon seit geraumer Zeit erkannt, oder wo noch nicht, da muss und wird sie in absehbarer Zeit erkennen, dass, ohne jede falsche Vermischung, ihre eigenste Sache zugleich auch die der Religionswissenschaft ist. Beide wohnen nämlich im selben Haus.

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4. Fragen zum Text 1. Informieren Sie sich über die sog. Dialektische Theologie und ihre Hauptvertreter. Warum hatten diese Theologen kein großes Interesse an Religion/en und Religionswissenschaft? 2. Was vor allem schätzt Mann an den Religionswissenschaftlern Van der Leeuw, Heiler und Wach? 3. Warum ist die Theologie nach Mann auf die Religionswissenschaft angewiesen? 4. Warum bezweifelt Mann die „Wertfreiheit“ und „reine Empirie“ der Religionswissenschaft. 5. Nehmen Sie Stellung zu Manns Aussage: „Der Religionswissenschaftler entkommt auf keinem Weg der Zwangslage, die ihm von seinem Gegenstand her auferlegt ist: er muss empirisch einen Gegenstand erforschen, der seinem Wesen nach sich der empirischen Erhellung doch nur zum Teil gefügig zeigt.“ 6. Wie verhalten Sie sich zur folgenden Aussage Manns: „Der Religionswissenschaftler muss selbst Religion haben, anders bleibt sein Forschungsgegenstand ihm zutiefst fremd“? 7. Ist das Gespräch zwischen Theologie und Religionswissenschaft für beide Teile unerlässlich, wie Mann glaubt? 8. Nehmen Sie Stellung zu Manns Aussage, dass Theologie und Religionswissenschaft „im selben Haus [wohnen]“.

5. Würdigung

Ulrich Mann setzte sich u.a dafür ein, die Theologie in ständigem Gespräch mit ihren Nachbarwissenschaften (Synopsis) so umfassend wie möglich zu halten. Im engeren Sinne verbinden sich vier Disziplinen zur synoptischen Arbeit: Religionsphilosophie, Religionswissenschaft, Religionspsychologie und Theologie. Will man dem Gegenstand Religion/ Religiosität/ Religionen wenigstens soweit gerecht werden, wie er es beanspruchen kann, so muss man eine Fülle einander widerstrebenden Betrachtungsweisen wirksam werden lassen. Denn jede Disziplin fokussiert und argumentiert anders als andere; aber jede schließt bestimmte Aspekte des Gegenstandes aus. Nur eine große Anzahl unterschiedlicher Blickwinkel kann den nicht untersuchten Raum so klein als möglich gestalten. Auffallend ist, dass Mann die Sozialwissenschaften, insbesondere die Soziologie, nicht am synoptischen Gespräch beteiligt, weil er wohl vor allem dieser Wissenschaft Reduktionismus unterstellte. Mann sieht drei Formen des Reduktionismus, den Biologismus, den (Freudschen) Psychologismus und den Soziologismus. Allen Ismen wirft

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er vor, die gesamt-menschliche Wirklichkeit jeweils zu reduzieren auf Bios, Psyche oder Sozietät. Allen drei wirft er vor, das für das Personsein des Menschen konstitutive Geistige zu leugnen. Er warnt dringlich davor, einen Teilaspekt menschlicher Wirklichkeit zu verallgemeinern. „Alles hängt miteinander zusammen, wenn schon, dann ist unbeschränkte Korrelation, unendliche Wechselwirkung das Prinzip. Nicht das Soziologische allein, nicht die Bewusstseinsentwicklung, die Weltgeschichte oder was sonst immer, nichts von dem darf, für sich und isoliert genommen, als letzte Ursache dieses Geschehens, als Prinzip der Religionen behauptet werden“ (19). Mann hat das zunehmende Interesse der Religionswissenschaft am rein Empirischen in den Anfängen noch miterlebt und das Desinteresse, (religionsphilosophische) Fragen nach dem Wesen von Religion/en von vornherein für illegitim zu erklären. „Zugegeben, der reinen Empirie stellt sich die Einheit der Religionen nur als formaler Begriff dar, und zwar im Sinne jener Kantschen regulativen Prinzipien, die wohl denknotwendig, aber nicht kategorial nachweisbar sind. Das heißt des näheren, der ausschließlich empirisch arbeitende Religionsforscher wird zwar durch den Blick auf den vor ihm sich ausbreitenden Faktenbestand in seiner vorgängigen Vermutung bestätigt, dass er sich auf ein Gebiet letztlich einheitlichen Wesens begeben hat; doch der Erweis dieser Einheit ist ihm niemals so gegeben wie eben ein empirischer Einzelbefund seiner Forschung. Aber auch unser strenger Empiriker stößt auf Fakten, die ihn nach der Einheit der Religionen wenigstens fragen lassen“ (35) Die Wichtigkeit synoptischer Arbeit am Phänomen Religion/en zu betonen, dessen wurde Ulrich Mann Zeit seines Lebens nie müde. Ziel synoptischer Arbeit war es, die Religion in den Religionen zu finden. Demnach galt es zu untersuchen, ob nicht alle Religionen trotz ihres Facettenreichtums und ihrer Unterschiedlichkeit doch etwas Gemeinsames besitzen. Dafür war ein interreligiöser Dialog unerlässlich, den Ulrich Mann anstrebte. Starken Einfluss auf Ulrich Man hatten die Arbeiten des Psychologen C.G. Jung. Aber auch dessen persönliche Einstellungen zum Leben faszinierten ihn. Jung war Fremdem und Unbekanntem stets aufgeschlossen, blieb aber dennoch seinen abendländischen Wurzeln treu und vermied ein individuelles Konglomerat aus adaptieren Kultureinflüssen. Ulrich Mann schrieb oft über das, was er selbst er-fahren hatte (im wörtlichen Sinne) auf seinen in die Ferne und vor allem Höhe führenden Weltreisen. Seine Erlebnisse u.a. im Feuertempel der Parsen sind beeindruckende Schilderungen religionsphänomenologischer Sachverhalte. Ulrich Mann hat den Weg freigelegt für das „synoptische“ Denken, das Tiefenpsychologie, Religionsphilosophie und Theologie mit empirischer Religionswissenschaft zu verbinden trachtete. Ulrich Mann war in der bundesrepublikanischen TheologenLandschaft ein Querdenker und Außenseiter. Gerade weil er heute nicht in die gängige religionswissenschaftliche Landschaft passt, wurde er hier ausgewählt. Er hat die

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Religionswissenschaft für Fragestellungen offen halten wollen, die ihr damals, und um wie viel mehr heute, abhanden gekommen waren.

6. Weiterführende Arbeitsaufgaben 1. Halten Sie Manns Fragen nach der „Religion in den Religionen“ für legitim? 2. Wie unterscheidet Mann Theologie und Religionswissenschaft? 3. Wie verhalten Sie sich zu Manns Einseitigkeit, die Soziologie aus der synoptischen Arbeit an Religion/en heraus zu lassen? 4. Klären Sie Manns Verständnis von Psychologie/Religionspsychologie. 5. Warum war vielen Theologen seiner Zeit der Ansatz Manns an der Tiefenpsychologie C.G. Jungs suspekt? Was sagt dies über ihr Verhältnis von Religion aus? 6. Informieren Sie sich über die religionswissenschaftliche Diskussion zum Thema Religionsphilosophie. Welche Gründe werden genannt, die Religionsphilosophie aus der Religionswissenschaft auszuklammern? Überzeugen Sie diese Gründe? (Literaturempfehlung: Heinz Robert Schlette: Einführung in das Studium der Religionen, Freiburg 1971, S. 131–147: Aufgaben und Probleme der Religionskritik)

7. Auswahlbibliographie Primärliteratur

Spiritualismus und Realismus im christlichen Offenbarungsverständnis, Nürtingen 1951. Lorbeer und Dornenkrone. Eine historische und theologische Studie über das Wehrverständnis im deutschen Soldatentum, Stuttgart 1958. Die Leibhaftigkeit des Wortes. Theologische und seelsorgerliche Studien und Beiträge als Festgabe für Adolf Köberle zum 60. Geburtstag, Hamburg 1958. Gottes Nein und Ja. Von Grundriss und Richtmaß theologischen Denkens, Hamburg 1959 (= Habilitationsschrift unter dem Titel ‚Gesetz und Evangelium als dogmatisches Prinzip‘) Theologische Religionsphilosophie im Grundriss, Hamburg 1961. Vorspiel des Heils. Die Uroffenbarung in Hellas, Hamburg 1962. Vom Wesen des Protestantismus, Heidelberg 1964. Theogonische Tage. Die Entwicklungsphasen des Gottesbewusstseins in der altorientalischen und biblischen Religion, Stuttgart 1970. Das Christentum als absolute Religion, Darmstadt 19896 (1970). Einführung in die Religionsphilosophie, Darmstadt 19903.

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Theologie und Religionswissenschaft. Der gegenwärtige Stand ihrer Forschungsergebnisse und Aufgaben im Hinblick auf ihr gegenseitiges Verständnis, Darmstadt 1973. Einführung in die Religionspsychologie, Darmstadt 1973. Die Religion in den Religionen, Stuttgart 1975. Das Wunderbare, Gütersloh 1979 (Handbuch Systematische Theologie Bd. 17). Tragik und Psyche. Grundzüge einer Metaphysik der Tiefenpsychologie, Stuttgart 1981. Schöpfungsmythen. Vom Ursprung und Sinn der Welt, Stuttgart 19883. Überall ist Sinai. Die heiligen Berge der Menschheit, Freiburg i. Br. 1988. Sekundärliteratur

Hummel, Gert (Hg.): Synopse – Beiträge zum Gespräch der Theologie mit ihren Nachbarwissenschaften, Darmstadt 1975. Ders. (Hg.): Miscella Theologiae. Beiträge aus dem Institut für Evangelische Theologie der Universität Saarbrücken für Prof. em. Dr. Ulrich Mann zur Vollendung seines 70. Lebensjahres, Saarbrücken 1985. Großmann, Sigrid: Bibliographie Ulrich Mann. In: Gert Hummel (Hg.), a.a.O., S. 263–271. Müller, Wolfgang: Bilanz eines Forscherlebens, in: Evangelische Aspekte Heft 3 (2008), S. 16–21.

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17. Wilfred Cantwell Smith (1916–2000) 1. Biographie

Wilfred Cantwell Smith wurde 1916 in Toronto/Kanada als Sohn von Victor Arnold Smith, Direktor der Swan Pen Company, und Sarah Cory Cantwell Smith, einer Professorin für klassische Philologie, geboren. Im Upper Canada College in Toronto gewann er Interesse an anderen Kulturen und Sprachen. Zusammen mit seiner Mutter verbrachte er ein Jahr in Grenoble/ Frankreich und unternahm ausgedehnte Reisen nach Europa und in den Nahen Osten. Bereits als 17jähriger begann er mit den ersten privaten Arabischstudien in Kairo. Anschließend machte er seinen B.A. in Orientalistik in Toronto. Hier begegnete er seiner späteren Frau Muriel MacKenzie Struthers. Sie blieb seine lebenslange Partnerin, begleitete ihn auf alle Forschungsreisen, nahm Anteil an den Begegnungen Cantwell Smiths mit Studierenden und ihren Familien. Direkt nach seinem Abschluss wechselte Smith mit einem Stipendium nach Cambridge, um dort postgraduellen Studien in Theologie und Orientalistik nachzugehen. Die Jahre 1940– 1946 verbrachte er im heutigen Pakistan. Er wurde zum Pfarrer der Presbyterianischen Kirche ordiniert und lehrte als Dozent indische und islamische Geschichte am Forman Christian College in Lahore. Seine Frau schloss während dieser Zeit ihr Medizinstudium ab. Cantwell Smiths erstes Buch Modern Islam in India erschien 1946. Nach Kriegsende kehrte er an nach Princeton/Nordamerika zurück, um dort 1948 in Oriental Studies zum Ph.D. zu promovieren. Ein anschließendes Forschungsstipendium ermöglichte es ihm, 1948/1949 eine Forschungsreise durch mehrere arabische Länder zu unternehmen. 1949 berief ihn die McGill Universität/Montreal als ersten Professor für Vergleichende Religionswissenschaft in der erst neu gegründeten Faculty of Theology. Wilfred Cantwell Smith war nicht nur ein begabter origineller Wissenschaftler, sondern zugleich ein fähiger Organisator, der mehrere Institute an verschiedenen Institutionen gründete, so zum Beispiel ein Institute of Islamic Studies an der McGill Universität, wo er von 1949–63 lehrte. Die neuartige Ausrichtung des

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Islamstudiums an der McGill bestand in seiner interreligiösen Ausrichtung. Cantwell Smith gewann islamische Gelehrte und graduierte Studierende für das Studium in seinem Institut und bezog sie viel stärker ein, als es für islamwissenschaftliche Institute anderer Universitäten üblich war, an denen ausschließlich westliche Orientalisten lehrten. Den Schwerpunkt legte Cantwell Smith auch nicht auf den traditionellen klassischen arabischen, persischen und türkischen Islam, sondern auf den süd- und südostasiatischen Bereich. Seit den 1960er Jahren richtete Cantwell Smith sein Interesse stärker auf die vergleichende Religionswissenschaft. Dies wird an seinem wichtigen Werk „The Meaning and End of Religion“ (1963) deutlich. Sein theologischstes Werk war „Toward a Worldtheology. Faith and the Comparative History of Religion“ (1981). Cantwell Smith gehörte zu den Initiatoren des Center for the Study of World Religions an der Harvard Universität, dessen Direktor er 1964 wurde. 1973 ging er nach Halifax, der Hauptstadt des an der nördlichen Atlantikküste gelegenen kanadischen Staates Nova Scotia, um an der Dalhousie Universität das Department of Comparative Religion zu gründen. 1978 kehrte Cantwell Smith nach Harvard zurück, um die Entwicklung eines Religionsprogramms in der Faculty of Arts und Sciences wissenschaftlich und organisatorisch zu begleiten. Nach seiner Emeritierung (1984) ernannte ihn Harvard zum Professor Emeritus of the Comparative Study of Religion. 1985 kehrte er in seine Heimatstadt zurück, wo er zum Senior Research Associate to the Faculty of Divinity at Trinity College, ernannt wurde. Sein Lebenswerk wurde mit über einem Dutzend Würdigungen und Titeln von sehr bedeutenden Institutionen gewürdigt. Seine Familie war von einer starken puritanischen Religiosität geprägt, die ihr presbyterianisch-calvinistisches Profil auch nach außen hin sichtbar machte. Cantwell Smith starb 2000 in Toronto an kongestiver Herzinsuffizienz. Er hinterließ seine Frau, mit der er 60 Jahre verheiratet war, und die fünf Kinder Arnold, Julian, Heather, Brian und Rosemary.

2. Inhalt des Buches Hier soll nicht das wesentlich bedeutendere Buch des Autors „The Meaning and End of Religion“ vorgestellt werden, sondern das Bändchen „The Faith of Other Men“ (1963), dem u.a. sieben CBC (Canadian Broadcasting Corporation) radio talks (1962) zu Grunde liegen (Teil I) und ein Vortrag in Montreal 1961 (Teil II). Es handelte sich um eine halbstündige Hörfunkreihe über the religions of the world. Zugleich war es Cantwell Smiths erster größerer öffentlicher Auftritt. Anders als erwartet, lieferte der Autor keine der üblichen Einführungen in sechs Religionstraditionen, sondern „I tried instead to convey a sense of

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what it might be like a human being living in the light of one or other of them“.169 Das für ein non-academic audience konzipierte kleine Buch versteht sich daher in gewisser Weise als eine popularized application seines bekanntesten und umstrittensten Werkes The Meaning and End of Religion. Cantwell Smith vertritt in diesem Buch („moderner Klassiker“, Talal Asad) die These, dass das ziemlich junge europäische Konstrukt Religion keine so universal gültige Kategorie ist, wie allgemein angenommen. Kein Religionsstifter hatte die Kategorie Religion bei seinem Auftreten im Sinn. Manche Religionen besitzen nicht einmal einen Begriff für Religion. Bedeutsam ist für Cantwell Smith die Unterscheidung von faith und belief, die im Deutschen jeweils mit Glaube übersetzt werden. Faith ist für Cantwell Smith eine universale Eigenschaft des Menschen, ein Urvertrauen und Geborgensein, während belief eine inhaltliche intellektuelle Konzeption ist. Diesen Gedanken behandelt er in drei Publikationen „Believing – an Historical Perspective“ (ursprünglich „Belief and History“, 1977), „Faith and Belief“ (1987) sowie schließlich „Patterns of Faith around the World“ (ursprüngliche Fassung „The Faith of Other Men“).

In seiner Einleitung konfrontiert Cantwell Smith seine Hörer/Leser mit der Tatsache des weltweiten religiösen Pluralismus, wie er die Welt vor fünfzig Jahren prägte: „Confucians and Hindus, Buddhists and Muslims are with us not only in the United Nations, but down the street“ (11). Das Ziel in multireligiösen Gesellschaften besteht darin „for all to learn to live together with our seriously different traditions not only in peace but in some sort of mutual170 trust and mutual loyalty“ (12f.). Das Studium der vergleichenden Religionswissenschaft funktioniert auf drei Ebenen: discovering the outward facts (1); learning the religious meaning (2); drawing generalizations (3). Cantwell Smith geht es nicht darum, Kenntnisse über diese oder jene Religion zu vermitteln, sondern „to help you to see the world as a Buddhist sees it“ (17). Statt Buddhist kann man entsprechend andere Religionsbezeichnungen einsetzen. Im Zentrum steht „inner faith rather than outward system“ (ebd.). Dabei bedient sich Cantwell Smith des Auswahlprinzips, zum einen hinsichtlich der Religionen. Außerdem „ in each case we can choose only one facet of these“ (18). Seine Darstellung ist auf der Ebene zwei angesiedelt. Zu Beginn seiner Darstellung der Hindus (nicht: Hinduism) erläutert Cantwell Smith noch einmal das Prinzip der jeweiligen Religionsportraits, das an die (religions-) pädagogische Debatte um Elementarisierung als religionsdidaktisches Modell erinnert (1970er Jahre). Im Hintergrund stand Wolfgang Klafkis Unterscheidung von Fundamentalia & Elementaria. Angesichts einer ungeheuren Stofffülle sind die Kriterien des Fundamentalen und Elementaren mit Hilfe der existentialen Interpretation herauszu169 Wilfred Cantwell Smith: On Understanding Islam, The Hague 1981, S. 26. 170 Mutual = gegenseitig; trust = Vertrauen.

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arbeiten: das Fundamentale einer Religionstradition zu elementarisieren und durch ein (personalisiertes) Beispiel exemplarisch vorzustellen. Im gut ausgewählten, für die Religionstradition wichtigen Detail (facet) das Ganze erfassen zu wollen (typifying the whole, 23) ist auch der Grundgedanke Cantwell Smiths. Für die Hindu-Tradition greift er auf die ehrwürdige Formel tat tvam asi (das bist Du) zurück. Bedeutsam ist dieses Wort und das sich in ihm ausdrückende Welt-, Menschen und Gottes-Bild für „the life of the intellectual man of faith“(25) und „just because to us in the West, with our radically different intellectual and theological background, it sounds so strange“ (26). Es geht nicht darum, dass wir NichtHindus diese Formel als Wahrheit akzeptieren sollen, obwohl wir sie verstehen lernen sollen und take them seriously (28). Ehrlicher- und sympathischerweise gibt Cantwell Smith zu, „that I do not fully understand it“ (29). Gleichwohl versucht er, sich auf den nächsten Seiten der Bedeutung dieser Weltformel verstehend anzunähern. Hilfreich erscheinen ihm schließlich Gedanken aus seiner eigenen (reformierten) Tradition. „Again I may be wrong but I see a parallel between the Christian doctrine of man’s sin and depravity and the Hindu doctrine of man’s essential divinity as contrasted with his existential humanity“ (35). In seiner nächsten Radiosendung beschäftigt sich Cantwell Smith mit Buddhists. Er konzentriert sich dafür auf den Initiationsritus der Novizen in einem burmesischen (myanmarischen) Dorf. Er vergleicht diesen Ritus mit Bar Mizwa, Konfirmation, Kommunion und entsprechenden Übergangsriten, stellt die Vorbildgeschichte im Leben des historischen Siddharta Gautama Buddha dar. Was symbolisiert der Ritus? Cantwell Smith fragt genauer: Was symbolisiert der Ritus verschiedenen Teilnehmern, dem teilnehmenden Jungen, seinen Eltern, was bedeutet er uns außen stehenden Betrachtern, die keine Buddhisten sind? Cantwell Smith geht an dieser Stelle der Frage nach wahr/falsch auf verschiedenen Ebenen nach. „I have long thought that one should not speak of a religion’s being true or false simply, but rather of it becoming true or false as each participant appropriates it to himself and lives it out. It is much too glib to say that Christianity for instance, is true (or, indeed, is false) without recognizing that my Christianity may be more false than my neighbour’s, or that so-and-so’s Christianity may be truer today than it was last year“ (44). Die zweite Frage betrifft wahr/falsch „as to whether that which is being represented is, in principle, true“ (ebd.). Cantwell Smith sieht im Ritus des Ganges aus dem Haus in die Hauslosigkeit „psychological truth of almost universal validity – and that one need not be a Buddhist to see this“ (45). Am Ende seines Vortrages über Buddhisten macht er folgende Beobachtung: Der Ritus des Hinausgehens „is the act not only of an individual, and of a scocial community, but also of a religious order. The role, in this ritual, of the child – Everyman’s son – symbolizes that each one of us is involved, at first hand, in this drama of living on earth, participant on the one hand in its tumults and its vicissitudes and exactions and ist routines,

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it’s transience and decay, but participant also in an enduring quality that trancends the mundane, and lifts us, or can lift us, out of the utterly contingent; and that this quality is moral. And that in righteous living man has a window on eternity“(46f.).171 Mit den Muslimen beschäftigt sich die nächste Sendung aus der Hörfunkreihe. In den Fokus rückt Cantwell Smith das islamische Glaubenszeugnis, die Shahada, das „Zwei-Wort“ oder einfach „das Wort“ für die Muslime. Im Unterschied zum pictorial sign der Christen steht im Mittelpunkt des muslimischen Glaubens ein „verbal sign“ (54). Cantwell Smith nutzt die Gelegenheit, um seine Glaubenskonzeption (faith) am Beispiel des Glaubens der Muslime darzustellen. Dann geht er den beiden Teilen der Shahada nach: „Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt, außer Gott. Ich bezeuge, dass Mohammed der Gesandte Gottes ist“. Der erste Teil richtete sich gegen den altarabischen Polytheismus, auf einer subtileren Ebene „ the doctrine has meant also at times, and certainly ought to mean, a rejection of human tyranny“ (57). Die Sufis, die muslimischen Mystiker, kennen noch eine dritte Bedeutung: „turning aside from a moral polytheism, from false values – the false gods of the heart“ (58). Bei manchen Sufis findet sich noch eine weitere, vierte Bedeutung, die Cantwell Smith persönlich attraktiv findet: „According to this interpretation, then, the statement that there is no god but God is to be taken in stages. […] To arrive at a true faith, one must first pass through a state of unbelief. There is no god: this comes first, and must be lived through in all sincerity, and all terror. A person brought up in a religious tradition […] he must have learned the bleakness of atheism, and have experienced its meaninglessness and eventually its dread“. Nachdem man also die Phase des es gibt keine Gottheit durchlitten hat, folgt der Affirmativ: außer dem einen Gott.172 Bei seiner Deutung des zweiten Teils der Shahada bemerkt Cantwell Smith, dass es keine Aussage ist „about Muhammads status“, sondern „about his function“ (59). Mohammed brachte „moral law to mankind“ (60). „The apostle or prophet is one who conveys to men the message that God wants them to know, namely, how to live“ (61). Dem Kapitel über Die Chinesen ist als einzigem ein bildhaftes Symbol, das YinYang-Symbol vorangestellt, und der Autor geht bei seiner Darstellung auch von diesem die drei chinesischen Religionstraditionen (Konfuzianismus, Daoismus, Buddhismus) verbindenden Symbol aus. Er stellt dem „complement dualism“, dem sich gegenseitig ergänzenden Dualismus der Chinesen, entgegen gesetzte Weltmodelle gegenüber wie den klassischen „conflict dualism“ (67) des altiranischen, auf den 171 glib (aalglatt); vicissitude (Wandel, Unbeständigkeit); exaction (Eintreibung); transience (Vergänglichkeit); decay (Verfall); mundane (irdisch, weltlich); righteous (rechtschaffen). 172 Cantwell Smith schreibt Gott im ersten Teil der Shahada, wo an die altarabischen Gottheiten gedacht ist, klein, den eigentlichen Gott dagegen groß. – sincerity (Ernsthaftigkeit); bleakness (Trostlosigkeit); dread (Furcht).

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„Priester-Propheten“ Zarathustra zurück gehenden Zoroastrismus. Wiederum völlig anders ist der indische Monismus (68). Cantwell Smith beschreibt eine Reihe von Vorzügen des Yin-Yang-Symbols im Kontext von Fragen nach gut/böse, männlich/ weiblich, Freiheit/Determinismus. Zum Schluss schneidet er religionstheologische Fragen an. „As our circle symbolizes […] they usually comprehend both within the compass of a larger whole. In the modern world voices are suggesting that all mankind must learn to see religious diversity in this way, so that we may construct on earth an englobing concord and fellowship that recognizes the differences and even contrasts in the religious realm as parts within an harmonious circle of world-wide community – the truth lying not with one element in the complex but in the adjustment of each to the others“ (74).173 Diesem beliebten Modell stellt Cantwell Smith sein eigenes gegenüber: What I myself see in the yang-yin symbol […] is not the first solution only, not merely an image that would reduce Christian truth to a part of some larger whole. […] A truly Christian attitude to outsiders must involve both the validity of Christian orthodoxy and an acceptance of men of other orthodoxies as one’s brothers – in one’s own eyes, and in the eye of God. In this, the image says to me, as in all ultimate matters, truth lies not in an either/or, but in a both/and.“ (ebd.) Die sechste Sendung beschäftigt sich mit Christen und Juden, auch wenn der größte Teil aus christlicher Perspektive geschrieben ist. Cantwell Smith betrachtet „three ways in which my being a Christian is involved in my awareness of other men’s faith, and vice versa“ (77): die „persönliche Erfahrung“, die „theologische Lehre“ und der „moralische Imperativ“ (ebd.). Der Glaube anderer Menschen betrifft Christen moralisch auf zweierlei Weise: „We are morally impelled, by being Christian, to try to appreciate that faith“ (87). Darüber hinaus „we are morally impelled […] to strive to construct a world of reconciliation and peace, of mutual understanding and global community, of universal human dignity“.174 Cantwell Smiths siebter radio talk ist eine conclusion und entwirft prophetisch die Vision einer religionspluralistischen globalen Welt: „The new world that is waiting to be born is a world of cultural pluralism, of diverse faith. No wonder we cannot bring it to birth as long as we have not recognized this, and have not deliberately and joyously set our face in this direction“ (99). 173 Comprehend (begreifen, einschließen); englobing (das Wort existiert im gewöhnlichen Englisch nicht; globe = Erdball, Erdkugel); concord (Eintracht, Kongruenz, Übereinstimmung); adjustment (Angleichung, Anpassung) 174 Solution (Lösung); awareness (Bewusstsein, Erkenntnis); impelled (gezwungen); strive (streben, anstrengen, sich bemühen); appreciate (wertschätzen); reconciliation (Versöhnung); mutual (gegenseitig); dignity (Würde).

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Teil II des Büchleins, ursprünglich ein Tagungsvortrag, behandelt „The Christian in a Religiously Plural World“ (105–128). „We are not saved by our knowledge; we are not saved by our membership of the Church; we are not saved by anything of our doing. We are saved rather by the only thing that could possibly save us, the anguish and the love of God. […] The God whom we have come to know, so far as we can sense His action, reaches out after all men everywhere to all who will listen“ (127f.).175

3. Ausgewählter Quellentext

Was den Westen betrifft, so ist dieses Studium [der Vergleichenden Religionswissenschaft, U.T.] neu. Die moderne Entwicklung begann zunächst mit dem Zeitalter der Entdeckungen, in dem die westliche Christenheit sich nach der übrigen Welt tastend, prüfend, forschend, ausstreckte. Allmählich wurde sie der Menschen und Gegenden außerhalb ihres bisherigen Horizonts gewahr. Es wurden merkwürdige und wundersame Berichte von den „Religionen“ der anderen Völker erstattet, zunächst wahllos als Reiseberichte, später mehr systematisch und ausführlich. Im 19. Jahrhundert begann man, dieses Studium ernsthaft als eigene Disziplin zu betreiben, indem man Material sammelte, es sorgfältig aufzeichnete, systematisch untersuchte und interpretierte. Dies war die Aufgabe der Universitäten, vor allem in Europa. (Der amerikanische Kontinent hat nun aber auch mit dieser Forschung begonnen, und zwar bezeichnenderweise in einem irgendwie neuen Geist.) Es gibt meiner Meinung nach heute drei Ebenen im vergleichenden Studium der Religionen. Es ist nur zum Teil eine übermäßige Vereinfachung, wenn ich sage, dass sie ungefähr den drei Stadien der westlichen historischen Entwicklung entsprechen. Ich möchte sie Information, Interpretation und Generalisierung nennen, oder in gleicher Reihenfolge: das Studium der Überlieferungen, das Verständnis des Glaubens und das Ziehen von Schlüssen. Wir wollen diese Stadien nacheinander betrachten. Das Sammeln von Material kam zuerst und musste es auch. Es handelte sich darum, den Gehalt der verschiedenen religiösen Überlieferungen in aller Ausführlichkeit und Genauigkeit aufzudecken. Dies bedeutete das Erlernen von Sprachen, das Bestimmen und Datieren von Texten, das Ermitteln von Riten und Sozialstrukturen, sowie die Anhäufung und Analyse endlosen Materials. In den letzten 100 bis 150 Jahren sind darin große Fortschritte gemacht worden. Die religiösen Überlieferungen der Welt werden nun in ihren jeweiligen historischen Zusammenhängen bekannt. Die meisten von uns haben keinen genügend lebendigen Begriff davon, wie groß der Wandel ist, der damit im westlichen Bewusstsein eingetreten ist. Wir können uns kaum 175 Anguish (Angst, Pein, Qual).

