Die Stadt der Gelehrten: Studien zu Johann Joachim Winckelmanns Briefen aus Rom

Die Reihe Studien zur deutschen Literatur präsentiert herausragende Untersuchungen zur deutschsprachigen Literatur von d

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Die Stadt der Gelehrten: Studien zu Johann Joachim Winckelmanns Briefen aus Rom

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
1. EINLEITUNG
1.1 Winckelmanns Briefwerk — Quellenlage, Editionsgeschichte und Adressatenkrei
1.2 Die Untersuchung der Winckelmann-Briefe im Kontext der Briefforschung
1.3 Griechische Antike und nationale Identität
2. ASPEKTE DER LITERATURGESCHICHTE DES BRIEFS IM 18. JAHRHUNDERT
2.1 Das »commercium litterarium«: Zur Korrespondenz von Johann David Michaelis
2.1.1. Gelehrte Philologie und wissenschaftliche Briefkultur
2.1.2. Gelehrte Mentalität im commercium litterarium
2.1.3. Gelehrtes Selbstverständnis und Franzosenkritik im Gottsched-Kreis
2.2 Zur Brief- und Geschmackskultur um die Mitte des 18. Jahrhunderts im Umkreis Gellerts
2.2.1. Briefliteratur als Nationalliteratur
2.2.2. Freundschaftliche Korrespondenz als literarische Geselligkeit
2.2.3. Vom Umgang mit Briefen
2.2.4. Das Problem des guten Geschmacks als epistolo-graphische Krise in Nöthnitz
3. FREUNDSCHAFTSBRIEFE UND RÖMISCH-GRIECHISCHES KUNSTPROGRAMM
3.1 Franzosenkritik und Gelehrtenkritik als Determinanten der Freundschaftsbriefe
3.1.1. Rom und Paris – Franzosenkritik und Gelehrtenkultur
3.1.2. Pedantenkritik und Kritik der Gelehrtenkorrespondenz in Winckelmanns Freundschaftsbriefen
3.2 Der »Patriot [...] unter einem fremden Himmel
3.2.1. Patriotische Gelehrsamkeit und Briefkultur
3.2.2. Der patriotische Lehrer der Jugend
3.2.3. Die Akademie als institutioneller Rahmen patriotischer Gelehrsamkeit
3.2.4. Der Gelehrte und der Fürst
3.2.5. Freundschaftlicher Patriotismus und Republikanismus: Die Briefe an die Schweizer
3.3 »Ruhe und Zufriedenheit« in den Briefen an Stosch, Riedesel und Mengs
3.3.1. »Der Weise auf dem Lande«
3.3.2. Ruhe und Zufriedenheit in den Briefen an Stosch
3.3.3. Römische Ruhe, Rom-Mythos und Freundschaftsbrief
3.3.4. Winckelmann und Mengs
3.4. »Heroische Freundschaft« in den Briefen an Lamprecht und Berg
3.4.1. Der Brief vom Sommer 1746 an Lamprecht im Kontext der Freundschaftstheorie
3.4.2. Die Bewahrung der Kunst im Obszönen
3.4.3. Das Thema der Erziehung an der Kunst in den Freundschaftsbriefen
3.4.4. Erotik und römisches Kunstprogramm in den Briefen an Berg
4. DER GELEHRTE AM HOF – WINCKELMANNS »GROSSE SELBSTDARSTELLUNGEN
4.1 Die »großen Selbstdarstellungen« als Briefgruppe
4.2 Höfische Norm und gelehrte Selbstdarstellung
4.2.1. Zur Problematik der Insinuation in den Briefen an Bianconi
4.2.2. Die Anticamera-Situation als Gegenstand der gelehrten Hofkritik
4.3 Polemik in der Briefliteratur
4.3.1. Gelehrtenrepublik und freie Rede
4.3.2. Polemik am Hof in den »großen Selbstdarstellungen«
4.3.3. Römische Urbanität, Griechenideal und polemische Briefstruktur
4.3.4. Das Thema der Polemik in der Winckelmann-Kritik
4.4 Gelehrte Selbstdarstellungen aus dem aristokratischen Rom
4.4.1. Die Stadt der Gelehrten
4.4.2. Der Herr der Villen
LITERATURVERZEICHNIS
Zur Zitierweise
Abkürzungen
Quellen
Fachliteratur

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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Band

Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann

Martin Disselkamp

Die Stadt der Gelehrten Studien zu Johann Joachim Winckelmanns Briefen aus Rom

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1993

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT

D 83 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Disselkamp, Martin: Die Stadt der Gelehrten : Studien zu Johann Joachim Winckelmanns Briefen aus Rom / Martin Disselkamp. - Tübingen : Niemeyer, 1993 (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 124) NE: GT ISBN 3-484-18124-9

ISSN 0081-7236

© Max Niemeyer Verlag GmbH Sc Co. KG, Tübingen 1993 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck und Buchbinder: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten

INHALTSVERZEICHNIS

1.

EINLEITUNG

Ι

ι. i

Winckelmanns Briefwerk — Quellenlage, Editionsgeschichte und Adressatenkreis

ι

ι. 2 Die Untersuchung der Winckelmann-Briefe im Kontext der Briefforschung 1.3

2.

Griechische Antike und nationale Identität

A S P E K T E D E R L I T E R A T U R G E S C H I C H T E DES

2.2

14

BRIEFS

IM 1 8 . J A H R H U N D E R T

2.1

7

Das »commercium litterarium«: Zur Korrespondenz von Johann David Michaelis 2.1.1. Gelehrte Philologie und wissenschaftliche Briefkultur . 2.1.2. Gelehrte Mentalität im commercium litterarium . . . . 2.1.3. Gelehrtes Selbstverständnis und Franzosenkritik im Gottsched-Kreis Zur Brief- und Geschmackskultur um die Mitie des 18. Jahrhunderts im Umkreis Gellerts 2.2.1. Briefliteratur als Nationalliteratur 2.2.2. Freundschaftliche Korrespondenz als literarische Geselligkeit 2.2.3. Vom Umgang mit Briefen 2.2.4. Das Problem des guten Geschmacks als epistolographische Krise in Nöthnitz

23

23 23 33 44 60 60 70 79 86

V

}.

3.1

3.2

3.3

FREUNDSCHAFTSBRIEFE UND RÖMISCH-GRIECHISCHES KUNSTPROGRAMM

95

Franzosenkritik und Gelehrtenkritik als Determinanten der Freundschaftsbriefe 3.1.1. Rom und Paris - Franzosenkritik und Gelehrtenkultui .

95 95

3.1.2. Pedantenkritik und Kritik der Gelehrtenkorrespondenz in Winckelmanns Freundschaftsbriefen

115

Der »Patriot [...] unter einem fremden Himmel« 3.2.1. Patriotische Gelehrsamkeit und Briefkultur 3.2.2. Der patriotische Lehrer der Jugend 3.2.3. Die Akademie als institutioneller Rahmen patriotischer Gelehrsamkeit 3.2.4. Der Gelehrte und der Fürst 5.2.5. Freundschaftlicher Patriotismus und Republikanismus: Die Briefe an die Schweizer »Ruhe und Zufriedenheit« in den Briefen an Stosch, Riedesel und Mengs 3.3.1. »Der Weise auf dem Lande« 3.3.2. Ruhe und Zufriedenheit in den Briefen an Stosch . . . 3.3.3. Römische Ruhe, Rom-Mythos und Freundschaftsbrief . 3.3.4. Winckelmann und Mengs 3.3.4.1. Freundschaftliche Zufriedenheit in der Korrespondenz mit Mengs 3.3.4.2. Zur Wahl der italienischen Sprache in der Mengs-Korrespondenz

3.4. »Heroische Freundschaft« in den Briefen an Lamprecht und Berg 3.4.1. Der Brief vom Sommer 1746 an Lamprecht im Kontext der Freundschaftstheorie 3.4.2. Die Bewahrung der Kunst im Obszönen 3.4.3. Das Thema der Erziehung an der Kunst in den Freundschaftsbriefen 3.4.4. Erotik und römisches Kunstprogramm in den Briefen an Berg

VI

153 133 145 157 170 189 202 202 214 230 243 243 249 255 255 267 275 283



D E R G E L E H R T E AM H O F -

WINCKELMANNS

»GROSSE

SELBSTDARSTELLUNGEN«

301

4.1

Die »großen Selbstdarstellungen« als Briefgruppe

301

4.2

Höfische Norm und gelehrte Selbstdarstellung 4.2.1. Zur Problematik der Insinuation in den Briefen an Bianconi 4.2.2. Die Anticamera-Situation als Gegenstand der gelehrten Hofkritik

309

4.3

309 318

Polemik in der Briefliteratur 4.3.1. Gelehrtenrepublik und freie Rede 4.3.2. Polemik am Hof in den »großen Selbstdarstellungen« . 4.3.3. Römische Urbanität, Griechenideal und polemische Briefstruktur 4.3.4. Das Thema der Polemik in der Winckelmann-Kritik . .

346 356

4.4 Gelehrte Selbstdarstellungen aus dem aristokratischen Rom . . 4.4.1. Die Stadt der Gelehrten 4.4.2. Der Herr der Villen

366 366 381

LITERATURVERZEICHNIS

Zur Zitierweise Abkürzungen Quellen Fachliteratur

326 326 336

395

395 395 396 404

VII

I.

EINLEITUNG

i.i.

Winckelmanns Briefwerk — Quellenlage, Editionsgeschichte und Adressatenkreis

Noch bevor Thomas Abbt, Mathematikprofessor an der Universität Rinteln, nähere Bekanntschaft mit Winckelmanns Hauptwerken schließen konnte, stand ihm — im Jahr 1762 — dessen Person bereits als Leitbild für das eigene Gelehrtenschicksal vor Augen. Hinter Abbts Wunsch, auf Winckelmanns Spuren »queerfeld ein« aus den eigenen Lebensbahnen auszuscheren, tauchen die für seine Generation so typischen Obsessionen auf: das Leiden an der kulturellen Abgeschiedenheit und Mediokrität, gesellschaftliche Isolation und das Fehlen einer Metropole. Allerdings versagt sich Abbt die Erfüllung seines Wunsches schon, bevor er überhaupt zu Papier gebracht ist: Wenn ich nicht auf Eltern zurücksehen müßte, die bey den Söhnen das Außerordentliche nicht lieben; so wäre mein Entschluß längst gefasset gewesen. — Winkelmann, der Conrector zu Seehausen, während der Sonntagsfrühpredigt queerfeld ein, nach Dresden zu — Sie wissen doch seine Historie. Rinteln wäre der Ort zur Parallele, nur mein angetauftes Glaubensbekenntniß würde ich nicht ändern.'

Mit seiner Biographie, vielleicht mehr noch mit seinen Selbstdeutungen in Briefen hat Winckelmann ebenso gewirkt wie mit seinem kunsttheoretischen Werk; bereits für die Zeitgenossen trat deshalb das Briefwerk mit in den Vordergrund. Hier knüpft die vorliegende Untersuchung mit zwei zusammenhängenden Absichten an — Winckelmanns Briefe in die Geschichte der Briefliteratur des 18. Jahrhunderts einzuordnen und sie als Quelle für die Identitätsgeschichte der deutschen Gebildeten zu erschließen. E s wirft ein Licht auf die Bedeutung der Briefe für das WinckelmannBild, daß die Korrespondenz, nicht jedoch die kunsttheoretischen Schriften in einer historisch-kritischen Ausgabe zur Verfügung stehen. Nach wie vor muß sich bei letzteren die Forschung mit Reprints der Originaldrucke, der Eiselein-Gesamtausgabe von 1825—1829 und mit Einzelausgaben von unterschiedlicher Qualität behelfen. Das Briefwerk liegt hingegen in einer 1957 abgeschlossenen, jedoch schon seit 1937 vorbereiteten 2 reich kom' W B 86a Abbt an Mendelssohn, 10. [November] 1762, I V S. 127; vgl. die Erläuterungen ebd. S. 46 5 f. ' Vgl. W B I, Vorwort S. V - X .

ι

mentierten Edition von Walther Rehm vor. Die 957 von Rehm abgedruckten oder nachgewiesenen Stücke — die Nachträge nicht gezählt — sind seitdem nur durch wenige Funde ergänzt worden.' Im Wesentlichen bildet die Rehm-Ausgabe die Textgrundlage der vorliegenden Untersuchung. — Im Gegensatz zur üblichen Editionspraxis hat Rehm die Briefe an Winckelmann nicht bei fortlaufender Zählung nach dem Datum im Zusammenhang der Korrespondenz wiedergegeben, sondern mit anderen »Dokumenten zur Lebensgeschichte« in einem gesonderten Band zusammengefaßt. Allerdings handelt es sich ohnehin um nicht mehr als 51 Stücke.4 Die folgenden Studien müssen sich also mit dem Handikap abfinden, daß die Korrespondenz als Gesprächszusammenhang nicht kontinuierlich rekonstruiert werden kann. Auch wenn angesichts der Quellenlage eine — in gewisser Weise einseitige — Konzentration auf den Briefautor Winckelmann unvermeidlich wird, sollen Adressatenbezug und kommunikative Aufgaben der Briefe nicht aus dem Auge verloren werden. Die von Rehm besorgte Ausgabe ist jedoch nur der — bislang nicht überholte - Endpunkt einer Reihe von Briefeditionen, die von der Intensität der Briefrezeption schon seit Winckelmanns Lebzeiten zeugen. Rehm selbst hat vom Verbleib der Manuskripte und Briefentwürfe, von der Überlieferungsgeschichte und damit auch von dem eigenen Herausgeberamt ausführlich Rechenschaft abgelegt. ' Um das frühe Interesse an Winckelmanns Briefen zu veranschaulichen, genügen hier deshalb wenige Hinweise. Bis in das Todesjahr Winckelmanns (1768) kam es nur zu vereinzelten Briefpublikationen, darunter allerdings der autobiographisch angelegte Brief vom 8.12.1762 an Marpurg.6 Mindestens ebenso wichtig ist freilich die indirekte Wirkung nichtpublizierter Briefe; auch Abbt könnte auf Umwegen das Bild kennengelernt haben, das Winckelmann von sich in Rom entwarf. — Bereits acht Jahre nach Winckelmanns Tod wurden in rascher Folge größere ' Nachträglich aufgefundene Briefe: A n Sir William Hamilton, Walther, Martorelli (alle in: Else Rehm: Briefe von und über Winckelmann), Walther (in: Cervani, Una lettera inedita di Johann J . Winckelmann), L u d w i g Heinrich Nicolay (2) (in: Rüdiger, Eine verlorene Schrift Winckelmanns?) und François Arnauld (in: Hahn: J . J . Winckelmann an François Arnauld); vgl. Kunze, S. i8f. Zusätzlich zu nennen sind die in München neu aufgefundenen »antiquarischen Relazionen« an Bianconi und Wackerbarth (Winckelmann, Unbekannte Schriften S. 2 5 - 4 9 ) sowie das A u tograph eines bislang nur im Entwurf überlieferten Briefs vom 1 4 . 1 1 . 1 7 6 1 an Bianconi (ebd. S. 5 of; vgl. W B 452, II S. 190—192). 4

W B I V , S. 6 7 - 1 1 2 . ' Überlieferungsgeschichte der Briefe, W B I S. 459—497. Präzise bibliographische Angaben zu den bisherigen Briefausgaben auch in: Winckelmann-Bibliographie, Folgen 1 und 2 S. 21—2;; 51. Folge 3 S. 9.

6

2

W B 5 27 an Marpurg, II S. 2 7 4 - 2 7 7 . Weitere Nachweise zur - teils von Winckelmann gebilligten, teils unautorisierten - frühen Veröffentlichung von Briefen: Überlieferungsgeschichte der Briefe, W B I S. 459.

Sammlungen von Winckelmann-Briefen veröffentlicht: 1776 in der Ausgabe von Christian Gottlob Heyne die an ihn und Gerlach Adolph von Münchhausen gerichteten Schreiben,7 1778 »Winckelmanns Briefe an seine Freunde in der Schweiz«,8 1777 und 1780, von Dassdorf herausgegeben, zwei Bände unter dem Titel »Winckelmanns Briefe an seine Freunde«9 u. a. mit Briefen an Bünau, Riedesel, Francke, die Brüder Volkmann, Wiedewelt, Walther, Nicolai, Stosch, Genzmer und Übersetzungen der »antiquarischen Relazionen« an Bianconi.10 Erwähnenswert sind von frühen Winckelmann-Briefausgaben außerdem die Edition der Stosch-Briefe von Johann Erich Biester aus dem Jahr 1 7 8 1 , " der Briefe an den Freiherrn Friedrich Reinhold von Berg 1784, 12 der Briefe an Berendis in dem Sammelband »Winckelmann und sein Jahrhundert« von Goethe, Heinrich Meyer und Friedrich August Wolf 1805, die von Friedrich Förster betreuten Briefbände in der von C. L. Fernow in die Wege geleiteten Weimarer Winckelmann-Ausgabe 1824—182515 und die Briefbände der Winckelmann-Gesamtausgabe von Eiselein (1825-29). 14 Neben den deutschen Briefausgaben erschienen bereits 1780 die »antiquarischen Relazionen«,1' 1787 Briefe an Anton Raphael Mengs jeweils in Rom' 6 und 1781 eine französische Übersetzung der Dassdorf-Ausgabe (zusammen mit Erstdrucken von Briefen an französische Korrespondenzpartner) in Amsterdam. 17 Die frühen Briefausgaben sind auch von den Zeitgenossen beachtet und jeweils rezensiert worden; Zeugnisse dieser frühen Rezeption - einschließlich der Einleitungen zu den Ausgaben — werden bei Gelegenheit in die Interpretation einbezogen. Weder die Verdienste und Mängel der genannten Ausgaben im Detail noch die Publikationen einzelner Briefe oder die weitere Überlieferungsgeschichte bis zur Rehm-Ausgabe brauchen hier aufgeführt zu werden. Festzuhalten sind allerdings die folgenden Determinanten der Briefinterpreta7

Winckelmanns Briefe an Herrn Heyne [. . .], Leipzig 1776. Winkelmanns Briefe an seine Freunde in der Schweiz, Zürich 1778. 9 Winkelmanns Briefe an seine Freunde, Dresden 1777/1780. Zu Dassdorfs editorischen Leistungen, vor allem aber auch zu seinen Vergehen vgl. Überlieferungsgeschichte der Briefe, WB I S. 462-467. " J . Winckelmanns Briefe an einen seiner vertrautesten Freunde in den Jahren 1756 bis 1768, 2 Bde., Berlin 1781. 12 Winkelmanns Briefe an einen Freund in Liefland, hrsg. v. J . Fr. Voigt, Coburg 1784. '> Winckelmanns Briefe, hrsg. v. Friedrich Förster, Berlin 1824-182;, Bd. I X - X I der Weimarer Ausgabe. 14 J . J . Winckelmanns Sämtliche Werke. Einzige vollständige Ausgabe hrsg. v. Joseph Eiselein, 12 Bde., Donauoeschingen 1825—1829. '' Antologia Romana, t. VI, Roma 1780. ' 6 Opere di A. R. Mengs. Publícate del Cav. d'Azara, Roma 1787, S. 417-432. 17 Lettres familières de M. Winckelmann, traduites de l'allemand [ν. H. J . Jansen], 2 Bde., Amsterdam; Paris 1781. 8

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tion: Obwohl Rehm zahlreiche Erstveröffentlichungen bietet,' 8 ist die Uberlieferungsgeschichte zugleich auch eine Verlustgeschichte. Wichtige Briefreihen, z. B. an Friedrich Wilhelm Peter Lamprecht, an den Fürsten Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau und an den Maler Johann Heinrich Fiissli 19 sind nicht mehr zugänglich, aber auch im übrigen bleibt das Briefkorpus lückenhaft. Der fragmentarische Charakter trägt zur Disparität der Briefsammlung bei, die bei der Wahl des Untersuchungswegs berücksichtigt werden muß. Der größere Abschnitt der Winckelmann-Biographie - die Jahre bis 1755 in Deutschland — ist in der Briefsammlung vergleichsweise schwach dokumentiert. Aus der Zeit bis zur Abreise nach Italien stammen nur 1 1 5 überlieferte oder erschlossene Stücke. Auch für die Untersuchung wird das Jahr 175 5 die entscheidende Zäsur darstellen. Zwar gilt das Interesse primär den römischen Episteln, jedoch werden die vorrömischen als Bezugspunkt eine Rolle spielen. Da mit der Übersiedlung nach Rom ein Um- und Ausbau des Empfängerkreises beginnt, 20 darf man annehmen, daß das quantitative Ungleichgewicht nicht allein auf Überlieferungslücken zurückgeht, sondern auch mit dem Eintritt des unbekannten Schulmeisters und Bibliothekars in die »große Welt« der Gelehrsamkeit zusammenhängt. Unter diesem Aspekt lassen sich verschiedene Briefgruppen voneinander abheben. 21 Allerdings dient die folgende Differenzierung nach Adressaten nur einer vorläufigen Orientierung über das Material. Weil auch andere Einteilungskriterien denkbar sind, die zu unterschiedlichen Resultaten führen können — stilistischformale, inhaltliche und solche nach Kommunikationsfunktionen — bietet sie nur in gewissen Grenzen einen Ausgangspunkt für die Analyse des Briefkorpus. Die quantitativen Angaben (in Klammern) beziehen sich auf die Zahl der jeweils überlieferten Briefe. 22 Neben den deutschsprachigen enthält das Briefwerk erhebliche Anteile von lateinischen, italienischen und französischen Schreiben. Die vorrömischen Briefe umfassen neben lateinischen Korrespondenzen mit gelehrten Freunden und Gönnern - u. a. mit dem Schulmann und Geistlichen Johann Rudolf Nolte und dem Pfarrer Christian Friedrich Papier — die Briefe an eine Gruppe von Schul- und Studienfreunden (Berendis, Genzmer, Uden),

Vgl. die Aufstellung in der Überlieferungsgeschichte der Briefe, W B I S. 49Óf. Vgl. Erläuterung zu W B 895 an Mechel, III S. 547. Vermutlich bei einem Brand in Füßlis Wohnung in London wurde auch ein Teil der übrigen Schweizerbriefe vernichtet; vgl. Erläuterungen zu 363 an Wille, II S. 395. 20

Vgl. unten 4.1.

" Das Folgende in Anlehnung an Rehm, Einleitung, in: W B I, S. 29-36. " Die Zuverlässigkeit der mit Hilfe der Register erstellten Angaben ist allerdings begrenzt; es geht nicht um numerische Präzision, sondern nur um Mengenverhältnisse. Derselbe Vorbehalt gilt gegenüber den Zahlenangaben im Kapitel 4 . 1 .

4

mit denen Winckelmann auch in Rom noch Kontakt gehalten hat. Diese Korrespondenzen bieten Vergleichsmöglichkeiten mit den römischen Freundschaftsbriefen und erst recht mit den »großen Selbstdarstellungen« an denselben, etwas erweiterten Empfangerkreis, in denen Winckelmann den in Deutschland zurückgebliebenen Bekannten als arrivierter Gelehrter entgegentritt. Ähnliches gilt für die Korrespondenz mit dem Grafen Bünau, die ebenfalls die vorrömische mit der römischen Phase verbindet (102). Insgesamt bieten jedoch die in Rom entstandenen Briefe ein weitaus differenzierteres Panorama. Erst in Rom nimmt Winckelmann an ausgesprochenen Gelehrtenbriefwechseln teil, von denen er sich andererseits auch distanziert. Adressaten sind z.B. Christian Gottlob Heyne (13), Johann David Michaelis (2), Johann Jacob Reiske (1), aber auch italienische und französische Gelehrte (Baldani, Paciaudi, Desmarest, Barthélémy [20]). Briefe an Literaten, Kunstkenner und Romreisende wie Christian Ludwig von Hagedorn, Karl Heinrich Heinecken, die Brüder Volkmann und Christian Felix Weisse stehen solchen Korrespondenzen noch relativ nahe. In diesem Zusammenhang muß aber hervorgehoben werden, daß das gelehrte, auf die kunstgeschichtliche Arbeit bezogene Moment zum Grundbestand aller Winckelmannschen Korrespondenzen gehört. Dies gilt auch für die Briefe an eine Reihe gebildeter Gönner von Stand, die vermutlich aus Gründen der persönlichen Verbundenheit, aber auch der Absicherung und gesellschaftlichen Aufwertung des römischen Kunstprogramms wichtig waren. Adressaten sind Reichsgraf Heinrich von Bünau (18), Gerlach Adolph von Münchhausen (der Kurator der Göttinger Universität, 8), General von Wallmoden; aber auch verlorene Korrespondenzen sind hier zu nennen (Graf Firmian, Franz von Anhalt-Dessau). Am Rand gehören die »antiquarischen Relazionen« an Bianconi, die für das sächsische Kurprinzenpaar bestimmte Ausgrabungsberichte enthalten, ebenfalls in diese Kategorie (insgesamt sind 58 Briefe an Bianconi überliefert). Die Briefe, die literarisch einer freundschaftlichen Gruppenbildung dienen, sind ihrerseits durchaus uneinheitlich. Die bei weitem umfangreichste Einzelkorrespondenz bildet der Briefwechsel mit Heinrich Wilhelm Muzell, genannt Baron Stosch (149), der als Adoptivsohn seines Onkels, des Barons Philipp von Stosch, in den Besitz von dessen Florentiner Gemmensammlung gelangt war und in dessen Auftrag Winckelmann die »Description des pierres gravées du feu Baron de Stosch« verfaßte. Die Stosch-Korrespondenz setzt im Jahr 1757 ein und dauert — mit einer durch persönliche Mißstimmungen verursachten Unterbrechung - bis in Winckelmanns Todesjahr: Die letzten überlieferten Briefe sind an Franz von Anhalt-Dessau und Stosch adressiert. Den zweiten Schwerpunkt innerhalb der Großgruppe der Freundschaftsbriefe bilden die Korrespondenzen mit einer Gruppe von Gelehrten, Literaten und Künstlern in der Schweiz, vor allem in Zürich — Hans 5

Caspar und Heinrich Füssli, Leonard und Paul Usteri, Salomon Geßner und Christoph Mechel (ioi); ein Teil der Schweizerbriefe gehört (mit den Briefen an Riedesel, Schlabbrendorf und Berg) zu einer Gruppe von Schreiben an junge gebildete Reisende von Stand oder Vermögen, deren sich Winckelmann in Rom als Lehrer der griechischen Kunst angenommen hat. Hier sind auch die Korrespondenzen mit Riedesel (38), Schlabbrendorf und Reinhold von Berg (13) zu nennen. Zu den Freundschaftsbriefwechseln zählt schließlich die in italienischer Sprache geführte Korrespondenz mit Anton Raphael Mengs (22). Einen großen Teil der Freundschaftsbriefe verbindet, daß die Adressaten über eine unmittelbare Kenntnis der in Rom angesammelten Kunstwerke verfügten. Als eine letzte, starke Gruppe lassen sich die Buchhändlerbriefe ausmachen — in erster Linie an den Dresdner Verleger und Hofbuchhändler Walther (99), daneben auch an Dyck in Leipzig und an Salomon Geßner —, die sich vor allem mit Publikationsplänen, dem Manuskriptversand, dem Fortschritt von Drucken und Korrekturen und mit Verhandlungen um die Buchausstattung und das Autorenhonorar befassen.

6

1.2.

Die Untersuchung der Winckelmann-Briefe im Kontext der Briefforschung

Die mangelnde Liebe der deutschen Literaturwissenschaft zum Genre des Briefs ist von älteren Forschungsbeiträgen immer wieder beklagt worden — so von Brockmeyer (1961), der die bislang einzige Überblicksdarstellung zur »Geschichte des deutschen Briefes« im 18. Jahrhundert vorgelegt hat: »Im Gegensatz zur Forschungslage in anderen Ländern, insbesondere denen des romanischen Sprachraums, befindet sich die Strukturforschung des Briefes in Deutschland noch in den Anfängen.«1 Ähnlich Schöne (1967): Mit Briefen habe man sich »vor allem ihrer biographischen oder geistesgeschichtlichen Mitteilungen wegen« befaßt, sie »als Beiträge zur Entstehungsgeschichte der poetischen Werke und als Zeugnisse für das Selbstverständnis des Autors« willkommen geheißen und sich im übrigen an den »hierzulande allzu streng auf die Poesie begrenzten Kanon literaturwissenschaftlicher Forschungsgegenstände« gehalten, weshalb der Brief »kaum [. . .] als ein literarischer Gegenstand von eigenem Rang und eigener Bedeutung« und als Objekt stilgeschichtlicher Untersuchungen anerkannt worden sei.2 Zwar hat mittlerweile das Interesse an der Briefliteratur zugenommen. So liegt inzwischen eine Überblicksdarstellung über das Forschungsfeld »Brief« von Nickisch vor.' Da zu den literarischen Ereignissen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts die Korrespondenzen gebildeter Frauen gehören (Luise Adelgunde Gottsched, Meta Klopstock, Caroline Herder, Bettina von Arnim u. a.) und da in Brieftheorien des 18. Jahrhunderts den Briefautorinnen eine Schlüsselrolle bei der Etablierung des neuen Natürlichkeitsideals zugesprochen wird, hat die Briefforschung speziell unter dem Aspekt der literaturwissenschaftlichen Frauenforschung Auftrieb bekommen.4 Aus1

Brockmeyer, S. II. * Schöne, S. i94f. 3 Für einen umfassenden Überblick über die Forschungslage, wie er hier nicht beabsichtigt ist, vgl. Nickisch, Brief, vor allem S. 1—28. 4 Vgl. neuerdings Nörtemann: Die »Begeisterung eines Poeten«; dies.: Brieftheoretische Konzepte im 18. Jahrhundert und ihre Genese, in: Brieftheorie des 18. Jahrhunderts, S. 211—224. Beide Abhandlungen beschränken sich keineswegs auf den Aspekt der Frau als Briefschreiberin. Vgl. auch die Ankündigungen von Frühsor-

7

drücklich seien in diesem Zusammenhang die beiden größeren Arbeiten von Breysach und Hahn über den Briefwechsel Rahel Levin Varnhagens genannt. Eine zusammenhängende Forschungsdiskussion befindet sich aber offenbar erst im Stadium des Entstehens. Eine eingeschränkte (wenngleich stetig abnehmende) Gültigkeit haben die oben zitierten Diagnosen also noch zur Zeit. (Mit Ausnahme weniger Arbeiten gelten sie auch für die Winckelmann-Briefe.') - Dazu ein Beispiel aus nicht allzu ferner Vergangenheit: Der Aufklärungsband der systematisch angelegten »Sozialgeschichte der deutschen Literatur« (1980; 2 i984), der auch Erbauungsliteratur, Moralische Wochenschriften, Reiseliteratur und Popularphilosophie berücksichtigt, enthält kein Kapitel über die Geschichte des Briefs im 18. Jahrhundert.6 Briefe, so könnte man schließen, haben im »literaturgeschichtlichen Bewußtsein« noch keinen festen Platz gefunden. Für diese forschungsgeschichtliche Gesamtlage, die auch in den Bemühungen um eine Definition der Gattung »Brief« ihren Niederschlag findet,7 lassen sich Gründe ausmachen, die auf den Gegenstand und die Problemstellung der vorliegenden Untersuchung zuführen. Die französische Briefliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts, in der Salonkultur wurzelnd und der Kunst der Konversation nahestehend, ist mit ihren herausragenden Vertretern und — mehr noch — Vertreterinnen in die Literaturgeschichte und in das allgemeine literarische Bildungsgut eingegangen; zu den wichtigen Briefautoren gehören Vincent Voiture, JeanLouis Guez de Balzac, Madeleine de Scudéry und Marie de Sévigné.8 Als Teil des allgemeinen kulturellen Rückständigkeitsgefühls spielt das Bewußtsein vom Vorsprung der Franzosen auf dem Gebiet der Briefliteratur in der deutschen Brieftheorie und -praxis des 18. Jahrhunderts eine nicht zu unterschätzende Rolle. 9 Die Briefliteratur ist in Deutschland, wie auch an Winckelmann gezeigt werden soll, mit wenigen Ausnahmen erst spät und

ge, Bennholdt-Thomsen/Nörtemann und Leuschner in »Das achtzehnte Jahrhundert« (s. Literaturverzeichnis). Vgl. des weiteren Nickisch, Die Frau als Briefschreiberin im Zeitalter der deutschen Aufklärung; Becker-Cantarino. ' An monographischen Untersuchungen zu Winckelmanns Briefwerk sind zu nennen: Wolfgang Richter; Biidel; Sichtermann; Osterkamp, Winckelmann in Rom; Jens. Auch die Arbeit von Btockmeyer enthält ein Kapitel über Winckelmanns Briefe (S. 1 4 6 - 1 5 2 ) . Vor allem ist an dieser Stelle ein Hinweis auf Rehms Vorwort zur Ausgabe der Winckelmann-Briefe angebracht. 6 Grimminger (Hg.), Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur Bd. 3. 7 Vgl. Bürgel; Nickisch, Präliminarien zu einer systematisch und historisch adäquaten Erschließung der deutschen Briefliteratur (jeweils mit weiteren Literaturhinweisen); Irmtraut Schmidt. 8 Z u den Sévigné-Briefen vgl. mit differenzierten rezeptionsgeschichtlichen Stilanalysen Nies. 9 Vgl. unten 2.2.1. 8

weniger als Element einer Gesellschaftskultur, sondern insgesamt eher auf dem Weg »privater« Modellbildungen zur Blüte gelangt. Daß sich in Deutschland ein Formbewußtsein in bezug auf die Epistolographie als Gesellschaftskunst, ein — in der klassischen französischen Literatur selbstverständlicher — »guter Geschmack in Briefen« (Geliert) nur schwer entwickeln konnte, hat vielleicht dazu beigetragen, daß auch die Literaturwissenschaft kaum nach gattungsspezifischen Entwicklungen gesucht hat. Von daher wäre auch erklärlich, warum die erforderlichen Materialien nur zum Teil editorisch erschlossen sind. Vor allem in bezug auf nicht »kanonisierte« Autoren besteht weiterhin Nachholbedarf. Die Gelehrtenepistolographie, die bis weit in das 18. Jahrhundert hinein häufig in lateinischer Sprache geführt wurde, nur wenig Leseanreize bietet, aber in die Entwicklung einer subjektiven Briefkultur im Lauf des 18. Jahrhunderts hineinwirkt, ist im wesentlichen noch terra incognita.10 Laufende oder seit kurzem abgeschlossene Editionsprojekte — etwa zu Geliert, Klopstock, Nicolai, Lichtenberg und Friedrich Heinrich Jacobi — deuten allerdings auf ein wachsendes Interesse hin." Winckelmanns Briefe reflektieren die Problematik einer gelehrten Identitätssuche im Deutschland des 18. Jahrhunderts; insofern bieten sie sich für gattungs- wie für kulturgeschichtliche Analysen an. Unter dem Gesichtspunkt nationaler Verspätung und einer spezifischen Entwicklung lassen sich der Geschichte der deutschen Briefliteratur neue Aspekte abgewinnen. Die Untersuchung der Winckelmann-Briefe betrifft vor diesem Hintergrund zunächst die Herausbildung literarisch vermittelter Subjektivität12 unter den spezifischen Bedingungen der deutschen Kulturgeschichte. Die Bedeutung, welche der Briefliteratur in diesem Zusammenhang zukommt, ist der Forschung im Grundsatz bekannt. 1 ' Untersuchungen zur Freund10

Z u r Gelehrtenbriefliteratur vgl. Trunz, S. 167—169; Ammermann. " Unter editionsphilologischen Aspekten gilt den Briefen besondere Aufmerksamkeit; vgl. den Sammelband »Probleme der Brief-Edition«. Kolloquium der deutschen Forschungsgemeinschaft, hrsg. v. Wolfgang Frühwald, Hans-Joachim Mähl und Walter Müller-Seidel, Bonn-Bad Godesberg/Boppard 1 9 7 7 , sowie die in editio 2 (1988) veröffentlichten Aufsätze von Woesler (Vorschläge für eine Normierung der Briefeditionen), Arnold und Jaeschke. " Im Sinn der von Nickisch, Präliminarien zu einer systematisch und historisch adäquaten Erschließung der deutschen Briefliteratur, S. 2 1 5 - 2 2 1 in Anlehnung an das Bühlersche Kommunikationsmodell formulierten Vorschläge zu einer Systematisierung der Briefinterpretation müßte man hier von einer Konzentration auf die Ausdrucksfunktion der Briefe sprechen. Die von Nickisch vorgeschlagenen Analysekategorien haben den Vorteil, den Kommunikationscharakter der Briefe präsent zu halten; einem umfangreichen und komplexen Untersuchungsgang dienen sie jedoch zunächst nur in heuristischer Hinsicht. Ein Beispiel für eine Interpretation anhand von Nickisch liefert Heinritz mit beachtlichen Ergebnissen. ' ' Vgl. etwa Shimbo, der den pietistischen Bekenntnisbrief als einen der wichtigen

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schaftskultur kommen kaum ohne Berücksichtigung der Briefliteratur aus. 14 Balet und Gerhard führen die Briefkultur als zentrales Feld sich entfaltender Subjektivität an, gehen allerdings auf die geselligkeitskonstitutive Rolle der Epistolographie ebensowenig ein wie auf die kritischen Ansätze und Krisenmomente, die der entstehenden Subjektivität eigen sind. Die Verfasser kapitulieren schließlich vor der eigentlichen Briefanalyse, indem sie sich stattdessen dem Briefroman zuwenden. 1 ' Nur auf den ersten Blick ergibt sich für die vorliegende Untersuchung aus dem Interesse an der Entwicklungsgeschichte literarischer Subjektivität im Brief eine Verwandtschaft mit Brockmeyers Verfahren. Wie bei Brockmeyer richtet sich das Interesse primär auf die Briefe als Texte, nicht als historische oder biographische Quellen. Auch wenn Briefanalyse »stets Analyse des Autors« ist,16 sind primärer Gegenstand der Untersuchung nicht die Persönlichkeit Winckelmanns und seine Lebensumstände, sondern die Bilder, die der Verfasser in seinen Briefen in unterschiedlichen Gesprächszusammenhängen von sich entwirft. Diese sollen als literarische Form der Lebensorganisation und -deutung in Erscheinung treten. Die Untersuchung hat es daher auch nicht in erster Linie darauf abgesehen, einen Einblick in die Psychologie des Autors zu gewähren, 17 will allerdings die in den Briefen objektivierten Spannungskonstellationen - auch — als Indizien einer psychologischen Problemlage begreifen. Der auf die Briefe als Texte gerichtete Ansatz ist darauf angelegt, im individuellen Briefkorpus die historischen Strukturen aufzudecken. Brockmeyers Bild von der stilgeschichtlichen Gesamtbewegung seit der Jahrhundertmitte, »die den Brief herausführt aus der überkommenen Schablonenhaftigkeit und zum vollkommenen Spiegel der Persönlichkeit seines Schreibers macht«, 18 läßt die Briefgeschichte in einem jeweils im Kern einheitlichen und gegen andere abgrenzbaren Individualstil gipfeln. Speziell zu Winckelmann bemerkt Brockmeyer, die verschiedenen Stilelemente des Briefkorpus würden zusammengehalten »durch das aus dem Inhaltlichen erwachsende Bild der Persönlichkeit, die hier in ihren Briefen ein Denkmal ihrer Leistung geschaffen hat.«' 9 Diese Blickrichtung wertet vorweg große

Vermittlungswege religiöser Gefühlskultur an Empfindsamkeit und Sturm und Drang untersucht. 14 Vgl. etwa Rasch; Angelika Beck. M Balet/Gerhard, S. 1 8 1 - 1 8 7 ; vgl. ebd. S. 184: »Was der Brief für den Bürger der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bedeutete, läßt sich aus der Literatur dieser Zeit vielleicht noch besser ermessen als aus den Briefen selber.« "•Bürgel, S. 291. " Z u solchen Gesichtspunkten vgl. etwa Bychowski. ,! Brockmeyer, S. 42. " ' E b d . S. 152.

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Bereiche der gesamten Briefliteratur ab, die aus historischen oder funktionalen Gründen dem Ideal des Persönlichkeitsstils nicht folgen, oder schließt sie sogar als lohnenden Untersuchungsgegenstand aus. 20 Ebenso übergeht Brockmeyer, daß ein Briefwerk diversen Bedingungs2usammenhängen unterliegen kann und sich daher kaum auf einen identischen Stilwillen zurückführen läßt. Vor allem aber verfehlt Brockmeyer die problematische Konstituierung moderner Subjektivität mit der Vorstellung von einer Persönlichkeit, die sich ungebrochen im Brief abbildet und sich demnach auch ebenso aus ihm rekonstruieren läßt. Offenbar unterlegt er der Briefliteratur das Ideal einer in sich geschlossenen Individualität,-das jedoch selbst schon ein philosophisch-ästhetisches Postulat ist. Unter methodologischen Gesichtspunkten sollte beachtet werden, daß Briefkompendien keinem ästhetischen Kalkül unterliegen, sondern ihre Zusammensetzung neben den Entscheidungen des Herausgebers auch manchem Zufall verdanken. 21 Oellers hat auf den bedeutungskonstitutiven Charakter des Adressatenbezugs von Briefen hingewiesen. 22 Vorbildlich ist unter diesem Aspekt Osterkamps Beitrag zur Erforschung der Winckelmann-Korrespondenzen. Die vorliegende Untersuchung will zeigen, daß Winckelmann Briefe als literarisches Medium von Selbstentwürfen nutzt, die in verschiedenen Gesprächskontexten unterschiedliche Gestalt annehmen. An die Stelle des Modells der Persönlichkeitsabbildung tritt daher das einer perpetuierten sozialen Identitätskonstruktion. Unter dem Aspekt der Entstehungsgeschichte literarischer Subjektivität, die als Leitfrage dieser Arbeit zugrunde liegt, muß die Binnendifferenzierung des Briefkorpus berücksichtigt werden. In einer Studie über die Briefe von J . M. R. Lenz hat Blunden die Aufspaltung der Briefsprachen des Autors als Zeichen für dessen Identitätskrise gedeutet. 2 ' Der zeitgenössischen Editionspraxis, die im Gegensatz zu den modernen chronologischen Verfahren die Ausgabe einzelner Korrespondenzen oder die Abbildung freundschaftlicher Gruppierungen in Briefausgaben favorisierte, war solche Bezugsabhängigkeit anscheinend noch unmittelbar gegenwärtig. 24 Es könnte 10

Z u diesem Problem im Zusammenhang mit der Frage der Abgrenzung der Gattung »Brief« Nickisch, Präliminarien zu einer systematisch und historisch adäquaten Erschließung der deutschen Briefliteratur, S. 207—213. 21 Z u Fragen von Textcharakter und Bedeutungskonstitution in Briefausgaben vgl. Missac. " Oellers, S. 7 5 - 8 1 ; da nur wenige Briefe an Winckelmann bekannt sind, läßt sich im Fall der Winckelmann-Korrespondenz allerdings ein Adressatenbezug nicht in dem stringenten Sinn rekonstruieren, wie Oellers dies am Beispiel der SchillerGoethe-Briefe fordert. Vgl. etwa Blunden, S. 1 1 2 : »But as we assemble a number of synchronous perspectives we become aware of the variety of images — and self-images — which made up the historical reality of Lenz' life and works.« 14 Beispiele dafür liefern schon die nach Empfängern sortierten frühen Winckel-

eine Aufgabe weiterer Forschungsbeiträge sein, den Wandel der Binnendifferenzierung von Briefsammlungen zwischen ständischer und bürgerlicher Identitätskonstitution zu analysieren. Zur Distanzierung von einem biographischen und einem individualpsychologischen Interesse an dem einen Winckelmann kommt deshalb auch der Verzicht auf die Suche nach dem einen konsistenten »Persönlichkeitsstil«; die Untersuchung orientiert sich in den näher interpretierten Segmenten des Gesamtbriefwerks an den in unterschiedlichen Gruppenzusammenhängen realisierten Schreibhaltungen (Schreibhaltungen und Gruppenkontexte sind allerdings nicht notwendig deckungsgleich2' ). Vor allem in der Abfolge des dritten und vierten Kapitels wird die Polyphonie des Gesamtbriefwerks hervortreten.26 Dessen innere Spannungen werden daher nicht aufgelöst,27 sondern als Symptome problematischer Subjektivitätsentfaltung in die Interpretation einbezogen. Brockmeyer verfolgt unter stilgeschichtlichem Aspekt den Weg der Briefliteratur von den Formelbriefen der Gottsched-Zeit bis zur Geniesprache des Sturm und Drang, klammert allerdings soziale Einbettung, Gegenstandsbereich und Kommunikationsfunktionen der Briefe weitgehend aus. Inhaltliche Aspekte spielen nur eine sekundäre Rolle: »Für unsere Untersuchung ist die Frage nach dem inhaltlich Interessanten nur in so weit zulässig als stilgeschichtlich neue Bereiche durch neue Inhalte aufgeschlossen werden. Das aber scheint in Winckelmanns Briefen nicht der Fall zu sein.«28 Diese Interpretationsweise läßt die Briefe aus werkpoetischer Perspektive als in sich geschlossene Gebilde in Erscheinung treten und beschränkt sich selbst auf den beschreibenden Nachvollzug. Ähnliche Vorbehalte gelten — unbeschadet der Verdienste dieser Arbeiten — auch gegenüber einigen älteren Forschungsbeiträgen.29 Die Frage, welche Rolle der Briefverkehr im Rahmen der Ausbildung einer Kultur und eines kulturellen Selbstbewußtseins der gebildeten Bürger im 18. Jahrhundert gespielt hat, berührt Brockmeyer kaum. Delilkhan, der sich kritisch mit Brockmeyer mann-Briefausgaben; andere Beispiele sind die ebenfalls nicht chronologisch, sondern nach Empfangern und Briefautoren gegliederten Briefe an Klotz und der »Literarische Briefwechsel« von Michaelis. ' ' So scheinen sich die Briefe an den Nöthnitzer Bibliothekar Francke, die zunächst den »großen Selbstdarstellungen« an Berendis, Genzmer u. a. nahestehen, in den letzten Jahren den freundschaftlichen Briefen anzunähern; umgekehrt lassen sich Selbstdarstellungselemente, wie sie im vierten Kapitel untersucht werden, auch in den Freundschaftsbriefen nachweisen. 26

Vgl. unten 1.3. Vgl. Sichtermann, S. i z i . Osterkamp, Winckelmann in Rom, geht ebenfalls schon auf diese Weise vor; zur Kritik an Osterkamp vgl. aber unten 4.1. 28 Brockmeyer, S. 147. *' Eiermann, Metzger, Hofmann, Bruno Richter. 27

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auseinandersetzt,' 0 fordert demgegenüber im Rahmen der exemplarischen Interpretation eines Heinse-Briefs ein Deutungsverfahren, welches das »System der Korrespondenz«' 1 als funktional zu betrachtendes beziehungsstiftendes Medium im Geflecht von Autor, Adressat und gemeinsamen Bezugspunkten hervortreten läßt. Weder eine biographische noch eine stilgeschichtliche Auswertung von Briefen läßt Delilkhan aus dieser Perspektive als adäquate Interpretationsmethode gelten.' 2 Vielmehr ist es ihm zufolge erforderlich, unter Beachtung literarischer Gestaltungsmittel und kommunikativer Bezüge den Brief als strategisch adressatengerichtete, auf die (freundschaftlichen) Beziehungen selbst sich konzentrierende und nicht ästhetisch durchorganisierte Handlungs- und Lebensform zu erkennen. Ruppert und Bödeker haben — aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive — auf den Briefverkehr »als wesentliches Strukturelement der Aufklärungsgesellschaft« aufmerksam gemacht. Dieser Aspekt ist um so bedeutsamer, als sich eine strikte Trennung zwischen persönlichem und öffentlichem Bereich für diese Zeit nicht durchführen läßt." Im Folgenden geht es um die Entstehung literarischer Subjektivität im Rahmen der Ausbildung einer selbstbewußten Kultur der Gebildeten in Deutschland. Im Zentrum stehen Kritik und Weiterführung gelehrter Traditionslinien als des bestimmenden Sozialisationshintergrundes sowie Winckelmanns Auseinandersetzung mit der französisch dominierten Hofkultur. Unter diesen Gesichtspunkten stellt das einleitende Kapitel Materialien zur kulturgeschichtlichen Einordnung der Winckelmann-Briefe bereit. Winckelmanns Briefwerk erhält so seinen Platz im Rahmen der Bemühungen der deutschen Gebildeten um eine authentische Geschmackskultur und um die kulturelle Selbstbehauptung gegenüber dem französischen Vorbild. Dieser Problemkomplex betrifft sowohl literarische Struktur und Kommunikationsaufgaben der Briefe als auch die durch die Korrespondenz hergestellten Geselligkeitsformen.

Delilkhan, S. 13 of. " Ebd. S. 207. Ebd. S. 1 0 7 - 1 3 1 . " Bödeker, Thomas Abbt, S. 223; Ruppert, S. 102—104. Z u den möglichen Übergängen von der »privaten« zur »literarischen« Korrespondenz vgl. auch Voßkamp, S. 86. Umfassend zur im 18. Jahrhundert umstrittenen Frage von Briefpublikationen vgl. Mohr. Habermas, S. 67 spricht in diesem Zusammenhang vom »Ursprung der typischen Gattung und eigentlichen literarischen Leistung jenes Jahrhunderts [nämlich des bürgerlichen Romans] aus der direkt oder indirekt publizitätsbezogenen Subjektivität der Briefwechsel und der Tagebücher«. Über den Zusammenhang von Briefliteratur und Geselligkeitskonstitution vgl. für die Romantik Feilchenfeldt.

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ι.3·

Griechische Antike und nationale Identität

Mit dem stilgeschichtlichen verbindet meine Untersuchung natürlich auch ein thematisches Interesse. Methodisch zieht sie damit die Konsequenz aus Brockmeyers Verfahrensweise, insofern diese nur zu einem beschreibenden Umgang mit dem Untersuchungsgegenstand gelangt. Im Gegensatz dazu gehe ich davon aus, daß Winckelmanns Briefe mit Varianten der Identitätssuche experimentieren und von hier aus den Übergang von der Gelehrtenepistolographie zu einer subjektivitätsbezogenen Briefliteratur erschließen. Bereits in der zeitgenössischen Diskussion um den Rückstand der deutschsprachigen gegenüber der westeuropäischen Briefkultur ist dieser Zusammenhang angelegt. 1 Daraus resultieren zwei Fragestellungen — die nach der Vorgeschichte der Klassik und die nach der Herausbildung einer Nationalkultur auch auf dem Gebiet der Briefliteratur. Diese läßt sich als diejenige Gelenkstelle begreifen, an welcher auch das kunsttheoretische Werk in seiner kulturgeschichtlich identitätsbildenden Funktion faßbar wird. Wie gezeigt werden soll und wie auch der Winckelmann-Rezeption seit dem 18. Jahrhundert klar war, haben die Romreise und die Wendung zur griechischen Antike als kulturellem und ästhetischem Modell mit der problematischen Ausbildung eines sozialen und nationalen Selbstbewußtseins der Gebildeten in Deutschland zu tun. (Den übergreifenden Kontext der europäischen Geistesgeschichte, in den Winckelmanns Griechenparadigma natürlich auch gehört, hat zuletzt Miller aufgearbeitet.) 2 Die vorliegende Studie versteht sich partiell als Beitrag zu dem seit wenigen Jahren wachsenden Interesse an der Nationalismusforschung.' Unter diesem - vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu Recht sensitiven — Aspekt ist ein Blick auf die jüngere Winckelmann-Forschung angezeigt. 1

Vgl. unten 2.2.1. Miller, Europäischer Philhellenismus zwischen Winckelmann und Byron. ' Stellvertretend sei hingewiesen auf die folgenden Sammelbände: Otto Dann (Hg.), Nationalismus in vorindustrieller Zeit (1986); Peter Boerner (Hg.), Concepts of National Identity (1986); Klaus Garber (Hg.), Nation und Literatur in der frühen Neuzeit (1989). Für weitere Einzelveröffentlichungen vgl. das Literaturverzeichnis.

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Traditionell und toposartig verbindet sich das Winckelmann-Bild mit der Vorstellung von den idealistischen, einer unstillbaren Griechensehnsucht verfallenen Deutschen; eine kritische kulturgeschichtliche Auseinandersetzung mit diesem Stereotyp oder mit seiner Wirklichkeit im 18. Jahrhundert fehlt hingegen in der Regel. Gegenstand entsprechender Bemerkungen ist weniger das Werk als die Person Winckelmanns; in dieser Hinsicht läßt sich eine Linie von den frühen Winckelmann-Bildern des 18. Jahrhunderts bis zur Winckelmann-Verehrung

des 20. ziehen. Winckelmanns brieflicher

Selbstdarstellung kommt dabei von vornherein eine herausragende Bedeutung zu. Bei Bergmann heißt es: Fichte hat das Wesen des deutschen Gemüts an Luther und Pestalozzi aufgezeigt. Auch an Winckelmann läßt es sich studieren, trotz aller seiner Griechheit. Auch er ein >heiliges Kind< gleich dem Volksfreund von Iferten, ein Idealist und großer Sehnsüchtiger. Auch sein Herz voll von jener Begeisterungsfahigkeit, jenes tiefen, religiösen Suchens nach etwas Höherem, Verklärtem über dem grauen Grund der Welt, nach einer reinen, schöneren Menschheit. Wie ein Gewaltiges bricht diese Sehnsucht in seinem Leben aus. Sie ist der Kern, die Ursache aller sein Leiden.4 Waetzoldt schreibt: Der Drang, dem Ideal nachzuleben, die fast übermenschliche Kraft, das Sehnsuchtsziel zu erreichen, hat Winckelmann zu einer fast symbolischen Erscheinung werden lassen für deutschen Idealismus und edelsten Bildungstrieb, symbolisch auch für den Mann des dritten Standes, der ans Licht drängt, für den Bürger des 18. Jahrhunderts, der als Gleichberechtigter sich an den Tisch der Fürsten setzt und mit der Waffe des Geistes in die alte ständisch-aristokratische Welt einbricht.' Erst seit den späten zwanziger Jahren wird aber die Vereinnahmung Winckelmanns als eines »deutschen Symbols«, 6 die Vorstellung vom Zusammenhang zwischen nationaler Identität der Deutschen und Griechensehnsucht zur These von der Naturverwandtschaft von Deutschen und Griechen und zur nationalistischen Feier des »Deutschtums« ausgebaut. Der bei Gundolf angefertigten Dissertation »Die deutsche Erweckung des Griechentums durch Winckelmann und Herder« von Aron (1929) zufolge hat Winckel4

Bergmann, S. 236. ' Waetzoldt, S. igt. Charlotte Ephraim, S. 4f., bemerkt: »Trotz seiner Eigenschaft als fordernder Geist, trotz seines Deutschtums, treibt es ihn nicht zu Transzendentem. Es sucht und erkennt das Ideale nur dort, wo es sich irdisch verkörpert hat.« Butlers ebenfalls kaum kulturhistorisch begründete, aber phantasievoll ausgemalte Kritik am realitätsblinden Idealismus ist nur die Umkehrung solcher Axiome (vgl. dazu Sahmland, S. 41): »Aber die ungestillte Sehnsucht nach einem verwandten Geist verband sich bei ihm mit einer düsteren Sentimentalität, die mehr deutsch als griechisch war.« (S. 69). 6 Vgl. dazu vor allem Fuhrmann, Winckelmann, ein deutsches Symbol, S. 277—280. Vgl. auch ebd. S. 266 zu Waetzoldt.

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mann »den Griechen als Deutscher zu einem echten Bilde verholfen.« Für die entscheidende Bedingung für Winckelmanns »neuen morgendlichen Entdeckerblick auf die Griechen« erklärt Aron die »ihm ursprunghaft eigene >antike Natur® Ebd. S. 658; vgl. auch S. 116, wo Neukirch ebenfalls die Erfahrungsarmut und Weltferne der Pedanten betont, die »um die Untersuchung ihres herzens / oder um die einrichtung der justiz sich nicht bekümmern; sondern in ihrem winckel zu hause sitzen/ und ihnen mehr als der König in Franckreich einbilden/ wenn sie entweder in der schule mit den jungen/ oder zu hause mit den weibern/ von den thaten der fürsten urtheilen/ und etwan eine fabel im Esopo/ oder eine sententz im Plauto gefunden/ dadurch sie ihre meynungen unterstützen können.« Zur Ablösung des weltfremden Gelehrten durch den welterfahrenen Politicus, den »homme d'esprit«, vgl. G. E. Grimm, Literatur und Gelehrtentum, S. 315; 364. " [Anonym]: Simplicissimi Alberner Brieff-Steller. Neukirch, Anweisung zu Teutschen Briefen, S. 3 1 1 . 41 Auch Neukirch streitet zwar gegen die Ansicht, »daß wir ihnen [den Franzosen] im dichten noch nicht das wasser reichen/ und ein Deutscher so scharfsinnige gedancken zu führen nicht einmahl fähig sey« (ebd. S. 9), erkennt aber den Vorsprung der Franzosen auf dem Feld der galanten Literatur an: »Von denen heutigen ausländem excelliren sonderlich in geistlichen sachen die Engelländer; in scharffsinnigen/ in oden und in schäfergedichten die Welschen; in satyrischen die 40

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ser in Neukirchs »Anweisung« die besten französischen Brieflehren ohne den Anschein bloßer Reproduktion erreicht sieht. 42 A u c h Geliert beklagt - mit einer Anspielung auf Bouhours 4 5 — den Mangel an »gute[n] gedruckte[n] Briefe[n] im Deutschen« 44 und das Vorherrschen schlechter Exempel, die er gerade in Neukirch personifiziert sieht: 4 ' »In der That muß man sich wundern, warum es in unsrer Sprache noch so sehr an guten Briefen und Romanen fehlt, da man in den übrigen Arten der Beredsamkeit und der Dichtkunst schon glücklich gewesen ist.« 46 D e r mit ähnlichen Stilprinzipien wie Geliert antretende Verfasser einer kurzen A b handlung »Von den deutschen Briefen« ( 1 7 4 3 ) befindet ebenfalls, nichts sei »bey den Deutschen seltner anzutreffen, als eine gute Schreibart, und dieselbe wird nirgends so stark als in ihren Briefen vermisset.« 47 Geliert führt bei Neukirch angelegte Ansätze weiter, indem er sich von dem Typus des reinen Regelbriefstellers abwendet 4 ® und einen pedantismuskritisch Erfahrung und Übung mit einbeziehenden Geschmacksbegriff einführt: »Junge Leute werden tausendmal mehr Vortheil haben, wenn man ihnen gute Briefe zu lesen giebt, und sie auf eine brauchbare A r t mit ihnen durchgeht, als von allen Regeln.« 49 Allerdings soll an dieser Stelle nicht Holländer; in galanten aber/ in lobgedichten und schauspielen die Frantzosen. Die einheimischen oder deutschen Poeten lieset man fürnemlich wegen des styli.« (Ebd. S. 19). 41 Gottsched, Vorrede zu: Auserlesene Gedichte von Benjamin Neukirch, in: Ausgewählte Werke X , 1 S. 247. Nickisch, Gottsched und die deutsche Epistolographie des 18. Jahrhunderts, S. 370 bemerkt Anzeichen dafür, »daß Gottscheds Vorstellungen vom idealen Brief noch wesentlich in der Zeit Weises und der Galanten um die Jahrhundertwende wurzeln«, und zwar gerade im Hinblick auf die Berücksichtigung sozialer Hierarchien im Briefformular. 4 > Geliert, Von dem guten Geschmacke in Briefen, S. 1 1 5 : »Muß man nicht glauben, wenn man dergleichen Schriften liest, daß die Ausländer ehedem nicht Unrecht gethan haben, wenn sie den deutschen Witz zu einem Sprichworte gemacht?« Zu Gellerts brieftheoretischen Schriften vgl. Nickisch, S. 1 7 2 - 1 8 1 ; Brockmeyer, S. 45-47; Hella Jäger, S. 42-48; Brüggemann; Barner, »Beredte Empfindungen«; Breysach, S. 29-44. Zur brieftheoretischen Bedeutung des Geschmacksbegriffs vgl. auch Nörtemann, Brieftheoretische Konzepte, in: Brieftheorie des 18. Jahrhunderts, S. 218. 44 Geliert, Von dem guten Geschmacke in Briefen, S. 67. 41 Vgl. etwa ebd. S. 17—29 die Analyse eines Briefs von Neukirch als abschreckendes Beispiel. 46 Ebd, S. 116. 47 [Anonym:] Von den deutschen Briefen, in: Dreßdnische Nachrichten von Staatsund gelehrten Sachen, X X I . Stück, 13. Merz 1743, nicht paginiert; jetzt Johann Christoph Rost zugeschrieben und abgedruckt in: Brieftheorie des 18. Jahrhunderts, S. 28—31. 4 ® Vgl. etwa Gellerts Kritik an den »Formulare[n]«, nach denen herkömmlicherweise die Briefe zu gestalten waren (Von dem guten Geschmacke in Briefen, S. 50). 45 Ebd. S. 58.

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übergangen werden, in welchem Ausmaß — dem Nachweis Barners zufolge — Gellerts gesamte Brieflehre und speziell auch der Geschmacksbegriff noch der Rhetorik verpflichtet sind. Mit den hier vorgetragenen Überlegungen stimmt Barners Bewertung überein, daß Geliert kein radikaler Neuerer sei, sondern Bestehendes und Neues geschickt integriere.' 0 Die zur Einübung des »guten Geschmacks« notwendige Praxis reduziert Geliert offenbar weithin auf den U m g a n g mit Literatur; die bei Neukirch erkennbare Einbettung der Briefliteratur in eine Gesellschaftskultur wird insofern partiell zurückgenommen,' 1 während die Lektüreerfahrung an Gewicht gewinnt.' 2 Gleichzeitig konzentriert sich der von Geliert verlangte »Umgang mit geschickten und vernünftigen Leuten«' 3 tendenziell auf familiäre und freundschaftliche Kontakte.' 4 In den Begriff des »guten Geschmacks« sind daher auch moralische Werte eingeschlossen." Unter diesen Voraussetzungen wird die Qualität der Epistolographie zum Spiegel des nationalen Kulturzustandes überhaupt. Gerade im »privaten« Brief soll sich ein nationales und soziales Selbstbewußtsein der Bürger artikulieren, das in der Kritik an Zeremoniell und Titelwesen und im (freilich nicht als »kunstlos« verstandenen) Natürlichkeitsideal zutage tritt. Die Briefe selbst werden zur zentralen Vermittlungsinstanz des allgemeinen »guten Geschmacks« und der Nationalkultur. In der folgenden Formulierung liegt auch ein Hinweis auf die Bedeutung literarischer Komposition von Briefen: Wie man auf den guten oder bösen Geschmack einer Nation aus den öffentlichen Lustbarkeiten, aus den Schauspielen schließt, die sie liebt: so schließt man viel-

Barner, »Beredte Empfindungen«, S. 21 f. Zur geschichtlichen Leistung von Gellerts Brieftheorie vgl. vor allem Briiggemann, passim, der aber — bei aller Einsicht in die spezifischen Bedingungen einer literarischen Kultur in Deutschland (vgl. etwa S. 136t) - Gellerts Geschmacksbegriff zu sehr auf den Konsens der Salons bezieht (ebd. S. 138), die in Deutschland kaum existierten. Derselbe Vorbehalt gilt gegenüber Hella Jäger, S. 45. Kuhnert, S. 1 1 , macht allgemein auf diesen Komplex aufmerksam: »Die politische Zerrissenheit Deutschlands legte den Grund zu dem eigentümlichen Aufbau der deutschen Gelehrtenrepublik mit ihrer stark ausgeprägten Individualisierung, die den kommunikativen Zusammenhang, ganz anders als in Frankreich und England, in hohem Maße auf die Medien Buch und Brief reduzierte. Paris und London sammelten als Metropolen die Gebildeten ihrer Zeit und integrierten sie in die Verkehrskreise der >ganzen Gesellschaft^ während in Deutschland der direkte Kontakt eher die Ausnahme blieb.« " Geliert, Von dem guten Geschmacke in Briefen, S. 48. Vgl. unten 2.2.2. ' ' Vgl. dazu etwa die Kritik an den »unverschämten« galanten Romanen und solchen Briefen, die »von der besten Lage der Schminkpflästerchen, dem zierlichsten Ausschnitte des Leibchens, der gefälligsten Einfassung des Nachtrockes, von einer recht catullischen Art zu küssen, von der Sprache des Fächers und der Augen« handeln (Geliert, Gedanken von einem deutschen Briefe, S. i8;f).

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leicht noch sichrer aus der Schreibart, die sie zu dieser oder jener Zeit in ihren Briefen liebt, auf ihre gezwungnen oder ungezwungnen, auf ihre guten oder ausschweifenden Sitten, und auf die pedantische oder vernünftige Art ihres Umgangs.' 6 Da Geliert mit seinen brieftheoretischen Schriften auch im Aufbau das detailpräskriptive Verfahren seiner Vorläufer aufgibt und den »guten Geschmack« als Kernbegriff einer Briefdidaktik einführt, die 2ugleich Elemente einer empirischen Ausbildung zu natürlich-tugendhaftem Wohlverhalten einschließt, gelingt es ihm, sich von dem Postulat der Imitation antiker und französischer Vorbilder zu lösen. Geliert erklärt die Ubersetzung fremdsprachiger Briefe zur geeigneten stilistischen Übungsmethode,' 7 verlangt aber als Zielpunkt eine Befreiung von den Exempeln: Wenn man endlich selbst Briefe schreiben will, so vergesse man die Exempel, um sie nicht knechtisch nachzuahmen, und folge seinem eigenen Naturelle. Ein jeder hat eine gewisse Art zu denken und sich auszudrücken, die ihn von andern unterscheidet. Diese soll er wohl nach guten Exempeln ausbilden, aber sie nie unterdrücken, sonst wird er eben dadurch gezwungen und unnatürlich werden.'8 Dennoch greift Geliert die Vorzüglichkeit und Vorbildlichkeit der Franzosen nicht an. In einer umfangreichen Fußnote gibt er Leseempfehlungen zu den besten französischen Briefautoren, unter denen er vor allem Madame de Sévigné schätzt und neben welchen er die italienischen Epistolographen gelten läßt.59 In dieser Hinsicht ist den ethisch-ästhetischen Normen, denen die Briefschreibekunst nach Geliert gehorchen soll, die Tendenz zur kulturellen Angleichung noch eigen. In der allgemeinen stilgeschichtlichen Entwicklungsrichtung steht Winckelmann Geliert nahe. Gegen die Stilvorschriften, die »alle Federn unter den Gehorsam einer Schulchrie zwingen« 6 " und gegen »die hergebrachten Verbindungswörterchen« 6 ' wendet sich auch er: Aber Sie werden mir verzeihen, wenn ich etwa den nach Alt Deutscher Art mit Sintemahl und Alldieweil in einander gekettelten Schul-Chrien-Stil des St. Laurent zu ändern nöthig finde. Ich will schreiben wie ein Mann, und nicht wie ein SchulBube. 6 ' ' ' Geliert, Von dem guten Geschmacke in Briefen, S. 118. ' 7 Ebd. S. 68: »Will man sich selber im Briefschreiben üben: so wird man sehr wohl thun, wenn man im Anfange gute Briefe übersetzt.« Ebd. S. 7if. Vgl. hierzu Barner, »Beredte Empfindungen«, S. 17. " Geliert, Von dem guten Geschmacke in Briefen, S. 67-70. Zur Hochschätzung der Briefe von Madame de Sévigné vgl. auch Bertram Bd. I S. 114—116. 60 Geliert, Gedanken von einem deutschen Briefe, S. 179. 61 Ebd. S. 181. Gleichen Sinnes auch Thomas Veithart (d. i. Gottlieb Wilhelm Rabener): Von dem Briefschreiben (1752), in: Brieftheorie des 18. Jahrhunderts, S. 100. 6 ' WB 3 5 2 an Stosch, 2.1. [recte: 2.] 1760, II S. 69

Schon die zeitgenössische Kritik hat diese stilistische Selbsteinschätzung bestätigt. 6 ' Jedoch entwickelt Winckelmann die »privaten« Briefe zum Medium einer an der griechischen Kunst orientierten Freundschaftsbekundung und Selbstdarstellung weiter und verschiebt in dieser Hinsicht die Stilkriterien von den moralisch-geschmacklichen Konventionen in Richtung auf ethische und ästhetische Prinzipien. Zugleich enthalten seine Briefe Momente eines anderen nationalen Selbstbewußtseins, das sich — in Abkehrung von Frankreich und dem französisch orientierten Adel - im Modell »Rom« als dem Zentrum einer an der antiken Kunst gebildeten Freundschaftlichkeit artikuliert. Jedoch soll für das Weitere festgehalten werden, daß eine genaue Untersuchung der Winckelmann-Briefe unter spezifisch stilkritischen Aspekten einschließlich der Frage nach dem Fortwirken rhetorischer Traditionen in der vorliegenden Untersuchung nicht beabsichtigt ist.

2.2.2.

Freundschaftliche Korrespondenz als literarische Geselligkeit

Während sich die gelehrte zur instrumentell gehandhabten wissenschaftlichen Korrespondenz fortentwickelt, wird zugleich das Genre der Freundschaftsbriefe Gegenstand der kritischen Betrachtung unter dem Vorzeichen des »guten Geschmacks«, und zwar vorwiegend im Medium des Briefs selbst. Im folgenden soll plausibel gemacht werden, daß dabei die Briefliteratur gewissermaßen die Geselligkeit ersetzt. Im Mittelpunkt der Darstellung stehen die Briefe als Ort literarischer Primärrezeption und -kritik. Die Art und Weise, wie um die Jahrhundertmitte in Briefen literarische Themen behandelt werden, hängt mit der Situation der Autoren zusammen. In Gellerts Briefwechsel mit befreundeten Korrespondenten aus dem Kreis der Bremer Beiträger verschränken sich literarische Produktion und freundschaftliche Diskussion. Geliert erklärt die Kritik unter Freunden zum konstitutiven Bestandteil seiner literarischen Arbeit: Wenn ich Lust und Zeit zum Schreiben hatte, so dachte ich ein wenig nach, was ich schreiben wollte. Alsdann setzte ich mich hin, vergaß alles andre, dachte nur an meine Materie u. schrieb, was mir diese eingab, so gut ich konnte. War sie fertig, so fragte ich ehrliche Leute, ob sie das Werk für gut hielten u. was sie zu erinnern hätten. Sagten sie, es wäre gut, ich sollte es hin und wieder verbessern u. es alsdenn drucken lassen: so besserte ich und ließ es drucken. 64

6

' Vgl. etwa Hatfield, S. 2 j ; 28. Geliert an Johanna Erdmuth von Schönfeld, 5 . 1 2 . 1 7 5 8 , in: Gellerts Briefwechsel Bd. II, S. 194.

64



Umgekehrt liefert die literarische Kritik die inhaltliche Füllung der Freundschaftspraxis. Geliert fordert »die Wohlthat der Critick« 6 ' als Freundesdienst an. In der freundschaftlichen Aufnahme literarischer Arbeiten kommen die Freundschaft einerseits und die literarischen Absichten andererseits zu ihrem Ziel: »Wie unendlich werde ich durch den Beyfall meiner rechtschaffnen Freunde für meine Lieder belohnet.« 66 Vorausweisend sei angedeutet, daß die Literatur als Feld des »guten Geschmacks« und der Freundschaftsbegriff 67 auf den Briefton zurückwirken. Von diesem erwartet J. A. Schlegel »Feinheit des Verstandes« und »Feinheit der Empfindungen«; auch »Lobsprüche« dürfen nicht »allzunackend« auftreten. 68 Das kritische Briefgespräch gibt die Grundlage literarischer Gruppenbildung ab. Geliert holt systematisch die Stimmen seiner Freunde ein: »Aber itzt, liebster Freund, denke ich noch an keine Ausgabe. Ich habe die Critikken meiner Freunde noch nicht beysammen.« 6 ' Kritische Anmerkungen kursieren innerhalb des Freundeskreises: Deine Criticken erwarte ich mit brennender Sehnsucht u. demüthige mich zum voraus unter sie. Ja, Gisecke soll die Entscheidung haben, wenn er sie haben will; von Herzen gern. Hier hast D u Criticken von einem meiner unpoëtischen Freunde, dem Hofrath Burgwart aus Berlin, einem rechtschaffnen, frommen Manne; aber wie du aus verschiednen seiner Anmerkungen sehen wirst, einem Reformirten, der zu weit geht. Lies sie wegen seines guten Herzens durch. Hier hast Du auch noch einen Brief von Cramern; verliere nichts. 70

Der kritisch korrespondierende Freundeskreis läßt sich als festes, wenn auch informelles Gefüge ausmachen. Die literarische Diskussion entfaltet sich - gerade in ihrer Intensität — vor dem Hintergrund der geographischen Isolation und der zum Teil schwierigen sozialen Situation der Beteiligten. 71 Wehr hat gezeigt, daß die Vereinzelung in der Provinz, das fehlende kulturelle Umfeld und die kulturelle und gesellschaftliche Rückständigkeit Gegenstand zahlreicher brieflicher Klagen im Gottsched-Kreis sind. Ein Korrespondent sieht sich in Lübeck »in einer Ecke [. . .], welche von der gelehrten Welt gleichsam mit Brettern abgesondert ist«.72 Geliert klagt in bezug auf seine freundschaftlich-kritischen Verhandlungen: 6

' Geliert an Johann Adolf Schlegel, 2 3 . 1 1 . 1 7 5 6 , ebd. S. 78. Geliert an Johann Adolf Schlegel, 2 . 4 . 1 7 5 7 , ebd. S. 101. 67 Z u m Freundschaftsbegriff und zum Zusammenhang von Freundschaft und gutem Geschmack vgl. unten 3.4.1. 66

" Johann Adolf Schlegel an Geliert, 24. 2 . 1 7 5 6 , Gellerts Briefwechsel Bd. II S. 37. 65 Geliert an Ernst Samuel Borchward, 9 . 6 . 1 7 5 6 , in: Gellerts Briefwechsel Bd. II S. 47. D e r gesamte Brief läßt sich als Bitte um Kritik an Gellerts »Geistlichen Oden und Liedern« lesen. 70

Geliert an Johann Adolf Schlegel, 20. 2 . 1 7 5 6 , ebd. S. 3 ; . ' Vgl. Rasch, S. i o i f . 71 Brief von L e Févre an Gottsched, zit. nach Wehr, S. 7; vgl. im übrigen ebd. S. 6f. 7

71

Aber wie unglücklich bin ich, daß meine critischen Freunde nicht mehr hier sind! Daß ich ihnen meine Verbesserungen nicht gleich zeigen u. mich von meiner kindischen Angst befreyen kann. Ein Treffen u. ein neues Werkchen ist für mich gleich viel. 73

Die Weltabgeschiedenheit wird konkreter Anlaß für die Versorgung mit literarischen Neuigkeiten; gerade die »Briefe Deutscher Gelehrten an den Herrn Geheimen Rath Klotz« liefern — wenngleich kaum mit Absicht — ein Abbild der Situation im (zumal unbekannt gebliebenen) intellektuellen Deutschland. Boden schreibt an Klotz: »Von der Schrift wider Hagedorn habe ich gehört; ob ich sie gleich noch nicht gesehen habe. So schlecht sind unsere Buchläden beschaffen! Ein wahres Elend! Nur vor acht Tagen habe ich erst Wagners Vertheidigung zu Gesichte bekommen.« 74 Insbesondere behindert diese Situation den Kontakt zu den schönen Wissenschaften. Flögel, »der bestimmt ist, in der Dunkelheit der Schule zu kämpfen«, 7 ' meldet aus Jauer: »So langsam geht meine Buchführerpost. Ich erfahre die Moden erst, wie die kleinstädtischen Damen, wenn man sie bereits in großen Städten abgelegt hat.« 76 Die Reflexionen über die eigene Situation führen zu der Einsicht, daß fern von Buchhändlern, »kritischen Freunden« und anderen »Liebhabern der Literatur« eine Ausbildung des guten Geschmacks kaum möglich sei. Loewen schreibt: Mein Schicksal hat mich itzt nach Rostock geführt, wo ich unter dem Geschrey der Chicane die Harmonie der Musen verlerne, und unter dem Staube der Acten der Umgang mit den schönen Wissenschaften mir schwer gemacht wird. Ich lebe hier, ohne den geringsten kritischen Freund zu haben. Kaum, daß es noch einige wenige Liebhaber der Litteratur auf diesem alten Musen-Sitze giebt, w o nur erst die Morgen-Dämmerung des guten Geschmacks aufgegangen ist. 77

Der in Ansbach lebende Uz spricht in zahlreichen Briefen darüber, daß ihm aufgrund seiner Entfernung von den intellektuellen Zentren der Zugang zum guten Geschmack verwehrt sei. Mit einer Klage über »das Elend der kleinen Städte«, wo sich »nur alle secula« die Gelegenheit biete, im Gefolge von »Ministern, Gesandten pp.« sich »in Affairen« umzusehen und »die Welt« kennenzulernen, verbindet sich ein Hinweis auf das Defizit an guter Gesellschaft: »Es fehlt hier an Freünden, welche Geschmack und eine Kenntniß des feinen Schertzes und des angenehmen Umgangs haben; welche meine Muse beurtheilen und vollkommner machen könnten.« 78 73

74

73 76 77

78

72

Geliert an Johann A d o l f Schlegel, 2 . 1 0 . 1 7 5 6 , in: Gellerts Briefwechsel Bd. II S. 64. Boden an Klotz, 6. 7 . 1 7 6 8 , in: Briefe Deutscher Gelehrten an den Herrn Geheimen Rath Klotz, II S. 84. Flögel an Klotz, 2 0 . 6 . 1 7 7 0 , ebd. I S . 156. Flögel an Klotz, 1 4 . 1 1 . 1 7 6 8 , ebd. I S. 147. J . Fr. Loewen an Klotz, 2 9 . 5 . 1 7 6 9 , ebd. II S. 6. Uz an Gleim, 1 5 . 9 . 1745, in: Briefwechsel zwischen Gleim und Uz, S. 87f.

Neben und zum Teil noch vor dem »Fernrohr der Zeitungen und Journale«, durch das Flögel - »wie ein unglücklicher Robinson auf dem Caribischen Eilande« — »auf das feste Land der Litteratur seufzend hinüber« blickt, 79 fallt in dieser Situation der Briefliteratur eine zentrale Vermittlerrolle zu. 80 Jacobi sieht sich in Düsseldorf »in dem Lande, wo fast alle Leute keine Liebhaber der schönen Wissenschaften sind«; man lebe dort »in der ruhigsten Unwissenheit, Geliert und Klopstock sind unbekannte Namen, und ausser seinem Berufe zu denken wird für überflüßig gehalten.« 8 ' E s sei ein »Unglück [. . .], in einer so barbarischen Gegend zu leben, w o man weder Journal noch Zeitungen hat! Im Reiche der Todten erfährt man von den übergeschifften Schatten mehr, als in unserm lieben Düsseldorf.« 82 Um so mehr empfindet Jacobi »den Werth eines Briefwechsels mit Freunden, die edler denken, und ihre feinere Seele durch die Künste gebildet haben. Wie glücklich bin ich, an Sie schreiben zu können.« 8 ' Winckelmann bewertet es umgekehrt als bezeichnend für die Lage der Wissenschaften in Göttingen, daß dort im Juli 1766 seine (der Göttinger »Gesellschaft der Wissenschaften« gewidmete) »Allegorie« noch nicht bekannt ist: »Dieses deutet auf einen schlechten Zustand der Buchhandlung daselbst, und zugleich von dem wenigen Briefwechsel dieser Herren, ich will nicht sagen von der Barberey dortiger Gegenden.« 84 Der Briefwechsel selbst wird daher zur Institution der Geschmacksbildung. Uz bittet Gleim um Nachrichten aus dem »Reiche der belles lettres«, und zwar vor allem aus dem »Sitz der Musen, dem Prächtigen Berlin«: »Sie wissen, daß ich im Reich wie in einer Wildniß lebe, w o man von dergleichen wenig oder doch sehr späthe was erhält. Wie wird mein Geschmack fein werden können, wenn Sie meiner Bitte nicht Raum geben?« 8 ' Deshalb muß 79

Flögel an Klotz, 26. 8 . 1 7 6 7 , in: Briefe Deutscher Gelehrten an den Herrn Geheimen Rath Klotz, I S. 128.