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vorstellen, wie unwissend die westliche Welt noch vor kurzem, etwa zu Beginn des 19. Jahrhunderts, war. Es ist z.B. sehr aufschlussreich, die religionswissenschaftlichen Artikel in den verschiedenen Ausgaben der Encyclopaedia Britannica zu untersuchen. Ein Beispiel aus dem Buddhismus: die vierte Auflage der Britannica von 1810 enthält in ihren vierundzwanzig Bänden keinen einzigen Artikel über die Buddhisten oder ihre Tradition. In der Ausgabe wird allerdings im Artikel China auf die Sekte des Götzen FO hingewiesen. Dieser Glaube wird als verderblicher Aberglaube hingestellt, der von Indien her eingeführt wurde und die (deistische) Reinheit der alten Religion Chinas verdeckt habe. Es wird hier auch eine kurze Angabe über das Wort FO gemacht: „Ein Götze der Chinesen“. Offensichtlich wusste man jedoch nicht, dass FO die chinesische Bezeichnung für Buddha war. In der 7. Ausgabe von 1842 finden wir einen Artikel „Buddha“, in dem dieser als „einer der zwei Erscheinungen Vishnus“ bezeichnet wird. Er soll als solcher aufgetreten sein, um die Feinde der Götter irrezuführen, indem er sie dazu verleitete, falsche Meinungen anzunehmen, den Hinduglauben zu verwerfen und damit der Zerstörung anheimzufallen. Das scheint vielleicht eine indische Erinnerung an die verhasste buddhistische Häresie widerzuspiegeln. Die 7. Ausgabe von 1853 bis 1861 sieht im Artikel Japan „die Religion des Buddha“ als eine Religion jenes Landes an, und im Artikel China werden schließlich „die vielen Torheiten und Absurditäten der Lehre Buddhas“ erwähnt. Sie seien von außen eingeführt und in den Aberglauben der Chinesen eingepflanzt worden. Erstaunlicherweise bringt erst die 9. Ausgabe von 1875 einen Artikel über Buddha. Die westliche Welt hat anstelle der früheren Unwissenheit allmählich die Kenntnis der religiösen Überlieferungen jener anderen Gruppen erworben, mit denen sie diesen Erdball teilt. Ein Doktorand ist von der unheimlichen Menge von Information überwältigt, die heute allein über eine einzige Religion verfügbar ist. Ferner kann der obige Hinweis auf die verzerrte indische Erinnerung an den Buddha verdeutlichen, dass auch Asien eine ernstzunehmende und kritische Kenntnis seiner Vergangenheit besitzt. Dabei fängt Afrika natürlich gerade an, diese Kenntnis zu gewinnen. Der Hindu ist erst seit kurzem ernsthaft historisch interessiert. Es ist zutreffend, dass die islamische und chinesische Kultur eine Geschichtsschreibung besaßen, doch auch für sie ist das Bewusstsein von der Entwicklung modern und revolutionierend. (Ich denke z.B. an das islamische Bewusstsein, wobei das, was man heute Islam nennt, sich ebenfalls entwickelt und stets gewandelt hat.) Das afro-asiatische Verständnis des Westens einschließlich seiner Geschichte ist ihm unlängst aufgedrängt worden. Erst heute fängt man an, sich auch innerhalb der einzelnen afro-asiatischen Zivilisationskreise in ernsthafter und systematischer Weise um die Kenntnis und um ein Verständnis der anderen Kulturkreise zu bemühen. Abteilungen für Vergleichende Religionswissenschaft gibt es in den Anfängen in Tokio, Benares und Kairo, und sie könnten sich wohl als revoluti-

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onierend erweisen. Die Menschheit wird sich also der überwältigenden Vielfalt ihres geschichtlichen religiösen Lebens bewusst. Die zweite Ebene unserer Studien, die über die zunehmende Anhäufung von Material über die verschiedenen religiösen Traditionen hinausgeht, ist das Verstehen des Glaubens einzelner Menschen. Ich messe dieser Unterscheidung zwischen Tradition und Glaube den größten Wert bei. Unter „Tradition“ verstehe ich die Lehren, die rechtlichen Institutionen, die Kunstwerke, die architektonischen Bauten, die Tanzformen, – alles was äußerlich von einer zur anderen Generation weitergegeben werden kann und weitergegeben wird, was beobachtet und objektiv bestimmt werden kann. Was verstehe ich andererseits unter Glaube? Ich möchte diesen Begriff nicht definieren. Man könnte sich dazu verleiten lassen, mit der brauchbaren Definition zu arbeiten: Glaube ist das, was die Tradition für den Beteiligten bedeutet – was sie auch immer bedeuten mag. Der Glaube eines Buddhisten ist die Bedeutung, die die buddhistische Überlieferung für ihn in ihrem ganzen kosmischen Zusammenhang besitzt. Wenn ein Außenstehender die Kirche studiert, kann uns deutlich werden, dass er zwei unterschiedliche Dinge zu lernen hat: dass es im christlichen Gottesdienst ein Kreuz gibt, und was dies Kreuz für den anbetenden Christen bedeutet. Ähnliches gilt für andere Gruppen, andere Symbole, andere Zeitalter. Im ersten Stadium hatte der Westen einschließlich der Kirche genau zu lernen, welche Religionsformen die verschiedenen Volksgruppen der Welt besaßen und besitzen. Aber seit kurzem sind wir in eine Phase eingetreten, in der wir versuchen, die Bedeutung dieser Formen für das religiöse Leben derer zu verstehen, für die sie Wege des Glaubens gewesen sind. (Im Orient war der Verlauf meist umgekehrt. Ein gewisses Verständnis des Nachbarglaubens hatte sich bereits zum Teil gebildet, während die genaue Kenntnis anderer überlieferter religiöser Anschauungen bestenfalls neu ist.) Wir wenden uns wieder der Tatsache zu, dass sich der Westen nun seit kurzem dafür interessiert, nicht nur die äußeren Formen zu kennen, sondern auch ihren inneren Sinn zu ermessen. Dieses neue Verständnis beruht zum Teil auf der Einsicht, dass die Bedeutung der traditionellen Formen für den Gläubigen über die eigentliche religiöse Tradition selbst hinausgeht; sie umfasst sein ganzes Leben. So sollte man vielleicht besser sagen, dass Glaube das sei, was das Universum für den religiösen Menschen im Lichte seiner Tradition bedeutet. Wir können den Glauben der Hindus nur begreifen, wenn wir alle Lebensbereiche – von der Medizin bis hin zu Nuklearwaffen, von der wirtschaftlichen Entwicklung hin zur Treulosigkeit eines Freundes – auf dem Hintergrund ihrer religiösen Überlieferung verstehen. Es ist unnötig darauf hinzuweisen, dass das Verstehen eines fremden Glaubens im höchsten Grade schwierig ist, wenn schon das Verstehen einer anderen Tradition hohe Anforderungen stellt. Man hat mit dem Versuch kaum begonnen. Trotz der neuen Möglichkeiten, die wir heute besitzen, den Glaubenden selbst zu befragen, ist der

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Glaube anderer Menschen bisher kaum verständlicher geworden. Moslems können uns z. B. sagen, was ihre Symbole und ihre Tradition für sie bedeuten, aber sie drücken es in Begriffen aus, die uns als Außenstehenden nicht zugänglich sind. Es hat oft geradezu als ein Charakteristikum des religiösen Glaubens gegolten, dass man über ihn sinnvoll nur mit Menschen innerhalb desselben Traditionskreises sprechen konnte. Manche sind sogar soweit gegangen, es zu einem Grundprinzip zu erheben, dass es für einen Außenstehenden eigentlich unmöglich sei, einen fremden Glauben zu verstehen. „Nur Christen können das Christentum verstehen“, hat man gesagt und nur Moslems den Islam. Ein solcher Standpunkt ist nicht einfach unsinnig. Der Einwand ist gewichtig und muss ernst genommen werden. Es ist jedoch noch viel zu früh, ihn als endgültig zu akzeptieren und schon jetzt zuzugestehen, dass ein Begreifen eines fremden Glaubens ausgeschlossen und sinnlos sei. Ich selbst halte dies für möglich, auch wenn ich weiß, dass hier Schwierigkeiten vorliegen. Doch auch jene, die vom Fehlschlagen des Unternehmens überzeugt sind, sollten sicherlich bereit sein, 150 Jahre verstreichen zu lassen, bis wir ebensoviel Energie und Scharfsinn aufgewandt haben, um Glauben zu verstehen, wie in den letzten 150 Jahren im Bemühen um Überlieferungen. Wenn wir am Ende jenes Zeitraums nichts erreicht haben, dann vielleicht mögen wir die Sache aufgeben. Indessen sind das Unterfangen viel zu aufregend und die vorläufigen Ergebnisse viel zu versprechend, um uns einem solchen Pessimismus zu verschreiben. Trotzdem möge niemand die Bedeutsamkeit unseres Vorhabens unterschätzen, einen Glauben zu verstehen, den wir selbst nicht teilen wollen. Wir lassen im Augenblick die Erwägungen über die revolutionären Konsequenzen beiseite – falls wir Erfolg haben sollten. Ich glaube, dass dadurch eine neue religiöse Orientierung gewonnen, vielleicht ein neues Kapitel in der Religionsgeschichte eröffnet wäre. Unsere dritte Ebene ist die der Verallgemeinerung. Was bedeutet es, sich historisch über religiöse Verschiedenheiten zu informieren und zu lernen, den Glauben anderer zu verstehen und zu würdigen? Ist man nun bereit, daraus einige Grundwahrheiten zu erschließen? Ist man nun in der Lage, über die Religiosität des Menschen als solche etwas auszusagen – über das Bestehen des Glaubens, der eine fast universale, menschliche Eigenheit darstellt, ungeheuer mannigfaltig im Speziellen und doch erstaunlich gleich bleibend im Allgemeinen? Kann man einen allgemein-gültigen Sinn in einem so unübersehbaren Panorama von Tatsachen erkennen? Anscheinend hat das wachsende Bewusstsein von der Mannigfaltigkeit der Religionsgeschichte Versuche bestärkt, zu Formulierungen über die allgemeine Natur der Religion und ähnliches zu gelangen. Seltsamerweise ist aber zugleich die Möglichkeit zu Generalisierungen durch die vielfältige Erkenntnis beschränkt worden. Gerade das detaillierte, empirische Geschichtswesen entzieht der spekulativen Verallgemeinerung in unserem Bereich immer mehr den Boden.

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Der Historiker ist heute gut genug informiert, um auch den glänzendsten Interpretationen solcher spekulativen Theorien ganz spezifische Beispiele entgegenzusetzen. Die Tage sind vorbei, in denen es für den christlichen Theologen noch möglich war, alle nichtchristlichen Religionen als nur irdisch-menschliche Konstruktionen zu bezeichnen, die alle der göttlichen Elemente entbehren, die man allein in der Kirche finden könne. Vorbei ist auch die Zeit, in der es einem Hindu-Universalisten noch möglich war zu behaupten, alle Religionen stellten im wesentlichen dasselbe dar, oder einem akademischen Säkularisten zu konstatieren, sie seien Opium fürs Volk, abgeleitete Größen, Vaterkomplexe oder hätten andere Ursachen, seien sie einfach oder komplex. Unser historisches Wissen ist heute zu umfassend, als dass solche Verallgemeinerungen noch überzeugen könnten. Sie vermögen höchstens, den schlecht Informierten oder den dogmatisch Denkenden zu gewinnen, der nicht fähig oder willens ist, empirisches Wissen und religiösen Glauben zu vereinigen. Und nicht nur die überholten und simplifizierenden Verallgemeinerungen, sondern auch die sublimeren Theorien vorsichtiger Gelehrter unterliegen der Möglichkeit, durch empirische Neuerkenntnisse widerlegt zu werden. Unsere Kenntnisse sind aber heute bereits zu umfassend, als dass isolationistisches Denken noch länger angemessen wäre. Unser Wissensbereich hat sich so erweitert, dass wir zum „Vergleichenden Studium der Religionen“ gezwungen werden, d.h. dass wir gezwungen werden, die Beziehungen jeder Religionsgemeinschaft zu jeder anderen und zum ganzen Kreis der anderen Religionsgemeinschaften ernst zu nehmen. Man sieht heute ein, dass diese Beziehungen – mögen sie die eigene Gemeinschaft betreffen oder die anderen – sowohl historisch wie auch in anderer Hinsicht bedeutsam sind. Wir erkennen, dass die dritte Ebene, das allgemeine Verstehen, ganz und gar auf den ersten beiden Ebenen, also auf dem historischen Wissen und dem Verstehen einzelner Religionsgruppen, aufbauen muss. Gewiss vermag keiner, die Religiosität des Menschen im Allgemeinen zu begreifen, wenn er sie nicht im besonderen versteht, nach Möglichkeit, vielleicht mit Notwendigkeit, in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit. An der McGill-Universität in Montreal, an der ich bisher gelehrt habe, verlangten wir als Zulassungsbedingung zum Doktorat im Fach Vergleichende Religionswissenschaft, dass der Kandidat das Theologische Examen oder den Magister oder ein gleichwertiges Examen abgelegt und die Sprachen von mindestens zwei verschiedenen Kulturkreisen studiert hatten. Ein Kulturkreis konnte dabei sein eigener sein. Man kann keine Vergleiche ziehen, wenn man nicht weiß, was man vergleicht. Dieser Sachverhalt ist so bedeutsam, dass manche angenommen haben, jemand müsse entweder umfassend oder aber begrenzt und intellektuell unehrlich sein, um Vergleichende Religionswissenschaft zu lehren. Denn heute könne offensichtlich niemand die verschiedenen „Religionen“ wissenschaftlich gründlich genug beherrschen, um sie zu vergleichen. Ich bin mir des steten Anwachsens unseres Wissens auf diesem Ge-

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biet deutlich genug bewusst, um das Gewicht dieses Argumentes noch drückender als andere zu spüren. Doch gilt auch das Umgekehrte. Unsere neuen Erkenntnisse bestätigen jenen alten Spruch, dass man alle Religionen verstehen muss, um eine zu verstehen. Die umfassende Aufgabe, die Religiosität des Menschen zu begreifen, ist zu einem gewissen Grade Teil des Bemühens um ein Verständnis der Traditionen und des Glaubens der religiösen Hauptgruppen, und nicht etwa eine zusätzliche Aufgabe des Religionswissenschaftlers. Es liegt etwas wesentlich Unangemessenes in der bei uns nun allgemein gewordenen Übung, Bücher. über „die Religionen der Welt“ herauszubringen, die diese in getrennten Kapiteln – Judentum, Hinduismus, Shintoismus usw. – behandeln, evtl. sogar von verschiedenen Autoren. Die Frage, wie unabhängig die einzelnen Kapitel wirklich sind, ist viel zu ernst, um sie vernachlässigen zu können. Die Beziehungen zwischen den Teilen sind zu subtil und doch zu wichtig, um nur dadurch angedeutet zu werden, dass die verschiedenen Kapitel in einem einzigen Bande zusammengefasst sind. […] Die klassische Frage, was die verschiedenen Religionen der Welt gemeinsam haben, kann nun eine neue Antwort erhalten. Es ist eine neue Art von Antwort. Sie ist eher historisch als formalphilosophisch, eher dynamisch als absolut, eher auf das Werden als auf das Sein bezogen. Sie ist eine personale Antwort, die zuerst Individuen betrifft und nicht Systeme (denn Systeme ändern sich, und es sind Menschen, die sie ändern). Was die verschiedenen religiösen Traditionskreise gemeinsam haben, ist erstens die Tatsache, dass sie von Menschen getragen werden, die zunehmend von den gleichen Problemen betroffen sind. Christen, Juden, Buddhisten, Hindus, Moslems sind heute zum ersten Mal mit der gemeinsamen Frage konfrontiert, wie sie zusammenarbeiten können, um eine gemeinsame Welt zu bauen. Es soll dabei nicht nur eine Welt sein, in der wir alle miteinander leben können, sondern auch eine Welt, die wir alle bejahen, und zu deren Bau und Unterhaltung der Glaube eines jeden wirksam beitragen kann. Dies ist, wie gesagt, eine historische und nicht eine formal-philosophische Antwort. Aber ich glaube, dass sie sich allmählich als zwingender, revolutionierender und geistig eindringlicher erweisen wird als jeder doktrinäre Universalismus. Ich habe einige Aspekte dieses Sachverhaltes bei anderer Gelegenheit zusammengefasst. Die ganzen Konsequenzen und die volle Bedeutung sind zu umfassend, als dass ich diesen Sachverhalt hier weiter entwickeln könnte. Zweitens hat man gesagt, dass für zwei Religionsgemeinschaften eine klare gegenseitige Erkenntnis ihrer Unterschiede das Wichtigste ist. Das ist eine tief greifende Einsicht, deren Bedeutung und deren Konsequenzen nur allmählich ermessen werden können, indem wir Missverständnisse überwinden und auf dieser Basis handeln – z.B. bei der Begegnung zwischen Katholiken und Protestanten oder Juden und Christen. Lassen Sie mich noch erwähnen und darauf hinweisen, dass Religionsgemeinschaften in der ganzen Welt mit dem viel versprechenden Wagnis begonnen haben, sich

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gegenseitig in echter Weise zu verstehen. Sie haben gerade erst begonnen, sich selbst in ihren Beziehungen zu den anderen und allen übrigen Religionsgemeinschaften zu verstehen, mit denen sie in dem zu Anfang erörterten, nicht endenden Prozess des Wandels verbunden sind, durch den jede Religionsgemeinschaft lebt. In allen Religionsgemeinschaften der ganzen Welt erwacht zum ersten Mal ein allgemeines Bewusstsein nicht nur von der (durch die Wissenschaftler erschlossenen) Welt, in der wir leben, sondern auch von der ganzen Entwicklung der gesamten Religionsgeschichte. Diese erstreckt sich mindestens 100 000 Jahre zurück, weist eine phantastische Vielfalt und eine kontinuierliche Entwicklung sowie scharfe, zuweilen starre Unterscheidungen auf und tritt heute überall in eine neue Phase ein.

4. Fragen zum Text 1. Fassen Sie die wesentlichen Punkte zusammen, die nach Cantwell Smith zu den „drei Ebenen der Vergleichenden Religionswissenschaft“ gehören. 2. Was versteht Cantwell Smith unter Verstehen und worauf ist dieses gerichtet? 3. Prophetisch spricht Cantwell Smith von einem neuen Kapitel in der Religionsgeschichte. Was meint er damit? 4. Was versteht Cantwell Smith unter Glaube? 5. „Nur Christen können das Christentum verstehen, hat man gesagt und nur Moslems den Islam. Ein solcher Standpunkt ist nicht einfach unsinnig.“ Setzen Sie sich mit diesem Gedanken auseinander. Wenn die Möglichkeit besteht, sollten Religionsvertreter in dieses Gespräch einbezogen werden. 6. Erweitern Sie die „spekulativen Theorien (aus Christentum, Hinduismus) um weitere Beispiele aus anderen Religionstraditionen. Lektüre: Udo Tworuschka (Hg.): Die Weltreligionen und wie sie sich gegenseitig sehen, Darmstadt 2008. 7. „Gewiss vermag keiner, die Religiosität des Menschen im Allgemeinen zu begreifen, wenn er sie nicht im besonderen versteht, nach Möglichkeit, vielleicht mit Notwendigkeit, in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit.“ Nehmen Sie Stellung. 8. Nehmen Sie Stellung zu der von Cantwell Smith geäußerten Kritik gegenüber Büchern über „die Religionen der Welt“.

5. Würdigung

Es gibt neuere Einführungen in die Religionswissenschaft, die Cantwell Smith nicht einmal in einer Fußnote erwähnen. Das kann nicht in Ordnung sein. Bahn brechend waren Cantwell Smiths Gedanken in seinem 1963 veröffentlichten Aufsatz Verglei-

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Wilfred Cantwell Smith

chende Religionswissenschaft: Wohin – Warum? Auch wenn er den Begriff Praktische Religionswissenschaft wohl nicht in seinen Werken verwendete, sieht Cantwell Smith die Aufgaben der Religionswissenschaft genau in dieser Richtung. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen stehen nicht die Religionen als äußerliche Systeme mit Institutionen, Lehren und Riten, sondern im Zentrum befinden sich Menschen. Cantwell Smith sprach nicht gern von Religion oder Religionen, sondern von kumulativen religiösen Traditionen. So geht es ihm nicht um den Buddhismus oder den Islam, sondern um Buddhisten und Muslime. Man begegnet ihnen im Alltag, lernt ihren Glauben wie den anderer religiöser Traditionen kennen. Cantwell Smiths Ansatz lässt sich auf den Begriff Personalisierung bringen. Es geht ihm um die Beschäftigung mit dem Glauben konkreter Menschen. Erst diese Wende macht seiner Ansicht nach Religionswissenschaft „in erhöhtem Maße lebenswahr und wirklichkeitsnahe“. Selbstverständlich soll sich die Religionsforschung auch weiterhin mit den so genannten äußeren Gesichtspunkten beschäftigen. Doch Cantwell Smith behauptet: „Es kann kein religionswissenschaftliches Untersuchungsergebnis Gültigkeit besitzen, wenn es nicht von den Anhängern der betreffenden Religion anerkannt werden kann […] Wenn den eigenen Glauben der Gläubige in der Darstellung des Wissenschaftlers nicht wiedererkennen kann, ist es nicht sein Glaube, der dargestellt wurde.“ Ein zentrales Problem stellt die Frage der Authentizität dar. Wer ist befugt, über die jeweilige religiöse Tradition Auskunft zu geben? Zwar gilt der Gläubige als letzte Autorität, doch kann dieser nur für seinen Islam, seinen jeweiligen Buddhismus sprechen. Nicht aber für die ganze, in sich vielfältige, einander auch widersprechende Tradition. Damit erkennt die von Cantwell Smith betriebene Praktische Religionswissenschaft verschiedene Auslegungen als authentisch, gültig an. Ein wichtiges Argument gegen den Ansatz Cantwell Smiths wurde im Gefolge postkolonialer Kritik laut. Diejenigen Gläubigen, denen der Religionswissenschaftler heute zuhört, die er als seine Gewährsleute auswählt, um vermeintlich authentische Zeugnisse über ihre religiöse Traditionen zu erhalten – diese Glaubenszeugen können im Grunde gar keine authentischen Äußerungen mehr geben. Weil bei ihnen längst die westliche, europäische Sichtweise dominiert, weil sie westliche Bücher gelesen haben und vom europäisch-religionswissenschaftlichen Denken bereits selbst infiziert sind. Cantwell Smiths Religionswissenschaft war durch und durch an der Praxis orientiert. Die ausgebildeten Religionswissenschaftler – und nicht nur die Theologen und Gläubigen einer Tradition – sollten an Dialogen teilnehmen, „deren Ziel es ist, gegenseitiges Verstehen und gegenseitige Freundschaft und Zusammenarbeit zu erzielen“. Sogar die Rolle des Vorsitzenden könnte der Religionswissenschaftler bei der Begegnung zweier Religionstraditionen einnehmen. Er kann in verschiedene Rollen schlüpfen. Kann Mittler, Dolmetscher, ehrlicher Makler sein. Aber auch Aufklärer:

The Faith of Other Men (1963)

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„Ich meine daher, dass der vergleichende Religionswissenschaftler nicht länger als außenstehender Beobachter der Geschichte der einzelnen Religionen entlegener oder auch naher Gemeinschaften fungieren soll, sondern dass er vielmehr an den vielfältigen Formen der Religionsgeschichte der einzig existierenden Gemeinschaft – der Menschheit – teilnimmt. Vergleichende Religionswissenschaft kann zum disziplinierten Selbstbewusstsein des vielfältigen, sich entwickelnden religiösen Lebens der Menschheit werden.“ Cantwell Smiths Vision von Wesen und Aufgabe heutiger Religionswissenschaft ist verschiedentlich kritisiert worden. Man warf ihm vor, er begünstige psychische, also prinzipiell unzugängliche persönliche religiöse Erfahrungen, weil er den Glauben der Menschen in den Mittelpunkt stellte. Auch sein personalisierender Ansatz – für viele allerdings ein methodischer Befreiungsschlag ohne gleichen – , ist nicht ungeschoren davon gekommen. Der öffentliche Aspekt von Religion sei auf Kosten der Personalisierung zu einem religionswissenschaftlich blinden Fleck geworden. Dagegen Cantwell Smith: „Unsere Forderung wäre daher, dass von nun an jede Untersuchung über die äußeren Aspekte einer Religion als solche gekennzeichnet werden sollte; und dass nur solche Untersuchungen, die der Tatsache, dass sie sich mit dem Leben der Menschen befassen, gerecht werden, als religionswissenschaftliche Studien im eigentlichen Sinn akzeptiert werden dürfen.“ Das geht sehr weit, für die meisten Religionswissenschaftler zu weit. Wenn man aber für religionswissenschaftliche Studien praktische religionswissenschaftliche Studien einsetzt, gibt das Zitat viel Sinn. Seine vielen Auslandsreisen in der Jugend prägten sein interkulturelles Verständnis und den Wunsch nach interreligiösem Austausch. Der lange Indienaufenthalt (im heutigen Pakistan) ermöglichte ihm den engen Kontakt und Austausch sowohl mit Muslimen, Sikhs und Hindus. Zeit seines Lebens versuchte Smith, diese Erfahrungsgrundlage religiöser Freundschaften akademisch aufzuarbeiten und durch weitere Kontakte zu vertiefen. Besonders bekannt und umstritten wurde Smith durch seine Theorie der Religionswissenschaft und Religion im Allgemeinen. Er betonte, dass es der Religionswissenschaft nicht in erster Linie um Religionen, sondern um religiöse Personen gehen sollte (Prinzip der Personalisierung). Der äußerliche Zugang fasse Religionen als statische Systeme auf; demgegenüber müsse Religion als persönlicher und kreativer Akt geschichtlich, kulturell bedingter Menschen verstanden werden, da es sonst keine Erklärung für die sich ständig ändernde Geschichte der Religion geben würde. In diesem Zusammenhang trat Smith auch für die Aufgabe des irreführenden Begriffes Religion ein. Der Begriff verweist seiner Meinung nach nur auf äußerliche Gegebenheiten wie Dogmen, Institutionen, Gemeinschaftsformen, Architektur,

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Wilfred Cantwell Smith

Ikonographie, Riten etc. Im Zentrum stände aber der persönliche Glauben einzelner Menschen, die ihren Glauben nicht über Institutionen und Dogmen definierten.

6. Weiterführende Arbeitsaufgaben 1. Cantwell Smith unterscheidet zwei Formen des Glaubens: faith und belief. Für welche Art Glauben stehen beide Begriffe? 2. An die Stelle der bisherigen beschreibenden religionswissenschaftlichen Arbeit soll nach Cantwell Smith der Dialog treten. Wie ist Ihre Meinung dazu? 3. Manche argumentieren, Wilfred Cantwell Smiths Ansatz sei nur für Theologen relevant, weil viel von Dialog die Rede ist. Kann sich ein Religionswissenschaftler am Dialog beteiligen? Wenn nein, warum nicht? Wenn ja, wie? 4. Lesen Sie Cantwell Smiths 1963 publizierten Aufsatz Vergleichende Religionswissenschaft: Wohin –Warum. In diesem Beitrag beschäftigt er sich mit Methodik und Aufgabe des Fachs. 5. Klären Sie Cantwell Smiths Konzept von personal faith und cumulative tradition und nehmen Sie Stellung zur Trennung innerer und (bloß) äußerer Aspekte (Bräuche, theologische Systeme, Heilige Schriften usw.) 6. Diskutieren Sie einige Hauptthesen Cantwell Smiths: „Es kann kein religionswissenschaftliches Untersuchungsergebnis Gültigkeit besitzen, wenn es nicht von den Anhängern der betreffenden Religion anerkannt werden kann“ (Vergleichende Religionswissenschaft, S. 87) Diese These erweiterte er folgendermaßen, dass er dafür plädierte, wissenschaftliche Resultate zu liefern, die „zumindest innerhalb zweier religiöser Traditionen gleichzeitig verstanden werden können“ (a.a.O., S. 98) und wissenschaftlichen Ansprüchen standhalten. 7. Cantwell Smith ist ein Pionier der Praktischen Religionswissenschaft Sie ist für ihn „ein Instrument zur Förderung und Vertiefung des gegenseitigen Verstehens und der guten Beziehungen zwischen den einzelnen Religionsgemeinschaften“ (a.a.O., S. 86). Können Sie solche Ziele unterstützen? Oder vertreten Sie die Position einer Neutralität der Religionswissenschaft, die bestrebt ist, keinerlei Wertungen vorzunehmen, niemals kritische Stellung beziehen will. Wird eine solche Religionswissenschaft nicht zu einem l’art pour l’art? Sollte Religionswissenschaft wirklich nur als „an Welt und Geschichte desinteressiertes Sandkastenspiel betrieben werden“? (Heinz-Robert Schlette: Einführung in das Studium der Religionen, Freiburg 1971, S. 142). 8. Spielen Sie ein Rollenspiel, bei dem sich die Aufgabe der Religionswissenschaftler in einem Konflikt, einem Dialog bewähren soll: Moderator, Vermittler, Dolmetscher.

The Faith of Other Men (1963)

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9. Cantwell Smiths Position (Personalisierung, faith, cumulative tradition, Dialog) ist zum Teil heftig kritisiert worden. Russel Mc Cutcheon meint: : „If this rule were to be accepted then insiders become the final authority in determining what is and what is not a correct statement about their religion“ (McCutcheon 1999:18). Wie stehen Sie zu dem Gedanken, die Religionswissenschaft müsse nach Kräften vermeiden, den untersuchten Personen ein Deutungsmonopol einzuräumen, um kritische, dem Selbstverständnis der Gläubigen widersprechende Fragen zu stellen?

7. Ausgewählte Literatur Primärliteratur

Islam in Modern History. The tension between Faith and History in the Islamic World, 1957, Princeton University Press 1977. The Meaning and End of Religion, 1962. The Faith of Other Men, New York 1962. Vergleichende Religionswissenschaft – Wohin – warum? In: Mircea Eliade/Joseph Kitagawa (Hg.): Grundfragen der Religionswissenschaft, Salzburg 1963, S. 75–105. Questions of Religious Truth, New York 1967. Belief and History, Charlottesville 1977. Scripture. Issues as Seen by a Comparative Religionist, Claremont 1985. Towards a World Theology. Faith and the Comparative History of Religion, Philadelphia 1989. What Is Scripture? A Comparative Approach, Minneapolis 1993. Faith and Belief, Princeton 1987. Wilfred Cantwell Smith Reader, hg. von Kenneth Cracknell, Oxford 2001. Sekundärliteratur

Talal Asad: Reading a Modern Classic: W. C. Smiths The Meaning and End of Religion, in: History of Religion 40, no. 3 (2001), S. 205–22. Andreas Grünschloß: Religionswissenschaft als Welt-Theologie. Wilfred Cantwell Smiths interreligiöse Hermeneutik (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 71), Göttingen 1994. Edward J. Hughes: Wilfred Cantwell Smith: A Theology for the World (1986), SCM Bård Mæland: Rewarding Encounters: Islam and the Comparative Theologies of Kenneth Cragg and Wilfred Cantwell Smith (2003) Kværnes, Per: Comparative Religion: Whither – Why? A Replay to Wilfred Cantwell Smith, in: Temenos 9, Helsinki 1973, S. 161–168. McCutcheon, Russel T.: Studying Religion. An introduction, London u. a. 2007.

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Wilfred Cantwell Smith

Nehring, Andreas: Welttheologie oder Religionswissenschaft? Zur Bedeutung von Wilfred Cantwell Smith in der postkolonialen Kulturdebatte. In: ZfR 13, 2005, S. 45–59. Pae, Kug-wŏn: Homo fidei. A critical understanding of faith in the writings of Wilfred Cantwell Smith and its implications for the study of religion, New York u.a. 2003. Pruett, Gordon E.: World theology and world community. The vision of Wilfred Cantwell Smith. In: Studies in Religion. Bd. 19, Toronto u. a. 1990, S. 397–412. Smart, Ninian: Scientific Phenomenology and Wilfred Cantwell Smiths Misgivings. In: Whaling, Frank (Hg.): The World’s Religious Traditions. Current Perspectives in Religious Studies. Essays in honour of W.C. Smith, New York 1986, S. 257– 267.

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18. Kurt Goldammer (1916–1997) 1. Biographie

Kurt Moritz Artur Goldammer wurde am 20. Januar 1916 als Sohn eines evangelischen sächsischen kaufmännischen Agenten und einer katholischen deutschpolnischen Mutter „zufällig“, wie er selbst formulierte, in Berlin geboren. 1920 siedelte er mit seinen Eltern in die Vaterstadt Dresden um, wo er ab 1926 das traditionsreiche Heilig-Kreuz-Gymnasium besuchte und dort 1935 das Abitur ablegte. Der künstlerisch begabte Junge erlernte das Violinspiel, wobei er besonders Bach, Mozart und Beethoven, Brahms, Bruckner und Wagner verehrte. Religiös formte ihn ein konservatives Luthertum mit pietistischen, humanistischen und liberalen Einschlägen. Von 1935 bis 1939 studierte er Evangelische Theologie (u. a. bei den Kirchenhistorikern Heinrich Bornkamm und Otto Clemen, dem Alttestamentler Albrecht Alt, dem Neutestamentler Johannes Leipoldt, dem Systematiker und konservativen Vertreter des Luthertums Paul Sommerlath), Kunstgeschichte, christliche Archäologie, Philosophie und allgemeine Religionsgeschichte (bei Walter Baetke) zunächst an der Leipziger Landesuniversität, ab 1936 in Marburg (u.a. bei Friedrich Heiler, Hans v. Soden, dem jungen Rudolf Bultmann), Sommersemester 1937 in Tübingen und Zürich. 1939 promovierte Goldammer zum Dr. phil. („Die eucharistische Epiklese in der mittelalterlich abendländischen Frömmigkeit“, 1941) bei Friedrich Heiler in Marburg. Dieser war wegen regimekritischer Äußerungen von der Theologischen in die Philosophische Fakultät strafversetzt worden. 1940 legte Goldammer sein theologisches Examen in Leipzig ab. Ende 1941 wurde er Forschungsstipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Editionsassistent für die von seinem Lehrer Bornkamm betreute Erstausgabe der Paracelsischen Theologica. „Gleichzeitig blieb er als freier wissenschaftlicher Mitarbeiter der Dresdener Zentrale des Landesvereins für innere Mission verbunden, für den er 1940/41 als Pfarrvikar tätig war, so unter anderem in der Anstalts-

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Kurt Goldammer

seelsorge.“176 1944 zog Goldammer endgültig nach Marburg, und dort heiratete er am 29. März 1945 die Studienreferendarin Inge Dora Helene Rodewald (geb. am 3. Juli 1922). Aus dieser Ehe gingen in den Jahren 1947–1957 die vier Kinder Anna Katharina, Johann Georg, Magdalena, Christopher hervor. Habilitiert wurde Kurt Goldammer 1946 nicht bei Bornkamm, sondern in der Philosophischen Fakultät der Universität Marburg, wo er als Privatdozent (sog. ,Diätendozent‘) tätig war. 1947 verlieh ihm die Fakultät den Titel Privatdozent und apl. Professor. Nach Heilers Rückkehr zur Theologie führte er die von ihm gegründete Religionswissenschaft weiter. 1947 wurde Goldammer zum außerplanmäßigen Professor für ,Religionsgeschichte und Geschichte der religiösen Kunst‘ ernannt. „So bekannt Goldammer in den folgenden Jahren als Paracelsusforscher auch wurde, so glanzlos verlief seine universitäre Karriere, denn noch bis 1969 sollte er von der Universität Marburg keine Planstelle erhalten. Naturgemäß bemühte sich Goldammer um einen Ruf an eine andere Universität, denn in Marburg stand er unweigerlich im Schatten Heilers, der noch bis 1962 im Amt blieb.“177 Seit 1953 war Goldammer Editionsleiter und Vorsitzender der Paracelsus-Kommission für die Gesamtausgabe der theologischen und religionsphilosophischen Werke. 1954 erhielt er den Paracelsus-Ring der Stadt Villach und 1986 den Ehrenring der Stadt Villach). 1954 wollte ihn die Theologische Fakultät der Universität Jena ,uni loco‘ für ,Kirchen- und Religionsgeschichte‘ als Nachfolger von Karl Heussi (1877– 1961) berufen, dessen berühmtes „Kompendium der Kirchengeschichte“ 1991 in der 18. Auflage als Taschenbuch herauskam. Goldammer hielt das Angebot für „sehr reizvoll“.178 Aus politischen Gründen scheiterte das Vorhaben jedoch. Die Nachfolge Heilers in Marburg (1962) konnte er nicht antreten. Heilers Nachfolger wurde wenig glücklich mit dem Afrikanisten und Religionshistoriker Ernst Dammann besetzt. „Während seiner langen Zeit als Privatdozent musste er, um sich zu profilieren, mit theologisch-religionswissenschaftlichen Publikationen hervortreten, nicht nur zu Paracelsus, sondern im Rahmen einer sich ,immer weiter ausgreifenden Lehr- und Forschungstätigkeit‘ in der Religionsgeschichte, der allgemeinen Religionswissenschaft und der christlichen Kirchengeschichte. Als ihm die Philipps-Universität 1969 dann endlich eine Planstelle zusprach, wurde er mit mannigfachen Aufgaben überschüttet, die ihn zu wenig anderem kommen ließen“179. Goldammer engagierte sich in der

176 Neue Paracelsus-Edition. Paracelsus Theologische Werke 1: Vita beata. Vom glückseligen Leben, Berlin 2008, S. 50. 177 Ebd., S. 53. 178 Ebd. 179 Ebd., S. 61.

Die Formenwelt des Religiösen (1960)

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Selbstverwaltung seiner Universität. Als 1974/75 der Fachbereich „Außereuropäische Sprachen und Kulturen“ gegründet wurde, war er sein erster Dekan. Die Paracelsus-Forschung bildete einen Schwerpunkt von Goldammers Werk. Von 1968–94 war er Präsident, von 1994–97 Ehrenpräsident der Internationalen Paracelsus-Gesellschaft (IPG). Goldammer vertrat die allgemeine Religionsgeschichte und vergleichende Religionsphänomenologie und baute diese vielseitig aus. Er betrachtete die Religionswissenschaft als eine von der Theologie unabhängige humanistische Wissenschaft, ohne sich jedoch grundsätzlich von Heilers Ansatz zu distanzieren. Zahlreiche Arbeiten Goldammers beschäftigen sich mit Grundfragen des Dialogs und der Religionstheologie. Mehrere Aufsätze publizierte er über seinen Lehrer Friedrich Heiler. Von größter Bedeutung sind Goldammers Paracelsus-Forschungen, in denen er Leben, Werk und Wirkung des Arztes, Philosophen und Theologen untersuchte. Durch die Paracelsus-Forschungen und sein Interesse an den mystischen Traditionen setzte er sich für eine umfassendere Sicht der westlichen Religionsgeschichte ein. Er etablierte damit ein breiteres Verständnis der Religionswissenschaft. Weiterhin war er der Wegbereiter für eine allgemeine und vergleichende Religionswissenschaft. Sein bedeutendstes religionswissenschaftliches Werk ist „Die Formenwelt des Religiösen“ (1960). Hier stellt er eine Formenlehre und -systematik in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Phänomenologie. Nach Goldammers Überzeugung spielen Formen in der Erforschung von Religionen eine außerordentliche Bedeutung. Kurt Goldammers Interesse während seiner Forschungsjahre richtete sich vor allem auf systematische, phänomenologische und methodologische Fragen der Religionswissenschaft. Er betreute die 2.–4.Auflage des von Alfred Bertholet begründeten „Wörterbuch(es) der Religionen“ (1962ff.) und gab Heilers „Die Religionen der Menschheit“ (19997) heraus. Goldammer war ein kämpferischer Zeitgenosse. So berichtete ein enger Mitarbeiter an der Paracelsus-Edition, dass Goldammers Temperament ihn in Auseinandersetzungen „in proportional überdurchschnittlicher Quantität“ mit diversen Gremien (Universität, DFG, Mainzer-Akademie) verstrickt habe180. Ich habe Kurt Goldammer als einen überaus geistreichen, belesenen, unglaublich eloquenten Hochschullehrer kennen gelernt. Seit 1990 ging es Goldammer gesundheitlich nicht gut (Herzinfarkte, Bypass-Operation, Endocarditis). Seinen 80. Geburtstag beging er stationär. Kurz nach Vollendung seines 81. Geburtstages am 7. Februar 1997 verstarb Kurt Goldammer in Amöneburg bei Marburg a.d. Lahn (Hessen).

180 Ebd., S. 62.

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Kurt Goldammer

2. Inhaltsangabe des Buches

Goldammer präsentiert in seinem religionswissenschaftlichen Hauptwerk „Die Formenwelt des Religiösen. Grundriss der Systematischen Religionswissenschaft (1960)“ auf über 500 dicht bedruckten Seiten seine Version einer Religionsphänomenologie. Was die behandelten Themen betrifft, so unterscheidet sich sein Werk bis auf einige nicht wesentlich von den übrigen, ,klassisch‘ genannten religionsphänomenologischen Handbüchern. Goldammers Kompendium behandelt das komplette Repertoire dessen, was man von einer Gesamtdarstellung erwarten darf. Und dennoch, wenn man genauer hinschaut, finden sich Fragestellungen und Themen, die in den übrigen Darstellungen Van der Leeuws, Heilers, Menschings, Widengrens nicht berücksichtigt worden sind. Neues ,Sich-Verantwortlich-Wissen‘, ,Ernstnehmen‘, ,Hören‘ und ,Sehen‘: Dies sind die Haltungen des Religionswissenschaftlers, die Goldammer ganz zum Schluss anführt (494). In seiner sehr ausführlichen und sorgfältig reflektierten Einleitung (S. XIV-XXXII) legt er sein Verständnis von Phänomenologie dar. Ihm geht es darum, dass „hinter den Erscheinungen mehr steht als nur das empirisch Erkennbare und unmittelbar Wirksame“. Da für Goldammer das subjektive Element der Religion, der Mensch mit seinen Gefühlen und Erkenntnissen wesentlich ist, favorisiert er die „psychologisierenden Züge“, was ihm bei Vertretern der sog. kulturwissenschaftlichen Religionswissenschaft keinen Ruhm einbringen dürfte. Gleichwohl: „Denn wenn irgendwo, dann kommen in der Religion Fragen der menschlichen Psyche zum Vorschein, die diese Psyche und ihre Wirklichkeit selbst transzendieren. Und wenn irgendwo, dann werden hier die Grenzen des Geschichtlichen und der geschichtlichen Existenz bewusst, weil jede Religion […] sich nicht im Raume des Geschichtlichen erschöpfen will, sondern ihn transzendieren möchte“ (XV). Goldammer bejaht den „liebenden Blick auf den geliebten Gegenstand“, wie ihn auch schon Van der Leeuw propagiert hatte. Doch ist Goldammer viel zu realistisch und bodenständig, als dass er nicht zugleich auch um die Grenzen dieses Vorhabens wüsste. Er spricht vom „Prinzip der liebenden Annäherung“ (XVII), dem „Versuch einer maximalen existentiellen Nähe, die aus dem ,Als Ob‘ unermüdlich in die Existenz des anderen zu transzendieren versuchen muss, obwohl sie weiß, dass sie diese Existenz im Vollsinne nie erreichen wird“ (XVII). Goldammer führt das Konzept der ,Formen‘ in die Diskussion ein, weil ihm – dies im Blick auf den an dieser Stelle ungenannten Mensching – Typen und Strukturen zu „starr“ sind. Der Typus neige dazu, das „Spezifische“ verloren gehen zu lassen und gerät „zu gern in Widerstreit mit der lebendigen Erscheinung“ (XVII). Mit Hinweis auf die scholastische Philosophie, auf Thomas von Aquin, schließlich auf Schelling und die von Goldammer auch sonst favorisierte Romantik empfiehlt er den Begriff der

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,Form‘: „Sie ist nicht Materie oder Körper, aber sie bedient sich der Körperwelt, der Materie als ,Individuationsprinzip‘“ (XVIII). Deskription und Ordnung gelten als die beiden Prinzipien einer systematischen Zusammenstellung der religiösen Formen. Religionswissenschaft soll nicht beim ,bloßen historischen Erkennen‘ stehen bleiben, sondern „sollte durch das Verstehen vertieft werden“ (XXII), wobei Goldammer sich ausdrücklich in die hermeneutische Tradition von Schleiermacher, Dilthey und Wach stellt. Der ausgewählte Quellentext geht dem Prinzip und der „Betätigung des Verstehens“ (XXIV) ausführlich nach. Im Unterschied zur ,bisherigen Religionsphänomenologie‘ wählt Goldammer bewusst als methodisches Vorbild „die fein differenzierte Arbeit der christlichen systematischen Theologie“ (XXIX), ohne dies allerdings weiter auszuführen. Bewusst setzt sich Goldammer von den in der Religionswissenschaft bis in das 20. Jahrhundert hinein dominierenden Geschichtskonstruktionen (u.a. Evolutionismus, Degenerationstheorie) ab: „Das Buch geht grundsätzlich von der Anerkennung einer primären Mannigfaltigkeit der Formen, von einer Polygenität der Religion, von einer wurzelhaft polymeren Struktur ihrer Anfänge aus. Es sind wohl viele Quellen und Bächlein, die sich zum Ganzen der menschheitlichen Religion vereinigt haben (XXXI). Die „Formenwelt“ gliedert sich in acht große Abteilungen, beginnend mit Kapitel I zum Thema „Religion“ (1–50). Dabei wird der Religionsbegriff thematisiert und Religion in ihrer „Mannigfaltigkeit“ begriffen: Es gibt nicht eine Religion, sondern nur Religionen, nicht ein stets gleiches Religiöses, sondern nur eine vielgestaltige Religiosität im Reichtum und in der Wandelbarkeit ihrer Formen“ (9). Religion wird gesehen als „ein existenz- und situationsbezogenes irrationales Phänomen […], eine Funktion des Menschen […], eine spezifische Äußerung des Humanum“ (9). Goldammer unterscheidet verschiedene Grundstrukturen wie die „Gruppenreligion der Naturvölker“ (sic), die „national gegliederten Kulturreligionen“, die „Universalreligionen“, schließlich die „neuzeitliche Individualreligiosität“ (12–19). Auch wenn das Individuum und dessen persönliche Frömmigkeit wesentlich für das Verständnis von Religion/en sind, so steht am Anfang gleichwohl „unverlierbar das soziale und das institutionelle Element“ (22) – nach Goldammer auch dies bereits eine Erkenntnis der romantischen Religionswissenschaft. Neben emotionalen Elementen sind für die Religion/en auch die rationalen sehr bedeutsam. Um die zentralen Sinngehalte der Religionen zu erfassen, benutzt Goldammer den Begriff „Sinnmitte“, der sehr stark an Menschings Konzeption der „Lebensmitte“ erinnert. „Diese Eigenarten bilden etwas Stimmungshaftes, Atmosphärisches, das sich über die einzelne Religion und über die Religiosität ihrer Angehörigen legt“ (28). Kapitel II thematisiert den „Gegenstand der Religion“ (51–115), der auf der Grundlage von Rudolf Otto im Begriff des Heiligen gesehen wird. Originell im Vergleich zu den genannten Religionsphänomenologien ist Kapitel III „Das persönliche Erscheinungsbild des Religiösen – das Frommsein“

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(119–154). Hier werden sinnliche, innerliche, säkularisierte Formen des Frommseins unterschieden sowie Frommsein als „schöpferische Eigenleistung und als Nachvollzug“ sowie – typisch protestantisch –„Frommsein als Werk und als Gnadenerfahrung“ – unterschieden. Im Rahmen von Kapitel IV „Gestalten, Gestaltungen und Formen der Religion“ (155–327) werden Phänomene behandelt wie heilige Gestalten, Raum und Weg, Zeit, Wunder, Wort und Schrift. Bemerkenswert ist Goldammers Interesse am ,heiligen Klang‘. Er gehört zu den wenigen Religionswissenschaftlern der klassischen Epoche, die sich mit Phänomenen des Auditiven befasst haben, damit in gewisser Weise Vordenker eines ,auditive turn‘ in der Religionswissenschaft sind. Das heilige Schweigen gehört ebenso zu den thematisierten Phänomenen wie Farbe, Zahl, Form und Bild und die heilige Zucht, die Askese. Kapitel V behandelt den „Umgang mit dem Heiligen“, die „heilige Handlung“ (328–387), also den in der gegenwärtigen Religionswissenschaft so dominant gewordenen Aspekt äußerer, formaler Religionsausübung. Ihr stellt Goldammer den vermeintlich kultlosen, handlungslosen und formenarmen Umgang mit dem Heiligen in der Mystik gegenüber. Kapitel VI beschäftigt sich mit der „heiligen Gemeinschaft“ (388–430), Kapitel VII „Die Welt vor dem Heiligen“ (431–466) mit Phänomenen wie Mythus, das Böse, Ethik. Das letzte Kapitel VIII („Das Heilige und der Tod – Religion und Jenseits“) thematisiert religiöse Erscheinungsformen wie Totenkult, Jenseits und Zukunftswelt. Eine sehr reichhaltige Bibliographie beschließt das Werk.

3. Ausgewählter Quellentext

Es sind stets zwei Hauptinteressen forschender und erkennender menschlicher Geistesbetätigung gewesen, die sich auf das Thema „Religion“ im Leben der Menschheit richteten, wenn man einmal vom unmittelbaren religiösen und theologischen Interesse absieht: das philosophische Interesse und das geschichtliche im weitesten Sinne (das gleichzeitig auch den sprachlichen Bereich umfasst). Entscheidend dafür ist die Tatsache, dass Religion zwar eine Hervorbringung der Geschichte ist, dass sie aber mit den Methoden geschichtlichen Erkennens allein nicht angemessen, sondern (immer nur in Teilaspekten und oft bloß vordergründig erfasst werden kann. Religion ist zweifellos ein Stück Geschichte und damit dem der Geschichtswissenschaft eigenen und in ihr ausgebildeten empirischen Erkennen unterworfen, weist aber gleichzeitig in ihrem Träger („Subjekt“) und in ihrem Gegenstand („Objekt“) immer über das Geschichtliche, seine Einmaligkeit und seine typischen Wiederholungen hinaus. Dieses Transzendieren der Geschichte ist sogar der Wesenskern aller Religion. Ein solcher Sachverhalt im Wissenschaftsgegenstand konnte nicht ohne Einfluss auf seine wissenschaftliche

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Behandlung bleiben. Er hat auch auf die Lage der Religionswissenschaft im Ganzen der Wissenschaften und der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung eingewirkt.181 1. Wie alle Wissenschaft gründet auch Religionswissenschaft zunächst auf dem Faktum, in diesem Falle auf dem historischen Faktum. Das hat vielfach Anlass dazu geboten, die Religionswissenschaft im Wesentlichen auf Religionsgeschichte zu beschränken und sie womöglich dem jeweiligen historischen oder sprachlichen „Fachvertreter“ der Einzelforschung nach rein historisch-philologischer Methode zuzuweisen. Eine solche Methode wurde dann vielleicht noch näher als „streng“ charakterisiert und in die Nähe exakter Wissenschaftlichkeit gerückt182. Diese Art der Religionsgeschichte wäre eine Ansammlung von angeblich „empirisch“ gewonnenen Fakten, deren Bedeutsamkeit und Wahrheitsgehalt darin liegt, dass sie sich einmal ereignet haben. Das klingt sehr einfach und einleuchtend, und die Vertreter einer solchen Auffassung dürfen des Beifalls für die Klarheit und Sauberkeit einer Wissenschaftlichkeit dieser Art gewiss sein, die mit sich und mit ihrem Stoff „streng“ verfahren will, die bei genauerem Zusehen jedoch leicht zur Banalität wird. Warnungen vor mangelnder „Strenge“ mögen immer und überall angebracht sein. Es sollte aber eigentlich selbstverständlich sein, dass die geschichtlich und sprachlich genau erfasste Tatsache die Grundlage alles geisteswissenschaftlichen Arbeitens bildet. Ebenso selbstverständlich ist es indes von der Sache her, dass geschichtliche Religionswissenschaft ein Teil der Universalgeschichte sein muss. Religionsgeschichte kann nur dann einen Sinn haben, wenn sie das Ganze der Geschichte im Auge hat, wie jede universale Geschichtswissenschaft. Die Tatsachenwissenschaft aber hat im Bereich der im engeren Sinne geschichtlichen Erscheinungen nun einmal ihre eindeutigen Grenzen, die primär nicht in der Güte der Methode und in der Zuverlässigkeit des Forschers, sondern in der Eigenart des Gegenstandes und in der Begrenztheit menschlichen Erkennens liegen. Es ist ja sattsam bekannt, wie oft die sich exakt gebende reine historische Faktenwissenschaft zu Fehlschlüssen und Missdeutungen geführt hat. Sehen wir zunächst einmal von dem Problem ab, ob der einfache geschichtliche Tatbestand als solcher wirklich das Interesse des Menschen befriedigen und auf die Dauer Gegenstand der Anteilnahme und damit der gründlichen Erforschung sein könne, und fassen wir die Frage des wissenschaftlichen Erkennens ins Auge. Auch der 181 Vgl. Gunther Stephenson, Religionswissenschaft in Deutschland. In: Frankfurter Hefte, 19. Jahg. Heft 8, S. 567–574. 182 Vgl. z.B. in letzter Zeit: Kurt Rudolph, Die Religionsgeschichte an der Leipziger Universität und die Entwicklung der Religionswissenschaft, Berlin 1962. = Sitzungsberichte der Sächs. Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Phil.-hist. Klasse Bd. 107. – R. kommt sogar zu der Behauptung, dass es die Religionswissenschaft – wie alle Wissenschaft – nicht mit einem irrationalen Gegenstand zu tun habe (S. 55ff.).

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nach gewissenhaftester historisch-philologischer Methode arbeitende Wissenschaftler wird sein Objekt niemals so erfassen wie der Physiker oder gar der Mathematiker das seine. Spätestens seit Jacob Grimm wissen wir von der „Ungenauigkeit“ der historischphilologisch arbeitenden Geisteswissenschaften ganz allgemein im Vergleich zu den „exakten“ Wissenschaften (obwohl es in deren Bereich ganz gewiss auch Abstufungen der „Genauigkeit“ gibt). Diese Bürde haben die Geisteswissenschaften als ihnen wesenseigen zu tragen, weil sie sich mit dem Geheimnis des Menschen als Geschichtswesen, nicht mit dem Menschen als Naturwesen beschäftigen. Jeder Versuch einer Konkurrenz ist hier müßig, weil eben von vornherein diese tiefen Unterschiede vorliegen. „Strenge“ Religionswissenschaft müsste in letzter Konsequenz Physiologie und Biochemie werden. Aber auch dann würde sie irren […], weil ihr Gegenstand immer Geschichtstatsachen bleiben, die nicht wie Naturtatsachen behandelt werden können. Die Anwendung des methodischen Begriffs „empirisch“ in der Geschichtserkenntnis ist immer nur beschränkt möglich, kann aber leicht zur Irreführung werden. […] In der Religionsgeschichte verspüren wir wie nirgendwo sonst in der Geschichte, dass sich immer wieder das historische Faktum unserem erkennen wollenden Zugriff entzieht. Überdies ist die Religionsgeschichte von ihrem Gegenstand und von ihren Arbeitsbedingungen her, wie alle historischen Wissenschaften, zum Auswählen unter den ihr vorliegenden Tatbeständen gezwungen: sie muss entscheiden, was sie als der Behandlung wert ansieht, wem sie sich zuwenden will. Vollständigkeit katalogisierender Art kann sich keine geschichtliche Disziplin leisten, und statistische Methoden naturwissenschaftlicher Art sind nur begrenzt anwendbar. Hier würde selbst der elektronische Speicher nicht weiterhelfen. Hinzu kommt, dass das religiöse Faktum sehr verschiedengestaltig ist. J. Wach hat in einem bedeutenden Entwurf jüngst die Konkretisierung der religiösen Erfahrung im Denken, im Handeln und in der Gemeinschaft aufgewiesen183 und diesen drei Größen jeweils bestimmte historische Erscheinungsformen zugeordnet. Geht man nicht primär von der Erfahrung, also von einem rein anthropologischen Tatbestand, sondern einfach vom geschichtlichen Befund aus, so wird man auf drei Hauptarten stoßen, in denen das religionsgeschichtliche Faktum zutage tritt. Scheinbar problemlos, rein pragmatisch, zeigt es sich in Ereignissen und Vorgängen, von denen einzelne besonders hervorstechen: die Aton-Reform Echnatons oder die Einführung des griechischen Zwölf-Götter-Systems nach Rom oder die Hedschra Mohammeds sind derartiges. Sehr schnell entdeckt man, dass damit in aller Regel Gedanken und Vorstellungen zusammenhängen: Keines der genannten äußeren Ereignisse wäre ohne gedanklichen Hintergrund zustande gekommen. Ihn wirklich zu durchschauen, ist manchmal recht schwer. Dieser Zusammenhang, der bisweilen schriftlich darge183 Joachim Wach, Vergleichende Religionsforschung, Stuttgart 1962.

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stellt sein mag und hinter dem nicht selten die gestaltende Kraft der religiösen Persönlichkeit steht, reicht oft weit über das „streng historisch“ Erfassbare hinaus. Aber er bildet das eigentliche und tiefere Interesse an äußeren geschichtlichen Ereignissen, die uns sonst in ihrer Abfolge kaum ansprechen würden. Reiner Pragmatismus mag für Thukydides oder für mittelalterliche Annalisten eine angemessene Methode der Geschichtsschreibung und -betrachtung gewesen sein. Er könnte heute im Ernste keine Geschichtsschreibung mehr leiten, am allerwenigsten eine Religionsgeschichtsschreibung. Gerade der Religionsgeschichte scheint man ihn aber manchmal abverlangen zu wollen. Schließlich gehören zu den religionsgeschichtlichen Fakten materielle Verdichtungen und Manifestationen aller Art: vom Kultobjekt und Ritualgegenstand über den Sakralbau und das religiöse Bild bis hin zum heiligen Buch. Es sind sozusagen die „Realien“ der Religionsgeschichte. Sie sind ein Wesensmerkmal fast aller Religion. Aber auch in ihnen steckt wieder Gedankliches, Erlebnis und Idee. Sie verkörpern irgendwelche Vorstellungen, ebenso wie sich an ihnen fortlaufend Vorstellungen bilden in einem kontinuierlichen Aneignungs- und Deuteprozess. Der geschichtliche Gegenstand der Religionswissenschaft – Religion – hat also als Faktum im Unterschied zu den Gegenständen anderer Geisteswissenschaften aus Wert- und Erlebnisbereichen (z.B. Literatur-, Kunst-, Musikwissenschaft) die Eigenart, dass er nicht auf eine einzige Ausdrucksform (z.B. Wort, gestaltetes Material, Töne) beschränkt ist, sondern sich immer mehrerer bedient, dass er komplex ist. Er ist hinsichtlich seiner Verwirklichung von vornherein ein verwickeltes Ganzheitsphänomen und nur als solches verstehbar. In der fortlaufenden Gedankenbildung auch an dinglichen Gerinnungsformen der Religion kommt die unübersehbare Tatsache zum Ausdruck, dass in der Religion ebenso wie die historische Faktizität ein psychisches Faktum steckt. Auch diese Eigenschaft teilt sie mit allen Erscheinungen der menschlichen Geschichte, nur dass in der Religion auf dem Psychischen eine eigentümliche Präponderanz liegt. Dieses Psychische entführt die Religion nicht etwa aus dem Bereich der Geschichte und führt damit nicht die geschichtliche Religionswissenschaft zur Auflösung in eine von den geschichtlichen Bezügen absehende Psychologie. Es erinnert nur an die durchaus nicht unbegründete communis opinio, dass Religion zur Sphäre des „Geistigen“ gehört und sich nicht in den Formen geschichtlicher Konkretisierung erschöpft. Am deutlichsten wird das sichtbar in den sogenannten großen religiösen Persönlichkeiten und in den fortwährenden schöpferischen Prozessen, die sich durch solche Persönlichkeiten in der Religion vollziehen184. Letztlich wird auch dahinter der metaphysische Anspruch der 184 Vgl. Friedrich Heiler, das Gebet. Eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung, München 51923, S. 16. 19ff. – Gustav Mensching, a.a.O. S.151. – Ders., Die Religion. Erscheinungsformen, Strukturtypen und Lebensgesetzte, Stuttgart 1959, S. 206ff.

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Religion erkennbar, der insofern auch ein „metahistorischer“ ist, als er über die Geschichte hinausweist. […] Diese letzte Aufgabe der vielseitigen Hermeneutik, die von Schleiermacher über Dilthey bis zu Wachs Analysen führt, ist wohl nirgendwo so ernsthaft in Angriff genommen worden wie in der Religionswissenschaft, und es ist Menschings Verdienst, seit vielen Jahren unermüdlich eine Religionsgeschichte des Verstehens gefordert zu haben. Es ist klar, dass das Verstehen im oben angedeuteten Sinne sich nicht nur von der Religionsgeschichte der reinen Fakten und von der historisch-philologischen Quellen-Interpretation unterscheidet, sondern auch etwas anderes und viel mehr ist als reine Religionspsychologie, die von der Darstellung faktischer Befunde allenfalls zu einer zusammenhängenden Interpretation kommen kann, aber kein Verstehen erfordert oder erzwingt. Dieses religionsgeschichtliche Verstehen ist – auch im Rahmen der hermeneutischen Theorien und beispielsweise weit über das theologische Verstehen hinausgehend – durchaus eine Eigenleistung neuzeitlicher Religionswissenschaft geworden. Das theologische Verstehen bewegt sich ja in der Regel immer nur im Rahmen der eigenen Umwelt und der eigenen unmittelbaren geistigen Vergangenheit. Das religionswissenschaftliche Verstehen überschreitet diese Grenzen beträchtlich. Der eigentliche Gegenstand eines religionswissenschaftlichen Verstehens ist auch letztlich etwas anderes als Äußerungen, Urkunden, Literaturwerke. Es ist im Grunde wohl ein in die Tiefe dringender Zugang zu dem, was neuerdings etwa Kerenyi als das „Bevor“ des „nackten Umgangs mit Göttlichem“ meint, was Rudolf Otto in seinem „religiösen Apriori“ zu erfassen gesucht hatte: die jeweilige religiöse Urerfahrung, bevor sie in die Geschichte eingeht und sich in geschichtlich tradierten Materialien niederschlägt, „Geschichte“ wird. Es ist das zugrunde liegende ur typische Ersterlebnis, das in der Geschichte ungezählte Male mehr oder weniger adäquat nachvollzogen wird. Aber es ist auch der Reflex dieses Ersterlebnisses in den zahllosen Nachvollzügen. Die Anerkenntnis eines solchen „Apriori“ oder „Bevor“ bedeutet weder psychologistische Haltung noch theologisch festgelegte Forschungsrichtung. Sie ist ja auch kein Gottesbeweis, den die Religionswissenschaft nicht zu liefern hat, und keine Metaphysik, sondern die Hinnahme eines Befundes und eines Anspruches, der zum Wesen der Religion gehört, den die Religionsgeschichte darbietet und der begriffen werden will. Es wäre kleinlich und eine Missdeutung, wollte man den Forschern, die diesen ernst zu nehmenden Sachverhalt untersuchten, wie etwa Rudolf Otto, spekulative Absichten unterstellen. […] – Joachim Wach, a.a.O. S. 53ff., 79ff. pass. – Ders., Meister und Jünger, Tübingen 1925. – Kurt Goldammer, Das Schöpferische in der Religion. In: Studium Generale 10/1957, S. 29–36. – Ders., Die Formenwelt des Religiösen. Grundriss der systemat. Religionswissenschaft. Stuttgart 1960, S. 143–149.

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Demgegenüber bleibt eine verstehende Religionswissenschaft die einzige Möglichkeit der Überwindung des gerade in der geschichtlichen Religionsbetrachtung so leicht sich anbietenden historischen Sammelsuriums […] Der Scherbenhaufen, den die nackte so genannte ,strenge‘ Methode häufig hinterlässt, ist zweifellos ebenso eine der Quellen des Missverstehens der Religion […] Über die bloße gegenstandsgerechte Interpretation hinaus ist das Verstehen für eine sinnvolle Betätigung der Religionswissenschaft unentbehrlich. Der Forscher wird so auf das gelenkt, was Rudolf Otto als das ,religiöse Apriori‘ bezeichnet hat. […] Dieses religiöse Apriori, richtig verstanden als die sich verschieden entfaltende religiöse Urdisposition des Menschen, nicht etwa als das Göttliche selbst, ist es, das in der Mannigfaltigkeit seiner Ausgestaltungen von Religionswissenschaftlern letztlich verstehend begriffen werden will. Hier erst findet er den Gegenstand seiner Wissenschaft, die Religion, in ihren letzten Tiefen. Der Gegenstand der Religion selbst dagegen, das Heilige oder das Göttliche, ist nur insoweit seine Aufgabe, als er ihn in den historischen Brechungen und Reflexen untersucht, wie sie sich im religiösen Menschen, in den religiösen Institutionen, Organisationen und Ereignissen der Geschichte zeigen. […] Das Göttliche und seine Wirklichkeitsanalyse ist vielmehr Gegenstand der Theologien. Denn der Gegenstand der Religionswissenschaft ist immer nur der Mensch als Träger und Gestalter der Religion.

4. Fragen zum Text 1. Was meint Goldammer mit der Aussage, dass „dieses Transzendieren der Geschichte […] sogar der Wesenskern aller Religion“ ist? 2. Im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit dem ursprünglich Leipziger, dann zuletzt Marburger Religionswissenschaftler Kurt Rudolph (Anm. 171) konstatiert Goldammer, dass das Ergebnis einer rein empirisch betriebenen Religionswissenschaft „bei genauerem Zusehen jedoch leicht zur Banalität wird“. Nehmen Sie Stellung zu diesem Vorwurf. 3. Goldammer sieht in der geschichtlichen Religionswissenschaft einen „Teil der Universalgeschichte“ und grenzt sie von einer Tatsachenwissenschaft ab. Wie ist Ihre Meinung dazu? 4. „Strenge Religionswissenschaft müsste in letzter Konsequenz Physiologie und Biochemie werden“ – können Sie mit dieser Aussage etwas anfangen? Übertreibt Goldammer? Oder diagnostiziert er besonders treffsicher? 5. Was meint Goldammer mit dem Ausdruck, dass Religion „ein verwickeltes Ganzheitsphänomen“ ist? Stimmt seine Abgrenzung gegenüber den anderen genannten Wissenschaften und ihren Objekten?

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6. Nehmen Sie Stellung zu Goldammers Satz, „dass Religion zur Sphäre des ,Geistigen‘ gehört und sich nicht in den Formen geschichtlicher Konkretisierung erschöpft“. 7. Wie beurteilen wir heute die Bedeutung der großen schöpferischen Persönlichkeiten? 8. Versuchen Sie eine Klärung des Begriffes ,a priori‘. Was versteht Goldammer unter diesem Begriff? 9. Was ist für Goldammer der Gegenstand der Religionswissenschaft?

5. Würdigung

Kurt Goldammers Interessen an Mystik, Spiritualismus, Religionsphilosophie, insbesondere religiöser Kunst, wie sie sich u.a. sich in seiner „Formenwelt“ niederschlagen, sind heute von einem großen Interesse: Räume, Gewänder, Geräte, Bilder, Zeichnungen, Plastiken, Skulpturen, Fotografien, Dias, Filme, Ausstellungen (Museen, Lehrsammlungen) stellen längst religionswissenschaftlich bedeutsame Quellen dar. Kunstgeschichte, Archäologie. Symbolik, antike Religionswelt und die christliche Kirchengeschichte gehörten von Anfang an zu Goldammers Interessengebieten. Erst spät setzte sich der so genannte ,visible turn‘ durch (Zeitschrift „Visible Religion“). In der Geschichte der systematischen Erforschung der sichtbaren Ausdrücke von Religion dürfen Pioniere wie Rudolf Otto (1869–1937) nicht vergessen werden, auf den die Religionskundliche Sammlung in Marburg zurückgeht. Für das Konzept einer ,visible religion‘ kann Kurt Goldammer sehr viel beitragen. Ein Pionier ist er auch für die noch kaum in Gang gekommene Erforschung hörbarer religiöser Phänomene. Zwar finden sich vereinzelt in der Religionswissenschaft Hinweise darauf, dass Religionen hörbare Aspekte haben (Frazer, Goldammer, Mensching185), doch einen entsprechenden ,turn‘ haben sie nicht bewirkt. Wenn Hans-Jürgen Greschat im Kontext von Rezitation den Klang und Rhythmus der wirksamen Worte erwähnt, so interessiert er sich in erster Linie für den „sichtbare(n) Ausdruck“186 von Religion. Goldammers Aufgeschlossenheit gegenüber Versuchen evangelisch-katholischer Verständigung (schon zur Zeit des Dritten Reiches: Dresdner Una Sancta-Kreis) geht auf sein durchgehend persönliches religiöses Interesse wie auch auf den Einfluss des 185 Udo Tworuschka: Homo religiosus audiens. Der Beitrag Gustav Menschings zu einer ,Religionsphänomenologie des Auditiven‘ . In: Religionen nach der Säkularisierung. Festschrift für J. Figl zum 65. Geburtstag, hg. von H. G. Hödl u. V. Futterknecht, Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft für Religionswissenschaft (ÖGRW), Bd. 4, S. 355–377. 186 Hans-Jürgen Greschat: Was ist Religionswissenschaft? Stuttgart u.a. 1988, S.51.

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großen Ökumenikers Friedrich Heilers zurück. Von Kindheit an war Goldammer durch seine Mutter mit der katholischen Glaubens- und Ritualwelt vertraut, ja er dachte selbst einmal daran, zum Katholizismus zu konvertieren. Goldammer knüpft an methodologische Gedanken Joachim Wachs an und legt in seiner „Formenwelt“ einen im Grundkonzept neuen Versuch vor, die Religionsphänomenologie systematisch zu fassen, zu bereichern und neu aufzugliedern. Er setzt beim Formbegriff an, den er als elastischer und brauchbarer als den Typusbegriff hält. „Eine Formenlehre und eine Formensystematik ist im Grunde die letzte Konsequenz aller Phänomenologie“. Klaus Hock charakterisiert Goldammers Religionsphänomenologie folgendermaßen: Seine ,Formenwelt‘ „kann als exemplarisch für eine deskriptive Religionsphänomenologie gelten, die darum bemüht ist, die religiöse Erscheinungswelt in aller ihrer Vielfalt in den Blick zu nehmen. Goldammer möchte ihrem Variantenreichtum möglichst gerecht werden, indem er darum verzichtet, sie in ein religionsphänomenologisches Gesamtsystem ,einzuholen‘. Vielmehr beschränkt er sich darauf, religiöse Vorstellungen, Handlungen etc. unabhängig von ihrem jeweiligen historischen, kulturellen und sozialen Kontext als eigenständige Phänomene aufzufassen und zu klassifizieren, dass sie miteinander vergleichbar werden. Die in diesem Zusammenhang von Goldammer entwickelte Religionstypologie ist bislang wenig beachtet worden – vielleicht auch deshalb, weil er sie nicht weiter ausgearbeitet hat“187. Goldammers theoretische und methodische Überlegungen zur Religionswissenschaft werden von empirischen Religionswissenschaftlern nicht mehr geteilt. Sie sollten aber dennoch im Gedächtnis dieses Faches bleiben. Für Goldammer war ein Studium der Religionswissenschaft nicht möglich ohne theologische, philosophische und geschichtliche Studien. Seine Auffassung von Religionswissenschaft trägt dazu bei, Sätze wie den folgenden als dem Phänomen ‚Religion‘ unangemessen zu entlarven: „Ob es eine heilige oder sonstige religiöse Wirklichkeit gibt, ist unerheblich“188.

6. Weiterführende Arbeitsaufgaben 1. Sammeln Sie Goldammers Argumente und diskutieren Sie den steilen Satz von Anne Koch am Ende von Teil 5. 2. Vergleichen Sie die klassischen Religionsphänomenologien (Heiler, Mensching, Widengren u.a.) mit Goldammers ‚Formenwelt‘.

187 Klaus Hock: Einführung in die Religionswissenschaft, Darmstadt 2002, S. 64. 188 Anne Koch (Hg.): Watchtower Religionswissenschaft. Standortbestimmungen im wissenschaftlichen Feld, Marburg 2007, S. 8.

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3. Goldammers stärkere Berücksichtigung der Religionsphilosophie macht ihn in gewisser Weise modern. Lesen Sie den Aufsatz von Gebhard Löhr: Verstehen – eine religionswissenschaftliche Kategorie im Lichte der analytischen Philosophie. In: Hans-Joachim Klimkeit (Hg.): Vergleichen und Verstehen in der Religionswissenschaft, Wiesbaden 1997, S.99–111.