80

Vgl. etwa Johann Elias Schlegel an Fr. v. Hagedorn, in: Friedrichs von Hagedorn Poetische Werke, Fünfter Theil, S. 291: »Haben Sie doch die Gütigkeit und überschreiben mir etwas von dem Zustande der poetischen Streitigkeiten; was es mit Lau's Uebersetzung von Virgil für Bewandtniß hat. Was die Schweizer sagen, ob nach dem achten Stück ihrer Sammlungen neue Streitschriften von Ihnen ans Licht gekommen. Denn hier ist alles spät, und die gelehrten Neuigkeiten kommen

81

hieher noch langsamer als die chinesischen Waaren etc.« Jacobi an Klotz, 1 3 . 1 0 . 1 7 6 7 , in: Briefe Deutscher Gelehrten an den Herrn G e heimen Rath Klotz, I S. 1 6 ; .

8

* Jacobi an Klotz, 2 6 . 6 . 1 7 6 9 , ebd. S. 174. Jacobi an Klotz, 13. 1 0 . 1 7 6 3 , ebd. S. 165. 84 W B 781 an Walther, 1 2 . 7 . 1 7 6 6 , III S. 186. 8 ' Uz an Gleim, 21. 8 . 1 7 4 3 , in: Briefwechsel zwischen Gleim und Uz, S. 44. Vgl. auch Uz an Gleim, 1 7 . 2 . 1 7 4 4 , ebd. S. 466 »Ich weiß wohl, daß Sie, mein Werthester, eines solchen kleinen critici, als ich bin, nicht benöthigt sind, da Sie weit größere und sinnreichere Leüte um sich haben, unter deren Feile Sie Ihre, an sich schönen 8)

73

die Korrespondenz auch die fehlende Geselligkeit ersetzen. Johann Andreas Cramer schreibt aus Kopenhagen an Geliert, es fehle ihm dort »an Freunden meines Gleichen«: »Meine Frau ist noch ärmer. A l s o muß unsere Freundschaft bloß von den Briefen leben, die wir erhalten, und auch diese Nahrung hat sie nicht reichlich. Die beste kann sie v o n Ihnen erhalten.« 86 Die Problematik einer literarischen Kultur in Deutschland, an welcher auch die Bürger partizipieren könnten, ist, w o nicht ausdrücklich Thema, so doch strukturprägende Voraussetzung der Korrespondenzen. Selbst die zur gängigen Exordialtopik gehörende Bitte um eine Intensivierung des Briefwechsels läßt sich in ihrer Häufigkeit und Dringlichkeit auf die besondere Bedeutung der Korrespondenz für die Geselligkeit beziehen.® 7 (Auch in Winckelmanns Freundschaftsbriefen spielt die Forderung nach regelmäßiger Korrespondenz als »l'aliment de l'amitié« 88 kontinuierlich eine Rolle. 8 ' Genau gesehen übernimmt die Briefliteratur Geselligkeitsaufgaben, die auf den Salon zurückweisen. 90 Gellerts Briefwechsel mit jungen Adligen — insbesondere mit weiblichen Standespersonen — lassen eine pedantismuskritische Orientierung an der Konversation im Salon vermuten. 9 ' Die Briefwechsel mit Henriette Erdmuthe von Dieskau, Johanna Erdmuth

von

Schönfeldt und weiteren Korrespondentinnen, aber auch mit Hans Moritz von Brühl sind geschmacksdidaktisch angelegt 92 und setzen also die brief-

Gedichte geben können. Ich aber brauche Sie, dessen guter Geschmack durch den Umgang mit den Berlinischen Beaux Esprits so fein als möglich geworden; insonderheit in der neiien Art der Gedichte, worinn ich angefangen habe mich zu üben. Ich singe von Liebe und Mädgen, da ich doch von dem einen so wenig Wissenschaft habe, als von dem andern. Sie aber gehen mit Mädgen und galanten Kunstrichtern um, und können daher von solchen Sachen besser urtheilen, als ich oder auch als die sonst guten Kenner, die hier in Anspach seyn mögen, die aber zu ernsthaft sind, als daß ich ihnen mit einem, manchmal freyen Scherz aufgezogen kommen dürfte.« 86

Johann Andreas Cramer an Geliert, Mitte Januar 1756, in: Gellerts Briefwechsel Bd. II S. 8. Vgl. auch Uz an Gleim, 10.9.1746, in: Briefwechsel zwischen Gleim und Uz, S. 124: »Ich rechne den Briefwechsel nach Berlin für mein größtes Vergnügen in Anspach, und Ihre Freündschafft ist mir unschätzbar.« 87 Als Beispiele für eine intensive Diskussion dieses Themas seien genannt: Geliert an Friedrich von Cronegk, 20.2.1756, in: Gellerts Briefwechsel Bd. II S. 32Ç Rabener, S. 1 7 0 - 1 7 7 ; iijif. 88 W B 827 an Desmarest, 21. 2.1767, III S. 236. '» Vgl. z. B. W B 848 an Stosch, 1. 1767, III S. 256. 90 Hella Jäger, S. 4 ; f , weist auf den Salon als Orientierungsmaßstab für den von Geliert propagierten guten Ton und auf die Vorbildlichkeit der Sévigné-Briefe für Geliert; dazu auch Becker-Cantarino, S. 92. 91 Zur Bedeutung gerade der Briefautorinnen für die Überwindung der gelehrten und kanzlistischen Stilelemente vgl. Nickisch, Die Frau als Briefschreiberin, sowie Becker-Cantarino. 92 Vgl. etwa Gellerts Kommentar in seinem Schreiben an eine Ungenannte, 1756, in: 74

theoretischen Schriften in literarische Praxis u m . " Durch Berichte über Besuche, Gespräche und sonstige Kontakte nehmen die Briefe die Pflege geselliger Umgangsformen in sich auf. 94 In Dialogform verfaßte Briefe ziehen den guten Konversationston selbst in den Schriftverkehr hinein." A u c h in dieser Briefgruppe ist aber eine Privatisierungstendenz unverkennbar. Bildungsziel ist weniger der versierte Weltmann als der tugendhafte Charakter, dessen Ausweis der nach den Grundsätzen des guten G e schmacks verfaßte Brief ist. Literarische Geschmacksbildung und Erziehung zum angenehmen und brauchbaren Mitglied der Gesellschaft nähern sich einander an. Die Briefe, die Hans Moritz v o n Brühl aus Paris schreibt, dokumentieren für Geliert dessen moralische und literarische Bildung, und zwar deshalb, weil der Verfasser gerade an diesem Ort der Zerstreuungen nicht von »den Wissenschaften« und v o m Briefeschreiben abläßt: Ihre öftern Briefe, die Beweise Ihrer Liebe gegen mich, sind zugleich Beweise Ihres trefflichen Verstandes, Ihres Geschmacks, Ihrer Beredsamkeit, u. Ihres Fleißes, den Sie mitten unter den Zerstreuungen des Hofs und dem Getümmel einer grossen Stadt den Wissenschaften schenken.' 6 Erst recht vollzieht sich diese Introversion natürlich in den eigentlichen Freundschaftskorrespondenzen. Freundschaft erscheint zunehmend als literarisch zu realisierende Kategorie, die sich zusammen mit ihren geGellerts Briefwechsel Bd. II S. 81 über den Brief der Adressatin: »Ja, meine liebe unbekannte Freundinn, er hat mir nur gar zu sehr gefallen, und sie schreiben weit besser, als Sie sich zutrauen und als viele von Ihrem Geschlechte niemals werden schreiben lernen.« Vgl. auch Geliert an Henriette Erdmuthe von Dieskau, 22.6. 1757, ebd. S. 118: »Ihr Brief ist vortrefflich. Ich mag die Versprechungen, die Sie mir darinne so großmüthig thun, oder die Nachrichten, die Sie mir geben, oder die Art, mit der Sie es sagen, ansehen; alles ist schön, und ich danke Ihnen für alles, als für Wohlthaten.« " Die Anleitung zur »guten Schreibart«, die Geliert den Grafen Albert Christian Heinrich und Carl Adolf von Brühl am 1 2 . 6 . 1 7 5 6 in Briefform zusendet (ebd. S. 48—5 3) lehnt sich unmittelbar an die brieftheoretischen Schriften an. So erklärt Geliert: »Das Lesen guter Schriften, der Umgang mit der Welt und insonderheit mit Leuten von Geschmacke, die Bekanntschaft mit den Regeln, und die eigne Übung sind zum Denken und zum Ausdruck notwendig«. Eine ähnliche Formulierung wurde oben bereits aus der »Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen« zitiert. 54 Z u diesem Punkt können nur einige exemplarische Belege angeführt werden; vgl. Gellerts Briefe an Henriette Erdmuthe von Dieskau, 2 2 . 6 . 1 7 5 7 , ebd. S. 1 1 8 mit dem Hinweis auf die »Freuden des Bades«; an Johanna Elisabeth von AnhaltZerbst, 15. 3 . 1 7 5 7 , ebd. S. über einen Besuch beim Grafen Löser; an Johanna Erdmuth von Schönfeld, 14. 3.1759, ebd. S. 231 über Kontakte, Bekanntschaften und Besuchspläne. " Vgl. Geliert an Johanna Erdmuth von Schönfeld, 6 . 1 1 . 1 7 5 8 , ebd. S. 190-192; an dieselbe, 1. 2.1759, ebd. S. zi2f. 96 Geliert an Hans Moritz von Brühl, 4. 3.1756, ebd. S. 38. 75

schmacksästhetischen Aspekten als Auseinandersetzung mit ihren kulturellen Voraussetzungen versteht.

»Freundschaftsbrief« und

»Freundschaft«

werden bei Klopstock fast austauschbar: E r [Johann Christoph Schmidt] schreibt gar nicht an mich. Ach, er liebt mich vielleicht nicht! In allen mit der Neigung zu übertreffen reichlich versehen, läßt er sich beständig in der Freundschaft von mir übertreffen.' 7 A l s Spezifikum dieser Tendenz zur Gestaltung eines besonderen privaten Raums lassen sich die wiederkehrenden Familienszenen lesen. Die freundschaftlich-kritischen Korrespondenzen beziehen nämlich mit Vorliebe die Familie als mitlesende Partei ein. Umgekehrt geben Postempfang und Lektüre Anlaß zur literarischen Darstellung familiärer Szenen. Im Prinzip ähnliche Darstellungen finden sich bei Gleim.' 8 Über Gellerts »Geistliche Oden und Lieder« schreibt Schlegel: Ich habe sie bereits einmal den meinen Mädchen, Muthchen aus Gnaden miteingeschlossen, vorgelesen, um ihre Empfindungen dabey zu bemerken. Sie wurden durch die mehrersten entzückt, ohngeachtet Du nicht wohlgethan, daß Du das Morgenlied das schwächste, das mir bekannt ist, voran gelegt hattest, weil ihnen dieß nicht viel versprach, aber die folgenden benahmen ihnen gar bald ihre Furcht auf die angenehmste Art. Muthchen und Corchen mußten zur Probe einige Strophen von solchen Liedern singen, wovon uns die Melodie gleich beyfiel; und ich wünschte, daß Du zu allen die Melodien hinzugesetzt hättest, denn sie gehören mit dazu, ein vollkommen gründliches Urtheil davon zu fallen." Die Familie, die über die von Geliert übersandten Texte urteilt, ist zugleich Gegenstand moralisch-ästhetischer Bildung, und der Gesamtvorgang wird Gegenstand literarischer Gestaltung. A u f diese Weise schafft die Korrespondenz einen Raum vorbildlicher Inszenierung der bürgerlichen Individualität. 100 Die Konzentration auf eine tugendbetonte Geselligkeit jenseits 97

Klopstock an Johann Christoph Schmidt, io. 10.1750, in: Klopstock, Werke und Briefe, Bd. 2, 1 S. 142. 98 Vgl. Gleim an Jacobi, 17.9.1767, in: Briefe von den Herren Gleim und Jacobi, S. j i f ; Gleim an Jacobi, 1 1 . 1 1 . 1 7 6 7 , ebd. S. 6jf. 59 Johann Adolf Schlegel an Geliert, 6. 2.1756, in: Gellerts Briefwechsel Bd. II S. 27. 100 Vgl. als weiteres Beispiel für die Literaturinszenierung in der Familie Ernst Samuel Jacob Borchward an Geliert, 15.4. 1757, ebd. S. 104: »Er [Bergius] kam aber bald, und brachte aus dem Buchladen, des Richardsons Fabeln mit, für seine lieben Kinder. Sobald er mich gewahr ward, schlüpffte er mit einer eintzelnen gedruckten Pieçe schalkhafft in den Busen u. wollte mir selbige lange nicht zeigen. Ich ward dadurch sehr aufmercksam gemacht, und zwang ihn freundschafftlich: endlich damit hervorzurucken. Zween Schuhe und 2 Zoll, sprang ich, meiner 40 Jahre vergeßend, jugendlich für Freuden in die Höhe, als ich meines lieben Gellerts geistl. Lieder unvermuthet erblickte. Meines treuen Freundes mir hertzlich lieben Kinder, die wie die Orgel-Pfeiffen um mich herumstanden, und mich als ihren Vice-Vater lieben; erstaunten etwas darüber, daß ihnen ein Mann mit Runtzeln im Gesichte, im Hüpffen ähnlich ward. Ich merckte es, schämte mich nicht, und

76

der »großen Welt« ist auch für die Affinität freundschaftlicher Briefliteratur zur Landlebendichtung verantwortlich. 1 0 1 Für eine Entwicklung der Korrespondenz zur literarischen Sonderzone spricht das in den Briefen selbst immer wieder ausgesprochene Mißbehagen an einer polemischen Literaturkritik. Johann J a c o b Mack erklärt in einem Brief an Geliert den Ton der »Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste« für »zu sehr nach der Lessingischen Art, bitter, spöttisch, den Leidenschaften und der Partheylichkeit manchmal zu sehr ergeben.« 102 Viele dieser Äußerungen betreffen speziell den Streit zwischen Gottsched und den Schweizern. 1 0 ' Das Wachen über den »Wohlstand« im Schreiben bezieht sich im Briefwechsel zwischen Gleim und Uz auch auf briefliche Verhandlungen. Gleim moniert an einer Kritik Ramlers, sie sei »[u]nbändig grob und für einen Freund so beleidigend, daß es scheint, als wenn er zu der Zeit, da er sie hingeschrieben hat, seinen Verstand verlohren gehabt hätte!« F ü r die Konzeption des freundschaftlichen Briefverkehrs ist wesentlich, daß »diese ungezogene Grobheit« zugleich der Freundschaft ein Ende bereitet; Ramler

habe »sich

meiner fernem

Freundschaft völlig

unwürdig

ge-

macht«. 1 0 4 Die im freundschaftlichen Ton verfaßten Korrespondenzen wollen eine moderate, der Tugendpraxis vorbehaltene und ideal gedachte G e selligkeit konstituieren. erklärte ihnen auf eine lebhaffte Art, die Ursache dieser 20jährigen Bewegungen. Und siehe! sie hüpfften mit; denn auch sie lieben einen Geliert, und können deßen Fabeln meist auswendig.« "" Dazu unten 3.3.1. " " Johann Jacob Mack an Geliert, 29. 3.1759, in: Gellerts Briefwechsel Bd. II S. 240. IO ' Vgl. etwa F. v. Hagedorn an J . A. Ebert, 8. 2.1745, in: F. v. Hagedorn, Poetische Werke Bd. V , S. 141: »Was die scharfe Beurtheilung einer gewissen Uebersetzung anbetrifft, die man hier gerne gedruckt gesehen hätte, so habe ich den Freund, den Sie mir genannt, nicht in Verdacht gehabt, aber freylich sehr widerrathen, den Aufsatz einzurücken.« Zum Thema auch Bödmet an F. v. Hagedorn, 6.9.1744, ebd. S. 173; Bodmer an F. v. Hagedorn, 1 2 . 4 . 1 7 4 5 , ebd. S. 187. Zum Ganzen de Voss, S. 44—56. Das von de Voss angesprochene Problem, daß trotz durchgängiger Polemik-Kritik die Kontrahenten jeweils den polemischen Ton beibehalten, kann hier nicht erörtert werden. Als späteres Beispiel brieflicher Polemik-Kritik vgl. Kästner, Gegenantwort an Hrn. Hofrath und Leibmedicus Zimmermann in Hannover, nicht datiert, in: Kästner, Vierter Theil S. 47f: »Er [Haller] hat auch gelehrte Streitigkeiten gehabt, und sie zuweilen mit Heftigkeit geführt, denn er war Mensch; aber er hat sie so geführt, daß man aus seinen Schriften etwas in der Sache lernte, wenn man übrigens für ein H. in Göttingen oder Bern nicht mehr Prädilection hatte, als für ein H. in Jena, oder ein H. in Wien; Schimpfwörter auf seine Gegner, Schmähungen ihres moralischen Charakters, Begegnen, als ob er von einer Höhe auf sie herab sähe, das hat er sich nie verstattet; zu schreiben: er habe sie mores gelehrt; dazu hatte er selbst zu viel mores.« Vgl. auch M L B III, Woide an Michaelis, 1 . 1 2 . 1 7 7 8 , S. 145-148; ebd. Woide an Michaelis, 14. 2.1780, S. 162. 104

Gleim an Uz, 3 1 . 8 . 1 7 6 5 , in: Briefwechsel zwischen Gleim und Uz, S. 362^ Vgl. auch Uz an Gleim, 3 . 1 2 . 1 7 6 ; , ebd. S. 364; Gleim an Uz, [13. 2.1766], ebd. S. 365^ 77

Die Schaffung einer eximierten Sphäre schlägt sich in Anzeichen einer Verräumlichungstendenz nieder; von den »Geschäften« weithin losgelöst, 10 ' halten die Briefe die Freundschaftsempfindungen literarisch fest. Dabei können auch Porträtdarstellungen ins Spiel gezogen werden. Wie der Brief, so verbürgt auch das Porträt die Anwesenheit des entfernten Korrespondenten und seine Integration in die familiäre Szene: Und meine Getreue? — Was machte die? - Sie lief geschwinde in dasjenige Zimmer, wo Ihr Bildnüß, von Hempeln gemahlt hängt, liebster Geliert; sie machte einen tieffen Knix dafür, und sagte: >Tausend danck! liebster Geliert, für die Erfüllung auch meines Wunsches — Sie werden von Jahr zu Jahr artigerl — Der Himmel stärcke Sie in dieser ArtigkeitüU Und hiermit lief sie auf mich fröhlig zu, gab mir ein Paar Schmätze, worann ich noch vergnügt dencke, und fragte: habe ich es hübsch gemacht?'06 Auch bei Sulzer erfährt der Kunstgegenstand eine Verlebendigung zum Gesprächspartner. Bodmers Porträt sei »die schönste Zierde meines Hauses« und gehöre »nicht mehr unter die toten Geräthe«: »denn ich halte es werth genug, es unter die Dinge zu zählen, die in der leblosen Welt nichts haben, womit man ihren Werth abmessen könnte.« 107 Gleim will die Briefe seines Freundeskreises einem »Tempel der Freundschaft« einverleiben,108 der, wie Frühsorge gezeigt hat, als umfangreiche Sammlung von Porträts der Freunde zugleich »einen durch bestimmte moralisch-soziale Axiome einer Gruppe gekennzeichneten Binnenraum von einem ganz anders gearteten Außenraum« abschließt. 10 ' Winckelmann führt in seinen Briefen die Entwicklung eines nach Kunstprinzipien gestalteten Freundschaftsbegriffs fort, indem er in ihnen die antike Plastik gegenwärtig hält. Dabei gibt die Kulturmetropole Rom den Rahmen ab, der die Welt der Kunst von der der politischen und sozialen lo

> Berufliche Arbeit ist nicht akzeptierter Gegenstand des Briefschreibens, sondern wird als Negativum aus den freundschaftlichen Verhandlungen herausgehalten. Vgl. ζ. B. Sulzer an Gleim, 3.10.1753, in: Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Geßner, S. 205: »Es ist vielleicht gut für Sie, daß ich mich gegen Sie eben der Schuld teilhaftig gemacht habe, die Sie durch Ihr allzu langes Stillschweigen auf sich geladen haben. Nunc damus veniam, petimus vicissim. Die Wahrheit ist, daß wir beyde Geschäfte auf uns geladen haben, die das Schreiben sehr schwer machen.« Vgl. auch Sulzer an Bodmer, 1754, ebd. S. zz4f. Brockmeyer, S. 70, diskutiert dieses Thema in bezug auf Gleim. 106 Ernst Samuel Jacob Borchward an Geliert, 15.4.1757, in: Gellerts Briefwechsel Bd. II S. io 4 f. 107 Sulzer an Bodmer, 1 5 . 1 0 . 1 7 5 8 , in: Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Geßner S. 161. Gleim an Uz, 22.5.1795, in: Briefwechsel zwischen Gleim und Uz, S. 44if; vgl. unten 2.2.3. "''Frühsorge, Freundschaftliche Bilder, S. 441 f; vgl. auch Beck, S. 44, zur Galerie literarischer Freundschaftsporträts der Bremer Beiträger.

78

Erfahrungswirklichkeit in Deutschland abhebt. Der fortschreitende Autonomieanspruch der Kunst gegenüber herkömmlichen Moral- und Geschmacksnormen setzt bei ihm jedoch Polemik, Obszönes und direkte politische Kritik als literarische Bewegungskräfte neu frei.

2.2.3.

V o m U m g a n g mit Briefen

Die Bedeutung der Briefliteratur f ü r den Aufbau einer Geschmackskultur, wie sie in den beiden vorausgehenden Kapiteln dargestellt wurde, impliziert, daß freundschaftliche Briefe nicht im ausschließenden Sinn privat sind, sondern an der literarischen Öffentlichkeit teilhaben können. 1 1 0 Der Bedeutungsverlust, den die Briefstellerliteratur nach der Jahrhundertmitte erfahrt, resultiert zwar daraus, daß der individualistische Briefstil sich nunmehr einer Normierung widersetzt; er weist aber auch darauf hin, daß auf längere Sicht Privates und Öffentliches auseinanderfallen w e r d e n . " 1 Rücksicht auf Öffentlichkeit kann durchaus erzwungen sein, da im 18. Jahrhundert ein Geheimnisschutz für Briefe nur begrenzt gegeben i s t . 1 1 1 Autoren der Gottsched-Zeit sehen sich mit dem Problem abgefangener Briefe konfrontiert. 1 1 ' Rabener zeigt Furcht v o r unerwünschten Lesern: »Da dieser Brief vielleicht geöffnet werden möchte, so kann ich davon mehr nicht schreiben.«" 4 A u c h Winckelmann beobachtet in seiner Nöthnitzer Zeit die erforderliche Zurückhaltung im Briefschreiben: »Von andern öffentlichen Nachrichten unterstehe mich nichts ferner zu melden weil man einige Personen nach dem Königstein wegen freyen schreibens gebracht hat.« 1 1 ' Noch in R o m fügt er im Anschluß an Kommentare über den Erbprinzen von Braunschweig eine entsprechende Bemerkung in einen Brief an Stosch ein: »Mein Freund! hier bitte mir Ihre ernstliche Meinung zu sagen, wenn Briefe von dieser Art Ihnen nachtheilig seyn könnten; es soll mich behutsamer im Schreiben machen.«" 6 D e r nur begrenzt gewährleisteten Briefsicherheit ordnet sich umgekehrt die Tatsache zu, daß sich die Korrespondenten in der Briefliteratur einen kulturellen Freiraum öffnen wollen. D e r Bezug auf das Gemeininteresse Zum Begriff der literarischen Öffentlichkeit vgl. Habermas, S. 44. " ' Hartwig, S. 1 2 1 - 1 2 5 stellt diesen Vorgang als »Verfall bürgerlicher Subjektivität« und bürgerlicher Öffentlichkeit dar. 111 Dazu allgemein Steinhausen, S. 120; Nickisch, Brief S. 218—220. Wehr, S. 128. " 4 Rabener an Weiße, 30.12.1759, in: Rabener, Briefe S. 303. " ' WB 64 an Uden [Spätherbst 1749], I S. 93. Den Bezug erläutert der Herausgeber nicht. " 6 WB 812 an Stosch, 1 5 . 1 1 . 1 7 6 6 , III S. 221. 79

und die fehlende Geheimnisgarantie ergänzen einander. Wehr hat dargelegt, daß Gottsched seine Korrespondenz systematisch als Mittel zur Verbreitung seines Programms einsetzt und ausbaut1'7 und über den Briefverkehr die allgemeine Geschmacksbildung fördern will;" 8 in der Korrespondenz verbinden sich demnach »die Gleichgesinnten [. . .], die Bildung und Erziehung suchten und weiter zu vermitteln bereit waren.«"9 In bezug auf Gottscheds Auseinandersetzungen mit Pietismus und protestantischer Orthodoxie spricht Wehr sogar - wenn auch vermutlich ein wenig zu reißerisch — von einer konspirativen Funktion der Korrespondenz." 0 Der Briefverkehr wird im Gottsched-Kreis zum Instrument der Aufklärung und zum Mittel »gesellschaftlicher und nationaler Neuordnung«.' 21 Der begrenzte Intimitätsgrad von Freundschaftskorrespondenzen schlägt sich darin nieder, daß die Briefe innerhalb der Freundesgruppen weitergereicht werden können.122 Die wiederholte Lektüre von Briefen trägt im Kreis um Geliert zur Intensivierung der kritischen Literaturdiskussion bei: Hier hast D u Criticken von einem meiner unpoetischen Freunde, dem Hofrath Burgwart aus Berlin, einem rechtschaffnen frommen Manne; aber wie D u aus verschiednen seiner Anmerkungen sehen wirst, einem Reformirten, der zu weit geht. Lies sie wegen seines guten Herzens durch. Hier hast D u auch noch einen Brief von Cramern; verliere nichts. - [ . . . ] Auch schicke ich Dir einen Brief von dem Herrn von Riveri, dem Pariser Ubersetzer verschiedner meiner Fabeln. Alles Lobbriefe! Wenn ich nur gleich einen von meinem Heben vortrefflichen Grafen Moritz aus Paris finden könnte, ich schickte Dir ihn auch. Rabener hat den letzten.' 13

Ähnlich verfahren Moser und Abbt mit solchen Briefen, die literarische Nachrichten betreffen.124 Klopstock fordert wiederholt Briefe von Freunden " 7 Nach Wehr hat Gottsched versucht, sich durch seine Korrespondenzen »Stützpunkte« zu verschaffen; vgl. etwa S. 233 zu Königsberg. " s Vgl. bes. ebd. S. 54-70. " ' Ebd. S. 9 1 . 110 Vgl. etwa ebd. S. 86. Mit größerem Recht dürfte die Korrespondenz K a r l Friedrich Bahrdts »konspirativ« zu nennen sein; vgl. dazu Mühlpfordt. Z u r geheimpolizeilichen Postüberwachung in der Revolutionszeit auch Becker-Cantarino, S. 86. Wehr, S. 86. 112 Vgl. zum folgenden allgemein Steinhausen, S. 320—326. Becker-Cantarino, S. 8; f. " ' G e l i e r t an Johann Adolf Schlegel, 2 0 . 2 . 1 7 5 6 , in: Gellerts Briefwechsel Bd. II S. 35. Vgl. auch die Affare um Gellerts Brief vom ;. 1 2 . 1 7 5 8 an Johanna Erdmuth von Schönfeld, ebd. S. 193—195, der alsbald »bey nahe in allen Städten und Dörfern, dieses ist den Worten nach wahr, in Abschrift, und vermuthlich ziemlich verstümmelt« zirkuliert (Geliert an Johanna Erdmuth von Schönfeld, 1 3 . 6 . 1 7 5 9 , ebd. S. 255). Dazu auch der Bericht von Erdmuthe Dorothea Magdalena Vitzthum von Eckstädt, 1 8 . 6 . 1 7 5 9 , ebd. S. 2 5 j f über die Geschichte des erwähnten Briefs. 124 Vgl. Moser an Abbt, [Januar 1765], in: Moser, Briefe S. 1 8 1 ; Abbt an Moser, [Anfang August] 1765, ebd. S. 194. 80

zur Lektüre an und verschiebt dabei das Interesse vom Informationsgehalt auf das Zeugnis von Freundschafts- und Liebesempfindungen: »Schicken Sie mir doch einige von Gisekens u Schlegels lezten Briefen. Man liest doch gern in den Papieren seiner verstorbnen Freunde.« 12 ' Im selben Brief bittet Klopstock »um ein paar Briefe von den s (eligen) Hannchen«. 126 Anstatt der Briefe selbst werden oft auch ausführliche Zitate oder Inhaltsreferate in Schreiben an Dritte weitergegeben. 127 Einige Briefe Winckelmanns sind nur auf diesem indirekten Weg fragmentarisch überliefert. 128 Das Wissen um mögliche weitere Leser muß auch für die Briefschreiber vorausgesetzt werden. Ein Indiz dafür ergibt sich aus dem Usus, Briefe an Dritte — primär aus Gründen der Portoersparnis - im Umschlag mitzusenden. Selbst dann, wenn der eingelegte Brief nicht - wie es häufig der Fall ist — unverschlossen bleibt, 129 ist er keineswegs vor der Lektüre eines Dritten sicher: Ebert hat zum drittenmaale an mich geschrieben. In Eberts Brief war ein Brief von Cramern an mich nach Braunschweig adressirt. In Cramers Briefe an mich war wieder einer an Ebert, u diesen erbrach ich hübsch. Warum sollte er eine so lange Reise vergebens gethan haben?1'" Winckelmann nutzt gelegentlich dieses Verfahren und zieht daraus den »Vortheil«, nicht alles in einem »Briefe allein ausschütten« zu müssen. 1 ' 1 Briefe sind daher häufig nicht lediglich an Einzelpersonen geschrieben, sondern haben von vornherein Sekundäradressaten im Blick und können so auch einer Vervielfältigung von Informationen dienen. Daß bestimmte Briefe - weniger aufgrund ihrer Intimität als wegen verfänglicher Informationen Klopstock an Johann Andreas Cramer, 4. 7.1748, in: Klopstock, Werke und Briefe, Briefe Bd. 1 S. 9f. 116 Ebd. S. 10. Gemeint ist Cramers verstorbene Verlobte Johanna Elisabeth Radick.Vgl. auch Klopstock an Johann Andreas und Charlotte Cramer, 17.6.1749, ebd. S. 5 5 und die zugehörige Anm. S. 272 mit weiteren Belegen. 117 Beispiele: Giseke an Hagedorn, 2 5 . 1 1 . 1 7 4 8 , in: Hagedorn, Poetische Werke, Fünfter Theil S. 279 zitiert aus einem Brief von Cramer. Sulzer an Gleim, im August 1747, in: Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Geßner S. 61 zitiert aus einem Brief von Bodmer; Sulzer an Bodmer, Sonnabends vor Pfingsten 1750, ebd. S. 141 zitiert aus einem Brief von Gleim. 118 WB 183 an Hagedorn [in: Hagedorn an Nicolai, 6.9.1757] [Mitte August 1757], I S. 293Í; 216 an Wille [zweite Hälfte Mai 1758], [in: Wille an Caspar Füssli, 10.6.1758], I S. 369^ 256 an Wille [Mitte November 1758], [in: Wille an Caspar Füssli, 6. I i . 1759], I S. 438. " ' V g l . etwa Klopstock an Bodmer, 19.10., 5 . 1 1 . , 2.12.1748, in: Klopstock, Werke und Briefe, Briefe Bd. 1 S. 32: »Haller hat den Brief an Sie offen gelassen.« 1,0 Klopstock an Gleim, 22.6.1750, ebd. S. 94. WB 202 an Berendis, [;. 2.1758], I S. 328; vgl. unten 4.4. Vgl. auch 790 an Schlabbrendorf, 16.8.1766, III S. 199 - Zur Gewohnheit der Beförderung von Briefen durch Einschluß an andere vgl. Steinhausen, S. 331. 81

— nur für den Adressaten geschrieben sind, muß eigens betont werden: »Ich schreibe Ihnen, wie ich denke, weil ich glaube, daß niemand meine Briefe lieset, worum ich Sie von neuen bitte: denn ohne dieser Versicherung würde ich weniger schreiben.«1'* Den Geselligkeitsaspekt dieser Briefpraxis realisieren beispielhaft die Kollektivbriefe. Ebert schreibt einen Brief, der an Gleim, J . C. Schmidt und Klopstock adressiert ist.' 3 ' In einem anderen Schreiben, in dem Klopstock, Gleim, Sulzer und Johann Georg Schultheß von der Reise in die Schweiz berichten, verdichtet sich eine Gruppenzusammengehörigkeit, die im übrigen auch von den Einzelkorrespondenzen dokumentiert wird. Es ist gerichtet A n die Herren Rabener, Geliert, Rothe in Leipzig; Cramer und Cramerina, Schlegel in Crellwitz; Gärtner, seine Frau, Dem. Kruse, Jerusalem in Braunschweig; Ebert in Braunschweig; Schmidt und Fanny in Langensalze; Ramler in Berlin; Kleist in Potsdam; Spalding in Lassahn; Gleim in Halberstadt; Hagedorn, Gieseke, Olde, Mad. Schei in Hamburg; Bachmann und die übrigen Bewohner der glückseligen Insel in Magdeburg.' 3 4

Ähnlich dürfte das familiäre und freundschaftlich-gesellige Lesen von Briefen einzuschätzen sein. 1 " Zwar bleiben die Briefe auf diese Weise zunächst im Gruppenkontext; sie nehmen aber im freundschaftlichen Umgang ein allgemeines Gesellschaftsmodell vorweg 1 ' 6 und entfalten so im Medium der Literatur eine kritische, vielleicht sogar utopische Dynamik. 1 ' 7 Jedoch gehören private Briefe nicht schlechthin der Öffentlichkeit. Die Geschichte der Briefausgaben im 18. Jahrhundert wird begleitet von einer chronique scandaleuse nichtautorisierter Publikationen, als deren herausragende Ereignisse sich die »Briefe Deutscher Gelehrten an den Herrn Geheimen Rath Klotz« (1773) und die Herausgabe von Briefen aus Gleims Nachlaß durch Wilhelm Körte (1804—1806)1'8 ausmachen lassen. Die Allge-

1,4

W B 826 an Stosch, 18. 2 . 1 7 6 7 , III S. 255. E b e n an Gleim, J. C. Schmidt und Klopstock, 1 3 . 6 . 1 7 5 0 , in: Klopstock, Werke und Briefe, Briefe Bd. 1 S. 1 6 6 - 1 6 8 . Klopstock, Gleim, Sulzer und Johann G e o r g Schultheß an mehrere Freunde zwischen dem 12. und 2 5 . 7 . 1 7 5 0 , in: Klopstock, Werke und Briefe, Briefe Bd. 1 S. 1 1 0 - 1 2 7 . Ebenfalls abgedruckt in: Gellerts Briefwechsel Bd. I S. 4 9 - 6 3 .

' " Vgl. Johann Adolf Schlegel an Geliert, 6 . 2 . 1756, ebd. Bd. II S. 27; Erdmuthe Dorothea Magdalena Vitzthum von Eckstädt an Geliert, 1 9 . 1 2 . 1 7 5 9 , ebd. S. 289^ ' ' 6 Z u r Öffentlichkeitsstiftenden Leistung gerade auch der freundschaftlichen Briefkultur vgl. Ruppert, S. io3f. 1)7

Z u m modellhaften Anspruch der Freundschaftskultur vgl. — in bezug auf die Bremer Beiträger - Beck, S. 35; ebd. S. 11 zur »utopischen« Perspektive der Freundschaftsbünde des 18. Jahrhunderts.

' , 8 Dazu allgemein die ausführliche Darstellung von Mohr. Z u den Briefen an Klotz und weiteren Fällen vgl. ebd. S. 48 Anm. 74. 82

meine Deutsche Bibliothek sieht durch die Edition der Briefe an Klotz »die Heiligkeit eines vertrauten Briefwechsels« verletzt; der Herausgeber habe »von der Unverletzlichkeit der Geheimnisse eines vertraulichen Briefwechsels gar keinen Begriff«. 1 ' 9 Es sei bedenklich, »diese Briefe lebender Personen« drucken zu lassen, »die dadurch auf mancherley Art beleidigt, oder in Verlegenheit und Schaden können gesetzt werden, die man daher billig erst um Erlaubniß dazu hätte ersuchen sollen, welches man aber sicherlich nicht gethan hat.« 140 Die zunehmenden Versuche, »die Sphären des Privaten und des Literarischen scharf zu trennen«, weisen, so wenig sie für die freundschaftliche Briefkultur des 18. Jahrhunderts mit Konsequenz durchgeführt werden können, 141 darauf hin, daß parallel zum geschützten oder isolierten Privatbereich eine nurmehr voyeuristische Neugier entsteht. Die zeitgenössischen Briefausgaben berücksichtigen in der Regel diese Problematik, indem sie programmatisch darauf verzichten, »einer eitlen Leselust und leeren Neugierde des Haufens von Lesern durch belustigende Familien-Anekdoten und Auskramung von Privat-Verhältnissen verstorbener oder lebender Männer [. . .] zu fröhnen«. 142 Die Beobachtung, daß das Bewußtsein von einer schutzbedürftigen Intimität durchaus vorhanden ist, dient aber für das 18. Jahrhundert primär dazu, den spezifischen Freiraum der freundschaftlichen Briefliteratur zwischen literarischer Kultur und »Privat-Verhältnissen« genauer zu bestimmen. Als symptomatisch dafür wird gelten müssen, daß die Identifizierung anonymer Autoren und die Auflösung von Siglen eines der ständigen Themen der literarischen Korrespondenzen darstellen. 14 ' Indem die Briefe Hintergundinformationen liefern und diskutieren, wahren sie den Öffentlichkeitsbezug, während sie gleichzeitig eine Tendenz zu größerer Freiheit und geringerer Reglementierung dokumentieren und so den geheimen K o m mentar zu den »öffentlichen« Ereignissen liefern. Winckelmann führt, wie 159

Rez. von: Schriften, zum Gedächtniß des Herrn Geheimenrath Klotz, in: Allgemeine Deutsche Bibliothek 19, 1 ( 1 7 7 3 ) , S. 176. 140 Ebd. S. 175. " " Mohr, S. 4 9 f. ,4! Briefe über die Kunst von und an Christian Ludwig von Hagedorn, Vorrede S. IV. " " Exemparisch seien dazu einige Stellen aus dem Briefwechsel Friedrichs von Hagedorn (Poetische Werke Bd. V ) angeführt. Vgl. Bodmer an Hagedorn, 1 2 . 4 . 1 7 4 5 , S. 185: »Es war mir unbekannt, daß Bock den Pilgrim und den Einsiedler, und noch mehr, daß er den Deutschen Aesopus geschrieben.« — »Ich habe seither den Verfasser der Frankfurter gelehrten Zeitungen entdeckt; er heißt Keck, und ist ein ziemlich geschickter Rektor.« Vgl. auch Bodmer an Hagedorn, 1 1 . 7 . 1 7 4 5 , ebd. S. 200; Gärtner an Hagedorn, 1 7 . 6 . 1 7 4 4 , ebd. S. 2 1 5 ; Ebert an Hagedorn, 29. 7 . 1 7 4 4 , ebd. S. 2 4 j f ; ebd. S. 248f; Ebert an Hagedorn, 1 4 . 1 2 . 1 7 4 4 , ebd. S. 25

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schon gesagt, diese Entwicklung durch die Hineinnahme des Obszönen, des Erotischen und der Polemik fort. Vor allem ergibt sich aber der Modellcharakter der freundschaftlichen Briefwechsel aus ihrer spezifischen Nähe zur Publikation; nicht selten spielt im Umgang mit Briefen schon der Gedanke an eine mögliche spätere Veröffentlichung eine Rolle; der Briefschreiber versteht sich zugleich auch als Schriftsteller: »Niemand unter allen meinen Freunden hat mich für meine frommen Gedichte so sehr belohnet, als Sie u. Rabener. Beide Briefe, wenn sie auf die Nachwelt kommen, werden ihren Verfassern mehr Ehre machen, als mir.« 144 Zu Beginn des Briefwechsels mit Henriette Erdmuthe von Dieskau verlangt Geliert — wenngleich spielerisch — »wenigstens alle Wochen einmal« ein Schreiben. Nach dieser Rechnung habe ich im Monat May 1 7 5 8 schon fünfzig Briefe von Ihnen, die nach meinem Tode in Druck kommen werden. Denn diese Bedingung müssen Sie auch eingehen. Meine Erben werden schon so viel Geschmack und Gewissen haben, daß sie gute Briefe der Welt nicht entziehn.' 4 '

Auch das Schreiben des Lieutenants Christian Friedrich Thomasius, das Geliert für »so vortrefflich« hält, daß er es »größtentheils meinen Zuhörern in dem Collegio, wo ich von den Briefen rede, vorgelesen habe«, wird auf diese Weise Besitz eines größeren Publikums. 146 Eine Veröffentlichung der Briefe Meta Mollers schon zu ihren Lebzeiten ist nur an ihrem Einspruch gescheitert und wurde von Klopstock im Jahr nach ihrem Tod partiell nachgeholt. 147 Gellerts Bereitschaft, Briefe derjenigen allgemeinen Geschmackskultur zuzuführen, auf welche auch die brieftheoretischen Schriften hinarbeiten, hat ihre Grenzen in dem offiziellen ernsthaften »Charakter«, den er von seiner Person entwerfen will und mit dem sich »die scherzhaften Briefe« und »drolligte Dinge« nicht vertragen.' 48 Im selben Sinn vertritt Uz die Ansicht, daß das, was Gleim »sonderlich in ältern Zeiten, sehr frey und offenherzig« geschrieben habe, »nicht in ungewaschene Hände« kommen dürfe.' 49 Der Briefliteratur, die als Teil der 144

,4!

146

Geliert an Ernst Samuel Jacob Borchward, 2 3 . 4 . 1 7 5 7 , in: Gellerts Briefwechsel Bd. II S. 109. Z u r Publikationsproblematik vgl. Nörtemann, Brieftheoretische Konzepte, in: Brieftheorie des 18. Jahrhunderts, S. 220; 2 2 j f . Geliert an Henriette Erdmuthe von Dieskau, 25. 1 7 5 7 , in: Gellerts Briefwechsel Bd. II S. 1 1 5 .

Geliert an Christian Friedrich Thomasius, 15. 1 2 . 1 7 5 9 , ebd. S. 284. Nickisch, Die Frau als Briefschreiberin, S. 46 und 6 1 , A n m . 24. ,4 ' G e l i e r t an Johann A d o l f Schlegel, 2 3 . 1 0 . 1 7 5 6 , in: Gellerts Briefwechsel Bd. II S. 7of; vgl. ebd. S. 7 1 : »Wenn nun eben der Mann geistliche Oden u. Lieder drukken läßt; was sollen die Leute von ihm denken. Mit seinem Freunde unter vier Augen scherzen; welche unschuldige Sache; aber im Angesichte der Welt, ist dieses nicht zu weit getrieben?« 149 U z an Gleim, März 1 7 9 5 , Briefwechsel zwischen Gleim und Uz, S. 4 4 1 . Schon am 147

84

literarischen Geschmackskultur verstanden wird, ist Affektivität nur in Grenzen konzediert. Während der Öffentlichkeitsbezug auch privater Briefe erhalten bleibt, kündigt sich bereits eine Trennung von öffentlicher und privater Person an. Gleim präzisiert die der Allgemeinheit zugängliche und doch auch ihrem Zugriff sich entziehende Rolle der Briefliteratur in seinem Modell eines »Tempels der Freundschaft«. Zwar dürfe »die ganze Welt« von dem fünfzigjährigen Briefwechsel mit Uz »alles zu lesen bekommen, es wäre mir gleichgültig, denn alles ist wahr, ist aus dem Herzen ihres Freundes gefloßen, beßer aber ist, daß Sies nicht alles zu lesen bekommt.« Deponiert im »Tempel der Freundschaft«, bleiben die Briefe als »Denkmal« erhalten und sind zugleich vor unbefugtem Zugriff sicher: Als ein Heiligthum wirds im Tempel der Freundschaft niedergelegt! in ungeweihte Priesterhände kommt nichts, dafür wird bestens gesorgt! Ein naher Anverwandter wird Verwahrer, und so gehts auf die Nachwelt fort. Archiv der Freundschaft ist der Bücherschrank, der den Briefwechsel mit meinen Freunden enthält, überschrieben, und zu diesem Archiv hat nur der beeydigte Bücherverwahrer den Schlüßel. Also seyn Sie, wegen ihrer Briefe, nur immer unbesorgt; diese send' ich Ihnen nicht zurück, sie sind, und bleiben ein Denkmal unsrer Freundschaft. 1 '"

Der private Gesprächsraum, den die vorzeigbaren freundschaftlichen Briefe um die Jahrhundertmitte bilden, schließt also nicht nur Unliebsames, sondern auch zu Persönliches aus.' 51 In dieser Sondersphäre findet eine Kommunikation statt, die vorbildhaft und modellhaft gemeint ist und sich als Keim einer literarischen Geschmackskultur versteht. Winckelmann verzichtet in einzelnen freundschaftlichen Briefreihen auf eine Beobachtung von Geschmacks- und Anstandskriterien als Voraussetzung für eine Publikation, ohne damit das Modellhafte bereits ganz aufzugeben. Bei den wenigen mit Winckelmanns Zustimmung publizierten Schreiben handelt es sich um antiquarische Arbeiten oder öffentliche Erklärungen, die den entsprechenden Publikationen nahestehen, 1 ' 2 während der Lebensbericht an Marpurg gegen Winckelmanns Willen und »zu seiner großen Entrüstung«'" gedruckt wurde. 1 ' 4 Dem Kunstschönen, das sich nicht mehr durch hetero-

1,0

1 0 . 1 . 1 7 8 0 , ebd. S. 4 1 2 , hatte Uz angekündigt, er werde, um unautorisierte Publikationen zu vermeiden, die an ihn gerichteten Briefe an die Verfasser zurücksenden: »Um sie nicht in fremde ungewaschene Hände kommen zu laßen, wollte ich es so einrichten, daß, bey einem unvermutheten Falle, meine vornehmsten Freünde ihre Briefe wieder zurück erhalten sollten.« Gleim an Uz, 2 2 . 5 . 1 7 9 5 , in: Briefwechsel zwischen Gleim und U z S. 44if. Vgl. Witte, S. 13.

W B 161 an Hagedorn, 1 3 . 1 . 1759, I S. 444—449; 496 an Montagu, Juni-Juli 1762, II S. 245 (ein Gutachten); 746 an Heyne, 1. [oder 5.] 12. 1765, III S. i4of; 749 an Heyne, 2 8 . 1 2 . 1 7 6 ; , III S. 143—147; 753 an Heyne, 4 . 1 . 1766, I I I S. 151—153. Vgl. Überlieferungsgeschichte der Briefe, W B I S. 459. ' » Ebd. W B 527 an Marpurg, 8 . 1 2 . 1 7 6 2 , II S. 274—277.

«5

nome Normen regulieren lassen will, entspricht eine epistolographische Praxis, die sich über stilistische Umgangskonventionen hinwegsetzt und die Integrität des Individuums einklagt.

2.2.4.

Das Problem des guten Geschmacks als epistolographische Krise in Nöthnitz

Gegenüber der Epistolographie der ersten Jahrhunderthälfte zeichnet sich bereits in Winckelmanns vorrömischen Briefen ein gattungsgeschichtlicher Wandel ab. Wie der Brief vom 6 . 1 . 1 7 5 3 an Berendis zeigt, findet in der literarischen Dynamisierung eine Reflexion der sozial- und kulturgeschichtlichen Situation des Bildungsstandes in Deutschland statt, die im Vergleich mit Gottsched das Problem zuspitzt. Im Fortgang der Arbeit dient die Untersuchung von Winckelmanns Darstellung seiner Nöthnitzer Krise als Kontrastfolie für die römischen Freundschaftsbriefe wie auch für die »großen Selbstdarstellungen«, die jeweils unterschiedlich, aber komplementär Modelle eines sozialen und nationalen Selbstbewußtseins der deutschen Gebildeten bereitstellen. Im thematischen Mittelpunkt des Briefs an Berendis steht die Überwindung des angestammten Lebenskontextes, die im Entschluß zur Romreise und in der Konversion konkrete Gestalt annimmt. 1 " Winckelmann begründet seine Absichten gegenüber Berendis mit den fehlenden geschmacklichen Entfaltungsmöglichkeiten und den mangelnden Aussichten auf allgemeine Anerkennung in Deutschland. E r führt damit jene Argumentationen fort, die sich im Umfeld Gottscheds verfolgen ließen. Winckelmann bestätigt das von Reiske gezeichnete Bild des gesellschaftlich unterlegenen und sogar ungeselligen, geschmacksunkundigen, allein auf sich selbst angewiesenen und gänzlich den »Wissenschafften« verpflichteten Autodidakten als Paradigma der deutschen Gelehrsamkeit. 1 ' 6 In der frühen Winckelmann-Rezeption wird das Porträt des auf sich selbst gestellten Gelehrten ohne (fürstliche) Unterstützung zum exemplarischen Fall eines kulturellen Aufstiegs in Deutschland. 1 ' 7 Ausdrückliche Reflexionen über die Gebildetenproblematik Z u den Umständen der Konversion im einzelnen Justi 4 , Bd. I S. 365—372. Vgl. auch die aus zweiter Hand überlieferten, in dieser Ausführlichkeit in den Briefen stets verschwiegenen Kommentare Winckelmanns zur Konversion in W B 1 3 1 Erdmannsdorf an Huber, Dessau 1780, I V S. 230. 1,6

Z u einer sozialgeschichtlichen Beurteilung von Winckelmanns Biographie vgl. Namowicz, S. 60-68. ' " V g l . etwa Walther (Erstdruck 1780; vgl. Erläuterungen zu W B 1 1 2 , I V S. 486), S. 10: » E s ist das Schicksal aller großer Männer, daß sie eben nicht auf ihren hohen Ursprung stolz thun können, vieleicht damit sie sich ihre eigene Größe zu ver86

als Teil der deutschen Kulturverhältnisse lassen sich bei Winckelmann jedoch erst für die römischen Jahre nachweisen. Zum Profil des Gelehrten gehört die mangelnde Verfügung über Fremdsprachenkenntnisse — die »Fertigkeit, mich in ein paar frembden Sprachen gut auszudrücken«, die »ohne Umgang mit Menschen und außer der grand monde« nicht zu erwerben sei. 1 ' 8 Diese — mit der Diagnose Loens verwandten — Bemerkungen werden ergänzt durch Klagen über fehlende (geschmackliche) Bildungschancen, für die — wie bei Reiske — die kulturellen Voraussetzungen fehlen: »Du weißt, wie sauer es mir geworden, durch Mangel und Armuth durch Mühe und Noth habe ich mir müßen Bahn machen. Fast in allen bin ich mein eigener Führer gewesen.« 1 ' 9 In seiner an Marpurg adressierten »Lebensgeschichte« schreibt Winckelmann, er habe seine Jugend »theils in der Wildheit, theils in Arbeit und Kummer verlohren«. l6 ° Als Erklärung für seine »Liebe zur Freyheit« führt er gegenüber L. Usteri an, er sei »wie ein wildes Kraut, meinem eigenen Triebe überlaßen, aufgewachsen«. 161 Dementsprechend sei es »mein Unglück, daß ich nicht an einem großen Ort gebohren bin, wo ich Erziehung und Gelegenheit haben können, meiner Neigung zu folgen, und mich zu formiren.«' 62 Im Gegensatz zu Genzmer, der als Prinzenerzieher »die schönste Gelegenheit« habe, zum Kunstkenner zu werden, könne er selbst »aus meiner Sphäre nicht kommen: Das Schicksal hat mich zu einem mühsamen Studiren verdammt, ohne die Früchte zu sehn.«' 63 V o r allem m i t der Nöthnitzer Phase verbindet W i n c k e l m a n n in seinen vorrömischen Briefen den Begriff der E i n s a m k e i t . ' 6 4 Ä h n l i c h e B e m e r k u n danken haben sollen, und nicht erst mit ihren Vorfahren Abrechnung halten dürfen; es ist eine allgemeine Erfarung, daß die meisten großen Genies in Dürftigkeit und Armut geboren werden, und oft mit den größten Schwierigkeiten und Hindernissen zu kämpfen haben: gerade als wen der Herr der Natur dieses deswegen so eingerichtet, weil je mehreren Widerstand jemand findet, mit desto größerem Mut wird er sich auch denselben entgegensezen, und in dieser Absicht ist es eine weise Einrichtung in der Natur, daß sich denen die meisten Hindernisse entgegensezen müssen, die genung Größe der Sele und Mittel in sich selbst haben, sie zu überwinden.« WB 88 an Berendis, [6.1.175 3], I S. 119. Vgl. auch 99 an Berendis, [12. 7.1754], I S. 14;; Winckelmann führt die Verhandlungen um seine Romreise »mit dem jämmerlichsten Frantzösisch von der Welt«; nach WB 102 an Berendis, [17.9.1754], I S. 15 2 dient die Romreise auch der Verbesserung der »Fertigkeit in der Welschen und Frantz. Sprache«. WB 88 an Berendis, [6.1.1753], I S. 119. Vgl. auch ebd. weiter: »Die Liebe zu den Wissenschafften ist es, und die allein, welche mich bewegen können, dem mir gethanen Anschlag, Gehör zu geben.« ,6° WB 527 an Marpurg, 8.12. 1762, II S. 275. ,6 ' WB 540 an L. Usteri, 20. 2.1763, II S. 295. , 6 l W B 88 an Berendis, [6.1.1753], 1 S. 119. •'s WB 49 an Genzmer, 29. 9.1747, I S. 76. 164 Vgl. WB 99 an Berendis, [12.7.1754], I S. 144: »Hier fehlet es mir an aller Ge-

87

gen finden sich in Briefen von Winckelmanns Nöthnitzer Bibliothekskollegen Johann Michael Francke.' 6 ' Bezogen auf den Bekenntnisbrief an Bünau resümiert Heyne: »Hypochondrie, Mangel des vertraulichen Umgangs und aller Glücksaussicht, konnten indessen auf einen Mann wirken, welcher ungenutzte Kräfte in sich spürte, die durch mechanische Arbeiten abgenutzt wurden.«' 6 6 A u f die »verlorenen« Jahre in Seehausen und in der ländlichen »solitude« der Bibliothek des Grafen Bünau' 6 7 führt Winckelmann in R o m seine gesellschaftliche Unbeholfenheit und die Gefahrdung seiner

Ge-

schmacksbildung zurück:

müths-Veränderung und die Einsamkeit wird mir allein durch beständige Arbeit erträglich«; vgl. auch ιοί an Bünau, 1 7 . 9 . 1 7 5 4 . I S. i48f: »Nächst dem sind die Kürze unsers Lebens und die sehr engen Gränzen unserer Erkänntniß zwey Stükke, die wenigstens einen Menschen, wie ich bin, der seine Jugend in Armuth, und die Jahre, w o man am fähigsten ist, zu empfinden, in anhaltender Arbeit und langer Einsamkeit zugebracht hat, und der endlich das Glück gehabt hat, diejenigen Schriften, in welchen die gesunde Vernunft, ohne heutige weitgesuchte Gelehrsamkeit, welche jene unterdrücket, und die wahre Weltweisheit den Menschen zuerst aufgekläret worden, kennen zu lernen; diese doppelte Betrachtung, sage ich, sollte einen Menschen, wie ich bin, dem weder Geburt noch Stand im Wege stehet, mächtig unterrichten, daß das Leben zu kurz sey, um in der letzten Hälfte desselben allererst einen Entwurf zu seinem künftigen sogenannten Glück zu machen, und daß es in Betrachtung unserer Vernunft, die uns zu einen weit edlern Gebrauch, als gewöhnlich, verliehen worden, eine fast strafbare Eitelkeit sey, dieselbe bis ins Alter fast blos mit Dingen, die nur das Gedächtniß in Bewegung erhalten, zu beschäftigen.« Vgl. auch WB 1 1 0 an Uden, 3.6.1755, I S. 170: »Etwa ein Jahr hernach fingen sich allerhand besorgliche Anscheinungen in meinem Körper zu äußern, und fing an von neuen einen Weg zu suchen, aus der Einsamkeit, und w o möglich in solche Umstände zu kommen, die mir Gelegenheit verschaffen könnten, eine Reise zu thun, um wenigstens nicht beständig angeheftet zu seyn.« ,6

' Vgl. aus Franckes späterer, Dresdner Zeit das Schreiben vom 3 0 . 1 2 . 1 7 7 0 an Fritsch, zit. nach Henning, Aus dem Leben und Wirken Johann Michael Franckes, S. 294: »Ich spühre auch, daß die mehrere Thätigkeit, in der ich ietzo lebe, meiner Gesundheit zuträglicher ist, als die allzugroße Ruhe in Nöttnitz.« Vgl. auch ebd. S. 2 7 6f. 166 Rez. von: Winkelmanns Briefe an seine Freunde, Erster Theil, mit einigen Zusätzen und litterarischen Anmerkungen herausgegeben von Karl Wilhelm Daßdorf, in: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 104. Stück, 30. August 1777, S. 826. 167 WB 374 an Barthélémy, 13.9.1760, II S. 99: »[. . .] pendant 8 années entieres (les plus beaux années de ma vie) j'étois obligé /:invita Minerva:/ de lire les vieux Chroniques, et les Annales des Modernes, les Bollandistes, les autres Vies des Saints, d'examiner les anciens Diplomes, confronter leurs dates, et ramasser et rediger en ordre des matériaux pour l'histoire de l'Empire, dont M. le Comte de Bunau a publié 4 Tomes en 4° en Allemand. Combien de tems perdul quelle perte irreparable! J e restai enfoncé pendant tout ce tems dans la solitude de la Campagne, ou est la fameuse Bibliothèque Bunavienne, après avoir été 7 ans avant Maitre d'école dans une petite Ville du Brandenburgois«. 88

C'étoit alors quand je venois à Rome, que j'entrois, pour ainsi dire au monde comme un enfant nouvellement né: la longue solitude de 15 années m'avoit rendu presque insociable. C'étoit alors, Monsieur, que je Vous ai vu plusieurs fois chez Mr. le Card. Passionei, qui après quelque tems me recevoit dans sa Confrerie: mais devenu taciturne et craintif je n'osois Vous aborder. Unter diesen Umständen sei es fast ein Wunder, »s'il m'est resté quelque etincelle de goût et de sentiment«.' 68 Eine zusammenfassende Bemerkung bekräftigt das Panorama einer Bildungsschicht, welcher der Z u g a n g zu einer eigenen Geschmackskultur, insbesondere auch die fürstliche Förderung versagt bleibt: 1 6 ' Mein Brodt kann ich, wenn der Graf sterben sollte, auf keine anständige Art verdienen, da ich keine eintzige fremde Sprache reden kann. Keinen Schuldienst mag ich nicht, zur Universität tauge ich nicht, mein Griechisch gilt auch nirgend. Wo sind Bibliothecair-Stellen?'7" Während jedoch weder Reiske noch Gottsched, Bielfeld oder Loen die kulturelle und soziale Dominanz des H o f s , der französischen Vorbilder und der geschmacksunkundigen Gelehrsamkeit überwinden, bricht Winckelmann diesen Rahmen auf. Sowohl das Bekenntnis zur Kunstwissenschaft als auch die »theologische« Begründung der Konversion verweisen auf einen vorrangigen Bildungsanspruch des Subjekts, in dem sich zugleich das Allgemeininteresse verwirklicht. 1 7 ' Als »Liebe zu Wissenschafften« geht die 168

Ebd. Vgl. dazu auch WB 83 an Walther, [23.6.1752], I S. 113: »Bey Hofe wird so mancher Müßiggänger ernähret und ein Mensch, den man gebrauchen kann, kann nicht erhalten, nur auf ein Jahr nach Rom zu gehen.« 170 WB 99 an Berendis, [12.7.1754], I S. 144. In seinem Bewerbungsschreiben 51 an Bünau, [16.6.1748], I S. ηηί stellt Winckelmann die Aussicht auf eine Beschäftigung in der Bibliothek des Grafen als Chance auf fürstliche Förderung dar. In dem den »belles-lettres« feindlichen metaphysischen Zeitalter bestehe keine Aussicht auf eine Universitätslaufbahn. »On ne compte rien à présent sur la Littérature grecque, à laquelle je me suis adonné autant que j'y puis penetrer dans la cherté et disette des bons livres. Peu de jeunes gens s'appliquent à l'étude de la langue Italienne et Angloise, et on ne manque pas de Maîtres. La langue Anglo-Saxone est un champ sterile à labourer. L'Histoire ne se peut profiter sans permission, et toutes nos Académies fourmillent de jeunes Savans qu'on voit paroître sur le théâtre avec un port des bras pour établir les principes de la Philosophie, revetûs de la dignité du Maître, afin qu'on ne s'y peut ingerer. Que reste-t-il a faire? Je ne trouve ressource qu'à avoir recours à la grace d'un des plus grands hommes du Siècle, dont l'humanité, qu'il fait éclater de tous les traits de ses écrits immortels, nous inspire une si haute idée, qu'on ne se peut dispenser d'en esperer bien.« 169

,7

' WB 88 an Berendis, [6.1.1753], I S. 120: »Eusebie und die Musen sind hier sehr streitig bey mir: aber die Parthey der letzten ist stärcker. Die Vernunft, die das Gegentheil in solchem Fall thun sollte tritt derselben bey. Sie ist bey mir der Meinung, man könne aus Liebe zu den Wißenschafften über etliche Theatralische Gaukeleyen hinsehen: der wahre Gottesdienst sey allenthalben nur bey wenigen 89

(pedantische) Gelehrsamkeit nunmehr in einen Weg der Geschmacksbildung über; der Gelehrte, der seinem »Triebe« nicht »wiederstehen« 172 kann, verwandelt sich in den Kunstkenner. Im Sinn dieses Subjektivierungsprozesses fallt »der wahre Gottesdienst«, der »allenthalben nur bey wenigen Auserwählten in allen Kirchen zu suchen« 17 ' sei, mit der »Kenntniß der Mahlerey und Alterthümer« zusammen. 174 In der von Winckelmann reflektierten Wahl von Rom anstelle von Paris als Reiseziel 17 ' deutet sich schon hier eine Vorstellung von Teilhabe am »grand monde« an, die nicht auf gesellschaftlichen Fähigkeiten fußt, sondern auf der Kompetenz des kontemplativ gewonnenen ästhetischen Urteils: Gott und die Natur haben wollen einen Mahler, einen großen Mahler aus mir machen, und beyden zum Trotz sollte ich ein Pfarrer werden. Nunmehro ist Pfarrer und Mahler an mir verdorben. Allein mein gantzes Hertz hänget an der Kenntniß der Mahlerey und Alterthümer, die ich durch fertigere Zeichnung gründlicher machen muß. Hätte ich noch das Feuer, oder vielmehr die Munterkeit, die ich durch ein heftiges Studiren verlohren, ich würde weiter in der Kunst gehen. 1 ' 6 Die in eine Perspektive ästhetischer Bildung gewendete »Liebe zu Wissenschafften« beschreibt Winckelmann selbst zugleich als »Liebe zur Veränderung«; der Entschluß zur Konversion und zur Romreise wird zur Überschreitung nicht nur geographischer, sondern auch kultureller und sozialer Grenzen: »Man muß die gemeine Bahn verlaßen, sich zu erheben. Die WeiAuserwählten in allen Kirchen zu suchen.« Eine Untersuchung des Brief unter religionsgeschichtlichen Gesichtspunkten ist im gegebenen Zusammenhang nicht angezeigt. Vgl. dazu etwa Düppengießer, S. 444-447, der erklärt, Winckelmanns »Glaubens-Bekänntniß« (WB 88 an Berendis, [6.1.1753], I S. 121) sei »ein aus vielen Quellen geschöpftes Konglomerat aus philosophischen und theologischen Ideen« (S. 446Q, und Rüdiger, Winckelmanns Persönlichkeit, S. 27, der die pietistische Herkunft von Winckelmanns Bekenntnis betont. Die kritische Dimension von Winckelmanns Auseinandersetzung mit der Offenbarungsreligion, die »ihre Überzeugung nicht durch den todten Buchstaben, sondern durch göttliche Rührungen [erhalte], die ich, wie vielen Gläubigen geschehen, willig auch an mich in stiller Anbethung erwarte« (WB 88 an Berendis, [6.1.1753], I S. 121), ergibt sich etwa aus der Ordnungsfunktion, die die moralischen Wochenschriften der Offenbarungsreligion zuschreiben, und aus den Befürchtungen, die sich mit den »Freigeistern« verbinden; vgl. Martens, Die Botschaft der Tugend S. 187-193. WB 88 ari Berendis, [6.1.1753], I S. 119. "> Ebd. S. 120. Ebd. S. 1 1 9 . - Von hier aus wäre zu überlegen, ob die Konversion nicht erst in zweiter Linie als das von Rehm vermutete lebenslange Trauma (WB I, Einleitung S. I3f, 17, 28f) und stärker als äußeres Zeichen in einem Säkularisationsprozeß zu deuten ist, der die »moderne« Kunstbetrachtung erst freisetzt. WB 88 an Berendis, [6.1.1753], I S. 119: »Du würdest dazu nicht Rom zu erst wählen, und ich vielleicht auch nicht, wenn ich meinem Triebe wiederstehen könnte.« 176 Ebd. 174

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sen des Alterthums durchzogen unzählige Länder, Wissenschafften zu suchen.« 177 Die frühe Winckelmann-Rezeption hat, zum Teil mißbilligend, das Transzendierende als festen Bestandteil in die Winckelmann-Biographie aufgenommen. Die Reiselust bestimmt das zeitgenössische WinckelmannBild mit. Uden berichtet, sein »unruhiger Geist« habe ihn auch in Rom nicht ruhen lassen;17® Huber notiert sein »désir de voyager«, 179 Paalzow die »Lust, fremde Oerter zu sehen«.' 80 Genzmer führt zweimal das Urteil des Berliner Rektors Bake an, der Winckelmann als »homo vagus et inconstans« charakterisiert; dies sei »er in seinem ganzen Leben geblieben; denn sein Treiben war wie das Treiben Josua [?], kurz, ein rechter Wuschekopf (at sibilo).«1*1 Walther befaßt sich ausführlich mit Winckelmanns Reiselust, »Unbestendigkeit« und »edlen Unzufriedenheit, die ein Beweis von der Größe seiner Sele ist«, 182 während Gurlitt »die natürliche Unruhe seines Geistes« hervorhebt. 18 ' Dem Stichwort der »Unruhe« widmet auch Goethe in seiner Winckelmann-Schrift einen eigenen Abschnitt. 184 Berendis' Einwände gegen die »Liebe zur Veränderung«, die aus Winckelmanns Brief erschlossen werden können, 18 ' weisen auf die Tradition der Reisekritik, die moralische Vorbehalte gegenüber dem Reisen geltend macht; 186 darüber hinaus deuten sie auf den möglichen disziplinierenden Sinn des »Ruhe«-Begriffs, der oben angedeutet wurde.' 87 Es wird zu zeigen sein, daß Winckelmann das gelehrte otium nicht durch die Vorstellung der »Unruhe« großer Gesellschaften ersetzt, sondern — aus den gelehrten Traditionen heraus — den »Ruhe«-Begriff WB 88 an Berendis, [6.1.1753], I S. 119; vgl. ebd. den vorhergehenden Absatz: »Erinnere Dich aber itzo, mein Bruder, daß Du es an keiner Vorstellung gesparet, mich in Seehausen zu behalten: es war fast nicht weniger gewagt, als nach Rom zu gehen. Ich war mir selbst nicht unbekannt: ich wußte, ich hatte nichts, was großen Herren gefallen konnte; sola virtute armatus gieng ich zuversichtlich aus meinem Vaterlande. Gott ließ mir Gnade vor den Augen meines Herren finden.« ' " W B X04 Uden, IV S. 171. "» WB 105 Huber, IV S. 172. 1,0 WB m Paalzow, IV S. 183; vgl. auch ebd. 108 Boysen, S. 178: »Einen guten Theil der Zeit hat er mit Reisen zugebracht«. ' ' ' W B 177 Genzmer an Nicolai, 1.8.1768, IV S. 308 mit Anm. f); vgl. auch 106 Genzmer an Ballenstedt, [Sommer] 1768, IV S. 173. ""Walther, S. 1 1 - 1 3 . ''> Gurlitt, S. 379; vgl. auch ebd. S. 385. " 4 Goethe, Werke Bd. 12, S. 126-128. l!) WB 88 an Berendis, [6.1.1753], I S. 119: »Ich gebe mich gerne einer Liebe zur Veränderung schuld, die Du mir nur gar zu oft in allen Deinen Briefen vorwirfst.« Vgl. dazu Stagi, Die Apodemik oder »Reisekunst« als Methodik der Sozialforschung vom Humanismus bis zur Aufklärung, S. I42f; vor allem die Formulierung »homo vagus et inconstans« schließt noch die Kritik am »vagari«, dem Umherschweifen, ein. " ' V g l . oben 2.1.2. 9«

selbst dynamisiert und damit eine Wissenschaftspraxis reklamiert, welche die vorgefundene soziale Ordnung transzendiert. 188 Winckelmanns Brief an Berendis hebt die Konversion und das Projekt der Rom-Reise als den Punkt hervor, an welchem die »gelehrte« ästhetische Individualbildung an der griechischen Kunst und Literatur sich normierenden Zugriffen entzieht und sich von uneinholbaren Vorbildern löst. Dem entspricht die Bekenntnisstruktur des Briefs; sie kennzeichnet eine Überwindung auch der epistolographischen Geschmackskonventionen, denen sich die deutschen Programmatiker des »guten Geschmacks in Briefen« im Vergleich mit den Höfen und der französischen Kultur nicht gewachsen sahen, und schließt den Blick auf eine aus gelehrter Perspektive entwickelte und von den Gebildeten getragene Kultur ein. Die Reihe der Nöthnitzer Berendis-Briefe, die den Komplex der Romreise behandeln, dient nach Winckelmanns wiederholten Bekundungen dem Bekenntnis und der Beratung im freundschaftlichen Kontext. Das Schreiben vom 6. i. 1753 kommentiert Winckelmann mit der Beteuerung, er habe darin »meine Meinung, wie es mir ums Hertze ist, geschrieben«.' 89 Vor allem im Brief vom 13. April 1753 artikuliert er wiederholt das Bedürfnis, vor der endgültigen Entscheidung Rat und Zustimmung von Berendis und Bünau einzuholen: »Wenn ich Dich nur gesehen, mein Freund! und den Herren gesprochen, alsdenn will ich mich dem Strohm überlaßen.«' 9 ° Das nicht zustande gekommene persönliche Gespräch hätte die Korrespondenz ersetzen sollen. 1 ' 1 Jedoch verdankt sich der Berendis-Brief weder der unmittelbaren Umsetzung einer psychologischen Krisenlage in die literarische Form, noch konstituiert er ein exklusives Freundschaftsgespräch. Der an Berendis adressierte scheinbar intime Freundschaftsbrief wendet sich nämlich zugleich an Richter, S. 739—741, hat dargestellt, daß sich in Winckelmanns Reiselust die Opposition gegen soziale und wissenschaftliche Normen konzentriert; zur Interpretation des Briefs vom 6 . 1 . 1753 vgl. ebd. S. 744. Vgl. auch Maek-Gerard, S. 26. Z u Winckelmanns Begriff der »Ruhe« vgl. vor allem unten 3.3. ,8 ' W B 89 an Berendis, [3.4.1753], I S. 123. •90 W B 95 an Berendis, [ 1 3 . 4 . 1 7 5 3 ] , I S. 1 3 ; ; vgl. auch ebd. S. 134: »Freund! ich hoffe Dich noch hier zu sehen. Ja, mein Freund! in Dahlen hoffe ich Dich, ja Deine Füße zu küßen, und mich zu meines Herrn Füßen zu werffen.« — »Göttlicher Freund ich muß Dich sprechen: ich muß die Knie des gnädigen Herren umarmen. E r muß mir seinen Seegen ertheilen. Ich thue den letzten, den entscheidenden Tritt nicht, bevor ich ihn gesprochen.« — Ebd. S. 137: »Wollte Gott! D u wärest Herr und Freund zugleich in einer Person, und könntest aufbrechen nach Deinem Gefallen, ich wollte gerne etwas von Deinen Reise-Kosten tragen.« •9· W B 102 an Berendis, [ 1 7 . 9 . 1 7 5 4 ] , I S. 1 5 of: »Ich habe Dein Schreiben aus Altenburg durch den Tafeidecker den i4ten dieses erhalten, aber ich betheure bey unserer Freundschafft, daß ich keine Zeile von Dir aus Rudolstadt gesehen. Ich konnte nicht begreiffen, wie Du mich in einer mir so wichtigen Sache ohne Antwort laßen können, und ich bin sehr unruhig über den Verlust dieses Briefes.«

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Bünau, auf den hin Winckelmann die Wirkung seiner Darstellung konzipiert hat. E r beabsichtige, dem Grafen »meine Meinung indirecte selbst zu eröffnen«: Wenn ich nun vorher des Hrn. Nuntii völlige Erklärung gehöret und wegen der Bestallung und Reise-Gelder Richtigkeit sähe, welches ich Dir umständlich melden werde, alsdenn solltest D u dem Hrn. Grafen gantz weitläuftig eine Eröffnung davon machen, und ihm, um Dich zu debarrassiren, Deinen Brief zeigen, damit er die Sache in Ruhe und Faßung überdencken könne. [. . .] Überlege alle Worte in demselben, und was D u anstößiges findest, das schreib mir. 1 ''

Das auf Bünau zugeschnittene Kalkül schließt sogar den Verzicht auf Formstrenge ein, der dem freundschaftlichen Ton entspricht: »Ich hätte mich ordentlicher noch gefaßet, allein er möchte es mercken, daß er aufgesetzt sey, ihm den Brief zu communiciren.«' 95 Mit wiederholten Bekundungen der Dankbarkeit gegenüber Bünau und der Sorge über seine Reaktion reflektiert der Brief vom 6 . 1 . 1 7 5 3 selbst die Existenz eines zweiten Lesers.' 94 Im Freundschaftsbrief an Berendis findet die Gefühlslage des Autors nicht unmittelbar Ausdruck.' 9 ' Vielmehr zeigt sich Subjektivität als Moment eines literarischen Reflexionsprozesses und wird zum Beglaubigungsmittel im Rahmen vorsichtigen »politischen«, hofgemäßen Verhaltens,' 96 den sie zugleich aufbricht. In dem Bekenntnisbrief, der nach Anerkennung über den direkten Adressaten hinaus verlangt, verbirgt sich bereits das Konzept einer Überwindung der Situation der Gebildeten in der individuellen Selbstentfaltung als gesellschaftsstiftendem Prinzip. Fassen wir zusammen: Die deutsche Literatur weist eine starke Tradition gelehrter Epistolographie auf, der neben spezifischen Kommunikationszwecken auch ein besonderes Selbstbewußtsein der »gründlichen« Gelehrten entspricht. Auf der Negativseite korrespondiert dieser Gelehrsamkeit die nur langsame Entwicklung einer Geschmackskultur, und zwar auch auf dem Gebiet der Epistolographie, die nur schwer Anschluß an die westeuropäischen Stilentwicklungen gewinnt. In der Beurteilung durch französi' » ' W B 89 an Berendis, 1 1 . 1 . 1 7 5 3 , I S. 1 2 3 . ' " E b d . S. 124. 194

Vgl. W B 88 an Berendis, [ 6 . 1 . 1 7 5 3 ] , I S. 120: »Sage ihm, was ich Dir geschrieben habe. Die Wahrheit soll leben, wie er sie auch anhören möchte.« Vgl. auch den Schlußabsatz des Briefs, ebd. S. 122. ' " In diese Richtung führt Rüdigers Interpretation, der das Schreiben zu einem »der erschütterndsten Dokumente zur Seelengeschichte des modernen Menschen« erklärt (Winckelmanns Persönlichkeit, S. 26). Ihm folgt Düppengießer, S. 434. Vgl. auch noch Jens, S. 61. 156

Die indirekte Information Bünaus läßt sich als »politisches« Vorgehen interpretieren; zum Thema der höfischen Verhüllung und der Kritik daran vgl. etwa Kühlmann, S. 243—254.

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sehe Autoren wie auch im Selbstverständnis der deutschen Gebildeten spielt das Gefalle von Geschmackskultur und »Pedantismus« eine bedeutende Rolle. Zwischen Neukirch und Geliert versuchen die Briefstellerautoren, den Brief als Visitenkarte des guten Geschmacks dem französischen Niveau anzunähern. Bei Geliert deutet sich bereits an, daß zunehmend in einer Individualisierung des Briefstils ein geeigneter Weg zu diesem Ziel gesehen wird. Während also die Gelehrtenepistolographie sich zur wissenschaftlichen Korrespondenz weiterentwickelt, bemühen sich Geliert und andere Literaten seiner Zeit, einen »guten Geschmack in Briefen« einzuführen — und zwar im Sinn einer Privatisierung der Geselligkeitsformen und des Geschmacksbegriffs. Kleine Hinweise kündigen an, daß eine ästhetische Sehweise in den brieflichen Umgang mit Freunden eingeht. Die exemplarische Interpretation eines Nöthnitzer Briefs hat erbracht, daß Subjektivierungstendenzen bei Winckelmann vor dem Hintergrund der Erfahrung kultureller Diaspora diese Entwicklung weiter vorantreiben.

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F R E U N D S C H A F T S B R I E F E UND R Ö M I S C H G R I E C H I S C H E S KUNSTPROGRAMM

3.1.

Franzosenkritik und Gelehrtenkritik als Determinanten der Freundschaftsbriefe

3.1.1.

Rom und Paris — Franzosenkritik und Gelehrtenkultur

Dem bereits im Überblick dargestellten Zusammenhang von Gelehrtenkultur und Franzosenkritik entspricht nicht nur allgemein eine Kritik an den Pariser Moden, sondern speziell auch eine solche an Paris als Hauptziel der Kavalierstouren. Ihr gesellt sich bereits vor Winckelmann eine positive Wertung der Rom-Reise zu. Der politische »Gegensatz zwischen Rom und Paris«, der »sich für die Deutschen schließlich im 19. Jahrhundert« eröffnet, 1 hat eine weltbürgerliche, jedoch auf die Ausbildung eines spezifischen nationalen Selbstbewußtseins bezogene Vorgeschichte im 18. Jahrhundert. Unter umgekehrten Vorzeichen - denen der höfischen Gelehrtenkritik bestätigen Dokumente aristokratischen Selbstverständnisses diese Gegenüberstellung. Eine umfassende Untersuchung literarischer Dokumente zur — im gegebenen Kontext demnach ebenfalls wichtigen — Frankreichreise im 18. Jahrhundert hat Grosser vorgelegt. 2 Winckelmanns Freundschaftsbriefe werden also in diesem Kapitel einem Sonderaspekt des Gesamtkomplexes der Reiseliteratur zugeordnet. Die Reiseberichte des Freiherrn von Pöllnitz (ab 1735) führen exemplarisch vor, wogegen sich der Unmut der Gelehrten und der gebildeten Bürger richtet.' Das Urteil der Oberflächlichkeit, das Tresoldi über Pöllnitz' Schriften fallt,4 wird ihnen als Zeugnissen einer galanten Reisekonzeption allerdings kaum gerecht. Winckelmann, dessen Nachlaß überhaupt auf eine intensive Lektüre von Reisebeschreibungen schließen läßt, hat von den herangezogenen Schriften mindestens Pöllnitz' Memoiren gekannt.' Pöllnitz preist die Größe von Paris und die Anlage, Architektur und Geselligkeit 1 I. Oesterle, S. 577. ' Vgl. für den vorliegenden Zusammenhang besonders Grosser, Kapitel I und II. ' Z u Pöllnitz' Frankreich-Bild vgl. ausführlich Grosser, S. 48—53. Für eine Analyse von Beschreibungen von Parisreisen vgl. auch H.-W. Jäger, Das Frankreichbild deutscher Reisender im 18. Jahrhundert; zum zeitgenössischen Paris-Bild aus französischer Sicht vgl. Jüttner. 4

Vgl. Tresoldi, Bd. I S. 46. ' Tibal, S. 104 verzeichnet ein Exzerpt aus Pöllnitz' »Mémoires«.