7. Auswahlbibliographie Primärliteratur

Novalis und die Welt des Ostens. Vom Werden und von den geschichtlichen Bildekräften romantischer Weltanschauung und Religiosität, Stuttgart 1948. Paracelsus. Sozialethische und sozialpolitische Schriften, Tübingen 1952. Paracelsus. Natur und Offenbarung, Hannover 1953. Die Heilige Fahne. Zur Geschichte und Phänomenologie eines religiösen Ur-Objektes In: Tribus. Jahrbuch des Linden-Museums, Stuttgart 1953. Paracelsus-Studien, Klagenfurt 1954. Die Formenwelt des Religiösen. Grundriss der systematischen Religionswissenschaft, Stuttgart 1960. Der Mythus von Ost und West. Eine kultur- und religionsgeschichtliche Betrachtung, München 1962. Wörterbuch der Religionen, Stuttgart 1962, 4. Auflage neu bearbeitet, ergänzt und herausgegeben von Kurt Goldammer unter Mitwirkung von Johannes Laube und Udo Tworuschka. Kultsymbolik des Protestantismus, Stuttgart 1967. Paracelsus in der deutschen Romantik. Eine Untersuchung zur Geschichte der Paracelsus-Rezeption und zu geistesgeschichtlichen Hintergründen der Romantik, Wien 1980. Rückblicke, Einblicke und Ausblicke. Einiges aus meinem Leben. In: Paracelsus’ Werk und Wirkung. Festgabe für Kurt Goldammer zum 60. Geburtstag, hg. von Sepp Domandl, Wien 1975, S. 363–377. Sekundärliteratur

Biegger, Katharina: Nachruf auf Kurt Goldammer. In Nova acta Paracelsica, N.F. 11 (1997), S. 127–130. Goldammer, Johann Georg: Prof. Dr. Kurt M.A. Goldammer (1916–1997): Vita, Freiburg i.Br., Marburg, Amöneburg 2011.

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Kircher, Norbert: Bibliographie Kurt Goldammer (1940–1974). In: Paracelsus. Werk und Wirkung. Festgabe für Kurt Goldammer zum 60. Geburtstag, hg. von Sepp Domandl, Wien 1975, S.379–390 Kreatur und Kosmos. Internationale Beiträge zur Paracelsusforschung. Kurt Goldammer zum 65. Geburtstag, hg. von Rosemarie Dilg-Frank, Stuttgart/New York 1981. Laube, Johannes: In Memoriam Kurt Goldammer. In: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 2/1997. Wollgast, Siegfried: Zu Kurt Goldammer in Dresden, Dresden 2008.

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19. Clifford James Geertz (1926–2006) 1. Biographie

Clifford James Geertz wurde am 23. August 1926 als Sohn von Clifford James Geertz (senior) und Lois Brieger-Geertz in San Francisco, Kalifornien, geboren. Sein Vater war Geschäftsmann, seine Mutter eine halbprofessionelle Tennisspielerin. Das Paar ließ sich schon frühzeitig scheiden (1932), und so wuchs Geertz in schwierigen Familienverhältnissen auf. Nach Beendigung der Schule auf der Santa Rosa High School 1943, ging er mit 17 Jahren zur U.S.-Navy, um seinen Wehrdienst abzuleisten. Danach besuchte er das Antioch College in Yellow Springs, Ohio, wo er seinen B.A. für Philosophie erwarb. Am Antioch College stand Geertz unter dem Einfluss der Philosophie von John Langshaw Austin (1911–1960) und Gilbert Ryle (1900–1976) – beide Oxforder Gelehrten waren die Hauptvertreter der Ordinary Language Philosophy (Philosophie der normalen Sprache). Von Ryle übernahm Geertz den für sein Werk wichtigen Begriff der ,dichten Beschreibung. Diese Einflüsse waren für Geertz’ Werk besonders wichtig, da dieses nicht allein auf Empirie gründet, sondern auch viel der Philosophie und Literaturwissenschaft verdankt. Von 1950–1956 besuchte er die Universität Harvard, an der er einen Doktortitel für Anthropologie erwarb. 1958 ging Geertz zur University of California in Berkeley, wechselte dann an die University of Chicago, an der er von 1960–1970 lehrte. Ende der 1960er Jahre waren dort Geertz, Victor Turner (1920–1983) und David Schneider (1918–1995) die drei herausragenden Gelehrten, welche in den USA die sog. symbolische Ethnografie vertraten, auch wenn sie durch unterschiedliche Einflüsse geprägt waren. Geertz kam aus Talcott Parsons Social Relations Department an der Harvard University und wurde durch Parsons Rezeption von Max Weber geprägt. Einen wesentlichen Einfluss übte auch der phänomenologische Ansatz von Edmund Husserl (1859–1938) aus. Unter diesem Einfluss schätzte Geertz den naturwissenschaftlichen Ansatz als nicht hilfreich zur Untersuchung von Kultur ein.

Dichte Beschreibung (1983)

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Geertz Karriere bewegte sich lange in den herkömmlichen Bahnen der Ethnologie. Zusammen mit seiner Frau Hildred Geertz unternahm er ab 1952 zweijährige Feldstudien auf der Insel Java im islamisch geprägten Indonesien. Dort lernten beide die Komplexität einer multireligiösen und multikulturellen Stadt kennen. Diese Arbeit führte 1956 zu seiner Promotion in Harvard. Die Eigenarten der auf dem Hintergrund des Hinduismus geprägten Kultur von Java und Bali wurden in den folgenden Jahren seine beliebten Forschungsgebiete. Viele seiner heute als klassisch geltenden Arbeiten gehen auf die Forschungsaufenthalte in dieser Weltgegend zurück, u.a. sein Aufsatz über den balinesischen Hahnenkampf oder über die sich wandelnde Rolle religiöser Rituale auf Java. Von 1971–2006 war Geertz an der Princeton Universität als Professor für Sozialwissenschaft tätig, bis er am 30. Oktober 2006 nach einer Herzoperation in Philadelphia starb.

2. Inhaltsangabe des Buches In seiner Veröffentlichung „Dichte Beschreibung – Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme“ standen für Clifford Geertz die Fragen nach einem Wesen von Kultur, deren Rolle im sozialen Handeln und einer adäquaten Untersuchungsform anhand verschiedener thematischer Schwerpunkte im Mittelpunkt. Im Frühjahr 1958 besuchte das Ethnologenehepaar Geertz ein balinesisches Dorf. Zehn Tage lang blickten die Balinesen höflich gewissermaßen durch die Forscher aus den USA hindurch, so als existierten sie überhaupt nicht. „Tatsächlich“, erinnerte sich Geertz später, „gab es uns nicht, oder jedenfalls noch nicht – eben das sollte uns dieses Verhalten mitteilen.“ Dann aber fand im Dorf ein illegaler Hahnenkampf statt. Polizei kam herbei, die Dörfler ergriffen die Flucht, und mit ihnen die Ethnologen. Dafür wurden die beiden noch lange gehänselt – was aber nichts anderes hieß, als dass der Bann gebrochen, die Barriere zwischen den Balinesen und den Forschern gefallen war.

Geertz hat eine seiner bekanntesten Arbeiten dem bluttriefenden balinesischen Hahnenkampf gewidmet. Detailgenau beschreibt er, wie die Balinesen ihre Hähne mit Mais füttern und mit Rotem Pfeffer scharf machen, wie sie die Tiere baden und massieren. Dann schnallt man ihnen rasiermesserscharfe Sporen um, setzt sie in den Ring. Eine durchlöcherte Kokosnuss in einem Wassereimer übernimmt die Funktion einer Uhr. Die Zuschauer nehmen sehr intensiv, schweigend an dem Gemetzel mit den Kampfhähnen teil. Die Menschenmenge ist aber nicht einheitlich, es bestehen Unterschiede. Im Zentrum des Kampfrings legen die Spitzen der Gesellschaft mit dem Schiedsrichter schweigsam die hohe Hauptwette fest, an der Peripherie rufen die ein-

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facheren Leute ihre Angebote aus. Geertz hat 75 Hahnenkämpfe miterlebt und 17 Regeln herausgefunden, nach denen diese Wetten verlaufen. Geertz deutete den Hahnenkampf als eine Art Theaterstück. Für die Balinesen stehen symbolisch Ansehen, Würde, Ehre, Respekt auf dem Spiel. In Wirklichkeit jedoch verändert sich der Status von niemandem. Der Hahnenkampf ist „eine Simulation der sozialen Matrix des komplizierten Systems der einander überschneidenden und überlappenden, strikt korporativen Gruppen, denen die Anhänger des Hahnenkampfes angehören. […] Beim Hahnenkampf, […] handelt es sich um eine Dramatisierung von Statusinteressen.“ (237). Der Hahnenkampf hat nicht die Funktion, Statusunterschiede zu demonstrieren und damit zu erneuern. Geertz spricht ihm überhaupt keine Funktion im traditionell ethnologischen Sinne zu, sondern sieht in dem ‚play‘ eine Deutung, welche die Balinesen ihrem eigenen Leben geben: „Er ist eine balinesische Lektüre balinesischer Erfahrungen; eine Geschichte, die sie von sich selbst erzählen.“ Geertz lässt somit die Balinesen zu Ethnologen ihrer selbst werden, statt sie zu Objekten seiner Forschung zu machen. „The two betting systems, though formally incongruent, are not really contradictory to one another, but part of a single larger system in which the center bet is, so to speak, the center of gravity, drawing, the larger it is the more so, the outside bets toward the short-odds end of the scale. The center bet thus ‚makes‘ the game, or perhaps better, defines it, signals what, following a notion of Jeremy Benthams, I am going to call its depth.“189 Der von dem Juristen, Philosophen, Sozialreformer und Begründer des Utilitarismus Jeremy Bentham (1748–1832) geprägte Begriff deep play bezieht sich auf besonders risikoreiche Spiele, die von einer Nützlichkeitsperspektive her betrachtet irrational erscheinen. Denn der mögliche Geldverlust ist weit größer als der Nutzen, den der Gewinn des Geldes mit sich bringt. „Benthams concept of deep play is found in his The Theory of Legislation [von 1864]. By it he means play in which the stakes are so high [es steht viel auf dem Spiel, U.T.] that it is, from his utilitarian standpoint, irrational for men to engage in it at all.“ Geertz’ Notizen zum Hahnenkampf, erschienen Anfang der 1970er unter dem Titel Deep Play, sind das Paradebeispiel der Methode, die Geertz in die Ethnologie eingeführt hat: die dichte Beschreibung (thick description). Der Ethnologe ist nicht mehr der Beobachter, der fremde Kulturen nach ihrer Regelhaftigkeit untersucht und den Regeln Funktionen zuschreibt. Indem Kultur als ein ständig weiter gewirktes Gewebe von Bedeutungen verstanden wird, verlagert sich das Interesse von den Regeln hin zu den Bedeutungen. Das soll geschehen, indem die möglichen Bedeutungen und 189 Betting system (Wettsystem); gravity (Ernst, Schwere); odds (Wettchancen); notion (Gedanke, Idee).

Dichte Beschreibung (1983)

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Bezüge einfach nur dicht und ausführlich genug beschrieben werden. Umgekehrt wird auch die Sinnproduktion des Ethnologen mitreflektiert, indem seine literarischen Strategien kritisch untersucht werden. Geertz’ Methode hat Entsprechungen zur Methode des Close Reading in der Literaturwissenschaft: „Close reading describes the careful, sustained interpretation of a brief passage of text. Such a reading places great emphasis on the particular over the general, paying close attention to individual words, syntax, and the order in which sentences and ideas unfold as they are read.“190 Vielleicht erklärt dies, warum Geertz so viel Resonanz über die Grenzen seines Fachs hinaus hatte, weit in die Kulturwissenschaften hinein. Letztlich geht es Geertz um das Verstehen von Kultur überhaupt. Dies will er mit Hilfe der kontrastierenden Beschreibung lokaler Kulturen erreichen. Die Hauptschritte der ‚dichten Beschreibung‘ sind folgende: Zunächst erfolgt eine knappe Schilderung des sich dem Beobachter darstellenden Geschehens. Seine Beschreibung soll am Wirklichkeitsverständnis der ‚Eingeborenen‘ ansetzen und in ‚erfahrungsnaher Sprache‘ erfolgen. Zu den insbesondere auch von Journalisten verwendeten Techniken des Verstehens gehören offene, manchmal als W-Fragen bezeichnete Fragen. Verstehen bezeichnet den Akt des Kontextualisierens. Der fragende Forscher will herausfinden, in welchem Zusammenhang ein bestimmtes Ereignis auftritt, wie häufig es ist. Es gibt Wann-, Wer-, Wie-, Wo-Fragen. Hat man systematisch gefragt, kann man hinterher eine Fallsammlung anfertigen. Man stellt systematisch verschiedene Fälle zusammen – entweder solche, die untereinander ähnlich sind (wie der Hahnenkampf ) oder Fälle, die funktional entsprechend sind, mithin einen ähnlichen Zweck verfolgen. Aus dieser Synopse kann der Forscher die Regeln ableiten, die der Ereignisfolge unterliegen. Dabei stellt er Regelmäßigkeiten fest und ermittelt die dahinter liegenden Normen. Anschließend verallgemeinert der Ethnologe diese Regeln auch auf analoge Kulturen. Grundsätzlich ist dieser Vorgang unabgeschlossen. Das Springen zwischen verschiedenen Ebenen soll eine neue ‚Lesart‘ ermöglichen. „An ‚Dichte‘ gewinnt eine Beschreibung in dem Maße, in welchem die verschiedenen Darstellungsebenen interpretativ aneinander anknüpfen und sich ergänzen. ‚Dichte‘ darf nicht mit induktiver Generalisierung, Triangulation oder gar logischer Folgebeziehung verwechselt werden. Die Beschreibungsebenen stehen nicht in einem Ableitungsverhältnis zueinander, sondern in einem Verhältnis der Juxtaposition.“ (90) Darunter (lateinisch iuxta = ‚dicht daneben‘, ‚nebenan‘; positio = ‚Lage‘, Stellung) versteht man in verschiedenen Bereichen eine sehr nahe Platzierung. Es kommt dabei darauf an, dass beide Dinge einander nahe liegen, trotzdem aber voneinander zu unterscheiden sind, voneinander völlig unabhängig sein können. Logisch ist es ein Fehlschluss, von einer Juxtaposition auf eine Beziehung zu schließen. Anschließend schreibt der Ethnologe unter Einbeziehung der 190 Art, ‚Close reading‘. In: http:/en.wikipedia.org/wiki/close_reading

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Betroffenen den gefunden Bedeutungen Sinn ein. „In diesem Verständnis stellen Dichte Beschreibungen unweigerlich Fiktionen (‚etwas Hergestelltes‘) dar“. (91) In einem letzten Schritt werden die so erlangten Einsichten auf den Begriff gebracht. Ein Begriff benennt nicht nur ein Phänomen, sondern bestimmt es auch, ordnet es einer Klasse ähnlicher (analoger) Phänomene zu. Gleichzeitig bestimmt der Ethnologe den Unterschied zwischen dem, was es ist und was es nicht ist. Ist Hahnenkampf Spiel oder Ernst, religiöser/sozialer Sport oder religiöses/soziales Ritual? Vielleicht sogar alles? Geertz’ Verstehenskonzeption bricht mit Auffassungen von Verstehen, die auf ‚Einfühlung‘ oder ‚Empathie‘ setzen. Verstehen ist für Geertz Rekonstruieren: eine Handlung kontextualisieren, eine Fallsammlung erstellen, begrifflich Erfassen, aus den ‚dicht‘ beschriebenen Objekten Folgerungen über die untersuchte Kultur und über umfassendere gesellschaftstheoretische Fragestellungen zu ziehen. So vergleicht Geertz lokale ‚Kunstformen‘ (balinesischer Hahnenkampf; Shakespeares ‚König Lear‘, Dostojewskis ‚Schuld und Sühne‘), um die existentiellen Herausforderungen zu erfassen. Beim Lesenden entsteht so die Vorstellung einer übergreifenden Diskursgemeinschaft zwischen den Kulturen. (92)

3. Ausgewählter Quellentext

Da wir es mit Bedeutung zu tun haben werden, wollen wir mit einem Paradigma beginnen: heilige Symbole haben die Funktion, das Ethos eines Volkes – Stil, Charakter und Beschaffenheit seines Lebens, seine Ethik, ästhetische Ausrichtung und Stimmung – mit seiner Weltauffassung – dem Bild, das es über die Dinge in ihrer reinen Vorfindlichkeit hat, seinen Ordnungsvorstellungen im weitesten Sinne – zu verknüpfen. Religiöse Vorstellungen und Praktiken machen das Ethos einer Gruppe zu etwas intellektuell Glaubwürdigem, indem sie es als Ausdruck einer Lebensform darstellen, die vollkommen jenen tatsächlichen Gegebenheiten entspricht, wie sie die Weltauffassung beschreibt. Die Weltauffassung hingegen machen sie zu etwas emotional Überzeugendem, indem sie sie als Bild der tatsächlichen Gegebenheiten darstellen, das einer solchen Lebensform ganz besonders nahe kommt. Diese Gegenüberstellung und wechselseitige Bestätigung bewirkt zwei grundlegende Dinge. Einmal werden dadurch moralische und ästhetische Präferenzen objektiviert: Sie erscheinen als notwendige Lebensbedingungen, wie sie von einer in bestimmter Weise strukturierten Welt vorgegeben werden, als reiner Common sense angesichts der unveränderlichen Gestalt der Wirklichkeit. Zum anderen erfahren diese überlieferten Vorstellungen vom Weltganzen eine Bekräftigung, indem nämlich tief verwurzelte moralische und ästhetische Empfindungen als empirische Beweise für ihre Gültigkeit angeführt werden. Religiöse Symbole behaupten eine Grundübereinstimmung zwischen einem bestimmten Le-

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bensstil und einer bestimmten (wenn auch meist impliziten) Metaphysik und stützen so jede Seite mit der Autorität der jeweils anderen. Abgesehen von einzelnen Formulierungen ist dagegen wohl nicht viel einzuwenden. Die Auffassung, dass Religion die menschlichen Handlungen auf eine vorgestellte kosmische Ordnung abstimmt und Bilder der kosmischen Ordnung auf den menschlichen Erfahrungsbereich projiziert, ist keineswegs neu. Ihr ist jedoch auch kaum wissenschaftlich nachgegangen worden, so dass wir fast nichts darüber wissen, wie sich dieses Mirakel empirisch eigentlich ereignet. Wir wissen nur, dass es sich ereignet – jährlich, wöchentlich, täglich, für manche Menschen nahezu stündlich –, und es gibt eine umfangreiche ethnographische Literatur, die das belegen kann. Doch der theoretische Rahmen, der uns eine analytische Erklärung dafür liefern könnte – eine Erklärung, wie wir sie etwa für Lineage-Segmentierung191, politische Sukzession, Austausch von Arbeitsleistungen oder die Sozialisation des Kindes besitzen – fehlt. Wir wollen deshalb unser Paradigma zu einer Definition zusammenfassen, weil Definitionen, auch wenn sie bekanntlich nichts beweisen, bei genügend sorgfältiger Formulierung doch zur Orientierung oder Neuorientierung des Denkens beitragen können. Ihre detaillierte Ausarbeitung kann sich für die Entwicklung und Kontrolle einer neuen Forschungsrichtung als außerordentlich nützlich erweisen. Ihr Vorzug liegt in ihrer Explizitheit. Definitionen präsentieren sich in einer Deutlichkeit, wie das in der diskursiven Prosa, die gerade in unserem Fall anstelle der Argumentation gerne die Rhetorik setzt, nicht der Fall ist. Ohne weitere Umschweife also: eine Religion ist (1) ein Symbolsystem, das darauf zielt, (2) starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, (3) indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und (4) diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, dass (5) die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen.192 Ein Symbolsystem, das darauf zielt … In Anbetracht des großen Gewichts, das hier auf dem Begriff „Symbol“ liegt, muss unser erster Schritt der sein, einigermaßen genau zu bestimmen, was wir darunter ver191 Eine segmentäre Gesellschaft ist eine politische Organisationsform ohne Staat oder Zentralinstanz, in denen die Abstammungsgruppen (Lineage/s) das dominierende Ordnungsprinzip abgeben. 192 „(1) a system of symbols which acts to (2) establish powerful, pervasive, and long-lasting moods and motivations in men by (3) formulating conceptions of a general order of existence and (4) clothing these conceptions with such an aura of factuality that (5) the moods and motivations seem uniquely realistic“.

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stehen wollen. Das ist gar nicht so leicht, da mit „Symbol“ (ähnlich wie mit „Kultur“) sehr verschiedene Dinge – oft sogar gleichzeitig – bezeichnet worden sind. Manche verwenden ihn für alles, was jemandem etwas anderes anzeigt: schwarze Wolken etwa sind die symbolischen Vorboten eines bevorstehenden Regens. Einige verwenden ihn nur für explizit vereinbarte Zeichen verschiedenster Art: eine rote Fahne ist ein Symbol für Gefahr, eine weiße für Kapitulation. Andere schränken ihn auf etwas ein, das in indirekter und figurativer Weise ausdrückt, was direkt und unverstellt nicht gesagt werden kann, weshalb es Symbole zwar in der Dichtung, nicht aber in der Wissenschaft gibt und die Bezeichnung „symbolische Logik“ irreführend ist. Wieder andere verwenden ihn für alle Gegenstände, Handlungen, Ereignisse, Eigenschaften oder Beziehungen, die Ausdrucksmittel einer Vorstellung sind, wobei diese Vorstellung die „Bedeutung“ des Symbols ist; eben diesem Ansatz werde ich mich anschließen. Die Zahl 6, ob geschrieben, vorgestellt, mit Hilfe von Steinen ausgelegt oder in Computerlochkarten gestanzt, ist ein Symbol. Das gleiche gilt für das Kreuz – sei es, dass man darüber spricht, es sich veranschaulicht, geängstigt in die Luft zeichnet oder verträumt damit an der Halskette spielt –, für die riesige bemalte Leinwand mit dem Titel „Guernica“ oder für den kleinen bemalten Stein, den man Churinga nennt, für das Wort „Wirklichkeit“ und schließlich sogar für das Morphem „-ing“. Sie alle sind Symbole oder zumindest symbolische Elemente, da sie fassbare Formen von Vorstellungen sind, aus der Erfahrung abgeleitete, in wahrnehmbare Formen geronnene Abstraktionen, konkrete Verkörperungen von Ideen, Verhaltensweisen, Meinungen, Sehnsüchten und Glaubensanschauungen. Die Erforschung kultureller Tätigkeiten – Tätigkeiten, deren empirisch faßbare Seite Symbole sind – bedeutet also nicht, dass man die Untersuchung von Gesellschaften zugunsten der Untersuchung einer platonischen Schattenhöhle aufgeben müßte, in die mentalistische Welt einer introspektiven Psychologie oder, schlimmer noch, spekulativen Philosophie einzutreten und dort auf ewig in einem Dunst von Kognitionen, Affektionen, Konationen und anderen schemenhaften Begriffen herumzuirren hätte. Kulturelle Handlungen – das Bilden, Auffassen und Verwenden symbolischer Formen – sind soziale Ereignisse wie all die anderen auch; sie sind ebenso öffentlich wie eine Heirat und ebenso beobachtbar wie etwa die Landwirtschaft. Sie sind jedoch nicht ganz dasselbe; genauer gesagt, die symbolische Dimension sozialer Ereignisse kann wie die psychologische getrennt von diesen Ereignissen als empirischen Gesamtheiten betrachtet werden. Es bleibt, um eine Bemerkung von Kenneth Burke aufzugreifen, ein Unterschied, ob man ein Haus baut oder einen Bauplan für ein Haus zeichnet, und es ist etwas grundsätzlich anderes, ob man ein Gedicht über Heirat und Kinder liest oder selbst heiratet und Kinder hat.193 Auch wenn sich 193 K. Burke, The Philosophy of Literary Form, Bacon Rouge, La. 1941, S. 9 (dt.: Dichtung als

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der Bau eines Hauses am Plan orientieren oder der Wunsch nach Kindern durch die Lektüre des Gedichts hervorgerufen worden sein mag (eine Sache, die weniger wahrscheinlich ist), bedarf es doch einer Präzisierung, damit unser Umgang mit Symbolen nicht mit unserem Umgang mit Gegenständen oder Menschen verwechselt wird: letztere sind an sich keine Symbole, auch wenn sie häufig als solche fungieren können.194 Wie eng auch immer im Alltagsleben das Kulturelle, Soziale und Psychologische bei Häusern, Farmen, Gedichten und Heiraten miteinander verwoben sein mag, ist es doch nützlich, sie in der Analyse auseinanderzuhalten und dabei die Gattungsmerkmale eines jeden auf dem standardisierten Hintergrund der anderen beiden gesondert darzustellen. Was die Kulturmuster, d.h. die Symbolsysteme oder Symbolkomplexe betrifft, so ist ihr für um in diesem Zusammenhang wichtigstes Gattungsmerkmal, daß sie extrintische Informationsquellen sind. Unter »extrinstisch» verstehe ich nichts weiter, alt dass sie – anders alt z.B. die Gene – außerhalb der Grenzen des einzelnen Organismus in jenem intersubjektiven Bereich allgemeiner Verständigung angesiedelt sind, in den alle Menschen hineingeboren werden, in dem sie ihre getrennten Lebenswege verfolgen und der auch nach ihrem Tod ohne sie weiterbesteht. Unter „Informationsquellen“ verstehe ich nichts weiter, als dass sie – ebenso wie die Gene – Bauplane oder Schablonen sind, mit deren Hilfe Prozessen, die ihnen nicht angehören, eine bestimmte Form verliehen werden kann. So wie die Anordnung der Basen in einer DNS-Kette ein codiertes Programm ist. Bündel von Instruktionen oder Rezept für die Synthese der komplexen Proteinstrukturen, die das Funktionieren des Organismus steuern, liefern auch Kulturmuster Programme für die Anordnung der sozialen und psychologischen Prozesse, die das öffentliche Verhalten steuern. Obwohl die Art der Information und die Weise ihrer Übermittlung hier und dort völlig verschieden sind, ist dieser Vergleich zwischen Gen und Symbol mehr als nur eine der üblichen stark strapazierten Analogien vom Typus „soziale Vererbung“. Es besteht eine tatsächliche substantielle Beziehung. Gerade weil nämlich beim Menschen die durch die Gene programmierten Prozesse im Vergleich zu den niederen Tieren so unspezifisch sind, sind die durch die Kultur programmierten so wichtig; gerade weil das menschliche Verhalten nur wenig durch intrinsische Informationsquellen determiniert ist, sind die symbolische Handlung, übers. von Günther Rebing, Frankfurt am Main 1966, S. 14). 194 Der umgekehrte Irrtum, den Neukantianer wie Cassirer häufig begehen, nämlich Symbole mit ihren Referenten gleichzusetzen oder sie als ‚konstitutiv‘ für sie anzunehmen, ist ebenso schädlich (Vgl. Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 4. A., unveränderter fotomechanischer Nachdruck der 2. A., Darmstadt 1964. „Man kann mit dem Finger auf den Mond deuten“, soll ein wahrscheinlich erfundener Zen-Lehrer gesagt haben, „aber den Finger für den Mond zu halten ist töricht.“

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extrinsischen Quellen so wesentlich. Ein Biber benötigt zum Bau eines Dammes nur den richtigen Platz und die geeigneten Materialien – seine Vorgehensweise ist durch seine Physiologie bestimmt. Der Mensch aber, dessen Gene bei baulichen Aktivitäten nichts zu sagen haben, benötigt dazu noch eine Vorstellung davon, was es heißt, einen Damm zu bauen; eine Vorstellung, die er nur aus einer symbolischen Quelle beziehen kann – aus einem Bauplan […] … starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen schaffen… Die konkreten Symbole, mit denen wir es zu tun haben – sei es nun eine mythologische Gestalt, die in der Wildnis erscheint, der Schädel des verstorbenen Haushaltsvorstands, der wie ein Richter im Dachgebälk wacht, oder eine körperlose „Stimme in der Stille“, die tonlos rätselhafte alte Poesie rezitiert – verweisen sowohl in die eine wie in die andere Richtung. Sie drücken das jeweilige Leben aus und prägen es zugleich. Sie prägen es, indem sie im Gläubigen bestimmte charakteristische Dispositionen wecken (Tendenzen, Fähigkeiten, Neigungen, Kenntnisse, Gewohnheiten, Verpflichtungen, Verantwortlichkeiten, Empfänglichkeiten), die den Ablauf seiner Tätigkeiten und die Art seiner Erfahrung in gewisser Weise festlegen. Eine Disposition bezeichnet nicht eine Tätigkeit oder ein Ereignis, sondern die Wahrscheinlichkeit, dass unter bestimmten Bedingungen eine Tätigkeit erfolgen oder ein Ereignis eintreten wird: „Wenn man behauptet, eine Kuh sei ein Wiederkäuer oder ein gewisser Mann sei ein Zigarettenraucher, so heißt das nicht, dass die Kuh gerade jetzt wiederkäut oder dass der Mann gerade jetzt eine Zigarette raucht. Ein Wiederkäuer sein heißt, von Zeit zu Zeit wiederzukäuen, und ein Zigarettenraucher sein heißt: die Gewohnheit haben, Zigaretten zu rauchen.“ Dementsprechend heißt fromm sein nicht, eine Art frommer Handlung zu begehen, sondern die Neigung zu derartigen Handlungen. Das gleiche gilt für den Mut des Prärieindianers, die Gewissensprobleme des Manus oder den Quietismus des Javaners, die im jeweiligen Zusammenhang das Wesen der Frömmigkeit ausmachen. […] … indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und… […] Wenn wir eine bestimmte ehrfürchtige Stimmung als religiös und nicht als säkular bezeichnen, so meinen wir doch wohl, dass sie aus der Vorstellung einer alles durchdringenden Lebenskraft, z.B. des mana, herrührt, und nicht etwa von einem Ausflug in den Grand Canyon. Oder wenn wir eine bestimmte asketische Praktik als Beispiel religiöser Motivierung anführen, so meinen wir doch wohl, dass sie sich auf ein absolutes Ziel, z.B. das Nirvana, richtet und nicht auf ein begrenztes wie etwa

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Gewichtsabnahme. Würden heilige Symbole nicht Dispositionen in den Menschen auslösen und zugleich allgemeine Ordnungsvorstellungen formulieren – wie dunkel, unartikuliert und unsystematisch sie auch sein mögen -, so gäbe es keine empirischen Unterscheidungsmerkmale, die für religiöse Tätigkeit oder religiöse Erfahrung spezifisch sind. Die Einstellung eines Golfspielers zu seinem Sport lässt sich zwar durchaus als religiös beschreiben, aber nicht schon dann, wenn er ihn nur leidenschaftlich gerne und bloß sonntags betreibt: er muss in ihm außerdem ein Symbol für transzendente Wahrheit sehen.“ […]

4. Fragen zum Text 1. Was versteht Geertz unter Bedeutung, Weltauffassung, Lebensform? 2. Versuchen Sie, Geertz’ Religionsdefinition mit Hilfe von sehr entgegen gesetzten Religionstraditionen (eine oder zwei ausgewählte Universalreligionen; autochthone Religionen; sog. neue Religionen) zu verifizieren bzw. falsizifieren. 3. Welche anderen Symbolsysteme werden durch die Definition abgedeckt? Was unterscheidet sie von Religion? Oder gibt es keinen solchen Unterschied? 4. Was versteht Geertz unter dem vieldeutigen Begriff Symbol? Er bezieht sich auf Susan K. Langers Symbolverständnis („Philosophie auf neuem Wege“. Frankfurt/ Main 1984.). Informieren Sie sich in Grundzügen über Langers Symbolauffassung. 6. Nach Geertz schafft Religion „starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen“. Suchen Sie Beispiele dafür aus verschiedenen Religionstraditionen. 7. Für Geertz würde eine säkulare Sportart (Golf) zur Religion, wenn sie als „Symbol für transzendente Wahrheiten“ gesehen wird. Ein gutes Beispiel für die Schwierigkeit der Unterscheidung bietet die moderne Tourismusforschung, die unterschiedliche Tourismusformen analysiert, u.a. den „existential tourism“ (Daniel Cohen: Tourism as Play. In: Religion 15 [1985], S. 291–304), der Übergänge zur Religion zeigt. Lesen Sie den Abschnitt „Tourismus und Pilgerreise“ in: Udo Tworuschka: Heilige Wege. Die Reise zu Gott in den Religionen, Frankfurt/Main 2002.

5. Würdigung

Clifford Geertz ist kein Religionswissenschaftler. Er zählt zu den bedeutenden Vertretern der Ethnologie. Seine Wirkung liegt inzwischen mehr in anderen Disziplinen als in der Ethnologie.

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Geertz’ Ansatz wurde durch verschiedene anthropologische Ansätze geprägt. Ernst Cassirers (1874–1945) „Philosophie der symbolischen Formen“ spielte dabei ebenso eine Rolle wie die Symbolauffassung der amerikanischen Philosophin Susanne K. Langer (1895–1985). Besonders einflussreich war auch das Spätwerk von Ludwig Wittgenstein (1889–1951), insbesondere dessen Argumente in den „Philosophischen Untersuchungen“ (§§ 243–315) zur Unmöglichkeit einer privaten Sprache. Wittgenstein versuchte nachzuweisen, dass private Empfindungsausdrücke als Teil einer sozialen Praxis erworben werden, sich aber nicht als das Bezeichnen einer privaten Empfindungssprache verstehen lassen. Darunter versteht er eine Sprache, die nur der Sprechende verstehen kann, weil Außenstehende die privaten Ausdrücke dieser Sprache nicht verstehen können, da sie auf unmittelbares privates Erleben zurückgehen. Geertz übernahm diesen Gedanken in die kulturelle Anthropologie und argumentierte, dass dies auf eine gemeinsame, öffentliche und symbolische Kultur hinweist: „Kultur ist öffentlich, weil Bedeutung etwas Öffentliches ist“. (18) Kultur ist ihrem Wesen nach unvollständig. Die Suche nach einem letzten Grund ist nach Geertz daher sinnlos. Vielmehr geht es um eine Kontinuität des sozialen Dialoges. Die Aufgabe des Ethnologen besteht darin, einen sozialen Diskurs für die Nachwelt zugänglich zu machen. Eine ethnologische Interpretation soll den „Bogen des sozialen Diskurses“ nachzeichnen und nachvollziehbar machen. Die Sicht der Handelnden soll dargestellt werden. Dies kann ebenso für die eigene Kultur gelten. Beschreibungen von Kulturen müssen die Hilfe der Annahmen der Eigendeutungen der jeweiligen Kultur heranziehen, die nicht notwendigerweise der zu beschreibenden Kultur angehören müssen. Vielmehr prägt die Analyse in Untersuchungen der Kultur/ en den zu untersuchenden Gegenstand selber. Geertz hebt hier eine klare Trennung zwischen Kultur als bloßen Faktum und Kultur als theoretischer Einheit, also der Trennung zwischen Theorie und Praxis, auf. Eine Kulturtheorie ist immer auch von anderen Theorien abhängig und kann somit nicht eigenständig und unabhängig eine eigene Logik entwickeln und entfalten. Daher muss eine Kulturtheorie näher an der Praxis, an den Tatsachen sein. Geertz entwickelte einen semiotischen Kulturbegriff. Demnach ist Kultur immer ein vom Menschen selbst gesponnenes Gewebe. Sein Ansatz schließt den Zugang zur Gedankenwelt der zu untersuchenden Subjekte ein und ist damit näher an den tatsächlichen Lebensproblemen, indem die ‚dichte Beschreibung‘ sich mit den symbolischen Dimensionen des sozialen Handelns auseinandersetzt. Geertz’ Ansatz macht sich mit den Antworten der Anderen vertraut. „Ich meine mit Max Weber, dass der Mensch ein Wesen ist, das in selbst gesponnenem Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die

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nach Bedeutungen sucht. Mir geht es um Erläuterungen, um das Deuten gesellschaftlicher Ausdrucksformen, die zunächst rätselhaft erscheinen.“ (9) Die Ethnologie hat die Aufgabe, nicht nur bloße Fakten und Tatsachen aufzuzeigen. Es gilt, das Verstehen der Symbolsysteme der Anderen aus der Sicht der Anderen darzustellen. Ethnographische Erklärungen sollen die angesammelten Fakten interpretieren. Sie sollen den sozialen Diskurs deuten, und diese Deutung soll den Beschreibungen der „Vergänglichkeit des Augenblicks“ entrissen werden. Geertz’ ‚dichte Beschreibung‘ beschreibt mikroskopisch. Sein semiotischer Ansatz fordert, dass eine Theoriebildung, in der die begriffliche Auseinandersetzung mit den gesammelten Fakten stattfindet, zumindest in der Ethnologie, eine ‚dichte Beschreibung‘ ermöglicht. Die Aufgabe der Ethnologen besteht in der Aufdeckung von Vorstellungsstrukturen, welche die handelnden Subjekte betreffen und der Entwicklung eines analytischen Begriffssystems. Konstitutiv für dieses Begriffssystem ist die Eigenschaft, dass die Vorstellungsstrukturen gegenüber anderen grundlegenden Eigenschaften menschlichen Verhaltens herausgestellt werden können. Die ethnographische Theoriebildung soll einen Wortschatz bereitstellen, mit dem die Rolle der Kultur im menschlichen Leben ausgedrückt werden kann. Kultur bildet für Geertz somit einen Kontext, in dem gesellschaftliche Ereignisse, Verhaltensweisen, eben Leben und Probleme des Lebens, verständlich, also dicht, beschreibbar sind. Eine Kulturtheorie kann aber nie voraussagen, sondern lediglich feststellen. Denn eine Kultur ist ihrem Wesen nach nie vollständig, sondern unterliegt einer Transformation. Diese verläuft nicht graduell und linear ab, sondern ihre Entwicklung ist „ruckartig“. Für Geertz ist der Essay die natürlichste Textform, um kulturelle Interpretationen zu präsentieren. Doch sie müssen auf vorhergehende Untersuchungen aufbauen. In einem Essay kann die ‚dichte Beschreibung‘ die wissenschaftlichen Abstraktionen der Daten und Fakten in Verbindung mit dem tatsächlichen Leben der Kultur bringen. Eine gute Interpretation kann erreichen, den Leser in die Inhalte zu versetzten, die interpretiert werden. Damit schafft es der Ethnologe eben, den sozialen Diskurs für die Nachwelt tradierbar und zugänglich zu machen. Geertz gelang es, den Religionsbegriff als elementaren Begriff in der Gesellschaftswissenschaft zu verankern. Sein Ansatz wurde als ‚Religionspragmatik‘, ‚Religionsanthropologie‘ und ‚Religionsethnologie‘ bezeichnet. In seinem weit verbreiteten Aufsatz „Religion as a Cultural System“ entwickelt er eine komplexe Definition von Religion (s. 3: Ausgewählter Quellentext). Der Religionsforscher wird in die Lage versetzt, solche Auffassungen von Religion zu überwinden, die diese lediglich im Inneren des Menschen ansiedeln oder sie nur als ideologisches System kognitiv begreifen. Religion ereignet im Zwischenraum von Innerem und Äußerem, zwischen Person, Kultur und Gesellschaft. Ethische, praktische und kognitive sowie auch emotionale und

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ästhetische Dimensionen des religiösen Prozesses werden so miteinander verbunden. Hinsichtlich der Theologie liefert Geertz Religionsanthropologie Anregungen, Theologie ausschließlich als Hermeneutik einer religiösen Schriftkultur zu überwinden. Hinsichtlich der Sozialwissenschaften verhindert Geertz Ansatz eine einseitige funktionalistische Sichtweise Insbesondere in Religionswissenschaft und Theologie ist sein Ansatz rezipiert worden. „Kultur als Text“ – so lautet unter Rückgriff auf den französischen Philosophen Paul Ricoeur (1913–2005) das Erklärungsmodell. Ricoeur hatte gezeigt, dass sich Handlungen wie Texte lesen lassen. Kultur ist nach Geertz ein Bedeutungssystem. Er teilt das seit Bronislaw Malinowski (1884–1942) geltende Axiom, dass die Rekonstruktion von Bedeutungszuschreibungen „aus der Perspektive der Eingeborenen“ erfolgen müsse. Es geht darum, die Welt des Fremden aus dessen eigener Position zu verstehen. Diese interpretative Anthropologie wird durch hermeneutische Prozesse flankiert. Geertz’ Fokus richtete sich u.a. auf Zeichen- und Symbolsysteme, auf die symbolische Bedeutung von Dingen und Handlungen, die er als essentielle Bestandteile von Kulturen betrachtete. Er suchte in seinen Studien vorwiegend nach zeichenhaften Handlungsformen und symbolischen Prozessen. Geertz nahm an, dass der Mensch der Welt einen Sinn verleiht, die Welt also immer schon gedeutete Welt ist. Bei den Deutungen der lokalen InformantInnen und der Kultur- und SozialanthropologInnen handelt es sich um Deutungen auf unterschiedlichen Ordnungsebenen. „Die Aussagen der Informanten über ihre Kultur haben keinen anderen Status als jedes andere Element des beobachteten (gelesenen) kulturellen Systems, sie sind als deren Teil eine Interpretation erster Ordnung (aber nicht die Interpretation). Der Beobachter nimmt sie als solche und baut darauf seine Interpretation zweiter Ordnung auf“.195 Die Erschließung des Sinns bzw. der Bedeutung wird zum zentralen Moment der interpretativen Anthropologie, aber auch der Auffassung von Kultur, die Geertz seinen Überlegungen zu Grunde legt. Geertz’ Erfolg gründet sich in erster Linie auf einige Essays, die er zwischen 1973 (The Interpretation of Cultures) und 1983 (Local Knowledge) in Sammelbänden veröffentlicht hat. In ihnen reflektiert er zentrale Probleme der Sozialwissenschaft im Allgemeinen und der Ethnologie/Kulturanthropologie im Besonderen. Geertz’ wohl am meisten rezipiertes Werk ist ‚The Interpretation of Cultures‘ (Dichte Beschreibung. Dieser Aufsatz ist der erste von weiteren Beiträgen Geertz’, die in dem Sammelband ‚Dichte Beschreibung‘ abgedruckt sind). Religionen ereignen sich nach Geertz’ Auffassung zwischen Person, Kultur und Gesellschaft, wodurch ethische, praktische und kognitive, sowie emotionale und ästhetische Dimensionen miteinander verbunden werden. 195 Franz-Peter Burkard: Anthropologie der Religion, Dettelbach 2005, S. 120.

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Geertz’ Werk steht im Kontrast zu einer strukturalistischen Kulturwissenschaft, wie sie Claude Lévi-Strauss (1908–2009) verkörperte. Demgegenüber ist der Ansatz von Geertz semiotisch und hermeneutisch. Kultur wird dabei zum Gegenstand einer Interpretation von zeichenhaften Handlungsformen und symbolischen Prozessen, die in Bezug auf ihre einzigartigen Kontexte und Zusammenhänge im Alltagsleben untersucht werden. Geertz’ ‚interpretative Anthropologie‘ ist von der hermeneutischen Tradition inspiriert und überträgt wichtige Anstöße aus der Interpretation von Texten auf die Deutung von kulturellen Prozessen. Im Anschluss an die ältere anthropologische Tradition gewinnt die Feldarbeit für Geertz eine zentrale Funktion, wenn es darum geht, die Welt des Fremden aus dessen eigener Perspektive zu verstehen. Geertz interessiert sich dabei mehr für das Partikulare als für das Universale und strebt an, die Einzigartigkeit der Alltagswelt von gelebten Kulturen in den Vordergrund zu stellen. Der Hildesheimer Sozialwissenschaftler Stephan Wolff warnt davor, Geertz’ Ansatz „auf eine Forschungstechnik zu reduzieren und sie in das übliche Methodenarsenal einzuordnen; – sie als Patentrezept für ganz unterschiedliche Disziplinen zu vereinnahmen, oder auch – sie zu trivialisieren, indem man sie mit Detailliertheit und farbiger Schilderung gleichsetzt und verwechselt“.196 Die Bedeutung von ‚Dichte Beschreibung‘ liegt darin, dass die Beiträge dieses Sammelbandes einen Wandel in der Erforschung von Kultur eingeleitet haben. Vor allem die Aufsätze ‚Dichte Beschreibung‘ und ‚Deep Play: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf‘ veranschaulichen eindrücklich diese neue Weise, Kultur zu beschreiben. Geertz will Geschehnisse, Symbole und Rituale ‚dicht beschreiben‘, d.h. sie im Zusammenhang mit anderen Symbolen und sozialen und begrifflichen Zusammenhängen erforschen. Die Unterscheidung zwischen einer dünnen und dichten Beschreibung veranschaulicht Geertz in Anlehnung an Ryle am Beispiel eines zwinkernden Jungen. Die dünne Beschreibung beschreibt nur, was der Junge tut (schnell das rechte Augenlid bewegen). Die dichte Beschreibung dagegen interpretiert diese Tätigkeit im kulturellen Kontext und versucht die kulturellen Kategorien des Verständnisses dieser Tätigkeit zu identifizieren. So mag das Zwinkern eventuell bloß ein Nervenleiden sein, aber auch ein „bisschen Verhalten, ein wenig Kultur und – voilá – eine Gebärde“ (11). Zwinkern mag ein Code zwischen Freunden sein, um eine bestimmte Nachricht absichtsvoll an eine ausgewählte Person, nach gesellschaftlich festgelegten Regeln, zu übermitteln, ohne dass die anderen Anwesenden davon wissen. Vielleicht ist das Zwinkern aber auch eine Parodie, die das Zwinkern eines Anderen als töricht darstellt. 196 Stephan Wolff: Clifford Geertz. In. Flick, U./von Kardorff, E./Steinke, I. (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek b. Hamburg 2000, S. 84–96, hier S. 86.

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Oder eine Probe, wenn der Junge vor einem Spiegel steht und das Zwinkern übt. Jedes Mal handelt es sich um kulturelle Bedeutungen des Zwinkerns und um bestimmte Interpretations- bzw. Auslegungsmöglichkeiten dieses Verhaltens. Der Ethnologe sucht nach Bedeutungen der von Menschen hervor gebrachten Bedeutungsstrukturen. Es ist die Aufgabe einer wissenschaftlichen Kulturphänomenologie, nach den Bedeutungen für den Handelnden zu suchen. Es genügt nicht, äußere Tatsachen zu beobachten, zu registrieren. Der Forscher muss von einem naiven Realismus Abstand nehmen. Gefordert ist ein „systematischer (nicht bloß literarischer oder impressionistischer) Ansatz, um herauszufinden, was tatsächlich vorhanden ist: wie eigentlich die Vorstellungsstruktur aussieht, die sich in den symbolischen Formen ausdrückt, mit deren Hilfe Personen wahrgenommen werden“ (138). Der Unterschied zwischen der Betrachtungsweise des Wissenschaftlers und der des Handelnden ist kein prinzipieller, sondern ein gradueller. Geertz’ Kulturbegriff besteht aus mehreren Ebenen: semantische Valenz, historischer Charakter, öffentliche Dimension, Orientierung stiftende Funktion. Geertz’ Kulturauffassung markiert einen wesentlichen Unterschied gegenüber unhistorischen und so genannten reifizierenden (lateinisch res = Sache; facere = machen) Kulturauffassungen. Damit sind Vergegenständlichungen gemeint, die eine Vorstellung bzw. Floskel so betrachten, als würde ein konkreter Gegenstand bzw. Sachverhalt beschrieben. Geertz will nicht Gesetze der Kultur ergründen, sondern eine Deutungswissenschaft begründen, die nach den symbolischen Bedeutungen sucht. Dabei darf man Bedeutung nicht von den sozialen Handlungsformen trennen, da beide eng miteinander verbunden sind. Geertz’ Ansatz ist nicht unkritisiert geblieben. Kritisiert wird er zum Beispiel von Seiten der „normal science“ wegen fehlender Zuverlässigkeit und Validität, von Seiten der „Interpretativen“ vor allem wegen seiner Schreibpraxis. Diese verzaubert nach Ansicht Vincent Crapanzanos mehr als dass sie einen Nachvollzug der Interpretation erlaube. Dieser New Yorker Professor für Anthropologie und Literaturwissenschaften beanstandet, dass die Balinesen Geertz’ Wortspiele überhaupt nicht verstehen können, weshalb sie ausgeschlossen bleiben. Dem Ehepaar Geertz als Individuen stehen sie nicht als Individuen gegenüber. Die den Balinesen zugeschriebenen Erfahrungen, Bedeutungen, Motivationen würden nicht begründet. Der Vergleich des balinesischen Hahnenkampfes mit ‚König Lear‘ sowie ‚Schuld und Sühne‘ ignoriert, dass diese beiden Geschichten reine Fiktion sind. Ferner wird Geertz vorgeworfen, dass er systematisch die Ebene der Balinesen zu Erkenntnis- und Validierungszwecken vernachlässigt (so Tylor, Clifford). Er hatte nämlich abgelehnt, an ihren Diskursen teilzunehmen. Dies beseitige, so die Kritiker, tendenziell die Sichtweise der Betroffenen. Sie monieren, dass die Interpretationen praktisch unabhängig von dem sind, was die Untersuchten sagen und tun. Geertz suche trotz dichter Beschreibungen und eines szenischen und handlungstheoretischen

Einleitung

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Kulturbegriffes Kultur nicht in kommunikativen Handlungen, sondern in erster Linie in Wörtern, Symbolen und Ritualen. Die seit den späten 1970er Jahren aufkommende Writing-Culture-Debatte, die ihren vorläufigen Zenit mit dem von James Clifford und George E. Marcus herausgegebenen Sammelband „Writing Culture: The Poetics and Politics of Ethnography“ erreichte, hat auf folgende Problembereiche aufmerksam gemacht: Ethnografie als Beschreibung von Kultur, die Kultur des Schreibens und das Festschreiben, die damit verbundene Konstruktion von Kultur. Hauptsächlich die letzte Bedeutung wurde kontrovers diskutiert, und eine intensive Auseinandersetzung stellte die Rolle des Ethnographen als Schriftsteller in den Mittelpunkt (sog. „Krise der ethnographischen Repräsentation“).197 Das Schreiben ist ein deutender, systematisierender, konstruierender Vorgang. Die literarischen Darstellungen sind durch Selektion bei Wahrnehmung, Erinnerung und Verschriftlichung „verzerrt“. Dies habe Geertz nicht hinreichend berücksichtigt. Auch Geertz’ Dichte Beschreibungen sind Ergebnisse schriftstellerischen Tuns. Man kann Geertz nicht überprüfen, weil das Kontextwissen der Ethnographen untrennbar mit den Beschreibungen und Interpretationen verwoben ist und keine genaue Ausarbeitung der Arbeitsschritte vorhanden sind. Von Geertz beeinflusst wurden in Deutschland einerseits die Ethnologie, aber auch aufgrund einiger Parallelen in Theorie und Methode die hermeneutischen Ansätze der qualitativen Sozialforschung.

6. Weiterführende Arbeitsaufgaben 1. Informieren Sie sich über die Grundideen der sog. ‚Writing-Culture-Debatte‘. 2. Was versteht man unter der ‚Krise der ethnographischen Repräsentation‘? 3. Bei Geertz geht Religion in Kultur auf. Die klassischen Vertreter der ‚Religionswissenschaft des Verstehens‘ betrachteten ‚Religion‘ als eigenständige Größe. Welche Argumente kann die jeweilige Seite für sich beanspruchen? Die kulturwissenschaftliche Religionswissenschaftlerin Anne Koch/München formuliert: „Ob es eine heilige oder sonstige Wirklichkeit gibt, ist unerheblich. Interessanter ist, wie die ‚Aura ihrer Faktizität‘ (Clifford Geertz) hergestellt wird“ (Dies.: Watchtower Religionswissenschaft, Marburg 2007, S. 8) ‚Unerheblich‘ hat zwei Bedeutungen: a) gering, b. umgangssprachlich: ohne Bedeutung. Nehmen Sie zu dieser Aussage Stellung.

197 Eberhard Berg/Martin Fuchs (Hg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt/Main 1993.

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7. Auswahlbibliographie Primärliteratur

The religion of Java, Chicago und London, 1960. Islam Observed. Religious Development in Morocco and Indonesia, Chicago u.a. 1968. The Interpretation of Cultures. Selected Essays, New York 1973. (Zusammen mit Hildred Geertz): Kinship in Bali, Chicago und London 1975. Die künstlichen Wilden. Anthropologen als Schriftsteller (Original: Works and lives. The anthropologist as author). Local Knowledge. Further Essays in Interpretive Anthropology, New York 1983. Works and lives. The anthropologist as author, Stanford 1988. After the Fact: Two Countries, Four Decades, One Anthropologist, Harvard 1995. (deutsch: Spurenlesen. Der Ethnologe und das Entgleiten der Fakten.) Available Light: Anthropological Reflections on Philosophical Topics, Princeton 2000. Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/Main, 1987. Sekundärliteratur

Burkard, Franz-Peter (Hg.): Kulturphilosophie, Freiburg und München 2000. Ders.: Anthropologie der Religion, Dettelbach 2005, S.115–136. Crapanzano, Vincent: Das Dilemma des Hermes. Die verschleierte Unterwanderung der ethnographischen Beschreibung. In: Doris Bachmann-Medick (Hg.): Kultur als Text, Frankfurt/Main 1996, S. 161–193. Gottowik, Volker: Konstruktionen des Anderen. Clifford Geertz und die Krise der ethnographischen Repräsentation, Berlin 1997. Ders. (2004): Clifford Geertz in der Kritik. Ein Versuch, seinen Hahnenkampf-Essay „aus der Perspektive der Einheimischen“ zu verstehen. In: Anthropos 99 (1), S. 207– 214. Inglis, Fred: Clifford Geertz: Culture, Custom and Ethics, Cambridge 2000. Rudolph, Jürgen: Was ist „dichte Beschreibung“? Überlegungen zu einem Begriff, einer Praxis, einem Programm. In: Kea, Zeitschrift für Kulturwissenschaft (4), 1992, S. 39–58. Stellrecht, Irmtraud: Interpretative Ethnologie. Eine Orientierung, in: T. Schweizer, M. Schweizer, W. Kokot: Handbuch der Ethnologie, Berlin 1993. Wolff, Stephan: Clifford Geertz. In: Flick, U., von Kardorff, E./Steinke, I. (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek b. Hamburg 2005, S. 84–96.

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20. Ninian Smart (1927–2001) 1.Biographie

Roderick Ninian Smart wurde 1927 in Cambridge, England, in eine schottische Akademikerfamilie geboren. Sein Vater war der Astronom und Mathematiker William Smart. Er war seit 1937 in Glasgow Regius Professor of Astronomy, außerdem veröffentlichte er Gedichte. Seine Mutter Isabel stammte aus einer wohlhabenden Familie. Beide beeinflussten Ninian Smart sehr. Smart hatte zwei Brüder, die ebenfalls in unterschiedlichen Disziplinen Professoren wurden. Seine erste höhere Ausbildung genoss Ninian Smart am Glasgow College. Nach seinem ersten Studium diente er 1945–1948 als Captain im Royal Army Intelligence Corps. Nach seiner Infantrieausbildung konnte Smart an einem speziellen Ausbildungsprogramm für Soldaten teilnehmen und kantonesisches Chinesisch an der School of Oriental and African Studies (Universität London) lernen. Seine beiden Auslandsposten in Singapur und Sri Lanka brachten Smart zum ersten Mal mit dem Buddhismus in Berührung. Nach seiner Entlassung aus dem Wehrdienst studierte er am Queens College (Oxford) klassische Philologie, alte Geschichte und Philosophie. Sein Interesse an Chinesisch und Asian Studies erweiterte er später um Sanskrit und Pali während seiner Zeit als Visiting Lecturer in Philosophy an der Yale University (1955/56). Da das Graduiertenstudium in Religionsphilosophie an der Universität Oxford mit Vergleichender Religionswissenschaft kombiniert war, arbeitete Smart eng zusammen mit dem englischen Philosophen und Begründer der Sprechakttheorie John Langshaw Austin (1911–1960) sowie mit Robert Charles Zaehner (1913–1974), Professor für Östliche Religionen und Ethik. Smarts Dissertation wurde erst 1958 unter dem Titel „Reasons and Faiths. An Investigation of Religious Discourse, Christian and Non-Christian“ veröffentlicht. Smart heiratete 1954 die über 25 Jahre jüngere Libushka Baruffaldi. Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor: Sohn Roderick, die beiden Töchter Luisabelle und Caroline. Ein weiterer Sohn verstarb. Bereits mit 34 Jahren, 1961, erlangte Smart Berühmt-

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heit als erster H.G. Wood Professor für Theologie in Birmingham. 1967 folgte Smart einem Ruf nach Lancaster, wo er Gründungsprofessor am neuen Department of Religious Studies wurde. Zwischen 1969 und 1972 war er Pro-Vize-Kanzler seiner Universität. Die Abteilung war die erste ihrer Art in England. Es kam zu Kontroversen, weil Smart bestimmt hatte, dass der Lehrstuhlinhaber „might be ‚of any faith‘ or none“. Von 1976–1988 war Smart der erste J. F. Rowny Professor in the Comparative Study of Religions. Außerdem war er Visiting professor u.a. in Varanasi/Indien, Wisconsin, Princeton, Queensland, Lampeter (Wales), Hong Kong. Er hielt weltweit Vorträge, u.a. in Delhi, die unter dem Titel The Yogi and the Devotee (1968) veröffentlicht wurden. 1996 erhielt Ninian Smart den höchsten Rang als Professor in Santa Barbara und trug den Titel Academic Senates Research Professor. 2000 wurde er Präsident der American Academy of Religion. Sein Amt als Präsident der Inter Religious Federation for World Peace behielt er gleichzeitig bei. Bis kurz vor seinem plötzlichen Tod, vermutlich durch einen Schlaganfall, im Jahr 2001 lehrte er an den beiden Universitäten in Lancaster und Santa Barbara. Er war noch voller Pläne für die Zukunft. Sechs Universitäten verliehen ihm Ehrungen. Von Kollegen wurde Smart übereinstimmend als ‚immensely good company‘ charakterisiert, humorvoll, stets Anekdoten und Witze erzählend, schlagfertig. Äußerst beliebt war er bei den Studierenden, die seinen lebendigen, anregenden Vortragsstil genossen. Er galt auch als Meister des scherzhaften, meist aus fünf Zeilen bestehenden Limericks. Eine Darstellung über den evangelischen Theologen Ernst Troeltsch beendete er mit einem Reim. Smart reimte extensive resoeltsch (für research, Forschung) mit defining a sect and a choeltsch (für church: Kirche) und spielte dabei auf die von Troeltsch stammende klassische Typologie an. Smart war sportlich, er spielte Kricket und Tennis. Sehr gern malte er Aquarelle. Obwohl er sehr viel reiste, lernte er nie Auto fahren und wurde stets von seiner Frau Libushka chauffiert. Libushka stammte vom oberitalienischen Comer See, wo Smart regelmäßig seine Sommerferien im Domizil seiner Schwiegereltern verbrachte. Seit den späten 1960er Jahren engagierte sich Smart bei mehreren Initiativen, um dem traditionellen, rein christlichen Religionsunterricht an den Schulen eine neue Perspektive zu geben. Die Auseinandersetzung mit dem Thema begann mit “The Teacher and Christian Belief“ (1966) und endete mit dem „Schools Council Working Paper 36, Religious Education in the Secondary School“ (1971). Smart war Mitglied des National Schools Council und verantwortlich für die Konzipierung eines neuen religionspädagogischen Curriculums. Er leitete mehrere Projekte für School Councils, um Weltreligionen in den Schulen zu lehren. Dies war in England der erste Reformversuch nach dem Education Act von 1944. In den letzten 40 Jahren sind Smarts Vorschläge, die fast schon dogmatische Gültigkeit besaßen, mehrfach revidiert worden. Gleichwohl ist der Smartsche Impetus bis heute spürbar.

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Über seine persönliche Religiosität sprach Ninian Smart selten. Einmal charakterisierte er sie so: „Scottish Episcopalian by birth and adherence, Taoist by temperament“. Er zeigte Interesse an Politik, war sehr früh Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, wurde aber von Labour zunehmend enttäuscht. Er soll darüber nachgesonnen haben, sich den Scottish Nationalists in Lancaster anzuschließen.

2. Inhaltsangabe des Buches Von den etwa 30 Büchern Ninian Smarts wird hier „The Phenomenon of Religion“ (1973) vorgestellt, weil in diesem Werk das religionsphänomenologische Anliegen des Autors besonders vernehmlich zum Tragen kommt. Ninian Smart war vom Nachfolger auf seinem Lehrstuhl in Birmingham, John Hick (geb. 1922), eingeladen worden, für dessen Philosophy of Religion Series auf begrenztem Raum über „the phenomenon of religion“ (1) zu schreiben. In seiner Abhandlung geht es Smart zunächst darum, „to draw out the implications of the distinction between the study of Religion and the study of Theology“ (3). Smart unterscheidet „doing Religion“, womit er das Studium der Religionswissenschaft meint, und „doing (e.g., Christian Theology)“ (4f.).

Die ersten beiden Kapitel seines Buches handeln davon (Kapitel 1: „Exploring Religion“, Kapitel 2: „Religion as a Phenomenon“) während sich Kapitel 3 mit „The Mythic Firmament“ und Kapitel 4 mit „Resolving the Tensions between Religion and the Science of Religion“ auseinandersetzt. Die Kapitel 3 und 4 waren wohl ursprünglich einmal selbständig und wirken vom Gesamt des Werkes her gesehen, beinahe wie Fremdkörper, insbesondere Kapitel 4. Angesichts der verschiedenen Bezeichnungen des Faches (Study of religion, Religious Studies) benutzt Smart die Großschreibung Religion als Wissenschaftsbezeichnung des Faches, während die Kleinschreibung religion für die Objekte der Forschung steht. Theologie charakterisiert Smart folgendermaßen: „The endorsing of a Theology is essentially an Expression of it“ (13f.).198 Expression ist für Smart „the activity of expressing a position“ (13). Hier und in Kapitel 2 bedient er sich der Denkweise der analytischen Sprachphilosophie, die zwischen deskriptiven (Information, Feststellung von Fakten), expressiven (Kundgabe der Gefühle) und evokativen (dienen dem Appell an Adressaten) Sprachhandlungen unterscheidet. Im Unterschied zur Theologie gilt, dass „Expression is not part of the study of Religion“ (ebd.). „Theological Expression is both doctrinal and practical“. Auch wenn die Theologie historische Zweige (Kirchengeschichte, AT, NT) aufweist, so stellt Smart fest: „the historical exercise is liable to merge 198 to endorse: gutheißen, beipflichten

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imperceptibly into that of Expression, by endorsement“ (14).199 Religionswissenschaft und Theologie einander gegenüber stellend, stellt Smart fest: „Meanwhile the critique of the anatomy of theological studies can be briefly summed up as follows: that we always need to make a distinction between historical and structural enquiries, such as sociology, phenomenology, etc., which are the proper province of Religion, and the use of such materials for Expressive ends, that is, the doing of Theology“ (16). Smart reflektiert darüber, ob es möglich ist, dass man wissenschaftlich im Bereich der Religion/en arbeiten kann, „free from a position which is tacitly or otherwise Expressed and which determines the shape and conclusions of ones study of religion?“200 (16). Die zweite hermeneutische Frage ist die, ob es überhaupt möglich ist, ein objektives und „uncommitted understanding“ (ebd.) von dem zu haben, worum es in einer konkreten Religion überhaupt geht. Um Religion/en zu verstehen, bedarf es als Voraussetzung von Seiten der betreffenden Religion der „acceptance“ (19). Um Mythen und Lehren verstehen zu können „it is necessary to participate in the rites which are coordinated with them: for example, Christology is related to the sacraments“ (19). Des Weiteren ist für Smart notwendig „to have some experience with the Focus (what they point to) for example, you cannot understand the meaning of Christology without experiencing the risen Christ“ (ebd.). Was Glaube heute bedeutet, „cannot be expressed without Expressing it“ (ebd.). Ist neutrale Deskription angemessen und ausreichend, wenn es zum Beispiel darum geht auszudrücken, „such things as the joy found in the experience of the risen Christ – joy which might be expressed in traditional religious terms by Alleluijah! or by the oupouring of spirit in a victorious hymn (e.g. Jesus Christ is risen today, as sung at Easter) or by jouyful behaviour in general“ (32). Unter Rückgriff auf den Begründer der philosophischen Phänomenologie, Edmund Husserl (1859–1938), gilt die epoché (Zurückhaltung, Einklammerung: bracketing) nicht nur für Fragen nach Wahrheit, sondern „the bracketing must also be a bracketing of expressions of value, feeling, etc.“ (32). Smart empfiehlt dem Religionswissenschaftler, die indirekte Rede (oratio obliqua) zu verwenden, um eine distanzierte, berichtende Wiedergabe von Äußerungen der Betroffenen zu erreichen. Er warnt aber vor „ flat descriptions“. Ob er dabei an die auf E. M. Forster (Aspects of the Novel, 1927) zurückgehende Unterscheidung von flat und round characters denkt, kann nur vermutet werden. Nach einer gängigen literaturwissenschaftlichen Definition gilt: Flat characters gelten als „two-dimensional in that they are relatively uncomplicated and do not change throughout the course of a work. By contrast, round characters are complex and undergo development, sometimes sufficiently to surprise the reader“. Smart steht eine dichtere 199 to be liable to sth.: etw. unterliegen; to merge: ineinander übergehen, aufgehen; imperceptible: unmerklich, nicht wahrnehmbar. 200 tacit: still(schweigend);

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Beschreibung vor Augen: „Georges foot was blown off by the granade; he fell over and, bleeding rather, adressed some remarks to the Virgin Mary could be bettered, if one were wanting to bring out Georges agony in the situation“ (33). Der Religionsphänomenologie genügt nicht allein das Stilmittel der indirekten Rede, „but a bracketing of all that is being presented. This presentation, however, within brackets, uses many of the elements of Expression, not just doctrinal statements. Thus an important part of description is what may be called bracketed Expression“ (ebd.). Smart stellt anschließend sein (damaliges noch) sechs Dimensionen-Modell der Religion/en vor (s. später) und unterstreicht erneut, dass es unrealistisch für Religionswissenschaft ist „simply to treat of religions in themselves; it necessarily engages with what we may dub dialectical studies, that is those where there are external explanations, typically tending to run in both directions. Such dialectical studies are: sociology of religion, psychology of religion, history of ideas, history of art, of music etc. and Literature“ (44). Smart nimmt folgende „Characterisation of religion“ vor: 1. 2.

Belief division: (a) doctrines; (b) myths; (c) ethical and social beliefs. Practical manifestations division: (d) rituals and practices; (e) experiences and sentiments; (f ) institutions; (g) symbolism: art, music, poetry as products primarily of (b) and (d).

I. (i) (ii) (1) (2) (iii)

Histories of religions: (A) Christianity; (B) Buddhism; etc. holistic; history of Christianity; history of Buddhism. divisional beliefs; history of Christian doctrine, etc.; history of Buddhist doctrine, etc. practical manifestations; not usually separated out from holistic histories. aspectual; (a), (b), and (c) usually treated together (but see below under itemised histories). rituals; history of Christian worship; history of Buddhist Yoga, rituals, etc. experiences; descriptive psychology of Christianity through the ages; descriptive psychology of Buddhism through the ages. institutions; history of Christian institutions; history of Buddhist institutions. symbolism; history of Christian art, etc.; history of Buddhist art, etc. itemised histories, that is, the selection of a particular item to treat historically. Examples: doctrines; history of the doctrine of Creation; development of the doctrine of impermanence. myths; history of apocalyptic; history of belief in Mara. ethical beliefs; history of Christian attitudes to war; history of doctrine of non-violence. rituals; history of the Eucharist; history of Buddhist cult of relics. experiences; history of Western mysticism; history of Buddhist bhakti.

(d) (e) (f ) (g) (iv) (a) (b) (c) (d) (e)

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(f ) (g)

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institutions; history of episcopacy; history of Sangha in Ceylon. symbolism; history of iconography of the Transfiguration; history of mudras in Buddhist sculpture.

II. Historical – dialectical studies: (i) holistic; Western social history; Eastern social history. (ii) divisional: (1) beliefs; history of ideas (Western, etc.); history of ideas (Indian, etc.). (2) practical manifestations; usually treated aspectually rather than divisionally. (iii) aspectual; (a), (b), and (c) usually treated divisionally (see above). (d, g, f ) rituals and symbolism; history of art, etc. (Western, etc.) ; history of Indian, etc., art, etc. (e) experiences; not usually dealt with separately. (iv) itemised histories. Examples: (a) doctrines; study of the influence of Hegelianism on nineteenth-century Christian theology; history of Indian linguistics and its bearing on Buddhist views of language. (b) myths; study of the interpretation of Genesis in the light of the evolutionary debate in the midnineteenth century; the study of the development of Indian astronomy. (c) ethical beliefs; study of the Protestant ethic and the growth of capitalism; history of use of drugs in early India. (d, g, f ) rituals and symbolism; study of humanist values in religious art in the Renaissance; study of Indian trade-routes in relation to patterns of Buddhist pilgrimage. III. Phenomenological and structural studies: (i) structural description; presentation of structure of Christianity in a given social milieu at a given time; presentation of Buddhism in a given milieu at a given time. (ii) typological phenomenology (general); for example, an inventory of types of religious items, as in van der Leeuw, Religion in Essence and Manifestation. (iii) typological phenomenology (general, but aspectual): (a) doctrines; comparative theology. (b) myths; comparative mythics. (c) ethics; comparative ethics. (d) rituals; comparative practics (but frequently such terms as worship may be used, though not fully comprehensive — cf. Geoffrey Parrinder, Worship in the Worlds Religion). (e) experiences; comparative descriptive psychology of religion. (f ) institutions; comparative sociology of religion (descriptive). (iv) typological phenomenology (itemised). Examples: (a) doctrines; comparison of the doctrines of Nagarjuna and Mansel. (b) myths; comparison of figures of Satan and Mara.