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dieser Stadt als Merkmale ihrer spezifischen Urbanität. An der Stadt seien rühmenswert die »Weite ihres Umfanges, die Schönheit ihrer Gebäude, die Menge ihrer Einwohner, das unaufhörliche Ankommen, und der Aufenthalt der Fremden, die Abwechselung und der Uberfluß von allerhand Bequemlichkeiten«. 6 Zur Attraktivität von Paris und damit auch zur genaueren Bestimmung von Pöllnitz' sozialer und kultureller Perspektive trägt die Nähe zum Hof von Versailles bei, an welchem Pöllnitz allerdings bereits fehlende Heiterkeit und den fest geregelten Tagesablauf bemängelt; »wer einen Tag gesehen hatte, der hatte ein Jahr gesehen.« 7 Pöllnitz hebt seine Erfolge in der besten Pariser Gesellschaft hervor und porträtiert sich in seinen Memoiren als galanten Abenteurer: S o lebte ich in Paris. Ich verkehrte in der feinsten Gesellschaft, ich spielte mit ziemlichem Glück, so dass ich mit dem, was ich von Hause bezog, einen fürstlichen A u f w a n d machen konnte. Alle Tage machte ich neue Bekanntschaften, welche mir neue Vergnügungen verschafften [. . .].*

Zusammen mit der Stadtansicht und dem gesellschaftlichen Leben betonen auch die zivilisatorischen Vorzüge — etwa »Die Nacht-Laternen, welche neun Monath im Jahr angezündet werden« 9 - den Modernitätsaspekt von Paris. Im Sinn aristokratisch-galanter Stadterfahrung und vor dem Hintergrund des in der »Querelle des Anciens et des Modernes« begrifflich entfalteten Modernitätsbewußtseins stellt Pöllnitz Paris als »die vornehmste«, 10 »die erste Stadt der Welt«" dar und spricht von ihr »nicht als von der grösten, sondern als von der schönsten in Europa.« 12 Der Hinweis auf die kulturell-politische Hauptstadtfunktion von Paris, das man »nicht ohne Grund, als die Zierde, die Seele und die gantze Stärcke des Französischen Reiches« betrachte, 1 ' sowie der Wunsch, »meinen beständigen Auffenthalt hier zu nehmen«, 14 lassen als Hintergrund des Lobs auf Paris den Vergleich mit Deutschland erkennen. Wie zu zeigen sein wird, bezeichnet es demgegenüber eine grundlegende Umwertung, wenn Winckelmann, schon vorliegende Ansätze ausbauend und gefolgt von Goethe, 1 ' Rom zur »Hauptstadt der Welt« erklärt.' 6 6 7 8 9

Des Freyherrn von Pöllnitz Neue Nachrichten, S. 270. Memoiren des Baron von Pöllnitz, S. 68. Ebd. S. 82.

Des Freyherrn Des Freyherrn " Memoiren des " Des Freyherrn Des Freyherrn 10

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von Pöllnitz Brieffe, S. 426. von Pöllnitz Neue Nachrichten, S. 270. Baron von Pöllnitz, S. 64. von Pöllnitz Brieffe, S. 426. von Pöllnitz Neue Nachrichten, S. 270.

Des Freyherrn von Pöllnitz Brieffe, S. 4 4 1 . Goethe, Italienische Reise, Werke Bd. 1 1 S. 144; vgl. Beller S. 36. Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst, S. 2 1 , in: Kunsttheoretische Schriften Bd. X .

Im Gegensatz zu Paris ordnet Pöllnitz Rom eher der Vergangenheit zu. E r notiert die mangelnde Gesellschaftskultur und das fehlende gesellige Divertissement in Rom: Kein Fremder könne »seine Zeit allhier vergnügt« zubringen;' 7 »unter tausenden« finde sich kaum jemand »von gutem Herkommen«. Pöllnitz rügt »die Unanständigkeit im Eßen« und die »Unsauberkeit« der Kleidung.' 8 Es scheint, daß gerade die mangelnde Zivilisiertheit Italiens, die in anderen Reisebeschreibungen durch Hinweise auf die Unsicherheit der Straßen und das betrügerische und impulsive Wesen der Italiener zusätzlich betont wird,' 9 später im 18. Jahrhundert in das positive Bild italienischer Naturnähe eingeht. Die Bereitschaft der Italienerinnen, sich auf die französische Sprache einzulassen, ist nach Pöllnitz gering. Z w a r seien viele Frauen des Französischen mächtig, »allein sie wollen solche entweder aus Furchtsamkeit, oder aus purem Eigensinn nicht sprechen«.20 Verdeckt spricht aus Pöllnitz' Ausführungen bereits die Differenz zwischen beschleunigter Zeiterfahrung in Paris und römischer Ruhe. Die Stille, die Anwesenheit zahlreicher schwarzgekleideter »Cardinäle, Prälaten und Aebte« und die sparsame Beleuchtung während einer Soirée - »alles dieses gibt der Gesellschaft das Ansehen solcher Personen, die einen Todten bewachen; ja ich versichre sie, daß mir kein Kirch-Hof daß Andenken meiner Sterblichkeit mehr zu gemüthe führen könte.« 21 Auch ein feierlicher Auftritt des Papstes in der Öffentlichkeit »scheint viel prächtiger in der Beschreibung, oder in den Kupffer-Stichen, die man davon gemacht hat, als er in der That ist«, und sehe »einem Fastnachts-Aufzug ziemlich ähnlich«. 22 Das Fehlen einer mit Paris vergleichbaren Gesellschaftskultur nimmt Winckelmann als zentrales Motiv in seine Orientierung an Rom auf. Bei Pöllnitz führt es zu der Einsicht, »die Lebens-Art zu Rom« stehe ihm nicht an. E r sieht daher »voraus, daß ich meine Zeit daselbst verdrießlich zubringen werde.« 2 ' Erst recht präsentiert sich das römische Stadtbild als vergangenheitsbezogen. Pöllnitz hebt hervor, daß der Glanz des alten Rom verloren sei (dieses Urteil dehnt sich auch auf die neuzeitliche Architektur aus). 24 Mit 11

Des Freyherrn von Pöllnitz Brieffe, S. 252. " Ebd. S. 253. 19 Vgl. etwa Klaute, Vorbericht (unpaginiert). " Des Freyherrn von Pöllnitz Brieffe, S. 248. " Ebd. S. 251. Zum Thema I. Oesterle. " Des Freyherrn von Pöllnitz Brieffe, S. 22;. '> Ebd. S. 246. !4 Vgl. ebd. S. 1986 »Man rühmet allhier viele Pallaste aus vorgefaßter Einbildung, daß die Regeln der Bau-Kunst vor andern an hiesigen Gebäuden beobachtet wären. Dieses mag auch wohl wahr seyn, wenn man auf die Zeiten Sixti des V . Urbani des V I I I . welche sich die Verbesserung der Stadt R o m zum höchsten angelegen seyn ließen, zurück gehet. Dieses aber geschiehet heut zu Tage nicht mehr, nachdem die allzu-schläfrichen Päbste nichts mehr bauen lassen. Ich kan sie versi-

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seinem Rom-Bild erfaßt er ein Moment zeitgenössischer römischer Wirklichkeit, 2 ' das Winckelmanns Rom-Apotheose als literarische Leistung greifbar werden läßt: Wiewohl nun nicht zu läugnen, daß Rom eine der schönsten Städte in der ganzen Welt sey, so ist es doch keineswegs dasjenige mehr, davon wir so prächtige Beschreibungen in denen alten Geschichten lesen; und findet man kaum noch einige Überbleibsel darinne von dem, was sie vor Alters gewesen. Dem ohnerachtet muß man doch einmüthig bekennen, daß viele vortrefliche Kunst-Stücke, so man nirgends in der Welt mehr antrift, hier zu finden sind, und ist keinesweges irgend etwas mit denen Kirchen, Wasser-Künsten und verschiedenen Pallästen zu vergleichen.'6 Pöllnitz steht mit seinem Urteil über R o m nicht allein. Huyssen referiert in seiner »Curieusen und vollständigen Reiß-Beschreibung« ( 1 7 0 1 ) aus »La R o m e Ridicule« von Saint-Amant 27 (1635), der neben A n g r i f f e n auf die heidnische Vergangenheit, auf Sittenverfall und Unsauberkeit in Rom 2 8 die Ansicht vertrete, die antiken Denkmäler »stünden nur da zum Zeitvertreib der Gecken und Pedanten/ welche gern vor curieuß wollten angesehen seyn.« 2 ' A l s Motiv für eine Reise nach R o m läßt Pöllnitz daher die Absicht gelten, Kenntnisse in der Baukunst sowie in den bildenden Künsten zu erwerben »und sich eine rechte und eigentliche Vorstellung von der Pracht des alten Roms« zu machen.' 0 Jedoch solle ein junger Reisender R o m alsbald wieder verlassen: »Ein fremder Cavalier wird hier leichtlich die geschickte A r t zu Leben verlieren, die er in Frankreich oder sonst an sich genommen«.' 1 Pöllnitz überläßt R o m der antiquarischen Gelehrsamkeit, während Paris als Metropole der galanten Gesellschaftskultur erscheint. Wohl zu Recht würdigt Schudt Pöllnitz im Vergleich mit anderen deutschen Reisenden — unter ihnen Keyssler — als Weltmann mit Urteilsvermögen und stilistischer Eleganz.' 2 Auch dies wirft ein Licht auf den schwierigen Weg der nichtadligen Bildungsschichten zu einer eigenen Geschmackskultur.

ehern, daß man alleweil in Frankreich viel besser als in Italien bauet, vornehmlich was die Anlegung der Zimmer betrift, davon die Italiäner sehr wenig Käntniß haben.« 15 Vgl. Miller, Archäologie des Traums, S. i o ; - i i 6 ; Günther, S. 68. ''' Des Freyherrn von Pöllnitz Brieffe, S. i47f. 27 Die früheste im Catalogue générale des Livres imprimés de la Bibliothèque Nationale verzeichnete Ausgabe: Marc-Antoine de Gérard, sieur de Saint-Amant: La Rome ridicule, o. O. 1645. Huyssen (Zweyter Theil, S. 569) gibt als Erscheinungsjahr 1633 an. " Huyssen, Zweyter Theil, S. 370-373. Ebd. S. 369. Des Freyherrn von Pöllnitz Brieffe, S. 252. " Ebd. S. 253. >' Schudt, S. 74-77. 98

Im Gegensatz zu Pöllnitz legt Keyssler (1740/41) Wertmaßstäbe an, die Winckelmanns reisepädagogische Stellungnahmen vorbereiten." E r verpflichtet die Reisenden auf die »Wissenschaften«, um gleichzeitig die Versuchung durch lasterhafte Vergnügungen abzuwehren — ein traditionelles Motiv der Reisekritik. 34 Allgemein dokumentiert Key sslers umfangreiches Werk die wachsende Bedeutung des Reisens und die steigenden Anforderungen an eine systematische Bildung. Über technische Aspekte des Reisens — auch nach Italien — gibt das von Krebel zusammengestellte Kompendium Auskunft." Keyssler schaltet sich in Versuche ein, die Kavalierstour in Richtung auf eine »nützliche« Studienreise zu korrigieren' 6 und revidiert dabei die Rollenverteilung zwischen Rom und Paris. Seine Kritik am »liederlichen« Wesen der Franzosen wertet die primär gesellschaftlichen Fähigkeiten ab, denen die Reise nach Paris gilt 37 und die sich in der Kunst der gewandten und geistreichen Konversation ausprägen. Das Plädoyer gegen Paris ist zugleich ein Exempel gelehrter Galantismuskritik: Die Anzahl derjenigen ist nicht geringe, welche nicht lieber vor weniger tugendhaft, als weniger scharfsinnig in Discursen paßiren wollen. Junge Reisende finden solche Dinge so schön, daß sie meynen, dieses seye vornemlich die Artigkeit, welche sie aus Frankreich holen sollen, und unterscheidet man auch in Rom diejenigen gar bald, so von Paris kommen, gleich wie man den Vogel an dem Gesang erkennet.'8 Die Paris-Kritik aus der Perspektive »ernsthafter« Gelehrsamkeit, die auch die Position Keysslers mitbestimmt, wird ebenfalls von dem Benediktinerabt Martin Gerbert aus St. Blasien in seinen zuerst lateinisch erschienenen »Reisen durch Alemannien, Welschland und Frankreich« (1767)' 9 vorgetra" Darauf, daß schon Keyssler und Huyssen Rom als Reiseziel favorisieren, hat Sauerland, S. 563 aufmerksam gemacht (ohne jedoch näher auf die damit zusammenhängende kulturgeschichtliche Problematik einzugehen). Zu Keysslers reservierter Haltung gegenüber der Frankreich-Reise vgl. Grosser, S. 72-76. 14 Vgl. Laermann, S. 57Ç Elkar, S. ; i(. " Vgl. Krebel, Teil 1, S. 859F für eine Entfernungstabelle für die Strecken zwischen Venedig und Rom; S. 889-891: Informationen über Unterkünfte, Münzsorten und Reisekosten in Italien. Demgegenüber enthält das Werk nur summarische Aufzählungen der wichtigsten Sehenswürdigkeiten; zu Rom vgl. etwa S. 879-888. ' 6 Vgl. dazu allgemein Stagi, Der wohl unterwiesene Passagier, S. 368-371. !7 Vgl. etwa Röbel, S. i7f. Vgl. auch G. Oesterle, Urbanität und Mentalität, S. 60. Noch Hirzel (1895) nimmt die traditionelle Kritik an der Verbindung von Konversationskultur und Oberflächlichkeit in Frankreich wieder auf; vgl. zweiter Teil, S. 412, 418; 44if; jedoch habe speziell auch Winckelmann zu einer aufklärerischen Konversationskultur in platonischer Tradition beigetragen (ebd. S. 430). Zur antipedantischen Konversationstheorie der französischen Klassik vgl. Henn-Schmölders, v. a. S. 23f. " Keyssler, Bd. II S. 38. " V g l . die bibliographischen Hinweise bei Tresoldi, Bd. I S. 5if. Zu Gerbert vgl. Grosser, S. 137. 99

gen. Gerberts Reisewerk konzentriert sich ausschließlich auf die Welt der Gelehrten und auf bibliothekarische Informationen; es versteht sich — ähnlich der Korrespondenz von Johann David Michaelis — als Beitrag zur Historia litteraria. Der Vorbericht des Ubersetzers nennt als »Gegenstände« der Reise »die alten Urkunden und Denkmäler in denen Büchersälen und Schriftenkammern«, soweit sie Liturgiegeschichte und Kirchenmusikgeschichte betreffen. 40 Die Allgemeine Deutsche Bibliothek urteilt daher, man müsse aus den spezifischen Forschungsabsichten die in gegenwärtiger Reisebeschreibung enthaltenen Nachrichten beurtheilen, die sich von den gewöhnlichen Reisebeschreibungen freylich sehr weit unterscheiden, aber desto beträchtlicher sind, je mehr Gelegenheit der Hr. Verfasser gehabt, gelehrte Schätze zu sehen und zu nutzen, welche nicht einem jeden geöfnet zu werden pflegen. 4 '

Gerbert führt im Zusammenhang mit der Darstellung seines Paris-Aufenthalts aus, die »flüchtige Gemüthsart der Franzosen« habe »schon fast einen Eckel« an »einer gründlichen Gelehrsamkeit«; die Franzosen seien »mehr von einem zärtlichen als gründlichen Geschmack in der Auswahl und Uebung der guten Künste«, weshalb die »Buchdrucker und Buchhändler« lieber »die liederlichen und nichtswürdigen Dinge, die nach der Neigung und Gemüthsart ihrer Landesleute eingerichtet sind, in Verlag und Kosten nehmen wollen«. Hingegen genössen diejenigen, »welche ihre Bemühungen auf ernsthaftere Dinge richten«, nur eine geringe Beachtung. Auch werde die lateinische Sprache, »welche die gelehrte Welt jederzeit als ihre eigenthümliche verehret hat, gegen der französischen, die doch nur ein Findelkind der lateinischen ist, verachtet und vernachlässiget.« 42 Gegenüber der Schülerrolle der deutschen Kavaliere auf dem Weg in das »lasterhafte« Paris sucht der Gottsched-Kreis nicht nur die gelehrten, sondern auch die spezifisch literarischen Eigenleistungen der Deutschen geltend zu machen. Die Kritik an der traditionellen Parisreise ist hier Teil der allgemeinen Auseinandersetzung mit der Franzosennachahmung. Die »Herren Hofmeister und ihre Untergebenen« seien nach Paris gezogen, um »reiten, fechten und tanzen, sonderlich französisch spielen, singen, pfeifen, fluchen und schweren zu lernen.«45 Sie hätten daher nicht von der Parisreise als Bildungserfahrung profitiert:

40 41

42 41

Gerbert, Vorbericht des Übersetzers, unpaginiert. Allgemeine Deutsche Bibliothek, Anhang zu dem ersten bis zwölften Bande. Zweyte Abteilung, 1 7 7 1 , S. 839^ Gerbert, S. 460t. Rezension von: Fables & Contes. A Paris 1754, in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1755, S. 217. Die Rezension stammt laut GottschedBibliographie, Ausgewählte Werke Bd. 12, S. 165 von Gottsched selbst.

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Roh, in allem was die Ehre ihres Vaterlandes betraf, reiseten solche Stutzer weg; roh erschienen sie dort, wenn sie bey allem, was sie sahen und hörten, ob es gleich in deutschen Residenzen nicht selten viel besser zu finden war, das Maul aufsperreten; und nicht die geringste Kenntniß davon verriethen. Roh kamen sie auch wieder zurück: weil Leute, die ohne eine vorläufige Erkenntniß der schönen Wissenschaften und Künste in die Fremde gehen, nicht einmal im Stande sind, von dem, was sie sehen, ihren Vortheil zu ziehen.44 In die Nützlichkeitserwägungen und Disziplinierungsabsichten, denen der Rezensent die Kavalierstour unterwirft und in denen er mit Keyssler übereinstimmt, f ü g t sich seine Kritik am Kapitalverlust durch die hohen A u s gaben in Paris ein. 4 ' Die Konventionen der Kavalierstour erscheinen als verantwortlich dafür, daß die Franzosen Deutschland »nur als ein Land voller Juristen und Publicisten an[sehen], die sich um die Rechte kleiner Fürsten, Grafen und Stände v o r den Reichsgerichten herumzankten«, während das Gebiet der »schönen und anmuthigen Gelehrsamkeit« der Deutschen in Frankreich unbekannt bleibe: »Von unsern Rednern, Dichtern, Geschichtschreibern, Schauspielen, Satiren, Eklogen, Liedern, Fabeln, Briefen, Gesprächen u. s. w. haben die Herren Hofmeister und ihre Untergebenen nichts gewußt, folglich, auch nichts davon sagen können.« 4 6 Eine Besinnung auf kulturelle Eigenleistungen soll der Einseitigkeit des Kulturstroms und der Franzosennachahmung entgegenwirken. In diese Bemühungen sind adels- und hofkritische Intentionen verflochten.

44

Ebd. S. 2i6f. Vgl. auch ebd. S. 217: »Dafür haben wir aber auch den Vortheil gehabt, daß unsre jungen Leute als Gümpel hingekommen, und als plumpe A f f e n windigter Stutzer wieder weggezogen.« Vgl. auch: Der deutsche Pariser. Eine Fabel, sowie: Schreiben eines Sohnes an seine Mama, in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1 7 5 1 , S. 611—613. Vgl. etwa auch Grosser, S. 67; 99.

4!

Vgl. Rezension von: Fables & Contes. A Paris 1754, in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1755» S. 216: »An solchen guten Patrioten hat es uns seit Opitzens Zeiten gefehlet: obgleich unzähliche reiche Jünglinge mit ihren Hofmeistern ganze Tonnen Goldes, ja Millionen nach Paris geschleppet und daselbst verzehret haben.« Vgl. dazu A . Meier, Von der enzyklopädischen Studienreise zur ästhetischen Bildungsreise. Italienreisen im 18. Jahrhundert, S. 28;. Ansätze zu einer solchen Reisekritik finden sich auch schon in Leibniz' »Ermahnung an die Teutsche, ihren Verstand und Sprache besser zu üben, samt beigefügten Vorschlag einer teutsch gesinnten Gesellschaft«, in: Der deutsche Staatsgedanke, S. 257: »Ist das, so Land und Leute glückselig machet? Schicket man deswegen junge Leute in die Welt und lasset sie ein groß Teil ihres Erbgutes verzehren? Daß nämlich ein französischer Schneider oder Koch, oder auch wohl gar Chirurgus etwas zu tun bekomme und wir uns auch noch sogar zu Hause narren lassen.« Z u r Unterbindung der Kavalierstouren durch den aufgeklärt-absolutistischen Staat vgl. Conrads, S. ;8f.

46

Rezension von: Fables & Contes. A Paris 1754, in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1755, S. 217.

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Jedoch vermag man in Gottscheds Umgebung der gesellschaftskulturellen und literarisch-künstlerischen Attraktion »Paris« keinen gleichgewichtigen Kunst- und Kulturentwurf entgegenzuhalten. In dieser Hinsicht scheint bezeichnend, daß die Alternative einer Romreise im Umfeld Gottscheds nicht nachzuweisen ist. Vielmehr stimmt die wohl nicht von Gottsched selbst verfaßte Rezension des »Sejour de Paris« von Joachim Nemeitz einer »klug, vorsichtig, und nach einem wahren Vortheile« solcher Reisen konzipierten Paris-Fahrt zu.47 An anderer Stelle plädiert Gottsched überhaupt für eine Eindämmung der schädlichen »Reisesucht«. 48 Erst Winckelmann entwirft Rom als nicht allein moralisches und gelehrtes, sondern auch gesellschaftliches und ästhetisches Gegenmodell zu Paris. Von der (hier nur im Ausschnitt dokumentierten) Kritik an Paris und der Paris-Reise des Adels bleibt im übrigen unberührt, daß diese Stadt stets wissenschaftlicher, kultureller und gesellschaftlicher Anziehungspunkt auch für reisende Bürger blieb. 49 Keyssler hält allerdings das Reiseziel Rom als Gegenentwurf zu Paris bereit; längst vor ihm hatte Huyssen dieses Modell in seine Reiseanleitung eingearbeitet. Huyssen widerspricht dem von ihm referierten »Tractätgen von St. Amand, Rome Ridicule oder das lächerliche Rom genannt«' 0 , und betont, ihm komme »die Stadt Rom so annehmlich vor/ daß ich glaube/ es seye kein Ort in der Welt/ in welchem man mehrere Raritäten sehen/ viele Sachen besser erkennen und sich mehrers ergötzen kan/ als zu Rom.«' 1 Huyssens Reisekonzeption ist auf den Erwerb von Welterfahrung angelegt. Im dritten Teil seines Werks, der eine allgemeine Reiseanleitung enthält, führt Huyssen aus, die »curiosität« eines jungen Reisenden dürfe nicht allein darin bestehen, »daß er die Welt siehet/ und wohl leben lernet/ daß er die leblosen raritäten betrachtet/ und die Gebäue beschauet/ sondern er muß auch die Fürstliche Höfe besuchen/ wann er sothaner condition ist/ daß er 47

Rezension von: Sejour de Paris, Oder getreue Anleitung, welchergestalt Reisende von Condition sich zu verhalten haben, wenn sie ihre Zeit und Geld, nützlich zu Paris anwenden wollen etc. von Joachim Nemeitz, Straßb. 1750, in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1 7 5 1 , S. 6 1 5 . Die Rezension ist nicht aufgeführt in der Gottsched-Bibliographie, Ausgewählte Werke Bd. 12. Z u Nemeitz' Buch als Zeugnis »der alten, kavaliersmäßigen Reiseanleitungen« und zum gesellschaftlichen Bildungsbedarf der adligen Reisenden vgl. Beller, S. 3 0 - 5 3 .

48

Vgl. Gottscheds Kommentar zum Art. Hall (Joseph) in: Bayle, Bd. II S. 7 3 3 ^ der im Vergleich mit dem Reiseverhalten der Engländer — die fiskalisch und moralisch negativen Folgen der Reisen »unserer deutschen Jugend« (die ausschließlich nach Paris führen) zusammenfassend darstellt. Gottsched beruft sich auf die literarische Tradition der Kritik am Reisen und führt unter anderem Muralts Briefe über die Engländer und Franzosen an.

49

Dazu Grosser, S. 130—143. Huyssen, Zweyter Theil, S. j68f.

" Ebd. S. 374.

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an denselben erscheinen darff.« Umgekehrt gilt: »Diejenige aber/ welche allzeit zu Hauß hocken bleiben/ lesen nur ein Blat in demselbigen [dem Buch der Welt]/ und wird jenem plumpen Gesellen gantz ähnlich/ von welchen Plinius schreibet/ daß er nicht mehr als fünff zehlefn] können.«' 2 Die »Curieuse und vollständige Reiß-Beschreibung« räumt deshalb der Darstellung der Zeremonien an der Kurie breiten Raum ein." Huyssens Schrift partizipiert insofern an den in der politisch-galanten Epoche entwickelten pragmatischen Bildungsbegriffen.' 4 In diese Konzeption nimmt der Verfasser aber an zentraler Stelle auch die antiquarische Gelehrsamkeit auf. Rom und Italien, das »doch mehrere Raritäten als Franckreich vorzuzeigen hat«," erhalten - anders als bei Pöllnitz - den Vorzug vor Paris: Alle Künsten und Wissenschafften blühen hier in dem höchsten Grad/ und hat man wegen der Bibliothecen/ Academien/ und des Umganges mit gelehrten Leuten eine grosse Hülffe sich zu exerciren/ und selbige fort zu setzen/ wie wohlen ich gerne bekenne/ daß die jenigen/ welche nur danzen und springen lernen/ mit Damen conversiren/ oder sich in der Fortification und Kriegs-Kunst üben wollen/ viel besser thun/ wenn sie nach Paris gehen.'6

Wenig vorteilhaft fallt ein Bericht aus über »die jenige Begebenheit [. . .]/ so ich mit einem gewissen Frantzosen zu Rom gehabt.« Dieser besitze keine »Wissenschafft« vom Bibliothekswesen und habe sich bei der Besichtigung der »Augustiner Bibliothec« bei dem Bibliothekar erkundigt, »ob nicht die Historie der lustigen Frantzosen/ oder einige andere dergleichen rare Historien-Bücher da zu sehen wären/ wobey er zugleich sein hochvernünfftiges Urtheil von sich hören ließ/ indem er sagte/ daß die übrige Bücher nur vor die pedantische Schul-Füchse gehöreten.«' 7 Keyssler selbst akzentuiert gegenüber der politischen Klugheit den moralischen Aspekt des Gegensatzes zwischen Italien und Frankreich. Rom, die Stadt der Gelehrsamkeit, wird nunmehr zugleich zum Ort der Tugend gegenüber dem lasterhaften Paris. Keyssler verschärft die Distanzierung von der Kavalierstour und den Gesichtspunkt der »Rivalität zwischen Bürgertum und Adel«:' 8 Es haben junge Leute, die auch nur ein wenig Lust zu Wissenschaften bey sich empfinden, in Rom so viele Dinge zu beobachten, daß ihnen die Zeit gar leicht " Ebd. Dritter Theil, S. 91. " Vgl. etwa über Krankheit und Tod Papst Alexanders VIII. ebd. S. 183. H Zur Einschätzung des Reisens als Bildungsinstrument in der galanten Epoche vgl. G. E. Grimm, Literatur und Gelehrtentum, S. 463. " Huyssen, Erster Theil, S. 1. ' ' Ebd. Zweyter Theil, S. 375. " Ebd. S. 367. '' A. Meier, Von der enzyklopädischen Studienreise zur ästhetischen Bildungsreise. Italienreisen im 18. Jahrhundert, S. 28;; vgl. im übrigen ebd. S. 288f.

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vergehet, ohne daß es nöthig ist, darauf zu sinnen, wie sie ihre lange Weile mit debauchen und liederlichen Gesellschaften zubringen wollen. Die Menge der Sachen so man täglich zu besehen hat, giebt gute Gelegenheiten zu nützlichen Unterredungen in Coffé-Hâusern und an öffentlichen Tischen, also das man unflätige Zotten oder auch nur zweydeutige liederliche Reden, welche oftmals vor junge Leute gefahrlicher als plumpe Ausdrückungen sind, in so grosser Menge alhier nicht höret, als in Frankreich."

Darüber hinaus bezieht Keyssler den Gegensatz zwischen Paris und Rom auf denjenigen zwischen Frankreich und Deutschland. Die Opposition von verdorbenen, aber auf dem Feld der Galanterie und des guten Geschmacks nicht eingeholten Franzosen und tugendhaften und gelehrten Deutschen 60 wird auf die Relation von Paris und Rom projiziert. Erkenne man die Paris-Reisenden bald an ihrer »Artigkeit«, so finde man in Rom »vor allem unter den reisenden Teutschen und Schweden« Tischgespräche über Künste und Wissenschaften. 6 ' Damit spricht Keyssler auch für sich selbst und seine Adressaten; das Werk wendet sich an die gelehrten Präzeptoren und Hofmeister der jungen Adligen. 62 Auch Keyssler verbindet aber die im Zusammenhang mit der Kritik an der Kavalierstour konzipierte Rom-Reise nicht mit spezifisch ästhetischen Erfahrungsformen oder einer eigenen Kunstidee. Sein Interesse an Italien ist vielmehr vom polyhistorischen Wissenschaftsbegriff geprägt. Die »junge[n] Cavaliere« können von einer Rom-Reise profitieren in Ansehung der Alterthümer, des bürgerlichen und geistlichen Rechtes, der Teutschen Staats- und Lehen-Verfassung, Profan- Kirchen- und Natur-Geschichte, Mathematic, Mechanic, Bau- und Bildhauer-Kunst, Mahlerey und andern Wissenschaften. 6 '

Ebensowenig läßt sich in Keysslers Rom-Bild ein eigener Gesellschaftsentwurf als Alternative zu Paris und zu den sozialen Gegebenheiten in Deutschland erkennen. Beides begrenzt die Ansätze zur Festigung des kulturellen Selbstbewußtseins der deutschen Gebildeten und zeigt eine gewisse Verwandtschaft mit dem von Gottsched vorgetragenen gelehrten Selbstverständnis. " K e y s s l e r Bd. II, S. 37. Z u m gelehrten Selbstverständnis der deutschen (Rom-) Reisenden (das jedoch nicht mit einem höheren Bildungsstand verwechselt werden dürfe) vgl. Wiedemann, »Supplement seines Daseins«, S. 14. 61 Keyssler Bd. II, S. 38. 6 * Keyssler unternahm seine Reisen als Präzeptor junger Adliger; vgl. Friedrich Ratzel, A r t . Johann G e o r g Keyßler, in: Allgemeine Deutsche Biographie Bd. 15, Leipzig 1882, S. 70z; Grosser, S. 72. Allgemein zum Thema, bezogen auf das Gebiet der apodemischen Literatur: Stagi, Der wohl unterwiesene Passagier, S. 370. 60

6

' Keyssler Bd. I, Vorbericht (unpaginiert); vgl. Grosser, S. 72.

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Winckelmann hat sich bereits in Deutschland mit Keysslers »Reisen« auseinandergesetzt.64 Seine Kenntnis dieses Werks ist auch durch Exzerpte im Pariser Nachlaß nachgewiesen.6' Für Winckelmanns Urteil über Keyssler ist dessen polyhistorischer Wissenschaftsbegriff ausschlaggebend. In einem seiner eigenen reisepädagogischen Entwürfe, dem »Unterricht für die Deutschen von Rom« (Sommer 1759), würdigt Winckelmann Keysslers »Reisen« als »das beste Buch in seiner Art was wir und andere Nationen haben«. Zugleich handle es sich aber um eine pedantische Kompilation, welche die eigene Anschauung der Kunstwerke nicht notwendig voraussetze: aber was es von Rom schreibet hatte er zum theil in Hannover oder in Gartau [?] wißen können, denn er hat die elendesten Bücher als den Mercurius ausgeschrieben: das übrige ist aus dem Munde des Antiquarii gefloßen, welches Leute sind, die nicht viel wißen noch recht wißen können. 66

Winckelmanns Selbsteinschätzung, er könne »Nachrichten geben die wichtiger sind als aus dem Keyßler«,67 entspricht einem Urteil Mosers, wonach erst mit dem auf Keyssler aufbauenden Winckelmann der deutsche Reisende das Lächerliche (des Pedanten) abgelegt habe. Aus Mosers Brief geht hervor, daß sich das Unterlegenheitsbewußtsein der Deutschen auch auf das Gebiet der Reisekultur erstreckt. Der Gegensatz zwischen Keyssler und Winckelmann auf der einen und den der Oberflächlichkeit verhafteten, gesellschaftskundigen »marquis« und »lords« auf der anderen Seite korrespondiert mit der Relation zwischen Rom und Paris. Winckelmanns griechisches Kunstprogramm bezieht sich aus Mosers Perspektive auf die traditionsorientierte (Altertums-)Gelehrsamkeit, führt jedoch über sie hinaus und stellt den Anspruch der deutschen Gebildeten auf kulturelle Eigenständigkeit und Überlegenheit gegenüber den Franzosen und der Aristokratie auf eine neue Grundlage: L e voyageur allemand a été longtemps un objet de satyre de toutes les autres nations, mais mille Keyslers peuvent enfin produire un Winckelman au lieu que mille marquis et lords qui hantent les bonnes compagnies et voltigent sur les superficies, ne produirent un seul grand homme. 68 64

Vgl. W B 64 an Uden [Spätherbst 1749], I S. 95: » E r [Berendis] hat das seltene Glück gehabt in der Suite Ihro Excell. der Gräfin, der Comtesse etc. das berühmte grüne Gewölbe zu sehen, wozu ich vielleicht niemals gelangen werde. E s ist dies der churfürstl. Schatz, und ist weitläuftig beschrieben vom Pöllnitz und Keyßler.«

6i

Tibal, S. 140; 149. W B i b Unterricht für die Deutschen von R o m [Entwurf] S. 13. Vgl. auch G K ' S. 12 (Vorrede): »Keyßlers Reisen sind Werken der Kunst in Rom und an anderen Orten anführet, trachtung zu ziehen: denn er hat dazu die elendesten Bücher

66

6

'WB

[Sommer 1759], I V in dem, was er von nicht einmal in Beabgeschrieben.«

i b Unterricht für die Deutschen von R o m [Entwurf] [Sommer 1759], I V

S . I J . 68

Moser an Thomas A b b t [ 1 7 6 ) Mitte Sept.], in: Moser, Briefe S. 200. 105

Die folgenden Ausführungen betreffen vor allem die Briefe an junge R o m reisende aus der Schweiz und aus Deutschland, in denen sich Winckelmann zur »richtigen« A r t der Romreise geäußert hat. Die Formulierungen, mit denen Winckelmann Paris als Reiseziel ablehnt, schließen an die moralische Paris-Kritik Keysslers und Gottscheds an. Damit beteiligt sich Winckelmann an der Kritik der traditionellen Kavalierstour und an den Versuchen, dem Frankreich-Bild einen eigenen Kulturentwurf entgegenzustellen. »Bey meinen Lebzeiten«, so heißt es im Anschluß an Klagen über den »Schaden«, den verschiedene Franzosen in Preußen anrichten, »werden hier [in R o m ] keine Franzosen gebieten.« 6 ' Einzelne Franzosen bleiben allerdings von der Kritik ausgenommen. 70 — A n den aus R o m abgereisten Berg schreibt Winckelmann: »Der Genius unserer Freundschaft wird Ihnen von ferne folgen bis Paris, und Sie dort in dem Sitze der thörichten Lüste verlassen«. 71 A u f Berg und seinen Begleiter Münnich ist vermutlich eine Bemerkung gegenüber Werthern gemünzt; an dieser Stelle spielt Florenz eine ähnliche Rolle wie Paris: 72 Ich (muß) lache, aber so wie Homerus zuweilen seine Helden in Unmuth lachen läßet über den Vorwand mit welchen sich die beyden Herrn aus Rom loßrißen und wie aus einem in Brand gerathenen Hause flohen. Der zweyte Auffenthalt derselben von 6 Wochen in Flor, hat ( den Begriff) einen gewißen Begriff bey mir sehr gemindert. Im vorigen Jahrhunderte reiseten die Deutschen nur bis Venedig und Padua, itzo wäre es genug, sie nach Florenz zu schaffen: denn was nützet Rom im Traum zu sehen? So wie es von jenen gesehen ist, hatte es in acht Tagen geschehen können. Es war Zeit genug gewesen in Paris eben das zu machen was in Florenz geschehen ist: die Welt ist ja voll von verhurten Weibern auch da wo die lange Weile etwas entschuldiget. (Auch in Hamburg, sagt Liders der Hofmaler zu Petersburg, sind schöne Mädgens.) 7 ' Was in Paris zu lernen sei, diskreditiert Winckelmann in einem Schreiben an L . Usteri als »Narrheit«; im Mittelpunkt stehen dabei wiederum die Fähigkeit der Konversation und die Beherrschung der französischen Sprache als Elemente weltmännischer Bildung. Zusätzlich nennt Winckelmann den Be6

» WB 812 an Stosch, 1 5 . 1 1 . 1 7 6 6 , III S. 220. Vgl. etwa ebd. über Desmarest. 71 WB 488 an Berg, 9 . 6 . 1 7 6 2 , II S. 233. 72 Vgl. auch W B 235 an Margherita Mengs [Entwurf], [Florenz, 2. Hälfte Sept. 1758], I S. 412: »II libertinaggio fra le Fiorentine per quante mi vien detto da quelli che ne vanno praticando e giunto al' ultimo segno e si parla senza verun ritegno di cose che offenderebbero le orecchie caste de' Romani.« Vgl. auch 542 an Riedesel, 18.3. 1763, II S. 296. 7 ' WB 504 [an Graf Werthern (Entwurf)], 28.7.1762, II S. 256. Vgl. auch die Erläuterungen II S. 466.- Vgl. die ähnliche Formulierung in bezug auf den Erbprinzen von Braunschweig in 813 an Schlabbrendorf, 1 0 . 1 2 . 1766, III S. 221: »[. . .] dieser Prinz ist nach einem Auffenthalte etwa von 20 Tagen abgereiset, so wie man aus einer Feuersbrunst entfliehet.« 70

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griff der Mode. 74 Im selben Sinn äußert er sich gegenüber Stosch über eine »französische Bestie aus Leipzig«, eine »Mauvaise melange [. . .] d'un GalIo-Saxon«, die Rom schon nach zwei Tagen wieder verlassen habe, da es dort nur mildes Klima und antike Ruinen, jedoch weder »Soupers« noch Gespür für modische Kleidung gebe.75 Winckelmann zitiert hier jene Position, die von Pöllnitz vertreten wird, und wendet sich damit gegen Erfahrungsinteressen der adligen Reisenden. (Die in diesem Zusammenhang notwendigen Differenzierungen können an dieser Stelle nicht vorgenommen werden.) Winckelmann will den Reiseplan der jungen Kavaliere, wie er sich ihm darstellt, zugunsten eines auf das Studium konzentrierten Aufenthalts in Rom modifizieren. So ist wohl auch zu verstehen, daß er ausdrücklich zur Romreise auffordert und deren Nutzen für die Wissenschaften preist.76 Die in seinem Sinn falsche Reisekonzeption »nach Art unserer lieben Deutschen« kommentiert er gegenüber C. Füssli: »Der König in Preußen hat Recht, keinen Menschen reisen zu laßen. Der Deutsche Stil ist, zwey oder drey Monat in Florenz, zwey Monat in Neapel und einen Monat in Rom; der Graf Brühl war 6 Monat in Florenz und 18 Tage in Rom.«77 Winckelmanns Orientierung auf die römischen Altertümer und die Warnung vor dem schädlichen Einfluß des Paris-Aufenthalts sind den Formulierungen von Pöllnitz spiegelbildlich entgegengesetzt. Zu einem persönlichen Treffen mit L. Usteri könne es leicht kommen, wenn Ihr junge Herren nicht wie das ganze Französische Heer nach dem Entsatz von Turin, in Rom selbst voller Ungeduld en France! en France riefet. Die Kayserlichen Völker wären vor Hunger gestorben, wenn jene sich in das Mayländische geworfen hätten, und Ihr würdet an statt durch die Nase plaudern zu lernen, oder die letzten Sylben nach Pariser Art zu verschlingen, in einem Monate länger in Rom, und von hier nach Hause, das Gehirn voll bringen, an statt daß en France das gute nothwendig der Narrheit weichen muß.78

Die Entwicklung einer eigenen Bildungskultur an dem Modell »Rom« vollzieht Winckelmann als Überführung der antiquarischen und enzyklopädischen Gelehrsamkeit in ein auf subjektive Erfahrung gegründetes Kunstinteresse an den antiken Denkmälern.79 Winckelmann begegnet, wie auch seine Auseinandersetzung mit Keyssler zeigt, der kritisierten französischen Geselligkeit nicht mehr mit einem polyhistorischen Unterrichtsprogramm oder mit editionsphilologischen Forschungen, aus welchen sich die Nähe 74

WB 53z an L. Usteri, 1 5 . 1 . 1 7 6 3 , II S. 283. WB 938 an Stosch, 26.2.1768, III S. 371. 76 WB 853 an Heyne, 16. 1767, III S. 261. 77 W B 590 an C. Füssli, 14.9.1763, II S. 343. 7 " W B 532 an L. Usteri, 1 5 . 1 . 1 7 6 3 , II S. 282. 79 Vgl. Himmelmann, Utopische Vergangenheit, S. 51-64. Allgemein zum Beginn bürgerlicher Bildungsreisen nach Italien Altgeld, S. 14-17. 71

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von Brief und Reise in der Michaelis-Korrespondenz ergibt. 8 " Zugleich trifft seine Kritik die französische Metropole nicht mehr primär in moralischer Hinsicht, sondern unter dem Aspekt ästhetischer Bildung an den Kunstwerken. 8 ' Die »ältere, räumlich-statische Auffassung von Stadt als Sammelplatz des Wissens und der Kenntnisse« wird nicht abgelöst durch Paris als »intellektuellen und sozialen Kommunikationsraum [. . .] zirkulierender Sprache und Ideen«,82 sondern dynamisiert als Ort individueller Kunsterfahrung und Selbstbildung im unmittelbaren Umgang mit den Originalen, »durch Betrachtung der Urbilder selbst«.8' Als Beleg dafür, daß »die Liebe zu Rom und zu den Künsten« 84 identisch werden, genügt im gegenwärtigen Kontext ein Hinweis auf die Konzentration der Entwürfe zu Reiseanleitungen auf die Welt der Kunst. 8 ' Ebenso veranschaulichen die in Einzelfallen überlieferten Besichtigungsvorschläge, die Winckelmann für seine Schüler ausgearbeitet hat, seine Vorstellung von einem hinreichend intensiv genutzten und auf Kunsterfahrung konzentrierten Aufenthalt in Rom. 86 Auch eine Reise nach Paris wäre allenfalls im Hinblick auf die Kunst lo

Vgl. für den vorliegenden Zusammenhang das »Sendschreiben Von der Reise eines Gelehrten nach Italien und insbesondere nach Rom an Herrn M. Franken«, WB IV S. 17. Winckelmann unterscheidet dort zwischen unfähigen Gelehrten und solchen, denen es am »rechten Entzweck« fehle. Zu ersteren gehört ein junger Däne, der über Paris nach Rom gelangt ist, um »die Proceß-Ordnung« zu studieren, und der »nach einem sechs Monatlichen verworrenen und verirreten Auffenthalt« ohne gelehrten Profit wieder abgereist sei. Zur zweiten Gruppe zählt der Typus des deutschen Professors, der sich in Rom ausschließlich mit der Suche nach Varianten befaßt. Winckelmanns Schlußsatz weist auf seine Arbeit an der Weiterentwicklung gelehrter Traditionen: »[. . .] diese [die deutschen Professoren], nicht jene, sind zu belehren.« 81 Vgl. WB 159 an Wille, 15.9.1756, I S. 245: »Ich freue mich, daß ich einen Landsmann aus Paris in Rom bekomme: ich wünsche daß er Liebe zur Wahrheit und Gefühl des Schönen erhalten und hierher bringt. Ich wundere mich, daß unsere meisten Deutschen einen solchen Umschweif nehmen zu dem Lande, wo die Quelle der Künste ist: allein sehr wenig verdienen es zu sehen. Unsere Edelleute sind hier nichts nutz, und das Geschlecht der Ahnen überhaupt nicht.« Vgl. auch Himmelmann, Utopische Vergangenheit, S. 63. 81 1 . Oesterle, S. 376. 8 ' Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst, S. i7f, in: Kunsttheoretische Schriften Bd. X . 84 WB 7 an Riedesel [Entwurf] [Sommer oder Herbst 1763]: Sendschreiben Von der Reise eines Liebhabers der Künste nach Rom an Herrn Baron von Riedesel, IV S. 31. 8 ' Vgl. vor allem ebd. S. 51—36; der Entwurf konzentriert sich auf die Baukunst. 86 Vgl. WB 392 an L. Usteri, 24. 2.1761, II S. i2}f; 403, 405, 406, 407 an L. Usteri, [Frühjahr 1761], II S. 141-144; 4 1 } an L. Usteri, 3 . 5 . 1 7 6 t , II S. i48f; zusätzlich in WB IV: 6 Anmerkung für Berg und Werthern [Sommer 1762], S. 2 1 - 3 1 ; 8 Anleitung für Mechel und P. Usteri [Ende Juli 1766], S. 36-43 sowie 126 a, H. Füssli an Vögelin, [Frühjahr 1764], S. 134—143. Dieser Bericht vermittelt einen Eindruck von Winckelmanns Führungen. 108

begründet; andere Rechtfertigungen läßt Winckelmann nicht zu.®7 Gerade unter diesem Aspekt bleibt Paris jedoch hinter Rom zurück. Dem entspricht ein zwiespältiges Urteil über Caylus: Dieser sei »il primo a cui tocca la gloria d'essersi incaminato per entrare nella sostanza dello stile dell'Arte de'Popoli antichi. Ma volerlo fare a Parigi è un impegno assai più superiore dell'assunto.«88 Die franzosenkritische Annäherung spezifisch gelehrter Mentalität an die Kunsterfahrung wirkt in Winckelmanns Reisekonzeption hinein. Bereits den angeführten Zitaten ist zu entnehmen, daß Winckelmann von den Reisenden einen langfristigen Rom-Aufenthalt verlangt, »denn die Nachrichten der Reisenden, die sich über 3 Monat nicht in Rom aufhalten ist zu sehr mangelhaft und unzuverläßig«. 8 ' Um »einige Kenntniß zu erlangen«, seien »wenigstens vier Monate Auffenthalt« erforderlich. 9 " Dieser Grundsatz gilt auch für die Maler: Da der »Stifter« der »Schule der Caracci«, »Ludwig der Aeltere«, »nur auf vierzehen Tage Rom sah,« konnte er »seinen Enkeln, sonderlich dem Hannibal, in der Zeichnung nicht beykommen«.' 1 Z u der Absicht, »Rom recht nützlich zu sehen«, gehören »eine Vorbereitung von vielen Jahren« und »ein langer Auffenthalt an diesem Ort«. 92 Winckelmann lehnt einen Reiseplan ab, der Rom nicht die erforderliche Zeit zugesteht; denn wenn er [Johann Heinrich Füssli] im Frühlinge (nach Rom kommen will) von Genf abgehet, so kann er nicht länger als einen Monat in Rom bleiben, weil man wenigstens drey Wochen auf die Neapelsche Reise rechnen muß: im Julius muß er aus Rom wegen der nahen großen Hitze abgehen. Folglich wird er alles quasi canis ad Nilum fugiens sehen müßen.9'

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Vgl. WB 532 an L. Usteri, 1 5 . 1 . 1 7 6 3 , II S. 285: »Ich frage Sie! haben Sie das was nach meiner Meynung das Schönste in Paris ist, gesehen? Die H. Familie vom Raphael, welche Edelink und Frey gestochen haben? Nein. Das größte MiinzCabinet in der Welt eines gewißen Commis de la Marine - ? Nein. Die zwo PastelGemählde vom Mengs beym Marq. de Croixmare? Ich zweifele. Nennen Sie mir etwas schöners, und deuten Sie mir den Nutzen aus Paris an.« Vgl. auch Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst, S. i8f, in: Kunsttheoretische Schriften Bd. X . Danach sind in Paris nur zweitrangige Antiken und Kopien zu finden. " WB 224 an Bianconi, 22. 7.1758, I S. 394. 89 WB xb Unterricht für die Deutschen von Rom [Entwurf] [Sommer 1759], IV S. 13. 90 WB 867 an L. Usteri, 27.6.1767, III S. 275. '' Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst, S. 26, in: Kunsttheoretische Schriften Bd. X. 92 WB ib Unterricht für die Deutschen von Rom [Entwurf] [Sommer 1759] IV, S. 13. Vgl. dazu auch G K ' , Vorrede S. X X ; 189; 287. 9> WB 5}2 an L. Usteri, 1 5 . 1 . 1763, II S. 282f. Vgl. auch 851 an Mechel, 12.5.1767, III S. 260: Es sei »unnütz [. . .] einen Blick auf Rom zu thun; denn so nenne ich einen Monat Auffenthalt allhier.« 109

Wer jedoch die Galerie des Collegium Romanum »siehet, wie der Hund am Ufer des Nils im Laufe trinkt, dem wird es gezeiget, wie er siehet. Vom Campidoglio, welches insgemein in einer Stunde gesehen wird, wäre ein ganzer Monat zu reden.«' 4 Ebenso kritisiert Winckelmann einen deutschen Reisenden, der »eine Reise nach Engeland und Frankreich, in großer Eil, gethan, und glaubete mit eben der Geschwindigkeit durch Rom zu flattern, nach Neapel zu gehen, Florenz zu sehen und wider nach Genev zurück zu kehren.« 9 ' Ein Beispiel für eine nur oberflächliche Besichtigung findet Winckelmann in dem Besuch des Fürsten Sulkowski in der Villa Albani. Der Fürst, den Winckelmann als Karikatur eines Hofmanns vorstellt — »Si presentò [. . .] con [. . .] certe contorsioncelle smorfiose dell'ultima moda tutto olente d'acque odorifere« - , eilt durch die Galerie »con quella velocità (qua) colla quale Omere fa camminare Giunone«, und findet über die Kunstwerke kein anderes Urteil als »C'est joli! c'est joli«.' 6 Der Forderung nach einem mehrmonatigen Rom-Aufenthalt, die sich zugleich als eine solche nach intensivem Kunststudium erweist, kommt ein galantismus- und franzosenkritischer Sinn zu. Winckelmann schließt mit ihr an den gelehrten Flüchtigkeitsvorwurf an,97 in den er gelegentlich auch das Stereotyp von der Abneigung der Franzosen gegen Allegata einbezieht:9' 94

WB 7 an Riedesel [Entwurf] [Sommer oder Herbst 1763], Sendschreiben von der Reise eines Liebhabers der Künste nach Rom an Herrn Baron von Riedesel, IV S.,*· " WB 275 an Stosch, 13.6.1759, II S. 5. Zu demselben Fall: 281 an Hagedorn, 24.6.1759, II S. 10. Aus ähnlichen Gründen kritisiert Winckelmann zunächst Friedrich Wilhelm von Schlabbrendorf, mit dem er später einen freundschaftlichen Briefwechsel geführt hat (683 an Stosch, III S. 64). 96 WB 452 an Bianconi, [2. Hälfte November 1761], II S. 191. 97 Vgl. etwa den Tadel, den Stosch sich für die falsche Zuordnung eines Schwefels zuzieht: »Ich weiß nicht, wie Ihnen dergleichen eingefallen ist. Und wenn es wahr wäre, so könnte man über diese Seltentheit nicht wie ein leichter Pariser hinlaufen; ich hätte diesem Schwefel gewiß andere Ehre machen wollen.« (WB 344 an Stosch, 1 2 . 1 . 1 7 6 0 , II S. 70). Vgl. auch 171 an Franke, im März [9. 3.] 1757, I S. 275 über Montfaucons »Bibliotheca Bibliothecarum manuscriptorum nova«: »[. . .] man muß wissen, daß dieser Pater, wie sonst, also auch hier, als ein Franzose flüchtig gegangen ist. Seine Antiquité expliquée strotzet von erschrecklichen Vergehen.« Zum Zusammenhang von langem Rom-Aufenthalt und Gründlichkeit vgl. G K S. 273: »Aber es ist das Schöne und das Nützliche nicht mit einem Blicke zu greifen, wie ein unweiser deutscher Maler nach ein paar Wochen seines Aufenthaltes in Rom meinte: denn das Wichtige und Schwere geht tief und fließt nicht auf der Fläche.« Über die Tiefenmetaphorik als Indiz für eine rekonstruierende an Stelle einer antiquarischen Geschichtsauffassung vgl. Ernst, S. 256. 9 " Vgl. Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen, in: Kunsttheoretische Schriften Bd. III, S. 9;: »In Schriften von derjenigen Mode-Art, wie nur Pensées sind, haben keine angeführte Bücher Platz: aber wo man anderwärts bekannt gemachte, gut oder übel erklärte oder erläuterte Denkmale und seine Meynung über dieselben anzuführen hat, ist dieses unvermeidlich.«

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»Man muß alle Sachen mit einem gewissen Phlegma in Rom suchen, sonst wird man für einen Franzosen gehalten.«" In anderem Zusammenhang — in den frühen »Gedanken vom mündlichen Vortrag der neuern allgemeinen Geschichte« — führt Winckelmann aus, »daß Carl V. durch seinen langsamen Kopf die Kayserliche Würde vor seinen Mitbewerber erhalten; daß ein gewisses Flegma, welches ihm eigen war, ein Grund seines Glücks und der überwiegenden Vortheile über Franckreich gewesen«.100 Auch »den Sieger bey Blenheim« (Marlborough) machen das »Flegma und die ruhige Stille des Spartaner Clearchus« unsterblich.'01 Wenn Winckelmann, Roscommon zitierend, in der »Erinnerung über die Betrachtung der Werke der Kunst« erklärt, man müsse »mit Feuer entwerfen und mit Phlegma ausführen«,102 so rückt er den auch von Loen und Kant in bezug auf die Deutschen gebrauchten Begriff des Phlegmas in die Nähe desjenigen der Ruhe und Stille, der sich an zentraler Stelle seiner Ästhetik findet und mit im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen wird. Für die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert hat I. Oesterle den Gegensatz zwischen Pariser Temporalisierungserfahrungen und dem an Rom und der Antike orientierten Wert kontemplativer Ruhe dargestellt.IO' Vorläufig läßt sich festhalten, daß Winckelmanns Konzept der Romreise der Kunstkontemplation im Zeichen des ästhetisch gewendeten Begriffs der Ruhe gilt und dabei auf die adels- und franzosenkritischen Vorstellungen von gelehrter Ruhe und Gründlichkeit zurückgreift. 104 Im Sinn einer Weiterfuhrung und Überwindung der antiquarischen Gelehrsamkeit in Richtung auf eine Kunstwissenschaft, 10 ' die mit anderem " W B 201 an Francke, 4 . 2 . 1 7 5 8 , I S. 326. In der »Italienischen Reise« (Werke Bd. i l , S. 96t) schließt Goethe an Winckelmann an, wenn er über einen »bequem, aber geschwind« reisenden Franzosen urteilt: » E s war mir köstlich, einen recht eingefleischten Versailler in der Fremde zu sehen. Der reist nun auch! Und ich betrachte mit Erstaunen, wie man reisen kann, ohne etwas außer sich gewahr zu werden, und er ist in seiner Art ein recht gebildeter, wackrer, ordentlicher Mann.« Vgl. zu dieser Stelle die Überlegungen von Wuthenow, S. 95. 100 Gedanken vom mündlichen Vortrag der neuern allgemeinen Geschichte, in: Kleine Schriften, S. 17. " " E b d . S. 19. Erinnerung über die Betrachtung der Werke der Kunst, in: Kleine Schriften, S. ι j jf; vgl. G K ' , S. 223. Vgl. I. Oesterle, S. 3 8 6 - 3 8 9 u. ö. , 4 ° Z u r Überwindung der »oberflächlichen« Kunstbildung des Adels durch »das Studium der Antike und die Anschauung der schönen Kunst als identitätsstiftende Orientierung« vgl. G . Oesterle, Einführendes Referat, S. 348. Vgl. auch W B 7 an Riedesel [Entwurf] [Sommer oder Herbst 1763], Sendschreiben Von der Reise eines Liebhabers der Künste nach Rom an Herrn Baron von Riedesel, I V S. 34: »Erinnern Sie sich hier, daß ich nicht für diejenigen, die unter dem Titel der Gelehrten reisen, schreibe, als welche von dem was ich gesagt, mehr und viel geschrieben verlangen. E s würde aber überflüßig seyn auf diese seine Absicht zu richten, und dieses aus drey Gründen: erstlich weil wenig oder gar keine fremde

III

Schwerpunkt auch im folgenden Kapitel untersucht wird, erklärt Winckelmann Rom zur »hohe[n] Schule für alle Welt«: 106 Der Liebhaber der Künste muß die Baukunst, Bildhauerey und Mahlerey mit einander vereinigen, von welchem Rom die Schule und der höchste Lehrer ist, und in jeder Kunst verdienen die neuern Werke nicht weniger Aufmerksamkeit als die alten.'" 7

Die Stadt der Kunst löst die Akademie ab und bleibt andererseits als Universität der Pariser Schule der Gesellschaftskultur entgegengesetzt: »Alle andere Länder werden gesehen und genoßen; dieses aber muß studiret werden.«1"8 Daher stellt Winckelmann fest: »Es erfordert viel, Rom zu kennen: wenig Römer kennen es.«1"9 Für den als Studienreise geplanten Aufenthalt von H. Füssli und P. D. Volkmann bietet Winckelmann die Villa Albani als »Schule« an, »wo sie mich alle Nachmittage finden.«110 Den jungen Baumeister Vogel hält Winckelmann zum »Fleiß«, zur Vermeidung von »Müßiggang« und zum Lernen an: »Die lange Zeit welche er ohne allen Nutzen auf der Reise bis Rom zugebracht hat, ist zu bedauren: denn es ist wenig gutes für ihn zu sehen noch weniger zu erlernen gewesen.« 111 Der von Winckelmann in Rom unterstützte Maler Frisch bestätigt, Rom sei »eine wahre Universität vor Mahler. Es herrschet hierselbst eine allgemeine Ruhe, welche denen die etwas erlernen wollen, so vortheilhafft ist; ein junger Mensch ist hier weniger dissipiret als an andern Orten.« 112 Goethe hat in der »Italienischen Reise« das aus den Briefen gewonnene Bild des deutschen Gelehrten in Rom bekräftigt; zugleich belegt sein Kommentar die Kontinuität des Modells der Studienreise und läßt noch die gelehrte Provenienz des eigenen Selbstverständnisses als Romfahrer erkennen. Sogar der Pedantismus-Vorbehalt scheint der Formulierung verdeckt eingeschrieben: Heute früh fielen mir Winckelmanns Briefe, die er aus Italien schrieb, in die Hand. Mit welcher Rührung hab' ich sie zu lesen angefangen! Vor einunddreißig Jahren, in derselben Jahreszeit kam er, ein noch ärmerer Narr als ich, hierher, ihm war es auch so deutsch Ernst um das Gründliche und Sichere der Altertümer und der Kunst. Wie brav und gut arbeitete er sich durch! Gelehrten in dem Alter, w o sie es seyn können nach Italien reisen, zweytens weil für diese ein paar Monate in Rom nichts nutzen, und drittens weil diese was sie wißen wollen, in mehr als ein Buche nachlesen, aufsuchen und prüfen können.« ·°ύ W B 201 an Francke, 4. 2 . 1 7 5 8 , I S. 326. 107

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W B 7 an Riedesel [Entwurf] [Sommer oder Herbst 1763], Sendschreiben Von der Reise eines Liebhabers der Künste nach Rom an Herrn Baron von Riedesel, I V S. 3 4 f . W B 851 an Mechel, 1 2 . 5 . 1 7 6 7 , III S. 260. W B 159 an Wille, 1 5 . 9 . 1 7 5 6 , I S. 245.

W B 601 an L . Usteri, 6 . 1 1 . 1 7 6 3 , II S. 352. " ' W B 608 an C. Füssli, 2 6 . 1 1 . 1 7 6 3 , II S. 356. W B 1 2 8 b Frisch an Nicolai, [25.5.] 1765, I V S. 245. 112

Goethe stützt sich vor allem auf die oben zitierte »Stelle in Winckelmanns Brief an Franken«, die Rom zur »hohefn] Schule« erklärt, und bezieht diese auf sich selbst: »Das Gesagte paßt recht auf meine Art, den Sachen hier nachzugehn, und gewiß, man hat außer Rom keinen Begriff, wie man hier geschult wird.«"' Verschiedene Äußerungen Winckelmanns lassen erkennen, daß der Ablehnung der französischen Kultur dieselbe Erfahrung eigener gesellschaftlicher Unterlegenheit entspricht, die auch der Orientalist Reiske an sich wahrnimmt und die nunmehr im Projekt »Rom« als Modell individueller Bildung an der Kunst umgewertet wird. Die Weigerung, erneut in sächsische oder preußische Dienste zu treten, begründet Winckelmann gegenüber Stosch mit dem Argument, er werde »eine schlechte Figur in Berlin machen, wo kein Gelehrter eine machen kann, zumahl gegen Dalembert, welchen der König itzo kommen läßt und gegen andere Franzosen die in der Académie daselbst herrschen und den Ton geben.«" 4 Aus Winckelmanns Bemerkung gegenüber Francke, »dass er noch nicht gewillt sey, auf seiner künftigen Reise nach Teutschland, Dressden zu berühren, weil er, seinem Ausdruck nach, unter den Deutschen Parisern dumm aussehen werde«,"' ergibt sich ein Kriterium für die geplante Reiseroute, wenn nicht ein Grund für die überstürzte Rückkehr nach Italien. Die sozialen Implikationen, die in Winckelmanns Kritik an der Parisreise eine Rolle spielen, ergeben sich aus einer Reihe weiterer Briefstellen. Winckelmann greift mehrfach den Zusammenhang zwischen fürstlicher Kulturpolitik und kultureller Dominanz der Franzosen an. Offenbar läßt vor allem die höfische Berufungspraxis spürbar werden, daß die Bevorzugung der Franzosen die Gebildeten an der Entfaltung einer eigenen Kultur hindert. Gegenüber L. Usteri zitiert Winckelmann Friedrich II. mit dem Diktum: »Wenn ich Mahler brauche, laß ich sie von Paris kommen.«" 6 An denselben Adressaten richtet sich im Zusammenhang mit der Erlangung der Position eines Präsidenten der Altertümer in Rom die Bemerkung: »Ich schenke allen Höfen ihre Pensionen für Franzosen und für Genever und Welsche, die mögen ihnen die Künste lehren.«" 7 In einem Brief an Heyne schreibt Winckelmann, eine öffentliche Ehrung wie die Aufnahme in die Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften sei aus Berlin nicht zu erwarten gewesen, »wo ein Französischer Despotismus in der Academie herrscht«." 8 Gegenüber Stosch klagt er: Goethe, W B 615 S. 235. " ' Francke S. 516. 1,6 W B 540 7 " W B 568 W B 686 1,4

Italienische Reise, Werke Bd. n S. i48f. Z u Goethe vgl. Boerner, S. 86f. an Stosch, 1 7 . 1 2 . 1 7 6 3 , II S. 363; vgl. auch 826 an Stosch, 18. 2 . 1 7 6 7 , III an Fritsch, 1 2 . 1 . 1 7 6 7 , zit. nach: Erläuterungen zu W B 8 1 1 an Francke, III an L . Usteri, 20. 2 . 1 7 6 3 , II S. 294. an L . Usteri, 1 1 . 6 . 1 7 6 3 , II S. 325. an Heyne, 2 2 . 1 2 . 1 7 6 3 , III S. 69.

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Der K ö n i g läßet für seine neu errichtete Kriegs-Schule lauter Franzosen verschreiben; Helvetius aber hat nicht bey ihm bleiben wollen. Toussaint der die Moers geschrieben hat, ist einer von den Lehrern dieser Stiftung. Alles wird französisch; der lächerliche Hof zu Dreßden hat für die Univers. Leipzig einen Sprachmeister aus Paris mit einer sehr ansehnlichen Pension kommen laßen. Dem Herren sei Danck, daß die Italiener, die Florentiner ausgenommen, diese Seuche nicht haben; denn sonst würde in weniger Zeit alles mit Franz. besetzt s e y n . " '

Winckelmann beschwert sich über die Fürsten, vor allem über Friedrich II., als Repräsentanten des französischen Kultureinflusses. Das epistolographische Rom-Projekt ist also auch in der Erfahrung unzureichender Unterstützung durch die Fürsten im eigenen Land begründet. Es wird sich zeigen, wie die Freundschaftsbriefe vor dem römischen Hintergrund eine von der höfischen Kulturdominanz unabhängige Identität der Gelehrten zu entwerfen suchen. Über die schon vorliegenden Ansätze gehen Winckelmanns Konzept einer Romreise und sein Entwurf eines antiquarischen Rom darin hinaus, daß das Bildungspensum sich nicht mehr modifizierend in den Kanon aristokratischer Interessen integrieren läßt, sondern diesen gänzlich durch eine Individualbildung an der Kunst ablösen will. Indem Winckelmann dem »Cortigiano«, seinem Erscheinungsbild und seinen Lebensformen den »Antiquario« entgegensetzt, greift er auf den Typus des Altertumsgelehrten zurück, welcher als der ideale Romreisende den Hofmann ersetzen soll. Dabei erinnert nicht zufallig die vom »Antiquario« verlangte Askese — einfache Kleidung, Fußmärsche und frühes Aufstehen - an die Haltung des Pilgers, auf die sich Winckelmann wiederholt beruft.' 20 Der Eintritt in die Welt der Altertümer wird identisch mit dem Verzicht auf sämtliche Standesinsignien.121 Mit dieser Weiterführung korrespondiert die Ausschließlichkeit, mit welcher Winckelmann auf Rom als Reiseziel besteht, außerhalb dessen »wenig gutes [. . .] zu sehen noch weniger zu erlernen« sei.' 22 Das Postulat einer eigenen Bildungskultur erhält bei Winckelmann eine neue Wendung als Entwurf einer von der Kunst dominierten Sphäre aus der Tradition antiquarischer Gelehrsamkeit. Das Rom der polyhistorischen Reisebeschreibung Keysslers verwandelt sich in ein archäologisch und kunsthistorisch wieder aufzufindendes »Rom«, das in der (Brief-) Literatur erst zur Erscheinung gebracht werden muß:

" » W B 724 an Stosch, 10.8. 1765, III S. 1 1 9 . Vgl. etwa W B 809 an L. Usteri, 2 7 . 9 . 1 7 6 6 , III S. 2 1 1 . Als Fall einer vorbildlichen Rom-Reise hat Winckelmann später den Aufenthalt des Fürsten Franz von Anhalt-Dessau dargestellt. Vgl. dazu unten 3.2.3. Z u r Sache vgl. Himmelmann, Utopische Vergangenheit, S. 52. W B 608 an C. Füssli, 2 6 . 1 1 . 1 7 6 3 , II S. 316.

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Ma se tornaste a Roma con un altro sacco di Complimenti e con una lunga filza di Visite, vi succederebbe un' altra volta quello che succede a uno che svegliatosi da un sogno, se ne confondono le immagini, e sveglio dopo un quarto d'ora non ne raccapezza più niente. A Roma bisogna deporre la maschera di Cortigiano, scartare le Conversazioni, alzarsi a buon'ora, andar a piedi, e in somma vestirsi della Livrea d'Antiquario."'

Die Kritik an französischer Gesellschaftskultur und Kavalierstour aus antiquarischer Perspektive läßt sich zugleich als gattungsgeschichtliches Votum für die Freundschaftsbriefe fassen. Die Auseinandersetzung mit dem »Cortigiano« betrifft implizit auch die geschmacklichen Normen »wohlanständiger« Briefkultur. Sie weisen darauf hin, daß Winckelmann im Rückgriff auf die Gelehrtenbriefpraxis »unverfügbare« Kunsterfahrung in die briefliche Kommunikation integriert. Die franzosenkritischen Äußerungen bezeichnen insofern eine Gattungsgrenze und deuten den Weg zu einer anderen Briefkultur an, die sich gleichzeitig galantismus- und pedantismuskritisch versteht. Rom als das Reich der Altertümer, in welchem sich eine bürgerliche Kultur freundschaftlich entfaltet, entspricht dem literarischen Ort der franzosenkritisch orientierten und ihrerseits antiquarischen Freundschaftsbriefe.

3.1.2.

Pedantenkritik und Kritik der Gelehrtenkorrespondenz in Winckelmanns Freundschaftsbriefen

Die Konventionen gelehrter Epistolographie nimmt Winckelmann partiell auf und folgt ihnen in einzelnen Briefreihen; 124 gleichzeitig setzt er sich kritisch mit ihnen auseinander. Sein von vielen Zeitgenossen durchaus zustimmend bemerkter »Haß gegen teutsche Metaphysik, barbarische Schultheologie, und die gewöhnlichen sieben Magisterkünste« 12 ' ist also nicht W B 531 an Bianconi, 8.1.1763, II S. 282. Vgl. auch 265a an M. Bianconi [Anfang Februar 1759], III S. 41 of über eine geplante Reise G . L. Bianconis nach Rom: »II soggiorno di Roma richiede assolutamente un mese per quello che non ha da fare /:come toccherà pure a lui farne:/ certe cortigianie Lagnascesche e convenienze simili. Per tutto quanto [il] mese si ha da girare dalla mattina fìn'alla sera e straccarsi come un cane per vedere ogni cosa una volta solamente. V i è più che tutti Antiquari sanno. Lo stare a Napoli e lo girare intorno richiede almeno un altro mese; io faccio un conto per uno che va in furia, senza mettere in conto le convenienze alla Corte.« 114

A u f Winckelmanns gelehrtes Selbstverständnis weisen etwa die Stellen, an denen er seine Erklärungen und Verbesserungen antiker Autoren hervorhebt: »Vi [in der Neuauflage der G K ] troverete una falange di passi degli Autori antichi corretti e spiegati.« (922a Winckelmann an Martorelli, 18. 12.1767, in: Else Rehm, Briefe von und über Winckelmann, S. 311.) Herder: Winkelmann, Leßing, Sulzer, in: Der Teutsche Merkur, Herbstmond 1781, S. 194.

115

ohne Konsequenzen für das Briefwerk, und zwar vor allem für die »großen Selbstdarstellungen« und die freundschaftlichen Korrespondenzen. In ihnen hat auch die Gelehrtenkritik - neben den Buchhändlerbriefen an Walther ihren Schwerpunkt. Unter dem Aspekt gelehrter Informationsvermittlung im Brief nach dem Exempel der Michaelis-Korrespondenz werden sich dementsprechend

adressatenspezifische

Differenzen

zwischen

verschiedenen

Briefreihen andeuten lassen. 1 2 6 - In Winckelmanns Pedantenkritik, die auch eine Ablösung von den eigenen Bildungsvoraussetzungen bedeutet 127 und wohl deshalb in den Briefen der ersten römischen Jahre gerade an deutsche, kaum an Schweizer Adressaten eine besondere Rolle spielt, kehren die schon vor ihm üblichen Vorwürfe gegen die falsche Gelehrsamkeit wieder: fehlendes iudicium, Vorrang der Worte vor den Sachen, Erfahrungsdefizit, Überantwortung an antike Autoritäten. Die Kritik will die Gelehrsamkeit an Vernunft binden und stellt sozialgeschichtlich die in sich geschlossene Gelehrtenschicht in Frage. 1 2 8 Zunächst ein Blick auf Beispiele satirischer Gelehrtenkritik aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. D e r aufklärerischen Pedantenkritik liegt — mindestens stillschweigend — die Erfahrung zugrunde, daß Pedanterie zu den besonderen Erblasten der deutschen Gebildetenschicht gehört. Der Vorrang der Worte v o r den Sachen, ein Vorwurf, der die Kritik grundiert, 1 2 9

" 6 Vgl. unten 5.3.5. 1:7 Über die Universität Halle und ihre Professoren zur Zeit von Winckelmanns dortigen Studienjahren vgl. Justi 4 , Bd. I S. 59—109. Seeba, Winckelmann: Zwischen Reichshistorik und Kunstgeschichte, S. 31 j , hebt hervor, daß Winckelmann mit seiner Gelehrtenpolemik »über sich selbst Gericht« halte und sich »aus seiner früheren, nun zu eng gewordenen Lebensform herauszuschälen« suche. Z u Winkkelmanns Gelehrtenkritik vgl. unter biographischen Aspekten Thalheim, S. 3 1 - 5 5 (mit speziellem Bezug auf Winckelmanns Universitätserfahrungen) und 38-41. Vgl. Kühlmann, S. 444, zu Werenfels' Kritik an der Adaption der humanistischen Stilhaltungen, die auf eine »Schwäche der Beurteilungskraft« deute und als Zeichen für »die elitäre Selbst-Isolation der Gelehrtenrepublik« begriffen wird.- Die Zeitgenossen haben die Kritik an überkommenen Autoritätsstrukturen zugleich als empfindlichen Punkt bemerkt. Der Verfasser der Abhandlung »Der junge Gelehrte« (Kürzel: M. G . C. J . ) kritisiert zwar zunächst die »Frechheit« der »eingebildeten Klüglinge«, die Abgeschriebenes als eigene Erkenntnisse ausgeben und ihre Lehrer verachten (Belustigungen des Verstandes und des Witzes, S. 435); im positiven Gegenbild, »Herrn Tiefdenker«, deutet sich aber an, daß der Verfasser zugleich die kritische Dynamik regulieren und dem Autoritätsverfall vorbauen will; Herr Tiefdenker holt sich in Zweifelsfállen Rat bei seinem Lehrer und »vernimmt dessen Antworten mit bescheidener Ehrerbiethung, ohne viele Widerrede, aber auch ohne blinden Gehorsam.« (Ebd. S. 441). ,2

' Vgl. Gottscheds Kommentar zu Art. Crantor, in: Bayle Bd. II, S. 234: »Nun gehe man hin, und errege gelehrten Männern grammatikalische Kriege, über solche kleine Versehen in Sylben und Wörtern. Wer mit Sachen beschäfftigt ist, kann solche Kleinigkeiten leicht vergessen.«

116

erhält unter dem Aspekt fehlender Urbanität einen Bezug auf die spezifische Situation dieser Gelehrten. Im Rückblick auf den Mangel an Stoffen in »einem Neste von Magisters« 1 '" benennt Winckelmann die Verwurzelung des res-verba-Problems in den beengten Lebensverhältnissen. Einen geplanten Aufsatz »von dem itzigen Zustande der Mahlerey in Rom« solle Oeser »niemanden [. . .] zeigen, wenigstens solchen hungrigen Seelen nicht, die aus Mangel der Materie alles drucken laßen und ihren besten Freund verrathen sollten, welche Sucht nur in Deutschland nicht in Italien herrschet.« 1 ' 1 Die Satiren suchen eine Grenze zu einem Umgang mit den Quellen zu ziehen, der seine Aufgabe in der kritischen Aufarbeitung der überlieferten Textzeugnisse sieht 1 ' 2 und dem die Tätigkeiten des Verbesserns, Komplettierens und Bewahrens entsprechen. Die Kritik will die gelehrte Selbstgenügsamkeit aufbrechen und die Quellen in ein »vernünftiges« (historisches) Verhältnis zur Gegenwart setzen. Es liegt nahe, die gelehrte Philologie (wie auch das Ungenügen an ihr) für die Mitte des 18. Jahrhunderts ihrerseits vor dem Hintergrund des eingeschränkten gesellschaftlichen Umfelds der Gelehrten zu sehen. Man könnte durchaus die Frage stellen, ob nicht ein Zusammenhang zwischen der noch unausgebildeten historischen Perspektive der »Pedanten« und der Abwesenheit einer nachvollziehbaren Nationalgeschichte besteht. — Der Vorwurf kritikloser Wissenskompilation gehört zum Grundbestand aufklärerischer Gelehrtensatiren. M. Kästner (1745) verdichtet ihn in der Figur des »Gedächtnisgelehrten«, den er in satirischer Absicht mit dem »Vernunfthelden« und seinem »falschen Witz« 1 " 1,1

131

W B 3 1 1 an Walther, 6 . 1 0 . 1 7 5 9 , II S. 37. W B 829 an Oeser, 2 4 . 2 . 1 7 6 7 , III S. 239. Vgl. auch Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen, Kunsttheoretische Schriften Bd. III, S. 77: »Die mehresten Vergehungen dieses Gelehrten [Martorelli in Neapel] und vornehmlich seine Mißhandlung des Vaters der Dichter, hat die Begierde, etwas neues und unerwartetes zu sagen, zum Grunde; andere verleitet zugleich auf eben diese A b w e g e der Mangel der Materie zum schreiben, welcher in einigen Ländern, wie in einigen Classen des Wissens, groß ist; und da geschrieben seyn muß (welches in Deutschland und jenseit der Alpen zur Achtung nöthiger als in Italien geworden ist) so wirft man sich aus Verzweiflung oft auf leere speculative Grillen, oder man sucht sich wie Herostratus an den Denkmaalen der Alten zu verewigen.« W B 920 an Raspe, 1 8 . 1 2 . 1 7 6 7 , III S. 339: »Von dem Hällischen Burmann habe ich nichts gesehen; und wer weiß hier von demselben: findet er sich aber Kräfte, so wage er sich an die Monumenti inediti, die ihm eine unermeßliche Renn-Bahn werden können; mit Varianten aber oder mit Luft-Streichen ist hier nichts zu machen.« Z u m Erscheinungsbild der klassischen Philologie bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts vgl. zusammenfassend Muhlack, Historie und Philologie, S. 50—54. M . Kästner (nach Kühlmann, S. 458 A n m . 3): Die Vorzüge der Gedächtnisgelehrten, in: Belustigungen des Verstandes und des Witzes. A u f das Jahr 1 7 4 3 , S. 510. Z u m Beginn historischen Denkens im 18. Jahrhundert und zu seiner Ablösung von der archivierenden Gelehrsamkeit vgl. Schneider, S. 2 1 - 3 2 .

" 7

konfrontiert. Die Urteilsunfáhigkeit des »gelehrten Narren« entspricht nach Fassmann (1729) seiner Abhängkeit von der literarischen Tradition. 1 ' 4 Z u solchen Defiziten stehe die Prätention der Gelehrten im Mißverhältnis, »da sie doch kein Judicium haben, und nichts wissen, als was andere, und zwar längst vermoderte, und verfaulte, Gelehrte gesaget und geschrieben, oder nach ihrer Einbildung gedacht.« 1 " Den Fehler einer bloß reproduktiven Traditionsverhaftung faßt A . Schlegel in dem 1 7 4 7 erschienenen Gedicht »Der Polyhistor und der Tod« in den in der Pedantenkritik üblichen Begriff der »Registergelehrsamkeit«: Pedrill, der Wunder! wie die Zeit zu nützen dachte, Wenn er zu ganzen Nächten wachte Vergraben unter Büchern saß Die schlechten, wie die guten, las Vorreden ämsig durchstudirte Und aus Registern excerpirte War so voll Fleiß, daß er sich selbst vergaß. 1 ' 6 A l s Merkmal der Unfähigkeit zum eigenen Vernunfturteil und der fehlenden Reflexion »auf solche Wissenschaften [ . . . ] , welche der menschlichen G e sellschaft wahren Nutzen bringen«, 1 ' 7 verbucht die Kritik auch die Mikrologie. Von den zahlreichen Auseinandersetzungen mit diesem T h e m a 1 ' 8 ist eine Passage aus einer galanten Satire hervorzuheben, dem »Gelehrten N a r ren« von David Fassmann. Z u m V o r w u r f der Marginalität gesellt sich hier der Spott über den Gelehrtenkrieg. Die Zanksucht, die Polemik über Nichtigkeiten ist für Fassmann ein Merkmal unkultivierter, ungalanter U m gangsformen: Diejenigen sind und bleiben indessen die allergrösten gelehrten Narren, die über den duncklen Verstand eines Wortes oder etlicher, ja wohl gar über einen Buchstaben, einen Lerm erregen, als ob die Wohlfarth der Welt daran gelegen wäre, wann dergleichen Worte gleich nichts nutzen, und nichts bedeuten, als wie die Gestalt des Jupiters im Caso Genitivo. Was dergleichen Zänckereyen noch lächerlicher machet, ist die Verbitterung, und die Feindschafft, worein solche Zancksichtige Gelehrte darüber mit einander gerathen.'" '*4 Fassmann, Vorrede, unpaginiert. Ebd. S. 2. 136 A. Schlegel: Der Poyhistor und der Tod, in: Neue Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes, Vierter Band, Zweytes Stück, Bremen und Leipzig 1747, S. 90. Zur Kritik an »Register-Gelehrsamkeit« und »Anmerkungs-Macherei« vgl. Martens, Von Thomasius bis Lichtenberg, S. 1 7 - 1 9 . »Der Mahler der Sitten« von Bodmer und Breitinger widmet der Registergelehrsamkeit eine Satire (Bd. I, S. 435-446). Rabener, Versuch eines deutschen Wörterbuchs, in: Satiren der Aufklärung, S. 37. 1,8 Vgl. G . E. Grimm, Literatur und Gelehrtentum in Deutschland, S. 739; auch in Lessings »jungem Gelehrten« erscheint dieses Motiv (Werke Bd. I, S. 106). Fassmann, S. 220. 118

Für das Winckelmann-Verständnis ist wesentlich, daß in der »Gedächtnisgelehrsamkeit« die Unfähigkeit zu eigenständiger Reflexion angegriffen wird. Dieser Vorwurf ist verwandt mit dem Bild von den Deutschen als Nachahmern. Der »Gedächtnisgelehrte« hat nach M. Kästner vielleicht ein einziges Buch nachgeschlagen, und darinnen alle von ihm angeführte Gesetze und Schriftsteller angeführt gefunden, ohne vielleicht zu wissen, ob besonders die letztern, alle in der Welt gewesen sind. Man verläßt sich hierinnen auf die Ehrlichkeit desjenigen, von dem man die Schriftsteller angeführt findet, und bringt hiermit der Nachwelt den Vortheil, daß, wenn man ζ. E. 15 Schriftsteller angeführt hat, derjenige, der sie zuerst aus uns abschreibet, uns dazu und also 15 + 1 = 16 Schriftsteller anführen kann. So kann man von der Gewißheit eines Satzes, die nur auf dem Beyfalle bewährter Schriftsteller beruhet, sagen vires acquirit eundo, und sie wächst wie ein kleiner Schneeball, der im Fortgehen immer mehr Schnee an sich nimmt. 140

Die »wahre Ehre und den rechten Ruhm« erbringt es hingegen nach Fassmann, »neue Sachen zu erfinden, und etwas mit grosser Mühe und Arbeit aus seinem eigenen Gehirn zu erdencken, nicht aber von andern Scribenten entlehnet«. 141 Die Gelehrtenkritik der Aufklärung initiiert mit der Betonung eigenständiger Vernunfttätigkeit einen Umbau des Geschichtsdenkens: Zunehmend verdrängt die Rekonstruktion des Vergangenen hinter den Wortformen das polyhistorische Sammeln. Die Satiren verlangen stets den unmittelbaren Rückgriff auf die Quellen und deren kritische Prüfung. Sie klagen im Umgang mit den Quellen eine Durchdringung, eine Tiefendimension ein, die sie in der am Äußerlichen haftenden »Registergelehrsamkeit« vermissen. Der Gelehrte soll nach Rabener »die guten Schriften der Alten und Neuern mit Aufmerksamkeit lesen; die höhern Wahrheiten durch eignes Nachdenken untersuchen; sich bemühen, ihnen noch weiter nachzuforschen; auf das bloße Wort ihres Lehrers nichts treuherzig glauben; von der Gründlichkeit eines jeden Satzes sich selbst überführen wollen«.' 42 Winckelmanns aus der Versenkung in die Kunstwerke erstelltes Modell einer Kunstgeschichte der Antike setzt diese Linie fort. Ein anderes Feld gelehrten Versagens vor den pragmatischen Anforderungen an die Wissenschaft ist das geschmackliche Urteilsvermögen. Auch hier spielt die Einschränkung auf den akademischen Umgang eine Rolle. Dem Antiquar, dem die Satiriker vorwerfen, er schreibe die Gelehrtengeschichte fort, ohne zu Sachkenntnis durch Autopsie und zu kritischer Kompetenz zu gelangen, sprechen sie auch die Fähigkeit zum Geschmacksurteil 140

141

'4!

M. Kästner: Die Vorzüge der Gedächtnisgelehrten, in: Belustigungen des Verstandes und des Witzes. Auf das Jahr 1743, S. 519. Fassmann, S. 1 1 9 . Rabener, »Versuch eines deutschen Wörterbuchs«, in: Satiren der Aufklärung, S. 37. 119

ab. 14 ' Nach Kästners satirisch verkehrender Argumentation kann der Altertumsgelehrte auf die Lektüre der antiken Texte verzichten, durch die er »nothwendig einigermaßen vernünftig« werden müsse: »denn man hat ja genug neuere Schriftsteller, die aus den alten das purlautere Gedächtnißwerk herausgezogen, und von allem Unrathe der Vernunft gesäubert haben.« Die durch gelehrte Wissenschaftspraxis gefilterten Quellenschriften sind so zur Geschmacksbildung nicht mehr tauglich: »denn wir führen sie an, nicht, weil uns das Lebhafte und Natürliche in denselben gefallt, sondern weil sie etwa einen alten Gebrauch erläutern.« 144 An dieser Stelle zeigt sich auch, daß die Entstehung eines subjektiven ästhetischen Wahrnehmungsvermögens als Interpretationsverfahren mit der Entwicklung eines rekonstruierenden Geschichtsdenkens Hand in Hand geht. Die Satiren wollen als didaktische »Strafgedichte« den Pedanten in einen Politicus (Fassmann) oder einen der Vernunft folgenden, am Gemeinwohl mitwirkenden geselligen Bürger verwandeln. Sie konzipieren damit aber noch keinen Weg, der aus den besonderen Erfahrungsmöglichkeiten der Gelehrten zu einer Geschmackskultur als Grundlage eines größeren Selbstbewußtseins führen könnte. 14 ' Aus Pariser Sicht verfallen jedenfalls die Satiren selbst dem Verdikt über eine Provinzialität, der überhaupt keine gute Satirenliteratur entspringen könne. Melchior Grimm hält Rabener Befangenheit in denjenigen Lebens- und Arbeitsweisen vor, die auch Gegenstand der Satiren sind: Zwar könne im Prinzip die »Kunst der Satire [. . .] unter nützlichen Gesichtspunkten betrachtet werden«; Voraussetzungen seien jedoch ein freies Volk oder eine Nation mit »einer riesigen Hauptstadt als ihrem Mittelpunkt«: »Welchen Nutzen oder welches Vergnügen sollen wir aus der Satire eines Schulmeisters oder Schülers aus Leipzig oder eines ihrer lächerlichen Nachahmer ziehen?«' 46 Winckelmann fordert, der Lehrer der Geschichte müsse zeigen, »ob er wenn ich so reden darf, in der Gelehrsamkeit jemahls die Spitze des Glokken-Thurms seines Dorfs aus dem Gesichte verlohren hat, oder nicht.« 147 Sein Versuch, nicht gesellschaftliche oder politische, sondern Kunsterfah,4i

Z u den »Forderungen an die Gelehrten nach >WitzUrteil< (Urteilsfähigkeit, judicium) und >Geschmackdiesem großen Manne zu zeigen, daß ein geborener Untertan etwas Würdiges hervorgebracht hatdaß ich darum suppliciret hätte W B 856 an Stosch, 2. 7 . 1 7 6 7 , III S. 265. " 4 W B 161 an Bianconi, 2 5 . 9 . 1 7 5 6 , I S. 246. Vgl. W B 621 an Weisse, 4 . 1 . 1 7 6 4 , III S. 4: »Unersetzlicher Verlust! durch welchen ich zugleich auf immer von Sachsen getrennet bleibe, wohin mich, mit heimlicher Verläugnung aller hiesigen Vortheile, ein fast unüberwindlicher Z u g rief, so daß ich alle meine Ruhe hätte verläugnen können, um in der letzten Hälfte meines Lebens, wiederum einen Schulmeister oder Kinderlehrer, welches mein innerer Beruf war, abzugeben.« " ' W B 6 3 j an Volkmann, 1 0 . 2 . 1 7 6 4 , III S. 19. " 7 G K * , unpaginiert.

171

Hinter den Berichten steht das Bewußtsein der Benachteiligung gerade der deutschen Gebildeten, deren kulturelle Rückständigkeit und geringes Ansehen im Vergleich mit den Franzosen unter anderem auf den fehlenden Rückhalt an den Höfen zurückzuführen seien. In diesem Sinn beschwört Johann Heinrich Gottlob von Justi das positive französische Beispiel. Ludwig X I V . »würdigte wahrhaftige Gelehrte nicht nur seiner besondern Gnade, sondern auch seiner persönlichen Unterhaltung: und 3 bis 4 Stunden, die er öfters mit diesem oder jenem zubrachte, schienen ihm nicht verdrießlich angewendet zu seyn.« 2 1 8 D'Alembert relativiert allerdings v o r allem das in Deutschland stets positive Urteil über Franz I . 1 ' 9 und rät zu einer »Vereinigung« der Gelehrten fern von den »Grossen«. 2 2 0 Justi selbst kommt zu dem Ergebnis, daß nicht die Monarchie, sondern die Republik die besten Voraussetzungen für eine Blüte der Wissenschaften biete. 221 — Für Deutschland sieht Gottsched in seiner Lobschrift auf Christian Wolff durch dessen Unterredungen mit Fürsten 2 2 2 und insbesondere durch ein eigenhändiges Dankschreiben Friedrichs II. das Ansehen aller Literaten gehoben: Hier erfuhr nun Deutschland, daß es hinfort nicht nöthig hätte, diejenige Ehre, die bis dahin nur einigen ausländischen Gelehrten widerfahren war, zu beneiden. Das Glück nämlich, welches einem alten Rollin, einem Hrn. von Voltaire, u. a. m. begegnet war, eigenhändiger Zuschriften eines zum herrschen gebohrnen, aber gelehrten und scharfsinnigen deutschen Prinzen gewürdiget zu werden, ward nunmehr auch einem deutschen Weltweisen zu Theile."' Gottsched berichtet über seine Audienzen v o n 1 7 5 7 bei Friedrich II. u. a. in einem Schreiben an den Nürnberger Naturforscher Martin Frobenius L e -

J . H. G . v. Justi, Untersuchung, ob eine monarchische Regierungsform dem Wachsthum der Wissenschaften zuträglich sey? In: Scherzhafte und Satyrische Schriften, Dritter Band, S. 173. "» D'Alembert, S. 6f. Ebd. S. 86. J . H. G . v. Justi, Untersuchung, ob eine monarchische Regierungsform dem Wachsthum der Wissenschaften zuträglich sey? In: Scherzhafte und Satyrische Schriften, Dritter Band, S. 173. Gottsched, Historische Lobschrift des weiland hoch- und wohlgebohrnen Herrn Herrn Christians, des H. R. R. Freyherrn von Wolf, S. 1 Ebd. S. 106. Vgl. auch: Merkwürdige Nachricht von der Gnade, die der hällischen Universität Kanzler, der geheimte Rath Freyherr von Wolf, unlängst in Merseburg zu genießen das Glück gehabt, in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Wintermonat 1 7 5 1 , S. 893 über Wolffs Gespräch mit dem sächsischen Kurprinzenpaar: »Man hat auch sichere Nachricht von dem letztern, daß derselbe mit einer höchst zufriedenen Gemüthsruhe über die genossene Gnade und Ehre wieder nach Hause gekehret, und diejenigen Lande glücklich gepriesen, die dereinst von einer so erleuchteten Herrschaft beherrschet werden sollen. Welch ein ausnehmendes Beyspiel aber giebt diese Begebenheit nicht, allen Großen itziger und künftiger Zeiten!« 172

dermüller, das offenbar die Grundlage für eine Publikation abgegeben hat, 224 und in weiteren Briefen, etwa an Winckelmanns Nöthnitzer Kollegen Johann Michael Francke. 22 ' E r hat die Begegnungen von 1757 ebenfalls in seiner Zeitschrift »Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit« detailliert beschrieben.226 Doch auch andernorts legt Gottsched Wert auf ähnliche Darstellungen: In der »Fortgesetzten Nachricht von des Verfassers eignen Schriften« geht er ausführlich auf eine Rede ein, die er 1743 vor den sächsischen Kurprinzen und ihrem Gefolge gehalten hatte.227 Die Gespräche mit dem Fürsten sind offenbar ein Gegenstand des allgemeinen Interesses.228 Festzuhalten ist jedoch auch, daß Gottsched keine Berichte über seine Begegnungen mit Friedrich II. von 1756 und 1760 veröffentlich hat. 229 Zentrales Thema der Unterredungen von 1757 sind die Verdienste der französischen und der deutschen Literatur, 230 also das von Friedrich geradezu verkörperte Strukturproblem der deutschen Gelehrsamkeit. Gottsched hält Friedrich den Mangel an Mäzenen vor 2 ' 1 und sucht ihn zur »deutschen Sprache zu bekehren«. 2 ' 2 Bereits in den Unterredungen entdeckt Gottsched Anzeichen »der Gnade dieses Monarchen, auch gegen deutsche Sachen«. 2 " " 4 Gottsched an Ledermüller, 26.4. 1761, in: Neues aus der Zopfzeit, S. 94; Gottsched dankt für »das mir gütigst überlassene Zeitungsblatt« mit diesem Bericht; als mögliche Quelle für einen darin enthaltenen Fehler nennt er seinen eigenen Brief. Zu Gottscheds Unterredungen vgl. Waniek, S. 657-662; Wehr, S. 34if. In der Gesamtbewertung der Unterredungen weiche ich von Wehr ab, die allzusehr die prinzipielle Distanz Gottscheds von Friedrich herausstreicht. Henning, Aus dem Briefwechsel Johann Michael Franckes, S. 15—17. Vers de Sa Majesté le Roi de Prusse, adressés à Mr. Gottsched, Professeur à Leipsic. Avec la traduction Allemande, suivie d'une Parodie, in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Hornung 1758, S. 122—138. Allerunterthänigste Antwort an Se. königl. Majestät in Preußen, den 27sten October 1757, persönlich überreicht von Joh. Christoph Gottscheden, ebd. S. 141—152. 217 Gottsched, Fortgesetzte Nachricht, in: Ausgewählte Werke Bd. 5, Teil 2, S. 63-65. " 8 Vgl. dazu etwa die Bitte des Petersburger Professors Müller um die Veröffentlichung der Nachricht von der Teilnahme Katharinas II. an einer öffentlichen Versammlung der Petersburger Akademie: »Die Begebenheit, um deren weitere Bekanntmachung ich Ewr. gehorsamst ersuche, ist wichtig genug, um ganz Europa über die hohe Gnade der Kaiserin für die Wissenschaften mit Freude zu erfüllen.« (Müller an Michaelis, 8.7.1763, in: M L B II, S. 534). " ' V g l . Wehr, S. 341; 343·

151

2,1

Vgl. Heitner, S. 215: »The main theme was the relative merits of German and French language and literature.« Vgl. Gottsched an Flottwell, 22. το. 1757, in: Krause, S. 89: »Da E r die dramatischen Poesien tadelte, sagte ich: es wäre kein Wunder, daß es ihnen nicht beßer gelinge, es gäbe so wenig Terentze, die das Glück hätten von Scipionen getadelt und gebeßert zu werden. Als wir auf den Horatz kamen, dergleichen jetzo nicht wären, sagte ich: Es fähle in Deutschland an einem August«. Gottsched an Flottwell, 1 . 1 1 . 1 7 5 7 , ebd. S. 91. Zu Gottscheds Versuch, Friedrichs Überzeugung von der Poesieunfähigkeit der deutschen Sprache durch die Übersetzung einer Rousseau-Strophe »wo nicht zu vernichten, doch wenigstens zu

173

G o t t s c h e d deutet die Unterredungen als gelehrte Dispute. Friedrich habe mit »Lebhaftigkeit u n d Gegenwart des Geistes« über »die Verdienste der größten Weltweisen, Geschichtschreiber, Redner u n d Dichter« geurteilt, unter denen G o t t s c h e d auch deutsche N a m e n aufzählt. D i e Gnade des K ö nigs g e g e n ihn sei »so weit gegangen, daß Sie demselben auch einige dero eigener U e b e r s e t z u n g e n aus dem Horaz, u n d v o n einigen Stellen aus Cicerone Reden, in französischen Versen, vorzulesen geruhet; die denselben in v o l l k o m m e n e B e w u n d e r u n g gesetzet.« 2 5 4 In d e m Briefbericht über ein späteres

Gespräch

rühmt

Gottsched

Friedrich

als

»wirklich

gelehrte[n]

Herr[n]«, der sich mit einer A b o r d n u n g der Universität über physikalische u n d p h i l o l o g i s c h e Fragen »aufs gnädigste unterredeten«, 2 " u n d notiert den egalisierenden E f f e k t dieser Art des Zusammentreffens: »Ee. H. k ö n n e n sich nicht sattsam einbilden, w i e aufgeweckt, g n ä d i g und spaßhaft sich S. M . g e g e n uns herunterließen; so daß m a n nicht anders hätte denken sollen, er rede w i e ein Gelehrter mit seines Gleichen.« 2 ' 6 I n d e m der K ö n i g schwächen«, vgl. Gottsched an Ledermüller, 2. 12.1757, in: Neues aus der Zopfzeit, S. 66. Auf Gottscheds Übersetzung antwortet Friedrich mit einem französischen Gedicht, in dem er Deutschland mit dem in Künsten und Wissenschaften benachteiligten Sparta vergleicht und es Gottsched als dem »Cygne Saxon« anheimstellt, die »Langue barbare« zu mildern und auch der deutschen Literatur »Les plus beaux Lauriers d'Apollon« zu erwerben. (Vers de Sa Majesté le Roi de Prusse, adressés à Mr. Gottsched, Professeur à Leipsic. Avec la Traduction Allemande, suivie d'une Parodie, in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Hornung 1758, S. 125.) Gottsched besteht seinerseits auf einer Würdigung der deutschen Literatur: »Ist Dir kein deutscher Reim zu schlecht,/ So wird er [Gottsched als »Deines Vaters Knecht«] Dich gewiß bey später Nachwelt loben.« (Ebd. S. 126) Allerunterthänigste Antwort an Se. königl. Majestät in Preußen, den 27sten October 1757, persönlich überreicht von Joh. Christoph Gottscheden, in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Hornung 1758, S. 142. Vgl. auch Gottsched an Francke, 1 6 . 1 1 . 1 7 5 7 , in: Henning, Aus dem Briefwechsel Johann Michael Franckes, S. 17: »Vielleicht habe ich ihm von den deutschen freyen Künsten einige erträglichere Begriffe beygebracht, als er von seinen Lieblingen und Franzosen haben können.« 2, t ' Vgl. Allerunterthänigste Antwort an Se. königl. Majestät in Preußen, den 27Sten October 1757 persönlich überreicht von Joh. Christoph Gottscheden, in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Hornung 1758, S. 145. Vgl. auch: Merkwürdige Nachricht von der Gnade, die der hällischen Universität Kanzler, der geheimte Rath Freyherr von Wolf, unlängst in Merseburg zu genießen das Glück gehabt, in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Wintermonat 1751, S. 892^ Danach vergingen mehrere Stunden »in den vertraulichsten und aufgewecktesten Gesprächen [mit dem sächsischen Kurprinzenpaar]: darinn theils der Weltweise die große Einsicht und fürstlichen Gesinnungen beyder königlichen Hoheiten zu bewundern; theils aber diese, den weisen und gesetzten Character des Weltweisen, mit vielem Vergnügen, kennen zu lernen Gelegenheit hatten.« ' " Gottsched an Ledermüller, 1 . 2 . 1 7 6 1 , in: Neues aus der Zopfzeit, S. 90. 1,6 Gottsched an Ledermüller, 26.4.1761, in: Neues aus der Zopfzeit, S. 9t. 174

in Gottscheds Darstellung - sich selbst als Gelehrten präsentiert, erkennt er die Bedeutung des Aufklärungswissens an und hebt das Ansehen seiner Träger. Die Berichte akzentuieren den Wunsch nach einer neuen Würdigung der Gelehrten. Eine grundlegende Umwertung des Verhältnisses von deutscher und französischer Literatur zeichnet sich allerdings nicht ab. Dies ist um so bemerkenswerter, als die Gesprächssituation von außen durch den Siebenjährigen Krieg bestimmt wird; Friedrich befindet sich mit den preußischen Truppen in Leipzig, auf sächsischem Territorium. (Dieselben Hintergrundbedingungen gelten später für Gellerts Berichte, parallel zu einem weiteren Zusammentreffen Gottscheds mit Friedrich.) — Die Perspektive auf eine Aufwertung der Gelehrsamkeit berührt bei Gottsched kaum die Position des Monarchen. Soweit erkennbar, bleiben die Begegnungen mit Trägern politischer Macht im zeremoniellen Rahmen. In Gottscheds Schilderung bestätigt das (mit standesgemäßem Gefolge inszenierte) Auftreten des Herzogs Georg Ludwig von Holstein anläßlich eines Festakts in der Wohnung des Gelehrten die Rangfolge: Kaum war aber die Rede angegangen: als der Durchl. Herzog selbst mit einer suite von andern vornehmen von Adel in meiner Behausung erschienen, und sich gnädigst gefallen ließen bis zum Ende einen Zuhörer abzugeben. Ee. Hochedelgeb. werden im März des Neuesten die Rede, und die Wahrheit dieses Umstandes mit mehrerm finden.1'7

Die Wertschätzung, die Wolff beim sächsischen Kurprinzenpaar erfährt, liest Gottsched am Zeremoniell ab: Sobald ihro königl. Hoheiten gekleidet waren, ließen dieselben diesen berühmten Philosophen, mit Eröffnung beyder Flügelthüren, und Präsentierung des Gewehrs derer vor ihren Zimmern stehenden Trabanten, einführen, und unterredeten sich mit demselben aufs huldreicheste, und gnädigste; so daß dieses Gespräch sich auf die zwo Stunden verzog. 1 ''

Die Aufwertung der Gelehrsamkeit kleidet das fürstliche Erscheinungsbild neu ein, ohne es wesentlich zu modifizieren. (Umgekehrt liegt in der Selbstinszenierung Gottscheds in Anlehnung an den König ein Moment ständischen gelehrten Auftretens.) In der Rolle des ersten Aufklärers bleiben dem König Würde und Distanz des Monarchen erhalten. Auch auf dem Gebiet der Wissenschaft gesteht Gottsched dem König die ihm zukommende Autorität zu:

" 7 Ebd. S. 9 j f . ' ' ' Merkwürdige Nachricht von der Gnade, die der hällischen Universität Kanzler, der geheimte Rath Freyherr von Wolf, unlängst in Merseburg zu genießen das Glück gehabt, in: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit, Wintermonat 1 7 5 1 , S. 892.

175

Soviel aber muß ich gestehen, daß Er in der Philosophie, Historie, Beredsamkeit und Poesie, eine solche Einsicht und Richtigkeit der Urtheile gewiesen, als immer mehr ein Gelehrter, der sich lebenslang darauf geleget, haben kann; ja als ich selbst unter unsern Gelehrten in Leipzig bey sehr wenigen zu finden wüßte. Dabey hat er sich einer so gnädigen Art der Herunterlassung gegen mich bedienet, daß ich seine Leutseligkeit nicht genug bewundern kann. Sein poetischer Aufsatz, womit er mich eigenhändig beehret hat, zeiget nicht nur eine große Kenntniß der schönen Wissenschaften, sondern auch eine große Stärke in der Französischen Sprache und Poesie, wie alle Kenner davon gestehen werden.*3' Entsprechend dieser Strategie hat im Konfliktfall das hofgemäße »politische« Verhalten Vorrang vor dem gelehrten Wahrheits- und Genauigkeitsanspruch. Gottsched entrüstet sich über Reiske; dieser habe dem König wie ein wahrer Schulfuchs (denn er ist Rector zu St. Nicolai) beständig auf eine ungeziemende Art widersprochen: so daß der Herr endlich gesagt: Nun, nun, er soll recht haben; worauf er sich plötzlich umgekehrt und davongegangen, ihn aber stehen lassen.*4" Wie der Gelehrte selbst seine dienende Rolle gegenüber dem Fürsten einhält, so bleibt sein Wissen unterschieden von der höfischen und politischen Sphäre; erst in vermittelter, d. h. unterhaltsamer Gestalt gelangt es überhaupt dorthin: »So sind die philosophischen und schönen Wissenschaften ihren Liebhabern immer nützlich, und erwecken ihnen die Aufmerksamkeit der Könige und Fürsten, die man durch die bloß ernsthafte Gelehrsamkeit schwerlich erhalten kann.« 24 ' Die Hoffnung auf größere Anerkennung und bessere Förderung der deutschen Literatur behält bei Gottsched Appellcharakter. Gegen seine Intentionen legen seine Berichte den Schluß nahe, daß eine allgemeine Geschmackskultur auf dem Weg über die Anlehnung an wichtige politische Machtträger in Deutschland schwer zu erreichen war. Die Spur, die Winckelmann verfolgen wird, entfernt sich in weiterer Perspektive überhaupt von der Vorstellung einer institutionell greifbaren Kultur der Gebildeten. Über diese Situation führt auch Geliert noch nicht wesentlich hinaus. Geliert akzentuiert in einem von ihm selbst nicht autorisierten Bericht von 1 7 6 1 , dem er aber eine gewisse Authentizität nicht abspricht, 242 den Ge1,9

Gottsched an Ledermüller, 2.12.1757, in: Neues aus der Zopfzeit, S. 6jf. Gottsched an Ledermüller, 1. 2.1761, ebd. S. 91. *4' Gottsched an Ledermüller, 26.4.1761, ebd. S. 92. 241 Vgl. Geliert an einen Offizier, 29.7.1761, in: Christian Fürchtegott Geliert: Sämmtliche Schriften, Berlin/Leipzig 1756, Neunter Theil S. 63: »Das Gespräch mit dem König, das Sie mir überschickt haben, und das ich sehr flüchtig, und nicht ohne Furcht gelesen habe, hat freylich verschiedene Züge, die historisch wahr sind; allein die Art und Weise eines Gespräches, der Zusammenhang, die Ausdrücke, wie sehr gehört das zur Wahrheit einer Unterredung, und noch dazu einer Unterredung von anderthalb Stunden. Man verändere, oder lasse gewisse

140

176

gensatz zwischen macht- und kulturpolitischer Praxis im Siebenjährigen Krieg und den Interessen der Gelehrten. Das Gespräch mit Friedrich II. legt die gegensätzlichen Positionen offen. Friedrich greift das von Bouhours und Mauvillon vertretene Urteil über die »Härte und Unförmlichkeit der deutschen Sprache« auf;* 4 ' hingegen führt Geliert den Rückstand der deutschen Literatur unter Hinweis auf den Siebenjährigen Krieg auf die soziale und kulturelle Lage der Gebildeten zurück: Und überhaupt lassen sich verschiedene Ursachen angeben, warum die Deutschen noch nicht in allen Arten guter Schriften sich hervorgethan haben; da die Künste und Wissenschaften bey denen Griechen blüheten, führten die Römer noch Kriege. Vielleicht ist ietzo das kriegerische Seculum der Deutschen. Vielleicht hat es ihnen auch an Augusten und Louis X I V gemangelt? 144

Indem Geliert sich als »Original« von der Nachahmung La Fontaines distanziert 24 ' und »das Original« Homer dem »viel polirter[en]« Vergil vorzieht, 246 nimmt er zudem unter dem Vorzeichen der »Natur« Abstand von der Nachahmung der französischen Literatur. Dem entspricht, daß der zeremonielle Aspekt der Begegnung zum lästigen Umstand wird; trotz einer Indisposition muß Geliert »mit vielem Verdruß und großen Umständen, Barbier und einen Peruqier« bestellen. 247 Dem Bescheidenheitsgestus, mit dem Geliert aus der Bibel zitiert — »Dränge dich nicht zu den Königen« 248 — ist die Tendenz zum Rückzug von der Konfrontation eingeschrieben. 249 In diesen distanzierenden Momenten kündigt sich eine Akzentverlagerung an, die Winckelmann weiter verstärken wird. Auch Geliert beabsichtigt im übrigen nicht, sich dem fürstlichen Primat zu entziehen. Die »Ehrfurcht

Umstände weg, oder setze unvermerkt etwas hinzu: so wird die wahrhaftigste Geschichte unzuverläßig.« Vgl. auch Schlingmann, S. 187 (dort S. 1 a u c h weitere Quellen); Heitner, S. 2 1 8 , Anm. 52. 141 V i e r Briefe, von G . F. Geliert und G . W . Rabener, S. 80. 144 E b d . S. 87. !4 > E b d . S. 76. 146

E b d . S. 89. E b d . S. 8}f. 148 E b d . S. 77. ' 4 ' A u c h die Abwendung von der neueren und die Hinwendung zur antiken G e schichte bekommen bei Geliert den Sinn eines Rückzugs: »Der König. [. . .] E s sind wohl jetzo böse Zeiten? 147

Geliert. Jawohl, und wenn nur Ihro Majestät Deutschland den Frieden geben wollten. Der König. Wie kann ich denn! Hat ers denn nicht gehöret, es sind ja dreye wider mich? Geliert. Ich bekümmere mich mehr um die alte, als neue Geschichte.« (Ebd. S. 89).

177

[. . .], die man Königen schuldig ist«, 1 ' 0 oder sogar die Furcht 2 ' 1 bleibt Voraussetzung des Gesprächs. Zwar gibt Geliert ^schließend das Lob Friedrichs wieder: »C'est le plus raisonnable de tous les savans allemands.«2'2 Für Gellerts Hoffnung, »daß der Beyfall, den ich gefunden, und vielleicht nicht ganz verdiene, sonst einige glückliche Folgen hätte; Folgen, die Sie, liebster Freund, und ich beyde gleich eifrig wünschen müssen!« 2 " liefert das Gespräch aber keine entscheidenden Anhaltspunkte, sondern kennzeichnet abermals die Distanz zwischen Hofkultur und Gelehrtenkultur in Deutschland.2'4 Winckelmann führt in Franz von Anhalt-Dessau sein Idealbild eines patriotischen Fürsten vor. 2 " Er schildert die entscheidende erste Begegnung in Briefen an Schlabbrendorf, Francke und Stosch, die in ihrer Stilisierungsabsicht übereinstimmen, in Details jedoch voneinander abweichen.2'6 Die Differenzen lassen erkennen, daß Winckelmann keine »historisch« getreuen, sondern literarisch gestaltete Berichte liefert. Bereits zeitgenössischen Lesern war der paradigmatische Charakter der Szene klar; der Rezensent der Allgemeinen Deutschen Bibliothek zitiert — wenn auch kommentarlos — aus einer der ersten größeren Publikationen von Briefen Winckelmanns (1777) 2 ' 7 ausführlich die für Francke bestimmte Version der Schilderung.2'8 Andererseits machen die Abweichungen auf Momente aufmerksam, die für die Inszenierung des Auftritts entscheidend sind. Winckelmann berichtet zunächst, ''"Geliert an einen Offizier, 2 9 . 7 . 1 7 6 1 , in: Sämmtliche Schriften, Berlin/Leipzig, 1856, Neunter Theil S. 63. Vgl. Geliert an seine Schwester, 1 6 . 1 2 . 1 7 6 0 , ebd. Achter Theil S. 357: »Gott sey Dank, daß diese Unterredung, v o r der ich mich herzlich gefürchtet, so glücklich abgelaufen ist.« 2

" Vier Briefe, von G . F. Geliert und G . W . Rabener, S. 94.

' " Geliert an Borchward, 1 0 . 1 . 1 7 6 1 , in: Sämmtliche Schriften, Berlin/Leipzig 1 7 5 6 , Neunter Theil, S. 8. 1,4 So das Urteil von Heitner, S. 2 1 6 , der zwar Geliert im Gespräch eine gewisse Kühnheit und Freiheit attestiert, aber schließt: »To be sure, the interview brought no great change in the king's mind about German literature. Like all the others, it chiefly demonstrated how very far apart were the worlds of power and of letters, in eighteenth-century Germany.« ' " Für eine Zusammenstellung der auf Franz bezogenen Btiefstellen vgl. Hosäus. Über Winckelmanns Verhältnis zu Franz und die Nachwirkungen der Begegnung des Fürsten mit Winckelmann in Dessau vgl. Hirsch. Vgl. auch Vallentin, S. 1 8 9 199; Koch, S. 84-86. 2,6

Zusätzlich sei auf einen kurzen Hinweis in W B 749 an Heyne, III S. 147 aufmerksam gemacht, der ebenfalls das Gewicht andeutet, daß Winckelmann dem Ereignis gibt: »Indem ich dieses schreibe, kommt der würdige regierende Fürst von Anhalt-Dessau, welcher gestern hier angelangt ist, in mein Zimmer.«

117

Winckelmanns Briefe an seine Freunde. Erster Theil, hrsg. v. Karl Wilhelm Daßdorf, Dresden 1 7 7 7 .

2,8

Allgemeine Deutsche Bibliothek 3 5 , 1, Berlin 1778, S. 308.

178

der Fürst sei, begleitet von nur einer Person, inkognito in seiner »Hütte« (bzw. in seinem Zimmer) 2 ' 9 erschienen: »Vor wenig Tagen trat der regierende Fürst von Anhalt-Dessau, von allen unerkannt, in mein Tugurium. Es war des Abends ziemlich spät; er kam von einer einzigen Person begleitet, zu Fuße zu mir, um unerkannt zu bleiben.« 260 In der letzten Fassung tritt Franz ohne Begleitung in der Antichambre des Kardinals Albani auf: »Er kam zu mir, um unerkannt zu seyn, allein, mit einem Stabe in der Hand, und wartete in des Cardinais Vorkammer, bis ich mich von dem Card, loßgemacht hatte.« 26 ' Diese Darstellung der Szene bezieht sich auf die in den Berichten etwa Gottscheds und Gellerts gesetzten Zeichen. In allen Fällen betont Winckelmann den Verzicht des Fürsten auf die standesgemäßen Insignien — das Gefolge und den eigenen Namen. Überdies fehlen auch vorherige Ankündigung und angemessene Kleidung; Franz kommt »das erstemal des Abends unvermuthet, mit einem Stabe in der Hand«. 202 In Rom eingetroffen, legt der Fürst die Würde des Regenten ab und tritt als Pilger in das Reich des Gelehrten, das »Tugurium«, über. Gerade der im Begriff des »Tugurium« liegende Hinweis auf den topischen Gegensatz von Hütte und Palast läßt die literarische Stilisierung der Szene erkennen. Man könnte auch an eine Annäherung an die von Winckelmann als kunstfreundlich verstandenen Lebensverhältnisse im antiken Athen denken, wie sie in der »Geschichte der Kunst« beschrieben sind: »Miltiades, Themistocles, Aristides und Cimon, die Häupter und Erretter von Griechenland, wohneten nicht besser, als Ihr Nachbar.« 26 ' Während der Herrscher am Hof den Mittelpunkt bildet und dessen Elemente sich um ihn anordnen, während auch Gottsched diese Verhältnisse selbst dort kaum antastet, wo der Regent den Gelehrten aufsucht, setzt Winckelmann sie außer Kraft. Der Brieftext tilgt die Titel und versetzt den Fürsten wie den Gelehrten in einen literarisch geschaffenen Raum freundschaftlicher Gleichheit: »Ich bin von Dessau, sagte er, lieber Winckelmann und habe Ihres Beystands nöthig. Hundertmahl küßete ich ihm die Hände auf dieses Wort; denn ich erkannte ihn aus dem Bilde seines Vaters.« 264 In der Folge hebt Winckelmann mehrfach hervor, daß er »mit diesem würdigen Prinzen [. . .] gleichsam die genaueste Freundschaft gestiftet habe«. 26 '

* " WB 755 an Francke, 18. 1.1766, III S. 155. 160 WB 751 an Schlabbrendorf, 1 . 1 . 1 7 6 6 , III S. 148. WB 789 an Stosch, 15. 8.1766, III S. 197. " 6l WB 755 an Francke, 18.1.1766, III S. 1 5 ; . l6 ' G K ' , S. 137. ,6< WB 789 an Stosch, 15.8.1766, III S. 197. *6' WB 798 an Wiedewelt, 16.9.1766, III S. 205; vgl. auch 85 5 an Berg, 20. j. 1767, III S. 263; Franz sei »einer der würdigsten Menschen, Patriot, Freund«.

'79

Zum vorbildlichen Habitus Franz' zählt Winckelmann auch, daß der Fürst sich in einen freundschaftlichen Briefverkehr einlasse/ 66 Entscheidend für die Begegnung mit dem Fürsten ist der grenzüberschreitende Charakter der ausschließlich dem Kunststudium gewidmeten Reise. Die Suspendierung des Gefälles zwischen Fürst und Gelehrtem und dessen Ablösung durch die Freundschaft erweisen sich als Teil des römischen Kunstprogramms. Winckelmann hebt hervor, daß der Fürst fünf Monate auf Rom verwende, 267 seine Zeit nutze und sich selbst auf Detailfragen der antiken Kunst einlasse; diese Reisepraxis setzt an die Stelle der von Winckelmann kritisierten Konventionen der Kavalierstour eine Bildungs- und Studienreise: »Dem ärmsten Mahler, welcher nach Rom kommt, kann derselbe ein Beyspiel seyn, jeden Augenblick zu nützen. Er gieng in die geringste Mythologische Kleinigkeiten hinein, und erhob sich bis zum Erhabenen der Kunst.« 268 Winckelmann stilisiert Franz minuziös auf jenes oben zitierte Ideal hin, das er bereits mehrere Jahre zuvor in einem Brief an Bianconi formuliert hatte und das den historisch, kulturell und sozial grenzüberschreitenden Charakter der Romreise Imperativisch festhält: »A Roma bisogna deporre la maschera di Cortigiano, scartare le Conversazioni, alzarsi a buon'ora, andar a piedi, e in somma vestirsi della Livrea d'Antiquario.« z6 ' Die Bedeutung, die er den Umständen der Begegnung mit dem Fürsten beimißt, ergibt sich auch vor dem Hintergrund späterer Berichte über den Rom-Besuch zweier polnischer Grafen, die auf das Angebot, ihnen in Rom behilflich zu sein, nicht oder erst spät reagieren und nicht einmal einen Besuch Winckelmanns annehmen.270 Damit ist auch ein Interpretationshinweis für den Zusammenhang von Patriotismus und Italienreise gewonnen. Bemerkungen zum patriotischen Sinn des Reisens finden sich in popularphilosophischen Schriften zum Patriotismus, dem dabei ein dynamisch-aufklärerisches Moment zugeführt wird. 27 ' Winckelmann preist die Reisenden auf den Spuren der antiken M

267

Vgl. W B 789 an Stosch, 1 5 . 8 . 1 7 6 6 , III S. 197; 886 an Stosch, 2 5 . 7 . 1 7 6 7 , III S. 297. W B 85; an Berg, 2 0 . 5 . 1 7 6 7 , III S. 263: »Wir haben hier den Prinzen von Mecklenburg gehabt, welcher ein ganzes Jahr mein Schüler und ich dessen Tischgenosse gewesen. E s war zu gleicher Zeit hier der regierende Fürst von AnhaltDessau, ganzer fünf Monate«. Z u m Prinzen von Mecklenburg vgl. auch 745 an Genzmer, 2 7 . 1 1 . 1 7 6 5 , III S. 138. W B 789 an Stosch, 1 5 . 8 . 1 7 6 6 , III S. 197. W B 531 an Bianconi, 8 . 1 . 1 7 6 3 , II S. 282.

170

W B 913 an L. Usteri, 2 . 1 2 . 1 7 6 7 , III S. 326; 926 an P. Usteri, 2 . 1 . 1 7 6 8 , III S. 3 5of.

271

Vgl. zum Beispiel Friedrich Carl von Moser, Von dem Deutschen Nationalgeist, S. ;o— 52. Von den Konventionen der adligen Kavalierstour setzt Moser das patriotische Reisen ab, das der Erkundung der in Deutschland herrschenden Mißstände wie auch der noch vorhandenen »Spuren eines Nationalgeists« sowie

180

Kunst als Patrioten, die sich um den Ruhm der deutschen Nation verdient machen. 272 Die im Bildungsreich der Antike gewonnenen Kenntnisse versteht er offenbar als Ansatz zur Ausbildung einer Nationalkultur und als Anlaß für Nationalstolz. An Riedesel schreibt er: »Billig freue ich mich für mich selbst und für unser Vaterland über die glücklich vollbrachte schwere Reise: denn ich hoffe, daß Sie ihre Anmerkungen, wie mir, also auch andern öffentlich mittheilen werden.« 27 ' Im Hinausgehen über die in Deutschland gesetzten Erfahrungsgrenzen öffnet sich die Perspektive auf ein neues Selbstbewußtsein, welches nicht primär im politischen Aufstieg wurzelt, sondern in der Individualbildung an der Kunst. Den Regenten, der sich auf das Emanzipationsversprechen durch Bildung in Rom einläßt und die Botschaft der antiken Kunst mit ihren gesellschaftlichen Konsequenzen übernimmt, erklärt Winckèlmann zum »ersten Weisen unter den Fürstenkindern« 274 und zum Patrioten. Er rühmt Franz als »edlen Zweig aus einem wilden Stamme«, als »patriotisch gesinneten Deutschen zur Ehre unseres Volks«. Die Verpflichtung auf den Patriotismus betrifft das gesamte Profil des idealen Regenten: Der Fürst von Dessau ist von der Natur geschaffen ein würdiger Bürger und Freund zu seyn, und diesen Entzweck der Natur erfüllet er, und erhöhet ihn durch seine Geburt, durch seine Gestalt und durch seine einnehmende Herunterlaßung. E r ist nicht im Stande lasterhaft zu seyn.' 7 '

Winckelmann bestreitet Franz nicht das Amt des Fürsten, aber er unterhöhlt die Prinzipien absolutistischer Herrschaft. Der Herrscher ist nicht als kategorisch von den Untertanen geschieden gedacht, sondern als Teil einer allgemeinen »natürlichen« Menschlichkeit; er verkörpert exemplarisch bürgerliche Tugenden und legitimiert sich nicht mehr als Angehöriger einer durch Privilegien herrschaftsbefugten Aristokratie. 276 Im patriotischen Fürsten

272

schließlich der Bildung einer Kommunikationsgemeinschaft der Patrioten dient. A u f diese Weise erhält das Reisen eine gemeinnützige Begründung; die Erträge kann der Reisende »zum Besten seines besondern Vaterlands anwenden«. A u c h Thies, S. 40, erwartet vom Patriotismus Anstöße für das gelehrte Reisen als Teil der »Kultur der Wissenschaften«. Vgl. etwa W B 228 an Stosch, 1 1 . 8 . 1 7 5 8 , I S. 403f: »Das erste Empfehlungsschreiben welches ich mache, richte ich an Sie für Herrn Volkmann, aus Hamburg, welcher auf seine Reise nach Italien gedacht hat,, wie man denken soll, und reiset wie es unserer Nation Ehre macht.« Vgl. auch 739 an Minister von Schlabbrendorf, 2 6 . 1 0 . 1 7 6 5 , III S. i j i ; 872 an Minister von Münchhausen, 5 . 7 . 1 7 6 7 , III S. 282.

275

W B 859 an Riedesel, 2 . 6 . 1 7 6 7 , III S. 267; zu Riedesel auch 868 an P. Usteri, 2 7 . 6 . 1 7 6 7 , III S. 277; 902 an Francke, 9 . 9 . 1 7 6 7 , III S. 314; 931 an Heyne, 23. 1 . 1 7 6 8 , III S. 359.

274

W B 765 an Riedesel, 1 8 . 1 . 1 7 6 6 , III S. 157. W B 789 an Stosch, 15. 8 . 1 7 6 6 , III S. 197. Wie weit sich Winckelmann hier von der Rolle von Oper, Kapelle, Theater und

275 276

181

wendet sich bürgerliches Selbstbewußtsein ins Erhabene; daher erkennt Winckelmann in ihm die eigene Dignität und Größe wieder. Gerade das Beispiel Franz* von Anhalt-Dessau beleuchtet die Rolle des Regenten bei der Etablierung patriotischer Gesinnung. Im patriotischen Fürsten als öffentlichem Leitbild konkretisiert sich das Projekt nationaler Identität. Deshalb lagert sich an seine Person Winckelmanns eigener Nationalstolz an. Fürstenverehrung und patriotisches Bekenntnis fallen zusammen: »Er blieb bis Mitternacht bey mir, und ich habe Freudenthränen vergossen, stolz über unsere Nation, über ein so würdiges Menschenkind!« 277 Rom, der Schauplatz des Treffens, wird auf diese Weise zur Hauptstadt eines virtuellen Weltreichs der Kultur, dem Winckelmann den Fürsten von Anhalt-Dessau zuordnet. Dieser sei »ein Weiser zum Heil vieler Länder geboren, und er wird es wenigstens von seinen Unterthanen seyn.« 27 ' Schon in seinen frühen »Gedanken vom mündlichen Vortrag der neuern allgemeinen Geschichte« hatte Winckelmann gefordert, nicht den König als Machtpolitiker, sondern als Förderer der »wahren Menschheit« und insbesondere der Kultur zum Gegenstand einer »nützlichen« Geschichtsschreibung zu machen: Der letzte Herzog von Lothringen, den L u d w i g X I V . von Land und Leuten verdrungen, ist unendlich erhabener in den Augen der Weisen und bey denen welche die wahre Menschheit fühlen, als der vergötterte König. E r ist der Titus und Trajan eines kleinen Volks, ein Freund der Menschen, ein Vater des Vaterlandes, ein Helfer der Unterdrückten, ein großmüthiger Beförderer der Künste: Der würdigste Printz die Welt zu regieren.*79

Als »strenger Wirth«, der »glaubet sein eigenes Vergnügen gereiche zum Nachtheil seines Landes«, 280 scheint Franz dazu bestimmt, das Imperium der Humanität zu verwirklichen; die Formulierung deutet die Übertragung des römischen Universalitätsgedankens auf ein Reich der Freundschaftlichkeit an: »Ein Printz, der ein Kayser seyn sollte, so wie er ein Menschenfreund ist.« 2 ' 1 In diesem Sinn ist vielleicht auch der vielfach wiederholte Sendungsgedanke zu verstehen, den Winckelmann zunächst auf den sächsischen Kurprinzen anwendet. Bereits zu Beginn seiner römischen Jahre preist Win-

177

Kunstsammlungen beim Ausbau des abolutistischen Hofs als Herrschafts- und Machtinstrument entfernt, ergibt sich aus den Ausführungen von Kruedener, S. 56. Kruedener zieht deshalb auch die Rede vom fürstlichen Mäzenat im Sinn uneigennütziger Kunstförderung prinzipiell in Zweifel (Anm. 258 S. 108). W B 7 J 5 an Francke, 18. 1 . 1 7 6 6 , III S. 156.

* 7! W B 7 J 5 an Francke, 1 8 . 1 . 1 7 6 6 , III S. 155. 279 Gedanken vom mündlichen Vortrag der neuern allgemeinen Geschichte, in: Kleine Schriften, S. lyf. Vgl. dazu Rüdiger, Winckelmanns Geschichtsauffassung, S. io6f. 180 lSl

W B 848 an Stosch, 9. 1767, III S. 257. W B 770 an Francke, Sonnabend vor Pfingsten [17. Mai] 1766, III S. 1 7 7 .

182

ckelmann den Thronfolger als »quel Principe in cui risplende l'amore e la carità di Dio.«182 Nach seinem Tod erscheint er als Träger einer göttlichen Sendung; Winckelmann spricht von dem »Prinzen, den Gott zum Heil seines Volkes nur gezeiget hat«. 28 ' Als Gesandter Gottes wird der Kurfürst zur Erlöserfigur. Winckelmann bedient sich damit einer Form religiöser Überhöhung, 2 ' 4 die Kaiser für den pietistisch inspirierten Patriotismus nachgewiesen hat.28' Gott braucht, Friedrich Carl von Moser zufolge, bey großen Welt-Gefahren große Männer als Heilande, als Retter, als Vormünder des menschlichen Geschlechts [. . .], als sichtbare Beweise und Werkzeuge seiner unter den grösten anscheinenden Verwirrungen dennoch fortwährend herrschenden allmächtigen Vorsehung." 6

Zu denselben Epitheta greift Winckelmann, um den Fürsten von AnhaltDessau zu charakterisieren. Dieser sei »einer der würdigsten Menschen, Patriot, Freund; ja man könnte sagen, von Gott gezeuget.«287 Es könne »kein edler Herz in einem sterblichen Leibe wohnen [ . . . ] : die Gottheit selbst würde in seiner Gestalt und Seele eingekleidet, nichts verliehren.«288 Winckelmann bezeichnet den Fürsten sogar als »den Gott ähnlichen Menschen«.28' Aus der spezifischen Situation der deutschen Gelehrsamkeit heraus entwickelt Winckelmann die Vorstellung von einer außerpolitischen Weltbürgerlichkeit, deren Identifikationsfigur konsequent nicht der Herrscher eines der europäischen Machtstaaten ist, sondern der Regent eines politisch unbedeutenden Kleinfürstentums. Damit wandelt sich das im Gespräch mit dem Fürsten literarisch gestaltete Verhältnis von Herrscher und Gelehrtem grundlegend; die Szene greift exemplarisch auf die praktische Umsetzung des römischen Kunstprogramms vor. Hatte noch Gottsched die soziale Rangfolge bestätigt, indem er dem König eine Führungsrolle auch in Fragen der Gelehrsamkeit konzedierte, so wird Winckelmann zum Lehrer des Fürsten: »Ich bin von 2,1

"4

*"

2,6

"7



WB 178 an Bianconi, 31.6.1757, I S. 287. WB 621 an Weisse, 4.1.1764, III S. 4. Eine säkulare Variante findet sich in WB 620 an Mengs, 3.1.1764, III S. 3; Sachsen sehe sich »privato d'un principe, che sembrava nato per il bene del genere umano.« Auch an Mengs schreibt Winckelmann aber, der Kurfürst sei »l'immagine più rassomigliante, e più viva della divinità« gewesen (639 an Mengs, 15. 2.1764, III S. 21). Vgl. im übrigen auch 633 an Stosch, 10. 2.1764, III S. 16: »Der Prinz aber, welches das ähnlichste Bild von dem gütigsten Wesen war, hätte alles über mich vermocht, und ich hätte ihm zu Liebe alles aufgeopfert.« Vgl. Kaiser, S. io 5 f. Friedrich Carl von Moser, Reliquien, S. 107. WB 855 an Berg, 20.5.1767, III S. 263. WB 848 an Stosch, 9.5.1767, III S. 257. In 870 an Berendis, 1. 7.1767, III S. 280 nennt Winckelmann den Fürsten »den aus Gott gebohrnen«. WB 804 an Stosch, 4.10.1766, III S. 213. 183

Dessau, sagte er, mein lieber Winckelmann; ich komme nach Rom, zu lernen, und ich habe Sie nöthig.« 2 ' 0 Der Gelehrte, den der Fürst »nöthig« hat und dessen Beistands er bedarf, sieht sich in jenes Amt des Lehrers eingesetzt, dem das patriotische Engagement gilt und in dem es sich erfüllt. Dabei spekuliert Winckelmann nicht auf die Teilhabe an politischen Entscheidungen, sondern auf das Führungspostulat für die vom Gelehrten verwaltete und vermittelte kunstgeschichtliche und ästhetische Bildung. Gelehrtes Wissen, speziell die Kenntnis der antiken Kunst, darf nicht mehr nur als schmückendes Beiwerk im fürstlichen Bildungskanon gelten; es wird vielmehr zu dessen zentralem Element, das auch als Bewertungsmaßstab für die Person und das Regiment des Herrschers dient. Der Gelehrte will kraft seiner Bildungskompetenz selbst das fürstliche Regiment prägen und die Kunstkenntnis in dessen Mittelpunkt stellen. 2 ' 1 Der geförderte Gelehrte dient daher nicht mehr dem Fürsten, sondern über ihn dem Allgemeinwohl. 2 ' 2 Vermutlich können auch die »antiquarischen Relazionen«, durch die Winckelmann den sächsischen Kurprinzen über die Ausgrabungen von Herculaneum informiert, 2 " als Versuch interpretiert werden, das auf weitreichende Konsequenzen hin angelegte Amt des Geschmackslehrers zu übernehmen. Die römischen Kunstberichte können also in ihrem kulturkritischen Impetus durchaus mit der vor allem von Friedrich Melchior Grimm geprägten »Correspondance littéraire« aus Paris — die ihrerseits ebenfalls aus der Tradition des »commercium litterarium« entstanden ist 2 ' 4 — konkurrie*>° W B 755 an Francke, 1 8 . 1 . 1 7 6 6 , III S. i 5 5 f . Osterkamp, Zierde und Beweis, S. 2 2 - 2 6 , macht plausibel, daß Winckelmann sich mit der doppelten Widmung der G K an den sächsischen Kurprinzen und an Mengs in Verbindung mit den Illustrationen zum Lehrer des Fürsten erhebt und an dessen Stelle die Kunst und den Künstler inthronisiert. ">* Vgl. dazu - in bezug auf Klopstock - Pape, S. 70. Vgl. W B 2 1 1 an Bianconi, i j . j . 1 7 5 8 , I S . 354—356; 2 1 2 an Bianconi, [ 1 3 . 5 . 1 7 5 8 ] , I S. 356—361; 2 1 8 an Bianconi [Ende Mai-Anfang Juni 1758], I S. 3 7 2 - 3 7 7 ; 222 an Bianconi, [Mitte Juli 1758], I S. 3 8 1 - 3 8 7 ; 223 an Bianconi, [Juli 1758], I S. 3 8 7 393; 2 2 4 an Bianconi, 2 2 . 7 . 1 7 5 8 , I S. 393—398; 2 3 1 an Bianconi, 2 6 . 8 . 1 7 5 8 , I S. 406—410. Z u m Zusammenhang vgl. Erläuterungen zu 207 an Bianconi, I S. ; 84f. Auch später noch hat Winckelmann die Reihe dieser Berichte fortgesetzt; vgl. etwa 442 an Bianconi [Entwurf] [Ende September 1 7 6 1 ] , II S. 177—181. Z u m Thema auch 356 an Bianconi, 1 5 . 2 . 1 7 6 0 , II S. 8of; 370 an Stosch, 2 6 . 7 . 1 7 6 0 , II S. 95; 429 an Bianconi, 2 4 . 7 . 1 7 6 1 , II S. 164. Vgl. dazu auch Winckelmann, Unbekannte Schriften S. 23—49. ! 4

'

Schlobach, S. 224. Z u r Correspondance littéraire vgl. auch Banuls; dort jeweils weiterführende Literaturhinweise. Aus der Perspektive der vorliegenden Untersuchung ist der Hinweis von Schlobach, S. 227, erwähnenswert, daß die Korrespondenzen »die unausgesprochene Übereinstimmung von [durchweg adligem] Abonnent und Korrespondent in Fragen des guten Geschmacks«, des »bon usage« voraussetzen; auch Friedrich II. hat sich aus dieser Perspektive für die Pariser

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ren. O b Winckelmann solche Korrespondenzen gekannt hat, kann hier nicht geklärt werden. Außer dem sächsischen Kurfürstenhaus hat Winckelmann auch dem Landgrafen von Hessen-Kassel und dem preußischen K ö nig eine Unterrichtung über römische Kunstfragen angeboten. 2 " Indem Winckelmann einen kulturell, nicht politisch geprägten Emanzipationsprozeß vertritt, formuliert er allerdings im utopischen Entwurf die problematische Perspektive des gebildeten Bürgertums in Deutschland auf ein gefestigtes Selbstbewußtsein. 2 ' 6 Die Heimatlosigkeit, aus der Winckelmanns Konzept sozialer und kultureller Emanzipation hervorgeht, ist ihm tief eingezeichnet. Erst gelöst aus den eigenen gesellschaftlichen Bindungen, in R o m , kann Winckelmann »Patriotismus« konzipieren. Eine Realisierung dieser »Vaterlandsliebe« gelingt allenfalls als literarische Stilisierung im Brief. Unter dem Aspekt der sozialen Identifizierbarkeit wird sich die Verwandlung v o n Fürst und Gelehrtem in ein gebildetes Freundespaar als durchaus zweischneidig erweisen. In dem seiner Insignien entkleideten, in ein Individuum verwandelten Fürsten ist die allgemeine Greifbarkeit des Kunstideals als identitätsstiftender Größe bereits gefährdet. Das literarische Muster des »Gesprächs mit dem Fürsten« gelangt hier zu einem gewissen Endpunkt. Wenn jedoch Heinse, der Winckelmann zu den »Pedanten und Schulmeistern]« zählt, die Kunstregeln deduzieren, 297 statt die Natur — und damit auch die »Nation« 2 ' 8 - zum Leitfaden zu nehmen, Winckelmanns Griechenideal als »Krankheit v o n Ruhmsucht und fremder L u f t in neuer Sphäre erzeuget« 2 " bezeichnet, erkennt er die Problematik von Winckelmanns Weg zu einer neuen Selbstverständigungsweise, geht aber über die Situation, aus der sie entstand, hinweg. E i n abschließender Blick auf spätere Beispiele für das »Gespräch mit dem Fürsten« liefert weitere Argumente für die Vermutung, daß die Hoffnungen deutscher Literaten im 18. Jahrhundert sich eher auf die Regenten kleiner Territorien richten konnten, soweit nicht überhaupt diese Darstellungsform an vorausweisender K r a f t verliert. Gottfried August Bürger kommt mit Korrespondenzen interessiert. Vgl. zu Winckelmann den Hinweis von Justi4, Bd. II S. 15. Vgl. WB 419 [An Feronce (Entwurf)], [6.6.1761], II S. 156: »si Son Altesse [Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel] a fait le projet de voir Italie, je m'offre de preparer son esprit a la solide connoissance du beau de l'Antique et de l'Art par des instructions en forme de lettres en Allemand ou en Italien, et cela régulièrement (toutes les) chaque semaine.« Zu dem Angebot an Friedrich II. von Preußen vgl. 399 an Stosch, 10.4.1761, II S. 133; dazu schon oben 3.2.2. 1,6 Vgl. zu diesem Komplex Wiedemann, Römische Staatsnation und griechische Kulturnation, passim. Heinse, Sämmtliche Werke Bd. VIII/1, S. 5446 *»' Ebd. S. 460. ' » E b d . S. 461.

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seinem Bericht über den zweistündigen Aufenthalt des Weimarer H e r z o g s Karl A u g u s t im Privathaus des Dichters in Appenrode W i n c k e l m a n n nahe. E r rühmt den v o n der Etikette unbelasteten U m g a n g mit Karl A u g u s t : Nicht leicht ist wol irgend ein anderer großer Herr fähig, eine so liebenswürdige Herablaßung zu zeigen. Gleich in den ersten Minuten verliert man alle Beklommenheit und Zurückhaltung und glaubt mit einem braven Kerl seines gleichen umzugehen.'00 Karl A u g u s t zeige einen aufgeklärten Verstand u n d ein gutes u n d edles Herz u n d verleugne »bei aller seiner unglaublichen B o n h o m m i e u n d Herablaßung« d o c h nicht »seine wahre Würde«. Bürger vermerkt auch den gesellschaftlichen A s p e k t des Ereignisses: »Daß die hiesige G e g e n d halb toll über diesen V o r n e h m e n Besuch g e w o r d e n , das vesteht sich am Rande. D e r N o b l e s s e wird es ein Ärgernis u n d den Bauern eine Thorheit seyn.«' 0 ' Allerdings g e w i n n t Bürger der singulären Erfahrung keinen exemplarischen Sinn ab. D e r ironische Ton der Einleitungssätze weist vielleicht auf die S o n d e r b e d i n g u n g e n des politisch, sozial u n d als K u n s t m e t r o p o l e eximierten R o m für die Berichte Winckelmanns zurück:' 0 2 Freilich, Herr Verleger, wird Er sich nun zu etwas mehr Respect gegen uns verstehen müßen, nachdem uns regierende Herzöge nicht nur zu Tafel ziehen, sondern um des großen Bürgers willen sogar eine räucherige KamtschadalenHütte zu Appenrode nicht verschmähen, sondern daselbst freündschaftlich einzukehren, über zwei Stunden daselbst zu verweilen und mit einer Theekollation vorlieb zu nehmen geruhen. 3°3 300

Bürger an Hemmerde, 24. 3.1781, in: Bürger, Mein scharmantes Geldmännchen, S. 83. 301 Ebd. S. 84. 3 °* Vgl. etwa auch eine Szene, die Abraham Gotthelf Kästner 1793 schildert: »Am 2 5 sten Abends um 7 Uhr kam der Herzog Friedrich von Braunschweig zu mir blos mit einem Begleiter, den er Stallmeister nannte. Er unterhielt sich mit mir und M. Kirsten, der gleich bey mir war, bis fast zehen Uhr, und lud uns auf den andern Tag zum Essen. Er ist zu Niemandem sonst gekommen, als zu Weisberg; den Vormittag ist er auf dem Wall herumgegangen, die Gegend zu betrachten. Ich ging mit M. Kirsten um 12 Uhr, wie wir bestellt waren, in die Krone. Er war noch nicht zu Hause, und entschuldigte sich, als er zurück kam. Natürlich war ihm zu antworten: die Commandirten müßten eher da seyn, als der General. Wir vier sind allein gewesen.« (Kästner an Amalie Baldinger, 30.4.1793, in: Kästner, Gesammelte poetische und schönwissenschaftliche Werke, Bd. 2, Vierter Theil, S. 99f.) Kästners motivisch mit Winckelmanns Berichten verwandter Darstellung fehlt der Anspruch auf eine Emanzipation als Bürger, der bei Winckelmann die geltende Gesellschaftsordnung unterläuft und das traditionelle Verhältnis von Herrschaft und Gelehrsamkeit in Frage stellt. Da Kästner sich selbst als »Commandirten«, den Herzog aber als »General« vorstellt, läßt er Rangfolge und Herrschaftsbeziehungen unangetastet und verzichtet auf das Moment des Vorgriffs, das Winckelmanns Bericht auszeichnet. 303

Bürger an Hemmerde, 24. 3.1781, in: Bürger, Mein scharmantes Geldmännchen,

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In der 1788 erschienenen Schrift »Ueber Friedrich den Grossen und meine Unterredungen mit Ihm, kurz vor seinem Tode«, die sich auf Begegnungen aus den Jahren 1 7 7 1 und 1786 bezieht, verbindet Johann Georg Zimmermann eine Apotheose des sterbenden Friedrich mit scharfer Kritik an philosophischer Freiheit, 304 Deismus und »Naturalismus« in der Berliner Aufklärung. '° ! In seinem früheren Gespräch hebt auch Zimmermann die Überschreitung höfischer Verhaltensnormen durch den König hervor, dessen Erscheinungsbild der Etikette widerspricht; die Darstellung entbehrt nicht einer unfreiwilligen Komik: Mitten im Zimmer stand ein kleines eisernes Feldbett, ohne Vorhang. Auf einer schlechten Matratze lag da, König Friedrich, der Schrecken von Europa, ohne Decke in einem alten blauen Rockelor. E r hatte einen großen Hut mit einer weißen Feder auf dem Kopfe. 3 " 6 Sowohl der Verzicht Friedrichs auf ein repräsentatives Auftreten als auch sein Interesse an »Wissenschaftlichen Fragen« dienen aber bei Zimmermann der Monumentalisierung des Monarchen und der eigenen Selbstdarstellung. Zimmermann bezieht die Unerreichbarkeit des Königs in sein Herrscherbild ein: »Gut und nachsichtig war freylich Friedrich der Grosse oft auf eine beynahe übermenschliche Weise; aber E r vergab seiner Würde nichts, auch nicht einmal in Sachen von Etikette.«' 07 Indem der Autor in dem König den Menschen, in dem »Gröste[n] Mann unsers Jahrhunderts« den »liebenswürdigstein]

Mann«' 08

entdeckt,

hebt

er

die

»übermenschliche«

Größe

Friedrichs hervor und geht über die Spannung von politischer Herrschaft und Gelehrsamkeit hinweg: Mit dem innigsten Vergnügen und mit der freyesten Seele, antwortete ich dem König. Es ist aber auch wahr, daß E r mich gewaltig hob und ermunterte. In einem S. 83; vgl. auch den Schluß des Briefs: »Die Ehre mit Herzögen zu conversiren ist zwar ein ganz feines Ding; aber traun! Die Louisdors des Verlegers sind doch auch nicht zu verachten. Vor der Hand, mein holdseliger Knabe, sey also ohne Sorge, daß der Herzog Dich bei mir ausstechen werde.« (Ebd. S. 85). 304 J . G. Zimmermann, Über Friedrich den Grossen, S. 184. Ebd. S. 185—190. Die Probleme, die Zimmermanns Schrift unter diesem Aspekt im einzelnen aufwirft, sind hier nicht zu behandeln. Vgl. dazu Jul. Frdr. v. Knüppeln: »Widerlegung der Schrift des Ritters von Zimmermann über Friedrich den Großen«. Zur Kritik an J . G. Zimmermann vgl. auch Friedrich Nicolai: »Freymüthige Anmerkungen über des Herrn Ritters von Zimmermann Fragmente über Friedrich den Großen« (dieser Text bezieht sich allerdings auf eine spätere, hier nicht herangezogene Veröffentlichung Zimmermanns: Fragmente über Friedrich den Grossen zur Geschichte seines Lebens, seiner Regierung, und seines Charakters, Leipzig 1790). '°6 J . G. Zimmermann, Ueber Friedrich den Grossen, S. 22of. '°7 Ebd. S. 169. >°' Ebd. S. 1}o. 187

fort sagte der König zu mir: das ist sehr gut - das ist vortreflich gedacht und gesagt — ihre Heilungsmanier gefallt mir überaus wohl - Ich freue mich zu sehen, wie sehr unsere Denkart zusammenstimmt. Oft hatte der König die Gnade hinzuzusetzen: aber Ich beschwere Sie mit meinen vielen Fragenl Auf die wissenschaftlichen Fragen, antwortete ich mit Einfalt, Klarheit und Kürze; und konnte mich nicht enthalten, zuweilen mein Erstaunen über die tiefen und frappanten medicinischen Einsichten und Urtheile des Königs zu bezeugen.«' 09 D i e Begegnung zwischen Friedrich II. und Zimmermann erscheint als A u s nahmeereignis, das die Beteiligten persönlich heraushebt,' 10 dem aber keine allgemeine kulturpolitische Bedeutung zukommt. Die fehlende Förderung der »deutschen Muse« verwandelt sich in einen positiven Beleg für die »Festigkeit und Unabänderlichkeit seines Charakters und seiner Gesinnung e n « ; ' " ebenso rechtfertigt Zimmermann Friedrichs Vorliebe für Algarotti, Voltaire und d'Argens: »Der Ton ihres Umganges überwog doch Alles, was der K ö n i g wenigstens von deutschem Gelehrtenwitze sah, hörte und wußte.« Die sogleich einsetzende Kritik an Zimmermanns Hang, sich selbst in den Vordergrund zu stellen, bekräftigt ihrerseits, daß das Gespräch mit dem Fürsten bei Zimmermann seinen emanzipatorischen Aspekt verliert.' 1 2

»°» Ebd. S. 228. Vgl. ebd. S. 231: »Cat versicherte mir: seit dem siebenjährigen Kriege seyen tausend Fremde von Stande nach Potsdam gekommen, um den König zu sprechen, und haben Ihn nicht gesprochen; aber von denen die den König wirklich gesprochen haben, könne sich kein Einziger des Glückes rühmen, daß der König fünf Viertelstunden hindurch sich mit ihm unterhielt.« Vgl. etwa auch S. 32fr »nun ist es wohl allgemein bekannt, daß dieser grosse König da - mich zu sich hat rufen lassen! Z u grösserer Ehre kann kein Arzt in der Welt gelangen. Und der Neid, der nicht verträgt, daß einem andern etwas Merkwürdiges und Schönes begegnet, was Ihm nicht auch begegnet, wie fürchterlich wird der nun über mich, in allen Ländern, wo mir etwa Aerzte aus der niedrigen Klasse, gelehrte Herren, und Schulmeister, nicht gut sind, mit den Zähnen knirschen? Aber ach, wüste doch das neidische Pak, wie mir jezt ist, welche Angst, welcher Unmuth, welche Gefahren, und welche Schrecken mich umgeben: O gewiß, es würde gestehen, solches Glük wünschen wir uns nicht!« Ebd. S. 1 4 ; . Dort weiter: »Aber deswegen sprach E r der deutschen Muse nicht Hohn; darum ließ E r sie doch ihren Reihentanz tanzen; darum war Er, der Purpurträger, ihren rauhen Tönen nicht undankbar. Die deutschen Musen konnten sich sonnen und singen, in Feyerkleidern wallen und iubiliren: nur Friedrich sah und hörte sie nicht!« Von dem Strukturproblem der deutschen Literatur läßt Zimmermann nur die persönliche Vorliebe des Königs übrig. Knüppeln: Widerlegung der Schrift des Ritters von Zimmermann über Friedrich den Großen, S. 74—78. 188

3.2.5.

Freundschaftlicher Patriotismus und Republikanismus: D i e Briefe an die Schweizer

Indem sich Winckelmann an der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzenden Schweizerbegeisterung' 13 beteiligt, entdeckt er die Eidgenossenschaft als politisch-kulturelles Gegenmodell zu Preußen. An den Schweizerbriefen zeigt sich, daß der von Winckelmann im Rückgriff auf sein Antikebild formulierte Begriff republikanischer Freiheit weniger auf ein modernes Staatswesen zuführt als auf die briefliche Freundschaftspraxis. Winckelmann kann auf den als Topos bereits vorhandenen Begriff der republikanischen Schweizer Freiheit' 14 zurückgreifen. Der Beginn des Briefwechsels 1758 fallt etwa mit dem Beginn der »Schweizer Bewegung« zusammen. Der durch Muralt, Haller und Bodmer' 1 ' bereits vorbereitete aufklärerisch-patriotische Geist erhält schärfere Konturen durch die Schriften von Franz Urs von Balthasar (1744, veröffentlicht 1758)' 1 6 , Zimmermann (175 5)' 1 7 und Iselin (1758). Letzterer war zugleich Hauptinitiator der 1761 gegründeten Helvetischen Gesellschaft, in die von Winckelmanns Korrespondenzpartnern Salomon Geßner als Gründungsmitglied (1761), später

Dazu Ziehen; zur Vorbildlichkeit der eidgenössischen Freiheit für die deutschen Patrioten vgl. Prignitz, S. 16. (I4 Die Reisebeschreibungen von Blainville (1707, übersetzt 1764—1766) und Keyssler (1740) enthalten gelegentliche Hinweise auf die Schweizer Freiheit und auf Wilhelm Teil als Symbolfigur (Blainville, S. 357; Keyssler, S. 4), die jedoch nicht als kritisches Modell begriffen wird; vgl. dazu auch Blainvilles Beobachtung, daß die angebliche Freiheit der Schweizer durch die Tyrannei der Landvögte zunichte gemacht werde (S. 396f) sowie Keysslers gänzlich unemphatische Beschreibung der republikanischen Verfassung von Genf (I, S. 199). Johann Jacob Moser widmet zwar seine Denkschrift über »Die gerettete völlige Souveraineté der löblichen Schweitzerischen Eydgenossenschafft« »Denen Hochlöblichen Dreyzehen Cantons Der souverainen und vor allen anderen Europäischen Staaten glücklichen Eydgenoßischen Republic« (1751); über die Dedikation hinaus spielt aber das Lob der Schweiz keine Rolle. Hingegen sind in der »Histoire de mon temps« Friedrichs II. von Preußen (Fassung von 1746) wesentliche inhaltliche Merkmale des Schweizerenthusiasmus bereits versammelt. Friedrich versteht aber Freiheit, Sittenstrenge und republikanische Tugend der Schweizer nicht als Konkurrenzmodell zur Monarchie und auch nicht als Modell einer Kulturnation, sondern wendet sie propagandistisch gegen Österreich und Frankreich; vgl. Ziehen, S. 92-94. Zur Vorgeschichte der Schweizerbegeisterung der zweiten Jahrhunderthälfte, nicht zuletzt auch im (französischen) Ausland, vgl. allgemein Schwarber, S. 100-137. Zur Schweizerbegeisterung bei Johann Michael von Loen vgl. Reiss. ' " Morell, S. 111—155; Antoni, S. 19-63. Franz Urs von Balthasar, Patriotische Träume eines Eidgenossen von einem Mittel, die veraltete Eidgenossenschaft wieder zu verjüngen (1744), ersch. Zürich 1758; diese Schrift war mir leider nicht zugänglich. 5,7 J . G. Zimmermann, Vom Nationalstolz. J,s

189

auch Johann Heinrich Füssli (1765), Leonhard Usteri (1768) und Christian von Mechel (1777) eintraten.'18 Paul Usteri ist über familiäre Beziehungen der Gesellschaft nahe. Mitbegründer war auch der von Winckelmann als Verfasser des Dramas »Junius Brutus« erwähnte Salomon Hirzel.' 1 ' Im Hof hat auf die konstitutive Bedeutung des — weitgehend unpublizierten — Briefverkehrs für die Vorbereitungsphase der Gesellschaft hingewiesen, die aus einem »Korrespondentenkreis« junger Schweizer Gebildeter heraus gegründet worden sei.' 20 Kein Zweifel, daß hier der freundschaftlich-gelehrte Briefverkehr als Mittel der Gruppenorganisation greifbar wird. Mit den Schweizer Korrespondenzpartnern gewinnt Winckelmann Anschluß an eine freundschaftlich' 21 räsonierende Patriotengruppe. Auch wenn die patriotische Emphase sich auf bestimmte Einzelkorrespondenzen konzentriert (Caspar Füssli, Geßner, Mechel), ist der innere Zusammenhang dieser Adressatenreihe klar. Die Bedeutung dieses Faktums ergibt sich aus dem Mangel derartiger Beziehungen während der Zeit in Deutschland; die Nöthnitzer Klagen über Einsamkeit und Isolation sind nicht nur den römischen Selbstpräsentationen gegenüberzustellen, sondern auch der Erfahrung brieflicher Integration in eine Solidargruppe von Gebildeten. Außer den Briefen an die Schweizer sind es im Grunde nur noch die an den englischen Publizisten John Wilkes, in denen Winckelmann einen republikanischen Patriotismus evoziert. Jedenfalls findet sich Ähnliches in den Korrespondenzen mit deutschen Adressaten nicht. Hier fehlen offenbar die politischen und kulturellen Voraussetzungen. Hingegen geht sein Bild von der republikanischen Schweiz eng mit der Darstellung der athenischen Republik in der »Geschichte der Kunst« zusammen. Wichtige Vergleichspunkte sind das Verhältnis von republikanischer Freiheit, Blüte der Kunst, öffentlichem Kulturleben und gesellschaftlicher Position der Künstler und Gelehrten.' 22 In Athen imaginiert Winckelmann das Ideal einer staatlichen Organisationsform, das sich in kritischer Konfrontation mit der Situation der Gebildeten in Deutschland diesen als Modell für ein eigenes kulturelles Selbstbewußtsein anbietet. Den zweiten Teil der »Geschichte der Kunst« strukturiert bekanntlich die These, daß die »äußeren Umstände von Griechenland [. . .] den größten Einfluß in die Kunst haben.«'2' Winckelmann sieht »Blüte und Verfall der ,l8

Capitani, S. 124, 140, 22;. Ebd. S. 126. Vgl. WB 382 an Gessner, 1 7 . 1 . 1 7 6 1 , II S. 114. ' IO Im Hof, Die Entstehung einer politischen Öffentlichkeit, S. 44. Zu weiteren Gründungsaktivitäten der Schweizer vgl. Hubrig, S. 78-92. Zur Bedeutung der Freundschaft in der Programmatik der Helvetischen Gesellschaft vgl. die von Hubrig, S. 72—72 angeführten Belege. Zu diesem Komplex vgl. Maek-Gerard, S. 44f. G K ' , S. 315. Vgl. auch ebd. S. 26. Zum Folgenden vgl. Käfer, S. 50—54; ;8f. 5,9

190

griechischen Kunst als Folge von Blüte und Verfall der griechischen Freistaaten«:5*4 »In Absicht der Verfassung und Regierung von Griechenland ist die Freyheit die vornehmste Ursache des Vorzugs der Kunst.«' 2 ' A u f der Grundlage dieser Freiheit wird die Kunst unabhängig vom Mäzenat und Gegenstand öffentlichen Interesses; die Künstler orientieren sich nicht am Geschmack eines durch die Schmeicheley und Knechtschaft aufgeworfenen Richters [.. .], sondern die Weisesten des ganzen Volks urtheileten und belohneten sie, und ihre Werke, in der Versammlung aller Griechen, und zu Delphos und zu Corinth waren Wettspiele der Malerey unter besondern dazu bestellten Richtern, welche zur Zeit des Phidias angeordnet wurden.'*6 Umgekehrt wählt sich die Kunst das allgemein Interessierende zum Gegenstand. Fontius spricht in diesem Zusammenhang von einer »nationalen« Funktion der Kunst bei den Griechen.' 27 Das Volk findet in den Kunstwerken sein Selbstverständnis formuliert, feiert sich in ihnen und gewinnt in ihnen Größe. Man kann also von einer gemeinschaftsstiftenden Funktion der Kunst bei den Griechen sprechen: Im Festcharakter der Kunst kommt das Volk zu einer erhöhten Anschauung von sich selbst.' 28 Als konstitutives Element des öffentlichen Lebens erlangt auch die Kunst selbst Legitimität und Erhabenheit; ihre Bestimmung zum »heiligste[n] und nützlichste[n] im Vaterlande« verpflichtet sie auf das Gemeinwohl: Der Gebrauch und die Anwendung der Kunst erhielt dieselbe in ihrer Großheit. Denn da sie nur den Göttern geweihet, und für das heiligste und nützlichste im Vaterlande bestimmet war, und in den Häusern der Bürger Mäßigkeit und Einfalt i24

Uhlig, Schiller und Winckelmann, S. 13. Zur Historisierung von Winckelmans Kunstauffassung in der G K gegenüber den »Gedanken über die Nachahmung« vgl. Kreuzer, S. 48—51 u. ö. >" G K " , S. 130. >'6 Ebd. S. 135; vgl. Bürger, Der bürgerliche Schriftsteller im höfischen Mäzenat, S. i43f. 517 Fontius, Winckelmann und die französischen Aufklärung S. 15. Vgl. A G K , S. 30: »Nicht allein dieser Aberglaube, sondern auch die Frölichkeit der Griechen wirkete zum allgemeinen Aufnehmen der Kunst, und die Künstler waren bereits in den ältesten Zeiten beschäftiget Statuen der Sieger in so vielen Spielen zu arbeiten, welche in der Aehnlichkeit der Personen und nicht über Lebens-Größe seyn mußten, worüber die Richter in den Spielen [. . .] genau hielten. Die höchste Ehre im Volke war ein Olympischer Sieger zu seyn, und es wurde dieselbe für eine Seligkeit gehalten: denn die ganze Stadt des Siegers hielte sich Heil wiederfahren; daher diese Personen aus den gemeinen Einkünften unterhalten wurden, und die Ehrenbezeugungen erstrecketen sich auf ihre Kinder; ja jene erhielten von ihrer Stadt ein prächtiges Begräbnis. Es nahmen folglich alle Mitbürger Theil an der Ehre ihrer Statuen, zu welcher sie die Kosten aufbrachten, und der Künstler derselben hatte es mit dem ganzen Volke zu thun.« Vgl. auch G K ' , S. 131; 329. 191

wohnete, so wurde der Künstler nicht auf Kleinigkeiten, oder auf Spielwerke, durch Einschränkung des Orts, oder durch die Lüsternheit des Eigenthümers herunter gesetzet, sondern was er machete, war den stolzen Begriffen des ganzen Volks gemäß.' 2 » Die Kunst erfüllt unter anderem ihre Aufgabe, indem sie das Andenken derer aufbewahrt, die sich um das Gemeinwohl verdient gemacht haben.' 5 0 Potentiell ist jeder qualifiziert, in die kollektive Erinnerung aufgenommen zu werden: »Die Kunst wurde schon sehr zeitig gebraucht, das Andenken einer Person auch durch seine Figur zu erhalten, und hierzu stand einem jeden Griechen der W e g o f f e n « . " 1 Die so Geehrten, unter ihnen die Künstler, legen ihre Anonymität ab; Winckelmann weist darauf hin, daß Künstlerporträts zusammen mit Götterstatuen verehrt wurden und daß andere Künstler »ihren Namen auf ihr Werk, und Phidias den seinigen zu den Füßen des Olympischen Jupiters« setzten." 2 In den Porträtstatuen erkennt das Volk exemplarisch die eigene virtuelle Individualität und Größe wieder; umgekehrt sind die Künstler in ihren Werken gegenwärtig und treten in ihnen als identifizierbare, gesellschaftlich handelnde Individuen

hervor.