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(c) (d) (e) (f ) (g) (v)

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ethics; comparison of Buddhist and Christian attitudes to war. rituals; comparison of Buddhist and Christian contemplative techniques. experiences; comparison of Christian and Buddhist mystical experiences. institutions; comparison of roles of priesthood in Catholicism and Tibetan Buddhism. symbolism; study of mandalas and analogous representations in the Christian tradition. internal structural explanations. Examples: explanation of the Buddhist trikaya doctrine in relation to growth of bhakti alongside Buddhist yoga, etc.; explanation of doctrine of incomprehensibility of God as expression of sentiment of awe; correlation between doctrines of grace and experiences of a devotional–numinous type.

IV. (i) (ii)

Dialectical-phenomenological studies: sociology of religion and anthropology of religion (general). aspectual, for example structural anthropology as applied to myth; sociology of knowledge. (iii) psychology of religion (general) . (iv) aspectual, for example the psychology of religious symbolism. (v) itemised studies within these fields. (vi) philosophy of religion, in so far as it may be concerned with conceptual and methodological problems arising in and out of dialectical-phenomenological studies (for example problems about sociological uses of the concept of rationality in the context of the study of religion.

In Kapitel 2 behandelt Ninian Smart „Religion as a Phenomenon“ (53–78). Am Beispiel der Eucharistie demonstriert er sehr detailliert und reflektiert die einzelnen religionsphänomenologischen Schritte. Der Beobachter beschreibt zunächst das, was er sieht, die Handlungselemente dieses Ritus, Symbole usw. Das Phänomen Eucharistie wird als „a human phenomenon“ (54) wahrgenommen. Um es zu verstehen, muss der Beobachter seine „Intentionalität“ beobachten und in seine Beschreibung einfließen lassen. Am Beispiel der Haltung des Kniens macht Smart deutlich, welche großen Unterschiede sich hinsichtlich der Intentionalität ausmachen lassen (ebd.). „The observers therefore need to understand a framework of intentions“ (ebd.). Bei dem Ritus handelt es sich nicht nur um eine individuelle Handlung, sondern „communality is a central feature of religions, such that even individual actions will be somehow related to them“ (55). Das Phänomen Eucharistie ist darüber hinaus „systematically connected with a scheme of belief and an institutional tradition. Here is an instance of the organic character of religion and the methodological inadequacy of treating items in isolation“ (55f.).201 Nach Smart ist es religionsphänomenologisch unzureichend, nur 201 framework: Rahmen(bedingungen); scheme: Modell, Plan; item: Einzelheit.

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ein allgemeines Verständnis der Eucharistie zu entwickeln, zu beschreiben, was dabei vor sich geht, was Gebet bedeutet usw. „But to grasp the fine grain of the phenomenon, they need to understand the particularities of the prayers, not of course just their words, but the nature of the Focus at which they are directed“ (56). Für die an der Eucharistie Beteiligten ist dieser Focus, um den sich alles dreht, im Brot und Wein anwesend. Für Smart stellt sich die Frage, wie man es als Religionswissenschaftler mit diesem Focus zu halten habe. „We might arrive at an over-simple solution of the problem by saying that the observers, qua observers, are simply not in a position to affirm the Focus, without bracketing, for it is the prerogative of those who have faith to affirm the Focus. But is it enough for the observers to say that the Focus, though real to the participants, is not real to the oberservers?“ (57).202 Unter Bezug auf Peter Bergers „The Social Reality of Religion“ (auch veröffentlicht als „The sacred canopy“, 1969), der „methodologischen Atheismus“ postuliert und den Focus als „objectivated human product“ (60) als menschliche Projektion betrachtet, tritt Smart nicht für eine „realistic, reality affirming description“ (ebd.) ein. Stattdessen plädiert er für „the acceptance of a bracketed realism in the description of the phenomena, such as the Eucharist“ (61). Ein Religionswissenschaftler ist weder der Indifferenz, dem Agnostizismus o.ä. verpflichtet, wie er auch Christ, Buddhist usw. sein kann. Die Frage nach der Realität des Focus lässt Smart nicht unentschieden, er stellt sie gar nicht (62). Der Focus manifestiert sich historisch auf unterschiedliche Weise, und nicht alle Christen akzeptieren jede dieser Manifestationen. Religionsphänomenologisch eingeklammert werden „those which manifest the Focus, and those utterances and so forth which Express the Focus are to be bracketed so long as they are seen under the categories of manifestation and Expression“ (63). Smart unterscheidet verschiedene Focus-Arten. So gilt für FocusA: „Christ (hereafter the Focus) is the Focus pictured in a particular way by participant A in the celebration“ (64). Focust „is the typified Focus of those who participate in the celebration“ (ebd.). Focus T „is the typified Focus of the wider communality of those whom the group participating in the celebration affirm themselves to belong“ (ebd.) Und schließlich Focusx, „the real Focus transcending the pictures found in the preceding, but recognized in principle by the participants, and by the community at large“ (ebd.). Smart kritisiert jetzt die eingangs teilweise vertretene These als simplifizierend, dass der Phänomenologe sich mit „human phenomena alone“ (68) beschäftigt. „The phrase is important perhaps as a slogan, to indicate that description and evocation are the prime tasks of phenomenology together with typology, rather than Theological judgements“ (69). Im Anschluss an Gerardus van der Leeuw geht Smart abschließend darauf ein, was es bedeutet, die Phänomene in das eigene Leben einzuschalten. Um den garstigen 202 to affirm: bekräftigen, versichern; prerogative: Vorrecht

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Graben der Geschichte (Lessing) bzw. der Kulturen zu überwinden, reicht Empathie – so wichtig diese auch ist – nicht aus: „Because of the organic nature of religious beliefs and practices – their interconnection in a fine web of relations – the process of sympathetic imagination involves something like learning a new language and it is therefore not just a matter of empathy, if it is not fine-grained emotional and attitudinal identification with the participants of another faith, has to be structured in accord with the organic web“ (70). Empathie bzw. Sympathie sind zwar wichtige Voraussetzungen, um eine andere religiöse Welt zu betreten, doch: „It is implicit in this use that it is not full-blown sympathy in the ordinary way“ (74).203 Grundsätzlich muss es sich um eine „bracketed“ Sympathie handeln. Zum Beispiel beim Umgang mit dem Buddhismus „the phenomenologist qua phenomenologist is not endorsing Buddhism, expressing sympathy for it, aligning himself with ist values […]. For aligning oneself with Buddhism is a mild way of Expressing the dharma, and so in its modest manner is a form of Theologising (Dharmalogising) (75).204 Smart vergleicht die Rolle des Religionsphänomenologen mit der eines Romanlesers. Ob die Romanfiguren (sein Beispiel ist der letzte Roman von Dostojewski: Die Brüder Karamasow) in Wirklichkeit existieren, ist unwichtig. Es ist keine Frage, die nach einer Antwort verlangt. Man muss im wirklichen Leben weder mit Karamasow, noch mit Alyosha übereinstimmen, wenn man ihre Welt mit seinen eigenen Augen betrachtet. „Prescinding, however from the real world, in a novel one is immersed in a particular ambience, and moves with the characters, play-acting their feelings, understanding their beliefs, beginning to live in their social world“ (72).205 Kapitel 3 („The Mythic Firmament“) entfaltet Smarts Auffassung vom Mythos und nimmt dabei gelegentlich Bezug auf die phänomenologische Methode, weshalb hier nur ein Teil resümiert wird. Mythos ist zunächst einmal eine Geschichte, „concerning divinities, typically in relationship to men and the world“ (81). Der Mythos dient nicht in erster Linie zur Unterhaltung, sondern „the primary context of the telling of a myth is ritual“ (ebd.). Ein drittes Merkmal von Mythen „is their explanatory power“ (82). Besonders wichtig ist Smart das Verhältnis von Mythos und Geschichte.“ […] it is not possible to define myth negatively by reference to historicity or to what is scientifically possible. However, we then have the problem of differentiating any myths which are not historical, since on the present account they chiefly concern transactions between divinities and men. True, cosmogonic myths and myths of the genealogies and battle of divinities may be once-removed from human affairs; but what of myths 203 full-blown: komplett 204 to align: an etwas anpassen; value: Wert; modest: mäßig, maßvoll 205 to prescinde: abstrahieren, absondern; to immerse oneself in sth.: sich in etwas vertiefen; play-acting: schauspielern

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of the first ancestors and the like? Should not these be treated in the same category as hard historical myths, such as the story of Gods leading Israel out of Egypt?“ (83f.). Kapitel 4 („Resolving the Tensions between Religion and the Science of Religion“) verspricht vom Titel mehr, als es für unser Interesse austrägt. Im Mittelpunkt steht das Verhältnis von Theologie, historischer Methode und Glaube.

3. Ausgewählter Quellentext Ausgangspunkt einer Diskussion war der Beitrag des evangelischen Religionspädagogen Dietrich Zilleßen (Köln): „Theologie und Religionswissenschaft. Eine Problemstellung mit religionspädagogischen Konsequenzen.“ Dazu gab es eine Reihe kritischer Anfragen (Sigurd Martin Daecke, Gustav Mensching, Carsten Colpe, Hubertus Halbfas, Alex Stock), auch von Ninian Smart. Der Beitrag ist ausgewählt worden, um diese wichtige religionspädagogische Seite in der Arbeit Ninian Smarts deutlich zum machen.

Einleitend möchte ich zum Ausdruck bringen, dass ich die engagierten und deutlichen Ansichten von Zilleßen begrüße. Doch seine Position geht von einigen ungeprüften Voraussetzungen aus. Er hat Recht, wenn er sagt, dass der Religionsunterricht nicht allein von pädagogischen Prinzipien bestimmt werden darf, sondern auch durch die Natur des Faches selbst. Um welches Fach handelt es sich aber? Hier genau liegt das Problem der Voraussetzungen. Deutschen Konventionen folgend unterscheidet Zilleßen zwischen Theologie und Religionswissenschaft. Für den zweiten Ausdruck gibt es keine genaue englische Übersetzung. Ich spreche von „the science of religion“ (etwa im Titel meines Buches: The Science of Religion and the Sociology of Knowledge, 1973). Was man in englischsprachigen Ländern dagegen „Religious Studies“ oder „Religion“ nennt, umfasst mehr als nur die sog. religionswissenschaftlichen Methoden: Philosophische, theologische und andere Wege, die Wahrheit und den Wert religiöser Formulierungen und Praktiken zu erforschen, sind darin eingeschlossen. Was die Voraussetzungen betrifft, so liegen die Schwierigkeiten in dem, was unter Theologie verstanden wird. Es wird an Zilleßens Darstellung deutlich, dass er hierunter die christliche Theologie versteht, ja – möglicherweise sogar noch enger gefasst – eine ihrer besonderen Spielarten. Jedoch lässt sich kein Religionsunterricht auf der Voraussetzung der Wahrheit christlicher Theologie aufbauen. Die Gründe hierfür sind sowohl theoretischer als auch praktischer Natur. Zuerst die theoretischen Argumente: 1. Trotz der absoluten Offenbarungsansprüche – wie immer sie auch interpretiert werden –, bestehen de facto konkurrierende Offenbarungen, wie z.B. das Evangelium, der Koran, die hinduistische shruti. Darum ist religiöse Wahrheit notwendi-

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gerweise immer strittig und ungewiss. Dies ist ein Kernpunkt, der ehrlichkeitshalber im Religionsunterricht verhandelt werden muss. 2. Sogar innerhalb einer bestimmten Religion, wie z.B. im Christentum, bestehen ähnliche Meinungsverschiedenheiten bei der Interpretation des Evangeliums. So gibt es zwischen Griechisch-Orthodoxen und schottischen Presbyterianern, rein objektiv, ernsthafte Differenzen in der Auslegung der Schrift und in der darauf beruhenden Praxis. 3. Das dritte theoretische Argument geht in ein praktisches über: Es scheint richtig zu sein, dass das Interesse an einem bestimmten Studiengebiet nicht nur von dessen immanenter Bedeutung, sondern auch von der eigenen Umwelt abhängig sein sollte. Chinesen sollten bis zu einem gewissen Umfang durchaus englische Literatur lesen. Dennoch ist es für Chinesen wichtiger, chinesische Texte zu studieren, wie für Briten englische usw. Dasselbe Prinzip sollte auch auf das Phänomen Religion angewendet werden. Man sollte z.B. in Sri Lanka oder Burma mehr Aufmerksamkeit dem Buddhismus widmen bzw. in Italien oder Schottland dem Christentum. Es ist deshalb unklug, von Theologie tout court zu sprechen. Meinen wir Buddhologie, islamische Theologie oder welche? Es gibt keine einzelne Disziplin bzw. keinen einzelnen Gesichtspunkt, der durch das einfache Wort Theologie gedeckt wäre. Wenden wir uns nunmehr der Praxis zu, dann ist wichtig festzustellen, dass die meisten westlichen Gesellschaften pluralistisch sind. Einesteils gewähren oder fördern demokratische Gesellschaften einen Meinungspluralismus. In der Erziehung wird diese Tatsache durch ihren erforschenden, problemlösenden und erfahrungsorientierten Charakter widergespiegelt. Andererseits ist diesem Ideenpluralismus ein Kulturpluralismus ebenbürtig. In den meisten westlichen Ländern gibt es viele Gastarbeiter; doch auch innerhalb der traditionellen Gesellschaft solcher Länder besteht eine Verschiedenheit kultureller Traditionen. Der Italiener aus Genua unterscheidet sich z.B. von seinem Gegenüber aus Syrakus. Ein Mann aus Wigan ist verschieden von einem aus Canterbury, der Arbeiter ist dem Akademiker unähnlich usw. Unsere Gesellschaften sind de facto also sehr plural, und jede Erziehung sollte diese Tatsache in toleranter Weise berücksichtigen. Es ist richtig, dass auf einige Gegenden mein Pluralismus nicht zutrifft: China etwa nimmt keine duldsame Haltung gegenüber anderen Geisteshaltungen ein. In Russland werden religiöse und – alternativ dazu – ideologische Positionen gezügelt. Daher ist in vielen Teilen der Erde plurale Freiheit kaum mehr als eine Idee. Ich leugne deshalb keineswegs, dass eine gewisse Ideologie den offenen Religionsunterricht (open-ended religious education), den ich und andere befürworten, begleiten muss. Doch die Antwort darauf kann nicht sein, den Pluralismus durch einen neuen Jesus-orientierten Dogmatismus zu ersetzen.

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Wenn Zilleßens Ansatz demnach eine gewisse Berechtigung nicht abzusprechen ist, dann beruht sie auf der Tatsache, dass der Religionsunterricht einfühlsam gegenüber dem Zentrum (focus) oder den Zentren des Glaubens sein muss. Man entspricht nicht den Forderungen eines echt phänomenologischen Ansatzes gegenüber dem Christentum, wenn man versucht, Christentum zu lehren, ohne die Bedeutung Jesu für viele Protestanten und andere herauszustellen. Bis hierin stimmte ich also mit Zilleßens Jesus-orientiertem Ansatz überein. Schließlich möchte ich noch die Bemerkung hinzufügen, dass ein übermäßiges Interesse (concern) an einer speziellen Version des Evangeliums entgegengesetzte Wirkung hat. Nach meiner Ansicht und Erfahrung erforscht man Religion am besten auf plurale Weise. Wir sind über das Zeitalter der Unterweisung hinaus, und Erziehung ist in zunehmendem Maße sensitiv gegenüber der Mannigfaltigkeit von Erfahrungen. Es ist für den Religionsunterricht nicht empfehlenswert, sich dogmatisch außerhalb dieser Hauptströmung zu stellen. Ich bin mir jedoch sicher, dass Zilleßen eine weitergehende Konzeption wünscht, da er mit einem erweiterten Syllabus einverstanden ist. Doch geht er von einer Voraussetzung aus, welche die meisten Schüler tatsächlich nicht mehr teilen. So läutet also das Totenglöckchen für den konfessionellen Religionsunterricht, mit Ausnahme natürlich im strengsten konfessionellen Milieu. Im Großen und Ganzen entspricht dies aber nicht der Welt, in der wir leben.

4. Fragen zum Text 1. Informieren Sie sich über die spezifische Form des britannischen Religionsunterrichts und vergleichen Sie sie mit a) dem in Deutschland üblichen konfessionellen Religionsunterricht bzw. b) mit sog. Ersatzfächern (Ethik, Werte und Normen). Literaturvorschlag: Christa Dommel: Mischmasch – die feine englische Art. Multireligiöser Religionsunterricht in England. In: DIE BRÜCKE. Zeitschrift für Schule und Religionsunterricht im Land Bremen. Jg. 4 (1999), Heft 2. 2. Nehmen Sie Stellung zu Smarts Aussage: „Jedoch lässt sich kein Religionsunterricht auf der Voraussetzung der Wahrheit christlicher Theologie aufbauen“. 3. Was halten Sie von der Anwendung der Aussage, „dass das Interesse an einem bestimmten Studiengebiet […] von der eigenen Umgebung abhängig sein sollte“ auf das „Phänomen Religion“? 4. Setzen Sie die Aussagen über das „Zentrum“ in Beziehung zu Smarts phänomenologischen Überzeugungen. 5. Teilen Sie die Ansicht Smarts, dass „das Totenglöckchen für den konfessionellen Religionsunterricht“ läutet? Sammeln Sie Gegenargumente. Inszenieren Sie ein Rollenspiel, in dem sich ein (konfessioneller) Theologe/Religionslehrer und ein

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Religionswissenschaftler über die Zukunft des konfessionellen Religionsunterrichts austauschen.

5. Würdigung

Ninian Smart war Vorreiter und Verfechter der Religionswissenschaft als eigenständige Disziplin. Er war davon überzeugt, dass grundsätzlich alle Religionen zu untersuchen, aber nur im Kontext miteinander zu verstehen seien. Die für einen Religionswissenschaftler nötige Weite war bei Ninian Smart in ähnlicher Weise gegeben wie bei Gustav Mensching, Friedrich Heiler, Mircea Eliade u.a. Nach Auffassung Ninian Smarts sollte Religionswissenschaft Bestandteil sowohl des Theologiestudiums als auch des schulischen Religionsunterrichts sein. Smart betrachtete das religionswissenschaftliche Studium als eine säkulare Wissenschaft. Er vertrat die Auffassung, dass Religion/en nicht nur durch das Studium von Texten und Geschichte zu begreifen sei und dass die Beschränkung der Lehre auf mittelalterliche Beispiele höchstens eine defensive Antwort auf das Problem einer meist exklusiven christlichen Theologie im säkularen Unterricht war. Smart befürwortete keine enge Religionsdefinition, und man kann wohl sein Sechs- oder Sieben-Dimensionen-Modell als eine Art Arbeitsdefintion betrachten. Er hielt das Wittgensteinsche Modell der Familienähnlichkeit für nützlich zum Verständnis von Religion/en. Mit diesem Begriff aus seiner Spätphilosophie (Philosophische Untersuchungen, entstanden 1936–1946; veröffentlicht posthum 1953) demonstrierte Wittgenstein (1889–1951), dass sich keine allgemeinen Merkmale für alle Sprachen, Spiele und Sprachspiele angeben ließen. Einige Spiele hätten zwar gemeinsame Merkmale, mit anderen jedoch überhaupt keine. Daraus folgte für Wittgenstein, dass ‚familienähnliche‘ Begriffe keine ‚universalen‘, für alle Beispiele gemeinsam zutreffenden Merkmale enthielten. „Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele, Kampfspiele“ usw. sind über so genannte Familienähnlichkeiten miteinander verwandt.206 Spiele bilden eine Familie. „Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort ‚Familienähnlichkeiten‘; denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc. – Und ich werde sagen: die ‚Spiele‘ bilden eine Familie.“207 In seinem bisher fünf Auflagen erlebenden Werk ‚The Religious Experience‘ (1969) entwickelte Smart ein Sechs-Dimensionen-Modell von Religion/en, wobei es ihm auf

206 Phil. Unters., I, 67 , Frankfurt/Main 19833, S. 66f. 207 Ebd., S. 57.

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die Reihenfolge nicht genau ankam. Smart unterschied folgende Dimensionen von Religion/en: 1. ritual or practical 2. doctrinal or philosophical 3. mythic or narrative 4. experiential or emotional 5. ethical or legal 6. organisational or social. Später ergänzte er dieses Modell um weitere Dimensionen bzw. supplementary dimensions 7. artistic or material (=Architektur, Kunst, Musik) 8. political and economic as supplementary dimensions. Ninian Smarts Religionswissenschaft versucht herauszufinden, weshalb die Menschen unterschiedlicher Religionen ihre unterschiedlichen Ansichten für wahr halten. Die Arbeitsweise der nicht-konfessionellen Religionswissenschaft ist beschreibend, obwohl sie die bloßen Informationen transzendieren und in Dialog mit den para-historischen Ansprüchen von Religion/en und antireligiösen Ausrichtungen treten will. Religionswissenschaft will verstehen, die Bedeutungen religiöser Phänomene erforschen. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Anthropologie (Ethnologie), Soziologie, Psychologie, Geschichte, Archäologie und anderen Disziplinen hielt Smart für unerlässlich. Zu einer Zeit, als die Mehrheit der Religionswissenschaftler den Begriff Phänomenologie nicht einmal mehr wagten, in den Mund nahmen, bestand Smart weiterhin auf diesen Terminus. Smarts Religionswissenschaft besaß eine praktische Dimension. Ihr ging es um cross-cultural understanding. Eine heftige Kontroverse innerhalb der Religionswissenschaft brach anlässlich seiner Idee aus, eine World Academy of Religion (WAR) zu gründen. Sein Vorschlag lautete folgendermaßen: „though the overall aim of a World Academy of Religion would be the cross-cultural, multidisciplinary and reflective study of religion, it has, to make real progress, to embrace all kinds of committed and non-committed scholarly organizations, it has to embrace Jewish exegetes and Christian theologians, Islamic historians and editors of Vaishnava texts, Marxists historians of atheism and Catholic jurisprudents, liberal New Testament scholars and Sikh professors, and so forth.“208 Zwei amerikanische Kollegen, Luther H. Martin und Donald 208 Ninian Smart: Concluding Reflections: Religious Studies in Global Perspective, in: Turning

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Wiebe, sahen in dieser Zielsetzung eine unerlaubte Vermischung von Religion und Religionswissenschaft, sahen in Smarts Gedanken geradezu eine Kriegserklärung an die scientific Community der Religionswissenschaftler.209 James Leland Cox, Professor für Religious Studies an der Universität Edinburgh, fasst die Bedeutung von Ninian Smart für die Religionswissenschaft so zusammen: „There can be little doubt that his influence as a British phenomenologist has shaped quite fundamentally to this day what came to be adopted internationally as the mainstream approach within the academic study of religions“.210 In seiner Gedenkrede auf Ninian Smart schreibt Richard D. Hecht, Professor for Religious Studies: „We will remember Ninian as a brilliant thinker and leader in our field of study, certainly, but also as a warm and wonderful human being who loved painting, cricket, writing poetry, and a decent drink. His bow ties and the ever-present flower in his lapel, and most of all the twinkle in his eye, left their indelible marks on the department. We are much the better for having known him. We will miss him greatly.“211

6. Weiterführende Arbeitsaufgaben 1. Smarts Idee einer „World Academy of Religion“ und Gustav Menschings „Weltuniversität“ haben einige Gemeinsamkeiten. Welche? 2. Rollenspiel: Diskutieren Sie über Smarts World Academy of Religion aus unterschiedlicher Sicht (ablehnender/zustimmender Religionswissenschaftler, Theologen diverser Religionstraditionen). 3. In der Geschichte der neueren Religionswissenschaft ist vor allem die Marburger Tagung von 1960 bedeutsam. Sie definierte in ihrem Manifest die Religionswissenschaft als empirische, anthropologische Disziplin, die im Unterschied zu Philosophie und Theologie keine normative Ausrichtung hat. Wie passt Smarts World Academy of Religion da hinein? Informieren Sie sich über das Manifest und lesen Sie den Beitrag von Ugo Bianchi aus dem Jahre 1961: Nach Marburg (Kleine

Points in Religious Studies: Essays in Honour of Geoffrey Parrinder. Ursula King (ed.). Edinburgh 1990. 209 On declaring WAR: a critical comment. In: Method and Theory in the Study of Religion 5/1, 1993, S. 47–52. Im selben Band widersprachen Ninian Smart und Ursula King. 210 James L. Cox: A Guide to the Phenomenology of Religion. Key figures, formative influences and subsequent debates, London, New York 2006, S. 167. 211 Richard Hecht: In Memoriam Roderick Ninian Smart. University of California http://www. universityofcalifornia.edu/senate/inmemoriam/roderickniniansmart.htm (Zugriff 5.11.2010)

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Ninian Roderick Smart

Abhandlung über die Methode). In: Günter Lanczkowski (Hg.): Selbstverständnis und Wesen der Religionswissenschaft, Darmstadt 1974, S.205–224. 4. Vergleichen Sie Smarts Auffassung von Religionsphänomenologie mit der von Van der Leeuw, Mensching, Goldammer. 5. In der Religionsforschung gibt es verschiedene Dimensionierungs-Modelle: u.a. Charles Glock (Über die Dimensionen der Religiosität. In: Joachim Matthes: Kirche und Gesellschaft, Bd. 2, Reinbek b. Hamburg 1969, S.150–168) und Michael Pye: Comparative Religion. An Introduction through source materials, 1972). Vergleichen Sie diese Dimensionen-Modelle mit dem von Ninian Smart.

7. Auswahlbibliographie Primärliteratur

Reasons and faiths. An investigation of religious discourse, christian and non-christian, London 1958. A Dialogue of Religions, London 1960. Historical Selections in the Philosophy of Religion, New York u. a. 1962. Doctrine and Argument in Indian Philosophy, London 1964. The Teacher and Christian Belief, London 1966. Secular Education and the Logic of Religion. Heslington lectures, University of York, 1966. London 1968. The Religious Experience of Mankind, New York 1969. The Phenomenon of Religion, London 1973. The Science of Religion & the Sociology of Knowledge. Some methodological questions, 1973. In Search of Christianity, New York u. a. 1979. Die großen Religionen, München 1981. Sacred Texts of the World. A universal anthology, London 1982. Worldviews. Crosscultural explorations of human beliefs, New York 1983. Nineteenth Century Religious Thought in the West, Cambridge u. a. 1985. Prophet of a New Hindu Age. The life and times of Acharya Pranavananda, London u. a. 1985. Concept and Empathy. Essays in the study of religion, Basingstoke 1986. Religion and the Western Mind, Albany 1987. The World’s Religions, Cambridge 19982. Buddhism and Christianity. Rivals and allies, Honolulu 1993. Ethical and Political Dilemmas of Modern India, New York 1993. Reflections in the mirror of religion, Basingstoke 1997.

The Phenomenon of Religion (1973)

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Lights of the World. Buddha and Christ, Bangalore 1997. Sekundärliteratur

The Ninian Smart Archive and Bibliography: http://www.ashgate.com/pdf/SamplePages/Ninian_Smart_on_World_Religions_ Volume_2_Appendix2.pdf (Zugriff: 5.11.2010) Capps, Walter H.: Religious Studies. The Making of a Discipline, Minneapolis 1995, S. 307ff. Cox, James L.: A Guide to the Phenomenology of Religion. Key Figures, Formative Influences and Subsequent Debates, London u. New York 2006. Cunningham, Adrian: Professor Ninian Smart. In: The Independent vom 5. Februar 2001. Fitzgerald, Timothy: The Ideology of Religious Studies, New York, Oxford 2000. Kunin, Seth Daniel: Theories of Religion. A reader, Edinburgh 2006. Kuruvachira, Jose: Religious experience. Buddhist, Christian, and Hindu. A critical study of Ninian Smart’s philosophical interpretation of the numinous and the mystical. New Delhi 2004. McCutcheon, Russel T.: Studying Religion. An introduction, London u. a. 2007. Masefield, Peter/Donald Wiebe (ed.): Aspects of religion. Essays in honour of Ninian Smart, New York u. a. 1994.

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21. Hans-Joachim Klimkeit (1939–1999)212 1. Biographie

Der langjährige Bonner Lehrstuhlinhaber für Vergleichende Religionswissenschaft und Nachfolger Gustav Menschings, Hans-Joachim Klimkeit, war der Sohn einer Missionarsfamilie. Sein Vater Johannes Klimkeit arbeitete für die Gossner Mission in Indien, benannt nach dem Gründer Johannes E. Gossner (1773–1858), der erst als 63jähriger das Missionswerk ins Leben gerufen hatte. Während des zweiten Weltkriegs wurde die Familie von den Engländern interniert. Klimkeit besuchte in Indien eine amerikanische ‚elementary school‘, sodann in Darjeeling im Himalaya eine britische ‚secondary school‘. Mitte der 1950er Jahre kehrte Familie Klimkeit nach Deutschland zurück. Der Vater arbeitete wieder als Pfarrer, und der Sohn besuchte das Söderblom-Gymnasium in Espelkamp, wo er das Abitur ablegte. Klimkeit begann, evangelische Theologie an der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau (mittelfränkischer Landkreis Ansbach) zu studieren, wechselte nach einem Jahr an die Universität Tübingen mit dem Studienziel Gymnasiallehrer. Dafür studierte er zusätzlich Mathematik. Immer stärker verlegte er sich jedoch auf Philosophie und Religionswissenschaft. Zwei Tübinger Lehrer beeindruckten ihn besonders: der Philosoph Otto Friedrich Bollnow (1903–1991) und der Indologe Helmuth von Glasenapp (1891–1963). 1961 setzte Klimkeit seine Studien in Bonn bei Gustav Mensching fort. Am Beginn seiner religionswissenschaftlichen Karriere stand seine von Mensching betreute Dissertation über „Das Wunderverständnis Ludwig Feuerbachs in religionsphänomenologischer Sicht (1965). Statt Lehrer zu 212 Ulrich Vollmer: Hans-Joachim Klimkeit – Werk, Wirkung, Würdigung. In: Wolfgang Gantke/ Karl Hoheisel/Wassilios Klein (Hg.) Religionsbegegnung und Kulturaustausch in Asien. Studien zum Gedenken an Hans-Joachim Klimkeit, Wiesbaden 2002, S. 11–48. – Ders.: Both Historian of Religion and Phenomenologist: The Work of Hans-Joachim Klimkeit (1939–1999). In: Religious Studies Review vol. 31 number 3, 4/July, October 2005, S. 129–134.

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werden, ergriff Klimkeit die Möglichkeit, als Postgraduierter ein Jahr in Harvard/ USA zu studieren. Dort beeindruckten ihn vor allem Wilfred Cantwell Smith (1916–2000) und der Sanskritist Daniel Henry Holmes Ingall, sr. Im Wintersemester 1968/69 wurde Klimkeit an der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn für das Fachgebiet Vergleichende Religionswissenschaft habilitiert mit der Schrift ‚Anti-religiöse Bewegungen im modernen Südindien. Eine religionssoziologische Untersuchung zur Säkularisierungsfrage‘. Seine akademische Karriere begann Klimkeit im Sommersemester 1969. 1970 wurde Klimkeit zum Wissenschaftlichen Rat und Professor ernannt, übernahm aber zunächst erst vertretungsweise die Leitung des nach der Emeritierung Menschings vakant gewordenen Religionswissenschaftlichen Seminars. 1972 wurde Klimkeit endgültig auf den Mensching-Lehrstuhl berufen, für den sich Mensching Mircea Eliade gewünscht hatte, wie Akten aus dem Philosophischen Seminar dokumentieren. Klimkeit lehrte bis zu seinem Tod an der Universität Bonn. Hans-Joachim Klimkeit hat drei Söhne: Dirk, Bernd und Kai. Eine von Klimkeit jahrelang unterdrückte schwere Krankheit brach zum Schluss wieder aus und kam am 7. Februar 1999 an ihr Ende. Ihrer Todesanzeige stellten die Söhne von Hans-Joachim Klimkeit Psalm 139, 11–12 voran und fügten hinzu „Er entschied sich, diese Welt hinter sich zu lassen“. Die Gedenkfeier fand in der American Protestant Church statt, die ihm über lange Jahre geistliche Heimat gewesen war.

2. Inhaltsangabe des Buches Von den zahlreichen Veröffentlichungen Hans-Joachim Klimkeits stelle ich nicht seine frühen Werke wie „Der politische Hinduismus. Indische Denker zwischen religiöser Reform und politischem Erwachen, 1981“, seine Buddhamonographie (1990) oder seine quellenkritischen Analysen vor, sondern seinen religionsphänomenologischen Beitrag im Rahmen einer Bonner Ringvorlesung zum Thema „Heil und Heilung in den Religionen“ (hg. von Karl Hoheisel und Hans-Joachim Klimkeit) vor. Es handelt sich um einen Vortrag, den er vier Jahr vor seinem Tod gehalten hat. Seine religionsphänomenologische Konzeption der „problemorientierten Religionsphänomenologie“ hatte er erstmals in seinem Beitrag „Der leidende Gerechte in der Religionsgeschichte“ (1988) vorgestellt, „ohne hier ein konkretes Konzept zu hinterlassen“.213 „Trotz dieser philologisch fundierten und an Texten ausgerichteten Forschung fühlte sich Klimkeit auch dem phänomenologischen Ansatz seines

213 Ulrich Vollmer, Art. Klimkeit, Hans-Joachim. In: BBKL Bd. XXIX (2008), Sp. 753–755. online: http://www.kirchenlexikon.de/k/klimkeit_h_j.shtml (Zugriff 5.11.2010).