Hingegen führt nach Winckelmann bei den Völkern des alten Orients »die Monarchische Verfassung [ . . . ] , in welcher der unumschränkte Herr die höchste Ehre mit niemanden im Volke theilete«, dazu, »daß das Verdienst keiner andern Person um sein Vaterland, mit Statuen belohnet worden, wie in freyen, so wohl alten als neuen, Staaten geschehen.« 3 " In der athenischen Republik, die nicht die Integration der einzelnen in ein staatliches Interesse verlangt, sondern sich eher als Vereinigung gebildeter Individuen versteht," 4 ist die Staatlichkeit nicht negiert, aber in

»'» G K ' S. 137. ,J ° Vgl. z. B. ebd. S. 327 zum Aufschwung des Kunst nach dem Ende der Perserkriege: »Unter so vielen Statuen der Götter, wurden auch die verdienten Männer, die für ihr Vaterland bis in den Tod gefochten, nicht vergessen«. " ' Ebd. S. 130; vgl. auch ebd. S. 136: »Ueberhaupt wurde alles vorzügliche in allerley Kunst und Arbeit besonders geschätzet, und der beste Arbeiter in der geringsten Sache konnte zur Verewigung seines Namens gelangen.« Ebd. S. 134. Ebd. S. 78. Vgl. auch ebd. S. 372, wo Winckelmann zum Vorteil Trajans ausführt, daß er die »Ehre einer Statue [. . .] sich nicht allein, mit Ausschließung anderer, anmaßete, sondern mit wohl verdienten Männern theilete«. »4 Vgl. Wölfel, S. 91. Z u r Relation von Kunst und republikanischer Freiheit bei Winckelmann vgl. auch Baeumer, Klassizität und republikanische Freiheit, S. 195—202. Baeumer nimmt jedoch die Kunstzentrierung von Winckelmanns Republikanismus nicht wahr; nur deshalb kann er annehmen, daß Winckelmanns Lehren erst in Frankreich — mit Blick auf die französische Revolution — und in Amerika bei Jefferson auf fruchtbaren Boden gefallen seien (S. 202-216), während man in Deutschland die »begeisterte Verkündigung der republikanischen Freiheit und ihre ausführliche Behandlung als Voraussetzung und vornehmste Ursache 192

ihrer Gesamttendenz auf die Kunst ausgerichtet. Auch die dem Peloponnesischen Krieg vorhergehenden Kämpfe der perikleischen Zeit — der nach Winckelmann vielleicht einzige Krieg, »der in der Welt geführet worden, in welchem die Kunst, welche sehr empfindlich ist, nicht allein nichts gelitten, sondern sich mehr, als jemals, hervor gethan hat« — scheinen nicht in ihren politischen Hintergründen und Auswirkungen bemerkenswert, sondern als Antrieb zu schöpferischem Handeln: »In demselben haben sich die Kräfte von Griechenland vollends und gänzlich ausgewickelt; und da Athen und Sparta alle ersinnliche Mittel ausforscheten und ins Werk setzten, ein entscheidendes Uebergewicht auf die eine oder die andere Seite zu lenken, so offenbarete sich eines jeden Talent, und aller Menschen Sinne und Hände waren beschäftiget.«"' Demgemäß besteht die Größe Griechenlands in seinen Kunstleistungen. Über die Zeit nach den Perserkriegen schreibt Winckelmann: »Damals war ein Grund zur Größe von Griechenland geleget, auf welchem ein dauerhaftes und prächtiges Gebäude konnte aufgeführet werden: die Weisen und Dichter legten die erste Hand an dasselbe, die Künstler endigten es, und die Geschichte führet uns durch ein prächtiges Portal zu demselben.«" 6 Winckelmann konzipiert eine Republik, deren Wesen nicht in Verfassungsnormen oder staatlichen Institutionen und nur im Bereich historischer Voraussetzungen als politisch-militärischer Faktor, wohl aber in den Kunstwerken konkret faßbar wird. Dieses Modell liefert die Einbettung für den auf die deutsche Gebildetenproblematik zu beziehenden Gedanken einer individualistischen Geschmacksbildung jenseits von Gesellschaftskultur und staatlicher Größe. Auf diesen Zusammenhang hat schon Fontius aufmerksam gemacht; danach tritt Winckelmanns Idealisierung der athenischen Polis in eine durch die historischen Voraussetzungen in Deutschland begründete Konkurrenz zur Verherrlichung des französischen »Grand siècle« bei Voltaire," 7 dessen Abkehr von der Herrscherhistoriographie er zugleich auf die Kunst übertrage." 8 Von einer »republikanisch-revolutionären Tendenz«" 9 kann allerdings bei Winckelmann gerade keine Rede sein. Der Schweizer Republikanismus erscheint in den Briefen potentiell als Hort patriotischer Kultur. Die Rom-erfahrenen, auf die griechische Antike höchster klassischer Kunst [. . .] über zoo Jahre geflissentlich übersehen« habe (S. 201). Ähnliche Vorbehalte gelten gegenüber Thalheim, S. 132-136. Baeumer seinerseits übersieht die Weiterentwicklung von Winckelmanns Position etwa bei Schiller (dazu Uhlig, Schiller und Winckelmann). >" G K 1 , S. 329. » 6 Ebd. S. 328. Fontius, Winckelmann und die französische Aufklärung, S. 13—16. " s Ebd. S. 18. Zum Einfluß von Dubos, Montesquieu und Voltaire in diesem Punkt auch Flavell, S. 87. Fontius, Winckelmann und die französische Aufklärung S. 16. 357

193

orientierten Künstler und Gelehrten nähern sich in Winckelmanns brieflichen Projektionen jener Position an, die der Briefschreiber als patriotischer Lehrer für sich beansprucht und die er im antiken Athen verwirklicht sieht. Die rhetorisch erhöhte sprachliche Gestaltung der im Folgenden kommentierten Briefstellen und ihre Einbettung in briefliche Alltagsgeschäfte machen von vornherein klar, daß Winckelmann hier nicht auf einen poetischen Illusionseffekt zielt; auch für die weiteren Analysen zu den Freundschaftskorrespondenzen gilt, daß die Briefe selbst die Freundschaftdarstellungen in ihrem konstruierenden, entwerfenden Charakter zeigen. Der kulturellen Leistung entspricht eine Anerkennung durch das Publikum, die den Gebildeten in die Gesellschaft integriert und ihm eine anerkannte Rolle zuweist. Das Studium der Kunst in Rom und die Verbreitung des guten Geschmacks im »Vaterland« einerseits sowie die Existenz eines aufnahmebereiten Publikums andererseits beziehen sich aufeinander und setzen sich wechselseitig voraus. Winckelmann zeichnet das Bild von einer in öffentlichen Bezügen sich entfaltenden ästhetischen Bildung: Zehen Fürsten-Kinder, sagte ich, mögen in ihr Nichts zurück gehen für einen einzigen würdigen freyen Basler Bürger, Künstler und Freund. Ihr Vaterland selbst sollte Ihnen, Mein Freund! öffentlich Glück wünschen, wenn es den Werth eines Mecheln, auch außer deßen Kunst betrachtet, erwegen wollte: ich würde es öffentlich und gedruckt thun, wenn ich Zeit zu denken hätte.'40

Über sich selbst schreibt Winckelmann (ironisch?) an Stosch, er wolle nach dem Tod Albanis »vielleicht in Zürich mein Leben [. . .] beschließen, sonderlich da eine Stunde von der Stadt ein Catholisches Kloster ist. Die ganze Stadt ist erböthig an meine Aufname zu gedenken und mich persönlich einzuhohlen.«' 41 Als Gegenentwurf zum preußischen »Despotismus« setzt die Korrespondenz die Idee einer Republik voraus, die ihre Identität nicht aus einer in politischen Institutionen greifbaren Staatlichkeit gewinnt, sondern sich primär als Organisationsform nichthöfischer Kultur versteht.' 42 Die um den Leitwert der Kunstkompetenz sich konstituierende Republik überholt in ihrem Selbstverständnis den Fürstenstaat. Das freie Gemeinwesen (»Vaterland«) ersetzt als Motivationsrahmen und als Forum den Hof. 54 ' Der patriotisch gestimmte Briefverkehr erweist sich damit als Freiraum, in welchem J4

° WB 816 an Mechel, 14.12.1766, III S. 225. *" WB 671 an Stosch, 12. 8.1764, III S. 53. ,4! Zu Winckelmanns Freiheitsbegriff vgl. Rüdiger, Winckelmanns Geschichtsauffassung, S. 1 1 0 - 1 1 9 . Rüdiger bringt die Freiheitsauffassung mit Winckelmanns Shaftesbury-Lektüre zusammen. Vgl. auch Bosshard, S. 150-163. i4i Zum Fürsten als Bezugspunkt des Reisens im 17. Jahrhundert vgl. Berns, S. 15 6— 158; zu dessen funktionaler Ablösung durch einen nationalen Orientierungsrahmen vgl. mit Bezug auf Frankreich Kohn, S. 226. 194

sich die Korrespondenten eigenmächtig als Gemeinschaft der Kunstgebildeten entwerfen können: Euer Vaterland wird sich künftig rühmen können, den größten Kenner zu besitzen, welcher richterlich wird entscheiden können. Einen solchen Kenner zu ziehen ist noch keinem Fürsten gelungen, so viel mir wißend ist; es ist auch das FürstenGeschmeiß nicht würdig dieses Vorzugs; ja es sollte mir meine Dienstwilligkeit gereuen, wenn nicht sein Vaterland vornemlich den Genuß von ihm haben sollte. Die ganze Stadt sollte einen Beytrag thun zum Behuf deßelben, um sich deßen mit mehrerer Gerechtigkeit und Anforderung rühmen zu können.'44

Vermutlich entwickelt Winckelmann diese Vorstellung von der Schweiz nicht ohne einen Blick auf das in Deutschland unerreichbare Modell Frankreichs. In Übereinstimmung mit einer auch von Zimmermann vertretenen Meinung' 4 ' bietet nämlich ihm zufolge die zentralistische französische Monarchie auf ihre Weise ebenfalls die Voraussetzungen für ein kulturelles Leben, das dem Künstler und Gelehrten die ihm zustehende Achtung gewährt. Eine Bemerkung gegenüber dem französischen Architekten Charles Louis Clérisseau läßt erkennen, daß Winckelmann in der Tradition des Bildes von einer vorbildlichen Kunstförderung in Frankreich den Aufbau einer Nationalkultur in Abhängigkeit vom Ansehen der Gebildeten sieht, auch wenn seine Bemerkungen teils eher appellativen Charakter tragen. Auf das patriotische Handeln — Clérisseau erforscht die »antiquité de Nîmes« — antwortet die Anerkennung des »Vaterlandes«: C'est le plus sûr moyen de Vous faire des mérités pour Votre patrie laquelle n'a été jamais ingrate à ses citoyens qui se distinguent, comme le sont le[s] princes d'Allemagne, qui n'estiment que le rebut de l'Italie et de la France, en abaissant l'esprit national.' 4 '

Mit der Idee von einer um die Kunst zentrierten Republik korrespondiert gelegentlich eine Darstellung der eigenen Freiheit in Rom. Diese beruht ebenfalls nicht auf politischen Institutionen, sondern hauptsächlich auf der Unwirksamkeit staatlicher Machtmittel, und gipfelt in der Möglichkeit des Umgangs mit den antiken Kunstwerken. Winckelmann schreibt in diesem Sinn an Wilkes:

J44

WB 626 an C. Füssli, 20.1.1764, III S. 9. ' J . G. Zimmermann, Vom Nationalstolz, S. 154-167; Zimmermann nennt aber zusätzlich z. B. England; vgl. ebd. S. i 7 i f . >4 ' WB 934 an Clérisseau, 3.2.1768, III S. 365. Vgl. auch schon 916 an Clérisseau, 9.12.1767, III S. 332: »Je Vous felicite de Vos entreprises, et le Public Vous en doit ses applaudissemens, sur tout Votre patrie, comme à un digne citoyen qui formé au sein et à la source du bon gout, vient à exercer ses talens à tirer de l'obscurité des monumens de l'ancienne grandeur Romaine et à les rendre celebres«.

34

!95

Je plains mon sort qui m'a privé du plaisir de Vous promener sur toutes les traces du terrain, où nacquit le prototype de la liberté dont Vous defendés la copie. Ces traces semblent être encore fécondées de son ancien germe, le quel avec l'aide de l'imagination anime un coeur bien né: car à Rome il y a beaucoup qui commandent, et personne n'obeït; et pour moi j'y respire une liberté, que je n'aurois pas pu trouver ailleurs.347 G l e i c h w o h l nähern sich die S c h w e i z e r b r i e f e a m weitesten der Idee eines G e m e i n w e s e n s republikanisch gesinnter B ü r g e r . D i e F r a g e , i n w i e w e i t hier politische V o r s t e l l u n g e n der S c h w e i z e r selbst eine R o l l e spielen, b e d ü r f t e einer g e n a u e r e n U n t e r s u c h u n g . E i n H i n w e i s k ö n n t e sein, d a ß W i n c k e l m a n n in seinem B r i e f an G e ß n e r im G e g e n s a t z z u seiner s o n s t i g e n O r i e n t i e r u n g am a n t i k e n G r i e c h e n l a n d das i h m n o c h n i c h t b e k a n n t e »sehnlich« erwartete Trauerspiel »Brutus des Herrn H ü t z e l s « mit der e i g e n e n Situation in R o m in V e r b i n d u n g b r i n g t , » w o ich den S p u r e n des B r u t u s und der G ö t t l i c h e n F r e y h e i t nachspüre«. 5 4 8 D a s a m a n t i k e n M u s t e r orientierte Idealbild einer freien S c h w e i z u m f a ß t nicht die G e s e l l s c h a f t der an der p o l i t i s c h e n M a c h t a u s ü b u n g partizipierenden S t a a t s b ü r g e r , s o n d e r n die der ethisch-ästhetisch g e b i l d e t e n I n d i v i d u e n . A n die Stelle des Staatsbürgers setzt W i n c k e l m a n n d e n F r e u n d . ( Z u m Z u s a m m e n h a n g v o n Freiheit und F r e u n d s c h a f t hat er sich m e h r f a c h in seiner K o r r e s p o n d e n z geäußert.) 3 4 9 In den S c h w e i z e r b r i e f e n k a n n sich bürgerlic h e r G e m e i n g e i s t in e i n e m emphatischen B e g r i f f f r e u n d s c h a f t l i c h e r T u g e n d k o n k r e t i s i e r e n . G e g e n ü b e r P. Usteri r ü h m t W i n c k e l m a n n Z ü r i c h als »das V a t e r l a n d der T u g e n d der F r e u n d s c h a f t u n d der V e r n u n f t « ; " 0 in e i n e m a m W B 882 an Wilkes, 22. 7.1767, III S. 289. Vgl. G K " , S. 28. W B 382 an Gessner, 17.1. 1861, II S. 114. Auch gegenüber Biinau lobt Winckelmann Hirzeis Drama: »In der Schweitz ist ein Trauerspiel, der Brutus, unter der Preße, welches Kenner über alle neuere Stücke, und weit über Voltaires Brutus erheben« (393 an Bünau, 14.3.1761, II S. 126). Nach Wölfel, S. 197 ist ein antiindividualistischer Republikanismus, der sich auf römische Vorbilder beruft, in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts überhaupt nur bei den Schweizern um Bodmer zu finden. Es ist aber bemerkenswert, daß Winckelmann sich distanziert über Wilkes' »Letter to his Grace the Duke of Grafton« äußert, der auf der Rechtsbasis der Habeas-Corpus-Akte gegen den »Despotismus« der absolutistischen Administration und Jurisdiktion protestiert (Wilkes, S. 216): »Der berüchtigte Wilkes hat mir von Paris eine schreckliche Schrift wider den Lord Chatham geschicket, welches ein Brief ist an den Due of Grafton.« (WB 848 an Stosch, 9.5.1767, III S. 257). Umgekehrt bemerkt Wilkes, Winckelmann habe »the greatest part of his life under the despotism of the Roman Pontifs« verbracht, besitze allerdings »a heart glowing with the love of liberty, and sentiments worthy the freest republicks of antiquity« (WB 128 Wilkes [Frühjahr 176;], IV S. 244). «9 Vgl. als Beispiel aus der vorrömischen Zeit W B 114 an Berendis, [2;. 7.1755]. I S. 181: »Freyheit und Freundschaft sind beständig der große En[d]zweck gewesen, der mich in allen Sachen bestimmet hat: die erste habe ich erjaget: und durch diese kann ich hoffen die andere künftig ohne Abwechselung zu genießen.« W B 796 an P. Usteri, 7.9.1766, III S. 203.

196

selben Tag geschriebenen Brief an Mechel heißt es: »Unter dem engen Altare der Freundschaft ist unsere Verbindung von mir beygeleget, w o derselben ein immerwährendes reines Feuer unterhalten wird, unter der Aufsicht der Tugend.« 3 ' 1 Freundschaft ist in einem in der Frühphase der Beziehungen zur Schweiz im erhabenen Ton verfaßten, öffentlichkeitsnahen Brief an Caspar Fiissli nicht nur als private Bestimmung konzipiert: Ich habe den Mann in Sie gefunden, den jener Weise suchte, und einen Freund, welchen die Erniedriger der Menschlichkeit vor einen Phönix halten. Es ist mir gelungen, was ich gewünscht, in dem Lande wo sich der Same der Redlichkeit erhalten, und wo die Freyheit, die den Geist erhebt, auch fähigere Seelen zur Freundschaft bildet, einen Freund zu besitzen. [. . .] Ihr Schreiben läßet mich fast fühlen, daß ich unter einem Tirannen gebohren bin; und ich kann mich nicht dahin erheben, wohin ich wollte, um Ihnen so erhaben, wie es Ihr Schreiben verdient, zu antworten." 2 Gerade die Anlehnung des Bildes von der Schweiz an die rückwärtsgewandte Utopie des klassischen Athen ist vermutlich dafür verantwortlich, daß bereits einige der zitierten Briefstellen Momente eines Ungenügens an der Wirklichkeit zeigen. Das »Vaterland«, das den von einer Krankheit genesenen Mechel »öffentlich« beglückwünschen »sollte«, wie auch die »ganze Stadt«, die den ebenfalls Rom-erfahrenen Heinrich Füssli unterstützen »sollte«, spricht Winckelmann nur appellierend an. Von hier aus erklärt sich vielleicht, daß Winckelmann an Riedesel schreibt, es sei »nicht zu vermuthen«, daß »man in der Schweiz das wahre Schöne kennen solle«."' Die Entwicklung eines eigenen Kulturmodells gelingt um den Preis seiner Verschiebung in eine unbestimmbare Z u k u n f t . " 4 Wie die Korrespondenten um Klotz nimmt Winckelmann in seine Briefe Signale auf, die den patriotischen Sinn der literarischen und historischen Arbeit der Adressaten oder Dritter bestätigen, das Gruppenbewußtsein eines gemeinsamen Engagements und gemeinnützigen Handelns kräftigen >" W B 79; an Mechel, 7. 9.1766, III S. 203. " 2 W B 225 an C. Füssli, 2 7 . 7 . 1 7 5 8 , I S. 400. WB 698 an Riedesel, 3 0 . 3 . 1 7 6 5 , III S. 92. Vgl. auch 299 an Stosch, 2 ; . 8.1759, II S. 24: »In der Schweiz würden Sie wie in der Einöde mit Verdruß leben, und in Berlin würden künftig keine Theater eröffnet werden können.« Zur positiven Einschätzung des kulturellen Eifers der Schweizer vgl. hingegen noch 780 an Michaelis, 1 2 . 7 . 1 7 6 6 , III S. 184^ 781 an Walther, 1 2 . 7 . 1 7 6 6 , III S. 186; 783 an Goessei, 23. 7.1786, III S. i89f (Jeweils über die Aufnahme der »Allegorie«). 5,4 Während Thalheim, S. 190, Winckelmanns Griechenbild als Utopie geradezu damit entschuldigt, daß es »den Kampf des Bürgertums im welthistorischen Sinne« rechtfertige und darum »einen aktiven, revolutionären Charakter in den nationalen Kämpfen des deutschen Bürgertums im 18. Jahrhundert« trage, wird hier die Ansicht vertreten, daß es gerade das Utopische, Unerreichbare und zudem NichtRevolutionäre ist, mit dem sich Winckelmanns Griechenbild von früheren Modellen der gebildeten Identitätssuche löst.

«97

und den Briefschreiber selbst in die Gemeinschaft der Patrioten einfügen. Die freundschaftlich-patriotische Korrespondenz schließt mit dem Raum, den sie römischen Ausgrabungsberichten, der eigenen Tätigkeit und diversen (gelehrten) Geschäften einräumt, an Usancen des Gelehrtenbriefwechsels an und entwickelt sie weiter, indem sie sie neu begründet und ihren sozialen Anspruch neu definiert. Zu den kommunikativen Funktionen des Briefwechsels gehört der Zusammenschluß der vereinzelten Intellektuellen zur Gesellschaft der sich selbst kulturell organisierenden Bürger. Winckelmann bedankt sich für Geßners Idyllen als Beitrag zur nationalen Kultur: Gestern habe ich meinem Freunde, Herrn Mengs, die Hälfte derselben vorgelesen, und er freuet sich, als ein eifriger Patriot unseres Volks, daß unter demselben Seelen mit so Mahlerischen, Harmonischen, Zärtlichen und Tugendhaften Empfindungen gebohren, und denen der Himmel das Talent verliehen, dieselbe mit eben dem Gefühle auszudrücken, und in andern zu erwecken. 3 "

In diesem Sinn erkennt Winckelmann seinen Freunden den Ehrentitel »würdiger Patrioten« zu, die »dem Deutschen Namen Ehre« machen." 6 Eine gesonderte Erwähnung verdienen in diesem Zusammenhang — außerhalb des Kontexte der Schweizerbriefe - die Schreiben an den Kurator der Göttinger Universität, Gerlach Adolf von Münchhausen, die Winckelmann jeweils mit einer Anerkennung des Adressaten als »Pfleger und Beschützer der Deutschen Musen« einleitet, der seine »Leibes- und Seelenkräfte zum Flor der Wissenschaften, und zum Ruhm der Deutschen Nation« einsetze." 7 Auch gegenüber Münchhausen deutet Winckelmann die geselligkeitsbildende Rolle des Briefwechsels an; einem Prinzen, der »gesagt, daß er nicht begreife, wie man Deutsch, und im Deutschen gut schreiben könne«, wird Münchhausen als patriotischer Korrespondenzpartner gegenübergestellt, »den aller Deutschen Zungen als den höchsten Erwecker, Beschützer und Belohner der Talente unsrer Nation besingen«: »So betrübt mir dieser Gedanke, und erniedrigend für das schätzbarste Volk unter allen war, so sehr erhob sich wieder mein Herz bey Lesung E. E. ehrwürdigen Zeilen«." 8 In den Briefen von Münchhausen klingen ebenfalls patriotische Töne an." 9 WB 382 an Geßner, 1 7 . 1 . 1 7 6 1 , II S. 114; vgl. auch 426 an Geßner, 20.6.1761, II S. 161. 3.6 WB 126 an Wille, 27.1.1765, I S. 200; 210 an Bünau, 26.4.1758, I S. 350 (über Graf Firmian); 219 an Stosch, 13. 6 . 1 7 ; 8, I S. 350 (über Wille und C. Füssli); 364 an Stosch, 14.6.1760, II S. 90 (über Wille); 629 an Wille, 28.1.1764, III S. 12 (über den Maler Weirather); 822 an Graf Wallmoden, 24. τ. 1767, III S. 231 (über den Adressaten selbst). 3.7 WB 854 an Minister von Münchhausen, 16.5. 1767, III S. 262; vgl. an denselben: 872, 5.7.1767, III S. 282; 898, 15.8.1767, III S. 308. 38 ' WB 932 an Minister von Münchhausen, 23.1.1768, III S. 360. WB 69 von Minister von Münchhausen, 17. 2. 1768, IV S. 108 (mit Bezug auf den eben zitierten Winckelmann-Brief); 70 von Minister von Münchhausen, 20. 2.1768, IV S. 109. 198

Winckelmann beschwört immer wieder den Zusammenhang von patriotischer Gesinnung und freundschaftlichen Empfindungen. In einem ebenfalls in erhabenem Ton verfaßten und bereits auf Formulierungen aus der Vorrede der »Geschichte der Kunst« verweisenden Dankesbrief an Wille, der zusammen mit C. Füssli Winckelmanns erste Reise nach Neapel finanziell unterstützt hatte,' 6 " gehen beide eine emphatische Verbindung ein: Freund, welcher der Menschlichkeit Ehre macht, und den Wehrt der höchsten menschlichen Tugend erhöht! wie soll ich antworten? wie soll ich annehmen, was Sie mir schenken? Stolz über mein Vaterland, fruchtbar an Freunden, und über den, den niemals mein A u g e gesehen, gehe ich in Betrachtung Gott so ähnlichen Seelen fast bis zur Empfindung eigener Würdigkeit, zu welcher mich Freunde erhöhen. Aber erniedriget und bloß, läßt mich meine Unfähigkeit in Verwirrung, und ob ich gleich ein Mittel sehe, unserem Vaterlande wißen zu lassen, wie es sich zu schätzen hat über zwey Menschen, die weit erhaben sind, über den Begriff der Mächtigen der Welt, so bleibe ich ungeduldig, weil es Zeit gebrauchet, es auszuführen, und dennoch der That nicht würdig werden kann.' 6 '

Der nationale Rahmen verhilft dem freundschaftlichen Handeln zu Öffentlichkeit, Größe und dem Recht auf eine »hohe« Sprache; im Patriotismus werden Öffentlichkeitsbezug und praktischer Wirkungsanspruch der Freundschaft manifest. Umgekehrt bezeichnet der Begriff der Freundschaft die zwischen den Patrioten sich konstituierende Verbindung. Der freundschaftliche Zusammenhalt der Patrioten schaltet tendenziell die ständische Differenzierung aus und ersetzt sie durch den Verkehr gleicher Bürger. In einem Brief an Münchhausen streben patriotischer und freundschaftlicher Ton aufeinander zu: Diese Vertraulichkeit mit welcher ich E . Excellenz zu schreiben mich verdreiste, kann, glaube ich mit der höchsten Verehrung, bestehen, die ich gegen Dieselben als den allgemeinen Vater der patriotisch gesinneten Deutschen und Wissenschaften niemahls genug wiederholen kann.' 62

Bereits zuvor hatte Winckelmann im selben Brief auf die Titelanrede verzichtet und mitgeteilt, er erwarte »künftig Befehle mit der Anrede: Mein lieber Winckelmann, und nichts weiter.«' 6 ' (Deutlich ist hier dieselbe freundschaftliche Stilisierungsabsicht, die auch den Berichten über Anhalt-Dessau zugrundeliegt.) In der Überschreitung ständischer Distan-

Vgl. Justi' Bd. III, S. 64-68. W B 208 an Wille [nach Mitte April 1758], I S. 348; eine ähnliche Formulierung in 2 1 9 an Stosch, 1 3 . 6 . 1 7 5 8 , I S. 378; die Unterstützung durch Wille und Füßli sei »ein Bezeigen welches der Menschlichkeit und unserer Nation, fruchtbar an Freunden, Ehre macht.« Vgl. G K ' , Vorrede S. X X V . ,6i W B 898 an Minister von Münchhausen, 1 5 . 8 . 1 7 6 7 , III S. 308. ''» E b d . S. 307. 161

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zierungszeichen, im Medium freundschaftlicher Sprache kommt die gesellschaftsbildende Intention des patriotischen Briefverkehrs zur Geltung. Es scheint, daß im literarischen Medium der Briefliteratur am ehesten Patriotismus als Einheit von republikanischer Gesinnung, Bildung und Freundschaft gelingt. Die in einem Brief an P. Usteri angedeutete Weihestätte der Freundschaft, in der diese Elemente die Gestalt eines öffentlichen Denkmals annehmen, ist deshalb von vornherein ein literarischer (brieflicher) Entwurf: »Wird Gott meinen letzten Wunsch mit Erfüllung krönen, so soll in Zürich ein sechseitiger Altar der Freundschaft aufgerichtet werden, mit eben so viel Namen bezeichnet; bey demselben wollen wir zugleich dem Genius opfern [. . ,]«.' 64 Rom, Italien und die griechische Antike müssen als transzendierende Größe in den Briefen an die Schweizer präsent bleiben. Winckelmann berichtet an Caspar Füssli von einem Besuch in Pesto während seiner ersten Reise nach Neapel: ich reißte mit 2 cöllnischen Cammerherrn und einem Hamburger dahin, und da wir zu Salerno zu Schiffe giengen, wandten wir unsere Augen nach unserm Vaterland zurück, und redeten da wohin wenig Deutsche gekommen sind, von denen die unserer Nation Ehre machen und der Hamb. Hr. von Volkmann sagte mir Stellen aus Hrn. Geßners Idyllen vor.' 6 '

Zugleich dem Vaterland und ihrem Ziel zugewandt, erkunden die Reisenden das Altertum; der Weg in die Antike führt über das Bestehende hinaus. In diesem Sinn konstituieren sich Reisende und Zurückbleibende brieflich als freundschaftliche Gruppe, die die Altertumsforschung als patriotische Aufklärungsarbeit anerkennt und im Prozeß historischer Rekonstruktion ein neues Selbstbewußtsein entwickelt. Der Briefverkehr, in welchem sich die Patrioten zu einer literarisch disputierenden Gruppe zusammenfinden und die Gemeinnützigkeit und übergreifende Bedeutung ihrer Aktivitäten bestätigt sehen, nimmt gewissermaßen selbst das Konzept einer »Kultur-Republik« vorweg. Dies gilt auch über den Rahmen der Briefe an die Schweizer hinaus. Unter den Aspekten von »Ruhe und Zufriedenheit« und »Freundschaft«, die jeweils eine Verbindung zwischen Kunsttheorie und Geselligkeit herstellen, soll diese These im folgenden weiter vertieft werden. Was Winckelmann als tragendes Prinzip des athenischen Gemeinwesens postuliert, nimmt unter »modernen« Bedingungen den Charakter eines »privaten« Humanitätsideals mit dem Anspruch 164

W B 796 an P. Usteri, 7 . 9 . 1 7 6 6 , III S. 203. Dazu auch 795 an Mechel, 7 . 9 . 1 7 6 6 , ebd.

>6' W B 225 an C. Füssli, 2 7 . 7 . 1 7 5 8 , I S. 400.

200

auf allgemeine Geltung an.'66 Diese Tendenz läßt sich nicht in der zeitlichen Abfolge der Briefe aufspüren, aber sie ist in der Struktur der Gesamtkorrespondenz angelegt.

V g l . W ö l f e l , S. zoo: »Zu einem Werk utopisch offener Z u k u n f t wird dieser Bildungsauftrag der Menschheit an sich selbst, w e i l er die G a t t u n g als S u m m e aller Individuen einbegreift. M i t der G e g e n w a r t v e r k n ü p f t er sich nicht durch K o m promiß und mildernde A b s c h w ä c h u n g g e g e n ü b e r dem real Bestehenden, sondern durch seine Wendung z u m Einzelnen statt zur Gattungsgesamtheit.« Allerdings g e n ü g t für die B e w e r t u n g dieses Republikanismus nicht der H i n w e i s auf sein » U n v e r m ö g e n , sich mit den realen Beständen und Tendenzen des Zeitalters zu vermitteln« (ebd. S. 204). V i e l m e h r ist auf die Leistung dieses K o n z e p t s bei der A u s b i l d u n g eines sozialen und nationalen Selbstbewußtseins der Gebildeten und bei der Entstehung einer klassischen Literatur in Deutschland zu verweisen.

201

3·3·

»Ruhe und Zufriedenheit« in den Briefen an Stosch, Riedesel und Mengs

3.3.1.

»Der Weise auf dem Lande«

Eine thematische Konstante nicht nur der Freundschaftskorrespondenzen, sondern auch der »großen Selbstdarstellungen« stellen die verschwisterten Stichworte »Ruhe« und »Zufriedenheit« sowie der angrenzende Begriff des »Vergnügens« dar.1 Von letzterem, dem »Zufriedenheits«-Begriff her sollen gattungsgeschichtliche Aspekte der freundschaftlichen Korrespondenzen untersucht werden. Winckelmanns Zufriedenheitsbekundungen seit 1755 sind eng mit dem römischen Lebens- und Arbeitsraum verknüpft. An Wiedewelt schreibt er: »Ich lebe vergnügt und glaube mit schwerem Herzen aus Rom zu gehen.«2 Derselbe Brief schließt mit der Aufforderung: »Lebet vergnügt und suchet Rom wieder zu sehen.«3 Gelegentlich hatte Winckelmann den Begriff »Zufriedenheit« auch in vorrömischer Zeit gebraucht, etwa bei seinem Auszug aus Seehausen4 oder in Nöthnitz.' Jedenfalls konzentrieren sich die Zufriedenheitsbekundungen auf die Briefe an deutsche Adressaten — wie hier zunächst an Stosch — und sind ζ. B. in den Schweizerbriefen seltener. Ob von hier aus eine weitere Differenzierung der brieflichen Freundschaftspraxis möglich ist, müßten weitere Untersuchungen zeigen. Die emphatischen Bekundungen von Zufriedenheit und Freundschaft, von denen in den fol' Vgl. zur Stimmungslage der »Zufriedenheit« in Winckelmanns Briefen Zeller, S. 2 3 Z - 2 3 5 · !

W B 470 an Wiedewelt, 3 . 3 . 1 7 6 2 , II S. 208. ' Ebd. S. 209. Vgl. auch W B 402 an Wiedewelt, 1 4 . 4 . 1 7 6 1 , II S. 140; 458 an Stosch, 6 . 1 2 . 1 7 6 1 , II S. I94Í. 4

W B 65 an Uden, 7 . 1 2 . 1 7 4 9 , I S. 93: »Was mich anbetrifft, bin ich außer der Sorge wegen meines Vaters wohl zufrieden, und danke es dem gütigen Geschick daß es mich aus der Schul Märteley und andern Plackereyen hieher gebracht hat. Ich würde sonsten nicht erfahren haben, was Ruhe heißt, dafür ich aller Welt Güther geben wollte.« Vgl. auch 94 an Uden, [29. 3 . 1 7 5 3 ] , I S. 1 3 3 .

' W B 106 an Berendis, [ 2 9 . 1 2 . 1 7 5 4 ] , I S. 163: »Gott weiß, ich bin zur wahren Zufriedenheit gelanget, die mir kein menschlicher Zufall rauben soll noch kann. E s ist kein Augenblick gewesen, w o mir es gereuet, Nöthnitz verlaßen zu haben: es schielet mich itzo kein neidischer Hund mehr an.«

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genden Untersuchungsabschnitten noch die Rede sein wird, haben ihren Schwerpunkt in den späteren römischen Briefen. Gründe dafür dürften einerseits in dem Prozeß der Ausbaus und der Intensivierung freundschaftlicher Briefverbindungen liegen, andererseits in einer - durch äußere Umstände mitbedingten — Festigung des Gedankens einer Dauerexistenz in Rom. Statt die Entwicklung der Zufriedenheitsprogrammatik chronologisch zu verfolgen, werden sich die folgenden Kapitel vor allem auf die römische Spätphase konzentrieren. Das Scheitern der Berufung nach Berlin überspielt Winckelmann gegenüber Schlabbrendorf mit wiederholten Hinweisen auf die römische Zufriedenheit: ich werde hier meine Knochen, aber vielleicht in der Ruhe und Zufriedenheit, die ich bisher genoßen habe laßen. Kein Monarch in der Welt kann mir wider geben, was ich hier laße, und die Zufriedenheit mißet sich nach unseren Bedürfnißen, die hier weniger sind.6

Bereits auf die geringen Aussichten, während des siebenjährigen Krieges nach Sachsen zurückkehren zu können, hatte Winckelmann gelegentlich mit einer Berufung auf die Zufriedenheit reagiert: »Wir sehen auch noch dem Kriege kein Ende, und es ahndet mich, ich werde in Rom mein Leben kümmerlich aber zufrieden beschließen.«7 Schon hier erweist sich auch, daß »Ruhe und Zufriedenheit« sich mit Verzicht und Bedürfnisbeschränkung verbinden. Im Zusammenhang mit dem Verkauf der »Monumenti antichi inediti« schreibt Winckelmann an Stosch: »Ich kann kaum glücklicher und zufriedener werden, und es ist mir gleichgültig den Preis auf 8 oder 7 Zecchini zu setzen, und vielleicht wähle ich den letzteren.«8 Noch deutlicher hebt er gegenüber Wiedewelt die Genügsamkeit als Grundlage der psychischen Ausgeglichenheit hervor: »Ich strebe nach nichts, und wer, wie ich, weder etwas zu fürchten, noch zu wünschen hat, der ist freyer und vergnügter als ein König.« 9 Auch die Stellen, an denen Winckelmann auf Ti6

W B 758 an Schlabbrendorf, 8. 2 . 1 7 6 6 , III S. 160. Z u r Begründung des Entschlusses, in Rom zu bleiben, vgl. auch noch 8 1 3 an Schlabbrendorf, 1 0 . 1 2 . 1 7 6 6 , III S. 222.

7

W B 449 an L . Usteri, 1 4 . 1 1 . 1 7 6 1 , II S. 187. W B 836 an Stosch, 2.4. 1767, III S. 245. ' W B 860 an Wiedewelt, 3.6. 1767, III S. 270. Vgl. dazu auch den Ausnahmefall eines eindeutig religiösen Ergebenheitsgestus in 673 an Füssli, 2 2 . 9 . 1 7 6 4 , III S. 5 5 : » A u f der Wagschale, worinn wir in Gottes Hand stehen, lieget auf der anderen Schale ein Gewicht, welches wachset und fallt, wie der Herr will, aus uns unbekanntem Grunde. Wir sollen wie Kinder an der Tafel seyn, und zufrieden nehmen was uns vorgeleget wird, nicht selbst zulangen oder murren, und unsere Person die uns gegeben ist, sie mag seyn wie sie will, gut spielen.« Inwieweit Winckelmanns Zufriedenheitsideal auch religiöser (pietistischer) Deszendenz ist (zur religiösen Tradition von »Ruhe« vgl. Roche, S. 1 3 9 - 1 5 0 ) , wird hier nicht weiter erörtert. !

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telanreden verzichtet, 10 sind insofern mit der Zufriedenheitsprogrammatik verwandt. »Zufriedenheit« und »Melancholie« umgrenzen ein Wortfeld, in dem auch die Begriffe des »Vergnügens« und der »Hypochondrie« ihren Platz haben." Die Hypochondrie ist Teil des Melancholie-Komplexes, 12 der dem obstinaten Sprechen von der Gesundheit — wenn auch häufig nur en passant in der Schlußwendung — in Winckelmanns Briefen insgeheim zugrunde liegt: »Ich bin gesund, zufrieden und frölich«. 1 ' In einem Brief an Stosch heißt es: »Ich werde Ihnen Hypochondrisch scheinen, bin es aber nicht, denn ich habe Ursach zufrieden zu seyn, nachdem ich ein nothdürftiges Brod auf mein Alter gefunden [. . ,].« 14 Jedoch bestätigt Winckelmann gelegentlich selbst, daß die fortgesetzten Mitteilungen über Gesundheit und Zufriedenheit das Problemgebiet »Melancholie« mit ansprechen: Vor die Hypochondrie glaube ich gesichert zu seyn; doch wäre es nichts ungewöhnliches. Ich kann unter deßen versichern daß ich zufrieden bin, und es hoffe zu bleiben, so eng ich mich auch immer einschrenken muß. Ein anderer würde es in gleichen Umständen nicht seyn, der nemlich nicht gelernet hat, das n o t wendige von dem weniger nothwendigen zu unterscheiden. Ich genieße das größte Menschliche Gut, Gesundheit; was verlange ich mehr? Alles übrige sehe ich sehr gleichgültig an. 1 ' Das Problem des Mißvergnügens und der Hypochondrie scheint mit den Beschwörungen der Zufriedenheit nicht schlechthin ausgeräumt. Vielmehr ist es in der Attitüde der Selbstbeschränkung und des Verzichts lediglich stillgestellt und aufbewahrt; virtuell meldet sich mit dem Stichwort »Zufriedenheit« stets auch sein Gegenteil zu Wort.' 6 Bei aller römischer ZufriedenVgl. z. B. WB 898 an Minister von Münchhausen, 15.8.1767, III S. 307. In der »unvergnügten Seele« sieht Burger, Die Geschichte der unvergnügten Seele, S. 6, »die Seele des 18. Jahrhunderts«, im Vergnügen ein zentrales, ständig umkreistes »Problem seines Geistes«. (Vgl. auch ebd. S. 10). Zum Zusammenhang von Vergnügen und Zufriedenheit vgl. ders., Vergnügen. Vorläufiges zur Geschichte von Wort und Wert im 18. Jahrhundert, S. 18. " Zum Verwandtschaftsverhältnis von Melancholie und Hypochondrie vgl. Sauder, Empfindsamkeit Bd. I, S. 152. Vgl. auch Schings, S. 70, der Hypochondrie als »verbürgerlichte Melancholie« identifiziert. Sie sei »der bürgerlich-empfindsame Beitrag des 18. Jahrhunderts zur Geschichte der Melancholie.« Zum Verhältnis von Mißvergnügen und Hypochondrie vgl. auch Küfner, S. 1 3 3 - 1 4 1 . '' WB 364 an Stosch, 14.6.1760, II S. 90; vgl. 333 an Walther, 8.12.1759, II S. 57: Winckelmann meldet, er sei »vergnügt« und »gesund, wie ich in meiner Jugend war«; 37; an Stosch, 4.10.1760, II S. 103: »Ich bin gesund und dieses ist mein größtes Gut«; 85 an Uden, 24.6.1752, I S. 115: »Ich befinde mich gesund: ich schlafe gut, ich schwitze nicht mehr; dafür sey Gott Dank.« 14 WB 605 an Stosch, 2 3 . 1 1 . 1 7 6 3 , II S. 35 Vgl. auch 362 an Stosch, 4. j. 1760, II S. 89: »Vor meiner Hypochondrie, welche ich Ihnen schien zu zeigen, haben Sie keine Furcht. Ich genieße was Gott giebt mit frölicher Seelen [. . .]«. WB 399 an Stosch, 10.4.1761, II S. 133. "6 Vgl. etwa auch WB 289 an Stosch, [4. 8.1759], II S. 16: »[. . .] ich sehe voraus, daß 11

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heit bleiben Mißvergnügen und Krankheit deshalb im Brieftext anwesend (allerdings lassen sich die folgenden Textstellen nicht durchweg als Ausdruck von Melancholie kennzeichnen).' 7 Gegenüber Stosch zeigt sich Winckelmann »übler humeur«;' 8 das Schicksal Sachsens im Krieg versetzt ihn »in die äusserste Betrübniß«,' 9 und die »Flüchtigkeit des Frühlings unserer Jahre« verursacht »manche betrübte Betrachtung«. 20 Zwar, so teilt Winckelmann Riedesel mit, sei er »itzo von aller Frölichkeit entfernt und weiß mich nicht zu entsinnen von Herzen gelacht zu haben«, jedoch sei er zufrieden und wünsche nichts »als bessern Appetit«. 21 Gelegentlich deutet sich auch eine Verschiebung der »Ruhe« auf die Zeit nach dem Tod an. 22 Vor allem eine Formulierung an Schlabbrendorf bezeugt aber, daß selbst in der zuversichtlichen Rede von der Zufriedenheit zugleich ein latenter Unterstrom der Melancholie präsent ist: spreta exoluere: dabey soll es verbleiben: Man muß so viel möglich alle Canale zum Mißvergnügen verstopfen, oder gar abhauen, da daßelbe unvermuthete verborgene Gänge findet, durch welche es uns zu fließet. Auf meiner Reise wenigstens soll sich keine Runzel auf meiner Stime legen, die noch bis itzo nicht gekerbet ist, und ich werde wie ein lange brach gelegener Acker seyn, und Frölichkeit und Thorheit die sich bey mir verhalten hat, unter zwey gesunden und zwey kranken Augen auslaßen.'3 Die römische Zufriedenheit grenzt Winckelmann vor allem gegen die Melancholie der deutschen Zustände ab. A n Riedesel schreibt er: »Es ist mir unangenehm zu hören, daß Sie sich über Ihre Gesundheit beklagen. Die Hypochondrie ist zu heilen, und in Rom würde dieselbe sich nicht gemeldet die Dürftigkeit meine treue Gefahrtin seyn wird, von der ich mich auch nicht trennen will. Ich preise Gott, daß ich Gesundheit und ein zufrieden Herz habe, welches nicht für Gold zu kaufen ist.« 17 Auf den Unterschied zwischen melancholischem und nicht-melancholischem Leiden macht Mauser, Melancholieforschung im 18. Jahrhundert, S. 257 aufmerksam. '8 WB 324 an Stosch, 1 5 . 1 1 . 1 7 5 9 , II S. 47. 19 WB 554 an Walther, 1 5 . 1 . 1 7 6 5 , II S. 286. Vgl. auch die Bemerkungen zur »üblen Laune«, die ihn anläßlich einer Arbeit für die Inquisition überfallen habe (723 an Schlabbrendorf, 9.10.1765, III S. 118; 724 an Stosch, 10.8.1765, III S. 119). 10 WB 563 an Riedesel, 22.5.1763, II S. 320. Vgl. auch die Äußerungen zum Tod des Abbate Ruggieri, 604 an L. Usteri, 1 2 . 1 1 . 1 7 6 3 , II S. 354; 671 an Stosch, 12.8.1764, III S. 53. " WB 59J an Riedesel, 12. 10. 1763, II S. 349; Klagen über mangelnde Gesundheit auch in 454 an Stosch, 2 1 . 1 1 . 1 7 6 1 , II S. 193: »Ich bin gesund bis auf meine alte Nacht-Schweiße [. . .]«. " WB 936 an Francke, 6. 2.1768, III S. 366 nach einem Hinweis auf die Zufriedenheit bei unablässiger Arbeit: »Endlich wird die Ruhe kommen an dem Orte, wo wir uns zu sehen und zu genießen hoffen! woran ich ohne die innigste Bewegung und ohne Freundenthränen nicht gedenken kann. Dahin will ich, wie ein leichter Fußgänger, so wie ich gekommen bin, aus der Welt gehen.« '» WB 857 an Schlabbrendorf, 27. 1767, III S. 266. 205

haben.«24 Gegenüber Feronce begründet er gewisse Gehaltsansprüche für den Fall einer Anstellung in Hessen-Kassel mit dem Hinweis auf die mögliche Melancholie in Deutschland: »Mit wenig kann ich außer Rom nicht leben, wo (ein) Auge und Geist beständig gereizet, und dieses Abgang zu ersetzen, muß ich wenigstens so viel haben, daß ich [nicht] befürchten dürfe, mich mit der Melancholie zu schlagen welcher ich bisher nicht gern einen einzigen Augenblick eingeräumet habe und hier zu ist der Wein ein nothwendiger Punct.«2' Mit »Zufriedenheit« spricht Winckelmann einen Orientierungsbegriff der Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts an; nach Sauder herrscht unter den Theoretikern weitgehende Übereinstimmung über den »zentralen Begriff >Zufriedenheit< als Gleichgewicht der Seelenkräfte«.26 Affektpsychologisch versteht er sich als »Rechtfertigung der sanften, von der Ruhe der Seele nur geringfügig differierenden Empfindungen und Ablehnung der starken Affekte und Leidenschaften«.27 Demgemäß vertreten die moralischen Wochenschriften »Ruhe und Zufriedenheit«28 als Inbegriff der »Prinzipien bürgerlicher Sittlichkeit«.2' Nicht zufällig dürfte sein, daß gerade die antigottschedischen »Neuen Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes« sich mehrfach des Themas annehmen.3" Rüdiger hat darauf hingewiesen, daß Winckelmann bei seiner Lektüre von Gian Battista Guarini einschlägige Motive begegnet sein können.'1 Kennzeichnend für die Kulturgeschichte Deutschlands und erhellend für Winckelmanns briefliche Selbstentwürfe ist jedoch die Gestaltung des Themas in der Landlebendichtung, wo es im folgenden gesucht werden soll. Die dem Land zugeschriebenen ethischen und ästhetischen Werte nehmen vor allem in der Figur des »Weisen auf dem Lande« Gestalt an.' 2 Hagedorn identifiziert den Weisen verschiedentlich mit Horaz," der zusammen mit ' 4 W B 641 an Riedesel, 18. 2 . 1 7 6 4 , III S. 22. 11

W B 4 3 7 an Feronce [Entwurf], [1. Hälfte August 1 7 6 1 ] , II S. 173. ' 6 Sauder, Empfindsamkeit Bd. I, S. 129. " E b d . S. 130. ' ' Vgl. Martens, Die Botschaft der Tugend, S. 345; vgl. auch ebd. S. 344. ' ' S a u d e r , Empfindsamkeit Bd. I, S. 130; vgl auch Roche, S. 234; Hämmerling, S. 205Í. »Der Unzufriedene«, in: Neue Beyträge des Verstandes und Witzes, zweyter Band, viertes Stück ( 1 7 4 5 ) S. 3 0 7 - 3 1 8 ; ebd. fünftes Stück, S. 4 0 3 - 4 8 6 . »Die Ruhe«, ebd. viertes Stück, S. 3 2 9 - 3 3 2 ; »Der Unglückliche«, ebd. fünftes Stück, S. 3 5 5 - 3 6 6 ; »Von der Zufriedenheit«, ebd. Fünfter Band, viertes Stück (1749), S. 2 9 7 - 3 0 4 ; »Der Werth der Unschuld und Ruhe«, ebd. fünftes Stück, S. 3 5 5 - 3 8 9 . Rüdiger, Winckelmann und Italien, S. 24—26. Eine kurze Bemerkung über die Guarini-Lektüre in W B 40 [an Berendis (Entwurf)], [März 1747], I S. 68. 31

So der Titel eines Gedichts von Uz, Sämtliche poetische Werke, S. 4 7 - 5 2; vgl. auch vom selben Autor »Der standhafte Weise«, ebd. S. 95—98. " F . v. Hagedorn, »Schreiben an einen Freund«, in: Poetische Werke, Erster Theil S. 4 i f ; »Horaz«, ebd. S. 9 7 - 1 1 8 .

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Vergil die wichtigsten antiken Vorbilder für die moderne Landlebendichtung geliefert hat.' 4 Lohmeier hat herausgearbeitet, daß der Negation des Hofs — ihr verdankt sich wohl auch noch partiell der Gestus stoischer Weltverachtung in Johann Christian Günthers Gedicht »Die Selbstzufriedenheit«" — in der Landlebendichtung der Aufklärung ein »positiver« Lebensund Geselligkeitsentwurf gegenübertritt.'6 Die Landleben-Dichtung greift zunächst das traditionelle Arsenal hofkritischer Argumente auf. Das Land grenzt sich moralisch gegen Hof und Stadt ab; der Gattung ist weithin der Gegensatz von Hütte und Palast eingeschrieben,'7 dessen Spuren sich gelegentlich auch in Winckelmanns Briefen wiederfinden.38 Jedoch werden Hof und Stadt auf das Stereotyp verkürzt; beide erscheinen nur als Exempelfälle von Untugenden," denen ein »Land«-orientiertes Tugendprogramm gegenübertritt. Die Landlebendichtung bestätigt somit den allgemeinen Befund, daß sich die zeitgenössische deutsche Literatur mit differenzierten Stadt-Bildern schwer tut.4° In dieser Hinsicht scheint bezeichnend, daß auch der Städtepreis »Hamburgs Vorzüge. Ein Vorspiel«, der von den »Neuen Beyträgen zum Vergnügen des Verstandes und Witzes« abgedruckt wird, keine literarische Hinwendung zum Urbanen Lebensraum darstellt, sondern bürgerliche Qualitäten, unter ihnen »die Ruhe«, allegorisch präsentiert.41 Die LandleM

Lohmeier, S. 77—83 vgl. auch das Kapitel »Pastoral Ruhe« bei Roche, S. 232-235. " Vgl. vor allem die moralische Überwindung der »Tücke« des Glücks und die Schlußzeilen, in: Deutsche National-Literatur Bd. 38, S. 138: »Unter der Ergetzlichkeit/ Einer Selbstzufriedenheit/ Rührt mich weder Gram noch Leid.« Die empfindsame Gegenposition findet sich bei Geliert, »Epiktet«, in: Die bürgerliche Gemeinschaftskultur, S. 71: »Und willst du stets zufrieden sein/ so bilde dir erhaben ein/ Lust sei nicht Lust, und Pein nicht Pein./ Allein, sprichst du, wenn ich das Gegenteil empfinde,/ Wie kann ich dieser Meinung sein;/ Das weiß ich selber nicht; indessen klingts doch fein,/ Trotz der Natur sich stets gelassen sein.« Als Beispiel für die hof- und stadtkritische Landlebendichtung an der Wende zur Aufklärung vgl. etwa Canitz' Gedichte »Von dem Hof-, Stadt- und Landleben« (Deutsche National-Litteratur Bd. 39, S. 410-419) und »Vorzug des Landlebens« (ebd. S. 420-422). 56 Lohmeier, S. 410. " Vgl. etwa Uz, »Die Zufriedenheit«, in: Sämtliche poetische Werke, S. 3 3 : »Die Freude, des Lyäus Kind,/ Entflieht unruhigen Pallästen,/ Und schwärmt zur Hütte hin [. . .]«. Zum Motivkomplex »Hütte und Palast« vgl. Meyer, der den Verbindlichkeitsverlust dieses Topos im Lauf des 18. Jahrhunderts darstellt, sowie Hämmerling, S. 72-75. >' Vgl. oben 3.2.4. " Zum Konturverlust von Hof und Stadt vgl. Lohmeier, S. 4 1 1 ; gerade daß beide kein Relief gewinnen, deutet andererseits auf den Gestus des Ignorierens der Stadt, wenn nicht auf »urbane Inkompetenz«. 40 Vgl. Kleinschmidt, Die ungeliebte Stadt, S. 34: »Die urbane Realität in ihrer Komplexität erzählerisch zu imaginieren, wurde nicht versucht.« 41 »Hamburgs Vorzüge. Ein Vorspiel«, in: Neue Beyträge zum Vergnügen des Ver207

bendichtung bietet also eher eine literarische Entlastung von negativen Aspekten stadtbürgerlicher Lebensverhältnisse im aufgeklärten Absolutismus,42 die sich auf eine »urbane Kompetenz« gerade nicht berufen kann.45 Ihre auffällige Konjunktur läßt somit die Vermutung zu, daß sie das »Urbanitätstrauma«44 der Deutschen zu kompensieren hat. Die von Wergin beigebrachten Belege für die These, die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts verfüge auch über positive und differenzierte Stadt-Bilder und das Wort vom »Schreckbild«4' bedürfe der Revision,46 bestätigen weithin das Gegenteil. Im Urbanen Kontext wiederholt sich die Relation von »Weisen« und »Toren«; als Ort von Ruhe und Stille büßt die Stadt gerade die am Urbanen Milieu kritisierten Aspekte ein: Ich lebe demnach seit einigen Jahren in einer angenehmen Stille, mitten unter dem Lärmen einer unruhigen volkreichen Stadt, w o die kleinen Thorheiten des Pöbels, und die großen Ausschweifungen der Reichen, mich bald zum Gelächter bald zum Mitleid bewegen. 47

Solche Belege zeugen nicht von einer differenzierten literarischen Verarbeitung von Stadterfahrungen; sie lassen vielmehr wörtlich Winckelmanns zugleich urbanitätskritischen literarischen Rom-Entwurf als Heimstätte von »Ruhe und Zufriedenheit« anklingen.4® In die Briefe, mit denen Winckelmann seine Reise nach Rom vorbereitet, gehen Anzeichen für einen Zusammenbruch des literarischen Ausgleichsverhältnisses von unattraktiver Stadt und unschuldigem Land ein. Die »Freyheit« in der Nöthnitzer »Einsamkeit« »ohne alle Bekanntschaft« sei »nur halb« zu genießen;49 auch die Nähe Dresdens bietet keinen Ausweg aus dieser Situation:

standes und Witzes, Fünfter Band, sechstes Stück, S. 486—516. Vgl. besonders die Personenliste S. 486. Im übrigen ist aber nicht in Abrede zu stellen, daß das »Vorspiel« als Ausdruck bürgerlichen Selbstbewußtseins gewertet werden kann. Z u m Versagen dieses literarischen Genus vor dem Phänomen der Urbanität allgemein Kleinschmidt, Die ungeliebte Stadt, S. 34. 42 Vgl. ebd. S. 3 5 sowie allgemeiner, jedoch bezogen auf die auch hier zugrundegelegte literarische Textgruppe, Mauser, »Göttin Freude«, S. 222—230. 4 ' Vgl. Kleinschmidt, Die ungeliebte Stadt, S. 38. 44 Wiedemann, Kultur- und identitätsgeschichtliche Voraussetzungen, S. ; . 4! Vgl. Sengle, »Wunschbild Land und Schreckbild Stadt«. 46 Wergin, S. III; Wergin diskutiert nicht systematisch den Zusammenhang von »Stadt«- und »Landlebendichtung«; ihre Arbeit besteht im übrigen weithin aus historisch undifferenzierten Paraphrasen. 47 Der Patriot, Bd. I S. 3; vgl. Wergin, S. 132. Nur in Hinsicht auf Gleims »Einladung nach Berlin« erkennt Wergin den »idyllic tone« auch der Stadt-Dichtung (S. 129). 49 Vgl. unten 4.4. 49 W B 77 an Uden, 2 4 . 5 . 1 7 5 1 , I S. 105. 208

Ich muß à force de lecture und der Arbeit mich in Faßung suchen zu erhalten, da mir selbst meine promenaden die Vorstellung meiner Einsamkeit schrecklicher machen. Gehet man auch nach Dreßden mit jemand zu sprechen, so muß man gewärtig seyn, den Tag darauf einen Besuch aufs Land zu bekommen.'" In der Landlebendichtung erhebt sich der Weise über den »Pöbel in dem Staub und Pöbel auf dem Thron«,' 1 den »lärer Schein« der fürstlichen Pracht' 2 sowie Reichtum und E h r e " blenden und der dem »falschen Eigennutz unordentlicher Triebe«' 4 erliegt: Von Misgunst, Unruh, Müh und Streit, Den Feinden unsrer Lebenszeit, Flieh ich dir [d. i. »Pallas, Göttinn ieder Kunst«]" freudig zu: In stiller Wälder Aufenthalt, Wo Piatons heiiger Schatten wallt, Unsterblich schön wie du.'6 Christian Cay Lorenz von Hirschfeld bezieht in seiner Abhandlung »Das Landleben« (1768) in seine Kritik auch die urbane Gesellschaft mit ein; es ist nicht zu übersehen, daß er sich dabei auf jenen Begriff der Unruhe bezieht, welcher auch das negative Frankreich- und Paris-Bild prägt: Zahlreiche Zusammenkünfte [ . . · ] , tägliche Gesellschaften und Gastmahle; immer neue Geschichten und neue Materien zu Gesprächen; Schauspiele, Oper und fröhliche Bälle; Frauenzimmer, mit schimmernder Seide, und Gold und Edelsteinen bekleidet, umringt von dem Schwärm ihrer Anbeter, überall begleitet von der schmeichelhaften Dienstfertigkeit, sie zu vergnügen, von den angenehmsten Merkmalen der Verehrung und Zärtlichkeit, die sie mit Beifall und Gunst erwidern." Der Kritik der Landlebendichtung verfallt als eine in der Stadt beheimatete Existenzform auch der Typus des Buchgelehrten;' 8 Zufriedenheit stellt sich " W B 98 an Berendis, [6.7.1754], I S. 142. 11 F. v. Hagedorn, »Die Glückseligkeit«, in: Poetische Werke, Bd. I, S. 20. " Uz, »Die Zufriedenheit«, in: Sämtliche poetische Werke, S. 33. " Vgl. etwa Gellerts Gedicht »Reichtum und Ehre«, in: Die bürgerliche Gemeinschaftskultur der vierziger Jahre, S. 83-91. 14 F. v. Hagedorn, »Die Glückseligkeit«, in: Poetische Werke, Bd. I, S. 21. " Uz, Ode an die Weisheit, in: Sämtliche poetische Werke, S. 142. ' 6 Ebd. S. 143. 17 Christian Cay Lorenz von Hirschfeld, Das Landleben, in: Idyllen der Deutschen, S. 4 i f . ' ' V g l . F. v.Hagedorn, »Die Glückseligkeit«, Poetische Werke, Bd. I, S. 22-25; ders., »Wünsche, aus einem Schreiben an einen Freund«, ebd. S. 3 8f. Vgl. auch »Der Gelehrte«, ebd. S. 79—84, sowie Gellerts Kritik an gelehrter Ruhmsucht in »Reichtum und Ehre«, in: Die bürgerliche Gemeinschaftskultur, S. 85—89. Borst, S. i6f, weist auf den pedantisch-bewahrenden Aspekt der Stadt, macht aber auch klar, daß dieser selbst zu den eigenständig Urbanen Kulturleistungen im 18. Jahrhundert gehört. 209

erst jenseits der Gelehrsamkeit ein." Es scheint bezeichnend, daß es nicht gelingt, den Pedanten durch einen Urbanen Bildungstypus zu ersetzen; Gegenspieler des Gelehrten bleibt die kaum konkretisierbare Figur des »Weisen«. Im Hinblick auf die Interpretation der Winckelmann-Briefe ist zu notieren, daß die Landleben-Dichtung Hof und Stadt mit Mißvergnügen, Unzufriedenheit und Unruhe assoziiert. Der Geizige, der Reiche und der Genußsüchtige leben Geliert zufolge im Unglück; ihnen fehlt »bei dem Überfluß doch die Zufriedenheit«.6" Entsprechend schreibt Ewald Christian von Kleist in seinem Gedicht »Das Landleben« über den Weisen: E r lacht der Schlösser von Geschütz bewachet, Verhöhnt den Kummer, der an Höfen lachet, Verhöhnt des Geizes in verschloßnen Mauren Törichtes Trauren. 6 '

Diese Voraussetzungen gehen in die positiven, sozial zurückgenommenen, privatisierten62 Bestimmungen des Landlebens ein. In den arkadischen Glücksvisionen6' entstehen Zellen des ästhetisch wahrgenommenen tugendhaften und einfachen Lebens: Die Einfalt der Natur, die Hof und Stadt entbehren, Der wahren Eintracht Lust, der wahren Liebe Zähren, Das wesentliche Glück, frey, und nicht groß zu seyn, Verherrlichen das Feld, und heiligen den Hain." 4

Äußere Pracht, Reichtum, urbane Geselligkeit und die mit ihnen verbundenen starken Affekte werden auf die im Sinne der »aurea mediocritas« ästhetisch verfeinerte6' und aufgewertete Befriedigung einfacher Bedürfnisse reduziert: Dir [Horaz] ist der Stat, auf deinen kleinen Reisen, Gleichgültiger, als Seneka, dem Weisen, Und auch daheim, bey deinem irdnen K r u g , Sind Kichern, Lauch und Plinzen dir genug. 66

Dabei verdrängen tugendhafter Naturgenuß und moralische Größe politische Macht und gesellschaftlich-ökonomischen Erfolg; die Landleben" F. v. Hagedorn, »Schreiben an einen Freund«, in: Poetische Werke, Bd. I, S. 4 1 . Geliert, »Reichtum und Ehre«, in: Die bürgerliche Gemeinschaftskultur der vierziger Jahre, S. 8;; zwar läßt sich das Gedicht nicht ohne weiteres der Landlebendichtung zuschlagen, aber auch Geliert preist den Naturgenuß als Alternative zu den falschen Affekten (ebd. S. 90).

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61 61

Ewald Christian von Kleist: »Das Landleben,«, in: Idyllen der Deutschen, S. 35. Vgl. Schneider, in: Idyllen der Deutschen, S. 365.

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Z u r zentralen Rolle von »Glück« in der Landlebendichtung vgl. Lohmeier, S. 4 1 5 . F . v. Hagedorn, »Die Freundschaft«, in: Poetische Werke Bd. I, S. 67. ' ' Lohmeier, S. 416. 64

66

F. v. Hagedorn, »Horaz«, in: Poetische Werke Bd. I, S. ioçf.

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dichtung arbeitet auf die von Mauser beschriebene Verinnerlichung des Verdienstbegriffs zu. 67 Zwar, so heißt es in Gottscheds Ode »Die Zufriedenheit«, wisse »die Welt von meinem Nahmen nicht«; schwerer auch als die fürstlichen »Gnaden-Gelder« wiegen jedoch »ein Freund, der Witz und Tugend liebt« und die Freiheit von der Knechtschaft. 68 Hagedorn schreibt: In diesem Vorzug [der Tugend] liegt, was man nie gnug verehrt, Der Seele Majestät, der Menschen echter Werth: Denn Wollust, Reichthum, Macht, was Tausende begehren, Das pfleget die Natur auch Thieren zu gewähren.69 Die Leitwerte von Mittelmaß und natürlicher »Einfalt« heben die Superiorität der gesellschaftlichen Führungsschichten auf und formulieren den Überlegenheitsanspruch einer bürgerlichen Bildungsschicht. 70 Diese praktiziert das ländliche Glückseligkeitsprogramm in der »privaten« Gesellschaft »kluger« 71 Freunde, in der eine gemeinschaftlich-kontemplative Existenz möglich wird 72 und die ihrerseits als egalitäre Umgangsform die Kategorie der politischen Herrschaft außer Kraft setzt und umgekehrt den stets von »Heuchlern« umgebenen Fürsten unbekannt bleiben muß. 7 ' Der Weise realisiert die Bestimmung des Landlebens als Dichter, 74 als der er die ständisch begrenzte Existenz und nur auf eine kleine Gruppe von Rezipienten zugeschnittene Wissenschaftspraxis des Gelehrten hinter sich läßt.7' Gleichwohl wirkt in dieser Projektion das Selbstverständnis der aus den sozialen Mittelpunkten verdrängten gelehrten Bildungsschicht fort. 76 67

Mauser, »Der Flor der Republik«, S. 72 spricht von einer »Verlagerung des Akzents vom Gegenstand draußen (auch dem moralischen Gesetz) zur menschenfreundlichen Gesinnung im Inneren des Herzens«. Ebd. S. 70 weist Mauser darauf hin, daß dem gewandelten Verdienstbegriff andere, nämlich »gedachte Formen sozialer Gemeinsamkeit« entsprechen, »wie Freundschaftsbünde, Logen oder Vereine« sie jenseits der Sphäre staatlicher Macht bieten. 68 Gottsched, »Die Zufriedenheit«, S. 306. 69 F. v. Hagedorn, »Die Glückseligkeit«, in: Poetische Werke Bd. I, S. 22. 70 Vgl. Lohmeier, S. 42 5 f. 7 ' Uz, »Der Weise auf dem Lande«, in: Sämtliche poetische Werke, S. 5 if. 71 Vgl. etwa Hirschfeld, »Das Landleben«, in: Idyllen der Deutschen, S. 4zf. 75 F. v. Hagedorn, »Schreiben an einen Freund«, in: Poetische Werke Bd. I, S. 49: »Die Nacht der Schmeicheley, die Fürsten stets umgiebt,/ Erlaubt dem Besten kaum zu wissen, wer ihn liebt./ Und, kann die Gleichheit nur den Bau der Freundschaft gründen,/ Wie wird er einen Freund, statt eines Heuchlers, finden?« 74 Vgl. Uz, »Der Weise auf dem Lande«, in Sämdiche poetische Werke S. ;o; F. v. Hagedorn, »Wünsche, aus einem Schreiben an einen Freund«, in: Poetische Werke Bd. I, S. 38. 75 F. v. Hagedorn, »Schreiben an einen Freund«, ebd. S. 42, stellt am Beispiel Horaz' die Verbindung von Landaufenthalt und »Wissenschaft in wesentlichen Dingen« dar: »O nein! er blieb gewiß der Weisheit zu getreu/ Und sann, und forschte dort, was allen nützlich sey.« 76 Gelehrte Interessen des Landbewohners klingen in Geßners Idylle »Der Wunsch«, zu

Stadt- und Hofferne, ländliche Umgebung, gelehrte und, mehr noch, dichterische Muße und freundschaftliche Geselligkeit geben also die Bedingungen für die psychische Ideallage von »Ruhe und Zufriedenheit« ab. Die essentielle Verankerung des Zufriedenheitsideals im ländlichen

Le-

bensraum belegen nicht nur die häufigen Erwähnungen des Begriffs in diesem Kontext; 7 7 auch U z ' Gedicht »Die Zufriedenheit« verweist den »Weisen« auf ein einfaches und naturnahes Leben. 7 ' Bereits Brockes stellt die Zufriedenheit in einem Asyl der Privatheit, »in einem Winkel« dar, in dem der Einzelne seine Fremdbestimmungen abzuwerfen vermag: Wie glücklich ist der Mensch, den keine Menschen kennen, Der, mit sich selbst vergnüg't, in einem Winkel leb't! Der dem geschätzten Nichts, das wir die Ehre nennen, Vom Hoffahrts-Rauch berauscht, niemahlen nachgestreb't, Der keine Freude find't, als nur im freyen Leben, Und niemand, als ihm selbst, von sich darf Rechnung geben. 79 Rabeners »Briefe, von ihm selbst gesammlet« zeigen, daß die Attitüde der H o f - und Stadtflucht nicht auf den engen Gattungsrahmen der Landlebendichtung beschränkt bleibt. In seinem »Versuch eines Tagebuchs« liefert er unter dem 25. Mai 1 7 5 9 die Beschreibung eines Tags »auf dem Lande«, die alle gattungstypischen Merkmale enthält. Während die »Hofleute [. . .] unter beschwerlichem Zwange, unter sengender Unruhe, unter dem lärmenden Gewühle glänzender Thoren, die elendesten Sklaven, und sehr oft Betrüger« und als »Thoren in die Stadt eingesperret sind«, genießt der Verfasser auf dem Land den Zustand »eine[r] stillefn] Zufriedenheit, die ich mitten in dem Lärmen oft vermißte«, und »einer [. . .] sanften Gemüthsruhe«. !o A u c h Gleim und Jacobi nehmen in ihren Briefwechsel wiederholt das Motiv ländlicher Zufriedenheit auf. 81 in: Idyllen, S. 70, an. Z u den sich hier ergebenden Fragen literarischer Kontinuität vgl. Lohmeier, S. 42if. 77 Vgl. etwa F. v. Hagedorn, »Die Glückseligkeit«, in: Poetische Werke Bd. I, S. 27; ebd. S. 35; »Schreiben an einen Freund«, ebd. S. 4 1 ; »Horaz«, ebd. S. i n ; ebd. S. 116; Gleim, »Lob des Landlebens«, in: Idyllen der Deutschen, S. 53. 78 Uz, »Die Zufriedenheit«, in: Sämtliche poetische Werke, S. 31—34. 79 Brockes, »Die Zufriedenheit«, in: Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergnügen in Gott, S. 684. 8 ° Rabener, Versuch eines Tagebuchs, vom 23. May 1759; bis den 29. May, in: Briefe, S. 110. Dasselbe in: Geliert, Briefwechsel Bd. II, S. 88. 81 Vgl. Gleims Gedichteinlage in: Briefe von Herrn Johann Georg Jacobi, S. 52: »Es trank aus goldenen Pokalen/ Nur selten die Zufriedenheit/; Nur selten wohnt in Marmorsälen/ Das Glück der wahren Zärtlichkeit./ Ihr Fürsten! sah man, unter Küssen,/ Von euren Wangen Thränen fließen?/ Für uns als Götter aufgestellt,/ Das Haupt vom Diadem umwunden,/ Was hilft euch eine ganze Welt,/ In der ihr keinen Freund gefunden?« Vgl. daneben auch Bertram Bd. I S . ; ; 46, der ebenfalls Hofkritik, Landlob und Freundschaft in einigen (fingierten) Briefen verbindet. 212

In einem undatierten, vermutlich 1760 entstandenen Brief an Rabener betont Geliert, auch in Kriegszeiten dürfe ein guter Patriot sein Vaterland nicht verlassen; die Bereitschaft, die gegebenen Verhältnisse hinzunehmen, verbindet sich mit einem Friedenswunsch, der Motive der Landlebendichtung aufnimmt: »O! Ich kann bleiben, wo ich bin, und mein Wunsch ist die Einsamkeit, das Land und noch ein gutes moralisches Buch nach meinem Tode.«82 Die zitierten Textstellen machen deutlich, daß der Rückzug in die literarische Muße den Briefton mitbestimmt. In der Epistolographie wird das Ideal der kontemplativen Existenz in eine freundschaftliche Kommunikation umgesetzt. Der Brief selbst schafft und repräsentiert eine literarische Sphäre der Ruhe, die sich von Urbanen Lebens- und Erfahrungsformen distanziert:8' Ich hatte meinen Schatz vor mir, die Briefe meines Jacobi, ich wolte alles nachholen, was ich unberührt ließ; aber o Himmell Welche Zerstreuungen, wenn die Arbeit vollendet ist! Fast ist es nicht mehr auszustehen. Mit meinem Jacobi in einer Einöde, w o wir keine Menschen sähen, keine Register abzunehmen hätten, procul negotiis, wie glücklich wolt' ich seyn!' 4

Im Hinblick auf die Etablierung von ästhetisch-moralischen Werten, die mit der Aristokratie nicht mehr auf deren eigenem Feld konkurrieren und der Entwicklung einer literarisch vermittelten Individualbildung Vorschub leisten, kommt der Landlebendichtung somit ein kritischer Sinn zu.8' Die auf Entlastung von Lebenszwängen zielende Forderung nach »Ruhe und Zufriedenheit«86 führt in den angezogenen Beispielen gleichwohl stets disziplinierende Aspekte mit sich. Denn die Norm des Verzichts auf Ruhm, Reichtum und Macht präsentiert sich als ein Tugendprogramm, das nicht von psychologisch entfalteten Individuen, sondern - wie auch das urbane und höfische Gegenbild — von typisierten Eigenschaftsträgern vertreten wird. Als Darstellungsform einer verzichtorientierten Sittenlehre läßt die Landlebendichtung »die bürgerliche Lebenspraxis« ungestört;87 sie for81

Geliert an Rabener, in: Rabener, Briefe S. 280. *' Vgl. auch Geliert an Hans Moritz von Brühl, 4. 3. 1756, in: Geliert, Briefwechsel Bd. II, S. 38: »Ihre öftern Briefe, die Beweise Ihrer Liebe gegen mich, sind zugleich Beweise Ihres trefflichen Verstandes, Ihres Geschmacks, Ihrer Beredsamkeit, und Ihres Fleißes, den Sie mitten unter den Zerstreuungen des Hofs und dem Getümmel einer grossen Stadt [Paris] den Wissenschaften schenken.« »Der Graf Moritz macht in Paris den Deutschen, den Wissenschaften und den guten Sitten Ehre.« 84

Gleim an Jacobi, 1 1 . 1 1 . 1 7 6 7 , in: Briefe von den Herren Gleim und Jacobi S. 139. > Diesen Aspekt betont, allerdings bezogen auf die Idyllen Geßners, Kesselmann, S. ι }2f; 1 3 6 u. ö. Vgl. auch Schneider, in: Idyllen der Deutschen, S. 364^

8

86

Mauser, Göttin Freude, S. 228 weist auf die »Entlastungsprojektion« von Freundschaft und »Freude«.

87

Mauser, »Göttin Freude«, S. 2 3 1 . 213

muliert und bändigt zugleich eine sozialpsychologische Problemlage. Darüber hinaus konfrontiert sie die Aristokratie nicht mit den Idealen des Landlebens, sondern wendet sich von ihr ab." Wohl zu Recht befindet Lohmeier deshalb, daß die Landlebendichtung nicht auf dem Weg moralischer Kritik die politische Emanzipation des Bürgertums vorbereitet, sondern das »Prestige-Defizit« der bürgerlichen Bildungsschichten kompensiert, die sich, Traditionen des gelehrten Selbstverständnisses fortführend, zur geistig-moralischen Elite erklären. 8 ' Gerade der spezifische Gebrauch des Stichworts »Zufriedenheit« deutet darauf hin, daß der Landlebendichtung die Tendenz zum Arrangement mit den bestehenden sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten eingeschrieben ist.9" Sahmland hat für die zweite Jahrhunderthälfte gezeigt, daß das Ruhe-Ideal »auf die Situation derer rekurriert, die im damaligen Deutschland sozial und wirtschaftlich nicht zur Entfaltung kamen.« 9 ' Eine »bessere Stabilisierung« als dieses Zufriedenheitsideal konnte sich nach Sauder der »absolutistische Staat« nicht wünschen. 92 Demgegenüber stehen »Ruhe und Zufriedenheit« ebenso wie »Freundschaft« bei Winckelmann einer ebenfalls nicht an moderner Staatlichkeit orientierten, aber nicht heteronom zu vereinnahmenden Sphäre der Kunst nahe. Darüber hinaus bricht Winckelmann den Schein durch Verzicht gewonnener psychischer Ausgewogenheit auf, indem er aus Rom nicht nur Freundschaftsbriefe, sondern auch die »großen Selbstdarstellungen« in der Welt der römischen Kardinäle schreibt.

3.3.2.

Ruhe und Zufriedenheit in den Briefen an Stosch

»Zufriedenheit« tritt in Winckelmanns Briefen nicht selten im Zusammenhang mit Freundschaftsbekundungen auf, die ihre qualitative Bestimmung aus den Leitwerten gewinnt, die Winckelmann auch in der antiken Kunst verwirklicht sieht. Umgekehrt wird in den Freundschaftsbeteuerungen die Kunstkontemplation in soziale Praxis umgesetzt. (Damit ist keine sekundäre Rolle brieflicher Freundschaftsbeteuerungen gegenüber dem Werk gemeint; eher könnte man von einem komplementären Verhältnis sprechen.) Die An!!

Vgl. Lohmeier, S. 428; Hämmerling, S. 75. Lohmeier, S. 4 2 9 ^ 432. 90 Zur Zufriedenheit als »Sichbegnügen mit dem, was Gott dem Menschen durch seine Schöpfung bietet, und was der Mensch mit seinen Sinnen erfassen kann«, vgl. — wenn auch ohne Berücksichtigung gattungs- und sozialgeschichtlicher Problemzusammenhänge — Küfner, S. 78 (zu Brockes) und 1 1 8 (zu J . A . Schlegel). 89

' ' Sahmland, S. 64; zur Kritik an Sahmlands Ausführungen, soweit sie Winckelmanns Griechenideal und seinen Ruhe-Begriff betreffen, vgl. unten 3.3.}. 92 Sauder, Empfindsamkeit Bd. I, S. 130.

214

näherung der Freundschaft an die Kunst und die Konkretisierung des Umgangs mit Kunst in der Freundschaft dokumentiert die Dedikation. Darauf macht Winckelmann in seinem Brief an Stosch vom 18. 2.1767 aufmerksam. Die folgenden Ausführungen gehen von diesem Brief und dem in ihm angesprochenen Dedikationstext aus. Sie gelten auch dem Nachweis, daß in dem freundschaftlich-kommunikativen Konzept von »Ruhe und Zufriedenheit« pedanten- und hof- oder franzosenkritische Momente zusammenfallen und daß gerade die ästhetische Überhöhung des Freundschaftsbegriffs ein neues kulturelles Selbstbewußtsein begründet. Es ist deshalb im Auge zu behalten, daß sich die Freundschaft mit dem hohen Ton, dem ästhetischen Wert des Erhabenen assoziiert: Ihre Zufriedenheit auf die Zuschrift der Anmerkungen ist auch mir die erste in ihrer Art: denn ich habe auf keine einzige der vorigen Zuschriften, ich will nicht sagen gleiche Erklärung des Wohlgefallens, sondern nur die geringste Zeile einer Antwort erhalten. Sie haben also mein Herz! eine zweyte Zuschrift verdienet, und diese ist Ihnen bereits ausersehen, in ein paar Saiten höher gestimmten Tone, wenn der Himmel Leben und Gesundheit verleihet. Ich selbst bin so vergnügt über diese Zuschrift als Sie es immer seyn können, und mich verlanget sehr dieselbe gedruckt zu sehen [ . · •]· Nunmehro habe ich nichts weiter nöthig, und alle Dinge sind mir gegen der Freundschaft gleichgültig. Denn da ich in der Gewohnheit bin, mir Magd, Diener und alles zu seyn, so kann mir nicht leicht etwas zustoßen, was mich beunruhigen könnte, und die Pedanten die über die Zufriedenheit moralisiren, sollten zu mir kommen und lernen."

Für die Zusammengehörigkeit von Freundschaftsbegriff und Dedikation im hohen Stil liefern die Briefe zahlreiche weitere Belege. Schon lange vor dieser Zuschrift der »Anmerkungen über die Geschichte der Kunst des Alterthums« hatte Winckelmann — im Anschluß an die Arbeit an dem »Catalogue des Pierres Gravées« — eine Dedikation an Stosch geplant, wenn auch nocht nicht im erhabenen Ton.94 Erst nach der Wiederaufnahme der zeitweise abgebrochenen Beziehung zu Stosch verselbständigt sich in den brieflichen Erörterungen die freundschaftliche Dedikation zum eigenwertigen Textelement. Bevor die jeweiligen Abhandlungen überhaupt in Angriff genommen sind, beginnt Winckelmann bereits mit dem Entwurf der Zuschrift. Fast könnte man von einem gleichwertigen Zuordnungsverhältnis von Abhandlungs- und Dedikationstext sprechen." Daß die Zueignungen, die Winckelmann als »öffentliches Denkmal«,'6 als »öffentliches Zeugniß«97 " W B 826 an Stosch, 18. 2 . 1 7 6 7 , III S. 234. Z u m Ton erhabener Freundschaft in der Stosch-Korrespondenz vgl. auch schon 2 1 9 an Stosch, 1 3 . 6 . 1 7 5 8 , I S. 578. 94 W B 370 an Stosch, 2 6 . 7 . 1 7 6 0 , II S. 95; 380 an Stosch, 3 . 1 . 1 7 6 1 , II S. 1 1 0 ; 399 an Stosch, 1 0 . 4 . 1 7 6 1 , II S. 134. " V g l . etwa 655a an Stosch, [ 2 1 . 4 . 1 7 6 4 ] , III S. 34; 836 an Stosch, 2 . 4 . 1 7 6 7 , III S. 245, w o Winckelmann den Beginn der Dedikation einer auch später nicht mehr entstandenen Schrift mitteilt. ' 6 W B 689 an Stosch, 7 . 1 2 . 1 7 6 4 , III S. 65. 97 W B 856 an Stosch, 27. j. 1 7 6 7 , III S. 264. 215

versteht, gerade das Modell einer persönlichen Freundschaft einem größeren Publikum vor Augen führen sollen, wird noch näher zu untersuchen sein.'8 Schon die freundschaftliche Widmung einer Schrift über die Kunst stellt einen äußeren Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen Freundschaft und Kunsttheorie dar. Freundschaftliche Ruhe und Zufriedenheit werden in Rom evoziert - vor dem Hintergrund der antiken Kunst. Die Darstellung des römischen Lebens kommt so in Berührung mit den ästhetischen Prinzipien von Einfalt, Stille und - in der Konsequenz — Kürze. In der Formel von der »edlen Einfalt und stillen Größe«' 9 fallen diese Elemente zusammen. Für die Interpretation römischer »Ruhe und Zufriedenheit« scheint zunächst ein Rückgriff auf Winckelmanns Kunsttheorie erforderlich. Die Forschung hat nachgewiesen, daß Winckelmann mit dem Prinzip der »edlen Einfalt« an die Stiltheorie der französischen Klassik anknüpft. 100 Insofern in Einfalt und Kürze gedankliche Vielfalt eingelagert ist, entsprechen sie einem unpathetischen Begriff des Erhabenen.101 Von hier aus wird klar, daß Winckelmanns Kunstbegriff und seine Theorie ästhetischer Wahrnehmung durchaus Abelers Begriff eines »subjektiven Rationalismus« entsprechen.102 Winckelmann führt aus, es sei »schwerer [. . .], viel mit wenigem anzuzeigen, als es das Gegentheil ist«; »der richtige Verstand« liebe »mit wenigem mehr als mit vielem zu wirken«. In diesem Sinn könne »eine einzelne Figur der Schauplatz aller Kunst eines Meisters seyn«.10' Im »Laokoon« liegt nach Winckelmann »mehr verborgen [. . .], als was das Auge entdeckt«; »der Verstand des Meisters [ist] viel höher noch als das Werk gewesen«.104 Nach Abeler ist »Winckelmanns Synthese von >Einfalt< und ' 8 Vgl. unten 12.4.1765, 30.8.1766, 18. 3 . 1 7 6 8 , 99

100

3.4.1.; 3.4.4. Zur Frage der Dedikation vgl. noch 765 an Stosch, III S. ιγι£; 785 an Stosch, 2 5 . 7 . 1 7 6 6 , III S. 192; 793 an L . Usteri, III S. 202; 799 an Stosch, 1 6 . 9 . 1 7 6 6 , III S. 207; 941 an Stosch, III S. 374.

Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst, Kleine Schriften S. 43. Stammler, S. 170; Fontius, Winckelmann und die französische Aufklärung, S. i i f ; ders., Voltaire in Berlin, S. 159; Henn, S. 2 1 1 ; Abeler, S. 17. Die Detaildiskussion über die Herkunft von Winckelmanns Begriffen kann hier zunächst außer acht bleiben. Vgl. auch Baeumer, Winckelmann, French Classicism, and Jefferson, besonders S. 66—71.

" " Vgl. Abeler, S. 1 1 , der Winckelmanns Konzeption aus Boileaus Longin-Rezeption herleitet. Z u den Berührungen der »Gedancken über die Nachahmung« mit Longin vgl. im einzelnen Brandt, S. 40-48. " " Abeler, S. 35. '° 5 Erinnerung über die Betrachtung der Werke der Kunst, Kleine Schriften S. 150. Z u konkreten stilistischen Erscheinungsformen der Kürze bei Winckelmann vgl. Rendi, S. 24—26. 104 G K S. 324.

216

>Größe< [. . .] als Erhabenheit zu verstehen, deren Ausdruck wesentlich durch die Kürze bestimmt ist.« 10 ' Henns sorgfältiger Untersuchung zufolge, die bis in die jüngste Zeit von der Winckelmann-Forschung übergangen wurde, geht das mit dem Prinzip der Kürze verknüpfte »verborgene gefallige«, der Eindruck, »beständig neue Reizungen zu entdecken«, 1 " 6 nicht unmittelbar auf Boileau als Vertreter der Anciens zurück, 1 " 7 sondern auf die Ästhetik des »bei esprit«, wie sie v o r allem Bouhours vertritt. 1 " 8 Winckelmann rezipiere »jenes Kernstück aus der Stilistik des bel esprit: das >découvrir toujours de nouvelles graces< und erhebt es zum Reizenden in der plastischen Grazie und damit auch der >edlen Einfaltje ne sçay quoy< bei Bouhours ist, »daß >agrémentcharmairdélicat W B 655a an Stosch, [ 2 1 . 4 . 1 7 6 4 ] , III S. 34. 169

Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung, Kleine Schriften S. 1 1 5 . Uhlig, Kunst und Dichtung bei Winckelmann, S. 172. 171 Vgl. dazu den Schlußabsatz der G K 1 , S. 430; dazu Potts, S. 393; 403. n ' W B 10, 4, Widmung [an Stosch] vor den Anmerkungen über die Geschichte der Kunst des Alterthums [Rom, Sommer 1766], I V S. 48. 170

229

tiven Aspekte des Verhältnisses von Freundschaft und Kunst werden unten noch behandelt.

3.3.3.

Römische Ruhe, Rom-Mythos und Freundschaftsbrief

Die Korrelation von »Ruhe und Zufriedenheit« in Rom, kontemplativem Studium der griechischen Kunst und Freundschaft setzt Winckelmann in Briefe um, die noch an ihre gelehrte Provenienz erinnern, sich aber gleichzeitig von ihr entfernen. Anhand des Briefs vom 18. 6.1767 an Riedesel soll die Entwicklungsrichtung im folgenden aufgewiesen werden. Winckelmann beschwört in seinem Brief einen (tatsächlich ausgebliebenen) Besuch Riedesels in Rom, der die Möglichkeit zum freundschaftlichen Gespräch schaffen könne. Der nur wenige Zeilen umfassende Text ist im Zeichen der Imagination freundschaftlicher Präsenz verfaßt: »Hat mich irgend im Leben nach jemand verlanget, so ist es itzo nach Ihnen. Denn nunmehro werden unsere Unterredungen ohne Ziel und Ende seyn.«173 Der enthusiastische Ton der Riedesel-Briefe, die zeigen, »daß es auch in der Freundschaft eine gewiße Begeistrung giebt, welche macht, daß niemand diese Briefe ohne Rührung und herzlichen Antheil lesen wird«, 174 fiel auch den Zeitgenossen ins Auge. Als Hintergrund des Gesprächs evoziert Winckelmann das Panorama Roms und der suburbanen Villen, die zugleich mit antiken Reminiszenzen aufgeladen sind: »Im entzückenden Gespräche werde ich auf dem Quirinal anfangen, und wenn wir müde in Castello angelanget seyn, wird bis Nemi und Genzano, und von da nach Tivoli und Subiaco zu sprechen übrig bleiben.« Die römische Szenerie ist durch Hoffeme und Ländlichkeit gekennzeichnet, das Gespräch an freundschaftlich praktizierte Einfalt gebunden: »Früh am Tage werde ich zu Ihnen kommen, um mit Ihnen nach Villa Madonna zu gehen, und Kraut und Brod wird mir, von Ihnen begleitet, süßer als des Cardinais Tafel seyn.« Gespräch und Spaziergang nehmen die Großlandschaft Rom als offenen Entfaltungsraum freundschaftlichen Verhaltens ein, das allein dem Ort angemessen ist und sich von einer inadäquaten Annäherung an Rom abhebt. Winckelmann betont erneut die Reduktion von Freundschaftsfahigkeit und Kunstverstand auf die »wenigen«. Zugleich hebt er aber den paradigmatischen, vorbildlichen Charakter der Freund-

175 174

W B 866 an Riedesel, 1 8 . 6 . 1767, III S. 2 7 ; . Dort auch die folgenden Zitate. Rez. von: Winckelmanns Briefe an seine Freunde. Erster Theil. Mit einigen Z u sätzen und literarischen Anmerkungen herausgegeben von Karl Wilhelm Daßdorf, Dreßden 1 7 7 7 , in: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Einundzwanzigsten Bandes Erstes Stück, Leipzig 1 7 7 8 , S. yc){.

230

schaft hervor: »Alsdenn wünschte ich, daß viele Deutsche Neulinge sehen möchten, wie ich mich nur allein um Sie dränge, und nur allein mit Ihnen gehe.« In diesem Sinn hatte Winckelmann auch am Tag zuvor geschrieben: »Alsdenn will ich Sie genießen zu aller Stunde, und mit Ihnen die glücklichen Gegenden durchwandern, stolz über den Freund, an dessen Seite ich solches Vergnügen genießen werde.« 175 Das Bekenntnis zur »erhabenen« Freundschaft und der Wunsch nach einem Wiedersehen in Rom in Verbindung mit dem Hinweis auf das zugleich Einzigartige und Exemplarische finden sich auch in anderen, früheren Briefen an Riedesel. Auch deutet sich die tragende, wenn nicht konstitutive Bedeutung des Briefverkehrs für die Freundschaft an: »Wenigstens ist dieses Verlangen ein Zeugniß meiner wahren Freundschaft, die ich allen Fremden bekannt mache, und ihnen sage, daß Sie der einzige von Reisenden sind, mit welchem ich einen beständigen Briefwechsel unterhalte.«' 76 Unausgesprochen setzt die Vorstellung eines Spaziergangs vor dem römischen Panorama Muße und Ruhe voraus. Hier spielt eine Rolle, daß Riedesel als »Mann von Stand, Welt und Erudition«' 77 denjenigen Typus repräsentiert, den Winckelmann als Kunstadepten fordert.' 78 Riedesel sei ein »Freund, den ich mir gleichsam hier erzogen, ein würdiger Patriot, mit einer großen tugendhaften Seele begäbet, und von Vermögen und Stande«.' 79 Er sei »unter vielen Tausenden der einzige [ . . . ] , der das Schöne gleichsam von Natur kennet, und diese Kenntniß richtig gemacht hat.«' 80 Daß sich damit an den Begriff der Ruhe und Muße Momente der Adelskultur anschließen,' 81 wird für den letzten Teil dieser Arbeit wichtig. Die Thematik von Ruhe, Zufriedenheit und Vergnügen ist im Brief an Riedesel präsent. In einer Einladung zur Villégiatura nach Castello, die sich in einem einige Jahre früher verfaßten Brief findet, schließt Winckelmann die Elemente der Verfügung über die Zeit, des landschaftlichen Hintergrunds, des einfachen Lebens und des von gesellschaftlichen Umgangskonventionen unbelasteten freundschaftlichen Gesprächs zusammen. (Daß solchen Äußerungen offenbar auch konkrete Überlegungen zur Finanzierbarkeit einer Romreise zugrunde liegen,' 82 widerspricht der Interpretation nicht.) Riedesel müsse »die ,7 '

WB 865 an Riedesel, 17.6.1767, III S. 274. WB 685 an Riedesel, 19.12.1764, III S. 68. Vgl. auch 702 an Riedesel, 17.4. 1765, III S. 96: »Ich versichere Sie aber, daß ich mich bemühen würde, Ihnen in Rom zu bezeugen, daß ich der Freund bin, den Sie sich in mir vorstellen.« 177 Rehm, Johann Hermann von Riedesel, in: ders., Götterstille und Göttertrauer, S. 217. ,7" Vgl. ebd. S. 2 4 6f. •79 902 an Francke, 9.9.1767, III S. 314. WB 595 an Riedesel, 12.10.1763, II S. 348. '*' Vgl. dazu etwa Bosshard, S. 126. ,8* Vgl. etwa WB 702 an Riedesel, 17.4.1765, III S. 97; 761 an Riedesel, 26.2.1766, III S. 163. 176

251

schönste Natur, glaube ich die unter der Sonnen ist«, »das schönste Gestade an dem ganzen Mittelländischen Meere, welches zu Nettuno ist, mit mir genießen«; er habe »nur einen Bedienten nöthig, welcher kochen kann«. Auch habe Winckelmann »mit niemanden mit so ungebundner Freyheit, als mit Ihnen gesprochen, und ich würde an allem Ihren Vergnügen Theil nehmen, und es auf alle Weise zu befördern suchen.« Das Wunschbild des gemeinsamen Naturgenusses steht unter dem Vorzeichen der Freundschaftlichkeit und der Ruhe in Rom: »Sie könnten sich sehr genau einrichten, und dennoch Rom angenehmer noch, als das erstemal genießen: denn zum wahren Genüsse gehört nur Zeit und ein Freund; das erste beruhet auf Ihnen; den Freund finden Sie in mir.« 18 ' Der Brief vom 18. 6. 1767 ordnet sich einer Reihe ähnlicher Äußerungen gegenüber Riedesel zu, die zeigen, welche Bedeutung das gemeinsame Kunstinteresse für das freundschaftliche Gespräch hat. Im freundschaftlichen Kunstgespräch sind auch die sozialen Spannungen, die Winckelmanns Tätigkeit als Rom-Führer begleiten, beseitigt: Tausend reizende Vergnügen habe ich mir beständig in Ihrem zweyten Aufenthalte in Rom, in Ihrer Gesellschaft, voraus vorgestellet, und einige Sachen außer Rom, welche ich von neuen betrachten würde, habe ich mit Fleiß auf Ihre Ankunft verspätet. 1 ' 4

Jedoch beschwört Winckelmann im Brief vom 1 8 . 6 . 1 7 6 7 nur Umgebung und Atmosphäre, nicht den möglichen Inhalt des Gesprächs. Damit deutet sich eine gattungsgeschichtliche Entwicklungsrichtung an, die zunächst im Rückgriff auf weiteres Briefmaterial veranschaulicht werden soll. In den freundschaftlichen Korrespondenzen überwiegt quantitativ der Aspekt der Nachrichtenvermittlung. Neben Neuigkeiten aus der gelehrten Welt 18 ' finden sich stets Berichte über Reisebewegungen in Rom, Verhand,8j

W B 669 an Riedesel, 16. 7. 1764, III S. 49?. Bosshard, S. 1 1 0 - 1 1 5 , hält solche Beschwörungen der Ruhe — im Gegensatz zur hier versuchten Interpretation - ohne weiteres für Elemente römischer Realität.

1,4

W B 733 an Riedesel, 10. 1 0 . 1 7 6 ; , III S. 125. Vgl. auch 649 an Riedesel, 2 7 . 3 . 1 7 6 4 , III S. 28: »Ich melde Ihnen meine Rückkunft von Neapel, ohnerachtet ich mit Geschäften überhäuft bin; denn ich kann nicht an Neapel gedenken, ohne zu wünschen, diese Reise in Ihrer Gesellschaft gethan zu haben, oder künftig zu thun.« 748 an Riedesel, 21. 1 2 . 1 7 6 5 , III S. 142: »Sie werden mich finden, wie Sie mich gelassen haben, und ich werde mit Ihnen, so lange es Ihnen gefällt, das schöne Land genießen.«

,8

' Vgl. etwa W B 4 3 9 an Geßner, 1 9 . 9 . 1 7 6 1 , II S. 1 7 ; : »Ein reisender Britte glaubet an einem Brustbilde zu Turin welches mit unbekannten Charactern bezeichnet ist, die wahre Egyptische Schrift, welche mit den ältesten Sinesischen Buchstaben eine große Verwandtschaft haben soll, entdecket zu haben. E r läßet hier etwas drucken, welches ich überschicken werde, wenn es nicht weitläuftig ist.« ; 29 an L . Usteri, 1 . 1 . 1 7 6 3 , II S. 279: »Von neuen Büchern wurde mir Henry Home's Elements of

232

lungen über die Versendung von Kunstwerken und Büchern, Informationen über gemeinsame Bekannte 1 ' 6 und Mitteilungen über die persönlichen Lebens· und Arbeitsverhältnisse sowie über den Fortgang der eigenen Arbeiten, 1 ® 7 in Einzelfallen verbunden mit der Bitte um deren kritische Bewertung. Von Stosch fordert Winckelmann in der römischen Frühphase mehrfach Urteile über seine Kunstbeschreibungen: »Sie sollen Richter meiner Schrift seyn, und was dem Herrn Baron und Ihnen nicht gefallt, soll ohne Gnade ausgestrichen werden.« 188 Ebenso wie die Beschreibung des Apoll' 8 ' bietet er auch die des Laokoon zur kritischen Lektüre an.1*0 Entsprechend den Kommunikationsgewohnheiten der Literatenkorrespondenzen verbinden sich in den Stosch-Briefen gelegentlich Freundschaftsbekundung und Kritik: »Beurtheilen Sie die folgende Seite nicht mit den Augen eines Freundes, sondern wie ein Feind.«' 9 ' In den Briefen an die Korrespondenten aus der Schweiz lassen sich ähnliche Textstellen nachweisen. 1 ' 2 Criticism in three Vol. Edinburgh, 1762. 8" als ein Meisterstück angepriesen [. . .]«. 837 an P. Usteri, 8.4.1767, III S. 247: »Ich habe die ersten Proben von dem großen Werke der Hamiltonischen Gefäße bekommen, und es wird daßelbe in ein paar Monaten erscheinen.« 926 an P. Usteri, 2.1.1768, III S. 350: »Es wird nächstens ein Buch in 4° zum Vorschein kommen unter dem Titel: Sur l'usage des Statues. Der Verfasser ist ein Comte Guasco [. . .]«. 1,6 Es erscheint im vorliegenden Kontext überflüssig, solche Züge der Winckelmann-Briefe hier im einzelnen zu belegen. " 7 Vgl. WB 479 an L. Usteri, 1 . 5 . 1 7 6 2 , II S. 22of über die G K und die MAI: »Dieses sind meine eigene Neuigkeiten.« 519 an L. Usteri, 16.10.1762, II S. 265 über das Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen und die Anmerkungen über die Baukunst; 667 an H. Füssli, 13.7.1764, III S. 47 über die Allegorie; 710 an H. Füssli, 19.7.1765, III S. 103 über die Allegorie, die MAI und die Verwicklung in einen italienischen Gelehrtenkrieg. Die willkürlich ausgewählten Belege lassen sich vermehren. "* WB 187 an Stosch, [Mitte September 1757], I S. 300. '·' WB 185 an Stosch, [Mitte August 1757], I S. 298. Dazu S. 299: »Ich verlange darüber Ihr Urtheil.« '»°WB 192 an Stosch, [Anfang Oktober 1757], I S. 308: »Ich unterwerfe Ihrem Urtheil einen andern Versuch von einer kurzen Beschreibung.« Vgl. auch 671 an Stosch, 12.8.1764, III S. 53; Winckelmann verlangt »Ihr Urtheil über meine Geschichte der Kunst«. WB 193 an Stosch, [28.10.1757], I S. 3 1 1 . '»* Vgl. WB 466 an L. Usteri, 19. 2.1762, II S. 203; 528 an L. Usteri, 17. 2.1762, II 5. 277: »Ihr Urtheil über meine in Eyl entworfene Schrift giebt mir eine Versicherung von anderer Beyfall«; vgl. auch ebd. S. 278. - 540 an L. Usteri, 20. 2.1765, II S. 294: »Ueber das Sendschreiben kann der Herr Gr. Firmian ganz recht geurtheilet haben, und ich bitte Sie die Stellen zu untersuchen die es seyn könnten. Horchen sie bey anderen, was ihnen mißfällt und was sie wünschten geändert oder weggelaßen sehen, und dieses alles setzen Sie mir odentlich auf. Denn dieses soll mir zur Regel bey der Umarbeitung dienen.« 579 an L. Usteri, 6. 8.1763, II S. 333: »Sie streuen mir in Ihrem letzten Schreiben so viel Weirauch, daß mir derselbe in das Gehirn stieg; Sie wißen, wie empfindlich dasselbe in der 2

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In Bezug auf die Briefe als Informationsmedium schließt Winckelmann an die Gelehrtenepistolographie an. A u f die gelehrte Provenienz bezieht sich offenbar auch J . Müller, wenn er bemerkt, man müsse »etwas bedeuten wenn Briefe von Einem mehr als seinem Korrespondenten wichtig seyn sollen.« In dieser Hinsicht ziehe er Mosheims und vor allem Abbts Episteln den »Tändeleyen« Rabeners vor: »Aus den letzten können Sie sehen, warum ich auf Winckelmanns Briefe, in welchen ich Geist Leben Herz und Kraft vermuthe, so begierig bin«. 1 " Heyne hebt in einer Rezension der Ausgabe der Stosch-Briefe neben den Hinweisen auf Winckelmanns Charakter den »litterärisch[en]« Wert der Briefe hervor. 194 Demgegenüber steht die Mitteilung von Arbeitsergebnissen und Kunstbeschreibungen in den Freundschaftsbriefen nicht im Vordergrund. Die Perspektive auf die antike Kunst, auf »Sachen welche die Alterthümer betreffen«, 1 " fallt jedoch nicht fort. Berichte »Von alten Nachrichten«, 1 ' 6 »Von neuen Entdeckungen«, 1 ' 7 von den »verschiedenen seltenen Dingen die hier zum Vorscheine gekommen sind«, 1 ' 8 bilden eine häufige Rubrik in den Freundschaftsbriefwechseln. Sie können sich mit Beschreibungen der neu gefundenen Kunstwerke verbinden:

1,4

Römischen Luft ist, wo der Geruch einer Blume schädlich seyn kann. Wenn mein Italienisch Werk fertig seyn wird, will ich kleines Lob annehmen, weil ich mich in dem selben gezeiget habe, aber vorher nicht.« — 678 an Wille, 10.10.1764, III S. 60: »Ich wünschte sehnlichst, von Ihnen etwas über meine Geschichte der Kunst zu vernehmen.« 837 an P. Usteri, 8.4. 1767, III S. 247: »Aber, Milchlamm, warum meldet Ihr mir nichts von meinen Anmerkungen über die Gesch. der Kunst? Da Ihr glauben könnet, daß der Beyfall von jemanden unter euch mehr bey mir gilt, als das Lob von allen Leipzigern.« WB 197a J . Müller an L. Usteri, 2 7 . 1 2 . 1 7 7 2 , IV S. 327. Rez. von: Winkelmanns Briefe an Einen seiner vertrautesten Freunde in den Jahren 1756 bis 1768 [. . .], Zwey Theile, Berlin und Stettin 1781, in: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 83. Stück, 9. Jul. 1781, S. 659. Zum Zusammenhang der Winckelmann-Briefe mit der Gelehrtenepistolographie vgl. auch Brockmeyer, S. 149.

WB 380 an Stosch, 3 . 1 . 1 7 6 1 , II S. 110. WB 602 an Riedesel, 9 . 1 1 . 1763, II S. 602. •97 693 an Riedesel, 22. 2.1765, III S. 84. Vgl. auch 664 an Riedesel, 23.6.1764, III S. 44. '»'WB 837 an P. Usteri, 8.4.1767, III S. 247. Vgl. z.B. WB 439 an Geßner, 1 9 . 9 . 1 7 6 1 , II S. 174: »Es sind von neuen außer Rom zwo alte sehr wohl erhaltene Gemähide [die von Mengs gefälschten] von zwo Spanne hohen Figuren entdecket: das eine stellet die Fabel des Erichthion vor, welchen Pallas in einem Korbe verschloßen der Tochter des Cecrops Pandrosia anvertrauet hatte. [. . .] Das andere ist ein Tanz von drey Bacchanten Weiblichen Geschlechts. Die Zeichnung ist wunderbar schön, und es sind die ältesten Gemähide in der Welt.« ; 54 an L. Usteri, 16.4. 1763, II S. 309Í: »Es haben sich viele merkwürdige Entdeckungen hervor gethan, welche ich heute nicht Zeit anzuzeigen habe.« Vgl. etwa auch 280 an Bianconi, 24.6.1759, I S. 8; 356 an Bianconi, 15.2.1760, II S. 81; 429 an Bianconi, 24.7.1761, II S. 164.

234

Es ist vor wenig Tagen ein Kopf einer Pallas zum Vorschein gekommen, welcher alles an Schönheit übertrifft, was das menschliche Auge sehen können, und was in eines Menschen Herz und Gedanken gekommen. Ich blieb wie von Stein, da ich ihn sähe. Cavaceppi hat denselben, aber noch ganz in geheim. 1 " Zusätzlich fördert das Etikett des N e u e n , n o c h Unpublizierten und i m Fall der ( v o n Winckelmann zu diesem Zeitpunkt n o c h nicht durchschauten) M e n g s - F ä l s c h u n g sogar G e h e i m e n , das W i n c k e l m a n n seinen Mitteilungen gibt, den freundschaftlich-exklusiven Charakter der Korrespondenz. 2 0 0 D i e Altertumsberichte können sich bis zur Integration der Interpretationsarbeit in den Schreibvorgang entwickeln: »Hier brach ich ab im Schreiben, weil mir da [ich] in d e m Trattato preliminare eine neue A b h a n d l u n g über die Schönheit mache, ein Einfall kam, d e m ich nachdenken mußte.« 2 "' A u s einer Bemerkung g e g e n ü b e r Schlabbrendorf geht hervor, daß die Thematik der Altertümer als Strukturmerkmal der Briefe und als H i n w e i s auf ihre gattungsgeschichtliche Z u o r d n u n g zu bewerten ist; allerdings entstammen die f o l g e n d e n Zitate nur z u m Teil der engeren G r u p p e

der

Freundschaftsbriefe: »Ein Schreiben v o n mir würde leer zu achten seyn, w e n n es o h n e L a d u n g v o n alten Steinen käme, und sich o h n e A n z e i g e n wenigstens v o n alten Scherben endigte.« 2 0 2 E b e n s o versichert Winckelmann in einem Brief an Werthern: Ich erscheine mit leerer Hand vor Ihnen und meine Schuld macht mich roth, aber ich will alles mit Wucher bezahlen. Der Aufsatz soll künftig mit einer Nachricht von allen großen und kleinen Entdeckungen die seit Dero Ihrer Abreise gemacht sind begleitet werden.20' WB 669 an Riedesel, 16. 7.1764, III S. 50. Vgl. auch 364 an Stosch, 14.6.1760, II S. 90; 397 an Stosch, 15.12. 1760, II S. 109; 380 an Stosch, 3 . 1 . 1 7 6 1 , II S. 110—112 (dabei die Beschreibung zweier soeben entstehender Gemälde); 381 an Stosch, 10. Ii.1761, II S. i i 2 f ; 412 an Stosch, 2 . 5 . 1 7 6 1 , II S. 148; 714 an Stosch, 7.7.1765, III S. 110; 798 an Wiedewelt, 16.9.1766, III S. 2ojf; 799 an Stosch, 16.9.1766, III S. 208; 804 an Stosch, 4.12.1766, III S. 214. 200 Vgl. WB 377 an Wiedewelt, 9. 12. 1760, II S. io7f; vgl. Erläuterungen ebd. S. 403^ Zum selben Fall 379 an Stosch, 1 5 . 1 2 . 1760, II S. io8f: »Eine Nachricht aber kann ich Ihnen mittheilen, welche Ihre Aufmerksamkeit erwecken wird, aber ich bitte Sie, bey unserer Freundschaft, keinem Menschen dieselbe anzuvertrauen, weil man alles dort Brühwarm in die Zeitungen setzet. Sie werden im voraus sagen ich verdiene kein Geheimniß, weil ich selbst nicht verbergen kann, und Sie haben Recht. Schweigen Sie nur und halten mir Ihr Wort.« "" WB 792 an Stosch, 32.8.1766, III S. 201; es folgt eine ausführliche Erörterung des »Einfalls« (S. 2oif). " " WB 735 an Schlabbrendorf, 1 9 . 1 0 . 1 7 6 ; , III S. 128. WB 504 [an Graf Werthern (Entwurf)], [28.7.1762], II S. 255. Vgl. auch 819 an Erdmannsdorf, 3 . 1 . 1 7 6 7 , III S. 228: »ich werde [. . .] künftig alles nachholen, und niemahls leer und ohne Nachrichten, die Rom geben kann [. . .] erscheinen.« Erdmannsdorf war Reisebegleiter des Fürsten Franz von Anhalt-Dessau (vgl. Hosäus, S. 17-27). Von hier aus scheint ein Schluß auf den Sinn der (verlorenen) Korre-

235

Was hier noch im Unausgesprochenen bleibt, nämlich daß die Freundschaftsverpflichtung meist eng mit einer professionell-kommunikativen, ja öffentlichen gepaart erscheint, wird in anderen Briefstellen umso deutlicher: Briefe an Sie die so leer wie der meinige aus Rom gehen, gleichen den Schiffen die unbeladen aus Peru zurück kommen würden, und wenn das Blatt gelesen ist, erscheinet der es sendet, wie einer auf der Bühne, welcher auftritt, die Zuschauer grüßet und davon gehet.2"4 Der Brief vom ι. 1 1 . 1 7 6 0 an Stosch, in dem sich an Freundschaftsbezeugungen die Beschreibung der »bey S. Croce in Gierusaleme« 20 ' gefundenen Statuen anschließt, dokumentiert im Aufbau, daß der freundschaftliche Diskurs sich auch als Gespräch über die Kunst, als Kunstkontemplation verstehen kann. 2 " 6 In umgekehrter Reihenfolge realisiert ein Schreiben vom 1 0 . 4 . 1 7 6 1 denselben Zusammenhang. Einer ausführlichen »Beschreibung der Villa des Hrn. Card. Alex. Albani«, 207 bei der es sich allerdings nicht um einen Privatbrief handelt, sondern um ein Schriftstück, das zur Präsentation bei der Londoner »Society of Antiquaries« bestimmt war, 208 folgt die Apotheose Italiens als Welt der Kunst. In beiden Fällen — wie auch in der Mehrzahl der übrigen Freundschaftsbriefe Winckelmanns — lassen sich im Briefaufbau Elemente formalisierter Dispositionsschemata (z. B. Exordium, Narratio,

Conclusio) 2 " 9

wiedererkennen.

Jedoch

gewinnt

die

Freund-

schaftsadresse ein Eigengewicht: Die Verbindung von Freundschaftsbekundung und archivarischer Mission hält den nur so — damit auch nur in Italien, allenfalls über Italien — zugänglichen Zustand von Ruhe und Zufriedenheit literarisch fest: Ich muß Ihnen, mein Freund sagen, Komme und Siehe: denn es ist schwer, Ihnen einen deutlichen Begriff von der Albanischen Villa, welche Sie vor fünf Jahren noch sehr unvollkommen gesehn, zu geben. Ich glaube auch, daß Sie das glückliche Italien nach Ihren vollendeten weiten Reisen noch einmahl zu genießen trachten werden, und alsdenn wünsche ich, daß wir beyde in unserem Vaterlande, Sie in dem gemeinschaftlichen, Ich in demjenigen, welches es mir durch Wohlspondenz mit Franz erlaubt. Vgl. auch 872 an Minister von Münchhausen, 5.7.1767, III S. 283. 104 WB 409 an Gessner, 25.4.1761, II S. 145. WB 376 an Stosch, 1 . 1 1 . 1 7 6 0 , II S. 105. 106 Vgl. dazu auch die in WB 709 an Stosch, 8.6. 1765, III S. 101 formulierte Hoffnung auf das »Glück Sie in Rom zu sehen«: »[. . .] es würde auch kaum Vergebung erhalten können, zwey Tage-Reise von Rom entfernt zu seyn, und Italien auf ewig zu verlaßen, ohne unsere Schönheiten von neuen zu betrachten, und mit einer lebhaften Idee zurück zu gehen.« 107 WB 400 an Stosch, 10.4.1761, II S. 134. " " V g l . WB 399 an Stosch, 10.4.1761, II S. 132. 109 Vgl. dazu ausführlicher Neukirch, Anweisung zu Teutschen Briefen S. 5 3 2f; Nikkisch, Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern, passim. 256

thaten geworden ist, den Sitz unserer Ruhe, frölich, geliebt und geachtet, finden mögen." 0

Zwar läßt sich der Kunstbezug des freundschaftlichen Briefgesprächs belegen; jedoch reduziert Winckelmann die beschreibende Kunstbetrachtung in der Regel auf wenige Zeilen. Die Freundschaftskorrespondenzen unterscheiden sich in dieser Hinsicht von Gelehrtenbriefwechseln 211 und von den »antiquarischen Relazionen«. Während Winckelmann etwa in Briefen an Rauch, Bianconi und Bünau detailliert auf kunstgeschichtliche Erträge seiner ersten Reise nach Neapel eingeht, 212 verzichtet er gegenüber Stosch auf einen ausführlichen Forschungsbericht. Für das späte Schreiben könne er »nichts zu meiner Entschuldigung vorbringen, als den Mangel der Zeit und den Ueberfluß von Nachrichten, in welchen ich mich fürchtete einzulaßen.« 2IJ Die Mitteilung von antiquarischen Nachrichten verfallt im freundschaftlichen Kontext gelegentlich dem Pedantismusverdacht: »Gegen Ihre Nachrichten von Alterthümern würde ich Ihnen Silber gegen Gold geben, wenn ich den Brief mit allerhand Entdeckungen, welche von Zeit zu Zeit gemachet werden, anfüllen wollte. Es ist also der Mangel an Sachen Schuld an Ihrer vermeinten Kürze meiner Briefe«. 214 Gattungsgeschichtlich läßt sich diese Differenz auf die Ablösung des der Traktatliteratur nahestehenden Gelehrtenbriefs beziehen — ein Wandlungsvorgang, den Winckelmann (zusammen mit dem Prozeß der Abkehr von den Briefformularen) gelegentlich unter dem Aspekt »unordentlichen« Schreibens entschuldigt. »Mein Brief«, so heißt es an Volkmann, »wenn ich so fortschreibe, wird aussehen, wie ein Magen von Leuten, die vier Stunden essen.« 21 ! Aus Mangel an Zeit könne er an P. Usteri »itzo unmöglich ordentlich schreiben.« 2 ' 6 An Heyne schreibt Winckelmann: »Lange und seltene Briefe, und von entlegenen Orten, können nicht ordentlich seyn, und ich werde noch anhängen, was mir einfällt, und was mir nicht eingefallen ist, da ich es vorher hätte sagen sollen.« 217 Zur W B 400 an Stosch, 1 0 . 4 . 1 7 6 1 , II S. 139. Vgl. etwa den Bericht über eine Ausgrabung in Rom in W B 746 an Heyne, i.[oder 5 . ] 1 2 . 1 7 6 j , III S. i4of sowie dessen Fortführung in 749 an Heyne, 28. 1 2 . 1 7 6 5 , III

S· i43 -I 47· " ' V g l . W B 207 an Bianconi-Rauch, [ 3 1 . 3 . 1 7 5 8 ] , I S. 339 und 2 1 2 an Bianconi, 1 3 . 5 . 1 7 5 8 , I S. 3 5 6 - 3 6 1 sowie 2 1 0 an Bünau, 2 6 . 4 . 1 7 5 8 , I S. 3 5 0 - 3 5 3 . A u c h die Briefe an Münchhausen gehören möglicherweise in diesen Zusammenhang; vgl. etwa 9 1 2 an Minister von Münchhausen, 2 8 . 1 1 . 1 7 6 7 , III S. 3 2 4 ^ — Vgl. auch 164a [an Philipp von Stosch], [Herbst-Winter 1756], I S. 253—260; 2 5 1 an Albani, 14. 2 2 . 1 7 5 8 , I S. 432—434; 822 an Graf Wallmoden, 2 4 . 1 . 1 7 6 7 , III S. 232; 919 an Graf Wallmoden, 1 8 . 1 2 . 1 7 6 7 , III S. 336—338. " ' W B 2 1 7 an Stosch, 2 0 . 5 . 1 7 5 8 , I S. 37of. " 4 W B 367 an Stosch, [vor Mitte Juli 1760], II S. 9 1 . " ' W B 258 an Volkmann, 1 . 1 2 . 1 7 5 8 , I S. 440. " 6 W B 815 an P. Usteri, 1 4 . 1 2 . 1 7 6 6 , III S. 2 2 ; . " 7 W B 9 3 1 an Heyne, 2 3 . 1 . 1 7 6 6 , III S. 359.

237

Vernachlässigung der Briefordnung zählt auch die »Unsauberkeit« im Schreiben.218 Die literaturgeschichtlichen Bewegungen, die sich im Bereich der brieflichen Nachrichtenvermittlung im einzelnen vollziehen, insbesondere auch die Ansätze zu Auflösungs- und Privatisierungstendenzen im Zusammenspiel mit der Ausweitung des Briefverkehrs und seiner Gegenstände zu einer literarischen Praxis gelehrter Urbanität, bedürften einer eigenen Untersuchung.2'9 Wenngleich in reduzierter Form, bleibt die Beschäftigung mit der Kunst als Hintergrundfaktor Teil des freundschaftlichen Gestus. Hier spielt eine Rolle, daß gerade die Freundschaftsbekundungen den publizierten Texten, der Sprache der Öffentlichkeit am nächsten stehen.220 Die verselbständigte Freundschaftsbekundung im Riedesel-Brief vom 18.6. 1767 weist auf eine Entwicklungsrichtung, die in den Freundschaftsbriefen angelegt ist. (In dieser Hinsicht stehen ihr andere Briefe nahe, die Winckelmann unter ähnlichen Umständen an Riedesel adressiert hat.) Dies gilt umso mehr, als er gegenüber demselben Adressaten wiederholt den Unterschied zwischen konventionellem und erhabenem Freundschaftston reflektiert.221 Winckelmanns Brief vom 18.6. 1766, der gänzlich auf Kunstbeschreibungen und auf eine inhaltliche Bestimmung des Freundschaftsgesprächs verzichtet, die antike Kunst jedoch im römischen Panorama präsent hält, deutet auf die Tendenz, den kunsttheoretischen Diskurs in eine briefliche Freundschaftspraxis zu verwandeln. Er dokumentiert in seinem Verzicht auf »gelehrte« Abhandlungselemente wie auch auf Momente der Konversationskonvention die briefliche Umsetzung des Stilprinzips der Kürze. Den Rahmen für diesen Vorgang liefert das im Brief an Riedesel landschaftlich, im übrigen von Winckelmann als Kunstmetropole imaginierte Rom. So hofft er, »Sie wieder zu sehen in dem schönen Italien und in dem prächtigen Rom«. 222 Letzteres nennt er »den einzigen Sitz der Künste«.225 Der »Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst« zufolge sind in Rom mehr schöne Pallaste und Häuser, als in ganz Italien zusammen genommen; das schönste Gebäude unserer Zeiten, ist die Villa des Herrn Cardinais Alex. Albani, und der Saal in derselben kann der schönste und prächtigste in der Welt heißen. 214

W B 461 an Stosch, 2 . 1 . 1 7 6 2 , II S. 199. " * Vgl. dazu vorläufig Brockmeyer, S. 1 ; if. Vgl. oben 3.3.2.; unten 3.4.4.

"2

W B 680 an Riedesel, 2 0 . 1 0 . 1 7 6 4 , III S. 6 i f ; 702 an Riedesel, 1 7 . 4 . 1 7 6 5 , III S. çôf. Als Freundschaftsbrief vgl. auch 6 8 ; an Riedesel, 1 9 . 1 2 . 1 7 6 4 , III S. 67f. W B 669 an Riedesel, 16. 7 . 1 7 6 4 , III S. 49.

W B 409 an Gessner, 2 5 . 4 . 1761, II S. 146. " " Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst, S. 2 3, in: Kunsttheoretische Schriften Bd. X . z?8

Daß Winckelmann die überragende Bedeutung und zugleich die Lebensnotwendigkeit Roms immer wieder an biographischen Wendepunkten und in Krisensituationen hervorhebt — in der römischen Anfangsphase, nach dem Scheitern der Berufung nach Berlin und im letzten Brief an Stosch vor der Rückreise nach Italien — weist auf die Rolle des Rom-Bilds als Gegenentwurf zur Situation in Deutschland. Einen Aufenthalt in Rom erklärt er zur notwendigen Voraussetzung für jede Art antiquarischer und kunstgeschichtlicher Tätigkeit. Man könne »von Alterthümern nicht schreiben, ohne in Rom gewesen zu seyn, und zwar ohne alle andere Beschäftigung«; 22 ' über die »Historie der alten Künstler« könne man »aus Büchern, und auch in Siberien schreiben, ich habe mich nur an das gehalten, wozu nur allein in Rom Gelegenheit ist.« 126 Über die antike Plastik »außerhalb Rom zu schreiben«, sei unmöglich, »ohne irgend einen Fehler zu machen.« 227 Auch könne man »entfernt von Rom keine gründliche Kenntniß in Münzen erlangen.« 228 Außerhalb von Rom — dem »einzige[n] Rom in der Welt«, dem »schönsten Ort unter der Sonnen«, 229 sei für ihn »kein wahres Vergnügen zu hoffen [. . .], da ich es mit tausend Beschwerlichkeiten erkaufen muß.« 2, ° Jedoch sieht Winckelmann in Rom nicht nur die Wissenschaften und Künste zusammengefaßt; Rom kann vielmehr selbst die Struktur eines Kunstwerks annehmen. Wie »die Schönheit der Griechischen Statuen eher zu entdecken ist, als die Schönheit der Natur, und [. . .] also jene rührender, nicht so sehr zerstreuet, sondern mehr in eins vereiniget, als es diese ist«, 2 ' 1 so ermöglicht — der »Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst« zufolge — erst Rom die umfassende Erfahrung des sonst zerstreuten Schönen. Der Kunstcharakter liegt dem Bild von Rom als Haupt- und Weltstadt zugrunde: A u s diesem Verzeichnisse der besten Werke alter Bildhauer und der Gemälde des Raphaels außer Rom und Italien, ist der Schluß zu ziehen, daß das Schöne in der Kunst anderwerts nur einzeln sey, und daß die Empfindung desselben allein in R o m völlig, richtig und verfeinert werden könne. Diese Hauptstadt der Welt

W B 142 an Francke, 5 . 1 7 5 6 , I S. 2 2 1 . W B 184 an Wille, [Mitte August 1 7 5 7 ] , I S. 295. " 7 W B 198 an Wille, [1. Hälfte Dezember 1 7 5 7 ] , I S. 320; vgl. auch 333 an Walther, 8 . 1 2 . 1 7 i 9 , II S. 56: »[. . .] es ist nicht möglich außer Rom etwas gründliches von Alterthümern zu schreiben, ohngeachtet ich alle ersinnliche Hülfsmittel mit der größten Bequemlichkeit in Florenz bey der Hand hatte.« Umgekehrt gilt: »Denn nunmehro nun ich Rom gesehen, habe ich keine Vergebung über einen Fehler zu hoffen« ( 1 5 3 an Walther, 7 . 7 . 1 7 5 6 , I S. 238). W B 591 an L . Usteri, 14. 9 . 1 7 6 3 , II S. 344. "» W B 7 5 7 an Stosch, 8. 2 . 1 7 6 6 , III S. 159. IJI

W B 9 5 ; an Stosch, 1 4 . 5 . 1 7 6 8 , III S. 389. Gedancken über die Nachahmung, Kleine Schriften S. 37; vgl. dazu Baumecker, S. i i 6 f .

Z

J9

bleibet noch itzo eine unerschöpfliche Quelle von Schönheiten der Kunst, und es wird hier in einem Monate mehr entdecket, als in den verschütteten Städten bey Neapel in einem Jahre.'' 1

Gegenüber Wiedewelt drückt Winckelmann die Hoffnung aus, »sie bald einmal hier in dem Sammelplatz alles Schönen und Vortrefflichen wieder zu sehen!« 2 " Insofern Rom als ganzes für die Präsenz antiker Kunstschönheit eintritt, verleiht Winckelmann ihm eine offene Struktur; als Gegenstand einer auf das vergangene Schöne gerichteten Hermeneutik scheint es unauslotbar. Kurz nach seiner Ankunft meldet Winckelmann: »Ohngeachtet ich über vierzehen Tage hier bin und beständig Rom durchkreuze, so habe ich doch noch nicht die Hälfte gesehen«.1'4 In einem späteren Brief bemerkt er: »Ich bin nunmehro über ein halbes Jahr hier und ich muß gestehen, daß ich noch lange nicht alles gesehen habe. Rom ist unerschöpflich und man macht noch immer neue Entdeckungen«. 2 " Für die regelmäßigen Berichte über neue Ausgrabungen bietet sich als zusätzliche Interpretation an, daß sie in den Briefen den unabgeschlossenen, wenn nicht unabschließbaren Prozeßcharakter der Vergegenwärtigung antiker Kunst vertreten. Noch 1767 heißt es an Wiedewelt: »Ich versichere Sie, daß ohnerachtet Ihres ehemaligen rühmlichen Eifers, indem Sie weder Geld noch Mühe sparten, alle hiesige Monumente der Kunst sich bekannt zu machen, Sie bey Ihrem neuen Besuche Rom für ein ganz neu entdecktes Land halten werden.«2'6 Für diese Deutung spricht auch die Aufforderung zur Autopsie der Originalwerke in Rom, der Imperativ des »Komme und Siehe«,2'7 des »gehe hin und sieh«,2'8 mit dem sich Winckelmann in anderen Zusammenhängen von der gelehrten Tradition löst. Das Schöne ist nicht unmittelbar begrifflich verfügbar, 2 ' 9 sondern muß in kontinuierlicher Interpretationsarbeit vergegenwärtigt werden. Der Kupferstich, »die Copie im Kleinen«, ist — wie eine Übersetzung — »nur der Schatten, nicht die Wahrheit«. »Es kann also die wahre und völlige Kenntniß der Schönen in der Kunst nicht anders, als durch Betrachtung der

1,1

Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst, S. 2 1 , in: Kunsttheoretische Schriften Bd. X . ' » W B 860 an Wiedewelt, 3 . 6 . 1 7 6 7 , III S. 269. * )4 W B 1 2 1 an Francke, 7 . 1 2 . 1 7 5 ; , I S. icjof. W B 1 5 1 an Berendis, [wahrscheinlich 7 . 7 . 1 7 5 6 ] , I S. 235. " 6 W B 860 an Wiedewelt, 3 . 6 . 1 7 6 7 , III S. 269. 157 W B 400 an Stosch, 1 0 . 4 . 1 7 6 1 , II S. 139. Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst, S. 32, in: Kunsttheoretische Schriften Bd. X . * " Vgl. ebd: »Die höchste Deutlichkeit kann Dingen, die auf der Empfindung bestehen, nicht gegeben werden, und hier läßt sich schriftlich nicht alles lehren, wie unter andern die Kennzeichen beweisen, welche Argenville in seinen Leben der Maler von den Zeichnungen derselben zu geben vermeynet. Hier heißt es: gehe hin und sieh; und Ihnen, mein Freund, wünsche ich wieder zu kommen.«

240

Urbilder selbst, und vornehmlich in Rom erlanget werden«, außerhalb dessen man, »wie viele Verliebte, mit einem Blicke auf einen Seufzer zufrieden seyn, das ist, das Wenige und das Mittelmäßige hochschätzen« muß.24° Der Bewegungsaspekt, der Winckelmanns Rom-Bild innewohnt, geht auf den Begriff der an Rom gebundenen »Ruhe und Zufriedenheit« über. Die Dynamisierung ist vor allem an den unausgeführten Reiseplänen abzulesen, die sich nicht nur als zufalliges biographisches Phänomen, sondern auch als Element des Begriffs römischer Ruhe und Zufriedenheit bestimmen lassen. Den Briefwechsel durchzieht eine Kette von Äußerungen über Reisevorhaben vor allem nach Sizilien und Griechenland. Im Dezember 1758 schreibt Winckelmann an Volkmann: »Unterdessen ist die Reise nach Athen fest beschlossen«.241 Das Projekt einer Griechenlandreise mit Mylady Orford vom Januar 1760 »ist das Ziel aller meiner Wünsche, und ich wüßte nicht was ich vor Freuden thun würde.«242 Die Griechenlandreise ist jedoch in den Briefen nicht nur als gescheiterter Wunsch zugegen, sondern sie wird — als imaginierte Möglichkeit - in die römische Selbstdarstellung einbezogen und öffnet den geschlossenen Raum Roms auf die Präsenz der griechischen Antike. Im Zwiespalt »zwischen Ihnen und dem entfernten Freunde, zwischen Griechenland und dem väterlichen Himmel« sei »die süße Hoffnung, Sie bald mit Leib und Geist, in aller Freyheit und mit unumschränkter Ergebenheit zu genießen, mein höchster Trost, nebst der Vorstellung, daß ich frey und ungebunden bin, Ihnen zu folgen.«245 In der Idee einer Kunststadt Rom, die als Entwurf ästhetischer Freundschaftlichkeit die Lebenspraxis unter den an Deutschland kritisierten Bedingungen überwinden soll, deren Präsenz jedoch in sich aufnimmt,244 kommt die problematische 140 241 241

I4! 144

Ebd. S. i 7 f . W B 258 an Volkmann, 1. 12. 1758, I S. 440. W B 341 an Stosch, 2 . 1 . 1760, II S. 68. Einige weitere Beispiele: 226 an Caspar Füssli, 5. 8 . 1 7 5 8 , 1 S. 401 und 227 an Stosch, 8 . 1 7 5 8 , 1 S. 405 über den Plan, das »Untertheil« Italiens zu durchwandern; 247 an Heinecken, 2 8 . 1 0 . 1 7 5 8 , S. 425 über die geplante Reise »nach Sicilien und Calabrien«; 253 an Hagedorn, 1 6 . 1 1 . 1 7 5 8 , I S. 43 5 über die »Reise nach Griechenland«, die bereits »festgesetzt« sei; 664 an Riedesel, 2 3 . 6 . 1 7 6 4 , III S. 4 ; : »[. . .] vielleicht gehe ich nach Griechenland. E s findet sich viel Anschein zu dieser Reise.« W B 865 an Riedesel, 1 7 . 6 . 1767, III S. 274. Vgl. W B 376 an Stosch, 1 . 1 1 . 1 7 6 0 , II S. 104: »Ich habe Ihr angenehmes Schreiben vom Ersten des vorigen Monats gestern erhalten und freue mich daß Sie noch nicht mißvergnügt sind, und noch mehr daß Sie scheinen nicht abgeneigt zu seyn, nach Italien zurück zu kommen. Thun Sie bald was Sie thun wollen; denn in Florenz ist Ihnen ja ein Sitz der Ruhe bey einem Freund bereit, wornach viele sehnen würden. Denn weder in der Schweitz noch weniger aber in Ihrem Vaterland wird Ruhe und Zufriedenheit für Sie seyn; denn was das letztere betrifft, kann ich es beßer als Sie wißen, weil ich es nach einigen Jahren in zwo verschiedenen Reisen gesehen, und ich habe auf jeden Schritt das despotische harte Joch gefühlet.«

241

Identitätsfindung der deutschen Bildungsschicht nicht — wie in der Landlebendichtung — zum Stillstand, sondern wird als Problemkomplex bewahrt. Der von Sahmland gegenüber Winckelmann erhobene Vorbehalt, er ziele darauf, »einen mangelhaften Zustand rein geistig zu überwinden, den Zustand selbst aber nicht zu verändern, sondern sich faktisch gut darin einzurichten«, 24 ' läßt sich daher nicht halten. Von einem »Arrangement mit dem aufgeklärten Absolutismus, der auch von den Vertretern der Obrigkeit propagiert, aber nur von wenigen eingelöst wird«, 246 kann in bezug auf Winckelmann nicht die Rede sein. Im Brief an Riedesel schlägt sich die Verwandlung Roms in die konkrete Erscheinungsform eines Kunstprogramms in der mythologischen Überhöhung des Stadtpanoramas nieder. In dem gegenwärtigen Rom wird unter dem Blick der freundschaftlich diskurrierenden Spaziergänger die griechische Antike als arkadische Landschaft sichtbar. Rom als ganzes erscheint als Gegenstand der eindringenden und historisch wiederherstellenden Kunsthermeneutik. Man könnte es geradezu als Allegorie der antiken Kunst verstehen: »Ueber alles was groß in der Welt geachtet wird, werde ich mich mit dem Freunde erheben, und im Geiste längs denen Ufern des Ilissus und des Eurotas hingehen.« 247 Die Formulierung bestätigt, daß Winckelmann einen der Struktur von Kunstwerken analogen Rom-Begriff entwirft. Der Übergang von der römischen in die griechische Landschaft entspricht der Vergegenwärtigung der griechischen Antike in der Anschauung der klassischen Kunst — des Apoll vom Belvedere: Mit Verehrung scheint sich meine Brust zu erweitern und zu erheben, wie diejenigen, die ich wie v o m Geiste der Weißagung aufgeschwellet sehe, und ich fühle mich weggerückt nach Delos und in die lycischen Hayne, Orte, welche Apollo mit seiner Gegenwart beehrete.' 4 "

Winckelmanns Brief an Riedesel demonstriert in seiner Gesamtanlage die Transformation des empirischen Rom in ein Kunstkonzept »Rom« als Ort idealer freundschaftlicher Vereinigung. Insofern »Rom« und die dort anzutreffende freundschaftliche »Ruhe und Zufriedenheit« erst in der reflektierten, erinnernden und antizipierenden Vision, als »erhebender« Selbstfindungsmythos der Gebildeten erfahrbar werden, lassen sie sich als auf literarische Darstellungen angewiesenes Konzept ausmachen. Nicht primär die Entfaltung der Kunsttheorie, wohl aber die Realisierung von »Rom« als

* " Sahmland, S. 61. 246 Ebd. S. 65. 247 W B 866 an Riedesel, 18.6. 1767, III S. z 7 5 . ï48 G K 1 , S. 393. Z u Winckelmanns »träumender« imaginierender Vergegenwärtigung der Antike als hermeneutischer Methode vgl. W B III, Erläuterungen zu 788 an Goessei, S. ?o6f; Käfer, S. 55.

242

Inbegriff freundschaftlicher Geselligkeit der (wenigen) an der griechischen Kunst Geschulten geschieht im Brief. Es wird im weiteren zu zeigen sein, daß in die Briefliteratur selbst ästhetische Gestaltungsprinzipien eingehen können. 249

3.3.4.

Winckelmann und Mengs

3.3.4.1. Freundschaftliche Zufriedenheit in der Korrespondenz mit Mengs Die Korrespondenz mit dem Maler Anton Raphael Mengs verdient unter dem Aspekt konzentrierter Zufriedenheitsbekundungen eine gesonderte Betrachtung. 2 ' 0 Im Brief vom 19. 10. 1762 steht das Versprechen römischer Zufriedenheit der Situation am Hof in Madrid gegenüber. Diese Konstellation ist bezeichnend für zahlreiche Briefe, in denen Winckelmann nach Mengs' Abreise aus Italien 2 ' 1 die Klage über den Verlust mit der Imagination eines späteren freundschaftlichen Zusammenlebens verbindet. 2 ' 2 Hintergrund dieses Briefgesprächs sind offenbar auch Mengs' eigene Beschwerden über sein Leben in Madrid: »Mengs kann es in Spanien nicht ausstehen; seine Briefe enthalten nichts als Klagen, und ich hoffe ihn binnen Jahres Frist widerum in Rom zu sehen: Gott gebe in Umständen, wie ich es wünsche.« 2 " Auch gegenüber Stosch berichtet Winckelmann einige Jahre später, Mengs habe »ein ungewöhnliches Verlangen [geäußert] nach Rom zurück zu gehen«. 2 ' 4 Die einschlägigen Äußerungen enden mit der MengsKorrespondenz insgesamt, die Winckelmann — nach zwischenzeitlichen Verstimmungen 2 " — wegen der Fälschung in der »Geschichte der Kunst« abgebildeter angeblich antiker Gemälde abbrach. 2 ' 6 I4

' Vgl. unten 3.4.4. Vgl. Biidel, S. 46t, der die Briefe durch »Selbstgenügsamkeit und Zurückgezogenheit« charakterisiert sieht, jedoch die Reichweite dieses Musters nicht erkennt. ' ' 1 A u s der Zeit vor Mengs' Übersiedlung nach Madrid sind lediglich zwei Schreiben überliefert: W B 206 an Mengs, [ 1 1 . 3 . 1 7 5 8 ] aus Portici, I S. 3 3 6 - 3 3 9 und 2 3 4 an Mengs, [2. Hälfte September 1 7 5 8 ] aus Florenz, I S. 4 1 4 . Der erste Brief nach Madrid ist 446 an Mengs, [ 1 0 . 1 1 . 1 7 6 1 ] , II S. i 8 j . Erst an dieser Stelle setzt der im vorliegenden Zusammenhang wichtige Teil der Mengs-Korrespondenz ein. 1.0

2.1

2,4

Vgl. exemplarisch W B 4 7 7 an Mengs, [ 2 1 . 4 . 1 7 6 2 ] , II S. 2 1 7 ; 645 an Mengs, [ 1 5 . 3 . 1 7 6 4 ] , III S. 25. Vgl. dagegen 449 an L . Usteri, 14. 1 1 . 1 7 6 1 , II S. 187 w o es noch heißt: » E s scheinet derselbe [Mengs] sehr zufrieden zu seyn; ich wünsche daß er es in einem solchen Lande bleiben könne.« W B 519 an L . Usteri, 16. 1 0 . 1 7 6 2 , II S. 265. W B 709 an Stosch, 8. 6 . 1 7 6 5 , III S. 1 0 1 .

2

" Vgl. den Beginn von W B 742 an Mengs, [ 6 . 1 1 . 1 7 6 5 ] , III S. 134: »Sia tregua d'ogni amarezza!« 1,6 Vgl. dazu Justi 4 , Bd. II S. 4 2 7 - 4 3 0 .

243

D i e hofkritische Rede zielt auf die Momente der Unruhe — »inquietudine« und »continua agitazione« - und auf die mit ihr verbundene Trübsal — »afflizione«. M i t dem Bild der überlaufenden Galle greift Winckelmann zudem auf die humoralpathologische Beschreibung der Melancholie zurück. Gegenüber einer hofkritischen Position, die sich in die literarische Imagination tugendhafter Zufriedenheit auf dem Land kleidet, nimmt er die A u s einandersetzung mit Intrigen, Abhängigkeit von der Fürstengunst und den Verlockungen des Reichtums z u r ü c k 2 ' 7 und wendet sich eher gegen die Unmöglichkeit individueller Selbstentfaltung im höfischen K o n t e x t ; 2 ' 8 seine Formulierung gewinnt damit an sozialkritischer Verbindlichkeit und (über den H o f hinausweisender) zivilisationskritischer Reichweite: Amico Carissimo! lo stato in cui vi trovate, mi passa l'anima, e mettendomi ne'piedi Vostri, come mi stimo parte dell'essere Vostro, >rerum pars una tuarum4 Geliert, V i e r u n d zwanzigste Vorlesung. V o n den Pflichten der Verwandtschaft u n d F r e u n d s c h a f t , Sämmtliche Schriften ( 1 7 7 0 ) , Siebenter Theil, B d . I V S. 550. " W B 1 0 2 an B e r e n d i s , [ 1 7 . 9 . 1 7 5 4 ] , I S. i ; i .

264

Schiebung von »Ruhe und Zufriedenheit« in ein unter Gegenwartsbedingungen nicht zu realisierendes freundschaftliches Beisammensein: »Wollte Gott meine (Glück) Zufriedenheit wäre mit Deinem Glück, welchem ich schon entgegensehen kann verbunden.«'6 Jedoch versteht sich der Subjektivitätsgewinn der Freundschaftskonzeption nicht als Rückzug in das Private. Gegenüber Berendis betont Winckelmann den exemplarischen Charakter der »heroischen Freundschaft« und postuliert deren allgemeine Vorbildlichkeit: Die Freundschaft »zwischen Marco Barbarigo und Franc. Trevisano, zween Nobili di Venezia, deren Andencken in einer kleinen raren Schrifft erhalten worden«, verdiene »ein Denckmal an allen Thoren der Welt, an allen Tempeln und Schulen zum Unterricht der Menschenkinder, ein Denckmal, wo möglich, aere perennius«.'7 Ebenso ordnet er die Freundschaft in die Absicht seiner »Gedanken vom mündlichen Vortrag der neueren allgemeinen Geschichte« (1754/55) ein, die Herrscherhistoriographie zu überwinden und »Helden und Printzen die Larve abzuziehen«.'8 Paradigmatische Freundschaften, wie Winckelmann sie - abgesehen vom Fall Barbarigo-Trivisano — vorwiegend in antiken Mythenstoffen vorfindet," werden zu ebenbürtigen Gegenständen der Geschichtschreibung: »Ich würde vollkommenen Printzen die Nahmen starker und ewiger Freunde zur Seite setzen, zum Unterricht der Menschenkinder, den Schatz zu suchen, von dem alle Welt, wie von Erscheinungen, spricht, und den niemand gesehen.«60 In einem der Briefe an Wilkes (in denen Winckelmann ohnehin »radikale« Töne anschlägt) faßt er die kulturgeschichtlichen Herkunftsbedingungen seines Freundschaftsbegriffs und dessen politische und soziale Implikationen zusammen. Die Einsamkeit, »ou je restois abandonné à moi même«, habe zum Studium der Freundschaft geführt - »comme l'on doit etudier une science« —, welche nunmehr, als leidenschaftliche und zärtliche Empfindung, die Liebe ersetze und wie diese mit der Entfernung wachse. Mit |l 17

W B 34 [An Lamprecht (Entwurf)], [Sommer 1746], I S. 62. W B 102 an Berendis, [ 1 7 - 9 . 1 7 5 4 ] , I S. 1 5 1 . Vgl. Rüdiger, Winckelmann und Italien, S. 28—30.

' ' Kleine Schriften, S. 19; vgl. Käfer, S. 34—36. " Vgl. etwa als frühen Beleg W B 44 [an Bülow (Entwurf)], [Sommer 1747], I S. 71: »Dieses kann indeßen zu allen Zeiten ein Ruhm für Sie bleiben, daß Sie einen Freund besitzen, sollten auch tausend Berge und Thäler uns scheiden, dergleichen den seltensten Freunden aller Zeiten zu vergleichen ist. E i n nicht geringes ( G l ü c k ) Guth, wer es zu schätzen weiß. N u r allein Orestes war ein würdiger Freund seines Pylades; Philoktet des großen Alcides.« 60

Kleine Schriften, S. 20. Vgl. ebd.: »[. . .] und Contareni hätte durch Verewigung gedachter Freunde [Barbarigo und Trivisano], wie er mündlich versprochen, seine Geschichte merckwürdig gemacht, als ein öffentlich Zeugniß von einer seltenen A r t großer Seelen.«

265

Bezug auf die Antike erklärt Winckelmann diese Freundschaft zur Wurzel der Freiheit: »Je me suis enhardi a Vous faire cette declaration, sachant que souvent la liberté a été anciennement produite par l'amitié; témoin Aristogiton e son ami chez les Atheniens et Menalippus et son ami chez les Syracusains.«6' Winckelmanns Sozialkritik führt trotz der Berufung auf die Tyrannenmörder nicht zur Ausbildung staatlich-institutioneller Modelle, sondern erhebt die individualistisch konzipierte Freundschaft zum gesellschaftsstiftenden Prinzip.62 Jedoch verfaßt Winckelmann den Lamprecht-Brief im Zeichen des Versagens. Der dominierende Irrealis entspricht dem Perspektivemangel des Schreibens: »Man müßte der Welt solche Freunde zum Muster vorstellen. Der Himmel muß uns gutes thun um unsere Redlichkeit. Aber wer wollte mein Schicksahl beklagen?«6' Dieser Befund sollte nicht lediglich zu Spekulationen darüber Anlaß geben, ob Winckelmann auch ohne das Scheitern der Freundschaft mit Lamprecht Deutschland verlassen hätte.64 Vielmehr gelingt offenbar unter den deutschen Lebensbedingungen ein erhöhtes Selbstbildnis am ehesten als Individualitätsentwurf in der Haltung leidenden Verzichts. Individualität als Krisenerfahrung scheint sich in dieser Konstellation vorzubereiten. Zugleich zeigt der Brief, daß sich aus den Vorbedingungen und den vorhandenen Schultraditionen heraus die »heroische Freundschaft« nicht als kulturgeschichtliche Perspektive entwickeln ließ. In diesem Zusammenhang scheint bezeichnend, daß Winckelmann in einem späteren Brief das mögliche Schicksal Lamprechts in Preußen der eigenen Freiheit in Rom gegenüberstellt.6' Dieser These entspricht die Schulmeisterrolle, die Winckelmann in den Seehausener Briefen an Lamprecht übernimmt. Der lateinische Brief vom 16.2.1744 mahnt zu lateinischen Stilübungen;66 ebenso läßt sich hinter einem französischen Schreiben vom April 61 6

W B 692 an Wilkes, 22. 2 . 1 7 6 5 , III S. 82. ' Vgl. auch Rüdiger, Winckelmanns Geschichtsauffassung, S. io7f. Thalheim, S. 1 3 6 - 1 5 9 , erkennt den Öffentlichkeitsbezug des Freundschaftsbegriffs, nicht jedoch sein Spannungsverhältnis zu den Notwendigkeiten einer allgemeinen Gesellschaftsverfassung. Erst von hier aus läßt sich aber der Bezug des Freundschaftsbegriffs auf die kulturelle Situation in Deutschland bestimmen.

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66

W B 34 [An Lamprecht (Entwurf)], [Sommer 1746], I S. 62. Vgl. Vallentin, S. 108: Danach ist Winckelmann durch Lamprechts Abkehr von ihm »vor seiner völligen Selbstaufgabe bewahrt, seinem Werke, der Erfüllung seiner Sendung erhalten geblieben. Mit dieser letzten Abweisung hat Lamprecht für Winckelmann den Weg zu seinem endgültigen Fortgang nach Italien freigemacht.« W B 390 an Berendis, 2 1 . 2 . 1 7 6 1 , II S. 122: »Von Lambrecht kann ich, durch alle meine Nachfragen keine Nachricht erhalten; vielleicht ist er nicht mehr am Leben; dieses wäre sein bestes und für alle diejenigen die in diesem unglücklichen Despotischen Lande eine schwere erstickende L u f t schöpfen. O seelige Freyheit, die ich endlich Schritt zu Schritt im völligen Genuß in R o m schmecken kann!« W B 22 [an Lamprecht (Entwurf)], [16.2. 1744], I S . 56: »En! heus tu! ecquid agunt

266

1747 e i n e sprachdidaktische Absicht vermuten.67 Die Aufgaben des Grammatik· und Stillehrers und die Freundschaftsbekundungen fallen auseinander. Hingegen deutet der Brief an Berendis bereits das Modell »Rom« als literarischen Entwurf und als Identifikationsangebot für die Gebildetenschicht an. Nicht als historische Realität, wohl aber als leitende Perspektive wird »Rom« Erfüllungsort der Freundschaftsprogrammatik. Erst die von Geliert noch aufgehaltene Grenzüberschreitung bringt die transzendierende Dynamik der »heroischen Freundschaft« zur Geltung. Unter diesem Aspekt ist es mehr als ein historischer Zufall, daß auch die Italienfahrten von Goethe und Karl Philipp Moritz68 durch scheiternde Liebesbeziehungen mit veranlaßt wurden. In allen Fällen eröffnet Rom die Aussicht auf eine Transformation individueller Erfahrungen im Geschichte vermittelnden Modell der Kulturmetropole.

3.4.2.

Die Bewahrung der Kunst im Obszönen

Das Obszöne ist in Einzelfällen Gegenstand und Gestaltungsmittel der freundschaftlichen Briefwechsel, aber auch der »großen Selbstdarstellungen«. Weniger direkt geht homoerotische Sinnlichkeit in den ästhetischfreundschaftlichen Diskurs der Briefe an Berg ein. Eine Untersuchung des Obszönen, das in den Berg-Briefen selbst nicht erscheint, soll deren Interpretation vorbereiten und zur Bestimmung ihrer Position innerhalb des Briefkorpus beitragen. In weiterer Perspektive sind die obszönen Elemente eines der Anzeichen für Auflösungs- und Subjektivierungsvorgänge auch unter dem Nachrichtenaspekt der Briefe. Die - allerdings nur wenigen — obszönen Wendungen konzentrieren sich seit dem Florenz-Aufenthalt von 1759 auf die Korrespondenz mit Stosch und Bianconi, erscheinen aber auch sporadisch in anderen Briefwechseln. Dazu einige Beispiele: Zu Beginn seines Schreibens vom 27.10.1759 beschwert sich Winckelmann über die hohe Beanspruchung durch die Arbeit an der »Description des pierres gravées«: »Heute den Sonnabend gegen Mittag erhalte ich den Heft nebst den 5 Bogen. Sie laßen ja einen Catholischen Christen kaum Zeit ein paar Eier zu eßen und sich die Eier zu kratzen.«6' Über den Plan einer Reise nach Griechenland mit Mylady Orford ist vestrates Musae Latinae? serio excitandae sunt, ne, quidquid id sit, plane exspiret. Occupandum igitur stilum tuum duxi, ne Galileas sed Latinas, Latiumque redolentes ad nos abire iubeas litteras.« 67 WB 42 [an Lamprecht (Entwurf)], [April 1747], I S. 6gf. α Vgl. etwa Boulby, S. i4of. 69 WB 317 an Stosch, 27.10.1759, II S. 41. 267

unter dem 5.1.1760 zu lesen: »Nichts in der Welt habe ich so sehnlich als dieses gewünschet: ich ließe mir gerne einen Finger abhauen, ja die Klöße wegschneiden, um in solcher Gelegenheit diese Länder zu sehen.«70 Diese Formulierung bezieht sich auf die offenbar notorische Vorliebe dieser »donna matta e stravagante« für Kastraten, über die Winckelmann auch gegenüber Bianconi spricht: »s'è goduta i più gentili, morbidi, delicati, valenti e atletici C — degl'Eunuchi e degl'Uomini«.7' An anderer Stelle äußert er sich abfällig über den »in der Einbildung beständig kranken Bereiter« von Mylady Orford. 72 Über die Heirat des Fürsten von Anhalt-Dessau heißt es: »Ich wünsche daß sein Mädgen in Dessau nicht nach dessen Rückkunft angeworben sey: denn ist es was altes, wird es keine Folgen haben, und es müßte nur ein Reibe-Loch gewesen seyn, weil er mir nichts davon merken lassen.«73 In der Stosch-Bibliothek hatte Winckelmann auch erotische Literatur gefunden, über deren Lektüre er in Briefen an Hagedorn und Francke berichtet: Ich habe dieser Tagen den Alcibiade fanciullo v o m Aretino gelesen, (denn in dergleichen Büchern ist die Stoschische Bibliothek vollständig), ein abgeschmacktes Buch. Das allerunziichtigste Buch, was die Welt gesehen hat, ist betitelt: History of a Woman of pleasure, in 8. A b e r es ist von einem Meister in der Kunst, von einem K o p f von zärtlicher Empfindung und von hohen Ideen, ja, in einem erhabnen Pindarischen Stil geschrieben. 74

Dem »Bräutigam« Peter Usteri empfiehlt Winckelmann als »ein Mittel zur Enthaltsamkeit bis zur Vollendung seines Wunsches« die »N.° 188« in den »Monumenti antichi inediti«.7' Die Tafel zeigt »un musico fibulato [ . . . ] , cioè un musico, nel cui prepuzio pertuso vedesi infilato un anello« (mit dem Zweck, die Knabenstimme zu erhalten).76 Auch nach der Hochzeit äußert sich Winckelmann zu diesem Thema: »Das Milch Lamm wird itzo arbeiten was er kann; er mache etwas gescheutes, wie er selbst ist, so will ich ihn loben; ich hoffe aber, Sie werden ihm auf einer betretenern Bahn zuvorkommen, damit der erstere nicht der letzte werde.«77 — Ein weiteres Beispiel für 70 71

7! 73 74

7

W B 342 an Stosch, 5 . 1 . 1 7 6 0 , II S. 69. W B 356 an Bianconi, 1 j. 2. 1760, II S. 82. Vgl. auch 3 j 3 an Stosch, 6. 2 . 1 7 5 9 [recte: 1760], II S. 78 mit den Erläuterungen ebd. S. 393; 89; an Stosch, 1 2 . 8 . 1 7 6 7 , III S. 305. W B 905 an Stosch, 2 4 . 1 0 . 1 7 6 7 , III S. 3 1 8 . W B 894 an Stosch, 12. 8 . 1 7 6 7 , III S. 303. W B 261 an Francke, 1 . 1 . 759, I S. 443f; vgl. auch 2 5 7 an Hagedorn, 25. 7 . 1 7 5 8 , I S. 439. Das Werk »Women of pleasure« ist nicht identifiziert; vgl. Erläuterungen S. 6 1 5 ; 6 1 6 zu dem »pseudoaretinoschen« Werk.

' W B 899 an L . Usteri, 19. 8 . 1 7 6 7 , III S. 309. Monumenti antichi inediti Bd. I, S. 2 4 ; . Z u einer ähnlichen Darstellung vgl. »Nachrichten von den Neuesten Herculanischen Entdeckungen«, S. 34f, in: Kunsttheoretische Schriften Bd. III.

76

77

W B 9 1 3 an L . Usteri, 2 . 1 2 . 1 7 6 7 , III S. 327.

268

Winckelmanns Umgang mit dem Obszönen sind die Berichte über ein Mißgeschick des Rats Reiffenstein. Dieser hatte sich »im Auffahren zum Vesuvius auf dem hölzernen Sattel(s) seines Esels einen Wolff geritten, und diese Entzündung hat in seinen schlotternden Fleische und süftigen Feuchtigkeiten den Schaden so gefahrlich gemachet, daß es zum Schnitte gekommen ist längs der Nath vom Ars bis zum Sacke; itzo ist er außer Gefahr, muß aber das Bette hüten.« 7 ' In der Fortsetzung spekuliert Winckelmann über die Schäden, die diese Erkrankung anrichten könne: »Sein Ritt auf dem Esel aber ist ihm so übel bekommen, daß er sich bereits vier bis fünf Mahl da wo sich A. und Schw. scheidet, hat schneiden lassen müßen, und da dessen Säfte verdorben seyn müßen, wie die schlotternde Haut zeiget, so besorge ich, daß dieser Theil völlig heil werde. Er wäre also zum bugiarone ( ) verdorben.« 79 Die obszönen Andeutungen in den Briefen stehen im Zusammenhang mit der Rolle des Obszönen im kunstgeschichtlichen Werk, das deshalb in die folgenden Überlegungen mit aufgenommen wird. Der »Unanständigkeit« des Obszönen entspricht seine Nähe zur Polemik. Ebenso wie die zitierten Grobianismen scheinen die (homo-)erotischen Momente in Winckelmanns Briefen und kunsttheoretischen Arbeiten — einschließlich der Berichte über die »Affäre« mit Margherita Mengs 80 - in ihrer Wirkung darauf aufmerksam zu machen, daß Grundfragen der Sinnlichkeit und der Affektorganisation berührt sind. Noch Franz Mehring sieht sich zu einer Warnung vor Winckelmanns faulen Früchten veranlaßt; diese stimmt mit seinem Bild von dem feudal korrumpierten Kunsthistoriker überein, der »die Sklavensehnsucht seiner Kerkerjahre nie überwinden konnte«: 81 Freilich ist dieser Apfel, so rotbäckig er noch aussieht, etwas wurmstichig; es sind immer nur männliche Gestalten, an die Winckelmann seine trunkenen Hymnen richtet; nicht die Aphroditen besingt er, sondern die Ganymede, und die >sinnliche Glut< seiner Sprache ist hier anderer Art, als sie Gervinus an seiner ersten Schrift entdecken wollte. 8 ' 78

W B 766 an Schlabbrendorf, 1 2 . 4 . 1 7 6 6 , III S. 1 7 3 .