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Lehrers Gustav Mensching verpflichtet, in dessen Tradition er an einer ‚problemorientierten Religionsphänomenologie‘ arbeitete.“214

Klimkeit eröffnet mit seinem Beitrag „Heil und Heilung in Volks- und Weltreligionen“ den Sammelband. Er legt seinen Betrachtungen eine grundsätzliche religionswissenschaftliche Unterscheidung zugrunde, „die ihre klassische Formulierung bei Gustav Mensching gefunden hat“.215 Menschings Strukturanalyse ist im vorliegenden Band ausführlich dargestellt worden. Klimkeit weicht von der Strukturanalyse seines Lehrers an einer Stelle ab, „wenn wir von Religionen absehen, die als ‚wandernde‘ Religionen sich zwar über verschiedene Länder hinweg ausgebreitet haben, aber nicht wirklich zu Weltreligionen geworden sind (z.B. die Mysterienkulte wie der Mithraskult, der sich bis in unseren germanischen Raum hinein ausgebreitet hat“ (1). Für Klimkeit ist offensichtlich das Kriterium der geographischen Verbreitung für eine ‚Weltreligion‘ besonders ausschlaggebend. Für Mensching, der religionstypologisch zwischen ‚missionierenden‘, ‚nicht-missionierenden‘ und ‚wandernden‘ Religionen unterschied, waren die wandernden Religionen Paradebeispiele für die Struktur der Weltreligion. Das Kriterium der zahlenmäßigen Größe und der geographischen Verbreitung waren für ihn untergeordnete Gesichtspunkte. Entscheidender Punkt war die „generelle und existentielle“ Unheilssituation des Menschen. Klimkeit referiert bündig Menschings Thesen, auch dessen Zustimmung zu CarlHeinz Ratschows Auffassungen in „Magie und Religion“ (1946), vor der er nach allem Anschein bis zuletzt nicht abgewichen ist und die offensichtlich auch Klimkeit teilt. Die Zeit zwischen Volks- und Universalreligionen sieht Klimkeit als „Zeit des Umbruchs, die sich schon lange ankündigt“ (6). Wie die „neue existentielle Situation“ (7) in den Universalreligionen aussieht, macht Klimkeit besonders transparent im Buddhismus. Der zukünftige Buddha „verließ Haus und Hof, gab also seine Familienund Sippenbande bewusst auf, um die ‚Erleuchtung‘ zu gewinnen“ (ebd.). Die von Buddha gegründeten Doppelgemeinschaften der Mönche und Laien transzendierten die traditionellen Gemeinschaften und orientierten sich an den Bedürfnissen der Einzelnen: „Besonders eindrucksvoll wird dies in jenen Malereien an der Seidenstraße veranschaulicht, die den sterbenden, also in das höchste Nirvana eingehenden Buddha vor Augen führen, die in Aussehen und Gewandung die verschiedenen Völker an der Seidenstraße repräsentieren“ (ebd.). Klimkeit sieht die Tatsache, dass „in Indien Tausende und Abertausende in die Mönchsgemeinde und in die neu gegründeten Klöster strömten, und zwar unter Aufgabe der Familienbande“ einer „neuen existentiellen Si214 Ebd. 215 Hans-Joachim Klimkeit: Heil und Heilung in Volks- und Weltreligionen. In: Ders./Karl Hoheisel (Hg.): Heil und Heilung in den Religionen, Wiesbaden 1995, S. 1–19, hier S.1.

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tuation“ mit einem „neuen Heilsverständnis“ geschuldet (ebd.). „Was war geschehen? Elementare soziale Bindungen lösten sich in jenem alten Indien auf oder relativierten sich. Der Krieg war im alten Indien ein Dauerzustand. Überbevölkerung, Hungersnöte und Naturkatastrophen kamen hinzu. Der Mensch konnte sich innerhalb der Welt, und das heißt innerhalb der überkommenen Sozialstruktur nicht mehr zu Hause fühlen. Auch hier war also der einzelne auf sich selbst zurückgeworfen, und es entstand eine ausgesprochene Individualproblematik“. (ebd.) Klimkeit bringt Jaspers ‚Modell der Achsenzeit‘, in welcher der Mensch sein eigenes Ich entdeckt, sich „seiner im Ganzen des Seins bewusst“ (Jaspers) wird, in Verbindung mit Menschings struktureller Analyse der sog. ‚Universalreligion‘. Am Beispiel der israelitischen Religion geht Klimkeit der Entwicklung einer sich selbst universalisierenden Volksreligion nach. Aus dem Lebensziel äußeren Wohlergehens (Familie mir reicher Nachkommenschaft) verändert sich „spätestens in den Psalmen“ (9) die Einstellung zu dem, was segensreich ist, was Segen bedeutet. Das Hiob-Buch lässt ebenfalls eine veränderte Einstellung erkennen: „Hier aber klingt (mit dem Aufkommen einer Jenseitshoffnung) der Gedanke an, dass selbst der Raub des ganzen Besitzes einschließlich des eigenen Körpers, dazu aller Familienangehörigen, den Angefochtenen vom Segen Gottes, d.h. vom Heil, nicht trennen kann“ (9). Anhand einer vergleichenden Betrachtung des Begriffes ‚Gerechtigkeit‘ in verschiedenen Volks- und Weltreligionen zeichnet Klimkeit diese in Israel angedeutete Entwicklung nach. Klimkeit differenziert Menschings Vorstellung der die Volksreligion/ en kennzeichnenden Existenzweise einer „unreflektierten Elementarverbundenheit“ (10). In Frühformen der Volksreligionen sei diese Existenzweise zwar anzunehmen, aber nicht mehr „in solchen, in denen die Reflexion schon zur Bildung von allgemeinen Begriffen vorstößt, die eine gerechte göttliche Ordnung als Grundlage des Lebens des Volkes und des einzelnen implizieren“ (10). Klimkeit exemplifiziert dies an Ordnungkonzeptionen Griechenlands (nomos), Ägyptens (maat), Israel (zedaqa), Zoroastrismus (asha), Indiens (rta, dharma) (10f ). Mit Bezug auf den Zürcher Alttestamentler H.H. Schmidt geht Klimkeit davon aus, „dass vor der allmählichen Entwicklung und Entfaltung derartiger Ordnungskonzepte ein archaisches Denken anzutreffen ist, wo Welterfahrung sich darstellt als ‚Schicksalserfahrung‘ und ihre Bewältigung“ (11). Gegen solche Krankheit und Tod bringenden Schicksalsmächte (Moira, Schicksalsgottheiten, Dämonen u.a.) wendet man magische Mittel an (Beschwörung, Omina, Orakel, Amulette u.a.). Solchen negativen Mächten stehen oft Schutzgötter, „Götter des Lebens und der Lebenssicherung“ (14) gegenüber. Anhand eines knappen Religionsvergleiches (Ägypten, Mesopotamien, Griechenland, Indien) zeigt Klimkeit, dass zahlreiche Götter „in die Rolle eines solchen Gottes des Lebens und des Heils“ (14) allmählich hineinwuchsen.

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Die in den Universalreligionen eingetretenen Denkstrukturen betrafen nicht nur zentrale Begriffe (Gerechtigkeit, Heil, Wohlergehen, Segen), sondern auch „die Begriffe von Gesundheit, Krankheit und Heilung, ja von Leben und Tod und Auferstehung oder Wiedergeburt“ (17).Neben säkularen Auffassungen von Gesundheit/Krankheit „gibt es also in West und Ost die Heilung, die in einer engen Beziehung zu dem wie auch immer verstandenen religiösen ‚Heil‘ steht. Wenn sich aber geschichtlich der Begriff des ‚Heils‘ wesentlich änderte, so auch der der Krankheit und Heilung […] wir haben in allen Religionen die Aussage, dass sich Heil in außergewöhnlichen, weil nicht normativen ‚krankhaften‘ Vorgängen zeigen kann und dass sich Krankheit in angeblichem (weil falsch verstandenem) Heil offenbaren kann.“ (17) Leiden als Voraussetzung des Heils: Diesen Gedanken demonstriert Klimkeit am Beispiel des Buddhismus und seiner Anschauung von den schlechten und guten Wiedergeburtszuständen und -orten. Abschließend weist er auf die Rolle der Stifterpersönlichkeiten hin, die oft als Ärzte gedeutet werden: Buddha, der Arzt; Christus-medicus-Motiv; Zarathustra und Mani als Ärzte sowie Laozi als „Spender des Elixiers der Unsterblichkeit“ (19).

3. Ausgewählter Quellentext Text 1

Der leidende Gerechte in der Religionsgeschichte Ein Beitrag zur problemorientierten „Religionsphänomenologie“ Die klassische Religionsphänomenologie hat in erster Linie deskriptiv und ahistorisch gearbeitet. Sie beschrieb und verglich religiöse Phänomene, „wie sie sich zeigen“, unabhängig von ihrer historischen und soziologischen „Verortung“. Die Problematik, die mit diesem Ansatz verbunden ist, hat G. van der Leeuw nur teilweise gesehen und in den Epilegomena zu seinem großen Werk reflektiert (van der Leeuw 1977). Es ist ihm hier klar, dass das Phänomen kein bloßes Objekt ist, das dem subjektiven Betrachter gegenüberstünde und das man nur in seiner Dinghaftigkeit zu erfassen hätte. Die Subjektbezogenheit jeder Perspektive wird durchaus erkannt. Abgesehen von der Ahistorizität dürften alle klassischen Phänomenologen diesen Umstand, den Joachim Wach mit „relativer Perspikuität“ [= Durchsichtigkeit, Klarheit, U.T.] bezeichnet (Klimkeit 1972, 226), anerkennen, auch wenn der Grad der Objektivität oder Perspikuität bewusst oder unbewusst unterschiedlich beurteilt wird. Dass die Einbeziehung der eigenen Perspektive im hermeneutischen Prozess des Verstehens von Lebenseindrücken als eines Verstehens eines religiösen Lebens die Wissenschaftlichkeit eines solchen Vorgehens nicht grundsätzlich in Frage stellt, dass ferner jedes Verstehen und jedes zu Verstehende historisch eingebunden ist, hat jüngst Wolfgang Gantke herausgear-

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beitet, auf welches Werk nachdrücklich verwiesen sei (Gantke 1987). Gantke zeigt die Bedeutung der Hermeneutik Bollnows für die Religionswissenschaft auf, einer Hermeneutik, in der ein objektivistisches (historisches, soziales usw.) Erklären durchaus seinen Platz, aber eben seinen Platz im Rahmen eines umfassenden hermeneutischen Vorgehens hat. War sich die klassische Phänomenologie weitgehend dessen bewusst, dass ihr Gegenstand das religiöse Leben ist, so haftet ihr doch vielfach noch etwas äußerlich Phänomenales an. Es ist nicht von ungefähr, dass die Phänomenologen ihre Materialien vornehmlich bei archaischen Kulturen und schriftlosen Völkern suchten, wo heilige Steine, Bäume, Berge usw. beschrieben werden können. Auch die Nachwirkungen dieser Phänomene in die Zeit der schriftlichen Kulturen, wo derartige Dinge dann vielfach erst greifbar werden, interessiert sie natürlich. Freilich wird man dieses Urteil kaum pauschal erheben können. Die Namen von Fr. Heiler und G. Mensching, die sich z.B. um „Lebensgesetze“ und „typische Spannungen“ in der Religion bemühten (Mensching 1959, 283ff., 321ff.), verweisen uns darauf, dass von solchen Denkern das Material aus den schriftlichen Kulturen in voller Breite einbezogen wurde. Und die Beschäftigung Eliades, der auch der hermeneutischen Frage nachgegangen ist (z.B. Eliade 1961–62, 1–8), mit der indischen Religionswelt neben der archaischen sowie seine groß angelegte Nachzeichnung der Geschichte der Religionen (Eliade 1978–83) zeigen, dass er weit mehr als nur ein Phänomenologe klassischen Stils ist. Sicherlich geht es bei ihm nicht nur um die Erscheinungsformen des Heiligen, sondern auch um die damit verbundene Problematik. Dennoch wünscht man sich eine Fortsetzung seiner Linie so, dass nicht nur äußere Erscheinungen, Riten, Kultakte, Symbole usw. in einem metahistorischen Rahmen beschrieben und analysiert werden, sondern dass auch vorgestoßen wird zu jenen Grundfragen, die die Menschheit allenthalben bewegt haben und bewegen. Wie steht es z.B. um das Verhältnis des Menschen zu Schicksal und Freiheit, wie verhalten sich in einzelnen Religionen und in einzelnen Zeiten Autonomie und Heteronomie, wie göttliche Führung und persönliche Selbstverwirklichung zueinander, oder komplexer, wie stellt sich das Verhältnis von göttlicher Führung, Autonomie und Selbstverwirklichung in vergleichender Sicht dar? Ein Beispiel aus diesem weiten Fragenkreis kann hier nur exemplarisch an Hand ausgewählter Beispiele angesprochen werden: das Problem des leidenden Gerechten, dessen Frage ja eine universale ist. Hierbei versuchen wir von Grundstrukturen auszugehen, deren Realisierung aber jeweils nur geschichtlich vorstellbar und wirklich ist. Angesichts der Unabgeschlossenheit der Geschichte verzichten wir dabei auf einen abgeschlossenen Entwurf, der in sich dogmatisch abgeschlossen wäre, und versuchen eher, Grundrisse aufzuzeigen, die im Gespräch mit der Sache, und mit den Fachkollegen ergänzbar, modifizierbar und offen sind.

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Text 2

Die Begegnung von Christentum, Gnosis und Buddhismus an der Seidenstraße Das Land der Seidenstraße, das große Steppen- und Wüstengebiet nördlich der tibetischen Hochebene, das sich vom westlichen China über Ostturkestan und Westturkestan bis hin zum Rande der iranischen Hochebene erstreckt, ist mit seinen transkontinentalen Verbindungswegen von jeher ein Gebiet der Begegnung von Völkern, Kulturen und Religionen gewesen. Dienten die Handelswege, die China über das heutige Afghanistan mit Indien, ferner mit Persien, Syrien, Ägypten und sogar Rom verbanden, in erster Linie dem Warenaustausch, so vermittelten sie darüber hinaus auch geistige und religiöse Inhalte von einem Volk zum anderen. So trafen hier die großen Religionen des Orients, u. a. das nestorianische Christentum, der gnostische Manichäismus und der Buddhismus des „Kleinen“ und „Großen Fahrzeugs“, in der Zeit zwischen dem 3./4. und dem 13./14. Jh. aufeinander. Ihre Träger lebten nicht nur nebeneinander, sondern auch miteinander; sie traten in eine lebendige Begegnung ein, so unterschiedlich deren Tiefe jeweils gewesen sein mag. Dass die Begegnung, sofern sie tatsächlich zu einem Ort des Gespräches wird, grundsätzlich Anlass zu einer Neubesinnung auf die eigene Lebenswahrheit geben kann, hat die Lebensphilosophie erkannt. Der Sachverhalt ist jüngst in aller Schärfe von O. F. Bollnow herausgearbeitet worden. Wir werden uns also die Frage vorlegen müssen, inwiefern die miteinander lebenden Vertreter der drei Religionen sich einem solchen Gespräch öffneten und inwiefern sie sich auf dogmatisch festgelegte Positionen zurückzogen. Vor allem aber werden wir im Anschluss an Hans Jonas tief schürfende Gnosisdeutung zu fragen haben, welche fundamentalen Daseinshaltungen diese Religionen jeweils vermittelten und wie diese in der Begegnung eine neue Akzentuierung erhielten. Es geht letztlich also um mehr als nur um äußere Einflüsse, die philologisch registriert werden können, auch wenn diese die Ausgangspunkte unserer Untersuchung sein müssen. Wir werden sehen, dass das Christentum sich erst im Laufe der Entwicklung auf die religiöse Sprache der Umwelt einließ. Seine Bewertung weltlichen Daseins hatte zunächst eine andere Ausrichtung als die der Buddhisten, die grundsätzlich vom leidhaften Charakter der Welt sprachen. Diesem buddhistischen Ausgangspunkt kam das manichäische Daseinsverständnis schon nahe, so dass zwischen der gnostischen und der buddhistischen Geisteswelt die engsten Berührungen zu erwarten sind. Aber der Mahayana-Buddhismus konnte von der Durchdringung von Transzendenz und Immanenz sprechen und so einem geläuterten Sein in der Welt eine neue Bedeutung verleihen. Der Manichäismus hat ihm auf diesem Wege z.T. folgen können. Das syrische Christentum hat schließlich trotz seines Festhaltens an der Idee der Auferstehung und der damit gegebenen Hochschätzung der Körperlichkeit und Weltlichkeit auf sei-

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nem Weg nach Osten zunehmend seine asketisch-monastischen Züge zur Geltung gebracht. Dieser Rückzug aus der Welt ist sicherlich eine Voraussetzung seines Untergangs nach der Mongolenzeit gewesen. […] Die Begegnung von Christentum und Buddhismus a) Die Ausbreitung des Buddhismus in Zentralasien Wenn wir mit dieser Forderung von Jonas an unser Material herangehen, dann zeigt sich, dass in der Tat alle drei Weltreligionen in Zentralasien nicht nur diese oder jene fremden Elemente aufgenommen, sondern sich selbst auch insgesamt in eigener Weise dargestellt haben. Der türkische Buddhismus erfährt […] eine ausgesprochene Personalisierung; bei diesem Prozess sind nicht nur die Fremdelemente, sondern auch das Lebensgefühl der noch ganz im Familienverband integrierten Uiguren maßgeblich. Die Buddhas sind Väter, denen man sich hoffend und vertrauend zuwendet; zugleich ist die Grundhaltung von einem tiefen Sündenbewusstsein, d.h. einem Bewusstsein der geistigen „Befleckung“, geprägt. Wenn das „Götterland“, in dem die Heilsgestalten, die Buddhas und Bodhisattvas, aber auch die dahingegangenen Ahnen residieren, mit diversen Heilszielen einschließlich des Nirvana gleichgesetzt wird, so macht dies deutlich, dass der Endpunkt des Heilsweges eine Wiedervereinigung mit den „Vätern“ impliziert. Der Manichäismus Zentralasiens trägt gleichfalls sein eigenes Gepräge. Auch hier haben wir einerseits ein ausgeprägtes Sündenbewusstsein, andererseits ist der Manichäismus durch glückliche äußere Umstände für einige Jahrhunderte begünstigt; gab es doch in Zentralasien ein sonst nirgends belegtes gnostisches Königtum. So konnte der Welt – im Unterschied zur klassischen Gnosis – wieder größere Bedeutung zugemessen werden. Das endgültige Heil lag zwar im fernen Lichtreich, aber das Licht des Jenseits schien schon in diese Welt hinein. Die mahāyānistische Idee von der Durchdringung des Absoluten und des Irdischen kam dem entgegen, und nicht zuletzt deshalb konnte an buddhistische Konzepte des „Kleinen“ wie des „Großen Fahrzeugs“ angeknüpft werden. Das Christentum schließlich hat seine zentrale Botschaft von der Auferstehung und der endgültigen Verklärung des Irdischen gewahrt. Aber für die Nestorianer kam dem historischen Jesus als Mensch auch schon immer eine besondere Bedeutung zu. So ist es verständlich, wenn der Nestorianismus auch den irdischen Belangen Raum gewährte und in dem Zusammenhang zentralasiatische Praktiken zur Sicherung diesseitigen Wohlergehens gleichsam als unterstützende Maßnahmen jedenfalls im Volksglauben einbezog; ergänzten sie doch auch das Angebot eines jenseitigen Heiles. Alle drei Weltreligionen schwingen zwar nicht um eine andere Achse als in ihren Ursprungsländern, aber sie erhalten doch – geprägt durch die Daseinshaltung der be-

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teiligten Völker – eine je neue Akzentuierung, und diese zeigt sich gerade in ihrem Gottes- bzw. Buddhaverständnis und in ihrer Weltdeutung.

4. Fragen zum Text 1. Was meint Klimkeit, wenn er sich auf Joachim Wach und seinen Gedanken „relativer Perspikuität“ bezieht? 2. Der Gegenstand der Religionsphänomenologie ist für Klimkeit das „religiöse Leben“. Was kann damit alles gemeint sein? 3. Warum haftet der klassischen Religionsphänomenologie „vielfach noch etwas äußerlich Phänomenales an“? 4. Klimkeit fordert von einer ‚problemorientierten Religionsphänomenologie‘, dass „auch vorgestoßen wird zu jenen Grundfragen, die die Menschheit allenthalben bewegt haben und bewegen“. Suchen Sie nach einem Beispiel und versuchen Sie, die wesentlichen Aspekte zusammenzustellen und zu gliedern. 5. Was meint Klimkeit, wenn er von „Lebenswahrheit“ und „Daseinshaltungen“ spricht? 6. Stimmen Sie Klimkeits Satz zu, oder lehnen Sie ihn ab, weil er über den Bereich des Empirischen hinaus geht und darum nach Ansicht vieler Religionswissenschaftler nicht sein darf: „Es geht letztlich also um mehr als nur um äußere Einflüsse, die philologisch registriert werden können, auch wenn diese die Ausgangspunkte unserer Untersuchungen sein müssen“.

5. Würdigung

Die Vorlesungen aus Klimkeits ersten Jahren als Professor bewegten sich im traditionellen Fahrwasser des Faches: Persönlichkeiten der Religionswissenschaft, außerchristliche Gnadenreligionen, Verstehen und Vergleichen, Heilige Schriften, Religiöse Weisheitsliteratur, neuere Strömungen in den nichtchristlichen Religionen. Hierbei verwundert, dass Klimkeit die theologischen Begriffe ‚außerchristliche‘ bzw. ‚nichtchristliche‘ Religionen verwendet und nicht den traditionellen religionswissenschaftlichen Begriff ‚allgemeine Religionsgeschichte‘. Immer thematisiert Klimkeit konkrete Religionen, eingeschränkt durch Raum (Religionen des Vorderen Orients, Religionen des innerasiatischen Raumes usw.) oder Zeit (Der neuere Hinduismus, Religionen des vorchristlichen Europa usw.). Zunehmend traten auch Begegnungsprozesse in den Vordergrund (Die Begegnung orientalischer Religionen in Innerasien, WS 74/75;

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Christentum und Manichäismus im Orient, SS 75; Christologie und Buddhologie im Manichäismus, SS 78 usw.). Die ersten Jahre (bis etwa 1976) setzte sich Klimkeit u.a. intensiv dafür ein, die Schriften seines Lehrers Mensching in der englischsprachigen Welt bekannt zu machen. Er übersetzte Menschings Toleranzschrift und zusammen mit V. Srinivasa Sarma ‚Die Religion‘ (Structures and Patterns of Religion). Diese erschien 1976 in dem indischen Verlag Motal Barmasidas. Klimkeit klagte später oft darüber, dass auf dem Klappentext des Buches von ‚Theology‘ bzw. ‚Comparative Theology‘ die Rede war. Außerdem wurde der Bonner Lehrstuhl mit ‚Comparative Theology‘ angegeben. Hans-Joachim Klimkeit war das Vorbild eines durch und durch interdisziplinären Gelehrten. Dies gelangt in seinem Verständnis des Faches zum Ausdruck, das er als „Stätte der Kommunikation bestimmter interdisziplinärer, aufeinander bezogener Studien- und Forschungsrichtungen“ charakterisierte. Dass es sich dabei nicht nur um ein Lippenbekenntnis handelte, lassen die zahlreichen internationalen Forschungsprojekte Klimkeits deutlich zu Tage treten. Klimkeit setzte auf Philologie, auf die historischkritische, auch archäologische und ikonographische Beschäftigung mit Religionen. Trotzdem blieb er weiterhin an religionsphänomenologischen Fragestellungen interessiert und versuchte, in Gestalt einer ‚problemorientierten Religionsphänomenologie‘ die klassische Disziplin weiterzuentwickeln. Klimkeit stützte seine Erkenntnisse vor allem auf die Analyse von Quellentexten und ikonographischen Materialien. In das Zentrum seiner Forschungen rückten neben Hinduismus, Buddhismus und Manichäismus zunehmend die Prozesse der Religionsbegegnung an der Seidenstraße. Klimkeit dokumentierte dies durch Neu-Übersetzungen und Editionen von Quellentexten. Das große Thema seiner religionshistorischen Studien waren räumlich begrenzte interreligiöse Begegnungsprozesse, vor allem an den nördlichen und südlichen Routen der Seidenstraße. Klimkeit trieb Quellenstudien auf der Grundlage seiner Kenntnisse des Alttürkischen, Mittelpersischen, Parthischen und Sogdischen. Ein weiteres Forschungsgebiet Klimkeits war der christliche Nestorianismus, vermittelt durch syrische Texte, Buddhismus beiderlei Gestalt und Manichäismus. Die erste Arbeit zur Religionsbegegnung in Zentralasien handelte von den manichäischen und buddhistischen Beichtformeln aus Turfan. Neben seinen vielen Spezialuntersuchungen trat Klimkeit 1990 durch sein Werk ‚Der Buddha. Leben und Lehre‘ hervor. Diese Publikation war an eine größere Öffentlichkeit gerichtet und stellt eine vorbildliche, auf Quellenstudien basierende Einführung in die Persönlichkeit Buddhas dar, die auch seinem Lehrer Mensching immer sehr am Herzen gelegen hatte. Im Unterschied zu vielen anderen Biographien, die sich am Pali-Kanon orientiert hatten, zog Klimkeit nordbuddhistische Sanskrittraditionen heran. Diese waren die Basis für Übersetzungen ins Tibetische und Chinesische, „nicht die Pali-Texte, die ihnen gegenüber keineswegs immer zeitliche Vorrangigkeit

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beanspruchen können, auch wenn sie vollständiger erhalten sind. Bedeutende Texte des Sanskrit-Kanons verschiedener Schulen des Kleinen Fahrzeugs sind schon zu Anfang des Jahrhunderts an der zentralasiatischen Seidenstraße aufgefunden worden, und ihre philologische Erschließung und vergleichende Einordnung hat nun schon eine 80jährige Forschungsgeschichte. Dennoch sind diese Texte bisher nicht in gebührender Weise in eine allgemeine Gesamtdarstellung des Buddha-Lebens einbezogen worden.“ (9). Leider hat das Werk bislang nur eine Auflage erlebt. Daneben beschäftigte sich Klimkeit immer wieder auch mit aktuellen Themen, vielfach im Zusammenhang mit dem politischen Hinduismus, über den er auch häufiger Lehrveranstaltungen anbot. Trotz seiner philologisch fundierten Forschung blieb Klimkeit immer dem religionsphänomenologischen Ansatz seines Lehrers verpflichtet. Man sieht dies an seinem Vortrag ‚Heil und Heilung in Volks- und Weltreligionen‘, die im Rahmen einer Bonner Ringvorlesung gehalten wurde. Sein Fundament ist der religionsstrukturelle Ansatz von Gustav Mensching, der ihm zur Erfassung des gesamten Phänomenbereichs und seiner religionssystematischen Einordnung besonders hilfreich schien. Man sieht das auch am Vorwort des Tagungsbandes ‚Vergleichen und Verstehen in der Religionswissenschaft‘, den er 1997, zwei Jahre vor seinem Tode, herausgab. Ich habe Klimkeit öfter in seinem Haus in Rheinbach besucht. Wie selbstverständlich haben wir uns oft über unseren gemeinsamen Lehrer Gustav Mensching unterhalten, von dem Klimkeit bis zuletzt achtungsvoll sprach und dessen Methodologie er grundsätzlich nicht für überholt hielt. Klimkeit trat auch als Herausgeber bzw. Mitherausgeber hervor. Er war von 1978 an Mitherausgeber der ZRGG, deren Beihefte er ab 1981 allein herausgab. 1987 wurde er Mitherausgeber der TRE (Theologische Realenzyklopädie), 1994 Mitherausgeber der Nag Hammadi and Manichaean Studies. Zusammen mit dem Bonner Mongolisten Walther Heissig begründete er 1976 die Studies in Oriental Religions. Klimkeit hat versucht, eine ‚problemorientierte Religionsphänomenologie‘ zu erarbeiten, ohne aber ein theoretisch ausgearbeitetes Konzept zu hinterlassen. Am Beispiel des ‚leidenden Gerechten in der Religionsgeschichte‘, aus dem unter Nr. 4 ein Auszug abgedruckt wird, versucht Klimkeit die von ihm so genannte ‚problemorientierte Religionsphänomenologie‘ zu demonstrieren. Ob er den Begriff selbst geprägt oder rezipiert hat, bleibt unklar. Ob meine nachfolgenden Überlegungen Klimkeits Ansatz so weiter denken, dass er zugestimmt hätte, weiß ich nicht. Es legt sich nahe, an ein religionspädagogisches Konzept zu denken. Zwischen 1966 und 1976 dachten Religionspädagogen intensiv über die Gegenwarts- und Zukunftsbedeutung, das politische Selbstverständnis, die Handlungsrelevanz und die Problemlösungskompetenz des Religionsunterrichts nach. So entstand das Konzept des „thematisch-problemorientierten

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Religionsunterrichts“ (Hans-Bernhard Kaufmann).216 Dieses bis heute nachwirkende Modell hat eine neue Epoche religionspädagogischen Denkens und Handelns eingeleitet. Einfach formuliert, befasst sich problemorientierter Religionsunterricht mit ‚Problemen‘. „Ein Problem besteht in dem, was einem Menschen problematisch ist, d.h. in dem, was auf ihn Druck ausübt: Entscheidungsdruck; Zwang, bestimmte Informationen zu gewinnen; Leidensdruck etc.“217 Die Welt der Religionen bietet nicht nur Einblicke in solche Schlüsselprobleme, sondern bietet sich dar als Antwortpotential. Eine problemorientierte Religionsphänomenologie erhält so erhebliche Bedeutung zum multiperspektivischen Durchdenken von z.T. (über-)lebenswichtigen Problemen. Die Objekte der empirischen Religionswissenschaft lassen den Forschenden bzw. Rezipienten nicht unverändert. Denn sie enthalten jede Menge Orientierungswissen, wollen Rat geben, Optionen bereitstellen, damit die Rezipienten ihren wie auch immer bedingten Zustand der Desorientiertheit verlassen können. Anstelle der Konstruktion eines weltethischen Minimalkonsenses (wie bei Hans Küng) bietet sich an, die religiösen Traditionen der Menschheit auf ihre reichen „Weisheiten und Grundhaltungen“ zu untersuchen. Zwischen den kleinen und großen Religionstraditionen – das sei mit Blick auf das „Faktum des Pluralismus“ einschränkend hinzugefügt – besteht nicht nur Differenz, beliebige Vielheit und völlige Inkommensurabilität. Es gibt nämlich Überschneidungsbereiche, „Überlappungen“ (Ram Adhar Mall) – wo sich verbindende Überzeugungen treffen.218 Klimkeit interessiert sich für die Grundfragen, wie sie Kant (1724–1804) im Zeitalter der Aufklärung formulierte: Was kann ich wissen? (Erkennen); was soll ich tun? (Handeln); was darf ich hoffen? (Glauben) Über diese Grundfragen hinaus stößt eine problemorientierte Religionsphänomenologie auf epochaltypische „Schlüsselprobleme“ (Wolfgang Klafki). Solche Schlüsselprobleme finden sich in allen Religionstraditionen. Klimkeits Religionswissenschaft schreitet über das rein (historisch-kritisch-philologisch) Empirische hinaus und ist mit mehreren Namen verbunden. Mit dem Philosophen und Pädagogen Otto-Friedrich Bollnow wird für Klimkeit Religionsbegegnung „sofern sie tatsächlich zu einem Ort

216 Hans-Bernhard Kaufmann: Thesen zum thematisch-problemorientierten Religionsunterricht. In: Klaus Wegenast (Hg.) Religionspädagogik, Bd. 1: Der evangelische Weg, Darmstadt 1981, S. 310–316. – Thorsten Knauth: Problemorientierter Religionsunterricht. Eine kritische Rekonstruktion, Göttingen 2003. 217 Dietrich Zillessen: Umgang mit Texten, Themen und Problemen. In: Ders. (Hg.) Religionspädagogisches Praktikum, Frankfurt/Main 1976, S.2–7. 218 Vgl. Hans Kessler: Problemaufriss: Das Natur- und Selbstverhältnis der Moderne und das Problem eines ökologischen Weltethos. In: Ders. (Hg.): Ökologisches Weltethos im Dialog der Kulturen und Religionen, Darmstadt 1996, S. 1–32.

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Einleitung

des Gespräches wird, grundsätzlich Anlass zu einer Neubesinnung auf die eigene Lebenswahrheit“. Eine so konzipierte Religionswissenschaft interessiert sich für die fundamentalen Lebensfragen und traut dem Untersuchungsgegenstand zu, den Forscher zu veranlassen, neu über die Grundlinien seines Lebens zu reflektieren. Der jüdische Philosoph und Religionswissenschaftler Hans Jonas (1903–1993), ein Schüler Heideggers, beschäftigte sich nicht allein mit Ethik. Als einer der letzten großen Universal-Gelehrten des 20. Jahrhunderts setzte er sich mit der antiken religiösen Weltanschauung der Gnosis auseinander, verdeutlichte ihre Grundanliegen, erklärte ihre Bild- und Symbolsprache. Jonas Denken erstreckt sich von der Religionsphilosophie und Metaphysik bis zur Philosophie des Lebens und der Verantwortung. Jonas wollte die ‚Sinnstrukturen‘ der Gnosis aufdecken. Dabei interessierte er sich vor allem um den Erfahrungsbereich, den er mit dem Begriff ‚Daseinshaltung‘ bezeichnete. Damit ließen sich gut Gedanken Menschings verknüpfen, der davon ausging, dass Religion/ en ‚Lebensform/en‘ sind und jede einzelne Religionstradition eine besondere ‚Lebensmitte‘ besitzt.

6. Auswahlbibliographie Primärliteratur

Das Wunderverständnis Ludwig Feuerbachs in religionsphänomenologischer Sicht, Bonn 1965. Anti-religiöse Bewegungen im modernen Südindien. Eine religionssoziologische Untersuchung zur Säkularisierungsfrage, Bonn 1971. Das Verstehen bei Joachim Wach. In: Numen 19 (1972), S. 216–228. Das Phänomen der Grenze im mythischen Denken. In: Ernst Benz (Hg.): Die Grenze der machbaren Welt, Leiden 1975, S. 95–111. Die ‚Teufelstänze‘ von Südindien. Gustav Mensching zum 75. Geburtstag. In: Anthropos 71 (1976), S. 555–578. Das Kreuzessymbol in der zentralasiatischen Religionsbegegnung. Zum Verhältnis von Christologie und Buddhologie in der zentralasiatischen Kunst. In: ZRGG 31 (1979), S. 99–115. Manichean Art and Calligraphy, Leiden 1982. Hg.: Götterbild in Kunst und Schrift, Bonn 1985. Buddha als Vater. In: Fernöstliche Weisheit und christlicher Glaube. Festgabe für Heinrich Dumoulin SJ zur Vollendung des 80. Lebensjahres, hg. von Hans Waldenfels und Thomas Immoos, Mainz 1985, S. 235–259. Die Seidenstraße. Handelsweg und Kulturbrücke zwischen Morgen- und Abendland, Köln 1988.

Einleitung

365

Der Buddha – Leben und Lehre, Stuttgart u.a. 1990. zus. m. Helwig Schmidt-Glintzer (Hg.): Japanische Studien zum östlichen Manichäismus, 1991. Gnosis on the Silk Road Gnostic Texts from Central Asia, San Francisco 1993. Hg.: Tod und Jenseits im Glauben der Völker, Wiesbaden 1994. Manichäische Kunst an der Seidenstraße. Alte und neue Funde, Opladen 1996 (Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 338). zus. m. Manfred Heuser: Studies in Manichean Literature and Art (Nag Hammadi and Manichean Studies XLVI), Leiden 1998. zusammen mit Geng Shimin, Jens Peter Laut: Eine buddhistische Apokalypse. Die Höllenkapitel (20–25) und die Schlusskapitel (16–27) der Hami-Handschrift der alttürkischen Maitrisimit, Opladen 1998 (ARWAW 103). Sekundärliteratur

Gantke, Wolfgang: Grundfragen einer problemorientierten Religionswissenschaft. In: G. Riße u. a. (Hg.): Wege der Theologie. An der Schwelle zum dritten Jahrtausend, Festschrift für Hans Waldenfels, Paderborn 1996, S. 295–311. In memoriam Hans-Joachim Klimkeit. Reden, gehalten am 5. November 1999 anlässlich der Akademischen Gedenkfeier der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn 2000 (Alma Mater. Beiträge zur Geschichte der Universität Bonn 89) Sagaster, Klaus: Nachruf auf Hans-Joachim Klimkeit. In: Nordrein-Westfälische Akademie der Wissenschaften (Hg.): Jahrbuch 1999, Opladen 2000, S. 61–65. Vollmer, Ulrich: Hans-Joachim Klimkeit – Werk, Wirken, Würdigung. In: Wolfgang Gantke/Karl Hoheisel/Wassilios Klein (Hg.): Religionsbegegnung und Kulturaustausch in Asien. Studien zum Gedenken an Hans-Joachim Klimkeit, Wiesbaden 2002.