75

W B 774 an Schlabbrendorf, 1 8 . 6 . 1 7 6 6 , III S. 180. Vgl. vor allem W B 690 an Stosch, Februar [zwischen 14. und 21.] 1 7 5 6 , III S. 79f; in den Erläuterungen S. 459 weitere Nachweise. " Mehring, S. 23. 81 E b d . S. 22. Dort auch ein Absatz über Winckelmanns Beziehung zu Margherita Mengs. Vgl. auch das nur auf den ersten Blick einsichtsvolle Urteil Biedrzynsikis, S. 47, über Winckelmanns homerotisch geprägtes Freundschaftsethos: »Auch hier zeigt sich seine Art von der besten Seite: selbst am unwürdigen Gegenstand offenbart sich seine Großherzigkeit und Freigebigkeit.« Auch Gombrich, Kunst und Fortschritt S. 34, bekundet sein Mißfallen an Winckelmanns Kunstbeschreibungen: »So wie auch Plato sah Winckelmann, der homosexuell war, den Abglanz des Göttlichen im vollkommenen männlichen Körper, und seine eingehende Diskussion dieser physischen Merkmale gehört nicht zu den angenehmsten Abschnitten seines Buches.« Demgegenüber soll in dieser Arbeit die Homoerotik als wesent80

269

Bei Rosenkranz (1853) erscheint das Obszöne zugleich als das Häßliche. Gerade den Priap, der in Winckelmanns kunstgeschichtlichem Werk das Obszöne vertritt, erklärt er für »häßlich«; mit den phallischen Darstellungen zugleich trifft er moralisch die »Lüsternheit«: Alle Darstellung der Scham und der Geschlechtsverhältnisse in Bild oder Wort, welche nicht in wissenschaftlicher oder ethischer Beziehung, sondern der Lüsternheit halber gemacht wird, ist obscön und häßlich, denn sie ist eine Profanation der heiligen Mysterien der Natur. Alles Phallische, obwohl in den Religionen heilig, ist doch, ästhetisch genommen, häßlich. Alle phallischen Götter sind häßlich. D e r Priap in der Geradlinigkeit seines aufgesteiften Gliedes ist häßlich. 8 '

Nur scheinbar stimmt mit Rosenkranz< Festlegungen überein, daß sich in Winckelmanns Veröffentlichungen das Obszöne nur unter dem Vorzeichen der Gelehrsamkeit zeigt. Winckelmann geht nur in antiquarischen Darstellungen — der »Description des pierres gravées«, den herculanischen Berichten und den »Monumenti antichi inediti« —, nicht jedoch im Zusammenhang ästhetischer Kontemplation in den frühen programmatischen Schriften oder in der »Geschichte der Kunst« auf priapische Figuren ein. Dennoch sind die »gewöhnlichsten aus Winckelmann und Lessing geschöpften Vorstellungen von der Delicatesse, mit welcher die bildende Kunst [der Griechen] das Häßliche gemieden habe«,84 im Punkt des Obszönen ein Resultat purgierender Winckelmann-Lektüre. Insbesondere entgeht ihnen die Differenz zwischen Brief und veröffentlichter Abhandlung. Ein erster Hinweis auf die konstruktive Funktion des Obszönen ergibt sich daraus, daß Winckelmann es nicht als das Häßliche faßt. Die Relation zwischen dem »Sendschreiben von den herculanischen Entdeckungen« und einer parallel entstandenen Epistel an Bianconi verdeutlicht die Rolle der Briefe und die Problematik des Obszönen. Das »Sendschreiben« liefert die Beschreibung eines Priapus für »Die Liebhaber der Kunst und Kenner«: »Es hat derselbe nur die Länge eines Fingers, aber die Kunst ist groß in demselben und man könnte sagen, es sey eine Schule der gelehrtesten Anatomie«. Die Erklärung einer Geste der Figur, die »die Welschen eine Feige [. . .] nennen, [. . .] welches Wort die weibliche Natur bedeutet«,8' bleibt in historische Erwägungen und Reisebeobachtungen eingebettet und

licher Bestandteil von Winckelmanns klassizistischem Kunstprogramm dargestellt werden. Hingegen liefert Vallentin, S. 150, eine entschiedene Apologie der homoerotischen Komponente von Winckelmanns Freundschaftsbegriff, die allerdings Teil der eigenen Apotheose schöpferisch-heroischer Männlichkeit ist und zu einem historischen Verständnis nichts beiträgt. *' Rosenkranz, S. 236. ,4 Ebd. S. 4 4 1 , Anm. 16a. s ' Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen, S. 59, in: Kunsttheoretische Schriften Bd. III.

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auf sie bezogen. 86 Auch im gelehrten Kontext ist das Sinnliche zugegen. Eine schlüpfrige (»lubrica«) Darstellung auf einem antiken Gefäß wird in den »Monumenti antichi inediti« folgendermaßen mythologisch erläutert: Se poi si domanda, come nel presente vaso fusse stata ritratta una dipintura sì lubrica: che cosa ne vieta il rispondere, ch'ei potè esser formato e dipinto così per simboleggiar quello che Giove nella riferita congiuntura donò ad Alcmena medesima? 87

Die Winckelmann-Rezeption deutet aber darauf hin, daß körperliche Sinnlichkeit nicht zum Bereich des fraglos Erlaubten gehört 88 und sich nicht als öffentlich und verallgemeinerungsfáhig ausgeben darf. Der skandalträchtigen Sinnlichkeit ist der nicht öffentliche, aber öffentlichkeitszugewandte Brief der gemäße Ort. In die Beschreibung der im »Sendschreiben« erläuterten Figur nimmt Winckelmann in seinem Brief an Bianconi weitere Details auf: »La verga che gli sta ritta e scapellata la guarda ridendo«. 89 Den Lust-Aspekt, den bereits die Wortwahl dieser und weiterer Beschreibungen von Priapen erkennen läßt, erklärt er eingangs zum eigentlichen Zweck der Darstellung. Vor die gelehrte schiebt sich so die genießende Betrachtung: »Per rallegrare la fronte Vostra inseverita forse dall'ultimo ragguaglio troppo minuto e circonstanziato, vi mando un fascio di Priapi; si! di Priapi.« 5 ° Die Darstellung selbst, so erläutert Winckelmann, sei inspiriert durch die vom Wein erhitzte Phantasie. Sie ordnet sich damit gewissermaßen dem Bacchantischen zu: Ve n'è una scala graduata principiando dal garbo sagro di quelli de'Sacerdoti di Cibele che ferivano senza lasciarvi il pungiglione sino a que'masculi e di vena rigida. Perdonatemi Amico! mi viene quest'estro nella fantasia riscaldata da un bicchierino di Lagrima e di quella che bevettero i Marj, i Pompeji, i Cesari e i Bruti.«'

Der Bericht werde lediglich abgebrochen »per non rendere questa Lettera tutta incazzita«.' 2 Im nicht »ostensiblen« (jedoch nicht »privaten«) Brief, nicht aber in der allgemein zugänglichen Abhandlung, ist lustvolle Artikulation des Obszönen möglich. Entsprechend mahnt Winckelmann seinen Adressaten, den Brief nicht weiterzureichen: »Tenetevi questa Cicalata per voi solo.« Auf das literarische Medium des Briefs bezieht sich vielleicht auch das Horaz-Zitat: » V e r a già un galant'uomo ed era più vecchio di noi che ,δ

Ebd. S. 3 9 f . ' 7 Monumenti antichi inediti, Bd. I, S. 2 ; ; . " Zur sittlichen Marginalisierung des Obszönen im bürgerlichen Zeitalter vgl. ζ. B . Kelter. ' ' W B 475 an Bianconi, 1 9 . } . 1762, Π S. 2 1 5 . 90 Ebd. S. 214. Ebd. S. 215. 91 Ebd. S. 216.

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disse: Dulce est desipere in loco; sia qui il luogo o[ve] noi lasciamola correre, ma finiamo i proemj.« 9 ' Sämtliche Drucke des Briefs bis auf die von Rehm besorgte Ausgabe haben den »fascio di Priapi« aus dem Text gestrichen. 94 Die spezifische Funktion des Briefes für die Darstellung des Obszönen ergibt sich auch aus den Erörterungen Weisses über die Veröffentlichung der Beschreibung eines Priapus aus der Stoschischen Gemmensammlung. 9 ' Diese erklärt Weisse lediglich deshalb für vertretbar, weil nur mit einem »gelehrten«, »kritischen« Publikum zu rechnen sei: 96 Die Stelle über den Priap darf meiner wenigen Einsicht nach auch nicht geändert werden, die Gelehrten sind schon in Besitz ein wenig unverschämt zu seyn: und diese Anmerkungen sind doch blos für sie geschrieben, und werden auch nicht leicht von anderen Personen gelesen werden: sollte sich aber ja ein Frauenzimmer einfallen lassen hineinzugucken, so wird sie gewiß nicht roth darüber; denn die kritischen Frauenzimmer sind in diesem Punkte sehr gelehrt, und die Mad. Dacier hat uns oft in ihren Noten zum Aristophanes und Plautus in diesen Dingen viel Einsicht gezeiget.' 7 Die Darstellung körperlicher Sinnlichkeit, die sich in die Briefliteratur zurückzieht,

wird

also,

ähnlich

wie

in

bestimmten

Freundschaftskorre-

spondenzen, im publizierten wissenschaftlichen Werk nicht ignoriert, aber doch zurückgenommen. Einen Hinweis auf Winckelmanns Einschätzung des Obszönen in der griechischen Kunst enthält die »Geschichte der Kunst des Alterthums« in der Verteidigung der Schönheit der Faune gegen Watelet. 98 Die Verbindung zwischen Faun und Priapus wird mehrfach in der »Description des pierres gravées« hergestellt. 99 In beiden Fällen koinzidiert das Obszön-Faunische " Ebd. S. 215. Zum Obszönen bzw. zum Erotischen in Briefen an Bianconi vgl. auch: W B 270 an Bianconi, 31.3. 1759, I S. 454; 464 an Bianconi, 1 0 . 1 . 1 7 6 2 , II S. 201; 478 an Bianconi, 24.4.1762, II S. 219; 531 an Bianconi, 8 . 1 . 1 7 6 3 , II S. 281. 94 Erläuterungen zu WB 4 7 ; , II S. 449. " Die Stelle findet sich in dem für die »Bibliothek der schönen Wissenschaften« bestimmten Brief WB 262 an Hagedorn, 3 1 . 1 . 1 7 5 9 , I S. 448: »Bey einem Priapus, welcher das, was die atheniensischen Neuvermählten küßeten, und worauf sie ritten, nebst dessen Zubehör am Halse hängen hat, fiel mir ein, was Periplectomenes beym Plautus jemanden thun wollte, wenn er ihn bey seiner Frau treffen würde: er will es ihm abschneiden, saget er, und als ein Spielwerk an den Hals hängen.« 96 Schon Bayle hatte für den »Historiker« die Lizenz zur Darstellung des Obszönen gefordert und sie auf diesen beschränkt; vgl. P. Gorsen, Art. »Obszön«, in: Hist. Wb. Philos. Bd. 6, S. 1082. 97 Weisse an Hagedorn, 27. 2.1759, zit. nach: WB I, Erläuterungen zu 262 an Hagedorn, S. 616. 98 Vgl. aber auch M A I , S. 73. 99 Vgl. z. B. »Description« Nr. 1624, S. 263: »Un Faune qui joue de la Lyre devant un Terme de Priape élevé sur une Colonne.« S. i 6 $ { weitere Belege.

2 2

7

mit dem Komischen. 100 Zur Tafel 190 der »Monumenti antichi inediti«, die, auch im Original hervorgehoben durch »rosso cupo«, Merkur »con un grosso priapo conforme all'enorme grandezza che anticamente gli si vedeva di questo membro in molte delle sue statue« zeigt, erklärt Winckelmann: »L'argomento è la parodia degli amori di Giove con Alcmena moglie d'Anfitrione e madre di Ercole comicamente figuratici e porti in derisione.« 101 Die Darstellung belegt zugleich die Nähe von Obszönem und Karikatur. 102 Das Komisch-Obszöne führt das sinnliche Ereignis auf seine Körperlichkeit zurück. Im Unterschied zur »Jugend der Götter« als »Ideal« vermitteln die Faune »ein Bild der sich selbst gelassenen einfaltigen Natur«. Gleichwohl fallen sie unter den Begriff des Schönen: »Die schönsten Statuen der Faune sind ein Bild reifer schöner Jugend, in vollkommener Proportion, und es unterscheidet sich ihre Jugend von jungen Helden durch eine gewisse Unschuld und Einfalt.« Winckelmann setzt die Faune also durchaus in ein Verwandtschaftsverhältnis zu dem in ansteigender Linie von Apoll verkörperten »Begriff Idealischer Männlicher Jugend«. Die Faune, selbst niedrige »Gottheiten«, 10 ' die dem Bacchus/Dionysos nahestehen, 104 bewahren im »Satyrischen« die Erinnerung an das Kreatürliche, das sich in den »erhabenen« Götterstatuen in ungeschlechtliche Schönheit transformiert.' 0 ' Das Obszöne, das in der Antike zu den kulturgeschichtlichen Vorbedingungen des Kunstideals gehört, deutet aus moderner Perspektive auf das, was in der hohen Kunst verborgen bleibt. Weist das Obszöne einerseits auf diesen Transformationsprozeß, so schirmt es andererseits die Autonomie des Kunstwerks ab. Insofern es Verschwiegenes zur Sprache bringt, kann es eine entlarvende Funktion übernehmen. Es benennt provozierend das Sinnliche und ordnet es den disziplinierenden Kräften, die es verfälschen, als geheimes Eigenes wieder zu. Winckelmanns Bericht über das Verfahren, in dem über die Annullierung der Ehe der Vittoria Cheroffini verhandelt wurde, fördert das Unanständige als Moment der »guten Gesellschaft« selbst zutage und enthüllt mit psychologischem Blick auch die Motive der gerichtlichen Untersuchung, wobei sich das Obszöne vom Klatsch nur bedingt trennen läßt. Beide nutzen die Korrespondenz als Medium literarischer Konterbande. 106 In ihrer entlar,co

Nach G K ' , S. 158, geben die Griechen den Faunen zuweilen »eine ins Lachen gekehrte Mine mit hängenden Nasen unter den Kinnbacken, wie an Ziegen«. Zur Verbindung von Priap und Komischem vgl. auch G K 1 , S. 122. "" Monumenti antichi inediti Bd. I, S. 254. 102 Vgl. Gorsen, Sexualästhetik S. 10 u. ö. G K ' , S. 158. 104 Vgl. Monumenti antichi inediti Bd. I, S. 72-74. Vgl. unten 4.3.4. 106 Aus dem Material, das die Briefe unter diesem Gesichtspunkt liefern, sei hingewie2

73

venden Potenz sowie in der kritisch über die Dezenz hinaus- und auf die Kunst zuführenden Funktion unterscheiden sich das Obszöne und der Klatsch bei Winckelmann von der Kunst der Anspielung als Element einer Konversationskultur. Teilentlastet von den Aufgaben gelehrter Diskussion und auf dem Weg zum Medium subjektiver Selbstdarstellung, öffnen die Briefe Durchblicke in eine sozialpsychologische Tiefendimension: Von der Vittoria der Cheroffini ältesten Tochter würde ich ein paar Stunden Zeit gebrauchen, um die Geschichte[n], die mit derselben vorgegangen sind, zu berichten, vielleicht aber ist es Ihnen bekannt, wenigstens ist in ganz Italien davon geredet. Sie war mit einem sehr reichen Manne, Lepri genannt, verheirathet, nach 6 Monaten aber gab der Mann vor, seine Frau sey zu eng und unbrauchbar, und die Frau gab den Mann sein Unvermögen Schuld. Beyde sind vielmahls und Vittoria zu ganzen Stunden besichtiget; wer wollte hier müde werden. Endlich gieng Lepri davon und Vittoria zu ihrer Mutter, und der Proceß zu einer Ehescheidung nahm seinen Anfang. Da aber entschieden wurde, daß beyde ein Ehepaar bleiben sollten, ist sie zu ihrem Manne nach Florenz gegangen. So weit diese Geschichte.'° 7 Doch wie schon gesagt: Das Obszöne markiert das Sinnlich-Körperliche auch noch der klassischen antiken Kunstwerke. Winckelmann kommentiert die Verhüllung der griechischen Nacktheit im Belvedere mit den Worten: Diese Woche wird man dem Apollo, dem Laocoon und den übrigen Statuen im Belvedere ein Blech vor dem Schwanz hängen vermittelst eines Drats um die Hüften: vermuthlich wird es auch an die Statuen im Campidoglio kommen. Eine Eselmäßige Regierung ist kaum in Rom gewesen wie die itzige ist.'°® Positives Gegenbild der Verhüllung ist die Vision der Nacktheit als Element der Festkultur und als Vorbedingung idealer Kunst bei den Griechen.'° 9 sen auf die Berichte über den Ritter Montagu, der sich mit der Frau des dänischen Konsuls aus Alexandria davongemacht hatte (WB 685 an Riedesel, 1 9 . 1 2 . 1 7 6 4 , III S. 68 u. ö.), und über die Affare zwischen John Wilkes und der Tänzerin Corradini (vgl. WB 693 an Riedesel, 22.2.1765, III S. 83), die ihren Liebhaber »unter Mitnahme von etlichem Tafelsilber« verließ (Erläuterungen zu 692 an Wilkes, III S. 460; dort S. 460t weitere Nachweise). Die Kategorie des Klatsches bietet sich als eigener Zugang zur literarischen Gattung des Briefs an; diesem Gesichtspunkt kann aber hier nicht weiter nachgegangen werden. '°7 WB 765 an Stosch, 12.4.1766, III S. 173. Vgl. etwa auch 689 an Stosch, 7 . 1 2 . 1 7 6 4 , III S. 6;. Weitere Angaben und Belege in den Erläuterungen zu 499 an Bianconi, II S. 463. Vgl. auch 804 an Stosch, 4. 10.1766, III S. 213 die Spekulationen über eine mögliche Impotenz des durch Montagu seiner Frau beraubten dänischen Konsuls. '°g WB 286 an Stosch, [28. 7.1759], II S. 14. Vgl. 267 an Albani, 20. 2. 1759, I S. 452, sowie die deutlichen Sätze in 302 an Bianconi, 1 . 9 . 1 7 5 9 , II S. 27, wo Winckelmann schreibt, es fehle nicht viel, daß man die Statuen hätte kastrieren lassen »all'uso di Seraglio del Gran Turco. Il Sig™ Card1® Aless. Albani vi si conforma in tanto che non fa rimettere i cotali troncati alle Statue che fa ristaurare, ma senza coglioni non le vuole.« 109 Vgl. Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst, Kleine Schriften S. 35; G K S. 3 1 1 .

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Dabei macht Winckelmann im Gegensatz zur Barockallegorie »die nackte Darstellung zu einer allgemein menschlichen Angelegenheit, in der der ganze Mensch angesprochen ist, nicht nur eine abstrakte Eigenschaft.« 110 Dem Wert der Nacktheit entspricht ein »Gefühl des Schönen«, dessen »Vorwurf« nicht das ist, »was Trieb, Freundschaft und Gefälligkeit anpreißen, sondern was der innere Sinn, welcher von allen Absichten geläutert seyn soll, um des Schönen willen selbst, empfindet.«" 1 Gerade das Obszöne kann deshalb als Indiz für die Überwindung einer an heteronomen Geschmacksnormen orientierten Epistolographie in Richtung auf ein »autonomisiertes« Freundschaftskonzept dienen. Im »unanständigen« Ausdruck kommt der - zumindest moralisch — bereits verhüllte Körper erneut zur Erscheinung. Die Kunst stellt jedoch nicht die öffentliche Anschaubarkeit des Körpers wieder her, sondern nimmt sie in ein ästhetisch konstituiertes Individualitätsideal auf, das über den durch Sittlichkeitsregeln bestimmten Erfahrungshorizont hinausweist. In Winckelmanns obszöner Rede bleibt dieser Aspekt der Kunstkontemplation präsent. Das Obszöne verbannt andererseits vorgegebene Konventionen aus dem Reich der Kunst und bewahrt deren transzendierenden Charakter vor einer »modernen« Vereinnahmung; es setzt die durch erinnernde Kontemplation zu erschließende Darstellung von Individualität in der Kunst erst frei 112 und verweist auf die verborgene »Obszönität« der Kunst selbst. In diesem Sinn bewahrt gerade das anstößige homoerotische Moment, auf das Winckelmann in den Briefen wiederholt anspielt und das in den Kunstbeschreibungen seinen Niederschlag findet, die griechische Kunst als ästhetische Vergegenwärtigung sinnlich entfalteter Individualität vor dem Zugriff heteronomer Sittlichkeits- und Geschmacksregeln.

3.4.3.

Das Thema der Erziehung an der Kunst in den Freundschaftsbriefen

Während im Zusammenhang mit Winckelmanns patriotischen Bekundungen der Gewinn einer nationalen Rolle im Vordergrund stand, richtet sich das Interesse dieses Kapitels auf seine Selbstdarstellung als Pädagoge in Rom. Hauptgegenstand sind Briefe, in denen sich Winckelmann über seinen Umgang mit jungen Rom-Reisenden aus der Schweiz äußert, vor allem mit

Himmelmann, Ideale Nacktheit, S. 14. " ' Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst, S. c/f, in: Kunsttheoretische Schriften Bd. X . " ' Z u r entfalteten Theorie des Häßlichen in Friedrich Schlegels »Studium«-Aufsatz vgl. G . Oesterle, Entwurf einer Monographie des ästhetisch Häßlichen S. 222—229.

*75

Johann Heinrich Füßli. 1 1 ' Doch bleibt im folgenden auch der Rückblick auf den »patriotischen« Pädagogen vonnöten. Das Projekt individueller Bildung an den Werken der Kunst wertet den traditionellen »so genannten Antiquario oder Gelehrten, der einen in R o m herum führet und das merckwürdigste daselbsten zeiget«," 4 zur zentralen nationalen, moralisch-ästhetischen Vermittlungsinstanz a u f . " ' In Winckelmanns Briefen ist gut dokumentiert, daß die Rom-Reisen der jungen Schweizer L . Usteri, P. Usteri und J . H . Füßli sorgfältig vorbereitet und als Studienaufenthalte geplant wurden. Entsprechend seinem »Hang zum Schulmeister« setzt Winckelmann »einige Zeit zum mündlichen Unterricht aus«: Unter denen Fremden, die Rom besuchen, befindet sich itzo hier ein junger Züricher, von zo Jahren, mit Namen Fueßli, von vielen Wissenschaften, von einer unvergleichlichen Erziehung, und von angenehmen Wesen, aus welchem ich den größten Alterthumsverständigen jenseits der Alpen zu machen gedenke." 6 Füßlis und P. D . Volkmanns Aufenthalt will Winckelmann so anlegen, daß »diese Herren« »ohne alle Stöhrung R o m und sich selbst genießen könn e n . « " 7 I m einzelnen nimmt die auf zeitintensive Kunstbetrachtung ausge-

" 3 Gemeint ist Johann Heinrich Füßli »zum Feuermörser«. Über mögliche Verwechslungen mit dem gleichnamigen (Londoner) Maler, dem Sohn Caspar Füßlis, vgl. Mason, S. 235. 114 Nemeitz, S. 147; über das geringe Ansehen der Antiquare vgl. Huyssen, S. 1 1 3 : »Ich habe noch zur Zeit keinen Antiquarium angenommen/ weilen es meistens unwissende Leuthe seynd/ welche nichts mehrers verstehen/ als einem den Weg zu weisen/ dahero ich mich um selbige nicht so sehr bekümmern will/ als um die Gelegenheit/ wobey ich meinem Herrn darthun könne/ was massen ich von ganzem Herzen bin [. . .]«. " ' Winckelmanns »pädagogischen Impetus« betont Röttgen, Winckelmann, Mengs und die deutsche Kunst, bes. S. 1 7 0 - 1 7 3 . ; für eine Zusammenstellung der einschlägigen Briefstellen vgl. Vallentin, S. 90-97. " 6 WB 614 an Francke, [nach Mitte Dezember 1763], II S. 362. " 7 WB 601 an L. Usteri, 6 . 1 1 . 1 7 6 3 , II S. 352; vgl. dort weiter zur Planung: »die wenige Stunden die mir von meinen Obliegenheiten und großen schweren Arbeit übrig bleiben, will ich Hrn. Fueßli geben zur Kenntniß der alten Kunst, zur neuern wird Hr. Casanova mein Freund dieselbe in einigen Gallerien der Gemählde das Verständniß, nach deßen großen Kenntniß, öffnen. Ihre Schule wird so oft dieselben Lust [haben] in der Villa des Hrn. Cardinais seyn, wo sie mich alle Nachmittage finden. Ich werde, wenn diese Herrn es nöthig finden, sie selbst nach Frascati und nach Tivoli führen.« Auch die Beurteilung von Achilles Ryhiner in 578 an C. Füssli, 6. 8.1763, II S. 332 erlaubt, von einem römischen Ausbildungsprogramm zu sprechen: »Ich habe gemerket, daß er das ganz schlechte vom guten in der Kunst, welche die Haupt-Absicht seiner Reise scheinet, nicht unterscheiden kann, wie er und ein jeder das Gegentheil von sich selbst glaubet; wer sich aber hier nicht unwissend erkennet, pfleget es zu bleiben. Ich komme Sie hiermit, als mit einer Rechtfertigung zuvor, und ich werde, wie ich frey schreibe, also auch 276

richtete römische Ausbildung die Fixpunkte von Winckelmanns »kulturpolitischem« Gesamtkonzept auf. D e m Baumeister David Vogel »untersagt« Winckelmann »alles Lesen«, zumal »Französischefr] Bücher«. Zugleich müsse er sich v o m »Liebhaber« zum »Schüler« verwandeln. 1 ' 8 Der E n t w u r f des Romaufenthalts als eines biographischen Neubeginns weist auf das transzendierende Moment, das dieser ästhetischen Bildung zugesprochen wird. Mit dem Verständnis der Kunsterfahrung als Individualbildung verbindet sich der Freundschaftscharakter des Lehrer-Schüler-Verhältnisses. D e r Zusammenhang zwischen römischer Lehre und Freundschaft ergibt sich beispielhaft aus einem Rückverweis Winckelmanns auf H. Füsslis

Rom-

Aufenthalt. Die Gefährdung emphatischer Freundschaftsadressen angesichts der Öffentlichkeit, die Winckelmann an dieser Stelle ebenfalls reflektiert, wird im folgenden Kapitel noch eine Rolle spielen: Ich hatte angefangen ein Sendschreiben an Sie zu entwerfen und voranzusetzen von dem Nutzen einer Römischen Reise nach der Rükkunft ins Vaterland, da ich aber an meine Freunde nicht kalt schreiben kann, und ich der Freundschaft mehr geopfert hatte, als man gewohnt ist zu hören, zu empfinden und zu lesen, unterließ ich es, um mich nicht öffentlich selbst zu beschreyen." 5 Im vorliegenden Zusammenhang ist aber von größerem Interesse, daß Winckelmann sich zugleich die Rolle des Vaters zuspricht, dem sein Schüler Füßli »Sohn, Freund und alles« werde. 1 2 0 Dabei ersetzt die römische Kunstdidaxe geradezu die Zeugung und Erziehung eines eigenen Sohns. Z w a r sieht sich Winckelmann »des Genußes der höchsten menschlichen Glückseligkeit, einen solchen Sohn erzeuget zu haben, [. . .] beraubt, wogegen ich R o m und Neapel, ja ganz Italien vertauschen wollte«; jedoch erscheint der Unterricht als vergleichbar tiefgreifender Formungsprozeß: frey mit demselben zu deßen Nutzen und Unterricht reden. Deßen Betragen ist gefällig, und seine Absicht in Anwendung der Zeit in Rom löblich.« WB 608 an C. Füssli, 2 6 . 1 1 . 1 7 6 3 , II S. 356. " 9 W B 667 an H. Füssli, 1 3 . 7 . 1 7 6 4 , III S. 47. Vgl. etwa auch 801 an L. Usteri, 27.9. 1766, III S. 2iof: »Ich habe Euren Bruder von ganzer Seelen geliebet, und wenn ich ihm hätte dienen können, so viel ich mich bemühet habe, unserem Fueßli zu thun, würde ich meiner Neigung gemäß gehandelt haben; ich habe ihm aber leider nicht nützlich seyn können.« Vgl. weiter die Bemerkungen über den »Prinzen von Mecklenburg, welcher hier ein ganzes Jahr mein geliebter Schüler gewesen ist.« (853 an Heyne, 1 6 . 5 . 1 7 6 7 , III S. 261; dazu auch: 855 an Berg, 20. 5.1767, III S. 263). ,2 ° WB 613 an C. Füssli und L. Usteri, 1 4 . 1 2 . 1 7 6 3 , II S. 362 über H. Füssli: »Er soll mir Sohn, Freund und alles seyn, und ich hoffe, mit größerer Kenntniß als jemand jenseit der Alpen zurück gehen.«- Bychowski, S. 229, bezieht solche Äußerungen auf »die unvermeidliche Frustration, die in der psychischen Struktur des Homosexuellen begründet ist und ihn dazu verurteilt, unbewußt alle Rollen selbst zu spielen: Mutter, Väter, Sohn und Tochter und seine eigene Rolle.« Einer historischen Betrachtungsweise etwa der klassizistischen Ästhetik und der Briefliteratur ist mit diesem individual-pathologischen Interesse kaum gedient.

*77

Einem so edlen Jünglinge, wie Ihr geliebter Sohn ist, Unterricht gebenzu können, ist mir so lieb als etwas würdiges geschrieben zu haben. Wenn ich ein Lehrer der Weißheit, wie der Alterthümer, seyn könnte, würde ich mit dem Socrates sagen: es ist beßer auf das Herz der Jünglinge schreiben, als auf Papier."' Indem Winckelmann »gleichsam Vaters Recht« über Füßli annimmt, tritt er in der freundschaftlichen Selbstdarstellung mit seiner »sanften Rede« 1 2 2 in den Prozeß umfassender, moralisch-ästhetischer Formung durch den leiblichen Vater ein, der die antike Bildung wiederherstellt. Die besondere Hervorhebung der durch die väterliche Erziehung garantierten Tugend weist auf das Bild von der Schweiz zurück; jedoch wird dieser Gesichtspunkt im vorliegenden Kapitel vernachlässigt: Ein unschuldigeres Kind bey großem Talente in vielen Witz und Wissen, habe ich niemals kennen lernen. Er scheinet mir ein Bild der Tugend in Fleisch und Bein zu seyn, und der ersten Menschen aus der goldnen Zeit. Sein Vater muß ein sehr weiser Mann seyn, welcher nichts in der Erziehung verdorben. Ich habe mit demselben, gleichsam wie mit einem Kinde gespielt, und mit keinem Fremden bin ich mehr gleichsam handgemein worden; denn ich nahm mir gleichsam Vaters Recht über denselben an; zu gleicher Zeit aber habe ich ihm alles gesagt, was ich weiß, und er hat alle meine Handschriften gelesen."' E s klingt wie eine Wiederholung solcher Formulierungen, wenn Füßli selbst in einem als Vorwort einer Webb-Ubersetzung veröffentlichten Brief an H . C. Vögelin schreibt, Winckelmann habe »mit einer väterlichen Sorgfalt die wankenden Begriffe des Schönen, wie des Guten, des Geschmakes, wie der Tugend, in meiner jungen Seele festgesezt.« 124 — Der Rückgriff auf die antiken Orientierungswerte, v o r allem aber die Formulierung v o m »Bild der Tugend in Fleisch und Bein« rücken den Schüler in die Nähe der griechischen Kunst. A n dieser Stelle ist an die Widmung der »Anmerkungen über die Geschichte der Kunst des Alterthums« zu erinnern, derzufolge Winckelmann und Stosch »Eine einzige Wollust [. . .] in unserer FreundW B 640 an H. Füssli, 18.2.1764, III S. 21. Zur Intensität der Ausbildung vgl. auch 627 an L. Usteri, 20. 1. 1764, III S. 10: »Nehmen Sie zum Beweis, wie lieb ich Ihren Fueßli habe, die Versicherung, daß ich unruhig bin, wenn ich denselben nicht alle Tage sehe. Vielleicht wird er auch mit mir sehen, was Sie demselben wünschen, und dieses wird auf ihm beruhen, wenn er sich nach meiner Zeit bequemen will. Die Beschreibung der Villa des Hrn. Cardinais ist sehr unvollständig und war damahls gut genug, einem Prinzen vorgelesen zu werden, sie war aber nicht vollständig, auch die Villa selbst war weniger geendiget, und ist es noch nicht, wird es auch niemahls werden. Es kann sich also Fueßli üben von derselben zu sagen, was Sie und das Publicum zu wißen verlangen, und hier findet er zu sagen.« 112

A G K , S. 46; von Espagne, S. 17, in Beziehung zum Lehrer-Schüler-Verhältnis gesetzt. W B 720 an Riedesel, 3 1 . 7 . 1 7 6 5 , III S. 1 1 6 . " 4 WB 126a H. Füssli an Vögelin, I V S. 2 3 ; . Dazu die Erläuterungen ebd. S. ; o ; . 278

Schaft nicht genossen [haben], nemlich diejenige, die der Mahler und der Bildhauer währender Arbeit seines Werks hat; das ist, den Freund zu bilden und zu schaffen.« 12 ' In seinen Berichten gibt Winckelmann der väterlichfreundschaftlichen Ausbildung des jungen Reisenden in Rom die Züge des in der Freundschaft mit Stosch vermißten Formungsvorgangs. Sie soll also offenbar nicht als bloße Wissensvermittlung erscheinen, sondern als umfassender Gestaltungsprozeß, und zwar in Analogie zur Arbeit des Bildhauers. Der Schüler kann selbst Gegenstand plastischer Formung und ästhetischer Erfahrung werden. Für eine geplante Deutschland-Reise hat Winckelmann »die Augen auf einen wohlgebildeten Knaben, welchen ich gedenke zu mir zu nehmen und zu erziehen, um mir in demselben eine Gesellschaft zu bilden.« 126 Vallentin hat auf dieses Thema bereits aufmerksam gemacht. Er behauptet jedoch, die Bildung des Freunds habe bei Winckelmann Vorrang vor der Betrachtung der Kunst. Die der Bildung an der Kunst eingeschriebene Problematik reflektierender Brechung des kunstbetrachtenden Subjekts wird damit der Ideologie vom heroischen deutschen Individuum geopfert. 127 Der Aspekt der Formung des Kunstadepten findet sich in der dem Freiherrn von Berg gewidmeten »Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst« näher ausgeführt, die Winckelmanns Kunsttheorie pädagogisch umsetzt und den Grundriß zu einem Programm der Bildung an der Kunst enthält (ohne diesem eine geschichtliche oder gar geschichtsphilosophische Perspektive zu geben). Da Winckelmann den Schönheitssinn für die angeborene Fähigkeit nur weniger erklärt, 128 hat die Erziehung ihn nicht hervorzubringen, sondern nur zu wecken und zu entW B 104, Widmung [an Stosch] vor den Anmerkungen über die Geschichte der Kunst des Alterthums [Rom, Sommer 1766], I V S. 48. W B 595 an Riedesel, 1 2 . 1 0 . 1 7 6 3 , II S. 349. " 7 Vgl. etwa Vallentin, S. 138. Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst, S. 5, in: Kunsttheoretische Schriften Bd. X : »Die Fähigkeit der Empfindung des Schönen hat der Himmel allen vernünftigen Geschöpfen, aber in sehr verschiedenem Grade gegeben. Die mehresten sind wie die leichten Theile, welche ohne Unterschied von einem geriebenen Electrischen Körper angezogen werden, und bald wiederum abfallen; daher ist ihr Gefühl kurz, wie der Ton in einer kurzgespanneten Saite. Das Schöne und das Mittelmäßige ist denselben gleich willkommen, wie das Verdienst und der Pöbel bey einem Menschen von ungemessener Höflichkeit.« Vgl. auch W B 409 an Geßner, 2 5 . 4 . 1 7 6 1 , II S. 146: »Diese [die »Betrachtung des Schönen«] ist die Seele der ganzen Kenntniß der Kunst des Alterthums, die der Himmel nicht verschwenderisch verliehen, und diese ist so selten, daß Michael Angelo in der Betrachtung geblieben, aber nicht zur völligen Kenntniß gelanget ist; Raphael ist der Einsicht des Schönen näher gekommen.« 4 1 7 an Feronce, [Anfang Juni 1 7 6 1 ] , II S. 154: »[. . .] il faut être né avec un sentiment discernant du beau.«

2 79

falten: »Diese Fähigkeit wird durch gute Erziehung erwecket und zeitiger gemacht, und meldet sich eher, als in vernachlässigter Erziehung, welche dieselbe aber nicht ersticken kann, wie ich hier an meinem Theile weis.« 129 Den Schönheitssinn sieht Winckelmann in einem umfassend verstandenen Individualitätsbegriff begründet; er sei in wohlgebildeten Knaben eher, als in anderen, zusuchen, weil wir insgemein denken, wie wir gemacht sind, in der Bildung aber weniger, als im Wesen und in der Gemiithsart: ein weiches Herz und folgsame Sitten sind Zeichen solcher Fähigkeit.' 10

Das Kriterium des »Wohlgebildeten« bezieht sich primär, jedoch nicht ausschließlich auf »Wesen« und »Gemüthsart«. Schon der Kritiker der »Bibliothek der schönen Wissenschaften« notiert diese Ambiguität: Man sieht wohl, daß Herr W . Grundsatz ist, daß in einem schönen Körper auch eine schöne Seele wohnen müsse, um aber der Einwendung von gegentheiligen Beyspielen zu entgehen hat er das Wesen und die Gemüthsart hinzugesetzt, die sich aber in einem weniger wohlgebauten Körper eben so wohl finden können.' 3 '

Gerade die Nähe zur äußeren Schönheit läßt die Affinität der »wohlgebildeten Knaben« auch in ihren sittlichen Eigenschaften zur Idee der griechischen Kunst hervortreten. Die Ausführungen über den »inneren Sinn« als das eigentliche Organ der Schönheitswahrnehmung scheinen diese These zu bestätigen. Dieser »innere Sinn« erhält als »die Vorstellung und Bildung der Eindrücke in dem äußeren Sinne« durch den erläuternden Vergleich reflexiven Charakter. Vorausgesetzt jedenfalls, daß die Wahl des Spiegelvergleichs nicht zufallig ist, bringt die Erkenntnis des Schönen die analoge »Bildung« des Wahrnehmenden im »Profil« zu ihrer eigentlichen Erscheinung: »Es ist derselbe [innere Sinn] wie ein zweyter Spiegel, in welchem wir das Wesentliche unserer eigenen Aehnlichkeit, durch das Profil, sehen.« 1 ' 2 Dieser Konstellation ist eingeschrieben, daß der (eigene) Individualitätsentwurf sich als ästhetisch wahrnehmbar verwirklicht. 1 " Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst, S. 7, in: Kunsttheoretische Schriften Bd. X . Z u m »inneren Sinn« als Geschmack vgl. auch die im übrigen nur ungenau umschreibenden Bemerkungen von Bosshard, S. 76. 1,0

Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst, S. 8, in: Kunsttheoretische Schriften Bd. X . ' ' ' Rezension von: Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst, in: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Zehnten Bandes zweytes Stück, Leipzig 1764, S. 2 ; ;. Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst, S. 1 2 , in: Kunsttheoretische Schriften Bd. X . ' " Diese Formulierung führt die Beobachtung Bätschmanns weiter, daß der Betrachter erst durch die Erweckung der Kunst zum Leben »die Unvollständigkeit seines Daseins aufheben könne durch eine volle Präsenz« (S. 188).

280

In Hinsicht auf die quasikünstlerische Gestaltung des Adepten fügt sich auch Winckelmanns Bevorzugung der Jugend in die Problematik der Kunstkontemplation ein. Er selbst klagt wiederholt über seine verlorene Jugend: »Ich bin leider einer von denen welche die Griechen Spätkluge nennen: Erziehung, Umstände und Mangel haben mich zurück gehalten früher klug zu werden anzufangen.« 1 ' 4 Vor allem seine Schüler macht Winckelmann auf ihre günstigere Ausgangslage aufmerksam: »Wie glücklich sind Sie bey so vieler Kenntniß in Ihren Jahren, da ich wie ein sehr schlecht abgefundenes Kind war, und damahls nimmermehr hoffen konnte dahin zu kommen wohin ich gelanget bin.« 1 " Mit der Selbstdarstellung als vernachlässigtes, verwildertes Kind korrespondiert auf der anderen Seite das Motiv der Evokation der eigenen Jugend in den Schülern. Der Prinz von Mecklenburg »ist mir Freund, Sohn, Schüler und Spielgeselle: Ich kehre mit demselben zu meiner verfloßenen Jugend zurück, und der Unterricht geschiehet im Lachen und Scherze.« 1 ' 6 Einem Brief an Geßner zufolge verliert sich gerade die »Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst« mit zunehmendem Alter: Aber ich hätte an dieses Unternehmen [die Geschichte der Kunst«] vor dem dreyßigsten Jahre gehen sollen: denn itzo bin ich aus Vierzig heraus, und also in einem Alter, wo mit dem Leben nicht stark mehr zu scherzen ist: ich merke auch daß ein gewißer feiner Geist anfängt zu verrauchen, mit welchem ich mich auf mächtigen Schwingen in Betrachtung des Schönen erhob.

Es scheint bezeichnend, daß Winckelmann denselben Brief mit einem Absatz über L. Usteris Studium der antiken Kunst in Rom beschließt: »Der Ihrige und der Meinige theure Usteri reiset heut von Rom ab, mit mehr Kenntniß, und Achtung die er sich selbst erworben, als es wenige, die so kurze Zeit diesen einzigen Sitz der Künste genoßen, sich rühmen können.« 1 ' 7 In Verbindung mit dem ästhetischen Blick auf die jungen Reisenden und dem Willen zu ihrer »künstlerischen« Formung ergibt sich als Interpretation, daß Winckelmann nicht nur eine Annäherung an die verlorene WB 4 2 6 an Gessner, 2 0 . 6 . 1 7 6 1 , II S. 1 6 1 . WB J 2 9 an L. Usteri, 1.1. 1 7 6 3 , II S. 2 7 9 ; vgl. 4 4 9 an L. Usteri, 1 4 . 1 1 . 1 7 6 1 , II S. 189: »Genießen Sie Ihre schönsten Jahre, die mir in Kummer, Noth und Arbeit vergangen sind, wie sie ein weiser Mann genießen soll«. 8 5 9 an Riedesel, 2 . 6 . 1 7 6 7 , III S. 268: »mein Unglück ist, daß ich einer von denen bin, die die Griechen όψιμαθεϊς, sero sapientes, nennen (Sapientes ist hier nur in dem geringsten Grade des Wissens zu nehmen): denn ich bin zu spät in die Welt und nach Italien gekommen; es hätte, wenn ich gemäße Erziehung gehabt hätte, in Ihren Jahren geschehen sollen.« 1,6 WB 7 4 1 an Moltke, 5 . 1 1 . 1 7 6 5 , III S. 1 3 2 . ' " W B 4 0 9 an Gessner, 2 5 . 4 . 1 7 6 1 , II S. 1 4 6 . 1,4

281

Jugend, sondern auch an die Antike beschwört. Ähnlich der Vergegenwärtigung schöner Natur in den griechischen Monumenten führt der lehrende Umgang mit der Jugend die antiken Ideale an die lebendige Gegenwart heran und reflektiert zugleich ihre Distanz. Die Formulierung von dem »schlecht abgefundenen Kind« ist verwandt mit jener von den »schlecht abgefundene[n] Erben«, mit der Winckelmann am Ende der »Geschichte der Kunst« die Situation des rekonstruierenden Kunsthistorikers beschreibt.1'8 Die Bewahrung und Weitergabe eigener Identität in der »Ruhe« der Schönheitslehre, im Schreiben »auf das Herz der Jünglinge«, bezeichnet zugleich die Distanz zur traditionellen Gelehrsamkeit, deren Nachruhm in den Büchern, »auf Papier«,1'9 gesichert war. Mit dieser Interpretation stimmt überein, daß der Rückblick auf die verlorene Jugend und auf die Antike in der Kunstmetropole »Rom« zusammenfallen: Ich wäre Zehen Jahre eher nach Rom gegangen, wenn ich dergleichen gehöret hätte in dem Frühlinge meiner Jahre, da ich eine Herculische Gesundheit hatte, an statt, da mir die gewöhnliche Academische Speise zwischen den Zähnen hängen blieb, ich, was man nennet liiderlich wurde, und mit sehr großer Noth ein sehr kahles Theolog. Zeugniß bekam, welches ich noch aufhebe. ,4 °

In perspektivischer Verlängerung des pädagogischen Programms scheint einem — jedoch allenfalls geringen — Teil der Korrespondenz mit den römischen Schülern ein pädagogischer Sinn zugrundezuliegen. Dieser Aspekt trat bereits im Zusammenhang mit Winckelmanns franzosenkritischer Propaganda für die Romreise hervor. Ihm entsprechen weiterhin die nicht dominierende, aber grundierende Kunst- und Wissenschaftsthematik141 und die patriotisch-freundschaftliche Programmatik, in welche sie sich umsetzt. In diesem Zusammenhang ist nochmals auf Winckelmanns Entwürfe zu verschiedenen »Sendschreiben Von der Reise nach Italien« etwa an Berg142 und Riedesel14' aufmerksam zu machen. Aus diesem Kontext ist offenbar '»' G K ' , S. 4 3 1 . '»» W B 640 an H. Füssli, 18. 2 . 1 7 6 4 , III S. 2 1 . ,4 ° W B 7 2 3 an Schlabbrendorf, 9.8. 1765, III S. 1 1 7 . E s bezeichnet idealtypisch die Differenz zwischen den Freundschaftskorrespondenzen und den »großen Selbstdarstellungen«, daß den letzteren zufolge die Wiederherstellung der eigenen verlorenen Jugend in Rom wenigstens partiell glückt; vgl. W B 527 an Marpurg, 8 . 1 2 . 1 7 6 2 , II S. 275: »Hier habe ich meine Jugend, die ich theils in der Wildheit, theils in Arbeit und Kummer verlohren, zurück zu rufen gesuchet, und ich sterbe wenigstens zufriedener; denn ich habe alles was ich wünschte erlanget, ja mehr als ich denken, hoffen und verdienen konnte.« Vgl. auch 764 an Genzmer, 1 0 . 3 . 1 7 6 4 , III S. 170. 141

141 ,4

Als Beispiel eines an L . Usteri gerichteten Briefs mit kunstbetrachtendem Schwerpunkt sei W B 532, 15. I i . 1763, II S. 2 8 2 - 2 8 5 genannt. W B 5 [an Berg (Entwurf)][2. Hälfte Juni 1762], I V S. 20.

' W B 7 Sendschreiben Von der Reise eines Liebhabers der Künste nach Rom an Herrn Baron von Riedesel, [Entwurf], [Sommer oder Herbst 1763], I V S. 3 1 - 3 6 .

282

auch die an Berg adressierte »Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst« hervorgegangen, die »unter andern sogenannten Römischen Briefen erscheinen sollte«.'44 Aus dem eigentlichen Briefkorpus lassen vor allem die Reiseanweisungen den pädagogischen Impetus unmittelbar erkennen.' 4 ' Umgekehrt hat die Rezeption Winckelmanns Werke schon früh als Führungen durch das Rom der antiken Kunstwerke aufgefaßt.' 46 Insgesamt erweist sich damit aber der Bildungsaspekt - wie die emphatischen Freundschaftsbekundungen — als Teil Öffentlichkeitszuge wandter Briefsprache. Er verleiht dem Briefgespräch die Dimension eines freundschaftlich-erhabenen Diskurses.

3.4.4.

Erotik und römisches Kunstprogramm in den Briefen an Berg

Der junge livländische Baron Friedrich Reinhold von Berg, der sich zusammen mit den Grafen Lynar und Münnich auf seiner Kavalierstour befand, hatte Anfang Juni 1762 nach etwa zweimonatigem Aufenthalt, unterbrochen durch eine Neapelreise, Rom in Richtung Paris verlassen.'47 Am 9.6.1762 sandte ihm Winckelmann einen Brief, dessen Anlaß vermutlich das (von Winckelmann abgelehnte) Angebot einer Entlohnung für Führerdienste war,' 48 dessen Gegenstand jedoch das Bekenntnis und die Reflexion der »heroischen Freundschaft« ist. Den Berg-Brief unterstellt Winckelmann dem Zeichen eines doppelten Verlusts: Zum Abschied tritt die Polarität zwischen Rom und Paris hinzu. Der Beschwörung der Freundschaft folgt eine Reflexion ihrer Problematik vor dem Hintergrund des Winckelmannschen Paris144

Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst, S. 3, in: Kunsttheoretische Schriften Bd. X . Vgl. auch W B 535a an Berg, 1 9 . 1 . 1 7 6 3 , III S. 4 1 5 .

" " Vgl. etwa W B 385 an L . Usteri, 6. 2 . 1 7 6 1 , II S. 1 1 6 ; 4 1 3 an L . Usteri, 3 . 5 . 1 7 6 1 , II S. i48f. 146

Vgl. Rez von: Sendschreiben Herrn Winckelmanns von den herkulanischen Entdeckungen, in: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, Neunten Bandes erstes Stück, Leipzig 1763, S. 92: »glücklich ist derjenige Reisende, der wie der junge Graf, dem er das Werk zugeeignet, mit einem solchen Führer alle Schönheiten der alten römischen Stadt durchgehen, und dadurch Einsichten erlangen konnte, womit man die Werke des Genies, des Witzes und der Kunst allein richtig erklären kann! Wir wollen dem Hrn. W . so viel es in der Kürze möglich ist, folgen, und wie angenehm muß die Gesellschaft eines solchen Kenners seyn, der unsre A u f merksamkeit auf die würdigsten Gegenstände leitet!«

147 148

Erläuterungen zu W B 488 an Berg, II S. 456. W B 488 an Berg, 9.6. 1762, II S. 233: »Sie können also glauben, daß ich nicht bezahlt seyn wolle«. 283

Bildes, dem sich der Aristokrat Berg wenigstens zum Teil zuordnet. Hier fallen die programmatischen Stichworte aus dem Umfeld von »Ruhe«. Der Berg-Brief enthält Ansätze zu einer Kritik am Reiseverhalten des Adressaten, die Winckelmann in anderen Korrespondenzen — auch mit Bezug auf Berg - erheblich schärfer formuliert;149 was dort der Kritik dient, geht im Berg-Brief in eine problematische Freundschaftsbekundung ein: Erst ein längerer Aufenthalt in Rom und »mehr Muße, mit Ihnen, mein Freund, besonders zu sprechen«, hätten die Freundschaft »auf unbeweglichen Grund« setzen können. Hingegen schließen sich Paris und Freundschaft aus; gleichzeitig scheint sich das Bild des Freundes von dem des reisenden Weltmanns abzulösen: »Der Genius unserer Freundschaft wird Ihnen von ferne folgen bis Paris, und Sie dort in dem Sitze der thörichten Lüste verlassen; hier aber wird Ihr Bild mein Heiliger seyn.« 1 '" Freundschaft gewinnt im Berg-Brief ihre heroische Dignität unter der Bedrohung durch die von Paris verkörperten Kulturphänomene. Der Brief steht als Dokument »heroischer Freundschaft« nach dem Muster der Griechen — der »unsterbliche[n] Freundschaften der alten Welt, eines Theseus und Pirithous, eines Achilles und Patroclus« — in einer Fluchtlinie mit den Lamprecht-Briefen. Auf diesen Zusammenhang weist Winckelmann selbst hin: »In 40 Jahren meines Lebens ist dieses der zweyte Fall, in welchem ich mich befunden, und es wird vermuthlich der letzte seyn.« 1 ' 1 Von allen anderen Freundschaftskorrespondenzen, auch von den Lamprecht-Briefen, unterscheiden sich jedoch die Briefe an Berg darin, daß sie den Adressaten selbst als Gegenstand ästhetischer Anschauung vergegenwärtigen. Körperliche Schönheit, wenn auch »nicht Gestalt und Gewächs allein«,1'2 geht in die epistolographische Freundschaftspraxis ein. »In der Wahl der Person« will Winckelmann Pindar nicht »weichen«, der den Agesidamus als »schön von Bildung und mit der Grazie Übergossen« gepriesen hatte. 1 " Auf die Verbindung von Freundschaft, Ästhetik und Erotik hat Vallentin bereits in einer ausführlichen Interpretation der Dokumente zur Verbindung zu Berg aufmerksam gemacht. Jedoch stilisiert er Winckelmann zur monumentalen Inkarnation antiker psychisch-körperlicher Einheit:

" " V g l . oben 3 . 1 . 1 . ">° W B 488 an Berg, 9 . 6 . 1 7 6 2 , II S. 233. • " W B 488 an Berg, 9 . 6 . 1 7 6 2 , II S. 232. Vgl. Vallentin, S. 139. 1,2 W B 488 an Berg, 9. 6. 1762, II S. 232. W B ; 3 j a an Berg, 1 9 . 7 . 1 7 6 3 , III S. 4 1 3 ; Winckelmann übernimmt das Zitat als Motto in die »Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst« (S. 3, Kunsttheoretische Schriften Bd. X ) ; vgl. Erläuterungen zu 535a an Berg, 19. 1 . 1 7 6 3 , III S. 583. Vgl. auch Bosshard, S. 60. Hellbach, S. 2 3 - 4 5 , erklärt die »Freundesliebe« im 18. Jahrhundert zum bloßen Vorspiel seines Protagonisten Platen; die Ausführungen sind ohne Belang.

284

»Leib und Geist bilden eine unlösliche undurchdringliche Einheit.« 1 ' 4 Aus dieser Perspektive verkennt er die Brechung des Erotischen in der ästhetischen Anschauung, geschweige denn, daß er die literarische Vermittlungsform — den Brief — in seine Überlegungen einbezöge. Die erotische Färbung, die Winckelmann den Freundschaftsbekundungen gibt, teilen weitere Textzeugnisse. Im Brief vom 10. 2.1764 spricht er seinen Adressaten als »Geliebtester, schönster Freund« an. 1 " Vor allem in Äußerungen an Dritte läßt er die erotische Note aufscheinen. Die Korrespondenz mit L. Usteri enthält Ansätze zu einem klärenden Gespräch über den homoerotischen Aspekt des Kunstprogramms: »Ich habe sehr viel Zeit mit einigen Fremden verlohren, denen ich mich zu entziehen gesucht hätte, wenn sich nicht eine Paßion mit eingemischet hätte, die mich hernach freywillig laufen machte.«1'6 Das Verhältnis zu Berg erscheint in Hinsicht auf seine erotischen Werte vergleichbar mit Winckelmanns Interesse für den »schönen Jungen in Florenz«, den mehrere Briefe an Stosch erwähnen. 1 ' 7 Gleichzeitig wird die homoerotische Seite der Perspektive auf die Kunst deutlich: diese Bekanntschaft [Berg] ist nicht aus Florenz, sondern im letzt vergangenen Jahre zu Rom gemacht: in Florenz habe ich die Person, ich mir gefiel, nur von Gesichte gekannt; meine Zeit erlaubte mir nicht, ihn zu sprechen, und keine Neigung war so rein als diese. Im übrigen liegt mir wenig an das was man in Deutschland über diesen Punct von mir denken möchte. In der Geschichte kann ich den strengen Moralisten weit mehr Gelegenheit dazu gegeben haben." 8

Die »Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst« führt Winckelmann selbst auf ihren biographischen Entstehungszusammenhang zurück. Der Kommentar stellt eine Verbindung zwischen dem Programm freundschaftlich-väterlicher Kunsterziehung und erotischem Begehren her: Der Punct von der neuen Schrift ist folgender; ich muß es nur bekennen. Ich war verliebt, und wie! in einen jungen Liefländer, und versprach ihm einen Brief unter andern Briefen; das ist, ich wollte ihm alle mögliche Zeichen meiner Neigung geben; und ich hätte ihm vielleicht die Zuschrift der Geschichte selbst zugesaget, wenn ich hätte ändern können. Dieser versprochene Brief wurde eine Schrift.'" 1,4

Vallentin, S. 146; vgl. auch S. 146—155. '» WB 634 an Berg, 10. 2.1764, III S. 17. 1.6 WB 498 an L. Usteri, 4.7.1762, II S. 248. Vgl. auch 591 an L. Usteri, 14.9.1763, II S. 343: »Aus Ihrem gestern eingelaufenen würde ich einen ungegründeten Schluß auf Ihren Geschmack und auf Ihre Kenntniß der Griechen zu machen haben. Wir denken also in einem Puñete verschieden, oder Sie urtheilen unrichtig.« 1.7 WB 340 an Stosch, [29.12.1759], II S. 67; vgl. auch: 342 an Stosch, 5.1.1760, II S. 68; 349 an Stosch, 30.1.1760, II S. 75. WB 591 an L. Usteri, 14.9.1763, II S. 344f. ' " WB 579 an L. Usteri, 6. 8.1763, II S. 3} jf. Winckelmann zitiert im Anschluß noch285

Schon vor dem Erscheinen der »Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst« mit einer Widmung an Berg, die den zitierten Briefen nahesteht, war sich Winckelmann offenbar darüber im klaren, daß diese Veröffentlichung Anstoß erregen würde. Ebenfalls an Usteri schreibt er: »Meine neue kleine Schrift von etwa 4 oder 5 Bogen ist bereits nach Dreßden zum Druck abgegangen. Der Anfang derselben wird Ihnen gefallen und vielleicht zu gleicher Zeit mißfallen: ich hatte mein Wort gegeben und mußte es halten.«'6" Tatsächlich scheint es Mißbilligungen dieser Widmung gegeben zu haben. Einem Brief an Ludwig Heinrich Nicolay zufolge wurde »mir über die Zuschrift der Abhandlung von der Empfindung des Schönen, die einem jungen Liefländer zugeschrieben wurde, etwas Schuld gegeben [. . .], wovon ich noch itzo keinen deutlichen Begrif habe.« Winckelmann habe daraufhin sogar ein »Gespräch« vernichtet, in dem er »so wohl den Beschreibungen als den Ausdrücken allen möglichen Reiz zu geben gesuchet, u. mich sonderlich über das jugendliche Nackende von der höchsten Schönheit so erkläret hatte, daß ich es unter meinem Namen nicht hätte könen erscheinen laßen.«'61 Vermutlich handelt es sich um dasselbe Gespräch, von dem auch in der Einleitung der »Geschichte der Kunst« die Rede ist. Dort schreibt Winckelmann, er hätte über die Kunst der Griechen mehr sagen können, wenn ich für Griechen, und nicht in einer n^uern geschrieben, welche mir gewisse Behutsamkeiten aufgeleget; in dieser habe ich ein Gespräch über die Schönheit, nach Art des Phädrus des Plato, zur Erläuterung der Theoretischen Abhandlung derselben hätte dienen wiewohl ungerne, weggelassen. 1 ' 1

Sprache Absicht welches können,

Schon den zitierten Äußerungen ist zu entnehmen, daß Winckelmann im freundschaftlichen Diskurs das erotische Begehren in ästhetische Wahrnehmung übersetzt. So reduziert sich in den Briefen an Berg die körperliche Präsenz des Adressaten auf die wenigen angeführten Andeutungen.163 »Gemals die dem Aufsatz vorangestellten Motti. Vgl. auch 577 an Walther, 23. 7 . 1 7 6 2 , III S. 416: »Sie können sich vorstellen, daß die Liebe an derselben [»der Bergischen Schrift«] viel Antheil hat, daß es mir nicht gleichgültig sey, wenn dieselbe gedruckt werde.« W B 568 an L . Usteri, 1 1 . 6 . 1 7 6 3 , I I S. 326. 161 Winckelmann an Ludwig Heinrich Nicolay (undatiert), in: Rüdiger, Eine verlorene Schrift Winckelmanns?, S. 303f. Rüdiger vermutet eine Datierung auf die Anfangsmonate des Jahres 1768 (S. 3 1 ; ) . 162 G K ' , Vorrede S. X X I I I . ,6 ' Wangenheim legt in seinem Essay »Casanova trifft Winckelmann oder Die Kunst des Begehrens« Winckelmann im Vergleich mit Casanova ganz auf den Weg des »Verzicht[s]« (S. 1 1 6 ) fest; sein Interesse ist allerdings eher psychologisch als literarisch: »Wie man von einem erfolgreichen Frauenverehrer sagt, er sei ein >CasanovaWinckelmanns< bezeichnen: Die Schiller, Moritz, Hölderlin, Kleist, all die Ent286

stalt und Gewächs« verwandeln sich aus der bloßen Naturerscheinung in sinntragende Form."54 Es deutet sich an, daß diese Transformation auch die Aufgabe hat, das Homoerotische zu verbergen. Jens spricht in diesem Zusammenhang von einem »Wechselspiel von Enthüllen und Verbergen, Insistieren und Abschwächen« im Berg-Brief.' 6 ' In diesem Sinn bemerkt Winckelmann selbst an anderer Stelle über den Kopf eines Fauns: »es ist derselbe itzo in meiner Hand und auf ein schönes Busto gesetzet: es ist mein Ganymedes, den ich ohne Aergerniß nel cospetto di tutti i Santi küßen kann«.' 66 Das Ästhetischwerden der Freundschaftsadresse reflektiert der Berg-Brief also auch unter dem Aspekt des Verzichts. Die Trennung vom Adressaten erscheint als Krisensituation, in der die Bewältigung individueller Verlassenheit, die Vermittelbarkeit exemplarischer individueller Selbstentfaltung mit den Anschauungen der Allgemeinheit auf dem Spiel steht. Der »göttliche Trieb« der Freundschaft sei »den mehresten Menschen unbekannt, und wird daher von vielen übelverstanden gedeutet.« Diese Gefährdung betrifft aber auch das Verhältnis zum Adressaten selbst: »Demohngeachtet hätte ich mich in starken und schriftlich unaussprechlichen Worten erklären müssen, wenn ich nicht gemerket, daß ich Ihnen in einer ungewöhnlichen Sprache reden würde.«' 67 Der ebenfalls überlieferte Briefentwurf setzt noch deutlicher hinzu: »und ich hätte ( a u f ) alle Augenblicke, um Sie zu lehren, erkauft [H: erkaufen würden], wenn es ohne einen ungegründeten Verdacht hätte geschehen können.«' 68 Die Differenz zwischen »ungewöhnlicher« und tolerierter Redeweise deutet auf die Auseinandersetzung mit der Gesellschaftsmetropole Paris. Auch hier zeigt sich also, daß der Berg-Brief eine enge Verbindung zwischen dem Bekenntnis zur heroi-

164

sagenden des deutschen Geistes, die Gefallenen der Tugend, die Selbstverbrenner auf dem Papier.« (S. 107) Bychowski deutet diese Schönheitskontemplation als Resultat der Verdrängung (S. 2 2 ; ) und Sublimierung (S. 227) einer dem Homosexuellen verwehrten Triebbefriedigung. Tatsächlich »verdrängt« jedoch die individualpsychologische Interpretation die Perspektive auf die kultur- und sozialgeschichtlich kritische Subjektivitätskonstitution in der Kontemplation des Kunstschönen. Zur Kritik an Bychowski, dessen These zu stark »vom romantischen Denken inspiriert« sei, vgl. Mayer, S. 202, der aber seinerseits das Problem auf das homosexuelle »Doppelleben« reduzieren will: »Ausgeprägt als Heuchelei, Selbstbetrug, erotische Anpassung an die Norm, jedoch auch als Z w a n g zur Idealisierung und Stilisierung.« (S. 205)

,6

' Jens, S. 64. Über die vorliegende Untersuchung hinaus böte sich (worauf Jens aufmerksam macht) ein Vergleich zwischen dem Briefentwurf [WB I V S. 61—63] und der endgültigen Fassung an. - Vgl. bei Jens, S. 64Í auch die Bemerkungen zur juristischen Beurteilung der Homosexualität im 18. Jahrhundert. 166 W B 7 3 ; an Schlabbrendorf, 1 9 . 1 0 . 1 7 6 5 , III S. 128. 167 W B 488 an Berg, 9 . 6 . 1 7 6 2 , II S. 233. W B 29 an Berg, [9.6.1762], IV S. 62. 287

sehen Freundschaft und Bekundungen der Gefährdung oder des Scheiterns herstellt. Auf das indirekte Sprechen im Berg-Brief weist im übrigen auch die Überantwortung des Gemeinten an einen Lektürekanon. Winckelmann empfiehlt neben Gravina, Homer, Plutarch und Pope Piatons Dialog über die Freundschaft, »den Phädtus [. ..], und diesen mit großer Ruhe; es ist dieses göttliche Gespräch aber nur lateinisch und welsch, und niemals französisch übersetzet, weil die Empfindlichkeit dieser letzten Nation nicht bis dahin reicht.«'69 Im Briefentwurf nennt er außerdem »des Lucianus Toxaris oder von der Freundschaft«, auf das er sich schon in dem Nöthitzer Berendis-Brief vom 17.9.1754 berufen hatte.'70— Unter solchen Voraussetzungen kann es nur als eine - durch die Fixierung auf die Ausbildung des brieflichen »Persönlichkeitsstils« zum Ende des 18. Jahrhunderts hin erklärbare - Fehleinschätzung gelten, wenn Brockmeyer den Berg-Brief als Beleg dafür heranzieht, daß man in den meisten Winckelmann-Briefen »den im Gleimkreis bevorzugten Topoi des Freundschaftskultes« wiederbegegne. 171 Insofern Winckelmann an Berg das Verweisungsverhältnis von schöner Gestalt und tugendhafter Seele hervorhebt, verwirklichen sich in dem Schüler die Anforderungen der »Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst«, deren Inhalt sogar umgekehrt »von Ihnen selbst hergenommen«'72 sei: »Ihre Bildung ließ mich auf das, was ich wünschte, schließen, und ich fand in einem schönen Körper eine zur Tugend geschaffene Seele, die mit der Empfindung des Schönen begabt ist.«' 7 ' Im Blick auf Berg konvergieren Kunstbeschreibung und Freundschaftsbekundung. Diese These ist aus anderer Perspektive — von der ihrerseits mit erotischem Begehren durchsetzten174 Beschreibung des Apoll vom Belvedere her — zu ergänzen. Winckelmann betont den lakonischen Charakter des Bildwerks — einer offenbar gegenüber dem Original »idealisierten« Kopie' 7 ' - , die Rücknahme der »Materie«, die erst das Ideal zur Erscheinung bringe: »Der Künstler desselben hat dieses Werk gänzlich auf das Ideal gebauet, und er hat nur eben so viel von der Materie dazu genommen, als nöthig war, ,6

» W B 488 an Berg, 9 . 6 . 1 7 6 2 , II S. 233. Nach Rein, S. 27; 46 hat Winckelmann auf Piatons »Phaidros« wegen des dort verhandelten Zusammenhangs von Schönheit und Freundschaft zurückgegriffen. Vgl. auch Bychowski, S. 2 2 1 ; 225.

170

W B 29 an Berg, [ 9 . 6 . 1 7 6 2 ] , I V S. 63; 102 an Berendis, [ 1 7 . 9 . 1754]» I S. 1 5 1 . ' 7 ' Brockmeyer, S. 147. 171

Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst, S. 3, in: Kunsttheoretische Schriften Bd. X .

,?

> E b d . S. 4. Vgl. auch die harmonisierende Darstellung von Bosshard, S. iogf sowie S. 1 7 0 - 1 7 8 .

174

171

Vgl. die Zusammenstellung von Wendungen aus der »erotischen Sphäre« bei Zeller, S. 225. Schefold, S. 20if.

288

seine Absicht auszuführen und sichtbar zu machen.«' 76 Die Vorstellung von dem Ideal, das am lakonisch gestalteten Material erscheint, entwickelt Winckelmann in kontinuierlicher Reduktion konkreter Detailbeschreibungen, erkennbar vor allem im Vergleich der frühen Florentiner Version' 77 mit dem Text der »Geschichte der Kunst«. Zeller beobachtet den komplementären Prozeß einer Rücknahme der »überschwenglichen Äußerungen [. . .] über das Ideal im Sinne eines platonisch-plotinischen Mystizismus«.' 78 Das auf das Notwendige verknappte Kunstwerk legt seine körperliche »Natur« ab und entspricht damit der Forderung, »den harten Gegenstand der Materie zu überwinden«;' 79 mit der ideal überhöhten Natur korrespondiert stilistisch die »dichterische Begeistrung« der »prächtigen Beschreibung«:' 80 Gehe mit deinem Geiste in das Reich unkörperlicher Schönheiten, und versuche ein Schöpfer einer himmlischen Natur zu werden, um den Geist mit Schönheiten, die sich über die Natur erheben, zu erfüllen: denn hier ist nichts Sterbliches, noch was die Menschliche Dürftigkeit erfordert.' 8 ' Das Konzept einer im Bildwerk sich zeigenden, vom Künstler geschaffenen idealischen Schönheit scheint allerdings ohnehin, wie Käfer gezeigt hat, mit der These von einem platonisch-plotinischen Idealismus Winckelmanns im strengen Sinn nur schwer vereinbar zu sein.' 82 Auch »über die Natur« erhoben, verliert der Körper seinen Naturerfahrungsbezug nicht.' 8 '- Die Gestaltung »unkörperlicher Schönheit« im Kunstwerk verlangt einen analogen hermeneutischen Akt des Kunstbetrachters, der wie »ein Schöpfer einer

176

G K ' , S. j 9 2f. Abgedruckt bei Zeller, Anhang, nicht paginiert. ,7! Zeller, S. 143. 179 G K ' , S. 156; vgl. Zeller, S. 142. Rez. von G K (Fortsetzung), in: Bibliothek der schönen Wissenschaften, Eilften Bandes zweytes Stück, Leipzig 1764, S. 282. ' " G K ' , S. 5 9 2f. Käfer, S. 117; Bätschmann, S. 225, Anm. 77. Der Vorstellung von einem nichtplatonischen Idealismus scheinen auch Maek-Gerard, S. 4if, und Will, S. 98-107, zuzuneigen. Vgl. auch A G K , S. 35; Winckelmann weist zurück, daß das Ideal »ein blos Metaphysischer Begrif sey, welcher in allen dessen Theilen der menschlichen Figur besonders statt finde, und nur allein im Verstände könne gebildet werden.« Die Künstler werden ausdrücklich an das Vorbild der Natur verwiesen, wo Winckelmann selbst »Bildungen des Gesichts gefunden, die eben so vollkommen sind, als diejenigen, die unseren Künstlern Muster der hohen Schönheit seyn müssen.« (Ebd. S. 36) Käfer, S. 119, kritisiert deshalb auch Rein, die die Übertragung platonischer Positionen (so in bezug auf das Kriterium der »Unbezeichnung«; vgl. Rein, S. 164) und neuplatonischer Gedanken (so in Hinsicht auf den Begriff der idealischen Schönheit, ebd. S. 67—70) in Winckelmanns Kunsttheorie nachweisen will (so auch Rehm, Griechentum und Goethezeit, S. J2f). Auch Koch, S. 63-66 u. ö. sieht in Winckelmann einen Platoniker. •'> Käfer, S. 120. 177

289

himmlischen Natur« verfahren und endlich »selbst einen erhabenem Stand« annehmen muß, »um mit Würdigkeit anzuschauen«. Der Vorgang der Erkenntnis entspricht dem in der »Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst« vertretenen Gedanken von der notwendigen Korresponden2 von Schönheitssinn und Kunstschönem und stellt sich als Bildungsprozeß dar. Auch hier nähern sich die Kunstbeschreibung und die Berg-Briefe einander an. Wie sich in der Beschreibung des Apoll »Mit Verehrung [. . .] meine Brust zu erweitern und zu erheben« scheint,1'4 so begegnet Winckelmann seinem Adressaten »mit einer gewissen Ehrfurcht«. 18 ' Das Bildwerk wie auch der Adept, in dessen »unkörperlicher« Gestalt umfassende Bedeutungsbezüge präsent sind, die denkend vom Betrachter erschlossen werden müssen, verwirklichen Winckelmanns Allegorie-Begriff. Die Erfahrung einer Individualität, in der sich zugleich allgemeine Naturwahrheit konkretisiert, gelingt ästhetisch, in reflektierender Wahrnehmung des Schönen. Dies gilt auch — ähnlich wie es an den Stosch-Briefen zu beobachten war - für die Freundschaft; die Annäherung an die heroischen Freundespaare »Theseus und Pirithous« und »Achilles und Patroclus« im Berg-Brief 86 fällt mit einer Annäherung an die Allegorie der heroischen Freundschaft zusammen, für die Winckelmann ebenfalls Theseus und Pirithous vorschlägt.' 87 Die »Vom Himmel [. ..], und nicht aus menschlichen Regungen« stammende Freundschaft188 gehört selbst dem »Reich unkörperlicher Schönheiten« an;189 die Freundschaftsempfindung, welche dem Beschauer das im heroischen Freund vergegenwärtigte ethisch-ästhetische Ideal im selbstreflexiven Tausch als das eigene vermittelt, findet sich in enger Nachbarschaft zur »Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst«.' 90 Die Verwandtschaft des Freundschaftsbegriffs mit dem Allego184

1.6 1.7

G K ' , S. 3 9 2 f . W B 6 3 4 an Berg, 10. 2 . 1 7 6 4 , III S. 17. W B 488 an Berg, 9. 6 . 1 7 6 2 , II S. 232. Versuch einer Allegorie, S. 142. Vgl. auch Erläuterung der Gedanken Von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerey und Bildhauerkunst, in: Kleine Schriften S. 132.

' " W B 634 an Berg, 10. 2 . 1 7 6 4 , III S. 17. Vgl. aus der Beschreibung des Apoll in der »Geschichte der Kunst«, ( G K 1 , S. 392Q auch die Passage, nach der »ein Himmlischer Geist, der sich wie ein sanfter Strohm ergossen, [. . . ] gleichsam die ganze Umschreibung dieser Figur erfüllet« hat.

1,9

190

In den »Gedanken über die Nachahmung der griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauerkunst« fordert Winckelmann, man müsse mit den Kunstwerken »wie mit einem Freund, bekannt geworden seyn, um den Laocoon eben so unnachahmlich als den Homer zu finden.« (Kleine Schriften, S. 30). Z u m freundschaftlicherotischen Umgang mit Kunstwerken vgl. auch 554 an L. Usteri, 1 6 . 4 . 1 7 6 3 , II S. 309t über neugefundene antike Plastiken: »Unter denselben ist ein beschädigter

290

riebegriff läßt zugleich die Problematik der Allegorienlehre hervortreten: Der Bilderkatalog, der das Vorhandensein einer konventionellen Ikonographie voraussetzt, gerät in ein Spannungsverhältnis zu der auf subjektiver Wahrnehmungsfähigkeit beruhenden Kunsthermeneutik. 191 Auf dieselbe Verbindung von individueller Freundschaftsbekundung und dem Anspruch auf allegorische Verallgemeinerbarkeit scheint auch Winckelmanns Kommentar zu seinem gleichsam als Botschaft gedachten, für Stosch bestimmten Porträt von Maron zu deuten. Der Maler habe die Absicht, »in demselben ein Bild der Freundschaft (die er selbst fühlet) und der Redlichkeit, wie er sagt, zu schildern.«' 92 In der subjektivierenden Weiterentwicklung des gleichwohl beibehaltenen Allegoriebegriffs deutet sich eine Konsequenz aus der Problemkonstellation an, die Herder in seiner Begründung für die Mängel der Winckelmannschen Allegorienlehre ausformuliert. Danach fehlt es an einer »Allegorie der Kunst«, die, nach dem Muster der »Aegypter, vielleicht auch Hetrurier, Griechen und Römer«, »in Sprache und Denkart der Nation liegend, sogleich gebildet und anerkannt werden könne.« Die »Allegorie der Kunst« wird zum Metier weniger Kenner, sie »gehört nur Gelehrten und Künstlern«.' 93 Der - in Berg anschaubar verwirklichte — »allegorische« Charakter der Freundschaft begründet immanent ihren Offentlichkeitsanspruch (ja sogar ihre nationale Bedeutung), welcher sich in der - den Freundschaftsbriefen affinen - Zueignung der »Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst«' 94 und in der Abhandlung selbst als Freundschaftsmanifest niederschlägt. Auch an der allegorisierenden Verbindung von Freundschaft und Mythos wird die Absicht klar, Freundschaft zum gesellschaftlichen Verbindungsmedium, zur Grundlage eines Gemeingeists zu erheben.' 9 ' Zwar hat Winckelmann die Akzeptanz solcher Texte als gefährdet betrachtet; über ihren Öffentlichkeitsbezug und ihren kritisch-paKopf eines jungen Fauns von so hoher himmlischer Schönheit, daß er alles übertrifft was ich gesehen, und was seyn kann. Beständig denke ich an denselben und die Nacht träume ich davon. Ein solches Vergnügen gilt mehr als ein Monat Frölichkeit bey Hofe.« Vgl. B. Fischer, S. 249-256. 192 WB 836 an Stosch, 2.4.1767, III S. 245f; vgl. auch 78; an Stosch, 15. 8.1766, III S. 197 sowie jewils die Erläuterungen ebd. S. ;o7f; 527. Herder, Denkmal Johann Joachim Winckelmann's, in: Die Kasseler Lobschriften, S. 58. Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst, S. jf., in: Kunsttheoretische Schriften Bd. X . Auch Lamprecht hätte eine solche Dedikation erhalten: »[. . .] ich hätte ihm, mit Ausschluß aller Absichten, meine Geschichte der Kunst zugeschrieben, lieber, als einem Könige, wenn er mir nur ein einziges mahl geschrieben hätte.« (WB 540 an L. Usteri, 20.2.1763, II S. 292). ' " Z u r Mythologie bei Winckelmann vgl. Koch, S. j ; f ; Himmelmann, Winckelmanns Hermeneutik; Käfer, S. 67—74. 291

radigmatischen Wert läßt er jedoch keinen Zweifel zu. Die Zuschrift der »Geschichte der Kunst« an den sächsischen Kurfürsten sei »wahrhaftes brodo liscio«, während die »Schrift an den jungen Liefländer« zeige, »daß ich denken, schreiben, und wenn ich will, eine Person bekannt und denckwürdig machen könne.«' 96 Die erotischen Töne und der Ausdruck freundschaftlicher Sehnsucht im Berg-Brief wären demnach als Hinweise auf die besondere Intimität dieses Schreibens mißverstanden. Im Gegenteil: Die »heroischen« Freundschaftsbekundungen geben dem »nur« Persönlichen einen exemplarischen Zug. Als »über die Natur« erhabener Kunstgegenstand ist das Götterbild jeder zeitlichen Veränderung entzogen, 1 ' 7 »denn hier ist nichts Sterbliches, noch was die Menschliche Dürftigkeit erfordert«. 1 ' 8 Die größere Beständigkeit führt Winckelmann als Argument für den Vorzug der männlichen vor der weiblichen Schönheit ins Feld: Was hat denn das Weib schönes, was wir nicht auch haben: denn eine schöne Brust ist von kurzer Dauer, und die Natur hat dieses Theil nicht zur Schönheit, sondern zur Erziehung der Kinder gemacht, und in dieser Absicht kann es nicht schön bleiben. Die Schönheit ist so gar den Männern noch im Alter eigen, und man kann von vielen alten Männern sagen, daß sie schön sind; aber niemand hat eben dieses von einer alten Frau gesaget.

Wie verschiedene Belege zeigen, hängen solche Textstellen mit Reflexionen über die Zeit als Vergänglichkeitsfaktor zusammen: »Die Flüchtigkeit des Frühlings unserer Jahre hat mir, wie Ihnen, manche betrübte Betrachtung verursachet, sonderlich, da mir keine billige Proportion unter den verschiednen Altern des Lebens zu seyn scheinet; die schöne Jugend ist mehrentheils, wie der heurige Frühling, kaum zu merken.« 200 Im Fall des »schönen Jungen in Florenz« begründet die Trauer über die menschliche Hinfälligkeit eine Rückwendung zur Kunst: Ich bin wahrhaftig betrübt über die Vergänglichkeit eines so hohen Guths und über den schnellen Lauf des Frühlings unseres Lebens, welcher in seltnen Bildungen ewig dauern sollte. Man gehet also gewisser und mit beständigem Ideen in marmornen Schönheiten, unter welchen ein K o p f eines jungen Fauns, mit zwey Hörnergen auf der Stirn, seit weniger Zeit erschienen ist, welcher alle hohe Schönheiten, die ich bisher betrachten können, übertrifft/ 01 W B 610 an Stosch, 3 0 . 1 1 . 1 7 6 3 , II S. 358. Vgl. Mattenklott, S. 24: »Für die Auffassung von Winckelmann und Mengs war die ruhende Gestalt Ausdruck des sich selbst gleichbleibenden Seins im irritierend scheinhaften Wandel der Phänomene«. G K ' , S. 3 9 2 f . '»» W B 868 an P. Usteri, 27. 6. 1767, III S. 277. 200 W B 563 an Riedesel, 2 2 . 5 . 1763, II S. 520. 201

W B 558 an Riedesel, [Ende April] 1 7 6 3 , II S. j n f . Vgl. schon 542 an Riedesel, 1 8 . 3 . 1 7 6 3 , II S. 296: »Ich glaubte nicht, daß Sie den schönen jungen Menschen

292

Auch den in eine »unkörperliche Schönheit« verwandelten Adressaten läßt die ästhetische Kontemplation zur »Ruhe« kommen. Sie scheint darüber hinaus nunmehr der Freundschaft jene »Beständigkeit« zu verleihen, die als Thema der Freundschaftsdiskussion nachgewiesen werden konnte. Der ästhetisch entstofflichten Freundesliebe als Bedingung zeitenthobener Ruhe entspricht die besondere Rolle, die Winckelmann dem androgynen Charakter einräumt. Dieser ergibt sich daraus, daß die Griechen »die Formen einer Jugend von längerer Dauer im weiblichen Geschlechte der Männlichkeit eines schönen Jünglings einverleibeten, und diese dadurch runder, völliger und zarter bildeten«.202 Erst die Verbindung von männlicher und weiblicher Schönheit bringt die in Kunst sublimierte Erotik hervor und überwindet die Schwierigkeit, daß diejenigen, welche nur allein auf Schönheiten des Weiblichen Geschlechts aufmerksam sind, und durch Schönheiten in unserem Geschlechte wenig, oder gar nicht gerühret werden, die Empfindung des Schönen in der Kunst nicht leicht eingebohren, allgemein und lebhaft haben.' 0 ' In der geschlechtlichen Unbestimmtheit der Hermaphroditen nähert sich die Invididualität dem zeitenthoben Allgemeinen an. 204 Für diese Interpretation spricht auch Winckelmanns wiederholter Hinweis, man habe im Orient bzw. bei den Griechen zum Mittel der Kastration gegriffen, um die Schönheit der Jugend zu erhalten.20' Mit der Formulierung »Ein ewiger Frühling« spiele »mit sanften Zärtlichkeiten auf dem stolzen Gebäude seiner Glieder« nimmt Winckelmann die Verbindung von Zwischengeschlechtlichkeit und zeitloser Ruhe auch in die Beschreibung des Apoll vom Belvedere auf. 206 vergessen hätten, von welchem ich Ihnen mehr als einmal gesprochen. Er heißt Niccolo Castellani, aus einem der besten Häuser. Zu meiner Zeit war er etwa 16 Jahr, aber ein vollkommenes Gewächs. Stosch sagte mir im vergangnen Jahre, daß er viel von seiner Schönheit verlohren habe.« A G K , S. 36; vgl. auch G K ' , S. i6of.; WB 262 an Hagedorn, l j . 1.1759, I S. 446. Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst, S. 9, in: Kunsttheoretische Schriften Bd. X . Vgl. Ettlinger, S. jogf. Winckelmann setzt an dieser Stelle Gellerts moralische Bevorzugung der Freundschaft vor den »natürlichen« Empfindungen ästhetisch um. 104 Zeller, S. 139; vgl. ebd. S. 123. Ähnlich Rein, S. 139. Zur Sache auch Spickernagel; Baeumer, Winckelmanns Formulierung der klassischen Schönheit, S. 67-74; Maek-Gerard, S. 29. Die von Baeumer, ebd. S. 69 vertretene Ansicht, Winckelmann habe »seinen überhöhten Schönheitsbegriff aus gemischt- und gleichgeschlechtlichen Qualitäten« primär aus »einer offensichtlich homoerotischen Einstellung« abgeleitet, trifft zwar Richtiges, greift aber nach der hier versuchten Interpretation zu kurz. " " W B 563 an Riedesel, 22.5.1763, III S. 320; G K ' , S. 152; MAI, Winckelmanns sämtliche Werke, hrsg. v. Eiselein, Bd. VII S. 106. 106 G K ' , S. 392Í. Vgl. Zeller S. 72Í. Baeumer, Winckelmanns Formulierung der klassischen Schönheit, S. 6yf weist darauf hin, daß Winckelmann hier sinnliche, »dio2

93

Die Bedeutung der Hermaphroditen für die Schönheitstheorie liefert einen Hinweis auf den Stellenwert der Jugend — auch in bezug auf Winckelmanns Bevorzugung junger Männer; es finde sich, wenngleich »selten«, »eine vollkommene Form auch in der schönsten Jugend, die in unserem Geschlechte noch weniger als im weiblichen einen festen Punct hat.«207 Die Freundschaftsadresse an den zur Zeit seiner Romreise fünfundzwanzig jährigen Berg208 als Gegenstand ästhetischer Wahrnehmung scheint auf diesem Schönheitsideal zu ruhen. Die Distanzierung und Stillstellung des Adressaten als Gegenstand der Anschauung hat ihr Pendant in der Belebung der Statue, die Winckelmann in den Pygmalion-Mythos faßt: »mein Bild scheint Leben und Bewegung zu bekommen, wie des Pygmalions Schönheit.« 10 ' Erst im Spiegel der profanen Zugriffen entzogenen Kunst, der beseelten Statue oder des distanzierten Freunds, zeigt sich dem Betrachter ein Idealentwurf auch der eigenen Identität, der in der Objektivität des Kunstideals vor dem geschichtlichen Verfall zugleich bewahrt scheint.210 Kunst wird zur Instanz der Aufklärung des betrachtenden Subjekts über sich. 2 " Mit dieser Interpretation stimmt überein, daß nach Henn gerade mit dem Rückgriff auf den PygmalionMythos an die Stelle der »Verkündigung des Verbindlichen« bei den »Anciens« des 17. Jahrhunderts 212 ein »durch die Einfühlung in das vielsagend Schöne geprägter Erlebnischarakter« tritt. 21 ' Mit der Annäherung individueller Freundschaft an die Sphäre der Kunst und der Freundschaftsempfindung an das ästhetische Wahrnehmungsvermögen korrespondiert die Form, welche die Klage über den Verlust annimmt. Sowohl in den Briefen an Berg als auch in der »Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst« erscheint das Bild des Freundes als Gegenstand erinnernder Imagination:

nysische« Elemente mit dem »Idealischen« Apolls verbindet. Das entspricht dem in der vorliegenden Interpretation gezeigten Zusammenhang von - auch obszöner — Sinnlichkeit und Kontemplation der »hohen« Kunst. *°7 A G K , S. 36; »die alten Künstler« haben nach Winckelmann das »Idealische G e wächs der Jugend« »stückweis in Verschnittenen« beobachten können (ebd.). Vgl. Zeller, S. 204: » E s entspricht seinem [. . .] Begriff der vollkommenen Schönheit, daß sich seine Neigung dem schönen Jünglingskörper mehr als der schönen weiblichen Bildung zuwendet.« Lebensdaten nach Erläuterungen zu W B 488 an Berg, II S. 456: 2 6 . 1 2 . 1 7 3 6 — 5 . 1 . 1 8 0 9 . - Z u Winckelmann und Berg vgl. auch Justi', Bd. III S. 7 4 - 8 7 . " » G K ' , S. 3 9 2f. Vgl. dazu Bosshard, S. 132—140; 1 4 4 - 1 4 6 (zur Frage des »Ausdrucks«). * " Bätschmann, S. 193. Henn, S. 222. Ebd. S. 226.

294

So wie eine zärtliche Mutter untröstlich weinet um ein geliebtes Kind, welches ihr ein gewaltthätiger Prinz entreißt und zum gegenwärtigen Tod ins Schlachtfeld stellet; eben so bejammere ich die Trennung v o n Ihnen, mein süßer Freund, mit Thränen, die aus der Seele selbst fließen.1'4

Mit einer wörtlich verwandten Formulierung hat sich Winckelmann vier Jahre später von Mechel verabschiedet: »Ich bin Ihnen, wie eine 2ärtliche Mutter ihrem abreisenden Kinde nachsieht, von einem Orte zu dem anderen mit Geist und Seele gefolget, und bin Ihnen zur Seite die Alpen überstiegen, die mir künftig aus Verlangen kleine Hügel scheinen werden.« 21 ' Auch in den Stosch-Briefen zeigt sich gelegentlich die Nähe emphatischer Freundschaftsbekundungen zum Gestus erinnernder Vergegenwärtigung der freundschaftlichen Präsenz: [. . .] neulich, da ich das erste und letzte mahl in diesem Carnevale eine Opera hörete, war mein ganzer Geist mit Ihren Bilde beschäftiget und ich wurde dermaßen mit zärtlicher Rührung gegen Sie übergoßen, daß ich zurück treten [mußte] um den Thränen ihren Lauf zu lassen. 2 ' 6

Der Ausdruck der Trauer über die Trennung ist mit der Klage über die verlorene Präsenz der antiken Kunst als »Idealbild in historischer Ferne« 217 am Ende der »Geschichte der Kunst« nah verwandt: Z w a r sei dem Verfasser »bey Betrachtung des Untergangs« der griechischen Kunst »zu Muthe gewesen [. . .], wie demjenigen, der in Beschreibung der Geschichte seines Vaterlandes die Zerstörung desselben, die er selbst erlebet hat, berühren müßte«. Dennoch »konnte ich mich [. . .] nicht enthalten, dem Schicksale der Werke der Kunst, so weit mein Auge gieng, nachzusehen. So wie eine Liebste an dem Ufer des Meeres ihren abfahrenden Liebhaber, ohne Hofnung ihn wieder zu sehen, mit bethränten Augen verfolget, und selbst in dem entfernten Segel das Bild des Geliebten zu sehen glaubt.« 2 ' 8 Die Verarbeitung individueller Verlassenheit geschieht also im Berg-Brief in der Weise des rekonstruierenden - oder auch des konstruierenden, antizipierenden - Entwerfens. Insofern der Berg-Brief den ästhetischen Blick auf den 2,4

W B 488 an Berg, 9. 6 . 1 7 6 2 , II S. 232. Vgl. 634 an Berg, 10. 2 . 1 7 6 4 , III S. 17: »Mit einer gewissen Ehrfurcht näherte ich mich Ihnen; daher ich bey Ihrer Abreise des höchsten Gutes beraubet zu seyn schien.« Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst, S. 4, in: Kunsttheoretische Schriften Bd. X : »Es war mir daher der Abschied von Ihnen einer der schmerzlichsten meines Lebens, und unser gemeinschaftlicher Freund ist Zeuge davon, auch nach Ihrer Abreise: denn Ihre Entfernung unter einem entlegenen Himmel, läßt mir keine Hoffnung übrig, Sie wieder zu sehen.«

"> W B 803 an Mechel, 2 7 . 9 . 1 7 6 6 , III S. 21 if. 216 W B 690 an Stosch, Februar [zwischen 14. und 2 i . ] i 7 6 j , III S. 78f. Vgl. auch 219 an Stosch, 1 3 . 6 . 1 7 5 8 , I S. 378. 2.7 Uhlig, Einleitung, S. 7; vgl. auch Meinecke, S. 297. 2.8 G K ' , S. 430. Vgl. Koch, S. 103.

*95

Freund mit der Klage über den Verlust vereinigt, genügt er passagenweise dem Anspruch an Kunst 2 ' 9 als Ort reflektierender Selbstvergewisserung des Einzelnen. Die so angelegte Freundschaft bedarf der literarischen Reflexionsform des Briefs, in welcher sie erst ihren Wirklichkeitsanspruch vortragen und die Selbstbehauptung gegenüber der Zeitlichkeit postulieren kann.220 Winckelmann benennt die neue Vorrangstellung der Freundschaftsepistel, die nicht mehr einen geselligen Spielraum öffnet oder der Geschmacksbildung dient, sondern, ähnlich der poetischen Kunstbeschreibung, dem Selbstentwurf des Verfassers allererst zur Erscheinung verhilft: Mein theuerster Freund, ich liebe Sie mehr als alle Creatur, und keine Zeit, kein Zufall, kein Alter kann diese Liebe mindern; aber entfernt zu seyn, ohne sich mit Briefen erreichen zu können, ist mir fast schmerzhafter als selbst der Abschied. 1 2 '

Jedoch darf die Verbindung von Freundschaftsbekundung und Erinnerungshaltung nicht mit subjektivistischer Vergangenheitssehnsucht verwechselt werden.222 Darauf deutet eine gewisse Stereotypie auch emphatischer Freundschaftsadressen.22' Ein Beispiel liefert der einzige erhaltene Brief an den Berliner Maler Adolf Friedrich Harper, den Winckelmann zu Beginn seiner römischen Jahre kennlernte. Der Brief an Harper ist im Juni 1756, also sechs Jahre vor dem Berg-Brief vom 9.6.1762 entstanden. E r enthält im ersten Teil Freundschaftsbekundungen in französischer Sprache, denen in einem Postscriptum stilistisch weniger sorgfältig formulierte Bemerkungen und Erläuterungen folgen. 224 Dem soeben aus Rom nach Florenz abgereisten Harper übermittelt Winckelmann Klagen über diesen Verlust freundschaftlicher Präsenz. Harpers Abreise habe ihn »inconsolable« zurückgelassen; »abandonné comme je me trouve, mes voeux Vous suivront 2,9

Der Briefentwurf W B 29 an Berg [ 9 . 6 . 1 7 6 2 ] , I V S. 6 1 - 6 3 zeugt von der sorgfaltigen literarischen Gestaltung des Schreibens. Delilkhan, S. 184—194 zeigt, daß das Ästhetische zwar Gestaltungselement von Briefen sein kann, distanziert sich aber von einer gattungsinadäquaten Überschätzung des Ästhetischen als strukturierenden Gestaltungsprinzips. Nach Bätschmann S. 207, zwingt gerade die desillusionierende Einsicht in die Geschichtlichkeit des betrachteten Werks dazu, diesem »eine problematische Dauer in der Forderung nach einem Für-sich und ihrer Erfüllung zuzuerkennen.« Der These von Winckelmanns Kunstbetrachtung als Erkenntnis eigener G e schichtlichkeit (ebd. S. 206) entspricht Seebas Hinweis auf Winckelmann als Wegbereiter der modernen Hermeneutik gerade in der Verbindung von Ästhetik und Geschichtschreibung (Seeba, Johann Joachim Winckelmann, S. 194—198). W B 6 3 4 an Berg, 10. 2 . 1 7 6 4 , III S. 17.

224

Z u beachten sind in diesem Zusammenhang die Einwände, die Delilkhan gegen die Verwendung des »Werther«-Modells als Briefinterpretationsfolie für das 18. Jahrhundert vorgebracht hat; vgl. etwa S. 4 4 - 4 6 . Z u m Topischen in Winckelmanns Stil vgl. Koch, S. 17. W B 148 an Harper, Juni 1756, I S. 23of; dort auch die folgenden Zitate. Z u Harper vgl. Justi 4 , Bd. II S. 535.

296

à chaque pas; que Votre chemin soit parsemé des roses et des fleurs.« Eine offenbar auf die »Freundin« Harpers bezogene Formulierung gehört zum Grundbestand Winckelmannscher Freundschaftsadressen: »La seule idée d'une amitié si rare au monde m'attendrit et me fait pleurer.« Zugleich fühle sich Winckelmann erinnert »à un Ami que le Ciel paroissoit avoir destiné pour moi«, dem er die schönsten Tage seines Lebens geopfert habe, der aber »s'obstine à m'oublier«. 22 ' In dem (deutsch geschriebenen) Nachsatz erklärt er dazu, er habe in seinen Freundschaftsbekundungen an einen anderen als den Adressaten gedacht, »allein ich habe des Andern Bild in Ihnen gefunden: und ich hoffe daß Sie in mir einige Ähnlichkeit mit sich gefunden. Zwey Dinge die einem Dritten gleich sind, sind sich selber gleich; folglich.« Damit bestätigt sich die These von der Freundschaft als Identifikationsverhältnis; zugleich wird aber klar, daß Winckelmann seine Formulierungen in gewissem Umfang als übertragbar betrachtet. Fast könnte man an dieser Stelle von einer Tendenz zur Entindividualisierung des Freunds sprechen, die mit dem Hang zur Idealisierung korrespondiert. Die Verwendung der französischen Sprache in dem offenbar als vorzeigbar angelegten Briefteil liefert ein weiteres Argument dafür, daß Winckelmann die freundschaftlichen Gefühle beschreibt, aber nicht in der Briefsprache verwirklicht. Auch für die Interpretation des Berg-Briefs ergibt sich als Konsequenz, daß der empfindsame und heroische Ton im Brief der Reflexion der individuellen Verlassenheitserfahrung in der literarischen Konstruktion eines verallgemeinerbaren Freundschaftsideals dient. In diesem Rahmen werden im Berg-Brief jedoch Krisenmomente erkennbar. Während nämlich die »Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst« unter dem Vorzeichen der Zuschrift zum literarischen Freundschaftsmonument wird, und während die Beschreibung des Apoll die idealische Schönheit programmatisch vorstellt, vergegenwärtigt der Brief das Freundschaftsverhältnis gerade in seiner mehrschichtigen Gefahrdung. Wie der überlieferte Entwurf zeigt, hatte Winckelmann ursprünglich die Befürchtung eingearbeitet, daß der Adressat, der Rom nach kurzem Aufenthalt in Richtung Paris verlassen hatte, dem eigenen Freundschaftsethos nicht im vollen Sinn zugänglich sei — daß also die freundschaftliche Rede ihr Ziel nicht erreichen werde: »Ich würde Ihnen ein Prediger der Freundschaft werden, aber diese Stimme findet ( b e y ) in der gegenwärtigen Empfindlichkeit gegen die Liebe nicht statt«. Es deutet sich an, daß der Text eine Gefährdung des Freundschaftsdialogs mitbedenkt: »Ihr Vgl. WB 148 an Harper, Juni 1756, I S. 2jof: »Embrassés-le de ma part, et dites Lui que j'ai destiné tous les jours une demi-heure pour ne pas penser qu'à Lui.« Koch, S. 82, identifiziert den Freund als Lamprecht. Allerdings bleiben Kontakte zwischen Harper und Lamprecht im Unklaren. 2 97

empfindliches Herz gegen die Liebe (wird) ist es auch gegen die Freundschaft aber in geringerem Grade und wird allezeit schwächer zu dieser seyn je mehr Sie jener nachhängen, welches ich mehr als ich wünschte befürchte.« Dem Rückblick auf die freundschaftliche Vergangenheit gesellt sich im Briefentwurf der Vorausblick auf eine mögliche Freundschaft in der Zukunft zu: »Es könnte aber geschehen, daß sich eine der unsrigen ähnliche Verbindung der Geister an dem Orte Ihres künftigen Auffenthalts fände, und in diesem Fall (muß) will ich auch Ihnen ein Prediger der Freundschaft seyn.«216 In der Endfassung hat Winckelmann die gesamte Passage getilgt. Sie ist jedoch damit nicht schlechthin aus dem Schreiben verschwunden, sondern verbirgt sich in dem grundlegenden Gegensatz von Rom und Paris. Insofern der Brief die Trennungssituation zum Ausgangspunkt einer Beschwörung der heroischen Freundschaft nimmt, gelangt er auch zu der Einsichtj daß diese von der Kunst verbürgte Freundschaft in Lebenszusammenhängen nicht realisierbar ist. Die Trennung von Berg weitet sich in der Perspektive des Briefs zu einer Reflexion der Einsamkeit des Kunstbetrachters aus. In solchen Irritationen könnte — neben dem persönlichen Verhältnis zu Lamprecht und Berg — ein Grund dafür liegen, daß Winckelmann an andere Adressaten Briefe von derselben »heroischen« Qualität nicht mehr geschrieben hat. Die Tatsache, daß Berg Winckelmanns Freundschaftsenthusiasmus nicht aufgenommen und insbesondere die Zuschrift der »Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst« nicht beantwortet hat, läßt sich vielleicht als äußerer Hinweis darauf verstehen, daß Freundschaftsbriefe nunmehr gerade die Vereinzelung des Individuums zu reflektieren beginnen.227 Johann Heinrich Voigt, Herausgeber von Winckelmanns »Briefen an einen Freund in Liefland« (1784), kommentiert die Entwicklung des Freundschaftsverhältnisses: »Gewiß war seine Freundschaft für diesen [Berg] unverstellt, so wie nachher sein Unwille: und dies war seinem Temperament gemäß, das, von Natur aufwallend, ihn so leicht zu Extremen verleitete.«228 Zwar überwindet die römische Perspektive demnach nicht das Isolationsproblem der Briefe an Lamprecht; jedoch gelingt es Winckelmann,

" 6 WB 29 an Berg, [9. 6.1762], IV S. 6zf. " 7 Die Briefe von Berg an Winckelmann - WB 56, 28. 9.1762 und 57, [12. 12.1762], I V S. 89-92 - enthalten keine Bekundungen »heroischer Freundschaft«, sondern beschränken sich auf briefübliche und allgemein literarische Topoi, etwa den Gegensatz zwischen Hof- und Landleben.- Über die Versäumnisse des »Pflichtvergeßene[n] Liefländer[s]« vgl. 673 an H. Füßli, 22.9.1764, III S. 55; 678 an Wille, 10.10.1764, III S. 60; 683 an Stosch, 7 . 1 2 . 1 7 6 4 , III S. 65; 690 an Stosch, Febr. [zwischen 14. und 21.] 176;, III S. 80; 696 an Murray, 30. 3.176), III S. 87; 701 an Marpurg, 13.4.1765, III S. 95. Briefe an einen Freund in Liefland, S. XIII. 298

mit dem Paradigma der griechischen Kunst und vor dem Hintergrund der römischen Kunsturbanität, die er gerade im Sendschreiben an Berg betont, das Krisenbewußtsein in ein Kulturmodell umzusetzen. Aus der Untersuchung der Freundschaftsbriefe ergibt sich im Rückblick das folgende Bild: Die Weiterentwicklung der Korrespondenz als Plattform literarischer Selbstverständigung vollzieht sich in der gleichzeitigen Wendung gegen die Dominanz der Franzosen und gegen das »Pedantische«. Winckelmann setzt den intensiven Umgang mit dem Kunstschönen der in Rom konzentrierten Antiken als Erfahrungsform und als identitätsstiftenden Hintergrund einer neuen brieflichen Freundschaftskultur frei. Dieser Gedanke läßt sich aus anderer Perspektive weiterführen. Den patriotischen Bemühungen bis zur Jahrhundertmitte fallt es schwer, die Fundamente für ein soziales Selbstbewußtsein, aber selbst auch für Perspektiven gemeinnütziger, gesellschaftswirksamer Aktivitäten der bürgerlichen Gebildeten zu legen. Winckelmann reagiert mit verschiedenen Modellen — ζ. B. der Vorstellung vom patriotischen Fürsten und der Idee der Akademie als eines nationalen Kulturzentrums — auf den Mangel an Möglichkeiten patriotischen Handelns und auf die fehlenden Chancen allgemeiner Anerkennung. Diesen Ansätzen ist gemeinsam, daß sie in der Kultur, präziser: der Annäherung an die griechische Antike das nationale Leitthema sehen. Patriotisches Handeln wird so - in den Schweizerbriefen - zum Rück- und Vorgriff auf eine um die Kunst zentrierte Kulturrepublik; es mündet in den freundschaftlichen Briefverkehr. Vor diesem Hintergrund läßt sich der Zusammenhang von Kunsttheorie und Freundschaftspraxis beurteilen. In die freundschaftlichen Korrespondenzen läßt Winckelmann mit der Beschwörung von »Ruhe und Zufriedenheit« das römische Kulturprogramm eingehen. In der Landlebendichtung bezeichnen diese Stichworte das hof- und pedantenkritische Leitbild des einfachen Lebens. Ihre Verbreitung weist zugleich auf das weitgehende Fehlen einer literarischen Verarbeitung von Stadterfahrungen. Bei Winckelmann nähert sich die Wahrnehmung freundschaftlicher »Ruhe und Zufriedenheit« der Kunsterfahrung an; Freundschaftlichkeit wird so selbst eine Form erinnernder Betrachtung. Erst in der rekonstruierenden Evokation der Kunstmetropole Rom im Brief erhält die freundschaftliche Geselligkeit eine historische und urbane Perspektive. Daß hier auch Ansätze zu einer krisenhaften Zuspitzung liegen könnten, scheinen die »heroischen« Briefe an Lamprecht und Berg zu zeigen: Die Einsamkeitserfahrung, die mit dem Subjektivitätszuwachs auch gegenüber zeitgenössischen Freundschaftstheorien einhergeht, schlägt sich in der Annäherung des Freundes an das Kunstwerk nieder. Gattungsgeschichtlich läßt sich an den Freundschaftsbriefen der Übergang von einer informationsvermittelnden Gelehrtenepistolographie zu einer mehr und mehr persönlichen Korrespondenz beobachten. Es ist dieser Freundschaftston, aufgrund des299

sen sich der Briefschreiber Winckelmann als Teilnehmer an einer Geselligkeit versteht, in der sich — gegenüber Pedanten, Franzosen und deutschen Höfen — eine neue Kultur der Kunstverständigen anbahnt.

300



DER

G E L E H R T E AM H O F — W I N C K E L M A N N S

»GROSSE

4.1.

SELBSTDARSTELLUNGEN«

Die »großen Selbstdarstellungen« als Briefgruppe

Die Schreibhaltung, die im folgenden unter der Bezeichnung der »großen Selbstdarstellungen« behandelt wird, konzentriert sich in Briefen, die Winckelmann aus Italien an seine Freunde und Bekannten aus Stendal, Halle, Seehausen und Nöthnitz gerichtet hat. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die Episteln an Uden, Genzmer, Berendis, Marpurg, Francke und Bünau. A u c h Rehm grenzt diese Briefgruppe ab, ohne ihr allerdings die Schreiben an Bünau zuzurechnen. 1 Die Tatsache, daß Goethe die Briefe an den bis 1 7 8 2 in Weimar lebenden Hieronymus Dietrich Berendis ediert hat, 2 wirft ein Licht auf die Bedeutung der »großen Selbstdarstellungen« für die Winckelmann-Rezeption. Osterkamps Versuch einer Entmythisierung Winckelmanns setzt ebenfalls hier an.' Die folgenden Interpretationen gelten aber weder einer Rückführung von Unwahrheiten und Ubertreibungen auf die römische Realität noch dem Fragwürdigen an Winckelmanns Psychologie, 4 sondern der literarischen Struktur und kommunikativen Funktion der Briefe. ' W B I, Vorwort S. 3 of Vgl. Goethe, Winckelmann und sein Jahrhundert in Briefen und Aufsätzen. Danzel, Goethe und die Weimarischen Kunstfreunde in ihrem Verhältnis zu Winckelmann, S. 192 vermutet, daß Berendis die Briefe von Winckelmann, »wenn sie auch erst nach seinem Tode gedruckt sind, dem kunstgebildeten Kreise der Herzogin Amalie gewiß nicht vorenthalten haben wird.« 3 Osterkamp, Winckelmann in Rom, hebt — im Wesentlichen in Übereinstimmung mit den von Rehm vorgenommenen Differenzierungen und den Thesen dieser Arbeit — die Briefe »an die deutschen Freunde« von denjenigen an Wille (S. 213), die Schweizer und Stosch ab, in denen Winckelmann »nicht mit seinen verbesserten Lebensbedingungen« zu imponieren versucht (S. 2 1 ; ) . 4 Vgl. etwa das Urteil Rehms, in: WB I, Vorwort, S. 3of: »Da er vermuten oder argwöhnen mußte, es möchten die ehemaligen Freunde sich von seinem neuen Leben ein falsches Bild machen oder in Gedanken immer noch an der alten Vorstellung seiner hinter ihm liegenden märkischen und sächsischen Notjahre festhalten, zog er in diesen Briefen, wahrhaften >epistolae ad familiaresSendschreiben< und >Bulletins< mit einem gewissen, nicht immer angenehmen Überlegenheitsgefühl, mit Prahlsucht und dem Verlangen, möglichst starken Eindruck zu erzielen, merwürdig und unnachahmbar zusammen und stempeln sie zu besonders lehrreichen Zeugnissen für die Art, wie sich Winckelmann selbst sah und deutete.« !

301

Der Untersuchung liegt jedoch keine völlig homogene Gruppe von Texten zugrunde. Die Anrede mit »Du«, die Winckelmann in später begonnenen Korrespondenzen nicht mehr verwendet, unterscheidet etwa die Briefe an Uden, Genzmer, Berendis und Marpurg von dem (in römischer Zeit erheblich umfangreicheren) Briefwechsel mit dem Nöthnizer Bibliothekar Johann Michael Francke, der unmittelbarer an die Traditionen des »commercium litterarium« anschließt und sich zunehmend dem römischen Freundschaftston annähert. Überhaupt lassen sich die »großen Selbstdarstellungen« nicht stets konsequent gegen den Freundschaftston abgrenzen. Im Folgenden soll jedoch jene Schreibhaltung, die sich in den »großen Selbstdarstellungen« konzentriert, in exemplarischen Untersuchungen herausgearbeitet werden. Umgekehrt lassen sich Teile anderer Briefgruppen — etwa der Korrespondenzen mit Heyne, Weisse und J . J . Volkmann — den »großen Selbstdarstellungen« zuordnen.' Trotz innerer Differenzierung und unscharfer Begrenzung läßt sich eine Schreibattitüde erkennen, mit der Winckelmann die in den Freundschaftsbriefen zutage getretene Problematik einer kulturellen Identitätsfindung anders verarbeitet. In bezug auf die Chronologie ist aber festzuhalten, daß die »großen Selbstdarstellungen« kurz nach Winckelmanns Ankunft in Rom einsetzen und möglicherweise schon um das Jahr 1767 auslaufen,6 während sich freundschaftliche Korrespondenzen erst langsam entwickeln und sich in den späteren römischen Jahren entfalten. Da Winckelmann vor allem mit Berendis und Genzmer bis 1755 freundschaftliche Briefwechsel im engeren Sinn unterhalten hat, darf man aber annehmen, daß die »großen Selbstdarstellungen« von vornherein auch eine Alternative zu dem freundschaftlichen Geselligkeitstyp als Weg zu sozialer und kultureller Achtbarkeit darstellen. In Winckelmanns Briefkorpus sind Schreiben an Genzmer, Uden, Berendis und Francke auch aus der deutschen Zeit überliefert. Die Freundschaftsbekundungen und Besuchswünsche als ständiges Thema weisen darauf hin, daß sich in diesen Korrespondenzen ein Kreis junger Gebildeter gegen provinzielle Zersplitterung, mangelnde Bildungsmöglichkeiten und fehlende Anerkennung als Gruppe zu formieren sucht.7 Aus Seehausen schreibt Winckelmann an Genzmer:

' V g l . etwa WB 319 an Weisse, 30.10.1759, II S. 43 f; 397 an J . J . Volkmann, 2 7 . 3 . 1 7 6 1 , II S. 128—131; 897 an Heyne, 30. 3. 1765, III S. 88—91. 6 Der letzte überlieferte Berendis-Brief ist WB 870, 1.7.1767, III S. 179-281. Die übrigen einschlägigen Korrespondenzen hatte Winckelmann aus unterschiedlichen Gründen schon früher eingestellt, während der Briefwechsel mit Francke in eine freundschaftliche Korrespondenz übergeht. 7 Vgl. etwa WB 72 an Uden, 18. 3 . 1 7 ; χ, I S. 101; 77 an Uden, 24. 17; 1, I S. 105; 134 an Berendis, 1 3 . 4 . 1 7 5 3 , I S. 194. 302

Du wirst sonder Zweifel glauben, daß ich nicht ohne wichtige Ursach den versprochenen Besuch, wozu ich mich schon lange gefreuet, werde eingestellt haben. Mir war es gleich peinlich, daß Du Dich, wie Du schriebest, von Deiner Durchlauchtigsten Herrschaft weg, nach Mirow begeben wolltest, meiner zu erwarten. Nun aber bedaure ich Dich, Liebster Freund, ja mein einziger Freund. Gott weiß, wie gerne ich Dich sehen möchte. Aus der Fülle meiner Seele wollte ich mit Dir sprechen; es ist unglaublich viel, was ich Dir zu sagen habe.8

Die frühen Korrespondenzpartner bilden die Bezugsgruppe, in die Winckelmann in seiner deutschen Zeit eingegliedert ist und aus der er mit der Romreise heraustritt. Daß diese nicht nur biographisch, sondern auch epistolographisch als Bruch zu bewerten ist, legt ein Blick auf die quantitative Entwicklung nahe. Von den zwischen Sommer 17469 und September 1755 überlieferten oder erschlossenen 81 Briefen sind 45 an Uden, Genzmer und Berendis gerichtet; davon fallen allein 21 in die Jahre 1752—1755. Unter den - ohne die Nachträge — 842 nach der Abreise aus Dresden geschriebenen Briefen sind 72 an Francke, Bünau, Berendis, Genzmer, Uden, Marpurg und Volgenau adressiert. Zwar bedient sich diese Untersuchung keiner quantifizierenden Auswertungsmethoden und verzichtet deshalb auf eine detaillierte Analyse unter diesem Gesichtspunkt; auch unabhängig vom Unsicherheitsfaktor der Überlieferung ist aber ersichtlich, daß Winckelmann in Rom in ein nicht nur erheblich umfangreicheres, sondern auch anders strukturiertes Korrespondentennetz gerät. Daß die Briefwechsel mit den deutschen Freunden in Rom nur noch einen kleinen Teil des Briefkorpus ausmachen, läßt darauf schließen, daß diese Adressaten ihre tragende Rolle als Bezugsgruppe verlieren. Erste Hinweise auf einen damit verbundenen Funktionswandel ergeben sich aus einem Blick auf das Beispiel der Berendis-Briefe. Während der Kontakt mit Berendis in der Zeit vor Konversion und Romreise sich als besonders dicht darstellt — aus den Jahren 1746—1755 sind 21 Schreiben nachweisbar — stammen aus Winckelmanns römischen Jahren seit 1755 nur noch dreizehn Briefe. Zeitweise hat die Korrespondenz geruht. 10 Mit den hohen Portokosten ist die geringere Brieffrequenz nur zum Teil erklärt. 11 Winckelmann wirft Berendis vor, er habe »im verwichenen Jahre, ja in zwey Jahren keine Zeile von Dir gesehen«;11 an anderer Stelle bemerkt er: »Mich 8 WB 49 an Genzmer, 29.9.1747, I S. 75. ' Ausgangspunkt ist der erste möglicherweise an einen der genannten Adressaten gerichtete Brief WB 35 [an Berendis(?) (Entwurf)] [Seehausen, Sommer 1746], I, S. 63. '"Aus den Jahren 1760, 1762, 1763, 1766 und 1768 sind keine Briefe an Berendis überliefert. " Zum Problem des Briefportos und den Möglichkeiten, es zu umgehen, vgl. etwa WB 167 an Berendis, 29.1.1757, I S. 265; 174 an Berendis, [12.5.1757], I S. 282f. " WB 334 an Berendis, 1 2 . 1 2 . 1 7 5 9 , II S. 57.

303

deucht, es sey einmahl Zeit Dir widerum ein Zeichen meines Lebens und Befindens zu geben: denn es ist nunmehro länger als ein Jahr [. . .]«. IJ Während die Zahl der Briefe abnimmt, dringt gleichwohl ein Mitteilungsbedürfnis durch, das jedoch nicht mehr auf ein kontinuierliches Briefgespräch angewiesen scheint. An dessen Stelle treten umfangreiche Situationsberichte, die Selbstporträts des Verfassers liefern. Es handelt sich jeweils um eine »[. . .] Selbstvorstellung, wie sie zu Beginn einer Korrespondenz bzw. nach längerer Unterbrechung eines Briefkontaktes häufig vorkommt.« 14 In den Freundschaftsbriefen erscheint als Antwort auf die Situation der Gebildeten in Deutschland die Vorstellung von einer Kulturnation, die ihre suggestive Kraft aus dem Rückzug aus dem Bereich positiver Institutionalisierung, ja aus dem Verzicht auf eine praktische Verwirklichung bezieht. Die »großen Selbstdarstellungen«, welche die Existenz des Freunds und des Kunstgelehrten in eine literarische Anschaulichkeit umkehren, zeigen dagegen, daß Winckelmann auch nach anderen Varianten der Selbstdarstellung suchte. Zwar richten sich die »großen Selbstdarstellungen« an Einzelpersonen und sind überdies individuell unterschiedlich angelegt. Zugleich scheinen sie aber geradezu nach über den Adressaten hinausgehender Leserschaft zu drängen. Johannes Irmscher hat darauf aufmerksam gemacht, daß der Informationsbedarf in Winckelmanns märkischem und sächsischem Wirkungskreis durch den Briefverkehr befriedigt wurde. 1 ' Umgekehrt bekunden Winckelmanns eigene Briefe ein Interesse an der Fortsetzung dieser Korrespondenzen. Äußerungen, die sich auf den kommunikativen Sinn der Briefe beziehen lassen, kombinieren ein Informationsbedürfnis über die ehemaligen Lebensbereiche in Deutschland mit einer Inszenierung der eigenen Person. Dabei legt Winckelmann Wert auf das von ihm in der Öffentlichkeit verbreitete Bild: N B . Schreibe mir doch etwas neues, für meinen langen Brief, aus der lieben alten Marek, sonderlich aus Seehausen, sollten es auch Mädgen-Historien seyn: es ist mir alles angenehm zu hören. Berichte zugleich was man von mir spricht; wenn es auch noch so schlimm: ich bin zu weit, und ich möchte fast sagen, zu glücklich als daß es mich anders als eine Neuigkeit rühren sollte. Ich kann über den Feind und über den Neid lachen. It. Was sagt man v o n meiner Schrift in Braunschweig? Ist nach Braunschweig unter so viel Pedanten auch ein vernünftiger Mann hingerathen?' 6

Die Selbstinszenierungen setzen sich von den deutschen Verhältnissen ab; der Vergleich der eigenen Situation in Rom mit derjenigen der Adressaten gehört zu den gelegentlich explizit ausgesprochenen' 7 Strukturmerkmalen " W B 7 1 7 an Berendis, 26.7.1765, III S. 1 1 2 . Hoffmann, S. 44; die Bemerkung bezieht sich auf einen Brief von Chamisso. " Irmscher, S. 3 3 f. W B 167 an Berendis, 2 9 . 1 . 1 7 5 7 , I S. 269. 17 Vgl. etwa W B 180 an Berendis, 15. 7. 1757, I S. 291: »Wie glücklich bin ich fast vor 14

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der Briefe. Zu Recht betont Osterkamp, daß das »Bild römischen Lebens [. . .] seine Farben weniger aus Winckelmanns faktischer Lebensrealität als aus dem doppelten Kontrast zu seiner deutschen Vergangenheit und zur gegenwärtigen Situation seiner Briefpartner [bezieht], die im Lichte subtil ad hominem eingeführter römischer Gegenbilder nur als Misere sich darstellen konnte«. 18 Winckelmann hält an der Situation der deutschen Freunde und Bekannten als Bezugsgröße der römischen Selbstentwürfe fest; diese entfalten daher erst in der Rezeption durch das Adressatenfeld der eigenen früheren Umgebung ihren Sinn: »So viel von meinen Umständen. Melde sie meinen aus ganzer Seele geliebten Freunden und Wohlthätern Hrn. Raßbach und Hrn. Fulß.« 19 Die Grußaufträge lassen sich als Versuche interpretieren, einen weiteren Personenkreis in den Kommunikationskontext einzubeziehen: Wenn ich zuweilen an den Schul-Stand zurück gedencke, so wundert mich, daß ich meinen Nacken unter der Last und unter dem Stoltz eines vermaledeyten Pfaffen so lange bäugen können. Grüße unsere Freunde in Havelberg, die noch an diesem Joche ziehen, tausendmal, ingleichen den Hrn. Hofr. Cothenius vornemlich aber Deine liebe junge Frau, die Frau Probstin. Ich wünschte nichts mehr als Dich oder einen meiner alten Freunde hier zu sehen, und ihnen die Herrlichkeiten von Rom zu zeigen, die alle Einbildung übersteigen. 20

Ein Beispiel für die den Briefen zugedachte Verbreitungsfunktion liefert das einzige erhaltene Schreiben an den Archidiakonus Christian Volgenau, mit dem Winckelmann die »an Eilf Jahre meines hiesigen Aufenthalts« unterbrochene Verbindung nach Stendal wieder aufnehmen will. 21 Der Brief richtet sich über Volgenau hinaus auch an die »übrigen Freunde Hrn. D. Uden, Hrn. Raßbach und Hrn. Fulß«, denen die Informationen »zur Nachricht« dienen sollen. Winckelmann faßt in dem kurzen Schreiben stereotype Elemente der »großen Selbstdarstellungen« zusammen, wie sie in den folgenden Interpretationen zu erläutern sein werden, 22 und bittet zugleich um »einige Nachricht von Ihrem Befinden und durch Sie von gedachten übrigen Freunden«. Für die These, daß diese Briefe auch einen weiteren Kreis von Sekundäradressaten im Blick haben, liefert der Entwurf eines »Sendschreialle mit denen ich studiret habe. Ich habe endlich bey aller Achtung in dem Mittel-Punct der Gelehrsamkeit meine Freyheit aufs höchste gebracht, und habe Gelegenheit mit einem Werck zu erscheinen, welches nach mir leben wird.« " Osterkamp, Winckelmann in Rom, S. 208. 10

W B 250 an Uden, 1 0 . 1 . 1 7 5 8 , I S. 4 5 2 W B 194 an Genzmer, 2 0 . 1 1 . 1 7 5 7 , I S. 3 1 5 ; weitere Beispiele für Grußaufträge:

444 an Berendis, 8 . 9 . 1 7 6 1 , II S. 1 7 7 ; 701 an Marpurg, 1 3 . 4 . 1 7 6 0 , III S. 96. " W B 787 an Volgenau, 3. 8 . 1 7 6 6 , III S. 194; dort S. i94f auch die folgenden Zitate. " Dazu zählen u. a. der Aufstieg zum bekannten Gelehrten und »Zufriedenheit«, »Achtung« und »Ruhe«, die Winckelmann in der römischen Aristokratie findet.

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ben[s] Von der Reise eines Gelehrten nach Italien und insbesondere nach Rom an Herrn M. Franken«2' ein zusätzliches Argument. Die zur Publikation vorgesehene Schrift14 bietet das gesamte Panorama der römischen Gelehrten- und Adelsrepublik, in das sich Winckelmann in seinen Selbstdarstellungen einschreibt, und abstrahiert lediglich von der Zentrierung der römischen Umgebung um das schreibende Subjekt. Die kritisch auf die kulturelle Situation der Gebildeten in Deutschland bezogene Intention des Ensembles ist hier offenbar. Dafür, daß das Sendschreiben an Francke Entwurf geblieben ist, dürften nicht nur die Differenzen zur römischen Wirklichkeit verantwortlich sein,2' sondern auch innere Spannungen des Selbstdarstellungskonzepts, von denen noch gesprochen werden muß. Die These von der paradigmatischen Konfrontation der römischen Selbstinszenierungen mit der kulturellen Situation der Gebildeten in Deutschland wird erhärtet durch einen Blick auf die soziale Struktur des Adressatenkreises. Bis auf Bünau gehört die zentrale Empfängergruppe nicht zu der von der Kulturgeschichtschreibung zur Kenntnis genommenen Zahl von Gelehrten und Literaten. Sie repräsentieren vielmehr eine akademische Bildungsschicht, die vorgezeichneten intellektuellen und beruflichen Perspektiven verhaftet blieb. Uden arbeitete als Arzt in Stendal,26 Genzmer war zunächst Prinzenerzieher in Mecklenburg, danach Propst in Stargard,27 der Seehausener Jurist Berendis betätigte sich als Erzieher beim Grafen Bünau und am Hof in Weimar,28 Volgenau wurde nach seiner Zeit als Archidiakonus Pfarrer in Staffelde bei Stendal.29 Auch der Nöthnitzer Bibliothekar Johann Michael Francke läßt sich trotz weiter reichender Kontakte wohl dieser Gruppe zurechnen.'0 Als Indiz für deren Einordnung mag gelten, daß von den genannten Adressaten nur Bünau und Francke einen eigenen Eintrag in die »Allgemeine deutsche Biographie« erhalten haben.'' Mit einer pointierten Formulierung ist dieser Empfangerkreis, der auch den durch die Herkunft vorgegebenen Lebensraum kaum verlassen hat, der in,J

W B 4 an Francke [Entwurf], [1762], I V S. 1 7 - 2 0 . *4 Vgl. W B I V , Erläuterungen S. 4 2 3 . *' In dieser Hinsicht scheint Osterkamps Beobachung beachtenswert, daß Winckelmann die »Chance besaß, die Art und Weise, wie er von Deutschland aus wahrgenommen wurde, bis ins Kleinste zu kontrollieren und zu steuern« (Winckelmann in Rom, S. 205). Justi' I, S. 148. 17

Vgl. Erläuterungen zu W B 39 an Genzmer, I S. 516.

" Justi 1 I, S. 15 if. ' ' W B III, S. 506, Erläuterungen zu 787 an Volgenau. ,0 Über ihn vgl. Henning, Aus dem Leben und Wirken Johann Michael Franckes, und ders., A u s dem Briefwechsel Johann Michael Franckes; Schulz, S. 27f. ' ' Flathe, Bünau, Heinrich von, in: Allgemeine deutsche Biographie 3 (1876), S. 5 38f; Schnorr v. Carolsfeld: Francke, Johann Michael, ebd. 7 (1878), S. 237t".

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tellektuellen Provinz zuzuordnen. Biographisch führt Winckelmann in den »großen Selbstdarstellungen« das Gespräch mit der eigenen Herkunft fort; jedoch ist in der Spannungsrelation zwischen Rom und dem früheren sozialen Kontext die paradigmatische literarische Auseinandersetzung mit den Existenzbedingungen und dem Selbstverständnis der bürgerlichen Bildungsschicht in Deutschland bereits angelegt. Die »Namenlosigkeit« der meisten Adressaten kennzeichnet diese Konstellation. Leitender Gesichtspunkt für die Interpretation kann daher nicht der Vergleich der Briefe mit der römischen Realität sein. Der von Osterkamp eingeschlagene Weg deckt auf, daß eine »naive« Lektüre der Briefe als biographischer Informationsquelle zu einer Verfälschung des Winckelmann-Bildes führt; Osterkamp weist aber keine Möglichkeit auf, die Briefe als Quellen zu erschließen, sondern er diskreditiert sie lediglich hinsichtlich ihrer Deckung mit Winckelmanns »wirklichen« Erfahrungen in Rom. Demgegenüber ist daran festzuhalten, daß briefliche Erfahrungsberichte immer nur »eine gefilterte, imaginierte Realität vermitteln konnten und von zeitgenössischen Lesern auch so verstanden wurden«.' 2 In dieser Hinsicht führt Jens weiter, der Winckelmanns über die Wirklichkeit hinausschießendes Auftreten im aristokratischen Rom zugleich als »Kehrseite eines hier und dort plötzlich artikulierten Ohnmachtsgefühls« angesichts der deutschen Zustände und als — literarisch — meisterliche briefliche Selbstdarstellung interpretiert." Ein anderes methodisches Vorgehen als das von Osterkamp gewählte scheint schon deshalb angezeigt, weil auch Freundschaftsbriefe, unter ihnen diejenigen an Stosch, ein wenn nicht »geschöntes«,' 4 so doch idealisiertes RomBild evozieren können. Vielmehr ist nach den Gründen für die Faszination zu fragen, die sich unter den Zeitgenossen gegen das bereits früh vorhandene Wissen um Winckelmanns Wirklichkeitsretuschen durchsetzte." Wenn Goethe, der über die römischen Verhältnisse informiert war,' 6 die Berendis'' Kleinschmidt, Die Ordnung des Begreifens, S. 49. Auch Osterkamp, Winckelmann in Rom, S. 206 beruft sich bei seiner kritischen Beurteilung der Winckelmann-Briefe gerade auf dieses Faktum. Dagegen ist jedoch einzuwenden, daß Winckelmanns Selbstinterpretationen erst in ihrer Relativität als literarische Quellen überhaupt verwertbar sind. " Jens, S. 60; 63. 14 Osterkamp, Winckelmann in Rom, S. 215. " Weisse notiert bereits 1766 über Winckelmann:«[. . .] seine Briefe enthielten ohnedieß nichts als kleine Aufschneidereyen, wie viel Ehre er im Umgange der Cardinale genöß u. s. w.« (WB 95 Weisse an Meinhard, 1. 5.1766, IV S. 136). 16 In seiner »Winckelmann«-Schrift notiert Goethe unter der Überschrift »Gesellschaft« Winckelmanns »Lust am Umgang mit vornehmen, reichen und berühmten Leuten, die Freude, von ihnen geschätzt zu werden« und die Vertraulichkeit der »geistlichen Großen« »nach innen gegen ihre Hausgenossen«. Jedoch sei Winckelmann entgangen, »daß hinter dieser Vertraulichkeit sich doch das orientalische Verhältnis des Herrn zum Knechte verbirgt.« (Goethe, Werke Bd. 12 S. 124).

307

Briefe herausgegeben hat, so richtet sich sein Interesse nicht auf die Wirklichkeitstreue der Darstellungen, sondern auf die Briefe als literarische Zeugnisse. Gerade die Briefe als Quelle für den Winckelmann-Mythos oder, mit Osterkamp, das »Winckelmann-Phantasma«57 - sind ein lohnender Gegenstand der Interpretation.

" Osterkamp, Winckelmann in Rom, S. 204. 308

4-2.

Höfische Norm und gelehrte Selbstdarstellung

4.2.1.

Zur Problematik der Insinuation in den Briefen an Bianconi

In den Briefen, die Winckelmann bis zu seinem Florenz-Aufenthalt 1 an Bünau und Berendis gerichtet hat, dominiert thematisch die Klärung der eigenen Position in Rom, vor allem im Verhältnis zu dem ehemaligen sächsischen Nuntius Archinto. Auch die Darstellung der Szene in der Anticamera Archintos, die Gegenstand des folgenden Abschnitts ist, liefert ein Beispiel für diesen Schwerpunkt. Im Vorfeld dieser Selbstdarstellungen hat Winckelmann eine Reihe von Briefen an seinen »Gönner«, 2 den Leibarzt des sächsischen Kurfürsten Hofrat Giovanni Lodovico Bianconi verfaßt, die aus anderer Perspektive dasselbe Thema behandeln und gattungsgeschichtlich faßbare Spannungen verdeutlichen, auf die Winckelmann mit dem Konzept der »großen Selbstdarstellungen« reagiert. In diesem Kapitel geht es also nur um einen Aspekt der frühen Bianconi-Briefe, nicht um die Korrespondenz mit Bianconi insgesamt. Winckelmann war mit der Zusage einer knappen Pension von jährlich 200 Reichstalern, die ihm vom königlichen Beichtvater Leo Rauch ausgezahlt werden sollte,' zunächst aber ausblieb, nach Rom gereist; die frühen Bianconi-Briefe sind selbst Teil der Bemühungen, trotz der unsicheren Lage die Festlegung auf eine besoldete Bibliothekarsstelle bei Archinto zu vermeiden. Sie führen insofern eine Thematik fort, über die Winckelmann Berendis bereits aus Dresden berichtet hatte. 4 Schon bei der Vorbereitung der Rom-Reise hatte Bianconi eine Schlüsselrolle gespielt. Während der ersten römischen Jahre vermittelte er die Beziehungen zwischen Winckelmann und dem sächsischen Hof. Ein direk' Zu Winckelmann und Bianconi vgl. Justi' Bd. I S. 388—394. * Rehm, Einleitung, in: WB I S. 30. ' Vgl. dazu WB 114 an Berendis, [25.7.1755], I S. 178; 120 an Bianconi, 7 . 1 2 . 1 7 5 5 , I S. 187. 4 Vgl. WB 114 an Berendis, 25. 7.1755, I S. 179: »Gegen den Beichtvater habe ich mich erkläret, durchaus keines Römers Sclave zu seyn, und Bianconi will ich soll mich also dem Gouv. beständig bezeigen, der Hof solle mich souteniren.« Vgl. auch WB m an Nolte, [3.6.1755], I S. 174. 309

ter Schriftverkehr zwischen Winckelmann und dem Kurprinzenpaar bestand nicht. (Die wohl ähnlich einzuschätzenden Briefe an Rauch müssen als verloren gelten.)' Diese Rolle Bianconis bildet vielleicht auch noch für spätere, im freundschaftlichen Ton gehaltene »gelehrte« Briefe an ihn einen verborgenen Hintergrund. Winckelmann unterstellt sich der »protection«6 und »padronanza«7 Bianconis; der Titel des »padrone«, den später Albani erhält,8 geht auch in die briefliche Anrede ein.9 Ein großer Teil der frühen Briefe an Bianconi enthält Klagen über die unzureichende finanzielle Versorgung und die Bitte um weitere Unterstützung.10 Auch in der Frage der Nachfolge für den verstorbenen Hofrat Richter in Dresden erbittet Winckelmann die Protektion Bianconis.11 Umgekehrt tragen die »gelehrten« Passagen den Charakter eines Tätigkeitsberichts; offenbar will Winckelmann Rechenschaft über seine Zeit in Rom ablegen12 und damit auf eine ' Rehm, Überlieferungsgeschichte der Briefe, W B I S. 488. Vgl. W B 120 an Bianconi, 7 . 1 2 . 1 7 5 5, I S. 188: »[. . .] Vous Monsieur [ . . .] ne refuserés pas votre protection à un homme qui n'a rien et qui doit être encore privé de son bien unique.« Vgl. auch 1 3 1 an Bianconi, 6.2. 1756, I S. 209: »Je n'ai besoin de Vous prier de me continuer Votre protection, je m'en tiens assuré.« Vgl. auch 161 an Bianconi, 2 5 . 9 . 1 7 5 6 , I S. 246. 7 Vgl. W B 270 an Bianconi, 3 1 . 3 . 1 7 5 9 , 1 S. 454: Winckelmann sieht sich trotz Bianconis Schweigen »persuasissimo della sua Padronanza«. ' Vgl. W B 273 an Bianconi, 2 . 6 . 1 7 5 9 , II S. 3: »non ho fin'ora altro impiego che di andare ogni mattina col Padrone in Villa«; 429 an Bianconi, 24. 7 . 1 7 6 1 , II S. 165: »Io sto da pochi giorni in qua ritirato a Castel Gandolfo nel Palazzo del mio Padrone«. 9 Vgl. W B 169 an Bianconi, 19. 2. 1757, I S. 270: »Illustratissimo e Colend mo Sg™ e Padrone«. Vgl. etwa W B 123 an Bianconi, 3 1 . 1 2 . 1 7 ; I S. 195: »Tâchés seulement de lui ôter l'idée qu'on puisse vivre ici de la moitié de ce qu'on a besoin à Dresde, et détrompés Vous meme. J e prends à témoin Mr. Mengs. Deux écus d'Allemagne ne sont à Rome que le necessaire. J e ne demande pas davantage si on me laisse vivre à ma fantaisie comme un Artiste: mais pour vivre avec quelque dignité, c'est à dire comme un Abbé ou comme j'ai vécu moi à Dresde, ma pension n'est pas suffisante.« Vgl. auch ebd. S. 196: »Le veau coûte la Livre 4 gros et plus: je n'en ai goûté: et la Choccolade est trop chere pour moi, et après tout on est servi avec peu de propreté. Ma chambre miserable me fait souvent regreter ce que j'ai abbandonné: j'ai deja trois fois changé de logis.« Vgl. auch 133 an Bianconi, 6.3.[1756], I S. 2 1 1 . Vgl. auch über den finanziellen Bedarf zur Vorbereitung der ersten Reise nach Neapel: 172 an Bianconi, 1 7 . 4 . 1 7 5 7 , I S. 278; 177 an Bianconi, ι. 6 . 1 7 5 7 , I S. 28;. 6

" W B 40 von G . L. Bianconi, [ 2 3 . 1 0 . 1 7 5 8 ] , I V S. 75; vgl. 225a an Bianconi, [Anfang August 1758], I S. 401. " Vgl. W B 123 an Bianconi, 3 1 . 1 2 . 1 7 5 I S. 196: »II faut se souvenir toujours qu'on n'est à Rome pour goûter les plaisirs de la vie, mais pour étudier.« 189 an Bianconi, 19. 2 . 1 7 5 7 , I S. 271: »Del resto sto a misurare il mio tempo con esattissima economia per avanzare un disegno di gran impegno, cioè d'una Istoria dell' Arte.« Auch wenn diese Bemerkung sich mit Winckelmanns sonstiger Selbstdarstellung 310

Anstellung in Dresden hinarbeiten: »Voila, Monsieur, mes occupations, dont je dois Vous rendre compte.« 1 ' Gegenüber Berendis bestätigt Winckelmann - wenn auch hier negativ - , daß er mit den Briefen an Bianconi dessen Unterstützung in Dresden gewinnen will: Sollte aber der König oder der Beichtvater sterben, so werde ich müßen zu Fuß aus Italien gehen. Denn auf den Hofr. Bianconi, der mir helfen könnte, habe ich keine Rechnung zu machen: er antwortet mir auf keine Briefe, und ich habe aufgehöret zu schreiben. 14 Ebenso wie der Tod des Kurfürsten erscheint deshalb die Versetzung Bianconis nach Italien als ein Grund dafür, daß die Zukunftsaussichten in Sachsen schwinden: »Adesso va tutto in fumo.«' 5 Über Bianconi erreichen Winckelmann Zahlungen aus Dresden;' 6 auch erhält Winckelmann über ihn Empfehlungsschreiben an den H o f in Neapel und die Erlaubnis zur Widmung der »Geschichte der Kunst« an den Kurprinzen. 17 Die Briefe an Bianconi enthalten entsprechende Dankesbekundungen, die wohl zugleich dem Kurprinzen gelten: Io le devo, so ben di certo, la condescendenza di S. A. Reale a raccomandarmi di nuovo e senza esserne stata implorata. Fortunato me! la nuova d'un soccorso, del quale dopo un silenzio del P. Conf. di 8 mesi m'era svanita la speranza, è giunta in questo momento. Fortunato me, dico, di poter godere gli effetti d'una raccommandazione di tanto peso e influenza. 1 ' trifft, hat sie im Kontext der Bianconi-Briefe zugleich den Charakter des Rechenschaftsberichts. ' ' W B 157 an Bianconi, 29. 8.1756, I S. 243. 14 W B 1 5 1 an Berendis, [wahrscheinlich 7.7.1756], I S. 254. " W B 620 an Mengs, [ 3 . 1 . 1 7 6 4 ] , III S. 3. Vgl. dazu W B 102 Auszüge aus den Briefen Gl. L. Bianconis an seinen Bruder M. Bianconi, 6 . 1 2 . 1756, IV S. 147: ». . . Io vi raccomando caldamente le due qui accluse per Winckelmann in Roma acciocché siano consegnate in mano propria, perchè contengono lettere di cambio pel suo mantenimento, ed io so che ne ha bisogno.« Vgl. auch ebd. 5 . 1 . 1 7 5 7 . 17 Vgl. auch W B 432, 2 8 . 7 . 1 7 6 1 , II S. 168 die Mitteilung an Bianconi über die Widmung der »Anmerkungen über die Baukunst« an den Kurprinzen: »Mi sono preso l'ardire d'indirizzare la Dedica a S. A . R. dopo la morte del fù Sig™ Conte di W.« Dazu etwa auch 464 an Bianconi, 1 0 . 1 . 1 7 6 2 , II S. 201. W B 199 an Bianconi, 1 4 . 1 2 . 1 7 5 7 . 1 S. 321. Vgl. ferner 172 an Bianconi, 1 7 . 4 . 1 7 5 7 , I S. 277: »L'ultima giuntami da Bologna non mi lascia punto dubitare del affetto di V. S. IH. verso di me e della propensione d'avvanzare gli studj miei per una raccomandazione tanto efficace ed onorevole per me ch'è quella di S. A. Reale.« Weiter heißt es: » E che dire e pensare d'un Principe chi immerso nell' estrema afflittione si degna ancora ricordarsi d'un povero Letterato fin' ad esibirsi a tante grazie!« Vgl. auch 177 an Bianconi, [ι. 6.1757], I S. 28;. Vgl. auch 182, 13.8. 1757, I S. 292 Winckelmanns Bemühungen, sich auch gegenüber dem Kurprinzen von dem »sospetto« zu reinigen, »di non aver differito sin'ora il viaggio di Napoli che per qualche interesse privato, o per buscare che so io qualche supplemento.« Zur Widmung der G K vgl. 188 an Bianconi, 1 7 . 9 . 1 7 5 7 , I S. 302.

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Selbst die Briefe an den Bruder des sächsischen Leibarztes M . Bianconi in Bologna, der zum Teil die Korrespondenz vermittelte, 1 ' weisen auf die finanzielle Bedürftigkeit und enthalten vielleicht indirekte Dankadressen an den Kurprinzen. 20 Dieser läßt sich daher partiell als zweiter Adressat der Briefe identifizieren. Winckelmann teilt Berendis mit, daß Bianconi »ihm [dem Kurprinzen] meine Briefe alle vorlieset«. 21 Bianconi selbst schreibt in einem Fall an Winckelmann: »Lasci poi fare a me a far uso di questa lettera ostensibile.«22 Bezeichnend für Bianconis Vermittlerrolle sind ferner die an ihn adressierten »antiquarischen Relazionen«, die Ausgrabungsberichte aus Rom und Portici enthalten und der Information des sächsischen Kurprinzen dienen sollten. Die Briefe reflektieren insofern die über Bianconi und Rauch 2 ' vermittelte Beziehung zum Dresdner Hof. E s bestätigt diese Einschätzung, daß Winckelmann in Rom - wie schon zuvor in Dresden 24 — Bianconi gelegentlich als Höfling und Intriganten darstellt, der versucht habe, die Romreise zu hintertreiben, und der nun Winckelmanns Arbeiten sich selbst zunutze machen wolle. 2 ' Diesen Aspekt von Winckelmanns Bian-

Vgl. WB ioz Auszüge aus Briefen G. L. Bianconis an seinen Bruder M. Bianconi, IV S. i4 7 f. " V g l . WB 171a an M. Bianconi, 16.4.1757, III S. 397: »Hieri mi capitò l'altra sua graziosissima del 6 d'Aprile colla nuova dell'esibizione di S. A. Reale molto onorevole e di gran avvantaggio per me di godere Napoli.« Im selben Brief Ausführungen über die Kosten der Reise nach Neapel. Vgl. auch u. a. 189 an M. Bianconi, [17.9.1757], ΠΙ S. 400; 194a M. Bianconi, 2 5 . 1 1 . 1 7 5 7 , III S. 4oif (mit Kritik an den schleppenden Zahlungen aus Dresden). 21 WB 174 an Berendis, [12.5.1757], I S. 284; dazu 102 Auszüge aus Briefen G. L. Bianconis an seinen Bruder M. Bianconi, 15. 3.1757, IV S. 147 über die Vorbereitung der ersten Neapelreise: »Intanto senza ritardo scrivetegli [Winckelmann] voi, e ditegli che ho letta la sua al Principe e Principessa Reale, che sono pieni di clemenza per lui [. . .]«. " WB 40 von G. L. Bianconi, [23. 10.1758], IV S. 40; dazu 225a an Bianconi, [August 1758], I S. 4oof. '' Vgl. etwa WB 161 an Bianconi, 25.9.1756, I S. 247: »Le bon et charitable pere! je dois à sa générosité tout mon repos.« 14 WB 106 an Berendis, [29.12.1754], I S. i6if; vgl. auch 105 an Berendis, [ 1 9 . 1 1 . 1 7 5 4 ] , I S. 158f ferner 107 an Berendis, [23.1.1755], I S. 165: »Ich habe seit der Zeit da ich den Brief aus Rom erhalten, wieder angefangen, den Hofr. B....Ì dann und wann zu besuchen, sonderlich da der Neapolitaner, der dem Hrn. Grafen vorgeschlagen worden, aus seinem Hause relegiret worden. Es macht mir der Mann die feinsten tours, dergleichen mir niemahls in meinem Leben vorgeleget worden, um mich hier zu behalten: ich mache sie aber alle unfruchtbar durch ein angenommenes phlegma, zumahl ich gewiß weiß, daß der Churpr. nicht im Stande ist, mir zu helffen. Meine Vorsicht gehet nicht weiter, als nur zu verhindern, daß mir B. nicht schaden soll.« Dazu auch 109 an Berendis, [10. 3 . 1 7 ; ; ] , I S. i66f. 21 WB 167 an Berendis, 29.1.1757, I S. 268: »Die Welschen in Dreßden hielten mich für dumm und sie haben sich betrogen, dieses ist die Ursach, warum sie sich schämen zu schreiben. Ich sollte ohne Anstand nach Neapel gehen und alle Post312

coni-Bild beleuchtet auch eine Bemerkung über schwindende Hoffnungen, die Nachfolge des Horats Richter in Dresden anzutreten: »Ich wurde durch einen listigen Italiäner, in deßen Händen der Chur-Prinz stehet, aufgesprenget, und ich glaubte, meine Abreise aus Italien, welche ich wünsche, wäre sehr nahe: auf sechs Briefe aber, und auf eben so viel eingeschickte Nachrichten von Alterthümer habe ich weiter keine Nachricht erhalten.«26 (Dem widerspricht nicht, daß Winckelmann — noch in Dresden — Bianconi als Gönner anerkennt und auch weiterhin seine Nähe sucht).27 Den frühen Bianconi-Briefen ist durchaus ein gewisses Spannungsmoment eigen, das Jacobs übersieht. 28 Insofern die gelehrten und freundschaftlichen Briefe an Bianconi der Pflege der Beziehungen zu einem »Gönner« und darüber hinaus zum Hof, konkret aber auch der Bitte um weitere Unterstützung dienen, stehen sie der gattungstheoretischen Kategorie der Insinuationsbriefe nahe. Unter »Insinuationes« versteht Bohse (1700) »nichts anders/ als geschickte und schmeichlende Beywörter«, die den Text »auszuschmücken« haben. 2 ' Allgemeiner bestimmt Neukirch (1709) Insinuationsbriefe als »schreiben/ durch welche man sich um eines andern gnade und hülffe bewirbet« und »durch welche wir uns einen höhern/ oder mächtigern nicht allein zum patron zu machen/ sondern ihn auch als einen patron zu nutzen suchen.«' 0 Als typische Gegenstände der Insinuationsbriefe gelten unter anderem die Bitte um Protektion und »Recommendation«.' 1 Teilweise liefern die präskriptiv verfahrenden Briefsteller besondere Anweisungen zu Bittschreiben.' 2 Schatz definiert in seiner »Kurtzefn] und Vernunft-mäßige[n] Anweisung zur Oratorie oder Beredsamkeit« (1734): tage an den Gr. v. W. und an den Welschen seinen Partisan schreiben, und ein anderer hätte mit meinem Kalbe gepflüget. Ich würde ein großer Narre gewesen seyn.« Die Bemerkung bezieht sich vermutlich auf Vorhaben wie die (von Winckelmann allerdings gebilligte, wenn auch zunächst nicht realisierte) Publikation der »antiquarischen Relazionen« durch Bianconi. Dazu 40 von G . L . Bianconi, [ 2 3 . 1 0 . 1 7 5 8 ] , I V S. 75; 254 an Bianconi, 1 6 . 1 1 . 1 7 5 8 , I S. 4 3 7 . Vgl. auch 356 an Bianconi, 15. 2 . 1 7 6 0 , II S. 81. 26

W B 279 an Stosch, 18. 8 . 1 7 5 8 , I S. 404; vgl. auch 377 an Wiedewelt, 9 . 1 2 . 1 7 6 0 , II S. 107: »Da es auch scheinen könnte, daß es eine Person, welche mächtig ist, nicht gern sehen möchte, daß man mir künftig die mir bestimmte Stelle eines Königlichen Hofraths und Antiquarii in Dresden gäbe, so wird man mich wenigstens mit einer hinlänglichen Pension zufrieden stellen müssen«.

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W B 1 1 4 an Berendis, 2 5 . 7 . 1 7 5 5 , I S. 179: »Im übrigen werde ich des Bianconi Absichten niemahls entgegen seyn. Denn er ist mein Mann, er ist für mich und ich scheine für ihn gemacht zu seyn.«

2S

Jacobs betont die harmonisch-freundschaftlichen Beziehungen zwischen Winckelmann und Bianconi; vgl. etwa S. J79Í. Das aus Winckelmanns Perspektive zu Beginn gebrochene Verhältnis zu Bianconi, der »der feinste Intrigant« gewesen sei, tritt bei Justi 4 , Bd. I S. 3 7 6 - 3 8 2 hervor, ebenso bei Sichtermann, S. i22f.

'» Bohse, S. 218. 3 ° Neukirch, Anweisung zu Teutschen Briefen S. 2 i 4 f . Bohse, S. 2 2 i f ; vgl. Neukirch, Anweisung zu Teutschen Briefen S. 2 1 5 ; 2 i 6 f . ' ' Vgl. z. B. Neukirch, Anweisung zu Teutschen Briefen S. 200 im Rahmen der Ausführungen über »compliment-schreiben.«

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Bittschreiben oder Suppliquen sind Briefe, worinn wir einen Patronen um seine Hülfe und Beystand in unsern Angelegenheiten ansuchen und müssen dieselben etwas umständlicher eingerichtet werden. Es sind aber die vornehmsten Dinge, warum man Patronen zu bitten pfleget, Beförderungen, Stipendia, Hülf und Beystand in allerley Noth, Recommendationen, Fürbitten bey grossen Herren, Dimissionen aus einem gewissen A m t oder Dienst u. d. g . "

Bohse fordert, man solle »die Feder liebkosend und mit süssen Worten« führen. »Denn wer bey bitten nicht gute Wort geben kan/ dem wird das/ was er suchet/ leichtlicher abgeschlagen/ als ihm gewillfahret.«' 4 - Von den Insinuationsbriefen unterscheidet Neukirch die Freundschaftsbriefe, die jedoch im Gegensatz zu den »vertraulichen Briefen« »den Insinuationen näher kommen«, »polirter und künstlicher« sein und »bey ihrer verbindligkeit fürsichtig« bleiben müssen." »Insinuationen« sind daher Mittel »politisch« opportunen Verhaltens. Für die zeitgenössische Brieftheorie stellt Nickisch fest, daß noch Gottsched die genaue stilistische Differenzierung »nach Stand und Würden« fordert' 6 und im Anschluß an die Galanten, vor allem an Neukirch, 37 die Auffassung vertritt, »man müsse sich allenthalben insinuiren, um gesellschaftlich und beruflich sein Glück zu machen«.' 8 Die von Gottsched in den zwanziger Jahren entworfenen,' 9 aber auch später beibehaltenen Positionen 40 lassen Rückschlüsse auf die Briefpraxis noch zur Zeit der Jahrhundertmitte zu. Winckelmanns Schreiben vom 2. 6. 1756 bestätigt die Verwandtschaft der frühen Bianconi-Briefe mit dem Genus des insinuativ angelegten Freundschaftsbriefs. Winckelmann bemüht sich, den Kontakt mit Bianconi zu intensivieren und seinen Unterhalt aus Dresden weiter abzusichern. E r tritt als Schützling Bianconis auf, der seinerseits in der Rolle des »Patrons« erscheint: J e me reposois pourtant toujours sur la bonté de Votre coer, sur les sentimens de l'amitié innés, que vous ne voudriez abandonner un homme dont le sort est entre Vos mains, un homme qui par sa timidité meme se sent de la reconnoissance sur les moindres amitiés. 4 ' 33

Schatz, S. 104. Bohse, S. 326. " Neukirch, Anweisung zu Teutschen Briefen S. 258. 36 Nickisch, Gottsched und die deutsche Epistolographie, S. 369. 37 Vgl. ebd. S. 367. 38 Ebd. S. 370. 39 Vgl. ebd. S. 366. 40 Vgl. ebd. S. 367 Anm. 9 zu den Auflagen der »Vorübungen zur Beredsamkeit«, die sogar bis in die 70er Jahre des 18. Jahrhunderts reichen. 41 W B 147 an Bianconi, 2 . 6 . 1 7 5 6 , 1 S. 228; dort auch die folgenden Zitate.- Winckelmann bezieht sich zunächst auf die Notlage, in der er sich befand, bis die Pensionszahlung in R o m eintraf, dehnt aber in der zitierten Formulierung die Bitte auf die Gegenwart aus. 34

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Die Bitte um Unterstützung kombiniert Winckelmann mit dem Zusatz, jeder wisse »par ma bouche combien je Vous dois et combien je me suis glorifié de Votre amitié«. E r beabsichtige nicht »de Vous incommoder et d'exiger des réponses exactes à toutes mes Lettres« und wolle auch nicht »m'abuser de Votre tems«. J e d o c h erhoffe er von Zeit zu Zeit einige Zeilen und wolle Bianconis Ansicht über den eingeschlagenen Forschungsweg hören. E s korrespondiert mit den Empfehlungen der Briefstellerliteratur, wenn Winckelmann hier wie auch in weiteren Briefen an Bianconi um die »ordre« des Adressaten bittet; 42 die Freundschaftsbriefe im engeren Sinn enthalten entsprechende Formulierungen nicht. A u c h verwendet Winckelmann in den frühen Bianconi-Briefen die formelle Schlußwendung »Votre tres-humble et tres-obëissant Serviteur« 45 oder »di Vostr™ 1 III" 11 L'umilissimo e devotissimo Servidore«; 44 weder in den Freundschaftsbriefen im engeren Sinn noch in den späten Schreiben an Bianconi finden sich ähnliche Grußformeln. 4 ' D e r Selbstentwurf konzediert eine auf Patronage angewiesene Abhängigkeitsposition. Winckelmann stellt die Rolle des Supplikanten aber gleichzeitig in Frage. Beides, die Haltung des Bittbriefs und die Auflehnung gegen sie, läßt sich am Schreiben v o m 1 8 . 1 . 1 7 5 6 beobachten. Darin beklagt sich Winckelmann über die »incertitude, ou on me laisse ici«; er wisse nicht, ob er sich auf seine Verbindungen nach Dresden verlassen oder die Angebote Archintos akzeptieren solle, und bittet deshalb u m den Rat Bianconis. Mit dem zusätzlichen Hinweis auf den Mangel an Geld 4 6 verbindet Winckelmann Elemente eines neuen Selbstbewußtseins des an der antiken Kunst sich bildenden Altertumsgelehrten: »II est triste pour nous qu'en pensant à la grace et à la beauté nous n'ayons que des objets ennuyeuses dans nos pensees d'un triste oubli dans lequel nous sommes à Dresde.«. 47 E s entspricht der Intention einer Lösung v o m traditionellen Gelehrtenbild, daß Winckelmann sich bereits im ersten römischen Brief an Bianconi im Zeichen der Originalität gegen den galanten und gegen den kompilierenden Pedantismus wendet: » J e *' Vgl. ebd.: »je souhaiterais de voir de tems en tems quelques lignes >quas ad os opprimerem et ad pectusModerne6 WB 345 an Stosch, 16.1. 1760, II S. 71; vgl. 343 an Stosch, 9.1.1760, III S. 70. Als Stellungnahme zu den Abendgesellschaften vgl. etwa 664 an Riedesel, 2 3.6.1764, III S. 44: »Seit drey Wochen bin ich mit dem Herrn Cardinal auf dessen Villa, doch so, daß ich des Nachts in Rom schlafe und vor der Sonnen Aufgang herausgehe, weil der große Lerm mich nicht schlafen läßt. Es ist alle Abende eine Tafel von 30 bis 40 Personen; es wird getanzet, und ganz Rom und alle Fremden sind willkommen.«

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unter den deutschen Gelehrten«. 5 7 Winckelmann treibt der Stadt die irritierenden Aspekte, das »profane« Gesellschaftsleben, die Unruhe, das Babylonische aus; entsprechende Vorbehalte liegen der Kritik an Paris zugrunde. V o n dem Ideal einer V i t a contemplativa her und auf der Basis der gelehrten Identität konzipiert Winckelmann ein andere Urbanität; es eröffnet sich wie in den Freundschaftsbriefen die Perspektive auf eine Metropole der Künste und Wissenschaften.' 8 Damit korrespondiert der bedeutende Anteil an im engeren Sinn gelehrten oder auf die Kunstwissenschaft bezogenen Elementen in den Briefen an Berendis und v o r allem an den Bibliothekar Francke. Die »Bibliothekslandschaft«, 39 die Winckelmann in den frühen römischen Briefen in der Tradition gelehrter Reisebeschreibungen 4 0 entwirft, 4 1 und die ihm jetzt zugänglichen Rara 42 weisen R o m als »Mittel-Punct der Gelehrsamkeit« 4 ' aus. Unter mentalitätsgeschichtlichem Aspekt bereitet Winckelmanns Perspektive die verwirrende Vielfalt der Großstadt für die 57

Wiedemann, Einführendes Referat, zu: i. Tag: Das Eigene und das Fremde, S. 25; dazu auch Boerner, S. 8 3—8 5. 3 ' Vgl. dazu I. Oesterle, S. 401. " Osterkamp, Winckelmann in R o m , S. 2 1 1 ; daß es allerdings bei der »Bibliothekslandschaft« nicht bleibt, ergibt sich breits aus den hier untersuchten Briefen an Francke und Berendis, mehr noch aus den im nächsten Schritt zu interpretierenden Schreiben. 40 Vgl. oben 3 . 1 . 1 . ; zu Lessing vgl. Rehm, Winckelmann und Lessing, in: ders., Götterstille und Göttertrauer, S. 190—194; Wiedemann, Lessings italienische Reise; Raabe, Einige philologische Anmerkungen zu Lessings italienischer Reise 1775, sowie G . E. Grimm, »Ich sehne mich herzlich nach Deutschland«, der Lessings Reise »der spezifischen Tradition der sogenannten >gelehrten Reisen«« zuordnet (S. i n ) und sie für >»vorwinckelmannischunhistorischen< Historikers zwischen Ästhetik und Geschichte, in: DVjs Sonderheft 56 (1982), S. 168-201 — Winckelmann: Zwischen Reichshistorik und Kunstgeschichte. Zur Geschichte eines Paradigmawechsels in der Geschichtsschreibung, in: Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, hrsg. 419

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