366

Quellenverzeichnis Friedrich Max Müller

Müller, F. M., Indien in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung. Vorlesungen gehalten an der Universität Cambridge, übers. v. Cappeller, C., Verlag von Wilhelm Engelmann, Leipzig 1884. William James

James, W., Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Insel Verlag, Frankfurt a. M. 1997, S. 59–64. Edmund Hardy

Hardy, E., Was ist Religionswissenschaft? Ein Beitrag zur Methodik der historischen Religionsforschung, in: Lanczkowski, G. (Hg.), Selbstverständnis und Wesen der Religionswissenschaft (Wege der Forschung 263), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1974, S. 1–29. James George Frazer

Frazer, J. G., Mensch, Gott und Unsterblichkeit. Gedanken über den menschlichen Fortschritt, übers. v. Frank, H., Hirschfeld Verlag, Leipzig 1932, S. 253–256, 250– 253. Paul Drews

Drews, P., Dogmatik oder religiöse Psychologie?, ZThK 8, 1898, S. 134–151. Nathan Söderblom

Söderblom, N., Der lebendige Gott im Zeugnis der Religionsgeschichte. Nachgelassene Gifford-Vorlesungen, Reinhardt Verlag, Basel/München 1966, S. 372–374. Rudolf Otto

Otto, R., Ein Bund der guten Willen in der Welt, in: Mensching, G. (Hg.), Religion und Leben. Aufsätze zur Gegenwartskrise des Christentums, Kommissionsverlag N. Kadner, Leipzig/Riga 1931, S. 108–115.

Quellenverzeichnis

367

Raffaele Pettazzoni

Pettazzoni, R., Aprecu introductif, in: Numen 1. International Review for History of the Religions, übers. v. Albert Fuß, 1954, S. 1–7. Walter Baetke

Baetke, Walter: Aufgabe und Struktur der Religionswissenschaft. In: Lanczkowski, Günter (Hg.): Selbstverständnis und Wesen der Religionswissenschaft. WBG, Darmstadt 1974, S. 137–148. Joachim Wach

Wach, Joachim: Religionswissenschaft. Prolegomena zu ihrer wissenschaftstheoretischen Grundlegung. Leipzig, 1924. Nachdruck im Verlag Hartmut Spenner, Kamen, 2001. Gerardus van der Leeuw

Van der Leeuw, G., Sakramentales Denken. Erscheinungsformen und Wesen der außerchristlichen und christlichen Sakramente, Johannes Stauda-Verlag, Kassel 1959, S. 110 f., 151–154. Friedrich Heiler

Heiler, Friedrich: Rundbriefe der Ostasien- und Indienreise. Mit einer Prosopographie. Hg. v. Udo Tworuschka, Verlag Otto Lembeck, Frankfurt/M., 2004, S. 25 f., 162–164, 255, 301 f. Gustav Mensching

Mensching, G., Die Religion. Erscheinungsformen‚ Strukturtypen und Lebensgesetze, Curt E. Schwab Verlag, Stuttgart 1959, S. 11–14. Ernst Benz

Benz, E., Die Bedeutung der Religionswissenschaft für die Koexistenz der Weltreligionen heute, in: Kairos. Zeitschrift für Religionswissenschaft und Theologie 8, Otto Müller Verlag, Salzburg 1966, S. 170–178 mit Kürzungen. Mircea Eliade

Eliade, M., Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte, Salzburg 1954, S. 19–34 mit Kürzungen.

368

Quellenverzeichnis

Ulrich Mann

Mann, Ulrich: Zur Einführung. In: Ders. (Hg.): Theologie und Religionswissenschaft. Der gegenwärtige Stand ihrer Forschungsergebnisse und Aufgaben im Hinblick auf ihr gegenseitiges Verhältnis. WBG, Darmstadt, 1973, S. VII–XII mit Kürzungen. Wilfred Cantwell Smith

Smith, W. C., Das erwachende Selbstbewusstsein von der geschichtlichen Vielfalt der Religionen, in: Religion und Religionen. Festschrift für Gustav Mensching zu seinem 65. Geburtstag, dargebracht von Freunden und Kollegen. Ludwig Röhrscheid Verlag, Bonn 1967, S. 196–201, 206 f. Kurt Goldammer

Goldammer, K., Faktum, Interpretation und Verstehen. Zielsetzung, Möglichkeiten und Problematik der Religionswissenschaft, in: Religion und Religionen. Festschrift für Gustav Mensching zu seinem 65. Geburtstag, dargebracht von Freunden und Kollegen. Ludwig Röhrscheid Verlag, Bonn 1967, S. 12–13, 15–17, 26–27, 31–32. Clifford James Geertz

Geertz, C. J., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1983, S. 47–51, 55, 92–95. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main. Ninian Smart

Smart, R. N., Kritische Anfragen zu D. Zilleßens Artikel, in: Tworuschka/Zilleßen (Hgg.), Thema Weltreligionen. Ein Diskussions- und Arbeitsbuch für Religionspädagogen und Religionswissenschaftler, Frankfurt a. M./München 1977, S. 18–19. Hans-Joachim Klimkeit

Klimkeit, Hans-Joachim: Die Begegnung von Christentum, Gnosis und Buddhismus an der Seidenstraße. Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Vorträge G 238. Westdeutscher Verlag, 1986, S. 7 f. und 51 f. Mit freundlicher Genehmigung von Springer Science & Business Media. Klimkeit, H.-J. Die leidende Gerechte, in: Zinser, H. (Hg.), Religionswissenschaft. Eine Einführung, Reimer Verlag, Berlin 1988, S. 164 f.

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Personenregister Achelis, Ernst Christian 87, 92 Ackerman, Robert 67, 80 Adam, Karl 197 Adams, Charles J. 109 Adenauer, Konrad Hermann Joseph 218 Adolf, Gustav 99, 187 Agassiz, Louis 36 Alles, Gregory D. 129 Almond, Philip C. 129 Alt, Albrecht 303 Andrae, Tor 109 Andres, Friedrich 64 Angehrn, Emil 230 Angelus Silesius 203 Antes, Peter 21 Anz, Thomas 178, 230 Aquin, Thomas von 306 Arendt, Hannah 99 Aristoteles 160 Arkoun, Mohammed 99 Arnold, Claus 127 Asad, Talal 287, 301 Ashoka, der Große 24, 208 Auffarth, Christoph 10, 145 Augustin 238 Aurobindo 240, 241, 251 Austin, John Langshaw 318, 335 Baader, Franz von 239 Baaren, Theo van 108, 193 Bach, Johann Sebastian von 182, 303 Baer, Harald 161 Baetke, Walter Hugo Hermann 127, 146–162, 303

Baeumker, Clemens 197 Balla, Emil 200 Barié, Paul 267 Barth, Karl 12, 13, 95, 99, 114, 125, 126, 183 Bartsch, Patrick 18 Baruffaldi, Libushka 335 Barwick, John Basedow, Johann Bernhard 22 Bassermann, Gustav Heinrich 87, 91 Bassi, Hasko von 82 Bataille, Georges 259 Baumgarten, Otto 82 Bechert, Heinz 65 Becker, Ines 8 Beethoven, Ludwig van 303 Benedikt XVI, Papst (Joseph Ratzinger) 76 Bentham, Jeremy 320 Benz, Ernst Wilhelm 20, 109, 126, 238–254, 266, 364 Benz, Line 238 Berg, Eberhard 333 Berger, Peter 342 Bergson, Henri 99 Berner, Ulrich 159, 267 Bertholet, Alfred 305 Beumker, Clemens 163 Bianchi, Ugo 143, 349 Biegger, Katharina 316 Birnbaum, Walter 95 Bismarck, Otto von 86, Blanke, Fritz 268, Bleeker, Claas Jouco 145

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Bock, Christoph 147 Boehme, Jacob 239 Böhme, Jakob 239, 253 Bohr, Niels 99 Bollnow, Otto Friedrich 352, 357, 358, 363 Bopp, Franz 23 Bornemann, Wilhelm 81 Bornhausen, Karl 172 Bornkamm, Heinrich 303, 304 Bosch, Lourens Peter van den 35 Bourdieu, Pierre 159, 160, 232 Bousset, Wilhelm 51, 112, 181 Boxberger, Brigitte von 239 Brahms, Johannes 303 Braun, Ina 237 Brelich, Angelo 143, 145 Brieger-Geertz, Lois 318 Brockhaus, Hermann 22 Brosses, Charles de 136 Bruckner, Anton 303 Brummer, Andreas 192 Brunner, Emil 126 Bucher, Rainer 95 Buddha (Siddharta Gautama) 13, 42, 43, 101, 122, 176, 205, 237, 251, 253, 288, 292, 351, 353, 354, 356, 359, 360, 361, 362, 364, 365 Bülck, Walter 200 Bultmann, Rudolf 114, 126, 183, 303 Buonaiuti, Ernesto 238, 241, 250, 256 Burkard, Franz-Peter 330, 334 Burkart, Günter 80 Burke, Kenneth 324 Burkert, Walter 99 Burnouf, Eugène 23 Burns, Robert 39 Byron, Lord George Gordon Noёl 74 Caesar, Gaius Iulius 175, 177, 178 Caillois, Roger 259 Cappeller, Carl 27

Personenregister

Capps, Walter H. 351 Carducci, Giosuè 131 Carlyle, Thomas 30, 102 Carnegie, Dale 39 Carpenter, Joseph Estlin 200 Carus, Ernst August 22 Cassirer, Ernst 325, 328 Charcot, Jean 37 Chardin, Teilhard de 239 Chaudhuri, Nirad Chandra 35 Chorin, Schalom Ben 17 Cioran, Emil 257 Clemen, Otto 303 Clemen, Carl 218 Clifford, James 333 Codrington, Robert Henry 149 Cohen, Daniel 327 Cohen, Hermann 114, 216 Colpe, Carsten 17, 106, 344 Comte, Auguste 77, 136 Corbin, Henry 257, 266 Court, Jürgen 19, 64, 65 Cox, James Leland 349, 351 Crapanzano, Vincent 332, 334 Croce, Benedetto 132, 143, 144 Cunningham, Adrian 351 Curtius, Ernst 86 Daecke, Sigurd Martin 344 Dalai Lama XIV 271, 272 Dammann, Ernst 268, 304 Dante, Alighieri 74 Dasgupta, Surendranath 256 De Martino, Ernesto 143 Deißmann, Adolf 197 Dewey, John 45, 99 Dienst, Karl 212 Dietrich, Albrecht 192 Dijk, Isaac van 182 Dilg-Frank, Rosemarie 317 Dilthey, Wilhelm 176, 279, 307, 312 Dinter, Astrid 95

Personenregister

Döblin, Alfred 45 Doerne, Martin 161 Dölger, Franz Joseph 64 Domandl, Sepp 316, 317 Dombrowski, Erika 220 Dommel, Christa 346 Dörr, Georg 145 Doniger, Wendy 267 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 322, 343 Douglas, Allan 267 Downie, Robert Angus 67, 80 Drehsen, Volker 95 Drews, Alma 81 Drews, August 81 Drews, Paul Gottfried 11, 20, 81–96 Driesch, Hans 99 Duchesne-Guillemin, Jacques 264 Dürckheim, Karlfried Graf 128 Duerr, Hans Peter 267 Dumézil, Georges 257, 258 Dumoulin, Heinrich 364 Dungern, Friedrich Ernst August Freiherr von 82 Dungern, Auguste von 82 Dungern, Helene von 82 Durkheim, Émile 106, 128, 129, 148, 151, 160, 259 Echnaton 310 Eck, Diana 99 Eger, Karl 95 Eicher, Peter 107 Eliade, Mircea 12, 16, 33, 46, 128, 145, 150, 160, 255–267, 301, 347, 353, 357 Elias, Norbert 159, 160 Eliot, Thomas Stearns 78 Elisabeth von Thüringen 198 Emerson, Ralph Waldo 24, 38, 43, 44 Erikson, Erik Homburger 46 Erman, Adolf 181

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Eucken, Walter 86 Falaturi, Abdoldjavad 14, 235 Faulkner, William 45 Feigel, Friedrich Karl 127 Feuerbach, Ludwig 352, 364 Fichte, Johann Gottlieb 109, 269 Figl, Johann 144, 145, 314 Findeis, Hans-Jürgen 49, 65 Fiore, Joachim von 238, 239 Fischer, Aloys 197, 202 Fischer, August 164 Fischer, Kuno 49 Fitzgerald, Timothy 351 Flasche, Rainer 162, 178, 180, 254 Flick, Uwe 331, 334 Förster, Erich 85, 86, 198 Fontane, Theodor 22 Forell, Birger 268 Forster, Edward Morgan 338 Foucart, George 171 Franz, Egon 269 Frazer, Daniel 66 Frazer, Katherine 66 Frazer, Sir James George 20, 43, 66– 80, 99, 149, 195, 314 Freud, Sigmund 78, 275, 281 Freyer, Hans 164, 175, 177 Frick, Heinrich 126, 127, 155, 183, 199 Fricke, Gustav Adolf 81 Friedli, Richard 17, 21, 232, 234 Friedrich, der Große 29 Froude, James Anthony 74 Fuchs, Martin 333 Fuchs, Ottmar 95 Führding, Steffen 18 Fürst, Walter 192 Gänswein, Georg 192 Gandhi, Mohandas Karamchand 212 Gantke, Wolfgang 128, 214, 228, 235, 237, 352, 356, 357, 365

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Gasper, Hans 161 Geertz, Clifford James 10, 318–334 Geertz, Hildred 319 Geldbach, Erich 239, 252, 254 Geldner, Karl Friedrich 114 Gentile, Giovanni 132 George, Stefan 164, 179, 185 Gibbens, Alice H. 37 Girgensohn, Kar1 130, 279 Gladigow, Burkhard 10 Glasenapp, Helmuth von 352 Glock, Charles 350 Goblet d‘Alviella, Eugène 52 Goegginger, Wolf 217 Göhre, Paul 85, 88, 92 Goeters, Johann Friedrich Gerhard 268 Goethe, Johann Wolfgang von 25, 109, 116, 174, 214, 275 Goldammer, Johann Georg 304 Goldammer, Magdalena 304 Goldammer, Christopher 304 Goldammer Anna Katharina 304 Goldammer, Inge Dora Helene 304 Goldammer, Kurt 63, 128, 160, 168, 193, 198, 199, 209, 212, 266, 303–317, 350 Gooch, Todd 129 Gopi Krishna 272 Gossner, Johannes Evangelista 352 Gottowik, Volker 334 Gottsberger, Johannes 197 Graf, Friedrich Wilhelm 12 Graul, Johannes 180 Gray, Thomas 74 Greschat, Hans-Jürgen 21, 314 Grethlein, Christian 95 Grimm, Jacob 310 Großmann, Sigrid 284 Grove Frazer, Elizabeth 67, 68 Grünschloß, Andreas 301 Gundolf, Friedrich 164

Personenregister

Guting, Eberhard 180 Haarmann, Fritz 215 Haas, Hans 146, 164 Hackmann, Heinrich 111 Händel, Georg Friedrich 76 Halbfas, Hubertus 344 Hamann, Johann Georg 109, 269 Hardy, Edmund 49–65, 137 Hardy, Ottilie 49 Harms, Claus 86 Harnack, Adolf von 163, 197, 276 Harrison, Jane Ellen 78 Harte, Francis Brett (auch Bret Harte) 74 Hartog, Birgitta 210 Hartog, Hans 212 Hase, Thomas 180 Haubold, Wilhelm 129 Hecht, Richard D. 349 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 143, 340 Heidegger, Martin 364 Heiler, Anna 197 Heiler, Anne-Marie 200, 212, 213 Heiler, Friedrich 12, 16, 44, 46, 110, 127, 163, 183, 193, 197–213, 216, 236, 270, 273, 276, 281, 303–306, 311, 315, 347, 357 Heiler, Johann 197 Heimbrock, Hans-Günter 95 Heine, Susanne 48 Heinrich VIII, König von England 76 Heinrich, Fritz 162, 218 Heissig, Walther 362 Heitmüller, Wilhelm 112 Heller, Birgit 144 Heller, Rolf 162 Helmholtz, Herrmann von 36 Hemingway, Ernest 78 Henning, Christian 48 Herder, Johann Gottfried 109

Personenregister

Hermelink, Jan 196 Herms, Eilert 46 Herrmann, Wilhelm 114 Hessen, Johannes 127 Heuser, Manfred 365 Heussi, Karl 83, 304 Hick, John 21, 337 Hindenburg, Paul von 215 Hiob 355 Hirschmann, Eva 196 Hock, Klaus 18, 277, 315 Hödl, Hans Gerald 145, 314 Hölderlin, Friedrich 109 Hofmann, Johann Christian Konrad von 164, 179 Hofmann, Paul 194 Hofstee, Willem 182 Hoheisel, Karl 21, 214, 237, 352, 353,354, 365 Hommel, Fritz 197 Hubbeling, Hubertus Gezinus 196 Hughes, Edward Joseph 301 Humboldt, Friedrich Wilhelm Christian Carl Ferdinand von 172 Hume, David 136 Hummel, Gert 284 Husserl, Edmund 45, 163, 279, 318, 338 Huxley, Aldous Leonard 189 Immoos, Thomas 364 Ingall, Daniel Henry Holmes 353 Inglis, Fred 334 Ionescu, Nae 46, 255–257 Jacyk, Dominika 130 Jaeger, Werner 238 Jakobus, der Ältere 72, 73, 150, 224, 239 James, Henry 36 James, William 36–48, 99, 130, 201 Janik, Allan 229 Jasper, Karl 182, 355

373

Jesus Christus 13, 32, 42, 82, 87, 97, 103, 105, 114, 121, 151, 152, 185, 186, 192, 199, 203, 208, 211, 237, 338, 345, 346, 356, 359 Jevons, Frank Byron 43 Johannes XXIII 238 Jonas, Hans 358, 359, 364 Jones, Jonathan 77 Joyce, James 45, 78 Jünger, Ernst 109, 258 Jung, Carl Gustav 78, 128, 130, 257, 266, 270, 272, 275, 282, 283 Jungclaussen, Emmanuel 212 Junginger, Horst 145, 182, 218 Kaftan, Julius 98 Kammer, Carl 65 Kant, Immanuel 27, 109, 112–114, 117, 118, 125, 129, 216, 269, 282, 325, 363 Kardorff, Ernst von 331, 334 Karpp, Heinrich 12 Kaufmann, Hans-Bernhard 363 Kehnscherper, Jürgen 196 Kehrer, Günter 209 Kerenyi, Karl 266, 312 Kessler, Hans 363 Kieckers, Erst 197 Kießig, Manfred 192 King, Richard 11 King, Ursula 349 Kipling, Rudyard 15, 16 Kippenberg, Hans Gerhard 34, 196 Kitagawa, Joseph Mitsuo 166, 180, 257, 301 Klafki, Wolfgang 287, 363 Klein, Wassilios 352, 365 Klemperer, Victor 109 Klimkeit, Bernd 353 Klimkeit, Dirk 353 Klimkeit, Hans-Joachim 35, 106, 161, 180, 223, 237, 316, 352–365

374

Klimkeit, Johannes 352 Klimkeit, Kai 353 Klöcker, Michael 10, 14, 20, 64, 65, 125, 233, 239, 254 Kloeden, Wolfdietrich von 110 Klopstock, Friedrich Gottlieb 109 Kluge, Friedrich 211 Knauth, Thorsten 363 Knevels, Wilhelm 127 Köberle, Adolf 269, 283 Körber, Sigurd 21 Koch, Anne 19, 315, 333 Koch, Carsten 162 Kokot, Waltraud 334 Kraemer, Hendrik 181 Kraus, Alfred 87, 92 Krause, Gerhard 95 Kristensen, Brede 181 Krüger, Oliver 228 Kühn, Elisabeth 82 Kühn, Ernst 82 Kuhn, Ernst 197 Küng, Hans 125, 231, 363 Kunin, Seth Daniel 351 Kuruvachira, Jose 351 Kværnes, Per 301 Lähnemann, Johannes 18 Lämmermann, Godwin 48 Lafargue, Paul 250 Lafitau, Joseph-Francois 136 Lanczkowski, Günter 9, 51, 63, 64, 194, 240, 350 Lang, Andrew 33, 133, 136 Langer, Susanne Katherina 327, 328 Lanternari, Vittorio 143 Laube, Johannes 316, 317 Laut, Jens Peter 365 Lawrence, David Herbert 78 Leese, Kurt 200 Leeuw, Gerardus van der 9, 12, 108, 128, 139, 145, 149, 150, 155, 160,

Personenregister

181–196, 223, 273, 276, 281, 306, 340, 342, 350, 356 Leibniz, Gottfried Wilhelm 239 Leiner, Martin 44 Leipoldt, Johannes 303 Leiris, Michel 259 Lessing, Ada 215 Lessing, Gotthold Ephraim 26, 109, 199, 277, 343 Lessing, Theodor 214, 215 Levi-Strauss, Claude 78, 168, 258, 331 Lévy-Bruhl, Lucien 195 Linderholm, Johannes Emanuel 127 Lindl, Ernest 197 Liszt, Franz 22 Löhr, Gebhard 316 Lohmann, Martin 192 Loisy, Alfred 197, 212 Long, Charles Henry 257 Loofs, Friedrich 81 Loth, Heinz-Jürgen 237 Lovecraft, Howard Phillips 79 Luchesi, Brigitte 196 Lüdemann, Gerd 159 Lukas (Evangelist) 82, 272 Luther, Martin 46, 83, 97, 100, 103, 107, 108, 111, 112, 119, 154, 163, 165, 197, 198, 216, 217, 233, 239, 269, 303, 348 Mach, Ernst 37 Machoń, Henryk 130 Mæland, Bård 301 Maharaja von Mysore (Chamaraja Wadiyar) 114 Makarios, der Ägypter oder der Große 250 Malek, Chajjim el 115 Malinowski, Bronislaw 78, 330 Mall, Ram Adhar 16, 363 Mann, Elise 268 Mann, Euphrosyne 268

Personenregister

Mann, Thomas 109, 131 Mann, Ulrich 8, 11, 268–284 Mannhardt, Wilhelm 192 Marcus, George E. 333 Marett, Robert Ranulph 79, 99, 149, 192 Markus (Evangelist) 272 Marquard, Odo 47 Martin, Luther H. 348 Masefield, Peter 351 Matthäus (Evangelist) 182, 272 Matthes, Joachim 350 Mauss, Marcel 180, 259 McCutcheon, Russel T. 301 McLennan, John Ferguson 79 Mehlhausen, Joachim 96 Meinberg, Eckhard 19 Meister Eckhart 13, 114, 203, 239 Melanchthon, Philipp 83 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 22, 163 Mendelssohn, Moses 250 Ménégoz, Eugène 98 Mensching, Gerhard 220 Mensching, Günther 214, 216, 220, 236 Mensching, Gustav 7, 12, 13, 16, 17, 33, 44, 46, 63, 106–108, 111, 126, 127, 128, 129, 149, 150, 155, 157, 160, 179, 186, 192, 193, 200, 202, 203, 211, 214–237, 266, 270, 306, 307, 311, 312, 314, 315, 344, 347, 349, 350, 352, 353, 354, 355, 357, 361, 362, 364 Mensching, Johanna 214 Mesmer, Franz Anton 239 Meyer-Blanck, Michael 192 Meyer, Hans 197 Micha, biblischer Prophet 73 Michaels, Axel 11, 35, 80, 107, 113, 209, 267 Misner, Paul 213

375

Mittelstädt, Hartmut 162 Mitzka, Walther 211 Moebius, Stephan 259 Mohammed 42, 102, 103, 289, 310 Mohr, Hubert 145 Moltmann, Jürgen 99, 268 Monier-Williams, Sir Monier 23 Monod, Wilfred 197, 199 Morenz, Siegfried 279 Moufang, Christoph 49 Müller, Friedrich Max 9, 12, 22–35, 65, 99, 149, 161, 279 Müller, Gerhard 254 Müller, Hannelore 267 Müller, Joachim 161 Müller, Johann Ludwig Wilhelm 22 Müller, Johannes 89, 92 Müller, Wolgang 270, 284 Murdoch, Iris 99 Mürmel, Heinz 180 Murken, Sebastian 48 Murphy, Tim 130 Murray, Gilbert 78 Musil, Robert 109 Mussolini, Benito 132, 143 Natorp, Paul 114, 216 Nauer, Doris 95 Naumann, Friedrich 112 Nehring, Andreas 302 Nehru, Jawaharlal 206 Nelck, Elisabeth Antoinette 181 Nelson, Leonard 112, 215 Nestler, Erich 48 Neu, Rainer 97, 110, 267 Newman, John Henry 76 Niebergall, Friedrich 93 Novalis (Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg) 277, 316 Nystedt, Olle 110 Oesterdiekhoff, Georg W. 80, 267

376

Oetinger, Friedrich Christoph 239, 250, 269 Okano, Haruko 236 Omodeo, Adolfo 144 Otto, Alfred 110 Otto, Rudolf 9, 12, 16, 106, 111–130, 151, 165, 167, 183, 197, 199, 211, 216, 217, 222, 230, 250, 257, 259, 276, 307, 312, 313, 314 Otto, Wilhelm 111 Ozanam, Friedrich 49 Pacyna, Tony 8 Pae, Kug-wŏn 302 Palestrina, Giovanni Pierluigi da 76 Papini, Giovanni 256 Parrinder, Geoffrey 340, 349 Parsons, Talcott 318 Parusel, Peter 218 Paulus (Apostel) 103, 152, 174 Paus, Ansgar 128 Pestalozza, Uberto 143 Peter der Große, Zar und Großfürst von Russland 239 Pettazzoni, Raffaele 63, 131–145, 238, 256 Pfleiderer, Georg 98 Piaget, Jean 195 Pierce, Charles Sanders 44 Platon 49, 56, 66, 190, 216, 324 Platvoed, Johannes Gerhardus 145 Pohl-Patalong, Uta 95 Portmann, Adrian 93 Poser, Hans 47 Pound, Ezra 78 Pruett, Gordon E. 302 Pye, Michael 209, 350 Rade, Martin 81, 96, 112 Rade, Max 85, 90 Radhakrishnan, Sarvepalli 208 Radin, Paul 108 Ramakrishna 207

Personenregister

Ranke-Graves, Robert von 79 Ratschow, Carl-Heinz 354 Rebing, Günther 325 Reiss, Wolfram 18 Renouvier, Charles 36 Reschika, Richard 267 Réville, Albert 98 Réville, Jean 98 Ricoeur, Paul 99, 330 Ritschl, Albrecht 81, 82, 91, 98, 114, 115, 125 Robertson Smith, William 67, 79 Röhr, Heinz 111, 213 Roncalli, Angelo 238 Roon, Feldmarschall Waldemar Graf von 86 Rosenberg, Alfred 182 Rosenstock-Huessy, Eugen 92 Rothert, Hans-Joachim 13 Rothgangel, Martin 192 Rousseau, Jean-Jacques 136 Rückert, Friedrich 23 Rudolph, Jürgen 334 Rudolph, Kurt 114, 148, 161, 162, 180, 309, 313 Rüpke, Jörg 10, 145 Russell, Sir Bertrand 45 Ryle, Gilbert 318, 331 Sabatier, Auguste 98 Sabatier, Paul 41 Sabbatucci, Dario 143 Sachau, Eduard 163 Sacks, Jonathan 99 Sagaster, Klaus 365 Sarma, V. Srinivasa 361 Sayana 23 Schäufele, Wolf-Dietrich 180 Scheler, Max 128, 168 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 23, 109, 239, 306 Scherman, Lucian 197

Personenregister

Schian, Martin 86–88, 94 Schilling, Johannes 96 Schimmel, Annemarie 99, 213, 247, 249 Schlatter, Adolf 90, 92 Schleiermacher, Friedrich 11, 86, 93, 94, 95, 115, 126, 154, 164, 179, 183, 269, 307, 312 Schlender, Friedemann 35 Schlette, Heinz Robert 283, 300 Schmalenbach, Hermann 185 Schmid, Hans Bernhard 230 Schmidt-Glintzer, Helwig 365 Schmidt, Hans Heinrich 355 Schmidt, Hermann 112 Schmidt, Jochen 109 Schmidt, Wilhelm S.V.D. 127, 133, 136, 143, 154 Schmiedel, Michael A. 18 Schmitt, Carl 109 Schmitz, Hermann 128 Schnack, Ingeborg 212 Schneemelcher, Wilhelm-Peter 214, 237 Schneider, David 318 Schnelle, Udo 95 Schnitzer, Joseph 197 Schoeps, Julius H. 254 Scholz, Heinrich 168, 170 Schopenhauer, Arthur 109 Schott, Rüdiger 235 Schröder, Martin 159 Schwarzenau, Paul 270 Schwede, Alfred Otto 110 Schweitzer, Albert 99, 270 Schweizer, Margarete 334 Schweizer, Thomas 334 Schwingel, Markus 232 Sebastian, Mihail 257 Seeberg, Erich 238, 239 Seibert, Christoph 48

377

Seiwert, Hubert 63, 264 Sen, Keshab Chunder 24 Shakespeare, William 146, 322 Shankara (Hinduphilosoph) 13, 114 Sharpe, Eric John 106, 107, 110 Shimin, Geng 365 Siegfried, Theodor 130, 200 Siegmund-Schultze, Friedrich 110 Sierksma, Fokke 182 Simmel, Georg 174–176 Sinabell, Johannes 161 Singh, Sadu Sundar 212 Smart, Caroline 335 Smart, Isabel 335 Smart, Luisabelle 335 Smart, Ninian Roderick 99, 302, 335–351 Smart, William 335 Smith, Sarah Cory Cantwell 285 Smith, Victor Arnold 285 Smith, Wilfred Cantwell 16, 20, 285– 302, 353 Snoeck Henkemans, Anna Catharina 181 Soden, Hans von 303 Söderblom, Anna 97 Söderblom, Jonas 97 Söderblom, Kerstin 95 Söderblom, Nathan 9, 12, 44, 97–110, 148, 149, 152, 154, 170, 197, 198, 199, 202, 203, 223, 259, 352 Söderblom, Sophia 97 Sommerlath, Paul 303 Spencer, Herbert 33 Spinoza, Baruch de 23 Spranger, Eduard 173, 175, 177 Stahlhut, Christian 46 Starke, Sophie 8 Stausberg, Michael 132, 145 Steffes, Johann Peter 64 Steinke, Ines 331, 334

378

Stellrecht, Irmtraud 334 Stephenson, Gunther 21, 309 Stilling, Heinrich Jung 239 Stock, Alex 344 Streitberg, Wilhelm 65 Struthers, Muriel MacKenzie 285 Swedenborg, Emanuel 99, 239, 253 Szczesny, Gerhard 218, 219 Tagore, Rabindranath 212 Tauler, Johannes 203 Terrin, Aldo Natale 145 Tersteegen, Gerhard 250 Tertullian 208 Thies, Christian 48 Thomson, William (1. Baron Kelvin) 66 Thukydides 311 Tiele, Cornelis Petrus 9, 98, 99, 109, 181 Tillich, Paul 99, 126, 127, 164, 258, 270 Titchener, Edward Bradford 231 Tönnies, Ferdinand 185 Toulmin, Stephen 99, 229 Toynbee, Arnold 99 Träger, Gloria 35 Treitschke, Heinrich von 86 Troeltsch, Ernst 126, 163, 168, 171, 172, 197, 276, 336 Ţurcanu, Florin 226, 267 Turner, Harold W. 116 Turner, Victor 318 Turner, William 77–79 Tworuschka, Monika 18 Tworuschka, Udo 10, 20, 125, 197, 201, 212, 213, 233, 235, 236, 237, 239, 254, 297, 314, 316, 327 Tylor, Edward Burnett 33, 67, 79, 99, 133, 136, 195, 332 Upadhyaya, Brahmabandhav 212 Usener, Hermann Carl 104, 171 Victoria, Königin von England 24, 32

Personenregister

Victorinus, Marius 239, 253 Vollmer, Ulrich 49, 50, 64, 65, 127, 352, 353, 365 Voltaire 136 Volz, Paul 108 Vries, Jan de 182 Waardenburg, Jacques 21, 64, 194, 196 Wach, Joachim 9, 12, 52, 64, 128, 163–180, 257, 267, 272, 273, 276, 281, 307, 310, 312, 315, 356, 360, 364 Wach, Felix 163 Wach, Katharina 163 Wachtmann, Christian 267 Wagner, Richard 303 Waldenfels, Hans 364, 365 Wallau, René 216 Walsh James, Mary 36 Walter, Ernst 161, 162 Watson, John Broadus 44 Weber, Carl Maria von 22 Weber, Edmund 212 Weber, Franz 95 Weber, Max 160, 175, 185, 202, 318, 328 Wedemeyer, Christian 267 Wegenast, Klaus 363 Weinreich, Otto 238 Weiß, Johannes 87, 89, 92 Wellhausen, Julius 98 Welsch, Wolfgang 70 Wendehorst, Stephan 180 Wendte, Charles 200 Wernle, Paul 197 Weyel, Birgit 94, 96 Whaling, Frank 302 Widengren, Geo 145, 194, 306, 315 Wiebe, Donald 349, 351 Wiefel-Jenner, Katharina 127, 216 Wiegers, Gerald A. 145

379

Personenregister

Williams, William Carlos 78 Windel, Carl 88, 92 Wißmann, Hans 80 Wittgenstein, Ludwig 13, 45, 229, 328, 347 Wobbermin, Georg 46, 94 Wolf, Hubert 127 Wolff, Stephan 331, 334 Wollgast, Siegfried 317 Woolf, Virginia 37, 46 Wrede, William 90, 92 Wunderle, Georg 64

Wundt, Wilhelm 37, 149, 201 Wünsch, Georg 200 Yeats, William Butler 78, 79 Yousefi, Hamid Reza 237 Zaehner, Robert Charles 99, 335 Zarathustra 13, 102, 114, 145, 290, 356 Zeller, Winfried 254 Zilleßen, Dietrich 344, 346 Zimbardo, Philip George 45 Zimmer, Heinrich 275 Zimmern, Heinrich 164

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